DIE BÜRDE DER BONHAMS (1 von 2)

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die Vernichtung des Stützpunktes der Mondbruderschaft gilt bei allen daran beteiligten Zaubereiministerien nur als schwacher Sieg. Es herrscht weiterhin Alarmstimmung, auch weil bisher niemand weiß, wer sich hinter dem Namen und der grünen Maske Lord Vengors verbirgt. Es ist sicher, dass der durch einen dunklen Kristall, der bei den Toden am elften September entstand übermächtig gewordene Zauberer eher früher als später wieder zuschlagen wird.

Da ebenso unklar ist, wie und wann die Hexen um die neue Anthelia wieder in das Geschehen auf der Welt eingreifen werden, sind alle Ministerialbeamten weiterhin angespannt.

Julius Latierre, der im zweiten Jahr für die Zauberwesenbehörde Frankreichs arbeitet, rechnet damit, bald wieder gegen eine Hinterlassenschaft Iaxathans und seiner neuen Helfer eingesetzt zu werden. Als er wegen seiner Englischkenntnisse in die Geisterbehörde des französischen Zaubereiministeriums gerufen wird, denkt er nur, einen reinen Übersetzungsauftrag ausführen zu müssen. Er ahnt nicht, dass er mit einem dunklen Ereignis zu tun bekommt, das seinen Ursprung im 13. nachchristlichen Jahrhundert hat.

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Tag II des Mai im Jahre MCCXXIV

Das letzte Sonnenlicht versickerte hinter dem Gipfel des hohen Berges, der westlich des Bergschlosses in den Himmel wuchs. Gegen Morgenrichtung glitt bereits die silberne Mondsichel über einen anderen Gipfel. Das letzte Dämmerlicht verglühte in einem immer dunkleren Grauton.

Um sie herum erhoben sich die hohen Berge, ihre Heimat, karg und doch erhaben, friedlich und doch gefährlich. Die gerade auf den neunzehnten Sommer ihres Lebens hinwachsende Magd warf einen betrübten Blick aus dem kleinen Fenster, das der einzige Ausblick aus ihrer kleinen, kargen Kammer war. Um sie herum wurde es Nacht. Die Tiere und Menschen dieser Gegend würden bald einschlafen. Auch Marie sollte sich jetzt besser hinlegen, vor allem weil sie nun wusste, dass ihre Ängste und Sorgen gerechtfertigt waren. Seit Wochen hatte sie die Veränderung in ihrem Körper gefühlt. Erst hatte sie es von sich gewiesen, es mit einer Frühjahreserkältung abgetan. Doch nun dauerte es fünf Wochen, und sie fühlte, dass ihr Körper sich immer mehr veränderte. Auch ihre Gefühle wurden anders. War sie früher noch sehr besonnen und furchtlos, konnte ein Geräusch sie schon erschrecken, konnte ein strenges Wort ihr schon Angst und Kummer einjagen. Also forderte der himmlische Vater doch die Buße der Sünde, die sie begangen hatte. Dabei hatte sie die gottlose Tat nicht tun wollen. Sie hatte doch nur dem Befehl ihres Herren gehorcht. Hätte sie sich ihm verweigern dürfen, als er sie aufforderte, ihr abends noch einen Schlaftrunk zu bringen? Hätte sie ihn von sich stoßen können, als er ihr befahl, näherzutreten. Ja, und als er ihr leise aber entschlossen befahl, ihre derbe Kleidung abzulegen und sich zu ihm zu legen, hätte sie ihn da schlagen oder fluchtartig das Gemach des Herren verlassen können, ohne in der nächsten Stunde gleich aus dem Schloss gejagt oder noch schlimmer bestraft zu werden? Sie hatte ihm ihre Unschuld dargebracht, sich von ihm nehmen lassen, als sei sie ein besonderes Abendessen. Zwar hatte sie immer wieder betont, dass dies gegen die Gebote der Kirche sei. Doch er hatte, während er sie in Besitz nahm, gelacht und gesagt, dass im Umkreis von zwanzig Meilen keine Kirche und kein Priester zu sehen war und sie nur deshalb so gut essen durfte, weil er Gefallen an ihr habe und sie das doch nicht wolle, dass sie ihm nicht mehr gefiele. So hatte sie ihren Leib von seiner Männlichkeit durchdringen lassen, im Stillen gebetet, dass sie diese Tat nicht würde büßen müssen. Doch der himmlische Vater hatte kein Einsehen mit der schwachen Seele, der Tochter der Eva, der Ursünderin. Ja, hatte ihr Anblick ihren Dienstherren nicht sogar verleitet, seine göttliche Pflicht zu vergessen? Jetzt wurde sie geprüft.

Marie dachte daran, dass der Dienstherr nicht erst sie dazu befohlen hatte, mit ihm das Lager zu teilen. Doch die anderen hatten Glück gehabt. Sie dagegen würde im Dezember, ausgerechnet im Monat der Fleischwerdung Gottes, ein gottlos empfangenes Kind gebären, unter Schmerzen, wie es den Menschenfrauen seit dem Sündenfall auferlegt war. Doch würde der Baron sie so lange in seinem Schloss dulden, dass alle sehen konnten, dass sie Mutter wurde? Am Ende würde er noch behaupten, sie habe mit einem der Knechte oder gar den Wachen gehurt, um zu ihrem täglichen Brot auch noch Geld für unstatthafte Wünsche zu haben. Doch spätestens, wenn das gottlose Kind ihrem Leib entwunden war, würden es alle sehen, wessen Kind es war. Nein, Ihr Herr würde es nicht zulassen, dass diese seine Schandtat offenbar wurde.

Marie betete zu Gott und dem Heiland, dass sie ihr verzeihen würden. Sie fügte in ihr geflüstertes Gebet ein, dass ihre Eltern niemals erfahren würden, zu welcher Ruchlosigkeit sie verleitet und gezwungen worden war. Als sie das Gebet mit "Dein Wille geschehe, O Herr, Amen!" beendet hatte, meinte sie, einer Täuschung ihrer Ohren verfallen zu sein. Da war ein leises Miauen, gleich unter dem Fenster, durch das der immer kühlere Gebirgswind hereinhauchte. Dann hörte sie das Miauen noch einmal. Sie ging noch einmal zum Fenster und sah, wie eine der fünf Schlosskatzen vom Gesimse ihres Fensters zu ihr hochblickte, es war die schwarz-weiße, die mit den weißen Tupfen auf der Stirn. Die hatte vor drei Wochen Junge bekommen. Doch die Knechte hatten den Befehl des Barons erhalten, alle Katzenjungen umzubringen. Würde man das auch mit dem Kind machen, das sie gerade unter ihrem Herzen trug?

"Na, arme Mutter. Suchst du immer noch nach deinen Kindern. Die wirst du nicht mehr wiederfinden", seufzte Marie. Das große Mitleid mit dem halbwilden Tier da unter dem Fenster verdrängte für einige Augenblicke ihre dumpfe Furcht und die Scham, die damit zusammenfiel. Als ob die Katze jedes Wort verstanden habe nickte sie wie ein Mensch. Dann richtete sie sich unvermittelt auf. Ihre linke Vorderpfote deutete auf die Wand rechts neben dem Fenster, wies dann auf den Teil des Schlosses, wo die Schlafstuben der Wachen lagen und ruckte dann wie eine zuschlagende Faust nach unten. Die Krallen glitten hervor. Ein leises, ungehaltenes Knurren entrang sich dem Katzenkörper. Dann riss sie die krallenbewehrte Tatze wieder nach oben und ließ sie zum Fenster der Magd zurückschwingen. Marie begriff nicht, was das sollte. Noch nie hatte sie eine Katze derartige Sachen machen gesehen. Sie kannte Katzen als geduldig lauernde Jäger vor Mäuse- und Rattenlöchern, ja auch als behände Fliegen-, Motten- und Falterfänger. Doch diese Bewegungen und dann das Knurren verunsicherten die von eigenen Sorgen geplagte Hausmagd. Dann kam der ungewollt und ehrlos schwangeren Magd ein böser Verdacht. Die Katze war keine Katze, sondern eine verzauberte Kreatur der Hölle, ein Hexentier. Sie dachte an die geflüsterten Behauptungen, ihr eigener Urgroßvater sei nicht nur Jünger sondern auch Lehrmeister der gottlosen Künste gewesen, habe die den Geboten der Kirche spottenden Kräfte ergründet und sie unschuldigen Kindern beigebracht. Doch weder ihre Mutter noch sie fühlten sich als Trägerinnen der unheiligen Kraft. Sie waren keine Hexen. Doch was, wenn dieses Katzentier da auf dem Sims ... Sie erschrak erneut. Doch diesmal kam der Grund dafür von außen. Sie hörte Schritte, dumpfe schwere Schritte, die Schritte von mindestens zwei Männern. Die Katze buckelte kurz. Dann huschte sie mit aufgerecktem Schwanz vom Sims in die Astgabel der nahebei stehenden Buche hinüber. Marie zog sich schnell vom Fenster zurück.

Die Schritte klangen nun noch näher. Galt das ihr? Wollten die Wachen zu ihr? Wenn ja, dann wusste sie, was ihr bevorstand. Der Baron hatte es über eine der anderen Mägde erfahren, dass sie wohl an einem Kind trug. Sicher dachte er auch daran, wessen Kind sie im Leibe trug. Sollte sie kämpfen oder es hinnehmen, was immer die ausgeschickten Wachen ihr antaten? Sie hatte Gott gebeten, dass ihre Eltern nie erfahren würden, was ihr widerfuhr. Am Ende mochte Gottes gehorsamster Diener, der Schnitter, diesen Wunsch erfüllen.

Hatte Marie vorher noch große Angst, was ihr alles passieren würde, so fühlte sie sich auf einmal ganz ruhig und unbeschwert. Was jetzt passierte konnte sie nicht mehr abwenden. Also konnte sie es auch geschehen lassen. Um so schneller würde es auch vorbei sein.

Die Türen der Dienerschaft konnten nicht von innen verriegelt werden. Deshalb hatten die zwei Wachmänner Aldo und Miro zusammen mit Luc, dem Pferdeknecht und Kutscher des Herren überhaupt keine Mühe, ins Zimmer der Hausmagd zu kommen. Diese saß auf dem mit Stroh gefüllten Leinensack, der ihre Bettstatt war und hielt die Hände in stillem Gebet gefaltet.

"Heh, undankbare Dirne, auf und keinen Mucks, sonst fehlt ihr gleich die Nase oder ein Ohr", zischte Aldo. Im Schein von Lucs Laterne glomm das blankgezogene Schwert, als sei seine Klinge aus glühender Kohle gemacht. Marie sah den Wächter an. Er trug nicht das übliche Kettenhemd unter der Uniform, und auch keinen Helm auf den struweligen Kopf.

Marie hätte gerne gesagt, dass sie keine Dirne war. Dirnen waren für sie gottlose Frauen, die ihren eigenen Leib für schnödes Geld jedem Mann hingaben, der bezahlen wollte. Sie hatte aber kein Geld bekommen. Sie hatte nur ..."Los, wird's bald!" fauchte Aldo. Sein Kamerad grinste schadenfroh, während der Pferdeknecht und Kutscher offenbar nur die Laterne halten sollte. Marie stand auf. Sie ging auf Aldo zu. Wenn er ihr jetzt den Kopf abhauen wollte, dann sollte es in Gottes Namen so sein.

Als sie die Schwertklinge ansah achtete Marie nicht auf den zweiten Wächter, der hinter seinem Kameraden hervortrat und der Magd ohne Vorwarnung einen derben Leinensack über den Kopf warf und bis zu ihren Füßen durchfallen ließ. Marie wollte schreien. Doch eine kräftige Männerhand legte sich auf ihren Mund. "Wenn du schreist werfen wir dich über die Todesmauer", drohte Aldo. Marie verzichtete auf einen Schrei. Sie nahm es auch hin, dass sie von zwei Männern umgestoßen wurde und der über sie geworfene Sack nun auch über ihre Füße fiel und fest verschnürt wurde. Dann fühlte sie nur, wie sie angehoben und davongetragen wurde.

Der Pferde- und Fuhrknecht Luc hatte nur den Befehl, den Weg zu erleuchten und nichts zu sagen. Aldo hatte ihm gedroht, ihm augenblicklich und ohne Sterbesegen und letzte Beichte den Kopf abzuhauen und ihn den wilden Tieren draußen zum Fraße darzureichen. Er sollte nur mit der offenbar ruchlos gewordenen Hausmagd zwei Meilen vom Schloss fortfahren und sie einem dort wartenden Fuhrmann übergeben. Alles andere durfte und wollte er nicht wissen.

Während er mit der Laterne den Weg der beiden Sackträger beleuchtete, huschte eine schwarz-weiße Katze die Treppe hinab ins Freie. Luc erkannte das Tier. Das war die Katze, deren Junge er zusammen mit Fred vor drei Wochen ersäuft hatte. Merkwürdigerweise hatte dieses Tier danach keine Anstalten gemacht, um den Verlust zu trauern. Er hingegen hatte immer wieder schwere Träume gehabt, in denen seine geheime Liebe Luiselle immer wieder sein Kind zur Welt brachte und es gleich nach der Geburt von riesengroßen Katzen gepackt und gefressen wurde. Auch Fred schien seit der letzten Katzenjungenersäufung unter einem schlechten Gewissen zu leiden. Doch keiner sagte was. Männer durften sich nicht von ihren Träumen unterbuttern lassen.

Um die restlichen Bewohner des Schlosses nicht aufzuschrecken nahm der kleine Trupp den kürzesten Weg aus dem Schloss hinaus. Durch den Lieferantenhof, auf dem allwöchentlich die Bauersleute ihr Fleisch, ihre Eier und das Grünzeug ankarrten, ging es durch das von Miro geöffnete Tor hinaus, den Bauernpfad entlang bis zur weiten Kehre, die auf den Fahrweg ins Tal nach Beauxpierres, dem zum Lehen des Barons gehörendem Dorf, führte. Hier stand ein schmuckloses Fuhrwerk, mit dem sonst Brennholz oder Wein transportiert wurde. Die im Sack steckende Marie wurde auf die offene Ladefläche des Fuhrwerks gewuchtet. Aldo drohte ihr noch einmal, sie sofort zu töten, wenn sie schrie. Luc bedeutete er mit auf die Lippen gelegten Fingern, ebenfalls zu schweigen. Doch wie stellte sich dieser Schwertschwinger und Paradierknecht das vor, wie Luc dem vorgespannten Wallach Kommandos geben sollte. Außerdem hatte er es gesehen, dass Marie ihn erkannt hatte. Er gehorchte jedoch und erklomm den polsterlosen Bock. Er ergriff die Lenkschnüre mit der einen und die Peitsche mit der anderen Hand. Als Aldo eine zum Tal hinweisende Handbewegung machte ließ Luc die Peitsche knallen. Der treue und ausdauernde Wallach zog sogleich an und brachte den Karren in Fahrt. Aldo und Miro blieben zurück. Offenbar war ihr Auftrag erledigt. Jetzt war Luc mit Marie alleine auf dem Wagen. Er ließ noch einmal die Peitsche sprechen, damit das brave Zugpferd noch schneller vorantrabte. Bisher hatte er nicht Hü oder Hott rufen müssen. Zwei Meilen sollte er das Fuhrwerk fahren. Dort wollte irgendwer Marie übernehmen. Was dann mit ihr passierte sollte er nicht mehr mitbekommen. Er malte sich aus, dass man das arme Mädchen ebenso ersäufen mochte wie eine junge Katze oder dass sie womöglich einem Hurenmeister übergeben wurde, der dann die sündigen Gelüste von Stadtbürgern mit ihr zu Gold und Silber machte. Doch irgendwie empfand er es als Sünde, bei diesem schändlichen Treiben den braven Gehilfen zu spielen. Wenn er Marie schon einem unrühmlichen Schicksal überließ, dann sollte er auch wissen warum. So brach er Aldos Gebot und sprach Marie an: "Ich weiß, du musst mich für einen Feigling halten, und recht hast du wohl, Gott sei es geklagt", sagte Luc "Doch muss ich, wenn ich schon zur Hölle fahren soll, wissen, warum. Was hast du getan, dass der Baron dich nicht mehr im Schloss haben wollte?"

"Ich habe mich von dem schwängern lassen", klang es dumpf aus dem Sack über das Rasseln, Knarczen und Hufgeklapper hinweg. Luc erbleichte. Mit dieser Antwort hätte er jetzt nicht gerechnet. Doch Marie, offenbar mit dem Mut der Verzweiflung beseelt, wiederholte es und sagte auch, dass der Baron sie vor fünf Wochen dazu befohlen hatte, ihm ihre Jungfernschaft zu opfern. Luc schüttelte den Kopf. Das konnte nicht wahr sein. Wie konnte der Baron sowas tun? Er war schon versucht, den Wagen anzuhalten. Doch die Angst vor der eigenen Bestrafung trieb ihn, nicht anzuhalten.

"Dann darf dich niemand töten. Das Kind im Leib der Mutter ist zu schützen, weil auch unser Heiland einst ein schutzloses Kind im Mutterbauch war."

"Ob die, denen du mich vor die Füße schmeißen sollst das auch wissen, Luc?"kam eine höchst verächtliche Frage aus dem verschnürten Sack zurück. Luc gab darauf keine Antwort. Denn ihm fiel nichts ein, was er dazu sagen konnte.

Der Rest der Fahrt verlief im gegenseitigen Schweigen. Als Luc weit voraus das rötliche Schimmern sah wusste er, dass er es gleich überstanden hatte. Aus dem Schimmern wurde ein orangeroter Schein, der sich beim Näherkommen als Licht zweier Laternen erwies. Dann sah Luc die große Kutsche, vor der gleich vier schwarze Pferde vorgespannt waren. Auch die Kutsche war dunkel wie die über ihm ausgebreitete Nacht. hätten an den Seiten des Kutschbocks keine Laternen gehangen hätte er es nicht einmal bemerkt, wenn er daran vorbeigefahren wäre. Luc dachte an eine Leichenkutsche, wie er sie bei der Grablegung des Vaters seines Dienstherren gesehen hatte. Hieß dass doch, dass Marie sterben sollte? Er schwieg. Marie sollte nicht wissen, welch unheilvolles Gefährt auf sie wartete.

Der Fuhrknecht zog an den Führsträngen. Der Wallach verhielt seinen schnellen Gang und stand. Der Karren rumpelte noch einmal kurz von links nach rechts, dann stand er ebenfalls.

Aus der schwarzen Kutsche, die Luc in Gedanken Todeskutsche nannte, sprangen vier in dunkle Kapuzenumhänge gehüllte Gestalten. Einmal sah er im Licht der Hängelampen eine Schwertklinge unter dem Umhang aufblitzen. Dann deutete auch schon jemand auf ihn. Er machte Anstalten, vom Wagen zu steigen. Doch der Anführer der Truppe wies ihn mit unmissdeutbaren Bewegungen an, auf seinem Platz zu bleiben. Jetzt konnte Luc auch den Mann auf dem Dach der Kutsche sehen. Er führte einen Kurzbogen und hatte einen Pfeil aufgelegt. Dessen Spitze wies auf Lucs Brustkorb. Diese Sprache verstand der Knecht.

Die vier Kapuzenmänner liefen auf den Karren zu. Marie rief aus ihrem Sack heraus, was los sei. Ein bedrohlich gezischtes: "Schweige oder stirb!" war die Antwort. Marie machte keine Anstalten mehr, als drei der vier vermummten Burschen sie von der Ladefläche hoben und in Richtung schwarze Kutsche davontrugen. Der vierte Mann öffnete eine Klappe am Hinterteil des Vierspänners. Luc konnte im Licht einer kleinen Laterne in der Hand des vierten Kapuzenträgers sehen, dass in dem hinteren Teil der Kutsche Strohsäcke gestapelt waren. Darauf warfen die drei anderen den Sack mit der verstoßenen Magd. Laut und hohl nachklingend fiel die Rückwärtige Klappe wieder zu. Der Kapuzenmann verriegelte sie, bevor er mit seinen Begleitern wieder in die Kutsche kletterte. Dann zeigte der Kutscher auf den Weg, den Luc mit dem Karren gekommen war und raunte: "Fahr er zurück. Er hat die ihm auferlegte Arbeit getan!" Luc fragte sich, wieso der Kutscher mit ihm sprach wie ein Edelmann mit einem niederen Diener? Sicher, er war ein niederer Diener. Doch er hatte geglaubt, die anderen wären ihm rangmäßig gleich. Das war wohl ein Trugschluss. Der auf dem Dach liegende Bogenschütze zog die Sehne seiner Waffe noch ein wenig weiter aus. Das war überdeutlich. Wenn Luc nicht losfuhr würde er gleich einen Pfeil in der Brust haben und tot vom Bock fallen. So bugsierte Luc den hölzernen Karren so, dass er wenden konnte. Dann fuhr er los, gab dem Wallach sogar kurz die Peitsche, damit dieser mit ganzer Kraft zog. Als Luc noch einmal einen Blick zurückwarf sah er, wie die andere Kutsche ebenfalls drehte und dann in schneller Fahrt davonfuhr. Keiner der Männer, die an dieser heimlichen Übergabe beteiligt waren, hatte die schwarz-weiße Katze bemerkt, die kurz vor der Abfahrt der schwarzen Kutsche hinter dem Mann mit dem Bogen auf das Dach geklettert war und sich nun flach auf dem Dach ins Holz krallte.

Luc brachte den Wagen wieder an die Stelle, wo er Marie aufgeladen hatte. Dort warteten Aldo und Miro. "Alles erledigt?" fragte Aldo sehr bedrohlich klingend.

"Wer sind die in der Kutsche und wo bringen sie Marie hin?" wagte Luc eine Frage.

"Wenn du morgen noch leben willst vergisst du diese Frage besser wieder, Pferdeknecht", lachte Aldo. "Vergiss am besten auch, dass du Marie weggeschafft hast. Seine Gnaden könnten sonst sehr ungehalten werden." Aldos Kamerad Miro grinste verächtlich.

Marie indes wusste nur, dass sie von einem Fuhrwerk auf ein anderes geladen worden war. Immerhin lag sie hier nicht auf einer harten Holzpritsche, sondern auf einem prallen Strohsack. Außerdem war das zweite Fuhrwerk besser gegen Stöße und Schläge gefedert als der Brennholzkarren des Schlosses. Sie hörte sogar das Hufgeklapper von mindestens zwei Pferden. Also war es ein größerer Wagen, auf den sie umgeladen worden war. Sie besann sich auf die Empfindungen ihres Körpers. Bisher hatte die ganze böse Sache ihr keine Schmerzen bereitet. Das in ihr ruhende Kind war nicht in Gefahr geraten. Doch wegen dieses Kindes würde sie nun an einen ihr unbekannten Ort geschafft, vielleicht in ein Nonnenkloster, wo sie von allen unbemerkt das ihr aufgezwungene Kind gebären sollte, um dann für immer hinter dicken Klostermauern eingesperrt zu bleiben, um die sündige Tat abzubüßen, während das Kind je nach Geschlecht bei den frommen Schwestern blieb oder deren Glaubensbrüdern in einem anderen Kloster zur Obhut gegeben wurde. Das wäre immerhin besser, als in einem Dirnenhaus irgendwo in einer ihr völlig fremden Stadt zu leiden.

Die Männer, die sie in ihre Gewalt gebracht hatten, sprachen miteinander. Marie konnte sie aber nicht verstehen. Waren das etwa Ausländer? Dann konnte es sogar passieren, dass sie in ein anderes Land geschafft wurde, wo niemand den Baron kannte und wo sie ihr restliches Leben verbringen musste. Am Ende, so die sich mit ihrem Schicksal abfindende, war es doch auch ganz gleich, ob sie in Frankreich oder anderswo eingesperrt gehalten wurde.

Der Bogenschütze hatte das Dach verlassen und war in die Kutsche gestiegen. Er hatte nicht mitbekommen, wie von der anderen Seite eine schwarz-weiße Katze aufs Dach geklettert war. Im Raum für Reisende setzte er sich mit seinen vier weiteren Kameraden zum Kartenspiel zusammen. Die Dirne im Sack, die von ihrem Herren aus dem Land geschafft werden solte, würde sie nicht stören, selgbst wenn sie schreien oder flennen sollte. Leise sprachen sie über die Reise und wo sie den Lohn für ihre Nachtarbeit erhalten würden. Einer der Männer, die den Sack mit der Fortzuschaffenden getragen hatte meinte: "Hoffentlich zahlt uns der Unbekannte überhaupt eine blanke Kupfermünze. Am Ende deucht mir, dass er uns wegen Wissen um eine verbotene Tat dem Schnitter Tod zur Ernte darbringen lässt."

"Das kann er sich nicht erlauben, wie hochwohlgeboren er sein mag. Unsere Freunde in der Stadt haben alles auf Pergament, was ausgehandelt wurde und kennen seinen Namen. Wenn er säumig wird oder gar grob undankbar, so widerfährt ihm da selbst großes Unheil." Dem konnten die anderen nicht widersprechen.

Ohne dass sie es ahnten wurden sie belauscht. Die schwarz-weiße Katze auf dem Dach hörte und verstand jedes Wort, das in der Sprache der Angelsachsen gesprochen wurde. Auch erfuhr das Tier, dass sich Marie gegenüber merkwürdig benommen hatte, dass die Reise nach Cornwall gehen sollte. Dort wollte man die verstoßene Magd einfach so mit einem kleinen Sack Brot und Trockenobst aussetzen. Nun, dann konte ihre in Mittelengland wohnende Verwandtschaft sie eben dort auflesen.

Die Katze konzentrierte sich und vollführte im Geiste fünf Stufen einer inneren Kunst, mit der sie sich auf ferne Freunde oder Anverwandte einstimmen konnte, um ihnen nur für diese hörbar kurze Mitteilungen zu übermitteln. Als sie die fünfte Stufe erfolgreich durchlaufen hatte schickte sie: "Marie soll nach Cornwall. Gedungene Schergen unter Sir Amos of Three Acres übernimmt Fortschaffen."

"Verstanden, gebe es weiter!" hörte die Katze in ihrem Kopf eine Frauenstimme antworten. "Na, immer noch traurig wegen der fünf toten Katzenbälger?"

"Ich habe immer noch Vorsprung vor dir, auch wenn du gemeint hast, mir als Ratte überlegen zu sein, Base", übermittelte die auf dem Kutschendach liegende Katze an die ferne Empfängerin ihrer ersten Nachricht.

"Ja, und du mich fast gefressen hättest, dummes Vieh", erfolgte ein zornig klingender Vorwurf. "Aber ich werde die Wette gewinnen, auch wenn du dir noch hundertmal von streunenden Straßen- und Bauernkatern deine Scham durchpflügen und von deren Jungen zerreißen lassen magst."

"Da müsstest du schon als Königin eines Emsenvolkes weiterleben, Base. Und das willst du nicht wirklich, wo die so ein langweiliges Dasein fristen", antwortete die Katze auf die für Menschensinne unerfassbare Weise. Darauf erfolgte diesmal keine Antwort. Vielleicht, so dachte die Katze für sich, hatte sie der fernen Base gerade eine neue Idee eingegeben, wie sie die vor fünfzig Jahren abgeschlossene Wette doch noch gewinnen konnte. Tja, die hätte den Wortlaut der Wette besser überdenken sollen, dachte die Katze mit großem Vergnügen.

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10. November 2001

Ich merke es. Seine ganz neuen Jungen sind jetzt in mir drin. Eigentlich suche ich immer mal wen neues, um welche zu kriegen. Aber in dieser ganz großen Zweifußläufersiedlung Millemerveilles laufen außer Dusty nur die niederen Männchen rum. Von denen will ich keine Jungen, wenn noch wer starkes da ist. Millie und Julius wissen das noch nicht. Die haben gerade damit zu tun, dass ihr erstes Junges Aurore richtig zu laufen angefangen hat. Warum können die Zweifußläuferjungen erst so spät laufen? Kein wunder, dass die immer so lange von den Eltern beschützt werden müssen. Aber das zweite Junge ist ja schon in Millies Bauch. Das braucht da aber noch fast so lange, bis meine neuen Jungen von Dusty rauskommen.

In der ganz großen Zweifußläufersiedlung, über der die summende Kraft hängt, die nur gute Zweifußläufer und andere Wesen hier sein lässt, werden die Bäume schon wieder gelb, braun und rot. Die Blätter fallen runter und rascheln schön im Wind. Das hilft mir auch, die Mäuse und ihre Jungen besser zu hören. Dusty mag das auch. Herbst sagen die Zweifußläufer dazu, wenn die Blätter anders aussehen und von ihren bäumen runterfallen. Er findet das ganz aufregend, durch die runtergefallenen Blätter zu jagen, sich darin herumzuwälzen und seinen Geruch da reinzuspritzen. Ich weiß das, dass ich in dieser Blattfallzeit auch schon gute Junge gekriegt habe und mit den runtergefallenen Blättern schon eine weiche Höhle gebaut habe, in die ich die Jungen reinlegen konnte.

Julius spielt auf dem pfeifenden und trillernden Glitzerding, das er Querflöte nennt. Das trällert gerade wieder so schön. Ich höre seine und Millies gerade erst laufen könnende Tochter, die in ihrem viele Farben zeigenden Wechselfell zu uns rüberkommt. Allwetterspielkleid hat Florymont, der Vater von dem Zweifußläuferjungfweibchen Chloé das genannt. Damit kann die kleine Aurore sogar auf Wasser schwimmen, ohne darin zu verschwinden und dann keine Luft mehr zu kriegen. Jetzt gibt's wohl essen. Ja, es muss essen geben. Denn Dusty rennt ganz schnell an ihr vorbei zum apfelförmigen Haus hin. Das macht der nur, wenn er was zu essen abkriegen kann. Der jagd nur, wenn es nicht anders geht. Aber ich mag das halbverbrannte Fleisch nicht, dass Millie, Julius und die anderen Zweifußläufer essen. Kommt bei Dusty wohl davon, weil der aus einem ganz fernen Land rübergebracht wurde, wo die dem das Fressen von halbverbranntem Fleisch beigebracht haben. Aber vielleicht haben die mir auch was unverbranntes hingestellt. Jetzt, wo ich neue Jungen im Bauch habe, muss ich ja doch mehr essen als ganz für mich alleine.

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"Neh, is' klar, wenn's was zu essen gibt ist der Mr. Stardust natürlich wieder am schnellsten da", scherzte Julius, als er den silbergrauen Kater mit den mondlichtfarbenen Tupfern heranflitzen sah. Aurore Béatrice, die im Moment noch einzige Tochter der Latierres, eilte mit immer sicherer werdenden Schritten hinter dem Knieselkater her. Ihr Allwetterspielkleid war sauber, ihr Haar und Gesicht waren mit Erde gesprenkelt. Julius war froh, dass Madame Arachne diese Sachen für Kinder zwischen null und zehn Lebensjahren im Angebot hatte. Auch wenn die Dinger zwanzig Galleonen kosteten waren sie jeden einzelnen Knut davon wert, fanden Millie und Julius. Denn außer dass sie unbeschmutzbar waren und somit nicht gewaschen werden mussten, waren sie reißfest, widerstanden schwachen Säuren wie der von Brennnesseln und Ameisen, boten auch Widerstand gegen Insektenstachel und Krallen kleiner Säugetiere und waren unentflammbar und schwimmfähig. Mit diesem Spielkleid konnte Aurore nicht im Farbensee untergehen. Zwar gab es einige in Millemerveilles, die die Latierres und Dusoleils darum beneideten, ihren kleinen Kindern diese Luxusfreizeitgarderobe kaufen zu können. Doch die meisten hatten erstens selbst genug Galleonen bei Gringotts oder wussten, wie heftig gerade die Dusoleils und Latierres dafür ackern mussten, um ihren Kindern diese unverwüstliche und lebenserhaltende Kleidung zu beschaffen.

"Kuck mal, da kommt deine kleine Kupplerin auch an", flötete Millie, die zusammen mit ihrem Mann auf die Heimkehr der gemeinsamen Tochter wartete.

Aurore sprang ihrem Vater in die Arme, als der sie unten an der Tür zum Apfelhaus begrüßte. "Aurore Béatrice Latierre, erst Hände und Gesicht waschen, dann essen", legte Millie fest. Aurore quängelte. Doch Julius setzte sie auf ihre kleinen Füße und sagte: "Mach was Maman gesagt hat, Rorie. Du musst nicht die halbe Erde von Millemerveilles mitessen. Außerdem hängt da viel Gekrümel in deinen Haaren rum."

"Oh, stimmt. Das muss auch noch raus", stellte Millie fest. Aurore wollte schon wieder weglaufen. Haare Waschen und Kämmen waren nicht ihr Ding. Doch Millie kannte ihre Tochter. Trotz der voranschreitenden Schwangerschaft mit Aurores kleiner Schwester war sie noch gewandt genug, sie abzufangen, bevor sie wieder nach draußen laufen konnte. Währenddessen stolzierte Stardust bereits die Wendeltreppe in der Senkrechtachse des Apfelhauses nach oben.

"Oha, der kleine Fresssack will sicher unsere Albondigas klauen. Am besten trenne ich unsere Tochter von der Gartenerde", sagte Julius. Millie, die gerade merkte, dass ein Kleinkind und ein Ungeborenes doch ein wenig schwer für sie waren nickte ihm zu. "Aber kommt beide trocken aus dem Badezimmer. Das letzte mal, wo du sie gewaschen und gestriegelt hast hätte man glatt denken können, ihr wäret gerade aus dem Farbensee geklettert."

"Ja, Maman Mildrid, ich seh zu, das Badezimmer nur knöchelhoch unter Wasser zu setzen", erwiderte Julius, während er seine immer noch quängelnde Tochter übernahm. Diese fing nun an zu plärren. Offenbar meinte sie, ihren Vater damit leichter herumkriegen zu können. Doch dieser begann ein Lied vom Wasser zu singen, wie es fröhlich aus dem Hahn plätscherte und alles wieder saubermachte, was damit zusammenkam.

Um nicht erst seine Oberkleidung trocknen zu müssen warf er den Umhang von sich und ließ warmes Wasser in das kleine Becken laufen. Aurore wehrte sich nur mäßig, wobei ihr Vater einiges an Wasser ins Gesicht und auf den von einem weiß-blauen Unterhemd bedeckten Oberkörper bekam. Nach zwei Minuten war der Kampf um Aurores Haare und Gesicht aber entschieden. Julius kämmte seiner Tochter das lange, weiche, rotblonde Haar glatt und half ihr in das veilchenblaue Hauskleiddchen.

"Der hat echt darauf gelauert, dass ich den Deckel von der Warmhalteplatte nehme", begrüßte Millie ihren Mann und ihre Tochter und hielt dabei den Knieselkater unter Beobachtung, der mit wehmütigem blick auf die Schüssel dasaß. Die in würziger Soße gebetteten Hackfleischbällchen waren für den aus den Staaten nach Frankreich geholten Kater auch zu verlockend.

"Der kann den Rest vom Hühnerhack kriegen", sagte Julius. "Neh, das habe ich deiner goldschweifigen Eheberaterin hingestellt. Denkst du, die hätte den da rangelassen. Die hat das Zeug verspachtelt wie ein großer Tiger. Ich glaube, die hat auch wieder was kleines in Aussicht." Julius grinste. Aurore sah auf die Kartoffelecken und den lustig bunten Salat.

Julius und Millie halfen Aurore beim Essen. Sie zerkleinerten die Kartoffelecken und die Hackfleischbällchen, nachdem sie Dusty wieder aus dem Haus gebracht hatten. Aurore langte richtig zu. Doch ihre Mutter übertraf sie bei weitem. Julius verspürte auch ein etwas größeres Hungergefühl. Doch nachdem er eine für seinen Körper und Energiebedarf ausreichende Menge gegessen hatte, verflog dieser Hunger wieder. Offenbar spielte Temmie wieder Umstandsnebenwirkungsumleitung, wie Millie und ihre Tante und Hebamme Béatrice das genannt hatten. Zumindest sah er nicht wieder so aus, als trüge er ebenfalls ein Kind aus, wie im letzten Schuljahr, wo die kleine Aurore unterwegs gewesen war.

"Und, darfst du deiner Angetrauten und in Liebe gezeugten erzählen, was du heute so erlebt hast?" begann Millie ein Tischgespräch. Julius nickte.

"Die suchen immer noch nach flüchtigen Lykanthropen. Meine Vorgesetzte und der Chef von der LDLL trauen der Ruhe nicht über den Weg. Ich übrigens auch nicht. Wenn die sich echt mit Portschlüsseln abgesetzt haben, dann können die wer-weiß-wo untergetaucht sein. Ich habe das bei Ornelle Ventvit angedeutet, dass dies wortwörtlich gemeint sein könnte. U-Boote wie die "Nautilus" sind ja echt kein wirklich schwieriges Kunststück für gewiefte Zauberkünstler. Am Ende haben die sich ein Unterwasserhaus gebaut oder wohnen auf einem Achttausender im Himalaya, bis genug Gras über die Mondbruderschaft gewachsen ist."

"Und was war jetzt mit Léto? Ich hörte, die war heute wieder bei euch im Ministerium", kam Millie auf was anderes.

"Das schrammt schon laut knirschend an einer Sache aus der S-Klasse lang, Mamille. Aber soviel kann ich sagen, dass sie wohl mit allen Veelas Europas eine Zusammenarbeit mit den Zaubereiministerien vereinbaren will, in deren Zuständigkeitsbereich Veelas mit menschlichen Partnern und gemeinsamem Nachwuchs wohnen. Mehr erst, wenn das nur eine C-Klassen-Angelegenheit ist." Millie verstand. Vor Aurore wollte er natürlich nichts erzählen, was als Geheimsache bezeichnet wurde. Er erwähnte dann noch, dass ja morgen diese Zusammenkunft über Zauberwesen stattfinden würde und Ornelle Ventvit dabei sein würde. "Fleurs und Gabrielles Papa darf dann Stallwache machen", sagte Julius.

"Gut, ich bin deine Frau und daher nicht ganz unbefangen", holte Millie aus, "aber warum nehmen die dich für so eine Konferenz nicht gleich mit, wo du schon so viel für die erledigt hast und zweisprachig durchs Leben braust?"

"Ornelle Ventvit hat gesagt, dass bei der Konferenz nur vollbeamtete Ministeriumsmitarbeiter zugelassen seien und weil die Konferenz nicht in Frankreich sei keine Ausnahme gemacht werden könne. Die tagen ja in Deutschland. Da hätten wir eh wen mit Deutschkenntnissen hinschicken müssen. Die einzige, die mir da einfällt arbeitet ja nicht mehr für's Ministerium."

"Die hat schön grüßen lassen. Heute waren die Drittklässler mit einem Boot auf dem See. Nach der Schule kam sie dann kurz zu mir. Ich glaube, die ärgert sich doch ein klein wenig, dass die keinen gefunden hat, von dem sie auch was kleines quirliges im Bauch herumtragen kann."

"Wo die jetzt immer wieder mitkriegt, dass die nicht immer klein und süß bleiben?" fragte Julius zurück. Millie grinste.

"Kann sein, dass sie die Eltern von denen, die sie unterrichten darf, immer wieder komisch angucken, weil sie alleinstehend ist."

"Leider wohl wahr. Bei den Muggeln würden wir und die meisten aus Millemerveilles, ja auch Camille, Oma Line oder Madeleine L'eauvite als Spießer bezeichnet, also Leute, die nur dran denken, ihr Haus in Ordnung zu haben, ein klar geregeltes anständiges Leben zu führen und fleißig für sich und ihre Familie Gold ranzuschaffen. Da fällt dann eine, die nur für sich alleine lebt aus dem Rahmen, vor allem, wenn die dann noch Schulkindern was wichtiges beibringen soll."

"Oma Line? Das darfst du mir aber mal erklären, Süßer", erwiderte Millie. Julius war sofort mit einer Erklärung dabei. "Weil ihr das ganz wichtig ist, Mutter zu sein und ihren Kindern ein gutsortiertes Familienleben zu sichern. Für Leute in unserem Alter wäre so eine Frau schon voll spießig, weil da ja alle Freiheiten und Freizügigkeiten wegfielen."

"Gekauft", grummelte Millie. "Jetzt kapiere ich wenigstens, warum mich beim letzten Ausflug nach Paris die Muggelmädels in den kurzen Sachen so mitleidig angeglubscht haben, weil ich eine kleine Tochter am Arm hatte und eine andere zwischen Magen und Blase herumschaukel. Gut, würde dir Oma Line wohl nicht widersprechen, zumal sie das Wort spießig wohl noch nicht kannte."

"Wobei sie da nicht viel verpasst hat. Ich kann mich zu gut erinnern, wie oft der ältere Bruder eines meiner früheren Schulfreunde mich als Spießerprinz bezeichnet hat, weil meine Eltern meinten, selbst zu meinen Schulfreunden hätte ich nur in bester Jungherrenkleidung hinzugehen. Dann haben sie es kapiert, dass zum Fußball kein Ausgehanzug mit Schlips und Kragen passt. Seitdem habe ich mit Lester und Malcolm immer Fußball gespielt, auch wenn ich mit denen Eis essen war oder den Nachmittag an der Spielekonsole oder mit dem Gameboy verdaddelt habe."

"Soso", grinste Millie. Zwar kannte sie schon einiges aus Julius Leben vor der Zaubererwelt. Doch warum er welche Kleidung anzuziehen oder nicht anzuziehen hatte war ihr noch neu.

Rorie klopfte mit ihrem Löffelchen auf den halbleeren Teller. Dann rülpste sie vernehmlich. Millie und Julius mussten lachen.

"Also, das war jetzt total unspießig", lachte Julius. Er dachte jedoch daran, dass Madame Faucon, ja auch ihre Tochter Catherine der Kleinen das wohl schnell abgewöhnen würden. Aufstoßen durften bei denen nur Babys.

"Bäuchlein voll? Toll! Dann singen wir noch was zur guten Nacht, und dann ist Schlafenszeit für Mademoiselle Aurore Latierre", sagte Millie. Das gehörte schon zum allabendlichen Ritual. Aurore quängelte, dass sie noch nicht ins Bett wollte. Immerhin durfte sie noch mit ihrer Mutter und ihrem Vater im Musikzimmer zur Klavierbegleitung singen. Anschließend sollte sie noch in das kleine Töpfchen machen, dass sie seit September hatte. Ihre Eltern hatten ihr gesagt, dass große Mädchen nicht mehr in Windeln reinmachen würden und sie ja mal ein großes Mädchen sein wollte. Für Ausflüge bekam Aurore zwar immer noch praktische Reisewindeln um, doch das für die beiden jungen Eltern eigentlich als sehr schwere Umstellung erwartete Lernen, ohne Windeln durchs Leben zu gehen ging bei Aurore doch irgendwie gut, wohl auch, weil sie mitbekam, dass Chloé Dusoleil auch keine Windeln mehr nötig hatte. Wenn Aurore zwei Jahre alt würde wollte ihr Vater einen Zwischensitz für die Toilette einsetzen, damit sie wie die großen machen lernen konnte.

Als Aurore um acht uhr im Bett lag und vom munteren Spiel zwölf gemalter Schweinchen und ihrem Ball in sanfte Träume getragen wurde, baute Millie noch einmal einen Klangkerker in der Bibliothek auf.

"Du hattest mir gestern erzählt, dass bei dieser Zauberwesenkonferenz auch angerissen werden soll, ob man versuchen soll, mit der einzigen noch wachen Abgrundstochter eine Art Burgfrieden auszuhandeln. Wollen die dich deshalb nicht dabei haben?"

"Das wohl auch, weil ich da ziemlich heftig befangen wäre", sagte Julius. "Abgesehen davon, dass die bisher ganz ohne Ministerielle Duldung klarkommt, die ist mehrere tausend Jahre alt. Warum soll die sich mit Leuten vertragen, die nur knapp hundertfünfzig Jahre alt werden können? Das ist auf Güldenbergs Drachenmist gewachsen. Irgendwer aus dessen Zauberwesenbehörde hat gemeint, dass wegen dieses Lord Vengors alle potenziellen Gegner oder Verbündeten von dem überprüft und befragt werden sollen, ob die mit den so genannten anständigen Hexen und Zauberern nicht besser führen."

"Klar, und die meinen, weil diese Itoluhila angeblich zurückhaltender auftritt und jetzt komplett allein auf der Welt herumläuft wäre die für uns leichter zu begeistern als für diesen Möchtegernerben von Lord Unnennbar?"

"Meine Meinung, die ich unvorsichtigerweise nicht für mich behalten habe ist, dass Itoluhila das ausnutzt, uns gegeneinander auszuspielen, damit sie vor Vengor und uns ihre Ruhe hat. Das hat Ornelle wohl unserem gemeinsamen Vorgesetzten Monsieur Vendredi weitergereicht. Der meinte dann, dass wer einmal im Feuer eines Drachen gestanden habe schon beim Fauchen einer Katze zu zittern begönne. Ich hätte dem gerne noch logisch begründet, warum ich diese meine Ansicht habe. Aber er war ja immer beschäftigt. Wer den Rufer nicht hören will, braucht auch keinen, der ihm was ins Ohr flüstert."

"Und wer sagt, dass die anderen Schwestern noch lange schlafen?" fragte Millie. "Itoluhila könnte doch gerade, weil sie jetzt die einzige wache von denen ist finden, die eine oder andere von denen wachzukitzeln."

"Du rufst da gerade einen sehr großen Drachen, Mamille", seufzte Julius. Doch seine Frau bestand darauf, dass ihre Frage durchaus berechtigt sei. Er konnte und wollte es nicht abstreiten. Dann sagte er noch:

"Und zu den andren Zauberwesen: Léto hat ihre Schwestern, Cousinen und anderen Veelas zu einer Ratsversammlung zusammengetrommelt, weil sie findet, dass ich als Kontaktzauberer zwischen ihrer Rasse und unserer Rasse berufen werden soll. Der blonden Grazie imponiert es immer noch, dass ich so gut gegen sie und ihre Schwestern, Töchter, Enkeltöchter und Nichten zumachen kann."

"Und die Sache mit der neuen Meerfrau im Mittelmeer?" fragte Millie.

"Da ist das jetzt auf der bekannten S-Stufe durch, dass ich der Ansprechpartner zwischen der und dem Ministerium bleibe. Gefällt einem gewissen Monsieur Beaubois nicht sonderlich, dass Ornelle das ihm gegenüber schon klargestellt hat, dass ich nun feste Aufgabenbereiche habe. Das mit Meglamora weiß der ja. Das ist ja Gerade mal C3, dass ich zwischen der und den Normalgroßen vermitteln soll."

"Oha, das werden dann auf jeden Fall noch spannende fünfzehn Monate, wenn die das von euch zugesteckte Baby genausolange trägt wie eines von einem reinrassigen Riesen", sagte Millie.

"Nur hoffen, dass dieses Projekt am Ende nicht komplett nach hinten losgeht", sagte Julius mit leichtem Unbehagen. Dann fiel ihm noch was ein, was seine Vorgesetzte heute noch erwähnt hatte. "Sie meinte was, ich könnte in den nächsten Tagen ein offizielles Schreiben von einer Einsatzgruppe Ostland bekommen. Damit soll eine internationale Arbeitsgruppe gemeint sein, die die überlebenden Riesen beobachtet, also was geheimdienstmäßiges."

"Gut, ist wohl nötig, falls dieser Vengor findet, sich auch Riesen als Schlägertruppe anschaffen zu müssen."

"Du merkst also, es ist einiges los", sagte Julius. Seine Frau stimmte dem zu.

Goldschweif verriet Julius am Abend noch, dass sie wirklich schon wieder trächtig war. Da sie in der Hinsicht sehr erfahren war konnte sie sogar schon voraussagen, wann ihr und Dustys zweiter Wurf ankommen würde. Da würde die kleine Chrysope Martha Latierre auch schon auf der Welt sein.

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Tag XXI im Mai des Jahres MCCXXIV

Marie hatte nach der Kutschfahrt im Leinensack im Bauch eines Flusskahns den Sack verlassen dürfen. Dort hatte sie Tage lang einen Eimer für die Notdurft, einem Krug für Wasser und einem Holznapf für Brot, Fisch, Fleisch und in Essiglake eingelegtes Kraut benutzen können. Immer zwei Männer passten an der Tür auf, die in zwei übereinandergelegene Hälften geteilt worden war, wie sie es von manchem Bauernhause her kannte. Die untere Türhälfte war immer verschlossen geblieben. Um nicht den Blicken ihrer Wächter ausgeliefert zu sein hatte man ihr einen dunklen Vorhang zugestanden, den sie von ihrer Seite her vor die Tür ziehen konnte. Schlafen konnte sie auf zwei aufeinanderliegenden Strohmatten.

Mit Verbundenen Augen war sie dann vom Flusskahn auf ein anderes auf dem Wasser schwimmendes Fahrzeug hinübergetragen worden. Sie erkannte, wie behutsam die Männer mit ihr umgingen. Niemand von denen wagte es, sie unschicklich zu berühren oder sich ihr lüstern anzunähern. Offenbar hatten alle den strickten Befehl erhalten, sie lediglich anzufassen, um sie von einem Fuhrwerk oder Kahn auf ein anderes zu bringen.

Tage vergingen, die Marie nur daran erkannte, dass durch ein in die Planken geschnitztes Loch für Luft auch genug Licht einfiel, damit sie nicht in Dunkelheit und schwerer Luft verderben mochte. Dann hatte man sie erneut ergriffen. Sie wurde immer von vermummten Männern angegangen, deren Köpfe unter Kapuzen verborgen waren.

Jetzt stand sie auf einem steinigen Boden. Ihr rechter Fuß wurde an einem festen Hanfseil an einen Steinblock gebunden. In den strick steckte einer der Kapuzenleute eine dünne Kerze und zündete diese an. "Wenn die runtergebrannt ist ist der Strick auch durch. Dann kannst du gehen wohin du willst, Weib", sagte der, der die Kerze auf den Boden gesetzt hatte. Dann ging er zu den an der Laufplanke stehenden Kameraden zurück. Die Männer stiegen auf das einmastige Schiff zurück, an dem die Segel ungeduldig im kalten Wind flatterten. Die Planke wurde wieder eingezogen, und das Schiff legte ab. Sich auf den hohen Wogen wiegend glitt der Einmaster weiter und weiter hinaus auf das graue Meer, von dem Marie nicht wusste, wo es war. Wo war sie hier eigentlich? Stand sie gerade auf einer einsamen Insel? Neben ihr ragte ein Sack aus mit Wachs bestrichenem Leder auf. Darin sollten Vorräte für sie sein, damit sie die ersten Wochen nicht verhungern musste. Doch was war, wenn sie das ihr gnädig dagelassene Essen nicht nahm und lieber verhungerte?

Während Marie dem davonfahrenden Schiff zusah dachte sie daran, ob sie wirklich ohne fremde Hilfe weiterleben konnte. Wer würde ihr, einer Fremden, denn schon helfen, vor allem, wenn die Leute hier erfuhren, dass sie eine wegen lediger Mutterschaft Verstoßene war. Sie fragte sich, ob sie solch eine Frau, gerade den Mädchenkleidern entwachsen, in ihrem Dorf aufgenommen hätten. Eine Antwort auf diese rein gedankliche Frage fand sie nicht. Denn kaum dass die Mastspitze des Schiffes ganz und gar hinter der Trennlinie zwischen Meer und Himmel verschwunden war erscholl ein lauter Knall wie von einer großen Peitsche. Marie schrak so heftig zusammen, dass sie fast auf den Felsenboden gestürzt wäre. Etwas wie eine unsichtbare Hand fing sie auf und hielt sie auf den Beinen. Sie warf ihren Kopf herum und sah zwei Männer und eine mittelalte Frau in waldgrünen Umhängen, wobei die Gewandung der Frau schon einem noblem Kleid glich. Die Männer besaßen braunes Haar und ebensolche, auf ihren Brustkorb wallende Vollbärte. Als die Verstoßene die Augen der Männer und der Frau sah verschlug es ihr fast den Atem. Sie kannte diese Augen. Immer dann, wenn sie ihr eigenes Gesicht in einer Schüssel voll Wasser gesehen hatte, hatte sie diese enzianblauen Augen gesehen. Waren diese Leute etwa mit ihr verwandt?

Als wenn ihr das nicht genug zugesetzt hätte wurde sie von einem weiteren unheimlichen Vorgang erschüttert. Wieder erklang ein ihr fremdes Geräusch, diesmal ein Ploppen, und wie aus dem Boden gewachsen stand sie da, eine Frau im knöchellangen, hellbraunen Lederkleid, das um die Taille herum mit einem schmalen Gürtel zusammengehalten wurde. Die so plötzlich erschienene hatte schulterlange, dunkelgraue Haare. Als Marie die Augen der so plötzlich aufgetauchten Frau sah übersprang ihr bereits jetzt heftig klopfendes Herz fast einen Schlag. Das waren dieselben Augen, die sie an der schwarz-weißen Katze gesehen hatte, der man die Jungen weggenommen hatte.

""Hast uns gut geführt, werte Großbase", scherzte die Frau, die mit den beiden Männern angekommen war. Marie verstand jedes Wort, auch wenn die Worte merkwürdig fremd klangen.

"Glaub's mir, Großtante Arielle, dass ich in dem von mir gewählten Leben gelernt habe, meinem Ortsspürsinn zu trauen", antwortete die so unvermittelt aufgetauchte Frau. Dann wandte sich der ältere der beiden Männer an Marie: "Willkommen in England, junge Maid", sagte er in bestem Französisch. "Man hat uns von deiner Ankunft gekündet und gebeten, dich hier zu begrüßen und in unsere Obhut zu nehmen."

"Wer seid Ihr?" wollte Marie wissen. Der Mann nickte und antwortete: "Ich bin Hubert Roger Brookwater, Sohn von Alaister Brookwater und seiner geliebten und treusorgenden Gemahlin Pancratia Chrysachira Brookwater geborene Dubois." Marie schluckte. Dubois, das war der Name ihres Urgroßvaters gewesen, der sich der Magie ergeben haben sollte. Sie erbleichte. Konnte es sein, dass an diesen heimlichen Verdächtigungen doch mehr dran war? Dann wäre diese Frau, die da aus dem Nichts aufgetaucht war womöglich eine leibhaftige Hexe. Vielleicht waren die Leute hier alle der Magie zugetan. "Ich erkenne, dass du erkennst, was um dich geschieht, junge Marie. Doch sei ohne Kummer! Wir werden dir helfen, das dir gegen deinen Willen und Glauben in den Leib getriebene Kind sicher zur Welt zu bringen und wohlbehütet aufzuziehen, bis sich erweist, ob es die großen Gaben seiner, deiner und meiner Vorfahren besitzt." Marie widersprach sofort, dass sie weder eine Hexe sei noch mit dem Teufel gebuhlt habe. Allerdings musste sie zumindest einräumen, dass ihr Dienstherr vom Gehörnten verführt worden sein musste, sie zu entehren und dann noch mit seinem Kind zusammen zu verstoßen. Die Ankömmlinge lachten. Die zuletzt wie aus dem Nichts erschienene lachte am lautesten. Dann sagte sie im besten Französisch:

"Der kann keine Kinder vertragen, weder von Menschen noch von unter seinem Dach lebenden Tieren. Dadurch hat er sich große Schuld aufgeladen. Doch darunter sollt weder du noch das von dir getragene Kind leiden."

"Und wenn ich mich hier und jetzt von der Küste dieses Landes ins Meer schmeiße und mich selbst ersäufe?" fragte Marie.

"Dann musst du deinem Glauben nach in das strafende Feuer dieser ominösen Hölle, sofern dir wer auch immer nicht auferlegt, immer wieder in anderer Gestalt auf die Erde zurückzukehren, mal als Strauch, mal als Schmeißfliege, mal als Milchkuh oder als Kronprinzessin, je danach wie die hohen Mächte deine Seele nach jedem durchlebten Leben wägen", erwiderte die Frau, die sich Arielle nennen ließ. Marie starrte sie an. Dann begriff sie. Sich hier und jetzt zu töten würde sie für alle Ewigkeit verdammen. Doch bei Hexen und Zauberern zu leben, womöglich ein Kind mit widernatürlichen Kräften gebären und großziehen ... war womöglich genau die Bußleistung, die sie für ihre Schwäche, dem Baron ihren Leib nicht entschieden zu versagen, zu erbringen hatte. So ließ sie es zu, wie die Hexen und Zauberer ihre Fußfessel mit einem unsichtbaren Messer durchtrennten, weit bevor die Kerze niedergebrannt war.

Als Marie gerade fragen wollte, wie sie weiterreisen sollten, überkam sie tiefer Schlaf. Als sie aus diesem erwachte, lag sie auf einem mit Daunenfedern gefüllten Sack auf einer hölzernen Bettstatt. Eine steinalte Frau mit schneeweißem Haar beugte sich über sie. Von den Augen und dem Gesicht her war sie mit Arielle Brookwater verwandt. "Ah, du hast dich ausgeschlafen, junge Anverwandte. Ich bin Pancratia Chrysachira Brookwater, die jüngere Tochter deines Urgroßvaters Florymont Dubois. Ich kam vor hundert Sommern in dieses Land und traf dort auf Aleister Brookwater. Willkommen im Brookwater Cottage!"

"Wie bin ich hergekommen?" wollte Marie wissen. Sie erfuhr dann, dass einer der beiden Zauberer ihr ohne ein hörbares Wort einen tiefen Schlaf geschickt hatte. Von diesem und einem anderen Leinensack eingehüllt hätten die beiden Zauberer sie zwischen sich mit Hilfe fliegender Besen durch die Luft getragen. Marie nahm diese Behauptung erst einmal so hin. Dann fragte sie, wie die anderen es sich vorstellten, wie sie hier weiterleben sollte. Ihr wurde angeboten, als Gartenhilfe zu arbeiten. Zwar wäre vieles durch Zauberei einfacher zu erledigen, aber einige Sachen könnten durchaus auch ohne die Mitwirkung von Magie getan werden. Allerdings würde Pancratia, die in diesem Haus als Familienmutter und ortsansässige Heilerin diente, darauf achten, dass Marie sich nicht überforderte, um das in ihr wachsende Kind nicht zu verlieren. Marie erkannte, dass ihr so oder so das Los der Abgeschiedenheit gewiss gewesen war. Also fand sie sich mit dieser Lage ab.

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11. November 2001

Noch sah man Nathalie Grandchapeau nicht an, dass sie noch einmal Mutter werden würde. Auch wirkte sie auf alle, die sich mit ihr die Fahrstuhlkabine innerhalb des Ministeriums teilten noch sehr gefasst. Julius war einer der wenigen, die bereits wussten, dass die Ministergattin und Leiterin des Büros für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Zauberkräfte im Juni das zweite Kind erwartete. Doch wie sie ihn prüfend ansah, als wolle sie ihm gerade eine Aufgabe zuteilen, müsse sich aber überlegen, ob er diese lösen könne, verwunderte ihn ein wenig. Doch auch er hatte gelernt, sich nach außen hin unbeeindruckt zu zeigen. So beließen es beide bei der üblichen Begrüßung zwischen ranghoher Mitarbeiterin und gerade im zweiten Jahr arbeitenden Amtsanwärter.

Wie abgesprochen übernahm Monsieur Pygmalion Delacour für den auf eine Woche angesetzten Zeitraum die Leitung des Büros für Zauberwesen größer als Zwerge, Kobolde und Hauselfen.

"Mademoiselle Ventvit hat mich gebeten, Sie heute noch einmal zu Mademoiselle Maxime zu schicken, um mit ihr abzustimmen, ob das begonnene Projekt wie gewünscht voranschreitet", sagte Létos Schwiegersohn nach der Begrüßung. Julius wollte sich gerade einen der von einem Scherzbold zum Eigenleben verzauberten Stühle fangen, um an seinem Schreibtisch zu arbeiten. Weil er aber diese Ankündigung erhalten hatte fragte Julius, wann er zu Mademoiselle Maxime reisen sollte.

"In einer halben Stunde. Mademoiselle Maxime hat mir per Blitzeule mitgeteilt, dass ihre ... Frau Tante ... seit einigen Tagen nicht vor neun Uhr Morgens aufsteht. Das mag an einer induzierten Trächtigkeit liegen."

"Bei allem Respekt, Monsieur Delacour, aber Mademoiselle Maxime, Mademoiselle Ventvit und Monsieur Vendredi haben sich darauf verständigt, dass wir bei Riesen auch von einer Schwangerschaft sprechen, wenn sie Nachwuchs erwarten. Oder hätten Sie das in Ordnung gefunden, Ihre Frau oder ihre erstgeborene Tochter als trächtig zu bezeichnen?" wagte Julius gleich einen gewissen Widerspruch, bei dem er sich aber auf den Rückhalt durch erwähnte Personengruppe verlassen konnte.

"Na ja, ist schon eine Umstellung, und zudem kommt da noch dieser Größenunterschied dazu", grummelte Pygmalion Delacour, dem Julius' Frage doch gut zugesetzt hatte. Dann sagte er noch rasch: "Na ja, außerdem trägt Meglamora ja das Kind eines Zauberers, sollte es wahrhaftig zu einer Empfängnis gekommen sein. - Ja, und ich hätte wohl auch überaus ungehalten reagiert, wenn man meine Frau wie eine trächtige Kuh oder Stute angesehen hätte. Aber ich hoffe, dass wir uns sonst nicht in irgendwelchen Formulierungsdifferenzen ergehen und wir auch in anderen Punkten eine erfolgreiche Zusammenarbeit zu Wege bringen werden." Den letzten Satz sprach er mit unüberhör- und unübersehbarem Tadel in der Stimme. Julius nickte heftig. Bisher war er mit Pygmalion Delacour sehr gut ausgekommen, auch wo es darum gegangen war, dass seine zweitgeborene Tochter Gabrielle offenbar jetzt schon sicher wusste, dass sie den muggelstämmigen Mitschüler Pierre Marceau heiraten wollte, sehr zum Unwillen seiner Eltern. Sollte Julius echt zum Kontaktzauberer zwischen Veelas und Menschen berufen werden, konnte das für die kollegiale Beziehung zwischen ihm und Pygmalion noch den einen oder anderen Konfliktstoff abgeben. Deshalb ließ Julius sich auf keine weiteren Unstimmigkeiten ein, sondern fing sich einen freien Stuhl ein und prüfte die hereingekommenen Memos über die letzten Beratungen der Vampirüberwachung und des Werwolfverbindungsbüros. Ein wenig wunderte er sich über eine Anfrage aus dem Tierwesenbüro. Monsieur Lamarck fragte ihn persönlich um seine Einschätzung, wie der von den USA in Afghanistan begonnene Vergeltungskrieg sich auf die dort vorkommenden Wildbestände des großen Felsenvogels auswirken mochte. Julius fand, dass er noch genug Zeit hatte, um eine formale Antwort zu schreiben. Er erwähnte, dass alle mit Flugmaschinen durchgeführten Kampfeinsätze die Wildbestände stark gefährdet hätten, da die Vögel zwar für Radar unerfassbar waren aber nicht für Menschenaugen unsichtbar gemacht werden konnten. Unter die kurze Einschätzung fügte er noch eine Befürchtung, die er seit der letzten im Fernsehen gebrachten Äußerung des US-Präsidenten in sich trug:

Sollte der amtierende US-Präsident weiterhin davon ausgehen, die Sicherheit seines Landes würde von orientalischen Staaten gefährdet, so steht zu befürchten, dass es nicht bei dem gerade ablaufenden Kriegseinsatz in Afghanistan bleiben mag und es innerhalb der noch laufenden Amtszeit von Präsident George W. Bush zu einem weiteren Feldzug entweder gegen den Irak oder den Iran kommen könnte. Zumindest möchte ich in aller Bescheidenheit vorschlagen, die Kollegen in den erwähnten Ländern auf einen solchen Ernstfall vorzubereiten um früh genug beschließen zu können, wie die dort lebenden Wildbestände von Volapetriferus orientalis geschützt werden können.

Zur vereinbarten Zeit reiste Julius mit Hilfe eines Portschlüssels in das Habitat von Meglamora und ihrem Sohn Ragnar, wo er sich mit Mademoiselle Maxime traf.

Die drei Meter große Frau, die eine Riesin zur Mutter und einen Zauberer zum Vater hatte begrüßte Julius förmlich, auch wenn sie beide auch außerhalb der amtlichen Verabredungen viel miteinander durchgestanden hatten. Julius fragte Meglamora, ob er mit ihr sprechen dürfe, weil seine Leute gerne wissen wollten, ob es ihr und Ragnar noch immer gut gehe.

"Du nicht zu nahe zu mir hin, sonst ich dich tothauen!" dröhnte die Stimme der reinrassigen Riesin aus sieben Metern Höhe zu Julius herunter. Der ihn größenmäßig schon fast einholende Junge Ragnar spielte in einiger Entfernung mit kopfgroßen Steinen. Julius war auf der Hut, nicht mal eben so von einem dieser Steine getroffen zu werden. Am Ende probierte der kleine Riese aus, wie man damit Beutetiere auf gewisser Entfernung erlegte.

"Geht es dir gut, Meglamora?!" rief Julius aus dreißig Metern Entfernung.

"Bin mit Guigui. Immer viel Hunger. Du nicht zu mir, sonst ich Gugui mit dir füttern."

"Dann würden sie dich totmachen", erwiderte Julius unbeeindruckt von der Drohung. Mademoiselle Maxime trat neben ihm. Ihr Schatten überdeckte die links von ihm scheinende Herbstsonne. "Damit haben Sie es offiziell, dass meine Schutzbefohlene, meine Tante Meglamora, derzeitig auf Nachwuchs wartet. In diesem Zustand wäre jede körperliche Annäherung lebensgefährlich. Das hat ihr Sohn Ragnar leider schon erfahren müssen. Daher hält er sich seit einigen Tagen nur noch mehr als hundert Menschenschritte von seiner Mutter entfernt auf."

"Deshalb baten Sie um eine Unterredung", ging Julius auf diese Erläuterung ein. Mademoiselle Maxime bestätigte durch Nicken. Dann zogen sie sich etliche Dutzend Meter von der Riesin und ihrem Sohn zurück. Ragnar versuchte wahrhaftig, einen kinderkopfgroßen Stein nach Julius zu werfen. Doch zum einen konnte der kleine Riese noch nicht gut genug zielen. Zum anderen fegte Julius mit einem Reducto-Fluch den anfliegenden Stein aus der Flugbahn. Nur grauer Staub rieselte zu Boden. Ragnar schrie erschrocken auf. Dass jemand seine Wurfsteine so gründlich zerbröseln konnte wusste der Cousin Mademoiselle Maximes wohl noch nicht. So fragte Julius, ob Mademoiselle Maxime schon mit den Wurfkünsten des Riesenjungen Bekanntschaft gemacht hatte.

"Er hat es schon versucht. Ich habe die Steine aber immer aufgefangen und über ihn zurückgeworfen. Das hat er begriffen. Einen auf ein anfliegendes Objekt einwirkenden Reducto-Fluch kannte er noch nicht. Das sollte ihn einen gewissen Respekt lehren."

"Er kommt jetzt in die ungewollte Freisetzungsphase, richtig. Die eigene Mutter wird für ihn zur Gefahr, und er fängt an, Jagdmethoden auszuprobieren und ..." Julius wollte den Satz noch beenden, als Ragnar gleich zwei Steine auf einmal in seine Richtung schleuderte. Doch wie den ersten hatte er auch bei den beiden zweiten zu schlecht gezielt und den beiden Steinen einen Seitwärtsdrall versetzt. Julius machte es diesmal mit einem Fernlenkzauber. Er ließ Stein eins gegen Stein zwei prallen und ihn damit nach Art einer Billardkugel aus der Bahn schlagen. Stein zwei plumpste hörbar auf den Boden, während Stein eins langsam aber unbeirrt auf den kleinen Riesenjungen zusegelte. Ragnar wandte sich um und rannte davon. Julius ließ den Stein sofort fallen, als er sah, dass Meglamora sich ihm zuwandte. Auch wenn sie durch die zweite Schwangerschaft gerade mehr mit sich und dem in ihr wachsenden Kind beschäftigt war mochte noch ein Rest von Mutterinstinkt in ihr wirken, den "Kleinen" zu verteidigen. Als sie sah, dass für sie und den Erstgeborenen keine Gefahr bestand wandte sie sich wieder um, um einen Holzstoß aufzustapeln, wohl um darauf etwas großes zu kochen oder zu braten.

"Sie werden, soweit ich unterrichtet wurde, demnächst Post vom Leiter der internationalen Gruppe Ostland erhalten, wie weit die noch lebenden Riesen sich entwickeln", sagte Mademoiselle Maxime. Julius nickte. "Gut, vielleicht ergibt sich daraus eine Möglichkeit, Ragnar in das wohngebiet seiner Mutter zurückzubringen, wenn diese ihn endgültig verstoßen sollte. Ihre Vorgesetzte schlägt jedenfalls aus, dass wir mit den Algeriern verhandeln sollen. Die Unterbringungskosten übersteigen jede Notwendigkeit."

"Na ja, vielleicht wollen die Herren aus Algier handeln, hoch ansetzen und in der Mitte irgendwo abschließen", vermutete Julius.

"Wenn diese Herrschaften darauf spekulieren, die Hälfte der ersten Forderung einstreichen zu dürfen würde das trotzdem einen sehr kostenintensiven Posten Ihrer Abteilung bedeuten. Zwar weiß ich nicht, wie Monsieur Colbert auf derartige Ausgaben zu sprechen ist, kann mir aber auf Grund meiner langjährigen Erfahrungen in Beauxbatons vorstellen, dass er derartige Unterbringungskosten für einen aufwachsenden Risen und mögliche Halbgeschwister ablehnen wird. Daher möchte ich vorschlagen, Ragnar, wenn die Mutter-Kind-Bindung endgültig erlischt, in die Nähe seines Volkes zurückzubringen. Es sei denn, Sie und Ihre Vorgesetzte schlagen ein Gebiet innerhalb Frankreichs vor, um das vor Jahren erwogene Vorhaben fortzuführen, sein Aufwachsen zu beobachten."

"Mademoiselle Ventvit und ich haben uns mal eine Karte aller Inseln unter französischer Flagge angesehen. Da gibt es in der Nähe von Haiti eine tropisch bewaldete Insel, deren Tierbestand Ragnars Ernährung sichern dürfte. Sie müsste nur unortbar gemacht und aus den Kartensammlungen der Muggelwelt herausgenommen werden. Vielleicht geht da was von wegen militärisches Sperrgebiet, Übungsinsel für die Fremdenlegion oder dergleichen, dass da kein Mensch mehr draufgehen darf. Dann wäre die Unortbarkeit unnötig. Bei der weltpolitischen Lage würde da nicht mal ein Zivilist lange nach fragen."

"Apropos Weltpolitik, ich hörte sowas, dass die US-Amerikaner die Gefangenen dieses Kriegszuges nach Kuba in ein dort betriebenes Militärlager verbringen wollen oder bereits tun. Trifft dies zu?"

"Ich las sowas, dass die ihre Kriegsgefangenen nach Guantanamo bringen wollen. Aber im Moment könnten das auch nur Gerüchte sein. Wäre ein starkes Stück, wenn das wirklich so gemacht wird. Aber ich fürchte, unter dem Präsidenten und seinen beratenden Freunden ist Afghanistan eh nur der Anfang. Meine Mutter schickte mir eine Eule, dass die echt daran denken, Freiheitsrechte auf ihre Anwndbarkeit in Krisenzeiten wie diese zu prüfen, was für mich heißt, dass die überlegen, ob sie nicht Leute gezielt oder großflächig überwachen. Bei den modernen Fernverständigungsmitteln wäre das leider viel zu einfach, also eine sehr verlockende Versuchung", seufzte Julius, der gerade nicht daran dachte, eigentlich nur über die Riesen zu reden.

"Ich fürchtete sowas, als ich erfuhr, wie allgegenwärtig und vielfältig dieses Internet-Netzwerk sei. Sie hielten ja damals im Rahmen ihres zeitweiligen Besuches der UTZ-Jahrgangsstufe 1995-1996 einen Kurzvortrag über dieses flächendeckende Netzwerk und seine Möglichkeiten. Mir kommt die ganze panische Reaktion wie ein Déjà Vu vor, Monsieur Latierre."

"Mir leider auch, Mademoiselle Maxime. Wenn die US-Amerikaner jetzt ähnliche Methoden anwenden wie Didier und Pétain damals können sich alle magielosen Menschen auf harte Zeiten gefasst machen. Das schlimme daran dürfte aber sein, dass es zum einen fast keiner mitbekommt, was alles verändert wird und wer es mitbekommt noch befürwortet, um der eigenen Sicherheit wegen."

"Sie erkennen, dass mich die Welt Ihrer Eltern immer noch interessiert, auch oder gerade weil ich so abgelegen lebe. Am Ende könnte die gesamte Geheimhaltung der magischen Welt gefährdet sein. Damit kommen wir auch wieder auf den offiziellen Grund Ihres Hierseins zurück. Wenn wir Lebensräume für magische Großwesen wie Drachen, Felsenvögel, Hydren oder eben Riesen einrichten und/oder betreuen wollen, ist es sehr wichtig, im Vorfeld genug Erklärungsmöglichkeiten für die nichtmagische Gesellschaft zu erarbeiten und zu verbreiten. Darüber hinaus dürfte der Personalbedarf bei den Gedächtniszauberern und Desinformatoren zunehmen. Daher sollten wir eigentlich gerade mit demHintergrund der überstandenen Krise um den psychopathischen Zauberer Voldemort darauf hinwirken, dass unsere Fehler nicht von den Menschen ohne Magie wiederholt werden. Warum ich gerade Ihnen dies darlege erschließt sich Ihnen sicher von allein." Julius überlegte kurz und musste dann nicken. Er sagte:

"Sagen wir es so: Ich bin da, wo ich gerade arbeite mit meiner Arbeit sehr zufrieden und möchte sie gerne fortführen. Andererseits weiß ich natürlich, dass jemand auf Grund geäußerter Fähigkeiten auch zwischen den Abteilungen wechseln kann, kurzfristig oder dauerhaft häng vom Bedarf ab. Aber vielen Dank, dass Sie mir helfen, mich geistig oder seelisch schon mal darauf einzurichten, dass ich irgendwann wohl mithelfen soll, die magielosen Leute von ihrem Irrsinn abzubringen, soweit das Nichteinmischungsgebot und die Geheimhaltung das erlauben oder gar erzwingen."

"Ihre Auffassungsgabe ist immer noch sehr hoch und schnell, Monsieur Latierre. Jedenfalls sollten wir, wenn wir Ragnar weit von seiner Mutter ansideln wollen, immer mit dem Hintergedanken arbeiten, dass uns die Lage in der nichtmagischen Welt dabei beeinträchtigen kann. Insofern würde ich eine Ansiedelung auf einer zu Frankreich gehörenden Tropeninsel allen anderen Erwägungen vorziehen. Teilen Sie dies bitte Monsieur Vendredi und Ihrer unmittelbaren Vorgesetzten mit!" Julius bestätigte und sah gerade noch, wie Ragnar Zielwürfe gegen eine bereits vollständig entlaubte Buche vollführte. Zwei Steine verhungerten auf ihrem Flug und klatschten auf den Boden. Drei Steine segelten am Stamm vorbei. Einer flog so hoch, dass er sich in der blätterlosen Krone verfing.

"Jedenfalls ist ihm für's erste die Lust auf lebende Ziele vergangen", bemerkte Julius. Mademoiselle Maxime erwiderte darauf: "Sie haben ihm überdeutlich gezeigt, dass seine Angriffe sehr rasch auf ihn selbst zurückgeschlagen werden können. Bäume wehren sich nicht." Wie zur Bestätigung schoss Ragnar mit einem weiteren Stein einen überstehenden Zweig aus der Baumkrone heraus.

Julius verabschiedete sich von Olympe Maxime. Diese gab ihm noch Grüße an seine Frau mit.

Wieder im Foyer des Ministeriums, wo alle Portschlüssel ordnungsgemäß anzukommen hatten, wunderte sich Julius ein wenig, als er eine junge Hexe in einem Kostüm aus weißer Bluse und knielangem, himmelblauem Rock antraf. Auch wenn ihre Haare dunkel waren ähnelte sie seiner Hogwarts-Schulfreundin Pina Watermelon zu sehr, um nicht mit ihr verwandt zu sein. Offenbar war die junge Hexe, die seit Erweckung ihrer Zauberkräfte Melissa Whitesand hieß, gerade aus einem der Flohpulverkamine gekommen. Als sie Julius sah flog ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie winkte ihm behutsam zu und deutete dann auf die Reihe der Fahrstühle.

"Einen schönen guten Morgen, Monsieur Latierre", begrüßte Mel Whitesand Julius in akzentfreiem Französisch. Dieser grüßte zurück. "Ich empfinde es als glücklichen Umstand, Sie hier im Foyer anzutreffen. Falls Ihre kostbare Zeit dies zulässt, können Sie mir bitte dabei behilflich sein, das Büro Ihrer Kollegin Madame Barbara Latierre zu finden? Ich bin dort um halb elf verabredet, also in zehn Minuten." Sie deutete auf ihr linkes Handgelenk, an dem eine silberne Armbanduhr befestigt war. Julius erkannte das Modell als Damenausführung jener Weltzeituhr, die er selbst von den Hollingsworths geschenkt bekommen hatte.

"Ich bin soeben auf dem Weg in das mir zugeteilte Büro und werde Sie gerne auf den richtigen Weg geleiten, Ms. Whitesand", erwiderte Julius.

Als die beiden dann in einer Fahrstuhlkabine standen musste Melissa Whitesand grinsen. "Wenn meine Mum oder Pina uns zwei jetzt so gestelzt miteinander hätten reden hören hätten die nicht mehr gewusst, wo sie wären", sagte sie. "Ach ja, mein Bruder erst recht. Der meinte, ich möge dich schön grüßen, sollte es passieren, dass wir uns hier über den Weg liefen. Er hätte jetzt auch ein zweites Kind auf den Weg gebracht, vielleicht sogar Nummer zwei und drei auf einen Rutsch, in einem Akt."

"Dann bestell deinem Bruder schöne Grüße und wünsche Prudence ein noch besseres Durchhaltevermögen. Ich kriege das ja gerade mit, wie das ist, eine werdende Mutter und ein kleines Kind im Haus zu haben."

"Ich kriege das wohl auch bald wieder mit. Aber der/die Kleine oder die kleinen kommen ja erst im nächsten Juni an, wenn sich Prudys Hebamme nicht verrechnet hat."

"Und du bist jetzt ganz bei den Tierwesenkollegen? Ich dachte, du wärest da glücklich gewesen, wo du vorher gearbeitet hast."

"Glücklich weil stressfrei, Julius. Andererseits wurde mir nahegelegt, die Welt in der ich lebe doch noch ein wenig mehr kennenzulernen. Mit meinen Sprachkenntnissen Englisch, Französisch, Spanisch und Latein wäre ich da, wo ich vorher gearbeitet habe, unterfordert gewesen, und das wollte mir eine dir gut bekannte Person nicht so laufen lassen. Meine Mutter ist ja umgezogen, wie du von Pina sicher mitbekommen hast. Nachher ist da irgendwo schon ein kleiner Bruder oder eine kleine Schwester unterwegs."

"Darf ich wissen, warum du von unseren alten Heimatinseln rübergefaucht bist?" kam Julius auf den Grund ihres zufälligen Zusammentreffens.

"Ist eine C3-Sache, Julius. Meine Leute wollen von euren Leuten eine Einfuhrgenehmigung für eine Viererherde Latierre-Kühe. Mittlerweile ist das auch bei uns auf den Inseln rum, dass deren Milch Hexen im Wachstum körperlich stärkt. Es gibt da einige höhere Damen, die ihren Töchtern gerne diesen Vorzug geben wollen. Allerdings hat die amtierende Tierwesenbehördenchefin Einwände erhoben, dass längst nicht jede junge Hexe damit versorgt werden kann, weil ja dann mehr als hundert erwachsene und milchfähige Kühe angeschafft werden müssten. Mal sehen, wie das geht. Da hängt ja doch einiges dran, wie Unterbringungsorte, Nachzuchten und Transportwegeabsprachen. Bürokratie, verlass mich nie!"

"Du hast noch keine lebende Latierre-Kuh gesehen, oder?" fragte Julius.

"Die, die ihr zwei bekommen habt hätte ich ja gerne mal gesehen. Aber vielleicht ergibt sich das heute, dass ich eine in Natura zu sehen kriege." Julius nickte. Dann deutete er auf die Gittertür:

"Die nächste raus", sagte Julius. Über ihre kurze Unterhaltung hatten sie die magischen Etagenmeldungen nicht genau verfolgt. Julius hatte es aber durch unbewusstes Zählen längst raus, wann er auf seiner Etage ankam.

Die allermeisten Büros sind mit den Namen der Büroinhaber oder -vorsteher gekennzeichnet, ähnlich wie im britischen Zaubereiministerium", dozierte Julius wieder ganz förmlich, während er Melissa Whitesand durch die Korridore führte. Dann deutete er auf eine bestimmte Tür und nickte. "Dort befindet sich das Büro von Madame Barbara Latierre, Mademoiselle Whitesand. Ich hoffe, Sie sind noch gut in der Zeit."

"Die Wartezeit ist mehr als ausreichend, meine Unterlagen präsentabel genug vorzubereiten. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Monsieur Latierre", sagte Melissa Whitesand. Sie trafen beide vor der Tür mit Barbara Latierres Schriftzug ein. Darunter erschien unvermittelt die leuchtende Aufforderung: "Melle. Melissa Whitesand bitte eintreten!"

"Melle Melle, hat mich mein werter Bruder mit aufgezogen, als ich ihm sagte, ich müsse heute zu euch."

"Dann viel Erfolg, Mademoiselle", flüsterte Julius. Da tat sich die Tür auch schon auf. "Treten Sie bitte ein, Mademoiselle Whitesand. Auch wenn noch einige Minuten bis zur angesetzten Zeit fehlen kann ich Sie doch schon hereinbitten. Dann verbleiben uns eben mehr Minuten bis zu meinem nächsten Termin", sagte Barbara Latierre. Julius grüßte stumm und förmlich. Seine Schwiegertante grüßte ebenso stumm zurück. Er winkte Mel Whitesand noch einmal zu und kehrte in sein Büro zurück.

Nachdem er den Bericht über seine kurze Reise zu Mademoiselle Maxime und ihrer Riesenverwandtschaft korrekt abgefasst und abgeheftet hatte trug ihm Pygmalion Delacour auf, die Unterbringungsmöglichkeiten für einen aufwachsenden Riesen schriftlich zu erörtern und eine Kopie für die Tierwesenbehörde abzufassen, die trotz der Einstufung der Riesen als Zauberwesen Beobachtungsstatus erhalten hatte. Auch musste Monsieur Colbert aus der Finanzabteilung darüber unterrichtet werden, dass der junge Riese Ragnar demnächst wohl umgesiedelt werden müsse. Dann war auch schon wieder Mittagspause.

Mel Whitesand war wohl schon wieder abgereist, dachte Julius, bis er sie zusammen mit Barbara Latierre durch die Kantinentür hereintreten sah. Beide wirkten entspannt, wobei Melissa sichtlich ergriffen dreinschaute.

"Werden die beiden freien Stühle an Ihrem Tisch benötigt, oder gestatten Sie uns, Ihnen bei Tisch Gesellschaft zu leisten?" fragte Barbara Latierre Julius. Dieser wusste erst nicht, wie er darauf antworten sollte. Dann deutete er auf die beiden ihm gegenüberstehenden Stühle und nickte. So bekam Julius neben einem umfangreichen Mittagessen auch serviert, dass Melissa im Valle des Vaches gewesen war und dort vier junge Latierre-Rinder begutachtet hatte. Sie hatte auch die gerade in ihre zweite Trächtigkeit hineinwachsende Artemis vom grünen Rain angesehen und an ihrer Mutter Demeter das Dexter-Cogison ausprobieren dürfen.

"Das diese Tiere eine hohe Intelligenz haben ist faszinierend. Da bin ich schon fast versucht, die Kühe und Bullen persönlich zu fragen, wer von denen mit nach England kommen möchte", erwähnte Melissa mit hörbarer Bewunderung. Allerdings hätte mir Artemis vom grünen Rain fast eine Tonne wieder aufbereitete Vegetation auf die Füße geworfen. Nicht gerade etwas, was ich mit mir herumtragen wollte."

"Sie ist manchmal zu gewissen Streichen aufgelegt", sagte Barbara Latierre. "Andererseits genießt sie unter denen, die ich in meinem Leben schon habe zur Welt kommen sehen dürfen eine besondere Wertschätzung. Aber über die Modalitäten einer möglichen Ansiedlung einer Mininalherde konferieren wir dann demnächst im Beisein Ihres direkten Vorgesetzten, Ms. Whitesand."

"Ich bin sehr erfreut, nicht mit leeren Händen nach London zurückkehren zu müssen", erwiderte Melissa darauf.

"Und, wie verlief Ihr Vormittag bisher, Monsieur Latierre?" wünschte Barbara Latierre von ihrem Schwiegerneffen zu erfahren. Julius erwähnte, was er im Rahmen der Geheimhaltungsbestimmungen erwähnen durfte, darunter auch das Memo von Monsieur Lamarck.

"Oha, wenn die Bush-Krieger ganz Afghanistan in ein einziges Rumsfeld verwandeln und den Iran und Irak vielleicht auch ist dieser Vogel wirklich nur noch in Märchenbüchern zu finden", erwiderte Melissa Whitesand darauf. Barbara Latierre wollte dann näheres über die aktuellen Nachrichten erfahren. Julius streute ein, dass die US-Streitkräfte die Gefangenen auf ihren Stützpunkt auf Kuba verbringen wollten. "Super, außerhalb der US-Gerichtsbarkeit und damit rechtsfreier Raum", stöhnte Melissa. "Ich muss doch mal wieder mehr Nachrichten aus der magielosen Welt hören."

"Außer dienstlich, Monsieur Latierre, verfügen Sie über die Zeit, mir eine schriftliche Zusammenfassung aller Nachrichtenmeldungen der letzten vierzehn Tage an meine Privatadresse zu schicken?"

"Dauert nur eine Stunde, bis ich alle wichtigen Meldungen aus dem Internet zusammengesucht und sortiert habe. Das Ausdrucken ist dann nur eine Sache von Clarkes drittem Gesetz."

"Bitte wessen Gesetz und was beinhaltet es?" Melissa musste grinsen, während Julius seiner Schwiegertante etwas über den Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke erzählte und dass der ähnlich wie sein Zunftgenosse Asimov drei Gesetze im Bezug auf Technische oder wissenschaftliche Fortschritte entworfen hatte. Das dritte zitierte er mit nicht ganz zu unterdrückendem Grinsen: "Gesetz Nummer drei sagt: Ausreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden oder auch, Hochentwickelte Technologie erscheint wie Magie."

"Das deckt sich mit einer Bemerkung von Dr. June Priestley: "Magie ist jeder mechanischen Technologie um viele Jahrtausende voraus. Allerdings räumte sie in ihrer letztwöchigen Veröffentlichung "Geheimnisfalle Internet- Gefahr für die internationale Geheimhaltung der Magie im 21. Jahrhundert" ein, dass im Zug der elektrischen und elektronischen Geräte Magie langsam aber sicher eingeholt werde und dass durch die Verbesserung von Antriebsmaschinen auch der magische Transport nur noch durch die zeitlose Ortsversetzung überlegen sei."

"Das könnte meine Kollegin Grandchapeau interessieren. Könnten Sie sofern Ihre Zeit außerhalb Ihrer Aufgaben es zulässt die erwähnte Expertin fragen, ob diese meiner Kollegin bereits eine Ausgabe der erwähnten Veröffentlichung zukommen ließ oder dies noch zu tun beabsichtigt?"

"Selbstverständlich, Madame Latierre", sagte Melissa. Dann zwinkerte sie Julius zu: "Allerdings erfuhr ich, dass Monsieur Latierre wesentlich kürzere Verbindungswege zu Dr. Priestley kennt."

"Gesellschaftlich ja, räumlich müsste ich dafür erst über Australien senden, Ms. Whitesand", erwiderte Julius. Mel nickte.

Nach dem Mittagessen schickte Barbara Latierre ein Memo an Monsieur Delacour, in dem sie offiziell darum Bat, Julius Latierre wegen seiner Muggelweltkenntnisse ausborgen zu dürfen. So verbrachte er den Rest seines Arbeitstages im Gespräch mit den Kollegen aus der Tierwesenbehörde und erörterte mit ihnen die Gefahren nicht nur für Felsenvögel, wenn die Kriegshandlungen über Afghanistan hinausreichen sollten.

Wieder zurück im Apfelhaus staunte er nicht schlecht, dass Temmie vor dem Haus stand und um sie herum Laurentine mit einer Schulklasse. Aurore saß auf Temmies Rücken.

"Ich habe sie mal herübergeholt, weil die Kleinen hier mal andere Zaubertiere als die vom Tierpark sehen wollten", sagte Millie, als Julius hinaustrat. Er lachte nur, während die zehn Neunjährigen Millie verärgert anglubschten, weil die sie als "Kleine" bezeichnet hatte.

"Ich glaube, unsere gemeinsame Tante wird mich demnächst nicht mehr in die Kantine begleiten", lachte Julius.

"Ich habe die ganz offiziell abgeholt, Julius. Abgesehen davon dass sie uns gehört ist sie noch nicht mal halb so schwanger wie ich gerade, und ich kann auch noch fliegen." Das brachte die Jungen und Mädchen zum lachen. Laurentine, die gerade zu Aurore auf Temmies Rücken hinaufstieg fühlte sich ein wenig unsicher. Doch als sie oben neben der kleinen Latierre saß konnte sie nur noch sagen: "Ich verstehe, was eure Verwandten an diesen Tieren so toll finden, die Aussicht." Millie und Julius mussten nun moderieren, wer von den Jungen und Mädchen auf Temmies Rücken steigen durfte und mussten immer wieder einschreiten, dass es zu keinem Zank kam.

"Ich frage bei Millies und meiner Tante an, ob wir Temmie am Wochenende noch einmal mit dem großen Reisekasten ausleihen dürfen", beruhigte Julius die Jungen und Mädchen, die in zwei Jahren nach Beauxbatons gehen würden. Dann erbot er sich, Temmie nach Hause zu fliegen, damit Millie sich von der Anreise erholen konnte. Da kam noch Goldschweif aus einem Baum heruntergesprungen und umlief Temmies rechtes Hinterbein. Einen winzigen Moment fürchtete Julius, seine ganz große Gefährtin könnte die kleine Gefährtin aus Versehen in den Boden stampfen. Doch es passierte nichts. "Wirklich ganz schön groß und stark, aber sehr lieb!" schnurrte Goldschweif, als sie nun Julius um die Beine strich. "Die hat dir gut geholfen, nicht beim Kämpfen totgemacht zu werden. Hat auch Junges im Bauch." Julius bestätigte das leise, während Aurore und alle Mädchen aus Laurentines Klasse die Knieselkätzin streicheln wollten und nur von Julius zurückgehalten werden konnten, nicht zu stürmisch zu sein. Er fragte Goldschweif: "Mal mit der da fliegen. Ist nicht gefährlich."

"Neiin!" fauchte Goldschweif und flitzte davon. Da nur Julius Goldschweifs Gedanken hören konnte lachten alle nur über diese Flucht.

"Deine kleine Beschützerin mag das Fliegen nicht", gedankensprach Temmie zu Julius. "Aber ich bringe dich gerne zu mir nach Hause, und wenn sie möchte, die junge Lerngefährtin von dir, weil sie will das wissen, wie das mit einer fliegenden Kuh ist." Julius sagte dann, dass er Laurentine mitnehmen könne. Die anderen wollten lieber noch mit Dusty spielen, der gerade all die vielen Kinder entdeckt hatte.

So flogen Julius und Laurentine auf Temmies Rücken zurück zum Valle des Vaches.

"Ja, doch, ein ganz anderes Fluggefühl, Julius. Kapiere es, warum du so stolz wie Oskar bist, dieses Prachtmädel zur Verfügung zu haben", sagte Laurentine. "Ich bekam heute morgen einen Brief von meiner ehemaligen und von ihrer Warte aus gerne wieder zukünftigen Vorgesetzten. Sie schrieb, dass es im Juni einige Personalumstellungen geben würde und sie mir mittlerweile nachfühlen könne, warum ich damals bei den Vigniers nicht so vorbehaltlos hätte handeln wollen. Kurz um, sie möchte gerne, dass ich wieder zu euch ins Ministerium zurückkomme. Ich muss mir das noch durch den Kopf gehen lassen, zumal Sandrines Maman mir bei meiner Einstellung klar gesagt hat, dass sie nun erwartet, dass ich alle Schülerinnen und Schüler, die ich bei Schuljahresbeginn anvertraut bekommen hätte, bis zur Beauxbatons-Einschulung unterrichten würde. Mit anderen Worten, die Dame hat mir gleich einen 4-Jahres-Vertrag aufgedrückt. Offenbar hat sie mit anderen Aushilfslehrerinnen aus der so genannten Muggelwelt schlechte Erfahrungen gesammelt."

"In der Tat", erwiderte Julius grinsend. "Und Belles Maman möchte dich doch jetzt wiederhaben?"

"Sie hat nicht erwähnt, warum da was umgestellt werden muss. Hat deine fast-Zwillingsschwester wieder wen neues in Aussicht?"

"Da müsstest du sie selbst fragen, Laurentine. Das wäre nämlich vor einer wie auch immer gearteten Veröffentlichung jenseits aller S-Stufen."

"Haha, lustig, Julius. Gut, war ja auch ein wenig privat die Frage. Aber ich fühle mich jetzt irgendwie gut in dem Job, auch wenn ich mitbekommen habe, wie spießig die Leute aus deinem Dorf drauf sind, von wegen, unverheiratet, lebt in Paris bei den Muggeln noch dazu. Ich sollte es an und für sich schon längst wissen, wo ich mehrere Wochen bei den Delamontagnes gewohnt habe. Aber irgendwie merke ich das jetzt wohl erst, wie fremd ich in Millemerveilles eigentlich bin und ich eher die zweite oder dritte Wahl bin, was die Grundschule angeht."

"Gut, dass wir alle irgendwie froh sind, ein Häuschen in ruhiger Lage zu habenund den älteren die Muggelwelt voll am verlängerten Rücken vorbeigeht stimmt leider. Ich werde ja auch manchmal noch komisch angeguckt, weil ich am Computer sitze. Aber meine Frau kommt damit klar. Rorie hätte mir mal aus versehen die Festplatte formatiert, weil das dazu passende Bildschirmsymbol so lustig aussah, aber ansonsten habe ich keine Probleme damit. Am besten lernst du zu trennen, Arbeit in Millemerveilles, alles andere draußen. Dann bist du auf jeden Fall auf der sicheren Seite."

Nachdem Julius Temmie wieder bei sich zu Hause abgeliefert hatte und Laurentine die Erlaubnis bekommen hatte, sie nächsten Samstag noch einmal mit großem Transportaufsatz abzuholen, apparierten sie und Julius in ihre jeweiligen vier Wände.

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Tag IV des Juni im Jahre MCCXXIV

Wer sie sah konnte um seinen Verstand fürchten. Vier Frauen auf goldfarbenen Pferden, mit schulterlangen, schwarzen Schöpfen, hellgrauen Augen und schlanken Nasen. Sie trugen grasgrüne Umhänge, deren Säume zum Reiten mehrfach umgeschlagen waren und so den Blick auf vier schlanke, helle Beinpaare in wadenhohen dunkelbraunen Schnürstiefeln freigaben. Das war an sich kein Grund, am eigenen Verstand zu zweifeln. Was jedem Betrachter Zweifel an seinem Auge oder Verstand bescherte war, dass alle vier Frauen einander glichen wie ein Ei dem anderen. Nicht ein Unterschied im Gesicht, den biegsamen Körpern oder gar der Kleidung war zu erkennen. Selbst unbekleidet wiesen sie kein Erkennungsmerkmal auf, durch dass die eine von den anderen dreien unterschieden worden wäre. Dieses gemeinsame Aussehen hatte bereits in mehreren von ihnen durchrittenen Ortschaften für großes Erstaunen, aber auch für unangenehme Verdächtigungen gesorgt. Sie waren es gewohnt, von den restlichen Menschen, die sie selbst Moggler nannten, mit Angst und Argwohn betrachtet zu werden. So vermieden sie es, ihre wahre Natur zu zeigen oder, wenn es nicht zu verhüten war, den Zeugen ihrer wahren Natur die Erinnerung an das erspähte zu nehmen.

Die vier Pferde, alles Töchter derselben Eltern, eine besondere Rasse ausdauernder, geländegängiger Tiere, trabten mit fast unhörbarem Hufschlag über den groben Passweg. Die vorderste Reiterin hielt ständige Umschau, ob von den links aufragenden Hängen oder vom Wege her Ungemach drohte. Eigentlich war dies unnötig, weil die goldfelligen Stuten einen besonderen Sinn für nahes Unheil und aus welcher Richtung es sich androhte besaßen.

"Irgendwo muss dieser Platz doch sein, wo die alte Kraft wirkt, die selbst die Druiden nicht ergründen konnten", sagte die hinter der Anführerin reitende Frau, Cécilie, die zweitjüngste von ihnen. Die Anführerin, die Désirée hieß und von den vieren die jüngste war wandte ihren Kopf und erwiderte:

"Ja, wenn wir die Dörfler offen fragen könnten, wo ein Platz ist, an dem alte Magie wirkt hätten die uns das sicher gesagt. Leider kann ich nicht mehr in den Geist unserer erhabenen Mutter hineinrufen."

"Sie ist sicher an einen gegen solche Wege der Verständigung verschlossenen Orte, Schwester Désirée", erwiderte die zu hinteerst reitende Frau, Aurélie, die älteste der vier, die von den anderen dreien auch als Toröffnerin bezeichnet wurde, weil sie am längsten gebraucht hatte, in diese Welt einzutreten, wo die drei anderen innerhalb eines viertelvollen Stundenglases von ihrer gemeinsamen Mutter entbunden worden waren.

"Ich habe die ungeliebte Kunst benutzt, in die Erinnerungen der Bergbauern zu blicken. Diese hatten unsere Mutter zwar in ihrer Verkleidung gesehen, wussten aber nicht, wo sie genau hingeritten war", sagte die zweitälteste der vier, Brigitte mit Namen.

"Wir werden nach Sonnenfall noch einmal die Macht des gemeinsamen Blutrufes wecken und sie suchen", legte Aurélie fest.

"Schwestern, wir kommen jetzt in das Land des ehernen Löwen. Seid also auf der Hut vor seinen Knechten!" mahnte Désirée ihre drei Begleiterinnen. Alle vier hatten die Warnungen vor dem Chevallier Guillaume de Pierre Grise gehört. Der eherne Löwe, wie er sich selbst zu gerne nannte, herrschte mit eiserner Faust über diesen Landstrich der hohen Berge, die den natürlichen Grenzwall zwischen den iberischen Landen und Frankreich bildeten. Außer seinem Nachbarn, dem Herrn der zehn Bäume, hatte ihm bisher niemand Einhalt zu bieten vermocht. Wenn dem Herrn des grauen Felsens wieder einmal das Gold ausging, so ließ er seine Knechte ausziehen, es von arglos durch sein Land reisenden Kauf- und Edelleuten zu rauben. Wer so verwegen oder dumm war, den Räubern in die Schluchten nachzujagen, verfing sich all zu oft in einer tödlichen Falle.

Wenn wir schneller reiten durchqueren wir das Land dieses gierigen Mogglers noch vor Mittagsstand. Dann sind wir im Land des Barons Dixarbres, wo sich die Diebesknechte von Pierre Grise nicht hintrauen", schlug Aurélie vor.

"Wenn wir zu schnell reiten wirbeln wir Staub auf und künden damit aus großer Ferne von unserem Kommen", widersprach Désirée. Das konnten die drei anderen nicht abstreiten. Wieder einmal verwünschten sie den Umstand, dass sie nicht auf fliegenden Besen reiten konnten. Doch zum einen waren diese Besen nicht so ausdauernd wie die goldfelligen Pferde. Zum anderen mussten sie bei ihrer Suche nach ihrer Mutter die Bergbewohner fragen, was bei einer Reise auf übernatürlichen Flughilfen sicher nicht ohne gewaltsamen Widerstand abgelaufen wäre.

Die Sonne hatte gerade ihre gleißende Scheibe über den südöstlichen Berggipfel erhoben, als die vier Pferde hektisch mit den Ohren wippten und ihre langen, feinhaarigen Schweife schwungvoll ausschlugen, als müssten sie eine Legion von Bremsen und Fliegen verjagen. Dann fingen sie zu tänzeln an. Jetzt kippten die Ohren ganz nach links, dort wo ein mannsbreiter Einschnitt in den Berg hinter aufgetürmten Felsblöcken lag. Die vier Schwestern wussten, dass von dort Unheil drohte. Dann warf Aurélies Stute Argo ihren Kopf nach oben und schnaubte laut und kurz den links aufragenden Felsenhang an. Aurélie blickte über die nach oben weisende Nase ihres Reittieres hinweg und erkannte eine Gestalt, die hinter einem im Hang wurzelnden Strauch hervorlugte. Dann sah sie die ersten rollenden Steine, die sofort weitere lose Steine mit sich rissen. Ohne auch einen Befehl abwarten zu müssen verfielen die vier Pferde in Trab und dann in Galopp. Auch wenn sie dabei auf die Schlucht zurannten, aus der heraus sie drohendes Unheil gewittert hatten.

Ein erst leises und dann immer lauteres Prasseln, Poltern und Krachen kündigte die niedergehende Steinlawine an. Staub wölkte auf, als immer mehr kleine und große Steine den Hang hinunterstürzten. Die vier Pferde galoppierten so schnell sie konnten. Die auf den Weg prallenden Steine trieben sie weiter an. Sie schafften es, dem Steinschlag zu entrinnen. Doch der Rückweg war nun versperrt. Dann waren sie in der Nähe der Schlucht. Da schwirrten mindestens zwanzig Pfeile aus dem Einschnitt im Hang heraus und ließen die vier Pferde laut wiehernd steigen. Wären die vier Schwestern nicht so gut in der Reitkunst unterwiesen worden, so hätten ihre treuen Tiere sie wohl aus lauter Furcht abgeworfen. So konnten sich die Vier jedoch sicher halten. Auch als die vier Pferde versuchten, in wilder Furcht durchzugehen, blieben die vier schwestern oben auf. Tatsächlich überraschten sie die hinterhältigen Gesellen, die sie aus der schmalen Schlucht mit Pfeilen eingedeckt hatten und jagten schnell wie der Wind an dem Einschnitt im Berghang vorbei. Doch als sie eine Viertelmeile weit galoppiert waren erkannten Rosse und Reiterinnen, dass diese schnelle Flucht vergebens gewesen war. Denn vor ihnen türmten sich weitere auf den Weg gestürzte Felsbrocken auf, zu hoch, um mit ihren kräftigen Pferden darüber hinwegsetzen zu können. Dann hörten sie das laute Lachen von hinten. Aurélie, die immer noch zu hinterst ritt, wandte sich um und sah zwanzig in Kettenrüstung und eisengrauen Umhängen steckende Männer. Auf den Umhängen prangte das bild eines kauernden Löwen, dessen Maul weit aufgerissen war und dessen rechte Vorderpranke drohend erhoben war. Das war deutlich.

"Wollen wir uns von diesen Mogglern um Hab, Gut und Unschuld bringen lassen, Schwestern?" fragte Aurélie die drei anderen.

"Nicht, solange ich meine Hände und meinen Kopf gebrauchen kann", erwiderte Brigitte darauf und machte bereits anstalten, in ihren Umhang zu greifen. Da schwirrte ein Pfeil an ihr vorbei. Brigittes Pferd Baucis wieherte wütend und verhielt. Die beiden ganz vorne reitenden zügelten ihre Pferde Ceres und Dido. Die Wegelagerer im Dienste des ehernen Löwen rückten von hinten auf. Brigitte, die sich umsah, wer ihr den Pfeil hinterhergeschossen hatte, blickte entschlossen auf die Horde der berittenen Banditen, die auf kräftigen Rappen und Schimmeln saßen und außer mit kurzen Bögen auch mit Äxten und Dolchen bewaffnet waren.

"Na, wen haben wir denn da?!" rief eine Stimme von weiter hinten. Jetzt konnten die vier Schwestern einen Mann auf einem breiten, schwarzen Schlachtross erkennen. Er trug eine mit Silber beschlagene Rüstung, auf deren brustpanzer der kauernde Löwe in Gold prangte. Außerdem trug er einen Helm mit einem Busch aus den roten Schwanzfedern stattlicher Hähne und ein Langschwert an der linken . Das Helmvisier war hochgeklappt. So konnten die vier Schwestern das schmale Gesicht mit dem üpppigen braunen Vollbart erkennen. In den dunkelbraunen Augen glommen Gier und Begehren, als er die vier Reiterinnen genauer betrachtete.

"Ah, der Herr der Bergräuber erweist uns die Ehre, höchst selbst nach unserem Leben und unserem Besitz zu trachten!" rief Aurélie nach hinten und hielt Argos Zügel fest angezogen. Mit der rechten Hand glitt sie bereits in ihren Umhang.

"Wer ist sie, dass sie mich erkennt und trotzdem so eine lose Zunge anschlägt?!" rief der Reiter in der silbernen Rüstung und machte aus dem Weg scheuchende Handbewegungen gegenüber seinen Leuten.

"Schurken wie dich kennt man eben, Guillaume de Pierre Grise. Dein schändlicher Ruhm drang bereits vor Tagen an unsere Ohren", entgegnete Aurélie. "Nun, so sei ihm gekündet, dass wir nicht vor ihm erzittern und erst recht nicht ihm und seinem Gefolge preisgeben, wonach er und es giert."

"Vier gleiche", schnarrte einer der weit vorne reitenden Raubritterknechte. Da stampfte das Pferd seines Herren an ihm vorbei. Dann war er nur noch fünf Längen seines imposanten Rappen von Aurélie entfernt. Hinter ihm lauerten gleich fünf seiner Leute mit gespannten Bögen. Der Eherne Löwe sah das und bellte ungehalten: "Bögen weg! Ich will die vier lebend." Dann wandte er sich wieder Aurélie zu, die ganz ruhig im Sattel saß. Ihre drei Schwestern lauerten wie die Schergen des gierigen Rittersmannes. Das entging dem Ritter nicht. Er lachte: "Was glauben sie, was sie wider meine Mannen und mich ins Werk zu setzen vermögen?" Er lachte.

"Das hängt davon ab, was du willst, eherner Löwe", erwiderte Aurélie, ohne die einem echten Ritter zustehende Anrede zu gebrauchen.

"Ihre Rösser regen mein Wohlgefallen an. Sicher kann ich diese zu Gold machen oder sie zur Zucht eigener goldfarbener Edelrösser nehmen, und was sie und ihre drei gleichen angeht, so werden ihre Leiber mir und den meinen vergnügliche Nächte bereiten, wollen sie nicht meinen Zorn und meine Ungnade erlangen und einem langen, sehr peinvollen Tode angetraut werden. Es ist ihr Verderben, ihre wohlgefälligen Leiber nicht von gut gewappneten Männern beschirmen zu lassen. Also mögen sie von ihren Rössern niedersteigen und sich meinen Knechten ergeben, auf Gnade oder Ungnade."

"Wir werden nicht die Huren verlotterter Räubersmänner und ihres vom Pfade ritterlicher Tugend abgekommenen Lehensherren", sagte nun Désirée und hielt unvermittelt einen schlanken Holzstab in ihrer rechten Hand. Die Raubrittersknechte starrten auf die Frau im grünen Umhang. Da hatten auch die drei anderen gleich aussehenden Schwestern solche Holzstecken in den Händen. Die einfältigen, auf Raub und Raffgier eingestimmten wussten mit diesen Stecken nichts anzufangen. Zwar machten die Bogenschützen Anstalten, auf die vier Schwestern anzulegen. Doch da war es schon zu spät. Wie aus einem einzigen Mund erscholl der vierstimmige Ruf: "Descendo Petrae!" Der Eherne Löwe ahnte, dass er und seine Leute gerade mit Hexenkraft bestürmt wurden. Doch bevor er den Befehl zum Shießen erteilten konnte, brach unter und über ihm das felsige Verhängnis los. Aus der Wand brechende Steine stürzten nieder. Die unter dem Weg ruhenden Felsen erbebten und drehten sich dann in die Richtung, in die die vier von den Schwestern geschwungenen Stäbe zeigten, nach rechts vom Weg fort und nach unten. Das schwarze Streitross des Raubritters wieherte in letzter Furcht und versuchte, auf die vier noch sicher auf ihren Rössern sitzenden Hexen zuzupreschen, da traf den Rappen ein roter Blitz genau in die Brust. Das starke Tier brach wie ein vom Blitz gefällter Baum nieder, kullerte nach rechts. Sein Reiter wurde durch den Sturz aus dem Sattel gehoben und fiel mit klirrender Rüstung über den Rand des Hanges, der unter dem ersten Zauber der vier Hexenschwestern bereits selbst ins Rutschen und kullern geraten war. Mit einem letzten lauten Schrei, dem die Schreie der Gefolgsleute nachklangen, stürzten Raubrittersmann und Gehilfen unter den niederprallenden Steinen und den unter ihnen aufgewühlten Steinen herumgeworfen in die Tiefe. Wem nicht das fragwürdige Glück hold war, dass er gleich von einem von weit oben niedersausenden Felsbrocken erschlagen wurde, der durchlitt den Sturz in die Tiefe, an dessen Ende ein tödlicher Aufprall harrte. Laut polternd, dröhnend und donnernd rutschten die Felstrümmer zu Tal. Grauer Staub wallte zu einem Nebel auf, der die Sicht auf die von den Hexen dem Tode überordneten verhüllte. Als der von den vieren beschworene Aufruhr des Hanges ermüdete und zum Erliegen kam, war von den Dienern des Raubritters und ihren Pferden nichts mehr zu sehen. Haushoch häuften sich aus dem Hang gebrochene Trümmer an. Womöglich waren sie zum unheiligen Grab von einigen Räubersleuten geworden. Jedenfalls war der Weg nun völlig unpassierbar geworden.

Die vier Hexen warteten eine Weile, bis der Staub sich wieder legte. Dann gingen sie daran, die vor ihnen aufragenden Steine über den noch unversehrten Rand des Abhanges zu bewegen, bis der Weg für sie wieder frei war. Keine der vier weinte um das erloschene Leben des Raubritters und seiner Knechte. Sie hatten sich dieses Schicksal selbst erwählt. Sie hätten die vier unbehelligt ihres Weges ziehen lassen sollen. Dann hätten sie wohl noch auf Jahre arglose Moggler heimsuchen und um ihre Wertsachen bringen können. So war mit einem Schlag die Geißel dieses Landteiles aus der Welt getilgt. Die Hexen dachten auch nicht daran, dass es einen Zeugen dieser magischen Tat geben mochte. Wer immer hinter ihnen den begrenzten Steinschlag ausgelöst hatte war sicher schnell zu den anderen Räubern dazugestoßen, um sich am Teilen der Beute zu ergötzen. So vertaten sie keine weitere Zeit mit einer Suche nach möglichen Augenzeugen und ritten weiter. Jetzt, wo der eherne Löwe nicht mehr brüllen würde, konnten sie es ruhig angehen lassen. Gen Abend würden sie das Dorf Beauxpierres erreichen, dessen Bewohner alle dem Baron Dixarbres hörig waren. Hätten sie die ihnen bekannten Suchzauber bemüht, die Umgegend nach weiteren Menschen oder tieren zu erkunden, so wäre ihnen vielleicht nicht entgangen, dass jener, der den Steinshlag weiter zurück auf dem Weg auslöste, nicht am Überfall selbst beteiligt war, sondern aus sicherer Entfernung und trefflicher Beobachterwarte zugesehen hatte, was dem Raubritter und den ihm direkt folgenden Getreuen widerfuhr. So gab es doch einen Zeugen, und dieser würde eine weitere Lawine auslösen, jedoch keine aus Fels und Stein.

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Tag V des Juni im Jahre MCCXXIV

Auguste Baron de Dixarbres dachte nicht mehr an Marie, die Magd, deren gerade voll erblühter Leib und deren enzianblaue Augen ihn verleitet hatten, sie auf sein Lager zu befehlen und ihren unschuldigen Leib zu nehmen. Er hatte sie noch früh genug fortschaffen lassen, als er von seiner Köchin Dorine zugetragen bekommen hatte, dass Marie wohl der Mutterschaft entgegenging. Seine Erziehung verbot ihm, Hand an ungeborenes Leben zu legen. Sicher hätte er behaupten können, Marie habe mit einem der Knechte Unzucht getrieben und sie und den mal eben als Sünder bezichtigten Knecht fortjagen können. Doch was hätte es gebracht, wenn das Kind nach der Geburt zu viele Merkmale seines wahren Erzeugers zeigte? Nein, sie aus Frankreich zu schaffen war die einzige Möglichkeit, sie für alle Zeiten aus seinen Augen zu bekommen. Sollte sie auf der Insel Britannien das ihr aufgebürdete Kind bekommen, vielleicht dabei sterben.

Der Baron hegte derweil andere Pläne. Er wolte endlich Licht in seine eigene Vergangenheit bringen. Zwar kannte er seinen Stammbaum bis ins 9. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung. Doch irgendwas daran schien unergründlich. Seine ersten namentlich erwähnten Urahnen hießen zwar bereits Dixarbres, die Herren der zehn Bäume. Doch wo diese zehn Bäume gestanden hatten ging nicht aus dieser Benennung hervor. Ebenso hieß es von den ersten vier Urahnen, sie hätten der Magie gefrönt, ja seien sogar in einer Akademie mit Namen Beauxbatons in der Verwendung dieser Künste unterwiesen worden. Den Adelstitel Baron trugen die Dixarbres erst seit dem Jahre 1027, also seit fast genau zweihundert Jahren. Doch von der Ergebenheit zur Magie war seit diesem Jahr kein Wort mehr niedergeschrieben worden. Erst er, Auguste Dixarbres, hatte die geheime Truhe seines Vaters öffnen können, indem er sein von keinem Beilager verfälschtes Blut in den Truhendeckel hatte einsickern lassen. Denn nur der clavis sanguinis virginalis vermöge die Truhe zu öffnen, so ein Abschiedsbrief seines Vaters Agamemnon. Tatsächlich hatte er mit dem Blut aus seiner linken Hand den Drudenfuß im Truhendeckel getränkt und die Truhe dann mühe- und gefahrlos öffnen können. Darin steckten zehn uralte Bücher in einem fremdartigen Leder gebunden. Diese Bücher bargen das Wissen um magische Rezepturen, Sprüche und Dinge. Doch der Baron hatte es nicht gewagt, diese Bücher auf Wahrhaftigkeit zu prüfen. Denn dazu hätte er nach Drachen, Einhörnern und anderen magischen Tieren jagen lassen müssen. Die Zauberformeln wirkten bei ihm nicht. Das lag wohl daran, dass ihm ein passender Zauberstab fehlte. Versuche mit verschiedenen Holzstäben waren fehlgeschlagen, und er musste fürchten, dass seine Dienerschaft die im ganz geheimen vollführten Versuche ergründete und ihn aus Angst erschlug, weil er sich mit Dingen einließ, die dem einfältigen Geist seiner Diener nach dem Höllenfürsten entsprangen und zur Verführung der Menschenseelen gemacht waren. Er hatte das auch mal geglaubt, als er von Mönchen und Soldaten erzogen worden war. Doch seitdem er wusste, dass jede Tat zum guten wie zum bösen gereichen konnte, hielt er Magie nicht mehr für ein reines Höllenwerk. Außerdem, wer betete betrieb Anrufung. Anrufung war doch auch ein Bestandteil der Magie. Vor allem wer betete, ihm selbst möge kein Unheil widerfahren und es möge doch die treffen, die ein den Gesetzen Gottes missfälliges Leben führten, wandte in gewisser Weise Schadenszauber an, um Unglück von sich auf seine Nachbarn zu lenken. So dachte der Baron. Deshalb wollte er auch wissen, warum seit zweihundert Jahren niemand mehr in seiner Ahnenlinie magische Kräfte geäußert hatte. Dass solche Kräfte einmal vorhanden waren zeigten ihm ja die Truhe und deren Inhalt. Immerhin konnte nur er die Truhe öffnen und wieder schließen. Auch nach dem Beilager mit Marie war ihm dies noch möglich gewesen.

Der vierte Juni endete mit einer Unterredung mit seinem Schlossverwalter, der das niedere Gesinde befehligte. Er hatte vor, nach im Land lebenden Hexen und Zauberern fahnden zu lassen, ohne das Krone und Kirche davon erfuhren. Auch Baudouin, sein Verwalter, sollte nicht wissen, wozu er diese Leute suchte. Er begründete die Suche damit, dass er sicherstellen wollte, dass die Bauern im Dorf nicht eines Tages gegen ihn aufgehetzt werden konnten, weil jemand ihnen Flüche androhte oder ihnen mehr Reichtum und Freiheit verheißen mochte, wenn sie ihm oder ihr folgten.

Nach der Unterredung hatte sich der Baron in seine Gemächer zurückgezogen. Er überlegte, ob er demnächst, wenn sein fünfundvierzigster Geburtstag anstand, eine weitere junge Magd oder eine einfache Bauerstochter auf sein Lager holen sollte. Maries warmer, wogender Leib hatte ihm sehr behagt. Doch dass gleich dieses erste Beilager ungewollte Frucht erbracht hatte hielt ihn davon ab, sich nach einer ihm hörigen Gespielin für eine süße Sündennacht umzublicken.

Die Nacht war kalt und sternenklar. Der Mond hatte bereits seine ewige Bahn am Himmel betreten. Die Gipfel der Berge glänzten silbrig in seinem kalten Schein. Der Baron genoss die in sein Schlafgemach wehende Nachtluft. Im Kamin prasselte ein kleines Feuer, dass ihm die Kühle vom Hals hielt. Gleich würde er von Aldo noch seinen Schlaftrunk erhalten. Keiner vom Gesinde wusste, dass Aldo Augustes Halbbruder war und er ihm deshalb die Führung der Schlosswache anvertraut hatte. Als Konkurrenten um das Erbe musste Auguste ihn nicht fürchten, da er seines Vaters einziger ehelicher und damit erbberechtigter Sohn gewesen war. Außerdem trank Aldo immer einen Schluck aus dem goldenen Humpen, den er dem Baron darreichte. So wurde sichergestellt, dass niemand den Baron mit Gift zu Tode bringen wollte.

"Halt, die Losung!" hörte der Baron einen scharfgebellten Befehl über den Schlosshof hallen. "

"Die rote Nachtigall kehrt heim!" hörte der Baron einen abgehetzt klingenden Mann antworten.

"Was ist sein Begehr, Rote Nachtigall?!" erfolgte eine unerbittliche Anfrage des Torwächters.

"Kündet eurem Herren, der Löwe ist tot und vier Hexen die wie ein ei dem anderen gleich erschienen haben ihn erlegt. Mann, lass mich rein, bevor mir noch wer nachkommt, der mich hier nicht finden darf."

"Warte er!" blaffte der Torwächter. Der Baron blickte auf den hochlehnigen Stuhl, über den er sein karmesinrotes Gewand gebreitet hatte. Er schüttelte den Kopf. Vier hexen hatten den offiziellen herren der roten Nachtigall getötet? Mit dem Raubritter hielt er schon seit fünf Jahren einen bitteren Burgfrieden, seitdem dieser und er fast ihre ganze bewaffnete Gefolgschaft in der Schlacht um die Wegkehre verloren hatten. Dort stand seit je der Grenzstein, der die Ländereien der Pierre Grises von denen der Dixarbres' schied. Die Wegkehre wäre für den vom Straßenraub und Geiselhandel sein Dasein bestreitenden Rittersmann eine weitere geniale Stelle gewesen, um arglos vorbeiziehenden Reisenden bei helllichtem Tage aufzulauern. Doch der Baron hatte die Schlacht für sich entschiden, dank seines Wissens um die Mixturen der arabischen Gelehrten und der Maschinen des griechischen Naturgelehrten Archimedes. Er hatte dem sich selbst als ehernen Löwen bezeichnenden Ritter eine Frist gesetzt, die Grenze anzuerkennen und keinen seiner verbliebenen Knechte mehr dorthin zu schicken oder in einer letzten Schlacht Besitz und Leben zu verlieren. Und dieser Schlagetot und Raffzahn war nun tot? Hexen sollten ihn getötet haben?

Der Baron kleidete sich hurtig wieder an. Er zog am dünnen Glockenstrang, um Aldo zu sich zu rufen. Keine Minute später stand der Hauptmann der Schlossgarde vor seinem Herrn und Halbbruder.

"Ich will das Lied der roten Nachtigall mit eigenen Ohren vernehmen. Sage dem Boten, er soll meiner im grünen Saal harren."

"Ihr habt gehört, dass die rote Nachtigall zu uns geflogen kam, Herr?" fragte Aldo. Doch dann musste er nicken. Die Anrufe und Fragen des Torwächters waren schließlich laut genug über den Hof gedrungen.

Der Baron nahm sich die Zeit, die ein Mann seines Standes nehmen durfte, wenn er einen rangniederen Besucher zu empfangen beliebt. Durch zwei nur ihm und Aldo vertraute Gänge begab er sich vom Rest des Schlossgesindes und der Wachen unbemerkt in den grünen Saal, wo er hofzuhalten pflegte. Aldo hatte bereits alle dort vorhandenen Leuchter entzündet und sich mit Miro und Ludo in drei der vier Ecken gestellt, um den Besucher, der im Wappenrock mit dem kauernden Löwen vor dem Schloss erschienen war, nicht ein Augenzwinkern lang aus der Beobachtung zu lassen.

"Er sei gegrüßt. Was singt die Rote Nachtigall vom Tod des ehernen Löwen?" sprach der Baron den nächtlichen Besucher an. Dieser verneigte sich und hob an, dem Baron zu verkünden, wie er im Trosse mit den Knechten des Löwens einer Gruppe alleinreisender Frauen auf goldenen Pferden, kleiner als übliche Pferde, einen Hinterhalt legte. Er selbst habe den Befehl ausgeführt, den Weg hinter den vier Reiterinnen mit lockerem Gestein zu verlegen. Dann habe der Löwe mit seinem Gefolge die vier gestellt und zur Preisgabe von Besitz und Freiheit aufgefordert. Die Vier hätten dann jedoch in einer für die rote Nachtigall unheimlichen Einigkeit hölzerne Stecken geschwungen, worauf ein halber Berg auf Weg und Wegelagerer niederbrach und die Feinde der vier hinforttilgte. Danach hätten die vier die vor ihnen aufgetürmten Steine, die ihren weiteren Weg verlegt hatten, mit ebensolch unsichtbarem Zauberwerk hinfortbefohlen. Die Steine seien wie lebende Tiere vom Wege heruntergekullert und in die Tiefe hinabgestürzt, dem Löwen und vielen seiner Mordbuben folgend. Danach seien sie zu Pferde ihres Weges gezogen.

"Und er hat sie verfolgt?" fragte der Baron den Besucher, der seit der Schlacht von der Wegkehre Auge und Ohr in der Burg in der Bergschlucht war.

"Ich hätte dafür vor ihnen auf den Weg treten müssen, was mir nicht geboten war und wohl auch mein vorzeitiges Ende gezeitigt hätte, wäre ich diesen vier Furien vor die Höllenstecken geraten."

"Auf dem Weg geht es erst nach Beauxpierres. Wenn sie dort die Nacht zubringen besteht Hoffnung, im Morgenlicht mehr zu erfahren", grummelte der baron. Er nickte Ludo zu. "Sende er den schnellsten aus der Reiterei aus, dem Schulzen meinen Befehl zu künden, zwei Sonnenaufgänge später bei uns vorzusprechen, um zu künden, wer die vier Weiber sind und was ihr Begehr war oder ist!" Ludo nickte.

"Morgen werden wir mit gut berittener Begleitung ausziehen, um zu schauen, was das Lied der roten Nachtigall verkündete. Er sei bis dahin unser Nachtgast!" Der Kundschafter atmete auf. Der Baron versuchte aus dem Gesicht des Kundschafters zu lesen, ob dieser ihm womöglich eine Schauermär verkündet hatte, die nicht mehr und nicht weniger zum Ziele hatte, als ihn in eine Falle des ehernen Löwens zu locken, auf dass dieser den Burgfrieden brechen und den unangenehmen Nachbarn für Zeit und Ewigkeit aus der Welt tilgen könne. Ludo und Miro traten ohne weiteren Befehl von der rechten und der linken an den Besucher heran. Dieser erbleichte. Als er dann wie ein Gefangener fortgeführt wurde ging ihm wohl auf, dass sein wahrer Herr seinem Wort, dem Lied der roten Nachtigall, wohl nicht vertraue.

Als der Baron mit Aldo in seinem Gemach war sagte der Schlossherr: "Falls in diesen Landen wirklich Hexenweiber umgehen, so will ich diese lebend haben. Seht zu, dass sie ohne Arg und Feindschaft in dieses Schloss gelangen, wenn es gelingt, ihr Begehr zu erkunden und ihnen zu überbringen, es erfüllen zu können."

"Es geschehe, wie ihr befehlt, O Herr", dienerte der Hauptmann der Schlosswache. Dann erbat er die Erlaubnis, dem Baron den Nachttrunk zu bringen. Er erhielt die Erlaubnis.

Nachdem der Baron vom süßen Honigweine schwer und müde in seinem Bett lag dachte er daran, ob die vier womöglich seinetwegen in diesem Lande umherreisten. Oder ging es um eine sagenhafte Stelle, von der eines der von seinem Vorfahren ererbten Bücher kündete, dass dort ein Tor der alten Götter unsichtbar und ungreifbar auf einen würdigen Meister der überweltlichen Kräfte harre, um sich für diesen aufzutun? Das musste er herausfinden. Vor allem aber, wenn es wirklich Hexen waren, konnten sie ihm verraten, was es mit jener Stätte magischer Gelehrsamkeit auf sich hatte, die in den Aufzeichnungen von Augustes Vorfahren Beauxbatons genannt wurde.

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Es stimmte. Der Weg war über mehr als hundert Rosslängen breite von Steinen bedeckt oder unbeschreitbar. Der Baron hatte mit zehn schwergepanzerten Begleitern und zwanzig Bogenschützen die von der roten Nachtigall bezeichnete Stelle besucht und alles so vorgefunden, wie der Kundschafter es ihm vermeldet hatte. Im Licht der frühen Sommersonne war sogar ein Glitzern vom Grund des tödlichen Gefälles aus zu erspähen gewesen. Der Baron hatte sieben Mann mit festem Seil in die Tiefe geschickt, um zu erkunden, was dort blinkte. Als die Sonne den Mittagsstand erreichte erfuhr er, dass dort unten die von schweren Steinen eingedrückte Rüstung des Raubritters lag. Die in den Bergen hausenden Raben und Krähen hatten sich bereits an den freiliegenden Körperteilen gütlich getan, weshalb vier der sonst jede Schlacht herbeisehnenden Männer ihr Morgenmahl wieder ausgespien hatten. "Ein würdiges Ende für einen unwürdigen Kerl, der seinen Stand verhöhnte, um der eigenen Goldgier freien Lauf zu lassen", hatte der Baron dazu nur gesagt. Sollen noch einmal welche hinuntersteigen und die Rüstung zerschlagen, auf dass er vollständig Avibus permissus sei!" Befahl der Baron und stellte von den mitgenommenen Bogenschützen zehn ab, die den Kletterkundigen helfen sollten. Mit dem Rest des Gefolges ritt der Baron in sein Schloss zurück. Ihm hatte der Anblick der niedergegangenen Steinlawine gehörige Furcht vor jener Macht eingeflößt, die dies hervorzurufen vermochte. Wenn das stimmte, was die rote Nachtigall gesungen hatte, so stand für den Baron fest, dass er die vier Hexen nicht offen befehden durfte. Die konnten und die würden sich jeder Gewalt erwehren. Vielleicht kam er mit ihnen auch sehr friedlich aus und konnte sie ihres Weges ziehen lassen, wenn er wusste, was er von ihnen wissen wollte.

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Tag VI des Juni im Jahre MCCXXIV

Der Dorfschulze von Beauxpierres, ein unterwürfiger, wenngleich sehr gefräßiger Mann mit grauem Haarkranz, hatte den Befehl seines Grundherren unverzüglich befolgt und war auf dessen Schloss geeilt. Durch das Bauerntor hatte er Einlass erhalten. Er war jedoch nicht im Grünen Saale empfangen worden, sondern im Weinkeller. Zwei der Wachmänner hatten hinter ihm die schwere Tür verschlossen. Der Baron hatte sich dem Schulzen in vollem Harnisch genähert. Sogar sein Langschwert trug der Schlossherr bei sich. Damit wollte er zum einem dem Herbeibefohlenen verdeutlichen, dass er ihm überlegen war und zum zweiten gewappnet sein, sollte der Schulze von den vier Hexen wider ihn bezaubert worden sein. Denn Dixarbres kannte die Warnung vor einem Fluch, der dem Magus Gewalt über Willen und Handeln eines gegners bot.

Der kleine dicke Dorfschulze, Alfonse Duval, erzählte dem Baron, dass die vier Frauen, die wie ein Ei dem anderen glichen in der Schenke zum goldenen Han eingekehrt waren und dort ein großes Zimmer bezogen hatten. Die Frauen hatten gefragt, wo in der Gegend eine wandernde Ordensschwester auf der Suche nach Hinterlassenschaften heidnischer Kulthandlungen erblickt worden sei. Außer Pater Laurentius, dem Priester der kleinen Kirche St. Etienne habe niemand von einer solchen Ordensschwester vernommen. Zwei der Vier hatten den Gottesmann dann in seinem Hause aufgesucht und befragt. Danach hätten sie sich getroffen, um ihre weitere Reise zu planen.

"Und er hat seinen Seelenhirten und Beichtvater sicher auch gefragt, deucht uns?" fragte der Baron. Der Schulze bejahte es. "Und was kündete der Mann Gottes ihm?" wollte der Baron nun wissen.

"Dass jene Ordensschwester, die sich Mutter Marie Dolores nannte, nach einem Platz geforscht hat, wo die alten Druiden ein Tor in die Welt ihrer Götter und Dämonen bewacht hätten. Die vier ledigen Weibsleute haben sich dann in ihre Schlafstube verkrochen und dort irgendwas leises gesungen oder gesummt. Charles, der Herbergswirt habe versucht, die Tür zu öffnen. Doch die wäre fest wie zugemauert gewesen. Auch sein Klopfen habe wie gegen eine feste Steinwand geklungen. Was immer die vier dort drinnen taten, es kann nichts gottgebotenes gewesen sein. Womöglich haben sie den Gehörnten gerufen. Wenn Ihr nicht geboten hättet, den vier Weibern nicht feindlich zu kommen, so hätte ich wohl mit dem Pater und den anderen Burschen diese Hexenbrut umgebracht. Nachher haben die noch unsere Felder verwünscht, dass wir nichts ernten können oder unsere ungeborenen Kinder behext, dass sie mit Bockshörnern auf die Welt kommen. Was habt ihr mit den Hexenweibern zu schaffen?"

"Wie kann er es wagen, Bauernbursche, uns derartig dreist zu fordern, unser Ansinnen vor ihm darzulegen, als sei er uns gleichgestellt oder über uns erhaben?!" rief der Baron zurück und deutete einen Griff zum Schwert an. Der Schulze erbleichte sofort. Der Baron vermutete nun, dass der Dorfvorsteher nicht dazu verflucht war, seinen Grundherren anzugreifen. Dann sagte der Baron leise: "Reite er auf seinem Gaul in sein Dorf zurück und gebe er dem Wirt des goldenen Hahns einen von uns verfertigten Brief, auf dass er diesen einer der vier Eigleichen überlasse! Ich erwarte, das er und die für uns ihr Tagwerk verrichtenden Bauersleute auch weiterhin weder Hand noch böses Wort an die vier Weiber legt. Kommt uns vor Augen oder Ohren, dass er und die anderen unserem Befehle zuwiederhandeltet, werden wir ihn und die fünf jüngsten Bauern seines Dorfes an den Zinnen unseres Schlosses aufhängen und deren Leichen dann den Krähen und Wölfen zum Fraße vorwerfen. Warte er hier, bis wir unser Schreiben verfertigt und verschlossen haben! Gebe er keinen ungehörigen Laut von sich, wenn er nicht will, dass sein grauer Schädel auf einem Wagen ins Dorf zurückgekarrt wird!" Der Schulze verbeugte sich unterwürfigst. Er fürchtete sich vor dem Baron. So herrisch und gewaltandrohend aufzutreten lag doch sonst nicht in dessen Natur. Doch dann begriff der Dorfschulze, dass es die Furcht vor den vier Hexen sein musste, die den Baron zu solchen Drohungen trieb. Er bat noch einmal ums Wort, denn ihm war noch was eingefallen. "Euer Gnaden, der Pater verkündete, dass alle vier Weiber bei ihm in der Kirche gestanden hätten. Eine habe sogar das auf dem Altar stehende Kreuz unseres Heilands mit den Händen berührt. Heißt es nicht doch, dass die Mägde und Knechte des gehörnten Erbfeindes weder die Häuser Gottes betreten noch die heiligen Zeichen des Heilands anschauen oder anfassen können?"

"Kommt darauf an, wie gläubig und gottestreu die Erbauer und Besucher dieser Kirche sind", lachte der Baron und versetzte dem Dorfschulzen damit einen seelischen Nackenschlag, der ihn sichtlich erbleichen ließ. Natürlich wusste der Baron darum, dass die Knechte seines Schlosses die jungen Mädchen im Dorf gegen Geld beschliefen und dass der Pater nicht aus purer Nächstenliebe zu den einsamen Bergbauern nach Beauxpierres entsandt worden war, sondern weil er beim Bischof von Sevilla in Ungnade gefallen war und in Beauxpierres gerade Bruder Ignatius, der Seelsorger, von seinem Herrn und Schöpfer abberufen worden war.

Als der Baron mit einem mit dem Siegel der Zehn Bäume verschlossenen Umschlag zurückkehrte verbeugte sich Schulze Duval noch einmal. Dann wurde er von den Wachen zum Bauerntor geleitet, wo er seinen altersschwachen Fuchshengst Bestieg und in Richtung seines Dorfes zurückritt.

"Übermorgen weiß ich entweder wo Beauxbatons liegt, oder es gibt vier Hexen weniger auf dieser großen Welt", dachte der Baron, als er am Abend wieder in seinem Bett lag.

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Tag VIII des Juni MCCXXIV

Aurélie las den Brief aus dem Schloss des Barons noch einmal laut vor. Der Schlossherr selbst hatte ihn wohl geschrieben. Zwar war sein Latein ziemlich holperig, doch was er damit sagen wollte kam bei den vier reisenden Schwestern an. Er hatte Besuch von der Nonne Marie Dolores erhalten, die nach einem unterirdischen Versammlungsplatz suchte, an dem die Heiden ein unsichtbares Tor bewacht haben sollten. Er sei bereit, den vieren Einblick in seine Bibliothek zu gewähren, weil dort auch von diesem Tor gekündet würde. Er wagte es sogar, zu vermuten, dass das Erbe der Druiden nicht völlig verschwunden sei und er Geschichten eines reisenden Anhängers des alten Wegs gehört habe, die ebenfalls von dem in den Bergen errichteten Tor in eine andere Welt erzählten.

"Wie heißt der Baron noch einmal?" fragte Désirée ihre älteste Vierlingsschwester.

"Auguste Barnabas de Dixarbres", antwortete Aurélie.

"Dixarbres? Hieß so nicht Uroma Thabeas Zauberkunstlehrer?" wollte Brigitte wissen, die von den vieren die Familienchronik am eifrigsten Studiert hatte, während Désirée sich auf Wege und Ortschaften festgelegt hatte, Cécilie von der magischen und nichtmagischen Tier- und Pflanzenwelt am meisten wusste und Aurélie alte und neue Sprachen studiert hatte und in dieser Kenntnis auch dreißig neue Zauber erfunden hatte.

"Unsere wandelnde Chronik weiß sicher auch, dass die Dixarbres vor zweihundert Jahren aus der magischen Gemeinschaft verschwanden, nicht wahr?" fragte Aurélie. Brigitte nickte. Dann sah sie noch einmal auf das ockergelbe Glimmen an Boden, Decke und Wänden. Vor einem Tag, als sie noch einmal den Blutruf nach ihrer gesuchten Mutter Eloise ausgeführt hatten, hatten sie diesen Schutz gegen unliebsame Lauscher nicht errichten dürfen.

"Könnte es sein, dass dieser Provinzadelige ein unbegüteter Nachfahrer des erhabenen Stammes ist?" fragte Cécilie. Aurélie wiegte den Kopf und nickte dann. "Schwestern, somit sollten wir äußerste Hut walten lassen. Am Ende kann oder kennt dieser Provinzadelige noch etwas, dass von unserer Welt stammt. Doch dürfen wir dennoch nicht versäumen, jede Gelegenheit zu nutzen, den Aufenthaltsort unserer ehrwürdigen Mutter zu ergründen." Aurélies Schwestern stimmten ihr durch Nicken zu.

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Tag IX des Juni im Jahr MCCXXIV

Aldo versah an diesem Morgen die Torwache. Er war somit der erste, der die vier Pferde erspähte, die wie auf halbe Größe geschrumpfte Schlachtrösser mit golden glänzendem Fell aussahen. Als er die vier Reiterinnen ohne männlichen Schutz genauer sehen konnte dachte er erst, sein Augenlicht würde von etwas verwirrt. Denn er konnte keinen Unterschied in Gesicht, Haar und Körperbau der vier nahenden Frauen erkennen. Er hatte von seinem Dienstherren und heimlichen Halbbruder nur erfahren, dass sie der Ankunft vier besonderer Damen ohne männliche Begleitung zu harren und ihm unverzüglich deren Ankunft zu melden hätten. Diesem Befehl folgend nahm Aldo das Horn der Torwache und blies vier kurze Töne darauf, das von seinem Herren anbefohlene Ankündigungszeichen für diese vier Frauen. Natürlich vernahmen die vier nahenden Reiterinnen das Horn und verhielten den Gang ihrer Pferde für vier Herzschläge. Dann trieb die vorderste ihr Reittier zum Weitergehen. Im Schritt gehend erklommen die vier goldfelligen Pferde den steilen Weg zum Schlossgraben.

"Wo sind sie?" fragte der Baron, der sich in höchst eigener Person auf die Mauer über dem Tor bemühte, um die Ankunft der von ihm erwarteten zu beobachten. Aldo deutete auf die sich nähernde Gruppe. "Höchst augenfällige und gefällige Erscheinungen", bemerkte der Baron. Aldo wusste in diesem Moment nicht, ob sein Herr die Pferde oder deren Reiterinnen meinte, und er wagte es auch nicht, dies zu erfragen.

"Es sind jene vier, die ich erwarte. Lasst sie ohne Verzögerung herein! Wir erwarten die Damen im Sonnensaale", gab Baron Dixarbres seine Anweisungen und stieg über die hinter hohen Zinnen verborgene Treppe zum Schlosshof hinunter. Aldo nickte ihm nach, bevor er wieder auf die herannahenden Reiterinnen blickte.

Wie von seiner Gnaden befohlen wurde die Zugbrücke herabgelassen und das Tor geöffnet, als die vier in Rufweite anhielten und Aldo nach Namen und Begehr gefragt hatte, wie es sich für sein Amt geziemte. Die Anführerin, die von ihren drei Begleiterinnen nur dadurch zu unterscheiden war, dass sie ganz vorne ritt, gab eine Einladung des Barons, mit ihm über den Sinn ihrer Reise zu sprechen an. Aldo persönlich stellte sich bereit, die geschriebene Einladung als Legitimation zu prüfen. Er erkannte Umschlag und Siegel als echt und winkte den vieren, ihm zu folgen. Eifrige Stallknechte wollten die Pferde abnehmen. Doch die vier Stuten wieherten und stampften, bissen sogar nach dem fleischigen Arm von Fred, dem größten der Stallknechte. Erst als die vier Reiterinnen ihren Tieren beruhigende Worte zugeflüstert hatten ließen sich die Pferde am Zügel fortführen. Aldo fragte sich auf Grund dessen, was der Baron von den vier Frauen wollte, ob die Pferde nicht in Wahrheit niedere Dämonen waren, die vom Höllenfürsten beigeordneten Begleiter und Vertrauten der vier Fremden. Aldo hatte auch noch nie gehört, dass eine Mutter vier Kinder auf einmal gebären konnte. Seine eigene Großmutter hatte einmal zwei Kindern zugleich das Leben gegeben und wäre deshalb beinahe im Kindbett verschieden. Deshalb konnte Aldo sich nicht vorstellen, dass es mit natürlichen Dingen zuging, dass es vier völlig gleich aussehende Menschen geben konnte. Das unheimlichste aber war, dass er beim Anblick der rank und schlank gebauten, nur an den richtigen Stellen üppig gerundeten Frauen ein unstatthaftes Begehren empfunden hatte. Nur seine Obliegenheit als Torwächter hatte das sündhafte Verlangen in ihm niedergehalten. Doch nun, wo er die vier sich frei von Arg und Nachstellung gebenden Frauen beobachtete, wie sie in das Schlossgebäude eintraten, fühlte er die heiße Flamme der Begierde erneut in sich lodern. Doch welche der vier durfte er für sich erwärmen oder in Besitz nehmen? Allein für diese Gedanken hätte der Pater von Beauxpierres ihn sicher schon auf dem Weg zur Hölle gewähnt. Doch Aldo empfand weder Scham noch Schuld bei diesen Gedanken.

Der Baron erschien in seinem besten gewand. Die sechs Hausmägde hatten den in safranfarben gehaltenen Saal mit den vergoldeten Säulen und der Nachbildung des altgriechischen Sonnengottes Helios in seinem Sonnenwagen auf Hochglanz putzen lassen. Hochlehnige Stühle, auf denen dotterblumengelbe Federkissen lagen, verhießen Bequemlichkeit. Ursprünglich hatte Auguste Dixarbres Großvater diesen Saal für seine damals angetraute Louiselle einrichten lassen, die er als "Sonne seines Lebens" und "Licht seines Daseins" bezeichnet hatte.

Aurélie blickte sich um und nahm den Prunk als wohl nötiges Beiwerk zur Kenntnis. Ihre drei Schwestern standen nun hinter ihr. Der Baron hieß die vier in seinem Schloss willkommen. Aurélie bedankte sich höflich, blieb jedoch wachsam. Als der Baron dann fragte, ob die Damen bisher eine angenehme Reise gehabt hätten erwiderte Aurélie: "Nun, unsere Reise hätte wesentlich unbeschwerlicher verlaufen können, wenn Ihr oder eure Nachbarn es vermocht hättet, das Räuberunwesen auf den Straßen niederzuhalten. So mussten wir über eine gewisse Wegstrecke im für unsere Pferde sehr anstrengenden Fluchtgalopp dahineilen." Aurélie erwähnte dann noch, dass die Banditen versucht hätten, ihnen durch absichtlich herbeigeführte Steinlawinen den Weg zu verlegen und sich dabei selbst wohl aus der Welt geschafft hätten. Nun beobachtete sie den Baron. Dieser sah ihr ganz danach aus, als ob er ihre Geschichte nicht abkaufte, es sich aber nicht anmerken lassen wolle. So sagte sie: "Falls Ihr diese Geschichte für erdichtet anseht, so steht es Euch frei, sie auf ihre Wahrhaftigkeit prüfen zu lassen, Euer Gnaden." Der Baron nickte leutselig. Dann fragte er die vier, ob sie wahrhaftig vier Schwestern aus einer einzigen Niederkunft seien. Die vier bejahten es.

"Ich erhielt Besuch von jener, die Ihr sucht. Mutter Marie Dolores bat mich darum, ihr die alten Überlieferungen zu zeigen, denen nach zwei Wochenreisen von hier eine unter der Erde gelegene Kultstätte zu finden sei, die das Tor zu anderen Orten, vielleicht sogar anderen Welten bergen solle. Ich verstehe mich leider nicht auf die geschriebene Sprache aus der Zeit der keltischen Heiden. Doch die Ordensschwester zeigte sich als sehr kundig und konnte aus dem Pergament, welches über den genauen Ort des unterirdischen Platzes kündete, lesen, wo dieser zu finden sei und welche Anrufungen zu sprechen seien, um ihn unangefochten betreten zu können. Natürlich glauben weder sie noch ich, dass ein unterirdischer Raum mit einfachen Worten aufgetan werden kann, auch wenn die Kirche die Magie nicht abstreitet, die sowas zu bewirken vermag. Ich erwog die Möglichkeit, dass die Anrufungen nichts anderes sind als Unterweisungen, wie genau der Ort ohne Gefahr für Leib und Leben zu erreichen ist und wie eine geheime Tür zu öffnen sei. Doch Mutter Marie Dolores wollte mir nicht enthüllen, wie genau dies ins Werk zu setzen sei. Auf meine zugegebenermaßen vom Wissensdurst beschwingte Fragen, ob die Ordensschwester vorhabe, diesen Ort nur zu besuchen oder seine Lage ihrem Orden zu verkünden erwiderte sie nur, dass sie prüfen wolle, was an diesem Ort so bedeutsames sei, dass zum einen solch ein Geheimnis um ihn gemacht werde, zum anderen jedoch genug Andeutungen über ihn ausgestreut worden waren, um den Wissensdurst der Gelehrten und Gelehrigen zu wecken. Ich erbot mich, ihr für ihre weitere Reise einen Trupp meiner Gardisten abzustellen. Doch sie lehnte dies ab. Ihr Habit sei ihr genügend Wehr und Schutz. Denn kein in Christo erzogener Mann würde sich ungnädig versündigen, indem er einer frommen Frau nach Leib, Leben oder Ehre trachte. Vielleicht. Da ich selbst dazu herangezogen wurde, den Glauben und die Regeln eines heiligen Ordens nicht in Zweifel zu ziehen und ich auch nicht in allerletzter Folge ersinnen kann, wie standhaft meine Männer sind, wenn sie außerhalb meiner Rufweite sind, gewährte ich der frommen Ordensmutter die alleinige Weiterreise ohne zusätzlichen Schutz", erwähnte der Baron.

"Nun, wir sind zwar keine Ordensschwestern, wie ihr an unserer Kleidung zu erkennen vermögt", setzte Aurélie an. "Aber wir haben auf Grund unserer besonderen Geburt die Aufgabe übernommen, nach allen irdischen und überirdischen Besonderheiten dieser Welt zu forschen, um diese niederzuschreiben. In diesem heeren Unterfangen erhielten wir Kunde von der reisenden Ordensschwester Mutter Marie Dolores und schrieben die Mutter oberin ihres Ordens an, um zu erfragen, ob wir mit ihr sprechen dürften. Offenbar argwöhnte die Äbtissin, dass wir nicht ganz gottesfürchtige Anliegen hegen oder ihre frommen Mitschwestern in Versuchung zu führen trachteten, mehr als demütige Studien alter Bräuche zu betreiben. Sie sandte uns zur Antwort, dass ihr Kloster nur armen Reisenden oder Ordensschwestern offenstehe. Als wir dann erfuhren, dass die uns kundgetane Ordensschwester in dieser entlegenen Gegend umherziehe, um dort nach den Hinterlassenschaften der Druiden zu forschen, erwogen meine drei Schwestern und ich, ihrer Fährte zu folgen und ihr wenn nötig beizustehen oder zum Erfolg ihrer Suche zu verhelfen, womit wir auch einen Teil unserer Lebensaufgabe erfüllen können. So haben wir Eure Einladung zu einer Besichtigung Eurer Bibliothek angenommen, um den Weg nachzuvollziehen, den Mutter Marie Dolores beschreitet."

"Nun, so möchte ich im Namen von Wissen und Forschung im Erkennen von Gottes ganzer Größe meine Zusage einlösen und Euch in die Halle meiner Bücher und Schriften einladen", sagte der Baron. Die vier Schwestern nickten, blieben jedoch auf der Hut. Bisher hatte der Baron nichts angedeutet, dass er magische Vorfahren gehabt haben könnte. Daran tat er sicher sehr gut. Denn die vier wollten auch nicht frei enthüllen, welche Kräfte sie zu lenken erlernt hatten. Zwar trauten sie den Magielosen, die sie Moggler nannten, nicht so recht über den Weg. Doch sie waren sich auf der anderen Seite auch sicher, mit jeder Hinterlist fertig zu werden, wie sie ja auch den Hinterhalt des Raubritters de Pierre Grise überstanden hatten.

Der Baron vorne weg und zwei Leibwachen hinter den vieren ging es in den Keller des Schlosses, der zum großen Teil zur Lagerung von Wein, Bier und Branntwein angelegt war. Nur eine mit silbernen Beschlägen verzierte Eichenholztür mit vier Schlössern deutete an, dass dahinter eine Schatzkammer sein mochte, wobei es sowohl ein Goldschatz oder ein Wissensschatz sein konnte.

Der Baron holte aus einer in sein Gewand eingenähten Innentasche einen Eisenring mit vier großen Schlüsseln mit aufwendig gemachten Schlüsselbärten hervor. Seine beiden Gardisten hielten die vier Schwestern dabei unter strenger Beobachtung. Désirée, die diesmal zu hinterst der vier ging, hätte den beiden Mogglern gerne gezeigt, wie schnell sie mit zwei aufdringlichen Männern fertig werden konnte. Doch die vier hatten sich darauf verständigt, nur im Falle eines direkten Angriffes auf sie ihre magischen Fertigkeiten zu benutzen, auch im vollen Bewusstsein, jeden Zeugen dieser Gegenwehr daran zu hindern, seine Beobachtungen kund zu tun.

Der Baron sperrte jedes der vier Schlösser auf und drehte dann noch an einem kleinen Rad. Metallisch knirschend wurden wohl noch weitere Verriegelungen geöffnet. Dann tat sich die schwere Tür auf. Dahinter gähnte tiefe Dunkelheit. Die vier Schwestern baten um Licht. Der Baron befahl seinen Leibgardisten, die von diesen mitgeführten Laternen zu entzünden. So dauerte es, bis jeder der Wächter seine Laterne zum leuchten brachte. Der Baron war bereits in der Dunkelheit verschwunden. Er kannte sich hier ja aus. Aurélie schickte unhörbare Warnungen an jede ihrer Schwestern, am besten schon die Hände an den Zauberstäben zu halten, um diese sofort freizuziehen.

"Wir können, die Damen", sagte der zweite Wächter, als er endlich sein Licht entzündet hatte. Einer der Wächter passierte die vier Frauen. Brigitte, die zwischen Aurélie und Cécilie stand, entging nicht der lüsterne Blick, der von ihrem ausgeprägten Oberkörper bis zwischen ihre langen Beine strich. Das würde sie dem Burschen sofort austreiben, wenn er seinen Augen noch die Hände folgen lassen mochte.

Es ging in einen geräumigen Saal hinein. Das Licht der beiden Laternen reichte nicht aus, um alle Wände zu bescheinen. Die vier Schwestern erkannten jedoch, dass an einer gerade angeleuchteten Wand mehr als mannshohe Regale aufgereiht sein mochten, in denen wahrhaftig große Bücher nebeneinanderstanden. Als der hinter Désirée schreitende Leibgardist seine Laterne nach links schwang, um auch die linke Wand in Licht zu tauchen, erkannte Cécilie einen großen Steinblock, in den ein kundiger Steinmetz eine Inschrift eingemeißelt hatte. Doch bevor sie dazu kam, die Schrift zu entziffern, hatte der Wächter die Laterne schon wieder in eine andere Richtung geschwenkt. Jetzt fiel ihr Licht auf ein hohes Regal, etwa fünfzig Schritt vom gegenwärtigen Standort entfernt. Der Baron stand davor. Das auf ihn fallende Licht ließ ihn wie rotglühend erscheinen. Er winkte den vieren. "Hier ist die Schriftrolle", sagte er und deutete auf eine Amphore aus der römischen Zeit. Aurélie durchmaß mit ihrem Blick die Halle. Sie empfand es als nicht gerade beruhigend, die Decke nicht sehen zu können. Auch gefiel ihr das im Boden verarbeitete Muster aus schwarzen, weißen und grauen Steinplatten nicht. Irgendwas daran regte ihr Unbehagen an. Doch als der vorauseilende Wächter mit ruhigem Schritt über die Bodenplatten ging legte sich ihr Unbehagen. Sie winkte ihren drei Schwestern, ihr zu folgen.

Als die vier nur noch zzehn Schritte vom gegenüberliegenden Rand des schwarz-weiß-grauen Mosaiks entfernt waren, erreichte der Wachmann bereits den schmucklosen grauen Steinboden fünfzehn Schritte vor dem Baron. Der zweite Wachmann hielt hinter den Schwestern die Laterne. Er stand einen Schritt vor dem hinter ihnen liegenden Rand des Mosaiks. In dem Moment, wo den vieren klar war, dass sie gerade alleine auf diesem hier irgendwie nicht recht hinpassenden Mosaik standen, widerfuhr ihnen auch schon das Verhängnis.

Mit einem lauten, metallischen Knall brach etwas unter ihnen weg. Das Mosaik klappte in acht einzelnen Teilen weg. Die vier Schwestern verloren den Halt und stürzten in die Tiefe. Zu allem Überfluss quoll aus dieser unergründlichen Tiefe auch noch ein merkwwürdiger Dunst, der sie unverzüglich schwindelig machte. Aurélie und Cécilie hatten ihre Zauberstäbe gerade freibekommen, als ihnen die Sinne schwanden und sie nicht mehr mitbekamen, wie sie acht Klafter tiefer in ein engmaschiges Netz fielen, das durch das Gewicht der hineinfallenden zusammengezogen wurde. .

Der Baron sah zu, wie seine Falle zuschnappte. Es war von seinem Großvater schon eine geniale Idee gewesen, unliebsame Neugierige einzufangen, um sie entweder zu verhören oder auf nimmer Wiedersehen in einem der vier tiefen Verliese verschwinden zu lassen, wenn er sie nicht gleich hinrichten und verscharren ließ. Um vier Hexen zu fangen reichte aber ein Netz unter diser achtteiligen Falltür nicht aus. Deshalb hatte der Baron ein Gefäß mit einem aus arabischen Büchern über Alchemie erlernten Gebräu aufgestellt, das in dem Moment aufsprang, wenn die Falltür aufgetan wurde. Um gegen den aus dem Gefäß entweichenden brodem gefeit zu sein mussten der Baron und seine beiden Leibwächter nur lange genug die Luft anhalten. Obwohl das Gebräu sehr rasch zur Besinnungslosigkeit führte, argwöhnte der Baron, dass die vier Hexen noch Zeit fanden, um einen Zauber dagegen zu wirken. Er starrte auf die gefangenen Hexen hinab. Arme und Beine waren im zusammengezogenen Netz verwickelt. Der Baron konnte im Licht seines Leibwächters sehen, dass zwei von ihnen bereits hölzerne Stäbe freigezogen hatten. So wartete er, während er sich zwang, keinen Atemzug zu tun, bis er sicher war, dass die vier auch wirklich dem die Sinne beraubenden Dunst erlegen waren. Dann lief er um die gähnende Fallgrube herum zu seinem anderen Leibwächter. Zusammen mit dem anderen Gardisten verließ er die unterirdische Halle. Das Gebräu mit dem betäubenden Dunst würde noch eine Viertelstunde vorhalten. Dann konnte man gefahrlos wieder hinein und das Netz mit den Gefangenen emporheben.

Als die genau eine Viertelstunde laufende Sanduhr im unteren Kolben randvoll war eilten zehn Wachleute geführt von Aldo in die Halle und wuchteten das Netz an Zugvorrichtungen nach oben. Von dem betäubenden Dunst war nur noch ein befremdlicher Hauch in der Luft verblieben. "Alles ausziehen und abnehmen, was sie am leibe tragen!" befahl der Baron. "Wir verbieten jedoch, sie an unziemlichen Stellen zu berühren!" fügte er noch hinzu, als er die Gier in den Augen seiner Männer sah. Er selbst fühlte, wie sein Geschlecht auf die Vorstellung reagierte, die vier Schwestern vollkommen entblößt zu betrachten. Vielleicht, so der Baron, wiesen sie unverhüllt doch den einen oder anderen Unterschied auf.

Als der Baron einen der vier Zauberstäbe überreicht bekam fühlte er ein leichtes Prickeln über seine Haut laufen. War das nun der Schlüssel zur Macht? Er hatte in den geheimgehaltenen Schriften seiner Vorfahren einige Zauberwörter gelesen. Wenn seine Leute die vier Frauen in je eines der Verliese gesperrt hatten, wollte er in seinem Gemach die ihm gefahrlosesten Zauberwörter ausprobieren.

"Nicht nur den Wachen quollen die Augen aus den Köpfen, als sie sahen, dass die vier Gefangenen nicht ein Lot zu viel Gewicht aufwiesen. Auch als sie sahen, dass die vier noch von keinem Manne berührt worden waren, stieg die Begierde bei den Männern. Nur der unumstößliche Befehl des Schlossherren hielt sie zurück. Einige dachten wohl zu recht, dass sich der Baron vorbehalten wollte, die eine oder andere der vier zur Frau zu machen, ob mit oder gegen ihren Willen. Weil der Baron fühlte, wie sein Geschlecht schmerzhaft gegen die Unterkleidung ankämpfte, weil der Anblick von vier gleichaussehenden Schönheiten angestaute Gelüste entfachte, befahl er: "Zudecken! Rollt sie in Decken ein, ohne sie an Brüsten oder Scham zu berühren!"

Erst als die vier in derbe Wolldecken gewickelt waren konnte der Baron seine Selbstbeherrschung wiedererlangen. Die nicht nur bei ihm sichtbare Erregung ging zurück.

Als der Baron sich davon überzeugt hatte, dass die Gefangenen in ihren Verliesen waren, wo sie erst in drei Stunden aus der Betäubung erwachen würden und dann wohl die Kopfschmerzen wie nach einer durchzechten Nacht empfinden mochten, betrat der Baron sein Gemach und wog den Zauberstab der Hexe, die sich als Aurélie Beaurivage vorgestellt hatte, in seiner rechten Hand. Er betrachtete das Stück Holz, in das ein Kern aus einer tierischen Faser eingearbeitet war und schwang den Stab. Er hoffte, nicht schon damit eine Katastrophe heraufzubeschwören. Doch der Stab verhielt sich wie jedes andere Stück holz. Weder fühlte der Baron Wärme, noch Kälte, noch irgendeine Form von Widerstreben gegen seine Hand. Also gehorchte der Stab jedem, der ihn ergreifen konnte, dachte Auguste Dixarbres. So zielte er mit der dünnen Spitze auf seine verschlossene Briefkassette, zu der nur er den Schlüssel trug und murmelte : "Alohomora!" Er hatte gelesen, dass damit verschlossene Türen und Kisten aufgetan werden konnten. Doch die Briefkassette blieb verschlossen. "Lumos!" blaffte der Baron. Laut seiner Studien sollte dieses Wort ein helles, flammenloses Licht an der Spitze erglühen lassen. Doch auch dieses Zauberwort wirkte nicht. Der Baron fühlte jedoch, dass sich der Stab ein wenig erwärmte. Er schwang ihn noch einmal und fühlte, wie der Stab dabei erzitterte. Noch einmal versuchte er zwei Wörter, von denen er gelesen hatte, dass sie einfache Zauber bewirken konnten. Doch außer einer sachten Erwärmung des Stabes geschah nichts. Der Baron war sich sicher, dass in diesem Stück Holz tatsächlich magische Kräfte schlummerten und dass er diese Kräfte wachrufen konnte. Doch offenbar musste er dafür eine bestimmte Bedingung erfüllen, eine Bedingung, wie sie seine Vorfahren wohl entweder durch Geburt und/oder Initiation erfüllen konnten. Womöglich war er als weit nach dem letzten magievertrauten Ahnherren geborener zu schwach, um den Stab zur Preisgabe übernatürlicher Wirkungen zu zwingen. Vielleicht musste er auch nur an jenen ominösen Ort gelangen, an dem junge Menschen von Kundigen der verbotenen Künste unterwiesen wurden. Er musste nach Beauxbatons. Weil er wusste, dass die vier Schwestern veritable Kundige der Magie waren mussten sie dort gewesen sein. Das hieß also, sie wussten, wo diese geheime Stätte heimlicher Künste zu finden war. Sie würden es ihm verraten. Je nachdem, wie sie sich ihm gegenüber verhielten würde er befinden, ob er sie irgendwo weit von sich fort wieder freiließ, sie gar abschob, wie er es vor kurzem mit einer Hausmagd getan hatte, oder ob er sie tötete. Dann fiel ihm ein, dass sie ja nach dieser Nonne gesucht hatten, die er angeblich bei sich gehabt hatte. Wenn das auch eine Hexe war, so durfte sie nicht erfahren, dass er die vier Frauen gefangengenommen hatte. Jedenfalls durfte er ihnen ihre Zauberstäbe nicht zurückgeben, weil sie ihm sonst ganz gewiss einen verheerenden Fluch auferlegten.

Nachdem der Baron es noch zwanzigmal versucht hatte, die in ihm schlummernde Zauberkraft seiner Vorfahren zu erwecken, es aber nicht schaffte, beschloss er, die vier Gefangenen zu verhören.

Das erste, was Aurélie Beaurivage nach dem Aufwachen empfand, waren bohrende Kopfschmerzen. Diese ließen vor ihren Augen kleine Lichtpunkte herumtanzen. Als sie dann entdeckte, dass sie ihrer Kleidung und ihrer Habseligkeiten beraubt war und nur in einer kratzigen Wolldecke steckte, erkannte sie, wie leichtfertig sie in die Falle gegangen war. Anstatt gleich davon auszugehen, dass der Baron sie wegen des Verdachts, sie könnten Magie verwenden, in eine blitzartig zuschnappende Falle locken mochte, war sie ihm zum Opfer gefallen, wie der arglose Buchfink auf den mit Pech bestrichenen Ast des Vogelfängers kroch. Ja, sie war ein gefangener Vogel. Der Käfig war ein mehr als zwölf Klafter hoher und anderthalb Klafter durchmessender Kerker. Sie war mit eisernen Ketten unterhalb ihrer Brüste an die kahle Wand geschmiedet. Sie verwünschte die sie peinigenden Kopfschmerzen. Denn so konnte sie sich unmöglich darauf konzentrieren, Gedankenrufe an ihre Schwestern zu entsenden.

"Was immer du vorhast, Auguste Dixarbres: Es möge hundertfach wider dich selbst gewandt sein", stieß Aurélie einen hilflosen Fluch aus. Denn ohne ihren Zauberstab konnte sie kaum einen wirksamen Schadenszauber aufbauen. Sie unterließ es, um Hilfe oder Gnade zu rufen. Diesen Triumph wollte sie dem Baron nicht gewähren. Allein der Umstand, dass sie noch lebte bewies ihr, dass der Baron noch etwas von ihr und ihren Schwestern wissen wollte.

Die gefangene Hexe musste eine lange Zeit auf eine Antwort warten. Erst als die Tür des Kerkers aufgetan wurde und der Baron in einem schlichten Gewand hereintrat sah sie ihn sehr verärgert an. Der Baron mied den Blick ihrer Augen. Womöglich fürchtete er einen bösen Blick. Aurélie hätte sich in diesem Moment sehr gerne den Unterwerfungsblick einer Blutsaugerin oder den tödlichen Blick eines Basilisken gewünscht. So blieb ihr nur, abzuwarten, was der Baron von ihr wollte. Er holte aus seinem Gewand einen länglichen Gegenstand hervor. Aurélie erkannte einen Zauberstab. Ob es ihrer war oder der einer ihrer drei Schwestern wusste sie nicht. Denn sie hatten alle die gleichen Stäbe mit Haaren aus dem Schweif desselben Einhorns erhalten.

"Den würdet Ihr sicher gerne wiedererlangen, sehe ich euch an", sagte der Baron. Er verhöhnte sie durch Gebrauch der höflichen Anrede mehr, als wenn er sie wie eine niedere Magd angesprochen hätte. "Nun, ich musste Euch so hinterhältig in meine Gewalt bringen, da es mir bestimmt ist, ein altes Erbe anzutreten, dessen Recht ich durch meine Geburt erlangt habe, aber nicht weiß, wo ich es antreten kann. Ihr wisst es. Ihr wart dort und habt gelernt, mit diesem Stab die geheimen Kräfte der Welt zu eurem Dienste zu rufen. Einer meiner Uraahnen hinterließ seinen Nachgeborenen eine Truhe mit geheimen Aufzeichnungen, die nur durch das Blut eines Nachgeborenen geöffnet werden konnte, wenn dieser vom Knaben zum Manne gereift war. Daher weiß ich genug von Eurer Welt, um in sie einzutreten. Doch dazu muss ich wissen, wo die geheime Stätte Eurer Ausbildung liegt. Wo ist Beauxbatons?"

Die gefangene Hexe hatte irgendwie schon damit gerechnet, dass der Baron von seinen magischen Vorfahren wusste. Doch dass sie tatsächlich Aufzeichnungen hinterlassen hatten, aus denen der Name der berühmten Zauberschule hervorging, erschütterte sie doch. Wehe allen, wenn diese Aufzeichnungen in die Hände Magie hassender Wirrköpfe und Schlagetote gerieten! Dann fiel Aurélie ein, dass der Baron sicher schon mit dem Zauberstab experimentiert hatte. So fragte sie ihn gerade noch so unbekümmert wie möglich klingend: "Wenn Ihr wisst, wie die Schule für magisch begabte Knaben und Maiden genannt wird, so habt ihr sicher auch einige Aufzeichnungen, in denen über die dort gelehrten Künste gekündet wird?" Der Baron nickte. "Nun, was hält euch dann davon ab, auszuprobieren, ob Ihr diese Künste anwenden könnt?" fragte Aurélie sehr herausfordernd. Der Baron errötete vor Wut. Dieser Mann, so dachte Aurélie, hatte es nicht gelernt, seine Gefühle im Zaume zu halten. So verriet er ihr nämlich, dass er wahrhaftig schon mit dem Zauberstab experimentiert hatte und kein gewünschtes Ergebnis erzielt hatte. Er schwang den Stab wild durch die Luft. Laut pfiff die Stabspitze vor Aurélies Nase vorbei. Dann stieß der Baron aus: "Ich habe mich an die Aufzeichnungen meines Urahns gehalten. Doch offenbar muss einer, der die Kräfte oberhalb der Natur lenken will, bestimmte Eigenschaften erfüllen oder von damit vertrauten geweiht werden. Da ich das Recht habe, das Erbe meiner Urahnen anzutreten, wird man mir in Beauxbatons Unterschlupf und Unterweisung gewähren. Doch dazu muss ich dorthin. Wo ist Beauxbatons?"

"Allein schon der Umstand, dass ihr mir mit eurer unbedachten Bewegung gerade nicht ein Haar habt krümmen können verheißt, dass niemand in Beauxbatons Euch etwas beizubringen vermag, selbst wenn ich den Weg dorthin genau kennen würde. Doch wir Maiden und Knaben, die dort unterwiesen wurden, reisten mit Hilfe einer magischen Lichtkugel dort hin, nicht zu Pferde und nicht im Fluge, und auch nicht auf dem Weg der zeitlosen Bewegung zwischen zwei entfernten Orten. Aber wie ich sagte könnt Ihr keine Hoffnung hegen, in Beauxbatons Euer rechtmäßiges Erbe zu erhalten, wie lautstark und dreuend ihr es auch einzufordern trachtet. Ihr seid nicht dazu geboren, Magie zu wirken. Ja, ich weiß, ich verwirke mein Leben, euch diese sicherlich verärgernde Kunde zu geben, so wie es in Euren Kreisen üblich ist, den Überbringer schlechter Kunde zu töten. Doch ich kann, will und werde euch nicht darbringen, was euch die hohen Mächte nicht in eure Wiege gelegt haben. Denn eure Erzeuger waren keine Magier, nehme ich sehr stark an. Wie es dann kommt, dass die ihrer alten Gaben verlustig gewordenen eine magisch verriegelte Truhe erben durften, ist für mich ein Rätsel. Doch ich werde die wohl auf wenig Zeit bemessene Lebenszeit nicht damit vergeuden, dieses Rätsel zu lösen. Ich weiß nicht, wo Beauxbatons ist. Keine meiner Schwestern weiß den Weg dorthin. Nur jene, die dazu berufen wurden, dort zu lehren kennen den Weg. Da weder meine Schwestern noch ich zu diesen Auserwählten gehören, kennen wir ihn nicht."

"Du hast eine kühne Zunge, Hexe", schnarrte der Baron, jetzt jede höfliche Anrede verachtend. "Und wenn ich dich hier und jetzt töte, so magst du in die Gefilde der ewigen Qualen hinabfahren, in denen alle leiden, die sich über die Natur erhoben haben."

"Als wenn ihr an die Hölle oder ihren bockshörnigen Gebieter glaubt", lachte Aurélie. "Denn tätet ihr dieses hättet Ihr in primis jeden Wunsch nach magischer Kenntnis weit von euch gewiesen und mich in secundis schon längst erschlagen, erhängen oder auf andere Weise töten lassen, um nicht von mir versucht werden zu können, euch diesem Bockshörnigen Dämonen eurer anerzogenen Angstvorstellungen anzudienen. Ich könnte jetzt sagen, Gott allein gibt, wer Magie beherrschen kann. Aber ich halte den von den Schwarzkutten gepredigten Schöpfergeist ebenso für mich nicht zuständig wie er es auch nicht für euch ist. Denn sonst hättet ihr mich nicht nur in ein Verlies gesperrt, sondern mit scheinbar wirksamen Bannzeichen aus dieser von Männern dominierten Religion umgeben lassen, damit ich nicht durch bloße Gedanken Euer Verderben heraufbeschwöre. Und so sage ich Euch, dass wir vier Schwestern durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpft sind. Stirbt eine von uns vor der Zeit, so gehen ihre Kräfte zu gleichen Teilen auf die überlebenden über. Ihr könnt es also nicht wagen, eine von uns vor der Zeit zu töten, ohne dass die überlebenden dadurch genug Kraft erhalten, um auch ohne Zauberstab Euer Verderben zu entfesseln. Also, womit könnt ihr mir noch drohen, Baron?"

Der Baron dachte ganz ernsthaft nach, ob die Hexe da log oder die Wahrheit sprach. Am Ende mochte es stimmen, dass vier Kinder, die zur Selben zeit im Mutterschoß herangewachsen waren, durch ihre zeitgleiche Geburt ihr ganzes Leben lang einander verbunden blieben, ja ihre gemeinsam erworbenen Kräfte auf die Überlebenden übergingen. Dann dachte er daran, wie es seine Manneskraft angeregt hatte, die vier als Unberührte zu sehen. Er sagte noch: "Ich weiß, dass Magie vieles bewirken kann, was gewöhnlichen Sterblichen unerreichbar ist. Doch ich werde mein altes Erbe erhalten. Ihr werdet mir sagen, wen ich finden muss, um Beauxbatons zu betreten. Falls nicht, werde ich es darauf ankommen lassen, ob Ihr euch gegenseitig mit eurer Lebenskraft erfüllt, wenn eine von euch stirbt. Du magst die verstockteste von euch vieren sein. Doch jede Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Ich werde ergründen, wer von euch das schwächste Glied ist. Und du kannst nichts dagegen tun."

"Und Ihr hegt keine Furcht, jede Übeltat, die Ihr wider uns verübt könnte sich wider euch selbst wenden?" fragte die gefangene Hexe.

"Nein, diese Furcht hege ich nicht. Denn ohne euere Zauberstäbe seid ihr so hilflos wie eine Bauernmagd im Angesicht einer Armee schwer bewaffneter Krieger. Ich lasse euch nun in eurer Verstocktheit zurück. Ihr werdet Speis und Trank erhalten, um nicht zu verschmachten. Doch wenn du oder deine anderen Schwestern mir nicht gebt, was mir hilft, nach Beauxbatons zu kommen, werdet ihr den Tag euerer Geburt selbst bitterlich bereuen lernen", sagte der Baron. Dann gebot er seinem Wachmann, der Hexe einen Stuhl mit Eimer unterzuschieben und ihre Hände so zu fesseln, dass sie zwar essen, aber nicht mit irgendwelchen Handgriffen ihren Tod herbeiführen konnte.

Als der Baron mit Aldo in seinem kleinen Arbeitszimmer saß, wo er die nicht für die anderen bestimmten Schreibarbeiten ausführte sagte der Schlossherr: "Dass sie Hexen sind wissen wir. Doch Sie wollen mir nicht verraten, von wem Sie ihre Kräfte erlangt haben. Ich ziehe in Erwägung, jede einzelne zu foltern, um die Namen derer zu erfahren, von denen sie unterwiesen wurden."

"Euer Gnaden, sicher wird die Tortur denen ordentlich zusetzen und sie werden die Namen preisgeben. Doch was ist, wenn sie selbst durch einen Zauber davor bewahrt werden, Verrat zu begehen, ja unter der größten Folter sofort zu sterben. Wenn stimmt, was Ihr ergründet habt, könnte der Tod einer oder zweier den Überlebenden besondre Macht geben", sagte Aldo. "Wollt ihr das riskieren?"

"Dann sollen wir sie alle zugleich umbringen, damit keine von denen uns was antun kann?" fragte der Baron.

"Ich weiß nicht, Euer Gnaden. Vielleicht solltet ihr sie so nackt wie sie sind außer Landes schaffen wie die unvorsichtige Magd."

"Damit sie gleichgesinnte finden, die sie rächen und alle umbringen, die von ihrem Geheimnis erfahren haben?" entrüstete sich der Baron. "Auch wenn sie ohne Zauberstäbe keine Zauberkräfte ausüben können, so gibt es womöglich Wege, Ihren Brüdern und Schwestern im Geiste der geheimen Künste zu verkünden, was ihnen hier widerfuhr. Außerdem muss ich davon ausgehen, dass die von ihnen gesuchte Frau auch eine Hexe ist. Deshalb darf ich die vier nicht mehr freigeben", erwiderte der Baron.

"Ihr habt gesehen, dass die vier noch Jungfern sind, Euer Gnaden. Ich hörte sowas, dass erkannte und getötete Hexen in die Körper neugeborener Mädchen einfahren und dort unerkannt wieder aufwachsen können, solange sie nur mit dem Teufel buhlen oder von einem Manne unberührt bleiben", sagte Aldo. Der Baron sah dabei eine Mischung aus Angst und männlicher Begierde in den Augen seines Halbbruders aufleuchten. Er verstand, was Aldo vorhatte. Auch er dachte nicht ohne gewisse Begierde daran, welche Verschwendung es wäre, vier unberührte Frauen zu töten, ohne von ihnen die Früchte der Liebe zu pflücken, vor allem, wenn sie es ihm nicht gewähren wollten. So fragte er Aldo, woher er das habe, dass erkannte und getötete Hexen in neugeborenen Kindern einen neuen Halt fanden. Er verwies auf Pater Eugène aus Beauxpierres, der immer wieder gegen die Macht des Satans und seiner Huren predigte.

"Ich will jeder von denen noch eine Chance geben, mir zu verraten, was ich wissen will, Aldo. Bekomme ich es nicht, so werden die vier es bitterlich büßen."

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Tag XV des Juni im Jahre MCCXXIV

Brigitte Beaurivage heulte. Obwohl es jetzt schon mehr als zwei Tage her war fühlte sie immer noch die große Hilflosigkeit, die Scham und die Schmerzen. Dieser verdammte Moggler, der mal magische Vorfahren gehabt hatte, hatte es gewagt, sie und ihre drei Schwestern zur gleichen Zeit schänden zu lassen. Ihr Schoß schmerzte immer noch von der gewaltsamen Berührung durch diesen Barbaren Aldo, dem es eine rechte Wonne war, eine hilflose Hexe zu nehmen. Aurélie, die ihre drei Schwestern immer wieder in Gedanken ansprach, hatte versucht, sie darüber hinwegzutrösten, dass sie alle dasselbe Schicksal erfahren hätten. Doch was brachte es ihr, Brigitte, die ihr ganzes Leben darauf gehofft hatte, eines Tages mit einem sie liebenden Mann das Lager zu teilen und aus einer beide beglückenden Vereinigung ihrer Körper seine Kinder zu empfangen. Aber weil sie eine von vier Zeitgleich geborenen war hatte sie keinen ihr genehmen Mann gefunden, dem sie ihre Unschuld darbringen wollte, um seine geliebte Frau und Mutter seiner Kinder zu werden. Jetzt war sie nicht mehr unberührt, keine Virgo intacta mehr. Stunden lang hatte dieser brutale Rohling sich an ihr vergangen, während Aurélie das fragwürdige Vorrecht erfahren hatte, vom Schlossherren persönlich entjungfert worden zu sein. Doch sie hatten dem Bastard nicht geben können, was er wollte. Er wollte nach Beauxbatons. Doch als Magieloser konnte er dort nichts lernen.

"Brigitte, ich weiß, du warst die von uns, die sich am meisten nach der ersten Liebe gesehnt hat. Doch jetzt, wo wir gegen unseren Willen genommen wurden, so bleibt uns am Ende wohl nur die Vergeltung", hörte Brigitte Aurélies Gedankenstimme. Diese Kunst hatten sie ihnen nicht verwehren können. "Ich werde mich nicht in Angst und Ohnmacht diesem Schurken beugen, auch wenn er mir nach der Schmach noch die Pein von Folter anzutun wagt. Wir sind alle vier füreinander da, Cécilie für dich, Désirée für mich und ich für Cécilie. Wir versuchen noch einmal, unsere Mutter zu rufen, jede zugleich, jede so laut es geht. Wenn sie uns erhört, kann sie noch einschreiten. Wenn nicht, so bleibt uns vieren eben nur noch das Band der Gegenseitigkeit."

"Er hat ich beschmutzt, besudelt und entehrt, Aurélie. Ich will ihn tot sehen", gedankenschrie Brigitte ihrer ältestenSchwester entgegen.

"Glaube es mir, das wirst du auch", erfolgte Aurélies von unbändigem Hass getragene Antwort. Da begriff Brigitte, dass wo sie in Hilflosigkeit und Scham zu ertrinken drohte, Aurélie bereits an gnadenlose Vergeltung dachte.

Als die Kerkertür wieder aufflog trat nicht eine der Mägde ein, die den Auftrag gehabt hatten, die geschändeten Hexen zu waschen, sondern zwei vermummte Männer. Sie fürchtete, nun erneut geschändet zu werden, solange, bis sie entweder unter den Schmerzen oder der grenzenlosen Scham dem Wahnsinn verfiel. Als Aurélie ihr aber in ihren Geist sprach, dass bei ihr zwei Henkersknechte aufgetaucht waren und Cécilie und Désirée wohl ebenfalls von vermummten Männern aufgesucht wurde, war Brigitte bewusst, dass ihre verbleibende Lebenszeit nicht einmal mehr einen Tag währen würde.

Als die vier Schwestern mit verbundenen Augen und mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen aus den Verliesen auf den Hof geführt wurden nahm man ihnen die Augenbinden ab. Im Osten schimmerte die Morgenröte. Aurélie sagte, als sie den Baron sah, der knapp zwanzig Schritte von ihr fortstand: "Auch wenn du uns heute töten wirst, Auguste Dixarbres, wertloser Nachfahre eines großen Magus, so wirst du es sein, der den Tag der eigenen Geburt bereuen wird. Du weißt, was ich dir kündete, als du mit deinem von Gier und Unersättlichkeit bemästetem Fleisch meinen Leib durchpflügt hast."

"Dass nicht einmal der Tod dich davon abhält, unser Gemächte zu entreißen?" lachte der Baron. Aurélie nickte. "Außerdem kennst du das Erbe meiner Schwestern und mir." Sie sprach den Baron nun wie einen niederen Burschen an, stellte ihn damit noch unter ihren eigenen Rang. Doch das ließ ihn kalt. "Ihr wolltet mir nicht helfen. So ist euer gottloses Leben vertan", sagte der Baron. Dann hob er die rechte Hand, in der Aurélie und ihre Schwestern einen Zauberstab sehen konnten. Brigitte, die sich damit abgefunden hatte, ihren geschändeten Körper hier und heute ablegen zu müssen, dachte dasselbe wie ihre Schwestern: "Das sollte der Baron bereuen."

Die Hexen wurden völlig entkleidet. Außer den acht Henkersknechten war niemand im Schlosshof. Der Baron hatte unter Androhung der Todesstrafe verboten, dass irgendwer sich am Fenster oder im Hofe blicken ließ. Er sah die vier an, dann die hinter ihnen stehenden Scharfrichter, die bereits ihre sorgfältig geschliffenen Schwerter hoben. Dann ließ er mit einem Ruck die rechte Hand nach unten sausen. Der Zauberstab pfiff laut durch die Luft. Im selben Moment surrten die Schwertklingen auf die Nacken der entkleideten und nur an den Händen gehaltenen Hexen nieder. Ein gleichzeitiger kurzer Aufschrei der vier war die letzte Äußerung in ihrem Leben.

Die Leiber auf den Scheiterhaufen", schnarrte der Baron, als er das von ihm befohlene Werk mit gewissem Grausen betrachtet hatte. Irgendwie war ihm dabei zu Mute gewesen, als wären unmittelbar zum Zeitpunkt der zeitgleichen Hinrichtung weiße Dunstwolken aus den Körpern der vier Hexen entwichen. Doch das mochte eine Täuschung sein, hervorgerufen durch den Morgennebel hier in den Bergen.

Torsi und Köpfe wurden auf einem von den Henkern in der nacht errichteten Scheiterhaufen getragen. Als die Sonne ihre ersten Strahlen über den Gipfel des östlichen Nachbarberges schickte standen Aldo und der Baron auf der Schlossmauer. Sie wollten dem letzten Akt des blutigen Werkes zusehen. Als Miro, einer der vier, die sich zur selben Zeit an je einer der vier Hexen vergangen hatten, mit überlegenem Grinsen eine entzündete Fackel auf den vier Klafter aufragenden Holzstoß warf, in den zur schnelleren Entfachung kleine, trockene Äste steckten, musste auch Aldo grinsen. "Tja, kleine Brigitte, jetzt werden wir nie erfahren, ob unser Kind mir oder dir ähnlich gesehen hätte." Der Baron hörte diese spöttische Bemerkung, während er auf die auflodernden Flammen blickte, die wie lebhafte Lichtgeister über die Holzscheite tanzten und sich darin einfraßen. Als die ersten Flammen die Leichen der Enthaupteten berührten, wölkte Qualm auf. Der Baron starrte mit einer Mischung aus Triumph und Widerwillen in den Rauch. Da meinte er, in vier bleiche, durchsichtige Frauengesichter zu blicken, die ihn hasserfüllt anblickten. Doch die Erscheinung hielt nur einen Augenblick vor. Dann waberte immer mehr Qualm und Dampf über dem Scheiterhaufen.

Der Baron konnte den Blick nicht von den verbrennenden Leichen abwenden. Aldo schien sich am Anblick der verbrennenden ebenfalls zu ergötzen. Auch Miro und Jean, die ebenfalls zusahen, wie die von ihnen geschändeten Hexen zu Asche verbrannten, schienen eine weitere Befriedigung zu empfinden.

Es dauerte Stunden, bis der Scheiterhaufen restlos niedergebrannt war. Was an Asche und Knochenresten übriggeblieben war, wurde auf jenem Fuhrwerk fortgekarrt, auf dem einen Monat zuvor die Magd Marie fortgeschafft worden war.

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Sie hatte es nicht geschafft, jene Stelle genau zu bestimmen, an der die ihr völlig unbekannte und mit keinem Aufspürzauber sichtbar zu machende Kraft wirkte. Eloise Beaurivage versuchte es noch einmal mit altdruidischen Anrufungen. Doch diese wirkten nicht. Sie erkannte nur, dass der Boden unbearbeitbar war, ja keine Elementargewalt länger als einen Atemzug in diesem Bereich wirksam blieb. Weder Blitze, noch Zauberfeuer noch Gefrierzauber konnten dem Boden etwas anhaben. Sie wollte gerade zu einer Rolle Pergament greifen, um ihre Beobachtungen und Erfahrungen niederzuschreiben, als ihr ein vierfacher Aufschrei durch den Kopf ging. Gleichzeitig fühlte sie einen heftigen Kälteschauer in Brüsten und Unterleib. Da wusste sie, dass das Lebensband ihrer vier Töchter auf einen Schlag zerrissen worden war. Ihre vier Töchter? Wo waren die gewesen? Sie hatte nicht daran gedacht, dass sie schon mehr als drei Monate in diesem menschenverlassenen Teil der hohen Berge unterwegs war. Sicher hatten ihre vier Töchter nach ihr gesucht. Doch wer hatte es gewagt, sie alle vier zugleich zu töten? Eloise fühlte eine Mischung aus Hass und Furcht. Dann kam noch eine Spur der Reue dazu. Denn womöglich waren die vier wegen ihr gestorben, weil sie auf der Suche nach ihr gewesen waren. Sie löste das Stirnband, das sie getragen hatte, um gegen die Kunst des Geistsprechens und der Kunst der Eindringung in ihre Sinneswelt gefeit zu sein. Hätte sie das Band doch nicht dauernd getragen, so hätte sie mit ihren Töchtern gedankensprechen können, ja hätte ihnen auch zeigen können, wo sie gerade war. Doch der Ehrgeiz, der sie umgetriben hatte, als einzige den genauen Standort und die Beschaffenheit eines vorzeitlichen Zaubertores zu ergründen, hatte sie dazu verleitet, sich gegen ihr eigenes Fleisch und Blut zu verschließen. Nur die mörderische Kraft des zerreißenden Lebensbandes aller vier zur gleichen Zeit hatte die von ihr errichtete Abwehr durchbrochen und sie dort berührt, wo sie die vier Leben mit Schutz und Nahrung erhalten hatte. Eloise erkannte, dass wenn sie das gegen alle geistigen Fernzauber schützende Band nicht getragen hätte, sie wohl im gleichen Augenblick tot umgefallen wäre, als ihre vier Töchter starben. Doch wo war das geschehen und wer hatte dies herbeigeführt? Die Wut überwog nun die Furcht, wandelte sich zu einem immer stärker werdenden Drang nach Vergeltung. Sie musste ihre Studien hier und jetzt beenden.

Eloise entfernte sich einige Hundert Schritte von dem Ort, an dem sie eine verborgene Magie gefunden hatte, deren Beschaffenheit sie nicht ergründen konnte. Dann disapparierte sie.

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Tag XVI des Juni im Jahr MCCXXIV

Noch immer hing der hauch verbrannten Holzes und Fleisches wie ein Dunst aus der Hölle in der Luft über dem Schlosshof. Die Mägde, die erst am Abend den Hof kehren durften, hatten mit Grausen auf den großen, rußigen Fleck gestarrt, wo der Scheiterhaufen gelodert hatte. Nachdem sie ihre Arbeit im Schein von einem Dutzend Pechfackeln verrichtet hatten, eilten die Mägde ins Schloss zurück. In ihren Gesichtern standen Grauen und Unbehagen eingemeißelt. Sie wussten, dass vier Frauen zum Baron vorgelassen worden waren. Sie hatten auch erfahren, dass sie versucht hatten, den Baron und seine Männer zu behexen, um sie dem Teufel zuzuführen. Deshalb hatten sie sterben müssen.

"Möge Gott unser aller Seelen gnädig sein, dass wir nicht große Schuld auf uns geladen haben", stöhnte Amélie, die älteste Magd. Ihre jüngeren Kolleginnen bekreuzigten sich und murmelten das Ave Maria, um die Gottesmutter um Beistand anzuflehen.

Als Amélie hinter den wesentlich jüngeren Mägden die kleine Tür des Gesindetraktes verschließen wollte, fühlte sie einen eisigen Hauch im Rücken. Sie erstarrte vor Schreck und Kälte auf der Stelle. Die Eiseskälte umhüllte sie wie ein winterlicher Schneesturm. Zu sehen war jedoch nichts. Dann meinte Amélie, etwas kröche ihr durch die Brust in Kopf und Arme, breite sich darin aus wie ein wildes Kribbeln. Sie keuchte. Unvermittelt meinte sie, von einer unbändigen Kraft davongeschleudert zu werden. Sie fühlte ihren Körper nicht mehr, sah nur, wie sie den schmalen Gang zu den Kammern der weiblichen Dienerschaft entlangraste. Dann fühlte sie etwas, als rase ein wildes Feuer durch sie hindurch. Sie schrie. Doch ihr Schrei hallte von nirgendwo wider. Sie durchstieß die feste Wand, als sei sie nur hauchzarter Nebel, eilte wie eine vor der Katze flüchtende Ratte so schnell durch eine dahinterliegende Kammer, durch die Außenwand hinaus und überquerte den Hof, ohne einen einzigen Schritt zu empfinden. Es war, als flöge sie mit immer größerer Geschwindigkeit auf die Stallgebäude zu. Wie vorhin war der aus Lehm und Fachwerk errichtete Bau kein festes Hindernis für sie. Amélie sah noch vier mit den Hufen scharrende kleine Pferde mit hellem Fell. Dann durchzuckte sie ein wilder Schmerz, als wolle jemand ihr die Brust zerreißen. Sie sah viele Blitze vor ihren Augen und fühlte, dass sie wieder einen Körper hatte. Gerade so erkannte sie ein dunstiges Etwas, das von ihr fortflog und dabei restlos verschwand. Dann fühlte sie, wie ihr altes Herz äußerst schmerzhaft in ihrem Leib Pochte. Rumm-Bumm! Rumm-Bumm! Rumm---Bummmm! Ihr altes Herz zuckte noch einmal schmerzhaft. Dann schlug es nicht mehr. Damit endete Amélies über siebzig Jahre währendes Leben.

Jeannette, die junge Hausmagd und seit Maries unrühmlichem Fortgang jüngste der weiblichen Dienerschaft, hatte von dem Todeskampf ihrer älteren Kollegin nichts mitbekommen. Sie wollte nur in ihre Kammer, sich noch einmal gründlich Gesicht und Hände waschen und dann ins Bett. Hoffentlich träumte sie nicht davon, wie die vier Hexen verbrannt wurden.

Jeannette konnte viel aushalten. Kaltes Wasser war für eine geborene Bauerstochter, die es gewohnt war, sich an Flüssen und Bergbächen zu waschen überhaupt kein Verdruss. Als sie sich sicher war, keine Spuren von Ruß oder anderem üblen Überrest an Händen, Gesicht oder Haaren zurückbehalten zu haben warf sie sich in ihrer einfachen Nachtwäsche auf den prallen Strohsack, der für sie die standesgemäße Schlafstatt war. Auf dem Rücken liegend starrte sie an die Decke. Durch das kleine Fenster sickerte der silberne Schein des Mondes herein und schien dunkelgrau von der Decke wider. Jeannette wollte gerade die Augen schließen, um zu schlafen, als sie ein eisiger Hauch überkam. Schlagartig war ihr, als sei ihr ganzer Körper in einen Eisblock eingeschlossen. Sie keuchte und sog dabei die von außen kommende Eiseskälte in sich ein. Dann fühlte sie sich auf einmal so leicht, als schwämme sie in einem tiefen Gewässer, ja sogar noch leichter. Sie sah die Decke von oben auf sich zukommen. Sie blickte sich erstaunt um und sah auf ihr angespannt dreinschauendes Gesicht herunter. Als sie begriff, dass irgendeine überirdische Gewalt sie aus dem eigenen Körper hinausgehoben hatte, war sie schon auf Höhe der Decke und glitt durch diese wie ein Stein durch leere Luft hindurch. Sie fühlte diese Verdrängung, weg von ihrem Körper, zugleich einen Sog, der sie immer schneller werden ließ. Sie erinnerte sich daran, wie sie einmal in einen vom langen Regen reißend gewordenen Fluss gefallen war, wo sie gerade erst fünf Jahre alt war. Eine ähnliche Kraft riss sie nun fort, durch alle Wände und Türen hindurch, als wären diese nicht vorhanden. Dann fand sich Jeannette in einem der Stallgebäude wieder, raste auf eines der dort eingestellten vier Pferde zu und prallte gegen dessen Kopf und Brustkorb. Auf einen Schlag empfand sie wieder ein Gewicht, fühlte vier Gliedmaßen, einen Leib und einen sich ruckartig hin und her bewegenden Kopf. Gleichzeitig fühlte sie große Furcht, dass jemand sie umbringen wollte, weil auch ihre Herrin umgebracht worden war. Die Angst wurde immer größer. Sie hatten ihre Herrin Brigitte totgemacht. Sie hatte den letzten Schrei gehört und gefühlt, wie das zwischen ihr und ihrer Herrin gemachte Vertrauensband einfach so zerrissen war. Jetzt würden die anderen Zweibeinläufer sie auch tot machen, sie und ihre drei Schwestern. Sie schrie vor Angst. In ihren Ohren, die sich eilig vor, zurück, nach links und rechts bewegten, klang der Schrei laut und schmerzhaft auf. Auch die drei anderen stießen Angstlaute aus. Jeannette erkannte, dass sie irgendwie mit dem Leib des Pferdes eins geworden war. Das war eindeutig böses Zauberwerk, Hexerei, Teufelswerk. Sie fühlte die Furcht des Reittieres und dachte sogar dessen Gedanken. Nein, sie wollte das nicht. Sie wollte wieder ihren eigenen Körper haben. Da brüllte neben ihr eines der drei anderen Hexenpferde los, und Jeannette - oder hieß sie doch Baucis? - hörte eine andere verängstigt klingende Frau wie in ihrem Kopf: "Nein, der Fluch der Hexen. Wir sind verwünscht, damit ihre aus dem Leib getriebenen Seelen in unseren Leibern umgehen können." Das war Agnès, die zweite Küchenmagd des Barons.

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Aldo argwöhnte nichts. Hatte er zuerst gedacht, die vier getöteten Frauen könnten noch im Tode einen üblen Fluch auf ihn und ihre übrigen Peiniger herabbeschwören, so war der Tod für diese vier Teufelsbräute so plötzlich und unabwendbar gekommen, dass sie nichts mehr beschwören konnten. Der Halbbruder des Barons dachte an Brigitte, die er nicht nur des Befehls seines Herrn wegen geschändet hatte. Wenn dieses junge Ding keine Hexe gewesen wäre, er hätte sich sicher bemüht, sie auch ohne grobe Gewalt zu umwerben. Was er ihr im Rausch der wilden Lust und im Spott auf die unterworfene Kreatur gesagt hatte, dass sie die Ehre hätte, die Mutter seines Sohnes zu werden, hatte er irgendwie schon ernst gemeint. Doch Brigitte hatte sterben müssen, damit sie nicht die Kraft ihrer drei anderen Schwestern in sich aufnehmen und in deren Namen Rache üben konnte. Da sie von einem sterblichen berührt verstorben war würde ihr Satan sicher keinen neuen Körper zum wiedererstehen verleihen können und sie endgültig in sein finsteres Reich hinabzerren. Er hatte also nichts mehr zu befürchten. Ja, selbst die Schändung einer Jungfrau mochte ihm unter diesen Umständen von seinen Sündenstrafen erlassen werden.

Aldo räkelte sich auf seinem Bett. Er trug nur seine dünne Leibhose. Sein mit dunklem Haar bewachsener Brustkorb hob und senkte sich ruhig. Doch unvermittelt fühlte der Hauptmann der Schlosswache Angst. Irgendwas bedrohliches drang von irgendwoher zu ihm vor. Er setzte sich auf, ließ seinen Blick eilig durch seine karg möblierte Kammer huschen. Doch außer dem Schattenspiel aus widerscheinendem Mondlicht war nichts zu entdecken. Dann hörte er ein leises, rhythmisches Knarzen von draußen. Jemand ging leise über die Dielenbretter. Die Schritte klangen leichtfüßig, nicht wie in den schweren Stiefeln seiner Kameraden. Er blickte auf die Tür. Diese war zu, und der kleine Riegel war vorgelegt, damit er ungestört schlafen konnte. Als wenn er mit seinem Blick einem Unsichtbaren einen Befehl gegeben hatte sah Aldo, wie der kleine Metallriegel von selbst zurückglitt. Er zwinkerte zweimal, weil er argwöhnte, seine Augen spielten ihm einen üblen Streich. Vielleicht träumte er auch schon. Er kniff sich kräftig in den linken Oberarmmuskel. Er fühlte den Schmerz. Er war wach. Dann klickte es, als der Riegel ganz in seine Ausgangslage zurückglitt. Im nächsten Moment senkte sich die Türklinke. Mit leisem Knarzen tat sich die Kammertür auf, erst einen Finger breit, dann handbreit und dann weit genug, um wem auch immer freien Einlass zu gewähren. In der Türöffnung erschien eine kleine, schmächtige Gestalt in heller Schürze. Aldo tastete nach seinem am Kopfende lehnenden Schwert. Doch als sei noch wer unsichtbares durch die gerade geöffnete Tür eingetreten, sprang das zweischneidige Breitschwert mit metallischen Schaben aus seiner Scheide heraus und zischte kurz über Aldos Kopf hinweg, bevor es mit dumpfem Schlag in das Gebälk der Decke hineinfuhr, unerreichbar für Aldo. Dieser wollte aufspringen, als eine mörderische Kraft wie die Hand eines unsichtbaren Riesens ihn wieder auf seine Bettstatt zurückwarf und niederhielt. Dann fühlte er, wie seine Leibhose über Lenden und Oberschenkel nach unten rutschte, als risse jemand ihm das Beinkleid fort, um ihn möglichst schnell entblößt vor sich zu haben. Aldo wollte den Mund öffnen und schreien, doch wie von einem nicht sichtbaren Kissen erstickt verebbte sein Schrei, bevor er seinen Lippen entweichen konnte. Seine von blankem Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrten auf die nun ganz ruhig eintretende Erscheinung. Er erkannte im Widerschein des Mondes Haar und Gesicht eines Mädchens, das Gesicht von Jeannette, einer gerade erst achtzehn Lenze zählenden Magd, die beinahe verhungert aussah und noch sehr kindlich gestaltet war. Dann blitzte im silbernen Mondlicht etwas auf, eine lange Klinge, die Klinge eines langen, scharfen Messers, wie es Köche und Fleischer zum zerteilen von Fleischstücken gebrauchten. Aldo versuchte erneut, sich aufzusetzen, zu schreien und Widerstand zu biten. Doch jene höllische Gewalt, die ihn auf das Bett drückte, war unüberwindlich.

"Na, Aldo. Ich bin wiedergekommen, damit keine andere Jungfrau mehr von dir ohne Liebe berührt wird", sagte Jeannette. Es war ihre Stimme. Doch Aldo hörte einen unbändigen Hass und eine große Überlegenheit aus der Stimme. "So nimm hin, was du dir durch die gewaltsame Aneignung meines Leibes verdient hast!" sagte Jeannette.

Für einen Moment wurde dem niedergehaltenen Wachmann gestattet, den Mund zu öffnen. Er stieß nur ein Wort aus: "Brigitte!" Die Magd nickte wild. Dann stieß ihre rechte Hand mit dem langen Messer vor. Aldo wollte wieder schreien. Doch wieder hielt ihm etwas den Mund zu. Als der unsagbare Schmerz durch seinen Unterleib raste und er sah, wie Jeannette sich mit einem überlegenem Lächeln nahm, was sie ihm auf so gnadenlos grausame Weise abgetrennt hatte, übermannte ihn neben der unbändigen Angst und Hilflosigkeit auch der Schwindel. Der Schmerz der Verstümmelung peitschte durch seinen Körper und raubte ihm den Rest von Besinnung, den er noch hatte.

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Der Baron fühlte eine unmittelbare Gefahr. Irgendwie war ihm, dass jemand ihn angreifen würde. Er ergriff seinen Schwertgürtel, schnallte ihn um. Dann pflückte er noch die Armbrust von der Wand und hängte sie sich um. Er wollte auch nach den vier erbeuteten Zauberstäben greifen, mit denen er nach dem Tod der vier Hexen noch einmal versucht hatte, eigene Magie zu bewirken. Da fegte ein eisiger Windstoß durch das Gemach des Barons. Möbel und Bilder flogen von dieser Gewalt gepackt umher. Der Baron versuchte, dem aufgekommenen Aufruhr zu widerstehen. Doch die eisige Luft stieß ihn gegen die Wand. Dann sprengte etwas die Tür seines Gemaches auf. Er sah die untersetzte Gartenmagd Adele, die völlig unbekleidet eintrat. "Hallo, Auguste. Empfindest du nicht neue Lust, mit mir das Lager zu teilen, wo du es nicht erwarten konntest, mir mit großer Ungeduld die Unschuld zu nehmen?" sprach die füllige Gartenmagd. Auguste Dixarbres starrte auf die nackte Frau, die keines Mannes rastlosen Traum bevölkern mochte. Dann hörte er von ihren Lippen Worte, die er vor wenigen Tagen einer anderen ins Ohr geflüstert hatte, als sie von ihm niedergehalten und mit Gewalt von ihm beschlafen wurde. Er erkannte, welch unverzeihlichen Fehler er begangen hatte. Er hatte Aurélie und ihre drei Schwestern getötet und damit ihre Seelen aus den Leibern befreit, dass diese nun in die fleischlichen Hüllen argloser Menschen überwechseln konnten, als wechselten sie nur die Kleidung.

"Na, willst du dieses Fleisch nicht auch, das gut gefütterte Bauernmädchen, das du wie ein schlachtreifes Schwein seinen Eltern abgehandelt hast, weil dein Gärtner unbedingt wen brauchte, die ihm beim Bestellen der Beete hilft und dafür auch ihr eigenes rosiges kleines Beet herzeigen musste, um nicht dauernd von ihm geprügelt zu werden? Na, komm zu mir und vereine dein unersättliches Fleisch mit diesem Leib!"

"Vade retro, Filia diaboli! Vade retro in nomine patris et filii et spiritus sancti!"

"Nec vado nec fugo!" rief die Magd zurück. Ja, sie war eindeutig besessen. Denn die Bauernweiber, die bei ihm als Mägde anschafften, konnten gerade mal genug Latein, um die Gottesmutter anzurufen. So versuchte es der Baron nun mit dem Ave Maria. Dabei war ihm, als quetsche ihm jemand mit unsichtbarer Hand seine privatesten Teile zusammen. Er schrie auf. Die auf ihn zuschreitende Gartenmagd lachte überlegen.

"Diese von wem auch immer mit einem unverbesserlichen Friedensprediger geschwängerte Magd kann und wird dich nicht mehr beschützen. Du hast all die Ziele verraten, die der von ihr geborene Wanderpriester verkündet hat. Deshalb gehörst du jetzt mir. Und wenn du deine letzte Möglichkeit zur lustvollen Vereinigung mit einem Weib nutzen willst, so werde ich mein letztes Versprechen nun wahrmachen, dass auch über meinen leiblichen Tod hinaus gilt, Auguste Dixarbres. Und dann werde ich mit meinen drei Schwestern ausziehen, jenes von dir aufs Lager befohlene Weib zu finden und ihm deine ungeborene Brut zu entreißen, auf dass niemand deines Blutes mehr in dieser Welt verbleiben möge."

Der Baron kämpfte gegen die ihn an die Wand drängende Kraft an. Doch sie blieb unbarmherzig. Dann war die von ihm geschändete und zum Tode verurteilte Hexe im Körper einer seiner Hausmägde auf Armreichweite heran. Sie kniete sich vor ihm hin, schlug den Saum seines Nachtgewandes hoch und griff an seine empfindlichsten Körperteile. Der Baron fühlte nun dieselbe Hilflosigkeit, die er der Hexe Aurélie eingejagt hatte. Jeder Versuch, sich gegen die übernatürliche Kraft zu stemmen, die ihn an die Wand drängte, geriet zum Fehlschlag. Er fühlte, wie sich die im Körper der Gartenmagd steckende Hexe an ihm zu schaffen machte, als wolle sie ihm ganz und gar große Lust bereiten. Doch er wusste, dass sie ihn nicht beglücken, sondern grausam bestrafen wollte. Trotz der unbändigen Angst und dem Widerwillen, von dieser groben Bauersfrau berührt zu werden, fühlte er doch, wie seine Männlichkeit immer mehr angeregt wurde. Die von harter Arbeit schwieligen Hände bereiteten ihm immer mehr Lust. Dann, kurz vor Erreichen der höchsten Wonne, packte sie mit unmenschlicher Kraft zu. Der Baron schrie laut auf, als unbändige Schmerzen durch seinen grausam verstümmelten Leib jagten. Dann sah er, wie aus dem zum lauten Lachen aufgerissenen Mund der Gartenmagd ein weißer Dunst quoll, der sich vor dem Baron ausbreitete und zu einer erst nebelhaften und dann klar erkennbaren Erscheinung wurde. Der Baron, durch Angst und Schmerzen sowieso schon an den Rand des Wahnsinns getrieben, erkannte vor sich die vom Mondlicht durchschienene Gestalt einer nackten Frau, um deren Hals ein haarfeiner, silbriger Einschnitt verlief. "Und jetzt, wo du selbst weniger als ein Knabe bist, spüre es, wie ich in dich eindringe, unwerte Brut eines einst großen Magiergeschlechtes!" hörte er die leicht verschwommen klingende Stimme einer hasserfüllten Frau, die Stimme Aurélies. Dann prallte die aus dem Mund der nun wie vom Donner gerührt vor ihm knieenden Magd entschlüpfte Erscheinung auf ihn. Er fühlte es wie den Rammstoß mit einem vom Winter gekühlten Amboss. Er wusste nicht, ob es nun der ihn verschlingende Wahnsinn oder wahrhaftig mit anzusehendes war. Denn er sah durch die offene tür drei weitere über dem Boden dahinschwebende Erscheinungen hereingleiten. Sie schimmerten perlweiß. Doch der Mond durchdrang sie mit seinen Strahlen wie hauchdünnen Nebel. Sie glichen sich alle wie ein Ei dem anderen. Er hörte in der Ferne laute Schreie, Schreie von Angst und aufkommendem Irrsinn befallener Frauen.

"Sein Leib bietet uns genug Platz, Schwestern", hörte er Aurélies Stimme wie in seinem Kopf, während sein Körper von einer unerträglichen Kälte erstarrt an der Wand stand. Da schnellten die drei anderen gespenstischen Erscheinungen laut lachend auf ihn zu und stießen mit ihm zusammen. Er hörte das triumphierende Lachen nun in seinem Kopf, während sein Körper schlagartig ertaubte. Seine Sinne verloschen hinter einem Vorhang aus Finsternis und Stille.

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Es war wie ein Böser Traum. Nur dass derselbe böse Traum von vier redlichen Hausmägden zugleich geträumt wurde. Erst hatten sie alle sich in den Leibern der vier ihrer Herrinnen beraubten Stuten wiedergefunden. Dann waren sie auf einen Schlag wieder in ihre eigenen Körper zurückgekehrt, nur um zu erkennen, dass sie wohl gerade unverzeihliche Bluttaten verübt hatten. Jeannette hatte sich vor dem Bett des in seinem eigenen Blut dahinscheidenden Wachhauptmannes Aldo wiedergefunden, das mit Blut besudelte Messer noch in der rechten Hand haltend, während ihre Linke etwas hielt, was sie sofort einen lautstarken Entsetzensschrei ausstoßen ließ. Sie erbebte und starrte auf das, was mit ihrem Leib gerade angestellt worden war. Sie hörte noch Aldos letzten, schmerzgepeinigten Atemzug. Dann schwanden ihr die Sinne.

Wie Jeannette erging es auch Josephine und Anne, die vor den Bettstätten Jeans und Miros ihre Körper zurückerhalten hatten. Am Schlimmsten aber war es für die Gartenhilfe Adele. Als diese ihren eigenen Körper wiedererhielt starrte sie auf einen einzigen großen Eisblock, der die Gesichtszüge des Schlossherren zeigte. In ihren Händen hielt sie etwas noch warmes, blutiges. Als sie erkannte, was es war übersprang ihr Herz gleich zwei Schläge. Ihre Augen flatterten, und eine Woge aus Furcht, Schuld und Ekel spülte ihren Verstand fort. Erst nach fünf langen Schreien überkam sie eine gnadenvolle Ohnmacht.

Die vier Schwestern hatten, nachdem sie vier arglose Mägde zu Erfüllungsgehilfinnen ihrer Rache gemacht hatten, vier weitere junge Mädchen mit ihren durch den zeitgleich erlittenen Tod gestärkten Seelen in Besitz genommen und die ursprünglichen Seelen in die Körper ihrer vier treuen und durch Verbindungszauber an sie gebundenen Pferde gedrängt. In dieser Form wollten sie aufbrechen, um sich nach dem Verbringungsort Maries zu erkundigen. Denn aus der Körper- und Seelendurchdringung ihrer lebenden Opfer hatten sie erfahren, das Auguste Dixarbres eine sehr junge Magd dazu gezwungen hatte, ihm zu Willen zu sein und dass sie von ihm deshalb ein Kind trug. Deshalb hatte der Baron sie aus dem Schloss und aus dem Land schaffen lassen. Doch wo genau hin, dass hatte keiner der hier lebenden und arbeitenden gewusst. Doch Aurélie hatte erfahren, dass sie in der weit entfernten Stadt Paris den Mittelsmann finden würden, der seine Gehilfen ausgesandt hatte, die ohne Liebe zur baldigen Mutterschaft gebrachte Magd zu verschleppen.

Mit der durch bei ihrem Tod freigewordenen Zauberkraft, feste Körper und Luft durch ihre Gedanken zu bewegen, töteten sie alle Dienstboten und Wachen. Niemand sollte berichten, was hier geschehen war. Dann gingen sie in den Pferdestall und versuchten, die vier ausdauernden Stuten zu satteln. Die in diese verbannten Seelen der vier in Besitz genommenen Mägde leisteten heftigen wiederstand. Aurélie und ihre vier Schwestern merkten, dass sie sich wohl zu sehr verausgabt hatten. Mit den auf feste Körper wirkenden Kräften konnten sie die vier veränderten Pferde nicht bändigen. Überhaupt fühlten sie eine gewisse Erlahmung ihrer Kräfte. Offenbar bekam ihnen die zeitweilige Inbesitznahme magielos geborener Körper nicht so gut. Sie ließen davon ab, die vier umbeseelten Pferde zu satteln und nahmen statt dessen vier andere Pferde. Diese fühlten zwar die unheimliche Ausstrahlung einer widernatürlichen Daseinsform, ließen sich aber besser ergreifen, weil sie anders als die magisch gezüchteten Pferde nur die halbe Kraft aufboten.

Als jedoch die vier ergriffenen Pferde mit den auf ihnen sitzenden vier Schwestern in den Körpern junger Schlossmägde aus dem Château Dixarbres hinaustrabten, überkam sie so große Angst, dass sie durchgingen. Aurélie konnte das von ihr gerittene Pferd nicht mehr daran hindern, in einen Abgrund hineinzustürzen. Sie wünschte sich umgehend, den von ihr besetzten Körper abzulegen und sah diesen mit dem wild schreienden Pferd unter sich wegfallen. Auch ihre drei Schwestern hatten kein Glück. Ihre Tiere sprengten blind vor Furcht über einen Grat und stürzten ebenfalls in die Tiefe.

Als die zu ihren Tod überdauernden Erscheinungen gewordenen Vierlingsschwestern in ihrer feinstofflichen Daseinsform über dem Abgrund schwebten sagte Aurélie:

"Dann suchen wir eben so nach dieser Marie und bringen sie dazu, sich mit dem Balg des wertlosen Nachkommen genauso in einen Abgrund oder ein tiefes Gewässer zu stürzen. Keiner ohne magisches Blut vermag uns zu erspähen, und wir können uns auch gegen den Blick magischer Augen verhüllen. Also suchen wir."

Die vier wollten gerade davonschweben, um nach der Magd Marie zu suchen, als sie unvermittelt die Nähe eines lebenden Menschen spürten, der ihnen vertrauter war wie sonst keiner. "Meine Töchter, wo seid ihr!" rief eine Stimme sie an. Sie wandten sich um und sahen eine Frau in der Tracht einer Ordensschwester, deren Gesicht denen der vier Schwestern so sehr glich, dass kein Zweifel aufkommen konnte, dass diese scheinbare Klosterfrau die Mutter der vier war. Als die mit dem Habit einer frommen Ordensschwester bekleidete die vier Geistererscheinungen ansah blickte sie sehr ernst und schuldbewusst.

"Also hat der Herr dieses Schlosses euch alle vier richten lassen", seufzte sie. "Und das alles, weil ihr um meinen Verbleib besorgt wart."

"Wir haben ihn und seine Lakeien und Küchenmägde bestraft, Mutter", sagte Aurélie. "Doch er hat vorher noch ein Kind gezeugt, einen Bankert. Die Mutter hat er verstoßen und von gedungenen Schurken nach der Insel England schaffen lassen. Sie müssen wir noch finden und ihr das unrechtmäßig aufgebürdete Stück Fleisch entreißen, auf dass dieser Schwächling kein eigen Fleisch und Blut mehr in dieser Welt hinterlässt."

"Was ist euch widerfahren, meine Töchter? Kündet es mir, bevor ihr auf weitere Vergeltung ausgeht!" verlangte Eloise Beaurivage, die Geschichte von ihren Töchtern zu hören.

Als die vier ihrer Mutter alles berichtet hatten sagte diese: "Wenn es sich so verhält, dass die Mutter nimmer mehr in dieses Land zurückkehren darf, so wird sie das ihr aufgezwungene Kind wohl nicht behalten, und es wird mit nichten offenbart, wessen Frucht es ist. Somit wird es wohl frei von jeder Schuld seines Vaters wachsen und gedeihen. Wollt ihr nach so vielem unschuldigen Leben, dass ihr bereits aus der Welt getilgt habt auch das Leben eines ungeborenen Kindes auslöschen?"

"Durch sein Blut ist es schuldig, auch wenn es von seinem Vater nimmer Kunde erhält. Es wird weitere Nachkommen dieses wertlosen, irrwegigen Mogglers hervorbringen. Wir haben geschworen, dass die Blutlinie des Auguste Dixarbres mit ihm zusammen erlischt. Disen Schwur werden wir erfüllen."

"Das verbiete ich euch. Ein unschuldiges Kind zu töten ist nur das Ding der Macht über Lebende erstrebenden. Womöglich gelingt es mir, euch zu helfen, in die Welt der Vorausgegangenen hinüberzutreten, um dort den ewigen Frieden zu erlangen. Wenn ich schon durch meine Vorkehrungen dazu beitrug, dass ihr weit vor der Zeit eure gesunden Körper verlieren musstet, so möchte ich doch noch ein letztes mütterliches Werk tun und euch in die Gefilde der Vorausgegangenen hinüberhelfen, wie ich euch aus meinem Leib in diese Welt gebar.""

"Warum hast du dich unseren Ruf verweigert?" wollte Brigitte wissen, deren blick ein reiner Vorwurf war. Eloise versuchte, es ihren zu Geistern gewordenen Töchtern zu erläutern, was sie umtrieb. Dann sagte Aurélie:

"So haben wir Shmach, Schande und Pein nur deiner auf Ruhm und Macht ausgerichteten Taten zu verdanken, Mutter? Dann hast du uns also nicht nur das Leben gegeben, sondern auch den Tod gegeben. So weiche vor uns und entschwinde, um mit dieser ewigen Schuld bis zum Ende deines Lebens schwanger zu gehen!" Brigitte und die beiden weiteren Schwestern Aurélies nickten und machten wegscheuchende Handbewegungen mit ihren durchsichtigen Geisterhänden.

"Und was, wenn ihr den letzten Abkömmling des zur Magieunfähigkeit verurteilten Nachfahren der Dixarbres-Sippe getötet habt? Dann seid ihr mit unsühnbarer Schuld beladene Seelen, dazu verdammt, rast- und heimatlos umzugehen. Ladet nicht noch mehr Schuld auf euch!"

"Wir erfüllen nur ein Versprechen, Mutter. Wenn wir den letzten Erben dieses Frauenschänders aus der Welt getilgt haben werden, werden wir fortan unser Dasein mit hilfreichen Taten erfüllen und somit alle Schuld abbüßen, die wir durch den Tod von unschuldigen Menschen aufgeladen bekommen haben sollten. Also geh nun deiner Wege und lebe fortan mit deinem Gewissen, wie wir unseren Schwur erfüllen."

"Nein, das werde ich nicht zulassen", sagte Eloise. "Ihr bleibt hier oder sucht mit mir einen Weg in die Welt der Vorausgegangenen."

"Du weißt, dass wer einmal beschloss, nach dem Tod in der Welt der Lebendigen zu verweilen, dem die Pforte zur Welt der Vorausgegangenen verschlossen bleibt, Mutter. Und du kannst uns nicht dazu verdammen, an diesem Ort zu verbleiben, weil wir vier mächtiger sind als vier übliche Gespenster. Wir sind zeitgleich zum Leben erwacht und auch im selben Augenblick unserer lebendigen Körper entrissen worden. Du weißt, was das heißt, Mutter?" wandte sich Aurélie an die Hexe, die sie und ihre drei Schwestern vor gerade fünfundzwanzig Jahren geboren hatte.

"Ja, das weiß ich wohl. doch mir bleibt ein Mittel, euch von eurer blindwütigen Rache abzuhalten."

"Welches wäre es, Mutter?" wollte Désirée wissen.

"Das Sacrificium gratiae ultimae." Die vier Geisterfrauen sahen die Lebendige mit großen Augen an. Dann mussten sie lachen. "Dazu werden wir dich nicht kommen lassen!" rief Aurélie. Eine Kopfbewegung reichte, um ihre Schwestern dazuzubringen, anzugreifen.

Vier perlweiße Schemen schossen aus vier Richtungen auf die Frau in der Nonnentracht zu. Diese jedoch wirbelte mit erhobenem Zauberstab auf der Stelle herum und verschwand. Laut schreiend prallten die vier Gespensterfrauen an der Stelle zusammen, wo einen Lidschlag zuvor ihre lebende Mutter gewesen war. Dabei flogen ihre nur locker auf den Hälsen sitzenden Köpfe in alle vier Himmelsrichtungen davon, während ihre Geisterkörper zu einer einzigen, bald drei Ellen durchmessenden Kugel zusammengeballt wurden. Die vor Wut und Enttäuschung heulenden Köpfe flogen derweil immer weiter und weiter fort. Erst mehr als zweihundert Schritte entfernt landeten sie auf dem Boden und sanken darin ein. Die zu einer Kugel zusammengeballten Körper erzitterten. Der wie eine kreisrunde Nebelwolke beschaffene Verbund aus vier kopflosen Geisterkörpern blähte sich auf und zog sich zusammen. Dann zerriss er lautlos in vier wild umherwirbelnde weiße Dunstgebilde, die sich zu kopflosen Frauenkörpern zusammenfügten. Ohne ihre Köpfe in unmittelbarer Nähe trieben die vier Geisterschwestern umher, bis sie auf Grund der Nachtodverbundenheit zwischen Geisterleib und abgetrennten Körperteilen erspürten, wo der zu jedem Körper passende Kopf gerade verweilte. Bis sie dann ungeachtet fester Hindernisse und Bodenunebenheiten endlich ihre abhandengekommenen Häupter wiederfanden und jede ihr eigenes Haupt auf dem Hals trug, verstrichen mehrere Viertelstunden. Diese Zeit reichte Eloise völlig aus.

Die Mutter der nun zu ewiger Ruhelosigkeit verurteilten Vierlinge war nicht in ihr eigenes Haus appariert. Nein, sie musste und würde die vier Schwestern in der Nähe ihres Todesortes bannen müssen. Denn nur ddieser Ort und ihr lebendiger Körper zusammen konnten den einer unschuldigen Frau aufgezwungenen Erben eines Hexenmörders vor der Rache dessen Opfer bewahren. Sie wusste, dass sie den dauerhaften Bann nur aufrecht erhalten konnte, wenn sie diesen mit einer Bedingung verknüpfte. War es sonst möglich, dass der Vater oder die Mutter eines vorzeitig und gewaltsam getöteten Kindes, das jedoch nicht in die Totenwelt hinübergehen konnte oder wollte, durch das Opfer des eigenen Lebens mit in die Welt der Vorausgegangenen hinübertragen konnte, war es in diesem besonderen Fall nicht möglich. Denn weil die vier Schwestern durch die gleiche Länge ihres Lebens eine Besonderheit darstellten, konnte sie sie nicht in die Welt der Vorausgegangenen hinübertragen. Sie konnte sie nur zurückhalten, solange eine bestimmte Bedingung, die sie bei ihrem Ritual laut benennen musste, unerfüllt blieb.

Eloise hatte sich auf den Gipfel jenes Berges versetzt, von dem aus das Château Dixarbres gerade noch zu erblicken war. Denn sie musste das Schloss sehen, um es in ihre letzte Zauberei einzubeziehen. Dann nahm sie ihren Zauberstab und begann das Ritual des letzten Gnadenopfers, mit dem ein Elternteil sein zu früh verstorbenes Kind über die letzte Schwelle tragen konnte, wenn es weit vor der Zeit getötet worden war und nicht aus eigener Kraft hinübergehen konnte:

Laut hallten ihre Worte, während sie aus mit einem Messer an genau bestimmten Körperstellen beigebrachten Wunden Blut vergoss und damit im Uhrzeigersinn eine Spirale auf dem Boden beschritt, die immer weiter auslief. Dabei murmelte sie immer wieder lateinische Zauberwörter, die die Gnade der Mutter beschrieben und den Wunsch ausdrückten, dass sie ihren Kindern ein letztes wertvolles Werk tun musste. Dann sagte sie in ihrer Muttersprache:

"Mit mir an diesem Ort verweilen,
nur in des Mörders Heimstatt eilen,
soll jede meiner Töchter nur
wenn sich erfüllet dieser Schwur.

Nur wenn ein Mensch von Mörders Fleisch und Blut erfüllt
oder das Weib das war gewillt
die Linie weiter fortzuführen,
ganz frei gewillt tritt durch die Türen
um zu ergreifen was vermacht,
den Unmut meiner Töchter neu entfacht.

Sollt einst ein solcher Mensch es wagen,
des Mörders Fleisch und Blut in dessen Heimstatt tragen,
So sei verfallen er der Kraft,
die keimte auf, als meine Töchter hingerafft!

Danach vollzog sie die letzten rituellen Handlungen, wobei sie besang, dass sie die Mutter der vier ruhelosen Schwestern war. Sie hätte jetzt schon alle vier in ihre Nähe ziehen müssen. Doch offenbar würde es erst geschehen, wenn sie selbst ihr Leben gab. So richtete sie den Zauberstab ganz zum Schluss auf ihr eigenes Herz und sprach die abschließenden Worte:

"Hic et nunc vitam meam sacrificio pro amimae filiarum mearum! Executo Incantato!"

Schlagartig erglühte Eloises Körper in einem roten Schein. Sie fühlte, wie aus ihrem Herzen Kraft in ihren Zauberstab überfloss und aus ihrer Hand selbst zu wilden Funken wurde, die entlang der Spiralwindungen flogen und blutrote Linien bildeten, die zu immer höheren Wänden wurden. Eloise fühlte, wie sie immer schwächer wurde. Sie fürchtete schon, dass sie diesen letzten Zauber vollkommen umsonst gewirkt hatte und er gegen die vereinte Kraft der vier Schwestern nichts auszurichten vermögen würde. Da hörte sie aus weiter Ferne laute Schreie von vier Frauen. Sie sah über sich den Berghang wanken. Die vier Geisterfrauen wurden schneller als jeder Laut zu ihr hingezogen. Sie versuchten, den Ankerpunkt der sie herbeizwingenden Magie durch gemeinsame Telekinese zu zerstören. Doch es war schon zu spät. Als der Boden unter Eloise Risse bekam, die zu immer breiteren Spalten auseinanderklaften, flogen die Vier Schwestern in die äußeren Spiralwindungen hinein und wurden von diesen immer weiter nach innen gezogen. Dabei schrumpften sie zu glühenden Kugeln zusammen. Als sie in dieser Form wie faustgroße Kugelblitze in den Körper ihrer Mutter einschlugen, brach der Boden auf, und Eloise stürzte in einen mehr als acht Klafter tiefen Erdspalt hinein. Die glühende Spirale zog sich im selben Moment laut Fauchend zusammen und drehte sich in den fallenden Körper hinein. Eloise bekam davon nichts mehr mit. Denn sie war in diesem Augenblick aller Lebenskraft beraubt worden. Die von ihr herbeizitierten vier Schwestern schafften es nicht, gegen diese auf sie wirkende Kraft anzukämpfen. Sie verfielen in eine Art Tiefschlafzustand, während sich die aufgewühlte Erde über dem durch den Zauber völlig skelettierten Körper ihrer Mutter wieder schloss.

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12. November 2001

Julius fand am Morgen dieses Tages zwei Rundschreiben auf seinem Schreibtisch. Das erste stammte von Madame Grandchapeau und war eine Anfrage an alle Abteilungen, die muggelkundlich vorgebildete und/oder erfahrene Mitarbeiter beschäftigten, ob es am Ende des laufenden Kalenderjahres möglich sei, sämtliche Mitarbeiter mit entsprechenden Vorkenntnissen zu einer Informationsveranstaltung in das Büro für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie zu entsenden. Zur Begründung dieser Veranstaltung wurde zum einen die weltpolitische Lage herangezogen, die es unumgänglich machte, wegen der aufkommenden Hysterie und daraus resultierenden Überwachungsambitionen mehr mit muggelweltlicher Fernverständigungstechnik vertraute Ministeriumsmitarbeiter zu beschäftigen und zum anderen, dass die dieses Büro im kommenden Sommer wegen personeller Umstellungen um mindestens zwei weitere Innendienstmitarbeiter, gerne aber auch viermal so viele Außendienstmitarbeiter aufgestockt werden sollte. Das zweite Rundschreiben kam aus der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit und betraf die Abstimmung von Maßnahmen gegen transnationale magische Verbrecher. Das zielte wohl auf die Aktivitäten eines gewissen Lord Vengor ab, schlussfolgerte Julius. Am Ende mochten diese beiden Anliegen ihn persönlich betreffen.

Monsieur Delacour hatte die Rundschreiben wohl auch schon gelesen und meinte: "Da werden wir wohl alle große Schwierigkeiten bekommen, wenn die Kollegen aus den anderen Abteilungen es beim Minister durchsetzen sollten, dass gerade die Kollegen, die die erbetenen Vorkenntnisse mitbringen, gleichzeitig auch die sind, die für ihre jeweiligen Dienstposten besondere Aufgaben zu erfüllen haben." Julius verbiss sich eine gesprochene Antwort. Er nickte nur.

Gegen elf Uhr Vormittags - Julius war gerade dabei, die eingegangene englischsprachige Korrespondenz zu übersetzen - flogen zwei bunte Memoflieger durch die dafür vorgesehene Klappe. Einer schwirrte zum Schreibtisch des Bürovorstehers, den Pygmalion Delacour gerade belegte. Der zweite kam auf Julius' Schreibtisch auf und schlidderte den Rest des Weges vor seine Nase. Julius nahm den zwischen den Flügeln steckenden Zettel und las:

Sehr geehrter Monsieur Latierre,

sofern Ihr derzeitiger Bürovorsteher meine Anfrage positiv bescheidet bitte ich Sie mir sowohl als Übersetzer als auch Kenner der britischen Zauberergesellschaft, einen mir vor einer Viertelstunde vorgelegten Sachverhalt zu notieren und mir bei der Bearbeitung hilfreich zu sein. Da durch den alle vier Jahre stattfindenden Kongress der Geisterwesenkundler, der diesmal im britischen Zaubererdorf Hogsmeade zusammentritt, mein Vorgesetzter mir die Gesamtleitung seiner Dienststelle anvertraut hat.

In der Hoffnung, Sie in wenigen Minuten in Monsieur Beaubois' Amtszimmer begrüßen zu dürfen verbleibe ich

Mit freundlichen Grüßen

Mme. Adrastée Ventvit

"Öhmm, Monsieur Latierre. Dieses Memo stellt eine Eilanfrage aus der Geisterbehörde dar. Dort selbst möchte man auf Ihre Sprach -und Landeskenntnisse zurückgreifen. Bevor ich diesen Eilantrag in irgendeiner Weise beantworte möchte ich von Ihnen wissen, ob Sie mit der derzeitig dort die Leitung versehenden Kollegin eine inoffizielle Absprache getroffen haben, über Sie verfügen zu können, wenn Bedarf besteht?" Julius schüttelte den Kopf. Sicher, seit der Sache mit dem herummarodierenden Luftdschinn, bei dem Julius zusammen mit Ornelles im Geisterjägeraufgebot der Gespensterbehörde arbeitenden Nichte Seite an Seite den Körper und Seelen verschlingenden Luftgeist wieder eingefangen hatte hielten sowohl Geisterbehördenchef Simon Beaubois als auch erwähnte Madame Adrastée Ventvit ein Auge auf ihn. Doch dass er statt mit Riesen und Meerleuten lieber Fangen mit Dschinnen, Gespenstern und anderen nicht lebenden Wesen spielen wollte hatte er mit keinem Wort erwähnt. Da Pygmalion Delacour den Vorfall von damals ja mitbekommen hatte nickte dieser und erwiderte: "Nun, wir erwarten jeden Moment einen Boten aus der Ostlandgruppe. Da Sie ja auf Betreiben Mademoiselle Ventvits und Mademoiselle Maximes zum persönlichen Kontakter zwischen unserer Behörde und der ehemaligen Schulleiterin von Beauxbatons erklärt wurden, sollten Sie diese Unterredung schon mitverfolgen. Ich werde Madame Ventvit einen entsprechenden Vorbehalt in meine positive Erwiderung auf ihre Anfrage einfügen. Bitte warten Sie, bis ich das entsprechende Formular ausgefüllt habe!"

Julius wartete und staunte. Denn in nur drei Minuten hatte Fleurs und Gabrielles Vater ein mehrere Felder umfassendes Formular ausgefüllt und unterschrieben. Julius sollte noch im Feld "Amtshilfebeauftragte(r)" unterschreiben. Im Feld "Amtshilfeerbittende(r) sollte noch Madame Ventvit unterschreiben. Pygmalion machte eine magische Kopie von dem Formular. Diese drückte er Julius in die Hand. Wie hatte Mel Whitesand so schön gesagt? "Bürokratie, verlass mich nie!"

Mit der Kopie in der Hand ging Julius schnell aber gesittet durch die Flure zwischen den Büros zum Amtszimmer des Geisterbehördenchefs. Er klopfte an. Die geisterhafte Fratze auf der Tür unter dem Schild stöhnte: "Bitte eintreten!" Julius grinste nur. Dann riss er sich zusammen und öffnete die Tür.

Wie hatte er sich das Büro eines Geisterwesenüberwachungschefs vorgestellt? Vielleicht so ähnlich wie das, was er hier gerade sah. An den Wänden hingen Bilder mit düsteren Burgen, sogar eines, dass eine schaurige Hinrichtungsszene vor Erfindung der Guillotine darstellte. Immer wieder wurde einem Mann im dunklen Umhang der Kopf mit einem Schwert abgeschlagen. Nichts für schwache Nerven, dachte Julius, als er zu allem noch das Bild eines Schiffes mit zerfetzten blutroten Segeln sah, an dessen Rahen ein Dutzend Skelette mit Schlingen um ihre Halswirbel hingen. Darüber hinaus gab es einen ebenholzfarbenen Schreibtisch, sechs blassblaue Stühle und einen schwarz-silbernen Sessel. Im Sessel saß Adrastée Ventvit. Auf einem der sechs halbkreisförmig um den Tisch gruppierten Stühle saß eine füllige Frau in einem Wacholderbeerenfarbenen Umhang, die schon so umfangreich war, dass sie gut und gerne auf zwei Stühlen hätte platz nehmen können. Ihr graublondes Haar war hochgesteckt. Als Julius eintrat wandte sie dem Ankömmling den Kopf zu. Durch die silbernen Brillengläser blickten ihn zwei dunkelbraune Augen abschätzig bis Abweisend an. Julius erkannte die Besucherin genauso wie diese ihn. Immerhin konnte er sich noch an alles erinnern, was er an dem Tag erlebt hatte, wo er sie zum ersten mal wenn auch nur aus etlichen Metern Entfernung gesehen hatte.

"Ah, wunderbar, Monsieur Latierre, mein Englisch stößt langsam an seine Grenzen. Öhm, hat Ihr zeitweiliger Vorgesetzter Ihnen ...? Danke!" Julius winkte mit dem Formular und übergab es wortlos. Madame Ventvit las es, unterzeichnete es und kopierte es auf magische Weise. Dann griff sie eine bunte Papierkonstruktion, klemmte die Kopie des Formulars zwischen dessen Flügel. Dann schrieb sie mit einer winzigen Feder etwas an die Konstruktion und warf sie in die Luft. Schnurstracks sauste der bunte Memoflieger durch das Büro, durch die sich vor ihm auftuende und hinter ihm wieder verschließende Klappe hindurch und war fort.

"Monsieur Latierre, dies ist Mrs. Bon'am aus üpper Flagley", stellte Madame Adrastée die Besucherin in sehr akzentlastigem Englisch vor. Julius verhielt sich so, als würde ihm die Dame heute zum ersten Mal vorgestellt.

"Bon-hhhamm, Mädämm", schnarrte die Besucherin. Dann sah sie Julius an: "Natürlich ist mir bekannt, wer Sie sind, junger Mann", setzte sie in einem einwandfreien Yorkshier-Akzent fort. "Nur war mir nicht bekannt, dass Sie in einer Unterbehörde der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe tätig sind." Julius überhörte mit mittlerweile eingeübter Professionalität den verächtlichen, ja biestigen Unterton. Adrastée deutete auf einen Stuhl, der so stand, dass er die beiden Hexen gut im Blick hatte und diese ihn ohne sich verrenken zu müssen ansehen konnten. Er nahm Platz. Dann fuhr Madame Ventvit in ihrem wohl lange nicht mehr geübten Englisch fort, dass Madame "Bon-hhhammm" vor zwanzig Minuten das Geisterwesenbüro aufgesucht habe, um eine Anzeige wegen sie belästigender ja bedrohender Gespenster zu erstatten. "Mehr 'abe isch nicht verstanden. Darüm 'abe isch üm Ihr Erscheinen gebeten, Monsieur Latierre.""

"Dann wünschen Sie, dass ich für sie beide Übersetze?" fragte Julius fast schon überflüssigerweise. Doch weil er ja auch die korpulente Besucherin fragte war es nicht überflüssig.

"Wenn es hilft, diese vier nackten Nachtgespenster in ihre Schranken zu weisen und mich meinen verdienten Urlaub genießen zu lassen sei es", spie die Hexe auf dem Besucherstuhl aus. Julius schluckte die Frage hinunter, was er der Frau des St.-Mungo-Chefheilers getan hatte, dass sie ihn derartig anfauchte. Vielleicht bekam er das bei einer sachlichen Befragung zu hören. So fragte er erst seine Kollegin, welche Angaben sie benötige und dann, ob er ein Protokoll verfassen sollte. "Das müsste zweisprachig abgefasst werden", sagte die derzeitige Geisterbehördenleiterin. Julius verstand. Als ob sie mal geahnt hätte, dass er einmal mit zwei von ihnen gleichzeitig schreiben musste, hatte ihm seine Schwiegermutter zum 19. Geburtstag eine zweite Flotte-Schreibe-Feder geschenkt. So konnte er erst die von Marita Hollingsworth geschenkte vorbereiten und dann noch die von seiner Schwiegermutter. Bei der ersten sprach er die Testzeile auf Englisch. Bei der zweiten auf Französisch, wobei er die erste sicher über dem Pergamentblatt hielt. Dann sagte er: "Wir können, die Damen." Als die für Englisch schreibende Feder auf Englisch und die für Französisch zuständige in Französisch diese Worte abschrieb wandte er sich an die Besucherin:

"Wie lautet bitte Ihr voller Name, Madam?"

"Olive Gladys Jennifer Bonham geborene Hornby", grummelte die Besucherin. Adrastée machte eine kurze Unterbrechungsgeste zu den Schreibefedern hin, Julius hielt die beiden magischen Mitschreibhilfen sachte fest, damit sie nicht weiternotierten.

"Bitte nischt so bösartischsch, Madame. Sie wollen 'ilfe von ünß", wies sie die Besucherin darauf hin, etwas mehr Respekt und Zurückhaltung zu üben. Dann nickte sie den festgehaltenen Federn zu. Julius setzte sie wieder korrekt auf und nickte zur Bestätigung.

"Ich habe gelernt, es sei indiskret, eine Dame nach ihrem Alter zu fragen, doch ich benötige für die Akten Ihr genaues und wahrheitsgemäßes Geburtsdatum, Mrs. Bonham", baute Julius vor und sah sie dabei ganz ruhig an. Offenbar hatte Mrs. Bonham mit einer derartigen Frage gerechnet und zischte: "Einundzwanzigster Mai 1927." Julius hätte fast ausgestoßen, dass dies der Tag war, an dem ein gewisser Charles Lindberg den ersten Direktflug von New York bis Paris geschafft hatte. Doch das spielte hier überhaupt keine Rolle. So fuhr er mit der Erhebung der Personaldaten fort, mit wem Mrs. Bonham verheiratet sei, worauf er ein "Wissen Sie doch. Sie selbst haben mich doch an diesem unglücksseligen Tag mit meinem Mann in Upper Flagley gesehen, wo sie mit dieser Giftpanscherin und dieser Werwölfin am selben Tisch gesessen haben." Julius hatte schon die Hände über den Mitschreibefedern, doch dann besann er sich, das einfach mitschreiben zu lassen. So sagte er dann: "Dann ist es korrekt, dass Sie mit Professor Galenus Bonham verheiratet sind, der seit 1973 das St.Mungo-Krankenhaus für magische Krankheiten und verletzungen leitet?" Die Besucherin nickte wild. Julius bestand auf eine mündliche Erwiderung. "Ja, es ist korrekt. Ich bin mit Professor Galenus Bonham verheiratet. Und um gleich die nächste indiskrete Frage Ihrerseits zu beantworten: Ja, ich habe mit meinem Mann drei Kinder, Norman im Jahre 1958, Leonard im Jahre 1962 und Jennifer im Jahre 1964. Ja, und wir sind auch schon Großeltern", sprudelte Mrs. Bonham weiter und nannte auch die Namen der vier Enkelkinder, wobei die Tochter Jennifer bisher unverheiratet und Kinderlos geblieben war. Julius wartete, bis die Hexe alle nötigen Fragen beantwortet hatte. Dann fragte er noch, ob sie Geschwister oder Schwägerinnen und Schwäger habe. "Mein Bruder Orwille, Verheiratet mit einer Muggelfrau namens Susan, was fast in einen sehr unrühmlichen Vorfall ausgeufert wäre, weil mir dieses ... Im Moment nicht wichtig. Jedenfalls bin ich hier, um Sie und Ihre Behörde dringendst zu ersuchen, die Umtriebe von vier obszönerweise völlig unbekleideten Geisterfrauen mit abnehmbaren Köpfen zu ahnden und diesen den Verbleib am Orte ihres körperlichen Endes aufzuerlegen. In meiner Heimat wäre diese Maßnahme sofort ergriffen worden. Ich erwarte sehr stark, dass diese Autorität auch in Frankreich besteht."

"Okay, Monsieur Latierre. So weit war ich schon. Mrs. Bonham wollte mir die ganze Geschichte erzählen. Aber sie sprach zu schnell und verwendete mir unbekannte Wörter", sagte Adrastée. Da sie diesmal französisch sprach fühlte sich Mrs. Bonham veralbert und blaffte, dass sie "gefälligst" weiter versuchen sollte, zumindest für sie verständliches Englisch zu sprechen. Julius bewunderte die Kollegin, wie sie diesen verbalen Tiefschlag äußerlich gelassen wegsteckte. Dann übersetzte er, dass Madame Ventvit ihr Bedauern ausgedrückt habe, die genaue Ausführung des offenbar sehr unangenehmen Zusammentreffens mit gleich vier Gespensterfrauen nicht verstanden zu haben. Daher wolle er nun die entsprechenden Angaben notieren, um den Zusammenhang zu ermitteln um dann zielgerichtet und erfolgreich vorgehen zu können. Er hätte fast über sich selbst gelacht. Wo und von wem hatte er das gelernt, derartig einschleimend zu reden?

"Gut, da in diesem Haus offenbar kein anderer meiner Muttersprache ausreichend bewanderter Mitarbeiter aufzutreiben ist, so sollen Sie eben niederschreiben, was mir widerfahren ist und welche Forderungen ich erhebe, sofern ich diese nicht schon längst unterbreitet habe." Julius nickte und deutete auf eine Rolle Pergament, die er gerade mit den beiden Federn besetzte, damit sie mitschrieben.

"Da mein Gatte in einer sehr wichtigen Anstellung tätig ist und somit nicht über die nötige Freizeit verfügen kann, eine längere Ferienreise anzutreten, empfahl er mir in seiner Eigenschaft als Heiler, wider die bei mir zwischenzeitlich aufkommende Langeweile vorzugehen und eine Ferienreise ohne Familie zu machen. Warum meine Kinder und Enkelkinder mich auf eine solche Reise nicht zu begleiten wünschen fällt unter familieninterne Angelegenheiten und wird von mir hier nicht dargelegt. Ich entsann mich einer längeren Unterhaltung mit meinem seit fünf Jahren entschlafenen Schwiegervater, dass er es Zeit seines Lebens verabsäumt habe, die Spuren seiner weit zurückreichenden Ahnenreihe zu verfolgen. Mein Gatte nahm diese Aussage seines dahingegangenen Herrn Vaters zum Anlass, mich mit der Ausführung privater genialogischer Forschungen zu betrauen, da weder im Familienverzeichnis noch in anderen genialogischen Dokumentationen eine genaue Beschreibung unseres Ursprungs zu finden ist. Die Familienchronik meines Gatten beginnt zu dessen Leidwesen erst im Jahre 1349 mit der Geburt von Arcus Griffin Bonham, der es sogar zum Schulleiter von Hogwarts brachte." Julius nickte. Jetzt konnte er den Namen Bonham auch besser zuordnen. Arcus Griffin Bonham war einer der aus dem Haus Ravenclaw hervorgegangenen Schulleiter gewesen, so "Eine Geschichte von Hogwarts". "Jedenfalls", fuhr Olive Bonham fort, "bestand alles vor Arcus Bonham nur in Gerüchten, Andeutungen und Unterstellungen. Die größte davon war, dass der erste auf britischem Boden geborene Bonham mit Zauberkräften der uneheliche Sohn einer Hausmagd und eines niederen Adeligen aus Frankreich gewesen sein solle. Es wundert mich daher nicht, dass meine Schwiegerfamilie um ihre genaue Abstammung kein großes Gerede machte. Meinen Schwiegervater, meinen Gatten und mich interessierte es jedoch. Doch erst auf dem Sterbebett gab mein Schwiegervater Namen und Wohnsitz des angeblichen Urvaters preis. Hierbei soll es sich um den Baron Auguste de Dixarbres gehandelt haben, dessen legitime Blutlinie mit ihm endete. Zumindest ließ sich weder in der magischen noch der Muggelwelt ein Hinweis auf sein Geschlecht finden. Mehr noch, Erwähnungen über den Baron enden im Juni 1224, seltsamerweise im selben Zeitraum mit den Erwähnungen eines berüchtigten Raubritters, der in der Nachbarschaft des Barons gelebt und gewütet haben soll. Einige Historiker argwöhnten, dass die beiden Adeligen sich in einer blutigen Burgfehde gegenseitig ausgelöscht haben mochten und kein überlebender Zeuge vom Hergang dieses martialischen Ereignisses berichtet hat. Da war noch was, was meinen Gatten sichtlich erregte: Einige seiner Quellen behaupteten, der Baron Dixarbres sei der magieunfähige Nachkomme eines französischen Magisters der Zauberkunst, der ebenfalls Dixarbres geheißen haben soll und ein Hofmagus des französischen Königs gewesen sein soll. Daher war mir noch mehr daran gelegen, diesen Andeutungen nachzugehen, sie bestenfalls zu bestätigen oder endgültig zu verwerfen.

So begab es sich, dass ich gestern Mittag nach einer langwierigen Suche unter Benutzung von Wörterbüchern, in den Pyrenäen nahe der Grenze zu Katalonien in ein seit Jahrhunderten unbewohntes Dorf namens Beauxpierres kam ..." sie buchstabierte auf Julius' Nachfrage den Dorfnamen. "von dort aus konnte ich auf meinem Besen den Weg verfolgen, der zum Stammschloss der Dixarbres hinaufführte. Ein Großteil des Weges lag unter Felsgeröll begraben. Als ich den Schlosshof erreichte bot sich mir ein wunderliches Bild. Das Schloss wies keinerlei Spur von Verwitterung oder Verfall auf. Selbst die Bleiglasfensterscheiben waren staubfrei. Es wirkte alles auf mich, als sei das Schloss über all die Jahrhunderte unter einem die Zeit anhaltenden Zauber verborgen gewesn, was eigentlich unnmöglich ist. Nun, aber eben so wirkte das Gemäuer und seine Dachkonstruktion auf mich. Eigentlich, so ist mir nun klar, hätte mich dieser Anblick bereits lautstark warnen und zur Umkehr antreiben müssen. Doch zum einen wollte ich die Bitte meines Gatten erfüllen und innerhalb des Schlosses nach Spuren eines unehelichen Beischlafes mit unerlaubter Zeugung finden und zum anderen beschlich mich die Neugier, das Rätsel dieses wie neu erbaut wirkenden Schlosses zu ergründen. Also betrat ich den Schlosshof durch das Tor. Ich fand einen verlassenen Pferdestall. Anschließend begab ich mich durch das ebenso verwunderlich gut gehende Eingangsportal in das Hauptgebäude. Was ich dort fand erfüllte mich zunächst mit Ehrfurcht. Doch an die Stelle der Ehrfurcht trat wenige Minuten später die Furcht. War ich zunächst durch staubfreie, prachtvoll möblierte Räume und Säle gekommen, fand ich beim Ersteigen der ersten Marmortreppe das blanke Knochengerüst einer Frau mit geborstenem Schädel. In der rechten Hand hielt die Frau ein Fleischermesser, und ich kann es beeiden, dass an diesem Messer getrocknetes Blut klebte, als habe die Frau wenige Minuten zuvor ein Tier oder einen Menschen damit aufgeschnitten. Diese Entdeckung hätte ich als letzte Warnung erkennen und beachten müssen. Doch zu diesem Zeitpunkt erwachte mein innerer Trotz, mich nicht von solchen makabren Inszenierungen vertreiben zu lassen. Also durchsuchte ich das Schloss weiter.

Um es abzukürzen: Ich entdeckte weitere Skelette, Frauen und Männer, wobei die Männer in verkrampften Haltungen dalagen, als hätten sie einen sehr schmerzhaften Tod erlitten. In einem Zimmer fand ich das auf einem mit getrocknetem Blut besudelten Bett liegende Skelett eines Mannes. In der Decke steckte ein Schwert mit breiter Klinge. Als ich mir dieses näher besehen wollte erblickte ich in einer der Wände das Gesicht einer Frau, als sei sie in die Wand eingemauert worden. Das Frauengesicht blickte mich erst erfreut und dann verhasst an. Dann löste es sich einfach in Nichts auf. Ich sah nur eine blanke Wand. Jetzt kam ich darauf, diesen Ort auf die Anwesenheit dunkler Magie zu prüfen. Da erschloss es sich mir mit gnadenloser Macht, dass das gesamte Schloss von Magie, ja von dunkler Magie erfüllt war. Alle Wände, die Decke und der Boden waren mit einer auf meine Zauber ansprechenden Magie erfüllt, deren genauen Ursprung ich nicht ermitteln konnte. Als mir klar wurde, dass ich geradewegs in ein altes, von einem dauerhaften Fluch erfülltes Schloss eingetreten war, tauchten sie auf, vier vollständig unbekleidete Geisterfrauen. Sie schwebten auf mich zu, starrten mich an. Dann nahmen sie alle wie auf einen unhörbaren Befehl ihre Köpfe ab und hielten sie mir entgegen. Die Augen der Geisterfrauen blickten mich anklagend an. Gleichzeitig empfand ich etwas ... Öhm, ist vielleicht nicht so wichtig. Jedenfalls ..." Julius schüttelte den Kopf und unterbrach die Berichterstattung.

"Entschuldigung, Mrs. Bonham, bitte überlassen Sie dies meiner Kollegin und mir, welche Einzelheit wichtig ist oder nicht. Also was empfanden Sie bitte beim Anblick dieser Geisterfrauen?"

"Als wenn mir jemand meine Eingeweide bis zu meiner Scham mit eiskaltem Wasser erfüllt und dann mit einem kurzen schmerzhaften Brand wieder daraus ausgetrieben habe. Ich hielt dieses Gefühl für eine überreaktion meines Körpers auf den Anblick dieser Wesen und die Enthüllung, in einem verfluchten Gebäude zu sein. Jedenfalls begannen diese Gespensterfrauen, um mich herumzuschweben, kamen mir dabei immer näher. Sie warfen ihre Köpfe über mich hinweg, die dabei irgendwelche mir unbekannten Bokabeln schrien. Da ich nur Touristenfranzösisch sprechen kann verstand ich es nicht wörtlich. Doch die obszönen Gesten gegen meine Brüste und meinen Unterleib konnte ich nur so deuten, dass sie mich beleidigen wollten. Dann langte mir eine von diesen Geisterbiestern wahrhaftig ... dorthin, wo es niemandem gestattet ist, eine Dame zu berühren, der er nicht ordnungsgemäß angetraut ist und diese es im ganz privaten und vollkommenen Einvernehmen gestattet hat."

"Blieb es bei dieser unsittlichen Annäherung?" hörte Julius sich selbst ohne jedes Gefühl nachfragen.

"Leider nicht. Denn von dieser höchst undamenhaften Annäherung der einen angespornt, fühlten sich auch die drei anderen dazu berufen, mir wieder und wieder an meine privatesten Körperstellen zu greifen, ja ihre eisigkalten Geisterhände sogar in meinen Körper einzuführen. Ich konnte nur schreien. Diese Gespenster verlachten mich. Dann stießen die immer noch hin und her geworfenen Köpfe Schimpfwörter in lateinischer Sprache aus. Da ich diese Sprache zur Ergründung der Herkunft bekannter Zaubersprüche erlernt habe und wegen der Schwangerschaftsbetreuung und Geburtshilfe auch anatomische Begriffe lernte, die mit dem Körper einer Dame verknüpft sind, verstand ich diese Begriffe nun. Als die Geisterfrauen erkannten, dass ich sie nun verstand lachten die immer noch herumfliegenden Köpfe. Dann setzte sich eine von denen einen der Köpfe auf. Da diese Geisterfrauen sich vollständig glichen weiß ich nicht, ob es der ihr beim Verscheiden in der Geisterform verbliebene Kopf war oder der einer ihrer Schwestern."

"Nichts für ungut, Mrs. Bonham, aber diese Frauen sahen wirklich alle gleich aus?" hakte Julius nach. Mrs. Bonham grummelte, er solle besser zuhören oder die mitgeschriebenen Notizen nachlesen. Das wiederum verstand Madame Ventvit und herrshte Mrs. Bonham an, die Fragen so sachlich wie möglich und ohne andauernde Beschimpfung des Fragenden fortzusetzen. "Ja, diese vier Geisterbräute glichen sich wie ein Ei dem anderen, als wären es Kopien einer einzelnen Frau oder eineiige Vierlinge, was laut den Heilerberichten so gut wie unmöglich ist." Julius hätte ihr da fast einen Kurzvortrag über die seltensten Vorkommnisse bei Geburten heruntergebetet, von den jüngsten bis zu den ältesten Müttern der Zaubereigeschichte über Drillinge, die jeder für sich einen Geburtstag hatten aber auch, dass es zumindest in der niedergeschriebenen Geschichte der magischen Frauenheilkunde und Geburtshilfe zu fünf dokumentierten Geburten eineiiger Vierlinge gekommen sei, vor allem während des elften, dreizehnten und fünfzehnten Jahrhunderts. Allerdings waren die Kinder alles jungen gewesen. Weil er aber gerade eine art Zeugenverhör führte durfte er darüber nichts erzählen, um den Fluss der Befragung nicht zu unterbrechen.

"Für das Protokoll: Nennen Sie uns einige der von Ihnen herausgehörten lateinischen Schimpfwörter!" bestand Madame Ventvit auf eine Detailgenauigkeit, die der Befragten sichtlich zu wider war. Sie schüttelte erst den Kopf. Da sagte die Geisterbehördenbeamte: "Wenn Sie wollen, dass wir den Ursprung, die Lebensgeschichte und den Tod und die Verbleibsmotivation der vier Geister ergründen, um diese mit den auf sie zugeschnittenen Methoden zur Ordnung zu rufen, so muss ich ergründen, welchen Wortschatz diese vier Geisterschwestern benutzen konnten. Daraus lässt sich nämlich nicht selten ermitteln, welche Ausbildung und welchen Werdegang ein Geist in seinem körperlichen Dasein erfahren hat. Also bitte: Ich bin erwachsen und der Herr hier ist ein Gentleman, der es niemandem weitererzählen wird, welche Wörter sie als Schimpfwörter erkannt haben." Julius hätte fast gegrinst. Adrastée hatte es echt drauf, Leute mit Worten zu umschnüren. So zählte Olive Bonham die ihr zu gut im Gedächtnis verbliebenen Wörter auf. Julius kannte sie alle. Denn ohne das Wissen seiner Mutter hatte er sich in Paris noch ein Wörterbuch lateinischer Kraftausdrücke und Beleidigungen gekauft. Als Olive das Wort Lupa mit aufzählte fragte Adrastée, warum die Geisterschwestern sie als Wölfin bezeichnet hatten. Olive Bonham sah sie verächtlich an. "Offenbar hatten Sie wahrlich eine sehr gute Kinderstube oder kein Interesse an den Sprachen des klassischen Altertums. Sonst wüssten Sie, dass das Wort Lupa bei den alten Römern auch für eine Straßen- oder Bordelldirne gebraucht wurde." Julius nickte und fügte hinzu: "Was der Gründungssage Roms eine andere Bedeutung geben könnte, wennhier keine wild lebende Wölfin, sondern eine vorübergehend als Amme aushelfende Prostituierte gemeint sein könnte."

"Öhm, so verhält es sich wohl", schnarrte Mrs. Bonham und wollte wissen, ob sie weitere der ihr entgegengerufenen Vulgarismen aufzählen sollte. Die Fragenden schüttelten die Köpfe. Um zu wissen, dass die Geisterfrauen wohl eine ausführliche Lateinausbildung erhalten hatten reichte das wohl.

"Gut, die vier Geister umtanzten und beschimpften Sie. Was geschah anschließend?" fragte Julius.

"Wie erwähnt machten sie sich immer wieder an mir zu schaffen, bis ich unter ihren eiskalten Händen fast die Besinnung verlor. Dann zogen sich die Geisterfrauen lachend zurück. Ich ging davon aus, dass dieser Spuk nun seinen schauerlichen Abschluss gefunden hatte und verließ dieses verspukte und verwünschte Gemäuer. Zu meiner großen Überraschung wurde mir kein Hindernis in den Weg gelegt, keine magische Barriere, keine Laufrichtungsillusion, die mir vorgaukelte, immer wieder denselben Ort zu erreichen oder nie von der Stelle zu kommen. Ich schaffte es, das Schloss zu verlassen und auf meinen Besen zu steigen. Ich flog so schnell es ging in meine Herberge nach Avignon. Dort wähnte ich mich weit genug von dem Schloss und seinen scham- und rastlosen Bewohnerinnen entfernt. Doch dies erwies sich zu meinem größten Bedauern als Selbsttäuschung. Denn als es Nacht wurde suchten mich die vier in meiner Kammer heim. Sie umringten mein Bett und beschimpften mich erneut. Eine von denen erdreistete sich sogar, ihren rechten Arm ... in meinen Leib ... hineinzuschieben. Ich fürchtete, meine inneren Organe würden erfrieren und ich müsse an diesen Erfrierungen sterben. Dann hob sie ihren Arm einfach aus mir heraus, winkte mir zu und zischte was wie a Beng Toh oder sowas. Die anderen winkten mir auch zu und entwichen durch die Wände. Ich lag da, erstarrt und amRande der Ohnmacht. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich wieder erwachte. Ab da war mir klar, das diese Geisterhuren mich wohl jede Nacht heimsuchen würden. Dachte ich zunächst daran, das Land mit direktem Ziel England zu verlassen, so verwarf ich diesen Gedanken. Da diese nachtodlichen Dirnen offenbar nicht an einen bestimmten Ort gebunden sind, so wollte ich sicherstellen, dass sie an den Ort ihres Todes gebunden und gebannt werden, um mich und andere unbescholtene Damen nicht weiter zu behelligen."

"Was durchaus Ihr Recht ist", erwiderte Madame Ventvit.

"Das brauchen Sie nicht zu bestätigen. Ich habe in diesem Zusammenhang bereits einschlägige Erfahrungen mit einer mir hinterher spukenden Geistererscheinung, die sich an mir rächen wollte, weil ich ihre lebende Daseinsform angeblich zu häufig kritisiert und gekränkt haben soll. Diese Erscheinung wurde per Geisterbannauflage dazu verurteilt, nicht weiter als eine Meile vom Ort ihres körperlichen Todes fortzugehen, ja sich die meiste Zeit ausschließlich dort aufzuhalten. Ich instruierte meine Kinder und Enkel, diesem Geist nicht auf die pickelige Nase zu binden, dass sie meine Nachkommen sind, weil sie sich sonst wohl das Geheul, Gejammer und Gemaule dieser Muggelstämmigen anzuhören hätten, solange sie in Hogwarts lernten." Bei Julius klingelte es in dem Moment wie alle Glocken von St. Paul und St. Denis zusammen. Er sah Olive Bonham geborene Hornby kurz aber sehr genau an. Dann grinste er innerlich. Wenn die namentlich unerwähnt gebliebene Geistererscheinung wüsste, wie Olive heute aussah, dann würde sie wohl nur noch laut lachend durch das Mädchenklo im ersten Stock von Hogwarts spuken. Womöglich hatte sich Olive damals was auf ihren Körperbau einbilden können. Doch heute konnte sie das sicher nicht mehr, und das machte ihr wohl auch zu schaffen. Dabei wusste er, dass Körperfülle kein Grund zu Selbstverachtung oder Selbstmitleid sein musste. Corinne Duisenberg, Eleonore Delamontagne und Ursuline Latierre führten allen immer wieder vor, dass Korpulenz kein Grund zum Unglück sein musste.

"Monsieur Latierre, bitten Sie Mrs. Bonham darum, Ihnen und mir den Standort des Schlosses Dixarbres zu zeigen", ordnete Madame Ventvit an. Sie holte eine Landkarte von Frankreich hervor, besann sich aber dann darauf, dass nur von den Pyrenäen in der Nähe Kataloniens gesprochen worden war und fand eine entsprechende Ausschnittskarte. Die Besucherin räumte ein, sich mit Karten nicht so gut auszukennen, bis Julius ihr half, sich an Berghängen und Taleinschnitten zu orientieren. Dann konnte Mrs. Bonham den Punkt markieren. Julius diktierte den mitschreibenden Federn die Koordinaten und hätte fast geschluckt. Laut den Koordinaten lag der bezeichnete Punkt keine zweihundert Kilometer südsüdöstlich der Stelle, an der ein Zugang zu den alten Straßen Altaxarrois betreten und verlassen werden konnte. War das jetzt Zufall? Er fragte noch einmal, wann den Andeutungen nach dieser Baron Dixarbres der Vater des ersten auf britischem Boden geborenen Bonham-Vorfahren gelebt haben sollte.

"Die Angaben variieren zwischen dem Jahr 1170 und 1250. Wie erwähnt beginnt die sorgfältige Chronik meiner Schwiegerfamilie erst im Jahre 1349." Julius überschlug die Entwicklung der Flugbesen, die er so nebenbei nachgelesen hatte, wenn er mehr über Quidditch und Flugbesen hatte wissen wollen. Um das 14. Jahundert herum konnten die Besen gerade einmal doppelt so schnell fliegen wie ein dahingaloppierendes Pferd, kkonnten aber höchstens vier Stunden am Stück fliegen und mussten dann mehrere Stunden regenerieren. Der Fluss der Flugmagie wurde erst im Laufe der späteren Jahrhunderte besser ausgenutzt und in besser verarbeitete Besen eingewirkt. Dazu kam noch, dass diese Besen bei zunehmender Höhe über dem Meeresspiegel noch schneller ermüdeten und wohl nicht über fünftausend Meter hinauskamen, ohne gleich kraftlos abzuschmieren. Julius genügten die Angaben um zu wissen, dass ein Zauberer oder eine Hexe der damaligen Zeit genauso mehr als einen Tag gebraucht hätte, um vom Schloss zum Eingang der alten Straßen zu reisen, falls er oder sie nicht zielgenau apparierte. Doch was tat er jetzt? Er verrannte sich in abwegige Vorstellungen. Sicher hatte damals niemand aus dem Schloss etwas von den alten Straßen geahnt. Die vier Geisterfrauen waren aus einem ganz anderen Grund entstanden. Dann fiel ihm wieder ein, dass Mrs. Bonham in dem Gemach eines skelettierten Mannes ein in der Decke steckendes Schwert und ein Geistergesicht in der Wand gesehen hatte. Da hakte er noch einmal nach: "Sah das von Ihnen zuerst gesehene Gesicht so aus wie eines der vier Geistergesichter später?"

"Ja, es war eindeutig eines der vier. Da diese alle identisch aussehen lasse ich mich nicht darauf festlegen, welche es genau war."

"Mit anderen Worten, Sie haben zuerst eine mit der Wand verschmolzene Geistererscheinung gesehen und dann erst vier frei schwebende Geistererscheinungen?" forschte Julius noch einmal nach. Ms.Bonham funkelte ihn durch ihre silbernen Brillengläser an und fauchte: "Wen halten Sie jetzt für dumm, mich oder sich selbst. Ich hoffe sehr, dass Sie sich selbst meinen. Dass erspart Ihnen eine Beleidigungsklage."

"Bis hierhin", knurrte Julius nun nicht mehr so sachlich. "Ich halte weder Sie noch meine Kollegin Madame Ventvit noch mich selbst für dumm. Ich habe nur Wert darauf gelegt, eine Abfolge von Ereignissen exakt zu bestimmen. Das ist nicht dumm, sondern logisch. Oder sehen Sie da keinen Zusammenhang?"

"Jetzt wollen Sie mich als einfältig vorführen, Sie Schl...", Julius räusperte sich sehr laut und eindeutig. Madame Ventvit hörte trotz ihrer geringen Englischkenntnisse, dass Mrs. Bonham Julius fast beleidigt hätte.

"Wissen Sie, ich bin gegen das böse Wort mittlerweile immun. Heilererkenntnis, was einen nicht gleich umbringt macht ihn hart. Aber gut, da Sie mir unterstellen, ich wolle Sie hier vorführen, obwohl Sie das Opfer und nicht die Täterin sind, kann ich jetzt nur noch meine Kollegin darüber informieren, was sie gesagt haben, damit diese ihre hauptamtlich im Geisterbüro tätigen Kollegen genau instruieren kann, wie sie gegen die Sie bedrängenden Geister vorgehen. Außerdem ist es wohl wichtig, zu ergründen, ob Sie in einem gegen Spukerscheinungen gesicherten Raum übernachten oder am besten gleich das Land verlassen. Ich weiß nicht, ob Geister wittern können, wo jemand, den sie immer wieder heimsuchen wollen hingereist ist. Falls ja, dann müssen wir diese vier Gespensterdamen erst an einem Ort festsetzen, bestenfalls demOrt Ihres Todes oder in einen magisch behandelten Behälter einsperren, wie es Voodoo-Meister und Geisterbeschwörer der Orientalen auf unterschiedliche Weise hinbekommen."

"Das wäre mir sehr recht, wenn Sie diese vulgären Zerrbilder einstmals lebendiger Kreaturen einsperren und für die nächsten Jahrtausende unbeweglich halten."

"Genau das und nichts anderes ist der Grund für diese lange Befragung, Mrs. Bonham. Aber jetzt, wo wir die wichtigen Einzelheiten kennen, könnte es uns gelingen."

"Könnte?" spie Mrs. Bonham aus. "Sie sollen es nicht nur können sondern tun, zum siebenköpfigen Drachen noch mal!"

"Haben wir einen vollständigen Bericht, oder fehlen noch einzelne Angaben?" fragte Madame Ventvit ihren Kollegen auf Französisch. Dieser überlegte und schüttelte dann den Kopf. Er tippte auf die vollständig entrollte Pergamentrolle, die am Ende stolze anderthalb Meter langgeworden war. "Bitte lesen Sie das Protokoll durch und unterschreiben Sie, wenn alle dort verzeichneten Aussagen so und nicht anders von Ihnen gemacht wurden", sagte Julius noch. Madame Ventvit nickte zustimmend.

Als Mrs. Bonham ihre komplette Aussage noch einmal nachgelesen hatte nickte sie schwerfällig. Dann unterschrieb sie das Protokoll. Adrastée und Julius unterschrieben es auch. Sie unterschrieben auch die zeitgleich auf Französisch niedergeschriebene Version, die Mrs. Bonham daran für echt halten konnte, dass die lateinischen Schimpfwörter in derselben Reihenfolge aufgeschrieben worden waren wie bei der englischen Ausgabe.

""Gut, da Sie nun offiziell Anzeige erstattet haben können wir Ihnen für die kommende Nacht einen Schutzraum gegen geisterhafte Eindringlinge zuweisen. In dieser Nacht werden wir ergründen, ob es möglich ist, die vier Geister in das Schloss zurückzurufen und dort auf unbestimmte Zeit festzusetzen. Sollten wir Überreste ihrer lebenden Körper entdecken ist das sogar kein Problem, wie Sie ja wissen, nachdem Sie einen ähnlichen, wenn auch wohl harmloseren Vorfall erlebt haben."

"Im Vergleich zu dieser unzüchtigen, ja unerträglichen Nachstellung war das erwähnte Ereignis wahrhaftig nur eine unliebsame Angelegenheit."

"Gut, Monsieur Latierre. Da mein Amtshilfeantrag bis auf Widerruf durch Ihren derzeitigen Dienstvorgesetzten oder mich oder meinen Dienstvorgesetzten gilt bleiben Sie bitte hier, bis ich mit Mrs. Bonham ihre provisorische Unterbringung geklärt habe."

"Natürlich, Madame Ventvit", sagte Julius.

"Ich denke, Sie hat Ihnen gerade erzählt, dass Ihre Dienste nicht mehr benötigt werden, Mr. Latierre", sagte Mrs Bonham.

"Ups, dann können Sie besser Französisch als ich", erwiderte Julius nun doch mit einer gewissen Portion Frechheit. "Denn für mich hörte sich das gerade so an, als dürfe ich hier nur weg, wenn mein Dienstvorgesetzter oder der Zaubereiminister persönlich meine Rückkehr auf meinen eigentlichen Dienstposten anordnen."

"Ach ja, schaffen Sie in der Werwolfsuchbrigade oder im Zaubertrankzulassungsamt oder dürfen Sie für ihre offenbar verschwägerte Tante als Melkhelfer ihre übergroßen Rindviecher betreuen?"

"Das unterliegt der Verwaltungsklassifizierung C3 und darf nur gut bekannten personen mit lauteren Absichten gegen den Informationsinhaber oder mit ihm zusammenarbeitenden Ministerialangehörigen mitgeteilt werden", konterte Julius. Adrastée hatte es wohl im Ansatz verstanden und musste hinter vorgehaltener Hand grinsen. Dann winkte sie der beleibten Besucherin.

Oh, Myrte, wenn die dir damals echt das Wort mit Schlamm am Anfang nachgerufen hat wundert mich nicht, dass du die nach deinem viel zu plötzlichen Tod noch beharkt hast, dachte Julius.

Es dauerte eine halbe Stunde. "Wer der Dame den Umgang mit Behörden beigebracht hat hat offenbar ein paar wichtige Einzelheiten vergessen oder falsch erklärt", schnaubte Adrastée. "Die tut so, als wenn die ganze Welt ihr den Boden vor den Füßen schrubben müsse. Dann ist ihr auch noch Madame Apolline Delacour über den Weg gelaufen. Da hat sie die doch glatt als Anstandsmörderin bezeichnet, weil sie mit ihrer "widernatürlichen Schönheit" jeden Anstand aus einem Mann heraussaugen würde wie ein Dementor alles Glück und alle schönen Erinnerungen. Das hätte fast in einem magischen Handgemenge geendet. Aber jetzt ist die offenbar von der Wichtigkeit ihres Gatten volltrunkene Dame unterwegs zur Herberge zur ruhigen Seele. Dort können keine bösartigen Geisterwesen eindringen, zumal dort die dir ja schon bekannte Geisterfesselungsaura dauerhaft errichtet ist."

"Ich habe das mit demGesicht in der Wand nicht aus purer Veralberung gefragt, Madame Ventvit", erwiderte Julius, der das Du bei seiner Anrede überhört hatte.

"Mir wurde auch sofort klar, was du damit andeuten oder ergründen wolltest. Die Geister waren offenbar in den Wänden gefangen, bis ein bestimmtes Ereignis sie freigesetzt hat. Jedenfalls sind mir weder die Geschichte um das Schloss, noch diese vier Geister bekannt. Ich habe deinemVorgesetzten noch ein Memo geschickt, dass ich dich wohl bis zum Dienstschluss benötige. Er schrieb zurück, dass das, was einen vorzeitigen Rückruf bedingt hätte, bis zur Stunde nicht eingetreten sei und er sich darüber wundere und zugleich sorge, ob er vielleicht den Termin verwechselt habe. Näheres wollte er nicht erwähnen, und ich sah nicht ein, ihm zu erklären, dass ich dich mal wieder zur Geisterjägerhilfsbrigade abkommandiert habe."

"Dann brauche ich aber die entsprechenden Geräte: Geistersauger, Psychoenergiemessgerät und die allseits beliebten Protonenstrahler, die bloß nicht über Kreuz schießen dürfen, wenn man nicht voller verbrannter Zuckerwatte enden will."

"Ich habe diesen herrlichen Unfug mal im Kino gesehen, seitdem wir zwei diesen Luftdschinn gefangen haben. Ja, doch, wer davon ausgeht, dass sowas nicht echt vorkommen kann muss sich köstlich darüber amüsieren. Zumindest gut, dass du mir jetzt nicht mit Zeugs wie geweihten Silbergeschossen oder geweihten Kreuzen kommst. "

"Silberpfeile oder -kugeln gehen nur gegen Werwölfe und Kreuze nur gegen christlich getaufte Vampire. Das ist doch schon viermal durch die Abteilung", erwiderte Julius den Scherz. Im Moment hatte er nicht den Eindruck, mit einer ranghöheren Kollegin zu sprechen, die gewiss mehr Respekt von ihm erwarten konnte.

"Ich schicke dich nach dem Mittagessen mit meinem Experten für Spukhäuser, Oreste Lunoire los, wenn wir wissen, wo das Schloss stehen soll."

"Hmm, falls dieses Schloss entweder nicht für andere als Mrs. Bonham unbetretbar ist oder schon längst restlos vom Erdboden verschwunden ist, weil es seine Schuldigkeit getan und die gefangenen Geister rausgelassen hat oder jeden, der nicht zu den Bonhams gehört dort einkerkert und zu neuen Geistern werden lässt."

"Ja, muss wohl alles in Erwägung gezogen werden. Echt, was hat dich geritten, bei meiner Tante im Sabberhexenzählbüro anzufangen?"

"Dass da auch Anstandsmörderinnen und Frauen mit soooooo großen ... Augen, herumlaufen", erwiderte Julius.

"Okay, bevor ich doch noch eine Disziplinarmaßnahme verhängen muss besprechen wir das ganze Vorhaben noch einmal."

Julius hörte zu, dachte nach und stellte weiterführende Fragen. Am Ende stand fest, dass Julius mit dem Geisterjäger Lunoire ins Schloss Dixarbres gehen sollte. Über den gab es tatsächlich nichts, außer dass einmal ein Zauberkunstlehrer dieses Namens in Beauxbatons gelehrt hatte. Der hatte Nachkommen, davon waren aber zwei Kindeskinder Squibs geworden. Ob diese Kinder gezeugt oder bekommen hatten wurde damals nicht weiterverfolgt, weil die magisch begabten Dixarbres im 14. Jahrhundert in der Chaudchamp- und der Devereaux-Familie aufgegangen waren. Julius erinnerte sie daran, dass sein Stammbaum weiter zurückreichte und vollständig lückenlos dokumentiert wurde. "Ja, weil die Eauvives ihren magischen Familienstammbaumsteppich haben, wie alle großen Zaubereifamilien Europas, wie die Blacks und die Lestranges." Julius schluckte. Dann kapierte er, dass Familien, die absoluten Wert auf ihre Reinblütigkeit legten, ja eine vollkommen lückenlose Ahnenliste führen mussten.

Während des Mittagessens sprachen die beiden über das, was Julius von seinem Familienleben weitererzählen durfte. Dann kam noch Madame Grandchapeau hinzu und lächelte Julius an. "Ah, offenbar haben sie befunden, Sie durch alle Unterabteilungen zu schicken, um noch mehr zu lernen. Womöglich besteht dann die Gelegenheit, dass Sie im Juni vorübergehend auch in meine Abteilung eintreten können, da ich heute morgen einen sehr ungehaltenen, ja fast schon ungehörigen Brief Madame Dumas' erhielt, dass ich mir nicht einbilden dürfe, eine hochbegabte und arbeitssame Hexe von ihrem vorbestimmten Weg abbringen zu dürfen und so weiter. Achso, Adrastée, bitte grüßen Sie Ihren Gatten von mir! Natürlich werden mein Mann und ich seinem nächsten Konzert beiwohnen. Noch einen erfolgreichen Tag!"

"Sie glaubt, wir reichen dich herum wie einen unentschlossenen Lehrjungen, der noch nicht weiß, wo er hingehen soll", grinste Adrastée. "Abgesehen davon, dass ihrer so genannten Personalumstellung nur der Umstand zu Grunde liegt, dass sie gerade eine Person mehr als gelistet in ihrer Abteilung beherbergt." Julius musste sich arg anstrengen, nicht laut loszulachen. Der Definition von Spießigkeit nach wäre Adrastée keine vollendete Spießerin, wenn die solche abgedrehten Gedanken hatte und diese auch noch aussprach.

Ausgestattet mit zwei Drachenhautpanzern gegen mögliche telekinetische Angriffe mit fliegenden Möbeln oder herunterfallenden Kronleuchtern, einem Sichtbarkeitszwingkristall, der unsichtbare Geister sichtbar machte, was Julius an seine Zeit in der Peeves-Patrouille denken ließ, sowie einem Gefäß, aus dem heraus die einen Geist immobilisierende Aura entfaltet werden konnte, sowie Besen und Zauberstäben ausgestattet reisten Julius Latierre und Oreste Lunoire in die Pyrenäen. Da Julius sich vom Ministerium ein Naviskop von Prazap ausborgen konnte war es kein Problem für ihn, den Standort zu bestimmen, wo das Dorf Beauxpierres gelegen hatte. Von dort aus ging es weiter in Richtung des Schlosses. Julius argwöhnte schon, dass es nicht zu orten sein mochte. Doch als sie zehn Minuten mit niedriger Geschwindigkeit geflogen waren sahen sie das Schloss. Allerdings wirkte es nicht so neuartig, wie Mrs.Bonham behauptet hatte. Die Türme waren teilweise zusammengesackt. In den Mauern klafften meterlange Risse, und das Dach wies mehrere Löcher auf. Die Bleiglasfenster waren blind vor Staub. Dennoch waren sich der hauptamtliche und der aushilfsweise tätige Geisterjäger sicher, dass sie das gesuchte Schloss vor sich hatten.

"Ich habe alle Schlösser und Burgen im französischen Sprachraum im Kopf. Aber dieses Gemäuer da ist mir total unbekannt", sagte Oreste Lunoire.

"Nicht nur Ihnen, wohl allen Ministeriumszauberern vor Ihnen auch", erwiderte Julius.

"Da Sie nicht hauptamtlich bei uns mitmachen ist Ihnen der Geisterfinder wohl noch nicht beigebracht worden, oder?"

"Doch, von Professeur Delamontagne. Er hat es damit begründet, das aus ihren Wirtskörpern ausgetriebene Dibbukim damit auf kurze Entfernung gefunden werden können und normale Geister in einer Kugelzone von zweihundert Metern Durchmessern als für den Anwender bläulich flimmernde Punkte oder Schemen je nach Entfernung erkennbar werden. In beiden Fällen ist er aber mit Vorsicht zu genießen, weil die damit gefundenen Geister die Zauberei spüren können und auch merken, wo sie herkommt."

"Weswegen der Zauber auch als "Geist, hier bin ich" bei uns Spukwächtern bezeichnet wird. Trotzdem werde ich es mal darauf anlegen und hoffen, die Geistergefrierdose kann die alle festsetzen."

"Sie sind der Einsatzleiter", sagte Julius. Er hatte noch einen weiteren Detektor für böse Magie und böse Wesen bei sich. Gut unter seinem Umhangärmel versteckt lag das Orichalkarmband aus der Villa Binoche an, dessenwegen er fast doppelten Ehebruch mit Camille Dusoleil begangen hätte. Er horchte schon darauf. Dann war da noch was, was er dem fröhlichen Spukschlossexperten auch nicht aufs Butterbrot schmieren durfte: Er stand in direkter Verbindung mit der Verschmelzung aus Darxandria und Artemis vom grünen Rain. Vielleicht spürte die in der geflügelten Kuh wiederverkörperte Lichtkönigin aus dem alten Reich etwas, bevor er oder sein Begleiter es wahrnehmen konnten.

"Wenn wir wüssten, wie und wo die vier den Tod gefunden haben. Sie sind wohl enthauptet worden", murmelte Oreste Lunoire. "

"Hmm, einen Zauber, um dunkle Taten aus der Vergangenheit zu orten gibt es wohl nicht?" fragte Julius.

"Wer den erfindet beendet unseren Berufsstand, weil dann nämlich jeder einen Spuk oder dessen materiellen Fokus orten und erledigen könnte", seufzte Oreste. Julius sah den Geisterbehördenzauberer an. Er war wohl an die fünfzig Jahre alt, hatte nackenlanges, schwarzes Haar, hellgraue Augen und eine spitze, aufwärts gekrümmte Nase, unter der ein üppiger Schnurrbart prangte. Ansonsten hielt er sein Gesicht bartlos. Er wirkte von der Statur her wie ein alltgedienter Quidditchprofi, der immer noch trainierte, um nicht zu verkümmern. Im Moment trug er einen mitternachtsblauen Umhang mit silbernen Totenschädeln am Saum, demZeichen für die französische Geisterbehörde. Julius hatte keinen solchen Umhang anziehen müssen. Er trug über dem Drachenhautpanzer, der ihm wie ein Bikini aus Leder vorkam, seinen Umhang, mit dem er zu Beginn des Arbeitstages ins Ministerium geflohpulvert war.

""Was sagt das Maledictometer?" fragte Julius. Der Spukschlossexperte holte aus seiner Drachenhautumhängetasche ein kleines Gerät hervor, mit dem stationäre, großflächige Flüche gemessen werden konnten. Zwar sagte das Gerät nichts darüber, wie sie wirkten. Das war bisher keinem gelungen, weil Flüche immer einzigartig ausgesprochen wurden. Doch wie stark ein Fluch war und wie welchen Raum er ausfüllte ließ sich damit schon bestimmen.

"Was ist denn das?" fragte Lunoire wohl er sein Gerät als Julius. Dieser las die Werte auf der zifferblattartigen Anzeige ab, die in Bereiche von weiß bis dunkelrot variierten. Der Zeiger schwang hin und her wie ein Uhrenpendel, mal bis hellrot, dann über Orange, Gelb und hellgrün zu Weiß und nach einer Viertelsekunde wieder zurück."

"Ein schwingender Fluch?" fragte Lunoire. "Grün ist doch eine starke, aber reinigende Magie, oder?" fragte Julius etwas, was er eigentlich schon längst wusste. Er vermutete, dass sein Armband die Werte verfälschte. Doch dieses reagierte auch. Es erwärmte sich, wenn der Zeiger gegen Weiß schlug und erkaltete, wobei es leicht erzitterte, wenn der Zeiger in den roten Bereich eindrang. Julius kam eine Idee. Er las seine Weltzeituhr ab und zählte fünfzehn Sekunden lang die Schwingungen ab.

"Hmm, achtzehn und ein bißchen mehr Schwingungen in fünfzehn Sekunden, was auf eine Minute hochgerechnet zwischen siebzig und fünfundsiebzig Durchläufe sein können", sagte Julius. Der Spukschlossexperte starrte ihn an und fragte sichtbar erregt: "Sind Sie sicher, dass sie eine derartige Zahl ermittelt haben?"

"Ich prüfe das nach, denn ich habe da einen abgedrehten Verdacht, den ich gerne gegenprüfen möchte." Julius zählte nun laut alle Schwingungen, während er den Sekundenzeiger von einem Punkt des Zifferblattes bis zur Wiederankunft laufen ließ."Tatsächlich dreiundsiebzig Schwingungen in der Minute, ein bißchen erhöhter Ruhepuls aber noch im grünen Bereich."

"Bitte was?!" entfuhr es demSpukexperten. Julius musste sich eingestehen, dass er es genoss, den Geisterkundler in diesem Moment verwirrt und aufgeregt zu sehen. Dann erklärte er ihm seinen Verdacht:

"Was immer im Schloss schwingt hält eine ähnliche Zahl ein wie ein ruhig schlagendes Herz eines wachen Menschen, so zwischen sechzig und fünfundsiebzig sind die bei durchschnittlich trainierten Leuten üblichen Ruhewerte, habe ich bei den Pflegehelfern gelernt."

"Das will ich mal nicht hoffen, dass in dem Schloss ein schlagendes Herz eingefügt ist. So etwas hatten wir mal vor fünfzig Jahren. Jemand hat Menschen mit einem Fluch belegt, das ihre Herzen für ihn weiterschlagen. Je mehr Menschen er tötete, desto unverwüstlicher wurde er. Allerdings fiel jedes Jahr eines der erbeuteten Herzen aus und er brauchte Nachschub. Der Bursche wollte wohl etwas herstellen, um seine Seele dauerhaft in dieser Welt zu halten. Na ja, wir und die Liga gegen dunkle Künste haben ihn erledigt. Wie genau möchte ich besser nicht erzählen."

"Kann ich mir denken, so wie Sie den Fall beschrieben haben", erwiderte Julius. "Aber ich denke nicht, dass die Geister von lebenden Herzen mit Energie versorgt werden. Ich denke eher, dass der Fluch oder Zauber mit Lebenund Tod zu tun hat, also zwischen beiden Zuständen hinund herschwingt."

"Adrastée wird ihre Tante zum Duell fordern, und die Siegerin bekommt Sie dann endgültig zugeteilt", schnarrte der Spukexperte. Julius zog es vor, darauf besser keine Antwort zu geben.

"Zumindest können wir versuchen, die vier Geisterfrauen anzulocken, sofern die nicht schon wissen, wo wir sind. Den Sichtbarmacher rausholen, bitte!" Julius gehorchte der Anweisung und holte den Kristall hervor. Wenn ein Geist in Sichtweite geriet würde er blau aufleuchten und den Geist dazu zwingen, für Zaubereraugen sichtbar zu werden. Muggelaugen konnten keine echten Geister sehen. Die begnügten sich mit der Eiseskälte oder physikalischen Erklärungen wie Infraschall und Temperaturgefällen.

"Jetzt fühle ich die böse Macht auch körperlich. Aber dann, wenn der Zeiger in die andere Richtung umschlägt ist mir so, als wäre ich völlig sicher und beschützt", verriet der Geisterjäger seine Empfindungen. Julius fühlte nichts dergleichen. Das mochte an seinem Armband und dem Zuneigungsherzen liegen. Dann fiel ihm ein, dass er noch die Goldblütenphiole im Brustbeutel hatte. Er holte sie hervor. Tatsächlich blinkte diese unmittelbar nach herausnehmen in einem honiggoldenen Licht, sobald der Fluch stärker durchdrang. Wenn die eher gutartige Kraft wieder anstieg erwärmte sich die Phiole. "Hier, die leihe ich Ihnen aus. Ein Geschenk einer sehr auf mein Leben bedachten Person", sagte Julius.

"Goldblütenhonig. Wer hat Ihnen denn so was wertvolles überlassen? Nein danke, ich möchte das nicht annehmen. Wer immer Ihnen diese Phiole gegeben hat wollte, dass Sie davon beschützt werden."

"Wie sie meinen", sagte Julius, der nicht auspacken wollte, dass er ja noch ein Schutzartefakt am Körper trug. Er steckte die Phiole in eine verschließbare Seitentasche seines Umhanges. Dort würde sie immer noch mit den magischen Kräften wechselwirken.

Oreste holte eine Brosche aus seiner Umhängetasche, die ebenfalls im Takt der Kraftschwingungen blinkte, und zwar silber-blau. "Damit widerstehe ich bösartigen Gefühlsbeeinflussungen", sagte er. "Ist so wie der Auracalma-Zauber", fügte er an. Julius nickte. Jetzt kam er sich langsam vor wie diese Dämonenjäger in den Groschenromanen, die mit allerlei magischen Waffen hinter den Mächten der verschiedenen Höllenreiche aller Weltreligionen herjagten.

Die pendelnde Zauberkraft, die vom Maledictometer angezeigt wurde, änderte ihre Stärke nicht, als sie über den Schlosshof ins Hauptgebäude eindrangen. Julius fühlte nur sein Armband wechselwirken, warmund angenehm, wenn die Kraft gutartig wurde, kalt und dagegen anzitternd, wenn sie ins bösartige umschlug. Zur bestmöglichen Eigensicherung dachte er auch das Lied des inneren Friedens, dass ihn gegen geistige Beeinflussung oder Belauschung immun machte. Er musste es nur in regelmäßigen Abständen wiederholen, je stärker man seinem Geist zusetzte um so häufiger.

"Vorsicht!" zischte Julius. Er hätte am liebsten geschrien. Doch damit hätte er es wohl noch schlimmer gemacht. Über ihnen brachen Stücke aus der Decke heraus und regneten prasselnd zu Boden. Dann krachte ein größerer Stein aus der Decke herunter und zersprang genau über dem Kopf von Oreste Lunoire. Um ihn herum waberte eine graue Staubwolke davon.

"Der Kasten verfällt zusehens. Am besten versuche ich die vier geköpften Damen zu orten und herzulocken." Julius nickte. Er beobachtete, wie der Gesteinsregen von der Decke langsam abebbte. Dann sah er demGeisterexperten zu, wie er den Zauberstab hob, damit einen kurzen Kreis gegen den Sonnenlauf schlug und "Anima sine corpore detectur!" murmelte. Der Zauberstab glühte für einige Sekunden in einem bläulichen Licht. Lunoire stand hochkonzentriert da. Dann sagte er: "Ich habe die vier. Drei von denen sind verdammt stark. Die vierte ist dagegen schwächlich wie der Mond gegen die Sonne, gleichgroß aber irgendwie unterschiedlich stark."

"Und kommen die jetzt?" wollte Julius wissen.

"Nur ruhig Blut, junger Mann. Wenn die Sichtbarmacher aufglühen müssen alle in Sichtweite schwebenden Geister sichtbar werden. Diese Kristalle kannten schon die alten Druiden."

"Sie sagten was von einem schwächeren Geist. Können sie sagen, wo genau der ist?"

"Da wir gerade nach norden sehen also nordwestlich und einen achtel von einem rechten Winkel nach unten, ungefähr hundertzwanzig meiner Schritte entfernt."

"Können wir hier apparieren?" fragte Julius. Der Geisterjäger zuckte zusammen. Das hätte er eigentlich zuerst herausfinden müssen. Er zog noch was aus seiner Umhängetasche, die wohl ähnlich aufnahmefähig war wie Julius' Brustbeutel. Er hielt etwas wie einen silbernen Insektenkopf mit langen, haarigen Fühlern in die Luft. Die Tastorgane schwangen aus und wanden sich dann, um sich dann spiralförmig zusammenzurollen. "So viel zum Apparieren. Eine Art pulsierender Locattractus-Zauber genau da, wo wir hin wollen. Will sagen, hin kommen wir. Aber dann bleiben wir auch da. Wenn wir in einen total verschlossenen Raum geraten müssten wir hoffen, uns durch die Wände zu fluchen."

"Kennen Sie Terra lapisque permeabilis pro vivo?"

"Jetzt muss ich doch mal fragen, woher Sie den kennen, junger Mann. Den sollte eigentlich kein Zauberschüler können."

"Nur dass ich schon seit bald zwei Jahren im Ministerium arbeiten darf, Monsieur Lunoire", erwiderte Julius darauf und tat so, als sei das die gewünschte Antwort.

"Dann wollen wir hoffen, dass die da unten keinen Gesteinshärtungszauber in die Wände gepflanzt haben. Denn der macht den Durchdringungszauber unwirksam. Besser zu Fuß."

"Besser zu Fuß", wiederholte Julius.

Mehr als die pulsierende Magie störte Julius das leise ächzen, knirschen und Rieseln. Irgendwie hatte er das Gefühl, auf einer tickenden Zeitbombe zu picnicken und zu hoffen, dass die Zünduhr eine Stunde nachging. Das Schloss war auf jeden Fall kein Neubau mehr. Ob der Begriff Denkmal oder schon Ruine besser passte wusste er nicht.

Der Weg zu dem aufgespürten Geisterwesen führte durch ein Treppenhaus, dessen Granitstufen bereits vom Zahn der Zeit angeknabbert waren. Einmal rutschte Lunoire fast aus, weil die betretene Stufe unter seinem Fuß wegkippte. Er konnte sich gerade am bereits gut verwitterten Holzgeländer halten. Julius bedauerte es, Goldschweif nicht mitgenommen zu haben. Die Knieselin konnte sichere Wege erspüren und damit auch gefährliche Wege. Am unteren Treppenabsatz machten sie halt. Lunoire beschwor noch einmal den Geisterfinder. Die vier verschiedenen Geister waren noch im Schloss. Tatsächlich waren sie nähergekommen. Doch sie ließen sich Zeit. Julius kam der furchtbare Verdacht, dass sie darauf lauerten, dass ihre lebenden Besucher in eine Falle tappten. Bei demimmer baufälliger werdenden Schloss konnte jede Treppenstufe eine solche Falle werden, jeder Deckenbalken, jede rissig gewordene Mauer.

"Oh, ein alchimistisches Laboratorium. Wie kommt denn das hier her?" staunte der Geisterjäger. Julius trat sofort vor. Das war doch was, womit er sich auskannte.

Überall auf Regalen und Steintischen standen Tiegel, Phiolen, bauchige Glasflaschen, ja sogar die Vorläufer dessen, was später mal als Erlenmeierkolben bezeichnet würde. Besonders der Destillationsapparat aus reinem Glas faszinierte Julius. Als er in einem großen Glaszylinder ein gelblich-grünes Gas wallen sah weiteten sich seine Augen. Er wusste sofort, dass eine Kopfblase alleine dagegen nicht ausreichte. Zwar würden die Lungen nicht betroffen, aber die Haut und alle darunterliegenden Gewebeschichten. Dann kam ihm die rettende Idee. "Infragilis persistens!" stieß er schnell aus und zielte auf den mannshohen Glaszylinder. Ein bläuliches Licht umfloss diesen. Es war gerade noch dunkel genug, um nicht die verheerende Reaktion auszulösen, die das imZylinder steckende Gas bei hohem Lichteinfall zeigte. Als das Licht abflaute sah der Zylinder aus wie immer. Doch keine körperliche oder rein elementare Gewalt konnte ihn jetzt noch zerstören. Dazu wäre wohl nur das berüchtigte Tausendsonnenfeuer aus dem alten Reich in der Lage.

"Was soll denn das, junger Mann?" fragte Lunoire. Da erglühte der frei getragene Sichtbarmacher in einem blauen Licht. Gleichzeitig sahen sie die sich aus einem kurzen Flimmern herausbildende Gestalt, perlweiß, im Schein der Zauberstablichter größtenteils durchsichtig, eindeutig als Frau erkennbar, fast noch ein Mädchen, vielleicht zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren, schätzte Julius. mehr Zeit zu betrachten hatte er nicht. Denn unvermittelt brach das gläserne Inferno über sie herein.

Mit lauten Knällen und Krachern barsten alle Glasbehälter in diesem Raum. Die entstehenden Scherben rasten pfeifend durch das Laboratorium und rasten genau auf die beiden Geisterjäger zu. Julius fühlte sofort, wie der unter dem Umhang getragene Drachenhautpanzer vibrierte. Er sah die auf ihn zujagenden Glastrümmer und Winzsplitter einen halben Meter vor ihm abprallen und wie querschlagende Geschosse davonjagen. Die Luft war von wildem Pfeifen und Sirren erfüllt, während weitere Glasbehälter zerplatzten und zu wild herumschwirrenden Splitterschwärmen wurden. Julius hatte keinen Moment daran gedacht, dass er sowas mal erleben würde: Bösartige Telekinetik in ihrer Vollendung. Dann sah er, wie der Glaszylinder vibrierte. Doch er explodierte nicht. Das darin gefangene Chlorgas blieb darin. Kein noch so feiner Riss durchzog den Glasbehälter. Julius atmete innerlich auf, diesen Behälter sofort als mögliche Bombe unschädlich gemacht zu haben. Er dankte seinem Vater, der ihm schon mit fünf die Gefährlichkeit des für die Kunststoffindustrie und leider auch die Kriegsführung so wichtigen Elementes verdeutlicht zu haben.

Immer noch schwirrten die Glastrümmer durch die Luft. Sie schlugen in die Wände, die Decke und den Boden. Nur die Drachenhautpanzer der Geisterjäger wehrten sie zuverlässig ab. Nicht ein mikroskopischer Splitter drang zu ihnen durch. Julius blickte sich um. Es war schwer, durch die wild wirbelnden Glastrümmer zu sehen. Doch er konnte tatsächlich zwei weitere frei schwebende Frauenkörper erkennen, die ihm und seinem Begleiter zusahen, wie sie wie Felsen in stürmischer See dastanden und den wilden Glashagel von sich abprallen ließen.

"Nicht schlecht, auch das mit dem Unzerstörbarkeitszauber. Ein Alchemist, wie wir gewahren können", sprach eine der Geisterfrauen und dirigierte die noch frei herumschwirrendenGlassplitter. Doch auch diese schlugen nicht ein.

"Im Namen Cybarons, enthüllt uns eure Namen!" rief Oreste auf einmal und hielt einen kleinen goldenen Kessel in der Hand. Er klappte den Deckel hoch, und blutrotes Licht strahlte heraus.

"Dein Cybaron und sein Geisterkessel können uns nichts", ächzte die zweite Geisterfrau. Dabei sahen es alle, dass dort, wo das Licht sie traf, ihre ektoplasmatischen Körper auf die Lichtquelle zugezogen wurden. Dann erglühten die drei Geister auf einmal in einem hellroten Licht.Ihre Arme wurden lang und länger und berührten sich. Ein halbkreisförmiger Lichtbogen entstand, und der kleine Goldkessel entflog den Händen seines Besitzers, um im nächsten Moment laut zischend im roten Lichtbogen zu verglühen. Julius warf sich zu Boden und hielt die Augen geschlossen und den Mund geöfffnet. Da knallte es auch schon. Er hörte ein leises Klingeln in den Ohren, das jedoch nach wenigen Sekunden wieder abebbte. Als Julius es wagte, sich wieder umzusehen erkannte er, dass das im Zylinder steckende Chlorgas zum Teil abreagiert hatte. Die Explosionswucht hätte den Zylinder eigentlich zersprengen müssen. Doch der Unzerbrechlichkeitszauber hatte die Wucht abgefangen und im Zylinder verebben lassen. Der kleine Goldkessel war auf jeden Fall verschwunden. Doch wo waren die Geisterfrauen? Julius riss den Sichtbarmacher hervor. Er glühte nicht. Die drei Geister hatten die Gunst der Stunde genutzt, um sich durch die Wände oder die Decke abzusetzen.

"Monsieur Lunoire", wisperte Julius dem am Boden liegenden Geisterjäger zu. "Monsieur Lunoire, hören Sie mich!" rief er nun laut, weil er fürchtete, dass der Geisterjäger ein Knalltrauma erlitten hatte. Da die Drachenhautpanzeraura jeden Schlag abwehrte konnte er ihn nicht einmal ohrfeigen. So probierte er die Diagnosezauber aus, die er erlernt hatte. Dabei erschauerte er fast. Lunoires Körper war beinahe erstarrt. Sein Herz schlug nur noch mit zehn Schlägen pro Minute. Er wendete den Zauber "Thermoculus" an. Erst fühlte er einen schmerzhaften Druck auf beiden Augen. Dann erschien ihm die Umgebung in veränderten Farben. Er erkannte vile hellrote Stellen an der Decke und den Wänden. Offenbar waren dort heiße Geschosse eingeschlagen. Denn der Zauber befähigte dessen Anwender, wie durch eine Infrarotbrille oder mit einer Wärmebildkamera zu sehen. Jetzt blickte er auf Lunoires Körper und fand seinen Verdacht bestätigt. Der Körper des Geisterjägers strahlte nur noch wenig Wärme ab. Immerhin die Hauptschlagadern führten wohl noch ein wenig erwärmtes Blut. Julius erkannte, dass der Geisterjäger mehr abbekommen hatte als ein Knalltrauma. Etwas hatte seine gesamten Lebensfunktionen auf absoluten Minimalwert heruntergeschraubt. Julius versuchte die Aufhebung des Lentavita-Zaubers, der eine magisch erzeugte Körperverlangsamung herbeiführte. Dann versuchte er es mit dem Stimucalora-Zauber, die Körperwärme des vor ihm liegenden anzuheben. Bei Unterkühlungen im zweiten oder dritten Stadium half der, das im Körperkern zirkulierende Blut auf die lebenswichtige Temperatur hochzutreiben. Doch als wenn um den Mann eine für Heilzauber undurchlässige Aura wirkte erreichte Julius nichts damit.

Mit dem allgemeinen Umkehrzauber gegen Sichtveränderungszauber stellte er seine Normalsicht wieder her. Denn Geister besaßen keine Wärmeausstrahlung. Höchstens würden sie durch sie durchgehende Infrarotstrahlung schlucken und einen Schatten werfen. Dieses Experiment wollte Julius im Moment nicht durchführen. Zunächst wiederholte er das Lied des inneren Friedens. Dann setzte er auf pure Dreistigkeit.

"Na, wo seid ihr kleinen Geistermädchen?! Miez miez miez!" rief Julius bewusst provozierend. Die Antwort kam prompt. Sie überraschte ihn, obwohl er eigentlich meinte, auf alles gefasst zu sein. Unvermittelt rüttelte sein Armband an seinem rechten Arm. Um ihn herum erglühte eine goldene Aura, und er sah genau zehn Zentimeter vor seinem Gesicht zwei schmerzverzerrte Gesichter, die regelrecht in der goldenen Aura zerflossen. Er hörte einen lauten Schrei unmittelbar vor sich. Dann erlosch der goldene Strahlenkranz um ihn auch schon wieder, und sein Armband beruhigte sich.

"Was sollte die Nummer denn jetzt?" fragte Julius in den Raum hinein. Doch niemand antwortete darauf. Er sah nur den am Boden liegenden Geisterjäger. Nur der konnte den Drachenhautpanzer ausziehen. Julius hob den rechten Arm mit dem Armband. Doch dann fiel ihm ein, dass er Madame Rossignol damit nicht rufen konnte, um sie zu fragen, wie man einem Bewusstlosen einen Drachenhautpanzer abnehmen konnte. Aber vielleicht wusste Florymont das. Doch dann musste er Camille erst erklären, was er wieder so anstellte. Schon mal gut, dass Millie noch nicht nachgefragt hatte. Immerhin pulsierte der Herzanhänger. Die Verbindung stand also noch.

"Mobillicorpus!" versuchte Julius den Körpertransportzauber. Doch dieser gelang auch nicht. Am Ende trug der Geisterjäger noch ein Untelekinierbarkeitsartefakt bei sich, um vor direkten Angriffen auf denKörper geschützt zu sein. Julius blickte sich um. Er stand allein in einem fast komplett zerstörten Laboratorium. Nur der Chlorgaszylinder und die von unzähligen Splittern gespickten Steintische und Metallgefäße zeigten, dass hier einmal alchemistische Forschungen betrieben worden waren. Immerhin ließ das Ohrenklingeln nun ganz nach. Er hörte jetzt nur noch das leise Rauschen seines Blutes und das leicht erregte Pochen seines Herzens, wenn er nicht gerade Luft holte.

"War das jetzt die ganze Schau, Mädels?!" rief Julius. Ein leises Knirschen von der Decke mahnte ihn, nicht noch einmal so laut zu rufen. Er kannte genug Geschichten, wo ein lautes Geräusch ganze Lawinen ausgelöst hatte. Sicher konnte ein lauter Ruf auch ein ganzes Schloss zusammenkrachen lassen. Ob der Drachenhautpanzer ihn dann beschützte wusste er nicht. Sicher war nur, dass er sich dann nicht mehr aus einem großen Trümmerberg herausgraben konnte. Den Rest würde der Sauerstoffschwund besorgen. Nein, lebendig begraben werden war nicht der Tod, den er sterben wollte, beschloss Julius ganz entschieden.

Weil er den Geisterjäger nicht mitnehmen konnte suchte Julius alleine nach dem Raum, in dem dieser den vierten Geist geortet hatte, der angeblich schwächer als die drei anderen war. Er war auf der Hut, so leise wie möglich zu gehen. Zwar hielt er den Sichtbarmacher bereit, doch was immer die drei Geisterbräute gerade eben versucht hatten, sie waren blitzartig vorgestoßen. Julius vermutete, dass nur die mit dem Armband zusammenwirkende Siegelaura Darxandrias und die Goldblütenhonigphiiole den eigentlichen Angriff abgewehrt hatten. Vielleicht, so fiel ihm ein, hätte er den Angriff nicht einmal gespürt. Ja, vielleicht hatten diese nackten Nachtgespenster genau die Nummer mit seinem Begleiter abgezogen und ihn deshalb schlicht weg lahmgelegt. Julius musste einmal mehr anerkennen, welche Macht Nachtodformen von Hexen und Zauberern besitzen konnten. Die waren längst nicht alle so harmlos wie die Geister von Hogwarts, mal vom blutigen Baron abgesehen, oder die meistens außer Sicht bleibenden Gespenster von Beauxbatons, mal vom einarmigen Henker abgesehen.

"Sei darauf gefasst, heute etwas für dich noch nicht vorstellbares zu erblicken", hörte er Temmies Gedankenstimme im Kopf. Sie beruhigte ihn einerseits, weil sie ihn beobachtete. Doch ihre Warnung verunsicherte ihn andererseits. Vor was warnte sie ihn. Er fragte sie in Gedanken. Doch sie schwieg. Das hieß für ihn, dass er es selbst an sich herankommen lassen musste.

Die letzten Schritte führten über rissigen Steinboden. Julius fragte sich, ob es in diesem Spukschloss auch Ungeziefer gab. Falls nicht, warum nicht? Er dachte an das Sprichwort, dass Ratten immer als erste das sinkende Schiff verließen. Wenn hier niemals Ratten oder Mäuse, Asseln oder Schaben gewohnt hatten, dann wohl wegen des dauerhaften Fluches.

"Julius horchte auf. Er hörte ein leises Wimmern, voller Verzweiflung. Dann eine wütende Frauenstimme, die wem auch immer eine heftige Verwünschung zurief. Er fühlte wie das Blut aus seinem Gehirn verschwand. Wie konnte das sein? Er musste Gewissheit haben.

Er trat weiter vor und wäre fast in einen Schacht hineingefallen. Gerade so konnte er sich noch abfangen. Dann richtete er das Zauberstablicht direkt nach unten. Jetzt sah er mit seinen Augen, was seine Ohren ihm schon verraten hatten, er aber bis jetzt nicht glauben wollte.

"Ja, jetzt kennst du fast unser kleines Geheimnis", hörte er eine leicht erhöht klingende Männerstimme hinter sich. Auch diese Stimme ließ ihn erschauern. Denn es war die Stimme von Oreste Lunoire.

Julius wirbelte herum, für einen Moment vergessend, was er gerade gesehen hatte. Vor ihm stand der Geisterjäger, ein überlegenes Lächeln auf dem Gesicht. Bildete Julius es sich ein, oder wirkten die Augen des Geisterjägers leicht erhellt und seine Gesichtszüge fraulicher, vomSchnurrbart abgesehen?

"Wir hätten dich gerne von unserer Sache überzeugt und du hättest mit ihr da unten sicher eine Menge Geschichten ausgetauscht. Aber das widerwärtige Zeug, dass du bei dir trägst und dieses vermaledeite Zauberwerk, in das du deinen Geist gehüllt hast, vereiteln unsere Bemühungen, dich von unserer Sache zu überzeugen. Aber Dem hier kann selbst deine widerwärtige Wehr nicht beikommen." Julius empfand unmittelbar ein Gefühl von Déjà Vu. Eine ähnliche Situation hatte er schon mal erlebt. Da stand ein vor Triumph und Verachtung strotzender Zauberer vor ihm und hob seinen Zauberstab. Schon öffnete er den Mund, um die zwei verbotenen Worte zu sagen, die Worte, die die letzten in Julius Leben sein sollten.

ENDE DES 1. TEILS

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