Trotz der großen Freude nach dem Ende Voldemorts und der Tyrannei seiner Anhänger ist die Zukunft der Menschen mit und ohne Magie so ungewiss wie nie zuvor. Das immer stärker die technische Welt beherrschende Internet droht die seit Jahrhunderten aufrechterhaltene Geheimhaltung der Magie zu beenden. Der scheinbare Sieg gegen die Trägerin des von den Vampiren als größte Machtquelle verehrten Mitternachtsdiamanten erweist sich als Rückschlag, weil diese mit dem mächtigen Stein verschmilzt und als schlafende Göttin der Vampire eine Neuauflage eines weltweiten Reiches der Nachtkinder anstrebt. Ein dunkler Magier, der sich selbst Lord Vengor nennt, trachtet danach, Voldemorts Erbe zu sein und will dafür sogar mit einem der gefährlichsten Erzmagier der dunklen Kräfte paktieren, den die Welt der Vorzeit hervorgebracht hat. Die Dementoren, einst die gefürchteten Wächter Askabans und im Dunklen Jahr Voldemorts treue und machtvolle Streitmacht, schaffen es, einen gewaltigen Vernichtungsschlag auf ihre Daseinsform zu überleben und vermehren sich unkontrolliert weiter. Beim Versuch, sie einzudämmen verlieren viele Sonnenkinder ihre erwachsenen Körper und verschmelzen mit ihren eigenen ungeborenen Kindern. Dadurch sind die einst gegen die Vampire und andere dunkle Wesen erzeugten Sonnenkinder erst einmal geschwächt. Die orientalische Vereinigung Blauer Morgenstern erleidet einen gewaltigen Rückschlag, als einer ihrer mächtigsten Angehörigen durch einen magielos ausgeführten Hinterhalt stirbt. Damit erlischt eine der sieben Linien der weißen Erzmagierin Ashtaria. Die einzige Hoffnung für die verbleibenden Blutlinien ist, dass der junge Zauberer Julius Latierre von Ashtarias astralenergetischer Daseinsform aufgenommen und in die Welt zurückgeboren wurde, um eines Tages den Platz des gestorbenen Sohnes einzunehmen. Doch all diese Ereignisse führen auch dazu, dass ein über ein Jahrtausend währender Zauberbann erlischt, der die jüngste und mächtigste der neun Abgrundstöchter in scheinbar unweckbarem Schlaf hielt. Ihr Erwachen birgt einen neuen Gefahrenherd für die gesamte Menschheit.
Thomas Wilson, einer der wenigen weißen Mannschaftsmitglieder der Besatzung, winkte der gerade im Westen versunkenen Sonne nach. Blutrotes Restlicht quoll noch über die leicht aufgewühlte Kimm hinweg. Wieder ein stupider Tag mehr erledigt, dachte der vierzigjährige Seemann. Welcher schadenfrohe Teufel hatte ihm damals den Floh ins Ohr gesetzt, mit dieser schwimmenden Fabrik ausgerechnet vor der Küste des Ayatollahs herumzutuckern? Aber er hatte den Job angenommen, weil er von seiner Ex wegwollte und weil der Jungspund, der behauptet hatte, sein Sohn zu sein, meinte, ihm nun erst recht auf den Wecker fallen zu können, nachdem diese verdammte DNS-Untersuchung das auch noch bestätigt hatte. Dass er irgendwie Geld an dessen Mutter abzudrücken hatte konnte er nicht ändern. Aber nach fünfzehn Jahren auf Daddy machen war auch nicht sein Ding. Die Hafenschlampe in Vancouver hatte den bisher alleine groß gekriegt. Da musste der nicht jetzt anfangen, seinen Vater zu vermissen. ,
"Heh, Tommy, grübelst du wieder über den Rest von der Heuer, den du noch für dich behalten darfst?" lachte ihn Crake Morgan von der Steuerbordseite her an. Thomas Wilson wandte sich ihm zu. Crake war ein Mischling. Seine Oma war von der Ebenholzfraktion und hatte ihm über seinen Vater hinweg ihre dunkle Kräuselmähne und den samtbraunen Hautton verpasst.
"Schon schlimm, wenn ich weiß, an welche Nutte der Großteil meiner Heuer draufgeht. Dabei kann ich die noch nicht mal rammeln, weil die schön weit weg in Kanada abhängt."
"Und die andere Hälfte kriegt die, die du echt mal geheiratet hast, wie?" zog ihn Crake auf.
"Ein Viertel davon. Was mir bleibt reicht gerade mal für drei anständige Steaks oder einen Halbstundenritt in Tamys Lasterbude. Da bin ich doch lieber hier auf dem Kahn", log Thomas. Crake grinste breit und deutete in Fahrtrichtung. "Wir holen den Anker gleich ein und fahren los. Mal sehen, was wir heute einbringen. Vielleicht kannst du dann, wenn wir wieder in Port Kahuna sind 'ne halbe stunde mehr bei Tammys Mädchen rausschlagen."
"Ja, aber nur mit Regenmantel", knurrte Wilson. Da erklang auch schon die Stimme von Captain Brooks: "Klar zum Ankerlichten! Netze klar zum Auslegen! Und diesmal schneller als in einer Viertelstunde, beim Klabautermann!"
"Okay, Sklavenurenkel, dann kosten wir die Drangsal deiner Vorfahren", sagte Wilson.
"Nur, dass du Milchbubi mitschuften musst", grummelte Crake. Er mochte es absolut nicht, dass Tommy über seine afrikanischstämmigen Vorfahren ablästerte. Dazu bestand auf diesem Kahn gar kein Grund.
Der schwere Anker wurde gehoben und am Heck der "Arabella" sicher verstaut. Gleichzeitig legten die zwanzig asiatischen und nordafrikanischen Matrosen die Netze aus. Wilson hatte Order, auf der Brücke das Anfahrmanöver mitzuverfolgen, während Crake im Maschinenraum zu schaffen hatte. Der mehrere Tausend PS starke Dieselantrieb erwachte erst rumpelnd und dann laut dröhnend zum Leben, bevor er in ein gleichmäßiges Tuckern verfiel.
Halbe voraus!" befahl der Kapitän, ein untersetzter Mittfünfziger mit grauem Haarkranz. Der Steuermann, ein zierlicher Japaner Namens Kagawa, führte mit dem zerbrechlich aussehenden Steuerhebel die entsprechende Anweisung aus. Zwar war die Elektronik der "Arabella Worthington" nicht mehr die neueste. Doch sie erleichterte schon eine Menge. So brauchten sie keinen Maschinentelegrafen mehr und erst recht keinen Schwarm von Heizern oder hallengroße Kohlebunker. Wilsons Vater hatte noch auf solchen Schiffen Dienst geschoben, ja sogar für König und Vaterland beim Normandieausflug mitgemacht und sich gefreut, nicht mit den anderen "Strandtouristen" an Land geschickt zu werden.
"Übermorgen geht's wieder in heimische Gewässer", sagte Brooks, der scheinbar erriet, was Wilson umtrieb. Doch dieser meinte nur, dass er nicht vor Weihnachten zu Hause erwartet würde.
"Hängt auch davon ab, was wir hier noch aus dem Meer holen dürfen. Die Mullas gucken immer so kritisch, wenn wir bei denen vor der Tür fischen. Gut, dass wir die Genehmigung von den Scheichs haben, ein paar Fische hier mitzunehmen."
"Captain, ich weiß nicht, was wir in dieser Gegend zu suchen haben", sagte Wilson, der diesen Gedanken schon seit drei Wochen im Kopf hatte.
"Ich führe auch nur Befehle aus. Und der Eigner wollte diesmal Spezialitäten aus der Golfregion, bitte ohne Ölspuren."
"Soll recht sein", grummelte Wilson und beobachtete Kagawa. Einen Moment dachte er dabei an den japanischen Steuermann vom ersten Raumschiff Enterprise, dem einzig wahren Sternenkreuzer der Fernsehgeschichte. Ja, irgendwo hinzuschippern, wo vorher noch keiner war hatte was für sich. Aber in dieser Gegend waren schon vor über zweitausend Jahren Schiffe herumgesegelt.
"Ausguck an Brücke, unbekanntes Flugobjekt vier Strich Steuerbord voraus!" erklang die Stimme des wachhabenden Ausgucks über die Bordsprechanlage.
"Entfernung?" fragte Brooks zurück.
"Noch nicht klar, weil Objekt gerade erst über Kimm erschinen, Sir", kam die Antwort. Mathews, der Ausguck, hatte bis vor einem Jahr noch bei der königlich-kanadischen Kriegsmarine gedient. "Aber es fliegt, Sir."
"Geht das Radar nicht mehr?" wollte Brooks wissenund wandte sich an den indischen Seemann, der vor dem Sichtschirm der Radaranlage saß.
"Radar klar, Sahib. Nix Objekt aus Steuerbord", radebrach der Inder, der Sadhu Panishabi hieß und, wenn der Kapitän oder der Eigner außer Hörweite waren, ein fast akzentfreies, aber fließendes Englisch beherrschte, wie Wilson und Morgan herausbekommen hatten.
"Dreh den Sender voll auf, du Elefantenbändiger", knurrte Brooks den Inder an. Dieser lächelte pflichtbewusst und bediente den Regler für die Sendeleistung. Zwar konnte das Bordradar nicht mit einem von der Navy mithalten, aber um Kollisionen zu vermeiden taugte es auf jeden Fall. Die Reichweite betrug an die vier Seemeilen. "Nix auf Steuerbord, Captain Sahib!"
"Mathews, unser Tempeltänzer hat nichts auf der Mattscheibe. Was ist mit dem objekt?" wollte der Captain wissen.
"Im Anflug. Ich habe klare Sicht durch Nachtglas, Sir. Objekt befindet sich im freien Flug auf unsere Position zu, Sir. Öhm, Sagen Sie dem Kollegen am Radar, er soll entweder den Bildschirm oder seine Augen putzen. Das Objekt kommt näher."
"Panishabi, noch mehr Leistung auf den Sender. Das Ding muss doch zeichnen, verdammt noch eins!"
"Sender voll, Radar klar. Nix auf Schirm!" erwiderte der Indische Radartechniker.
"Hey, haben die Mullas neuerdings Tarnkappenbomber oder was?" fragte Wilson unaufgefordert.
"Falls ja kriegen wir gleich Ärger. Es sei denn, das Ding hat ein echt gefährliches Ziel", knurrte der Kapitän und schüttelte seine Faust vor dem Radarschirm.
"Mathews, Lage!" befahl der Kapitän.
"Noch immer nichts auf demSchirm? Captain, dann kommen Sie bitte rauf und prüfen Sie mit eigenen Augen. Sonst glauben Sie noch, ich hätte vorschriftswidrig getankt", erwiderte Mathews.
"Wilson, Sie entern auf. Ich bleibe bei unseren Reisgourmets au fer Brücke", wisperte der Kapitän. Wilson nickte und kündigte Mathews seinen Besuch an.
"Hallo, XO, hier, das zeigt das Nachtsichtgerät", begrüßte ihn Mathews, ein reinrassig hellhäutiger, wenn auch von langen Seereisen wettergegerbter Mann Mitte dreißig.
"Ich bin kein XO. Ich bin nur der Quotenbleichling, wie Sie, Jack. Aber lassen Sie mich mal sehen." Wilson mochte den ehemaligen Navy-Angehörigen wegen seiner Diszipliniertheit. Andererseits war es auch genau diese, die ihm zwischendurch heftig auf die Nerven ging. Vor allem dass der Ausguck immer noch auf die Anrede mit Nachnamen bestand, wo sich sonst alle unterhalb des Kapitänsranges mit Vor- oder Spitznamen ansprachen. Doch als Thomas Wilson durch das starke Nachtsichtfernrohr nach Steuerbord Ausschau hielt verging ihm jede Regung.
"Sir, bestätige die Annäherung eines fliegenden Körpers. Der Körper hat die Form eines Insektes, eines Käfers."
"Ach, ein Käfer. Haben wir beim Tanken auch sechsbeiniges Ungeziefer mit an Bord genommen und das fliegt jetzt um Mathews Nachtgucker herum, wie?"
"Nein, Sir, das Objekt fliegt über freiem Wasser, nähert sich uns und wird größer. Gemessen an der Dünung schätze ich es auf drei bis vier Meter. - Und ich habe noch keinen Schluck getrunken, Sir."
"Vier meter großer Käfer. Wann haben Sie den letzten Horrorfilm gesehen, Wilson?"
"Vor drei Wochen, eine mit einer E-Mail zugeschicktes Video von der Kinderparty meiner neunjährigen Nichte, Sir. Aber ich vermute, dass das Objekt eine Drohne ist, also ein unbemanntes Flugzeug, das zur Verwirrung der Beobachter diese Form hat."
"Soso, Sie vermuten", hörten sie die blecherne Stimme des Kapitäns knurren. "Ich will ein Bild von dem haben. Los!"
"Aye, Sir. Einzelbild oder Video?" fragte Mathews.
"Zwei Minuten Video", grummelte der Kapitän. "Und schicken Sie mir das gleich über meine Schalte auf die Brücke. Unser Elefantendompteur kriegt euren Käfer nicht auf den Schirm."
"Objekt weiter annähernd, ändert Kurs und fliegt nun genau aus Vorderrichtung an. Wiederhole, Objekt hat Kurs geändert und fliegt genau auf Gegenkurs an. Aufnahme läuft!" meldete Mathews und hielt die mit Teleobjektiv und Restlichtverstärkung ausgestattete Kamera in die angepeilte Richtung. "Ui, auf dem Schirm sieht das Biest richtig erhaben aus. Mattschwarz mit zwei reihen glitzernder Punkte."
"Ich will die Aufnahmen sofort haben", schnaubte Brooks. "Oder besser, ich komme doch rauf. Wilson, wieder auf die Brücke und auf Kurs und Fahrtstufe aufpassen!"
"Aye aye, Sir", bestätigte Wilson. "Mir gefällt das nicht, Jack. Wenn das echt eine Drohne ist könnte die auf Kamikazekurs sein."
"Wozu, XO?" fragte Mathews. "Wir sind nur ein Fabrikschiff, kein Zerstörer oder gar Träger, Sir."
"Weiß ich, was das Ding ist oder vorhat?" fragte Wilson angenervt. Doch dann besann er sich, dem erteilten Befehl zu folgen.
"Heilige Walscheiße!" drang es keine Minute später über die Sprechanlage. "Kagawa, dreißig Grad Backbord, äußerste voraus!!"
"Hai", erwiderte der japanische Steuermann, der auch viel besser Englisch konnte als er den Kapitän wissen ließ. Wilson ging an die Sprechanlage und schaltete schnell auf den Maschinenraum um. "Crake, alle Sprithähne voll aufdrehen und auch die für die Kühlflüssigkeit. Kagawa braucht alle Pferde, die wir unterm Pony haben."
"Haben die Mullas uns ein Bombergeschwader geschickt oder was?" wollte Crake Morgan wissen. Doch dann bestätigte er den Befehl, als Kagawa bereits den Fahrstufenregler in den halb roten Bereich stieß.
"Verdammt, das Biest korrigiert schon wieder und kommt weiter auf uns zu!" schrillte Brooks stimme aus der Sprechanlage. "Notfahrt und Zickzackkurs!" Wilson gab die Anweisung weiter. Kagawa entsicherte die Sperre für den Fahrstufenhebel und kippte diesen in den vollroten mit "Notfahrt" beschrifteten Bereich. Die Maschine röhrte los wie hundert Hirsche auf einmal. Die Brückenbesatzung wurde vom plötzlichen Anschub einen halben Meter nach hinten gerissen. Dann vollführte Kagawa mal mehr und mal weniger starke Steuerbewegungen nach links und rechts, worauf die "Arabella" weit ausladende Schaumkreise ins Kielwasser zog und eine sich immer wieder brechende Bugwelle aufwarf.
"Kurskorrektur volle hundertachtzig. Notfahrt bleibt!" befahl der Kapitän vom Ausguck her. Kagawa gab die Zickzacksteuerei auf und gab an das Ruder weiter, dass die schwimmende Fabrik eine enge Kurve fahren und dann auf den genauen Gegenkurs einschwenken sollte. Das ging natürlich nicht in zwei Sekunden wie bei einem kleinen Auto, sondern nahm ganze dreißig Sekunden in Anspruch. "Keine Kursänderung mehr, nur ganz schnell ganz weit weg von hier", befahl der Kapitän.
"Die Lady hat es noch drauf, wie, Tommy?" fragte Morgan über die parallelleitung aus dem Maschinenraum.
"Sage Sing und Min, dass die den Motor bloß nicht absaufen lassen dürfen", erwiderte Wilson.
Mistviech!" brüllte der Kapitän vom Ausguck her, und Wilson ahnte, was das hieß. Das käferförmige Flugobjekt holte auf.
"Alle Mann an Deck! Klarmachen für Notfallevakuierung!"befahl der Kapitän.
"Ihr habt's gehört, Jungs. Lasst unseren Ofen da unten laufen und macht euch rauf an die Luft!" rief Wilson zusätzlich über den Bordfunk in den Maschinenraum.
Eine wilde Hektik setzte ein, als Wilson noch auf Arabisch und Japanisch, Panishabi auf Bengali den Befehl wiederholten.
"Wilson, Funkspruch an unseren Eigner, werden von unbemanntem, exotisch beschaffenen Flugkörper angeflogen. Zielt genau auf uns. Möglicherweise ein Angriff!" stieß der Kapitän aus. Dann schrie er nur noch: "Das Biest ist da!"
Wilson, der gerade den Funkspruch absetzen wollte, hörte nur einen langgezogenen Aufschrei aus der Sprechanlage. Es hörte sich so an, als entferne sich der Kapitän. Mathews rief laut: "Captain von unbekanntem Objekt ergriffen und entführt. Fremdes Flugobjekt setzt auf Heck auf."
"Okay, ist also wirklich ein Angriff", sagte Wilson. Dann erschrak er. Denn urplötzlich gingen alle Lichter aus, und die bisher so kraftvolle Maschine erstarb mit lautem Rumpeln. Stille und Dunkelheit herrschten nun vor.
Wilson tastete an den Gürtel seiner wasserfesten Hose und klinkte die an einem Lenyard befestigte Taschenlampe los. Er drückte den knopf - und war erleichtert, als vor ihm ein kleiner runder Fleck aus Licht in die bedrohliche Dunkelheit gebrannt wurde. Er schwenkte die kleine Handlampe und erkannte, dass die elektronischen und elektrischen Instrumente allesamt lahmlagen. Die Flüssigkristallanzeigen waren leer, die zur Absicherung noch verbauten Zeigerinstrumente standen in Nullstellung. Das Schiff war nicht nur Antriebs- sondern auch Führungslos. "Das ist kein normaler Stromausfall, Sahib Wilson", sagte der indische Radartechniker zu Thomas Wilson. Dieser fragte ihn, was es denn sonst sei, als ein lauter Schrei über das Deck hallte. Der Schrei kam von einem Menschen. Wilson meinte Mathews, den Ausguck schreien zu hören. Doch mehr erschauerte ihn, wie der Schrei in der Tonhöhe anstieg und zum Angstschreien eines kleinen Kindes und dann zum hilflosen Plärren eines Babys wurde. Dann war es wieder still über der "Arabella".
"Runter vom Schiff!" hörte Wilson einen der philippinischen Matrosen in seiner Heimatsprache rufen. Wildes Rufen und Rennen folgte. Wilson verwünschte den Umstand, seine Beretta nicht eingesteckt zu haben. Doch was hätte er jetzt noch damit ausrichten können. Dennoch. Er war ein ranghoher Offizier. Er musste die Mannschaft beruhigen.
"Bleibt auf Posten! Vielleicht kriegt Crake die Notstromversorgung zum laufen", befahl Wilson und kletterte im halsbrecherischen Tempo die Jakobsleiter hinunter. Auf dem Oberdeck traf er Crake Morgan. der viertelafrikanische Ingenieursassistent hielt seine Videokamera auf das Achterdeck gerichtet. Wilson wollte ihn gerade anfahren, was ihm einfiel, seinen Posten zu verlassen, als ihm klar wurde, dass ja alle Mann an Deck befohlen worden waren.
"Die Notstromaggregate springen nicht an. Der Chief hat alles versucht, sogar die alte Dampfmaschine, die irgendso'n Spaßvogel im Schiff verbaut hat, um Notstrom zu machen. Weiß der Teufel, wie das passiert ist", blaffte Morgan und zielte weiter aufs Achterdeck. von dort stürmten gerade drei Dutzend Philippinos zu den Rettungsbooten. Und nun sah Wilson ganz nahe, was er vorhin nur durch das Nachtglas gesehen hatte.
Über dem Achterdeck schwebte, ein unter dem wilden Rufen und Rennen kaum vernehmliches Brummen von sich gebend, ein Ungetüm mit schwirrenden Flügeln. Wilson sah die mehr als zwei Meter hervorragenden haarigen Insektenfühler, die wahrlich wie nach verheißungsvollen Signalen suchende Antennen hin und her, auf und abschwangen. Gerade zielten die haarigen Auswüchse auf Clayton, den Chefingenieur der "Arabella Worthington". Dieser hatte im Gegensatz zu Wilson eine Waffe mit und zielte gerade damit auf das beharrlich über dem Deck brummende Ungeheuer. Wilsons Taschenlampenstrahl reichte gerade weit genug, um die sich nun abspielende Szene klar zu erkennen. Auch Crakes auf die Kamera gepflanzter Scheinwerfer bot die nötige Beleuchtung.
Clayton zielte mit seiner Walter PPK auf eines der im Widerschein glitzernden Facettenaugen jenes überlebensgroßen Insektes und drückte ab. Mündungsfeuer blitzte auf. Der Knall übertönte die hektischen Geräusche der zu den Booten hastenden. Im nächsten Moment hörte Wilson ein leises Schwirren und sah dann, wie einer der Matrosen zusammenzuckte und laut schreiend in die Knie ging. Offenbar hatte ein Querschläger ihn getroffen. Das angezielte Insekt stieg einen Meter aufwärts und bot dem Ingenieur die schuppige schwarze Unterseite. Clayton drückte wieder ab. Diesmal hörte Wilson gleichzeitig mit dem Knall das unheilvolle Sirren einer an seinem Kopf vorbeisausenden Kugel. Fast hätte die ihn erwischt.
"Clay, weg da. Das Biest ist kugelfest!" rief Wilson. Er dachte, dass der gigantische Käfer nun seine mörderischen Beißzangen gegen den Ingenieur einsetzen würde. Doch was passierte war wesentlich unheimlicher.
Clayton hob noch einmal die Waffe. Da begann seine Gestalt im Licht des Kamerascheinwerfers zu flimmern wie bei einen Fernseher mit schlechtem Empfang. Clayton begann zu schreien, als jage ihm jemand eine höllische Angst oder unerträgliche Schmerzen ein. Dabei sprossen auf seinem kahlen Oberkopf erst flaumartige und dann immer dichter wachsende Haare. Clayton schrie weiter. Doch er zuckte und wand sich nicht. Er stieß nur diese Angstschreie aus. Dann sah Wilson, wie der Ingenieur immer schlanker wurde. Die seiner Leibesfülle angemessene Uniform wurde immer weiter. Clayton verlor erst an Körperfülle und dann an Größe. Er schrumpfte innerhalb einer halben Minute zusammen. Jetzt erkannte Wilson, was Mathews passiert war. Clayton wurde nicht einfach kleiner, sondern er wurde jünger. Er wurde wieder zum Kind!
"Alle Mann von Bord!" rief Wilson über Claytons Schreie hinweg. Doch die Männer standen angsterstarrt da und beobachteten das unheimliche Geschehen. Clayton war nun zum gerade dreijährigen Jungen zurückgeschrumpft. Fünf Sekunden später war er ein wimmerndes Kleinkind von gerade einem Jahr, um dann, innerhalb von zwei Sekunden, zu einem wild schreienden Baby zurückzuschrumpfen. Die Uniform war bei dieser rasanten Wiederverjüngung restlos in Nichts aufgelöst worden. Für zwei volle Sekunden lag das Wesen, das früher ein beleibter wie begabter Mittfünfziger gewesen war, laut plärrend auf dem Verdeck. Dann fiel es innerhalb eines Liedschlages in sich zusammen, schien regelrecht wie eine Schneeflocke auf heißer Herdplatte zu schmelzen. Wilson hörte nur noch einen letzten, wimmernden Aufschrei. Dann war Clayton fort. Der über dem Deck schwebende Käfer öffnete seine Beißzangen weit, als wolle er jetzt wen packen. Eine Sekunde später schnappten die Zangen ins Leere.
"Los, runter vom Schiff ihr alle!" rief Wilson. Er wusste, dass ihnen da was begegnet war, das nicht von dieser Welt war. Allerdings war das Monsterinsekt nicht darauf aus, auch nur einen leben zu lassen. Es brummte vorwärts, genau auf Crakes Scheinwerfer zu. Wilson wollte Crake die Kamera entreißen, das Licht ausknipsen. Doch da hatte der Käfer ihn als nächstes Opfer ausgewählt. Wilson sah noch die Deckflügel des Ungeheuers. Auf jeder Seite trug es zehn kreisrunde, im Lichtschein golden glitzernde, handgroße Punkte. Dann war das Biest über alle anderen Besatzungsmitglieder hinweggesurrt. Crakes Scheinwerfer erlosch. Ein derber Fluch des Ingenieurassistenten verriet, das er das Licht nicht freiwillig gelöscht hatte. Dann war der Riesenkäfer genau über Wilson.
"Verschwinde, du Monster!" rief Wilson. Doch er wusste, dass das genauso sinnvoll war, wie eine niedergehende Steinlawine anzuhalten. Dann fühlte er das Zuschnappen. Es waren jedoch nicht die mörderischen Mandibeln der Horrorkreatur, sondern etwas wie eine unsichtbare Riesenfaust, die ihn zu zerquetschen trachtete. Wilson fühlte unbändigen Schmerz in allen Körperteilen. Vor seinen Augen flirrte es bläulich-rot. Dann war ihm, als sähe er einen rasend schnell rückwärts ablaufenden Film vor seinen Augen. Der Film zeigte sein Leben. Er sah sich auf dem Schiff, wie er als unbedarfter Bursche darauf angeheuert hatte und wie er vorher als Matrose auf Frachtern und Flussfähren gearbeitet hatte. Er sah sich als Schuljungen in schnieken Schuluniformen. Er sah sich an der Hand seiner Eltern vor dem unheimlichen, grauen Gebäude stehen, seine Grundschule in Toronto. Dann sah er sich mit Förmchen und Schaufel in einem Sandkasten, drei viel größere Jungen vor sich, die ihn gemein angrinsten. Und zu alle dem schrie er seinen Schmerz hinaus in die Welt. Dann fühlte er, wie er hinfiel. Doch sehen konnte er nur seine auf dreifache Größe angewachsene Mutter, die ihn in die Arme nahm, um ihn zu trösten. Dann, mit einem letzten lauten Schrei, spürte er, wie die mörderische Kraft, die ihn quälte, noch einmal voll zudrückte. Einen Moment sah er nur Dunkelheit um sich und hörte lautes, regelmäßiges Wummern. Dann fühlte er, wie er schwebte, völlig frei von Schmerzen und Angst trieb er in dieser Dunkelheit. Er hörte eine lockende Frauenstimme: "Komm sei mein! sagen. Dann sah er vor sich den aufgesperrten Riesenschlund ohne Zähne und Zunge. Ein gewaltiger sog packte ihn und zog ihn geradewegs dort hinein. Doch er empfand keine Angst, auch dann nicht, als er in einen engen Schacht hineingeriet, an dessen ende ein bläulich-rotes Glühen leuchtete. In diese Glut wurde er hineingerissen. Noch einmal spürte er Schmerzen, es war, als zerreiße ihn etwas. Das war aber auch die letzte Empfindung, die Thomas Wilson verspüren konnte.
Crake Morgan sah, wie sein Kamerad innerhalb von einer Minute auf Babygröße schrumpfte und dann mit einem letzten Aufschrei regelrecht in sich zusammenfiel und verschwand. Da wusste Morgan, worin die eigentliche Gefahr dieses Ungeheuers bestand. Er meinte noch, Wilson wie einen flüchtigen Schemen nach oben steigen zu sehen. Er wusste, was er zu tun hatte. Er rannte los, warf sich ins Gewühl seiner Kameraden und rannte um sein Leben. Er dachte daran, dass er das Ungeheuer auf Video gebannt hatte. Diese Aufnahmen mussten unbedingt gerettet werden. Doch die Kamera war genauso ausgefallen wie die Bordelektrik. Crake kümmerte es nicht. Es reichte sicher, wenn er in eines der Boote gelangte und vom Schiff wegkam. Da hörte er das unheilvolle Brummen über sich. Er wusste, jetzt war er dran. Doch er wollte nicht so sterben,eine art inversen Tod. Er wusste, dass dieses Monster über ihm so Beute machte. Woher er das wusste war ihm nicht klar. Aber er wollte so nicht sterben.
Sie fühlte das neue Leben in sich. Es würde in dieser Nacht zur Welt kommen. Sie fühlte seine Bewegungen und spürte ihren bereits angeregten Geist. Dieses Kind würde wieder eine Tochter werden, eine aus ihr selbst hervorgehende, machtvolle Trägerin ihres Erbes, wie die acht zuvor geborenen. Sie, die Königin des Lebens und der Jahreszeiten, blickte in die silberne Schüssel hinein, die ihr als Spiegel diente. Die neunte Schwangerschaft hatte sie wieder sehr stark anschwellen lassen. Ihr Gesicht war rund wie eine Kokosnuss. Ihre goldbraune Haut wirkte angejahrt und trocken. Was wirklich jung und kraftvoll an ihr war waren die dunkelbraunen Augen. Wieder regte sich das neue Leben in ihr. Sie fühlte, dass es endlich ans Licht wollte und sehnte den Moment herbei, wo sie es zum ersten Mal in den Armen halten würde. "Gib mich frei, Mutter!" vermeinte sie das ungeborene Kind flüstern zu hören. Das ging auch nur, weil sie wie bei den acht anderen einen Teil ihrer körperlichen und seelischen Beschaffenheit ausgelagert hatte, um diese in dem neuen Kind heranreifen zu lassen. Diese Tochter würde was besonderes werden. Endlich hatte sie die richtigen Rituale gefunden, um ihr, der Jüngsten, die vollständige Unabhängigkeit von lebenden Wesen zu geben. Sie würde vom Lauf der Gestirne selbst genährt werden, die Zeit selbst trinken können wie ein Fisch das ihn umfließende Wasser.
Sie rief in Gedanken nach ihrer unterworfenen Dienerin, die ihr als Amme ihres Kindes zur Seite stehen sollte. Ihr Ruf wurde gehört. Aus dem Nichts heraus trat Marlania, die Nährende, durch die erste Geburt dauerhaft milchgebende Amme aus dem Volk der Zweistromnomaden. Doch sie hörte auch die geistigen Stimmen ihrer bereits geborenen und zu wunderschönen wie mächtigen Frauen herangewachsenen Töchter. Diese waren nicht besonders angetan davon, dass ihre Mutter noch eine Schwester für sie trug. Denn sie wussten, dass diese ihnen überlegen sein würde, weil sie keine lebende Nahrungsquelle mehr benötigen würde. Sie hörte das argwöhnische Wispern. Doch sie war die Mutter, die Herrin, die unbestreitbare Gebieterin. Sie hatte das Ritual des Lebenskreises dreimal durchgeführt, nicht nur einmal wie bei den acht anderen. Dabei hatte sie dem Auge der Ewigkeit fünf Tränen entrungen, von denen sie für jedes Ritual eine benötigt hatte und die beiden letzten in ihren Leib hineingetröpfelt hatte, als die aus wirbelndem Licht bestehende Zusammenballung aus Lebens- und Zauberkraft dort hineingezogen worden war. Sie dachte daran, dass sie zur Durchführung dieses Rituals drei junge Mädchen aus Marlanias Volk getötet hatte, aber auch drei aus Stücken ihrer eigenen Haut hergestellte jüngere Abbilder von sich selbst getötet hatte, um die Größe ihres Opfers zu verstärken. Doch die Schwangerschaft hatte die üblichen zehn Mondwechsel gedauert. Doch heute, in der Neumondnacht vor der Sommersonnenwende, würde die neunte Tochter zur Welt kommen.
"Gib mich frei! Lass mich endlich raus!" forderte die leise Stimme ihres ungeborenen Kindes, die in ihrem Geist klang. Soweit waren die anderen acht nie gewesen, dass sie schon vor der Geburt klare Gedanken an sie übermitteln konnten. Einen winzigen Moment lang dachte die Königin des Lebens und der Jahreszeiten daran, ob sie nicht vielleicht doch einen entscheidenden Fehler begangen hatte. Doch dann wischte sie diesen Gedanken fort. Sie wollte ihr Lebenswerk vollenden, neun vaterlos gezeugte Töchter, Herrinnen über die kurzlebigen Menschen. Selbst wenn sie dabei stück für Stück von sich selbst geopfert hatte, so würde sie in jeder von ihnen weiterleben und im Verbund eine Seele in neun Körpern sein. Sie dachte spöttisch an ihre Schwester Ashtaria. Die hatte sich von ihr abgewandt, nachdem sie die körperliche Zuwendung eines Mannes gekostet hatte und meinte, auf die übliche Weise Nachkommen zu erbrüten. Sie waren im Streit auseinandergegangen, weil Ashtaria meinte, dem Erhalt des Lebens alles zu unterwerfen, während sie, Lahilliota, die Mehrung der eigenen Macht und die Unsterblichkeit erstrebte.
Die Sonne versank hinter dem Berg, der für sie das Zuhause war, Heim und Geburtshaus zugleich. Da sie den kurzen Weg nicht mehr gehen durfte, bis die neunte Tochter sicher geboren war, winkte sie Marlania zu, ihr über die Treppen zu folgen. Mit mächtigen Gesten eines Palmholzstabes, in dessen Kern die Herzfasern eines rotgoldenen Drachens aus dem Osten enthalten waren, ließ sie die tausend Frauen schwere Steinplatte ansteigen und zur Seite gleiten. Dann sagte sie das Wort des geleitenden Lichtes, worauf aus dem Stab eine kleine, hellgelbe Lichtkugel erblühte, sich löste und über ihrem Kopf auf den halben Umfang ihres Kopfes anschwoll, um ihr den Weg zu erleuchten.
"Große Mutter, Herrin des Lebendigen, möge unsere neunte Schwester nicht unser aller Untergang werden", hörte sie die Stimmen von Ullituhilia und Hallitti, jenen Töchtern, die sie mit Hilfe von Feuerbläserblut oder dem Fleisch von Götterschlangen empfangen hatte und sie dem Feuer oder der Erde verbunden hatte, bevor diese ans Licht der Welt gedrängt hatten. Die neunte hatte sie vor einem Mond an den Lauf der Gestirne und ihren Herzschlag angebunden. Die Gestirne sollten ihr Nahrung geben.
"Gib mich endlich frei!" plärrte die reine Gedankenstimme aus den Tiefen ihres Schoßes. Da überkam sie auch schon der erste Schmerz des Zusammenziehens. Gerade soeben schaffte sie es, in der geräumigen Höhle ihren hochlehnigen Stuhl zu erreichen, dessen Sitzfläche vorne weit ausgeschnitten war. Darunter stand eine verzierte Amphore, bereit, Blut und Wasser der Niederkunft aufzunehmen. Marlania stand wie entrückt neben ihrer Herrin, in deren geistiger Abhängigkeit sie seit einem Sonnenkreis gefangen war.
Die Schreie und das Stöhnen der Gebärenden hallten von den Wänden wider. Doch diesmal dauerte es nicht so lange wie bei den anderen acht. Allerdings fühlte die gerade zur neunfachen Mutter werdende Lahilliota, wie ihr mit jeder Fingerbreite, die ihre Tochter sich aus ihrem Leib hinauszwengte, ein Teil ihrer Kraft verschwand. Sie fühlte, wie ihre Haut austrocknete und hörte ihr Herz immer schneller in den Ohren pochen. Sie merkte, wie die Niederkunft ihr immer mehr Lebenskraft entzog, so wie ihre bisherigen Töchter anderen Menschenwesen Lebenskraft entziehen konnten. Dann war der kleine Kopf der neunten Tochter aus ihr heraus. Sie fühlte, wie das kleine Mädchen sich von alleine seinen Weg in die Welt erkämpfte. "Schneller! Gib mich frei!" hörte sie die Stimme der gerade erst zur Welt kommenden neunten Tochter, die sie Errithalaia nennen wollte, was in der erhabenen Sprache ihrer Vorfahren aus dem versunkenen Land "Die überdauernde" hieß.
Marlania hatte bisher die Geburt ihres neuen Zöglings mit der Gefühllosigkeit der unter starkem Zauber stehenden verfolgt. Doch nun erkannte sie, wie ihre Herrin immer älter aussah. Ihr tiefschwarzes Haar ergraute zusehens, ihre Haut wurde immer faltiger und trockener. Die bisher so straff und üppig gerundeten Brüste senkten sich unter der Last der in ihnen bereitgehaltenen Milch immer weiter nach unten. Die Herrin verlor Lebensjahre. Und mit jedem verwehenden Jahrzehnt löste sich der geistige Klammergriff, der Marlanias Willen fesselte. Sie erkannte jetzt, dass sie einer dunklen Göttin, vielleicht auch einer niederen Dämonin, dabei helfen sollte, ihre Brut großzuziehen. Doch noch hielt die geistige Umklammerung sie davon ab, einfach so zu fliehen. Dann geschah das grauenvolle.
Blutigrot und bis auf wenige Haare völlig kahl erschien der Kopf des neuen Kindes im Licht der Zauberkugel. Dann kamen die Schultern frei. Wieder war es so, als ob die Herrin ein Jahrzehnt älter wurde. Jetzt wirkte sie nur noch wie ein aufgedunsener Ledersack. Zum ersten Mal konnte Marlania sowas wie Angst in den immer trüber werdenden Augen der anderen erkennen. Zähne fielen ihr aus dem Mund und zersprangen zu Staub, als sie auf den Boden fielen. Doch es kam kein Blut aus den Zahnlücken. Jetzt selbst zum zahnlosen Geschöpf wie das ihr gerade entschlüpfende Wesen werdend, stöhnte und wimmerte die Herrin immer qualvoller. Doch die unheilvolle Niederkunft ging weiter. Stück für Stück schob sich die neunte Tochter aus dem bisher so sicheren Mutterleib heraus. Marlania fühlte unvermittelt den Drang, das kleine Mädchen sicher auf die Welt zu holen. Sie durfte sie nicht fallen und sterben lassen. So griff sie mit ihren glatten Händen nach dem Kopf des zwischen Werden und Sein steckenden Kindes. "Zieh mich ganz frei, Kurzlebige!" hörte sie auf einmal die unheilvolle Stimme ihrer neuen Herrin, in der ein Teil der Stimme ihrer bisherigen Gebieterin mitschwang.
"Nein, töte sie. Sie entreißt mir mein Leben!" stieß Lahilliota aus. Doch Marlania konnte diesen Befehl nicht befolgen. Sie zog den Körper des Kindes erst behutsam und dann entschlossen zu sich heran. Dann kam er ganz frei. Mit einem letzten lauten, mit brüchiger Stimme ausgestoßenem Schrei, vollendete Lahilliota die neunte Geburt. Gleichzeitig schrie das soeben zur Welt gebrachte Mädchen zum ersten Mal. Die Schreie vereinten sich zu einem einzigen. Und dabei geschah es, dass der Körper der Mutter nun immer dünner wurde. Ihre Haut vertrocknete und rieselte vom Körper. Die Augen brachen. Das Fleisch löste sich staubtrocken von den Knochen. Es stank nach verbranntem Fleisch. Indes zerfiel die bisher pulsierende Nabelschnur. Der nun bloße Bauchnabel gab drei Blutstropfen frei, bevor er sich schloss wie bei einem mehrere Tage alten Kind. Unvermittelt hielt Marlania das immer noch laut und fordernd schreiende Mädchen in ihren Händen. Mit jedem Atemzug des neuen Wesens meinte sie, einen rötlichen Dunsthauch vom zerfallenden Körper der Mutter ausgehen zu sehen und von dem kleinen Wesen eingesaugt zu werden. Innerhalb von nur vier Dutzend Atemzügen war von der Herrin nur noch das blanke Knochengerüst übrig. Dieses hielt sich noch einige Herzschläge lang in sitzender Stellung. Dann fiel es laut klappernd in sich zusammen. Dabei zersplitterten die Knochen zu feinem Staub, der in weißen Dunstwolken auf die Amme und das Neugeborene zuwehte. Marlania versuchte, den Drang zum Einatmen zu unterdrücken. Doch es gelang nicht. Auch wenn der Wille ihrer Gebieterin erloschen war, so hielt sie nun etwas anderes in der geistigen Gefangenschaft. Sie atmete den Staub der zerfallenen Knochen ein, genau wie das in ihren Armen schreiende und sich windende Kind. Immer noch schwebte die gelbe Lichtkugel über dem Stuhl und beschien wie eine schwächliche Tochter der Sonne den Raum.
"Nimm mich an und nähre mich!" hörte sie auf einmal die Stimme ihrer Gebieterin in ihrem Kopf. "Errithalaia, deine Herrin, befiehlt dir das." Marlania konnte nicht anders. Sie setzte sich auf den Stuhl, auf dem eben noch der Körper ihrer Gebieterin auf schauerliche Weise vergangen war. Sie legte ihre eigenen Brüste frei und umschloss das schreiende Bündel unheiligen Menschenlebens mit ihren Armen, als sei sie selbst gerade seine Mutter geworden. Wenige Augenblicke später fühlte sie schon den kleinen warmen Mund der Neugeborenen fest zuschnappen und saugen. Sie fühlte, wie dadurch ein Teil ihrer Kraft wich. Doch sie konnte sich nicht mehr dagegen wehren. Sie hatte die neunte Tochter Lahilliotas angenommen. Und damit wirkte der zweite Zauber, den Lahilliota gewirkt hatte.
"Sir, automatischer Satellitennotimpuls von Spähkreuzer Tango Lima Kilo Victor", vermeldete der diensthabende Funker, Lieutenant Don Fawley. Warum ein Junioroffizier und kein Unteroffizier Dienst an der Funkanlage der "Brady Cox" versah rührte von der Mission des Schiffes her. Es war ein wichtiger Übermittlungsknoten innerhalb eines kleinen Netzes aus schwimmenden Horch- und Spähposten, die vor allem die elektronischen Aktivitäten der Golfstaaten auskundschafteten.
"Letzte Position und Status von Tango Lima Kilo Victor, Mr. Fawley!" forderte Commander Erwin Steinway. Keine fünf Sekunden später huschten Zahlen und Buchstaben über den kleinen Statusbildschirm im Bereitschaftsraum des Kommandanten.
"Satellitenbild von der letzten Position vor Abriss der Statusmeldungen!" befahl Steinway. Denn das vom Bordstrom des Spähers entkoppelbare Sendegerät hatte eindeutig einen zeitgleichen Ausfall aller Bordsysteme einschließlich der regulären Funkanlagen vermeldet, bevor es selbst ohne weitere Anzeichen einer Störung den Betrieb einstellte."Sat-Bild kommt, Sir!" bestätigte Fawley den erhaltenen Befehl. Dann erschien auch schon eine grünlich schimmernde Ausschnittvergrößerung eines Meeresgebietes im gekennzeichneten Koordinatenraster. Der Commander sah ein alt und verrostet wirkendes Schiff, dass augenfällig ohne Bugwelle und Kielwasser auf dem Meer trib. Ein Knopfdruck des Commanders genügte, um die Ansicht umzuschalten. Jetzt sah er rote und orange Stellen auf dem Schiff und erkannte auch eine dunkelrote Spur achtern des gezeigten Schiffes. Das war die Darstellung der Wärmestrahlung des beobachteten Schiffes. Also war es vor kurzem noch mit eigener Motorkraft unterwegsgewesen. Die rechts oben eingeblendete Uhrzeit verriet dem Commander, dass die Aufnahme keine zwei Minuten alt war. Also befand sich das Schiff noch im Erfassungsbereich des Beobachtungssatelliten. Somit bestand sogar die Chance, dass das auf der Aufnahme fahrtlos dümpelnde Schiff den Satelliten als Empfangsstation für die Lasersignale benutzt hatte, um die automatisch registrierten Signale weiterzumelden. So hatten sie zwei Stellen, die die Beobachtungen und erlauschten Signale gespeichert hatten.
"Such- und Rettungshelikopter starten und zur letzten Position steuern!" befahl Commander Steinway. Danach griff er zu einem Telefonhörer. Er wählte eine nur ihm bekannte Nummer und stellte damit eine hochverschlüsselte Verbindung über fünf militärische Kommunikationssatelliten her. Als am anderen Ende der Funkstrecke jemand die Verbindung vollendete meldete der Commander nur, dass Tango Lima Kilo Victor ausgefallen sei und der Verdacht bestehe, dass der Spähkreuzer durch feindliche Gewalt außer Gefecht gesetzt worden sei. Allerdings seien auf den noch verfügbaren Bildern keine Spuren fremder Gewalteinwirkung zu erkennen. Sein Kontakt erwiderte darauf:
""Commander, wir haben die letzten Status- und Messübermittlungen erhalten. Keine Objekte im konventionellen Suchbereich. Halten Sie gegenwärtige Position und melden Sie unmittelbar an mich, wenn es etwas neues gibt!"
"Verstanden, Sir!" bestätigte Commander Steinway den Befehl. Dann trennte er die geheime Verbindung wieder.
"Position halten! Alle Maschinen stop! Anker fallen lassen!" befahl der Commander über Rundrufanlage. Dann beorderte er seinen ausführenden Offizier, Lieutenant Commander Joshua Blackwater in den schalldichten und Dank mehrfach gestaffelter Störvorrichtungen auch unbelauschbaren Bereitschaftsraum.
"Sie kennen unseren Auftrag, Josh?" erkundigte sich Steinway eigentlich überflüssigerweise bei seinem ersten Offizier.
"Rückendeckung für Zivilschiffe der NATO, vor allem Tanker und Hochseefischer, Sir", sagte Blackwater. Steinway nickte und deutete auf die verschlossene Tür und die fensterlosen Wände. Blackwater, ein angloamerikanischer Offizier Mitte dreißig mit weizenblonder Kurzhaarfrisur und wachen blauen Augen, nickte seinem Vorgesetzten zu. Dann sprach er weiter: "Dabei sollen wir die über Laser - und Richtfunk übertragenen Sendungen der im Golf stationierten Späh- und Horchposten entgegennehmen und direkt an deren Zentrale weiterleiten. Darf ich fragen, ob eines dieser Schiffe in Gefahr ist?"
"Ja, dürfen Sie, Josh", erwiederte der Kommandand und erklärte ihm, was passiert war.
"Keine weiteren Meldungen vom Schiff", erstattete der Funker vom Dienst Bericht über mögliche Lebenszeichen des beobachteten Geheimschiffes.
"Such- und Rettungshubschrauber starten. Erst einmal nur Aufklärung. Wenn da wer an Bord ist, der da nicht hingehört wollen wir nicht gleich mit lautem Getrommel verkünden, wie wichtig das Schiff für uns ist!" kommandierte Steinway.
"Josh, Sie fliegen an Stelle von Straker mit. Ich will einen Mann vor Ort haben, der in die ganze Mission eingeweiht ist."
"Aye aye, Sir", bestätigte der Lieutenant Commander den Befehl.
Eine Minute Später heulte die Turbine des schnittigen Helikopters auf. Die Rotorblätter kreisten immer schneller. Dann hob die Maschine ab.
Der Abstand zum Ziel betrug genau 200 Seemeilen. Mit einer Reisegeschwindigkeit von 140 Knoten war diese Strecke ohne Gegenwind in einer Stunde und sechsundzwanzig Minuten zu schaffen. Das galt aber nur, wenn das Schiff den vom Satelliten erfassten Kurs hielt. Allerdings war das Ziel schon fünf Minuten nach dem Start des Hubschraubers aus der Satellitenerfassung hinaus, und einen anderen Beobachtungssatelliten darauf ansetzen wollten die eigentlichen Eigner des Spähkreuzers nicht. Womöglich hätten sie damit schlafende Hunde aufgeweckt. So musste der Pilot der Maschine sich darauf verlassen, dass die Position solange stimmte, bis er auf Radarreichweite heran war. Der Treibstoffvorrat war auf drei Stunden ausgelegt, plus der Kriegsreserve für eine halbe Stunde. Zum Glück wehte der Wind gerade aus acht-Uhr-Richtung, so dass der Helikopter auf seinem Flug nicht zu kämpfen hatte. Auf Blackwaters drängenden Befehl hin brachte der Pilot Lieutenant Dawson sein Fluggerät sogar auf satte 160 Knoten. Dennoch würde die Reise etwa eine Stunde dauern. Josh ärgerte sich darüber, dass sie nicht näher an dem Schiff stationiert gewesen waren.
"Sie ist vergangen, in unserer jüngsten Schwester eingesaugt worden", sprach Thurainilla, die Tochter der kosmischen Dunkelheit in Gedanken zu Itoluhila, der Tochter des dunklen Wassers.
"Sie schrumpft in ihr. Sie wird wie ein neues Kind selbst", erkannte Halliti, die Tochter des dunklen Feuers mit fühlbarer Beklommenheit. Sie alle waren Teile ihrer Mutter. Doch sie alle hatten bisher gedacht, dass diese noch lange leben würde. Doch nun verging sie im Körper der neunten Schwester, besser, sie verband sich damit zu einer kleinen aber sicher irgendwann mächtig werdenden Daseinsform.
"Wir dürfen sie nicht töten. Sie ist nun das verbliebene Stück unserer großen Mutter", widersprach Ullituhilia, die Tochter des schwarzen Felsens, den Gedanken ihrer Schwestern, die neunte nicht am Leben zu lassen. Doch mit jedem Atemzug der jüngsten Schwester wuchs die Abscheu, diese zu töten, der Zwang, sie sogar zu beschützen, bis sie alt und stark genug war, sich selbst zu versorgen. Das widerte die acht anderen an. Doch sie wussten, dass sie dieser Schwester genauso verbunden waren wie bereits einander.
"Wir müssen darauf achten, dass sie uns nicht zu ihren Feindinnen macht", bemerkte Ilithula, die Tochter des dunklen Windes, die vom Gesicht her so aussah, als sei sie nicht älter als neun Sonnenkreise geworden, was womöglich am Saft der immergrünen Segelstaude lag, mit deren Hilfe sie ihre Mutter einst als reine Kraftkugel erschaffen und dann in sich aufgenommen hatte. Es konnte aber auch an den vier kleinen Mädchen liegen, die Lahilliota für ihr Opfer am Halse aufgehängt hatte.
"Die Unterworfene hat die Schwester angenommen. Damit ist sie nun unberührbar für uns, solange sie hilflos und schwach ist", stellte Tarlahilia fest, die im Flimmerlicht des blauen Kranzes der vom Mond verdeckten Sonne erzeugt worden war.
Kaum dass Marlania das kleine Mädchen angenommen hatte öffnete sich der große Stein hinter dem Gebärstuhl. Mehrere Amphoren kamen zum Vorschein. "Für die neunte meiner Töchter", schwebte die Stimme ihrer Herrin aus der leeren Luft in ihre Ohren hinein. Marlania wandte sich wieder der Neugeborenen zu, die sie als ihre Amme erkannt hatte. Erst als das wilde Saugen nachließ und die Kleine schlief konnte sich Marlania darauf besinnen, was der Stein freigelegt hatte. Sie erhob sich und fühlte, dass ihr ein Gutteil ihrer Kraft fehlte. Sie torkelte wie jemand im Rausch vergorener Säfte hin zu dem Stein. Dann holte sie heraus, was darin bereitgehalten wurde. Unvermittelt drangen Bilder in ihren Kopf ein, die mit Lauten verbunden waren. Auf einmal verstand sie, was die Zeichen sagten, die auf den Amphoren eingegraben waren. Hatte sie vorher nicht gewusst, was die Zeichen der Schreiber sagten, so verstand sie jetzt alles. Sie konnte auf einmal lesen.
"Das Erbe meines Wissens, für Kopf und Hände meiner neunten Tochter", las sie auf der größeren Amphore. "Die Aufgabe des Lebens, für Kopf und Hände meiner neunten Tochter", las sie auf der zweiten Amphore.
"Herrin, ich werde deine neunte Tochter hüten, bis sie mich nicht mehr braucht", sagte sie eher unfreiwillig, als sie die Hand auf eine Amphore legte, auf deren Außenwand ihr Name in Lautzeichen eingegraben war.
In den anderen Räumen der unterirdischen Behausung fand sie Windeln und Seidenkleidung für die Tochter der vergangenen Königin. Als sie die Neugeborene sorgfältig gewickelt und bekleidet hatte tauchten vier schöne junge Frauen aus dem Nichts heraus bei ihr auf. Die gelbe Lichtkugel, die bis dahin wie eine kleine Sonne mit ihr mitgewandert war, erlosch unvermittelt. "Oh, haben wir Mutters geleitendes Licht verscheucht", hörte Marlania die eine der vier lachen. "Tarlahilia, mach du bitte licht!"
"Aber sicher doch, Ilithula", sagte eine zweite Stimme. Indes wand sich die Neugeborene in Marlanias Armen und richtete sich auf die neuen Stimmen aus. Dann erschien über einer von ihnen eine kleinere, aber hlllere Lichtkugel. Sie stieg hinauf zur steinernen Decke und verharrte dort.
"Wir sind die Schwestern von ihr", sagte jene, die vom Gesicht her wie eine Neunjährige aussah, den voll erblühten Körper einer Frau besaß. "Das sind Tarlahilia, Hallitti, Itoluhila und Eranilithanila", stellte sich die grünäugige vor. Marlania dachte daran, dass diese Frauen unmöglich Schwestern waren. Sie ähnelten einander nicht im geringsten. Vor allem der Unterschied zwischen Tarlahilia und Hallitti war zu groß, um sie einander verwandt erscheinen zu lassen. Doch sie spürte irgendwie, dass diese Frauen gleichartig waren. Als die Neugeborene zum ersten Mal ihre Augen aufschlug, die nicht wie bei den meisten Säuglingen hellblau sondern smaragdgrün glänzten. Der erste Blick der smaragdgrünen Augen traf die Amme. Diese fühlte, wie die bereits bestehende Bindung noch stärker wurde. Dann sah die Kleine ihre vier Schwestern an. Diese traten näher heran und lächelten gezwungenermaßen. "Die Anderen kommen gleich auch noch, Kleines. Wie heißt du eigentlich?" wollte die dunkelhäutige Tarlahilia wissen. Marlania sagte es im selben Augenblick, als es auch in ihrem Kopf erklang. Die vier Schwestern verzogen die Gesichter.
"Die Überdauernde", knurrte Hallitti, die rothaarige Frau mit den goldenen Augen.
"Es kann ja nicht jede Hallitti, Lodern, heißen", feixte Ilithula.
"Ja, oder Ilithula, die Windsäuselnde", bekam sie es von Halliti zurück.
"Heh, Amme, hast du auch schon ihr Erbe gefunden?" fragte Tarlahilia. Diese nickte. "Dann nimm es mit dir, wenn wir dich in dein eigenes Haus zurückbringen, wo du sie hegen und pflegen sollst", sagte Halliti. Dann tauchten vier weitere Frauen auf und stellten sich vor. Vor allem Itoluhila, was die fließende hieß, besah sich die neue Schwester ganz genau. Aber auch die kleine zierliche Thurainilla, was "die Schattensprecherin" hieß, betrachtete Errithalaia sehr genau. Danach bildeten sie einen großen Halbkreis. Marlania nahm die Amphoren, die sie noch nicht geöffnet hatte, setzte eine davon auf den Kopf und hielt die andere unter dem linken Arm. Die kleine Errithalaia trug sie in einem Tuch auf dem Rücken. Nun bildeten die acht Frauen einen Vollkreis um sie. "Denke an dein Zuhause!" befahl Ullituhilia, was "die Felsenfeste" hieß. Marlania dachte an die kleine Hütte, die ihr die Herrin vor drei Monden zugewiesen hatte, als Marlania von ihrem Stamm weggeholt worden war. Unvermittelt meinte sie, in einen Strudel aus Farben und schwarzen Schlieren hineinzufallen. Dann stand sie schon vor dieser Hütte und blickte in den wolkenlosen Himmel hinauf. Nur die Sterne gaben ihr ewiges mattes Licht ab. Der Mond musste erst wieder neu erwachsen.
"So hege und pflege die kleine, solange du kannst. Denn in ihr steckt das Leben unserer Mutter", sagte Halliti noch. Dann verschwanden die acht Frauen, die schon jetzt wussten, dass sie mit der jüngsten Schwester mehr Verdruss als Freude haben würden.
"Haben wir mit sowas wie einer Selbstvernichtungsschaltung oder dergleichen zu rechnen, Sir?" fragte Hubschrauberpilot Dawson seinen ranghöheren Begleiter.
"Laut der Spezifikationen sind die geheimen Vorrichtungen durch Selbstvernichtungsschaltungen geschützt. Ich habe aber den Codesatz zur Entschärfung der Schaltung bei mir."
"Verstanden, Sir. Ich hatte das nämlich mal, dass ein Schiff Seenot gemeldet hat und anfliegende Hubschrauber dann mit Stinger-Raketen beschossen hat. Wer es doch schaffte zu landen hat dabei einen Minensatz ausgelöst, der das Schiff unter ihm und allen anderen hat versinken lassen. Das war vor drei Jahren an der Küste Somalias", erwähnte der Pilot.
"Das Schiff ist als Hochseefischereischiff mit Fabrikationsanlagen ausgelegt. Nach meinen Informationen führt es außer den erwähnten Selbstvernichtungsvorrichtungen keine Waffen und Sprengmittel mit sich", erwiderte Blackwater, um Dawson und sich selbst zu beruhigen.
"Wir haben das Ziel gleich erreicht", vermeldete Dawson. Blackwater sah das auf dem Wasser treibende Schiff bereits schon. Die Infraroterfassung zeigte, dass der Antrieb wahrhaftig seit mehr als einer Stunde abgestellt war. Überhaupt strahlte das Schiff keine Wärmesignatur mehr aus. Selbst die Wärmeabfuhranlagen von den Hochleistungskühlaggregaten für den eingelagerten Fang waren außer Betrieb. Das Schiff war technisch tot.
"Was immer das Schiff erledigt hat hat keine Spuren hinterlassen", kommentierte Blackwater die per Direktübermittlung an sein Basisschiff gesendeten Restlicht- und Infrarotaufnahmen.
"Zeichen von Überlebenden?" wollte Steinway wissen, der in höchst eigener Person den Funkkontakt hielt.
"Keine menschlichen Wärmequellen. Verdeck frei, keine Spuren äußerer Gewalteinwirkung."
Drohne in Marsch setzen!" befahl der Kapitän der "Brady Cox". Blackwater bestätigte den Befehl. Dawson führte ihn aus.Das einem handelsüblichen Modellflugzeug ähnelnde Fluggerät verließ die Parkbucht zwischen den Landekufen und surrte mit seinem Hochleistungselektroantrieb die letzten zweitausend Meter zum Schiff hinüber. Unterwegs machte es bereits Messungen, ob vom Ziel Radioaktivität ausging. Doch die Strahlung entsprach dem hierorts üblichen Standardwert. Als die Drohne über das leere Verdeck surrte nahmen mehrere kleine Vorrichtungen Luftproben und untersuchten sie auf Gefahrenstoffe oder mögliche Krankheitskeime, die einem ungeschützten Menschen gefährlich werden konnten. An Deck war nichts dergleichen. Dafür fand das unbemannte Fluggerät jedoch etwas anderes.
"Da liegt ein Toter, männlich, gemischtrassig", stellte Blackwater fest. "Mache Gesichtsaufnahme zur Identifikation."
"Verstanden", erwiderte Steinway.
"Moment, die Drohne mist zwei Teile pro Million HCN in der Nähe des Toten", meldete Dawson, der die Messanzeigen der ABC-Drohne überwachte, während der Hubschrauber mit Autopilotunterstützung die erreichte Position und Höhe beibehielt. Das surrende Fluggerät flog knapp über dem Gesicht des Toten dahin und maß. "Der Mann hat sich eine Ladung Blausäure verabreicht. Suizidkapsel, wie in klassischen Agentenfilmen."
"Der Mann heißt Crake Morgan und war Ingenieursassistent an Bord des Schiffes", teilte Steinway der Hubschrauberbesatzung mit. "Suche nach möglichen weiteren Toten und Todesursachen fortsetzen. Keine Landung zum jetzigen Zeitpunkt!"
"Sir, Melde Treibstoffvorrat bei neunzig Minuten plus Reserve", schaltete sich Dawson in die Unterhaltung ein.
"Suchen Sie nach weiteren Besatzungsmitgliedern!" befahl der Commander an Bord der "Brady Cox".
Weil die Drohne kein offenes Schott fand kam eine Vorrichtung zum Einsatz, die für solche Fälle eingebaut war. Ein winziger Roboterarm mit einem Diamantbohrer konnte verschlossene Türen passierbar machen. Die Drohne bohrte hierfür dreißig Löcher in einem ihrer Spannweite großen Kreis. Als die Löcher gebohrt waren brauchte das Fluggerät nur das freigebohrte Metallstück anzustoßen, damit es in den dahinterliegenden Raum fiel. Da die Drohne kein Mikrofon an Bord hatte bekamen die beiden Männer im über dem Schiff verharrenden Hubschrauber nicht mit, wie es auf den Boden schlug. Hätten sie hören können, dass das Stück nicht laut scheppernd aufschlug, sondern den Boden mit einem leisen Knirschen durchbrach, wären sie bereits argwöhnisch geworden. So sahen sie erst beim Durchflug der Drohne, dass das von ihr ausgebohrte Metallstück ein Loch in den Boden geschlagen hatte. Überhaupt wirkten die Metallplanken stark verrostet, als dümpele das Schiff schon seit mehr als vierzig Jahren ungewartet auf dem Meer herum.
"Das gibt's nicht", bemerkte Blackwater. Dann ließ er, wo die Drohne schon mal ein Loch mehr gemacht hatte, das kleine ABC-Spürflugzeug durch den stark verrosteten Boden auf das nächste Unterdeck hinuntergleiten. Auch dort war ein Loch im Boden. Mehr noch. Der ganze Boden war halb durchgebrochen. Und jetzt konnten die beiden Männer mitverfolgen, dass Wasser von unten eindrang. Es breitete sich über das unterste Deck aus und flutete immer schneller die Gänge und Räume. Weil alles aus Metall und Holz hoffnungslos verrostet und vermodert war brach es sich dabei weitere Bahn. Die aus den verschlossenen Räumnen entweichende Luft schüttelte die immer noch herumfliegende Drohne kräftig durch, als sie durch den kleinen Durchlass strömte, den das unbemannte Spürflugzeug gebohrt hatte.
"Das kann nicht sein. Aber ich sehe es", drückte Blackwater sein Erstaunen aus. Da sah er, wie ein Teil der vorderen Backbordseitenwand aufriss. Offenbar hatte die an dieser Stelle gestaute Luft den kritischen Druck überschritten. Jetzt erst erkannte er das Ausmaß der Verwitterung. Nicht nur die Deckplanken waren vom Rost zerfressen, sondern auch die Innenseiten der Bordwand. Das nun ins Schiff dringende Wasser durchbrach die eben so noch zusammengehaltene Struktur. Je schneller das Wasser ins Schiff flutete, desto schneller und größer entstanden weitere Lecks in der Außenwand. Dann, nur eine Minute nach dem ersten Riss in der Bordwand, sackte das Schiff komplett in die Tiefe, als sei es mal eben mit zwanzigtausend Tonnen Blei beladen worden. Es war aber wohl nur Wasser", erkannte Blackwater, dem der Schreck und die Faszination über das zu sehende ins Gesicht geschrieben standen.
"Das Schiff versinkt wie ein Stein", kommentierte er das Geschehen. Die vom Rost zersetzten Metallteile lösten sich auf. Das Schiff fiel förmlich auseinander. Dabei konnten sie nun auch erkennen, dass die Unterseite des Oberdecks ebenso stark angerostet war, dass die Deckplatten beim Sinken auseinanderfielen. Was in diesem Schiff aus Plastik bestanden hatte oder Öl enthielt tauchte an der Oberfläche auf und wippte auf den Wellen. Das Schiff indes verschwand völlig unter der Wasseroberfläche. Das unbemannte Spürflugzeug verschwand mit dem Schiff in der Tiefe.
"Das ist oberste Geheimhaltungsstufe", teilte Commander Steinway mit. "Bringen Sie das Videomaterial umgehend zurück."
"Die Boote sind mit untergegangen", erwähnte Dawson. Dann sahen sie aus der Höhe, in der sie schwebten, wie größere Bündel an die Oberfläche kamen, Mit der Nahaufnahmefunktion vergrößerte Dawson den gesehenen Ausschnitt und erkannte die auftauchenden Objekte als Kleidungsstücke, Stiefel, Mützen, Uniformjacken und -hosen. Dazwischen dümpelte der tote Crake Morgan, der einzige körperlich übriggebliebene Mann der "Arabella Worthington".
"Umgehend zurückkehren!" rief Steinway noch einmal über Funk. Doch die Maschine war bereits unterwegs.
"Wie geht sowas?" wollte Dawson von Blackwater wissen. Doch dieser musste eingestehen, das auch nicht zu wissen.
Wieder an Bord der "Brady Cox" betrat Blackwater den gesicherten Bereitschaftsraum. Dort saß Commander Steinway vor einem abgesicherten Computerterminal und deutete auf den großen Flüssigkristallbildschirm.
"Die Eigner der "Arabella" haben das Schiff als nicht existent klassifiziert. Es war also nicht im Einsatz und ist auch nicht versunken. Soviel zu Ihrer Mission, Josh", begrüßte Steinway seinen XO. Dieser nickte. Dann sah er auf dem Computerbildschirm die Gesichter von vier Männern, von denen er einen erkannte: Crake Morgan.
"Die Gentlemen hier waren die einzigen vier, die Zugang und Zugriff auf die geheime Ausrüstung hatten. Sie haben nur Morgans Leichnam gefunden?" fragte Steinway. "Ja, Sir", bestätigte Blackwater.
"Das heißt vom Kapitän, seinem XO und dem Smutje fehlt jede Spur. Wir wissen also nicht, ob nicht einer von ihnen Material von Bord geschafft oder an eine andere Stelle weitergereicht hat."
"Die Boote waren vollzählig, Sir. Auch die fünf großen Rettungsinseln waren vorhanden. Ich habe mir die Aufnahmen auf dem Rückflug noch einmal genau angesehen", sagte Blackwater diensteifrig.
"Die Eigner der "Arabella" sind höchst beunruhigt, weil sie nicht wissen, ob nicht einer der Vermissten oder der Tote noch wem anderen Bilder der Ereignisse übermittelt hat. Bei der Gelegenheit durfte ich erfahren, dass es Morgan vor seinem Freitod gelungen sein muss, einige Videoaufnahmen an einen Satelliten zu senden. Die Bilder und Tonspuren werden gerade in einer uns wohl bekannten Hauptzentrale ausgewertet. Wir bekommen sie allerdings nicht zu sehen."
"Die nicht zufällig in Langley, Virginia zu finden ist?" wagte Blackwater eine dreiste Frage.
"Nein, nicht diese Firma, sondern die von unseren Leuten", sagte Steinway. "Aber mehr kriegen Sie von mir nicht, zumal ich da auch längst nicht alles mitbekomme. Also lassen wir besser die Spekulationen. Ich hatte nur den Auftrag, das Logbuch entsprechend zu ändern und den Einsatzplan für den Heli zu ändern, dass der einen mehrstündigen Übungsflug über offener See durchgeführt hat, um den Treibstoffverbrauch zu rechtfertigen."
"Sir, ich kenne keine Waffe, die ein Schiff derartig schnell und gründlich verrosten lässt. Außerdem gab es keine Spuren weiterer Toter, nur ihre Kleidung, und die treibt jetzt frei herum. Am Ende enthält sie noch irgendwelche Hinweise auf das Schiff und seinen eigentlichen Auftrag."
"Daran wurde gedacht, Josh. Ein anderer Kreuzer soll die Sachen einsammeln, bevor sie beim amtierenden Ayatollah am Badestrand angeschwemmt werden. Wir sind jetzt offiziell raus aus diesem Fall und sollen die noch tätigen Schiffe betreuen."
"Sir, wenn der Verrottungsprozess auf biologische Weise bewerkstelligt wurde ..."
"Hätte die Drohne unbekannte Bakterien gemeldet. Viren können nicht ohne Wirtszellen aktiv werden."
"Ja, genau das ist die Frage, ob nicht ein solches Virus die restliche Besatzung getötet und dadurch korrosionsfördernde Stoffe freigesetzt hat."
"Sie sollten Ihre Freizeit anders gestalten und nicht zu viele Science-Fiction-Filme gucken, Josh. Derartige Kampfstoffe gibt es nicht. Abgesehen davon muss ich mich wiederholen: Die Drohne hätte jeden ihr fremden Stoff in der Bordluft gemeldet und auch Sporen oder Viren aufgespürt, ohne sie kennen zu müssen. Das Erkennen hätte dann die Einsatzzentrale erledigt."
"Sir, ich kann nur beurteilen, was ich gesehen habe. Und ich habe gesehen, wie ein bis vor weniger als zwei Stunden seetüchtiges Schiff in weniger als zwei Minuten wegen völliger Durchrostung versank und es keine Spuren der Besatzung gab bis auf den einen Toten, der wegen was auch immer eine Suizidkapsel geschluckt hat. Am Ende blieb der nur deshalb übrig, weil er schneller starb als was auch immer die anderen erwischt hat, Sir."
"Wir haben kein Schiff untersucht. Es gab kein Schiff, das versunken ist. Wir haben keine Angaben über ein Schiff namens "Arabella Worthington". Das ist ein Befehl, Lieutenant Commander Blackwater!" kehrte Steinway nun doch den Kommandanten heraus. Blackwater bestätigte die Order vorschriftsmäßig. Dann verließ er den Bereitschaftsraum. Draußen traf er Dawson, den Piloten. Dieser war auch auf dem Weg zum Commander.
"Na, haben wir was gesehen oder nicht?" fragte der Lieutenant den XO. Dieser deutete auf die Tür. "Lassen Sie sich von ihm sagen, was wir gesehen haben oder nicht!" erwiderte Blackwater kühl wie ein Eisberg. Dann ging er in seine Kabine. Als ranghoher Bordoffizier stand ihm eine Einzelkabine zur Verfügung. Dort öffnete er seinen wasserfesten Überseekoffer. Er fingerte vorsichtig auf dem Boden des Gepäckstücks herum und berührte eine winzige, nur mit den Fingerkuppen wahrnehmbare Stelle. Es vibrierte ein wenig. Dann fühlte er etwas wie einen aus dem Koffer wehenden Lufthauch, der ihn umstrich und die ganze Kabine durchwehte. Dann öffnete sich der Kofferboden wie von einem unsichtbaren und unhörbaren Reißverschluss. Ein Geheimfach kam zum Vorschein. Blackwater erinnerte sich daran, was sein Großvater Jeremias Blackwater zu ihm gesagt hatte, als er von diesem den Überseekoffer geschenkt bekommen hatte. "Wenn du mal was erlebst, was mit eurer Wissenschaft oder Technik nicht erklärt oder gemacht werden kann, dann schreib es bitte auf und lege es in den Koffer, sobald der weiß, dass kein Beobachter dich überwacht! Mach den Koffer dann zu und überlasse mir, was du ihm anvertraut hast!"
"Opa Jerry, das meintest du wohl", dachte Blackwater bei sich und fischte nach einem Einzelblatt vom Stapel Computerpapier. Mit einem wasserfesten Bleistift schrieb er seine Erlebnisse in Stichworten auf und nutzte dabei beide Seiten des Blattes aus. Dann legte er es in das offenbarte Geheimversteck und klappte den Koffer zu. Einen Moment lang meinte er, etwas würde sich aus der Kabine zurückziehen. Dann öffnete er den Koffer wieder. Der Boden war wieder so wie vorhin. Nichts verriet, dass er ein besonderes Geheimfach enthielt, das nur auf besondere Weise zu öffnen gewesen war. Er dachte daran, dass er den Commander nicht mit seiner wahrhaftigen Vermutung konfrontiert hatte, wieso das Schiff durchgerostet war. Auch konnte er nicht sagen, wie genau es dann abgelaufen war. Doch seine Vermutung, dass es was damit zu tun hatte, dass Morgan schneller starb als der Prozess, der die anderen erwischt hatte dauerte, blieb hartnäckig in seinem Bewusstsein.
Marlania wusste, dass sie sterben würde. Sie sah jeden Tag die ihr von den Göttern gegebenen Jahre verwehen. Jedesmal, wenn sie der Tochter ihrer in dunkler Kraft vergangenen Herrin ihre Brust gab saugte diese ihr mit der Ammenmilch die Jahre aus. Dabei war Marlania, als reife das von ihr zu hütende Kind innerlich rascher heran als ein auf rechtschaffenem Weg entstandenes Wickelkind. Zwei Monde nach ihrer Geburt konnte die kleine schon die ersten eigenen Worte sprechen. Einen halben Mond später konnte sie bereits an Wänden und Sitzmöbeln angelehnt stehen. Und als sie drei Monde alt war konnte sie schon ganz gut laufen. Doch sie trank immer noch Marlanias Milch und damit auch ihre verbleibenden Lebensjahre.
Unsichtbar für Menschenaugen wachte immer eine der acht anderen Schwestern darüber, wie sich die kleine Errithalaia entwickelte. Argwohn und auch eine gewisse Furcht trieben die acht mit großer Macht versehenen Töchter der verwehten Lahilliota an, genau zu sehen, was aus ihrer jüngsten Schwester wurde.
Als Marlania in wenigen Mondwechseln zur weißhaarigen, von den Jahren gebeugte Greisin geworden war, bekam diese gleich in ihr Denken hieneingewirkten Befehl, ihre Nachfolgerin zu erwählen. Denn auch wenn Errithalaia schon auf den eigenen Beinen laufen konnte wollte diese nur die warme Milch aus den immer tiefer hängenden, ledertrockenen Brüsten ihrer Amme trinken.
Ullituhilia, die felsenfeste, wurde Zeugin, wie Marlania an einem Tag über mehr als hundert Tausendschritte durch das Sandland wankte, bis sie in einer kleinen Ansiedlung ankam, wo sie genau auf das Haus einer gerade erst Mutter gewordenen Frau zusteuerte. Ullituhilia dachte schon, zu vereiteln, dass ihre jüngste Schwester eine neue Amme bekam. Doch als sie in ihrer kampfstarken Zweitgestalt losziehen wollte, um Marlania zu töten hörte sie die Stimme ihrer Mutter im Geist: "Rühr nicht an mein Fleisch und Blut, denn ihr seid eins!" Ullituhilia versuchte, diese Anweisung niederzuringen. Doch da war es bereits passiert. Marlania hatte das kleine Mädchen vor den Eingang der Lehmhütte hingelegt, in der die junge Mutter wohnte. Das aus dunkler Kraft hervorgebrachte Kind schrie laut und hilfesuchend. Die junge Mutter trat aus der Hütte und sah das davor abgelegte Kind. Kaum hatte dieses seine grünsteinfarbenen Augen auf die Fremde gerichtet, fühlte Ullituhilia, wie die Menschen unterwerfende Kraft ihrer Mutter auf diese Frau übergriff und ihr vormachte, dass dieses kleine Bündel Menschenleben das wichtigste sei, mit dem sie es jemals zu tun hatte. So konnte Ullithuhilia nur tatenlos zusehen, wie ihre jüngste Schwester sich an einer der zwei üppigen Rundungen festsaugte. Für Marlania war dieser Ammenwechsel jedoch tödlich. Kaum dass Errithalaia den ersten kleinen Schluck neuer ammenmilch in sich hineinschmatzte, wich der winzige Rest von Lebenskraft aus Marlania. Sie fiel zu Boden und spürte den Aufschlag auf den Boden nicht mehr. Die besorgten Menschen in dieser Ansiedlung umringten die überalterte Amme, sowie die junge Mutter, die das kleine Mädchen als zweites gerade zu umsorgendes Kind angenommen hatte. Unsichtbar für Menschenaugen beobachtete Ullituhilia, wie der nur noch aus lederartiger Haut, haardünnen Sehnen und morschen Knochen bestehende Körper der ersten Amme fortgetragen wurde. Sicher würde er verbrannt, wusste die Tochter des schwarzen Felsens. Sie wusste auch, dass ihre jüngste Schwester schneller aufwuchs. Sie konnte schon ihre Gedanken als klar verständliche Lautäußerungen in ihrem Geist vernehmen und wusste auch, dass ein Teil von Errithalaias Wesen vom inneren Selbst der gemeinsamen Mutter stammte, die aber in dieser neuen Körperform keine eigene Handlungsmöglichkeit hatte.
"Wenn sie wie wir über einen vollen Sonnenkreis gesäugt wird könnte sie noch weitere Ammen brauchen", unkte Ilithula, als ullituhilia den schwestern berichtete, was sie beobachtet hatte.
"Unsere erhabene große Mutter lebt nicht mehr. Sonst wüssten wir, welche Gabe sie unserer jüngsten Schwester übereignete", sagte Ilithula, die Tochter des düsteren Windes.
Was genau die jüngste konnte erkannten die acht Schwestern, als ihre jüngste Schwester nach nur drei weiteren Mondwechseln die zweite Amme körperlich ausgezehrt hatte, so dass diese um fünfzig oder sechzig Jahre gealtert war. Im Dorf war die Frau schon lange nicht mehr zu sehen, weil ihre Verwandten sie wegen des aufgedrängten Findelkindes verstoßen hatten, nachdem das auf übliche Weise geborene Kind innerhalb einer halben Woche zum Häufchen Haut und dünner Knochen abgemagert und dann einfach so gestorben war. Nur die Flucht hatte Janaha, die zweite Amme Errithalaias, davor bewahrt, festgenommen und öffentlich gesteinigt zu werden.
Doch der Bann Lahilliotas, der bisher jede von ihr erwählte Amme dazu zwang, sich um ihre Kinder zu kümmern, hielt Janaha davon ab, das letzte Kind der dunklen Lebenskönigin zu töten oder zu verlassen. Doch nun musste sie als Verstoßene durch die karge Landschaft ziehen, immer darauf aus, andere Menschen zu überfallen und zu berauben. Errithalaia wuchs indes auf die Größe einer zweijährigen heran. Doch immer noch wollte sie nur Milch, auch wenn ihre Zähne schon alle gewachsen waren. Da erkannten die acht Schwestern, was ihre Mutter der jüngsten vermacht hatte: Sie sog Zeit in sich auf, um selbst davon zu leben, ja durch die aufgesaugte Lebenszeit anderer schneller groß zu werden. Geistig reifte sie sogar zehn- bis zwanzigmal schneller als körperlich. Das bekam Halliti mit, als sie einmal die Beobachtung ihrer jüngsten Schwester übernahm. Unvermittelt hörte sie die Gedankenstimme einer anderen jungen Frau sagen:
"Na, gefällt dir, was ich kann, Schwester? Hat unsere Mutter doch gut hinbekommen."
"Kannst du schon in den Schriften lesen, die wir alle erhalten haben?" wollte die das dunkle Feuer beherrschende Tochter Lahilliotas wissen.
"Noch nicht. Aber wenn ich endlich kein kleines, hilfloses Kind mehr bin werde ich das tun."
"Dann musst du bald andere Nahrung zu dir nehmen, wie wir allle anderen auch", schickte Halliti zurück.
"Die beste Nahrung ist die, die von lebenden Spendern selbst geboten wird", gedankenlachte Errithalaia.
"Dann bist du nicht besser als diese langzähnigen Bluttrinker", gedankenknurrte Halliti. Darauf erhielt sie ein Lachen in ihrem Geist zur Antwort.
"Ich bin besser, viel besser als die. Denn ich trinke kein Blut, sondern pure Lebenszeit. Wusstet ihr das nicht, dass das die Gabe ist, die ich von unserer in mir aufgegangenen Mutter bekommen habe?"
"Nein, das wussten wir nicht", erwiderte Halliti mit unüberhörbarer Verbitterung und Beklemmung in ihren Gedanken.
"Dann wisst ihr das jetzt. Ich werde bald groß sein. Ihr dürft mich nicht umbringen, wenn ihr das überhaupt gekonnt hättet. Ich werde Mutters Vermächtnis sein und euch alle anführen, weil ich die größte Gabe habe, die jemand haben kann."
"Du bist ein kleines Mädchen, das meint, nur weil es laufen kann schon die ganze Welt mit Füßen treten zu können", gedankenknurrte Hallitti. Ihr war danach, Janaha in einem Hauch dunkler Flammen vergehen zu lassen. Doch als sie die unsichtbare Hand ausstreckte, um die unheilvolle Elementarkraft freizumachen, stach ihr etwas durch den Kopf in den Arm und stieß die Hand nieder. "Du darfst und du kannst mir nichts tun. Und die da gehört mir. Erst wenn ich die ganz ausgetrunken habe wird sie sterben. Und jetzt lass mich in Ruhe. Und sage den anderen, sie sollen meine Nährermütter in Ruhe lassen! Sonst werde ich die umbringen, die das versucht. Ich habe Mutters Sein in mir. Ich darf euch anderen töten."
"Glaubst du wohl, weil du Mutters niedergeschriebene Botschaften und Regeln noch nicht kennst, kleines Mädchen. Du darfst uns auch nicht töten, weil wir gleiches Fleisch und Blut und gleiches Gut von innerem Sein sind. Also spiel dich nicht als unsere neue Führerin auf!"
"Ich werde die Führerin sein, Mutters wirkliche Erbin, Trägerin ihres Wissens", bekam Hallitti zur Antwort. Dann blieb es still. Hallitti sah, wie die kleine, grünsteinäugige Errithalaia ihre vergreiste Amme Janaha an der Hand fortführte, als sei diese das kleine, hilflose Kind. Hallitti, selbst ohne Hemmungen, was den Gebrauch und Verbrauch kurzlebiger Menschen anging, stellte jetzt fest, dass ihre geachtete Mutter mit der letzten Geburt einen großen Fehler gemacht hatte, den ersten und letzten Fehler überhaupt. Was würde dieses kleine Mädchen anstellen, wenn es groß genug war, um die Wonnen der körperlichen Vereinigung zu erfahren, die den anderen acht als Nahrung dienten?
"Cariña, bin wieder zu Hause!" rief der Spätheimkehrer und zog die schwere, mit mehrfachen Sicherheitsschlössern gespickte Haustür zu. Sofort griffen die elektronischen Verriegelungen, die auch die mechanischen Verschlüsse steuerten und einrasten ließen. Der großgewachsene Mann im dunkelroten Anzug mit Lederkrawatte lauschte in die Stille. Gerade sprang der Kühlschrank in der großen Küche an. Irgendwie fühlte der Heimkehrer, dass irgendwas nicht stimmen konnte. Er sog leise aber tief die Umgebungsluft ein. Die Empfindlichkeit seiner Nase, die auf einer seltenen neurologischen Anomalie beruhte, hatte ihm neben seiner Skrupellosigkeit den in der Unterwelt zweitgefürchtetsten Namen in Sevilla und umgebung eingetragen: "El Lobo", der Wolf. Tatsächlich verriet ihm seine überragende Nase, dass neben dem Parfüm und Schminkzeug seiner langjährigen Privatgespielin Marisa noch Badeschaum und ein ihm noch unbekannter Duftstoff im Raum hing. Auch nahm seine Wolfsnase den Geruch von Sushi und gekochtem Reis wahr, der jedoch schon mehrere Stunden alt sein musste. Der fremde Duftstoff irritierte den Wolf jedoch am meisten. Hatte seine Haus- und Bettgefährtin wen anderen reingelassen? Der Geruch verriet ihm, dass außer ihm kein anderer Mann im Haus gewesen war. Das Fest mit den Geschäftspartnern aus Madrid und Barcelona war schon vier Wochen her. Selbst seine Nase konnte das nicht mehr wittern. "Marisa, wo bist du?" fragte Juan Quienteras Duarte in den Raum hinein. Er wünschte sich einmal mehr auch das scharfe Gehör eines Wolfes. Doch das hatte ihm Mutter Natur nicht gegeben. So konnte er wortwörrtlich nur seiner Nase nachgehen.
Bevor er seine langjährige Alleinunterhalterin suchte warf Lobo erst einmal seine Arbeitskleidung ab. Heute hatte er sein Kontor fünf Kilometer außerhalb von Sevilla besucht, wo er die neusten Transaktionen mit seinen südamerikanischen Partnern geprüft hatte. Dass dieses junge Ding namens Mira bei ihrem Versuch, in der Casa del Sol anzufangen von deren Geschäftsführerin als Spionin enttarnt und auf kalten Entzug gesetzt worden war stank ihm immer noch. Woher hatte diese Schlampe oder besser deren Anführer, dass Mira für ihn, El Lobo, arbeitete? Das hatte er keinem auf die Nase gebunden. Er wusste nur, dass Mira vor drei Tagen komplett verstört in einem Krankenhaus abgeliefert worden war und in ihrer Vagina ein zugeknotetes Kondom mit einer Botschaft für den Wolf gesteckt hatte: "Du warst gewarnt, Streuner!" Unterschrieben war es mit dem Bild eines Engels mit ausgebreiteten Flügeln. Er wusste, was das hieß. Doch er wollte sich nicht einfach so geschlagen geben. Er würde diesen schwarzen Engel kriegen und ihm wie einer lästigen Fliege die Flügel ausreißen und dann alle seine Mädchen erst alle hintereinander durchrammeln und dann auf die übliche Weise in sein Wahrenangebot übernehmen. Sicher, andere, die größer als er waren, hatten das bereut, sich mit dem schwarzen Engel angelegt zu haben. Aber er, der einsame Wolf, würde am Ende siegen. Denn er hatte Beziehungen, die ihm sehr bald verraten würden, wer hinter diesem Namen steckte. Einen gewissen Verdacht hatte er, dass es kein Mann war, sondern eine der Huren, die sich für frei und unabhängig hielten. Doch wer das sein sollte wusste er noch nicht.
"Cariña?" flüsterte er, als er dem Duft des Badeöls folgte und in das blaue Badezimmer ging, wo die muschelförmige Doppelbadewanne war. Der fremde Parfümgeruch war hier noch stärker. Auch nahm er den zarten Rest von Hautgeruch war, den junge Frauen verströmten, die gerade darauf ausgingen, richtig doll Liebe zu machen. Doch es war da auch eine Spur von Erregung zu riechen, eine Erregung, die Angst und Wut zugleich verbreitete. Ja, da war auch sowas wie der für ihn klar erkennbare Geruch panischer Angst. Dann stand er im blauen Badezimmer und erstarrte fast zu einer Statue.
Die Fliesen und Kacheln waren trocken. Auf der rutschfesten, wolkenweichen hellblauen Vorlage waren keine Fußabdrücke zu erkennen. der 10 mal 8 Meter messende Raum wurde von der an der Südwand aufgestellten Badewanne beherrscht. Die Milchglas-Panzerscheibe des Fensters war nicht beschlagen, ein Beweis, dass hier kein heißes Wasser war. Doch die Wanne war nicht leer. In ihr steckte ein massiver Block aus einer dunklen, beinahe undurchsichtigen Masse, die steinhart zu sein schien. Auf der oberfläche glitzerte Reif. In dem Block steckte, nur mit dem Kopf und der oberen Halspartie herausragend, der Körper einer nackten Frau mit dunkelroten Locken. Die Gesichtszüge waren erstart, die Augen weit aufgerissen. Die Arme waren unter der Oberfläche des dunklen Zeugs in gekrümmter Haltung zu erkennen, so als habe die Frau noch versucht, die Hände nach oben zu reißen. Doch was immer passiert war hatte sie offenbar zu schnell erwischt. El Lobo starrte in das Gesicht der Frau. Das war seine Marisa gewesen, sein Lieblingspferd im Stall, ein Edel-Callgirl, das vor einem Jahr von ihm persönlich als nur für ihn tätige Privatunterhalterin verdingt worden war. Sie war eingebacken in dieser dunklen, kalten Masse. Er streckte seine Hand aus und berührte die Haut im Gesicht seiner Gespielin. Er schrak zurück. Ihre Haut war eiskalt, als habe sie eine ganze lange Winternacht im Freien zugebracht. Als sein Atem auf die dunkle Masse traf, in die seine Gespielin eingebacken war, sah er, wie die darin gelösten Wassertröpfchen augenblicklich zu kleinen Eiskristallen gefroren. Er erschrak heftig. Das Zeug in der Wanne war eine Form von Eis, nicht das, was er kannte, sondern etwas, das noch kälter war als gewöhnliches Wassereis. Und dennoch konnte es nur gefrorenes Wasser sein. Dann sah er noch den breiten Wasserhahn. Von ihm hing eine glitzernde, wie aus einzelnen dunklen Glasperlen bestehende Schnur herab, die in der dunklen Eismasse verschwand. Es sah so aus, als habe jemand das einlaufende und das schon in der Wanne steckende Wasser auf einen Schlag zu Eis gemacht. Das flößte ihm noch mehr Entsetzen ein als die tiefgefrorene Frau. Dann erinnerte er sich wieder daran, dass einer seiner Konkurrenten in einem Eisblock den Guadalquivir herabgetrieben war und ein anderer Konkurrent in seinem eigenen Schwimmbecken treibend aufgefunden worden war. Und jetzt hatte es Marisa erwischt. Aber wie zum Teufel ging sowas?
Der wolf besah sich noch einmal mit weit aufgerissenen Augen das grauenvolle Arrangement und konnte nun die feinen Spuren in der vom Reif überzogenen Oberfläche der Eismasse erkennen. Es war eine eingeritzte Botschaft. Er konzentrierte sich und las: "Verschwinde aus Andalusien, sonst steck ich dich zu ihr rein! Du hast nur noch zwölf Stunden vom Zeitpunkt dieser Nachricht. Tick-tack - tick-tack!" Daneben konnte er eine ins Eis eingeritzte Uhr erkennen, die auf elf Uhr stand. Jetzt war es ein Uhr. Wenn diese Schreckensnachricht echt um Elf in dieses Hölleneis gegraben worden war, dann hatte er nur noch zehn Stunden, um aus Andalusien zu verschwinden, so zumindest das, was der Übermittler dieser eisigen Botschaft von ihm wollte.
"Mal sehen, wer in zehn Stunden tot ist, du Arsch!" dachte Lobo nur für sich. Die Angst beim Angblick seiner im Eis eingebackenen Bettgenossin war zur lodernden Wut geworden. Der Engel wolte Krieg. Dann sollte er Krieg haben. Vielleicht war es auch gut so, dass jetzt endlich alle Unklarheiten beseitigt wurden. Dennoch nagte an ihm die bange Frage, wie es möglich war, dass Marisa beim Baden in dieses Eiszeug eingefroren worden war.
Juan Quienteras Duarte griff das schnurlose Telefon. Dann schnüffelte er. Der Apparat roch nach jenem fremden Parfüm, das ihm schon beim Betreten des Hauses in die feine Nase geraten war. Hatte dieses Flittchen, was seine Gespielin wohl reingelassen hatte, mit seinem Telefon herumgequatscht? Er wählte den Menüeintrag "Ausgehende Anrufe" und fand als letzten einen um kurz nach elf Uhr an eine Nummer in Sevilla, die er von Mira bekommen hatte. Das war das Chefbüro in der Casa del Sol, dem Edelbordell vom schwarzen Engel. Noch ein Hinweis darauf, dass dieser angeblich übermächtige Supergangsterboss in Lobos sichere Behausung eingedrungen war. Sicher hatte der nur eine seiner Schlampen zu ihm geschickt. Aber wie war die rein gekommen und dann auch wieder verschwunden. Ihr Parfüm hing ja immer noch in der Luft. Sollte er die Nummer noch mal wählen, um zu hören, was am anderen Ende passierte? Dann erkannte er, dass das die Falle war, die der schwarze Engel ihm gestellt hatte. Wenn er anrief wusste der, dass er zu Hause war. Sein privater Taxidienst hatte keine verdächtigen Leute vor seiner Tür und im Hinterhof gesichtet. Dann fiel ihm auch auf, dass er dieses fremde Duftwasser erst gerochen hatte, als er durch die Haustür durch war. Wenn die Schlampe von seiner zur Eisskulptur gewordenen Nachtunterhalterin reingelassen worden war hätte ihr Duftzeug schon vor der Tür seine Nase kitzeln müssen. Denn im Moment war es windstill. Er legte den Telefonapparat aus der Hand und lief schnell zur Haustür. Ein kurzes Beschnuppern des Türgriffs von innen und außen verriet ihm, dass außer ihm und Marisa heute keiner diese Tür angefasst hatte. Außerdem hätte Marisa sicher kein Bad eingelassen, wenn sie wen anderen reingelassen hätte. Oder hatte dieses fremde Weib sie irgendwie gezwungen, sich ein Bad einzulassen? Ja, anders war's doch nicht möglich, dass sie in der Wanne erfroren war. Denn wer oder was auch immer sie da wortwörtlich eiskalt erwischt hatte musste ja nach dem Einlassen des Wassers im Raum gewesen sein.
Er erinnerte sich an das, was seine peruanische Geschäftspartnerin einmal gesagt hatte, als er die Probleme mit dem schwarzen Engel angedeutet und als untergeordnet abgetan hatte. "Halt dich besser aus allem raus, wo dieses Subjekt mit zu tun hat, Lobito. Wenn es dir auf die Bude rückt, und du noch weglaufen kannst, lauf schnell und weit, am besten zu mir", hatte die resolute ältere Dame ihm bei seinem letzten Ausflug nach Lima zugeflüstert. Doch er hatte sie nur angegrinst und gemeint, dass er groß genug sei, um sich zu wehren. Abgesehen davon hatte diese alte Dame immer noch das Feuer aller kanarischen Vulkane im Blut und hatte ihn besser bedient als Marisa und ihre jüngeren Kolleginnen zusammen. Dabei hatte die aber nie einen Hehl draus gemacht, dass er sie nicht nahm, sondern von ihr genommen wurde. Vielleicht wusste sie auch, wer der schwarze Engel war und wollte das nicht ausplaudern, um mögliche Partner nicht zu vergraulen. Jetzt wollte er sie anrufen und ihr das erzählen. Doch zuerst wollte er Sergeanto Molinos herrufen, damit der Marisa in der Badewanne sah. Sonst glaubte ihm das keiner. Molinos stand auf seiner Lohnliste. Sollte der doch zusehen, dass er den schwarzen Engel aufscheuchte. Dann konnte Lobo ihn aus dem Flug heraus abschießen, vielleicht sogar wortwörtlich. Er tippte die Privatnummer von Molinos ein und wartete. "Hallo da draußen. Hier der Anschluss von Enrique Molinos. Ich kann gerade nicht an den Apparat. Aber wenn's piept können Sie was für mich aufsprechen."
"Sausack!" fluchte der Wolf und drückte die Verbindung weg. Danach wählte er aus dem Kopf eine lange Nummer in Übersee. Als er das für ihn vertraute Tuten eines ausländischen Telefonnetzes hörte dachte er daran, wen er noch anrufen kontet, um die Sache mit Marisa abzuhandeln. nicht dass er am Ende noch als ihr Mörder ...
"Hallo Lobito, schön von dir zu hören. Bin gerade beim Kaffeemachen", erklang die von mehreren Jahrzehnten leicht und verrucht angerauhte Stimme einer Frau mit leisem Echo einer Satellitenverbindung.
"Leonaza, Risa ist tot, in einer vollen Badewanne eingefroren wie in einer Tiefkühltruhe. War sicher der, von dem wir's bei unserem letzten Treffen hatten", sprach Lobo schnell und auf den Punkt. Zwei Sekunden lang blieb es bis auf ein leises Rauschen und Knistern ruhig in der Leitung. Dann erklang die Stimme der Angerufenen. Sie wirkte sehr besorgt bis verängstigt: "Lobito, nur in zwei Sätzen, was ist mit Risa passiert? Und hast du noch eine Botschaft bekommen?" Der Wolf hielt sich an die Vorgabe und schilderte in zwei Kurzen Sätzen, wie er Marisa vorgefunden hatte und welche Botschaft er erhalten hatte. "Hör drauf, Lobito. Vergiss deinen männlichen Stolz und sieh zu, dass du aus der Reichweite dieser Kreatur verschwindest, solange sie dich lässt. Mein Angebot steht noch. In Marakesch steht gerade einer meiner Jets. Wenn du schnell übersetzt kriegst du den in vier Stunden . Ich kann dir auch gerne einen Heli zu dir rausschicken, um dich abholen zu lassen. Auf jeden Fall sieh zu, dass du verschwindest!"
"O, so besorgt habe ich dich noch nie erlebt. Was ist aus der großen Königin von Lima geworden?" feixte Lobo.
"Mann, Chico! Ich mein's verdammt ernst. Du kommst sofort zu mir rüber. Hmm, am Besten machen wir das noch schneller. Du hast doch noch das Geschenk vom letzten Mal?"
"Joh, habe ich noch, vor allem, weil es mich an unser geniales Privatfest erinnert, das wir gefeiert haben", schnurrte Juan Quienteras Duarte und begann in höchst lustvollen Erinnerungen zu treiben. "Gut, das holst du sofort hervor. Ich sage dir dann, was du dann machen sollst."
"Wie soll das mir helfen, noch schneller zu dir hinzukommen, Gita. Oder ist das in Wahrheit ein Zaubermantel, der mich auf meinen Wunsch hin zu dir hinbeamt?"
"Genau sowas, Juan. Und jetzt mach hin, vielleicht ist die Kreatur noch in der Nähe und belauscht dich."
"Wenn du die Schlampe meinst, die Risa irgendwie reingelassen hat, bevor sie gebadet hat, dann ist hier keiner mehr. Das Haus ist leer. Ich bin der Spur nachgelaufen und habe die nur im Badezimmer gewittert."
"Du meinst eine Frau, die bei Risa war? Dann war sie das. Dann kann die noch in der Nähe sein. Wenn sie nicht will siehst du sie nicht. Die kann sich unsichtbar machen."
"Bitte was? Öhm, würde zumindest erklären, wieso diesen schwarzen Engel noch niemand zu sehen bekommen hat außer einigen Nutten von dem, angeführt von dieser Loli."
"Was du nicht sagst, Juan. Aber es stimmt, die kann sich unbemerkt anschleichen und genauso wieder verschwinden. Also hol jetzt das Teil und halt dich ja dran fest!"
"Ich weiß zwar nicht, was das jetzt für eine Nummer wird, aber weil du mich beim letzten Mal so genial rangenommen hast mach ich das", sagte der Wolf und ging mit dem Telefon in der Hand zu seinem Schlafzimmer, wo er das ganz persönliche Geschenk seiner peruanischen Liebeskönigin aufbewahrte. Als er die Tür öffnete stand er einen Moment still. Seine Nase fing wieder jenes Parfüm auf, dass er beim Betreten des Hauses und im Badezimmer gerochen hatte. Diesmal war der Duft ganz intensiv und vermischte sich auch mit dem warmer, gesunder Frauenhaut. Er starrte ins Zimmer. Doch da war niemand. Aber wie war die jetzt reingekommen, wo er nach Betreten des Hauses alle Sicherheitssensoren abgefragt hatte. Die Kleiderschränke waren zu und nur per Fingerabdruck zu entriegeln. Dann schnüffelte er, dass der Geruch von der Bettseite herkam. Doch das französische Bett mit den roten Seidenlaken war unberührt. Er sog den Geruch noch tiefer ein und nahm nun auch den für ihn anregenden Geruch geschlechtlicher Erregung war. Doch die dazu gehörende Frau war nicht zu sehen. Am Ende stimmte noch, was seine Gesprächspartnerin behauptet hatte. Doch das konnte es nicht geben.
Nur nichts anmerken lassen und bloß nicht drüber reden", dachte der Wolf und peilte zu einem der Schränke hinüber. Unsichtbar oder nicht. Wer immer ihm auflauerte konnte nicht so schnell sein. Er spannte kurz die Muskeln an und sprang dann mit einem Satz zum Schrank. Er bekam den Türgriff zu fassen und klammerte sich daran fest. Dann ging die Tür auf. Ein Griff seiner freien Hand zog eine kleine Schublade heraus. In der Schublade lag eine geladene Beretta. Er konnte mit links und mit rechts schießen. So riss er die Waffe hoch, zielte auf das Bett und drückte ab. Die schallgedämpfte Waffe ruckte in seiner Hand. Die Kugel sirrte über das bett und traf offenbar was. Er hörte einen kurzen Schmerzenslaut und dann ein wütendes Schnauben. "Erwischt, Nutte!" dachte er und drückte noch mal ab. Wieder traf er etwas oder jemanden, den oder das er nicht sehen konnte. Er roch jedoch kein Blut, was bei einem Treffer eigentlich hätte passieren müssen.
"Lobito, was ist?!" hörte er die erregte Stimme aus dem Telefonhörer. Er antwortete nicht, sondern versuchte noch einmal, die unsichtbare Gegnerin zu treffen. Da er gut nach Geruch zielen konnte gelang ihm das sogar. "Hast du nicht mit gerechnet, dass ich mich drauf einstellen kann, wie. Verreck, du Nutte!" rief er und drückte wieder ab. Doch immer noch roch er nur den Pulverdampf, der langsam sein Geruchszielvermögen überlagerte.
"Nimm das Teil und sage "Löwenherzchen!" hörte er aus dem Telefonhörer.
"Nix da, du gehörst jetzt mir. Mir mehr Löcher in den Körper schießen lassen als ich nötig habe!" schnaubte eine Frauenstimme, die eindeutig vom Bett herkam. "Gleich habe ich deine fiesen Kugeln verdaut. Dann vernasch ich dich."
"Dass gibt's nicht", stieß der Wolf aus. Dann feuerte er noch einmal. Doch diesmal ging sein Schuss daneben. Da er nun mit einem Angriff der Unsichtbaren rechnete sicherte er die Waffe und steckte sie auf der linken Seite in seine Unterhose. Der Umstand, dass er ihm geläufige Handgriffe und Kampftechniken so schnell ausführen konnte, dass viele ihn für einen genialen Taschenspieler und Karatemeister hielten half ihm, dem erwarteten Angriff zu entgehen. Als eine unsichtbare Hand aus dem Nichts nach ihm schlug riss er den Arm gerade noch aus der Bahn, ohne genau zu wissen, woher der Schlag kam. Dann warf er das Telefon nach vorne. Er glaubte jetzt alles, was seine Gesprächspartnerin gesagt hatte, allein schon, weil Risa eingefroren war und er gerade von einer unsichtbaren und zu dem noch kugelsicheren Hure im eigenen Schlafzimmer bedroht wurde. Das Telefon traf auf ein nicht erkennbares Hindernis und prallte davon ab. Die eine Sekunde reichte Lobo, um aus der freigezogenen Schublade ein rotes Stück Seidenstoff zu ziehen, einen textilarmen, aber für üppige Formen zugeschnittenen Büstenhalter. Im selben Moment, wo er das pikante Souvenir in der Hand hielt rief er laut: "Löwenherzchen!"
"Nix da!" rief eine höchst verärgerte Frauenstimme. Er fühlte noch, wie etwas nach ihm schlug. Dann stürzte er in einen Wirbel aus Farben und Rauschen. Er meinte, ein in seinem Nabel steckender Haken würde ihn immer weiter voranreißen. Der von ihm gehaltene Büstenhalter klebte ihm förmlich an der Hand. Wie lange der rasende Flug durch jenen Farbenwirbel dauerte konnte er nicht sagen. Doch als er unvermittelt auf einer weichen Unterlage aufschlug wusste er, dass er tatsächlich an einem anderen Ort gelandet war.
Neben ihm saß, den ihm vertrauten Geruch von teurem Parfüm und Hautcreme verströmend, eine Frau mit bis zu den Schultern fallenden schwarzen Locken. Sie trug ein zinoberrotes Kurzkleid, das nichts versteckte, sondern eher hervorhob. Als die andere ihn sah lächelte sie. "Hast es so gerade noch geschafft, ihr zwischen den Beinen durchzuschlüpfen, wie", sagte sie. Dann lauschten beide. Denn von irgendwo her kam eine geisterhafte Stimme. Die Frau griff nach dem Satellitentelefon auf dem Nachttisch, der rechts vom Sofa stand, auf dem Lobo gelandet war. Dann lauschte sie.
Indes entstand in Lobos Wohnung aus dem Nichts heraus die Gestalt einer nackten Frau mit milchkaffeefarbener Haut und langen, glatten, schwarzblauen Haaren. Sie fischte nach dem Telefon, das ihr den Zugriff auf ihren Gegner vereitelt hatte und hielt es an Ohr und Mund. "Hexe, wenn der bei dir ist, steck ihn besser so tief weg, dass ich ihn nicht aus dir oder sonst wem herauszerren kann und behalte ihn besser ganz bei dir. Ab jetzt ist Spanien für den so gefährlich wie eine heiße Herdplatte für eine Schneeflocke. Hast du das gehört?"
"Ich habe es gehört, Loli. Mir war in dem Moment klar, dass nur du der schwarze Engel sein konntest, als ich von meinen Leuten erfuhr, wie du deine Gegner erledigt hast, die du dir nicht einverleibt hast wie Schokobonbons. Aber ich behalte ihn bei mir."
"Ich weiß, wer du bist, Margarita de Piedra Roja. Das du eine Hexe bist wusste ich bis heute nicht. Aber geh davon aus, dass du mir oder meinen Schwestern nicht begegnen solltest."
"Du hältst dich wohl immer noch für unbesiegbar, wie. Dabei sind zwei deiner erwähnten Schwestern schon aus dem Geschäft und deine drei anderen Schwestern, die du aufgeweckt hast interessieren sich im Moment nur dafür, bloß nicht weiter aufzufallen als schon passiert ist. Außerdem habt ihr genug mit denen zu tun, die das nicht nett finden, wie ihr euch ernährt. Da kann ich mich getrost zurückhalten."
"Wie gesagt, Hexe, mach was, dass dieser Kerl, den du von mir weggezaubert hast, nicht noch einmal in mein Revier eindringt. Sonst bleibt er ganz und für immer bei mir."
"Ich habe das schon verstanden, als du es zum ersten Mal gesagt hast. Ich werde mich dran halten."
"Will ich meinen", knurrte Itoluhila alias Loli alias der schwarze Engel und dtrennte die Telefonverbindung. dann legte sie den Apparat auf den Beistelltisch und hauchte ihn an. Schlagartig gefror das schnurlose Telefon zu Eis. Um Itoluhilas Hand entstand schwarzer Nebel. Sie ergriff den Eisblock und schleuderte ihn mit aller Macht gegen die Panzerglasscheibe des östlichen Fensters. Klirrend zersprang der tiefgefrorene Apparat in mehr als hunderttausend Stücke. Sollte sich doch die magielose Polizei damit herumschlagen, was die ganzen Minitrümmer mal waren.
Itoluhila ging so unverhüllt wie sie war ins blaue Badezimmer. Einen Moment lang betrachtete sie die von ihr tiefgefrorene Ex-Gespielin von Juan. Dann deutete sie mit der linken Hand auf die dunkle Eismasse. Sie vollführte einen Kreis und murmelte dabei eine uralte Zauberformel. Schlagartig verwandelte sich das Eis in kochendes Wasser. Dampf hüllte den Raum ein. Er verbarg den grauenvollen Vorgang, der sich nun in der Wanne abspielte. Die schlagartige Erhitzung brachte die ohnehin schon durch die Vereisung geborstenen Körperzellen endgültig zum Zerfall. Der Körper der jungen Frau zerfloss regelrecht. Selbst die Knochen schmolzen im brodelnden Wasser dahin. Eine volle Minute lang wartete Itoluhila, bevor sie den Vorgang mit einer Zaubergeste beendete. Dann drehte sie an dem ziemlich heiß gewordenen Knopf, der den Metallstöpsel der Wanne hochdrückte. Gurgelnd und gluckernd floss das nun auf gewöhnliche Badetemperatur abgekühlte Wasser ab und nahm dabei die sämige Substanz mit, in die sich Marisas Körper verwandelt hatte. Somit blieb von Itoluhilas eiskalter Warnung nichts mehr übrig als eine schmierige Schicht an der Innenseite der Wanne. Diese beseitigte sie dann noch mit der Brause und dem entsprechenden Putzmittel. Blitzblank lag die blaue Wanne nun da. Kein Polizist würde erkennen, dass sie eine tödliche Falle gewesen war. Mit diesem Gedanken verschwand Itoluhila. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, Lobo weiter zu verfolgen. Sie hatte wirklich größere Sorgen.
Lobo kam nicht dazu, sich über seine neue Situation klar zu werden. Er hatte nur die von Margarita gesprochenen Sätze gehört. Als sie fertig war sagte sie: "Ich tu dich besser erst einmal fort, damit du mir nicht doch noch verlorengehst. Vielleicht gönnen wir zwei uns irgendwann mal wieder eine schöne, lange Nacht. Aber im Moment bin ich in der Hinsicht gut versorgt. Also schlaf gut." Mit diesen Worten zog sie hinter ihrem Rücken einen Holzstab hervor. Lobo wollte schon wegspringen. Doch da explodierte um ihn herum die Welt. Sie wuchs schlagartig ins unendliche. Dann überkam ihn eine vollständige Ohnmacht. Er bekam nicht mit, wie Margarita ihn, der nur noch einen halben Zentimeter groß war, behutsam mit den Fingerspitzen aufhob und in eine kleine Glasphiole hineinsteckte. "Ich sollte dich doch so gut wegstecken", dachte sie, bevor sie auf die Phiole einen Korken steckte. Im eingeschrumpften Zustand und im Schlaf der Todesnähe konnte sie ihren Gast jahrelang aufbewahren. Sie bedauerte zwar, dass sie damit einen wichtigen und willigen Geschäftspartner in Europa verloren hatte, doch das wäre ihr Dank der Abgrundstochter sicher auch passiert. Immerhin konnten diese schönen Monster keinen Portschlüssel verfolgen, zumal der rote Seiden-BH bei der Ankunft zu Staub zerfallen war. Aber wo der herkam hatte sie noch einige mehr. So dachte sie und freute sich auf einen weiteren Herrlichen Abend mit ihrem neuen Geliebten, der es endlich begriffen hatte, wie viel Glück er am Ende gehabt hatte.
Aresch hatte dem Hohepriester Daganzipas nicht geglaubt, dass ein tödlicher Fluch über seine Stadt kommen würde. Doch dann waren im ersten Sommermond seine Mitstreiter Tarik und Karavati an einer geheimnisvollen Krankheit gestorben, die sie innerhalb von nur fünf Tagen von jungen Männern in knöcherige, geistlose Greise verwandelt hatte. Aresch wusste, dass es Geschöpfe der Finsternis gab. Die Leute vom großen Strom, die immer mal wieder versuchten, das Reich des hohen Königs zu erobern, kannten diese Geschöpfe auch und konnten sie zu ihrem Dienst rufen. Doch auch die Hetiter hatten mächtige Zauberer in ihren Reihen, solche der hellen wie der dunklen Mächte. Am mächtigsten aber waren die Priester der Götter, weil sie von diesen gesegnete Gaben erhielten oder einen Teil ihrer Kraft in sich aufgenommen hatten. Vielleicht sollte Aresch noch vor dem Sonnengebet mit Kahumi, dem Priester der großen Erdgöttin Daganzipa sprechen, wie dem bösen Fluch beizukommen war.
Die Heimstatt des Hohepriesters lag neben dem irdenen Tempel Daganzipas. Aresch befolgte die Gebote und verneigte sich beim Vorbeigehen erst in Richtung Sonne und dann vor dem Tempel, wobei er die Worte der Ergebenheit flüsterte. Dann stand er vor dem Haus des Hohepriesters, das wie aus wahllos herbeigeschafften Felsen zu bestehen schien, die von getrockneter Erde zusammengehalten wurden. Der Zugang lag nicht auf ebenem Boden, sondern knapp unter dem unebenen Dach, das mit getrockneter Erde bedeckt war. Aresch blickte sich um. Den Hohepriester jetzt zu stören konnte als Freveltat ausgelegt werden. Doch Aresch verstand sich so gut mit dem Hohepriester, dass er es wagen konnte, wenn sonst niemand zusah.
Das Treiben im Dorf drang nur schwach zu ihm vor. Einmal hörte er das Wiehern eines Streitpferdes. Das konnte der Hengst von Arfani sein, der vor einem Jahr bei einer der Grenzkämpfe herausragend mitgelaufen war. Vielleicht würde der demnächst die weißen Stuten von Albedri, dem Pferdefürsten, mit seiner Männlichkeit beglücken dürfen, damit die dem Fürsten weitere ausdauernde und schnelle Streitrösser gebaren. Wieso dachte er hier vor dem Haus des Hohepriesters an sowas?
Aresch blickte sich noch einmal um. Keiner war da. Er konnte es wagen. Er eilte leise die um das Haus mit den verhängten Sichtlöchern führende Treppe nach oben und zog die erste Lederklappe zur Seite. Dahinter war ein schmuckloser Raum, dunkel und von der Tageshitze gut erwärmt. Er überlegte schon, eine Fackel anzuzünden. Doch wenn Kahumi, der Hohepriester, da war, dann war der sicher in der Halle der versinkenden Sonne, um die letzten nur dem Priester zustehenden Gebete zu verrichten. Er lauschte in die beinahe Dunkelheit, ob er Kahumi heilige Worte singen hörten konnte. Er wusste, dass es eigentlich bei Strafe verboten war, diese heiligen Wörter zu hören. Doch er hatte Kahumi mehr als einmal die Gebetsformeln singen hören, wohl weil er, Aresch, der Lieblingsneffe des Hohepriesters war und sicher eines Tages Daganzipas treuer Diener werden durfte, wenn Kahumis Seele in das Ahnenreich flog und sein ewig schlafender Körper dann begraben wurde, um irgendwann in neuer Pracht zu erstehen.
Er hörte keine Gebetsworte. Das war um diese Tageszeit ungewöhnlich. Der große Sonnengott musste verehrt und um Wiederkehr gebeten werden, bevor er in den Schoß seiner großen Mutter zurückkehrte, um dort in einer Nacht neu heranzuwachsen, um am nächsten Tag in Morgenrichtung aus dem fernen, nur aus Liedern und Geschichten bekannten großen Meer wiedergeboren zu werden.
Aresch öffnete die zweite Lederklappe, die den Eingangsraum von den Innenräumen trennte. Hier war es wesentlich kühler als draußen. Immer noch hörte er keinen Laut von Kahumi. War der Hohepriester nicht da? Dann durfte er hier nicht sein.
"Aresch, Sohn meines vorausgegangenen Bruders! tritt zu mir in die Kammer der versinkenden Sonne!" hörte er unvermittelt die Stimme seines Oheims im steinernen Viereck der großen Wohnhalle. Aresch sah sich um. Dann eilte er zu einem durch ein großes Stück Fell verhüllten Durchschlupf und stand direkt danach in einer kleinen Kammer, die ein sehr großes Sichtloch besaß, das ganz genau so gebaut war, dass die versinkende Sonne hineinleuchtete. In der Mitte des winzigen Raumes kniete ein älterer Mann in sandfarbener Leinenkleidung. Sein Haar war mit den vielen Sommern seines Lebens licht und grau geworden. Doch die dunkelgrünen Augen verhießen immer noch Willenskraft und Klugheit. Diese Augen sahen ihn nun an.
"Heute ist ein besonderer Tag. Die große Mutter der Erde hat mir befohlen, dass du ab heute mein Nachfolger wirst. Ich soll noch so lange auf der Welt bleiben, bis du alles von mir erlernt hast, was ich weiß. Dann wirst du mein Erbe sein. Also knie dich vor dem Vater Himmelsfeuer hin und singe mir die Worte seiner Verehrung nach, bevor wir zum Sonnentempel gehen, um seinem täglichen Tod zu betrauern!"
"Du bist doch noch keine fünfzig Sommer , Stimme der Daganzipa. Warum sollst du verstummen?"
"Nun, weil ich denen im Weg bin, die diese Welt verbessern werden. Deshalb hat Daganzipa uns die Zeitfresserin geschickt. Ich allein kann sie nicht verjagen, auch wenn ich ein Diener Daganzipas bin."
"Die Zeitfresserin? Wer ist das?"
"Das darf nur die Göttin dir sagen, wenn du dich ihrer würdig erwiesen hast", grummelte Kahumi. Dann deutete er auf den Platz an seiner rechten Seite, wo ein großer Lichtfleck auf dem Boden war. Dorthin fiel das Sonnenlicht. Aresch trat neben seinen Oheim und kniete sich neben ihm hin. Doch was nun passierte erschreckte ihn so sehr, dass er sich nicht bewegen oder anderswie auf sie aufmerksam machen konnte.
Es begann damit, dass Kahumis Gestalt zu flimmern begann wie heiße Luft über der Wüste. Dann zerfloss sie regelrecht wie Dampfschwaden. Keine Sekunde später war da eine völlig unbekleidete Frau mit milchfarbener Haut und Strohfarbenem Haar. Die Frau war jung, fast noch ein Mädchen, aber schon voll erblüht. Ihre Gestalt hätte sonst jeden Mann im Umkreis von hundert Reiterstunden alles unternehmen lassen, um sie in das eigene Haus zu führen.
"Hat meiner mit Erde spielenden Schwester nicht gefallen, dass ich mir ihren Gespielen zugeführt habe", hörte er die Frau leise spotten. Dann traf ihn der Blick jener grünsteinfarbenen Augen. Sein letzter klarer Gedanke war, dass sein Oheim von einer Dämmonin aus dem Dunkeltal getötet worden war. Dann war dieses Geschöpf auch schon bei ihm und packte mit unglaublicher Kraft zu. "In diesem alten Leib erwerbe ich mir keine Hingabe der jungen Frauen bei euch. Und ich will auch die haben, damit ich stärker werde als meine niederen Schwestern", zischte die Unheimliche. Aresh konnte ihr nicht mehr entgehen. Körperlich von ihrer überstarken Hand gehalten, geistig von der Kraft ihrer grünsteinfarbenen Augen gebannt, ließ er sich gefallen, wie die Unheilvolle ihm die Gewänder vom Leib zog, allerdings nicht so derb, dass dabei etwas zerrissen wurde. Nun völlig bloß, von den Narben seiner Kriegszüge geziert, hing Aresch in den Armen der Unheilvollen. Er war noch unberührt gewesen. Eigentlich hätte er im nächsten Frühling beim Tanz der jungen Paare mitmachen sollen, um sich die Frau seines Lebens zu erwerben. Doch das würde nun wohl nicht geschehen.
Bevor sie mit ihm Leib und Lager teilte gab sie seinen Geist frei. Er sollte erkennen, dass er nun ihr gehörte. Vielleicht gab er sich freiwillig hin. Doch als Aresch versuchte, die unheimlich schöne Erscheinung von sich wegzustoßen, befand sie, ihn doch wieder mit der Macht ihres Blickes zu beherrschen. So fühlte er nur noch, wie er diese Frau begehrte. Dann war der göttliche Moment da. Die Andere kam über ihn und wurde eins mit ihm. Im Rausch der ersten erlebten Liebeswonne schrie er seine Lust und Leidenschaft hinaus, während draußen die Sonne versank. Ihn kümmerte nicht, ob jemand es hören konnte. Er konnte ja nicht wissen, dass die andere sich und ihn in einen Zustand beschleunigter Zeit versetzt hatte. Was er jedoch spürte war, dass immer mehr von ihm mit dem inneren Sein der anderen zusammenfloss. Dann meinte er, rasende Schmerzen zu fühlen. "So stirb nicht als Unberührter Jüngling", hörte er die andere erfreut sagen. Dann umtosten ihn Blitze und er meinte, alles bisher erlebte in umgekehrter Reihenfolge noch einmal durchzustehen, seine Kämpfe, bei denen er zusehen musste, wie seine älteren Brüder starben. die Weihe vom Jungen zum Mann, die unbekümmerten Tage auf dem Hof seiner Eltern, bishin zum Tag seiner Geburt. Das letzte, was er noch von sich gab, war ein langgezogener Schrei eines verängstigten Säuglings, bevor es mit einem Ruck durch die Beine bis über den Kopf in eine dunkle, enge Höhle hineinging, aus der er sich nicht mehr befreien konnte.
Vor dem Sonnentempel warteten die Bewohner des Dorfes schon auf die drei Hohepriester, den der Sonne, den der Erde und jenen des Kriegsgottes. Auch die Priesterinnen für Wasser, Fruchtbarkeit und Eheglück waren hinzugekommen. Alle vermissten Aresch, den jungen Sohn des Bogenbauers. Kahumi, der Priester Daganzipas blickte allen in die Augen. Dann war die Zeit des letzten Liedes an die Sonne, bevor diese versank.
"Ihr kurzlebigen Geschöpfe. In einer Mondphase habe ich jede und jeden von euch in meinem Lebenskrug", dachte das Wesen, das in der Gestalt Kahumis auftrat. Mit dem Wissen und der körperlichen Essenz Areschs konnte sie nun beliebig ihre Beute jagen, die Männer als Frau und die Frauen und Mädchen als Mann. Und wenn die Sonne am Himmel war würde sie der von allen vielgeachtete Hohepriester Daganzipas sein.
"Dir ist klar, du gefräßiges Geschöpf, dass Kahumi mein Diener war", hörte sie die Gedankenstimme einer anderen, die schwächlich und verärgert klang.
"Och, habe ich dir dein Lieblingsessen weggegessen, Ullituhilia? Jetzt weiß ich auch, warum mir das so gut getan hat. Da war was von dir in ihm drin. Danke dafür!"
"Dir ist klar, dass du dich gegen die Gesetze unserer Mutter vergangen hast, du verdorbene Brut?" hörte sie noch mal Ullituhilias Stimme in sich.
"Du weißt, dass Mutters inneres Selbst bei meiner Geburt in mich eingeflossen ist. Ich darf tun, was ich tun will, so wie sie das getan hat, um uns zu gebären. Finde dich damit ab, dass ich die wahre Erbin unserer Mutter bin und unterwerfe dich."
"Auch wenn du mir Jahrzehnte Lebenszeit entrissen hast, als du meinen Diener in dich einverleibt hast um seinen Körper anzunehmen, ich werde meine Kraft und Jugend wiederbekommen. Und eines Tages wirst du dafür bestraft, was du mir und deinen anderen Schwestern antust."
"Das denke ich nicht. Eher werdet ihr alle in mich einfließen, ohne neu geboren werden zu können. Denn ich bin die Herrin der fließenden Zeit."
"Auch du darfst mich oder eine andere nicht von dir aus töten. Denn dann verlierst du die Kraft, die du von unserer großen Mutter bekommen hast."
"Noch habe ich es nicht nötig, dir das Gegenteil zu beweisen, Erdgebundene. Aber mache dich schon mal mit dem Tag vertraut, an dem dein Körper verweht und dein inneres Selbst von mir eingeatmet wird, damit ich auch deine Gaben habe."
"Lies noch mal die vererbten Schriften, jüngste Schwester! Wer sich gegen Leib und Seele einer anderen Schwester vergeht, verliert alle Gaben und das ewige Leben. Und wenn dieser Tag kommt, wo du vergehst, werde ich noch da sein, um deine entkörperte Seele in mich aufzunehmen, damit du in meinem Bauch mehr Demut erfährst, als in dem unserer erhabenen Mutter."
"Gib Ruhe, Ullituhilia. Nimm es hin, dass ich die stärkste von euch bin. Suche keinen Streit mit mir, dann darfst du noch ein paar hundert Sommersonnenwenden in deinem angeborenen Leib erleben."
"Der Tag wird kommen ..." wiederholte Ullituhilia. Doch die andere gab keine Antwort darauf. Sie stimmte in das Sonnenuntergangslied ein. Kahumi hatte schon eine schöne Stimme gehabt. Wohl auch deshalb war er wohl von Ullituhilia ausgesucht worden, dachte sie.
Als sie im stehenden Wasser ihr Gesicht sah erschrak sie. Statt einer jungen, bronzehäutigen Schönheit blickte ihr das wie vergilbtes Pergament wirkende, von tiefen Falten durchzogene Gesicht einer uralten Frau entgegen. Ihr dunkelbrauner Haarschopf hing in schneeweißen Strähnen über ihre ebenso von welkender Haut überzogenen, knöcherigen Schultern. Ihre üppigen Rundungen hingen schlaff und tief herab. "Das wird sie mir büßen", dachte Ullituhilia. Sie wusste, dass sie nur deshalb noch am Leben war, weil sie noch drei weitere Abhängige in diesem Land hatte, alles Priester der Daganzipa. Sie hatte die Vorstellung von einer nährenden und gestrengen Erdgöttin für sich genutzt und die Priester in ihren Träumen besucht und beschlafen. Und jetzt hatte ihr dieses verfemte Mädchen mit dem sonnenfarbenen Haar einen ihrer Diener entrissen. Das hatte unglaublich weh getan, als würden ihr die Eingeweide durch die Bauchdecke herausgerissen. Sie hatte den Verfall ihres Körpers spüren können wie einen lodernden Brand. Wenn sie jetzt für ihre ganze restliche Lebenszeit so aussehen musste bekam sie nie wieder einen kraftvollen Kurzlebigen dazu, mit ihr das Lager zu teilen, außer über seine Träume. Sie musste was tun, um ihre eigentliche kraftvolle und schöne Gestalt wiederzubekommen.
Es schmerzte, als sie sich in die ihr verliehene Zweitgestalt versetzte, die Gestalt einer nachtschwarzen, geflügelten Fangheuschrecke. Doch endlich konnte sie auffliegen, dahin reisen, wo ihre anderen Schwestern wohnten, um von diesen Hilfe zu bekommen.
"Honey, ich glaube, das eine freie Zimmer wird im nächsten März benötigt", begrüßte Justine ihren Mann, der seinen letzten Urlaubstag genoss. Der ein zweites Leben führende Zauberer, der früher für das US-Zaubereiministerium gearbeitet hatte, starrte seine Frau erst verdutzt an, bevor die ihm mitgeteilte Information an der richtigen Stelle einhakte. Er blickte seiner Frau auf Brustkorb und Bauchpartie. Doch sie sah nicht anders aus als vor einem Tag. Doch er fühlte ein inneres Erstrahlen aus ihr dringen, als wenn sie eine besondere Form von Energie in sich freisetzte. Ihre Haare waren im Moment Tizianrot wie häufig. Doch das musste nicht immer so sein, wusste Jeff Bristol. Dann fragte er sie:
"Bist du sicher, dass wir wen dazubekommen?"
"Ich bin jetzt sieben Wochen überfällig. An und für sich hätte ich schon nach drei Wochen sagen können, dass da ein kleiner Bristol in meine warme Unterstube eingezogen ist. Aber ich wollte es ganz sicher wissen. Deshalb habe ich Madam Greensporns Schnelltest gemacht. Eindeutig, da ist wer unterwegs zu uns."
"Öhm, nicht dass ich das nicht toll finde, dass wir zwei ... ich meine, dass wir beide wen neues hingekriegt haben, Honey ... aber wegen meines Aussehens. Wie wird der oder die kleine denn aussehen, wenn er oder sie bei uns angekommen ist?"
"Das darfst du mich nicht fragen, Jeff. Abgesehen davon dass der oder die kleine meine Metamorphbegabung abbekommen kann und dann eh aussehen kann, wie er oder sie aussehen will, bin ich mit Vererbungssachen bei teilverwandelten Menschen nicht auf dem laufenden. Abgesehen davon, dass wir das Baby wohl auf der "Paradiso di Mare" auf den Weg gebracht haben und ich da zeitweilig vier Meter groß war könnte es so aussehen wie dein früheres Ich oder wenn es ein Mädchen wird wie Bren, nur in klein und quängelig oder bei der Geburt eine dunkle Hautfarbe haben. Ich wollte dir das mitteilen, dass ich wohl in absehbarer Zeit eine längere Pause beim LI machen muss. Die Regeln schreiben vor, dass eine schwangere Mitarbeiterin ab der amtlichen Feststellung bis zum Abstillen vom Dienst freigestellt ist, allerdings weiterbezahlt wird."
"Und die amtliche Feststellung willst du dir heute holen?" fragte Jeff Bristol.
"Ja, muss ich wohl. Das passt mir jetzt auch nicht so recht, weil wir durch die Sache mit den beiden von Lahilliotas Gnaden wohl noch mehr zu tun kriegen werden. Aber ich sehe ein, dass das Baby nicht gefährdet werden darf."
"Dieser Schattenreiter und dieser ehemalige Vollstrecker vom MI6? Lange nichts mehr von denen gehört", sagte Jeff.
"Die haben Zeit, Zuckerstängchen. Kann sein, dass die beiden Abgrundstöchter sie jetzt erst einmal wieder verstecken, weil wir doch früher als denen lieb war Wind von denen bekamen."
"Wieso, wo wir nicht wissen, wie wir denen beikommen können?" fragte Jeff. Darauf hatte seine Frau aber die passende Antwort.
"Natürlich wissen wir das. 'tschuldigung, konntest du nicht mitbekommen, was ich gestern mit Bren und Kila besprochen habe, als du mit diesem abenteuerlichen Doppelflaschenrucksack und dem AtemMundstück getaucht bist, obwohl du da auch die Kopfblase hättest machen können. Jedenfalls ist es wohl so, dass der, der zu einem Schattenwesen werden kann, bei ausreichender Lichtstärke Fleisch und Blut werden muss und geschwächt wird, aber bei Dunkelheit seine ganze übermenschliche Stärke und Geschwindigkeit ausspielen kann. Andersrum läuft das bei dem Killer, der zum Diener dieser der Sonne verbundenen Abgrundstochter geworden ist. Der braucht eben Sonnenlicht und Wärme, um seine Superkräfte anzuwenden, muss sich quasi darin immer wieder aufladen. Dunkelheit und womöglich Kälte verträgt er dann nicht. Deshalb hat Kila, die ja unsere Verbindungsfrau zu den Commonwealth-Staaten ist, die Zaubereiministerien entsprechend informiert. Aber die meisten wussten das auch so, vor allem die Deutschen, bei denen der Schattenmann ja aufgetaucht ist."
"Apropos, steht fest, dass in der Fabrik Solexfolien hergestellt wurden?" wollte Jeff Bristol wissen.
"Es ist zu befürchten. Was das heißt ist wohl klar."
"Das es amtlich ist, dass jemand das Erbe von Nocturnia angetreten hat", seufzte Jeff. Bilder des Vernichtungsschlages gegen Lady Nyx und den Mitternachtsdiamanten huschten durch Jeffs Bewusstsein. Es hatte sich herausgestellt, dass zwar der Körper, aber nicht die bösartige Verbindung zwischen dem Stein und seiner letzten Besitzerin zerstört worden war. Dann hieß es, dass die Sonnenkinder, die wie ein rettender Engel aus dem Reich der Legende aufgetaucht waren, Nocturnias Brut mit einem einzigen Schlag ausradiert hatten. Aber die Ideen und das Wissen dieser Pest waren noch in der Welt, und wegen dieser Kristallvampire war klar, dass Nocturnia nur ein Vorspiel gewesen sein mochte. Und das alles nur, weil Lady Nyx mit dem Mitternachtsdiamanten im Golfstrom versenkt worden war. Wenn dieses Vampirweib durch jeden Rückschlag immer mächtiger geworden war, dann war sie jetzt womöglich unangreifbar und konnte in allen Köpfen der von ihr geführten Vampire herumspuken wie einer, der durch ein großes Haus geht und sich mal in dem einen und dann im anderen Raum aufhält. Zumindest wussten sie hier in den Staaten, dass die Schreie neugeborener oder sehr junger Kinder diese Kristallstaubvampire töten konnten. Doch wo die eigentlich hergekommen waren und wohl noch herkamen wussten sie dadurch noch nicht. Das war wie der Kampf gegen eine Hydra. Schlug man ihr einen Kopf ab, wuchsen zwei neue Köpfe nach, wenn niemand schnell genug die geschlagene Wunde ausbrannte oder gleich einen brennenden Gegenstand in den Halsstumpf hineinsteckte.
"Der einzige Trost ist, dass diese Vampirbrut den Abgrundstöchtern genauso zu schaffen macht wie uns und sie daher wohl eher gegen diese Pestbeulen vorgehen", meinte Justine.
"Schwebt dir etwa ein Bündnis zwischen diesen Abgrundshuren vor, Honey?" fragte Jeff bewusst provokant.
"Sagen wir es mal so, dass wir nicht zu laut nein sagen sollten, wenn diese Flittchen unsere Hilfe erbitten. Immerhin sind diese Weibsbilder intelligent und könnten zu gewissen Zugeständnissen bereit sein."
"In der Woche nur einen Mann komplett vernaschen, dass von dem nichts mehr übrig bleibt, Justine?"
"Willst du lieber von einem Vampir vernascht werden, bevor unser Kleines auf der Welt ist?" fragte sie zurück.
"Das auf keinen Fall. Aber von einer von denen will ich auch nicht geknutscht werden."
"Dann mach nicht so blöde Bemerkungen!" blaffte Justine. Jeff dachte daran, dass ihre Gefühlslage wohl schon anfing mit der heftigen Achterbahnfahrt. Aber im Grunde hatte sie recht. So wechselte er schnell das Thema:
"Haben wir jetzt eigentlich die Passagierliste von der Paradiso geknackt?"
"Wir? Das Ministerium hat die Sache an sich gezogen. Mrs. Merryweather sitzt daran. Sie ist froh, dass sie mit gleich drei Babys im Wartehäuschen noch was arbeiten darf. Aber ich fürchte, diese Listen sind dreifach oder vierfach verschlüsselt."
"Ja, oder durch ein besonderes Reißverschlussspeicherverfahren zusätzlich so verteilt, dass die Datenpakete nur bei der Einrichtung einer bestimmten Plattenverbindung korrekt eingelesen werden können. Beim FBI gab es damals einen Fall, wo jemand seine Daten auf fünf Platten gespeichert hat, und dabei die Datenpakete quasi im Fünfvierteltakt auf die Platten verteilt hat. Ähnlich war das dann auch mit dem Schlüssel. Konnten wir erst knacken, als wie die Taktrate und die genaue Hintereinanderschaltung der fünf Festplatten raushatten. Dabei hatten wir noch Glück, dass die Daten nicht beim ersten oder zweiten Fehlversuch gelöscht wurden."
"Ich gehe mal davon aus, dass Bren und diese Martha Merryweather das auch kennen und entsprechend umsetzen. Aber was ist, wenn die Passagiere nur Nummern sind, also keine Namen haben?"
"Ja, auf den Festplatten vielleicht. Aber wenn die an Bord angesprochen wurden ... haben die sicher für diesen Urlaub auch die passenden Decknamen genommen und die Reisekosten über Schweiz und Liechtenstein laufen lassen", grummelte Jeff Bristol. Einen Moment dachte er daran, dass Martha Merryweather früher keine Hexe war und Zachary Marchand davon geträumt hatte, diese Frau zu heiraten. Doch das war jetzt sowas von Lichtjahre weit weg von der Wirklichkeit.
"Und das hat sie dir angetan, Schwester?" fragte Hallitti, die rothaarige Feuerbändigerin Ullituhilia. Diese nickte verdrossen. Dann sprach Ilithula, die Windbeherrscherin:
"Damit ist klar, dass die Niederschriften unserer Mutter stimmen. Wer von einer Schwester die Kraft absaugt, und sei es, sie aus einem ihrer Unterworfenen zu reißen, entreißt ihr selbst die Jugendjahre. Dafür müsste sie dir von ihrer eigenen Lebenskraft etwas zurückgeben. Denn wir alle leben in der Gnade Lahilliotas."
"Gnade?" fauchte Tarlahilia, die Tochter der schwarzen Mittagssonne. "Jede von uns trägt ein Stück ihrers äußeren und inneren Seins in sich. Aber Errithalaia meint, sie hätte das größte Stück davon abbekommen und will wohl alle anderen Teile in sich haben. Umbringen dürfen wir sie nicht, was ja auch nichts helfen würde. Ich will dieses Weib nicht als meine Tochter kriegen."
"Was können wir dann tun? Wir wissen nicht mal, wo ihre Schlafhöhle liegt", grummelte Itoluhila."
"Jedenfalls müssen wir der geschwächten Schwester helfen. Vielleicht bestraft das Errithalaias Taten auch gleich mit", sagte Thurainilla. Alle anwesenden nickten. Ullituhilia fragte, wie sie ihr helfen wollten. Zur antwort entblößten sich alle. "Die Gnade der freien Gabe", Schwester. "Du könntest zwar versuchen, dich durch junge Menschenleben wiederzuverjüngen. Aber ob das vorhält. Wir helfen dir", sagte Itoluhila. Alle anderen sieben nickten.
Die nächste Zeit schwebte Ullituhilia in einer orangeroten Wolke, die aus Mündern und Unterleibern der anderen Schwestern entströmte. Sie atmete und trank die magische Essenz, gewonnen aus der Lebenskraft sterblicher Menschen. Wohlige Wärme und erfrischende Kraftströme fluteten durch ihren Körper. Die anderen hielten sich daran, jene Essenz freizusetzen, die sie ihren Dienern einflößen konnten, um sie teilweise unsterblich zu machen und sie noch enger an sich zu binden. Als alle sieben junggebliebenen Schwestern alle in sich gespeicherte Lebenskraft abgegeben hatten und Ullituhilia den letzten Funken davon in sich aufgenommen hatte, fielen alle acht zugleich in einen Schlaf der Erschöpfung.
Gleichzeitig betrat ein junger Mann, der wie der Krieger Aresch aussah, das Haus des Dorfältesten. Dieser war im Moment nicht da. Doch er wollte eh dessen zwei Frauen besuchen. Er war gerade dabei, die erste mit dem magischen Blick zu umgarnen, als er wie ein vom Blitz getroffener Baum erbebte. Die Gestalt des jungen Mannes zerfloss in orangeroten Funken. Ein weißer Schemen huschte aus der Vorderseite heraus und durchdrang die Wand. Dann folgte noch ein weißer Schemen, wie ein unförmiger Totengeist. Gleichzeitig schrie das Wesen auf, das vorher noch Aresch gewesen war. Doch die Stimme veränderte sich. Nur kurze Zeit später schrie eine gepeinigte Frau ihr ganzes Leid heraus. Dann, von einem Augenblick zum anderen, verschwand die nun in einer orangeroten Funkenwolke stehende Gestalt im Nichts. Die von ihr gebannte erwachte aus der magischen Beeinflussung. Sie erkannte, was ihr da beinahe geschehen wäre und verbreitete die Kunde von der als Aresch gestalteten Dämonin. Das Aresch und Kahumi durch eine überlegene Kraft freigesetzt worden waren, da Errithalaia sie zur Gestaltveränderung in ihrem eigenen Körper-Geist-Gefüge eingeschlossen hatte und nicht in ihrem Lebenskrug aufgelöst hatte, bekamen die Bewohner des hetitischen Dorfes nicht mit. Sie wussten nur, dass Daganzipa sie gerettet hatte, auch wenn ihre beiden treuen Diener dafür hatten sterben müssen.
"Ich komme wieder, ihr verfluchten Wüstenratten. Ich werde euch eines Tages eine nach der anderen in mir aufgehen lassen und am Ende wieder vollständig sein, mit allem, was unsere große Mutter in mir abgelegt hat", schickte die in ihren Lebenskrug zurückgeworfene Errithalaia ihren Schwestern zu, während sie begierig die von ihr schon erbeuteten Leben in sich aufsaugte, um der ihren Leib peinigenden Kraft entgegenzuhalten, die sie so unangekündigt niedergeworfen hatte. Doch ihre Schwestern hörten sie nicht. Sie waren zu dem Zeitpunkt schon so erschöpft, dass sie dort schliefen, wo sie waren. Hätte Errithalaia gewusst, dass die anderen acht im Berg der ersten Empfängnis versammelt waren, sie hätte ihre Rache bekommen können. Doch so vergingen mehrere Mondwechsel, bis sie und die acht anderen wieder stark genug waren, um ihre verfluchten Leben weiterzuführen.
Wieder und wieder eilten die Bilder vom Untergang der "Arabella Worthingtonüber den zwei mal zwei Meter messenden Plasmabildschirm im Büro für streng geheime Überwachung. Alles wies darauf hin, dass das Schiff innerhalb weniger Stunden total durchgerostet war und die in es vordringende Drohne quasi den letzten Anstoß zum Zerfall und Sinkvorgang eingeleitet hatte. Außer den Plastikbestandteilen war nichts mehr von dem angeblichen Hochseefischereischiff übriggeblieben. Vor allem Brenda Brightgate, die wegen ihrer roten Haarpracht den Decknamen Vixen, die Füchsin, bekommen hatte, betrachtete die Bilder des Untergangs. Dann wurde der letzte Videofilm von Crake Morgan abgespielt. Doch auf dem waren nur flüchtende Matrosen zu sehen, bis dann ein Gewitter aus grünen, blauen und roten Blitzen einen der Matrosen verzerrte und der scheinbar immer kleiner wurde. Wie durch mehrere Verzerrer gejagt erklang die Stimme eines in Not schreienden Babys, bevor auch diese Stimme verstummte. Dann war nur noch wildes Geprassel auf dem Schirm zu sehen.
"Ich bin für Ideen, auch wenn sie noch so abstrus klingen mögen, durchaus empfänglich", sagte Abteilungsleiter Dan McGregor nach der Vorführung. "Punkt eins ist, wir fanden nur die Leiche Morgans auf dem Schiff. Von der Körperhaltung und dem Giftgastest der Drohne her hat er sich mittels hochdosierter HCN-Kapsel suizidiert, bevor was auch immer ihn hat verschwinden lassen. Punkt zwei ist, dass irgendwas das Schiff zunächst antriebs- und führerlos gemacht hat. Weil gerade im Bereich der Ruderführung Redundanzen eingebaut sind war das so gut wie unmöglich. Aber der größte Brocken, Ladies and Gentlemen ist dieser rapide Verrostungsvorgang, als habe jemand das Schiff in reinem Sauerstoff gebadet und zudem noch eine Art Oxydationsbeschleuniger eingesetzt. Wenn das ein Angriff war, dann sollten wir wissen, was das für eine Waffe ist oder welches Waffensystem."
"Für mich hat es den Anschein, als habe der wer mit der Zeit manipuliert", sagte Wilson Kent, ein sonst sehr auf Fakten geprägter Außendienstler. Der Abteilungsleiter nickte verhalten. Immerhin hatte er ja angeregt, selbst die abstrusesten Ideen auszusprechen. Brenda, die bei dieser Bemerkung heftig erregt wurde erwähnte auf Nachfrage, was sie derartig anfechte, dass so etwas ähnliches ja im Libanon passiert sei. Weil sie sicher war, dass Magie im Spiel war erging sie sich in der Andeutung, dass eine feindliche Macht dieses Gerät oder diese Chemikalie wohl erst auf dem Land getestet hatte.
"Warum jemand das Schiff angegriffen hat liegt auf der Hand. Irgendwo bei uns oder bei den Jungs von der NSA steckt ein Maulwurf, der die wirkliche Mission der Worthington verraten hat. Das mit dem Rapidrostmittel ist wohl als Gruseleffekt zu verstehen, dass moderne Kriegsschiffe nicht mehr sicher sind. Ich stelle mir gerade ein getauchtes U-Bot vor, dass von dieser Waffe getroffen wird."
"Zeitmanipulation ist zu heftig Science Fiction. Aber irgendwie ist das mit den Flackerbildern und dem Babygeschrei schon hollywoodreif", sagte Clint Manson, der Spezialeffekte Studiert hatte, um gefälschtes Videomaterial zu entlarven oder selbst firmengenehmes Material zu produzieren und der richtigen Stelle zuzuspielen. "Kann ich die Bilder mit den Blitzen mal in Einzelbildauflösung sehen. Bitte jedes Bild fünf Sekunden stehen lassen!"
"Das ist hier das Wunschkino. Da kann Rambo Mutter werden, wenn es gewünscht wird", feixte Gerald Duval, ein Spezialist für Satellitenkommunikation. Brenda blickte ihn dafür verwegen an.
"Leute, ich finde die Idee nicht abwegig. Öhm, Clint, die Aufnahmen wurden mit fünfzig Bildern pro Sekunde gemacht. Die Kamera hatte ein Zwei-Chip-Aufnahmesystem, was die Rate beschleunigen konnte. Die Aufnahme ist fünf Minuten lang. Das ergibt insgesamt fünfzehntausend Einzelbilder."
"Ich bat nur um jene, wo es so geflackert hat, Sir", erwähnte Clint leicht abbittend klingend. Doch er bekam seinen Wunsch werfüllt, zumal auch die anderen wissen wolten, ob zwischen einzelnen Lichtblitzen was zu erkennen war, vorausgesetzt, die Belichtung reichte aus, um etwas aufzunehmen.
In den nächsten zwanzig Minuten wurden mehr als hundert Einzelbilder durchgesehen. Wovor die Menschen flohen konnte trotz dieser Einzelbildauflösung nicht klar erkannt werden. Allerdings zeichnete sich ein Schatten auf dem Deck ab, als sei dort etwas großes über das Schiff hinweggeflogen. Als näher auf den Schatten gezoomt wurde schluckte Brenda. Sie erkannte in dem Muster irgendwie den Schatten eines großen Tieres mit sechs beinen, ein Insekt gigantischer Größe. Noch unheimlicher war es, dass der auf dem Boden bestehende Schatten nur bei jedem zweiten Bild diese Umrisse besaß. Sonst wirkte der Schatten wie ein an den Rändern verzerrter Fleck aus Dunkelheit. Eine Überprüfung der Aufnahmeeinstellungen ergab, dass die betreffenden Aufnahmen vom zweiten Chip aufgezeichnet worden waren und dieser sozusagen im Nachtflugmodus arbeitete. Dann kam Brenda auf eine Idee.
"Lassen sich die Helligkeits- und Farbwerte umkehren?" wollte sie wissen. Sie dachte an den Nigerilumos-Zauber, der ein scheinbar schwarzes Licht aussandte, das dort, wo es auftrat, die Helligkeit der Oberfläche in umgekehrter Weise zeigte.
"Worauf spekulieren Sie, Vixen?" fragte der Abteilungsleiter. Brenda erwähnte, dass viele Sachen erst in Umkerhdarstellung richtig erkannt wurden.
"Okay, ich mache die vollständige Farb- und Helligkeitsumkehr." Über die mit allen Geräten verbundene Computertastatur gab er seine Anweisungen weiter. Wenige Sekunden später erschienen die Bilder heller und mysteriöser. Und als sie zu der Stelle kamen, wo ein Matrose unter Blitzeinwirkung verwandelt wurde enthüllte sich das ganze unfassbare Grauen.
"Das gibt es nicht wirklich, oder? Wie kann sowas mal eben entstehen?" seufzte Clint. Er dachte daran, dass in der Normalansicht nichts außer dem Schatten dieses Etwas' zu erkennengewesen war. Auf jeden Fall sahen sie gerade einen weißen Riesenkäfer mit dunklen Punkten an den Seiten.
"Wer immer diese Drohne gebaut hat ist unbedingt von uns zu rekrutieren", sagte Duval. Dann schluckte er wieder. Denn jetzt sahen sie in einer Folge schwarzer und dunkelgrauer Blitze, wie ein Matrose zum Kleinkind und zum Säugling schrumpfte. Das letzte Bild zeigte noch, wie er kleiner als zehn Zentimeter war.
"Der Satellit muss dringend generalüberprüft werden. Am Ende hat jemand ausgerechnet uns einen Stapel total widersinniger Bilder da hochgeschickt."
"Besteht jetzt die Möglichkeit, dieses Ding in Realfarbgebung zu sehen?" wollte Brenda wissen, die sich nicht anmerken lassen wollte, wie erschüttert sie war. Zumindest kam der Abteilungsleiter ihrem Wunsch nach, fertigte von dem Käfer zehn Kopien an und ließ diese noch einmal in Realfarbdarstellung zeigen. Jetzt konnten sie alle sehen, dass es ein schwarzer Käfer mit goldenen Punkten war. Da war es Brenda klar, mit wem oder was sie es zu tun hatten. Denn sie kannte die Geschichten um einen solchen Käfer. Es hieß, dass überall dort, wo er auftauchte, Blumen innerhalb von Sekunden verwelken konnten und Menschen entweder in wenigen Minuten vergreisen oder zu Säuglingen werden konnten. Die Kreatur, die in dieser Form auf Beute ausging, hatte vor vielen Jahren ganze Dörfer entvölkert, bis die Morgensternbrüder verkündet hatten, es sei in einen wahrscheinlich unaufweckbaren Schlaf gestürzt worden.
"Justine, die Zeitmanipulatorin von den Abgrundstöchtern ist jetzt auch wieder wach", mentiloquierte sie ihrer Cousine Justine Bristol.
"Es versteht sich von selbst, dass dieses Material bis auf weiteres Verschlusssache ist und kein Wort darüber nach außen dringen darf." Gut, dass er nicht wusste, dass es echte Magie gab und Brenda ihr Wissen schon längst weitergegeben hatte. So würde es in wohl in nicht einmal einer halben Stunde ganz andere Aufnahmen geben, die nichts mit einem schwarzen Käfer mit goldenen Punkten oder einem rasant verrosteten Schiff zu tun hatten. Immerhin war das US-Zaubereiministerium früh genug darauf gekommen, die modernen Aufnahmeverfahren der Muggel beherrschen und verändern zu können. Im Internetzeitalter waar das auch dringend nötig.
Marduk, Sohn des Sharvas, Sohn der Ashtaria, fühlte die Nähe eines mächtigen Feindes. Seit knapp einhundert Jahren beriet und führte er die Priesterkönige von Babylon, die sich von einer kleinen Ansiedlung an einem der zwei großen Ströme zu einer bedeutsamen Handelsstadt weiterentwickelte. Zwar missfiel ihm, wie die Anhänger der Ishtar junge Frauen dazu drängten, im Namen der Fruchtbarkeits- und Liebesgöttin ihre Körper gegen Geld feilzubieten. Doch die Mädchen glaubten fest daran, damit ewige Freuden und Frieden zu verdienen. Auch dass die unwissenden Eingeborenen ihn anfangs für einen Gott gehalten hatten war ihm nicht so angenehm gewesen. Doch als er feststellte, dass er mit dieser Wertschätzung größeren Einfluss auf die Entwicklung dieser Umgegend hatte war es ihm nicht mehr schwer gefallen, sich als Stadtgott von Babylon verehren zu lassen. Um seine Macht zu zeigen hatte er aus einer mächtigen Schlange, einem Löwen und einem Wüstenadler einen gewaltigen Drachen zusammengefügt, Muschuschu, der fliegende Wächter. Doch gegen die mächtigen Feinde und vor allem Feindinnen, die er hatte half dieses mächtige Mischwesen nicht viel, wusste er.
Marduk wusste, dass er nur noch zweihundert Sonnenkreise Zeit haben mochte, um Babylon zur Festung gegen die neun Schwestern des Abgrundes auszubauen. Doch wie sollte er es den Leuten hier begreiflich machen, für was sie lebten und gegen was sie kämpfen mussten?
Der oberste Herrscher von Babylon weilte in seinem dreifach ummauerten, mit mächtigen Kräften des Schutzes verstärkten Palast auf der höchsten Erhebung im Umland. Er hörte das Schnarren und Schnauben seines Geschöpfes im Freigehege. Er musste sich noch was einfallen lassen, wie dieses sehr starke und schnelle Mischwesen beherrschbar blieb, wenn der Einfluss von Ashtarias Stern nicht mehr in der Nähe war. Denn dann könnte der Beschützer leicht zum Vernichter werden, wenn die Urtriebe von drei Beutegreifern frei wirken konnten.
Marduk hörte dem Plätschern des Springbrunnens zu, der die schmalen Kanäle in seiner weitläufigen Gartenanlage bewässerte. Dass das Wasser aus mehr als dreihundert Ellen Tiefe ohne Rohre und Pumpvorrichtungen an die Oberfläche befördert wurde hatte seinem Rang als Stadtgott weitere Festigkeit verliehen. Doch in das Plätschern mischte sich irgendwie ein unheimliches Grummeln. Marduk griff unter sein himmelblau gefärbtes Gewand, wo er den körperwarmen, silbernen Fünfzackstern an der Kette ertastete. Das von seinem Vater und dessen Geschwistern gefertigte Zeichen der Verbundenheit erzitterte ganz leicht. Das kannte er von sich nähernden Wesen und Wellen dunkler Kraft. Irgendwer griff mit dunklem Zauberwerk an.
Laut und schrill schrie Muschuschu auf. Auch der Wächter hatte die Veränderung wahrgenommen. Marduk zog den Silberstern frei. Er glühte in einem blauen Licht. Er wusste, dass dieses Licht immer dann schimmerte, wenn jemand versuchte, seinen Körper oder seinen Geist mit böser Zaubermacht anzugreifen. Dann sah er noch den geröteten Himmel über sich. Die Pflanzen in seinem Garten nahmen einen Braunton an, als seien sie in der Wüstensonne verdorrt. Doch wo war die Wüstensonne. Außer dem feurigem Rot, das vom Zenit bis zum Horizont den Himmel erfüllte, war nichts zu sehen. Marduk sprang auf die mit Krokodillederschuhen bekleideten Füße und eilte aus der weiten Halle, wo er die Priesterkönige und ihn um Rat oder Beistand bittenden Stadtbewohner empfing.
Über der äußersten Mauer kreisten blutrote Wirbel, die jedoch nur wenige Atemzüge lang bestanden. Marduk kannte diese Art von Zauberangriff nicht. Doch er fühlte, dass eine seiner neun Feindinnen damit zu tun haben mochte. War es die Feuerruferin, die Eismacherin oder gar die Erdlenkerin? Vielleicht war es auch jene, die ihre Kraft aus der Sonne bezog. Das würde den roten Himmel erklären. Dann hörte er im Kopf die ersten Schmerzensschreie. Weil sein Vater eine Gedankenhörerin zur Frau genommen hatte, war ihm diese Gabe in die Wiege gelegt worden. Er wusste sofort, dass die Stadt angegriffen wurde. Diese Ungeheuer versuchten, den von ihm ausgerufenen Schutzbann um die Stadt zu durchbrechen oder hatten es gar geschafft. Dass sein Wohnsitz bedrängt wurde sollte ihn wohl dort festsetzen. Sicher war er hier am sichersten Ort dieser Gegend. Doch was half es, wenn die ihm vertrauenden gepeinigt und hingeschlachtet wurden? Wenn er seinen Ruf als Gott dieser Stadt nicht verlieren, ja am Ende nicht durch eine Stadt voller Leichen gehen wollte, dann musste er den Kampf aufnehmen.
Marduk eilte mit wehenden Gewändern in den Waffensaal, wo er drei Dinge ergriff, die blaue Himmelsrüstung, die mit wirksamen Schutzzaubern der Luft, der Erde und des Feuers belegt war, das gläserne Schwert, dass aus verfestigter Luft und der Essenz des ältesten Erdgesteins gemacht war und den hochlehnigen Sattel für den Ritt auf dem Drachen.
Er betrat mit bloßgelegtem Fünfzackstern das mehr als hundert mal zweihundert Ellen durchmessende Gehege, das von einem mächtigen, mit Zaubern der Härte und Unnachgiebigkeit bestärktem Tor versperrt wurde. Muschuschu war ein zehn Ellen aufragendes, mindestens zwanzig Ellen langes Ungetüm, dass einen schlangenartigen Körper und einen mächtigen Schweif mit drei Stacheln am Ende besaß. Sein Kopf war der eines Adlers mit elfenbeinfarbenen Schnabel und honiggelben Augen. Um den Nacken trug er eine tiefschwarze Mähne. Der restliche Leib war in ein sandfarbenes Schuppenkleid gehüllt. Marduk hielt dem Ungetüm seinen Silberstern entgegen. Diser glomm golden und fing den Blick des mächtigen Geschöpfes ein. Von zwei der fünf Enden gingen golden flirrende Lichtstrahlen aus, die zielgenau in die weit geöffneten Raubvogelaugen drangen. Sofort wurde das Ungeheuer ruhig. "Nieder, Muschuschu!" rief Marduk seinem Geschöpf zu. Es knickte mit den Löwenbeinen ein und wühlte dabei den Sand auf. Mit einem fühlbaren Erdstoß kam Muschuschu auf seinem Bauch zu liegen.
Marduk zog den Herrscherstab frei, den er in einer LederHülle am Gürtel trug. Die kleine Glaskugel am Ende glomm bläulich, das Zeichen für die Kraft der Luft. Der hochlehnige Sattel erhob sich und glitt an dem fünf Ellen durchmessenden Leib nach oben, bis er über dem Rücken schwebte. Dann senkte er sich. Immer länger werdende Lederrimen glitten wie Schlangen nach unten und umspannten den Leib des Drachens. Als sie sicher verbunden waren richtete Marduk den einen halben Arm langen Stab auf sich selbst und dachte die Worte der Geschwindigkeit und dreifachen Löwenkraft. Dann lief er an, sprang ab und flog am Körper des immer noch liegenden Drachens nach oben. Als er auf Höhe des Sattels war packte er mit der freien Hand zu und schwang sich in den nur ein Viertel des Leibesumfangs breiten Sattel. Danach legte er einen Sicherungsriemen um seinen Unterbauch und griff dann wieder zum Heilsstern. "Auf, mein geflügelter Wächter! Die Stadt wird angegriffen."
Muschuschu brüllte laut und ohrenbetäubend los und sprang sofort auf seine Beine. Nun entfaltete er die über den halben Rücken reichtenden Flügel, die wie bei einem Vogel gefiedert waren. Marduk zielte mit seinem Herrscherstab auf einen Stein in der Mitte des Geheges. Er rief die Worte der Freisetzung. Der Stein erglühte einen Moment in rot-grünem Flimmerlicht. Dann war er wieder wie sonst. Muschuschu kreischte los, nicht vor Schmerz oder Wut, sondern vor Freude. Sein Herr und Schöpfer hatte ihm erlaubt, zu fliegen.
Marduk flog mit seinem Drachen auf. Er bedauerte es, dass es keiner der Urdrachen war, die nicht nur fliegen, sondern auch Feuer speien. Diese Eigenschaft hatte Marduk seinem Geschöpf nicht verleihen können, weil er hierfür lebende Wesen bewusst mit Waffen aus dem feurigen Erdinneren entwachsenen Steinklingen oder im Feuer geglühten Erzes hätte töten und dabei die Worte von Feuer und Leben hätte aussprechen müssen, um die Essenz von Feuer und Leben zu erschaffen. Doch das Töten zum reinen Machterwerb war ihm untersagt, und das Töten von Menschen sogar unter Androhung seines totalen Verlustes aller Kräfte und Unterstützung verboten. So konnte er nur hoffen, dass die reine Kraft, Ausdauer und Geschwindigkeit seines Fluggeschöpfes reichte, den Feind zu vertreiben.
Er hörte die Gedanken leidender und sterbender Menschen. Es war grauenvoll. Sie durchlitten unter Schmerzen alles erlebte und vergingen dann im wiedererklingenden Schrei nach ihrem ersten Atemzug. Dann fühlte er die Anwesenheit der Feindin. Es war keine von denen, die Feuer, Wasser oder Wind lenkten, auch nicht jene, die die dunklen Kräfte des Mondes oder der Sonne verwenden konnten. Es war jene, die die grauenvollste Gabe erhalten hatte: Die Meisterin der entschwindenden Zeit. Gegen sie hatte noch keiner der sieben Nachkommen Ashtarias ankämpfen müssen.
"Suche die Feindin!" dachte Marduk seinem Flugdrachen zu. Dieser schnaubte kampfeslustig und streckte den schuppigen Hals so lange er konnte. Die schwarze Löwenmähne blähte sich auf. Jedes einzelne Haar stand nun starr wie ein Kaktusstachel ab. Dann erbebte Muschuschus Leib. Laut rauschend schwangen die blaugefiderten Flügel weit aus, trieben den Drachen und seinen Reiter schneller voran. Dann sah Marduk den Feind.
Der Herr von Babylon hatte nicht gewusst, in welcher Kampfgestalt die Feindin auftrat. So erfasste ihn erst einmal eiskalter Schrecken, als er das gepanzerte Ungeheuer sah, das laut brummend über der Stadtmitte herumflog und immer wieder seine haarigen Tastorgane nach unten peitschen ließ. Jedesmal, wenn das überlebensgroße Kerbtier seine Fühler ausschwang ergriff einen der Stadtbürger jenes Leid, dass ihn durch sein ganzes Leben zurück in Wiege oder Mutterschoß zwang. Jetzt konnte Marduk auch sehen, wie es für Außenstehende aussah. Blitze zuckten um den betroffenen Körper, der immer jünger und kleiner wurde. Mit dem letzten Schrei eines neugeborenen Säuglings löste sich der Körper auf. Marduk konnte einen hauchzarten weißen Dunst erkennen, der auf die ihm zugewandten Kerbtierfühler zugetrieben wurde. Dieses Ungeheuer trank die Seelen zwanghaft zurückverjüngter Menschen wie die Biene den Nektar aus den Blüten.
"Lass ab von deinem Unheilswerk, Tochter der verrinnenden Zeit. Ich, Marduk, Herrscher dieser Stadt, Sohn aus dem Blute Ashtarias, befehle es dir!" rief er mit Mund und Geistesmacht. Der riesenhafte Käfer mit den goldenen Punkten an den Deckflügeln wandte sich ihm zu. Unvermittelt strahlte sein Heilsstern golden-blau auf und schloss ihn in eine zusätzliche Rüstung aus reiner Zauberkraft ein. Das Licht dehnte sich aus, schien am Schuppenkörper Muschuschus wie ein Feuer am Holz neue Nahrung zu finden und hüllte keine drei Atemzüge später auch den fliegenden Drachen ein.
"Genau dich wollte ich haben, du kümmerlicher Möchtegerngott. Fällst du, gehört deine Stadt mir, und ich habe einen der widerwärtigen Abkömmlinge meiner Mutterschwester vertilgt!" hörte er die zischelnde Stimme aus der mit Zangen bewehrten Mundöffnung des Riesenkäfers. Dann sah Marduk um sich die tosenden Blitze. Sein Heilsstern erzitterte und verströmte Abwechselnd Hitze und Eiseskälte. Doch mehr widerfuhr seinem Träger nicht. Der Riesenkäfer schlingerte in der Luft, weil die von ihm ausgesandten Blitze von der golden-blau flirrenden Umhüllung zurückprallten. "Du kannst nicht ewig widerstehen. Ergib dich besser freiwillig. Dann werde ich mir überlegen, ob du nicht mein treuer Gefährte werden magst. Wirf dein widerwärtiges Erbstück fort und erkenne mich als deine wahre Herrin und Beschützerin an!"
"Wenn du Ashtarias Stern willst führt der Weg zu ihm nur über meine Leiche!" rief Marduk und tippte sich mit der linken Hand an den Hals. Leise stülpte sich der bisher auf den Rücken umgeklappte kammartig aussehende Helm über den Kopf seines Trägers. Die Rüstung erstrahlte nun von innen her im blauen Licht. Mit der rechten hob er das durchsichtige Schwert und zielte damit auf die Feindin. Die Klinge begann in einem blutroten Licht zu glühen.
""Nette Spielsachen hast du da, Marduk. Aber gegen die Macht der fliehenden Zeit sind sie nutzlos", bemerte die als gewaltiger Käfer erscheinende Feindin. Doch immer dann, wenn sie ihre Blitze der Zeitumkehr verschoss, prallten diese von der immer noch hell und andauernden Lichthülle ab. Marduk hoffte, die mächtigste Kraft seines Schmuckstückes nicht rufen zu müssen. Zumindest hatte er die Bestie da vorne von weiteren Angriffen auf seine Schutzbefohlenen abgebracht, vorerst wenigstens. Doch nun stand der unmittelbare Kampf bevor. Muschuschu brüllte los. Sein Kampfgebrüll wurde zu einem langgezogenen Schrei, der weit über die Stadtgrenzen zu hören war. Alle Bewohner, die nicht in ihre Behausungen geflohen waren, eilten von diesem Schrei getrieben in die vorläufige Sicherheit ihrer Wohnstätten.
"Du wirst mir nicht lange widerstehen. Glaube es mir, ich kann dich länger leiden lassen als jeden hier. Ich kann dich als körperloses Sein in meinen Eingeweiden einschließen und langsam und qualvoll in mir zergehen lassen. Gib dich mir lieber mit deinem Leib und deinem Sein hin und regiere die Stadt und das Land an meiner Seite!"
"Vergehe, vaterlose Brut einer von dunklem Streben vergifteten Hure!" rief Marduk und holte mit dem Schwert aus.
Muschuschu griff den Käfer an. Dieser wich aus und versuchte noch einmal, seine unheilvollen Blitze zu verschleudern. Doch wieder prallten sie an der übernatürlichen Wehr um Drache und Drachenreiter ab. Zwei Blitze warfen den Käfer aus der Flugbahn. Dann griff er mit körperlicher Gewalt an.
Laut krachend prallten die fliegenden Ungetüme aufeinander. Der Käfer versuchte, dem Drachen den bemähnten Hals zu durchtrennen. Doch die Mähne war wie ein mehrfacher Ring aus unzerbrechlichen Klingen. Die Zangen konnten sie nicht durchdringen und rutschten ratschend ab. Immer dann, wenn das Ungetüm versuchte, Marduk zu beißen, sprang von seinem Heilsstern ein golden-blauer Strahl auf das feindliche Flugwesen über und trieb es mindestens vier Ellen zurück. Marduk wusste wohl, dass die schützende Kraft seines Erbstückes nicht ewig bestehen konnte. Wie ein lebendes Wesen brauchte auch der Heilsstern Erholungszeiten, besonders bei sehr großer Anstrengung. Doch er wollte nicht aufgeben. diese Ausgeburt des Schreckens musste aus der Stadt vertrieben und bestenfalls für immer daran gehindert werden, sie je wieder zu betreten, egal in welcher Gestalt.
"Dann werde ich mir eben alle Kinder aus dieser Stadt einverleiben und dich als ihren großen Beschützer wertlos machen", schnarrte das riesenhafte Kerbtier und drehte ab, als es nach zwanzig Angriffen keinen Erfolg erzielt hatte. Einmal hätte Marduk ihm fast mit dem glühenden Schwert ein Bein oder eine Flügelspitze abgetrennt.
"Du wirst hier keine unschuldige Seele mehr vertilgen, Ungetüm der Unterwelt!" rief Marduk. "Muschuschu, wie der Blitz aus dem Himmel!" rief er seinem Drachen noch zu. Dieser fauchte laut. Dann krümmte sich der schlangenhafte Leib , so dass Marduk mit dem behelmten Kopf gegen den nach oben steigenden Hinterleib seines Reittieres stieß. Doch der Helm konnte die heftigsten Schläge verdauen, ohne den von ihm umschlossenen Kopf zu erschüttern. Im nächsten Moment schnellte der Drachenleib wieder in seine ganze Länge und stieß gleichzeitig hinunter. Der Befehl hatte die in Muschuschus Entstehung eingeflossene Essenz der Himmelslichter erweckt. Schnell wie ein Pfeil stieß der Schnabel des Mischwesens zu und hackte in einen der schwirrenden Flügel. Der Käfer wurde aus der Bahn gerissen und wirbelte herum. Muschuschu zerrte an dem gepackten Flügel, wollte ihn ausreißen. Doch seine Kraft reichte nicht aus. Was er jedoch schaffte war, den Körper des Riesenkäfers so herumzureißen, dass dieser in Rückenlage geriet. Marduk befahl seinem drachen, den Käfer nun niederzuwerfen, ihn am Boden festzudrücken. Der Riesenkäfer flimmerte und wurde für einen Moment durchscheinend. Doch da richtete Marduk seinen Heilsstern auf die Gegnerin. Das riesenhafte Kerbtier bekam wieder feste Form. "Ashtarias Macht verbietet euch, in ihrer Sichtweite die Gestalt zu wechseln, Ungetüm. So kämpfe und verende, oder ergib dich und schwöre deinem menschenfeindlichen Treiben ab und erlaube es, die Essenz der Dunkelheit aus dir zu lösen, um sie unschädlich in alle Winde zu verstreuen!"
"Du stirbst heute noch", zischte das goldgepunktete Ungeheuer. Da stieß Muschuschu wieder mit dem Shnabel zu. Der Riesenkäfer ließ sich abfallen, um dem Schnabelhieb zu entgehen. Doch der Drache hatte was anderes beabsichtigt. Er kippte so schlagartig vorne über, dass Marduk fürchtete, sein Heilsstern würde ihm vom Hals weggerissen und davongeschleudert. Doch Ashtarias Macht ließ das beschützende Schmuckstück gegen Marduks Brust schlagen und für einen Moment anhaften. Dann ruckte der Drache mit dem Kopf nach oben und warf den Käfer mit den goldenen Punkten so ungestüm herum, dass dieser wieder in Rückenlage geriet. Doch diesmal landete die Bestie auf dem schuppigen Rücken des Drachens. Die Flügel wurden vom eigenen Gewicht an den Körper gedrückt und unter den gepanzerten Deckflügeln vergraben. Die schwarzglänzende Bauchseite lag Marduk förmlich zu füßen. Die ellenlangen Beine zuckten und fuchtelten in der Luft herum, versuchten, den nötigen Halt zu bekommen, um den Körper wieder umzudrehen. Doch es half nichs. Ashtarias Heilsstern sprühte golden-blaue Funken, die den Käfer trafen und den kampfunfähig gewordenen Körper daran hinderten, sich zu verwandeln.
"Sage deiner fliegenden Schlange, sie soll mich runterlassen, Sohn eines Schwachherzes!" zischte die Stimme der geflügelten Schreckensgestalt. Doch Marduk hörte nicht darauf. Ihm war gerade eine Idee gekommen. Töten durfte er die Bestie nicht. Aber er konnte sie daran hindern, seine Stadt weiter zu bedrohen, ja sogar ihre Schwestern dauerhaft davon abbringen, seine Stadt heimzusuchen.
Er befahl in Gedanken die Landung. Muschuschu gehorchte dem Befehl. Dabei blieb er so ruhig, dass der auf dem rücken liegende Käfer nicht zur Seite kippen und dabei vielleicht wieder in sichere Bauchlage zurückfinden konnte. Marduk sprang der Gegnerin auf den gepanzerten Bauch und krabbelte mit erhobenem Schwert darüber hinweg. Die haarigen Beine, die ihm entgegenschlugen, prallten von der blau leuchtenden Rüstung ab. Die gepanzerte Schreckensbrut wippte und bebte unter ihm. "Wenn du meinen Körper besteigen willst wirf deinen Schmuck weg und gestatte mir, dich in der dafür angemessenen Gestalt zu nehmen", hörte er die Stimme der in ihrer Ungeheuerform gefangenen Feindin. Doch er hörte nicht darauf. Er arbeitete sich bis zum Kopf vor. Laut klackernd schnappten die Zangen nach ihm. Doch er brauchte nur den Heilsstern vor sich zu halten, und die gefährlichen Beißwerkzeuge verfehlten ihn. Dann hatte er den linken Fühler des Ungetüms erreich und hob sein Schwert an. Gleichzeitig drückte er den Heilsstern gegen den Griff. Das Schwert glühte nun im goldenen Licht, Blaue Funken versprühend. Noch einmal schnappte eine der Zangen zu. Doch sie wurde von einer unbändigen Kraft zurückgedrängt. Dann hob Marduk sein Schwert, ohne die Verbindung mit dem Heilsstern zu lösen. Er dachte inbrünstig daran, dass seine Vorfahren ihm beistehen mögen und bat seine Großmutter Ashtaria um Vergebung, dass er ihre Macht einsetzen musste, um ein anderes Lebewesen zu verletzen. Weil das Licht des Schwertes nicht erlosch und auch sonst nichts eintrat, was die Macht des Heilssterns beendete, wähnte er sich im Recht, zu tun, was er tun wollte.
Mit einem einzigen gewaltigen Streich trennte die golden leuchtende Klinge den linken Fühler des gefangenen Kerbtiers in der Höhe des ersten Viertels vom Kopf ab. Ein urwelthafter Schrei entfuhr dem zur Bewegungslosigkeit verdammten Geschöpf. Marduk fühlte einen Moment große Reue in sich aufsteigen. Er hatte ein fühlendes, ja denkfähiges Wesen verstümmelt. Doch dann überwog die Entschlossenheit seine Gedanken. Er nahm den Heilsstern vom Schwertgriff weg. Das Schwert bekam nun wieder seine rötliche Glut. Er steckte es mit einer vielgeübten Bewegung zurück in die unzerschneidbar bezauberte Lederscheide. Dafür griff er den noch zuckenden Fühler. Der Ekel, dieses widerwärtige Stück abgeschlagenen Fleisches anzufassen verflog erst, als ein warmer Schauer aus dem Heilsstern in seinen Körper drang. Marduk zog nun den Herrscherstab frei.
"Das wird dir noch leid tun. Ich werde dich und deine Liebsten zu ewig leidenden Geschöpfen machen. Ich ..." schnarrte die Stimme der Feindin. Marduk hörte jedoch nicht darauf. Er beschwor wieder besondere Körperkraft und Gewandtheit und sprang vom Rücken seines Flugtiers. Er bekam mitten in seiner Stadt wieder Boden unter die Füße, während Muschuschu alle Bemühungen des auf ihm liegenden Käferungeheuers vereitelte, sich durch Schaukelbewegungen wieder in die Beweglichkeit zurückzuwerfen. Dann rammte er den immer noch zuckenden Körperteil der Feindin zwischen die Pflastersteine des großen Hauptplatzes vor dem ihm gewidmeten Tempel. Nun stand das mindestens zwei Ellen lange, haarige Tastorgan wie ein abscheulich verunstalteter Grashalm nach oben. Marduk hob seinen Herrscherstab, winkte dem Tempel zu, in dem er bei der Einweihung einige Tropfen seines Blutes vergossen hatte, um den Tempel zum Zentrum der Schutzzauber gegen niedere Untiere zu machen und einen Ort zu schaffen, an dem man ihn rufen konnte. Danach zog er mit dem Stab eine Linie zu sich selbst und von da zum eingepflanzten Käferfühler und von dort wieder zum Tempel. Dann sprach er:
"Höre wohl, Lahilliotas Brut,
meine Worte wohl und gut.
Vaterlos seid ihr geschaffen,
Menschenleben fortzuraffen.
Dieses treiben ist ein Graus.
Darum treibe ich euch hinaus.
Mit dem Fleisch von eurem Fleische
ich den Frieden nun erheische.
Solange Fleisch von meinem Fleische
und auch Blut von meinem Blute
an dieser Stätte Blüten Treibt
sie euch stets verschlossen bleibt.
Sollt nicht wandeln oder trachten,
nicht bei Tage nicht bei Nachten,
nach dem Fleisch und Seelenheil,
dafür steht von eurem Fleisch ein teil.
Dieses segne ich dafür,
das der Frieden dauert hier.
Keine soll von euch ergründen,
in diesen Obdach oder Nahrung finden,
wo der Mutter große Worte, sind Gehört an diesem Orte."
Danach drückte er blitzartig den Heilsstern gegen den abgeschlagenen Fühler und rief die uralten Worte der Liebe und des Lebens. Das abgetrennte Tastorgan wurde darauf hin von weißen Flammen eingehüllt, wurde gar selbst zu einer einzigen turmhohen Flamme, die soweit aufragte, wie Marduks kraftvolle Anrufung zu hören war.
Das gefangene Kerbtierungeheuer schrie laut auf. Dann begann es im Widerschein der weißen Flamme durchsichtig zu werden. Schließlich leuchtete es aus sich selbst in jenem weißen Licht auf, verlor dabei die bisherige Erscheinungsform. Nun hörte Marduk die Schreie der Bestie in seinen Gedanken. Doch es waren nur noch Schmerzensschreie, keine Verwünschungen mehr. Dann viel die aus weißem Licht bestehende Erscheinungsform in sich zusammen. Dabei schwirrten kleine, dunstartige Gebilde aus ihr heraus und lösten sich im Flug in Nichts auf. Marduk konnte jedoch kurze Ausrufe der Erleichterung hören, bevor diese übergangslos verstummten. Er wusste, dass dies die Seelen der Opfer waren, die aus dem Körper der Feindin freigesetzt wurden. Mit jeder entrissenen Seele verlor die Feindin an Kraft. Sie schrie nur noch in Gedanken. Dann, nach über hundert freigesetzten Seelen, klang nur noch ein einziger langer Aufschrei durch Marduks Bewusstsein. Er blickte sich um. Die zu einer gerade einer zwei Ellen durchmessenden Lichtkugel geschrumpfte Leuchterscheinung erbebte. Dann flog sie schneller als ein Pfeil in Mitternachtsrichtung davon. Der lange Schrei der besiegten Feindin wurde leiser und leiser und leiser. Immer noch ragte der himmelhohe Turm aus weißem Zauberfeuer auf, beleuchtete die Stadt mit seinem Licht. Erst als der Schrei der vertriebenen Feindin nicht mehr zu hören war verlor die alles überragende Flammensäule ihre Helligkeit. Sie blieb jedoch stehen, ohne zu schwanken. Dann erloschen die Flammen übergangslos. Ein Wärmeschauer durchflutete Marduk und auch alle, die in vierfacher Reichweite seiner Anrufung waren. Dann war alles so wie vorher. Nur der mächtige Drache Muschuschu lag noch auf dem Bauch. Er wirkte erstarrt. Doch als sich Marduk ihm wieder zuwandte ging ein leichtes Beben durch den Körper des Mischwesens. "Komm, treue Gefährtin, kehren wir heim!" rief er dem Wesen zu, dass seinen mehrere Ellen großen Adlerkopf anhob und einen kurzen aber lauten Triumphschrei ausstieß.
In den Häusern drängten sich die Menschen an den Sichtlöchern und beobachteten, wie der Gott der Stadt in seiner blauen Rüstung wieder seinen urgewaltigen Drachen bestieg und nach einem kurzen Ausruf in den Himmel emporstieg, um zu seiner Götterburg zurückzukehren, die kein Sterblicher betreten konnte.
"Jetzt sage noch mal eine von euch, das die Abkömmlinge unserer Mutterschwester viel zu gutmütige Schwächlinge sind, die nicht mal einem Kerbtier ein Haar krümmen würden", feixte Ullituhilia, die mit ihren Schwestern Itoluhila und Halliti den Kampf zwischen ihrer jüngsten Schwester und dem zum Gott ernannten Beschützer dieser kleinen Stadt da am großen Strom beobachtet hatte. Sie alle hatten durch Errithalaias für sie offenes Bewusstsein mitbekommen, was passiert war. Errithalaia hatte geprahlt, dass sie einen der Söhne Ashtarias heute noch entmachten würde, ob sie ihn als ihren Unterworfenen oder als verrottenden Leichnam übriglassen würde war egal. Die anderen Schwestern hatten mit gewisser Sorge darauf geantwortet. "Wenn ich siege unterwerft ihr anderen euch mir. Wen ich zu mir nehmen will kommt freiwillig zu mir." Die anderen hofften deshalb darauf, dass Errithalaia den Kampf verlieren würde. Und wenn sie doch gewann, so wäre eines der sieben Kinder Ashtarias erledigt und ihre Macht auf dieser Welt geschwächt.
Ullituhilia, die nach der belebenden Gabe ihrer anderen Schwestern ihre jugendliche Körperform wiederbekommen und damit ohne es unmittelbar zu wollen ihre jüngste Schwester in einen mehr als fünfhundert Sonnen dauernden Schlaf gezwungen hatte, bis ein törichter Bauernjunge mit einem Funken der übernatürlichen Kraft ihren Schlafplatz erreichte, dachte mit Bangen daran, dass Errithalaia sich ihre Essenz zuerst einverleiben würde, als angeblich gerechtfertigte Entschädigung für den langen Schlaf und die vorangegangenen Schmerzen. So war es auch sie, die sich am stärksten daran erfreute, dass Errithalaia den Kampf mit Marduk verlor.
"Was für ein gewaltiger Flammenturm", staunte Halliti. "Ashtarias Macht ist wirklich groß."
"Das war nicht nur Ashtarias Macht, Schwestern. Das war auch die freigesetzte Lebenskraft, die Errithalaia entrissen wurde. Die hundert Seelen haben mitgeholfen, dass Marduk sich und alle anderen in der Stadt retten konnte", knurrte Itoluhila. Ihr gefiel das nicht, wie machtvoll Marduks Zauber war. Doch das wichtigste war, dass Errithalaia in ihre Wohnstatt zurückgeschleudert wurde, um dort unvermittelt wieder in tiefen Schlaf zu fallen. "Wenn wir rausfinden, wo sie schläft können wir ihren Lebenskrug an einen weit genug abgelegenen Ort tragen, damit niemand sie mehr aufweckt", äußerte Itoluhila eine Idee. Ullituhilia nickte. Dann schlug sie vor, Marduks Macht zu überprüfen. So wie es geklungen hatte wollte er nicht nur Errithalaia aus seiner Stadt verbannen, sondern alle ihre Schwestern. Ein großes Vorhaben, fand die Tochter des schwarzen Felsens. Deshalb wollte sie prüfen, ob es stimmte.
Auf dem zeitlosen, kurzen Weg versuchte sie, in die ummauerte Stadt einzudringen. Doch sie prallte auf ein unwiderstehliches Hindernis. Schmerzen jagten durch ihren Körper. Als sie sich in ihrer eigenen Schlafhöhle wiederfand, jedoch noch wach genug, wieder in die Welt hinauszugehen, wusste sie, dass Marduks Macht wirklich groß genug gewesen war. Auch Halliti, die meinte, als geflügeltes Affenwesen im roten Schuppenkleid, eingehüllt von einer Wolke aus dunklem Feuer, in die Stadt hineinfliegen zu können, prallte einen Tausenderschritt außerhalb der äußeren Mauer auf ein unsichtbares Hindernis. Ihre dunklen Flammen schlugen in weißes Feuer um. Sie wurde mit ungeheurer Wucht davongeschleudert, musste dabei ihre feste Form aufgeben und fand sich selbst in ihrer Schlafhöhle wieder. Doch auch sie war noch wach genug.
Thurainilla und Itoluhila versuchten, auf eigenen Füßen in die Stadt einzudringen. Doch als sie auf zwei Tausendschritte heran waren wurden sie von einer unheimlichen Kraft in die Höhe und davongeschleudert. Da half auch nicht, dass sie sich bei den Händen hielten. Sie wurden in der Luft voneinander getrennt und in ihre Schlafhöhlen zurückgeworfen. Somit stand fest, dass die Stadt Marduks für die Töchter Lahilliotas unbetretbar war.
Marduk selbst wurde vierhundert Jahre und bekam mit der Sonnenpriestertochter Kalanahira fünf Kinder, davon zwei Söhne. Der erstgeborene zeugte seinerseits drei Söhne und zwei Töchter. Marduk konnte sogar noch seinen Ururenkel im Leben begrüßen, bevor sein Körper nach langem Leben endlich ruhen wollte. Als er seinem Erstgeborenen in der feierlichen Durchführung den Heilsstern übergab hörte sein Sohn Anaruk die Worte: "Halte die Stadt und meinen Namen im Gedenken. Lasse Muschuschu im langen Schlaf, solange du oder deine nachgeborenen ihn nicht unmittelbar brauchen. Erzähle den Bewohnern Babylons jedoch, dass ich und er weiterhin auf sie aufpassen. Mein Andenken darf nicht vergehen."
So herrschten die Nachkommen Marduks als heimliche Herrscher hinter den von den Kurzlebigen ernannten Königen und Priestern über Babylon. So konnten die Abgrundstöchter weiterhin nicht in die Stadt eindringen.
Zwar missfiel es Evarudarkash, dem Urenkel Marduks, dass die Bewohner der Stadt meinten, mit einem himmelhohen Stufentempel ihrem Stadtgott wieder näherkommen zu müssen. Hierfür fingen sie sich fremde Männer als Sklaven ein, die der irrwitzigen Ansicht waren, es gäbe nur einen einzigen Gott, und der sei auch noch unsichtbar. Doch als der Hohepriester des Sonnengottes Schamasch meinte, auf der obersten Plattform des weit aufragenden, turmartigen Bauwerkes einen jungen Mann zu Ehren Marduks und Schamaschs opfern zu müssen, da zuckte ein Blitz auf und brachte den Turm zum Einsturz. Denn durch die Bluttat war ein Teil von Marduks schützendem Zauber vergangen. Das zeigte sich daran, dass die Menschen, die über Jahrzehnte hinweg aus allen Teilen der bekannten Welt hierher gezogen waren, einander nicht mehr verstanden, wo doch vorher durch den verbindenden Friedenszauber keine Verständigungsschwierigkeiten bestanden hatten. Allerdings konnten die Abgrundstöchter immer noch nicht an diesen Ort vordringen. So blieb ausgerechnet Babylon, das von den israelitischen Sklaven zum Inbegriff der Lasterhaftigkeit und Hurerei erklärt worden war, der sicherste Ort auf Erden. Doch die Freveltat und die darauf folgenden Verständigungsschwierigkeiten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen führten dazu, dass die Macht Babylons mehr und mehr schwand. Erst kam Kyros, der Perserkönig, der die Sklaverei der Israeliten beendete. Danach wurde Babylon von den Truppen des Makedonenkönigs Alexander erobert. Damit verblasste Marduks Andenken immer mehr. Seine Nachkommen sahen keinen Sinn mehr darin, in dieser Stadt zu bleiben. Sie verstreuten sich nach und nach in alle Winde.
Als letzter Nachfahre des einstigen Stadtgottes war Uschanaguran verblieben. Doch weil er nie danach getrachtet hatte, die Rangstellung seiner Vorväter zu erhalten, war ihm nach Alexanders Sieg nur die Auswanderung geblieben. Sollten die Töchter des Abgrundes diese Stadt doch wieder heimsuchen.
Die wachen Schwestern Errithalaias suchten nach dem Schlafplatz ihrer Schwester. Doch sie fanden ihn nicht. Ein ganzes Jahrtausend nach dem Kampf gegen Marduk verschlief Errithalaia. Erst dann wurde sie erneut von einem arglosen Reisenden mit unerweckten Zauberkräften aufgeweckt.
"Na, Schwestern, habt ihr mich vermisst?" war die erste Frage der Wiedererweckten, als die anderen fühlten, dass sie wieder da war. Natürlich hatten die anderen sie nicht vermisst.
"Ich werde mein Wort halten und die Kinder Ashtarias töten", schwor sie. Ilithula fragte sie über die gewaltige Entfernung hinweg, ob sie denn noch in einem Stück sei, wo ihr ja jemand was abgehauen hatte.
"Der Jüngling, der mich weckte hat drei nette Schwestern gehabt. Als ich mir deren Lebenskraft einverleibt habe wuchs mein linkes Ohr wieder nach. Danke der Nachfrage, Windmacherin!" war die Antwort. So wussten die acht anderen Schwestern, dass Errithalaia immer noch davon überzeugt war, die einzig wahre Führerin der neun Töchter Lahilliotas zu sein. Sie würde es immer und immer wieder versuchen. Sicher, sie würde sich nicht noch einmal an einer der anderen Shwestern vergreifen. Aber sie lauerte darauf, dass deren Macht schwand, gleichermaßen wie sie darauf hoffte, die Kinder Ashtarias eines nach dem anderen töten zu können.
Julius Latierre wollte keine Zeitung mehr lesen. Seit seiner Rückkehr aus der ewigen Stadt und nachdem er wieder in sein natürliches Leben als Julius Latierre zurückgefunden hatte war nichts anderes in den Zeitungen als die gegenseitigen Vorwürfe der Ministerkandidaten Louvois, Lesfeux und Montpelier zu lesen. Einzig bemerkenswert war, dass sich Gilbert Latierre mit seiner Temps de Liberté sehr zurückhielt. Er hatte mit jedem der vier Kandidaten ein Interview geführt und dieses wortgetreu abgedruckt. Doch mehr wollte oder konnte er in diesem wahrhaftigen Wahlkampf nicht bringen.
"Julius, Madame Grandchapeau bittet Sie mal wieder, ihr im Computerraum zu assistieren, gegebenenfalls mit ihr einen Außeneinsatz durchzuführen", sagte Ornelle Ventvit. Dass sie sich ebenfalls um das Höchste Amt der französischen Zaubererwelt bewarb war nach den gegenseitigen Schlammschlachten der letzten Tage in den Hintergrund geraten. Nur dass Louvois ihr unterstellte, sie wolle eine Zaubereiverwaltung aufziehen, in der auch menschenähnliche Kreaturen gleichberechtigt mitsprechen könnten, hatte die Öffentlichkeit darauf gebracht, dass Mademoiselle Ventvit seine Konkurrentin war.
"Alles klar, Ornelle. Ich gehe sofort in die Computerzentrale", sagte Julius und verließ das Büro für Zauberwesen größer als Hauselfen.
Er besprach mit Belle Grandchapeau das weitere Vorgehen beim Aufbau eines automatisierten Infformationsglättungsprozesses, bei dem eindeutig auf die Zaubererwelt hinweisende Vorkommnisse so umgedeutet wurden, dass es naturwissenschaftliche oder artistische Erklärungen dafür gab. Wo es mit Computertricksereien alleine nicht ging sollten dann die Außeneinsatzmitglieder helfen.
"Gut, dass wir meinen Schwiegervater dazu bekommen haben, die Redundanz durchzubringen. Mit Euphrosynes Segen auf mir kann ich mich keinem Rechner mehr bis auf weniger als einen Meter nähern, ohne dass der gleich eine Kaskade von Fehlfunktionen erzeugt", sagte Belle. "Deshalb wird Madame Arno, Primula, mit Ihnen zusammen diese wichtige Aufgabe ausführen. Ich konnte sie mit Unterstützung von Dr. Priestley in den Wochen Ihres Sonderurlaubs weit genug einweisen, dass Sie mit der Bedienung der Technik zurechtkommt."
"Das freut mich. Öhm, wie viele Ihrer Mitarbeiter werden ab September den ausgiebigen Computerkurs mitmachen?" fragte Julius.
"Ausnahmslos alle. Ich werde mir von Madame Priestley lediglich noch Feinheiten der Programmierlogik erläutern lassen, um Abänderungen an den bereits laufenden Prozeduren vornehmen zu können."
"Gut, dann erwarte ich Madame Arno vor Computersaal Alpha", sagte Julius. Belle nickte.
Als Julius die halbzwergische Kollegin traf schlang diese sofort ihre kurzen Arme um seine Taille. "Hier sind wir nicht im Ministeriumsgebäude, Junge. Hier können wir uns anständig begrüßen, wie es unter Verwandten üblich ist", hauchte sie ihm zu. Julius gönnte sich die Frechheit, seine Schwiegertante mal eben vom Boden zu pflücken und wie ein kleines Mädchen in die Arme zu nehmen. Er hatte damit gerechnet, dass sie strampeln oder wütend losschimpfen würde. Doch sie lachte kindlich und zwinkerte ihm zu. So setzte er sie wieder ab, damit sie sich beide wieder auf das wesentliche konzentrieren konnten.
"Ach neh, was von Brenda Brightgate, einer Doppelagentin bei der CIA", bemerkte Julius, als er das Arkanet nach wichtigen Meldungen aus dem Ausland durchstöbert hatte. Doch das belustigte Grinsen verging ihm, als er den Artikel las und das von den geheimen Videos der CIA abgezweigte Standbild eines fliegenden Riesenkäfers mit goldenen Punkten zu sehen bekam. Darunter hatte Brenda in smaragdgrüner Schrift den Namen "Tochter der fliehenden Zeit, höchstgefährliches Subjekt" eingetragen.
"Verflixt und zugenäht. Das muss gleich zu Monsieur Vendredi und Mademoiselle Ventvit", sagte er Primula, die den gewaltigen Käfer mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen ansah. "Ist das eine von denen, die dir und deinen Verwandten nachgestellt haben?" fragte sie.
"Ja, das ist die jüngste. Die hat wohl bis vor kurzem noch geschlafen. Offenbar wurde sie auch geweckt", seufzte Julius. Zwar wusste er schon längst, dass sein Abwehrkampf gegen Ilithula und Halliti, sowie das Massensterben von Dementoren und zuletzt der Tod von Hassan bin Ibrahim iben Davud Al-Burch kitab die jüngste der noch schlafenden Abgrundstöchter aufgeweckt hatte. Doch dass sie in ihrer Monsterform ein als Fischereischiff getarntes Spionageschiff heimgesucht hatte traf ihn doch ziemlich unvorbereitet. Er wusste auch, dass die anderen Abgrundstöchter nicht gut auf ihre jüngste Schwester zu sprechen waren. Einen Moment dachte er daran, dass er eine Teilschuld an dieser Katastrophe hatte, die da über die "Arabella Worthington" hereingebrochen war. Dann fiel ihm aber wieder ein, dass er eben nur die eine Wahl gehabt hatte.
"Woran denkst du gerade, Julius?" wollte Primula Arno wissen.
"Daran, dass dieses Biest nur deshalb wachgeworden ist, weil die meisten anderen Schwestern von der schlafen und zwei von denen von mir und zwei Kindern Ashtarias in den ewigen Schlaf gebannt wurden", gab Julius zu.
"Dann denkst du, dass dieser Mistkäfer da wegen dir unterwegs ist?" Julius nickte behutsam. "Komm da besser schnell von ab. Dieses Ungetüm da wäre sicher auch aufgewacht, wenn du nicht die zwei anderen Missgeburten in Tiefschlaf gezwungen hättest. Ich habe die Zauberwesenkunde und vor allem die Natur dunkler Geschöpfe genauso gut drauf wie deine ehemalige Schullehrerin Blanche Faucon, allein schon, weil ich mich dafür interessiert habe, wo meine Vorfahren herkamen. Daher weiß ich, dass diese Abgrundsflittchen nur solange tief und fest schlafen, bis jemand mit unaufweckbaren Zauberkräften an ihrer Schlafhöhle vorbeiwandert."
"Normalerweise schon. Aber Soweit ich das mitbekommen habe haben die anderen Schwestern sie in den tiefen Schlaf gezwungen und dann wohl wo abgelegt, wo kein normaler Mensch mit oder ohne unerweckter Zauberkräfte dran vorbeigeht. So konnte die wohl nur durch die in Schlaf fallenden Schwestern und das Massensterben der Dementoren von Rough Water Island aufgeweckt werden. Zumindest vermute ich das stark, weil sie sonst ja schon vor der Sache mit den Dementoren wieder aufgetaucht wäre."
"Auf jeden Fall muss das zu unseren Leuten von der Zauberwesenbehörde und der Katastrophenumkehr von Monsieur Ich-bin-bald-Minister Lesfeux."
Julius dachte nur für sich daran, dass wenn Lesfeux oder Louvois Minister werden würde, sein letzter Tag im französischen Zaubereiministerium anbrechen würde.. Laut sagte er nur, dass er die Meldung und das Bild schnell weitergeben würde.
Nach dem Mittagessen traf sich Julius noch mit Belle Grandchapeau, Ornelle Ventvit und Monsieur Montpelier wegen der Meldung aus den Staaten. Zur Glaubwürdigkeit der Quelle befragt berichtete Julius, dass Brenda Brightgate für das Laveau-Institut in New Orleans arbeitete. Wenn dieses eine Meldung in das Arkanet stellte, dann nur, weil die Lage zu brenzlig war, um institutsintern geregelt zu werden. Das mochte was heißen, wo das LI gerade zur Bekämpfung von dunklen Zaubern und Zauberwesen aus allen Kulturkreisen perfekt ausgebildete Spezialisten hatte.
"Und diese Aufzeichnungen wurden von den nordamerikanischen Kollegen eingezogen und gegen muggelwelttaugliche Aufzeichnungen ausgetauscht?" fragte Montpelier. Julius erwähnte, dass die vom Satelliten heruntergeladenen Aufzeichnungen wohl verändert worden waren. Aber der Satellit, der die Videoaufnahme zuerst aufgefangen und zwischengespeichert hatte, kreise immer noch um die Erde. Wenn Brenda nicht auch die Zugriffsrechte für den Satelliten bekam konnte ein neuerliches Herunterladen der Videoaufnahme den Ursprungszustand wiederherstellen. Das wiederum würde eine Menge sehr unangenehmer Nachfragen auslösen.
"Das mit diesen künstlichen Monden ist also ein schwer behebbarer Unsicherheitsfaktor", erwiderte Belle. "Somit brauchen wir wen, der die entsprechenden Kenntnisse und Zugangsberechtigungen hat, um darin gespeicherte Informationen zu prüfen und für uns unschädlich abzuwandeln, richtig?" Julius bejahte diese Frage. Er hatte Belles Unterton wohl gehört, dass sie sich schon ausmalte, dass er wegen seiner Raumfahrtkenntnisse dieser Mensch sein mochte. Doch dafür brauchten sie wen, der eine nachprüfbare Ausbildung zum Raumfahrttechniker und/oder Nachrichtenspezialisten vorweisen konnte und in einer der zuständigen Behörden eingesetzt werden konnte. So sagte er: "Ich gehe davon aus, dass die Amerikaner, die ja schon länger mit dieser Technologie zu tun haben, entsprechende Informanten und Einsatzkräfte zur Verfügung haben."
"Die schon. Wir nicht", bestätigte Belle, was Julius schon vermutet hatte. Da sagte Ornelle Ventvit: "Soweit ich darüber informiert wurde können derartige Aufzeichnungen beim Transfer vom Originalspeicherort entfernt werden. Es muss also nicht immer eine Kopie der ursprünglichen Aufzeichnung existieren, richtig?" Julius bejahte das, als sie ihn gezielt ansah. So prüfte er schnell nach, ob die CIA die fraglichen Aufnahmen noch vom Satelliten herunterladen konnte. Brenda, die er deshalb anschrieb, schrieb zurück, dass die Ursprungsaufnahme von Ira Waterford aus dem Satellitenspeicher gelöscht worden war. Zu viele Kopien zu haben wäre der nötigen Informationsabänderung abträglich gewesen. Zumindest diese Nachricht beruhigte ihn ein wenig. Doch sich damit zurechtzufinden, dass die jüngste Abgrundstochter jetzt auch wieder wach war gefiel ihm nicht.
Am Abend erzählte er Millie nur, dass sie am Tag wieder einige Sachen im Arkanet zu erledigen hatten. Das mit dem Käfer mit den goldenen Punkten wollte er seiner Frau erst erzählen, wenn die Kinder für einige Stunden aus dem Haus waren. Außerdem wollte Millie, bevor sie mit Julius auf Kind Nummer drei hinarbeiten wollte, die nächste Lektion in Khalakatan erhalten. Außerdem wollte sie noch mehr über Madrashainorian wissen, was der so in seiner Jugendzeit erlebt hatte und ob es stimmte, dass in der Schule für Erdvertraute echt nach Geschlechtern getrennt unterrichtet wurde. Julius erzählte es ihr noch mal in Kurzform, was für ihn sozusagen ein superlanger Traum gewesen war. Er wusste zwar, dass er durch die Erinnerungen Madrashainorians nicht mehr ganz derselbe war wie vorher. Aber Dank Madrashmirondas letzter Gabe konnte erzumindest zwischen sich und dem virtuellen Sohn der Erdmeisterin trennen. Bisher zumindest.
"Und noch mal irgendwas von den neuen Vampiren oder den wachen Abgrundstöchtern gehört?" wollte Millie wissen.
"Hinweise, denen noch nachgegangen werden muss", tat Julius die ihm zugegangenen Informationen als noch nicht verbindlich ab. Ja, vielleicht sollte er das auch für sich so halten. Millie erkannte schon, dass ihr Mann ihr nicht alles erzählen wollte. Doch sie wusste, dass er es ihr dann berichten würde, wenn sicher war, dass es niemand mitbekam, der das weitererzählen mochte.
"Was mich eher wundert ist, dass wir bisher nichts neues von Anthelia mitbekommen haben. Entweder hat die sich schön weit zurückgezogen, oder sie hat es raus, ihre eigenen Unternehmungen früh genug zu vertuschen, dass wir das hier nicht mehr mitbekommen." Dem konnte Millie nur beipflichten.
"Oha, für diesen Brummer braucht man aber mindestens eine zwanzig Meter lange Fliegenklatsche", stellte Patricia Straton fest, als sie im gemütlichen Umstandssessel vor dem mit schwarzer Schutzfolie beklebten Laptop saß. Die beiden Zwillingsschwestern schlifen gerade selig ihrer im Oktober anstehenden Geburt entgegen. So bekamen die nicht mit, dass Patricia sich schon Gedanken machte, was das Auftauchen dieses Riesenkäfers auch für die Sonnenkinder bedeutete. Sie erinnerte sich daran, was sie über die Abgrundstöchter gelernt hatte. Dieses als Riesenkäfer herumschwirrende Frauenzimmer war die einzige Blondine im Reigen der neun Abgrundstöchter, warum Lahilliota ausgerechnet eine Blondine ausbrüten wollte. Sie konnte wohl den Lauf der Zeit innerhalb von Lebewesen beschleunigen oder beschleunigt rückwärts ablaufen lassen. Wie eine beschleunigte Alterung ablief kannte sie von Brandons Berichten vom Ausflug nach Garumitan her. Dagegen half also keine Sonnenrüstung. Aber womöglich war Errithalaias Magie anders gelagert als die des goldenen Wächters. Ausprobieren wollte sie es aber nicht. Dann las sie noch ein internationales Rundschreiben aus Paris, dass darauf geachtet werden sollte, von Satelliten stammende Aufzeichnungen aus den Speichern der Satelliten selbst zu löschen. Da sie auf Albertine Steinbeißers Zugangskonto arbeitete gönnte sich Patricia auch einen Einblick in ihre Notizen. Sie hatte wegen der Sache in der Fabrik zwei neue Augen bekommen, die ähnlich überragend waren, wie die Zauberohren von Linda Knowles. Die magische Streustrahlung dieser Kunstaugen war jedoch zu gering, um auf elektronische Geräte zu wirken. So konnte Albertine auch weiterhin ihre Arbeit machen, ohne die Geräte entsprechend abzuschirmen, wie sie das mit dem Laptop von ehemals Brandon Rivers gemacht hatte.
Patricia erlaubte sich die Kühnheit, eine E-Mail an Romina Hamton zu senden, dass sie neuigkeiten über die Abgrundstöchter hatte und fügte eine komprimierte Datei mit dem Bild des fliegenden Riesenkäfers bei. "Wird Lady A. nicht gerade beruhigen. Aber ich hielt es für richtig, das euch weiterzugeben. Grüße sie nett von mir. Mir und meinen ungeborenen Kindern geht es gut", schrieb sie noch. Da fühlte sie, wie sich eines der schlafenden regte.
"Mom Pat? Was für'n Tag ist heute?" hörte sie die Gedankenstimme einer ihrer Töchter und wusste, dass es Phoenix war.
"Einen Tag nach deinem Experiment, mir eine gehörige Verstopfung zu bereiten, Kleines. Bin gerade an unserem Zentralcomputer und sichte die Nachrichtenlage."
"Bist du bei dieser A. Steinbeißer auf dem Konto?" gedankenfragte Phoenix.
"Die hat sich gut von ihrem Unfall erholt. Ist natürlich noch stinkwütend auf diesen Zauberer, der ihr die Augen aus Versehen ausgebrannt hat. Aber weil der schon tot ist gibt's keinen mehr, an dem sie sich rächen muss."
"Ach, die hat doch Bionikaugen gekriegt oder wie das bei den Hexen und Zauberern heißt", erinnerte sich Phoenix. Da erwachte auch Pandora aus ihrem unschuldigen Schlummer.
"Ja, damit kommt sie wohl schon gut klar. Vielleicht treffe ich sie mal, wenn du und deine Schwester selber atmen können."
"Neues von diesen Dienern der Abgrundstöchter, Mom Patricia?" wollte nun Pandora wissen. Patricia fand es immer noch unheimlich, dass sie die Stimmen ihrer Töchter so empfand, als höre sie sie aus ihrem Bauch heraus reden. Sie gab ihren beiden bald zwwiegeborenen Töchtern die erhaltenen Informationen. "Dann sollten wir doch bald mal Kontakt mit dem Jungen aufnehmen, bevor die in Frankreich ganz von allen wilden Wichteln gebissen werden und so einer wie Louvois da Minister wird", erwiderte Pandora.
"Ihr zwei süßen wisst doch, dass das nicht von mir entschieden werden darf. Wenn es nach mir gegangen wäre hätte ich den jungen Mann, Pandora, gleich nach deinem Umzug in meine kleine Unterstube aufgesucht, um ihn von uns zu erzählen. Aber Faidaria möchte noch warten, bis eine Lage eintritt, wo wir ihn dringend aufsuchen müssen oder wenn sie sicher ist, dass dabei keine Nachstellung gegen uns passiert."
"Liegt wohl dran, dass die von Brandon wen kleines in Aussicht hat", gedankenseufzte Phoenix. Pandora gedankenkicherte wirklich wie ein junges Mädchen.
"Wenn Faidaria grünes Licht gibt bin ich schneller bei dem als ihr zwei in mir eingezogen seid", versprach Patricia. Sie wusste selbst, wie wichtig es war, mit der gegenwärtigen Zaubererwelt in Kontakt zu bleiben. Die Sache mit den Dementoren hatte diese Verbindung um Monate zurückgeworfen. doch wenn jetzt die jüngste Abgrundstochter aufgetaucht war, dann würden sich die vier wachen Schwestern von der sicher bald regen.
"Gwendarthammaya, teile dein Wissen über die vaterlosen Töchter mit mir, wenn die, die da erwacht ist, so ungleich tödlicher ist als ihre Schwestern!" empfing Patricia den Gedankenruf der Matriarchin der Sonnenkinder. Patricia sandte ein "Ja, das tue ich" zurück und lehnte sich in ihren Umstandssessel zurück. Die Erinnerungen, die sie an den Kampf in der Mojave-Wüste hatte, sowie das gelesene und von ihrer Mutter aus ausgelagerten Erinnerungen übernommene Wissen strömten nun durch ihren Geist und erreichten ohne Umwege über Mund oder Niederschrift das Gedächtnis Faidarias, die sicher auch in einem bequemen Sessel saß. Sie rief die Zeichnungen über die neun Abgrundstöchter in ihr Bewusstsein und dachte so konzentriert sie konnte die von Hexen und Zauberern niedergeschriebenen Angaben, von Slytherin über die Custodines albi des 13. Jahrhunderts bis über die Aufzeichnungen Sardonias und einiger ohne Autorenangabe erhaltenen Schriften aus dem Orient. Sogar eine aus dem Ägyptischen übersetzte Papyrusrolle war dabei. Einmal mengte sich die auf Kleinmädchenart veränderte Gedankenstimme ihrer ungeborenen Tochter und ehemaligen Mutter ein und ergänzte das übermittelte. Als Patricia alles ihr bekannte weitergegeben hatte bemerkte Phoenix:
"Heftig, fast so wie die Geistverschmelzung bei den Vulkaniern."
"Ich dachte, du schläfst wieder", gedankentadelte Patricia jenes Wesen, das mal ihre Tochter Phoenix werden sollte.
"Wenn über mir gerade das volle Aktionskino abläuft?" bekam sie eine freche Antwort und musste grinsen. Zur Antwort tätschelte sie sich nur den prallen Umstandsbauch und wandte sich mentiloquistisch an Faidaria:
"Diese Kreaturen sind sicher nach eurer Zeit entstanden. Warum es nur neun gibt habe ich dir mitgeteilt."
"Diese jüngste von ihnen, die sich in der Gestalt eines gepanzerten Flugkkerbtieres gezeigt hat, kann den Lauf der Zeit verändern?"
"Kann sie, aber nur das, was in Sichtweite ist. Aber sie kann nicht selbst in die Vergangenheit zurückreisen. Sonst hätte sie sicher schon längst die Vergangenheit nach ihren Vorstellungen verändert."
"Gib mir einen Viertelzwölfteltag Bedenkzeit! Womöglich müssen wir doch früher wieder aus unserer selbstgewählten Abgeschiedenheit hervortreten, als ich eigentlich für richtig hielt", gedankenseufzte Faidaria.
"Du findest, dass dieses Wesen auch für unsere Sache gefährlich ist?" schickte Patricia Straton alias Gwendarthammaya zurück.
"Natürlich ist die für unsere Sache gefährlich, hörte sie dumpf und verwaschen die Gedankenstimme eines kleinen Jungen antworten, bevor Faidaria sich äußerte.
"Gisirrdarias Sohn ist sehr ungeduldig, noch weit vor der Geburt", gedankengrummelte Faidaria. "Aber ich muss ihm rechtgeben. Wir wurden gezeugt, um die Brut der Nachtkinder niederzuhalten. Wenn diese neun Schwestern größere Schäden anrichten können und vor allem mehr mit unbegabten Menschen ihr Spiel treiben, ohne aufzufallen, so sind sie ebenso unsere Feinde wie die Nachtkinder. Deshalb brauche ich die Bedenkzeit. Die Übermittlung hat dir und mir viel abverlangt. Dann will ich sicher sein, dass wir bei allem was getan werden muss immer mehr als einen Ausweg nehmen können, wenn der gerade getane Schritt zum Fehltritt zu werden droht oder sich als solcher erweist."
"Gut, du denkst nach, ich auch, erhabene Faidaria", gedankenantwortete Patricia. Als sich darauf die zwei ungeborenen Mädchen wieder regten schickte sie an deren Adresse: "Und ihr zwei schlaft, wie sich das für Babys gehört, die noch wachsen müssen!"
"Wenn wir können", bekam sie von einer der zwei die Antwort und musste erst überlegen, von welcher. Dann erwiderte sie an Pandoras Adresse:
"Ihr findet geistig immer besser zueinander hin. Ihr werdet zwei ganz passable Zwillingsschwestern."
"Glaube ich erst, wenn ich die ersten Windeln vollgekackt habe", bekam sie von Phoenix zurück. Sie musste wieder grinsen.
Nachdem sie den Laptop in den Ruhezustand versetzt hatte nutzte sie die von Faidaria erbetene Zeit, um eine Kleinigkeit zu essen, unverdaulichen Ballast wieder loszuwerden und für eine halbe Stunde die Augen zuzumachen. Als Faidarias Gedankenstimme sie aus einem schönen Traum von ihrer Kindheit weckte war nicht nur sie hellwach. Alle Sonnenkinder, geboren und ungeboren, kwaren in erwartungsvoller Aufmerksamkeit.
"Da mir alle zuhören, auch die, für die meine treuen Daseinsschwestern und ich noch mitatmen und -essen müssen, so verkünde ich es als verbindliche Entscheidung, dass wir, die Sonnenkinder, von den erhabenen Vertrauten von Licht und Feuer gezeugt und genährt, um die dunklen Wesen und Kräfte niederzuwerfen und zurückzudrängen, nach der im Lande Frankreich vollzogenen Ernennung eines neuen Sprechers aller dort lebenden Trägerinnen und Träger der Kraft mit dem Vermittler zwischen dem erhabenen Erbe unserer Vorväter und der Jetztzeit, Julius Latierre, Verbindung aufnehmen. Ich habe deshalb diesen Zeitpunkt bestimmt, weil Gwendarthammaya dargelegt hat, dass wir besser keinen Einfluss auf den laufenden Vorgang der Sprecherfindung nehmen sollten, um nicht selbst zum Gegenstand unerwünschter Vorhaben dieser Jetztzeitmenschen zu werden. Mir ist bewusst, dass wir damit die Gefahr zulassen, dass in dieser Zeit etwas geschieht, das unserer Sache schadet. Doch zum jetzigen Augenblick sehe ich eine größere Gefahr darin, uns den Trägern der Kraft zu offenbaren, weil diese immer noch darauf ausgehen können, unseren Besitz und unser Wissen zu erlangen. Ja, ich weiß, dass euch das missfällt, Gwendarthammaya und Gisirrdaria. Ich weiß auch, dass die in uns reifenden Kinder bis dahin noch mehr Last für unsere Körper sein werden, als dass wir uns in eine Lage bringen lassen dürfen, wo körperliche Gewandtheit und Ausdauer über Erfolg oder Niederlage entscheiden. Doch ich habe es genau durchdacht, dass nur dann, wenn wir wissen, wer für die Jetzigen Menschen spricht und handelt, auch wissen, wie wir uns diesen Menschen offenbaren und anvertrauen dürfen. Dies ist mein Wort, und es gilt." Mit dem letzten Satz verdeutlichte Faidaria die unabänderlichkeit ihrer Entscheidung. Patricia und ihren Ungeborenen gefiel das zwar nicht. Aber sie wussten, dass sie im Moment nicht widersprechen sollten. Phoenix wusste, wie entschlossen Faidaria als Anführerin wie als leidenschaftliche Beischlafpartnerin sein konnte. Pandora, die über Jahre hinweg körperlos die Handlungen ihrer ehemaligen Tochter mitbekommen hatte wusste auch, wie mächtig die Sonnenkinder waren. Dass das so überdeutlich war wusste sie seit dem vorgeburtlichen Erwachen ihrer Zwillingsschwester. Patricia selbst wusste, dass sie ohne die Sonnenkinder nur die Wahl gehabt hätte, alleine oder als treue Nachläuferin der amtierenden Sprecherin der Nachtfraktionsschwestern Nordamerikas weiterzuleben. Doch dann fiel ihr was ein, was sie nicht als Widerspruch ansah:
"Dir ist bewusst, dass Julius bereits von unserer Heimat weiß, erhabene Faidaria?"
"Das habe ich in meine Überlegungen einbezogen, Gwendarthammaya. Sollte es doch gegen meine gerade verkündete Entscheidung geraten sein, die Verbindung zumindest mit diesem jungen Mann zu suchen, so darf sie ausdrücklich erst einmal nur auf dem Wege verlaufen, den die Jetztzeitigen E-Mail nennen. Und auch auf diesem Wege darf nur das mitgeteilt werden, was nur er erkennen und verstehen kann."
"Ich danke dir für deine Weitsicht, erhabene Faidaria", erwiderte Patricia. Sie fühlte, dass immer noch alle atmenden und nicht atmenden Sonnenkinder mithörten. Erst jetzt löste sich die gebündelte Aufmerksamkeit in einzelne Gedankenflüsse auf. Jeder und jede ging wieder den eigenen Aufgaben und Freizeittätigkeiten nach. Gisirrdaria wollte noch ein wenig im Meer schwimmen, während Miridaria in den altgriechischen Sagen weiterlas, die ihr Patricia zum achtzigsten Geburtstag vor drei Wochen geschenkt hatte. Offenbar gefiel Miridaria die Vorstellung, die Geschichten um die alten Götter und Helden von Hellas auf Erinnerungen an die alte Heimat zu überprüfen. Patricia selbst hatte sich eine ganze Sammlung amerikanischer Romane und Kinderbücher aus der Muggel- und der Zaubererwelt zusammengetragen, wobei sie mit der von damals noch Brandon besorgten Kreditkarte bezahlte, die auf das von ihm heimlich eingerichtete schweizer Bankkonto zugriff, auf dem das von den Sonnenkindern abgezweigte Mafiageld geparkt war. Auch wenn sie zaubern konnten durften sie keine Diebe werden, hatten Faidaria und Darfaiyan damals klargestellt.
Als es auf der Insel Ashtaraiondroi Nacht wurde gingen die Frauen schlafen, während die Männer an den aufgestellten Fernblickvorrichtungen saßen, um den Schlaf ihrer Schwestern oder Anvertrauten zu bewachen. Denn seit die Dementoren sich überdeutlich in der Welt zurückgemeldet hatten rechneten sie jede Nacht mit einem Angriffsversuch dieser Geschöpfe.
Dir, der du diese Schrift liest, Friede und Freundschaft. Nun, wo ich, Jassir, Sohn des Pilgers Sadek, dem Sohn des Pilgers Sulaiman vom Turme der Schriften, meine vom Allerhöchsten auferlegte Bestimmung erkannt habe, gehe ich daran, mein Wissen um den Tag der Begegnung mit der Körper wie Seelen verschlingenden Tochter ohne Vater zu beschreiben, auf dass du und jeder dir nachfolgende erfährst, welch großes Übel der Sheitan in diese Welt entsandte, um die treuen Diener des Allerhöchsten zu versuchen, zu knechten oder zu vertilgen. Allah und der Prophet sind meine Zeugen, dass das von mir niedergeschriebene die volle Wahrheit ist und ich dereinst, wenn ich von Allah zu meinen Vätern gerufen werde, diese mit Wohlgefallen und Stolz meiner Ankunft harren und ich selbst mit Beruhigung, dem auf ewig Verfluchten nicht die Welt zum Spiel und Fraße überlassen zu haben, in die Gefilde der Seligen eingehen darf. So erfahre nun, was sich vor drei Tagen zutrug und welchen großen Beschluss meine Mitstreiter und ich darauf fassten.
Es begab sich zu den Tagen, als mein Vater Sadek mich fragte, wann ich die große Pilgerfahrt nach Mekka antreten würde, um das höchste Ziel eines treuen Anhängers des Propheten zu erfüllen. Er wollte, dass ich noch vor meiner Hochzeit mit Ela, der Tochter des Sterndeuters Omar, die Stätte des Propheten besucht und den einzigen Gott in der großen Moschee von Mekka für mein Leben und Sein gepriesen habe. Üblicherweise ist es so, werter Leser meiner Schrift, dass die heilige Reise erst vor Vollendung des dreißigsten Jahres angetreten werden darf. Vorher ist die Unrast der Jugend noch zu groß, um die gebührende Geduld und Ergebenheit zu erbringen. Doch wenn das Leben eines Sohnes meiner altehrwürdigen Familie dreißig mal zwölf Monde währt, so gilt eine andere überlieferte Pflicht. Denn den ersten Mond im einunddreißigsten Jahr, soll ich als Ehemann erblicken. Nun ist es so, dass Ela und ich bereits vor dem Ende des neunundzwanzigsten Jahres zu Mann und Frau werden wollen. Ich weiß nicht, warum ihr Vater darauf besteht, dass wir so früh einander zugesprochen werden. Vermutlich hat er es in den Sternen gelesen oder aus dem Fließen des großen Flusses gehört. Die Macht der Vorhersehung und die Kunst, aus den Gestirnen den Verlauf eines Lebens zu lesen habe ich bis zu diesem Tage nicht erlernt. Auf jeden Fall gebietet die altehrwürdige Familienpflicht, dass ich die Reise nach Mekka antreten muss. Hierfür galt es, Vorbereitungen zu treffen. Denn aus dem Land der zwei großen Ströme nach Dschidda zu reisen bedurfte es eines Schiffes, das mich von Basra aus über das Meer brachte. Ich will dich, verehrter Leser meiner Schrift, nicht mit zu vielen Einzelheiten dieser Vorbereitungen behelligen. Du sollst nur wissen, warum ich zum Zeitpunkt, da ich über meine Vorherbestimmung erfuhr, nicht im Hause meines Vaters weilte.
Davon ausgehend, dass du ebenfalls in die hohen Künste der Magie eingeweiht wurdest wirst du wohl fragen, weshalb ich nicht den über Jahrhunderte den Trägern der wankelmütigen Gabe gelehrten kurzen Weg des zeitlosen Ortswechsels gehen wollte. Nun, du weißt gewiss, dass selbst die ungläubigen, die eher den dunklen Pfaden der Magie folgen, nicht näher als eine halbe Tagesreise an die heilige Stadt herangelangen, wenn sie den kurzen Weg wählen. Es ist sicher eine Fügung des Allerhöchsten, dass sein größtes Heiligtum nur in demütiger Wanderung erreicht und verehrt werden darf. Wenn ich also mindestens einen halben Tage wandern oder auf einem Kamel oder Pferd an die heilige Stadt heranreiten sollte, so beschloss ich, dass ich den ganzen Weg von meiner Vaterstadt in der Nähe der Ruinen der alten Königsstadt Babylon bis zum heiligen Brunnen auf dem Wege der nicht mit Magie vertrauten zurücklegen würde.
In Basra, der Hafenstadt des großmächtigen Kalifen, erwarb ich mir die Unterbringung auf einem Schiff, das mich nach Dschidda bringen sollte. Dreißig andere Pilger und ihre Eheweiber sollten meine Weggefährten sein. Kapitän war ein Mann namens Ibrahim ben Hassan Al-Omani. Als ich ihm zum ersten Mal näher als zehn Schritte kam verspürte ich eine vorher nicht gefühlte Eiseskälte von ihm ausgehen, auf die mein Körperinneres mit erhöhter Wärme und schnellerem Herzschlag antwortete. Mir war dadurch sofort bewusst, dass dieser Mann von bösem Zauber erfüllt sein musste. Allah hat mich glücklicherweise darauf gebracht, meinen zedernhölzernen Stab mit der Schwanzfeder des immer wieder verjüngbaren Feuervogels mit mir zu nehmen, jedoch wohl verwahrt in einer dem Auge durch Zauber verborgenen Hülle, so dass niemand mich für einen dunklen Vertreter des auf ewig verfluchten ansehen mochte, von denen es leider mehr in den Reihen der Magier gibt als in den Reihen Allahs. Doch wenn der Schiffsführer bereits von Sheitans bösem Atem erfüllt war, so hatte mich meine Vorherbestimmung wohl genau deshalb auf sein Schiff gebracht, um den dunklen Zauber auszutreiben, wenn ich seine Natur ergründen konnte. Im festen Vertrauen auf Allahs Allweisheit und Großmacht hegte ich keinen Zweifel, dass mir dieses Vorhaben gelingen würde.
Als ich dann in einer der ohne Sichtlöcher beschaffenen Kammern unter dem Verdeck mit fünf Pilgergefährten aus anderen Landen meine Habe verstaute verspürte ich von einem, Kasim, ebenfalls jene eisige Kälte ausgehen, die mich beim Schiffsführer bereits vor einer drohenden Gefahr warnte. Doch bei diesem Mann war der böse Hauch noch nicht so deutlich wie bei dem Schiffsführer. Um den bösen Atem Sheitans zu spüren musste ich einen Schritt an den anderen herantreten. Er blickte mich einmal argwöhnisch an. Da erschloss sich mir, dass auch er fühlte, dass in mir eine über der Sterblichkeit stehende Kraft wirkte. Sein feindseliger Blick enthüllte mir, dass wir wohl Todfeinde sein würden, sobald ich seinen Weg kreuzte. Ich war nun gewarnt und auf der Hut, die Nächte bis zur Ankunft nicht ohne Schutz zu verbringen. Daher vollführte ich, als ich außer Sicht der Mitreisenden war, den Zauber des Nachtfriedens, der um mich einen unsichtbaren Schild errichtet, sobald ich mich niederlegte. Dazu musste ich jedoch eine Verbindung mit dem Mond und den Wellen errichten, um diese Macht des Wassers und des Mondes in mir zu vereinen. Dieser mächtige Schutzzauber war einer der ersten, den mein Vater mir beibrachte, noch bevor ich in die Schule der Magier nach Bagdad geschickt wurde.
O Leser, ich hoffe, meine kurzen Abschweifungen belasten nicht zu sehr deine Geduld. Doch nun sollst du erfahren, was sich in den kommenden Nächten zutrug und wie ich der Dienerin des Sheitans entrann.
Es begann damit, dass ich in der ersten Nacht der Schifffahrt träumte, eine anmutige Frau mit wohlgestaltetem Körper betrete die Kammer, in der meine Schlafstatt stand. Sie war in kurze Gewänder gehüllt, die nichts von ihrer Weiblichkeit statthaft verhüllten. Sie umfloss ein violetter Dunst, der jedes Licht im Raume unnötig machte. Ich konnte mich nicht bewegen. Irgendwas fesselte meine Arme und Beine an das viel zu schmale und von Mäusen oder Ratten angefressene Bett. So konnte ich nur meinen Kopf drehen und sehen, wie die Fremde sich an das Bett von Kasim heranschlich, der sie wohl schon erwartet hatte. War es eine Dirne, die der Schiffsführer in seinem Schiff versteckt hatte, um die darauf reisenden Pilger vom rechten Pfade abzubringen? Ja, dieser Eindruck bestätigte sich mir, als ich zusehen musste, wie die Frau aus ihren Gewändern schlüpfte, wie eine Schlange aus der alten Haut, um dann mit Kasim unverhüllt und anstandslos auf dem Bett die uneheliche Vereinigung zu vollziehen. O Leser, jetzt weißt du, warum ich jetzt erst niederschreibe, was mir widerfuhr. Denn als ich dies mit anzusehen gezwungen war hätte ich es nicht niederschreiben können. Jedenfalls bekam ich mit, wie dieses unzüchtige Treiben seinen Höhepunkt erreichte. Die Dirne verströmte dabei einen wohl anregenden Duft, aber sie verströmte auch jene eisige Kälte, die mir überdeutlich machte, dass es keine niedere Hure war, die der Schiffsführer gekauft hatte, um die Fahrgäste zu verführen. Ich kam immer noch nicht frei. Was immer mich band hielt mich weiterhin fest. So musste ich erkennen, wie der violette Lichtschimmer, der die Dirne umfloss, durch ihr sündhaftes Treiben noch heller wurde. Ja, und ich vermochte nicht, mich zu bewegen, als sie zum nächsten Bette schlich, um den nächsten Mitreisenden erst durch zärtliches Geflüster und dann durch unzüchtige Handreichungen zum Beilager zu verführen. Ich versuchte zu rufen. Doch auch meine Stimme war gelähmt. So bekam ich mit, wie die Gesandte, ja vielleicht die Tochter des Sheitans, einen nach dem anderen zum Beischlaf verführte und dabei sichtbar an Kraft gewann, während die von ihr verführten nach der unerlaubten Vereinigung in die Gefilde der Ohnmacht versanken. Dann wollte dieses Weib sich an mich heranschleichen, blickte mich bereits aus im violetten Lichte, das sie umspielte grünlich flirrenden Augen begierig an. Doch als sie die Hand nach mir ausstreckte, sprang ein goldener Blitz von mir zu ihrer Hand über. Sie schrie wütend auf. Niemand in der Kammer erwachte. Wieder langte sie nach mir, entschlossener, diesmal aber aus Wut statt begehren. Wieder trieb ein goldener Blitz sie zurück. Da brüllte sie los wie ein Rudel Löwen und spie mir Verwünschungen entgegen. Immer noch an das Bett gebunden und an Zunge und Stimme gelähmt vermochte ich nicht, ihr zu entgegnen. Da wurde sie zu einem Ungeheuer. Sie wandelte sich in einen gewaltigen Käfer, größer als ein lebender Mensch. An den Seiten glänzten goldene, kreisrunde Flecken wie kopfgroße Goldteller. Derart umgestaltet wollte die Sheitansbrut mich mitsamt dem Bett ergreifen. Da umflutete mich eine Halbkugel aus goldenem Lichte, gegen das sie prallte und mit lautem Gefauch durch die Wand geschleudert wurde. Da löste sich meine Lähmung. Ich sah, dass die Wand nicht zerstört war. Daraus schloss ich, dass das erlebte nur ein böser Traum gewesen war. Doch etwas war nicht wie zuvor. Ich verspürte von allen Bettstätten den kalten Hauch böser Magie ausstrahlen, bei Kasim am stärksten. Doch die anderen waren nun auch davon durchdrungen. So erkannte ich, dass wir von einem bösen Geiste heimgesucht worden waren, einer Qarina, einer jener den Dschinnen verwandten Ausgeburt der Hölle, die durch Liebesspiel und Ränke die die Körper und Seelen argloser Menschen verzehrt, wie ein Floh das Blut dessen, auf dem er sich niedergelassen hat. Mein Vater hatte mir erzählt, dass es nur neun dieser bösen Frauen gab, aber dass eine von ihnen wohl irgendwo fünf Tagesreisen von Babylons Überresten entfernt im tiefen Schlafe liege. Somit war die Frage, welche der nacht anderen uns diese Nacht heimgesucht hatte. Mir war nur klar, dass ich wohl wegen meines Nachtfriedenszaubers verschont geblieben war. Doch würde dieser Zauber auch in den kommenden Nächten vorhalten? Ich wusste nur, dass dieses Schiff verflucht war. Weil ich auf ihm mitfuhr erkannte ich, dass es an mir sein würde, den Fluch des von Allah verdammten zu brechen und seine Magd, vielleicht seine Tochter, von den Pilgern fernzuhalten.
Am nächsten Morgen wurde ich von allen meinen Kammergenossen so feindselig angesehen, als trüge ich den schwarzen Tod in mir oder den Aussatz, der Menschen bei lebendigem Leibe verfaulen lässt. Als ich sie herausfordernd fragte, was ich ihnen zu Leide getan hätte sagte einer von denen nur: "Du bist keiner von uns. Du gehörst nicht hierher." O Allah, dies entsprach wohl der Wahrheit. So wusste ich, dass ich in großer ja tödlicher Gefahr war. Denn ich erspürte sehr bald, dass die Gesandte des Sheitans, vielleicht auch er selbst, die gesamte Besatzung und die Fahrgäste mit seinem bösen Atem durchdrungen hatte. Denn jeder Mann, dem ich begegnete verströmte auf wenige Schritte jene Eiseskälte. Nur die Weiber der ordentlich angetrauten waren frei von diesem Zauber. Doch ihre Männer waren davon befallen. So musste ich fürchten, dass sie wohl selbst zu Überträgern dieser dunklen Pest werden mochten, wenn der Sheitan es ihnen eingab und Allah es nicht von ihnen fernzuhalten trachttete. Hatte der allerhöchste mich deshalb auf dieses Schiff geschickt, um sein vollstreckender Arm zu sein?
Die Stimmung auf dem Schiff war so dunkel wie die Neumondnacht. Denn irgendwie schafften es die Befallenen, ihre Eheweiber gegen mich aufzubringen. Eine der Frauen, eine wohl an die vierzig Lebensjahre zählende, überreichlich genährte Frau aus dem Nordosten, schimpfte mich einen Heuchler und Blender, weil ich behauptte, ich sei ein treuer Anhänger des Propheten. Dabei sei ich wohl nur ein Spion jener, die Muhammad verleugneten und solle deshalb ja nicht wagen, mich der heiligen Stadt zu nähern. Da ich wusste, dass sie nicht aus sich heraus so sprach, sondern von ihrem Mann so dazu überredet worden war, versuchte ich nicht erst, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Erst wenn ich wusste, wie ich den bösen Zauber der Qarina brechen konnte, dann würde ich es ihr und allen anderen erzählen können.
Bei den vorgeschriebenen Gebeten flehte ich Allah an, mir die Kraft und den Mut zu geben, die kommenden Tage und Nächte zu überstehen, um zu seinem Ruhm das Böse zu vertreiben. Doch Sheitan hatte bereits andere Pläne.
Als der zweite Abend unserer Reise anbrach zog ich mich kurz in den Laderaum zurück, wo ich allein von Ratten und den ihnen nachstellenden Katzen beobachtet meinen Schutzzauber ausführen wollte. Morgen, so hatte ich beschlossen, würde ich den Schiffsführer, den ich als Keim der dunklen Pest ansah, zur Rede stellen. Ich wollte gerade den mächtigen Nachtfriedenszauber ausführen, als vier Mann der Besatzung mit Dolchen und Säbeln bewaffnet in den Laderaum eindrangen und auf mich losgingen. Mir blieb nur noch die unmittelbare Verteidigung. Meine Abwehrzauber trafen die Angreifer im Sprung. Zwei von ihnen schlug ich mit dem Licht der Besinnungslosigkeit nieder. Einen band ich mit dem Spruch der Anhaftung an die nächste Wand. Doch der vierte Mann, der einen besonders starken Hauch der bösen Kraft verbreitete, widerstand meinen Zaubern. Er lachte sogar. Dann sprangen noch zwei Männer hinzu. Einer von denen war der Schiffsführer selbst, dessen dunklen Hauch ich nun noch heftiger verspürte. Es war, als wolle er mir mit seinem puren Anblick das Blut in den Adern zu Eis werden lassen. Das schlimmste war, dass er einen gespannten Bogen führte und einen Pfeil auf mich richtete. Er hieß mich, meinen Stab wegzuwerfen. Doch ich verweigerte das. Mit einem blendenden Blitz verschaffte ich mir einen Atemzug Zeit und versuchte, den kurzen Weg zu gehen. Doch dieser brachte mich nicht an Deck des Schiffes, von wo aus ich neu planen und handeln konnte, sondern endete dort, wo ich flüchten wollte. Ich verspürte einen brennenden Schmerz durch meinen Leib gehen. Der Schiffsführer lachte.
"Sie hat einen Fangstein im Schiff hingelegt. Der macht, dass du widerlicher Zauberer nicht ins Nichts flüchten kannst", spottete der Schiffsführer und schoss den Pfeil zwischen meinen Beinen hindurch in die Wand. Ich hoffte, ihn nun mit körperlicher Gewalt bezwingen zu können. Doch da richtete sein Steuermann zwei Wurfdolche auf mich. "Einen falschen Schritt, und du fährst gleich hier zur Hölle. So, und jetzt wirf deinen verfluchten Stab fort!"
Ich weigerte mich verständlicherweise, den Stab aus der Hand zu geben. Da warf der Steuermann den ersten Dolch nach mir. Ich schaffte es, dem Wurf gerade noch auszuweichen. Doch das erwies sich als die eigentliche Falle. Denn in der Bewegung erkannte ich einen Schatten hinter einer Kiste, und einen halben Atemzug später bekam ich einen Pfeilschuss in den Zauberstabarm. Sofort brandete Schmerz und Kälte gleichzeitig durch den Arm. Ich konnte nich anders. Ich musste den Stab loslassen. Jetzt war ich ausgeliefert. Allah wollte mich also heute schon zu meinen Vätern versammeln, irgendwie noch als unberührten Knaben, ohne Aussicht, die uralte Familie um ein weiteres Geschlecht zu verlängern.
Die von bösem Zauber besessenen stürmten auf mich los. Dabei erwies es sich, dass sie mich nicht mit Händen ergreifen konnten. Sobald sie nach mir griffen strahlte ein goldener Blitz auf und warf sie auf doppelte Armlänge zurück. Sie stießen Beschimpfungen aus, versuchten, mich mit Fußtritten zu peinigen. Doch auch ihre Füße erreichten mich nicht. Der sie bindende Zauber und wohl etwas, das mir innewohnte stießen einander zurück, wobei mein Schutz mich sicher auf den Beinen hielt und die anderen zurückwarf.
Als einer versuchte, meinen Zauberstab zu ergreifen war ihm, als haben ihn gleich vier wütende Schlangen in die Hand gebissen. Er schrak zurück und ließ den Stab wieder auf den Boden fallen.
"Es ist in allem von dem drin. Wir können ihn so nicht packen", knurrte der Steuermann. Der Schiffsführer gebot ihm, sich zu beruhigen. Dann flüsterte er ihm einen Befehl zu. Dass es ein Befehl war erkannte ich nur daran, dass der Steuermann sich gehorsam verbeugte und dann mit einer Handbewegung die noch unversehrt gebliebenen zur Tür rief. Dann legte der Schiffsführer wieder einen Pfeil auf und zielte auf mich. "Dann sollen dich die Haie erst fressen, wenn deine Seele schon aus deinem verdorbenen Leib entwichen ist. Grüß mir deinen Allah, wenn es ihn wirklich geben sollte!"
"Natürlich gibt es Allah. Denn weil du dem Sheitan verfallen bist ist dies der Beweis, dass der Allerhöchste wahrhaftig ist. Und er ist der allerhöchste Herr und Meister, ihm sind gehorsam alle Geister."
"Längst nicht alle, du Ameisengehirn. Längst nicht alle", wagte dieser Besessene doch zu spotten. Dann zog er die Bogensehne noch weiter zu sich heran. Ich hatte wohl nur noch einen winzigen Augenblick. Ich wollte zur Seite springen, als mir der Boden unter den Füßen wegbrach. Ich sackte bis zur Hüfte weg. Meine Beine trafen auf den hölzernen Kiel des Schiffes. Jetzt konnte der Schiffsführer ganz in Ruhe auf Oberkörper und Kopf zielen. "Hast du nicht mit gerechnet, dass sie die Planken so morsch gemacht hat, dass langes drauf stehen sie durchbricht, wie? Jetzt stirb, Verdorbener!"
Ich schloss wahrhaftig mit meinem Leben ab, befahl meine Seele Allahs Gnade an. Da geschah etwas, von dem ich erst später erfuhr, was es war. Von meinem Brustkorb her stach ein handbreiter, goldener Strahl genau zu dem Schiffsführer hinüber und traf ihn am Kopf. Einen Moment lang starrte ich in ein bleiches, von Hass und Schmerz verzerrtes Gesicht. Dann meinte ich, ein von leichtem violetten Dunst umflossenes Frauengesicht zu erkennen, das von goldfarbenem Haar umrahmt war. Dann breitete sich der Lichtstrahl weiter aus, wurde zu einer Umhüllung, die den Schiffsführer einschloss und vom Boden anhob. Der Schiffsführer schrie vor Schmerz. Der mir zugedachte Pfeil schwirrte für mich unschädlich in die Decke und durchstieß diese vollständig. Knarzend brach ein Stück vom Holz aus den Planken heraus und fiel auf den Boden.
Ich wusste nicht, was ich nun tun musste. Da sandte mir Allah einen Gedanken. Ich sollte die alte Segensformel rufen, die mein Vater von seinem Vater und dessen Vorvater gelernt hatte und mir nach Vollendung meiner Zauberlehre beigebracht und erklärt hatte. Ich rief daher jene Formel, die nur vom Vater an den erstgeborenen Sohn unserer Familie weitergegeben werden darf. Daher, verehrter Leser, gräme dich nicht, dass ich Sie dir nicht kundtun werde.
Ich hatte gerade die letzten mir vertrauten Worte in einer uralten Sprache ausgerufen, als die Tür aufgestoßen wurde und jene Unheilsbringerin selbst hereintrat. Sie umfloss jenes violette Leuchten, dass ich schon in dem angeblichen Angsttraum gesehen hatte. Ansonsten war sie unverhüllt wie Eva, die Mutter aller Menschen, bevor sie gegen Allahs Gebote verstoßen hatte. "Muss man denn alles selber ..." kreischte sie. Da erfasste sie die ganze Macht der von mir beschworenen Gnade des Allerhöchsten. Goldenes Licht füllte den Raum aus und warf den Schiffsführer gegen die nächste Wand. Ich fühlte noch, wie der dunkle Hauch, der ihm entströmte, restlos aus diesem Raum verschwand. Doch die sündhaft schöne Tochter des Sheitans war noch da. Sie zeterte unter der Anrufung und wich vor dem Licht zurück bis zur Tür. Doch Sheitan, der ewig Verfluchte, hatte noch nicht alle seine bösen Mittel aufgeboten. Dies erkannte ich in dem Moment, als der Steuermann in der offenen Tür auftauchte und seinen Wurfdolch nach mir schleuderte. Zwar erfasste ihn das göttliche Licht, das allen bösen Zauber vertilgte. Doch es war zu spät für mich. Da tauchte zwischen mir und ihm aus einem silbernen Wirbel heraus eine weitere Gestalt auf, mein geliebter und hochverehrter Vater Sadek. Auf seiner Brust glühte der fünfzackige Stern, den er als Erbe aus der Vorzeit von seinem Vater und dessen männlichen Vorfahren erhalten hatte. Er wollte gerade den Stern auf die Unheilsbringerin richten, da traf ihn der für mich bestimmte Dolch an der rechten Brustseite. Gleichzeitig brach der Steuermann im Licht der von mir gerufenen Kraft zusammen. Die Unheilsbringerin starrte auf meinen Vater. Dieser lag nun am Boden. Ich konnte mich nicht bewegen, um ihm zu helfen. Denn ich steckte immer noch bis zur Hüfte im morschen Boden fest.
"Dann habe ich doch gleich die ganze verfluchte Sippschaft beendet!" frohlockte die Unheilsbringerin. "Auch wenn ich euch zwei nicht mit meiner Kraft oder meinen Händen zu fassen kriege, das hier bringt euch sicher um, und beseitigt auch gleich ein großes Ärgernis!" rief sie. Sie winkte nach hinten. Einer der wohl von ihr gebannten trat vor. Das goldene Licht, das ich beschworen hatte, erstarb in diesem Moment. Der andere hielt zwei brennende Fackeln in den Händen. "Steck das hier an!" hörte ich die Unheilsbringerin zischen. Da schleuderte der andere schon seine Fackeln nach mir und meinem Vater. Ich tat den Mund auf, um noch einmal die Segensformel zu rufen. Doch da verschwand die Unheilsbringerin bereits im Nichts. Sie nahm dabei den Fackelwerfer mit sich.
Die Fackeln trafen auf einen Strohballen und eine offene Holzkiste. Ich konnte drei graue Fellbündel sehen, die in höchster Angst daraus fortsprangen: Ratten. Dann loderte das Feuer auf.
Ich wusste, dass ich verloren war, wenn ich nicht zusah, mich aus diesem Boden herauszukämpfen. Ich hatte nur den einen Arm frei. Mein Vater lag röchelnd auf dem Boden. Vielleicht konnte ich ihn retten, wenn es mir gelang, den Zauberstab zu ergreifen und die Formeln der gnädigen Heilung zu sprechen. Warum hatte der Stern aus der Vorzeit meinen Vater nicht beschützt? Dafür war er doch angeblich gefertigt worden.
Ob es Allahs Gnade oder nur meine Todesangst war, die mir die übermenschlichen Kräfte gab, mich aus dem Loch im Boden herauszuarbeiten weiß ich nicht. Womöglich war die Angst schon ein Teil von Allahs Beistand. Jedenfalls gelang es mir, mich mit dem einen unverletzten Arm und teilweise auch mit dem anderen Arm aus der Gefangenschaft zu befreien. Doch um mich herum fraßen die Flammen bereits an Ladung und Bodenplanken. Zwei besonders gierige Feuerzungen schlugen nach oben und zeugten Nachkommen des gefräßigen Feuers. Ich vermeinte bei alledem, das lauthalse Lachen meiner siegreichen Gegnerin zu hören. Doch da waren noch andere Laute. Trogen mich meine Ohren? Oder war es der beißende Rauch, der meine Sinne vergiftete? Ich vermeinte die Schreie neugeborener Kinder zu hören. Dabei wusste ich, dass die Pilger kein Kind auf dieses Schiff mitgebracht hatten, und keines der mitgebrachten Eheweiber war mit baldigem Nachwuchs gesegnet gewesen.
Vor mir fauchte weiteres Feuer vom Boden zur Decke und erschuf lodernde Abkömmlinge von sich. Ich fühlte die gnadenlose Hitze, die jeden meiner Atemzüge erfüllte. Rauch und Flammen umschlossen mich. Ich sah gerade noch, wie der mir entfallene Zauberstab ein Raub dieses Feuers wurde. Ihn zu ergreifen war also gescheitert. So wollte Allah meinen Tod? Nein, das konnte nicht der Wille des Allerhöchsten sein. Aber meinen Vater, den würde er wohl zu seinen Vätern rufen, wenn ich nicht dessen Zauberstab nehmen und führen konnte. Ich musste zu ihm hin.
Wieder vermeinte ich, den angstvollen Schrei eines Neugeborenen zu hören. Das war sicher ein Spuk, die böse Macht der Unheilsbringerin, um mich geistig zu lähmen, damit mich das Feuer um so leichter fressen konnte. Da erfasste mich auch schon eine Flamme. Der Schmerz war unbeschreiblich. Er raubte mir fast den Verstand. Ich schrie und sog dabei Rauch und heiße Luft ein. Schreiend und hustend wand und wälzte ich mich unter den Flammen entland. Die Decke loderte bereits auf ganzer Breite. Erste Trümmer regneten schon von ihr herab. Traf mich auch nur eines davon, war ich endgültig des Todes, wusste ich. Das trieb mich an, noch schneller zu kriechen. Noch einmal traf mich eine Feuerzunge. Doch meinen Gewändern geschah nichts. Sie gingen nicht in Flammen auf. Dann erreichte ich meinen Vater. Er lag mit dem Gesicht nach oben und hielt seinen Zauberstab umklammert. Er führte ihn so, dass er den Dolchgriff anzielte. Doch er bekam kein Wort über seine Lippen. Ich griff nach dem Stab. "Rufe du die Formel. Ich habe meine Zeit auf dieser Welt vollendet", hörte ich auf einmal seine Stimme im Kopf. Allah ist mein Zeuge, dass ich dir, verehrter Leser, die Wahrheit künde. Denn mir war nicht daran gelegen, meinen Vater zu töten oder ihn dem Tod zu überlassen. Doch seine Stimme drang wieder in meinen Kopf ein: "Rufe die Segensformel. Nimm dein Erbe entgegen, mein Sohn!"
Ich wollte nicht im Angesicht des Todes ungehorsam sein. So griff ich nach dem silbernen Stern, hielt ihn fest und rief jene Segensformel, die mir vor wenigen Momenten den sicheren Tod erspart hatte. Die Wirkung war diesmal wesentlich stärker als vorhin.
Goldenes Licht flutete wieder den Raum, wurde zu einem weißen, alles durchdringendem Licht. Ich hörte in der Ferne das wütende Geschrei einer Frau. Dann hörte ich die Stimme meines Vaters wieder im Kopf:
"Elas Vater weissagte mir meine Todesstunde. Nimm du mein Erbe und streite weiter als Nachfahre von Sharvas, unserem Urvater und seiner weisen Mutter, der Sonnengeweihten! Lebe wohl, mein Sohn und ehre mein Andenken mit Söhnen und Töchtern!"
Ich hörte mit den Ohren, wie um mich herum die Wände barsten. Die Flammen prasselten und krachten noch lauter. Doch ich fühlte weder Schmerzen noch Furcht. Ich fühlte mich frei schwebend. Ja, es war wie in einem Badebecken, warm und wohlig. Dann glitt alles um mich herum weiter und weiter weg.
"Dein Vater wollte es dir nicht sagen, weil er sich dafür schämte, als treuer Befolger eurer Glaubenslehre eine mächtige Vormutter als Quelle seiner Kräfte zu erwähnen", hörte ich eine gutmütig klingende, warme Frauenstimme um mich herum. "So sei dort, wo dein Leben begann und lese die Niederschriften deines Vaters. Es wird Zeit, dass du deine entfernten Blutsverwandten suchst und mit ihnen die Töchter meiner Schwester zurückdrängst, bevor jene, die dich fast getötet hat, ihren Größenwahn vollendet." Genau diese Worte, o verehrter Leser, sprach die aus allen Richtungen dringende Frauenstimme zu mir. Sie prägten sich mir so deutlich ein, als hätte ich sie hunderte Male zuvor gehört. Ich fragte sie noch, wie ihr Name sei. Sie sagte, ihn würde ich in den Aufzeichnungen meiner Vorväter finden. Dann fühlte ich, wie ich innerhalb einer goldenen Lichtkugel angehoben wurde. Ich konnte noch das Bersten von Planken und Balken hören. Dann fand ich mich auf einem Bett wieder. Meine Kleidung stank nach Qualm und Ruß. Doch meine Wunden waren geheilt. Mehr noch, ich erkannte, dass ich meines Vaters Zauberstab in der anderen Hand hielt. Stern und Stab hatte ich nun bei mir. Doch der Körper meines Vaters war nicht bei mir. Er war wohl noch auf dem brennenden Schiff. jetzt überkam mich Reue und Furcht. Was war mit den anderen, mit den Pilgern, ihren Weibern und der Besatzung? Darauf empfing ich einen Gedanken, dass diese von der Unheilvollen fortgeschafft oder gleich von ihr vertilgt worden waren. Ich hätte sie nicht mehr retten können. Diese Erkenntnis machte mich traurig. Doch ich war gerettet, hatte mich Sheitans Todesurteil entzogen. Mein Vater hatte dafür sein Leben gegeben. Auch das machte mich sehr traurig. Doch als die Trauer mich gänzlich niederzuwerfen drohte durchflutete mich ein weiterer Gedanke: Mein Vater wollte mich retten und mir gleichzeitig mein wahres Erbe übergeben, damit ich Geschöpfe wie die goldhaarige Qarina bekämpfte. Doch wer war die Frau, deren Stimme ich in jener goldenen Lichtkugel gehört hatte? War sie ein Engel des Allerhöchsten? Konnte es sein, dass Allah damals einen seiner Engel in Gestalt einer Tochter Evas zur Erde sandte, um eine von ihm gesegnete Blutlinie mit einem seiner sterblichen Diener zu begründen? Die Antworten sollten mir die Hinterlassenschaften meines Vaters bringen.
Es begann damit, dass ich die goldene Schatulle öffnete, die ich bis dahin nicht zu öffnen geschafft hatte, selbst mit den Worten der freien Wege und der vollständigen Preisgabe. Darin fand ich die von meinem Vater und der überirdischen Frauenstimme verkündeten Aufzeichnungen. Da diese nur für mich und meinen noch ungezeugten Erstgeborenen waren, darf ich auch darüber nicht viel sagen, außer, dass ich nun weiß, dass ich der Nachkomme eines mächtigen Magiers bin, dessen Sohn selbst damals wie ein Gott der Babylonier verehrt worden war. Dessen Mutter soll von den Königen des Lichtes abgestammt haben, die das mir bis heute nur aus alten Märchen bekannte versunkene Reich regiert hatten, bis ein finsterer Magier den letzten Krieg entfachte und damit den Untergang des Landes einleitete. Ich erfuhr auch von einer Bruderschaft, die mein Vater gründen wollte, als er wusste, dass noch mehr Abkömmlinge dieser Urmutter lebten. Doch er hatte bisher nur einen weiteren Sohn gefunden. Es sollten auch Töchter dieser Blutlinie leben, die ihrerseits nur den erstgeborenen Töchtern oder Enkeltöchtern jenes alte Schmuckstück vererbten, welches sich als Segen und lebenslange Bürde zugleich erwiesen hatte.
Ich erfuhr alles über die Erlebnisse meines Vaters und auch, dass er mit dem gerade lebenden Träger des anderen Sterns Verbindung aufgenommen hatte. Er wollte eine Bruderschaft gründen, die die dunklen Wesen und Kräfte vereint bekämpfte und allen voran die neun Töchter des Abgrundes, von denen ich jener entkommen konnte, welche den Lauf der Zeit verändern konnte. Was meine Rettung vor dem sicheren Pfeilschuss anging, so erfuhr ich, dass mein Vater in weiser Voraussicht, dass ich einmal in tödliche Gefahr durch einen Besessenen geraten könnte, das Goldstück, dass mir ein Oheim zum zwölften Geburtstag gab, damit ich damit den Beginn eines lebenslangen Geldsegens in Händen hielte, mit seinem Blut und weiteren uralten Formeln aus der Zeit weit vor dem Stammvater Ibrahim zu einem Lebensschutz gemacht hatte. Der würde ihn auch zu Hilfe rufen, wenn ich die Segensformel jener Urmutter ausriefe. Das war dann auch wirklich so geschehen. Ja, die Macht der Vorbestimmung ist nicht zu brechen. Man kann sich ihr nur fügen und für die, die danach leben alles vorbereiten. Diese wichtige Erkenntnis half mir, meine trüben Gedanken an den Tod meines Vaters und womöglich den grausamen Tod der mit mir gereisten Pilger zu ertragen. Würde ich jetzt, wo ich wusste, dass mein Blut weit zurück vor die Zeit des Propheten reichte, überhaupt noch nach Mekka reisen? Das weiß ich bis jetzt noch nicht. Mir liegt erst daran, das Vermächtnis meines Vaters zu erfüllen und jene Bruderschaft ins Leben zu rufen, die dieser Dirne Sheitans und ihrer Schwestern Einhalt gebieten soll.
...
Sie spürte es, dass etwas da draußen lauerte. Seit mehreren Jahrhunderten lebte sie damit, dass sie Feinde hatte. Seit mehr als fünfzig Jahren war sie die Schutzpatronin aller von irgendwelchen Zuhältern unabhängigen Straßen- und Bordellhuren, Edelcallgirls und ja sogar solcher, die sich Kurtisanen nannten und ganz in Tradition jener wählerischen Liebesdienerinnen nur besondere Kunden betreuten. Doch seitdem sie das überlegene, ja siegessichere Lachen gehört hatte, gerade als sie und ihre drei wachen Schwestern nach einem magischen Beben aus tagelanger Besinnungslosigkeit erwacht waren, fühlte sie wieder richtige Bedrängnis. Gegen gewöhnliche Männer konnte sie locker bestehen. Auch Frauen konnte sie rumkriegen. Hexen und Zauberer konnte sie mit ihren magischen Kräften zurücktreiben oder gar töten, wenn sie sich ihr nicht ergaben. Außer jenen, die aus Ashtarias verfluchter Blutlinie stammten war ihr doch keiner wirklich überlegen. Auch wenn die anderen, die sie erst wieder hatte wecken lassen, von einer Meute solcher Kurzlebigen niedergerungen worden waren war das im Vergleich zu jener, die da gelacht hatte harmlos.
Das Telefon auf dem Schreibtisch im Büro trällerte "Je T'aime", den sehr deutlichen Schlager aus Frankreich, zu dessen Klängen sie selbst manchen Mann mit sich vereinigt hatte.
"Hallo Chico, Lust auf Gesellschaft?" hauchte sie in die Sprechmuschel des antiquiert wirkenden Telefons.
"Öhm, Loli? Ich dachte, Maruja sei jetzt bei euch in der Zentrale. Öhm, aber wo du dran bist, meine Milchkaffeevenus, wir haben Lobos Versteck gefunden. Irgendso ein kleiner Vogel hat gesungen, wo der zu finden sein soll. Aber der war nicht mehr da. Dafür haben wir aber komischerweise seine geheimsten Aufzeichnungen gefunden und gleich mal ein paar Maulwürfe aus dem eigenen Garten entfernt. Wo der Wolf selbst abgeblieben ist weiß ich nicht. Passt also weiter gut auf euch auf. Wir können schließlich nicht überall zugleich sein", antwortete eine Männerstimme mittleren Alters.
"Habt ihr das Wolfsnest gefunden? Dann hat er sich wohl ganz schnell abgesetzt. Vielleicht hat er ja eine sehr gute Freundin, die ihm ein Flugticket nach Übersee beschert hat."
"Das gehört auch zu unseren Nachforschungen. Dem seine Telefondaten kriegen wir nicht, weil der drei oder vier sich abwechselnde Knotenpunkte benutzt hat. Aber dem sein Netzwerkzauberer steht schon auf unserer Jagdliste. Wenn wir den haben kriegen wir auch raus, mit wem der in Übersee so telefoniert hat."
"Wie, hat der kein Telefon mit Nummernspeicher?" fragte sie schnippisch.
"Hmm, nur weil du's bist, meine Liebeskönigin. Irgendwie hat der sein Telefon wohl kurz vor dem Abflug in Flüssigstickstoff gebadet und danach gegen die Wand geworfen. Jedenfalls haben wir nur noch Scherben davon gefunden. Könnte auch sein, dass der schwarze Engel den hoppgenommen und sein Telefon entsorgt hat, nachdem er alle darin gespeicherten Daten kopiert hat, um ihn zu beerben. Da suchen wir noch, welche Möglichkeit besser passt."
"Und dann hat der schwarze Engel sämtliche Unterlagen zurückgelassen?"
"Nur die, was Spanien angeht", erwiderte die andere Stimme. "Hmm, was kriege ich dafür, dass ich dir das ins Ohr gesäuselt habe?"
"Wann hast du Zeit?" säuselte Loli und dachte daran, demnächst wieder eine große Portion Lebenskraft in sich aufzunehmen.
"Heute habe ich dienstfrei. Aber wenn ich jetzt zu dir hinkomme könnte ich meinem Chef über'n Weg laufen. Dann weiß der, wer die ganzen Razzien verpfiffen hat."
"Ich habe deinen Vorgesetzten schon gesehen. Der ist bei Cristina im Tempel der lustvollen Qualen. Da wir zwei süßen einen Exklusivvertrag haben kann ich den leider nicht selbst darum bitten, sich ruhig zu verhalten."
"Was, der steht auf peitschenschwingende Lederamazonen?" fragte die Telefonstimme mit hörbarer Belustigung.
"Cristina hat noch eine Menge mehr im Angebot", hauchte Loli.
"Auf jeden Fall möchte ich für Donnerstag in der nächsten Woche buchen", sagte die Männerstimme am anderen Ende der Leitung.
"Wann genau?" fragte Loli hingebungsvoll klingend. Sie erfuhr die Uhrzeit und notierte sie sich. Dann bedankte sie sich für den Anruf. "Ich hätte das Sprechding vielleicht doch besser ganz lassen sollen", dachte sie. Denn so hatte sie dieser ausländischen Hexe und Kokainkönigin aus Peru noch einen Gefallen getan, dass so schnell keiner die Spur zu ihr fand. Als sie zehn Minuten später zu Maruja in die Bar gehen wollte, um zu prüfen, wer alles neu dazugekommen war, klingelte das Telefon wieder.
"Loli, auch wenn du mich dafür vielleicht zu deiner Lederamazone in den Qualenbunker steckst, aber ich muss dir sagen, dass wir wohl zu früh frohlockt haben. Lobos Netzwerkspezialist ist aus seinem vershlossenen Haus verschwunden. Alle Elektronik ist nur noch Plastiktoast. Offenbar hat da jemand mitgedacht und ihn vor uns geschnappt. Wird also noch ein wenig dauern, bis wir wissen, ob der Wolf noch heult oder nur noch ein Bettvorleger ist."
"War mir klar, dass der sich nicht auf die Spur kommen lässt, Cariño", erwiderte Loli. "Aber keine Angst, Kleiner. Dafür musst du nur mit Simona und mir zugleich tanzen."
"Simona? Öhm, dann solte ich aber erst drei Wochen intensives Krafttraining machen", erschrak der Anrufer. Darauf lachte Loli. "Als wenn ich dich einer anderen überließe, Kleiner. Nein nein, du bist nur für mich allein reserviert. Also dann bis nächste Woche Donnerstag." Ein erleichtertes Aufatmen am anderen Ende der Leitung. Dann verabschiedete sich der Anrufer.
Jetzt wollte Loli aber doch runter ins Büro. Da läutete wieder das Telefon. Diesmal war es aber nicht ihr dressierter und mit sexuellen Leckereien bei Laune und gehaltener Kontaktmann zur Guardia Civil, sondern Enrique Delgado Mingues, einer iher anderen hündisch ergebenen Liebessklaven und Lebenskraftspender. In dem Moment, wo er sich vorstellte fühlte sie jedoch sofort eine schlagartig ansteigende Beklemmung, die fast schon in Angst überging.
"Öhm, hier ist so'ne Blondine mit grünen Augen. Die hat gesagt, die sei deine Schwester und solle dich vertreten, solange ich hier in Mossul bin."
"Ich habe dir keine Stellvertretung zugeteilt, Ricki", konnte Loli noch einigermaßen beherrscht hervorbringen. Was hatte Enrique in Mossul zu suchen, gerade wo es in dem Land ohnehin schon schwierig für westliche Journalisten war.
"Konnte ich mir auch nicht denken, dass die deine Schwester sein soll. Vielleicht hat Saddam persönlich die mir ins Quartier geschickt, damit ich nicht über den Kuhhandel schreibe, den er gerade mit den Kurden durchziehen will, damit die dem nicht einen Aufstand liefern. Aber ... Mmmmpf!" Loli erschrak bei der letzten Lautäußerung. Es war, als habe ihm jemand den Mund zugehalten. Doch das allein war es nicht. Sie fühlte sowas wie einen Hitzestoß durch ihr Gesicht gehen und dann sofort einen eiskalten Klammergriff, wie sie selbst ihn sonst ihren Feinden auferlegte, wenn sie sie nicht erst genüsslich aussaugen wollte.
"Das ist aber nett, dass du mir diesen jungen Mann anbietest, Schwester. Ich hätte sonst gar nicht gewusst, wo ich nach deinen Futterburschen suchen soll", hörte sie eine andere, ihr viel zu bekannte Frauenstimme triumphierend sprechen.
"Schwester, du kennst die Regeln unserer Mutter. Und du weißt auch genau, was dir geschehen ist, als du Ullituhilias Untergebenen einverleibt hast", sprach Loli in ihrer uralten Heimatsprache, die weit vor dem heutigen Arabisch die Sprache des Zweistromlandes gewesen war.
"Diesmal habe ich mich dagegen abgesichert, Itoluhila. Eine tolle Erfindung übrigens, dieses Fernsprechgerät. Da haben die Kurzlebigen während der von euch aufgezwungenen Schlafpause doch einiges nützliche erfunden, aber auch viel zu viel Gift in die Meere und die Luft gemischt. Wird vielleicht deshalb nicht so ergiebig sein, wie unsere früheren Nährstoffgeber. Immerhin trägt er ein Bindungsmedaillon bei sich. Danke, dass du mir damit genug Labsal bietest."
"Wenn du ihn anrührst, Errithalaia, ich schwöre bei unserer großen Mutter, dann wirst du nicht mehr schlafen, sondern in deine Einzelteile zerlegt werden", fauchte Loli alias Itoluhila.
"Wie soll das denn gehen, ohne dass ich in einer von euch neu ausgebrütet werde. Und glaub es mir, Schwester, dass ich derjenigen, die das tut eine sehr schmerzhafte Tragzeit und noch leidvollere Niederkunft bereiten werde, wenn ich innerhalb eines einzigen Tages wieder zur Lebensfähigkeit heranwachse. Der einzige Grund, warum ich den leckeren Burschen hier noch nicht zu mir genommen habe, ohne dich darauf vorzubereiten liegt darin, dass ich dir die Wahl lassen möchte, dich mir freiwillig hinzugeben. Dann wirst du in mir nicht zerfließen, sondern darfst in untergeordneter Stellung mitverfolgen, wie ich eine nach der anderen von euch zu mir nehme, bis wir alle wieder zu Lahilliota werden können."
"Deine eigene Geburt hat dich schon um den Verstand gebracht, Schwester. Du bist nicht unsere Mutter. Du hast vielleicht ein größeres Maß von ihrer inneren Daseinsform in dir, aber du bist nicht unsere Mutter und wirst es auch nicht dadurch, dass du mich und alle anderen entleibst. Vergiss es, dass wir in dir zerfließen oder unwiederbringlich gefangen bleiben! Unsere Mutter hat es klar festgelegt, dass wir ewig als neun Schwestern leben sollen."
"Ich beherrsche die Zeit, Itoluhila", schnaubte die Frau am anderen Ende der Telefonleitung. "Wenn ich das will bleibt ein empfangenes Kind ungeboren. Wenn ich will, wird ein Knabe innerhalb von einem Dutzend Atemzügen zum Greis oder ein gestandener Mann schrumpft zurück zur befruchteten Keimzelle. Aber wenn du es so willst, dann werde ich ihn mir jetzt zuführen. Und wenn du versuchst, ihn zu retten, dann klären wir es eben auf die gewaltsame Weise, wer von uns beiden ein Recht auf körperliches Dasein hat. Öhm, vergiss es, ihn mit der Macht deines Geschenkes zu dir zurückzuholen. Ich habe das Medaillon gerade in meinen eigenen Schoß geschoben und damit für dich unrufbar gemacht. Aber ich nehme es gleich wieder raus, wenn es von meiner eigenen Kraft umgeformt ist, damit ich mir deinen kleinen Volksherold einverleiben kann, vielleicht voll und ganz."
"Du wirst nicht lange frei herumlaufen, Errithalaia", stieß Itoluhila gerade noch leise genug aus, um draußen nicht gehört zu werden.
"Ihr seid nur noch vier wache Schwestern. Demnächst drei, wenn ich dich erst mal vertilgt habe. Das was euch damals gelang wird dieses mal nicht einmal im Ansatz gelingen", erwiderte die andere spöttisch. "So, und jetzt wird es Zeit, dem jungen Mann hier die größte und letzte Freude seines Lebens zu bieten. Gehab dich wohl, bis wir uns leibhaftig wiedersehen oder dein inneres Selbst zu mir hinfliegt!"
"Unsere Mutter hätte dich niemals erzeugen dürfen", fauchte Itoluhila. Sie fühlte nun die blanke Angst, eiskaltes, gnadenlos in allen Knochen steckendes Entsetzen. Auch fühlte sie Wut. Doch sie wollte noch nicht aufgeben:
"Ich weiß wo das gläserne Schwert ist, Mistkäfer", stieß sie aus. "Du hast lange genug geschlafen, dass wir anderen danach suchen konnten. Es hat dich schon einmal auf den harten Boden der Wirklichkeit zurückgeholt."
"Das hat mich nur besiegt, weil dieser verfluchte Sohn von Sharvas das Schmuckstück seines Vaters drangehalten hat. Aber für diese Drohung, Schwester, werde ich mir bei dem hier noch mehr Zeit lassen, bis du entweder in deine einzelnen Knochen zerfällst oder vor lauter Qualen deinen Verstand verlierst, Itoluhila." Es klickte, und das Zeichen für getrennte Verbindung tutete aus dem Hörer. Itoluhila war erst darauf aus, die andere in Gedanken zu rufen. Doch da fiel ihr gerade so noch ein, dass das eine tückische Falle der verhassten weil gefürchteten Schwester war, um zu erfahren, wo genau Itoluhila war. Sie wusste, dass sie nur noch eine Minute oder noch weniger Zeit hatte, um zu verhindern, dass Enrique unfreiwillig ihre größte Pein werden konnte. Errithalaia wollte sich Zeit lassen? Darin allein lag ihre Rettung. Sie wusste, dass sie alleine nicht gegen dieses verhasste Wesen kämpfen konnte. Auch wenn Erritahlaia vielleicht bei einer direkten körperlichen Auseinandersetzung selbst ihren Körper verlieren mochte, wenn sie Itoluhila tötete, so lag dieser doch nichts daran, dafür ihre eigene Körperlichkeit zu opfern und sich der Gnade der drei anderen wachen Schwestern anzuvertrauen, bei welcher auch immer sie dann unterkommen würde.
Ein Gedanke reichte, um sie aus dem verschlossenen Büro direkt in ihre Schlafhöhle zu befördern. Dort suchte sie hinter dem nun golden erstrahlenden Krug nach einer kleinen Truhe, die nur sie öffnen konnte. Der Gedanke, Errithalaias Angriff im Krug auszusitzen hemmte sie einige wertvolle Sekunden. Damals, wo sie Claude Andrews geopfert hatte, um Hallitti zu Ilithula zu befördern, hatte sie das im Bade aus freigesetzter Lebensenergie überstanden. Vielleicht konnte sie auch Erritahlaias Angriff so abwarten. Doch dann viel ihr ein, dass die jüngste Schwester ihren Abhängigen über Stunden oder Tage auszehren konnte. Wollte sie solange in ihrem Lebenskrug bleiben, als eigene Gefangene? Nein!
Itoluhila klappte die Truhe auf. Da fühlte sie bereits wellenförmige Kälteschauer durch ihren Körper gehen. Errithalaia hatte schon angefangen. Itoluhila fühlte, wie ihr mit jedem Schauer Kraft abging. Wollte die andere sich wirklich Zeit lassen? Sie hatte jedenfalls keine Sekunde mehr zu verschenken. Sie griff in die Truhe, als der nächste Kälteschauer sie überkam. Dann zog sie etwas heraus, das in ihren Händen sacht pulsierte, ein kleines Bündel, in dem es immer heftiger pulsierte. Sie knüpfte das durch eines ihrer Haare verschnürte Bündel auf und griff hinein. Als sie die Hand wieder herauszog zappelte etwas in ihrer geschlossenen Faust. Sie fühlte ein Ziepen auf ihrer Haut, als wenn eine ganze Armee aus Flöhen darauf herumkrabbeln und piesacken würde. Doch ihre Entschlossenheit hielt noch vor. Zwar fühlte sie, wie ihre Beweglichkeit durch die sie ansaugende Kraft schwand, doch für den einen, wichtigen Akt hatte sie genug Kraft und Beweglichkeit. Sie holte aus und schleuderte das, was sie in der Hand gehalten hatte, im hohen Bogen in ihren Lebenskrug. Dabei sah sie es zum letzten mal an, eine kleine, dunkelrote, sackartige Form, gerade mal so groß wie die Faust eines Kindes, eine aus der Haut und dem Blut ihres Abhängigen erschaffene Kopie seines schlagenden Herzens, eine allerletzte Absicherung, dass er ihr nicht schaden konnte. Das gebilde landete im Lebenskrug und verschwand sofort in der orangeroten Substanz, die ihn ausfüllte. Einen bangen Moment lang ließen die sie schwächenden Schauer nach. Dann hörte sie einen zweistimmigen Schrei aus weiter Ferne. Ein Schrei entsprang großer Wut. Der andere, sich rasend schnell nähernde, war ein einziger langer Todesschrei. Dann zuckte ein orangeroter Blitz aus dem Nichts in den Krug hinein. Einen winzigen Moment lang konnte Itoluhila in der wild brodelnden Substanz das Gesicht eines schwarzhaarigen, sehr anziehend wirkenden Mannes mit tiefbraunen Augen erkennen, bevor dieses im wilden Aufruhr der freien Lebensenergie von Dutzender von Opfern der Abgrundstochter zerging wie ein Tropfen Olivenöl in der heißen Bratpfanne. Als es sich restlos aufgelöst hatte verklang auch der letzte Schrei des Enrique Delgado Mingues. Gleichzeitig flogen orangerote Funken aus dem Krug und trafen Itoluhila, die sich genüsslich darin badete. Jeder Funke brachte ihr einen Teil der entrissenen Kraft zurück, ja und sogar noch ein wenig mehr. Sie hörte das wütende Geschrei der jüngsten Schwester, das von Schmerzenslauten unterbrochen wurde. Dann verstummte auch diese rein geistig erfasste Wahrnehmung.
"Das büßt du mir, Itoluhila. Ich weiß jetzt, wo du dich herumtreibst. Und ich werde dich finden und dann bei lebendigem Leibe auffressen wie ein Mondheuler und dein Blut trinken wie ein langzähniger Nachtschwärmer. Und solltest du doch von mir wiedergeboren werden, dann koche ich dich in einem Kessel Olivenöl und das immer und immer wieder, bis du nie wieder auf die Welt zurückkehren kannst. Ich finde deine Abhängigen. Du kannst die nicht alle so verdorben haben. Du wirst keine Ruhe mehr haben, du nicht und die drei anderen auch nicht. Obbwohl, ihr könnt euch auch gleich in eure Krüge legen und an meiner Stelle ewig schlafen. Aber dann seid ihr in Gefahr, dass ich eure Schlafplätze finde und die Krüge mit euch zusammen ausschütte. Ja, keine schöne Vorstellung, Schwester. Genieße deinen kleinen Sieg noch ein paar Tage. Aber dann gehörst du mir. Und dann kriege ich die drei anderen, eine nach der anderen. Richte denen das aus!" Itoluhila schwieg. Ihr war nur wichtig, dass sie ihrer Schwester einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Wäre sie nicht in ihrer sicheren Unterkunft gewesen, wo keine andere als ihre eigene Magie nach außen dringen konnte, so hätte sie sich nicht so erleichtert bis überlegen gefühlt.
"Gut, du willst mir nicht antworten, Itoluhila. Aber gehört hast du mich, weiß ich. Zähle die letzten Tage deines Lebens, Schwester! Es sind nicht mehr viele."
"Gleichfalls, Kamelmisthaufen", dachte Itoluhila nur für sich. Dann war endlich Ruhe. Sie stieg in ihren Lebenskrug, um mindestens noch zwei weitere Leben in sich aufzunehmen. Ihr war klar, dass sie ihre ganzen Abhängigen einsammeln und verstecken musste. Denn nur bei vieren hatte sie diese letzte Absicherung mit der Minikopie eines schlagenden Herzens durchgeführt. Einer davon war Ernesto Moreno Alcasar, ihr heißer Draht zur Guardia Civil.
Elysius Davidson hatte außer Brenda Brightgate noch Ali ben Scharif Al-Asiri, Nasserine Hamadi und Lionel Chambers zu sich hingerufen, alles Experten für altorientalische Zauberwesen. Chambers hatte sogar ein in der restlichen westlichen Zaubererwelt anerkanntes Buch über Dschinnen und wo ihr Ursprung liegen mochte veröffentlicht. Dass der samtbraun getönte Experte, der alle orientalischen Sprachen so fließend sprach wie Englisch, Spanisch und Französisch für das Laveau-Institut und nicht für das Zaubereiministerium arbeitete war immer dann eine Reibfläche zwischen LI und Ministerium, wenn es mal wieder um Zauberwesen aus Arabien, Persien oder Indien ging.
"Ms. Brightgate war so fleißig und freundlich, die vom Ministerium beschlagnahmten Aufzeichnungen über den Untergang der "Arabella Worthington" in für uns lesbare und anschaubare Dokumente umzuarbeiten. Bitte, Ms. Brenda", eröffnete Davidson die Unterredung. Brenda stand auf und hob ihren Zauberstab. Mit leisem Piff erschien vor jedem Konferenzteilnehmer ein Pergamentstapel. Ein Teil befasste sich mit dem Auftrag des versenkten Spionageschiffes. Der zweite Teil befasste sich mit dem Ursprung des Riesenkäfers, der die Besatzung heimgesucht und wohl auch das Schiff hatte durchrosten lassen. Der dritte Teil handelte von den möglichen oder tatsächlich belegbaren Aktivitäten der anderen wachen Abgrundstöchter, angefangen beim Verschwinden einer Reisegruppe vor bald einem Jahr bis hin zu den Vorfällen in Deutschland und Ägypten.
"Es galt bisher als reines Hörensagen, als tradierte Beschreibung, die nur von ausreichend vielen Einzelquellen gedeckt war, dass sie in den fünf Büchern, die sich hauptsächlich oder zum Teil mit den sogenannten Abgrundstöchtern befassen, aufgeführt ist. Doch jetzt haben wir es wohl amtlich, dass die Erwähnungen über einen mehr als menschengroßen, dennoch flugfähigen Käfer mit goldenen Punkten der Wahrheit entspricht. Ich bitte Sie, die von mir markierten Stellen in den Erwähnungen der Abgrundstöchter zu lesen. Auch wenn ich voraussetzen darf, dass Sie sich mit diesen für Menschen schädlichen Zauberwesen ohnehin wesentlich besser auskennen als ich, so möchte ich zur allgemeinen Grundlage der anstehenden Entscheidungen zumindest einwerfen, dass die sogenannte Tochter der fliehenden Zeit erst einmal mit der gegenwärtigen Welt zurechtzukommen lernen muss. Warum sie das Schiff überfiel ist leider mehr Vermutung als Erkenntnis. Die CIA geht von einem gezielten Anschlag auf Überwachungsschiffe im persischen Golf aus. Es könnte aber auch einfach nur ein unglücklicher Umstand sein, dass dieses Schiff in der Nähe ihres bisherigen Aufenthaltsortes kreuzte. Da wir in sehr großer Eile alle auf eine magische Attacke hinweisenden Unterlagen eingezogen und muggeltauglich verändert haben besteht meinerseits keine Möglichkeit mehr, näheres über die Rückschlüsse der nicht magischen Kollegen zu erhalten. Oder sagen wir es so: Weil das Ministerium darauf bestand, möglichst rasch alle auf magischen Einfluss hinweisenden Aufzeichnungen verschwinden zu lassen, ist uns die Möglichkeit entzogen worden, näheres über die Motive für den Überfall zu erfahren. So bleibt uns eigentlich nur, uns darauf einzustellen, dass diese Kreatur nicht nur unsere seefahrenden Landsleute bedroht, sondern auch auf das nordamerikanische Hoheitsgebiet vordringt."
"Öhm, darf ich dazu eine Zwischenbemerkung einwerfen?" fragte Chambers Davidson. Der sah Brenda an. Diese nickte. "Wenn wir es hier wahrhaftig mit der für unaufweckbar gehaltenen Tochter der fliehenden Zeit zu tun haben, und dieser Käfer tatsächlich ihrer Zweiterscheinung entspricht, so fürchte ich, dass auch viele andere Behauptungen über diese Kreatur stimmen mögen. Eine davon lautet, dass sie vorübergehend Körper und Erinnerungen eines von ihr getöteten Sterblichen übernehmen kann, um in dessen Maske weitere Untaten vorzubereiten oder zu verüben. Ich bitte, diese Möglichkeit bei der weiteren Diskussion und daraus folgenden Entscheidungsfindung zu beachten. Ist einer der vermissten Seemänner wieder aufgetaucht?"
"Bisher nicht", sagte Brenda. "Aber danke für diesen wichtigen Hinweis. - Was ich auf jeden Fall noch ausführen möchte ist, dass gerade in der angespannten Lage, wo die nichtmagische Regierung einen weltweiten Krieg gegen echte oder vermutete Terroristen führt, jedes geheime Unternehmen, dass von wem auch immer durchkreuzt wird, die Feindseligkeiten steigern kann, sogar bis zu einem Krieg, der mit Kernwaffen ausgefochten wird. Um Ihnen den Grund für meine Behauptung zu erläutern muss ich jedoch über die mir bekannten Fakten der Mission der "Arabella Worthington" berichten." Dies tat sie dann in den folgenden fünf Minuten. Dann wiederholte sie, dass die wohl wiedererwachte Tochter der fliehenden Zeit erst einmal in der Gegenwart ankommen müsse.
"Sie kann die Seelen ihrer Opfer und die Erinnerungen in sich aufnehmen und speichern wie ein Kamel die Fettvorräte, aus denen es eigenes Wasser gewinnen kann. Gehen wir also davon aus, dass sie jetzt eindeutig auf dem neuesten Stand von Technik, Politik und Weltanschaungen ist. Dies könnte auch ein Motiv für den Überfall sein, ein möglichst großes Spektrum der gegenwärtigen Menschen zu erforschen, ohne gleich in Hoheitsgebiete eindringen zu müssen."
"Auf jeden Fall sollten Sie und ihr bei Cartridge beschäftigter Kollege Waterford darauf achten, ob als verschollen vermutete Besatzungsmitglieder der Worthington wieder auftauchen.", sagte Chambers.Nach der kurzen Darstellung der Lage diskutierten die LI-Mitarbeiter die bekannten Methoden, dieses Wesen zu besiegen. Hierbei kam auch eine Sammlung von Steintafeln aus Babylon zur Sprache, in der über den Kampf des Stadtgottes Marduk gegen einen fliegenden Dämon berichtet wurde. Marduk habe den Dämon gebannt, indem er ihm einen Körperteil mit einem gläsernen oder durchsichtigen Schwert abgetrennt und daraus eine weiße Flammensäule hoch wie ein Turm beschworen habe. Diese Erzählung hatte bisher keinen Eingang in die literarischen Nachweise über Babylon gefunden, da die besagten Tafeln erst vor hundert Jahren von Albertus Agemo gefunden worden waren, weit vor den Grabungen der deutschen Archäologen bei den Ruinen von Babylon.
"Nun, wir wissen, dass einige der alten Götter in Wahrheit mächtige Magier oder humanoide Zauberwesen waren. Auch wurde von einem glühenden Stern berichtet, der das Schwert zum glühen gebracht haben soll, Kollege Chambers", sagte Ali ben Scharif. "Die Brüder des blauen Morgensterns weigern sich immer noch, mit uns ihr großes Wissen zu teilen. Alles was wir haben sind Berichte von Leuten, die mit dem Morgenstern selbst nicht in Berührung kamen", grummelte Chambers. "Womöglich wissen die Mitglieder dieser Bruderschaft, wo das gläserne Schwert ist oder haben es sogar schon im Besitz. Aber wenn ich dieses Thema erwähne schlägt mir sofort eisiges Schweigen wie in einer polaren Winternacht entgegen." "Wie können wir erkennen, ob dieses Unwesen sich in der Erscheinung eines redlichen Mitbürgers Zugang zu dessen Umfeld oder zu brisanten Informationen verschaffen will?" fragte Davidson am Ende. "Nun, diese Wesen haben ihre ganz typische Aura, die sich deutlich von der gewöhnlicher Menschen mit und ohne Zauberkräfte abhebt. Im Grunde müsste überall dort, wo Kontakt mit einem ehemaligen Besatzungsmitglied der Worthington möglich ist jemand von uns mit einem Auroskop stehen und auf solche Leute achten, die keine üblichen Lebensschwingungen ausstrahlen. Ich kann und will jedoch nicht ausschließen, dass diese Geschöpfe ihre eigene Aura dämpfen können, um nicht von magisch sensitiven Wesen erspürt zu werden." "Dann wäre das wertlos, hunderte von Leuten, die wir nicht haben, mit noch mehr Aufspürvorrichtungen loszuschicken", sagte Davidson. "Außerdem hat Mr. Hammersmith klargestellt, dass ein Auroskop noch nicht an die Erkennungsfähigkeiten eines wahrhaftigen Auravisoren heranreicht, und von denen gibt es nicht viele." "Kann man Crups oder Kniesel abrichten, solche Wesen zu riechen?" fragte Brenda, die sich an ähnliche Vorgehensweise bei der Suche nach schwarzen Magiern und Hexen erinnerte. "Dazu brauchen wir Duftproben der Ziele", sagte Chambers. "Ich weiß, dass in Arabien niedere Luftdschinnen dazu gezwungen werden, ihresgleichen zu wittern. Auch haben die Kollegen aus Israel vor zehn Jahren ein Verfahren zur Enttarnung von Dibbuks besessener Menschen eingeführt, wollen uns aber nicht verraten, wie das geht und ob ein so gefundener Dibbuk damit auch aus seinem Wirtskörper ausgetrieben werden kann, ohne diesen zu töten. Wenn ich auf meinen Reisen durch den Orient eines gelernt habe, dann ist es der schon an Arroganz reichende Vorbehalt allen westlichen Magiern gegenüber. Denen wird nach Möglichkeit nichts mitgeteilt, wo wir doch eine noch so junge und ungereifte Zivilisation sind." "Gut, dann bleibt uns eigentlich nur, weiterhin aufzupassen, ob dieses Wesen sich erneut zeigt. Öhm, wie Schätzen Sie die wachen Schwestern ein: Werden Sie ihrer aufgewachten Schwester loyal zur Seite stehen, darauf hoffen, dass wir sie wieder in den Schlaf versenken oder sie gar selbst bekämpfen, Ladies und Gentlemen?" wandte sich Davidson an die Runde. Die Hexen und Zauberer überlegten. Dann sagte Nasserine Hamadi: "Sie werden nun, wo es nur vier wache von ihnen gibt, nicht mehr den direkten Kampf mit ihr suchen. Soweit ich von meinem Kontakt zu den Morgensternbrüdern erfuhr haben die acht damals alle wachen Schwestern die jüngste in einer Gemeinschaftsaktion niedergerungen und ihr Schlafbehältnis fortgetragen. Der Beobachter damals war nur nicht entdeckt worden, weil er zum einen ein Sohn Ashtarias und somit im Schutz seines Talismans war und die acht zum anderen in der eingenommenen Erscheinungsform wohl nicht mehr ihre weitere Umgebung überblicken konnten. Ich wundere mich, dass der Bericht darüber nicht zu den heute hier vorgelegten Unterlagen gehört. Woran lag das, Brenda?" "Weil ich zu diesen Akten keinen Zugang erhielt, da sie ausschließlich der Ebene drei oder höher zugänglich sind. Und ich bin wegen meiner eigentlichen Arbeit gerade mal auf Ebene vier." "Hmm, waren Sie das, der diese Klassifizierung beschlossen hat, Direktor Davidson?" fragte Nasserine. Davidson sah sie tadelnd an und erwiderte: "Ja, ich habe diese Klassifizierung vorgenommen, weil das Material, dass Sie aus dem Altpersischen übersetzt haben, zu brisant ist, als dass die unteren Ebenen darüber erfahren dürfen." "Mit anderen Worten, ich habe dazu auch keinen Zugang?" wollte Nasserine wissen. Davidson nickte. Dann sagte er schnell: "Außerdem dürfte es dadurch, dass zwei der acht anderen nun unauffindbar und unaufweckbar sind nicht mehr funktionieren. Die vier wachen Schwestern müssten eine andere Möglichkeit finden." "Zum Beispiel das gläserne Schwert", warf Chambers ein. Brenda und die anderen nickten. "Ja, aber töten kann wohl niemand dieses Wesen, außer mit einem Seelenschlingstein. Aber die Methode ist eindeutig zu gefährlich, um sie auch nur in Betracht zu ziehen", sagte Davidson. "Von uns nicht. Aber wissen wir, ob die Mitarbeiter von Minister Cartridge oder die Bruder- und Schwesternschaften außerhalb der Ministeriumsverwaltung sowas nicht versuchen könnten?" wollte Brenda wissen. Die anderen nickten betrübt. "Gut, dann halten wir für das Protokoll fest, dass wir uns vorerst darauf besinnen, ein mögliches Eindringen des Riesenkäfers oder der in menschlicher Form wandelnden Tochter der fliehenden Zeit frühzeitig zu entdecken und dazu die nötigen Vorkehrungen zu treffen", beschloss Elysius Davidson die heutige Krisensitzung. Im Grunde hatte sie nichts neues ergeben und auch kein Mittel aufgezeigt, die erkannte Bedrohung zu mindern oder gar völlig auszuschließen. Dennoch waren die meisten Teilnehmer froh, sich mal über dieses Thema ausgesprochen zu haben. Als Brenda Brightgate in ihrer Privatwohnung war und aus reiner Gewohnheit einen Zauber zum Aufspüren von heimlichen Beobachtern oder Beobachtungsvorrichtungen ausgeführt hatte trat sie in einen fensterlosen Raum, in dem drei Zaubererweltbilder an der Wand hingen. Das eine zeigte ein geflügeltes Pferd mit silbergrauem Fell, auf dem eine schlankge Frau mit tizianroten Haaren in einem jägergrünen Reitkostüm in einem sonnengelben Sattel saß. Das zweite Bild zeigte ein von rothaarigen Nixen mit korallenroten Fischschwänzen umschwommenes Segelschiff mit drei Masten und wasserblauem Anstrich. Das dritte zeigte eine Hexe mit grasgrünem Haar, dass bis auf ihre Schultern herabfiel. Sie trug ein blattgrünes Kleid und hielt in der linken Hand eine Glaskugel, in der eine durchsichtige Flüssigkeit war, in der ein kleines, hellgrünes Wesen wie ein Kind im Mutterleib zusammengerollt schwamm. In der rechten hielt sie einen Zauberstab aus dem Holz eines Mammutbaumes, dessen Kern, so wusste Brenda, das einzige lange Haar einer Meermenschenkönigin war, jener, von der sie in dritter Generation abstammte. Neben dieser Hexe tauchte wie aus dem Nichts gerade eine weitere Hexe auf. Sie war korpulent, nicht gerade hochgewachsen, trug ein mit bunten Blumen verziertes Kleid und auf den graublonden Locken einen breiten Strohhut. ""Hast du alles mitbekommen, Jane?" fragte Brenda die soeben im Bild ihrer weit zurückliegenden Vorfahrin aufgetauchte Hexe. Die angesprochene nickte. "Bist du alleine und unbeobachtet, Bren?" fragte sie. Die Gefragte nickte heftig. "Okay, dann komm ich kurz ganz zu dir rüber. Wird auch mal wieder Zeit, dass ich die richtige Welt betrete." Brenda kannte es schon, wie die scheinbar nur gemalte Hexe im Blumenkleid einen scheibenförmigen Gegenstand in den vordergrund hielt, eine kurze Zauberformel ausrief und dann in einer hellen Lichtspirale verschwand, die dann aus dem Bild heraus dreidimensional und tageshell bis auf den Boden herabreichte. Erst schemenhaft und dann mit einem Schlag formgenau entstand eine nun körperliche Erscheinung jener Hexe. Als das sie umkreisende Lichterspiel verschwand stand die nun fleischgewordene Hexe namens Jane Porter mitten im Raum. Brenda begrüßte ihre ehemalige Lehrmeisterin und Mentorin im Laveau-Institut. Zwanzig Jahre war es nun her, dass sie die junge, unbedarft wirkende Muggelstämmige, den Ruf Marie Laveaus vernommen hatte und im Laveau-Institut angefangen hatte. Brenda hatte auch erst um sie getrauert, als es hieß, sie sei durch einen tückischen Zauber der Wiederkehrerin Anthelia getötet worden. Doch dann hatte sie sich um so mehr gefreut, dass Jane Porter doch überlebt hatte. Brenda wusste, dass sie nicht die einzige war, der sich Jane offenbart hatte. Doch wer die anderen waren wusste sie bisher nicht. Die beiden so heimlich zusammengetroffenen Hexen besprachen die Krisensitzung, der Jane unsichtbar beigewohnt hatte. "Ich kenne da wen, der sicher ein ganz großes Interesse hat, zu wissen, dass die jüngste dieser Brut jetzt offen herumwandert", sagte Jane Porter mit gewisser Besorgnis. "Außerdem kannst du davon ausgehen, dass wenn Waterford auch in die Sache eingeweiht ist auch die Spioninnen Anthelias davon Wind bekommen haben. Das könnte zu einem offenen Krieg zwischen dieser umgewandelten Hexenlady, ihren Bundesschwestern und den Abgrundstöchtern ausufern." "Und den Vampiren, Jane. Die dürfen wir nicht vergessen." "Und den Werwölfen der Mondbruderschaft. Die dürfen wir auch nicht vergessen", sagte Jane Porter. Brenda bejahte das alles. "Ich werde mich dann mal wieder auf meinen Beobachtungsposten zurückziehen. Öhm, wissen die Aussis immer noch nicht, wo Bluecastle abgeblieben ist?" "Hmm, weder die Muggel noch die Zauberer von da wissen das. Der ist wie vom Erdboden verschluckt. Wieso ist dir das wichtig?" "Weil er der letzte noch lebende Nachkomme von Anselmus Cepheus Bluecastle ist, dem legendären Begründer der Liga zur Bekämpfung dunkler Künste auf britischem und nordamerikanischem Boden. Seine Familie wurde beim Kampf mit der Bruderschaft des schwarzen Schwertes am siebten November 1876 bis auf seine Ururgroßmutter ausgerottet. Die konnte sich auch nur der Vernichtung entziehen, weil sie zu den Schweigsamen Schwestern ging und von denen im Turm der Unangreifbarkeit ihren Sohn bekommen konnte. Die Bruderschaft wurde dann später von der Liga restlos ausgehoben, die meisten starben im offenen Kampf um ihre Freiheit, nur einer ist entgangen, Marvolo Riddle, damals gerade erst zwanzig Jahre alt. Deshalb ist es mir wichtig, wer da Hand auf George Lawrence Bluecastle dem dritten gelegt haben könnte." "Ja, aber wenn jemand ihn hätte töten wollen wäre er doch schon längst gefunden worden", sagte Brenda. Dann begriff sie, was Jane meinte. "Es sei denn, dass jemandem ein lebender Bluecastle immer noch wertvoller ist als ein toter." "Zumal er ein zertifizierter Auravisor ist, was er nie an die große Glocke gehängt hat, aber immer gerne ausgenutzt hat, um sein Personal auf Gesundheits- oder Gefühlsabweichungen zu prüfen. Da bleibe ich auf jeden Fall dran, Honey. Grüße mir besser keinen, den ich kenne. Bis dann, Bren", sagte Jane noch. Dann verwendete sie das auf sie abgestimmte Intrakulum, um in das Bild von Kathleen Brightgate zurückzukehren. Die gemalte Hexe mit der Glaskugel grinste ihre Ururururenkelin schelmisch an, während Jane in das Bild mit der anderen Hexe hinüberwechselte und dieser was ins Ohr flüsterte.
Sie waren völlig lautlos, ein Mann und sein Motorrad. Beide existierten in einer Form, die weder einem Gespenst noch einem Wesen aus Fleisch und Blut eigen war. Der Mann und seine Maschine waren eine reine, konturscharfe Schattenform ohne festen Körper. Aldous Crowne, der Schattenreiter, war unterwegs.
"Ich fühle kein Futter in der Nähe", hörte Aldous die leicht blechern klingende Gedankenstimme der in Schattenform wirkenden Kunstseele seiner Maschine. Sharon, wie er diese Identität nannte, war durch die Einverleibung von Dementoren erwacht und wäre beinahe zu einer unbeherrschbaren, unersättlichen Daseinsform geworden. Zwar war der Hauptanteil dieser unbeherrschbaren Essenz wieder herausgesaugt worden. Doch ein winziger Rest war verblieben, was Aldous nicht mehr störte.
"Flugzeuge hinter uns", wisperte Sharon und beschleunigte von sich aus. Zwar flogen sie schon mit Mach zwei, ohne einen Überschallknall auszulösen. Aber sie mussten ja nicht von einem in der Nacht herumschwirrenden Düsenjockey gesehen werden.
Als sie die Stelle erreichten, wo die "Arabella Worthington im Meer versunken war, ging Aldous in den Sturzflug. Er verzögerte die Geschwindigkeit so stark, dass Sharon schon protestierte, derartig zurückgehalten zu werden. Dann drang das Schattenmotorad durch die Wasseroberfläche, ohne sie aufzuwühlen. Aldous wusste, dass er nie länger als vier Sekunden an einer Stelle bleiben durfte, wenn er und Sharon nicht eine Eisskulptur von sich erzeugen wollten. Auch so zog das Gespann aus Fahrer und Motorrad bereits eine Schleppe aus kleinen Eisstücken hinter sich her. Da Wasser größtenteils durchsichtig war bot es dem Schattenreiter keinen Widerstand. Er hatte von seiner Schattenmutter gelernt, dass gewöhnliche Feinstoffler, wie sie die Gespenster nannte, durch ausreichend starke Luft- und Wasserströmungen aus ihrer Bewegungsbahn gedrängt werden konnten. Doch für den Schattenreiter war Materie nur ein Hindernis, wenn sie wenig bis gar kein Licht durchließ.
"Rieche zerstoßenes Sein da unten", hörte er Sharon im Geiste. Er tauchte gerade an einem Baraccuda vorbei. Der Raubfisch nahm sofort Reißaus und schoss in die für Menschenaugen undurchdringliche Dunkelheit davon. Tiefer und Tiefer ging es hinab, bis sie auf dem Meeresgrund ankamen. Die hier unten herrschende Finsternis fühlte sich anders an als die unter freiem Nachthimmel oder unter der Erde, fühlte Aldous. Irgendwie meinte er, dass der hier unten herrschende Wasserdruck auch seine gerade bestehende Daseinsform belastete. Jedenfalls gab sie ihm nicht die gewohnte Nahrung. Es war, als müsse er eine große Schale Kartoffel- und Bananenschalen essen, um über die Runden zu kommen. Dann sprang Sharon regelrecht vorwärts. Sie hatte das Ziel gewittert.
Das Schiff existierte so nicht mehr. Es war nur noch ein Gerippe aus Plastikteilen und größeren Glassplittern. Alles metallische und natürliche Holz war restlos verschwunden. Aldous hatte noch nie so ein Gefühl von Vergänglichkeit empfunden wie jetzt. "Viele zerfressene Seins. Nichts, was mir schmecken kann", bemerkte Sharon. Aldous lenkte seine mit ihm gerade untrennbar verwachsene Maschine durch das Trümmerfeld. Er hörte förmlich die Schreie von gepeinigten Menschen. Darunter waren auch die Angstlaute neugeborener Kinder, die wie verzerrte Echos aus allen Richtungen auf ihn eindrangen. Er nahm Kontakt mit seiner schattenmutter, der feinstofflichen Zwillingsschwester Thurainillas, auf und berichtete ihr seine Empfindungen.
"Sie hat die in sich aufgesaugten Seelen in beschleunigte Zeit verwandelt, weil sie nur so tote Körper schneller altern lassen kann", bekam er zur Antwort. Horche, ob du fünfzig verschiedene Klänge heraushören kannst!"
"Bei dem Geräuschsalat hier nicht einfach", erwiderte Aldous. Doch Sharon half ihm. "Es sind nur dreißig verschieden riechende und klingende Reste. Nichts, was mir noch bekommen würde."
"Dann fliege jetzt folgende Stelle auf der Welt an! Keine Sorge, dort ist auch gerade Nacht", erwiderte seine Schattenmutter Riutillia.
Aldous Crowne ließ Sharon mit halber Luftschallgeschwindigkeit wieder auftauchen. Der rapide wechselnde Wasserdruck machte ihm nichts. Als er ohne Geräusch die Oberfläche durchbrach fühlte er jedoch, wie schlagartig noch mehr Kraft in ihn einströmte. Die reine Dunkelheit des sonnenlosen Himmels lud ihn besser mit neuer Energie auf als die ewige Nacht in der Tiefsee. Das nahmen er und Riutillia auch als wichtige Erfahrung zur Kenntnis.
Mit mehr als der doppelten Schallgeschwindigkeit schwirrte Sharon mit ihrem Reiter durch die Nacht wie ein Phantom der Dunkelheit. Kein Radar und kein Infrarotgerät konnte ihn aufspüren. Belebt von der ewigen Dunkelheit zwischen den Sternen jagte er über Meer und Inseln dahin, bis er fühlte, dass er in die Nähe einer Quelle aus dunklen Gefühlen und Zauberkraft kam. Wieder trieb er sein Schattenmotorrad zum Sturzflug an und tauchte nach unten. Wieder wurde die Dunkelheit der Meerestiefe zwar noch nährend aber schwerfällig zu verdauen. Dann sah er ihn unter sich.
Tiefer als ein Mensch ohne den Druck abhaltende Hilfsmittel tauchen konnte öffnete sich ein gewaltiger Krater, der trichterförmig tief in einen an die zweitausend Meter aufragenden Bergkegel einschnitt. Aldous schätzte, dass er wieder mehr als dreitausend Meter in die Tiefe getaucht war. Dann näherte er sich dem Kraterrand. Er fühlte körperlich, dass hier dunkle Magie gewirkt hatte, eine Zauberkraft, die ihm vertraut vorkam. Irgendwie waren das die magischen Schwingungen, die seine Herrin und ihre Schwestern ausstrahlten, nur um einiges Stärker. Doch er fühlte nicht jenes langsame pulsieren, als wenn die Quelle dieser dunklen Zauberkraft nachließ und wieder stärker wurde, als wenn ein Lebewesen diese Kraft ein- und wieder ausatmete. Dann erreichte er den Kratergrund. Er sah einen Geröllhaufen vor sich. Da kam er auch in Schattenform nicht durch. Ihn zu bewegen war auch schwierig, auch wenn er gelernt hatte, durch Auflegen seiner Hand Gegenstände zu bewegen. Dann hörte er Riutillias Gedankenstimme in sich: "Kehr um! Sie hat ihren Lebensquell anderswohin verlegt."
"Ich versuch noch was", schickte Aldous zurück. Er konzentrierte sich darauf, dass aus Sharons Hinterradschutzblech ein viele Meter langer Fangarm wuchs. Dieser wickelte sich wie der Tentakel eines Riesenkrakens um einen der großen Steine des liegenden Geröllhaufens. Dabei meinte Aldous, eine kurze aber deutliche Erschütterung der magischen Ausprägung zu fühlen. "Verflucht, das war eine Falle!" hörte er Riutillias Gedankenstimme. Gleichzeitig löste sich der ganze Geröllhaufen in dreckiges Wasser auf. Wasser stürzte laut gurgelnd in einen tiefen Schacht unter dem Geröll wie in einen mehr als fünf Meter durchmessenden Abfluss ohne Sieb. Wäre Aldous ein stoffliches Wesen gewesen, dann hätte ihn das abfließende Wasser unaufhaltsam in diesen Schacht hineingerissen. So flutete das Meerwasser innerhalb einer halben Minute die offenbar unter Unterdruck stehende Höhle am Ende des Schachtes. Legionen kleiner und großer Luftblasen blubberten und gluckerten um Aldous und durch ihn hindurch zur Meeresoberfläche hinauf. Aldous ritt der Teufel, sich mit Sharon und eingeschaltetem Unlichtscheinwerfer in den Schacht hinabzustürzen. Er wollte wissen, was an seinem Grund war. "Machst du, dass du da wieder rauskommst!" schrie ihn Riutillias Gedankenstimme an. Doch er war schon zu tief in den Schacht vorgestoßen. Mit einem lauten, kurzen Rumpelnendete die Wasserflut. Es wurde nun völlig dunkel. Doch für Aldous war das kein Hindernis und auch kein Grund zur Furcht. Erst als er im total dunklen Schattenwurf des Unlichtscheinwerfers sah, dass die Höhle unter dem Schacht völlig leer war wollte er wieder umkehren. Er fühlte jedoch, dass die bisher schwach und gleichartig wirkende Magie sich schlagartig zu einer mit sehr hoher Schwingungszahl bebenden Kraft verändert hatte, die nun in den Höhlenwänden alleine klang. Außerdem passierte noch etwas: Der Raum um Aldous wurde kleiner. War er vorhin noch in einer zwanzig Meter durchmessenden Kuppelhalle gewesen, war diese nun nur noch zehn Meter groß und schrumpfte immer weiter. Der Schacht, durch den Aldous hereingekommen war, verschloss sich gerade mit leisem, kurzen Rumpeln. Immer enger und niedriger wurde die nun mit Meerwasser geflutete Kuppelhöhle.
"Du Narr, du bist freiwillig in ihre Falle gegangen", zeterte Riutillia. Aldous fühlte, wie die Enge der ihn umgebenden magisch aufgeladenen Wände auf ihn drückte. Doch er blieb ruhig. Noch konnte er ja scotoportieren. Die hier herrschende Dunkelheit reichte doch aus, um die nötige Kraft dafür zu kriegen. Doch als er sich darauf besann, mit Sharon über dem Schacht zu sein, durchbrauste ihn ein kurzer, heißer Stoß, und Sharons Unlicht wurde für einen winzigen Moment zu einem sonnenhellen, die nun nur noch zwei Meter messende Kammer flutenden Lichtblitz, der ihm zusätzliche Schmerzen zufügte. Auch Sharon erbebte unter dieser plötzlichen Lichtfreisetzung. Dann erkannte er, dass er immer noch in dieser Höhle eingesperrt war, und diese schrumpfte weiter und weiter. Die Verkleinerungsrate war zwar nicht mehr so groß wie ganz am Anfang, aber sie hörte auch nicht auf. Aldous fühlte trotz seiner Schattenform die Kuppeldecke auf seinen Kopf niederdrücken. Er wollte von Sharon herunter, deren Vorder und Hinterrad bereits von der kreisrunden Wand berührt wurden. Doch in Schattenform war er mit Sharon verwachsen. Das merkte er jetzt wieder überdeutlich. Ihr Unlichtstrahl wurde eins mit der in der Wand wirkenden Zauberkraft. Aldous erkannte, dass das sonst bei lebenden Körper und Seelen kraftraubende Unlicht die Magie in der Wand anreicherte. Er schaltete es aus. Die Schrumpfung schien gestoppt. Völlig in dieser verkleinerten Höhle eingekeilt hing er fest. Ein neuer Versuch, sie auf zeitlosem Weg zu verlassen misslang. Zwar blitzte es nicht noch einmal auf. Aber der Hitzestoß durch seinen Körper und der Umstand, dass er sich nicht außerhalb der Höhle wiederfand sagten ihm, dass er tatsächlich in der Falle steckte. Außerdem erkannte er, dass sein magischer Fluchtversuch die Höhle um mindestens zwanzig Zentimeter weiter schrumpfen ließ.
"Er beugte sich über den Lenker seines Schattenmotorrades, um nicht dauernd mit der Decke zusammenzustoßen. Durch die Berührung schien der Schrumpfvorgang wohl neu angestoßen worden zu sein, zwar langsamer als beim Unlicht, aber er lief weiterhin ab, drückte langsam aber offenbar unaufhaltsam auf Aldous und Sharon.
"Mutter!" rief er in Gedanken. Da hörte er Riutillias Gedankenstimme. "Ich bin am oberen Schachtende. Ich versuche, den großen Felsen zu heben, der den Kraterboden bedeckt."
"Will raus hier!" schnarrte Sharons künstliche Gedankenstimme. Aldous hatte denselben Wunsch.
"Ich vermag nicht, den Felsen anzuheben. Er ist zu schwer", hörte er seine Schattenmutter Riutillias stöhnen.
Irgendwas saugt mir Kraft aus dem Körper", stellte Aldous fest. Auch Sharon erbebte. Je stärker die Wand und Höhlendecke auf ihn lastete, desto schwächer fühlte er sich. Er wusste, dass er gleich entweder in seine feste Form zurückverwandelt wurde oder wie eine niedergebrannte Kerzenflamme verlöschen würde. Er war einfach zu neugierig gewesen. Wenn er wieder feststofflich wurde war das auf jeden Fall sein Tod. Denn das ihn umgebende Wasser würde ihn innerhalb einer Sekunde zu kalter Fleischbrühe mit Knochensplittern zerdrücken. Dann kam ihm ein verwegener Gedanke. Das hatte er noch nie ausprobiert.
Er wusste, dass er in Schattenform teilweise Körperverwandlungen ausführen konnte. Er hatte auch gehört, dass es andere Schattenwesen gab, die ihre Form verändern konnten und zu Nebelwolken, Schlangen oder kompakten Kugeln werden konnten. Da die Höhle keinen sichtbaren Ausgang hatte war mit Nebelwolke und Schlange nichts zu wollen. Aber die Kugelform mochte klappen. Er stellte sich vor, Sharon und er würden sich im inneren einer großen Glaskugel befinden, die dann auf die Größe einer Murmel zusammenschrumpfte. Doch als er nach fünf Sekunden nur ein wildes Beben in sich und Sharon fühlte wusste er, dass er so nicht weiterkam. Dann fiel ihm jedoch auf, dass die Höhlenwand wieder zurückwich. Er bekam wieder Kopffreiheit. Auch Sharons Vorder- und Hinterrad berührten keine Wand mehr. Die Höhlenwände wichen nun immer schneller zurück. Dann explodierte der Raum um ihn herum regelrecht. Dieses schlagartige, völlig lautlose Auseinanderfliegen warf ihn hoch und in einen mehr als hundert Meter breiten Tunnel hinein. Er sah nur, wie er innerhalb von zwei Sekunden durch diesen Tunnel raste und erkannte etwas großes, noch dunkleres weit über sich, auf das er zuflog, als wenn er nicht im Wasser, sondern im luftleeren Raum unterwegs sei. "Nimm deine übliche Größe wieder an, wenn du nicht willst, dass ich dich wieder ganz zu mir nehme und für immer in mir behalte", hörte er die sehr laute und bedrohlich klingende Gedankenstimme seiner Schattenmutter, die er nun weit über sich wie eine menschenförmige Wolke ausgedehnt erkennen konnte. Da begriff er, dass er sich irgendwie selbst eingeschrumpft hatte. Er dachte daran, sich so weit er konnte auszudehnen. Das wirkte sofort. Seine Schattenmutter schrumpfte auf gerade fünf Meter zusammen, war also immer noch riesig. Doch war sie nur noch zehn Meter entfernt. Die rasende Fahrt nach oben kam zum halten. Sharon erbebte einen Moment. Dann kehrte ihre eigene Antriebskraft zurück.
"Ich hieß dich, nicht in diese Höhle zu steigen. Sei mir nie wieder ungehorsam, wenn du nicht willst, dass ich dich in meinem Leib zerfließen lasse und deine aufsässige Seele in mir aufgehen lasse", schrillte Riutillias Gedankenstimme durch Aldous' Bewusstsein. Dann fühlte er, dass seine Schattenmutter offenbar eine andere Ausstrahlung fühlte. "Die gesuchte Schwester ist über uns. Sie lauert darauf, dass wir an die Oberfläche kommen, weil sie selbst nicht in die Tiefen tauchen kann."
"Echt? Ich will die sehen, Mutter. Bitte erlaube mir, sie zu sehen", bat Aldous.
"Nichts da. Du kehrst mit mir in das Versteck zurück", schnarrte Riutillia und streckte blitzschnell ihre Arme nach ihm aus. Sie bekam ihn zu fassen und riss ihn mit sich über den kurzen Weg der zeitlosen Ortsversetzung.
Schlagartig durchfloss die Kraft der nur aus dem Erdinneren und dem Weltraum wirkenden Dunkelheit auf Aldous ein, als er sich in jener Höhle wiederfand, wo er Sharon versteckt hielt, solange er nicht als Schattenreiter unterwegs war.
"Sie hat unsere Flucht zwar bemerkt, konnte aber nicht erspüren, wohin wir entkommen sind, weil unsere Daseinsform von ihren Sinnen nicht gut genug erfasst werden kann", stellte Riutillia fest, als eine halbe Minute vergangen war. Dann sagte sie: "Ich kehre zu meiner Zwillingsschwester zurück. Schöpfe neue Kraft und kehre dann ebenfalls zu ihr zurück! Die feindliche Schwester weiß nicht, wo wir unser Versteck haben", sagte Riutillia dann noch, bevor sie übergangslos verschwand.
Aldous wurde jetzt erst so richtig bewusst, dass er sich wie ein totaler Vollidiot benommen hatte. Er war ganz freiwillig in die Höhle getaucht, obwohl Riutillia schon erwähnt hatte, dass es eine Falle war. Dann wurde ihm klar, dass diese Falle darauf ausgelegt war, eine unveränderliche, eigene dunkle Magie ausstrahlende Beute einzufangen. Die reine Physik des in den Schacht flutenden Wassers hätte das Opfer mal eben in die Höhle gezogen. Die hätte sich dann verschlossen und gleichzeitig eine Sperre gegen Teleportation oder Scotoportation erzeugt. Dann hätte sie sich ebenfalls verkleinert und das Opfer dabei zerquetscht. Vielleicht hätte aber auch der Wasserdruck schon gereicht, das Opfer zu zerquetschen. Jedenfalls wäre seine Lebenskraft dann von der Höhle geschluckt worden, wie Sharons Unlichtstrahl von der Wand geschluckt und in deren bösartige Magie umgewandelt wurde. Wäre er dann einfach ausgelöscht worden oder als eine Art Energieladung an einen anderen Ort übertragen und endverwertet worden? Nachdem, was Riutillia gesagt hatte wohl genau das.
Sie schwebte leise brummend über den Wellen. Sie ärgerte sich, nicht selbst in die Meerestiefe hinabtauchen zu können. Selbst sie würde dem gewaltigen Wasserdruck nicht standhalten. Doch wieso war ihre in die Falle gegangene Schwester nicht zerdrückt und als wohltuender Kraftstoß in sie eingeflößt worden? Dann war da noch ein ihr verwandtes Sein aufgetaucht und war mit dem ersten Sein, das durch irgendwas die Falle zum umspringen veranlasst hatte, verschwunden. Wieso konnte sie die dabei ins Gewebe von Raum und Zeit gedrückte Spur nicht wittern? mehr als einen Vierteltag lang kreiste sie in ihrer mächtigen Kampfgestalt über der Stelle des Weltmeeres, wo der unterseeische Feuerberg schlief, in den ihre Schwestern ihren Lebenskrug damals hineinversenkt hatten, um niemanden an sie herankommen zu lassen. Doch Itoluhila - nur sie hätte diese Meerestiefe erreichen können - kehrte nicht zurück. Sie war der Falle einfach entkommen, die sie, Errithalaia, für so unabwendbar und gnadenlos zerstörerisch gehalten hatte. Sie ärgerte sich einmal mehr, dass sie zwar die Zeit von lebenden Wesen umkehren und dadurch ihre innere Essenz herauslösen konnte, aber nicht von sich aus in die Warzeit zurückreisen konnte, um begangene Fehler zu vereiteln. Wie immer ihre wache Schwester es angestellt hatte, sie war jetzt auf jeden Fall gewarnt. Die Falle war wertlos geworden. Mit dieser ärgerlichen Erkenntnis verschwand Errithalaia beinahe geräuschlos im Nichts.
"Mann, Loli, wie du das immer hinkriegst, sieben wilde Kerle in einer Nacht durchzunehmen und am nächsten Morgen wie das blühende Leben auszusehen", sagte die große, vollschlanke Simona Marcia, die im Haus der Sonne jene bediente, die sich gerne wie kleine Kinder behandeln und umsorgen lassen wollten.
"Liegt wohl daran, dass ich selbst Spaß bei der Sache habe", erwiderte Loli. Längst nicht alle ihre Kolleginnen wussten über ihre wahre Natur und ihre wirkliche Rangstellung im Bordell des schwarzen Engels bescheid.
"Wieso soll ich keinen Spaß an meinem Job haben, Loli. Der eine, den ich jetzt quasi neu austrage hat sich ja vorhin selbst gezeugt. Und wenn der von mir geboren worden ist macht das auch Spaß, ihn zu stillen."
"Und seine vollgemachten Windeln zu wechseln?" fragte Loli schnippisch. "Gehört dazu", erwiderte Simona. "Apropos, wenn ich ihn wieder auf die Welt gebracht habe sollte der Tank mal wieder gereinigt werden. Nachher geht noch rum, wir würden unseren Kunden irgendwelche Hautkrankheiten oder sowas anhängen."
"Ich geb das an Maruja weiter. Ich mach nur meine Abrechnung für sie fertig, dann mach ich mich wieder in mein bürgerliches Dasein davon. Eine schmerzarme Niederkunft, Wonneproppen!"
"Wie lustig, Loli", grummelte Simona. Dabei wusste die, dass Loli wusste, dass der Kunde nicht wirklich zum Ungeborenen wurde, sondern nur in einem mit Salzlösung auf Körpertemperatur gefüllten Tank mit beheizbaren Polsterwänden unter Kopfhörern und Beatmungsmaske Simonas Körpergeräusche und Stimme hörte, als wäre er ihr ungeborenes Kind. Sie würde dann in ein paar Stunden eine Geburt nachspielen, wobei der Kunde unter dem Einfluss eines Halluzinogens echt glaubte, selbst wiedergeboren zu werden. Dann würde sie ihn eine Woche lang wie einen echten Säugling umsorgen. Danach würde er aus seinem Kurzurlaub von der Welt zurück in sein sonstiges Leben zurückgeschickt.
Loli tippte die Daten für die von ihr "durchgenommenen" Kunden in den Buchhaltungscomputer ein. Diese nötige Arbeit war der leicht bittere Beigeschmack zu ihrer ansonsten herrlichen und belebenden Tätigkeit, bei der sie jedem Kunden ein wenig seiner Lebenskraft entzog und die vielversprechendsten sogar geistig an sich band, um ihr Netz von wichtigen Abhängigen weiter auszudehnen und dabei immer engmaschiger zu machen. Doch die sieben der letzten Nacht waren keine für sie wichtigen Männer gewesen. Aber die würden wohl wiederkommen und ihr somit zumindest sichere Nahrung bieten.
Loli dachte wehmütig daran, dass sie seit dem Erwachen der jüngsten Schwester keinen geistigen Kontakt mehr mit ihren vorher geweckten Schwestern aufgenommen hatte. Das wäre zu gefährlich gewesen, wo die vier wussten, dass Errithalaia nur darauf lauerte, den Standort auch nur einer von ihnen zu erspüren. So galt es mehr als sonst, dass jede für sich weiterleben sollte. Doch an diesem Morgen erhielt sie eine E-Mail von einem gewissen Shattenreiter75, dessen E-Mail-Anbiter unter dem Kürzel von Tonga firmierte. Die Pazifikinseln boten Internetadressen an, auch für Hauptrechner, die nicht auf den Inseln selbst standen. Aber so bestand für keine Regierung die Möglichkeit, über solche Adressen tätige Gruppen oder Einzelpersonen wegen irgendwas belangen zu können, wenn keiner wusste, was für ein Landsmann es war.
Loli las, dass Schattenreiter75 der Neffe von Kosmokönigin0402 war. Er schrieb, dass er Grüße von ihr und ihrer Zwillingsschwester überbringen sollte, dass eine als Kampfkäfer bezeichnete Person jetzt wohl eine andere Adresse habe und Kosmokönigin wohl besorgt sei, dass die Schulden, die sie und ihre Schwestern hatten wohl noch eingefordert werden könnten. Zum schluss schrieb Schattenreiter75, dass ein Paketbote unterwegs sei, der sich mit einem bekannten Losungswort vorstellen würde.
Loli alias Itoluhila grinste. Es ging doch noch was. Gut, dass sie Ullituhilia, Tharlahilia und Thurainilla verraten hatte, welche E-Mail-Adresse sie hatte. Ullituhilia hatte durch ihre Abhängigen auch schon Gebrauch davon gemacht. So schrieb sie Schattenreiter75 zurück, dass sie den Paketboten erwartete.
Eine halbe Stunde später klingelte jemand an der Tür. Da die Casa del Sol erst gegen zwölf Uhr für die sogenannten Mittagspausenkunden aufmachen würde konnten das nur Lieferanten oder eben Paketboten oder Briefträger sein.
Vor der Tür stand jener Mann, den Loli schon in Tharlahilias Geist gesehen hatte, der ehemalige Geheimagent Dunston, alias Arnold Crocker alias Läufer, der nun als Sonnenläufer der dienstbare Unterworfene Tharlahilias war. Er übergab ein kleines Paket. "Unterschreiben nicht nötig, schöne Frau. Ist ein Geschenk Ihrer Schwester aus Kairo", sagte er nur. Loli fühlte die dem Mann eingeflößte Kraft, die durch das Sonnenlicht noch verstärkt wurde. Sie lächelte sehr freundlich und bedankte sich für das Paket. Dann verschloss sie die Tür wieder von innen. Sie bekam noch mit, wie Sonnenläufer um die nächste Ecke bog und dann einfach verschwand.
Das Paket enthielt eine Zerhackervorrichtung, sowie ein daran anschließbares Mobiltelefon, sowie eine CD mit einem E-Mail-Verschlüsselungsprogramm und einen Zettel mit den Passwörtern zum Ver- und Entschlüsseln der E-Mails von Schattenreiter75, Sonnenläufer0402, Kosmokönigin0402 und Info@dabro.imex.to. "Willkommen im Zeitalter der elektronischen Nachrichtenvermittlung", dachte Loli grinsend. Vorher hatte sie davon nichts wissen wollen, weil die zwischen ihr und ihren Schwestern mögliche Gedankenübermittlung E-Mails lächerlich umständlich gemacht hatte. Doch so würde Errithalaia nicht mitbekommen, worüber sich ihre vier wachen Schwestern unterhielten.
So dauerte es nur sieben kurze E-Mails an die festgelegten Adressen, bis klar war, dass sie sich auch eher über die neuen Telefone und Zerhacker miteinander unterhalten würden.
Kurz vor Mittagsschicht hatte Loli bereits mit Ullituhilia und Thurainilla gesprochen. Die eine war immer noch in Südafrika, die andere hatte sich eine Vorbezahlkarte für ein japanisches Mobiltelefon besorgt und daran einen der Zerhacker angeschlossen, die Sonnenläufer bei einem kurzen Ausflug in die technische Spielzeugabteilung seines früheren Auftraggebers beschafft hatte."Wir müssen uns darauf einstellen, dass sie uns einzeln angreift oder weiter darauf lauert, uns an einem Ort gleichzeitig zu erwischen. Wie wir es damals gemacht haben geht es heute wohl nicht mehr", hatte Itoluhila erwähnt. Daraufhin hatte Ullituhilia gefragt, ob sie nun das ganze restliche Dasein so versteckt leben wollten. Itoluhila hatte dazu nur gesagt: "sie ist nicht nur unsere Feindin. Auf die Frage, was sie damit meinte hatte sie ihren Schwestern nacheinander ihre Absichten erläutert. Thurainilla war nicht besonders erfreut darüber, und Ullituhilia wandte ein, dass sie dann auch gleich wieder in den langen Schlaf verfallen könnten. Da würde Errithalaiasie dann auch nicht erwischen. Doch am Ende stimmten sie ihr zu. Als sie dann nach den vier Stunden Mittagsschicht auch noch mit Tharlahilia telefoniert hatte stand fest, dass die vier nun versuchen mussten, erst einmal die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und dann schnellstmöglich auf Errithalaia zu lenken. Itoluhila ahnte nicht, dass sie selbst etwas in sich trug, was ihrer Freiheit und ihrer bisherigen Existenz gefährlich werden konnte.
"Mann! Lasst es doch bitte endlich sein, euch gegenseitig mit Dreck zu bewerfen", stöhnte Julius an die Adresse der um das Ministeramt konkurrierenden Kandidaten. Gerade hatte der Miroir Magique mit der Sensationsmeldung aufgemacht, dass der geschäftsführende Zaubereiminister Montpelier die Gunst seines früheren Vorgesetzten Grandchapeau ausgenutzt habe, um einem seiner Vetter eine einträgliche Stellung in der Ganymed-Besenmanufaktur zu verschaffen. Die Zeitung zierte sich auch nicht damit, eine Antwort von Lesfeux zu bringen, dass Montpelier nicht nur Grandchapeaus "Naivität" ausgenutzt habe, sondern vor allem durch Jean-Pauls Frau Desdemona davon überzeugt worden sei, dass ihr Mann einen einträglichen Beruf mit flexiblen Arbeitszeiten verdient habe und dass Grandchapeau Montpelier geholfen haben solle, das unter dem Teppich zu halten, weil ein Mann, der seinen eigenen Vetter und seine Frau gleichzeitig hintergeht, um jemandem einne Menge Gold zu verschaffen, wohl kaum als möglicher Nachfolger des Ministers geeignet sei.
"Sind wir jetzt schon in den Staaten?" fragte Julius verbittert. Millie nickte und sagte: "Onkel Gilbert hat vorgestern von einer seiner, öhm, Salsatanzpartnerinnen aus Kolumbien sogar ein angebliches Geheimdokument gekriegt, dass Montpelier seit achtzehn Jahren unverzeichnete Unterhaltszahlungen für eine gewisse Aurora Virginia Mondego in Bogota bezahlt. Die Kobolde von Bogota hätten die Erlaubnis, alle zwei Monate von seinem Konto bei Gringotts Paris eine Summe abzuzweigen. Das Geld wird wohl als Spende für die St. Pierre Pyroclastics verwendet. Das ist ja die einzige Quidditchmannschaft von Martinique."
"Was für ein komischer Zufall, wo Louvois da lange Zeit Stellvertreter des Zaubereiministers war", stellte Julius fest. "Und genau deshalb hat Onkel Gilbert diesen Schrieb sofort ins Feuer geworfen. Du hast ja seine Stellungnahme gelesen: "Die Temps beobachtet, aber sie krakehlt nicht mit."
"Ja, aber offenbar denkt wer auch immer, dass die Wähler der Zaubererwelt genauso auf diesen Müll abfahren wie die aus der Muggelwelt, Mamille. Oder jemand will es so hindrehen, dass es böswillige Verleumdung ist und es stimmt doch. Wäre auch eine geniale Tarnung."
"Glaubst du echt, dass Montpelier seine Frau betrügt. Die ist einen halben Meter breiter als ich und sicher einen zentner schwerer als ich."
"Also, wie wichtig bestehender Familienfriede ist habe ich gelernt. Dann würde so ein Mist echt die Wählerstimmen versauen."
"Aber du wirst es Louvois nicht nachweisen können, wenn der solche Nachrichten in Umlauf bringt, oder?"
"Nur wenn die Leute, die für ihn solchen Kokolores in die Welt posaunen nicht auf die Idee kommen, ihn vielleicht damit zu erpressen, wenn er nicht so spurt, wie er es denen zugesagt hat. Aber wie gesagt, ich frage mich echt, was diese Schlammschleuderei jetzt noch mit ernsthafter Zaubereiverwaltungspolitik zu tun haben soll."
"Du bleibst dabei, dass wenn Lesfeux oder Louvois Minister wird du bei Tante Camille, Blanche oder Antoinette zu arbeiten anfängst."
"Wenn Gilbert nicht auch noch wen braucht, der sich mit Zauberwesen auskennt. Meine Kontakte zu den Veelas könnten dem bestimmt auch sehr gefallen. Abgesehen davon hat mir Catherine angeboten, dass wenn ich nicht für Louvois oder Lesfeux arbeiten will, könnte sie mich als Assistenten nehmen, der sich mit Abwehrzaubern, Zaubertränken und Zauberwesen gut auskennt und noch dazu ein Super-Apparierzertifikat hinbekommen hat. Auswandern will ich auf jeden Fall nicht, falls Martine noch mal davon anfängt, wir könnten ja alle vier zu Britt rüber in die Staaten."
"Na ja, Tante Babs und Tine sind froh, wenn sie ihre Arbeit noch machen dürfen, Monju", räumte Millie ein, dass die Ministeriumsjobs noch die sichersten waren, was die Bezahlung anging.
"Tante Babs sitzt da auch schon seit Grandchapeaus Amtsantritt und Martine will jetzt, wo die kleine Hémie oder Merie da ist nicht auf ihren Beruf verzichten."
"Brauchst du mir nicht zu sagen", grummelte Millie. "Übrigens hat Tante Pri uns vier eingeladen. Die hat ja übermorgen Geburtstag."
"Huch, da waren wir noch nie", sagte Julius nicht ganz so überrascht, wie er klang. Wegen der Zuneigungsherzverbindung merkte seine Frau jedoch, dass er nicht so erstaunt war.
"Hast ihr wohl sehr deutlich gemacht, dass es dich und mich ja auch noch gibt, wie?" fragte Millie verschmitzt grinsend. Julius zwang sich, nicht verschämt dreinzuschauen und sagte:
"Ich könnte jetzt einen loslassen, dass ich mich bei ihr gut eingeführt hätte. Aber ..." Millie lachte schallend los.
"Erst mal hätte ich das auf jeden Fall mitbekommen, wenn zwischen der und dir was anderes abgegangen wäre als gute Zusammenarbeit, Süßer. Zweitens hättest du dann eine Witwe glücklich gemacht, die schon zwei Männer überlebt hat. Drittens hätte sie dann wohl längst bei der rassigen Rose Devereaux angedeutet, dass du auf kleinere Frauen stehst und über die hätte das Carolines Vater sicher mitbekommen, weil der mit der in Beaux war. Du weißt, Mon Cherr: Die Zaubererwelt ist ein Dorf."
"Oder Ghetto", erwiderte Julius schnell, bevor ihm klar wurde, dass er Millies Familie fast zu hinterweltlerischen Eigenbrödlern erklärte. Deshalb sagte er schnell noch: "Aber genau das hat die Entscheidung für mich so klar übersichtlich gemacht, weil ich ungefähr vorhersehen konnte, wer wie zu welcher Sache von mir steht oder nicht. Öhm, und Rose Devereaux will heute wiederkommen. Dieser Tricksezauberer auf dem Luxusschiff ist eben nur sowas, ein handwerklich geschickter, psychologisch gut bewanderter Illusionist, kein echter Magier. Er will noch nicht mal als Zauberer bezeichnet werden. Das sei ein Begriff aus den Kindermärchen und keine Bezeichnung für einen professionellen Artisten, so Rose."
"Du betonst das so, als wenn Rose Devereaux auch noch mit dir in den Computerraum wollen könnte, Monju." Julius nickte. "Bei der muss ich dann doch auf der Hut sein."
"Musst du nicht, Mamille, weil ich garantiert nix mit einer Frau anfange, deren Bruder ich einmal ein volles Pfund eingeschenkt habe. Der hat das garantiert nicht vergessen. Am Ende würde er seine Schwester sogar noch anspitzen, mich dir auszuspannen, damit er seine Rache kriegt und mich als umtriebigen Hengst hinhängen kann, der nur solche Stuten wie seine Schwester verdient hat."
"Ja, guter Gedanke, die Finger von Rose zu lassen. Vorausgesetzt, sie lässt die Finger von dir. Vielleicht sollte ich mir das doch überlegen, dir ein Brandzeichen zu geben, dass du mir gehörst", schnarrte sie, musste dabei aber ungewollt grinsen. Julius grinste zurück und sagte: "Wenn das ihr nicht sagt, wo ich hingehöre würde ein Brandzeichen das erst recht nicht". Dabei zeigte er seinen linken Ringfinger mit dem goldenen Ring vor.
"Rorie Platschiboot will", quiekte Aurore, als sie mit ihrem Frühstück fertig war. Julius fragte Millie, warum sie so von dem kleinen Boot sprach, dass er ihr für die Sommertage besorgt hatte.
"Ihre Oma, meine Mutter, deine Schwiegermutter. Alles unter zwei wird mit Babysprache zugedudelt. Gut, dass sie jetzt noch ein Baby mehr zum bedudeln hat."
"Keine weiteren Fragen, Euer Ehren", erwiderte Julius. Dann sagte er seiner erstgeborenen Tochter: "Wenn Papa heute nachmittag vom Arbeiten wiederkommt fahre ich mit dir noch mal auf dem See rum. Aber vielleicht will Tante Trice ja auch gerne mit dir Boot fahren."
"Au ja, Tante Tricie!" Rief Aurore.
"Das hast du jetzt davon. Dann kannst du sie jetzt auch zu ihr hinbringen, Momju. Dann bin ich mit Chrysie gleich drüben beim Sprecher der Mercurios. Der hat sowas angedeutet, dass der kurz vor Saisonauftakt noch wen neues verpflichtet hat. Wenn ich weiß, wen, ist das zumindest ein gescheiter Aufmacher für die Temps."
"Wie habe ich mal zu deiner Schlafsaalmitbewohnerin gesagt? Du deinen Auftrag, ich meinen."
Julius war froh, dass er Aurore zum Sonnenblumenschloss bringen konnte. Das ganze miese Getue der Ministerkandidaten stieß ihm so heftig auf, dass er schon fürchtete, sein Frühstück wieder ausspucken zu müssen.
Er hatte Aurore gerade bei ihren fast gleichaltrigen Tanten in der großen Spielzone des Sonnenblumenschlosses abgeliefert, als das Verbindungsarmband zu Camille, Aurora Dawn, Brittany und seiner Mutter vibrierte. Eigentlich wollte er es vor dem Flohpulvern noch wegschließen. Doch so kurz vor acht konnte er vielleicht noch mal mit wem reden.
Alison Andrews empfand das große, pompöse Haus mal wieder als für sie zu groß. Der einzige Grund, warum sie hier noch wohnte war, dass sie immer noch damit rechnete, dass ihr verschollener Mann Claude eines Tages doch wieder zurückkehren würde. Dass er sie beinahe einmal zur Helfershelferin einer dunklen Kreatur aus der Zaubererwelt gemacht hatte wusste sie nicht mehr. Was ihr zusetzte war die Frage, mit wem ein gewisser Aldous Crowne verwandt sein mochte. Denn der sah genauso aus wie Claude oder dessen Bruder Richard in jungen Jahren. Am Ende war das noch ein unehellicher Sohn von Claude. Dann hätte diese Frau, die ihn geboren hatte, Claudes Baby bekommen. Sicher, sie hatte sich schnell mit dem Gedanken abgefunden, selbst keine Mutter zu werden. Aber es hatte ihr doch einen Stich ins Herz versetzt, dass Claude vielleicht vor der Hochzeit noch mit einer anderen intim geworden sein mmochte.
Mit den Nachbarn lief es zwar besser, seitdem der ständig rechthaberische, kleinkariert auftretende Claude Andrews nicht mehr da war. Aber sie fühlte immer wieder die Blicke hinter ihrem Rücken und vermeinte das Tuscheln der Nachbarn und vor allem ihrer Angestellten zu hören, wenn über sie geredet wurde. Sie fühlte sich auch immer beobachtet. Offenbar lag den Nachbarn etwas daran, mitzukriegen, ob sie sich bald einen neuen Mann suchen wollte oder nicht. Doch solange ihr niemand Claudes Leiche vor die Füße legte wollte sie nicht davon abrücken, dass er eben nur untergetaucht war, weil er Probleme mit Schwerverbrechern bekommen hatte.
Dann war da gestern gegen acht Uhr abends dieser Anruf gekommen. Eine Frau, die ein fließendes Britisches Englisch sprach und eine für Männer sicher erotisch klingende Klangfarbe besaß. Die hatte glatt behauptet, ihr verstorbener Mann habe vor zwei Jahren mit einer Simona eine Tochter namens Sandra Adelita gezeugt. Natürlich hatte Alison das als üble Nachrede zurückgewiesen, zumal ihr Mann schon seit zwei Jahren für tot erklärt war. Sie selbst glaubte, er sei wegen Verstrickungen mit dem organisierten Verbrechen in ein Zeugenschutzprogramm genommen worden, weshalb er mit ihr keinen Kontakt aufnehmen dürfe. Offiziell war er für tot erklärt worden, damit sie keine finanzielle Not leiden musste. Und jetzt hatte es diese unbekannte gewagt, so eine Behauptung auszusprechen. Alison argwöhnte eine Falle jener Verbrecher, vor denen Claude sich verstecken musste. Womöglich glaubte die Unbekannte, sie könne und würde ihn kontaktieren und damit sein Versteck verraten. So hatte sie gesagt, dass sie nicht an eine uneheliche Tochter glaube.
"Wäre wohl nicht das erste Mal, dass Ihr Mann andere Gärten umgräbt und bewässert, nicht wahr?" hatte die Fremde, die eine für Männer wohl sehr anziehende Stimme hatte, darauf frecherweise geantwortet. Alison hatte daraufhin mit einem Anruf bei der Polizei und ihrem Anwalt gedroht. Die andere hatte dann erwähnt, dass ihr Scotland Yard in Spanien nichts anhaben könne und sie sich bisher keiner Untat schuldig gemacht habe. Selbst die von Alison unterstellte Erpressung hatte die andere bestritten, weil sie ja bisher keine Drohung ausgesprochen, sondern nur Tatsachen erwähnt habe. Allison hatte sie dann brüsk abgewiesen. Da hatte die Unbekannte doch frech behauptet, dass sie das ganz einfach beweisen könne, indem sie die Verwandtschaft der kleinen Sandra Adelita mit Claude Andrews prüfen lassen könnte. Sie würde sich dann eben mit dessen Schwippschwägerin Martha unterhalten, oder Claudes Neffen Julius kontaktieren. Alison hatte darauf nur gelacht und gesagt, dass sie selbst keinen Kontakt mehr zu ihren Verwandten hätte, seitdem Claude tot sei und sie jetzt die Polizei anrufen würde. Dann hatte die Anruferin doch endlich die Katze aus dem Sack gelassen und damit gedroht, Claude Andrews Seitensprung mit einer in Sevilla stadtbekannten Bordelldirne in allen spanischen und britischen Zeitungen öffentlich zu machen und hatte Einzelheiten über Claude erwähnt, die nur kennen konnte, wer ihn mindestens einmal nackt gesehen hatte und wer ihn dazu gebracht hatte, intime Einzelheiten aus seinem Leben preiszugeben. "Was glauben Sie, woher ich diese pikanten Informationen habe, Gnädigste. Und das tolle ist, er hat damals nicht nur seinen Samen, sondern auch ein paar Haare bei Simona zurückgelassen. Ist also ganz leicht rauszukriegen, wessen Kind die kleine Sandra Adelita ist. An Ihrer Stelle würde ich Ihre Verwandten anrufen und mitteilen, dass sie wohl demnächst was vom ausgezahlten Erbteil zurückzugeben haben. Hasta la proxima, Señora!"
Alison hatte einige Minuten dagesessen und gegrübelt. Dann hatte sie ihre Schwester Monikca Gilmore angerufen, die immer noch Kontakt mit den Angehörigen von Richard Andrews pflegte. Die hatte ihr geraten, diesen Anruf als plumpe Erpressung einer Witwe hinzunehmen, ähnlich wie den Enkeltrick, mit dem junge Leute ältere Leute um Geld betrogen, indem sie sich als angebliche Enkel oder Großneffen ausgaben, von denen die Opfer bis dahin nichts gewusst hatten. Alison konnte das aber nicht so einfach abtun, weil die Anruferin, die ein spanisches Mobiltelefon benutzt hatte, zu genaue Einzelheiten über Claude gekannt hatte. Monica hatte dann erst geschwiegen und dann erwidert, sich mit Martha und/oder Julius in Verbindung zu setzen. Alison sollte auf jeden Fall die Polizei und ihren Anwalt einschalten, damit geklärt wurde, wo die dreiste Erpresserin herkam und ob es schon ähnliche Versuche gegeben habe. Leider hatte sie dann auch den Verdacht angesprochen, dass Aldous Crowne entweder Richards oder Claudes unehelicher Sohn sein könnte. Am Ende war diese Erpressungsnummer auf dessen Mist gewachsen.
Alison hatte ihren Anwalt jedoch nicht mehr am Telefon erreicht. Seine E-Mail-Adresse war auf automatische Nachrichtenentgegennahme geschaltet. Scotland Yard in Person von Detektivoberinspektor Samuel Woodley war jedoch hellhörig geworden, als sie erwähnte, dass die Anruferin eine Simona aus Sevilla erwähnt hatte. Der Beamte hatte Alison geraten, die Erpressung ernstzunehmen und auch ihre Verwandtschaft zu informieren. Möglicherweise sei das der Auftakt zu einer regelrechten Erpressungsserie. Zur Begründung erwähnte er, dass gerade in Sevilla eine offenbar mächtige Organisation bestand, die vor allem mit Prostitution Geschäfte machte und in der Unterwelt gefürchtet war, weil all zu besitzergreifende Konkurrenten oder Gegner sehr drastisch zurückgeschlagen wurden. Alison hatte daraufhin noch mal mit Monica telefoniert. Die hatte ihr dann versprochen, mit Martha zu sprechen, zumal die ja jetzt in den Staaten wohne, wo die Zeitverschiebung einen Anruf noch als zu gebürlicher Uhrzeit erlaubte.
Alison hatte die Nacht unruhig geschlafen. Sich vorzustellen, dass Claude tatsächlich mit einer Bordellhure ein uneheliches Kind gezeugt hatte, ja dass er schon vor der Ehe ein Kind mit einer anderen Frau gezeugt hatte, behagte ihr nicht. So war sie froh gewesen, als endlich wieder die Sonne aufgegangen war.
Jetzt saß sie in ihrem pompösen Wohnzimmer und verfolgte die Morgennachrichten im Fernsehen. Der Afghanistanfeldzug der Alliierten im Anti-Terror-Krieg machte scheinbar weitere Fortschritte. Zwar hatten die westlichen Streitkräfte noch keinen der Drahtzieher der Anschläge vom elften September dingfest machen oder töten können. Aber deren Infrastruktur und Unterstützung sollte wohl geschwunden sein. Sie traute der Sache nicht so recht. Bush und die ihm so bereitwillig beipflichtenden Politiker auch aus ihrer Heimat schienen doch nur darauf gelauert zu haben, die unliebsamen Taliban aus Afghanistan zu vertreiben. Ob ihnen das gelang und ob dadurch wirklich mehr Sicherheit in der Welt einkehrte war zweifelhaft. Außerdem konnte Bush auf diese Weise sicher auch andere unliebsame Machthaber bekriegen, wie den Ayatollah im Iran oder den immer noch fest im Sattel sitzenden Saddam Hussein im Irak. Sie wusste nur, dass längst nicht alles, was in den Nachrichten kam, auch wirklich alles war, was die Machthaber auf der Welt so anstellten. Doch dagegen machen konnte sie nichts.
Sie wollte gerade auf einen anderen Sender umschalten, da läutete es an der Tür. Sie blickte auf die große Wanduhr mit den römischen Ziffern und fragte sich, wer da so früh was von ihr wollte.
Als sie im Flur den kleinen Videoschirm einschaltete, um zu sehen, wer vor dem Tor zum Grundstück stand sah sie nur das seltsam leicht flimmernde Bild des Zugangs. Womöglich hatte mal wieder Benny oder Billy aus der Nachbarschaft einen Klingelstreich gespielt und sich blitzartig aus dem Staub gemacht, bevor die Hausbesitzerin ihn mit dem Videoauge auf die Schliche kommen konnte. Doch in dem Moment, wo sie das dachte klingelte es erneut. Immer noch war niemand vor dem Tor zu sehen. Alison drückte den Rufknopf der Sprechanlage und fragte: "Ja, bitte?"
"Teresa Herrero, Mrs. Andrews, ich soll Ihnen Grüße von meiner Freundin Simona und ihrer kleinen Tochter überbringen." Alison erbleichte. Das war die Stimme der erpresserischen Anruferin von gestern! Doch auf dem Videobildschirm war niemand zu erkennen. Alison zitterte. War dieses Frauenzimmer extra nach London gekommen, um sie leibhaftig zu bedrohen oder gar zu berauben, weil ihr Erpressungsversuch misslungen war? "Ich würde das mit Scotland Yard lassen. Bevor die hier sind sind wir zwei unauffindbar fort von hier, Mrs. Andrews. Also machen Sie besser freiwillig Tor und Tür auf, bevor Ihre Nachbarn von mir erfahren, dass Sie auf Ihre alten Tage noch ein exotisches Callgirl für ganz besondere Spiele einbestellt haben."
"Sie wagen es, mir derartiges unterstellen zu lassen? Ich rufe jetzt die Polizei."
"Ich sagte, das Sie das besser lassen, wenn Sie nicht wollen, dass keiner Sie mehr findet. Aber ich merke, dass Sie weniger Angst vor dem Tod haben als vor übler Nachrede. Dann eben so rum", klang die Stimme aus der Sprechanlage. Das Videobild änderte sich ein wenig. Es flimmerte nicht mehr. Sonst war eben nur die Zufahrt zu erkennen. . Alison wandte sich schnell in Richtung Wohnzimmer, wo sie das Telefon hatte. Sie wollte Scotland Yard anrufen, dass die unbekannte Anruferin gerade irgendwie außerhalb des Erfassungsbereiches der Kamera vor der Tür gestanden hatte oder immer noch stand. Hereinkommen konnte sie nicht. Das Tor war massiv, und auf den Mauern lagen Glassplitter, sowie elektrische Drähte. Sie schaltete mit einem schnellen Griff den Außenschutz an. Damit wurde auch die Tür noch einmal extraverriegelt. alle Fenster waren eh zu.
Sie wollte gerade zum Telefon greifen, als sie Wasser im Badezimmer rauschen hörte. Sie stutzte. Sie hatte kein Wasser aufgedreht. Dann fing auch noch jemand zu singen an, leise und tief, mit einer Stimme, die sehr klare Töne traf. Das konnte nicht sein. Das war unmöglich! Alison nahm das schnurlose Telefon und lief zum großen Badezimmer, in dem nur eine geräumige Badewanne eingebaut war. Alle anderen sanitären Einrichtungen befanden sich in zwei weiteren Badezimmern.
"Alison überlegte, ob sie noch die Pistole nehmen sollte, die ihr Mann beschafft hatte. Doch am Ende konnte ihr die Waffe selbst zum Verhängnis werden, weil sie nicht gelernt hatte, damit umzugehen. So verließ sie sich darauf, die Ursache für das Wasserrauschen und den Gesang ohne Waffengewalt zu klären. Sie wollte jedoch schon die Polizei anrufen. Als sie die erste Taste drückte wurde die Flüssigkristallanzeige komplett leer. Gleichzeitig schwieg auch der noch laufende Fernseher. Nur das Wasser rauschte noch. Alison Andrews stutzte. Wieso war jetzt auf einmal der Strom weg? Ohne Strom konnte sie aber nicht telefonieren, zumindest nicht mit dem Festnetztelefon. Sie lief in den Ankleideraum, wo ihre Handtasche stand. Daraus holte sie ihr Mobiltelefon und versuchte, es zu entsprerren. Doch es reagierte nicht. Dann fiel ihr auf, dass es im Haus ein wenig kälter geworden war. Als sie zum nach Osten weisenden Fenster hinaussah sah sie einen merkwürdigen dunklen Dunst, der die Sonne abschwächte. Ja, das Sonnenlicht wirkte irgendwie dunkelrot. Dann sah sie noch was: An der Fensterscheibe entstanden Eisblumen, rußig schwarze, aber unverkennbare Eisblumen. Das konnte nicht sein, dachte Alison. Erst einmal war es mitten im Sommer. Zum anderen waren die Fenster aus dreifacher Sicherheitsverglasung, Einbruchssicher und Wärmeisolierend. An denen konnten selbst im tiefsten Winter keine Eisblumen entstehen. Die frostigen Blüten breiteten sich jedoch rasant aus und überzogen die Scheibe mit einer Schicht aus dunklem Reif, die zu einer immer dickeren Eisschicht anschwoll. Die Fensterriegel vereisten ebenfalls. Die Raumtemperatur sank spürbar. Alison begann zu zittern, nicht nur vor aufkommender Angst. Sie versuchte noch mal, ihr Mobiltelefon einzuschalten. Doch es muckste sich nicht.
"Alison, das Badewasser ist gleich fertig. Lass das unnütze Telefon liegen und komm zu mir. Hier ist es warm, und ich bin auch schon ganz heiß auf dich."
"Verdammt, das ist Hexenspuk", dachte Alison. Diese Hure war eine echte Hexe, die durch geschlossene Türen dringen und mal eben einen Eiszauber auf das Fenster legen konnte. Sicher hatte sie auch den Strom ausgeschaltet. Doch das würde ihr nicht bekommen.
Alison lief so leise sie konnte in das verwaiste Arbeitszimmer ihres Mannes. Sie zog so leise sie konnte die Schublade am Schreibtisch auf und ertastete den kühlen Griff der Pistole. Sie fingerte daran herum und entsicherte sie. Dann ging sie ganz gemütlich auf das Badezimmer zu. Sie hörte die andere noch singen. Dann riss sie die Tür auf.
Vor der nun halbvollen Badewanne stand eine Frau mit langen, schwarzblauen Haaren und hielt eine Flasche Tropenduft-Badezusatz in der rechten Hand. Die Selbstsicherheit, mit der sie da stand traf Alison nicht so heftig wie der Umstand, dass die unerwünschte Besucherin keinen Fetzen Kleidung trug. Alison stand da, die schussbereite Pistole in ihrer leicht zitternden Hand und sah, wie die Unbekannte im Dunst des heißen Badewassers immer mehr verschwamm. Dann drehte sie sich mit einer sehr geschmeidigen Bewegung herum und bot der Hausbesitzerin ihre Vorderseite zum Anblick.
"Och nöh, mit solchen Dingern hantiert doch keine Lady", schnarrrte die Unbekannte und deutete auf die Pistole. "Dann traf der Blick aus ihren wasserblauen Augen den Alisons. Die beiden Frauen standen sich einige Sekunden gegenüber. Dann fühlte Alison, wie ihr die Kraft aus dem rechten Arm wich. Sie musste die Waffe loslassen. Die Unbekannte sah sie noch eindringlicher an. Wie aus großer Ferne hörte Alison die Aufforderung, sich selbst zu entkleiden, um dann zu ihr, Loli, in die nun weit genug gefüllte Badewanne zu steigen. Alison versuchte noch, gegen diesen Befehl aufzubegehren. "Komm, lass es. Du hast mir schon mal fast gehört. Ich kann und ich will dich wiederhaben."
"Nein, ich will das nicht", bibberte Alison, die auf einmal Bilder im Kopf hatte, wie Claude mit ihr wilde Liebesakte erlebt hatte und dann von einem grellen Licht vertrieben wurde. "Diese Stümper haben dir zwar die Erinnerungen verändert und auch den Teil meiner Kraft aus dir rausgespült. Aber jetzt bin ich da und hole mir, was mir zusteht. Los, Ausziehen! Ich will dich hier und jetzt, und ich schenke dir dafür Stunden der Leidenschaft, die du zuvor noch nie erlebt hast", säuselte die nackte Unbekannte und nahm eine aufreizende Körperhaltung ein. Alison fühlte ein unbegreifliches Verlangen, hier und jetzt mit diesem Wesen körperliche Liebe zu erleben. Doch vorher sollten sie beide baden.. So legte sie schnell und beinahe hektisch alle störende Kleidung ab und ließ sie achtlos auf den Boden gleiten. Das Wasser in der Wanne stand nun wenige Zentimeter von der blauen Markierung, die besagte, dass sie voll genug für zwei Personen ohne überzulaufen war. Die Unbekannte beugte sich in einer Haltung, dass Alison ihre überragende Figur betrachten konnte über die Wanne und kippte den glitzernden Hebel der Mischbatterie in die Schließstellung. Der von Dunst umflossene Wasserstrahl versiegte. Nur ein paar Tropfen plätscherten noch nach. Dann wurde es still. Alison fühlte, dass sie nun in die Wanne steigen wollte. Die andere hockte sich neben die Wanne. Ihre milchkaffeefarbene Haut war makellos. Alison fühlte eine gewisse Scham, weil sie im Vergleich zu ihrer unbekannten Besucherin nicht so anziehend aussah mit ihrem Wohlstandsspeck, den auch regelmäßige Yogastunden und Wassererobic nicht ganz vertrieben hatten. Und dass sie keine zwanzig mehr war konnte man ihrer Haut auch ansehen, trotz der kostspieligen Kosmetik, die sie verwendete. Dennoch wollte die andere sie haben, mit ihr Leidenschaft erleben. Dafür musste sie zumindest sauber genug sein. So kletterte sie in die Badewanne, deren Grund fünfzig Zentimeter unterhalb des Badezimmerbodens lag. Das heiße Wasser umspielte ihre Füße, ihre Beine und dann ihren Unterkörper. Behutsam ließ sie sich nieder und lehnte sich an die mit einem breiten Gummikissen gepolsterte Rückwand, bereit für das, was die andere vorhatte.
Martha Merryweathers räumliches Abbild schwebte vor ihrem Sohn. Dass Mutter und Sohn über mehrere tausend Kilometer voneinander getrennt waren fiel nicht auf.
"Ich habe gerade von deiner Tante Monica eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter gefunden, dass jemand versucht, Tante Alison zu erpressen, Onkel Claude hätte vor seinem Tod eine uneheliche Tochter gezeugt. Ich bin gerade erst mit Lucky von einer Reise zu Glorias amerikanischen Verwandten zurückgekehrt und wollte eigentlich jetzt ins Bett. Aber der Anruf ist zu wichtig, um den bis zu unserem morgen zu vertagen, Julius. Ich fürchte nämlich, jemand bestimmtes will ihr oder dir oder mir an den Kragen." sprudelte es aus Martha Merryweathers Mund. Ihre Stimme kam jedoch aus dem Armband an Julius' rechtem Handgelenk. Dann erzählte sie mehr. Julius hörte so ruhig zu wie er konnte. Dann sagte er: "Informiere Mr. Abrahams und auch Mr. Diggory von der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe! Bitte versuche auch, Almadora zu erreichen. Die hat den Draht zu Maria Valdez! Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, dass dieses Flittchen jetzt wieder an Tante Alison ran will, wo dieser Riesenkäfer aufgetaucht ist."
"Denke ich auch. Ich vermute stark, dass sie versucht, dich oder Maria Valdez zu Tante Alison hinzulocken, wo sie dann selbst auftauchen will."
"Ja, und ohne Genehmigungen von den zwei Ministerien darf ich selbst offiziell nicht mal eben von hier dahin. Montpelier steht total unter Druck, weil Lesfeux ihm unterstellt, das mit Euphrosyne durchgewunken zu haben, weil er von den Veelas bestochen wurde, und Louvois ihm sogar noch unterstellt, er würde seinen Verwandten Aufträge oder Ämter zuschustern, weil er mit denen irgendwelche heimlichen Geschäfte laufen hat. Ornelle würde mich sofort hinlassen. Aber hierfür bräuchte ich Vendredis Unterschrift, und der Typ hat mich auf dem Kieker und würde mich deshalb nicht aus dem Innendienst freistellen."
"Dann musst du heimlich rüber, Julius. Du bist einer der wenigen, die sich erfolgreich gegen diese Monsterfrauen wehren können, auch ohne Heilsstern. Ich versuche derweil, Almadora zu erreichen, dass sie Maria zu dir hinbringt."
"Ich kann Camille fragen, ob sie mir ihren Stern ausborgt. Der funktioniert auch bei mir", sagte Julius, der schon vergessen hatte, dass er eigentlich nicht nach England reisen durfte, solange keine vier Unterschriften auf einer schriftlichen Erlaubnis standen.
"Wie schnell ginge das?" fragte Martha Merryweather."
"Camille kann ich über das Armband rufen wie dich", sagte Julius. "Dann tu das bitte!" forderte seine Mutter ihn auf. "Und gib mir bescheid, wie schnell du aufbrechen kannst!"
Um in Ruhe mit Camille zu reden reiste Julius erst einmal ins Apfelhaus zurück, was nicht so einfach war, weil seine Schwiegergroßmutter natürlich wissen wollte, warum er jetzt so aufgeregt war. Doch er hatte es mit ministeriell wichtigem Zeug, das er noch genauer einordnen müsse, begründet. So konnte er zehn Minuten nach dem Anruf seiner Mutter in das Apfelhaus zurückkehren.
Camille Dusoleil wollte natürlich wissen, was genau passiert war. Julius erwähnte den Riesenkäfer und dass jetzt wohl die Tochter des dunklen Wassers versuchte, seine Tante Alison gegen ihn einzusetzen.
"In einer Minute bei mir, Julius. Keine Fragen, keine unnötigen Verzögerungen. Ich gebe dir den Stern mit und noch was, was dir helfen wird, gegen dieses Eisungeheuer zu bestehen, von dem Maria Valdez erzählt hat. Wie erwähnt, in einer Minute. Nicht vorher."
"Gut, bin gleich da. Vielleicht geht ja noch was im Eilverfahren mit den beiden Ministerien."
"Vertrau da nicht drauf, Julius. Wenn es schnell gehen soll wollen die erst eine halbstündige Erläuterung, warum es so eilig ist", erwiderte Camille. Dann verschwand ihr räumliches Abbild. Das war deutlich.
"Julius, wenn du dahin gehst trinke besser noch einen Schluck Glück", hörte er Millies Stimme im Kopf. Julius verstand. Er ging ins Badezimmer und holte die Flasche mit dem Felix Felicis heraus. Er entkorkte sie, setzte sie an und trank eine Dosis für einen halben Tag. der goldene, prickelnde Trank kitzelte seine Eingeweide. Doch dann erfüllte ihn ein Wärmeschauer. Danach meinte er, alle Sinne seien erheblich erweitert, seine Beweglichkeit mindestens doppelt so gut und seine Konzentration am Anschlag. Mit dieser Vorbereitung im Bauch apparierte er aus dem Apfelhaus heraus auf dem Grundstück der Familie von Camille Dusoleil. Als er die Türglocke läutete, stürmte ihm Camille schon entgegen. Ihre Wangen quollen links und rechts über, als habe sie gerade einen riesigen Schluck von irgendwas in den Mund genommen. deinen Mund auf meinen und runtergeschluckt, was ich dir einflöße", hörte er Camilles Gedankenstimme. Gleichzeitig fühlte er, dass er dadurch eine erhebliche Verstärkung bekommen würde, wenn er das tat. Doch er dachte noch: "Ich habe Den Felix-Trank im Körper. Doch da fiel ihm auch ein, dass dieser nicht mit dem durcheinandergeraten würde, was Camille für ihn bereithielt. So warf er sich ihr in die Arme, umklammerte sie wie ein stürmischer Liebhaber, der seine Angebetete endlich vor sich hatte. Dann drückte er seine Lippen auf ihre, wie zu einem innigen, langen Kuss. Dabei spritzte ihm körperwarm aber geschmacksneutral etwas aus ihrem Mund in seinen. Er schluckte erst, als er fast nichts mehr aufnehmen konnte, ohne es an den Seiten herausrinnen zu lassen. Zwei große Schlucke nahm er zu sich. Sofort fühlte er eine wohlige Wärme in sich und meinte, er würde schweben. Dann verging das Gefühl des freien Schwebens. Doch die wohlige Wärme blieb. Er meinte aber, dass neben seinem natürlichen Herz und dem rubinroten Herzanhänger noch eine dritte pulsierende Kraftquelle war, eine, die in seinem Bauch pulsierte und jene wohlige Wärme in seine Arme, Beine und den Kopf pumpte.
"So, hier noch den Stern umhängen. Dann kann dir dieses Eisbiest für einen Tag nichts anhaben und du auch nicht in gewöhnlichem Wasser ertrinken oder zerkocht werden", mentiloquierte Camille, bevor sie ihm ihren Silberstern an der Kette umhängte. "Ich bleibe in Bereitschaft, falls du weitere Unterstützung brauchst, mein Junge." Julius bedankte sich. Dann dachte er an Worte, die er vorher nicht gekannt hatte. Er hatte den Drang, sie zu flüstern. Als er das tat glühte der Heilsstern silbern auf und umhüllte ihn mit silbernem, sich spiralartig drehendem Licht. Jetzt dachte er daran, dass er unaufhaltsam durch alle magischen Barrieren, auch die Sardonias, hindurchapparieren konnte, solange dieses Licht ihn umhüllte. Er erinnerte sich daran, dass Adrian Moonriver im Schutze dieses Lichtes selbst in gegen das Apparieren gesperrten Gebäuden herumappariert war. So warf er sich in eine Disapparition, wobei er sich unvermittelt den Eingang zu Alison Andrews Haus vorstellte.
Als er vor dem Haus ankam glühte der Heilsstern unvermittelt golden auf. Vor sich sah er die Wand des Hauses. Doch sie wirkte dunkler als früher. Das mochte am Londoner Abgasdunst liegen. Aber als der Heilsstern noch heller strahlte verfärbte sich die Wand und begann, in einem dunklen Violettton zu schimmern. Dann knirschte und prasselte es, und weißer Nebel wehte ihm entgegen, umstrich ihn und löste sich schlagartig auf. Das Glühen des Heilssterns erlosch. Julius konzentrierte sich. Der Nebel war magisch gewesen. Die Wand sah jetzt wieder hell und frisch aus. Also hatte etwas dunkles sie überzogen, das jetzt weg war: Schwarzes Eis? Er horchte in sich hinein. Ja, er fühlte sie förmlich vor sich, die Gegnerin. Der Heilsstern und die Essenz Ashtarias verrieten ihm, dass sie schon da war und gerade wohl dabei war, sich zu stärken.
Julius tippte das Türschloss mit dem Zauberstab an. Klickend sprang die massive Haustür auf und flog förmlich gegen den bombenfesten Türstopper, um nicht mit der Klinke an die Wand zu stoßen. Julius lief ins Haus, ohne zu rufen. Er fühlte, wo die andere war. Er würde ihr den Appetit verderben.
Itoluhila genoss das sie und Alison umspielende Wasser. Mit einem innigen Kuss hatte sie Alison gegen das Ertrinken gefeit. So konnte sie sie genüsslich unter wasser liebkosen, wobei sie sogar einige Funken ihrer Lebensessenz in sie überspringen ließ. Ja, Alison Andrews war ausgehungert. Sie genoss es fast auch, ohne unter Itoluhilas Bann zu stehen. Itoluhila wusste, wie sie die für sie nahrhafte Lebensessenz aus dem Körper einer Frau heraussaugen konnte. Aber das war nicht allein ihr Ziel. Der unmittelbare Gedanke war, Alison zu ihrer magielosen Abhängigen zu machen, sie mit genug von sich anzureichern, dass sie gegen körperliche Gewalt geschützt war. Das sie umhüllende Wasser mit seiner reinen belebenden Natur tat das übrige, um die beiden unterschiedlichen weiblichen Wesen regelrecht auf geistig-magischer Ebene miteinander verschmelzen zu lassen. Noch einige Minuten, und Alison würde mit einem Teil ihrer Seele in Itoluhilas Körper wohnen, und ein Teil von Itoluhilas Kraft würde in Alison pulsieren. Die Tochter des schwarzen Wassers hatte nicht gedachtt, dass sie das derartig genießen würde, mal wieder mit einer Frau, noch dazu mit einer reiferen Dame, eine so intime Begegnung zu erleben. Doch dann fühlte sie einen Stoß durch ihren Körper gehen. Sie meinte, etwas habe versucht, sie anzuspringen. Doch das Gefühl verflog wieder.
"Nimm mich richtig, Loli. Ich will dein sein", hörte sie Alisons Gedanken. Der Anngriff oder was es war war nicht mehr wichtig.
Als Alison die höchste Wonne fühlte merkte Itoluhila, dass die ältere Dame regelrecht explodierte. die ihr zugeführte Essenz wirkte so heftig, dass Itoluhila dabei selbst in die wohlige Wallung geriet. Unbeeindruckt vom sie umhüllenden Wasser schrien sie ihre Lust hinein in die Badewanne. Um sie herum bildete sich eine kompakte Wasserkugel und hielt sie beide in der Schwebe. "Du bist jetzt ein Teil von mir, und ein Teil von dir ist jetzt in mir. Du bist meine kleine Schwester", dachte Itoluhila Alison zu. Da fühlte sie wieder jenen ansturm, als wolle jemand sie anspringen. Tatsächlich hörte sie sogar einen kurzen Wutschnauber: "Verflucht, ich pralle ..." Itoluhila erschrak heftig. Sie hatte die Stimme erkannt. Das war Errithalaias Stimme. Dann wurde sie von diesem Biest angegriffen? Dann war da noch was, eine ihr nur all zu vertraute Ausstrahlung. Diese kam vom Hauseingang her. Sie fühlte, wie das von ihr an der Außen und den Innenwänden aufgebrachte schwarze Eis schlagartig wegschmolz. Das tat ihr in den Eingeweiden und dem Kopf weh. Doch irgendwie beruhigte es sie mehr als es sie ärgerte oder gar verängstigte. Sie hatte erreicht was sie wollte.
Itoluhila stieg aus der Wanne. Alison lag noch mit seligem Gesicht unter Wasser. Die Tochter des schwarzen Wassers fühlte die eigentlich feindliche Ausstrahlung schnell näherkommen. "Alison ist jetzt mein", knurrte sie in Gedanken. Sie blickte in die Wanne. Der schlanke, gerade erst aufgeblüht erscheinende Mädchenkörper sah nicht mehr so aus wie der einer Frau in mittleren Jahren. Nur das Gesicht erinnerte noch an Alison Andrews. Unvermittelt gefor das sie umschließende Wasser zu einem dunklen Eisblock. "Die gehört mir und bleibt mein", dachte Itoluhila, bevor sie mit einem raschen Wink ihrer Hand den Eisblock so wie er war in Nichts auflöste. Dabei verschwannd auch Alisons magisch wiederverjüngter Körper. Als das passierte strömten Itoluhila alle Erinnerungen der Gebannten inns Bewusstsein ein, die diese seit ihrem ersten wach erlebten Liebesakt angesammelt hatte. Sie hörte die Geistesstimme der Gebannten: "Loli, sind wir jetzt eins?"
"Im Moment ja. Und da wo du bist bist du gut aufgehoben, meine kleine", schickte sie zurück. Sie wusste, dass sie Alisons Seele beinahe im ganzen in sich herübergesogen hatte. Ihr fehlten nur die Kindheit und Jugenderinnerungen der Unterworfenen. So eine Auswirkung ihrer Magie hatte sie bisher nur einmal erlebt, vor fünfhundert Jahren, als sie die alte Herzogin Doña Alba Carmen María de Campestrano y Burgos zu ihrer ersten weiblichen Unterworfenen ohne Magie gemacht hatte. Dann fühlte sie die sie zu verdrängen trachtende Aura, die Aura eines Sternträgers, eines Sohnes der Ashtaria, ihrer verhassten Tante.
"Du kannst reinkommen. Wir sind gerade mit dem Baden fertig geworden!" rief sie auf Englisch, weil sie dachte, dass der Eindringling diese Sprache konnte. Da ging auch schon die Tür auf, und ein hochgewachsener, noch junger Mann im lindgrünen Umhang stürmte herein. Sein hellblondes Haar war leicht zerzaust. Auf seiner Brust leuchtete golden ein fünfzackiger Stern. Das Licht umspielte ihn wie hauchzarter goldener Dunst. Doch in diesem Dunst sah Itoluhila noch was, smaragdgrüne Schlieren, die sich von unten nach oben um ihn herumschlängelten. Sie fühlte, dass diese Aura nicht allein von diesem Stern her kam. Sie erkannte den blonden Mann mit den hellblauen Augen. Die Augen ähnelten denen ihres einstigen Abhängigen Claude Andrews. Beide sahen sich an, jeweils wissend, wer der oder die andere war.
"Wenn du deine Tante suchst, ihr Körper schläft in meinem Versteck. Sie wollte eine Verjüngungsmassage von mir, und die hat sie bekommen. Dafür wohnt etwas von ihrer Seele jetzt in meinem Geist. Wenn ich beides wieder zusammenführen soll denk bitte nicht daran, die alte Anrufung zu rufen, Julius Latierre. Denn wenn du mich damit auch zurückschlagen kannst wird deine Tante trotzdem ein Teil von mir bleiben."
"Hast dir aber Zeit gelassen, dir nach meinem Onkel noch meine Tante einzuverleiben, wie, Eisprinzessin", erwiderte Julius Latierre, der im Schutz des Sterns dastand. Seine Gedanken waren für sie gerade nicht zu erfassen, ihr magischer Blick prallte an der schwach schimmernden Aura ab wie ein Stein von einer Granitwand. Seine körperliche Ausstrahlung wurde durch die Kraft des Sternes noch vervielfacht.
Julius Latierre indes erkannte die Feindin, oder war es eher eine lästige Verwandte. Er fühlte irgendwie, dass sie die Wahrheit sprach. Wenn er die Formel rief konnte sie noch rechtzeitig verschwinden, bevor er sie vollendet hatte. Außerdem war da was, das ihn abhielt, auch nur das erste Wort der Formel zu denken. Es war aber nicht die Kraft der Abgrundstochter, die da ganz unbefangen unbekleidet vor ihm stand und es förmlich darauf anlegte, dass er sie vom Scheitel ihrer schwarzblauen Haare bis zur letzten milchkaffeebraunen Hautpartie an ihren Zehen ansehen konnte. Doch er schaffte es, sie nicht mit männlicher Begierde anzuglotzen. Für ihn war sie gerade eine mögliche Gegnerin, die er bloß nicht unterschätzen durfte. So sagte er ruhig:
"Du wolltest, dass ich herkomme, Itoluhila. Es geht um diesen Mistkäfer, der da vor kurzem aus seinem langen Schlaf aufgewacht ist, richtig?"
"Auf den Punkt und ohne unnötige Zeitvergeudung, Julius Latierre. Ja, ich wollte dich hier haben, weil ich dir direkt ins Gesicht sagen will, dass deine Flucht vor meiner Schwester Ilithula und der Massentod dieser vielen Dementoren eine sehr viel gefährlichere Gegnerin geweckt haben, als ich oder meine anderen wachen und schlafenden Schwestern es je sein können. Ich spüre, du wurdest von Ashtaria selbst neugeboren, bist also ein weiterer Sohn von ihr. Der Stern da auf deiner Brust gehört eigentlich einer Tochter Ashtarias, kann dir aber offenbar dienen. Was haben Ashtaria und ihre fleischlichen Nachfahren dir über uns berichtet, seitdem du meiner Schwester Halliti in ihrer körperlichen Form begegnet bist?" Julius erwiderte darauf, was er von den anderen wusste. Was sollte es? Die sollten ruhig wissen, dass er über sie informiert worden war.
"Wie dumm war es von Ilithula, dich für sich haben zu wollen, dich gar als ihren Sohn wiedergebären zu wollen, nur um Halliti einen neuen Körper zu geben. Dadurch habt ihr drei es fertiggebracht, dass Errithalaia, meine jüngste Schwester, überhaupt wiedererwachen konnte. Ich kann es dir nicht verübeln, dass du nicht im Bauch Ilithulas herumliegen wolltest, biss sie dich als einen kleinen, hilflosen Balg wieder an die Luft gedrückt hätte. Ja, du hörst richtig. An und für sich wollte ich nicht, dass du ihr Kind wirst. Denn dann hätte sie fast so viel Kraft bekommen wie Errithalaia. Aber dadurch, dass du und zwei andere Kinder aus Ashtarias verweichlichtem Leib gequollene sie unbedingt in den tiefsten Schlaf stürzen musstet habt ihr den von ihr und uns anderen errichteten Bann über Errithalaia geschwächt. Du bist also, auch wenn dir das das Herz zerreißen mag, Mitschuld an ihrem Erwachen. Du hast nur eine Möglichkeit, das wieder gut zu machen: Lass ab davon, mich und die anderen zu bannen, uns in den tiefen Schlaf zu zwingen! Es würde dir nicht helfen, sie loszuwerden. Im Gegenteil. Wenn sie nicht mehr an uns herankommt würde sie alle die vertilgen, die uns ihr entzogen haben, alle die, die nicht durch so einen glühenden Stern da vor ihrem Zugriff geschützt sind. Sie würde so wie ich Mittel und Wege finden, euch geliebte Menschen abspenstig zu machen, sie in sich einverleiben und euch dann noch verhöhnen, indem sie in deren Körperform herumläuft, bis ein Mondwechsel verstrichen ist, um sie dann endgültig in ihren Lebenskrug zu ergießen. Also solltest du uns nicht weiter jagen. Im Gegenzug können wir dich und die deinen und alle, die uns helfen wollen, Errithalaia wieder in den tiefen Schlaf zu versenken mit unseren Kräften und unserem Wissen schützen. Ja, ich würde meine körperliche Daseinsform einsetzen, um dich und alle, die du liebst zu beschützen. Außerdem besteht eine Möglichkeit, Erritahlaia einen ebenbürtigen Gegner zu bieten. Oder warum glaubst du, dass ich ausgerechnet die Frau zu meiner Schutzbefohlenen und Helferin gemacht habe, deren Ehemann mein eigener Abhängiger war?"
"Du hast ihn dir genommen und vertilgt wie ein Stück Schokolade", knurrte Julius.
"Ich hätte ihn sehr gerne noch ein wenig behalten. Aber ich wollte dafür nicht Hallittis neue Mutter werden. Das hätte mich an meinen wichtigen Aufgaben gehindert. Dir ist klar, welche Aufgaben das sind?"
"Ein paar Prostituierte in Spanien zu beschützen, damit die nicht von irgendwelchen Gangstern ausgebeutet oder umgebracht werden und bei der Gelegenheit gleich noch deine Lieblingsnahrung zu dir zu nehmen."
"Die, die ich töten musste, waren immer solche, die selbst nur dunkle Taten im Sinn hatten, Julius. Und jeder, der mit mir im Bett war hat das genossen und ist nicht von mir leergesaugt worden wie eine Auster, sondern darf heute noch leben und sich freuen, eine so kundige Liebesdienerin zu kennen. Deine Beschaffenheit hindert uns daran, dass ich dir zeige, wie bereichernd es für Körper und Seele ist, meine Kunst und meine Kraft zu kosten. Nur so viel: Ich habe ein Recht zu leben, wie jedes lebende Wesen, von der Schmeißfliege bis zum heiligsten Menschen, der dir in den Sinn kommt. Wir leben alle vom Tod anderer Lebewesen, ob Tiere oder Pflanzen. Selbst diese weltverbesserungssüchtigen Veganer müssen Pflanzen töten, um zu überleben. Aber das wollen sie nicht wahrhaben, weil Pflanzen keine für ihre beschränkten Sinne wahrnehmbaren Schmerzensregungen und Todesschreie ausstoßen. Ich habe Jahrtausende überlebt, weil ich gelernt habe, mich in Maßen zu ernähren und die, die mit mir zusammenlagen zu führen und mir von ihnen helfen zu lassen, wenn mal wieder wer meinte, die bitterböse, sündhaftschöne Dämonin aus der Welt schaffen zu müssen. Jetzt habt ihr eine wirklich mächtige Dämonin in die Welt zurückgerufen, durch die Tötung der Dementoren, durch den Tod eines von Ashtarias Kindern und durch deine Flucht vor Ilithulas Mutterliebe. Macht bitte nicht noch mehr Fehler, weil ihr etwas gut meint! Außerdem ist da noch wer, der sich köstlich amüsieren würde, wenn ihr mich und meine Schwestern aus der Welt schaffen würdet: Vielleicht haben dir die achso gutmenschlichen Abkömmlinge Ashtarias, deine Geschwister, davon erzählt."
"Ja, ich weiß, Iaxathan, der dunkle Kaiser aus dem alten Reich", erwiderte Julius betrübt. Denn er konnte es nicht abstreiten, dass dieses milchkaffeefarbene Frauenzimmer mit den wasserblauen Augen mit allem recht hatte, was es gerade gesagt hatte. Itoluhila nickte heftig.
"Du magst meine Mutter und uns für menschenverachtende geschöpfe halten. Doch was sie tat war auch eine Abwehr gegen die Knechte dieses dunklen Magiers. Sie waren sich in einigen Dingen gleich: Was die Verachtung des jeweils anderen Geschlechts anging, was die Hemmungslosigkeit anging, Macht zu erwerben und zu nutzen und was die Suche nach der Unsterblichkeit anging. Doch anders als Iaxathan, der darauf ausgeht, die ganze Welt auszulöschen und in tiefste Dunkelheit zu stürzen, weil er meint, dass sie dort nie hätte herausgelöst werden dürfen, wollte meine Mutter Lahilliota mit uns zusammen die Menschheit und vor allem die Natur bewahren. Ja, ich höre es schon, dass sie dafür aber eindeutig den falschen Weg genommen hat. Aber ihr Kurzlebigen wart immer schon aus Angst vor dem Tod und aus Gier nach Ruhm und Überlegenheit euren Mitgeschöpfen gegenüber darauf aus, euch und eure Umwelt auszurotten. Heute seid ihr diesem Ziel so nahe, dass der nächste Tag das Ende bringen kann. Meine Mutter und wir wollten euch davon abhalten, die ganze Welt zu töten. Dass wir dazu eure Triebe und Begierden als Nahrungsquelle nutzen war wohl eine Bestrafung jener, die meinten, die Frau als Quelle neuen Lebens zu versklaven. Nur mit Errithalaia hat meine Mutter sich leider übernommen, eine Tochter, die die Zeit von lebenden Wesen verrinnen oder im schnellen Lauf zurücklaufen lassen kann konnte leider nur derselben Versuchung erliegen, die jeden Menschen befällt, der meint, weil er stärker, klüger, reicher oder adeliger als seine Mitmenschen ist zum Herrscher aller anderen zu werden, erst scheinbar nur in der Gemeinschaft, dann aber mehr und mehr für sich allein. Wenn Erritahlaia jetzt darauf ausgeht, mich und die drei anderen, die ich habe aufwecken lassen, dank eurer so überragenden magielosen Technologie, zu verzehren und wirklich alle unsre Seelen in sich einzuschließen oder aufgehen zu lassen, wird Iaxathan, der sich selbst in einen alten dunklen Kugelspiegel eingeschlossen hat, das kleinste Übel sein, was aus der magischen Welt droht. So viel dazu. Kommen wir dazu, wie wir unsere Kräfte vereinen und Errithalaia einen mächtigen Gegner entgegensenden können, der sie in den tiefen Schlaf zurücktreibt." Sie deutete auf die leere Badewanne. Dann sagte sie:
"Da du nicht vom Blute Ashtarias, aber von ihrer Kraft erfüllt bist und Alison nicht vom Blute Lahilliotas aber durch mich von ihrer Kraft erfüllt ist, könnt ihr zwei in einem gemeinsamen Kind beide überstofflichen Essenzen zu einer vereinten Kraft zusammenbringen. Da sie nicht die Schwester deiner Mutter oder deines Vaters ist wäre es auch keine Blutschande, wie sie in der von diesen Eingottanbetern erfundenen Moral erwähnt wird."
"Hallo, geht's noch?!" war das erste, was Julius dazu entgegnete. Itoluhila grinste. Hatte sie ihn veralbert? Doch dann nickte sie heftig und sagte: "Was meinst du, warum ich mir deine Tante ausgesucht habe? Ja, sie hat sich unfruchtbar machen lassen, nachdem sie gemerkt hat, dass sie von deinem Onkel kein Kind haben wollte. Aber jetzt ist sie wieder jung und fruchtbar." Itoluhila deutete auf die Wanne. Mit einem lauten Plopp verstofflichte sich ein dunkler Eisblock darin, in dem Julius den Körper eines jungen Mädchens sehen konnte. Erst dachte er, Itoluhila wolle ihm ein Trugbild vorgaukeln. Doch dann sah er das Gesicht der jungen Frau und erkannte es von dem Abschlussjahrgangsfoto, dass irgendwo in diesem Haus sicher noch stand, und auf dem die damals gerade siebzehnjährige Alison zwischen zwanzig anderen sogenannten höheren Töchtern posierte. Er dachte einen Moment daran, den Stern zu nehmen und voll auf das dunkle Eis zu drücken. Doch dann empfand er es so, dass er damit Alison Andrews Körper zerstören konnte und Itoluhila damit einen unbeabsichtigten Sieg schenken würde. So ließ er den Stern wo er war.
"Die sie verbitternden Erinnerungen habe ich mit einem Teil ihrer inneren Daseinsform in mich aufgenommen und kann ihn sicher verschließen. Sie würde eine junge, geschlechtlich schon einmal erfahrene, aber weiterhin lebensbejahende Frau ohne das später angelernte Gebaren sein. Ich würde euch beide an einem sicheren Ort verbergen, sofern du dich traust, den Heilsstern, der wohl nicht für dich gemacht wurde, abzulegen und uns zu begleiten. Ich würde euch beschützen, dass ihr in Frieden und Sicherheit jedes gemeinsame Kind großziehen könnt, dass ... Verflucht, sie hat mich gefunden." Den letzten Satz stieß sie mit unverstellter Angst und Verärgerung aus. "Gut, dann bleibt mir nur, sie sicherzustellen, bis du es dir überlegt hast", knurrte sie und winkte dem Eisblock. Alisons eingefrorener Körper verschwand wieder. Dann fühlte Julius etwas von außen heranrasen. Der Heilsstern pulsierte unvermittelt stärker als bisher in der Nähe Itoluhilas.
"Ich hätte wissen müssen, dass dieser Hauch von ihr, den ich mir einverleiben konnte von ihr wahrgenommen wird", schnarrte Itoluhila. Julius griff nach dem Heilsstern: "Bring meine Tante zurück und gib sie frei mit Leib und Seele!" befahl er. Doch Itoluhila lachte nur.
"Du hast nur drei Möglichkeiten, Julius Latierre: lege den Stern da weg und begleite mich ganz freiwillig zu einem Ort, wo du mit Alison zusammenleben kannst, ohne von deinen achso gutmeinenden Zeitgenossen oder meiner jüngsten Schwester behelligt zu werden. Oder schaffe es, Errithalaias Angriff hier und jetzt zu überleben, indem du vor ihr fliehst. oder ziehe dir ihre generationen andauernde Feindschaft zu, indem du meinst, dich ihr mit deinem geborrgten Schmuckstück entgegenzuwerfen. Ich würde mich aber schnell entscheiden. denn sie ist gleich hier."
"Wenn ich jetzt flüchte hat sie dich am Kanthaken, Itoluhila, auch wenn du vor ihr flüchtest. Sie würde dich sofort wiederfinden, wenn du aus deinem Versteck kommst, richtig?"
"Ganz richtig. Aber damit muss ich dann wohl leben. Weil direkt anspringen kann sie mich nicht. Ich kann ihr immer wieder entwischen, weil ich sie spüren kann, nicht wahr, Schwesterchen?" Die Frage galt wohl der noch außer Hörweite befindlichen Gegnerin. Julius hörte jedoch eine Antwort in seinem Geiste, obwohl der Stern ihn doch so sicher abschirmte:
"Ich kriege dich doch. Irgendwann bin ich stark genug, meine eigene Barriere zu durchbrechen, und dann verschlinge ich dich und die Sele dieser Frau, die du als Waffe gegen mich einsetzen willst, Schwester. Also ergib dich besser freiwillig. Und dieser ungereifte Abkömmling der verhassten Weltverbesserin da sollte froh sein, wenn ich ihn nur in den wimmernden Säugling zurückverwandele, der er nach seiner Geburt aus Ashtarias verweichlichtem Leib zu sein hat. Seine Seele kann ich mir leider nicht nehmen, weil er den Stern trägt. Aber seinen Körper kriege ich, sobald ich dich habe."
"Das wollen wir sehen", hörte er Itoluhilas Gedankenstimme. Wieso bekam er das mit? Der Stern glühte stark auf. Itoluhila flimmerte, wurde Durchsichtig und nahm dann mit einem lauten Aufschrei wieder feste Form an. Ein von draußen hereindringendes, zischelndes Lachen klang auf. Dann hörten Itoluhila und Julius die Stimme der nun gemeinsamen Feindin in ihren Gedanken:
"Das ist bessr, als ich dachte. Der Stern schwächt dich, und der Teil meiner eigenen Kraft, die du in dich eingesaugt hast hilft mir, dich zu mir hinzuzihen. Das ist wirklich besser, als ich es in meinen kühnsten Träumen ersinnen konnte."
"Nein, das ist nicht wahr", schrie Itoluhila. Da hörten sie das tiefe, schwirrende Gebrumm, als würde draußen eine zweimotorige Propellermaschine im Stil eines japanischen Kamikazefliegers auf das Haus niederstürzen.
"Nicht die Formel rufen!" schoss es Julius durch den Kopf, der Camilles Heilsstern ergriffen hatte. Schon der Gedanke an die ersten Worte der Formel ließen ihn an ein goldenes Licht denken, das ihn umschloss. Aber genau das, so fühlte er, durfte er nicht beschwören, wenn er weiterleben wollte. Doch wie konnte er sich gegen das Monster wehren?
Krrrrawummmm! Mit einem die Trommelfelle bis zum Zerreißen belastenden Krach durchbrach etwas großes, schweres, schnelles das Dach. Itoluhila fuchtelte mit ihren Armen fast hilflos herum, versuchte wohl wieder, sich auf dem kurzen Weg davonzumachen. Doch wieder war es nur ein kurzes Flimmern. Julius hatte die unmittelbare Eingebung, selbst zu disapparieren. Er wollte nicht fliehen. er wollte gerade nur weit genug von Itoluhila weg, um sie entkommen zu lassen. Denn er dachte, dass das nötig war, um überhaupt noch eine Chance gegen die als Monsterkäfer anfliegende Gegnerin zu haben. So drehte er sich schnell um die eigene Achse und landete punktgenau hundert Meter entfernt.
Jetzt konnte er das geflügelte Ungetüm wie einen kleinen, harmlosen Käfer sehen, der sich durch das eingedrückte Dach eines Winzhauses grub. Julius hielt den Heilsstern vor sich. Der Stern hüllte ihn unvermittelt in gold-blaues Licht ein. Doch in dieser gleißenden Aura erkannte er auch grüne Schlieren, die sich wie aus dem Boden wachsende Pflanzen um ihn herum rankten und auf Höhe seines Kopfes zusammenflossen, um keine Sekunde später wieder im hellen Schein des mächtigen Schutzzaubers zu vergehen. Er erkannte diese grünen Leuchterscheinungen. Das waren Elemente von Madrashmirondas Aura. Diese war ihm offenbar aufgeprägt worden.
"Nicht eingreifen, abwarten", dachte Julius, während der vor seiner Brust hängende Heilsstern wohlig warm pulsierte. Im Abwarten lag jetzt die einzige Chance, diesen Angriff abzuwehren, ohne unschuldige Menschen zu gefährden.
Der Riesenkäfer brach offenbar durch die Wände oder Türen im Haus. Das konnte Julius an aufwallenden Staubwolken sehen. Er fürchtete nur, dass das Haus gleich brennen mochte, wenn Stromleitungen durchtrennt wurden. Doch das passierte nicht. Ihm fiel ein, dass die beiden sich im Haus befindenden Abgrundstöchter technische Elektrizität blockieren mochten. Er ärgerte sich darüber, sein Omniglas nicht mitgenommen zu haben, um in das Haus hineinzusehen. Doch da kam ihm die Idee, den Falcoculus-Zauber zu benutzen, der die Sehschärfe seiner Augen für eine gewisse Zeit vervielfachte. So schnell und fehlerfrei, wie nur die Wirkung des Felix Felicis es möglich machte, bezauberte er seine Augen und meinte dadurch im nächsten Moment, auf das Haus seiner verwitweten Tante zuzuspringen. Wenn er sich jetzt noch das Gehör mit dem Lupaures-Zauber ... Krach!! Eine sprengstoffartige Explosion blies die rechte Seitenwand in hunderte von Trümmern. Das sowieso schon eingedrückte Dach stürzte nun komplett in sich zusammen. Julius fühlte ein Beben im Boden. Das Haus wurde wohl gerade zur Ruine umgebaut. Wegen des lauten Knalls ließ er das mit dem Lupaures-Zauber bleiben.
Violettes Licht drang durch die aufgesprengte Wand. Er sah von seiner Warte, wie zwei menschlich gestaltete Wesen miteinander rangen und dabei jenes violette Licht ausstrahlten. Das eine war die nackte Itoluhila, die mit vor Wut und Furcht verzerrtem Gesicht Abwehrschläge gegen die andere ausführte. Die Andere, das war zu Julius Erstaunen eine noch sehr jung aussehende, hellhäutige Frau mit goldblondem Haarschopf, der ihr bis auf die Schultern herabfiel. Einen Moment lang konnte er ihre smaragdgrünen Augen erkennen, aus denen immer wieder violette Blitze strahlten, die in einer gleichgefärbten Aura um Itoluhilas Körper hängenblieben und diese immer wieder auf mehrfache Weite ausdehnten. Zu gerne hätte er jetzt gehört, was die beiden verfeindeten Schwestern einander zuriefen. Doch Felix oder der Heilsstern oder beide zusammen hielten ihn davon ab. Nur im Abwarten lag seine Chance. Vielleicht, so dachte er bewusst, konnte er sogar als lachender dritter die durch den ablaufenden Zweikampf übriggebliebene aber dann sicher geschwächte Gegnerin überwinden und so dem Spuk der zwei Succubi ein Ende bereiten. Dass Errithalaia durch die völlige Absorbtion von Itoluhilas Kräften noch mächtiger werden konnte machte ihm im Moment keine Angst. Irgendwas sagte ihm, dass die zwei Schwestern gerade ebenbürtig waren und nur sein Eingreifen das Gewicht zu Ungunsten Itoluhilas verschieben mochte.
Dann passierte es. Das violette Leuchten erstrahlte noch einmal so hell, dass Julius schon die Augen zukneifen musste. Sein Heilsstern vibrierte so stark, dass er ihn wie eine ständig angestrichene Cellosaite klingen hören konnte. Der Klang flößte ihm Zuversicht ein. Dann ruckelte der Heilsstern einmal, um dann ruhig vor seiner Brust zu hängen. Julius öffnete schnell die Augen, gerade noch rechtzeitig, um die ihn sprichwörtlich anfliegende Bedrohung zu erkennen. Aus den Trümmern der aufgesprengten Wand tauchte der schwarze Riesenkäfer mit den goldenen Punkten wieder auf und flog in seine Richtung. Julius wähnte sich sicher, dass das Monstrum ihn im Schutz des Heilssterns nicht entdecken konnte. Doch dieser war erloschen. Die golden-blaue Aura war weg. Julius stand ungeschützt da. Dadurch war auch der Schutz seines Geistes fort. Das erkannte er in dem Moment, wo er in seinem Kopf ein Tasten fühlte. Sofort dachte er an das Lied des inneren Friedens, schaffte es, im Takt seines Herzschlages dieses magische Lied anzustimmen. Ein lauter Wutschrei in seinem Kopf hätte ihn fast aus dem Takt gebracht. Doch gerade als eine zornige Frauenstimme: "Dafür werde ich ..." zeterte, trat der von Ashtarggayan erlernte Geistesschutzzauber in Kraft. Er fühlte zwar einen Druck auf seinen Kopf, aber hörte weder fremde Gedanken, noch fühlte er einen anderswie wirkenden Einfluss. Dann kam ihm ein wahnwitzig anmutender Einfall. Er musste den Heilsstern ablegen, aber nicht da, wo er stand.
Er apparierte in den Garten, wo er als kleiner Junge mancher spießigen Feier hatte beiwohnen müssen. Er dachte einen Moment daran zurück, wie er als zehnjähriger Junge im maßgeschneiderten Anzug mit Krawatte vor seinen Onkel Claude getreten war und ihm brav ein selbstgedichtetes Geburtstagsgedicht aufgesagt hatte. Doch das war jetzt alles unwichtig. Wichtig war nur, dass er schnell zum Fuß des frei drehbaren Rasensprengers hinlaufen musste. Im Lauf riss er sich den Heilsstern vom Hals. Dass er damit seinen mächtigsten Schutz, ja seine Lebensversicherung aufgab fiel ihm dabei nicht ein. Er warf das silberne Kleinod so, dass die Kette zielgenau über einer der frei drehbaren Düsen zu hängen kam. Jetzt baumelte der silberne Stern wie eine X-beliebige Dekoration vom Rasensprenger herunter. Julius hatte aber keine Zeit, das zu bestaunen. Er fühlte, dass er schnellstens den Standort wechseln musste.
Als die Welt wieder Gestalt um ihn bekam sah er, dass er genau in dem Moment disappariert war, als die blondhaarige Abgrundstochter knapp einen Meter von seinem vorigen Standort Gestalt angenommen hatte. Offenbar war sie der Spur des Heilssterns gefolgt. Julius wusste aber auch, dass er jetzt nicht mehr disapparieren konnte. Nur der in der Nähe hängende Heilsstern hatte ihm noch diesen einen Fluchtweg gelassen. Doch seltsamerweise fühlte er immer noch keine Angst. Da war nur Angespanntheit, bloß nicht zu spät zu handeln, wenn ihm was einfiel.
"Du bist noch in der Nähe. Ich fühle diese dir eingelagerte Kraft Ashtarias. Lassen wir das Spiel sein. Du hast deinen nutzlosen Schutz aufgegeben. Dann bring es auch zu Ende und ergib dich meiner Gnade!" hörte er die andere laut rufen. Ihre Stimme war überaus schön. Sie sang beinahe beim sprechen, fühlte Julius. Doch er wusste, wie gefährlich dieses Wesen gerade in dieser gerade angenommenen Gestalt war. Ohne den Heilsstern konnte er sich nur auf die ihm beigebrachten Zauber verlassen. "Bin gleich da, Mistkäfer", dachte er und vollführte ungesagt den Zauber der labenden Mutter Erde, der ihn erst einmal mit neuer Kraft anreicherte. Solange er auf festem Boden stand hatte er die größten Chancen, wusste er. Madrashainorians Wissen konnte ihm helfen. Ja, er dachte daran, die Gegnerin mit einem Anwachsfluch oder Umschließungszauber zu bannen. Doch dann erkannte er, dass diese beiden Zauber die Andere nicht aufhalten würden. Sie konnte sich immer noch auf dem kurzen Weg davonmachen, sobald sie einen magischen Angriff fühlte, den sie nicht so einfach abwehren konnte.
"Wenn du nicht freiwillig zu mir kommst und mir deine körperliche und seelische Daseinsform anbietest muss ich mir von anderen holen, was ich bei diesem Kampf verbraucht habe", hörte er die Stimme der anderen. Auch wenn das eine eiskalte Drohung war klang das für ihn wie eine warme, ja schon fast zärtliche Ankündigung. Er zögerte nicht mehr und ging auf seine gegnerin zu.
"Pina, ich muss mal eben ausrücken. In London ist eine heftige magische Erschütterung unbekannter Form verzeichnet worden. Ich fürchte, wir haben ungebetenen Besuch in der Stadt", sagte Tim Abrahams zu seiner Sekretärin, die gerade die neuste Post aus verschiedenen Ländern sortierte.
"Wo genau?" fragte Pina Watermelon. Tim nannte ihr die Adresse. In dem Moment wurde ihnen beiden klar, wer dort wohnte. "Oha, Sir, könnte ein Angriff auf Mrs. Andrews sein, vielleicht von den noch wachen Monsterfrauen."
"Und mir schwant auch, warum", knurrte Tim. "Pina, Sie bleiben bitte hier und sagen den Termin mit Inspektor Hunter ab. Besser, sie nutzen die Bildverbindung zu ihm und schicken ihn umgehend zu der Adresse hin. Könnte sein, dass der Yard von den Anwohnern alarmiert wird und wir wen brauchen, der die Vorkommnisse muggeltauglich darstellen kann."
"Verstanden, Sir", sagte Pina. Ihre besorgte Miene verriet dem Leiter des sogenannten Muggelverbindungsbüros, dass sie an ihren Schulfreund Julius denken mochte. Doch war der in Gefahr, wo der in Frankreich war?
"Ich kläre das und bin bald wieder da", sagte Tim zuversichtlich klingend. Dann rief er nach zehn Mann seiner Außeneinsatztruppe. "Wenn wir in zehn Minuten nicht zurück sind brauchen wir Verstärkung aus dem Aurorentrupp", sagte er einem Innendienstmitarbeiter. Pina wollte er das nicht sagen. Sie hätte dann womöglich drauf bestanden, bei dem Einsatz dabei zu sein.
"Portschlüssel oder apparieren?" fragte Wayne Tryfoil, Spezialist für die Nachrichtenverbreiter der Muggelwelt. Abrahams wollte unverzüglich ankommen und verzichtete auf einen Portschlüssel. Das erwies sich als Fehlentscheidung. Denn als die elf Zauberer in einem einzigen Sprung vor das Zielhaus apparieren wollten prallten sie auf ein unsichtbares Hindernis. Tim erkannte noch, dass etwas schieflief, als er noch im zusammenquetschenden Transit zwischen Ausgangs- und Zielpunkt ein violettes Licht aufblitzen sah. Dann wurde er herumgewirbelt und fand sich mit verdrehten Armen und Beinen und wild dröhnendem Schädel im Foyer des Zaubereiministeriums wieder. Da schwand ihm das Bewusstsein, und nicht nur ihm.
Sofort rückten ministeriumseigene Heiler an, um die aus einem violetten Lichtblitz heraus reapparierten Kollegen zu behandeln. Zumindest hatte sich niemand zersplintert. Doch die magische Abwehr hatte sie alle bewusstlos gemacht. Shacklebolt schickte daraufhin zwanzig Zauberer auf fliegenden Besen los, um die Zieladresse anzufliegen. Ihm war bewusst, dass das Zeit kostete, die er nicht hatte. Doch anders ging es nicht.
Sie standen sich gegenüber, die schöne aber tödlich gefährliche Tochter Lahilliotas und der weit nach seiner körperlichen Geburt von Ashtaria noch einmal getragene und wiedergeborene Julius Latierre geborener Andrews. Der von Darxandrias, Ashtarias und Madrashmirondas Essenz durchdrungene und davon umflossene hatte sich mit dem Lied des inneren Friedens abgeschirmt. Doch sein Körper war ohne den schützenden Heilsstern angreifbar. Konnte die reine Ausstrahlung Ashtarias ihn vielleicht beschützen?
"Du bist ja ein echter Grashüpfer", lachte die goldblonde Schönheit und tastete ihn mit ihren smaragdgrünen Augen ab. Ihr Körper steckte in einem nachtschwarzen Gewand mit tiefem Ausschnitt. Um die schmalen Hüften trug sie einen mit goldenen Stickereien verzierten Schmuckgürtel. Arme und Beine waren lang, aber ausreichend stark gebaut, um nicht dürr und nicht dick zu erscheinen. Ihre langen, unter dem Saum des Gewandes hervorlugenden Beine endeten in schmalen Füßen, die in rubinroten Sandalen steckten. Finger und Zehennägel waren gerade lang genug, um nicht wie Krallen zu wirken, aber doch lang genug, um einen gewissen Reiz auf empfängliche Männer zu bieten. Julius konzentrierte sich sehr, der anderen nicht zu sehr auf die überragendschöne Figur zu glotzen. Bei Itoluhila war ihm das gelungen, dann hatte das bei dieser Unheilsbraut da auch zu gehen, dachte er. Ebenso wusste er, dass er nur noch eine Minute Zeit hatte, irgendwas zu machen. Denn er fühlte das Lauern in den smaragdgrünen Augen der Gegnerin.
"Ich will nicht, dass unschuldige Leute meinetwegen von dir im Vorbeigehen Vertilgt werden, Errithalaia", sagte er so kühl wie er klingen konnte. "Du hast Itoluhila erledigt? Dann hast du ja bekommen, was du wolltest. Also verschwinde von hier und lass die Menschen in Ruhe!"
"Du wagst es, mir, der Erbin Lahilliotas, Bedingungen zu stellen?" entrüstete sich Errithalaia. "Aber natürlich hoffst du auf Hilfe, wo du selbst jetzt so gut wie wehrlos vor mir stehst. "Aber du hast nur noch zwei Möglichkeiten: Folge mir freiwillig und lass dich von mir von dieser widerwärtigen Anhaftung Ashtarias freispülen. Dann darfst du mein treuer Gefährte sein und mir bei der längst überfälligen Errichtung meiner Herrschaft dienen. Oder nimm deine Entleibung hin und gehe in mir auf mit all deinem Wissen. So oder so werde ich dich hier nicht mehr entkommen lassen. Der kurze Weg ist dir und allen, die dir helfen wollen verwehrt. Es gelang dir nur, dich aus der Reichweite dieses lächerlichen Silberschmucks da zu entfernen", sagte sie und machte eine sowohl beiläufige wie abfällige Handbewegung zu dem am Rasensprenger hängenden Heilsstern. Julius hielt seinen Zauberstab in der Hand. Dann sagte er:
"Ich fühle nicht, dass Itoluhilas Kraft auf dich übergegangen ist. Ich wurde mit einem Schutzzauber gegen sie versehen, Errithalaia. Der sagt mir, dass ihre Kraft nicht hier wirkt. Wenn das schon gelogen ist, dann glaube ich dir auch nicht, dass ich keine Möglichkeit mehr habe, dich zu überleben."
Errithalaia funkelte ihn smaragdgrün an und verzog das Gesicht. Offenbar gefiel ihr nicht, was Julius sagte. Dann grinste sie feist und erwiederte: "Da kannst du mal sehen, wie tief ich Itoluhila in mich eingesaugt habe, dass du nichts mehr von ihr spürst. Sie wird gerade in mir verdaut, damit ich ihre Kraft frei anwenden kann. Mit meiner Gabe, die Zeit zu beherrschen herrsche ich nun auch über die Zustandsformen des Wassers. Ich kann dich also auch auf einen Schlag zu Eis werden oder von deinem eigenen Wasser im Körper zerkochen lassen. Aber ich will dein Wissen. Du hast nicht nur Ashtarias Hauch an dir. Was da sonst noch ist will ich auch haben. Lass also deinen inneren Schild sinken und ergib dich mir freiwillig. Oder ich lasse deinen Leib in wenigen Atemzügen altern oder lasse ihn auf die Zeit vor der Geburt zurückschrumpfen. Also los, ergib dich!"
"Nö!" stieß Julius nur aus. Die andere fauchte wütend. In dem Moment rief er die Heilssternformel aus:
"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!"
Errithalaia lachte erst. Doch als ihr aus Julius' Zauberstab ein weißgoldener Lichtstrahl entgegenschlug und sie vollzwischen Brust- und Bauchbereich traf lachte sie nicht mehr, sondern schrie vor Wut. Wieso gelang dieser verfluchte Ausruf auch ohne ...? Da fühlte sie von hinten eine Welle ihr entgegenwirkender Kraft, die sie augenblicklich in die Knie gehen ließ. Jetzt schrie sie auch vor Schmerzen.
Julius hatte in dem Moment, wo es in Errithalaias Augen rot-blau zu blitzen begann alle Hemmungen vergessen, die Heilssternformel zu rufen. Er musste sie rufen, wollte er überleben. Als die letzte Silbe weithin erklungen war schoss nicht nur aus seinem Zauberstab weißgoldenes Licht und machte, dass Errithalaias Gewand durchsichtig wurde, sondern vom Rasensprenger her zuckte ein gleichartiger, beindicker Lichtstrahl herüber und traf die Gegnerin von hinten. Sie wurde in weißgoldenes Licht eingehüllt. Sie fiel auf die Knie. Das geschah nicht, weil sie um Gnade flehte, sondern weil ihr der Zauber Ashtarias und Darxandrias Kraft entzog. Violette Schlieren zuckten durch das weißgoldene Leuchten. Dann hörte er sie laut rufen: "Ich erledige dich noch, Balg Ashtarias!"
Julius sah unvermittelt, wie sich etwas in Errithalaias Körper bewegte, als sei sie gerade schwanger. Nein, es war kein ungeborenes Kind, dass sich regte. Denn das Etwas füllte nicht nur den Bauchraum aus, sondern auch den restlichen Körper. Da quoll orangerotes Licht aus Errithalaias Vorderseite heraus, umfloss sie und formte sich zu einer konturgenauen Erscheinung einer anderen Frauengestalt. Julius dachte erst, dass dies ein Abwehrzauber der Abgrundstochter war. Doch sie schrie nun noch lauter und gepeinigter. Dann sah er, wie sich die fremdartige Erscheinung zu einer leuchtenden, durchscheinenden Gestalt verdichtete, eine Frau mittleren Alters mit langen, schwarzen Haaren, üppiger Oberweite und dunkelbraunen Augen. Die Haut glänzte samtbraun. Als sie Errithalaias regelrecht in sich verschwinden ließ glühte die Erscheinung noch einmal im orangeroten Licht auf und verschwand übergangslos. Errithalaia wurde nun nur noch von weißgoldenem Licht umflossen. Sie kreischte noch einmal auf. Dann fiel sie flach aufs Gesicht. Kaum berührte sie den Boden, löste sie sich im weißgoldenen Licht auf. Julius dachte einen Moment daran, dass sie vielleicht im Licht der Anrufung vernichtet worden war. Doch dann erkannte er, dass sie lediglich im letzten Moment die zeitlose Flucht geschafft hatte, vielleicht auch durch eine Ohnmacht automatisch an ihren sicheren Zufluchtsort zurückversetzt wurde. Jedenfalls fühlte er ihre Ausstrahlung nicht mehr. Auch die Magie der Anrufung erlosch. Hier gab es nichts und niemanden mehr, gegen den sie wirken musste. Als Julius das klar wurde fiel ihm ein, sich schnell Camilles Heilsstern wiederzuholen. Er lief zum Rasensprenger hin und pflückte das wertvolle wie mächtige Kleinod herunter. Er hängte es sich um und wollte gerade disapparieren, als er von einer befehlsgewohnten Männerstimme angerufen wurde: "Ganz ruhig umdrehen und Hände hoch!"
Der Kampf gegen ihre eigene Schwester hatte ihr große Schmerzen bereitet. Dieses Weib hatte versucht, ihre ganze Kraft zu entreißen. Sie konnte nur dagegenhalten, weil sie auch die Kraft von Alisons eingelagerter Seele aufbot. Gerade als es aussah, als wenn Errithalaia doch die Oberhand bekommen würde, konnte sich Itoluhila mit einem einzigen Gedanken an Flucht in ihre Zuflucht retten. Dass sie dabei einen Anteil von Errithalaias eigener Essenz mit sich riss erkannte sie erst, als sie in ihrer Zuflucht noch fühlte, wie etwas an ihr sog und zerrte. Da sah sie Alisons eingefrorenen Körper. Sie kam auf eine wahnwitzige Idee. Sie musste die ihr eingelagerte Essenz der Todfeindin auf diesen Körper übertragen. Das ging ganz einfach, indem sie die in sich selbst gelagerte Seele Alisons auf ihren verjüngten Körper zurückübertrug. Womöglich würde die gespaltene Seele der Kurzlebigen dadurch schweren Schaden nehmen. Aber so konnte sie wenigstens Errithalaias Ballast loswerden.
Sie taute den Körper der Gefangenen auf. Dann hockte sie sich darüber und stieß unter lauten Ausrufen der Freigabe und Übersendung jene orangerote Leuchtsubstanz aus, die sonst zum Heil und zur Verstärkung ihrer Diener eingesetzt werden konnte. Alison Andrews schrie im Geist wie auch körperlich, als der in Itoluhila steckende Anteil auf den angestammten Körper überging. Dabei floss aber auch die fremde Essenz Errithalaias auf diesen über. Das mochte der Feindin gerade ziemlich zusetzen. Doch was dann passierte überraschte Itoluhila völlig.
"Okay, Sir, ich dreh mich um", sagte Julius ruhig, immer noch den Zauberstab haltend. Dann sprang er zur Seite. Ein roter Lichtstrahl fegte an ihm vorbei. Doch das kümmerte ihn nicht. Er wirbelte herum und war weg.
John Hunter, Sohn einer Hexe und eines magielosen Mannes, starrte auf den Punkt, wo der junge blonde Mann gerade noch gestanden hatte. Er hätte ihm besser gleich den Schockzauber auferlegen sollen, dachte er. Doch er hatte ihn noch erkannt. Das war Julius Latierre gewesen.
Als zwanzig Mann auf fliegenden Besen anrückten erstattete Hunter Bericht. Die anderen schwärmten aus, um das beinahe zerstörte Haus von Alison Andrews mit zwei gezielten Feuerbällen vollständig in Flammen aufgehen zu lassen. Die Muggel der Umgebung sollten an eine heftige Gasexplosion denken. Auch wenn in dem Haus niemand war wussten die Ministeriumszauberer, dass Alison Andrews sicher nicht mehr so zurückkehren würde, wie sie bis zu diesem Tag noch gelebt hatte.
Alison Andrews' Körper veränderte sich. Die blonden Haare wurden dunkel, die Augen nahmen einen tiefbraunen Ton an. Die helle Haut färbte sich mittelbraun um. Die Gesichtszüge veränderten sich. Itoluhila erstarrte. Doch im Moment konnte sie den Strom der aus ihr fließenden Essenz nicht abbrechen. Sie erkannte die nun am Boden liegende Frau. Sie hätte nie gedacht, sie jemals wieder zu sehen.
"Endlich bin ich frei! Endlich bin ich meinem eigenen Kerker entrissen und habe einen neuen Leib empfangen", sprach die am Boden liegende in der alten Sprache des Zweistromvolkes. "Danke, meine Tochter. Du hast mir geholfen, wieder einen lebenden Körper zu bekommen. Er ist zwar kurzlebig. Aber das wird er nicht bleiben. Noch einmal werde ich mich nicht derartig auszehren lassen. Errithalaias Geburt hat mich zu sehr geschwächt. Aber jetzt bin ich wieder ich. Die Seele der anderen, deren Leib du mir gegeben hast, ruht in mir mit allem Wissen und allen Gefühlen. So kann und werde ich in dieser Zeit und dieser Welt bestehen können."
"Mutter! Ich dachte nicht, dass du -?"
"Errithalaia hat mich in sich getragen wie ein ewig ungeborenes Kind. Sie zehrte von meiner Kraft und meinem Wissen. Doch eine andere Kraft und dein Werk haben mich aus ihr abgeschieden und hierher befördert. Und jetzt gib mir noch mehr von deiner Lebensessenz, Tochter, damit ich erstarken kann, um zum heiligen Berg zurückzukehren, wo mein Herrscherinnenstab ruht. Los, her mit deiner Kraft! Ich, deine Mutter, befehle es!" stieß die andere mit Alison Andrews' Stimme aus. Itoluhila fühlte, dass sie diesem Befehl nicht widerstehen konnte. Was hatte sie getan? Nur die Zukunft würde es zeigen.
"Huh, da hätte dich doch glatt noch ein Ministeriumszauberer erwischt", sagte Millie zu ihrem Mann, als dieser nach der Flucht vor dem anderen in Millemerveilles zurück war. Er sagte nur:
"Ja, das wird wohl noch ein Nachspiel haben. Aber ich hatte keine Lust, mich von einem Ministeriumstypen Shacklebolts verhören zu lassen. Außerdem riet mir wohl auch Felix, möglichst schnell abzurücken, wenn ich weiterhin frei leben wollte." Dann übergab er Camille ihren Heilsstern. Keiner der drei wusste, was durch Julius' kurzen aber heftigen Kampf mit Errithalaia passiert war. Das sollte er erst später erfahren.
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