WOLFSHERBST

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Lunera, die Führerin der Mondbruderschaft, hat darauf gesetzt, dass sie durch blitzartige Angriffe und die Unterstützung der Wertiger ihr Ziel erreichen kann, mehr Anerkennung und Einfluss zu erkämpfen. Doch die bedrohten Zaubereiministerien wehren sich. Hinzu kommt noch, dass ein südamerikanischer Gangstter, der sich Don Rico nennt, sich erstaunlich schnell auf die übernatürlichen Feinde eingestellt hat und seinerseits mit magielosen Mitteln gegen die ihn bedrängenden Mondbrüder vorgeht. Zwar wissen die Zaubereiministerien und auch die Schwesternschaft der schwarzen Spinne, dass die Mondbruderschaft nicht die einzige Gefahr sind. Doch die Angriffe sind lästig und gefährden immer wieder unschuldige Menschen. Daher muss eine Entscheidung fallen.

Was die Beteiligten nicht wissen, an Halloween will Lord Vengor, der sich für Voldemorts legitimen Nachfolger hält, eine ganz eigene Entscheidung suchen.

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"Also, es ist eindeutig eine Art Virus, vor allem im Arteriellen Blut und im Speichel der Gefangenen nachweisbar", sagte der handzahme Wissenschaftler Don Ricos. "Allerdings lässt sich Form und Struktur dieses Erregers nicht erfassen. Es zerstreut die auf ihn gerichteten Taststrahlen des REMs. Unter dem Lichtmikroskop habe ich bei höchster Vergrößerung gerade erkennen können, dass die roten Blutkörperchen für sich pulsieren und die weißen Blutkörperchen eine Art Kraftfeld erzeugen, dass metallische Partikel abstößt. Silberpartikel können zwar in das Blut eingebracht werden, verzögern aber nur den Metall abweisenden Prozess. Ich konnte nicht einmal einen Mikrometer Hautgewebe abschaben. Erst mit einem Laserskalpell ging es, ein paar Quadratmillimeter Hautgewebe herauszupräparieren", dozierte der Arzt und Biowissenschaftler. "Wir können also festhalten, dass wir es hier mit durch eine uns unbekannte Form von Virus mutierten Menschen zu tun haben. Inwieweit die volkstümlichen Berichte von Werwölfen ihre Berechtigung finden kann wohl erst eine Studie bei Vollmond erbringen. Ich wage jedoch die Hypothese, dass an den Erwähnungen mit den Silberkugeln etwas dran sein könnte, wenngleich mir hierfür die biochemischen und biophysikalischen Ansatzpunkte fehlen. Aber die Schwerkraft hat ja auch Milliarden von Jahren gewirkt, ehe Sir Isaac Newton sie beschrieben und erklärt hat. Insofern bin ich neuen Erkenntnissen gegenüber immer aufgeschlossen."

"Was mich interessiert ist, ob wir denen unsere Wahrheitsseren verabreichen und sie womöglich umdrehen können", sagte Don Rico.

"Tja, rein messtechnisch sind ihre Gehirne nicht anders als unsere. Dergleichen dürfte auch für das Nervensystem gelten. Aber ob die Mutation nicht den Hormonhaushalt verändert hat weiß ich nicht. Daher rate ich im Moment von derlei Experimenten ab, bis eindeutige In-Vitro-Untersuchungen uns zeigen, ob das gewonnene Blut ähnliche oder vollkommen gegensätzliche Reaktionen auf verschiedene Wirkstoffe zeigt."

"Dann eben à la Großinquisitor", knurrte Don Rico. "Passt zu diesen Dämonenwesen sicher auch besser."

"Ihre Entscheidung, Don Rico", sagte der Weißkittel und fragte, ob er im Moment noch gebraucht wurde.

"Nein, wenn Sie erst mal neu studieren müssen, um mir zu sagen, ob ich einen Gefangenen elegant oder brutal verhören muss, studieren Sie weiter!" grummelte Don Rico. Mit dem Arzt sprang er etwas vorsichtiger um als mit seinen übrigen Gehilfen und Zuarbeitern, die nicht zu seinem engsten Vertrautenstab gehörten.

Laurin, Los Rayos, der Elektronik- und Elektrospezialist, sowie Trueno, der Experte für Explosionen und lautstarke Hindernisbeseitigungen untersuchten gerade die Kleidung und das erbeutete Seil. Alle rechneten damit, dass etwas davon zu einer Art Versetzungsvorrichtung wurde, die jedem Physiker einen Schreikrampf versetzen mochte. Denn längst nicht jeder war unerklärlichen Vorgängen gegenüber so aufgeschlossen wie der Arzt und Biochemiker der Truppe.

"Tolles Seil. Ist es ausgespannt fällt unsere Ausrüstung komplett aus und alles aus Eisen knallt voll auf das Seil drauf. Ist es zusammengerollt tut es absolut unschuldig", sagte Trueno.

"Und die Klamotten?" fragte Don Rico.

"Unterster Stadtstandard, keine verdächtigen Moleküle, keine verräterischen Netzwerke, nicht mal der berühmte rote Draht aus den Krimis, wo Amateure mal eben 'ne Zeitbombe entschärfen können."

"Also doch Magie?" fragte Laurin den Sprengstoffexperten herausfordernd.

"Genauso wie ein Telefon oder Funkgerät für einen Steinzeitmenschen pure Magie gewesen sein muss", knurrte Trueno. "Okay, nennen wir es mal die Variable My oder den My-Faktor", knurrte er noch.

"Kannst du das Seil aufschneiden?" fragte Don Rico.

"Da da kein Sprengstoff drin ist null Problemo, Chef."

"Dann mach das", raunte Don Rico.

Nach einer weiteren Stunde stand fest, dass in dem Seil nichts metallisches gesteckt hatte und auch keine unbekannten Chemikalien, die durch eine gewisse Spannung ein Ultramagnetfeld hätten aufbauen können. Allerdings war die Wirkung auch weg, als das Seil aufgeschnitten worden war. Es hatte also nur im unversehrten Zustand seine Wirkung ausgeübt.

Die Gefangenen Werwölfe wurden von Don Rico persönlich "verhört", wobei er Strom, glühende Kohlen und Wasser als Foltermittel verwendete. . Dabei erfuhr er jedoch nur, dass die drei ehemalige Straßengangster aus Madrid, Palermo und Malaga waren, die von einer weißen Wölfin, einem klapperdünnen Wolf oder einem fuchsroten Raubtier gebissen worden waren und sich beim ersten Vollmond in Wölfe verwandelt hatten. Nur mit einem als Zaubertrank bezeichneten Gebräu war es möglich, die Verwandlung zu steuern und in Wolfsgestalt klar denken zu können. Wo die Mondbruderschaft, wie sie sich nannte, ihr Hauptquartier besaß wussten die Werwölfe nicht. Denn sie wurden zu ihren Einsätzen immer mit Portschlüsseln befördert. Auf die Frage, was das denn sei erfuhr Don Rico, dass das bezauberte Gegenstände jeder Art waren, die Menschen oder Gegenstände, die bei Wirkungseintritt damit in Berührung standen, an einen vom Magier vorbestimmten Ort versetzten. Daher wussten die Werwölfe nicht, wie weit die Reise gegangen war und wo genau sie begonnen hatte.

"Die könnten also auch vom Mars gekommen sein", knurrte Don Rico, als er die drei lange genug "befragt" hatte. Was er wissen wollte wussten die nicht. Blieb nur, ihre übernatürliche Daseinsform weiterzuerforschen, um eines Tages gegen den Rest dieser Bande kämpfen zu können. Immerhin hatte ihm einer der Gefangenen was von Mondsteinsilber verraten, also Silber, das in mit dem Mondstein genannten Mineral verkleideten Schmelzöfen verflüssigt und sofort in die gewünschte Form gegossen wurde. Daraufhin hatte Don Rico die Anordnung erteilt, so einen Mondsteinofen zu bauen. Denn gewöhnliches Silber prallte wie jedes andere Metall von den Körpern der Gefangenen ab, wenn auch nicht mit 100 sondern nur 5 % der Ausgangsgeschwindigkeit.

Don Rico war sich absolut sicher, dass er irgendwann mit dem Rest der Mondbruderschaft eine Entscheidung ausfechten musste. Sollte sich herausstellen, dass hinter dieser Vereinigung echte Schwarzmagier steckten, dann gnade ihm jeder Gott auf Erden, dass sie nichts über ihn herausbekamen. Doch im Moment reizte Don Rico eher die Chance, die das Wissen über die Werwölfe und die magische Welt ihm in die Hand spielte. Vielleicht konnte er das sogar lernen, wie diese Portschlüssel oder das Autoeinfangseil gemacht werden mussten. Wusste er das, dann konnte er mit der ganzen Weltkugel Federball spielen. Doch hier griff sein Verstand ein und gemahnte ihn, nicht einem Größenwahn zu verfallen. Wer immer diese Künste beherrschte, hatte sicher dafür gesorgt, dass nur Auserwählte sie erlernen durften. Denn sonst wäre ja die gesamte technische Zivilisation total überflüssig. Bei dem Gedanken ergriff den sonst so kaltschnäuzigen Don Rico eine gewisse Angst. Was würde passieren, wenn die Anführer dieser Unbekannten eines Tages befinden würden, dass die magielose Menschheit "ihren Planeten" lange genug versaut und angebröselt hatte? Am Ende waren die Geschichten vom jüngsten Gericht in den verschiedenen Religionen nichts anderes als eine über Jahrtausende überlieferte Strafandrohung, dass die Leute ohne Magie sich nicht zu viel rausnehmen durften.

Don Rico verscheuchte diesen apokalyptischen Gedanken. Noch lebte er und noch war keiner aufgetaucht, um ihn zu stoppen. Solange er die Initiative behielt würde er früh genug wissen, wann es warum gefährlich genug wurde, um dagegen vorzugehen.

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Theia war wütend, als sie erfuhr, dass wieder einmal Wertiger in Europa aufgetaucht waren. Selene, die nicht wusste, was ihre Mutter mit diesen Bestien schon einmal zu schaffen gehabt hatte, vermutete, dass Theias Wut eben daher kam, dass Wertiger von Menschen nicht so leicht bekämpft werden konnten und sich noch gezielter vermehren konnten als Werwölfe es vor der Verbreitung jenes ominösen Lykonemesis-Trankes konnten.

"Es wird höchste Zeit, dass diesen Monstern jemand den Garaus macht", schnarrte Theia. Selene pflichtete ihr wortlos bei.

Seit sie in Grindelwalds unterirdischem Versteck gewesen waren, um Silver Gleams silbernen Sarg zu bergen, stand dieser scheinbar unangreifbare Totenkasten in Theias Keller, durch mehrere magische Barrieren und einen auf ihr und Selenes Blut abgestimmten Verbergezauber vor fremdem Zutritt geschützt. Selene wusste genau, dass es sehr riskant war, den Sarg zu öffnen und die hoffentlich darin ruhende Vampirin Silver Gleam aufzuwecken. Was beide mit Nyx und Lamia erlebt hatten war Warnung genug, auch wenn Selene den Großteil von Lamias Herrschaft gut beschützt im Leib ihrer neuen Mutter zugebracht hatte.

"Morgen kommt eine sehr kundige Bekannte von mir, die sich mit koboldgefertigten und unzerbrechlich bezauberten Gegenständen trefflich auskennt", sagte Theia, während Selene auf ihrem hohen Kinderstuhl saß und pürierte Möhren und Kartoffeln mit Hackfleischstückchen in sich hineinlöffelte. Als Selene das, was sie gerade im Mund hatte, ordentlich hinuntergeschluckt hatte fragte sie: "Lässt du mich dabei zugucken, wie sie den Silbersarg aufmacht, Mom?"

"Nein, das geht nicht", erwiderte Theia. "Du weißt doch, dass wir nur denen sagen dürfen, dass wir dazugehören, die selbst dazugehören", erwiderte Theia. Selene begriff. Natürlich war die erwähnte Bekannte eine von diesen Hexenschwestern, zu denen Theia, Eileithyia und Leda gehörten. Nur wer da auch zugehörte durfte wissen, wer noch dazugehörte. Wäre Selene ein natürlich heranwachsendes Kleinkind hätte sie vielleicht jetzt gequängelt. Doch dann hätten sie wohl kaum den Grund dafür, Silver Gleams Sarg, aus seinem Versteck entführen können. Denn nur Selene hatte gewusst, wo Grindelwalds Versteck gewesen war.

Als dann am nächsten Tag Selenes Ururgroßmutter Thyia zu Besuch kam und mit der neu heranwachsenden Verwandten in das für sie eingerichtete Spielzimmer ging mentiloquierte Theia ihre Mitschwester Erichthonia Firekettle an. "Du kannst vorbeikommen. Alles bereit!"

Eine Minute später fauchte es wieder im Kamin Theia Hemlocks, und eine kleine, zierliche Hexe mit kurzem, schwarzen Haar und großen, jadegrünen Augen erschien aus einem Wirbel aus smaragdgrünen Funken und Asche. Sie trug ein Kleid aus roter Drachenhaut mit schwarzen Mustern und silbern verzierte Drachenhautstiefel mit verzierten Schließen. Um die Taille hatte sie einen schwarzen Gürtel mit Taschen und Schlaufen geschnallt. Auf dem Rücken trug sie einen Practicus-Rucksack vom Typ Weltenbummler, in den eine Menge Zeug hineinpasste. Erichthonia war die beste Thaumaturgin der schweigsamen Schwestern. Wie einmal Leda hatte sie ursprünglich zu den so genannten Entschlossenen gehört, die eine Unterwerfung der Muggel zum Zwecke einer von Hexen geführten Weltordnung herbeiführen wollten. "Die brauchen uns nicht mit diesen qualmenden Verbrennungsöfen auf Rädern oder mit Flügeln die Luft zu verpesten, wo es genug Zauber und Handwerkskunst gibt, ihnen das alles zu ersetzen", hatte sie vor zehn Jahren mal erwähnt, nachdem sie ein langes Referat über "die Apparaturen des Abscheus" gehalten hatte. Nach Hynerias Sturz in die Ungnade hatte sie das Angebot Lady Robertas angenommen, zu den duldsamen, von den entschlossenen Schwestern auch zögerliche genannten Schwestern zurückzukehren.

"Mit reiner Magie geht da nichts?" fragte Erichthonia, nachdem sie Theia leise begrüßt und sich versichert hatte, dass Selene ihr nicht zusehen würde. Ihre Stimme klang silberhell wie eine kleine Glocke. Theia bestätigte, dass alle ihr bekannten Öffnungszauber an der silbernen Totenkiste versagt hatten. "Was ein Zauberer mal zumachen konnte kriegt eine Hexe auch wieder auf", sagte die Besucherin sehr selbstsicher. Dann folgte sie Theia. Trotz ihrer geringen Körpergröße benötigte sie beim Gehen genauso viele Schritte wie die Hausherrin. Das lag daran, dass in den Stiefelsohlen Kraftverstärker eingewirkt waren, die sie im Bedarfsfall auch über mehr als zehn Meter weit springen lassen konnten. Zudem schützten sie die Beine der Thaumaturgin vor Quetschungen, Säure- und Feuerschäden.

Im Keller hob Theia zunächst die von ihr aufgebauten Zauber kontrolliert auf. Als der silberne Sarg wie aus einem grauen Dunstschleier auftauchte nickte Erichthonia Firekettle sehr beeindruckt.

"Schön, sicher mit Occamysilber verstärkt. Könnte sein, dass der Erbauer dieser Kiste selbst darin liegen wollte, ohne von Würmern und Asseln zerfressen zu werden. Ich teste den jetzt mal auf alle möglichen Verschließ- und Barrierezauber", sagte Erichthonia und begann mit ihrer Arbeit.

Während dessen saß Selene in dem ihr zugeteilten Spielzimmer und unterhielt sich mit ihrer Ururgroßmutter im Schutze eines Klangkerkers über die Ereignisse der letzten Wochen, über die Übergriffe der Werwölfe und Wertiger und wie die Ministerien darauf reagierten. Außerdem führte Selene ihrer Ururgroßmutter vor, wie gut sie die ihr einmal geschenkte Panflöte schon beherrschte. Eileithyia spielte dazu auf einer kleinen Schellentrommel, die sie aus ihrer Handtasche geholt hatte und sang mit der vom fortgeschrittenen Alter angerauhten Stimme doch noch jeden Ton sauber treffend. Nach zwei Stunden erstarrte Eileithyia, als habe jemand sie gerufen. Selene war sich sicher, dass das auch passiert war.

"Du kannst jetzt wieder zu deiner Mom hin. Die Besucherin ist gerade abgereist. Euer Souvenir aus Deutschland kann jetzt besichtigt werden", seufzte Eileithyia Greensporn. Selene wusste, dass ihr die silberne Kiste sehr schwer im Magen liegen musste, besonders, wenn darin wirklich die schlafende Vampirin Silver Gleam ruhte.

"Mom hat für uns starke Schutzartefakte gemacht, Grangran Thyia. Mom liefert sich und mich garantiert keiner Vampirin aus, ohne im Notfall was gegen sie machen zu können", erwiderte Selene. Ihre Ururgroßmutter wiegte nur den Kopf. Dann sagte sie:

"Ich habe diesem Unternehmen auch nur deshalb zugestimmt, weil ich nicht will, dass diese Pelzwechsler oder dieser sich Lord Vengor nennende Dunkelkristallzauberer all die Hexen und Zauberer gefährdet, die ich in den letzten Jahren auf die Welt geholt habe, euch zwei hübschen eingeschlossen. Apropos, ich sehe dann besser zu, wieder in mein Arbeitszimmer zu kommen, damit in der Mutter-Kind-Station kein mittleres Chaos ausbricht. Passt verdammt gut auf euch auf!" Selene gelobte es. Die Erinnerung an ihre Geburt hatte ihr klargemacht, dass sie diese Strapaze nicht dafür überstanden hatte, um doch noch zu einer Vampirin zu werden.

Nachdem Eileithyia mit Flohpulver abgereist war führte Theia ihre Tochter in den gesicherten Keller. Der Sarg stand offen. Doch die sechs Schlösser waren verschwunden. "Die Expertin musste die Schlösser regelrecht verdampfen. Sie hat dafür mehr unwillig als willig eine Konstruktion gebaut, die die Laserstrahler der Muggelwelt imitiert, wenn auch mit einem wesentlich höheren Wirkungsgrad, wie ich sagen muss. Vielleicht kriegt sie dafür mal den goldenen Hammer der Zauberschmiedekunst. Aber jetzt zu dem, wofür wir das alles gemacht haben." Sie deutete in den silbernen Sarg hinein.

Selene erkannte sie sofort wieder. Sie hatte Silver Gleam vor achtzig Jahren schon einmal gesehen. Offenbar war sie während des langen Schlafes um keinen Tag gealtert. So, wie sie da im Sarg lag, wirkte sie immer noch wie Mitte dreißig. Ihr langes, rubinrotes Haar lag links und rechts ihres wachsweißen Gesichts und bedeckte den Brustkorb mit den festen Brüsten. Ihre Arme und Beine waren zierlich, zeigten aber, dass sie damit sehr stark und gewandt war. Ebenso verrieten ihre schmalen Hände mit den langen Fingern Geschicklichkeit. Ihre Füße waren schmal. Silver Gleams Augen über der schlanken Stupsnase waren geschlossen. Selene wusste, dass Silver Gleam apfelgrüne Augen besaß, in denen eine starke hypnotische Kraft schlummerte. Sie hoffte, dass das ihr gleich nach der Geburt umgelegte Anti-Mentiloquismus-Armband sie vor geistiger Beeinflussung schützen konnte. Silver Gleams Körper war in ein dämmerblaues Seidengewand gehüllt. Ihr Kopf ruhte auf einem nachtschwarzen Federkissen. Das war an und für sich unnötig, da sie in ihrem Zustand weder Schmerzen noch Unbequemlichkeit empfinden konnte. Selene fragte sich, ob Grindelwald sie so in den Silbersarg gebettet hatte, bevor er diesen scheinbar für alle Zeiten verschlossen hatte.

"Noch kannst du zurücktreten, meine Tochter", sagte Theia Hemlock. Selene erschauderte bei der Anrede "Meine Tochter" und bei dem Gedanken, dass sie es nun in der Hand oder besser im Arm hatte, dieses wunderschöne wie brandgefährliche Wesen da im Sarg aus seinem Tiefschlaf zu erwecken.

"Ich mach es, Mutter", sagte Selene und hielt ihren linken Arm über den fast geschlossenen Mund der totengleich daliegenden Gestalt. Theia nickte und zückte ein Messer mit silberner Klinge. Das Metall des Mondes, dem Leitgestirn der Vampire, würde das Blutopfer noch mehr hervorheben.

Selene biss die kleinen Zähne aufeinander, als ihre Mutter ihr mit zwei schnellen Schnitten eine X-förmige Wunde in den dargebotenen Arm ritzte. Sofort tropfte Blut aus der Wunde und landete erst auf und dann zwischen den Lippen der Schlafenden. Selene dachte daran, wie lange es üblicherweise dauerte, einen tiefschlafenden Vampir aufzuwecken. Je nachdem, wer sein oder ihr Blut gab und je nach Länge des Schlafes konnte es zwischen fünf Minuten und einer halben Stunde dauern. Wenn geschlechtlich unberührte Magier ihr Blut gaben dauerte es eher die fünf Minuten. Doch schon nach zwei Minuten durchlief ein erstes Zucken das Gesicht der Schlafenden. Dann erzitterte der Körper einmal. Dann öffneten sich die Lippen der Erwachenden ganz langsam. Noch mehr Blut aus Selenes Arm floss in den sich auftuenden Mund hinein. Die Zunge begann sich zu regen und erst träge und dann immer gewandter die ihr zugedachte Spende aufzunehmen. Jetzt konnten Theia und Selene auch die Spitzen der schneeweißen Fangzähne erkennen, die der Erwachenden Zugang zu ihrer bevorzugten Nahrung ermöglichten. Da entrang sich ein wohliges, langgezogenes Stöhnen dem offenstehendem Mund. Jetzt begann die Erwachende, ihre Arme und Beine zu bewegen. Theia zischte ihrer Tochter zu "Genug, das reicht!" Selene ließ noch drei Tropfen Blut in den Mund der gerade aufwachenden Rothaarigen fallen. Diese öffnete soeben ihre Augen. Ja, die sahen immer noch aus wie kleine Äpfel vor der endgültigen Reife. Selene fühlte, wie das ihr umgelegte, wollweiche Armband vibrierte. Da flirrte es in der Luft. Reflexartig griff Selene mit ihrer rechten Hand in die Luft und fing eine goldene Kette auf, an der ein galleonengroßes goldenes Amulett hing. Obwohl ihr blutender linker Arm noch schmerzte schaffte Selene es, sich die Kette innerhalb von nur zwei Sekunden über den Kopf zu streifen und das Amulett unter ihr helles, buntes Überziehhemd zu stecken. Dabei rann weiteres Blut aus der X-förmigen Wunde auf den Rand des Sarges. Ein ungehaltenes Grummeln kam aus der silbernen Totenkiste. Theia hatte ebenfalls eine goldene Kette hervorgeholt und sich umgehängt.

"Könnt ihr zwei süßen Englisch", grummelte die gerade aufgewachte Vampirin verdrossen. Die beiden zwiegeborenen Hexen nickten und bejahten es. "Das ist aber keine freundliche Art, mich erst so herrlich aufzuwecken und dann so gemeinen halsschmuck umzuhängen. Findet ihr sowas witzig?"

"Eher wichtig als witzig", erwiderte Theia unerbittlich.

"Ihr seid wirklich sehr nett, ihr zwei hübschen", knurrte die Vampirin und setzte sich auf. "Die Kleine hat wohl ein Ding gegen das Betasten ihres Geistes um, richtig. Außerdem hat sie mich aufgeweckt. Ihr Blut riecht wie deins. Dann ist sie deine Tochter. hast du die etwa dazu gezwungen, mir ihr Blut zu geben, weil du selbst keine Jungfrau mehr bist?"

"Nein, ich wollte das so", sagte Selene, alles andere als wie ein Kleinkind sprechend, auch wenn ihre glockenhelle Kleinmädchenstimme nicht zu dieser entschlossenen Bekundung passte.

"Oha, du wolltest das so. Wie heißt du, meine kleine?" säuselte die Vampirin nun sehr sanft. Sie blickte Selene an, schien aber nicht lange hinsehen zu können. Das lag an den fünf Sonnensegen, die dauerhaft in Selenes Amulett verankert waren und bei Berührung ihres Körpers diesen gegen die Begierde von Vampiren schützte.

"Ich bin Selene Hemlock", erwiderte Selene. "Ich habe dich mit meinem Blut erweckt, Silver Gleam geborene Ruby Lakewater. Du kennst das Gesetz des Blutes?"

"Natürlich", raunte Silver Gleam. Ihr war offenbar nicht recht, dass das kleine Mädchen ihren Vampir- und ihren Menschennamen kannte. Denn dadurch und durch das Blutopfer war die Vampirin ihr in gewissen Grenzen unterworfen.

"Und ich bin Theia Hemlock, Selenes Mutter und damit die Spenderin ihres und damit deines Lebens, Silver Gleam geborene Ruby Lakewater", fügte Theia noch hinzu. Silver Gleam blickte sie an und schloss ihre Augen bis auf schmale Schlitze.

"Ihr habt mich beide aufgeweckt und wisst, wer ich bin und wo ich war. Also wollt ihr was bestimmtes von mir. Gut, durch die Blutgabe hat Selene zwei Wünsche frei, die ich erfülle, wenn sie nicht gegen mein Leben und gegen das Leben meiner Blutvertrauten zielen."

"Ich wünsche mir von dir, dass du niemandem nach Blut und Leben trachtest, der oder die zu meinen und meiner Mutter Freunden und Verwandten gehört", formulierte Selene ihren ersten Wunsch. Die Vampirin nickte. Damit konnte sie leben. "Als meinen zweiten Wunsch erbitte ich von dir, dass du uns aus der Bibliothek der Nachtkinder ein Buch beschaffst, in dem über zwölfflächige, das Licht verschluckende Kristalle berichtet wird. Ich weiß, dass du den Weg dorthin kennst."

"Die Bücher der Nachtkinder liegen unter der Erde, geschützt vor jedem Sonnenlicht. Außerdem weiß ich nicht, ob das Wissen über die Kristalle des erzwungenen Todes nicht gegen meine Artgenossen und mich verwendet werden soll", wagte Silver Gleam einen Wiederspruch. Selene erklärte ihr daraufhin, warum sie dieses Wissen benötigten und dass auch die Hellmondvampire in Gefahr waren, wenn der, der einen solchen Kristall beschafft hatte, seine Geheimnisse nutzte. Theia erwähnte auch, dass der Mitternachtsdiamant im Meer versenkt worden war. Silver Gleam verzog ihr Gesicht und fauchte, wer das gewagt habe. Theia erwiderte darauf, dass es hatte geschehen müssen, weil dessen Kraft eine andere Hellmondvampirin zu einem größenwahnsinnigen Feldzug gegen alle anderen Lebewesen angetrieben hatte.

"Ach, Nocturnia, das Reich ohne Grenzen? Die Verlockung bot der mächtige Stein jedem, der ihn länger als sieben Nächte direkt bei sich trug und damit stärker und unverwüstlicher wurde", grinste Silver Gleam. Theia erwähnte auch, dass die Vampirin Nyx den Stein offenbar in ihrem Schoß verborgen getragen hatte und daher wohl mit ihm zu einer Einheit geworden sei. Selene konnte das bestätigen, da sie von einer gewissen Austère Tourrecandide davon gehört hatte. Silver Gleam sah die Zwiegeborene an, soweit sie den diese umfließenden Sonnensegen ertragen konnte.

"Nyx hat sich den Stein unten reingestopft, ohne dass der sich dagegen gewehrt hat? Der hat schließlich eine eingewobene Seele, einen inneren Wächter. Von dem weiß ich, dass der sehr gegen die Inbesitznahme von Hexen oder Vampirinnen war. Sonst hätte ich mir das Steinchen sicher selbst damals geholt und diesen Machtsüchtigen Burschen Grindelwald damit in die Schranken verwiesen."

"Jedenfalls ist Nyx jetzt tot und der Stein im tiefen Meer versenkt, da wo ein ständiger breiter Strom Wasser fließt", sagte Theia noch. Selene nickte bestätigend. "Jetzt will jemand anderes an die Macht, der die Kristalle kennt und benutzen will. Wir wollen wissen, wie genau sie entstehen und ob sie überall da, wo Menschen auf gewaltsame Art sterben entstehen. In der Zeit, wo du schliefst fanden auf der Welt lange und verheerende Kriege statt."

Silver Gleam nickte. Sie erfuhr dann noch, dass die Werwölfe durch einen Trank, der ihre Verwandlung beherrschbar machte, einen Feldzug gegen ihre Feinde begonnen hatten. Auch die asiatischen Wertiger seien wieder aufgetaucht und leisteten den Lykanthropen Hilfe. Das überzeugte die Vampirin, dass sie besser mithalf, genug Wissen zu erwerben. Am Ende halfen diese Werwölfe noch diesem Lord Vengor gegen ihre Artgenossen. Theia erwähnte auch, dass von den Töchtern des Abgrundes alle bis auf eine in den langen Schlaf versenkt worden seien. Eigentlich hoffte sie, dass Silver Gleam das als freudige Botschaft aufnehmen würde. Doch die Vampirin riss ihre apfelgrünen Augen auf, als habe sie gerade ihr Todesurteil gehört.

"Dann wird die jüngste, die schlimmste und die stärkste von denen wohl nicht mehr lange schlafen müssen. Denn sie wurde nur von der Kraft ihrer wachen Schwestern niedergehalten. Eine alleine reicht vielleicht nicht, sie weiterschlafen zu lassen", stieß Silver Gleam aus. Die beiden zwiegeborenen Hexen warfen sich verstörte Blicke zu. Denn beide kannten die Geschichte der Abgrundstöchter. Sollte es also darauf hinauslaufen, dass irgendwann die Tochter der fliehenden Zeit wieder aufwachte, weil Julius Latierre und andere Kinder Ashtarias ihre Schwestern Ilithula und Hallitti gebannt hatten? Das klang zu schlimm, um wahr zu sein. Doch sie wollten der gerade erst erweckten Vampirin nicht widersprechen. Selene sagte nur, dass deshalb alle sonstigen Widersacher besiegt werden müssten, um sich auf diesen Fall vorbereiten zu können. Die Vampirin stimmte zu und gewährte Selenes zweiten Wunsch nun nicht nur, weil sie dazu verpflichtet war, sondern auch, weil er ihrer eigenen Überzeugung entsprach. Dann sagte sie noch etwas, was die beiden erschauern ließ:

"Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ihr zwei mit all dem, was ihr wohl schon wisst und könnt, sehr gute Blutsschwestern von mir sein könnt, wenn Selenes Körper wieder zur Frau erblüht ist. Schlagt das beide nicht ohne nachzudenken aus! Ich habe auch nicht im Traum daran gedacht, eine Tochter der Nacht zu werden. Doch als ich die Entscheidung vor mir hatte, wie mein Leben weitergehen sollte, erschien mir dieses Dasein doch als das erfreulichste aller Lose."

"Nicht für uns. Wir lieben die Sonne, das Spazieren an rauschenden Bächen und Flüssen, das vielfältige Essen und vor allem, dass niemand uns mit Angst oder Argwohn ansieht, der nicht unser erklärter Feind ist", sagte Selene unumstößlich klingend. Ihre Mutter nickte.

"Ihr zwei gefallt mir, willensstark und unbeirrt. Euch zu meinen Schwestern zu erhalten würde mir gefallen. Doch ich habe ja gelobt, euch nicht nach eurem Blut zu trachten. Es sei denn, ihr gebt es mir aus freiem Willen heraus und erbittet dafür etwas von meinem. Wie gesagt, schlagt das nicht für alle Zeiten aus. Und das Licht der Sonne wird eh überschätzt."

"Wir wollen erst alle uns bedrohenden Widersacher besiegen oder zumindest von unseren Mitmenschen fernhalten", schnarrte Theia Hemlock. Selene nickte wild.

"Gut, ich helfe euch dabei", bekräftigte Silver Gleam. "Darf ich bis zu unserer Reise in diesem Raum wohnen? Dieser Sarg gefällt mir auch sehr als Ruhestätte, wenngleich ich ihn gerne gegen die Strahlen der Sonne verschließen möchte." Theia und Selene willigten ein. Sie versprachen Silver Gleam, ihr warmes Tierblut zu geben, damit sie weiterleben konnte. Die Vampirin verzog einmal das Gesicht. Doch dann erkannte sie, dass sie in diesem Haus wohl keinen für sie erlaubten Menschen finden würde. Also willigte sie ein.

Als Mutter und Tochter Hemlock den Keller verlassen und verschlossen hatten zischte Theia ihrer Tochter zu: "Und du gehst mir ohne diese Kette um den Hals nicht einmal aufs Töpfchen, kleines!" Selene flüsterte zurück:

"Das fällt mir im Traum nicht ein, Mutter."

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Ein abgemagert aussehender Wolf saß wie ein braver Haushund vor Lunera. Seine Nase strich schnüffelnd vor ihrem Unterleib hin und her. "Eh, lass das, Fino!" schnarrte die weizenblonde Werwölfin. "Werd gefälligst wieder ein Mensch, solange uns nicht der erhabene Vollmond scheint!" Der dünne Wolf nickte wie ein Mensch und verfiel in eine konzentrierte Haltung. Dann schienen Schmerzwellen durch seinen Körper zu jagen. Er winselte und hächelte wild. Der Körper des Wolfes veränderte sich. Der dunkle Pelz lichtete sich. Die Haare zogen sich unter die Haut zurück. Die Ohren wurden immer menschenähnlicher. Die kurze, mit rasiermesserscharfen Zähnen besetzte Schnauze formte sich zu einem menschlichen Kinn mit einem Mund mit schmalen Lippen zurück. Die Tatzen mit den gefährlichen Krallen wurden zu Händen und Füßen eines Mannes. Nach nur zwanzig Sekunden lag ein splitternackter dünner Mann auf dem Boden. Er wartete noch einige Sekunden, bis die letzte Auswirkung der Verwandlung überstanden war. Dann griff er hinter sich nach seinem Zauberstab und stand auf. Eine schnelle Bewegung des Stabes, eine rasche Drehung auf der Stelle, und Fino stand wieder ordentlich bekleidet vor seiner Kampfgefährtin und Anführerin.

"Was sollte das jetzt?" schnarrte Lunera. Ihr Gesicht verriet, dass sie sich ertappt fühlte.

"Seit wann bist du schwanger und von wem?" fragte Fino ungehemmt zurück. Lunera funkelte ihn dafür wütend an. Doch der dünne Mondbruder blieb unerschütterlich. So sagte sie halb resignierend:

"Stimmt, ich bin schwanger. Aber von wem, ob von Rabioso, Valentino, dir oder einem anderen Mondbruder verrate ich erst, wenn das Kind kurz vor der Geburt steht. Wann das sein wird verrate ich erst zwei Monate vorher. Wir haben schon genug damit zu tun, gegen diese viel zu flexiblen Zauberer und Hexen zu kämpfen. Dann noch dieser Don Rico. Ich muss ihn finden und erledigen. Er hat vielleicht schon zu viel über uns herausgefunden."

"Mein Baby kann's nicht sein, weil ich es noch nie mit dir getrieben habe, Lunera. Also entweder Valentino, Rabioso oder sonst einer, der es unbedingt mal wissen wollte, wie das mit dir ist. Trotzdem sage ich mal, dass du mit einem Baby im Bauch keine klaren Entscheidungen mehr treffen kannst. So wie du das gerade gesagt hast willst du den Braten auch fertig austragen und rausdrücken. Dann solltest du dich nicht mehr an Außeneinsetzen beteiligen."

"Du wagst es, mir Vorschriften zu machen?" knurrte Lunera. Fino nickte.

"Wir sitzen alle im selben Boot auf stürmischer See, Lunera. Du weißt genau, dass Erntemond nicht so gut läuft, wie du und ich das gehofft haben. Das mit den Wertigern hat sich auch eher zu einem Nachteil für uns entwickelt. Feuerkrieger hört offen auf das, was Rabioso so denkt, spätestens nachdem sein Kumpel Hammertatze getötet werden musste. Wir haben uns den schlimmsten denkbaren Feind ins Haus geholt. Wenn du echt ein Kind haben willst, dann müssen wir mal dran denken, wo und wie du es kriegen und aufziehen kannst, ohne im nächsten Moment von einer Silberkugel oder einem wütenden Wertiger erledigt zu werden. Deshalb habe ich dich hergebeten, weil mir deine Geruchsveränderung unten rum aufgefallen ist. Am besten klemmst du dir da was rein, was den neuen Geruch wegfiltert. Und was diesen Don Rico angeht, so kriegen wir den gerade darüber, dass der drei von uns erwischt hat. Der kann bestimmt nicht zaubern und sie vor uns verstecken."

"Dann suche die drei!" blaffte Lunera. "Du hast deren Namen, deren Blut und deren Abbilder." Fino nickte heftig.

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Am fünften Oktober trafen Theia und Selene mit einem Portschlüssel im Zugang zu einer weitläufigen, von gewöhnlichen Menschen nicht gefundenen Tropfsteinhöhle ein. Silver Gleam, die Vampirin, begleitete sie. Sie kannte den richtigen Weg, um zur geheimen Bibliothek der Nachtkinder zu gelangen.

Das eine Bibliothek der Vampire keine Fenster besaß war zu erwarten gewesen. Dass dort auch keine künstliche Lichtquelle bereitgehalten wurde war auch offensichtlich. Daher bezauberten Theia und Selene ihre Augen mit dem Strigoculus-Zauber, um bei der völligen Dunkelheit unter der Erde sehen zu können. Außer ihren Schritten war nur das in langen, unregelmäßigen Abständen niedertropfende Wasser zu hören. Tief in den Kalksteinmassiven Dalmatiens hatte die Natur über Jahrmillionen ein Labyrinth aus hohen oder niedrigen Gängen, schmalen Stollen und weiträumigen Gewölben errichtet. Säulenartige Stalakmiten ragten links und rechts nach oben. Wie steinerne Eiszapfen wirkende Stalaktiten hingen von der Decke. Einige der Tropfsteine formten skurile Gebilde, die mit der nötigen Phantasie für Tier- oder Pflanzendarstellungen gehalten werden mochten. Baumstammdicke Kalksteinsäulen verbanden Boden und Decke in manchen Höhlen. Wie lange mochte es gedauert haben, bis aus Stalaktiten und Stalakmiten solche Wunderwerke der Natur entstanden waren? Selene hatte, wo sie noch nicht Theias Tochter gewesen war, viele Höhlen besucht. Jede war einzigartig.

Davorne ist Erebus' Tor", wisperte die Vampirin, die sich in dieser ewigen Nacht sehr wohl fühlte. Theia und Selene trugen dicke Winterkleidung, um die ständig auf gerade acht Grad über dem Wassergefrierpunkt liegende Temperatur zu ertragen. Silver Gleam trug ihr seidiges Nachtgewand und lief barfuß. Ihr machte selbst sibirische Eiseskälte nichts aus, weil ihr Blut und ihr Körpergewebe nicht einfrieren konnten.

Das Tor des legendären römischen Urvampirs Erebus war eigentlich nur eine Wand aus Granit. Das war schon mal eine Neuheit im Vergleich zu den Kalksteinwänden rings um sie herum. Die Vampirin deutete auf die hohe, breite Wand und sagte dann noch: "Wenn jemand versucht, da hineinzugelangen wird er im dahinterliegenden Raum eingesperrt und verhungert gnadenlos, wenn keiner von uns sich seiner erbarmt und ihm das Blut aussaugt. Ich war das letzte mal vor hundert Jahren hier. Wenn ich die einzige war, die seit dem hier war, könnten die Leute wie Grindelwald oder dieser Voldemort, dessen Zeit ich ganz ruhig verschlafen habe, locker hier drinnen verreckt sein."

"Die können nicht hinausdisapparieren?" wollte Theia wissen. Silver Gleam lachte lauthals, dass es aus den Nebengängen vielfach widerhallte.

"Erebus hatte einen mächtigen Vertrauten, der ihm diesen Raum eingerichtet hat, weil er unbedingt mit Erebus die Blutvertrautheit beschließen wollte. Der war ein mächtiger Erdzauberer und hat den Raum gegen jede Form des unerlaubten Betretens abgesichert. Wer einmal hineingerät kann auch nicht mehr hinaus, egal auf welche Weise. Nur einer von uns kann die Wand öffnen und die Bibliothek betreten", erläuterte die Vampirin. Zum Beweis biss sie sich selbst in den linken Arm und drückte diesen gegen die Wand.

Zuerst passierte nichts. Silver Gleam stand da und keuchte angestrengt. Dann schwang das von ihr berührte Teilstück mit ihr zusammen nach innen herum. Theia und Selene blickten mit ihren auf Nachtsicht eingestimmten Augen in einen drei Meter hohen Durchgang. Da sahen sie sie.

Hinter der nach innen klappenden Wand lagen sie verstreut herum, hunderte von blanken Knochen. Totenschädel standen ungeordnet im Durchgang verteilt oder lagen auf der Seite. Die leeren Augenhöhlen glotzten wie schwarze Löcher zu den beiden Hexen hinaus, die einen Schritt zurückmachten, weil ein eisiger, in den Durchgang hineinziehender Sog entstand. Theia und Selene sahen noch, wie Silver Gleam über eine vom restlichen Skelett losgelöste Wirbelsäule stieg und in den Durchgang hineinschritt. Da klappte das von ihr geöffnete Wandstück wieder zu. Nahtlos schloss sich der Zugang wieder. Der eiskalte Sog ebbte unmittelbar darauf ab.

"Kein Wunder, dass der Rest der Zaubererwelt diese Bibliothek nie betreten will", grummelte Theia. Selene bemerkte dazu, dass selbst die Mitglieder der Liga gegen dunkle Künste nicht wagen würden, ohne einen ihnen treu ergebenen Vampir in dieses magische Verlies einzudringen.

Die beiden Hemlock-Hexen mussten eine halbe Stunde warten. Dann klappte die Wand nach außen, und Silver Gleam tauchte aus dem geöffneten Zugang auf. Unter dem rechten Arm trug sie ein in dunkles Leder oder dunkle Haut eingebundenes Buch. Selene stellte sich sogar vor, dass das Buch in Menschenhaut gebunden worden sein mochte. Die Vorstellung, es selbst anfassen und umblättern zu müssen erschien ihr einerseits grauenvoll, andererseits auch erhaben. Denn sie kannte niemanden von der Liga gegen dunkle Künste, die ein Buch aus dieser Bibliothek jemals in die Hand bekommen hatten. Theia deutete auf ein in den Vorraum gezaubertes Schreibpult, auf dem ein großes Stück Pergament lag. Auf diesem stand eine Flotte-Schreibe-Feder bereit.

"Die Bücher hier sind an diesen Ort gebunden. Weiter als hundert Schritte kann niemand sie tragen, weil sie dann sofort mit dem, der es gerade in Händen hält in die Halle des geschriebenen Wissens zurückkehrt. Wer mit dem Buch zurückgeholt wird bleibt dann bis zum Tod da und spendiert einen Satz Knochen für die große Sammlung. Also müssen wir das, was ihr sucht gleich hier lesen." Die beiden Hexen nickten der Vampirin zu. Menschen durften das Buch zwar berühren, aber nicht länger als eine Stunde pro Monat in den Händen halten. Wer es länger festzuhalten versuchte landete ebenfalls mit dem Buch wieder in der Bibliothek und musste verhungern und verdursten. So vertaten die beiden Hexen keine Zeit. Theia behielt die Uhrzeit im Blick, während Selene nach dem Kapitel über die dunklen Kristalle suchte. Als sie es fand las sie es laut genug auf Lateinisch vor. Da beide Hexen diese alte Sprache konnten konnte es auch die von Theia einsatzbereit gemachte Schreibe-Feder. Diese übersetzte sogar sofort, was vorgelesen wurde. So erfuhren die beiden Hexen, dass alte Magier erkannt hatten, dass solche zwölfflächigen Kristalle, die Duodecaedres Mortis, dort entstanden, wo an einem tag mehr als sieben mal sieben mal sieben Menschen durch Gewalteinwirkung anderer Menschen zu Tode gebracht wurden. Einen Tag brauchte so ein Kristall, um Substanz zu gewinnen. Die Hexen erfuhren auch, dass je mehr Menschen starben, desto größer ein solcher Kristall wurde. Was das für die Vampire so wichtig machte, dass es hier in der Bibliothek aufbewahrt wurde: Die Kristalle schluckten das kleinste Fünkchen Licht, ja konnten sogar die gleißende Sonnenstrahlung schlucken. Außerdem, so das Kapitel weiter, habe der Urgott der Nachtkinder, der König der Nacht, den Mitternachtsdiamanten aus einem winzigen Dunkelkristall und drei Monaten daran angelagerter Dunkelheit und Eiseskälte erschaffen und mit dem Blut seiner Geschöpfe, den Kindern der Nacht, zum Lenker ihrer Macht erhoben.

Dreißig Minuten dauerte es, bis das Kapitel mit allen Namen und Vorkommnissen verlesen war. Es blieben also noch dreißig Minuten, bis das Buch sich mit dem, der es gerade las in seinen zugewiesenen Raum zurückversetzte. Selene fand darin noch Kapitel über den sogenannten Urvater der Vampire, dessen Namen "Ehre die Nacht" übersetzt wurde, von dem es aber auch hieß, er sei der Vater des Ägyptischen Seth und des Baal Cebul oder des abtrünnigen Engels Satanael in den Religionen der Welt. Auch der römische Gott Pluto sei der Sohn dieses Urgottes der Nacht. Theia unterdrückte eine bissige Randbemerkung, dass in vielen Mythologien die Nacht als Göttin verehrt und gefürchtet wurde, daher ja Griseldas Vampirname Nyx. Doch sie behielt nur die verstreichende Zeit im Blick und hörte auf Selenes Vorlesung. Mit ihrer Kleinmädchenstimme und der Betonung einer vortragenden Lehrerin klang es schon fremdartig, aber auch erhaben.

Selene fand auch ein Kapitel über einen als Schattenträumer bezeichneten Diener dieses Urvaters. Das Kapitel stammte aus dem Jahre 1802 und war in französischer Sprache verfasst, was für Selene ein wahrhaftiges Heimspiel bedeutete. Kanoras, so der Name dieses Wesens, sei eine verunglückte Verschmelzung eines dunklen Magiers aus dem alten Reich und seiner nicht minder dunkler Magie zugetanen Schwester. Wie beide vor der Verschmelzung geheißen hatten wisse niemand mehr. Jedenfalls sei aus den Körpern der Beiden ein gigantisches Gehirn entstanden, das nur im Schutz einer gleichwarm gehaltenen Lösung überleben konnte. Diener von Kanoras hatten dieses Riesengehirn in einen gegen den Zugriff lebender und toter Wesen gepanzerten Kristallbehälter gelegt, in dem wohl auch etwas von diesen Dunkelkristallen verbaut worden war. Kanoras Fähigkeit bestand darin, in einem durch Kreuzung aus zwei Feuerzaubern entstandenem blauen Feuer verbrennende Lebewesen in sich aufzunehmen und deren Seelen als von ihm gelenkte Schattenwesen hervorzubringen, sie zu erträumen. Um der lebenden Substanz seines Gehirns weitere Nahrung zu geben wurden sieben Männer und sieben Frauen in einem Keller unter seiner Wohnhöhle an Schläuche gehängt. Deren Lebenskraft trieb Kanoras weiter an. Zudem wandelte der ihn umgebende Behälter die Energie aus reiner Dunkelheit in Überdauerungskraft um und hielt ihn so am leben. Wenn seine Körperenergiespender starben schickte er seine Schattenwesen aus, Nachschub zu besorgen. Dabei gelang es auch, die inneren Präsenzen gefährlicher Zauberwesen zu fangen, wie einem zum Vampir gewordenen Riesen, einen besonders großen Feuerlöwen und den Todesadler eines Luftmagiers aus dem alten Reich. Jahrtausende lang überdauerte Kanoras, der auch der Feind der Vampire war, "der viele Feind, der nie zu fassen ist", wie die Blutsauger ihn nannten. Seit 1739 sei aber niemand mehr von einem von Kanoras' Schatten heimgesucht worden. Der Schreiber vermutete, dass Kanoras durch mächtige Zauberer oder Hexen in Schlaf versenkt worden sein muss. "Der Träumer schläft. Doch wehe dem, der ihn wiedererweckt und wehe uns allen, die wir dann von den Geschöpfen seiner Träume gejagt werden", beendete Selene das Kapitel über Kanoras, den Schattenträumer.

"Wir haben nur noch zehn Minuten übrig", sagte Theia mit Blick auf ihre Uhr. Selene nickte und suchte noch nach was interessantem. Da fand sie ein wenige Seiten umfassendes Kapitel über die Vampirwerdung von Wlad Draculea. Nachdem der Feind der Türken, der auch den Beinahmen Pfähler erhalten hatte, nach siegreichem Feldzug in seine Heimat zurückkehrte und seine geliebte Gefährtin eines gewaltsamen Todes gestorben war, hatte der voyvodische Fürst nach den Untätern gesucht und war dabei einen Pakt mit einem in Transsylvanien lebenden Vampir eingegangen, Goiko Varesku. Knapp zweihundert Jahre hatte der Pfähler dann gelebt, bis ihn christliche Vampirjäger mit Feuer und Eichenholz zusammen mit einem gewissen Algernon Weidenstock den Garaus gemacht hatten. "Tod denen, die aus diesem Fleisch und Blut entstammt sind", schloss der Schreiber dieses Kapitels. "Eine Minute! Lass das Buch los, Selene!" Selene warf das Buch zu Silver Gleam hinüber. Diese öffnete noch einmal den Zugang zur Bibliothek und trug das so wertvolle Buch in die Bibliothek zurück. Theia verstaute derweil die Mitschriften in ihrem diebstahlsicheren Brustbeutel.

Mit hilfe des Portschlüssels kehrten sie in Theias Haus zurück, als über diesem die Nacht hereingebrochen war.

"Ich weiß, dass ihr für's erste nicht meine Gefährtinnen durch die Nächte werden wollt, ihr zwei Süßen. Auch ertrage ich diese widerliche Ausstrahlung eurer Schutzartefakte nicht. Ich habe euch versprochen, euch und allen, die euch wertvoll und freundlich gewogen sind nicht nach Blut oder Leben zu trachten. Doch ich erkenne wohl, dass ihr mir nicht weit trauen mögt. Ihr habt offenbar zu viele schlechte Erfahrungen mit Wesen meiner Art gemacht. Daher möchte ich in meine Heimat zurückkehren. Den silbernen Sarg nehme ich mit, wenn es erlaubt ist", sagte Silver Gleam. Die beiden Hemlock-Hexen willigten unverzüglich ein, Silver Gleam einen Portschlüssel zu machen, der sie und den silbernen Sarg wieder nach England in eine kleine Höhle trug, wo die Vampirin ursprünglich die Tage verschlief. Die unverwüstlichkeitsmagie in dem Sarg hatte die von Theias Bundesschwester ausgebrannten Löcher wieder aufgefüllt. So konnte Silver Gleam mit ihrem Sarg unbehelligt in ihre Heimat zurückkehren.

"Du hast auch daran gedacht, sie in den Tod zu schicken, richtig?" fragte Theia ihre Tochter. Diese nickte. "Und womöglich hast du es aus dem gleichen Grund wieder verworfen, richtig?" fragte sie. Selene fragte, welcher Grund das sei.

"Dass sie uns eine gute Kontaktperson zu den Hellmondlern ist, wenn wir sie am Leben lassen." Selene nickte bestätigend. Sie fügte dann aber hinzu: "Sie weiß, dass ich schon das zweite Leben führe. Aber sie wird es nicht verraten, weil ich ihr das Blut zur Wiedererweckung gegeben habe." Theia nickte. Deshalb und nicht nur, weil Selenes Blut das einer jungfräulichen Hexe war, hatte ihre Tochter das Risiko auf sich genommen, die Vampirin aufzuwecken.

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Schreckenszahn, so hatte Feuerkrieger den Wertiger genannt, den er auf dem Weg in die Staaten in einer heruntergekommenen Bar in San Bernardino erschaffen hatte. Der Name war ihm eingefallen, weil der Umgewandelte als Tiger eher einem vorgeschichtlichen Säbelzahntiger geglichen hatte und ein schwarz-graues Streifenmuster als Fellzeichnung angenommen hatte. Jetzt war Schreckenszahn einer von zwölf Einsatztrupplern der Erntemondbrigade neun, darauf angesetzt, die Verwandten einer gewissen Ceridwen Barley zu fangen, um diese Ceridwen dazu zu zwingen, sich den Mondbrüdern auszuliefern. Denn an Ceridwens eigentlichen Wohnsitz kam niemand mit einem Portschlüssel heran, ohne dass der Portschlüssel kurz nach dem Auftauchen von einem grün-goldenen Blitzstrahl aus dem Himmel zersprengt, zerschmolzen oder verdampft wurde. Schreckenszahns Wertigerbruder Säbelkralle war bei einem solchen Vorstoß vernichtet worden, ehe der sich in seine erhabene Gestalt verwandeln und damit jeden Angriffszauber abwehren konnte.

Schreckenszahn konnte den Namen des kleinen Dorfes irgendwo im waliser Hinterland nicht aussprechen. Das erschien ihm auch nicht wichtig. Wichtig war nur, dass er sofort nach der unsanften Landung des löcherigen Bettuches in seine Zweitgestalt übergewechselt war, ohne dass vorher ein grün-goldener Vernichtungsblitz eingeschlagen hatte. Wenn jetzt noch sowas anstand würde sich die ganze Energie wohl in Nichts auflösen. Tatsächlich ploppte es so laut, als hätte wer einen drei Meter großen Stöpsel aus dem Abfluss einer vollen Badewanne gezogen. Um ihn und die elf Werwölfe, die gerade im Schutz ihrer kugelsicheren Kleidung in Kampfstellung gingen, flimmerte für einen Moment die Luft. Schreckenszahn brüllte so laut, dass es noch nach einer Minute als Echo an seine hochempfindlichen Ohren drang. Seine überlangen Fangzähne blitzten gelblichweiß im Licht einer altmodischen Gaslaterne. In den Häusern verstummten die wummernden Bässe der Stereoanlagen und das Geplapper aus den Fernsehgeräten. Klappernd gingen mehrere Dutzend Fenster auf. Als eine ältere Frau hinaussah, um zu sehen, was da so einen urwelthaften Lärm von sich gegeben hatte, wollte einer der Werwölfe auf die Frau schießen. Doch sein Kumpan drückte ihm den Arm nieder. "Wenn die weiß, wo wir die Verwandten von dieser Zerrindrin oder wie die heißt finden bringt die uns tot nix", fauchte der noch als Mensch herumlaufende Mondbruder.

Ein lauter Entsetzensschrei bekundete, dass die neugierige Frau den schwarz-grauen Riesentiger im Licht der Gaslaterne gesehen hatte. Weitere aufgeschreckte Einwohner stießen ähnliche Laute der Angst und Verstörtheit aus.

"Mann, du Einfaltskater, hättest du dein Maul nicht halten können?" schnarrte Bennings, der Truppführer, den Wertiger an. Dieser knurrte unüberhörbar angriffslustig. "Denk dran, dass wir deinen Kumpel Hammertatze ganz schnell stumm gemacht haben, Kätzchen", drohte der Werwolf dem Wertiger. Dass gerade mehrere Leute in Panik nach der Polizei riefen, sei es direkt mit lauter Stimme oder durch Telefonhörer, interessierte sie nicht. In diesem Kaff war bestimmt gerade mal ein Constabler stationiert, und mit dem würden sie in einer Sekunde fertig werden. Allerdings sollten hier noch Hexen und Zauberer wohnen, die eben mit dieser Ceridwen Barley verwandt waren. Die wollten sie fangen und wegbringen.

"Ausschwärmen und alle kampfunfähig machen, die im Umkreis unseres lauten Freundes in den Häusern sind! Keinen töten! Keinen hier umbringen!" zischte Bennings seinen Leuten zu. Diese gehorchten. Die Magieabsorbierende Aura des Wertigers reichte mindestens hundert Meter weit, hatten Versuche der zauberkundigen Mondbrüder ergeben. Wenn die Gesuchten außerhalb dieses Absorberfeldes waren konnten die womöglich schon längst wegteleportiert oder disappariert sein, wie es die Zauberstabschwinger der Mondbruderschaft nannten. Aber der Versuch sollte es wert sein. Am Ende konnten sie die Geflohenen damit erpressen, deren Nachbarn gefangen zu haben.

"Ich beiße die", dachte Schreckenszahn seinem Erschaffer Feuerkrieger zu. "Ja, aber lass die Wolfsleute ddabei nicht zusehen!" erhielt er eine unverzügliche Gedankenantwort.

Schreckenszahn preschte auch los, während die Werwölfe in die gerade erreichbaren Häuser eindrangen, um die dort wohnenden gefangenzunehmen. Gerade als der Tiger in ein altes Fachwerkhaus hineinkrachte und eine rothaarige Frau vor sich sah, deren Geruch ihm zugleich Hunger als auch Lust auf Sex einflößte, hörte er das Schwirren in der Luft. Er hatte es bisher noch nicht mit eigenen Ohren gehört, wusste aber von seinen Kameraden, dass fliegende Hexenbesen diese Geräusche machten. Die Zauberer kamen aber näher. Sie flogen nicht weg. Schreckenszahn riss das Maul auf, um die Rothaarige da zu beißen. Die da sollte seine willige Gefährtin werden. Wenn die als Tigerin genauso feuerrotes Fell hatte würde er sie Flammenstreifen nennen. Da warf sich die Rothaarige herum und hielt dem Tiger eine Sprühdose vors Gesicht. Es zischte laut und höchst unheilvoll. Im gleichen Moment fühlte der Tiger erst ein schmerzhaftes Brennen an und in seinem Maul und dann eine von eisiger Kälte herbeigeführte Taubheit. Seine Zunge erstarrte, während die Rothaarige ihm immer mehr von ihrem Eisspray in Maul, Nasenlöcher und dann auch noch die Augen sprühte. Er versuchte, sie anzuspringen. Doch die unnatürlich tiefe Temperatur bremste seine Gedanken, lähmte seine Reflexe. Immer noch hörte er das Zischen, das nun einmal ganz laut in sein rechtes und dann noch in sein linkes Ohr drang. Schlagartig schwanden ihm die Sinne unter einem Schmerz, der wie ein in den Kopf stoßender Speer von rechts und von links aufwallte. Sein letzter Gedanke war, dass man ihn kalt erwischt hatte.

Die Werwölfe stürmten die Häuser. Sie traten oder schlugen die verhältnismäßig dünnen Türen ein und feuerten mit ihren Waffen in die dahinterliegenden Flure, bevor sie wie enternde Piraten über die Schwelle sprangen und die Räume absuchten. Wer gefunden wurde wurde niedergeschlagen oder mit mitgebrachten Handschellen gefesselt. Zwei Minuten lang ging das gut. Dann tauchten sie auf, die Leute in langen Umhängen und mit spitzen Hüten auf den Köpfen. Sie hielten keine Zauberstäbe in den Händen. Offenbar wussten die, dass sie gegen die Mondbrüder gerade nichts ausrichten konnten, weil der Wertiger bei ihnen war. Doch sie waren nicht unbewaffnet. Sie hielten Schwerter in den Händen, deren Klingen im Widerschein des hereinsickernden Laternenlichtes silbrig schimmerten, silberne Schwerter.

"Damit wollt ihr Spitzhüte uns echt kriegen", lachte der Werwolf, der gerade dieses Haus erstürmte und feuerte seine Waffe gegen den Magier ab. Die Kugeln tropften von dessen Brust, Bauch und Beinen ab. Als der Lykanthrop auf den Kopf des Zauberers zielte wirbelte er mit seinem silbernen Schwert herum. Der Werwolf hörte es durch die Luft pfeifen. Dann traf die Klinge seinen Hals. Doch die aus Verbundkohlenstoff bestehende, stahlverstärkte Halskrause parierte den Enthauptungsschlag. Eigentlich hätte die Silberklinge daran zerbrechen oder wenigstens schartig werden müssen. Doch sie federte zurück. Der Schwertschwinger wurde aber von der Wucht des Rückprellers von den Beinen gerissen. Der Lykanthrop verpasste dem niederstürzenden einen Tritt mit der stahlgepanzerten Stiefelspitze. Doch da stand schon ein anderer von diesen Zaubersheriffs im Flur des aufgebrochenen Hauses. Er hielt eine MP in den Händen und zielte auf den Kopf des Werwolfs. Doch der war behelmt. Da konnten keine Silberkugeln durchschlagen, da Silber weicher als gehärteter Stahl war. Doch was der Bursche verschoss waren keine Kugeln, sondern kleine Leuchtgeschosse, die direkt nach Verlassen des Laufes gleißendhell aufblitzten. Das stach dem Werwolf so heftig in die Augen, dass er einen Moment lang handlungsunfähig wurde. Das reichte dem gerade niedergefallenen Zauberer aus, seinen eigentlichen Trumpf auszuspielen. Unvermittelt flog ein Haarfeines Netz um den Körper des Werwolfs und straffte sich. Von einer auf die andere Sekunde konnte sich der Mondbruder nicht mehr frei bewegen. Die von ihm gehaltene Waffe nützte ihm auch nichts. Sie behinderte ihn sogar noch mehr, als er versuchte, die sich um ihn zusammenziehenden Maschen auseinanderzustemmen. Er fühlte eine gewisse Schwäche, als er sich gegen das einschnürende Netz auflehnte. Irgendwas darin sog ihm Kraft ab. Doch das konnte nicht gehen. Der Wertiger blockierte doch allen Zauber.

"Ist gut jetzt, Burschi. Lass es!" schnarrte der Zauberer, der gerade eben noch die Blendmunition verfeuert hatte. "In dem Netz ist Mondsteinsilber verwoben, das zieht dir auch dann noch Kraft ab, wenn ein magieunterdrückender Wertiger in der nähe ist", belehrte ihn der mit der MP und prüfte, ob eines seiner Blendgeschosse Feuer entfacht hatte. Doch die winzigen, mit Flüssigsauerstoff angereicherten Magnesiumprojektile, waren unmittelbar nach dem Abfeuern in der Luft verglüht, ohne einen Brand entfacht zu haben.

"Schweinehunde. Wir kriegen euch doch!" brüllte der Werwolf und rief "Monduntergang!" Der Ruf wurde von anderen gehört und beantwortet. Damit war Verstärkung unterwegs. Dann bimmelte etwas bei dem, der ihn in dieses Netz eingeschnürt hatte. "Ah, der Magiefluss ist wiederhergestellt", triumphierte der Zauberer und zückte seinen Zauberstab. Ein roter Schockblitz traf den eingeschnürten Werwolf. Dagegen half auch die kugelsichere Kleidung nicht.

Bennings hatte ein Steinhaus durch ein Fenster geentert und hielt eine Frau und zwei schlotternde und schluchzende Kinder in Schach. "Wenn dein Mann oder wer anders durch die Tür kommt knall ich deine Blagen ab!" blaffte Bennings. Durch den geschlossenen Schutzhelm klang das noch unheimlicher, noch unheilvoller. Die Frau verstand und rief "Eddie, nicht zu mir hin, sonst sterben Joy und Hank!"

"Okay, Mütterchen, wenn du mitspielst bleibst du und deine Brut am Leben, kannst vielleicht noch was sehr vorteilhaftes kriegen. Wir suchen eine Familie Hardin! Seid ihr das?"

"Die Hardins, die wohnen nicht in dem Haus. Die haben doch keinem was getan", stammelte die Frau. Der Lykanthrop lachte und antwortete: "Die nicht, aber deren bucklige Verwandtschaft hat was gemacht, was wir nicht durchgehen lassen dürfen. Also wo genau wohnen die ... Ey, weg da!" brüllte der Werwolf, als er Geräusche vom Fenster her hörte. Er zielte ganz knapp am Kopf des fünfjährigen Mädchens vorbei und feuerte zehn Schüsse in die Wand, dass Putz und Beton herausspritzten. Dann wirbelte er mit seiner Waffe herum und feuerte nach draußen. Gerade so hatte er noch einen Spitzhut zur Seite wischen sehen können. Schwirrend jagten zwanzig Stahlmantelgeschosse in die Nacht hinaus. Zwei oder drei davon erwischten offenbar die Gaslaterne. Es wurde plötzlich stockdunkel.

"Gwin, noch alles in Ordnung!" rief eine verängstigte Männerstimme von der Tür her.

"Typ, bleib von der Tür weg oder sieh zu, wie ich deinen Bälgern die Rüben runterballer!" rief Bennings mit unverkennbar US-amerikanischem Akzent. Da erklang ein kleines, schrilles Glöckchen, wie von einem winzigen alten Wecker. Der Mondbruder warf sich herum und blickte in die Dunkelheit hinaus. Da fegte ein roter Blitz genau durchs Fenster auf ihn zu. Er fühlte einen Schlag wie mit einem heißen Hammer vor die Brust, dann schwanden ihm die Sinne. Wie er umfiel und hart hinschlug bekam er schon nicht mehr mit.

Die anderen Werwölfe versuchten, ihrem in Bedrängnis geratenen Bruder zu helfen. Von Schreckenszahn, dem Wertiger, war nirgendwo etwas zu sehen oder zu hören. Die Lykanthropen rannten kurze Feuerstöße aus ihren Waffen feuernd auf das Haus zu, in dem jemand den vereinbarten Hilferuf ausgestoßen hatte. Da stellten sich ihnen vier Männer in Umhängen in den Weg und feuerten Leuchtgeschosse auf sie ab. Die Werwölfe zielten auf die Gegner und schossen zurück. Doch die Kugeln prallten ab und fielen einfach zu Boden. Als einer der Werwölfe auf das Gesicht eines Zauberers zielte warf der einfach seinen Kopf nach vorne, und die Kugeln klopften gegen den spitzen Hut, ohne ihn einzubeulen oder zu durchlöchern. Dann klingelte es bei allen Zauberern wie von kleinen Weckern. Das war für die Zauberer das Signal, die Pistolen fallen zu lassen und die Zauberstäbe zu ziehen. Einer zeigte dabei wieder sein Gesicht. Der Werwolf zielte nun darauf und feuerte. Diesmal zerplatzten die Geschosse regelrecht an einem unsichtbaren Hindernis. Da begriff der Mondbruder, dass das Klingeln bedeutete, dass die Spitzhüte wieder ihre Zauber machen konnten. Diese Einsicht kam zeitgleich mit einem roten Blitz aus einem Zauberstab bei ihm an. Da verlor er auch schon die Besinnung.

"Der Wertiger ist erledigt, seine Kumpels sind kampfunfähig", frohlockte ein gerade fünfundzwanzig Jahre alter Zauberer, als der auf Flugbesen herbeigeeilte Sondertrupp aus Auroren und Unfallumkehrzauberern den Ausgang dieser Schlacht betrachtete. Zusammen mit einer rothaarigen Frau verließen Zaubereiminister Shacklebolt und ein dünner, schwarzhaariger Zauberer das Haus der Hardins. Sie trugen einen nackten Mann, dessen Kopf ein einziger Eisblock war heraus. Der junge Zauberer blickte auf die niedergestreckten oder eingeschnürten Angreifer und dann auf das löcherige Bettuch.

"War wohl doch eine gute Idee, kugelsichere Unterkleidung herstellen zu lassen", sagte der junge Zauberer.

"Ja, da hat Ihre frühere Schulkameradin eindeutig mal wieder eine sehr brauchbare Idee gehabt, Mr. Potter", sagte Shacklebolt. "Und die Idee mit dem gleichwarm bezauberten Sprühgerät, in dem halbflüssiger Stickstoff war war auch exzellent", fügte Shacklebolt noch hinzu.

"Ohne die gegen Wertigerkraft wirksame Wirkung von beruntem Gold hätte das auch nichts gebracht", sagte Deardre Hardin und klopfte auf die Sprühdose, mit der sie einen veritablen Wertiger erledigt hatte.

"Dann gebe ich an alle Truppen der Auroren, Unfallumkehrer und Schädlingsbekämpfer aus, sich mit der schusssicheren Kleidung und den Sprühdosen auszustatten, um die Angreifer zu bekämpfen, sobald diese nicht mehr unter freiem Himmel sind. Die Werwölfe sofort zum Verhör in die Sicherheitsverliese!" befahl er dann noch. Dann beglückwünschte er den Kollegen Collin Pinetree zu seiner Idee mit dem Netz aus mit Mondsteinsilber durchwirkten Acromantulafäden. Collin bedankte sich für dieses Kompliment, verschwieg dem Zaubereiminister dabei aber, dass die Idee eigentlich von seiner Frau Cassandra stammte. Vor allem die Idee, Runen, die den Wechsel der Mondphasen bezeichneten in so ein Netz einzuweben hatte den Ausschlag gebracht. Mondsteinsilber wirkte sonst nur bei direkter Berührung mit dem Körper eines Werwolfs. Aber offenbar konnte es in Verbindung mit Mondrunen und der Lebensaura eines Lykanthropen auch dessen Kraft absaugen. Das hatte zumindest funktioniert. Das mit den doppelt und dreifach gehärteten Silberschwertern hatte sich dagegen als nutzlos erwiesen, wenn die Gegner Schutzkleidung trugen.

Als alle Zeugen des Überfalls in magischen Schlaf versenkt und so ganz behutsam um die Erinnerungen dieses Angriffs gebracht wurden, alle entstandenen Schäden magisch repariert wurden und die Gefangenen und der tote Wertiger abtransportiert wurden stand Kingsley mit dem offiziellen Leiter des Einsatzes zusammen und wisperte: "Setzen sie in Umlauf, dass wir alle erledigt haben und der Portschlüssel wie bei den anderen Vorfällen gleich nach Erscheinen durch Taranis' Riegel zerstört wurde!"

"Und wenn diese Mondheuler irgendwie mentiloquiert haben?" wollte Collin Pinetree wissen.

"Das waren zu Lykanthropen gemachte Muggel", sagte Shacklebolt. "Wenn Mr. Abrahams dieses Internet-Netzwerk mit den Bildern der Gefangenen füttert und befragt werden wir das garantiert bestätigt kriegen."

"Was macht Sie da so sicher, Kingsley?" fragte Norman Woodworth, der für diese Gegend zuständige Unfallumkehrkoordinator.

"Der Umstand, dass jemand, der das Zaubern, Apparieren und überhaupt mit allen anderen Menschen überlegene Magie gewöhnt ist garantiert nicht mit wem zusammenarbeitet, der den Fluss magischer Energien unterdrücken kann", sagte Shacklebolt. "Außerdem konnten die Gefangenen zu gut mit Feuerwaffen aus der Muggelwelt umgehen, als das erst vor einigen Tagen gelernt zu haben, wie unsere Leute."

"Ja, und die Schutzkleidung und die Helme waren sicher aus Depots der Armee oder Polizei gestohlen", sagte der Aurorenauszubildende im Abschlussjahr Harry James Potter.

"Eindeutig", bestätigte Shacklebolt.

"Sehe es ein. Dann kriegen die andren Lykos es nicht mit, ob ihre Leute tot oder gefangen sind", sagte Pinetree. "Wir müssen sie nur gegen alle Zauber abschirmen, die auf ihr Blut oder ihr Bild abzielen." Shacklebolt nickte. Genau deshalb waren die Gefangenen erst besinnungslos gemacht worden, um sie ungestört in ein entsprechendes Verlies zu schaffen.

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"Eisspray, verdammtes Tiefkühlzeug!!" Schnaubte und knurrte Feuerkrieger. Er hatte den eisigen Gegenschlag dieser rothaarigen Frauensperson fast mit den eigenen Sinnen mitbekommen. Schreckenszahn hatte dieses Weib fast gebissen. Eine Minute danach war ein langes Wimmern, kein lauter Schrei, durch Feuerkriegers Geist geschwungen. Er hatte gefühlt, wie die zu Schreckenszahn geknüpfte Verbindung gerissen war. Der Untergebene war tot. Das Eisspray hatte ihm das Gehirn tiefgefroren.

"Such nach unseren Getreuen, ob sie noch leben!" befahl Lunera dem dünnen Mitbruder Fino. Dieser nickte ergeben. Doch zuvor übergab er Lunera einen Zettel. "Da ist der Schweinepriester. Wie kriegen wir ihn?" fragte er.

"Schallsichere Helme, kugel- und Feuersichere Kleidung, Sprengstoff und Sprenggeschosse", knurrte Lunera. "Diesmal will ich ihn nicht gefangennehmen, sondern aus der Welt haben", zischte sie. Ihre Augen funkelten dabei bedrohlich.

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Der Doktor bemerkte als erster, dass etwas im Busch war. Es begann mit der messbaren Erhitzung der gezogenen Blutproben. Gleichzeitig erzitterten die Gefangenen, als würde die Erde beben. Ihre Augen flatterten hektisch. Ihr Atem ging immer schneller. Der Doktor eilte an das Interkomgerät und drückte die Ruftaste für die Zentrale. Keine Zwei Sekunden später knackte es im Lautsprecher, und Don Ricos Stimme erklang: "Is' was, Doc?"

"Irgendwas läuft hier ab, Don Rico. Die Blutproben erhitzen sich wie unter Infrarotstrahlung. Die Probanden zeigen Anzeichen körperlicher Anstrengung und wildes Zittern, offenbar durch eine erhöhte Nervenanregung hervorgerufen."

"Mist! Sterben die jetzt etwa?" wollte Don Rico wissen. Der Doktor prüfte die Vitalfunktionen und bestätigte nur eine erhöhte Pulsrate und einen dito Blutdruck. Ebenso sei die Körpertemperatur bei jedem der drei Gefangenen um drei Grad gestiegen und steige noch an. "Die Gefangenen sofort mit voller Voltzahl abtöten, Doc! Sofort!" rief Don Rico.

"Aber der Mondsteinsilberversuch wurde noch nicht vorbereitet", widersprach der Arzt und Biowissenschaftler.

"Vergessen wir das. Die drei werden von außen manipuliert. Vielleicht wirkt auch ein Zeitbombenzauber, der die umbringen soll und jeden, der in der Nähe ist. Sofort abtöten!" wiederholte Don Rico seinen Befehl. Der Arzt bestätigte widerwillig und legte einen roten Hebel um. Laut prasselnd und surrend jagten die angeschlossenen Generatoren soviel Strom durch die Gefangenen, wie es normalerweise bei einem elektrischen Stuhl üblich war. Die Gefangenen schrien laut auf, wanden und krümmten sich, zuckten unter dem sie durchflutenden Starkstrom. Dampf und Rauch quoll aus Haaren, Ohren und Kleidung der Gefangenen. Zwischen den kerzengerade aufgerichteten Haaren knisterten Funken. Eine halbe Minute später hörte das wilde Zucken und herumwälzen auf. Es stank nach angesengtem Horn und leicht verschmortem Fleisch. Der Arzt verwünschte den Umstand, keinen Mundschutz angelegt zu haben. Hoffentlich würde er diesen Geruch nie wieder in die Nase bekommen. Die Blutproben, die sich bis zu diesem Zeitpunkt um satte zwanzig Grad erwärmt hatten, fielen langsam wieder auf ihre Lagertemperatur zurück. Der Doktor meldete den Vollzug der Termination.

"Okay, alle Unterlagen und die externe Platte feuersicher wegpacken und mit zum Pneuma-Bahnhof bringen!" befahl Don Rico. "Könnte um Sekunden gehen", fügte er noch hektisch hinzu. Dann hörte der Doktor, wie über die Rundumlautsprecher eine Durchsage erklang: "Achtung, Leute, alle Verteidiger auf die Posten. Alle Minen zündfertig machen. Wir kriegen sicher bald besuch! Alle Raketenwerfer auf Luftangriff vorbereiten, alle Raumwachen schussbereit halten. Spezialmunition für Werwölfe laden! Warnung, Feind kann unmittelbar in geschlossenen Räumen auftauchen! Das ist kein Scherz. Der Feind kann unmittelbar in geschlossenen Räumen auftauchen. Gasschutz anlegen!"

"Wenn die uns jetzt mit dem My-Faktor angreifen nützt das alles nichts", dachte der Doktor. Er weigerte sich immer noch, es Magie zu nennen. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass sie es mit einer genetischen Mutation und mit extraterrestrischer Hochtechnologie zu tun hatten, die den Menschen von heute wie Zauberei erscheinen mochte. Er hatte seine Befehle.

Schnell klickte er mit der Maus auf "Notsicherung!" Sein Rechner bunkerte nun alle als wichtig markierten Daten in einem passwortgesicherten Ordner einer angeschlossenen Festplatte. Dieser Vorgang würde aber wegen der Menge an Bildern und Grafiken mehrere Minuten beanspruchen. Hoffentlich hatte der Doktor die Zeit, um alles zu sichern. Wenn der Alarmruf "Feuerleiter!" kam, musste er weg, ob mit oder ohne die wertvollen Daten. Dann musste er sogar eine Selbstzerstörungsladung aktivieren, die in nur zwei Minuten alles in seinem Labor pulverisierte. Er zog schnell die ABC-Schutzausrüstung an, die er zusammen mit Don Rico aus einem Depot der Army organisiert hatte. Nur zehn Leute hatten diese Sonderkleidung zur Verfügung, über die dann noch Schuss- und feuersichere Westen gezogen werden konnten. Als der Doc alle Schutzkleidung übergestreift hatte schrillte der Vollalarm durch die Basis. Unverzüglich strömte schnell wirkendes Narkosegas aus versteckten Düsen, um einem eindringenden Feind die Besinnung zu rauben. Wer jetzt keinen Gasschutz trug ging K.O.. Der Doktor atmete ruhig durch die Luftversorgung seines Schutzanzuges. Er sah, dass der Rechner gerade die letzte Datensicherung vollendete. Als er das geschafft hatte klickte der Doktor auf "Sofort alles herunterfahren". Dreißig Sekunden später pflückte er die externe Platte von ihrem Strom- und Datenanschluss. An sowas war anderswo immer heranzukommen. Er warf die transportsichere Festplatte in den ausgepolsterten Stahlkoffer und schlug diesen zu. Sofort schlossen die elektronischen Verriegelungen. Wer jetzt versuchte, den Koffer anders als über das zwölfstellige Kombinationsschloss zu öffnen, löste eine Selbstvernichtung von Koffer und Zugriffsversucher aus. Als der Doc den Koffer anhob sah er, wie mitten im Raum ein Dünner Mann erschien. Um den Kopf des Fremden flimmerte eine bläuliche Blase und ließ seinen Kopf wie in einem großen Goldfischglas erscheinen. Der Dünne hielt einen Holzstab in der Hand. Der Doktor riss seine schwere Armeepistole hervor, die er mit zwölf der ersten Mondsteinsilbergeschosse geladen hatte und zielte auf den Fremden.

"Expelliarmus!" rief dieser. Da feuerte der Doc. Doch der aus dem Holzstab schlagende scharlachrote Blitz prellte ihm die Waffe aus der Hand. Die Kugel prallte gegen die Decke und sirrte als Querschläger in den gerade ausgeschalteten Computerbildschirm. Dieser implodierte mit lautem Knall und einem Hagel von Glassplittern.

"Netter Versuch!" rief der Dünne. Seine Stimme wurde durch das, was um seinen Kopf lag gefiltert. Er stand noch. Er wurde nicht von den dichten Gasschwaden benebelt oder gar narkotisiert. Der Docktor reagierte schnell und ohne Anflug von Gefühlen, fast wie ein Roboter. Er riss sich was vom Waffengürtel und kniff die Augen zusammen. Er warf den Gegenstand in die Richtung des Dünnen und hielt den Mund offen. Ein lauter Knall gefolgt von einem schrillen Ton erscholl. Durch die geschlossenen Augenlider drang immer noch genug von einem gleißenden Blitz in die Pupillen des Arztes und biowissenschaftlichen Technikers, dass dieser fast dachte, selbst der von ihm gezündeten Schockgranate zu erliegen. Doch dann griffen die ihm in einer langen, sehr harten Ausbildung in die tiefsten Gehirnwindungen eingeprägten Verhaltensprozeduren. Er warf sich nach vorne und bekam den Dünnen zu fassen, der von dem plötzlichen Gegenschlag regelrecht benommen war. Er hieb mit der Handkante zu. Doch sein Karateschlag federte von dem blauen Etwas um den Kopf des Fremden ab. Doch keine Zehntelsekunde später schaffte er es, den anderen mit einem Judowurf weit in die Ecke zu schleudern. Er sprang vor, auf die auf seine und nur seine Annäherung reagierende Tür zu und sprang in den dahinter beginnenden Schacht. Kaum war er durch die einen Meter tiefer verlaufende Lichtschranke, schlug die Tür wieder zu. Der Doc merkte, dass er noch den Koffer mit den gesicherten Daten in der anderen Hand hielt. Die ganze Aktion hatte nur drei Sekunden gedauert. Der Angreifer war sicher noch nicht so weit, seine Situation zu überblicken.

Durch den Schacht ging es zwanzig Meter in die Tiefe. Alle zehn Meter schloss sich eine weitere Tür über dem Doktor. Er hatte vergessen die Selbstvernichtung zu aktivieren. Dann konnte wer immer die Daten im Rechner wiederfinden. Mit diesem Gedanken im Kopf prallte der Doktor auf ein aufgeblasenes Luftkissen und rollte sich instinktiv ab wie ein auf der Erde aufkommender Fallschirmspringer. Vor ihm tat sich eine massive Stahlluke auf. Der Doktor kam auf die Füße und durchquerte wie ein tiefstartender Sprintläufer die Luke. Diese fiel keine drei Sekunden später hinter ihm zu.

"Drei mann einzeln und je zehn mit irgendwelchen Teleportationsgegenständen", begrüßte Don Rico den Doc an einem zylindrischen Etwas, das vor dem Zugang zu einem waagerechten Schacht bereitstand. "Konnte Selbstvbernichtung nicht von Hand auslösen", gestand der Doktor und hoffte, es sich damit nicht für alle Zeiten verscherzt zu haben.

"Ist nicht nötig", knurrte Rico und drückte auf einen Knopf an seiner Armbanduhr. "Wenn wir im Pneumarohr sind fliegt alles in die Luft", schnarrte er. Dann zog er den Doktor in die Kapsel der überdimensionalen Rohrpost, in der gerade mal zehn Mann auf einmal fortgeschafft werden konnten. Von weiter oben hörten sie das Rattern und Krachen eines Feuergefechts. Offenbar waren die Angreifer auch gegen Kampfgas abgesichert. Der Doc erwähnte, dass ein Zauberer mit einer blauen Schutzumhüllung, einer Art energetischem Schutzhelm, vor ihm materialisiert sei. "Vielleicht ein formstabiles energetisches Feld, dass gegen Kopftreffer schützt, Gase aussperrt und die Atemluft regeneriert", spekulierte der Arzt, jetzt wieder eher als interessierter Wissenschaftler als als Kämpfer und Flüchtling funktionierend.

"Kann der Knilch und sein Einsatztrupp gerne mit ins Grab nehmen, wie das gemacht wird", schnarrte Don Rico. "Alle Mann an Bord. Nächster Stop Port Phönix!" schnarrte er. Dann winkte er Laurin, der an einer Schalttafel saß. Der Kleinwüchsige drückte drei Knöpfe. Zischend schloss sich die Kapsel. Leise rauschend sprang eine bordeigene Klimaanlage an. Dann liefen mächtige Turbinen an, die innerhalb weniger Sekunden einen erheblichen Luftdruck aufbauten. Gleichzeitig saugte eine andere Pumpvorrichtung den Schacht vor ihnen luftleer. Die Kapsel ruckte an und glitt vom viele Dutzend Bar betragenden Druckgefälle getrieben in den Schacht hinein. Kleine Elektromagneten sorgten dafür, dass die Kapsel berührungslos im Rohr dahinglitt.

"Die anderen?" fragte Orejazo und drehte seinen dunkel bebrillten Kopf dem Anführer zu.

"Die kämpfen, bis sie sterben", sagte Don Rico dazu nur. Die anderen nickten. Nur sie zehn waren je dazu ausersehen gewesen, die Halle des Bergkönigs zu verlassen. Don Rico, Laurin, Trueno, Don Rayo, Orejazo, der Doc und vier weitere unentbehrliche Helfer und Mitstreiter Don Ricos.

Die Fahrt dauerte bereits eine Minute an. Inzwischen kamen sie an das erste Druckrelais, Blasebalg ii genannt. Hinter ihnen fiel eine dichte Luke zu. Da rumste es. Die Bergfestung wurde soeben von mehreren Tonnen energiereichen Sprengstoffs zerstört. Was zu diesem Zeitpunkt noch darin gewesen war wurde schnell und gründlich zu Staub zermahlen. "Tja, vielleicht haben wir jetzt von diesen Zaubertricksern alle auf einen Rutsch eliminiert, und diese Mondbrüder dürfen jetzt ganz ohne ihren Hokuspokus auskommen, Gentlemen", sagte Don Rico, nun astreines US-Englisch sprechend.

"Und wir, Don Rico?" wollte Trueno, der Schöpfer dieser Selbstvernichtungsvorrichtung, wissen.

"Wir müssen davon ausgehen, dass die Feinde dieser Mondbrüder, also die, die sich als echte Hexen und Zauberer sehen, hinter jedem her sind, der rausbekommen hat, dass es sie gibt. Das wird anstrengender sein als das Abtauchmanöver vor den Bluthunden der Firma, Gentlemen. Außerdem müssen wir davon ausgehen, dass die Mondbruderschaft noch anderswo ihre Handlanger hat. Wir haben gerade erlebt, dass selbst unsere Abwehrmaßnahmen gegen einen wortwörtlichen Blitzangriff wertlos sind. Um wieder offen agieren zu können müssen wir wissen, wie wir diese Angriffsart abwehren, ob es sowas wie Schutzschirme oder Materialisationsunterdrücker gibt", sagte Don Rico. "So ungern ich untertauche, wir müssen uns mal wieder tot und verwest stellen, Gentlemen. Solange wir nicht herausfinden, wie wir diese Leute abwehren oder uns zu Diensten machen können müssen wir unauffällig leben. Geld haben wir genug und auf Madonnas schöner Insel können wir unter unseren dort bekannten Tarnnamen weiterleben. Da kennt uns noch keiner", sagte Don Rico. "Also heiße ich ab heute wieder Juan Jaime Gomez, Laurin heißt mit bürgerlichem Namen Julio Martínez und so weiter. Sie Doc, sind ja dort schon unter dem Namen Olek Dimitrov bekannt."

"Da müssen wir einen drauf trinken", wandte Trueno ein. "Das ist jetzt das fünfzigste Mal, dass wir uns totgestellt haben."

"Auf der Insel können wir feiern, Muchachito", lachte der kleinwüchsige Elektronikspezialist.

Port Phönix, der zwanzig Minuten später erreicht wurde, war ein Hubschrauberlandeplatz. Dort stand ein getarnter Hubschrauber vollgetankt bereit. Mit diesem ging es zum Golf von Mexiko, wo sie auf ein Hochseefischereischiff umstiegen. Das waren die letzten Handlungen des Mannes, der sich Don Rico genannt hatte. Ab diesem Zeitpunkt würde wieder einmal ein neues Leben beginnen, allerdings immer unter dem unsichtbaren Damokles-Schwert, dass die Bewohner einer geheimgehaltenen Welt sie aufstöbern und zum schweigen bringen mochten.

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"Der Schweinehund ist skrupelloser als ich gedacht habe", begrüßte Fino völlig außer Atem seine Anführerin. "Der hat uns alle mit Gas empfangen. Dann hatten seine Leute schon Mondsteinsilberkugeln in den Waffen. Die drei, die es nicht für nötig gehalten haben, ihre Gasmasken aufzusetzen, bekamen die Kugeln in die Köpfe und waren sofort tot. Ich fand das Labor, wo unsere Leute gefangengehalten wurden. Wie zu befürchten stand haben die wohl schon mit denen experimentiert. Allerdings waren die tot, als ich ankam, womöglich durch Elektrostrom getötet. Ich wurde fast besinnungslos, als mir dieser Weißkittel eine Blenddbombe entgegengeworfen hat. Als ich wieder klar war konnte ich gerade noch hören, wie eine Glocke im Sekundentakt geläutet hat. Ich habe noch den Rechenapparat mitgenommen. Vielleicht sind da noch Sachen drin, die Valentino auswerten kann. Jedenfalls habe ich mich schnell wieder abgesetzt, nachdem ich den anderen den Rückzug befohlen habe."

"Drei Portschlüssel sind zurückgekommen. Fünf sind dageblieben", stellte Lunera mit einer unüberhörbaren Verärgerung fest. "Der Kerl hat seinen ganzen Laden mit Mann und Maus in die Luft gesprengt. Der war auf so einen Totalangriff und einen schnellen Abzug vorbereitet, verdammt noch mal."

"Den hat es offenbar nicht mal gestört, dass die Portschlüssel und ich mitten in dieser Festung erschienen sind", knurrte Fino. Lunera nickte. Dann sagte sie: "Wie sieht es für uns aus. Sind wir auf einen plötzlichen Angriff der Zaubererwelt vorbereitet?"

"Die Schutzzauber können jederzeit hochgezogen werden, Lunera. Aber Dann ist nichts mehr mit elektronischem oder Radiowellenzeug", sagte Fino.

"Mach die Schutzzauber wirksam, Fino! Ich habe da ein sehr dummes Gefühl, dass wir besser auf einen Angriff vorbereitet sein sollten", raunte sie noch. Fino verstand.

"Dir gefällt das nicht, dass wir nichts mehr von unseren Leuten aus Wales gehört haben, nicht wahr?"

"Mir gefällt vor allem nicht, wie schnell und zielsicher dieser Wertiger kaltgemacht wurde. Wenn ein Wertiger stirbt können dort herumlaufende Zauberer wieder zaubern. Dann kriegen die unsere Leute lebendig zu fassen. Damit müssen wir jetzt rechnen."

"Dann bläst du Erntemond ab?" fragte Fino. Rabioso, der bis dahin ganz gegen seine Art ruhig zugehört hatte explodierte fast vor Wut:

"Nein!" brüllte er. "Erntemond läuft weiter. Allerdings hört das mit der gezielten Unterwanderung und der Festnahme von angeblich wichtigen Leuten auf. Wir machen jetzt nur noch mehr von uns, damit denen das nix nützt, unseren Trank zu haben. So schnell und so viel können die nicht nachbrauen, um tausende oder millionen von Werwölfen ruhigzuhalten. Wir nennen das ganze dann in Blutmond oder Mondrache um."

"Rabioso!" schrillte Lunera. "Wie oft und wie deutlich muss ich das wiederholen, dass wir keine rammdösigen, tollwütigen Monster sind und auch nicht als solche rüberkommen wollen!! Wir führen Erntemond fort, allerdings nicht mehr in großen Truppen, sondern mit Einzelaktionen. Wer mit einem Portschlüssel landet nimmt sofort Abstand davon und sucht sich ein Versteck. Wenn die Zauberer wieder abgerückt sind kann er oder sie dann die ausgewählte Zielperson suchen, die in der Muggelwelt lebt, Geheimdienstchefs, Politiker, Firmenchefs. Das hätten wir schon längst so und nicht anders machen sollen. Das mit den großen Truppen war die falsche Taktik." In Gedanken fügte sie hinzu, dass das mit den Wertigern auch die falsche Taktik gewesen war. Doch Rabioso und Fino waren sich da einmal einig gewesen, diese Wesen als Abwehrhilfe gegen Zaubererwelttruppen anzuwerben.

"Die halten uns eh für krank und gemeingefährlich, Schätzchen", schnarrte Rabioso. "Dann können wir denen ruhig zeigen, wie gefährlich wir wirklich werden können. Deine gefühlsduselige, viel zu sanftmütige Tour bringt's nicht, Lunera. Cortoreja hätte das auch nicht ..."

"Cortoreja hat, als er den Trank von Espinado erhalten hat, auch gesagt, dass er jetzt nicht losziehen und einfach drauf losbeißen will wie ein tollwütiger Hund. Ihm ging es um wertvolle Mitbrüder. Greyback hätte sofort jeden gebissen, der ihm in die Quere gekommen wäre, wenn der den Trank bekommen hätte. Aber Cortoreja wollte eine schlagkräftige Truppe überzeugter Mitbrüder und Mitschwestern haben. Dass du ihn jetzt erwähnst, Rabioso, zeigt nur, dass du nichts verstanden hast. Unsere Aufgabe ist es, unsere Daseinsform als gleichberechtigte Lebensform anerkennen zu lassen, nicht immer als kranke oder gefährliche Untergeschöpfe abgetan zu werden. Wenn ein Werwolf wie Lupin Lehrer einer angesehenen Zaubereischule werden konnte, warum soll ein Werwolf nicht auch einmal Zaubereiminister oder Staatspräsident werden dürfen? Darum und um nichts anderes geht das. Geht das vielleicht in deine Gehirnwindungen hinein?!"

"Mädchen, nur weil du die einzige hier bei uns bist, die weiß, wie der Trank geht lasse ich mich von dir nicht weiter runtermachen", blaffte Rabioso zurück und machte Anstalten, sich auf Lunera zu stürzen. Doch Fino und Valentino sprangen dazwischen und bekamen den rotschopfigen Mitbruder in einen festen Griff. "Eh, loslassen, ihr verlausten Köter!" brüllte er und kämpfte gegen die ihn haltenden Mondbrüder. Lunera hatte ihre Hand in eine Seitentasche ihrer blauen Elastikhose gleiten lassen. Sie fühlte den Griff der kleinen Pistole, die sie seit einigen Wochen bei sich trug. Sie war mit Mondsteinsilberkugeln geladen. Vier Schuss waren darin.

"Okay, ihr wollt also weiterhin auf so genannten intelligenten Terror setzen, politisch motiviert und auf ein festes Ziel ausgerichtet", schnaubte Rabioso. "So ein Pech auch, dass diese eingestaltlichen Allah-Anbeter, oder solche, die meinen, welche zu sein, uns die Tour mit den Muggelfliegern verdorben haben. Da ist dann nichts mit großen Reisen, wenn wir keine Portschlüssel mehr benutzen können, Lunera."

"Deshalb müssen wir ja auch genau abwägen, wen wir wohin schicken können und welchen Auftrag er oder sie hat, Rabioso", erwiderte Lunera ungehalten. Rabiosos Augen funkelten. Er versuchte sich wieder loszureißen. Doch es gelang nicht. Das war sein Glück, dachte Lunera. Denn Rabioso trug keine kugelsichere Kleidung.

"Ich schlage vor, wir erholen uns erst einmal von diesem Fehlschlag gegen Don Ricos Leute", sagte Nina. "Am besten spielen wir den Zauberern und Hexen zu, dass da wer ist, der die Geheimnisse der Zaubererwelt kennt und Aufzeichnnungen davon hat. Dann werden die schon rauskriegen, ob der noch am Leben ist oder nicht."

"Jau, Nina, da hast du mal echt einen sehr schlauen Einfall gehabt", feixte Rabioso. "Dann geh doch zu denen hin und sage denen, dass du eine Mondschwester bist und dass du dich freiwillig stellst, um sicherzustellen, dass ein ganz böser Gangster aus der Muggelwelt nicht herumreicht, dass es noch echte Werwölfe, Hexen und Zauberer auf der Welt gibt."

"Das hat die ja wohl wirklich nicht nötig", schnarrte Valentino. "Ich werte den von Fino mitgebrachten Rechner aus, sofern der beim Teleport nicht alle Daten verloren hat. Wenn ich noch Daten retten kann kriegen wir sicher was, um von irgendwo was ins Internet zu schicken, dass Don Rico Experimente mit angeblichen Mutanten und übernatürlich anmutenden Gegenständen gemacht hat. Mal sehen, was die Kiste hergibt."

"Und wenn da nur Versuchsdaten von diesem Weißkittel drauf sind?" fragte Fino. "Dann bereite ich die so auf, dass irgendwelche mit den Zauberern kungelnde Wissenschaftler Alarm schlagen", sagte Valentino. Rabioso kicherte albern.

"Du glaubst doch nicht, dass ich dich in einem Stück lasse, wenn du mich noch länger festhältst", knurrte Rabioso. "Doch, das glaube ich", erwiderte Valentino ungerührt. Lunera sah Rabioso an.

"Du ziehst dich in dein Zimmer zurück und denkst in Ruhe drüber nach, wie wir unser Ziel erreichen können. Es geht auch um dich, Rabioso. Denn wenn wir nur noch als blutrünstige, tollwütige Bestien gesehen werden, wird ein allgemeiner Abtötungserlass folgen, der jedem Werwolf die Lebensberechtigung aberkennt, egal ob unschuldig gebissen oder Mitglied der Mondbruderschaft", sagte Lunera. "Willst du auch nicht wirklich, Rabioso", fügte sie hinzu.

"Wie du meinst, Süße!" schnarrte Rabioso. Fino und Valentino ließen den aufbrausenden Mitbruder los. Er wandte sich um und ging mit weit ausgreifenden Schritten davon. Denn apparieren konnte man innerhalb dieser Festung nicht. Das lag an einem Locattractus-Zauber, den Fino und Rabioso selbst eingerichtet hatten, um angreifende Hexen und Zauberer zu erledigen. Wegen der Art der Locattractus-Falle hatten Fino, Valentino und Rabioso den Raum, in dem sie wirkte Venusfalle genannt.

"Bin ich froh, dass ihr hier in dieser Festung nicht herumteleportieren könnt", seufzte Valentino. "Ich wäre ja meines Lebens nicht mehr sicher."

"Ich glaube, das sind wir alle nicht mehr, wenn wir nicht bald rauskriegen, wie wir Rabiosos Launen in nützliche Bahnen lenken", schnarrte Fino. Nina sagte:

"Ich fürchte, der ist ab heute unser Feind, Leute. Der wird seine wahnwitzige Idee nicht vergessen. Der wird nur so tun, als sei er wieder von seiner Wut runtergekommen."

"Zumindest weiß ich nicht, ob ich ihm noch über den Weg trauen kann", sagte Lunera. "Erst die Zauberer, dann dieser Don Rico, dann die Wertiger und jetzt noch einer von uns selbst. Ich frage mich, was wir gesät haben, um diesen Erntemond zu erleben."

"In der Bibel steht: "Wer den Wind sät wird Sturm ernten", musste Nina dazu einwerfen. Fino und Valentino konnten darauf nur mit einem verächtlichen "Halleluja" antworten.

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Julius Latierre hatte wieder die Heißhungeranfälle seiner Frau mitverspürt. Seine Schwiegertante Béatrice hatte vorgeschlagen, dass er jetzt den Herzanhänger abnehmen sollte, um frei von Millies Anwandlungen weiterarbeiten zu können. Er argwöhnte, dass er es wieder nicht schaffen würde, jetzt, wo Chrysope sich bereits soweit entwickelt hatte, dass sie für ihre Mutter spürbare Bewegungen ausführen konnte. Tatsächlich zeigte sich beim ersten Versuch, dass er den Anhänger gerade einen halben Millimeter von seinem Brustkorb entfernt bewegen konnte. Dann war er so schwer, dass er ihn auch mit aller Kraft nicht stemmen konnte. Er fühlte eine Welle der Angst in sich aufsteigen, die jedoch sofort von einer Woge der Geborgenheit überwunden wurde. Béatrice versuchte, den Anhänger zu nehmen und abzustreifen. Doch es gelang auch ihr nicht. Da meldete sich Temmies Gedankenstimme:

"Deine ungeborene Tochter fügt euch beide erneut stark zusammen. Aber ich kann dir helfen, damit zu leben. Ich bin eine erfahrene Mutter und werde die Gefühle deiner Frau auf mich nehmen. Doch um der körperlichen Verbundenheit wegen kannst du den Anhänger nicht ablegen. Da Millie und du durch meine Milch mit mir verbunden seid, werde ich ihren Hunger, ihre Angst, ihre übermäßige Freude und alles, was du bei deinen Aufgaben nicht aus freien Stücken auf dich nehmen möchtest auf mich nehmen. Habe keine Angst! Eure Tochter wächst unter meiner Obhut genauso gut zur Lebensfähigkeit heran."

""Ich dachte, Temmie wollte selbst wieder Mutter werden", wunderte sich Béatrice, als Millie und Julius ihr erzählt hatten, was Temmie auch für Millie hörbar übermittelt hatte.

"Hat dir Tante Babs das nicht erzählt, dass Temmie und Pericles es miteinander getrieben haben?" wunderte sich Millie. "Julius und ich haben das im Traum miterlebt, ich als Temmie, er als Pericles." Béatrice verzog kurz das Gesicht. Dann grinste sie: "Besser als andersherum." Dabei zwinkerte sie nicht ganz zufällig Julius zu.

"Jedenfalls kann ich den Anhänger nicht weglegen. Vielleicht auch besser so. Bei der Kiste mit Semiramis Bitterling und den Abgrundstöchtern war es ja ganz richtig, dass Millie sofort gemerkt hat, dass mal wieder was nicht mit mir stimmt", sagte Julius.

"Ja, muss ich wohl einsehen", grummelte Béatrice. Dann beendete sie die übliche Routineuntersuchung Millies. Diese fragte ihre Tante: "Und, Tine wird auch deine Patientin?"

"Komm, lass es, Millie. Die hat sich mit deinen zwei leiblichen Großmüttern gestritten, weil meine Mutter langsam wissen will, ob Tine ihr auch bald wen neues vorstellt und die Mutter deines Vaters darauf besteht, diesmal die betreuende Hebamme zu sein, wo sie dich schon an mich verloren hat. Da hat Tine gesagt, dass sie mit Alon erst mal so lange nicht bei ihren Eltern oder in unserem Schloss vorbeischaut, bis sie klar weiß, dass sie wen kleines unter dem Umhang trägt. Dann würde sie auch klar ansagen, wer ihr dabei helfen soll, das Kind zur Welt zu bringen. Hat dir Tine das nicht erzählt?" Die Frage war die passende Retourkutsche auf Millies leicht verächtliche Frage, ob Barbara Latierre ihr nicht verraten hatte, dass Artemis vom grünen Rain sich mit dem Bullen Pericles von den wilden Hängen gepaart hatte.

"Doch hat sie. Aber ich ging davon aus, dass das mit dem Zank nur war, um von Oma Tétie wegzukommen, um klammheimlich zu dir zu kommen, wenn sie der kleine Alon oder die kleine Martine sacht anstupst und sagt, schon mal ein Kinderzimmer herzurichten."

"Ich denke, die legt's sogar auf zwei auf einmal an, um dich im ersten Ansatz einzuholen, Millie", feixte Julius.

"Das glaub ich auch, Süßer", erwiderte Millie mit breitem Grinsen im Gesicht. Béatrice Latierre grinste auch und sagte, dass sie dann im nächsten Monat wiederkäme. "Apparieren solltest du jetzt lassen, Millie. Besenfliegen geht noch, aber nur von A nach B und nicht über dem Quidditchfeld."

"Akzeptiert", erwiderte Millie darauf.

Als Béatrice Latierre dann durch den Verschwindeschrank in der Bibliothek der Latierres abgereist war meinte Millie: "Am besten übernimmt Oma Tétie Meglamoras Baby. Dann ist Ruhe."

"Ähm, Du meinst, mit einer leiblichen und einer verschwiegerten Oma kämst du klar, Mamille?" fragte Julius. Millie fragte ihn darauf, warum er das fragte. "Weil ich nicht weiß, wer da wen erwürgt, Oma Tétie Mademoiselle Maxime, Mademoiselle Maxime Oma Tétie, Oma Tétie Meglamora, Meglamora Oma Tétie oder Meglamora und Mademoiselle Maxime Oma Tétie."

"Ui, wegen der Kiste von damals? Gut, Monju, nehme ich den Vorschlag besser zurück. Nachher will Meglamora Oma Tétie noch als Zwillingsschwester von dem kleinen Guigui großziehen, wenn sie wirklich eins kriegt. Ist ja schon so abgedreht genug, dass da jetzt das Baby von einem von vier unverheirateten Zauberern ausgebrütet werden soll, ohne dass der Vater davon was erfahren darf. Lass dich nie drauf ein, sowas mit Meglamoras kleiner Nichte anzustellen, wenn die sowas schön findet!"

"Wenn ich schon träume, dass wir zwei Temmie und Pericles sind möchte ich nicht dran denken, dass du Mademoiselle Maxime bist, sollte es echt zwischen ihr und mir was geben und du da gerade schlafen."

"Lümmel, Frechdachs!" schnarrte Millie. "Aber andererseits gibt das selbstsichere Mädchen und unerschütterliche Jungs", sagte Millie.

Im Kamin der Latierres ploppte es. Gerade brannte dort kein Feuer. Ornelle Ventvits Kopf hockte auf dem Kaminrost. "Öhm, entschuldigen Sie, falls ich in eine private Unterhaltung hineinplatze, Madame und Monsieur Latierre. Aber ich erhielt gerade die begründete Bitte um Ihre Hinzuziehung in einer S4-Angelegenheit, sofern diese nicht sogar eine noch höhere Einstufung erfordert, Monsieur Latierre. Ich hoffe, sie in fünf Minuten bei mir im Büro sprechen zu können. Bis gleich!" Mit einem weiteren Plopplaut verschwand Ornelles Kopf.

"Genau das ist das, was Temmie meinte und warum ich zusehen muss, nicht noch einmal hundert Kilo Extragewicht aufzulegen", grummelte Julius. "Bei dem Beruf weiß keiner, wann ich mal nach Feierabend abgerufen werden muss. Wenn die ein Mobiltelefon hätte würde die mich glatt mitten in einem Restaurant anrufen. Aber lassen wir das! Ich hab's mir ja ausgesucht."

"Wenn die wüsste, dass du mir selbst die Neunerkisten zugespielt hast", mentiloquierte Millie, weil sie nicht wusste, ob Ornelle nicht vielleicht eine Art Langziehohr durch das Flohnetz gelegt hatte, um zu lauschen, was Julius seiner Frau sagte. Julius schickte zurück, dass er das auch gut verschweigen würde. Dann verabschiedete er sich von seiner Frau und Aurore. "Papa muss noch mal in die Arbeit. Maman singt dir heute wieder gute Nacht", sagte er, weil Aurore quängelte, weil ihr Vater nicht bei ihr bleiben wollte. Millie nahm die kleine Latierre auf die Arme und wisperte ihr was zu, während Julius mit Schnellankleidezauber in seine Arbeitsaufmachung schlüpfte und für einen möglichen Außeneinsatz noch seine Zauberwerkzeuge mitnahm, die er bei diversen gefährlichen Ausflügen schon eingesetzt hatte. Wenn es aber gegen einen Wertiger ging würden die aber nutzlos bleiben. Er konnte dann froh sein, dass zumindest in Gegenständen ruhende Zauber nicht restlos verschwanden.

Drei Minuten vor der höflich formulierten Einbestellungsfrist betrat Julius das Büro, in dem er arbeitete. dort übergab ihm seine direkte Vorgesetzte einen Memozettel:

Habe Brief von britischer Mitstreiterin Highdale erhalten.
Meine Englischkenntnisse zur vollständigen Kenntnisnahme ungenügend.
Lese zumindest die Begriffe Paralyse und Ceridwen Barley sowie Einstufung S4 heraus.
Bitte um Hinzuziehung Ihres Mitarbeiters Julius Latierre.

Gerome Lemont

"Lemont ist der Chef der Légion de la Lune", erwähnte Julius etwas, was Ornelle eh längst wusste. "ich gehe zu ihm runter. Warum sitzt der mit seinen zehn Leuten eigentlich nicht auf unserer Etage?"

"Wie oft möchten Sie diese Frage noch stellen, Julius?" raunzte Ornelle. "Sie kennen die Antwort genauso wie ich."

"Ja, weil zum einen zu den Mitgliedern auch magielose Werwölfe gehören, die gemäß der Zutrittsverordnung des Zaubereiministeriums nicht in die offiziellen Amtsbereiche eintreten dürfen und weil es im Ministerium laut einer internen Umfrage mehr als fünfzig Prozent der hier arbeitenden Beamten gibt, die es nicht hinnehmen wollen, dass Werwölfe in unmittelbarer Nähe frei herumlaufen dürfen", schnaubte Julius. Er hätte fast wieder gefragt, inwieweit das noch was mit mehr Akzeptanz für Lykanthropen zu tun hatte. Doch andererseits schürten die Mondgeschwister den Unmut gegen Werwesen so kräftig an. Ähnliches lief sicher gerade in den USA zwischen christlichen und muslimischen Mitarbeitern, die sich vor dem elften September gegenseitig toleriert hatten. Doch seitdem die ersten Luftangriffe auf Afghanistan liefen war die Stimmung zwischen den eigentlich denselben Gott anbetenden Religionen sehr angespannt. So war es wohl auch zwischen Menschen und Werwölfen. Er selbst fühlte sich von derartigen Vorbehalten frei, wohl auch deshalb, weil er Remus Lupin als Lehrer mitbekommen hatte und relativ früh vermutet hatte, dass dieser ein Werwolf war. "Ich gehe in den Keller runter", sagte er dann noch und nahm das Memo mit.

Es ging erst in die Etage, wo die Gerichtsräume und Untersuchungskerker lagen. Von da aus führte eine nur für eingeweihte erkenn- und benutzbare Tür zu einer schmalen Wendeltreppe, die mindestens zwanzig Meter in die Tiefe führte. Früher war hier unten der Besprechungsraum der Mitarbeiter der Mysteriumsabteilung gewesen. Doch die waren seit fünf Jahren in einem ihrer geheimen Arbeitsbereiche umgesiedelt. Wo genau, wusste Julius nicht, weil er bisher weder Veranlassung noch Berechtigung erhalten hatte, in die Mysteriumsabteilung zu gehen.

Durch einen von Fackeln erhellten Granitgang fand Julius zu einer grünen Holztür, auf der ein silberner Halbmond von zehn kleinen Sternen umringt prangte. Der Mond war im zunehmenden Zustand dargestellt. Hinter dieser Tür arbeitete die Légion de la Lune, die französische Einsatztruppe gegen kriminelle Werwölfe.

Julius klopfte an. Anstatt hereingerufen zu werden wurde ihm die Tür aufgemacht. Er erkannte Lucian Lemont, den untersetzten fünfzigjährigen Zauberer, der als zwölfjähriger Junge von einem der Garout-Brüder gebissen und somit zum Werwolf gemacht worden war. Immerhin hatte er Beauxbatons noch zu Ende machen können, weil Professeur Fixus den Wolfsbanntrank brauen konnte. Beruflich hatte ihm der Schulabschluss jedoch nichts gebracht, bis eben gezielt nach loyalen Werwölfen gesucht wurde, die dem Ministerium helfen sollten. Die ebenfalls im kleinen Zimmer mit drei Bildverpflanzungsfenstern sitzende Lucienne Sousétoiles hatte Julius nur bei der Vereidigung der neuen Einsatztruppe hier in diesem Raum gesehen. Die magere Frau Ende Zwanzig hatte aschblondes Haar. Sie war keine Hexe, was die Mutter der Garout-Brüder nicht daran gehindert hatte, sie zielgerichtet zu beißen, um sie als Gefährtin für einen ihrer Söhne zu kultivieren. Die Folge war eine schwere Depression und eine schwer zu therapierende Magersucht gewesen. Lucienne wollte eigentlich Mannequin werden. Aber dafür hätte sie ja auch abends auftreten müssen, und sowas war in den Vollmondnächten nicht angeraten. Immerhin sah ihr Gesicht noch sehr schön und anziehend aus. Am restlichen Körper konnte und würde sie wohl wieder arbeiten, wenn sie mit sich und ihrem Leben wieder im reinen war.

"Oh, wo sind denn die anderen?" war Julius erste Frage, nachdem er die beiden Mondlegionäre begrüßt hatte.

"Ich habe die auf Warteposten geschickt. Wir müssen davon ausgehen, dass Luneras Bande auch in Paris zuschlägt, nachdem sie sich dreist auf Ihren Heimatinseln herumgetrieben hat, Monsieur Latierre", sagte Gerome. Julius nickte. Dann bat er, ihm zu erzählen, was so geheimes aus England gekommen sei. Zur Antwort bekam er einen Brief in die Hand. Er las den in Tessa Highdales Schrift verfassten Brief und nickte. Tessa erwähnte, dass es vier Tage vor Absendedatum gelungen sei, elf Mondbrüder lebend zu fangen und einen Wertiger zu töten, bevor er die Zaubererweltbürgerin Deardre Hardin hatte beißen können. Deren Verwandte Ceridwen Barley, die bereits den Lykonemesis-Trank entschlüsselt habe, sei bei der Untersuchung der elf Gefangenen dabei gewesen und habe Proben von deren Körperflüssigkeiten erhalten. Einen Tag vor Absendedatum des Briefes sei es dann gelungen, die Rezeptur eines Lähmgases zu erstellen, das auf den Trank benutzende Lykanthropen alleine wirke. Menschen, die keine Werwölfe seien, würden beim Einatmen des Gases lediglich ein leichtes Kitzeln in den Atemwegen verspüren. Da Tessa Highdale gerne die Ergebnisse mit der kongenialen Truppe aus Frankreich teilen wolle und Minister Shacklebolt dies ausdrücklich genehmigt habe, bat sie darum, einen Bevollmächtigten nach Großbritannien zu schicken, um das Rezept und eine Probe des Mittels abzuholen. Ms. Highdale schlug ihn, Julius Latierre, als Abgesandten seines Zaubereiministeriums vor. Dem Brief beigefügt war noch die amtliche Benachrichtigung an Mr. Diggory von der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe geschrieben von Ceridwen Barley. Julius las auch dieses Anschreiben und nickte. Ceridwen bat darin darum, einen mit Zaubertränken und Zauberwesen vertrauten Unterhändler aus Frankreich in Herstellung und Verwendung des "nichttödlichen Kampfmittels" einzuweisen, damit er oder sie zuverlässig wiedergeben könne, wie es zu erstellen und zu verwenden sei.

Nachdem Julius beide Schreiben unter verwendung seiner Flotte-Schreibe-Feder vorgelesen hatte sagte er: "Die schreien ja förmlich danach, dass ich das mache. Aber das muss Mademoiselle Ventvit absegnen. Natürlich interessiert mich das, ob man diese Mondbrüder ohne sie umzubringen überwältigen kann. Das Problem sind nur die Wertiger." Gerome bejahte es. Seine Kollegin erwiderte darauf:

"Na gut, ich bin auch nicht für das Töten von Leuten, nur weil die anders sind als Standard. Aber mir vorzustellen, dass mitten während einer Modenschau die Mannequins zu Tigern werden und vom Laufsteg in die Zuschauer reinspringen graut mir auch."

"Die Damen könnten dann wenigstens Sachen anziehen, die ausschließlich für sie gemacht sind", feixte Gerome. Julius hatte zwar auch sowas gedacht, erkannte aber, dass es wohl nicht gerade taktvoll war, es hier anzubringen. So sagte er schnell: "Ich gehe mit dem Brief nach oben. Wenn ich das Okay von Monsieur Vendredi und Mademoiselle Ventvit kriege hole ich das Wundermittel ab. Natürlich steht das unter S4 schon ganz gut. Aber ich könnte mir vorstellen, dass das sogar noch um drei Stufen angehoben wird. Denn die Mondbrüder wissen ja nicht, dass die britischen Kollegen Gefangene machen konnten."

"Gut, Monsieur Latierre. Ich hoffe, wir können dann endlich diesem Wahnsinn ein Ende machen. Zumindest haben sich noch zwanzig weitere Lykanthropen bereitgefunden, bei uns mitzumachen. Sie wollen nicht, dass man sie mit diesen Terroristen in denselben Kessel wirft."

"Das sagen auch millionen Muslime, die jetzt Angst haben, man würde sie mit diesen Verbrechern gleichsetzen, die die Häuser in Amerika zum Einsturz gebracht haben", sagte Julius. Dann verließ er den abgelegenen Kellerraum der LDLL und begab sich erst zu Fuß und dann mit einem der Aufzüge zu seinem Büro zurück.

Zwanzig Minuten später hatte er einen amtlichen Reiseauftrag mit den Unterschriften von Monsieur Vendredi und Mademoiselle Ventvit. Da der Auftrag direkt nach Entgegennahme auszuführen war hieß das, dass er gerade mal seiner Frau bescheidgeben konnte, dass er zu einer kurzen, höchstwahrscheinlich ungefährlichen Reise aufbrechen würde. Dann ging es mit Flohpulver über die französische und britische Grenzstation direkt ins londoner Zaubereiministerium.

Mr. Amos Diggory und seine Mitarbeiterin Tessa Highdale begrüßten Julius in Diggorys Büro. Julius zeigte sein Erstaunen nicht, die Amtsanwärterin Hermine Weasley dort ebenfalls vorzufinden. Er grüßte alle.

"Sie haben dem von mir geschriebenen Brief gelesen und wissen daher, dass Mrs. Weasley uns gute Tipps zur Bekämpfung anreisender Werwölfe und Wertiger geben konnte", sagte Tessa Highdale. "Daher bat ich darum, sie bei dieser Unterredung dabeizuhaben. Den Auroren Pinetree hätte ich zwar auch gerne dabeigehabt, doch der wollte nach diesem Erfolg gleich auf Posten bleiben, um beim nächsten Überfall der Mondbrüder das neue Mittel einzusetzen. Was ich in den Brief nicht hineingeschrieben habe ist, dass wir nun wissen, wo die Mondbrüder ihr europäisches Hauptquartier unterhalten und dass die Anführerin und angeblich einzige Kennerin des Lykonemesis-Trankes sich dort aufhalten soll."

"Oh, dann planen Sie und Ihre Kollegen schon einen Generalangriff?" fragte Julius.

"Da das Hauptquartier nicht in Großbritannien oder Irland ist müssen da erst Beratungen und Eulen hin und hergehen. Natürlich müssen wir dann auch die Rezeptur für den Trank an das entsprechende Land weiterreichen. Mr. Diggory ist davon aber noch nicht so begeistert, weil gerade in den letzten Jahren ziemliche Spannungen zwischen seinem dortigen Kollegen und ihm aufkamen, was den Umgang mit Vampiren und Werwölfen anging. Die Überfälle der Mondbrüder machen die Lage nicht besser."

"Wo soll denn das Hauptquartier sein? Oder darf ich das mit meiner Rangstufe noch nicht wissen?" fragte Julius.

"Wir möchten es erst einmal nicht bekannt geben, weil wir auch nicht wissen, ob die dort zuständigen Zaubereibehörden einem Erstürmungsversuch überhaupt zustimmen würden. Am Ende behaupten die noch, wir hätten es mit Absicht behauptet, um zu verdeutlichen, dass sie kriminelle Werwölfe unterstützten", sagte Mr. Diggory. Hermine Weasley straffte sich und sagte:

"Dieses politische Drumherumgeplänkel taugt nichts, Mr. Latierre. Das Hauptquartier soll den Aussagen der Gefangenen nach in Almería, Südspanien sein, zumindest in der Nähe davon." Mr. Diggory funkelte seine junge Mitarbeiterin sehr ungehalten an. Doch diese blieb davon ungerührt. Womöglich würde er ihr eine schriftliche Ermahnung ausstellen, weil sie sich nicht an die Vereinbarungen hielt, dachte Julius. Aber recht hatte sie. Dieses Getue, wenn klar war, wo die Drahtzieher einer Terrorwelle saßen, war schon lästig. Andererseits konnten die Gefangenen ja auch bewusst gelogen haben. So fragte Julius, ob die Aussagen wahrheitsgemäß gemacht worden seien. Mr. Diggory schnaufte einmal. Dannn sagte er:

"Jetzt ist der Kessel eh umgekippt. Was soll's also? Ja, wir haben sichergestellt, nur wahrheitsgemäße Aussagen zu hören zu kriegen. Dass Mrs. Weasley überhaupt davon weiß liegt aller Warhscheinlichkeit nach an einer Indiskretion in der Aurorenzentrale. Ich denke mal, dass Mrs. Weasley der Quelle ihrer Information damit keinen Gefallen tut, wenn sie so unüberlegt damit herausrückt." Die Erwähnte zuckte nur mit den Achseln. Tessa Highdale brachte die Unterhaltung wieder auf das eigentliche Thema. Julius wurde gebeten, für seine Behörde die Rezeptur und die Probe des Abwehrmittels abzuholen und bekam hierfür die schriftliche Bestätigung, dass er mit Wissen und Genehmigung des britischen Zaubereiministeriums diesen Auftrag erfüllen durfte. Er verabschiedete sich noch von den drei britischen Kollegen und dachte nur für sich, dass Hermine Weasley nicht all zu heftig abgestraft würde. Vielleicht wollte sie auch eine Abmahnung, um einen Grund zu kriegen, aus dem Ministerium auszuscheiden, um ein ganz unabhängiges Projekt zu starten. Er dachte da an B.Elfe.R., diese Hauselfenunterstützungsfront, die Hermine damals in Hogwarts anschieben wollte.

Auf den Weg zurück ins Foyer traf er Pina Watermelon, die nach dem Abschluss in Hogwarts bei Tim Abrahams im Büro für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie angefangen hatte.

"Grüß mir Millie und die Kleine, wenn du wieder zu Hause bist, Julius", sagte sie nach dem Austausch von kurzen Sätzen. Julius hörte noch, dass sie am Halloweentag zu Brittanys Halloweenparty käme. Das war eine gute Gelegenheit, ihr eines der aus der Villa Binoche geholten Verbindungsarmbänder zu übergeben, dachte Julius.

Er hatte den Hof Hühnergrund noch nie besucht. Er wusste nur, dass Ceridwen Barleys Familie dort lebte. Da sie ihr Anwesen gegen Flohpulveranreisen abgeschirmt hatte und man auch nicht auf dem Hof apparieren konnte, wenn man nicht zur Verwandtschaft der Barleys gehörte, blieb nur ein Portschlüssel, der Julius an die magisch zementierte Grenze des Grundstücks beförderte. In seinem Fall war es ein zerfranstes Sofakissen, das ihn durch den bunten Wirbel beförderte.

"Mrs. Barley, hier Julius Latierre. Bin direkt an der Grundstücksgrenze", mentiloquierte Julius. Er erhielt unverzüglich eine Antwort: "Sieh an, die verschenken keinen wertvollen Augenblick. Ich sehe dich schon. Warte, ich hole dich ab!"

Direkt neben Julius apparierte eine rothaarige Hexe in einem meergrünen Arbeitskittel. Julius entging nicht, dass der Kittel oben herum sehr gut ausgefüllt wurde. Da fiel ihm wieder ein, dass Ceridwen ja seit einem Jahr die Amme einer Urgroßnichte war, deren Mutter wohl zu jung für ein eigenes Kind gewesen war. Sie begrüßte Julius, der ihr zunächst die amtlichen Schreiben zeigen wollte. "Glaube ich Ihnen auch so, Monsieur Latierre", sagte sie. Doch um sicherzustellen, dass alles seinen korrekten Gang ging wollte sie in ihrem Haus die Dokumente an den richtigen Stellen unterschreiben.

Als Ceridwen für Julius ein flimmerndes Lichttor erzeugte, durch das er den Hof betreten konnte, hörte er zunächst das Gackern vieler Hühner, die gerade auf einen Stall zutrippelten, um sich vor dem Schlafen noch einmal Futter zu holen. Im herrschaftlichen Haus selbst empfing Babygeschrei den jungen Zaubereibeamten. Sowas kannte er auch und würde es ab Februar auch wieder regelmäßig in seinem Haus zu hören bekommen. "Volles Haus", bemerkte er dazu.

"Ja, anstrengend, aber auch schön", sagte Ceridwen. Da ging eine Tür auf, und sich unbeholfen am Türrahmen festhaltend stand da ein kleines, wohl gerade ein Jahr altes Mädchen. Es hatte ebenfalls rote Haare und die blaugrünen Augen Ceridwens. Rein äußerlich hätte es ihre Tochter sein können. Ceridwen verzog erst das Gesicht. Doch dann lächelte sie. "Ah, das ist meine kleine Ziehtochter Arianrhod Deardre. Seitdem sie gelernt hat, dass jemand auf den eigenen Füßen leichter an höhergelegene Sachen herankommt will sie nicht damit aufhören, immer besser laufen zu können. Ari, das ist ein Gast aus Frankreich, Julius Latierre", sagte sie. Das kleine Mädchen starrte Julius so an wie einer, vor dessen Füßen gerade ein Blitz aus heiterem Himmel eingeschlagen hat. Julius sah nur in zwei sehr verstört aufgerissene Kinderaugen. Die Kleine verlor den Halt zwischen dem Türrahmen und plumpste auf den gut gepolsterten Po. Dann jedoch versuchte sie, sich wieder auf die kurzen Beine hochzustemmen. Ihr bunter Kleinmädchenrock war leicht zerknittert. "Ari, geh wieder zu Brigid, weiter Bilderbuch angucken!" sagte Ceridwen mit einer Ruhe, die aber gleichzeitig unerbittlich rüberkam. Offenbar verstand die Kleine es und krabbelte flink zurück ins Zimmer. Dort wurde sie von einer jüngeren Ausgabe Ceridwens in die Arme geschlossen. Die Hausherrin schloss die Tür.

Als Julius mit der umfassend fachkundigen Hexe in einem Kellerraum ankam, von dem aus noch eine Tür in ein Labor führte, erläuterte Ceridwen Julius die Ansätze, wie der Contralyko-Trank, besser das Contralyko-Gas, entwickelt worden war, welche Zutaten maßgeblich in dem dazu führenden Trank enthalten sein mussten und wie es gelagert werden konnte, ohne sich zu verflüchtigen. Julius schrieb sich das alles auf, auch wenn er eh eine fix und fertige Zusammenfassung von ihr erhalten sollte. Am Ende sollte er neben den hauptamtlichen Brauern des Ministeriums auch noch Dosen für den flüssigen Kampfstoff anrühren. Nach zwei Stunden voller Erläuterungen, Fragen und Nachreichungen öffnete Ceridwen die Tür zu ihrem Labor. "Mein Allerheiligstes, Julius. Hier hinein kann nur, wer von mir abstammt", sagte Ceridwen und durchschritt die Tür. Julius sah ein kurzes rotes Flimmern um den Körper der Hexe. Also hatte sie mit etwas ähnlichem wie dem Blutsiegelzauber gearbeitet. Nach nur zzwanzig Sekunden kehrte sie mit drei Flaschen in einem kleinen Korb zurück. Zwei große und eine kleine Flasche. "Die kleine ist der Nachschub für deine Frau, nachdem sie ja wohl schon was von dem Trank bei deiner Rettung verwendete", mentiloquierte sie Julius. Dann erklärte sie ihm noch einmal, wie der Inhalt der beiden großen Flaschen dosiert und eingesetzt werden konnte. "Unter reiner Luftzufuhr wird der Stoff sofort ätherisch und wirkt in geschlossenen Räumen oder in einer Umgebung bis zu fünfzig Meter. Die Wirkungsdauer entspricht der Menge des eingeatmeten Gases." Julius nickte. Das hatte er ja als eines der ersten Sachen erfragt. Er wusste auch, dass das Gas so schwer wie Luft war also nicht wie Wasserstoff nach oben entwich oder wie Chlor oder Schwefelhexafluorid zu Boden sackte. Doch bei vorgeprägter Körpertemperatur dehnte es sich mit bis zu fünf Kubikmetern pro Sekunde aus. Dabei reichte ein Anteil von einem Hundertstel Promill oder auch zehn Teilen pro Million Normalluft, um die ersten Erstarrungseffekte auszulösen. Die volle Wirkung erzielte es bei einem Anteil von dreißig Teilen pro Million normaler Atemluft. Dann wirkte das Gas wie der Impedimentazauber, nur eben nicht durch fließende Zauberkraft, sondern durch alchemistische Prozesse. Julius fragte, wie schnell das Mittel hergestellt werden könne, um im Falle eines Großangriffs ausreichend viel davon vorrätig zu haben.

"Wenn herauskommt, wo die Wahnwitzigen wohnen sollten anderthalb Wochen reichen, um Genug zur Überwindung von hundert oder mehr Gegnern zu haben." Julius nickte und verstaute die kleine Flasche mit dem Felix-Felicis-Trank in seinem Brustbeutel und den Korb mit den großen Flaschen in die mitgenommene verschließbare Tasche aus dem Ministerium. Dann bedankte er sich bei Ceridwen für den Trank und die ausführliche Erläuterung. Sie bedankte sich dafür, dass er so schnell angereist war und ihr sehr aufmerksam zugehört hatte. Sie meinte dann noch: "Ich kann mir schon vorstellen, dass die Heilerzunft immer noch sehr betrübt ist, dich nicht für sich gewonnen zu haben. Aber andererseits bist du dort, wo du bist wesentlich hilfreicher."

Als sie Julius über die Grundstücksgrenze zurückgebracht hatte verabschiedete sie sich noch von ihm und wünschte ihm und seiner Familie Gesundheit und fröhliche Tage und für seine Frau, dass sie auch die zweite Schwangerschaft als großen Segen erlebte. "Ich habe vier Kinder geboren und meiner Tochter dabei zusehen dürfen, wie sie meine zwei bisherigen Enkel geboren hat. Es ist immer wieder etwas erhabenes, wenn es in den Jahren danach auch immer wieder anstrengend bis lästig sein kann. Aber die Erhabenheit überwiegt am Ende doch, und die Verbundenheit. Das vergiss bitte nie, egal was Aurore und jedes jüngere Geschwister einmal tun oder nicht tun werden!" Julius bedankte sich für diesen sehr privaten Zuspruch. Dann reiste er mit dem Sofakissen-Portschlüssel wieder ins britische Ministerium zurück. Dort erhielt er eine Bestätigung, die mitgeführten Zaubertränke nach Frankreich ausführen zu dürfen. Die entsprechende Gegengenehmigung hatte er ja schon mitgebracht. Die nimmersatte Raupe Bürokratia wollte eben immer gefüttert werden.

10. Oktober 2001, Hof Hühnergrund

Hallo Fulvia!

Heute war zunächst ein Routinetag. Die kleine Kathleen leidet unter dem voranschreitenden Wachstum ihrer ersten Zähne. Aus unlängst gemachter eigener Erfahrung weiß ich, dass dieser Prozess sehr schmerzhaft ist und daher für sie und uns alle einen sehr schlafraubenden Vorgang bedeutet. Als dann am Abend meine Ziehmutter Ceridwen mit einem Gast eintraf, der perfektes londoner Englisch zu sprechen im Stande ist, befürchtete ich zunächst, einer akustischen Täuschung anheimzufallen. Denn die Stimme des Gastes klang eine Winzigkeit tiefer aber sonst so wie die von Richard Andrews, dem Vater meines früheren Schulkameraden Julius. Als mir der Gast dann auch noch vor Augen geführt wurde, weil ich entgegen Ceridwens Weisung meiner Neugier nachgab, versetzte mich der Anblick in derartiges Erstaunen, dass ich den Gast wohl wie eine gleich detonierende Nuklearwaffe angestarrt habe. Sicher hat er das bemerkt. Aber ich hoffe, er interpretiert es als eine Art von Fremdelei, wie sie Kinder zwischen Säuglingsphase und ersten Schritten durchleben können. Es ist aber definitiv Julius Andrews. Gut, aus meiner kleinkindhaften Warte wirkt er erheblich größer, als ich ihn zuletzt in Erinnerung habe. Aber vom Aussehen, vom Gesicht und den Bewegungen her ist er es. Er führt jedoch einen anderen Nachnamen. Laterre oder Latierra. Wie er sich schreibt weiß ich leider noch nicht. Jedenfalls wurde mir bekannt, dass derselbe bereits verheiratet sei, bereits eine Tochter gezeugt haben solle und in bälde zum zweiten Mal Vater werde. Wenn es wirklich Julius Andrews ist, so muss dieser sich sehr frühzeitig ehelich verbunden haben, womöglich auf Grund der Zeugung eines Kindes bei unbedachtem und ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Aber so wie ich es trotz Brigids Versuchen, mich von dem Gast abzulenken habe mitverfolgen können, handelt es sich bei ihm selbst um einen Zauberer. Erwarb er seine Weihe oder Aktivierung zum magisch befähigten Menschen aus ähnlichen Gründen wie ich selbst? Ich entsinne mich, dass es schon Vorfälle in seiner Kindheit gab, die nicht ganz mit den vorhandenen Naturgesetzen in Einklang gebracht werden konnten. Aber an Magie haben wir damals nur geglaubt, wenn wir in die Welt von Kerkern und Drachen eingetaucht sind und da eben nur auf Charakterbögen, Landkarten und Würfelbechern.

Ich muss davon ausgehen, dass er nicht im Stande war, mich als wiederverjüngte Version seiner früheren Schulkameradin zu erkennen, da Ceridwens in mich eingeflossene Zauberkraft und dieser Rejuvenilisierungszauber mich zu einer de carne Tochter von ihr gemacht haben. Welche Intentionen Julius in das Haus meiner Ziehmutter trieben wurde mir nicht enthüllt. Darüber sprachen meine Ziehmutter und er wohl im Schutze eines Schallschutzzaubers in Ceridwens hauseigenem Studierzimmer. Womöglich sollte ich darüber auch froh sein, nicht näher in diese Angelegenheiten involviert zu werden, da durchaus die Gefahr besteht, dass mir trotz des mir immer noch angelegten Schweigsamkeits-Strampelanzuges durchaus unbedachte Äußerungen über mein früheres Leben entschlüpfen könnten und dies zu nicht geringer Konfusion aller Beteiligten hinführen könnte. .

Ui, ich fürchte, ein Windelwechsel ist gleich wieder dringend geboten. Deshalb mache ich besser Schluss für heute. Danke, Fulvia, dass du meine aufgewühlten Gedanken entgegengenommen hast!

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Karel Vondraczek hörte die Schreie und das Wimmern der Leute in seinem weitläufigen Keller. Doch ein in seinen Geist fest eingegrabener Befehl zwang ihn dazu, nicht darauf zu achten. Der Besitzer einer alten Bunkeranlage der Nazis bei Prag hatte es nicht verhindern können, als ein Fremder im dunkelroten Mantel vor seiner Haustür aufgetaucht war und ihn mit Hilfe eines Holzstabes und eines mysteriösen Wortes aufgezwungen hatte, ihm den Bunker zu überlassen. Was der Fremde danach mit den in Kleinbussen und Lastwagen herangekarrten Leuten trieb, die er in diese Anlage hineintrieb, wusste er nicht und durfte es gemäß des in ihm wirksamen Befehls nicht herausfinden. "Lass mich und meine Freunde in deinen großen Keller und überhöre alles, was dort passiert!" Die in ihn hineingesprochenen Worte wirkten immer noch. Auch dann, wenn er etwas wie ein metallisches Schaben und Poltern hörte, hielt ihn der eingepflanzte Befehl davon ab, nachzuforschen, was dort unten passierte. Er konnte sonst klar denken. So kam er darauf, von einem Satansanbeter unterworfen worden zu sein. Doch er konnte nichts gegen den in ihn hineingetriebenen Befehl tun, nicht einmal die Polizei rufen. So verließ Karel Vondraczek in der Nacht zum zehnten Oktober heimlich sein Haus, als es in den unter seinem eigenen Keller verlaufenden Bunkern wieder laut und unheimlich klang. Er schob seinen alten Scoda mehrere Hundert Meter weit fort, bevor er es wagte, einzusteigen und den Motor zu starten. Auch wenn ihm der Befehl verbot, den Keller und seine Geheimnisse zu erforschen, die Flucht hatte ihm der unheimliche Unbekannte mit der grünen Schlangenmaske nicht verboten, und das war sein bisher wirklich bedeutsamer Fehler.

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Er hatte es sich so schön ausgedacht. Zwanzig Reihen von Körben. Von der Decke herabhängende Ketten, die in verstellbaren Manschetten endeten, in die die Hälse seiner unter Imperius und Schockzaubern herbeigeschafften Opfer aus den Elendsvierteln des Ostens eingeschlossen wurden. Zwanzig mehr als zehn Meter breite, an den unteren Enden mit dem Acrificus-Zauber auf die Schärfe von Skalpellen gebrachte und mit dem Ferrifortissimum-Zauber hundertfach gehärtete Fallbeile warteten auf ihre Opfer. Lord Vengor und sieben seiner verbliebenen Anhänger hatten diese Steigerung jenes Massenhinrichtungsgerätes aus der Zeit der französischen Revolution in den Bunkern des alten Muggels Vondraczek errichtet. Ein Hebeldruck reichte, und alle zwanzig Beile zugleich sausten nieder und trennten die Köpfe von zweihundert Männernund Frauen in einem Durchgang von den Rümpfen.

Vengor hatte es vorher mit Giften versucht, hatte vierhundert Straßenkinder aus Afrika mit tödlichen Tränken in den Tod befördert. Doch einen Tag später war kein neuer Unlichtkristall entstanden. Da wusste der selbsternannte Rächer des gefallenen dunklen Lords, dass Vergiftungen ebenfalls nicht zu den einen solchen Kristall erzeugenden Prozessen gehörten. Blieben also nur Bomben, Schüsse oder andere körperliche Tötungsarten, die eben in vollster Absicht zum Tod von Menschen führten. So war er auf die Idee einer Multiguilliotine verfallen. Jeder anständige Henker hätte ihm deshalb glatt aus purer Angst um seinen Arbeitsplatz den Kopf abgeschlagen. Doch für Lord Vengor stellte diese Massenmordmaschine eine geniale Quelle für selbsterzeugte Unlichtkristalle dar.

Wieder ließ er persönlich die zwanzig Riesenfallbeile niederfahren. Wieder flogen zweihundert Köpfe auf einmal in die Auffangkörbe. Das Blut der Enthaupteten floss in die eigens dafür gezogenen Rinnen und sammelte sich weit hinten in einer dafür gegrabenen Grube.

Acht, wie alle anderen nach Vengor nur mit einer weißen Schlangenkopfmaske unkenntnlich, dachte daran, dass sein Herr und Meister das Entsetzen in seinem Gesicht nicht sehen konnte. Selbst für einen der dunklen Magie verbundenen stellte diese Maschinerie des Massenmordes eine Abscheulichkeit dar. Sich vorzustellen, dass dieses infernalische Instrument auch von Muggeln gebaut und benutzt werden könnte ließ ihm, der sonst sehr hartgesotten war, einen Entsetzensschauer nach dem anderen über den Rücken rinnen. Wie die anderen diesen Massenmordmechanismus empfanden wusste Acht nicht und durfte es um sein eigenes Leben willen nicht einmal andeuten. Am Ende landete er selbst unter einem der zwanzig zeitgleich einsetzbaren Fallbeile.

Durch Magie getrieben wurden die blutigen Beile wieder drei Meter in die Höhe gehoben, um beim Niederfahren genug Schwung zu gewinnen. Vengor lachte, als er wieder zweihundert unschuldige Muggel, Männer, Frauen und Kinder mit seiner abscheulichen Apparatur zu Tode gebracht hatte. "Mit den ganzen Überresten können wir die hungrigsten Drachen füttern. Und mit den gewonnenen Gehirnen können wir herrliche Experimente anstellen", frohlockte er, während drei seiner Getreuen die nächsten beklagenswerten Menschen in die Halle der Massenhinrichtung hineintrieben. Zu deren Glück trugen sie Augenbinden, um das Grauen nicht ansehen zu müssen. Doch der Gestank von Blut und Tod war unverkennbar. Viele standen unter dem Bann des Imperius-Fluches. Das ging sogar so weit, dass sie freiwillig ihre Köpfe so hielten, dass die eisernen Manschetten sich um ihre Hälse legen konnten, ohne einen Augenblick Zeit zu verlieren.

"Und die zweitausend ist erreicht!" rief Lord Vengor, als er den langen Hebel für den Fallbeilauslöser niederdrückte. Innerhalb von nur sechs Stunden hatte er zweitausend Menschen umgebracht. Das hatten selbst Sardonia, Grindelwald und Voldemort zusammen nicht geschafft, dachte Acht. Dann fiel ihm ein, dass diese auch nicht darauf ausgegangen waren, möglichst schnell möglichst viele Menschen zu ermorden, sondern Macht zu gewinnen, zu erhalten oder auszubauen.

"Keine mehr da, Lord Vengor", schnarrte die Stimme von Neun. Die Nummerierung war nach dem Verlust von gleich elf Getreuen gründlich umgeändert worden. Es existierten nur noch fünfzehn von ehemals dreißig Vergeltungswächtern.

"Dann karrt noch mehr heran", schnarrte Vengor. "Ich will an einem Tag viertausend oder mehr opfern, damit die Kristallfabrik mehr erbringt als diese einfältigen Muggel, die sich mit ihren Flugmaschinen in diese Betontürme gestürzt haben." Nummer acht erschauderte. Er konnte sich ausmalen, dass Vengor eine Methode ersinnen würde, mehr als zehntausend Menschen pro Tag zu töten, ja womöglich hunderttausend Leute am Tag umzubringen. War das noch planvolles Denken oder bereits Wahnsinn?

"Die Straßen der großen Städte sind voll mit menschlichem Treibgut und Bodensatz", schnarrte Vengor. "Schafft mir diese nutzlosen Geschöpfe her, damit sie hier einen großen, ihren letzten Nutzen erbringen!" Acht und die anderen Vergeltungswächter stimmten zu, eher aus Furcht vor Strafe als aus reiner Überzeugung.

Der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte, wartete, bis seine Getreuen die Halle des vielfachen Horrors verlassen hatten. Er dachte daran, dass er den Dunkelkristall aus dem Trümmerhaufen von New York in seinem Versteck zurückgelassen hatte. Denn der hätte sonst die freiwerdende Lebenskraft der schlagartig getöteten geschluckt und sich daran gemästet. Doch Vengor wollte einen neuen Kristall haben. Seine zweite Kristallfabrik nahm gerade in Südamerika ihre Arbeit auf. Dort waren fünf seiner verbliebenen Vergeltungswächter damit beschäftigt, die obdachlosen Männer, frauen und Kinder von den Straßen Rios, Sao Paulos, Bogotas und Limas einzufangen und mit Portschlüsseln in die Nähe der Fabrik zu schaffen. In weniger als fünf Kilometer von der Fabrik entfernt durften keine Portschlüssel landen. Denn das hätte früher oder später die Ministeriumszauberer angelockt. So konnten die gerade mal eine ungefähre Zone abstecken, wo irgendwer landete. Vengor dachte daran, dass einer, der unortbare Portschlüsselankunftsorte machen konnte, bei der vereitelten Operation Paukenschlag verlorengegangen war. So blieb ihm leider nur, einen Sicherheitsabstand zu den Kristallfabriken zu befehlen. In die Fabriken hineinapparieren konnte auch niemand, weil ein Locattractus-Zauber jeden, der das versuchte einfing und in einem megadamas-bezauberten Kerker festhielt. Sicher konnten die Kristalle durch die entrissenen Leben von Magiern noch besser gefüttert werden. Doch bisher hatte es noch kein Magier gewagt, in diese Anlagen hineinzuspringen.

Während Vengor mit gewisser Begeisterung die abgetrennten Köpfe in Conservatempus-Behälter verlud und die ausgebluteten Rümpfe der hingeschlachteten in einer anderen Bunkerhalle aufstapelte, sehnte er bereits den Halloweentag herbei. Bald würde er ihm begegnen, dem Meister der dunklen Künste, dem Erzmagier der Finsternis, dem König, ach was, dem Kaiser der schwarzen Magie, Iaxathan. Wenn er genug Kristalle hatte, dann konnte er eine Armee aus willfährigen wie unverwundbaren Streitern erschaffen. Auch wenn sein Tun dem Verhalten eines Geisteskranken gleichkam konnte Vengor doch sehr klar erkennen, dass seine Leute diese Anlage hier nicht aus vollem Herzen errichtet hatten und betrieben. Sicher würde er bald den einen oder anderen durch den Imperius-Fluch zu mehr Gehorsam zwingen müssen, solange er nicht kleine Kristalle erschaffen konnte, um sie vollständig zu unterjochen. Doch um Splitter von Unlichtkristallen zu erzeugen musste man mehr als nur einen Kristall besitzen, da die Kristalle nicht mit anderen Materialien, nicht einmal Diamant, bearbeitet werden konnten. Nur mit gleichartigen Ablegern waren Splitter oder weiterverwendbare Bruchstücke herstellbar. Je größer die Kristalle waren, desto größer konnten einzelne Bruchstücke werden. Das und nur das stand hinter dem entsetzlichen Treiben, dem sich Vengor mit seinen Leuten hier hingab.

Er wusste nicht, wer ihm die in Aussicht gestandenen Kristalle von Auschwitz und den anderen Vernichtungslagern der Nationalsozialisten streitiggemacht hatte. Doch er war fest entschlossen, die Zahl der systematisch getöteten Menschen zu erreichen, die die Machthaber des dritten Reiches erzielt hatten. Vielleicht gelang das sogar bis Halloween, wenn er mehr von diesen makaberen Stätten errichtete. Doch dazu brauchte er mehr getreue Anhänger. Sollte er wirklich schon vor dem großen Tag auf die Suche nach Ersatz für die so zahlreich abhandengekommenen Mitstreiter gehen?

Zwei Stunden nach der letzten Massenhinrichtung trafen in Säcken und an Führstricken getrieben vierhundert weitere arme Menschen ein, die Futter für den zu erbrütenden Unlichtkristall werden sollten. Vierhundert Menschen, also zwei Aktionen der Vernichtungsvorrichtung.

"Herr, dieser Muggel ist weg", schnarrte der Vergeltungswächter, der nun Nummer sieben hieß. Vengor erstarrte. "Der Muggel ist weg? Wohin?!"

"Habe ich nicht sehen können. Aber der muss seinen Stinkwagen benutzt haben, während wir hier die Leute alle abgefertigt haben." Vengor unterdrückte es, einen Fluch in seiner Heimatsprache auszustoßen. Niemand, schon gar nicht seine Getreuen, durften hören, woher er eigentlich stammte. So fluchte er auf Englisch und verwünschte die Unaufmerksamkeit seiner Leute. Dabei konnte er sich selbst an die eigene Nase fassen. Hätte er diesen Vondraczek nach Fertigstellung der Kristallfabrik Prag als einen der ersten Lebenskraftspender abgefertigt, würde niemand darauf kommen, dass sie hier in den alten Bunkern arbeiteten. Doch Vondraczek hatte den Imperius-Befehl, nichts zu erwähnen oder nachzuforschen, was in seinem Keller und den daran anschließenden Bunkeranlagen vorging. Er würde nicht zur Polizei gehen, niemals.

"Der wird nicht mehr zurückkommen. Wachen ins Haus. Wir können auch mit fünf Mann die Anlage betreiben", schnarrte Vengor. Er kommandierte drei seiner sieben Helfer ab, im Haus aufzupassen, ob jemand fremdes kam. Wenn das passierte sollte der oder sollten die betäubt und in die Fabrik hinuntergeschafft werden. Dann bekam der noch unerbrütete Kristall eben noch mehr Nahrung und entstand dann um so größer.

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Vondraczek trieb den altersmüden Wagen über die seit der Wende noch nicht restlos reparierten Straßen nach Prag. Oder sollte er über die Grenze hinüber nach Deutschland, zu seinen Verwandten in Regensburg? Er wusste nur, dass er einfach weit weg musste. Auch wenn er nicht wusste, was in seinem Keller und den daran anschließenden Bunkern geschah, die Angst- und Schmerzenslaute vieler Menschen, ja das Herankarren von vielen Menschen an sich, reichte schon aus, um ihm das Grauen in die alten Glieder zu treiben. Doch wenn er gefragt würde, durfte und würde er nicht verraten, dass es an seinem alten Keller lag, auf dem er so stolz gewesen war. Dreißig Jahre lang hatte er in diesem Haus gewohnt, die alten Keller zwischenzeitlich als Verstecke für Schmuggelware aus dem Westen benutzt. Jetzt passierte dort etwas weitaus grauenvolleres. Das wenigstens war ihm klar. Auch der Mann mit dem grünen Schlangenkopf und seine nicht minder unheimlichen Gehilfen trieben ihm den blanken Horror in die Glieder. Die Furcht und das Grauen waren so groß, dass Vondraczek seinen Wagen weit über die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit hinaustrieb. Zwar protestierten die alten Zylinder und Kolben. Zwar spotzte der Auspuff und schepperte unheilvoll. Doch der Scoda hielt das Tempo von über 150 Stundenkilometern.

Vondraczek achtete nicht auf den Lichtblitz, der ihn kurz vor der Abfahrt Richtung Prag in die Augen stach. Er blieb mit dem rechten Fuß auf dem Gaspedal und glich die Bodenunebenheiten durch geschicktes Lenken aus. Als er noch aktives Mitglied der tschechoslowakischen Volksarmee gewesen war hatte er sich als Kurierfahrer hervorgetan. Da galt auch, möglichst schnell durch unwegsames Gelände zu kommen. Wer bremste verlor, meistens Freiheit oder Leben. So hatte man es ihm eingebläut. Diese Armeedoktrin wirkte in ihm genauso wie der ihm eingepflanzte Befehl, nichts über seinen Keller und die daran angeschlossenen Bunker wissen oder weitererzählen zu dürfen.

Als hinter Vondraczeks Wagen ein BMW neuerer Bauart mit rotierendem Warnlicht aufkreuzte wusste Vondraczek, dass er offenbar zu schnell unterwegs war. Als das Polizeiauto ihn links überholte und aus dem rechten Seitenfenster eine Kelle mit der roten Markierung zu ihm herausgehalten wurde verstand er, dass er besser doch anhalten sollte. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und trat dafür auf die Bremse. Wie alles an dem Wagen waren auch die Bremsen betagt und griffen unregelmäßig. So dauerte es eine halbe Minute, bis der alte Scoda zum stehen kam. Gleich darauf sprangen zwei Polizisten auf den Wagen Vondraczeks zu und bedeuteten dem Fahrer, ganz langsam auszusteigen. Einer der Beamten hielt tatsächlich eine Pistole in der Hand.

"Ganz vorsichtig rauskommen und keine hastigen Bewegungen, mein Herr", sagte der unbewaffnete Polizist, der links am Hinterrad des Scodas stand. Vondraczek öffnete langsam die Tür und mühte sich aus dem Auto heraus. Als die Polizisten den weißhaarigen Mann sahen, der sichtliche Probleme hatte, sich in die Aufrechte zu stemmen, wussten sie zuerst nicht, was sie tun oder sagen sollten. Vondraczek sagte mit seiner vom Alter angerauhten Stimme: "Ich war wohl ein bißchen zu schnell, wie?"

"An den Wagen herantreten und die Hände flach aufs Dach legen!" befahl der unbewaffnete Polizist. Sein Kollege sicherte mit schussbereiter Waffe ab, dass der gestellte Geschwindigkeitssünder keine Dummheiten machen konnte.

Vondraczek kam der Aufforderung nach und legte seine mit Gichtknoten übersäten Hände auf das Autodach. Sofort wurde er von oben bis unten abgetastet. In der Ferne hörte er die Signalhörner weiterer Einsatzwagen. Da begriff er, dass er wohl einen Großalarm ausgelöst hatte. Dann fühlte er einen starken Schmerz in seiner Kopfhaut. Der Unbewaffnete hatte ihm doch glatt ein Büschel Haare ausgerissen.

"Keine Perücke, das Haar ist echt", bestätigte der Polizist seinem Kollegen.

"Man, ich war nur zu schnell. Ich habe keinem was getan", brachte Vondraczek heraus. "Ich bin über achtzig, wollte nur für einen Tag zu meinen Verwandten."

"Können Sie sich ausweisen?" fragte der Polizist mit der Pistole. Vondraczek konnte. Er zeigte seinen Ausweis, seinen Führerschein und auch die Fahrzeugpapiere.

"Erstaunlich, dass dieser Wagen so flott unterwegs sein kann", musste der unbewaffnete Polizist dazu bemerken. Vondraczek erwähnte nicht ohne Stolz, dass er den Wagen dreißig Jahre lang immer in bestmöglicher Form gehalten hatte. "Ach ja, nachgerüstet oder was?" blaffte der bewaffnete Polizist. "Unsere Kollegen sind gleich hier und durchsuchen den Wagen. Am besten sagen Sie gleich, ob Sie drogen dabei haben."

"Seh ich echt wie ein Rauschgifthändler aus?" fragte Vondraczek. Da tauchte der zweite Einsatzwagen auf. Diesem entstiegen vier Polizisten mit bereits übergestreiften Handschuhen. "Der Bursche hier ist soweit sauber. Aber guckt euch mal den Wagen an!" befahl der unbewaffnete Polizist aus Einsatzwagen eins.

Die für Karel Vondraczek peinliche Prozedur dauerte eine Viertelstunde. Dann wurde er in den ersten Wagen verfrachtet und in das nächste Revier der Autobahnpolizei mitgenommen. Dort übernahm ihn ein Duo aus älteren Polizeibeamten, die ihn befragten, was er mitten in der Nacht allein auf der Autobahn mit solchem Wahnsinnstempo zu suchen hatte. Vondraczek hätte gerne was von einer Flucht aus seinem eigenen Haus erzählt. Doch der ihm ins Gehirn gepfropfte Befehl des Schlangenkopfmannes hielt ihn davon ab. Er brauchte immer mehr als drei Sekunden, um eine für ihn glaubwürdig erscheinende Antwort auf die ihm gestellten Fragen zu geben. Als er dann gefragt wurde, warum er jetzt und mal eben so zu seinen Verwandten wollte und ob diese wüssten, dass er sie besuchen wollte, antwortete er, dass dies Methoden aus der CSSR seien und er sich solche Verhöre verbeten würde.

"Klar, diesen Vorwurf kriegen wir immer dann zu hören, wenn wer nicht auf unsere Fragen antworten will", grummelte der eine der Verhörenden, ein Hauptkommissar Havliczek. Sein Kollege, Kommissar Navratil, verwies den Verhörten darauf, dass es doch wirklich keine große Sache sei, die harmlose Frage zu beantworten. Vondraczek wusste, dass die beiden das nachprüfen würden, ob er sich bei den Verwandten in Regensburg angemeldet habe. So sagte er, dass er einen Überraschungsbesuch machen wolle und seinen beiden Großneffen möglichst früh am morgen einen Besuch machen wollte. Die beiden Beamten nahmen diese Aussage ohne Gefühlsregung hin. Dann fragte ihn Kommissar Navratil nach einem Lastwagen, der vielleicht in der Nähe seines Hauses vorbeigefahren war. Das wiederum ließ Vondraczek kurz erbeben. Der LKW passte genau zu einem, in dem viele Dutzend Menschen herangekarrt worden waren. Er keuchte kurz und stieß nach fünf Sekunden aus, dass er einen solchen Wagen nicht gesehen habe. "Da haben Sie aber jetzt lange für gebraucht, Pan Vondraczek", stieß Havliczek aus. "Das kaufe ich Ihnen nicht ab. Sie lügen!" fuhr er den Verhörten an. Sein Kollege wiegte den Kopf und wartete, was Vondraczek darauf antworten würde.

"Ich lüge nicht. Ich musste nur nachdenken. Mein Kopf ist alt. Da läuft nicht mehr alles so geöölt, Herr Hauptkommissar."

"Klar, und beim Denken zittern sie vor Angst und reißen die Augen weit auf, als hätte ich Ihnen gerade gesagt, sie gleich zu erschießen. Mann, wem wollen Sie was vormachen?!"

"Kollege Havliczek, bitte nicht so laut. Pan Vondraczek soll uns doch keinen Herzschlag kriegen", erwiderte Navratil. Vondraczek schnaubte, dass er noch ganz gesund sei. Sich für sterbenskrank auszugeben war ihm nicht eingefallen. Das ärgerte ihn selbst.

Während Vondraczek verhört wurde betrat eine Frau Mitte dreißig den Nebenraum. Über Lautsprecher und Einwegspiegel bekam sie mit, was im Nebenraum vorging. Die Frau hieß Irma Carlova und war als Polizeipsychologin der prager Polizeibehörde tätig. Zumindest war das die offizielle Fassade für ihre wahre Tätigkeit. Die dunkelbraunhaarige Frau im grauen Hosenanzug war informiert worden, dass jemand aus der Gegend kam, in der in den vergangenen drei Nächten immer wieder ungemeldete Portschlüssel aufgetaucht und wieder verschwunden waren, um dann anderswo wieder aufzutauchen, immer in einem Umkreis von zehn Kilometern vom letzten Zielpunkt entfernt. Die für das böhmische Zaubereiministerium tätige Agentin in der Muggelwelt war von ihrer offiziellen und ihrer eigentlichen Dienststelle beauftragt worden, den Fahrer des überschnell gefahrenen Wagens zu untersuchen, herauszufinden, ob er vielleicht auf der Flucht vor jemandem sei. Denn auch den Muggeln waren mehrere Lastwagen aufgefallen, die immer wieder in der betreffenden Umgebung herumgefahren waren. Die Radargeräte hatten die Fahrzeuge mal mit überhöhter Geschwindigkeit fotografiert. Doch kein Beamter in der Nähe hatte die Wagen gestoppt. Dass die LKWs überhaupt registriert worden waren lag einzig daran, dass die Bilder nach einer gewissen Zeit entwickelt worden waren.

"Sie haben den erwähnten Wagen gesehen, Mann. Warum lügen Sie uns an! Haben Sie was mit dem zu tun, was dieser Wagen befördert?! Reden Sie gefälligst, Mann! herrschte Havliczek den Verhörten gerade an. Sein Kollege versuchte, ihm zu erläutern, dass er nur anzugeben bräuche, wann und in welcher Richtung er den Wagen gesehen habe. Sollte er Zeuge eines Verbrechens geworden sein, erhielte er Zeugenschutz und auf Anfrage auch eine Garantie, nicht erwähnt zu werden. Irma Carlova beobachtete den Verhörten, der nicht sehen konnte, dass sie hinter dem Einwegspiegel bereitsaß. Sie hatte schon einmal einen Befragten durch eine durchsichtige Trennwand hindurch legilimentiert. Also tat sie dies jetzt auch, weil sie ja gerade allein war. Der andere Kollege war wegen eines gewissen Bedürfnisses nicht im Raum.

Als Vondraczek derartig in die Enge getrieben wurde begann ihm der Schweiß in Strömen zu fließen. Er erbebte regelrecht. Sein Herz pochte immer stärker. Vielleicht wünschte er sich, dass es aussetzen würde. Vielleicht hoffte er sogar auf einen Gehirnschlag. Denn auch sein Kopf dröhnte vor Schmerzen. Der ihm aufgezwungene Befehl piesackte ihn. Er wollte die Frage beantworten. Doch sein Befehl zwang ihn, nichts zu erwähnen. Dass er dabei mit weiten Pupillen in die Augen einer Frau hinter einem Spiegel blickte wusste Vondraczek nicht. Deshalb empfand er die unvermittelt aufsteigenden Erinnerungen an die herangekarrten Menschen und den Mann mit dem grünen Schlangenkopf und die Geräusche vielfachen Leids aus seinem Keller nur als Aufgewühltheit wegen der ihn peinigenden Fragen, die er doch nicht beantworten durfte. Die harsche Frage des Hauptkommissars schien in den Hintergrund zu treten.

"Los, Vondraczek! Rücken Sie endlich damit heraus, wo Sie den Lastwagen gesehen haben!" hämmerte Havliczeks ungeduldige Stimme auf seine Ohren ein.

"Jannek, nicht so heftig. Der Mann bricht gleich zusammen", zischte Navratil seinem Kollegen zu. Tatsächlich wies Vondraczek alle Anzeichen eines kurz bevorstehenden Kolapses auf. "Hol schnell Doktor Kovalek her."

"Unsinn, der spielt uns den gebrechlichen Alten vor, Claus", knurrte Havliczek. Da klopfte es an die Tür.

"Keine Zeit!" Rief Havliczek zurück. Doch die Tür ging auf und die dunkelbraunhaarige Kollegin Carlova trat ein. "Entschuldigung, Hauptkommissar Havliczek. Aber der Präsident persönlich hat mich dazugebeten, da Pan Vondraczek einer der Helden der CSSR ist und wir nicht riskieren dürfen, dass er bei uns wegen irgendwas zusammenbricht und stirbt", sagte die Psychologin. Havliczek funkelte diese verärgert an, was sie jedoch unbekümmert über sich ergehen ließ. Dann wandte sie sich Navratil zu: "Wenn Sie nicht möchten, dass Pan Vondraczeks Verwandte uns verklagen bitte ich Sie, den Amtsarzt hinzuzuziehen. Pan Vondraczek erscheint mir sehr kritisch."

"Ihre Sondervollmachten und den Segen des Präsidenten in Ehren, aber ..." stieß Havliczek aus. Doch Navratil stand bereits auf und verließ sehr erleichtert den Verhörraum. Kaum hatte er die Tür wieder hinter sich geschlossen zog Irma Carlova einen bleistiftdünnen Holzstab hervor und deutete auf Havliczek. Dieser erstarrte mitten in Wort und Bewegung. Dann zielte sie auf Vondraczek, der starr vor Angst dasaß. "Wo ist ihr Keller, Pan Vondraczek?" fragte Irma. Der Befragte schrak zusammen und erbleichte vollkommen. Dann hämmerte sein Herz. Er hörte immer wieder den Befehl in seinem Kopf, niemandem zu verraten, was in seinem Keller passierte. Dabei sah er sein Haus und den Zuweg mit den alten Eichen und Ulmen davor. Er dachte an die Adresse. Dann sah er nur noch einen roten Blitz vor sich und verlor die Besinnung.

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"Braunohr geht mit denen, die in die Downing-Straße reinhüpfen wollen. Da wimmelt's sicher von Zauberstabschwingern, nachdem wir bei der Abbey nix gerissen haben", knurrte Feuerkrieger.

"Braunohr ist für die Sache bei Tara vorgesehen, da wo dieser Sean Carrigan wohnt, der den Trank auch brauen kann", sagte Fino. "Ich würfel die Einsatzpläne nicht aus, dass das mal klar ist."

"Und ich bestimme mit, wer von meinen Leuten wo dabei ist, dass das mal klar ist", fauchte Feuerkrieger. "Braunohr geht mit zu Tony Blair und hilft mit, den sicherzustellen, kapiert?"

"Kapierst du es nicht, dass die britischen Zauberstabschwinger auf deine Jungs optimal eingepegelt sind", schnarrte Fino. "Deshalb schicken wir unsere Leute ohne einen von euch da hin, weil wir denen mit den Zauberstäben nicht auf die Nase binden müssen, dass wir anrücken, klar!"

"Du bist hier nicht der Boss", schnaubte Feuerkrieger. Da trat Lunera hervor. Sie hatte sich bisher im Hintergrund gehalten und dem Wortgefecht zwischen dem dünnen Werwolf und dem einohrigen Wertiger zugehört.

"Einohr, Braunohr geht nach Tara, wie Fino gesagt hat und Willes, Preston und Simmons gehen zu Blair und seiner Familie."

"Langsam reicht's. Ihr kommt angekrochen, bettelt drum, dass wir euch helfen und gleichberechtigte Partner sind, und jetzt macht ihr uns runter. Schlimmer noch, ihr bringt mal eben Leute von uns um, wenn die nicht so spuren, wie ihr das wollt. Dabei müssten wir und nur wir ansagen, wo die Reise hingeht, weil wir euch hoffnungslos überlegen sind, ey!" entrüstete sich der Wertiger. Fino zog ganz lässig eine Vorrichtung hervor, die wie eine harmlose Wasserpistole aussah, in Wirklichkeit aber eine gleichwarm bezauberte Sprühvorrichtung mit Flüssigstickstoff war. Feuerkrieger fühlte die unsichtbare Ameisenarmee auf seiner Haut. Gleich würde er sich verwandeln und ...

"Beherrsch dich ja, Bubi. Wenn dir mehr Haare im Gesicht und an den Händen wachsen kühle ich dich eiskalt runter!" zischte Fino den Wertiger an. Dieser erbebte vor Wut, aber auch vor Furcht. Er hatte es noch gut in Erinnerung, wie Schreckenszahn von einer rothaarigen Frau in Wales zielgenau und endgültig erledigt worden war.

"Ick hab Zeit", schnarrte der Wertiger in seinem Heimatdialekt, weil er den anderen nicht zu einer zu frühen Reaktion reizen wollte. Da antwortete Fino: "Ick ooch, Klener. Ick ooch!"

"Ey, denem ollen is' wohl beim Rammeln deiner Ollen wat abjebrochen und hat Kopp, Arme und Beene jekricht, wa?!" entrüstete sich der Wertiger über diese unverhoffte Erwiderung. Da rief Lunera auf Englisch: "Schluss jhetzt, alle beide!! Braunohr geht mit nach Tara, die drei anderen gehen alleine zu Blair hin, basta!"

"Das war nicht das letzte Wort", schnarrte Feuerkrieger wieder auf Englisch. Lunera grinste überlegen und deutete auf Finos rechte Hand. "Es war das allerletzte."

Feuerkrieger wurde von drei Handlangern Finos, die auch mit so hässlichen Sprühpistolen bewaffnet waren, in sein Zimmer zurückgeführt. "Ihr werdet uns noch ganz bitter brauchen, eh!!" rief er den Bewachern noch zu. Da die jedoch kein Englisch, kein Deutsch und auch kein Berlinisch konnten hätte er genausogut gegen eine Betonwand anrufen können.

"Das läuft uns voll aus dem Ruder, Lunera. Der Typ wird unbeherrschbar", knurrte Fino.

"Erzähl mir gefälligst was neues", schnarrte Lunera. "Der wollte nur, dass sein Unterworfener den englischen Premier beißt und damit zu seinem eigenen Gehilfen macht. Aber den Tigerzahn habe ich dem gleich gezogen."

"Geh davon aus, dass Braunohr jetzt aufmuckt, nicht mit unserem Trupp nach Tara zu gehen", sagte Fino.

"Tja, soll er machen. Dann bleibt der eben hier", sagte Lunera. Fino kapierte es, dass Lunera klarstellen wollte, dass sie immer noch alle Zügel fest in Händen hielt.

Feuerkrieger überlegte, Braunohr aufzustacheln, dem Trupp nach Tara nicht zu folgen oder die Werwölfe bei der Ankunft einfach im Stich zu lassen. Doch dann wüssten die von Luneras Zirkustruppe gleich, woher Braunohr diese Eingebung hatte und würden erst ihn und dann Feuerkrieger eiskalt abfideln und auch die zwei anderen Wertiger in der Festung der Werwölfe. So ließ er es bleiben, Braunohr zu bereden und bekam mit, wie dieser mit vier anderen Werwölfen in der Nähe von Tara in Irland abgesetzt wurde. Er verwünschte seine Unbeherrschtheit. Warum hatte er darauf bestanden, Braunohr mitzuschicken? Jetzt wussten diese Werwölfe doch, dass er jede sich bietende Gelegenheit nutzen wollte, einen hochrangigen Politiker zu beißen oder von einem ihm unterworfenen Getreuen beißen zu lassen. Damit war seine kleine Truppe bei den echt interessanten Einsätzen klar abgemeldet.

Als Roy Willes, einer der wenigen Zauberer der Mondbruderschaft, mit Hank Simmons und Alec Preston in Richtung London abgereist war, wobei sie in einem gegen Portschlüsselortung gesicherten Keller herauskommen würden, fand Rabioso, der seinem Mitbruder zugesehen hatte, sich mit dem einohrigen Wertiger zu unterhalten. Er ging zu ihm, darauf hoffend, nicht gleich von mörderischen Pranken und Zähnen zerfleischt zu werden. Er klopfte an die Tür. Eine menschliche Stimme rief "Herein, wenn's kein Weißwolf ist!" Rabioso öffnete die Tür und trat ein.

"Die ist dir voll über's Maul gefahren und hat dich wie'n kleinen Jungen abgefertigt, wie?" fragte Rabioso, als er Feuerkriegers verdrossenes Gesicht gesehen hatte. Dieser nickte heftig.

"Tja, ich denke, die kleine blonde Lunera wird immer launischer. Woher das kommt weiß ich nicht und will's auch nicht wirklich wissen. Das interessiert mich nämlich alles nicht mehr", sagte er. Der Wertiger starrte den rothaarigen Werwolf argwöhnisch an.

"Spielen wir jetzt das Spiel: "Ich bin auf deiner Seite, sag mir, was du vorhast"?" schnarrte der Wertiger.

"Kannst du denn noch was vorhaben?" entgegnete Rabioso unbeeindruckt. "Die hat dich doch in die Abstellkammer verbannt, dem kleinen Jungen Stubenarrest aufgebrummt, weil er so vorlaut war", legte er mit genau überlegter Provokation nach.

"Ach ja, und dich hat sie befördert und zu ihrem Nachfolger ausgerufen, wie?" konterte der Wertiger. "Du darfst doch nur die Grobarbeit machen und diese Portschlüssel putzen. Für den magischen Rest ist der Dünne doch zuständig und für den Kram aus der Normalowelt dieser Frauenreiter Valentino alias Turbobooster oder wie das Ding auf Spanisch heißt. Was hast du in letzter Zeit groß ranschaffen dürfen, ey?"

"Die Gefangenen, die uns verraten haben, wer alles den Trank kennt", knurrte Rabioso. Er tat verärgert. Dabei hatte Feuerkrieger genau das gesagt, was Rabioso von ihm erwartet hatte. Stimmen tat es leider auch noch.

"Den ja nur eure große, weiße Anführerin kennen und können darf", erwiderte Feuerkrieger. Rabioso nickte und grinste. "Ist wohl der Grund, warum sie so biestig geworden ist, weil der schöne Trank eben nicht so schwierig ist, dass außer ihr den keiner so schnell nachbrauen könnte. Aber mal was anderes: Hast du keine Angst, dass eure Urwaldkönigin nicht zur großen Jagd auf dich geblasen hat und ihre Bettwärmer und Bettvorleger hinter dir hergeschickt hat? Die hat doch wortwörtlich tierischen Schiss, dass dieses Spinnenweib ihr die Hütte überm Kopf anzündet, wenn die weiß, dass wieder welche von euch im Großstadtdschungel jagen gehen."

"Dann müsste die aber sehr genau wissen, wo ich und die anderen zu finden sind", sagte Feuerkrieger. "Und das kriegt die weder von mir noch von den anderen. Meine gefüllte Ex hat's ja schon versucht, mich anzutelepathieren. Aber ich habe immer wieder zugemacht. Die hat keinen Dunst, wo ich gerade bin. Die müssten dann ja Leute, die null Ahnung vom Stadtleben haben in echte Städte reinschicken. Sonnenglanz hat zwar mehr als genug Dunst davon und Himmelsreiter und zehn andere auch. Aber der Rest von der Bande kennt nur den Urwald. Die würden voll auffallen wie die berühmten bunten Hunde."

"Oder der berühmte weiße Wolf", erwiderte Rabioso. "Tja, aber wenn deine noch vor deinem schnellen Abgang mit einem neuen Kind beladene Ex durch das Balg sozusagen per Bauchgefühl mitkriegt, wo du zu suchen bist, weil eben ein Stück Fleisch von dir in ihr hängengeblieben ist, dann kommen die bald hierher, werden zu Tigern und rennen mal eben durch alle Zaubermauern, die Fino und ich hochgezogen haben. Dann kommen die rein, finden dich hier in deinem stillen Zimmer, wo du Mamita Luneras Stubenarrest absitzt und zerlegen dich. Vielleicht füttert deine schwangere Ex das Kleine dann mit deinen Klunkern, damit es weiß, wo es mal hergekommen ist", schnarrte Rabioso. "Und jetzt wo du's dir mit Mamita Lunera versaut hast könnte die sogar drauf kommen, dass du genau deshalb zu gefärhlich geworden bist. Die könnte die Nummer mit dem Flüssiggas bringen, um klarzustellen, dass dich hier keiner findet. Willst du das?"

"Eh, wenn du mir Angst machen willst dann rück gefälligst damit raus, was du damit erreichen willst", schnarrte Feuerkrieger.

"Ich kann dir helfen, dich wohinbringen, wo keiner von deinen und keiner von meinen Leuten dich findet. Dann warten wir ein wenig ab und ziehen dann, wenn ich den Trank nachbrauen kann unser wahres Ding durch", deckte Rabioso seine Absichten auf.

"Ach neh, der Herr will desertieren, überlaufen oder sonstwie die Biege machen", feixte Feuerkrieger. "Bist du sicher, das hier keiner mithört?"

"Absolut. Wenn Fino hier was hingebaut hätte, um dir beim Furzen und Schnarchen zuzuhören, dann hätte mich schon was gewarnt, was ich immer mithabe", sagte Rabioso. Feuerkrieger lachte gekünstelt. Rabioso sagte dann noch: "Ich denke, du kennst dich mit dem unerlaubten Abhauen besser aus als ich. Insofern hättest du garantiert kein Problem damit, den Absprung zu machen, wenn dir wer die Gelegenheit bietet."

"Alleine oder mit den anderen zusammen?" wollte Feuerkrieger wissen.

"Brauchst du die anderen noch, wo die so wenig Dunst vom Stadtleben haben, wie sich ja beim letzten Coup leider gezeigt hat, wo dein Kumpel Goldbauch voll in einen heranfahrenden Frachtmotorwagen reingesprungen ist und von dem am Boden festgenagelt wurde, bis einer von den Zauberstabschwingern seinen Stickstofftank über den ausgekippt hat?"

"Ich kann dich zerlegen und Lunera verkaufen, dass du versucht hast, mich von ihr wegzuschwatzen, eh!" schnarrte Feuerkrieger. Rabioso zog ganz lässig eine schwere Pistole mit Tank aus seinem Umhang. "Ich kann dich erledigen und Lunera sagen, dass du mich angefallen hast, weil ich versucht habe, dich von ihrer Absicht zu überzeugen. Dann bin ich bei ihr ganz gut angeschrieben und wir sind das Problem mit deinen Urwaldverwandten los."

"Scheißdreck", schnarrte der Wertiger. Dann überlegte er. "Wenn ich mit dir mitgehe, was soll ich dann für dich tun?"

"Wir zwei können einfach alles beißen, was uns in den Weg kommt. Bei der Gelegenheit könntest du die alte Rechnung mit der Spinnenhexe klären. Die sucht sicher auch nach dir."

"Wenn du mir hilfst, sie zu kriegen, kein Problem. Lunera will davon ja nichts mehr wissen. Da ist die wie Nachtwind, meine Ex-Schwiegermutter."

"Okay, wir können bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit abrauschen. Bis dahin hältst du deinen Mund und die Hände still und alles. Wenn ich sicher sein kann, dass wir nicht mehr eingeholt werden können rauschen wir ab", sagte Rabioso. Feuerkrieger nickte. Der Werwolf verließ das Zimmer. Der Wertiger dachte nur, dass diese Wolfsmenschen doch zu blöd waren. Wenn Rabioso ihn hier rausschaffte, würde er ihn entweder umlegen oder die nächste Gelegenheit nutzen, abzuhauen.

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Unter den Flugbesen lag das Haus, unter dem eine alte Bunkeranlage verbaut war. Eine Truppe Einsatzzauberer hatte anhand von Carlovas Beschreibungen genau hingefunden. "Gefangene?" mentiloquierte einer der Einsatzzauberer seinem Anführer.

"Lohnt nicht. Die haben einen Selbstzerstörungsfluch im Leib. Wenn wir Vengor kriegen dann besser tot als lebendig."

Heimlich wurden Appariersperren hochgezogen. Ein ungesagt durchgeführter Sondierungszauber hatte zwar erwiesen, dass irgendwo im oder am Haus womöglich ein Locattractus-Zauber lauerte. Doch vielleicht hatten die Gesuchten Mittel, um diesem zu entwischen, während andere Apparatoren in die daran hängende Falle hineingeraten mussten. Einer mit einer Vorrichtung zum durchblicken nicht mit Verhüllzaubern gesättigter Materie überprüfte Haus und Keller. Als er sah, was innerhalb der Keller passierte stockte ihm kurz der Atem. Dann meldete er über Vocamicus-Zauber: "Grüngesicht im Keller. Nimmt gerade einen faustgroßen Vielflächler aus einer Bodengrube."

"Verdammt, Einsatzplan Krematorium!" vocamicus-rief der Anführer seinen zehn Getreuen zu. Diese hatten festgestellt, dass in dem Haus drei Männer wachten. Sie blieben über dem Bereich des unsichtbaren Meldezaubers und regneten aus ihrer Flughöhe zehn Ladungen Brenngebräu ab, das zusätzlich mit Steinkleber vermengt war, um bei Berührung von Steinen wie angemauert zu haften. Als die Ladungen durch Kamin und Dachpfannen ins Haus hineinflossen warf der Anführer einen brennenden Kienspan nach unten. Keine drei Sekunden später wallte eine Feuerwand auf, die fast die fliegenden Besen erreichte und sich zu einem waren Feuerdom um das Haus schloss.

"Der hat da unten eine Massenhinrichtungsmaschine gebaut", seuffzte der Durchblickspäher, als er im Schein des in das Haus hineinwirkenden Feuers noch einmal die zwanzig Fallbeile mit je zehn Auffangkörben und Halsmanschetten sah. Dann erkannte er den grünköpfigen Feind, der gerade den aus einer Erdgrube geborgenen Zwölfflächler hochhielt und triumphierte. Seine oben stehenden Wächter fielen gerade den wütenden Flammen zum Opfer. Dann erkannte er die Gefahr und befahl den anderen, sich um einen alten Kessel zu versammeln. Dieser erstrahlte für einige Sekunden blau. "Portschlüsselsperre in Kraft setzen!" rief der Anführer der Einsatztruppe. Doch das Kommando war überflüssig. Natürlich hatten seine Leute schon einen wirksamen Sperrzauber gegen nicht genehmigte Portschlüssel aufgebaut. Man wusste schließlich, mit wem man sich anlegte. Wussten sie es denn wirklich?

Der Portschlüssel erstrahlte im blauen Licht und rotierte wild. Dann erlosch das Licht. Die daran hängenden Gegner flogen von der Fliehkraft getrieben gegen die Wände. Doch der grüngesichtige Hauptfeind schaffte es, vor dem Aufprall noch einen bläulichen Aufprallschutzzauber zu wirken. Dann richtete er den Zauberstab nach oben und erzeugte damit ein heftiges Beben. Der Keller stürzte ein. Doch der Feind hatte wohl eine Sekunde vor seinem Erdbebenzauber einen Schild um sich gelegt, der niederregnende Gesteinstrümmer von ihm abhielt. Dann aber kam schon das hell und heiß lodernde Feuer. Der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte, schrie erst. Dann wirkte er einen Zauber, der einen dunklen Flammenstrahl erzeugte, der breiter als der Zauberer selbst war. Der Strahl schaffte es, das vom Brenngebräu extrem stark angefachte Feuer dort zu ersticken, wo er traf. So schaffte es Lord Vengor, aus dem Keller hinauszulaufen. Wie mit einem dicken Wasserschlauch hantierend ließ der Feind den dunklen Flammenstrahl nach links und rechts, oben und unten kreiseln und schlug sich eine Bresche, die ihn über die ausgeglühten Treppen nach oben unter den Freien Himmel führte. Dann erkannte er die über ihm lauernden Besenflieger. Diese nahmen Höhe und warfen weitere Brenngebräukugeln ab. Doch Vengor zersetzte sie mit dem dunklen Feuerstrahl. Dann lief er los. Die Besenflieger folgten ihm.

"Die Fackel der Finsternis ist unaufhaltsam!" hörten sie aus mehr als hundert Metern Tiefe die überlegene Stimme des Fliehenden.

"Lord Vengor, ergib dich. Deine Machenschaften haben schon zu viele Opfer gefordert!" rief der Anführer der Einsatztruppe. Ein höhnisches, ja schon fast irres Lachen war die Antwort. Dann rief der Flüchtende: "Ich fange gerade erst an."

"Er hat einen dieser Kristalle. Damit kann der dunkle Zauber mindestens dreimal so stark bringen", stellte einer der Besenflieger fest, als Vengor mit unregelmäßigen Schwüngen des immer noch dunkles Feuer speienden Zauberstabes um sich schlug, um nichts und niemanden egal ob von vorne, hinten, den Seiten oder oben an sich heranzulassen. Warf ihm jemand etwas zu, dann verging dies im dunklen Feuer. Zu landen oder auf Todesfluchreichweite heranzugehen geriet zur Selbstmordaktion. Denn wer es doch wagte, brauchte nur in die Ausläufer der schwarzen Flammen zu geraten. Da brannten Besen und Reiter im schwarzen Feuer, dessen Lieblingsnahrung bezauberte Materie, Metall und lebendes Gewebe war. Einer der weiter hinten fliegenden versuchte den Todesfluch. Dieser reichte zwar an Vengor heran, wurde jedoch von dem dunklen Kristall aufgefangen. Statt des Flüchtenden ereilte der magische Tod den, der ihn heraufbeschwören wollte. Wieder lachte Vengor ein lautes, fast schon irrsinniges Lachen, während er weiter und weiterrannte. "Füttert ihn weiter, ihr Narren! Füttert meinen Kristall der Finsternis weiter!"

"Wir sind echt zu spät losgezogen", schnarrte der Truppführer seine verbliebenen Helfer an. Er ärgerte sich, dass Carlova zu spät in diesen Fall eingeschaltet worden war. Jetzt ernteten sie das Unheil, was Vengor in ihrem Land gezüchtet hatte.

"Mit magielosen Waffen angreifen. Gegner unbedingt dauerhaft kampfunfähig machen!" befahl der Einsatztruppführer und zog aus seinem Rucksack eine zusammengelegte Kalaschnikow hervor. Noch waren sie nicht außerhalb der Apparierabwehrzone. Zwei andere Einsatztruppler machten ebenfalls Schusswaffen klar. Als sie damit feuerten, prallten die Kugeln kurz vor Vengors Körper von einem unsichtbaren Hindernis ab. Vengor gröhlte vor lachen.

"Damit schafft ihr mich erst recht nicht, Schlammblutanbeter! Ich bin Lord Vengor, der Erbe des dunklen Lords!"

"Dann eben so", knurrte der Truppführer und ließ seine Waffe wieder im Rucksack verschwinden. Statt dessen zog er einen eiförmigen Gegenstand hervor und zog an einem ringförmigen Anhängsel. Er schleuderte das Ding vor Vengor auf den Boden. Der selbsternannte Erbe Voldemorts konnte nicht schnell genug mit dem dunklen Flammenstrahl darauf zielen. Da zerbarst das Ding in einer gewaltigen Explosion, die ausreichte, die fliegenden Besen durchzuschütteln. Als der Blitz verglüht war und der Pilz aus Staub und Rauch zusammenfiel sahen die Einsatztruppler, wie Vengor am Boden lag. Das dunkle Feuer war erloschen. "Runter und aufsammeln. Den hat es trotz seines Drachenhautpanzers garantiert zerlegt!" rief der Truppenführer. Da sprang der zu Boden geworfene auf und versank im Erdboden, als sei dieser aus purer Luft. Die anderen Zauberer sahen nur, wie sich die Erdoberfläche darüber wieder glättete. Da wo die magisch verzehnfacht wirksame Handgranate explodiert war klaffte ein mindestens fünfzig Meter durchmessender Trichter im Boden. Wie konnte jemand diese gewaltige Detonation unbeschadet überlebt haben?

"Ich fürchte, Leute, den haben wir alle nicht zum letzten Mal gesehen", seufzte der Truppenführer. Doch er irrte sich.

Unvermittelt riss eine immer stärkere Schwerkraft an den Besen. Zwar waren sie darauf ausgelegt, gegen die bekannte Erdschwerkraft anzukommen. Doch nun zerrte eine unsichtbare Gewalt von mehr als dem fünf- oder sechsfachen an den Flugbesen und riss diese regelrecht vom Himmel herunter. Noch waren sie im Wirkungsbereich des Locattractus-Zaubers und der eigenen Appariersperren. Doch sie mussten von den Besen runter. Sie disapparierten, bevor ihre Besen in die Erde einschlugen wie wuchtig abgefeuerte Pfeile.

Als die Abgesprungenen sich in einem viel zu engen und türlosen Verlies wiederfanden mussten sie feststellen, dass die Wände mit Megadamas-Bezauberung belegt und mit Antifluch-Zaubern gespickt waren, so dass kein Spreng- oder Zersetzungszauber etwas dagegen ausrichten konnte. Die verbliebenen vier Mann steckten in einem kleinen Raum, gerade einmal vier Quadratmeter groß fest. Der Raum war völlig geschlossen, nicht einmal Ritzen oder Löcher wiesen auf Luftzufuhr hin. Dann sah der Truppführer eine blutrote Leuchtschrift an der Decke aufflammen:

Wer hier landet bleibt hier für immer und ewig.

"Mentiloquieren geht nicht", stellte einer der jüngeren Zauberer fest, der sofort nach dem sinnlosen Absprung versuchte, mit seiner Schwester im prager Zaubereiministerium zu mentiloquieren.

"Andere Möglichkeiten, den Zauber zu brechen?" fragte der Truppführer.

"Im Moment weiß ich keine", erwiderte einer seiner Leidensgenossen.

"Wie konnte der die Explosion überleben", schnarrte einer der anderen.

"Vielleicht sammelt der Kristall nicht nur Lebenskraft ein, sondern gibt sie an den, der ihn gemacht hat weiter", vermutete der Truppführer. Doch das, so wusste er, half ihnen in dieser Lage überhaupt nicht weiter.

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"Und die können unseren Portschlüssel nicht anpeilen?" fragte Simmons Willes, nachdem dieser das rostige Fahrrad, an dem sie alle gehangen hatten, zu dem restlichen Gerümpel legte, was in diesem Kellerraum angehäuft war. "Neh, der Portschlüssel wurde auf diesen Keller abgestimmt und der Keller gegen Fremdortung abgeschirmt, beziehungsweise unortbar gezaubert. Von hier aus können wir locker in die Downing-Straße rein. Jeder nimmt eine andere Richtung. Preston nimmt ein Taxi, Simmons nimmt den nächsten Bus und ich fahre mit der U-Bahn. Um zehn Uhr Abends treffen wir uns wie zufällig an Haus Nummer acht. Dann schlagen wir mit Magie und Feuerkraft zu. Ziel ist die Eingliederung der Blairs in unsere Bruderschaft."

"Und wenn die von Magiern bewacht werden?" wollte Preston wissen. "Wäre vielleicht doch besser gewesen, einen von den Tigerleuten mitzunehmen."

"Neh, damit der wie die anderen mit Flüssiggas oder Flammenstrahlen erledigt wird? Nein, wir machen es jetzt mal ohne diese Urwaldkatzen", sagte Willes. Dann brachen sie auf, jeder in eine andere Richtung.

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Der 11. September 2001 war nun einen Monat und zwei Tage her. Dennoch hielt er die Welt immer noch und wohl für sehr lange Zeit in seinem eisigen Würgegriff. Julius Latierre hatte am Abend zuvor noch mitbekommen, wie weitere Luftschläge gegen Afghanistan geführt worden waren. Wie wollten die Piloten sicherstellen, dass dabei keine Unschuldigen starben? Doch jetzt musste er sich auf was anderes konzentrieren.

In Monsieur Vendredis Büro waren alle versammelt, die mit den Mondbrüdern zu tun hatten, darunter auch Julius Latierre. Dieser sah aber auch einen dunkelhaarigen Zauberer, der wohl aus einem Nachbarland, Italien oder Spanien, herübergekommen war. Julius musste auf Anweisung von Monsieur Vendredi vor dem versammelten Publikum aus Außeneinsatzkräften und Innendienst versehenden die Entwicklung und Benutzung des Contralyko-Gases referieren. Danach erwähnte Vendredi, dass der Kollege Molinar aus Spanien sich mit Lunera und der Mondbruderschaft auskannte. Der erwähnte erläuterte nun, was er und seine Leute über Espinado, Cortoreja und die Mondbruderschaft zusammengetragen hatten. "Viel konnten wir leider nicht mehr retten, Señores, weil die Burg Espinados vollständig abbrannte. Allerdings haben wir - eh - etwas dunklere Quellen erschlossen, die uns die nötigen Auskünfte gaben, namentlich einige Hellmondvampire, die von Hirudazo, einem magisch begabten Dunkelmondvampir, angeworben werden sollten, ihm aber nicht folgen wollten. Sie kannten und kennen die Bruderschaft. Daher haben sie im Verborgenen und als unsere Doppelagenten auch bei Nocturnia gearbeitet. Deren Unterlagen habe ich mitgebracht."

"Nichts für ungut, Señor Molinar", wandte Pygmalion Delacour ein, "aber die Berichte aus einer solch fragwürdigen Quelle sollten uns nicht als wahrhaftig erscheinen." Die anderen stimmten ihm zu. Dennoch hörten sie sich an, was Molinar zu erzählen hatte. Anschließend ergriff Monsieur Vendredi das Wort:

"Damit haben wir endlich alles, um uns der beherrschbaren Bedrohung der Mondbruderschaft entledigen zu können, Messieursdames Kollegen, Señor Molinar. Ich weiß, dass mein spanischer Kollege, wie auch dessen oberster Vorgesetzter und mein oberster Vorgesetzter miteinander konferiert haben, wie wir gegen das Hauptquartier der Mondbrüder vorgehen. Nachdem Ihr des englischen mächtiger Kollege Pataroja mit dem britischen Kollegen Diggory und dortigen Vertretern des KRL gesprochen hat, hoffe ich, dass wir die Genehmigung erhalten, das Hauptquartier der Mondbrüder auszuheben. Señor Molinar, führen Sie eine solche Genehmigung mit?"

"Ministre Pataleón wollte diese Angelegenheit auf die Tagesordnung der internationalen Zaubererkonföderation setzen. Doch der Geheimhaltungsgrad verbietet dies leider. Er ist bereit, unter gewissen Bedingungen zuzustimmen, alle auf dem spanischen Hoheitsgebiet lebenden Mondbrüder und -schwestern festzunehmen oder bei erfolgender Gegenwehr zu töten." Er zählte die Bedingungen auf, zu denen auch ein Ausrüstungsaustausch zwischen den Ministerien Europas zu verbilligten Konditionen gehörte. Das zielte wohl nicht zufällig auf die Duotectus-Anzüge und die Retroculare aus Frankreich ab, schloss aber gleichwertige Hilfsmittel aus anderen Ländern mit ein. Auf die meisten Bedingungen konnte man sich wohl einigen. Doch am Ende ging es auch darum, ob geheime Archive der Zaubereiministerien geöffnet werden sollten, um anderen Ministerien neue Erkenntnisse zu verschaffen. Das, so wusste Julius, würde ihn unmittelbar betreffen. Doch er wollte keinen schlafenden Drachen kitzeln und hielt sich zurück. Vendredi sagte, dass es vordringlich darum ging, die Mondbruderschaft zu zerschlagen. Dabei sei es durchaus zu begrüßen, den Mitgliedern ein Weiterleben zu ermöglichen und ihnen eine Rückkehr in die Zivilisation anzubieten, wenn sie sich von den Zielen ihrer bisherigen Anführer lossagten.

Julius war froh, als die zwei Stunden dauernde Konferenz endlich beendet war. Wegen der Gefahr im Verzug würden die ehemaligen Werwolffangkommandos des französischen, britischen, deutschen und spanischen Zaubereiministeriums zusammen gegen das Hauptquartier der Mondbrüder vorgehen. Zunächst sollte aber geklärt werden, ob das von Ceridwen Barley erfundene Kampfmittel wirkte, wie es sollte. Auch wenn die Briten mit elf Gefangenen hatten experimentieren können wollten die anderen das erst einmal im direkten Feldeinsatz nachweisen. Julius hätte fast auf den Tisch gehauen und gesagt, dass diese Haltung schon bei den Muggeln unnötige Todesopfer hervorgerufen hatte. Doch das erledigte seine Vorgesetzte Ventvit auf wesentlich intelligentere Weise:

"Nun, wenn Sie, Señor Molinar damit sagen, dass sie die Mondbruderschaft zu einem Feldversuch auffordern, bei dem sie gerne so viele ihrer Leute wie möglich gegen unsere Leute einsetzen, inklusive aller bei ihnen mitmarschierender Wertiger, so werden Sie fraglos eine Menge Erkenntnisse gewinnen, aber wohl am deutlichsten die, dass zu langes Zögern unnötige Leben kostet. Da ich davon ausgehen muss, dass Sie diese Erfahrung längst gemacht haben, so überbringen Sie Señor Pataleón bitte unseren herzlichsten Gruß, dass wir nicht darauf versessen sind, auf ein letztes großes Aufgebot der Wergestaltigen zu warten, weil dies gegen den von uns geleisteten Amtseid zur Schadensabwendung von allen Menschen, auch denen ohne eigene Magie, verstoßen würde. Und wenn dies herumgeht, dass wir uns nicht mehr an die eigenen Regeln halten, wer bitte soll sich dann sonst noch daran gebunden fühlen, Señor Molinar?"

"Ich versteh was sie sagen, Señorita Ventvit. Aber ich bin nur der Übermittler, nicht der Entscheidungsträger."

"Ihrem Dienstherren stinkt es doch nur, dass diese ganze Brut auf dem von ihm verwalteten Grund und Boden aufgequollen ist", blaffte Gerome Lemont, der als Leiter der Légion de la Lune mithör- und mitspracheberechtigt war. "Wenn er es nicht hinbekommt, dieses Verbrechernest auszuräuchern soll er bitte schön die Größe aufbringen, andere um Hilfe zu bitten, die das nicht nur wollen, sondern auch können. Übermitteln Sie ihm das bitte, Herr Übermittler!"

"Was kann ich anderes tun, Señores", schnarrte Molinar. Dann bat er darum, die hier erörterten Dinge weiterzuberichten.

Wieder zurück im Büro sagte Ornelle Ventvit: "Es ist mir sowas von widerlich, dass ein Zaubereiminister mit dem Leben und der Gesundheit anderer Menschen einen Kuhhandel betreibt. Der weiß genau, dass wir nicht die Glomako einschalten dürfen, weil die Sache nicht an die Öffentlichkeit darf. Sonst könnten wir ja gleich verkünden, dass wir wüssten, wo das Hauptquartier ist." Julius und Pygmalion bejahten dies. Ihnen stank diese Taktiererei auch.

Ein Memo flog herein und landete bei Julius Latierre. Er wunderte sich, dass er angeschrieben wurde. Es war von Madame Grandchapeau, Nathalie. Er las, dass sie von Martha Merryweather eine E-Mail erhalten habe, dass ein gewisser Don Ricardo Casaverde offenbar Mondbrüder gefangen und deren Natur erforscht habe. Diese hätten wohl zu spät sein Hauptquartier gefunden. Jetzt sei es wohl möglich, dass Casaverde, der in Kolumbien und Mexiko ein florierendes Verbrechersyndikat begründet habe, nicht nur über die Werwölfe, sondern auch über die Zaubererwelt informiert sei. Julius wurde gebeten, sich die Originaldateien bei ihr anzusehen, da er zum einen genau wisse, wie Madame Merryweather recherchiere und zum anderen eine Einschätzung des Wahrheitsgehaltes abgeben solle.

Mit Ornelles schriftlicher Einwilligung in der Tasche ging Julius zu Belle Grandchapeaus Mutter ins Büro. Diese freute sich, dass er so rasch reagiert hatte. Er las die aus dem Internet gezogenen Originaldaten, die seine Mutter nicht per E-Mail, sondern per Express-Eule verschickt habe. Ganz unten war noch eine Notiz, dass ein gewisser Ira Waterford ihr einen Brief geschrieben habe, dass sie nur noch bis zum 31. Oktober freien Zugang zu US-eigenen Datenverbindungen unterhalten dürfe. Danach müsse sie wissen, ob sie dies weiterhin tun wolle, als offizielle Mitarbeiterin des Zaubereiministeriums, oder sich dem Verdacht der Spionage für die Drahtzieher des 11. Septembers ausliefern wolle.

"Das ist die blanke Erpressung", sagten beide Ministeriumsmitarbeiter.

"Wissen Sie was, Madame Grandchapeau: Ich vfange jetzt doch langsam an, mich dafür zu schämen, dass ich aus einer Menschengruppe stamme, die mit solchen Tricks und fadenscheinigen Vereinbarungen Jahrhunderte lang Politik gemacht hat und heute immer noch macht. Ich kann auch verstehen, warum es in der Zaubererwelt Leute gibt, die mit Magielosen nichts zu schaffen haben wollen."

"Abgesehen davon, junger Mann, dass nicht Sie diesem Ira Waterford diese Erpressung befohlen haben und Pataleón offenbar meint, die Gunst der Stunde nutzen zu können, mehr von den Früchten anderer Leute Arbeit abzubekommen, ist es gerade äußerst wichtig, zu wissen, wie diese dubiosen Tricks und Geschäfte funktionieren, also dass es Leute wie Ihre Frau Mutter gibt, die dies nachforscht und verständlich erläutern kann. Und ich werde mir als die direkte Vorgesetzte Ihrer Mutter nicht auf solche Art und Weise eine meiner wenigen Mitarbeiterinnen abspenstig machen lassen, schon gar nicht die beste überhaupt, insbesondere, weil ich wohl ab nächstem Juni personell umplanen muss." Den letzten Satz sprach sie mit gewisser Verlegenheit in Gesicht und Stimme. Julius meinte, zu ahnen, was Madame Grandchapeau sagen wollte. Er strahlte sie an und sagte: "Oh, darf ich das schon wissen und Ihrer Tochter Gratulieren, oder ist das Verschlusssache S1 oder höher?"

"Sie sind ein frecher Bursche, Monsieur Latierre", erwiderte Madame Grandchapeau erst leicht verdrossen. Doch dann schüttelte sie den Kopf und legte sich die rechte Hand auf die Bauchdecke. "Nein, diesmal ist es an meinem Gatten und mir, ein weiteres Mitglied der Grandchapeau-Familie zu erwarten. Aber ich werde jetzt keine Vertraulichkeits- oder Geheimhaltungsstufe festlegen, um auf Ihre Diskretion zu hoffen, Monsieur. Ich wollte Ihnen das nur mitteilen, dass ich es nicht zulassen werde, dass meine Mitarbeiterin, die sie einst ins Leben getragen hat, von einem erpresserischen Amerikaner abgeworben wird, mit welchen lauteren oder unlauteren Absichten dies auch immer von Statten geht." Dann fragte sie noch: "Öhm, aber wo wir bei diesem noch nicht für die Allgemeinheit bestimmten Thema sind, Monsieur Latierre: Ich erfuhr, dass es einen Club von Hexen geben soll, der aus noch einmal Mutter gewordenen Großmüttern bestehen soll. Ich gehe davon aus, dass Ihre Schwiegergroßmutter diesen Club leitet und einberufen hat. Kann ich mich an sie wenden, wenn ich befinden sollte, diesem exklusiven Club als Mitglied beitreten zu wollen."

"Hmm, da müssten Sie sich dann an Madame L'eauvite wenden, also Madame Madeleine L'eauvite. Die hat diesen Club gegründet. Meine Schwiegergroßmutter ist ihm nur sehr bereitwillig beigetreten und Madame Delamontagne eher aus Gründen des Ansehens", erwiderte Julius. ."

"Wie erwähnt dürfte das dann erst in einigen Monaten der Fall werden, wenn ich durch Kleidung nicht aussreichend verhüllen kann, was mir demnächst erwächst. Na ja, ich wollte Ihnen ja nur die Originaldokumente vorlegen. Was sagen Sie dazu?"

"Das einer von den mit Computern gut klarkommenden Mondbrüdern die Geschichte ins Internet gefeuert hat, um diesen Don Rico von allen Zauberern und Hexen der Welt jagen zu lassen, weil seine Kumpane den nicht packen konnten", sagte Julius.

"Danke für diese Bestätigung. Ihre Frau Mutter unterließ es nämlich, ein eigenes Fazit zu ziehen und erwähnte lediglich, dass wir uns Gedanken machen müssen, wie wir diese Meldung behandeln sollen. Aber meine Mitarbeiterin Madame Grandchapeau die Jüngere sieht es genauso wie Sie. Damit habe ich zwei unabhängig voneinander entstandene Meinungen und kann damit entsprechende Schritte einleiten. Danke für die Zeit, die Sie mir widmen konnten!" Julius erwiderte "Nichts zu danken" und kehrte in sein zugewiesenes Büro zurück.

"Laurentine war heute mit mir und Rorie in Paris", erzählte Millie ihrem Mann, als dieser ziemlich frustriert nach Hause kam. Er fragte, ob sie mit dem motorisierten Rollschuh gefahren seien. Sie lachte. "Sie lädt dich ein, mit ihr am nächsten Wochenende einen Ausflug zu machen. ich habe trotz Muggelkunde nicht alles kapiert, was sie mir erzählt hat, nur dass Oma Tétie ihren Wagen unzerstörbar gemacht hat und dass sie damit auch größere Strecken überspringen kann."

"Oma Tétie?" fragte Julius.

"Du weißt, wie Zwerginnen etwas bezaubern können?" Julius wusste es noch. "Dannn frag nicht noch mal", grummelte Millie.

Julius lagerte seine Tageserlebnisse ins Denkarium aus, als die allabendliche Gutenachtschlacht zwischen der Neugier und der Müdigkeit seiner Tochter zu Gunsten der Müdigkeit entschieden war. Julius betrachtete danach noch einmal die kurze Unterredung mit Belles Mutter. Millie war dabei und hörte, wie Nathalie ihren baldigen Kindersegen erwähnte.

"Da sag du noch einmal, dass Oma Line sich lange rangehalten hat, Monju. Abgesehen davon ist in diesem Club sicher noch ein Platz für deine Mutter frei, wenn ein Schwager namens Merryweather ankommt."

"Dann hoffe ich mal, das meine Mutter und Lucky noch früh genug dran denken, wenn ein paar Rambos im US-Zaubereiministerium meinen, sie hinhängen zu wollen, wenn sie nicht bei denen mitmachen will."

"Dann soll Martha zu denen vom LI rein", knurrte Millie. "Oder die klemmt sich Lucky unter den Arm und zieht zu uns nach Millemerveilles um, wenn die die nicht in den Staaten haben wollen."

"Dann hätte die gleich bei Sandrines Maman anfangen können", grummelte Julius. Millie nickte und grinste: "Denkt die sicher auch so", sagte sie.

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Der Premierminister Großbritanniens war froh, dass er den langen Tag überstanden hatte. Die Folgen des 11. Septembers hielten die Welt weiterhin in Atem. Jetzt, wo er auch noch mit seiner Partei einem Feldzug gegen die Taliban zugestimmt hatte, gährte es in England, Schottland und Wales. Längst nicht überall waren die Menschen für den Kriegszug. Denn es war jedem klar, dass die Untat vom 11. September nur von einer kleinen Gruppe von Fanatikern ausgeführt worden war. Allerdings, und das wollten diese Friedensapostel nicht wahrhaben, mussten die Drahtzieher dieser Sauerei einen sicheren Unterschlupf haben, Ausbildungslager und dergleichen mehr. Diese zu finden und auszuheben war wichtig, um Nachahmungen von vorne herein zu verhindern. Allerdings wusste der Premierminister, dass die ganze Sache sehr plötzlich entschieden worden war. Was würde sein, wenn die NATO ähnlich in Afghanistan scheiterte wie die Sowjetunion? Was war, wenn die ersten toten Zivilisten in den Medien erwähnt wurden? Vor allem, was geschah nach einem erfolgreich beendeten Krieg? Frieden zu schaffen und Frieden zu erhalten war oftmals schwerer, als jemandem den Krieg zu erklären. Er selbst hatte gehofft, sein Land in ein friedliches Jahrhundert zu führen, es noch mehr aufblühen zu sehen und vielleicht zum Bestandteil einer friedlich geeinten Welt werden zu sehen.

Mit all diesen Gedanken im Kopf betrat der Premierminister gegen halb zehn Abends seine Privaträume in der Downing-Straße 10. Die Zahl der Leibwachen, die ihn selbst hier umgaben, war auf Beschluss seiner Sicherheitsberater erhöht worden. MI6, Scotland Yard und andere Sicherheitsbehörden hatten rund um sein Haus Wachen postiert. Doch worüber er sich besondere Gedanken machte waren Leute von diesem Kingsley Shacklebolt. Der hatte sich nämlich am ersten Oktober bei ihm im Büro eingefunden und ihm gesagt, dass es außer den Attentätern vom 11. September noch andere Terroristen gab, solche, die wie hingebeamt auftauchen konnten und sich in Wölfe oder Tiger verwandeln konnten und gegen gewöhnliche Feuerwaffen immun waren. Deshalb hatte dieser dunkelhäutige Hühne mit dem kahlen Schädel und dem goldenen Ohrring ihm fünf Leute zugeteilt, von denen er jedoch noch keinen persönlich kennengelernt hatte.

Big Ben schlug dröhnend und weithallend zehn Uhr abends. Zeitgleich pingelte die kleine Standuhr im Wohnzimmer des Premierministers. Seine Frau hatte sich mit einem Buch in das Schlafzimmer zurückgezogen. Tony Blair prüfte, ob die schusssicheren Jalousien vor den Sicherheitsglasfenstern herabgelassen waren. Vielleicht sah er sich noch etwas im Fernsehen an und hoffte dabei nicht sich selbst zu erleben, wie die Medien seine Aktionen zerlegten und nach dem jeweiligen Meinungsbild ihrer Geldgeber uminterpretierten.

Irgendwie fühlte er sich gerade nicht besonders wohl. Es war ihm, als würde er genau beobachtet. Hatten die Sicherheitsleute es etwa gewagt, seine Wohnräume mit Kameras zu spicken? Falls er sowas hier fand würden seine achso gut meinenden Sicherheitsberater aber gehörigen Ärger bekommen. Der Premierminister hoffte, nicht einer unnötigen Paranoia zu erliegen. Paranoid war die ganze westliche Welt seit den Anschlägen von New York schon genug.

Der Regierungschef des vereinigten Königreiches wollte gerade den Großbildfernseher einschalten, als es leise ploppte und ein etwa einen Meter achtzig großer Mann mit dunkelbraunem Haar in einem Konfektionsanzug mitten im Wohnzimmer stand und einen Holzstab auf den Minister richtete. "Maneto!" hörte er die Stimme. Der Premierminister erstarrte unverzüglich wie eingefroren. Doch er konnte noch atmen und klar denken. Wenn er nicht gewusst hätte, dass es solche Sachen gab, hätte es ihn sichtlich schockiert. Der Braunhaarige sah den Minister an, grinste überlegen und wandte sich dann dem Flur zu. Womöglich wollte er zu Blairs Frau und diese auch bewegungslos zaubern. Da zischte es laut. Der Eindringling fuhr herum. grünlicher Nebel quoll aus einer unsichtbaren Quelle. Der Eindringling hob den Stab zum Kopf. "Expelliarmus!" rief eine andere Männerstimme, die noch sehr jung klang. Ein scharlachroter Blitz zuckte durch den Raum und prellte dem Eindringling den Zauberstab aus der Hand. Der Eindringling erstarrte. Dann schien es, als erstarre er zur Salzsäule. Er erzitterte regelrecht. Tony Blair hielt die Luft an. Er wusste, dass es ein Gas sein musste, was in den Raum geblasen worden war. Der Grüne Nebel füllte den ganzen Wohnraum aus. Jetzt hörte das Zischen auf.

Tony Blair kämpfte darum, nicht einatmen zu müssen. Der Eindringling stand indes genauso starr da wie der Premierminister. Jetzt konnte Blair sehen, wie erst zwei dunkelbraune Laufschuhe, dann zwei dunkelgraue Hosenbeine, dann das Oberteil der Hose, dann ein weißes Hemd und eine dunkelgraue Jacke von unten nach oben in den Raum hineinwuchsen. Der unheimliche Vorgang endete mit einem Kopf mit schwarzem, wild wachsendem Haar und einem Gesicht, das zwei besondere Merkmale zeigte, zwei hinter einer altmodisch wirkenden Brille liegende hellgrüne Augen und eine Narbe, die quer über die Stirn ging und wie ein Blitz gezackt war. Der aus dem Nichts hervorgewachsene hielt mit der linken ein fließendes, silbernes Gewebe und mit der rechten einen Zauberstab. "Removete!" rief der neu dazugekommene Zauberer und deutete dabei auf den Minister. Schlagartig fühlte Tony Blair, wie seine Beweglichkeit zurückkehrte, als habe der andere sie wie eine Glühlampe eingeschaltet.

"Sie können normal Atmen, Sir, das Gas tut nur denen was, die einen bestimmten Trank getrunken haben und zugleich den Werwolfskeim in sich tragen", sagte der zweite Zauberer und blickte auf den wie versteinert dastehenden Eindringling.

"Moment, von Ihnen hab ich schon gehört", sagte der Premierminister. "Sie heißen Potter, Harry Potter, richtig?"

"Stimmt, Sir. Ich freue mich, Ihnen hier und heute helfen zu können."

"Sie habe ich also gespürt. Sie haben sich unsichtbar bei mir versteckt, um diesen Burschen da abzupassen, richtig?" fragte der Premierminister, jetzt seine alte Selbstsicherheit zurückgewinnend. Er fühlte und schmeckte zwar das fremdartige Gas, fühlte davon aber nicht mehr als ein sachtes Kitzeln in Nase und Lungen.

"Ich hatte meine Befehle, Sir. Ich bin noch nicht ganz mit der Ausbildung durch und habe vor vier Tagen den Auftrag bekommen, Sie gesondert zu bewachen, weil ich einen Tarnumhang habe, Sir."

"Die Unsichtbarkeit ist phänomenal, aber auch sehr gruselig", sagte der Premierminister und dachte daran, ob er mit diesen Hilfsmitteln nicht den Feldzug gegen den internationalen Terrorismus in wenigen Monaten erfolgreich beenden konnte. Andererseits, das wusste er von Kingsley Shacklebolt, waren Magie und magisches Zubehör in den Händen von Verbrechern wesentlich schlimmer als jede Bombe und jede Schnellfeuerwaffe. Allein schon, dass der Eindringling mitten in seinem gut abgeschirmten Wohnzimmer materialisiert war und dieser junge Bursche Harry Potter die ganze Zeit unsichtbar und unerfassbar hier herumgesessen hatte machte das überdeutlich.

"Ich verständige mal eben meinen Vorgesetzten", sagte Harry Potter. Er zog eine kleine Silberdose aus seinem Jacket und sprach hinein. Aus der Dose klang eine andere Stimme: "Den Eindringling identifizieren, wir haben hier draußn zwei schießwütige Leute, die gegen Normale Kugeln immun sind."

"Männlich, nordeuropäer, dunkelbraunes, gescheiteltes Harr, Augenfarbe mittelblau, Augen dicht zusammenstehend, trägt gewöhnliche Kleidung, keinen Anzug."

"Roy Willes!" erklang die Antwort aus der Silberdose. "Subjekt zum Abtransport sichern! Gute Arbeit!"

"Könnte ein Ablenkungsmanöver sein, Sir", sagte Harry Potter und blickte sich um. Doch zwei Minuten später wussten sie, dass sie es nur mit drei Werwölfen zu tun hatten. Roy Willes, der vor zehn Jahren die Thorntails-Schule in den Staaten besucht hatte, war wohl zu den Mondbrüdern gegangen, um dort mehr Anerkennung zu erstreiten. Blair und seine Familie sollten wohl gebissen und dann erpresst werden, nur dann den die Verwandlung beherrschenden Trank zu erhalten, wenn Blair eine entsprechende Politik machte.

Eine halbe Stunde später wurde Roy Willes abtransportiert.

"Auf jeden Fall können wir festhalten, dass das grüne Zeug tut, was es soll", sagte einer der Kollegen Harry Potters. "Wird die Mondbruderschaft sicher nicht freuen, dass wir einen ihrer Zauberkundigen erwischt haben."

"Die hätten das mit dem Trank ganz friedlich lösen können und dabei sicher auch mehr Mitsprache und Anerkennung kriegen können. Warum mit solchen Methoden?" wollte Harry Potter wissen.

"Weil man ihnen wohl zu oft die Tür vor der Nase zugeschlagen hat", grummelte sein Kollege. Der Premierminister, der der Unterhaltung zugehört hatte meinte dazu: "Sie haben Ihre Extremisten, wir leider unsere. Aus denen kann niemand wirklich schlau werden."

"Die entstehen da, wo Leute es leid sind, nur schöne Worte oder harsche Ablehnung zu hören zu kriegen", sagte Harry Potters Kollege. Dann teilten die beiden ein, wie die Downing-Straße 10 weiterhin bewacht wurde. Denn womöglich würden die Werwölfe wiederkommen, wenn sie erfuhren, dass der Premierminister nicht zu einem der ihren geworden war.

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Lunera wusste, was los war. Als Roy Willes sich nicht über die vereinbarte Verbindung gemeldet hatte, war ihr klar, dass das kleine Einsatzkommando gescheitert war. Gefangengenommen oder getötet, das war für die weizenblonde Lykanthropin völlig unwichtig. Ihr war nur wichtig, dass sie demnächst mit ungebetenem Besuch rechnen musste. "Fino, Roy ist erledigt! Der kennt unser Hauptquartier."

"Ja, aber nicht alle Schutzzauber", sagte Fino. "Mir macht Rabioso mehr zu schaffen. Der hat sich nach der unschönen Kiste von damals ganz zurückgezogen. Ich komme nicht mehr an den ran."

"Du meinst, er hat sich von uns losgesagt?" wollte Lunera wissen.

"Wenn er je wirklich bei uns war", seufzte Fino. "Öhm, ich hoffe, das Kind ..."

"Ist nicht von ihm", schnarrte Lunera. "Sonst hätte ich ihm das wohl auch schon gesagt", fügte sie hinzu. Dann deutete sie auf die Karte mit den abgesteckten Einsatzgebieten. "Dann können wir das weiße Haus auch vergessen. Ohne Willes ist da kein Hinkommen mehr und Wiesensaum will ich nicht in die Staaten schicken."

"Wenn ich dir nur einen bescheidenen Rat geben darf, Lunera, schicke keinen von uns mehr irgendwo hin. Die Tara-Gruppe rufe am besten auch wieder zurück, bevor da noch wwer von uns bei draufgeht."

"Du meinst, wir sollten uns entweder einigeln oder verschwinden?" fragte Lunera.

"Ich will dir nicht als Feigling erscheinen, Lunera. Aber mit Einigeln wird's nicht getan sein, wenn die tatsächlich rauskriegen sollten, wo unser Hauptquartier ist."

"Nur, wenn wir unmittelbar angegriffen werden, Fino. Sorge bitte dafür, dass wir dann ganz schnell verschwinden können!"

"Die Reina ist bereit, Lunera, wir können jederzeit damit abhauen. Willst du alle mitnehmen?"

"Alle, die mit uns mitkommen wollen, Fino."

"Und Rabioso?" fragte Fino.

"Ich denke, der will mir noch vorher das Rezept vom Lykonemesis-Trank abjagen. Sollte der offen gegen mich oder dich aufbegehren muss ich eben den letzten Ausweg nehmen", seufzte Lunera. Ein gewisses Unwohlsein beschlich sie. Sie wusste nicht, ob es von ihren anderen Umständen oder von der Sorge um die Zukunft ihrer Bruderschaft herrührte. Vielleicht kam es auch von beidem zusammen.

"Turbo hat die Sache mit Don Rico rumgeschickt. Sicher gibt's einige Zauberer, die darauf anspringen. Den brauchen wir also erst einmal nicht mehr zu fürchten", sagte Fino.

"Der Mensch ist gefährlich. Ich hoffe, die fluchen den nieder oder verwandeln den in was nützliches."

"Eine Windel oder einen Schnuller vielleicht?"

"Fino, irgendwo ist meine Humorgrenze", knurrte Lunera.

Nina betrat nach dem Anklopfen das Sprechzimmer. Sie sah sich prüfend um, ob sie verfolgt wurde. "Ich glaube, Rabioso macht Stimmung gegen dich und die, die dir zustimmen. Könnte bald zur Meuterei kommen, vor allem bei dem zunehmenden Bunkerkoller hier. Die Wertiger sind schon rammdösig genug."

"Hast du Angst?" fragte Lunera. Nina sah Fino und dann sie an und nickte behutsam. "Ist noch schlimmer als damals bei den Mädchenhändlern, als du mich mit diesem Keim angesteckt hast, Lunera."

"Das war nötig, um wegzukommen, Mädchen, und das weißt du. Außerdem habe ich dir geschworen, auf dich aufzupassen, solange du das willst. Am besten ziehst du gleich in die Nähe von meinem Zimmer hin, damit es bei Fall Höllensturm schnell geht."

"Plan lieber mal den Fall Tollwutepidemie ein, Lunera. Rabioso diskutiert mit den anderen, die keine Zauberer sind, ob sie nicht alle in Wolfsgestalt herumrennen und jeden anbeißen, der oder die ihnen im Weg herumläuft, Kind, Frau Mann. Die stellen sich sogar vor, in eine Babystation eines Krankenhauses reinzurennen und die ganzen Neugeborenen da zu beißen, damit die schon als Werwölfe groß werden. Das ist doch der blanke Wahnsinn."

"Wer hat sowas vorgeschlagen?" wollte Lunera wissen.

Rabiosos Braut Nela und ihr kleiner Bruder Gogo."

"Ich glaube, ich muss demnächst mal wieder eine klärende Sitzung abhalten", knurrte Lunera. Fino grinste.

"Insofern, dass die schon wissen, was die ganz klar wollen", feixte er. Lunera verzog das Gesicht und schnarrte bedrohlich: "Wenn Rabioso es schafft, welche von uns zu einfach so um sich beißenden Bestien zu machen, dann dauert es nicht lange, und die führen eine Werwolfabschussliste ein. Das kann und soll doch nicht unser Sinn sein."

"Was ist mit den Wertigern?" fragte Nina. "Ich hörte sowas, die würden schon von ihren Artgenossen gejagt, weil die eigentlich nicht bei uns sein dürfen."

"Die können nicht mal soeben um die Welt reisen. Hat Rabioso das rumgereicht, damit die noch angepiekter sind als so schon?"

"Anita, also Estrella Azul, hat gesagt, dass die Wertiger damit rechneten, dass sie eines Tages von ihren Artgenossen gefunden und hingerichtet würden, weil sie sich unerlaubt von ihrem Heimatort abgesetzt haben. Dann bringen es die ganzen Schutzzauber nicht mehr, Lunera!"

"Die Tigerleute machen mir echt die allerkleinsten Sorgen", schaltete sich Fino ein. "Mir macht nur Sorgen, dass Rabioso die hier verbliebenen Wertiger dazu anstacheln kann, seiner Tollwutarmee beizutreten."

"Ja, und dass er uns hier alle schön auf einen Haufen hat, um uns abzumurksen", meinte Nina. Lunera nickte. Dann gebot sie, sich in den zugewisenen Zimmern einzuschließen. Morgen wollte sie noch einen letzten Versuch wagen, die Operation Erntemond erfolgreich abzuschließen.

Als sie in ihrem Zimmer war bekam sie über die magischen Dosentelefone mit, dass die Tara-Gruppe kurz vor dem Zuschlagen von fliegenden Besen aus angegriffen wurde. "Die werfen Glaskugeln runter. Grünes Zeug quillt da raus und ... Hiiiiillllllföööö!" Das letzte Wort wurde immer länger und tiefer gezogen. Lunera hörte, wie der Wertiger Braunohr losbrüllte. Dann hörte sie ein Fauchen. Dem folgte ein langgezogenes Schmerzensgeheul. Sie nahm die Dose und warf sie unverzüglich in einen von Fino extra dafür gebauten Schredderkasten. Tara war auch erledigt. Wer immer hatte ein Mittel benutzt, dass selbst die mit Gasmasken ausgestatteten Werwölfe kampfunfähig machen konnte. Sowas konnte nicht mal eben in zwei Tagen hergestellt worden sein. Da fiel ihr ein, dass jemand wohl schon früher lebende Mondgeschwister eingefangen und mit ihnen experimentiert hatte. Konnte es sein, dass Don Rico -? Quatsch! Vielmehr war es wohl eines der gegnerischen Zaubereiministerien gewesen. Lunera fühlte, wie sich eine unsichtbare Schlinge um ihren Hals legte und langsam zuzog. Die Mondbruderschaft stand unmittelbar vor ihrer endgültigen Niederlage. Sie wusste das so deutlich, als habe ihr jemand gesagt, gleich alles in die Luft zu sprengen.

Lunera unterrichtete alle Vertrauten und auch Rabioso und Feuerkrieger über die gescheiterte Expedition. Sie erklärte die Operation Erntemond für gescheitert und legte fest, dass die Mondbruderschaft sich bis zum nächsten Vollmond in einem anderen Winkel der Welt treffen sollte. Rabioso verzog kurz das gesicht. Dann sagte er: "Glaubst du, die lassen uns dann in Ruhe, wenn wir uns jetzt totstellen oder was?"

"Zumindest haben wir dann wieder alle hier, um möglichst alle fortzuschaffen, wenn es doch zu einem Großangriff kommt", sagte Valentino. Rabioso funkelte den magielosen Werwolf an und schnarrte: "Du sei nur froh, dass Lunera dich in unsere Reihen reingebissen hat, aber Mitreden kannst du erst, wenn du mal mehr gemacht hast als an diesem Elektrorechner rumzuspielen oder dich von den Mädels hier anhimmeln zu lassen."

"Jeder macht die Arbeit, die er gelernt hat und auch kann, Rabioso", sagte Valentino. Die beiden starrten einander feindselig an. Die Sache zwischen ihnen war noch nicht vergessen. Lunera legte fest, dass bis übermorgen alle Außentrupps zurückzuholen seien, auch wenn sie kurz vor dem Angriffszielen standen. Die anderen willigten ein.

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Anthelia saß bei Romina Hamton und sah gerade eine Reportage über den begonnenen Afghanistan-Feldzug der NATO-Staaten. Wegen der dreitausend Menschen im Zwillingsturm würden wohl demnächst mehr als dreimal so viele sterben. Außerdem wurde die Führerin der Spinnenhexen das Gefühl nicht los, dass es Bush Junior nicht nur darum ging, die Terroristen zu finden. Er sprach von einem Kreuzzug, ja er benutzte wahrhaftig dieses Wort, das Anthelia immer wieder zu kleinen Wutanfällen treiben konnte.

"Die Wertiger, höchste Schwester, sind die alle von ihrer Königin instruiert worden, mit den Werwölfen zusammenzugehen?"

"Ich weiß was du meinst, Schwester Romina", erwiderte Anthelia. "Ich muss es wohl herausfinden. Genau deshalb wollte ich ja, dasss der Junge herausbekommt, wer von den namentlich bekannten Wertigern noch gewisse Ansprüche oder Kontakte in der Menschenwelt hat. Dieser Feuerkrieger, der mit dem einen Ohr, der bei der Westminster Abbey war, könnte darauf kommen, irgendwann seine eigene Fehde mit mir auszufechten. Gut, soll er es versuchen."

"Mit Magie kannst du ihm nicht beikommen, sobald er verwandelt ist", warnte Romina.

"Erzähl mir gütigst etwas neues, Schwester Romina! Außerdem muss ich nicht warten, bis er sich verwandelt hat. Und selbst dann, das beweist sein fehlendes Ohr, bin ich immer noch im Stande, ihm zuzusetzen. Das weiß er auch ganz genau."

"Cartridge will die nachgeburtliche Hexe in seine Dienste holen, beziehungsweise, Worthington will sie für seine Behörde klarmachen, Waterford auch."

"Martha Merryweather? Die sollen ihr bloß kein Haar krümmen", knurrte Anthelia. "Wenn sie zu denen will soll sie. Wenn nicht, sollen sie sie dort lassen, wo sie zufrieden ist!" Romina hörte und sah deutlich, dass Anthelia bei diesem Thema sichtlich verärgert war. Doch sie wagte nicht, ihre höchste Schwester nach dem Grund zu fragen. Anthelia nickte dann und sagte:

"Vielleicht kann ich sie ohne Gewaltandrohung davon überzeugen, dass sie bei uns besser aufgehoben ist."

"Sie wird nicht darauf eingehen, höchste Schwester", wagte Romina einen Widerspruch.

"Ich habe Zeit", erwiderte Anthelia darauf.

Eine Stunde später erfuhren die beiden Hexen, dass Vengor in Tschechien, das bei den Magiern immer noch Böhmen genannt wurde, einen unterschlupf betrieben hatte, in den er wohl viele Menschen hineingekarrt hatte. Eine Truppe Zauberer wollte ihn stoppen und war seitdem verschwunden.

"Das ist das eigentliche Problem", knurrte Anthelia. "Dieser Lord Vengor will noch mehr von den Kristallen haben. Wenn er genug davon hat kann er die schlimmsten dunklen Artefakte damit herstellen, stofflich greifbare schwarze Spiegel zum Beispiel."

"Dann sollen wir ihn auch weiter suchen?" fragte Romina.

"Auf jeden Fall", sagte Anthelia.

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Die letzten Truppen waren entweder zurückgekehrt oder im Einsatz verlorengegangen. Lunera wusste nicht, was genau passiert war. Das machte ihr sichtlich zu schaffen. Vielleicht, dachte sie, hätte sie ohne die langsam in Fahrt kommende Hormonachterbahn der voranschreitenden Schwangerschaft kühler und zielgenauer überlegt. Doch jetzt war der Kessel eh umgefallen. Sie hatte am fünfzehnten Oktober verkündet, dass die Mondbruderschaft sich mit den Wertigern in ein anderes Versteck zurückziehen und dort erst einmal genug Lykonemesis-Trank brauen wollte. Feuerkrieger hatte dagegengesprochen und gesagt, dass er nicht dafür aus dem einen Urwald geflüchtet war, um in einem anderen Urwald oder auf einer kleinen Insel weiterzuversauern und dann noch ohne Gefährtin. Außerdem sei er auch deshalb losgezogen, weil er dachte, die Werwolfbruderschaft werde ihm zum Dank für die Hilfe gegen die schwarze Spinne helfen. "Ihr seid doch alles nichts als kleine Heißluftballons, zahnlose Bettvorleger!" brüllte er noch, als ihm und den noch existierenden zehn Wertigern klargemacht worden war, dass es keine weiteren Einsetze mehr geben würde. Darauf hatte Lunera mit einer selbst für sie unheimlichen Kaltschnäuzigkeit geantwortet:

"Du willst dich mit der schwarzen Spinne anlegen, sie für dein abgebissenes Ohr erledigen? Kein Thema, du kannst jederzeit an einen Ort deiner Wahl geportschlüsselt werden und da zusehen, wie du alleine zurechtkommst, Einohr. Wenn die anderen von deiner Art da mitmachen wollen kein Problem. Ich lasse euch gerne von Fino einen Portschlüssel machen, der euch irgendwo auf der Erde absetzt, solange es nicht der Meeresgrund ist. Willst du das?"

"Damit du denen vom Ministerium noch stecken kannst, wo wir sind und die uns abfackeln?" schnarrte Feuerkrieger. "Nix, Mädchen, wir bleiben erst mal bei dir, bis wir sicher sind, dass ihr uns nicht in den Arsch tretet."

"Klar, damit deine anderen Artgenossen uns jagen, weil sie dich endlich aus der Welt haben wollen", brüllte einer der Werwölfe, die offen für Rabiosos Seite eingetreten waren, die Erntemondoperation in einen Blutmondsturm umzuwandeln. Feuerkrieger wollte erst aufbegehren. Dann musste er nicken. "Könnte sein, dass die hinter mir her sind. Aber hinter den anderen nicht. Deshalb bleibe ich bei euch, damit ihr mich im Notfall anderswo hinbringen könnt. Was ist mit den anderen?" Er wandte sich an seine Artgenossen. Acht von denen wollten von den Werwölfen weg, aber nicht per Portschlüssel. Fino warf Lunera einen kurzen Blick zu. Diese nickte schwerfällig. Dann erlaubte sie, die acht Wertiger durch einen der Seitenstollen aus dem Höhlensystem hinauszulassen. Sie durften sich aber erst mindestens zehn Laufminuten vom Eingang entfernt verwandeln, um die Schutzzauber um die Festung nicht zu stören. Feuerkrieger bekräftigte diesen Befehl. Dann sahen sie zu, wie die Wertiger abzogen. Nicht wenige Werwölfe waren darüber sehr erleichtert.

Es war am 16. Oktober, als mitten in der Nacht ein Alarmhorn loströtete. Feuerkrieger hörte keine fünf Sekunden danach ein Klopfen an der Tür. Der Wertiger sprang aus dem Bett. Er schlief seit den letzten Wochen immer vollständig bekleidet, um möglichst schnell abreisen zu können.

"Feuerkrieger, wir müssen. Höllensturm ist eingetreten", sagte Rabiosos Stimme.

"Ach, und du darfst mich abholen?" fragte der Wertiger.

"Darf nicht, will aber. Eine bessere Gelegenheit gibt's nicht. Komm also!"

"Ich komme", knurrte der Wertiger. Er blickte auf die Reisetasche, die mit einigen Sachen gepackt war. Brauchte er das Zeug? Besser war es, wenn er es mitnahm. Er schlüpfte in seine schweren Stiefel, schnappte sich die kleine Tasche und lief zur Tür. Rabioso wartete schon mit Nela und Gogo davor.

"Lunera hat uns zur letzten Gruppe eingeteilt. Aber das kann die Kleine knicken. Soll die doch mit Fino und disem Rechnerklapperer glücklich werden."

"Wie kommen wir hier weg?" fragte Feuerkrieger, während rings umher die ersten Evakuierungsgruppen zu ihren längst eingeteilten Portschlüsseln gingen.

""Wenn die da draußen anfangen, unsere Festung zu berennen."

"Achtung, Höllensturm! Höllensturm! Alle eingeteilten Gruppen zu ihren Portschlüsseln."

Es klang laut wie schwere Hämmer auf Ambosse. Die Angreifer versuchten, die aufgespannten Schutzzauber niederzureißen.

"Los, weg hier!" Rief Rabioso. Feuerkrieger rannte hinter den drei Werwölfen her.

"Kommen noch welche von denen mit, die für dich einstehen?" fragte Feuerkrieger.

"Jawoll", erwiderte Rabioso. Wieder krachte es laut und nachhallend von draußen.

"Da in den Gang rein!" rief Rabioso.

"Rabioso, Feuerkrieger, Nela, Gogo, sofort zu mir in die Zentrale!" hörten sie Luneras Stimme über einen von Fino und Rabioso eingerichteten Rundrufzauber. Elektrisches oder elektronisches ging jetzt eh nicht mehr.

"Die hat's geblickt, dass wir der gerade stiften gehen", grummelte Rabioso. Dann riss er eine Tür auf, hinter der ein altes Betttuch bereitlag. "Alle da drauf!" rief er. Vier weitere Werrwölfe mit MPs tauchten auf und sprangen auf das Betttuch. "Rabioso, ven aqui inmediatamente!!" schrillte Luneras Stimme durch alle Gänge und Hallen. Da krachte es wieder. Es folgte ein Geräusch wie eine durchreißende Papierseite. "Das War also Finos großartiger Protego Totalum!" schnarrte Rabioso. "Wenn die was machen, um die Schlüssel zu blockieren?" fragte einer der vier dazugestoßenen Werwölfe, der kein Zauberer war.

"Dazu müssen die erst die ganzen Schilde und Sperren runterreißen, um neue Sperren hochzuziehen, Jungs", beruhigte sie Rabioso. "Okay, wir seilen uns ab, Leute!"

"Nicht so hastig, Rabioso!" rief eine wütende Männerstimme von der Tür her. Zwanzig Männer in kampfanzügen mit Schusswaffen stürmten vor. Rabioso rief ihnen etwas auf Spanisch zu. Dann warf er eine kleine Kugel. Diese zerplatzte und zog innerhalb einer halben Sekunde eine Mauer hoch, die die gesamte Raumbreite und Höhe ausfüllte. "Bis die da durch sind sind wir weg!" rief Rabioso! Dann zog er noch an einer versteckten Schnur. Etwas klickte. Dann rief er: "Luna Nueva!" Das war der Auslöser für das als Portschlüssel verzauberte Betttuch.

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"Der haut uns echt ab. Seine zwei Schoßhunde und die vier Draufgänger, die er schon im Urwalt mithatte", knurrte Fino, der auf einer leuchtenden Karte die sich bewegenden Bewohner der Festung überblicken konnte. Lunera rief noch einmal nach Rabioso. Doch es war sinnlos. Dann sah sie, wie acht Bewohner auf einmal verschwanden. Gleich darauf erfolgte ein lauter Knall, und auf der Karte erschien eine Zone tiefrot markiert.

"Der hat doch echt eine Mine in dem Raum gezündet", schnarrte Valentino. "Die Wertiger, wo sind die beiden restlichen Wertiger?" wollte Lunera wissen.

"Die sind zu Tor eins. Das wird gerade mit einer magischen Ramme beharkt. Die wissen, dass die mit Zaubersprüchen nicht durchkommen. Und unsere Venusfalle hat schon zehn von denen geschluckt und verdaut", lachte Fino.

"Mann, du redest von Menschen, die mal eben gestorben sind", wimmerte Nina, die neben Fino bereitstand. Valentino meinte dazu:

"Schon heftig, in einem Raum die Oberflächenbedingungen auf der Venus nachzubauen und die, die da reinapparieren so mal eben mit neunzig Bar bei vierhundertfünfundsiebzig Grad schockzurösten."

"Die mussten doch nicht gleich versuchen, zu uns reinzuapparieren", meinte Fino. Dann hörten sie ein warnendes Klingeln. "Unser zweiter Zauberabwehrwall ist gerade zusammengebrochen. Die müssen zu hundert Leuten draufhauen. Wenn der dritte Wall einstürzt müssen wir weg sein, sonst könnten die was gegen die Portschlüssel machen."

"Die Ramme ist fast durch das Tor!" rief einer von Finos Assistenten, der auf einer anderen Karte den Zustand der Wege überwachte. "Höhle davor wegsprengen. Am besten gleich auch die vor Tor zwo!" rief Fino auf Englisch, weil der Assistent außer Niederländisch nur Englisch konnte.

"Alle sind an ihren Schlüsseln", sagte Fino. "Dann weg!" rief Lunera und rief in einen Trichter hinein: "Vollmonduntergang!" Das war zum einen ein Auslöser für alle Portschlüssel, zum anderen aber auch der Auslöser für eine in nur sechzig Sekunden stattfindenden Selbstvernichtung der ganzen Anlage.

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"Immer noch kein Mentijectus möglich?" rief Pataleón, der als ortsansässiger Zaubereiminister die Aktion Otoño de los lobos - Wolfsherbst - leitete. Darauf hatten sich die anderen beteiligten Zaubereiminister Europas und auch der USA und Mexikos geeinigt, die es sich nicht nehmen ließen, den massierten Großangriff persönlich zu beobachten. Über siebenhundert Zauberer und Hexen bestürmten mit Flüchen und Schwächungszaubern den Berg, um den eine wabernde Glocke stand.

"Unser Freiwilligentrupp konnte nicht melden, ob er sicher appariert ist", sagte einer von Pataleóns Leuten. Cartridge bat auf Spanisch um Gehör. Er präsentierte einen kleinen Apparat, den seine Thaumaturgen gebaut hatten. Jean Taffy, einer seiner Inobskuratoren, hatte das Gegenstück dazu mitgenommen. Es zeigte die Umweltbedingungen am Ort einer Apparition. "Wenn es nach dem Gerät geht sind die in neunhundert Metern Meerestiefe bei fast fünfhundert Grad Celsius gelandet. Das konnten die natürlich nicht überleben."

"Haben Ihre Leute diese Duotectus-Anzüge an, Armand?" fragte Pataleón den französischen Kollegen.

"Die schützen den Träger, aber nicht die Zauberstäbe. Da haben wir leider noch nichts, was das Zaubern bei diesen Extremtemperaturen und -drücken erlaubt. Aber daran wird gearbeitet", sagte er. Gerade wankte die dritte von vier Schutzglocken unter dem Ansturm der Angreifer, als die Erde erbebte und der halbe Berg ins Rutschen geriet. "Rückzug! Nicht disa... Mist!!" Pataleóns Rückzugsruf kam an, doch zwanzig seiner Leute, die ganz nahe dranstanden, wollten den herabregnenden Felstrümmern durch Disapparition entgehen. Wenn der Höllenofen, der die Locattractus-Falle bildete, noch stand, waren die zwanzig jetzt tot.

"Rückzug ohne Apparieren, Besen herbeirufen!" befahlen die Zaubereiminister, die wie Feldherren ihre jeweiligen Kontingente kommandierten. Da schwirrten auch schon die ersten Flugbesen heran. Einige wurden von niederstürzenden Felsen getroffen und zerschlagen. Doch das machte nichts. Wo einer ohne Besen war wurde er von seinem Nebenmann mitgenommen. So entstanden mehr als zweihundert Besentandems, während der Berg immer mehr zusammenkrachte. Die Erde bebte immer wilder. Risse klafften auf. Die ganzen unterirdischen Gänge unter den Füßen der angerückten Zauberer und Hexen stürzten in sich zusammen. Was darüber war rutschte sofort nach. Dabei kamen zehn weitere Zauberer, die ihre Besen noch nicht hatten ums Leben. Doch der Großteil der alliierten Streitmacht schaffte die Flucht vor den niedergehenden Felsen und Staublawinen. Der Berg, in dem die Festung der Mondbruderschaft versteckt gewesen war, sank donnernd und dröhnend in sich zusammen.

"Abzählen!" riefen alle Minister ihren Unterführern zu. Der Zählappell ergab, dass vierzig Beteiligte den Einsatz nicht überlebt hatten, darunter auch Pataleóns Neffe Sergio Tertio Riofuerte.

"Wer glaubt, dass die sich mal eben von ihrem ganzen Höllenberg haben begraben lassen?!" rief Pataleón in die Runde der Versammelten. Wo die Beteiligten kein Spanisch konnten mussten sie auf die Übersetzung ihrer Kollegen warten. Doch alle schüttelten die Köpfe. "Die haben sich abgesetzt, und wir wissen nicht wohin."

"Mit anderen Worten, es geht weiter?" wollte ein dreißig Jahre alter Italiener von Pataleón wissen. Shacklebolt übernahm die Antwort:

"Die haben gelernt, dass es so jedenfalls nicht geht. Entweder werden die sich jetzt sehr tief ducken und warten, bis keiner mehr von ihnen spricht, oder die werden sich in alle Winde verstreuen, um so gut es geht in die restliche Menschheit einzusickern. Ob sie dann noch mal sowas wie Erntemond starten wissen wir natürlich nicht. Ich möchte jedoch, wo gerade so viele Kollegen hier sind, den bescheidenen Vorschlag machen, dass wir unsere Umgangsformen gegenüber Werwölfen verbessern und entsprechende Gesetze auf den Weg bringen, um Terroristen wie den Mondbrüdern jede Sympathiegrundlage zu entziehen."

"Das können wir gerne bei einer Konferenz in einer Woche klären", sagte Güldenberg auf Spanisch. "Allerdings hätte ich da gerne den Kollegen Arcadi mit dabei."

"Dann müssen wir wohl alle nach Moskau", sagte Grandchapeau. "Der Kollege Arcadi hat mir persönlich geschrieben, dass ihn wichtige Geschäfte in Russland festhalten und er in den nächsten Monaten nicht mehr verreisen kann." Das war glatt gelogen. Aber die Ministerkollegen mussten ja nicht wissen, dass Arcadi sich gegen Grandchapeaus Abgesandte vergangen hatte und deshalb für zehn Jahre auf Auslandsreisen verzichtete, um nicht doch noch vor den internationalen Zauberergamot wegen massiven Vertrauensbruchs und versuchter Einflussnahme auf andere Zaubereiministerien verurteilt zu werden.

"Sollen wir alles so lassen oder ausgraben?" fragte Tessa Highdale ihren Zaubereiminister. Dieser schüttelte den Kopf. "Lass den Toten ihren Frieden, Mädchen. Ich hoffe, die Überlebenden lassen uns den unseren."

"Haben die noch Wertiger mitgenommen, oder streunen diese verflohten Riesenkatzen jetzt noch irgendwo in der Gegend herum?" wollte Lucienne Sousétoiles wissen, die hinter Ornelle Ventvit auf dem Besen saß.

"Das soll der Señor Pataleón gerne überprüfen", meinte Ornelle zu der magielos geborenen Werwölfin.

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Julius hoffte, dass die Abteilung für magische Wesen nicht für alle Zeiten so entvölkert dalag. Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, bei der unter S7 laufenden Operation Wolfsherbst mitzumachen. Doch zwei Umstände hatten das ihm doch ausgetrieben. Da war zum einem seine direkte Vorgesetzte Ventvit, die ihm den unmissverständlichen Befehl erteilt hatte, ihrem Stellvertreter Delacour zu assistieren, der im Ministerium Stallwache hatte. Zum anderen hatte ihm Temmie, die geflügelte Riesenkuh zumentiloquiert, dass sie leichte Erschütterungen des magischen Gewebes verspürt habe. Der erwartete Feind schien sich zu regen. "Dein Wissen über ihn ist zu wichtig, als dich bei einem Kampf mit den fehlgeleiteten Zweigestaltlern töten zu lassen", hatte sie ihm unmissverständlich unter die Schädeldecke gesetzt. So war Julius während des ganzen 16. Oktobers im Ministerium und half Pygmalion, der auch die Hauselfenbehörde und die Verbindungsbüros für Zwerge und Kobolde mitversorgen musste. Als er erst spät am Abend nach Hause zurückkehrte war er entsprechend müde.

Am nächsten Morgen traf Julius seine Kollegen wieder. Die meisten waren sichtlich erledigt, wollten am liebsten Sonderurlaub haben. Ornelle gab ihm einen ausführlichen Ereignisbericht zu lesen. Er erkannte, wie gut die Zauberer bei den Werwölfen gewesen waren. "Sie hätten die Festung eigentlich wie die Friedenslager einhüllen können. Aber offenbar hätten sie dann nicht so unbefangen mit Portschlüsseln herumwerkeln können", sagte Ornelle. Julius war auf jeden Fall froh, dass Ornelle wieder da war. Sie bemerkte dazu ironisch:

"Wieso? Pygmalion wäre dann ganz auf meinem Stuhl gelandet und sie gemäß Personalnotverordnung Nummer sieben automatisch zum vollwertigen Truppunterführer befördert worden. Ihre Referenzen hätten eine solche vorzeitige Promotion eindeutig gerechtfertigt."

"Na ja, aber dann müste ich schon alles können, was ich noch gerne lernen möchte", sagte Julius. Ornelle lächelte ihn an und umarmte ihn. "Schön hast du das gesagt, mein Junge."

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"Bienvenidos en la Casa Mariposa!" begrüßte Rabioso seine Mitflüchtlinge, als ihr Portschlüssel sie in der Mitte einer pompösen, von mehr als zwölf Säulen getragenen Eingangshalle abgesetzt hatte. Der Boden bestand aus rotem und weißem Marmor, der schachbrettartig angeordnet war. Die Wände wurden von Mosaiken verziert, die ein und dieselbe Landschaft zu unterschiedlichen Tageszeiten darstellte. Dies war zum einen an der an verschiedenen Stellen dargestellten Sonne zu erkennen, sowie an einer bei Vollmond wiedergegebenen Landschaftsaufnahme. Von Wäldern bewachsene Berge mit schneeweißen Gipfeln dominierten diese Landschaftsdarstellung. Die Decke war mit einem leicht bewölkten, ansonsten blauen Himmel bemalt, an dem eine große, gelbe Sonnenscheibe mit mindestens zwanzig weit ausgreifenden Strahlen vorherrschte. Feuerkrieger erkannte auch ohne großen Kunstverstand, dass in dieser Halle viel Aufwand betrieben worden war.

"Was ist denn das für'n Saal?" fragte Feuerkrieger. Rabioso grinste feist und deutete um sich herum und dann von oben bis unten. "Das ist nur die Eingangshalle, Freund", sagte Rabioso auf Englisch. Er deutete auf die Wand, die die Waldberglandschaft bei Sonnenaufgang darstellte. Dort befand sich auch das drei Meter hohe, zweiflügelige Eingangsportal, dessen Innenseite derartig bemalt war, dass es in die gezeigte Landschaft passte. Durch die mehr als zwei Meter über dem Boden angebrachten breiten Fenster flutete Tageslicht. Feuerkrieger wollte wissen, wo genau das Haus stand.

"Pyrenäen", sagte Rabioso. Dann deutete er auf eine Stelle in der Wand mit der Vollmondnachtlandschaft. Alle seine Begleiter sahen in diese Richtung. Feuerkrieger konzentrierte sich. Ja, an einer Stelle wirkten die verwendeten Farben um eine Winzigkeit schwächer, nicht so glänzend wie sonst. Rabioso ging auf die angezeigte Stelle zu und klappte eine handtellergroße, quadratische Platte hoch, hinter der ein Schlüsselloch und ein Drehknauf zu erkennen waren. Rabioso zückte einen großen Schlüssel mit silbernem Bart und steckte ihn in das Schlüsselloch. Nach drei Umdrehungen drehte der rothaarige Werwolf den Knauf. Leise knarrend glitt eine Tür nach innen auf. Sie führte zu einem Treppenhaus. Rabioso winkte seinen Begleitern, ihm zu folgen.

Durch das von kleinen runden Luken wie Bullaugen mit Tageslicht erhellte Treppenhaus ging es in den ersten Stock. Dort betraten sie einen breiten Flur mit dunkelbraunem Teppich. An den weißen Wänden hingen großflächige Bilder, die vielleicht von Malern aus dem 15. oder 16. Jahrhundert stammten, vielleicht aber auch nur gelungene Nachahmungen waren. Feuerkrieger hatte es nie mit Kunst und hätte Rabioso im Moment alles geglaubt, was er über diese alten Schinken erzählt hätte. Ihn hätte es aber auch nicht sonderlich interessiert, was da hing. Der Salon mit dem meterbreiten Kamin, den langen Ledersofas, den fünf thronartigen Ledersesseln und den Tischen bot Platz für mindestens dreißig Personen. Ein vierundzwanzigarmiger Kronleuchter sowie an den Wänden verteilte Leuchter mit künstlichen Kerzenflammen konnten bestimmt den ganzen Raum schattenfrei ausleuchten. Feuerkrieger empfand diese Einrichtung bereits als viel zu protzig. Er war in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen und hielt solche Sachen für Angeberei. Als angehender Zimmermann hatte er zwar auch schon solche Wohnräume besucht und mitgestaltet. Doch die, die so wohnten, hatten ihn meistens von oben herab behandelt, als notwendiges Übel, um ihren Protz hinzubekommen.

Hier werden wir die nächsten Vollmondphasen aushalten", sagte Rabioso erst auf Englisch, damit Feuerkrieger es verstand, um dann den mitgenommenen Mondbrüdern zu erklären, was ihre Abreise sollte. "Ich habe in den letzten acht Monaten immer genug Lykonemesis-Dosen abzweigen können, dass ich hier im Haus an die hundert Dosen habe. Die würden für uns hier glatt bald ein Jahr reichen. Aber ich will rausfinden, wie der Trank genau zu brauen ist. Deshalb werden wir hier alle solange nichts davon trinken, bis ich den Trank komplett verstanden habe und in beliebiger Menge nachbrauen kann. Solange bleiben wir alle hier. Denn ohne den Trank können wir uns nur bei Vollmond verwandeln, können dann aber nicht steuern, was wir machen." Als er diesen Teil seiner Ansprache auf Spanisch übersetzte murrten die mitgereisten Werwölfe. Auch Feuerkrieger gefiel diese Ansprache nicht. Sollten die etwa alle hier mehr als ein Jahr abhängen, ohne unter andere Menschen zu gehen. So fragte er Rabioso, was er bei der ganzen Sache noch zu tun hatte.

"Gib mir zwei Monate Zeit, damit ich den Trank in Grundzügen entschlüsseln kann, Feuerkrieger. Danach werde ich dich in der Nacht vor vollmond zu einem schön weit von hier entfernten Punkt bringen, wo du neue Artgenossen von dir machen kannst. Dazu hast du dann einen Tag und eine Vollmondnacht Zeit. Danach lese ich dich wieder auf und wir warten wieder einige Wochen, bevor du ganz woanders weitere Leute zu Wertigern machen kannst."

"Ach, und ich darf solange nicht aus dem Haus raus?" wollte Feuerkrieger wissen. Rabioso erkannte, dass der Wertiger wohl nicht bereit war, einige Monate zu warten. Deshalb sagte er: "Das Haus steht schön frei und ist durch den Fidelius-Zauber verhüllt, der es nur denen zeigt, denen ich als Geheimniswahrer ganz freiwillig erzähle, wo es steht. Lunera hat auch keine Ahnung, dass ich mein eigenes kleines Rückzugsgebiet habe. Und selbst wenn du oder sonst wer von denen, die jetzt alle hier sind von diesen Zauberstabschwingern gefangengenommen wird kann es keiner ausplaudern. Sobald du über die Mauer oder durch das Tor bist ist das Haus für dich unauffindbar. Also bleibe besser auf dem Grundstück! Es sei denn, du möchtest ganz auf dich allein gestellt herumlaufen und riskieren, von den Eingestaltlern erwischt und erledigt zu werden." Feuerkrieger verzog das Gesicht. Doch innerlich hatte er gerade eine wichtige Entscheidung getroffen.

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Außer Lunera und ihren magischen Mitbrüdern wusste niemand, dass der wie ein großer Blauwal aussehende Körper in einer von weit über das Meer ragenden Felsen versteckten Bucht eine vollendete Verschmelzung aus magischer Handwerkskunst und Technologien der magielosen Menschheit war. Die Reina de las Mareas, was Königin der Gezeiten bedeutete, war nur äußerlich einem Blauwal nachempfunden. Tatsächlich aber handelte es sich um ein mit magischen Antriebskräften vorankommendes, durch Härtungs- und Druckabweisezauber bis zum tiefsten Punkt der Weltmeere tauchfähiges, durch Lufterneuerungszauber und alchemistische Luftreinigungseinbauten für mehr als zwei Jahre ohne neue Luft auskommendes Unterwasserfahrzeug. Die Reina de las Mareas war sogar fähig, über Grund oder Festland zu gleiten. Dafür besaß sie versteckte Laufketten unter der Bauchseite. Wie jedes rein technische U-Boot verfügte auch die RDLM über Vorrichtungen, die den sich unter Wasser fortpflanzenden Schall einfingen, verstärkten und die Geräuschquellen orten und bestimmen konnten.

Tiburón Blanco - der weiße Hai, so nannten ihn die Mondbrüder, weil er vor drei Jahren noch ein Kampftaucher der spanischen Kriegsmarine gewesen war und zudem erstaunlich viel über die Schiffsbau- und Unterwasserlebenserhaltungstechnologien der magielosen Menschen wusste. Er war der wachhabende Offizier an Bord des walförmigen Unterseefahrzeuges. Zusammen mit Fino und Rabioso hatte er die Reina de las Mareas entworfen und gebaut. Fino und Rabioso hatten die Einrichtungen derartig bezaubert, dass Tiburón Blanco, der sich auch Tibo abkürzen ließ, mit einfachen Sprachkommandos steuern konnte.

Als Tibo in seinem von vielen Bildverpflanzungsluken und Kontrollinstrumenten angefüllten Steuerraum das schrille Läuten einer winzigen Glocke hörte wusste er, dass der Fall Höllensturm eingetreten war. Was dies hieß wusste der ehemalige Froschmann und Kampfschwimmer. Das Hauptquartier wurde gerade gestürmt und konnte sich nicht länger halten. "Planken auslegen!" rief er in eine silberne Muschel, die entfernt einem menschlichen Ohr ähnelte. Sofort begann es im Bauch der RDLM zu rumoren. Die drei der Landseite zuweisenden Luken wurden rasselnd entriegelt und nach außen geöffnet. Vorne im Kopf des Wals, oberhalb der linken Brustflosse und drei Meter vor der Wurzel der waagerechten Schwanzflosse oder Fluke entstanden kreisrunde Löcher im dümpelnden Körper des Wales. Laufplanken mit fließbandartigem Transportvermögen fuhren aus und verankerten sich von ganz allein mit dem felsigen Untergrund. Tibo, der in seinem Leben vor den Mondbrüdern Teniente Ruben Antonio Figueras Rodrígues geheißen hatte, blickte auf eines der viereckigen Bildverpflanzungsfenster. Darauf war eine kleine Hütte zu erkennen, deren Rückwand die über hundert Meter hohe Wand bis zum felsigen Überhang bildete. Aus dieser rannten gerade mehrere Leute heraus, die aus blauen Lichtspiralen herausgefallen waren. War eine Gruppe aus der Hütte heraus, glomm das blaue Glühen erneut auf und spuckte die nächste Gruppe in den Eingang der Hütte. Als Tibo endlich Lunera und Fino erkannte griff er zu einer weißen Muschel auf der Schreibablage seiner Station. "Wo ist Rabioso?" fragte er in die Muschel hinein.

"Desertiert, Teniente", knurrte Lunera aus einer ovalen Vertiefung rechts von Tibo zurück. "Er hat sich mit sechs Mitbrüdern und einem Wertiger abgesetzt."

"Verrät der uns?" wollte Tibo wissen. Lunera erwiderte, dass dies wohl unwahrscheinlich sei. Dennoch wollte sie schnellstmöglich ablegen. Am Ende konnten die Zauberer und Hexen doch noch den Weg der Portschlüssel verfolgen, auch wenn die Hütte gegen Portschlüsselortung eigentlich abgeschirmt war und auch so mit Zaubern belegt war, die nur solche Leute durchließen, die nicht das gewöhnliche Blut der Eingestaltlichen im Körper hatten.

Lunera teilte drei Gruppen ein. Sie bildete den Abschluss der Gruppe, die durch die Mittelluke an Bord kam. Als sie über die sich wie ein Fließband bewegende Planke hinweggelaufen und durch die Luke gesprungen war rief sie "Alle an Bord! Sofort ablegen, Tibo!"

"Luken dicht! Notfallablegemanöver!" rief Tiburón Blanco in die silberne Muschel seines Kommandopultes. Sofort schnarrten die ausgelegten Laufplanken in den Bauch der RDLM zurück. Krachend und rasselnd schlossen die halbkugelförmigen Luken. Keine fünf Sekunden später begann der angebliche Blauwal mit der Fluke zu schlagen. Ein Abstoßungszauber drückte das Fahrzeug zusätzlich aus der Bucht hinaus. Als die RDLM das offene Meer erreichte sackte sie bereits durch. Laut Tiefenloter hatte sie mehr als dreißig Faden Wassertife unter sich. Lunera enterte die Zentrale zusammen mit Fino.

"Wir bleiben erst einmal für vier Monate auf Tauchstation. Dann erkunden wir, ob unser Mondlichtungshaus im Amazonas-Urwald noch sicher ist oder ob wir besser ein anderes Landversteck finden müssen. Auch wenn wir mehr als zwei Jahre ohne Frischluftbetankung auskommen möchte ich nicht so lange ohne Sonnenlicht und Wind um mein Gesicht sein."

"Vier Monate?" fragte Tibo. Lunera bestätigte das. Er nickte. Die Zeit mochte reichen, um zu prüfen, ob die blonde Lucy, die von Lunera Honigmond genannt worden war, tatsächlich mit ihm Hochzeit und Flitterwochen und wenn's ging das ganze Leben verbringen wollte. So willigte er in das Unternehmen ein, sich erst einmal totzustellen. Dann fragte er nach den Wertigern.

"Die wollten nicht mitkommen. Die sollen ruhig die Zaubererwelt und ihre Artgenossen auf sich aufmerksam machen. Feuerkrieger hat sich ja schon vorher abgesetzt. Der hätte sicher seine Mitbrüder gegen uns aufgehetzt, sobald sich die Gelegenheit ergeben hätte." Fino nickte. Tibo blickte auf ein Gerät, das eine Verschmelzung aus Kalender und Uhr darstellte. Auf vierzehn sich drehenden Zahlenwalzen liefen die Tage, der Monatsname und die auf die Sekunde genaue Uhrzeit nach einer voreinstellbaren Zeitzone ab. "Also wir tauchen bis zum sechzehnten Februar zweitausendundzwei ab", sagte Tibo. Lunera nickte bestätigend. Sie dachte dabei daran, dass dann jeder sehen konnte, dasss Nina und sie auf Nachwuchs warteten. Bis dahin hatte sie sicher auch einen neuen Plan für das weitere Leben geschmiedet. Die Mondbruderschaft, wie Cortoreja und Espinado sie gegründet hatten, musste sich auf andere, weniger handgreifliche Weise erheben.

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Feuerkrieger hatte sich entschieden. Er würde nicht in dieser pompösen Villa bleiben, die von außen wirklich wie ein bunter Schmetterling gestaltet war. Eine fünf Meter hohe, ovale Mauer umgab das Grundstück, das in einen kleinen Park und einen Obst- und Gemüsegarten unterteilt war. Feuerkrieger nahm diese Eindrücke in sich auf und merkte sich, wo genau er über die Mauer klettern würde. Das Tor war mit Härtungszaubern belegt und mit einem Lebewesenmelder versehen. Da konnte er nicht durch.

Die hundertprozentige Giftverträglichkeit der Wertiger half Feuerkrieger, immer noch dann stocknüchtern zu bleiben, als die im Haus versammelten Werwölfe abends den Neubeginn ihrer Bruderschaft mit Wein und Whisky feierten. Nela war dazu abgestellt worden, aus den beiden großen Fässern zu zapfen. Sie sah dabei immer wieder zu Rabioso hinüber, der sich mit einem der vier anderen Werwölfe auf ein Wetttrinken eingelassen hatte. Feuerkrieger hörte das stumpfsinnige Lachen der immer betrunkener werdenden Werwölfe. "L-lykoooootschopia! Gönnauu so nnen wer das dann", lallte Rabioso gerade. Sie hatten sich einen neuen Plan ausgedacht. Feuerkrieger grinste, wenn er daran dachte, dass sowas gerne auch als Schnapsidee bezeichnet werden konnte. Demnach ging es darum, in jedem Monat mindestens zehn Frauen und fünf Männer zu Werwölfen zu machen, schön gleichmäßig über den Globus verteilt. Die Gebissenen sollten mit Portschlüsseln in dieses Haus verlegt werden. Doch zuerst wollte Rabioso rausbekommen, wie der Zaubertrank ging, der die Verwandlung beherrschbar machte. Solange wollte Feuerkrieger jedenfalls nicht warten. Lykotopia, das Land der Wölfe, wollte ihn ganz sicher nicht als Bürger haben.

Erst gegen zwei Uhr zogen sich die nun sichtlich schwankenden Wolfsmänner in die zugeteilten Einzelzimmer zurück. Nur Rabioso schaffte es, mit seiner Braut in das Hausherrenschlafzimmer zu gelangen. Feuerkrieger, der den Besoffenen nur gespielt hatte, konnte Rabioso hören, der sich abmühte, in seinem Zustand noch irgendwie Sex mit Nela hinzukriegen. Doch das war wohl ein Satz mit x, dachte Feuerkrieger. Endlich schliefen alle. Er nahm die kleine Reisetasche mit der ihm gnädig überlassenen Kleidung, öffnete sein Fenster und sprang einfach aus dem ersten Stock nach unten ins Gemüsebeet hinein. Als wäre er mal eben von einer hohen Bordsteinkante auf die Fahrbahn einer Straße gesprungen federte er den Aufprall locker durch und wetzte dann zur Mauer. Mit einem sehr kraftvollen Sprung schaffte er es, auf der Mauerkrone zu landen. Er lauschte, ob diese Aktion Rabioso alarmierte. Doch seine auch in menschlicher Gestalt übermenschlich empfindlichen Ohren verrieten nicht, ob Rabioso geweckt und gewarnt wurde. Eine halbe Minute verhielt Feuerkrieger auf der Mauer. Dann sprang er auf der anderen Seite hinunter. Kaum landete er mit einer kurzen Kniebeuge auf dem Boden, waren Haus und Ummauerung einfach nicht mehr da. Es war, als habe jemand es unter der darum herumliegenden Landschaft bedeckt. Feuerkrieger drehte sich um und tastete nach vorne. Er griff ins Leere. Dann lauschte er. Er hörte nichts außer weit entfernten Eulen und das leise Rascheln von Herbstlaub, das vom sanften Wind auf dem Boden entlanggetrieben wurde. Rabioso hatte recht gehabt. Das Haus war gut versteckt. Feuerkrieger hatte sich selbst ausgesperrt. Wenn Rabioso ihn nicht suchte und ihm genau zeigte, wo die Casa Mariposa stand, würde er es nie wieder finden. Doch das wollte er eh nicht. So nickte er der Stelle zu, wo eigentlich das Anwesen hätte sein müssen, wandte sich um und lief in einem leichten Trab davon. Für Menschen mochte er gerade mit der Geschwindigkeit eines Olympia-Sprinters unterwegs sein. Für ihn war das gerade leichtes Dauerlauftraining.

Eine Stunde lang lief Feuerkrieger durch das Tal, in dem das Schmetterlingshaus versteckt war. Dann erreichte er einen Berg, aus dem es merkwürdig hohl nachklang, wenn er aufstampfte. Er umwanderte den Fuß des Berges und fand einen Schienenstrang, der aus einer Tunnelöffnung in die Landschaft hinausreichte. Da stand sein Plan fest. Er würde mit der Eisenbahn fahren, ohne eine Fahrkarte lösen zu müssen. Er erkundete, ob er am Tunneleingang hinaufklettern und sich oberhalb bequem genug postieren konnte, um dem nächsten vorbeifahrenden Zug auf eines seiner Dächer zu springen. Nach drei Minuten Überdenkens und Einschätzens probierte er es aus. Nach vier Minuten hatte er den Weg, um sich bereitzuhalten. Er hatte beschlossen, nicht auf einen Personenzug aufzuspringen. Das würden die Passagiere mitbekommen, wenn etwas schweres aus drei Metern über ihnen auf das Dach plumpste. Da konnte er noch so leise aufkommen wie er wollte.

Zwei Stunden musste Feuerkrieger warten, bis er in der Ferne ein Licht sah. Dann hörte er das charakteristische Singen in den Gleisen und dann erst das ferne Rattern von Rädern auf Schienen. Er wartete, bis er die kraftvolle Diesellok erkannte, die wohl einen langen Zug hinter sich herzog. Als er zu seiner großen Zufriedenheit erkannte, dass es tatsächlich ein Güterzug war spannte er alle Muskeln an. Er durfte nicht zu früh abspringen, aber auch nicht erst, wenn der vorletzte Wagen im Tunnel verschwand. Die Lokomotive dröhnte unter ihm durch. Die Dieselabgase piesackten seine Nase. Dann ratterte der erste Wagen unter ihm durch, ein Kastenwagen. Er sah weiter hinten auch Kesselwagen für Flüssigkeiten. Da wollte er sicher nicht drauf landen. Er peilte den dritten Wagen hinter dem Zug an und pfiff über das wlaute Rattern hinweg. Das war ein Schüttgutwaggon mit Kies und Sand. Besser ging's nicht, dachte Feuerkrieger.

Der nun dreifach desertierte Wertiger schnallte seine Reisetasche mit dem Hosengürtel sicher auf dem Rücken fest. Dann federte er in den Beinen durch und stieß sich ab, als er den Zeitpunkt für günstig hielt. Er flog erst zwei Meter nach oben und dabei mindestens vier meter nach vorne. Dadurch erhöhte sich die relative Durchfahrgeschwindigkeit des Zuges. Daran hatte er nicht gedacht. Wenn er jetzt mit dem Kopf voran gegen einen der Wagen knallte konnte das ihn umbringen, Superkondition hin oder her. Er riss die Arme vor die Stirn und zog die Beine so weit an wie er konnte. Unter ihm ratterte und rumpelte der Güterzug in den Tunnel hinein. Zehn Wagen brausten unter dem fliegenden Wertiger hinweg. Dann kam einer der Kesselwagen. Wenn er darauf landete würde er unweigerlich abrutschen und herunterrollen. Dann konnte es ihm sogar passieren, dass er unter die Räder geriet. Konnte ihn das umbringen? Am Ende verlor er noch Hände, Arme oder Beine. Doch jetzt war alles zu spät. Der Kesselwagen glitt mit tackernden Rädern auf den Schienen unter ihm dahin. Es fehlten nur noch anderthalb Meter bis zum Aufschlag. Dann kam ein Wagen mit Flachdach, aber nicht der angepeilte Schüttgutwaggon. Feuerkrieger riss die Arme nach vorne und fing den Anprall ab. Er krallte sich fest, fühlte, wie die Gefahrenlage ihn in die Verwandlung zum Tiger zu treiben versuchte. Doch er konzentrierte sich darauf, ein Mensch zu bleiben. Er hielt sich mit aller Kraft am Dachrand fest, bis der Zug ihn auf seine Geschwindigkeit beschleunigt hatte, so dass er nur noch gegen sein eigenes Gewicht ankämpfen musste. Doch das war für seine erhöhte Kraft lächerlich klein. So zog er sich ganz beiläufig auf das Dach des Waggons hinauf und lief so schnell er konnte zum nächsten Waggon hinüber. Dort gab es eine Plattform. Er sprang darauf und fand eine Tür. Diese öffnete er und betrat den dahinterliegenden Raum.

Hier stapelten sich Kisten und Kästen. Am anderen Ende lag ein Mensch, ein Landstreicher, der wohl die Fahrt ebenso mitmachte wie der Wertiger. Feuerkrieger wollte keine unnötigen Zeugen für seine Reise haben. Er schlich zu dem schlafenden hin. Nach kurzem Einschätzen von Größe und Gewicht des Tramps packte Feuerkrieger so schnell zu, dass der schlafende Mann keine Gelegenheit mehr bekam, zu schreien oder sich zu wehren. Mit seiner übermenschlichen Kraft drehte Feuerkrieger dem Mann buchstäblich den Hals um, bis es laut knackte. Der im Schlaf überwältigte röchelte nur noch einmal. Vielleicht hatte er das noch nicht mal mitbekommen, dass ihn mal eben jemand ermordet hatte, dachte Feuerkrieger. Denn dem Mund des Getöteten entströmte ein selbst für Normalmenschennasen unerträglicher Alkoholdunst. Feuerkrieger zog sich ans andere Ende des Waggons zurück und postierte sich so, dass er eventuellen Kontrolleuren ein ähnliches Schicksal bereiten konnte wie dem ihm völlig unbekannten Landstreicher. Doch zu dessen Glück ließ sich für die nächsten Stunden kein Zugbegleiter blicken.

Als der Zug einen Bahnhof ansteuerte verbarg sich der Wertiger hinter der größten Kiste. Doch niemand kam, um diesen Wagen zu entladen. So fuhr er weiter, unbemerkt und auch nicht wissend, wo die Reise eigentlich genau hingehen sollte.

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"Rabioso erwachte am nächsten Morgen mit bohrenden Kopfschmerzen. Mann, wie hatte der sich am Abend zuvor besoffen. Als ihm dann langsam einfiel, dass sie gestern von Lunera abgehauen waren, weil eine Streitmacht von Zauberern und Hexen die geheime Basis stürmen wollte erinnerte er sich zumindest daran, den Wertiger Feuerkrieger mitgenommen zu haben. Neben ihm lag Nela, seine Auserwählte. Oha, wenn er mit der Liebe gemacht hatte, so besoffen er war, würde die ihn sicher bald in den Wind schießen und einen von den vier anderen nehmen, die sich auf Rabiosos Seite gestellt hatten.

Nela, die als einzige nüchtern genug geblieben war, um sich noch an alles erinnern zu können, bereitete ihrem Bräutigam ein Katerfrühstück. Der fragte mit grummeliger Stimme nach dem einohrigen Wertiger. "Den hat keiner hier zu sehen bekommen. Wenn der sich auch so mit Whisky vollgesoffen hat wie du liegt der vielleicht noch flach."

"Oh, neh, die sind giftimmun. Die können ganze Whiskyfässer exen, ohne auch nur beschwipst zu werden, wenn die einmal als Tiger rumgelaufen sind. Zumindest haben das Einohr und die anderen mal gesagt. Ey, kuck bitte nach, wo der is'!" Nela grinste. Ihr Auserwählter, gestern abend nur nicht mehr so frischer Hengst hatte "bitte" gesagt. Machte ihn der Kater höflicher? Sie feixte: "So wie du rummaulst könnte es sein, dass du den jetzt in deinem Schädel hast, Cariño."

"Das wäre wohl ein genialer Trick von ihm, mich fertigzumachen, weil ich den da nicht mit der Flüssiggasknarre kriegen kann. Oha, mein Schädel!"

"Solange du ihn fühlst ist er noch dran", spöttelte Nela. Sie hatte im Moment keine Angst davor, dass Rabioso handgreiflich werden mochte. Er stöhnte nur verdrossen. Sie verließ das Zimmer. Sie dachte, ob es wirklich so gut war, mit Rabioso anzubandeln. Gut, der war ein Zauberer. Aber wenn sie mit ihm guten Sex haben wollte sollte sie ihn vorher nicht zu viel trinken lassen.

Nela fand Feuerkrieger nicht. Niemand hatte ihn gesehen. Das Bett im Zimmer des Wertigers war unberührt, und die Reisetasche von dem war auch weg. Es dauerte dann nur noch eine Viertelstunde bis allen klar war, dass der einohrige Wertiger die Gunst der Stunde genutzt hatte, sich abzusetzen. Rabioso musste trotz bohrender Kopfschmerzen grinsen. Im Grunde war das wohl die bessere Lösung. Nachher hätte der sich noch an seiner Braut vergriffen und ihn ziemlich fies verladen.

"Lykotopia? Echt, den Namen habe ich mir ausgedacht?" wollte Rabioso wissen. Nela nickte. "Na ja, Trigo, der lange Blonde, hat auch den Namen Surf City zur Wahl gestellt. Aber das bringt ihr garantiert nicht, wenn du weiter mit mir zusammenbleiben willst."

"Was bringen wir nicht?" wollte Rabioso wissen.

"Von wegen zwei Mädchen für jeden Mann und so", schnarrte Nela mit unverkennbarer Eifersucht in Blick und Stimme. Rabioso war beruhigt, dass er es sich zumindest noch nicht mit ihr verscherzt hatte. Auch dass der Wertiger abgehauen war störte ihn nicht. Das Haus konnte keiner finden, dem er es nicht verriet. Also konnte der seine ganz eigene Sache durchziehen.

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Zwei Wochen hatte er als Blinder Passagier auf Güterzügen und Lastwagen gebraucht, um nach Deutschland zu kommen. In Frankfurt am Main hatte er sich mit Hilfe eines bunten Turbans und seinem Vollbart als indischer Sikh ausgegeben und war in ein Internetcafé gegangen, in dem vor allem ausländische Besucher verkehrten. Dort hatte er nach Philippa Westheim recherchiert und herausgefunden, dass sie seit zwei Jahren den Nachnamen Korndrescher trug und mit ihrem Mann Markus in einem Bungalow in einem der Nobelviertel von Berlin wohnte. Ihr Angetrauter war Sohn eines Bankdirektors und hatte gerade seinen Abschluss in Betriebswirtschaft geschafft und damit wohl die Voraussetzung erhalten, bald Juniorchef zu werden.

Außerdem hatte der einohrige Wertiger noch herausgefunden, dass Philippa schnell über die eine Nacht mit ihm weggekommen war und fast ein Jahr mit einem gewissen Konstantin Lichtberg alias Kolibri zusammen gewesen war, mit dem es wohl wild zugegangen war. Denn Feuerkrieger hatte nachlesen können, dass die Schwiegereltern von Philippa der Hochzeit eigentlich nicht zustimmen wollten, weil die Auserwählte ihres Sohnes "so ein umtriebiges Geschöpf" sei. Sie hatten wohl nur zugestimmt, weil Markus und Philippa vorgetäuscht hatten, bald ein Kind zu erwarten. Die Verwandtschaft war erst sechs Monate nach der Hochzeit darüber informiert worden, dass kein Kind unterwegs war. Tja, und bis heute hatten die zwei noch kein Kind hinbekommen. Vielleicht konnte dieser Korndrescher keine eigenen Kinder machen, dachte Feuerkrieger.

Halloween war nie das Fest von Rupert Möller alias Feuerkrieger gewesen. Doch dieses Jahr kam es ihm zu Pass. Denn so konnte er seine Sikh-Maskerade als Halloween-Kostüm ausgeben und trotzdem berlinern wie vor vier Jahren zum letzten mal. Er wollte als Kolibri auftreten, wenn er sicher war, Philippas Angetrauten alleine zu erwischen. Hoffentlich hatten die keine Bediensteten. Denn dieser Korndrescher sollte schnell und unauffällig um die Ecke gebracht werden. Wenn da auch nur ein Zimmermädchen war musste er das anders anstellen. Auf jeden Fall durfte dieser Korndrescher kein Wertiger werden.

Weil Rupert Möller alias Feuerkrieger keinen Alarm auslösen wollte hatte er beschlossen, die Rückkehr Korndreschers abzuwarten. Wie er sich dann Einlass verschaffen wollte wusste er schon.

Als er nur noch dreißig Meter vom Begrenzungszaun entfernt war meinte er, etwas würde ihn heiß und kalt durchströmen. Das Gefühl hielt jedoch nur eine halbe Sekunde vor. Er traute sich erst, weiterzugehen, als er sicher war, dass er nicht noch einmal derartiges verspüren würde. Er näherte sich dem Zaun und blickte hinüber zum Bungalow. Die Fenster waren natürlich verschlossen. Er lauschte auf Geräusche aus dem Haus. Doch außer dem Brummen eines Kühlschrankes oder einer Tiefkühltruhe vernahm er nichts. Er zog sich wieder zurück.

Gegen sechs Uhr abends röhrte der klotzige Geländewagen des Hausherren heran. Das Tor schwang von alleine auf und ließ den Wagen passieren. Feuerkrieger sah, wie der hochräderige Wagen auf den kleinen Garagenanbau zuglitt. Auch dort öffnete sich ein automatisches Tor und machte dem Wagen Platz.

Der einohrige Wertiger zählte in Gedanken drei Minuten ab, bevor er sich aus seiner Deckung wagte. Erneut meinte er, ein heißkalter Energiestoß würde durch seinen Körper jagen. Diesmal dauerte es aber nur eine Viertelsekunde. Der Wertiger blieb nur einen Moment stehen. Dann setzte er seinen Weg fort. Das war sicher nur die Aufregung, gleich seinen Nebenbuhler erledigen zu können und dann gemütlich auf seine Auserwählte zu warten. Die würde sich garantiert nicht in ein Tier verwandeln, zumindest nicht, bis er sie gebissen haben würde.

Am Tor klingelte der als Sikh verkleidete Wertiger und blickte ganz gelassen in das gläserne Auge der Videokamera. Zwanzig Sekunden nach dem wie der Glockenchor einer Kathedrale klingendem Türläuten kam eine ungehaltene Stimme aus den Rillen der im Tor verbauten Sprechanlage: "Ja, wer sind Sie?"

"'tschuldijung, Herr Korndrescher. Ick bin Konni Lichtberg, och Kolibri jenannt. Ick wollte frajen, ob hier Philippa Westheim wohnt. Ick bin jerade mit 'n paar Kumpels nach langer Zeit wieder in Berlin und wollte frajen, ob Philippa Bock uf 'ne Halloween-Sause hat."

"Moment mal, Sie heißen Lichtberg, allenernstes?"

"Steht in meenem Ausweiß drinne. Aber Freunde nennen mir Kolibri. Philippa kennt mir." "

"Ja, toll, ein Taliban, der sich Kolibri nennt. Haben Sie immer noch kein anständiges Deutsch gelernt? Philippa sagte schon ... Aber lassen wir das", raunzte die Männerstimme aus der Sprechanlage zurück. Damit hatte er aber schon verraten, dass er Philippa kannte und auch von Kolibri schon gehört hatte. So sagte er noch harsch: "Und da Philippa, meine Frau, diesen Abend bereits mit mir verplant hat, ist sie wohl nicht bereit, Sie und irgendwelche obskuren Freunde zu einer Halloween-Feier zu begleiten. Also verschwinden sie umgehend, bevor ich den Viertelwachdienst alarmiere!"

"Wat die Verkleidung anjeht, det issen Sikh, wat janz harmloses aus Indien. Außerdem lasse ick mir von Ihnen nüscht meine Sprache beleidijen. Ick bin mit Spreewasser jetauft worden und daruff bin ick stolz, dat det ma klar is", erwiderte Feuerkrieger. "Aber wenn Philly noch nich bei Ihnen is kann ick se och selbst frajen, ob se mit mir und den Kumpels Halloween feiert. Ick habe den alten VW-Bus noch, mit dem Philippa und icke vor drei Jahren diese superjute Spritztour nach Holland jemacht hamm, wenn se verstehen ..."

"Zu gut, Sie vulgäres Subjekt. meine Frau kann froh sein, sich bei dieser törichten Reise nichts eingefangen zu haben. Und jetzt verschwinden Sie umgehend", knurrte die Stimme aus der Sprechanlage.

"Is ja jut Meester. Ick kann die Bilder von Philly und mir ja den Kumpels och zeijen, wenn se nich' dabei is."

"Moment einmal, Sie führen Fotos von meiner Frau mit sich. Ihnen ist das Recht am eigenen Bild bekannt?"

"Wat?!" entgegnete Feuerkrieger. Er wusste, gleich würde der Typ ihm die Tür aufmachen.

"Meine Frau hat damals von Ihnen verlangt, sämtliche Bilder, auf denen sie zu sehen ist, zurückzugeben oder zu vernichten. Und jetzt behaupten Sie, Bilder von ihr zu haben? Die geben Sie unverzüglich heraus."

"Welche, die von der Strandfete oder die von unserem janz natürlichen Tanz im Zelt?" fragte Feuerkrieger und grinste verschmitzt in die Kamera.

"Von einem Zelt hat sie nichts erzählt. Ich will die Bilder sehen, damit klar ist, dass wir hier nicht übel verleumdet werden", blaffte die Sprechanlagenstimme. Im Tor surrte es. Feuerkrieger tat so, als sei ihm die Sache nicht ganz geheuer und blickte so gut er konnte hinter sich. Dann tat er erst einen kleinen Schritt vor und dann wieder zurück. Nach vier Sekunden Bedenkzeit wagte er den Schritt nach vorne. Das Tor war inzwischen weit offen. Feuerkrieger durchquerte es und ging ganz ruhig auf das Haus zu. Dessen Tür öffnete sich, und der in einem lässigen Jogginganzug steckende Hausherr winkte ihm verbissen zu. "Kommen Sie her und treten Sie ein, bevor noch wer von den Nachbarn ihrer gewahr wird!" zischte Korndrescher.

Feuerkrieger betrat den Bungalow. Er sah, dass Korndrescher hinter seinem Rücken etwas hervorholte. Ehe Feuerkrieger zurückdurch die Tür konnte fiel diese zu. Da hielt ihm der Hausherr doch glatt eine Beretta unter die Nase und hatte die sogar auch schon entsichert.

"Och nöh, wenn se mir abknallen wollen bitte nur mit 'ner Magnum", bemerkte Feuerkrieger zu der Waffe. Korndrescher sah ihn überlegen an.

"Wenn ich Sie jetzt erschieße, so wie Sie aussehen, nimmt mir jeder Richter ab, ich hätte in begründeter Notwehr und Angst um mein Leben gehandelt, da Sie wie ein Taliban aussehen, Bursche. Und jetzt her mit den Fotos!"

"Tja, die Kiste mit dem trojanischen Pferd kennen Se sicher. Nur dat da meistens unschöne Sachen in dem Zossen drinstecken. Bei mir iset umjekehrt", sagte Feuerkrieger und prellte Korndrescher mit der linken die Waffe aus der Hand und versetzte ihm mit der rechten einen ansatzlosen Kinnhaken. Davon getroffen flog Korndrescher zwei Meter weit in den Flur zurück. Der dicke Teppich bewahrte ihn davor, sich beim Hinschlagen noch mehr Prellungen einzuhandeln. Feuerkrieger tauchte nach der Pistole. Da hörte er ein vernehmliches Plopp. Er riss die Waffe hoch. Sie besaß keinen Schalldämpfer. Er zielte auf die Tür, hinter der das ihm schon oft genug untergekommene Geräusch hergekommen war. Die Tür schwang auf. Feuerkrieger drückte ab. Der Pistolenknall war sehr schmerzhaft für seine Ohren. Die Kugel peitschte durch die Tür und klirrte gegen das Bruch- und Schutzsichere Fenster. Sirrend sauste der Querschläger an die Decke, wo er in der Holztäfelung steckenblieb. Doch hinter der Tür stand niemand.

Feuerkrieger wollte gerade auf den Hausherren zielen, um den schon einmal abzufertigen, als eine Person in scharlachrotem Kleid hinter der Tür hervortrat. Der Wertiger erstarrte vor Überraschung und vor aufflammendem Hass. Er fühlte es wieder, wie ihm das linke Ohr abgetrennt wurde. Doch wieso war dieses Biest jetzt hier?

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Das Luftschiff startete pünktlich in Richtung Viento del Sol. Außer den Latierres waren noch fünf Bewohner von Viento del Sol an Bord, die zum Halloween-Fest in ihre Heimat zurückkehren wollten. Millie trug zum Schutz vor der Höhenstrahlung eine Fortiplumbumschürze unter ihrem grünen Kleid.

Aurore Latierre fand es ganz spannend, über das große Meer zu fliegen. Für sie war es das erste mal, dass sie diese Reise bewusst miterlebte. Julius zeigte seiner Tochter die Küsten von Europa und Afrika, aber auch die kanarischen Inseln. Einzelne Schiffe waren zu erkennen und auch dahingleitende Passagierflugzeuge, deren Kondenzstreifen wie in den Himmel gezogene Straßen aussahen.

Als sie wieder landeten wurden sie schon von Brittany und Linus Brocklehurst begrüßt. Auch Julius' Mutter war mit ihrem Mann gekommen. Aurore freute sich, ihre Oma wiederzusehen.

Bei der Halloween-Feier fand Julius einige Minuten Zeit, Brittany und auch seiner Mutter die Armbänder aus der Villa Binoche zu geben, die er für sie aufgehoben hatte.

"Und, ist immer noch wer von den Ministeriumsleuten hinter dir her, Mum?" fragte Julius seine Mutter.

"Tja, Minister Grandchapeau hat seinen Kollegen noch einmal zu sich einbestellt, weil dieser Ira Waterford mir ein wenig zu aufdringlich wurde. Er hat auf gleich vier Fälle verwiesen, wo es möglich war, dass ein im Ausland lebender Zauberer oder eine Hexe aus dem Ausland für das Ministerium ihres Geburtslandes arbeiten konnte. Gut, jetzt bin ich keine geborene Französin und auch keine geborene Hexe. Aber irgendwie hat Minister Grandchapeau das mit dem britischen Kollegen Shacklebolt so gedreht, dass er befürwortet, dass ich wegen diesem Voldemort nicht die Chance erhalten hätte, bei ihm zu arbeiten und er deshalb Zitat "sehr erfreut ist Zitat Ende, dass Grandchapeau mir Lohn und Brot geben konnte und ich daher auch wegen der in Frankreich geknüpften Familienbande das Geburtsrecht auf Minister Grandchapeau übertragen konnte. Er erwähnte wohl auch Fälle, wo versucht worden war, im Ausland lebende Mitarbeiter wegen ihrer Fähigkeiten abzuwerben. Um diese Abwerbung gültig werden zu lassen müsste der Abzuwerbende jedoch erst offiziell aus dem Ministerium ausscheiden, für dass er oder sie arbeite und könne dann das Recht auf freie Berufsausübung geltend machen, sofern er oder sie sich nicht strafbar gemacht habe. Zeitgleich erhielt ich die Anfrage des in Viento del Sol residierenden Grundschuldirektors, ob ich auf Grund meiner sehr hervorragenden Erfahrungen in Millemerveilles nicht bei ihm anfangen möge, sollte mir die Arbeit für das Zaubereiministerium Zitat keine berufliche Erfüllung Zitat ende mehr verschaffen. Ich habe dann angedeutet, dass mir dieser Beruf als Ersatz für die Ministeriumsarbeit genehm wäre, sollte Minister Grandchapeau mir kündigen wollen. Dieses wies dieser jedoch entschieden von sich und bekräftigte, dass er sehr lange nach einem angemessenen Ersatz suchen müsse. Die Leiterin des Büros für eine friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie habe ihm schriftlich bescheinigt, dass die von ihr und mir in gedeihlicher Zusammenarbeit errungenen Erfolge hinfällig würden, zumal ich in ihrem Auftrag ja auch persönliche Kontakte geknüpft habe. Tja, da hat der werte Minister Cartridge seine Kettenhunde zurückgepfiffen. Mr. Worthington soll sich einen anderen Steigbügelhalter für eine Beförderung suchen, wenn er seine Tochter verheiraten will."

Julius grinste. Dann hatte Belles Mutter ja doch noch was aus dem Ärmel geschüttelt. Julius dachte aber erst daran, dass seine Mutter womöglich nach Viento del Sol wechseln und die kleine Larissa Swann unterrichten mochte, vielleicht sogar Selene Hemlock. Das wäre schon gruselig.

"Ich habe jetzt erst einmal ruhe, zumal ich habe anklingen lassen, ich könnte nach einer möglichen Kündigung ja erst einmal den mir noch zustehenden Urlaub nehmen und diesen in New Orleans verbringen. Die Botschaft kam genau da an, wo sie eintreffen sollte", sagte seine Mutter noch. Dann ließen sie und Brittany sich die Armbänder erklären und vorführen. "Hätte nicht gedacht, dass diese Bänder wie in Beauxbatons so großen Eindruck auf den alten Binoche gemacht haben", sagte Martha Merryweather. Brittany grinste und sagte: "Dann kannst du deine Schwiegermutter eifersüchtig machen, dass du jetzt auch so ein Verständigungsgerät hast wie ihre Kollegin in Beauxbatons."

"Öhm, das wollte ich noch sagen, Britt und Mum, bitte reibt das keinem unter die Nase oder aufs Butterbrot, dass ihr diese Armbänder bekommen habt oder besser, was die können. Es gibt Leute auf der Welt, die nicht nur neidisch werden könnten, wenn sie davon was mitkriegen", raunte Julius. Seine Mutter verstand. Auch Brittany erkannte, was Julius umtrieb.

Wieder zurück auf der Halloween-Party trat Lucky als Skelett auf. Hierzu hatte er einen Zaubertrank eingenommen, der alles bis auf die Knochen unsichtbar machte. "Ihr seht, ich kriege hier nichts zu essen", stöhnte er. Die Gäste lachten. Julius foppte seine Stiefgroßmutter, die für eine Stunde aus Thorntails herübergekommen war, um die Verwandtschaft aus Europa zu grüßen, indem er ihr seine Hand reichte und diese scheinbar vom Arm abbrach. Hygia Merryweather erstarrrte erst, als sie Julius' angeblich abgebrochene Hand überprüfte. Doch dann musste sie lachen. "Jetzt bin ich doch glatt auf diesen Trick reingefallen, von dem mein Sohn mal was angedeutet aber nichts näheres erzählt hat. Frechdachs! Einer Heilerin vorzugaukeln, sie habe wem die Hand abgerissen." Sie kniff Julius in die Nase, jedoch nicht schmerzhaft, sondern verspielt. Dann wünschte sie ihm, Millie und Aurore weiterhin viel Glück und Gesundheit und Millie für den Rest der Schwangerschaft möglichst wenig Beschwernis und eine möglichst beschwernisarme Niederkunft. Dann gab sie Julius den Handab-Handschuh zurück, mit dem er die abgebrochene Hand simuliert hatte.

Als Julius mit Millie und Aurore in Brittanys Gästezimmer lag empfing er Temmies Gedankenstimme:

"Julius, ich fürchte, der neue Knecht wagt sich nun aus dem Versteck."

"Was hat er getan?" fragte Julius in Gedanken zurück.

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Er hatte gehofft, sie nach der erfolgreichen Erwerbung von Philippa finden und niedermachen zu können. Wieso war dieses Biest jetzt schon hier?"

"Hallo Feuerkrieger, oder soll ich Rupert Möller sagen?" begrüßte ihn die Frau mit der blassgoldenen Haut, die aus dem Schlafzimmer gekommen war und ihm mit beiden leeren Händen zuwinkte. Sie hatte keinen Zauberstab in der Hand.

"Ich weiß nicht, wer dir gesagt hat, dass ich heute herkomme, aber du störst meine Hochzeitsvorbereitung", knurrte Feuerkrieger.

"Ach, du möchtest heiraten? Ich dachte, du wärest noch verheiratet", sagte die Unbekannte, die mal eben aus dem Schlafzimmer der Korndreschers gekommen war. "Ach so, du möchtest eine verheiratete Frau heiraten, weil deine dir eigentlich zugesprochene Frau nichts mehr von dir wissen will und nichts mehr wissen darf. Hast du es dir mit ihr oder mit ihrer Mutter verscherzt?" Feuerkrieger knurrte missmutig. Dabei musste er daran denken, dass die Tigermenschen ihn von seinem Plan mit den Werwölfen zurückrufen wollten und ihn dann für Ausgestoßen erklärt hatten. Das brachte die Unheimliche zum schmunzeln. Da erkannte er, dass sie wohl seine Gedanken gelesen hatte. "Erst knalle ich dich ab und dann den da!" rief er und zielte mit der erbeuteten Beretta des Hausherrn auf die Frau im scharlachroten Kleid. Er drückte ab. Doch die Kugel wurde sirrend um die Unheimliche herumgeleitet und schlug ins Eichenholzbettgestell ein. Der zweite Schuss klatschte von der Wand ab und landete scheppernd in der Garderobe im Flur. Wieder drückte er ab. Diesmal zielte er zwischen die Augen der Unheimlichen. Doch dabei prallte die Kugel wieder auf ein unsichtbares Hindernis und jagte direkt über Feuerkriegers Kopf in die Decke.

"Rupert, du weißt, dass man sich mit dieser Waffe verletzen kann?" fragte die Unheimliche im Stil einer maßregelnden Mutter. Da zielte der Wertiger auf den am Boden liegenden Hausherren. Sollte der Teppich eben blutig werden. Der Zauber dieser Hexe schützte die vielleicht, aber nicht den. Da sah er, wie die andere sich verwandelte. Wenn die zur Spinne wurde kam er gegen sie nur noch als Tiger an. Er warf die Waffe hinter sich und jagte den unbändigen Willen zur eigenen Verwandlung durch den Körper. Sie hockte sich bereits hin. Die Angst und die Wut beschleunigten die Verwandlung. In einem Schauer aus Feuer und Schmerzen schrumpfte alles um ihn herum auf die Hälfte, auch die nun immer deutlicher zu erkennende schwarze Spinne. Mit einem letzten Ruck vollendete er die Verwandlung und ging sofort zum Angriff über. Die Entscheidung war nun nicht mehr aufzuhalten: Entweder sie oder er.

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Sie waren zu zwanzig Hexen aus allen Teilen der Welt nach Indien gereist und flogen nun zehn Kilometer von einem bestimmten Punkt entfernt drei Kilometer über dem Boden. Jede hatte fünfzig faustgroße Glaskugeln dabei. In jeder Kugel steckte eine Mischung aus Phosphor und Magnesium. Wenn die Kugeln auf ein Festes Hindernis prallten würden sie zerplatzen und dabei einen entscheidenden Zündfunken entfachen, der die Mischung sofort auflodern lassen würde. Sie hatten den Auftrag ihrer höchsten Schwester, auf das Zeichen "Abschiedsgruß!" hin die bestimmte Stelle anzufliegen, dabei in einem weiten Ring die ersten fünfhundert Feuerbomben abzuwerfen und den Rest über der bezeichneten Stelle. Traf dieses Zeichen in zwei Stunden nicht ein, so sollten sie den Zielpunkt auch ohne Anweisung in Brand stecken. Denn dann mochte es sein, dass ihre Anführerin nicht mehr lebte. Traf hingegen das Signal "Letzter Hinweis" ein, sollten sie sich zurückziehen und den Einsatz für erledigt abhaken.

Damit die Höchste Schwester sie in nur einer Minute erreichen konnte hatte sie auf der Strecke zwischen Europa und dem indischen Subkontinent zwanzig andere Schwestern postiert, die gut aufeinander eingespielte Mentiloquistinnen waren. Diese würden wie eine altertümliche Feuerkette die entsprechenden Signale weitergeben. Falls Anthelia herausfand, dass Feuerkrieger und die mit ihm ausgezogenen Wertiger im Auftrag ihres Königspaares gehandelt hatten, würde der Tempel der Tiger in nicht einmal zwei Stunden ein Raub der Flammen werden und mit ihm alles und jeder darum herum und darin.

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Er hatte zwei große Kristalle erzeugt. Zwar hatten sie seine Fabrik in der tschechischen Republik hochgenommen. Doch von der Kristallfabrik in Südamerika hatte noch niemand Wind bekommen. Er hatte aus den dort erbrüteten Kristallen, für die zehntausend Menschen innerhalb von zwei Wochen hatten sterben müssen, über dreißig Splitter geschlagen, indem er die Kristalle gegeneinander geschlagen und gerieben hatte. Mit den Splittern konnte er seine alten und neuen Getreuen besser gegen Flüche aber auch unausweichlich seinem Willen unterworfen ausstatten.

Hier und Heute wollte er mit dem Kristall aus dem zerstörten Zwillingstürmen von New York die Nimmertagshöhle betreten. Der Nachtschatten Ipsen hatte ihm zwar verraten, dass dieser Eingang am Fuße des Himalaya zu finden war, doch wo genau konnte er nur durch einen Gleichschwingungszauber ermitteln, der seinen Kristall und das Auge der Finsternis aufeinander einstimmte.

Er suchte schon seit mehreren Stunden, rief immer wieder den von Ipsen erlernten Zauberspruch in die Nacht. Denn nur bei Dunkelheit durfte er den Zugang zur Höhle öffnen, in der nie ein Sonnenstrahl ankam.

"Ashdoruka madrashtariain Kahaardanatuka'hagorr!" Übersetzt hieß dieser Spruch: "Ein Getreuer Diener der ewigen Nacht erhofft gehört zu werden." Dies, so Ipsens Nachtschatten, war die Bitte eines Dieners von Iaxathan, von diesem empfangen und angehört zu werden. Um die Anrufung zu bekräftigen hatte sich Lord Vengor mit dem Kristall, den er in einen aus dem gestohlenen Gold getöteter Menschen geschmiedeten Ring eingefasst hatte eine kreuzförmige Wunde in die linke Hand geritzt. Immer wieder tropfte blut auf den Kristall. Sich auf diese Weise selbst immer mehr schwächend jagte er den aufgerufenen Zauber wieder und wieder in die Nacht hinaus.

Als er schon glaubte, Ipsen habe ihn schlichtweg verulkt, fühlte er eine starke Vibration im rechten Ringfinger. Der von ihm immer wieder mit eigenem Blut benetzte Kristall erglühte rot. Vor ihm sah er einen von niedrigem Buschwerk bestandenen Felshang. Sollte dahinter die Nimmertagshöhle liegen? Er flog auf seinem Besen weiter vor und wiederholte den immer wieder gerufenen Zauberspruch. Der Kristall glühte noch stärker. Gleichzeitig hörte er eine in ihn eindringende Stimme:

"Ja, du bist mir nahe. Finde deinen Weg und komm zu mir, auf dass wir unseren Bund besiegeln können!" Die Stimme klang sehr erfreut, ja schon euphorisch. Der Mann, der sich Lord Vengor nannte dachte daran, wie viele Jahrtausende der Geist des großen Dunkelmagiers in seinem selbst gebauten Kerker hatte zubringen müssen. Gleich würde er endlich den großen Iaxathan antreffen. Beide künftige Partner freuten sich aufeinander.

Jetzt überflog der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte, das niedrige Buschwerk. Da war ihm, als reiße jemand einen senkrechten Spalt zwischen Himmel und Erde auf und ergösse daraus das Licht von hundert Sonnen. Vengor hörte einen langen Schrei aus Wut und Entsetzen. Doch der konnte ebenso von ihm selbst stammen. Denn er prallte mit einer Urgewalt auf ein unverrückbares Hindernis auf und flog vom Besen. Gleichzeitig brannte seine rechte Hand wie im lodernden Feuer. Vor grellem Licht konnte er nichts mehr sehen. Er schrie schon, dass er erblinden würde und rief den Meister um Gnade. Dann warf ihn etwas von unten nach oben und zurück. Er überschlug sich mehrmals, bevor er wie auf ein unsichtbares Kissen prallte, das unter ihm zusammensank und ihn auf festen Boden zurückbrachte. Neben sich hörte er das klappern großer Holzstücke und danach das gleichmäßige Prasseln von Feuer.

Vengor riss die Augen auf und sah viele schwarze Punkte, die vor den Augen tanzten. Endlich beruhigten sich seine Sehnerven wieder. Er sah, dass sein Besen gerade wie eine Fackel abbrannte. Er war mindestens dreihundert Meter von dem niedrigen Buschwerk entfernt. Dann fühlte er, wie etwas durch seinen rechten Arm kroch und innerhalb von nur vier Sekunden in seinem Brustkorb ankam. Er starrte auf den Ring. Der eingefasste Kristall war verschwunden, das ihn überdeckende Gold war regelrecht verdampft. Jetzt fühlte er, wie etwas fremdes neben seinem Herzen im Brustkorb zu pulsieren begann.

"Mein letzter Feind hat den Wall der fliehenden Nacht und des lebendigen Blutes errichtet. Ich habe es nicht gewusst", kreischte eine wütende Gedankenstimme. "Ich habe es nicht mitbekommen, dass dieser Kerl so mächtig war. Er hat den Eingang zur Höhle für jeden versperrt, der mir in Demut und Erwartung entgegentreten will. Verflucht soll er sein und alle, mit denen er Fleisch und Blut teilt!!"

"Wer war dein letzter Feind, auf dass ich seine Nachkommen töte?" schrillte Vengor zurück.

"Er hat mir seinen Namen nicht enthüllt. Er trug nur etwas bei sich, dass aus dem Erbe meiner verhassten Widersacherin stammen muss, deren Name Lichtgebieterin lautet. Ich spürte, dass er einer von mehreren Blutlinien derselben alten Familie von verdammenswürdigen Lichthütern war. Womöglich hat er mit deren geistiger Hilfe diesen Wall erschaffen, den niemand einreißen kann, der nicht bereit ist, der einzige zu werden, in dessen Adern sein Blut fließt und dessen Fleisch das einzige lebendige Fleisch auf der Welt ist. Doch je mehr der Gegner an lebendigen Verwandten besitzt, muss der, der durch den Wall gelangen will beweisen, dass er die doppelte Zahl der eigenen Blutsverwandten zu töten fähig ist. Hat er nicht genug, so verwehrt ihm der Wall selbst als Träger des Kristalls den Zutritt. Das einzige, was ich dir von mir geben konnte ist die Verbindung mit dem Kristall, mit dem du nach mir gerufen hast."

"Ich soll alle umbringen, die mit mir blutsverwandt sind?!" rief der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte.

"Ja, das ist das einzige, was stark genug ist, den Wall des Lichtes und der Lebendigkeit zu öffnen. Und du kannst es nicht in einem Zug tun. Du musst jeden im Mondkreis und der Mondphase seiner Geburt töten. Der Mond, der ihm oder ihr die Welt zuerst erhellt hat, muss auch seinen oder ihren Austritt aus der Welt sehen."

"Und der Kristall in mir?" fragte Vengor.

"Er wächst weiter. Doch seine festen Teile werden sich lösen und als winzige Bestandteile deines Blutes in dir weiterfließen", sagte die Gedankenstimme. "Freu dich, denn so bist du gegen fast jede feindliche Kraft geschützt."

"Aber ich muss meine Geschwister, meine Eltern, meine Vettern und Onkel und Tanten töten?" fragte der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte.

"Ja, und eben nur zu dem Mond, der ihre Ankunft in der Welt beschienen hat."

"Dann werden sie aber erkennen, wer ich bin oder werden mich fragen, ob ich Feinde habe, die meine Familie auslöschen wollen", widersprach Vengor unvorsichtig.

"Du suchst den Pakt mit mir. Wem ich diesen Pakt gelobe, der muss seinen Teil erfüllen. Dein Teil besteht darin, zu mir in die Nimmertagshöhle zu kommen und in das Auge der Finsternis zu blicken, um dich mir zu enthüllen. Vermagst du es nicht oder verweigerst es gar, so wird meine Gabe dein Gift. in Dreizehn Mondwechseln von nun an musst du es schaffen, den vor dem Eingang errichteten Wall zu öffnen. Vermagst du es nicht, wirst du zu schwarzem Kristall erstarren für alle Zeiten."

"Meister, ich habe fünfzig Verwandte, die mein Blut tragen. Was ist, wenn der Feind mehr als dreißig lebende Verwandte besitzt? Kann ich nicht eher dessen Verwandte töten?"

"Nein, weil seine Verwandten auch durch ihren Tod mithelfen würden, den Wall zu erhalten, wenn du sie deshalb tötest um ihn zu öffnen. Wenn du zu mir willst, so musst du erreichen, dass dein Fleisch und dein Blut nur in deinem Körper lebendig auf dieser Welt umherwandeln." Dann erklang ein überlegenes Lachen, wo vorher noch Verdrossenheit in der Gedankenstimme mitgeschwungen hatte: "Welch größerer Beweis kann von einem mir folgenden erbracht werden, als alle Spuren seiner Herkunft und seines Lebens zu tilgen."

"Wenn ich nicht weiß, ob das ausreicht, was ich an Opfern bringen soll ... dann kann ich nicht zu dir."

"Ich kann den Wall nicht öffnen. Denn nichts wäre mir lieber, als dich endlich durch mein Auge der Finsternis zu sehen. Außerdem will ich keinen um Gnade oder Hilfe winselnden Bittsteller, sondern einen verlässlichen Getreuen, der mit meinem Wissen und meinem Auftrag den Weg der Welt in die alles endende Finsternis errichtet."

"Ich winsel nicht um Gnade, Meister Iaxathan", schnarrte Lord Vengor. "Ich habe nur gefragt, ob ich statt der meinen nicht deine Feinde töten soll."

"Oh, das sollst du auch, aber erst muss unser Bund besiegelt werden, und das geht nur, wenn du in mein Reich eintreten kannst. Also ziehe nun aus und erfülle deinen Auftrag!"

"Ja, Meister Iaxathan", willigte Vengor resignierend ein. Er sah noch einmal auf den Ring, an dem ein Unlichtkristall befestigt gewesen war. Er fühlte, wie dieser nun mit seinem Herzen zusammen schlug, ihm Kraft und Unverwüstlichkeit gab, aber auch ein schleichendes Gift war. Iaxathan hatte ihn verflucht. Wenn er nicht gehorchte und die Opfer brachte, die ihm den Zugang öffneten, so würde er zu einem einzigen Unlichtkristall erstarren, womöglich als gefangener, alles um sich miterlebender Geist, so wie der Meister selbst. Doch im Gegensatz zu diesem würde er mit niemanden mehr Kontakt aufnehmen können. Welch ein Albtraum, welch eine Strafe war das?

Vengor fürchtete schon, den Ring nicht mehr abstreifen zu können. Doch es gelang ihm. Seine Hand war nicht verbrannt. Doch er wusste, dass sie ihm heute Nacht eine letzte Frist auferlegt hatte. Er hatte eine Schwelle überschritten, über die er nicht mehr zurücktreten konnte. Dabei hatte er es nicht geschafft, die Nimmertagshöhle zu betreten. "Brich auf und erfülle deinen Auftrag!!" dröhnte Iaxathans Stimme in Vengors Geist. Der selbsternannte Erbe Voldemorts und oberster Wächter der Vergeltung nahm seinen Zauberstab. Er musste disapparieren. Denn sein Besen war gerade zu Asche verbrannt. Er hatte die unbändige Magie nicht vertragen, die Vengor zurückgeschleudert hatte.

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"Er hat den Ruf der Getreuen ausgestoßen. Dabei hat er die dunkle Macht geraubter Leben eingesetzt. Es wurde ihm auch geantwortet. Doch offenbar fehlt dem neuen Knecht noch ein Stück zum Schlüssel, um sich dem Schattenfürsten hingeben zu können", mentiloquierte Artemis vom grünen Rain. "Ich fühlte eine starke Schwingung im Gefüge der Kraft und sah für einige winzige Momente sogar einen Blitz der aus reinster Lebenskraft besteht und nur von bestehendem Leben gespeist werden kann. Womöglich hat der, der die Höhle als letzter fand, mit Ashtarias Hilfe eine wirksame Sperre errichtet."

"Moment, dann heißt das, dieser Lord Vengor kommt nicht zu Iaxathan hin, weil jemand den Eingang zugemauert hat?" fragte Julius.

"Im Moment zumindest nicht. Doch sei gewiss, dass der in seinem eigenen Kerker festsitzende Folger des dunklen Weges und der ihm zustrebende Knecht einen Weg finden, bei dem die Finsternis den anderen Wall überwinden oder ganz niederreißen kann."

"Wenn er alle Feinde Iaxathans auf einmal umbringt?" unkte Julius in Gedanken.

"Nein, das wird so nicht gehen, Julius. Wer für seinen Freund oder Liebsten zu leben und zu sterben bereit ist, erhält den Wall nur noch stärker. Er kann also nicht durch den Tod seiner Feinde Zutritt zu der Höhle erhalten. Er muss einen anderen Weg beschreiten."

"Ich bin morgen dieser Ortszeit wieder in Frankreich. Dann möchte ich dich treffen, Temmie, damit wir das noch genauer besprechen. Du denkst also, uns kann in dieser Halloween-Nacht nichts mehr passieren?"

"Nein, nicht mehr in dieser Nacht", erwiderte Temmies Gedankenstimme. Julius konnte sich jetzt eigentlich beruhigt fühlen. Doch ihm war trotz der verhältnismäßig guten Nachricht unwohl. Vengor hatte versucht, zu Iaxathan zu kommen. Er würde es wieder versuchen, weil der dumme Kerl dachte, der gefangene Geist des dunklen Erzmagiers würde ihm sein Wissen und seine Erfahrungen ausliefern. Dabei würde Vengor nur zur willigen Marionette an den magischen Fäden des Eingekerkerten. Nein, das war wirklich nichts, was ihn beruhigen sollte. Vor allem konnte der Weg grauenvoll sein, den Vengor beschreiten musste, um endlich zu Iaxathan vorzustoßen.

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Feuerkrieger achtete nicht auf die weggeplatzten Kleidungsstücke. Sein Turban war in hundert Fetzen gegangen. Ihn interessierte nur die sich gerade zum Angriff duckende Spinne. Sollte er sie von oben angehen, dann warf sie ihn wohl von sich ab. Er musste sie auf den Rücken werfen und ihr alle Beine einzeln abbeißen.

Er sprang vor, die Spinne wich aus. Der Schwung beförderte Feuerkrieger in das Schlafzimmer hinein und auf das breite Bett. Dieses quietschte protestierend. Der Wertiger rollte sich sofort zusammen und wirbelte herum. Dabei rissen seine Krallen die französische Matratze in Stücke. Die Spinne kam aus dem Flur angelaufen. Er sprang über sie hinweg. Die Spinne drehte auf dem Punkt und setzte ihm nach. Beinahe hätte sie ihn mit ihren Beißscheren am Schwanz erwischt. Nur die übermenschlich schnelle Reaktionszeit des Tigers bewahrte ihn davor, den langen gestreiften Schweif einzubüßen. Er knallte mit dem Kopf gegen den Garderobenschrank. Er meinte, eine große Kesselpauke in seinem Kopf nachdröhnen zu hören. Er schaffte es noch, seine Flugbahn so abzuändern, dass er ins offene Wohnzimmer hineinflog, über den am Boden liegenden Hausherren hinweg. Feuerkrieger kam der Gedanke, ihn bei der Gelegenheit zu töten. Denn sein Ziel war noch immer, Philippa ganz und für sich zu bekommen.

Die Schwarze Spinne war auf ihren acht Beinen wendiger als jeder Formel-I-Rennwagen. Sie flitzte hinter dem Wertiger her ins Wohnzimmer und versuchte, ihm von hinten auf den Rücken zu springen. Feuerkrieger erkannte diese Gefahr und drehte selbst so schnell um, dass die Spinne knapp an ihm vorbeiflog. Dabei erwischte sie fast mit ihren Beißscheren Feuerkriegers verbliebenes Ohr.

Feuerkrieger sah den Großbildfernseher. Wenn er den gegen die Spinne werfen konnte und sie ... Nein, besser nicht. Deren Panzer würde nicht brennen. Aber am Ende brannte die ganze Bude ab, mit ihm. So hieb er nach der Steckdose und riss den angeschlossenen Stecker heraus. Es knisterte gefährlich. Dann schlugen laut knallend die Sicherungen im Haus durch. Die eine Sekunde, die er für die Entschärfung des Fernsehers benötigt hatte reichte der Spinne, um sich auf ihn zu werfen, sich um ihn festzuklammern. Er warf sich sofort auf den Rücken und drückte das Ungeheuer zu Boden. Es gab ein lautes Zischen von sich wie eine wütende Schlange. Doch es löste seine Umklammerung um keine Winzigkeit. Der Tiger rollte sich wieder herum und stieß sich mit ganzer Kraft von einer Wand zur nächsten. Krachend prallte der stahlharte Panzer der Spinne gegen die massive Stahlbetonwand. Die Erschütterung war so heftig, dass mehrere Bilder ausschwangen und von der Wand herunterfielen. Jetzt hatte der Tiger es geschafft, den Klammergriff der vier Beinpaare weit genug zu schwächen, um sich loszureißen. Er wälzte sich herum und teilte mit den krallenbewehrten Vorderpranken mächtige Hiebe aus. Ein Mensch wäre bei nur einem Volltreffer in Fleisch- und Knochenstücke zerrissen worden. Doch von dem magisch aufgeladenen Spinnenpanzer glitten die rasiermesserscharfen Krallen knirschend ab. Feuerkrieger konnte fühlen, wie ihm dabei fast eine Kralle aus dem Fleisch gerissen wurde. Ein geistiges, zwischen Zischen und Fauchen liegendes Lachen flutete Feuerkriegers Bewusstsein. Der Wertiger brüllte urwelthaft los. Die Wut und die Kampfinstinkte des Raubtieres übernahmen nun die Kontrolle über seine Handlungen.

Der Kampf der beiden unterschiedlichen Ungeheuer forderte weitere Opfer unter der Einrichtung der Korndreschers. Hatte Feuerkrieger zuerst befürchtet, Philippa könnte genau jetzt nach Hause zurückkehren war ihm das nun egal. Hier und jetzt konnte und musste er die Spinne töten. Der große Esstisch zerbrach, als die Spinne bei einem Versuch, den Tiger frontal anzuspringen, an diesem vorbeiflog und mit Urgewalt dagegenkrachte. Der Wertiger sprang mit einem Satz zur Tür hin, um zu überblicken, wie die Spinne ihn angreifen würde. Doch diese stellte sich auf ihre vier hinteren Beine und winkte herausfordernd mit dem rechten Vorderstbein. Der Tiger wähnte seine Chance, dem Monster in den Bauch zu beißen, ja ihm das eine oder andere Bein abzutrennen und sprang mit geducktem kopf vor. Da stieß sich die Spinne wie von einem Katapult geschnellt nach oben ab. Der Wertiger konnte den Sprung nicht mehr korrigieren und schlug mit dumpfem Schlag voll in den mit Glasscheiben besetzten Wohnzimmerschrank ein. Klirrend und krachend gingen Gläser und edle Geschirrteile in Stücke. Der wertiger erkannte zu spät, dass er gerade in einer ziemlich verfahrenen Lage steckte. Da war sie auch schon über ihm, die schwarze Spinne!

"Du schschschuldessst mir neun treue Schschschwesssstern", schnarrte eine zischende Gedankenstimme in seinem Kopf. "Dafür nehme ichchch mir jetztztzt deinen Kopf. Den Resssst brauchchche ichchch nichchcht mehr." Feuerkrieger schaffte es gerade noch, sich aus dem zertrümmerten Schrank herauszuarbeiten. Da fühlte er, wie etwas brennendes ihm über Rücken und Flanken herablief und sich dabei schmerzhaft in sein Fleisch hineinfraß. Er roch den in die Nase stechenden Gestank des gelbgrünen Verdauungsschleims, den die Spinne schon gegen Garout eingesetzt hatte. In wild aufeinanderfolgenden Erinnerungsblitzen sah er den Werwolf, wie er zum Skelett zerfiel, dass sich erst dann zu einem menschlichen Knochengerüst zurückbildete. Wieder jagte der schmerzhafte Brand über seinen Körper, diesmal noch stärker. Die Wellen der Pein wurden zu Brechern der Todesqual. Der Wertiger brüllte noch einmal auf. Doch seine Lungen brannten bereits im gefräßigen Feuer der zersetzenden Säure. Sein ganzer Körper wurde von diesem Zeug übergossen. Die Spinne hatte schon längst den Klammergriff gelockert, mit dem sie den Tiger gehalten hatte. Nur sein Kopf blieb frei von zerfressendem Schmerz. Was hatte die Spinne ihm zugedacht? Sie brauchte nur seinen Kopf? Sie wollte nur seinen Kopf übrigbehalten! Für wen?

Die unerträglichen Schmerzen raubten dem Tiger die Besinnung. Er sah noch einmal die Zeit im Urwald, sein Leben als Rupert Möller und die Zeit mit der Mondbruderschaft. Alles ein Irrtum! Die Zeit bei den Werwölfen war ein einziger, tödlicher Irrtum. Diese letzte Erkenntnis seines dahinschwindenden Lebens peinigte seinen Geist ebenso wie der Verdauungsschleim seinen Körper. Dann fühlte er, wie alle Schmerzen vergingen. Er meinte, aus seinem Körper emporzusteigen. Ein letzter Aufschrei seines Geistes eilte hinaus in die Unendlichkeit. Auf den Wellen dieses langen, letzten Schreies raste Feuerkriegers losgelöstes Ich davon. Der Körper blieb zurück und erstarrte, während das Fleisch von den Knochen heruntergelöst wurde.

Als der getötete Wertiger bis auf den Kopf nur noch aus einem einzigen unansehnlichen Schleimklumpen bestand, wechselte die Spinne in ihre menschliche Erscheinungsform zurück. Dabei bekam sie ihre ganzen Sachen wieder, die bei der Verwandlung in einen nicht mit Sinnen erfassbaren Zwischenzustand verwandelt worden waren.

Als die Aufregung des bestandenen Zweikampfes weit genug nachgelassen hatte fand Anthelia die Zeit, das Ausmaß der Zerstörungen zu begutachten. Neben dem zu einem widerlichen Schleim zerlaufenen Rest von Feuerkriegers Torso hatte der Verdauungsschleim der schwarzen Spinne auch den protzigen Teppich ruiniert, ja sich sogar tief in den eigentlich sehr harten Boden hineingefressen. Markus Korndrescher lag jedoch weit genug außerhalb der Verheerungszone. Ihm war außer Feuerkriegers Kinnhaken nichts zugestoßen. Schränke und Wandtapeten hatten unter dem Anprall der beiden Kämpfenden, vor allem unter den scharfen Krallen des Wertigers gelitten. Bilder waren von den Wänden gerissen und zerfetzt worden. Der Garderobenschrank war in mehrere Stücke gegangen, sein Inhalt wahllos über den Boden verteilt. In einer Wand klaffte ein Loch, wo vorher noch eine dieser Elektrostromspenderdosen gesessen hatte. Die Matratze im Schlafzimmer war in Fetzen gegangen. So heftig hatten die Klauen des Wertigers das Bett verheert. Doch das war mit der richtigen Portion Magie und Vorstellungskraft zu reparieren, dachte die Hexenlady in Scharlachrot.

Anthelia untersuchte zunächst den betäubten Inhaber der Wohnung und stellte fest, dass er einen großen Bluterguss am Kinn und den Verlust von zwei Schneidezähnen hatte hinnehmen müssen. Die im ersten Leben zur Heilerin ausgebildete Hexe prüfte schnell, ob ihre vor sieben Stunden heimlich aufgebauten Melde- und Verhüllungszauber noch wirkten. Sie atmete auf, dass die in die Bäume auf dem Grundstück, den Zaun und das Dach eingewirkten Verbergezauber nicht von der antimagischen Aura des Wertigers ausgelöscht worden waren. Es stimmte also, dass anders als bei Incantivacuum-Kristallen die antimagische Wirkung eines Wertigers nur auf unmittelbar von einem Zauberer oder einer Hexe auszuführende Zauber störend wirkte. Vielleicht war es auch eine Frage der Zeit, wie lange ein bezauberter Gegenstand oder Raum von der antimagischen Aura eines Wertigers durchdrungen werden musste, um alle darin wirksamen Zauber zu zerstreuen. Was für Anthelia gerade zählte war die Zuversicht, unortbar zaubern zu können. Da fing sie die von Angst und Argwohn erregten Gedankensplitter aus der Nachbarschaft auf. Die lauten Pistolenschüsse hatten die Anwohner alarmiert. Sie musste also schnell handeln, wollte sie nicht von magielosen Gesetzeshütern erwischt werden.

Zunächst heilte sie Markus Korndrescher. Sie flößte ihm einen Trank gegen Blutergüsse ein. Dann ließ sie ihm zwei neue Schneidezähne wachsen. Das ging deshalb, weil diese nicht durch einen Körperschädigungszauber wie Perddentes herausgelöst worden waren. Danach deutete sie mit ihrem Silbergrauen Zauberstab auf die kläglichen Überreste Rupert Möllers und ließ den Schleimhaufen zu einer kompakten Kugel zusammenschrumpfen. Diese verschwand mit lautem Plopp im Nichts, als Anthelia einen ungesagten Verschwindezauber wirkte.

Nachdem Anthelia Rupert Möllers Überreste beseitigt hatte zirkelte sie mit dem Zauberstab über die in den Boden geätzten Löcher und verschloss diese mit "Repleno!" Danach zirkelte sie das große Loch im Teppich ab und murmelte "Restaurato Materiam!" Der Teppich erbebte. Funken sprühten von ihm aus, die sich im Zentrum des Loches zu einer Lichtkugel zusammenballten. Diese blähte sich auf und berührte die Ränder des Loches. Sofort schrumpfte es zusammen, bis es nicht mehr zu erkennen war. "Reparo Teppich!" murmelte Anthelia mit dem Zauberstab auf den Mittelpunkt des früheren Loches zeigend. Der Teppich erzitterte kurz und lag dann wieder so, als wäre nichts passiert. Mit "Ratzeputz Maxima" und "Pulverim Remoto!" reinigte sie den Teppich von allen Spuren des Kampfes. Dann stellte sie sich in die Mitte des Wohnzimmers und ließ den Zauberstab einen senkrechten und einen waagerechten Kreis ausführen, bevor sie "Reparo totalum!" rief. Die Luft flimmerte, während sich alle zerstörten Geschirrteile und die zerfetzten Bilder wieder nahtlos zusammenfügten, die möbel von unsichtbarer Hand repariert und die Tapeten wieder an den Wänden wiederhergestellt wurden. Die aus der Wand gerupfte Steckdose sprang passgenau an ihren Platz zurück. Allerdings war damit der Strom noch nicht wieder eingeschaltet. Denselben Zauber vollführte sie dann auch im Flur, wo die dortigen Zerstörungsspuren vom rundum wirksamen Reparaturzauber behoben wurden. Zum Schluss reparierte sie die Schäden im Schlafzimmer. Als das französische Bett wieder in einem Stück dastand dachte Anthelia daran, ob die beiden Hausbewohner dieses Ruhe- und Wonnelager überhaupt richtig zu würdigen verstanden. Doch das sollte sie hier und jetzt nicht kümmern. Sie reparierte noch die beim Kampf zersplitterte Nachttischlampe, die unter dem Bett gelandet war und deshalb bei der Rundumreparatur nicht zu sehen gewesen war. Anschließend wirkte sie laut rufend den Mansiordinifacta-Zauber. Blitzartig hängten sich alle herabgefallenen Bilder wieder an die Nägel. Die Mäntel, Schals, Hüte und Jacken flogen in den wie neu aufgestellten Garderobenschrank und hängten sich von selbst über Bügel und Haken. Das aus dem Wohnzimmerschrank gefallene Geschirr sortierte sich klappernd wieder so, dass es gestapelt und geordnet im Schrank aufbewahrt wurde. Zum Schluss sirrten die in Decke und Wänden gelandeten Pistolenkugeln aus den Löchern heraus, weil sie nicht in die aufgeräumte Wohnung passten. Anthelia ließ die Einschüsse wieder zuwachsen. Erst als sie sah, dass sie alle Kampfspuren ausgelöscht hatte, bezauberte sie den immer noch betäubten Markus Korndrescher mit einem Gedächtniszauber, dass er den bärtigen Störenfried nur mit vorgehaltener Waffe und drei Warnschüssen mit Platzpatronen aus seinen vier Wänden hatte vertreiben können und darauf verzichtete, die Polizei zu alarmieren. Als das erledigt war sprach sie mit "Retardo Enervate" einen zeitverzögerten Aufweckzauber über Markus Korndrescher. Eine Minute würde es dauern, bis dieser wiedererwachen würde.

Die Hexenlady sah auf die funkgesteuerte Wanduhr, die nach den magischen Turbulenzen gerade ihren gewohnten Gang wiedergefunden hatte. Sie hatte nur zehn Minuten in dieser Wohnung zugebracht. "Schwester Albertine, die Gefahr ist beseitigt. Du kannst Frau Korndrescher nun ihres Weges ziehen lassen", mentiloquierte Anthelia.

"Schade, höchste Schwester. Gerade war ich dabei, herauszufinden, ob die Dame wirklich so auf Männer festgelegt ist oder nicht", gedankenquängelte Albertine Steinbeißer.

"Für eine Gärtnerin der Liebe blühen überall Blumen der Freude", schickte Anthelia zurück. Den Spruch hatte Naaneavargia vor ihrer Gefangennahme durch Iaxathan gerne verwendet, wenn sie wegen ihres zügellosen Geschlechtslebens gemaßregelt wurde und sich doch bitte einen festen Gefährten für mindestens ein Kind erwählen möge.

"Nur dass in dem von dir bestellten Garten mehr Blumen pflückreif sind als in dem von mir", gedankenknurrte Albertine. Doch dann bestätigte sie, dass sie die Anweisung ihrer Anführerin ausführen würde. Anthelia unterließ es, sie darauf hinzuweisen, dass sie sich nichts anderes als dies ausbat. Dann disapparierte sie. Keine zehn Sekunden später wachte Markus Korndrescher auf.

"Letzter Hinweis, Shwestern!" mentiloquierte Anthelia/Naaneavargia an ihre Mitschwester Marga Eisenhut weiter, die an der deutschen Ostgrenze postiert war. Von dieser aus ging die Nachricht über die aufgebaute Relais-Kette innerhalb von nur anderthalb Minuten bis zu Izanami Kanisaga, die die Gruppe der zwanzig Vollstreckerinnen über dem indischen Dschungel führte. Sie rief über den Vocamicus-Zauber ihren neunzehn Getreuen zu, dass die Feuerbomben nicht geworfen werden sollten. Die Hexen auf den fliegenden Besen zogen sich zurück.

Eine Stunde später tauchte Anthelia auf ihrem Harvey-Besen auf. Dass sie da war bemerkte Izanami nur daran, dass Anthelia ihr zumentiloquierte: "Ihr könnt nach Hause. Ich überbringe den letzten Hinweis, Schwestern!"

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Nachtwind hörte Feuerkriegers geistigen Todesschrei und wusste, dass der Tempel ihm sehr bald folgen mochte. Sie trieb alle jungen Eltern an, mit ihren Kindern den Tempel zu verlassen. Das galt auch für ihr eigenes Leben und das in ihr wachsende Kind Neubeginners. So ließ sie sich darauf ein, mit ihm und den anderen jungen Eltern zu flüchten. Blitzpranke, ihr Vetter, sollte die Wachen um den Tempel anführen.

Das Laubdach wölbte sich dunkelgrün über den dahinjagenden Wertigern. Diese rannten zu einem Fluss. Neubeginner hatte erwähnt, dass sie bei einem Feuer nur dort in Sicherheit sein würden.

Eine Stunde liefen die Wertiger den Fluss entlang. Dann hörte Nachtwind Blitzprankes gedanklichen Ausruf: "Jemand hat Feuerkriegers Kopf zu uns runtergeworfen. Da steckt ein Ding mit Schrift drauf drin!"

Nachtwind kehrte mit Neubeginner zurück, während die anderen erst einmal weiterflüchten sollten. Neubeginner besah sich den abgetrennten Kopf des ehemaligen Artgenossens. Dann las er den auf Englisch geschriebenen Brief laut vor:

"Ich, die schwarze Spinne, habe deinen abtrünnigen Artgenossen getötet. Laut unserer Übereinkunft müsste ich dir dafür zürnen, dass du ihn nicht zurückgehalten hast. Doch ich musste erkennen, dass er sich ganz und gar von dir losgesagt hat. So kann ich nicht alle deiner Art dafür bestrafen, was einige Wenige getan haben. Doch sei dir dieser letzte Hinweis eine letzte Warnung. stört einer deiner Untertanen noch einmal unsere Übereinkunft, so werde ich deinen Tempel mit allem, was darin ist zerstören. hüte deine Kinder und Kindeskinder vor Torheit! Bleibe in dem Land deiner Vormütter und Vorväter!

Die schwarze Spinne"

"Auf diese Weise wie sie Feuerkriegers Kopf zu uns zurückbrachte kann sie uns auch das Feuer der Vernichtung bringen", sagte Nachtwind. "So lasst uns so weiterleben, wie ich es bei Feuerkriegers Flucht beschlossen habe, damit wir nicht restlos vernichtet werden können!" Die anderen Wertiger gelobten, sich daran zu halten.

ENDE

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