Seitdem Hexen und Zauberer in aller Welt und durch alle Kulturen beschlossen haben, ihre Existenz und ihre Tätigkeiten vor denen geheimzuhalten, die nicht zaubern können, gab es immer schon Leute, die dafür zuständig waren, das Zusammenleben zwischen Menschen mit magischen Fähigkeiten und Lebewesen, die in sich und/oder nach außen wirksame Magie wirken können überwachen und regeln mussten, um diese Geheimhaltung zu wahren und den Frieden zwischen Menschen und Zaubergeschöpfen zu bewahren. Da wo magische Wesen sowohl intelligenz als auch besondere körperliche oder geistige Fähigkeiten aufbieten, ist dieses Zusammenwirken besonders wichtig. Bei Wesen, die bereits Jahrtausende lang leben und sich eine eigene Gesellschaftsordnung geschaffen haben ist es auch wichtig, ein gleichberechtigtes Miteinander zu pflegen. Das alles weiß der junge Zauberer und Familienvater Julius Latierre. Deshalb sieht er es als zusätzliche Herausforderung an, als er vom Ältestenrat der überragend schönen wie mächtigen Veelas zu ihrem Vermittler zwischen ihnen und den Menschen ausgewählt wird. Dabei muss er jedoch seine übrigen privaten und beruflichen Verpflichtungen einhalten. Das wird nicht immer leicht sein, weiß er.
Nur wer von seinen oder ihren Eltern von ihr erfahren hatte kannte sie. Nur wer von der großen Urmutter Mokusha abstammte, konnte sie finden und erblicken. Nur jene, in deren Adern das Blut der alten Linie strömte konnte sie betreten: Mokushas Heimstatt. Die Insel lag mitten in jenem Meer, dass von den Kartenzeichnern, Seeleuten und Kriegsknechten das schwarze Meer genannt wurde. Seit mehr als sieben Jahrtausenden lag sie unter einem unbrechbaren Zauber, der sie für Menschen unauffindbar und unbetretbar machte. Schiffe, die in ihre Nähe kamen, wurden ohne spürbare Auswirkungen um sie herumgelenkt. Die modernen Flugmaschinen der magielosen Menschen überflogen sie, ohne dass deren Insassen etwas anderes zu sehen bekamen als das wogende Meer. Selbst für die unsichtbaren Abtaststrahlen und die für Wärmestrahlung empfänglichen Gerätschaften war und blieb die Insel unsichtbar. Zwar wussten die Träger magischer Kräfte, dass es den Ursprungsort, die Wiege aller Veelas gab. Doch auch für die Träger der Magie blieb die Insel unerreichbar.
Rauschend brandeten die Wellen gegen die weißgoldenen Sandstrände. Wenn sie brachen sprühte ihre Gischt bis zu den sattgrünen Säumen der Marschen, die den birnenförmigen Küstenverlauf nachzeichneten und wie eine grüne Grenze zwischen Strand und Landesinnerem da lagen. Das Eiland maß in seiner Längsachse zweitausend Schritte und an seiner breitesten Stelle achthundert Schritte. Wo kein salziges Meerwasser mehr hinspritzen konnte wuchs ein üppiger Mischwald, in dem alle Bäume dieser Breiten zu finden waren. Ebenso wie die Bäume stellten auch die hier heimischen Tiere einen umfangreichen Querschnitt aus der in dieser Region vorkommenden Tierwelt dar. Es gab Vögel, die in den Baumwipfeln ihre Lieder und Rufe ertönen ließen, stolze Hirsche, die jeden Herbst mit lautem Röhren ihre Rangstellung und Fortpflanzungsberechtigung erstritten, Rehe, Luchse und sogar ein kleines Wolfsrudel. Dieses zeichnete sich jedoch dadurch aus, dass die erwachsenen Tiere gerade so groß wurden wie Welpen ihrer Verwandten vom Festland. Da sie nur auf dieser Insel lebten und ja sonst niemand dieses Eiland betreten konnte, der sich der Tierkunde verschrieben hatte, wussten nur die Zutrittsberechtigten von ihnen. Das herausragendste und zugleich wichtigste Merkmal war ein etwa zweihundert schritte langer und hundert Schritte emporragender Hügel, der vom Umriss her wie die obere Hälfte einer Eierschale aussah. Bäume und Unterholz siedelten bis zur Hügelkuppe. Aus dem Hügel selbst entsprang ein munterer kleiner Fluss, der in bis zu drei Schritten breiten Verästelungen in Südrichtung dem Meer entgegenfloss. Der Fluss trat aus einem drei Menschenlängen hohen Felsentor aus, durch das ein über Jahrmillionen entstandenes Höhlensystem innerhalb des Hügels zu betreten war. In der größten Höhle, dort wo der Fluss aus einem großen Quelltopf entsprang, lag das Allerheiligste jener Wesen, die vor siebeneinhalb Jahrtausenden Entstanden waren, die Wiege der Veelas, auch als Mokushas Ruhelager bezeichnet.
Sie flogen aus allen Richtungen heran. Weiße und schwarze Schwäne, weiße und schwarze Störche, goldene Adler und sogar rosarote, stattliche Flamingos. Ihr Ziel war das Felsentor, aus dem der Fluss des Lebens strömte. Ohne einen Laut zu geben landeten die anfliegenden Vögel am Ostufer des Flusses unmittelbar vor dem Zugang. Kaum waren die insgesamt achtundvierzig Vögel gelandet, vollzog sich mit ihnen eine magische Verwandlung. Sie wuchsen an und wurden dabei immer menschenähnlicher. Es vergingen nur zwanzig Sekunden, da standen achtundvierzig schlanke, hochgewachsene Gestalten am Flussufer, die auf den ersten Blick besonders attraktive Menschen sein mochten. Vierundzwanzig Frauen mit langen, fließenden Haaren und vierundzwanzig schlanke Männer mit nackenlangem Haar und ausgeprägten Arm- und Beinmuskeln blickten einander an. Sie alle waren unbekleidet. Doch das störte sie nicht. Im Gegenteil, nur frei von jeder von Menschen für züchtig erachteten Verhüllung durften sie hier sein. Ein Beobachter hätte denken können, dass die hier zusammengekommenen Wesen gerade dreißig oder vierzig Jahre alt waren. Wer mit der Natur der Veelas nicht vertraut war hätte es vollkommen abgestritten, dass der jüngste von ihnen bereits stolze dreihundert Jahre alt war. Der älteste Vertreter der Männlichen zählte bereits vierhundertsiebzig Lebensjahre, die älteste Vertreterin der Weiblichen konnte auf vierhundertfünfzig Lebensjahre zurückblicken. Es waren die achtundvierzig ältesten lebenden Vertreter ihrer Art, die wie jedes Jahr in der zweiten Dekade des Skorpionmondes zusammengetreten waren, um in der Höhle Mokushas zu sprechen.
Wie das alte Gesetz es verlangte, betraten die achtundvierzig Zusammengekommenen ohne hörbares Wort der Begrüßung die Höhle. Zwischen den Händen der Versammelten entstanden orangerote Feuerkugeln, die ihnen den Weg durch das ihnen allein bekannte Labyrinth erleuchteten. Mal folgten sie dem Lauf des Flusses. Mal wichen sie in Seitengänge aus, weil der Fluss unter in ihn hineinragenden Felsen hindurchfloss. Schließlich betraten sie die große Höhle, das Heiligtum ihrer Art. Die frei zwischen den Händen schwebenden Feuerbälle tauchten die gewaltige Halle in ein rotgoldenes Licht, das einen Hauch überirdischer Erhabenheit erzeugte. Der Schein der achtundvierzig leuchtenden Feuerkugeln fiel auf die gigantische, steinerne Gestalt, die eine vollkommen umrissgetreue Nachbildung einer mit ausgestreckten, halb ausgebreiteten Beinen daliegende Frau aus glattem Stein darstellte. Die riesenhafte Abbildung mochte an die einhundert Menschenschritte lang sein und wies keinerlei abgebildete Bekleidung auf. Lediglich der mächtige Haarschopf bedeckte Schultern, Brustkorb und oberen Bauchraum der übergroßen Statue. das filigran wirkende Haar aus Stein ließ jedoch das Gesicht unbedeckt. Es war langgezogen mit einer schlanken Nase und vollen Lippen. Die Augen der auf leicht aufsteigender Unterlage gebetteten waren geschlossen. Die Gesichtszüge wirkten entspannt, als schliefe die Dargestellte friedlich.
Die in die gewaltige Höhle eingetretenen Veelas warfen ihre Feuerbälle in die Luft, so dass diese zu einer einzigen glühendenKugel verschmolzen. Dann sprangen sie wie auf ein stummes Kommando in den Fluss, der unter der liegenden Statue hervortrat. Sie tauchten ganz und gar unter, wanden und reckten sich unter Wasser, streckten Arme und Beine weit von sich und drehten sich mal in Rücken-, mal in Bauchlage. Das ging mehrere Minuten lang so. Dann schwammen sie zum Ostufer und entstiegen dem Fluss. Im Schein der mehr als zehn Körperlängen über ihnen leuchtenden Flammenkugel stießen sie alle erst einen langgezogenen und dann mehrere kurze Schreie aus, die eindeutig so klangen wie die Schreie eines soeben geborenen Kindes. Als alle zwölf kurze Schreie ausgestoßen hatten wandten sie sich einander zu. Sie verneigten sich voreinander. Dann sprach die älteste Weibliche den ältesten männlichen an: "Ich grüße dich, mein Bruder!" Der Angesprochene erwiderte: "Ich grüße dich, meine Schwester!" Dann sprachen alle weiblichen im Chor: "Wir grüßen euch, unsere Brüder!" Darauf antworteten alle männlichen im Chor: "Wir grüßen euch, unsere Schwestern!" Daraufhin löste sich die über allen schwebende Feuerkugel zu einer Wolke aus orangerotem Dunst auf. Dieser sank sanft herab und hüllte alle achtundvierzig ein. Sie reckten sich im glühenden Nebel, der ihnen keinen Schmerz bereitete. Im Gegenteil, der glosende Dunst behagte ihnen allen sichtbar. Er trocknete ihre vom Bad im Fluss nassen Haare und Körper. Als dies vollendet war glitt die orangerote Wolke wieder nach oben und ballte sich wieder zu einer großen, sanft lodernden Flammenkugel zusammen. Damit endete das jahrtausende alte, jedes Jahr wiederkehrende Begrüßungsritual.
"Brüder und Schwestern, wie jeden Sonnenkreis sind wir im Mond der ersten Niederkunft unserer hier schlafenden Mutter zusammengekommen, um über all das zu sprechen, was im letzten Jahr in unserem alten Volk geschehen ist", sagte der älteste Veela, der in der Sprache seines Volkes Lebensfeuer hieß. Die älteste der Weiblichen, die Sommerwind hieß, ergänzte: "Ja, es sind fünf Dinge, die zu bereden sind." Die sechsundvierzig übrigen Veelas verharrten in aufmerksamer Stille.
"Zunächst werde ich verkünden, wie viele neue Söhne und Töchter unserer großen Urmutter im verwehten Jahr in diese Welt eintraten", sagte Sommerwind. Lebensfeuer fuhr fort: "Dann gilt es, unseren Stand in der Welt der kurzlebigen Menschen zu bereden, nachdem der Sohn von nneuer Tag versucht hat, so viele unberührte Töchter zu Trägerinnen seiner Nachkommen zu machen, wie Schriftzeichen in seinem Namen vorkommen", sagte Lebensfeuer und blickte auf eine der übrigen weiblichen Veelas. Diese verzog kurz das Gesicht, nickte dann aber, ohne ein Wort zu sagen. "Dann möchte unsere Mitschwester Himmelsglanz, die bei den Kurzlebigen ihres erwählten Heimatlandes Léto heißt, eine Bitte vorbringen, über deren Erfüllung wir in Vertretung unserer gesamten Rasse beraten und abstimmen mögen." Die erwähnte Mitschwester nickte kurz und heftig. Lebensfeuer fügte dann noch hinzu: "Außerdem gilt es, die Taten anderer Wesen mit Zauberkräften zusammenzufassen und zu beraten, wie wir mit diesen Wesen umzugehen haben, ob wir den Menschen gegen sie beizustehen haben oder uns gar mit diesen Wesen zu verbünden suchen sollten. Denn unter den Kurzlebigen ist wohl einer aufgestanden, der dunkle Hinterlassenschaften sucht und in die Welt zurückzubringen trachtet." Sommerwind beschloss die Reihenfolge der Tagesordnungspunkte dann noch: "Zum Schluss gilt es noch, neue Verbindungen zwischen Söhnen und Töchtern unserer großen Urmutter untereinander und mit Kurzlebigen zu verkünden oder deren Entstehung zu beraten." Alle nickten.
Trotzdem es nur vier Haupttagesordnungspunkte waren, so lehrte die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte, dass deren Beratung und nötigen Beschlüsse mehrere Tage Zeit beanspruchten. Da die Beratungen immer in Sicht- und Hörweite der versteinerten, riesenhaften Urmutter zu erfolgen hatten, wurden Ess- und Schlafpausen erst dann eingelegt, wenn die versammelten Veelas von ihren Körpern Hunger, Durst oder Ermüdung fühlten.
Im Schein der von allen erzeugten und in die Höhle gepflanzten Feuerkugel begann nun die Beratung des ersten erwähnten Tagesordnungspunktes. Morgenröte, die in ihrer Heimat Russland Sarja hieß, berichtete den Mitversammelten, wie sich die Lage für sie und ihren Sohn Diosan nach dessen Jagd auf junge Mädchen weiterentwickelt hatte. "Arcadi ist immer noch darauf aus, meinen Sohn zu fangen und wegzusperren. Seine Handlanger suchen immer noch nach ihm. Das bewirkt, dass Sonnengolds Tochter Frühlingsstimme die Lust verloren hat, seine Gefährtin zu werden. Mittagslicht, was hat deine Tochtertochter genau gesagt?" wandte sie sich an eine Artgenossin mit weißblondem Lockenschopf, der bis zur Unterkante ihres üppig gestalteten Brustkorbs herabwallte.
"Sie hat wörtlich zu mir gesagt: "Ich werde nicht das Heil eines von seinem Menschenvater krank gemachten Jungen, indem ich sein Kind in mich aufnehme, nur damit dieses Kind dann ohne seinen Vater großwerden soll", sagte Mittagslicht mit einer tiefen, von einem langen Leben leicht angerauhten Stimme. Morgenröte und ihre Schwester Himmelsglanz alias Léto nickten behutsam.
Auch andere in Frage gekommenen Artgenossinnen, die mit Diosan zusammengeführt werden wollten, um ihm zu helfen, von seinem tiefsitzenden Hass auf seinen Vater und alle Menschen freizukommen scheuten nun davor zurück, sich offiziell mit ihm zusammensprechen zu lassen. Allerdings gab es da noch eine Veela, die in den Wäldern der Karpaten lebte, die durchaus bereit war, mit Diosan ein Paar zu bilden und eine Familie zu gründen. Gemäß der Tagesordnung sollte diese mögliche Verbindung dann am Ende der Beratungen besprochen werden. Jetzt ging es erst einmal nur darum, dass Diosans Taten die russischen Menschen allgemein feindselig gegen die in ihrem Hoheitsgebiet lebenden Kinder Mokushas stimmte. Zwar wussten die Beamten des russischen Zaubereiministeriums, dass sie keinen Träger von Veela-Blut töten durften, wenn sie und ihre Blutsverwandten nicht unverzüglich getötet werden sollten. Doch Morgenröte traute es Maximilian Arcadi zu, dass er eine andere, nicht weniger unerwünschte Möglichkeit finden würde, Diosan loszuwerden. So berichteten nun alle anderen Mitglieder dieser Versammlung, wie die Taten Diosans in der Menschenwelt empfunden wurden und wie gegen mögliche Folgetaten vorgegangen werden sollte. Dabei kam heraus, dass nur die Veelas, die mit gewöhnlichen Menschen verwandtschaftliche Beziehungen hatten, über weitere Beschlüsse der Zauberer und Hexen ihrer Heimatländer unterrichtet wurden. Dies hieß zum Missfallen aller Versammelten, dass es durchaus auch Vorhaben gab, über die sie erst dann erfahren würden, wenn diese in die Tat gesetzt sein würden. "Am Ende bringen die durch Diosans Jungfernjagd verängstigten noch ein Gesetz auf den Weg, dass unsere Rasse zur unerwünschten Lebensform erklärt und allen unseren Kindern und Kindeskindern jedes Recht auf ein freies Leben verweigert", warf Frühlingslied, eine dreihundertzwanzig Jahre alte Veela aus dem Land der schwarzen Berge ein. Eisenklang, ihr leiblicher Bruder und wegen seiner dreihundertfünfzig Lebensjahre mitspracheberechtigter Veela mit kurzem, rotgoldenem Haar und himmelblauen Augen fügte dem hinzu: "Als ich als Abgesandter unserer Rasse bei dem Minister von Südslawien antrat, der trotz der blutigen Abspaltungskriege der Zauberkraftlosen immer noch für alle dort lebenden Zauberkraftträger spricht, erzählte der mir doch glatt, dass die osteuropäischen Zaubereiminister auf Bitte Arcadis zusammenkommen sollen, um unsere Rangstellung als Denk- und verhandlungsfähige Wesen abzusprechen. Wenn der damit durchkommt werden wir zu niederen Tieren erklärt. Wozu das dann führt sehen wir ja bei den Pelzwechslern und Blutsaugern."
"Will sagen, liebe Brüder und Schwestern, dass Morgenrötes Sohn Diosan unsere altehrwürdige Rasse gefährdet hat und immer noch zu einer Gefahr für uns werden kann. Wie sicher bist du dir, Schwester Morgenröte, dass er dir tatsächlich nicht noch einmal entwischen kann, vor allem, wo du gerade nicht in seiner Nähe bist?"
"Ich habe ihn in den Schlaf der Behutsamkeit gesungen, Sprecher Lebensfeuer. Nur meine Stimme kann ihn daraus erwecken. Doch ich benötige soviel Kraft und Nahrung, als sei er noch in meinem Schoß, um diesen Schlaf aufrechtzuerhalten."
"Ist also keine Lösung", knurrte ein anderer männlicher Veela, der Windflügel hieß. Alle nickten zustimmend.
"Wir benötigen also Fürsprecher in den Zaubereiministerien des Ostens und des Westens", stellte Sommerwind klar und sah nicht zufällig Léto an, was von Létos leiblicher Schwester Morgenröte alias Sarja mit einem missmutigen Blick beantwortet wurde.
"Dies ergründen wir erst, wenn wir wissen, wie wir ungeachtet solcher Fürsprecher weiterhin mit den Menschen umgehen können, ohne uns in einem blutigen Krieg wir gegen sie zu verstricken", erwiderte Lebensfeuer darauf und fand Zustimmung bei seinen männlichen Mitversammelten. Allen hier war anzusehen, dass sie es unheimlich fanden, dass ein aus der Art geratener Veela sie alle in derartige Schwierigkeiten gebracht hatte. Ab da entspann sich eine lange und teils hitzige Unterredung, ob man in Zukunft die Menschen meiden sollte und alle mit Menschen gezeugten Nachkommen und deren Nachkommen aus der menschlichen Gesellschaft herausbefehlen sollte oder ob es vielmehr wichtig sei, sich die Gunst einflussreicher Zauberer und Hexen zu sichern, um die eigene Rasse als denk- und mitspracheberechtigte Zauberwesen bestehen zu lassen, jetzt, wo die Wassermenschen doch noch zugestimmt hatten, nicht mehr zu den niederen Tierwesen gezählt zu werden. Hierbei zeigte sich mal wieder deutlich, dass die weiblichen Veelas die mit dem stärksten Selbstbewusstsein und der größten Entschlossenheit waren. Wo die Männlichen für einen behutsamen Ausstieg und ein abgeschiedenes Leben weit von allen Menschen waren, nur um keinen Krieg mit denen zu verursachen, bestanden die Weiblichen darauf, dass ihre gemeinsame Ahnmutter Mokusha wollte, dass ihre Kinder sich nicht in ein Versteck treiben ließen und zudem auch immer wieder frisches Blut aus anderen nachkommenschaftsfähigen Rassen in ihre Linien einbringen mochten. Morgenröte wehrte sich wild gestikulierend gegen einen Vorwurf einer Veela aus Sibirien, die ihr vorwarf, ausgerechnet von einem eindeutig größenwahnsinnigen Zauberer unbedingt ein Kind haben zu wollen, wo doch zu ersehen war, dass der Größenwahn des Vaters auch den Sohn befallen würde. Sarja hielt der anderen entgegen, dass sie am wenigsten berechtigt sei, sie zu maßregeln, wo sie selbst zehn einflussreiche Zauberer dazu bekommen hatte, die Väter ihrer Kinder zu werden. "Ja, aber ganz mit deren Einverständnis und so, dass sie mitbekamen, wie ihre Kinder aufwuchsen", kam die Antwort der sibirischen Veela, die Schneeglanz hieß.
Am Ende setzten sich die vierundzwanzig weiblichen Ältestenratsmitglieder durch, dass die Veelas weiterhin mit den Menschen zusammenlebten, ja auch von diesen Kinder bekommen sollten, wenn die entsprechenden Männer und Frauen dies auch wollten. Morgenröte alias Sarja enthielt sich bei der abschließenden Abstimmung der Stimme. Sie spannte sich sichtlich an. Denn sie wusste, dass der zweite Tagesordnungspunkt sie ebenfalls betreffen würde.
"Kommen wir nun zu der uns vorgelegten Bitte unserer Mitschwester Himmelsglanz", eröffnete Sommerwind die Besprechung des zweiten Tagesordnungspunktes. "Verkünde uns allen deine Bitte und erläutere uns, warum du sie an uns heranträgst, Schwester Himmelsglanz!"
Léto alias Himmelsglanz blickte erst alle siebenundvierzig Mitversammelten an. Als ihr Blick den ihrer leiblichen Schwester traf erstarrte diese für einen Wimpernschlag. Mehr Regung zeigte sie nicht. Nun begann Himmelsglanz zu sprechen:
"Wie wir gerade alle besprochen haben ist durch Diosans Taten ein schlechter Eindruck entstanden, und da, wo unsere Verwandten leben müssen diese damit rechnen, wegen der Taten eines einzigen, eindeutig kranken Wesens verachtet zu werden. Menschen, die mit unseren Kindern und Kindeskindern Familien gegründet haben werden für befangen erklärt, wenn sie versuchen, für unsere Rasse zu sprechen. Ich erlebe das mit meinen Schwiegersöhnen, seit meine Töchter sich entschlossen haben, kurzlebige Menschen mit Zauberkraft im Blut zu lebenslangen Gefährten zu nehmen. Ja, es wurde meinem im französischen Zaubereiministerium arbeitenden Schwiegersohn und mir verboten, amtlich miteinander zu sprechen. Ich darf ihn nicht in seinen Diensträumen besuchen. Wenn ich also etwas mit dem französischen Zaubereiministerium verhandeln will, muss er weit außer Ruf- und Sichtweite von mir sein. Diosans Jagd auf unberührte Menschentöchter hat das nicht bessergemacht." Morgenröte alias Sarja verzog nur das Gesicht, verhielt sich jedoch still. "Da euch allen bekannt ist, wie meine Schwester und ich es vor einem Jahr erreichen konnten, dass Diosans Jagd beendet und er selbst zu uns zurückgebracht werden konnte, und weil ich mitbekommen habe, dass der junge Zauberer Julius Latierre im Frühling dieses Jahres eine unliebsame Begegnung mit gleich zweien der vaterlosen Töchter überstehen musste und dies nur konnte, weil er wohl einen Zugang zum versunkenen Schatz erhalten hat, dachte ich daran, dass jemand, der nicht unmittelbar mit uns verbunden ist, bei den Menschen unser Ansprechpartner sein soll, einer, der stark und kundig genug ist, ohne seine Willenskraft zu verlieren länger mit uns in einem Raum zu verweilen." Als Himmelsglanz alias Léto von einem versunkenen Schatz sprach wurde sie von fast allen anderen angestarrt wie ein nur alle hundert Jahre stattfindendes Naturschauspiel. Lebensfeuer bat darum, dass Himmelsglanz die Versammlung genauer unterrichtete, wieso sie davon überzeugt war, dass Julius Latierre einen Zugang zu jenem versunkenen Schatz habe. Sie erwähnte nun, dass er offenbar alte Zauber konnte, die im Ministerium nicht oder nur ganz wenigen bekannt waren. Vor allem dass er sich ohne Benutzung seines Zauberstabes gegen ihre Ausstrahlung verschließen konnte, dass sie auch seine Gefühlsschwingungen nicht empfinden konnte, ja und dass er Diosan mit einem einzigen Zauberwort für Minuten davon abbringen konnte, ihn umbringen zu wollen, wo sonst alle anderen Zauber versagten oder zu schwach wirkten, spräche für einen Zugang zum versunkenen Schatz.
"Es heißt, er kenne die Kinder jener Lichtkraftgeweihten, die als Schwester der dunklen Mutter gelebt hat, die neun vaterlos empfangene Töchter geboren hat", sagte Sommerwind. Himmelsglanz nickte. Dann sagte sie aber noch, dass Julius wohl all die Zauber erlernt habe, für die die Kinder der weißen Magierin Ashtaria ihre silbernen Erbstücke brauchten, also unmittelbar von ihr oder einem der anderen Meister der hellen Künste unterwiesen worden sein mochte. "Ich bin vollkommen überzeugt, dass er durch etwas, von dem wir nichts mitbekommen haben, einen Weg zum versunkenen Schatz gefunden hat. Da er weiß, welche Versuchung dieses Wissen für ihn und andere bedeutet, wird er dies natürlich nur jenen sagen und zeigen, denen er vertraut und die für ihn sehr wichtig sind. Es ist daher für uns wichtig, dass wir weder zu seinen Feinden noch zu den Feinden derer werden, denen er sich anvertraut. Daher finde ich, dass wir ihn darum bitten mögen, zwischen uns und seinen Artgenossen zu vermitteln, zumindest jenen, die im selben Land leben wie er, meine direkten Verwandten und ich. Ich erbitte somit die Zustimmung, Julius Latierre, den Sohn der Martha und des Richard Andrews, zu unserem Fürsprecher zu erwählen, der mit uns und für uns bei seinen direkten Vorgesetzten eintritt, wenn Dinge wie mit Diosan geschehen!"
"Du hast dich in diesen Burschen verliebt, Schwester", schnarrte Himmelsglanz. "Ja, und ich kann es dir sogar nicht übelnehmen, weil er durch das, was ihn ein wenig größer und stärker gemacht hat, sehr kraftstrotzend aussieht und zudem eine sehr hohe Zauberkraft in die Wiege gelegt bekam. Aber vergiss ihn, Schwester! Er hat eine Gefährtin, die ihm bereits ein Kind geboren hat und meines Wissens nach gerade an seinem zweiten trägt." Die weiblichen Veelas sahen Himmelsglanz ein wenig verunsichert an. Doch Himmelsglanz alias Léto blieb davon unbeeindruckt. Sie nickte erst ihrer Schwester zu und wandte sich dann wieder an alle Versammelten.
"Ich will es nicht abstreiten, dass mir dieser junge Mensch gefällt und dass, wäre er nicht mit einer seiner Art zusammen und diese die Mutter eines bereits geborenen und erwartende Mutter eines gerade heranreifenden Kindes, ich ihn wohl umworben hätte. Doch was mich vor allem an ihm begeistert ist der Mut, sich neuen Herausforderungen zu stellen, auch wenn er nicht weiß, wie diese nachwirken und dass er trotz der hohen Grundkräfte immer noch ein mitfühlender, seine Artgenossen gleichwertig betrachtender Mensch geblieben ist. Außerdem dürft ihr alle nicht vergessen, wie meine geehrte Schwester Morgenröte es angestellt hat, Gellert Grindelwald dazu zu bekommen, mit ihr Diosan zu zeugen. Ich kann mich daran erinnern, wie dieser Rat vor siebzig Jahren darüber gesprochen hat, ob das so gut war. Ich sage dazu hier und jetzt nur, dass ich es bisher nie nötig hatte, einen Mann durch meine ganze Kraft dazu zu zwingen, mir seine Saat anzuvertrauen, nur weil ich finde, dass ich ein Kind von ihm haben muss, um ihn auf einen mir als richtig erscheinenden Weg zu führen."
"Ich sage es ja, dass du dich in diesen gerade einmal ausgewachsenen Burschen verliebt hast, Schwester", fauchte Morgenröte. "Du redest ihm ja schon nach dem Mund. Das ist deiner nicht würdig."
"Das besprecht für euch alleine", schnarrte Sommerwind, die älteste der hier versammelten weiblichen Veelas. "Mir und allen anderen hier ist nur wichtig, warum wir deine Bitte erfüllen sollen, Himmelsglanz. Du hast uns deine Vermutungen und Erfahrungen erläutert und darum gebeten, dass wir, der Rat der achtundvierzig ältesten, darüber abstimmen. Aber wenn Morgenröte schon meint, Einwände zu haben, dann bitte ich sie darum, uns ihre Sicht der Lage und die Gründe für ihre Einwände zu erklären!"
Morgenröte nickte dankbar und führte nun aus, dass Julius Latierre, obgleich er große Zauberkräfte habe, immer noch jung und leicht zu beeinflussen sei, wenn nicht durch die Kraft einer Veela oder einer der verbotenen neun Töchter, dann durch gutes Zureden und Behauptungen, dieser oder jener Weg sei für ihn richtig. Außerdem fehle es ihm an Ehrfurcht vor älteren und somit erfahreneren Mitgeschöpfen. Denn nur deshalb habe er sich dazu verleiten lassen, sie zu beleidigen, sie mit den Maßen seiner Rasse zu messen und ihr zu unterstellen, nur ihrer eigenen Macht und Lust unterworfen zu sein und keinen Respekt vor anderen zu haben. So jemanden, so Morgenröte, dürfe niemand aus diesem Rat so eine wichtige Aufgabe zuerkennen. Einige der Versammelten nickten behutsam. Doch als Schneeglanz fragte, was der junge Zauberer wortwörtlich gesagt hatte und Morgenröte es allen erzählt hatte bemerkte Sommerwind:
"Nun, dass ein unausgegorener Knabe eine Frau beschlafen kann, die durch Rauschmittel oder Ohnmacht nicht im Stande ist, ihn abzuwehren trifft ja wohl zu. Immerhin gelang es ja dem Finsterling Pacidenyius, unsere große Vorgängerin Sternenmeer zu schänden, weil er sie mit einem gegen den Kopf geschleuderten Stein betäuben konnte. Wie wir aus der von unseren Vormüttern und Vorvätern gesungenen Geschichte wissen hatte sie nur glück, dass er keine fruchtbare Saat ausstoßen konnte und sie somit kein ungewolltes Kind von ihm empfing. Wenn ein Zauberer unserer Kraft erliegt und nicht mehr Herr seiner eigenen Entscheidungen ist ist das Ohnmacht. Insofern hat der junge Zauberer da auch recht."
"So empfindest du es nicht als Beleidigung, was er gegen uns von sich gab?" schnaubte Morgenröte. Schneeglanz schüttelte den Kopf. Ihrem Beispiel folgten zweiundzwanzig weitere weibliche Veelas. Die Männlichen verhielten in abwartender Haltung.
"Mich hat dieser unausgegorene Zauberstabträger mit seinen Worten jedenfalls beleidigt. Ich bin nur unter einer Bedingung bereit, ihn zu unterstützen: Er soll für ein Jahr allem entsagen, was er an Verpflichtungen und Vergnügungen hat und seine Ehrenschuld bei mir abarbeiten. Nur wenn er mir zeigt, dass er willens und fähig ist, zu den Folgen seines Fehlverhaltens zu stehen, dann werde ich ihm meine Unterstützung zusagen. Insofern bin ich durchaus bereit, diese Bitte meiner geliebten Schwester im nächsten Jahr neu zu verhandeln, zumal dieser Bursche dann mehr mit unserem Leben und unseren Bedürfnissen und Anforderungen vertraut sein wird, um in unserem Sinne zu sprechen und zu handeln." Die weiblichen Veelas blickten Morgenröte nun verdrossen an. Himmelsglanz grinste verächtlich, während die männlichen Mitversammelten verunsichert von einer Artgenossin zur anderen blickten. Eisenklang fragte dann: "Du forderst einen Menschen auf, deine Verzeihung durch das Jahr der bedingungslosen Dienstbarkeit zu erlangen?" Morgenröte bejahte diese Frage laut und unmissdeutbar. Das wiederum rang ihrer leiblichen Schwester Himmelsglanz ein glockenhelles Lachen ab und Sommerwind ein höchst amüsiertes Lächeln.
"Du hast es vorhin selbst erwähnt, dass er bereits durch Wort und Blut gebunden ist, Schwester Morgenröte. Wenn er dir das Jahr der bedingungslosen Dienstbarkeit gewährt hieße das, allen untreu zu werden, die ihm vertrauen und beanspruchen können, ja sogar gegen das Wort, dass er seiner Gefährtin gab, einer anderen nachkommenschaftsfähigen zu einem Kind zu verhelfen. Immerhin wissen wir alle hier, dass zur bedingungslosen Dienstbarkeit nicht selten auch das Beilager gehört, wenn die um ihre Ehre gebrachte dies als eine Dienstleistung befiehlt. Er würde nach diesem Jahr als von seinen Anvertrauten nicht mehr zu achtender zurückkehren. Vergiss es also besser gleich, ihn offiziell zur Auslösung einer bei dir aufgekommenen Ehrenschuld zu fordern!" Dem stimmten nun alle Anwesenden durch Nicken zu. Morgenröte straffte sich kurz und entspannte sich dann wieder. "Dann habe ich zu diesem Punkt nichts mehr zu sagen", fauchte sie noch. Das war für alle anderen das Zeichen, über Himmelsglanzes Bitte abzustimmen, ob Julius Latierre der Vermittler zwischen dem französischen Zaubereiministerium und den in Frankreich lebenden Kindern Mokushas sein sollte. Lebensfeuer erfragte die Stimmen der Männlichen. Er stimmte mit den dreiundzwanzig anderen für die Gewährung dieser Bitte. Sommerwind erfragte die Meinung der Weiblichen. Außer Morgenröte, die eindeutig dagegenstimmte, pflichteten alle anderen Himmelsglanz bei, das sie mit Julius Latierre einen Vermittler in der französischen Zaubererwelt beauftragen wollten. Damit war Himmelsglanzes Antrag angenommen. Allerdings stellten Lebensfeuer und Sommerwind eine Bedingung:
"Da du uns darum gebeten hast, diesen jungen Zauberer zu unserem Vermittler zu bestimmen, so erlegen wir dir hiermit auf, ihn in all das einzuweihen, was nicht als ausdrücklich uns allein zustehendes Wissen gilt. Denn deine Blutsschwester Morgenröte hat recht, dass er von uns wohl noch zu wenig weiß, um mit ganzer Überzeugung zwischen uns und den seinen zu vermitteln. Daher erwirke bei ihm und seinem Dienstherren, dass er von dir in den Dingen unterwiesen wird, die Menschen über uns wissen dürfen!" Himmelsglanz nickte, während ihre Schwester Morgenröte verächtlich grinste.
Nach einer Essens- und Schlafpause berieten die achtundvierzig über die Taten von Werwölfen, Wertigern und Vampiren. Viele der Mitversammelten gingen davon aus, dass die Bedrohung durch die Werwölfe noch nicht aus der Welt war. Allerdings dürfe man auch die Vampire nicht unterschätzen. Jetzt, wo nur noch eine der neun verbotenen Töchter wach war konnten diese die Gunst der Stunde nutzen, um von sich aus nach einer Vorherrschaft zu streben. Außerdem könnten andere Zauberkraftträger auf die Idee kommen, sich die Vampire Untertan zu machen. Eisenklang erwähnte in dem Zusammenhang die Andeutungen, dass ein starker Dunkelmagier versuche, die herrenlosen Gefolgsleute des britischen Dunkelhexers Voldemort um sich zu scharen. Außerdem sei da ja auch jene, die sich für Sardonias Erbin hielt. Einige der in Mokushas Heimstatt versammelten hatten als ganz junge Veelas noch die letzten Jahre Sardonias mitbekommen, aber auch Anthelias Herrschaft auf den britischen Inseln berichtet bekommen. Himmelsglanz warf ein, dass auch deshalb ein Vermittler in der Menschenwelt wichtig sei, um näheres darüber berichten zu können.
"Somit ist es beschlossen, dass wir alle jedes Jahr mindestens eine Zusammenkunft zwischen den kurzlebigen Menschen und uns erbitten, um über diese Entwicklungen unterrichtet zu werden", fasste Lebensfeuer das Ergebnis der Beratung zusammen.
Nach einer weiteren Pause ging es um die jüngeren Veelas, wie sie mit den Menschen zusammenlebten. Dabei erwähnte Himmelsglanz, dass sie demnächst einer Behauptung nachgehen müsse, ihre Enkeltochter Euphrosyne Blériot, die wie ihre Enkeltöchter Fleur und Gabrielle einen Zauberer zum Vater hatte, suche sich einen Gefährten in der Welt der magielosen Menschen. Gemäß der uralten Tradition der Kinder Mokushas musste eine Verbindung zwischen einer Trägerin des alten Blutes und einem Menschen von der Familie des oder der Veela zugestimmt werden. "Erinnere sie daran, dass wenn eine von uns mit einem Menschen ohne die erhabenen Kräfte zusammenleben will, sie ihre eigenen Kräfte nicht mehr frei verwenden darf, nur noch im Falle direkter Gefahren!" wies Sommerwind Himmelsglanz auf etwas hin, das dieser selbst all zu bekannt war. Doch der Form halber musste der oder die älteste aus dem Rat der achtundvierzig auf die zu erwartenden und zu befolgenden Dinge hinweisen, auch wenn alle anderen dies bereits genau wussten.
"Und was ist mit Gabrielle? Ist diese Freundschaft mit einem ihrer Mitschüler nur die Laune eines jungen Mädchens, oder beharrt sie darauf, diesen Jüngling als ihren Gefährten an ihrer Seite zu haben?" wollte Sommerwind von Himmelsglanz wissen. Diese wiegte den Kopf. "Gut, dass du mich daran erinnerst, Sommerwind! DA werde ich wohl noch einmal mit ihr drüber sprechen, wenn sie in den Weihnachtsferien zu ihren Eltern kommt."
"Weihnachtsferien", schnaubte Schneeglanz. "Das Fest derer, die die großartigen Kräfte oberhalb der Natur ablehnen und den Frauen und Mädchen nur die Rolle der dankbaren Dienerin und Gebärerin zugestehen wollen."
"Die Welt ist im Wandel, Mitschwester Schneeglanz", erwiderte Himmelsglanz darauf. Doch so richtig überzeugend klang sie nicht.
Als nach insgesamt drei Tagen die Beratungen und Beschlüsse der vier Dutzend Veelas abgehandelt waren erfolgte das Verabschiedungsritual. Jeder und jede tauchte die Arme in das Wasser des Flusses, der unter dem gigantischen Standbild entsprang. Als sie bis zu den Schultern benetzt waren bildeten sie zwei konzentrische Kreise. Die Weiblichen formten den inneren Kreis. Dann drehten sie sich behutsam einander zu und umarmten einander, bis jeder jede umarmt hatte. Danach lösten sie den all die Tage über ihnen schwebenden Feuerball in einzelne Glutkugeln auf und trugen diese als frei schwebende Lichtquellen vor sich her nach draußen. Dabei sprach niemand ein Wort. Da es gerade mitten in der Nacht war waren die kleinen Feuerbälle und der Mond die einzigen Lichtquellen. Der Sternenhimmel erschien klar und scharf umrissen wie eine gigantische Kuppel über der Insel Mokushas. Gemäß der uralten Tradition, beim Abschied kein Wort mehr zu sprechen versammelten sich alle schweigend am östlichen Ufer des Flusses. Die kleinen Feuerbälle erloschen. Die Veelas legten sich dort wo sie standen nieder. Erst als das Morgenrot die Insel in sein verheißungsvolles Licht tauchte erhoben sich die achtundvierzig ältesten der Veelas und konzentrierten sich. Nun vollzog sich die Verwandlung in jene Vögel, als die sie die Insel angeflogen hatten. Lebensfeuer wurde zum rosaroten Flamingomännchen, während Sommerwind zu einer weißen Störchin wurde. Himmelsglanz und Morgenröte wurden zu weißen Schwänen, während die meisten Männlichen zu kleineren Vögeln wurden, die sich mühelos zwischen natürlich entstandenen Wald- und Wiesenvögeln verbergen konnten. Als alle ihre Gestalt gewechselt hatten flogen sie wie auf einen unhörbaren Befehl hin auf und schwärmten aus, jeder und jede in eine eigene Richtung. Dabei beschleunigten sie derartig, dass es nur eine Minute dauerte, bis der letzte von ihnen von der Insel herunter war. Nun würde sie wieder ein Jahr unberührt bestehen, nur von den Tieren bewohnt, die hier vor über siebentausend Jahren eine neue Heimat gefunden und sich vermehrt hatten.
Es kam selten vor, dass es in Millemerveilles regnete. Doch wenn es regnete, dann gleich wie aus großen Kesseln. Heute, am sechzehnten November, war es mal wieder soweit. Millie Latierre hatte selbst die Kniesel Goldschweif und Dusty in das Apfelhaus geholt, damit sie nicht in ihren Baumhäusern rammdösig wurden. Das Goldschweif wieder Junge trug wusste sie. Aurore mochte den Regen zwar nicht. Doch sie freute sich, dass die beiden Kniesel im Haus sein durften. Immerhin hielt der Regenschutz-Zauber, der solche sintflutartigen Regengüsse um das große, runde Haus herumleitete.
Dusty hatte das Klavier im Musikzimmer als Beobachtungs- und Schlafposten erwählt. Aurore wollte aber mit ihm spielen. So drückte sie den Klavierdeckel auf und hämmerte energisch die weißen und schwarzen Tasten nieder, dass es im ganzen Haus dröhnte. Aurore sang dazu leicht neben jeder Tonleiter die Melodie vom Lied von den lustig trommelnden Regentropfen. Im Rhythmus dieser Melodie stieß sie mit ihren kleinen Fingern die Tasten nach unten.
"Rorie, das Klavier hat dir nichts böses getan, dass du es so quälen musst!" rief Aurores Maman Mildrid aus der oberen Wohnetage herunter. Doch Aurore hielt diese Zurechtweisung wohl nur für einen Ansporn. Denn sie hüpfte nun vor dem Klavier auf und ab und hieb die Tasten weiter nieder, von den untersten bis zu den obersten. "Rorie, ist gut jetzt! Singen darfst du, aber lass bitte das Klavier in Ruhe!" rief Mildrid noch einmal.
"La la la la-la-la-la la laaa", sang Aurore. Dusty machte keine Anstalten, seinen wild unter ihm vibrierenden Ruheplatz zu verlassen.
"Blitz und Donner, Rorie, hör jetzt endlich damit auf!" schrillte Millie. "Mann, hörst du das nicht, dass das in den Ohren weh tut?!"
"Rorie macht Musik", freute sich Aurore. "Macht musik für Dusdus."
"Ja, ist aber jetzt genug!" stieß ihre Mutter aus, die gerade auf der Wendeltreppe in der Senkrechtachse des Hauses herunterschwankte. Offenbar missfiel das, was Aurore Musik nannte ihrer noch ungeborenen Schwester. Denn der blaue Hausumhang der stattlich gerundeten Hausherrin beulte sich immer wieder stark aus. Aurore sah das und lachte laut. "Chrysie hüpft!" rief sie. Ihre Mutter sah sie sehr zornig an und kam auf sie zu. Der blick der rehbraunen Augen verhieß Unheil. Aurore erkannte, dass es wohl besser war, vom Klavier wegzuspringen. Gerade noch verklang der letzte aus drei schwarzen Tasten zugleich angeschlagene Dreiklang außerhalb der üblichen Harmonien.
"Mädchen, ich mag's ja, dass du gerne singst. Aber wenn ich sage, lass das sein oder hör auf, dann heißt das auch hör auf!" schnarrte Mildrid, die versuchte, ihrer wieselflink ausweichenden Tochter näherzukommen.
"Rorie macht doch nur Musik. Fein!" quiekte Aurore. Millie Latierre hob die rechte Hand und holte aus. Da fauchte es über ihnen im Kamin. Aurore erstarrte. Zum einen sah sie die Hand ihrer Mutter gefährlich nahe vor ihrem Gesicht vorbeiwischen. Zum anderen horchte sie auf das Fauchen im Kamin. Wenn das zu hören war kam ihr Papa nach Hause. Sie starrte einen Moment von unten am weit vorgewölbten und immer wieder ausgebeulten Bauch ihrer Mutter nach oben und sah in die noch verärgert blickenden Augen. Dann fand sie, dass sie ihren Papa begrüßen sollte und wetzte los. Ihre Mutter ließ sie unangefochten an sich vorbeiwetzen und hörte noch, wie sie die Treppe hochsprang. Dabei benutzte Aurore nicht nur ihre kurzen Beine, sondern warf sich nach vorne und jagte im Vierfüßlerstand die sich innerhalb einer unzerbrechlichen Glaswand windende Treppe nach oben. Ihre Mutter hatte damit zu tun, den Aufruhr in ihrem Unterleib zu überstehen. Doch weil sie nun nicht mehr von schrägen Klavierakkorden und schrillem Geträller angenervt wurde beruhigte sich auch die noch ungeborene Hexe und gönnte ihrer noch unmittelbar für sie lebenden Mutter die nötige Entspannung, womit auch die kleine Chrysope nicht mehr so gestresst war. .
"Ja, hallo du kleines Wiesel! Hast du deine Maman bei dem Regen alleine rauslaufen lassen, sag mal!" begrüßte Julius seine Tochter, die gerade am obersten Absatz der Wendeltreppe auftauchte, als er aus der gerade leeren Wohnküche herauskam. "Maman unten. Maman böse!" Quiekte Aurore. Dann warf sie sich ihrem Papa an die Beine. Dieser sah erst ungläubig die Treppe hinunter. Dann hob er seine Tochter vom Boden. Das gefiel ihr sichtlich. Sie lachte laut und glockenhell. "Ja, hallo, Aurore. Papa ist wieder zu Hause", lachte Julius. Dann erkannte er, dass er doch besser auch seine Frau begrüßen sollte. Denn Aurore zu fragen, warum sie gerade böse war fiel ihm nicht ein. Er sah noch Goldschweif, die die Treppe heraufhuschte.
"Dein Junges hat Dusty mit viel weh tuendem Zeug von diesem Klingtonholzbau herunterhaben wollen. Dusty ist aber wegen dem Wasser das draußen runterfällt nicht in Stimmung zum Spielen." hörte er die nur ihm verständlichen Worte Goldschweifs.
"Oha, hast du mal wieder Rorie-Musik gemacht?" lachte Julius seine Tochter an. Diese lachte und nickte. Julius hatte deshalb eine gewisse Ahnung. Er lief mit ihr hinunter und sah Millie, die sich gerade in der großen Eingangshalle auf einem der breiten Stühle niedergelassen hatte. Aurore versuchte, sich aus Julius' Armen zu befreien, weil ihr wohl schwante, dass ihre Maman ihr so vielleicht doch noch was böses tun konnte. Julius hielt seine Tochter nur wenige Sekunden fest. Dann setzte er sie auf den Boden. Sie flitzte um ihn herum und duckte sich hinter ihm.
"Hallo, Monju! Bist gerade noch rechtzeitig gekommen, um mich davon abzuhalten, dieser kleinen Klavierquälerin da meine Hand ins Gesicht zu dreschen", stöhnte Millie.
"Weil Dusty da draufliegt?" fragte Julius und deutete nach oben, wo das Musikzimmer mit dem Klavier lag.
"Ja", schnaubte Millie. Aurore Béatrice hat wohl gemeint, er wolle nur ihre Musik haben. Die hat auf den Tasten rumgehauen, als wolle sie ein Schnitzel breitklopfen. Das ist mir voll auf die Ohren gegangen und gleich in meinem Unterbau gelandet, wo Chrysie meinte, mitrandalieren zu müssen."
"Ach, deshalb sagte Rorie, du seist böse", sagte Julius. "Dann sollten wir das Klavier besser irgendwie zuschließen, dass nur du da dran kannst."
"Ja, oder einschrumpfen und in die Vielraumtruhe zurückstecken, wo du es rausgezogen hast", schnaubte Millie. "Ich hätte Aurore Béatrice voll eine geknallt, wenn du da gerade nicht aus dem Kamin gefaucht wärest."
"Oha", erwiderte Julius. Da beide sich darauf verständigt hatten, die nötigen Maßregelungen ohne körperliche Gewalt durchzusetzen war ihm das schon unheimlich, wie schnell seine Frau das vergessen mochte. Bei der Kraft, die Millie hatte hätte Aurore auch locker von einer einzigen Ohrfeige in die Ecke gepfeffert werden können. Andererseits konnte er ihr nachfühlen, dass gerade jetzt, wo das letzte Stadium der Schwangerschaft erreicht war, seine Frau noch leichter die Beherrschung verlieren konnte. Zwar fing die geflügelte Kuh Temmie viele ihrer Gefühlswallungen auf, damit er sie nicht abbekam. Doch offenbar war Temmie gerade mit was anderem beschäftigt.
"Wir brauchen nur das Zimmer zuzumachen, damit Rorie keine laute Musik mehr macht", sagte Julius und umarmte seine Frau. "Ich glaube, ich nehme mir die zwei Wochen vor dem berechneten Termin frei und steh das mit dir und der kleinen zusammen durch", sagte er, nachdem er seine Frau geküsst hatte.
"Versprich nichts, was Ornelle Ventvit und Vendredi nicht halten können, Monju!" schnarrte sie. "Vielleicht bin ich durch dieses Pladderwetter da draußen auch mehr neben jeder Spur als so schon."
"Ich weiß, wie nervig schräge und laute Musik sein kann. Ich habe mal Tonbandaufnahmen von mir gehört, wie ich mit vier Jahren auf einer Schellentrommel herumgehämmert und dazu die Hymne von Chelsea London voll neben jeder Tonleiter gegrölt habe. Mein Onkel Charlie, also der Schwippschwager meiner Mutter, fand das wohl lustig, aufzunehmen und hat mir das Ding zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt."
"Dann hat deine Tochter das von dir wohl geerbt", schnarrte Millie. Julius überhörte das und sagte nur: "Ich mach das Zimmer zu, nachdem ich deinen Kniesel da rausgekriegt habe."
"Ja, und dann sieh zu, wie du Rorie bettfertig kriegst! Ich will mit der nicht noch mal fangen spielen."
"Geht klar, Mamille", sagte Julius. Dann stürmte er das Musikzimmer und pflückte Dusty vom Klavier herunter. Der Knieselkater knurrte verärgert und versuchte, Julius zu beißen oder seine Krallen in den Arm zu rammen. Doch da hatte er Pech. Denn Julius hatte für einen Einsatz am Nachmittag Durodermis-Elixier getrunken und somit eine geschmeidige, aber unzerreißbare Haut.
"Komm, du kannst auf dem großen Schlummerkissen pennen, dass Tante Babs für dich und Goldie rübergereicht hat", sagte Julius. Dann verschloss er das Musikzimmer mit einem einfachen Verschlusszauber.
Millie entschuldigte sich nicht bei ihrer Tochter. Sie musste zumindest hart bleiben, was ihre Maßregelungen anging. Sie sagte, dass das Klavier bis Weihnachten schlafen solle.
Julius hatte alle Hände voll zu tun, die bereits geborene Tochter und die beiden wegen des Regens missmutigen Kniesel zu beruhigen. Erst als Aurore noch einmal auf dem Töpfchen war und dann gewaschen und mit geputzten Zähnen ins kleine Gitterbett verfrachtet war und die Kniesel rohes Hühnerfleisch zum Fressen bekommen hatten hatten er und seine Frau Zeit, sich vom Tag zu erholen.
"So'n Waldtroll aus Norwegen ist im Bois de Bologne aufgetaucht. Ich habe den mit Britta zusammen gejagt und sichergestellt. Sie will jetzt rausfinden, wer uns den ins Land geschmuggelt hat."
"Britta Gautier, Tines Schwippschwägerin?" fragte Millie.
"Kennst du noch andere Brittas?" wollte Julius wissen. Millie knurrte erst, musste dann aber den Kopf schütteln.
"Und, schon was neues von der Kiste mit den verschwundenen Passagieren gehört?"
"Seitdem die Fuentes Celestes uns diese Horrornachricht untergejubelt haben nichts, Mamille. Morgen soll ich wieder zu Meglamora, kucken, ob die echt wieder was kleines kriegt."
"Mit durchgeknallten Schwangeren hast du ja Übung", schnaubte Millie. Julius erwiderte sofort, dass er das so nie gesagt hatte und auch nicht so meine.
"Und was ist damit, dass dich Fleurs Oma angeblich zu einem Anwalt für die Veelas erklärt hat?" wollte Millie wissen.
"Ich weiß nur, dass diese Beratung stattgefunden haben soll und Léto sich deshalb mit Mademoiselle Ventvit und mir drüber unterhalten will, wenn Pygmalion Delacour übermorgen Außendienst schiebt."
"Ach ja, die leidige Sache, dass die und der nicht im Ministerium im gleichen Raum zusammen sein dürfen", schnarrte Mildrid. Julius nickte schwerfällig. Dann erwähnte er, dass ja längst nicht jeder den Abschirmzauber für den eigenen Geist lernen konnte, um die Ausstrahlung einer Veela abzublocken. Millie konnte dem nur zustimmen.
"Chrysie schläft jetzt wohl. Rories Tanzmusik hat sie wohl ziemlich ausgelaugt", wisperte sie und strich sich behutsam über den bereits weit vorgewölbten Bauch. Julius meinte leise dazu:
"Vielleicht war ihr das auch einfach zu langweilig, in so einem kleinen Ballsaal alleine zu tanzen."
"Frag sie das, wenn sie den kleinen Wartesaal verlässt, Monju", schnaubte Millie. Dann musste sie aber grinsen. "Zumindest hat sie die ganz hohen Töne nicht mitgekriegt, die Rorie aus dem armen Klavier herausgefoltert hat."
"Vielleicht wird unsere Erstgeborene mal Pianistin", vermutete Julius mit einem Ist-nicht-so-ernst-gemeint-Lächeln.
"Würde Oma Line freuen. Die hat neben Schach auch gerne Klavier gespielt, bis sie deine Schwiegermutter im Bauch hatte. Danach wollte sie keine herumreisende Musikantenhexe mehr sein, auch als Opa Roland diesen genialen Transportzauber für Musikinstrumente erfunden hat, wegen dem mir deine zweite Tochter heute vielleicht schon weit vor Weihnachten aus dem Kugelwanst gehüpft wäre."
"Hast du auch noch Hunger?" wollte Millie von ihrem Mann wissen. Der schüttelte behutsam den Kopf. Sie grinste. Er erinnerte sich noch gut daran, dass er den Hungeranfällen seiner Frau bei der ersten Schwangerschaft fast hilflos ausgeliefert war. Doch jetzt fing Temmie alle von ihr ausgehenden Gefühle und Gelüste größtenteils auf, um sie selbst auszuleben, was ihr sicher besser bekam als Julius, der lediglich die weniger körperverändernden Gefühle seiner Frau über den Herzanhänger mitbekam.
"Und deine Vorgesetzte will jetzt konkret wissen, ob Mademoiselle Maximes Tante auch was kleines erwartet?" fragte Millie ihren Mann, nachdem sie noch "eine Kleinigkeit" gegessen hatte. Julius bejahte das. Er erwähnte dann noch, dass es aber nicht möglich sei, ohne sich selbst zu gefährden an die reinrassige Riesin heranzugehen, um ihr einen Einblickspiegel auf den Bauch zu legen. "Falls du möchtest, darfst du morgen gerne meine Kamera mitnehmen, die Catherines Tante Madeleine mir zum achtzehnten geschenkt hat. Die hat doch auch einen Fernaufnahmeaufsatz. Da könntest du mit dem magischen Blitzlicht in Meglamoras Bauch reinleuchten, um zu sehen, ob da wer neues eingezogen ist."
"Hmm, wenn da die magische Undurchlässigkeit der Riesenhaut und vom Riesenblut nicht dazwischenfuhrwerkt", antwortete Julius. Dann meinte er noch: "Hmm, aber ich dürfte die Kamera nicht von dir mitnehmen, da du ja keine Arbeitskollegin von mir bist. Aber vorschlagen, das mal auszuprobieren wäre wohl was."
"Könnte Tante Babs und Temmie interessieren, ob das auch bei trächtigen Latierre-Kühen geht", meinte Millie. "Hmm, mache ich wohl mal, wenn ich für Gilbert wieder was nachforschen soll."
"Ich bring das morgen mal an, ob ein Vitalumina-Blitz durch Haut und Fleisch von Riesen dringt."
"Vielleicht geht das auch nur bei bereits weit genug gewachsenen Ungeborenen", schränkte Millie ein. Julius nickte. Aber die Frage ließ sich sicher klären.
Gegen zehn Uhr lagen die erwachsenen Bewohner des Apfelhauses im Bett. Julius hing noch einige Minuten den Gedanken nach, wie viel Verantwortung sie ihm wegen Meglamora und der Meerfrau Méridana zugeschustert hatten. Jetzt kam noch diese Entscheidung der Veelas dazu, ihn als Ansprechpartner anzuerkennen. Das konnte bedeuten, dass er auch in die Angelegenheiten von Gabrielle Delacour einbezogen wurde. Am Ende hing es an ihm, ob die Viertel-Veela Pierre Marceau, den Sohn von nichtmagischen Eltern, heiraten durfte oder nicht.
Julius stand neben Olympe Maxime auf einer kleinen Anhöhe und betrachtete den Riesenjungen Ragnar, der hundert Schritte von seiner Mutter entfernt damit beschäftigt war, mehrere selbst erlegte Kaninchen über einem Feuer zu rösten. Meglamora blickte zu ihnen beiden herüber, darauf bedacht, die zwei nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen. Julius hatte gerade erfahren, dass sich Meglamora nun absolut sicher war, schwanger zu sein. Aus der Tierwesenabteilung hatte sich Julius eine Kamera mit Vitalumina-Blitzlicht ausborgen dürfen, natürlich nur nach dem Austausch von mehreren Antrags- und Erteilungsformularen. Zwar hatte seine Schwiegertante, die das Tierwesenressort leitete, angeboten, das ganze außerdienstlich abzuhandeln, weil sie die Funktion der Kamera kannte. Doch Ornelle Ventvit hatte darauf bestanden, das für den gemeinsamen Vorgesetzten Vendredi und die ministeriellen Prüfer nachvollziehbar zu halten.
Julius wagte sich auf sechsfache Schrittlänge der Riesin an diese heran, erklärte ihr, dass er nur Bilder von ihr machen wollte. "Wenn Guigui was passiert du sterben!" röhrte Meglamora darauf. Julius beteuerte, dass ihrem Kind dabei nichts passieren würde und dass er auch schon seine eigene Gefährtin mit seinem und ihrem Kind im Bauch damit aufgezeichnet hatte. Mademoiselle Maxime bot an, zwei Bilder von sich machen zu lassen.
Julius staunte immer wieder, wie dieser hellblaue Blitz ein damit erleuchtetes Lebewesen darstellte. Doch als er sah, dass anders als bei Menschen die getragene Kleidung nicht im Blitz wie ein verhüllender Dunst erschien sondern für den entscheidenden Sekundenbruchteil unsichtbar wurde wollte Julius den Versuch schon abbrechen. "Öh, ich fürchte, das Foto zeigt sie wie völlig unbekleidet, Mademoiselle. Zumindest konnte ich sie im Blitzlicht so sehen, als trügen Sie keine Kleidung am Leib."
"Mag an meiner besonderen Natur liegen, die dieses Licht stärker zurückwirft. Es wechselwirkt mit der körperlichen Aura eines lebenden Wesens, richtig?" Julius bestätigte das. "Dann machen Sie von mir noch eine Aufnahme. Da ich Sie einmal dazu angehalten habe, mich unbekleidet anzusehen widerfährt Ihnen ja kein unerwartetes Ereignis." Julius erwähnte nur, dass im Ministerium jemand diese Bilder zu sehen bekommen würde.
"Stellen Sie sicher, dass nur Ihre unmittelbare Vorgesetzte diese Aufnahmen zu sehen bekommt! Ansonsten müsste ich den ersten unverheirateten Kollegen von Ihnen, der meinen unverhüllten Leib erblickt, dazu auffordern, mein Gatte zu werden." Julius nickte. Er kannte die aus moralischen Erwägungen entstandene Regelung, dass sich nicht miteinander verwandte Hexen und Zauberer über fünf Lebensjahren nicht nackt sehen sollten, solange sie nicht vorhatten, einander zu heiraten. Nun ganz bewusst machte er das zweite Foto. Als Meglamora sah, dass ihrer Nichte dabei nichts passierte erlaubte sie, dass Julius auch von ihr Fotos machte. Auf nur sechs ihrer Schrittlängen konnte er sie nicht im ganzen aufnehmen. Er zielte so, dass der Mittelpunkt der Aufnahme dort lag, wo Meglamoras von ihrem Bärenfellumhang verhüllter Bauchnabel zu finden war und drückte den Auslöser. Unvermittelt erschien der gesamte Körper der Riesin in hellblauem Licht. Julius kniff die Augen zu, weil der Widerschein ihn blendete. Dann drückte er noch einmal ab. "Prickelt an Bauch, aber nicht böse!" knurrte die Riesin und ging in die Hocke. "Noch mal!" dröhnte ihre weit hallende Stimme unüberhörbar. Julius wollte schon die Kamera senken, als Meglamora den Kopf schüttelte. "Noch mal hab ich gesagt!" Julius wollte drei Schritte zurücktreten, um die Riesin im ganzen zu fotografieren. Da richtete sie sich wieder zur vollen Größe auf und tat drei den Boden erschütternde Schritte auf ihn zu. Julius versuchte, sich weiter zurückzuziehen. Doch das beantwortete die Riesin mit zwei noch weiter ausgreifenden Schritten. Jetzt stand sie nur noch einen ihrer Schritte von ihm entfernt. Wenn er nicht disapparieren wollte konnte er ihr nicht mehr ausweichen. Er nickte und hob die Kamera. Meglamora hockte sich wieder hin. Julius zielte von unten und kniff die Augen zu. Trotz geschlossener Lider konnte er erkennen, dass Meglamoras Körper hell erstrahlte, als sei er die Quelle des blauen Lichtblitzes. Ein wohliges Ächzen entrang sich dem gewaltigen Brustkorb der reinrassigen Riesin. "Prickelt sehr schön unten", bemerkte Meglamora. Julius wurde das Gefühl nicht los, dass die Riesin durch die Zauberkraft des Blitzlichtes womöglich stimuliert werden mochte. Deshalb sagte er: "Das war der letzte Zauberblitz, Meglamora. Die Bildaufnahmevorrichtung muss jetzt einen Tag ausschlafen."
"Wenn Guigui aus mir raus ist du mir zeigen, wie blaues Prickellicht gemacht wird."
"Ich werde fragen, wie das geht", sagte Julius. Mademoiselle Maxime sah, wie ihre Tante sich selig lächelnd wieder aufrichtete und zurückschritt. "Ich habe auch ein sachtes durchdringendes Gefühl verspürt", sagte die Halbriesin. "Ich ging aber davon aus, dass es eben nur eine Art Abwehrreaktion meiner Haut oder meines Blutes sei. Dass Meglamora diese Empfindung als so angenehm erfährt irritiert mich ähnlich wie Sie."
"Vielleicht nicht so ganz unpraktisch, weitere Forschungsarbeiten auf die Art dieses Zauberlichtes zu verwenden, was andere Zauberwesen angeht", sagte Julius. Millie und Sandrine hatten ihm nie erzählt, dass der Vitalumina-Blitz eine körperlich fühlbare Nebenwirkung hatte. Er selbst hatte auch nichts dergleichen erlebt.
"Wielange benötigen Sie für die Entwicklung und Vervielfältigung der Aufnahmen?" wollte Meglamoras höchstoffizielle Fürsprecherin und Betreuerin wissen.
"In ungefähr drei Stunden, wenn ich die Kamera gleich zum Entwickeln bringe", erwiderte Julius. "Ich habe ja einen Farbfilm mit entsprechender Animativpatrone verwendet", fügte er noch hinzu. Mademoiselle Maxime nickte zur Bestätigung.
Wieder zurück im Zaubereiministerium ging er mit einer schriftlichen Auftragsbestätigung von Ornelle Ventvit in das dem Ministerium zugehörige Fotolabor, wo die Aufnahmen von Außeneinsatztruppen entwickelt wurden. Dort sprach er mit Monsieur François Lumière, dem Laborleiter, einem Großonkel seiner früheren Saalkameradin Barbara van Heldern. "Meine unmittelbare Vorgesetzte bittet ausdrücklich darum, dass diese Bilder von einer weiblichen, bestenfalls verheirateten Fachkraft entwickelt, vergrößert und vervielfältigt werden, da bei diesen Aufnahmen das Vitalumina-Verfahren verwendet wurde und die aufgenommenen lebewesen womöglich ohne verhüllende Kleidung wiedergegeben werden könnten", sagte Julius, was auch in der Auftragsbeschreibung stand. Monsieur Lumière, der wie sein Großneffe Jacques nur sechzig Jahre älter aussah, grinste verwegen. Er fragte:
"Haben Sie eine Sabberhexe oder eine Veela mit dem blauen Blitz angeleuchtet?" fragte der Fotolaborleiter.
"Nein, eine reinrassige Riesin", erwiderte Julius und deutete auf einen Punkt in der Auftragsbeschreibung. Monsieur Lumière las und nickte erneut. Dann erbleichte er für einen Moment. "Oha, dann sollte ich unseren jungen Bildverwaltungsassistenten nicht mit diesen Aufnahmen alleine lassen, obwohl die Regelung eigentlich nur zwischen Hexen und Zauberern gilt. Haben Sie denn im Lichtblitz sehen können, ob die Kleidung der Riesin durchdrungen oder gar unsichtbar gemacht wurde?"
"Hmm, der Blitz wurde so hell zurückgeworfen, dass ich nicht genau hinsehen konnte", erwähnte Julius. François Lumière nickte. Julius dachte an die Frage, wen er mit der Kamera fotografiert hatte an Léto und ihre Artgenossen. Es könnte ihm wahrhaftig passieren, dass er auch eine Veela damit fotografieren konnte.
"Ich setze die Kollegin Bouvier an die Sache und lasse sie die Abzüge in einem auf Mademoiselle Ventvit geprägten Umschlag versenden", teilte Monsieur Lumière mit. Julius kannte die erwähnte Kollegin nicht. So nickte er nur zur Bestätigung.
Während seine Vorgesetzte und er auf die Abzüge warteten bearbeitete Julius die eingegangenen Briefe aus dem englischen Sprachraum, darunter auch einen aus London. Es war eine Mitteilung Mr. Diggorys, dass der nach England eingewanderte Riese Grawp nun in einem für ihn reservierten Gebiet im schottischen Hochland etwa zwanzig Meilen östlich von Hogwarts untergebracht worden war. Julius übersetzte die amtliche Mitteilung und heftete die Übersetzung in den Aktenordner ein, in dem auch alle Unterlagen über Meglamora enthalten waren. Immerhin wäre es ja fast zu einer Zusammenführung von Hagrids Halbbruder und Mademoiselle Maximes Tante gekommen.
Kurz vor der Mittagspause klopfte es an die Bürotür. Ornelle Ventvit rief "Herein!"
Der Eintretende trug einen wadenlangen, dunkelblauen Umhang. Von den Armen und Beinen her wirkte er so, als mache er jeden Tag lange Kraftsportübungen. Zudem wölbte sich ein unübersehbarer Bauch unter dem Umhang. Von Haarfarbe und Gesichtszügen her meinte Julius, einen knapp dreißig Jahre älteren Bruder des Quidditchspielers César Rocher vor sich zu haben. Der soeben ins Büro getretene sah Mademoiselle Ventvit an, die ihn mit einem gewissen Tadel im Blick ansah. "Guten Morgen, Mademoiselle Ventvit! Guten Morgen, die Herren!" grüßte er und schloss die Tür von innen.
"Ah, der Kollege Rocher. Ist Ihnen doch noch eingefallen, für wen Sie arbeiten?" fragte Ornelle Ventvit in kritischem Tonfall.
"Ich bitte hiermit und auch schriftlich, meine verzögerte Ankunft zu entschuldigen. Es ließ sich jedoch nicht anders einrichten, da sich die Ereignisse in den letzten zehn Tagen überschlugen", sagte der Zauberer im blauen Umhang und klappte eine schwarze Drachenhaut-Aktentasche auf.
"Julius, das ist Georges Rocher, unser Beobachter in der Ostlandgruppe. Georges, das ist unser junger Kollege Julius Latierre, der von meiner Seite aus zur Beaufsichtigung Meglamoras eingeteilt ist", stellte Ornelle die beiden Zauberer einander vor.
"Natürlich habe ich erfahren, dass Sie bei uns gelandet sind, Julius. Ich dachte allerdings erst, Sie würden wie mein Neffe César erst einmal Profi-Quidditch spielen", erwiderte Georges Rocher. Julius schüttelte behutsam den Kopf.
"Bis zur Mittagspause sind es noch zehn Minuten, Georges. Sofern Sie es einrichten können möchten wir eine Kurzfassung Ihres Berichtes hören", ordnete Mademoiselle Ventvit an. Georges Rocher nickte und fing sich einen der unheimlich lebendigen Bürostühle ein.
Als er auf einem erst wild zitternden Stuhl zu sitzen gekommen war erzählte Georges Rocher, warum er so spät aus dem Land der letzten Riesen herausgekommen war. "Die hatten jeden Tag einen Machtwechsel. Argoth, der Kopfsammler, wurde erst von Murgur dem Rotbart getötet. Doch Argoths kleiner Bruder hat das nicht hingenommen und Murgur in der folgenden Nacht im Schlaf aufgeschlitzt und sich dann zum neuen Gurgh ausgerufen. Ab da fand jeden Tag ein Entmachtungskampf statt, wobei es so aussah, als würde am Ende kein männlicher Riese mehr übrigbleiben. Wir konnten nicht aus unserem unsichtbaren Zelt raus und auch keine Eule verschicken, weil die Konkurrenten ihre Anhänger auf Berghängen postiert hatten und nachts zu den Höhlen geschlichen sind, um ihre Widersacher im Schlaf umzubringen, was immer wieder zu nächtlichen Zweikämpfen führte. Dabei wurde sogar ein Teil des Waldgebietes niedergebrannt. Schlussendlich konnte sich Utgardir, den die Riesen alle den Nordwälder nannten, gegen alle verbliebenen Mitbewerber durchsetzen und ist jetzt der neue Gurgh. Erst als die Umherschleicherei der Riesen aufgehört hat konnten meine Kollegen und ich unseren getarnten Beobachtungsstand verlassen. Anatoli Borodin dürfte gerade bei seinem Vorgesetzten in Moskau sein und der Kollege Ethan Oakshade wird wohl auch wieder in London sein. Der deutsche Kollege Eggebrecht Felsgruber hält die Stellung, bis wir unsere Berichte erstattet haben."
"Und Sie hielten es nicht für vertretbar, an einen sicheren Ort zu apparieren, um von dort eine schnelle Eule auszusenden oder für einen Tag diese turbulente Gegend zu verlassen?" wollte Ornelle wissen.
"Wie erwähnt, Mademoiselle Ventvit, erschien uns vieren die Lage so, dass es zu einer endgültigen Auslöschung aller männlichen Riesen kommen konnte. Wäre dem so gewesen, hätten wir eine neue Lage einzuordnen", widersprach Georges Rocher.
"Wie viele Riesen gibt es noch?" fragte Ornelle Ventvit. Georges Rocher antwortete unverzüglich: "Von fünfzig männlichen Riesen gibt es noch zwanzig. Dazu kommen noch dreißig weibliche Exemplare, von denen vier gerade Kinder tragen, darunter die Gefährtin von Utgardir."
"Mit anderen Worten, es gibt auf der ganzen Welt nur noch zweiundfünfzig erwachsene Riesen und mindestens fünf Ungeborene", stellte Ornelle sachlich fest und bat Julius, sich diese Zahl zu notieren, da er ja in diesem Zusammenhang eingesetzt war. "Nach dem Mittagessen werden Julius und ich Ihren schriftlichen Bericht prüfen. Bitte halten Sie sich für mögliche Nachfragen zur Verfügung!" legte Ornelle fest. Da schwirrte ein Memoflieger durch die kleine Luke in der Wand und kam schliddernd auf Ornelles Schreibtisch auf. Ornelle zog einen dicken Umschlag mit einem magischen Siegel aus dem Memoflieger frei und hielt ihn einige Sekunden fest, bis die Versiegelung verschwand. "Das ging ja doch schnell", sagte sie und verstaute den Umschlag in einer Schreibtischschublade. Sie nickte Julius zu und bedeutete dann allen Anwesenden, dass sie nun in die Mittagspause gehen durften.
Nach dem Mittagessen wurde die Befragung des Riesenbeobachters Rocher fortgesetzt. Ornelle und Julius lasen den schriftlichen Bericht, wobei Julius über Kopf las, was für ihn eine gute Übung in dieser Fertigkeit war. Er durfte auch Zwischenfragen stellen, so zum Beispiel, warum nach so vielen Monaten einer stabilen Lage auf einmal so schnell ein Riesenhäuptling nach dem anderen ausgefochten wurde. Er wusste ja, dass der Gurgh immer der verfressenste, faulste aber auch brutalste Riese der Sippe war. An und für sich konnte es jeden Tag zu einem Umsturz kommen, wenn jemand sich für stärker und gerissener hielt als der Gurgh.
"Wenn meine Kollegen und ich es richtig beobachtet haben kam dieser tägliche Machtkampf daher, dass die vorangegangenen Gurghs Brüder oder Neffen hatten, die sich wohl für rechtmäßige Erben ihrer stärkeren oder älteren Verwandten hielten. Somit ist Blutrache auch einer der Beweggründe für diese Fluktuation", erwiderte Rocher darauf. Julius nickte. Wie gnadenlos und hartnäckig eine Blutfehde sein konnte kannte er auch aus der Geschichte der Menschen. Ihn interessierte es, ob die Machtkämpfe nur von den männlichen Riesen bestritten wurden. Georges sah ihn und Ornelle verwegen an und antwortete: "Nicht immer. So hat die ältere Schwester von Ragmorr, dem Todestänzer dessen Konkurrenten Harragoth mit einem Betäubungstrunk kampfunfähig gemacht, nachdem sie sich ihm scheinbar als Gefährtin hingegeben hat. Das wiederum hat dazu geführt, dass Harragoths ältester Sohn Braggan sie einen Tag später niedergeschlagen und sich an ihr vergangen hat, bevor er sich mit Raggmorr ein Gefecht mit brennenden Baumstämmen geliefert hat, in dem beide umkamen, weil das Waldstück Feuer gefangen hat."
"Und die Riesin?" fragte Ornelle. "Muss jetzt damit leben, dass sie vielleicht Raggans oder Harragoths Kind im Bauch hat, ähm, dass sie unter umständen von einem ihrer letzten Beilagergenossen ein Kind empfangen haben könnte", erwiderte Georges darauf.
"Noch einmal zur Begründung für Ihr überfälliges Erscheinen, Georges. "Wieso haben Sie keine Eule verschickt?"
"Weil wir davon ausgehen mussten, dass ein per Eule überstellter Bericht bereits durch die Entwicklung der Ereignisse hinfällig werden konnte", erwiderte der französische Riesenbeobachter.
"Wessen Wortschöpfung ist der Begriff "Umsturzkaskade"?" fragte Ornelle und tippte auf die Stelle auf der Pergamentseite. Georges erwähnte, dass dieses Wort vom deutschen Kollegen Felsgruber geprägt worden war. "Dann tragen Sie dies in der Vervollständigung Ihres Berichtes nach, Georges!" bestand Ornelle auf korrekte Schriftführung. Julius wollte dann noch wissen, ob es, wie bei ähnlichen Machtumwälzungen in der Muggelwelt, auch passierte, dass die Kinder der Entmachteten umgebracht wurden, um Rache und Machtansprüche auszuschließen.
"Es sind in den letzten drei Jahren fünf Kinder geboren worden, davon drei Mädchen. Die Jungen haben die Trennung von ihren Müttern gerade zwei Wochen überlebt, weil sie von den Erwachsenen umgebracht wurden. Nur weibliche Riesen scheinen einer Art Tötungstabu zu unterliegen. Es ist aber so, dass sich Weibliche untereinander bekämpfen, indem sie Konkurrentinnen die Nahrung streitig machen um sie so auszuhungern. Deshalb haben wir ja auch befürchtet, dass nach der völligen Auslöschung aller männlichen Riesen ein Ausschwärmen der verbleibenden Riesinnen einsetzen könnte, um sich zum einen eigene Jagdgründe zu sichern und zum anderen Ersatz für Fortpflanzungspartner zu verschaffen", erwähnte Georges. Julius nickte. Er kannte es bereits, wie unberechenbar nach geschlechtlicher Befridigung gierende Riesinnen sein konnten. Sich eine Mischung aus Menschenfresserin und Amazone vorzustellen, die ihre Umwelt in Angst und Schrecken hielt war für ihn nicht schwer. Auch Ornelle sah ein, dass unter diesen Umständen die Ostland-Gruppe nicht so frei umherlaufen konnte, solange nicht feststand, ob die letzten Riesen ohne männliche Exemplare weiterbestehen würden.
"In Ordnung, Georges. Bitte korrigieren und vervollständigen Sie Ihren Bericht gemäß der zusätzlich beantworteten Fragen und Erläuterungen und lassen Sie mir zwei Kopien davon zukommen! Danach begeben Sie sich so schnell es geht wieder auf Ihren Beobachtungsposten!" befahl Ornelle Ventvit. Georges Rocher bestätigte den Erhalt dieser Anweisungen und verließ das Büro, um in der großen Schreibstube für Außeneinsatzgruppenmitglieder seinen Bericht umzuschreiben.
"Schon sehr wichtig, dass es zu solchen Unruhen kommen kann", sagte Ornelle Ventvit. "Bitte erörtern Sie mit eigenen Gedanken, wie Sie nach allen Erfahrungen mit Meglamora die Gefahr einer Auslöschung aller männlichen Riesen einschätzen! Beziehen Sie sich dabei bitte ausschließlich auf Erfahrungen mit Meglamora oder Zeugenaussagen Mademoiselle Maximes oder den schriftlich niedergelegten Aussagen jener, die Meglamoras Einwanderung miterlebt und protokolliert haben!" Julius bestätigte diese Anweisungen, fragte aber auch danach, bis wann Ornelle den Bericht auf dem Tisch haben wollte. "Bis zum ersten Dezember spätestens. Fassen Sie den Bericht so gründlich und sorgfältig ab, wie Sie können! Hektischer Termindruck ruft gerne unzureichende Leistungen hervor, wie ich aus meiner langjährigen Dienstzeit all zu gut weiß. Hinzu kommt ja noch, dass Sie ja von Madame Léto erfolgreich als Vermittler zwischen Veelas und Menschen auf französischem Hoheitsgebiet durchgesetzt wurden, was Sie sicher zeitlich noch mehr fordert."
"Dazu möchte ich mich erst äußern, wenn ich weiß, was Madame Léto und ihre Artgenossen genau von mir erwarten", sagte Julius dazu. Ornelle nickte.
In Millemerveilles regnete es diesmal nicht. Dafür war es sehr windig, als Julius nach seiner Heimkehr aus dem Apfelhaus trat, wo Aurore gerade unter Aufsicht von Jeanne mit deren Zwillingen zusammen im großräumigen Garten herumtobte. Die beiden Kniesel hatten sich vorsorglich in ihre Baumhäuser zurückgezogen. Millie werkelte in der Küche. Sie hatte Julius' Angebot, ihr beim Essenmachen zu helfen abgelehnt. "Geh du zu den andren raus und genieße die frische Luft, Monju. Du kannst mir nachher beim Aufräumen helfen, wenn Rorie im Bett ist."
So konnte Julius sich mit Jeanne über den Tag in Millemerveilles unterhalten und erfuhr von der ausgebildeten Apothekenhexe auch, dass Oleande Champverd, die ungekrönte Königin der französischen Kräuterkundler, höhere Preise für die von ihr gezüchteten Alraunen verlangte, was womöglich einen Preisanstieg bei allen Teilen und Extrakten aus Zauberpflanzen nach sich ziehen mochte. "Maman hat angeboten, uns nicht für die Zucht behaltene Alraunen zum halben Preis zu lassen, wenn Eleonores Mutter diese Preiserhöhung durchsetzt. Ob wir das annehmen weiß Monsieur Graminis noch nicht."
"Oha, bei den anfallenden Sachen bei kleinen Kindern kann das gut ins Geld gehen", seufzte Julius. Jeanne nickte.
"Hera will sich bei eurer Zauberpflanzenabteilung und der Abteilung für magischen Handel beschweren, weil sie auch einen Preisanstieg für alle Trankzutaten fürchtet."
"Hmm, wieso sie und nicht die Sprecherin der Heilerzunft?" fragte Julius.
"Weil unsere erhabene entfernte Anverwandte Antoinette Eauvive Oleande Champverd zustimmt, dass die Verwendung von Alraunen strenger reglementiert werden soll und es über den Geldbeutel scheinbar wirkungsvoller geht als über vernünftige Erklärungen", knurrte Jeanne. "Und weil Alraunensaft in der Aufhebungsmixtur für diesen hochpotenten Empfängnisanregungstrank gebraucht wird, dem Sandrine und Gérard ihre zwei Wonneproppen verdanken. Die haben Viviane, Janine, Belenus und ich heute besuchen dürfen. Die hatten heute Großelterntag."
"Oh, sind die noch da?" fragte Julius. Ihn interessierte es auch, wie sich Estelle Geneviève Fantine und Roger Brian Dumas entwickelten, wo er ja mitgeholfen hatte, die beiden auf die Welt zu bringen.
"Die schlafen bei Sandrines Eltern. Könnte sein, dass die noch wach sind", sagte Jeanne. Julius nickte und meldete sich bei seiner Frau ab, um Sandrines und Gérards Zwillinge zu besuchen.
Eine Stunde später kehrte er wieder zurück. "Da ist jetzt von der Größe her kein Unterschied mehr zu unserer Aurore", vermeldete er. "Der kleine Roger scheint aber ein Nimmersatt zu sein. Der hat einen kugelrunden Bauch und ein Mondgesicht wie aus dem Bilderbuch", erwähnte er.
"Hat Sandrine schon erwähnt, dass Roger Brian mehr isst als läuft, während Estelle schon anfängt, an allem hochzuklettern, was nicht vor ihr wegläuft und auch versucht, die Kaninchen im Garten zu fangen, den Sandrine und Gérard angelegt haben."
"Oha, Kaninchen! Hoffentlich hat Gérard für Salat und Gemüse ein verschließbares Gewächshaus mit zwanzig Meter in den Boden reichendem Betonfundament."
"Neh, die haben einen Schreckstein in jedes Küchenbeet gesetzt", sagte Millie grinsend. Julius nickte. Schrecksteine bestanden aus geschliffenem Vulkangestein. Wenn in sie etwas für kleine Tiere abschreckendes eingeritzt wurde und ein über Berührungen an allen sechs Seiten ausgeführter Zauber in Kraft trat, gaukelten sie Tieren, die in Sichtweite kamen etwas abschreckendes vor, Feuer, einen unüberwindlichen Abgrund oder überlebensgroße Feinde. Das ging aber nur bei Tieren, die auf dem Boden liefen und keinen Funken eigene Magie im Körper hatten. Gegen Krähen und andere geflügelte Gartenplünderer halfen magicomechanische Vogelscheuchen, die bei Annäherung ausgewählter Vögel fuchtelten und lärmten.
"Auf jeden Fall bekommen die beiden genug zu essen", sagte Julius noch. Millie konnte dem nur zustimmen.
Wie vereinbart verbrachte Pygmalion Delacour den nächsten Tag an einem anderen Ort. Er sollte zusammen mit einem Mitglied der Légion de la Lune die registrierten Werwölfe besuchen, um zu erforschen, ob nach der Vernichtung der spanischen Niederlassung der Mondbruderschaft neue Gefahren seitens der Lykanthropen drohten. Auf diese Weise war Pygmalion nicht da, als seine Schwiegermutter Léto lautlos zur Türe hereinschritt. Julius wendete sofort das Lied des inneren Friedens an, mit dem er seinen Geist vor fremden Einflüssen abschirmen konnte. Dafür brauchte er keinen Zauberstab. Ornelle verzog das Gesicht, als Léto sie und Julius anlächelte. Julius war sich sicher, dass Léto es mal wieder wissen wollte und ihre geballte Ausstrahlungskraft aufbot, um seine Selbstbeherrschung zu testen. In ihrem himmelblauen, wie gewobene Luft fließendem Kleid sah die reinrassige Veela auch so schon überwältigend aus. Ihr silberblondes Haar umfloss ihren Rücken bis hinunter zum Gesäß.
"Ihr habt ja schon meine Bestätigung bekommen, dass Julius Latierre von der Mehrheit von Mokushas ältesten Kindern zum Ansprechpartner für die in Frankreich lebenden Veelas erwählt wurde. Das betrifft also im wesentlichen mich und meine direkten Nachkommen bis zur dritten Generation, also auch Fleurs Tochter Victoire. Meine Mitbrüder und -schwestern haben jedoch von mir verlangt, sicherzustellen, dass du, Julius, mehr über unsere Natur und Lebensweise erfährst als das, was ich euch in Beauxbatons im Zauberwesenkurs erzählt und gezeigt habe. Abgesehen davon darf ich als eine erste Amtshandlung eine vollständige Liste aller meiner Geschwister und Nachkommen übergeben, die du, Julius, bitte so weit es geht auswendig lernen möchtest."
"Öhm, inwieweit wird mir als Julius' direkter Vorgesetzten noch Mitsprache oder Vorrangstellung zuerkannt, Madame Léto?" schnarrte Ornelle Ventvit.
"In dem Maß, in dem Sie über Ihren Mitarbeiter verfügen möchten oder müssen", erwiderte Léto. Sie griff an ihre linke Seite und machte Handbewegungen, als müsse sie eine kleine Tasche öffnen. Tatsächlich verschwand ihre Hand und der halbe Unterarm für zwei Sekunden wie aufgelöst, um dann wie neu wachsend wieder aufzutauchen. Jetzt hielt Léto mehrere Umschläge in ihrer Hand. Diese überreichte sie Julius und Ornelle. Ornelle öffnete einen der Umschläge und zog mehrere hauchdünne Blätter heraus, die wie besonders dünnes Papier wirkten. Julius folgte ihrem Beispiel und fand als erstes einen sorgfältig gezeichneten Stammbaum, dessen scharf umrissene Wurzeln mit "Léto und Phoebus gekennzeichnet waren. Den mit dünnen Ringen unterteilten Stamm entlang standen die Namen von Létos Töchtern. Von den Namen aus sprossen Äste, die mit den Namen von Létos Enkeln beschrieben waren. Zudem standen über den Ästen, die ihre direkten Töchter darstellten auch die Namen der Schwiegersöhne. Julius sah einen dünnen Zweig, der von dem Ast namens Fleur und Bill Weasley hervorragte und mit dem Namen Victoire beschrieben war. Gleich über dem Ast von Fleur und Bill ragte ein kurzer Ast mit der Beschriftung "Gabrielle Celeste" aus dem Stammbaum heraus.
"Kann der Stammbaum sich selbst weiterentwickeln oder muss der von Hand ergänzt werden?" fragte Julius. Léto erwähnte, dass der Stammbaum nicht wie die Stammbäume von Hexen und Zauberern durch einen Zauber verändert und weitergeführt wurden. "Wir lernen ein Lied, in dem wir unseren Stammbaum besingen. Wenn wer neues dazukommt bauen wir die Namen und den Zeitpunkt von Verheiratung oder Geburt als weitere Strophe ein", erwähnte Léto. Julius wusste, dass vieles bei den Veelas mündlich überliefert wurde und dass sie eine besondere Beziehung zu gesungenen Worten pflegten, ja unter Blutsverwandten sogar über weite Entfernungen Botschaften durch Gesang übermitteln konnten, selbst durch bestehende Mentiloquismusabsperrungen hindurch.
"Sie bitten mich darum, meinen Mitarbeiter für den Rest des Tages freizustellen, um von Ihnen die ersten wichtigen Unterweisungen zu erhalten", sagte Ornelle. Léto nickte. Die Leiterin des Büros für Zauberwesen größer als Zwerge und Kobolde nickte schwerfällig und gab Julius ein hauchdünnes Blatt. Er las, dass er ab dem Tag der offiziellen Berufung zum Vermittler zwischen Veelas und magisch begabten Menschen drei Tage in der Woche von Léto über die nicht für Menschen geheimzuhaltenden Alltäglichkeiten und Besonderheiten der Veelas unterrichtet werden solle, so der Rat der ältesten Kinder Mokushas. Zur Wintersonnenwende sollte er dann vor je drei männlichen und drei weiblichen Mitgliedern dieses insgesamt aus achtundvierzig Veelas bestehenden Rates eine mündliche Prüfung bestehen. Wenn diese bestanden war durfte er von sich aus auch Anfragen an den Rat stellen oder diesem Bericht erstatten, wenn etwas für Menschen und Veelas wichtiges anstand oder zu erledigen war. Das waren die Bedingungen, zu denen er offiziell als Vermittler tätig werden durfte. Ornelle ließ Julius nach zwei Minuten Bedenkzeit im Feld "Erwählter Vermittler" unterschreiben und zeichnete dann im Feld "Amtliche Vorgesetzte" diese Vereinbarung ab. Sie bekräftigte jedoch, dass sie auf das in der Vereinbarung zugestandene Widerrufsrecht zurückgreifen würde, wenn Julius durch diese neue Aufgabe zu sehr von anderen ihm zugeteilten Arbeiten abgehalten oder zu sehr erschöpft würde. Léto nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis.
"Hast du einen dieser für euch so praktischen Flugbesen zur Hand?" fragte Léto Julius. Dieser schüttelte den Kopf. Sein Ganymed 10 stand im Apfelhaus zusammen mit dem Familienbesen in einem Schrank. Ornelle erwähnte jedoch, dass Julius sich für eine festlegbare Dauer einen ministeriumseigenen Besen ausleihen könne. Sie stellte die entsprechende Anforderung für die Ausrüstungsverwaltung aus. Julius kannte das ja schon von seinen Dienstreisen nach Martinique und in die Meermenschenkolonie im Mittelmeer. Da nur Menschen ins Ausrüstungsdepot durften blieb Léto für einige Minuten in Ornelles Büro zurück. Als Julius dann mit einem Ganymed 10 mit dem goldenen Schriftzug MFH 229 zurückkehrte platzte er beinahe in eine wilde Auseinandersetzung zwischen Ornelle und Léto hinein.
"... sollte ich meine Zusage gleich hier widerrufen, wenn diese Möglichkeit besteht", hörte er noch, als er die Tür öffnete.
"Sie können sicher sein, Mademoiselle Ventvit, dass ich ein ureigenes Interesse daran habe, dass das nicht eintritt", antwortete Léto mit verdrossenem Gesicht. Dann sah sie Julius. Ihre Miene hellte sich wieder auf.
"Julius, Sie bleiben immer in unmittelbarer Sprechweite von Madame Léto, egal was andere ihrer Artgenossen von Ihnen verlangen sollten!" sagte Ornelle. Julius war ein wenig irritiert. Das klang für ihn so, als habe seine Vorgesetzte Angst, ihm könne was passieren, wenn er sich nicht an diese Anweisung hielte. So sagte er klar und deutlich, dass er diese Anweisung jederzeit ausführen würde. Dann besah sich Léto den Besen. "Ja, der hält sicher gut mit mir mit."
"Moment, ich dachte, Sie fliegen bei mir als Socia mit", wunderte Julius.
"Das gehört schon zur ersten wichtigen Unterweisung, Monsieur Latierre", sagte Léto lächelnd. "Aber das klären wir dann draußen auf der Straße." Ornelle nickte beipflichtend. Dann genehmigte sie ganz offiziell, dass Julius diesen und die jeweils übernächsten Arbeitstage zu seiner Unterweisung freigestellt sei. "Wie vereinbart unter dem Vorbehalt, dass Sie an den sonstigen Arbeitstagen die zugeteilten Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit erfüllen können und nicht wegen Überbeanspruchung oder Geistesabwesenheit in Ihren Leistungen nachlassen", musste Ornelle noch einmal betonen. Julius und die Veela bestätigten das. Dann verabschiedete sich Léto von Ornelle Ventvit, wobei sie noch einmal ihre volle Ausstrahlungskraft entfaltete. Julius hätte fast den richtigen Zeitpunkt verpasst, sich dagegen abzuschirmen. Léto bemerkte das durchaus und grinste ihn belustigt an. Dann folgte sie ihm zu den Fahrstuhlkabinen.
Als sie das Zaubereiministerium verließen traten sie auf die mit altertümlich anmutenden Kopfsteinen gepflasterte Rue de Camouflage hinaus. Im Moment war hier gerade kein Betrieb, da alle Hexen und Zauberer an ihren Arbeitsplätzen waren. So konnte sie auch keiner beobachten, dachte Julius.
"Du weißt, dass wir Veelas uns von dem Moment an, in dem wir auch andere Sachen als Muttermilch zu uns nehmen, teilweise bis ganz in flugfähige Vögel verwandeln können", setzte Léto leise an. Dann hockte sie sich auf den Boden. Unvermittelt schien ihr blaues Kleid zu Nebel zu werden und von ihr eingesogen zu werden. Dabei sprossen an ihren Armen und ihrem Hals weiße Federn. Der Hals wurde dünner aber dafür länger. Sie schrumpfte dabei zusammen. Ihre Arme wurden immer mehr zu großen Flügeln. Ihre Beine gestalteten sich zu roten Vogelbeinen um. Julius war den Anblick von Mensch-zu-Tier-Verwandlungen gewöhnt. So nahm er nur zur Kenntnis, wie sich Léto innerhalb von nur vier Sekunden in einen stattlichen weißen Schwan verwandelte. So ähnlich sah auch die Animaga Medea von Rainbow Lawn aus, erinnerte sich Julius. "Jetzt setz dich auf deinen Besen und fliege mir einfach hinterher. Du kennst ja meinen Baum!" hörte er Létos Stimme im Geist. Seitdem er für mehrere Tage bei ihr geschlafen hatte, um sich auf die Ergreifung Diosans vorzubereiten, bestand zwischen ihnen beiden eine gute Gedankenverbindung.
Julius schwang sich auf den Leihbesen und wartete. Der Schwan Léto hob ab. Julius hatte mit vielem gerechnet, nur nicht, dass die verzauberte Veela von der ersten Sekunde an so rasch dahinjagte wie ein zum Beutefang niederstoßender Falke. Dabei machte sie nur wenige Flügelschläge. Julius erkannte, dass er mit dem Ganymed 10 wirklich den richtigen Besen erhalten hatte. Denn innerhalb von nur zehn Sekunden flog die Veela schon schneller als 200 Stundenkilometer. Julius dachte an Temmie. Die konte durch ohne Zauberstab wirksame Luft- und Eigengewichtsbeeinflussungszauber an die siebenhundert Stundenkilometer Ausdauerflug durchhalten. Offenbar konnten Veelas, die zu Vögeln wurden das auch. Julius versuchte, den vor ihm raketengleich dahinjagenden Schwan zu überholen. Zuerst schaffte er es auch, die verwandelte Veela einzuholen. Doch dann erhöhte sie die Flügelschlagzahl pro Minute. Julius schaffte es nicht, sie hinter sich zu lassen. Er sah nur noch, dass sie in die unteren Wolkenschichten hineinstießen. Der Windumlenkungszauber des Besens hielt Julius die kalten Wasserdampfschwaden vom Leib. Dem Schwan schien der graue Dunst nichts anzuhaben. Kunststück, wo Schwäne Wasservögel waren und daher auch ohne Magie über ein wasserabweisendes Gefieder verfügten.
"Bitte verausgaben Sie sich nicht!" Rief Julius, als er sicher war, dass sie außerhalb jeder Hörweite auf dem Boden herumlaufender Menschen waren.
"Erst einmal waren wir zwei schon per du und zweitens ist das meine übliche Reisegeschwindigkeit", erwiderte Léto auf geistigem Weg. "Wie das geht erkläre ich dir bei mir", fügte sie noch hinzu.
Julius gewöhnte sich daran, dass eine Veela in Vogelgestalt mit seiner und Millies eigenen Latierre-Kuh mithalten konnte. Sie flogen knapp anderthalb Stunden, bis Léto die scheinbar unermüdlichen Flügel fest an den Körper legte und sich mit lang ausgestrecktem Hals in die Tiefe stürzte. Julius fiel deshalb um gleich dreißig Meter zurück. Doch dann hatte er Neigungswinkel und Geschwindigkeit angepasst, holte sogar auf, weil Léto sich nur von der Schwerkraft in die Tiefe ziehen ließ, wo Julius noch etwas von der Flugmagie des Besens einsetzte, um Tempo zu machen. Dann breitete der weiße Schwan die Flügel aus und spreizte alle Schwungfedern. Dadurch bremste Léto die Geschwindigkeit innerhalb weniger Sekunden auf weniger als zehn Stundenkilometer herunter. Julius konnte da locker mithalten. Schließlich landeten sie vor jenem hohlen Baum, in dem Léto wohnte. Julius hatte hier einmal vier Tage am Stück zugebracht, allerdings im tiefen Schlaf, um durch die gemeinsame Vorbereitung für die Suche nach Létos geisteskranken Neffen nicht körperlich und geistig von ihr abhängig zu werden.
"Ich habe es gemerkt, dass du gerne fliegst", lächelte Léto, als sie nach der Landung wieder in menschlicher Gestalt vor Julius stand.
"Ich notiere es mir im Geist, dass eine Veela in Vogelgestalt mindestens viermal so schnell wie ein natürlicher Vogel dieser Art fliegen kann. Mindestens viermal so schnell."
"Das kommt ungefähr hin", sagte Léto. "Das liegt daran, dass wir eine natürliche Verbindung zu den Elementen haben. So können wir die Kraft des Windes selbst in uns einatmen und dadurch jeden Widerstand der Luft überwinden, ja uns förmlich durch die Luft voranziehen lassen, bis wir da ankommen, wo wir hinwollen. Zudem hilft uns das Licht von Sonne und Mond, nicht müde zu werden, weil dieses Licht selbst aus einer unerschöpflichen Quelle stammt."
"Gut, wenn man mal vergisst, dass die Sonne in fünf Milliarden Jahren erst ihren Wasserstoffvorrat verheizt hat", grinste Julius.
"Sagen die Sternenforscher der magielosen Menschen", erwiderte Léto. Dann deutete sie auf den Eingang in den Baum. "Folge mir und tritt ohne Arg und Groll in meine Behausung, Julius, Sohn der Marhtha und des Richard!"
Julius ging hinter Léto her und betrat den hohlen Baumstamm, der ungefähr zehn Meter durchmaß. Im Inneren waren mehrere über eine Art Hühnerleiter erreichbare Etagen. Julius wollte schon seine Zauberstabspitze erleuchten lassen, als Léto mal eben zwischen ihren leicht gekrümmten Händen einen orangeroten Feuerball von der Größe eines handelsüblichen Basketballs aufflammen ließ. Dessen Licht reichte völlig aus.
Weiter oben im hohlen Baumstamm betraten sie ein rundes Wohnzimmer ohne Fenster oder Sichtluken. Léto ließ die Feuerkugel bis dreißig Zentimeter unter die Decke aufsteigen, wo sie ruhig weiterbrennend in der Luft hängenblieb.
"So, bevor wir zwei uns noch einmal über die Elementarbeziehung von Veelas unterhalten möchte ich dich noch einmal herzlich in meiner bescheidenen Heimstatt willkommen heißen", sagte Léto und umarmte Julius kurz und innig. Er sog dabei den frühlingshaften Duft ihres Parfüms in die Nase. Dann sagte Léto noch: "Was ich beim Seminar nicht erwähnt habe ist, dass wir Veela auf eine Urmutter zurückblicken, die vor siebeneinhalbtausend Jahren zum ersten Mal Mutter wurde. Sie hieß Mokusha und war eine den Elementen Feuer, Wasser und Luft verbundene Erweiterung üblicher Menschen. Deshalb heißen wir Veelas Kinder Mokushas. Insgesamt hat Mokusha dreißig Kinder geboren. Von diesen Urkindern stammen wir heutigen Veelas alle ab. Ich werde dir im Verlauf unnserer Unterredungen die dreißig Stammeltern verraten. Nur soviel: Außer uns Veelas darf kein Mensch die Namen unserer Ureltern laut aussprechen, wenn andere Menschen dabei sind. Das ich das dir erzählen darf liegt daran, dass der Rat der achtundvierzig ältesten Kinder Mokushas will, dass du über alles bescheid weißt, was nicht überlebenswichtige Geheimnisse von uns sind. So darf ich dir nicht verraten, wo genau Mokusha herkam und wo sie unsere Urahnen geboren und großgezogen hat oder welche Mittel es gibt, uns körperlich oder geistig zu schwächen. Ansonsten werde ich dich in unsere Lebensweise einführen, sofern dadurch kein Widerstreit mit deinem Selbstwertgefühl und deinen Familienverpflichtungen entsteht." Julius musste wider den Ernst der Lage grinsen. Léto würde ihn also nicht zu irgendwelchen intimen Handlungen verleiten.
"Ich hatte ja bei eurem Zauberwesenseminar erwähnt, dass wir mehr als vierhundert Jahre alt werden können und dass wir weiblichen Veelas ein Kind fünf Jahre austragen, wenn es von einem männlichen Veela gezeugt wurde. Jetzt kann ich dir zumindest noch erzählen, dass Sarja Diosan nur zwei Jahre in ihrem Leib hatte und Apolline Fleur und Gabrielle knapp anderthalb Jahre. Diese lange Zeit ist auch ein Grund, warum wir weiblichen Veelas uns sehr genau aussuchen, mit wem wir auch nur ein Kind haben möchten."
"Öhm, ist das schon eines der nicht zu erwähnenden Geheimnisse, wenn ich frage, ob ihr euch in dieser Zeit noch in eure Vogelform verwandeln könnt oder nicht?"
"Hmm, verwandeln können wir uns in der Zeit immer noch. Das in uns ruhende Kind wird dann zu einem ungelegten Ei und verfällt solange in eine Art Tiefschlaf, bis wir wieder menschliche Gestalt annehmen. Die Zeit, die wir als Vögel herumflogen wird zur üblichen Schwangerschaft dazugezählt. Insofern kann uns das nicht einschränken und ist somit kein überlebenswichtiges Geheimnis", erwiderte Léto. "Aber kommen wir in dem Zusammenhang noch auf was wichtiges, was ich beim Seminar nicht erwähnt habe, aber du schon in gewisser Weise von mir mitbekommen hast: Die körperliche Verbindung zwischen einer mütterlichen Veela und ihren Kindern reißt nicht ab, auch wenn die Kinder nach der Geburt von den Versorgungsschnüren gelöst werden. Deshalb bewahrt eine Veela-Mutter diese Schnüre, die ihr Nabelschnüre nennt, ja auch auf und kann damit sogar ein verwaistes Kind zu ihrem eigenen machen oder wie bei dir eine zeitweilige Blutsbindung zwischen einer Veela und ihren Kindern, Enkeln, aber auch Geschwistern und Geschwisterkindern machen. Das kann aber eben auch dazu führen, dass ein Mensch, dem diese Ehrung oder Notwendigkeit zuerkannt oder zugemutet wird körperlich von der Adoptivmutter abhängig wird, ja sogar von ihr gesäugt werden muss, weil er oder sie Qualen erleidet, wenn er nicht von ihr umsorgt wird, bis die Zeit um ist, in der natürlich geborene Kinder die direkte Versorgung durch ihre Mutter nötig haben. Da ich dich mit allen meinen fünf Kindern und mir gleichzeitig verbunden habe, um Sarjas Sohn für dich auffindbar zu machen, hättest du dann fünf Jahre in meiner unmittelbaren Nähe bleiben müssen und nur dann satt werden können, wenn ich dich gestillt hätte. Diese Unannehmlichkeit wollte ich uns beiden ersparen. Deshalb habe ich dich in den Schlaf der Geborgenheit gesungen, der auch nur dann wirkt, wenn die körperliche Verbindung hergestellt ist."
Julius wollte sich das alles aufschreiben. Doch Léto lehnte das ab. "Du hast ein sehr gutes Gedächtnis und kannst durch die zeitweilige Verbindung zu mir leichter im Kopf behalten, was ich dir sage, egal was es ist, solange ich will, dass du es dir merkst." Julius wollte schon widersprechen. Doch ein energisches Schschsch von Léto würgte jedes Wort von ihm ab. Dann fuhr sie mit ihren Erläuterungen fort.
Julius erfuhr nun, dass die Veelas die schnell veränderlichen Naturformen Feuer, Wind und Wasser wie teilbeseelte Wesen wahrnahmen und sie gedanklich auf sich einstimmten. Das kam ihm bekannt vor. Er erinnerte sich an Erwähnungen im Buch "Der Voodoo-Schild", in dem beschrieben wurde, wie man sich gegen bösartige Ritualmagie absichern konnte. Da hieß es auch, dass die Magier des Voodoo ähnlich wie die Schamanen anderer Naturvölker in Geistige Verbindung mit den Elementen und den Urahnen traten, um so ihre Zauber zu wirken. Also beherrschten die Veelas diese Form der Naturmagie bereits von Geburt an und übten sich ihr ganzes Leben darin. So konnte eine Veela eben eine freischwebende Feuerkugel erzeugen oder als Vogel mit beinahe Düsenflugzeugtempo durch die Luft brausen. Zudem konnten sie zu ihren Wiegenvögeln, wie die ihnen von Geburt an mögliche Vogelgestalt hieß, gefühlsmäßige Verbindung aufnehmen und sie als Beobachter oder Übermittler einsetzen. Sowas konnten die grünen Waldfrauen mit Pflanzen, und Barbara Hippolyte Latierre, seine Schwiegerurgroßmutter, konnte das seit dem Tag, als sie beschlossen hatte, die meiste Zeit als großer Kirschbaum weiterzuleben.
Nachdem Léto ihm diese ganzen körperlichen und magischen Eigenschaften beschrieben und teilweise auch vorgeführt hatte kam sie wieder auf den Stammbaum, den sie ihm gegeben hatte. Er sollte nun herauslesen, wie wer mit ihr verwandt war. "Da wir vom Rat der ältesten lebenden Kinder Mokushas dich ja als Vermittler für meine französischen Nachkommen anerkannt haben, ist es im Moment nur nötig, dass du meine direkten Nachkommen, deren Kinder und Zugesprochenen kennst. Daher werde ich übermorgen mit dir durch das Land reisen und meine Töchter und deren Familien besuchen", legte Léto fest. Julius räumte ein, hierfür die amtliche Bestätigung und einen amtlichen Auftrag seiner direkten Vorgesetzten erbitten zu müssen, da es ja nicht so gern gesehen wurde, wenn jemand auf einem Besen über einer hauptsächlich von magielosen Menschen bewohnten Ansiedlung herumflog. Léto konnte sich, wenn sie keinen Bodenkontakt hatte, willentlich unsichtbar machen wie ein Kobold, ein Tebo oder ein Demiguise. Da das Ministerium jedoch gerade mal fünf tarnfähige Harvey-Flugbesen aus den vereinigten Staaten hatte und diese nur bei der Katastrophenabwehr oder der magischen Strafverfolgung eingesetzt werden durften, würde Julius sich immer wieder der Gefahr einer Entdeckung aussetzen. Doch dann kam ihm eine Idee:
"Hmm, könnt ihr auch Lasten transportieren, wenn ihr in der Gestalt eurer Wiegenvögel fliegt?" fragte er Léto. Diese nickte und antwortete: "Ja, aber nur ein Viertel unseres eigenen Gewichtes. Von uns hat bisher nur eine einen Phönix als Wiegenvogel gehabt und konnte deshalb das zehnfache Eigengewicht durch die Luft tragen. Das war Feuertaucherin, Mokushas dritte Tochter, die dem Element Feuer so sehr verbunden war, dass sie selbst gegen glutflüssiges Gestein aus der Erde und den heißesten Atem der geflügelten Feuerechsen bestand. Das kam wohl daher, dass unsere erhabene Urmutter wegen Schmerzen während ihrer Schwangerschaft die Tränen eines solchen Vogels getrunken hat. Offenbar sind die Eigenschaften dieses Vogels dann auf Feuertaucherin übergegangen. Sie war dafür aber sehr kälteempfindlich. Immerhin hat sie dreimal so lange gelebt wie alle anderen Kinder Mokushas und selbst hundert eigene Kinder bekommen."
"Interessant", erwiderte Julius. Wie sich magische Tränke oder Wirkstoffe auf ungeborene Kinder auswirken konnten wusste er ja durch den Fall Simon Newton aus Amerika. Aber seine Idee schien durchführbar. Er griff seinen Zauberstab und vollführte damit jene Bewegungsabfolge, um eine magische Luftblase um seinen Kopf zu erzeugen. Dann vollführte er eine abwärtsweisende Zauberstabbewegung gegen sich, wobei er "Decinimus", murmelte. Dabei musste er an ein Tier denken, dass nur ein Zehntel so groß wie er selbst war. Denn nur so konnte er den damit ausgeführten Zauber auf sich selbst anwenden. Für Julius schienen plötzlich alle Wände und die Decke immer weiter fortzurücken. Winzige Risse und Poren im hölzernen Boden wuchsen zu langen, tiefen Spalten und kopfgroßen Löchern mit teilweise glatten, teilweise ausgefransten Rändern an. Doch das unheimlichste war, das Léto für Julius immer größer wurde. Am Ende erschien sie einige Meter größer als die Riesin Meglamora.
Für Léto, die den Zauber offenbar noch nicht kannte, sah es ebenso unheimlich aus, wie Julius unvermittelt auf die Größe seiner eigenen Hand zusammenschrumpfte. Ebenso wurde alles, was er gerade am Körper trug verkleinert. Léto wollte schon vor Schrecken aufschreien. Doch dann erkannte sie, warum Julius das getan hatte. Sie schmunzelte. Dann hockte sie sich hin und breitete ihre Arme aus. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte auch sie sich. Sie Wurde wieder zum weißen Schwan, wobei alle ihre Kleidung sich aufzulösen schien.
Julius erinnerte sich an die Asgard-Schwäne, die die Greifennest-Abordnung vor ihr geflügeltes Schiff gespannt hatte, als er die für ihn gigantische Léto ansah. Doch jetzt hatte er einmal angefangen und wollte es nun auch durchziehen. "Ich habe als kleiner Junge eine Geschichte aus Schweden als Film gesehen, wo ein böser Junge von einem kleinen Wichtelmann wegen seiner Bosheit eingeschrumpft wurde. Der konnte dann mit allen Tieren sprechen und mit einem Schwarm Wildgänsen mitfliegen. Deshalb kam ich jetzt auf diese Idee. Ich hoffe, ich habe dich nicht total erschreckt", rief Julius. Er hoffte, dass Léto ihn trotz seiner Einschrumpfung und der Kopfblase verstand. Der für Julius riesige Schwan nickte. Dann brachte der majestätische Vogel den Bürzel auf den Boden. Julius verstand und lief hin. Über den Bürzel bestieg er den für ihn mehr als ausreichend großen Schwan, lief zwischen den gewaltigen Federn nach vorne und klammerte sich am unteren Ende des Schwanenhalses Fest. Léto fragte ihn in Gedanken, ob er sicher saß. Er bestätigte es durch Gedankensprechen.
Léto hob ab. Sie war dabei ganz behutsam. Doch für Julius war es schon wie der Start mit einem Düsenflugzeug. Er hoffte, dass er sich sicher halten konnte. Als die verwandelte Veela mit ihrem selbstgeschrumpften Reiter mehrere Minuten um ihren Baum herumgeflogen war kehrte sie in den Wohnraum zurück und landete. Julius stieg wieder ab und hob mit dem Reverso-Mutatus-Zauber die Selbstschrumpfung wieder auf.
"Ich hätte mich auch auf ein Hundertstel zusammenschrumpfen können. Die Kopfblase ist wichtig, weil die Luft für eingeschrumpfte nicht mehr so leicht zu atmen ist, wenn sie nicht auch zu entsprechend kleinen Tieren wie Mäusen oder Insekten werden", erklärte Julius.
"Jedenfalls habe ich dein Gewicht nicht als Belastung gefühlt", erwiderte Léto. Damit stand fest, dass sie bei ihren Ausflügen zu Létos Verwandten in dieser Form reisen würden.
Zurück zum Ministerium ging es aber wieder wie auf dem Hinweg. Julius folgte Léto auf dem geliehenen Besen. Als er dann erwähnte, dass er übermorgen Létos Verwandte offiziell begrüßen sollte und wie sie zu diesen hinreisen würden meinte Ornelle Ventvit:
"Eine Einschrumpfung zehrt Tagesausdauer, Julius. Sie sollten sich deshalb vor und nach solchen Reisen immer gut erholen. Ich muss das aber mit Monsieur Vendredi abklären, weil der jede regelmäßige Verwendung von Selbstverwandlungen bei ihm unterstellten Ministeriumsbeamten genehmigen muss. Wie immer er entscheidet, Julius, halten Sie sich tunlichst daran!" sagte sie noch.
Als Julius eine Stunde später als sonst von seiner Arbeit nach Hause kam waren nicht nur Millie und Aurore im Apfelhaus, sondern auch Laurentine Hellersdorf. Diese hatte sich nach dem Unterrichtstag auf eine Plauderei mit ehemaligen Schulkameraden eingelassen und war von Millie zum Abendessen eingeladen worden. Da es nun offiziell und auch für die Zaubererweltzeitungen gestattet war, dass Julius mit den Veelas Kontakt hielt konnte er mit Millie und Laurentine darüber sprechen, dass er von Léto zu ihren in Frankreich lebenden Familienangehörigen geführt werden sollte. Millie verzog dabei das Gesicht.
"Auch wenn sie uns im Seminar einen erzählt hat, dass Veelas sowas wie die Ehe anerkennen pass ja auf, dass Léto dich nicht mit einer ihrer unverheirateten Enkeltöchter verkuppelt, Julius Latierre."
"Ich weiß, wo mein Bett steht, Mildrid Ursuline Latierre", erwiderte Julius etwas verstimmt. "Ja, vergiss das ja nicht", grummelte Millie zurück. Laurentine blickte beide kritisch an und fragte, was das nun sollte, wo sie dabei war. Das brachte die beiden jungen Eheleute darauf, sich wieder zu vertragen, bevor sie richtig in Streit geraten mochten.
"Mein Opa Henri hat mich gestern angerufen und gefragt, ob ich es einrichten könnte, am 24. November rüber nach Leipzig zu kommen. Er ist da im Rahmen einer Weihnachtstour, die von einer weltberühmten Getränkefirma durchgeführt wird. Er hatte ursprünglich Oma Monique mitnehmen wollen. Doch die wollte diese Zitat "Kinderverführungs-Kommerz-Klamotte" nicht unterstützen und ist wieder bei ihrem Vetter drüben in Los Angeles. Deshalb hat Opa Henri eine Freikarte übrig."
"Und deine Eltern?" fragte Julius.
"Hab ich ihn auch gefragt. Er meinte, dass er Probs mit meinem Vater hätte, weil der unbedingt ganz rüber nach Französisch-Guayana ziehen will, jetzt wo die dem den stellvertretenden Direktorenposten von Kourou angeboten haben. Da meine Eltern grundsätzlich nur noch ihren AB drangehen lassen, sobald die meine Pariser Telefonnummer auf der Anzeige haben, weiß ich das nur von meinem Opa, dass meine Mutter deshalb mit meinem Vater am 20. November nach Kourou fliegt, mit einem Firmenjet von Ariane Space."
"Ach, die Coca-Cola-Weihnachts-Trucks", meinte Julius darauf. "Ziemlich viel Weihnachtskitsch, wenn ihr mich fragt. Wen haben die denn für dieses Jahr gebucht?"
"Die Liste habe ich noch nicht, weil mein Opa mich überraschen wollte. Ich hörte aber sowas, dass die Sängerin Melanie Thornton da auftreten soll, falls du die kennst, Julius."
"Ach, die in den Neunzigern auf der Eurodance-Welle mitgeritten ist?" fragte Julius. Trotz Hogwarts und Beauxbatons hatte er sich in den Ferien immer wieder auf den neusten Stand der Popmusikentwicklung gebracht und wusste auch, wen Laurentine meinte. Millie blickte die beiden etwas gelangweilt an, weil die sich über etwas unterhielten, wo sie nicht mitreden konnte. Julius bot ihr deshalb an, ihr ein paar Titel vorzuspielen, wenn er wieder an den Rechner konnte. Dann fragte er Laurentine noch, ob sie auch keine E-Mails an ihre Eltern schicken konnte.
"Schicken kann ich die. Aber wie ich meinen Vater einschätze hat er meine Adresse geblockt oder als "Sofort wieder zu löschen" gekennzeichnet. Tja, und jetzt, wo er meine Mutter dazu überreden konnte, ihn auf seinem nächsten Schritt auf der Karriereleiter zu begleiten, hängt der Segen auch zwischen meinen Eltern und meinen Großeltern mütterlicherseits schief."
"Häh?!" entgegnete Millie. Laurentine sah sie erst irritiert an, nickte dann aber. "So sagen es die Muggel, wenn in einer Familie oder zwischen Freunden gerade viel Ärger ist. Wieso das so gesagt wird müsste ich mal nachsuchen."
"Achso, du meinst Eisnebelstimmung, Laurentine", grinste Millie. "So sagen wir in der Zaubererwelt, wenn es in einer Familie gerade irgendwie nicht so richtig läuft. Also sowas, wie das zwischen deinen Eltern und dir oder zwischen Oma Line und ihren es achso gut meinenden Schwestern." Laurentine nickte unwillig. Dann sagte sie noch:
"Na ja, ich müsste irgendwie ohne Besen und Apparieren rüber nach Leipzig. Gut, von Paris nach Berlin ginge das mit dem Flieger und dann mit der Bahn. Aber ich weiß nicht, ob ich mir das wirklich geben soll. Denn sowie ich das mitbekommen habe ist Opa Henri da eh wohl geschäftlich unterwegs um von den Leuten, die da auftreten einige für Tourneen durch Frankreich klarzumachen. Nur weil er da eine weibliche Begleitung mit seriösem Anstrich braucht muss ich mir nicht einen vollen Tag um die Ohren hauen, um gerade zwei Stunden mit ihm reden zu können. Vielleicht kriege ich das ja hin, dass er mich mit Oma Monique Weihnachten besucht, allein schon, damit es alle in der Verwandtschaft klar haben, dass ich nicht aus der rein technischen Zivilisation ausgestiegen bin."
"Da wünsche ich dir auf jeden Fall Glück", sagte Julius. Millie nickte ihm und Laurentine beipflichtend zu.
"Und wie kommst du mit den Brickstons klar?" wollte Julius wissen.
"Auf der Ebene sehr guter Nachbarschaft, Julius. An den Wochenenden ist Claudine auch mal bei mir oben oder ich begleite Catherine - wir sind per du - zu den Einkäufen. Joe redet nur mit mir, wenn seine Frau mit dabei ist, warum auch immer. Immerhin hat er meinen Privatrechner aufgesetzt und mit gescheiten Schutzprogrammen gesichert. Apropos, er ließ sowas anklingen, dass deine Mutter wohl ein Mailverschlüsselungsprogramm geschrieben habe, um im Darknet der transatlantischen Zaubererweltbeziehungen unmitlesbare Nachrichten verschicken zu können. Hast du da schon was gehört, wie weit sie ist?"
"Sie wollte mir eine Eule schicken, wenn sie alles durchentwickelt und angefahren hat", sagte Julius. "Seit dem elften September gibt sie keine brisanten Sachen mehr über E-Mails oder Telefongespräche weiter. Du hast ja mitbekommen, dass sie von den Leuten von Cartridge ziemlich heftig umworben wurde und ihr sogar mit den magielosen Geheimdiensten gedroht wurde, wenn Minister Grandchapeau und Madame Grandchapeau da nicht sehr wirkungsvoll zwischengegangen wären."
"Ich erinnere mich", sagte Laurentine.
"Und dein motorisierter Rollschuh fährt noch?" fragte Julius herausfordernd.
"Du wolltest schon längst mal mit mir damit herumgefahren sein", erwiderte Laurentine verdrossen. Millie nickte. Julius sagte dann, dass er erst mal herausfinden musste, wie viel Freizeit ihm seine neuen Aufgaben ließen. Millie grummelte, dass sie das schon merke, dass er wohl Überstunden machen müsse.
"Ich kriege das hin, genug Zeit für uns rauszuholen, Millie", versuchte Julius, sie friedlich zu stimmen. Millie sagte dazu nichts. Sie warrf ihm nur einen argwöhnischen Blick zu. Julius schluckte schnell hinunter, dass ja irgendwie genug Gold hereinkommen müsse, um eine vierköpfige Familie in Gang zu halten, vor allem, wenn diese irgendwann noch größer werden sollte. Aber er merkte, dass er dann genauso geredet hätte wie sein Vater, und dessen spärliche Freizeit war ihm Warnung genug, es selbst nicht soweit kommen zu lassen.
"Sandrines Mutter hat mich schriftlich angewiesen, keinerlei Antworten mehr an Madame Grandchapeau zu schicken, egal womit sie mir demnächst noch kommen könnte. Sie meinte, solange ich für sie arbeite hätte ich mich auch nur für sie bereitzuhalten und Madame Grandchapeau sei die letzte, die dagegen was zu sagen hätte."
"Ich denke, das weiß sie auch", erwiderte Julius. Laurentine konnte darüber nur verächtlich grinsen. Millie tat dies auch.
Nach dem Abendessen und der alltäglichen Zubettbringarie für Aurore ließ Julius von einer CD mit Spitzenreitern der 1990er Jahre ein paar Stücke laufen, bei denen Melanie Thornton mitgesungen hatte. Die schnellen Tanzstücke schienen der ungeborenen Chrysope entweder sehr zu gefallen oder sie zu verunsichern. Jedenfalls beklagte sich Millie über besonders spürbare Turneinlagen ihrer ungeborenen Tochter. Dafür gefielen ihr die langsamen Titel, die Julius dann über das Internet abspielen lassen konnte. Da war auch das Werbevideo zu sehen, mit dem die Getränkefirma im Weihnachtsgeschäft ihren Umsatz steigern wollte.
"Och joh, ihr klingelt bei den Weihnachtsliedern auch gerne mehr als nötig", grinste Millie und freute sich, dass Chrysope wohl wieder eingeschlafen war.
Um Halb zehn legte Julius sich den Armreif aus der Villa Binoche um, den er nicht immer sichtbar mit sich herumtragen wollte, um keine unnötigen Fragen seiner Kollegen zu provozieren. Er berührte ihn, so wie er es von den silbernen Pflegehelferarmbändern früher gewohnt war und rief ihm zugeneigt: "Mutter, hörst du mich?!" Tatsächlich vibrierte der zum Teil aus Orichalk gemachte Armreif kurz. Dann erschien wie eingeschaltetes Elektrolicht die räumliche Abbildung seiner Mutter Martha Merryweather, als stehe sie unmittelbar vor ihm.
"Ich habe den Armreif die ganze Zeit angelegt, weil ich mir denken konnte, dass du mich wegen meiner letzten Eule noch mal zu sprechen wünschen könntest", grüßte Julius' Mutter. Ihre Stimme klang leicht verwaschen aus dem Armreif heraus. Julius nickte der magischen Abbildung seiner Mutter zu und erwähnte dann, dass Laurentine am Abend bei ihm und Millie gegessen hatte und dass sie über dieses Verschlüsselungsprogramm gesprochen hätten.
"Ich habe festgestellt, dass es im Internet offenbar einen in mehrere Klone aufgeteilten Suchroboter gibt, der als eine Art Sammelprogramm arbeitet. Da dieser sich über geschickte Verschleierungsalgorithmen jeder Verfolgung entzieht muss ich noch ein paar Sicherheitslücken sowohl im Serverbetriebssystem als auch in den handelsüblichen Betriebssystempaketen schließen. Die Mail- und Kurznachrichtenübermittlung ist aber von mir schon so sicher, wie es mit modernen Rechnern gemacht werden kann. Ich schicke dir dann die CDs mit allen relevanten Ergänzungen und Bibliotheken, wenn das alles von meinem Geisterserver getestet wurde."
"Geisterserver?" fragte Julius. Seine Mutter erläuterte, dass sie mit Mitteln aus dem Budget des Büros für das friedliche Miteinander von Menschen mit und ohne magische Kräfte eine gewisse Menge Muggelweltwährungseinheiten erhalten habe, mit der sie im Keller ihres Hauses einen vorübergehenden Server installiert habe, der zwar auf das Internet zugreife, sich dort jedoch nicht als Zieladresse bemerkbar mache. "Wenn ich alles absichern kann, was ich als zu sichern ansehe und hinbekommen habe, baue ich unser Darknet weiter aus, das ich seit fünf Monaten mit unseren Partnern in London, Berlin, Paris und Washington habe. Dann können auch andere Zaubereiministerien und denen untergeordnete Abteilungen, die mit der rein technischen Gesellschaft zu tun haben, eigene Knotenpunkte kriegen und darüber, sofern das geht, unerkannt Daten austauschen, aber auch Daten aus dem Internet abgreifen. Hierbei muss ich natürlich zusehen, einen sich ständig aktualisierenden Virenschutz einzurichten, ohne offizielle Registrierungen bei den Anbietern von Antivirensoftware durchführen zu müssen. Das wird nicht einfach. Und wenn die NSA weiter so auf Internetüberwachung ausgeht muss ich auch zusehen, dass keine Spuren unserer Nachforschungsanfragen im Internet zu finden sind, es also innerhalb weniger Sekunden Wechsel in den Internetprotokolladressen gibt. Vielleicht müssen wir auch dunkle Pfade beschreiten und das machen, was Hacker andauernd versuchen, mehrere Rechner weltweit zu heimlichen Zwischenstellen umzufunktionieren, ohne dass die ordentlichen Anwender das mitbekommen. Nathalie hat komisch geguckt, als ich erwähnte, dass solche ferngesteuerten Computer als Zombies bezeichnet werden."
"Hoffentlich kommen wir ohne solche Sachen aus, Mum. Die Große Dame in weiß hat mir mal erzählt, dass es nichts gutes ist, wenn wer mit bösen Mitteln gegen das Böse kämpft."
"Die hat echt gut reden, wo sie die ganze von Menschen gemachte Dauerkatastrophe in der Welt nicht bekämpfen muss."
"Sag das besser nicht, Mum", erwiderte Julius. "Immerhin hat sie uns ja sehr gut beraten, als das düstere Jahr war", erwiderte Julius auf der Hut, dass Lucky Merryweather vielleicht zuhörte.
"Akzeptiert", grummelte Martha Merryweather. "Also, ich möchte, wenn es nach der erwähnten Dame geht nicht auf die dunkle Seite der Macht wechseln, um uns gefährliche Sachen abzuwehren, richtig?"
"Öhm, genau", bestätigte Julius. Andererseits verstand er seine Mutter, dass sie alle ihr bekannten Möglichkeiten ausschöpfen wollte, um ihre Arbeit für ein gedeihliches Miteinander von Zauberer- und Muggelwelt unter Einhaltung der Geheimhaltungsbestimmungen zu erledigen. Er verabschiedete sich dann noch von seiner Mutter, für die es gerade kurz nach halb eins am Mittag war und wünschte ihr und Lucky noch einen schönen Tag. Sie wünschte Millie und ihm eine erholsame Nacht.
Gegen zehn Uhr lagen die Eltern Aurores im Bett. Julius fühlte, wie der Zusatzunterricht bei Léto doch gut geschlaucht hatte, und Millie benötigte im letzten Stadium ihrer zweiten Schwangerschaft mehr Schlaf als sonst.
Julius hatte den nächsten Tag damit zugebracht, sich die Bilder von Meglamora und Mademoiselle Maxime anzugucken. Dabei war herausgekommen, dass die reinrassige Riesin den Vitalumina-Blitz zu einhundert Prozent reflektiert hatte und als grellblaues Abbild ohne Kleidung und mit einer dämmerblauen Aura um ihren Körper aufgenommen worden war. Ob in ihrem Leib ein oder zwei Kinder heranwuchsen war jedoch nicht zu erkennen. Womöglich mussten sie die nächsten Monate abwarten, bis das Kind oder die Kinder groß genug waren, um klar als eigenständige Lebewesen erkannt und mit dem Vitalumina-Blitzlicht sichtbar gemacht zu werden. Abends, als Julius mit seiner Frau im mittlerweile schalldichten Musikzimmer ein paar Weihnachtsstücke einübte, vibrierte es in Julius' Practicus-Brustbeutel. Er wusste, dass jemand ihn über einen der drei Zweiwegespiegel anrief. Er fühlte nach und erkannte, dass es jener Spiegel war, über den er mit Dumbledores Cousine Sophia Whitesand in Verbindung stand. Er zog den Spiegel behutsam hervor und sah erst das Symbol des langstieligen Kelches auf der Rückseite. Dann blickte er in die bezauberte Spiegelfläche und sah das Gesicht der altehrwürdigen Hexe mit den goldenen Halbmondbrillengläsern. Millie bekam mit, das ihr Mann wohl gerade einen magischen Anruf bekam und klappte den Klavierdeckel zu, um zu hören, um was es ging.
"Julius, ich weiß nicht, ob Madame Faucon oder wer anderes von der Liga gegen dunkle Künste dir das mitteilt oder ob es schon bei euch im Ministerium herum ist. Aber wir müssen wohl davon ausgehen, dass es irgendwann wieder Schwierigkeiten mit Vampiren geben wird", begrüßte Sophia Whitesand Julius, als sie ihn wohl im Gegenstück der Zweiwegespiegelverbindung sehen konnte. Julius wiegte den Kopf und fragte, wie Madam Whitesand darauf komme. Er hätte auch gleich fragen können, welche ihrer heimlichen Bundesschwestern ihr sowas erzählt hatten.
"Es ist zu einigen Sichtungen gekommen, bei denen Vampire andere Zauberer überfallen haben und danach auf eine bisher unbekannte Art verschwanden, nicht disapparierten, nicht wegflogen, sondern in einer Art Schattenwirbel verschwunden sind. Deshalb muss ich davon ausgehen, dass die Gefahr, die von Nocturnia ausging, doch noch nicht ganz aus der Welt ist. Minister Shacklebolt hat die Angelegenheit zunächst zu einer Sache auf hoher Geheimstufe erklärt. Daher weiß ich nicht, ob er mit eurem Zaubereiminister schon gesprochen hat oder dies überhaupt tut."
"Ich bin nicht in der Vampirüberwachung angestellt", setzte Julius an. "Wenn da was auf hoher Geheimstufe weitergegeben wurde kriege ich das nicht mit, solange die nicht finden, dass meine Abteilung auch was damit zu tun hat."
"Versteht sich, Julius. Ich stelle nur fest, dass die Art, wie die gesichteten Vampire verschwanden, durchaus mit alten Zaubern zu tun haben, die auch den Mitternachtsdiamanten hervorgebracht haben."
"Moment, dann denken Sie, dass dieser selbsternannte Erbe von Tom Riddle was erfunden oder wiederentdeckt hat, um Vampire zu teleportieren?" fragte Julius.
"Er oder etwas, dass den Mitternachtsdiamanten beherrscht, der ja gewöhnlichen Vampiren entzogen wurde."
"Und Sie denken, dass jemand die Vampire zu einer neuen Streitmacht zusammenbringen will?" fragte Julius. Er hatte keinen Moment daran gezweifelt, dass Sophia Whitesand die Wahrheit sprach.
"Ich persönlich glaube nicht, dass dieser neue Dunkelhexer die Vampire derartig einsetzt. Ich gehe davon aus, dass die Führerin von Nocturnia bei ihrer körperlichen Vernichtung in den Mitternachtsdiamanten gebannt wurde und irgendwie eine Möglichkeit gefunden hat, diesen zu beherrschen und irgendwie andere mit ihm einmal in Berührung gekommene Vampire zu lenken und zu versetzen."
"Tolle Vorstellung", grummelte Julius. "Eine nette Gutenachtgeschichte für eine werdende Mutter." Millie nickte verdrossen dreinschauend.
"Prüfe das bitte nach, ob es damals schon solche Beobachtungen über Vampire gab! Du kommst ja an einige Quellen mehr dran als ich."
"Das lasse ich mal unkommentiert. Aber wenn ich irgendwas erfahre, das ich weitergeben darf, werde ich Sie natürlich darüber unterrichten."
"Das wäre nett. Du brauchst ja keine Quellenangaben zu machen und auch nicht in entsprechenden Mitteilungen namentlich erwähnt werden", sagte Sophia. Julius bedankte sich für diese Diskretionszusage. "Ach ja, wo ich dich schon mal direkt sprechen kann: Herzlichen Glückwunsch zur Ernennung zum Veela-Kontaktzauberer!"
"Hmm, woher haben Sie das denn?" fragte Julius.
"Ich habe auch meine Quellen, zumal ja eine Enkeltochter von Madam Léto seit vier Jahren auf deiner und meiner Geburtsinsel wohnt."
"Ob das ein regulärer Dienstposten wird weiß ich noch nicht. Es ist erst einmal nur ein Pilotprojekt", sagte Julius und bedankte sich für den Glückwunsch. Dann wünschten sich Sophia Whitesand und Julius Latierre noch eine gute Nacht.
"Mann, hätte die Oberschwester aus England das nicht für sich behalten oder nur denen servieren können, die direkt damit zu tun haben?" grummelte Millie. Julius verstand ihren Unmut. Sich vorzustellen, dass Vampire nicht mehr langwierige Reisen machen mussten, sondern wie mit Portschlüsseln oder durch Apparieren blitzschnell den Standort wechseln konnten, gefiel ihm auch absolut nicht. Doch genau das lieferte ihm die Vorlage für seine Antwort.
"Wenn es wirklich alte Sachen sind, die der Mitternachtsdiamant mit Vampiren anstellen kann, dann könnte zumindest ich direkt was damit zu tun haben, aber auch alle anderen vom stillen Dienst, damit also auch du. Iaxathan hat die Vampire erschaffen. Wenn er auch eine Möglichkeit erfunden hat, sie mal eben um die halbe Welt zu beamen, ähm, zu versetzen, und jemand hat diese Möglichkeit wieder ausgebuddelt, hängen wir da leider mit drin, so bescheuert ich das auch finde."
"Ja, aber diese Lamia ist doch restlos verglüht, haben Temmie und andere erzählt."
"Temmie hat aber auch erzählt, dass dabei alle von Lamia gemachten Vampirkinder mit ihr zusammengeflossen sein sollen. Am Ende wurde die dadurch zu einer Art Kollektivgeist, sowas wie Ammayamiria mal hundert. Die ist dann aber nicht zur transvitalen Entität geworden, weil es diesen verfluchten Mitternachtsdiamanten noch gibt. Der könnte sie eingefangen und in sich reingezogen haben. Vielleicht musste sie da erst einmal untätig abhängen. Aber wenn sie stark genug ist, die in diesen Klunker eingebackene Magie für sich auszunutzen ..."
"Ist das ein viel zu großer Drache, den die englische Oberschwester und du da gerade ruft", schnaubte Millie. Julius konnte das zu seinem Bedauern nicht abstreiten.
"Super, jetzt darf ich noch von irgendwie urplötzlich bei uns auftauchenden Vampiren träumen oder ..." setzte Millie an, als sie und auch Julius gleichzeitig Temmies Gedankenstimme hörten.
"Durch den Lebensschutzzauber, den ihr mit Aurore und Camille ausgeführt habt und der in den fünf kleinen Bäumen um euer Haus weiter anwächst, seid ihr auf jeden Fall sicher. Der Schattenstrudel, mit dem Iaxathan seine Geschöpfe über hunderte von Tausendschritten versetzen konnte, kann nicht an Orten auftauchen, an denen bereits mächtige Kräfte des Lichts und des Lebens wirken. Ihr könnt also in eurem runden Haus friedlich schlafen. Ihr seid dort sicher. Auch Camille ist in ihrem Haus sicher. Ich weiß nicht, ob der Schattenstrudel durch die mit dunkler Kraft gewobene Umhüllung um eure Siedlung dringen kann, hoffe aber, dass sie ebensowenig hindurchdringen kann wie ein Mensch, der den kurzen Weg mit Hilfe eines Kraftausrichters geht."
"Aber du kommst da doch auch durch?" schickte Julius an Temmie zurück und hoffte, dass Millie das nicht mitbekam.
"Weil ich keinen Kraftausrichter oder eine mich von außen kräftigende Hilfe benötige", vernahm er Temmies gedankliche Antwort. Er hoffte, dass das genügte. Er hatte jedoch jetzt ein Problem: Wie sollte er die neue Information weitergeben und an wen. Er durfte ja nicht verraten, dass er mit Sophia Whitesand Kontakt hielt. Aber woher sollte er es dann haben, dass es vielleicht eine neue Vampirgefahr geben würde? Als er das Millie sagte antwortete diese:
"Frag doch Königin Blanche. Die weiß doch, dass du mit Dumbledores Cousine reden kannst." Julius hätte sich fast vor den Kopf geschlagen. Manchmal kam man eben nicht auf die naheliegendsten Dinge. So holte er schnell den Zweiwegespiegel hervor, über den er mit Madame Faucon Kontakt aufnehmen konnte. Er hoffte, sie nicht gerade beim Umziehen zu erwischen.
Es dauerte eine Minute, bis Blanche Faucons Gesicht im auf sie abgestimmten Spiegelglas auftauchte. Als Julius ihr dann erzählte, was er gerade erfahren hatte sagte die Schulleiterin von Beauxbatons:
"Diese Information ist wahrlich von sehr großer Wichtigkeit für die magische Menschheit. Ich werde die erwähnte Dame gleich selbst zu sprechen versuchen und von ihr die Einzelheiten erfragen. Ich werde sie dabei auch fragen, warum sie es nicht für nötig hielt, mich von sich aus darüber zu unterrichten." Julius hatte darauf aber die Antwort und erwähnte, dass Sophia Whitesand ihn beauftragte, seine Quellen zu nutzen, um mehr darüber zu erfahren.
"Natürlich", knurrte Blanche Faucon. Dann verabschiedete sie sich von Julius und wünschte ihm und Millie eine erholsame Nacht.
"Sie wird dann den Minister drauf bringen, weil sie ja auch offiziell mehr wichtige Kontakte hat", sagte Julius noch, als die Spiegelverbindung längst beendet worden war.
"So geht's dann auch. Dich aufscheuchen, damit Königin Blanche es so dreht, als wenn sie das ganz allein erfahren hätte", grummelte Millie verbittert. Julius nickte beipflichtend. Dann deutete er auf das Klavier und schlug vor, noch einmal "Eulen fliegen um das Feuer" zu spielen, einen Weihnachtsklassiker aus dem Buch von Hecate Leviata. Millie war einverstanden.
Eine Stunde später lagen Millie und Julius im Bett und schliefen in der Gewissheit, im Pentagramm der fünf Apfelbäume sicher und unerreichbar für dunkle Zauberwesen zu sein.
Ornelle Ventvit übergab Julius die schriftliche Genehmigung Monsieur Vendredis, dem obersten Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. "Er hat zwar erst angemerkt, nicht den Eindruck zu vermitteln, dass wir Ihnen zu viel erlauben, aber auch nicht zu viel aufladen wollen. Die Begründung, dass sie mit Léto ja nicht apparieren können und wohl auch nach Paris, Le Havre und Antibes fliegen müssen, um Létos Verwandte zu besuchen, hat jedoch den Ausschlag für seine Genehmigung gegeben. Passen Sie jedoch bitte auf, dass Sie die Zeiten, die Sie in der Selbsteinschrumpfung verbringen, nicht über vier Stunden am Tag ausdehnen!" Julius bestätigte das. Die Vorstellung, auf gerade 19,3 Zentimeter eingeschrumpft herumzulaufen und sich damit für Hunde, Katzen, Füchse und Greifvögel als Jagdbeute anzubieten, gefiel ihm auch nicht. So wollte er diesen Zustand auf den reinen Flug mit Léto beschränken.
Da er den Hohlen Baum Létos nun kannte apparierte er aus dem Foyer des Ministeriums auf hundert Meter an diesen Baum heran. Léto fühlte wohl seine Anwesenheit. Denn er brauchte nicht näher heranzugehen. "Ich weiß, dass du bei meiner Wohnung bist. Ich komme zu dir raus", hörte er ihre Gedankenstimme im Kopf.
Als Léto erst in der Gestalt einer überragend schönen Menschenfrau zu ihm hintrat musste er erst das Lied des inneren Friedens durch seinen Geist eilen lassen, um sich gegen ihre übernatürliche Ausstrahlung abzuschirmen. Als sie dann zu einem makellos weißen Schwan wurde vollführte er schnell den Schrumpfzauber, der ihn auf ein Zehntel seiner Körpergröße und seines Gewichtes brachte. Bis heute diskutierten Magier in aller Welt darüber, wohin die dabei aufgelöste Körpersubstanz verschwand und woher sie bei der Rückvergrößerung zurückgeholt wurde. Das war für Julius jedoch im Moment unwichtig. Wichtig war, dass er innerhalb einer Minute auf den für ihn nun mehr als pferdegroßen Schwan hinaufkletterte und sich sicher an dessen Halsgefieder festhalten konnte.
Léto hob ab. Julius hatte schon daran gedacht, sich Wäsche mit einem eingewobenen Innertralisatus-Zauber zuzulegen, wie Millie und Sandrine sie während der ersten Schwangerschaft tragen konnten. Doch andererseits war er früher die wildesten Achterbahnen und Karussells gefahren. Da konnte er sowas doch gut aushalten.
Während des Fluges genoss Julius die Aussicht. Es war schon faszinierend, über ein Land hinwegzufliegen, Bäume, Häuser und Straßen wie Spielzeug zu sehen. Auch als Léto sich unsichtbar machte und nur in knapp hundert Metern höhe über Grund dahinsauste irritierte ihn das nicht, weil er den Zustand, von sich selbst nichts mehr zu sehen und auch wie aus großer Höhe zu sehen von Flügen mit Temmie kannte.
Zuerst ging es zu den Delacours, die Julius schon einmal wegen Gabrielle und Pierre besucht hatte. Kaum waren Léto und er wieder auf festem Boden wurde die Veela wieder sichtbar. Julius schwang sich von ihrem Rücken herunter. Er verdrängte die Versuchung, für das Auf- und Absteigen den Freiflugzauber zu benutzen. Beide nahmen wieder ihre übliche Gestalt an, bevor sie an der Tür klingelten.
Apolline Delacour freute sich, ihre Mutter wiederzusehen. Pygmalion war ja gerade in seinem Büro, da Léto ja nicht mehr ins Ministerium kommen musste, um mit Julius Kontakt aufzunehmen.
"In meiner neuen Rangstellung als offizieller Vermittler bei Angelegenheiten zwischen den Angehörigen der Zauberwesenart Veela und Menschen mit magischen Kräften erfolgt dieser Besuch als offizielle Vorstellung meiner Person und Darlegung meiner künftigen Aufgaben zur Kenntnisnahme der davon betroffenen Einzelpersonen", spulte Julius die von Ornelle diktierte Begrüßung herunter. Apolline Delacour musste erst lächeln. Dann sagte sie: "Oha, wenn Sie das bei meiner Schwester Églée oder meiner Schwester Margarite aufsagen könnten die meinen, ein stumpfsinniges Aktenverwaltungsautomaton vor sich zu haben. Ich kenne derlei Amtsgeplauder ja von meinem Mann."
"Meine Vorgesetzte hat mir dienstlich aufgetragen, mich so vorzustellen, Madame Delacour, damit ich auch ihre Unterschrift auf der amtlichen Bestätigung dieses Vorstellungsgespräches und die Bestätigung, über meine neue Funktion umfassend unterrichtet worden zu sein bekommen kann", sagte Julius und holte entsprechende Pergamente hervor, die von Ornelle und ihm schon in bestimmten Formularfeldern ausgefüllt worden waren. Apolline unterschrieb, dass das Vorstellungsgespräch stattgefunden hatte. Julius erklärte ihr dann noch, wie seine Behörde die Ausübung der neuen Aufgaben vorsah. Im wesentlichen ging es ja um Vermittlungen und Ansprechbarkeit. Immer wieder musste er das Lied des inneren Friedens denken. Denn Léto und Apolline legten es darauf an, Julius mit ihrer Veela-Aura aus dem Tritt zu bringen. Erst als Léto sagte, dass man den richtigen Ministeriumsmitarbeiter für diese Anstellung ausgesucht hatte, hörte der unsichtbare Dauerbeschuss mit der betörenden Veela-Kraft wohl auf.
"Jetzt muss ich ja offiziell fragen, ob Ihre Tochter Gabrielle immer noch davon ausgeht, Pierre Marceau zu heiraten, wenn beide volljährig sind", sagte Julius.
"Ursprünglich hatten wir, also die Marceaus, mein Mann und ich uns ja brieflich darauf verständigt, den beiden zu raten, erst nach der Schulzeit in Beauxbatons Verlobung und Hochzeit zu feiern. Gabrielle ist aber im Moment wohl darauf aus, ihn auf den Besen zu rufen, wenn er siebzehn Jahre alt geworden ist. Soweit ich die letzten Sachen, die meine Tochter mir erzählen wollte verstanden habe, will Pierre wohl auch nicht länger als nötig warten. Seine Eltern wollen zwar erst, dass er mit der Schule fertig ist und mindestens mit einer weiterführenden Berufsausbildung anfängt, bevor er heiratet. Aber wie ich Gabrielle einschätze wird sie darauf keine Rücksicht nehmen, sobald sie und er siebzehn Jahre alt sind."
"Soll ich dann noch einmal mit Pierres Eltern sprechen?" fragte Julius nach.
"Das werden wir gerne beim nächsten Elternsprechtag in Beauxbatons erledigen, haben mein Mann und ich beschlossen. Ich denke nämlich, dass Sie bei Ihrer neuen Aufgabe wichtigere Dinge zu regeln haben", erwiderte Apolline geheimnisvoll lächelnd. Julius wollte schon fragen, worum es ging. Doch Léto winkte ab, bevor er ein Wort herausbringen konnte.
"Wenn du das so siehst, Apolline, möchte ich gerne mit dem jungen Monsieur Latierre zu Églée weiterfliegen."
"Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Monsieur Latierre", erwiderte Apolline darauf mit warmem Lächeln. Julius erwiderte diese standardmäßige Höflichkeitsfloskel. Er ließ sich dann noch per Unterschrift bestätigen, dass er Apolline Delacour über seine amtlichen Aufgaben aufgeklärt hatte. Sollte das mit Pierre Marceau und Gabrielle doch Probleme geben konnte sie sich jetzt nicht mehr darauf berufen, nicht gewusst zu haben, dass er dafür zuständig war, sowas zu regeln.
Die Selbsteinschrumpfung gelang Julius diesmal noch besser als vorher. Er blickte auf die mitgeschrumpfte Weltzeituhr und merkte sich die Uhrzeit. Dann bestieg er Létos Rücken und flog mit ihr weiter, wobei die Veela ihre besonderen Eigenschaften voll ausschöpfte und mit mehr als TGV-Geschwindigkeit durch die Luft brauste. Julius dachte an die Geschichte von Nils Holgersson, die ihm ja die Idee zu dieser Art zu reisen gegeben hatte. Der noch mehr verkleinerte böse Bube aus Schweden hatte mehr Zeit zum Ausblick auf sein Heimatland Schweden gehabt als Julius Latierre. Trotzdem dass Léto und er völlig unsichtbar waren, konnte Julius nur schnell unter ihm dahingleitende Landschaftsmerkmale erkennen, ohne sie im einzelnen betrachten zu können. Immerhin wusste Léto, wo sie hinfliegen wollte. Es ging nach Antibes, wo mitten in der Stadt ein kleines, mauvefarben angestrichenes Haus stand, um dessen zwei Stockwerke je ein geräumiger hölzerner Balkon verlief. Ohne sich groß zu orientieren peilte Léto die Südseite dieses Hauses an und bremste ihren rasanten Flug innerhalb weniger Sekunden so stark, dass Julius schon fürchtete, über ihren langen Hals nach vorne und in die Tiefe geschleudert zu werden. Doch Léto hatte ihren Schwanenhals hochgebogen und so versteift, dass Julius wie an eine feste Wand gedrückt daran hing. Dann setzte sie auf dem Balkon des zweiten Stockwerks auf und wurde wieder sichtbar.
"Öhm, eine Haustür haben die Bewohner aber doch, oder?" fragte Julius, als er sich entschrumpft und Léto sich in ihre wunderschöne Menschenfrauenform zurückverwandelt hatte.
"Die Haustür ist für Leute, die keine Veelas sind und ohne Veela-Begleitung unterwegs sind", stellte Léto fest. Dann deutete sie auf die Balkontür, die gerade von innen geöffnet wurde.
Julius war die überragende Erscheinung von weiblichen Veela-Abkömmlingen nun gewöhnt. Daher ließ er sich von der grazilen, goldblonden Frau mit den strahlendblauen Augen nicht weiter beeindrucken. Die Hausbewohnerin trug ein bis zu den Waden herabfallendes Kleid aus mintgrünem Stoff, der so sanft floss wie Seide.
"Julius, das ist meine Tochter Églée Blériot. Églée, das ist Monsieur Julius Latierre. Er arbeitet im Ministerium mit deinem Schwager Pygmalion im selben Büro und wurde vom Rat der Ältesten als Vermittler zwischen uns und den Hexen und Zauberern auserwählt", stellte Léto die beiden ordentlich vor. Julius sah Létos andere Tochter an und überlegte, wo er den Namen Blériot schon mal gehört oder gelesen hatte. Doch dann besann er sich und ratterte die ihm aufgetragene Begrüßung herunter, wobei er schon wie automatisch das Bestätigungsformular für das Vorstellungsgespräch aus seinem Aktenkoffer zog. Wie Apolline es schon angedeutet hatte machte Églée ein bedauerndes Gesicht, weil sie wohl dachte, Julius sei nur ein reiner Funktionär ohne eigene Gefühle. Dann sah sie ihn mit einer gewissen Verunsicherung an, die Julius nicht einordnen konnte. Sicher, er hatte sich schon nach der Landung mit dem Lied des inneren Friedens gegen mögliche Geistesbeeinflussungen abgeschottet. Doch das mochte vielleicht nicht der Grund sein, warum Églée leicht verstört zu ihm aufblickte. Vielleicht lag es auch daran, dass sie, die sie an die einen Meter und achtzig Zentimeter maß, immer noch zu ihm hochblicken musste. Einen Moment kam es Julius vor, dass Églée ihn verärgert ansah. Dann sagte sie mit einer Stimme wie eine kleine Bronzeglocke: "Ich habe davon gehört, dass die im Magieministerium jetzt auch einen Veela-Beauftragten haben wollen." Léto entgegnete:
"Nein, meine Tochter, wir vom Ältestenrat wollten einen menschlichen Fürsprecher und Vermittler, nachdem dein Vetter Diosan das Verhältnis zwischen uns und den Zauberern so arg gefährdet hat."
"Wir kamen bisher doch auch mit den anderen Leuten oder ohne dieses Ministerium aus. Didier und ich haben uns auch nichts zu Schulden kommen lassen. Hmm, Euphrosyne fand das offenbar zu anbiedernd und unterwürfig, sonst wäre sie nicht schon vor dem letzten Schuljahr ausgezogen."
"Sprechen wir drinnen darüber", sagte Léto. Julius empfand das jetzt nicht so prickelnd, dass sie ansagte, was weiter zu geschehen hatte, wo er einen offiziellen Auftrag zu erledigen hatte. Andererseits kannte Léto ihre Tochter besser als er. Vielleicht hörte die wirklich nur auf ihre Mutter. Zumindest war es schon gut, dass sie bei der Vorstellungs- und Begrüßungsrunde dabei war, dachte Julius zur eigenen Beruhigung.
Julius erfuhr nun von Églée, dass sie seit zweiunddreißig Jahren mit dem Cyrano-Besenbauer Didier Blériot verheiratet war und mit diesem nur eine Tochter bekommen hatte, Euphrosyne Lucille. Euphrosyne hatte vor zwölf Jahren ihre UTZs bestanden, sich aber nicht von Werbern des Ministeriums oder der Heilerzunft überzeugen lassen, bei ihnen zu arbeiten. Was sie seitdem tat sollte Julius selbst von ihr erfahren. Léto wollte das aber nicht so einfach stehen lassen. "Das könnte diesen jungen Mann betreffen, was du mir vor einem Mondwechsel zugesungen hast, Églée, dass Euphrosyne sich offenbar einen Gefährten ausgesucht hat. Abgesehen davon, dass sie dich und mich um den Segen für eine Verbindung bitten soll, wie es die Tradition vorsieht, würde auch mich gerne interessieren, was das für ein Auserwählter ist."
"Dann hättest du ihn nicht mitbringen müssen, um das zu erfahren", schnarrte Églée. "Abgesehen davon, dass Euphrosyne keinen großen Wert mehr auf unsere Traditionen legt. Sie sieht sich als vollwertige Hexe, die nur zufällig ein bisschen attraktiver aussieht als alle anderen Mädchen ihrer Schulzeit. Und für Hexen und Zauberer gilt keine Bitte um elterlichen Segen für eine Familiengründung."
"Das betrübt mich aber jetzt doch", grummelte Léto. "Dabei habe ich immer gedacht, dass Euphrosyne sich eher zu meiner Abstammung bekennt als zu der von Didier."
"Weil ihr damals meintet, ihn mir madig zu machen, Mutter. Aber am Ende war nur das wichtig, was du fandest und wo Apolline auch einen der Zauberer geheiratet hat ... Lassen wir das!"
"Moment, die Damen, das sollte mich jetzt aber rein amtlich betreffen", schritt Julius ein. "Welche Hindernisse gab oder gibt es, wenn das Kind einer Veela eine Hexe oder einen Zauberer zum Lebensgefährten haben möchte?"
"Fragen Sie das die ehrenwerten Ratsmitglieder oder meine Mutter, die ja auch in diesem Rat sitzt! Ich kann nur sagen, dass es da genug Ärger gab, als ich es vorzog, einen Zauberer zu heiraten, wo mein Vater selbst einer war. Mich haben die viel zu eingeschüchterten Männchen unserer Daseinsart angeödet. Ich kann also auch verstehen, was meine Tochter davon abbringt, sich zu ihrer mütterlichen oder besser großmütterlichen Herkunft zu bekennen."
"Wie du meinst, das jetzt klarzustellen", grummelte Léto. "Monsieur Latierre, meine Tochter Églée hat sich einen ungestümen Besenausprobierer ausgesucht und ihn davon überzeugt, dass sie die einzige weibliche Person sei, mit der er je glücklich werden würde. Da dieser Zauberer jedoch eine unverhohlene Abneigung gegen alles hat, was keine menschlichen Eltern hat, hielt ich diese Entscheidung für einen Fehler, etwas, was meine Tochter unglücklich machen würde. Der Rat der Ältesten hat darüber auch lange gestritten, ob jemand, der unsere Rasse nicht für vollwertig hält, Vater eines Kindes wird, in dem unsere Blutlinien fortgesetzt werden. Am Ende konnte ich den Rat nur dazu bekommen, es mir als Églées Mutter zu überlassen, ob ich dieser Verbindung zustimmte oder nicht. Dasss Didier sich doch für meine Tochter interessierte, nicht nur wegen ihrer besonderen Erscheinung, lag wohl daran, dass sie eine vollständige Ausbildung in Beauxbatons hatte und er sich mit meinem damaligen Ehemann gut verstand, der in seiner Jugend dieses Quidditch-Spiel gespielt hat. Offenbar sah er in meiner Tochter jede Menge quidditchbegeisterter Söhne, die er nur noch zu zeugen brauchte. Da ich fürchten musste, dass die beiden zu einem üblichen Zeremonienmagier gingen, bevor ich meinen mütterlichen Segen erteilt habe, erlaubte ich ihr die Ehe mit Didier. Soweit ich weiß haben die beiden das nicht bereut."
"Danke, Mutter, sehr diskret von dir", schnarrte Églée. Julius hatte mit unbewegtem Gesicht zugehört. Er durfte sich nicht anmerken lassen, wie ihn diese Enthüllung berührte. "Dann sage ihm auch, dass Didier es nicht so wiederholenswert fand, dass ich zwei ganze Jahre mit seiner und meiner Tochter schwanger war und er keine Lust verspürte, das noch mal zu erleben, obwohl ich damit die meisten Unannehmlichkeiten hatte. Womöglich lag es auch daran, dass seine Kollegen mich in diesem Zustand noch anziehender fanden und ihm immer wieder erzählt haben, dass sein Kind sich nicht aus meinem Leib heraustraue, weil es so einen hässlichen Vater habe. Deshalb und nur deshalb ist es bei der einen Tochter geblieben, auch wenn er, wie du es so schön hemmungslos ausgedrückt hast, noch ein paar besenflugbegeisterte Söhne in mir warten gesehen haben mochte. Jedenfalls wollte sich Euphrosyne nach ihrer Einschulung in Beauxbatons nicht länger zwischen zwei verschiedenen Herkunftslinien hin und herreißen lassen und hat sich dann darauf festgelegt, eine Zauberstab schwingende, auf einem Quidditchbesen herumsausende, ja auch dieses Apparieren könnende Hexe zu sein, die eben um einiges schöner als ihre Mitschülerinnen aussah und wenn sie gewollt hätte an jedem Finger zwei ihr verfallende Jungen hätte haben können. Aber das darf meine Tochter Ihnen gerne selber erzählen, wenn sie und nur sie das will", fügte Églée noch hinzu und sah dabei ihre Mutter mit einem tadelnden Blick an.
"Jetzt muss ich Sie noch fragen, ob Sie bereits irgendwelche Anliegen haben, die ich in Ihrem Namen prüfen und regeln soll", sagte Julius. Églée schüttelte den Kopf. So blieb Julius nichts anderes, als sich formvollendet zu verabschieden.
"Ich weiß nicht, ob ich das mit Madame Blériot nicht auch in Ruhe hätte besprechen können, was sie mir erzählen wollte oder nicht", gedankensprach Julius zu Léto, als sie wieder unterwegs waren.
"Meine Tochter Églée war der festen Überzeugung, nur einen starken, selbstbewussten und auch draufgängerischen Vater für ihre Kinder haben zu wollen. Ich kann es meiner Enkelin Euphrosyne nicht verübeln, dass sie dieser gegenseitigen Frustration ihrer Eltern entsprungen ist, als sie die Gelegenheit bekam. Sie hätte gerne noch mehr Kinder bekommen und er hätte gerne mindestens einen Sohn gehabt. Dass sie weiterhin zusammenleben liegt an zwei Sachen, nämlich dass Didier nun einen hohen Rang in dieser Besendrechslerei hat und deshalb darauf wertlegt, ein heiles Familienleben vorzuweisen und zum zweiten, dass Églée sich nicht noch einmal mit dem Ältestenrat herumärgern will, weil sie sich einen neuen Gefährten sucht. Dann müsste sie ja zugeben, sich bei ihrer ersten Wahl vertan zu haben und der Rat ja von Anfang an recht gehabt habe. Diese Erniedrigung will sie auf keinen Fall hinnehmen."
"Na ja, aber ob ich das alles schon jetzt wissen muss und dann noch aus so einer kalten Atmosphäre heraus mitbekomme ..."
"Duhast ihr zu deutlich gezeigt, dass sie dich mit der von mir geerbten Anmut nicht beeindrucken oder gar für ihre Ziele einsetzen kann. Jetzt weiß sie, warum du der Vermittler bist und nicht ihr Schwager Pygmalion, den sie mit einem Augenaufschlag um den Verstand bringen kann, wann immer sie will und sich deshalb schon manche Rauferei mit ihrer großen Schwester Apolline eingehandelt hat."
"Oha, stelle ich mir gerade vor, wie zwei superschöne Frauen sich gegenseitig anfauchen, kratzen und an den Haaren ziehen wie futterneidische Katzen, die sich um eine tote Maus zanken", schickte Julius zurück, während Léto gerade nach rechts schwenkte, weil das unverkennbare Wummern die Luft quirlender Rotorblätter eines anfliegenden Hubschraubers zu hören war. Der Helikopter passierte sie in mindestens zweihundert Metern entfernung.
"Stell dir Katzen vor, die Feuerkugeln aus ihren Pfoten schleudern oder sich aus mit gesträubten Federn verzierten Gesichtern wild ankreischen!"
Als sie dann in der Nähe von Versailles auf einem Hügel ein in einen silbernen Nebel gehülltes Haus ansteuerten dachte Julius zunächst, der Nebel sei eine magische Barriere gegen jeden unbefugten Eindringling und würde entweder Entsetzen, Schmerzen oder gar körperliche Schäden verursachen. Doch dann stellte sich der Nebel als eine Art Ich-seh-nicht-recht-Zauber heraus, der lediglich für Muggelaugen bestimmt war, um die Existenz eines kegelförmigen Hauses zu verhüllen. Denn als die beiden in den Nebel eindrangen wurde dieser für sie völlig durchsichtig, und sie konnten das schneeweiße Kegelhaus sehen. Anders als bei den üblichen Sportkegeln fehlte jedoch der kugelförmige Aufsatz auf der schmalen oberseite. Diese wölbte sich nach außen und war ein einziges großes Dachfenster. Julius merkte an, dass das aber sicher schwer zu putzen sei und warum Euphrosyne, zu der sie jetzt hinwollten, so ein Haus haben wollte. Léto schlug ihm vor, die Hausbewohnerin selbst zu fragen. Dabei klang ihre Stimme leicht verdrossen.
Sie suchten nach einer Zugangstür. Doch diese war von der runden, sich nach oben verjüngenden Hauswand nicht zu unterscheiden. Immerhin konnte Julius mehrere Rundbogenfenster erkennen, die mit schneeweißen Gardinen verhangen waren und bei Nacht mit Fensterläden verschlossen werden konnten, die dieselbe Farbe wie die Wand besaßen.
"Öhm, ich fühle sie nicht im Haus", flüsterte Léto. "Selbst wenn sie sich mir in der Ferne nicht zeigt fühle ich als ihre leibliche Großmutter doch, wenn sie keinen halben Tausendschritt von mir entfernt ist. Aber sie ist nicht im Haus."
Julius versuchte es mit dem Zauber "Homenum Revelio!" Dabei lernte er, dass Veelas zwar wie Menschen aussehen konnten, aber keine Menschen im biologischen Sinn waren. Denn außer sich selbst im Zentrum der hundert Meter durchmessenden Suchsphäre fand er kein menschliches Wesen vor, obwohl Léto direkt neben ihm stand. "Wir sind für Suchzauber unerspürbar", lachte Léto. Julius schnaufte kurz. Das hätte er eigentlich bedenken müssen. So fragte er, ob Léto ihre Enkeltochter ansingen konnte. "Dies habe ich schon versucht. Sie antwortet nicht. Ja, und im Haus ist sie eben auch nicht."
"Öhm, wenn sie tot wäre ... ich meine, dies ist nichts anderes als eine Vermutung ... könntest du sie dann auch nicht wahrnehmen?"
"Jungchen, was hast du von mir gelernt?!" fauchte Léto. "Wenn eine Blutsverwandte stirbt, bekommen alle Blutsverwandten es mit, wann, wo und wie er oder sie stirbt. Da kann auch kein Unortbarkeitszauber eines Zauberers was gegen tun, weil dies auf der unsichtbaren, weltumspannenden Ebene der körperlich-seelischen Bindung passiert. Sie ist nicht tot." Julius erwiderte, dass es eben nur eine Vermutung von ihm gewesen sei. Dann fragte er behutsam:
"Siehst du noch einen großen Sinn, dann hier auf sie zu warten?"
"Sowohl ich als auch meine Tochter Églée hat ihr unser Kommen zugesungen. Wenn sie nicht hier ist, um auf uns zu warten, dann will sie auch nicht mit uns sprechen."
"Und wenn wir uns verstecken ... Ich ziehe meine Frage zurück", erwiderte Julius und errötete an den Ohren, weil er nicht gründlich genug nachgedacht hatte. "Sie würde deine Anwesenheit genauso fühlen wie du ihre, richtig", begründete er die Zurücknahme seiner Frage.
"Genau das, mein Junge", raunte Léto. "Hier zu warten macht keinen Sinn. Also fliegen wir weiter. Ich kümmere mich dann darum, wenn du wieder bei den deinen bist und lasse dir über Apolline eine Nachricht schicken, wenn ich weiß, wo Euphrosyne ist und warum sie nicht mit dir oder mir sprechen will", fügte sie noch hinzu.
So vollzogen die beiden vor dem Kegelhaus wieder die Verwandlungen. Julius prüfte erneut die Zeit. Er hatte jetzt alles in allem zweieinhalb Stunden im eingeschrumpften Zustand verbracht. Er nahm Ornelles Anweisung sehr ernst, zumal er im Verwandlungsunterricht gelernt hatte, dass eine Selbstverwandlung in dem Maße, wie sich Natürliche Ausgangsgestalt und magisch angenommene Erscheinungsform unterschieden die eigene Ausdauer aufzehrten.
Eine Dreiviertelstunde Flug mit mehr als TGV-höchstgeschwindigkeit später landeten sie bei der Familie Grandlac, von denen der Vater ein Zauberer von Mitte fünfzig war und bei Mansio Magica in der Redaktion für Reiseberichte arbeitete. Seine Frau Lucille war sogar noch älter als er, sah aber gerade wie Mitte zwanzig aus. Ihre älteste Tochter Muriel war sieben Jahre älter als Fleur Delacour. ihr Bruder Lucian war vier Jahre älter als Fleur, und deren beiden Zwillingsschwestern Himérope und Igleia würden im nächsten Schuljahr nach Beauxbatons kommen. Lucian war Auslandsreporter für den Miroir Magique in Algerien, wo ja noch einige ehemals französischstämmige Hexen und Zauberer wohnten und war selbst schon Vater von zwei Söhnen. Julius unterhielt sich mit Lucille und ihren Töchtern. Die beiden Zwillinge sahen aus wie lebendige Weihnachtsengel, nur ohne Flügel. Anders als ihre anderen Veela-Cousinen besaßen sie raumfüllendes goldenes Lockenhaar. Das, so ihre Mutter, sei das Erbe ihres Vaters. Dem musste Julius zustimmen, als er Monsieur Grandlac vorgestellt wurde. Sein dunkles Haar, das sich bereits an den Schläfen und der vorderen Kopfoberseite zurückzog, fiel in geschwungenen Locken bis auf die Schultern herunter. Julius konnte dem Zauberer trotz eines ausgeprägten Spitzbauches ansehen, dass er als Jüngling sicher der Held in den Träumen junger Mädchen gewesen war.
"Immerhin akzeptieren Sie alle die Entscheidung Ihrer Mutter beziehungsweise Schwiegermutter", sagte Julius, nachdem er sich erst mit den Erwachsenen und dann mit den beiden gerade erst elf Jahre alt gewordenen unterhalten hatte. Dabei musste er mehrmals das Lied des inneren friedens denken. Denn er fühlte, dass die Zwillinge ihre veelaeigene Ausstrahlung mehr über ihre Stimme als über ihr Aussehen übermittelten. Auch fiel ihm auf, dass sie ihre Kraft wohl durch Körperkontakt erheblich steigern konnten. Wenn die in Beauxbatons ankamen konnten sich Madame Faucon, Madame Rossignol und der dann für sie zuständige Hausvorsteher auf was einrichten. Dann war das, was Gabrielle ohne es zu wollen immer wieder auslöste ein harmloser Sonntagnachmittagsspaziergang gewesen.
"Ich bin froh, dass Lucille mich gefragt hat, ob ich es mit ihr aushalten könne. Sonst hätte mich vielleicht noch eine von den fünf Besenprinzessinnen aus dem roten Saal irgendwie an sich gebunden, und die sehen heute alle erheblich runder aus als eine werdende Mutter mit Zwillingen im letzten Schwangerschaftsmonat", sagte Monsieur Grandlac.
"Ich habe ihm gesagt, wenn er nicht will, dass ihn jede nacht zehn verschiedene Hexen in ihr Bett zerren sollte er besser mit einer gehen, die die alle von ihm fernhalten könne", sagte Madame Grandlac noch zum Abschied. Die beiden Zwillingstöchter waren wieder in ihrem gemeinsamen Zimmer und sangen im Duett, dass jede Operndiva vor totaler Frustration vom höchsten Wolkenkratzer gesprungen wäre.
"Ich möchte dich darauf hinweisen, dass ich von meiner Aufgabe her verpflichtet bin, auf Anfrage von Madame Faucon oder Madame Rossignol zu berichten, wie ich die demnächst nach Beauxbatons kommenden Nachkommen von dir einschätze, Léto", gedankensprach Julius zu Léto, während sie die Loire entlangflogen, um die letzte Station ihrer Vorstellungsrunde anzusteuern. Julius prüfte noch einmal die Zeit und stellte fest, dass zu der ihm gesetzten Gesamtfrist noch dreißig Minuten fehlten, auch wenn er mehr Zeit an diesem Tag in seiner üblichen Größe zugebracht hatte. Zwanzig Minuten davon benötigten sie noch, um das Ziel anzufliegen, ein Schlösschen, ein Viertel so groß wie das Château Florissant oder das Château Tournesol. Dort residierte das Oberhaupt der Zaubererfamilie Montété, Monsieur Lavinius Montété mit Létos jüngster Tochter Laure-Rose und ihren vier Töchtern Bromélie, Désirée, Célestine und Xantacore. Xantacore war zusammen mit Euphrosyne in Beauxbatons gewesen, wobei Euphrosyne im roten und Xantacore wie ihre Cousine Fleur im violetten Saal gewohnt hatte. Natürlich hatte es sich schon rumgesprochen, dass Julius der neue Vermittler war und dass er mit Millie schon vor seinem zwanzigsten Geburtstag das zweite gemeinsame Kind haben würde. die vier Enkeltöchter Létos wohnten mit ihren Ehemännern im Château Millarbres, hatten aber jede für sich einen Wohntrakt. Xantacore hatte vor einem Jahr ihr zweites Kind, einen Sohn, zur Welt gebracht, während die älteste, Bromélie, bereits vier Kinder, drei Jungen und ein Mädchen, bekommen hatte, von denen der älteste Sohn in zwei Jahren nach Beauxbatons gehen würde.
Als Julius das alles notiert und sich mit den Familienangehörigen lange über die ihm zugeteilten Aufgaben unterhalten hatte, wünschten sie ihm viel Erfolg bei seiner Arbeit und viel Glück und Durchhaltevermögen mit allen Kindern, die Millie und er noch einplanen mochten.
Um nicht über die angesetzte Gesamtzeit für eine Selbsteinschrumpfung zu kommen ließ er sich von Léto gerade soweit vom Château Millarbres wegtragen, dass er bedenkenlos disapparieren konnte. Nachdem er seine Ausgangsgröße zurückgewonnen hatte bedankte er sich bei Léto für den Rundflug und wünschte ihr noch einen angenehmen Resttag. Dann apparierte er im Foyer des Zaubereiministeriums. Von dort aus fuhr er zum Stockwerk mit der Abteilung für magische Geschöpfe hinauf und kehrte in das Büro Ornelle Ventvits zurück.
Nachdem er Ornelle kurz erzählt hatte, wie es ihm ergangen war schrieb er einen mehrseitigen Bericht, in dem er auch einfügte, dass er Euphrosyne Blériot nicht habe sprechen können, da sie nicht zu Hause gewesen sei. Als er endlich alles was er niederschreiben wollte ordentlich hingeschrieben und korrekturgelesen hatte, war es bereits sechs Uhr abends. "Jetzt wird es aber Zeit für Heim und Herd, junger Mann", lachte ihn Ornelle an, als sie sah, dass er mit seiner Arbeit fertig war. "Sie ruinieren noch unseren Ruf, nur während der Dienstzeit im Büro zu sein."
"Oha, dann sollte ich aber wirklich nach Hause, bevor Monsieur Vendredi oder Sie es mir noch ins Zeugnis schreiben, dass ich den allgemeinen Ruf der Ministeriumsbeamten gefährde", erwiderte Julius schalkhaft grinsend. Seine Vorgesetzte lächelte amüsiert und wünschte ihm einen vergnüglichen Abend und eine erholsame Nacht. Julius bedankte sich und verließ das Büro.
Julius' und Millies erstes Mädchen ist nicht im runden Haus. Die ist zu denen gegangen, die mit Millie verwandt sind. Bei Millie ist die, die Béatrice heißt und die wurfungleiche Schwester von Millies Mutter ist. Die macht was mit einem runden, leise singenden Ding, dass sie in Millies runden Bauch hineinsehen kann, wo Julius' und Millies zweites Junges drin ist. Als ich mir das ansehe sagt Millie, dass Béatrice damit sehen kann, ob es dem kleinen Klopfer in ihrem Bauch gut geht. Das will ich wissen. Ich lege mich also auf den Rücken, mache alle Beine ganz weit auseinander und bleibe ganz ruhig. Noch höre ich die Klopfer nicht in meinem Bauch. Aber Trice kann mit dem leise singenden Spiegel sehen, dass sie echt in mir liegen und wachsen. Sie sagt, sie sieht vier. Ich bleibe ruhig, bis sie mit ihrem Einblickding wieder von mir weg ist. Schon sehr stark, dass jemand auch schon bei mir sehen kann, wie viele neue Jungen ich im Bauch liegen habe.
Jetzt ist die Sonne schon längst wieder in ihrem Schlafbau verschwunden. Es ist dunkel. Ich weiß, dass es bald wieder was zu fressen gibt. Dusty weiß das auch und sitzt schon vor dem runden Haus wie vor einem Rattenloch. Ah, Julius faucht aus dem Feuerloch in den oberen Wohnhöhlen heraus ins Haus und begrüßt Millie. Er erzählt ihr, dass er heute mit einem Weibchen namens Léto herumgeflogen ist und sich dabei ganz klein gemacht hat. Als er erzählt, dass diese Léto die Muttermutter von Fleur ist stellen sich meine Haare auf. Dieses Jungweibchen Fleur hat immer so eine fiese, mich ärgernde Kraft ausgestrahlt und andere Jungweibchen auch wütend gemacht. Die wusste schon, warum die mir nicht zu nahe kommen durfte. Wenn Julius die oder deren Geschwister oder ihre Muttermutter als neue Mutter seiner Jungen nimmt kriegt der aber Ärger mit mir. Mir sticht das heute noch in allem in mir drin, wie dieses Fleur-Weibchen ihre eigene Kraft ausgestrahlt hat. Die wusste schon ganz genau, warum die nie zu mir oder den anderen von uns hingegangen ist.
"Tine hat uns die Einladung von Alon gebracht, der am zweiten Dezember Geburtstag feiern will. Noch darf sie Flohpulvern, hat Oma Tetie gesagt", höre ich Millie zu Julius sagen.
"Oh, dann sollte ich in der Stadt noch was suchen, was ich ihm schenken kann."
"Einen Fröhlichkeitstrank für seinen Bruder, damit der nicht andauernd so miesepetrig rumnölt wie der Kopf einer Runespoor", höre ich Millie grinsen.
"Hat der es immer noch nicht verdaut, dass sein Bruder Alon eine Latierre geheiratet hat? Kann man ihm nicht helfen", höre ich Julius dazu sagen. Millie erwähnt auch, was ihre Tante heute mit ihr und mir gemacht hat. Julius sagt ganz überrascht klingend, dass er das nicht gedacht hätte, dass ich mir sowas gefallen lasse. Dann geht es noch um das Weibchen Janine Dupont, das nach dem laufenden Jahr aus Millemerveilles wegziehen und anderswo dieses Balljagen auf fliegenden Ästen spielen will.
Wie es geplant war wechselte ein Tag im Büro mit einem Tag Unterricht in Veelakunde ab. Julius lernte von Léto, dass sie die Elementarkräfte von Wasser und Feuer sogar zusammenbringen konnte, um durch Hand über einen vollen Kessel haltend den Kessel innerhalb von einer Viertelminute zum kochen zu bringen. Außerdem sprachen sie noch weiter über die Familien.
"Woran merkt ihr, dass ein Mann oder ein männlicher Veela der richtige ist?" fragte Julius.
"Das spüren Veelas in ihren Geschlechtsorganen, nicht als rein lustvolle Erregung, mit jemanden das Lager teilen zu wollen, sondern auch, ob der wahrgenommene Partner auch körperlich gesunde und geistig bewegliche Kinder hinbekommt. Die meisten Veelas suchen sich auf diese Weise ihre Gefährten aus", erwiderte Léto.
"Und könnt ihr dann auch fühlen, ob jemand bereits einen Gefährten erwählt und mit ihm Nachwuchs gezeugt hat?" hakte Julius weiter nach.
"Was meinst du, wie Diosan es angestellt hat, acht unterschiedlich alte Jungfrauen zusammenzufangen? Der konnte das auch fühlen, in seinen Eingeweiden, wobei das Prickeln natürlich nicht im Bauch, sondern in den Geschlechtsteilen entsteht. Außerdem können Veela beiderlei geschlechts riechen, ob ein ihnen ähnliches und nachkommenschaftsfähiges Wesen bereits körperlich geliebt hat oder gar ein Kind bekommen hat. Das darfst du dir also auch gerne aufschreiben, dass ich das bestätigte, dass wir Veelas fühlen können, mit wem wir lebensfähige Kinder haben können." Julius bestätigte das. Doch dann ritt ihn das Frechheitsteufelchen, dass ihn trotz seines frühen Erwachsenwerdens immer noch nicht ganz vergessen hatte.
"Außerhalb des Protokolls und nur ganz für uns beide: Hätte ich jemals eine Chance bei dir gehabt?" fragte er Léto und rechnete damit, dass sie entweder entrüstet oder gar wütend reagieren würde. Doch sie sah ihn nur sehr ernst an und sagte:
"Du hast so intensiv auf Fleur reagiert, wo du gerade erst zwölf Jahre alt warst, mein Junge. Das lag daran, dass ihre Kraft und dein Erbe sehr stark zusammengewirkt haben. Was meinst du, warum sie Jungen, die ihr immer nachschmachteten meistens verächtlich gegenüberstand. Denn bei einigen hat sie schon gefühlt, ob er mit ihr gesunden Nachwuchs hinbekommen könnte. Auch meine Schwester und ich merken, das du mit uns gute Nachkommen hinbekommen würdest, wenn Fleur oder ich nur danach gehen würden und sowas wie Zuneigung und Partnerschaft außer Acht ließen. Du kannst froh sein, dass du zum einen den versunkenen Schatz gefunden hast, aus dem du deine Fertigkeit geschöpft hast, dich vor unserer Ausstrahlung zu verschließen und zum zweiten damals die Lebensschnüre meiner fünf Töchter und mir an den Beinen getragen hast. So warst du für sie ein Neffe und kein zu umwerbender Fortpflanzungspartner. Aber Sarja will im Moment eh nichts mit dir zu schaffen haben, weil du ihr einen Vortrag über echte Liebe zu halten gewagt hast und ihr Vorgehen bei Grindelwald als schlecht und schändlich bezeichnet hast. Deshalb hat sie als einzige nicht zugestimmt, als wir abgestimmt haben, ob du unser Vermittler bei den Menschen sein sollst."
Julius nahm diese Aussage als irgendwie unheimlich zur Kenntnis. Wenn Veelas rein instinktgesteuerte Wesen wären oder sich nicht an menschliche Anstandsregeln halten würden, hätte ihn Fleur vielleicht noch vor der Beziehung mit Claire gesichert. Immerhin schien sie für Bill Weasley genug Hingezogenheit zu empfinden, dass sie ihn auch nach Greybacks Angriff noch für sich behalten wollte. Dann stieg die Bemerkung von einem versunkenen Schatz wieder in sein Bewusstsein hoch. Er fragte mit dem Hinweis, dass er das nicht ins Tagesprotokoll schreiben wollte, wenn sie das nicht drinstehen haben wollte, was sie damit meinte. Die Antwort verblüffte ihn nur zum Teil. Denn irgendwie hatte er unbewusst damit gerechnet, dass die Veelas ebenfalls vom alten Reich wussten, ja die legendäre Urveela Mokusha wohl durch magische Zusammenführung von menschlichen Zauberwesen der verschiedenen Elementarverbundenheit entstehen konnte. Der versunkene Schatz war das mit Altaxarroi versunkene Wissen um die mächtigsten Formen der Magie und wie durch die Magie neues Leben erschaffen werden konnte. Léto sagte dann noch:
"Das war überhaupt der Grund, warum mir sechsundvierzig Ratsmitglieder uneingeschränkt beigepflichtet haben, dich zu unserem Vermittler zu wählen. Na ja, aber Sarja ... Gut, schreibe das, was ich dir jetzt sage bitte auf, damit du es dir merkst und deine Vorgesetzten sicherstellen, dass du nicht in eine Lage gerätst, in der du davon betroffen sein könntest", setzte sie an. "Sarja hat dem Rat gesagt, sie wolle dir verzeihen, dass du sie beleidigt hast, wenn du das Jahr der bedingungslosen Dienstbarkeit auf dich nimmst. Damit ist gemeint, dass du ihr alle Wünsche erfüllst und immer in ihrer Nähe zubringst, um sofort für sie dazusein. Wie gesagt, dass du alle ihre Wünsche und Aufträge erfüllst, außer andere Veelas zu töten."
"Oha", machte Julius. Denn ihm dämmerte, was an einer derartigen Verpflichtung alles dranhing. So sagte er in einem Versuch, seine Verunsicherung zu überspielen:
"Veelas töten darf ich nicht. Aber neue Veelas auf den Weg bringen schon?"
"Halbveelas", berichtigte Léto und bestätigte damit auch gleich, dass Julius verstanden hatte, was ihm abverlangt werden könnte.
"Grüße deine liebe Schwester bitte von mir und sage ihr, dass sie das knicken, also komplett vergessen kann!" sagte Julius entschlossen.
"Wie erwähnt, sieh zu, dass du nicht in eine Lage gerätst, wo sie dieses Jahr der bedingungslosen Dienstbarkeit einfordern kann!" entgegnete Léto. Julius nickte.
Als er am Abend wieder ins Apfelhaus hineinflohpulverte purzelte er fast über gleich vier kleine Kinder. Da war Aurore Béatrice, die sofort zu ihm hinwuselte und sich ihm ans rechte Bein warf. Da waren die Zwillinge Janine und Belenus und deren Tante Chloé. Millie saß mit den Müttern der Besucher zusammen in der Wohnküche und unterhielt sich.
"Na hallo ihr vier. Hat Rories Maman heute ein Haus voller Leben haben wollen", grüßte Julius die vier und hob seine Tochter vom Boden hoch.
"Stillgruppentreffen", sagte Jeanne Dusoleil. "wurde mal wieder zeit, dass wir propperen Mädels uns mal wieder zusammensetzen." Julius nahm diese Bemerkung zur Kenntnis. Dann begrüßte er seine Frau, wobei er Aurore auf seinen Rücken umpacken musste, weil die nicht von ihm wegwollte, damit er Millie umarmen konnte. Er fühlte das leichte Stupsen von Aurores ungeborener Schwester und fühlte sich wieder richtig zu Hause.
Kurz vor dem Abendessen kam noch Laurentine und begrüßte die drei Mütter und ihre Kinder, bevor sie zu Julius sagte:
"Ich mach das mit Leipzig. Ich habe mir gestern abend aus dem Internet die Flugdaten geholt und in der Mittagspause heute ein Ticket für den vierundzwanzigsten gekauft. Geneviève hat mir viel Spaß gewünscht, aber dass ich bitte Ohrenschützer einpacken soll, weil ihr die Muggelmusik zu laut sei und sie nicht wolle, dass ich das Vorsagen der Kleinen nicht mehr hören könnte."
"Ist das nicht schön, wie einfach manche Probleme doch zu lösen sind", sagte Julius. Er wandte sich an Camille und fragte sie, ob sie Laurentine ihre Alraunenohrenschützer ausleihen würde. Camille meinte dazu, dass sie damit aber dann keine Musik mehr hören würde. Laurentine erwiderte unvorsichtigerweise:
"Bei denen, die da auftreten muss ich vielleicht nichts hören. Da brauche ich nur zu warten, bis mir die Bässe in den Bauch boxen."
"Da gibt's aber schönere Möglichkeiten, das hinzukriegen, in den Bauch geboxt zu werden", erwiderte Millie und erntete zustimmendes Nicken von den Damen Dusoleil.
"Neh, is' klar, Mildrid Ursuline Latierre", grummelte Laurentine verdrossen. Die drei anderen Hexen lachten nur.
"Ich kann dir eine Flasche Ohrentrosttropfen aus der Apotheke mitgeben, Laurentine. Wenn Sandrines Maman die bezahlt rückt mir mein Chef sicher sogar die Magnumflasche raus."
"Das bringe ich glatt, meine Chefin zu fragen, ob sie deinem Chef diesen Trank bezahlt. Der darf das Ding aber nicht etikettieren, damit kein Nicht-Zauberer dumme Fragen stellt", sagte Laurentine.
"Dannfliegst du von Paris aus wohin?" fragte Julius.
"Von Paris nach Berlin Tegel und von da mit einem Leihwagen nach Leipzig. Hoffentlich haben die Mietkarossen schon eingebaute Navis."
"Navis?" wollte Jeanne wissen, die den Begriff wohl nicht in Muggelkunde hatte. Julius sagte, dass das geniale Ortsbestimmungsgeräte waren, die mit Hilfe von Weltraumsatelliten und eingespeicherten Land- und Stadtkarten den Standort feststellen und Wege berechnen konnten.
"Dann geht es ja. Hmm, wann bist du dann wieder in Frankreich?" wollte Julius wissen.
"Ich fliege abends wieder zurück, will meinen Großvater noch zum Flughafen bringen. Der will dann gleich weiter nach Zürich, hat er mir am Telefon gesagt. Der will wohl mit den Mädels von Passion Fruit eine Frühlingstour durch Frankreich und die Überseebesitzungen klarmachen. Die sind ja auch auf der Tour."
"Dann viel Erfolg", wünschte Julius Laurentine und ihrem im Musikgeschäft tätigen Großvater.
"Und Sarja meint, dich mir ausspannen zu dürfen, nur weil du ihr gesagt hast, dass man keine durchgeknallten Zauberer mit Veela-Zauber ins Bett locken darf?" fragte Millie ihren Mann, als sie gegen elf Uhr abends im Bett lagen. Julius bestätigte das.
"Wenn die sowas auch nur versucht, verpasse ich ihr den Preservirgines-Zauber oder besser dir, denn der wirkt auch bei Jungen, die nicht mit jedem Mädchen rummachen sollen", knurrte Millie. Julius erinnerte sich, von diesem Zauber in "Schutz und Trutz" gelesen zu haben. Dieser Zauber war die aus reiner Magie bestehende Entsprechung eines Keuschheitsgürtels, nur dass der dazu passende Schlüssel bei der Person blieb, die ihn anwandte. Ob der auch bei Veelas ging, wo Diosan viele Fang- und Lähmzauber so einfach abschütteln konnte? Millie grummelte, als Julius sie das fragte.
"Du weißt ja auch so, wo dein Bett steht und zu wem du gehörst", sagte sie noch. Julius klopfte auf die Matratze und sagte: Jawoll, Madame."
Am 23. November erhielt Julius einen amtlichen Brief von Apolline Delacour, dass alle, die von Léto abstammten, nach Euphrosyne Blériot suchten. Doch bis zum Beginn dieses Briefes sei sie von keiner und keinem zu finden. Apolline riet Julius vorsorglich davon ab, Euphrosyne offiziell vorzuladen, selbst wenn sie genau wie Apolline genauso den Zaubererweltgesetzen unterworfen sei wie nicht von Veelas abstammende Hexen und Zauberer.
Julius schrieb einen Antwortbrief, in dem er fragte, was passieren würde, wenn er oder ein ihm höhergestellter Beamter des Zaubereiministeriums zu einer offiziellen Anhörung vorladen würde. Als er den Brief per Eule losgeschickt hatte fragte er Pygmalion, der mit ihm im Büro saß, ob er es schon mal erlebt habe, dass Veelas mit dem Zaubereiministerium krach bekommen hätten, also vor der Sache mit Diosan Sarjawitsch.
"Das wird Ihnen meine Schwiegermutter sicher schon erzählt haben, dass Veelas auch in der Zaubererwelt ihre eigenen Gesetze und Traditionen haben. Im Zweifelsfall wiegen die immer schwerer als die Gesetze von uns Menschen, weil Veelas sich für ein sehr altes Volk halten, dass älter ist als jedes von Menschen gebildete Kulturvolk, mal die mythischen Bewohner von Atlantis ausgenommen. Aber da streiten sich ja die Gelehrten in der Muggelwelt und der Zaubererwelt drum, ob und wenn ja wo es dieses Reich gegeben haben soll."
"Das heißt, ich würde eine Absage kriegen, wenn ich Ihre Frau oder eine Ihrer Töchter wie eine zu befragende Zeugin oder Straftatverdächtige vorladen wollte?"
"Sie würde die Vorladung lesen, befinden, dass sie deshalb in der Menschenwelt nicht mehr erwünscht ist oder ihre Freiheit oder gar ihr Leben in Gefahr sehen und sich dann für Menschen unauffindbar machen. Dass Veelas eine natürliche Unortbarkeit haben wissen Sie ja leider durch die Sache mit meinem verschwägerten Cousin." Julius nickte heftig. Er verzichtete also darauf, nach Euphrosyne zu suchen. Wenn sie von ihm nicht gefunden werden wollte, würde sie sich immer vor ihm verstecken. Das frustrierte ihn ein wenig. Andererseits hatte er doch auch schon längst raus, dass er nicht von allen geliebt oder geachtet wurde. Also sollte er das eigentlich lockernehmen, dass Létos Enkeltochter Euphrosyne nichts von ihm wissen wollte.
Am Nachmittag erhielten alle, die sich mit der Muggelwelt auskannten, sowie deren direkte Vorgesetzten ein Rundschreiben aus dem Büro für die friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne magische Fähigkeiten. Madame Nathalie Grandchapeau, die Leiterin dieses Büros, bat in diesem Rundschreiben darum, sich bis Ende Mai 2002 mit den direkten Vorgesetzten darüber zu verständigen, ob er oder sie ab dem 10. Juni 2002 für die Dauer von sieben Monaten im Büro aushelfen könne. Bevorzugt würden alle Bewerber mit Kenntnissen im Bereich Nachrichten- und Fernverständigungsgerätschaften, solche, die die Verkehrsmittel der Muggelwelt benutzen konnten, bestenfalls aber nicht verbindlich einen Kraftfahrzeugführerschein erworben hatten und sich auch verschiedener Fach- oder Gesellschaftssprachen bedienen könnten. Julius grinste, weil diese Bedingungen wie maßgeschneidert auf ihn oder Laurentine Hellersdorf passten. Nur dass Laurentine wegen ihrer moralischen Ablehnung von Gedächtniskorrekturen an Elternpaaren, die die Zaubereiausbildung ihrer Kinder ablehnten, das Ministerium verlassen hatte. Aber womöglich gab es noch genug andere Kandidaten, die diese Grundbedingungen erfüllen konnten, dachte Julius.
"Offenbar trachtet die werte Kollegin Grandchapeau allen Ernstes danach, mir einen sehr wichtigen Mitarbeiter abzuwerben", grummelte Ornelle, als Julius sie ansah. "Gut, den Dienstposten zu wechseln steht jedem frei, sofern er oder sie hinreichende Gründe vorbringt, weshalb dieser Wechsel geschehen soll. Wenn Sie jetzt sagen, dass es Ihnen wichtig ist, die friedliche Koexistenz zwischen den magischen und nichtmagischen Menschen zu bewahren und dauerhaft zu sichern, weil Sie sich eben in beiden Welten zurechtfinden, müsste ich als Ihre Vorgesetzte diese Begründung als hinreichend anerkennen. Von mir aus aber, und weil Sie ja nun schon eine Menge fester Aufgabenfelder zugewiesen bekamen, liegt mir nichts daran, Sie aus meinem Büro zu entlassen oder Ihrer befristeten Versetzung in eine andere Abteilung zuzustimmen. Dies nur, damit Sie wissen, wie ich dieses Rundschreiben bewerte." Julius versicherte seiner Vorgesetzten, dass er sich gleich in Madame Grandchapeaus Büro beworben hätte, wenn ihm danach gewesen sei, dort für länger zu arbeiten. Allerdings konnte er nicht kategorisch ausschließen, dass er dort nicht für den einen oder anderen Hilfseinsatz mitarbeiten würde, wie Madame Belle Grandchapeau es ja mit ihm bei der Suche nach Diosan getan hatte. Dabei beließen es Ornelle und er dann erst einmal.
Julius verfasste dann noch ein Anschreiben an Monsieur Rocher von der Ostlandgruppe, dass daran gearbeitet werde, Fernverständigungsartefakte herzustellen, um eine direkte Verständigung zwischen ihm und diesem Büro zu ermöglichen, damit es zu keinem neuen Nachrichtenabriss zwischen der Ostlandgruppe und dem französischen Zaubereiministerium käme. Danach durfte er in sein Haus zurückflohpulvern.
"Morgen habe ich einen vollen freien Tag. Keine Sondersitzungen, keine Nachbesprechungen", freute sich Julius. Millie sagte darauf: "Dann können wir Laurentine vom Flughafen abholen. Die hat was von einem Taxiwagen erzählt, für den sie viel Geld bezahlen müsste, weil sie ihr Smart-Auto ja nicht die ganze Zeit in einem dieser Parkhäuser herumstehen lassen möchte. Pa hat das von Catherine gehört und hat ihr angeboten, sie in seinem Bus zum Flughafen zu bringen und am Abend wieder abzuholen. Ma und er fragen, ob Rorie, du und ich mit Chrysie bei ihnen zum Abendessen vorbeikommen wollen. Tine ist auch mit Alon da." Julius war einverstanden. So würde er Millies große Schwester noch vor dem zweiten Dezember treffen.
Während des Abendessens bei Julius' Schwiegereltern sprachen sie über Julius' neue Aufgabe. Martine meinte dazu:
"Oha, ausgerechnet dich haben sie zum Veela-Beauftragten gemacht? Nichts für ungut, aber das ist ja echt durch alle Säle gegangen, wie du mit zwölf schon hinter Fleur hergelaufen bist."
"Ja, und mittlerweile habe ich einiges gelernt, um mich nicht mehr von einer Veela benebeln zu lassen, Tine. Genau das ist der Grund, warum Ornelle dieser Auswahl auch zugestimmt und sie bestätigt hat, weil sie weiß, dass ich jetzt gegen Veela-Zauber zumachen kann."
"Echt, das kann man? Ich hatte es mal mit einer Laure-Rose Montété zu tun, die mich wegen irgendwas geschäftlichem angesprochen hat. Da hat die auf einmal ihre verdammte Benebelungsaura verstärkt und ich habe es gerade noch gemerkt, dass ich der fast versprochen hätte, ihren Töchtern Rabat zu geben, wenn die bei uns was bestellten. Ich hatte eigentlich okklumentiert. Aber das half gegen diese Veela-Aura wohl nicht wirklich."
"Weil beim Occlumentieren wichtig ist, nichts nach draußen zu lassen und nicht, sich von äußeren Einflüssen abzuschirmen", sagte Julius. "Deshalb hilft die Verhüllung des eigenen Geistes nicht gegen den Imperius-Fluch. Ich habe von den Kindern Ashtarias was anderes gelernt, um mich besser gegen äußere Beeinflussungen zu schützen, sowas wie ein Aura-Calma-Zauber mal zehn."
"Mist, dann steht der in keinem Zauberbuch drin", grummelte Alon. Tine und Millie grinsten. Dass Julius den Zauber des inneren Friedns vom Geist eines körperlich nie älter als vier Lebensmonate gewordenen, geistig aber tausend Jahre lang existierenden Altmeister Khalakatans erlernt hatte, ging Alon nichts an.
Es ging dann noch um Martines erste Schwangerschaft. Sie fragte Millie, warum sich jemand sowas so kurz hintereinander zweimal antat. Sie erwiderte darauf, dass sie das durchhalten konte, weil sie ja das Endergebnis haben wollte. Jenes Endergebnis schlief gerade in Millies ehemaligem Zimmer, das zu einem Spiel- und Gästezimmer für bis zu drei Personen umfunktioniert worden war. Hippolyte wollte am Abend zu Hause bleiben, um auf Aurore und Miriam aufzupassen. Martine und Alon kehrten eine halbe Stunde vor Albericus' Abfahrt zum Flughafen in ihr eigenes Haus zurück.
Julius saß mit Albericus ganz vorne, während Millie sich auf einer der Hinterbänke langestreckt hatte und schon mal auf Vorrat schlief. Für zwei zu laufen, zu atmen und zu essen zehrte sie trotz ihrer großen Kondition doch gut aus. Deshalb verzichtete ihr Vater auf den eingebauten Transitionsturbo, um einen Teil der Strecke zu überspringen.
Julius empfand mal wieder jenes Gefühl von Fernweh, das ihn an Flughäfen überkam. Das Heulen der Triebwerke, der in der Luft hängende Geruch von Kerosin und warmen Speisen, sowie das Schwirren von Wortfetzen aus vielen Sprachen war für ihn wie eine Rückkehr in die Kindertage, wo er immer aufgeregt war, wenn er mit seinen Eltern oder damals auch Onkel Claude in fremde Länder geflogen war. Die Maschine aus Berlin hatte eine halbe Stunde verspätung, weil zwei Jumbos in die Staaten ihr Zeitfenster verpasst hatten. Durch den Schock vom elften September wurde an den Flughäfen nun noch gründlicher kontrolliert, und Julius konnte es manchem Passagier ansehen, dass er oder sie nicht so ganz erleichtert war, eine Flugreise antreten zu müssen.
"Da ist sie", sagte Millie, die sich in der Nähe der gläsernen Tür postiert hatte, weil ihr rotblonder Haarschopf wie ein Signalfeuer im flackernden Neonschein loderte. Julius winkte Laurentine, die gerade mit ihrem Mobiltelefon hantierte. Offenbar wollte sie noch wen anrufen, vielleicht ihren Großvater. Doch sie blickte verunsichert auf das kleine Klapptelefon und steckte dieses wieder sicher fort. Dann ging sie auf die gläserne Tür zwischen Passagierankunft und Empfangshalle zu. Die Türen glitten bei Annäherung automatisch zur Seite. Millie und ihr Vater nickten bei diesem rein technischen Vorgang.
"Ein Empfangskomitee?" fragte Laurentine lächelnd. "Ich dachte, Monsieur Latierre holt mich alleine ab", fügte sie hinzu. sie klang nicht erfreut, sondern eher verunsichert.
"Pa hat gesagt, er hätte sich bei den vielen großen Leuten hier sicher verlaufen und dich nicht gesehen, Laurentine. Wie war's?"
"Viel amerikanisierter Klingelglöckchenkram. Aber die Musiker waren gut. Opa Henri hat zu mir gesagt, er wolle auch mit Melanie Thorntons Manager reden, ob sie nicht mit französischen und belgischen Eurodance- und Soulgrößen zusammen auftreten wolle."
"Ist der jetzt schon angekommen?" fragte Julius.
"Eigentlich müsste er schon vor zwei Stunden in Zürich gelandet sein. Aber sein Mobilfon ist immer noch unerreichbar. Dabei hat der eine Vertragskarte, mit der er sogar vom Mond aus mit jedem telefonieren könnte, wenn da ein Sendemast steht."
"Dann war er wohl zu müde und hat das Ding nach der Landung nicht noch mal angemacht", vermutete Julius.
"Das ist nicht sein Stil, Julius. Der muss immer erreichbar sein. Der hat sich das so angewöhnt, wo er ständig Angst hat, was wichtiges zu verpassen, wenn er nicht erreichbar ist. Ähm, kann ich vor der Rückfahrt noch mal draußen auf dem Vorplatz versuchen, meine Oma Monique anzurufen, ob er sich bei ihr gemeldet hat?"
"Millie ist jetzt wieder wach. Wir könnten in einer Viertelstunde bei euch in der Rue de Liberation sein", wisperte Albericus.
"Nur wenn du Krach mit Tante Trice haben möchtest, Pa. Die hat mir das Apparieren und Reisen mit springenden Fahrzeugen verboten. Außerdem schläft dein zweites Enkelkind gerade so schön", erwiderte Millie halblaut.
"Als sie vom Flughafengelände herunter waren versuchte Laurentine noch einmal zu telefonieren. Doch der Bus ließ wegen seiner Bezauberungen keine Mobilfunksignale von drinnen nach draußen. Deshalb hielten sie weit genug weg vom Trubel der letzten Flughafenbesucher. Laurentine stieg aus und wählte die Nummer ihrer Großmutter, damit rechnend, den Anrufbeantworter zu erwischen. Denn Laurentines Großmutter hielt sich ja gerade in Kalifornien auf. Doch zu ihrer Überraschung nahm wohl jemand ab. Sie begrüßte ihre Großmutter, hörte zu und erbleichte urplötzlich. Sie fragte sehr hektisch, ob sie sich da nicht geirrt habe. Dann überkam sie totale Traurigkeit. Julius sprang ihr sofort bei und stützte sie, sonst wäre sie wohl umgekippt. Eine Tränenflut ergoss sich aus Laurentines Augen. Er wusste nicht, warum Laurentine so plötzlich weinen musste. Doch er wollte sie jetzt auch nicht dazu drängen, es ihm zu verraten. Laurentine schniefte nur noch: "Vielleicht ist er doch noch am Leben, Oma Monique. Ich lasse mich besser erst nach Hause bringen. Morgen bleibe ich zu Hause. Ich hoffe, er ruft noch an." Dann trennte sie die Verbindung und ließ sich ohne Widerstand von Julius neben Millie auf die erste Sitzbank hinter dem Fahrersitz setzen.
"Ich habe das kleine Flugzeug noch wegfliegen gesehen und ihm nachgewunken", schluchzte Laurentine. "Oma Monique sagt, dass ein kleines Flugzeug kurz vor Zürich abgestürzt ist und dass das die Flugnummer gewesen ist, die Opa Henri sich aufgeschrieben hat."
"Oha. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet", seufzte Julius, der seine Frage von eben zu tiefst bereute.
"Wie solltest du das denn, Julius. Oder hast du einen UTZ im Wahrsagen gezogen?" heulte Laurentine. Millie deutete eine halbe Umarmung an, um sie zu trösten. Doch Laurentine stieß den Arm ruppig zurück. Millie nickte und rutschte wieder in ihre bequeme Sitzhaltung zurück.
"Möchtest du, dass ich dich jetzt zum Haus der Brickstons fahre, Laurentine?" fragte Albericus behutsam.
"Wo denn sonst hin?" fauchte Laurentine und fischte nach einem blau-weißen Paket Papiertaschentücher, um das Chaos aus Tränen und zerlaufender Schminke zu beheben. "Nach Vorbach rüber will ich jetzt nicht, wo meine Eltern eh in Kourou sind, um ihr tolles neues Quartier zu beziehen", schniefte Laurentine halb in das Taschentuch. Dann überkam sie die nächste Tränenflut.
Betroffenes Schweigen begleitete sie alle auf der Fahrt in die Rue de Liberation. Catherine war noch auf und erwartete Laurentine. Als sie sah, in welcher Verfassung ihre Hausgenossin war nickte sie. "Habt ihr das schon mitbekommen? Es war um halb zwölf im Fernsehen, als Eilmeldung. Sie wollten noch nicht damit heraus, wie viele Passagiere dabei umkamen. Es hieß nur, dass bei dem Flug auch drei berühmte Unterhaltungskünstler mitgeflogen seien."
"Ja, und mein Großvater", schniefte Laurentine, bevor sie sich lautstark schnäuzte.
"Wollt ihr drei noch mit reinkommen?" fragte Catherine leise. Doch Millie erwiderte mit großem Bedauern, dass sie sich nun sehr müde fühlte und Laurentine im Moment wohl nicht wirklich beistehen könne. Julius nickte zustimmend. So sahen sie Catherine nach, wie sie Laurentine ins Haus Nummer dreizehn führte und die Tür von innen verschloss.
Es ging zurück zum Honigwabenhaus der Eheleute Hippolyte und Albericus Latierre. Dort legten sich Millie und Julius in Millies früheres Zimmer zu ihrer Tochter Aurore, die selig und unbesorgt dem nächsten Tag entgegenschlummerte.
Die winzige Hoffnung erfüllte sich nicht, dass Laurentines Großvater mütterlicherseits den Absturz überlebt hatte. In den Nachrichten wurde von vierundzwanzig Passagieren auf der Liste und einem in letzter Minute gebuchten Passagier gesprochen. Unter den toten waren auch zwei Sängerinnen von Passion Fruit und die auf Solopfaden wandelnde Sängerin Melanie Thornton. Warum das kleine Flugzeug von Crossair trotz der schlechten Sichtbedingungen so tief geflogen war und deshalb in ein Waldstück hineingerast war sollten die zuständigen Ermittlungsbehörden aufklären. Julius tauschte mehrere E-Mails mit Laurentine und seiner Mutter aus, die deshalb von dem Unglück erfahren hatte, weil die verstorbene Sängerin US-Bürgerin war und ja im Rahmen der Weihnachtstour des amerikanischsten aller Getränkehersteller von Berlin nach Zürich unterwegs war. Laurentine schickte eine Mail, dass sie mit ihrer Großmutter gesprochen habe und sich bei Madame Dumas eine Woche Frei nehmen wollte, um zu klären, ob sie wenigstens bei einer wie auch immer stattfindenden Beisetzungsfeier dabei sein durfte. "Meine Eltern sehen mich zwar wohl nicht mehr als ihre Lieblingstochter an. Doch ich möchte ihnen und vor allem meiner Mutter erzählen, was Opa Henri mit mir besprochen hat, als wir uns trafen", las Julius und dachte dabei an seine Frau, die gerade den Kaffeetisch deckte.
"In fünf Minuten kommst du bitte rüber, Monju. Wenn Laurentine dir noch einen Elektrobrief schickt kannst du den auch später noch lesen", mentiloquierte sie mit Hilfe der Herzanhängerverbindung. Julius versprach, sie nicht warten zu lassen und tippte schnell noch ein paar Zeilen, dass er hoffte, dass so traurig dieser Unglücksfall sei, ihre Eltern vielleicht erkennen würden, wie wichtig noch lebende und sie respektierende Verwandte seien. Er habe das zumindest von der Beerdigung seines Großvaters so mitbekommen, wo sich zwei zerstrittene Brüder wieder versöhnt hatten. Dass die beiden Neffen seines Großvaters wenige Wochen später wegen des Erbes wieder miteinander gestritten hatten verschwieg er Laurentine besser erst einmal.
"Ist es jetzt amtlich", seufzte Millie. "Wird Laurentine sicher sehr lange runterziehen, wo sie eine der letzten war, die ihn gesprochen hat."
"Zumindest war es nicht wieder so eine Schweinerei wie am elften September", grummelte Julius. Sie beide erinnerten sich noch, als wenn es gerade einen Tag her war, wie aufgelöst und niedergeschlagen Julius an diesem Nachmittag gewesen war, bis er nach bangen Stunden den erlösenden Anruf von seiner Mutter bekommen hatte. Diese Erfahrung hatte ja seine und Laurentines schwache Hoffnung befeuert, ihr Großvater Henri könne den Absturz überlebt haben. Andererseits hätte er dann auch schwerste Verletzungen erleiden und sich nie wieder von diesen erholen können, fiel es Julius ein.
"Totenfeiern sind was verdammt trauriges, weil sie einem mit dem Holzhammer ins Gehirn dreschen, wie schnell mal eben ein Leben aufhören kann", sagte Julius, der auch schon mehr Beerdigungen und Trauerfeiern miterlebt hatte, als er wollte.
"Aber auch ein klarer Auftrag, das eigene Leben zu genießen und es so zu leben, dass man nicht andauernd Krach mit anderen Leuten kriegt", fügte Millie hinzu. Aurore, die die trübe Stimmung mitbekam fragte: "was böses?"
"Nicht böses, nur trauriges. Tante Laurentine ist traurig, weil ihr Opa nicht mehr mit ihr Weihnachten feiern kann", sagte Julius. Wie sollte er seiner noch keine zwei Jahre alten Tochter das begreiflich machen, was der Tod war, wo er selbst gelernt hatte, dass dieser nicht endgültig sein musste. Aurore hatte doch gerade erst zu leben angefangen, und ihre kleine Schwester würde im Februar des nächsten Jahres erst zur Welt kommen. Und eigentlich betraf es Julius und Millie doch nicht persönlich. Doch andererseits hatten sie beide Laurentine beigestanden, als sie Probleme mit ihren Eltern bekommen hatte, ihr geholfen, doch noch Frieden mit ihren Zauberkräften zu finden und deshalb indirekt mitgeholfen, dass sie das trimagische Turnier in Beauxbatons gewonnen hatte.
Der Abend verging mit einem Besuch von Béatrice Latierre, die nachsehen wollte, ob Millie wegen der Sache von gestern im Ungleichgewicht war.
"Ich habe noch zwei gleichlange Beine, auch wenn die so dick sind wie die von Temmie", knurrte Millie. "Also bin ich nicht im Ungleichgewicht. Deine Großnichte liegt auch noch in meiner Gebärmutter und nicht im linken Lungenflügel."
"Hallo, junge Madame, du hast mich als deine persönliche Heilerin und Hebamme verpflichtet. Da werde ich sicher mal fragen dürfen, ob dich diese Nachricht über Laurentines Großvater emotional belastet oder nicht", erwiderte Béatrice energisch. "Oder willst du eure zweite Tochter wegen unbeherrschbarer Gefühle vorzeitig verlieren? Ich kann sie dir auch gerne bis zur Lebensfähigkeit abnehmen."
"Hättest du gerne. Aber dazu solltest du erst wen finden, der die kleine Vordertür aufmacht, damit da wer von drinnen überhaupt den Ausgang findet", schnarrte Millie verbittert.
"Wer hat der hat, Madame Latierre", sagte Béatrice Latierre schnippisch. Als sie dann mit Millie und Julius über den gestrigen Abend gesprochen hatte und feststellte, dass Millies Schwangerschaft nicht darunter gelitten hatte, kehrte sie durch den Verschwindeschrank ins Sonnenblumenschloss zurück.
"Gebe es irgendeine Muttergöttin, dass die sich gleich drei kleine Innenraumturner auf einen Rutsch zustecken lässt, wenn sich einmal wer traut, sowas mit ihr durchzuziehen!" schnarrte Millie, nachdem ihre Tante abgereist war.
"Du kannst doch die Hebamme wechseln. Schwiegeroma Tetie würde sicher sofort einspringen, oder Hera Matine."
"Wenn du mich jetzt ärgerst lasse ich dich die nächsten zwei Wochenunter der Exosensohaube unsere Tochter mittragen, Monju", erwiderte Millie. Julius erkannte, dass Millie gerade nicht für Spaß empfänglich war und zog sich ohne ein weiteres Wort zurück. Entschuldigen tat er sich schon lange nicht mehr, wenn er nicht wirklich was zu bereuen hatte.
So ging er lieber noch mal an den Rechner und las die Berichte über den Flugzeugabsturz in der Schweiz und die verschiedenen Nachrufe auf die dabei umgekommenen Prominenten. Er fand auch eine Internetseite, die vom tragischen Tod von Henri Lacroise berichtete und auch erwähnte, dass er eine Frau, zwei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder habe. Hinzu kamen noch zwei jüngere Schwestern, die in Cannes und Dijon wohnten. Ein Freizeitjournalist schrieb in seinem Internettagebuch, dass der Schwiegersohn von Henri Lacroise vor kurzem zum stellvertretenden technischen Direktor des europäischen Weltraumbahnhofs Kourou in Französisch-Guayana ernannt worden sei. Dann fand er noch einen kurzen Videoausschnitt der globalen Internet-Nachrichtenagentur GIN, wo eine Reporterin versuchte, die Hinterbliebenen der US-amerikanischen Unglücksopfer zu interviewen. Da konnte er Laurentines Großmutter mütterlicherseits sehen und erkannte, wie viel vom Gesicht her Laurentine von dieser geerbt hatte. "Ich bin keine Königin und keine Prinzessin. Nehmen Sie doch endlich mal Rücksicht auf das Privatleben von Leuten", hörte er sie verärgert auf die Frage nach einem kurzen Interview antworten. Weil sie eben kein Interview gegeben hatte spann sich der Kollege der GIN-Reporterin eine rührselige Story zusammen, dass die Lacroises mit ihren direkten Angehörigen seit einiger Zeit auseinander wären, weil Henri eben nur für die Unterhaltung anderer Leute lebe und dafür seine Freizeit und wohl in letzter Konsequenz nun auch sein Leben geopfert habe.
"Woher hat der Typ denn die tollen Nachrichten?" schnarrte Julius für sich selbst. Dann fand er, dass er sich nun lange genug mit der Angelegenheit befasst hatte. Er hörte noch einmal "Ich liebe es wie du mich liebst" von Melanie Thornton auf einem Internet-Videoportal. Dann kehrte er ins Apfelhaus zurück.
Anthelia saß bei Romina Hamton im Wohnzimmer und verfolgte die Fernsehnachrichten. Gerade zeigten sie Bilder vom laufenden Krieg in Afghanistan. Dann wechselte das Thema. Es ging um den Absturz einer kleinen Personenflugmaschine in der Schweiz. Anthelia verzog das Gesicht. "Besen sind eben doch zuverlässiger", sagte sie verächtlich. Sie hörte nur mit halbem Ohr hin, dass bei dem Absturz mehrere Unterhaltungskünstlerinnen gestorben waren. Da Anthelia die Namen nicht kannte interessierte sie das nicht weiter.
"Du interessierst dich doch immer noch für dieses muggelstämmige Mädchen Laurentine Hellersdorf, richtig, höchste Schwester?"
"Interessieren ja, aber sie zu umwerben wird mir wohl auf absehbare Zeit nicht gelingen, wo sie in diesem mit Sanctuafugium-Zauber umspannten Haus wohnt", schnaubte sie.
"Ich habe im Internet gelesen, dass der Großvater mütterlicherseits bei dem Unglück umkam. Das heißt, dass sie vielleicht in die Muggelwelt reisen wird, um ihm die letzte Ehre zu erweisen."
"Sicher, und das wissen wohl auch ihre Beschützer und werden ihr entsprechende Vorwarngegenstände unterschieben. Nein, wenn ich ihre Zugänglichkeit erwerben will, dann nur, wenn sie von sich aus darum ersucht, mit mir zu sprechen. Es wäre zu offensichtlich, sie bei der Beerdigung ihres Großvaters anzusprechen."
"Ich habe es nur erwähnt, höchste Schwester", sagte Romina abbittend. Anthelia nahm diese Bekundung mit einem Nicken zur Kenntnis.
Madame Dumas hatte Julius mal eben dafür eingespannt, das für einen kleinen Kranz gesammelte Geld in Muggelwährung umzutauschen und den Totenkranz in Auftrag zu geben. Julius war nur darauf eingegangen, um nicht als Laurentines Stellvertreter angeheuert werden zu können. Denn Laurentine hatte sich bis zum zehnten Dezember Frei genommen. Zum einen mussten die sterblichen Überreste ihres Großvaters aus der Schweiz nach Frankreich überführt werden. Zum anderen mussten alle Trauerbriefe an die Verwandten und Freunde verschickt werden. Drittens wollte Laurentine darauf hinwirken, dass zumindest sie bei der Feier dabei war. Ihr Großvater hatte verfügt, eingeäschert und mit einem Urnensatelliten in den Weltraum geschossen zu werden. Offenbar hatte er das verfügt, um möglichst viel von seinem Vermögen vor seinen beiden Schwestern zu verpulvern, ohne, dass die da was gegen machen konnten. Außerdem, so erwähnte es wohl sein Testament, wollte er im Tode den Frieden mit seinem Schwiegersohn finden, den er im Leben wohl nicht mehr finden konnte, wenn es ihn denn schon vor seinem Schwiegersohn Simon Hellersdorf aus dieser Welt abberufen sollte.
Neben dem, was Julius mal am Rande und mal von Laurentine direkt von der anstehenden Trauerfeier mitbekam waren da immer noch die Veelas. Léto nutzte das inoffizielle Gespräch über Julius' Mitgefühl, um die Beerdigungsriten der Veelas zu erklären. Hierbei wurden die sterblichen Überreste eines geliebten Anverwandten in von den Trauernden erzeugten Feuerkugeln verbrannt und die Asche dann in den heiligen Fluss auf jener nur für Veelas betretbaren Insel verstreut, wobei die Trauernden den ganzen ihnen bekannten Stammbaum des dahingegangenen im Chor singen mussten, um die unsichtbaren Geister der Vorausgegangenen anzulocken, damit sie den nun zu ihnen gehörenden abholen und in ihre Gefilde begleiten konnten.
"Deshalb ist das für euch so wichtig, die ganzen Ahnen zu kennen", sagte Julius. Léto bejahte es. "Nur wer weiß, wo er oder sie herkommt, kann sich aussuchen, wo er oder sie hingeht, heißt es in den Liedern der Ehrungen. Das galt als ich Fleur geboren habe und meine Schwester Sarja mir dabei half. Sie sang mir und Fleur unsere lange Ahnenreihe vor, allerdings nur die Linie der Mütter, weil wir ja schon wussten, dass ich ein Mädchen zur Welt bringen würde. Bei neugeborenen Jungen wird nur die väterliche Ahnenlinie gesungen. Die Vorausgegangenen sollen den ersten Schrei des neugeborenen hören, um zu wissen, dass ihr Wirken fortdauert. Aber sie dürfen nicht herbeigerufen werden, weil sie das neue Leben sonst gleich als zu ihnen gehörend sehen. Deshalb durfte ich während aller Geburten nur atmen und schreien, aber kein Wort sprechen, wenn ich nicht fühlte, dass irgendwas mit mir oder dem Kind nicht in Ordnung war", berichtete Léto. Julius notierte sich diese Erklärungen sofort. Wenn er kurz vor Weihnachten danach gefragt werden sollte, wollte er das ganz genau wiedergeben können.
Am zweiten Dezember fand er zu seiner frohen Stimmung zurück. Zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter feierte Julius mit den Schwiegereltern, seiner Schwägerin Martine Alons Geburtstag. Die Gautiers waren auch dabei. Britta, die weizenblonde Außeneinsatztruppenhexe in der Abwehr dunkler Kräfte, feixte einmal, dass Martine und Millie ihr nun beide was voraus hatten. Ihr Mann grummelte dazu nur:
"Dann such du dir erst mal einen Job ohne tägliche Lebensgefahren oder versuche es als Haushexe, bevor ich mir keine Sorgen um unser erstes Kind machen muss." Julius hörte das zwar, sagte aber nichts dazu. Er wollte sich diesen schönen Abend nicht von seinem miesepetrigen Anverwandten verderben lassen.
Er unterhielt sich mit Britta über das schwedische Yulfest, dass eigentlich ein Wintersonnenwendfest war, aber mit dem christlichen Weihnachtsfest zusammengelegt worden war. Dabei sangen die Kinder in Schweden das Lied von der heiligenLucia, auch die Hexen, weil es bei den Angehörigen der schwedischen Zauberergemeinschaft herumgereicht wurde, dass die erwähnte Heilige ihre Wundertaten wohl mit echter Magie vollbracht hatte. Aber wie bei allen mythischen Personen wusste auch hier keiner, wo Wahrheit und Dichtung lagen.
Millie unterhielt sich wieder mit ihrer großen Schwester über das Kinderkriegen und beruhigte Tine, dass sie bei gutem Training jedes überschüssige Kilogramm wieder loswerden würde, zumal das Kleine einen Gutteil der angefutterten Fettreserven der Mutter über die Milch wieder aufsog.
Hippolyte Latierre verwickelte Julius in eine Unterhaltung über die nächste Quidditchweltmeisterschaft, die in zwei Jahren in Italien stattfinden würde. Julius erinnerte sich noch gut an die Weltmeisterschaft in Frankreich und schwelgte mit seiner Schwiegermutter in lustigen oder verdrießlichen Erinnerungen.
"Mein italienischer Kollege Gallobianco hat schon angedeutet, dass er das Freiwilligensystem der letzten Weltmeisterschaft übernehmen würde, zumal es in den Dolomiten ja das Zaubererdorf Torridori gibt, wo das Hauptstadion genutzt werden soll. Dann wäre das mit der Muggelabwehrbezauberung wie in England auchnicht so dringlich. Gut, dass der Kollege Französisch kann. Ich habe den bei einer Konferenz von Amtskollegen mal Englisch reden hören. Da habe ich echt daran gezweifelt, diese Sprache gelernt zu haben", sagte Hippolyte Latierre. Julius bestätigte ihr deshalb sofort, dass sie akzentfrei sprach und sie mit keinem außer dem dicken Chef der Blauer-Vogel-Buslinie irgendwelche Probleme bekommen hätte.
"Da hat euer Monsieur Pierre auch nicht gut genug vorgearbeitet. Der hätte dieses Vehikel nicht mit diesem Tempo nach Millemerveilles reinfahren dürfen", grummelte Hippolyte und erntete von Julius ein wildes Nicken.
Als es zwölf Uhr war zogen sich die, die noch wach genug waren, über den Kamin in ihre eigenen Häuser zurück. Millie, Aurore und Julius schliefen wieder in Millies Zimmer. Martine musste ihren Mann, der sich mit seinem Schwiegervater auf ein Elfenwein-Wetttrinken eingelassen hatte, in ihr früheres Zimmer tragen. Ihr Vater half ihr dabei. Ihm hatte das Wetttrinken nichts ausgemacht. Das lag an seinem zwergischen Erbanteil.
"Er hätte es doch wissen sollen", musste Lutetia Arno noch kichern, die auf Einladung ihres Sohnes im Wohnzimmer auf der Couch schlafen durfte. "Wer einen Zwerg im Wetttrinken schlagen will, muss selbst ein Zwerg sein, oder zumindest ein Riese."
"Ich hätte Alon vielleicht von dem AD 999 was geben sollen", flüsterte Julius seiner Frau zu.
"Tine war Pflegehelferin. Lass die den ruhig mal beglucken, bevor der sie wegen des kleinen in ihrem Ranzen zu beglucken anfängt", flüsterte Millie zurück. Dann kehrte Stille und Dunkelheit ins Honigwabenhaus ein.
Die Ohrenstöpsel waren winzig und von außen nicht zu sehen. Doch sie waren nötig. Sonst hätte Nyctodora das Triebwerksgeheul der landenden und startenden Frachtflugzeuge keine Minute länger ausgehalten. Die Gesandte Gooriaimirias, die in der Welt der Menschen immer noch als zielstrebige bis rücksichtslose Unternehmerin Eleni Papadakis auftrat, blickte gerade zu einer ausrollenden Boeing 707 hinüber, die mit kleinen Containern beladen war. Darin steckten Ersatzteile für gepanzerte Fahrzeuge, sowie Bausätze für Stromgeneratoren und Wasseraufbereitungsfilter. Wenn die Regierung in Washington gewusst hätte, welche Laus sie sich mit Aiolos Airways in den Pelz gesetzt hätte ... Nyctodora verdrängte den Gedanken an Läuse. Denn die ernährten sich von Menschenblut, genauso wie sie.
Sie sah den Piloten aus der Maschine steigen. Er trug unter seiner Kleidung eine der sonnenlichtabhaltenden Ganzkörperschutzfolien. Erst hatte Nyctodora gedacht, dass ihr Pilot, den sie vor drei Wochen in einem Rausch wilder Lust zu ihrem Gefährten der Nacht gemacht hatte, ihre besondere Eigenschaft, gegen Sonnenlicht und Feuer immun zu sein, mit in sich eingesogen hatte. Doch dem war nicht so. Deshalb musste Erebion, wie er als Nachtsohn nun hieß, doch die Solexfolie tragen, die Gooriaimirias früheres Ich Lamia benutzt hatte, um Kinder der Nacht über die ganze Welt verbreiten zu können.
"Ich habe unser Kommando durch alle Kontrollen gekriegt, meine Prinzessin der Nacht", hörte sie die geistige Stimme ihres Blutgefährten in ihrem Kopf. Sie dachte konzentriert an ihn, wobei sie sein Gesicht vor ihr geistiges Auge holte und schickte ihm zurück: "War doch schon praktisch, diesen Tarnzauber zu können, der selbst die Röntgenstrahlen verfälscht. Die wissen, wo sie hin sollen?"
"Hat unsere große Mutter ihnen schon ins Gehirn gesetzt", erhielt sie die gedankliche Antwort.
"Dann such dir schon mal einen Platz zum übertagen", sandte sie zurück. "Ich bringe unser Kristallkommando zum Einsatzort. Wenn alles klappt kriegen wir gleich dreitausend Leben für unsere Sache."
"Ja, aber pass auf die Drohnen auf! Habe mich von einer Avacs lotsen lassen müssen, weil die das Gebiet gesondert unter Beobachtung haben", bekam sie eine Warnung zur Antwort.
"Wenn unsere große Mutter mir auch noch beibringt, wie man Funkwellen filtert sind die kein Thema mehr", sendete sie eine telepathische Antwort zurück. Nyctodora empfand wieder dieses euphorische Gefühl der Überlegenheit. Seitdem sie diese Feuerhexe und ihren halbvampirischen Sohn leergesaugt hatte lernte sie im telepathischen Fernkurs von Gooriaimiria, ihrer großen Gebieterin, wie sie einfache Zaubereien ausführen konnte. Sicher, es war schwirig gewesen, an einen Zauberstab zu kommen. Doch durch die besondere Macht Gooriaimirias, ihre Gesandten mal eben von A nach B zu versetzen, hatte sie es geschafft, in einer mittelalterlich wirkenden Gasse bei Nacht einem Zauberstabträger dessen Stab abzujagen. Dieser Zauberer gehörte zu einer Gruppe von Leuten, die Gooriaimirias erklärte Feinde waren, weil sie einem gewissen Lord Vengor dienten. Nyctodora war gerade noch entkommen, bevor der Zauberstabträger aus der kurzen Bewusstlosigkeit erwacht war. Jetzt konnte sie selbst zaubern wie eine geborene Hexe. Allerdings musste sie eben viel neues lernen.
"Ich such mir jetzt einen Platz uzum durchschlafen. Die Sonne ist schon viel zu weit oben. Bis zur nächsten Nacht, meine Prinzessin!" schickte Erebion ihr noch eine Gedankenbotschaft.
Nyctodora überwachte nun das Verladen der Fracht und sorgte mit dem Blick der Unterwerfung dafür, dass acht bestimmte Kisten, die schon eher wie Särge aussahen, auf einen Lastwagen verladen wurden. Diesen steuerte sie selbst. Ihr Ziel war ein Ort, in dem die Gesanten der schlafenden Göttin einen geheimen Stützpunkt der Taliban und ihrer Familien ausgekundschaftet hatten. Die würde niemand vermissen, dachte sie.
Die Sonne war bereits wieder dabei zu sinken, als Nyctodora den Haltepunkt erreichte. Hier musste sie warten, bis die Nacht hereinbrach. Denn die acht in einer Art Todesstarre auf der Ladefläche ruhenden Brüder der Nacht trugen keine Solexfolien und würden im Sonnenlicht qualvoll verbrennen.
Als die Dämmerung das karge Land überdeckte begann Nyctodora den von ihrer mächtigen Gebieterin erlernten Nebelzauber, in dem sie auch eine Komponente einflocht, der Contracopia hieß und eigentlich dafür sorgte, dass keine künstlichen Vervielfältigungen von Dingen oder Bildern gemacht werden konnten. Gooriaimiria hatte jedoch herausbekommen, dass damit auch das Speichern von Bildern und Tönen in welcher Form auch immer unterdrückt werden konnte. Jetzt sorgte der immer stärker aufwallende Dunst dafür, dass die über ihnen kreisenden Drohnen keine Bilder von dem weitermeldeten, was hier passierte.
Sie flogen als menschengroße Fledermäuse durch die Nacht. Jeder trug einen zentnerschweren Rucksack auf dem Rücken. Nyctodora hielt die acht Untergebenen dazu an, nicht aus dem erzeugten Nebel herauszusteigen. Denn dann würden sie für die künstlichen Augen der unbemannten Überwachungsflugzeuge sichtbar.
Das Dorf machte einen friedlichen Eindruck. Doch weil es in der unmittelbaren Nähe eines weitläufigen Höhlensystems lag, beherbergte es einen Stützpunkt der sogenannten Gotteskrieger, gegen die die USA und ihre Verbündeten Krieg führten. Nyctodora hatte gewöhnliche Fledermäuse abgerichtet, die ihr durch Fremdsinnwahrnehmungszauber vermittelten, was sie in den Höhlen vorfanden. Da die fliegenden Nachtkinder keine künstlichen Lichtquellen brauchten konnten sie auch nicht von unten gesehen werden. Da sie wechselwarm wie Schlangen und Insekten waren konnten sie auch nicht mit Infrarotgeräten vom gleichwarmen Hintergrund unterschieden werden. Sie waren das perfekte Einsatzkommando.
Zwei der Nachtkinder flogen in die Höhlen hinein. Da sie alle auch bei völliger Dunkelheit sehen konnten und von den Fledermäusen wussten, wo sie hinfliegen mussten, war es kein Problem, sie bis auf zweihundert Meter an die Munitionsvorräte der Taliban heranzubringen. Die anderen sechs landeten im Dorf und machten sich daran, die dort lebenden Menschen aus ihren Häusern zu jagen, indem sie Brandsätze warfen. Natürlich rief das die bewaffneten Wächter auf den Plan. Sie nahmen die Angreifer, die sie für amerikanische Elitesoldaten hielten, unter schweres MG-Feuer oder versuchten, sie mit Säbeln und Dolchen zu erledigen. Doch gegen normale Metallwaffen waren die Nachtkinder immun. Außerdem floss ihnen immer dann, wenn sie besonders bedrängt wurden, aus einer übernatürlichen Quelle weitere Widerstandskraft zu. Mit dem Blick der Unterwerfung schafften sie es, die Bewohner des Ortes durch den Nebel der Tarnung in die Höhlen zu treiben. Dreitausendfünfhundert Männer, Frauen und Kinder gerieten so in die Gewalt der neun Nachtkinder. Nyctodora blieb in Fledermausgestalt und koordinierte den Einsatz aus der Luft heraus. Zwei Stunden später waren alle Bewohner und die Mitglieder der geheimen Basis in die Höhlen hineingetrieben und in die Nähe der Sprengstoff- und Waffenlager geschafft.
Nun kam der eigentliche Einsatz. Alle acht Mitglieder des Einsatztrupps brachten die mitgebrachten Sprengladungen so an, dass eine Kettenreaktion ausgelöst wurde. Wer die Druckwellen überlebte würde unter den einstürzenden Höhlen verschüttet.
"Und los!" schickte Gooriaimiria eine alle erreichende Gedankenbotschaft an ihre Kämpfer. Nyctodora beobachtete, wie die ihr zugeteilte Truppe sich nach nochmaliger Beeinflussung der dem Tod geweihten aus den Höhlen zurückzogen. Fünf Minuten später detonierten die ersten Ladungen. Keine Sekunde darauf krachten noch schwerere Explosionen und brachten den Berg zum erbeben. Derweil brannte das leergeräumte Dorf lichterloh. Wenn der Nebel vom Sonnenlicht aufgelöst wurde mochten die fliegenden Spione zwar vermelden, dass ein Dorf abgebrannt und ein halber Berg eingestürzt war. Doch warum das passiert war würde für die Beobachter ein Rätsel bleiben.
Weitere Explosionen erschütterten den Berg. Vereinzelte Todesschreie waren zu hören. Doch die Gefangenen hatten keine Fluchtchance. Die Höhlen brachen zusammen. Wer nicht durch die Sprengungen selbst starb wurde von Felstrümmern erschlagen oder würde qualvoll ersticken. Doch das war Nyctodora egal. Für sie zählte nur, dass möglichst viele menschliche Leben innerhalb eines Tages an einem Ort endeten. Dann wollten sie noch mal einen Tag warten, bis Nyctodora die Ernte dieses Massakers einbringen konnte.
Major Tobias Stroker von der US-Luftwaffe versuchte vergeblich, die Bilder der letzten Stunden klarzukriegen. Doch als habe jemand das Tal mit dem verdächtigen Dorf in einen wilden Schneesturm gehüllt bekam er von keiner der Drohnen ein scharfes Bild geliefert. Erst als der Morgen des zweiten Dezembers graute verschwand diese Störung. Jetzt konnte er sehen, dass das Dorf niederbrannte und der westliche Berghang verformt war, als habe es in der Nacht ein schweres Erdbeben gegeben. Stroker dirigierte eine der Drohnen so, dass sie den Berghang total aufnehmen konnte und vergrößerte nacheinander die erfassten Bildausschnitte. Dann griff er zu seinem abhörsicheren Satellitentelefon und wählte die Direktwahl zu seinem Vorgesetzten: "Sir, Dorf Charlie-bravo niedergebrannt. Schweres Erdbeben am Berg hat Hang zerstört. Erbitte weitere Anweisungen!"
"Schicken Sie uns die Bilder, Major!" erhielt er einen Befehl zur Antwort. Stroker bestätigte und beendete die Telefonverbindung. Eine halbe Stunde später bekam er den Befehl, die Überwachungsdrohnen in einen anderen Sektor zu dirigieren, um den Vormarsch der Bodentruppen zu sichern. Deshalb konnte niemand mitbekommen, wie genau einen Tag später eine sehr attraktive Frau mit Hilfe eines hölzernen Stabes und einem daraus strahlenden grünlichen Flirren einen Tunnel in den zerstörten Berghang hineingrub und vier stunden später einen haselnussgroßen, zwölfflächigen Kristall in der Hand haltend wieder herauskam.
"Du darfst ihn nicht für dich behalten, weil ich sicher bin, dass er deine Feuerschutzaura zerstören kann, Nyctodora. Warte den dritten Einsatztrupp ab und zerreibe die dabei gewonnenen Kristalle aneinander!" befahl Gooriaimirias Gedankenstimme.
"Und dann?" fragte Nyctodora.
"Dann injizierst du diesen Staub in die Arme der Mitternachtsgarde. Sie wartet an der Wiege der Nacht auf dich. Ich werde dich hinbringen, wenn du alle Kristalle zu Staub zermalen hast. Pass auf, dass kein unschuldiger Mensch die Kristalle berührt, sonst werden sie wertloser Staub!" Nyctodora versprach, diesen Rat zu befolgen.
Dass es außer frohen und traurigen Familienangelegenheiten auch noch andere Dinge gab wurde Julius gleich am Tag nach Alons Geburtstagsfeier klargemacht. Monsieur Vendredi, der Gesamtleiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe, berief kurz nach neun Uhr eine spontane Konferenz aller ihm unterstellten Beamten und Amtsanwärter ein.
"Eigentlich betrifft es eher die Abteilungen für internationale Zusammenarbeit und Strafverfolgung. Aber Minister Grandchapeau und Monsieur Montpelier haben alle Abteilungsleiter gebeten, ihre Mitarbeiter über folgenden Vorfall in Kenntnis zu setzen", begann Vendredi mit seiner Mitteilung. Am Abend des ersten Dezembers trug sich in der auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland gelegenen, nur von magisch begabten Menschen bevölkerten Ansiedlung Ginstermoor ein heimtückischer Mordanschlag auf den dort selbst wohnhaften Wildhüter und Landschaftspfleger Helgo Krötenbein zu. Trotz eines umfangreichen Geflechtes von Schutz- und Feindesabwehrzaubern muss es dem Mörder gelungen sein, in das mehrfach verschlossene Haus seines Opfers einzudringen, wo er da selbst auf die Rückkehr seines Opfers wartete. Helgo Krötenbein verließ sich offenbar zu sehr auf die sein Haus beschützenden Zauber und ging in die seiner harrende Falle. Ihm gelang zwar noch die Flucht aus seinem Haus. Doch als er einen Besen zur Flucht besteigen wollte ereilte ihn ein tödlicher Zauber und beendete sein Leben. Die in den Umpflanzungen seines Hauses eingerichteten, auf Krötenbeins Gefühlslage abgestimmten Lichtbildaufzeichnungsgeräte konnten seinen Mörder aufzeichnen und wie vorgesehen zur Weitergabe der erstellten Bilder davonfliegen. Die verfertigten Aufnahmen, sowie die durch einen Hilferufzauber Krötenbeins herbeigeeilten Lichtwächter konnten den Mörder einwandfrei als jenen erkennen, der sich als Lord Vengor bezeichnet und sowohl in New York wie in der Nähe von Frankfurt und dem Zuständigkeitsbereich des böhmischen Zaubereiministers in verbrecherischer Weise auffällig wurde. Auch wenn der eigentliche Auftrag, Monsieur Krötenbein vor seiner Ermordung zu beschützen, zum bedauerlichen Fehlschlag wurde, ging es den Lichtwächtern jedoch darum, den Mörder selbst dingfest zu machen oder bei all zu heftiger Gegenwehr endgültig auszuschalten. Dabei bestätigte sich, dass jener, der sich selbst Lord Vengor zu benennen pflegt, eine gesonderte Abwehr gegen alle beeinträchtigenden bis dauerhaft schädigenden Zauber aufzubieten im Stande ist. die in der Absicht, seiner Habhaft werden zu wollen erschienenen Lichtwächter verzeichneten innerhalb nur einer Minute den Verlust von sieben Beamten, drei davon durch eine bis dahin unbekannte Wirkung gegen den tödlichen Fluch, die jene, die ihn auf Vengor anzuwenden wagten, daselbst in schwarzen Dunst auflöste und einer schattenhaften Umhüllung des Attentäters zuführte, so dass sich den Zeugen der Eindruck bot, ihr Gegner verleibe sich die ihn mit Tötungsabsicht bedrängenden in nebelhafter Form ein, als atme er nur kurz ein. Dem unmittelbaren Gedankengang der bei den Lichtwächtern mitfliegenden Heilerin Rosamunde Weidenwurz folgend versuchten die Lichtwächter es nun mit heilenden und/oder körperlich-geistigen Schutz bietenden Bezauberungen. Hier zeigte sich erstaunlicherweise, dass jener, der in grüner Maske und unter dem offenkundigen Decknamen Lord Vengor seine Untaten begeht, bei Einwirkung von heilenden Zaubern wie unter der Einwirkung schädigender Zauber leidet. Womöglich wäre es in dieser Lage gelungen, seine Widerstandsfähigkeit derart zu verringern, dass die Lichtwächter ihn hätten ergreifen können. Doch der Verbrecher entzog sich seiner Festnahme durch zeitlosen Ortswechsel, trotz der eigentlich das Haus umfriedenden Bezauberung gegen diese Art der An- und Abreise. Der deutsche Zaubereiminister Heinrich Güldenberg setzte nach Erlangung aller Kenntnisse über diesen Vorfall unseren Zaubereiminister Monsieur Grandchapeau in Kenntnis. Denn es steht zu befürchten, jener, der sich da selbst Lord Vengor nennt, könne im Zuge seiner verbrecherischen Vorhaben weitere Mordanschläge ersinnen oder bereits in den nächsten Tagen oder Stunden verüben, wobei er durchaus nicht nur in Deutschland oder auf den Erdteil Europa beschränkt bleiben mag. Da niemand weiß, welche Mittel ihm zu Gebote stehen, einschließlich der Benutzung magischer Tierwesen oder ihm durch bösartige Zauber unterworfene Geister oder widernatürlich wiederbelebter Leichen, sind alle in den Zaubereiministerien der Welt tätigen Abteilungen gehalten, über seine Machenschaften Kenntnis zu erwerben und die gewonnenen Kenntnisse dahingehend auszuwerten, wirksame Mittel zu ersinnen, weitere Verbrechen dieses Schwerverbrechers vorherzusehen und/oder zu verhindern, bestenfalls den Urheber dieser Untaten selbst dauerhaft von weiteren Untaten abzuhalten. In Befolgung dieses von allen europäischen Zaubereiministerien beschlossenen Auftrages erfollgte diese Mitteilung an Sie alle."
"Ja, und was erwarten Sie nun von uns, Monsieur Vendredi?" fragte Adrastée Ventvit, die als Leiterin der Außeneinsatztruppe gegen bösartigen Geisterspuk mit anwesend war. Vendredi setzte schon zu einer neuen Arie bürokratischer Formulierungen an, als Adrastées direkter Vorgesetzter, Simon Beaubois ihn am Rande der Insubordination abwürgte:
"Nicht so umständlich, bitte." Vendredi räusperte sich ungehalten. Er musste kurz ein- und ausatmen. Dann sagte er:
"Gut, dann eben nicht wie protokollarisch angemessen: Der Zaubereiminister wünscht von uns, dass wir überprüfen, wieso dieser Lord Vengor so unbezwingbar erscheint, aber durch reine Heilungszauber beeinträchtigt werden kann, ob diese Wirkung durch Zuhilfenahme von Bestandteilen magischer Tiere oder Zauberwesen erzielt wird oder dieser neue Feind bösartige Geisterwesen in seinen Dienst gestellt hat, die ihn mit ihrer gegen lebende Wesen einsetzbaren Kraft helfen können. Die sonst für magische Verbrechen zuständigen Abteilungen versuchen, seinen Aufenthaltsort und wahrscheinliche Gefolgsleute aus der Zaubererwelt zu ermitteln. Wie gerade erwähnt geht es bei unseren Bemühungen darum, magische Wesen zu ermitteln, die ähnliche Wirkungen auf sie berührende Zauber aufweisen, seien es Zauberwesen, magische Tierwesen oder Geisterwesen. Ich erwarte erste plausible Erklärungsansätze bis morgen früh. Alle anderen Vorgänge sind bis dahin zweit- oder drittrangig zu behandeln! Ich bedanke mich für Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit!"
Als Julius zusammen mit Ornelle Ventvit und Pygmalion Delacour im gemeinsamen Büro saß sagte Ornelle Ventvit: "Julius, Sie fassen bitte schriftlich noch einmal alles zusammen, was Sie aus eigener Erfahrung über die Widerstandskraft durch im eigenen Körper fließendes Riesenblut berichten können, wie Zauber wirken oder in ihrer Wirkung verändert werden und inwieweit die Wirkungsänderungen durch Verringerung des Riesenblutanteils ablief? Pygmalion, Sie schreiben mir bitte noch einmal die Ergebnisse Ihres Gespräches mit Ihrem Kollegen aus Spanien auf, was dieser über die Schildzauber der Meigas erläutern konnte. Ich derweil werde mich mit den Leitern der übrigen Unterbehörden zusammensetzen, um zu besprechen, ob Hauselfen, Zwerge, Kobolde oder Vampire zu Vengors gefolge gerechnet werden müssen oder nicht."
Julius hätte sich fast auf die Zunge gebissen, um seine spontane Eingebung auszuplaudern, dass diese Abwehrzauber durch jenen dunklen Kristall bewirkt wurden, den Vengor aus den Trümmern des Welthandelszentrums geborgen hatte. Doch er wollte sich nicht noch mal derartig ins Rampenlicht drängen wie bei dem Fall mit den vier Geisterschwestern. Abgesehen davon musste es doch jedem der in Abwehr dunkler Kräfte unterrichtet worden war, dass die Widerstandszauber Vengors ähnlich einem schwarzen Spiegel abliefen, der alle darauf prallenden Verwünschungen und Flüche fünfmal auf den Urheber zurückwarf. Wer aber einen Heilzauber gegen einen solchen Spiegel schleuderte, konnte diesen damit zerstören. Also wirkte die Macht jener dunklen Kristalle wie ein dauerhafter schwarzer Spiegel, am oder gar im Körper eines skrupellosen Anwenders womöglich sogar unter Wiederaufladung durch die Kraft des Trägers oder den Tod von diesem ermordeter. Doch das durften gerne die anderen herausfinden. Für ihn stand fest, dass Vengor kein Amokläufer war, der seine neuen Möglichkeiten dazu verwendete, hunderte von Leuten auf einmal umzubringen. Was war an diesem Krötenbein so wichtiges, dass Vengor ihm aufgelauert hatte? Die Frage würden sich die Leute aus der magischen Strafverfolgung und der Desumbrateurentruppe sicher zuerst stellen. Warum sich deren Kopf zerbrechen? Julius bestätigte also, dass er den erteilten Auftrag ausführen würde, auch wenn das hieß, noch einmal über die drei Monate zu berichten, in denen er nicht wirklich er selbst gewesen war, weil Olympe Maximes halbriesisches Blut in seinen Adern geflossen war, um das in ihm pulsierende Umwandlungsgift der Schlangenmenschen aufzuheben.
So schrieb Julius seinen Bericht, wobei er im ersten Satz einschränkte, dass seine Erfahrungen nicht auf reinrassig riesischem Blut beruhten und alle Erfahrungen, die er damit gewonnen hatte, unter dem Vorbehalt zu sehen waren, dass die ihn errettende Bluttransfusion zunächst gegen ein mutagenes Gift einer bis dahin unbekannten Zauberwesenart ankämpfen musste. Als er diese so wichtige Einschränkung formuliert hatte konzentrierte er sich auf eine gefühlsmäßige Ausgeglichenheit, um alle nun niederzuschreibenden Erlebnisse ohne aufwühlende Empfindungen zusammenzufassen. Dies gelang ihm unter großer Konzentration. Dabei bemerkte er nicht, wie schnell die Zeit verging. Erst als er den letzten Satz seines Berichtes auf die vierte Rolle Pergament geschrieben hatte sagte Ornelle Ventvit: "Jetzt solltes du aber langsam mal Mittagspause machen, Junge. Ist ja schon ein Uhr."
Julius zuckte nur mit den Achseln. Er deutete auf den Bericht und sagte: "Den wollte ich noch fertig haben, bevor ich durch andere Sachen abgelenkt werde, Mademoiselle Ventvit", rechtfertigte Julius seinen verspäteten Pausenbeginn.
"Ja, aber wenn du beim Schreiben verhungerst kannst du auch nicht fertig werden", erwiderte Ornelle mit schalkhaftem Schmunzeln. Dann sammelte sie die vier Pergamentrollen ein, um sie nach dem Mittagessen lesen zu können. "Ist dir sicher nicht leicht gefallen, diese ganzen Sachen noch einmal aufzuwärmen, wie?" fragte sie mitfühlend. Julius nickte nur.
Nach dem Mittagessen erhielt Julius den Auftrag, sich mit Madame Barbara Latierre über die natürliche Resistenz von Zaubern bei mehr als menschengroßen Lebewesen mit magischen Eigenschaften zu unterhalten. "Nur wegen des an unsere Abteilung ergangenen Auftrages. Der werte Monsieur Vendredi glaubt sicher selbst nicht, dass sich dieser Mordbube reines Riesenblut in die Adern spritzt oder entsprechende Tränke daraus braut."
"Gut, um zu wissen, wie er es macht sollten schon alle Unmöglichkeiten erkannt und ausgeschlossen werden. Was dann noch übrig bleibt muss die Wahrheit sein, auch wenn es noch so unwahrscheinlich ist", sagte Julius.
"Sagt Phil Marlow, der berühmte australische Privatdetektiv", erwiderte Ornelle Ventvit mit einem verwegenen, Julius ansteckenden Grinsen.
"Wollen wir echt unsere wertvolle Arbeitszeit mit einer Debatte darüber vertun, ob dieser Mörder Riesenblut, Latierre-Kuhmilch oder Latierre-Bullenblut verwendet, um gegen die meisten Angriffszauber immun zu sein?" fragte Barbara Latierre, als sie mit Julius alleine in ihrem Büro saß. "Ich habe mit Ihrer direkten Vorgesetzten und dem Vorsteher des Hauselfenzuteilungsamtes, des gerade unter chronischem Auftragsmangel darbenden Zwergenverbindungsbüros sowie den Verbindungsbüros für Kobolde und Zentauren darüber diskutiert, dass dieser Vengor keine Zaubertieressenzen benutzt haben kann, zumal es ja außer Riesen, Zwergen und Veelas keine Zauberwesen gibt, die gegen direkte Flüche eine gewisse oder gar vollständige Immunität aufweisen."
"Wo Sie das mit den Veelas sagen, Madame Latierre, so wundert mich, dass meine Vorgesetzte mich noch nicht losgeschickt hat, um bei diesen Zauberwesen Erkundigungen einzuholen, ob da jemand von denen diesem Vengor hilft. Abgesehen davon - und ich wundere mich, dass Mademoiselle Ventvit mich nicht auch darum gebeten hat, das zusammenzufassen - sind auch die neun Abgrundstöchter gegen viele Zauber immun."
"Kann noch kommen", sagte Barbara Latierre und goss sich und Julius frisch aufgebrühten Kaffee ein. "Aber was Sie und ich besprechen können, was mitprotokolliert werden kann, ist, ob Riesen oder Latierre-Rinder leichter zu handhaben sind, um an deren Blut oder andere Körperflüssigkeiten gelangen zu können." Julius war einverstanden. So besprachen sie zwei Stunden lang bei einer mitschreibenden Flotte-Schreibe-Feder, mit welchen Zaubern oder Dressurtechniken Latierre-Kühe geführt werden konnten, wobei keinesfalls körperliche Gewalt oder magisch herbeigeführte Schmerzen zum Einsatz kommen durften, weil die Tiere dann wütend wurden und ihre körperliche Überlegenheit jedem Menschen gegenüber erkannten. Bei Riesen war es um so schwerer, sie zu bestimmten Tätigkeiten zu bringen, weil diese zum einen erwähnte Widerstandskraft gegen Zauberflüche besaßen, sowie sich ihrer körperlichen Überlegenheit normalgroßen Menschen gegenüber voll und ganz bewusst waren und dieses Wissen auch brutal ausnutzten, wenn sie dadurch einen Vorteil hatten. Deshalb sagte Julius auch, dass das vorrangige Ziel, um mit Riesen größtenteils unblutig verkehren zu können, darin bestand, ihnen zu zeigen, dass ihnen die Anwendung brutaler Gewalt keinen Vorteil einbrachte. Julius erwähnte auch, weil die Feder immer noch mitschrieb, dass jemand, in dessen Adern auch nur ein wenig Riesenblut strömte, eine sehr eingeschränkte bis unwirksame Selbstbeherrschung habe und sich daher jemand wohl nicht freiwillig darauf einlasse, Riesenblut in den eigenen Körper einzuspritzen."
"Sie vermuten also, dass dieser Verbrecher weder Riesenblut noch damit zusammengestellte Tränke benutzt?" stellte Babs Latierre eine rein rhetorische Frage.
"Zumindest muss ich das auf Grund der gemachten Erfahrungen ausschließen. Was immer dieser Verbrecher anstellt, um gegen Flüche geschützt zu sein, muss selbst aus dunkler Magie geschöpft worden sein oder gar durch den unfreiwilligen Tod seiner Opfer zugänglich geworden sein." Jetzt war es also doch passiert, dachte Julius, als er seine eigenen Worte noch mal nachlas. Eigentlich hatte er darüber doch keine eigene Vermutung äußern wollen.
"Nun, ich bin zwar weder Monsieur Vendredi noch Mademoiselle Ornelle Ventvit. Doch ich erbitte von Ihnen eine klare Aussage, ob dieser Verbrecher durch bösartige Bezauberungen von lebenden Zauber- oder Tierwesen deren Unverwüstlichkeit erhalten kann", sagte Babs Latierre. Julius schwante, worauf sie hinauswollte. Immerhin wusste sie, dass die geflügelte Kuh Artemis ihren beiden Besitzern schon in brenzligen Situationen geholfen hatte. Doch Temmie war keine übliche Latierre-Kuh mehr, seitdem Darxandrias Seele mit der tierhaften Teilintelligenz der jungen Latierre-Kuh verschmolzen war.
"Nachdem, wie Monsieur Vendredi die Abwehrmöglichkeiten des Verbrechers Vengor beschrieben hat schöpft er seine Überlegenheit nicht aus der wie durch den Ausdauerübertragungszauber vermittelte Munterkeit oder Ausdauer eines anderen Lebewesens. Dieses müsste ja dann auch in seiner unmittelbaren Nähe sein, eine Art Symbiont, der ihm auf ähnliche Weise Kraft zuführt, wie es Algen bei Korallen tun oder Pilze bei Bäumen."
"Das sehe ich als Tierwesenkundlerin genauso, Monsieur Latierre", bestätigte Barbara Latierre für das Protokoll. "Wie immer der Verbrecher, der sich den Decknamen Vengor zugelegt hat, gegen mehrere ihn bedrängende Feinde bestehen, ja diese durch ihre eigenen Zauber schädigen und ausschalten kann, liegt nicht an der Ausnutzung anderer magischer Lebewesen." Damit hatte Babs Latierre gerade eine eindeutige und damit gegen sie verwendbare Aussage gemacht. Sollte herauskommen, dass Vengor in der Tat eine magische Beziehung zu einem anderen Lebewesen hinbekommen hatte, könnte man ihr Unkenntnis und damit auch Unfähigkeit unterstellen. Doch sowohl sie als auch Julius waren sich zu sicher, dass Vengor andere Quellen nutzte.
Wieder zurück in seinem Büro traf er nur Ornelle Ventvit an. Sie hatte Pygmalion zum Hauselfenzuteilungsamt geschickt, um dort mit dem Registrierungsbeamten für neugeborene Hauselfen zu besprechen, ob deren Natureigenschaft, magische Apparitionsbarrieren zu überwinden, auf gewöhnliche Magier übertragbar war oder nicht. Julius nickte nur. Dann klopfte es an die Tür, und Léto trat ein. Sofort fühlte Julius ihre betörende Ausstrahlung und wendete das Lied des inneren Friedens an, um sich dagegen abzuschirmen.
"Sie haben mich gebeten, herzukommen, Mademoiselle Ventvit?" fragte Léto. Die Gefragte nickte. Dann deutete sie auf Julius: "Es kam vorgestern zu einem Vorfall in Deutschland, bei dem ein Untäter durch besondere Widerstandskraft gegen schädigende Zauber seinen Verfolgern entrinnen konnte. Bitte klären Sie mit Monsieur Latierre ab, ob Angehörige ihres Volkes bereits mit magischen Menschen derartige Beziehungen führten, bei denen die Menschen die Ihnen eigene Widerstandskraft auf sich übertragen konnten! Dies ist nur eine Besprechung, die neue Erkenntnisse bringen soll, keine Verdächtigung gegen Sie oder einen Ihrer Blutsverwandten", erwiderte Ornelle. Léto nickte. Dann durfte sie auf Julius Schreibtischstuhl platznehmen. Der Stuhl erzitterte zwar heftig und hüpfte einmal auf und ab. Doch dann blieb er ruhig. Offenbar wechselwirkte die ihn belebende Zauberei mit der andersartigen Lebensaura der Veela.
Julius unterhielt sich ganz ruhig mit Léto über die Widerstandskraft der Veelas. Dabei wiederholte sie für die mitschreibende Flotte-Schreibe-Feder, dass Veelas und ihre Nachkommen bis in die vierte Generation gegen auf die Elementarkräfte von Wasser, Feuer und Luft bezogene Zauber geschützt sein konnten, wenn diese in Abwehrstimmung wären. Deshalb habe Sarjas Sohn Diosan vielen Fang- und Lähmzaubern wiederstehen können. Der Einkapselungszauber, mit dem Julius den Sohn Sarjas und Grindelwalds damals doch noch außer Gefecht gesetzt hatte, speise sich aus einer Mischung aus Erdelementar- und Luftelementarkraft und dazu noch aus der eigenen Magie des Wesens, das er umschloss. Als Léto dann von Julius gesagt bekam, dass Vengors Abwehr sogar dem Todesfluch widerstand sagte Léto nur:
"Das geht nur, wenn dafür jemand anderes sterben muss oder bereits gestorben ist und dessen Lebenskraft dabei für den bösen Zauberer verwendbar ausgelagert und bewahrt wird. Selbst unsereins kann dem tödlichen Fluch nicht entrinnen. Und bevor gleich die Frage gestellt wird, ob dieser Vengor jemanden von meiner Art getötet hat, um dessen oder deren besondere Lebenskraft in sich aufzunehmen, wie eine dieser vaterlosen Töchter des Unheils, so möchte ich für diese Mitschreibefeder da noch einmal klar und deutlich sagen, dass ein Angehöriger meiner Art unmittelbar vor dem Tod oder im Augenblick eines gewaltsamen Todes weitergibt, durch wessen Hand oder Vorrichtungen er oder sie stirbt. Kann ein Sterbender seinen Mörder genau ansehen, so wird sein Bild an alle mit ihm blutsverwandten weitergereicht, auf dass sie ihn erkennen und finden können. Ich kenne den wohl sehr boshaften Menschen nicht, der sich Vengor nennt. Aber wenn er schon mal einen von meiner Art getötet hätte, wüssten wir Veelas davon und würden ihn schon längst jagen, um im Rahmen unserer Gesetze Vergeltung an ihm und seinen Angehörigen zu üben, damit niemals wer meint, einen von uns töten zu können, ohne dafür büßen zu müssen."
"Monsieur Latierre, vielleicht sollten Sie Ihre neuen, amtlichen Befugnisse dahin ausschöpfen, dieses uralte Blutrachegebot der Veelas behutsam aber zeitnah verwerfen zu lassen", sagte Ornelle. "Ich erinnere mich daran, wie gefährlich das Vorgehen von Monsieur Grandville war, als dieser versuchte, Monsieur Sarjawitsch zu töten. Es kann in einer freiheitlichen Zaubererwelt nicht als zwingende Notwendigkeit angesehen werden, dass Familienangehörige eines Untäters für dessen Taten mit dem Leben büßen müssen."
"Das mussten Sie jetzt mal wieder sagen, Ornelle", schnarrte Léto. "Und weil Sie das für dieses Protokoll gesagt haben und Ihren Mitarbeiter damit nachvollziehbar verpflichten möchten sage ich als Mitglied des Ältestenrates meines Volkes: Dieses Vergeltungsrecht gilt, weil es in der Frühzeit unserer Existenz zu mehreren grausamen Angriffen auf unsere Artgenossen kam und deren Blutsverwandte deren Tode miterleben mussten. Um unser eigenes Überleben zu sichern mussten wir eine eindeutige und unvergessliche Antwort geben und haben deshalb dieses seit über viertausend Jahren gültige Gesetz, das seitdem nur zehnmal angewandt werden musste, hauptsächlich gegen jene Wesen, die auch die Feinde Ihrer Art sind, also die Gestaltwechsler und die von Sonnenlicht und fließendem Wasser zu tötenden Bluttrinker. Unser Zusammenleben ist gerade durch die eindeutige Bedrohung, dass jeder, der einen unserer Art gewaltsam tötet selbst gejagt und getötet werden darf und auch seine Familie sterben muss erheblich friedlicher geworden als vor Einführung dieses Gesetzes. Deshalb kann ich Ihnen und Ihrem Mitarbeiter, dessen Berufung zum Vermittler zwischen Ihrer und meiner Art ich maßgeblich befördert habe, sagen, dass es im Ältestenrat nicht eine einzige Stimme geben wird, die für die Abschaffung des Vergeltungsgesetzes eintreten wird. Sie empfinden es zwar als geboten, jedes mit Zauberkraft ausgestattete Lebewesen erfassen und bestimmen zu dürfen, wurden aber schon vor mehr als fünfhundert Jahren darauf hingewiesen, dass wir Veelas ähnlich wie die kleinwüchsigen Wesen, die Sie Zwerge und Kobolde nennen, genug Wehrhaftigkeit besitzen, um unsere eigenen Interessen zu wahren und dass es sinnvoller war, uns als gleichberechtigte Gesprächspartner zu sehen und nicht als von oben herab zu lenkende Geschöpfe, wie es diese kleinen Kerle sind, die Sie Hauselfen nennen."
"Nun, die neuen Gegebenheiten sollten auch Spielraum für neue Ideen und Beziehungen bieten", sagte Ornelle Ventvit. Julius vermutete, dass sie damit eine unterschwellige Drohung aussprach, bezogen auf Vengor oder die Wergestaltigen.
"Sie denken, dieser Vengor sei was neues oder die sich nun sehr schmerzvoll in der Welt betätigenden Gestaltwechsler, dann tut es mir leid, Ihnen diese Idee ausreden zu müssen, Ornelle. Wir mussten bereits mit Leuten wie Sardonia und ihren Verwandten, anderen Vampiren und ja auch schon Gruppen sich gegen ihre Erniedrigung wehrender Werwölfe leben. Sardonias Handlangerin Julie Nuitbleu bezahlte ihre Überheblichkeit mit ihrem eigenen Leben und den Leben ihrer drei Söhne und vier Schwestern. Es stellte sich heraus, dass Sardonia den Auftrag zur Ermordung des jungen Veelas Wolkentänzer nicht erteilt hatte, nur deshalb blieben sie und ihre Anverwandten verschont. Es sind also keine neuen Gegebenheiten, die zu neuen Denkansätzen oder gar der Neuausrichtung unserer Koexistenz berechtigen", erwiderte Léto. Ornelle grummelte verdrossen. Julius blieb ruhig sitzen. Ornelle fragte noch einmal, ob die Veelas in dieser Sache wirklich nicht mit sich reden lassen würden. Léto bestätigte das. "So verbleibt mir nur, Ihren Auftrag dahingehend abzuändern, dass Sie, Monsieur Latierre, den Schutz von Menschenleben vor Übergriffen krankhafter oder boshafter Veelas sicherstellen." Julius bestätigte für die mitschreibende Feder den Erhalt dieser Anweisung. Damit war die Unterredung auch schon vorbei. Léto verabschiedete sich erst von Ornelle und dann von Julius, wobei sie ihn darauf hinwies, am nächsten Tag noch einmal mit ihm ins Château Millarbres zu reisen, um mit den Montétés über behördliche Themen sprechen zu können. Dann verließ sie das Büro.
"Jetzt habe ich endlich eine unbestreitbare Aussage, dass die Veelas auf der Welt keiner ministeriellen Bestimmung ihrer Lebensweise zustimmen werden", sagte Ornelle.
"Ach, lag diese bisher nicht vor?" fragte Julius.
"Léto ist die erste Veela, die unmittelbar mit den Verwaltern der Zaubererwelt zusammenarbeitet, und das auch nur, weil zwei ihrer Töchter mit Ministeriumsmitarbeitern verheiratet sind. Für Veelas gelten nur die eigenen Traditionen. Das habe ich jetzt Tinte auf Pergament." Julius nickte darüber nur.
Abends im Apfelhaus erfuhr Julius von Millie, dass Laurentine sich bei ihr per Kontaktfeuer gemeldet hatte, um zu erzählen, was nun anlag. "Ihre Eltern sind zwar nicht davon begeistert, aber Laurentines Oma hat ihr erlaubt, bis zu zwanzig Freundinnen und Freunde einzuladen. Sie klärt das nun mit der Personenverkehrsabteilung, wie sie Gäste aus der magielosen Welt nach Lyon bringen kann, ohne dass ihren magielosen Verwandten klar wird, dass die etwas anders drauf sind."
"Zwanzig Freundinnen und Freunde?" fragte Julius nach. Millie bestätigte es. "Es soll, so Laurentine, klargestellt werden, dass sie nicht allein auf weiter Flur ist und damit auch irgendwie das Erbe von ihrem Großvater fortführt, der so an die fünfhundert Leute weltweit als Freunde bezeichnet hat, wohl weil er ihnen den einen oder anderen Gefallen getan hat. Übermorgen wird Laurentines Großvater aus der Schweiz nach Frankreich gebracht. Dann soll er aufgebart werden. Am zehnten soll dann die feierliche Totenverbrennung ablaufen."
"Hmm, hat Laurentine irgendwas gesagt oder geschrieben, dass wir dazu eingeladen werden sollen. Ich meine, sie hatte mit dir bis zu unserer Hochzeit ja nicht viel zu tun. Da waren eher Céline und Belisama, mit denen sie sich gut verstanden hatte."
"Zumindest könnte sie dich einladen, Monju. Abgesehen davon, dass sie mir das garantiert nicht alles erzählt hätte, wenn sie nicht wollte, dass mich das interessieren soll oder ich gar dabei sein darf, hatte sie eigentlich bis Claires zu frühem Abgang nur mit ihr und Céline wirklich viel zu tun."
"Ist wohl leider wahr", sagte Julius, wobei er sowohl Claires viel zu frühen Abgang meinte, als auch, dass Laurentine in den ersten Jahren Beauxbatons nicht wirklich nach neuen Freunden und Freundinnen geschrien hatte, weil sie ja damals noch darauf ausgegangen war, möglichst schnell wieder von Beauxbatons wegzukommen, wenn nötig, unehrenhaft entlassen zu werden.
"Sie schreibt dir dann einen Elektrobrief, wie das gehen soll. Kann sein, dass sie beim Ministerium gerade auf eisige Stimmung stößt, weil sie sich so schnell von denen abgesetzt hat. Auch wenn die Eltern deiner Beinahe-Zwillingsschwester das immer gerne und laut abstreiten, sie haben doch einen großen Einfluss, nicht nur auf ihre jeweiligen Abteilungen." Das konnte Julius nicht abstreiten.
Am vierten Dezember traf sich Julius mit Léto im Foyer des Zaubereiministeriums und ging mit ihr auf die Rue de Camouflage hinaus. Als niemand in Sichtweite zu entdecken war vollführten die beiden ihre nun gut eingeübten Verwandlungen. Julius las von seiner mitgeschrumpften Armbanduhr ab, dass es gerade zwölf Minuten nach neun Uhr war. Dann erkletterte er den für ihn wieder gigantisch wirkenden weißen Schwan, in den sich Léto verwandelt hatte. Sie machte sich und ihn unsichtbar, als er sicheren halt fand. Wieder wie bei Nils Holgersson und den Wildgänsen ging es hinauf in den Himmel und über die in einer magischen Raumverhüllung versteckten Zaubererweltstraße hinaus über das Paris der Muggel hinweg richtung Loiretal.
Julius staunte nicht mehr, dass sie den mehrere hundert Kilometer weiten Weg in nur einer Stunde zurücklegten. Léto, die am Sonnenstand und der Helligkeit die Tageszeit ablesen konnte, gönnte sich und ihm noch das Vergnügen, eine Viertelstunde lang über den breiten Strom herumzufliegen und dabei sogar natürliche Schwäne und Enten zu beobachten, die in Seitenarmen der Loire wohnten. Offenbar merkten die natürlich entstandenen Wasservögel, dass da jemand oder etwas übernatürliches unterwegs war. Zwei stolze Schwanenväter kamen dem unsichtbaren Gespann auf halbem Weg entgegen und schwangen ihre Flügel. Doch ein unmissverständlich lautes Fauchen Létos reichte völlig aus, die beiden Revierverteidiger in die Flucht zu schlagen. Schließlich glitt Léto mit weit ausgespannten Flügeln über die mit hohen Zinnen besetzte Mauer um das Château Millarbres hinweg, das seinen Namen von einem dichten Mischwald hatte, der innerhalb der Ummauerung stand. Die Nadelbäume boten der spätherbstlichen Kahlheit der Laubbäume mit ihrem Grün einen achtbaren Widerstand. Julius dachte daran, dass Millie und er demnächst wieder einen Weihnachtsbaum aus Camille Dusoleils Zucht bekommen würden. Für die kleine Aurore würde es das erste ganz bewusst erlebte Weihnachten sein.
Im Schloss der tausend Bäume wurden sie von Laure-Rose Montété begrüßt. Wie es zwischen Julius und den Veelas vereinbart war besprachen sie die neue Lage für die Veela-geborenen. Über Vengors letzten Anschlag durfte Julius kein Wort verlieren, da die Sache zur Geheimsache S1 erklärt worden war, also nicht aus dem Ministerium hinausdurfte. Die Unterredung dauerte bis zum Mittagessen. Julius und Léto nahmen die Einladung der Schlossherren an, mit ihnen zu essen. Danach unterhielt sich Julius mit den Enkeln von Laure-Rose über Beauxbatons und wie er Fleur in Hogwarts und Gabrielle in Beauxbatons erlebt hatte.
Gegen fünf Uhr kehrten Léto und Julius wieder ins Ministerium zurück. Dort fand Julius eine Mitteilung auf seinem Schreibtisch:
Betrifft: amtliche Bestätigung anstehender Verlobung zwischen Meerfrau Méridana und Sirenion
Monsieur Latierre, bitte begeben Sie sich am Morgen des 5. Dezembers 2001 unter Benutzung der Ihnen bekannten Hilfsausrüstung zum längeren Verweil unter Wasser in die Kolonie von Maritia und Undor. Dort selbst wohnen Sie der bei Wassermenschen überlieferten Zeremonie des gegenseitigen Versprechens zwischen der in diese Kolonie zugewanderten Méridana und Maritias und Undors jüngstem Sohn Sirenion Cochel'eau als offiziellem Gesandten des Zaubereiministeriums bei! Ziehen Sie vor und nach der Zeremonie alle nötigen Erkundigungen ein, um für eine neue Akte genug Hintergrundwissen wie Stammbaum, Alter der sich verlobenden, Berufe und Wahl des gemeinsamen Wohnsitzes zu erhalten! Da der Zauberwesenbehörde nur unzureichende Kenntnisse über Beginn, Durchführung und Abschluss eines gegenseitigen Eheversprechens vorliegen, sind Sie hiermit aufgefordert, sich möglichst viele Einzelheiten einzuprägen und diese nach erfolgter Rückkehr in die Ihnen zugewiesene Amtsstube schriftlich festzuhalten. Da die Zauberwesenbehörde ebensowenig weiß, wie lange die Zeremonie dauern wird, sorgen Sie bitte dafür, dass sie für einen vollen Tag oder mehr unter wasser verfügbare Nahrung und Trinkwasservorräte bereithalten! Die Wassertiefe, in der die Kolonie liegt, ist gering genug, um mehr als einen Tag lang Schutz und Atemluft zu gewährleisten. Bitte unterschreiben Sie die Zurkenntnisnahme dieses Auftrages und nehmen Sie das Antragsformular für einen Duotectus-Schutzanzug entgegen! Denselben holen Sie eine halbe Stunde vor Reiseantritt im Lager für ministeriumseigene Ausrüstungsgüter ab!
Für die Erfolgreiche Durchführung Ihres Auftrages werden Ihnen meine besten Wünsche übermittelt
Ornelle Ventvit, Leiterin des Büros für Zauberwesen über der Jardinane-Grenze
Julius unterschrieb im Feld "Auftrag erhalten" und gab das Pergament an seine unmittelbare Vorgesetzte zurück. Diese gab ihm das ihm schon hinlänglich vertraute Antragsformular, um Ausrüstungsgüter aus Ministeriumsbeständen zu entleihen. Die Felder "Art der Ausrüstung", "Anzahl der angeforderten Ausrüstungsstücke" und "Einsatzzweck" waren bereits von Ornelle ausgefüllt worden. Außerdem hatte sie im Feld "Auftragserteilungsberechtigte" unterschrieben. Julius musste nur noch im Feld "Entleiher" und "Auftragsausführende Person" seinen Namen hineinschreiben. Dann schloss er das Formular in einer seiner Schreibtischschubladen ein, die auf die Berührung seiner rechten, lebenden Hand abgestimmt war. Damit konnte nur er die Schublade herausziehen, sobald sie mehr als eine Minute verschlossen war.
Wieder im Apfelhaus begrüßte ihn seine Schwiegertante Béatrice mit dem lässigen Spruch: "Na, wieder eine Runde auf Léto geritten?" Millie glotzte ihre Tante dafür völlig entgeistert an. Julius grinste jedoch und sagte:
"Ja, mehr als zwei Stunden und dazwischen noch mit ihrer jüngsten Tochter und deren vier Töchtern eine kurzweilige Zeit verbracht, Tante Trice. Danke der Nachfrage!"
"Tante Trice, die Frage hättest du als Heilerin sicher auch anders stellen können, Mann!" knurrte Millie.
"In der Sache war die Frage doch in Ordnung", erwiderte Julius. "Außerdem habe ich Tante Trice nicht erzählt, dass Fleurs und Gabrielles Oma immer wieder unterwegs sind und auf welche Weise, weil das C5-Status ist."
"Also von einem Ehemann seiner Frau gerade noch erzählt werden darf und einer Hebamme von ihrer Clientin", erwiderte Béatrice. Millie verzog das durch die Schwangerschaft apfelförmig gerundete Gesicht zu einer verdrossenen Miene.
"Damit du es auch gleich von mir und nicht in abgeschwächter Form von deiner Frau erfährst, Julius: Ich habe nach neuerlicher Untersuchung eures ungeborenen Kindes und seiner Lage in Millies Gebärmutter genehmigt, dass sie unter Zuhilfenahme der bereits bewährten Innertralisatus-Unterkleidung Reisen mit Albericus' sprungfähigem Spielzeug aus der Muggelwelt machen darf. Millie hat mich nämlich gefragt, ob ihr Vater, also mein Schwager, sie in seinem aus der Muggelwelt entnommenen Vehikel befördern kann, wenn ihr nach Lyon reist, oder ob sie da doch auf die Verkehrsmittel der magielosen Welt, also Eisenbahn und/oder Luftstrahl-Flugmaschine zugreifen sollte."
"Laurentine hat uns eine offizielle Einladung geschickt, Julius. Sie möchte uns als zwei von insgesamt sechs Freunden und Freundinnen bei der Totenfeier für ihren Großvater dabei haben. Rorie bleibt an dem Tag bei ihrer Oma Hippolyte und darf mit ihrer Tante Miriam üben, ob Miriam irgendwann auch mal eigene Kinder haben möchte wie ihre zwei größeren Schwestern."
"Hmm, war da nicht von zwanzig Freunden und -innen die Rede gewesen?" fragte Julius nach.
"Wie ich es schon geahnt habe hat Belles gerade auch was süßes kleines erwartende Maman da was gegen, gleich zwanzig Hexen und Zauberer auf einen Haufen unter eine Menge Muggel zu schicken. Deshalb sollen es gerade so viele sein, dass sie in ein größeres Fahrzeug passen. Madame Grandchapeau wollte einen ihrer größeren Ministeriumswagen bereitstellen. Dafür hätte Laurentine jedoch eine Tagesmiete bezahlen müssen, da sie ja keine Ministeriumsangehörige mehr ist. Da hat Laurentine mich gefragt, ob mein Vater uns mit seinem Bus fahren kann. Sie selbst will mit ihrem eigenen Wagen hinfahren. Da hätten wir zwar auch alle drin sitzen können, selbst Céline und ich mit unseren Babybauchläden zusammen. Aber das hätte für die Muggel wohl ganz komisch ausgesehen, wenn aus dem außen kleinen Wägelchen sieben ausgewachsene Leute rausgehüpft wären. Auf jeden Fall bringt Pa uns hin und holt uns auch wieder ab. Du oder ich sollen dann über Melo melden, wann wir wieder nach Hause wollen.""Hmm, und wenn Céline und Robert, von dem ich jetzt mal annehme, dass er auch eingeladen wurde, früher nach Hause wollen?"
"Kann Pa die zwei und Célines Ungeborenes auch vorher schon nach Hause bringen. Apparieren dürfen wir auf jeden Fall nicht, sagt Madame Grandchapeau."
"Ja, und ich sage dir das auch", sagte Béatrice. "Nachher verlegst du meine Großnichte noch im Bauch von einer anderen bei der Feier anwesenden Muggelfrau. Willst du ganz bestimmt nicht wirklich."
"Tante Trice, habe ich dir schon mal gesagt, dass du echt eine fiese Art hast, mir den Spaß am Tag zu versauen?" fragte Millie.
"Nach dem hundertsten Mal habe ich nicht weitergezählt", konterte Béatrice Latierre. Julius grinste. Millie grummelte nur hilflos.
Wo Béatrice schon einmal im Apfelhaus war durfte sie auch zum Abendessen bleiben. Sie musste sich nur wie ein minderjähriges Mädchen bei ihren Eltern abmelden, damit die für sie gedachten Portionen vom mehrgängigen Abendessen nicht verkamen. Ursuline Latierre rief durch die Kontaktfeuerverbindung, dass Julius und Millie dafür aber mit der kleinen Aurore noch vor dem großen Weihnachtsfest der ganzen Familie zum Essen herüberkamen.
Julius las am Abend noch die per Eule zugestellte Einladung und auch den für alle geladenen Gäste vervielfältigten Totenbrief und die Todesanzeige in der größten Lyoneser Zeitung. Als er las, dass Henri Lacroise Zeit seines Lebens immer um die Welt gereist sei und deshalb im Tode auf einer ewigen Umlaufbahn um die Erde hinaufsteigen wolle, sah Julius einen Moment Laurentines Vater, den Raketeningenieur vor sich, wie der ungläubig mit dem Kopf schüttelte. Sicher würden Opa Henris Schwestern versuchen, diesen letzten Wunsch anzufechten, weil eine Weltraumbestattung ziemlich teuer war, zumal Henri einen Einzelsatelliten für sich alleine buchen wollte. Offenbar hatte der im Leben eine Menge Geld verdient und gönnte es seinen Anteilnahme heuchelnden Anverwandten nicht, es statt ihm auf den Kopf zu hauen, vermutete Julius. Er bedauerte sehr, dass Laurentines Eltern sich so heftig gegen ihre Ausbildung in Beauxbatons gestellt hatten. Vielleicht hätte er den mit der Crossair-Maschine verunglückten Opa Laurentines kennenlernen können. Er wäre ja in der Muggelwelt nicht aufgefallen.
Julius empfand den Duotectus-Anzug schon lange nicht mehr als Beeinträchtigung. Das einzige, was er sicherstellen musste war, dass genug Wasser in den rauminhaltsvergrößerten Trinkbehältern innerhalb des Schutzhelms und genauso ausreichende Sättigungskekse vorhanden waren. Denn wenn er den Anzug einmal trug und damit unter Wasser war konnte er nichts von außerhalb des Helms in den Mund stecken. Wenn er musste konnte er in die im Anzug verarbeitete Reisewindel machen. Das kannte er auch schon und empfand es nicht als unangenehm.
Auf einem korallenroten Hippocampus ritt Julius von einem menschenleeren Strandabschnitt des Mittelmeers hinaus auf die See. Einen halben Kilometer vom Strand entfernt tauchte das Mischwesen, das vorne wie ein Pferd beschaffen war und statt der Hinterhand einen Fischleib mit langen Schwanzflossen besaß, hinab in das Meer. Der zu einer massiven, durchsichtigen Kugel gewordene Schutzhelm trotzte wie der restliche Anzug dem schnellen Druckanstieg. Es ging an die neunzig Meter in die Tiefe, bevor der Hippocampus die Schlagzahl seiner Schwanzflosse steigerte und mit seinem Reiter wie ein Torpedo durch das Meer brauste. Zwischendurch überholten Julius und der den Hippocampus lenkende Meermann namens Fundomario sogar Haie, die jedoch vor dem Reitertandem respektvoll auswichen. Vielleicht befahl Fundomario dem Raubfisch sogar auszuweichen. Meerleute konnten kaltblütige Meerestiere wie mit dem Imperius-Fluch unterwerfen und fernsteuern.
Julius hatte die Kolonie von Maritia und Undor schon so oft besucht, dass ihm die unterschiedlich geformten Felsblockbauten nicht mehr fremdartig erschienen. Die Ältesten der Kolonie, die blonde Nixe Maritia mit dem korallenroten Fischleib, und der Meermann Undor mit den braunen Zottelhaaren begrüßten Julius am Ortseingang der Unterwassersiedlung. Er sah junge, kräftige Wassermänner mit langen Stangen, an denen Ballen aus Seetang gesteckt waren. Er sah das bläuliche Glimmen in den Tangkugeln. Maritia hatte ihm erklärt, dass sie leuchtende Unterwasserpilze aus mehr als vierhundert Menschenlängen Tiefe ernteten, deren Licht bei feierlichen Anlässen eingesetzt wurde. Julius hatte zwar mal versucht, eine Unterwasserlampe aus mit genug Sonnenlicht aufgeladenen Feuerperlen mitzunehmen. Doch deren Licht gefiel den Meerleuten nicht, zu hell, zu heiß und irgendwie nie gleichbleibend scheinend.
Julius begrüßte Méridana, die weit nach ihrer Geburt von einer Hexe in eine Meerfrau verwandelt worden war. Die Verwandlung ließ sich nicht mehr umkehren, zumal Méridana bis heute nicht verraten wollte, wie sie als Hexe geheißen hatte. Julius hatte Ornelle zwar einmal vorgeschlagen, das US-Zaubereiministerium zu fragen, wen sie vermissten. Doch Ornelle hatte sehr entschlossen erwidert, dass er damit nur einen Schwarm beißwütiger Wichtel aufscheuchen oder in ein Nest von apfelgroßen Hornissen hineinstechen würde, wenn er die Leute von Minister Cartridge darauf brachte, dass eine wohl schon für tot und verschollen gehaltene Hexe für das französische Zaubereiministerium interessant sein mochte. Immerhin stand ziemlich sicher fest, dass Méridana in ihrem Leben vor dem Fischschwanz zu Anthelias geheimer Hexenschwesternschaft gehört hatte. Insofern hätte er auch gleich Anthelia/Naaneavargia fragen können, welche ihrer Mitschwestern sich für sie in eine Meerfrau hatte verwandeln lassen, um an Aiondaras magischen Krug heranzukommen. Daran lag ihm selbst jedoch am wenigsten.
"Gut, ich bin eher offiziell hier, Mademoiselle Méridana. Daher hoffe ich, dass Sie mir einige Fragen beantworten, von denen ich hoffe, dass diese nicht zu privat sind", setzte Julius so laut er sprechen konnte an. Méridana besaß als Meerfrau jedoch ein so feines Gehör, dass er auch im Flüsterton trotz Helm noch für sie verständlich gewesen wäre. Sie verstand jedoch, dass er auch zu den in fünfzig Metern herumschwimmenden Wassermenschen sprach, die den Besucher im sonnengelben Schutzanzug teils neugierig, teils mitleidsvoll, teils misstrauisch betrachteten.
"Fragen Sie bitte", willigte Méridana ein. Da kam auch Sirenion, ein blondgelockter Wassermann mit smaragdgrünem Fischschwanz und denselben jadegrünen Augen, wie Maritia sie besaß. Julius hätte ihn als Menschenmann auf gerade Anfang zwanzig geschätzt. Doch als er von Méridana erfuhr, dass sie selbst dreißig Jahre lebte und er bereits vierzig Jahre, erinnerte er sich daran, dass Meerleute ähnlich wie Vampire zehnmal so lange leben konnten wie freie Luft, festes Land und wärmende Sonnenstrahlen schätzende Menschen. Er erkundigte sich, wobei ein winziger Schallsammelbehälter in seinem Anzug alles aufnahm, ob Méridana eine Vorleistung hatte bringen müssen, um mit dem Sohn der Kolonieoberhäupter verheiratet werden zu dürfen. "Ich habe Maritia und Undor helfen können, einige Umbauten an den öffentlichen Gebäuden durchzuführen, die den Bauwerken mehr Erhabenheit und Schönheit gaben als die bisher bevorzugten Versammlungshöhlen. Außerdem hat mir Sirenion einen richtigen Heiratsantrag gemacht, wie ihn auch die Landmenschen machen", sagte Méridana.
"Und Sie stört es nicht, Sirenion, dass Ihre auserwählte bereits Mutter wurde?"
"Da sie nicht von meinem Vater oder einem meiner Brüder die beiden Meerlinge bekommen hat, die sie ja gleich nach dem Rausschlüpfen zu deren Vater zurückgeschickt hat, stört mich das nicht. Wir dürfen uns auch mit Frauen zusammensprechen lassen, die bereits Mutter wurden, solange sie nicht wem anderem zugesprochen sind. Davon hat Méridana nichts gesagt."
"Wäre ja noch schöner", knurrte Méridana. Ihr Französisch war gut. Aber Julius konnte immer noch den gewissen Akzent einer Bewohnerin der vereinigten Staaten heraushören.
Méridana war, das erfuhr er nun weiter, zu einer Unterwasserbaumeisterin und Innenraumgestalterin geworden, galt aber für Maritia auch als zukünftige Vermittlerin zwischen den Wasser- und den Landmenschen. Um das aber für alle anderen Wasservölker verbindlich abzusichern musste Méridana in Maritias Familie aufgenommen werden, was durch die Verheiratung mit dem alle anderen hier lebenden Wasserjünglinge überragenden Sirenion problemlos gelingen sollte. Julius erfuhr, dass Sirenion ursprünglich in das Königreich von Bathos im östlichen Mittelmeer geschickt werden sollte, um eine der dort lebenden Königstöchter zu umwerben, da Maritia und Undor gerne ein Bündnis aller Wassermenschenreiche im Mittelmeer herbeiführen wollten. Ihre zwei älteren Söhne hatten bereits in eine spanische und eine italienische Kolonie eingeheiratet. Die vor Griechenland gelegene Kolonie hatte angeboten, dem mediteranischen Meerleutebündnis beizutreten, aber nur, wenn Maritia, die einst selbst dort in die die Weltkugel umfließenden Wasser hinausgeschlüpfte Tochter eines Kriegers und einer Tiefensängerin, eines ihrer Kinder mit einem von König Bathos verheiraten und seinen Titel allwasserweite Majestät anerkenne.
"So haben Ihre Eltern der Verbindung zwischen Ihnen und Méridana nur deshalb zugestimmt, weil diese mehr Für die Zukunft Ihres Volkes erbringt als die Verheiratung mit einer Meeresprinzessin?" fragte Julius, der sich schon dachte, dass erwähnter König Bathos sicher nicht so erfreut über den Meinungswechsel bei Maritia und Undor war.
"meine Schwester Ichtheona wird König Bathos' jüngesten Neffen Heiraten, der in deren Tritonentruppe dient. Das entsprechende Zusammentreffen wird in zwei Monddwechseln ablaufen", sagte Sirenion dazu.
Julius erkundigte sich noch über den Ablauf der Zeremonie. Da es hier nur eine Verlobung und noch keine Hochzeit war, würden sich nur die Freunde und engsten Verwandten treffen und Méridana und Sirenion sollten sich auf dem Stein der Gemeinschaft und Eintracht sitzend gegenseitig Strähnen ihres Kopfhaares mit Korallenklingen abschneiden und einander um die Wurzel ihrer Schwanzflosse binden. Wenn sie dann heirateten sollte jeder eine weitere Haarsträhne um den Hals des Partners binden, bis die ersten beiden Kinder geboren waren. Danach würden es alle wissen, dass die Verbindung erfolgreich war und fortdauern konnte.
Julius nahm in einem aus Muscheln und Fischgräten zusammengezimmerten Wagen ohne Räder Platz, der über lange Seetangstränge mit vier Hippocampi bespannt war. Undor selbst lenkte das Gespann der blau-weißen Zaubertiere. Sein Sohn Sirenion saß in einem ähnlichen Unterwasserfahrzeug neben seiner Mutter und vor seinen älteren Brüdern mit deren Lebensgefährtinnen. Die zukünftige Braut wurde von sieben Meermädchen in einer aus Algen und Tang geflochtenen Hängematte getragen. Es waren die Hüterinnen des heiligen Steines, der den Frieden und Fortbestand der Kolonie symbolisierte.
Der Stein befand sich unter einem aus verflochtenen Grünalgen gebauten Zelt, das über zwölf Steinsäulen gespannt war. Die Säulen waren wie die Ziffern einer Zeigeruhr im Kreis angeordnet. Julius hatte diesen Ort bisher nur von außen besuchen dürfen, da er kein Wassergeborener war. Doch weil Undor ihm beim Durchfahren des acht Meter hohen Vorhangs einen Arm um den Brustkorb und seinen kraftvollen Fischschwanz um die Hüften legte, galt das Tabu wohl heute nicht. "Sie müssen so von mir festgehalten werden, solange wir unter dem Dach der Eintracht und des Fortbestandes sind, junger Mann", sprach Undor zu Julius. "Wenn Sie versuchen, sich von mir loszumachen stören sie den Frieden dieses Ortes und würden von Méridanas Trägerinnen sofort gefangengenommen, um weit außerhalb der Kolonie im Meeresgrund vergraben zu werden, wo Sie sicher irgendwann sterben müssten", sprach Undor noch eine Warnung aus. Julius verstand. Solange er mit einem wichtigen Meermenschen Körperkontakt hielt, galt er als Teil von diesem. Also war es nichts mit dem herumschwimmen in diesem Unterwassertempel.
Das Zeltinnere war in ein geisterhaftes, blau-grünes Licht getaucht, das gerade so hell war wie eine Sommerabenddämmerung nach Sonnenuntergang. Wie genau dieses Licht entstand konnte Julius nicht sehen, denn es schien gleichmäßig über die Wände und die Kuppel des Algenzeltes verteilt zu sein. Vielleicht, so vermutete er, kam es von phosphoreszierenden Einzellern, die die Landmenschen noch nicht kannten. Vielleicht war es aber auch eine Eigenschaft der benutzten Algensorte, das für den Eigenbedarf nicht mehr benötigte Licht wieder abzugeben. Falls das so war, würde das Camille sicher interessieren. Doch dieser Ausflug lag ja wie die Existenz von Méridana auf der Geheimhaltungsstufe S9 und durfte nicht mal soeben erzählt werden. Doch Julius hatte da seine Methode, alle ihm aufgetragenen Schweigegebote zu unterlaufen.
Das geisterhafte Unterwasserlicht beleuchtete eine von außen nach innen führende Spirale von runden Hockern aus geschliffenen Steinen, auf deren Oberfläche Kissen aus Tangfäden lagen. Der Boden senkte sich der Zeltmitte zu wie das innere einer großen, flachen Schüssel. Im Mittelpunkt ruhte ein zwölfeckiger Stein, der eine Grundfläche von um die vier Meter besaß. Julius erkannte sofort, dass dieser Stein jener welcher sein musste, der den Frieden und Fortbestand dieser Kolonie gewährte. Da Undor mit seinen feinen Wassermenschenohren zu nahe bei ihm war, um heimlich was in seinen Schallsammler zu sprechen, musste Julius sich jede Einzelheit so gut er konnte einprägen. Vor allem die Verzierungen in den zwölf schmalen Seitenflächen interessierten ihn. Doch weil Undor gerade auf einen Freien Platz außerhalb der spiralförmigen Sitzsteine zusteuerte und die Hippocampi dort auf den Boden sinken ließ, kam Julius nicht dazu, die Verzierungen genauer zu untersuchen. Dazu hätte er das ihm auferlegte Tabu brechen und sich aus Undors Umklammerung befreien müssen. Mit einem leisen Knirschen kam die räderlose Unterwasserkutsche auf den Boden auf und rutschte noch drei Meter weiter. Jetzt sah Julius die sieben Trägerinnen, die Méridana in ihrer Hängematte zum mittleren Steinblock trugen und sie dort behutsam auf den Stein selbst ablegten. Sie bewegte sich nicht. Sirenion entstieg seinem räderlosen Fuhrwerk und warf einem anderen Meermann die Führstränge seines Gespanns zu. Dann nahm er mit drei kräftigen Schwanzflossenschlägen Kurs auf die Mitte des Tempelzeltes. Sein Schwung hätte ihn sicher problemlos zum Stein getragen. Doch die sieben Nixen hatten wohl was dagegen, dass der Sohn der Häuptlingsfamilie von selbst auf den Stein turnte. Sie bildeten einen vorne geschlossenen Halbring um Sirenion und fingen ihn mit ausgebreiteten Armen ab. Er erstarrte sofort wie versteinert und ließ sich gefallen, wie drei der sieben Tempelnixen ihn zum Stein trugen und dort eine Armlänge von Méridana entfernt ablegten. Dann nahmen sie um den Stein Aufstellung und warteten. Da tauchten noch fünf weitere Nixen auf, die helle Ketten aus Muschelschalen um die Hälse trugen. Nun baute sich vor jeder der zwölf Seitenflächen des Steins eine der Tempelnixen auf. Dann begannen sie alle, mit einer sphärischen, ja schon hypnotisch wirkenden Stimme zu singen:
Wir rufen den Hüter von Frieden und Bestand!
Ein Jüngling erfleht eine Jungfrauenhand.
Nur wenn sie sich binden auf heiligem Stein,
so dürfen sie fortan versprochen sich sein."
Julius war schon versucht, das Lied des inneren Friedens anzuwenden, um sich der Kraft dieser Stimmen zu entziehen. Doch bevor er den Gedanken in die Tat setzte hörte das Lied auch schon auf. Andächtige Stille erfüllte das Algenzelt.
Undor winkte seiner Frau und seinem ältesten Sohn zu, die aus ihrem Unterwasserfuhrwerk stiegen. Zwar war er der Häuptling und somit der Gerufene. Doch mit einem hier nicht erwünschten und nur durch ihn festgehaltenen Landmenschen in der Umklammerung konnte er nicht schwimmen. Doch offenbar durfte seine Frau oder sein Erstgeborener ihn vertreten. Dann sah Julius noch eine Nixe, die vom Gesicht und Haar her Maritia glich, jedoch einen hellblauen Fischschwanz besaß und wohl auch um einige Jahre oder Jahrzehnte jünger war. Sie ähnelte Undors Sohn, dem Kronprinzen der Kolonie. Da Wassermenschenkinder immer als Zwillingspaar geboren wurden mochte die Nixe die Zwillingsschwester des Meerprinzen sein.
Maritia trat vor die zwölf Tempelnixen und bat für ihren Mann um Vergebung, da er eine große Aufgabe zu erfüllen habe, die ihn davon abhielte, seines Amtes zu walten und erbart als Mutter seines ersten Sohnes die Erlaubnis, dass dieser das feierliche Versprechen bezeugte.
Jetzt brachten zwei Tempelnixen mit Muschelketten je einen Dolch aus Korallen. Die im Zelt anwesenden fünfzig Meermenschen blickten gespannt auf den großen Stein und warteten. "Wollt ihr demnächst vereint sein und gemeinsames Fleisch und Blut hervorbringen, so trennt etwas von eurem Haar ab und umbindet damit das Schwimmende des jeweils anderen", sagte eine der Nixen. Die zweite fügte hinzu: "Versprecht euch mit Nennung des Namens, dass ihr euch nicht mehr anderen zuwendet, mit denen ihr euer Fleisch und Blut vermehren könnt, bis die Nacht des hellsten Mondes am Ende der längsten Nächte kommt!"
Unter einem neuen, sphärischen Gesang der zwölf Nixen trennten die beiden zukünftigen Ehepartner so vorsichtig sie konnten Stücke von ihren langen, im Wasser fließenden Haaren ab und banden sich davon was um die Wurzel ihrer Schwanzflosse. Méridana ging dabei am geschicktesten zu werke. Sie schaffte es, aus Sirenions nur halb so langen Haaren einen festen Strick zu flechten und diesen mit drei festen Knoten festzubinden. Sirenion riss einmal fast das abgeschnittene Haar seiner Zukünftigen kaputt. Erst nach dem dritten Anlauf bekam er es so festgebunden, dass es gut zu erkennen war und nicht durch Schwimmbewegungen abgestreift werden konnte. Dabei sagte er, dass er Méridana, die Spätgeborene, als die kommende Mutter seiner Kinder annehmen und ihr Schutz und Beistand geben wollte. Sie versprach Sirenion, dem Festhalter des Wassers, beim letzten Wintervollmond das Versprechen zu geben, die Mutter seiner Kinder zu werden und ihm in allem beizustehen, was er in seinem Leben zu ertragen hatte. Für jeden uneingeweihten Beobachter hätte diese Zeremonie auch eine Hochzeit sein können. Doch Julius hatte bei seinen Erkundigungen eben erfahren, dass die Hochzeit nicht nur mit allen Bewohnern eines Ortes gefeiert wurde, sondern auch, dass nach dem Anbinden von weiteren Haarsträhnen um den Hals der Brautleute diese auf dem Stein die Ehe vollziehen sollten. Wenn die Braut sozusagen öffentlich vom Mädchen zur Frau gemacht worden war, würden auch die bereits miteinander lebenden Paare ihrem Beispiel folgen. Julius war sich sicher, bei dieser Zeremonie nicht dabei sein zu dürfen.
Als die Tempelnixen den Sitz der Haarsträhnen geprüft hatten und nickten, trugen zwei andere von ihnen als vorher die zeremoniellen Korallenklingen wieder fort. Womöglich gab es eine Art Kasten oder Schale, in dem die Klingen verwahrt wurden, ähnlich einer Monstranz in katholischen Kirchen oder einem Schrein.
Die nun einander versprochenen Meermenschen wurden wieder von dem Stein heruntergehoben und über die Köpfe der anwesenden Verwandten hinweggetragen. Außerhalb der Sitzsteinspirale gaben die Tempelnixen sie wieder frei. Nun durfte die Braut mit eigener Kraft weiterschwimmen.
Undor wartete, bis Méridana zu ihm und Julius in das Fuhrwerk gestiegen war. Dann trieb er seine vier Hippocampi an, loszuschwimmen. Die magischen Wassertiere schlugen so kräftig mit den Schwanzflossen, dass Julius die dabei erzeugten Wellen gegen sich anbranden fühlte. Doch Undor hielt ihn immer noch umklammert, bis die in das gewaltige Algenzelt gelenkten Gespanne dieses wieder verlassen hatten. Erst dann gab er den zweibeinigen Gast vom festen Land frei. Die im Heiligtum zurückbleibenden Nixen sangen ihnen allen noch ein mehrstimmiges Lied hinterher, dessen Text Julius jedoch nicht genau hörte, weil die frei schwimmenden Meerleute das Wasser so heftig durchpflügten, dass die Worte buchstäblich fortgespült wurden.
"Darf ich fragen, warum wir es jetzt so eilig haben?" fragte Julius Undor, der seinen Hippocampi heftige Antreibekomandos gab.
"Weil wir jetzt so oft über unsere Siedlung hinwegfahren müssen, wie es Monde im Sonnenkreis gibt", sagte Undor und rief noch einmal ein lautes Komando. Die frei schwimmenden Wassermenschen fielen immer weiter zurück. Nur die Unterwassergespanne der Häuptlingsfamilie blieben beieinander.
"Wenn ich das vorhin richtig verstanden habe wird bei der eigentlichen Verbindung gleich auf neue Kinder hingearbeitet", setzte Julius an, während das Gespann in eine enge Kurve hineingesteuert wurde.
"Wie bei diesen fiktiven Außerirdischen, die Gedanken lesen und übermitteln können, die nur unbekleidet Hochzeit feiern", sagte Méridana. "Nur mit dem Unterschied, dass statt eines Walzers, den alle Gäste mit dem Paar tanzen dürfen, alle Gäste, sofern schon nach hiesiger Sitte verheiratet, miteinander Liebe machen und ... Ui!" Méridana konnte sich und Julius gerade noch festhalten, um nicht aus dem plötzlich nach vorne und unten sackenden Fahrzeug geschleudert zu werden. Denn ihr zukünftiger Schwager hatte sein Gespann, dass er außerhalb des Zeltes geparkt hatte, im halsbrecherischen Tempo über das Gespann seines Vaters hinweggesteuert.
"Wohl von den wilden Wassern geschüttelt, wie?!" rief Undor seinem Sohn nach. "Es ist klar wie frischer Regen, dass du mit einer auf ruppigen Umgang vertrauten Familie verbunden bist!" rief er noch.
"Glauculus hat vor zwanzig Jahren ein Meermädchen aus der Balearenkolonie geheiratet. Deren Brüder nehmen nur wilde Machos für voll", erklärte Méridana.
"Haben Sie dessen Familie schon kennengelernt?" fragte Julius.
"Das wird mir erst bevorstehen, wenn ich mit Sirenion die richtige Hochzeitsfeier erlebe", seufzte Méridana. Dann merkte sie aber, dass Julius wohl diesen Tonfall für trübselig halten mochte und fügte belustigt klingend hinzu: "Laut Maritia ist meine künftige Schwippschwägerin eine zwei Normallängen große Nixe mit nachtschwarzer Mähne und dem Fischkörper wie von einem großen, weißen Hai."
"Die werde ich wohl dann nicht kennenlernen, da ich ja nicht ohne Körperkontakt mit einem Meermenschen in das Tempelzelt darf", sagte Julius.
Wie Undor angekündigt hatte ging es dreizehnmal rund um die Siedlung herum. In anderen Kolonien wurde diese Art von Brautvorführung über den ganzen Tag verteilt, da die Ansiedlungen größer waren. Überall, wo sie entlangglitten jubelten ihnen Meerleute auf den kuppelförmigen Dächern ihrer Wohnbauten zu.
Als die dreizehnte Umrundung vollendet war, so viele Mondwechsel es in einem Sonnenjar geben konnte, brachte Undor sein Fuhrwerk mit den nun vor Anstrengung schlingernden Hippocampi zurück zu seinem großen Wohnbau. Da die Braut eben nur eine Braut und noch keine Angetraute war, durfte sie zwar mit ins aus Steinen errichtete Gebäude hinein. Doch sie durfte nicht in die für Familienmitglieder bestimmten Räume. Julius erging es nicht besser. Er fragte noch, ob die Meermenschen groß feierten.
"Nicht das ich wüsste. Ich soll nur hier warten, um meine künftigen Verwandten kennenzulernen. Das gehört wohl nicht mehr zur eigentlichen Zeremonie", sagte Méridana. Julius fasste es so auf, dass er wohl nicht mehr lange hierbleiben sollte. Doch wenn sie wollten, dass er ans Land zurückkehrte sollte Undor oder Maritia ihm das bitte sagen.
Tatsächlich durfte Julius der nun folgenden Einzelvorstellungsrunde der hier lebenden Verwandtschaft beiwohnen. Allerdings durfte er dabei kein Wort sagen und sich auch nicht von dem ihm zugewiesenen Hocker mit Algenkissen erheben. So nutzte er die verordnete Ruhepause, um von seinen Trinkwasservorräten zu trinken und einen der salzstangenartigen Sättigungskekse aus dem Vorratsröhrchen zu ziehen, was durch den großzügigen Raum, den der Helm bot, kein Problem war. Julius fühlte nur, dass sich seine Blase leerte. Mehr fühlte er nicht dabei.
Drei Stunden dauerte die Vorstellungsrunde. Julius kam sich vor wie im Château Florissant bei den Eauvives. Nur der sein Gewicht weitgehend aufhebenden Umgebung verdankte er, dass er nicht stocksteif wurde. Dann endlich verließen alle Verwandten den Gästesaal wieder und schwammen in ihre eigenen Bauten zurück. Undor und Maritia erlaubten Julius nun, sich wieder zu bewegen und Fragen zu stellen, falls er noch welche hatte. Er fragte deshalb, ob er irgendwie bei der Hochzeitszeremonie anwesend sein sollte, oder ob er es nur berichtet bekommen würde. Maritia und Undor warfen sich einen neckischen Blick zu. Julius sah, wie Maritias Fischleib leicht zu wippen begann. Dann sagte die Meerfrau:
"Üblicherweise müssen unangetraute Männer und Frauen während der heiligen Vereinigung der neuen Gefährten und ihrer Zuschauer in ihren Bereichen des Ortes der erhabenen Vorgänge bleiben. Außerdem dürfen Landmenschen nicht freibeweglich in unsere geheiligte Stätte vordringen. Ich werde es mit Undor und den Hüterinnen des Steines beraten, ob Sie als Vertreter der Landmenschen bei der eigentlichen Zusammensprechung dabei sein dürfen und wenn ja, wo genau. Aber weil das erst am letzten hellen Mond der Zeit der langen Nächte sein wird ist ja noch Zeit." Julius machte eine bejahende Geste. Dann durfte er sich von allen Verabschieden, die seine Anwesenheit erbeten und erlaubt hatten. Der Hippocampus, der ihn vorhin in diese Unterwassersiedlung getragen hatte, brachte ihn auch wieder zum französischen Mittelmeerstrand zurück. Dort angekommen öffnete Julius den sich wie eine Silberfolie in seinem Nackenteil zusammenfaltenden Helm und holte seinen Zauberstab aus der gesicherten Außentasche, in der nicht der Umwelt auszusetzende Dinge mitgeführt werden konnten. Nun konnte er in das Ministeriumsfoyer zurückapparieren. Er brachte den ausgeliehenen Anzug in das Ausrüstungslager zurück. Er musste schriftlich angeben, dass er die eingearbeitete Reisewindel zwei mal benutzt hatte. Das so wichtige Zubehör würde dann wohl gegen eine frische Einlage ausgetauscht, sofern Julius den Anzug nicht gleich morgen oder übermorgen wieder anziehen sollte.
Wieder in seinem Büro schrieb er sich alles auf, was er sich hatte merken können und übertrug die in den Schallsammler gesprochenen Bemerkungen auf Pergament. Damit brachte er noch einmal drei Stunden zu. Als er fertig war und seine Mitschriften korrekturgelesen hatte sagte er zu Ornelle:
"Es war auf jeden Fall eine sehr interessante Erfahrung, die ich gemacht habe."
"Ich fürchte, Hémera, meine Nichte könnte eifersüchtig auf dich werden, wenn sie erfährt, dass du einer Eheanbahnung zweier Meerleute zusehen durftest", sagte Ornelle. Da Pygmalion zwei Überstunden abfeierte und deshalb schon vor zwei Stunden gegangen war, war sonst niemand hier, der ihre Vertraulichkeit mitbekam.
"Die wird sicher auch sowas mitbekommen, wenn wir wieder mehr Vertrauen von den Meerleuten bekommen sollten."
"Auf Martinique? Du glaubst wohl an den selbst zaubernden Zauberstab oder Hauselfen mit leuchtenden Nasen, wie?"
"Auch wieder wahr", grummelte Julius. Die Situation zwischen den Zauberern von Martinique und der davor liegenden Meermenschenkolonie war seit der Befreiung Méridanas und der Rückführung von fünf ertrunkenen Ministeriumszauberern immer noch angespannt. Das würde sich auch nicht ändern, solange Louvois der Stellvertreter Grandchapeaus auf der Karibikinsel war.
Julius wunderte sich nicht schlecht, Laurentine im Apfelhaus zu treffen. Ihr durfte er leider nichts von seinem Ausflug erzählen. Sie hatte für Millie und Julius was mitgebracht, kleine Plastiktüten mit Julius' fremden Geldmünzen. Eine von den fremden Münzen war auffällig gezähnt, andere Münzen wiesen abgerundete Hubbel auf oder waren mit sehr feinen Einprägungen gerändert. "Das ist ein Starter-Set für den Euro", sagte Laurentine. "Catherine und ich haben uns die gestern von der Bank geholt, wo ich mein Muggelgeldkonto habe. Catherine hat erzählt, sie bräuchte noch eins für ihr zweites Kind in der Schule, da sie dort nicht einfach so zur Bank durften. Deshalb haben wir insgesamt fünf, für Joe, Catherine, Claudine und mich, und eines für euch zwei beiden. Wenn die Verabschiedung von Opa Henri überstanden ist, werde ich mit meinem Set das neue Geld der magielosen Welt erklären und erzählen, warum es jetzt eingeführt wird", sagte Laurentine. Julius bedankte sich. Zwar wusste er, dass seine ehemaligen Landsleute auf den britischen Inseln am guten alten Pfund festhalten würden, obwohl sie auch den Euro einführen durften. Aber da er hauptsächlich in Frankreich lebte war ihm das schon wichtig, wie die von diversen Staaten angestrebte Gemeinschaftswährung aussah.
"Wir müssen nur aufpassen, dass Rorie keine der Münzen runterschluckt", sagte Millie, die die neuen Münzen genauer betrachtete. Julius jonglierte im Kopf mit den Umrechnungsgrößen, wie viele Franc auf einen Euro gingen. Ab Januar würde es auch die Banknoten geben. Da Julius keine Kredit- oder Scheckkarte hatte konnte er dieses Geld dann wohl erst Wochen später bei den Kobolden von Gringotts erhalten, wenn diese Gold oder Edelsteine in die neue Gemeinschaftswährung umgetauscht haben würden.
Als Laurentine wieder in ihren Kamin in der Rue de Liberation 13 zurückgeflohpulvert war lagerte Julius seine Erinnerungen an den Ausflug zu den Meerleuten in das Denkarium aus. Er wusste nicht, wie er Camille diese Erinnerungen vorführen sollte. Denn er war sich sicher, dass sie vor allem die geheimnisvolle Lichtquelle im Tempelzelt interessierte. Außerdem mochte sie auch aus anderen Gründen Interesse am Leben der Meerleute haben, Gründe, die Julius nur erahnte, aber bisher nicht von ihr erwähnt bekommen hatte.
Millie präsentierte ihm vor dem Schlafengehen noch eine Blumenvase mit Wasser, in der vier dünne Zweige steckten. "Die habe ich von einem Kirschbaum auf Tante Babs' Hof abgebrochen - nicht dem ganz großen -, weil ich wissen will, ob das echt geht, dass die Weihnachten blühen", sagte Millie. Julius grinste.
Die Mitternachtsgarde, das waren zwanzig körperlich starke, in Neumondnächten zu ihrem zweiten Leben erwachte Söhne der Nacht. Einen Monat nach der Einberufung ihrer ersten Gesandten war es Gooriaimiria gelungen, diese zwanzig Neumondvampire unter ihren Willen zu zwingen. Nun war die Zeit gekommen, sie gegen ihren erklärten Erzfeind auszustatten.
Gooriaimiria beobachtete durch die Augen von Nyctodora, wie diese jedem der zwanzig sie um mindestens einen Kopf überragenden Vampire erst ein wenig ihres weißen Blutes entnahm, um es dann als ein aschgraues Serum wieder in den Körper zurückzupumpen. Jetzt galt es, dachte die schlafende Göttin. Würden die Mitternachtsgardisten an dieser Injektion sterben wie ihre Boten, die versucht hatten, einen Diener Vengors leerzusaugen? Eine Minute verging. Dann war es, als würden die ersten geimpften unter schnell erfolgenden Stromschlägen gepeinigt. Sie stießen laute Schreie aus. Die anderen Gardisten wollten sich auf Nyctodora stürzen. Doch Gooriaimiria konnte sie noch zurückrufen. Dann hatten alle eine Dosis des mit dem Kristallstaub versetzten Eigenblutes erhalten. Die wilden Zuckungen der ersten Geimpften ließen endlich nach. Jetzt konnte Gooriaimiria sehen, dass sich die Haut der Präparierten immer dunkler gefärbt hatte. Um die Körper der Geimpften entstand eine schwarze Aura, die aussah, als wären sie in Mäntel aus rußigem Rauch eingehüllt. Dann erkannte Gooriaimiria, dass die Umgewandelten versuchten, sich aus der Unterwerfung zu lösen. Doch ein kurzer Gedankenimpuls Gooriaimirias reichte, um sie wie Bäume im Sturm niederzustrecken. Die Verbindung zu ihnen war ungleich stärker geworden. Sie fühlte förmlich jeden einzelnen Körper, als sei es ihr eigener. Nun erhoben sich die Verwandelten langsam wieder. Sie folgten nun Gooriaimirias befehlen.
"Eure Feinde sind die Träger der weißen Masken. Sie tragen die Quelle des Todes und der dunklen Kraft in sich. Ich werde euch zu ihnen führen, damit ihr ihnen diese Kraft aus dem Leib saugt und dadurch erstarkt", schickte Gooriaimiria an ihre neue Sondertruppe. Dann versetzte sie Nyctodora aus der Höhle, wo die Solexfolien gelagert worden waren, in ihren Wohnturm bei Athen zurück. Sie hatte ihre Aufgabe erfüllt. Gooriaimiria wollte erst einmal nur diese zwanzig Umgewandelten behalten. Bewährten diese sich, konnte sie immer noch mehr Unlichtkristallstaub herstellen lassen. Versagten sie oder entglitten ihr doch noch, so sollten es die einzigen zwanzig bleiben.
Am sechsten Dezember, der in vielen Ländern dem heiligen Nikolaus gewidmet war, reiste Julius mit Léto und Apolline Delacour nach England, um Fleur und ihre Familie im Strandhaus Shell Cottage zu besuchen. Zwar galt Julius nur als Vermittler der französischen Verwandtschaft Létos. Doch da Fleur die einzige Viertelveela auf den britischen Inseln war hatten Shacklebolt und Grandchapeau seine Befugnisse auch auf sie und ihre Tochter Victoire ausgedehnt.
"Ist nicht einfach, mit den Artgenossen meiner Schwiegeroma klarzukommen, wie?" fragte Bill Weasley, der sich für diesen Tag freigenommen hatte, um den Gast aus Frankreich zu begrüßen. Denn er hatte natürlich von seinem Vater erfahren, dass Julius den Schlangenmenschenansturm auf Beauxbatons beinahe mit seinem natürlichen Leben bezahlt hätte. Da Bill vom halbwahnsinnigen Werwolf Greyback mehrmals ins Gesicht gebissen worden war, waren sie beide also etwas wie Leidensgenossen, auch wenn Julius keine Verunstaltung zurückbehalten hatte.
"Ihre Schwiegergroßmutter hat mich nur gewarnt, ich solle keine Ehrenschulden bei ihrer Schwester in Russland machen, weil die das sonst ausnutzen würde, mich meiner Frau abspenstig zu machen."
"Ich habe Sarja leider noch nicht kennengelernt", sagte Bill Weasley. "Vielleicht bei der Sickelhochzeit", fügte er noch hinzu und grinste über sein von gezackten Narben verunziertes Gesicht.
Julius unterhielt sich mit Fleur über Victoire, die auf den Tag genau so alt wie seine Tochter Aurore war. Fleur fragte ihn, ob er bereits Euphrosyne Blériot kennengelernt habe. Julius erwähnte ihr gegenüber, dass diese sich immer noch vor Léto und ihm verborgen hielt, als habe sie etwas angestellt oder führe etwas im Schilde, was er als Ministeriumsbeamter und Léto als ihre älteste Anverwandte nicht erlauben würden.
"Wenn meine Großmutter Ihnen einiges von dem erzählt, was sie so kann wissen Sie sicher, dass meine Verwandten sich vor anderen, die nicht ihr Geschlecht oder ihr Blut im Körper haben verstecken können. Ich hörte nur etwas, dass Euphrosyne sich sehr genau nach den Lebensgewohnheiten der Muggelwelt erkundige."
"Das war das einzige, womit ihre Mutter, Ihre Tante Églé, aufwarten konnte", sagte Julius. "Ich werde wohl nach Weihnachten noch einmal mit Ihrer Schwester sprechen, ob stimmt, dass ihre Cousine sich für prominente Muggel interessiere."
"Gabrielle hat im Moment ganz andere Sorgen", kicherte Fleur. "Sie will ja diesen Muggelstämmigen Pierre auf den Besen rufen. Da könnten Sie sehr viel Überzeugungskraft nötig haben", sagte Fleur lächelnd. Julius hatte vorsorglich mit dem Lied des inneren Friedens seinen Verstand geschützt. Früher wäre er wohl bei diesem Lächeln wie Wachs in der Kerzenflamme dahingeschmolzen.
Julius besprach mit Fleur und ihrer Mutter, wie sie mit ihm in Kontakt bleiben konnten, falls etwas anstand, was die hiesigen Ministerialzauberer und Hexen nicht regeln konnten. Dann unterhielt er sich mit Bill über dessen Arbeit bei Gringotts.
"Sie kennen ja Plinius Porter von seiner Tochter Gloria her. Seit dem dunklen Jahr darf der nur noch über Eulenpost mit den Kobolden verkehren und wird immer wieder in ganz gefährliche Gegenden unter Tage reingeschickt. Ich fürchte, die hoffen darauf, dass er dabei mal eine Sekunde zu spät disappariert. Die haben das nicht vergessen, dass er ohne deren Erlaubnis das Land verlassen hat. Mir zwar auch nicht. Aber im Gegensatz zu ihm habe ich ja nicht den Kontinent gewechselt."
"Dann hoffe ich mal, dass Gloria nicht nach ihrer Großmutter noch ihren Vater betrauern muss", seufzte Julius. Er zweifelte nicht daran, dass die Kobolde so hinterhältig waren, Plinius Porter auf ein Himmelfahrtskommando nach dem anderen zu schicken und sich dabei hemmungslos zu bereichern.
"Und, werden Sie demnächst auch Onkel?" fragte Julius, nachdem er und Bill sich lange über allgemeine Themen unterhalten hatten.
"Solange meine kleine Schwester noch für die Harpyis Quaffel jagt will sie von ihrem Mann noch keinen Quaffel unter den Umhang bekommen. Charlie ist mit dem Hüten von Drachenbabys voll ausgelastet. Percy will erst in vier Monaten Penny Clearwater heiraten, wenn sie aus den Staaten wiederkommt, wo sie eine Zusatzausbildung im Hexeninstitut von Salem durchlaufen hat. Ob die beiden dann noch wissen, wozu Mann und Frau ihren kleinen Unterschied haben weiß dann wohl nur Merlins Geist. Tja, und George hält sich gerade so damit über Wasser, dass er den Scherzartikelladen gut in Schwung hält. Zwar hat ihm seine Angestellte Verity Whitesand schon zwei von ihren Cousinen vorgestellt. Aber George lebt nur für den Laden, weil er das Fred schuldig sei, sagt er immer. Ob Ron mich irgendwann mal zum Onkel macht weiß ich nicht und will ihm da auch nicht dreinreden, nachdem ich mitbekommen habe, wie stark eine werdende Mutter von einem Gefühl ins andere plumpsen kann."
"Die Frage war vielleicht auch ein wenig indiskret", leistete Julius eine gewisse Abbitte.
"Nicht unbedingt, weil Sie natürlich die Verwandtschaft meiner Frau und meiner Tochter im Blick behalten müssen, wer da was und wie hinbekommt und wer da bei wem und wann genau dazukommt", erwiderte Bill.
"Jedenfalls wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie mehr Frieden als Stress", sagte Julius und bat Bill noch, seinen Vater zu grüßen.
"Der wolte mir bis heute nicht erzählen, wer die beiden Kinder Ashtarias sind, mit denen Sie diese zweite Abgrundsschwester erledigt haben."
"Das kann er auch nicht, weil meine Frau und ich diese Information zum magisch geschützten Familiengeheimnis erklärt haben", offenbarte Julius. "Nur meine Frau oder ich können das erzählen, ohne dazu gezwungen zu sein. Ist so wie bei Fidelius, nur umfangreicher und kann mehrere Geheimsachen zugleich betreffen."
"Gut, dann lasse ich das mit den drei Flaschen Feuerwhisky doch besser sein. Dad hat mal im Scherz behauptet, dass er die Namen wohl nur nach drei geleerten Feuerwhiskyflaschen rausrückt", sagte Bill.
Zusammen mit Apolline und Léto ging es wieder zurück nach Frankreich. Wie auf dem Hinweg benutzten sie einen ministeriellen Portschlüssel, der rein äußerlich wie ein zerfleddertes Geschirrtuch aussah.
Als Julius sich von Léto und Apolline verabschiedete fiel ihm auf, wie leer das Ministeriumsfoyer war. Um diese Zeit mussten die ersten doch schon auf dem Weg nach Hause sein. Er fuhr mit einem der Aufzüge zur Etage seiner Abteilung hinauf. Dort traf er Ornelle in ihrem Büro. Pygmalion Delacour war nicht da.
"Ich dachte, mir liefen alle über den Weg, wenn ich zurückkomme."
"Vor einer halben Stunde gab es Großalarm. Jemand hat in der Nähe von Bordeaux Dämonsfeuer entfesselt, das einen ganzen Wald und die angrenzende Ansiedlung heimsuchte. Die ganzen Außentrupps sind deshalb ausgerückt und haben sogar die Kollegen aus dem Innendienst mitgenommen, die sich mit der Abwehr dunkler Kräfte und Gedächtnisbezauberungen auskennen. Wer immer diesen heimtückischen Zauber ausgeführt hat muss eine Menge Zerstörungswut in diese Untat hineingelegt haben."
"Julius erinnerte sich an die Schulstunde, wo er gelernt hatte, Dämonsfeuer niederzukämpfen. An und für sich war dies einfach. Doch wenn die aus dunklem Feuerzauber entstandenen Flammenungetüme zu viele wurden oder genug Platz zum ausweichen hatten wurde es wortwörtlich brandgefährlich.
"Um was darf gewettet werden, dass der Mann mit der grünen Maske das angestellt hat?" fragte Julius.
"Um gar nichts, da zwischen Ministeriumsangehörigen nicht gewettet werden darf", schnarrte Ornelle. "Außerdem fürchte ich, dass ich so eine Wette haushoch verlieren würde, wenn ich wen anderen für diesen Anschlag beschuldigen würde." Julius fragte noch einmal wo das war. Dann sagte er aus einem Anflug von Fürwitz und Geistesblitz:
"Der wollte alle Ministeriumszauberer an einen Ort zusammentreiben, damit er anderswo was anstellen kann. Die Sache mit den Lichtwächtern in Deutschland hat ihm sicher gezeigt, wie wichtig ein Ablenkungsmanöver ist."
"Was du nicht sagst, Julius", grinste Ornelle verächtlich. "Genau das hat Minister Grandchapeau auch sofort gesagt. Hilft aber nichts, wenn Dämonsfeuer im Spiel istund bereits genug Abkömmlinge entstanden sind, um alle Ministeriumszauberer und -hexen auf sich zu ziehen."
"Soll ich da auch noch hin, Ornelle?"
"Nein, darfst du nicht, weil der Minister dich persönlich sprechen möchte, sobald ich dich über die Lage im Ministerium aufgeklärt habe, was ich hiermit gerade vollendet habe", sagte Ornelle. Dann deutete sie auf die Tür. Julius verstand.
Der Zaubereiminister öffnete ihm sofort die Tür, als Julius auf der Chefetage angekommen war.
"Sie wurden umfangreich über den Großalarm unterrichtet?" fragte der Minister. Julius nickte.
"Gut, zuerst soviel: Wir müssen davon ausgehen, dass dieser Vengor das Dämonsfeuer entfacht hat, um anderswo ungestört eine weitere Untat verüben zu können. Wo das sein soll wissen wir nicht. Ich habe alle nicht für Dämonsfeuerbekämpfung ausgebildeten Mitarbeiter zu ihren Familien geschickt, um diese zu beschützen, sollte Vengor dort auftauchen. Außer Millemerveilles und die Châteaus Florissant und Tournesol gibt es wohl keinen wirklich sicheren Ort in Frankreich."
"Und wenn er das Ministerium heimsucht, um Sie oder sonst wen zu töten?" fragte Julius.
"Werde ich in dem Moment an einen geheimen Ort verschickt, indem jemand mit Mordabsichten diese Etage betritt. Ich habe Sie nur deshalb zu mir gebeten, um von Ihnen eine Vermutung überprüfen zu lassen. Die Abwehrkraft, die Vengor aufbietet, könnte sie durch eine Inkorporation dieses fremdartigen Kristalls ermöglicht werden, den er aus den Trümmern in New York entnommen hat?"
"Sie meinen, dass er den Kristall oder Spuren davon in seinen Körper aufgenommen hat, verschluckt oder in Pulverform in seine Blutbahn gespritzt hat? Halte ich leider für möglich. Aber um ein Pulver herzustellen müsste dieser Kristall wohl für Werkzeuge wie Schaber und Schleifgeräte bearbeitbar sein. Wenn das Ding aber härter als Diamant ist ginge das nur ..."
"Mit einem gleichartigen Kristall als Schleifhilfe", grummelte der Minister. "Aber sie halten es für möglich, dass er daran nicht stirbt?"
"Da müsste ich mehr über den Kristall wissen. Aber wenn der in der Hand eines dunklen Magiers so wirkt wie der Zauber Schwarzer Spiegel, dann könnte das auch für einen in den Körper aufgenommenen Kristall oder Kristallstaub gelten. Ob das Zeug giftig ist weiß ich nicht. Vielleicht schädigt es dann nicht den Körper, sondern Geist und seele des Trägers."
"Gut, mehr wollte ich von Ihnen nicht hören, auch wenn ich es eigentlich nicht hören wollte", seufzte der Minister. "Am besten kehren Sie jetzt in Ihr Haus zurück und bleiben dort bei Ihrer Familie. Mir kann hier im Ministerium nichts passieren", sagte Grandchapeau.
"Ihre Gattin ist in Sicherheit?"
"Ja, meine Gattin, meine Tochter und ihre Familie. Wo genau ist ein Fidelius-Geheimnis", erwiderte der Minister. Julius erwiderte noch, dass Ornelle allein im Büro saß und wartete.
"Verabschieden Sie sich von ihr und reisen Sie nach Hause!" befahl der Minister.
Julius war nicht so recht wohl dabei, einfach so zu verschwinden. Doch jede andere Aktion wäre ihm glatt als Befehlsverweigerung ausgelegt worden. So befolgte er Grandchapeaus Anweisung.
"Hattest du ein Glück, dass du da gerade bei Fleur warst", grummelte Millie, als Julius ihr erzählte, was los war. Auch in Millemerveilles war Sicherheitsalarm ausgelöst worden. Zwar gingen alle davon aus, dass Vengor ebensowenig durch Sardonias Abwehrdom brechen konnte wie Voldemorts Schlangenkrieger. Doch sie wollten auf jeden Fall bereit sein.
"Laurentine ist bei den Brickstons?" fragte Julius. Millie nickte bestätigend.
"Irgendwie passt mir das nicht, einfach so abzuwarten", sagte Julius.
"Ja, wissen die alle im Ministerium. Deshalb war Grandchapeau sicher froh, dass du nicht verfügbar warst. Lass den Typen erst mal im Glauben, dass er mit dem, was ihm dieser böse Geist einflüstert, den Temmie als ihren Erzfeind bezeichnet hat, problemlos herumfuhrwerken kann. Solange keiner weiß, wer hinter der Maske steckt, würde es nur was bringen, diesen Irren totzufluchen."
"Was offenbar nicht geht. Wer das versucht könnte sich gleich selbst totfluchen", grummelte Julius. Millie stimmte ihm zu.
Die Stimmung wurde nicht besser, auch als Aurore mit ihrem Vater spielte.
"Eine stunde nach seiner Heimkehr tauchte Ornelle Ventvits Kopf im Kaminfeuer der Wohnküche auf. Ornelle sagte nur: "Ich wollte euch mitteilen, dass der Großeinsatz vorbei ist. Weiteres betrifft nun die Desumbrateure und die Vergissmichs. Nur damit ihr wisst, dass das große Feuer keinen Schaden mehr anrichten kann."
"Gut, danke für die Mitteilung, Mademoiselle Ventvit. Ich hoffe, Sie haben trotz der schlimmen Sache noch einen erholsamen Abend."
"Ich bin froh, dass Madame Adrastée Ventvit den Einsatz überstanden hat und wieder zu ihrer Familie hindarf", sagte Ornelle. Doch Julius hörte ihr eine gewisse Trübsal an, die nicht zu ihren Worten passte. Doch ehe er nachhaken konnte, was Ornelle derartig erschüttert hatte ploppte es, und im Kamin prasselte nur das muntere Feuer.
"Die hat dir nicht alles erzählt, Monju. Ich konnte der ansehen, dass ihr das nicht recht war, dass ich in der Küche war. Aber mich aus meiner eigenen Küche verjagen darf sie nicht."
"Ich denke auch, dass sie mehr weiß. Aber wenn sie sagt, dass das nur die Desumbrateure was betrifft, dann muss ich das erst einmal so hinnehmen, solange ich nicht bei denen mitglied werde."
"Das verbiete ich dir, Monju!" Schnarrte Millie unvermittelt gereizt. "Du hast hier auf Aurore und Chrysope mit aufzupassen. Schon schlimm genug, dass du in Ornelle Ventvits Büro mit gefährlichen Zauberwesen zu tun bekommst. Aber wenn du meinst, ich würde mir das ansehen, wie du laut singend diesem neuen Irren in den Zauberstab reinspringst, dann irrst du dich aber gewaltig. Im Zweifelsfall binde ich dich mit Walpurgisnacht-Ringen an mir fest und schreibe nur von Zuhause aus für die Temps."
"Oder ich fange doch in der grünen Gasse an oder übernehme Laurentines Job", brummelte Julius. Die Vorstellung, mit einem durch ein bösartiges Material zum Überhexenmeister gewordenen Irren kämpfen zu müssen behagte ihm nicht. Vielleicht war der Typ jetzt genauso gegen die meisten Zauber immun wie Skyllians Schlangenmenschen. Nein, er würde ihn nur bekämpfen, wenn der ihm unmittelbar gegenübertreten würde und Julius nicht flüchten konnte, ohne ihm wichtige Menschen oder Tierwesen zu gefährden. Dann und nur dann wollte er es mit Vengor aufnehmen, und vielleicht auch dann, wenn er herausbekam, wie die Macht eines dunklenKristalls überwunden werden konnte.
Anthelia hatte alle US-amerikanischen Mitschwestern zu einer Versammlung einbestellt. Dabei war auch Beth McGuire, die offizielle Sprecherin der entschlossenen Schwestern Nordamerikas. Sie besprachen gerade die Möglichkeit, mit Minister Cartridge einen neuen, diesmal besser gegen Veröffentlichungen abgesicherten Stillhaltepakt zu schließen, als eine aufgeregte Stimme auf Französisch durch die Villa rief: "Alarm, Dämonsfeuersbrunst bei Bordeaux. Alle Außendienstmitarbeiter im Einsatz!" Das war Lavinie Descartes, die Nichte des Ausbildungsleiters in Frankreich. Anthelia apparierte ohne weiteres Wort in der Empfangshalle und stellte die angekommene Mitschwester zur Rede. Dabei erfuhr sie, dass eine nur von Magielosen bewohnte Ansiedlung bei Bordeaux von hunderten von Dämonsfeuerausgeburten umzingelt war und jederzeit von diesen eingeäschert werden konnte. Es hatte zehn Minuten gedauert, die Alarmbotschaft von fünf verteilten Spürsteinen für dunkle Zauber zu einem Standort zusammenzufassen.
"Da wohnt niemand, der für die magische Menschheit wichtig oder gefährlich ist?" fragte Anthelia.
"Überhaupt kein Zauberer oder keine Hexe", erwiderte Lavinie.
"Dann ist es entweder eine perfide Machtdemonstration des grünmaskierten Fehlgeleiteten oder seiner Anhänger oder ein großräumig durchgeführtes Ablenkungsmanöver, um andernorts freie Bahn zu haben", schnarrte Anthelia. "Wie dem auch sei, es darf nicht sein, dass die wachhabenden Einsatzkräfte des Ministeriums an einem Ort gebunden werden, es sei denn, mir liegt etwas daran. Und dem ist nicht so." Dann rief sie: "Alle die hier sind zu mir!" Dem Befehl folgten die anwesenden Hexen. Anthelia verschaffte sich durch Legilimentik die nötigen Ortsbeschreibungen und räumlichen Bezugswerte. Damit behexte sie den Tisch in der Empfangshalle so, dass er zum Portschlüssel wurde. Dann bezauberten sich alle Hexen mit dem Aura-Sanignis-Zauber. Anthelia verwarf den Gedanken, das Schwert Yanxotahrs gegen die entfesselten Feuerdämonen einzusetzen. Wenn sie einem Ministeriumstrupp über den Weg liefen musste sie diesem keinen Grund liefern, sie des Schwertes wegen anzugreifen.
Der bezauberte Tisch verschwand mit allen, sich an ihm haltenden in einer blauen Lichtspirale.
Als die Hexen in ihren weißen Kapuzenumhängen wieder auftauchten sahen sie es schon in der Ferne lodern. "Dieser Landeplatz war goldrichtig. Außerdem sind wir keine Minute zu früh angereist. Ausschwärmen und die Flammenungetüme niederkämpfen!" befahl Anthelia.
Sie selbst wendete den Freiflugzauber an, um über die erste Frontlinie der entstandenen Feuerdämonen hinwegzukommen. Einige von diesen waren jedoch geflügelte Monster, die unverzüglich aufflogen und Jagd auf sie machten. Doch Anthelia/Naaneavargia kannte sich in der Bekämpfung dieser dunklen Elementarmagie aus. "Mergentur Malardores!" rief sie laut und ließ dabei den Zauberstab von senkrecht über ihren Kopf bis senkrecht nach unten zucken. Dabei dachte sie an einen Schwarm niedergehender Meteoriten. Mit lautem Knall schlugen die sie bedrängenden Feuergeschöpfe auf den Boden und erloschen. So verfuhr sie weiter und brachte gleich fünf oder zehn Dämonsfeuerausgeburten pro Zauberspruch zu Fall. Ihre Mitschwestern bekämpften den Feuerspuk vom Boden aus. Anthelia musste erkennen, dass sie im freien Flug zu viel eigene Ausdauer aufwenden musste. So räumte sie noch eine kreisförmige Fläche von hundert Metern um sich von Dämonsfeuer frei und landete. Mit einem nur ihr und den Erdvertrauten Altaxarrois bekannten Zauber beschwor sie regenerative Kräfte aus der Erde, auf der sie stand. Zwar wuchsen hier in der Nähe keine gesunden Bäume mehr, deren Lebenskraft sie an sich reißen konnte. Doch die in den Boden zurückgestoßenen Feuerausgeburten hatten ihre gesamte Magie an die Erde zurückgegeben. Diese Magie holte sich Anthelia nun, um weiter und weiter und dabei schier unerschöpflich gegen die Dämonsfeuerausgeburten anzukämpfen. Dabei beschloss sie, den Zauber der labenden großen Mutter auch ihren Mitschwestern beizubringen. Denn damit ließ sich stundenlang fechten, solange sie festen Boden unter den Füßen hatte.
Einmal konnte sie fliegende Besen sehen, von denen aus blau-weiß-rot gekleidete Hexen und Zauberer in den goldenen Sanignis-Auren gegen Dämonsfeuerkreaturen fochten.
Eine Stunde verging, bis sich alle sicher waren, dass kein unentdecktes Dämonsfeuerbrandnest verblieben war. Anthelia und ihre Schwestern zogen sich auf ein Vocamicus-Kommando ihrer Anführerin zum Portschlüssel zurück. Als gleich zwanzig Ministeriumszauberer von oben auf sie niederstießen und "Halt! Weg vom Tisch und Zauberstäbe fallen lassen!" riefen war es jedoch zu spät. Der Tisch erstrahlte im blauen Licht. Die Schock- und Entwaffnungszaubersalve der Ministeriumszauberer ging mit Getöse fehl. Einige Zauber prellten einander aus der Bahn und wurden zu gefährlichen Querschlägern. Einen der Zauberer kostete das den Flugbesen. Erst als die losgelassenen Flüche verpufft waren atmeten sie alle aus.
"Zwei Sekunden zu spät! Wir müssen wahrhaftig den Angriff aus dem Sturzflug heraus verbessern", schimpfte einer der am Einsatz beteiligten.
"Warum haben die uns beim Löschen geholfen", wollte die Außeneinsatztrupplerin Adrastée Ventvit wissen.
"Wenn Sie drei Sekunden früher eine von denen erwischt hätten könnten Sie ihr diese Frage stellen", bekam sie eine barsche Antwort.
"Vermutlich, weil sie wollten, dass wir hier nicht zu lange rumfliegen", bemerkte ein altgedienter Unfallumkehrzauberer. "Also können wir zumindest festhalten, dass diese Spinnenschwestern das Feuer nicht gelegt haben."
"Oder uns glauben machen wollen, es nicht gelegt zu haben", widersprach Adrastée. Doch dann nahm sie ihren Einwand zurück. Das Dämonsfeuer war ein zu unbeherrschbarer Machtbeweis. Damit hätte es glatt einen landesweiten Flächenbrand geben können. Wenn es wirklich Sardonias Erbin war, dann lag ihr wohl mehr an einem Frankreich mit lebenden Hexen darin als an einer vom Dämonsfeuer erschaffenen Höllenlandschaft. Die anderen sahen das offenbar auch so. Denn unverzüglich flogen sie auf, um an ihre Dienststandorte zurückzukehren.
"Haltet ja die Augen und Ohren offen, ob es in Frankreich zu einem Übergriff auf Hexen und Zauberer, vielleicht dem Minister selbst, kam!" befahl Anthelia Lavinie Descartes. "Wie auch immer ihr das hinbekommt. Auch wenn Grandchapeau die Angelegenheit zum strengsten Geheimnis erklären lässt, bring es heraus, was dieser Unhold und Größenwahnsinnige mit dieser Tat erreichen wollte!" Lavinie nickte. Dann durfte sie disapparieren.
Julius erfuhr von Ornelle am nächsten Arbeitstag, dass Vengor offenbar das große Ablenkungsmanöver durchgeführt hatte, um eine unbescholtene Zaubererfamilie bei Cherbourgh in der Normandie zu überfallen. Die beiden Eltern hatte er getötet. Die beiden vierjährigen Zwillingstöchter und der erst im letzten Juni geborene Sohn waren jedoch verschwunden. Vengor hatte bei seinem Angriff einen großflächigen Unortbarkeitszauber gewirkt, so dass auch die sonst so erprobte Rückschaubrille keinen Aufschluss über seine Vorgehensweise enthüllen konnte.
"Das darf ich meiner Frau nicht erzählen, die fällt mir sonst um und verliert unser Baby", seufzte Julius, als er diese Schreckensmeldung gehört hatte. "Aber wieso bringt der Leute um, die nichts mit der Abwehr dunkler Künste zu tun haben. War einer von den beiden muggelstämmig oder halbmuggelstämmig?"
"Keiner von beiden. Der Mann hat für den Besenknecht in Paris Stoffe zugeschnitten. Die Frau war Kochexpertin für die Monde des Sorcières. Sie hat auch die Rezepte veröffentlicht, die sie während ihrer beiden Schwangerschaften ausprobiert hat. Adrastée hat die Sachen nachgekocht und in einemLeserbrief gelobt", sagte Ornelle.
"Und wenn beide reinblütige waren - fies, dass ich das ausgerechnet so hervorheben muss - ging es dem um was anderes. ich meine, der hätte doch locker hier im Ministerium auftauchen oder die Rue de Camouflage aufmischen können."
"Aufmischen?" fragte Ornelle leicht verdutzt. Julius erklärte ihr das Wort, das vor allem von jungen Leuten benutzt wurde.
"Gut, das hätte er machen können. Aber er hat nur diese eine Familie heimgesucht, wobei keiner außer ihm weiß, warum er die Kinder nicht auch als Leichen zurückgelassen hat."
"Vielleicht ist der so drauf wie Bokanowski und will mit denen irgendwelche dunklen Versuche anstellen", argwöhnte Julius. Ornelle erbleichte und nickte heftig.
"Das hieße doch, dass die Eheleute etwas besonderes im Blut hätten", sagte sie. "Gut, ich wollte Ihnen auch nur erzählen, was ich vom Minister persönlich erfahren habe, um es Ihnen weiterzugeben, Monsieur Latierre. Offenbar sah es der Minister als wichtig, Sie und weitere Personen außerhalb der Desumbrateurentruppe über das volle Ausmaß des gestrigen Angriffs zu unterrichten."
"Dann bleibt nur abzuwarten, ob dieser Verbrecher es bei diesem Überfall belässt oder nun immer wieder zuschlägt, um uns zu zeigen, wie hilflos wir sind", erwiderte Julius.
"Aber wenn die Mutter der drei kleinen Kinder für die Monde des Sorcières geschrieben hat könnten die demnächst einen Nachruf bringen", sagte Julius.
"Nicht vor dem Jahreswechsel. Das hat der Minister mit deren Chef schon geklärt. Solange keiner weiß, worum es dem Verbrecher ging oder geht sollen nur Ministeriumsleute von ihrem Tod erfahren."
"Verstehe ich, allein schon, um keine Panik zu schüren wie damals, als die Dementoren und Schlangenkrieger unterwegs waren."
"Genau", bestätigte Ornelle. Dann bat sie Julius darum, die gestern dazugekommenen Briefe und Mitteilungen zu bearbeiten und einen Bericht über den Ausflug nach Großbritannien zu verfassen. Diesmal war Julius froh, was dröge bürokratisches machen zu müssen.
Nach der Frühstückspause schwirrte ein Memoflieger zu Julius auf den Schreibtisch. Er las, dass der Minister ihn persönlich zu sprechen wünsche. Er gab Ornelle das Memo. Sie nickte und deutete auf die Tür.
Im Büro des Ministers hielten sich fast all die Hexen und Zauberer auf, denen Julius die vier machtvollen Zauber aus Altaxarroi beigebracht hatte. Es fehlten nur Millie, Madame Faucon und Professeur Delamontagne. Der Minister begrüßte Julius noch einmal. Dann kam er gleich auf den Punkt.
"Zum einen erhielten unsere Einsatztruppen gestern unerbetene Hilfe seitens der Hexe, die auch in Gestalt einer schwarzen Spinne herumlaufen kann. Sie und zehn vermummte Helferinnen unterstützten unsere Einsatzkräfte. Wir müssen also davon ausgehen, dass hier im Ministerium oder dort, wo das Feuer gelegt wurde jemand dieser Hexenschwesternschaft brisante Informationen zuträgt. Das zum einen. Zum anderen wurden gestern abend bei Bayonne drei mit weißen Schlangenkopfmasken vermummte Männer aufgefunden, denen alles Blut aus den Adern gesaugt worden war." Julius ließ diese Mitteilung genauso sacken wie die anderen Zuhörerinnen und Zuhörer. "Unsere Tanathologen haben bereits ermittelt, dass die Vermummten vor dem ersten Biss mit einem stumpfen Gegenstand bewusstlos geschlagen wurden. Zudem fanden sie in den blutleeren Körpern Spuren eines schwarzen Pulvers, das unter einem Vergrößerungsbetrachter als Ansammlung zwölfseitiger Kristallkörper von weniger als einem Tausendstel Millimeter Kantenlänge erkannt wurde. Als einer der Untersuchenden mit bloßem Finger eine Probe berührte, verwandelte sich diese in grauen Staub, der wie reine Asche aussah. Wir haben die restlichen Staubproben sichern lassen und den Fund der beiden Toten zur obersten Geheimsache erklärt."
"Und wieso werden wir, die nicht alle im Ministerium beschäftigt sind, darüber unterrichtet", fragte Madeleine L'eauvite.
"Weil ich davon ausgehen muss, dass wir es hier mit einer Hinterlassenschaft aus dem alten Reich zu tun haben. Vengor - lassen wir ihm sein perverses Vergnügen, von uns nicht anders bezeichnet zu werden - hat Zugriff auf Dinge oder Wissensgrundlagen aus dem alten Reich." Julius nickte. Das war sein Stichwort. Er musste nun allen anderen schildern, was er über Vengor und Iaxathan mitbekommen hatte. Catherine Brickston kannte das ja auch schon, zumal sie von ihm ja auch schon zu den Altmeistern in Khalakatan mitgenommen worden war.
"Und dieser in eigener Verbannung darbende Geist führt nun durch diesen irregeleiteten Zauberer seinen Racheplan durch, den seine Entkörperung damals vereitelt hat?" wollte Hera Matine wissen. Der Minister nickte bestätigend.
"Nun, Julius, wie groß darf der Kreis jener sein, die die alten Zauber lernen?" fragte Catherine Julius. Das erschien ihm wie eine rhetorische Frage. Doch weil die anderen nicht wussten, was Ianshira ihm gesagt hatte erwähnte er, dass er den Kreis der Eingeweihten möglichst klein halten sollte, zumal Professeur Tourrecandide wohl durch einen oder zwei Zauber etwas ausgelöst hatte, was ihr nicht gut bekommen sein sollte.
"Außerdem rate ich dringend davon ab, Julius zum Ausbilder für Ministeriumszauberer zu machen. Das würde zum einen den Argwohn anderer Zauberer und Hexen schüren, zum zweiten die Aufmerksamkeit all jener auf ihn lenken, die ihn bisher nur für besonders zauberkräftig halten und zum dritten diese Marionette jenes Vorbildes aller Erzdämonen in sämtlichen Religionen dazu treiben, mit ganzer Brutalität gegen alles und jeden loszuschlagen, wenn er davon ausgehen muss, dass jeder ihm gefährlich werden kann. Wir sollten ihn und diesen Vengor noch im Glauben lassen, gegen sie beide nichts aufbieten zu können außer scheinbar in ihrer Wirkung verkehrte Heilzauber."
"Die Vampire machen mir Sorgen", sagte Julius. "Wenn dieser Kristallstaub bei den Getöteten im Blut war, dann haben die das Zeug jetzt in sich drin. Am Ende sind die noch gefährlicher als so schon."
"Unsere Leute konnten anhand der Einstiche feststellen, dass es mindestens zwei unterschiedliche Vampire bei jedem der getöteten waren", sagte der Minister. Da schaltete sich Hera Matine ein:
"Dann müssen Sie es wohl als amtlich vermerken, dass die Bedrohung durch Vampire mit dem scheinbaren Ende von Nocturnia nicht wirklich behoben ist." Der Minister nickte verbittert dreinschauend.
"Aber damit steht fest, dass die Vampire nicht für Vengor oder seinen entkörperten Auftraggeber arbeiten." Julius nickte. Das erschien logisch.
"Das ist besonders zu beachten, weil dieser Iaxathan die Vampire selbst erschaffen haben soll, wenn ich die Überlieferungen aus der Liga gegen dunkle Künste in dieser verschwiegenen Runde erwähnen darf", sagte Catherine. Julius hörte daraus, dass es nun Vampire gab, die sich Iaxathan eben nicht unterworfen fühlten, ja seine Handlanger bekriegten oder nicht wussten, dass sie für ihren Erschaffer arbeiteten. Dann stellte Julius eine letzte Frage:
"Wer waren die Toten mit den weißen Masken?"
"Die Frage sollte bis zum Schluss warten, bis die toten Körper untersucht und entflucht waren. Als dies geschehen war konnten die Masken entfernt werden. Allerdings lösten sie dabei einen Zerfallsprozess aus, der wie Decompositus wirkte. Unsere Todesursachenforscher haben dabei mit einem Maledictometer einen kurzen aber klar anmessbaren Anstieg dunkler Magie ermittelt. Offenbar waren die Masken derart bezaubert, dass sie bei der gewaltsamen Entfernung ihre Träger vernichten sollten, ob tot oder lebendig", erwiderte der Minister.
"Stimmt es, dass die Familie von Jean und Mächthild Reinier Opfer des gezielten Anschlages wurde?" fragte Hera Matine nun ihrerseits. Der Minister wollte von ihr wissen, woher sie das wusste.
"Nichts für ungut, Herr Minister. Aber nicht nur das Ministerium verfügt über gute Nachrichtenverbindungen, sondern auch die Heilerzunft. Meine Kollegin, die die Region Normandie betreut, hat den Zwillingen von Mächthild Reinier auf die Welt geholfen und auch den kleinen Antoine entbunden. Da der Junge erst im Juni zur Welt kam hat sie gewisse Alarmzauber eingerichtet, die bei einer Gefahr für die Mutter oder ihn anschlugen. Allerdings kam meine Kollegin mit den zwei noch verfügbaren Desumbrateuren eine Minute zu spät."
"Warum haben die beiden Stümper Ihrer Kollegin nicht gleich verordnet, Stillschweigen zu bewahren?" schnarrte der Minister.
"Herr Minister, damit wir das noch einmal klarstellen: Die Heilerzunft ist nicht den innerdienstlichen Hierarchien des Zaubereiministeriums unterworfen und damit auch nicht an deren Geheimhaltungsstufen gebunden", sagte Hera Matine unüberhörbar entschlossen. "Das sollten Sie doch am besten wissen. Nachdem Ihr unrühmlicher Nachfolger und Vorgänger in Personalunion seines Amtes enthoben war hat Madame Eauvive die Beziehung zwischen Ministerium und Heilerzunft noch einmal bekräftigt und festlegen lassen." Der Minister nickte verdrossen. Dann seufzte er: "Gut, da wir hier alle sowieso eine streng geheime Unterredung führen in drei Drachen Namen: Ja, bei der Familie, die von Vengor oder seinen Maskenträgern heimgesucht wurde, handelte es sich um die Reiniers aus Cherbourgh." Julius fragte, ob die Hexe aus einem anderen Land stamme, weil ihm der Vorname nicht französisch vorkam. Catherine erläuterte, dass Mächthild Reinier geborene Krötenbein aus Norddeutschland stamme. Da läuteten bei Julius alle Glocken von Nôtre Dame und St. Paul zusammen sturm. Auch bei Catherine musste gerade ein Knut gefallen sein. Sie sagte deshalb:
"Wollten Sie deshalb nicht, dass jeder außerministerielle Zauberer erfährt, dass Mächthild Reinier tot ist, Minister Grandchapeau?"
"Weswegen?" schnaubte der Minister, der sich gerade in die Enge getrieben fühlte.
"Weil Mächthild eine Cousine dritten Grades von Helgo Krötenbein ist, der am ersten Dezember getötet wurde. Ich habe das aus der Liga. Die deutschen Kollegen legen seit Thicknesse, Pole, Wishbone und Didier sehr großen Wert auf schnelle Mitteilungen über derartige Vorfälle."
"Dann hat Vengor die Hexe gejagt und ihren Mann als störenden Zeugen umgebracht", grummelte Julius. Die anderen nickten ihm beipflichtend zu. Dann sagte Hera:
"Soweit ich weiß hätte Madame Reinier genau heute ihren zweiunddreißigsten Geburtstag feiern können. Ihr Verwandter hätte am dritten dezember, kurz vor Ende einer Mondphase, Geburtstag gefeiert. Ziegelbrand, das erste Opfer wurde auch um die Wiederkehr seines Geburtstages herum getötet."
"Woher wissen Sie denn von dem?" schnarrte der Minister. Hera erwiderte erneut das Heilerzunftnetzwerk, ohne Namen zu nennen.
"Dann ist der Irre darauf aus, die Angehörigen einer bestimmten Familie umzubringen", sagte Julius.
"Na ja, mit dem Wort "Irrer" wird zu häufig hantiert, obgleich ich dir leider zustimmen muss, dass dieser Zauberer wie sein entmachtetes Vorbild gewisse psychopathische Neigungen haben Muss", sagte Catherine. Dann spann sie den von Julius ausgeworfenen Faden weiter: "Ja, und offenbar liegt ihm aus irgendeinem rituellen Grund was daran, sie nur dann zu töten, wenn ihr Geburtstag unmittelbar bevorsteht. Womöglich ist die Mondphase auch wichtig. So stellt sich nur die Frage, ob dieser Massenmörder selbst zur Verwandtschaft dieser Hexen und Zauberer gehört und ob es eine Möglichkeit gibt, die Ermordung von Mächthilds und Jean Reiniers drei Kindern noch zu verhindern."
"Die Zwillinge Joseline und Jeanette wurden am siebten Mai geboren, der kleine Jean-Pierre am fünfzehnten Juni."
"Will sagen, dass er sie entführt hat, um sie dann umzubringen, wenn ihre Geburtstage bevorstehn", vermutete Madeleine L'eauvite. Dass sie sonst sehr humorvoll sein konnte fiel hier gerade nicht auf. Im Moment wirkte sie so ernst wie ihre jüngere Schwester Blanche Faucon.
"Ich werde mich mit meinen Kollegen beraten und eine stille Absicherung aller ermittelten Verwandten der Reiniers, Krötenbeins und Ziegelbrands vorschlagen. Nur wissen wir leider nicht, ob Vengor nicht schon längst Spione in den Ministerien hat, unseres eingeschlossen. Das diese Spinnenhexe welche hat dürfte leider als erwiesen gelten. Doch ich werde nicht Wishbones Fehler wiederholen und deshalb alle Hexen unter Generalverdacht stellen."
"Dann dürften Sie mit uns schon gar nicht mehr unterhandeln", erwiderte Madeleine. Das klang für Julius schon wieder eher nach der zu Scherzen aufgelegten Hexe, selbst wenn er die blanke Ironie aus ihrer Stimme heraushörte.
"Ich bitte Sie alle darum, über diese Zusammenkunft kein Wort an Ihre Freunde und Angehörigen zu berichten. Monsieur Latierre und Madame Belle Grandchapeau kann ich es ja als einzigen befehlen, hoffe aber, dass eine Bitte von mir dasselbe Gewicht hat." Julius nickte. Von dem Mord an einer ganzen noch jungen Familie wollte und durfte er seiner Frau sowieso nichts erzählen. "Des weiteren bitte ich die Damen, die sich auf außerministerielle Netzwerke mit internationalen Verbindungen stützen können, diese Netzwerke dahingehend zu nutzen, im Falle, dass meine Kollegen in anderen Ländern Ihren Gedankengängen nicht folgen möchten, die Verwandten der Getöteten zu ermitteln, ohne Ihnen zu vermitteln, dass sie womöglich in tödlicher Gefahr schweben. Denn wenn Vengor einer dieser Verwandten sein sollte, der alle möglichen Konkurrenten um ein Erbe beseitigen will oder irgendwelchen finsteren Gesetzen folgend handelt, würde er sofort gewarnt und würde entweder seine Pläne ändern oder das tun, was er bisher vermieden hat, einen offenen Krieg gegen uns und den Rest der Welt entfesseln. Dies wollen Sie alle gewiss nicht verantworten."
"Ich darf aber doch Madame Faucon über unsere Unterredung informieren?" fragte Catherine Brickston.
"Dies besorge ich in eigener Person. Ich habe um eine Unterredung am Nachmittag in Beauxbatons gebeten." Catherine nickte dem Minister zu. Damit war diese geheime und unheilvolles enthüllende Besprechung fast beendet. Julius wurde noch einmal gebeten, zu erkunden, ob er noch mehr der alten Zauber gegen dunkle Kräfte erlernen konnte. Nötigenfalls wollte der Minister ihn für diese Zeit für Sonderaufträge einbestellen, um seine Abwesenheit von seinem eigentlichen Dienstposten zu begründen. Dann durften alle das zum Klankerker gemachte Büro verlassen.
Julius begründete sein Fortbleiben damit, dass der Minister ihn wegen seiner Erfahrungen mit übermächtigen Zauberwesen noch einmal gesondert befragen wollte, um festzustellen, was davon noch geheimzuhalten war. Ornelle konnte sich aber ihren Teil denken und sagte:
"Wenn der Minister meint, Sie seien hier nicht auf dem richtigen Posten, darf er gerne Monsieur Vendredi oder mich persönlich darum bitten, Ihrer Versetzung in eine von ihm selbst geleitete Sondergruppe zuzustimmen. Allerdings dürfen Monsieur Vendredi und ich dann zumindest darauf bestehen, im Rahmen von S0 zu erfahren, weshalb wir dieser Versetzung zustimmen sollen. Und jetzt kümmern Sie sich bitte um die Korrespondenz mit der Ostlandgruppe!" Julius bestätigte den Erhalt der Anweisung und schrieb einen Brief an Césars Onkel, Monsieur Rocher, der bereits wieder auf dem Weg ins Land der Riesen war.
Nach seinem Arbeitstag hatte es Julius schwer, Millie gegenüber zu verschweigen, was er erfahren hatte. Andererseits beruhigte er sich damit, dass die Latierres nicht mit den bisherigen Opfern verwandt waren. Und wenn Vengor echt einer der noch lebenden war, vielleicht sogar eine Hexe, die nur zur Tarnung als Zauberer herumlief? Solange das nicht klar war konnten sie alle verdächtigen oder hielten sich an die geltende Unschuldsvermutung.
Als Millie mit Aurore im Badezimmer war, um sie zur Nacht umzuziehen holte Julius den Zweiwegespiegel mit dem Kelchsymbol hervor und sagte leise: "Sophia Whitesand, sind Sie da?"
Eine halbe Minute später sah er das Gesicht der Cousine Dumbledores im Spiegelglas.
"Haben wir es jetzt offiziell, dass es mal wieder besonders beißwütige Vampire gibt?" fragte sie statt einer Begrüßung.
"Keine offizielle Bestätigung. Aber es sind Tote gefunden worden, die auf das Konto von Vampiren gehen. Mehr darf ich nicht dazu sagen."
"Verstehe ich. Abgesehen davon, dass es genug anderes gibt, was Anlass zur Sorge gibt", sagte sie. "Verschweige es also weiterhin allen anderen gegenüber, dass du mit mir in Verbindung stehst!" sagte Sophia Whitesand. Julius versprach es.
Léto forderte Julius am Tag vor Henri Lacroises Beerdigung eine Menge Merkfähigkeit ab. Doch als er endlich alle männlichen und weiblichen Vorfahren Létos heruntersingen konnte, und dies wortwörtlich, sagte sie ihm, dasss er nun jederzeit eine ihrer unverheirateten Enkeltöchter heiraten dürfe, falls Millie seiner überdrüssig werden sollte. Julius zog es vor, darauf keine Antwort zu geben.
"Meine Enkeltochter Euphrosyne ist untergetaucht, so heißt es ja wohl bei den Muggeln, wenn jemand, der oder die was zu verbergen hat von sich aus unauffindbar wurde. Ich werde dich also wohl bitten müssen, mit deiner Kollegin Madame Nathalie Grandchapeau zu sprechen, um zu ermitteln, ob sie vielleicht in der Muggelwelt herumläuft. Meine werte Tochter Églée hat es gewagt, mir eine Antwort auf die Frage nach Euphrosynes Aufenthaltsort zu verweigern. Da ich nicht nur ihre Großmutter, sondern auch Ältestenratsmitglied bin muss und werde ich sicherstellen, dass Euphrosyne nichts unternimmt, was wir alle bereuen müssten."
"Im Moment liegen zu viele andere Sachen an, von denen ich dir nichts berichten darf, Léto."
"Wie immer, wenn das Ministerium sich einer nicht erfassbaren Bedrohung gegenüber sieht", schnarrte Léto. Doch sie sah ein, dass Julius dem Ministerium gegenüber mehr Verpflichtungen hatte. So beendete sie den vorletzten Unterrichtstag über die Veelas, was er über diese Zauberwesenart wissen durfte.
Es war schon irgendwie komisch und gleichzeitig ärgerlich, fand Anthelia. Der Untersekretär von Minister Cartridge war ein nichtregistrierter Lykanthrop und Spion in den Reihen des Ministers gewesen. Das empfand Anthelia als komisches Element der Angelegenheit. Das Ärgernis war, dass Cartridges Bemühungen, mit ihr das zerbrochene Abkommen zu erneuern, war an die magischen Medien gelangt. Der Werwolf hatte jemandn beim Kristallherold die Information zugespielt, dass der Minister sich des Stillhaltens der schwarzen Spinne versichern wollte. Nun war Cartridge für sie quasi nutzlos geworden. Denn nur wenn sie es geschafft hätte, eine Neuauflage des amerikanischen Stillhalteabkommens und Burgfriedens zu erwirken hätte sie mit ihren Mitschwestern unbehelligt nach Anhängern Vengors forschen können. Diese Möglichkeit war ihr nun verdorben worden. Da half auch nichts, dass der verräterische Werwolf kurz vor Überquerung der mexikanischen Grenze gestellt werden konnte und bei ihm ein Vorrat des Lykonemesis-Trankes gefunden wurde.
Außer dem im Ansatz gescheiterten Geheimabkommen plagte Anthelia noch eine Sorge: Es war zu Übergriffen von Vampiren auf im Auftrag Vengors umherstreifende Zauberer gekommen. Dabei hatte sich gezeigt, dass die Blutsauger wohl bedenkenlos das Blut der sicher mit Unlichtkristallen versetzten Männer trinken konnten. Dadurch wurden diese Monster nun noch unverwüstlicher. Wenn stimmte, was Anthelia erfahren hatte, dann hatte die in Iaxathans Mitternachtsdiamanten eingekerkerte Vampirkönigin nun eine kampfkräftige Streitmacht zur Verfügung, die sie garantiert irgendwann gegen die Menschheit einsetzen würde, im eigenen Auftrag oder im Dienst Iaxathans.
Aurore freute sich, als sie bei ihren Großeltern Hippolyte und Albericus nicht nur ihre Tante Miriam traf, sondern auch ihre Großtanten Blanche und Linda-Laure und ihre Großonkel Faunus und Adonis. So machte es ihr nichts aus, dass ihre immer runder werdende Maman und ihr starker und lustig singender Papa mit Opa Albericus' großem Brummwagen wegfuhren.
Außer den Latierres waren noch die Eheleute Céline und Robert Dornier, sowie Jeanne Dusoleil in Vertretung für ihre aus der Welt geschiedene Schwester Claire und Belisama Lagrange in Albericus' Bus unterwegs. Millie und Céline trugen die bezauberte Unterwäsche, die jede Ruckel- und Stoßbewegung dämpfte. So konnte Albericus dreimal den Transitionsturbo seines Busses auslösen, um mehrere Kilometer Strecke einfach zu überspringen. Julius hatte sich von Laurentine eine Stadtkarte mit einer von Hand eingetragenen Route zumailen lassen und machte den Navigator für seinen halbzwergischen Schwiegervater.
"Oha, Kapelle St. Catherine", sagte Albericus. "Laut deren Lehren müssten wir gleich alle mit lautem Knall von einem Blitz getroffen werden oder in lodernden Flammen verbrennen, weil wir uns auf geweihte Erde begeben."
"Ja, oder uns so speiübel fühlen, dass wir nicht einmal in die Nähe davon kommen", setzte Julius einen drauf. Er kannte nur ein christliches Symbol, das wahrlich mächtige Schutz- und Abwehrzauber offenbart hatte, das silberne Kreuz von Maria Valdez, das eigentlich ein getarnter Fünfzackstern war. Es hatte ihn vor einem gruseligen Schicksal gerettet. Doch da er kein Dämon aus der Bibel war, fürchtete er sich nicht vor einer Kapelle oder einem geweihten Friedhof. Auch die drei in schwarz-weißer Tracht gehüllten Ordensschwestern nahm er nur als Vertreterinnen einer mit der modernen Welt hadernden Glaubensrichtung zur Kenntnis, nicht als seine Feindinnen.
"Also, wenn die Klosterschwestern auch zu der Beerdigung hinkommen dürfen Sie mich gleich wieder nach Hause bringen", stieß Robert aus, der zwischen seiner schwangeren Frau und Jeanne Dusoleil auf der hinteren Rückbank saß.
"Da vorne steht ein feuerroter Riesenrollschuh mit dem Schriftzug Smart und einem Pariser Nummernschild", stellte Julius fest. Albericus grinste.
"Wenn mir Laurentine mal erzählt, wie sie an das Wägelchen gekommen ist schenke ich Hipp einen zur Geburt unseres ersten Sohns."
"Dann halt dich mal ran, Pa, bevor Miriam bereits seinen Neffen oder seine Nichte im Bauch hat", erwiderte Millie darauf.
"Wenn du ein schnittiges Spielzeugauto möchtest besorge ich dir eins in Paris, Beau-pa Albericus", sagte Julius dazu noch. Jeanne grinste darüber.
Der veilchenblaue VW-Bus kam mit einem verwegenen Ausrollmanöver neben dem Smart zum stehen. Die in dunklen Kleidern und Anzügen steckenden Fahrgäste stiegen aus. Sofort tauchten weitere in schwarzen Anzügen gekleidete Männer und in dunkle Kleider gehüllte Frauen auf. Die Frauen sahen zuerst die in ordentlich angepassten Umstandskleidern steckenden Hexen Céline und Mildrid. Dann erst sahen sie auf den bis auf seine Frau alle längenmäßig überragenden Julius Latierre, der sich wortlos links von seiner Frau einsortierte. Robert nahm dies als stummen Ratschlag, sich auch zu seiner in freudiger Erwartung befindlichen Frau zu stellen. Dann sah Julius einen Mann aus der Reihe der wartenden Trauergäste, den er kannte. Er trat entschlossen vor und passierte die wartenden.
"Laurentine erwartet euch alle in der Kapelle", rang er sich eine kurze und knappe Begrüßung ab. Julius bedankte sich. Sie hatten unterwegs beschlossen, dass er antwortete, wenn keiner oder keine der fünf anderen direkt angesprochen wurde. Monsieur Hellersdorf winkte einem älteren Herren, der auf einen Gehstock gestützt war und sprach ihn leise an. So kam Julius nicht dazu, ihm sein Beileid auszusprechen, wie sich das eigentlich bei Beerdigungen gehörte. Doch weil er die Abscheu der Hellersdorfs gegen die Schule und Schulkameraden ihrer Tochter kannte wollte er nicht ggleich hier für Aufruhr sorgen. Getratscht würde eh. Auch das gehörte zu Beerdigungen wie zu Hochzeiten oder Kindstaufen dazu.
Die direkten Angehörigen standen in der Kapelle und ließen die Trauergäste an sich vorbeigehen. Jeder kondolierte zuerst der in ein schwarzes Taschentuch schniefenden Witwe und dann der einzigen Tochter. Die zwei untersetzten Damen mit ziemlich überschminkten Gesichtern waren dann die nächsten, denen ein herzliches Beileid gewünscht wurde. Julius sprach zuerst die trauernde Witwe an und dann Laurentines Mutter, bevor er Laurentine selbst die Hand zur Kondolenz reichte.
"Ich freue mich, dass ihr alle es einrichten konntet, herzukommen", seufzte Laurentine. Dann winkte sie ihrem Vater zu, der den Herren mit dem Gehstock stützte. "Das ist mein Onkel aus Köln, der geglaubt hat, ich sei zu den Amisch-Leuten konvertiert", flüsterte Laurentine. Dann deutete sie auf die dritte Bank vom Podium weg. Julius nickte. Während erst Céline, dann Jeanne, dann Millie und schließlich Belisama und Robert Laurentine und ihren Verwandten ihre Anteilnahme aussprachen, prüfte Julius die bereits sitzenden Gäste. Dabei hätte er fast eine der untersetzten Frauen angerempelt, die mit verbitterten Gesichtern dastanden, als wohnten sie keiner Trauerfeier, sondern einer Gerichtsverhandlung bei. Julius hielt es für sowohl frech wie doch noch angebracht, den beiden seine Anteilnahme auszusprechen. "Sie sind Laurentines Großtanten Mariette und Ninette. Ich bin Julius Latierre, ein Klassenkamerad von Laurentine in der Oberschule. Ich möchte auch Ihnen mein aufrichtiges Beileid zum Verlust ihres Bruders bekunden."
"Nehmen wir zur Kenntnis, junger Mann. Aber sagen sie den beiden dicken Frauen, die mit Ihnen hereinkamen, dass wir in einer wichtigen Besprechung stecken und nicht andauernd mit Höflichkeitsfloskeln berieselt zu werden."
"Ähm, wie eine werdende Mutter aussieht wissen Sie hoffentlich, Madame?" fragte Julius.
"Mademoiselle", spie die von ihm gefragte fast lauter als in diesem Haus anständig war aus. Julius ritt nun doch der kleine Frechheitsteufel und ließ ihn antworten: "Damit betrachte ich meine Frage als hinreichend beantwortet. Also nein. Ich bedauere mein ungestümes Vorgehen und möchte Sie nicht weiter behelligen."
"Mädels und Robert, die beiden Damen dort möchten nicht behelligt werden", gab Julius die unwirsche Bitte der beiden Schwestern des Verstorbenen weiter.
"Die hat so komisch auf meinen Bauch geglotzt, als hätte die noch nie eine schwangere Frau gesehen", grummelte Millie.
"Doch, eine auf jeden Fall, aber die nur von innen", wisperte Julius. Millie kniff ihm dafür in den Bauch und verkrampfte ihr gerundetes Gesicht, wohl weil sie nicht laut loslachen wollte.
"Laurentines anderer Opa ist ja lustig drauf", grummelte Robert, der mit seiner Frau hinter Millie und Julius zwischen den Bänken entlangging. "Als ich ihm sagte, dass ich Dornier heiße meinte der doch glatt, ob ich mit meinem eigenen Flugzeug hergeflogen sei. Ich hätte fast gesagt, dass wir nicht fliegen durften ... na Jah, ist schon um drei oder vier Ecken."
Julius blieb beinahe stehen und hätte Robert in sich reinlaufen lassen. Er sah in einer Bankreihe sieben Personen, von denen er sechs erkannte, weil sie alle im Musikgeschäft tätig waren, vor allem das junge Mädchen, dass in diesem Jahr mit ihrer ersten LP auf den Markt gekommen war."
"Guck, Millie, da sitzt Claudines neue Lieblingssängerin", zischte Julius und deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung.
"Ui, und ich dachte, Südfrankreich wäre schon weit weg von hier. Kommt die nicht ursprünglich von Korsika?"
"Jawoll, Madame", bestätigte Julius. Dann beschrieb er die sechs anderen, davon einen der jungen Männer, der gerade richtig im französischen Hiphop durchstartete. Dann erkannte er noch ein älteres Ehepaar, das sichtliche Probleme hatte, sich mit den anderen zu verständigen. Julius hatte durch seine Zeit in Beauxbatons und als Helfer der Quidditch-Weltmeisterschaft ein Gespür entwickelt, wann und warum er gebraucht werden mochte. So steuerte er die beiden Eheleute an und fragte sie auf Französisch, ob sie Hilfe bräuchten. Die Frau sprach in einem sehr amerikanisch klingenden Französisch, dass sie auf Madame Hellersdorf warteten. Julius wechselte zum Englischen und stellte sich, seine Frau und Jeanne vor, weil Millie und Jeanne ebenfalls Englisch konnten. Da sprudelte die Dame leise aber schnell heraus, dass sie nicht wussten, ob sie zu den unmittelbaren Angehörigen oder zu den Verwandten zweiten oder dritten Grades gehörten. Julius fragte die beiden, wie sie mit dem Verstorbenen verwandt waren. Das waren Cousin und angeheiratete Cousine des Verstorbenen aus Los Angeles. Julius deutete auf die erste Reihe. "Ich habe es gelernt, dass hier in Frankreich alle Verwandten möglichst in der ersten Reihe sitzen dürfen. Wir vom Freundes- und Bekanntenkreis dürfen uns in der dritten Bankreihe niederlassen, hat Laurentine mir am Eingang mitgeteilt."
"Sie kommen aus London Chelsea, richtig?" fragte der ältere Herr. Julius bejahte es. "Ich liebe den englischen Fußball, junger Sir. Nicht so ein ruppiges Gerangel wie bei uns in den Staaten. Zumindest noch ein gescheiter Mannschaftssport."
"Spielen Sie selbst, Sir?"
"Ich bin froh, wenn ich an den Wochenenden noch alle achtzehn Löcher schaffe, ohne aus den Schuhen zu kippen."
"Golfer? Mein verstorbener Onkel väterlicherseits hat das Spiel gespielt. Mein Vater und ich hatten leider keine Zeit, uns eingehender damit zu befassen", erwiderte Julius schon jenseits der Grenze zur Heuchelei. Denn weder sein Vater noch er hatten was für den Golfsport übrig gehabt.
Die Verwandten aus den Staaten bedankten sich noch einmal bei Julius, als sie an den vorderen Bankreihen anlangten. Julius warf schnell einen Blick nach hinten und erkannte mehrere Herren, die einen wichtigen Eindruck machten. Diese wurden von teils altehrwürdigen, teils blutjungen Frauen in modischen Trauerkleidern begleitet.
"Also, Madame Arachne kriegt von mir zu Weihnachten auch was geschenkt", sagte Millie, als sie in der dritten Reihe saßen. "Dieses Kleid sticht alles aus, was die anderen Frauen so anhaben, und Chrysie hat immer noch genug Platz zum herumkullern."
"Für dreißig Galleonen kannst du das wohl auch erwarten", grummelte Céline, bevor sie erkannte, dass sie einen Begriff aus der Zaubererwelt benutzt hatte. Doch im Moment schien es keiner gehört zu haben. Die anderen Gäste unterhielten sich miteinander.
als niemand mehr in die Kapelle kam schritten die Angehörigen in einer Zweierreihe nach vorne und nahmen auf der Bank dem aufgebauten Sarg gegenüber Platz.
Laurentine stellte durch einen Blick nach hinten fest, dass ihre sechs Freundinnen und Freunde gut saßen.
Trauervolles Orgelspiel eröffnete die Feier. Ein Priester und mehrere Messdiener betraten die Kapelle. Dann hörte die Orgel auf. Ihr lezter Akkord hallte noch einige Sekunden dumpf und unheimlich nach. Dann begann der Priester seine Andacht. Julius kannte sich nicht mit Trauerriten der Katholiken aus. Er konnte sich ja darauf berufen, Anglikaner zu sein. Offenbar empfanden auch die beiden aus Kalifornien herbeigereisten sich als nicht vollständig mit allem hier vertraut. Julius lauschte, weil der Priester manche Passagen seiner Ansprache auf Lateinisch dahersang. Zumindest das Amen war in dieser Kirche so sicher wie bei den Anglikanern, erkannte Julius.
Der Priester umschrieb das Leben des heute zu verabschiedenden, wobei er natürlich die herausragenden Eigenschaften und guten Taten des Verblichenen hervorhob. Zwischendurch sangen sie zur Orgel. Dann sprach der Leiter der Andacht über Henri Lacroises Wunsch, im Tode fortzuführen, was ihm der Antrieb für sein gerade zweiundsechzig Jahre währendes Leben war, immer wieder um die Welt zu reisen. Julius konnte es dem Gottesmann da vor ihm anhören, dass dieser nicht so begeistert von der Idee einer Weltraumbestattung war. Doch das kümmerte Julius nicht. Er betrachtete die aufgereihten Kränze und sah auch den großen aus Tannenzweigenund Winterblumen gewundenen Kranz mit der schwarzen Schleife daran, auf der "Die Freunde, Kollegen und Schüler Laurentine Hellersdorfs nehmen großen Anteil an den Verlust ihres Großvaters Henri Lacroise" stand.
"So finden wir im Angesicht des Todes den Trost im Glauben an die Macht des Auferstandenen, Jesum Christum unseren Herren. Wir alle sind jederzeit in der Obhut unseres Himmlischen Vaters und haben keinen Grund zur Furcht. Denn der Tod ist kein Schrecken, er ist eine Heimkehr, eine Heimkehr in die Gefilde der Erlösung, die unser Herr uns gewiesen hat. Und wer ihm folgt, der wird ewige Seligkeit erlangen, wo immer die vom Leben ermüdete Hülle zur letzten Ruhe gebettet wird", setzte der Priester fort. Dann gab er den Messdienern das Zeichen, eine Vorrichtung zu betätigen. Unvermittelt erklang ein kurzes Wuff und dann ein dauerhaftes, hohl klingendes Fauchen. "So übergeben wir die sterbliche Hülle unseres dahingegangenen Freundes und Mitbruders den hellen und wärmenden Flammen."
"Nix da, der kommt gescheit auf den Friedhof", schrillte eine der beiden Schwestern des verstorbenen und sprang dabei von der Bank in Richtung Sarg. Die Trauergäste erstarrten. Julius hätte fast laut losgelacht. Millie starrte ungläubig auf die sich ereifernde Mademoiselle Lacroise. Ihre Schwester versuchte, sie wieder auf die Bank zurückzuziehen. Doch die Aufgesprungene ließ sich nicht beruhigen. Es kam zu einer kurzen Rangelei, wobei das schwarze Kleid der stehenden vernehmlich ratschend riss. Der Priester, der bis dahin untätig dabeigestanden hatte, trat nun zu den beiden Schwestern hin und sprach leise auf sie ein. Doch die eine schrillte ungehörig laut los, dass sie nicht zusehen würde, wie ihr Bruder zur Freude geldgieriger und gotteslästerlicher Betrüger eingeäschert wurde und dann auf einer vom Höllenfeuer selbst angetriebenen Rakete in den leeren Weltraum geschossen zu werden. Die zweite Schwester verlor nun auch den letzten Rest von Zurückhaltung und stieß aus:
"Weil henris technomanischer Schwiegersohn ihm das eingeredet hat und weil der diese Höllenmaschinen baut und abschießt. Henri soll neben unseren Eltern begraben werden, feierlich und in der Gewissheit, dass die ihn liebten immer wissen, wo er liegt und dass sie ihn besuchen können."
"Nun, Mesdames", setzte der Priester zu einem ungewollten Beschwichtigungsversuch an und wurde von Ninette Lacroise harsch unterbrochen: "Mesdemoiselles, Abbé."
"Natürlich, Mesdemoiselles", berichtigte sich der Priester. Sicher bereitet es Ihren liebenden Herzen und Seelen große Schmerzen, sich vorzustellen, dass Ihr geliebter Bruder einen anderen Ort für die ewige Ruhe erwählt hat, als Sie ihm zudenken. Doch es ist in unserem großen Verständnis von Gottes Werk, dass wir die Wünsche eines Verstorbenen achten, um sein Leben zu ehren und damit auch die, mit denen er es teilte." Ein Fotoblitz strahlte auf. Der Priester, gerade noch im berufsmäßigen Beschwichtigungstonfall, wirbelte herum und sah gerade noch, wie ein Mann in den hinteren Reihen seine Kamera in seiner Manteltasche versenkte. "Zur Ehrung der Toten gehört auch, im Hause des Herren nicht zu fotografieren", blaffte der Priester. Julius wusste im Moment nicht, ob er jetzt über diese bühnenreife Situationskomödie lachen sollte oder sich aufregen sollte, weil da zwei alte Damen waren, die meinten, besser zu wissen, was ihrem Bruder, einem Toten, anstand oder nicht. Das taten sie auch nicht aus Liebe, sondern aus purer Geldgier, weil sie hofften, die wahrhaft sündhaft teuren Weltraumbestattungskosten einsparen und für sich selbst einstreichen zu können. Da stand Laurentines Mutter auf. Ihr Mann wollte sie zurückhalten. Doch sie deutete nur auf das angerissene Kleid ihrer Tante. Da ließ Monsieur Hellersdorf von ihr ab. "Tante Mariette und Tante Ninette. Zum einen ist es äußerst ungehörig, sich ausgerechnet bei der Andacht zum Tode eures Bruders, meines Vaters, derartig aufzuführen. Zum zweiten könnt ihr euch das ganze Theater ersparen. Denn die Weltraumbestattung ist bereits im vollen Umfang bezahlt, und Stornieren geht bei dieser Dienstleistung nicht mehr. Also setzt euch gütigst wieder hin und ehrt euren Bruder anständig!"
"Wie, das ist schon alles bezahlt?" ereiferte sich Ninette Lacroise. "Wie teuer ist das?"
"Vater konte das bezahlen, ohne euch und uns verhungern zu lassen", stieß Madame Hellersdorf aus. Ninette Lacroise schien das die letzte Kraft zu rauben. Sie plumpste förmlich wieder auf die Bank. Ihre Schwester stand noch einige Sekunden wild gegen den Sarg gestikulierend da. Dann setzte sie sich auch wieder hin.
Der Priester setzte erneut mit der zeremoniellen Einäscherungsansprache an. Jetzt fuhr der Sarg auf seinem Gestell in einen sich öffnenden Raum hinein, der eher einer Fahrstuhlkabine glich. Womöglich war es auch eine, dachte Julius und beschrieb Millie und Céline, was nun passierte. Schließlich ging die Tür wieder zu. Nun wurde der Sarg in den Verbrennungsofen hinabgesenkt. Wieder erklang die Orgel, gleichzeitig mit der kleinen Glocke der Kapelle. Der Priester sang und sprach die letzten üblichen Anteile seiner Zeremonie, teilweise von der Trauergemeinde beantwortet. Währenddessen wurde der Sarg mit Inhalt vollständig eingeäschert.
"So übergeben wir den Leib dem reinigenden Feuer und erhoffen die Auferstehung der Seele unseres dahingegangenen Ehemannes, Vaters, Großvaters, Bruders und Freundes", sprach der Priester über das Grollen der Verbrennungsanlage hinweg. "Möge unser himmlischer Vater bei Henri Lacroise weilen, wie er auch in jedem Augenblick in unserer Mitte weilt!"
Nachdem die Zeremonie beendet war lud Madame Lacroise, die trauernde Witwe, alle Gäste in ein Restaurant ein, um im friedlichen Einklang die Verdienste des Toten zu feiern. Sie blickte dabei mit verweinten augen auf ihre beiden Schwägerinnen. Diese waren von der Enthüllung, dass jeder Widerstand gegen den Willen ihres Bruders schon zu spät sei, sichtlich entkräftet.
"Wollen wir mitgehen?" fragte Julius seine fünf Begleiterinnen und Begleiter.
"Für Laurentine", sagte Belisama. Céline bestätigte es. Auch Millie und Robert wollten noch mitgehen.
"Hoffentlich ist das nicht am anderen Ende der Stadt", unkte Robert, als sie die Kapelle unter Glockengeläut verließen. Dann sah Julius, wie sie alle auf geparkte Autos zugingen. Julius wollte mit seiner Schwiegermutter mentiloquieren, als die Eheleute aus Kalifornien auf ihn zugingen. "Haben Sie ein Auto mitgebracht?" Ffragte Henri Lacroises Vetter. Julius erwähnte, dass sein Schwiegervater sie eigentlich von der Kapelle abholen wollte. Aber jetzt, wo es diesen unliebsamen Zwischenfall gegeben hatte, wollte er ihn anrufenund fragen, ob er sie zum Restaurant bringen konnte. Da trat Monsieur Hellersdorff zu ihnen hin: "Nichts für ungut, Norman, aber wenn die sechs da wollen könnten die sogar noch vor uns am Restaurant sein, hmm, abgesehen von den beiden Frauenzimmern in Umstandskleidung."
"Häh, wie meinst du dass denn?" fragte der Verwandte aus den Staaten. Julius ahnte, dass Laurentines Vater gleich ausplaudern würde, was Laurentines Kameraden so konnten und sagte schnell: "Laurentines Vater meint, weil wir bei uns in der Schule die absoluten Luxussachen hatten könnten wir uns auch mal eben anderswo hinbeamen wie Captain Kirk und Mr. Spock."
"Ja, der gute Simon ist ein Scherzbold und ein großer Anbeter der technischen Neuheiten", lachte Norman. Julius lachte mit und sagte: "Ja, und gemäß Arthur C. Clarkes drittem Gesetz ist weit genug fortgeschrittene Technologie von Magie nicht mehr zu unterscheiden." Monsieur Hellersdorf verzog das Gesicht, jetzt noch was zu sagen machte ihn nur lächerlich.
Ich rufe unseren Fahrdienst an und frage, ob wir noch mit zum Restaurant kommen. Mit dem Bus und den zwei Motoren drin holen Wir Sie sicher wieder ein, falls ja. Aber ich sollte erst mal Laurentine fragen.""
Laurentine hörte ihren Namen und winkte den sechsen. "Ach, ist dein Schwiegervater nicht mit reingekommen", sagte sie. "Stimmt, ich hätte ihm sagen sollen, dass er natürlich dabei sein darf. Meine Schuld", seufzte sie. "Wann sollte er euch denn abholen?" Julius sagte, dass er ihn anrufen wollte. Laurentine verstand. Julius zog sein Mobiltelefon und tat so, als müsse er wählen. Dann mentiloquierte er Millies Mutter an.
"Wenn Laurentine euch dabeihaben möchte bringt Beri euch hin. Falls sie es nicht möchte holt Beri euch ab und bringt euch nach Hause", legte Hippolyte fest. Julius sprach nun in das scheinbar eine Verbindung aufbauende Mobiltelefon hinein und fragte, ob sein Schwiegervater sie bitte abholen könne. Dann wandte er sich an Laurentine. "Hmm, frage deine Verwandten bitte, ob wier dabei sein dürfen!" Laurentine verzog das Gesicht. "Ich habe es gegen meine sturköpfigen Eltern durchgesetzt, dass meine Freunde bis zum Ende der Feier dabei sind, und die Feier geht weiter", schnarrte sie. Julius machte sofort wieder schönes Wetter und sagte, dass Millies Vater das genau wissen wollte, damit sie kein Aufsehen erregten. "Mehr als meine werten Großtanten könnt ihr euch heute garantiert nicht mehr blamieren", fauchte sie.
"Laurentine, wollen deine werten Schulfreunde mit uns Opa Henris Fell versaufen oder nicht", blaffte Laurentines Vater. Laurentine errötete schlagartig. Julius fragte sich, ob ihr Vater noch was versaufen musste, um noch peinlicher rüberzukommen. Wieder blitzte es grell auf. Julius konnte den Fotografen gerade noch hinter einem Renault abtauchen sehen. Es juckte ihm in den Fingern, in sein Hosenbein zu langen, den Zauberstab aus dem diebstahlsicheren Futteral zu ziehen und dem Knipser den Wagen vor der Nase davonfahren zu lassen. Doch gerade so beherrschte er sich noch. Da rollte ein veilchenblauer VW-Bus an. Julius steckte das zur Tarnung hervorgeholte Mobiltelefon wieder weg und winkte dem Bus.
"Du kennst den Weg?" Fragte Julius Laurentine. Diese nickte und deutete auf den großen Peugeot ihrer Eltern. "Ich fahre mit meinem roten Bügeleisen hinter ihnen her und ihr fahrt hinter mir her."
"Dann los", sagte Jeanne. Laurentine lief zu ihren Eltern, die noch verspätete Beileidsbekundungen ertragen mussten. Die Zeit reichte aus, dass Laurentines sechs Freunde in den Bus klettern konnten.
Es bildete sich eine Karavane verschieden großer Autos. Julius sah noch, wie die an der Feier beteiligten Prominenten sich schon absetzten. "Ich hätte die Gelegenheit nutzen sollen und mir von François Lefreak und Alizée Autogramme zu holen", grummelte Julius. doch jetzt war es zu spät.
Als sie vor dem Restaurant hielten lud Laurentine Millies Vater ein, sie hineinzubegleiten. Dieser schloss den Bus ab. Stehlen konnte den keiner, da die meisten Funktionen nur durch Magie oder Albericus' Stimmkommandos aufgerufen werden konnten. Der Bus war in dem Moment neben Laurentines Smart das sicherste Auto an diesem Ort überhaupt.
Während sie in Laurentines Nähe saßen kamen sie ins Gespräch mit Kollegen von Henri Lacroise. Einen der Männer ließ es nicht in Ruhe, dass Mildrid die Tochter dieses kleinen, ziegenbärtigen Mannes sein sollte. Doch Albericus sagte dazu nur:
"Meine Frau hat nicht nur für meine Töchter, sondern auch für mich mitgegessen. Daher konnten meine Töchter so groß wie sie werden."
"Gut, vertikale Herausforderungen müssen ja nicht zwangsläufig vererbt werden", versuchte der Frager, sein Ansehen zu retten. Albericus fragte Julius, was "der Herr" mit Vertikaler Herausforderung meinte. Als er die Übersetzung erhielt lachte er kurz aber schrill los. Dann sagte er: "Den Begriff muss ich meiner Mutter erzählen. Von der habe ich nämlich meine geringe Körpergröße. Wäre mir sonst zu eng geworden, bevor ich auf der Welt war." Die mithörenden Männer sahen ihn erst verdattert an, mussten dann aber hinter vorgehaltener Hand grinsen. Auch Millie, Robert und Julius grinsten. Jeanne tat so, als habe sie das nicht gehört. Céline und Belisama erröteten leicht an den Ohren.
"Also, ich habe keine Schwierigkeiten mit meinem Schwiegervater. Ich habe mal gegen ihn Fußball gespielt. Der kann sich supergut hochschrauben und einen scheinbar unerreichbaren Ball noch ins Tor einnicken. Seitdem weiß ich dass Zentimeter keine Größe machen."
"Kommt darauf an, wo die Zentimeter liegen", meinte einer von Henris Kollegen, eine Derbheit anbringen zu müssen. Albericus schmunzelte und erwiderte:
"Meine Frau hat sich bisher nie beschwert." Damit war der Centime, der Knut oder demnächst auch der Eurocent gewechselt. Denn zwei der Herren schauten bedröppelt drein.
Die beiden Schwestern kamen in Begleitung eines univormierten Chauffeurs herein und hielten schnurstraks auf die Eheleute Hellersdorf zu. Laurentine witterte wieder Ärger und bat ihre Eltern darum, sich zu ihren Freunden zu setzen. Ihr Vater funkelte sie nur verdrossen an. Doch er nickte ihr zu. Sie kam herüber.
"Na, unterhaltet ihr euch alle gut?" fragte sie in die Runde.
"Der bärtige Herr, der der Vater deiner sehr hoffnungsvollen Schulkameradin ist, hat deinen Onkel Boris gerade wunderbar ausgekontert", sagte einer der älteren Herren.
"Hör auf, mich Onkel Boris zu nennen, das macht mich doch nur alt", knurrte der erwähnte.
"Haben deine Großtanten immer noch Frust?" Fragte Julius Laurentine.
"Komm, hör auf. Peinlicher geht es doch wirklich nicht mehr", schnaubte Laurentine. "Gut, dass Madame Faucon das nicht mitbekommen hat. Oha, das hätte die nur in ihren Ansichten bestärkt."
"Wer soll'n das sein, eure Lieblingslehrerin?" fragte der Mann, den sein Sitznachbar Onkel Boris genannt hatte. Laurentine grummelte, dass sie keines Schülers Lieblingslehrerin sein wollte, aber sie bei ihr doch eine Menge gelernt habe. Was genau musste sie ja nicht sagen. Auf die Frage, warum jemand sich als Laurentines Schüler bezeichnete sagte sie, dass sie nach der Schule gleich einen Aushilfsjob als stellvertretende Grundschullehrerin im Lehrassistenzverfahren angenommen habe, um sich weiterzubilden. Dann fragte sie Julius, ob die Schleife nicht anders hätte beschrieben werden können. Er sagte, dass Laurentines Chefin darauf bestanden habe, sonst wäre sie mit allen gerade von Laurentine unterrichteten Schülern aufmarschiert.
"Gérard, wenn Sandrine diese Sturheit geerbt hat zieh dich warm an", schnaubte Laurentine verbittert. Doch dann bedankte sie sich bei den sechs Gefährten aus der Zaubererwelt und sprach auch mit Jeanne, wobei sie Begriffe aus der magischen Welt ausließen.
"Wie meine Frau euch in der Kapelle gesagt hat ist alles schon durch. mein Schwiegervater hat das schon weit vor seinem Tod bezahlt. Also hört jetzt gefälligst mit dieser verlogenen Zankerei auf, Tante Mariette und Tante Ninette", schimpfte Simon Hellersdorf.
"Verlogen? Wenn hier wer verlogen ist dann wohl doch du, Simon Hellersdorf. Spielt hier den großen Erfolgsmenschen, den stellvertretenden Direktor. Dabei hast du nicht einmal Kontrolle über deine eigene Tochter, lässt ihr alles durchgehen, sogar dass sie sich vom rechten Glauben abgewandt hat und jetzt in einer Jungesellinnenwohnung in Paris lebt, wo jeder weiß, wie verlottert diese Stadt ist", keifte Mademoiselle Ninette Lacroise.
"Die blanke Eifersucht", mischte sich nun ein anderer Mitfeiernder ein, den Julius nicht mit Namen kannte, nur wusste, dass er wohl mit Laurentines verstorbenem Großvater studiert hatte.
"Wie erwähnt, ihr zwei Xanthippen. Euer Bruder möchte gerne zwischen den Sternen ruhen, die blaue Erdkugel schön unter sich drehend. In drei Monaten ist der Start. Und damit ihr zwei beruhigt seid, er hat eine US-Bestattungsfirma mit seiner Orbitalbeisetzung beauftragt. Ich habe also nichts damit zu tun."
"Dann ist das auf Normans Mist gewachsen?" wollte Mademoiselle Mariette wissen.
"Frage ihn doch. Du kannst doch Englisch", konterte Monsieur Hellersdorf.
Julius zwang sich dazu, mit den Tischgenossen über den Verstorbenen zu sprechen, wen er so alles zum Erfolg geführt hatte und was Laurentine über ihn erzählt hatte.
Während sich Henris Schwestern mit ihrem Vetter Norman zu zanken anfingen kam die Vorsuppe. Als dieser Gang wieder abgetragen wurde verließen auch die beiden streitbaren Schwestern die Trauerfeier zusammen mit ihrem dezent im Hintergrund harrenden Chauffeur.
Millie und Céline konnten sich mit Madame Galin, der Tochter eines Kollegen von Monsieur Hellersdorf unterhalten, die gerade im dritten Monat schwanger war. Millie und Céline erwähnten nur, dass sie schon zum zweiten Mal schwanger seien und Céline beim ersten Mal Zwillinge bekommen hatte. "Oha, das klingt nicht gerade angenehm", sagte Madame Galin. Millie erwiderte, dass es nicht immer angenehm war, aber das Gefühl, wen neues heranzutragen das immer wieder ausgliche. Céline musste dem beipflichten, wobei ihr Mann manchmal kritisch dreinschaute, als sei es nicht wirklich sein Wunsch, demnächst drei Kinder im Haus zu haben. Dann wollte Madame Galin natürlich wissen, wo die beiden Schulfreundinnen von Laurentine die so schicken und gut sitzenden dunklen Umstandskleider her hatten. Millie erwähnte, dass es eine Maßanfertigung sei und die Schneiderin das leider nicht für jeden tat. Das wäre nur gegangen, weil die Schneiderin ihre Eltern von früher kannte und ihr deshalb den Gefallen getan hatte, ihr ein passendes Kleid für die Trauerfeier zu schneidern, um zu zeigen, dass das Leben weiterginge.
"Ich habe meine Großeltern ja alle vier noch. Aber ich muss immer an den Spruch denken: Wenn die neuen kommen müssen die alten gehen."
"Das hoffe ich doch mal nicht", erwiderte Millie. "Meine Großeltern möchten ihr zweites Urenkelkind schließlich auch noch aufwachsen sehen. Albericus nickte heftig.
Immerhin konnten die sechs Gäste aus der magischen Welt genug finden, worüber sie sich unterhalten konten, ohne aufzufallen. Das lag auch daran, dass Laurentine Céline und Belisama immer viel über die Muggelwelt erzählt hatte, Millie ja selbst das Fach Studium der nichtmagischen Welt gehabt und einen UTZ darin erworben hatte und Jeanne sich auch mit der magielosen Welt befasst hatte und zwischendurch von Julius auf den neusten Nachrichtenstand gebracht wurde. So ging es auch um die Vergeltungsaktionen nach dem elften September und ob ein neuer Krieg wirklich den Opfern gerecht wurde.
Am Ende der dreistündigen Feier verabschiedeten sich alle voneinander. Julius bedankte sich noch einmal bei Madame Lacroise für die Einladung und hoffte, dass sie ihren verstorbenen Mann immer im Herzen und im Bewusstsein haben, aber auch Freude an der restlichen Welt empfinden mochte.
"Mein Schwiegersohn hat merkwürdige Andeutungen gemacht, Sie alle seien in einer merkwürdig abgeschotteten Schule unterrichtet worden, die zur Abkehr von der althergebrachten Zivilisation erziehen solle. Aber den Eindruck kann ich hier und jetzt nicht bestätigen. Mal wieder eine von Simons verächtlichen Andeutungen, nur weil seine Tochter ihren ganz eigenen Weg gehen will. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Gattin auf jeden Fall eine glückliche Zeit und Ihrer Gattin eine möglichst schmerzarme Niederkunft. Wenn ich es richtig mitverfolgen konnte bevorzugen sie und die Madame Dornier ja Hausgeburten. Da ist es besonders wichtig, um den Beistand der himmlischen Mutter unseres Heilands zu bitten. Denn sie kennt die Nöte und Hoffnungen der Mütter am besten."
"Das ist wohl richtig", tat Julius dieses Glaubensbekenntnis als hinnehmbar ab.
Wieder zurück im VW-Bus musste Millie doch loslachen: "O Mann, wenn Tine eines Tages derartig aus jeder Spur fliegt sollte ich froh sein, das nicht mehr miterleben zu müssen. Diese Heuchlerinnen. Die sahen doch nur das Geld, was ihr Bruder für seine Exklusivbestattung hingeblättert hat."
"Der wird auch wissen, warum", meinte Robert. Jeanne meinte, Anstandsdame spielen zu müssen und sagte:
"Nun, besser ist es immer, wenn Geschwister sich darüber unterhalten, wie sie ihre Leben planen und weit vor dem Tod schon klären, wie ihr Abschied gefeiert werden soll. Ich konnte mich ja weder mit Claire noch meiner Großmutter Aurélie über sowas unterhalten."
"Hauptsache, wir sind nicht als blöde Hinterweltler aufgefallen", sagte Julius.
"Ich denke, Laurentine hätte uns nicht eingeladen, wenn sie das einen Moment hätte fürchten müssen", erwiderte Belisama darauf.
"Auf jeden Fall kann ich dieses Kleid umfärben lassen und noch zu Weihnachten anziehen. Das sitzt besser als bei der Schwangerschaft mit Aurore", sagte Millie.
"Vertikale Herausforderung", griff Albericus den Begriff auf, der ihn trotz der erwarteten Trauerstimmung belustigt hatte. "Ich fürchte, meine Mutter könnte sich totlachen, wenn ich ihr dass sage, dass sie vertikal herausgefordert sei."
"Na ja, Albericus, in der magielosen Welt ist "Zwerg" ein Schimpfwort, eine abfällige Bezeichnung für kleine Leute. Dass es echte Zwerge gibt glaubt ja keiner über fünf oder sechs Jahren mehr", erwiderte Julius.
"Trotzdem lustig. Was ist denn dann eine Sabberhexe: Optisch herausgefordert oder was?"
"Ich druck dir mal alles über den Begriff "Politische Korrektheit" aus. Aber ich fürchte, du könntest dann deine Enkeltochter Chrysie nicht mehr in die Arme nehmen, weil du dich vorher totgelacht hast, Albericus."
"Ihr seid echt abgedreht", knurrte Céline. "Macht über das Sterben Scherze, wo wir alle gerade von einer Trauerfeier kommen.
"Ja, Maman", entgegnete Robert. "Dabei wissen die ganzen Muggel gar nicht, wie lächerlich diese Zankerei ist, ob jemand von Würmern im Erdboden gefressen werden soll oder zu Asche verbrannt auf einer supergroßen Feuerwerksrakete in den Himmel geschossen zu werden."
"Erde zu Erde, Asche zu Asche, Sternenstaub zu Sternenstaub", deklamierte Julius. Er räumte ein, dass er bei dem Getue der Kirchenleute schon längst sein Essen hätte ausspucken müssen. "Aber für Laurentine habe ich mich genauso verbogen wie der Großteil der anwesenden Gemeinde", sagte er noch.
Wieder bei den Latierres sprachen sie mit Hippolyte über das erlebte. "Also, wenn irgendwelche von meinen Schwestern meinen letzten Wunsch zurückweisen komme ich garantiert als Geist zurück und drehe der oder denen eigenhändig den Hals um", zischte Hippolyte Latierre.
"Da hätte deine Mutter wohl was gegen", sagte Albericus.
"Hättest du wohl leider recht, Berie", gestand Hippolyte ein.
Als Millie und Julius ihre Tochter Aurore mitnehmen wollten quängelte diese, dass sie bei Miriam bleiben wolle. Millie sagte dann: "Gut, bis morgen früh. Aber dann bringt Oma Hipp dich wieder zu uns nach Hause. Aurore sah ihren Vater mit ihren großen, hellblauen Augen an und wartete auf seine Antwort:
"Okay, Rorie. Du bleibst die Nacht hier. Aber mach keinen Krach und tu, was Oma Hippolyte und Opa Albericus dir sagen. Sonst lassen die dich nicht mehr mit Tante Miriam spielen." Aurore grummelte erst, nickte dann aber.
"Jetzt sind wir mal wieder allein zu Hause", sagte Millie zu ihrem Mann, als sie von Albericus bis zum Apfelhaus gefahren worden waren. Jeanne bedankte sich für die interessante Fahrt und apparierte in ihr eigenes Haus zurück, um nachzuprüfen, ob Bruno als unbetreuter Vater keinen Unsinn angestellt hatte.
"In zwei Monaten kullerst du aus mir raus, Chrysie, dann kannst du strampeln und boxen wen du willst", murrte Millie, weil ihre ungeborene Tochter gegen Abend erst richtig munter wurde.
"Wie war das? Die unangenehmen Momente werden dadurch, ein neues Leben zu tragen ausgeglichen", feixte Julius.
"Ich könnte jetzt sagen, dass du unser drittes Kind zu kriegen hast. Aber du würdest das glatt ausprobieren und dann immer sowas machen wollen", knurrte Millie. Dann musste sie laut aufstoßen. "Hat mir die Kleine doch glatt eine Luftblase aus dem Magen hochgeboxt."
"Das sollte doch nur ein Lied werden", sagte Julius.
"Natürlich", lachte Millie nun und schüttelte ihre ungeborene Tochter damit noch einmal kräftig durch.
Die Weihnachtsferien kamen und mit ihnen die in Beauxbatons lernenden Jungen und Mädchen. Diesmal gingen Millie und Julius nicht zum Ankunfts- und Ausgangskreis für die sonnenuntergangsrote Reisesphäre hin. Sie bekamen es dadurch mit, dass Camille die Latierres zur Begrüßung von Melanie und Dénise ins Haus Jardin du Soleil einlud. Melanie Dusoleil fühlte sich seit der unrühmlichen Angelegenheit mit ihrer leiblichen Mutter immer besser in Beauxbatons. Das lag auch daran, dass sie mit Celestine Rocher und ihrer Cousine Dénise genauso ein freundschaftliches Gespann bildete wie das Trio Babette Brickston, Armgard Munster und Jacqueline Richelieu.
"Na ja, die Jacquie und Gardie sind drauf aus, sich einen Typen aus dem gelben Saal zu sichern. Deshalb ist Babette häufiger alleine unterwegs", berichtete Melanie.
"Und kommt ihr noch gut mit allen Lehrern zurecht?" wollte Julius wissen.
"Ich habe bei Professeur Dirkson fünf mal zwanzig Bonuspunkte gekriegt, weil ich das mit der Vivo-ad-invivo-Verwandlung so schnell hingekriegt habe", sagte Dénise stolz. "Mel hat's da eher mit Zauberkunst und Zaubertränken." Melanie nickte bestätigend. Dann erfuhr Julius, dass Melanie im Zusammenspiel mit Mayette Latierre beim Spiel der Roten gegen die Violetten sieben Tore gemacht hatte. Celestine sei erst einmal als Reservejägerin eingestiegen, wolle aber zusehen, im nächsten Jahr als Hüterin anzufangen, wie ihr großer Bruder César. Dénise meinte dazu nur:
"Ja, aber gegen Babette und mich zieht ihr keine Punkte, Mel. Da müsstet ihr schon Millies und Julius Cousinen-Zwillinge zugleich im Spiel haben, und das dürft ihr ja nicht, hat Professeur Beaufort angesagt."
"Und trotzdem kriegen wir den Pokal wieder. So!" erwiderte Melanie trotzig.
"Und wie geht es bei euch im grünen Saal noch zu?" fragte Julius Dénise.
"Eh, frag doch gleich, ob ich dir was über Gabie und Pierre sagen kann oder darf", grinste Dénise. "Die zwei sind immer noch zusammen. Ich hab's mitbekommen, dass die im Ministerium wen extra für die Veela-Kinder abgestellt haben und bekam mit, dass du das wärest. Gabie dürfte jetzt wieder bei ihren Eltern sein."
"Immerhin sind wir da, wo ich arbeite, für alle Zauberwesenzuständig und mit wem die gut bis gar nicht gut zurechtkommen", sagte Julius. Er hatte eh beschlossen, sich mit Gabrielle zu unterhalten, nicht über ihre Beziehung zu Pierre, sondern über Euphrosyne Blériot.
So schickte er nach dem Abendessen bei den Dusoleils seine Schleiereule Francis zu den Delacours.
Einen Tag nach der Rückkehr der Beauxbatons-Schüler kam Francis zurück und brachte Julius eine Antwort von Apolline und Gabrielle Delacour. Gabrielle war einverstanden, dass Julius sich mit ihr über seine neue Aufgabe unterhielt und wollte auch Fragen über ihre ältere Cousine Euphrosyne beantworten, solange es nicht um was ging, was Euphrosyne andere nicht wissen lassen wollte.
So reiste Julius per Flohpulver zum Haus Champ du Chante, wo Apolline und Gabrielle schon auf ihn warteten. Pygmalion hatte sich für den Abend mit alten Schulfreunden verabredet.
"Also, die Damen, ich bin nicht in Erfüllung eines an mich ergangenen Auftrags hier, sondern möchte mich dir, Gabrielle, nur als von deiner Großmutter Léto und dem Zaubereininisterium Frankreichs eingesetzter Vermittler zwischen Veelas und Menschen vorstellen. Deshalb möchte ich gerne damit anfangen, dass du mich fragst, was dich an dem, was ich mache, interessiert."
Nachdem er Gabrielle zehn Fragen beantwortet hatte, auch die, ob er es verbieten konnte, wenn sie heiraten wollte, was er damit beantwortete, dass es nur für ihn wichtig sei zu wissen, wen, erzählte er Gabrielle, wen er von ihren Verwandten nun alles kennengelernt hatte. "Leider konnte ich mich nicht mit deiner Cousine Euphrosyne unterhalten, weil die an dem Tag, wo deine Oma Léto und ich zu allen hingeflogen sind, nicht zu Hause war. Dann haben mir welche von deinen anderen Cousinen was erzählt, dass Euphrosyne sich für Muggelsachen interessiere und dich deshalb dazu befragt hat. Konntest du ihr helfen?"
"Hmm, die wollte erst mal wissen, warum Jungs wie Pierre so auf diese Spice Girls abgehoben hätten. Mittlerweile hat sich Pierre ganz auf Geri Halliwell und Mel C festgelegt, hat mir aber mal ein Foto von so'ner Lateinamerikanerin namens Shakira gezeigt. Noch zwei Jahre weiter habe ich die ganzen Tanzpüppchen aus der Radio- und Fernbildkastenwelt eh überholt. Aber was Euphrosyne mit diesen ganzen Muggelsportlern hat weiß ich nicht. Die können der doch nix bieten. Ich musste mich andauernd mit Pierre über Tennisschläger, Fußballtreter oder Golfballdrescher unterhalten, wie die Regeln sind und warum die bei Muggelmädels so gut ankommen."
"Hat der dir dann den Spruch gesagt: "Erfolg macht sexy"?" fragte Julius. Gabrielle wollte wissen, was der Begriff sexy besagte, ob damit jemand viele Frauen oder Männer zum Liebemachen rumkriegen könne. Ihre Mutter räusperte sich vernehmlich. "Maman, wenn du uns nicht zuhören willst geh doch bitte raus", sagte Gabrielle dann ganz aufsässig.
"Mädchen, fang jetzt bloß keinen Zank mit mir an", schnarrte Apolline. Nun räusperte sich Julius, um Aufmerksamkeit zu kriegen und sagte: "Das Wort aus meiner Muttersprache sagt, dass jemand noch anziehender als nur hübsch ist, ja und kann - Verzeihung Madame Delacour - auch heißen, dass jemand einen auf sein oder ihr Geschlecht stehenden oder stehende leichter für eine Stunde körperlicher Liebe oder eine das Leben lang haltende Ehe begeistern kann. Ja, und bei manchen Männern und Frauen kommt diese Möglichkeit auch daher, dass er oder sie eine Menge Geld verdient oder ein berühmter Quidditchspieler oder Zauberkunsthandwerker ist. Der oder die muss dann nicht schön aussehen, sondern eben nur eine Menge in dem, was er oder sie macht hinbekommen haben oder noch hinbekommen."
"Fleur hat sich einen Gringottstypen gezogen, der auch gegen Todesser gekämpft hat", sagte Gabrielle. "Pierre ist gut in vielen Fächern und hat auch raus, sich mit großen Jungs zu hauen, obwohl ich dem gesagt habe, dass der sich nicht andauernd mit denen anlegen soll, weil ich keinen Draufhauer haben will, sondern wen, der auch denken kann", sagte Gabrielle. Julius antwortete nicht darauf, sondern fragte, über welche Sportler sie mit Euphrosyne geredet hätte. Er bekam einige Namen, die er kannte, konnte anderswo namen ergänzen und konnte auch erklären, wo die betreffenden Männer ihr Geld und ihr Ansehen verdienten. "Dann meinte Euphrosyne noch, dass diese Frauen von solchen Männern doch jede andere neidisch machen mussten. Sie hat sich besonders für diesen englischen Fußballtreter David Begham und seine Frau interessiert, die ja auch mal bei diesen Spice Girls mitgesungen hat. Ähm, ich habe bis heute kein einziges Lied von denen gehört."
"Ich habe die erstenzwei CDs bei mir, also die Silberscheiben, in die mit Maschinen Musik eingespeichert und dann immer wieder abgespielt werden kann", erwiderte Julius.
"Na ja, die sind ja jetzt eh nicht mehr wichtig für Pierre", sagte Gabrielle. Julius nickte. Dann fragte er Gabrielle, ob sie Pierre noch einmal in den Ferien treffen würde.
"Wir treffen uns nach Weihnachten bei denen", sagte Gabrielle. Apolline fügte hinzu, dass sie das mit Pierres Mutter vereinbart habe, damit es zwischen ihnen keine unnötigen Reibereien gab, wenn es wirklich einmal ernst zwischen Gabie und Pierre würde. Damit war für Julius der Ausflug erledigt. Er bedankte sich noch einmal bei den beiden Veela-Nachkommen und kehrte in sein eigenes Haus zurück. Dort dachte er über Gabrielles Aussagen nach. Suchte sich Euphrosyne wen aus der Muggelwelt, womöglich einen Profi-Sportler? Sollte das passieren könnten er und eine der beiden Mesdames Grandchapeau irgendwann dazu veranlasst werden, wieder zusammenzuarbeiten. Doch solange Euphrosyne sich nicht mit ihm unterhalten wollte und ihre Mutter Églé auch nichts verriet konnte er leider nichts anderes machen als warten.
Auch wenn Julius nicht nach Friede auf Erden zu mute war, freute er sich doch auf Weihnachten. Da Millie im Moment wieder die einzige werdende Mutter in Millemerveilles war, würde sie die Kerze mit dem Licht für alle erhalten, an der alle anderen Kerzen entzündet wurden.
Zwei Tage vor Heiligabend bekamen die Latierres ihren Weihnachtsbaum. Laurentine war von den Brickstons eingeladen worden, mit Ihnen Weihnachten zu feiern.
Am Tag vor Heiligabend holte Léto Julius im Foyer des Zaubereiministeriums ab. Noch einmal schrumpfte er sich ein und ließ sich von ihr in den Wald tragen, in dem sie wohnte. Dort traf er fünf weitere Veelas aus dem Rat, alles weibliche. Er schirmte sich immer wieder gegen sie ab, auch als sie anfingen, um ihn herumzutanzen und mit ihren glockenhellen Stimmen sangen. Als er das überstanden hatte nickten sie ihm anerkennend zu. Dann fragten sie ihn ab, was er über ihr Volk gelernt hatte. Zwei Stunden ging das so. Am Ende musste Julius Létos weiblichen Stammbaum heruntersingen. Dann sagten die vier anderen:
"Léto hat weise gewählt. Du besitzt wahrlich genug Wissen und Lernvermögen, unser menschlicher Bote und Berater zu sein. So führe nun dein Leben glücklich und erfolgreich und erfülle deinen Auftrag mit Umsicht und Überblick!" Danach verwandelten sie sich in Schwäne und Störche und flogen davon. Julius war sichtlich geschafft von diesem Examen. Er wollte nur noch nach Hause zu seiner Frau und seiner Tochter. Doch er musste zuerst einen genauen Bericht schreiben.
"Dann ist der Auftrag nun ganz und gar amtlich", sagte Ornelle Ventvit, als sie Julius' Bericht gelesen hatte. Julius nickte. Was er von dieser Bestätigung halten sollte, wusste er noch nicht. Denn immer noch suchten die Veelas nach Euphrosyne Blériot. Was hatte diese wirklich vor? Hoffentlich paktierte sie nicht mit diesem Lord Vengor.
Weihnachten in Millemerveilles erschien für die, die es jedes Jahr miterleben durften immer gleichbleibend. Doch wenn alle sahen, wer neu dazugekommen war und wer demnächst noch dazukommen würde, konnte an diesem Fest ablesen, wie die Zeit verging. Dann doch einen ständig gleichen Ablauf beizubehalten war für viele ein sicherer Anker in einer sich ständig ändernden Welt.
Einen Tag später feierten die Latierres alle zusammen im Sonnenblumenschloss. Die Kinder durften in einer extra freigeräumten und gepolsterten Halle toben und spielen. Julius führte seiner Schwiegermutter das Weihnachtsgeschenk seiner Frau vor, ein Besenapportierset, bestehend aus einer Glocke ohne Klöppel und einem versilberten Rohr, in das der Besen gesteckt wurde. Im Umkreis von fünfhundert Kilometern konnte er nun seinen eigenen Flugbesen mit der unhörbaren Glocke herbeiläuten. Der Besen kam aus dem Nichts heraus und hielt aufstiegsbereit neben ihm.
"Fünfhundert Kilometer ist ein bisschen wenig für einen, der dauernd durch die Welt reist", sagte Ursuline Latierre. "Aber für sowas wie einen Ausflug in die Muggelwelt ist das schon günstig, notfalls einen eigenen Flugbesen herbeirufen zu können", sagte sie.
"Vor allem, wenn ich nicht disapparieren kann", sagte Julius. Dem konnte Ursuline Latierre nicht widersprechen.
Für den Jahreswechsel 2001-2002 hatten sich die Dorfräte von Millemerveilles und Viento del Sol etwas besonderes einfallen lassen. Sie wollten das Jahr dass von vorne wie von hinten gelesen werden konnte feiern, indem sie erst in Millemerveilles und dann in VDS den Jahreswechsel feierten. Zu diesem Zweck reisten am 30. Dezember zweihundert Bürger aus Viento del Sol mit beiden verfügbaren Überschallluftschiffen innerhalb einer halben Stunde an. Darunter waren auch die Eheleute Brittany und Linus Brocklehurst, Martha und Lucky Merryweather und die gesamte Quodpot-Mannschaft der Viento del Sol Windriders. Julius fand es nicht so toll, dass auch die Reporterhexe Linda Knowles mit an Bord eines der beiden Luftschiffe war. Ihre magischen Ohren konnten Unterhaltungen aus mehr als fünfhundert Metern Entfernung abhören, wenn keine Lauschabwehrzauber wie der Klangkerker oder die von Hermine Weasley geborene Granger erfundene Muffliato-Glocke ausgeführt wurden. Deshalb beschränkte sich Julius bei der Begrüßung seiner Mutter auf die Sätze, die keinen Zeitungswert hatten.
"Mel und Myrna lassen grüßen und sagen, dass sie nur bei uns mitfeiern wollen", sagte Brittany zu Julius, als er sie begrüßte.
"Ach, wollten die den Ortszeitanpassungstrank nicht zweimal schlucken?" fragte Julius. Brittany erwiderte, dass sie den eigentlich auch nicht einnehmen wollte, wo sie wusste, was darin verarbeitet wurde. Als Veganerin verabscheute sie die Verwendung tierischer Bestandteile und achtete meistens darauf, nur solche Dinge und Lebensmittel zu benutzen, die rein pflanzlich erzeugt wurden.
"Schon interessant, dass die Überschallwürste auch mit einem Viertel ihrer Geschwindigkeit fliegen können", meinte Linus Brocklehurst. Dann sah er Millie, die ihre Schwiegermutter umarmte.
"Oha, Britt, willst du echt mal so aussehen wie Millie?" fragte er seine Frau. Diese sah Millie genau an und antwortete:
"Sieht gewöhnungsbedürftig aus, Linus. Aber wenn ich weiß, warum das so ist und dass das nicht so bleiben muss warum nicht. Das Aussehen ist da ja echt nicht das schwierigste dran." Julius sagte dazu nichts. Er sah eher auf die drei Friday-Schwestern Dawn, Hope und Eve, die gerade mit den Mitgliedern der Millemerveilles Mercurios zusammentrafen und dabei von verschiedenen Kameras fotografiert wurden.
Zur großen Jahreswendfeier im Musikpark verblieben noch drei Stunden. Die Zeit reichte Julius und seiner Mutter, sich in seinen pilzförmigen Geräteschuppen zu setzen und eine CD-ROM mit neuen Programmen abzuarbeiten. Viermal mussten sie dabei Julius' Rechner neustarten, um die aufgespielten und installierten Komponenten und Programme korrekt einzurichten. Lucky Merryweather vertrieb sich derweil mit seinem Neffen Linus die Zeit im Tierpark, während Brittany sich von Millie über die angenehmen und unangenehmen Sachen einer bald zweifachen Mutter unterrichten ließ.
Als endlich alle Programme ordentlich aufgespielt und eingerichtet waren gab ihm seine Mutter einen kleinen Notizblock, auf dem stand: Arcanet 1.9 Handbuch. Julius nahm einen Notizzettel und schrieb mit Kugelschreiber die Frage auf: "Wieso 1.9 und nicht 1.0?" Seine Mutter, auch auf der Hut vor Linda Knowles' Zauberohren, schrieb darunter "Weil ich neun Nachbesserungen von Version 1 machen musste." Dann deutete sie auf die erste Seite des Handbuches. Julius las, dasss das Programmpaket das übliche Betriebssystem weitestgehend gegen äußere Zugriffe sicherte, eine dreifache Abwehr auch Firewall genannt aufbot, sowie per Mausklick ausschließlich in einem hochverschlüsselten Datennetz, dem Arcanet, Daten und Nachrichten austauschte. Da das Arcanet alle Vorgänge auf mehrere hundert Knotenpunkte gleichzeitig verteilte, von denen jeder Knotenpunkt nur einen bestimmten anteil weiterverarbeitete und erst an der Zieladresse alle Bestandteile in Klartext zurückverwandelt wurden, sowie ein Spurentilgungsprogramm die Verfolgungsalgorithmen anderer Überwachungsprogramme irreführte, war das Arcanet faktisch unsichtbar, ein aus gerade mal zwanzig Endbenutzern bestehendes Miniaturnetzwerk, in dem die Zaubererwelt die moderne Informationstechnologie nutzen konnte. Zudem suchte der angeschlossene Rechner automatisch nach Spuren, die auf Magie in der magielosen Zivilisation hindeuteten und konnte diese Datenspuren derartig verfremden, dass der Anschein, es mit Übertreibungen oder geschickten, aber doch irgendwie erkennbaren Fälschungen zu tun zu haben, im Internet umhergeisterte. Weil die Zusatzprogramme das Betriebssystem beeinflussten, hatte Martha Merryweather Routinen einprogrammieren müssen, die die übliche Aktualisierung der Systemkomponenten weiterführen konnten, aber mögliche Sicherheitslücken sofort schloss oder als Hintertüren verwendbare Komponenten abänderten, ohne dass auffiel, dass das Betriebssystem maßgeblich verändert worden war.
"Geh davon aus, dass dein Rechner bei der Aktualisierung über das Satellitenmodem fünf Minuten länger braucht als früher. Aber dafür hast du jetzt einen von wenigen Rechnern, mit denen Leute wie du und ich Daten austauschen, die nicht gleich in Langley oder anderen Geheimzentralen landen. Den rest liest du bitte selbst."
Julius bedankte sich für diese Programme, von denen auch June Priestley eine Kopie erhalten würde. Aurora Dawn konnte damit zwar im Moment nicht versorgt werden, weil sie keinen eigenen Rechner besaß. Doch durch das Bild von ihr, von dem sie und er eine Kopie besaßen, waren E-Mails auch nicht unbedingt nötig.
Julius fühlte nach dem hundertsten Tanz während des Jahreswendfestes, dass er doch schon was geschafft hatte. Millie hatte ja von ihrer Tante ein Schnelltanzverbot auferlegt bekommen, das von ihrer älteren Kollegin Matine streng überwacht wurde.
Wie es Tradition war schrieben alle Gäste eine Viertelstunde vor Mitternacht alle Sorgen des vergangenen Jahres auf einen Zettel, um sie mit dem Feuerwerk, für das Florymont Dusoleil zuständig war, in die Luft zu jagen. Julius schrieb auf, dass er sich sorgen um alle Menschen machte, die ihm was bedeuteten, weil es diesen Lord Vengor gab und auch Vampire und Werwölfe die Menschheit weiterbedrohten. Außerdem machte er sich Sorgen darum, dass alle friedlichen Errungenschaften der letzten Jahre durch die Terroranschläge vom elften September und dem deswegen begonnenen Afghanistanfeldzuges der NATO-Truppen nach und nach ausgehebelt würden, wenn die Menschen nicht wachsam blieben, was ihre Regierungen so beschlossen. Dazu schrieb er noch, dass er zwar froh war, dass Hallitti und Ilithula unaufweckbar schlafen mussten, aber wohl deren bis vor kurzem noch schlafende Schwester wieder wach sei und er nicht wisse, was diese schon angestellt hatte und demnächst noch anstellen würde.
Als mit Hui, Krach, Bumm und Zisch die bunten Raketen, Feuerräder, Leuchtkugeln und Feuervorhänge den Nachthimmel erhellten, lasen alle die große, sich um ihre Senkrechtachse drehende Zahl 2002 in goldenen Flammen über dem Musikpark.
"Also, wer noch in diesem neuen Jahr heiraten will, der zweite zweite ist wohl der Stichtag", meinte Jacques Lumière, der mit seiner Frau Mésange in der Nähe von Julius Latierre saß. Julius dachte daran, dass um den zweiten Februar herum seine zweite Tochter zur Welt kommen sollte. Allerdings konnte sie auch schon zwei Wochen davor oder zwei Wochen danach geboren werden.
Eine Stunde nach dem Feuerwerk hob das erste der beiden Luftschiffe ab. Julius sah ihm nach. Millie, Aurore, seine Mutter und sein Stiefvater wollten mit dem zweiten, in einer Stunde startenden Luftschiff losfliegen. Von den Bewohnern Millemerveilles reisten die Quidditchspieler, die Englisch konnten, sowie die Delamontagnes, Dusoleils und Lumières und van Helderns mit.
"Zeitmaschine läuft!" rief Julius, als das Luftschiff mit ihm und seinen Verwandten an Bord startete. "Zurück ins jahr 2001!"
"Schon lustig", meinte Dénise Dusoleil. "Wir fliegen echt acht Stunden zurück."
Um sieben Uhr abends Pazifikzeit legte das zweite Luftschiff an seinem Ankermast an. Die Heimkehrer und Gäste wurden von interessierten Bewohnern Viento del Sols begrüßt.
Da der Saloon im Haus zum sonnigen Gemüt nicht genug Platz bot, um alle Festgäste aufzunehmen feierten sie auf dem freigeräumten Marktplatz. Um Mitternacht sollte vom Uhrenturm im Zentrum des Ortes eine gewaltige Rakete in den Himmel schießen, die die neue Jahreszahl in den Himmel schreiben würde. Soviel wusste Julius schon.
"Na, gut geschlafen, Julius?" fragte Venus Partridge ihn, als er sie auf dem weitläufigen, mit vielen freischwebenden Luftschlangen und Leuchtballons geschmückten Festplatz wiedertraf. Er nickte.
"Dann können wir zwei ja noch mal ins neue Jahr tanzen, sagte sie. Julius nickte zustimmend.
Während des zweiten Neujahresfestes konnte Julius auch mit seiner Stiefgroßmutter Hygia Merryweather tanzen. Die Schulheilerin von Thorntails hatte sich den Abend freinehmen können, da in der Akademie gerade mal fünf Schüler verblieben waren, die nicht zu ihren Eltern oder Anverwandten in die Ferien fahren wollten. Auf der Hut vor Linda Knowles' Ohren mentiloquierte sie Julius zu: "Habe endlich rausgefunden, wie ich dem Jungen Simon Newton helfen kann, ohne andauernd Streit zu bekommen klarzukommen."
Julius gedankenfragte zurück: "Wie denn?"
"Habe mich daran erinnert, dass im Blut von Großfüßen ein Stoff enthalten ist, der zu extremen Gefühlsausbrüchen führen kann. Mit dem und etwas von seinem und seiner Mutter Blut konnte ich eine Abwandlung des Psychopolaris-Trankes ansetzen. In kleinen Dosen kann Simon dadurch behutsam zu einem gesunden Gefühlsleben finden, ohne sein überragendes Gedächtnis zu verlieren."
"Oha, darf deine Schwiegernichte aber nichts von wissen", schickte Julius zurück.
"Betrifft sie auch nicht. Habe es dir nur mitgeteilt, weil der zu früh dahingegangene Kollege Bonham Simon Newton zur allgemeinen Fallstudie in der englischsprachigen Heilerrundschau gemacht hat und ich von der Kollegin Eauvive weiß, dass du diese Rundschau zwischendurch doch nachliest."
"Die hat immer noch nicht aufgegeben", erwiderte Julius auf rein geistigem Weg. Dann sagte die Heilerin: "Nicht überanstrengen, Julius. Was ich dir mitteilen wollte weißt du nun. Mehr wollte ich nicht." Er nickte.
Als er nach mehreren Tänzen mit unterschiedlichen Hexen an den Tisch zurückkehrte, an dem Millie mit ihrer Schwiegermutter, den Brocklehursts und Dusoleils saß, hörte er gerade noch, wie sie feixte:
"Wenn Oma Line eure Ehe für gelungen anerkennen soll musst du aber bald mit eigenen Kindern loslegen, Martha."
"Nur keine Hektik, Mildrid", antwortete Julius' Mutter. "Nachher überhole ich dich noch um ein Kind, wenn ihr Latierres mich so unter Druck setzt." Dabei grinste sie wie ein amüsiertes Schulmädchen. Julius wusste im Moment nicht, wie er darauf reagieren sollte. Schnell sah er sich um, wo Lino war. Sie saß gerade mit Gilbert Latierre und dem amerikanischen Kollegen vom Kristallherold zusammen und beobachtete die Gäste.
"Also, Mum, wie ich dir bei eurer Hochzeit gesagt habe, ich werde euch nicht dreinreden, wie ihr euer Leben führt. Wenn ihr eigene Kinder haben wollt ist das eure Sache. Ihr lebt euer Leben und Millie und ich leben mit Aurore und wer noch alles dazukommt unser Leben." Seine Mutter sah ihn an und nickte dann.
"Sie sind Martha Merryweather?" fragte eine Frau Mitte dreißig, die gerade mit einem älteren Ehepaar zusammen angekommen war. Sie besaß nachtschwarzes Haar und hellgraue Augen. Martha Merryweather nickte und schien nachzudenken. "Ach, Sie müssen Ms. Dime sein, die Tochter von Mr. Dime", sagte sie dann.
"Stimmt, Eartha Dime", sagte die Hexe und deutete eine leichte Verbeugung an. "Ich fange im Januar im Muggelkontaktbüro an. Mir wurde empfohlen, mich mit Ihnen über dieses Internet-Nachrichtennetzwerk zu unterhalten, weil das vielleicht die Geheimhaltung der Zauberei gefährdet." Martha Merryweather nickte. "Vielleicht günstiger, wenn wir das nicht hier unter freiem Himmel tun", sagte sie. "Aber wir können gerne abstecken, was das Büro in den Staaten und das in Frankreich gemeinsam vereinbart haben, was bereits von den Reportern, die hier herumlaufen, erfragt worden ist.""
"Mr. Worthington hat leider keine brauchbaren Aufzeichnungen hinterlassen, als er seinen Schreibtisch leergeräumt hat", seufzte die Hexe.
"Wenn ihr über das Internetzeug reden wollt geht doch in eines der Toilettenhäuschen. Die sind Dauerklangkerker", schlug Brittany vor. Martha Merryweather überlegte. Eartha sah vom Gesicht her aus, als brenne sie darauf, mehr über dieses mysteriöse Computernetzwerk zu erfahren. Julius war sich sicher, dass seine Mutter ihr nicht gleich das Arcanet erklären oder vorführen würde. Doch auch andere Sachen waren sicher nicht für alle Ohren gedacht, ob magisch oder natürlich. So nahmen die beiden Frauen Brittanys Vorschlag an.
"Seit wann sind denn eure Klos unabhörbar?" feixte Millie an Brittanys Adresse.
"Seitdem meiner Mutter fast die Ohren vom Kopf gebrüllt wurden, weil jemand einen Heuler an sie geschickt hat, dass sie sich nicht in Dinge reinhängen soll, die sie nichts angingen. Aber den Heuler hast du ja selbst mitgekriegt, Momma Mildrid."
"Ach deshalb", tat Millie so, als verstehe sie das jetzt erst.
"Oh, die Lassospringer. Noch kraft in den Beinen?" fragte Brittany Julius. Dieser nickte. So ging er mit Brittany auf die Tanzfläche. Millie, die sah, dass Chloe Palmer, die residente Heilerin und Hebamme in Sichtweite war, ging nachsehen, ob Aurore und die anderen Kinder gut aufgehoben waren.
Da die tanzwilligen Hexen sahen, dass Julius wieder tanzte, konnte er mal wieder keinen Tanz auslassen, ohne unhöflich zu werden. Hinzu kam, dass die fünf Musikcowboys Lieder mit hoher Geschwindigkeit aufspielten. Old Firehat Felix gab dabei eine Vorstellung als Stimmakrobat, indem er mal hoch, mal tief, mal rauh und mal knödelnd sang.
Einmal konnte Julius sehen, wie seine Mutter alleine mit Eartha Dime am Tisch saß und sich angeregt mit ihr unterhielt. Offenbar ging es nicht mehr um Staatsgeheimnisse. Doch weil er gerade mit Hope Friday tanzte, und die junge Quodpot-Vorblockerin sehr tempramentvoll herumsprang, konnte er nicht weiterbeobachten, was die beiden Hexen so taten.
Eine Stunde vor der kalifornischen Mitternachtsstunde bat Peggy Swann ihn um einen Tanz. Diesen abzulehnen erschien ihm nicht klug. So gewährte er die Bitte.
"War schon ein ziemlich wildes und heftiges Jahr, nicht wahr?" begann Peggy eine kurze Unterhaltung. Julius bestätigte das. Er sah noch, dass Peggys Tochter Larissa neben der kleinen Selene Hemlock und ihrer Mutter Theia saß. Einen winzigen Moment dachte er daran, dass gleich vier Daisirin an diesem Ort zusammen waren. Doch er würde auf gar keinen Fall zu den Hemlocks gehen und denen das auf die Nase binden, dass er das wusste. Er redete mit Peggy über das, was kein Dienstgeheimnis war, baute dabei aber auch seine Bedenken ein, dass die Sache mit den Werwölfen und Vampiren noch nicht ganz aus der Welt sei.
"Cartridge ist im Moment in einer schwierigen Lage. Jemand aus der Strafverfolgungsbehörde hat an den Herold gegeben, dass er versucht, das Stillhalteabkommen zwischen seinem Ministerium und dieser Spinnenhexe wiederzubeleben. Es gibt viele, die ihm das übelnehmen. Er musste sich im Herold und dem Westwind dazu äußern und hat gesagt, dass er mit jeder Hexe und jedem Zauberer friedlich zusammenleben möchte, solange die Unversehrtheit aller Menschen mit und ohne Magie innerhalb der Staaten geachtet werde. Das reichte den Leuten aber nicht aus, die meinen, man solle diese Hexe und ihre Bundesschwestern fangen und am besten gleich in Doomcastle verbuddeln. Dann stellte sich raus, dass der, der dem Herold diese Information zugespielt hat, ein unregistrierter Lykanthrop war, der von irgendwoher diesen Lykonemisis-Trank bezog. Jetzt weiß keiner so recht, ob die Behauptung über das heimliche Bündnis eine böswillige Verleumdung oder wahr ist. Vor allem, dass möglicherweise ein Anhänger dieser Mondbruderschaft im Ministerium gearbeitet hat sorgt jetzt für viel Getöse in den Zeitungen."
"Hmm, kann ich mir vorstellen", sagte Julius. Da Brittany und Linus ihm diese Sache schon erzählt hatten zweifelte er nicht daran, dass Peggy ihm die Wahrheit sagte. Er fragte sich nur, warum sie wollte, dass er das wusste. Die Antwort fiel ihm aber sofort ein: Er sollte wissen, dass Peggy immer noch gegen Anthelias Hexenbande war.
Kurz vor Mitternacht hatte er endlich wieder Gelegenheit, zu seiner Mutter und seiner Frau zurückzugehen. Lucky Merryweather trank gerade noch den letzten Schluck Feuerwhisky aus. Denn gleich würden wie in Millemerveilles hunderte von gefüllten Sektgläsern erscheinen.
"Ui, das Zeug heizt doch voll ein", ächzte Lucky. "Aber das musste jetzt noch mal sein, bevor wir das unumdrehbare Jahr haben."
"Wieso, Lucky, hat meine Mum dich dazu bekehrt, keinen harten Alkohol mehr einzufüllen?" fragte Julius, der darauf spekulierte, dass sein Stiefvater selbst ein Scherzbold war.
"Nicht deine, sondern meine Mutter hat das behauptet, dass ich von diesem Brandgesöff runterkommen sollte, wenn ich ihr echt noch Enkelkinder vorstellen können soll. Das Zeug geht angeblich auf die Familienklunker."
"Ach, die Cracklewood-Obertal-Studie ist auch bei euch rumgegangen, dass Feuerwhisky die Wahrscheinlichkeit für Söhne senkt und Männer, die das Zeug regelmäßig trinken nur Mädchen zeugen können?" fragte Julius. "Dann hätte ich aber schon viel von dem Zeug schlucken müssen, wo ich bisher nur zwei Töchter hingekriegt habe", fügte er noch hinzu. Das brachte seinen Stiefvater und Millie zum lachen.
"Auf jeden Fall ist das ein guter Vorsatz für das nächste Jahr, weniger Alk zu trinken, Onkel Lucky", mischte sich nun Brittany ein. "Besser wäre es, überhaupt keinen zu trinken. Hoffentlich haben die dran gedacht, für Dad und mich nur Traubensaft zu apportieren."
Eine Minute vor Mitternacht glühte ein goldener Feuerring um den Fuß des Uhrenturms. Eine Sekunde später entstand etwas höher noch einer. So ging das von einer Sekunde zur anderen weiter. Julius dachte, dass das auch ein genialer Gag war, um das Jahr komplett auszuzählen.
Dreißig Goldringe umspannten den Uhrenturm, als freischwebende Kristallkelche in der Luft erschienen. Brittany beschnupperte den vor ihr aufgetauchten und machte ein erleichtertes Gesicht. "Sie haben es trotz hundert Leute mehr hinbekommen", sagte sie und umfasste den Stiel ihres Kelches. Julius nahm auch seinen aus der Luft und hielt sich bereit. Millie schnupperte an ihrem Kelch: "Ich habe auch Traubensaft. Offenbar haben die, die den Zauber vorbereitet haben auch an schwangere Hexen gedacht."
Zehn Sekunden vor Mitternacht standen alle auf, auch die kleinen Kinder wie Aurore, die bei Selene Hemlock stand. Dann zählten die Festgäste die letzten neun Sekunden laut herunter, während neun weitere Lichtringe um den Uhrenturm erstrahlten. Als Punkt zwölf Uhr ein goldener Lichtring genau über den Zifferblättern der Uhr glühte, schlug es vom Uhrenturm laut und weithallend. Gleichzeitig stießen die Festgäste mit ihren Gläsern an und wünschten einander "Frohes neues Jahr!" oder "Prosit zweitausendzwei!" Julius stieß erst mit seiner Frau, dann mit seiner Mutter und dann mit seinem Stiefvater an. Die wilden Lassospringer waren auch damit beschäftigt, mit Festgästen auf das neue Jahr anzustoßen.
Laut fauchend jagte eine Rakete mit drei goldenen Flammenstrahlen in den Himmel hinauf, höher und höher. Dann begann sie, die neue Jahreszahl in mehreren Dutzend Meter großen Ziffern an den Himmel zu schreiben. Als die zweite Zwei vollendet war, schwirrte die Rakete um die ganze Zahl herum und jagte dann noch weiter nach oben, um in einer Wolke aus goldenen, blauen, grünen, rosaroten, silbernen und violetten Funken zu zerbersten. Jetzt erst legten Pfeifen, Böller, Knaller und Feuerräder los, wobei keiner der Feuerwerkskörper höher stieg als bis zur in den Himmel geschriebenen Zahl 2002. Den Uhrenturm umstrahlte nun eine goldene Aura, die das Wahrzeichen von Viento del Sol noch erhabener, wahrhaft magisch hervorhob.
Zwanzig Minuten dauerte es, bis alle, die wollten, einander zugeprostet hatten. Julius verstand nun, warum Louis Vignier damals lieber mit seinen Eltern die Kreuzfahrt um die Datumsgrenze gemacht hatte. Zweimal ins neue Jahr zu feiern war schon echt ein Erlebnis. Aber um wirklich erhaben zu sein musste das nicht jedes Jahr wiederholt werden, stellte er für sich selbst fest.
Nach dem Zuprosten wurde weitergefeiert, noch zwei Stunden lang. Dann trat Mr. Hammersmith vom Dorfrat auf die Bühne und bedankte sich mit magisch verstärkter Stimme bei den Festgästen. "Wer will kann noch weitermachen, Leute. Aber gemäß der Dorfregeln darf es nun leider keine frei aufgeführte Musik mehr geben. Deshalb möchte ich Sie alle bitten, einen herzlichen Applaus für unsere ausdauernden fünf Musiker hier zu spenden!" Die Festgäste entsprachen sehr gerne, laut und lange dieser Bitte. Old Firehat Felix zog seinen feuerroten Cowboyhut und verbeugte sich.
"Es heißt immer, Applaus ist das Brot des Künstlers. Jetzt haben meine Jungs und ich sicher wieder sechs Pfund zugelegt. Danke, Leute!" Viele lachten, außer denen, die sichtbar mehr Gewicht mit sich herumtrugen, wie Madame Eleonore Delamontagne. Nur Millie grinste. Sie hätte dem Westernmusiker das sicher gerne noch mitgegeben, dass sie kein gerade zusätzliches Pfund an und in ihrem Körper bedauerte. Doch die fünf verschwanden in einer lupenrein synchronen Disapparition.
Julius verabschiedete sich von seiner Mutter, als diese um halb drei mit Lucky in ihr Haus Zwei Mühlen abreisen wollte. "Wir sehen uns dann wohl wieder, wenn die kleine Chrysope angekommen ist", sagte Martha Merryweather. Julius bejahte es.
"Bleib immer senkrecht, auch wenn was schiefläuft!" wünschte sein Stiefvater ihm.
"Du auch, Lucky", erwiderte Julius diesen Wunsch.
Da die beiden Luftschiffe sich von der Überfahrt noch regenerieren, sozusagen ihre magischen Akkus nachladen mussten, übernachteten Julius und Millie wie so oft mit Aurore in Brittanys und Linus' Haus, während die übrigen Gäste bei Mitgliedern des Dorfrates oder Kollegen oder in den Zimmern des Gasthauses zum sonnigen Gemüt schliefen.
"Hast du mitgekriegt, wie sich deine Mutter und ihr Angetrauter nach dem Zuprosten angeschmachtet haben?" mentiloquierte Millie ihrem Mann zu, als sie im Bett lagen. Julius schickte ihr zurück, dass er schon gemerkt hatte, dass Lucky durch den Feuerwhisky irgendwie angeregter wirkte. "Deine Mutter sah auch so aus, als wolle sie am liebsten mit Lucky alleine sein. Ich denke, die hat das nicht so weggesteckt, dass ich der gesagt habe, sie könnte mal langsam loslegen."
"Die sind beide erwachsen, Mamille", schickte Julius zurück. "Die werden schon wissen, was sie wann wollen."
"Ja, und die zwei neuen Hemlocks hast du auch gesehen. Rorie konnte echt mit dieser Theia reden."
"Mit Selene wäre es auch ein bisschen merkwürdig gewesen, wo die offiziell kein Französisch können darf", schickte Julius zurück. Millie bestätigte das. Aurore lag derweil schon tief schlafend in dem mitgebrachten Kinderbett am Fuß des Doppelbettes. Auch ihre ungeborene Schwester schien den Trubel um zwei Neujahrsfeiern endlich überstanden zu haben und schlief. Julius streichelte noch einmal Millies runden Bauch und wünschte seiner Frau und der in diesem Jahr erst ankommenden Tochter eine gute Nacht.
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