Der neue Wandkalender, den ihre Oma Regan ihr zwei Wochen nach ihrer Umsiedlung nach australien geschickt hatte zeigte nun den letzten Freitag im September dieses Jahres. War es denn jetzt wirklich schon über einen Monat her, daß sie sich von ihren Freundinnen und Freunden verabschiedet, einen Koffer und einen Rucksack gepackt und mit Flohpulver über diese große Entfernung hierher versetzt hatte? Aurora Dawn zwinkerte dem mannshohen Wandspiegel herausfordernd zu, den ihre Mutter ihr per Eulenversanddienst in Sydney hatte ordern und zustellen lassen. Das Gesicht darin gehörte immer noch einem jungen Mädchen mit schwarzem Haar und graugrünen Augen. Doch das steckte wohl irgendwo in Hogwarts, unsichtbar für die jetzt dort lernenden Schülerinnen und Schüler. Sie, Aurora Dawn, war nun jeden Tag mehr als zehn Stunden gefordert, besser als nur gut zu sein. Es ging ihr da nicht anders als den anderen vieren, die mit ihr zusammen in die Heilerausbildung eingetreten waren. Doch irgendwie war es für sie schon ein sehr heftiger Umschwung geworden. Das ging mit der Sprache los, die sie obwohl es Englisch war nur schwer verstand. Dann die merkwürdigen Sonnenstände. Denn Mittags stand die Sonne im Norden. Hinzu kam noch, daß hier gerade der Frühling erwacht war, während bei ihren Eltern die ersten Blätter fielen. Weihnachten bei vierzig Grad und mehr, das war eine abgedrehte Vorstellung. Sie war nur froh, daß sie hier nicht ganz so einsam anfing. Mit Ireen Barnickle, einer gertenschlanken Heilhexenanwärterin, hatte sie sich gleich am nächsten Tag weiter angefreundet. Monica Riddley hingegen war eine auf ihr Lernpensum versessene Eigenbrödlerin, die von ihrer Mentorin Brigid Springwood häufig zurechtgewiesen werden mußte, wenn sie meinte, die übrigen Jahrgangskameraden herablassend behandeln zu müssen. Tom McCloud und Bert Woodman hingegen waren noch wie kleine Jungs, die miteinander herumalberten, wenn ihre Mentoren sie zusammenließen. Dennoch meinte Aurora, daß sie mit Bethesda Herbregis die heftigste Ausbilderin abbekommen hatte. Das war schon losgegangen, als sie am ersten Tag mal so eben sehen wollte, wie Aurora mit dem Zauberstab hantierte und sie immer weiter zu immer schnelleren Zauberstabbewegungen und Zauberabfolgen angetrieben hatte. Die Kameradin Monica Riddley hatte Aurora dafür komisch angeguckt und gemeint, daß hier die lockeren Spielchen wie in Hogwarts wohl komplett vorbei waren. Sie hatte in ihrer Art, locker mit aufkommendem Ärger umzugehen gelächelt und geantwortet, daß sie ja deshalb hergekommen sei, um endlich zu lernen, was sie konnte und was nicht und sich freute, nicht gesondert behandelt zu werden.
Tja, und nach Zauberstabübungen waren Körpertraining und Gedächtnisübungen drangekommen. "Wer andere heilen will muß sich selbst in bestmöglicher Form halten", hatte Herbregis zu Aurora gesagt, als sie einen zwanzig-Kilometer-Dauerlauf durch hügeliges Übungsgelände hinter sich gebracht hatten und die mindestens dreißig Jahre ältere Hexe danach immer noch wie frisch aus dem Ei gepellt ausgesehen hatte, während Aurora schon heftig schnaufte, ihr langes Haar vom eigenen Schweiß durchtränkt. Seitdem war neben den unterrichtsbedingten Übungen Gymnastik und Lauftraining auf die Tagesordnung gesetzt worden.
"Junge Dinger verlassen sich zu sehr auf ihre schnittigen Besen oder meinen, gut apparieren zu können reiche aus. Aber Wer seinem Verstand Höchstleistungen abverlangen will, sollte ihm einen guten Körper als Hülle bereitstellen", hatte Meisterin Herbregis noch gesagt. Zumindest tröstete es Aurora Dawn, daß Monica und Ireen was ihre körperliche Verfassung anging noch heftiger drangsaliert wurden. Monica mußte noch mehr Gymnastik treiben, während Ireen von ihrer Mentorin zu mehr Nahrungsaufnahme gedrängt wurde, obwohl Meisterin Beanstock nicht gerade so aussah, als äße sie ausreichend.
"Nicht so aufreizend kucken. Das ziemt sich nicht!" Tadelte eine blecherne Gouvernantenstimme vom Spiegel her, als Aurora dem Mädchen im Spiegel noch einmal schelmisch zugezwinkert hatte. Sie sagte nichts dazu. Solche Zauberspiegel waren eben echte Spaßverderber. Sie prüfte dafür noch einmal den Sitz ihres grünen Umhangs, der sie als Medimagieadeptin auswies. Als sie mit ihrem Äußeren zufrieden war, warf sie ihrem Spiegel noch einmal einen frechen Blick zu, was diesem ein tadelndes Räuspern entlockte und verließ ihr Zimmer im Frauentrakt des Heilerdormitoriums und schloß es ab.
"Hui, ist das dunkel hier!" hörte Aurora Monica aus fünfzig Metern entfernung rufen.
"Nicht auf die anderen achten, Aurora", sagte die Hexe direkt neben Aurora, die bei Licht silberblondes Haar trug, daß auf Schulterhöhe zu einem ordentlichen Knoten gewirkt war. Sie schloß die schmale Tür in der Kabine, in die sie ihre Adeptin hineingeschickt hatte. Schlagartig erstarben alle von außen kommenden Geräusche. Aurora hörte nur noch ihr eigenes Herz und ihren Atem. Nein, sie hörte auch Meisterin Herbregis' Herz pochen, immer lauter.
"So, nachdem wir nun wissen, daß du dich wunderbar in Büchern vertiefen kannst und mir bisher keine falschen Antworten auf meine Fragen zum einfachen Aufbau des menschlichen Körpers gegeben hast begrüße ich dich in unserer Umgebungssimulationskammer, die alle äußeren Sinne aussperrt und nur dich und mich wahrnehmen läßt. Wir benutzen diese Kabinen, die von anderen Kollegen gerne als Anatomieschachteln bezeichnet werden für vier wesentliche Ausbildungseinheiten, die dir in den nächsten Jahren sporadisch immer wieder über den Weg laufen können. Zweck eins ist es, unter Ausschluß bestimmter Körpersinne zielgenaue Handlungen zu trainieren, also beispielsweise auf ein unsichtbares Ziel einen Zauber zu legen oder dich ohne etwas zu hören auf bestimmte Dinge zu konzentrieren oder eben nur per Tast- und Geruchssinn etwas erfahren und manipulieren kannst. Zweck zwei ist die simulation körperlicher Vorgänge im didaktisch verwertbaren Maßstab, sowohl was die Größe als auch die Geschwindigkeit angeht. Zum beispiel können wir hier den Blutkreislauf eines Menschen simulieren und uns quasi im Blutkreislauf mittreiben lassen, den Weg von Nährstoffen vom Mund bis zum Enddarm mitverfolgen oder Zeugung, Schwangerschaft und Geburt aus der Warte der Keimzelle und des Ungeborenen nachstellen, um die grundlegenden Prozesse zu veranschaulichen. Zweck drei ist das Training der beiden wichtigsten Zauber eines Heilers. Welche sind?"
"Öhm, Exo- und Introsenso?" Fragte Aurora.
"Ist das eine Gegenfrage oder eine Antwort?" Wollte Meisterin Herbregis wissen.
"Okay, Exo- und Introsenso, Meisterin Bethesda."
"Wie kommst du darauf?" Fragte Auroras Mentorin.
"Weil der Heiler oder die Heilerin wissen muß, wie es einem Patienten geht, wo er sich gerade befindet und ob er Beschwerden hat und wenn ja wo genau", erwiderte Aurora nun etwas entschiedener.
"Ja, gut, das macht der Exosenso-Zauber möglich, schon richtig. Aber was haben Heiler und Patient von einem Introsenso-Zauber?" Bohrte Meisterin Herbregis nach.
"Der kommt, so schreibt es Dr. Arnica Thorntip, bei therapeutischen Maßnahmen zum Einsatz, wo der Patient nicht durch Betäubungstränke ruhiggestellt werden darf, da sonst bereits vorhandene Beeinträchtigungen des Körpers zu noch schwerwiegenderen Störungen ausufern können. Ein Heiler schließt die gesamten Wahrnehmungen des Patienten in seine eigenen Wahrnehmungen ein, während ein anderer Heiler die therapeutischen Zauber wirkt. Nachteil: Introsenso bricht bei übergroßen Schmerzen des Integrierten ab. Zusätzlich kann Introsenso bei Bewegungstherapien angewandt werden, um Bewegungsabläufe neu zu erlernen oder bereits bekannte zu verfeinern."
"Lasse ich als Antwort gelten", sagte Meisterin Herbregis. Kommen wir also zu Zweck Nummer vier dieser kleinen Kammer hier: der Ausschluß der physischen Wahrnehmung zur Konzentration auf die eigenen Gedanken und Gefühle. In manchen Fällen funktioniert diese Kammer als eine Art Gedankenverstärker, weil du hier ohne störende Sinneseindrücke über bestimmte Sachen nachdenken kannst. Manchmal hat ein Kolege das hier auch als Erinnerungsgalerie bezeichnet, weil es eben auch möglich ist, die bisherigen Erlebnisse vom Anbeginn irgendeiner kognitiven Wahrnehmung an zu erinnern und aus der Warte fortgeschrittenerer Bildung und Erfahrung neu zu beleuchten. Das hilft auch bei Übungen, bestimmte Gefühlsregungen zu beherrschen und bestimmte Gedanken zu ordnen. Näheres kriegen wir beide dann, wenn du die Okklumentik erlernst, um das in dir gesammelte Wissen für unbefugte so unangreifbar wie möglich zu machen."
"Moment, ich kann hier drin alle Tage meines Lebens original noch mal nachleben?" Fragte Aurora aufgeregt.
"Vom ersten Ton, den du jemals gehört hast und vom ersten Eindruck von der Außenwelt an, Aurora", sagte Bethesda Herbregis. "Ich kenne Kollegen, die kommen in den Stunden, wo hier keine Adepten eingeschlossen sind und wachträumen sich durch ihre Kindheit, erleben die schönsten Minuten ihres Lebens nach oder konfrontieren sich mit belastenden Erlebnissen, um deren Einfluß auf ihr gegenwärtiges Denken und Handeln zu klären und gegebenenfalls auszumerzen. Diese Art von Heilmagie wird als Psychomorphologie bezeichnet, also die erforschung und formung seelischer Vorgänge im Bezug zur Außenwelt. Aber dazu werden wir erst im dritten Ausbildungsjahr eine längere Einheit absolvieren, wenn wir mit allen körperlichen Vorgängen und Beschwerden abgeschlossen haben. Was wir heute und in den nächsten Wochen in dieser netten Kammer machen werden ist die Erforschung der einzelnen eigenen Sinne. Wenn wir dann mit den theoretischen Grundlagen der allgemeinen Körperkunde durchsind, finden die Simulationen von Vorgängen statt. Natürlich haben wir auch, wie du ja am zweiten Tag schon gesehen hast, unser Übungspärchen Donna und Donny." Aurora erinnerte sich an die etwa drei Meter großen Modelle eines Mannes und einer Frau, die nach Bedarf durchsichtig oder undurchsichtig sein konnten und durch bestimmte Darstellungszauber Knochen, Muskeln und Organe mit leuchtenden Schriftzeichen markieren zu können. Natürlich würden sie auch häufig echte Menschen und am Leben gehaltene Einzelorgane vorgeführt bekommen. Doch nicht gleich in den ersten vier Wochen.
"Dann möchte ich jetzt anfangen", sagte Aurora entschlossen.
"Gut, dann fangen wir an", sagte Bethesda Herbregis.
In den nächsten zwei Stunden mußte Aurora alltägliche Handlungen in völliger Dunkelheit vollführen. Sie konnte noch nicht einmal Zauberstablicht machen. Als Bethesda dann nach den Übungen sagte, daß nun eine Viertelstunde Pause angesetzt sei, bevor die nächste Übung anstand, möglichst viele Heilpflanzen im Vorbeigehen zu merken und anschließend zu notieren, atmete Aurora auf. Im Dunkeln durch einen möblierten Raum zu laufen, wie es in der schachtelartigen Kammer gelaufen war, war ihr nicht leicht gefallen. Langsam glomm warmes Licht auf, erst schwach, dann immer heller, bis sich die Augen, die bereits wegen der Dunkelheit angestrengt waren, weil sie nach dem kleinsten Fünkchen Licht gegiert hatten, sich wieder an das Tageslicht gewöhnt hatten. Dann erst öffnete Bethesda die Kammer.
Heilpflanzen von Wildkräutern zu unterscheiden war für Aurora ein Kinderspiel. Immerhin hatte sie in Hogwarts zu den absoluten Musterschülerinnen in Kräuterkunde gehört. Doch wie in den letzten Wochen auch schon hatten sich die Ausbilder genug Tücken einfallen lassen, um es den Adepten nicht so leicht zu machen. Auch diesmal hatte Bethesda Herbregis verschiedene ähnlich aussehende Pflanzen in den Lehrbeeten angesetzt. Doch obwohl Aurora nur eine Minute zum Studium der Pflanzen hatte, konnte sie nachher die korrekte Anzahl der Arten und die Anzahl der Exemplare der jeweiligen Art hersagen und auch die Verwendung in Zaubertränken oder Tinkturen.
"Morgen werden wir das Apparieren auf ein nur erwähntes Ziel hin anfangen. Unser eigener Instrukteur wird dich und die anderen diesbezüglich anleiten", sagte Bethesda Herbregis. Aurora nickte. Das Apparieren an einen Ort den man nicht kannte gehörte zum Handwerkszeug eines Heilers wie der Umgang mit Heiltränken oder dem Injuriclausa-Zauber. Denn in den allermeisten Fällen würde ein Heiler innerhalb von wenigen Sekunden an einen fernen Ort überwechseln müssen, ohne diesen vorher eingehend kennenzulernen. Neben den üblichen drei Grundregeln des Apparierens sollte es für das ortsfremde Apparieren noch weitere Regeln geben, unter anderem auch eine Möglichkeit, die eigene Ausrichtung auf der Erde körperlich zu erspüren. Jetzt wußte Aurora auch, wofür diese dunkle Kammer alles gut war.
"Hi, Aurora, hat die große Meisterin dich auch in die Schachtel gesteckt?" Fragte Tom McCloud locker, als die Adepten des ersten Ausbildungsjahres im Tagesraum zusammentrafen und einige Minuten für sich hatten, weil die Ausbilder ihre Tagesplanung miteinander abklärten.
"Schon eine interessante Kiste. Das hatten wir in Hogwarts nicht", sagte Aurora.
"Yo, wir in Redrock auch nich'", bestätigte Tom, daß sie auch hier in Australien nichts wie die dunkle Kammer aufzubieten hatten. "Meister Atropus hat mir erzählt, ich könnte da nachzählen, wie oft ich meiner Mum vor meiner Geburt in den Bauch getreten habe und so was."
"Ja, und Meisterin Bethesda hat mir erzählt, daß du in dieser Kammer auch jeden Tag deines Lebens immer wieder ansehen kannst. Ich habe sowas mal von einem Muggelstämmigen gehört, daß die Maschinen haben, mit denen sie Sachen, die passiert sind immer wieder ansehen können."
"Ach du meine Güte. Von diesen Dingern hab' ich auch schon was gehört", grummelte Tom. "Ist aber natürlich viel schwächer als was wir hier machen können."
"Natürlich", bestätigte Aurora leicht ungehalten.
"Wupp, Tom, holst du Neuigkeiten aus der alten Welt ein?" Wollte Berthold Woodman wissen, der im Vergleich zu dem bärengleichen, schwarzbraunhaarigen Jungzauberer Thomas McCloud schmächtig aussah. Doch das täuschte, wußte Aurora. Wo McCloud die bessere Körperpräsenz bot, zeichnete sich der schmächtige Berty Woodman mit seinen hellgrünen augen und dem glatten, kastanienbraunen Haar als besonders aufgeweckt und reaktionsschnell aus. Offenbar hatten die beiden Jungzauberer, obwohl sie alle hier Einzelzimmer bewohnten, rasch gemerkt, daß sie sich irgendwie ergänzen konnten, ähnlich wie es Aurora und Ireen festgestellt hatten. Die einzige, die hier nicht besonders umgänglich war war die blondhaarige, ziemlich runde Monica Riddley. Doch diese wollte das so, weil sie eine Shadelakerin war, eine, die auf Abstammung und Leistung wertlegte und mit der ehemaligen Silverdrop-Bewohnerin Ireen Barnickle nicht klarkam, weil diese einem allen gegenüber offene und unvoreingenommene Haltung besaß. Der ehemalige Gemmeheart-Bewohner McCloud war der Typ, der ohne Ansehen der Folgen sagte, was er für richtig oder für falsch hielt, während der Ex-Bewohner des Schulhauses Owlstreak Berthold Woodman erst alles bedachte und dann die überlegte Version seiner Ansichten rausließ, ähnlich einem Ravenclaw-Bewohner.
"Morgen kommt Mr. Score, wegen der ersten Übung Apparieren zu unbekannten Zielen", sagte Ireen. Meisterin Ceres hat mir nur noch nicht gesagt, welcher von beiden. Also wir in Redrock wurden von Ike Score unterwiesen. Aber sein älterer Bruder soll im Apparieren ja um Klassen besser sein, dafür aber auch ein Woodring-Arbeitstier."
"Brüder, die das Apparieren unterrichten?" Fragte Aurora Dawn.
"Ja, und zwei ganz merkwürdige dazu. Bei uns in Redrock ging immer das Gerücht um, daß es Zwillingsbrüder seien, obwohl sie laut Register ministerieller Aufsichts- und Lehrpersonen in der Abteilung für magischen Personenverkehr im Abstand von vier Jahren zur Welt kamen. Aber irgendwie habe sich Ike, der jüngere, beim Heranwachsen Zeit gelassen, erzählten die älteren Mädchen uns immer, bevor wir den Typen als Apparierlehrer hatten. Aber ist schon merkwürdig, daß deren Mutter zwei Söhne vom gleichen Mann bekommen hat, obwohl der Mann, mit dem sie verheiratet war, anderthalb Jahre vor der Geburt des zweiten Kindes gestorben ist."
"Ach, und dann haben eure Mädels rumerzählt, daß der jüngere ein verzögerter Zwillingsbruder sein soll?" Fragte Aurora amüsiert. Dann lächelte sie überlegen und sagte: "Bei den Muggeln heißt sowas künstliche Befruchtung, wenn du die Samenflüssigkeit von einem Mann haltbar machst und dann, Jahre später, ohne daß der selbst dabei sein muß, eine Frau, die ein Kind haben will damit befruchtet wird."
"Echt? Was den Muggeln so einfällt. Aber dann hätte die Mutter von Ike Score ja vor über achtzig Jahren schon einen Heiler finden müssen, der ihr sowas beibringt", wandte Ireen nun nicht mehr so erregt ein. Sie überlegte und nickte. "Möglich ist sowas allemal. Aber das ist ja dann total unromantisch."
"Nur junge Mädchen suchen in der Fortpflanzung etwas romantisches", schnarrte Bethesda Herbregis, die ihre Lehrmeisterkonferenz beendet hatte. "Männer legen es nur dann auf dieses Getue an, um eine willige Partnerin zu finden und / oder zu kultivieren."
"Du redest wie eine alte Jungfrau, Beth", mischte sich nun auch Ceres Beanstock ein, die Aurora um einen Kopf überragte, jedoch nur halb so breit war wie die eigentlich sehr schlanke Junghexe. "Dabei hast du fünf stramme Kindlein über den roten Kontinent verteilt und kennst acht junge Hexen und Zauberer, die zu dir Oma sagen dürfen."
"Ceres, die beiden jungen Damen unterhielten sich offenbar darüber, wie ein Mann auch nach seinem Tod gesunde Kinder zeugen kann, wenn ich das richtig aufgeschnappt habe", sagte Meisterin Bethesda Herbregis. Aurora nickte bestätigend. "Deine Adeptin wandte dann ein, daß eine derart vollzogene zeugung völlig unromantisch sei, was mich zu meiner Einlassung bewogen hat, daß der Fortpflanzungsvorgang als solcher keinerlei verklärende Elemente benötigt. Es ist was angenehmes, wenn es in gegenseitigem Einverständnis abläuft und etwas lebensbereicherndes, wenn dabei tatsächlich Nachwuchs in die Welt gesetzt wird. Das will ich nicht abstreiten. Aber eine übernatürlich erhabene Angelegenheit ist das nun wahrhaftig nicht."
"Ihr hattet es von den Score-Brüdern?" Fragte Ceres Beanstock amüsiert grinsend. Aurora und Ireen nickten bestätigend. "Ich war auch mal ein Junges Mädchen in Redrock und habe da auch schon die abstrusen Gerüchte über die beiden gehört, von wegen, verzögertes Heranwachsen oder Angst vor der eigenen Geburt und so weiter. Du hattest das erwähnt, daß die Muggel jetzt mit sowas offen herumwerkeln, Aurora?"
"Eine Hauskameradin von mir hat was von einer Luise Brown erzählt, die vor sechs Jahren in einem kleinen Glas entstanden sein soll, meisterin Ceres", sagte Aurora. "Deshalb kam ich darauf."
"Nun, die alte Score-Witwe hat nach ihrem ersten Mann keinen anderen Zauberer mehr angeguckt. Aber ob sie das gemacht hat, was du vermutest, wissen wir nicht sicher. Ich halte es aber für die plausiblere Variante als die anderen Spekulationen", bekräftigte Ceres Beanstock.
"Ich denke, die Familiengeschichte der Gebrüder Score obliegt uns nur dann, wenn wir als Medimagier unmittelbar mit ihnen zu tun bekommen", wandte Bethesda Herbregis ein. "Egal ob Mr. Myron oder Mr. Ike Score uns an den kommenden zwölf Samstagen beehrt ist nur im Zuge der Übungseinheit Apparieren für Fortgeschrittene von Belang. So, und jetzt essen wir. Du hattest heute wieder einen anstrengenden Tag, Aurora."
"Ja, das gilt auch für dich, Ireen", schloß sich Ceres Beanstock der Aufforderung an. "Du bist womöglich noch nicht aus dem Wachstum heraus."
Beim Abendessen, wo Mentoren und Adepten wieder beieinandersaßen sprachen Aurora und Bethesda über die Abkömmlinge der Heilerin. Dabei erfuhr sie, daß nur ein Kind von ihr Medimagie studiert habe, nämlich der jüngste Sohn, Lazarus. Alle anderen seien entweder im Ministerium gelandet oder als freischaffende Hexen und Zauberer tätig.
"Penny arbeitet für den Stern des Südens, wie du mittlerweile schon rausgefunden hast. Allerdings hat sie sich da auf Berichte aus der Medimagie und Herbologie festgelegt. Bei der Mutter", erwiderte Bethesda und lächelte mild. Aurora wandte ein, daß sie wohl erst ihre Ausbildung fertigmachen wolle, bevor sie ans Mutterwerden denken könnte.
"Nun, sogesehen bleibt dir jetzt auch nichts anderes mehr übrig. du wohnst die ganzen Ausbildungsjahre hier und wirst auch das praktische Jahr hier zubringen. Unsere Hausordnung untersagt das Fraternisieren, also die geschlechtlich bedingte Verbrüderung mit deinen Ausbildungskameraden. Allerdings habe ich hier als Lehrmeisterin schon eine gestandene Großmutter unterwiesen. Aber mehr möchte ich darüber nicht erwähnen", sagte Bethesda Herbregis mit gestrengem Unterton. Dann ging es noch um die Neuigkeiten aus Auroras Heimat. Bethesda wußte, daß Aurora ein Gemälde von sich selbst in ihrem Zimmer hatte, das mit mehreren Ausgaben von sich in Verbindung stand. Verboten war das zwar nicht, aber mußte auch nicht jeden interessieren, woher Aurora ihre Neuigkeiten aus England bezog. So sprachen sie immer von "Briefen aus der Heimat" oder "Das neuste von der Insel".
"Zumindest ein Trost, daß Professor Dumbledore einen würdigen Nachfolger des bedauerlicherweise viel zu früh verstorbenen Silverbolt gefunden hat. Was schreiben deine Base und dein Vetter denn so über Professor Orick Moonlake?"
"Dem letzten Brief von meiner Cousine Agatha nach ist er ein ziemlich wortkarger Zauberer, der es liebt, nicht beachtet zu werden. Zumindest vermutet sie das, weil er sich immer so in den Unterrichtsraum setzt, als gehöre er zum Mobiliar und die Leute fünf Minuten lang schwatzen läßt. Mein Quidditchkamerad Tim Preston erzählt, daß die Gryffindors mit Charles Weasley einen tollen Nachwuchsspiler gekriegt hätten und Professor McGonagall und Madam Hooch es durchgesetzt hätten, daß Charles Weasley schon in diesem Jahr in die Stammauswahl reinkäme und sie einen Nimbus 1500 für ihn beschafft hätten. Das ist der gleiche Besen, den ich auch mal hatte, bis er mir im letzten Spiel überhaupt zerbröselt ist."
"du meinst in Stücke gegangen ist, Aurora", berichtigte Bethesda Herbregis die Aussprache ihrer Adeptin und sah sie leicht vorwurfsvoll durch ihre silbernen, kreisrunden Brillengläser an. Aurora schluckte eine trotzige Bemerkung hinunter. Das war ihr schon einmal nicht bekommen, als sie keine Woche nach ihrer Ankunft hier mit ihrer Meisterin leise aber heftig aneinandergeraten war, weil sie bei der Widergabe von Buchtexten eine jugendlich geprägte Wortwahl benutzt hatte. Danach hatte sie wie zu Hogwarts-Zeiten drei Bögen Pergament mit korrekt rezitierten Buchtexten verfassen und einen Tag lang die Beete mit den nichtmagischen Heilkräutern ohne Zauberkraftbenutzung umgraben müssen. "Der Stil und die Sprache bezeichnen die Glaubwürdigkeit eines Heilers", hatte die Lehrmeisterin ihr dabei immer wieder ins Gewissen gesprochen. "Als Heiler oder Heilerin ist ständig darauf zu achten, berufsmäßige Distanz und besonnenes Wesen zu üben. Nirgendwo außerhalb des Zaubereiministeriums ist es so wichtig, ernstgenommen zu werden wie in der magischen Heilzunft."
"Jedenfalls ist Charles Weasley wohl demnächst in der Quidditch-Mannschaft von Gryffindor", schloß Aurora ihre Berichte aus Hogwarts. Dann erzählte sie noch, daß ihre Schulfreundin Petula die Brautjungfer ihrer Schwester würde und die Hochzeit zu Halloween stattfände.
"Na ja, ob das ein gelungener Tag für eine Hochzeit ist", meinte Bethesda Herbregis. "Andernfalls können Braut und Bräutigam den Hochzeitstag dann nicht nur nicht vergessen, sondern ihn mit der halben Welt zusammen feiern. Ich persönlich bevorzugte einen ganz privaten Termin für meine Hochzeit und hatte auch keine Schwester, die als Brautjungfer eingesprungen wäre, dafür aber neun Cousinen und eine Nichte. Das war schon etwas lebhaft."
"Cousinen habe ich auch zwei", sagte Aurora. "Aber das haben wir ja gerade geklärt, daß ich erst einmal nicht ans Heiraten denken muß."
"Ja, das mit Hochzeiten ist das, was junge Hexen wie dich noch von romantischen Beziehungen träumen läßt. Wie vorhin erwähnt ist das zwar etwas wunderschönes, wenn sich zwei Menschen verstehen, dient aber nur dem einen Zweck, das eigene Erbgut zu verbreiten. Zumindest bin ich deswegen keine schlechtere Mutter und Großmutter, wenn ich dies so sehe", sagte Auroras Mentorin.
Nach dem Abendessen war noch Freizeitgestaltung im Aufenthaltsraum möglich. Die Heilerschülerinnen und -schüler machten dann entweder Musik, spielten Schach oder Kobol, lasen Zeitschriften oder für den Unterricht nicht so wichtige Bücher. Aurora hatte Schach nie was abgewinnen können. Auch als Berty Woodman es ihr beibringen wollte hatte sie ziemlich schnell die Lust an diesem doch ruppigen Spiel verloren, während Ireen sich dafür begeisterte. Tom McCloud sprach dann meistens mit Aurora über ihre Zeiten in den jeweiligen Quidditch-Hausmannschaften.
An diesem Abend war Hausmusik angesagt. Aurora spielte Klarinette, Tom Bassflöte, Ireen Harfe und Berty Bodhrán. Monica Riddley hatte auf Betreiben ihrer Mentorin eine kleine Fidel aus ihrem Gepäck hervorgekramt und spielte ab und an auch mit, so daß meistens schottische oder irische Stücke gespielt wurden.
Kurz nach zehn schickte Meisterin Herbregis, die älteste unter den fünf Mentoren, alle Adepten auf ihre Zimmer. Denn morgen war ja noch ein Unterrichtstag.
"Hallo, Original", grüßte Auroras gemalte Version seine Besitzerin, als diese in das Zimmer F-009 im Dormitorium eintrat. "Vivian Acer hat mein Ich in Hogwarts gebeten, dir schöne Grüße zu bestellen, sie hätte deinen Ratschlag bei Professor Sprout gut umsetzen können und hat zehn Punkte für Ravenclaw geholt. Nelly hat bei Snape fünf Punkte Abzug eingehandelt, aber wie Vivian bei Sprout zehn Punkte zurückgewonnen."
"Snape", knurrte Aurora. "Weißt du, ob der weiß, wo ich jetzt bin?" Fragte Aurora ihre gemalte Ausgabe.
"Natürlich weiß der das. Flitwick hat's ihm nach der letzten V-Konferenz dick aufs Butterbrot geschmiert und hat dabei wie ein kleiner Junge gegrinst. Zumindest weiß Professor Hakennase nicht, daß du über mich und meine Ausgabe in Hogwarts Verbindung hältst, sonst würde der Philipp, Agatha und die anderen, denen du geholfen hast immer gleich zehn Punkte abziehen, wenn sie in seinen Kerker reinkommen."
"Das soll auch so bleiben, Aurora", sagte die natürliche Vorlage der gemalten Junghexe. "Ich will nicht haben, daß Snape mitkriegt, was ich noch in Hogwarts drehen oder wenden kann. Überhaupt eine geniale Nebenwirkung, daß ich dahin ja noch Kontakt habe. Was sagen Mum und Dad?"
"Höhm, immer die gleiche Leier, du sollst auf dich aufpassen, dich nicht gleich angegriffen fühlen, wenn die Ausis dich wegen deiner Herkunft runtermachen und lernen was geht. Aber Dad ist im Moment eh wieder unterwegs in der Welt. Mum ist bei Tante June eingezogen. Die hat kein Bild von mir gekriegt. Petula aber will wissen, ob du Weihnachten da weg und zu ihr nach England rüberkommen kannst."
"Wir haben hier sechs Wochen Weihnachtsferien, Aurora. Weil die haben ja dann auch Hochsommer hier. Sage ihr bitte, daß ich gucke, daß ich zwischen Weihnachten und Neujahr bei ihr vorbeirausche!"
"Ja, mach ich", sagte die gemalte Aurora Dawn.
"Wie geht's Tom Fielding?"
"Petula sagt, der wird richtig rund. Dina muß ja eine mordsmäßig gute Milch haben. Aber kein Wunder, wo die vor seiner Geburt breiter als hoch geworden ist."
"Und wie hat Mortimers Mannschaft gespielt?" Wollte Aurora wissen.
"Die Tornados haben die Cannons mit fünfhundert zu fünfzig Punkten durch den ganzen Erdball gebohrt. Wundere mich, daß die nicht irgendwo bei euch rausgepurzelt sind", versetzte die gemalte Aurora schadenfroh. "Ach ja, und ich soll dir von Eunice Dirkson neidvolle Grüße ausrichten, daß du bei Beth Herbregis dein Handwerk lernst. Immerhin kann sie bald Geburtshilfe und Säuglingspflege am eigenen Kind üben. Die beiden haben sich vor Eunices Antritt im Ministerium so oft zusammengefunden, daß sie jetzt in der fünften Woche ist. Einige von den Kollegen, die sie jetzt hat sind zwar nicht sonderlich begeistert, daß Eunice schon vor den Hochzeitsglocken den Regenbogenvogel gerufen hat. Aber du kennst ja Eunice. Die steckt das locker weg und tut dann so, als habe sie den Schlag ausgeteilt."
"Jaja, kenne ich. Ich schreibe ihr dann mal demnächst einen längeren Brief. Mit den Leuten hier geht's ja noch. Morgen lernen wir blind apparieren, also wohin, wo wir noch nie waren und es vorher nicht genau beschrieben bekommen konnten."
"Dann verspring dich mal nicht!" Sagte die gemalte Ausgabe Auroras.
"Werd ich schon nicht. Bestell Petula schöne Grüße von mir. Wenn Mum bei Tante June und Onkel Tony ist lohnt es sich ja nicht, denen auch was zu bestellen."
"Kein Problem", sagte Auroras gemaltes Ich und verschwand durch den linken Bilderrahmen.
Am nächsten Morgen nach dem gemeinsamen Frühstück im Tagesraum der Heilmagieanwärter verkündeten die fünf Mentoren der Medimagieadepten im ersten Jahr, daß sie heute von Mr. Myron Score in den Grundlagen des spontanen Apparierens an unbekannte Orte unterwiesen würden. Bethesda Herbregis, die älteste der fünf Lehrheiler sagte bestimmt:
"Natürlich hat Mr. Score die Apparierlizenzen vorgelegt bekommen und weiß daher, wie gut jeder von euch abgeschnitten hat. Es besteht also weder Grund zur Angeberei noch zur Tiefstapelei. Da ihr alle an den Samstagen bis zu den Sommerferien diese für Heiler so elementare Sonderunterweisung erhalten werdet, sind die sonstigen Veranstaltungen auf den Nachmittag verschoben worden. Meine Kollegen und ich werden da die noch nicht so recht ausgeloteten Grundfähigkeiten vertiefen. Also bis gleich."
"Meisterin Herbregis, werden Sie auch bei diesen Kursen dabeisein?" Fragte Ireen Barnickle.
"Als Beobachter. Wir werden weder eingreifen noch korrigieren", sagte Bethesda Herbregis kühl.
"Hast du Angst, beim Apparieren kopfüber im Hinterland zu landen?" Fragte Tom McCloud hämisch grinsend.
"Idiot", knurrte Ireen.
"Das könnte eher unserer Kameradin aus England passieren, weil die ja da oben andersherum auf der Erde laufen", warf Monica Riddley ein und blickte Aurora herausfordernd an. Diese lächelte jedoch und schwieg.
"Monica, das reicht", sagte Brigid Springwood, Monicas Mentorin. "Sie hat die bessere Prüfung abgelegt als du. Da würde ich mich sehr still verhalten", fügte sie noch hinzu. Die beiden Jungzauberer grinsten schadenfroh, während die rundliche Monica Riddley verdrossen ihre Lehrmeisterin anblickte. Berty meinte dann noch:
"Solange keiner auf einer großen Braunschlange landet."
"Gut, daß einer das erwähnt", sagte Salix Gnoll, Bertholds persönlicher Lehrmeister. "Bevor wir euch Mr. Score überlassen, kriegt jeder von euch eine Dosis des Breitbandgegengiftes. Könnte ja doch passieren, daß ihr in den Busch geschickt werdet. Die netten Tierchen die da leben sind nicht alle harmlos."
"Sehr richtig", pflichtete Meisterin Herbregis ihrem Kollegen bei. Dann teilte sie aus einer großen Glasflasche ein rosafarbenes Elixir aus, daß die Schüler und Schülerinnen mit einem Schluck klaren Wassers verdünnten und sich dann gegenseitig zuprosteten.
"Dann mal raus mit euch!" Rief Atropus Morningdew, ein vierschrötiger Zauberer mit dunklem Rauschebart, der dem bärengleichen Jungzauberer Tom McCloud zugeteilt war. Die fünf jungen Hexen und Zauberer verließen zügig aber leise den Tagesraum und eilten durch eine der insgesamt drei großen Glastüren hinaus in den von hohen Eukalyptusbäumen umstandenen Hof. Draußen lachten die Cockaburras, die natürlichen Wecker Australiens, die die Sonne zum Aufgehen riefen, wie Aurora es bei ihrem ersten Besuch in Australien schon gelernt hatte. Sie sah sich um. Das nur von Zaubereraugen frei sichtbare Gebäude mit den drei hell gestrichenen Flügeln stand mitten im australischen Busch, unortbar für Muggel und von diesen nicht zu finden. Anders als das St. Mungo in England konnten die australischen Heiler es sich leisten, ihr wichtigstes Behandlungszentrum in die unberührte Landschaft zu bauen. Wer Heil suchte oder nur einen Patienten besuchen wollte, konnte durch das Flohnetz, per Besen oder Apparition anreisen. Im Licht der Sonne glänzte das gläserne Hauptportal des Ostflügels. Dort gingen die Besucher ein und aus oder verließen die geheilten Patienten die Klinik.
Punkt Neun Uhr Morgens ploppte es vernehmlich, und ein hochgewachsener, hagerer Zauberer im dunkelviolettem Umhang erschien. Er lüftete seinen jägergrünen Bowler und nickte den Anwesenden zu. Sein mausgrauer Haarschopf reichte ihm bis auf die Schultern herab. Das schmale, knochige Gesicht war bis auf einen säuberlich aufgewickelten mausgrauen Schnurrbart glattrasiert. Durch die ovalen Gläser einer Goldrandbrille blickten smaragdgrüne Augen auf die hier versammelten Heilkunstadepten. In der Rechten hand hielt der soeben erschienene Zauberer einen zerbrechlich wirkenden, mindestens vierzehn Zoll messenden Zauberstab. Er nickte den sich nun dezent zurückziehenden Lehrheilern zu, bevor er die drei jungen Hexen und zwei Jungzauberer anlächelte, wobei Aurora nicht entging, daß die blendendweißen Zähne wohl schon künstlich waren.
"Ach, haben die hier die Uhren doch noch geölt?" blökte der Neuankömmling wie ein Ochsenfrosch und grinste schelmisch. "Gut, daß die hier nicht nur Knochen und Lieber zusammenhalten. Achso, irgendwas wollte ich doch hier. Öhm, stimmt, einen Guten Morgen wollte ich zunächst mal wünschen. Morgen zusammen!" Die Adepten grinsten. Dann erwiederten sie den Gruß. "Mein Name ist Myron Score, und ich bin vom Ministerium für Zauberei als Apparatorenprüfer tätig. Mein Spezialgebiet ist die Ausbildung im spontanen Apparieren an vorher unzureichend oder gar nicht beschriebenen Orten. Im Grunde weiß ich natürlich, daß Sie alle das schon können. Nur haben die von der Sana-Novodies-Klinik in ihren Ausbildungsstatuten drinstehen, daß Sie das genau ausführen können müssen und ich die Instruktionen dafür erteile, bis kurz vor Weihnachten jeder eine gesonderte Nachprüfung zur allgemeinen Apparier-Erlaubnis ablegt, die bescheinigt, daß Sie auch ohne Ortskenntnisse nach ungenauer Vorgabe zielsicher apparieren können. Das ist für uns hier sehr beruhigend, weil Heiler, die nachdem sie gerufen wurden ja innerhalb von dreißig Sekunden vor Ort sein sollten. Da sind langwierige Beschreibungen ziemlich hinderlich." Wieder grinsten die fünf Adepten. Monica grinste Aurora Dawn an, die jedoch gelassen dastand und der nicht so todernsten Einleitung des instrukteurs lauschte.
"Öhm, ich hörte, daß bei diesem Jahrgang jemand aus der alten Welt bei Ihnen mitlernt. Kann diejenige mal bitte die Hand heben?" Wandte sich Score an die Gruppe. Aurora hob folgsam die rechte Hand. "A ja, da ist sie ja. Dawn, Aurora der Name, richtig?"
"Jawohl, Sir", bestätigte Aurora nickend.
"Sie hatten bei Mr. Twycross ihre allgemeine Apparierausbildung?" Fragte er.
"Das ist korrekt, Sir", bestätigte Aurora ohne zu zögern.
"Gut, wollte nur wissen, ob ich dann bei Ihnen was zusätzliches erwähnen müßte. Aber Twycross paukt ja auch die goldene Dreierregel." Aurora nickte bestätigend. "Womit wir gleich zum wesentlichen kommen. Die Dreierregel kann ja nur angewandt werden, wenn der Apparator das Ziel kennt und sich entschlossen dort zu sein vorstellen kann, bevor er mit Bedacht in die Apparition eintaucht. Aber was ist, wenn einer zu ihnen sagt, daß Sie mal eben nach Waga-Waga apparieren sollen?" Weiß das jemand von Ihnen?"
"Dann denke ich den Namen, während ich mich drauf einstimme, da anzukommen", warf Tom McCloud ein. Monica Riddley rümpfte ihre Nase.
"Teilweise ist das schon die richtige Antwort. Fünf von zehn Punkte würde ich dafür vergeben. Öhm, Ms. ... Riddley, Monica, wenn ich mich nicht irre ... Was mißfällt Ihnen an dieser Antwort Ihres Kameraden", erwiderte Score.
"Daß das Unfug ist, nur einen Ortsnamen zu denken wenn keiner weiß, in welcher Richtung und Entfernung der Ort liegt. Ich konnte nur an einen mir bisher nicht ganz so bekannten Ort, wenn ich wußte, in welcher Richtung und wie weit ungefähr der weg war."
"Oh, ich denke, wir könnten Sie dann alle nächste Woche schon durch die Sonderprüfung bringen", meinte Score, und Aurora hörte einen gewissen Spott heraus. Wer oder was ritt diesen hageren Zauberer, derartig spaßig an seine Unterweisung heranzugehen.
"Machen Sie sich jetzt lustig über mich?" Fauchte Monica.
"Überhaupt nicht, junge Miss. Ich stelle lediglich fest, daß Theorie und Praxis nicht so nahe beieinanderliegen wie Sie und Ihre Kameraden denken mögen. Aber kommen wir zu den durchaus korrekten Behauptungen, die hier eingeworfen wurden. Der name eines Ortes alleine bringt Sie nicht dorthin, auch wenn Sie denken, daß sie jetzt da sein wollen. Denn wahrlich ist das Raum-Zeit-Gewebe nicht mit Namensschildern gestrickt worden sondern mit Richtungs- und Entfernungsgrößen, unter Umständen auch noch mit einer Höhenangabe. Ich weiß, daß Sie alle wohl schon unbewußt die Ankunft an Ihnen nicht ganz so vertrauten Orten geübt haben. Aber dabei hatten Sie wohl alle eine ungefähre Vorstellung von der Beschaffenheit des Zielortes. Ich könnte jetzt also nicht sagen, daß ich nur weil ich den Ortsnamen Hogsmeade schon mal gehört habe beim ersten Anlauf dort landen kann. Ja, und genau das soll ich Ihnen beibringen, ohne gezielte Vorbereitung an einen von Ihnen noch nie besuchten Ort zu apparieren. Deshalb kommen zu den drei allgemeinen Regeln, wie sie sowohl in Redrock als auch in Hogwarts gelehrt werden noch drei weitere Regeln dazu: Abstand, Richtung und Höhenwinkel, oder auch Distanz, Direktion und Deklination. Wie erwähnt haben Sie alle, die sie die allgemeine Zulassung erworben haben bestimmt schon unbewußt mit diesen drei Zusatzfaktoren hantiert, aber ohne das bewußt zu erfahren. Meine Aufgabe ist es, Ihnen einen Sinn für Ihre Position im Raum anzutrainieren und ein Gefühl für Abstand, Ausrichtung und Höhenwinkel zu vermitteln. Wenn ich Ihnen das soweit beigebracht habe, daß Sie es bewußt ausloten können, wie weit und wohin genau Sie apparieren müssen, um genau auf einem bestimmten Punkt herauszukommen, dann ist meine Aufgabe erledigt. Den Rest besorgt dann die Praxis, die Ihnen das hier erworbene Grundgefühl wieder ins Unterbewußtsein bringt, allerdings um das vierfache zielgenauer als es bisher war. Dann, meine jungen Damen und Herren, können Sie auch an einen bisher nicht besuchten Ort reisen, dessen Namen sie nicht kennen und daher auf keiner Landkarte nachsehen können, wo er liegt. Denn in den meisten Fällen wird ein Sie benötigender Patient selbst nicht sagen können, wo er oder sie sich gerade aufhält. Da Sie, wie sie hier alle stehen gut bis sehr gut apparieren können, werden wir gleich in die praktische Veranschaulichung der von mir erwähnten Zusatzregeln eintreten. Ich werde Ihnen beibringen, wie sie ohne die Gestirne beobachten zu können Ihre Nord-Süd-Ausrichtung erspüren können. Sie Müssen einen Orientierungssinn entwickeln, der ohne Landmarken oder Himmelsbeobachtung funktioniert. Es gibt viele Völker, die üben sich seit der Geburt darin, die natürlichen Himmelsrichtungen zu erspüren und verständigen sich auch nur so. Sie sagen nicht links von dem einen oder hinter dem anderen sondern "Das Messer liegt östlich vom Teller", oder "Das zweite Zimmer an der Südseite des Ganges." Da das ganz gewöhnliche Menschen sind, können wir das also auch lernen. Wenn der Kurs hier vorbei ist, kann jeder oder jede von Ihnen ohne anzuecken in einem verschlossenen Besenschrank apparieren oder ohne abzustürzen auf einem schmalen Grat auftauchen. Unter Umständen sparen Sie dann wertvolle Sekunden, die über Leben und Tod entscheiden können. Beginnen wir also." Score hob seinen Zauberstab an. Unvermittelt schossen tiefschwarze Tücher aus dem Stab und flogen wie unheilvolle Vögel zu den fünf Adepten, schlangen sich in Augenhöhe jedes einzelnen um die Köpfe der fünf und verknoteten sich so stark, daß keiner die Tücher mehr lösen konnte. Alle grummelten. Daraufhin vollführte er für die Adepten unsichtbar ein paar Schwenkbewegungen mit dem Zauberstab, worauf der Boden in den Farben des Regenbogens schillerte, bis sich ein Muster aus Kreisen und Linien gebildet hatte. Danach verschwand Score unvermittelt, um zehn Meter links von seinem gerade verlassenen Ausgangspunkt wieder aufzutauchen. "Aus welcher Himmelsrichtung spreche ich jetzt zu ihnen?"
"Öhm, Norden", sagte Tom. "Nordosten", warf Monica ein. Aurora meinte, es sei ostnordost und Berthold vermutete Nordwesten.
"Gut, das Richtungshören in Verbindung mit der Sonneneinstrahlung und der Ihnen bekannten Uhrzeit helfen natürlich, die Himmelsrichtung auf fünf Winkelgrad genau einzuschätzen. Aber jetzt bitte ich Sie darum, ohne Ihre Gesichter darauf auszurichten in nordöstliche Richtung zehn Meter weit zu apparieren!"
Aurora konzentrierte sich auf die fühlbare Sonnenstrahlung und schätzte die Richtung ab, ging innerhalb einer Sekunde die drei Stufen des üblichen Apparierens durch und drehte sich mit erhobenem Zauberstab auf dem Punkt. Mit leisem Plopp verschwand sie, um kurz darauf ungefähr zehn Meter weiter fort zu apparieren. Es krachte und ploppte um sie herum. Dann meinte Score:
"Sie können das jetzt nicht sehen, aber als ich Ihre Augen verband habe ich an verschiedenen Punkten Farbmarkierungen auf den Boden gezaubert. Wer nun genau auf der gelben steht, steht exakt in Nordausrichtung, Orange bezeichnet Nordwestausrichtung, Rot Westen, Violett südwestliche Ausrichtung und Blau eben Süden, Grün bezeichnet den exakten Osten. Bitte bleiben Sie so stehen, wo sie stehen, damit ich Ihre Ankunftsorte notieren kann!"
"Monica, nicht schummeln!" Tadelte Meisterin Springwood ihre Adeptin, die wohl meinte, sich besser auf die angewiesenePosition bugsieren zu können. Score notierte sich wohl etwas. Dann klang seine Stimme unortbar. Offenbar hatte er einen Rundumklangzauber an sich vorgenommen, um nicht mit den Ohren angepeilt zu werden.
"Gut, die Damen und Herren. Nun versuchen Sie, von Ihrer jetzigen Position aus zwanzig Meter in südöstlicher Richtung davon entfernt zu apparieren!"
Aurora konzentrierte sich, wobei sie die Sonne wieder als Hilfsmittel nutzte und disapparierte. Krach! Bei der Ankunft prallte sie voll mit einem nachgiebigen Hindernis zusammen und fühlte gerade noch, wie die hier aus dem Nichts heraus entstandene Körpermaterie von einem anderen Körper abgestoßen wurde.
"Öi!" Knurrte Berty Woodman. "Mit wem bin ich denn da zusammen..." ER streckte seine Hand aus und erwischte Aurora am Oberkörper.
"Berthold Woodman!" Schnaubte Bethesda Herbregis sehr empört, als Aurora die ungewollte Berührung durch eine schnelle Ausweichbewegung abgewehrt hatte. "Aurora, tritt zwei Schritte zurück!" Befahl die Lehrmeisterin ihrem persönlichen Schützling. Aurora nickte und befolgte die Anweisung.
"In Ordnung, da stehen bleiben!" Stoppte Score die Heilmagieschülerin. Dann notierte er wieder was. Sie durften dann weiter in angesagte Richtungen apparieren, nur mit unterschiedlichen Entfernungen. Nach zwanzig Durchgängen lösten sich die völlig lichtundurchlässigen Augenbinden vorsichtig, damit die Schüler nicht vom plötzlichen Lichtschein geblendet wurden. Dann winkte Score alle in seine Richtung und verkündete:
"Also, ich merke es schon jetzt, daß hier einige sind, die gute Richtungsapparatoren sind und einige mit der Kunst als solcher wohl noch nicht so warm sind. Apparierten Sie nach Erwerb Ihrer Lizenz häufiger, Mr. McCloud?"
"Yupp, Sir", sagte der bärengleiche Jungzauberer.
"Wie heißt das, Thomas?" Fragte Toms Mentor etwas verstimmt.
"Öhm, natürlich, Jawohl, Sir", berichtigte Tom seine Ausdrucksweise. Dann sah Score Aurora an und nickte ihr anerkennend zu.
"Sie haben wohl auch während des Lehrgangs sehr rasch gelernt, Ms. Dawn, nicht wahr. Daß Sie eine gute Zielapparatorin sind stelle ich jetzt schon fest. Aber Ms. Barnickle sollte vielleicht vor dem nächsten Kurstag die üblichen Appariertechniken aufwärmen. in achtzehn von zwanzig Fällen landete sie zu weit außerhalb der von mir gesetzten Markierungen." Er deutete auf das in Meterschritte eingeteilte Speichenmuster aus zwölf Linien, die alle fünf Meter von konzentrischen Kreisen durchzogen wurden, die in Scores erwähnten Farben unterteilt waren. Dann sagte er:
"Dies war der erste Richtungsappariertest. Die besten Wertungen haben Mr. Thomas McCloud mit achtundneunzig von einhundert und Ms. Aurora Dawn mit siebenundneunzig von einhundert Wertungspunkten. Pro Durchgang waren maximal fünf Bewertungspunkte zu erringen. Ms. Barnickle kam leider nur auf zwölf Bewertungspunkte, und Mr. Woodman auf sechzehn. Ms. Riddley schaffte eine passable Wertung mit zweiundsiebzig von einhundert für diesen Grundtest. Sehen Sie diesen Test als Ausgangswert an, von dem aus Sie alle sich in den nächsten Wochen verbessern werden. Die besten Drei, also Mr. McCloud, Ms. Dawn und Ms. Riddley werden nun auf meine Anweisungen hin Entfernungsappariertests machen. Die Himmelsrichtung ist dabei unerheblich. Mindestentfernung ist ein Kilometer, damit Sie nicht auf Sicht an Ihre Zielentfernung apparieren können. Jede und jeder von Ihnen erhält von mir ein Magisches Distantimeter und wartet bei der Ankunft, bis ich zu ihr oder ihm hinappariere." Er teilte goldene Armbänder aus, die sie um ihre freien Handgelenke schlingen mußten. Dann trafen sich die besten drei des Ausgangstests im Mittelpunkt aller sichtbaren Entfernungskreise. Dann sollte Tom so gut er konnte eine genaue Entfernung von 1040 Metern zurücklegen. Er richtete sich körperlich aus, konzentrierte sich und verschwand. Mit leisem Ping schlug ein von Score in der zauberstabfreien Hand gehaltenes Meßgerät an und spie leise rasselnd einen kurzen Pergamentstreifen aus, den der Apparierlehrer mit dem Zauberstab anstupste und wohl einen Markierungszauber aufrief. Dann steckte er den beschriebenen Pergamentstreifen fort und kommandierte Aurora, nun so gut sie konnte eine Entfernung von 1230 Metern zu überspringen. Sie konzentrierte sich, stand einen Moment ruhig da und drehte sich schnell und gewand auf dem Punkt, wobei ihr grüner Lernheilerinnenumhang wie ein im Sturm vorbeihuschendes Blatt wehte. Dann war sie sehr leise verschwunden.
"Die hat es drauf, leise zu disapparieren", knurrte Berthold, der außerhalb der Startzone bleiben mußte. Wieder pingelte das Meßgerät und spuckte leise rasselnd einen Pergamentstreifen aus, den Score markierte. Dann schickte er Monica Riddley los, daß sie 1320 Meter vom Ausgangspunkt entfernt ankam. Dann entnahm er den darauf ausgeworfenen Streifen, markierte ihn und packte ihn fort. Danach verschwand er selbst. Zunächst kehrte Monica zurück, dann Tom und dann Aurora. Danach wurden andere Entfernungsanweisungen ausgegeben. Manchmal wurde in Fünf-Meter-Schritten gezählt, manchmal auf winzige Abweichungen von der gesetzten Grundentfernung. Aurora sollte einmal genau 1001 Meter vom Ausgangspunkt entfernt apparieren. Diesmal führte Score dreißig Durchgänge durch. Dann verkündete er:
"Das Entfernungsgefühl schrumpft mit der zunehmenden Entfernung. Wer dann noch ungefähr die angewiesene Distanz zurückgelegt hat besitzt bereits ein brauchbares Grundtalent für reines Entfernungsapparieren. Auch hier werden wir in den nächsten Wochen eine zunehmende Genauigkeit erzielen. Die Bestleistung in dieser Grunderprobung wies Mr. McCloud mit einer Fehlerquote unter vier von hundert auf. Ms. Dawn schaffte es immerhin noch unter sechs von hundert und Ms. Riddle ist mit vierzehn von hundert nicht unbegabt. Natürlich ist es das Idealziel, eine Entfernungsgenauigkeit von null von einhundert Fehlerpunkten zu erzielen. Das wird Stoff der Übungen der nächsten nun noch elf Wochen sein. Ihre Mentoren werden innerhalb des üblichen Lehrrahmens genug Zeit mit Ihnen verbringen können, um Sie fit für das Apparieren an jedem unbekannten Ort zu machen. Die beiden Kandidaten, die heute nicht zur Entfernungserprobung herangezogen wurden, dürften dann ab nächster Woche diese Ausrichtungsgenauigkeit erlernen, wenn ich weiß, daß die offenbar etwas eingeschlafene Praxis sich wieder eingefunden hat." Ireen und Berthold grummelten leise, weil sie heute als die Verlierer des Tages hingestellt worden waren. Noch einmal wurden die Richtungsapparierübunen mit verbundenen Augen gemacht. Score wies darauf hin, daß sie ab der fünften Kurswoche nicht mehr vormittags, sondern nach Sonnenuntergang üben würden, um die warmen Sonnenstrahlen nicht mehr als Ausrichtungshilfe nutzen zu können. Nach den Richtungsübungen kam noch einmal eine Runde Entfernungseinschätzung. Dann beendete Score den Kurstag.
"Das ist doch voll blöd, daß wir nur wegen dieser Richtungsverspringerei nicht mit den Entfernungsübungen betraut wurden", Knurrte Berthold an die Adresse seines Mentoren. Dieser sah ihn tadelnd an und sprach ihm dann Mut zu.
"Das du eine der Prüfungsbesten deines Jahrgangs warst weiß ich ja", sagte Bethesda Herbregis zu ihrer Schülerin. "Aber du hast gemerkt, daß es doch was anderes ist, nur auf Richtungs- und Entfernungsangaben hin zu apparieren als einen genau bekannten Ort anzusteuern. Ich gehe aber schwer davon aus, daß wir uns bei dir nicht lange mit Zwischenübungen aufhalten müssen und stattdessen die schnellen Zauberabfolgen trainieren können."
"Ich habe mit dem Apparieren mittlerweile keine Probleme mehr. Erst dachte ich, auf der Südhalbkugel wäre es irgendwie anders. Aber jetzt geht es doch", sagte Aurora dazu nur. Ihre Mentorin nickte.
Am Nachmittag gingen die fünf Mentoren mit ihren Schützlingen ins Gelände hinaus, um wild wachsende Zauberpflanzen zu erkunden oder Insekten einzufangen, zu bestimmen und die Verwendbarkeit bestimmter Körperteile von ihnen zu diskutieren. Abends war dann Freizeit. Im Tagesraum trafen sich die Anfänger mit denen aus den höheren Klassen, die wie sie um acht Uhr zu Abend aßen und sich dann bis elf Uhr die freie Zeit vertrieben. Am Sonntag war dann wie üblich ein Ffreier Tag.
"Du warst besser als die Riddley", meinte JillTrylief, eine der HIP-Anwärterinnen, die nach diesem Ausbildungsjahr die Endprüfung ablegen und dann ihr praktisches Jahr ableisten sollte, bevor sie als qualifizierte Heilhexe arbeiten durfte. Sie war eine frühere Gemmeheart-Schülerin gewesen und wirkte auf Aurora wie eine nordische Kriegerprinzessin mit ihrem wallenden Blondschopf und dem athletischen Körperbau, den himmelblauen Augen und dem energischen Kinn.
"Sie ist nicht schlecht", meinte Aurora im Bezug auf Monica Riddley. Jill grinste.
"Die hat, soweit meine kleine Schwester es mir geschrieben hat, in Redrock immer die Spitzennoten rangeholt. Schön, daß sie hier nicht so überragend ist."
"Tom ist noch besser als ich", wandte Aurora bescheiden ein.
"Ja, weil in seiner Ahnenlinie ein Abo drin war, einer von denen, die tausend Kilometer ohne einen Meter vom Weg abzuweichen laufen können. Jetzt kommt das richtig durch", sagte Jill. Aurora wußte, daß "Abo" für "Aborigine" stand, also einen australischen Ureinwohner. Doch diese waren doch dunkelhäutig, fiel es Aurora ein.
"Ich sagte ja auch, daß er einen Abo in der Ahnenlinie hatte und nicht, daß sein Vater oder Großvater einer war", entgegnete Jill verschmitzt grinsend. Ireen Barnickle winkte Aurora zu, nachdem sie sich mit einer älteren früheren Hauskameradin unterhalten hatte und holte sich bei Herbregis und Beanstock die Erlaubnis ein, mit den Besen ein wenig herumzufliegen.
Montags bis Freitags waren dann die wirklich wichtigen Heilerausbildungssachen dran, wie Theorie der alchemistischen Wechselwirkung, Flexible Zauberkunst, multiple Verwandlung von Lebewesen und ihre Umkehrung, Körperkunde des Menschen und humanoider Zauberwesen sowie Aufbau und Lebensfunktionen kleiner und großer Pflanzen. Daneben wurde die Geschichte der magischen Heilkunst genauso gepaukt wie Arbeitstechniken bei der Dokumentation von Diagnosen und Therapien. Hierzu wurden auch ältere Heilerberichte herangezogen, die von den Mentoren leicht verfremdet wurden, um die Adepten über Fehler stolpern zu lassen oder sie, was natürlich besonders beachtet wurde, diese Fehler entdecken und korrigieren zu lassen. Samstags stand dann wieder zielgenaues Apparieren an unbekannten Orten auf der Tagesordnung. Diesmal durften auch Ireen und Berthold an den Richtungs- und Entfernungsapparierübungen teilnehmen. Aurora schaffte es, ihre Fehlerquote bei sechs von hundert zu halten, während Tom sich um einen halben Punkt verschlechterte, was seinen Mentor etwas ungehalten dreinschauen ließ. Myron Score sagte dazu jedoch, daß solche leichten Abschwächungen völlig normal seien und im Anbetracht dessen, daß die Adepten ja viele andere, wesentlich Konzentrationsintensivere Sachen einstudieren mußten kein Grund zur Besorgnis sei.
Am Nachmittag sagte Bethesda Herbregis:
"Heute Nachmittag gehen wir in den Regenwald. Zieh dir bitte die Drachenhautschutzkleidung an, um gegen giftige Tiere und Insektenstiche gewappnet zu sein!"
"Das ist das erste Mal, daß ich mit Ihnen in den Dschungel gehe", stellte Aurora leicht aufgeregt fest. Bethesda Herbregis nickte.
"Ich finde, du solltest jetzt schon damit anfangen, zu lernen, wie bestimmte Wirkstoffe aus der Natur gewonnen werden können, nachdem du mir in dieser Woche die Keimfreilösung so fehlerfrei und schnell heruntergesagt und nachgebraut hast", meinte die Lehrheilerin. Aurora nahm dies als Kompliment und Ansporn. Fünfzehn Minuten später trug sie die von der Sana-Novodies-Klinik bereitgestellte Schutzkleidung, die aus einem Drachenhautmantel mit Kapuze und Handschuhen, einer damit per Reisverschluß verbundenen Hose und fest verschnürbaren Stiefeln bestand, alles im satten Blattgrün. Doch bevor Aurora mit ihrer Lehrerin per Seit-an-Seit-Apparition in eine der australischen Dschungelregionen überwechseln sollte bekam sie noch einen kleinen Becher mit einer glasklaren Flüssigkeit darin.
"Die Schutzkleidung hält viel ab. Aber um sicherzustellen, daß nicht doch eine Vergiftung auftritt trinken wir beide vom Antidot 999", sagte Bethesda. Aurora sah sie interessiert an. Sie interessierte sich sehr für dieses Breitbandgegengift, das 999 von 1000 Tier-, Pflanzen-, Pilz- oder Gährungsgiften neutralisieren oder deren Wirkung von vorne herein unterbinden konnte.
"Wie das geht möchte ich gerne lernen", sagte Aurora leicht aufgeregt.
"Hätte mich wohl auch sehr gewundert, wenn nicht", erwiderte Meisterin Herbregis leicht lächelnd. "Immerhin ist das Antidot 999 in der Heiler- und Zaubertrankbraukunst oft diskutiert worden. Im zweiten Jahr werde ich dir die Zubereitung beibringen, die ziemlich umfangreich ist und ein Gerütteltmaß an perfektionierten Arbeitstechniken mit mehreren Braukesseln und Grundtränken beansprucht. Da du in der Braukunst ja sehr bewandert und vorgebildet bist gehe ich davon aus, daß du die entsprechende Trankprüfung schaffst, die ich als Voraussetzung für die Weitergabe des Rezeptes ansehe." Aurora wußte, daß Bethesda Herbregis dieses Breitbandgegengift zu großen Teilen mitentwickelt hatte und bestimmt sehr stolz sein mochte, daß es nun zum Standard der magischen Heilzunft zählte.
Aurora trank den Inhalt des Kelches. Sie hätte das Elixier wie gewöhnliches Wasser angesehen, wenn sie nicht das leichte Prickeln verspürt hätte, daß beim Hinunterschlucken auftrat. Als sie das kleine Gefäß restlos geleert hatte nahm sie Meisterin Herbregis beim zauberstabfreien Arm.
"Hast du es schon raus, daß das Seit-An-Seit-Apparieren wesentlich einfacher geht, wenn der mitzunehmende leicht vom Boden abspringt, während der steuernde Apparator den Übergang einleitet?" Fragte die Lehrmeisterin. Aurora schüttelte den Kopf. "In Ordnung. Ich zähle jetzt laut bis drei. Dann springst du leicht ab, hältst dich dabei aber gut an meinem Arm fest. Eins - zwei - drei!" Aurora sprang ab und fühlte, wie sie herumgezogen wurde. Doch der dann folgende sonst viel zu enge Durchlaß in das Nichts zwischen zwei weit entfernten Standorten war diesmal nicht so bedrückend wie sie es bisher gewohnt war. Als sie wieder frei atmen und festen Boden unter den Füßen fühlen konnte schlug ihr feuchtheiße Luft entgegen, die nach frischen Blättern, aber auch leichter Fäulnis, feuchter Erde und verrottendem Holz roch. Unzählige Stimmen in der dunkelgrünen Dämmerung verborgener Tiere klangen aus allen Richtungen zu ihr. Sie hörte das Rascheln sich weit über ihr in den Blättern hoher Bäume tummelnder Tiere und lauschte dem Zirpen, Zwitschern, Quaken und Brüllen, daß diese uralte Naturlandschaft erfüllte. Aurora stand für einen Moment in Ehrfurcht und Staunen da, während um sie herum winzige Insekten schwirrten.
"Das ist das erste Mal, daß du in einen unberührten Urwald eintrittst?" Fragte Bethesda Herbregis leise. Aurora nickte.
"Gut, dann bleibst du am besten hinter mir, während ich uns einen Weg durch das Unterholz bahne. Halte jedoch Ausschau nach Tieren, die im Buschwerk versteckt sein könnten. Wir werden mindestens mehrere Dutzend Insekten, Spinnen und Giftproben von Schlangen einsammeln."
"Verstanden, Meisterin Herbregis", bestätigte Aurora folgsam und hielt sich zwei Schritte hinter ihrer Lehrerin. "Ramoretracto!" Rief Bethesda und hielt ihren Zauberstab nach vorne ausgestreckt. Ein dünner Faden grünen Lichts entschlüpfte dem Stab und traf auf das dichte Blattwerk. Leise knarrend und raschelnd zogen sich die Zweige zurück. Die erfahrene Heilhexe schwenkte den immer noch grün glimmenden Zauberstab sachte von rechts nach links, womit sie für wenige Sekunden alle den Weg überquerenden Zweige und Blätter beiseiteschob, ohne mit einem Haumesser oder einer Axt den Weg freischlagen zu müssen. Aurora folgte ihrer Lehrerin in Schrittlänge und beobachtete die Umgebung. Ein leises Rascheln über ihr ließ sie rasch aufblicken. Da tauchte der flache Kopf einer armlangen Schlange zwischen den breiten Blättern auf, und der gliederlose Körper wand sich geschmeidig zwischen den Ästen dahin. Aurora fragte, ob diese Schlange giftig sei und deutete nach oben.
"Ja, die ist leicht giftig. Jagt bevorzugt kleine Säugetiere. Aber wir werden zunächst eine Lichtung ansteuern, bevor wir beide die Sammelaktion beginnen", sagte Meisterin Herbregis und ließ den Zauberstab wieder nach links auspendeln, um ein Bündel dicker Zweige nach links fortschwingen zu lassen. Aurora folgte weiterhin und nahm dabei alle neuen Eindrücke in sich auf. Trotz der über den Kopf gezogenen Kapuze konnte sie alles wie mit unbedeckten Ohren hören, was an einem Liberauris-Zauber lag, der in die Kapuze eingearbeitet war. Diesen hatte sie erst in der letzten Woche kennengelernt, um Textilien, Häute oder weniger als ein Zoll dicke Holzbretter so zu bezaubern, daß Schall ungefiltert hindurchdringen konnte. Ein ähnlicher Zauber, so hatte ihre Meisterin erklärt, könne auch Gegenstände durchsichtig wie Fensterglas machen oder für einige Sekunden alle fleischlichen Bestandteile eines lebenden Wesens durchsichtig machen. Doch diesen Zauber wollte sie Aurora nach der ersten Halbjahresprüfung beibringen, wenn ihre anatomischen Kenntnisse ausreichten, um die ersten Untersuchungen anstellen zu können.
"Achtung, da vorne ist die Lichtung", sagte Bethesda. Aurora wunderte sich, woher die Heilerin das wissen mochte. Denn sie selbst konnte nichts dergleichen erkennen. Erst als sie sich weitere hundert Schritte durch den Urwald vorangearbeitet hatten vermochte sie einen immer heller werdenden Lichtschein in ihrer Marschrichtung zu sehen. Weitere hundert Schritte später traten sie auf eine etwa fünfzig Meter mal vierzig Meter große Fläche hinaus, auf der verschiedene Bodenkräuter wucherten. Bethesda ging in die Knie und ergriff mit der leeren, behandschuhten Hand nach einem wedelartigen Halm und zog ihn stramm. "Was ist das hier für ein Kraut?" Fragte sie Aurora. Diese trat zu ihrer Lehrerin und betrachtete den Halm.
"Huch, wildes Winkgras! Das kenne ich noch aus dem Unterricht in Hogwarts."
"Was ist daran so huch?" Fragte Bethesda etwas verschnupft. Aurora räusperte sich und begründete ihr Erstaunen:
"Das wilde Winkgras kommt, soweit ich gelernt habe, doch nur im südamerikanischen Grasland vor und wächst dort in Exemplaren zu maximal fünf Halmen pro Quadratmeter im Verhältnis eins zu zwanzigtausend im Bezug zu unmagischen Kräutern und gräsern. Daß dieses Kraut auch in Australien vorkommt hat mich gewundert."
"Dann hat deine Kräuterkundelehrerin euch nicht ausreichend unterrichtet. Das wilde Winkgras konnte sich auch in Australien ansiedeln, wenn auch in wesentlich kleineren Vorkommen. Die australische Variante wächst als Einzelhalm im Verhältnis eins zu einhunderttausend im Vergleich anderer Bodenpflanzen. Dafür ist dessen magische Wirksamkeit jedoch um so höher." Der von Bethesda gehaltene Halm begann nun, wild zu zittern und sich zu drehen. Aurora wußte, daß jeder Winkgrashalm sich alle fünf Minuten sacht einmal im Kreis drehen konnte. Wurde er festgehalten, staute sich der magische Eigenbewegungsdrang von Minute zu Minute. Als die Lehrmeisterin den Halm losließ, vollführte er für zehn Sekunden wild auslenkende Kreisbewegungen. Dann hielt der wedelartige Halm inne.
"Fällt das den Muggeln nicht auf, wenn hier Winkgras wächst?" Fragte Aurora.
"Nur wenn sie den einen Grashalm genau beobachten würden und sich über den Unterschied zur Windrichtung wundern würden. Andererseits ist diese Pflanzenart so spärlich und kleinwüchsig, daß sie leicht übersehen wird. Ich gehe davon aus, daß es auf dieser Lichtung nur vier Halme dieser Art gibt. Selbst wenn die Wildform eine höhere Konzentration an magischen Essenzen hat ist es schwierig, eine für die üblichen Tränke und Lotionen nötige Menge zusammenzukriegen. Als ich eine Adeptin im ersten Jahr war wie du jetzt hat meine Mentorin mich mal wegen gewisser Nachlässigkeiten dazu verurteilt, ihr im Dschungel ein Pfund wildes Winkgras zusammenzusuchen. Dafür war ich einen vollen Tag unterwegs und habe sie bitterböse angesehen, als sie nichts besseres damit angestellt hat als es zu trocknen und dann zu verbrennen. Also halte dich wacker und folgsam, Kind, damit ich nicht meine, dich zum Winkgrassammeln abkommandieren zu müssen!"
"Ich werde es bedenken, Meisterin Herbregis", sagte Aurora leicht eingeschüchtert. Doch dann meinte sie: "Ist es nicht schwierig, die üblichen Wirkstoffe von einer Wildform abzuscheiden?"
"Wie erwähnt kommen diese in der australischen Variante wesentlich höher konzentriert vor", erwiderte Bethesda Herbregis sachlich. "Die genaue Zusammensetzung werden wir am Montag in der Wirkstoffkunde nachprüfen und für die Weiterverarbeitung präparieren." Die Heilerin erhob sich. Aurora staunte, wie gelenkig die mindestens vierzig Jahre ältere Hexe in den Knien federn konnte. Sie blickte zu einem der Bäume hinüber, in dessen Geäst irgendwelche Vögel oder Zwergaffen lärmten.
"Jetzt werden wir uns mal ansehen, welche Tiere in den unteren Baumregionen zu finden sind. Kannst du gut auf Bäume klettern?"
"Habe ich als Neunjährige zum letzten Mal gemacht, als ich mit den Muggelkindern aus unserer Nachbarschaft gespielt habe", erwiderte Aurora leicht verlegen.
"Gut, dann wenden wir den Anheftungszauber an", sagte Bethesda Herbregis. "Schon davon gehört oder ihn gar selbst ausprobiert?"
"Ist das der, der einen wie mit starken Saugnäpfen an Händen und Füßen an glatten Wänden hochklettern lassen kann?" Fragte Aurora.
"Eben dieser", bestätigte die Lehrheilerin. "Das Zauberwort heißt Muscapedes. Während du es sprichst oder konzentriert denkst mußt du deine Handflächen mit der Zauberstabspitze berühren und dabei an eine die Wand hinaufkletternde Fliege denken. Dann kannst du fünf Minuten lang an allen senkrechten Hindernissen entlangklettern", erläuterte die Heilhexe ruhig. Sie murmelte erst "Finis Incantato!" um den grünen Lichtfaden erlöschen zu lassen, mit dem sie ihren Pfad durch den Dschungel gebahnt hatte. Dann hielt sie die Zauberstabspitze an ihre linke Handfläche und murmelte "Muscapedes!" Aurora folgte ihrem Beispiel. Sie wollte erst hörbar zaubern, um sich die Vorstellung einer an einer Wand hinaufkletternden Fliege so gut es ging ins Bewußtsein rufen zu können. Tatsächlich fühlte sie nach Ausspruch des Zauberwortes ein leichtes Kribbeln in Handflächen und Fußsohlen. Und als sie die leere Hand an den Stamm des nächsten Baumes drückte, meinte sie, sie klebe daran fest. Etwas befremdet sagte sie zu Meisterin Herbregis:
"Meine Hand klebt fest. habe ich das richtig gemacht und wenn ja, wie kann ich dann klettern?"
"Du mußt beide Hände an der Oberfläche haben und die Arme anspannen. Dann unterliegt der Zauber wieder deinem Willen und du kannst jedes Körperglied lösen, daß du bewegen willst", sagte die Heilerin und führte es vor, wie sie beide Hände an den Baum legte und dann die rechte Hand löste und nach oben reckte, um über Kopf am Stamm Halt zu finden. Aurora verstand und packte ihren Zauberstab sicher fort. Dann legte sie die nun freie Hand an den Baumstamm und zog sich hoch. Tatsächlich hafteten die Hände nur solange, wie sie nicht willentlich die Hand lösen und weiter oben neu anlegen wollte. Ähnliches fühlte sie auch bei den Füßen, die wie mit starken Klebstoffen getränkt am Stamm anhafteten, aber problemlos wieder gelöst und neu angesetzt werden konnten. So verbrachte Aurora die erste der erwähnten fünf Minuten damit, den Baum langsam hinaufzuklettern und die neue Klettertechnik auszuprobieren.
"Übrigens ist noch zu erwähnen, daß dieser Zauber nur bei toten Oberflächen funktioniert", sagte Bethesda Herbregis. "Wenn du deine Hand oder einen Fuß auf ein krabbelndes Insekt setzt wirkt die Magie nur ein Viertel so stark. An großen Tieren kannst du damit nicht hinaufklettern, weil die Haut belebt ist. Bei Bäumen geht es nur, wenn zwischen deiner Hand und dem Vegetationskern mehr als zehn Zentimeter totes Holz liegen. Daher solltest du dich eher am Stamm halten und bei Ästen fest zugreifen, um dich zu halten."
Die beiden Hexen turnten nun einige Male den hohen Baum hinauf und hinunter, bis die Heilerin befand, daß sie nun im unteren Geästbereich nach Insekten und anderem Kleingetier suchen sollten. Aurora folgte ihrer Meisterin, die ruhig und sachlich über die von ihnen gerade bekletterte Baumart sprach und erwähnte, welche magischen und nicht magischen Tiere diese Baumart bewohnten. Sie sammelten Larven und erwachsene Insekten in luftdurchlässigen Lederbeuteln zusammen, prüften den Moosbewuchs am Baum, bestimmten einige kleinere Schmarotzerpflanzen und arbeiteten sich weiter nach oben vor, wobei sie einige lärmende Vögel aufstöberten. Dann fing Bethesda sogar eine kleine Echse ein, die im Geäst nach Beutetieren suchte. Als sie den Baum mit und ohne den Kletterzauber abgesucht hatten turnten sie mit magisch behandelten Händen und Füßen wieder nach unten und suchten sich einen weiteren Baum aus, an dem sie nun etwas behänder hinaufkletterten. So ging es mehr als drei Stunden weiter, bis Bethesda und ihre Schülerin mehrere Schlangen, Kerbtiere und Kleinechsen betäubt und eingesammelt hatten. Zwischendurch mußten sie von dem Antidot 999 weitere Dosen nachtrinken, um weiterhin gegen mögliche Vergiftungen gefeit zu bleiben. Dann ging es weiter durch den Dschungel, wobei sie aus dem Buschwerk Insekten, Spinnentiere und Kleinreptilien holten, Pilzbewuchs von Stämmen abstrichen und sich über die zu hörenden Geräusche unterhielten.
"Der Unterschied zwischen uns australischen Heilern und denen in Europa und Nordamerika besteht darin, daß wir eine Zwischenprüfung in Urwaldkunde abverlangen, weil viele Heiler wild wachsende Zauberpflanzen aus dem Dschungel beschaffen oder dort nach noch unerforschten Arten von Zauberkräutern suchen. Mutter Natur hat in Australien ein sehr breites Sortiment an magischen und / oder giftigen Tier- und Pflanzenarten zusammengetragen. Deshalb gelingt unser Breitbandgegengift auch am besten mit australischen Ingredentien", belehrte Bethesda Herbregis ihre Schülerin. Dann führte sie sie weiter durch den Dschungel. Zwischendurch fragte sie mal nach, ob sich Aurora noch einigermaßen orientieren konnte. Denn nirgends sei es so wichtig, das Richtungsgespür zu trainieren als im Urwald. Aurora, die bisher immer noch nicht so recht erspüren konnte, in welcher Richtung Norden oder Osten lag vertippte sich natürlich mehrere Male, weil ihr der Freie Blick auf die Sonne fehlte. Zum Schluß der heutigen Exkursion fanden sie noch mehrere handgroße Giftspinnen, die sie gesondert verstauten. Dann kehrten sie in die Sana-Novodies-Klinik zurück, wobei Aurora alleine apparierte.
"Zeig mir bitte dein Lerntagebuch!" Verlangte Bethesda kurz nach dem Abendessen von ihrer Schülerin. Diese holte das blattgrüne Notizbuch hervor, daß sie am ersten Tag ihrer ordentlichen Ausbildung bekommen hatte. Wie von ihrer Lehrmeisterin verlangt trug sie seitdem jeden neuerlernten oder bereits erprobten Zauber pro Tag ein und führte Buch über die besprochenen oder benutzten Pflanzen- und Tierprodukte. So stand für den gerade beendeten Tag darin, daß Aurora Dawn am Morgen Entfernungs- und Richtungsapparitionen geübt hatte und am Nachmittag in einem abgelegenen Urwald Insekten und Reptilien erforscht hatte, welche Pflanzenarten ihr dabei untergekommen waren, wobei sie das wilde Winkgras mit einem roten Kreis umschrieben hatte und welche Tiere sie eingesammelt hatten. Auch den Unterholzpassierzauber Ramoretractus und den nützlichen Kletterzauber Muscapedes hatte sie eingetragen, wobei sie eine kurze Beschreibung von Aufruf und Wirkung und eine Notiz, wo sie näheres darüber nachlesen konnte angefügt hatte. Bethesda Herbregis war sichtlich zufrieden.
"Du hast es sehr gut verinnerlicht, dieses Lerntagebuch zu führen. Das wird dir in den folgenden Jahren sehr nützlich sein, wenn wir intensiv über Diagnose- und Therapieverfahren sprechen und diese anwenden werden", sagte Auroras Mentorin. "Immer vor dem Abendessen nachtragen, was du gemacht hast", wiederholte sie, was sie alle paar Wochen immer wieder anriet.
Nach dem Abendessen war wieder Freizeit innerhalb oder außerhalb des Medimagie-Lernzentrums. Aurora hielt sich dabei bei Ireen Barnickle auf, die am Nachmittag verstärkte Apparierübungen gemacht hatte. Ihre Mentorin Ceres Beanstock hatte sich offenbar vorgenommen, ihre zugeteilte Medimagieadeptin in den nächsten zwei Wochen auf Tom McClouds und Auroras Leistungsniveau zu bringen.
"Huh, Dschungelausflüge wollte meisterin Beanstock erst im November mit mir machen", sagte Ireen. "Bist du dir sicher, daß deine Mentorin dich nicht in einem Jahr durch alle Lernstufen jagen will?"
"Denke ich nicht", erwiderte Aurora. "Ich glaube eher, daß sie mein Gespür für Zauberpflanzen voll ausreizen will und mir deshalb schon jetzt die Dschungelsachen zeigen will. Wahrscheinlich will sie dann bei den Körperkundesachen mehr Zeit haben."
"Ja, da legt die lange, dünne Ceres auch viel Wert drauf. Übermorgen soll ich in diese Dunkelkammer rein und die Blutkreislaufsimulation mitmachen. Soll sehr schwindelerregend sein, hat sie mir gesagt."
"Na klar, mit deinen UTZs in Pflege magischer Geschöpfe und Verwandlung bist du eher für die tierischen Körperfunktionen zuständig", erwiderte Aurora sehr vergnügt.
"Hätte ich wohl besser nicht raushängen lassen sollen. Ceres will mich wohl bei den Giftmelkern andienen, hat sie mal rausgelassen", stöhnte Ireen. "Die züchten hier Taipane und andere Giftschlangen."
"Weiß ich, die werden alle Jahre durch nachgefangene Tiere aufgestockt", sagte Aurora. "Mit dem Gift des schwarz-gelben Taipans kannst du hochpotente Zaubertränke machen, wie die Myotropmixtur zur Muskelnachbildung und den Leberentschlackungstrank Nummer drei, wo eine Dosis schon reicht, um alle in der Leber angestauten Giftstoffe auszuschwemmen und für den Organismus unschädlich wie gewöhnliche Flüssigreststoffe in die Kanalisation rauschen zu lassen."
"Ach du großer Drachenmist, habt ihr Mädels nichts anderes als Lernsachen drauf?" Knurrte McCloud, der sich von seinem Jahrgangskameraden Woodman abgesetzt hatte, der sich mit einem Heilschüler aus dem nächsten Jahr über die australische Quidditchliga unterhielt.
"Wieso, wir zählen nur zusammen, was wer heute so erlebt hat", meinte Ireen.
"Die dicke Riddley hat von Brigid Ballettübungen verschrieben bekommen, weil die den Abspecktrank nicht nehmen wollte. Wußte gar nicht, daß die hier in der Sano auch Tanzkurse geben", grinste McCloud. Dann meinte er zu Ireen: "Hat die Bohnenstange dich heute noch hundertmal rumapparieren lassen?"
"Ja, hat sie, und ich bin dabei einmal auf dem Ayes Rock gelandet, obwohl ich zum Darling-Fluß sollte. Ich fürchte, die wird mich in den nächsten Tagen mindestens fünfmal pro Tag solche Fernsprünge machen lassen", stöhnte Ireen.
"Häh, die hat dir Darling-Fluß gesagt und du bist trotzdem an diesem roten Felsen angekommen?" Fragte Tom.
"Nein, natürlich hat die nicht den Ort beim Namen genannt, wo ich hinsollte", schnaubte Ireen. "Die hat mir nur Richtung und Entfernung angesagt. Ja, und bei der Richtung hat's wohl gehakt."
"Tja, und bei der Entfernung wohl auch", feixte Tom. Doch dann lächelte er aufmunternd. "Dann wirst du auf jeden Fall die Nachprüfung für Apparieren an unbekannte Orte blitzsauber bestehen, wenn die Bohnenstange dich so drangsaliert."
"Ja, aber nur apparieren macht keine Heilerin aus mir", sagte Ireen leicht verdrossen. "Ihr wißt ja, daß ich in die Praxis meiner Tante mit einsteigen soll, weil deren eigene Kinder nach Redrock nicht hier antreten wollten und auch nicht die nötigen UTZs gemacht haben. Das daß so umfangreich wird hat mir Tante Amaranta nicht erzählt."
"Huch, den Namen deiner Tante höre ich heute zum ersten Mal", sagte Tom. "Ist das nicht die Cousine von Lady Laura?"
"Ich habe den Nachnamen nicht erwähnt. Wie kommst du darauf, daß die mit Madam Morehead verwandt ist?" Knurrte Ireen leicht verschnupft.
"Weil meine Mum mir mal das Register aller aprobierten Heilerinnen und Heiler gegeben hat. Da gibt's nur eine Amaranta, die verheiratet ist und deren Kinder im Ministerium in verschiedenen Abteilungen schaffen, Amaranta McBane, die wiederum mit Majestät Morehead verwandt ist, weil sie denselben Großvater Mütterlicherseits haben, Galenus Brownbark, der vor vierzig Jahren noch den Ladem hier geleitet hat", wobei er eine die Wände und die Decke bezeichnende Handbewegung ausführte.
"Öhm, du hast deiner Mum aber das Verzeichnis wiedergegeben und nicht etwa gefressen, oder?" Meinte Ireen verdutzt.
"Das ganze Verzeichnis konnte ich nicht essen. Dann sähe ich ja jetzt aus wie die Riddley", erwiderte Tom McCloud. "Ich habe mir nur die wichtigsten Leute da rausgepickt. Vielleicht kann in vierzig Jahren ja wer auch meinen Namen als wichtig rauslesen."
"Vielleicht", meinte Ireen verschmitzt grinsend. "Aber was meine Tante angeht stimmt das schon, daß das Amaranta McBane ist. Die will natürlich nicht, daß ihre Cousine sie ärgert, daß sie die Niederlassung nicht weitervererben kann. Besser so, daß ich weiß, was ich im Leben machen kann als entweder Jahre lang rumzusuchen oder dann doch irgendwo im Ministerium zu landen, wenngleich die Tierwesenbehörde schon was gewesen wäre."
"Grüne Känguruhs zählen und die großen Enten füttern", meinte Tom. Dann sagte er: "Wenn das mit der Heilerausbildung nix gibt gehe ich dann in die Zauberwesenabteilung rein, vielleicht ins Koboldverbindungsbüro oder das Hauselfenzuteilungsamt."
"Oder das Sabberhexenaufspürkommando", feixte Ireen. Aurora wurde hellhörig. Das war das erste Mal in ihren bisher anderthalb Monaten in Australien, daß sie davon hörte, daß es auch hier am Fuß der Welt diese grünen Kreaturen geben sollte, die in Europa in den dichten Wäldern lebten.
"Von denen gibt's im Moment nur zwanzig registrierte Exemplare in Australien. Das Kommando hat von den hundert, die in den letzten zweihundert Jahren eingeschleppt wurden achtzig weggezimmert."
"Wie kamen die denn übers Meer?" Fragte Aurora.
"Joh, Mädchen, hast wohl noch nix davon gehört, daß Aussiland mal 'ne Strafkolonie der Muggel war. Bei der Gelegenheit hat euer Zaubereiministerium von der Insel gefährliche Zauberwesen als Frachtgut getarnt mit ausgelagert, darunter eben einn paar Sabberhexen, die betäubt und in Holzkisten eingesperrt verschickt wurden. Die Zaubereiverwaltung Australiens sollte die dann im Urwald aussetzen, damit die nicht Nachwuchs kriegten. Doch einige von denen sind entwischt und haben sich über den ganzen Kontinent verteilt. Aber mittlerweile haben die vom Aufspürkommando die meisten gekriegt und krrk", sagte Tom und deutete einen Schnitt durch die Kehle oder Erdrosseln an. Aurora sah ihn leicht betrübt an. Einerseits hatte sie gewisse, nicht gerade angenehme Erfahrungen mit diesen grünen Waldfrauen. Andererseits erschütterte es sie, daß die gezielte Ausrottung dieser Wesen betrieben wurde. Doch andererseits gab es in Australien keine Vampire und nur sieben registrierte Werwölfe, die aus England eingewandert waren und in den Vollmondnächten in einer Sammelunterkunft der Tierwesenbehörde verbleiben mußten. Überhaupt waren die australischen Tier- und Zauberwesengesetze sehr drakonisch, fand Aurora, nachdem sie das Buch "Richtlinien zum Umgang mit magischen Geschöpfen" gelesen hatte. Da war aber von Sabberhexen keine Rede gewesen. Das sagte sie auch.
"Tja, weil es eben nur eine Richtlinie für die gibt: Finden und totmachen", grinste Tom McCloud.
"Ja, und uns dadurch der Möglichkeit berauben, deren Speichel und deren Haare zu Heilzwecken benutzen zu können", erwiderte Ireen. "Immerhin haben sie im Magazin für zeitgenössische Medimagie erwähnt, daß der Sabberhexenspeichel zur Herstellung von Schmerzmitteln gut geeignet ist." Tom grunzte leicht ungehalten, weil er jetzt wieder in eine Fachdiskussion reingeraten war und wünschte den beiden Mädchen nach einigen Sekunden noch einen schönen Abend.
"ey, meinst du, der wollte sehen, ob er bei einer von uns landen kann?" Fragte Ireen ihre englische Kameradin.
"Kam das bei dir so rüber?" Fragte Aurora zurück. Dann mußte sie einige Sekunden nachdenken. "Nöh, sah für mich nicht so aus, Ireen. Der wollte halt nur sein Hirn ausschütteln, nach dem ganzen Tag. Ich weiß ja nicht, was sein Mentor ihm so abverlangt."
"Zumindest nicht apparieren", knurrte Ireen Barnickle. Doch dann fiel ihr auch auf, daß sie nun zu lange über Lernsachen geredet hatten und verfielen in eine Unterhaltung über Hecate Leviata, eine junge Liederhexe, die gerade so richtig durchgestartet war und über Weihnachten wohl im Stadion der Darwin Dragonflies auftreten würde.
Um die empfohlene Schlafenszeit zogen sich alle in ihre Zimmer zurück.
"Hallo, Aurora", begrüßte Aurora Dawn ihre eigene Stimme, als sie die Zimmertür von Innen verschlossen hatte. Sie blickte zu dem Gemälde ihrer Selbst hinüber. "Philipp läßt ausrichten, daß er mit Agatha einen besonderen Halloweentrank zubereiten will, um in Hogwarts Stimmung zu machen. Ich habe denen dann den Transluzenztrank empfohlen."
"Jau!" Erwiderte die echte Aurora Dawn. Sie erinnerte sich noch lebhaft an das zweite Halloween in Hogwarts, wo alle Zweitklässler in der letzten Zaubertrankstunde vor dem Fest einen Trank angerührt hatten, der ihre Körper völlig durchscheinend machte. Sie erinnerte sich vor allem an die Fehlschläge von Dorian Dirkson, der wie ein grün leuchtender Blasebalg immer angeschwollen und geschrumpft war oder den später schmachvoll aus Hogwarts hinausgeworfenen Samiel Sharkey, der meinte, etwas von dem perfekten Trank seiner Klassenkameradin Tonya in seinen eigenen Trank einrühren zu müssen, was ihm für die Feier eine nebelhafte Erscheinung eingebrockt hatte. Medimagisch war Transluzenz unbrauchbar, weil er eben den ganzen Körper durchscheinend machte und nicht nur die fleischlichen Anteile. Sie wünschte ihrem Cousin Philipp und seiner Schwester noch angenehme Tage und legte sich schlafen.
Die Wochen bis Halloween vergingen mit Übungseinheiten mit und ohne Zauberstab. Zwei Tage vor dem einunddreißigsten Oktober saß Aurora mit ihrer Mentorin allein in einem Zaubertrankbraulabor, von denen es zwanzig Einzelne und ein großes gab. Auf insgesamt fünf Feuerstellen brodelten, blubberten, dampften und schäumten Tränke in kleinen kesseln vor sich hin. Bethesda Herbregis hatte Aurora dazu angehalten, Bicranius Beaumonts Mixtur der mannigfaltigen Merkfähigkeit anzusetzen, von dem Aurora erst im vierten Schuljahr was gehört und gelesen hatte. Bei Snape hatten sie ihn nie angesetzt, weil hierfür fünf Kessel zugleich und ein ganzer Tag nötig war. Vor dem Start des simultanen Brauvorgangs hatte Bethesda Herbregis Aurora ausgefragt, was sie noch über den Trank wußte und welche gesetzlichen Bestimmungen seine Zubereitung und Verabreichung regelten.
"Kessel eins kocht gleich über, Aurora!" Warnte Meisterin Herbregis ihre Schülerin, die gerade beim fünften Kessel eine Zutat einrührte. Aurora sah den ersten Kessel von links an und eilte schnell hinüber. Mit einem Zauberstabwink ließ sie das kleine Buchenholzfeuer unter dem Kessel auf halbe Stärke zusammenfallen. Sie begutachtete den Inhalt, der gerade aus einer blauen, winzige Blasen werfenden Flüssigkeit bestand.
"Buchenfeuer heizt das Gebräu Nummer eins schneller an als Eichenholzfeuer, Aurora. Offenbar wolltest du nicht so genau unterteilen. Lass mal sehen!" Sagte Auroras Mentorin und begutachtete den Kessel. "Hmm, knapp an der Katastrophe vorbei", sagte sie leicht verdrossen. "Wenn du das Gebräu bei voller Flamme eine Minute hättest weiterkochen lassen, wären die Blasen faustgroß geworden und hätten den Inhalt wild im Raum verspritzt. Wenn dabei was in einem der anderen Kessel gelandet wäre hätten wir einen Clamp'schen Aufruhr erlebt. Am besten machst du eine Absaugglocke über Kessel eins! Die Suspension darin ist sehr katalytisch. Wie wir sie ja auch haben wollen, wenn wir die nächsten Stufen ausführen."
Aurora holte einen Glassturz mit einem Absaugschlauch daran aus einem der unentflammbaren Laborgeräteschränke, stülpte ihn über den ersten Kessel und steckte das Schlauchende in eine Abzugritze. Nun würde beim neuen Überkochen keine Flüssigkeit durch den Raum spritzen. Das Feuer wurde mit einem sich selbst drückenden Blasebalg in Gang gehalten, jedoch so behutsam, daß es nicht wieder die volle Stärke gewann.
"Mein Zaubertranklehrer in Hogwarts hätte mich wohl nicht früh genug gewarnt", sagte Aurora.
"Ja, aber ich sehe nicht so aus wie Snape", schnarrte Bethesda. "Also Muß ich auch nicht so denken und handeln wie der. Abgesehen davon wäre auch dem das keinen Clamp'schen Aufruhr wert. Hmm, aber die anderen Kessel sind im Moment in der ruhigen Phase. Das Gebräu in Kessel fünf schlägt gerade in den erwünschten Grünton um. Dann haben wir jetzt eine volle Stunde, bis du die halbe Salzwurz in Kessel vier zerkochen mußt. Dann beschreibe mir in der Zeit noch mal Ursachen und Auswirkungen von Clamps Kommotion!""
"Moment, das war in der UTZ-Prüfung", setzte Aurora an. "Aja, Bromelius Clamp hat 1666 bei einem auf vier simultan kochende Gebräue verteilten Zubereitungsvorgang einen Kessel zu nahe an einem anderen stehen lassen. Dabei entstand zu viel Dampf, der sich mit dem Dampf aus dem anderen Kessel vermischt hat. Da der Siedepunkt von Gebräu zwei höher war als der von Gebräu eins schlug sich der aus Kessel zwei entweichende Dampf nieder und fiel dabei in Kessel drei und vier. Danach kam es zu einer Spontanverdampfung von Kessel drei und einer unkontrollierbaren Verteilung der restlichen Zaubertrankingredientien, die wiederum zu schweren Verpuffungen und Verätzungen führte. Clamp selbst entging der Kettenreaktion nur, weil er sein Labor mit einer unzerbrechlichen Glastür von der Außenwelt abgesichert hatte. So konnte er die Auswirkungen für sein Laborverzeichnis festhalten und für bestimmte Zaubertrankzubereitungen nachvollziehen. Bei den ungewollten Vermischungen und Verpuffungen entstanden hochgradig körperverändernde Gifte, aber auch Clamps Einfühlungselixier, dessen gefahrlose Herstellung er erst nach zehn Jahren Forschungsarbeit entschlüsselte und damit der magischen Heilzunft ein wichtiges Mittel erschloß, um sprachunfähigen Patienten helfen zu können. Der Aufruhr vollzieht sich, so Clamp, wenn ein Basisgebräu mit hoher Wirksamkeit auf andere Gebräue überkocht und auf mindestens zwei unterschiedlich auswirkende Zwischenstufen trifft, die dann die ganze aufgebaute Magie in elementaren Kräften freisetzen, wobei sie zu hochgiftigen Formen umschlagen. Ein bei der Clamp'schen Kommotion häufig auftretendes Gift ist später als Tanatos' Tränen in Umlauf gekommen, als Clamps eifersüchtiger Neffe den Aufruhr nachstellte und dieses Gift dabei gewann. Ein Tropfen in einen See geträufelt kann alle Fische darin töten. Wird er auf die Haut eines Tieres oder Menschen gegeben, tritt innerhalb von einer Minute der Tod durch vollständige Muskelstarre ein. Wird damit ein Gartenbeet verunreinigt, wächst da zwei Jahre lang nichts mehr, und was da schon wuchs verrottet innerhalb einer Stunde."
"Ja, aber dann ist es wohl auch gefährlich, die dämpfe von diesem Gift einzuatmen, oder nicht?" Warf Bethesda Herbregis ein. Aurora überlegte kurz und schüttelte den Kopf.
"Das Gift zersetzt sich in der frischen Luft, sobald die Temperatur über virzig Grad beträgt. Der Dampf ist also ungefährlich. Jedoch die Flüssigkeit kann unterhalb des Siedepunktes ihre volle Giftigkeit entfalten, ja sogar im gefrorenen Zustand aufbewahrt werden. Es gab Mordfälle, wo zermahlene Eiskristalle dieses Giftes einen verzögerten Tod herbeigeführt hatten, weil die Kristalle erst einmal restlos auftauen mußten", sagte Aurora. "Jedenfalls beeinträchtigt die Clamp'sche Kommotion einen Bereich von zwanzig mal zwanzig mal zwanzig Metern, plus minus Wirkungsgrad der darin verwickelten Gebräue und macht das davon betroffene Labor für mindestens einen Monat unbenutzbar. Reinigung und Lüften sind danach unerlässlich."
"Richtig, und meine aprobierten Kollegen würden sich sehr nett bei mir bedanken, wenn ich dieses Labor ruinieren würde, auch wenn wir dabei wohl den Tod gefunden hätten", erwiderte Bethesda Herbregis. Aurora fragte, wieso sie dann überhaupt nur mit Schutzhandschuhen, aber nicht mit Atemschutzmasken oder Kopfblasenzaubern zu Werke gingen.
"Wie du sagtest sind die meisten Dämpfe der von uns hier üblicherweise angesetzten Gebräue ungiftig, verströmen zu Weilen nur einen unerträglichen Gestank. Aber die sensorische Überwachung des Brauvorganges ist unerläßlich. Deshalb dürfen wir unsere Nasen nicht einfach in Kopfblasen einsperren. Die meisten Gifte hier sind entweder Blutgifte, nervengifte oder Verdauungsgifte, die nur bei direkter Aufnahme in den Körper schaden. - Aber wenn wir schon mal Bromelius Clamp erwähnen: Welches einzig bekannte Gegenmittel gibt es gegen Tanatos' Tränen?"
"Öhm, war das nicht ein Gebräu aus Drachenblut und Einhornhorn, in Verbindung mit pulverisierten Eidechsenschuppen?" Fragte Aurora.
"Soll das jetzt eine Antwort oder eine Gegenfrage sein, Aurora?" Knurrte Meisterin Herbregis. Aurora nickte und sagte entschlossen:
"Eine Viertelunze pulverisierte Eidechsenschuppen auf sieben Unzen gemahlenes Einhornhorn in einer Lösung aus zwei Litern Drachenblut und vierzehn Litern klares Wasser, wobei die Menge Drachenblut in Abständen von je einer halben Stunde zugegeben werden und in der Zwischenzeit abwechselnd fünfmal im und fünfmal gegen den Uhrzeigersinn umgerührt werden muß. Alle Stunde ist ein Zehntel der angegebenen Gesamtmenge Einhornhornpulver einzurühren. Die Viertelunze Eidechsenschuppen wird halbiert und ganz zu Beginn und eine halbe Stunde vor dem Ende des Brauvorgangs zugegeben. ist alles im Kessel soll dieser einen vollen Tag lang auf kleiner Flamme unangerührt kochen. Allerdings muß der dabei benutzte silberne Rührlöffel im Kessel bleiben, womöglich weil sich daran unerwünschte Stoffe abscheiden. Diese einzige rettende Lösung wurde 1914 von Professor Albus Dumbledore als eine der zwölf Verwendungsarten für Drachenblut veröffentlicht und führte dazu, daß die bis dahin entstandenen Mengen von Tanatos' Tränen unschädlich gemacht werden konnten."
"Oh, daß du das alles noch weißt, obwohl es ja nicht unbedingt zum gewohnten Abschlußprüfungsstoff zählt ist sehr bewundernswert", sagte Bethesda Herbregis. "Da bin ich ja mal gespannt, was noch alles in deinem Gedächtnis schlummert." Die Heilerin holte ihr eigenes Notizbuch hervor und schrieb sich mit flinken Bewegungen in einer nur für sie lesbaren Kurzschrift auf, was sie gerade mit Aurora besprochen hatte. Dann meinte sie noch: "Gut, daß du dich auf Zaubertränke festgelegt hast weiß ich ja, wenngleich wir natürlich hier alle Zweige der heilsamen Zauberei so gut es geht verinnerlichen müssen. Aber zumindest möchte ich dann noch wissen, was auf die absichtliche Herstellung dieses Todestränen-Gebräus steht und wann die entsprechenden internationalen Bestimmungen zum Umgang damit vereinbart wurden."
"Das Gift als solches wurde erst nach der dritten Clamp'schen Kommotion isoliert, nachdem er bei der zweiten fast im verseuchten Labor gestorben wäre. Nach Feststellung der Giftigkeit wurde verfügt, daß seine Rezeptur nicht in den Standardwerken der Zaubertrankbraukunst veröffentlicht werden darf. Die Rezeptur als solche ist nur aprobierten und unter Benutzung von Eidessteinen vereidigten Heilern zugänglich zu machen, die schwören müssen, niemals in ihrer Ausübung tödliche Substanzen an magische Personen oder Zauberwesen außerhalb der magischen Heilerzunft weiterzuleiten und nicht von sich aus den Tod von anderen damit herbeizuführen. Das Gesetz wurde 1702 in Hogsmeade von den sieben führenden Zaubereiministern oder zaubererratsvorsitzenden Europas beschlossen und für die gesamte Welt verbindlich festgelegt. Die arabischen und persischen Zaubereihüter traten dem Abkommen ein Jahr später bei, nachdem die Passage mit der willentlichen Tötungsabsicht eingefügt worden war. Das asiatische Triangulum China, Japan und Indien trat dem Geltungsgebiet dieses Gesetzes am siebten Dezember 1841 bei."
"Na, wer sagt es denn", meinte Bethesda Herbregis dazu und notierte sich noch etwas in ihrem Buch. Dann sagte sie: "Dieses Gesetz ist eines der zehn globalen Direktiven der modernen Medimagie. Von den anderen neun kennst du bereits die, die magischen Künste nur zur Genesung und zum Schutz anvertrauter Personen mit magischen Kräften zu benutzen, sowie das Gleichbehandlungsgebot, demnach ein Heiler nur die Abwesenheit von Zauberkräften als Grund für die Verweigerung einer Heilbehandlung betrachten darf. Die restlichen sieben kriegen wir in diesem Jahr noch, weil die zur erstjahresendprüfung "Bestimmungen der magischen Heilkunst" gehören. Das müssen wir nicht jetzt schon alles können." Aurora nickte. Gesetze und Geschichtsdaten zu lernen war ihr schon in Hogwarts ein Gräuel gewesen. Andererseits wußte sie, daß es ohne Vorschriften und Verhaltensregeln nicht immer zu machen war, besonders nicht in der Zaubererwelt, wo durch die eigenen Zauberkräfte wesentlich mehr Verantwortungsgefühl und klare Ausrichtung geboten war. Wer dazu noch in einem Bereich arbeitete, der Leben und Gesundheit anderer Mitmenschen betraf, mußte da noch genauer wissen, was er oder sie zu tun und zu lassen hatte. Bethesda Herbregis hatte ihr in der ersten reinen Theoriestunde gesagt, daß genau an dieser Hürde, immer nur auf das Wohl der Mitmenschen hinzuwirken und sich dem immer zu unterwerfen viele keine Heilerausbildung anstrebten. Sie hatte sich in diesem Zusammenhang auch erstaunt geäußert, daß Monica Riddley, eine ehemalige Shadelakerin, sich zum Studium der Medimagie entschlossen hatte.
In der Zeit, wo die fünf Kessel vor sich hinbrodelten sprachen die Heilmagieausbilderin und ihre Schülerin über Halloween in Hogwarts und Redrock. Aurora erzählte ihrer Mentorin, daß sie im zweiten Schuljahr den Transluzenz-Trank gebraut hatten.
"Hier in Australien ist schwer an Geisterampfer dranzukommen. Deshalb habe ich in Redrock mal einen Trank hinbekommen, der in Verbindung mit Fruchtsaft einen Menschen für eine Stunde so umgestaltet, daß er oder sie wie eine menschengroße Ausgabe der verwendeten Frucht mit Kopf, Armen und Beinen aussieht. Mein zaubertranklehrer meinte nach Halloween, daß er erst einmal keine wandelnden Kürbisse mehr sehen wolle und wir Glück hätten, daß Halloween nicht mit Karotten oder Bananen gefeiert würde. Allerdings hat dieser Trank eine üble Nebenwirkung: Du bekommst einen unbändigen Hunger, fühlst dich aber von allen pflanzlichen Lebensmitteln angewidert. Das wurde dann das reinste Würstchenund-Eierpfannkuchen-mit-Speck-Wettessen, und die Küchenelfen haben mehrere Dutzend Spanferkel, allerdings ohne den üblichen Zierrat mit Äpfeln und Petersilie aufgefahren. Einige von meinen Mitschülern können noch heute keine Pfannkuchen mit Speck essen oder haben von den damals angegessenen Pfunden immer noch ein paar auf dem Leib. Einer meiner Hauskameraden der zwei Klassen unter uns war meinte mal, daß wir alle, die wir als wandelnde Kürbisse herumgelaufen sind, doch auch gefälligst Kerzen im Mund zu halten hätten und hat von den Kerzen über dem Haustisch einige heruntergefischt."
"Kann ich mir echt lustig vorstellen, wenn jemand wie ein großer Kürbis herumläuft. Hoffentlich hat keiner versucht, den anderen anzuschneiden", meinte Aurora.
"Anschneiden nicht. Aber ein Shadelaker hat versucht, eine meiner Rootfoot-Mitschülerinnen auszuhöhlen. Das hat aber nicht geklappt, weil der Excavatus-Zauber nur auf Gestein und Erdreich anwendbar ist und der Ventervacuus-Zauber eben nur den Mageninhalt verschwinden läßt."
Aurora grinste leicht bei der Vorstellung, ihre Mentorin mit einem kürbisrunden Körper zu sehen. Dann warf sie noch die Begebenheit ein, die bei ihrem ersten Halloweenfest in Hogwarts passiert war, wo einer ihrer Klassenkameraden von einer Geisterfrau zum Gruseltanz aufgefordert wurde und erwähnte die kopflose Jagd.
"Ja, ihr habt eben so viele Gespenster bei euch in England. Zwar kennen die Aborigines auch eine Menge Geisterwesen. Die erscheinen aber eben nur an Plätzen, die den Ureinwohnern heilig sind oder kommen nur auf unmittelbare Anrufung herbei und sind meistens nicht gerade erfreut, in die Welt der Lebendigen hineingezogen zu werden", erwiderte Bethesda Herbregis. Dann erwähnte sie noch einen Halloweenscherz, den sie in Redrock mitgemacht hatte.
"Das war in meinem sechsten Jahr da, als wir zu Halloween in unseren Mittelsaal gingen und sämtliche Stühle und Tische kopfüber an der Decke hingen und die Kerzen mit den Flammen nach unten darunter schwebten. Unser Schulleiter, sonst immer ein sehr auf Ernst und Ordentliches Verhalten achtender Zauberer, saß am mit den Beinen an der Decke stehenden Tisch und winkte uns, warum wir uns nicht setzten. Dabei hing sein Kopf nach unten, ohne das sein roter zaubererhut heruntergefallen oder sein wallendes weißes Haar dem Boden entgegengehangen hätte. Es sah wirklich so aus, als stünden wir mit den Füßen an der Decke. Denn auch die Fenster wirkten verkehrt herum eingesetzt. Auf die Frage, wie wir so essen könnten brachten unsere Hauslehrer uns bunte Gürtel, die wir umlegten. Da stiegen wir nach oben, meinten, die Erdanziehungskraft sei gedreht worden, weil wir wie Fliegen an der Decke landeten und uns wie üblich gegen unser eigenes Gewicht aufrichten mußten, um den Boden, der jetzt die Decke war über uns zu sehen. Danach saßen wir an unseren Tischen und versuchten zu essen. Das war aber nicht so leicht, weil für die Speisen die übliche Ausrichtung der Erdschwerkraft galt. Allerdings hatten die Küchenelfen riesige Schüsseln auf dem Boden hingestellt und fingen die entwischenden Speisen ein. Als wir dann nach einer halben Stunde, in der wir weder etwas essen noch trinken konnten gefragt wurden, weshalb wir nichts äßen meinte unser Schulleiter humorvoll:
"Das ist wohl euer erstes Halloween, bei dem ihr nur von Luft leben müßt, wie?" Danach zauberte er irgendwas, daß wir und die Möbel uns mit den Kerzen zusammen langsam wieder in die eigentliche Ausrichtung drehten und dabei auf den Boden zurücksanken. Dann klappte es auch wieder mit dem Essen. Ich weiß bis heute nicht, wie dieser Zauber genau aufgerufen wird."
"Dein Schulleiter hatte wohl doch eine Menge Humor, wie?" Fragte Aurora.
"Ja, daß habe ich erst erfahren, als ich Hauserste wurde, also die ranghöchste Vertrauensschülerin von insgesamt dreien. Da durfte ich nämlich nicht nur die für die reinen UTZ-Klassen erlaubten Bücher lesen, sondern auch im Register der bisherigen Schüler stöbern. Natürlich habe ich da auch über unseren damaligen Schulleiter nachgelesen, daß er mal für einen Verbavisus-zauber, den er erfunden hat, sowohl Strafarbeit als auch eine Belobigung von seinem Zauberkunstlehrer bekommen habe. Da Professor Oberon Rockridge bis zu seiner Ernennung zum Schulleiter Zauberkunst unterrichtet hat war mir da natürlich klar, daß er diesen Kopfstandzauber bewirkt haben mußte. Später fragte ich ihn mal, was er denn angestellt habe, also was ein Verbavisus-Zauber denn sein solle. Er erklärte mir darauf wesentlich vergnügter als ich ihn sonst kannte, daß er in seiner Jahrgangsstufe einen Mitschüler hatte, der es liebte in Bildern zu sprechen und immer wieder gerne Anspielungen gebrauchte wie "Den drachen nicht rufen, wenn du nicht willst, daß er kommt" oder "Da soll doch der Troll dreinschlagen" oder "erzähl mir doch nichts vom Pferd!" und sowas. Er hat wohl lange experimentiert, bis er raushatte, wie er jemanden oder etwas so bezauberte, daß die ausgesprochenen Wörter, sobald sie nicht auf bereits vorhandene sondern nur bildhaft bemühte Gegenstände bezogen waren, zu räumlichen Bild- und Klangillusionen wurden. Als der bedauernswerte Mitschüler dann meinte, er sei Feuer und Flamme für eine gewisse Mitschülerin - hat er scheinbar lichterloh gebrannt, was einige Mitschüler wohl heftig erschreckt hat. Als er dann fragte, welche falsche Schlange ihm diesen Fluch angehext habe, kam ein orange-blaues Ungetüm von einer Schlange aus seinem Mund und schlängelte sich einige male durch den Raum. Als er dann in einer Rüden Art ausrief, auf den Urheber seiner Misere möge ein Drache seinen Kot werfen, sei auch noch ein antipodisches Opalauge durch die Decke aufgetaucht und habe einen riesigen Klumpen Mist abgesetzt und Feuer gespien. Zum Glück wirkte die Illusion nur auf Gehör und Augen, nicht auf den Geruchssinn. Der betreffende Schüler hat dann einen vollen Tag nichts gesagt. Als dann eine schulweite Ermittlung stattfand und sämtliche Zauberstäbe nach den letzten gewirkten Zaubern befragt wurden kam es heraus, daß Professor Oberon genannt Berry Rockridge was damit angestellt hat, was zu dieser Beeinträchtigung der freien Aussprache führte. Immerhin hat er es dann doch irgendwann zum Schulleiter gebracht. Seit zwei Jahren ist er aber im Ruhestand und schreibt an seinen Memoiren und ist in der Gruppe, die gegen die Zauber von "Winnies wilde Welt" angehen will. Dir ist dieses verfluchte Buch ja wohl hinlänglich bekannt."
"Rockridge. Heißt die Anwärterin der diesjährigen Zaubereiministerwahlen nicht so. Die ist doch mit einem aus der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit verheiratet, oder nicht?"
"Prospero Rockridge ist der Enkel von Professor Oberon Rockridge. Seine Frau Latona hat sehr gute Aussichten, die erst zweite Zaubereiministerin Australiens zu werden, nachdem Galinda Treetop vor siebzig Jahren für zehn Jahre dieses Amt bekleidet hat. Allerdings galt da noch das Gebot, daß beamtete Hexen nicht verheiratet sein durften oder bei ihrer Heirat als Dankeschön pro Jahr im Ministerium drei Viertel des höchsten Jahreseinkommens als Abfindung und Mitgift erhielten. Treetops Neffe hat dieses Gesetz dann geändert, als er von 1945 bis 1967 Zaubereiminister war, weil zum einen viele Hexen sich beschwerten, ihr Leben so rigoros vorbestimmen zu müssen und der Schatzmeister des Zaubereiministeriums angemerkt hat, daß das Ministerium nicht weiterhin die hohen Abfindungen würde zahlen können. Vielleicht wäre ich dann auch ins Ministerium gegangen, wenn dieses Familiengründungsgesetz für Hexen damals schon abgeschafft worden wäre. Naja, aber so konnte ich auch etwas wertvolles zum Wohl der Zaubereigesellschaft beitragen, vielleicht sogar mehr als im Dienst des Zaubereiministeriums", sagte Bethesda Herbregis und blickte Aurora aufmunternd an. Diese schwieg jedoch dazu. Erst eine Minute später fragte sie, ob dieser Bildwort-Nachbilder-Zauber in irgendeinem Buch erwähnt würde.
"Nein, der gehört wohl zu Professor Rockridges kleinen Privateigentümern. Mag sein, daß er ihn in seinen Memoiren detailliert beschreibt. Aber wenn ich bedenke, daß damit auch viel Unfug angestellt werden kann behält er ihn vielleicht doch für sich. Wie erwähnt ist er mir als Schulleiter allermeistens streng und respekterheischend aufgefallen", antwortete die Heilhexe.
"Professor Dumbledore macht keinen Hehl daraus, daß er viel Humor hat", entgegnete Aurora Dawn darauf.
"Nun, er hat ja auch viel mitgemacht im Leben", seufzte Bethesda Herbregis. "Vor allem der Konflikt mit diesem Grindelwald und dem Unnennbaren. Wer da nicht etwas zum lachen findet ist sehr arm dran", seufzte Auroras Mentorin. Dann warf sie einen prüfenden Blick über die fünf Kessel, die weiter vor sich hinköchelten. Aurora überlegte, was sie noch sagen sollte. Dann fragte sie, ob hier in der Sana-Novodies-Klinik auch Halloween gefeiert würde.
"Wir hängen ein paar ausgehöhlte Kürbisse in den Tagesraum und stellen ein Musikfaß hin, in dem ein paar alte Zauberer- und Hexenlieder stecken. Aber diesen Tingeltangel mit lebenden Fledermäusen oder singenden Geistern oder tanzenden Skeletten erlauben wir uns für gewöhnlich nicht, weil wir trotz der Beschaulichkeit im Adeptenhaus nicht vergessen dürfen, daß nicht weit von uns weg kranke Menschen liegen, die unser Wissen und Können nötig haben. Halloween ist hier in Australien auch nicht der große Feiertag wie bei euch auf den britischen Inseln oder drüben bei den Yankees, von einigen derben Streichen abgesehen. Wir halten es da eher mit Weihnachten und Ostern. Du hast doch wohl schon davon gehört, daß der Weihnachtsmann bei seinem Flug über Australien keine Rentiere vor dem Schlitten gespannt hat. Oder nicht?"
"Heather, ich meine Ms. Springs, hat es mir erzählt, daß die Abbildung vom Weihnachtsmann mit weißen Känguruhs vor dem Schlitten bei den muggelstämmigen groß in Mode ist. Für zaubererweltstämmige gibt es die Sonnenwendeulen die in der Weihnacht auf allen Dächern sitzen und fröhliche Lieder singen, die aber angeblich nur friedvolle Hexen und Zauberer hören können. Würde mir das gerne mal ansehen. Aber ich denke, meine Eltern sind immer noch etwas traurig, weil ich so weit von ihnen weggezogen bin."
"Dafür singen wir hier keine Lieder über Schnee oder vereiste Seen oder klirrende Kälte und wärmende Feuer", sagte Bethesda. "Die Sonnenwendeulen, die wir in Australien um Weihnachten haben und die Nordeuropäer zur Sommersonnenwende, gibt es auch verkleinert als Baum-, Wand- oder Türschmuck. Ähnlich wie bei euch mit den Mistelzweigen heißt es bei uns in Australien, daß es Glück bringt, sich unter einer singenden Eule zu küssen. Deshalb hängen sich gerade junge Mädchen, die nicht älter als du sind solche Schmuckeulen an jede Tür. Da du mit Heather Springs wohl gut bekannt bist wird sie dir jetzt, wo du bei und von uns lernst, bestimmt mindestens eine solche Sonnenwendeule schicken. Allerdings müssen die zwei Tage vor dem Jahreswechsel wieder verschwinden, weil sie sonst alles Glück des kommenden Jahres ins alte Jahr herüberrufen. Auch in der Zaubererwelt sind wir nicht ganz frei von haltlosem Aberglauben."
"Bei uns in England gibt's auch merkwürdige Vorstellungen, das eine im Mai geborene Hexe nur einen Muggel heiraten könne. Da ich so eine Maihexe bin dürfte ich mich ja bei der Familiengründung nicht in der Zaubererwelt umsehen", erwiderte Aurora grinsend.
"Penny, meine jüngste Tochter, kam am Morgen des ersten Mai zur Welt", sagte Bethesda Herbregis. "Und sie hat einen Zauberer geheiratet, dessen Mutter halbmuggelstämmig ist und dessen Vater von Zauberern abstammt. Also danach würde ich nicht gehen."
"Na ja, den Unfug haben mir wohl auch nur ein paar Klassenkameraden einreden wollen", erwiderte Aurora Dawn. Sie lächelte dabei.
"Wahrscheinlich kommt das mit den Maihexen wegen der passenden Anfangsbuchstaben", vermutete Bethesda Herbregis trocken. "Maihexe muß Muggel zum Mann nehmen. Sei es drum."
"Du hast recht", pflichtete Aurora ihrer Lehrerin bei. "Klingt schon irgendwie passend."
"Deine Tante June hat vor einer Woche diesen Artikel über diese silbernen Musikscheiben veröffentlicht, die von einem haardünnen Lichtstrahl überstrichen werden, dessen Reflektionen dann von einem Empfänger in Vorgaben übersetzt wird, wie die eingravierten Musikstücke laut abgespielt werden", wechselte Bethesda Herbregis das Thema. "Mein Sohn Luke hat einmal einen Vortrag über diese Lichtbündelmaschinen gehalten, die so vielseitig sind, daß damit auch die Knochensäger der Muggel bösartige Geschwüre abschneiden oder sich lösende Netzhäute wieder festmachen können. Er hat mir das Manuskript seines Vortrages deshalb zukommen lassen, um meine Meinung darüber zu hören, ob die Muggel mit reinem Licht Wunden schließen oder bösartige Verwucherungen herausschneiden können, was auf den ersten Blick ja widersprüchlich sei. Hast du diesen Artikel über die Musikscheiben auch gelesen?"
"Das wird wohl wieder in "Erstaunliche Muggelmaschinen" rausgebracht worden sein. Da müßte ich meinen Cousin Philipp fragen, ob der mir den Artikel schicken kann", sagte Aurora. "Aber ich habe mal die sogenannten Schallplatten angesehen. Ist diese silberne Musikscheibe ähnlich bespielt?"
"Eben das weiß ich nicht so genau. Luke meinte nein, weil damit der Platzbedarf erheblich verkleinert würde und diese Scheiben nicht nur wesentlich kleiner seien als diese schwarzen Schallplatten, sondern daß die auf ihnen gebannten Musikstücke auch wesentlich klarer klängen und es einfacher sei, gezielt ein irgendwo darauf abgelegtes Musikstück nachspielen zu lassen. Diese Lichtbündelverstärkermaschinen interessieren mich schon. Die Verwendbarkeit scheint offenbar noch nicht vollständig ausgelotet zu sein."
"Laserstrahler heißen diese Geräte, hat mir ein muggelstämmiger Klassenkamerad erzählt. Ich denke, die können deshalb Wunden zumachen, weil sie so heiße Strahlen machen, daß alles davon getroffene schmilzt oder verdampft. Richtig eingesetzt kann damit wohl auch Haut zusammengeschmolzen werden, wie Metallstücke, die im Feuer zusammengedrückt werden können", vermutete Aurora. Bethesda Herbregis nickte.
"Hmm, natürlich ginge es so", erwiderte Auroras Mentorin. Da Ertönte eine magisch übermittelte Frauenstimme:
"Großheilerin Dr. Herbregis bitte umgehend ins Einsatzzimmer null null eins! Großheilerin Dr. Herbregis bitte umgehend in Einsatzzimmer null null eins melden!"
"Oha, Halloween naht!" Knurrte Auroras Mentorin. "Du bleibst hier und überwachst deinen Trank. Die Zeit läuft noch. Notiere aber gut, wie du Stufe zwei und drei durchführst! Bis gleich!" Sie warf noch einmal einen prüfenden Blick auf die fünf brodelnden Gebräue, bevor sie disapparierte. Aurora kannte es schon, daß die Mentoren mal eben zu einem Einsatz gerufen werden konnten. Die Heilerschüler ab dem zweiten Jahr begleiteten sie dann auch dabei. Sie fand es immer erstaunlich, daß nur da, wo der zu rufende Heiler oder die Heilerin war diese Meldestimme zu hören war. Tom McCloud hatte es ihr jedoch erklärt, daß ja jeder Heiler vom HIP bis zum DDK ein spezielles Armband trug, das auf den Notrufzauber reagieren konnte. Innerhalb der Sana-Novodies-Klinik zeigten diese Armbänder auch den Standort eines bestimmten Heilers an und konnten ihnen geltende Anrufe so in die Räume umleiten, in denen sie standen. Das ersparte dem übrigen Personal und allen Patienten pausenlose Rufe oder Meldungen, war also ähnlich einem Muggeltelefon, daß nur bestimmte Leute miteinander verband. Aurora stand nun allein in dem Labor, wo fünf köchelnde Kessel auf kleinen Feuerstellen standen. Sie prüfte die Zeit auf ihrer kleinen Armbanduhr und auf dem aufgestellten Stundenglas, das in Minuten unterteilt war. Sie hatte noch über fünfzig Minuten zeit, bis sie die zweite Stufe des Brauvorgangs durchführen sollte, die ein sorgfältiges Vermischen dreier der fünf Tränke bedeutete, allerdings nach einem genau vorgeschriebenen Verfahren. Um sich die Zeit zu vertreiben setzte sie sich so, daß sie die fünf Kessel gut im Blick behielt und las in ihrem Lernheilerinnentagebuch. Nach zwanzig Minuten apparierte die Mentorin wieder im Labor, prüfte die Kessel und die noch verbleibende Wartezeit. Dann sagte sie:
"Ich sag's ja, Halloween klopft an die Tür. Da hat doch jemand einen Muggel mit Vielgliedrigkeits-Trank behelligt, daß diesem vier weitere Arme gewachsen sind, daß der wie ein menschenförmiger Oktopus herumlaufen mußte. Den mußten wir aufnehmen und die Zeugen gedächtnismodifizieren. Wir mußten den Trank suchen und einziehen. Nach der Quelle dieses Trankes wird jetzt gefahndet."
"Vielgliedrigkeits-Trank? Das ist ja ziemlich fies", erwiderte Aurora.
"Auch ein schwarzmagisches Abfallprodukt eines an und für sich nutzbringenden Trankes", sagte Bethesda Herbregis ungehalten. "Es ist eine eigentlich fehlgeschlagene Vorstufe des Skele-Wachs-Trankes, der zerstörte oder magisch abhanden gekommene Knochen wiederherstellt. Wer hat Skele-Wachs noch einmal erfunden und wann?"
"Das war Megan Bakersfield im Jahre 1754, Meisterin Herbregis", antwortete Aurora ohne zu zögern.
"Hätte mich jetzt auch sehr gewundert, wenn du das nicht schon von eurer Schulkrankenschwester gelernt hättest", erwiderte Bethesda Herbregis kühl. Aurora nickte bestätigend. "Und eben bis die werte Megan Bakersfield Skele-Wachs zur Brauchbarkeit entwickelt hat hatte sie einige Rückschläge hinnehmen müssen wie eben einen Vielgliedrigkeits-Trank. Irgendwer hat ihr wohl die Rezeptnotizen gestohlen und gedacht, der Vielgliedrigkeits-Trank sei ein schöner Spaß oder eine gelungene Rache. Zumindest ist bei diesem dreisten Diebstahl auch die von Bakersfield in mehreren Experimenten entdeckte Gegenmixtur überliefert worden. Allerdings kriegen beide Rezepturen nur aprobierte Heiler zu lesen. Jedenfalls muß der bedauerliche Muggel eine ganze Nacht bei uns im Zauberschlaf verbringen, bis die überzähligen Gliedmaßen zurückgebildet sind. Wir mußten ihm den Gegentrank verabreichen. Wieso kann eine derartige Verunstaltung nicht mit direkten Zaubern behandelt werden?"
"Weil solange ein Trank wirkt dessen Wirkung sofort wieder greift, bis die Wirkung entweder nachläßt oder ein neutralisierender Gegentrank verabreicht wurde. Außerdem wirken Zaubertränke gemäß der Silverdrop-Cattle-Spearwood-Äquivalenz-Studie dreimal so intensiv wie ihnen entsprechende Zauberstabzaubereien unter Berücksichtigung des grundlegenden Magiepotentials des Zaubers", antwortete Aurora nach einigen Sekunden Bedenkzeit. "Daher gilt, daß bei unerwünschten Zaubertrank-Effekten nur mit Zaubertränken gegengesteuert wird, wohingegen ein einziger Trank auch mehrere Flüche zugleich aufheben kann, was aber dann wieder von Art und Anzahl der Flüche abhängig ist, ob ein Trank oder eine Kombination aus Tränken und Zauberstabmagie angezeigt ist."
"Wo steht das?" Fragte die Mentorin nicht wesentlich beeindruckt von Auroras Antwort.
"In "Heil und Unheil - Wechselwirkungen der Alchemie und hermetischen Zauberei" von Laura Morehead, Hippocrates Smethwyck und Humbert Thorntip, sowie in "Zaubertränke für Fortgeschrittene" von Libatius Borage und "Die Macht der Tränke" von Horace Slughorn." Bethesda Herbregis sah ihre Schülerin an und nickte ihr zu.
"Also was Zaubertränke angeht werden wir beide wohl in diesem Jahr schon gut für's nächste Jahr vorbereitet sein", erwiderte Meisterin Herbregis. "Das gibt uns natürlich Zeit, die Sachen einzuüben, die bei dir womöglich nicht so unumstößlich vorhanden sind." Aurora überlegte, ob das jetzt eine Maßregelung, Herabwürdigung oder vielleicht doch eher ein Kompliment sein sollte und schwieg besser. Die Großheilerin und Mentorin deutete auf das Lernheilerinnentagebuch Auroras. Diese verstand und notierte sich schnell, was sie mal soeben alles gefragt worden war und daß sie bei den Antworten offenbar keinen Fehler gemacht hatte. Das dauerte einige Minuten. Als sie wieder die verbleibende Zeit ablas stellte sie fest, daß in fünf Minuten die nächste Stufe des Brauvorgangs fällig war.
Während der Ruhezeiten zwischen den nächsten Braustufen trug Aurora alles sowohl in das allgemeine Laborbuch ein als auch in ihr eigenes Tagebuch. Während der Ruhephasen des Brauvorgangs unterhielt sie sich mit ihrer Mentorin über die von ihr erwähnten Autoren der Bücher und erwähnte auch, daß sie ein Jahr zu spät nach Hogwarts kam, so daß sie Horace Slughorn nicht mehr als Lehrer erlebt hatte. Sie erfuhr, daß Laura Morehead Bethesdas Mentorin gewesen sei, als sie zur Heilerin ausgebildet wurde. Aurora, die das bis heute noch nicht von ihr erfahren hatte fragte, warum ihre Lehrmeisterin ihr das jetzt erzähle.
"Aus dem einfachen Grund, weil ich langsam befinden kann, wie du mit sensationell anmutenden Informationen umgehst. Natürlich ist es kein Geheimnis. Aber ich habe auch schon Adepten getroffen, die sich was drauf einbildeten, von einem Mentoren oder einer Mentorin unterwiesen zu werden, der oder die von einer Größe der internationalen Heilerzunft unterrichtet worden war. Im Grund ist Laura Morehead eine sehr umgängliche Hexe. Allerdings beharrt sie darauf, daß alle in ihrem Zuständigkeitsbereich lernenden oder praktizierenden Heiler umfassend geschult und allzeit zur Bestleistung fähig sind. Insofern säßen wir beide wohl nicht hier zusammen, wenn sie dich nicht für entsprechend beschulbar angesehen hätte. Ich habe auch nicht geglaubt, daß Direktor Springs dich mir aus ganz eigenem Ermessen zugeteilt hat. Immerhin waren Laura und Vitus ja bei deinen Eltern und dir zur Vorbesprechung." Aurora nickte. Dann sprachen sie noch über Libatius Borage, der in den Vierziger Jahren das Schulbuch über Fortgeschrittenentränke herausgegeben hatte, wobei er, so Bethesda, viele längst überholte Rezepturen ausgeschlossen habe und dafür lieber alltagstaugliche, wenn auch schwierig herzustellende Tränke in sein Lehrbuch aufgenommen habe. Das Buch werde in der ganzen englischsprachigen Zaubererwelt als Standardbuch für die UTZ-Stufe benutzt, wenngleich in Amerika noch Purpleclouds Elixier-Enzyklopädie herangezogen würde, vor allem in den Klassen, in denen sie selbst Zaubertränke lehre. Dann ging es noch um Entsprechungen von direkten Zaubern und alchemistischen Gebräuen und der Kombination zwischen Tränken und Zaubersprüchen. Dann folgte die nächste Stufe im Brauvorgang, wo Aurora ein Achtel aus Kessel fünf in den Gemeinschaftskessel füllen und zwölfmal im Uhrzeigersinn umrühren mußte, bevor sie aus Kessel eins ein Drittel der noch darin enthaltenen Mixtur nachfüllte und vierundzwanzigmal gegen den Uhrzeigersinn umrührte.
Als nun alle Stufen des Brauvorgangs abgearbeitet waren begutachtete Meisterin Herbregis das Endergebnis und notierte sich etwas. Dann füllte sie zwei kleine Flaschen von der Mixtur ab, etikettierte beide mit ihrem und Auroras Kürzel und goss den Rest in den Abfluß.
"Das eine Fläschchen ist der Mustertrank, den ich als Nachweis für die von dir erbrachte Braukunst abliefern muß. Aus dem anderen Fläschchen bitte ich dich jetzt einen Schluck zu trinken. Der Trank ist gelungen, soviel zu eventuellen Bedenken."
Aurora nahm das ihr hingehaltene Gefäß, entkorkte es und beschnupperte das nun rasch abkühlende Gebräu, das nun, wo es seine Endform erreicht hatte einen anregenden, leicht berauschenden Duft verströmte, der als solcher schon in einem Parfüm verwendet werden könnte. Doch die eigentliche, überragende Wirkung bot sich eben nur beim Trinken, wußte Aurora. Sie nippte vorsichtig, trank dann einen etwas größeren Schluck und verkorkte die kleine Flasche wieder sorgfältig. Ihre Mentorin nahm sie ihr behutsam aus der Hand, während Aurora für einige Sekunden meinte, ein wilder Bienenschwarm würde in ihrem Kopf herumwuseln. Bunte Funken tanzten vor ihren Augen herum. Dann fühlte sie sich irgendwie wacher als je zuvor.
"Was war der erste vollständige Satz, den du nach deiner Geburt gehört hast?" Fragte die Mentorin. Aurora fühlte, wie die Frage durch ihren Kopf eilte und sah sofort das goldene Licht der Morgensonne, in deren Schein sie zur Welt gekommen war. Sie hörte ihre Oma Regan sagen: "Kuck, dein kleines Mädchen wollte mit der Sonne ankommen, Regina." Ohne groß nachzudenken sprach sie diese Worte mit der Betonung ihrer Oma aus. Sie fühlte sich weder aufgeregt noch beunruhigt oder besorgt. Alle störenden Gefühle waren aus ihrem Kopf verschwunden. Sie konnte sich nun an alles erinnern, was sie jemals mit eigenen Sinnen wahrgenommen oder geträumt hatte. Meisterin Herbregis sah sie aufmerksam am und fragte, wer ihr diese Worte gesagt hatte, was Aurora unverzüglich beantwortete.
"Nun, daß können deine Mutter und deine Großmutter dir ja häufiger erzählt haben. Aber was waren die letzten Worte, die du vor deiner Geburt gehört hhast?"
Aurora fühlte sich nach der Frage in einen immer enger werdenden, dunklen Raum versetzt, hörte lautes Wummern über sich und das Wummern ihres eigenen Herzens und wie durch eine dicke Wand gefiltert die aufgeregten Worte ihres Vaters: "Das kann doch wohl nicht sein, Regina. Meine Mutter kann noch nicht herkommen. Sage unserem Kind, es möchte noch warten!"
"Du bist lustig, Hugo! Es hat sich entschieden, jetzt schon ... AAArg", hörte Aurora überlaut und dumpf die Stimme ihrer Mutter um sich herum und fühlte wie etwas sich um sie zusammenzog. Das erzählte sie dann auch Meisterin Herbregis, ohne zu überlegen, ob das etwas ganz privates war oder nicht. Dann wurde sie noch gefragt, was auf Seite 27 im Lehrbuch der Zaubersprüche Band 4 stand, wobei sie das entsprechende Buch hervorholte und Auroras wortgetreue Widergabe nachprüfte und nickte. Weitere nachprüfbare Antworten später gab die Heilerin Aurora zwei dicke Bücher, eines war "Umkehrung des verkehrten - Die Gesetze der Entfluchung und Heilung böswilliger Bezauberungen" und das andere war "Tragödien der Verwandlungen - Unfälle und Anschläge im Zweig der Verwandlungskunst".
"Lies die beiden bücher so schnell du kannst durch, vom Klappentext bis zum Ende der letzten beschriebenen Seite!" Forderte die Lehrmeisterin. Aurora überlegte, ob sie diese Riesenwälzer schneller als in einer Woche durchlesen konnte. Doch sie schlug das Buch über Fluchbehandlungen auf und las, besser, sie sah die Klappe an und wußte sofort, was dort stand. Sie blickte auf die Erste seite und wußte bereits nach zwei Sekunden, was darauf geschrieben stand. Sie blätterte um und erfaßte innerhalb von zwei Sekunden beide Seiten. So ging es weiter, wobei dieses Gefühl, den Text und die Abbildungen bereits gründlich auswendig zu kennen immer schneller aufkam. So blätterte sie alle halbe Sekunde um, bis sie innerhalb von zwanzig Minuten das ganze Buch einmal durch hatte. Bethesda nahm es ohne was zu sagen wieder an sich. Aurora las nun das zweite Buch, mit dem sie durch den eingenommenen Trank in einer halben Stunde durch war, wobei ihr auch Splitter aus dem Unterricht bei Professor McGonagall in den Sinn kamen. Dann nahm Bethesda ihr auch dieses Buch wieder fort und fragte, wobei sie wie beiläufig das eine oder andere Buch aufschlug, was auf einer der nun von ihr lesbaren Seiten stand. Aurora zitierte völlig frei und ohne nachdenken zu müssen den Text. Dann zeichnete sie mit farbigen Filzstiften einige der Illustrationen nach, die dann von ihrer Mentorin mit denen im Buch verglichen wurden. Dann sagte sie:
"Jetzt könnte der Eindruck entstehen, daß jemand unter der Wirkung dieses Trankes die komplette Heilerausbildung in einem einzigen Monat durchlaufen könne. Nenn mir mal alle Gründe, warum Bicranius' Mixtur der mannigfaltigen Merkfähigkeit kein empfehlenswertes Hilfsmittel zum dauerhaften Lernen ist!"
"Er belastet das Gehirn um ein zehnfaches und unterdrückt die sozialen und emotionalen Fähigkeiten. Dauerhafte Einnahme des Trankes würde zu einer Überlastung des Gehirns führen und / oder die Fähigkeit abtöten, mit anderen Menschen friedvoll umzugehen. Daher wird die Mixtur nur in sehr kleinen Dosen und nur bei gravierenden Gedächtnisproblemen oder vitalen, rein theoretisch erfaßbaren Ausbildungssituationen benutzt und das unter sehr strengen Regeln." Sie zählte dann noch alle Artikel und Autoren auf, die sich über diese Mixtur und ihre Benutzung ausgelassen hatten. Ganz zum Schluß wurde sie dann noch gefragt, was die ersten Worte waren, die sie je im Leben gehört hatte. Wieder erinnerte sie sich an jenen dunklen, mit Wasser gefüllten Raum, in dem sie jetzt jedoch geborgen schwebte und wie durch eine dicke Wand die brüchige Stimme eines halbwüchsigen Jungen hörte:
"Der Torwaldson'sche Ereigniskreis bezieht aber nur die inneren und natürlichen Gegebenheiten ein, Professor Dawn. Übergeordnete Gegebenheiten kann er nicht einbinden."
"Sie haben recht, Jason, ich war nicht ganz bei der Sache", dröhnte die Stimme von Auroras Mutter unvergleichbar laut, aber dumpf zur Antwort. "Gut, nehmen Sie dafür zehn Punkte für Gryffindor, Mr. Dawson."
"Geht es Ihnen nicht gut, Professor Dawn?" Hörte Aurora ein besorgtes Mädchen fragen.
"Nichts, was Ihre Besorgnis erregen muß, Ms. Fairfax. Das gehört wohl zum Mutterwerden dazu."
"Weil professor McGonagall meinte, Sie könnten den Unterricht nicht mehr weitermachen", erwiderte das Mädchen.
"Nichts gegen Ihre Hauslehrerin, die ja auch meine Kollegin ist, Melanie. Aber ich fürchte, Sie hat nicht die Erfahrungen gemacht, die ich gerade mache und ist daher genauso unvorbereitet wie ich. Madame Pomfrey hat gesagt, solange ich bei jeder falschen Antwort von einem von Ihnen nicht von meinem Kind in den Bauch getreten werde könnte ich bis zum letzten Monat unterrichten", hörte Aurora die Stimme ihrer Mutter dröhnen. Dann mischte sich Bethesda Herbregis' Stimme ein, und Aurora fand in die Gegenwart zurück.
"Realitätsverlust gehört auch zu den Nebenwirkungen des Trankes, wenn besonders weit zurückliegende Ereignisse erinnert werden sollen, insbesondere dann, wenn die Fähigkeit zum verbalisieren noch nicht entwickelt wurde und daher alles erstmalig durchdacht werden muß", sagte sie. "Das steht nicht in den Büchern, weil es nur viermal passiert ist, daß jemand unter Einfluß des Merkfähigkeits-Trankes derartig geistesabwesend reagiert hat wie du gerade. Eine davon war ich, und zwar genau nachdem ich dieselbe Frage gestellt bekam, die ich dir gerade gestellt habe. Kannst du sie denn jetzt beantworten?"
Aurora zeigte keine Spur von Verärgerung oder Verlegenheit. Sie blickte unverdrossen, ja regelrecht gleichgültig ihre Lehrmeisterin an und gab wortwörtlich und betonungsgleich wider, was die ersten mit ihren Ohren gehörten Worte gewesen waren.
"Nun, um zu vergleichen, ob du dich wirklichkeitsgetreu erinnert hast muß ich mir die Namen der Schüler aufschreiben. Hast du die alle mitbekommen?"
Normalerweise hätte Aurora jetzt wohl "Was für eine blöde Frage" oder sowas gedacht oder geantwortet. Doch im Moment war sie nur ein wandelndes Gedächtnis, das alles wie ein trockener Schwamm aufsog und das aufgesogene, egal wie lange es her war, wie ein solcher Schwamm wieder herausquellen ließ. Sie versuchte, sich nicht mehr in dieses Gefühl des vollständigen Erlebens hineinfallen zu lassen, schaffte es aber nicht und landete wieder in jener Erinnerung aus einer Zeit, in der wohl noch keiner wußte, daß sie als Hexenmädchen zur Welt kommen würde. Sie hörte jedoch dabei die zehn Namen der Schüler, die im Arithmantikkurs ihrer Mutter lernten, drei Mädchen aus Gryffindor, eines aus Hufflepuff, zwei aus Ravenclaw, ein Junge aus Slytherin, zwei Jungen aus Ravenclaw und einer aus Gryffindor, Jason Dawson, von dem sie jetzt erst richtig gehört zu haben dachte und irgendwie auch mitbekam, daß er Muggelstämmiger gewesen sei. Einmal hatte sie in jener Wartestellung vor dem Leben mitbekommen, daß dieser Jason Dawson wohl mit der Gryffindor-Kameradin Melanie Fairfax ging, was Enceladus Baddock, einem der Slytherins, natürlich Grund zum Spott war. Erst als Professor Dawn ihm wegen ungebührlicher Rede zehn Punkte für sein Haus aberkannt hatte war Ruhe. Dann fühlte sie unvermittelt kräftige Finger in ihren rechten Oberarm kneifen und erlebte wie mit Hochgeschwindigkeit wie sie aus ihrer Mutter hinausgestoßen wurde, innerhalb von wenigen Sekunden vom Baby zum kleinen Mädchen emporschoss, durch rasch abwechselnde Jahreszeiten mit anderen Kindern spielte, deren Namen und Gesichter sie sehr gut kannte, wie sie zum ersten Mal im Hogwarts-Express saß, Tonya Rattler, wie sie sie immer angepöbelt hatte und dabei immer größer und klobiger wurde, den dreiköpfigen Hund Hagrids, der als Welpe fast die Hawkins-Geschwister zerfleischt hatte, Bernhard, mit dem sie eine kurze Jugendliebe erlebt hatte, den gigantischen Baum, der sie in sich hineinzog und ihren siebzehnten Geburtstag, den bösen Schatten, der Elroy Portsmouth umgeben hatte, wie Silverbolt diesen mit seinem magischen Amulett vertrieben hatte, Loren Tormentus und Bruster Wiffle, die für einen Moment ihre Körper tauschten und den rasch immer jünger werdenden Professor Silverbolt. Dann fand sie sich leicht keuchend auf dem Stuhl im Labor wieder.
"Wie gesagt, dieser Trank ist für längere Anwendungszeiten absolut nicht zu empfehlen", sprach meisterin Herbregis. Dann sollte ihr Aurora die Namen der Schüler geben. Aurora ratterte sie wie ein magicomechanischer Fragenbeantworter herunter, wußte sogar die Klassen und damit wohl auch die Einschulungs- und Abschlußjahre. Dann sagte ihre Lehrmeisterin: "Am besten gebe ich dir jetzt den Gegentrank zu deinem exzellenten Gebräu. Nach der Menge, die du getrunken hast könntest du jetzt noch vier Stunden so perfekt erinnern und einprägen wie im Moment. Aber zum einen merkst du wohl selbst, daß deine Erinnerungen dich übermannen können, wenn du wie erwähnt sehr früh aufgenommene Erinnerungen zurückholst, die du damals nicht mit eigenem Verständnis ordnen konntest. Zum anderen ist die Nachwirkung ziemlich hinderlich für den nächsten Ausbildungstag." Sie gab Aurora einen großen Becher einer zimtfarbenen Mixtur, die jedoch eher nach vertrocknetem Brot roch. Aurora stürzte das Gebräu in sich hinein und meinte einen Moment lang, irgendwas in ihrem Kopf ziehe sich zusammen und die Umgebung würde in dichten Nebel gehüllt. Dann fühlte sie sich wieder wie vorher, nicht übermäßig wach, aber auch nicht müde. Sie fragte, ob sie denn alles im Gedächtnis behalten habe, was sie unter der Wirkung des Trankes gelesen hatte.
"Genau deshalb habe ich dir diese aufwendigen Bücher ja gegeben, damit du sie auswendig lernst. Ist zwar nicht unbedingt Sinn und Zweck einer gründlichen Ausbildung, Bücher im Hauruck-Verfahren auswendig zu lernen, aber hilfreich, wenn die Theorie in die Praxis umgesetzt wird. Im Klartext heißt das, daß du diese Bücher nicht mehr ausleihen mußt, um die von mir dazu erteilten Übungen machen zu können", sagte die Mentorin. "Du wirst jetzt nur nicht mehr so leicht an uralte Erlebnisse denken können wie unter der Wirkung des Trankes. Aber das was du unter seinem Einfluß erinnert hast kannst du nun problemlos ins Bewußtsein zurückrufen, und zwar ohne dabei die Aufmerksamkeit für deine Umgebung zu verlieren."
"Darf ich fragen, ob Sie das mit allen Schülerinnen und Schülern gemacht haben, was Sie mich haben machen lassen?"
"Du darfst fragen. Ja, nicht nur ich habe Bicranius' Mixtur als Beschleuniger bei Lernprozessen verwendet. Allerdings nur in den Bereichen, wo ich es für besonders wichtig hielt und dann nur eine befristete Wirkungsdauer lang. Die verbleibende Zeit bis zum Abendessen werden wir nun über Abwandlungen und Verkehrungen des Trankes diskutieren, den du gebraut und probiert hast."
"Kann mir schon vorstellen, daß man damit jemanden mal eben geistig außer Gefecht setzen kann, wenn man ihn fragt, wie es vor seiner Geburt war und was er davon alles mitbekommen hat", meinte Aurora, jetzt etwas unbehagt klingend.
"Das gehört zu den dokumentierten Schadwirkungen des Trankes, daß unkorrekte Brauvorgänge eben sofort zum Realitätsverlust führten oder ähnlich wie Veritaserum zum Ausplaudern von Geheimnissen verwendet wurden oder auch als alchemistische Entsprechung zum Imperius-Fluch gesehen werden mögen, wenn bestimmte Abänderungen bei der Zubereitung vorgenommen werden."
Die nächsten zwei Stunden sprachen sie nun über den gerade gebrauten Trank, die damit gemachten Erfahrungen und die Abwandlungen, wie den Trank der gefangenen Träume, der half, sich an jeden Traum zu erinnern, was vor allem bei Wahrsagern sehr beliebt war oder das Seelentrost-Gebräu, das half, schlimme Erlebnisse zu verarbeiten, um davon angerichtete Schäden zu beheben oder den Umgang mit den Erlebnissen zu erleichtern. Da jedoch die Zubereitung nicht den kleinsten Fehler duldete wurden nur Heiler mit den Rezepturen vertraut gemacht und mußten auch ihre Gegenmittel kennen. In dem Zusammenhang sagte Meisterin Herbregis:
"In der nächsten Zaubertranksitzung brauen wir das Gegenmittel. In der von dir angetrunkenen Flasche ist ja noch etwas drin. Die andere muß ich jetzt versiegeln und in das Archiv für nachweisbare Prüfungsergebnisse bringen. Iss gut und reichlich, Aurora. Dein Gehirn hat heute mehr Energie gebraucht als an zehn Tagen zusammen. Bestimmt hast du zwei oder drei Kilogramm Körpergewicht dabei eingebüßt."
"Dann könnte ja Meisterin Springwood diesen Trank an ...", setzte Aurora verächtlich an, doch ihre Mentorin sah sie sehr warnend an und räusperte sich. So schluckte sie den Rest ihrer verächtlichen Bemerkung hinunter, daß Monica Riddley doch nur diesen Trank einnehmen müsse, um überflüssige Pfunde zu verlieren. Doch zum einen ging Monicas Gewicht sie nichts an, zum anderen wäre eine mit dem absoluten Erinnerungsvermögen versehene Monica unausstehlich. Aurora kam ja auch nur mit ihr klar, weil sie sie nur zu den Mahlzeiten sah und durch ihre in Slytherin eingeteilte Hogwarts-Mitschülerin Tonya Rattler genug Erfahrungen mit überheblichen Mitschülern besaß und diese sehr gut links liegen lassen konnte.
Als Aurora den Tagesraum betrat trafen auch die Medimagieschüler aus den oberen Jahrgängen ein. Jill unterhielt sich gerade mit Daisy Nettles über Quidditch und das es Schade sei, daß die Mentoren keine Schülermannschaften erlaubten. Jill winkte Aurora zu und wartete, bis sie sich zu ihr gesellt hatte.
"Du hast doch bei euch in Hoggy auch Quidditch gespielt, nicht wahr. meinst du nicht, das wäre ein toller Ausgleich, wenn wir hier auch Mannschaften hätten?" Fragte Jill.
"Nun, das hier ist ein Krankenhaus, Jill. Ich kann zumindest verstehen, warum die Mentoren das nicht so gerne hätten, wenn hier gespielt würde", erwiderte Aurora leicht ungehalten, weil ihr die Vorstellung nicht passte, wohl nie wieder auf einem Besen hinter einem Quaffel herjagen zu können, gerade nachdem sie im letzten Spiel ihrer Schulmädchenzeit so abrupt aus dem Spiel geplumpst war.
"Siehste, die meint auch, daß die Alten recht haben", gab Daisy überlegen Lächelnd zurück. Jill grinste jedoch mädchenhaft und meinte:
"Sie hat nur gesagt, daß wir hier nicht spielen können, weil das ein Krankenhaus ist, Daisy, nicht daß wir keine Mannschaften haben dürften."
"Hast du das so gemein?" Fragte Daisy. Aurora, die erst verdutzt dreingeschaut hatte, weil Jill ihre Worte so ausgelegt hatte, grinste und nickte der kastanienbraunhaarigen Jahrgangsälteren zu, deren dunkelgrüne Augen sehr wach blickten.
"Hast du nicht die Erlaubnis für eigene Besen in Hogwarts durchgedrückt?" Fragte Jill. Aurora nickte. Bevor Daisy oder Jill noch mehr fragen oder sagen konnten sagte sie:
"Ihr meint jetzt, daß ich mit euch zusammen die Mentoren beknien soll, eigene Mannschaften zu bilden, nicht wahr? Ich fürchte nur, daß an der Tradition hier nicht gerührt wird. Ms. Springs hat mir erzählt, daß wer hier anfing erst einmal bis zum Ausbildungsabschluß kein Quidditch mehr gespielt hat. Ich denke nicht, daß die ausgerechnet auf mich gewartet haben, um ihre Meinung zu ändern."
"Stimmt, das müßten wir dann anschubsen", meinte Daisy zu Jill. "Nachher schmeißen die Aurora hier raus, weil sie sich als Ausländerin mehr rausgenommen hat als wir hier. Aber mitspielen würdest du schon, wenn wir doch ein paar Mannschaften zusammentrommeln können, oder?"
"Klar", gab Aurora ehrlich zu und lächelte dabei erfreut.
"Aber du könntest doch Heather Springs fragen, ob die ihren Onkel nicht fragt, warum der nicht ein Feld in der Nähe für uns buchen kann. Wir müssen ja nicht hier bei der Sano spielen."
"Seid ihr echt die Ersten, die sowas vorschlagen wollen?" Fragte Aurora Dawn, wobei sie jedoch belustigt grinsen mußte. Jill schüttelte den Kopf. Dann meinte sie zu Daisy:
"Wir haben doch bald Sommerferien, Daisy. Da kannst du jeden Tag Quidditch spielen. Das sage ich dir schon seit zwei Jahren."
"Ja, und seit zwei Jahren sage ich dir, daß das doch blöd ist, wenn ehemalige Spieler ob von Redrock oder Hogwarts oder wo auch immer weg vor lauter Heilmagiepauken vergessen, wie sich ein Besen zwischen den Beinen anfühlt. Außerdem müssen wir doch auch schnell fliegen können, um Leute zu transportieren, wenn Apparieren nicht empfohlen ist.""
"Ja, und es hätte was, wenn alle in den beiden Mannschaften angehende Heiler sind, wenn einen ein Klatscher erwischt oder mjemand den Schnatz verschluckt oder mit dem Besen gegen einen Torring knallt oder seinen Gegenspieler aufspießt", zählte Jill verhalten grinsend auf. Daisy kniff ihrer Kameradin dafür in die Nase, worauf ein lautes Muäääp!" ertönte, wie eine heisere Tröte.
"Hey, macht nicht so'n Krach", meinte ein Jungzauberer im zweiten Ausbildungsjahr, der gerade mit seinem Mentor den heutigen Tag nachbereitete.
"Hups, was ist denn das für ein zauber?" Fragte Aurora Jill, die Daisy schadenfroh ansah, weil diese von dem unerwarteten Geräusch zurückgeschreckt war.
"Tactosonus-Zauber, Aurora. Den hat Meisterin Flavina mir vor einem halben Jahr beigebracht. Der geht auch auf lebende Körper."
"Ja, aber wie ich dir auch beigebracht habe ist der nicht zum Schabernackmachen gedacht, sondern Meldezauber für schmerzhafte Berührungen oder Alarm, wenn jemand einen verbotenen Schrank öffnet", sagte Jills Mentorin, Meisterin Flavina Applebee, eine zierliche, wohl noch ziemlich junge Lehrheilerin mit dunkelblondem Haar und waldgrünen Augen.
"Ja, aber du sagtest mir auch, daß er als Abwehrzauber gegen unerwünschte Annäherungsversuche geht", widersprach Jill.
"Gegen unsittliche Berührungen", korrigierte Flavina Applebee ihre Schülerin. Dann sah sie Aurora an, die grinste. "Den hat euch der kleine Professor Flitwick wohl auch noch nicht beigebracht, wie? Sahst zumindest so aus, als hättest du von dem Zauber noch nie was mitgekriegt."
"Öhm, den hatten wir echt noch nicht in Hogwarts", sagte Aurora beeindruckt. "Ist aber schon lustig, wenn ich mir vorstelle, daß jemand ohne Erlaubnis einen Milchkrug anfaßt und der ein lautes Muhen von sich gibt oder eine sittsame Hexe private Körperstellen so bezaubert, daß ein empörter Aufschrei erklingt, wenn jemand sich daran vergreift."
"Eben, das meinte ich doch", bemerkte Jill und grinste Aurora kameradschaftlich an. Daisy errötete etwas. Offenbar mußte sie an sehr private Situationen denken. Flavina blickte sich um und sah Meisterin Herbregis, die sich mit Salyx Gnoll unterhielt, der für Berty Woodman zuständig war. Vielleicht ging es um diesen Vielgliedrigkeitstrank, dem ein Muggel zum Opfer gefallen war.
"Also, Jill, du entmuäpst jetzt bitte deine Nase, bevor du beim Naseputzen andauernd dieses fiese Tröten von dir gibst", sagte Flavina Applebee.
"Stimmt, quietschen kommt bei sowas besser", warf Daisy ein.
"Pass mal auf, daß ich dich nicht gleich zum quietschen bringe, freches Mädchen!" Erwiderte Jills Mentorin, mußte aber grinsen. Offenbar war sie nicht ganz so humorlos wie ihre älteren Kollegen. Dann ließ sie die jungen Hexen wieder alleine.
"Also das mit den Mannschaften wird wohl nix, wenn der Alte uns das nicht erlaubt", sagte Daisy. "Aber einen Versuch wäre es doch wert." Sie zwinkerte Aurora verschwörerisch zu. Diese lächelte nur und meinte, daß sie ja an den Sonntagen auf Besen herumfliegen könnten.
"Außerdem können wir in den Sommerferien spielen", sagte Jill. "Bist du dann auf eurer kalten Insel oder bleibst du bei uns unten drunter?"
"Ich denke, ich muß mich langsam auf eure verdrehten Jahreszeiten einstellen. Bei Weihnachten denke ich immer an wärmende Kaminfeuer, während draußen Schnee fällt und an zugefrorene Seen, auf denen ich die Muggelkinder mit ihren Schlittschuhen laufen sehen konnte. Kennt ihr hier unten überhaupt Schnee?"
"Nur die aus Neuseeland bei uns in Redrock waren kennen sowas. Wenn das Schuljahr aufhört und die Winterferien laufen machen die bei sich da unten Schneeballwerfen", sagte Daisy. Aurora nickte. Dann ging sie zu ihren Kameradinnen aus dem ersten Lehrjahr zurück und setzte sich zu ihnen. Monica hatte heute eine Übungseinheit Kräuterkunde gehabt. Wie üblich kam ihre Mentorin mit einem kleinen Becher mit dem Abspecktrank Nummer zwei herüber.
"Du wirst mir noch danken, wenn du bis Weihnachten die zwanzig Pfund Übergewicht runter hast", sagte Brigid Springwood sehr energisch. Monica grummelte nur was, daß sie sich bisher immer sehr gut gefühlt hatte. Das war schon fast ein tägliches Ritual, wußten Aurora und Ireen.
"Was hast du heute gemacht, Aurora?" Fragte Ireen. Denn die einzelnen Schüler bekamen erst am Abend mit, was ihre Kameraden so machten, weil es keine festen Stundenpläne gab.
"Ich habe Bicranius' Mixtur der mannigfaltigen Merkfähigkeit gebraut", sagte Aurora. Monica sah sie perplex an:
"Ach, damit die alte Herbregis dich in einem Jahr ins praktische Jahr reinpeitschen kann, oder was. Brigid meinte, den könnte man doch nur brauen, wenn man zwölf Stunden zu viel Zeit hat, und die hätte ich im Moment nicht."
"Klar, weil du deinen Erwartungen-Übertroffen-UTZ in Zaubertränken nur deinem Bettwärmer Purkes verdankst", fauchte Ireen Barnickle. "Hier aber mußt du die Rezepte selbst nachbrauen und merken."
"Sei du alte Schnarcheule mal still, nur weil du angeblich einen Ohne-Gleichen-UTZ in Blubberbräukunde abgeräumt hast", schnarrte Monica. "Dafür hakt es bei dir bei so vielen anderen Sachen", legte sie noch nach und breitete zur Untermauerung ihrer Vorhaltung die Arme weit aus.
"Ich hab's zumindest nicht nötig, mir einen Liebhaber zu kultivieren, nur weil der sich mit Zaubertränken oder anderen Lernsachen besser auskennt als ich, Shadelakerin", knurrte Ireen. Aurora legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter und zischte ihr zu, sich nicht ärgern zu lassen. Tom McCloud grinste Monica an und meinte ungefragt:
"Ach, jetzt wissen wir, weshalb Kelvin vor den UTZs so auf Wolken geschwebt ist. Ich hoffe, der hat einen Vergessenstrank mit deinem Haar bereitgehalten, um dich aus seinem Kopf zu kriegen, nachdem du ihn nicht mehr zu dir ins Bett holen kannst."
"Du sei mal ganz still, Gemmeheart-Hohlkopf!" Fauchte Monica. Offenbar reichte es ihrer Mentorin nun. Sie kam herüber und herrschte sie an, sich endlich anständig aufzuführen und nicht andauernd Streit zu suchen. Tom gab sie noch mit, daß er sich gefälligst wie ein erwachsener Zauberer benehmen solle und nicht wie ein pubertierender Schüler. Dann kehrte sie auf ihren Platz zurück. Aurora und Ireen lenkten sich von der ab diesem Zeitpunkt schmollenden Monica ab, indem sie leise über Auroras Erlebnis mit dem Trank sprachen. Dann fragte Tom die beiden Mädchen, ob Jill und Daisy sie auch wegen Quidditch angesprochen hätten. Aurora nickte, Ireen schüttelte den Kopf.
"Daddy Vitus würde das schon machen, aber Omchen Morehead hat's verboten. Wer hier lernt, lernt hier. Die Alte spinnt, weil einer ihrer Söhne sich beim Quidditch zu heftig mit einem Klatscher angelegt hat und er beim runterfallen schon tot war, weil ihm der böse Ball voll die Spina dorsalis zerbröselt hat", flüsterte er. Aurora sah ihn betrübt an und fragte, ob das echt passiert wäre.
"Warum soll ich dich verhonepiepeln? Kannst du doch nachlesen."
"Ja gut, aber in der Zaubererwelt spielen tausende Quidditch, und die meisten Unfallverletzungen können durch die Heiler schnell behoben werden. Mir hat es nach einem Absturz vom zerbrochenen Besen beide Beine mehrfach gebrochen. Und einige Stunden später konnte ich wieder tanzen gehen. Selbst ein Schädelbruch kann schnell behandelt werden."
"Ja, und gequetschte Lungen und angerissene Lebern und Milzen und so weiter", erwiderte Tom. "Ich lese mich gerade durch die Geschichte der schwersten Quidditchunfälle und ihre medimagische Behandlung. Aber wenn du dir das Genick brichst, bevor du auf dem Boden landest bläst der Sensenmann dein Lebenslicht aus und wirft dich über seine Schulter. Was meinst du, warum die alte Morehead so am Boden ist, weil ihr Sohn, der in der Nationalmannschaft spielen wollte, einem Treiber beim Abschlag mit dem Hals voran in den Klatscher gerasselt ist. Deshalb will die nicht, daß ihre Schäfchen Quidditch spielen. Find dich also damit ab, daß du in Hogwarts das letzte mal auf einem Rennbesen gesessen hast!"
"Das ist ja so wohl nicht richtig", sagte Aurora leise. "Hier kann ich auch fliegen, und eure Willy-Willys sind doch auch Rennbesen, wenngleich ich mit dem Leihbesen hier nicht so warm werde wie mit meinem Nimbus 1500."
"Ja, aber sobald ein roter oder schwarzer Ball in deine Flugbahn kommt wird dich Beth Herbregis schnell vom Besen runterpflücken, weil die Lauras Lehrmädel gewesen ist und wohl vieles von ihren Ansichten mit einverleibt hat", zischte Tom und peilte vorsichtig in Richtung der Mentoren. Dann meinte er laut:
"Und du hast heute einen abgedrehten Trank zusammengebraut, Aurora?"
"Ja, hab' ich", erwiderte Aurora, der der Themenwechsel einerseits behagte, weil sie nicht über ihre Lehrmeisterin herziehen wollte, andererseits aber schon komisch vorkam, weil Tom die Spur gewechselt hatte. Sie erzählte ihm, was sie gebraut hatte. Tom meinte dazu:
"Den kriege ich dann wohl auch noch zu machen auf. Ist das echt so, daß du dich sogar an die Zeit erinnern kannst, als du noch im Uterus warst?"
"Nur wenn du gefragt wirst", sagte Aurora. Monica meinte, Tom solle nicht so angeben mit den Fachbegriffen.
"Naja, viel wird da wohl nicht gewesen sein. Rumm-bumm! Rumm-Bumm! und das Gluckern und Rumpeln, wenn Mums Magen nachgefüllt werden will."
"Ich werde dir nicht erzählen, ob und wie ich das nacherinnert habe, Tom. Dann würde ich dir die ganze Vorfreude verderben", sagte Aurora verschmitzt grinsend. Ireen grinste auch. Dann meinte sie:
"Außerdem kannst du das auch ohne Trank austesten, wie sich das für ein Ungeborenes anfühlt. Es gibt da Hilfsmittel, um ohne Exosenso-Zauber in andere Wahrnehmungen einzutauchen."
"Ja, habe ich mal gesehen, wie eine zukünftige Kollegin von uns das bei meiner Mum gemacht hat, als meine kleine Schwester unterwegs war. Aber wie genau das ging hat mir keiner erklärt. War damals ja gerade sieben Jahre alt."
"Na also", sagte Ireen. Dann sprachen sie weiter über ihren heutigen Ausbildungstag. Tom hatte sich mit seinem Mentor duelliert, um die Reflexe nicht einrosten zu lassen. Aurora, die sich in ihrer bisherigen Zeit nur viermal mit ihrer Mentorin duelliert hatte, fragte sich, ob Meister Morningdew seinen Adepten schon auf Fluchabwehr und Einsetzen bei Auseinandersetzungen mit schwarzen magiern einnorden wollte. wie appariert standen ihr sofort mehrere Seiten des dicken Buches über Fluchabwehr und -umkehr vor dem geistigen Auge. Offenbar wollte ihre Mentorin, daß sie sich nicht lange mit dem Lesen dieses Buches aufhalten sollte und mit ihr dann lieber praktische Übungen machen.
Am Halloween-Morgen fand Aurora Dawn mehrere Briefe in dem kleinen Briefkasten außerhalb ihres Fensters. Anders als in Hogwarts wurde die Eulenpost nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem allgemein zugänglichen Ort überbracht, sondern jedem die für ihn oder sie bestimmte Post in kleine Briefkästen außerhalb der Schlafzimmerfenster gelegt. Doch wie in Hogwarts gab es auch eine Eulerei im Dormitorium, nämlich in der geräumigen Dachkammer. Da Aurora ihre Eule Ducky nicht hatte herüberholen dürfen, weil die australischen Gesetze zum Import überseeischer Tiere und Pflanzen zum Privatgebrauch das verbot, nutzte sie einen der klinikeigenen Postvögel, wenn sie wirklich einmal einen Brief über die große Strecke schicken oder Heather Springs einen vierzehntäglichen Erlebnisbericht liefern wollte. Sie nahm die fünf Briefe, einen ihrer Tante June, der sie Bethesdas Wunsch nach der Abschrift ihres Musikscheibenartikels übermittelt hatte, einen von Roy und Dina Fielding, dem die ersten Fotos ihres kleinen Sohnes Tom beigefügt waren, einen von Miriam Swann, ihrer früheren Schulkameradin, einen von Eunice Dirkson, die sie noch als Eunice Armstrong gekannt hatte und ein Brief von Madame Pomfrey. Dieser interessierte sie am meisten, weil es der erste war, den sie von der Schulkrankenschwester in Hogwarts bekommen hatte. Sie las:
Hallo, Aurora,
ich freue mich sehr darüber, daß du in Australien gut angekommen bist und bereits einen guten Einstieg in deine Heilerinnenausbildung gefunden hast. Deine Mentorin, Großheilerin Bethesda Herbregis, hat sich recht herzlich bei mir für eine derartig gut vorgebildete und motivierte Adeptin bedankt und natürlich von mir wissen wollen, was ich dir außerhalb der in Hogwarts geläufigen Zauber und Zaubertränke schon beigebracht habe. Ich schrieb ihr, sie könne beruhigt sein, daß ich dich nicht übermäßig mit Wissen vollgestopft habe, so daß du die Ruhe und Aufmerksamkeit haben wirst, bei und von ihr alles zu lernen, was zur Ausübung unseres Berufes nötig ist. Deinen noch bei uns lernenden Verwandten geht es soweit gut, abgesehen davon, das Philipp einmal für Tim Preston in ein magisches Duell eingreifen mußte, das einige unbelehrbare Rüpel aus Slytherin angezettelt haben. Aber nur die beiden streitlustigen Slytherins landeten bei mir.Sieh diesen Brief bitte als Bestätigung dafür, daß es mich sehr interessiert, wie es bei deiner Ausbildung vorangeht und daß ich auf dem laufenden gehalten werde.
Mit freundlichen Grüßen
Poppy Pomfrey
"Na toll", seufzte Aurora. Einerseits freute sie sich, daß man sich in Hogwarts noch für sie interessierte. Andererseits klang aus dem Brief auch heraus, daß sie sich ja nicht durchhängen lassen oder gar aus der Ausbildung werfen lassen solle. Sie nahm dann den Brief ihrer Tante, dem der erbetene Artikel beigefügt war. June Priestley hatte ihn, so ein paar Zeilen für Aurora, mit Randnotizen zur besseren Erläuterung versehen.
Eunice schrieb Aurora, daß sie sich in der Tierwesenbehörde des Zaubereiministeriums nun doch gut eingearbeitet habe. Allerdings sei das ein knochentrockener Bürokratenjob. Doch Heilerin hätte sie bei der Ausbildungslage nicht werden wollen. Aurora könne sie aber ruhig auf dem Laufenden halten, was sie lerne. Sie mache jetzt an den Wochenenden einen Kurs für werdende Mütter mit. Sie habe sich auch schon eine Hebamme namens Enchantra Brightgate ausgesucht. Aurora antwortete ihr amüsiert, daß sie im Moment noch nicht klagen könne, auch wenn Meisterin Herbregis immer wieder aus einem laufenden Gespräch heraus Fragen stellte, die gewiß prüfungsrelevant werden konnten. Sie erwähnte auch die Mixtur der mannigfaltigen Merkfähigkeit und daß sie unter deren Einfluß einige Ausschnitte aus ihrer Zeit als Ungeborene mitbekommen habe. So schrieb sie schalkhaft grinsend:
"Moser also nicht zu oft über dein Kind. Nachher lernt es auch noch, diesen Trank zu brauen und hält dir das dann vor." Dann wünschte sie ihr, Dirk und dem Kleinen noch alles gute.
Dina und Roy schrieb sie, daß sie sich freute, daß es ihnen und dem kleinen Tom gut gehe und beglückwünschte Dina, daß sie nun doch noch sehr gute Zauberkräfte entwickelt habe, wenn sie jetzt sieben Haushaltssachen zugleich ablaufen lassen könne. Da sie Weihnachten in die alte Heimat käme, wollte sie fragen, ob sie auch mal bei ihnen vorbeikommen dürfe. Dasselbe schrieb sie Miriam Swann. Dann verließ sie ihr Zimmer und verschickte die Antworten mit den Hauseigenen Eulen. Dabei traf sie Bethesda Herbregis, die ebenfalls mit einem Stapel Briefe die Posteulen bemühte.
"Oh, deine Schulkrankenschwester hat dir geschrieben?" Fragte die Mentorin, als Aurora ihr das kurz erzählt hatte. "Nun, dann weißt du ja, daß es genug Leute gibt, die es interessiert, daß du weitermachst und die Ausbildung ordentlich beendest. Vergiss das bloß nicht, wenn du einmal in eine Situation geraten solltest, wo du dir die Frage nach dem weiteren Fortgang stellen könntest!"
"Das wird mir dann ja wohl erst im nächsten oder übernächsten Jahr passieren", erwiderte Aurora etwas ungehörig. Ihre Mentorin sah sie prüfend an und meinte dann:
"Mädchen, ich habe schon Dutzende von jungen Hexen und Zauberern ausgebildet. Sicher verlange ich eine ganze Menge. Aber dafür konnten die, die das Glück hatten, bei und von mir zu lernen mit erhobenem Haupt ins praktische Jahr und die endgültige Anerkennung als Heilerinnen oder Heiler erwerben. Auch das vergiss bitte nicht!" Aurora nickte. Sie band gerade den Umschlag mit dem Brief für Dina und Roy an das Bein eines Waldkauzes. Dabei fiel eines der drei Babyfotos aus der Tasche ihres Umhangs. Sie bückte sich rasch danach und hob das Farbfoto mit dem sich bewegenden Motiv auf. Der kleine Tom Fielding schrie stumm aus voller Kehle, weil sein Bild heruntergefallen war. Bethesda Herbregis sah das Bild an, auf dem auch Dina und Roy zu sehen waren, die ihrem Sohn beruhigend über den runden, mit blondem Flaum besetzten Kopf streichelten.
"Das sind die beiden Fieldings?" Fragte die Mentorin. Da sie sich mit Aurora auch über deren frühere Schulkameraden unterhielt fand Aurora nichts dabei, ihr zu sagen, daß sie die Fotos heute bekommen hatte.
"Ich kann mich noch erinnern. Der junge Zauberer stammt doch von Muggeln ab. Seine Schwester hat Bekannte bei uns hier unten drunter. War schon schlimm, was seinen Eltern passiert ist. Wollen hoffen, daß sie und wir jetzt Ruhe vor diesen mordlüsternen Zeitgenossen haben. Wie alt ist der Kleine jetzt?"
"Der kam am vierten September, einen Tag später als eigentlich vorhergesagt. Er ist jetzt also neun Wochen alt", sagte Aurora, die lächelnd sah, wie Tom Fielding sich wieder beruhigte und von seinem Foto heruntergrinste.
"Ich weiß, daß du mir das nicht erzählen wolltest. Aber Roy Fielding, das war doch der Junge, der von einer läufigen Sabberhexe mißbraucht wurde. In den Heilerjournalen wurde ein Bericht darüber veröffentlicht. Dann hat er sich offenbar sehr gut von diesem traumatischen Erlebnis erholt."
"Ich denke, das Baby ist das beste Heilmittel, was dagegen möglich war", vermutete Aurora selig lächelnd.
"Ja, solange ein Kind nicht als Druckmittel herhalten muß, um eine aussichtslos zu werden drohende Ehe zu retten oder die unerfüllten Träume seiner Eltern zu erfüllen oder die Eltern den Eindruck haben, des Kindes wegen auf alles verzichten zu müssen, was sie im Leben gerne getan haben. Ich habe leider genug Fälle gehabt, wo die Mutter sich mit zu viel Wachhaltetrank auf den Beinen gehalten hat, weil sie immer um ihr Kind herumsein wollte. Als die ersten Symptome des Traummangelsyndroms auftraten, hat sie von einem unverantwortlichen Braumeister einen Trank bekommen, um die ersten Auswirkungen zu dämpfen. Doch der menschliche Körper und das ihm innewohnende Selbst lassen sich nicht dauernd belasten. Ich konnte gerade noch rechtzeitig eingreifen, um das Endstadium des Traummangelsyndroms zu beheben. Ich habe diese Hexenmutter in einen langen aber traumtoleranten Zauberschlaf versetzt und mindestens eine Woche lang ausschlafen lassen. Dann habe ich sie mit der Empfehlung, immer gut zu essen und den Schlaf zu nehmen, den ihr Körper verlange entlassen. Der Alchemist, der ihr die beiden Überdauerungstränke zugespielt hat wurde dann von mir vor Gericht gebracht. Er war und ist zwar kein Heiler und daher nicht unserem Kodex unterworfen, aber übermäßige Gabe von Zaubertränken zum reinen Profit wird auch bestraft, wenn der Trinkende davon bleibende Schäden zurückzubehalten droht, und die Hexe wäre bald am Traummangelsyndrom gestorben, von den Halluzinationen ganz zu schweigen, die sie hatte. Die war regelrecht abhängig von den beiden Tränken. Ja, und da hört der Spaß dann wirklich auf. Du weißt ja, wielange du dich mit dem Wachhaltetrank maximal wachhalten darfst, bevor die ersten Anzeichen des Traummangelsyndroms auftreten."
"Maximal vier Tage. Dann muß jedoch ein ganzer Tag ausgeschlafen werden", antwortete Aurora, die es ja gewohnt war, mal eben so zu heilkundlichen Themen befragt zu werden.
"Korrekt", bestätigte ihre Mentorin so sachlich wie immer, wenn sie eine Frage beantwortet bekommen hatte. Doch natürlich reichte es Bethesda Herbregis nicht aus. "Wann wurde das Traummangelsyndrom erstmalig beschrieben?"
"Öhm, 1497 von Hildegunde Ratzenfuß, die den Wachhaltetrank in einer Sammlung von germanischen Zauberschriften wiederentdeckte und für die moderne Zaubererwelt modifiziert hat. Sie fand an sich selbst die Nebenwirkung übermäßigen Wachhaltetrankes heraus und dokumentierte jedes Auftreten des Traummangelsyndroms und ..."
"Öhm-öhm, nicht antworten, bevor ich dich gefragt habe, Kind. Also Wie äußert sich das Traummangelsyndrom?"
"Öhm, es beginnt mit geistiger Erschöpfung, steigert sich dann in akkustische und Raumempfindungshalluzinationen, verläuft dann weiter mit immer stärkeren Angstzuständen bishin zum Panik und Wahnsinn auslösenden Verfolgungswahn, der zu aggressiven und autoaggressiven Handlungen führen kann. Wird der Traummangel nicht spätestens dann durch einen längeren traumtoleranten Zauberschlaf behandelt, kann die Angst zur Tötung anderer oder Selbsttötung führen oder den Körper durch Überstress überlasten und zum Zusammenbruch aller vitalen Vorgänge und dem Tod führen. Schon gruselig", erwiderte Aurora.
"Nun, unser Beruf hält sehr viele solcher unheimlicher und auch anwidernder Sachen bereit, Aurora. Das wird dich noch früh genug ereilen und dich womöglich an der Fortsetzung deiner Ausbildung zweifeln lassen", seufzte Meisterin Herbregis. Dann fragte sie: "Warum wirkt sich diese durch übermäßigen Wachhaltetrankkonsum entstehende Krankheit überhaupt aus? Will sagen, Warum entsteht sie, wenn jemand sich mehr als vier Tage ununterbrochen wachhält?"
"Der Trank versorgt den Körper mit neuer Ausdauer und hält ihn so in Ordnung. aber das geistig-seelische Selbst erfährt keine solche Auffrischung, weil es andauernd zu tun hat. Das Gehirn braucht die Träume, wie der Körper die Ruhe im Tiefschlaf braucht. Kann es nicht in die Traumphase eintreten, gerät das geistig-seelische Gefüge in Unordnung", antwortete Aurora, die nun doch sehr genau hatte nachdenken müssen. Aber sie hatte im Bezug auf den Wachhaltetrank genau diese Gefahrenbeschreibung gelesen. Bethesda Herbregis nickte, was ein klares "Gut geantwortet" bedeutete. Dann schickte die mentorin noch die letzten Briefe ab. Aurora tat das gleiche. Dann fragte sie sie, was heute anstand.
"Das Spektrum Körperfunktionen beeinflussender zauberkunst, wie vor einer Woche schon", gab Meisterin Herbregis auskunft. Aurora entsann sich, daß sie da den Aufmunterungs- und Einschläferungszauber aufgefrischt hatte, den sie in Hogwarts schon erlernt hatte. Außerdem gab es dann noch kreislaufanregende und kreislaufberuhigende Zauber, solche, die das Lungenvolumen vergrößern konnten, Magenentleerungszauber und diverse Körperverlangsamungszauber und deren Aufhebung. Hinzu kamen noch Umweltanpassungszauber wie der Flammengefrierzauber, der Kopfblasenzauber und einige Kälte- und Hitzewiderstandszauber, Körperkraftverstärkungszauber, Geschwindigkeitserhöhungszauber und verschiedene Durchhaltezauber, um dem Hunger- und Durstgefühl entgegenzuwirken. Wenn Aurora diese ganzen Zauber mindestens fünfzigmal ausgeführt hatte, und zwar wenn es ging ungesagt, würden sie die wirklichen Heilzauber intensiv durchgehen, von denen Aurora zumindest den Episkey- und den Injuriclausa-Zauber schon einigemale ausgeführt hatte. Aber dann gab es ja noch die Brüche heilenden Zauber, Zauber zur Heilung gerissener Muskelfasern, Nervenstränge oder Adern, sowie Organerneueuerungszauber, um geschädigte Organe vollständig zu heilen oder unrettbar gewordene Organe durch vollwertige nachgewachsene Organe zu ersetzen. Doch derlei würde ihr wohl erst im zweiten Halbjahr und den beiden Folgejahren blühen.
So verbrachte Aurora den ganzen Tag damit, an Meerschweinchen und Kleinaffen Kreislaufanregende Zaubersprüche und deren Umkehrung zu trainieren. Zwischendurch wurde sie natürlich zur Geschichte und Entwicklung dieser Zauber befragt.
"In den allermeisten Fällen wo du keinen Zaubertrank parat hast, um einzugreifen ist es erst einmal wichtig, genau zu erkennen, ob der Kreislauf des Patienten nun zu schwach oder zu überlastet ist. Bei natürlich auftretenden Kreislaufbeschwerden empfiehlt sich die Verschreibung eines den Beschwerden entsprechend antagonierenden Trankes, bei zu schwachem Kreislauf ein Stimulanz, bei zu schnell schlagendem herzen und / oder überhöhten Blutdrucks ein Relaxanz, natürlich auch in präziser Abstimmung auf Art und Umfang der Beschwerden", dozierte Bethesda Herbregis. Aurora schrieb es sich auf, um es bei den Prüfungen Ende Februar genau wiedergeben zu können. Einige Male gelang ihr der ungesagte Zauber nicht. Ihr Kopf begann immer mehr zu brummen, weil sie sich andauernd konzentrieren mußte. Direktes Zaubern forderte mehr von ihr als das Brauen von Zaubertränken oder die Erläuterung der Rezepturen. Einigemale sprach sie die Zauberformeln laut aus. Einigemale übertrieb sie es unabsichtlich mit der Stärke des Zaubers, so daß einer der Kapuzineraffen, der als Versuchstier herhalten mußte fast an viel zu heftig schlagendem Herzen eingegangen wäre. Daraufhin verfügte Meisterin Herbregis, daß Aurora in der nächsten Körperkundeunterweisung gesondert über das Herz-Kreislaufsystem des Menschen und humanoider Zauberwesen unterrichtet werden sollte. Jedenfalls meinte die Mentorin am Ende des anstrengenden Übungstages:
"Das unmittelbare Intensivtraining zeigt bei dir langsam Wirkung, Aurora. Am Anfang warst du eine Starterin, die in der ersten Stunde Dauerzaubern überragend flexibel und gut gearbeitet hat. Mittlerweile hältst du drei Stunden am Stück durch. Aber der Leistungsabfall nach dieser Intensivauslastung gefällt mir immer noch nicht. Wir werden das weiter verbessern. Als aprobierte Heilerin wirst du unter Umständen neun bis zehn Stunden am Stück den zauberstab gebrauchen und unter Umständen sehr kraftzehrende Zauber aufrufen oder gegen sehr heimtückische Flüche reaktionsschnell und vollkonzentriert ankämpfen müssen. Das werden wir beide bis zum Ende des ersten Ausbildungsjahres bei dir hinkriegen, glaube es mir. Da du in Zaubertränken und Kräuterkunde ja offenbar ein Naturtalent bist und die Theorie auch sehr schnell verinnerlichst, auch ohne Gedächtnisverstärkungstränke, werden wir wohl im zweiten Halbjahr den Schwerpunkt auf flexibles und ausdauerndes zaubern mit dem Zauberstab legen. Wie bei vielen anderen arbeits- und Erfahrungsintensiven Berufen gilt auch und vor allem bei der Medimagie der Grundsatz, daß Übung den Meister oder die Meisterin macht. Hinzu kommt noch die Aufregung wegen der Diagnose und korrekten Therapierung. Deshalb müssen die nötigen Zauber als solche fast automatisch ablaufen können, ähnlich dem Atmungsreflex oder der Muskelabstimmung beim laufen. Aber für Heute hast du wahrlich genug getan, Aurora. geh jetzt zum Abendessen und genieße die Halloween-Atmosphäre!"
Im Tagesraum hingen ausgehöhlte Kürbisse an den Wänden, in denen schaurig flackernde Kerzen ein gespenstisches orangerotes Licht in den für Ende Oktober viel zu hellen Raum warfen, wie Aurora fand. Denn hier im Land auf der Südhalbkugel wurden die Sonnenstunden ja gerade mehr.
"Irgendwie nicht so wie ich das vom Licht her gewohnt bin", sagte Aurora zu Tom McCloud, der auch so aussah, als habe er sich an diesem Tag verausgabt.
"Achso, bei euch ist es um acht ja schon stockfinster, wenn Halloween ist", erwiderte Tom. "Dann kommen natürlich so Kerzen gruseliger durch. Dafür haben wir keine herumfliegenden Fledermäuse, die vielleicht irgendwo hinscheißen."
"hinkoten, Thomas!" Berichtigte ihn Daisy Nettles, die gerade wie aus dem Ei gepellt in den Tagesraum eintrat.
"Auch wenn du 'ne Drittjährige bist mußt du mir nich' sagen, wie ich zu reden habe, Daisy", knurrte Tom. "Außerdem ist das auch gegen die Anstandsregeln, in eine Unterhaltung reinzuquatschen, die man erstens nicht komplett mitbekommen hat und die einen zweitens nix angeht."
"Oh, das heiße Blut der Gemmehearts rumort mal wieder unermüdlich, Mr. McCloud", feixte Daisy. Was hat Meister Morningdew dir heute abverlangt, daß du so unbeherrscht bist?"
"Freche Hexen in brave Muggelmädchen zu verwandeln", knurrte Tom. Doch das war bestimmt nicht das Tagespensum des bärengleichen Jungzauberers.
"An dem Zauber würdest du dich bei mir glatt übernehmen, Bürschlein", erwiderte Daisy verächtlich. Dann sah sie Aurora an und meinte: "Na, Intensivzaubertraining bei Meisterin Herbregis?"
"Komm, hör auf! Kreislaufbeeinflussungszauber rauf und runter und das vom kurzen Mittagessen abgesehen den vollen Tag lang", stöhnte Aurora geschafft.
"Da ist die gut drin, Leute an ihre Leistungsgrenzen ranzutreiben. Dein Vorgänger, der jetzt im praktischen Jahr ist hat das die zwei Jahre, die ich mitkriegen konnte auch andauernd üben müssen."
"Wilde Kräuter einfangen und bändigen ist auch fies. Habe ich heute gemacht. Weiß der Henker wozu diese grünen Dinger gut sind, die aus diesen um sich schlagenden Stümpfen rausgeholt werden müssen."
"Huch, die hatten wir doch in der sechsten in Kräuterkunde", erwiderte Aurora refflexartig. Daisy grinste verhalten. Dann fragte die Drittjährige:
"Kamen die bei euch nicht in den UTZ-Prüfungen dran? Bei uns auch nicht. Aber wir hatten die auch mal eine Stunde lang im Unterricht. Wie heißen die noch mal!" Sie sah Tom an, machte Aurora gleichzeitig ein Zeichen, den Mund zu halten.
"Snargaluffs heißen die Dinger, verdammt noch mal!" Knurrte Tom. Daisy nickte und deutete dann auf Aurora:
"Auch wenn du kein Henker bist, Aurora, kannst du deinem Jahrgangskameraden bitte sagen, wozu "diese grünen Dinger" gebraucht werden, die man aus denen rauszerren muß?"
"Eh, das ist jetzt echt blöd von dir, uns hier so auszufragen", knurrte Tom. Aurora sah ihn abbittend an, mußte dann aber überlegen grinsen und antwortete:
"Die Snargaluff-Kokons entstehen, wenn die stumpfartigen Pflanzen lebende Kleinsäugetiere verschlungen haben und diese in einem komplizierten Verdauungsprozess mit den Samenkapseln der Pflanze verwachsen, bis sich ein mit starker Nährlösung angefüllter Kokon bildet, der im Takt des eingefangenen Kleintieres pulsiert und solange darin bleibt, bis die Außenhülle so fest ist, daß die umgebende Mutterpflanze von innen her aufgebrochen wird. Dann erst keimt die eingeschlossene Samenkapsel und zieht alle Nährlösung aus dem Kokon, der dann austrocknet und aufbricht. Wenn die Kokons noch aus dem lebenden Muttergewächs herausgezogen werden ist diese Nährlösung ein magisch hochpotentes Gewebeheilmittel, daß jedoch in Verdünnter Form mit anderen sogenannten Kontrollstoffen vermischt werden muß, um keine ungehemmte Wucherung auszulösen. Also die grünen Dinger sind für Gewebe- und bluterneuerungstränke und Hautgesundungslotionen gut."
"Deine Kräuterkundelehrerin wollte dich bestimmt als ihre Nachfolgerin heranziehen, oder?" Brummte Tom. Doch andererseits mußte er diese Sachen ja kennen und können, wenn er ein Heiler werden wollte. Bestimmt hatte Aurora an anderen Stellen Wissenslücken, und eines Tages würde er ihr auf Anfrage einen Kurzvortrag halten. Aurora wußte das natürlich. Deshalb sah sie Tom an und meinte, daß er dafür besser in Fluchabwehr sei. Das genügte ihm für's erste. Er suchte Berthold, der jedoch mit Ireen auf einem roten Ledersofa saß, das zur üblichen Ausstattung gehörte, wenn die Adepten nicht gerade an den Esstischen saßen und ihr Mittag- und Abendessen zu sich nahmen. Doch irgendwie wirkte das Sofa viel neuer auf Aurora als sie es in Erinnerung hatte. Das Leder glänzte richtig, und die Lehnen wirkten nicht so abgenutzt. Vielleicht hatten die Ausbilder befunden, daß Halloween ein guter Tag für neue Möbel sei. Aurora sah sich um. Die aus den beiden oberen Jahrgängen hatten sich schon an ihren Tischen hingesetzt. Ihre Mentoren saßen an einem Tisch für sich. Von Auroras Jahrgang fehlte jedoch Monica Riddley. Nicht daß sie sie vermißt hätte. Aber irgendwie stimmte das ganze Bild nicht, wenn sie nicht im Raum war.
"Wollten die nicht ein Musikfass reinrollen?" Fragte Aurora Tom, der mißmutig auf Ireen und Berthold blickte, die auf dem Sofa enger als anständig war zusammenhockten und sich offenbar gut unterhielten.
"Hat die Herbregis das rausgelassen? Weiß ich nix von", brummte Tom und scharrte mit den Füßen auf dem Boden. Er suchte mit seinem Blick Ceres Beanstock und Salyx Gnoll. Doch diese waren nicht im Raum.
"Eh, sag bloß, die beiden da auf dem roten Sofa haben heute früher freigekriegt als wir. Womöglich ist die runde Riddley auch noch nicht ... Hups, die Springwood ist ja im Raum."
"Dann dürfte Monica auch schon frei haben", stellte Aurora fest. "Wird sich wohl gleich hier einfinden."
"Eh, warum kucken die Mentoren den beiden da so einfach zu?" Knurrte Tom. Dann ging er zu dem Sofa hinüber. Berthold und Ireen strahlten ihn an und winkten ihm zu. Er grummelte etwas für Aurora unverständliches und warf sich dann mit voller Wucht auf das Sitzmöbel, das in seinen Federn quietschte und ein irgendwie seltsames Seufzen von sich gab, wie ein Mensch, der unter einer schweren Last keucht.
"Ups, hat die Jill ihren Muäp-Zauber jetzt auf das Sofa gelegt?!" Rief Tom, bevor das Sofa ihn und seine beiden Kameraden mit einem entschlossenen Stoß von sich abwarf und dann klappernd davonstakste, um fünf Meter entfernt unter krampfartigen Zuckungen zu einem nun nicht mehr ganz so fülligen Mädchen zu werden. Brigid Springwood eilte verärgert dreinschauend herbei, während Tom zu lachen anfing und Ireen und Berthold verschämt aus der Wäsche guckten.
"Aha, da hat sie sich also versteckt. Geschieht dir ganz recht!" rief Brigid Springwood wütend. "Die Leibesübungen vorzeitig abbrechen und unerlaubt davonlaufen und dann einen solchen Unsinn anstellen!"
"Das mache ich bestimmt nicht mehr. Die beiden liebestollen Eulenkötel da waren fast dabei, es auf mir zu treiben. Ist ja widerlich."
"Stimmt, die Vorstellung ist eklig", pflichtete Ireen der nicht ganz so gemochten Kameradin bei. Berthold sah Tom verschmitzt grinsend an, der jedoch etwas ungehalten zurückblickte, bevor er breit grinsend die enttarnte Junghexe betrachtete, die gerade dabei war, sich den Anpfiff der Woche einzufangen.
"Unabhängig davon, daß wir schon eingeschritten wären, wenn Ms. Barnickle und Mr. Woodman sich in ungebührlicher Weise betätigt hätten ist es wohl kaum eine passende Antwort auf meine berechtigte Verärgerung, Ms. Riddley", keifte Brigid Springwood. Alle anderen, Adepten und Mentoren, schwiegen und beobachteten die Szene. "Was hast du dir denn dabei gedacht, ausgerechnet ein Sofa verkörpern zu müssen?"
"Es sollte ein Halloweenscherz werden, Meisterin Springwood. Aber dann wurde es mir langsam doch widerlich, als ausgerechnet die beiden da auf mir herumgerutscht sind und sich mit honigsüßen Worten vollgequatscht haben. Und dann kommt dieser Muskelprotz da noch und schmeißt sich voll auf mich drauf, daß ich jetzt noch meine Rippen und Beckenknochen spüre."
"Tja, das wäre dann wohl die gerechte Strafe für diesen Unfug", knurrte Brigid Springwood. "Heute abend werde ich wohl kein endgültiges Strafmaß festsetzen können, weil ich gerne an der Halloween-Feier teilnehmen würde, bevor die Nacht der fiesen Flüche über uns hereinbricht. Aber morgen wirst du lernen, was das heißt, eine Mentorin derartig vor aller Öffentlichkeit zu brüskieren, Mädchen. Los, mach, daß du in dein Zimmer kommst! Bleib da bis morgen zum Frühstück. Für dich ist Halloween gerade zu Ende gegangen."
"Nur wegen dieses kleinen Streichs?" Fragte Monica aufsässig. Doch Brigid zog den Zauberstab und hielt ihn drohend auf ihre Schülerin gerichtet. Diese nickte und eilte aus dem Tagesraum.
"So, die andren bitte zu Tisch!" Rief Bethesda Herbregis. Die Mentoren setzten sich zu ihren Anvertrauten. Sie sprachen während des Abendessens über Monicas sogenannten Streich und auch über Ireen und Berthold, die fast auch eine heftige Strafe kassiert hätten. Auroras Mentorin sagte zu ihr:
"Offenbar entfalten sich Frühlingstriebe in den beiden. Dagegen gibt es leider keinen wirksamen Trank. Aber ich hätte die beiden für vernünftiger gehalten."
"Die kennen sich sehr gut von Redrock her", erwiderte Aurora.
"Das ist zwar korrekt aber kein Grund, sich derartig gehen zu lassen. Naja, die Vorstellung, sich derartig auf einer verwandelten Mitschülerin angenähert zu haben dürfte ihren Trieben einstweilen den Garaus gemacht haben."
"Was ist mit der Nacht der fiesen Flüche gemeint?" Fragte Aurora, die den Ausdruck sehr bedrohlich fand.
"Es gibt in der englischsprachigen Zaubererwelt zwei Nächte, wo die meisten gehässigen Verzauberungen an Mitmenschen stattfinden. Die eine steht uns gerade bevor, nämlich Halloween, und die andere kriegen wir regelmäßig zu Silvester, wenn irgendwelche Möchtegernfeuerwerker verhexte Knallkörper und Raketen herumfliegen lassen und am Rande der Kriminalität handelnde Scherzbolde verwünschte Geschenke überreichen, die zwar nicht tödlich aber sehr lästig wirken, immer schwerer werdende Kleidung, die sich nicht ablegen läßt zum Beispiel oder Bewegungszwangstiefel oder Handschuhe, die ihre Träger vor Schmerzen oder unbeherrschbarer Bewegungswut herumfuchteln oder springen lassen. auch Objektflüche, die auf einen Menschen überspringen und ihn verunstalten oder anderweitig beeinträchtigen kommen zu häufig vor. Wir gehen davon aus, daß wir die ersten Einsetze haben, wenn es dunkel wird. Zum Glück ist das bei uns in Australien erst gegen neun Uhr der Fall. In England haben sie da schon die ersten Einsätze."
"Oha, und das passiert immer zu Halloween und Silvester?" Wollte Aurora wissen.
"Bei Halloween ist es deshalb schlimm, weil auch Muggel von diesen Niederträchtigkeiten betroffen werden und wir nicht nur die Wirkung der Behexungen aufheben, sondern auch deren Gedächtnisse verändern müssen. Letztes Halloween haben Muggelhalbwüchsige eine kinderunfreundliche Hexe mit "Streich oder süßes" behelligt. Die hat ihnen darauf hin verwünschte Bonbons gegeben, die ihnen unaufhörlich wachsende Schneidezähne eingebrockt haben. Zwar hat die betreffende Hexe eine horrende Geldstrafe an den Hals bekommen und wurde verwarnt, daß sie im Wiederholungsfall einen Monat ins Gefängnis müsse, aber wir hatten die verschreckten Muggeljungen zu behandeln. Schlimm war dabei auch, daß einige der Bonbons noch nach Halloween aufgetaucht sind und wir bis zum letzten Novembersonntag immer wieder Langzahn-Fluch-Opfer zu behandeln hatten. Fast wäre eines der Opfer von Bildverbreitungsleuten interviewt und den Muggeln im ganzen Land in ihren Bildauffangapparaturen gezeigt worden. Das war schon knapp an der Katastrophe für die Geheimhaltung der Zauberei."
"Ja, und diese Hexe hat die Strafe bezahlt. War die eine Shadelakerin?"
"Sagen wir es so, nicht alle, die übles aushecken waren Bewohner des Hauses Shadelake. Aber die meisten Shadelake-Bewohner tendieren doch zur Muggelfeindlichkeit und scheren sich nicht viel um die Unversehrtheit ihrer Mithexen und -zauberer. Du hast es ja heute wieder erlebt, wie rücksichtslos jemand sein kann, die mit der Vorstellung groß wurde, daß alles machbare auch erlaubt ist und alles was Erfolg bringt auch richtig sei. Ich hoffe, Ms. Riddley bekommt noch die Kurve und lernt, daß die Medimagie ein Betätigungsfeld ist, wo Disziplin, Einfühlungsvermögen und Achtung der Mitmenschen oberstes Gebot sind."
"Was wenn nicht?"
"Tja, das müßte dann meine Kollegin entscheiden oder vor dem Fünferrat verantworten, ob Ms. Riddley mehr als das erste Jahr bei uns lernen darf oder nicht. Allerdings, sollte sie mutwillig den Abbruch ihrer Ausbildung erzwingen, würde es für sie teuer. Dann könnte die Zunft alle für ihre Ausbildung bezahlten Galleonen zurückverlangen. Wir Heiler leben zwar überwiegend von Spenden und staatlichen Zuschüssen und das nicht schlecht. Aber das heißt nicht, daß wir im Streit mit den Galleonen liegen, die wir einnehmen." Aurora erbleichte sichtlich. Was, wenn sie irgendwann so heftig versagte, daß sie nicht weiter ausgebildet werden konnte? Ihre Mentorin schien das ihr anzusehen und sagte ruhig:
"Diese Rückzahlungsstrafe entfällt nur auf Leute, die sich nicht an die Regeln halten wollen oder absichtlich unter ihren Leistungen bleiben. Wenn einer von uns Mentoren befindet, daß der ihm oder ihr zugewiesene Anwärter auf den Heilerstatus nicht die nötigen Anforderungen erfüllen kann, dann können und werden wir denjenigen oder diejenige nicht drangsalieren, einen Beruf zu erlernen, der ihm oder ihr nicht liegt. In diesem Fall verzichtet die Zunft auf die Rückzahlung der Ausbildungshilfe, ja ermöglicht dem Abgänger den Einstieg in einen ihm zuträglicheren Beruf. In den meisten Fällen resultiert das im Laufe der Jahre in großzügigen Spenden für unsere Klinik oder die Schatzmeisterei der Heilerzunft. Also brauchst du dir keine Gedanken zu machen, daß wir dich bettelarm machen, sollte ich irgendwann den zur Zeit unwahrscheinlichen Eindruck hegen, daß du besser in einem andren Beruf arbeitest. Es ist mir bisher nur fünfmal untergekommen, daß ich einem Adepten den Abbruch der Ausbildung anraten mußte, weil er oder sie zu panisch auf Notsituationen reagierte und obendrein weder Blut noch Ausscheidungen länger als zwei Sekunden sehen konnte. gegen tiefliegende Abneigungen und Ängste können wir ohne Zaubertränke nichts machen, und die reichen wir eben nur in akuten und lebensbedrohlichen Fällen."
"Ob ich dieses Kriterium erfülle weiß ich jetzt auch nicht", sagte Aurora.
"Dann hättest du wohl kaum so besonnen erste Hilfe bei deinem Vater geleistet oder dich gar dazu bereitgefunden, einer Kätzin beim Jungen zu helfen." Aurora nickte automatisch. Dann erst fiel ihr auf, daß sie der Heilhexe weder erzählt hatte, daß sie einmal ihrem Vater geholfen hatte, als der einen lästigen Wecker loswerden wollte und diesen dabei zur Explosion gebracht hatte, und das mit Schneeflöckchen und ihren Jungen hatte sie Bethesda Herbregis auch nicht erzählt. Woher hatte die das? Hatte sie unter dem Merkfähigkeitstrank vielleicht sowas erzählt? Sie fragte Bethesda Herbregis, woher sie das mit den Halbknieseln wußte.
"Jemand, dem wichtig war, dich mir vor Antritt deiner Ausbildung gut genug zu empfehlen hat es mir erzählt." Aurora wollte schon fragen, wer bitte schön mit Meisterin Herbregis über sie gesprochen hatte, als es acht Uhr schlug und ein schlachsiger Zauberer im hellblauen Umhang mit goldener Borte ein glänzendes Faß hereinrollte. Der Zauberer mit dem mausgrauen Haar und dem Schnurrbart war allen hier wohl bekannt, obwohl er bisher nur bei der Begrüßung der neuen Heileranwärter hereingekommen war. Es war Prof. Dr. Vitus Springs, der amtierende Leiter der Sana-Novodies-Klinik. Da ging Aurora ein Kronleuchter auf. Sie hatte Heather die Sachen mit ihrem Vater geschrieben und auch, daß sie Schneeflöckchens Junge auf die Welt geholt hatte. Wenn die das ihrem Großonkel weitererzählt hatte, wenn der sie fragte, was für eine denn "Diese Aurora Dawn" sei ... War zumindest die naheliegendste Erklärung. Sie überlegte, ob sie Heather nicht einen Heuler schicken sollte, was ihr denn einfiele, alles weiterzutratschen, was sie ihr im Vertrauen schrieb. Doch dann mußte sie sich fragen, ob sie nicht auch Sachen weitererzählt hatte, von denen Heather nicht unbedingt jedem was erzählen wollte. Sie dachte dabei an Petula und Miriam oder Eunice, mit der sie sich ja auch über die Möglichkeit unterhalten hatte, in Australien zur Heilhexe ausgebildet zu werden. So verpuffte ihr stummer Groll im auf Halloween zurechtgemachten Tagesraum, während Vitus Springs die Totenstille mit einem Lächeln vertrieb und sagte:
"Die Damen und Herren. Halloween ist zwar ein Fest der Vereinigung der Lebenden und Toten. Aber ich bin doch froh, hier mehr lebendige Wesen als Tote zu sehen. Die kriege ich als alter Heilzauberer öfter als gewollt zu sehen." Einige grinsten. "Ich habe euch drei Stunden Musik mitgebracht. Ich habe es noch hingekriegt, Aufzeichnungen von Hecate Leviata und den Schicksalsschwestern einfliegen zu lassen. Wir werden gleich etwas zusammen essen, und dann zum lockeren Teil des Abends übergehen. Bedauerlicherweise dürfen die fertig gebackenen Heiler unter uns keinen Alkohol zu sich nehmen. Einige Zeitgenossen außerhalb dieser Mauern halten es leider jedes Jahr für spaßig, hinterlistige Hexereien unters Volk zu bringen, und wir müssen die dann beheben. Aber im Moment habe ich genug Personal in Alarmbereitschaft versetzt, daß wir alle, die wir hier sitzen, etwas feiern können. Ah, da kommen auch meine Ehrengäste."
Alle staunten über die an die fünfzig Hexen und Zauberer, die auf diesen Hinweis hin eintraten. Ausnahmslos alle erkannten welche von denen. Aurora fiel sofort die Hexe mit den rotbraunen Haaren auf und der Zauberer mit den schwarzen Haaren und den graugrünen augen, die genau so geformt waren wie ihre eigenen Augen. Daneben konnte sie noch die junge Hexe mit den brünetten Haaren erkennen, die in Begleitung ihrer Eltern hereinkam. Daß sie nicht die einzige war, die die Ankömmlinge erkannte hörte sie an dem überraschten "Huch" und "Höh" und "Wau!" aus den Reihen ihrer Studienkameraden. Unvermittelt vermehrten sich die Tische und Sitzbänke, so daß die Ehrengäste sich zu denen hinsetzen konnten, deretwegen sie überhaupt eingeladen worden waren. Aurora begrüßte ihre Eltern überschwenglich und sah dann Heather mit einem leicht vorwurfsvollen Blick an.
"Hast du das deinem Großonkel erzählt, daß ich einer Katze beim Jungekriegen geholfen habe?" Fragte sie Heather.
"Ich hab's meiner Mum erzählt und später auch Großonkel Vitus", sagte Heather unschuldsvoll dreinschauend. Dann begriff sie. "Ach, dann hat deine Mentorin das dir erzählt, und du wußtest nicht, ob sie's aus dir rauslegilimentiert hat oder nicht." Sie grinste, während sich Meisterin Herbregis ungehalten räusperte.
"Zumindest weiß ich jetzt, daß meine Mentorin nichts vergißt, auch wenn's scheinbar so unwichtig ist", grummelte Aurora, bevor sie wieder Grund zum Strahlen hatte. Ihre Mutter sagte ihr:
"Wir haben vorgestern die ausdrückliche Einladung bekommen, dich hier zu besuchen, so eine Art Elternabend, meinte Professor Springs." Sie zwinkerte dem ehrwürdigen Zauberer zu, der wohlwollend zurücklächelte. "Immerhin seid ihr nicht mehr in der Schule und hättet Halloween ja dann wohl bei uns oder Freunden gefeiert. So hat Professor Springs Eltern und Freunde hergeholt, zumindest die der jungen Leute hier, die ihr erstes und zweites Jahr machen."
"Trifft sich für mich auch gut, herüberzukommen", meinte Hugo Dawn, Auroras Vater. "Dann kann ich gleich an der Konferenz der Tierabrichter und Postvogelzüchter teilnehmen, die übermorgen in Alice Springs beginnt. Deine Mutter wird sich mit den Springs ein wenig die Gegend ansehen."
"Ich denke, einige hier haben das nicht so recht gewollt, daß ein Elternabend stattfindet", sagte Aurora leise und deutete auf einige aus dem zweiten Jahr. Dann sah sie noch ein Ehepaar, bei dem der Zauberer in einem langen, schwarzen Samtumhang gekleidet war und dasselbe pausbäckige Gesicht wie Monica Riddley hatte, während die Hexe an seiner rechten Seite ein überhebliches Gebahren zeigte und in ihrem goldfaden durchwirkten Kleid aus roter Seide den Eindruck einer Königin vermittelte.
"Sieht so aus, als suchten die beiden feinen Leute da wen", zischte Aurora Heather zu und deutete auf die beiden besonders nobel herausgeputzten Eheleute. Heather nickte, als sie die beiden erkannte. Dann sah sie sich um und fragte leise:
"Wo ist denn Monica Riddley? Gehört die nicht auch zu euch aus dem ersten Jahr?"
"Die hat von ihrer Mentorin eine Strafe aufgebrummt bekommen, weil sie sich heute einen Schabernack geleistet hat", erwiderte Aurora ein wenig schadenfroh. Vitus Springs sah das illustre Ehepaar an, das nun zielgenau auf ihn zuschritt, der Zauberer voraus. Direktor Springs begrüßte die beiden höflich, wenn auch zurückhaltender als die Dawns oder andere Eltern. Dann wandte er sich an Meisterin Springwood, die aufstand und entschlossen zu ihm hinüberging. Wenige Momente später war auch schon eine lebhafte Diskussion im Gange, die von dem Klinikdirektor nur schwer unter Kontrolle gehalten wurde. Aurora wandte sich an ihre Mutter, um sich von der sie im Moment nichts angehenden Debatte abzulenken und fragte sie über Neuigkeiten aus der Heimat aus. Als Regina Dawn ihrer Tochter alles erzählt hatte, was noch nicht über die Portrait-Verbindung weitergegeben worden war, meinte Hugo Dawn:
"Euer oberster Chef hat uns erlaubt, vor dem Abendessen kurz eure Unterkünfte zu besuchen, falls ihr das erlaubt. Natürlich kann er euch nicht dazu zwingen, oder wir irgendwas anführen, das uns berechtigt, dein Zimmer zu besuchen. Deshalb frage ich ganz anständig: Dürfen wir uns kurz ansehen, wie du untergebracht bist, Aurora?"
"Ich weiß nicht, wie das mit dem Abendessen ist. Offenbar sollt ihr alle ja mit uns zusammen Halloween feiern", wandte Aurora ein. Dann sah sie ihre Mentorin an und nutzte gleich die Gelegenheit, ihre Eltern und Meisterin Herbregis offiziell miteinander bekannt zu machen. Regina Dawn nahm ebenfalls eine Gelegenheit wahr, auf die sie gehofft hatte und sagte nach der formvollendeten Vorstellungszeremonie:
"Meine Schwester hat sich übrigens sehr gefreut, daß eine international anerkannte Heilerin sich für ihre Arbeit über Muggelvorrichtungen und ihre Verwendbarkeit in der magielosen Behandlung von Verletzungen und Krankheiten interessiert. Ich hoffe, meine Tochter hat Ihnen die Kopie des von Dr. Priestley verfaßten Artikels bereits zukommen lassen können."
"Oja, dies hat sie", sagte Bethesda Herbregis zufrieden. "Wahrscheinlich werde ich ihre beigefügte Anregung wahrnehmen, mich mit ihr über Sinn und Unsinn magieloser Heilverfahren auszutauschen, sofern ich dabei keine nur Heilern erlaubte Details erwähnen muß. Immerhin interessiert mich dieses Gerät, Licht zu einer haardünnen, glutheißen Klinge oder einem nichtstofflichen Lötkolben zu bündeln. Natürlich bezog sie sich in dem mir heute zugegangenen Artikel auf reine Kunst und leichte Unterhaltung. Aber ich schätze Ihre Frau Schwester auch als versierte Alchemistin, mit der ich durchaus interessante Gedanken über Zusammensetzung und Erstellung von Zaubertränken austauschen kann. Was Ihre Tochter angeht, so bin ich sehr zufrieden mit ihren bisher gezeigten Leistungen, die jetzt schon sehr vielversprechend sind. Sollte kein unausräumbares Hindernis auftauchen, daß ihre Ausbildung vorzeitig und unvollendet beendet, wird sie wohl in den kommenden zweieinhalb Jahren eine ausgezeichnete Heilerin werden, die im stationären Dienst oder niedergelassen sicherlich eine Bereicherung der Zaubererwelt sein dürfte."
"Da ich von Ihrer bedingungslosen Aufrichtigkeit bereits gehört habe und daher weiß, daß Sie mir nicht nur sagen, wovon Sie meinen, daß ich es wohlwollend zur Kenntnis nehmen möchte freut es mich besonders, daß Sie sich um die Ausbildung meiner Tochter kümmern", erwiderte Regina Dawn. Hugo sagte dann noch:
"Meine Mutter kennt einige Ihrer Bücher. Eine Tante von mir war ja selbst Heilerin, bis sie ein Opfer ihrer Vorliebe für gefährliche Zaubertiere wurde. Sicher haben Sie von Siobhan Dawn gehört, die vor allem mit Drachen und Harpyien gearbeitet hat."
"Ja, ihre Arbeit "Ergänzungen zu den zwölf bekannten Nutzungsarten von Drachenblut in Bezug auf Herkunft, Alter und Geschlecht der verschiedenen Drachen" ist mir bekannt. Es ist bedauerlich, daß sie so jung verstorben ist. Aber sie war ja doch ein wenig unvorsichtig, sich einer schwedischen Kurzschnäuzlerin ohne Rückendeckung und passive Brandschutzzauber zu nähern. Das blaue Feuer dieser Drachen gehört nicht um sonst zu den fünf zerstörerischsten Auswirkungen magischer Tierwesen. Ihre Mutter ist demnach Regan Dawn. Ihre Tochter sprach nur einmal von einer Großmutter, die auf dem Gebiet der Unterbindung dunkler Kräfte sehr gut bewandert sei und ein großes Können in Haushaltsführungszaubereien besitze. Immerhin hat Aurora die guten Anlagen wohl auch von dieser Seite geerbt, wenngleich ich natürlich auch weiß, daß Sie, Mrs. Dawn, in Zauberkunst und Verwandlung passable UTZs errungen haben."
"Hat meine Tochter das erzählt?" Fragte Regina und sah Aurora Dawn mit einer Mischung aus Stolz und etwas Verlegenheit an. Aurora schüttelte vorsichtig den Kopf.
"Es ist eine Marotte von mir, bei der Zuteilung von Adepten zur intensiven Unterweisung alle Quellen ihrer Talente und Kenntnisse lückenlos zu überprüfen. Da Sie, Mrs. Dawn, ja bis 1979 in der Hogwarts-Schule das Wahlfach Arithmantik unterrichteten, konnte ich Einblick in das nur aprobierten Heilern oder Ministerialbeamten zugängliche Verzeichnis der Werdegänge wichtiger Personen der Öffentlichkeit erlangen und dort - ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Neugier - alle Abschlußnoten von Ihnen nachlesen. Wie erwähnt betätige ich mich nur deshalb derartig investigativ, weil ich natürlich ausloten möchte, wo ich bei einer mir zugeteilten Adeptin ansetzen muß, was ich als leicht zu bewältigen oder mühsam zu erarbeiten annehmen kann, bevor ich einen Schüler oder eine Schülerin in eigener Person kennenlernen und entsprechend einschätzen lernen kann", erwiderte Meisterin Herbregis ganz ruhig, als habe sie Auroras Mutter nur erzählt, daß sie gerne Zeitungsartikel über berühmte Leute lese und nicht in deren ganz privaten Sachen herumschnüffelte. Offenbar, so dachte Aurora, wußte Meisterin Herbregis, daß über Sie ja auch alle wichtigen Dokumente aufbewahrt worden waren und diese von zugangsberechtigten Hexen und Zauberern eingesehen werden konnten. Womöglich hatte Bethesdas Mentorin Laura Morehead genau das auch bei ihr gemacht. Doch Bethesda Herbregis war nicht Laura Morehead, mußte sich Aurora immer wieder ins Bewußtsein rufen. Als habe sie diese oberste Heilerin Australiens mit ihren Gedanken in den Raum hineinapportiert tauchte eine untersetzte Hexe in einem dunkelblauen Kleid im Tagesraum auf, die auf ihren schwarzen Locken einen kleinen, veilchenblauen Hexenhut trug und mit stahlblauen Augen würdevoll durch die Gläser einer silbernen Brille blickte. Warum kam Laura Morehead nun auch noch? Aurora deutete auf die späte Besucherin. Bethesda Herbregis nickte ihrer Adeptin zu und wandte sich ihr zu:
"Oh, wenn Laura auftaucht heißt das meistens zusätzliche Einsatzpläne oder Großeinsatz in Muggelsiedlungen." Laut klatschend verschaffte sich Laura Morehead absolute Aufmerksamkeit. Alle im Saal sitzenden Adepten und Mentoren kannten sie natürlich von Bildern zeitgenössischer Heiler, die auf den Gängen zu den Kursräumen und Labors hingen. Die Ehrengäste schwiegen, weil ihre Freunde und Verwandten schwiegen.
"Liebe Kollegen, wie ihr euch womöglich denken könnt komme ich in eigener Person, weil es mal wieder einen Scherzbold gegeben hat, der Unheilsprodukte unter den Muggeln verteilt hat. Jemand, den die Eingreiftruppe der Strafverfolgungsabteilung noch suchen muß, hat verhexte Äpfel in Sydney verkauft, die den, der einmal von ihnen abbeißt, in eine schlafwandelartige Trance versenken und danach wieder unberührt aussehen. Die Befallenen geben die Äpfel dann weiter. Ich habe vor einer halben Stunde erst erfahren, daß diese keinesfalls als einfacher Streich zu verstehende Massenbehexung bereits mehrere Dutzend Muggel ergriffen hat. Wer seinen Apfel weitergegeben hat legt sich nämlich an Ort und Stelle hin und wirkt auf unkundige Mitmenschen wie tot. Wir müssen die verfluchten Äpfel einsammeln und die davon betroffenen Muggel heilen. Deshalb bitte ich alle ausgewiesenen Heiler, nach Sydney zu gehen. Ich selbst werde mich mit hundert weiteren niedergelassenen Heilerinnen und Heilern an der Aktion beteiligen. Vitus, bitte teilen Sie eine Rumpfmannschaft für den Betrieb der Klinik ein!"
"Natürlich", sagte der Direktor der Klinik. Dann eilte er aus dem Raum, wobei er die Ehrengäste mit einem Ausdruck großen Bedauerns ansah. Keine fünf Minuten später verschwanden sämtliche ausgebildete Heilerinnen und Heiler aus dem Tagesraum. Jill Trylief wurde damit beauftragt, die Halloweenfeier mit ihren Kameraden fortzusetzen. Aurora erbat sich von der ältesten Auszubildenden hier die Erlaubnis, ihren Eltern und Heathers Familie ihre Unterkunft zu zeigen. Jill meinte dann zu Hugo Dawn:
"Meine Mutter hat mir schon geschrieben, daß Sie wohl zur Konferenz der Tierabrichter und Postvogelzüchter kommen würden. Ich hoffe, dieser Masseneinsatz macht keinen falschen Eindruck von der australischen Zaubererwelt."
"Ganz bestimmt nicht, Ms. Trylief", antwortete Hugo Dawn. "Natürlich kenne ich Ihre Frau Mutter. Ich bin schon sehr gespannt auf ihre Beschreibung über die Abrichtung heimischer Vogelarten."
"Sie möchte wohl auch die Lizenz für ihre Beobachtungsvorrichtung erwerben, mit der Sie Greifvögel zu Kundschafterflügen ausschicken können", erwiderte Jill und warf Tom McCloud, der sich von seinen Eltern abgesetzt und zu den Jungzauberern aus dem zweiten und Dritten Jahr gesellt hatte, einen zur Vorsicht gemahnenden Blick zu. Offenbar diskutierten die angehenden Heiler wie diese verhexten Äpfel hergestellt werden konnten und ob alle Heiler Australiens der davon ausgelösten Epidemie Einhalt gebieten könnten. Aurora führte davon unbeeindruckt ihre Eltern und Heathers Familie zu ihrem Zimmer, wobei Hugo Dawn und Heathers Vater sich immer unwohler fühlten. Als Aurora ihre Zimmertür aufgeschlossen hatte, schien alle Kraft aus Hugo Dawn und Mr. Springs zu entweichen, und sie mußten sich auf den Boden setzen. Regina Dawn und Heathers Mutter zeichneten rasch zwei bequeme Stühle mit ihren Zauberstäben.
"Ich hörte davon, daß die hier einen fiesen Geschlechtertrennungszauber installiert haben", meinte Regina Dawn. "Kontrolle ist eben doch wirksamer als reines Vertrauen. Tut mir leid, Hugo, daß du nicht mit in das Zimmer kannst. Aber womöglich würdest du dann ohnmächtig oder brutal zurückgeschleudert, weil du die Warnung nicht beachtet hast."
"Das hätte man mir aber mal sagen können", knurrte Heathers Vater, während seine Frau und seine Tochter mit Regina und Aurora Dawn in das gemütliche Einzelzimmer eintraten und die Tür von innen Schlossen.
"Ist ein Redrock-Zauber. Jungs, die in den Mädchentrakt reinwollen brechen zusammen, wenn sie über die Schwelle treten und Mädchen werden von einer unsichtbaren Kraft zurückgerissen, wenn sie bei den Jungs in den Trakt wollen."
"In Hogwarts konnten die Mädchen aber zu den Jungs, zumindest in Ravenclaw", wandte Hugo Dawn ein.
"Tja, Hogwarts ist ja auch ein wenig älter als Redrock", erwiderte Mr. Springs.
Während dessen begutachteten Regina Dawn und die zutrittsberechtigten Springs das Zimmer.
"Ja, die haben sich schon was einfallen lassen, um ihre Schüler bequem unterzubringen", sagte Regina Dawn und zwinkerte der gemalten Ausgabe ihrer Tochter zu. Auch Heather guckte sich schnell an dem Portrait fest."Ich bin selten hier im Zimmer. Meistens besteht meine Ausbildung aus praktischen und theoretischen Teilen, bei denen ich notwendige Sachen gleich mitschreiben kann. Nur wenn ich rein theoretische Hausaufgaben kriege bin ich hier im Zimmer", sagte Aurora. Dann verwies sie auf den mannshohen Spiegel und den Briefkasten für Eulenpost. "So kann ich mich hier drin immer gut zurechtmachen und habe meinen eigenen Briefkasten hier. Ist alles im Ausbildungsbetrag enthalten. Hat sich Ducky bei Agatha gut eingelebt?"
"Oja, sie ist dir immer noch dankbar, daß sie jetzt eine Eule für sich hat. Schade, daß du sie nicht mit rübernehmen durftest", erwiderte Auroras Mutter.
"Kann man nichts machen. Ich hätte ja auch gerne Krummbein mit rübergeholt", seufzte Aurora.
"Der wird wohl bei Priscilla einziehen, wenn sie mit ihrem Mann in das gemeinsame Haus in Upper Flagley zieht", sagte Regina Dawn.
"Och, Petula hat ja heute ihren großen Auftritt", fiel es Aurora ein. Sie wandte sich ihrem Gemälde zu und sagte: "Bring Petula und Priscilla bitte noch meine besten Wünsche für den heutigen Tag rüber! Bei denen ist ja gerade Morgen." Die gemalte Ausgabe Auroras nickte und verließ ihr Bild.
"Oh, das geht ja wirklich gut", stellte Heather fest, als nach einigen Minuten die gemalte Aurora in ihr Bild zurückkehrte und verkündete, daß die Familie Woodlane bereits mit den Gästen und Mr. Nodberry im Esssaal seien. Auf die Frage, was Petula denn für ein Kleid trüge erzählte Auroras gemalte Version, daß sie ein mauvefarbenes Rüschenkleid trüge, das einem Ballettkleidchen nicht ganz unähnlich sah. Priscilla trug ein knöchellanges Hochzeitskleid aus schneeweißer Seide und mehrere Ketten aus himmelblauen Perlen um Hals und Armen. Aurora grinste mädchenhaft. Womöglich dachte Petula nun daran, ob es so eine tolle Idee gewesen war, die Brautjungfer ihrer Schwester zu werden. Ein wenig bedauerte Aurora es, daß sie nicht zu Priscillas Hochzeit hingehen konnte. Doch die Ausbildungsregeln hätten es ihr nur erlaubt, wenn ein unmittelbares Familienmitglied geheiratet hätte. Das erzählte sie ihrer Mutter und den Hexen aus der Springs-Familie, bevor sie die Besichtigung ihres kleinen Zimmers beendete und zu ihrem und Heathers Vater hinausging.
Wieder zurück im Tagesraum hatten sie bereits das Musikfaß in Gang gesetzt, das im Moment leise Tafelmusik spielte. Da die Mentoren derzeit nicht da waren, war die Stimmung trotz Jills zwischendurch tadelnden Blicken wesentlich lockerer, auch wenn bei vielen die Eltern dabeiwaren. Aurora stellte ihren Eltern noch Ireen Barnickle vor, die ihrerseits ihre Eltern vorstellte, die irgendwie nicht zueinander zu passen schienen. Denn Ireens Vater war lang und dünn wie sie selbst. Ihre Mutter war gerade einen Meter und fünfzig groß, besaß erdbraunes Haar und hatte Ireen wohl ihre Augen vererbt. Sie war wesentlich untersetzter als Monica Riddley bei ihrem Antritt hier in der Sano. Apropos Riddley! Aurora suchte die Riddleys vergeblich. Offenbar hatten diese sich entweder zu ihrer zu Stubenarrest verdonnerten Tochter zurückgezogen oder waren beleidigt abgezogen, als die ganzen Heiler sich wegen der Todesschlaf-Äpfel abgesetzt hatten. Es wurde ein dreigängiges Menü auf die Tische gezaubert, und die Kerzen in den Kürbissen flackerten nun silbernweiß wie durch wild wirbelnde Nebelschwaden gefiltertes Mondlicht. Aurora und Ireen erzählten ihren Eltern und den Springs, was sie bisher so alles hatten machen müssen.
"Wahrscheinlich hat die gute Laura Morehead meine Schwester auch mit in den Großeinsatz einbestellt", sagte Mr. Barnickle, als sie es davon hatten, warum Ireen oder Aurora sich zu Heilhexen ausbilden ließen. "Aber sie hat mich gebeten, dir alles nötige Durchhaltevermögen zu wünschen."
"Na klar", grummelte Ireen. Dann wies sie auf Aurora und erwähnte die Merkfähigkeitsmixtur, die Aurora schon in diesem Halbjahr hatte brauen dürfen. Aurora nickte und schilderte kurz, wie kompliziert der Trank war, und wie durchschlagend die Wirkung auf das Erinnerungsvermögen war. Ihrer Mutter zugewandt meinte sie dann, daß sie sich nie vorgestellt hätte, daß ein ungeborenes Kind bereits gehörte Sachen im Gedächtnis behalte und zählte ihrer Mutter leise die Namen einiger Schüler auf, die sie sonst wohl nicht kennen konnte.
"Ach du meine Güte, gut daß deine Mentorin dir schnell den Gegentrank verabreicht hat. Nachher hättest du noch über meine Klagen über einige dieser Schüler geredet. Und einige von denen wie Mel Dawson, die früher Fairfax geheißen hat, haben es trotz Problemen in meinem Unterricht zu was gebracht."
"Oh, das wäre mal eine interessante Erfahrung, was meine Eltern sich vor meiner Ankunft so gesagt haben", meinte Hugo Dawn dazu. "Aber so gesehen ist es vielleicht nicht immer praktisch, sich an wirklich alles erinnern zu können."
"Vor allem wenn deine Mutter sich während der Schwangerschaft über den Bauch streichelte und dabei daran dachte, eine niedliche Hexe auszutragen", feixte Regina Dawn. Hugo errötete leicht an den Ohren und schwieg. Aurora befand, daß ihre Eltern sich nicht unbedingt hier käbbeln mußten und brachte das Gespräch noch einmal auf die UTZs ihrer Mutter.
"Tja, ich hätte auch lieber als Zauberkunstlehrerin angefangen, Aurora. Aber Professor Flitwick hatte alles narrensicher im Griff. Da hätte ich nur die zweite Geige gespielt. Insofern war Arithmantik mein zweitliebstes Fach", sagte Regina Dawn. Damit war eine Runde Arithmantiktehmen eröffnet, weil Ireen und ihr Vater dieses Fach ebenfalls gehabt hatten. Dann ging es um das Quidditchverbot für angehende Heiler hier. Mr. Barnickle meinte, daß es schon überängstlich sei, die Auszubildenden nicht ihren gewohnten Sport machen zu lassen. Andererseits seien ja ab dem dreiundzwanzigsten Dezember sechs Wochen Sommerferien. Da gäbe es wieder Gelegenheit zum Quidditch.
Zwischendurch sprachen auch die McClouds mit den Dawns, als Aurora mit Berthold eine Runde Tanzte. Überhaupt wurde nach dem Essen die Feststimmung immer größer, bis dann um elf Uhr Vitus Springs hereinkam und verkündete, daß in einer halben Stunde das Fest beendet werden möge, da die Patienten ihre nötige Nachtruhe haben sollten. Dann ging er noch einmal herum und wechselte mit den eingeladenen Eltern ein paar freundliche Worte. Meistens fing er immer damit an, daß er es bedauere, daß die Eltern der neuen Adepten nicht länger mit den Mentoren hatten sprechen können. Doch so habe sich ja wohl eine gelöste Feierstimmung aufgebaut.
Um halb zwölf wünschte Vitus Springs den angehenden Heilern und ihren Gästen noch eine ruhige und angenehme Nacht und bat die Eltern der Adepten darum, ihn zum Ausgang zu begleiten.
"Heathers Eltern geben uns Quartier", sagte Regina Dawn zu ihrer Tochter, die sich sichtlich gefreut hatte, ihre Eltern kurz gesehen zu haben. Dann verabschiedeten sie sich von ihrer Tochter und folgten Direktor Springs.
"Meinetwegen hätte der Alte unsere Eltern nicht einladen müssen", knurrte Tom McCloud, nachdem sie unter sich waren. "Ist mir schon etwas peinlich, wie ein Schuljunge umstrichen zu werden. Ich sehe die ja eh Weihnachten wieder."
"Gut, wir sind jetzt keinem mehr Rechenschaft schuldig außer uns selbst", meinte Berthold. "Wahrscheinlich ging es Direktor Springs ja auch nur darum, den Mentoren die Leute vorzustellen, die uns ihnen an die Backe geklebt haben." Einige der Jungzauberer mußten lachen. Die Hexen grinsten nur.
Als Aurora wieder in ihrem Zimmer war ließ sie überprüfen, ob die Hochzeitszeremonie bereits um war. Ihre gemalte Ausgabe wechselte noch einmal zwischen den Bildern über und kam mit der Nachricht zurück, daß jetzt zum gemütlichen Teil übergegangen würde. Mit diesem Gruß aus der alten Heimat legte sich Aurora schlafen.
Die nächsten Wochen waren anstrengender als Aurora es bisher erlebt hatte. Jeden Werktag mehrere Übungseinheiten, die über mehr als drei Stunden gingen. Anders als in Hogwarts, wo sie sich ja zwischendurch zurücknehmen konnte, wenn sie meinte, etwas ausreichend gut gemacht zu haben, wurde sie von Bethesda Herbregis immer vorangetrieben. Sie mußte immer schneller zaubern und dabei bloß ungesagte Zauberformeln einfließen lassen. Insbesondere ging es um Flucherkennung und Fluchaufhebung, aber auch um Zauberkunststücke, wie Simultanzauber und Kettenzauber, die hintereinander abliefen. Daneben mußte Aurora ihre Verwandlungskünste trainieren und verquere Verwandlungen auseinandersortieren und die richtige Reihenfolge der Rückverwandlungen herausfinden. Zwischendurch waren Theoriestunden angesetzt. Erholsam waren für Aurora die Sitzungen in der Illusionskammer, wo sie die in Körperkunde erworbenen Kenntnisse in praktischen Simulationen umsetzte. So trieb sie einmal mit ihrer Mentorin wie zwei rote Blutkörperchen durch das unendlich lang und unübersichtlich erscheinende Geflecht von Adern, die Aurora alle beim Durchqueren mit Namen nennen mußte, um weiterzugelangen. Sie wünschte sich zwar manchmal, dabei Bicranius' Trank getrunken zu haben, erkannte aber in der teils belehrenden, teils spielerischen Simulationseinheit, daß es auch lohnte, auf verschiedene Arten etwas in ihr Gedächtnis aufzunehmen. Besonders heftig empfand sie die Passage des laut wie Kanonendonner pulsierenden Herzens, dessen vier Kammern und das Geflecht von Adern eine Welt für sich war, der Motor des Körpers, der Taktgeber des Lebens.
"Achtung, wir kehren jetzt in den Hauptkreislauf zurück!" Rief Bethesda Herbregis, die gerade in der Simulation eine Hellrote Farbe angenommen hatte, als sie und ihre Schülerin durch den kleinen Kreislauf durch die Lunge getrieben waren. Wider durch das gigantische Herz hindurchgepumpt erreichten sie das Geflecht der Arterien, die Aurora weiterhin aufzählen sollte, bis sie zwanzigmal durch den simulierten Kreislauf gereist waren, ohne daß ihnen Schwindelig geworden war.
Nach mehrmaligen Übungen mit dem Herz-Kreislauf-System und den dazugehörigen Diagnose- und Beeinflussungszaubern sollte Aurora aus dem Kopf mehrere Abschnittkarten des menschlichen Blutgefäßsystems zeichnen. Dann durfte sie natürlich nicht die Apparierübungen vernachlässigen. Tatsächlich bekam Aurora ein immer besseres Gefühl für Richtungen und Entfernungen, ohne einen bestimmten Zielort anvisieren zu können. Ende November sagte Bethesda Herbregis:
"Im Dezember werden wir uns mit Verdauung und Vergiftungsarten intensiver befassen. Wenn du dich weiter so ranhältst wie bisher hast du bis zur ersten Zwischenprüfung im Februar die komplexen Stoffwechselprozesse menschlicher und menschenähnlicher Wesen parat."
Nicht selten kam es vor, daß Aurora mitten in der Nacht aus Alpträumen aufwachte, in denen ihr leuchtende Skelette hinterherliefen und ihre Knochen hinhielten und verlangten, sie sollte sie benennen oder drachengroße gelblich-weiße Ungetüme, die wie ständig sich einbeulende Ballons aussahen hinter ihr durch eine klare Flüssigkeit schwammen und sie einzufangen drohten, wenn sie nicht schnell in schmalen Kanälen verschwand, die sie jedoch nur betreten konnte, wenn sie einer menschengroßen roten Scheibenkreatur den Namen des Kanals, einer bestimmten Ader, verriet, bevor die sie jagenden Riesenkugeln, die sie als die Fress-Melde-zellen des körpereigenen Abwehrsystems kennengelernt hatte, sie als unerwünschten Eindringling aus dem Verkehr zogen. Manchmal konnte sie den Namen des Kanals nicht nennen und wurde von einem sich über sie stülpenden Ballon-Ungetüm umschlossen und laut schmatzend eingesogen, worauf sie meistens mit einem kurzen Aufschrei aufwachte. Dann hatte sie auch Träume, wo sie zwanzig Bethesdas um sich herumhatte, die jede mit irgendwelchen Fragen auf sie einstürmte. Nur wenn sie die Fragen beantwortete, verschwanden die, die sie gestellt hatten. Beantwortete sie eine Frage falsch, tauchte eine weitere Kopie der Mentorin auf, bis Aurora meinte, sie alle mit dem Schweigezauber belegen zu müssen, was ihr lautstarken Unmut eintrug und sie aufweckte.
"Wir nehmen das Tempo ein klein wenig zurück", sagte Bethesda in der zweiten Dezemberwoche. "Ich habe dich ja wirklich gut vorangepeitscht. Du leidest ja schon unter Erholungsmangel, wie ich das sehe. Kaputtmachen will ich dich ja dann doch nicht." So durfte Aurora neben theoretischer Körperkunde und damit verbundenen Simulationen eher Tränke brauen und mit ihrer Mentorin durch den Dschungel, die Halbwüsten und die backofenheiße Zentralwüste Australiens streifen, um magische und nicht magische Tiere und Pflanzen zu betrachten und darüber alles zu lernen, was ging.
Aurora stellte fest, daß die übrigen Kameraden etwas weniger stressig unterwiesen wurden. Manchmal wurde sie von Ireen bedauernd angesehen. Manchmal feixte Tom, daß die Heilerzunft sie wohl in der Hälfte der Zeit ausbilden wolle, um die für sie angefallenen Zusatzkosten zu sparen. Doch Aurora hatte nach dem ersten Zornesanfall über eine solche Bemerkung befunden, es gar nicht mehr zu hören, wie sie Tonya Rattlers Gehässigkeiten zu überhören gelernt hatte. Über ihr Selbstportrait und seine Ableger hielt sie Kontakt nach Hause, wenn sie mal einige freie Minuten hatte. So erfuhr sie, daß Petulas Schwester mit ihrem Mann die Flitterwochen in Südfrankreich zugebracht hatte und dabei auch das Dorf Millemerveilles besucht habe. Auf die Frage, ob Krummbein mit seinen neuen Herrchen mitgefahren sei hatte Petula über ihre Verbindung mit Aurora Dawn geantwortet, daß der Halbkniesel wohl mitgefahren sei. Doch irgendwie, so meinte Auroras Bild-Ich, sei Petula da nicht sonderlich glücklich drüber gewesen. Aurora dachte, daß sie das ja Weihnachten genauer erfahren würde.
Am letzten Samstag vor Weihnachten fand die abschließende Apparierprüfung für Fortgeschrittene statt. Diesmal konnte Aurora neben Myron Score noch zwei weitere Zauberer aus dem Ministerium sehen. Die Prüfung fand nach Einbruch der Dunkelheit statt. Jeder und jede bekam eine Dosis des Breitbandgegengiftes zu trinken, nur für den Fall, daß eine aufgescheuchte Schlange ihn oder sie beißen könnte. Dann wurden die Erstjährigen nacheinander in verschiedene Entfernungen und Richtungen geschickt, wobei sie auch die Höhe über oder Tiefe unter Grund einbeziehen mußten. So landete Aurora einmal auf einem hohen Berg, apparierte in einer von ihr bisher nicht besuchten Tropfsteinhöhle oder kam im Dschungel an. Ihr Richtungssinn funktionierte jetzt völlig von selbst. Sie erkannte erst, ob sie richtig angekommen war, wenn sie angekommen war. Nach zwanzig Durchgängen klopfte ihr Myron Score anerkennend auf die Schulter und sagte: "Bestanden. Näheres gleich, wenn alle fertig sind."
Als dann alle fünf Adepten mit ihren zwanzig Appariertests durchwaren verkündete Mr. Score:
"Prüfungsbester mit zweihundert von zweihundert Bewertungspunkten ist Mr. McCloud. Dicht dahinter mit einhundertachtundneunzig von zweihundert Bewertungspunkten, landete Ms. Aurora Dawn. Dahinter Ms. Ireen Barnickle mit einhundertsiebzig von zweihundert Bewertungspunkten, gefolgt von Ms. Monica Riddley mit einhundertdreißig von zweihundert Punkten. Mr. Woodman schaffte es mit einhundertzehn von zweihundert Punkten sehr knapp, über der geforderten Zahl von einhundert Mindestpunkten zu bleiben, hat jedoch auch die Zusatzapparierprüfung für unbekannte Ziele bestanden. Allerdings sollten Sie alle, wie sie hier stehen, Ihre neu erworbenen Fähigkeiten regelmäßig üben. Denn wenn Sie einmal ausgebildete Heiler sind, wird Ihnen jedes Jahr zur Gesundheitsprüfung auch eine Überprüfung Ihrer Apparierkünste abverlangt. Doch mit der heutigen Zusatzprüfung haben Sie eine wichtige Anforderung erfüllt, um Ihre Ausbildung fortsetzen zu dürfen. Noch einmal im Namen der Abteilung für magisches Transportwesen unsere herzlichsten Glückwünsche an Sie!" Danach erhielten alle im Schein mehrerer großer Laternen ihre schriftlichen Prüfungsergebnisse, die gleichbedeutend mit der Zusatzerlaubnis galten, in vierfacher Ausfürung, eine für den erfolgreichen Prüfling, eine für dessen Mentor oder Mentorin, eine für den Leiter der Sana-Novodies-Klinik und eine für das Dokumentenarchiv der australischen Heilerzunft. Damit war der erste echte Prüfungsteil der Heilerausbildung für Aurora Dawn und ihre Kameraden beendet.
Am letzten Tag vor den sechswöchigen Sommerferien - Aurora hatte sich langsam an diese Bezeichnung mitten im Dezember gewöhnt - teilten die Mentorinnen und Mentoren ihren Schützlingen einen großen Stapel von Aufgaben aus. Aurora Fragte Bethesda, wieso das dann Ferien heiße.
"Das ist nichts zu anstrengendes. Nur Übungszettel, um die hier erworbenen Kenntnisse und Techniken nicht verkümmern zu lassen. Du hast für jede Woche vier Zettel, die du in Ruhe abarbeiten kannst. Immerhin kennst du das doch auch aus Hogwarts, daß du über die Ferien Hausaufgaben aufbekommen hast, oder?"
"Ich will mich auch nicht beschweren, Meisterin Herbregis. Ich wollte nur fragen, ob wir bei diesen Aufgaben auch genug Erholungszeit haben."
"Die Sommerferien sind die längsten in der Ausbildung. Ostern ist nur eine Woche angesetzt, und im Winter ist es auch nur eine Woche um die Wintersonnenwende herum. Die langen schulferienzeiten sind ja wohl doch endgültig vorbei." Aurora nickte.
"Sehr geehrte junge Adeptinnen und Adepten", sprach Vitus Springs am letzten Abend vor den Weihnachtstagen. "Wie ich bisher mitbekommen durfte, Habt ihr euch alle wunderbar in eure Ausbildung eingearbeitet und bereits wesentliche Grundkenntnisse erworben, um später einmal hervorragende Heilerinnen und Heiler zu werden. Dafür habt ihr euch nun die Sommerferien verdient. Freut euch, daß ihr hier noch welche habt. Später im Berufsleben werden so viele Urlaubswochen Mangelware sein!" Einige der angehenden Heiler grummelten ein wenig. "Aber ich gehe davon aus, daß wenn ihr hier eines lernt, dann die Zeit richtig einzuteilen und euch bald auf einen stressarmen Arbeitsrhythmus einzustimmen."
"Wenn meine Mentorin mich läßt", dachte Aurora dabei.
"Morgen könnt ihr alle zu euren Familien reisen und dort die Weihnachtstage feiern oder einfach so in der Welt herumreisen und sehen, was sie außer Lernen noch zu bieten hat. Immerhin seid ihr ja alle Volljährig und könnt gehen, wohin ihr wollt. Nur eines müßt ihr mir versprechen: Stellt nichts an, was unschicklich oder gar gegen bestehende Gesetze ist! Nicht daß einige der hier versammelten jungen Hexen in anderen Umständen aus den Ferien zurückkehren oder die jungen zauberer hier einer Hexe oder Muggelfrau zu unverhofftem Kindersegen verhelfen. Derartige Sachen würden eurer Bewertung ziemlich übel aufstoßen." Einige der Hexen kicherten, Tom und Berthold grinsten lausbübisch. "Leute, ich erzähl das nicht weil ich der große, strenge Chef bin, sondern weil das schon mehrfach passiert ist", kommentierte Springs ernst aber nicht tadelnd diese Regungen. "Es ist schon vorgekommen, daß empörte Hexen mit ihren Eltern im Schlepptau in unsere Klinik gestürmt kamen, weil sie in Folge eines Sommerabenteuers neues Leben in sich trugen und verlangten, die betreffenden Herren sollten sich ihrer Verantwortung stellen. Wir sind hier ein Dorf, Ladies und Gentlemen. Wenn jemand unverheiratet ein Kind auf den Weg bringt spricht sich das blitzschnell rum. Ja, ich höre es, daß die Enthaltsamkeitsregeln antiquiert klingen. Aber wir Heiler - ich beziehe euch jetzt schon mal in diese ehrenvolle Berufsgruppe ein - haben eine große Verantwortung für unsere magischen Mitmenschen und müssen bei allem was wir tun daran denken, ob das unsere Glaubwürdigkeit und das Vertrauen zu uns zerstören kann oder nicht. Daher wurden diese gewissen Grenzen gezogen. Das gilt selbstverständlich auch für die Einhaltung der Bürger- und Strafgesetze. Jede kleine Bestrafung kann zum Abbruch der Ausbildung und zum Verbot einer neuerlichen Ausbildung führen oder die bevorstehende Aprobation vereiteln. Das sage ich jetzt vor allem den Erstjährigen, die diese meine Ansprache noch nicht kennen, sofern ich nicht Gelegenheit hatte, einzelne Adepten persönlich für unsere Zunft werben zu können. Also, liebe zukünftige Kolleginnen und Kollegen, erholt euch und achtet die Würde und die Rechte eurer Mitmenschen, egal ob es Muggel oder Zauberer sind! Wir sehen uns dann Ende Januar wieder, um den letzten Schliff für die Halbjahresprüfungen vornehmen zu können."
Als der Leiter der Klinik seine kurze Ansprache beendet und den Tagesraum verlassen hatte tuschelten die Adepten einige Minuten. Doch weil ihre Mentoren in der Nähe waren wurde kein Murren oder lautes Geplapper daraus. Sie aßen zu Abend. Aurora stellte mit ein wenig Neid fest, daß außer Berthold keiner mehr als einen Übungszettel pro Ferienwoche zugesteckt bekommen hatte. Und Berthold Woodman hatte nur zwei Zettel pro Woche.
"Kuck nicht so neidisch auf die Stapel der anderen, Aurora!" Zischte Bethesda Herbregis ihr zu. "Wem ich was beibringe, dem helfe ich, es nicht zu verlernen. Sieh das so, daß die anderen die ganze Vorbereitungsarbeit im Januar und Februar nachholen müssen und wir uns dann mit den noch klemmenden Sachen beschäftigen können. Du kannst das. Sonst würde ich dir das nicht zumuten." Aurora schwieg dazu. Man hatte sie ja gewarnt.
Am nächsten Morgen packte sie ihren Koffer und ihren Rucksack und verabschiedete sich von allen, die wie sie in die Ferien reisten. Monica Riddley glänzte dabei durch Abwesenheit. Brigid Springwood hatte sie nach dem Streich von Halloween ziemlich heftig ackern lassen, hauptsächlich Trankzutaten vorbereiten und Pflanzen oder Insekten einsammeln.
Als Aurora nach den beiden Grenzstationen Australien und Großbritannien endlich aus dem Kamin ihrer Eltern herausfiel war die Sonne schon untergegangen. Allerdings schrieben sie hier noch den zweiundzwanzigsten Dezember, wo Aurora am dreiundzwanzigsten Dezember von Australien abgereist war. Sie unterhielt sich mit ihren Eltern, die sich freuten, sie wiederzuhaben, über die anstrengenden drei Monate und zeigte ihnen das Pergament mit der Bestätigung, daß sie noch besser apparieren könne. Dann nahm sie den Ortszeitanpassungstrank ein und legte sich nun wieder sehr müde schlafen.
Die drei Tage bis Weihnachten begannen für Aurora immer gegen zehn Uhr Morgens. Offenbar brauchte sie viel Schlaf. Den ersten Übungszettel handelte sie bis zum Weihnachtsmorgen ab. Er behandelte die Theorie ineinandergreifender Verwandlungen. Außerdem wurde sie angehalten, so viel wie möglich zu zaubern, um flexibel zu bleiben. Das war für ihre Mutter der willkommene Anlaß, ihr die Haushaltsführung zu überlassen, obwohl sie schon ein schlechtes Gewissen hatte, daß sie ihrer Tochter nicht die volle Erholung gönnen konnte. Weihnachten trafen sie sich dann bei Auroras Großeltern mütterlicherseits, wo auch die Priestleys hinkamen. Philipp bedankte sich bei seiner Cousine, daß sie ihm so gute Tipps für die Zaubertränke und magischen Pflanzen gegeben hatte und erzählte von Hoggsmeade. Miriam habe jetzt im Laden Dervish & Banges angefangen, wo er sich einen handlichen magischen Rasierapparat zugelegt hatte. Aurora bewunderte daraufhin den kleinen Schnurrbart, den sich Philipp hatte stehen lassen. Agatha hatte sich von Vivian und Nelly Süßigkeiten von dort mitbringen lassen, wie Zuckerfederkiele und Eismäuse.
"Aurora darf sowas nicht mehr essen, Aggy", feixte Philipp. "Heiler dürfen nur noch Obst, Gemüse, Fisch und mageres Fleisch essen."
"Sei mal froh, daß ich dir noch nichts verschreiben darf, sonst würde ich dir einen Tag Rollenwechsel mit deiner jüngeren Schwester verordnen, damit du lernst, sie zu achten", erwiderte Aurora darauf und ließ sich zwei von den Eismäusen geben.
Einen Tag später waren die Dawns bei Oma Regans Familie eingeladen. Aurora übte sich ein wenig im Mentiloquieren und stellte fest, daß sie durch die gesteigerte Anforderung in der Ausbildung etwas leichter mit dieser Kunst hantieren konnte. Offenbar hatte sie das Leistungsvermögen ihres Gehirns um einiges gesteigert.
Die Tage zwischen den Jahren verbrachte Aurora in Hogsmeade, wo sie die Fieldings im Haus "Bachwiese" besuchte, das wunderschön an einem im Frühling und Herbst munter plätschernden Bach lag, eingerahmt von einer weiten, jetzt jedoch unter einer flauschigen Schneedecke verborgenen Wiese. Sie begutachtete den kleinen Tom, der seine Mutter im Moment noch gut auf Trab hielt. Denn sie hatte beschlossen, ihn bis zum ersten Zahn zu stillen. Roy fand das zwar etwas lästig, weil "der kleine Kronprinz" sein Bettchen neben dem Ehebett stehen hatte und oft die Nacht verkürzte. Andererseits sagte er zu Aurora voller Stolz:"Egal, ob Muggel, Squib oder Zauberer, ich bin froh, daß ich den kleinen Hosenkacker um mich habe, wenn ich zu Hause bin. Der hat die Augen meines Vaters und Dinas niedliche Nase. Dad wäre verdammt glücklich gewesen, so'n Enkelsohn zu sehen."
"Er zeigt, daß Du-weißt-schon-Wer nicht alle umbringen konnte", sagte Aurora dazu.
"Ja, Aurora. Er zeigt mir, daß dieser Mörder und diese grüne Furie mich nicht fertigmachen konnten." Aurora überlegte, ob sie Roy vorsichtig darauf hinweisen sollte, daß "die grüne Furie" vielleicht auch ein Kind von ihm bekommen hatte. Doch einerseits wußte sie nicht, ob dieses Kind einer Sabberhexe dannn ein Mädchen geworden war oder als Junge gleich von der eigenen Mutter wieder getötet worden war. Also schwieg sie, weil sie es eben nicht wußte.
Petula kam per Flohnetz herüber und sprach mit den Fieldings und Aurora über die Zeit nach Hogwarts, aber auch über die alten Zeiten.
"Ich habe Loren Tormentus in der Winkelgasse getroffen. Die hat gerade wen unterm Umhang. Wen die dafür wohl benebelt oder imperiisiert hat", feixte Petula.
"Was, die hat sich schw..., öhm zur Mutter machen lassen?" Fragte Roy. "Habe ich nichts von mitgekriegt, daß die sich dafür wen ausgeguckt hat."
"Wann soll das Kind denn kommen, weißt du das zufällig, Petula?" Wollte Aurora wissen, die anders als ihre früheren Kameraden sehr wohl vermutete, wer der Vater des Kindes war.
"Ich hab' die nur durch die Straße watscheln sehen. Sah aber schon ziemlich rund aus, die liebe Loren", spottete Petula. "Naja, vielleicht sagt da demnächst auch wer Tante zu mir. Aber bisher kommt von Priscilla nichts entsprechendes rüber."
"Ja, aber Krummbein haben sie noch oder?" Fragte Aurora. Petula wirkte leicht verstört, weil Aurora "noch" gesagt hatte.
"Das ist irgendwie komisch. Seitdem Priscilla mit ihrem Typen verbunden ist, wie Nodberry es gesagt hat, habe ich die dreimal in ihrem abgelegenen Häuschchen bei Upper Flagley besucht und einmal war Mum bei denen. Aber Krummbein habe ich da nie gesehen. Die sagten mir immer, daß der häufig in der Nachbarschaft herumstreune, weil er da immer was zu futtern bekäme oder wegen so'nem Lebensmittelladen der Muggel, Supermarkt oder wie der sich nennt, wo verrottende Sachen rumliegen und daher fressbares Zeug sei oder Ratten, die das, was er nicht anrühren würde, anrührten und er das dan so fressen würde. Das Dorf ist weitläufig. Aber die Zaubererfamilien da müssen höllisch aufpassen, den Muggeln nicht aufzufallen die da auch wohnen."
"Gut, du weißt, daß ich eine besondere Beziehung zu Krummbein habe. Vielleicht kannst du mir eine Einladung verschaffen. Ich habe ja noch ein paar Wochen hier. Ich gehe erst in der sechsten Woche zurück, weil Heather Springs mich noch eingeladen hat."
"Das wäre Ende Januar", erkundigte sich Petula und strich sich nachdenklich durch ihre hellblonde Löwenmähne. Aurora nickte bestätigend.
"Das ist irgendwie blöd, weil Priscilla nach Neujahr eine Tour durch Europa macht, um für eine Artikelserie zu recherchieren. Kannst du nur über Weihnachten zu uns rüberkommen?"
"In eurem Sommer geht das vielleicht noch, obwohl wir da Winterferien haben, beziehungsweise, die Heileranwärter Winterferien haben. In Redrock ist genau wie in Hogwarts ab Juli bis September Schulfrei, um im Commonwealth-Gleichklang zu bleiben. Dafür haben die keine zwei Wochen Osterferien, sondern nur eine halbe Woche", erwiderte Aurora.
"Gut, ich sage ihr, daß du gerne auf dem laufenden bleiben möchtest, was mit Krummbein ist", sagte Petula. "Irgendwie hänge ich ja auch an dem orangeroten Kerlchen."
"Warum hast du ihn dann nicht behalten?" Fragte Dina.
"Könnte ich dich ja auch fragen", knurrte Petula zurück. Doch Roy sagte dazu rasch:
"Der wäre zu nahe bei Feuerball gewesen. Könnte sein, daß Miriams Kniesel keine Konkurrenz mag. Ich las, das Abkömmlinge von Knieselkatern verjagt werden, wenn die Kater geschlechtsreif sind. Die Mädels verziehen sich von selbst, um nicht ihre eigenen Geschwister ausbrüten zu müssen."
"Deshalb also", erwiderte Petula. Dann meinte sie zu Aurora:
"Du kriegst das mit dem Bild nur so mit, daß das Bild dir eine Nachricht weiterreicht. Du kannst damit nicht kontaktfeuermäßig sprechen?"
"Nein, geht nicht", sagte Aurora Dawn bedauernd.
"Gut dann gebe ich das weiter, das Priscilla dir schreiben soll, wie es Krummbein geht. Wolltest du noch zum Hasenrücken?"
"Nach dem Mittagessen, Petula", antwortete Aurora.
"Okay, dann geh ich schon mal rüber zu ihr", erwähnte Petula und verabschiedete sich von den Fieldings.
Nach einem liebevoll gekochten Mittagessen besuchte Aurora Miriam bei ihren Eltern und plauderte mit ihr über die Ausbildung. Dann kehrte sie zu ihren Eltern zurück.
Die kommenden Wochen vertrieb sich Aurora mit den Übungszetteln für Bethesda Herbregis und unterhielt sich mit ihrer Mutter über die ehemaligen Hogwarts-Schüler, die Aurora nie gesehen, sondern nur und das völlig unbewußt gehört hatte. Außerdem spielte sie mit Mortimer Swift und andren ehemaligen Quidditch-Spielern ihrer Hogwarts-Zeit das flinke Besenspiel, besuchte die Dirksons, wobei sie Eunice die vielen Übungszettel zeigte. Die gerade im fünften Monat schwangere Jahrgangskameradin meinte zu Aurora:
"Ich habe es dir damals nicht geschrieben, als du mir nette Grüße an "das Kleine" mitgegeben hast. "Die Kleinen" wäre die korrekte formulierung gewesen."
"Öhm, zwei oder drei?" Fragte Aurora.
"Du wirst doch heilerin. Dann hast du jetzt die Gelegenheit, das durch bloßes hingucken rauszufinden", erwiderte Eunice schmunzelnd. Aurora kniete sich vor die ehemalige Schulsprecherin hin, die entspannt in einem Sessel saß. Sie tastete behutsam den schon etwas runder geratenen Unterleib ab, rollte dann vier Übungszettel zu einem Hörrohr zusammen und lauschte auf die Herztöne. Außer dem von Eunice konnte sie nach und nach drei kleine, schlagende Herzen hören.
"Oh, das wird bestimmt anstrengend", seufzte Aurora. "Drei Stück auf einmal. Wie hast du denn das hinbekommen?"
"Tja, weil ich keine intelligentere Antwort finden kann wohl die: Weil das dann Zeit spart, wenn ich eine Großfamilie aufziehen will. Vielleicht sind das dann auch die einzigen drei, die ich dann kriege. Mrs. Brightgate meint, ich sollte schon im siebten Monat Urlaub nehmen, weil Drillinge gerne einen Monat zu früh ankommen."
"Und Dorian findet das nicht zu heftig?"
"Der soll sich ja beherrschen. Der hat die mir da unten reingelegt", erwiderte die hochgewachsene Ex-Gryffindor, deren seidenweiches Haar noch eine spur schwärzer war als das sowieso schon nachtschwarze Haar Auroras.
"Ich glaube, ich sollte mich bald wieder nach Aussiland absetzen, bevor ihr mich ansteckt, mir auch sowas kleines zuzulegen", scherzte Aurora.
"Von den kleinen Unannehmlichkeiten abgesehen ist das ein tolles Gefühl, Aurora. Du weißt nur manchmal nicht, ob du gleich losheulen oder schallend loslachen sollst. Mrs. Brightgate will versuchen, mit einem Einblickspiegel vor einer Kamera Fotos von denen zu machen. Wenn das klappt, schicke ich dir mal ein paar Bilder zu. Vielleicht kennen die Ausbilder bei euch sowas noch nicht."
"Ich weiß nicht, ob das so toll aussieht, so kleine Wesen zu fotografieren. Aber die Idee klingt interessant", entgegnete Aurora. Eunice war abgedrehten Sachen gegenüber doch sehr aufgeschlossen.
"Was du mir über diesen Supergedächtnistrank erzählt hast macht mich irgendwie nachdenklich. Vielleicht sollte ich den dreien schon was interessantes vorlesen, damit die sich später daran erinnern."
"Das bringt nur was, wenn die den Trank kriegen. Und den brauen die nicht in Hogwarts, wenn du keine Muggel ausbrütest."
"Bock-bock-bock", gackerte Eunice. "Außerdem brüte ich keine Muggel aus. und Wenn, dann haben die die außergewöhnlichste Mummy der Welt, wenn die in Muggelschulen müssen, weil die keine Magie im Blut haben. Aber Dorian und ich haben genug Zauberei im Blut, daß meine drei Untermieter bestimmt was davon abkriegen, auch wenn's auf drei verteilt wird. Die Swifts haben das ja auch geschafft."
"Wo du recht hast", gestand Aurora ihrer früheren Schulkameradin zu. Dann unterhielten sie sich noch über anderes als Kinder und strenge Heilhexen.
In der letzten Ferienwoche übernachtete Aurora bei den Springs. Heather sperrte die verbliebenen zwei Übungszettel fort, damit Aurora erst einmal etwas Erholung bekam und machte mit ihr eine Tour durch Hidden Groves, die Sonnenlichtstraße, wo sie im Willy-Willy einkehrten, dem Speise- und Esslokal für junge Hexen und Zauberer. Aurora übte ihre etwas eingerosteten Tanzkünste wieder ein und tat so, als wäre sie eine Touristin aus England. Wenn sie mit jungen Zauberern und Hexen sprechen wollte, sollte es nicht um ihre Heilerausbildung gehen.
Zwei Tage vor dem Ferienende legte Aurora mit einem erleichtert ausgeatmeten "Geschafft!" Den letzten abzuarbeitenden Übungszettel in ihren Rucksack. Das letzte Thema war "Giftige Zauberpflanzen und der Verlauf von ihnen ausgehender Vergiftungen. Bei einer ihr bereits hinlänglich bekannten Giftpflanze, der Schimmerwurz, führte die ungeschützte Berührung des krakenartig verzweigten Wurzelwerkes dazu, daß die Haut anfing, im dunkeln grünlich zu leuchten. Wurde diese Vergiftung nicht innerhalb zweier Tage behandelt, griff das Leuchten auf die inneren Gewebearten und die Knochen über. Weil dabei jedoch der Organismus immer mehr geschwächt wurde, führte die fortschreitende Vergiftung innerhalb einer Woche zum Tod durch totale Erschöpfung. Starb jemand, durfte er nicht mit ungeschützten Händen berührt werden, weil sein Körper nun von nach außen drängenden Schimmerwurzsamen infiziert war. Weil dieses Gewächs jedoch als getrocknetes und pulverisiertes Produkt in Zaubertränken gegen Nachtblindheit verwendung fand, galt die Schimmerwurz nicht als magisches Unkraut, sondern als hochgefährliche Heilpflanze, deren Verwendung nur zertifizierten Kräuterkundlern und aprobierten Heilern erlaubt war. Professor Sprout hatte ihnen dieses nette Pflänzchen in der drittletzten stunde vor den UTZ-Prüfungen vorgeführt.
"Na, hast du alles durch, was Heilerin Herbregis dir aufgeladen hat?" Fragte Heather leicht verächtlich.
"Das kriege ich erst mit, wenn sie mir die vierundzwanzig Zettel einzeln um die Ohren haut, Heather."
"Du hättest die Dinger bestimmt in der ersten Woche durchgezogen, wenn deine Eltern dich gelassen hätten, wie?"
"Die Versuchung war da, das aus dem Kopf zu haben", gestand Aurora.
"Du hättest gleich bei uns Quartier nehmen sollen. Dann hätten wir beide uns die Thundelarra Thunderers und die Woollongong Warriors ansehen können. Mann, war das wieder ein Schlachtfest! Sechshundertzehn zu fünfhundertzwanzig für die Thunderers. Da können sich die Sparks im Februar aber warm anziehen, wenn die Warriors sich die Punkte holen wollen, um an den Thunderers vorbeizuziehen. Achso, das mußt du ja noch kriegen. Vor lauter Büffelei für Tante Beth hattest du ja keinen Kopf für unsere Liga", sagte Heather und holte ein niegelnagelneues Buch herbei, daß sie Aurora übergab. "Die Quidditchliga Australiens" verhießen rotbraune Buchstaben auf dem Einband, wo vier verschiedene Miniaturspieler herumflogen wie Schmetterlinge in einem Glaskasten.
"Du glaubst doch nicht im ernst, meine Tochter, daß die Sparks den Warriors den Schnatzfang gönnen, wo die mit Wilma Wavecrest eine Top-Spielerin eingekauft haben", wandte Heathers Vater überlegen grinsend ein. "Wenn die beiden ewigen Streitvereine Thundelarra und Woollongong sich gegenseitig so runterputzen kommen die gut austrainierten Sparks gut davon."
"Lass das Mum nicht hören", grinste Heather. "Die braucht keinen Euphorietrank, seitdem die Thunderers ihre Erzfeinde so heftig beharkt haben. zweihundert Punkte Vorsprung vor dem Rest der Liga."
"Ja, aber die Sparks haben die Liga dieses Jahr richtig aufgemischt. Die kassieren erst die Warriors, was die Thunderers freut und schießen die Thunderers dann im Hui durch den Erdboden, daß die bei Auroras Eltern rauskommen."
"Wann spielen die, Mr. Springs", fragte Aurora.
"am letzten Februarwochenende. Wenn ihr eure Halbjahresprüfungen durchzieht", erläuterte Heathers Vater.
"Ja, und dann geht's auch gleich in das zweite Halbjahr rein", seufzte Aurora. "Aber ich wollte das ja so haben", fügte sie noch schnell hinzu, weil Heather sie mit einem schadenfrohen Blick bedachte.
Am letzten offiziellen Ferientag kam Ireen Barnickle, um mit ihrer Kameradin zusammen in die Sana-Novodies-Klinik zurückzukehren. Aurora erzählte ihr von ihren verlängerten Weihnachtsferien und daß die Kälte in England gegen die Hitze hier in Australien besser zu ertragen sei und sie froh sei, daß die Springs-Familie ihr für die letzte Woche einen Schlafplatz und genug zu Essen angeboten habe, damit sie sich an die hohen Temperaturen hier gewöhnen konnte.
"Nächsten Sommer unserer Zeit kannst du doch mal zu uns rüberkommen. Mein kleiner Bruder Tim würde gerne wissen, wie das ist, Weihnachten mit echtem Schnee und nicht diesem weißen Zeug, daß die hier als Schnee verkaufen", sagte Ireen. Aurora nickte. Das würde schon gehen. Neujahr in Australien bei über vierzig Grad Celsius mochte auch was sein, wenn die Leute statt im Winterumhang in Badesachen am Strand das Feuerwerk abbrannten und dann jubelnd ins Meer sprangen, um ins neue Jahr hinüberzuschwimmen.
"So, ihr beiden. Bevor mein Onkel euch beide hier einsammeln kommt appariert ihr besser in euer Foyer", sagte Mr. Springs zum Abend hin. Ireen und Aurora bedankten sich bei Heather und ihren Eltern für den netten Ausklang der Ferien. Aurora zeigte Ireen den von Meisterin Herbregis gelernten Trick beim Seit-an-Seit-Apparieren. Tatsächlich war der zusammenstauchende Übergang zwischen zwei weit entfernten Orten nun wesentlich erträglicher.
"Aurora, kann Ireen nicht mehr alleine apparieren?" Fragte Tom McCloud, der bereits vor dem Seiteneingang der Klinik stand, dort, wo es zum Foyer des Wohntraktes für angehende Heiler ging.
"Ich wollte ihr nur zeigen, was meine Mentorin mir beigebracht hat", sagte Aurora. Ireen nickte und warf dem bärengleichen Jahrgangskamerad einen ffinsteren Blick zu.
"Bist du die ganze Strecke von eurer Insel hierher appariert?" Fragte Tom.
"Klar doch, Tom", erwiderte Aurora. "Immerhin haben wir ja jetzt die Sonderkenntnisse", erwiderte Aurora lächelnd. Dann grinste sie breit und meinte, daß sie schon seit einer Woche wieder auf dem fünften Kontinent sei, um sich an die Drachenfeuerhitze hier zu gewöhnen.
"Ich hörte, bei euch friert der Tee in der Tasse ein, wenn ihr die von einem Haus zum anderen tragt", sagte Tom. "Jedem das seine."
"Ein weises Lebensmotto", knurrte Ireen zur Antwort. Dann erschien Berthold mit lautem Knall aus dem Nichts heraus.
"Eh, Eulenstreichler, mach nicht so'n Krach!" Tönte Tom. Berthold grinste jedoch nur und meinte:
"Wenn du quer über den Kontinent mußt würdest du auch nicht leise apparieren. Hi, Mädels. Wie waren die Ferien?"
"Weihnachten war schön. Es gab Schnee. Meine Mum hat Weihnachtspudding gemacht, und ich habe mit ein paar Leuten in Hogsmeade eine Schneeballschlacht gemacht", sagte Aurora fröhlich.
"Schnee, ist das nicht so'n ekelhaft kaltes, weißes Pulverzeugs, was vom Himmel runterfällt?" Fragte Berthold. Aurora nickte. Dann befand Ireen, sie sollten besser ihre Sachen hineinbringen und sich die grünen Umhänge anziehen. Aurora nickte und folgte ihr.
Das es sehr gut war, daß Aurora die Übungszettel durchgearbeitet hatte zeigte sich bereits in den folgenden Tagen. Auf jede Frage der Mentorin hatte sie die korrekte Antwort. Jeder Handgriff bei Zaubereien oder dem Umgang mit den klinikeigenen Zauberpflanzen saß, und überhaupt fühlte Aurora sich etwas leichter zu Mute, weil sie sich nicht so heftig anstrengen mußte wie die anderen, die von ihren Mentoren geistig wieder auf Vordermann gebracht werden mußten.
"Das lernen meine Kollegen nie, daß ihr bei mehreren Freiwochen nicht freiwillig irgendwelche Lehrbücher durchforstet", sagte Bethesda Herbregis am vierten Morgen nach Ferienende. "Jetzt müssen die denen den halben Stoff in drei Wochen wieder einbläuen, damit die erste Halbjahresprüfung nicht zum Reinfall wird."
"Ich habe zwar erst gestöhnt, aber jetzt geht es irgendwie leichter", meinte Aurora.
"Ja, weil du jetzt im richtigen Trott bist und über den Sommer, den du ja unbedingt im kalten England verbringen mußtest, nicht total aus der Übung kamst. Das ist wie Lauftraining. Wer täglich ein paar Minuten läuft, bleibt in Form und kann sogar das vorherige Pensum lockerer angehen. Wie gesagt, meine Kollegen lernen das nie. Die meinen, weil wir euch naturgemäß heftig drangsalieren wären Ferien ausschließlich zum Ausschlafen da."
"Mal eine Frage an dich, Meisterin Herbregis", setzte Aurora an. "Wenn eine Hexe von einem zauberer Drillinge erwartet, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß alle drei keine Magie entwickeln?"
"Bei einer Hexe und einem Zauberer ist die Wahrscheinlichkeit eins zu hunderttausend, daß alle drei Kinder Squibs werden, Aurora. Allerdings könnte das erstgeborene Kind zu einer Wahrscheinlichkeit von eins zu eintausend ein Squib werden. Wer wird denn in deiner Umgebung Mutter von Drillingen?"
"Meine frühere Vertrauensschülerkollegin Eunice arm... Öhm, Dirkson", antwortete Aurora. Sie hatte ihrer Lehrmeisterin ja beiläufig erzählt, daß sie mit einer Gryffindor zusammen den Vertrauensschülerinnendienst gemacht hatte.
"Die, die schon ungesagt zaubern konnte, als ihr das im Unterricht noch nicht machen mußtet?" Fragte Bethesda Herbregis. Aurora nickte.
"Dann kriegt die drei stramme Hexen und / oder Zauberer, Aurora. Aber ich behalte mir vor, mich irren zu dürfen, wie du ja auch." Aurora nickte.
Aurora strengte sich zwar an wie die anderen auch, hatte aber weniger Probleme bei den Wiederholungen. Da Zaubertränke und Pflanzenkunde bei ihr überragend waren, legte ihre Mentorin verstärkten Wert auf die Körperfunktionszauber und die Erkennung und Beseitigung mittelschwerer Flüche. Aurora wußte, daß sie in den nächsten Tagen eine weitere wichtige Hürde nehmen mußte, nachdem sie Hogwarts erfolgreich beendet hatte.
Ihr Kopf brummte etwas, als Aurora am letzten Tag der Halbjahresprüfungen zur Verwandlungsentwirrungsprüfung vor die fünf Prüfer antreten mußte, zu denen ihre Mentorin gehörte, wie auch Direktor Springs und drei Abgeordnete der Heilerzunft, die jeder für sich Experte auf diversen Gebieten waren. Als Aurora nach fünfzehn Minuten schnell hintereinander abfolgender Zauber ein mit mehreren halbherzigen Verwandlungen belegtes Kapuzineräffchen wieder als solches kenntlich gemacht hatte wurde sie noch zur Theorie intermittierender Verwandlungen und den Gesetzen sowohl der allgemeinen Zaubereirechtsprechung wie den internen Gesetzen der Zunft befragt, wann und in welchem Umfang sie Verwandlungen an Menschen vornehmen konnte. Als die Zeit dann vorbei war erhob sich Vitus Springs.
"Herzlichen Glückwunsch, Ms. Dawn. Damit haben sie alle sieben Zwischenprüfungen erfolgreich bestanden und dürfen ab morgen ins zweite Halbjahr. Insbesondere möchte ich Ihre profunde Auffassungsgabe bei Zaubertränken und Giftpflanzen hervorheben. Auch Ihre Fähigkeiten mit dem Zauberstab gereichen zur Anerkennung. Halten sie sich weiter so!"
"Danke, Sir", erwiderte Aurora erschöpft aber auch erleichtert. Besonders bei theoretischer und praktischer Körperkunde und der speziellen Behandlung von Blutkreislauf und Verdauungssystem hatte sie doch sehr schwitzen müssen, alle von den Prüfern angewiesenen Blutgefäße oder Abschnitte des Magen-Darm-Traktes auf einer unbeschrifteten Karte zu markieren. Allerdings, so wußte sie, mußte sie diese Kenntnisse immer wieder überprüfen, wenn am Jahresende eine zweiwöchige Prüfung stattfinden würde, in der die Themen des ersten und des zweiten Halbjahres vereint durchgenommen wurden. Doch sie machte sich jetzt mehr Hoffnungen als vorher, das erste Lehrjahr erfolgreich abzuschließen. Nicht zuletzt dank ihrer Mentorin, der gestrengen Bethesda Herbregis.
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