DELLAS DOPPELGÄNGERIN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Der dunkle Magier, der sich Lord Vengor nennt, soll im Auftrag seines in Geistform bestehenden, in einem mächtigen Zaubergegenstand gebannten Verbündeten Iaxathan alle noch lebenden Blutsverwandten töten, um Zugang zu Iaxathans Versteck zu erlangen. Nur wenn er die aus weißer Magie bestehende Barriere vor dem Versteck durchbrechen kann, will Iaxathan ihm Einblick in sein umfangreiches Wissen über dunkle Magie gewähren. Vengor weiß, dass seine Taten irgendwann enthüllen, hinter wem er alles her ist und warum er wie vorgehen muss. Im April 2002 muss er, um dem Ritual zu folgen, eine weitere entfernte Verwandte von sich töten, mit eigener Kraft. Er will jedoch nicht, dass dieser Mord zu früh auffällt. Denn so hätte er durchaus noch die Möglichkeit, weitere Opfer zu töten, bevor ihm der Zugang zu allen anderen Opfern vielleicht verbaut werden könnte. Im Bewusstsein, von allen anderen Gruppen gejagt zu werden entschließt er sich dazu, ein geschicktes Ablenkungsmanöver einzuleiten. Allerdings steht und fällt dieses mit dem, den er dafür einspannen will.

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in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1998

"Er ruft uns zur Schlacht. Der Phönixorden bietet seine letzten dummen Nachläufer auf, um ihn zu stürzen", lästerte Afranius, als er nach einem kurzen schmerzhaften Aufschrei den linken Arm hob. Kohlschwarz pulsierte das darin eingebrannte Mal, dass einen Totenschädel zeigte, aus dessen Mund eine züngelnde Schlange hervorlugte. Seine Frau Epuna hatte denselben stechenden Schmerz gefühlt.

"Junge, wir werden für den dunklen Lord die große Schlacht schlagen und alle Schlammblutfreunde ein für allemal aus dieser Welt fegen", frohlockte Afranius, als sein halbwüchsiger Sohn ihn erwartungsvoll ansah. Wie gerne würde er seine Eltern begleiten, mit ihnen die entscheidende Schlacht schlagen, um endlich Rache zu üben an allen, die ihn damals ins Gefängnis gebracht hatten. Zwar wusste er, dass der, den er hasste wie sonst keinen anderen Zauberer auf Erden, außerhalb der britischen Hoheitsgebiete sicher untergebracht war. Auch wusste er, dass dessen Freunde irgendwie aus Hogwarts herausgeholt und in Sicherheit gebracht worden waren. Doch er wollte all die bekämpfen, die ihn damals derartig gedemütigt hatten, McGonagall, Flitwick und Filch. Wenn er es schaffte, Feinde des dunklen Lords zu töten, ja vielleicht die Freunde des Unerwünschten Nummer eins niederzustrecken, dann ... Unvermittelt hielten seine Eltern ihre Zauberstäbe in den Händen. Keinen Lidschlag später fühlte er sich wie in unsichtbares Eis eingeschlossen. Sie hatten ihm den Bann der zeitlosen Verharrung auferlegt, von dem nur sie ihn wieder lossprechen konnten.

"Wer so einfältig und leichtfertig zeigt, was in ihm gährt und so arglos in eine Falle gerät hat bei dieser Schlacht nichts verloren", grummelte Afranius. Seine Frau sah ihren Sohn mit gewisser Abbitte an. "Du bist noch lange nicht stark genug, dich mit diesen Schlammblutfreunden zu messen, Bru", sagte sie mit gewissem Bedauern in der Stimme. "Hier bist du sicher. Wenn wir wiederkommen darfst du dich wieder frei bewegen."

"Komm, Epuna. Der Dunkle Lord ruft zur letzten Schlacht gegen die Verderber der reinen Zaubererwelt!" schnaubte Afranius. Er winkte seiner Frau zu. Diese nickte und disapparierte mit ihrem Mann. Ihr gemeinsamer Sohn blieb bewegungsunfähig zurück.

"Ihr feigen Würmer", stieß er in Gedanken aus. Doch weil er die Kunst des Gedankensprechens nicht erlernt hatte konnte er weder den Vater noch die Mutter erreichen. Dabei hätte er zu gerne gezeigt, dass er nun doch den Todesfluch ausführen konnte, am liebsten unter den Augen des dunklen Lords, damit er ihm zur Belohnung für seine Einsatzbereitschaft das dunkle Mal in den Arm brannte, das Zeichen der Todesser. Doch seine Eltern hatten seit dem gemeinsamen Ausbruch aus Askaban immer dafür gesorgt, dass er nicht einmal in die Nähe von Todessern kam. Sie hielten ihn für zu schwach und voreilig, seitdem er damals versucht hatte, einem streberhaften Schlammblüter das Lebenslicht auszublasen.

Minuten wurden zu Stunden. Doch dem im unsichtbaren Bann der ständigen Verharrung gefangenen erschien die Zeit eh unermesslich. Wenn ihn hier jemand so fand war er das Gespött der Zaubererwelt, wie auch immer die große Schlacht ausgehen würde, wenn es überhaupt zu einer Schlacht gekommen war. Dann hörte er unvermittelt den lauten Schrei seiner Mutter, der irgendwie in ihm selbst erklang. Er fühlte einen brennenden Stich in seinem Bauchnabel, der zu einem sengenden Hitzeschauer durch seinen ganzen Körper wurde. Dann fühlte er, wie die Magie, die ihn wie ein Eisblock umschloss erzitterte. Er horchte in sich hinein und dachte daran, dass seine Mutter gerade von einem risigen Fuß niedergetrampelt worden war. Er wusste, dass seine Mutter tot sein musste. Quälende Minuten oder Viertelstunden - er wusste es nicht - verrannen, während er in einem leicht vibrierenden Zauberbann stand, der ihm ein leises, unheilvolles Summen in den Kopf setzte. Dann sah er vor seinem inneren Auge einen grellen grünen Blitz aufstrahlen und meinte noch, eine entschlossene Frauenstimme "Avada Kedavra!" rufen zu hören. Er hörte einen kurzen, überlauten Aufschrei seines Vaters und meinte, etwas reiße ihm mit einem Ruck alle Kraft aus dem Leib. Gleichzeitig fiel der ihn festhaltende Zauber von ihm ab, so dass er den Halt verlor und auf den Rücken fiel. Hart und schmerzhaft prallte sein Hinterkopf auf das Parkett im Salon. Er keuchte.

Wie lange er mit pochendem Hinterkopf auf dem Boden gelegen hatte wusste er nicht und interessierte sich auch nicht dafür. Heftiger als die Kopfschmerzen war die Erkenntnis, dass seine Eltern beide tot waren. Also stimmte es doch, dass seine Eltern ihn mit einem Zauber belegt hatten, der ihnen zeigte, ob er noch lebte, ihm aber auch verriet, wann sie starben. Sie hatten die Schlacht nicht überlebt. Damit war auch ihr Zauberbann erloschen. Er war alleine, alleine in einem großen, abgelegenen Landhaus, von starken Schutzzaubern umspannt, die ihn vor feindlichen Blicken und Angriffen schützen sollten. Doch was sollte er hier noch? Er wollte nach Hogwarts, wollte herausbekommen, wer seine Eltern getötet hatte und Rache üben.

Immerhin hatte er das Apparieren gelernt, wenn auch nur in der von den Schutzzaubern umspannten Gegend um das Versteck seiner Familie herum. Mit einem Zauber, der nur die direkten Nachkommen und Enkel derer apparierfähig machte, die in einem Gebäude wohnten, hatte er zumindest genug Bewegungsfreiheit gehabt, um diese Kunst zu lernen. Jetzt, wo seine Eltern tot waren, war er der einzige, der noch in dieses Haus reinapparieren konnte. Aber jetzt konnte er auch ganz aus der umschlossenen Gegend rausdisapparieren, was vorher nicht ging, weil seine Eltern ihn wie an einer langen magischen Leine gehalten hatten. Er musste es einfach ausprobieren.

Er lief mit seinem Zauberstab, den sein Vater von einer nach Askaban verfrachteten Schlammblüterin abgezweigt hatte - Beziehungen waren eben doch was feines - bis zum Rand des für ihn bisher benutzbaren Bereiches. Damit ihn keiner da draußen sah, wenn er disapparierte musste er es jetzt versuchen. Er stellte sich den Bahnhof von Hogsmeade vor, wo er mit den anderen im Zug angekommen oder von da weggefahren war. Sonst kannte er ja nichts in der Nähe von Hogwarts. Er konzentrierte sich und wirbelte auf der Stelle herum. Sofort meinte er, in einen viel zu engen schwarzen Gummischlauch gezwengt zu werden, der alles an seinem Körper zusammendrückte. Doch bevor er noch zu ersticken meinte war dieses Gefühl auch schon wieder vorbei. Er schaffte es gerade noch so, auf seinen Füßen zu bleiben. Dann merkte er, dass er genau auf den Gleisen des Hogwarts-Expresses angekommen war. Der Bahnhof, den er eigentlich erreichen wollte, stand knappe hundert Meter hinter ihm.

"Drachenfurz!" fluchte der fast erwachsene Jungzauberer. Schnell trat er von den Gleisen herunter, obwohl um diese nachtschlafende Zeit wohl kein Express hier entlangfahren würde, wenn überhaupt noch mal einer hier durchfuhr. Am Ende ging Hogwarts komplett in Flammen auf oder stürzte zusammen. Wenn der dunkle Lord sich so heftig mit seinen verfluchten Widersachern herumduellierte konnte ja alles mögliche passieren.

Im Licht seines Zauberstabes lief der Junge zum Bahnhof zurück und von da in Richtung See, wie er es im ersten und einzigen Schuljahr kennengelernt hatte. Da hier gerade kein Boot lag und er in Verwandlungen noch nicht so weit war, sich eines zusammenzuzaubern lief er solange am See entlang, bis er das weit offenstehende Tor auf das Gelände von Hogwarts in der Ferne sah. Er apparierte so sorgfältig er konnte, um nur zehn Meter vom Tor entfernt zu landen.

Das graue Licht des neuen Morgens war einem verheißungsvollen Rotgold im Osten gewichen. Gleich würde die Sonne über den Horizont steigen. Doch der fast zum Mann gereifte Jungzauberer hatte für derlei herrliche Naturansichten keinen Blick. Ihn interessierte, was in Hogwarts los war. Er lief in alle Richtungen ausspähend durch das Tor. Die beiden geflügelten Eber links und rechts lagen in große Splitter zertrümmert auf den Torpfosten und dem Weg herum. Nirgendwo war eine Wache zu sehen, die ihn weitermelden mochte. Er hoffte, einem Todesser zu begegnen, dem er sich zu erkennen geben konnte. Auch wenn er nicht das dunkle Mal trug war er sicher, dass die Todesser ihn als Sohn eines Verbündeten ansahen, auch wenn er nach der großen Flucht aus Askaban viele Todesser hatte sagen hören, dass er doch ziemlich dämlich gewesen sei, gleich im ersten Jahr in Hogwarts mit einem Fluch herumzumurksen, den er noch nicht konnte, dessen Versuch allein aber schon eine lebenslange Unterbringung in Askaban setzte. Aber er war der einzige aus seiner Familie, der noch lebte.

Als er sich dem ramponierten Schlossportal näherte hörte er das wilde Durcheinander aus Zaubern, Schritten, Rufen und Flüchen, Da drinnen wurde gekämpft. Die Todesser hatten es also geschafft, ins Schloss vorzudringen. Dann wurde es still. Der vor weniger als einer Stunde zum Vollwaisen gewordene Jungzauberer schlich auf das Tor zu und lauschte. Dabei bekam er mit, wie der dunkle Lord sich mit einem anderen Jungzauberer unterhielt. Er erkannte, dass das Harry Potter, der Unerwünschte Nummer eins, war. Dann erklangen zwei Zauberwörter zugleich: "Expelliarmus!" und "Avada Kedavra!" Es folgte ein kanonenschussartiger Knall. Dann trat für wenige Sekunden Stille ein. Danach brach unglaublich lauter Jubel los, der sich in der Eingangshalle hundertfach an den Wänden brach und in den Ohren des späten Ankömmlings klirrte. Der Sohn von Afranius und Epuna dachte, dass der dunkle Lord es endlich geschafft hatte, Harry Potter zu töten. Doch dann rief jemand: "Der unnennbare ist tot. Dieser Tyrann hat sein verdientes Ende gefunden!"

Der Unnennbare war tot? Das durfte doch nicht sein. Der war doch unbesiegbar, ja unsterblich. Der konnte nicht sterben! Das war eine Lüge! Der Sohn von Afranius und Epuna lief die angeschlagenen Marmortreppen hinauf. Die wild über den Boden verstreuten Edelsteine aus den zerschmetterten Punktegläsern beachtete er dabei nicht weiter.

Er wollte in die große Halle. Da rannten ihm schon die ersten entgegen, Hexen und Zauberer in der Kleidung der Todesser, nur ohne ihre Masken. Ein Zauberer sah den Spätankömmling und machte eine zum Tor weisende Wegscheuchbewegung. "Hau ab, Pane. Der dunkle Lord ist tot!" rief er. der fast erwachsene Jungzauberer starrte den Rufer an. Es war Pancras Parkinson, das Oberhaupt einer über zwanzig Generationen reinblütigen Zaubererfamilie, deren Mitglieder alle Vornamen mit P am Anfang hatten.

"Der kann nicht tot sein. Potter hat nicht den Mumm, den Todesfluch ..." setzte der Junge an, als die ersten fliehenden Todesser fast bei ihm waren. Ein Sohn vom alten Parkinson rempelte ihn an und fauchte: "Immer noch der Nichtsversteher, wie? Der dunkle Lord hat sich mit dem eigenen Todesfluch selbst erledigt. Der hat den falschen Zauberstab genommen, eh. Jetzt raus hier!"

"Das kann nicht sein. Der hat doch nicht den Fluch auf sich selbst ..." zeterte der Junge. Da brachen noch mehr Todesser aus der großen Halle aus. Dort selbst wurde gerade lautstark gejubelt. Die ehemaligen Getreuen des dunklenLords flohen. Die versuchten nicht einmal, weiterzukämpfen. "Ihr feigen Säue!" schimpfte der Junge und wollte durch die Flut der Fliehenden hindurchbrechen. Doch da packte ihn eine sehr kräftige Männerhand am Kragen und riss ihn herum. "Eh, deine Eltern sind tot. Deine Mutter war so blöd, sich genau in den Weg eines von seinen Riesen zu stellen und dein Vater wurde von so'ner dicken Sabberhexe im grünen Kleid mit einem ausgestopften Vogel auf dem Hut aus der Welt geflucht. Und wenn die wegen dir verreckt sind, du Volltroll, dann sieh zu, dass du dich für die verdammten Phönixleute unsichtbar machst!"

"Dad, lass den doch. Der ist es doch nicht wert. Oder willst du den mit Pensy zusammenbinden, dass die seine Junge kriegt?" feixte ein Sohn von Pancras, der den Spätankömmling gerade am Kragen zum Tor zurückschleifte.

"Ich versau bestimmt nicht meine edle Blutlinie mit Nichtskönnererbgut", blaffte Parkinson. "Aber wenn die den hier zu fassen kriegen plaudert der aus, was seine Alten ihm nach dem Ausbruch so aufgetischt haben. Also voran, du Gnomenhirn!"

"Eh, loslassen, du wurmzerfressener Holzkopf", fauchte der Sohn von Afranius und Epuna Pane. Der alte Zauberer lachte darüber nur. "Eh, lass los, oder du fällst gleich tot um, alter!" drohte der Sohn von Afranius und Epuna Pane. Doch das schien dem alten Parkinson nicht zu beeindrucken. Hilflosigkeit, Enttäuschung, Trauer und Angewidertheit brachten den Jungen um den Verstand. Er nahm seinen Zauberstab und rief entschlossen: "Avada Kedavra!" Pancras war nicht darauf gefasst und blickte ungläubig auf den Zauberstab. Ein grüner Blitz sirrte die nur zwanzig Zentimeter zwischen Zauberstab und Brustkorb des alten Parkinson. Der ungläubige Blick des Familienoberhauptes fror für alle Zeiten ein. Der Griff um den Nacken des Jungzauberers hörte auf. Der Jungzauberer stieß den schlagartig verstorbenen von sich, gerade so, dass keiner von Parkinsons Söhnen ihn mit seinem Zauberstab anzielen konnte. Dann warf er sich herum und lief in die Woge der flüchtenden Todesser hinein, verschwand darin und ließ sich im schnellen Tempo mit dieser durch das Schlosstor und über das Gelände treiben. Immer wieder fürchtete er, dass die Parkinson-Söhne ihn doch noch frei anzielen und ihrem Vater und seinen Eltern hinterherschicken konnten. Da hörte er einen Ruf, der irgendwie in seinem Kopf dröhnte: "Du bist tot, Brutus Cassius Pane. die Sonne geht auf. Aber du wirst sie nicht mehr untergehen sehen. Du wirst nicht mal mehr den Mittag mitkriegen." Das war sicher einer der Parkinson-Brüder. Da erreichten sie das Tor. Brutus Cassius Pane, der letzte lebende Angehörige der ruhmreichen Pane-Familie, sprang an einem breitschultrigen Todesser vorbei und disapparierte aus dem Sprung heraus.

Aufatmend, dass er alle seine Körperteile noch beisammen hatte, fand er sich in dem Haus ein, in dem er und seine Eltern so lange Zuflucht gefunden hatten. Hier herein, so hatte seine Mutter gesagt, würde auch keine Gedankenstimme dringen, die nicht ihr, seinem Vater oder ihm gehörte. Hier, wo er sich sicher genug fühlte, kam er wieder zu Verstand. Er erkannte, dass er ab heute nicht nur von den Ministeriumszauberern gejagt würde. Wieso hatte er den alten Parkinson mit dem Todesfluch erledigt? Es hätte doch auch ein Schockzauber getan. Ausgerechnet den alten Familienhäuptling der Parkinsons hatte er erfolgreich totgeflucht. Ja, gut, er hatte ihn gewarnt. Doch der hatte nicht drauf gehört. Jetzt war der alte Sack tot. Doch damit hatte sich Brutus die lebenslange Blutrache der restlichen Parkinsons eingehandelt. Die waren ihm im Zaubern mehr als zwanzig oder dreißig Jahre voraus. Außerdem würden die sich garantiert nicht auf ein Duell einer gegen einen einlassen. Die würden ihn jagen und töten, vielleicht noch aus der Ferne . Er war so seltendämlich gewesen, den alten Vollbart vor seinen Söhnen und wem noch alles abzublitzen. Er biss sich vor Wut auf die Unterlippe, dass sie zu bluten anfing. Der Alte hatte recht. Er hatte keinen Dunst, wann was richtig war und wann nicht.

Er dachte daran, dass er in diesem Haus sicher war, weil er Fleisch und Blut von Afranius und Epuna Pane war. Doch er konnte doch nicht nur im Haus hocken. Er untersuchte die Küche und die Vorratskammer. In den zwei Conservatempus-Schränken waren noch Vorräte für drei Wochen für drei Leute. Jetzt würden die neun Wochen reichen. Danach musste er aber wohl was zu Essen beschaffen. Zu trinken gab es aus dem durch einen eingewirkten Nachfüllzauber immer wieder voll werdenden Wasserbehälter. Nichts von wegen Brunnen vor der Tür, den wer untergraben könnte. Aber wenn er nichts mehr zu essen hatte?

Brutus wollte wissen, ob das Ministerium noch von den Todessern gehalten wurde. Er wusste, dass sein Vater ein Porträt von Galba Pane, seinem Ururururgroßvater, in seinem Studierzimmer hatte. Doch in das kam er nicht rein, weil sein Vater die Tür verzaubert hatte, dass nur er dort hineinkam. Doch Brutus versuchte es.

Tatsächlich ließ sich die Tür problemlos öffnen. Er fühlte nur einen Hitzestoß durch den Körper, als er über die Schwelle trat. Im Zimmer selbst standen ein klobiger Schreibtisch, ein hochlehniger Stuhl mit einem grünen Samtkissen darauf und drei Schränke mit Büchern drin. An einer Wand hingen zwei Bilder. Das eine zeigte Brutus Ahnen Galba in einem grün-goldenen Umhang mit einem hohen, schwarzen Zaubererhut mit goldenem Halbmond auf der Spitze. Der Ahnherr war mit nackenlangem Haar und bis auf die Brust reichendem Bart gemalt worden. Als Brutus ihm in die Augen sah verzog der Porträtierte das Gesicht.

"Wie kannst du es wagen, dich über das Gebot deines Vaters hinwegzusetzen, Knabe?" krächzte er ihn an. Doch dann flog ein gewisser Schrecken über sein altehrwürdiges Gesicht. "Oh, zum dreigeschwänzten Basilisken, dein Vater hat den Tod gefunden. Denn nur wenn er nicht mehr lebt, kann sein Fleisch und Blut in diesen Raum gelangen. Wo ist deine Frau Mutter?"

"Von einem rammdösigen Riesen zertreten, Ahnherr Galba", sagte Brutus mit belegter Stimme.

"Jaja, die Riesen sind in der Tat eine sehr ungeschlachte und mordlüsterne Bande", seufzte der Ahnherr. "So künde mir, Knabe, trifft es zu, dass euer Schutzherr, der dunkle Lord, wahrlich gestürzt wurde! Deines Vaters Bekundungen nach war dies doch unmöglich."

"Er ist tot, Ahnherr Galba", seufzte Brutus. "Ich habe es nicht gesehen, weil ich zu spät hinkam. Aber die alle sagen, dass der den eigenen Todesfluch abbekommen hat. Ich wollte dich fragen, ob zumindest noch das Zaubereiministerium uns gehört?"

"Uns?" lachte der gemalte Ahnherr verächtlich. "Dir schon einmal gar nicht, Knäblein. Aber leider begab es sich vor wenigen Minuten, dass eine Truppe von Schlammblütlern und deren Getreuen in das Ministerium einfielen und jene, die der dunkle Lord in seinem Imperius-Bann schlagen konnte, aus diesem erwachten und diesen Verderbern des Zaubererstolzes hilfreich zur Seite standen, um die letzten dort verharrenden Getreuen niederzuringen. Das Ministerium ist verloren. Doch die Getreuen werden sich sicher neu vereinen und diese Schmach vergelten."

"Diese feigen Säue?!" brach es aus Brutus aus. "Die sind sofort weggerannt und disappariert, als das rumging, dass der dunkle Lord tot ist. Die verstecken sich wohl jetzt vor den Ministeriumsleuten, vor allem, wenn die vom Imperius unterworfenen auspacken, wen die alles von denen kennen."

"Das ist nicht unbedingt feiges Handeln, wenn sie erst an einen sicheren Ort eilen, um sich dort zu beraten und neu zu ordnen", knurrte der gemalte Ahnherr. Dann wollte er wissen, was Brutus mitbekommen hatte, seitdem seine Eltern ihn hier mit dem Zauberbann festgehalten hatten.

Nachdem Brutus seinem Ahnherren alles berichtet hatte blaffte dieser ihn an: "Die Parkinsonsippe derartig zu beleidigen war Torheit höchsten Grades! Schon zur Lebzeit meines natürlichen Vorbildes lebten sie getreu der Losung: "Parkinsonblut wiegt dreifaches Zaubererblut und zwanzigfaches Mogglerblut auf. Dein Tod ist dir gewiss, sobald du dieses Haus verlässt, ohne zu wissen, wo du neuen Schutz finden kannst. Wie konnte dich solche Torheit übermannen, ausgerechnet das lebende Oberhaupt dieser Familie mit dem Todesfluche niederzustrecken?"

"Er hat unsere Familie beleidigt", erwiderte Brutus kleinlaut. Doch das reichte dem gemalten Zauberer nicht aus. Er wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als ein Donnerschlag wie von zehn Kanonen gleichzeitig dröhnte. Zeitgleich strahlte ein grelles blaues Licht auf, das durch die zwei großen Fenster hereinfiel. Das Haus erbebte.

"Was zu Klingsors Kessel widerfuhr gerade?" schnaubte der gemalte Zauberer.

"Drachenmist, weiß ich nicht", bibberte Brutus Pane. Er konnte sich zwar denken, dass das ein mächtiger Zauber war, der an der Außenabwehr gerüttelt hatte und auch, von wem der ausgeführt worden war. Doch was genau das war wusste er nicht.

Wieder krachte es wie zehn Kanonenschüsse auf einmal. Wieder leuchtete ein grellblauer Blitz im Studierzimmer auf. Wieder bebte das Haus. Diesmal hielt das Zittern zwei ganze Sekunden vor. Dann hörte er eine magisch verstärkte Stimme von draußen:

"Pane, du Mörder! Wir wissen, wo dein Rattenloch ist. Auch die starken Zauberbanne, die darüberliegen werden dich nicht ewig schützen. Komm also besser freiwillig raus und nimm hin, was du dir eingebrockt hast! Disapparieren bringt dir nichts. Wir haben Apparierfallen draußen aufgebaut."

"Kannst du lange warten", knurrte Brutus. Er wusste nicht, wer das genau war.

"Sie werden dich belagern oder einen über das Land ausgespannten Fluch wirken, der dein Ende herbeiführt, Knabe. Das ist der Preis für deine Narretei! Der letzte der Panes, meiner ruhmreichen Familie, wird seiner eigenen Dummheit zum Fraße fallen", grummelte der gemalte Ahnherr.

"Wie viele von dir gibt's noch?" fragte Brutus unvermittelt kühl klingend.

"Das Bildnis im Ministerium wurde gerade abgehängt. Sonst gibt es nur noch mich. Gedenkst du, mich auf deiner sinnlosen Flucht vor der Blutrache der Parkinsons mitzunehmen?" lachte der gemalte Ahnherr.

"Nöh. Ich nehm dich nicht mit, du verwittertes Stück Leinwand", knurrte Brutus und zog den Zauberstab frei. "Wenn dein Bild im Ministerium das einzige war bist du doch voll wertlos für mich. Und ich lasse mich garantiert nicht von einem gemalten Tattergreis im grünen Umhang beleidigen. Incendio!"

"Halt ein!" rief der gemalte Ahnherr noch. Da loderte der Rahmen seines Bildes hell auf. Galba Pane versuchte noch, in das daneben aufgehängte Landschaftsbild zu kommen, wo der stufenförmig aufragende Turm der Stammväter der Pane-Familie dargestellt war. Doch Brutus hatte das geahnt und steckte auch dieses Bild in Brand.

"So werde ich vergehen, aber du wirst mir folgen! Der Rache der Parkinsons kannst du nicht - du nicht meehr - aarg! - ent-rin-nen! Aaaaaaaaaah!" Diese letzten Worte schrie Galba Pane, bevor seine gemalten Füße, Beine und sein Unterkörper im magisch entfachten Feuer zu brennen begannen.

Brutus erkannte, dass er mal wieder zu voreilig gehandelt hatte. Denn wenn das Feuer auf den Rest der Möbel übersprang war er geliefert. Doch ihm fiel ein Zauber ein, mit dem er das vielleicht verhindern konnte. Er stellte sich in fünf Metern Abstand hin und holte Luft. Dabei bekam er Rauch in die Lungen und muste husten. Überhaupt wurde es immer heißer. Die Schreie seines verbrennenden Ahnherren schrillten in seinen Ohren. Er konnte sich nicht konzentrieren. Er musste aus dem Zimmer raus. Wie seltendämlich war er doch, anstatt das Bild einfach abzuhängen und zu zerreißen?

Brutus stürzte aus dem Studierzimmer. Gerade in dem Moment krachte es noch einmal. Weil er gerade durch einen Flur lief bekam er nicht mit, ob es auch wieder blitzte. Doch die Stimme von eben konnte er jetzt wieder hören:

"Wir haben gesagt, du wirst den Mittag nicht mehr erleben, Brutus Pane. So wird es geschehen. Wenn du nicht in einer Minute das Haus und den Schutzbann verlässt, werden wir Drachengallengas über dir abwerfen. Von dir werden nur noch Knochen übrigbleiben."

"Eine Minute", stieß Brutus aus. Tolle Aussichten! Er hatte die Studierstube seines Vaters in Brand gesteckt, und draußen lauerte die Parkinsonmeute, die ihn zerreißen und sein Blut saufen wollte. Da hörte er eine andere Stimme, die Stimme seiner Mutter: "Mein Sohn Brutus, wenn ich tot bin und du trotz unserer Schutzbezauberung in tödlicher Gefahr schwebst, so geh in mein Boudoir und besteige die silberne Truhe, die dort steht. Näheres dort selbst. Beeil dich!"

Das war die Stimme seiner Mutter, wusste Brutus. Sie hatte offenbar damit gerechnet, dass sie sterbenund ihn nicht mehr beschützen konnte. Eigentlich kam er nicht in das kleine Zimmer seiner Mutter, dass sie vornehm als ihr Boudoir bezeichnete. Doch als er sich der Tür näherte sprang diese auf und schwang weit offen. Er stürzte förmlich in den kleinen, mit viel Seide und Plüsch ausgestopften Raum hinein. Ja, da stand eine mit Silber beschlagene Reisetruhe, so groß wie ein Sarg. Ihn schauerte ein wenig, sich vorzustellen, dort hineinzuklettern. Doch die Minute war gleichum, und er wollte weder verbrennen noch von Drachengallengas zum klappernden Knochenhaufen zerfressen werden. So zog er die Truhe unter dem kleinen Schreibtisch vor. Der Deckel klappte von selbst zurück. Drinnen war eine Daunendecke und ein Kissen. Brutus ahnte, was das sollte. Er sprang förmlich in die Truhe, ohne sich die Schuhe auszuziehen, wie es anständig gewesen wäre. Er landete auf der weichen Unterlage. Da klappte der Deckel zu. "Um dich zu retten sage mir den Namen deines Knuddelmuffs!" wisperte die magisch aufbewahrte Stimme seiner Mutter.

"Murmel", sagte Brutus. Seine Stimme wurde von den hölzernen Innenwänden der Truhe unheimlich hohl klingend zurückgeworfen.

"Die Minute ist rum, Pane! Du hast es ...!" hörte er noch die entschlossene Stimme eines der Parkinson-söhne. Doch ein plötzlicher Ruck zerrte anBrutus und riss ihn in einen bunten Farbenwirbel hinüber, der kein oben oder unten zu haben schien. Er meinte, an einem Haken in seinem Bauchnabel fortgerissen zu werden. Die Truhe um sich herum war scheinbar verschwunden.

Wie lange die Reise durch den bunten Farbenwirbel dauerte bekam Brutus nicht recht auf die Reihe. Waren es Sekunden, Minuten oder Stunden? Als sie dann endlich vorbei war fand er sich wieder in der Reisetruhe. Sie polterte gerade auf den Boden. Brutus fürchtete schon, sie würde umkippen oder auf dem Deckel zu liegen kommen. Doch das passierte nicht.

"Ein Portschlüssel", dachte Brutus und wollte gerade den Deckel aufstemmen. Da fühlte er, wie bleierne Müdigkeit ihn überkam. Gleichzeitig hörte er die Stimme seiner Mutter aus dem Kissen dringen. "Bleibe ruhig und schlafe gut, mein Kind, bis zwei Jahr' vergangen sind! Bleibe ruhig und schlaf, Mein Kind, bis zwei Jahr' vergangen sind!"

"Eh, so'n Portschlüssel kann doch nicht noch mehr Zauber ..." vertragen, hatte er noch sagen wollen. Doch da verfiel er der ruhigen Stimme seiner Mutter und der Schlafbezauberung, die sie für ihn vorbereitet hatte.

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"Du kannst nicht wirklich Drachengallengas nehmen, Pyrophagus!" versuchte Phylobates Parkinson, seinem ältesten Bruder, der durch den Tod ihres Vaters zum neuen Oberhaupt der Familie geworden war, ins Gewissen zu reden.

"Denkst du, ich will hier an dieser Absperrglocke versauern, Phylo? Die Ehre der Familie Parkinson verlangt, den Untäter zu richten, so schnell es geht."

"Holen wir ihn raus und bestrafen ihn mit etwas, das noch schlimmer als der Tod ist, Pyro. Lassen wir ihn in nidriger Lebensform weiterleben!"

"Nix da, du Lurch. Wir erledigen ihn jetzt und hier", knurrte Pyrophagus. "Wenn du als wandelnde Heilertasche nicht zusehen willst zieh dich zu deiner kleinen, runden Haushexe zurück. Kannst ihr ja noch drei neue Babys in den Bauch legen, als Ersatz für die Pane-Sippe", feixte er noch.

"Wir könnten ihm noch einen Fernfluch aufladen, wenn er aus dem Haus ist", sagte Pontifrax, der zweitälteste Parkinson-Bruder.

"Lustig, wo Pontius gerade von den Ministeriumsleuten kassiert wurde und die jetzt wieder aufpassen, dass keiner einen landesweiten Fluch ausbreitet? Vergiss es. Wir erledigen den jetzt und verziehen uns dann in unser Notquartier, bis der Sturm sich verzogen hat, der gerade losgebrochen ist. Unsere Frauen können denen dann erzählen, wir hätten das Land verlassen."

"Wie du meinst, Bruder", grummelte Pontifrax Parkinson.

"Gleich ist seine Zeit abgelaufen", grummelte Pyrophagus. Er nahm den flugbereiten Besen, an dem eine noch unzerbrechlich bezauberte Glaskugel mit grünlich-blauem Inhalt hing. "Jetzt kannst du noch mit und beweisen, dass dir die Ehre der Familie wichtig genug ist, Phylo", feixte Pontifrax, der auch einen Besen mit einer daran hängenden Glaskugel ergriff.

"Leute, Vater hat mich zu den Heilern geschickt, damit wir einen von uns bei denen haben. Ich kann nicht mithelfen, wen umzubringen und dann so tun, als hätte ich immer nach den Heilerdirektiven gehandelt. Ein Menschenleben zählt immer mehr als ein Ehrenwort, und unseren Vater wird der Tod dieses dummen Jungen nicht rückgängig machen", sagte Phylobates und saß auf seinem Besen auf. Er flog davon, um möglichst aus der Reichweite der fünf Locattractus-Fallen zu kommen, die sie heimlichum das Haus herum aufgebaut hatten.

"Neh, war klar, dass der zu weich ist, die Ehre zu erhalten. Wer sich auch mit einer von den Buddingfields einlässt und der noch zwei Mädchen macht kann ja keine Familienehre hochhalten."

"Dad hat's ihm erlaubt, weil die Buddingfields reinblütig sind und von Morgane der Mächtigen abstammen. Weißt du doch alles. Ähm, Die Zeit ist jetzt um. Sprich ihm sein Todesurteil!"

"Worauf du einen drachenlauten Furz lassen kannst", knurrte Pyrophagus und bezauberte seine Stimme noch einmal, um Brutus sein Ende zu verkünden. Als er das getan hatte flogen beide auf ihren Besen auf und rasten knapp zweihundert Meter über dem Boden bis zu einer bestimmten Stelle hin. Dann hielten sie ihre Zauberstäbe an die Glaskugeln und riefen "Recanto infragibilis!" Die Kugelnleuchteten für einen winzigen Moment bläulich auf.

"Da unten soll das Haus sein? Ich hoffe, wir haben den Zauber auch richtig hingekriegt", unkte Pontifrax.

"Jetzt Muffensausen, Ponti? Ab mit dem Gas!" knurrte Pyrophagus und durchtrennte die Lederschnur, an der die Kugel hing mit dem Diffindus-Zauber.

"Irgendwie riecht das hier nach Rauch", meinte Pontifrax.

"Quatsch. Im Haus brennt sicher kein Feuer, und die nächste Siedlung ist fünf Kilometer von hier weg. Noch einhundert Meter nach oben, damit wir nicht in die Ausläufer reingeraten!" Pontifrax nickte und zog den Besen weiter nach oben.

"Mist, da steig rauch auf", stieß der jüngere Bruder von Pyrophagus aus. Der sah nun auch die die einhundert Meter über der Abwurfstelle entstehenden Rauchschwaden.

"Vielleicht versucht er, zu flohpulvern", hoffte Pontifrax.

"Quatsch, die haben keinen Kaminanschluss. Hat Pontius doch längst geklärt, wer von uns alles einen hat und ..." Ein zweifaches Klirren klang bis zu ihnen hinauf. Das Gas war frei. "Wenn da unten auch nur eine Kerze brennt", sagte Pontifrax. Das waren dann auch die letzten Worte, die er sagte und die sein Bruder hörte.

Mit einer unglaublichen Wucht blähte sich ein blaugrüner Feuerball auf, der innerhalb nur einer Sekunde so groß wie zwei zweistöckige Häuser wurde. Die ihm vorauseilende Druckwelle schleuderte die beiden Besenreiter von ihren Fluggeräten herunter. und hob sie noch einige Meter nach oben. Dann ließ ihre Wucht nach. Die beiden Brüder stürrzten ab, mitten hinein in die lodernde Flammensphäre. Keine Sekunde später geriten die Besenstiele durch den lodernden Glutball in Brand. Die weit ausgreifenden Flammenzungen erfassten die zwei Parkinson-Brüder und setzten ihre Kleidung in Brand. Pontifrax versuchte noch, aus dieser Flammenhölle zu disapparieren. Doch er hatte dabei in seiner Panik die fünf Locattractus-Fallen vergessen, die in einem Umkreis von einem Kilometer jeden Apparator einfingen und grausam zerstückelten. So entkam er dem Feuertod, um in einem magischen Fleischwolf sein jähes Ende zu finden.

Pyrophagus fühlte nur noch die mörderische Hitze und den unerträglichen Schmerz am ganzen Körper. Er schrie und atmete die brennende Luft. Das zerstörte seine Atemwege und raubte ihm die Besinnung. So bekam er nicht mehr mit, wie er kurz vor dem Aufschlag von innen her kochend zerplatzte und seine Überreste im Feuerball vergingen.

Die Tücke des Drachengallengases bestand nicht nur darin, organisches Gewebe aufzulösen und nur die von Kalk durchzogenen Knochen übrigzulassen, sondern auch, dass es bei Kontakt mit offenem Feuer dessen Ausdehnung und Zerstörungskraft auf das hundertfache steigerte, gemessen an der eigenen Ausdehnung sogar um den tausendfachen Wert steigern konnte. So hatte Brutus Pane in seiner Übereiltheit, das Bild seines Ahnherren zu verbrennen, noch zwei der ihn jagenden Parkinsons aus der Welt geschafft. Nur Phylobates, der von seinen Eltern dazu angehalten worden war, Heiler zu werden, entrann der Flammenhölle, weil er kurz vor dem Auflodern aus dem Erfassungsbereich der Apparierfallen heraus war und schnellstmöglich zu seiner Frau zurückapparierte.

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1. Mai 2000

Brutus Pane wachte auf und musste erst einmal erkennen, wo er war. Richtig, er lag in einer großen Reisetruhe, die als Portschlüssel bezaubert gewesen war. Doch dann hätte seine Mutter sicher nicht noch einen verflixten Schlafzauber darauf legen können. Was hatte ihre magisch aufgezeichnete Stimme gesagt? "Schlaf, mein Kind, bis zwei Jahr' vergangen sind." Brutus dachte daran, was das hieß. Er sollte zwei Jahre geschlafen haben? Er wusste, dass es einen Schlafzauber gab, der jemanden scheintot machte und bis zum Eintritt eines bestimmten Ereignisses ruhen ließ, solange er nicht verletzt wurde. Dabei konnte jemand sogar lebendig begraben oder auf dem Grund eines Gewässers versenkt werden, ohne daran zu ersticken. Wieso hatte seine Mutter das gemacht? Hatte sie damit gerechnet, dass er von irgendwem gejagt werden könnte, den sie auf diese Weise abschütteln wollte, dass er zwei Jahre lang gut versteckt blieb? Er grummelte, weil ihm klar wurde, dass seine Mutter das sicher gemacht hatte, weil sie wusste, dass er nicht lange stillhalten konnte, wenn er sich irgendwo versteckte. Sogesehen hätte sie den Zauber auch zwanzig oder fünfzig oder hundert Jahre lang dauern lassen können. Wer so schlief wurde nur um ein Hundertstel so schnell wie üblich älter. Es hatte schon Zauberer gegeben, die auf diese Weise ihre schlimmsten Feinde überlebt hatten. Nur hatten die dann nicht viel von ihrem Überleben gehabt, weil er ja schon lange für tot erklärt war. War er, Brutus Pane, jetzt auch für tot erklärt? Dann fiel ihm ein, dass er seinen sibzehnten und achtzehnten Geburtstag verschlafen hatte. Ein wenig ärgerte er sich darüber. Doch mit wem hätte er nach dem Tod seiner Eltern noch feiern sollen?

Er stemmte den Deckel hoch. Frische Luft drang in seine Nase. Draußen war es dunkel. War es vielleicht Nacht? Er nahm den Zauberstab, den sein Vater ihm besorgt hatte. "Lumos", murmelte er und hoffte, dass das keiner mitbekam. Licht flammte an der Zauberstabspitze auf. Es fiel aus der Truhe an die niedrige Decke einer Höhle. Gerade fiel ein Wassertropfen von oben herunter und traf genau seine Nasenspitze. Er unterdrückte einen Niesreiz. Er musste rauskriegen, wo er war und ob das mit den zwei Jahren echt stimmte.

Er stemmte sich aus der Reisetruhe heraus. Dann ließ er das Zauberstablicht einen vollen Kreis beschreiben. Er stand in einer verschlossenen Kammer in einer Tropfsteinhöhle. Die Silberbeschläge der Truhe spiegelten den Lichtstrahl und warfen seinen Widerschein wie Irrlichter über die Wände. Die Kaverne war gerade so groß wie ein kleines Zimmer. Als er das Licht ganz nach oben hielt sah er in der Decke ein rundes Loch, gerade so groß, dass ein Besenstiel hineingesteckt werden konnte. Sonst sah er keinen Ausgang.

"Wo zu allen Drachen bin ich hier?" knurrte Brutus. Er lauschte, ob vielleicht jemand auf diese Frage gewartet hatte. Doch es kam keine Antwort. Brutus wollte nicht ausprobieren, ob er disapparieren konnte, bevor er diese Höhlenkammer nicht genau untersucht hatte. Als er dann wieder die Truhe ansah fiel ihm auf, dass in dem Eichenholz, was zwischen den zwei blanken Silberplatten zu erkennen war, etwas geschrieben stand. Als er sein Zauberstablicht darauf richtete, um es näher anzusehen erlosch dieses. Dafür glühte nun die Schrift in einem warmen roten Licht auf. Brutus las:

Hallo, Brutus, mein lieber Sohn!

Auch wenn dein Vater mir da nicht zustimmen wollte habe ich doch befürchtet, dass wir beide nicht so lange auf dich aufpassen können, wie du es nötig haben würdest, um doch noch ein guter Mitstreiter des reinen Zaubererblutes zu werden. Deshalb habe ich Großmutter Pompeias Reisetruhe mit Blut von mir auf dich eingestimmt und damit und einem silbernen Stichel diese Nachricht eingeritzt, die erst dann zu lesen ist, wenn der Zauberschlaf vorbei ist. Die Silberbeschläge habe ich zu einem Portschlüssel gemacht und ihn auf diesen Ort hier ausgerichtet. Du bist hier in der Kammer der seufzenden Ahnin, einer nur durch Apparieren oder Portschlüssel betretbaren Höhle, in der vor siebenhundert Jahren deine und meine Ahnherrin Elora McCormack ihre einzige Tochter bekommen hat, von der alle meine direkten Vorfahren in direkter Linie abstammen. Außer mir und einem Kind von mir kann niemand in diese Kammer hinein, ohne zu versteinern. Deshalb bist du hier sicher.

Du fragst jetzt sicher, wie ich das mit der Truhe hinbekommen habe, wo du ja vielleicht gelernt hast, dass ein Gegenstand, der zum Portschlüssel gemacht wurde, nicht noch mehr bezaubert werden kann. Das stimmt auch, wenn der Gegenstand aus einem Stück besteht. Die Reisetruhe besteht aber aus demHolz und den Silberbeschlägen. Die Silberbeschläge können zum Portschlüssel werden, wenn jemand sie abnimmt und alle gleichermaßen bezaubert. Den Schlafzauber habe ich auf die Decke und das Kissen gelegt und damit verbunden, dass sie nur dann diesen Zauber wirken lassen, wenn sie sich an einem weit vom Ausgangsort liegenden Platz befinden. So konnte ich dich in den Zauberschlaf versenken, nachdem du mit der Truhe in Sicherheit gebracht worden bist.

Warum die zwei Jahre Zauberschlaf? Wer auch immer dir nachgestellt hat wird davon ausgegangen sein, dass du weiterhin zauberst und irgendwo irgendwas zu essen suchen musstest. Um dich vor diesen Verfolgungen zu schützen habe ich das mit zwei Jahren gemacht. Ich hätte auch zwanzig oder hundert Jahre festlegen können. Doch ich möchte, dass du noch auf Leute treffen kannst, mit denen du gut bis sehr gut ausgekommen bist und denen du vertrauen kannst, wie Tante Bethany oder Calligula Scorpaenidus. Falls du das aber nicht willst steht es dir frei, dein Leben zu führen. Bitte bitte denke dabei aber daran, dass du der letzte Pane und auch das letzte Kind aus meiner eigenen Blutlinie bist. Mach also nichts, was dich wieder ins Gefängnis oder gar auf den Friedhof befördert! Verzichte auf die Rache an Julius Andrews, er ist sowieso zu gut beschützt, als dass du diese Rache überstehen würdest. Sein Leben ist es nicht wert, dass du dich seinetwegen umbringen oder für dein restliches Leben einsperren lassen musst. Ich mag das Wort mit Schlamm am Anfang zwar nicht so gerne wie dein Vater oder du, aber ich bin da mit ihm einig, dass Muggelgeborene es nicht wert sind, ihretwegen draufzugehen.

Wenn du schon apparieren kannst kommst du aus dieser Kammer heraus. Falls du es noch nicht kannst nimm das silberne Messer, dass in dem Geheimfach unter der Daunendecke liegt und schneide dir in die Hand. Die legst du dann auf den grauen Stein, der zwischen den vier weißen Steinen auf dem Boden eingelassen ist. Dadurch kannst du einen Ausgang öffnen und die Höhle zu Fuß verlassen. Sie wird sich hinter dir wieder schließen. Du kannst aber durch ein neues Blutopfer jederzeit dorthin zurück. Dort bist du absolut sicher und unaufspürbar. Und auch deine Kinder können sich dort verstecken. Denn die Höhle selbst birgt einen Zauber, der ihre Insassen sieben mal sieben Jahre lang schlafen lässt. Du kannst ihn mit den Worten "Oh, Mutter mein, lass mich bitte schlafen ein" auslösen. Versuch es besser nicht sofort, weil du dann eben neunundvierzig Jahre lang weiterschlafen würdest!

Ach ja, wo die Höhle liegt willst du sicher noch wissen. Sie befindet sich im schottischenHochland, etwa zehn Meilen östlich vom Ufer des Loch Ness entfernt, wo die Muggel immer noch nach dem Seeungeheuer suchen. Wenn du Hunger hast besorge dir dein Essen in der Nacht aus den Läden. Ich gehe zumindest davon aus, dass die Spur mittlerweile erloschen ist, weil du entweder in der Zeit volljährig geworden bist oder vom Ministerium für tot erklärt wurdest.

Noch etwas wichtiges, bevor du losziehst, dein Leben zu leben: Als letzter lebender Nachfahre von Elora McCormack, beziehungsweise derer Ahnherrin Yuna bist du, sobald du diese Kammer betrittst und in ihr zu atmen beginnst verpflichtet, innerhalb von sieben Jahren unsere Ahnenlinie zu verlängern, also ein Kind zu zeugen, ob Junge oder Mädchen ist nicht wichtig, hauptsache, die Blutlinie bleibt bestehen. Tust du das nicht, wird die erste Hexe, der du begegnest, von Yunas und Eloras Macht, die in dir fließt dazu gebracht, die Mutter deiner Kinder werden zu wollen, und du wirst diese Hexe so sehr begehren, dass du ihr Leben verteidigen würdest, bis euer gemeinsames Kind zum erwachsenen Zauberer oder zur erwachsenen Hexe aufgewachsen sein wird. Damit du nicht eine Muggelgeborene oder eine Halbblüterin zur Mutter deiner Kinder machst sieh dich also vor Ablauf dieser Frist um, wer die Auserwählte sein soll! Dies ist der Preis, den die Sicherheit kostet, die du in dieser Kammer hast.

Ich hoffe eigentlich, dass du diese Zeilen niemals zu lesen bekommen wirst. Doch sollte es das Schicksal so wenden, so bleibt mir nur, dir auf diesem Wege noch alles Glück und ein langes, erfolgreiches Leben zu wünschen

Deine dich liebende Mutter

Epuna Tara Elora Pane geb. McBane

"Super, Mum. In sieben Jahren soll ich eine schwängern, damit ich in Ruhe leben kann? Danke verbindlichst!" knurrte Brutus. Die Tatsache, dass seine Mutter ihn vor der Rache der Parkinsons gerettet hatte war ihm im Moment nicht so wichtig. Er warf der immer noch rot leuchtenden Schrift einen verächtlichen Blick zu. Da sprühten Funken aus den Buchstaben und trafen ihn mitten im Gesicht. Es brannte wie glühende Stecknadeln. Die Buchstaben sprangen aus dem Holz heraus und zischten als feurige Linien zu ihm hin und trafen seine Stirn. Er schrie auf, als es ihm wie mit glühenden Messern in den Kopf stieß und er die gelesenen zeilen seiner Mutter noch einmal mit ihrer Stimme gelesen hörte. Er zuckte und zitterte unter den wilden Schmerzen, die dieser Vorgang auslöste. Dann war die Pein für Brutus Pane vorbei.

Kaum waren die Buchstaben von Epuna Panes letzter Nachricht für ihren Sohn auf diesen übergesprungen glomm sein Zauberstablicht wieder auf, ohne dass er Lumos gesagt hatte. Im wieder aufleuchtenden Licht sah er, dass das Holz, in das die Buchstaben eingraviert worden waren, nun völlig glatt und unversehrt war. Brutus kniete sich hin und besah sein Spiegelbild in den Silberbeschlägen. Sein Gesicht und seine Stirn waren auch unversehrt. Er atmete auf. Die brennenden Buchstaben hatten ihn nicht wirklich verbrannt. Aber was sollte das? Dann dachte er daran, dass seine Mutter sicherstellen wollte, dass er alleine wusste, was sie geschrieben hatte, es auch nicht vergessen konnte, was sie geschrieben hatte.

Er probierte aus, ob er wirklich disapparieren konnte. Damit er nicht gleich voll in eine Menge Muggel hineingeraten würde stellte er sich vor, zwanzig Schritte vor die Kammer zu treten. Er hoffte, dass dort keine massive Wand war oder er gleich in einen tiefen Abgrund hinabstürzte. Er trat bis auf Armeslänge an eine der Wände heran und konzentrierte sich. Als er auf der Stelle herumwirbelte überlagerte das Bild von einer Bergkuppe seine Vorstellung von gerade aus nach vorne. Da verschwand er auch schon in jenem engen Zwischenstadium zwischen Hier und Dort. Als die Welt um ihn herum wieder da war stellte er fest, dass er genau auf jener Bergkuppe gelandet war, die er unmittelbar vor dem Absprung vor seinem inneren Auge gesehen hatte. Er keuchte, weil ihm klar wurde, dass es möglich war, einen Aparator noch im letzten Moment auf ein anderes Ziel auszurichten, auch wenn er das noch nie vorher gesehen hatte. Das fand er unheimlich und deshalb lästig. Deshalb stampfte er erst einmal mit dem Fuß auf, als er wusste, dass er nicht zersplintert war. Dann sah er sich um.

Von der Tageszeit her war es früher Morgen, genauso, wie an dem Tag, als er sich in die Truhe gelegt hatte. Ein rauher Gebirgswind pfiff ihm um die Ohren. In der Ferne sah er etwas im Schein der aufgehenden Sonne blinken. Er sah genauer hin und erkannte die Oberfläche eines großen Gewässers. Das war wohl Loch Ness. Also stimmte das. Am Loch Ness war er mit seinen Eltern schon häufiger gewesen. Auch sie hatten nach dem Ungeheuer gesucht, von dem die Zaubererwelt ausging, dass es ein Kelpi war. Das Ministerium hatte mehrere Zauberer und Hexen abgestellt, um echte Sichtungen dieses Wasserungeheuers als billige Fälschungen zu verschleiern. Allerdings taten sie nichts, um den Glauben an das Ungeheuer zu verdrängen. Offenbar lebten die auch gut von der Geschäftemacherei mit dem Seemonster. Dann konnte Brutus es schon mal Vergessen, nach Inverness oder einem anderen Ort am See zu apparieren. Denn da würden bestimmt welche vom Ministerium lauern. Er fragte sich, ob die Todesser nicht doch noch einen Gegenschlag geführt und ihre Macht auch ohne den dunklen Lord zurückerobert hatten. Um das rauszufinden musste er Zaubererweltzeitungen kriegen. Aber wie dranzukommen?

Er erinnerte sich, dass sein Vater mit einem Kameraden von den Todessern einen heimlichen Briefkasten eingerichtet hatte, wo Zeitungen und Briefe ankamen, wenn das Verschicken von Posteulen zu gefährlich war. Brutus grinste. Wo der heimliche Briefkasten war wusste er. Er wusste nur nicht, ob da noch Zeitungen abgeladen wurden. Doch jetzt hatte er zumindest ein Ziel.

Er konzentrierte sich und disapparierte. Als er aufatmend feststellte, dass er auch da gelandet war, wo er hinwollte, sprach er das Losungswort, das er seinem Vater abgelauscht hatte: "Sanguis purus!"

Vor ihm flimmerte die Luft. Dann erschien ein knapp einen Meter hoher Baumstumpf, der oben gespalten war. Brutus wusste, dass nur ein über zehn Generationen reinblütiger Zauberer oder eine ebenso reinblütige Hexe in den Spalt hineingreifen konnte, um die Notizen herauszuholen. Jeder andere würde wie in einer Mausefalle eingeklemmt und solange dort hängenbleiben, bis er jämmerlich verhungerte oder von einem Reinblüter angefasst würde. Brutus trat vor und streckte seine linke Hand in den Spalt. Ein leichtes Kribbeln lief über seinen Arm. Einen Moment meinte er, etwas würde mit kalten Fingern über sein Handgelenk und den Unterarm streichen. Dann fühlte er eine metallische Oberfläche. Er griff zu, denn sehen konnte er nicht, was es war. Er zog daran und öffnete damit einen Klappdeckel. Darunter stapelten sich Zeitungen und Briefumschläge. Brutus zog die Zeitungen heraus und sah, dass es die neuesten Ausgaben waren. Die oberste war wohl die von heute. Doch wieso stand da der erste Mai als Datum? Als er die Zeitung auseinanderfaltete las er etwas von einem Denkmal, dass zu ehren der für die Verteidigung von Hogwarts kämpfenden und gestorbenen errichtet worden war und am nächsten Tag eingeweiht werden sollte. Brutus schnaubte. Also hatten die Todesser es nicht geschafft, sich von dem Schlag zu erholen. Er fischte weitere Zeitungen heraus und erfuhr auf diese Weise in umgekehrter Folge, dass es in Beauxbatons ein trimagisches Turnier gab und dass der nach dort übergewechselte Jungzauberer Julius Latierre geborener Andrews nicht zum Champion für Beauxbatons erwählt worden war, wohl auch, weil er in den ersten Maitagen Vater würde. Als er las, wer die Mutter dieses Kindes war verstand er, was seine Mutter ihm regelrecht ins Hirn geschrieben hatte: Julius war zu gut beschützt, weil er die Latierresippschaft hinter sich hatte, eine mächtige Zaubererfamilie, die jedoch kein Problem damit hatte, Schlammblüter und sogar Halbriesen und Halbzwerge in ihre Blutlinie reinzulassen. Wie gerne würde er gleich nach Beauxbatons reisen, um vor den Augen dieses Schlammblüters das von ihm gemachte Balg aus dem Leib seiner Mutter herauszureißen. Da schoss die Mahnung seiner Mutter überlaut durch seinen Kopf: "Verzichte auf die Rache an dem Jungen Julius Andrews! Er ist es nicht wert, dass du dich dafür umbringen oder für dein restliches Leben einsperren lässt." Brutus wusste nicht warum, aber diese laute Mahnung wischte wirklich jeden Rachegedanken aus seinem Kopf heraus. Als er versuchte, sich wieder in die nötige Wut zu bringen wurde diese Mahnung noch lauter wiederholt, so laut, dass ihm davon der Kopf schmerzte. Brutus keuchte, weil er diesem Druck auf seinen Kopf nicht standhalten konnte. Erst als er aufhörte, an Rache zu denken und jeder Zorn auf das demnächst ankommende Kind von Julius Latierre verflog ließen die mahnenden Worte seiner Mutter und die Kopfschmerzen nach. Immerhin, so dachte Brutus, hatte dieser Bengel keine Chance, trimagischer Pokalsieger zu werden.

Als er weitere Zeitungen durchforstet hatte fand er einen Briefumschlag mit der Aufschrift: An Brutus Pane, falls es dich noch gibt.

Er kannte die Handschrift nicht. Er vermutete nur, dass eine Hexe das geschrieben hatte, eine Hexe, die ungefährdet in diesen Baumstumpf hineingreifen konnte. Deshalb öffnete er den Umschlag und zog ein Pergament heraus. Darauf stand:

Hallo Brutus!

Jetzt ist es schon bald zwei Jahre her, dass ich das von deinen Eltern gehört habe und auch, dass sich die Parkinsons mit ihrem Angriff auf euer Haus selbst eingeäschert haben. Da du ja von der großen Yuna McCormack abstammst, auch wenn du als Zauberer geboren wurdest, gehe ich davon aus, dass der Geist der großen Druidin dich nicht hat verrecken lassen, bevor du nicht ihre Blutlinie verlängert hast. Vielleicht hast du ja nach meinem letzten Schreiben eine gefunden, die dir dabei hilft. Dann hoffe ich, dass es eine Tochter geworden ist und wenn nicht, mach deine Eltern nicht nach und lass es bei nur einem Kind!

Falls du noch keine Hexe - halb- oder reinblütig - zur Mutter deiner Kinder ausgewählt hast, mein Angebot von vor einem Jahr steht immer noch. Das Losungswort, um zu mir zu kommen ist immer noch dasselbe. Meine Mutter und meine Großmutter würden sich auf jeden Fall freuen. Hmm, meine Großmutter könnte sich jetzt, wo die Massenmutter Ursuline Latierre gleich vier Bälger auf einen Rutsch ausgebrütet hat, sehr gut vorstellen, dasss du ihr die Ehre gönnst, Mutter einer Nachfahrin der großen Yuna McKormack zu werden. Wir würden auf jeden Fall dafür sorgen, dass dir keiner mehr dummkommt, solltest du immer noch vor den Parkinsons auf der Flucht sein.

Wenn du zu mir willst sprich das im letzten Brief erwähnte Passwort aus!

Selina

"Vergiss es Selina", dachte Brutus. Er kannte nur eine Selina, die gerade mal fünf Jahre älter als er war: Selina Witherspoon. Deren Familie war zwar bis zur zehnten Generation reinblütig, aber eben nur bis zur zehnten. Davor hatte es wohl mehrere Muggelfrauen gegeben, die in die Blutlinie reingelassen worden waren. Zumindest legte er es jetzt noch nicht darauf an, mit irgendeiner Hexe neue Kinder hinzukriegen, nicht bevor er nicht wusste, wie es bei ihm weiterlaufen sollte.

Er zog noch mehrere Zeitungen heraus, jeden Tag des Jahres 1999. Dabei erfuhr er durch die Überschriften, dass die Quidditchweltmeisterschaft in Frankreich gelaufen war, wie sich die britische Zaubererwelt von den Folgen der Todesserherrschaft "erholt hatte" und was sonst noch so wichtig war. Unter dem Stapel Zeitungen lag noch ein Brief von Selina Witherspoon, eigentlich ihr erster. Darin stellte sie sich und ihre reinblütige Familie vor, machte aber auch gleich klar, dass ihre Familie nichts von Voldemort hatte wissen wollen, weil der für sie ein Emporkömmling war und womöglich ein Halbblüter gewesen war, auch wenn er sich gerne auf Slytherin als Urahnen berief. Sie hatten von Steward Rockwell, dem Schulfreund und Mitstreiter seines Vaters, erfahren, dass er diesen Briefkasten eingerichtet hatte, als er bei Selinas Großmutter unterkam. Brutus wunderte sich, dass das Wort "unterkam" unterstrichen war. Sie würden sich sehr freuen, wenn er sich bei ihnen melden und vielleicht die guten familiären Beziehungen zwischen den Familien Witherspoon und Pane festigen könnten. Das Passwort "Goldkessel" sollte ihn beim Ausruf direkt zu ihnen bringen. Doch er verzichtete darauf, warf den Brief lieber schnell in den Metallkasten zurück.

Als er alle Zeitungen bis zum zweiten Mai 1998 ausgesiebt hatte fand er noch ein Schreiben von Steward Rockwell, dass dieser sich für eine gewisse Zeit unsichtbar machen müsse, den Zeitungsdienst aber bis auf drei Jahre im Voraus eingerichtet habe. Mehr fand er nicht in dem heimlichen Briefkasten. So klappte er den Deckel wieder zu und zog sich zurück, einen Riesenpacken Zeitungen unter dem Arm.

Er apparierte wieder in Eloras Höhlengemach, um im Licht seines Zauberstabes die Zeitungen vollständig durchzulesen. Auch wenn es ihn wütend machte, dass auch wirklich nichts versucht wurde, um die Todesserbewegung wiederzubeleben, vielmehr viele Todesser zu willigen Helfern der Siegerjustiz geworden waren und sich sogar wie im Fall der Malfoys freikaufen konnten. Dafür waren seine Eltern gestorben. Dafür hatte er ganze zwei Jahre im Zaubertiefschlaf herumgelegen. Dafür hatte er sich die Rache der Parkinsons aufgeladen. Immerhin hatte deren Angriff offenbar nichts gebracht, wegen des Feuers, dass er noch im Haus gelegt hatte. So ein Pech aber auch! Doch Phylobates Parkinson, sowie die Söhne von Pyrophagus, Pontifrax und Pontius lebten noch, und ob die mopsgesichtige Pensy und ihre Schwester Polly nicht auch daran interessiert waren, ihn abzumurksen, wenn die wussten, dass er noch lebte, wusste er nicht. Er wusste nur, dass die britischen Inseln für ihn kein Zuhause mehr waren. Der Bursche Julius Latierre hatte es geschafft, in die Latierresippschaft reinzukommen und die dafür mit neuen Bälgern zu beglücken. Was wollte er dann hier noch? Sicher, er könnte zu den Witherspoons hin und es darauf anlegen, ob er mit Selina, ihrer Mutter Maura oder deren Mutter Claudia neue Pane-Kinder in die welt setzte oder nicht. Aber er beschloss, dass er doch lieber das Land wechselte, möglichst weit weg. Vielleicht ging ja was in Australien, wo so wenige Zauberer wohnten. Doch dann fiel ihm ein, dass die Parkinsons da wen wohnen hatten, Pyrophagus' ältester Sohn Pharos hatte sich da angesiedelt. Dann fiel ihm ein Land ein, wo kein Parkinson nach ihm suchen würde: Südafrika.

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7. Juni 2001

Es war riskant gewesen, Calligula Scorpaenidus zu treffen. Immerhin hatte er als Hank van Mehren, ein junger Zaubertierforscher in Südafrika, dessen Eltern vor einem Jahr von einem antipodischen Opalauge getötet worden waren, einen sicheren Halt in der südafrikanischen Zaubererwelt gefunden. Doch Calligula hatte erwähnt, dass die Zeit der Demütigung bald vorbei sein würde. Er habe einen sicheren Hinweis auf jemanden, der die Todesser und alle ihnen gleichgesinnten Gruppen zu einem weltweiten Bund gegen die Unreinheit des Zaubererblutes zusammenbringen würde. Das hatte Brutus Pane sehr interessiert, vor allem, weil diese verfluchte Nachricht seiner Mutter ihn immer wieder davon abbrachte, doch noch in die Nähe der Latierres zu gelangen, um zu sehen, ob er die Sache von damals nicht ausgleichen konnte. Vielleicht konnte der neue Anführer ihm den verfluchten Text dieser Nachricht aus dem Kopf nehmen und ihm eine neue, wichtige Aufgabe zuweisen.

Das Licht war bewusst gedämpft. In dieser heruntergekommenen Schenke, gegen die selbst der Eberkopf noch ein nobles Gasthaus war, verkehrten nur Leute, die das Tageslicht scheuten, darunter auch wohl einige Vampire, Werwölfe und Sabberhexen. Hier wurde mit verbotenen Zaubertrankzutaten, Eiern von gefährlichen Monstern und ähnlichem gehandelt. Hier tauschten die außerhalb der Zaubereigesetze wandelnden Gestalten ihre Erlebnisse und Anregungen aus. Die Wirtin dieser Kaschemme machte keinen Hehl daraus, dass ihre Großmutter eine reinrassige Sabberhexe gewesen war. Sie konnte sogar wie soeine ohne Flügel und Fluggerät fliegen.

"Hank van Mehren, Sohn von südafrikanischenDrachenkundlern. Respekt. Wie lange hast du gebraucht, das wasserdicht durchzukriegen?" wollte Calligula wissen. Er hatte sich mit einigen Verwandlungszaubern Haar und Gesicht verändert. Denn selbst hier, im schwarzen Einhorn, konnte keiner wissen, ob nicht der eine oder die andere was dazuverdienen und flüchtige Todesser verpfeifen würde.

"Ich habe Mutters Gringotts-Schlüssel gefunden. Ihre Eltern hatten doch so'n dunkles Verlies ganz tief unten nahe der Hochsicherheitsverliese. Da konnte ich gut abschöpfen. Musste nur einmal aufpassen, weil die alte Gertrude Montague da auch gerade in der Gegend war."

"Komm, hör mir mit denen auf, Br.., Hank! Die tun so, als hätten die schon immer gewusst, das er ein Vollversager und Supergehirnamputierter gewesen ist und deshalb so oder so draufgehen würde. Aber du wolltest was von meiner neuen Bekanntschaft wissen."

"Interessiert mich, ob doch noch wer die Eier unterm Umhang hat, einen Neuanfang zu machen, wo wir so viele Feinde haben."

"Du auf jeden Fall nicht, weil du das ja sonst gemacht hättest", feixte Calligula.

"Eh, wenn du Krach willst können wir das hier und gleich regeln", schnaubte Brutus. Doch sein Gegenüber winkte ab und erzählte ihm dann im Flüsterton, dass er in der Nokturngasse jemanden kennengelernt habe, der für einen gewissen Lord Vengor arbeite. Dieser soll ein hochrangiger Verbündeter des dunklen Lords gewesen sein. Brutus glaubte das nicht sofort. Doch als Calligula erwähnte, dass er bald mehr wisse war Brutus wieder neugierig.

"Besteht die Möglichkeit, da mitzukommen?" fragte er. Calligula winkte ab. "Die Einladung ging nur an mich. Bring ich wen mit, gehen wir beide drauf. Das ist mir das nicht wert. Aber ich kann, wenn ich richtig mitmache, mal durchblicken lassen, dass in der Nähe von Johannesburg wer wohnt, der sicher auch was von einer reinblütigen Zaubererwelt hält."

"Sehe es ein. Der will natürlich nicht vom Ministerium gekrallt werden", grummelte Brutus alias Hank. "Okay, ich warte dann auf deine Eule. Mach das so, wie wir's in Hogwarts gemacht haben mit der Geheimschrift!"

"Aber sicher doch", sagte Calligula.

Die klapperdürre Wirtin mit den hellen Katzenaugen kam herüber, als Calligula winkte. "Grüne Lady, mein Freund und ich wollen zahlen."

"Och, ihr zwei Süßen wollt schon gehen. Gleich ist Mitternacht, Paarfindungstanz", schnurrte die Wirtin.

"Neh, ich möchte mein Blut noch behalten und auch kein Mondheuler werden", sagte Brutus Pane.

"Antera, du weißt doch, dass ich vergeben bin", sagte Calligula.

"Nicht, solang du mir die Süße noch nicht vorgestellt hast, Cal. Solange bist du für jede hier zu haben, auch für mich."

"Weiß ich doch", sagte Calligula. "Auf jeden Fall wird's jetzt Zeit für uns."

"Aber das sage ich doch", schnurrte die Wirtin. Brutus empfand ihre Ausdünstungen als eher ab- als anregend. Außerdem wollte er garantiert nicht irgendeine von diesen zwielichtigen Frauenzimmern da zum Tanz auffordern und sonst noch was mit der anstellen. Er war froh, dass Calligula die Zeche bezahlte, glatte zehn Galleonen. Antera grinste breit. Sie besaß zwei Reihen weißer, spitzer Zähne. Sie strich mit ihren spinnenbeinartigen Fingern die Goldmünzen ein und versenkte sie tief unten in ihrer Schürze. Brutus drängte es, nach draußen zu kommen. Dort angekommen sagte er zu Calligula:

"Ich glaube, ich muss das schnell wieder vergessen, wwer alles schon die Galleonen oder Knuts in den Händen hatte, die ich ausgeben will. Aber zehn Galleonen, bist du so reich oder ist der Goldwert so heftig abgestürzt?"

"Das musste sein, weil Antera sonst nicht lockergelassen hätte. Die kann riechen, wer reinblütig oder halbblütig ist oder wer gute Zaubererweltkinder machen kann. Die hatte dich schon sehr im Blick. Nicht viel, und die hätte sich vor dir ausgezogen, um dir zu zeigen, was sie so zu bieten hat. Hat die schon mal bei einem gemacht, der so blöd war, ohne Begleitung in ihre Räuberhöhle zu gehen."

"Dann frage ich doch mal ganz ernst, was dich geritten hat, mich dahin einzuladen?" knurrte Brutus.

"Der Umstand, dass das Einhorn weit genug weg von Winkel- und Nokturngasse liegt. Aber jetzt wird's Zeit. Ich schwirr wieder ab, damit mich keiner vermisst, bevor er mich ordentlich einberufen hat."

"Wir lesen dann voneinander, Cal", zischte Brutus alias Hank. Der andere nickte. Es war das letzte mal, dass Brutus seinen Freund lebend zu gesicht bekam.

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20. Dezember 2001

Es war stockdunkel, als würde eine Truppe Dementoren in der Nähe lauern. Doch dafür war es nicht kalt genug. Ein in einem Brief mit roter Tinte enthaltener Portschlüsselzauber hatte ihn hierher gebracht. Er versuchte sofort, Licht zu zaubern. Doch außer, dass sein Zauberstab schlagartig immer heißer wurde und dabei immer wilder in seiner Hand zitterte passierte nichts. Die Dunkelheit blieb undurchdrungen. "Nox!" zischte der junge Zauberer, der sich Hank van Mehren nannte. Das wilde Zittern und die Hitze hörten so schlagartig auf, wie sie eingesetzt hatten. Er versuchte noch, die Leuchtflammen auf die linke Hand zu zaubern. Doch dabei durchfuhr seine Hand ein so stechender Schmerz, als hätte ihm wer einen glutheißen Dolch durch die Hand gestoßen. Er konnte gerade noch einen lauten Aufschrei unterdrücken. Der Zauberer begriff, dass er in dieser magischen Finsternis keinen Funken Licht hinkriegen würde.

"Hank van Mehren, Sohn von Lisa und Damien van Mehren", raunte eine leise, geschlechtlich nicht sofort einzuordnende Stimme aus dem Dunkeln. Der Angesprochene keuchte erst. Dann bestätigte er das. "Ich hörte von Ihrem Bekannten Calligula Scorpaenidus, dass Sie eine neue Betätigung suchen. Ist das richtig?" fragte die Stimme, nun doch klar als Männerstimme zu erkennen.

"Das ist richtig", erwiderte der Angesprochene. Ihm war es jetzt doch sehr mulmig zu Mute. Doch die Einladung war verbindlich gewesen. Hätte er sie ausgeschlagen, wäre er jetzt wohl tot, so tot wie sein Freund Calligula.

"Nun, ich hätte da durchaus was für Sie, junger Mann. Ist aber nicht ungefährlich und vor allem, es ist nicht rückgängig zu machen, wenn Sie einmal dabei sind."

"Das ist mir bewusst", erwiderte der Angesprochene. "Aber die Sache ist es mir wert. Die Ehre und die Reinheit des Zaubererblutes ..."

"Muss auf jeden Fall wieder hergestellt und die Muggelstämmigen und die Muggel an sich auf ihre Plätze verwiesen werden", zischte der andere. Jetzt konnte der, der sich Hank van Mehren nannte es hören, dass die Stimme künstlich verstellt wurde. Sollte er fragen, ob dahinter ein Mann oder eine Frau steckte. Am Ende war Lord Vengor nur eine Tarnung für eine dieser Hutzelhexen, die offen gegen die Todesser kämpften und die sich als schweigsame Schwestern bezeichneten. Doch er wagte es nicht, zu fragen.

"Ich hörte, dass mein Bekannter bei der Ausführung eines Auftrages erwischt wurde. Ist dieser Auftrag noch zu erledigen?" preschte Hank van Mehren alias Brutus Pane vor.

"Leider nicht, der Trottel hat es total vermasselt. Ich hoffe, Sie sind erheblich vorsichtiger. Wem seine Eltern von einem Drachen geröstet und verputzt wurden sollte zumindest Vorsicht als zweiten Vornamen führen."

"Das sowieso", grummelte Brutus Pane.

"Tja, und wessen Mutter sich von einem rammdösigen Riesen zertreten lässt und dessen Vater sich von einer Freizeitaurorin mit Geierhut über den Haufen fluchen lässt sollte da noch mehr Obacht geben", fuhr die Stimme aus dem Dunklen fort. Brutus wusste jetzt, dass seine Tarnidentität aufgeflogen war. Der Kerl oder dieses Weib wusste, wer er wirklich war.

"Gut, Riesen laufen ja nicht mehr so häufig herum, und Frauen mit Geierhüten stehen auch nicht an jeder Ecke herum. Das wäre ja sonst die Lachnummer der ganzen Welt", versuchte er dennoch, keine Ertapptheit erkennen zu lassen.

"Sie müssten sich damit zurechtfinden, dass alle wie Sie aussehen müssen, wenn wir uns versammeln und dass ich der Meister bin und Sie niemals mein Gesicht, meine Stimme oder meinen wahren Namen erfahren werden, sofern Sie nicht gleich nach der Enthüllung sterben möchten."

"Wurde mir bereits von meinem Bekannten mitgeteilt", tat Brutus nun unbeeindruckt.

"Nun gut, dann will ich Sie morgen in meine Reihen aufnehmen. Näheres dann. Ach ja, um neun uhr wieder hier. Das Losungswort aus dem Brief gilt noch für drei Versetzungen. Wir nehmen dann einen anderen Portschlüssel, um zu meinem wahren Hauptsitz zu reisen. . Sind Sie um neun Uhr nicht hier, sind Sie um viertel nach neun mausetot. Bringen Sie morgen jemanden mehr als sich selbst mit, sind Sie und wer sonst noch um eine Minute nach neun mausetot."

"Ich verstehe Ihre drastischen Vorkehrungen", erwiderte Brutus Pane alias Hank van Mehren.

"Dann dürfen Sie jetzt diesen beschaulichen Treffpunkt verlassen", erwiderte die Stimme darauf. Hank sah dies als unmittelbar zu befolgende Anweisung. Er grüßte noch mit "Dann bis in neun Stunden" ab, sprach das Losungswort "Sternenfinsternis" und verschwand in einer hier nicht sichtbaren Portschlüsselspirale.

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21. Dezember 2001

Wie gefordert hielt Hank van Mehren alias Brutus Pane den Umschlag mit dem Einladungsbrief dessen, der sich Lord Vengor nannte in der Hand. "Sternenfinsternis", murmelte er, doch ein wenig beklommen. Er wusste trotz aller Entschlossenheit, dass er jetzt dabei war, sein freies Leben aufzugeben. Unverzüglich trat die Portschlüsselbezauberung in Kraft, die dem Brief eingewirkt war. Das geräumige Wohnzimmer wurde von einem sich unendlich weit ausdehnenden Wirbel aus Farben und leisen Geräuschen überlagert. Brutus fühlte den strammen Zug an seinem Bauchnabel, als er halt- und orientierungslos durch diesen Farbenwirbel raste. Dann war die magische Reise auch schon vorbei. Wieder umschloss ihn totale Finsternis.

"Wie erhofft und gefordert", schnarrte die künstliche Männerstimme dessen, der sich Lord Vengor nannte. Brutus alias Hank grüßte eher aus Höflichkeit denn aus Entschlossenheit. "Hier, hier dran festhalten!" kommandierte die Stimme aus dem Dunkeln. Etwas stieß ihm gegen den rechten Arm. Brutus griff unsicher um sich und bekam etwas hartes zu fassen. Als er erkannte, dass es ein daumendickes Brett aus glattgeschmirgeltem Holz war hörte er auch schon das Auslösewort: "Ad centrum potestatis!"

Wieder stürzte er in einen Portschlüsselwirbel hinein. Das Brett in seiner rechten Hand klebte ihm dabei unablösbar an den Fingern. Er wagte es, im Farbenwirbel nach rechts zu sehen und erkannte eine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt in einem langen, schwarzen Umhang mit einem blutroten V auf dem Brustteil. Wie sein mittlerweile seid vier monaten toter Freund und Schulkamerad Calligula Scorpaenidus es bei seinem letzten Brief geschrieben hatte trug der Unbekannte eine den ganzen Kopf umschließende Maske. Es sah so aus, als trüge der andere einen grün leuchtenden Schlangenkopf zwischen den Schultern. Blutrote Augen starrten auf Brutus zurück, Augen, die sich nicht bewegten, und die doch nicht wirklich tot wirkten. Da ebbte die Portschlüsselmagie auch schon ab. Beide fielen auf eine weiche Unterlage, einen dicken Teppich. Das Brett löste sich von ihren Fingern und plumpste auf den Boden. Sie waren da.

Eisblaues Licht leuchtete den ganzen Raum aus. Es kam von hundert brennenden Kerzen, deren Flammen geistrhaft blau flackerten und dabei keine Wärme, sondern Kälte verströmten. Brutus kannte verschiedene Feuerzauber und wusste, dass für die blauflammigen Kerzen kein Wachs, sondern mit Vogel- oder Schlangenblut vermischter Talg waren und zudem mit einem Zauber, der die Eigenschaften des Feuers umkehrte belegt wurden, der im Fuß jeder Kerze mit einem silberen, in eigenes Blut getauchten Stichel eingeritzt werden musste, bevor die entsprechende Formel und Zauberstabbewegung drankam. Solche Kerzen wurden eigentlich für die Totentagsfeiern von Gespenstern hergestellt. Die Dochte stammten aus dem Schweifhaar kürzlich gestorbener Pferde. Böse Zauberer, die die Kraft des blauen Feuers auch gerne für ihre eigenen Zauber verwendeten, nutzten statt der tierischen Bestandteile menschliche Fette, Giftschlangenblut und das Haar vor kurzem verstorbener Frauen. Brutus konnte sich zu gut vorstellen, das genau diese Kerzen hier verwendet wurden. Sie standen in Haltern, die eindeutig die komplett fleischlosen Schädel von Tieren waren. In der Mitte des Raumes stand ein Podest. Darauf lag ein rechteckiger Steinblock, der so lang wie ein liegender Mann und halb so hoch wie ein aufrecht stehender Mann war. Auf dem Block lag eine blutrote Leinendecke. Darauf stand ein bleicher Totenschädel eines Menschen, auf dem die größte der blauflammigen Kerzen aufgesteckt war. Außer dem Podest mit dem Stein, der irgendwie einem Altar der einen Gott anbetenden Muggel nachgemacht sein mochte, gab es in dem Raum den schwarz-rot gemusterten Teppich, auf dem sie gelandet waren, sowie einen langen, mit einer schwarz-rot gemusterten Leinendecke überzogenen Tisch, an dem auf jeder Seite fünfzehn Leute sitzen konnten. Hochlehnige Stühle boten den hier hinkommenden Platz. Der höchste Stuhl, der an einem schmalen Ende des Tisches stand, war aus Ebenholz und besaß silberne Beschläge an der Rückseite und den Außenseiten der Armlehnen. Ein giftgrünes Daunenkissen, auf dem ein blutrotes V aufgenäht war, lag auf der Sitzfläche. Die anderen Stühle waren nicht gepolstert.

"Das ist das Zentrum meiner Herrschaft, sagte der Mann im schwarzen Umhang, der sich Lord Vengor nannte. Er blickte Brutus sehr überlegen an. "Wer hier eingelassen wird, dient mir und unserer gemeinsamen Sache. Dass du jetzt hier bist sagt, dass du ab heute nur noch mir und meinem Wort folgst. Damit das auch jeder mitbekommt wirst du jetzt die Eingliederungsprozedur durchlaufen. Weigerst du dich, weil dir doch jetzt der Mut geschwunden ist, wirst du diesen Raum nicht mehr lebend verlassen. Hast du das verstanden?"

Brutus hatte mit einer derartigen Ansage gerechnet. Auch dass dieser Zauberer da vom höflichen Sie zum Du übergewechselt war beunruhigte ihn nicht. Ihn beunruhigte nur, dass er nun die Wahl zwischen noch wenigen Minuten zu leben und ein vielleicht langes, aber vielleicht auch kurzes Leben in Knechtschaft zu entscheiden hatte. Doch jetzt zurückzuziehen war sowieso nie sein Plan gewesen. Er wollte Vengors Diener werden. Er wollte mit zu denen gehören, die die Vergeltung für die Niederlage der Todesser einforderten. Er wollte seine persönliche Rache an allen, die ihm und seinen Eltern das Leben versaut hatten. Dafür musste er stark werden, auch wenn er dafür dem Wort eines sich nicht offen zu erkennen gebenden Meisters unterworfen war. So sagte er: "Ich habe verstanden, mein Lord und Meister."

"Gut", erwiderte Vengor. Dann komm her, rauf aufs Podest, hin zum Stein der Verbundenheit!"

Brutus befolgte diese Anweisung und stellte sich Vengor gegenüber an eine der Längsseiten des schwarzen Steinklotzes. Jetzt musste er seinen linken Ärmel hochziehen. Er wusste, dass die Todesser ein Brandmal bekommen hatten. Sowas würde er sicher jetzt auszuhalten haben. Er musste seinen linken Unterarm über die blaue Kerzenflamme halten. Er fühlte deren eisige Kälte.

Lord Vengor hielt seinen Zauberstab und murmelte "Brachiofixum!" Sofort meinte Brutus, sein Arm sei fest in einen unsichtbaren Schraubstock eingespannt. Er konnte ihn keinen Millimeter mehr bewegen. Dann zog der unheimliche mit der grünen Schlangenkopfmaske eine silberne Nadel aus einem dünnen Röhrchen, dass er aus einer seiner Umhangtaschen gezogen hatte. Brutus biss die Zähne zusammen. Denn das was jetzt kommen würde tat garantiert heftig weh. Da stach Vengor ihm auch schon mit der Nadel ins fleisch und zog die Nadel, die wild vibrierte, in einer einzigen Bewegung schräg nach rechts unten, um dann eine schräge Linie nach rechts oben anzuschließen, ein eingeritztes V. Brutus fühlte es in seinem Arm pochen und zwicken. Dann sah er das Blut aus der ihm verpassten Wunde tröpfeln. Die ersten Tropfen blieben noch an der Schnittstelle hängen. Dann fielen welche herunter und genau in die blaue Kerzenflamme. Es zischte laut, und die Flamme zuckte nach oben, erreichte fast den darüber festgebannten Arm des Jungzauberers. Weitere Blutstropfen fielen in die Flamme, die die Opfergabe annahm. Brutus atmete laut ein und aus, um jeden Schmerzenslaut zu unterdrücken. Doch das war noch nicht das heftigste.

Vengor zog aus einer zweiten Umhangtasche etwas wie einen strohhalmdünnen Stiel, an dem vorne ein silbernes V gesteckt war. Dieses Zeichen hielt Vengor in die immer wieder vom Blut des zu bindenden Zauberers genährte Flamme. Das V leuchtete auf, wurde von einem zum anderen Moment weißglühend. "In hoc signo servabis!" stieß Vengor laut und entschlossen aus, als er Brutus das glühende V-Symbol kraftvoll auf die blutende Wunde presste.

Brutus hatte im Leben nicht solche Schmerzen gefühlt wie jetzt. Sein Vorhaben, es den anderen nicht merken zu lassen, war in dem Moment erledigt, als das weißglühende V genau in die V-förmige Wunde eingedrückt wurde. Wilder, brennender Schmerz jagte durch seinen linken Arm, hinein in seine Schulter, explodierte regelrecht von dort in seinen Kopf und seinen restlichen Körper. Eigentlich hätte er nun wild um sich schlagen müssen. Doch alle Muskeln wurden von der Schmerzenswelle gelähmt. Nur Lungen und Herz arbeiteten weiter. Allerdings brannte es in seinen Lungen, sein Herz hämmerte immer schneller und verstärkte die in seinem Kopf dröhnenden Schmerzen noch mehr. Er schrie auf, zitternd und bebend, während das glühende V in seiner Wunde immer dunkler glomm. Aus der weißen wurde gelbe, aus der gelben orange und aus dieser blutrote Glut. Als Vengor sah, wie sein Brandeisen diese Farbe annahm zog er es fort. Rauch stieg aus der Wunde und vom fortgezogenen Brandeisen. Doch die blutrote Glut in Brutus' Armwunde blieb. Es sah so aus, als stecke das verfluchte Brandeisen immer noch darin fest. "In hoc signo mihi servas ad mortem tuam!" rief Vengor und hielt das V-Symbol noch einmal in die blaue Flamme hinein. Noch einmal jagte eine Welle aus Schmerzen durch Brutus' ganzen Körper. Dann war es vorbei. Vengor zog das Brandeisen aus der Kerzenflamme. Dabei fühlte sich Brutus plötzlich komplettt entkräftet. Es war so, als könne er nur durch die Kerzenflamme am Leben gehalten werden. Er wurde schlapp, fiel fast hin. Doch sein Arm war immer noch in der Luft festgebannt. Um nicht mit seinem ganzen Gewicht daran hängen zu müssen streckte er noch einmal seine Beine durch und schaffte es, zitternd und schwankend auf den Füßen zu bleiben. Vengors Maskengesicht zeigte überhaupt keine Regung, ob dem Träger das ganze einen Heidenspaß machte. Doch Brutus ging davon aus. Der Mann, der sich Vengor nannte, genoss das voll und ganz, ihn leiden zu lassen und dann zuzusehen, wie er um ein bisschen Halt kämpfte.

"Ich sah schon gestandene Zauberer in die Knie sinken, als sie das Zeichen empfingen", sagte Vengor. "Außerdem ist es noch nicht vorbei", schnarrte er noch. Er legte den Stiel mit dem mittlerweile nicht mehr glühenden V-Brandeisen auf den schwarzen Steinblock und zog seinen Zauberstab. Dann stieß er so schnell so viele Worte hintereinander aus, dass Brutus Pane nicht mitbekam, wo ein neues Wort anfing. Er bekam jedoch mit, wie sich dunkle Schleier um ihn legten, sich an ihn drückten und dabei Kälte, dann Hitze und dann einen Schauer von Erstarkung in seinen Körper jagten. Einmal meinte er, sein Mund sei plötzlich ausgetrocknet, ja sein ganzer Hals sei völlig ausgetrocknet. Er fühlte den Hustenreiz in Hals und Lungen. Da war es schon wieder vorbei. Er fühlte seine Spucke im Mund. Das Kratzen im Hals und Pieksen in den Lungen war wortwörtlich weggezaubert. Er räusperte sich einmal. Doch dann fühlte er, wie ein dunkler Nebeldunst ihm aufs Gesicht drückte. Der grüne Schädel Vengors verschwand dahinter wie ein Schatten hinter Rauchglas. Dann jagte das Brandmal noch einmal einen stechenden Schmerz durch seinen Arm. Um sich konnte Brutus einen blutroten Strahlenkranz sehen, der die blaue Kerzenflamme violett färbte. Neue Kraft schoss in ihn hinein. Das rote Licht und die violette Flamme verschmolzen zu einem. Nun in violettes Licht gehüllt stand Brutus da. Dann ging die Kerze aus. Einen Moment lang sah er noch das V-Zeichen an seinem Arm rot glühen. Dann verschwand das Symbol unvermittelt. Es erlosch und hinterließ reine, unverletzte Haut.

"Es ist vollbracht", sagte Vengor. "Du gehörst jetzt der ehrenvollen und stolzen Garde der Vergeltungswächter an, Brutus Cassius Pane alias Hank van Mehren." Brutus fühlte, wie die Nennung seines vollen Namens seinen Kopf wie einen Ring umschloss. "Du bist bis auf weiteres Vergeltungswächter Nummer dreißig. Verstehst du das?"

"Ja, mein Herr und Meister. Ich bin Vergeltungswächter Nummer dreißig."

"Um deines Lebens Willen wirst du dich niemandem, der wie du in diesen Kreis berufen wurde, mit deinem wahren oder zugelegten Namen zu erkennen geben. Du wirst nie erfahren, wer deine Mitstreiter sind oder wer ich in meinem früheren Leben war", sagte Vengor. Brutus bestätigte das. "In deinem besonderen Fall ist es um so wichtiger, dass du keinem mitteilst, dass du dazugehörst. Ich habe es Calligula Scorpaenidus nur gestattet, von mir zu berichten, weil ich wusste, dass es noch andere wie ihn gab, die meinen, weil sie ihren Eltern nie zeigen konnten, was in ihnen steckt, unbedingt was eigenes in Gang setzen zu müssen. Diese unbändige und wilde Entschlossenheit konnte ich unmöglich sich selbst überlassen bleiben. Das verstehst du doch, nicht wahr?"

"Ja, ich verstehe das", seufzte Brutus. Die Bemerkung, dass er nur deshalb von Vengor gehört hatte, weil der keine Bande junger Zauberer wollte, die ihr eigenes Ding durchzog, ärgerte ihn ein wenig. Doch jetzt hatte Vengor ihn sicher. Der hatte ihm sicher eine Menge ziemlich gemeiner Zauber aufgeladen, die machten, dass er das sofort bitter büßte, wenn er nicht machte, was der wollte.

"So nimm nun auch die für dich gemachte Maske entgegen!" sagte Vengor. Wieder griff er in seinen Umhang und holte etwas heraus. Es sah wie ein weißes Taschentuch aus. Er gab es Brutus, der immer noch mit dem linken Arm über der nun erloschenen Kerze festhing. Er nahm das weiche Stoffgebilde. Es fühlte sich handwarm an. Er entfaltete es. Es war rundgeschnitten wie ein Unterlegdeckchen. "Ich löse deinen linken Arm. Dann ziehst du dir die Maske über den Kopf. Einfach von oben überstülpen", sagte Vengor und tippte Brutus' linken Arm an. "Brachiomobilis!" murmelte er. Auf der Stelle konnte Brutus seinen linken Arm wieder frei bewegen. Er besah sich das weiße Stoffstück. Dass sollte eine Maske sein? Er kannte sich nicht mit Metamorphgegenständen und deren vielfältige Möglichkeiten aus. Doch er wusste, dass wenn Vengor sagte, dass es eine Maske war, es auch eine sein musste. So zog er das weiße Stück Stoff über seinen Kopf, als wäre es eine dünne Haube. Unvermittelt fühlte er, wie das Gebilde sich ausdehnte, sich eng um seinen Kopf schloss und ihn dann komplett einschloss. Für einen Moment sah Brutus die Umgebung durch einen rötlichen Dunst. Dann konnte er wieder normal sehen.

"So siehst du jetzt aus", sagte Vengor und deutete auf eine freie Wand. Diese flimmerte und gab einen Spiegel so hoch wie ein erwachsener Mann frei. Brutus sah sein Spiegelbild. Einen Moment erschrak er. Das Gesicht, dass ihm entgegensah kannte er. Das war doch: "Der dunkle Lord!" stieß Brutus auf und erschrak zum zweitenmal. Denn seine stimme war eine andere. Sie klang leicht verzerrt, kalt und gefühllos, aber nicht mehr wie die Stimme eines gerade zum Mann gewordenen Zauberers.

"Jawohl, das ist Voldemorts Antlitz, das dein und deiner Mitstreiter neues Gesicht ist, solange ihr zusammentretet oder in meinem Auftrag handelt. So wissen alle, dass sein Werk nicht aus der Welt getilgt ist, sondern nur von neuem und mächtiger vollbracht wird. Mehr wirst du zusammen erfahren, wenn ich dich und alle anderen, die ich in diesen Tagen in diesen ehrbaren Zirkel eingeschworen habe mit deinen Mitstreitern bekannt mache, wohl gemerkt nur als neue Mitstreiter mit euren Mitgliedsnummern. Solange die Zusammenkünfte dauern hast du diese Maske zu tragen, auch wenn ich Gruppen aus Mitstreitern entsende, habt ihr die Maske zu tragen. Nur wenn du in dein allen bekanntes und dir gewohntes Leben zurückkehrst darfst du sie abnehmen. Aber hüte dich davor, dich dabei erwischen zu lassen, wie du sie anlegst oder abnimmst!" Es würde als Verrat an unserer Sache bestraft, genauso, wie jedes Wort mit Stimme, Tinte oder Gedankenkraft, mit dem du ohne meinen ausdrücklichen Befehl andren von mir berichtest." Brutus, der gerade wie eine Neuauflage des dunklen Lords aussah, verstand. Calligula hatte ihn gezielt anwerben sollen, sonst hätte er niemals von Vengor erzählen dürfen.

"Um die Maske zu lösen tippe dir mit dem Zauberstab an die Kehle und denke so gut du kannst an ein vor dir auf dem Boden liegendes braunes Hühnerei, aus dem ein kleiner grüner Wurm herauskriecht! Ich zeige dir, wie es richtig sein soll." Mit diesen Worten zielte er auf den in der Wand erschienenen spiegel und vollführte eine leichte Kreisbewegung. Darauf entstand frei in der Luft schwebend ein braunes Ei, aus dessen Schale oben ein sich behutsam ringelnder smaragdgrüner Wurm herauskroch. Doch für Brutus war das kein Wurm, sondern eine Schlange, und er vermeinte sogar einen scharlachroten Flaum am Kopf zu erkennen und sogar die winzigen, bernsteingelben Augen zu sehen, die suchend umherblickten, bis das beinlose Tier ganz aus dem Ei geschlüpft war. dieser Gedanke, nur in deinem Kopf zum Bild werdend, löst die Maske von deinem Kopf. Wie gesagt leg sie nur an oder setze sie nur ab, wenn du ganz alleine und unbeobachtet bist. Sieha also zu, dass du einen wirksamen Fernbeobachtungsabwehrzauber erlernst oder komme eine Minute vor den anderen hier an, bevor du die Maske anlegst! Kannst du dir das alles merken, oder soll ich das Bild, an das du denken sollst noch einmal vorführen?" Brutus bat darum, sich die Erscheinung einer aus einem Ei schlüpfenden Winzschlange noch einmal zeigen zu lassen. Vengor ging darauf ein und wiederholte die Darstellung viermal. "Versuch es jetzt!" Brutus schloss die Augen. Einen Moment lang atmete er auf, dass er nicht weiter in das Gesicht des dunklen Lords blicken musste. Dann konzentrierte er sich und dachte so stark es ging an die schlüpfende Schlange. Ja, es ging. Jetzt hielt er sich den Zauberstab an die Kehle und dachte diesen Vorgang noch einmal. Ja, er fühlte, wie die Maske sich von seinem Gesicht und seinem Hals löste und sachte zusammenschrumpfte. Als er nachfühlte lag auf seinem Kopf nur noch das runde Tuch. Er zog es schnell herunter und sah in den Spiegel. Ja, das war wieder das Gesicht, dass er sich mit einigen Verwandlungstricks zugelegt hatte, um Hank van Mehren zu werden.

"Nun hast du alles erhalten, was dir zusteht. Das Brett wird dich zu unserem Treffpunkt zurückbringen. Von da aus kannst du mit dem Brief die letzte ihm eingewirkte Portschlüsselreise machen. Wenn ich dich in Zukunft hier haben will bekommst du einen neuen Portschlüssel, der dich direkt hier anbringen wird. Ist das verstanden?"

"Ja, Herr", sagte Brutus, nun wieder froh, seine eigene Stimme zu hören.

Mit dem Brett ließ er sich in den stockdunklen Raum zurücktragen, wo er Vengor getroffen hatte. Von da aus nutzte er den Brief, den er bekommen hatte, um in sein Haus nach Johannesburg zurückzukehren. Die Maske der Vergeltungswächter hatte er sorgfältig in einen Practicus-Brustbeutel gesteckt, den er sich vor fünf Monaten zugelegt hatte. Wieder in seinem Haus zerfiel der Brief zu Staub. Jetzt war nur noch die Maske im Brustbeutel da, die ihm verriet, dass er wirklich von Vengor in dessen neue Streitmacht eingeschworen worden war.

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16. März 2002

Eigentlich hatte Brutus Pane alias Hank van Mehren gedacht, bei neuen Mitgliedern würde die Laufnummer weitergezählt. Doch eher war es so, dass einige Vergeltungswächter mit ihren Nummern an die Stellen derer rückten, die im Auftrag Vengors gestorben waren.

Brutus hatte erkannt, dass er wohl bis auf lange Zeit der Träger der Nummer 30 bleiben würde. Das lag wohl an der Erfahrung der Mitglieder. Die Möglichkeit, durch eine erfolgreiche Arbeit für den Meister mit der grünen Maske aufzusteigen wollte Brutus nicht andenken. Da war Calligula sicher drüber gestolpert.

Der junge Vergeltungswächter hatte, um sich als würdiger Mitstreiter zu beweisen, zwei Einsätze mit drei anderen mitgemacht. Dabei war es nicht um die Tötung von Feinden gegangen, wie Brutus erst gehofft hatte, sondern um die Beschaffung von Büchern und Zaubertrankzutaten. Er hatte dabei auch mitbekommen, dass Vengor Zugang zu einer Kristallsorte bekommen hatte, die die eigene Zauberkraft steigern und vor dunklen Zaubern schützen konnte. Er wusste auch, dass mehrere Mitstreiter diesen Kristall als Staub im eigenen Blut trugen. Doch die mussten tagesfrisch geschlachtete Tiere oder am selben Tag geerntete Früchte oder Gemüseteile essen, damit sie nicht dauernd Hunger hatten. Außerdem, so hatte Nummer 30 gelernt, hatten diese Leute eine schlechtere Selbstbeherrschung. Das erzählte ihm auch Vengor, als er einmal gefragt hatte, ob er nicht auch diesen mächtigen Kristallstaub bekommen konnte.

"Du warst und bist es auch immer noch von Natur aus, ein sehr leicht in Wut zu bringender Bursche, Nummer dreißig. Deshalb werde ich die dreifach geschwänzte Gorgone tun, dir den wertvollen Unlichtkristallstaub ins Blut zu pflanzen", war die klare und nicht zu bestreitende Antwort darauf. Die anderen Vergeltungswächter hatten darüber nur leise gekichert.

Jetzt aber hoffte Brutus alias Hank, dass der Meister eine wirklich wichtige Aufgabe für ihn hatte. Gerade landete er mit einem zum Portschlüssel gemachten Korkenzieher dort, wo Vengor seine Mitstreiter versammelte. Wo das lag hatte er bei vorsichtiger Suche nicht herausfinden können. Vengor hatte ihn nur gewarnt, es besser dabei bleiben zu lassen, dass er zielgenau ankam, wenn er gerufen wurde. Und jetzt war er mal wieder gerufen worden.

"Du kannst die Maske absetzen. Heute kommt kein anderer Mitstreiter zu uns", sagte Vengor mit seiner künstlichen, tief klingenden Stimme. Brutus nickte und hielt sich den Zauberstab an die Kehle. Als er es schaffte, die Maske vom Kopf zu lösen, sah er seinen neuen Herren an, der seine Maske aufbehielt.

"Ich hoffe, du hast nun langsam alles wichtige gelernt, was die Körper der Frauen angeht. Ich erfuhr, dass du in den letzten Wochen häufiger bei Muggeldirnen in Johannesburg und Kapstadt warst." Brutus errötete. Woher wusste der Meister das? Als habe er die Frage laut gestellt sagte dieser auch schon: "Ich behalte meine Mitstreiter immer unter Beobachtung, damit ich helfen oder strafen kann, was immer auch anfällt. Du warst in sehr teuren Freudenhäusern. Das Geld dafür hast du dir von arglosen Straßenbanditen geholt, die du mit dem Schock- und Kurzzeitgedächtnistilgezauber überfallen und um ihr Raubgut erleichtert hast. Ich kann verstehen, dass du dich keiner Wonnefee anvertrauen willst, weil die zu gut hexen können, um sich von dir übertölpeln zu lassen. Aber damit ist jetzt erst einmal Schluss."

"Ich wollte nur verhindern, dass mir mein Dödel denVerstand vernebelt", rechtfertigte Brutus seine Ausflüge zu den käuflichen Liebesdienerinnen der Großstädte.

"Ja, und die Räuber und Diebe, die du selbst beraubt hast wissen bis heute nicht, wer sie so locker um ihre Beute gebracht hat", lachte Vengor. "Und was dein Gemächte angeht, so wird es dich, so bin ich sicher, in den nächsten Wochen nicht mehr in die Betten dieser armseligen Frauenzimmer treiben. Denn ich habe einen Auftrag für dich, der deinen ganzen Körpereinsatz fordert", sagte Vengor.

"Ich erwarte deine Anweisungen, Lord Vengor", sagte Brutus unterwürfig klingend.

Vengor erklärte ihm, was er vorhatte, verriet jedoch auf Nachfrage weder Grund noch Ziel dieser Aktion. Brutus erschauerte. Das, was Vengor von ihm forderte, überstieg all seine Vorstellung. Er hatte gehofft, für den Meister Feinde zu jagen und zu töten, wichtige Geheimnisse der Zaubererwelt zu stehlen, Terror auf die Muggel oder deren Freunde in der Zaubererwelt auszuüben. Doch was sollte das bringen, einen vollen Monat lang die Rolle einer ziemlich unbedeutenden Hexe namens Della zu spielen? Als er dann noch erfuhr, dass Della mit Nachnamen Witherspoon hieß erschauderte er noch mehr. Er fragte, ob Della Witherspoon mit einer gleichnamigen Familie in England verwandt sei. "Die Großnichte von Claudia Witherspoon, der selbsternannten Matriarchin dieser Sippschaft. Allerdings hat Dellas Vater es nicht so mit der Reinblütigkeit gehalten wie seine altenglische Verwandtschaft. Er hat eine junge Mulattin aus seiner Zeit in der Trytrunk-Akademie geheiratet, die Hexe war das Produkt eines weißen Stadthausbesitzers in Kapstadt und einem schwarzen Dienstmädchen, dessen Vater einer dieser Trommelschläger aus dem Stamm der Zulu ist. Der hat den Dienstherren übrigens sehr grausam bestraft, als seine Tochter mit einem Kind von dem im Bauch zu ihm flüchtete. Tja, und dieser halbafrikanische Bankert wurde doch glatt in der Trytrunk-Akademie aufgenommen, weil dieses Balg gleich nach der Geburt einen Windstoß heraufbeschworen hat, weshalb sie Jagdwind genannt wurde. Und dieses Produkt aus der Wollust eines weißen Geldprotzes und einer Buschzaubererstochter hat Clay Witherspoon geheiratet und dann auch noch erfolgreich geschwängert. Das Ergebnis ist Della Witherspoon, eine Kundige von magisch wirksamen Bergkristallen und Zaubertieren."

"Öhm, und die soll ich für einen Monat ersetzen?" Stöhnte Brutus Pane.

"Genau das. Du erhältst die genauen Angaben über ihr Wohnhaus, ihren Arbeitsplatz und meinen Tarnumhang, um dichin ihrer Nähe aufzuhalten. Sieh sie dir in den nächsten zwei Wochen gut genug an, wie sie geht, wie sie gestikuliert und mit wem sie so zusammentrifft. Höre dir an, wie sie spricht und wie sie klingt. Auch wenn Vielsaft-Trank die Stimme mitkopiert ist es doch noch Sache des Anwenders, ob sie zu einhundert Prozent dem Original entspricht, zumindest über einen so langen Zeitraum."

"Ich soll mit Vielsaft-Trank eine mir bisher unbekannte, noch dazu halb schlammblütige Hexe ... im Körper dieses Weibes ...?"

"Ich weiß, das ist unwürdig für den Spross einer so viele Generationen lang reinblütigen Sippe", schnarrte Vengor sehr bedrohlich. "Aber wenn du das nicht tust muss ich davon ausgehen, dass deine Treue zu mir nicht mehr gilt. Ich dachte echt, du seist noch viel zu jung zum sterben."

"Ja, bin ich. Ich mach's auch. Aber ..."

"Nichts aber, Jungchen. Das Original steht mir, ohne das zu ahnen, bei einer sehr wichtigen Sache im Weg. Ich kann die aber nicht sofort umbringen, verstehst du?" Brutus nickte. "Nun deshalb muss es so aussehen, als wenn sie den für sie gefährlichen Zeitraum überlebt, damit niemand mir draufkommt, dass ich sie habe verschwinden lassen. Deshalb brauche ich dich. Und einer, der sich so gut mit den Körpern von Frauen zurechtfindet kann sicher mal einen Monat lang ein paar pralle Möpse spazierenführen, oder?"

"Wenn's nur die Dinger und die Glibberdose wären", grummelte Brutus. Dann sagte er laut: "Einen Monat, das werde ich überstehen. Aber was passiert dann?"

"Dann wird Della beschließen, das Land zu verlassen und sich irgendwo im afrikanischen Ausland neu anzusiedeln. Sie wird sich von ihren Freunden und Verwandten verabschieden, losfliegen und dann für den Rest der Welt verschwinden. Wichtig ist, dass sie mindestens drei Wochen länger als die ersten Apriltage überlebt."

"In zwei Wochen kriege ich nie alles raus, was wichtig ist", sagte Brutus. "Am Ende verplappere ich mich noch."

"Das werde ich zu verhindern wissen. Du wirst alle Erinnerungen erhalten, die nötig sind. Doch dein Körper und dein Gesicht müssen sich darauf einstellen, sie nachzuahmen."

"Du befiehlst, ich gehorche", sagte Brutus so unterwürfig er klingen konnte. Doch innerlich war er nicht so begeistert. Mit willfährigen Huren ins Bett zu steigen, ihre Körper zu spüren und sein Vergnügen damit zu haben war eine Sache. Einen ganzen Monat lang im Körper einer Frau herumlaufen zu müssen, dessen ganzen Sachen in sich selbst spüren zu müssen war was anderes. Er fragte erst gar nicht, warum dafür nicht einer der Unlichtkristallstaubträger herangezogen wurde. Er ließ sich nur noch einmal alle wichtigen Angaben mitteilen, die er in der bei den Vergeltungswächtern gelernten Geheimschrift aufschrieb. Dann durfte er den Anreiseportschlüssel zur Rückreise benutzen.

Vengor sah zu, wie Brutus in einer blauen Lichtspirale verschwand. Hinter ihm drang ein schwarzer Schatten in den Versammlungsraum ein. Er maß stolze zwei Meter in der Länge und strahlte eine eisige Kälte aus.

"Tja, Corvinus, mein nachtschwarzer Gehilfe, du wirst die Seele von diesem armen, viel zu leicht in Wut versetzbaren Burschen doch noch nicht aufschlürfen dürfen. Er macht es."

"Das wird eine heikle Sache. Bist du dir sicher, dass er die Rolle auch glaubhaft durchhalten kann?"

"Er ist verflixt noch mal der einzige, der in dieser Gegend zurechtkommt, auch wenn ich ihm vor seinem Einsatz noch den Zauber auferlege, den wir zwei aus den Aufzeichnungen deines Ahnherren geschöpft haben. Zu alle dem kommt, dass kein Trank mehr bei Kristallstaubträgern wirkt. Dieser bedauerliche Umstand zwingt mich, diesen leicht aufbrausend werdenden Bengel in Dellas Kleider reinzutreiben. Wenn der alles so macht, wie ich es ihm vorgebe, dann wird zumindest keiner mehr fragen, ob Della von mir umgebracht wurde oder nicht, denn ihre Leiche wird eh verschwinden."

"Wie kommst du an genug Haare von ihr dran?" wollte der Schatten wissen.

"Das überlasse ich auch dem Bengel. Dann lernt er auch, sich in ihrem Haus zurechtzufinden."

"Und die anderen Witherspoons?" wollte der Nachtschatten Corvinus Flint wissen.

"Der Vater von Della ist vor zehn Jahren bei einem Unterwasserausflug von einem weißen Hai angegriffen und tödlich verletzt worden. Dessen Vorfahren sind mit mir blutsverwandt gewesen. Della ist die letzte und einzige, die aus dieser Linie noch übriggeblieben ist. Ihre Mutter und ihre englische Sippschaft können also weiterleben, sofern die mir nicht offen in die Quere kommen."

"Ich wollte nur wissen, ob das Kapitel damit beendet ist, Herr und Meister", sagte Corvinus Flint.

"Zerbrich dir nicht meinen Kopf, Schattenmännchen!" grummelte Vengor. Dann fragte er Corvinus Flint:

"Unser großer Schutzherr erwähnte, dass er Kontakt zu jemandem suche, der wohl lange nichts mehr von sich hat hören lassen. Er sagte mir, dass du dann derjenige sein sollst, der den Kontakt zwischen ihm und mir herstellen soll."

"Ich spüre auch, dass etwas fernes irgendwie um sich tastet. Seit die Dementoren alle auf einen Schlag gestorben sind fühle ich das", erwiderte Flint.

"Dann mach dich stark für den Einsatz. Hol dir den Rest deiner fleischlichen Sippschaft!"

"Ja, Meister, mit allergrößtemVergnügen, Meister!" zischte Corvinus Flint. Auf diesen Auftrag hatte er schon lange gewartet, seitdem er die Seelen von drei Zauberern und zwei Hexen in sich einverleibt hatte, die dem Kristallstaubräger Nummer vier zu nahe gekommen waren. Er hatte noch lebende Verwandte in England. Die durfte er sich nun endlich holen.

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19. März 2002

Sie sah echt anziehend aus, fand Brutus. Er fühlte, dass seine Männlichkeit auch aus der Entfernung von zwanzig Metern auf sie reagierte. Ihre Hautfarbe war samtbraun, ihre Haare waren nachtschwarz und fielen in kleinen Verkräuselungen bis auf ihre Schultern herab. Ihre Augen waren dunkelblau. Brutus Pane alias Hank van Mehren konnte seinen Blick nicht vom Okular des kleinen Zauberfernrohrs nehmen, wenn sie durch ihre Wohnung ging. Doch er musste noch näher heran, um sie zu erforschen, ohne dass sie davon etwas mitbekam.

Della Witherspoon argwöhnte nicht, dass sie seit Wochen auf einer schwarzen Liste stand. Sie verbrachte wie häufig diesen Tag damit, mit Kollegen aus der Zaubertierbehörde Südafrikas über die Feuerlöwenansiedlung zweihundert Kilometer nördlich der Meeresküste zu sprechen. Feuerlöwen waren höchstgefährliche und teilintelligente Geschöpfe, die zu allem Verdruss auch noch Flügel hatten. Deshalb war es um so wichtiger, ihre Bewegungen ständig unter Beobachtung zu haben. Morgen war der zehnte Todestag ihres Vaters. Hätten sie damals die Duotectus-Anzüge und die Blitzerwalzen gehabt, die die Franzosen seit einiger Zeit hatten und die sie auch an befreundete Zaubereiministerien abgaben, wenn sie dafür nur hier entstehende Produkte oder günstiges Gold bekamen, wäre ihr Vater noch am Leben. Zu ihrer Mutter Jagdwind hatte sie seit ihrem Abschluss in der Trytrunk-Akademie, die im ehemaligen britischen Kolonialraum Afrikas angesiedelt worden war, keinen Kontakt mehr. Die Schande, die Tochter eines zauberkraftlosen weißen Geldprotzes und eines selbst ohne Zauberkraft geborenen schwarzen Dienstmädchens zu sein, noch dazu als Ergebnis einer Vergewaltigung, hatte sie ihr Leben Lang nicht losgelassen. Deshalb war sie nach dem Tod von Dellas Vater wieder in die Berge zurückgekehrt, wo sie sich von ihrem Großvater Kasharu in der traditionellen Zauberkunst der Zulu unterweisen ließ, um als Heilerin oder Stammesmagierin weiterzuwirken. Della wollte jedoch den Kontakt zu ihrer weißen Verwandtschaft aufrechterhalten.

Am 15. April, ihrem dreißigsten Geburtstag, würden ihre Großtante Claudia und deren Töchter Lucinda, Maura und Cora, sowie ihre Enkelin Selina von den britischen Inseln herüberkommen. Sie freute sich auf Gespräche unter Hexen, mal ohne Männer. Die, so wusste sie, würden sich in den drei Tagen, die die Verwandten bei ihr wohnen würden, im Tafelgebirge umsehen, um die großen fünf zu bejagen, Elefanten, Büffel, Nashörner, Löwen und Leoparden. Zwar waren die Muggel sehr dahinter her, dass Elefanten nicht geschossen wurden, weil Elfenbeinjäger der Muggel ihnen so arg zugesetzt hatten und dies immer noch taten. Doch die Verwandten scherten sich nicht um Muggelweltgesetze. Auch wenn Della es ihrem Großonkel Griswald immer wieder gepredigt hatte, dass die wilden Tiere Südafrikas nicht aussterben durften sagte er immer: "Deine und meine Vorfahren haben schon gejagt. Da werde ich mir das Vergnügen von irgendwelchen Muggeln nicht verbieten lassen. Die müssenmich ja nicht erwischen."

"Hi, Della Bella, heute noch nichts für den Abend geplant?!" rief eine unverschämt aufdringliche Männerstimme aus dem Kamin heraus. Della knurrte leise. Dann verwünschte sie ohne es laut zu sagen, dass sie die Kaminsperre nicht wieder eingerichtet hatte, nachdem sie lange und breit mit dem Kollegen Fishbone gesprochen hatte. Dochjetzt hing Jimmy Rushwaters Kopf im Kamin.

"Hallo Jimmy Boy, hast du schon wieder geträumt, dass dein kleiner Freund nach mir gerufen hat, weil es ihm zu kalt und zu geräumig ist?" fragte sie provokant.

"Seitdem er deine kleine Hexenstube kennt ist ihm immer zu kalt, auch im Sommer", sagte der Kopf im Kamin, ein eigentlich recht anziehender Bursche, hellhäutig mit blondem Oberlippenbart, ansonsten glattrasiert, goldblondes, glattes Haar, dass bis auf den gerade nicht mitgebrachten Nacken fiel, hellgrüne Augen. Jimmy Rushwater war zehn Jahre jünger als Della, und vor drei Wochen hatten sie, nicht nur unter dem Einfluss von Kapsekt, sein erstes Mal zelebriert. Weil ihr das auch eine Nacht später im nüchternen Zustand noch gefallen hatte waren beide darüber eingekommen, mindestens einmal im Monat das Bett zu teilen. Doch heute wollte sie das nicht, weil der Tag schon lange genug gewesen war.

"Sag dem kleinen Jimmy, dass er mich sehr gerne morgen Nacht noch einmal um Einlass bitten darf! Heute war zu lang für mich, da würde ich glatt einschlafen, wenn's gerade richtig schön werden soll."

"Die eine Nacht hält er sicher noch durch", grinste Jimmy Rushwaters Kopf. "Öhm, aber morgen muss ich nach Joburg, für meine werten Eltern nach Diamanten suchen, bevor die holländischen Muggel die mal wieder aufkaufen. Weiß der Feuerlöwe, was mein Vater mit den Rohklunkern alles anstellt."

"Die wissen das nicht, solange die nicht an einem Ring an einer Hand stecken, die sie abbeißen, Jimmy", erwiderte Della. Dann fiel ihr ein, dass er aber von Johannesburg aus mit dem Regionalzubringer des fliegenden Holländers namens Südwelle zu ihr nach Kapstadt übersetzen konnte.

"Och, ich dachte, ich könnte vom Pub springender Leopard auch rüberflohpulvern", grinste Jimmy.

"Nur dann, wenn es am nächsten Tag im Kaprufer stehen soll, dass du zu mir hingegangen bist. Soweit ich weiß gilt die Drohung deiner Eltern noch, dich mit der Frau zwangszuverheiraten, die dich entjungfert hat. Oder möchtest du mir im springenden Leoparden gleich einen Antrag machen?"

"Nicht vor dem zweiten Kind", konterte Jimmy, nachdem er erst einmal geschluckt hatte. Ja, seine Eltern waren in der Hinsicht sehr prüde.

"Dann müssten wir unsere Nachtparty auf nächste Woche verschieben, bin gerade nicht in der fruchtbaren Phase", sagte Della.

"So meinte ich das jetzt auch nicht", erwiderte Jimmy erschrocken. Della grinste.

"Keine Sorgen, Kleiner. Habe noch genug von dem blauen Sündenwegputzer im Haus."

"Hoffentlich den richtigen. Ich las da sowas, dass das Zeug von diesen Babymachergangstern namens Vita Magica verhunzt worden sein soll, dass es nicht nur nicht verhütet, sondern drauf hinwirkt, dass ein neuer Mensch entsteht."

"Ich habe meinenVorrat von der Ministeriumsheilerin. Die hat mir wegen meines Lebenswandels geraten, genug davon vorrätig zu haben. Das Zeug ist also zertifiziert."

"Aber das mit morgen Nacht ginge so auch klar?" fragte Jimmy.

"Aber sicher doch, Süßer", raunte Della und holte ganz tief Luft, bevor sie sich in einer sehr undamenhaften Pose präsentierte.

"Öhm, ja, mmm, dann bis dann!" sagte Jimmys Kopf. Dann verschwand er mit leisem Plopp aus dem gerade nicht brennenden Kamin.

"Du bist wirkllich süß, Kleiner", grinste Della über ihr samtbraunes Gesicht. Dann richtete sie die versäumte Kaminsperre ein und ging an die noch ausstehende Arbeit zurück. Vier Briefe mussten heute noch losgeschickt werden, um am 21. März die Umsiedlung der Feuerlöwen durchzuführen.

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Der von seinem Meister mitgegebene Goldring an seiner Zauberstabhand erwärmte sich und vibrierte. Der winzige Kristallsplitter, der in dem Goldring eingeschlossen war, reagierte auf dunkle und helle Zauber. Hank van Mehren alias Brutus Pane wusste deshalb, dass um das Haus der Della Witherspoon ein Meldezauber lag, der unerwünschte Eindringlinge ankündigte. Allerdings konnte er was dagegen tun, solange er nicht bewusst ein Fenster oder eine Tür angefasst hatte. Er schlich noch einmal um das Haus herum und fühlte dabei durch den sich erwärmenden Ring, dass der Vorwarnzauber wohl das ganze Gebäude umspannte. Lord Vengor hatte ihm verraten, dass manche Hexen und Zauberer dennoch eine Schwachstelle am Haus hatten: Den Kamin. Doch van Mehren wollte es nicht versuchen, aufs Dach zu kommen. Unter dem Tarnumhang, den der Meister von irgendwoher organisiert hatte, fühlte sich van Mehren solange unentdeckbar, wie er nicht in irgendeinen Fangzauber geriet.

Der Ring schluckte die Kraft des Meldezaubers soweit, dass der unerwünschte Besucher nicht weitergemeldet wurde. Erst als er an der Tür stand wurde es kritisch. van Mehren zog den Ring vom Finger. Der vibrierte nun heftig. Dann hielt er die Spitze seines Zauberstabes an die wabenförmige Ausbuchtung des Schmuckstücks. Es knisterte leise. Als er dann im Flüsterton ein paar Worte sprach zitterte der Ring in seiner Hand merklich. Dann flirrte um ihn die Luft, und er meinte, in durch heißes Feuer zum flimmern gebrachten, tiefschwarzen Rauch zu stehen. Er wusste von seinem Meister, dass dies die gewünschte Auswirkung des Zaubers war. Er steckte sich den Ring wieder an den Finger. Sofort fühlte er, wie eine nie gespürte Kraft ihn durchdrang. Er sog förmlich den Rauch um sich herum in die Lunge und beförderte die darin wirkende Zauberkraft in sein eigenes Blut. Als das Flimmern und rußige Wabern um ihn restlos verschwunden war hörte auch der Ring an seinem Finger zu zittern auf. van Mehren wagte es.

Die Tür war fest verschlossen und wohl auch gegen den Öffnungszauber Alohomora gesichert. Zumindest aber wurde drinnen wohl keinerlei Alarm gegeben. Van Mehren zog so leise er konnte einen Allschlüssel aus seinem hautengen Kostüm. Bei der hier gerade vorherrschenden Dunkelheit war es egal, ob er unsichtbar war oder nicht. Er steckte den wie einen unfertigen Schlüssel aussehnden Gegenstand so leise er konnte in das Türschloss. Der Gegenstand erhitzte sich und erkaltete in einer Sekunde. Der ungebetene Besucher wagte es. Er drehte den Griff des Allschlüssels. Es klickte einmal, dann noch einmal, um dann zu klacken. Die Tür ging auf. Wenn jetzt ein Zauber losging musste van Mehren schleunigst verschwinden. Er lauschte drei Sekunden, vier Sekunden. Nichts geschah. Er setzte so leise er konnte einen Fuß über die Schwelle. Nichts geschah. Der von ihm gewirkte Meldezauberunterdrücker hielt wahrhaftig. Eigentlich hätte jetzt schon ein Alarmton erklingen oder ein Eindringlingsabweisezauber losgehen müssen. Vielleicht bekam auch nur diese Della was mit. Dann konte es gleich kitzlig werden.

Der Zauberer, der sich Hank nannte, zog seinen Allschlüssel wieder aus dem Schloss. Dann betrat er das Haus Della Witherspoons. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals.

Unangefochten konnte er bis zum Schlafzimmer der Hexe schleichen. Er hörte ein leises Schnarchen aus den im Dunkeln versteckten Bilderrahmen. Aus dem Schlafzimmer selbst klang kein Schnarchen. Er drehte ganz langsam den Türknauf. Die Tür ging einen winzigen Spalt auf. Vorsichtig drückte er das Türblatt Zentimeter um Zentimeter weiter ins Zimmer hinein und lauschte dabei. Er hörte jemanden ganz ruhig und leise atmen.

Der Mond warf einen silbrigen Lichtbalken gegen die Wand des Flures. Im schwachen Restlicht des Mondes konnte der an die Dunkelheit gewöhnte Eindringling sehen, dass eine Frau im breiten Bett lag. Brutus zog den Zauberstab und zielte ganz behutsam auf die Schlafende. "Stupor!" zischte er. Die Schlafende zuckte zusammen, erwachte beinahe. Doch da erwischte sie ein roter Blitz am Kopf und warf sie auf die andere Bettseite. Brutus Pane alias Hank van Mehren trat an das Bett heran. Die Hexe atmete noch, aber langsamer und flacher als vorher. Schnell holte er aus seinem Practicus-Brustbeutel eine silberne Schere heraus. Dann zog er behutsam einzelne Haare aus dem wallenden Schopf heraus und schnitt sie knapp über der Haarwurzel ab. Er passte auf, dass die gesamte Frisur nicht dadurch verstruwelter wurde als durch den Schlaf selbst schon. Er hielt sich eine Stunde daran. Jede abgeschnittene Strähne legte er in seinen Brustbeutel. Als er hundert Haare von je dreißig Zentimetern Länge erbeutet hatte atmete er auf. Das war genug, um dreißig mal vierundzwanzig Vielsaft-Trank-Dosen anzusetzen. Behutsam legte er Della Witherspoon wieder auf ihre vorher belegte Seite des breiten Bettes. Als er sie dabei näher ansah musste er schlucken. Dieses Frauenzimmer sah echt sehr toll aus, eine Frau im allerbesten Alter, kein Mädchen mehr und noch ganz weit weg von einer alten Schachtel. Er nahm sich die Frechheit heraus, seine Hände kurz auf ihre prallen Brüste zu legen und ihre Festigkeit zu erkunden, streichelte vorsichtig über ihren Bauch hinunter. Doch bevor er ihre Scham unter den Fingern hatte zog er die Hand zurück. Dieser Körperteil würde ihm bald schon näher und fühlbarer sein, als er eigentlich wollte. Andererseits hätte er nicht übel Lust, den Körper, dessen Kopie er sein sollte, einmal als Mann zu nehmen, ohne dass die Hexe was dagegen machen konnte, zu fühlen, wie es ihm gut tat, dieses Weibsbild zu rammeln. Dann fiel ihm aber was ein, was sein Vater mal gesagt hatte. "Du kannst jeden mit dem Imperius-Fluch belegen und dazu treiben, für dich alles zu machen. Aber wenn du echt ein Erfolgserlebnis mit einer Frau haben willst, kriege sie dazu, dich ranzulassen, wenn sie bei klarem und freiem Verstand ist. Denn eine besoffene oder imperisierte Frau kann jeder beschlafen. Ja, es würde ihm wohl eine bestimmte Befriedigung geben, dieses Weib da auf dem Bett zu nehmen. Doch zum einen würde sie nicht auf ihn reagieren, weder durch Mitmachen noch durch Abwehr. Zum anderen war das echt kein Ding, eine wehrlose und bewusstlose Frau zu nehmen. Brutus sah nur behutsam unter das seidigweiche Nachthemd und erkannte, dass er es schwer haben würde, sich nicht in sich selbst zu verlieben, wenn er demnächst mit Vielsaft-Trank diesen Körper kopieren würde.

Mit dem Mikramnesia-Zauber löschte er das Kurzzeitgedächtnis der betäubten Hexe und sprach dann noch "Retardo enervate!" Dabei dachte er an die Zahl 600. Er wusste so gerade noch, dass das die Sekunden waren, die zusammen zehn minuten ergaben. Die Zeit reichte ihm aus, um schnellstmöglich aus dem Haus zu verschwinden. Denn sein Meldezauberunterdrücker hielt gerade mal zwei Stunden vor.

Wieder unangefochten und für normale Augen unsichtbar verließ er das Haus, wie er es betreten hatte. Dann zog er sich auf seinen Spähposten zurück. Er zog eine kleine Schreibtafel und einen silbernen Griffel aus seinem Brustbeutel und bohrte sich die Spitze des Griffels in den rechten Unterarm, bis Blut darauf tropfte. Mit dem blutigen Griffel schrieb er auf die Tafel:

Haare gesichert. Zielperson ohne Kenntnis davon

H. v. M.

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20. März 2002

"Romina, hattest du nicht mal von einer Ehefrau eines geheimen Zauberrates im Libanon gesprochen, mit der du Briefe austauschst?" fragte Anthelia ihre muggelstämmige Mitschwester Romina Hamton.

"Ja, Samira bint Karim ben Hassan iben Mustafa Al-Omani", erwiderte Romina sichtlich eingeschüchtert, weil Anthelia unverkennbar verärgert aussah.

"Wann hast du den letzten Brief von ihr erhalten, in dem sie die letzten Neuigkeiten von dem Mann, mit dem sie sich hat zusammensprechen lassen, erfahren hat?"

"Vor einem Monat. Es ging dabei um Hinterlassenschaften eines Golemmeisters aus dem alten Babylon, der sich in der Nähe des heutigen Beirut angesiedelt hat und dort vor zweieinhalbtausend Jahren eine Armee aus hundert Kriegergolems hinterlassen hat. Diese Armee wurde gefunden und hat fünfhundert unschuldige Menschen getötet, bevor der magische Rat die Golems zerstören konnte."

"Verstehe", grummelte Anthelia. "Dann frage sie so behutsam du es kannst danach, ob ihr Gerüchte über das Auftauchen oder Wirken eines goldenen Dämons oder Riesens bekannt wurden. Ich hätte da gerne noch eine andere Quelle ausgeschöpft als die, die nur sporadisch sprudelt."

"Sie kriegt nur mit, was ihr Mann ihr im Schlaf erzählt, und auch nur dann, wenn er sich zu ihr legt, um ... öhm ..."

"Den tanz des neuen Lebens zu tanzen, Liebe zu machen, Sex zu haben", entgegnete Anthelia kalt, obwohl der Gedanke an eine Liebesnacht unangenehm starke Bedürfnisse in ihr erweckte. Es war schon wieder zu lange her, dass sie die in ihr wirkenden Anwandlungen Naaneavargias ausgelebt hatte.

"Wie auch immer das genannt wird, sie bekommt nur etwas von ihrem Mann mit, wenn ihm und nicht ihr der Sinn danach steht. Außerdem legt sie keinen Wert darauf, es jede Nacht mit ihm zu tun", sagte Romina. Anthelia nickte ihr zu. Dann sagte sie:

"Es ärgert mich, dass wir im Morgenland noch immer keine wirklich von uns überzeugten Mitschwestern gewinnen konnten. Aber ich muss dem wohl Nachdruck verleihen. Denn so kann es nicht bleiben."

"Was soll es mit diesem goldenen Dämon oder Riesen auf sich haben, höchste Schwester?"

"Dass mir jemand, die wir beide als gemeinsame Mitstreiterin kannten, freundlicherweise mitteilte, dass die, mit denen sie nun zusammenlebt und auf deren Pfaden sie wandelt, einen solchen goldenen Riesen angetroffen haben, ihn aber weder unterwerfen noch vernichten konnten. Sie wies mich ebenso großzügig wie berechnend darauf hin, dass wir damit zu rechnen haben, dass dieser Riese die ihm beigeordneten Gehilfen dazu antreibt, unsere Welt zu durchforschen, um gegebenenfalls zu befinden, ob die jetztzeitige Menschheit ein Recht auf freie Entfaltung ihrer Wünsche und Fähigkeiten behalten darf oder nicht. Mehr ist für dich nicht wichtig, um die Anfrage an deine Brieffreundin zu verfassen."

"Ein Geschöpf aus dem alten Reich?" fragte Romina erschrocken.

"Eben so eines", fauchte Anthelia. "Also los, schicke dieser Hexe eine Eule. Vielleicht werde ich sie in eigener Person aufsuchen, um ihr begreiflich zu machen, dass sie um das Bestehen ihrer Welt willen auf meinem Weg wandeln soll."

"Sie verabscheut dich, höchste Schwester. Sie befürwortet die in ihrem Land geltende Ordnung, dernach Hexen nur die Mütter von magisch begabten Kindern oder Pflegerinnen in den Häusern der magischen Heiler zu sein haben. Sie lehnt dich ab, ja hasst dich geradezu, weil du diese Ordnung zerstören willst und weil du in die von ihrem Gott Allah geschaffene Natur hineingefuhrwerkt hast, als du die Entomanthropen wiedererweckt hast, von denen die Vorfahren ihrer Familie vor Jahrhunderten genauso heimgesucht wurden wie die im Westen. Sie weiß nicht, dass du mit dieser alten Magierin zu einer neuen Hexe geworden bist und du die schwarze Spinne bist. Vor dieser hat sie sogar regelrecht Angst. Angst kann auch Hass erzeugen."

"Ist mir durchaus bekannt", grummelte Anthelia. "Nun, darauf kann ich ebensowenig Rücksicht nehmen, wie ich damals keine Rücksicht nehmen konnte, als es darum ging, die Schlangenmenschen dieses Waisenknabens zu bekämpfen oder als ich, um meine Freiheit wiederzuerlangen, Daianira Hemlock dazu trieb, sich auf der Insel der hölzernen Wächterinnen ein eigentlich tödlich erwartetes Duell zu liefern. Wenn es wirklich ein Wesen des alten Reiches war, dann muss ich, weil ich dieses besser als die meisten denkfähigen Wesen dieser Zeit kenne, nachforschen und ergründen, wie wir gegen dieses Geschöpf und seine Untergebenen vorgehen können. Insofern werde ich mich in den nächsten Tagen wohl auf eine Reise durch die morgenländischen Länder begeben. Schicke deiner Brieffreundin eine Eule mit der von mir erbetenen Anfrage. Als Begründung gib bitte an, dass du von einer anderen Brieffreundin die Besorgnis zugetragen bekamst, irgendwelche uralten Dschinnen könnten wegen der exzessiven Ausbeutung des unter dem Wüstensand lagernden Petroleums erwacht sein und den Menschen zürnen, derartig mit diesem Bodenschatz umzugehen."

"Ob sie mir das abkauft?" fragte Romina. Doch dann nickte sie. Anthelia verabschiedete sich von ihr und riet ihr, in den nächsten Wochen nicht zu sehr im weltweiten Rechnernetz herumzustöbern, weil sie aus mehreren Quellen erfahren habe, dass die Magielosen, aber auch die mit diesen Gerätschaften vertrauten Hexen und Zauberer gezielt nach denen suchten, die sich für außergewöhnliche Vorkommnisse interessierten.

Als Romina fort war zog sich Anthelia/Naaneavargia in ihr Schlafgemach zurück. Sie dachte daran, dass es wohl stimmen mochte, dass der Wächter von Garumitan wiedererweckt wurde. Üblicherweise hätte das nur ein Kundiger aus dem alten Reich vermocht. Deshalb hatte Anthelia erst gedacht, die Sonnenkinder, denen sie sich nicht auf weniger als hundert Meter nähern konnte, hätten das getan. Doch die Erklärung, dass der vereinte Todesschrei vieler hundert Dementoren diese Erweckung eingeleitet hatte erschien ihr glaubwürdig genug, sie nicht anzuzweifeln. Allerdings ärgerte sie sich einmal mehr, wie abhängig sie in dieser Angelegenheit von Patricia Straton und den anderen Sonnenkindern war. Ihr war klar, dass sie immer noch und weiterhin nur die Sachen erfahren würde, von denen Patricia sicher war, dass Anthelia/Naaneavargia sie wissen musste. Ob das immer zutraf bezweifelte Anthelia. Am Ende beschlossen die Sonnenkinder noch, ihr Falschmeldungen unterzuschieben, um sie zu von diesen gewünschten Handlungen zu treiben. Deshalb musste sie gerade was das Nachrichtennetzwerk ihrer Schwesternschaft anging expandieren. Sie hatte das lange nicht mehr vorangetrieben, weil sie wegen der Vampire Nocturnias und anderer Feinde einen Burgfrieden mit den Zaubereiministerien einhalten wollte. Doch zum einen existierte dieser Burgfrieden nicht mehr. Zum anderen würde, wenn der Wächter von Garumitan wiedererwacht war, bald eine kleine Streitmacht gigantischer goldener Gardisten aus dem alten Reich die Menschheit bedrohen und drittens galt es, die ohne magie wirkenden Menschen von ihrem die Natur zerstörenden Weg abzubringen. Dieses Ziel konnte sie aber nur verwirklichen, wenn sie ein die ganze Welt umfassendes Netzwerk zur Verfügung hatte.

Doch vor einer Reise in das Morgenland musste sie erst einmal wieder ausgiebig ihre geschlechtlichen Begierden ausleben, um frei von diesen handeln zu können. Nicht auszudenken, wenn sie irgendwo derart von einem Mann angetan war, dass sie seinetwegen Zeit und Ort vergaß. Das in ihr, was Anthelia gewesen war, verwünschte diese seelische Mitgift Naaneavargias bis heute. Doch was von ihr Naaneavargia war sah es nicht ein, auf die Befriedigung ihrer Gelüste zu verzichten, nur weil es galt, Verantwortung für die ganze Welt zu tragen. Diese innere Zwiespältigkeit würde sie bis in alle Ewigkeit begleiten, wusste Anthelia. Andere mochten dies als gerechte Strafe für ihre Eingriffe in die lebendige Natur ansehen. Doch dieses Gerede kümmerte sie nicht weiter.

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Die Nacht vom 20. zum 21. März 2002

Er war froh, nicht auch ein Schallansaugrohr mitgenommen zu haben. Was sein für Nachtsicht ausgelegtes Zauberfernrohr, mit dem er sogar durch nicht gegen Beobachtungszauber gesicherte Fenster und Vorhänge blicken konnte sah, machte ihn einerseits rasend vor Eifersucht, aber auch sehr beklommen. Denn er sah Della Witherspoon, wie sie mit diesem blonden Jüngling, der nicht viel älter als er war erst ganz eng im Wohnzimmer tanzte, dann auf einem Sofa eine lange Zeit schmuste, um dann schon im Gleichtakt schwingend im Schlafzimmer und auf dem breiten Bett zu landen, wo es dann mit der langsamen, verschmusten Art vorbei war und es heftig zur Sache ging. Hank hatte nie gedacht, dass spannen einerseits so anregend sein konnte, aber es doch auch irgendwie gruselig war. Klar, es machte ihm nur Angst, sich vorzustellen, dass der Bursche da ihr fester Liebhaber war und die es regelmäßig mit ihm trieb und er deshalb auch mal mit dem Typen im Bett herumturnen müsste. Am Ende konnte er den Vielsaft-Trank nicht nehmen, weil Della von dem Typen ein Kind abbekam. Schlimmer, er musste dann, wenn er sie sein würde, tierisch drauf aufpassen, nicht selbst von dem Blondschopf geschwängert zu werden, wenn das bei Vielsaft-Trank-Kopien überhaupt ging. Ausprobieren, ob das ging wollte er jedenfalls nicht.

Zumindest war Della in einer überragenden Form, egal, in welcher Stellung sie ihren Nachtgast gerade hatte. Hank van Mehren alias Brutus Pane würde dann zumindest einen gut trainierten Körper bewegen dürfen. Doch wie der Typ Della da umpflügte und von oben bis ganz unten abküsste ekelte ihn schon wieder an. Die Frau war absolut keine feine Dame. Jetzt verstand er, warum sein Herr und Meister wollte, dass er sie gut genug beobachtete. Demnächst musste er noch hören, wie sie sprach. Sich dann vorzustellen, irgendwann mit dem Trank ihren Körper nachzumachen und dabei daran zu denken, wie dieser Blondschopf sich daran ausgetobt hatte machte ihm eine Gänsehaut. Dann fiel ihm noch ein, dass er, wenn er sie war, am Ende noch in diesen Typen verknallt sein konnte und damit einen Totalschaden für's restliche Leben abbekommen konnte, ob der Typ ihn als sie dann mit einem Kind auffüllte oder nicht. Dann fiel ihm auf, dass der blonde Liebhaber offenbar nicht von sich aus machte, was er machte, sondern sich von ihr sagen ließ, was er bei und mit ihr wie zu machen hatte. War das vielleicht ein Wonnefaun, also ein Zauberer, der sich für seine Liebesdienste bezahlen ließ?

Als die beiden dann nach gefühlten zwanzig Stunden - in Wahrheit waren nur vier vergangen - müde genug waren, nebeneinander einzuschlafen, atmete Hank van Mehren tief ein und wieder aus. Vielleicht ging es auch anders, als der Meister es geplant hatte. Er hoffte zumindest, dass er diesen Auftrag doch nicht übernehmen musste. Vielmehr wäre es doch interessant, warum Della Witherspoon verschwinden musste. Am Ende ging es nur um ein Buch oder ein Familiengeheimnis, an das Lord Vengor herankommen wollte. Dann ließe sich das ganze sicher auch ohne den Austausch hinbiegen. Doch er wusste, dass er nie im Leben seinen neuen Herrn und Meister sowas vorschlagen würde. So sah er noch einmal durch sein Fernrohr, das immer noch Auf Durchdringungsblick eingestimmt war. Am Ende musste er noch diesen Knilch da heiraten. Zumindest wollte er wissen, wer das war, bevor er es auf anderem Weg mitkriegen würde.

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22. März 2002

Della Witherspoon saß auf einem fliegenden Besen über dem weiten Buschland Südafrikas. Vor ihr flogen gerade vier Feuerlöwinnen dahin. Die gehörten alle zu einem Rudel, dass demnächst umgesiedelt werden sollte. Ihr rechts fliegender Kollege Roger Marten hatte gerade erwähnt, dass die sieben Feuerlöwen mit Schlafdunst betäubt werden sollten. Das würde eine umständliche Beförderung in abgesicherten Transportkisten ersparen. Außerdem konnten dann statt der zwei Zauberer pro Exemplar ein Zauberer oder eine Hexe je drei Exemplare mitreisen.

"Die in Algerien haben das so mal gut hingekrieg, ein Männchen und ein trächtiges Weibchen übers Mittelmeer zu schaffen und bei den Franzosen anzuliefern. Dann haben sie die Tiere wieder aus Frankreich zurückgeholt, weil das nicht die bestellten Tiere waren. Wir kriegen das also auch hin, wenn die Berber das schon hinkriegen", sagte Marten noch.

"Gut, dasss die vier davorne schon genug zu fressen hatten", stellte Della fest, weil die Feuerlöwinnen gerade nur einen Überflug über ihr bisheriges Revier machten.

"Die drei anderen vergnügen sich gerade mit Big Jason, dem Rudelpascha. Irgendwie waren die dieses Jahr nicht alle zeitgleich rollig. Kann sein, dass durch den letzten Wurf gewisse Verzögerungen im Zyklus eingetreten sind und Jenny, Jessie und Jackie deshalb nicht im vorher bestehenden Gleichtakt geblieben sind."

"Und die da vorne sind trächtig oder nicht?" fragte Della. Sie musste das wissen, weil trächtige Feuerlöwinnen zum einen wesentlich revierbezogener waren, zum zweiten wesentlich aggressiver möglichen Angreifern gegenüber reagierten und drittens mehr Hunger hatten als unbefruchtete Löwinnen.

"Juno hat bestimmt wieder wen kleines von Big J im Bauch. Sie ist ja die Leitlöwin, oder Alpha-Löwin, wie mein muggelstämmiger Kollege Frederic de Groot das nannte. Die Muggels stufen die Ränge bei in Gruppen lebenden Tieren ja nach dem griechischen Alphabet durch, wobei das rangniedrigste Exemplar immer als Omega-Tier eingestuft wird, egal, ob die Zahl der Rangstufen das ganze Alphabet durchbuchstabieren lässt."

"Erzähl mir mal was neues, Roger", knurrte Della. Der Gedanke an einen Löwen, der gleich mit drei seiner Artgenossinnen im Paarungsrausch war erinnerte sie an eine Frage von Jimmy Rushwater, ob es stimme, dass sie auch schon mal einen Mann mit ihrer Cousine Selina geteilt habe. Woher der auch immer das hatte, sie hätte ihn dafür fast erwürgt, wenn er sie da nicht gerade sehr anregend berührt hätte.

"Juno hat uns doch gewittert. Drachenmist!" zischte Roger. Eigentlich waren sie beide der Meinung, durch das Geruchloselixier und den vor ihnen fliegenden, nur zu ihnen hin durchsichtigen Wall der Verbergung unaufspürbar zu sein. Dass die Löwen sie nicht hören konnten lag an einem Zauber, der dem Vocamicus-Zauber ähnelte und alles gesagte nur für die Ohren der Personen hörbar machte, die den Ausführenden beim Zaubern zuhörten.

"Die haben unsere Besen gehört", vermutete Della.

"Kann nicht sein, die Nimbus 2001 Nachteulen haben eine Lautlosbezauberung in Schweif und Stiel", erwiderte Roger. Dennoch musste er die Tatsache hinnehmen, dass die Leitlöwin gerade direkten Kurs auf die beiden Verfolger genommen hatte. Aus den Beobachtern wurden gerade Gejagte. Denn Junos drei Rudelmitglieder Jamie, Jannett und Joanne folgten ihr auf der Schwanzquaste.

"Die sind noch eine halbe Meile weg. Nur noch vierzig Sekunden!" rief Roger und hoffte, dass der Satellaudiens-Zauber immer noch hielt und die Löwinnen ihn nicht hörten.

"Komm, Kleiner, hüpf hinten drauf!" rief Della unvermittelt und wackelte kurz mit ihrem Besenschweif. Roger kapierte es nicht so recht. "Komm, nur noch zehn Sekunden. Hopp!" trieb Della ihn an. Doch er hing starr vor Schreck und Verblüffung auf seinem Besen, während Juno ihren Trupp Feuerlöwinnen noch näher heranbrachte. "Dann eben so!" knurrte Della und zielte mit dem Zauberstab auf den Kollegen. Sie ließ ihn von oben bis unten durchschwingen und rief "Centinimus!" Der Zauberer schrumpfte mitsamt seinen Besen auf gerade einen Zentimeter Größe ein. "Accio Roger und Besen!" rief sie noch. Der Eingeschrumpfte schwirrte nun zu ihr hin. Sie hielt eine ihrer Umhangtaschen auffangbereit in die Flugbahn. Als sie sicher war, den Kollegen sicher aufgefangen zu haben rief sie in einer selten gehörten Geschwindigkeit den Amniosphaera-Zauber auf, der eine rosarote Lichtblase um sie herum entstehen ließ. Nun vor fast allen magischen und physischen Angriffen sicher erwartete sie den Angriff der Feuerlöwinnen.

Als Juno und ihre Rudelmitglieder die rosarote Schutzblase wahrnahmen brüllten sie los und spien orangerote Flammengarben dagegen. Doch diese zerflossen an der rosaroten Lichtblase und schlugen in mehrere Feuerzungen aufgespalten auf die vier fliegenden Löwinnen zurück. Diesen machte Feuer nichts aus, solange es nicht ein Feuer wie Schmelzfeuer oder das dunkle Feuer war. Doch sie wurden wütend, weil jemand sie derartig sicher abwehrte. Als sie dann mit Klauen und Zähnen angriffen erzitterte die rosarote Lichtblase nur geringfügig. Immer wieder stürmten die vier Löwinnen dagegen an. Doch es gelang ihnen nicht einmal mit dem ganzen Körpergewicht, eine Delle in die Schutzblase zu drücken. Sie prallten immer wieder ab, wie von einem stark aufgepumpten Quaffel.

"Remagno!" rief Della, als sie den wie ein gefangenes Insekt zappelnden Roger Marten vor sich auf den Besenstiel pflanzte. Der Eingeschrumpfte wuchs blitzartig wieder zu seiner natürlichen Größe an. Die erste Reaktion von ihm war, dass er versuchte, Della einen Schlag zu versetzen. Doch diese ließ ihn sofort erstarren und beschwor mit einer lässigen Armbewegung einen breiten Gürtel herauf, den sie um ihn und sich schließen ließ. "Wer nicht hören will muss eben kurz mal klein werden", sagte Della. Dann beobachtete sie weiter, wie die Feuerlöwinnen ihren Schutzzauber beharkten.

Die vier geflügelten Raubkatzen konnten sich gut ranhalten, musste Della neidlos anerkennen. Ganze fünf Minuten dauerte es, bis die vier Feuerlöwinnen aufgaben und an ihr vorbeiflogen, als sei weiter hinter ihr leichter zu machende Beute aufgetaucht. Della kam das seltsam vor. Sie wandte den Besen um und flog den vieren hinterher.

Sie legten im Flug zwei Kilometer zurück. Dann stürzten sich die vier Löwinnen in die Tiefe. Da flammte es auf. Aus dem Nichts konnte Della einen Besenstiel sehen, der in hellen Flammen stand. doch der Besen war unbesetzt. Die vier Feuerlöwinnen zerbliesen den Besen mit ihren Flammenstößen vollständig zu glühender Asche. Dann schwenkten sie wieder um und jagten mit einem lauten Wutgebrüll an der immer noch bestehenden Schutzblase um Della und Roger vorbei, zurück in das Zentrum ihres Revieres.

"Removete", murmelte della mit auf Roger deutendem Zauberstab. Der Kollege erwachte aus seiner Erstarrung.

"Ms. Witherspoon, das wird ein Nachspiel haben", brüllte Roger Marten. "Sie können nicht einfach einen Mitzauberer gegen dessen Willen einschrumpfen und an sich heranziehen, dass ihm die Luft wegbleibt. Das ist unerlaubte Fremdverwandlung in Tatmehrheit mit magisch ausgeführter Entführung in Tatteinheit mit Freiheitsberaubung unter Ausnutzung der Magie und ..."

"Ja und ja und ja, alles korrekt im Sinne der Anklage, aber durch den Umstand gerechtfertigt, dass Sie in akuter Lebensgefahr schwebten und nicht willens oder fähig waren, sich der Gefahr aus eigenen Kräften zu entziehen. Das rechtfertigt jede Hilfsmaßnahme, die zum Schutz und/oder zur Errettung des Gefährdeten gegeben ist. Und ich habe Ihnen zugerufen, auf meinem Besen umzusteigen, Roger. Aber Sie waren ja angsterstarrt. Sie hätten sich also weder der Gefahr eigenhändig erwehren noch auf meine Aufforderung reagieren können. Blieb mir also nur ein drastischer Eingriff. Und einen erwachsenen Zauberer von gut und gern 90 Kilogramm Lebendgewicht per Aufrufezauber herüberzuholen, um ihn in einen sicheren Bereich für eine Amniosphaera-Bezauberung zu bekommen ist fast unmöglich. So ging nur die zeitweilige Einschrumpfung."

"Das dürfen Sie dann dem Gamot erzählen, wenn es Sie wegen dieses Vorfalls vorlädt. Ihre Miniesterialanstellung können Sie dann getrost vergessen, womöglich auch Ihren Zauberstab und vielleicht ein paar Monate ihrer Freiheit, wenn nicht einige Jahre."

"Dieser Verhandlung sehe ich mit sehr großer Zuversicht entgegen", erwiderte Della unbeeindruckt.

"Hier am Kap haben Sie nicht genug nette Verwandte, die Ihnen da raushelfen werden wie auf den Inseln", versuchte Roger, seine Androhung weiter zu stärken. Doch Della hatte dafür nur ein abschätziges Grinsen übrig.

"Ich habe hier am Kap mehr Verwandte als auf den Inseln, wie Sie eigentlich wissen sollten, wo ihr Vater meine Mutter gerne als Muggelbrut und Hausmagdsbastard bezeichnet hat. Das habe ich mir auch gut gemerkt und auch, dass Ihr Herr vater dafür einmal eintausend Galleonen hat zahlen müssen, weil er noch zwei Worte mehr gegen meine Mutter benutzt hat, die ich als Dame nicht in den Mund nehmen will. Also kann und werde ich jede von Ihnen angestrebte Anklage als groben Undank und als Vergeltungsversuch für Ihnen entgangene Erbanteile Ihres Vaters hinstellen. Und wie erwähnt, ich habe hier unten am Kap mehr Verwandte und Freunde als Sie, falls Sie es wirklich darauf anlegen. Andererseits hätte ich gerade nich übel Lust, Sie als unbelehrbar undankbaren Wicht Juno und ihren Kameradinnen zum Abendessen zu überlassen, damit Junos ungeborene Jungen zumindest noch was anständiges von Ihnen ... Aber meine Mitmenschlichkeit verbietet das."

"Werden wir erleben, wer von uns beiden am Ende gewinnt", knurrte Roger. "Aber zumindest wissen wir, warum die Biester uns angeflogen haben." Della nickte und erwiderte, dass sie sich da zumindest absolut einig seien. "Wir wurden verfolgt, von einem Zauberer oder einer Hexe, der oder die keinen Lautlosbesen hatte und wohl auch kein Geruchloselixier benutzt hat. Als der Wind günstig stand konnten die Löwinnen ihn wittern", sagte Della.

"Ja, und wo ist er hin?" wollte Roger wissen.

"Womöglich vom fliegenden Besen disappariert."

"Dann müssen wir das melden, dass jemand hinter uns hergeflogen ist", sagte Roger. Della nickte und erwiderte: "Sehen Sie, da bin ich mit Ihnen auch einer Meinung."

Sie flogen zurück, nachdem sie feststellten, dass die vier Feuerlöwinnen sich einen Büffel als Beute ausgeguckt und den aus der Luft heraus erlegt hatten.

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Die Vergeltungswächter Sieben, Neun und Vierzehn hatten sich mittlerweile an die Geräusche und Gerüche innerhalb der alten Kautschukfabrik gewöhnt. Jede Viertelstunde sausten zwanzig zehn Meter lange Klingen von der Decke des untersten Raumes herunter und köpften je zwanzig Männer, Frauen oder Kinder. Jee Stunde also an die 1600 Tote, abgeschlagene Köpfe und ein Meer aus Blut, eine Fabrik des Todes. Vierzehn, der bis vor wenigen Wochen noch neun Stufen weiter unten in der Rangliste gestanden hatte, betrachtete den unter jeder dieser Massenhinrichtungen pulsierenden Zwölfflächler aus einem lichtschluckenden Stoff. Jedes mal wuchs dieses Gebilde ein wenig weiter an. Es wurde mit der gewaltsam freigesetzten Lebenskraft der Gefangenen gefüttert, die immer wieder nachgeliefert wurden. Wieder sausten die zwanzig Beile gleichzeitig nieder. Das vielfache Wimmern, Schreien und Rufen erstarb wortwörtlich wie abgeschnitten. Wieder zuckte der zwölfflächige Kristallkörper. Vierzehn fühlte den eisigen Hauch, der von dem unheilvollen Körper ausstrahlte, den Drang, selbst jemanden zu töten. Dieses Ding da war ihm unheimlich, und bis zum zwölften April sollte er dieses Unheilsding beschützen und dafür sorgen, dass es weiterwuchs. Dann würden die Mitarbeiter dieser Schicht abgelöst. Der Kristall würde zu denen, die in den letzten Wochen gezüchtet worden waren gelegt. Was immer Vengor mit diesen großen Körpern vorhatte, er hoffte, dass der maskierte Anführer wusste, was er tat.

"Fallbeil sieben quietscht beim Hochziehen, muss nachgeölt werden", stellte Neun fest, als er wie seine drei Kumpanen das leise Schaben und Quietschen gehört hatte.

"Dann muss einer von uns in den Hinrichtungssaal", unkte Vierzehn.

"Laut Rotationsplan bist du fällig, Vierzehn", sagte Vier, der ranghöchste Vergeltungswächter. Alle sahen sie aus und klangen wie der von Harry Potter besiegte dunkle Lord. So wusste keiner vom anderen, wer er eigentlich war.

"Ich gehe runter und erledige das", sagte Vierzehn mit belegter Stimme. Die anderen nickten ihm mit ihren bleichen Schlangenschädeln zu.

Vierzehn wusste, dass Lord Vengor keine unnötige Verzögerung wollte. Wenn die Massenmordmaschine nicht schnellstens gewartet wurde konnten sie ihre Tagesquote an Toten nicht liefern. Vengor brauchte nur den gerade wachsenden Kristall auszumessen und wusste bescheid. Verzögerungen wurden bestraft, wusste Vierzehn.

"Sie Irrer, machen Sie uns los, und lassen Sie uns frei, verdammt noch mal!" fluchte ein Mann, der gerade von fünf imperisierten Muggeln in den Hinrichtungsraum geführt wurde. Zwanzig magielose Männer waren unter den Imperius-Fluch genommen worden, um als gefühllose Dienstboten und Reinigungskräfte anzupacken. Vierzehn ging nicht auf die hilflose Aufforderung ein. Er zog nur eine kleine Ölflasche hervor und nahm eine an der Wand lehnende Leiter. Diese trug er an die Schienen des bereits mit viel Blut besudelten Beils Nummer sieben heran. Er hörte noch die Entsetzensschreie der Gefangenen, als sie erkannten, was ihnen bevorstand. Doch sie kümmerten ihn nicht weiter.

Mit einem Spezialelixier, extra um Blut von Metall zu putzen, säuberte er die Führungsschienen der Fallbeile. Dann ölte er die Schienen nach. Anschließend ließ er per Zauberkraft die Klingen nach oben ziehen. Einer der imperisierten Zuarbeiter trieb die nächste Gruppe Todeskandidaten mit schussbereiter MP vor sich her in die Halle. Anders als die Wachmannschaft standen die Entführten nicht unter einem Zauberbann. Das hatte Lord Vengor strickt untersagt. Er ging wohl davon aus, dass der schwarze Kristall nur dann weiterwuchs, wenn die ihm zugespielte Lebenskraft mit der nötigen Todesangst und Verzweiflung einherging.

"Ich lass mich doch nicht wie ein Schwein abschlachten!" rief einer der Männer, die gerade in die Halle getrieben wurden. Es war ein junger Mann mit südländischem Hautton. Er warf sich herum und stürmte auf einen der unterworfenen Antreiber zu. Dieser feuerte seine Maschinenpistole ab, verfehlte ihn jedoch. Statt dessen erwischte er drei andere Männer, die tödlich getroffen umfielen. Eine der Kugeln klirrte gegen eines der gerade nach oben gleitenden Fallbeile und schwirrte als Querschläger zurück. Fast hätte der Rückpraller Vierzehn erwischt. Dieser konnte sich gerade noch zur Seite werfen. Dabei verlor er jedoch den Halt auf der Leiter und rutschte aus. Diese Ereignisse rüttelten die auf ihren eigenen Tod zumarschierenden Gefangenen wach. Sie erkannten wohl, dass sie absolut nichts mehr zu verlieren hatten. Sie brachen aus der aufgezwungenen Formation aus und stürmten in verschiedene Richtungen. Die einen berannten die Antreiber, die ohne einen klaren Befehl dastanden, bis die in Wut und Panik geratene Masse sie umstieß. Ein Teil der Gefangenen versuchte, Vierzehn niederzutrampeln. Doch der hielt seinen zauberstab einsatzbereit und rief "Creato Propugnaculum!" Zwischen ihm und den anderen baute sich eine silberne Lichtwand auf, in die die Gefangenen im vollen Lauf hineinkrachten. Zehn Männer stürzten und wurden von den Nachdrängenden am Boden festgenagelt. Viele Frauen und Kinder stoben kreischend in alle Richtungen. Drei Dutzend von Ihnen erreichten den Wartungszugang, durch den Vierzehn hereingekommen war. Da blitzte es mehrmals hintereinander grell auf. Die beinahe in die Außenkorridore entwischten Gefangenen schrien noch lauter und rannten wie von einem Hornissenschwarm gejagt zurück in die Hinrichtungshalle. Vierzehn hüllte blitzartig seinen Kopf in eine Kopfblase ein. Dann zielte er auf eine Stelle in der Decke und dachte "Vollbetäubung!" Mit lautem Fauchen bliesen mehrere sich schneller als ein Blinzeln öffnende Düsen einen weißlichen Nebel in die Halle, der innerhalb einer Sekunde jeden bewusstlos machte, der keinen Atemschutz besaß. Es dauerte nur fünf Sekunden, bis alle Gefangenen, die eben noch eine verzweifelte Flucht versucht hatten, kraft- und reglos am Boden lagen.

"Hier Vierzehn, wer ist noch wach?!" rief Vierzehn durch die ihn umschließende Kopfblase. Er lauschte in die Stille, während die Fallbeile sich wieder in Bewegung setzten, um nach oben zu gleiten. Herabfahren würden sie aber erst, wenn alle zu tötenden mit Halseisen vor den Auffangkörben festgemacht worden waren. "Hier Vierzehn, wer ist noch wach?!" rief er noch einmal. Totenstille und ein sich erst langsam wieder verflüchtigender Betäubungsdunst waren das einzige, was bestand.

Nach einer Minute sah Vierzehn nach, was aus seinen Kollegen und den unterjochten Antreibern geworden war. Seine Kollegen und die beeinflussten Muggel fand er in den Korridoren und auch in den beiden oberen Etagen, wo die Büro- und Vorratsräume lagen. Der Betäubungsnebel, eine reine Notfallabsicherung, hatte die komplette Besatzung für mehr als zwei Stunden ohnmächtig werden lassen. Vierzehn wusste, dass ihm das einen Platz in der nächsten Hinrichtungsgruppe eintragen konnte. Doch er musste es dem Meister mitteilen. Dieser kam nicht mehr in die Fabrik, weil er gemeint hatte, dass der in ihm wirkende Kristall die für den frei zu züchtenden Kristall bestimmten Lebensenergieen abschöpfte. Doch womöglich kam er herüber, um sich einen genauen Bericht geben zu lassen.

Vierzehn ging in das Büro, das eigentlich für das ranghöchste Mitglied der Besatzung bestimmt war. Allerdings hinderte ihn nichts und niemand daran. Über die bei den Vergeltungswächtern übliche Verbindung zwischen zwei magisch verknüpften Schreibtafeln übertrug er die notwendige Verzugsmeldung. Allerdings antwortete Vengor nicht darauf. Drei Minuten vergingen, dann ploppte es laut.

"Vierzehn, wo bist du?" rief eine tiefe Stimme aus der unteren Etage. Vierzehn meldete sich. Keine Sekunde später hörte er die Stimme wieder. "Herkommen!" Vierzehn gehorchte unverzüglich.

Vengor stand ohne Kopfblasenschutz in der Hinrichtungshalle und besah sich die am Boden liegenden Gefangenen.

"Wenn du nicht willst, dass du von mir persönlich unter einem der Beile deinen Kopf einbüßt verrätst du mir jetzt, warum du das gemacht hast! Es hätte gereicht, alle Ausgänge zu schließen und die Gefangenen mit den Horritimorzaubern in die Halle zurückzutreiben, wie ich euch das gesagt habe."

"Sie brachen alle zugleich aus, und die Kinder da wären fast durch den Lieferantenausgang entwischt", verteidigte Vierzehn sein Vorgehen.

"Ach ja?! Warum war der Zugang denn offen. Wen oder was habt ihr erwartet, dass schnellstmöglich herein oder hinaus sollte?" wollte Vengor wissen und starrte Vierzehn genau in die Augen. Vierzehn musste sich gegen seinen Willen erinnern, wie Zwölf vor einem halben Tag fünf argentinische Rinder durch den Eingang hatte liefern lassen, weil er und zwei andere Hunger auf frische Hüftsteaks hatten.

"Ich würde ihn und dich gleichermaßen unter eines der Beile legen. Aber ich brauche jeden einzelnen von euch. Deshalb wirst du jetzt alle die Gefangenen da eigenhändig unter die Beile legen und sobald sie alle wach sind den Hinrichtungsvorgang auslösen. Und was Zwölf angeht, so sage ihm, wenn er wieder wach ist, dass ich ihn demnächst selbst in ein argentinisches Rindvieh verwandeln würde, wenn er sowas noch mal tut. Ihr bekommt genug zu essen angeliefert. Extrarationen sind nicht erlaubt. Und jetzt an die Arbeit!" Vierzehn wollte noch was sagen. Doch Vengor verschwand so plötzlich, dass Vierzehn nur noch eine sich in der Luft drehende Staubspirale erkennen konnte.

Wie befohlen ging er daran, die Gefangenen für ihre letzten Sekunden im Leben vorzubereiten.

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Nie zuvor hatte Brutus Pane alias Hank van Mehren so viel Todesangst verspürt wie in den vergangenen Minuten. Eigentlich hatte er gedacht, mit dem Geruchloselixier, dass ein Kamerad aus der Vergeltungswächtertruppe für die Truppe braute und mit dem Tarnumhang von Lord Vengor vollkommen sicher zu sein. Doch diese vier Feuerlöwinnen hatten, nachdem sie den Besen mit Della Witherspoon lange genug beharkt hatten, seinen Besen wahrgenommen und Kurs auf ihn genommen. Schon fauchten die Feuerstöße heran. Hank versuchte noch ein Ausweichmanöver. Doch die vier geflügelten Löwinnen hielten locker mit und holten ihn fast ein. Da ihm keiner erklärt hatte, dass Besen eine Notfluchtbezauberung besaßen, sah er nur noch die eine Möglichkeit. Er sprang in die Tiefe und wirbelte dabei auf der Stelle. Ein Ausläufer der Feuerlöwenflammen traf den Besen, als Hank alias Brutus disapparierte.

Erfreut, dass er sich nicht zersplintert hatte, landete der Zauberer, der sich in Südafrika Hank van Mehren nannte, am Rande des umzäunten Wildtierreservates. Den Besen hatte er aufgegeben, einen Nimbus 2000. Musste er sich eben einen neuen Besen besorgen. Schlimmer aber fand er, dass er die Verfolgung della Witherspoons hatte abbrechen müssen und dass die beiden Ministeriumszauberer sicher mittbekommen hatten, dass jemand unbefugtes weit hinter ihnen hergeflogen war. Das durfte er seinem Herrn und Meister nicht erzählen. Er konnte nur hoffen, dass er Della zumindest mit dem heute besorgten Paar Mithörmuscheln lange und ausgiebig genug belauschen konnte. Hoffentlich bekam er dabei nicht zu viel aus ihrem Liebesleben mit. Denn die zwei sich in ihm käbbelnden Gedanken, zum einen von der anziehend aussehenden Hexe zu schwärmen, sie als seine zeitweilige Geliebte zu kriegen, aber auch, dass er in wenigen Wochen als ihr Doppelgänger herumlaufen musste und damit auch ihr Liebesleben am Hals und weiter unten haben würde gruselte ihn schon.

Bevor Della melden würde, dass sie verfolgt worden sein mochte schaffte es Brutus alias Hank, im Schutze des Tarnumhangs in ihr Haus einzudringen und die drei schwarzen Mithörmuscheln so zu verstecken, dass sie alles aufnehmen konnten, aber nicht so leicht gefunden werden konnten. Besonders aufpassen musste er dabei wegen der gemalten Familienangehörigen, die quasi als Hausüberwacher und vielleicht Weitermelder einspringen mochten. So musste er so leise sein und zugleich außerhalb der Blickfelder der Gemalten handeln. Endlich hatte er es geschafft, die drei Mithörmuscheln zu platzieren, eine davon weit unter dem BettDellas. Hoffentlich quietschte das nicht zu laut. Ausprobieren wollte er das jedenfalls nicht.

Endlich konnte er sich so leise es ging aus dem Haus zurückziehen und auf seinen Spähposten zurückkehren. Bald darauf kam seine Zielperson von ihrem Arbeitstag nach Hause. Diesmal hatte sie keinen Übernachtungsgast.

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26. März 2002

Ibrahim ben Dschamil al-Agadiri verwünschte die zähe Bürokratie seiner Behörde. Drei volle Tage hatte es gedauert, um den ganzen aufgetürmten Aktenberg abzuarbeiten, den das Erscheinen des goldenen Dschinns in der Nähe von Baalbek verursacht hatte. Vier Behörden meinten, sich damit befassen zu müssen, von der Behörde altertümlicher magischer Hinterlassenschaften, über das Dschinnenüberwachungsamt, die Behörde für magische Wesen bis zum Amt für die Geheimhaltung magischer Ereignisse. Dass dabei keine Nachricht nach außen gedrungen war konnte als von Allah erteilter Segen angesehen werden. Der Magier, der die Spuren der Verwüstungen in der Nähe von Baalbek gesichtet und für die Magieunfähigen glaubhafte Begründungen erarbeitet hatte, musste sich dann noch mit einem Kollegen aus dem Judenstaat treffen, weil dessen Zauberrat wissen wollte, ob ihrem achso auserwählten Volk neben den Kriegsgeräten der Magieunfähigen nun auch zürnende Geister aus alten Zeiten oder Konstruktionen dem Scheitan verfallener Magier zu schaffen machen würden. Jetzt war er froh, wieder nach Hause zu seiner Frau Samira zu können. In sieben Monden, so hatte es eine Heilerin ihr prophezeit, würde sie das dritte Kind von ihm gebären, hoffentlich den schon lange erwarteten Stammhalter und Bewahrer seines Namens.

"Vergiss nicht, deine Erinnerungen mit dem Siegel der Unerfassbarkeit zu verschließen, Ibrahim!" rief ihm sein Kollege Abdul nach, als er zur sich nach oben windenden Treppe Richtung Erdoberfläche ging. Über ihm glommen die goldenen Lampen, in denen ein nie versiegender Ölvorrat abbrannte.

"Gleich morgen früh", grummelte Ibrahim. Der Versiegelungsvorgang dauerte immer eine ganze Stunde, weil immer wieder alle bisher in der Behörde erworbenen Erinnerungen neu versiegelt werden mussten und nicht nur die gerade erst dazugewonnenen. Die Stunde wollte er sich nicht damit herumplackern.

Er verließ die unterirdische Festung der tausend geheimen Künste und Kenntnisse. Die Sonne stand bereits über dem Horizont. Dennoch war es hier draußen noch sengend heiß.

Ibrahim nahm seinen zauberstab hoch und disapparierte, eine Kunst, die er während eines halben Jahres in der Schmiede der magischen Fertigkeiten in der Nähe des alten Tempels von Abu Simbel in Ägypten erlernt hatte. Als er vor seinem Haus in der Nähe von Beirut erschien fühlte er Dank seines goldenen Siegelrings, dass in der Nähe Gefahr lauerte. Er spielte schon mit dem Gedanken, wieder zu disapparieren, da sank unter ihm die Erde weg. Er versuchte noch die rettende Drehung in den Appariervorgang, doch als wenn er in ein Treibsandfeld mit gieriger Sogwirkung geraten war zog ihn etwas an den Füßen und Beinen und dann immer weiter nach unten. Er versuchte, sich durch einen Freisprengzauber zu lösen. Doch der wie lebendig wirkende Sand schien vorausdenken zu können. Eine gelbbraune Sandfontäne schoss neben seinem Arm hoch und verdichtete sich um Hand und Zauberstab zu einer steinharten Umhüllung. Gleichzeitig zog ihn die unbarmherzige Kraft weiter in die Tiefe, verschlang seinen Brustkorb und dann sein Kinn. Er öffnete den Mund für einen Hilferuf. Doch da ruckte es, und er steckte vollends in der Erde. Er erkannte, dass jemand ihm eine gemeine Falle gestellt hatte. Vielleicht lauerte unter ihm sogar ein Erddschinn, der von einem mächtigen Scheitansanbeter unterworfen worden war, um ihn zu fangen oder zu töten. Dann fiel ihm was auf. Er erstickte nicht. Obwohl seine Lungen von dichtem Erdreich oder Gestein zusammengedrückt wurden und sich die Erde ganz auf Mund und Nase drückte, fühlte er keinen Luftmangel, nicht mal einen Drang, einzuatmen. Er überlegte, ob er in dieser Falle noch mentiloquieren konnte.

"Versuch es und werde von der Macht der großen Mutter zu Staub zerquetscht!" schoss eine warnende Gedankenstimme durch seinen Kopf, die Stimme einer Frau, die er bisher noch nie gehört hatte.

"Verdammt, wer oder was bist du?" dachte Ibrahim, der sofort erkannt hatte, dass etwas oder jemand seine Gedanken erfassen konnte.

"Die, die wissen will, was du über einen golden glänzenden Riesen weißt, der ganze Armeen bezwingen kann", bekam er eine nur in seinem Kopf erklingende Antwort. Währenddessen sank er weiter und weiter nach unten, ohne ersticken zu müssen.

"Du bist eine dem Allerhöchsten entsagende Hexe, eine Scheitansdirne", dachte Ibrahim.

"Wenn du nächsten Freitag deinem Allerhöchsten für dein Leben und das deiner Familie danken möchtest zügele deinen Zorn und verzichte auf jede Beleidigung. Ich habe dich in meiner Gewalt und werde dich nur freigeben, wenn ich alles erfahre, was du in deinem Geist trägst und nicht durch eines dieser verflixten Erinnerungssiegel versperrt hast."

"Ich werde dir nichts verraten. Mein Geist ist eine Festung, die von den Engeln des Allerhöchsten errichtet wurde und von ihrem Atem am Leben erhalten wird."

"Deine Religion in Ehren, Ibrahim, aber deine Engel haben nicht verhindert, dass ich dich in meine Obhut nehmen konnte und du gerade immer tiefer und tiefer sinkst. Wenn ich will, erstickst du. Wenn ich will, wirst du restlos zerdrückt. Wenn ich will gebiert dein Weib ein Ungeheuer mit Schuppenhaut und drei Augen. Also verzichte auf jeden Wiederstand!"

"Woher weißt du von dem goldenen Dschinn?" wollte Ibrahim wissen.

"Eine jüdische Mitschwester war so frei, mir und meinen Mitschwestern darüber zu berichten", war die Antwort. Immer noch sank er in die Tiefe.

"Natürlich, wer sonst", schnaubte Ibrahim. "Diese halberleuchteten, sich für uns überlegen haltenden Verleugner des wahren Gepriesenen wollen diesen Dschinn für sich erobern. Bei denen dürfen ja auch von ständiger Versuchung belauerte Weiber die hohen Künste erlernen und hohe Ränge bekleiden."

"Genau so ist das, Ibrahim", erwiderte die weibliche Gedankenstimme. Dann hörte der Sinkvorgang auf.

"So, eingebettet im Schoß der großen Mutter Erde wirst du mir nun alles preisgeben, was ich wissen will."

"Meine Mitstreiter werden deinen Schlupfwinkel finden und ausheben", knurrte Ibrahim in Gedanken. Er fragte sich, ob er es mit einer Angehörigen der Töchter des grünen Mondes zu tun haben mochte, weil die Stimme ein eindeutig ägyptisch gefärbtes Arabisch ohne ausländischen Akzent verwendete. Dann überlegte er, ob er nicht doch seine Vorgesetzten über diesen Angriff informieren sollte. Doch dann erkannte er, dass er keine Gelegenheit mehr haben würde, jemanden zu rufen, wenn er nicht tat, was die andere wollte.

Er stemmte sich zwar gegen die in ihn hineintastenden Ströme, die direkt aus der auf seine Stirn drückenden Erde zu kommen schienen, konnte jedoch nur eine volle Minute lang durchhalten. Dann überstiegen die Kopfschmerzen und wie brennende Dolche in seinen Kopf stechenden Kräfte sein Durchhaltevermögen. Er dachte an alles, was die ihn überwachende von ihm wissen wollte.

"Und von euch Zauberern ist keiner in die Nähe des goldenen Riesens gekommen?" fragte die Gedankenstimme.

"Wir erfuhren erst davon, als eine mächtige Magie ausbrach. Die überlebenden Soldaten trugen alle Erinnerungen an diesen goldenen Dschinn in ihrem Verstand. Ihn selbst konnten wir jedoch nicht mehr auffinden."

"Und ihr habt keinen Krater oder eine Stelle von zerstörender Magie durchtränkt gefunden?" wollte die ihn verhörende Geistesstimme wissen. Er verneinte es.

"Ihr wisst also weder, ob es ein Dschinn oder ein künstliches Wesen war, dass die Armee niedergehalten hat?" wurde er gefragt. Er verneinte es, dachte aber an eine detailgenaue Beschreibung des goldenen Riesens. Von einer uralten Stadt, die in der Gegend gelegen haben mochte, wusste er auch nichts.

"Dann hat er die Stadt wahrhaftig zerstört", hörte er die Gedankenstimme. Dann sagte diese noch: "So gebiete ich unser aller Mutter, dich in dein Leben zurückzugebären. Und wo wir dabei sind. Ich habe den Leib deines Weibes mit einem Siegel der Schweigsamkeit belegt. Verrätst du ihr oder wem anderem, was du gerade erlebt hast, wird dein Kind als fleischloses Gerippe geboren werden. Und jetzt kehre zurück an die Luft!"

Ein Blitz schien durch Ibrahims Kopf zu schlagen. Er verlor die Besinnung. Als er wieder aufwachte lag er knapp zwei Kilometer von seinem Haus entfernt. Sein goldener Ring blieb ruhig und kalt. Er sprang auf und verfluchte den Scheitan, dass er dieses Hexenweib auf ihn angesetzt hatte. Doch er glaubte ihr alles, auch dass sie den mit baldiger mutterschaft gesegneten Leib seiner frau verflucht hatte. Wollte er diesen Fluch tilgen musste er irgendwem verraten, dass er wirkte. Doch dann würde er sich auch schon erfüllen. Er wusste, dass es solche Flüche gab, auch dass Hexen die Väter ihrer Kinder unterwerfen konnten, indem sie ihr und des gerade in ihnen heranwachsenden Kindes Leben als Unterpfand setzten, dass der Kindsvater nichts verriet. Tat er es doch, starb sein ungeborenes Kind und nahm ihn mit ins Jenseits. So blieb ihm nur, nichts zu sagen, ja seinen Geist noch an diesem Abend zu versiegeln. Hätte er dies doch gleich nach Dienstschluss getan, so hätte die den Erdzaubern vertraute Scheitanshure ihn nicht derartig ausforschen können.

"Hätte sie doch. Sie hätte nur mehr Zeit gebraucht", hörte er ihre verfluchte Gedankenstimme. Er wusste nun, dass sie ihn weiterhin überwachte. Doch in der Festung der tausend hohen Künste und Kenntnisse konnte sie das nicht mehr. Die war dagegen gepanzert. So disapparierte er.

Anthelia atmete auf. Das Lied der bergenden Erde in Verbindung mit dem Lied der wissenden Steine gelang ihr noch immer, auch wenn sie es Jahrtausendelang nicht gesungen hatte. Jetzt konnte sie daran gehen, neue Bundesschwestern in der arabischen Welt zu gewinnen, um dem Nachrichtenleck aus dieser Weltgegend ein Ende zu setzen. Zumindest hatten die gegenwärtigen Zauberer keine Ahnung davon, um was es sich bei dem goldenen Riesen gehandelt hatte. Das wüssten sie zwar zu gerne, doch die einzigen, die ihnen das erzählen konnten waren die Eingeweihten, also die Sonnenkinder, Anthelia, Julius Latierre und die in einer geflügelten Riesenkuh wiederverkörperte Königin Darxandria. Alle die würden niemandem hier was verraten, war sich Anthelia/Naaneavargia sicher.

Als der von ihr verhörte die Töchter des grünen Mondes als ihre möglichen Auftraggeber vermutet hatte erinnerte sich Anthelia an ihr erstes Leben, wo sie selbst in Kairo die arabische Sprache erlernt hatte. Dabei sollte es um ein Bündnis gehen, dass der üblichen Rangordnung von Hexen widerstand. Ihre Angehörigen hatten nicht nur das Recht, sondern auch den Auftrag, sich magische Männer gefügig zu machen, um von ihnen neue Töchter zu empfangen. Gebaren sie Söhne, setzten sie sie in der Wüste aus. Die Töchter wurden dann von ihren Müttern, Tanten und Großmüttern aufgezogen und in allen morgenländischen Zauberkünsten, auch denen, die Hexen nicht gestattet waren, unterrichtet. Damals hatten Anthelia und Sardonia versucht, die geheime Wohnstatt der Töchter des grünen Mondes zu finden, um mit dieser Hexengruppe eine friedliche Koexistenz zu begründen. Doch wer immer zu dieser Gruppe gehörte hatte sich von Sardonia und ihrer Nichte fernzuhalten gewusst. Wenn Ibrahim diese Hexen kannte, dann existierte ihre Gemeinschaft offenbar noch. Anthelia/Naaneavargia fühlte eine gewisse Aufregung in sich. Sie beschloss, erneut nach den Töchtern des grünen Mondes zu suchen.

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27. März 2002

Lord Vengor saß in seiner geheimen Überwachungskammer, in der eine Landkarte mit allen registrierten Vergeltungswächtern aufgehängt war. Er prüfte gerade die Lage in Brasilien, wo eine seiner drei Unlichtkristallfabriken betrieben wurde. Dort waren gerade Siebzehn, Achtzehn und Fünfzehn, drei Getreue, die nicht mit dem Unlichtkristallstaub imprägniert waren. Denn um das Wachsstum des Kristalls in der Fabrik ungestört verlaufen zu lassen durften keine anderen Unlichtkristalle in der Nähe sein, die die freigesetzte Kraft absaugten, die durch die mechanisierte Massenhinrichtung argloser Menschen entstand.

"Bald habe ich genug, um die ersten Schattenritter auszurüsten", raunte er leise. Mit denen konnte er dann richtig groß ins Feld wider die Muggelfreunde und Mischblüter ziehen. Er überlegte, ob er nicht auch auf die Erschaffung von Vierschatten ausgehen sollte. Wenn er wusste, wie die damals zurückgeschlagen wurden bestand vielleicht eine Möglichkeit, sie diesmal unaufhaltsam zu machen. Doch sein geisterhafter Schutzherr Iaxathan wollte es ihm nicht verraten, wie die Vierschatten erzeugt wurden.

Vengor sah den Punkt, der mit der Zahl 19 beschrieben war. Das war ein Kristallstaubträger, der für ihn nach möglichen Neuzugängen suchte. Wenn er es richtig anstellte, konnte er vielleicht alle männlichen Mitglieder von dessen Familie zu seinen Getreuen machen. Trotzdem, dass Pontius Parkinson wegen mehrerer Sachen, die er für den über seine Voreiligkeit gestürzten dunklen Lord ausgeführt hatte, noch bis zum Jahre 2020 in Askaban sein würde störte seine Planung ein wenig. Aber vielleicht schaffte er es bald, alle ehemaligen Todesser aus dem Gefängnis herauszuholen. Dann würde er sich auch die Untertan machen, die es gewagt und geschafft hatten, sich freizukaufen und nun so taten, als wären sie reuige Bürger.

Plötzlich wurde es eiskalt im Überwachungsraum, und das Licht der Kerzen schwächte sich zu einem dunkelroten Glosen ab. Vengor wandte sich um und sah eine die ganze Wandbreite und die ganze Höhe vom Boden bis zur Decke ausfüllende Schwärze. Unter der Decke schien ein total schwarzes Nichts entstanden zu sein, das jedoch von zwei faustgroßen, eisblaues, kaltes Licht ausströmenden Augen unterbrochen wurde.

"Ich habe dir geboten, dich nicht unangemeldet in meinem Überwachungsraum zu manifestieren, Corvinus Flint", schnaubte Vengor, der gegen das Gefühl der seinen Leib auskühlenden Eiseskälte ankämpfte. "Nur weil du seit drei Wochen zehn Seelen mehr in dich einverleibt hast bist du mir noch lange nicht entwachsen oder gar von deinen Pflichten entbunden."

"Her, ich bin zu dir gekommen, weil ich ihn auch ohne Iaxathan erreichen kann", drang eine sichtlich tiefer klingende, geisterhaft schwebende Stimme von oben herab. ". Die zehn Seelen und die drei halben meiner Ungeborenen Urenkel haben mich wirklich bestärkt. Aber ich musste meinen eigenen Zeitfluss verlangsamen, um zu verstehen, was er mir mitteilen konnte. Er ist erwacht, aber in einem Bann der Verlangsamung gefangen, der auf seine Kraftquellen gelegt wurde. Ich konnte bisher nicht erfahren, wo er genau ist. Aber das wird mir noch gelingen. Allerdings werde ich dafür wohl drei Wochen brauchen."

"Drei Wochen?" wollte Vengor wissen.

"Er befindet sich in einem Zustand, in dem die Zeit für ihn zweihundertmal langsamer läuft als für uns. Erst als ich diesen Zeitfluss erreichen konnte verstand ich seinen immer wieder wiederholten Hilferuf. Als ich ihm antworten wollte wurde ich von einer Strömung gestört, die mich in meine eigene Zeitwahrnehmung zurückschreckte. Er wollte gerade erklären, was ihm widerfuhr und wo er ist. Aber etwas hat mich gestört, ist dazwischengestoßen."

"Diese Vampirnutte, die als schlafende Göttin in ihrem schwarzen Klunker eingesperrt ist?" wollte Vengor wissen.

"Könnte sie gewesen sein, oder einer, der meine Rufe mitgehört und dazwischengewirkt hat, vielleicht auch Iaxathan. Könnte auch eine Regung der drei Ungeborenen sein, die ich mit ihren Müttern in mich einverleibt habe. Ich konnte sie bis heute nicht restlos in mir auflösen."

"Was du nicht sagst, Nachtgespenst", knurrte Vengor. Die über ihm leuchtenden blauen Augen des ins Riesenhafte gewachsenen Nachtschattens funkelten bedrohlich. "Denk nicht einmal daran, dir meine Lebensenergie und Seele einverleiben zu können. Der Unlichtkristall schützt mich wie du weißt vor solchen Kräften. Du würdest dir an mir den nichtstofflichen Magen verderben und womöglich noch einige der dir einverleibten Seelen wieder auswürgen. Du willst drei Wochen Zeit. Du hast drei Wochen, ab heute bis zum siebzehnten April. Bis dahin erledige ich die Angelegenheit in Südafrika. Da brauche ich deine Hilfe nicht."

"Und wenn der Knirps nicht mehr spurt, Herr?"

"Schicke ich ihm Neunzehn. Der wird eh sehr gut gelaunt sein, wenn er erfährt, dass Dreißig der von seiner Familie schon seit Jahren gesuchte Mörder seines Großvaters und möglicherweise auch Mörder seines Vaters und seines Onkels ist", grinste Vengor.

"Danke für die gewährte Zeit, Meister. Ich verstecke mich im verschütteten Stollen des alten Silberbergwerkes von Moran Ville, falls du mich dort suchen willst."

"Ja, tu das!" grummelte Vengor. Die Kälte und Dunkelheit des anwesenden Nachtschattens setzten ihm bald schlimmer zu als die Dunkelheit der neunhundert Dementoren vonRoughwater Island. Doch gegen die hatte er sich ja vorsorglich mit starken Schutzzaubern umhüllt.

"Bis dann, Herr und Meister!" sagte der Nachtschatten und verschwand übergangs- und geräuschlos. Unvermittelt kehrten Licht und Wärme in den Überwachungsraum zurück.

Vengor prüfte, wo Nummer 30 steckte. Ja, der war noch auf seinem Beobachtungsposten. Immerhin hatte er noch die Mithörmuscheln angebracht und konnte Della nun belauschen. Das war die letzte geschriebene Botschaft, die Vengor von ihm bekommen hatte. Die nächste würde am ersten April fällig sein, wenn der junge, leicht zu unbedachten Ausfälligkeiten reizbare Bursche sicher war, dass er Della Witherspoon lange genug erforscht hatte, um ihren Platz einzunehmen.

Vengor verließ den Überwachungsraum und betrat das selbst eingerichtete Zaubertranklabor. Der gewaltige Kessel mit Vielsaft-Trank blubberte und brodelte vor sich hin. Noch eine Woche, bis er den gerade in seiner letzten Phase köchelnden Zaubertrank fertig hatte. Brutus hatte ihm geschrieben, dass er hundert Haare zu je dreißig Zentimetern Länge erbeutet hatte, also dreißig Meter Haar, also für jeden angesetzten Tag einen Meter, und das durch vierundzwanzig. Ergab knapp für jede Stunde knapp vier Zentimeter Haar. Auch wenn er die Muggelweltbewohner größtenteils verachtete, für ihre Mathematik hatte er sich immer begeistern können, zumal einfache Grundrechenarten, wie gerade angewandt, auch in der Zaubererwelt unverzichtbar waren.

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"Was stört dich an mir?" grummelte Pyrogaster, als er Selina Witherspoon im grünen Kobold von Upper Flagley traf. An und für sich sagte seine Mutter immer, er sei ein sehr anziehender junger Zauberer geworden, auch wenn er wegen des von ihr geerbten Rotschopfes für einen der Weasleys gehalten werden mochte, was in seinen Kreisen eine glatte Beleidigung darstellte. Nur der leicht vorgewölbte Bauch, ein Erbe seiner väterlichen Linie, störte das Rundumbild eines athletischen Jungzauberers ein kleinwenig. Selina, eine fünfundzwanzig Jahre alte Hexe mit nachtschwarzem Haar und rehbraunen Kulleraugen, sah Pyrogaster verächtlich an.

"Das ich nicht die Enkelkinder von Alison Parkinson geborene Wilson kriegen will, das stört mich daran, mich auf dich einzulassen, Pyrogaster Parkinson", sagte Selina. "Abgesehen davon stört mich an dir persönlich, dass du vor kurzem noch im schwarzen Einhorn von Shady Grove gesichtet worden bist, wo du mit dieser Viertelsabberhexe Antera getanzt hast und dann noch zum Bezahlen in ihrem Zimmer verschwunden bist", flüsterte Selina mit unübersehbarem Widerwillen. Pyrogaster fühlte seine Ohren heißer werden und spürte auch, wie sich sein Magen zusammenzog. Das passierte immer, wenn er bei was ertappt wurde. Doch er sagte schnell:

"Oh, Mylady verkehren in höchst fragwürdigen Lokalitäten. Oder hast du diese wohl gegen meine Ehre abzielende Behauptung von einem guten Bekannten, der was dagegen hat, dass ich mit dir Kontakt halte."

"Meine Ladyschaft verkehrt nicht in dieser anrüchigen Spilunke", fauchte Selina. "Aber meine Großmutter hat ein Bild von wem, dessen Gegenstück von dieser Sabberhexenbrut als Gegenwert eingehandelt wurde, weil der oder die nicht ihr Typ war und anders hätte bezahlen können, so wie du, Drecksack!"

"Heh, Moment, du nennst mich nicht einen Drecksack", fauchte Pyrogaster und langte nach seinem Zauberstab. Da klingelte es auf der Theke. Der Wirt des grünen Kobolds sah auf die Glocke und spurtete mit einsatzbereitem Zauberstab herüber.

"Heh heh, Mr. Parkinson, nicht in meinem Lokal gegen Damen zaubern. Wir sind hier nicht im Dösigen Dämon in der Nokturngasse noch im schwarzen Einhorn bei dieser halbgrünen Halbweltlerin, die unsere Branche so in Verruf bringt. In meinem Lokal finden keine Duelle statt. Abgesehen davon habe ich nicht gesehen, dass die Dame Ihnen einen Grund für derlei Übergriffe geboten hat."

"Die Dame geruhte, mich schmerzhaft zu beleidigen, in dem sie böswillig gegen mich ausgestreute Behauptungen dazu nutzte, meine Ehre zu kränken, Mr Bitterling. Das ist in der freien Zaubererwelt genug Grund für eine Forderung."

"Nehmen Sie die Forderung an, Ms. Witherspoon?" wollte Woody Bitterling wissen.

"Bin ich lebensmüde, mich gegen einen Parkinson zu stellen, wo seine Familie gnadenlose Blutrache verübt", sagte Selina Witherspoon.

"Ach ja, aber meine Ehre kränken, mich einen Drecksack nennen, wie?"

"Das ist keine Beleidigung, sondern eine Tatsache", stieß Selina aus. "Aber damit das hier nicht doch noch sehr unschön ausartet werde ich mich nun zurückziehen. Woody, hier bitte!" Sie schnippte dem Wirt eine Galleone zu, die dieser mit dem Reflex eines langjährigen Suchers und Training eines langjährigen Gastwirtes sicher aus der Luft fing. Dann verließ Selina das Lokal, um draußen, wo es ging, sofort zu disapparieren.

"Mentiloquiere deiner Großtante zu, dass du bald dahin kommst, wo sie jetzt ist, Metpinkler", knurrte Pyrogaster Parkinson.

"Zwei Sickel für den Feuerwhisky und zwei Galleonen wegen deiner Beleidigung!" sagte Woody Bitterling kühl. Pyrogaster lachte. "Wie willst du mir noch Geld abnehmen, wo ich mein von meiner lieben Mutter gewährtes Taschengeld für diesen Monat schon aufgebraucht habe, eh?"

"Hast recht, ich kann es leider nicht so eintreiben wie Antera Firekettle. Schicke ich deiner Frau Mutter eben eine Eule. Und jetzt raus, bevor es noch teurer wird!"

"Wie gesagt, Grüß mir deine achso mächtige Großtante, es würde nicht mehr lange dauern, bis du ihr die Hände, die Füße und was ihr noch so gefällt küssen kannst", zischte Pyrogaster.

"Aber jetzt im Blitztempo raus", schnaubte Woody und hielt nun seinen Zauberstab in der Hand. Pyrogaster grinste nur noch und lief dann aus dem Lokal. Auch er disapparierte unverzüglich vor der Tür.

Als der einzige Sohn von Pyrophagus Parkinson in seinem nur für ihn apparierbaren Zimmer ankam hörte er, wie seine Mutter mit wem Kontaktfeuerte. "Wäre schön, wenn die zwei sich zusammentun würden, Claudia. Aber ich kenne meinen Sohn und auch ein wenig deine Enkeltochter."

"Ich auch. Selina hat ihren eigenen Kopf. Aber irgendwann müssen die zwei mal heiraten. Oder sollen wir beide zusehen, wie unsere Blutlinien erlöschen?"

"Könnt ihr gerne machen!" brüllte Pyrogaster, stieß die nur für seine Mutter und ihn zu bewegende Zimmertür auf und sprang die Treppe zum Wohnbereich des Hauses hinunter. Er sah den schwarzhaarigen, rundgesichtigen Kopf von Claudia Witherspoon im Kaminfeuer hocken und seine Mutter davor knien.

"Du bist schon wieder da, Pyrogaster?" fragte seine Mutter überflüssigerweise. Ihr rotes Haar funkelte und flackerte im Feuerschein.

"Wie du siehst, Mum. Eure verdammte Kuppelei könnt ihr auf den nächsten Haufen drachendung werfen. Selina hat mich voll abserviert und noch als Drecksack bezeichnet. Das war voll daneben", sagte er und warf dem Kopf Claudia Witherspoons im Kamin noch einen biestigen Blick zu. Doch die altgediente Matriarchin der Witherspoons steckte diesen bösen Blick locker weg.

"Oh, könnte sein, dass meine kleine Enkeltochter sich mal wieder mit einer ihrer Freundinnen getroffen hat. Ichhörte da sowas, dass es da was geben solle, was ihr nicht gefiele. Ich kläre das", sagte Claudia Witherspoons Kopf und verschwand mit einem kurzen Abschiedsgruß an Alice Parkinson.

"Was hat sie gemeint?" wollte Pyrogasters Mutter wissen.

"Dass da wer gerüchte erzählt hat, ich triebe es mit Sabberhexenabkömmlingen, Mum. Dass selina sowas glaubt war ja zu erwarten", spielte Pyrogaster die Sache herunter. "Aber dass die mich deshalb als Drecksack bezeichnet ging doch zu weit. Mit der fang ich jetzt auch nichts mehr an."

"Dabei wolltest du unbedingt mit ihr zusammenkommen", grummelte Alice und sah ihren Sohn an.

"Bis heute Nachmittag auf jeden Fall. Aber so. Werde mich doch vielleicht nach lustigen Witwen von der Schlacht von Hogwarts umschauen müssen", erwiderte er nicht ganz so ernst gemeint.

"Das wagst du mir ins Gesicht zu sagen", schnaubte Alice Parkinson. "Aber wenn du der Meinung bist, trauernde Witwen ließen sich von dir besser erobern, dann such dir eine", fauchte sie noch. "Achso, ich habe nicht gewusst, dass du schon so früh nach Hause kommst. Deshalb ist heute nichts zum Abendessen da. Ich bin gleich zum Schach verabredet."

"Wieder mit den Eierköpfen aus deiner Jahrgangsstufe?" wollte Pyrogaster wissen.

"Genau die. Soll ich sie von dir grüßen?"

"Neh, musst du nicht. Aber zieh dir endlich mal wieder was mit Farbe an. Dad ist schon bald drei Jahre tot. Du musst nicht mehr in schwarzem Zeug mit Schleier rumlaufen."

"Überlasse mir das bitte, wie ich trauere. Oder soll ich dir Ratschläge geben, was du tun sollst, um deine Wut auf seinen Mörder nutzbringend abzureagieren?"

"Heute nicht, habe genug Krach mit eingeschnappten Hexen gehabt", grummelte Pyrogaster.

"Ich habe das jetzt mal nicht gehört", zischte Alice Parkinson. Dann ging sie in ihr Umkleidezimmer, in das nur sie hinein konnte. Pyrogaster zog sich in sein Zimmer zurück und holte seinen Kontrabass aus dem Schrank. Er ärgerte sich, dass er von Selina weder ein Bild noch ein Körperfragment zur Verfügung hatte. Dann hätte er ihr sicher einen heftigen Fluch aufgehalst, der vom Unlichtkristall sicher verstärkt worden wäre. Vielleicht, so dachte er mit einer gewissen Gehässigkeit, kam er noch an sowas dran, um seine Rache zu kriegen.

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4. April 2002

Beth McGuire wusste, dass sie auf einer Rasierklinge balancierte. Seitdem sie sowohl die Sprecherin der so genannten entschlossenen Schwestern Nordamerikas war, als auch eine der wichtigsten Mitstreiterinnen im Hexenbund der schwarzen Spinne, musste sie jeden Tag damit rechnen, der einen oder der anderen Seite untreu zu werden. Auch dass die hauptamtliche Sprecherin aller Schwestern der Verschwiegenheit wusste, dass sie in gewisser Weise eine Doppelagentin war, ja das sogar in gewissen Grenzen förderte, machte die Sache für Beth nicht einfacher. Deshalb fühlte sie jedesmal eine gewisse Anspannung, wenn sie zu Roberta Sevenrock bestellt wurde. Vor allem jetzt, wo Anthelia wegen einer ihr nicht näher erläuterten Sache irgendwo in der Welt herumreiste, fühlte sie sich in gewisser Weise ausgeliefert, nicht gerade eine Empfehlung für die Führerin einer bis zur Skrupellosen Manipulation mit Menschen bereiten Hexentruppe.

Es war wie immer. Roberta Sevenrock saß in ihrem hochlehnigen Schaukelstuhl und hatte ihre Füße auf einer mit rot-weißer Wolle gepolsterten Fußbank abgelegt. Ihr nachtschwarzes, an einigen Stellen schon silbergraues Haar umspielte ihre Schultern, und die grauen Augen hinter den runden Brillengläsern betrachteten Beth sehr aufmerksam. Beth hielt vorsorglich ihren Geist gegen unerwünschte Ausforschung verschlossen. Roberta Sevenrock trugh heute einen hellblauen Umhang mit aufgestickten Osterglocken und hatte ihre Hände auf die plüschigen Armlehnen gelegt.

"Ich hörte, die schwarze Spinne hat ihr beanspruchtes Wohnrevier verlassen, um auf Nachrichtenjagd zu gehen. Hat das was mit der von den Libanesen krampfhaft unterdrückten Angelegenheit bei Baalbek zu tun?"

"Ich erfuhr nur, dass sie wegen einer ihr sehr wichtigen Angelegenheit nach Übersee verreisen musste, Lady Roberta", sagte Beth McGuire.

"Das nehme ich jetzt mal als dir bekannte Tatsache zur Kenntnis. Die Spinne weiß ja, dass du auch an mich berichtest und wird wohl diesmal keinen Wert darauf legen, dass ich näheres über ihre Aktivitäten erfahre. Das ist das Los des nicht ganz so geheimen Kundschafters. Ich werde es aber nicht mit gleicher Galleone heimzahlen, sondern das tun, weshalb ich dich hergebeten habe", erwiderte die trotz oder wohl auch wegen ihrer inneren Ruhe und Gelassenheit unangefochtene Führerin der schweigsamen Schwestern Nordamerikas. Sie nahm die rechte Hand von der Armlehne und schob sie in eine Außentasche ihres geblümten Umhangs. Als sie die Hand wieder herauszog hielt sie eine kleine Pergamentrolle, die nicht von einem Holz-, Ton-, oder Metallring zusammengehalten wurde, sondern von einem Ring aus nachtschwarzem geflochtenen Haar.

"Ich habe den Capilliclavis-Zauber benutzt, um dieses Pergament nur für die von mir dabei erwähnte Person lesbar zu machen. Gib es bitte der unverwüstlichen, mit einer mir nicht wirklich überschaubaren Wesenheit verschmolzenen Sardonianerin. Damit du weißt, warum du es erledigen mögest: Unsere Mitschwestern in Südamerika haben vermeldet, dass in den letzten Monaten ungewöhnlich viele Menschen, meistens Wohnsitzlose, aus den Straßen der großen Städte verschwinden. Irgendwie erinnert mich dies an die Affäre Valerie Saunders oder die Umtriebe dieses böswilligen Geistes eines alten Voodoo-Meisters, der im Körper eines Nachfahren wiedererschienen ist. Irgendwer entführt gezielt Menschen, die angeblich keiner vermisst, und das bestimmt nicht, um sie einfach nur so zu töten. Wegen der erwähnten Umtriebe aus früheren Zeiten sind unsere Mitschwestern besonders hellhörig und scharfäugig darauf bedacht, ähnliche Vorkommnisse früh genug zu erfahren und nach Möglichkeit auch deren Quelle ausfindig zu machen."

"Vengorianer?" fragte Beth McGuire, um das ganze abzukürzen. Roberta liebte es trotz ihres Alters, wo Zeit immer wertvoller wurde, ausschweifend und weit ausholend zu erzählen, was sie umtrieb.

"Höchst wahrscheinlich", grummelte Roberta Sevenrock, die sich um ihre Pointe geprellt wähnte. "Wir wissen Dank euch von der Spinnensorrorität, dass diese Kristalle, von denen dieser selbsternannte Erbe des Emporkömmlings und Massenmörders einen aus den Trümmern der beiden Geschäftstürme in New York erbeutet hat, dass sie vom Tod unschuldig und gewaltsam versterbender Menschen angereichert werden. Außerdem wissen wir aus unseren jeweils eigenen Bemühungen, dass sowohl Vampire existieren, die Fragmente dieser unheilvollen Substanz im Körper haben, als auch Zauberer und leider möglicherweise auch Hexen mit diesem Stoff imprägniert werden, im Falle von Hexen möglicherweise kompakte Kristalle in ihren Uteri aufbewahren, wie es die dem Größenwahn verfallene Vampirin Nyx mit dem Mitternachtsdiamanten getan hat."

"Die höchste ..., öhm, Lady Anthelia schließt aus, dass Vengor Hexen in sein Gefolge aufnimmt. Sie begründet es damit, dass er zum einen keiner Hexe über den Weg traut, da sie ja auch für uns spionieren könnte, als auch von seiner Auffassung her Abneigungen gegen weibliche Mitglieder hat. Sie erwähnte sowas wie einen geistigen Auftraggeber, der ihn anleitet, seine Untaten zu begehen, um mehr Macht zu erlangen und dass dieser Auftraggeber einen Hass auf Frauen und Hexen hegt."

"Ich erinnere mich, dass du den Namen Iaxathan erwähnt hast, der nur wenigen Kundigen der dunklen Künste vertraut ist", erwiderte Roberta Sevenrock. Dann kam sie wieder auf die verschwindenden Menschen. "Wenn wirklich dieser auf Machtgewinn versessene Narr diese Menschen entführen lässt, um mit ihren Toden weitere dieser Kristalle zu züchten, dann muss er sie irgendwo hinschaffen, wo ihre Tode diese Substanz erzeugen oder vermehren können, wo jedoch kein Mensch freiwillig hingeht. In dem Pergament, dass Anthelia zugedacht ist, erwähne ich das, was eine tchechische Mitschwester von uns ermitteln konnte. Ihren Namen werde ich dir nicht mitteilen, weil sie nicht möchte, dass die schwarze Spinne ihn erfährt. Ich hoffe, dass die, die euch dazu anhält, sich von euch höchste Schwester nennen zu lassen, nicht darauf ausgeht, ihre Identität gewaltsam herauszufinden. Ich wäre über derartige Aktivitäten sehr ungehalten. Das darfst du ihr bitte so ausrichten."

"Ihr spielt auf die enttarnte Mordfabrik an, wo mehrere hundert Menschen mit einer perfiden Erweiterung der Guillotine hingeschlachtet wurden, Lady Roberta", erwiderte Beth McGuire. Die oberste Sprecherin der nordamerikanischen Schwestern nickte bestätigend. Wie hätte sie auch davon ausgehen dürfen, dass Anthelias Spinnenorden keine Kundschafterinnen in Europa besaß?

"So wird sie sicherlich sehr darauf ansprechen, die auf dem Pergament verzeichneten Angaben zu überprüfen und gegebenenfalls darauf zu reagieren."

"Kann ich erst sagen, wenn sie weiß, was draufsteht", entgegnete Beth. Roberta Sevenrock nickte erneut.

"Nun, dann ist dieser Punkt so weit es geht abgehandelt. Nur so viel noch: Ich bin durchaus bereit, im Rahmen eines ähnlichen Burgfriedens mit deiner anderen Anführerin zu koexistieren, wie sie ihn eine Zeit lang mit dem Zaubereiminister einhielt. Es gibt zu viele menschenverachtende Kreaturen in dieser Zeit. Doch dieser Burgfrieden baut nicht auf reiner Selbstverständlichkeit. Teile ihr bitte mit, dass sie klar und deutlich, am besten vor mir und anderen Zeuginnen Sardonias Weg abschwört und ihre Aktivitäten darauf beschränkt, gegen die Auswirkungen der uns bedrohenden Kräfte zu kämpfen. Dann bin ich bereit, ihre früheren Handlungsweisen endgültig zu vergessen. Sag ihr das bitte!"

"Ich weiß nicht, ob sie nicht schon längst von Sardonias Pfad herunter ist, Lady Roberta", wandte Beth ein. Doch sicher konnte sie da nicht sein.

"Wenn sie wirklich von Sardonias Weg abkehren will soll sie ihre Hinterlassenschaften ausliefern, zu denen wohl auch die Herstellungsweise der Entomanthropen gehört. Ich möchte nicht erneut mit diesen aus Menschen und Bienen zusammengezwungenen Hybriden zu tun haben."

"Ich werde es ihr sagen. Doch ich kann sie zu keiner Entscheidung zwingen. In ihremOrden bin ich nur Mitstreiterin, keine unangefochtene Anführerin", räumte Beth ihre schwache Position Anthelia gegenüber ein.

"Sie möge sich daran erinnern, dass sie nicht unbesiegbar ist und dass sie nicht sterben muss,, um entmachtet zu werden."

"Sie erinnert sich gewiss daran", sagte Beth McGuire.

"Gut, kommen wir zu den so genanten Kristallvampiren. Du weißt, welche Schwachstelle sie haben?" fragte Roberta Beth McGuire. Diese schüttelte den Kopf. Sie wusste nur, dass die Vampire nicht unbesiegbar waren. Als sie erfuhr, welch an sich einfaches und dennoch so wirksames Mittel ihre Vernichtung herbeiführen konnte musste Beth grinsen. Als sie dann erfuhr, dass die den gemäßigten Schwestern angehörende Eileithyia Greensporn ermitteln wollte, ob es auch möglich war, einen Kristallvampir lebend zu fangen, um über ihn auf seine Entstehung zu kommen nickte Beth wieder. "Eileithyia wäre dir und allen, die davon erfahren sehr verbunden, wenn sie bei diesen Ermittlungen ungestört bleibt und nur dann von anderen Unterstützung bekommt, wenn sie diese ausdrücklich erbittet. Auch das darfst du dieser Spinnenhexe ausrichten", beendete sie ihre Erläuterung. Beth nickte. Sie musste sich sehr zusammennehmen, nicht zu grinsen. Denn ihr fiel ein, dass Eileithyia sicher mit ihrer angeblichen Urenkelin Theia und deren Tochter Selene hinter dem Geheimnis der Kristallvampire herjagte. Ging die denn wirklich davon aus, Anthelia wisse es nicht schon längst, was es mit Theia und Selene auf sich hatte?

"Noch was, Schwester Beth! Sollte Anthelia Kontakt zu jener sich verborgen haltenden Gruppierung finden, die sich als wahre Sonnenkinder bezeichnen, so darf sie diesen gerne von mir und unseren gemäßigten Mitschwestern ausrichten, dass wir ihre Existenz und ihr Wirken willkommen heißen und anders als die Herrschaften aus den Ministerien bereit sind, sie gewähren zu lassen. An einer Kontaktaufnahme und friedlichen Verständigung mit ihnen sind wir jedoch sehr interessiert." Beth nickte. Dass Patricia Straton die Kontaktperson zu den Sonnenkindern war durfte sie Roberta Sevenrock nicht auf die Nase binden, zumal auch in den Reihen der entschlossenen Schwestern genügende waren, die Patricias heimlichen Seitenwechsel ablehnten und sie all zu gerne dafür bestrafen würden. Besser war es, dass Patricia Straton für den Rest der Zaubererwelt tot und begraben blieb.

Nach zwanzig Minuten Unterredung durfte Beth wieder gehen, um die ihr mitgegebenen Grüße und Bitten weiterzugeben.

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6. April 2002

Vengor war zufrieden mit dem Ergebnis seiner Braukunst. Zwar konnte er selbst keinen Trank mehr einnehmen, weil der in ihm wirkende Unlichtkristall jede Fremdeinwirkung von außen unterdrückte. Doch er konnte den Trank nun seinem Gehilfenin Südafrika übergeben. Doch halt, eine Sache musste er noch erledigen. Er füllte eine halbe Gallone des Trankes in ein kleineres, silbernes Gefäß, dass er in weiser Voraussicht mit magischen Runen beschrieben und bezaubert hatte. Dann hielt er den Zauberstab an das Gefäß und murmelte einen altdruidischen Spruch, der die Verbundenheit von Leib und Seele unter dem Monde und den Sternen beschwor. Dabei nannte er zwei Namen, Brutus Cassius Pane und Della Witherspoon. Am Schluss der Beschwörung klopfte er mit dem Zauberstab siebenmal links und rechts gegen das Gefäß. Der darin eingefüllte Zaubertrank begann, silbern zu leuchten. Zunächst sah es so aus, als wolle er sich verflüchtigen. Doch dann beruhigte sich der Trank wieder.

"Tom Riddle hätte mehr auf die uralten Beziehungen zwischen den Gestirnen und lebenden Wesen legen sollen, statt sich nur mit Horcruxen und dunklen Kreaturen zu befassen", grinste Vengor. Er wartete noch einige Sekunden. Dann füllte er den bezauberten Zaubertrank in den großen Kessel mit dem Rest zurück. Sofort leuchtete der gesamte Trank silbern auf, wallte beinahe über den Kesselrand. Dann kam der Trank wieder zur Ruhe. Jetzt galt es nur noch, die betreffende Seele mit dem Trank zu verbinden. Das konnte er aber erst, wenn die Mondphase günstig war und nahe genug vor Dellas dreißigstem Geburtstag lag.

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Brutus Pane alias Hank van Mehren bangte, dass er an Dellas Geburtstag schon ihren Platz einnehmen musste. Er hatte es mitbekommen, wie sie per Kontaktfeuer und per Eulen Gäste für diesen Tag einlud. Er erfuhr auf diese Weise auch, dass der Blondschopf, der ihr durch mittlerweile zwei Nächte geholfen hatte, Jim Rushwater hieß. Nachforschungen hatten ihm verraten, dass es sich dabei um einen aufstrebenden jungen Zauberer handelte, dessen Ahnenreihe jedoch nicht reinblütig war, sondern alle zwei Generationen mindestens ein muggelstämmiger Elternteil dazukam. Gut, Della war durch ihre Abkunft her auch keine Reinblüterin mehr wie ihre britischen Verwandten. Sich vorzustellen, die ihn damals umwerbenden Hexen Selina, ihre Mutter Maura und ihre Großmutter Claudia mit Anhang zu sehen zu kriegen, ohne dass die mitbekommen sollten, dass er nicht Della war, kam ihm schwierig hinzukriegen vor. Doch er musste Vengor vertrauen. Der wollte ja selbst nicht, dass sein Plan vorzeitig aufflog.

Diesen Abend hatte Della wieder einen Übernachtungsgast, der zugleich auch Lakentänzer war. Diesmal war es ein fünfundzwanzig Jahre alter Halbafrikaner namens Johnny Noguru. Als Brutus mitbekam, wie sie mit diesem ohne Hemmungen alle durch Magie umsetzbaren Phantasien auslebte überkam ihn ein Schüttelfrost nach dem anderen. Die Frau war nicht nur haltlos, sondern auch skrupellos. Die sollte als Wonnefee anfangen, statt sich mit Bergkristallen oder Feuerlöwen abzugeben. Andererseits erregte ihn die Vorstellung, jetzt nicht ihren, sondern Johnnys Körper zu besitzen und mit dem all das zu erleben, was Della ihm zu bieten hatte. Diese Vorstellung verfolgte ihn sogar in die Träume, die er kurz nach Morgengrauen erlebte.

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12. April 2002

Halte dich für heute Nacht bereit! Die Zeit ist gekommen. Wehe dir, du hast ihre Haare nicht mehr vorrätig!

V.

Jetzt war es soweit. Die ganzen Wochen Fernbeobachtungen, ohne dass ihm jemand darauf gekommen war, alles für diese Aktion, die nun nicht mehr abzublasen war. Ihm graute ein wenig vor der Vorstellung, das Leben einer sehr anziehend aussehenden Lebedame zu leben, womöglich in dem einen Monat, den er dieses Leben führen sollte, mehrere Männer ins Bett zu holen und aufzupassen, dabei nicht von dem einen oder dem anderen schwanger zu werden oder dieses berüchtigte HI-Virus abzukriegen, dass die Muggel in Afrika und weltweit fürchteten, wenn sie freie Liebe auslebten. Zwar hatte dieses Luder, dessen Leib er bald näher kennenlernen sollte, als ihre ganzen Bettgespilen es sich je erträumt hatten, eine Menge Elixiere und Salben im Haus, um ihren vielbeschäftigten Körper rein und keimfrei zu kriegen. Aber was, wenn das Verhütungszeug bei einer Vielsaft-Kopie nicht funktionierte?

"So sei es, Della Witherspoon. Diese Nacht endet dein leichtfertiges Leben. Zumindest stirbst du nicht als Jungfrau. Und gut, dass ich schon genug körperliche Erfahrungen mit anderen Ladies gemacht habe, um keine Angst mehr zu haben, so einen Luxuskörper überzuziehen. Prost, Della Witherspoon, auf deinen stillen Abschied!" Er kippte das eine halbe Pinte große Wasserglas in einem Zug in sich hinein. Denn Alkohol und Vielsaft-Trank mochten sich nicht immer vertragen.

Den restlichen Tag verbrachte er mit einem Ausflug zum Indischen Ozean, wo er dem An- und Abrollen der Wellen zusah und zuhörte. Das Meer hatte ihn immer schon beruhigt, wenn etwas schweres anstand. Warum hatten sie Hogwarts ausgerechnet in den Bergen hinbauen müssen? Vielleicht hätte ihm eine Schule, die am Meer lag, wie dieses Beauxbatons, die Ruhe gegeben, sich nicht über dieses Schlammblut Julius Andrews aufzuregen, weil das in allen Prüfungen weit vor ihm gelandet war. Das Meer hätte ihn wieder ruhig gemacht. Seine Mutter hatte ihm damals erzählt, dass sie auch gerne ans Meer gereist war, als er noch in ihr dringesteckt hatte. Sie hatte dann immer einen guten Atemrhythmus mit den Wellen gefunden und ihn deshalb leichter ge- und ertragen. Daran lag es wohl, dass das Meer ihn auch lange nach seiner Geburt so gut beruhigen konnte.

Er sah auf die schaumbedeckten Wellen hinaus und seufzte: "Mum, wo immer du und Dad jetzt seid, ich hoffe, ihr verzeiht mir, dass ich euer Andenken so verachtet habe und ab heute erst mal nicht mehr euer Sohn sein werde." Da er seine Eltern noch sich beim Namen genannt hatte, wäre niemanden, der ihm zugehört hätte aufgefallen, dass er nicht die van Mehrens, sondern die Panes damit gemeint hatte.

Erst als die Sonne im Meer versank löste er sich von dieser ihn sanft auf- und abwiegenden Stimmung. Wenn er das damals richtig mitbekommen hatte, wollte Vengor bei Mondlicht zuschlagen. Also musste er nun los.

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Beth sah Anthelia schuldbewusst an, als diese nach ihrer Reise in den mittleren Osten zurückkehrte. "Ich habe versucht, dir eine Eule zu schicken, höchste Schwester. Doch weil ich nicht wusste wo genau du warst ..."

"Ah, hat deine andere Vorgesetzte mich grüßen lassen? Nett von ihr. Ach, und ich soll wohl das tun, wozu sie sich zu fein ist, wie?" wollte Anthelia wissen. Beth verwünschte den Umstand, dass sie im Moment nicht okklumentierte. Doch dadurch ersparten sich beide Hexen eine Menge Zeit.

Anthelia nahm die Pergamentrolle und berührte die schwarzen Haarsträhnen. "Ich bin Anthelia, Gebieterin über den Orden der schwarzen Spinne!" Das har erhitzte sich, wurde durchsichtig und umhüllte Anthelia als schwarze Dunstwolke. Dann war der Zauber auch vorbei. Das Pergament entrollte sich und zeigte seinen Text in hellblauer Schrift. Anthelia las die Botschaft zweimal. Dann studierte sie auch die zu dem Pergament mitgeliferten Berichte über die verschwundenen Muggel und die Ermittlungen, die von einer brasilianischen und peruanischen Mitschwester Roberta Sevenrocks durchgeführt worden waren. Die Namen der Hexen waren mit schwarzer Tinte unkenntnlich gemacht worden. Alles musste Anthelia also doch nicht erfahren.

"Sieh an, hat er sich doch wahrhaftig in der Nähe des Urwaldes eine Fabrikationsstätte errichtet, wo er tausende von Menschen töten kann, um seine verfluchten Kristalle zu züchten."

"Und sie findet, dass wir das erledigen sollen? Warum schickt sie dann nicht das Zaubereiministerium los?" fragte Beth.

"Ganz einfach, weil die Schergen des Zaubereiministeriums nicht wissen sollen, wie unfähig sie sind, dass sie diese Mordfabrik nicht ausgekundschaftet haben. Außerdem werden die zwei Schwestern, die es herausfanden sicher ruhiger schlafen, wenn sie nicht in irgendeiner Ministeriumsakte erwähnt werden, selbst wenn ihre Namen unkenntnlich gemacht wurden."

"Und dich interessieren die Namen nicht?" fragte Beth McGuire.

"Doch, aber ich werde sie dann herausbekommen, wenn es an der Zeit ist. Wir haben schließlich selber genug Schwestern in Mittel- und Südamerika."

"Das ist wohl wahr", sagte Beth.

"Ich werde mir diese Stätte des tausendfachen Todes aus sicherer Entfernung ansehen, auskundschaften, wie vviele Handlanger Vengors dort anwesend sind und ob es möglich ist, Gefangene zu befreien, bevor ich die Fabrik für immer schließe."

"Er wird Schutzzauber darum aufgebaut haben. Die schreiben hier doch, dass sie nur ahnen können, wo diese Fabrik ist, weil sie immer dann, wenn sie diesen stinkenden Lasttragewagen folgen wollten, gegen eine unsichtbare Wand prallten und dabei fast ihre Besen eingebüßt haben."

"Ja, will sagen, dass die Fabrik innerhalb eines großen Umkreises von mehr als zwei Kilometern zu finden sein könnte. Doch ich werde sie finden und betreten können", sagte Anthelia zuversichtlich.

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Della Witherspoon war gut gelaunt. Alle von ihr eingeladenen Gäste hatten zugesagt. Ihr dreißigster Geburtstag würde also mit genauso vielen Gästen steigen. Es galt nun noch, das Haus aufzuräumen und den Festtagslieferanten die endgültige Zusage zu schicken. Sie hoffte, dass ihre Großtante Claudia sich gut mit ihren Freunden vom Kap verstand und dass die Sache mit den Feuerlöwinnen nicht noch mal auf den Tischkommen würde. Denn der Umstand, dass sie von einem bis heute unbekannten verfolgt worden waren, hatte ihn genauso umgetrieben wie sie. Deshalb hatte sie auch weitere Schutzzauber um das Haus gelegt und würde an ihrem Geburtstag selbst noch einen besonderen Bann zum Aussperrenunerwünschter Gäste wirken lassen.

Eine Schleiereule flog auf ihr Fenster zu. Doch noch eine Absage? Sie öffnete das Fenster und ließ die Eule herein. Sie brachte einen Briefumschlag von einer Manufaktur aus Durban, die gerne einen zwölfflächigen Bergkristall aus dem Tafelgebirge haben wollte, und zwar einen naturgewachsenen. Da sie nun einmal neben ihrer Ministeriumsarbeit mit gefährlichen Zaubertieren Bergkristalle sammelte war sie als die Adresse für sowas empfohlen worden. Sie schrieb eulenwendend zurück, dass sie den Auftrag annehme und versuchen würde, in den nächsten vier Tagen noch drei von den erwähnten Kristallen zu beschaffen. Denn sie hatte auch schon davon gehört, dass die berühmte Laterna Magica, die der Zauberschmied Florymont Dusoleil in Millemerveilles im Auftrag ihres Erfinders nachbaute, mit einem zwölfflächigen Bergkristall um ein zehnfaches größer ausfallen konnte, womit schwer ausführbare Bewegungsbildillusionen leichter hinzubekommen waren.

Sie hatte die Auftragsbestätigung gerade abgeschickt, als der Mond seine ersten Strahlen durch das noch offene Fenster hereinschickte. Ja. Sie blickte hinauf zum Nachthimmel. Der Mond glomm noch gelblich im osten. Im Westen verglühte gerade das letzte Tageslicht. Sie dachte daran, dass sie in dieser Mondphase vor dreißig Jahren auf die Welt gekommen war. Ihre Mutter war eine leidenschaftliche Mondmagierin und hatte ihr das immer wieder erzählt, wenn ihr Geburtstag mit dieser Mondphase zusammenfiel. Gut, an ihrem Geburtstag würde es schon einen anderen Mond geben. Aber interessant war es doch, wie Mond und Menschen in Beziehung standen, dachte Della. Dann sah sie einen dunklen Punkt auf das Haus zufliegen. Weil das Fenster noch offenstand wartete sie, ob noch eine Eule zu ihr wollte. Sie sah einen Sperlingskauz, der mit einem besonders großen Umschlag zu ihr hinflog. Wie kam dieser kleine Kerl zu so einer großen Postsendung? Egal! Sie streckte dem Vogel die Hand entgegen und nahm den Umschlag an sich. Der Sperlingskauz schwirrte sofort wieder in die Nacht hinaus, als habe er es besonders eilig, zu seinem Absender zurückzukommen.

"Ach neh, Roger, kann doch nur von dir kommen", knurrte Della und zog sich mit dem Umschlag in ihre Küche zurück, wo der kleine Kamin für Kontaktfeuergespräche brannte. "Amtliche Mitteilung Stufe zwei", las sie laut und als Absender "Innerer Ausschuss Zaubereiministerium". Sie öffnete den Umschlag und fand mehrere Pergamente, jedoch alle unbeschrieben, bis auf eines. Sie stutzte. Dann las sie:

"Da die auf den beigefügten Pergamente erwähnten Angaben allerhöchster Vertraulichkeit unterliegen wurde unsererseits beschlossen und ausgeführt, die betreffenden Zeilen erst dann lesbar zu machen, wenn Sie dieses Schlüsselpergament in Händen halten und laut und deutlich ihren vollen Namen aussprechen. Das Pergament ist auf Ihre Stimme geprägt und wird sich bei einer etwaigen Inbesitznahme durch einen Unbefugten zusammen mit den restlichen Pergamenten selbst vernichten. Wenn sie wirklich Della Witherspoon, geboren am 15. April 1972 sind, nennen Sie bitte nun laut und deutlich ihren vollständigen Namen. Dann sind ihnen die übrigen Pergamente frei zugänglich."

"Ist doch wohl nicht wahr", fluchte Della. Dann atmete sie einmal ein und wieder aus. Dann sagte sie laut und deutlich: "Ich bin Della Witherspoon!" Unvermittelt erstrahlte der Pergamentbogen in einem blauen Licht, dass sie in eine blaue Lichtspirale einschloss und übergangslos mit ihr zusammen verschwand. Die übrigen Pergamente, sowie der Briefumschlag, vergingen in einem kurzen, lauten Zischen zu feinem, grauen Staub.

Della Witherspoon wusste in demMoment, wo sie in einen bunten Farbenwirbel hineingerissen wurde, dass ihr jemand eine hinterlistige Falle gestellt hatte. Jemand hatte einen wörtlich auslösbaren Portschlüssel mit ihrem Stimmmuster verbunden und ihr zugeschickt. Wie konnte sie auch so dämlich gewesen sein? Doch wer hatte ihr diese teuflische Postsendung zugeschickt? Sie wusste, dass sie nicht nur Freunde hatte, aber Feinde, die sie derartig überlisteten konnte sie sich nicht vorstellen. Oder war es ein Geburtstagsscherz, und jemand hatte sich um ein paar Tage im Datum vertan?

Sie hatte nicht mal eine halbe Minute Zeit, sich diese oder andere Fragen zu beantworten. Dann fiel sie aus dem Portschlüsselzauber heraus und landete auf einem harten Steinboden. "So schnell geht das, Dreißig", frohlockte eine tiefe Männerstimme, die irgendwie fremdartig klang. Eine andere Stimme sagte: "Auf jeden Fall eleganter als ein direkter Angriff auf das Haus."

"Von mir lernen heißt siegen lernen, Dreißig. Nein, der Zauberstab bleibt wo er ist", schnarrte die erste Stimme. Della hatte gerade nach ihrem Zauberstab greifen wollen, weil sie ja bis jetzt dieses verwünschte Pergamentblatt in den Fingern halten musste. Sie wollte nicht darauf warten, dass zwei Zauberer sich irgendwie an ihr zu schaffen machten, ohne dass sie sich dagegen gewehrt hatte. Als sie den Zauberstab zog prellte ihr ein scharlachroter Lichtblitz mit Urgewalt den Zauberstab aus der Hand, ohne dass sie das Wort "Expelliarmus" gehört hatte.

"Ui, ziemlich weit nach oben und hinten", hörte sie eine erstaunte Stimme, die kalt und vergnügt klang. Dann sah sie im Licht unvermittelt aufflammender Kerzen zwei Gestalten in schwarzen Umhängen. Die eine Gestalt besaß einen bleichen Schädel wie eine Schlange mit roten Augen. Sie erstarrte. Das konte nicht sein. Der war doch tot! Die zweite Gestalt besaß einen grün leuchtenden Schädel, der ebenfalls wie der einer Schlange aussah und ebenso rote Augen. Auch sprühten giftgrüne Funken aus dem Schädel.

"Alles vergängliche zu deinem Todestag, Della Witherspoon!" rief der mit dem grünen Schädel. Der mit dem bleichen Schädel, der ihr im Moment mehr Angst einflößte lachte laut.

"Ihr seid Nachahmungstäter, irre, perverse Nachahmungstäter", knurrte sie. "Aber wenn ihr mich umbringt wird man mich sofort vermissen."

"Wissen wir. Deshalb haben wir vorkehrungen getroffen. Niemand wird dich vermissen. Und wenn doch, dann erst, wenn für uns alles so gelaufen ist, wie es soll", sagte der mit dem grünen Schädel. Jetzt begriff Della, dass dieser und nicht der, der wie der Unnennbare aussah, der Anführer war.

"Du bist dieser neue Psychopath, dieser Lord Vengor", knurrte sie. Sie hatte überhaupt keine Angst, und das störte die beiden sichtlich.

"Ich bin kein armer Irrer, sondern der Retter der Zaubererwelt, du Flittchen", spie ihr der Grünschädel entgegen. "Und du hast nur noch eine wichtige Aufgabe, für mich zu sterben. Manus Medianoctis!"

Della hatte mit dem Todesfluch Avada Kedavra gerechnet. Doch was dieser Irre da aus seinem Zauberstab auf sie zuschleuderte war eine schwarze Kugel, die sich im Flug in eine metergroße Hand aus reiner Schwärze verwandelte. Kälte strahlte von dieser Riesenhand aus. Kälte, Bosheit und Tod! Doch sie blieb ihrer Haltung treu, niemals Angst vor einem gefährlichen Wesen zeigen. Das hatte sie als Zaubertierexpertin sehr früh gelernt. Und jetzt wurde sie Opfer des gefährlichsten Raubtieres überhaupt, dem Homo sapiens magicus.

Die schwarze Hand sauste, nachdem sie sich zu ihrer Endform ausgebildet hatte, auf Dellas Kopf herab und umschlang mit ihren meterlangen Fingern ihren ganzen körper. Sie fühlte die Eiseskälte in sie einströmen und dann den mörderischen Druck. Sie sah nichts mehr. Ihr letzter Laut im Leben war ein letzter, kurzer Aufschrei, der jedoch von der sie zerdrückenden Hand aus schwarzer Magie keine Sekunde später endgültig erstickt wurde.

Brutus Pane, der diesen Zauber auch noch nicht kannte, sah mit Grauen, wie der Körper der gefangenen Hexe vollkommen von der schwarzen Hand umschlossen wurde und diese sich zur Faust ballte. Dann ruckte die Hand wieder nach oben. Es war nichts mehr von Dellas Körper zu erkennen. Brutus' Meister hob den Zauberstab und hielt ihn der schwebenden Riesenfaust entgegen. Dann nahm die grausame Riesenfaust Fahrt auf und jagte lautlos auf die Zauberstabspitze zu. Sie prallte darauf und schrumpfte in sich zusammen. Vengor erstarrte. Nur sein keuchender Atem verriet, dass er gerade mit etwas sehr anstrengendem rang.

"Brutus, hol den Kessel. Ich darf sie nicht ganz in mich aufnehmen. Schnell, sonst verliere ich die Balance über den Zauber!" stöhnte Vengor. Brutus Pane gehorchte aufs Wort. Er lief zu eimem fünfrädrigen Karren, der hinter der Stelle wartete, an der Della erschinen war. Er zog den Karren mit dem großen Kessel näher heran und auf Vengor zu.

"Los, aufmachen. Oder sie verflüchtigt sich oder muss in meinen Geist aufgehen!" ächzte Vengor. Brutus hob den Deckel vom Kessel. Darin schwappte ein schlammartiges Zeug hin und her. Vengor zielte mit dem Stab auf die Substanz und rief mit letzter Anstrengung: "Anima in Potionem captivata!" Aus seinem Zauberstab fauchte ein schwarzer Dampfstrahl, der im Flug zu einem weißen, durchsichtigen Schemen wurde, der sich kurz vor Erreichen des Kessels in den Geist der getöteten Hexe verwandelte. Brutus sah für einen winzigen Sekundenbruchteil ihre weit aufgerissenen Augen. Dann verschwand die Erscheinung im Zaubertrank. Dieser brodelte unvermittelt los, warf Blasen und stieß Dampfwolken aus. Wieder meinte Brutus, das Gesicht der Hexe an der Oberfläche der aufgewühlten Brühe zu sehen. Dann beruhigte sich der Trank wieder.

"Damit hast du alle ihre Erinnerungen verfügbar. Immer wenn du eine Dosis des Trankes mit ihrem Haar vermischst und trinkst wirst du wissen und können, was sie weiß. Denn ihre Seele steckt num im Trank und wird mit jedem Schluck weniger werden, bis der Trank aufgebraucht ist. Doch dann wird sie ihren Nutzen erfüllt haben. So, und jetzt trink deinen ersten Schluck und kehr zurück in ihr Haus!" befahl Vengor, nun wieder ganz frei von Anstrengung.

Brutus Pane sah auf die Stelle, wo die gefangene Hexe von der großen, schwarzen Hand gepackt und restlos zerdrückt worden war. Dann sah er auf den vollen Kessel mit dem Vielsaft-Trank. hatte sich darin wirklich die ganze Seele dieser Hexe aufgelöst? Er fühlte sich unbehaglich. Bis hierher war er nun gegangen. Doch jetzt fühlte er sich unwohl, sogar hundeelend.

"Achso, natürlich, die Kleidung", lachte Vengor. "Zieh dich aus, Dreißig!"

"Öhm, ja", sagte Brutus zögerlich. Dann fing er an, sich auszuziehen. Als er dann nur noch in der Unterhose dastand sagte Vengor: "Alles runter, du prüde Nuss. Die vorhin hier gelandet ist gibt's nicht mehr, und ich habe schon oft genug einen nackten Jungen gesehen. Wenn du gleich nicht in deinen bisher getragenen Sachen in ihr Haus zurückreisen willst musst du alles abwerfen. - Los!"

Brutus ließ auch seine graue Leinenunterhose fallenund stand nun komplett nackt da. Nur das Gesicht und das Haar hatte er so gezaubert, dass er Hank van Mehren darstellen konnte. Der Rest von ihm war immer noch Brutus Pane. "Natürlich, das Gesicht und das Haar. Wer mit Vielsaft-Trank hantiert darf nicht schon als Verwandelter davon naschen, sonst streiten sich die zwei Verwandlungszauber. Also nimm deine Hank-van-Mehren-Maskerade zurück!" Brutus gehorchte jetzt, ohne zu zögern. Die Vorstellung, wegen seiner mit dem Zauberstab gemachten Verwandlung nicht richtig mit dem Vielsaft-Trank zurechtzukommen trieb ihn zur Eile. Endlich bekam er sein ursprüngliches Gesicht, seine Haar- und Augenfarbe wieder.

"Du hast ihre Haare sichergestellt. Fülle diesen großen Becher hier mit dem Trank aus dem Kessel. Aber pass auf, dass nichts danebengeht!" kommandierte Lord Vengor. Brutus nahm eine kleine Schöpfkelle und tunkte sie in den schlammartigen, halbflüssigen Brei ein. Es schwappte und schmatzte, als die Mixtur sich unter dem Eintauchen der Kelle bewegte. Brutus unterdrückte den Ekel vor diesem Gebräu. Behutsam zog er die volle Kelle wieder aus dem hohen, breiten Kessel heraus und ließ den Inhalt in den großen Becher plumpsen. Der war jetzt zu einem Viertel voll. "Ganz voll!" wies Vengor ihn an. Brutus gehorchte und schöpfte drei weitere Kellen voll Trank aus dem Kessel in den Becher um. "Das sind genau zwölf der üblichen Dosen. Das heißt, du musst zwölf Stücke ihrer Haare in den Becher werfen, um die volle und für die Zeit von zwölf Stunden dauerhafte Wirkung zu erreichen", wies Vengor seinen Gehilfen an.

Brutus öffnete das mitgebrachte, unzerbrechlich gezauberte Glas, in dem er nach Vengors Anweisungen Dellas Haare in je vier zentimeter lange Stücke zerschnitten hatte. Er zählte sorgfältig zwölf davon ab und klumpte sie zusammen. Dann ließ er den Klumpen vorsichtig in die schlammartige Flüssigkeit im becher fallen. Unverzüglich begann die Mixtur zu gluckern, veränderte ihre Farbe zu einem hellbraunen Ton wie Milchkaffee. Ja, es bildete sich sogar ein wenig Schaum darauf. Außerdem wurde die Mixtur nun ganz flüssig. Brutus schnupperte behutsam und fühlte ein sanftes, aber warmes Prickeln in der Nase. Das war nicht mehr die ekelhafte schlammartige Pampe, die da im Kessel stand, sondern ein durchaus bekömmlich aussehendes Getränk. Er guckte unter die silbrigweiße Schaumschicht, ob er noch eine Spur von Dellas schwarzem Haar sehen konnte. Doch da war nichts. Das Haar hatte sich vollständig aufgelöst.

In der Zeit verwandelte Vengor Brutus' Sachen in Frauenkleider, von der seidenen Unterhose, über ein elastisches Mieder, Seidenstrümpfe, den dünnen aber reißfesten Umhang und die halbhohen schmalen Schuhe, wie sie Della bei der Ankunft getragen hatte.

"Trinke endlich deine erste Halbtagsration, Bursche! Ich habe heute Nacht noch andere Sachen zu tun", blaffte Vengor. Brutus hätte ihm fast den Becher hingehalten und gesagt: "Sauf du das Zeug!" Doch er konnte sich gerade noch beherrschen. Er setzte den Becher an. Die Befürchtung, er müsse sich die Nase zuhalten, um das Zeug hinunterstürzen zu können, bewahrheitete sich nicht. Eher lud ihn das Gesöff mit seinem warmen Prickeln förmlich ein. Er setzte an und nippte. Zwei Tropfen, warm und süß wie Kakao, allerdings mit einer Spur Zitronensäure, aber durchaus nichts abstoßendes. Er fühlte eine sanfte Erwärmung in sich. Er trank weiter, einen guten Schluck, schon eine volle Dosis für eine Stunde. Doch es schmeckte nach mehr, die Essenz einer vorhin noch lebenden Lebedame verlangte förmlich danach, von ihm getrunken, ja genossen zu werden. Er trank weiter. Eine Hitze wallte in ihm auf, und er fühlte, wie sich seine Haut am Brustkorb spannte. Dann setzte ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Unterleib ein. Sein ganzer Körper geriet in wilden Aufruhr. Er fühlte, wie sein Becken förmlich auseinandergezogen wurde. Doch das machte ihm nichts aus. Er trank und genoss die Essenz Della Witherspoons, bis auf den allerletzten Tropfen. Gerade fühlte er, wie mit ziepen und Hitzeschauer etwas seine Genitalien durchwalkte und sie förmlich in seinen Bauch hineindrückte. Er setzte den Becher ab und merkte, dass er kein "Er" mehr war, sondern schon fast eine "Sie". Seine bisher altenglisch bleichrosa Haut war jenem samtbraunen Farbton gewichen, den Della Witherspoon am Körper getragen hatte. Er sah ihre immer noch aufblühenden Rundungen, fühlte ihr Gewicht zunehmen und fühlte auch, dass zwischen seinen Beinen etwas anders war als sonst. Auch stand er jetzt anders. Sein Becken war breiter geworden. Jetzt gab es noch einen Ruck in seinem ganzen Körper, aber vor allem im Unterleib. Dann gluckerte etwas in seinem Bauch nach. Er keuchte, weil doch was anstrengendes mit ihm passiert war. Er fühlte das Haar auf seinem nackten Rücken. Haar, dem er dieses Aussehen zu verdanken hatte. Seine Beine waren länger aber auch biegsamer. Ebenso seine Arme. Doch nun passierte auch was in seinem Kopf. Er sah Bilder vor seinem inneren Auge, hörte Stimmen und ... das erschreckte ihn, dachte daran, wie er gerade in einer schwarzen Hand zerdrückt und dann in etwas großes, wackelndes hineingeschleudert wurde. Doch dann kamen Erinnerungen, die er selbst nicht angesammelt hatte, aber nun genau wusste, dass es die von Della waren. Er hätte fast losgestöhnt, als ihm wie Hitzeschauer die letzten leidenschaftlichen Liebesakte Dellas im Kopf herumschwirrten, aber auch ihre Entschlossenheit, sich von Roger Marten nicht kleinmachen zu lassen und immer mehr und mehr.

"Du merkst, dass du ihre Erinnerungen in dich aufgenommen hast?" fragte Vengor, der das Ergebnis seines hinterhältigen Plans ansah. Brutus antwortete mit Dellas Stimme: "Ich merke es, Meister."

"Dann zieh dich an, mach den Kessel zu und nimm den Portschlüssel nach hause. "Öhm, den Kessel stellst du gut gesichert in einen Keller und denke daran, jede zwölfte Stunde den nächsten Becher zu trinken. Versäumst du das einmal und verwandelst dich zurück, ist das Verrat. Wer mich verrät stirbt auf der Stelle. Hast du das verstanden?!"

"Ja, habe ich", erwiderte Brutus/Della. Er empfand sich immer mehr so, dass es normal war, einen Frauenkörper zu haben, mit einer Frauenstimme zu sprechen. "Accio Zauberstab!" rief Vengor. Damit holte er Dellas Zauberstab zurück.

"Deinen Zauberstab gibst du mir. Dann kannst und wirst du nur noch mit ihrem Stab zaubern."

"Herr, was würde passieren, wenn ich alles verbliebene Haar in den Kessel reinwerfen und den ganzen Trank auf einmal verändern würde?"

"Eine Clamp'sche Kommotion. Der Trank würde bei der Menge unverzüglich eine Menge Magie freisetzen, die ihn wie eine Tonne Erumpentflüssigkeit sprengt. Doch dabei würden sich seine Tropfen in tödliches Gift verwandeln. Komm also besser nicht auf die Idee, die Haare von ihr alle auf einmal in den Kessel zu werfen!" sagte Vengor mit gewisser Boshaftigkeit in der Stimme.

"Ich habe verstanden", sagte Brutus/Della. Dann zog er/sie sich wieder an. Die Handgriffe beim Schließen der für Brutus ungewohntenKleidung liefen schon so alltäglich ab, dass er sich kein bisschen darauf konzentrieren musste. Er verschloss den großen Kessel wieder mit dem wasserdicht abschließenden Schraubdeckel. Dann nahm er Dellas Zauberstab, der unvermittelt warm und leicht pulsierend in der Hand lag, als erkenne er jetzt erst wieder, dass er bei seiner rechtmäßigen Besitzerin war, obwohl das doch gar nicht stimmte. Dann klemmte Brutus/Della den tückischen Pergamentbogen zwischen Kessel und Hand und rief: "Ich bin Della Witherspoon!" Wie vorhin war das die Auslöseformel für den Portschlüssel.

Als Dellas Doppelgängerin mit dem Kessel Vielsaft-Trank verschwunden war grinste Vengor. Er hatte es geschafft. Der Leib des nächsten Verwandten von ihm war vernichtet. Und wenn der letzte Rest des Trankes aufgebraucht war, dann war auch Dellas Seele unrettbar zerstört. Beinahe hätte dieser kleine Wicht Pane ihn noch zur Weißglut gereizt, weil der doch glatt gefragt hatte, was passierte, wenn er alle Haarproben in den Rest des Trankes werfen würde. Gut, dass ihm noch rechtzeitig die Begründung mit der Clamp'schen Kommotion eingefallen war. So würde dieser Bursche, der nun einen Monat lang Frauensachen anziehen und Frauensachen tun musste nicht auf die Idee kommen, alle Haarproben und den Kesselinhalt auf einen Schlag zu vereinen. Denn was dann passierte wusste Vengor nicht. Feststand nur, dass Dellas Seele, solange der Trank nicht restlos getrunken und verdaut war, einen Halt in dieser Welt hatte. Mit jedem Bisschen, dass Brutus davon in sich aufsaugen würde, hielt er Verbindung zum Ganzen. Anders als ein Horkrux, wo ein Splitter einer Seele ihre Gesamtheit kopieren konnte, würde ein im Trank enthaltener Splitter gerade die Erinnerungen der gefangenen Seele freigeben. Doch Vengor wollte sich nicht ausmalen, was geschah, wenn Haare und Trank die gesamte Seele Della Witherspoons befreiten. Womöglich konnte sie sich dann aus dem Trank befreien und als Geist weiterexistieren. Dann hatte er das Problem, dass er sie nicht ganz aus er Welt geschafft hatte. Daran wollte er jetzt nicht denken.

Brutus/Della indes flog mit dem Portschlüssel und dem Kessel eine Weile, bis der fünfrädrige Karren mit quietschenden Rädern aufsetzte. Brutus/Della fiel daneben und landete mit einer geschmeidigen Rolle, als wenn Brutus das die ganzen Jahre so geübt hätte. Keine Sekunde später stand er wieder auf den schmalen Füßen und sah sich um. Sie war wieder zu Hause, und niemand hatte ihre unangekündigte Abreise mitbekommen, weil der Portschlüssel gegen Fernortung abgesichert worden war. Der Portschlüssel, das Pergamentstück, zerfiel gerade. Damit waren auch die letzten Spuren vergangen, die auf die Art, wie Della das Haus verlassen hatte, hinwiesen. Unvermittelt musste Della/Brutus gähnen. Es war ja auch schon spät, und morgen wollte sie ja in die Berge wegen der Kristalle. Denn wenn sie da nicht hinging würde das auffallen und Fragen nach sich ziehen. Das wäre ja Verrat an Lord Vengor, und dann würde Brutus/Della sterben.

Als er/sie im geräumigen Schlafzimmer war räumte Sie/er erst einmal die Mithörmuschel unter dem Bett fort. Dellas Doppelgängerin fühlte die Schamröte ins Gesicht steigen. Wie konnte man eine so lebenslustige und lebenshungrige Frau derartig hinterhältig belauschen? Das was Brutus in diesem Körper war erschrak über diesen Gedanken. Wieso schämte er sich? Anders war's doch nicht gegangen. Doch irgendwie fühlte er sich doch etwas schuldig. Dagegen fühlte er/sie überhaupt keinen Ekel, als er/sie auf dem großen, breiten Bett lag. Die Gedanken an die, die hier schon mit ihr Stunden der Freude verbracht hatten gefielen dem Ebenbild. Es spürte jede Berührung, jede Erregung nach. Brutus ertappte sich dabei, wie er den neuen gewaltsam ausgeborgten Körper von oben bis unten betastete und wie er, erst zögerlich und dann immer begieriger eine kleine und ganz private Forschungsreise zu den Grenzen seiner Beglückung antrat. Er Genoss es, seine ganze Lust mit Dellas Stimme hinauszuschreien. Wer immer sie hören mochte sollte denken, dass sie wieder wen bei sich hatte. In gewisser Weise stimmte das sogar. Denn Brutus durfte nun wortwörtlich Hautnah erleben, was Della empfinden konnte. Die Angst, sich in diesen Körper zu verlieben und ihn nach dem einen Monat für immer zu verlieren erschauerte ihn. Dazu kam noch eine Angst: Vengor hatte gesagt, wenn er sich vorzeitig zurückverwandelte würde er sofort wegen Verrates an ihm sterben. Doch was war später, wenn der Trank aufgebraucht war? War er, Brutus Pane, dann überhaupt noch wichtig. Im Grunde genommen wusste er doch jetzt zu viel über Vengors Pläne. Selbst wenn er nicht wusste, warum er gerade in diesem höchst befriedigt keuchenden Hexenkörper zu Gast war, so wusste er, dass es irgendwas bedeuten musste, so wie der Tod dieses Ziegelbrands oder der dieses Helgo Krötenbeins. Er dachte daran, dass Vengor ihn womöglich überwachte, damit er keine Dummheiten machen konnte. Dann wurde ihm jedoch klar, dass er ja gerade kein er war. Er hob noch einmal den linken Arm vor sein rotglühendes Gesicht. Kein V-Zeichen im Arm. War es noch da oder durch die Verwandlung solange weg, wie er verwandelt blieb? Doch jetzt fühlte er endgültig das Schlafbedürfnis. Sie/er kroch unter die Decke und fiel sofort in einen tiefen Schlaf voller herrlicher Träume, die nur zu einem Drittel mit Sex zu tun hatten.

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13. April 2002

Das Tafelgebirge erhob sich majestätisch über Kapstadt. In ihren Kletterschuhen und Handschuhen, angetan mit einem gleichwarm bezauberten, Nässe abweisenden Drachenhaut-Berganzug, krackselte Della Witherspoon in einer Wand herum, in der sie schon häufiger seltene Bergkristalle gefunden hatte. Einige davon hatte sie mit Exkavationszaubern aus dem Felsen herausschälen müssen. Andere hatte sie nur mit gezielten Bohrungen freibekommen und dann in frei schwebendenTragegeschirren oder an ihrem Besen gebunden fortschaffen können. Um Kristalle zu finden hatte sie einen Zauber gelernt, der gewöhnliches Felsgestein von durchsichtigen Kristallen unterschied. Brutus, der im Moment eher einverleibter Beobachter war, überließ es den Erinnerungen Dellas, wie sie ineinandergriffen, körperliche Fertigkeiten anwendeten und dann an einer von einem Vibrieren des Zauberstabes angezeigten Stelle "Excavato sensibilis" rief. Brutus fand es schon etwas unheimlich, aber auch faszinierend, mal einfach etwas mit sich geschehen zu lassen. Solange er im Zweifel die Führung übernehmen konnte, lief das mit der ausgeborgten Hülle Dellas ganz gut.

Ein grüner, flirrender Lichtkegel bestrich die Wand um eine bestimmte Stelle herum. Das Gestein löste sich sanft ab und zerrieselte zu Staub. Es entstand eine kreisförmige Rinne um die bezeichnete Stelle. Die Rinne wurde tiefer und Tiefer. Als sie einen Meter tief war bog Della/Brutus den Zauberstab ein wenig nach links und schälte weitere Gesteinsschichten ab, bis ein großer, walzenförmiger Stein aus der Aushöhlung herausfiel. Della/Brutus fing den Bohrkern auf und bestrich ihn mit dem Zauberstab. "Saxum seggregato!" murmelte sie. Es knisterte, und ein leises Singen drang aus dem freigebohrten Stein. Staub rieselte zu Boden, und aus dem walzenförmigen Bohrkern formte sich ein exakt würfelförmiges Stück durchsichtigen, glitzernden Stoffes. Am Ende hatte sie einen perfekten Würfel von zehn Zentimetern Kantenlänge freigelegt. Brutus erkannte, wie faszinierend diese Betätigung sein konnte, und durch Magie nicht so ein Knochenjob war wie für Muggel. Doch er sollte ja in Dellas Namen einen Zwölfflächler finden, vielleicht noch einen ganz großen. Doch den ausgegrabenen Würfel steckte er/sie trotzdem ein. Dann ließ Della/Brutus das gebohrte Loch wieder mit "Saxicresco!" zuwachsen. Auf die an Dellas mitgeführte Erinnerungen gerichtete Frage, wozu das Loch wieder zugemacht wurde erfuhr er unmittelbar, dass Della es nicht schätzte, einen erhabenen Felshang durchlöchert zurückzulassen. Wenn es schon Wiederherstellungszauber gab, um in Gestein gebohrte Löcher zu schließen, tat sie das auch. Brutus, obgleich eigentlich die vorherrschende Persönlichkeit, hatte irgendwie keine rechte Lust, dieser Ansicht zu widersprechen, auch wenn er nur auf ihm zufließende Erinnerungen zurückgriff.

Stunde um Stunde kletterte Della/Brutus in den Felsen herum und suchte nach weiteren Kristallen. Einige verrieten sich durch ihren Glanz. Doch es waren meist pyramidenförmige oder quaderförmige Kristalle. Drei weitere Würfel konnte sie noch ausgraben. Dann erreichte sie ein Plateau knapp unter dem Bergsattel des Tafelberges. Da war ihr, als wehe der Wind hier eisiger oder trüge eine unheilvolle Duftnote, die jedoch nicht bewusst gerochen werden konnte. Auch wenn Della/Brutus immer wieder die empfindliche Nase bemühte, sie/er konnte nicht ermitteln, was es sein sollte. Es war auf jeden fall was sowohl vereinnahmendes wie zurückweisendes. "Monstrato incantatem!" wisperte Brutus, der nun die Führung übernommen hatte. Rot-blau flackerte ein Lichtkegel auf und bestrich den Berg. Doch der zeigte keine Regung von unsichtbarer Magie. Er strich weiter über den Hang, bis er in einem grellen goldenen Blitz und lautem Piff erlosch. Brutus/Della erschauderte. Ohne die Anhaftzauber an Stiefeln und Handschuhen wäre er/sie jetzt abgestürzt. Irgendwas war da, irgendwas unsichtbares, was den Zauberfinder schlagartig erlöschen ließ. Dann wurde das unsichtbare sichtbar.

Della Witherspoon hatte schon einige höchst bedrohliche Tiere gesehen, Drachen, Feuerlöwen, Schreckenstaucher, ja im Schutz eines totalen Schutzanzuges sogar einen Nundu, nach dessen Begegnung sie erst einmal für eine ganze Stunde in einer Reinigungssäule hatte stehen müssen, bis mehrere Duschen aus Keimbanntrank und Keimfreizaubern die krankheitserregenden Atemrückstände des Tieres beseitigt hatten. Doch das Ungeheuer, das von einer Sekunde zur anderen sichtbar wurde, jagte ihr und damit auch Brutus Pane einen gehörigen Schrecken ein. Vor Dellas Doppelgängerin hockte eine an die drei Meter große, pechschwarze Fangheuschrecke, eine gigantische Gottesanbeterin mit lederartigen Flügeln. Das Ungetüm sah sie aus großen Facettenaugen abschätzend an. Wie kam so ein Monstrum hierher? Eins stand fest, Sie/er war gerade in höchster Gefahr. Schnelles Disapparieren war angesagt. Das Ungetüm erkannte jedoch, dass seine mögliche Beute flüchten wollte und schnellte mit den langen, kräftigen Hinterbeinen Los. Della/Brutus rief: "Avada Kedavra!" Ein gleißender grüner Blitz traf das Insektenungetüm im Flug und zerstob krachend am harten Brustpanzer. Das Ungeheuer wurde keinen Stundenkilometer abgebremst, sondern flog mit zur Hälfte entfalteten Flügeln auf die Kristallsammlerin zu, die nun die Anhaftzauber ihrer Handschuhe und Stiefel aufhob, um sich vom Berg abzustoßen. Ziel war, aus dem Flug heraus zu disapparieren und zu hoffen, dass dabei kein Körperteil zurückblieb.

Drei Meter fiel Della/Brutus, bevor die schwarze Monstermantis ihren Flug genau eingerichtet hatte und mit wirbelnden Flügeln nach unten beschleunigte, um die Schwerkraft der Erde zu übertreffen. Della/Brutus wollte gerade in die Disapparition drehen, als die stahlharten Beißzangen der Riesenfangschrecke zuschnappten. Die Hexe, die eigentlich ein Zauberer war, fühlte einen mörderischen Druck auf Rücken und Brustkorb. Jetzt verfluchte Brutus, wie empfindlich weibliche Brüste sein konnten. Denn die eingequetschten Geschlechtsorgane pochten und hämmerten mit dem Herz um die Wette. Das schlimmste jedoch war, dass das Monster sie nun mit laut surrenden Flügeln in die Luft entführte.

Della/Brutus versuchte noch einmal, den Zauberstab in die richtige Stellung zu kriegen. Da durchraste Dellas Ebenbild eine harsche, weiblich klingende Gedankenstimme: "Steck den weg oder stirb!" Brutus widerte es zwar an, derartig ausgetrickst zu sein, doch sterben wollte er noch nicht, nicht im Körper einer halbafrikanischstämmigen Lebedame. Er wusste nicht, als er dies dachte, dass er damit bereits Verrat an seinem Meister begangen hatte. Doch weil er das nicht wusste, geschah ihm auch nichts. So lief in ihm nur der von Vengor eingewirkte Langzeitauslöser, der nach einer Stunde Gefangenschaft den Verratsunterdrückungsfluch entfesselte. Auch das wusste Brutus nicht. Doch es wäre ihm in diesem Moment wohl auch egal gewesen, ob von einer offenbar denkfähigen, hochmagischen Riesenschrecke gefressen oder aus großer Höhe fallen gelassen zu werden.

Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit schwirrte die Riesenheuschrecke zwischen den Felsen dahin und überquerte Felsbuckel und schroffe Vorsprünge. Dann sackte das Riesenraubinsekt durch und verharrte mit wild schwirrenden Flügeln über einer Stelle im Felsen. Brutus fragte sich, warum das Untier jetzt anhielt.

Die Antwort auf die Frage war ein leises Rumpeln im Berg. Dann tat sich ein Teil des Felsens auf, klaffte immer weiter auf, wie ein sich öffnender Mund. Als die Öffnung zu einem halbrunden Loch von sechs Metern Durchmesser geworden war, ruckte die Riesenraubschrecke noch einmal an und brummte durch den Eingang in eine weitläufige, kuppelförmige Höhle hinein. Kaum waren sie durch den Eingang, rumpelte es, und das Tor ging zu. Brutus sah in knapp fünfzig Schritten entfernung einen rötlichen Schein. Doch als sie auf die Quelle zuflogen strahlte goldenes Licht auf. Brutus/Della sah nun, dass das Licht von einem an die zwei Meter hohen Krug ausging. Brutus erstarrte. Sowas hatte er doch in einer Ausgabe des Tagespropheten vom 1. Juni 2001 gelesen. Weil er sich immer noch für das Schicksal des Bengels Julius Latierre geborener Andrews interessierte, hatte er dessen haarsträubende Geschichte nachgelesen, wie er von zwei sogenannten Töchtern des Abgrundes entführt worden war. Die wollten, dass er der Sohn von der einen und Bruder der zweiten wurde. Schon abgedreht, hatte Brutus gefunden. Doch offenbar glaubten ihm das viele wichtige Zauberer. Und jetzt hing er im Körper einer toten Hexe zwischen den festhaltenden Beißzangen einer riesigen Heuschrecke genau in einer von dem Schlammblüter erwähnten Höhle mit goldenem Krug. Vielleicht sollte er sich in den Arm kneifen und hoffen, dass er aufwachte, und das alles nur geträumt hatte, von der Schlacht von Hogwarts bis heute. Oder schlief er noch in der Reisetruhe und träumte das jetzt?

Übergangslos sprangen die bisher so unbarmherzig festhaltenden Zangen auseinander. Brutus/Della fiel hin. Er/sie fühlte das wilde Pochen im Brustkasten und Brustdrüsen. und die Druckstellen am Rücken. Dann sah er/sie, wie das Ungetüm vor ihm/ihr landete. Auch wenn er jetzt damit hätte rechnen müssen überraschte es ihn doch, dass sich das bisher so tödlich gefährlich aussehende Tierwesen innerhalb von wenigen Sekunden in eine hauchdünn bekleidete, unwiderstehlich schöne Frau mit bronzefarbener Haut und tiefschwarzen Augen verwandelte. Im Vergleich zu Della, die schon etwas hermachte bot das aus der Riesenfangschrecke entstehende Frauenzimmer noch mehr auf, längere Beine, ein etwas breiteres Becken, noch mehr Holz vor der Hütte. Brutus nahm dies mit männlichem Interesse zur Kenntnis, fühlte aber auch die Reaktionen seines gerade weiblichen Körpers auf dieses Geschöpf. Auch Dellas Erinnerungen enthielten die Berichte über die Abgrundstöchter Hallitti und Ilithula, die in Europa noch eine wache Schwester haben sollten. Aber hier war nicht europa, sondern Südafrika.

"Höchst interessant. Ein gerade mal dem Knabenalter entwachsener, durch einen langen Schlaf am Altern gehinderter Zauberer, der sich in einer dreißig Jahre alten, bereits sehr umfangreich in Liebesangelegenheiten gebildeten Hexe versteckt und meint, sie zu führen wie eine besondere Art Ritterrüstung. Köstlich!" Vergnügte sich die schöne Unbekannte und warf ihr schwarzbraunes Haar kunstvoll links und rechts von ihrem Gesicht über den üppigen Brustkorb. Brutus fühlte, wie etwas in ihm nach außen brach. Doch er fühlte keine Schmerzen. Um ihn herum tobte auf einmal eine nachtschwarze Wolkenspirale wie ein wütender Tornado. Er meinte einen Moment lang, sein Mund müsse austrocknen. Doch da stürzte die schwarze Wolkenspirale um ihn herum lautlos in den Boden. Unvermittelt meinte er, total befreit zu sein.

"Ah, er wurde mit einem sehr starken Zauber durchtränkt, der ihn am Verrat hindern sollte. Doch in meiner Höhle herscht nur meine Magie, die Magie der Erde, aus der alles kommt und in die alles wieder zurückkehrt. Mir hat deine Aura schon gestunken, als ich euch bei meinen Kristallhängen erspürt habe. Mir war klar, dass du von einem sehr starken Zerstörungszauber umschlossen wurdest. Aber ich wollte nicht hinnehmen, dass du in meinem Revier herumräuberst. Die Kristalle gehören mir, und wer sie haben will muss sie kaufen."

"Du bist nicht die Abgrundsschlampe aus Europa, nicht wahr", brach es aus Brutus heraus, obwohl Dellas Erinnerungen ihm rieten, dieses Wesen da nicht zu ärgern.

Schlampe ist bei euch Kurzlebigen das Wort für eine Frau, die Freude an der körperlichen Liebe hat und sich dafür mit vielen Männern trifft, richtig? Dann ist die Antwort: Nein, ich bin nicht die Abgrundsschlampe aus Europa, sondern die aus Südafrika. So, und wo du als erster Zauberer davon weißt, ist dir kleingeist in einer sehr vorzeigbaren Verpackung sicher klar, dass ich dich so nicht mehr weiterleben lassen werde. Sicher, ich hätte dich einfach so weitersuchenlassen können, ohne mich zu zeigen. Aber ihr wart zu nahe an einem zwanzigflächigen Kristall herangekommen. Die wachsen zu selten, und die brauche ich für meine eigene Magie nötiger als ihr. Das wollte ich also nicht durchgehen lassen. Achso, noch was, dieser Lord Vengor, dem du offenbar unterworfen wurdest, ist mir und meiner Schwester lästig. Einen von seinen Dienern in die Gewalt zu bekommen war ihr und mir ein inneres Bedürfnis."

"Ich mach dich tot, du ..." rief Brutus/Della. Da fing der Blick der schwarzen Augen seinen ein und ließ ihn erstarren. "Das wirst du der, in deren Körper du dich eingenistet hast nicht antun, mit ihrem Mund so abwertende Worte zu einer anderen Frau zu sagen, wie du sie gerade denkst. Ah, schön, ein bisschen Widerstand, wohl weil du gerade ein dralles Weib bist. Aber das wird nicht so bleiben. Wann musst du deinen Trank trinken, um diese herrliche Figur zu behalten?" Brutus sagte nichts. Doch er dachte es, und das genügte der dämonischen Schönheit.

"In vier stunden. Da jeder Verratsunterdrückungszauber schon aus dir herausgeflossen ist wird dir, ausßer dass du Ms. Witherspoons geraubte Hülle gegen deinen eigenen Körper eintauschen musst, nichts passieren. Also kannst du schlafen, ganz tief schlafen, bis du wieder als junger Bursche bei mir bist."

"Nix da, du Hure", dachte Brutus und versuchte, sich gegen den hypnotischen Blick der Abgrundstochter zu stemmen. Doch die nachtschwarzen Augen erschienen ihm immer größer und tiefer und dunkler und größer und tiefer und ... Dunkelheit umfing ihn und trug ihn in die Gefilde eines traumlosen Schlafes davon.

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Anthelia musste leise lachen, als sie die Natur der Schutzzauber verstand, die Vengor um seine Fabrik errichtet hatte. Offenbar hatte er noch nicht alle dunklen Künste Iaxathans erlernt, um seine Massenmordfabrik wirkungsvoller gegen Feinde zu schützen. Er hatte einfach nur eine Glocke aus durch das Blut kürzlich verstorbener angereicherter Luftelementarmagie über seine Fabrik gestülpt. Sie machte auch, dass die Anlage für unbefugte Augen unsichtbar blieb. Sicher, wer nicht wie sie von Sardonia gelernt hatte, dass dieser Zauber durch das Lied vom Wind der Reinheit aufgehoben werden konte holte sich an dieser Glocke immer einen blutigen Kopf, je mächtiger desto heftiger. Vielleicht ging es diesem neuen Wahnwitzigen auch nur darum, keine übermäßigen Zauber um seine Todesfabrik zu formieren. Doch Anthelia legte es nicht darauf an, den umfangreichen Zauber vom Wind der Reinheit zu wirken, zumal sie davon ausgehen musste, dass Vengor vielleicht noch eine weitere Absicherung eingebaut hatte. Sie lächelte. Sycorax Montague hatte sich nicht vor ihr verstecken können, das Jagdschloss von Lady Nyx hatte trotz der beachtlichen Absicherungen nicht standgehalten und auch Rabiosos Fidelius-Zauber hatte ihm nicht geholfen. Sie konnte alle dort frei herumlaufenden Menschen mit dem Lied der grausamen Träume heraustreiben. Doch damit wusste sie nicht sofort, wo die Fabrik lag.

Sie fühlte einen schmerzhaften Schauer und hörte den zeitgleichen Todesschrei von vierhundert Menschen. Dort drinnen wurden im Namen des Kristalls weitere Männer, Frauen und Kinder hingeschlachtet. Selbst Anthelia, die in ihrem ersten und zweiten Leben nicht zimperlich mit Menschenleben umgesprungen war, erschauerte unter der Wucht so vieler gleichzeitig sterbender auf einmal. Das musste aufhören. Der Kristall durfte nicht weiterbestehen.

Sie überlegte, ob sie einen Zauber anwenden konnte, der den Abwehrkreis unterbrechen konnte, so wie sie es mit dem Locattractus-Zauber Vientofrios geschafft hatte. Die Kuppel reichte nämlich an die drei Meter unter die Erde. Da hätte sie fast lauthals losgelacht. War sie einmal unter der Kuppel durch, würde sie kein weiterer Zauber zurückweisen. So umfangreiche Zauber, wie Sardonia sie um Millemerveilles gewirkt hatte, konnte Vengor nicht anbringen.

Mit dem Lied der Reise durch die Erde verschwand Anthelia wie in die Tiefe stürzend und begann, mit der im Gestein geltenden Schallgeschwindigkeit auf das Zentrum der magischen Kuppel zuzurasen, mindestens hundert Meter unter der Erde bleibend, bis sie kurz vor Erreichen des Ziels nach oben fuhr und unvermittelt in einer weitläufigen Halle stand, in der gerade fünfzig Männer dabei waren, ebensoviele wimmernde Menschen mit Halseisen unter nach oben gleitenden Fallbeilen zu befestigen. Dann holten sie weitere fünfzig Gefangene herein. Die gerade unsichtbare Anthelia beobachtete, wie die Männer stupide ihrer schmutzigen Arbeit nachgingen. Insgesamt konnte die Vielfachguillotine bis zu vierhundert Menschen in einer einzigen Aktion enthaupten. Anthelia stellte fest, dass selbst sie noch was in Sachen Skrupellosigkeit und Brutalität dazulernen konnte. Gleich würden alle vierhundert Todeskandidaten bereit sein. Anthelia musste sich sehr anstrengen, keinen der Henkersknechte da mit einem zauber das blutige Handwerk zu legen. Denn sie fühlte, dass die Männer nicht freiwillig taten was sie taten. Ein innerer Zwang trieb sie an: Imperius.

Die Spinnenführerin wollte diese Massenhinrichtungsorgie unterbinden, aber wie? Sie tastete mit ihren geistigen Fühlern die Mechanik ab. Dieses Mordinstrument wurde sicher von einer einzigen Schaltung ausgelöst. Auch wenn Magie die Klingen wieder hochzog, freigegeben wurden sie sicher auf einen Schlag. Da fand sie den entsprechenden Hebelmechanismus. Sie konzentrierte sich und zielte zugleich mit ihrem Zauberstab auf die betreffende Stelle. Sie jagte ihre telekinetischen Kräfte durch den Stab, bündelte diese zu einem feinen Strahl aus reiner Kraft zusammen, die dort wo ihr Ziel lag eine erst behutsame und dann voranschreitende Veränderung bewirkte. Das Hebelwerk der Vielfachguillotine verbog und verkeilte sich. Wenn die Beile ausgelöst wurden würden sie blockieren. Der Vorgang dauerte drei Minuten, solange, bis jeder verfügbare Platz vor einem Korb mit einem Todeskandidaten besetzt war. Anthelia sah das kleine, gerade vier Jahre alte Mädchen mit den schwarzen Haaren. Dieses junge Wesen sollte einem wahnwitzigen geopfert werden, der mit aller Gewalt darauf ausging, Iaxathans Sklave zu werden. Sie hatte die vorige Hinrichtung nicht verhindern können. Aber dieses Mädchen und die anderen würde sie davor bewahren, Iaxathans Opfer zu werden.

"Alle dran!" rief ein Mann im Zaubererumhang, der sich nicht einmal die Mühe machte, seine Gedanken zu verhüllen. Anthelia musste wider den tödlichen Ernst dieser Umgebung und Situation grinsen. Das würde eine Schau geben, wenn dieser Mann und seine Spießgesellen vermisst wurden. Ihn und die ganze hier stationierte Truppe würde sie töten. Die unterworfenen Männer und die Gefangenen würde sie befreien und dann die Fabrik des Todes mit einem Erdbeben niederreißen.

"Und los!" rief der Zauberer und lachte. Es klickte metallisch, dann knirschte es. Die Beilklingen ruckten keinen Millimeter nach unten. Der Auslöser klemmte.

"Häh?! Was ist das denn?" knurrte der Zauberer und ging an den Haupthebel. Er zog ihn. Anthelia gönnte sich die Überlegenheit und blockierte den Hebel, ja drückte ihn nach oben, bis es metallisch krachte und der Hebel abbrach.

"Verdammt, wir sind unterwandert. Alarm!" rief der Zauberer. Sofort vielen alle Türen zu, und ein lautes Tröten dröhnte los. Sofort apparierten zehn maskierte Zauberer, alles billige Kopien von Tom Riddle alias Voldemort, wie Anthelia erkannte. Zwar verschlossen die Zauberer sofort ihren Geist. Doch was Anthelia mitbekommen konnte genügte ihr. Alles Möchtegernkronprinzen und verhinderte Ministeriumsbehördenleiter, die dachten, unter dem Waisenknaben hohe Posten erringen oder behalten zu können. Keiner würde sie wirklich vermissen, dachte Anthelia. Dann bekam sie mit, wie um sie herum wilde Zauber rotierten, Such- und Fesselungszauber. Anthelia musste sich beeilen, auch wenn sie womöglich gegen die meisten Zauber immun sein würde. Sie wirbelte einmal im Kreis herum und dachte dabei einen Zauber, der um sie einen Schild aus der Kraft der Erde beschwor. Nun stand sie in einer magischen Säule, die vom Boden bis zur Hallendecke reichte. Im nächsten Moment trafen die sie suchenden Zauberströme auf die Säule und ließen sie rot aufglühen.

"Was ist das für ein Zauber?" wollte einer der Maskenträger wissen. Sein Mitstreiter fauchte, dass dies egal sei. Da begann Anthelia mit magisch verstärkter Stimme zu singen, es war Sardonias Lied des tiefen Schlafes. Wer es hörte und nicht rechtzeitig dagegen anwirkte verfiel seiner Wirkung innerhalb einer halben Minute.

"Avada Kedavra!" rief ein Zauberer, der auf die Säule zielte. Anthelia/Naaneavargia ließ sich auf die Knie fallen und zog den Kopf ein. Der grüne Blitz prallte gegen die leuchtende Säule, färbte sie braun und spaltete sie. Knisternd zerfiel die schützende Magie. Doch Anthelia kümmerte das nicht. Sie sang weiter, inbrünstiger, bestimmter, mit glockenklarer Stimme.

Ein weiterer Zauberer wollte ebenfalls den Todesfluch ausführen, schaffte es aber nicht mehr, den Zauberstab anzuheben. Dann sanken die ersten um. Die letzte verzweifelte Gegenwehr kam von einem der Unterworfenen Männer. Er stemmte eine Schnellfeuerpistole hoch und betätigte den Abzug. Doch Metallgeschosse konnten Anthelia/Naaneavargia nichts anhaben. Sie prallten von ihr ab und sirrten als Querschläger davon. Dabei wurden dreißig der Gefangenen verletzt. Anthelia zwang sich, nicht daran zu denken. Sie sang weiter, bis alle eingeschlafen waren, ob Gefangene oder Besatzungsmitglieder. Als alle schliefen löste die Spinnenhexe mit ihren telekinetischen Kräften die Halseisen, die die zum Tode verurteilten gnadenlos genau zu den für sie bestimmten Fallbeilen ausgerichtet hatten. Am Schluss traf sie wieder auf das kleine, schwarzhaarige Mädchen in den abgewetzten Kleidern. Da kam ihr eine Idee. Sie weckte die Kleine mit einem geflüsterten Gegenzauber zu Sardonias Lied wieder auf und sagte ihr, dass sie eine gute Zauberin sei, die geschickt worden war, um den bösen schwarzen Stein zu finden, der machte, dass andere Menschen böse wurden und Leuten sehr weh tun wollten. Das Mädchen, Blanca hieß sie, glaubte Anthelia erst nicht. Doch als Anthelia ihr erzählte, dass mehrere böse Steine auf die Erde gefallen waren, um Menschen weh zu tun und dass sie damit gefüttert wurden, dass andere Menschen laut vor Angst schrien, glaubte die kleine das.

"Und du suchst diesen Monsterstein. Aber der frisst dich sicher auf."

"Nein, der hat zu viel Angst. Wenn den wer anfasst, der noch niemandem weh getan hat und ihm sagt, er soll verschwinden, wird der zu grauem Pulver. Hast du schon eine Fliege totgeschlagen oder sowas?" fragte Anthelia. Blanca schüttelte ihren Kopf und starrte Anthelia aus ihren großen schwarzen Augen an.

"Dann kannst du den Monsterstein wegjagen. Wir suchen den jetzt", sagte Anthelia.

"Und die anderen?" fragte Blanca.

"Die müssen noch schlafen, damit sie keine Angst mehr haben. Nur wenn keiner mehr Angst vor ihm hat kann der Monsterstein weggejagt werden."

"Dann helfe ich dir", sagte Blanca. Sie warf noch einen Blick zu einem Mädchen von etwa zehn Jahren hinüber, ihre große Schwester Amanda.

Anthelia nahm Blanca bei der Hand. Ihr gespür für dunkle Kräfte und ein Suchzauber aus den Liedern der Erdvertrauten von Altaxarroi wiesen den beiden den Weg.

In der oberen Halle, bewacht von drei nun schlafenden Vengorianern mit ihren weißen Masken, lag ein knapp zwanzig Zentimeter großer, zwölfflächiger Körper aus lichtschluckendem Kristall. Beide fühlten die Eiseskälte und die Gier nach Tod und Leid, die von dem Körper ausging. Blanca hatte Angst. Doch Anthelia sagte ihr, dass der Monsterstein keine Zähne zum beißen hatte. Er würde sofort nicht mehr da sein, wenn sie ihn anfasste, weil er selbst Angst vor Leuten hatte, die niemandem weh getan oder ihn totgemacht hatten. Blanca sah die Entschlossenheit in Anthelias Augen. Sie fragte sich, wie viel Zeit sie noch hatte. Am Ende tauchte Vengor persönlich hier auf. Sie mussten sich beeilen.

Blanca trat vor und streckte die Hand aus. "Ganz kalt wie Schnee", sagte sie. "Sag ihm, er soll weggehen und lege einfach die Hand auf ihn", sagte Anthelia. Blanca überlegte einige Sekunden, die für Anthelia fast zur Ewigkeit wurden. Dann drückte sie ihre Hand nach unten auf die oberste der zwölf Flächen und stieß aus: "Hau ab! Geh weg!"

Der Kristallkörper erzitterte, als das Mädchen seine Hand nach unten gleiten ließ. Als die kleine Blanca den Kristall anfasste, rumpelte es einen Moment. Dann war da nur noch hellgrauer Staub auf dem Boden.

"Siehst du, der hat dich nicht gebissen, Blanca", lachte Anthelia und suchte soford nach einem weiteren Kristall. Doch sie fand keinen Körper aus Kristall mehr. Die Fabrik des Todes war nun sauber.

Nachdem Anthelia sich bei Blanca für die Hilfe bedankt hatte, ließ sie sie wieder einschlafen. Was jetzt noch anstand musste die Kleine nicht miterleben. Innerlich dankte sie Catherine Brickston, die sie damals auf den Dreh gebracht hatte, wie man Dutzende von Menschen ohne sie zu gefährden einsammeln und aus einer Gefahrenzone schaffen konnte. "Aggregato transmutaccio!" rief sie einmal und verwandelte zehn befreite Gefangene auf einen Streich in rosarote Taschentücher. Nun brauchte sie nur noch den Wiederholzauber zu verwenden, bis alle knapp vor dem Fallbeil geretteten Menschen bei ihr waren. Sie trug die Verwandelten durch die Erde hinaus aus dem Schutzbereich und versteckte sie. Dann tötete sie die Besatzung der Fabrik mit dem Todesfluch. Danach schrieb sie mit flinker Feder eine Nachricht für Vengor, wobei sie davon ausging, dass Iaxathan ihm schon von Naaneavargia erzählt haben würde. Anschließend holte sie einen bereits für diesen Fall vorbereiteten Stein aus ihrem Gepäck und legte ihn auf den Boden. Seit der Zerstörung des Vampirdorfes im Dschungel hatte sie den Zauber weiterentwickelt. Jetzt würde er innerhalb einer halben Minute ein verheerendes Erdbeben auslösen, dass sich wie ein Feuer bis zu einem im Zauber festgelegten Höchstabstand fortpflanzte. Anthelia tippte den Stein an und sagte die Auslöseworte. Dann verschwand sie wieder durch die Erde.

Noch innerhalb der dreißig Sekunden erreichte sie die verwandelten und schlafenden Gefangenen, auch die, die unter dem Imperius-Fluch gestanden hatten. Sie nahm den Korb auf, in dem sie lagen und disapparierte. Keine fünf Sekunden später brach das Erdbeben los.

Fünf Minuten später kehrte Anthelia zurück und besah sich die Wirkung ihres Zaubers. Zufrieden mit dem Ausmaß der Zerstörung verschwand sie ganz aus der Gegend und brachte jeden einzelnen nach einer gründlichen Gedächtnisveränderung zurück in die Zivilisation, auch wenn da, wo viele herkamen, Zivilisation ein Fremdwort sein mochte.

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Vengor war nicht in seiner Zentrale, als dort eine schrille Glocke loslärmte. Auf der an der Wand hängenden Karte, auf der die Standorte der eingeschworenen Vergeltungswächter verzeichnet waren, blinkte die Markierung 30 hellrot auf und verdunkelte sich. Dann blinkte sie wieder auf und verdunkelte sich. Dann blieb die Markierung vorerst ganz dunkel. Vengor war nicht da, um das zu erleben.

Der selbsternannte Erbe Voldemorts hatte gerade damit zu tun, mit zwei seiner Getreuen den Aufenthaltsort eines gewissen Norman Dreyfuss zu ermitteln, von dem er erst vor zwei Tagen erfahren hatte, dass dieser ebenfalls entfernt von seiner Blutlinie abstammte. Doch dieser Zauberer lebte schon seit fünfzig Jahren abseits der Zaubererwelt irgendwo in Kanada. Ihn umzubringen, ohne die Vorgaben Iaxathans einzuhalten, wäre töricht gewesen. So galt es, Unterlagen über ihn zu beschaffen, die nicht in Thorntails, Hogwarts oder einer anderen gut überwachten Zauberschule verwahrt wurden. Zusammen mit seinen Gehilfen Fünf und Elf, die nicht wussten, dass sie zwei auf getrennten Kontinenten lebende Vettern waren, suchte Vengor in Ottawa und Montreal nach Spuren dieses Zauberers, der seinen Verwandten nur einen Textauszug aus einem Drama von William Shakespeare überlassen hatte: Prosperos letzte Rede, wo ein fiktiver Zauberer mit adeliger Herkunft der Magie abschwor, weil sie ihm trotz aller Macht doch nicht das rechte Glück gebracht hatte und auch nicht hatte verhindern können, dass seine im Exil aufgewachsene Tochter Miranda sich in einen Menschen aus der zivilisierten Welt verliebte. Doch wo war Dreyfuss jetzt? Das der Name auch im Zusammenhang mit einem schweren Justizskandal am Ende des 19. Jahrhunderts erwähnt wurde machte die auf Bücher und geschriebene Dokumente allein ausgehenden Zauberer nicht wirklich fündig. Wenn sie sich einem Computer näherten, fiel dieser aus. Häufig passierte das so gründlich, dass der Apparat danach vollständig repariert werden musste. Also hielten sie sich tunlichst von diesen überempfindlichen Maschinen fern.

"Wenn der in Kanada wohnt, dann können wir Monate suchen", sagte Elf. Vengor starrte ihn finster an und schnaubte: "Wir haben keine Monate. Am Ende habe ich nicht einmal eine Woche, um den zu finden, ihr Hohlköpfe. Also suchen wir weiter!"

"Einen Ort gibt es noch, das alte Verlies. So nennen die Kanadischen Zauberer eine Lagerstätte für alte Schulakten, die zwischen England und den Staaten ausgetauscht wurden."

"Dann los", sagte Vengor und warf sich seinen Tarnumhang wieder über. Die Annderen benutzten den Desillusionierungszauber.

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Als Brutus wieder aufwachte fühlte er nichts mehr von Della, weder im Kopf noch den Körper der Hexe. Er war wieder er selbst und lebte noch. Sofort kehrten die Erinnerungen zurück. Er war in der Höhle einer Abgrundstochter. Dieses Weib, dass auch eine Fangheuschrecke sein konte, hatte ihn entführt. Er lag auf einer Strohmatte. Als er sich vorsichtig umsah konnte er den goldenen Krug sehen, auf dessen Rand dieses durchtriebene, übermächtige, absolut anziehend aussehende Monsterweib hockte. Und dieses Biest hatte nicht einen Fetzen Stoff am Leib. Brutus kapierte es. Dieses Biest wollte es mit ihm treiben, damit es ihn für sich klarmachen konnte, wie vorher Vengor ihn klargemacht hatte. Doch dagegen hatte er was. Dieser Schlammblüter Andrews war so einem Luder auch schon entwischt. Da würde er das erst recht schaffen. Er sprang auf, um zum Ausgang zu rennen. Doch der Ausgang war weg. Da war keiner mehr.

"Bevor du deine herrlich wilde Kraft damit vertust, in meiner Höhle herumzurennen wie eine Fliege unter einer Käseglocke herumschwirrt hör mir erst mal zu!" rief die Unheimliche vom Krug her. Doch Brutus wollte nicht hören. Er suchte seine beziehungsweise Dellas Sachen. Doch die waren nirgendwo.

"Ich habe Dellas Sachen in ihr Haus zurückgebracht. Du brauchst sie ja erst wieder, wenn du meinst, ihren Körper annehmen zu müssen."

"Wie hast du denn das gemacht, eh?" fragte Brutus. Zur Antwort stand das unheilvolle Frauenzimmer wie aus dem Boden gewachsen vor ihm und breitete seine Arme und Beine aus. "Ich kann den kurzen Weg gehen, was ihr apparieren nennt, nur leiser und überall hin und das ohne Zauberstab."

"Ach ja, und warum hast du mich dann vorher nicht so abgeschleppt eh?" fragte er. Er kannte die Antwort, und das Monsterweibsbild wusste das.

"Du bist immer noch ein kleiner, aufsässiger Junge, der nicht erkennen will, wann er lieber Ruhe geben soll. Aber ich habe schon viele Knaben zu mir genommen und sie als Männer zurück in die Welt geschickt. Das leidige ist nur, ihr habt Della aus ihrem Körper rausgedrängt, ihn zerstört, damit dieser Vengor irgendwas damit anfangen kann. Ihre Seele steckt jetzt in diesem Verwandlungsgebräu drin. Und jedes mal, wenn du einen Schluck davon trinkst wird sie schwächer. Ich habe sie gespürt, als ich in ihrem Haus war. Sie ist wie betäubt, eingeschlossenin einem unansehnlichen, schlammartigen Gemisch. Findest du, dass Della das verdient hat?"

"Ich hatte den Auftrag, sie klarzumachen, öhm, zu Vengor zu bringen und dann ..."

"Und weißt nicht mal, wer dieser Vengor ist", knurrte die Abgrundstochter. "Ich weiß aber, dass er versucht, mit Iaxathan, einem ebenfalls eingekerkerten Magier aus uralter Zeit, in Verbindung zu treten um dessen Hände, Augen und Ohren in dieser Welt zu werden. Wie erwähnt ist er mir und meiner Schwester lästig. Ich weiß, dass er den Unlichtkristall züchtet und sich mit einer gewissen Menge davon imprägniert hat. Von dir will ich jetzt alles andere wissen, wann, wie, wo und warum du mit diesem Unhold zusammengetroffen bist und alles, was du bisher nicht von dir preisgegeben hast, vor allem warum dich dieser junge Zauberer Julius Latierre so sehr verärgert hat, dass du ihn damals mit einem noch nicht ausgereiften Fluch töten wolltest.."

"Vergiss es, Succubus, Unterliegerin. Ich pack doch vor einer besseren Nutte nicht mein ganzes Leben aus", begehrte Brutus auf und drosch kräftig nach dem Gesicht der Abgrundstochter. Wenn er ihr nicht in die Augen sah konnte sie ihm nichts. Doch sein Schlag prallte wie von einem aufgepumpten Quaffel ab. Er versuchte es mit einem Kinnhaken. Doch auch den nahm die Unheimliche locker hin. Als er das Bein hochriss, um ihr voll in den Bauch zu treten löste sie sich schlagartig in Luft auf. Im nächsten Moment hörte er sie vom anderen Ende der Höhle her lachen. Er fuhr herum, sah sie aber nicht. Er schrie vor Wut auf. Er hatte nichts dabei, keinen Zauberstab, keine Ausrüstung, nicht mal eine Unterhose. Zwar lief dieses Monsterflittchen auch ohne Klamotten herum, wohnte aber hier und war um einige Klassen mächtiger als er. Vielleicht sollte er sich selbst töten, um ihr nicht mehr von sich zu geben. Mit seiner Leiche konnte sie nichts anfangen. Dann fiel ihm ein, was Julius Latierre behauptet hatte, dass diese Monsterbräute ihre Opfer in diesen Krug warfen, damit sie dort aufgelöst wurden. Vielleicht sollte er das tun. Sicher würde er dann tot sein. Er rannte los, Richtung Krug.

Als Brutus vor dem Krug ankam rutschte ihm von irgendwoher eine dicke Strohmatte vor die Füße. Er konnte den Lauf nicht mehr bremsen, stolperte und schlug der Länge nach auf die Strohmatte. Er wollte sich gerade aufrappeln um den letzten Meter zum Krug zu schaffen, als sich etwas eindeutig weibliches auf ihn warf. Die dunkle Liebeslady war unsichtbar. Das hätte er doch wissen müssen, wo er ihre Monstergestalt auch aus dem Nichts hatte auftauchen sehen können. Er versuchte, der Feindin an den Haaren zu ziehen, erwischte aber ihre linke Brust. Er kniff mit unglaublicher Brutalität zu. Tatsächlich schrie das Biest kurz auf. Doch dafür fing er sich eine mit Chilli und Paprika gepfefferte Ohrfeige ein, die ihn nach links von der Matte fegte. Er wollte gerade wieder auf Arme und Knie kommen, da fiel die dunkle Lady regelrecht über ihn her, drückte ihn wieder richtig auf die Matte und schwang sich über ihn. Bevor er sich's versah drückte sie ihr Gesicht auf seines und ihren Unterleib gegen seinen. "Genug gespielt, jetzt, Kleiner. Jetzt nehm ich dich zu mir, und ob ich dich dann noch mal weglasse entscheide ich und nur ich", zischte sie, bevor sie wieder sichtbar wurde. Er sah in ihre Augen. Wieder überflutete ihn ihre Willenskraft. Diesmal konnte er nichts dagegen tun. Er wünschte sich, mit diesem Wesen da eins zu werden. Die Frau war willig und absolut schön. Ja, und sie konnte ihm so viel beibringen. Da fühlte er, wie seine seit einem Halben Tag versteckte Männlichkeit wieder erwachte. Die andere Merkte das und half nach, bis beide die allernächste Nähe erreicht hatten.

"Ich kann auch oben", raunte sie ihm ins Ohr, während sie ihn Küsste und ihn bei sich hielt. So glitt Brutus immer mehr aus seinem eigenen Leben fort und hinüber in ein neues Leben, das nicht mehr ihm gehörte.

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"Ah, Lord Vengor und einer seiner Marionetten", hörte Vengor die Stimme eines Mannes aus einem Gebüsch. "Besser die Zauberstäbe lassen wo sie sind, ihr Burschen. Wir wissen, dass ihr sehr gefährlich seid. Aber wir habenunsere Zauberstäbe schon."

"Schwachkopf, du kennst noch lange nicht alle meine Kräfte", schnarrte Vengor und sah sich um. Zwanzig Zauberer standen da, alle mit kampfbereiten Zauberstäben.

"Jetzt nehmt besser mal die Masken ab. Den Gag mit dem doppelt und dreifach herumlaufenden Riddle kauft euch doch keiner mehr ab", sagte der Anführer, ein rotbärtiger Zauberer.

"Erst wenn du sagst, wie ihr uns hier gefunden habt", schnaubte Vengor.

"Wir haben euch hergeführt", grinste ein anderer Zauberer. Vengor erkannte, dass keiner von ihnen unter fünfzig Jahre alt war.

"Moment mal, was soll das heißen?" schnaubte Elf. Vengor brüllte "Ruhe!"

"Norman Dreyfuss, ein im selbstgewählten Exil ausßerhalb der Zaubererwelt lebender Misanthrop, der über dreißig Ecken mit Eggebrecht Ziegelbrand und Helgo Krötenbein verwandt ist. Hast du Nachahmungsirrer echt geglaubt, dass wir da nicht schon längst hintergestiegen sind, dass du bestimmte Familien auslöschen willst."

"Ich habe damit gerechnet", knurrte Vengor. "Aber meine Mission duldet leider keine Ausweichrouten."

"Oh, er hat eine Mission. Er ist im Auftrag eines höheren Herren unterwegs", lachte ein weiterer Zauberer.

"Still, der Mensch da ist brandgefährlich, vor allem seitdem er den Kristall aus dem WHZ im Bauch oder sonst wo hat. Und seine Leute da sind sicher auch keine Kuschelbären", sagte der Rotbart.

"Worauf ihr euch verlassen könnt", schnaubte Vengor. Er wollte an seinen Zauberstab langen, da flog ihm dieser aus dem Umhang heraus und zu einem der Zauberer hin, die ihn umzingelt hatten. Als der den Stab hatte disapparierte er unverzüglich. Vengor fluchte. Auch den beiden anderen wurden die Zauberstäbe entwendet.

"Wir könnten euch jetzt hier im Wald allein lassen und darauf hoffen, dass ihr verreckt. Aber unser Boss hat eine verdammt hohe Prämie auf dich und deine Spießgesellen ausgesetzt", sagte der Rotbart und grinste überlegen, als noch zehn neue Zauberer apparierten.

"So, und jetzt die Masken runter!"

"Das geht jetzt nicht mehr. Das hätten wir nur mit den auf uns abgestimmten Zauberstäben machen können. Aber die habt ihr ja einkassiert", erwiderte Vengor.

"Dann schneiden wir euch besser die Köpfe ab und bringen sie dem Boss. Soll der dann die Masken abpellen", sagte ein drahtiger Zauberer mit einem bleichen Rattengesicht und schwarzer Struwelmähne.

"Dann versucht das mal", lachte Vengor, und die beiden Komplizen lachten mit. "Aber ihr traut euch eh nicht an uns heran, weil wir euch vielleicht die Zauberstecken wegnehmen könnten. Selbst mit dreißig gegen uns drei habt ihr doch eure Umhänge voller Scheiße."

"Für einen Lord drückenIhro Gnaden sich aber sehr flegelhaft um nicht zu sagen obszön aus", spöttelte einer der verwegen dreinschauenden Zauberer.

"Ihr spekuliert darauf, dass eure Kristallimpfungen euch gegen jede Klinge immun machen. Mag sein. Deshalb sacken wir euch eben komplett ein. Der Boss wird schon alles erfahren, was er wissen will."

"Hat dieser Boss auch einen Namen?" Wollte Vengor wissen.

"Hast du einen? Vengor ist doch nicht echt dein Geburtsname", konterte der Rotbart.

"Gut, dann werde ich ihn sprechen. Vielleicht sind er und ich uns ja näher, als er geglaubt hat."

"Nicht, seitdem du aus Frankreich kleine Kinder entführt hast und weitere Kinder auf deiner Todesliste stehen. Also ab!" Unvermittelt erschienen risige Säcke in der Luft, fielen auf Vengor und seine beiden Komplizen herunter und hüllten sie ein. Die drei Wehrten sich. Doch die Säcke bestanden aus einem besonders reißfesten Material.

"Wenn die Infos stimmen, die der Boss über diese Kristalle hat, dann müssen die jeden tag tagesfrisches Fleisch oder Gemüse essen. Wir lassen die einfach aushungern", hörte Vengor noch, während fünf Mann den Sack mit ihm aufhoben und forttrugen.

"Corvinus Flint, hör mit deinem Geplauder auf und komm mir zu Hilfe!" Dachte Vengor. Doch seine Gedanken schienen wie wilde Wespen im Sack herumzuschwirren und ihm wieder in die Ohren zurückzubrummen. Vengor verwünschte die Aufgabe Iaxathans. Er hatte immer schon damit gerechnet, dass man ihm früher oder später draufkam, welche Hexenund Zauberer er noch töten würde. Doch jetzt war es zu spät. Es sei denn, dieser Nachtschatten oder seine Helfer würden ihn heraushauen.

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"Du bist, wenn du richtig angeleitet wirst, ein sehr begabter junger Liebhaber, Brutus Pane", lobte ihn die Abgrundstochter, die sich ihm gegenüber als Hilia vorgestellt hatte. "Du hast mir auch alles erzählt, was dieser Vengor so getrieben hat, zumindest von dem du es wusstest oder von anderen gesagt bekommen hast. Er trägt also denUnlichtkristall in sich, wohl aus den Toden der Menschen in der Großstadt, die New York genannt wird. Aber irgendwo auf dieser Welt stellt er noch mehr davon her. Er muss dafür Menschen töten, keine Tiere. Soweit schon das, was meine Schwester in Europa und ich befürchtet haben. Doch wozu dient ihm die tote Della Witherspoon? Das können wir nur herausfinden, wenn Della weiterlebt."

"Dann willst du mich wieder sie sein lassen?" fragte Brutus Pane, den die drei Stunden Liebesakt mit der Abgrundstochter vollkommen umgeformt hatten.

"Ja, sie soll ihren Körper wiederkriegen, und du wirst ihr dabei helfen. Zwar kannst du ihren Originalkörper nicht mehr herstellen, aber durch den Trank kann sie permanent weiterleben, ja sogar eine gewisse Unsterblichkeit erhalten. Die Seele von ihr muss nur wieder erstarkt werden." Brutus fragte, wie das gehen sollte. Die Antwort hätte ihn normalerweise erschauern lassen. Doch nun, als Untergebener der Abgrundstochter Hilia, empfand er es als große Geste, ja als Möglichkeit, seine Schuld dieser Hexe gegenüber zu sühnen. So trank er die zweite Dosis Vielsaft-Trank für einen halben Tag. Als er wieder Della Witherspoon war fühlte er, wie seine eigene Willensfreiheit zurückkehrte, aber auch, dass da was war, das ihn zu verdrängen versuchte. Diesmal waren die Erinnerungen intensiver als vorher. "Lege dich noch mal hin!" befahl Hilia. Brutus zögerte erst. Doch dann befolgte er die Anweisung. Orangerotes Licht floss über ihm aus dem Leib der über ihm hockenden Abgrundstochter. Della/Brutus atmete es ein und saugte es mit dem Mund in sich auf. Da fühlte Brutus sich wieder entrückt und untergeben, aber Della fühlte, wie ihre eigene Kraft zurückkehrte. "Dir ist klar, du Parasit, dass du und ich nicht in meinem Körper bleiben können, wenn ich wieder ganz in ihm einziehe", hörte er Dellas Stimme unvermittelt. Wie war das möglich, wo er doch nur Erinnerungen von ihr wahrnehmen konnte. "Hilia hat zwischen diesem vermaledeiten Trank und deinem Körper eine Verbindung hergestellt, über die ich auf ihn einwirken kann, wenn du mein Ebenbild geworden bist. Also los, schaff mich zu mir nach hause und lass mich endlich wieder ich werden!"

Hilia gab Della/Brutus denZauberstab. Kleidung bekam sie nicht. Die brauchte sie auch nicht. Denn als Hilia die Höhle öffnete und Della mit Brutus als seelischen Untermieter diese wieder verlassen hatte konnte sie disapparieren.

Unbekleidet und unerkannt apparierte sie wieder in ihrem Haus. Brutus fühlte, dass sein körperliches Ende gekommen war. Denn der Succubus und die wiedererstarkende Hexe waren sich einig, dass in Dellas Körper nur Platz für Della sein sollte. Würde er dann als Geist weiterexistieren oder selbst eine eingekerkerte Seele bleiben? Keine schönen Aussichten.

Im Keller stand der große Kessel. Dort lag auch Brutus' Practicus-Brustbeutel. Aus diesem nahm Della, die Brutus nun endgültig in den Hintergrund gedrängt hielt, ihre von ihrem Originalkörper abgetrennten Haare. "Ich werde mit Hilia noch stärkere Zauber um mein Haus legen, damit solche Verbrechen nicht mehr geschehen können", hörte er sie denken. Dann sah er mit Entsetzen, wie sie das Glas mit ihren Haaren öffnete und das ganze Bündel in den offenen Kessel hineinfallen ließ. Es plumpste. Dann begann der Trank wie wild zu brodeln. Della schlug schnell den Deckel auf den Kessel und schraubte ihn so fest es ging zu. Der Kessel bebte und hüpfte auf dem fünfrädrigen Karren, dessen Bremsen gerade festgestellt waren. Er begann zu glühen. Brutus' untergeordnete Persönlichkeit rief vor Angst: "Jetzt geht der Trank hoch! Wir krepieren beide!"

"Nein, werden wir nicht", hörte er Dellas Gedanken. Zugleich meinte er, die Stimme aus dem brodelnden Kessel zu hören. Dann hörte er ein erleichtertes Aufstöhnen. "Ah, ich bin frei. Los, trinke mich in dich rein, bis nichts mehr von diesem Zeug im Kessel ist", hörte Brutus Dellas Stimme aus dem Kessel. Die Doppelgängerin, die eigentlich er sein sollte, schraubte den Deckel wieder vom Kessel herunter und blickte hinein. Brutus sah eine hellbraune Flüssigkeit mit silbrigem Schaum. Und durch die schaumige Oberfläche blickte, die Mundwinkel zu einem höchst zufriedenen Lächeln gehoben, Della Witherspoons Gesicht nach oben. Ihr körperliches Ebenbild beugte sich über den Kessel und begann, gierig zu trinken, wie ein Wanderer in der Wüste, der endlich eine Wasserquelle gefunden hat.

Brutus ging davon aus, dass die Menge im Kessel so groß war, dass Dellas Ebenbild ihn niemals auf Ex austrinken konnte. Doch als sich um Dellas Körper dichte Dampfschwaden bildeten ahnte Brutus, dass der Trank, der nicht gebraucht wurde, unverzüglich wieder aus ihrem Körper verdunstete. Er fühlte auch, wie mit jedem Schluck des Trankes seine eigene Anhaftung an einenKörper verlorenging. Er wollte das nicht. Doch Della hatte beschlossen, den unerwünschten Nachhamer ihres Körpers wieder loszuwerden. "Hab keine Angst, ich nehme dich schon in meine Obhut, wenn du von ihr gelöst wirst", hörte Brutus die Stimme Hilias. Della trank und trank derweil. Immer mehr kalter Dampf waberte um sie herum. Doch mit jedem Schluck gewann sie mehr und mehr ihrer eigenen Persönlichkeit zurück: Erinnerungen, ja sogar die vorgeburtlichen Sinneswahrnehmungen, Erfahrungen, von der Geburt bis zum Zusammentreffen mit Vengor, Bedürfnisse, Lieblingsspeisen, -getränke, Spielarten der körperlichen Liebe und Musikstücke, Sympathien, Jimmy Rushwater, den sie als seine erste Geschlechtspartnerin überhaupt weiter anleiten wollte, ihre Verwandten aus England, vor allem Selina und ihre Großmutter Claudia, weitere Liebhaber, die sie aber nur wegen ihrer Hemmungslosigkeit begehrte, aber auch Antipathien wie zu den Mitschülern von Trytrunks, den weißen Villenbesitzern, die zu gerne noch den Appartheidstaat behalten hätten und ganz neu Lord Vengor. Doch ihre Seelenrückkehr war nicht ganz unbelastet. Tief in jedem Schluck aus dem Kessel schwang die Verbundenheit mit der Abgrundstochter Hilia mit. Brutus merkte, dass gerade diese Verbundenheit es war, die ihn mehr und mehr aus Dellas Körper herauslöste. Er versuchte noch, sich an die körperliche Existenz zu klammern. Doch immer dann trank Della noch gieriger von dem verbliebenen Trank. Als sie nicht mehr so herankam, schöpfte sie ihn mit der Kelle aus dem Kessel und schlürfte sie leer. Als der Kessel nur noch wenige Fingerbreit mit Trank gefüllt war, kippte sie ihn an und schöpfte weitere Dosen. Mittlerweile waberte im ganzen Flur und allen Zimmern ein Nebel, der dicker war als die dickste Londoner Erbsensuppe. Dann hatte Della den Kessel endlich restlos leer. Brutus fühlte, wie er mit jedem Atemzug mehr und Mehr aus ihr herausgetrieben wurde. "Los, verschwinde aus mir, geh zu Hilia, die hat genug Platz für dich!" hörte er Della noch einmal in Gedanken. Dann rülpste sie ungeniert. Dieser Rülpser beförderte Brutus endgültig aus ihrem Körper hinaus. Damit hatte er nun keinen eigenen Körper mehr. Er trieb im Nebel umher und meinte, Dutzende von Fingern würden ihn betasten, ihn pieksen. Dann hörte er ein sehr schönes Lied, von einer Frau gesungen. Dann flog er unvermittelt los, genau auf die Stimme zu, die das Lied sang. Als er erkannte, dass es Hilia war freute er sich. Vielleicht ließ sie ihn in ihrem Körper mitwohnen. Dann hatte sie ihn immer bei sich und er war gut untergebracht.

Komm zu mir! Bleib bei mir!" sang Hilia nun. Dann sah er, wie sie ihm einen großen, aus sich leuchtenden Stein zeigte. Er flog auf den immer größer werdenden Stein zu. Dann drang er in das Leuchten ein und schwebte unvermittelt in einer gerade menschengroßen Seifenblase. Er war schwerelos. Er fühlte zwar wieder sowas wie einen eigenen Körper, aber er konnte ihn nicht strecken oder mit ihm davongehen. Er konnte sich nur umsehenund erkannte andere Gesichter, Gesichter von Männern. "Hat dieses Frauenzimmer dich auch hier eingeschlossen", seufzte einer von denen. "Das war doch zu erwarten, nachdem sie ihn sicher schon mit ihrer schwarzen Magie vergiftet hat", sagte ein anderer Mann.

"Zumindest dürfen wir festhalten, dass die Bezeichnung Succubus für solch ein Wesen nicht am Platze ist, da es alle Stellungen der Sexualität meisterlich beherrscht", erwiderte ein weiterer, der Sprache Nach Engländer und vom Tonfall her sowas wie ein Oberlehrer, dachte Brutus.

"Hätte ich gewusstt, dass ich mal zwischen den strammen Möpsen einer echten Teufelshure herumhängen würde, hätte ich mich damals besser abschießen lassen", sprach ein anderer Engländer, von der Stimmlage nach sehr alt.

"Leute, was wollt ihr. Hilia hat uns, wir haben keine Körper mehr!" rief Brutus allen zu. "Denkt ihr, ich wäre scharf drauf gewesen, mein restliches Leben in einer Einzelzelle wie einer Seifenblase abzuhängen?"

"Es ist wohl war, Burschi", sagte der, der eben was von abgeschossen werden erzählt hatte.

"So, ihr süßen, ihr habt einen neuen Nachbarn. Es ist Brutus und der bleibt jetzt wie ihr bei mir. Seid froh! Bei mir seid ihr alle gut aufgehoben. Ich hätte euch auch alle in meinem Lebenskrug auflösen können. Aber ihr könnt mir so viel über eure Welt erzählen, dass wir alle sicher noch lange sehr gut miteinander klarkommen", hörten sie Hilias Stimme wie aus Lautsprechern in einer weiten Halle. Dann sah Brutus hinaus aus seiner Seifen- oder besser Seelenblase und wusste, was der eine Nachbar oder Mitgefangene gemeint hatte. Sie waren alle derartig verkleinert worden, dass die Kette, an der ihre einzelnen Bergesteine hingen, gewaltig groß war und die Körperansicht Hilias, um deren Hals die Kette nun wieder lag, mindestens zwanzigmal so groß war wie üblich. Brutus erkannte, dass seine Aufbewahrungsblase am tiefsten Punkt der Kette hing und er somit nahe an Hilias Herzen ruhte.

"Ich wünsche umgehend, aus dieser unerträglichen Behausung entlassen zu werden. Nur weil ich mit diesem Flittchen verkehrt habe ..." zeterte einer der anderen, weiter oben eingelagerten.

"Das Flittchen kann dich demnächst immer noch in seinen Krug hineinwerfenund darin zerfließen lassen, alter teutonischer Streithammel", donnerte Hilias Stimme. Brutus konnte ihr da nur beipflichten.

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Della fühlte sich wie neu geboren. Die Aufnahme der kompletten Menge des Vielsaft-Trankes hatte ihren Körper regelrecht jünger werden lassen. Rein äußerlich sah ihr das niemand an. Aber innerlich fühlte sie sich um mindestens zehn oder fünfzehn Jahre jünger, doppelt so stark und mindestens genauso ausdauernd. Doch da war noch der Preis, die Dankesschuld, die sie der Dämonin Hilia versprochen hatte. Jetzt, wo sie wieder ihren eigenen Körper hatte, fühlte sie doch etwas wie eine gewisse Ablehnung. Doch dann erkannte sie, dass nur das Eingreifen dieser schwarzmagischen Kreatur sie davor bewahrt hatte, Schluck für Schluck von diesem hitzköpfigen Bengel Brutus Pane aufgezehrt zu werden. Und dann, wenn ihr letzter Rest verdaut und verklungen war? Nein, sie musste darauf gefasst sein, dass dieser Vengor, der ihren natürlichen Körper zerstört hatte, sie noch einmal heimsuchte. Sie brauchte Stärke und starke Verbündete. Also apparierte sie so natürlich, wie sie gerade war zu dem Plateau, wo die Höhle lag. Hilia wartete schon vor dem Eingang auf sie.

"Ich habe dir die Wahl gelassen, mir freiwillig deine Dienste anzubieten oder darauf zu hoffen, dass du noch ein erfülltes, langes Leben in völliger Unabhängigkeit führen kannst. Ich begrüße dich bei mir und freue mich, dass du mir helfen möchtest, meine und auch deine Feinde zurückzuschlagen und die Erstarkung des großen Urfeindes und seiner Knechte zu verhindern", sagte Hilia, die wie Della keine Kleidung am Leib trug.

In der Höhle selbst legte Della sich hin. Dann sog sie über mehr als eine Stunde lang eine leuchtende, orangerote Essenz in sich ein, die aus den Leben von Hilias früheren Opfern geschöpft wurde. Doch es machte ihr nichts. Als sie noch stärker als zuvor aus dieser Behandlung erwachte, erzählte Hilia ihr, was sie von Iaxathan wusste. Della überlegte und vermutete, dass Vengor sie wegen dieses Urdämonen, der eigentlich ein überragender, aber leider auch menschenverachtender Magier aus dem legendären Vorreich der Menschheitsgeschichte war und jetzt mit Vengor einen treuen und absolut hörigen Knecht kultivieren wollte. Danach durfte Della wieder in ihr Haus zurückkehren. Niemand außer Brutus und Vengor hatten mitbekommen, dass sie für mehr als einen halben Tag tot gewesen war. Nur die Kristallsuche, so erkannte Della, hatte sie davor bewahrt, in einem Monat restlos aus der Welt zu verschwinden. Nicht einmal das Totenreich oder die postmortale Existenz als Geist wäre ihr gestattet gewesen. Vengor musste aufgehalten werden. Das war jetzt ganz sicher. Und Dank Hilias eingeflößter Essenz war sie sogar gegen viele Flüche immun. Außerdem trug sie noch eine Kette mit einem Medaillon um den Hals, eine direkte Verbindung zu ihrer Schutzherrin und Lebensbewahrerin.

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Vengor war wütend. Normalerweise bewirkte Wut, dass seine Körperkräfte verdreifacht wurden. Doch der Sack, in dem er steckte, hielt dieser Wut Stand. Auch dass dieser verfluchte Schüttgutbehälter gegen Mentiloquismus wirkte störte Vengor. Zu gerne hätte er jetzt einen seiner Helfer herbeigerufen. Er war in eine einfache Falle getappt wie ein dummes Reh im Wald. Sie würden ihn jetzt sicher irgendwo hinschaffen, wo er noch eingeschrenkter war als jetzt gerade.

"Noch drei Schnüre mehr für unseren tobsüchtigen Gast!" feixte der Rotbärtige, weil Vengor versuchte, sich gegen den Abtransport zu stemmen. Der Trägertrupp hielt an, und Vengors Arme und Beine wurden noch mit zusätzlichen Stricken zusammengebunden. Da war ihm, als wenn etwas oder jemand ihm mit jedem Atemzug Kraft aus dem Leib saugte. Was für ein heimtückischer Zauber war das, der sogar den Unlichtkristall überwinden konnte? Immer mehr Kraft ging Vengor verloren. Es dauerte Minuten, während derer er weitergetragen wurde. Er schaffte es nicht mal, zu schreien oder zu toben, so auszehrend war die fremde Kraft. Was für eine Magie war das?

"Da vorne links!" kommandierte Rotbart. "Ich werde froh sein, aus diesem Urwald rauszukommen", knurrte einer der Träger, die Vengor auf den Schultern hatten.

"Glaube ich nicht!" rief unvermittelt eine kalte Stimme, die Vengor zu gut kannte. "Stupor!" rief die Stimme dann noch. Unvermittelt brach um den eingesackten Herrn der Vergeltungswächter und Unlichtkristallstaubträger ein magisches Handgemenge los. Erst wurde Vengor in seinem Sack zu Boden geschleudert und kullerte herum. Dann hörte er die sich bekämpfenden Zauberer. Einer rief dann noch "Avada Kedavra!" Ein urwelthaft lautes Brausen erklang. "Ich will die lebendig haben!" brüllte Vengor dagegen an. Doch es war schon wieder vorbei, ehe er die letzte Silbe gesprochen hatte.

"Mist, der Truppführer und drei Kumpane sind geflohen. Aber sie haben ..." rief einer, wurde aber durch einen lauten Knall und das anschließende Geräusch prasselnden Feuers abgewürgt.

"Los, holt mich gefälligst aus diesem stinkenden Sack raus!" zeterte Vengor. "Mich auch!" schloss sich Elf oder Fünf dieser Forderung an.

Die Säcke waren jedoch für Magie nicht zu öffnen. Während mehrere Retter mit der Eindämmung des ausgebrochenen Feuers zu tun hatten mühten sich weitere Helfer ab, die Verschnürungen zu lösen. "Das Zeug widersteht sogar Silber- oder Goldklingen", fluchte einer.

"Holt Kristallsplitter aus der Fabrik!" befahl Vengor.

"Gut, Sieben, Zehn, Dreiundzwanzig und ich bleiben hier zur Feuerbekämpfung. Muss ja keiner drauf kommen, dass hier was für sie zu überprüfen ist."

"Gut, Siebzehn", sagte ein anderer Vergeltungswächter. Stimmlich klangen sie alle gleich, erkannte Vengor. Dieser verdammte Sack blockierte seine Verbindung zu jedem einzelnen. Denn sonst hätte er gewusst, wer da zu wem sprach.

Während sie warteten schwirrte es in der Luft. Einer rief noch: "Achtung, Gasangriff!" Dann klirrte es laut und vernehmlich. "Verdammt, weg hier!" rief ein anderer. Es ploppte laut, als er verschwand. Vengor wollte wissen, was da außerhalb seines transportablen Gefängnisses vorging. Da fühlte er es auch, den plötzlich steigenden Luftmangel. Er hörte noch zwei Mann disapparieren. Dann war es ruhig. Doch die Atemnot, die Vengor bedrängte, wurde immer schlimmer. Er erkannte, dass der Feind mit Grünstaub zugeschlagen haben musste, jenem tückischen Stoff, der den freien Sauerstoff aus der Luft absaugte, tausendmal schneller als jedes große atmende Wesen. Wer Grünstaub einatmete starb innerhalb von Sekunden an Sauerstoffunterversorgung, weil das Zeug auch den im Blut gebundenen Sauerstoff aufzehrte. Das Prasseln des Feuers wurde leiser. Dafür tanzten vor Vengors Augen rote Ringe. Gleich würde er sterben. Denn gegen den Erstickungstod half der Unlichtkristall nicht. Da durchfuhr ihn ein eiskalter Schock, der aus dem in ihm pulsierenden Unlichtkristall kam. Schlagartig erstarrten alle seine Bewegungen. Doch seine Sinne blieben wach. Er fühlte kein Bedürfnis mehr, einzuatmen. Er brauchte keine Luft mehr. Doch er wusste, dass das nur hieß, dass er gerade zu einem kristallinen Abbild seiner Selbst verwandelt worden war. Hatte diese Wirkung nur ihn betroffen oder auch seine Helfer, die den Kristallstaub in sich trugen? Dann dachte er, obwohl sein Gehirn wohl gerade selbst kristallisiert war, dass die, die ihn freischneiden wollten in eine tödliche Falle hineinapparieren würden.

Das Brausen und Krachen des Feuers erstarb innerhalb von Sekunden. Der freigelassene Grünstaub erstickte die Flammen wirkungsvoller als Wasser oder Brandlöschzauber. Denn für die Großbrandbekämpfung war das Zeug ja ursprünglich erfunden worden. Vengor hörte jetzt nur noch Stille um sich herum. Er erkannte, dass er alleine war. Wer es noch geschafft hatte, zu disapparieren war geflüchtet. Doch das, so wusste der gerade kristallisierte Anführer der Vergeltungswächter, würde ihnen nur wenige Sekunden mehr Lebenszeit einbringen. Denn rein handlungsmäßig hatten sie ihren Meister im Stich gelassen, wo er sie am nötigsten gebraucht hätte. Das galt wie Verrat, und sein ihnen aufgeprägter Zauber bestrafte Verräter unverzüglich und gnadenlos. Wer immer ihn hier überfallen und entführt hatte war Schuld am Tod von mindestens fünf seiner Leute. Und noch etwas fiel Vengor ein: Der Feind war genauso gnadenlos wie er. Wenn er Vengor nicht lebend bekam, dann eben tot, so dessen Devise. Und was passierte, wenn seine Leute mit den Kristallsplittern zurückkehrten? Würde der Grünstaub sich dann schon verflüchtigt haben oder weitere Opfer fordern.

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Pyrogaster alias Vergeltungswächter Nummer 19, Unlichtkristallstaubträger, konnte nicht auf direktem Weg in die brasilianische Fabrik apparieren. Er musste damit rechnen, dass der bisher unbekannte Feind Spürvorrichtungen einsetzte, um die Gegend um den Überfall zu überwachen. Um unerkannt zu bleiben musste er einen unortbaren Portschlüssel benutzen. Siebzehn, der die Rückendeckung geplant hatte und leitete, hatte in zwanzig Kilometern Entfernung einen alten Holzbottich als Portschlüssel stationiert. Dorthin apparierte Neunzehn mit den anderen, die mit ihm Kristallsplitter beschaffen sollten. Als sie den Portschlüssel erreichten hielten sie sich an ihm fest und warteten, bis dessen Magie in Kraft trat.

Der Portschlüssel trug sie in ihr Hauptquartier. Von dort aus wollten sie einen alten Sauberwisch-3-Besen als neuen Portschlüssel nach Brasilien nehmen. Doch der war nicht da, weil die kristallstaubfreie Ablösung damit unterwegs war, die Wach- und Bedienmannschaft zu ersetzen. So blieb ihnen nur ein Donnerkeil-6-Besen, der als Portschlüssel für eine Fabrik im Kongo diente.

Dort angekommen meldeten sie, was passiert war. Der Diensthabende versuchte, mit Vengor Verbindung zu bekommen. Doch das gelang nicht. So glaubte er den Ausgeschickten und ließ aus den beiden hier genährten Kristallen durch aneinanderschlagen drei große Splitter herausschlagen. Die Splitter wurden an den Kanten der Mutterkristalle scharfgeschliffen. Während dieser Zeit verloren vierhundert afrikanische Männer, Frauen und Kinder auf einmal ihr Leben unter den Massenguillotinen im Stockwerk darüber. Die Kristalle wuchsen dadurch um eine Winzigkeit weiter. Neunzehn fühlte eine in ihn fließende Kraft, die aus den so vielen und plötzlichen Toden auf einmal geschöpft wurde. Er wusste, weshalb kein Kristallstaubträger in der Fabrik arbeiten durfte. Doch immerhin hatten sie jetzt die Splitter, die selbst den mit Unzerreißbarkeitszaubern verbundenen Säcke oder Schnüre auftrennen konnten.

Wieder im Hauptquartier erwartete sie eine böse Überraschung. Die Luft wurde ihnen auf einmal knapp, und die von ihnen bei Vengor zurückgelassenen lagen mit blauen Gesichtern und heraushängenden, schwarzen Zungen tot am Boden oder schrien gerade auf, weil eine unsichtbare Macht sie austrocknen und dabei einschrumpfen ließ.

"Grünstaub", ächzte ein Angekommener kurz vor seinem allerletzten Atemzug. Dann lag er am Boden.

Neunzehn zauberte zweimal hintereinander den Luftaustauschzauber. Erst dann konnten sie wieder frei und ungefährdet atmen. Die nicht dem Grünstaub erlegenen Zauberer waren auf Fingerlänge eingeschrumpft und dann zu grauem Staub zerfallen, weil ihnen sämtliches im Körper enthaltenes Wasser entzogen und in Nichts aufgelöst worden war. Das war die Strafe für Verrat, und den Meister im Stich zu lassen war Verrat. Das erkannte Neunzehn nun.

"Wo ist eigentlich die B-Mannschaft für die Fabrik in Brasilien?" wollte Neunzehn wissen. "Solange kann doch keine Ablösung dauern."

"Weiß ich doch nicht", knurrte ein anderer Vergeltungswächter. Dann deutete er auf die Staubhäufchen, wo vorhin noch Kameraden waren.. "Bevor wir auch so enden sollten wir prüfren, ob der Grünstaub immer noch wirkt und wenn nicht den Meister zurückbringen, ob tot oder lebend."

"Wenn er nicht hier ist dann deshalb, weil er im Grünstaub zurückgelassen wurde. Auch ein Kristallstaubträger überlebt das nicht", sagte Acht, ein mit Giften gut bescheid wissender Vengorianer.

"Ja, aber trotzdem müssen wir den Meister bergen, bevor er unseren Feinden oder gar wilden Tieren überlassen bleibt", bestand Neunzehn auf die Bergung.

"Warten wir noch eine halbe Stunde. Wir wollen ihn ja holen. Doch wenn wir jetzt in eine noch wirksame Grünstaubwolke hineingeraten ..." setzte Acht an.

"Was ist mit einer Kopfblase?" fragte Vierundzwanzig.

"Kannst du vergessen, weil Grünstaub auch durch die Poren der Haut aufgenommen und im Blut wirksam wird. Du müsstest einen dieser völlig geschlossenen Schutzanzüge tragen, wie die Muggel sie erfunden haben, um in den luftleeren und eiskalten Weltraum zu fliegen",. sagte Acht.

"Dann brauchen wir wohl solche Anzüge. Oder sollen wir darauf warten, dass dieser Grünstaub uns auch hier im Hauptquartier erwischt?" fragte Neunzehn.

"Das dürfen wir erst erörtern, wenn wir absolut sicher wissen, dass der Meister tot ist. Denn er verabscheut Muggelgerätschaften und -kleidung", erwiderte Vierundzwanzig. Alle anderen nickten ihm bestätigend zu.

Aus der Überwachungszentrale drang ein stetiges Schrillen, dass immer wieder von kurzen Pausen unterbrochen wurde. Was es bedeutete wusste keiner. Jeder Versuch, dort einzudringen misslang, weil nur Vengor zutrittsberechtigt war. Selbst die Kristallstaubträger kamen dort nicht hinein, weil sie kurz vor der Tür auf eine unsichtbare Wand prallten, die offenbar genau auf den Kristallstaub abgestimmt war.

"Wenn wir da nicht reinkommenlebt unser Meister noch", vermutete Neunzehn hoffnungsvoll. Denn wenn er tot war würden sie womöglich auch sterben.

"Ist nicht gesagt. Kann nur heißen, dass seine Vorkehrungen seinen Tod überdauern", dämpfte Acht die Hoffnung.

"Ja, aber irgendwas ist passiert. Unsere Gruppe aus Brasilien ist auch nicht zurückgekommen", sagte Acht. Dann schlug er vor, wieder zum Platz zurückzukehren, an dem Vengor zurückgelassen werden musste.

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Vengor hatte kein Zeitempfinden mehr. Er fühlte nichts körperliches mehr. Dennoch nahm er die ihn umgebende Stille und das fast schwarze Dunkelbraun der Sackinnenseite wahr. Kein Tier gab mehr Laut. Dann endlich, ein Windstoß, der die Blätter zum rauschen brachte. Doch das tierische Leben im Umkreis war erloschen. Würde Vengor nun für alle Zeiten hier liegenbleiben? Oder würden die vermaledeiten Gegner nachsehen kommen, was von ihren Feinden noch übrig war? Dann würden sie Vengor wohl aufladen, abtransportieren und untersuchen. Vengor argwöhnte, dass sie vielleicht herausbekamen, dass ein unbelastetes Kind reinen Unlichtkristall nur berühren musste, um ihn zu Staub werden zu lassen, vielleicht galt das dann auch für ihn, den Kristallisierten. Sonst kannte er keine Waffe oder Magie, die einen Unlichtkristall beschädigen konnte, außer mit einem anderen Unlichtkristall.

Die Stille und die Dunkelheit trieben Vengors Bewusstsein immer weiter weg. Er begann, Bilder zu sehen und Geräusche zu hören, die nicht aus seinen Erinnerungen stammten. Es waren die Erinnerungen von ihm unbekannten Menschen, die ein gemeinsames Schicksal vereint hatte, der Tod in den Türmen des WHZ. Er durchlebte im Zeitraffer das Leben eines Bankangestellten, das einer Toilettenreinigungsfrau, eines Kochs im Restaurant "Fenster zur Welt" und das einer Sekretärin, die im vierten Monat schwanger war und im letzten Moment, bevor die brennenden Obergeschosse auf ihr Büro herunterkrachten daran dachte, dass sie und ihr Mann das Baby entweder Britney oder Justin nennen wollten. Vengor irrte immer tiefer im Labyrinth der verloschenen Leben umher, wusste bald nicht mehr, wer er eigentlich war, bis er nach tausenden durcheilter Leben wieder dort anfing, wo seine Reise in den Erinnerungen begonnen hatte. Da hörte er eine Stimme, die er zu gut kannte, die Stimme seiner eigenen Mutter, bevor er sie, weil sie für die schweigsamen Schwestern gearbeitet hatte, mit einem glühenden Dolch in den Unterleib gestochen hatte, um sie grausam zu töten.

"Dafür wirst du kein friedliches Leben haben. Du wirst ein Getriebener oder Gefangener bleiben, für immer!" rief sie. Vengor hörte diese Worte, die wie ein Fluch waren immer wieder. Dann begann der Kreislauf der durchlebten Erinnerungen aller im Unlichtkristall gebannten Seelenbruchstücke.

"Lord Vengor, Meister!" rief ihn eine Stimme aus sehr weiter Ferne entgegen. Das Liebesspiel, mit dem das nie geborene Kind namens Britney oder Justin gezeugt wurde, verschwamm zu einem Nebel und wildem Rauschen. Dann hörte Vengor die Stimme noch einmal. Jetzt war er wieder in der Wirklichkeit angekommen. Viel mehr noch, die Starre fiel von ihm ab. Er konnte sich wieder bewegen. Er fühlte seinen eigenen Körper wieder und rief hellauf begeistert: "Hier her. Ich lebe noch!"

Wenige Minuten später war er mit Hilfe der Unlichtkristallsplitter aus dem Sack herausgeschnitten. Auch seine beiden Helfer waren freigelegt, jedoch nicht mehr am Leben. Der Grünstaub hatte den Unlichtkristallstaub überwältigt.

"Los, weg hier, bevor diese Bagage uns sucht", schnaubte Vengor.

Wieder im Hauptquartier erfuhr Vengor, dass für knapp fünf Minuten ein ständiges Glockenschrillen aus dem Überwachungsraum gekommen war. Für ihn vollkommen problemlos drang er in den Raum ein und sah zwei Dinge, die ihm die ohnehin schon schlechte Laune verstärkten.

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Der Zauberer mit dem roten Bart verneigte sich vor der Vierergruppe aus je zwei Hexen und zwei Zauberern. Die vier trugen rot-goldene Umhänge und saßen auf hochlehnigen Stühlen um einen Trapezförmigen Tisch herum. Über jedem der vier schwebte eine warmes, weißgelbes Licht verströmende Kristallspähre. Der Rotbärtige wurde von allen zu einem etwas kleineren Stuhl an der Breitseite des weißen Marmortisches herangewunken und zum Hinsetzen aufgefordert. Sobald er saß, erschien über ihm eine fünfte Kristallspähre und erstrahlte im selben weißgelben Licht wie die anderen. Der Älteste der vier, ein weißhaariger Zauberer mit einer silbernen Hornbrille auf der Nase, nickte ihm zu und richtete das Wort an ihn.

"Wir haben es erfahren, Rossini, seine Spießgesellen haben euch gestört."

"Ja, Großherr. Außerdem ist unser Grünstaubanschlag gegen diese Bande zwar ein Teilerfolg geworden, aber unser Überwachungsauge zeigt, dass der Anführer selbst den Anschlag überstanden hat. Die Organisation ist also nicht zerschlagen."

"War nicht anders zu erwarten, nachdem, was wir über die Unlichtkristalle in Erfahrung gebracht haben", sagte eine um die dreißig Jahre alt aussehende Hexe mit schwarzen Locken und einer schlanken Nase im pausbäckigen Gesicht. Selbst der weite, rot-goldene Umhang verhüllte nicht ganz, dass sie neues Leben trug,auch wenn der Rotbärtige wusste, dass das Leben nicht so neu war.

"Ja, aber seine mit ihm zurückgelassenen Kumpane sind tot, und von denen haben unsere Dunkelauraaufspürer gezeigt, dass in ihnen auch eine starke, dunkle Kraft pulsiert."

"Dann liegt es wohl an einer Magie, die das Subjekt Vengor in sich aufgenommen hat, die den anderen nicht zugänglich ist. Auf jeden Fall können wir nun ermitteln, wer die Vengorianer früher waren. Denn jetzt werden sie sicher irgendwo vermisst", sagte der zweite Zauberer der vier rot-gold gekleideten.

"Das stimmt, Sir Honorius", sagte der Rotbärtige demütig. Die zweite Hexe, die vom Alter her fünfzig Jahre alt sein mochte, sah ihre drei Ratskameraden an und wandte sich dann an den Rotbärtigen.

"Guido, Hast du zumindest die Säcke, in denen die Subjekte gesichert waren?"

"Ja, Lady Parthenope, die haben wir. Die Subjekte haben sie nach der Öffnung mittels erbeuteter Kristallsplitter achtlos zurückgelassen."

"Ausgezeichnet. Ich hoffe, sie sind schon im Labor für Körperfragmentbestimmungen?" fragte die, die mit Lady Parthenope angesprochen worden war, eine dunkelblonde Hexe mit grünen Augen.

"Selbstverständlich, Lady Parthenope."

"Dann darfst du dich jetzt mit denen, die überlebt haben in den Nachbesprechungsraum begeben", sagte der Zauberer, der nur als Großherr angesprochen worden war.

"Sofort, Großherr, sagte der Rotbärtige.

"Warte noch einen Moment, Guido, Juri wollte dir noch was mitteilen", sagte die schwangere Hexe und hantierte mit einem verschließbaren Lederband, an dem ein blauer Blasebalg hing. Sie band sich das Band um den Unterbauch. "So, kann losgehen", sagte sie. Da quäkte es aus dem Blasebalg:

"Guido, Lady Tamara und ich sind der Ansicht, dass Vengor kein Engländer und auch kein Russe ist. Die Sprachaufnahmen, die ihr von ihm erwischt habt lassen eher auf einen Deutschen oder Österreicher schließen, auch wenn sein Englisch sonst akzentfrei ist. Zwar kriege ich in Lady Tamaras innerer Obhut nicht mehr alle Tonhöhen mit, solange sie nicht einen Zauber macht, der mich alles von draußen so hören lässt wie mit freien ohren. Deshalb weiß ich jetzt, dass wir diesen Bastard nicht unter den Originaltodessern in Großbritannien und auch nicht unter ehemaligen Durmstrang-Schülern suchen müssen.""

"Deutscher oder Österreicher?" rief der Rotbärtige, damit der geistig offenbar schon ausgereifte Ungeborene ihn auch verstehen konnte.

"Öhm, 'tschuldigung, Lady Tamaras Verdauung hat dazwischengegluckert. Kannst du das noch mal -? Ah, danke, Lady Tamara. Kann nur einer sein, der aus den beiden Ländern kommt. Die Schweiz fällt aus."

"Gut, dann werde ich nach der Bestimmung der Hautfragmente wohl gezielt in der Gegend suchen lassen", sagte Guido.

"Ich werde dir dabei helfen. Aber vertraue nicht zu sehr auf die Hautschuppenbestimmung", sagte Lady Tamara dazu. "Solange wir keine Gegenprobe eines unbescholtenen oder bereits straffällig gewordenen Zauberers haben, die auf die Ergebnisse passt, haben wir Vengor nicht entlarvt."

"Vielleicht sollte ich meine Beziehungen zu den Ministerien in Frankreich und Deutschland spielen lassen", schlug Lady Parthenope vor.

"Nein, das ist zu früh. Unsere Stärke liegt immer noch in der Unauffälligkeit und Unbekanntheit", sagte der Großherr. "Das müssen unsere Außenerkunder alleine hinbekommen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Vita-Magica-Gruppe und die Sororität um diese unverwüstliche Reinkarnation Anthelias schon genug Staub aufwirbeln, um Vengor zu finden, ohne vorher von ihm ausgelöscht zu werden."

"Immerhin wissen wir von den Spinnenschwestern, wieso Anthelia solange weg war, weshalb ich ja gerade Lady Tamaras ganz individuellen Zimmerservice bekomme", quäkte der blaue Blasebalg um Lady Tamaras gerundetem Bauch.

"Gut, soviel zum Stand der Dinge. Bleiben wir weiter wachsam aber unauffällig. Die Aktion heute hat mehr von uns preisgegeben als gewünscht war."

"Lag nicht an uns, Großherr", beteuerte Guido Rossini, der Rotbart.

"Nein, das lag einzig an unserer dünnen Personaldecke und daran, dass wir erst eine Stunde vor dem Einsatz einen der Detektionsdrachen aus Frankreich erhielten", sagte Lady Parthenope. "Anderenfalls wäre die Sicherung des Subjektes störungsfrei verlaufen."

"Dann gehe ich jetzt in den Nachbesprechungsraum", sagte Guido. Ein Nicken der vier Anwesenden erlaubte ihm zu gehen.

"Machst du das, Honorius, Juri und ich haben wieder Hunger."

"Hoffentlich nicht wieder Chili mit Schokoladensträusel", quäkte das umgebundenne Bauchband Lady Tamaras.

"Nein, Mamuschka hat für sich und dich heute Würstchen im Brautkleid zubereitet, aus dem vor drei Wochen veröffentlichten Kochbuch Aurélie Odins."

"Jamm!" kam die leicht quäkige Bestätigung aus dem Cogison.

"Ich muss mich immer noch dran gewöhnen, dass du Juri neu austrägst, Tamara", sagte Honorius.

"Er sich auch, auch wenn er es wortwörtlich nicht rauslässt", grinste Tamara und stemmte sich aus ihrem Sessel, um zum Essen zu gehen.

"Vengor wird nun doppelt schlau und dreifach brutal sein", unkte der Großherr zu Honorius. "Aber er wird nicht von seinem Weg abweichen können. Hoffen wir, dass die nicht ganz so geheimen Gesellschaften der Zaubererwelt das auch erkannt haben und entsprechende Vorkehrungen getroffen haben."

"Bei der Spinnenschwesternschaft und den schweigsamen Schwestern bin ich mir ganz sicher. Vita Magica dürfte im Moment eher damit zu tun haben, ihre eigenen Umtriebe abzusichern. Die Werwölfe sind durch den Fall Lykotopias erst einmal geschwächt, und von den Nachtkindern wollen wir besser nicht anfangen."

"Deren Haltung ist auch noch nicht restlos geklärt. Aber was ist mit dem wiedererwachten Succubus?" wollte der Großherr wissen.

"Wir wissen noch nicht, wo er sich herumtreibt. Sicher ist nur, dass der blaue Morgenstern die Spur verloren hat. Ich treffe mich demnächst mit Scheich Ibrahim al-Gibrail iben Hussein und seinen vier Altvorderen. Vielleicht wissen die schon mehr."

"Gut, ich vollziehe dann die Nachbesprechung", sagte Honorius. Parthenope sagte, dass sie dann auch zu ihrer Familie zurückkehren würde, um keinen Verdacht zu erregen, dass sie Mitglied einer geheimen Gesellschaft der Zaubererwelt war.

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"Die Fabrik in Brasilien wurde restlos zerstört! Ein Erdbeben hat alles da niedergerissen", stieß Vengor aus, als er die in einem roten, von schwarzen Lücken durchzogenen Quadrat stehende Meldung in flammenroter Schrift mit acht darunter angeordneten schwarzen Totenköpfen entziffert hatte. In jedem Totenkopf stand eine Nummer, die Nummer des verstorbenen Mitstreiters.

"Diese verdammten Fallensteller haben mich zu lange von hier abgehalten", schrillte er und drosch mit solcher Wut auf den Lesetisch, dass dieser laut krachend in vier Teile zersprang. Dann sah er noch eine Meldung, die seine ohnehin schon sehr schlechte Laune verstärkte. Da, wo vor seiner Abreise nach Kanada noch die Nummer 30 in einer dünnen, rosaroten Kreislinie gestanden hatte, blinkte nur noch eine rosarote Kugel. Dreißig war nirgendwo auf der Weltkarte auszumachen.

"Das ist nicht wahr", stieß er aus. Die rosarote Kugel stand genau da, wo Della Witherspoons Haus in Kapstadt vermerkt war. Dann passierte noch was. Die Kugel blähte sich kurz auf, um dann übergangslos zu verschwinden. Sie geriet schlicht aus dem Erfassungszauber der magischen Karte.

"Das kann nicht sein. Das ist unmöglich", stammelte Vengor. Er war allein im Überwachungsraum. Denn hier barg er seine größten Geheimnisse und eben auch, dass er von hier aus jeden seiner Leute fernüberwachen konte.

"Erdbeben, ausgerechnet da!" knurrte er und deutete auf die immer noch angezeigte Verlustmeldung. Er musste das sofort überprüfen. Mit Della Witherspoon alias Brutus Pane konnte er sich erst nach dem 15. April wieder beschäftigen.

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18. April 2015

Della Witherspoon hatte sich sehr gefreut, dass alle ihre dreißig Gäste da gewesen waren. Fast hätte sie den Gästen erzählt, dass sie am 13. April ihren zweiten Geburtstag hätte feiern können. Doch das war ihr persönliches Geheimnis. Als sie dann noch in der Nacht ihres Geburtstages im Schutze eines Klangkerkers mit Jimmy Rushwater noch sehr intim gefeiert hatte wäre dieser fast von ihr restlos ausgezehrt worden. Doch sie hatte sich noch beherrschen können.

Ihr unter der Kleidung getragenes Medaillon, ein ganz besonderes Geschenk ihrer neuen Schutzherrin, vibrierte los, als die Sonne gerade unter dem Horizont verschwand. Della zog das mit einer uralten, dunklen Magie getränkte Schmuckstück hervor. Es flimmerte in einem dunkelvioletten Licht und pulsierte in kurzen Abständen. Della verzog ihr Gesicht. Hilia hatte recht behalten. Der vermaledeite Befehlshaber dieses unausgegorenen Jungen, der gemeint hatte, sich ihren Körper aneignen zu dürfen, hatte gerade mal drei Tage länger als bis zu ihrem 30. Geburtstag gewartet, bis er sicher sein konnte, dass es genug Zeugen für ihr bisheriges Weiterleben gegeben hatte. Jetzt war sie, weil ja nicht mehr wirklich dieser unausgereifte Bengel, enttbehrlich. Er kam, um sie ein zweites mal zu töten.

Unvermittelt waberte silberner Nebel auf, der das Haus umschloss. Della fühlte, wie das Medaillon sich erwärmte und sah einen feinen, violetten Lichtstrahl, der in Richtung Küchenfenster fiel. Schnell packte sie das Medaillon unter ihre Kleidung zurück, damit es der Feind nicht sah. Sie hoffte, dass die mächtigen Erdzauber, die Hilia um ihr Haus gelegt hatte, auch gegen den, der sich Vengor nannte und den in diesem wohl wirkenden Todeskristall halfen.

"Pane, komm raus aus deinem verfluchten Hexenhaus. Ich weiß, dass du da drin bist. Die zwei Milchtüten und die Glibberdose nützen dir nix mehr!!" rief eine sehr verächtlich klingende Stimme, die Stimme Vengors.

"Herrin, er ist wirklich gekommen", schickte Della eine Botschaft an ihre neue Schutzherrin.

"Er hat offenbar nicht lange gewartet", hörte sie die triumphierend klingende Gedankenantwort ihrer neuen Schutzherrin. "Halte ihn nur eine Minute auf, damit ich auf die Begegnung mit ihm bestens vorbereitet bin!"

"Werde ich", erwiderte Della nur in Gedanken.

"Brutus Pane, du Auswurf einer toten Sabberhexe! Komm aus dem Haus raus und nimm hin, was du dir verdient hast!" brüllte die Stimme.

"Ich weiß zwar nicht, wen Sie suchen", setzte Della an, "Aber Sie benehmen sich sehr unverschämt."

"Ich weiß nicht, was du für einen miesen Zauberbann um das Haus gelegt hast. Aber Ich komme rein, wenn du nicht rauskommst, du halbausgegorener Mistkerl. Dann verreckst du eben in diesem Hexenkörper."

"Wie gesagt, Sie sind ein Großmaul!" rief Della zurück. Sie hoffte, dass ihr zweites Leben nicht doch noch heute vorbeigehen würde.

"Okay, du Waschweib, ich komme rein und schneide dir die falschen Dutteln ab", hörte sie den Feind. Dann fühlte sie, wie etwas die Schutzbezauberung erschütterte, die ihr Haus umgab.

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Vengor hatte Neunzehn zu sich gebeten. Sollte der diesen heiklen Auftrag erfüllen. Und er würde es mit der größten Inbrunst erledigen. Allerdings hatte er da so seine Vorstellungen.

"Brutus ist in Kapstadt und führt dort das Leben einer von ihm getöteten Hexe namens Della Witherspoon weiter. Bevor er sie umgebracht hat hat er ihr genug Haar für mehrere Wochen Vielsaft-Trank abgeschnitten und sie solange ausgeforscht, bis er alles wusste, um als sie weiterleben zu können. Der Bengel hat gedacht, keiner käme ihm drauf, hat sogar wohl versucht, bei dieser Spinnenbande unterzukommen. Aber weil deren Anführerin wohl sehr gut legilimentieren kann ist die ihm draufgekommen und hat ihn zurückgeschickt."

"Er ist eine ... Der hat sich in eine Hexe verwandelt, um nicht gefunden zu werden?" gröhlte Neunzehn. "Vielleicht hatte er zu sehr Verlangen nach Duttelnund Pullerdosen, dass er sich sowas angetan hat. Hat er dann immer was zum dran herumspielen mit."

"Du verkennst die Lage, Neunzehn. Er ist nicht in diese Rolle geschlüpft, weil er Lust auf einen Frauenkörper hatte, sondern weil er sich in soeinem sicher genug glaubt, seine Feinde zu verwirren. Offenbar ist er zu früh aufgewacht und hat mitbekommen, dass ihr immer noch hinter ihm her seid."

"Zu früh aufgewacht? Dann hat der echt eine Zeit lang verschlafen?"

"Lange genug, um zumindest erst einmal nicht mehr gesucht zu werden", sagte Vengor. "Doch er ist an mich herangetreten, weil ich keiner Hexe, also keiner echten Hexe, über den Weg trauen kann. Er will für mich bei den Schweigsamen Schwestern rein. Doch offenbar haben die ihn umgedreht, und jetzt ist er eine von denen und soll mich wohl auskundschaften."

"Eine oder einer?" fragte Neunzehn.

"Da er sich offenbar damit abgefunden hat, eine Sie zu sein ebeneine. Aber sie ist mir zu sehr auf den Fersen. Am Ende kriegt sie noch raus, wo unser Hauptquartier ist. Und dann haben wir alle wilden Hexenweiber hier bei uns. Will ich nicht wirklich und du schon gar nicht."

"Wo genau wohnt dieser Flubberwurm?" fragte Neunzehn. Er erfuhr die Adresse und wollte schon los. Doch Vengor hielt ihn zurück . Er gab ihm ein leuchtendgrünes Tuch. "Meine Erscheinung kennt er oder sie. Wenn du jetzt aber hingehst wird Sie oder er einen gehörigen Schrecken kriegen. Du darfst diesen Körper foltern, gerne auch verstümmeln. Aber ich will von dem Bastard vorher wissen, was er alles schon herausgefunden hat und vor allem, wo er oder sie Kontakt mit den Schweigsamen bekommen konnte und wer dazugehört. Um das mitzubekommen setzt du meine Ersatzmaske auf!"

"Und wenn er oder sie sich wehrt?"

"Wie erwähnt, alles ist erlaubt, was weh tut, aber nicht gleich umbringt", sagte Vengor.

Pyrogaster Parkinson legte seine übliche bleiche Maske ab und zog die grüne Maske Vengors über. Dann nahm er den vorbereiteten Portschlüssel und wartete, bis dieser auslöste.

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Sie badete in ihrem Lebenskrug. Gierig sog sie die dort enthaltene orangerote Substanz ein, die Essenz aller Seelen, die nicht die fragwürdige Ehrung erfahren hatten, von ihr in einem Seeleneinschlusskristall gebannt zu werden. Leben um Leben erfüllte ihren Körper. Sie wusste, dass sie sich bis zum äußersten mit Lebenskraft aufladen musste, um einen Kampf mit diesem Kurzlebigen zu bestehen, der durch die Kraft des Todeskristalls sicher um ein vielfaches stärker war als sonst einer seiner Rasse. Erst als sie fühlte, wie jede ihrer Fasern vor geraubter Lebenskraft vibrierte, entstieg sie ihrem langjährigen Gefängnis und Ruhegefäß. Sie lächelte. "Freu dich, Brutus, dein achso mächtiger Meister könnte bald wieder mit dir vereint sein", dachte sie und tätschelte die silberne Kette, an der mehrere Dutzend eiförmige Kristalle aufgereiht waren.

Pass auf, dass du heute nicht verreckst, Dreckdose. Dann komme ich endlich frei."

"Du kommst erst da wieder raus, wo ich dich hingestopft habe, wenn ich deine unausgereifte Seele in meinen Lebenskrug umfülle oder sie gleich in mich einsauge, um von deinem kümmerlichen Rest an Leben zehren zu können", stellte Ullituhilia klar. Dann verschwand sie übergangslos aus ihrer geheimen und geschützten Wohnhöhle.

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Pyrogaster fühlte den merkwürdigen Druck auf dem Kopf und auch ein gewisses Zerren an seinem Körper, das von oben nach unten wirkte. Hatte diese angebliche Hexe einen Schutzzauber dunkler Erdmagie um das Haus gelegt? Der würde ihr nichts mehr nützen. Denn mit dem Unlichtkristallstaub im Blut wirkte jede dunkle Magie gegen ihren Anwender.

Er ging an ein Fenster, hinter dem er die Küche sah. Er zog seinen Zauberstab und zielte auf die Scheibe. "Reducto Maxima!" rief er. Es pfiff laut, und ein grelles, blaues Licht strahlte auf. Es traf auf die Fensterscheibe und zerfiel zu leuchtenden Tropfen, die zähflüssig von der Scheibe herabrannen und an der Wand entlang auf den Boden trafen. Dort versickerte die gegen das Fenster gerichtete Magie. Parkinson fühlte ein leichtes Zittern in der Erde. Er starrte auf das unversehrt gebliebene Fenster. Was immer dieses Haus beschützte widerstand selbst der vervielfachten Kraft seiner eigenen Magie. Er versuchte es noch einmal. Doch der Zauber floss wieder vom Fenster ab.

"Alohomora!" rief er. Doch das Resultat war, dass eine unsichtbare Macht ihm den Zauberstab nach unten drückte und ein silberner Blitz mit lautem Knall in die Erde schlug.

"Und ich hole dich doch, du Möchtegernschlampe!" brüllte Pyrogaster und erschauerte selbst, weil es mit Vengors Stimme so unheilvoll klang. Er dachte einen Moment daran, das halbe Haus einzureißen. Doch dabei konnte die andere draufgehen. Zumindest konnte sie nicht mehr disapparieren. Denn ringsum das Haus hatte er kleine aber gemeine Locattractus-Fallen aufgebaut, die jeden, der in ihrem Umkreis apparierte, an sich zogen und dann mit elektrischen Schlägen quälten, bis er ihn oder sie mit eigener Hand berührte.

"Ich heiße doch nicht umsonst pyrogaster", grinste der Sohn von Pyrophagus Parkinson. Er trat knapp fünfzig Meter vom Haus zurück und zielte auf das Dach. Dann rief er "Incendio!" Auf dem Dach loderte unvermittelt ein wildes Feuer. Die Flammen züngelten gierig in alle Richtungen und leckten zwischen den Ziegeln. Jetzt brauchte Pyrogaster nur zu warten, bis Pane das Feuer bekämpfte oder das Haus verließ. Er grinste. Gegen die Magie des Feuers halfen die Erdzauber nicht. Sie hatten wohl seine Spreng- und Öffnungsversuche abgeleitet. Doch gegen Feuerkräfte half sowas nicht.

Er stand und beobachtete. Doch dann fiel ihm auf, dass das Feuer sich nicht vermehrte und auch nichts von dem zerstörte, was es berührte. Es irlichterte über das Dach und flackerte nur. Weder Rauch noch Funken sprühten von der Brandstelle weg. Dann erzitterten die Flammen, färbten sich grünlich um und fielen in sich zusammen. Pyrogaster fluchte lautstark. Hatte diese scheinbare Hexe doch einen wirksamen Feuerschutzzauber aufgeboten. "Das war wohl ein Schuss in den Ofen, mir den roten Hahn auf's Dach setzen zu wollen, Großmaul!" hörte er die unvermittelt laut hallende Stimme der Person, die er für Brutus Pane hielt. "Wolltest du nicht zu mir reinkommen? Was sollte das dann, mir das Haus über dem Kopf anzuzünden?"

"Du wolltest es so", knurrte Parkinson. Denn ihm fiel gerade ein, welchen Fehler er bisher begangen hatte. Trotz seiner Kristallstaubverstärkung hatten ihn die Abwehrzauber abgewiesen, weil er Kontakt mit der Erde gehabt hatte. Wenn er flog war der direkte Fluss dieser Art von Magie unterbrochen. Er holte seinen Besen und saß auf. Wie ein losbrechender Wirbelsturm fegte er aus knapp einem halben Kilometer auf das Haus zu, zielte nun auf die Glaseinsätze der Tür und rief: "Flagrante Vitrium ad liquidum!"

Die Glaseinsätze in der Tür glühten unvermittelt rot auf, wurden gelbglühend und erzitterten. Dann glühte das Glas hell und weiß. Wie ein zäher Brei begann es, nach unten zu rinnen. Einzelne Tropfen lösten sich und fielen zu Boden. Wo sie auftrafen stiegen kleine Rauchfahnen auf. Immer mehr Glas zerrann unter dem Überhitzungszauber und sammelte sich zu wweißglühenden Pfützen, die sich mit ihrer Hitze in immer tiefere Mulden einbrannten. Der aufsteigende Rauch wurde dichter und dunkler. Dann klatschte der Rest der glutflüssigen Masse aus dem nun ebenso heftig glühenden Rahmen heraus. Das Metall des Türrahmens glühte nun selbst in einem bedrohlichen Gelbton. "Flagrante ferrum ad liquidum!" stieß Parkinson aus, als er knapp vor dem Haus abbog und dabei kurz den Zauberstab gegen den glühenden Metallsteg innerhalb der Tür zielte. Dieser glühte nun noch heller auf, färbte sich erst weiß und dann weiß-bläulich, bevor er zu flüssigem Metall zerlief und laut zischend auf den Boden traf. Krachend barsten die Steinplatten vor dem Haus. Die Türschwelle qualmte und färbte sich schwarz von Ruß. Der Weg war frei.

Pyrogaster streckte seinen Oberkörper nach vorne, dass er fast auf dem Besen zu liegen kam und jagte auf seinem Nimbus 2002 durch die ausgebrannte Türöffnung hindurch. Hitze und Qualm wehten ihm um den Kopf. Der Eingangsraum war voller Qualm. Doch der Angreifer grinste nur. Der Kristallstaub in seinem Blut hob die Wirkung aller eindringenden Giftstoffe auf, und die Hitze konnte sein vom Kristallstaub getränktes Fleisch nicht schädigen.

Er rechnete damit, dass Brutus Pane jetzt vor Angst zitterte oder vor lauter Qualm hustete. Doch als er in die Eingangshalle einflog und kurz vor dem Zusammenstoß mit der Wand landete trat eine höchst gelassene Frau mit samtbrauner Hautfarbe aus einer offenen Tür, die in eine Küche führte. Sie wirkte nicht wirklich betroffen oder gar beeinträchtigt. Sie hustete und prustete nicht, obwohl sie wie er den grauen Brodem einatmete, den sein feuriger Eintritt erzeugt hatte.

"Auch eine interessante Vorstellung, eine Tür aus dem Rahmen zu glühen. Muss ich beim Reparieren dran denken, einen Gleichwärmezauber draufzulegen, dass sie nicht erhitzt werden kann", sagte die exotisch aussehende Hexe. Pyrogaster Parkinson fühlte unvermittelt wieder dieses Zerren am Körper. Wieder war ihm, als sauge ihm jemand Kraft vom Kopf durch den Rumpf und die Beine zu den Füßen hinaus. Doch sein besonderer Schutz hielt immer noch dagegen.

"Wenn ich nicht wüßte, wer du wirklich bist würde ich dich hier und jetzt nehmen und richtig durchwalken, du Mulattennutte", schnarrte Pyrogaster Parkinson und sah bewusst vom Oberkörper bis zur Beckengegend der Hausbewohnerin herunter.

"Oh, eine grüne Maske", hörte er die andere spotten. "Sehen Sie im natürlichen Zustand so hässlich aus?"

"Cunnicremato!" knurrte Parkinson und zielte der Hausbewohnerin zwischen die Beine. Die Hexe zuckte kurz zusammen. Dann bekam ihr Gesicht einen seligen Ausdruck.

"Ui, wo haben Sie den Zauber denn gelernt. Damit können Sie jede Frau berührungslos beglücken", schnurrte sie lustvoll.

"Was?!" schrie Parkinson. Dann erkannte er, warum sein Zauber nicht geklappt haben konnte. Die da vor ihm war ja keine echte Frau, der er mit seinem bösen Zauber noch bösere Qualen hätte zufügen können. Oder war es dieser Erdzauber, der das Haus umgab.

"Dann eben so! Crucio!" rief Pyrogaster. Er war sich darüber im klaren, dass der Kristallstaub den Fluch um ein vielfaches stärker wirken lassen würde. Doch der Fluch traf die Hausbewohnerin nicht. Denn Pyrogasters Zauberstab wurde von einer unsichtbaren Kraft aus der Hand gerissen und zu Boden gezogen. Er stand eine Sekunde lang verwirrt da, sah den auf dem Boden liegenden Zauberstab an. Dann bückte er sich schnell, um ihn wieder aufzuheben.

"Lass den besser liegen, Pyrogaster Parkinson, du Marionette einer anderen Marionette!" hörte er unvermittelt eine andere Frauenstimme hinter sich.

"Netter Versuch", stieß er aus, um seine plötzliche Verunsicherung zu überspielen. Dann griff er nach dem Zauberstab. Doch es war regelrecht verhext. Der Stab klebte am Boden fest.

"Ist ja lustig. Das Gift, dass dein Herr dir ins Blut getrieben hat macht meinen Zauber noch stärker. Lass deinen Stecken also besser auf dem Boden."

"Meister, ich wurde entwaffnet!" rief Parkinson in Gedanken. Er ging davon aus, dass sein Herr ihn ständig überwachte. Doch außer einem unerträglichen Druck auf den Kopf nahm er nichts wahr.

"Dein Meister hört dich nicht mehr. Seitdem du deine schmutzigen Füße auf den von meiner Magie erfüllten Boden gesetzt hast und von ihr ganz und gar umgeben wirst ist jede andere Magie unterbrochen. Also dreh dich besser um und zeige uns beiden dein wahres Gesicht!"

"Lord Vengor, ich wurde entwaffnet. Helft mir bitte!"

"Los, Pyrogaster, umdrehen!" fauchte die zweite Frau. Jetzt sah er sie auch. Sie wurde jetzt erst sichtbar. Er kniff sich in den Arm, um sicher zu sein, dass er nicht träumte. Denn die fremde war so naturbelassen, wie eine Frau nur sein konnte. Und die sah überirdisch schön aus. Dann erkannte er mit eisigem Schrecken, in welche tödliche Falle er getappt war.

"Meister, eine der vaterlosen Schlampen ist hier! Hilfe!!" versuchte er es noch einmal, seinen Herrn und Meister anzumentiloquieren.

"Pyrogaster Parkinson, ein Verwandter von Pancras Parkinson?" fragte Della ihre unsichtbar lauernde Schutzherrin rein gedanklich.

"Sein Geist liegt offen vor mir wie eine flache Landschaft von einem Hohen Berge aus gesehen", schickte Hilia ihrer Dienerin zurück. Dann wandte sie sich wieder an den Eindringling.

"Du kommst hier nicht mehr weg. Wir haben es zugelassen, dass du die Tür öffnest, um freiwillig hereinzukommen. Ohne deinen Zauberstab nützt dir auch das Unlichtkristallgift nichts, dass dich so stark macht, dass du nicht sofort zu stein erstarrt bist, als du gegen den Willen meiner Dienerin hereinkamst. Ich hatte eigentlich deinen Herrn und Meister erwartet. Doch der hielt es offenbar für nötig, einen gehorsamen Diener vorzuschicken. Aber du hast auch genug in deinem Geist, um mir Wissen über ihn anzueignen. Deinen verseuchten Körper brauche ich nicht."

"Eher sterbe ich, als mich von dir anfassen zu lassen, Succubus!" blaffte der Eindringling trotzig. Doch da war die völlig nackte Schöne schon bei ihm und packte ihn am Hals. Er versuchte, sich zu wehren, versuchte, die eine Hand wegzuschlagen, die ihn hielt. Dabei gerieten er und die andere in eine Drehbewegung. Das nutzte die aus langem Schlaf erweckte Tochter Lahilliotas aus, ihre Beine hochzureißen und den Unterkörper des Eindringlings zu umschlingen und an sich zu reißen. Beide fielen zu Boden.

"Dann eben so!" hauchte sie ihm ins Ohr, als er versuchte, ihre Last von sich abzuschütteln. Doch jetzt musste er erkennen, dass der Kristallstaub in seinem Blut ihn zwar seine Zauber- aber nicht seine Körperkraft erheblich verstärkte. Die ihm überlegene hielt ihn in einer

unterwürfigen stellung und drückte ihm mit einer Hand etwas an die Stirn. Doch das Objekt prallte kurz vor der Berührung ab.

"Ich mach dich tot!" brüllte der Gefangene und versuchte, sich herumzuwerfen. Doch die andere hielt ihn sicher in Rückenlage. Allerdings schaffte sie es nicht, ihrem Gefangenen den eiförmigen Winzkristall gegen die Stirn zu drücken. Die in Parkinson konzentrierte Zauberkraft wehrte andere dunkle Magie ab. Dann schrak sie regelrecht zurück, ließ von ihrem Opfer ab.

"Solange dein Körper existiert magst du dich mir verwehren. Doch ich kriege immer, was ich will", schnarrte die Abgrundstochter. Dann erstarrte sie für eine Sekunde. Etwas in dem andren wachte auf. Sie sprang zurück und vollführte mehrere Gesten um den Körper des am Boden liegenden herum. Die Erde begann zu zittern und zu beben. Dann klaffte sie auf. Der Andere fiel in einen Erdspalt, der sich unter ihm auftat.

"Seine Gefangenschaft hat einen Selbstzerstörungszauber entfesselt, den ich nicht unterbrechen kann. Aber seine Seele kriege ich doch", dachte sie Della zu. Sie sang laut ein Lied, worauf sich die Erde über den knapp vier Meter tief eingesunkenen schloss. Dann verharrte sie in einer angespannten Haltung.

Unvermittelt dröhnte die Erde los. Das Haus erbebte. Fensterscheiben erzitterten. Die Gläser im Küchenschrank klirrten aneinander, ebenso das Geschirr. Dann verlor Della für einen Moment den Boden unter den Füßen. Dort wo ihr Angreifer im Boden versunken war klafften kleinere Risse auf. Ullituhilia sprang vor und hielt jenen kleinen Kristallkörper über die Stelle. Sie stieß Worte in einer Sprache aus, die Della nicht kannte. Dann sah sie, wie aus dem Boden ein weißer Schemen glitt, hörte einen gequälten Aufschrei und sah dann den Kristall in der Hand ihrer neuen Herrin blau aufleuchten.

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Vengor wusste in dem Moment, wo der Ausgesandte durch die verglühte Haustür flog, dass Pane genug Zeit gehabt hatte, sich auf ihn vorzubereiten. Dann brach die Verbindung ab. Das durfte normalerweise nicht sein. Doch es war eine Tatsache. Vengor hatte keine Verbindung mehr zu Neunzehn alias Parkinson.

"Dann eben mit Getöse", grummelte Vengor. Er zählte im Geist noch zwei Minuten herunter. Dann zerstörte er den bereitgelegten Mosaikstein, der mit Parkinsons Leben verbunden war. Damit war das Kapitel Brutus Pane, Della Witherspoon und auch Pyrogaster Parkinson erledigt. Die Wucht der Explosion würde durch den Unlichtkristall gesteigert. Sicher würde im Umkreis einiger hundert Meter kein Stein auf dem anderen stehen bleiben. Terroranschlag würde es dann wohl heißen, und das traf es sogar, fand Vengor. Jetzt wollte er darangehen, die Zerstörung seiner Kristallfabrik in Brasilien aufzuklären.

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Der Boden bebte und grummelte. Die gewaltige Sprengkraft, die im Körper Parkinsons entfesselt werden sollte, floss für die direkten Umstehenden unschädlich in die Tiefe der Erde ab, jagte in alle Richtungen davon, tiefer und tiefer. Sie verschob in mehr als zwanzig Kilometern Tiefe kleine Gesteinsformationen, schloss einen haarfeinen Spalt oder drückte Material unter einem schweren Stück Granit auseinander, so dass der Stein langsam nachsackte. Die Welle lief für sie empfindliche Schichten entlang weiter hinaus in den indischen Ozean, wo sie bei Sumatra gerade so noch die Kraft hatte, drei kleine Steinbrocken zur Seite zu drücken. Dann war sie endgültig verebbt.

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Wo die alte Kautschukfabrik gewesen war, erhob sich nur noch ein Trümmerhaufen. Ringsum lagen entwurzelte Urwaldbäume, die gleich fallenden Dominosteinen mehrere kleinere Bäume mit sich gerissen hatten. Er versuchte, mit einem Rückschauzauber zu erkunden, was hier vorgegangen war. Doch alles was er sah war eine dunkle, wabernde Wolke.

"Also kein natürliches Erdbeben. Ich wusste es", knurrte Vengor. Dann wischte er mit weit ausladenden Zauberstabschwüngen die kleineren und mittleren Trümmer bei Seite, sprengte die großen Stahlträger und Balken aus dem Weg, um sich bis hinunter in die eingestürzten Räume vorzuarbeiten, in denen die Gefangenen für die Massenhinrichtungen vorbereitet wurden. Er ging davon aus, hunderte zerschmetterter Toter Körper zu sehen zu bekommen. Doch hier war niemand. Außer dem Massenmordapparat mit den zwanzig mehr als zehn Meter langen Fallbeilen, der nun kläglich verbogen, verbeult und zertrümmert dalag, gab es hier unten nichts und niemanden mehr. Draußen rutschten Trümmer nach und polterten zu Boden. Vengor achtete nicht darauf. Für ihn war gerade nur wichtig, wo die ganzen Gefangenen und deren Leichen waren.

Als er die ersten Leichen zwischen Trümmerstücken sah, waren es ausnahmslos die Körper seiner Gehilfen, der ersten Mannschaft und der Ablösung, alles keine Kristallstaubträger. Bei dem Anführer der ersten Mannschaft fand er einen Zettel:

Diese Massenmordfabrik wurde auf meinen ausdrücklichen Beschluss hin außer Betrieb genommen. Die Gefangenen wurden von mir und meinen Getreuen in Gewahrsam genommen und dem brasilianischen Zaubereiministerium überlassen. Die von dir und deinen Lakeien erbrüteten Unlichtkristalle haben wir von zweien der von dir verschleppten Kinder berühren und damit unschädlich machen lassen. Deine anderen grausamen Brutstätten werden wir auch noch finden und vernichten. Gib es auf, Iaxathan zu dienen und vertrau dich denen an, die dir helfen können! Noch ist es nicht zu spät für dich.

Naaneavargia

Jetzt hatte er Gewissheit. Die Fabrik war zerstört worden, um sie stillzulegen. Aber wer war diese Naaneavargia?

"Sie ist deine tödlichste Feindin, und das schlimmste ist, du darfst sie nicht töten, weil sie dann mächtiger wird als du selbst mit dem Unlichtkristall im Körper, du Narr."

"Wer ist sie?" wollte Vengor von seinem Schutzherren wissen.

"Eine Spinne, eine ekelhafte, risige Spinne", war die Antwort. Da begriff Vengor. Er kannte sie, zu gut. Fast hätte sie ihm jenen Kristall abgejagt, den er nun im Körper trug. Doch warum durfte er sie nicht töten?

"Sie ist beladen mit dem Nachwort der Windlenker. Wer sie tötet lässt sie als mächtigstes Windelementarwesen überhaupt wiederentstehen. Selbst du kannst diesenSturm dann nicht mehr einfangen. Kehre zurück und künde es deinen Getreuen, dass ihr dieser Spinne keines ihrer Haare krümmen dürft. Versucht nur, ihr Getreue oder Geliebte zu entreißen. Doch tötet ja nicht die schwarze Spinne!"

"Kann ich sie denn einschläfern oder anderswie erstarren lassen?" fragte Vengor.

"Das wird sie sich nicht mehr gefallen lassen, es sei denn, du schaffst es, sie in ewiges Eis einzuschließen. Doch über das ewige Eis gebietet die weiße Mutter, und diese sollte nicht auch noch erwachen. Kehre also um, bevor jemand es wagt, Naaneavargia zu töten!"

Vengor disapparierte aus dem Trümmerfeld. Zwei Minuten später stürzte der Rest der Decke ein und riss das, was vom Keller noch geblieben war, mit sich in die Tiefe.

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Pyrogaster Parkinson fühlte, wie unvermittelt etwas in seinem Leib aufwallte. Doch da fiel er auch schon in die Tiefe. Dieses Schreckensweib hatte einfach unter ihm die Erde aufbrechen lassen. Er stürzte vier Meter nach unten. Dann schloss sich die Erde um und über ihm. Da entlud sich die geballte Kraft, die in seinem Leib erwacht war.

"Nein!" rief Pyrogaster noch aus. Doch da zerriss es auch schon seinen Körper. Er fühlte sich emporgeschleudert, dachte an seinen Vater, meinte, ihn und seinen Großvater aus der Ferne rufen zu hören. Dann fühlte er einen mörderischen Sog, der an ihm zerrte. "Du bleibst hier!" hörte er eine entschlossene Frauenstimme, die Stimme seiner Überwinderin. Er hatte den Eindruck, aus der Dunkelheit des geschlossenen Bodens herauszufliegen und sah alles um sich herum immer größer werden. Dann fühlte er die Quelle jenes unerbittlichen Soges und sah, wo sie lag. Es war ein blau aufleuchtender Kristallkörper, der die form eines Eis besaß. Er raste darauf zu. Er begriff, was das hieß und schrie seine hilflose Furcht hinaus in die Unendlichkeit. Dann tauchte er in jenes blaue Leuchten ein und fühlte sofort, wie er in einer zusammengekrümmten Haltung festhing. Das blaue Licht erlosch um ihn herum. Er versuchte sich zu bewegen. Doch es gelang nicht. Er schrie. Seine Stimme hallte lange nach.

"Ab heute gehörst du mir allein. Du wirst mir alles verraten, was du weißt und was du von Vengor mitbekommen hast, genau wie der, den du im Haus meiner neuen Dienerin zu finden gehofft hast", hörte er die Stimme der Abgrundstochter von allen Seiten. Er sah, wie hausgroße Hände ihn umschlossen. Er sah nur noch Dunkelheit um sich herum.

Als die Dunkelheit sich nach wenigen Augenblicken, die für ihn wie eine Ewigkeit erschinen lichtete, sah er vor sich eine baumstammdicke Silberkette, an der mehrere mannshohe Kristallkörper an Ösen hingen. Die Kette hing um den Hals einer zur turmhohen Titanin gewachsenen Frau. Als er seine eigene Winzigkeit erkannte und merkte, dass er unbeweglich eingesperrt war, fühlte er unbändige Furcht in sich, die zu loderndem Hass entflammte. Als er dann sah, wessen Gesicht wie fest eingebacken im untersten Kristallkörper steckte schrie er seinen Hass hinaus in die Unendlichkeit: "Pane, du elender Haufen Drachenscheiße!!"

"Wegen ihn hast du dich verleiten lassen, gegen meine Dienerin zu kämpfen", hörte er die aus allen Richtungen zugleich auf ihn einströmende Stimme der Abgrundstochter, in deren hausgroßer Hand er immer noch lag. "Er ist mein, genau wie du. Doch ich werde ihm bald eine andere Bleibe zuweisen. Du aber hast eine Menge Wissen, das ich hier und jetzt in mich aufnehmen werde, um deinem Herren, wenn er sich doch entschließen sollte, gegen mich zu kämpfen, entgegentreten zu können. So verabschiede dich von deinem jungen Erzfeind!"

"Verreckt alle!" brüllte Parkinson.

"Sind wir doch schon, du Trollarsch", lachte ihm die Stimme von Brutus Pane höchst verächtlich entgegen.

"Ich hätte dich gerne als Bestandteil meiner Seelenkette behalten. Doch ich habe keine Zeit mehr, darauf hinzuwirken, dass du mir alles offenbarst, was ich wissen will", hörte er die Stimme seiner Überwinderin. Dann sah er, wie sie ihn über ihre gigantische Oberweite erhob, an ihrem kinn vorbei und ihn in ihre dunkelrote Mundhöhle hineingleiten ließ. Er erkannte, was die andere mit ihm anstellte und winselte um Gnade. Doch die andere kannte keine Gnade. Er glitt auf ihrer Zunge, die für ihn so breit wie eine vierspurige Brücke war voran und geriet ins rollen. Es wurde immer dunkler um ihn. Er hörte dumpfes Pochen und das untrügliche Geräusch eines schluckenden Halses. Dann fiel er. Als er landete strahlte um ihn helles Licht auf. Er fühlte, wie etwas ihn erfasste und begann, ihn durch ein Meer aus Erinnerungen zu wirbeln. Er sah seine Begegnungen mit Vengor, alles, was er mit ihm zusammen oder für ihn ausgeführt hatte, seine Initiation im Raum mit den blauen Kerzen, jagte weiter durch sein Leben und fühlte zum Schluss den Schmerz, mit dem seine Mutter Alice ihn in die Welt hinausgestoßen hatte. Am Ende hörte er den beruhigenden Herzschlag seiner Mutter leiser und leiser werden. Dann verloren sich seine Empfindungen in einem Mehr von Farben und Lichtentladungen. Dass der Kristall, in dem seine Seele eingefasst worden war gerade zerfiel und er somit in Körper und Geist der anderen aufging bekam er nicht mehr mit.

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19. April 2015

Della betrachtete die silberne Halskette, die ihre neue Herrin ihr nachträglich zum Geburtstag schenkte. Sie besaß genau dreißig kleine Kristallkörper, die leicht bläulich schimmerten und gerade so groß wie Sperlingskauzeier waren. Der unterste Kristall unterschied sich jedoch in einer wesentlichen Einzelheit von den anderen. In der eiförmigen Konstruktion sah sie das Gesicht eines gerade erst erwachsen gewordenen Mannes, das sie verdrossen ansah.

"Warum sie mich dir umgehängt hat weiß die dreigeschwänzte Gorgone", hörte sie die Stimme dessen, dessen Gesicht im Kristall eingefasst war.

"Du wolltest mein Leben erleben, deshalb hat Hilia dich mir zurückgegeben. Sei froh, dass sie dich nicht auch noch runtergeschluckt und verdaut hat!"

"Was hindert dich daran, mich so zu vernaschen?" hörte sie die winzig wirkende Stimme der eingeschlossenen Seele von Brutus Pane.

"Verschlucken werde ich dich wohl nicht, zumal du mir wohl nicht so gut bekommen würdest. Aber vielleicht kriegen Hilia und ich es anderswie hin, dass du dein unausgegorenes Leben noch mal richtig anfangen kannst, mit heranwachsen in meinem Bauch, geboren werden, Windeln, Wiege, Muttermilch, Kinderspielplatz, Schule und Zauberschule. Hängt davon ab, ob ich finde, dass du dir sowas verdient hast oder nicht. Also hör auf zu quängeln, solange du keinen eigenen Mund mehr hast!"

"Das fehlte mir noch, von dir alter Sabberhexe ausgebrütet und durch deine Glibberdose rausgedrückt zu werden", knurrte Brutus Pane.

"Dann bleibst du eben an der Kette hängen und kriegst mit, was ich so auf die Beine stelle, damit du lernst, wessen Leben du und dein machtsüchtiger Herr so leichtfertig zerstören wollten", beschloss Della Witherspoon. Sie hängte sich die Kette um und verbarg sie unter ihrer Kleidung. Das verdrossene Quängeln Brutus' Panes hörte auf.

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Langsam hatte sie sich an ihr wesentlich jüngeres Aussehen gewöhnt. Wenn sie morgens in den Spiegel sah wusste sie, dass sie nicht nur Erinnerungen an ihre Junghexenzeit durchlebte, vor allem, wo ihr Gesicht wie der Rest des Körpers immer runder wurde. In sieben Wochen würde sie einen kleinen Sohn zur Welt bringen. Die Empfängnis des kleinen Juri, der wohl sehr wütend wäre, wenn man ihn klein nannte, hatte sie um fünfzig Jahre jünger werden lassen. Diesen Effekt hatte sie so nicht erwartet. Doch er hatte einige Fragen beantwortet.

" Tamara, komm bitte zu uns ins Hautvergleichslabor. Wir haben einige Identitäten zuordnen können und was herausgefunden, was sehr interessant ist", hörte sie die Gedankenstimme ihres Ehemannes Polybios, der sich anders als sie mit ihrer baldigen Mutterschaft schwer tat, wohl, weil sie nun viel zu jung für ihn aussah, nicht weil Juri nicht sein Fleisch und Blut war.

"Ihr wisst, wer Vengor ist?" fragte Tamara mentiloquistisch zurück.

"Das nicht. Aber wir haben herausbekommen, mit wem er näher verwandt sein muss, was heißt, dass im September noch ein großer Schlag gegen die Zaubereiverwaltung eines Landes zu befürchten ist."

"September? Ich komme rüber. Melo und Schwangerschaft strengen zusammen mehr an", schickte Tamara Warren zurück.

"Ist das mit dem dreißigsten Mai jetzt amtlich?" quäkte das um ihren Unterbauch geschnallte Cogisonband.

"Kommt auf dich an, ob du dich bis dahin richtig gedreht hast, Juri. Wenn Sylvia dich bei den ersten Wehen von mir noch drehen muss wird es anstrengend für dich."

"Och, im Zweifelsfall lässt du mich rausschneiden", quäkte das Cogison zurück.

"Wie bei den Muggeln? Das sagt ausgerechnet ein Durmstrang-Absolvent. Nix da. Ich will das jetzt wissen, ob du dein Gedächtnis auch nach der Geburt behältst oder es unter der Geburt verlierst."

"Ich hoffe das sehr. Will ja nach dem allen schnell wieder groß werden", erwiderte die Cogisonstimme.

"Dann sieh zu, dass du uns zweien keine unnötigen Schwierigkeiten machst!" erwiderte Tamara Warren. "Ich nehm jetzt das Cogison ab, damit ich den Giftabweise-Umhang richtig anziehen kann. Schlaf noch ein bisschen!"

"Ich will aber lieber Ballett tanzen", hörte sie und fühlte gleich mehrere Stöße in den Bauch.

"Bring mich nicht auf Ideen, Juri. Sonst wirst du gleich nach deiner Geburt als Jovanka weiterleben, dann kann ich dir mein Ballettkleid vererben." Sofort beruhigte sich das Leben in ihrem Leib. Sie lächelte. Damit kriegte sie den immer wieder, wenn er quängelte oder zu frech wurde, um seine bedingungslose Abhängigkeit von ihr zu überspielen. Dass sie nicht daran dachte, ihn zwei Wochen nach der Geburt mit Alterungstrank wieder erwachsen werden zu lassen wollte sie ihm erst nach dem Abstillen eingestehen.

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Ullituhilia lauschte dem Wispern der von ihr eingekerkerten Seelen. Dennoch konnte sie das leise Raunen, Knarzen und Brummen nicht ganz überhören, dass seit ihrem Erwachen ihren Geist durchdrang, leise aber vernehmlich. Dann fühlte sie das sanfte Tasten ihrer wachen Schwester Itoluhila. Sie öfffnete sich für ihre in Europa wohnhafte Schwester.

"Ich habe gute Nachrichten für uns, Ullituhilia", begrüßte Itoluhila ihre Schwester auf rein geistigem Wege.

"So, welche. Hast du einen Weg gefunden, unsere jüngste Schwester wieder ganz tief in den Schlaf zu versenken?" wollte Ullituhilia wissen.

"Das nicht, aber zumindest einen Weg, sie nicht doch ganz aufwachen zu lassen. Ich habe einen Erwecker gefunden, Ullituhilia", freute sich die Abgrundstochter des schwarzen Wassers.

"Oh, einen Erwecker für eine unserer schlafenden Schwestern?" fragte die Tochter des schwarzen Felsens.

"Vielleicht für zwei oder drei schlafende Schwestern. Aber das ist eine lange Geschichte", erwiderte Itoluhila.

"Ich habe auch eine gute Nachricht. Ich habe eine eigene, mit Magie begabte Dienerin, die mir sicherlich noch sehr nützlich sein wird."

"Du hast es geschafft, eine Hexe davon zu überzeugen, deine Dienerin zu werden? Wie das?" wollte Itoluhila wissen.

"Das ist auch eine lange Geschichte", erwiderte Ullituhilia.

"Ich habe gerade Zeit", gedankenantwortete Itoluhila. So begannen beide Abgrundstöchter, sich gegenseitig über ihre jüngsten Erfolge zu informieren.

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Die Entfernung schrumpfte, Tag für Tag. Damit stand es für sie nun fest, dass die Zeit der Untätigkeit bald zu Ende gehen würde. Ihre geheimnisvolle Auftraggeberin, die sie als einzige sehen und mit ihr sprechen konnte, würde Wort halten. Doch konnte, besser durfte sie sich darüber freuen? Wenn sie alleine daran dachte, was sie getan hatte, um diese Belohnung zu verdienen. Jahre hatte sie an nichts anderes gedacht, ihren Zustand eher als gerechte Strafe als einen verdienten Lohn betrachtet. Doch jetzt, wo sie sich jeden Tag weniger vom Anker ihres Seins entfernen konnte, wurde es wieder Zeit, sich die Fragen zu stellen, die sie nach dem magisch besiegelten Abkommen umgetrieben hatte, würde sie damit zurechtkommen? würde sie überhaupt dieselbe bleiben können, die sie zuvor gewesen war? Vielleicht war es besser, wenn sie wirklich ganz und gar neu anfing.

"Hmm, meine weiße Bundesgefährtin, vielleicht erfüllt sich dieser dein Wunsch wahrhaftig, und du wirst dich nur an das erinnern, was die zweite im entsprechenden Abschnitt verstehen und weitergeben kann", sprach die eindeutig amerikanischstämmige Frau, die teilweise durchsichtig war und von einer sanften, rot-goldenen Aura umflossen wurde. "Ich frage mich, ob ich dich nicht beneiden soll, dass du diesen Weg gehen darfst, wo ich niemanden habe, der besser die ihn mir öffnet."

"Du sagtest was von einer zweiten. Das kann doch nicht sein, oder?" fragte jene, die wusste, dass sie bald aus dem Zustand der Unbemerktheit und Untätigkeit herausgelöst würde.

"Ich habe es gesehen. Nein, bleib besser noch hier, du könntest aufgespalten werden, wenn du jetzt schon zu ihnen gehst. Es könnte dich in zwei grundverschiedene Wesen zerteilen."

"Wirklich zwei. Dann kann ich mich ihr nicht früh genug mitteilen?" fragte die als weiße Bundesgefährtin bezeichnete.

"Nicht wenn die zweite nicht ebenfalls mit bereits gesammelten Erinnerungen erfüllt wird."

"Und du kannst mich nicht begleiten?" wollte die erste wissen, die seit dem Eintritt in diesen Zustand nur noch wehmütig an ihren Namen zurückdachte.

"Wie gesagt ist mir der Weg versperrt, weil sie keine Verwandte von mir ist und auch ihr Gefährte nicht mein Vorfahre oder entfernter Verwandter ist. Ich muss davon ausgehen, dass du nur das können und verstehen wirst, was die zweite können und verstehen wird, bis ihr beide deine Reife erreicht haben werdet. Denn um dich und deine Erfahrungen und Fertigkeiten zu erhalten müsste die zweite von einer körperlosen Daseinsform erfüllt und mit ihr vereint werden, die in direkter körperlich-seelischer Verbindung mit ihr steht." Die von rot-goldenem Licht umflossene deutete auf jene Frau, die das Zentrum der jeden Tag kleiner werdenden Welt bildete, in der sie beide gerade lebten.

"Dann muss ich mich wohl damit abfinden, bald alles bisherige zu verlieren, endgültig", seufzte die erste.

"Kann ich was dafür, dass sie gleich zwei trägt?" lachte die indianische Geisterfrau.

"Nein, Chuqui Ruahua, dafür kannst du wirklich nichts", pflichtete die erste resignierend bei.

ENDE

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