PICKMANS VERSPRECHEN (1 VON 2)

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Größtenteils unbemerkt von der magielosen Welt, die immer noch unter den Folgen der Terroranschläge von 2001 leidet, ist die magische Welt unsicherer als zuvor. Vampire, Werwölfe, Dementoren, vier wiedererwachte Töchter des Abgrundes und nicht zuletzt der nach großer Macht strebende Dunkelmagier namens Lord Vengor bedrohen Frieden, Freiheit und Unversehrtheit der Menschen mit und ohne Magie. Zu dem allem führt eine skrupellose Organisation namens Vita Magica Aktionen durch, die eine schnellere Vermehrung magischer Menschen erzwingen sollen. Sie entführt Hexen und Zauberer, die bisher unverheiratet und/oder kinderlos sind, veranstaltet wilde Partys, bei denen die Lust auf Fortpflanzung auf einen vielfachen Wert gesteigert wird und verjüngt ihnen entgegentretende Hexen und Zauberer mit einem blitzartig aus einer goldenen Waffe überschlagenen Infanticorpore-Fluch zu hilflosen Säuglingen, die Vita Magica dann in den eigenen Reihen neu großziehen will. Hinzu kommt noch, dass der französische Zaubereiminister Grandchapeau wegen der Rache der veelastämmigen Euphrosyne Blériot, die später Lundi heißt, zu einer Verzweiflungstat getrieben wird, die seinen Geist unter beibehaltung sämtlicher Erinnerungen in den Körper seines ungeborenen und durch Euphrosynes Vergeltung zu langsamer Ausreifung gezwungenen Sohnes hineintreibt, so dass er die nächsten Jahre und Jahrzehnte als Ungeborener im Leib seiner Frau ausharren muss. Um seine Nachfolge gibt es eine sehr schmutzige Schlammschlacht, bei der sich die Kandidaten gegenseitig aus dem Weg drängen und nicht vor in Verruf bringenden Veröffentlichungen zurückschrecken. Am Ende gewinnt die Hexe Ornelle Ventvit das schmutzige Rennen um das Ministeramt, weil sie von den Mächtigsten Zaubererfamilien Frankreichs als einzig vertrauenswürdige anerkannt wird.

In dieser am Rande des Chaos entlangtreibenden Lage bereitet sich der Dunkelmagier Vengor, der durch einen aus den Trümmern des zerstörten Welthandelszentrums von New York geborgenen Unlichtkristall ein vielfaches stärker dunkle Zauber anwenden kann, auf das Ziel seiner Anstrengungen vor. Um sein Ziel zu erreichen sucht er seine zwei Verbündeten auf, um diese dazu zu bringen, die Aufmerksamkeit aller Zaubereiministerien von ihm abzulenken.

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1. November 2002

Sie kannte seine Lebensausstrahlung. Denn er hatte sie ja aus dieser Kraft heraus erschaffen. Sie konnte die unsichtbaren Kraftströme sehen, ihre unhörbaren Schwingungen hören und ihren geruchlosen Duft mit ihrer Nase einsaugen. Wollte sie frei sein musste sie die Quelle ihres Daseins mit sich vereinigen, ihn auf die eine oder die andere Weise in ihre eigene Kraft, ihren eigenen lebenden und atmenden Körper einverleiben. Denn sonst würde sie nicht wirklich frei und unanfechtbar bleiben. Zwar hatte er das Bild, das ihre Quelle war vernichtet. Doch durch die vorsorglich in sich aufgenommenen Menschenleben und die für ihre Loslösung nötigen Lebensopfer war sie jetzt größtenteils unabhängig. Aber ihr Schöpfer, ihr Vater sozusagen, würde alles versuchen, sie entweder zu unterwerfen oder in das Nichts zurückzustoßen, aus dem er sie hervorbeschworen hatte. Das wollte sie aber nicht. Sie war jetzt auf der Welt und würde es bleiben. Wenn er das nicht einsah würde sie ihn eben selbst zum Teil ihres Daseins machen.

Das Wesen, das sich Alontrixhila nannte und Macht über Menschen und Pflanzen erhalten hatte, suchte ihren Erzeuger. Doch statt einer klar zu ortenden Quelle seiner eigenen Lebenskraft wehten und flogen ihr aus allen Himmelsrichtungen seine eigenen Schwingungen und Lebensklänge zu. Wohin sie auch immer ihre besonderen Sinne streckte, überall klang etwas von ihm zu ihr, kitzelte ihre besondere Nase für ganz eigene Körperkraftausstrahlungen. Als hätte dieser Mann, der sie erst als Teil eines Bildes erschaffen hatte, irgendwo in der Welt Dinge hingestellt, die seine eigenen Lebensklänge widerhallen ließen. Nein, es war kein Widerhall. Es waren eigenständig schwingende Kraftquellen, so wie Kerzenflammen, die aus einer großen Kerzenflamme entzündet worden waren und nun so verteilt waren, dass zwischen den Tochterkerzen und der Mutterkerze kein Unterschied zu sehen war. Ja, so musste dieser Kurzlebige es gemacht haben, um jemanden wie sie selbst zu verwirren hatte er Ebenbilder von sich erzeugt und diese gleichmäßig über die Erde verteilt. Weil sich die Lebensschwingungen wie ringförmige Wellen eines in ruhiges Wasser fallenden Steines ausbreiteten und dabei immer schwächer wurden, konnte sie nicht genau sagen, wie viele Ebenbilder es gab. Sie wusste nur, dass sie nicht blindwütig auf die ihr nächsten Kraftquellen losstürmen durfte. Denn ihr war klar, dass überall dort, wo ein Ebenbild war, sicher auch eine Falle lauerte. Erwischte sie nicht gleich den ursprünglichen Schöpfer, würde sie einen Teil der eigenen Kraft verlieren. Außerdem fühlte sie, wie Lahilliota, die Mutter der mächtigen Töchter der Kräfte von Geist und stofflichen Dingen, nach ihr suchte. Denn für diese und ihre natürlich geborenen Töchter war sie eine Unerwünschte, ein übles Ärgernis, eine böswillige Beleidigung, die unbedingt aus der Welt verschwinden musste. Nur wenn sie den echten Hironimus Pickman überwältigen und seine ganze Körper- und Geisteskraft in sich aufnehmen konnte, würde sie Lahilliota und deren Töchtern widerstehen können.

Alontrixhila besaß jedoch nicht nur die unstillbare Gier nach körperlicher und seelischer Kraft, sondern auch die Geduld einer Lauerjägerin. Hinzu kam bei ihr noch die Eigenschaft von großen Pflanzen, ruhig und langsam weiterzuwachsen, bis die Bedingungen am besten waren, um aufzublühen und ihre Früchte hervorzubringen.

So stellte sich Alontrixhila mitten in einen Urwald in Mittagsrichtung des Landes, in dem sie aus Zauberkraft, Farben und Lebenskraft heraus geboren worden war. Sie stimmte sich auf die Beschaffenheit der turmhohen Bäume ein und fühlte, wie sie selbst zu einem solchen majestätischen Gewächs wurde. Sie wuchs in die Höhe. Ihre für Jünglinge und Männer anziehende Erscheinung verschwand unter einer dicken Rinde. Ihr Haar breitete sich aus und versteifte sich zu Ästen. Aus diesen sprossen Zweige. Aus diesen trieben Blätter, die vom Wind bewegt, vom Regen benetzt und vom Sonnenlicht gestärkt wurden. Ihre Füße drangen als kräftige Wurzeln in den Boden und verzweigten sich. Sie drangen nicht tief in die nährende Erde, sondern nahmen eine große Fläche ein. Ihr Sinn für das Vergehen der Zeit passte sich der Wahrnehmung der anderen Pflanzen an. So konnte sie Stunden wie Minuten an sich vorbeifliegen fühlen. Sie würde jetzt warten, bis sich an den ständig zu ihr hinwehenden Abbildern von Pickmans Lebenshauch irgendwas verändern würde. Geschah dies würde sie sehr schnell ihre übliche Erscheinungsform und Beweglichkeit zurückgewinnen. Sie brauchte nur zu warten. Auch wusste sie, dass sie in dieser Form für die anderen, die eigentlich ihre Halbschwestern waren, unaufspürbar blieb. Die Zeit wirkte für sie, Alontrixhila, die zehnte Tochter, Herrin der Pflanzen und Menschen.

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22. November 2002

Der gewaltige Turm aus Glas und Beton raste auf ihn zu. Er hielt den Steuerknüppel fest in den Händen und sandte das letzte Stoßgebet an Allah, dem er gleich gegenüberstehen würde. Dann bohrte sich die Nase des Flugzeuges mit Urgewalt in die Fensterfront hoch oben im Turm. Der Aufprall riss ihn aus der Welt. Dunkelheit umgab ihn. Doch er war nicht tot. Er fand sich auf seinem Ruhelager, schwer atmend, mit wild pochendem Herzen. Und noch etwas pochte in seinem Körper, jagte Kraftstöße wie kühlende Fluten durch seinen Körper. Er war wieder hellwach. Doch was er eben geträumt hatte war ihm wieder einmal so wirklich erschienen, als habe er es selbst so erlebt, der wilde Entschluss, die Ungläubigen zu strafen, den Tempel ihrer grenzenlosen Überheblichkeit mit Feuer und Tod zu überschütten und dabei den glorreichen Märtyrertod zu erleiden, um im Paradies mit 72 Jungfrauen belohnt zu werden. Doch er war nicht im verheißenen Land der glückseligen Märtyrer und keine einzige Jungfrau kümmerte sich um ihn. Natürlich war er nicht tot. Er war doch kein fanatischer Frömmler, der für seinen unbestätigten Gott sich und andere umbrachte. Aber er träumte von diesen Mordbuben, die ihm, Lord Vengor, einen unbezahlbaren Gefallen erwiesen hatten. Nur deretwegen hatte er einen mächtigen Unlichtkristall erbeuten können und dadurch mehr Macht über dunkle Zauber gewonnen als alle anderen. Und bald würde er noch viel mehr Macht und vor allem Wissen dazugewinnen. Denn der Tag der Entscheidung war nicht mehr fern.

Es war nicht das erste mal, dass er von den Attentätern träumte, die ihrer Auffassung von muslimischer Rechtschaffenheit nach gemeint hatten, das Welthandelszentrum von New York mit vollgetankten Flugmaschinen zu rammen, damit sie unter der Einschlagwucht und des danach abbrennenden Treibstoffs zerstört wurden. Vier Männer hatten diese Tat ausgeführt. Etwas von ihnen war in dem durch diese massenhafte Tötung erzeugten Unlichtkristall mitverstofflicht worden. Sie hatten sich freiwillig getötet. Daran lag es wohl, dass Vengor zwischendurch die letzten Stunden ihres Lebens im Traum nacherlebte. Doch das wurde in den letzten Wochen immer häufiger. Lag es daran, dass die große Entscheidung unmittelbar bevorstand? Oder lag es daran, dass sie sich selbst getötet hatten und damit dem Unlichtkristall ein wenig ihres Tötungswillens und ihrer Persönlichkeit eingeprägt hatten? Vengor erkannte wieder, wie wenig er doch von der Natur der Unlichtkristalle wusste. Doch er würde Iaxathan bald danach fragen können, wenn er dessen jahrtausende alten Wohnsitz endlich betreten konnte.

Doch zuvor galt es, gewisse Vorkehrungen zu treffen. Er war sich bewusst, dass die selbsternannten Streiter für eine friedliche und ehrbare Zaubererwelt ihm weiterhin nachspürten. Außerdem waren da diese Vampirbiester, die von einem weiblichen Gegenstück Iaxathans befehligt wurden. Zudem gab es noch diese Töchter Lahilliotas, die es auch nicht wollten, dass Iaxathan sein Wissen an einen würdigen Partner weitergab, damit dieser die Menschheit nach dessen Willen umordnete. Also musste er was unternehmen, um im entscheidenden Augenblick den Rücken frei zu haben.

Der erste Schritt, den er heute tun würde, war die letzte Inspektion seiner Kristallfabriken und die Begutachtung der bereits fertigen fünf Rüstungen, die er nach studierten Vorgaben angefertigt und mit Haltbarkeitszaubern belegt hatte. Sie vollwertig einsetzbar zu machen bedurfte jedoch einer Zauberei, die er noch nicht kannte, die ihm Iaxathan selbst vermitteln wollte, wenn er diesem gegenüberstand. Die nächsten beiden Schritte würden ein groß angelegtes Ablenkungsmanöver für seine Feinde und eine Stärkung seines neuen, mächtigen Verbündeten sein. War das alles im Gang würde er noch einmal vor den Eingang zur Nimmertagshöhle treten und durch die dann sicher für ihn durchlässige Barriere aus verhasster weißer Magie treten.

"Mir missfällt, dass du erneut von einem der Drachenreiter geträumt hast, die die zwei Handelstürme niedergeworfen haben", hörte er ein verärgertes Wispern in seinem Geist. Das war Iaxathans mächtige Gedankenstimme. "Am Ende steigen noch die Erinnerungen all derer in dir auf, die ihr Leben für den Kristall und damit deine und meine große Sache gelassen haben. Es wird also Zeit, mir gegenüberzutreten."

"Ich könnte jetzt schon zu deiner Wohnstatt und versuchen, in die Höhle einzutreten, Meister Iaxathan", erwiderte Vengor rein gedanklich. Wenn du dies wünschst, so bin ich gleich in einer Stunde vor der Barriere", bekräftigte Vengor seine Bereitschaft, mit Iaxathan zusammenzutreffen.

"Nein, sorge du erst dafür, dass dich niemand behelligt oder gar verfolgt, wenn du zu mir hingehen willst! Die Erhabenheit der verstreichenden Zeit soll auch gewahrt sein. Doch verrichte alles nötige zügig! Denn über die verfügte Zeit hinaus werde ich nicht warten, und du kennst meine Ankündigung, was dann mit dir geschieht", erwiderte Iaxathans Geistesstimme. Vengor wusste es zu gut, was dann geschehen würde. So versprach er erneut, sich zu beeilen, aber auch nichts zu überhasten.

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Bei Muggeln lief sowas nie ohne großes Aufgebot mit Empfangskomitee und Orchester. Doch wenn ein Zaubereiminister oder eine Zaubereiministerin einen Kollegen im Ausland besuchte wurde meistens nur eine drei-Mann-Truppe vor dem Flohnetzkamin der Empfangshalle im betreffenden Ministerium aufgestellt. So erging es auch Ornelle Ventvit, als sie zu ihrem Kennenlerntreffen mit dem zeitweiligen Zaubereiminister Dime eintraf. Bei ihr war der Leiter der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit, sowie der Leiter der Abteilung für internationalen magischen Handel.

Die Begrüßung fiel förmlich aus. Ornelle Ventvit hütete sich davor, wegen des unerwartet schnellen Personalwechsels in den Staaten irgendwelche Gefühle oder Gedanken zu äußern. Persönlich sah sie das USZaubereiministeramt als eine Art brennenden Besen, in den zu allem Verdruss noch ein Schleuderfluch eingewirkt war. So ging es ihr darum, eher sich als ordentlich im Amt bestätigte ranghöchste Hexe Frankreichs vorzustellen, um die bisherigen Beziehungen fortzusetzen und sich neu ergebende Möglichkeiten zu besprechen. Immerhin hatte Dime, obwohl er als bisher für Handel und Finanzen zuständiger Knutzähler galt, angeregt, wegen des massiven Ausrüstungsverlustes durch den fehlgeschlagenen Angriff auf das Versteck von Vita Magica sowie Sandhearsts infernalen Alleingang über die Neuanschaffung von Duotectus-Anzügen, Rückschaubrillen und den gesamten in Frankreich existierenden Vorrat von Incantivacuum-Kristallen zu verhandeln. Als Gegenangebote wurden Besen des Typs Harvey 5 und Parsec 3 ins Gespräch gebracht. Ornelle Ventvit hatte von ihrem Handelsabteilungsleiter auch die Idee übernommen, Sprengschnatze zur ferngesteuerten Bekämpfung besonders gefährlicher Tierwesen anzubieten. Sicher gab es in den USA auch noch Zaubermittel, die für die französischen Kollegen interessant waren.

So verlief die fünfstündige Unterredung zunächst im kleinen Kreise. Danach wurden führende Mitarbeiter aus den betreffenden Abteilungen hinzugezogen und auch die drei Kontaktzauberer der drei Besen- und Zaubergegenständehersteller Bronco, Dexter und Silbersturm dazugeholt. Minister Dime war sichtlich angetan von den Sprengschnatzen, mit denen wohl auch Drachen und Riesen vernichtet werden konnten. Allerdings wollte er auch wissen, ob sein Ministerium auch Detektionsdrachen erhalten konnte, um ohne Gefährdung von lebenden Hexen und Zauberern Orte aus der Luft heraus erkunden zu können. Dazu sagte Ornelle Ventvit, die ein astreines britisches Englisch sprach, dass sie diesbezüglich eine exklusivität mit dem Erfinder habe, da diese magicomechanischen Erkundungsflugkörper zu leicht zu Vernichtungswaffen umfunktioniert werden könnten und der Erfinder, Florymont Dusoleil, deshalb nur dem französischen Zaubereiministerium eine begrenzte Zahl dieser Flugartefakte überlassen habe. Als Dime darauf meinte, dass jede Erfindung auch als Waffe eingesetzt werden könne, auch ein Harvey-Besen, erwiderte Ornelle Ventvit darauf, dass diese Vereinbarung deshalb getroffen worden war, weil es fast einen offenen Streit mit Florymont Dusoleil gegeben habe, was die Einsatzmöglichkeiten seiner frei fliegenden Erzeugnisse anging und ihm Grandchapeau damals entgegengekommen sei, um weiterhin auch von den anderen Erfindungen wie eben auch den Duotectus-Anzügen und den Rückschaubrillen profitieren zu können.

Am Ende verständigte sich die Gesprächsrunde darauf, für je eine Rückschaubrille einen Harvey-Besen und für zwei Duotectus-Anzüge einen Fernflugbesen vom Typ Parsec 3 zu tauschen. Die entsprechenden Gegenwerte in Zauberergold hatten die entsprechenden Ministerien an die örtlichen Hersteller zu zahlen. Dieses Ergebnis wurde dann den Vertretern der nordamerikanischen Zaubererzeitungen und den Vertretern der französischen Zaubererweltmedien mitgeteilt. Millie Latierre, die anlässlich dieser Pressemitteilung in den Staaten war, um für die Temps de Liberté zu berichten, fragte den USZaubereiminister dann noch, ob es nicht grundsätzlich sinnvoller sei, die Ausfuhrverzögerungsfrist für US-amerikanische Zaubergegenstände aufzukündigen und einen freien Handel nach Muggelweltstandard zu ermöglichen. Darauf sagte Dime:

"Mademoiselle Lätteir, die Unwägbarkeiten zwischen den Nachfahren der sogenannten Repatriierungsaktionen von damals sind nicht so auf freien Profit ohne Grenzen ausgelegt wie meine nichtmagischen Landsleute. Und selbst bei denen grummelt es, wenn sie daran denken, wie viel sie von außen einführen müssen und wie viel sie dafür nach außen verkaufen. Als gelernter und berufserprobter Finanzfachzauberer bekomme ich auch mit, wie die Kollegen aus der Muggelwelt meinen, geschäftsmäßig bilanzieren zu müssen und dass da durchaus schon die Meinung gährt, da was gegen unternehmen zu müssen. Dafür sind aber im Moment keine Bevölkerungsmehrheiten zu erwarten. Derzeit nicht. Was also unsere überragenden Erzeugnisse angeht, so wollen wir sicherstellen, dass wir immer noch die Kontrolle darüber haben, wer wie viel wofür zu welchem Zweck davon erhält, und das geht nur innerhalb unserer Hoheitsgrenzen. Denn auch das sollten Sie und Ihre Leser wissen: der gewinn- oder Bündnisbezogene Verkauf von Waffen an andere Staaten könnte sich früher oder später auch gegen uns richten. Daher kann ich ja die Vorbehalte verstehen, dass Ihre Zaubereiministerin die zur Erkundung von Gefahrengebieten ersonnenen Detektionsdrachen höchst ungern anderen Zaubereiministerien zukommen lassen möchte. Aber mit ähnlichen Bauchschmerzen müssen wir in den Staaten auch die Weitergabe von tarnfähigen Harvey-Besen und Langstreckenflugtauglichen Parsec-Besen betrachten. Deshalb gilt ja, für jedes erworbene Ding eine klar abgegrenzte Verwendungsgrundlage zu vereinbaren. Ich hoffe, damit Ihre Frage vollständig beantwortet zu haben."

Millie Latierre griff jedoch den Punkt der gegenseitigen Ein- und Ausfuhrvergleiche auf und erwähnte, dass Verbrauchsgüter wie bezauberte Kleidung, Putzmittel, Farben und auch die in den Staaten beliebten Reisewindeln eingeführt werden dürften, aber die in den Staaten erzeugten Verbrauchsgüter wie das Dextercogison oder die Überschallluftschiffe nur auf ausdrückliche Genehmigung mindestens zweier oder dreier Ministeriumsabteilungen in sehr geringer Stückzahl erfolge und ob da die Handelsbilanz nicht noch ungünstiger für die US-Unternehmen ausfiele. Darauf bekam sie von den anwesenden Firmenvertretern ein sehr beipflichtendes Nicken zur Antwort.

"Es bleibt vorerst dabei, dass wir unsere Gründe haben, wieso unsere Außenhandelsvorgaben so sind und bleiben, wie sie sind", erwiderte Dime. Damit musste Millie erst einmal genau wie ihre Kollegen auskommen.

Als dann am späten Abend Ostküstenzeit die kleine Delegation aus Frankreich wieder den offiziellen Flohnetz-Anschluss Richtung Heimat benutzte, atmete Minister Dime auf. Er konnte ja nicht ahnen, was dem Ministerium im allgemeinen und ihm persönlich in nächster Zeit widerfahren sollte.

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Hironimus Pickman wusste, wie gefährlich er lebte. Genau deshalb hatte er einen sehr klugen Kunstgriff getan. über 30 Nachbildungen lebender Organe von Menschen hatte er in den Monaten, wo er unter verschiedenen Namen um die ganze Welt gereist war, mit seiner Originalaura imprägniert und so bezaubert, dass sie mehr als ein Jahr lang weiterleben konnten und an entlegenen Orten aufgestellt und mit konzentrischen Ringen aus gnadenlosen Feindbekämpfungszaubern umgeben, die jeden Angreifer lähmen, in Angst versetzen oder zu Stein erstarren lassen konnten. Wenn er wollte konnte jedes derartig verhexte Trägerartefakt zu einem lebensechten Abbild seiner selbst werden, um sich für ihn auszugeben. Vor allem jetzt, wo er sich auf diesen Möchtegernkönig der dunklen Zauberer eingelassen hatte, der darauf ausging, das Erbe des alten Wissens an sich zu bringen, war diese Vorsorge lebensnotwendig. Außerdem war ihm klar, dass sobald er seine Schöpfungen auf die Menschheit losließ, von allen anderen Hexen und Zauberern gejagt werden würde. Sollten die nach ihm suchen. Er würde ähnlich wie der geniale Igor Bokanowski nur Ebenbilder von sich aussenden, um mit wem auch immer zu tun zu bekommen. Wer nach ihm suchte würde durch seine dreißig festgestellten Lebenskraftkopien verwirrt. Denn seines Wissens nach gab es keinen Zauber, um eine einwandfrei verdoppelte Lebensaura vom Original zu unterscheiden, wenn zwischen Ursprung und Nachbildung mehrere Kilometer Raum lagen. Außerdem hatte er noch was, was ihm eine rasche Flucht vor jedem Feind garantieren mochte, wenn es nötig war, ein auf sich selbst abgestimmtes Intrakulum, jenes mächtige Artefakt, um aus der natürlichen Welt in bezauberte Bilderlandschaften überzuwechseln und dort mit den magisch belebten Wesen zusammen zu sein.

Hier in seinem unterirdischen Versteck, im Jahrmillionen altem Felsmassiv der Rocky Mountains, nur fünfzig Kilometer südlich der Grenze zu Kanada, hatte sich Hironimus Pickman sein Hauptquartier eingerichtet. Er hatte vor zwanzig Jahren, als er genauso wie viele andere Todesser vor den Ministeriumsheschern hatte fliehen müssen, dieses weitverzweigte Höhlensystem gefunden und beschlossen, hier ungestört von allen Widersachern arbeiten zu können. Neben seinem Blockhaus, von dem aus er zu seinen "Verkaufsreisen" aufgebrochen war, stellten diese unterirdischen Stollen und Kavernen sein eigentliches Herrschaftsgebiet dar. Er hatte Locorefusus-Zauber aufgespannt, die einen Apparator nicht näher als zehn Kilometer herankommen ließen. In den Boden hatte er auf seine Körperschwingungen abgestimmte Stellen eingewirkt, die für jeden anderen zu einer tödlichen Falle wurden, Treibsandähnlich und wie ein in die Tiefe zerrender Sog, der jeden Feind vom Erdboden verschlucken ließ. Darüber hinaus hatte er Barrieren errichtet, die nur ihn passieren ließen und jeden anderen schlagartig in Flammen aufgehen ließen oder sämtliche Knochen im Leibe zu Staub zertrümmern ließen. Und als wenn diese brachialmagischen Abwehrmaßnahmen nicht schon völlig ausreichten, eine ganze Armee von feindlichen Hexen und Zauberern abzuwehren hatte er in den Jahren, die er hier unbehelligt gewirkt hatte hunderte von abscheulich wirkenden Zauberbildern ausgeschmückt. Mordgierige Monster, teilweise menschlich, teilweise Mischformen zwischen Land- und Meereslebewesen. Griff ihn ein Feind an reichte ein mit einem besonderen Edelstein an die Stirn gehaltener Gedanke, um die grausame Galerie zur tödlichen Streitmacht zu machen. Um in diesen weitläufigen Höhlen nicht vor Dunkelheit und Kälte zu verkommen hatte er in die größeren Räume Leuchtkristalle aufgehängt, die das natürliche Sonnenlicht nachahmten, sowie Bildverpflanzungszauber wie in Hogwarts eingerichtet, die in den allergrößten Sälen den freien Blick auf den Himmel und den vom Fuß eines Berges aus oder von einem hohen Gipfel aus sichtbare Landschaften ermöglichten.

Um nicht zu verhungern hatte er in einer mehr als einen Kilometer durchmessenden Höhle eigene Getreidefelder, einen Obstgarten und mehrere Gemüse und Kräuterbeete angelegt. Wollte er Fleisch, Milch oder Fisch vervielfachte er Banknoten und ging in Verkleidung einkaufen. Und wenn ihm nach geschlechtlicher Befriedigung verlangte standen ihm in einer kleinen Höhle mehrere Dutzend anziehende und vollkommen willige gemalte Kurtisanen zur Verfügung, die er aus ihren goldgerahmten Bildern herausrufen und sich mit ihnen vergnügen konnte.

Trotz dieser vollkommenen Abgeschlossenheit gegen die ihm feindlich gesinnte Welt benötigte er jedoch etwas, dass seine Höhlen und Zauberbilder nicht bieten konnten: Selbstbestätigung, Gefühle von Überlegenheit und Macht anderen Menschen gegenüber. Bildersklaven konnte er sich jederzeit erschaffen. Doch wenn er natürlich geborene Menschen nach seinem Willen lenken oder ihnen vorgaukeln konnte, ihr Freund zu sein, dann erst fühlte er sich wahrhaft mächtig. Dafür musste er aber eben zwischendurch immer wieder aus seiner magischen Festung hinaus. Genau dafür hatte er die dreißig seine Lebensaura ausstrahlenden Artefakte erschaffen und über den Erdball verteilt.

Im Moment saß Hironimus Pickman in einem kreisrunden Raum, umringt von Nachbildungen von Fenstern, die verschiedene Ausblicke zeigten. Die Decke erstreckte sich zwanzig Meter über ihm. In der Mitte der Decke hing eine gerade weißgelb leuchtende Kugel, die auf den auf diesem Längengrad zutreffenden Stand von Sonne und Mond abgestimmt war. Ging die Sonne unter, dann wechselte das helle weißgelbe Licht zu Orange und dann Blutrot. Ging der Mond auf glomm die Kugel erst im honiggelben und dann silberweißen Licht. Allerdings zeigte sie nicht die typische Ansicht der Mondoberfläche oder die gerade vorherrschende Mondphase. Der Raum selbst durchmaß hundert Meter.

Der schwarzmagische Malermeister saß an einem hufeisenförmigen Tisch, auf dem mehrere bunte Steine in kleinen am Rande berunten Mulden lagen. Das waren die Schlüsselsteine, über die er seine auf der Welt verteilten Schreckensbilder steuern konnte. Seitdem er Alontrixhilas Bild vernichten musste hatte er beschlossen, lieber wieder in seinem Hauptquartier zu sein, um die gemalten Geschöpfe noch besser beherrschen zu können. Ein eiförmiger Rubin, in den mit einem Diamantstichel ein siebenstrahliger Stern zu erkennen war, stand mit einem Bild in einer tokioter Villa eines reichen Firmenbesitzers in Verbindung. Wenn Vengor es wirklich wollte, dass er seine Bilder alle auf einmal zum Leben erweckte, würde dieses Rubinei ein verheerendes Septett zum Leben erwecken, gegen das seiner Ansicht nach keine bekannten Abwehrzauber helfen konnten, solange niemand es schaffte, das Bild selbst mit einem Basiliskenzahn, Dämonsfeuer oder dem Tau des letzten Morgens zu berühren. Das gleiche galt für jene Bilder, die durch die anderen Steine gesteuert werden konnten. Vor allem den wie eine weibliche Brust geschliffenen Diamanten, den er mit Vampirblut und der abgezapften Milch einer gerade Mutter gewordenen grünen Waldfrau imprägniert hatte, war sein ganzer Stolz. Dieser Stein stand mit dem Gemälde der Blutamme in Verbindung, das bereits zu seinem Eigenleben erwacht war. Bei diesem Bild wusste er, dass er nicht mehr lange warten durfte, um klarzustellen, was es in der natürlichen Welt anrichten sollte.

Na, Lord Vengor, ob du wirklich wieder auf mich zurückkommst?" fragte er einem an eine Ebenholzbuchstütze gelehnten Leinwand zugewandt, die vollständig mit schwarzer Farbe bedeckt war. Ein leises Kichern drang von dieser tiefschwarzen Fläche an seine Ohren. Dann klang aus der dunklen Oberfläche heraus eine vor Verachtung triefende hohe Männerstimme:

"Er hat mein Gegenstück mit der Vorderseite gegen eine Wand gedreht und wohl auch in einen stockdunklen Raum gehängt, damit ich bloß nicht mitbekomme, was er so treibt, Meister Hironimus."

"Ach, deshalb sprichst du durch die Dunkelheit zu mir, mein gehässiger Spaßmacher", grummelte Pickman. Darauf erschien übergangslos ein weißes Gesicht mit einer roten Nase und von rotem Struwelhaar umrahmt. "Ich zeige mich dir immer, wenn du das willst, mein Herr und Schöpfer", sprach das Gesicht ohne dazugehörigen Körper. Pickman grinste verächtlich.

"Wenn er sich bis zum ersten Dezember nicht bei mir meldet werde ich der Blutamme freie Hand geben, allein schon, um diesen Götzinnenanbetern von den Blutsaugern gründlich das Spiel zu verderben. Denn gegen diese Art von Konkurrenz werden die machtlos sein."

"Hmm, und der Dämonenball?" wollte das gemalte Clownsgesicht wissen.

"Hat ja derselbe Muggel gekauft, der unbedingt die Blutamme in sein Haus holen wollte, dieser Vollidiot. Bevor der Dämonenball zum Tanz lädt sollte der das Bild besser in ein anderes Haus hängen, damit das Zaubereiministerium es nicht finden kann. Mit der Blutamme verfahre ich wohl genauso."

"Ja, das ist mein Meister, so klug und vorausschauend", erwiderte das Clownsgesicht mit einer Spur Spott in der Stimme. Pickman konnte darüber nur überlegen lächeln. Aus dem Lächeln wurde ein vorfreudiges Lachen, in das auch das gemalte Clownsgesicht einfiel.

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23. November 2002

Der von Iaxathans Macht in seinen Körper getriebene Unlichtkristall pochte kräftig, als der dunkle Magier, der sich Lord Vengor nannte, vor den unzerbrechlich bezauberten Toren seiner heimlichen Fabrik für neue Unlichtkristalle stand. Von drinnen war gerade das vielfache metallische Schaben niedersausender Riesenfallbeile zu höhren, die jedes für sich zwanzig Menschen enthaupteten. Zwanzig dieser Massenhinrichtungsvorrichtungen verrichteten im selben Augenblick ihr grausames Werk. Vierhundert unschuldige Menschen, von Vengors Leuten in den Elendsvierteln von Hanoi und in kleinen Dörfern im Dschungel zusammengefangen, mussten ihr Leben für die Vergrößerung eines Unlichtkristalls geben, von dem immer wieder mit einem anderen Unlichtkristall Staub abgeschliffen wurde, um damit dunkle Artefakte zu erschaffen, mit denen Vengor nach seiner endgültigen Verbindung mit Iaxathan die Welt erobern würde, um sein großes Vorbild, den legendären dunklen Lord Voldemort zu übertreffen. Vengor wusste, dass er hier nicht zu lange bleiben durfte, weil der in ihm wirkende Kristall die beim Tod der Gefangenen freiwerdenden Kräfte genauso aufsog wie der hier gezüchtete Kristall. Doch er wollte ja nur zehn Minuten hier bleiben.

"In Ordnung, Pause für zehn Minuten!" rief Vengor durch das Tor. Dann vollführte er den nur ihm und seinen hier ausharrenden Getreuen bekannten Öffnungszauber. Das Tor schwang lautlos auf. Sofort stieg Vengor der Geruch von Todesangst und Menschenblut in die Nase, die wie immer hinter einer grünen Maske verborgen war. Für Vengor war dies das Parfüm der grenzenlosen Macht, der Herrschaft über Leben und Tod, Schatten und auch Licht.

Wilson Needles, der in Vengors bewusst kleingehaltenem Bund von Vergeltungswächtern als Nummer zwanzig bezeichnet wurde, trat seinem Herrn und Meister dienstbeflissen entgegen und verneigte sich tief vor Vengor. Dieser wartete eine halbe Minute. Dann befahl er seinem Untergebenen, sich wieder aufzurichten. "Ich möchte nicht viel Zeit vertun und die so ergiebige Produktion länger als nötig verzögern", sagte Vengor zu Nummer zwanzig. "Lass mich den Kristall sehen und dann noch die Rüstung, die ich damit hergestellt habe!"

Wilson Needles führte seinen Herrn und Meister durch die Fabrik. Sie mieden dabei die Halle der Darbringungen, wie Vengor die Tötungshalle verächtlich verharmlosend nannte. Die für ihren letzten Atemzug vorzubereitenden Gefangenen mussten ihn nicht sehen, auch wenn er sich früher immer gerne am Anblick der Todgeweihten ergötzt hatte, bis ihm klar wurde, dass sein im Körper pulsierender Unlichtkristall deren Todesmoment schluckte und damit den eigentlich zu fütternden Kristall die Energie vorenthielt. Statt dessen stieg er mit Nummer zwanzig in den fensterlosen Keller hinunter, der von der allgegenwärtigen Luftfeuchtigkeit bereits sehr stark vermodert war. Doch Schimmelpilze hatten sich hier nicht angesiedlt. Das lag an der für Vengor nun beinahe körperlich greifbaren Ausstrahlung des Unlichtkristalls, der hier aufbewahrt wurde.

Es war ein in der Grundform zwölfflächiger Körper, der alles Licht vollkommen schluckte. Die Kanten und Ecken wiesen Einkerbungen auf, nicht wie bei einem natürlich gewachsenen Kristall. Das lag daran, dass dieser Kristall seit zwei Monaten immer wieder mit einem andernorts gezüchteten Kristall bearbeitet wurde, um den Unlichtkristallstaub zu gewinnen, den Vengor brauchte, um ihm wichtige Getreue damit zu impfen und somit zu zehnmal so zaubermächtigen und schier unverwüstlichen Mitstreitern zu machen. Doch ebenso wurde immer wieder etwas von dem Staub gebraucht, um damit die ersten wirklich mächtigen Gegenstände zu schaffen, die Vengor im Kampf um die Vorherrschaft einsetzen wollte. Er wusste aber auch, dass die Vampire um diese ominöse schlafende Göttin Unlichtkristalle herstellten, um damit Supervampire zu züchten, die auch seinen Verbündeten schaden konnten. Doch mit seinen neuesten Errungenschaften würde er diese nachtschwärmenden Plagegeister bald aus der Welt schaffen.

"Ihr lasst den hier die nächsten zwei Tage in Ruhe wachsen, damit die Kanten wieder klar genug sind, Zwanzig!" sagte Vengor. "Am besten, ihr lasst ihn solange wachsen, bis ich wieder vorbeikomme."

"Dann braucht ihr keinen weiteren Staub, Herr?" fragte Zwanzig. Vengor schüttelte den vollmaskierten Kopf und deutete zur Decke hinauf. "Ihr habt noch zehntausend Gefangene in den Zellen. Erst wenn die alle verarbeitet sind werde ich mir den Staub holen. Jetzt zu der anderen Sache!"

Zusammen mit Needles verließ er den Aufbewahrungsraum für den Kristall wieder. Durch unbeleuchtete Gänge, an deren Wänden ganze Teppiche aus Schimmel klebten, ging es in einen Raum, der eine Schmiedewerkstatt beinhaltete. In dem Ofen brannte jedoch keine rote Kohlenglut oder ein orangerotes Feuer, sondern loderten violette Flammen, die um einen purpurn glimmenden Kristall herumtanzten. Vengor blickte zur Wand, die im purpurnen Widerschein der magischen Flammen glomm. Doch ein gigantischer Gegenstand schluckte das unstete Licht vollkommen. Er Sah aus wie ein aus lichtschluckendem Metall geschmiedetes Standbild, das an die drei Meter hoch war. Nur die auf wenig bis gar kein Licht eingestellten Augen der beiden dunklen Zauberer konnten die feinen Linien erkennen, die an den Schultergelenken, dem Becken und auf jeder Seite des Rumpfes verliefen. Es war eine völlig schwarze Ritterrüstung, allerdings für einen überlebensgroßen Krieger gemacht. Zumindest schien es so. Vengor fühlte die schwache, prickelnde Aura, die jene gigantische Rüstung umhüllte und sah in die leeren Augenhöhlen des Gesichtsschutzes, der eher eine an den gedrungenen Helm angeschraubten Maske als einem auf- und zuklappbarem Visier glich. Auf Hüfthöhe trug die metallische Riesenrüstung einen breiten Gürtel aus der Haut eines ungarischen Hornschwanzes mit einer ebenso nachtschwarzen Schwertscheide, in der ein für den möglichen Träger dieser Rüstung schmales Schwert von einer Menschenlänge steckte. Wenn Vengor Iaxathan dazu bringen konnte, ihm die letzten Geheimnisse dieser kriegerischen Fertigung zu verraten, dann konnte ein Mensch in diese Rüstung hineinklettern und wurde mit ihr zu einem einheitlichen Gefüge aus lebender und magisch angereicherter Materie. Wer so eine Rüstung trug wurde zum Schattenritter, dem keine körperliche Gewalt, kein Todesfluch und auch kein Drachenfeuer etwas anhaben konnte. Allerdings schwächte die reine Sonnenstrahlung die Schutzaura dieser Rüstung und saugte dem Träger eigene Ausdauer aus. Doch wer diese Art von Rüstung trug und mit ihrer Hilfe auch das wuchtige Langschwert führen konnte, war schier unbesiegbar, übermenschlich stark und schnell. Noch war die eine Rüstung hier nur eine von fünf vollendeten. Doch wenn Vengor die Zauber zur vollendeten Verbindung zwischen ihr und ihrem Träger aus Fleisch und Blut erfuhr und benutzte, wollte und würde er das hundertfache davon herstellen. Und dann würde ihm die Welt zu Füßen liegen.

Mit ungesagten Zaubern prüfte er, ob die von ihm und seinem thaumaturgisch ausgebildeten Helfer Nummer vier aus gestohlenem Silber und Unlichtkristallstaub gefertigte Rüstung weiterhin mit dem Unlichtkristall wirkte, aus dessen Staub sie gefertigt war. In gewisser Weise floss der Rüstung auch etwas von der beim massenhaften gewaltsamen Tod der Gefangenen freiwerdenden Kraft zu. Somit würde sie, wenn er von seinem wichtigen Treffen im Himalayagebirge zurückkehrte, noch stärker sein als gerade jetzt.

Ich bin zufrieden mit dem, was ich hier sehe", sagte Vengor, nachdem er seine Prüfzauber beendet hatte. "Verarbeite die hier gerade eingelagerten Muggel und hüte dich weiter vor denen, die meinen, unsere kleine Waldfabrik von der Erdoberfläche putzen zu müssen!"

"Unsere Warnzauber sind wirksam, Herr. Dieser Fabrik kann sich niemand nähern, ohne dass wir ihn oder sie schon auf zwei Meilen entfernung erfassen. Wir haben aus dem Verlust in Brasilien gelernt", bekräftigte Zwanzig. Vengor sah ihn streng an, weil er meinte, aus dieser Entgegnung eine gewisse Unterstellung herauszuhören, dass der Verlust der Fabrik in Brasilien sein Fehler gewesen war. Immerhin hatte selbst Iaxathan eine gewisse Furcht verraten, dass die Widersacherin ihm schon einmal sehr unangenehm nahegekommen war. "Wenn ich von meiner großen Reise zurückkehre werde ich jemanden mitbringen, der diese Rüstung anlegen und damit verschmelzen soll."

"Ich vermutete, Ihr wolltet mir das Tragen dieser Rüstung zuteilen", erwiderte Zwanzig voreilig.

"Diese Rüstung wird nur jemand tragen, der mindestens hundert Feinde getötet hat und sich zudem mit Klingenwaffen auskennt. Beides hast du nicht geleistet, Zwanzig", schnarrte Vengor. Dann verabschiedete er sich wieder von Nummer zwanzig und ritt auf seinem Donnerkeilbesen von der Fabrik fort, bevor die von ihmm befohlene Pause beendet war. Erst als er weit genug von der Fabrik entfernt war disapparierte er, um schneller zu seinem eigentlichen Stützpunkt zurückkehren zu können.

"Wiege dich nicht in der Hoffnung, dass deine Zuchtstätten für Unlichtkristalle unangreifbar sind, Vengor! Auch wenn sie noch so gut versteckt liegen oder von starken Mauern und Wehren der Kraft umschlossen sind, so werden unsere Feinde immer nach Wegen suchen, sie zu stürmen und niederzureißen, wie es dieses Spinnenweib Naaneavargia getan hat."

"Wieso kann ich nicht in deinem Namen versuchen, dieses Flittchen mit einem Fernfluch zu treffen, Meister Iaxathan?" wollte Vengor wissen.

"Weil das, was sie stärkt ähnlich mächtig ist wie die Kraft des Unlichtkristalls. Es schluckt oder spiegelt mächtige Kräfte der Mitternachtsquellen. Darum kannst du sie nicht mit einem Fernbann treffen. Außerdem könnte es sein, dass du dich dadurch enthüllst und sie erkennt, wer sich hinter der Gesichtsverhüllung verbirgt", erwiderte Iaxathan. "Das will ich erst dann erlauben, wenn wir zwei unseren ewigen Bund geschlossen haben werden", erwiderte Iaxathans Geistesstimme. Das sah Vengor ein.

"Ich werde morgen den frechen Maler auffordern, sein Wort zu halten und mir alle Feinde vom Hals zu halten. Auch werde ich, wenn du es erlaubst, noch einmal zu deinem treuen Diener Kanoras reisen, um ihn zu bitten, seine Macht zu beweisen."

"Ich erlaube es", erwiderte Iaxathan. "Denn mit ihm zusammen wirst du mir ein starker Verbündeter auf Erden sein und mir helfen, den Irrweg der Welt zu beenden."

"So möge es sein", bekräftigte Vengor in Gedanken. Doch dabei hütete er sich, seinen Geist nicht all zu offen zu zeigen. Denn er wollte nicht zu früh verraten, was er sich von Iaxathan wünschte.

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24. November 2002

Nebel wallte grünlich über dem Podest in der Mitte der Halle auf. Die dreißig maskierten Männer starrten in die grüne Wolke, aus der unvermittelt ein blauer Blitz herausschlug. Mit einem lauten Donnerschlag verglühte der Dunst und gab eine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt in einem langen, schwarzen Umhang mit einem blutroten V auf dem Brustteil frei. Auf den Schultern trug der so spektakulär erschienene einen grün leuchtenden Schlangenkopf, von dem giftgrüne Funken in den Raum sprühten. Jetzt wechselten die grünen Funken zu einer blau flirrenden Aureole. Dreißig mit weißen Schlangenkopf-Vollmasken und grauen Umhängen uniformierte Männer standen in der Halle. Als sie ihren Herrn und Meister sahen verneigten sie sich sehr tief und blieben in dieser Demutshaltung, bis er zu ihnen sprach. Er sagte: "Stellt euch wieder gerade hin! Ich habe euch was wichtiges anzukündigen."

Die anderen warteten darauf, dass ihr Herr und Meister diese Ankündigung aussprach. Doch er ließ sich eine halbe Minute Zeit, während der er jedem seiner gleichförmig aussehenden Helfer tief in die Augen sah, wohl um zu erfassen, ob wirklich jeder unverbrüchlich zu ihm stand. Dann brach der selbsternannte Erbe Voldemorts das Schweigen.

"Ihr wisst, dass wir in den letzten Monaten Erfolge und Niederlagen erlebt haben. Unser Weg der Vergeltung ist steil, sehr schmal und steinig. Doch ich habe euch allen versprochen, dass er sich lohnt und dass er es wert ist, beschritten zu werden. Sicher, immer wieder mussten eure mir treuen Mitbrüder ihr Leben geben, um den Weg fortzusetzen. Denn unsere Feinde haben sich als nicht so einfältig und zaghaft erwiesen, wie ihr alle es erhofft habt. Mir war schon immer bewusst, dass unsere Widersacher es nicht hinnehmen werden, dass jemand das Vermächtnis des dunklen Lords ergreift und darauf eine neue Zukunft reinblütiger Zaubererschaft und frei von falscher Rücksicht den Muggeln gegenüber aufbaut. Diese irrwitzigen Muggel, die in der lächerlichen Annahme ihr Leben ließen, eine göttliche Belohnung im Totenreich erwerben zu können, wenn sie möglichst viele ihrem Glauben nicht zugetane Muggel in einen fraglos spektakulären Tod reißen, haben uns ohne es zu ahnen das größte Geschenk gemacht, dass wir erwarten konnten, den dunklen Kristall der Macht, der nur dort entsteht, wo an einem Tag mehr als dreihundert Menschen gewaltsam zu Tode kommen. Damit haben sie mir und somit auch euch einen unumstürzbaren Feiler der Macht errichtet, die wir über ihre ebenso einfältigen Glaubens- und Gesinnungsbrüder und all die anderen magielosen Schwächlinge und Zaubererblutbeschmutzer errichten werden. Ja, wir haben Rückschläge erlitten. Unsere Werkstätten des Unlichtkristalls wurden entdeckt und vernichtet. Eine kleine, miese Blutsaugerin wurde durch einen Jahrtausendzufall zur nicht zu unterschätzenden Gegenspielerin, weil sie es gewagt hat, mit dem Mitternachtsdiamanten eine dauerhafte Verbindung einzugehen und damit ihren körperlichen Tod überwand. Sie hat sich erdreistet, ebenfalls Unlichtkristalle zu erschaffen und damit ihre Knechte und Mägde zu überstarken, aber nicht unbesiegbaren Kriegern zu machen. Wie genau diese Übervampire zu töten sind wissen unsere Feinde. Bald aber werden auch wir dieses Wissen unser eigen nennen. Doch womöglich werden unsere achso auf Muggelschutz und Durchmischung unseres edlen Blutes mit dem verdreckten Blut zufällig mit Zauberkraft geborener bedachten Widersacher uns den Gefallen erweisen, dieses Ungeziefer auszurotten, da es ja auch ihre eigenen Leute bedroht. Somit besinnen wir uns auf die eigentliche Aufgabe, unsere Herrschaft über die Zaubererwelt zu erkämpfen und dann wie der dunkle Lord die Durchmischung unseres edlen Blutes zu beenden, die im Augenblick noch überlegen johlenden Muggelfreunde und Schlammblüter hinwegzufegen und die Muggel in die Rolle zurückzuweisen, die ihnen seit Entstehung der Menschheit auferlegt ist, niedere Bauern und Handwerker. Wir werden die in Askaban und den anderen Gefängnissen eingeschlossenen Mitkämpfer befreien und Ihnen die Mitgliedschaft in unserer großartigen Bruderschaft anbieten. Den reinblütigen Hexen, die sich mit ihrem Blut zu uns bekennen, werden wir ermöglichen, Mütter der neuen, reinblütigen Zaubererwelt zu werden. Jene, die sich nicht zu uns bekennen, weil sie dem Geschwätz von der einzig wahren Vorherrschaft der Hexen verfallen sind, werden wir mit dem Imperiusfluch unseren Willen aufzwingen und sie wie niedere Wonnefeen für unser Vergnügen oder zum freien Verkauf an jene bestimmen, die mit ihnen reinblütige Zaubererkinder zeugen wollen. Wenn sie sich dagegen auflehnen werden sie sterben, genau wie all die Schlammblüter und deren verdorbene Brut und Befürworter ihres widerwärtigen Daseins.

Jene von euch, denen ich die Ehre erwies, wie ich selbst durch die Kraft des im eigenen Blut wirkenden Unlichtkristalls zu vielfacher Stärke zu kommen, wissen, dass es für einen wahrhaft entschlossenen Zauberer nur eine Grenze gibt, den Himmel. Sie werden die Führer unserer großen Streitmacht sein, die wir errichten werden, während die anderen von euch, die bisher noch nicht zu der großen Ehre gelangten, Träger von Unlichtkristallstaub sein zu dürfen, meine Statthalter in ihren Heimatländern sein werden, Fürsten der wahren Zaubererschaft, Herren über alle Menschen, Tiere und Zaubergeschöpfe.

Der Tag, an dem dieses große, erhabene Ziel erreicht sein wird steht kurz bevor. Am Ende dieses Kalendermonats beginnt die Ära der einzig wahren Zaubererschaft, die Ära der einzig wahren Träger der Macht, die wir sein werden, wenn ich den letzten großen Stein aus dem Weg geschafft haben werde, der vor diesem großen Ziel liegt und den nur ich allein aus dem Weg räumen kann. Ihr anderen, wie ihr hier gerade vor mir steht, werdet in euren Heimatländern auskundschaften, wer es nach diesem Monat noch wert ist, weiterleben zu dürfen, wer wegen seiner Abkunft zumindest noch als Träger wertvollen Blutes am Leben bleiben darf und wer zu sterben hat. Ich befehle euch, Listen zu schreiben, die ich nach meiner Rückkehr überprüfen kann. Und ich erwarte von jedem von euch unbedingte Gründlichkeit und Rücksichtslosigkeit. Kennt keine Gnade, nur weil es Verwandte von euch sind! Denn auch ich habe keine Rücksicht und Gnade gekannt, als ich zur Bewältigung der letzten großen Aufgabe vor unserer weltweiten Vorherrschaft alle meine Blutsverwandten tötete, um mir ihre Lebenskraft einzuverleiben, so dass sie in dem von mir getragenen Unlichtkristall gebündelt wird. Spätestens am vierten Dezember will ich die neue Weltordnung verkünden. Dann sollen alle die sterben, die uns lästig oder gar widersetzlich sind. Der dunkle Lord war ein machtvoller und entschlossener Zauberer. Doch er hat einen bedauerlichen Fehler begangen, der uns Warnung und Lehre sein soll. Er ließ alle Schlammblüter und Widersacher, die nicht im offenen Kampf den Tod hinnehmen wollten leben. Wir werden dies nicht tun. Also erwarte ich oberste Gründlichkeit von jedem von euch.

In den nächsten Tagen wird es überall auf der Welt zu magischem Aufruhr kommen. Lasst diesen geschehen und kümmert euch nur um die Verfertigung der Listen! Denn was immer auch passiert, es dient unserer Sache und wird von einem, der mir noch etwas schuldig ist hervorgebracht. Ach ja, und haltet euch vom afrikanischen Kontinent fern. Dieser wird von einem besonderen Verbündeten beansprucht, dessen Ansinnen und Begehren ich um unserer Sache willen nicht zurückweisen werde. Seine treuen Sklaven werden uns dafür die unumstößliche Vorherrschaft im großen Rest der Welt sichern.

Ach ja! Wie soll jede Liste beschaffen sein? Hier habe ich für jeden von euch ein Musterexemplar, wie ihr vorgehen sollt, damit Gleichförmigkeit besteht. Nehmt und geht danach vor!"

Vengor winkte mit seinem Zauberstab. Aus leerer Luft fielen in roten Holzringen steckende Pergamentrollen herunter. Jede Rolle steuerte wie mit unsichtbaren Flügeln fliegend einen der dreißig Männer mit den weißen Schlangenkopfmasken an. "Befolgt die Einteilung am obersten Rand des äußersten Bogens und haltet euch ran! Wie gesagt will ich am vierten Dezember eure Ergebnisse haben, also in von jetzt an zehn Tagen. Also los und an die Arbeit! Eure Zeit könnte knapp werden." Er winkte allen mit der leeren Hand zu, was hieß, dass sie unverzüglich zu verschwinden hatten. Da man aus der Halle nicht hinausdisapparieren konnte griffen die dreißig Getreuen, von denen keiner außer ihrem Herrn und Meister wusste, wer genau der jeweils andere war, zu scheinbar wertlosen Dingen wie zerbeulten Blechdosen, stark verrosteten Schürhaken, löcherigen Handtüchern und ausgelatschten Schuhen. Vengor winkte mit dem zauberstab und murmelte für die anderen unhörbar das Wort "Initio Portos!" Unvermittelt glühten blaue Lichtspiralen um die dreißig Männer auf und verschlangen diese. Dann erloschen sie. Die Helfer Vengors waren fort. Der selbsternannte Erbe Voldemorts senkte seinen Zauberstab wieder. Der von ihm erfundene Auslöser für alle von ihm erzeugten Portschlüssel war eigentlich patentwürdig. Doch wie mit einigen seiner Erfindungen hatte er es auch mit dem Gleichzeitigauslöser für alle in Sichtweite befindlichen Portschlüssel so gehalten, dass nur er davon wusste. Das war die langjährige Erfahrung, wie seine erfundenen Zaubergegenstände und Zaubersprüche von denen verwendet wurden, denen er sie erklärt oder beigebracht hatte.

Vengor stand nun alleine in der weitläufigen Halle in seinem geheimen Versteck, dessen wahren Standort nicht einmal die dreißig Getreuen kannten. Er genoss die Stille dieses Ortes, den er vor zehn Jahren erstmalig besucht hatte und ihn eigentlich als Niderlassung der Todesser in seiner Heimat empfehlen wollte. Doch die Todesser hatten sich darauf festgelegt, dass sie nur willenlose Handlanger des dunklen Lords waren und wollten sich nicht ohne ihn gegen den Rest der Zaubererwelt stellen. Als der Dunkle Lord dann doch wiederauferstanden war hatte der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte, darüber nachgedacht, ihn hierher zu führen, um ihm seine Idee von einer kontinentalen Bruderschaft des dunklen Mals zu erläutern. Doch der dunkle Lord war zu versessen auf die Macht in seiner Heimat, das Zaubereiministerium in London und die Zaubererschule Hogwarts, dass er nicht an einen Ausbau seines dunklen Ordens auf dem europäischen Festland denken wollte, bevor er nicht diese beiden Institutionen ein für alle mal unter seiner Herrschaft hatte. Tja, und dann hatte der dunkle Lord diese vorgeschichtlichen Schlangenkrieger wiedererweckt und diese zu einer Terrorarmee gemacht. Am Ende war er dann noch über die Launenhaftigkeit des unbesiegbaren Zauberstabes gestürzt und endgültig vergangen. Das war für ihn, der sich Lord Vengor nannte und sich als künftigen Partner des mächtigsten Magiers aller Zeiten wähnte eine Warnung gewesen, sich nur mit solchen Dingen und Wesen einzulassen, die er durchschauen und am Ende auch beherrschen konnte.

"Hast du diese kleinen Schwächlinge ausschwärmen lassen, für dich irgendwelche Namen zu sortieren, mein künftiger Verbündeter?" hörte Vengor Iaxathans Gedankenstimme in seinem Geist. "Dann suche noch einmal jenen mit Farben und Vorstellungskraft hantierenden Träger der Kraft auf, damit er seine Schuld bei dir bezahlt! Danach suche meinen treuen Diener Kanoras auf und sage ihm, dasss er seine schattenhaften Sklaven aussenden soll, um Angst und Tod über jenen Erdteil zu bringen, den ihr heute Afrika nennt und der zu meiner körperlichen Daseinszeit noch Spätmorgenland geheißen hat!"

"Ich werde dich wissen lassen, wenn die beiden Verbündeten ihre Macht weit genug ausgebreitet haben, dass die Zaubereiministerien und auch unsere anderen Widersacher mehr als genug beschäftigt sind, um mich nicht weiter verfolgen zu können."

"So erwarte ich es von jenem, der sich mir als würdig erweisen will. So geh nun los und finde diesen Pickman!"

Vengor bejahte es gedanklich. Doch dann verschloss er seinen Geist sorgfältig. Ihm missfiel es, wie bestimmerisch Iaxathan mit ihm umsprang, als wolle dieser keinen gleichgestellten Verbündeten, sondern einen niederen Sklaven, einen besseren Hauselfen. Doch wenn er, Lord Vengor, die von ihm als einzig zutreffende Bestimmung finden und zum mächtigsten lebenden Zauberer werden wollte, musste er Iaxathans Wissen erhalten.

Vengor verließ zu Fuß die Halle der Besprechungen. Er ging in jenen kleinen Raum, wo die von ihm erstellte magische Karte hing, die ihm die Standorte seiner Getreuen und die Zustände in den Unlichtkristallfabriken Europas, Afrikas, Asiens und Südamerikas zeigte. Er dachte kurz daran, was Rodrigo Almadura alias Nummer neun vor zwei Tagen noch gefragt hatte, ob Vengor nicht doch die eine oder andere Hexe in seine Reihen aufnehmen sollte. Doch er hatte es mal wieder abgelehnt, weil sein Orden gegen jede Infiltration von Sardonias selbsternannten Erbinnen abgeschottet werden musste. Außerdem wusste er um den Frauenhass Iaxathans. Wohl wahr, er wusste auch warum der in seinem geheimnisvollen Zauberspiegel eingekerkerte Kaiser der dunklen Künste keine Hexen als mächtige Führerinnen haben wollte. Doch das durfte er niemals vor Iaxathans geistigem Ohr ausplaudern, woher er dies und noch so einiges mehr wusste. Doch der Tag, wo es offenbart werden sollte rückte immer näher. So galt es nun, den nächsten Schritt zu tun.

An der Wand neben der Überwachungskarte hing ein völlig schwarzes Bild ohne Landschaft oder Personendarstellung. Er hatte es von Hironimus Pickman erhalten, dem Herrn der Farben und Meister schwarzmagischer Malerei. Er tippte mit dem Zauberstab an die tiefschwarze Oberfläche des Bildes und murmelte: "Sonato Campana!" Darauf erklang vom Bild her ein laut dröhnender Glockenschlag, als sei Big Bens unbekannt gebliebener großer Bruder dort unter der schwarzen Oberfläche in Schwung gekommen. Dieser besondere Rufzauber ging nur bei magischen Gemälden, oder wenn eine wahrhaftig gegossene Glocke in Hörweite ihres Klanges und Zauberstabausrichtung zu finden war.

"Eh, nich' so laut. Mir ist fast die Nase zerblasen worden!" schrillte eine vor Schmerz und Verärgerung angerauhte Stimme. Dann tauchte auf der schwarzen Oberfläche ein schneeweißes Gesicht mit feuerroter Knollenase und ebenso feuerroten, struppigen Haaren auf. Das Gesicht war zu einer dauerhaft lachenden Grimasse erstarrt. Doch die kleinen, dunklen Augen glommen lauernd, als ob das Gesicht nur auf eine Gelegenheit warte, seinem Betrachter übles Ungemach zu bereiten.

"Sage deinem Doppelgänger im Originalbild deines Schöpfers, dass ich den persönlich sprechen will, und zwar morgen um zwölf Uhr Mittags Ortszeit. Und diesmal soll er persönlich erscheinen, will er mich nicht zum ewigen Todfeind haben."

"Ich werde ihm das sagen, großer Meister Vengor", trällerte das im ewigen Grinsen erstarrte Gesicht mit der Knollenase. "Dann geht es also jetzt los?"

"Ja, du Witzfigur, es geht los! Deshalb will ich ja, dass er selbst kommt und nicht wieder einer seiner drittklassigen Homunculi!"

"Aber ich bitte doch sehr. Avatar sagt mein Schöpfer dazu. Aber ich sage dem, er soll selbst zum Treffen kommen, damit du ihm nicht böse sein musst", sagte das scheinbar harmlos lustig aussehende Gesicht ohne Hals und daran hängendem Körper. Dann verschwand es laut und grauenhaft lachend unter der schwarzen Oberfläche, die das gesamte Gemälde überzog. Das Lachen verklang wie von einem leichten Wind davongetragen in der Ferne, nicht abrupt, wie wenn der Lacher schlagartig an einen weit entfernten Standort überwechselte. Vengor blickte verächtlich auf das nun wieder total schwarze Bild. Wenn dieser sich selbst als Clown der Grausamkeit bezeichnende Wicht unterhalb der Schwärze nicht die einzige greifbare und sichere Verbindung zu Pickman gewesen wäre, hätte er dieses Bild schon längst zerstört. Für einen arglosen Zeitgenossen mochte dieses Gemälde harmlos wirken. Doch Vengor hatte durch einen heimlichen Zauber an dem Bild die finstere Aura entdeckt, die auf eine mörderische Natur und äußerste Gnadenlosigkeit hindeutete. Vengor vertraute jedoch auf die in ihm wirkende Macht des Unlichtkristalls, deren Aura wie ein ständig bereiter schwarzer Spiegel alle dunklen Zauber und mit dunkler Magie aufgeladene Zaubergegenstände und -wesen vom Leib hielt. Was sich Pickman dabei auch immer gedacht hatte, dieses Bild zu malen, es konnte nichts menschenfreundliches gewesen sein.

Vengor musste nur drei Minuten warten. Dann erschien das Clownsgesicht unvermittelt wieder auf der schwarzen Bildfläche. "Mein Herr und Schöpfer hat gesagt, dass das klar geht. Er ist morgen um Mittag New Yorker Zeit in seinem kleinen Refugium. Er hat es übrigens mit neuen Bildern geschmückt, soll ich dir sagen."

"Die haben ihm letztes mal nicht geholfen und werden mich auch diesmal nicht abhalten, ihn zu bestrafen, sollte er mich zu hintergehen versuchen", schnarrte Vengor. Darauf lachte das Clownsgesicht wieder schrill und bösartig, während es wieder unter der Schwärze des Bildes verschwand. Diesmal hielt das grausame Lachen eine volle Minute lang an, bevor es wieder wie von einem sanften Wind davongetragen leiser und leiser wurde.

"Denk dran, du Witzfigur, dass du nur solange existieren darfst, wie dein Meister für mich nützlich ist", flüsterte Vengor dem Bild zu. Von diesem kam jedoch keinerlei Erwiderung.

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Seine roten Augen durchdrangen die hier herrschende Dunkelheit. Sie erfassten innerhalb von wenigen Sekunden alle Einzelheiten an den Wänden. Diesmal hingen dort keine dämonischen Mischwesen, sondern ausnahmslos Bilder von Kriegern aus verschiedenen Ländern und Zeiten. Er sah einen Trupp römischer Legionäre vor einem Zelt, die ihre Kurzschwerter in Händen hielten. Er konnte eine Horde Wikinger vor einem an einem Felsenstrand liegenden Langschiff mit Drachenkopfbug sehen, ebenso wie hoch zu Schlachtross reitende englische und französische Ritter mit eingelegten Lanzen. Doch was ihm besonders zu denken gab waren die halb hinter Urwaldbüschen verborgenen Krieger aus Afrika und Südamerika, sowie die vor einer blutroten Darstellung des Eyers Rock gemalten blutroten Geister einstiger Krieger der Aborigines. Die waren alle samt mit Wurfwaffen oder Blasrohren bewaffnet.

Als pünktlich um zwölf Uhr Mittags der in einer mit Farbtupfern bekleksten Lederschürze bekleidete Hironimus Pickman apparierte regten sich die gemalten Krieger. Ihre Waffen und Rüstungen glommen in einem unheilvollen grünen Licht. Vengor ließ das kalt. Er horchte in sich hinein und fühlte neben dem Pochen seines Herzens noch das gleichfalls Kraft spendende Pulsieren des Unlichtkristalls. Gleichzeitig hörte er ein im Rhythmus dieses Pulsierens klingendes Summen. Es war die Auswirkung eines Zaubers, den er vor seinem Aufbruch auf sich gesprochen hatte und der mit den Auren lebender Wesen wechselwirkte. Was das nur für ihn vernehmbare Summen verriet ließ sich Vengor nicht anmerken, als er Pickman begrüßte. Er verzichtete sogar darauf, dass Pickman sich vor ihm hinkniete. Den schwarzmagischen Maler kümmerte das auch nicht. Der hielt sich wohl für gleichrangig.

"Hast du dir eine neue Leibgarde hingehängt, Hironimus Pickman? Sie wird mir genausowenig imponieren wie deine letzte", stellte Lord Vengor klar. "Ich habe dich ja gebeten, mir bei einem groß angelegten Ablenkungsmanöver zu helfen, damit ich in aller Ruhe unsere gemeinsame Vorherrschaft in der Welt einleiten kann, bevor irgendein Zaubereiministerium uns dahinterkommt."

"Ja, und ich soll es nun beginnen, Lord Vengor?" fragte Pickman.

"Genau das erwarte ich von dir, Hironimus Pickman. Du hast vollmundig angekündigt, mehrere Dutzend bezauberte Bilder in der Welt verteilt zu haben. Es ist jetzt die Zeit, ihr Geheimnis zu enthüllen und damit Chaos und Panik unter die Menschen zu bringen."

"Oh, hat dir jemand gesagt, dass es jetzt Zeit ist oder hast du das selbst beschlossen?" fragte Pickman unüberhörbar aufsässig. Vengor blickte ihn warnend an. "Vergiss es, mich anzugreifen, Vengor! Denkst du, ich hätte mich persönlich hierhergewagt, wie du es dir gewünscht hast? Meinem Original ist immer sehr wohl, wenn es außerhalb deiner Zauberspruchreichweite ist."

"Ich wusste schon bei deinem Eintreffen, dass du auch nur wieder eine billige Kopie bist. Zwar hast du die Aura eines lebenden Wesens an dir, aber auch die von magisch belebter Materie, du niederer kleiner Homunculus. Aber ich war eh nicht darauf gefasst, dass dein Original sich in meine Nähe traut. Du bist und bleibst ein hinterhältiger Feigling, Hironimus Pickman, der sich hinter seinen Bildern versteckt und nie offen kämpft. Das ist auch der Grund, warum der dunkle Lord dich nie so recht für voll genommen hat. Aber dein Talent ist zu groß, um es unbeachtet und ungenutzt zu lassen. Daher biete ich deinem Original an, es zu einem meiner Statthalter hier in diesen von Geld- und Ruhmsucht vergiftetem Land zu machen, wenn deine Bilder halten, was du versprochen hast."

"Vengor, es ist keine Feigheit, einen unberechenbaren wie übermächtigen Gegenüber mit Vorsicht zu begegnen und sich niemals all zu freimütig seinen Launen auszuliefern", erwiderte Pickman. "Aber ich werde tun, was du von mir möchtest. Ich verspreche dir: Bis zum ersten Dezember wird die ganze Welt in Chaos, Angst und Unsicherheit versinken. Dann können wir eine ganz neue Zeitrechnung anfangen, die Vengor-Pickman-Zeit."

"Ein Feigling und Prahlhans", knurrte Vengor verärgert. Dann deutete er auf die Bilder an der Wand. "Wozu dann diese martialischen Kleksereien da, wenn du eh mal wieder nur deine Nachbildung losgeschickt hast?""

"Weil es schöner aussieht, wenn die Wände mit Bildern behangen sind. Beton ist ein zu öder Stoff, um ungeschmückt zu bleiben", erwiderte Pickmans Nachbildung.

"Achso, verstehe", lachte Vengor. "Der Meister der Farben muss sich stilvoll präsentieren", fügte er noch hinzu. Dann sagte er: "Wähne dich nicht vor mir sicher, Pickman. Wenn ich bis übermorgen nicht erfahre, dass deine Bilder halten, was du versprichst, finde und töte ich dein Original."

"Stell dich in die Schlange derer, die das schon länger vorhaben, Vengor oder wie du wirklich heißt. Bis du mein Original unter den dreißig Avataren, die alle meine Lebensaura aufgeprägt bekommen haben, findest, weiß ich längst, wer du in Wirklichkeit bist und werde mich auf deinen Besuch vorbereitet haben. Aber wir müssen uns nicht gegenseitig massakrieren. Meine Bilder halten, was ich verspreche. Allein die Blutamme und die drei Zyklopenschwestern werden eine Menge Aufruhr verursachen, die jede magische Eingreiftruppe auf sich zieht. Und dann sind da ja noch genug andere Bilder von mir, gleichmäßig über den Globus verteilt, genau wie meine Ebenbilder."

"Dreißig Avatare mit deiner Lebensaura. Das kann nicht gelingen, du Aufschneider!" schnaubte Vengor. "Aber es sei, übermorgen will ich Vollzug gemeldet bekommen, sonst ist dein Original einen Tag später selbst tot."

"Kannst du nicht einmal ohne ständige Drohungen mit jemandem reden, der dir helfen möchte? Hast du das schon als Kind immer so gemacht?" entgegnete Pickmans Ebenbild keck.

"Ich drohe nicht nur, ich handele auch, und das ganz frei von schützenden Facsimiles", knurrte Vengor. "Ja klar und ohne Maske, Unortbarkeitszauber und im Körper steckenden Dunkelzauberverstärkerkristall. Ne, is' klar, Vengor. Oh ja, und natürlich auch ohne kriegerischen Kampfnamen", spottete Pickman. Vengor tat, womit das Ebenbild gerechnet hatte. Er riss den Zauberstab hoch. Doch er rief nicht den tödlichen Fluch. Er rief "Umbra vitae resonato!" Das war ein von ihm erfundener Zauber, der im Angesicht eines vorgetäuschten Lebewesens den Standort von dessen Original ermittelte, solange das Ebenbild in Zauberstabausrichtung blieb. Da preschten die Ritter auf ihren Schlachtrössern aus den Bildern. Ebenso hoben die vor ihrem Schiff gemalten Wikinger ihre Bögen an und die gemalten Buschkrieger ihre Blasrohre. Sofort flogen Pfeile auf Vengor zu, während die Ritter sich schneller als gewöhnlich zwischen ihm und Pickmans Ebenbild stellten. Ihre Rüstungen glommen nun noch heller. Vengor konnte nicht mehr richtig auf Pickman zielen. Doch damit hatte er jetzt auch gerechnet. Er riss den Zauberstab senkrecht nach oben und rief: "Desintegro falsificatum!" Ein gleißender Blauer Blitz schlug aus dem Zauberstab. Pickman schrie auf, als der Blitz zu einem von den Wänden widerscheinenden blauen Flimmerlicht abebbte, das nun den Raum erfüllte. Die Bilderwesen zerflossen in diesem Licht, während Pickmans stoffliche Nachbildung wie Eis in der Sommersonne zerschmolz. Vengor lachte lauthals. Dann deutete er auf den zerfließenden Scheinpickman und dachte konzentriert an eine Zauberformel, die er nach der ersten Begegnung mit Pickman entwickelt und an verschiedenen Versuchsobjekten geübt hatte, denen er seine Lebensaura aufgeprägt hatte. Das Ergebnis war, dass der immer stärker zerfließende Pickman-Doppelgänger mit einem Schlag zu einem blutrot leuchtenden Lichtball wurde, der auf Vengor zuraste und in dessen Zauberstab eindrang. Der Stab erwärmte sich und vibrierte mit sechzig Schwingungen in der Sekunde, weshalb er ein leises Brummen von sich gab. Vengor wusste, dass er nur noch eine halbe Minute hatte, um die Wirkung dieses Zaubers auf einen anderen Gegenstand zu übertragen, bevor sein Zauberstab für weitere Zauber unbrauchbar wurde. Darauf war er jedoch vorbereitet. Er nahm aus seinem schwarzen Umhang einen goldenen Kompass mit einer dito Nadel. Die Windrose des kleinen Richtungsweisers war so fein unterteilt, dass er sechsunddreißig Himmelsrichtungen anzeigen konnte. Mit dem genau rückwärtsausgesprochenen Zauber, diesmal laut und auf derselben Tonhöhe wie der brummende Zauberstab klingend tippte Vengor den Kompass an. Dieser glühte nun in jenem blutroten Licht, das eben der in den Stab gesogene Lichtball besessen hatte. Es hielt zehn Sekunden vor, wobei der Zauberstab immer schwächer Vibrierte. Dann erlosch es. Statt dessen summte nun der Kompass, und die Nadel begann, sich im Uhrzeigersinn zu drehen. Sie drehte sich einmal um die gesamte Skala und wurde schneller. Die zweite Umdrehung dauerte nur noch zwei Drittel der Zeit von der Ersten. Dann setzte die Nadel zur dritten Eigenumdrehung an, wieder schneller. Vengor stieß eine wüste Verwünschung aus. Er glaubte nicht, dass sein Zauber versagt hatte. Doch dass sich die Nadel nun immer schneller drehte und nicht wie eigentlich gewünscht auf eine bestimmte Stelle der Einteilungen deutete verriet ihm, dass Pickmans Nachbildung die Wahrheit gesagt hatte. Die Abstimmung des Feindfinders, wie Vengor dieses Gerät nannte, war auf Pickmans Lebensaura festgelegt. Diese schien jedoch aus allen Richtungen zugleich auf den Kompass zu wirken. Deshalb wirbelte die Nadel nun wie Windmühlenflügel im Sturmwind herum. Vengor tippte den Kompass an und blaffte: "Maneto in expectatione!" Das Wirbeln der Kompassnadel ließ nach. Immer langsamer drehte sich die goldene Nadel, bis sie ganz und gar zur Ruhe kam. Das Summen verebbte. Jetzt pulsierte der Kompass mit einem kaum spürbaren Ruckeln pro Sekunde. Der ihm aufgeprägte Zauber war nicht ausgelöscht, sondern stark abgeschwächt. Vengor klappte den Deckel über Nadel und Windrose zu. "Und ich kriege dich doch", knurrte er, als er den Kompass wieder fortsteckte und mit wütend emporgerecktem Zauberstab disapparierte. Zurück blieben scheinbar jungfräuliche Leinwände in langsam zerfallenden Bilderrahmen.

Zurück in seinem Hauptquartier dachte Vengor noch einmal über das Experiment nach. Wenn Pickmans Doppelgänger recht hatte, so hatte dessen Original dreißig weitere Ebenbilder auf der Welt verteilt. Die alle strahlten genau dieselbe Aura aus. Doch irgendwo musste es einen winzigen Unterschied zum Original geben. Kein Mensch konnte seine Lebensaura zu eintausend Promill auf einen anderen bezauberten Gegenstand, noch dazu ein künstlich belebtes Ebenbild übertragen. Die winzigen Abweichungen von den Scheinauren musste er herausfinden. Dann konnte er das Original ermitteln und heimsuchen. Aber erst wollte er zu Iaxathan. Vielleicht konnte und wollte der ihm verraten, wie ein Originalwesen von seiner Nachbildung zu unterscheiden war.

"Na, Vengor, hast du herausgefunden, wo mein Meister wohnt?" klang es spöttisch durch das völlig schwarze Bild an der Wand.

"Sage dem, ich kriege ihn, wenn er mich enttäuscht. Wer das tut lebt nämlich nicht lange genug, um sich noch einen Kaffee zu kochen. Sag ihm das!"

"Mach ich doch glatt, Vengor", kicherte die Stimme des gerade nicht zu sehenden Clownsgesichtes. "Und wenn ich den abmurkse zerlege ich dich auch", dachte Vengor und deutete mit dem rechten Zeigefinger auf das schwarze Bild.

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"Haua, was war das denn?!" stieß Hironimus Pickman aus, als Vengors vernichtender Zauber sich für den etliche tausend Kilometer entfernten Zauberbildmaler so anfühlte, als blase ihm jemand die Eingeweide auf und jage einen Strom aus Funken aus Magen und Lunge durch seinen Körper nach außen. Dann erkannte er, was ihm da widerfahren war. Vengor, oder wie auch immer dieser auf den Spuren des dunklen Lords wandelnde wirklich hieß, hatte Pickmans klare Lebensschwingungen aus dem Ebenbild herausgesogen und damit eine Art Gegendruck bei ihm, dem Original, hervorgerufen. Wenn Vengor den Avatar einfach mit einem Todesfluch belegt hätte wäre Pickmans Wahrnehmung nur mit einem kurzen Knall erschüttert worden. Jetzt saß Pickman in seinem hochlehnigen Sessel und blickte durch die silbergeränderte Brille, mit der er einen Doppelgänger von sich wie durch dessen Augen sehend und durch dessen Ohren hörend überwachen konnte. In seine Nase stieg der Gestank von verbrannter Kohle. Gut, dass er die Brille gegen Hitze bezaubert hatte. So war der eingesetzte Überwachungsstein zwar restlos verglüht, ohne das nützliche Überwachungswerkzeug beschädigt zu haben.

"Dann such du mich mal. Du wirst mich genausowenig zu fassen kriegen wie der dunkle Lord oder diese vergeltungssüchtigen Schlammblutfreunde, die uns nach der Schmach von Hogwarts immer noch jagen", dachte Hironimus Pickman. Dann fragte er seine Ausgabe vom Clown der Grausamkeiten, ob Vengor dessen Gegenstück noch ganz gelassen hatte.

"Ja, hat er", bestätigte das gemalte Clownsgesicht. Pickman warf sich daraufhin in eine überlegene Pose und rief: "Wohl an, so soll das große Werk nun seinen Anfang nehmen!" Danach lachte er, und das Clownsgesicht lachte schrill und bösartig mit, wie ein unheilvolles Echo des malenden Magiers.

Pickman hielt sich nur eine Minute lang mit seiner Vorfreude auf, was er allein über die Welt bringen würde. Dann nahm er zunächst jenen runden Stein, der mit dem Bild der Blutamme verbunden war und drückte sich diesen an die Stirn. Sofort sah er, wie eine sehr üppig beschaffene Frau zwei Mädchen auf den Knien balancierte, die scheinbar ausgehungert an ihren Brustwarzen sogen. Die Mädchen waren jedoch schon neun Jahre alt. "Schick die zwei und die anderen beiden, die du schon genährt hast zu ihren leiblichen Eltern, damit sie die zu dir bringen!" befahl Pickman durch reines Denken.

"Ist es endlich soweit, dass mein Volk die große Welt bewohnen darf, Meister?" klang eine mittelhohe, sanfte Frauenstimme in seinem Geist. Er bejahte es. "Hol dir die Welt und nähre deine Zöglinge, damit sie groß, stark und unbesiegbar werden!" bestätigte Pickman seinen Befehl.

"So sei es. Ich werde die Stillmutter einer neuen Herrscherrasse und damit ihre Königin. Und du, Mein herr und Schöpfer, wirst ihr einzig wahrer und wahrhaftig bestehender Gott."

"So ist es", freute sich Pickman über diese ihm erwiesene Huldigung. Dann befahl er noch: "Sage dem, der dich aufgeweckt und als erster deine machtvolle Milch gekostet hat, dass er das Bild mit den tanzenden Dämonen in ein anderes Haus bringen und dort aufhängen soll, weit genug weg von seinem Wohnort!"

"Das hat er schon getan, Herr und Schöpfer", erwiderte die sanfte Stimme der Blutamme. "Ich riet ihm, meine Daseinsquelle und die der tanzenden Mischwesen nicht im selben Haus zu lassen. Er hat mir gehorcht, wie alle mir gehorchen müssen, die von mir genährt werden und mir dafür einen Teil ihres Lebens überlassen." Pickman schluckte erst. So eigenständige Bilderwesen hatte er eigentlich nicht schaffen wollen. Das konnte am Ende genauso ausgehen wie mit Alontrixhila, deren Bild er hatte zerstören müssen, um sie nicht vorzeitig übermächtig und ihm entwachsen weiterbestehen zu lassen.

Als nächstes nahm er den Stein, in den zwei im tanze befindliche Wesen eingraviert waren, die wie eine Mischung aus Mensch und Tier dargestellt waren. Er drückte auch diesen Stein an die Stirn und sah nun einen gewaltigen Tanzsaal im grünen Licht von der Decke hängender Körbe, in denen grünes Feuer glomm. Dessen Flammen wirkten wie eingefroren. Er sah die verschiedenen kleinen und großen Scheusale, die auf der schwarzen, glatten Tanzfläche aufgestellt waren. Auch sah er das Orchester, das auf Instrumenten spielte, die aus Menschenknochen gemacht worden waren. "Spielt auf zum ewigen Tanze der dunklen Freuden!" dachte Pickman und wunderte sich nicht, seine Geistesstimme als vierfaches Echo von den weit entfernten Wänden des Saales widerhallen zu hören. Sogleich setzten die wie aufrechtgehende Echsen mit igelartigen Rückenstacheln dargestellten Musiker mit ihrem Spiel an. Sanft und spährisch klang der erste Akkord, der nicht den europäisch geprägten Tonformaten entstammte. Er klang leise an und schwoll zu einem alles und jeden erfassendem Brausen und Dröhnen an. Dann setzte der Rhythmus des ersten Tanzes ein. Die Mischwesen mit den Vogelköpfen, Raubkatzengesichtern, Schlangenhälsen oder froschartigen Armen und Beinen mit Schwimmhäuten fingen an zu tanzen. "Bringt die Musik und den Tanz den Sterblichen! Küsst und umarmt sie, damit sie sich euch zugesellen! Möge euer Tanz ewig dauern!"

"Meister, wir danken dir für deine Macht und deine Gnade!" riefen die Tänzer mit schnarrenden, kehligen, blökenden, zischenden oder qieksenden Stimmen. Dann gewann der dämonische Tanz an Schwung und Raum. Wer die Musik hörte würde in den Ballsaal eintreten und dort zu einem der Tänzer. Erst wenn er oder sie alles bisherige vergessen hatte und endgültig vom Keim der dunklen Tänzer durchdrungen war, würden sie wieder hinausgelangen, aber nur, um weitere Menschen zu neuen Tänzern zu machen. Bald würden tausende dem Dämonenball beiwohnen. Bald danach würden es schon hunderttausende sein. Dann war es auch für alle Kampfzauberfachkräfte des US-Zaubereiministeriums zu spät, den ewigen Dämonenball zu stoppen. Pickman musste nur aufpassen, dass die Tänzer nicht auf andere Gedanken kamen, als jene, die er ihnen beim Malen eingeprägt hatte.

Als nächstes nahm er jenen Stein mit den drei eingravierten Augen, der für die drei Zyklopenschwestern stand, die fast schon frei hinausgelangt waren. Diese begannen nun wieder mit ihrem unwiderstehlichen Gesang, um den diensthabenden Wächter im Museum für zeitgenössische Landeskunst in Carlisle, Schottland, anzulocken. Wenn der von einer der drei noch nicht mit der wichtigen Anzahl von drei Opfern gefütterten Schwester verschlungen worden war würden wohl wieder weitere nach ihm suchen. So bekamen dann alle ihre Opfer und würden endlich hinaus in die natürliche Welt treten.

Als er die bereits auf ihre Beute wartenden Zyklopenschwestern beauftragt hatte, auf Besen anfliegende oder direkt aus dem Nichts erscheinende Menschen mit ihren Augenstrahlen der völligen Verkehrung anzugreifen grinste Pickman. Das würde Shacklebolts Leuten eine Menge Schwierigkeiten machen, wenn sie auch noch gegen die eigenen Leute kämpfen mussten.

Nun nahm er den wie eine Schwanzflosse geschliffenen Aquamarin, den er mit dem Blut eines Wasserkriegers und einer jungfräulichen Nixe bestrichen und Stein und Blut in einem Zauber vereint hatte. "Erwachet, Majestäten. Das Königreich der Meere erwacht durch mein Wort, das Wort eures Herrn und Schöpfers."

Mit dem durch das eingeschlossene Blut violett leuchtenden Aquamarin sah er in einen eiförmigen Raum, in dem ein grüngeschuppter Wassermann mit starker Brust- und Armmuskulatur und tangbraunem, schulterlangen Haar auf einem Bett aus geflochtenen Algen lag. Neben ihm regte sich eine mit wasserblauen Schuppen bedeckte Meerfrau mit ausgeprägter Oberweite. Ihre bis zum Bauch fallenden Haare waren korallenrot. Als sie ihre Augen aufschlugen leuchteten diese dunkelgrün. "Erwachet, König und Königin der Tiefe! Euer Reich will bevölkert sein! Er sprach Meerisch, wie es Wasserleute über der Meeresoberfläche sprechen konnten. Die beiden regten sich und streckten sich. Dann glitten sie von ihren Betten herunter und schwammen mit geschmeidigen Flossenschlägen durch den Seetangvorhang hinaus aus dem Schlafzimmer, um den Korallenpalast zu verlassen, der von fünf Nixen und Wassermännern mit Dreizacken umschwommen den Vordergrund des betreffenden Gemäldes darstellte. Auch die Wasserleute würden singen, ihren wahrhaftigen Sirenengesang anstimmen. Die jenen, die das Bild in ihr Badezimmer gehängt hatten, würden ihm nicht widerstehen können und durch die von dunkler Magie durchlässig gewordene Trennwand zwischen Wirklichkeit und Bilderwelt eindringen, um neue Bürger dieses Unterwasserreiches zu werden. Pickman konzentrierte sich voll darauf, dass die beiden Beherrrscher dieser Landschaft ihren Auftrag verinnerlichten. Dann legte er den Verbindungsstein wieder in die dafür vorgesehene Mulde auf seinem hufeisenförmigen Tisch zurück."

"Ich hätte euch das Bild auch schenken können. Aber ihr überreichen Pfeffersäcke wolltet mir dafür ja hunderttausend Euros geben", grinste Pickman. Dann dachte er daran, dass er ja noch ein Bild nach Deutschland verkauft hatte. Er griff zu einem Smaragd, der präzise zu einer Form geschnitten war, die einem Eichenblatt mit Stiel entsprach. Als er diesen an die Stirn drückte dachte er an ein langgezogenes Geheul. Sofort sah er einen der Jahreszeit entsprechenden Mischwald mit turmhohen Tannen und größtenteils entlaubten Eichen, Buchen und Erlen. Im Mittelpunkt dieser Landschaft stand eine gewaltige Eiche, unter deren weit ausladender Krone deutlich ein schrundiges Gesicht mit mühlradgroßen Augen, einer hervorspringenden Nase und einem breiten, bis auf einen schmalen Spalt geschlossenen Mund zu erkennen war. "Der Fürst der Forste" hatte Pickman dieses Gemälde genannt. Er hatte dabei die vor Jahren als wahrhaftig bestätigte Geschichte vom druidisch bezauberten Riesenbaum Rex Arborium zu Grunde gelegt. Aus dem Fürsten sollte nun ein König werden, der grüne König aller Wälder. Die Diener des gewaltigen Eichenbaums lagen zwischen den weit in den Boden ausgreifenden, mannsdicken Wurzeln im Moos zusammengerollt. Zehn rotbraune Fellkugeln. Sie erzitterten und entrollten sich zu hirschgroßen Wölfen mit mächtigen Pranken und Zähnen so lang wie Zimmermannsnägel und so scharf wie eine Rasierklinge aus Diamanten. Auch das Gesicht in der Eiche erwachte zum Leben. Die Augen glommen im tiefen Grün eines vollbelaubten Waldes. Die Nasenflügel erbebten, als empfingen sie einen anregenden Geruch, und der Mund klaffte zu einem mehr als drei Meter breiten Maul auf.

Das von Pickman ausgestoßene Geheul wurde von den zehn erwachten Wölfen übernommen. Sie sahen ihn, ihren Herren und Schöpfer an und heulten in der gleichen Art. Dann dachte Pickman noch eine Zauberformel, die ein Außenstehender ebenfalls benutzen konnte, weil sie am Rahmen des Gemäldes neben der lateinischen Inschrift "Princeps silvarum, Imperator luporum plantarumque" zu lesen war. Sie lautete:

"Fürst der Forste, Herr der Haine höre auf mein Wort.
All was grünt ist ganz das deine
jetzt und immer fort.
Sende deine treuen Krieger aus in jedes Land!
Sie sollen alle, die sie finden
bringen unter deine Hand."

"So zieht aus, meine Krieger. ruft die Untertanen zu meinem Dienste!" dröhnte die knarrende Stimme des mächtigen Baumwesens. Die zehn Wölfe neigten ihre Köpfe, blieben einige Sekunden in dieser Unterwürfigkeitshaltung. Dann sprangen sie wie von Katapulten geschnellt in zehn verschiedene Richtungen davon. Dabei stießen sie ihr lautes Geheul aus, das von allen Bäumen widerhallte. Damit war ein weiteres Unheilsbild zu seinem dunklen Leben erwacht.

Als nächstes nahm er den eiförmigen Stein mit dem siebenstrahligen Stern und grinste. Nach Alontrixhila hielt er diesen Stein für die zweitmächtigste Schöpfung. Da es sich hierbei aber nicht um ausgeprägt intelligente Wesen handelte bestand zumindest nicht die Gefahr, dass sie ähnlich außer Kontrolle gerieten wie die zehnte Tochter. Auf jeden Fall würden die die Söhne und Töchter der aufgehenden Sonne sichtlich beeindrucken, vielleicht sogar noch schlimmer ängstigen als die Kernspaltungsfeuerbomben, die die nordamerikanischen Muggel aus ihren Flugmaschinen über deren Land abgeworfen hatten.

"Feuer und Blut, Grauen und Glut! Werdet geboren, dem Schrecken verschworen!" beschwor Pickman, wobei er auf Japanisch dachte. Vor seinem geistigen Auge sah er sieben blutrote Eier, doppelt so groß wie ein Quaffel. Die sieben Eier lagen in einer aus Kies und verbranntem Geäst gebildeten Mulde unter einer mit meterlangen Stalaktiten besetzten Höhlendecke. Das Nest der Götterdrachen erwachte zum leben.

Die sieben Eier erzitterten, rollten hinund her. Ein erst leises und dann immer lauteres Ticken klang von ihnen her. Auch hörte Pickman ein unheilvolles Zischen. Dann sprangen mit hässlichem Knacken Risse in der Schale auf. Nur eine Minute später sprangen große Stücke heraus. Mit rötlichem Schleim bedeckte, wurmähnliche Schlüpflinge schoben sich stück für Stück heraus. Doch sie hatten bereits bezahnte Mäuler. Dann, mit einem letzten Ruck, befreiten sie sich aus den Eierschalen und stellten sich auf ihre Stummelfüße. Ihre Mäuler öffneten sich und stießen kurze, violette Flammen aus. Dann zischten und schnarrten die soeben geschlüpften Drachenjungen und schnappten um sich. "Nicht das eigene Fleisch sei dein! Friss vom menschlichen Fleisch und Bein!" stieß Pickman einen geistigen Befehl an die gerade aufeinander zukriechenden Schlüpflinge aus. Diese ließen sogleich voneinander ab, um mehr kriechend als schreitend in eine Richtung aufzubrechen, hinaus aus der Bruthöhle bis zur im Moment noch undurchdringlichen Barriere, dem Weltenfenster. Erst wenn jemand von außen gegen das Bild stieß würde der oder die hindurchdringen und damit den gerade erst geborenen Ungeheuern zur Beute fallen. Pickman wusste nicht, wann das passieren würde. Da er noch dreißig weitere Bilder zu erwecken hatte konnte er nicht abwarten, wie die sieben Götterdrachen ihren Weg ins Freie erkämpfen würden.

So ging es weiter mit der Bilderbeschwörung, den untoten Piraten von der Knocheninsel, die laut Legende des Bildes zum ewigen Raub und Mord verflucht waren, weil sie es gewagt hatten, die Tochter einer Hexenkönigin in der Südsee zu schänden. Darauf, so hatte Pickman dem Käufer dieses Bildes gesagt, seien sie zu Skeletten geworden und mussten der Hexenkönigin jeden Vollmond Opfer bringen, wollten sie nicht dauerhafte Todesqualen erleiden.

Ähnlich wie die Geschichte um die Knochenpiraten hatte er auch für die anderen Bilder gruselige Legenden ersonnen, um die gemalten Kreaturen entsprechend schrecklich auftreten zu lassen. So sollte ein aus Felsgestein, Opferblut und dunklen Beschwörungsformeln erschaffener blauer Teufel die Bewohner des Nobelviertels von Sydney in Angst und Schrecken versetzen. Jedes Bild für sich würde schon reichen, um alle Ministeriumszauberer und -hexen zu beschäftigen. Aber in einigen Ländern hingen bis zu fünf solche Bilder aus. Die hatten dann wohl ein unumkehrbares Inferno zu erwarten. Pickmans Versprechen an Vengor würde sich voll und ganz erfüllen.

Die menschenverachtende Vorfreude bei jeder Belebung eines seiner Bilder trieb Pickman dazu, noch eifriger und noch entschlossener vorzugehen. Er musste sich immer mehr konzentrieren, nicht bereits jetzt in irgendwelche Vorstellungen von in der Menschenwelt spukenden Ungeheuern abzugleiten.

Als er zum Schluss noch ein Bild von einem mächtigen Vulkan, in dem der König aller Feuergeister residierte erweckt hatte, fühlte Pickman, wie ihn diese Taten sichtlich angestrengt hatten. Wohl wahr, Entfernungen machten auch in der Magie etwas aus. Doch ab jetzt regierte sein ganz persönlich erschaffenes Chaos. So begoss er diesen verheißungsvollen Anfang mit einem großen Schluck von Madam Rosmertas im Eichenfass gereiftem Met, auf den er auch in seinem selbstgewählten Refugium nicht verzichten wollte. "Sag Vengor, meine Bilder sind erwacht!" befahl Pickman dem gemalten Clownsgesicht. Dieses grinste bösartig und verschwand. Ab morgen wollte er zusehen, was seine Kreationen und Kreaturen so anstellten. Ja, das würde ihn für all die erzwungene Enthaltsamkeit, die Versteckspielerei und die Schmach entschädigen, die er und seine Gleichgesinnten zu erdulden hatten. Von denen, die in Askaban, Tourresulatant, Doomcastle oder Fort Ballibong gelandet waren wollte er erst gar nicht anfangen. Womöglich konnte er die wieder freibekommen, oder Vengor würde das machen. Der konnte dann auch gleich diese rückgratlosen Würmer zertreten, die es geschafft hatten, sich von ihrer Anklage freisprechen zu lassen oder die einfach genug Gold gehabt hatten, um sich ihre Freiheit zu erkaufen. Da Pickman nicht wusste, was genau Vengor vorhatte und wie er das anstellen würde, blieb ihm nur, abzuwarten und wie alle anderen zu erleben, was sein sehr ehrgeiziger und erfolgreicher Zweckbündnispartner in Bewegung setzte.

Müde von den Stunden, in denen er die dreißig über alle Welt verteilten Bilder aus ihrem Schlummer geweckt hatte, legte er sich in sein Schlafgemach hin. Er hörte noch das leise Wispern der in ihren Bilderrahmen hängenden Liebesdienerinnen. Wenn er eine von denen beim Namen rief kam sie aus dem Bild heraus, um ihm die Nacht zu versüßen. Doch heute wollte er keine der fünfzig verschiedenartigen Kurtisanen bei sich im Bett haben. Er wollte nur schlafen. So erstarb das leise Wispern der gemalten Frauenzimmer. Pickman dachte noch daran, dass ab morgen eine neue Ära begann, das Jahr 1 von Vengor und Pickman. Dann übermannte ihn der Schlaf.

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Minister Dime hatte alle Abteilungsleiter und Unterbehördenvorsteher zu einer Hauptversammlung in den großen Konferenzraum des provisorischen Zaubereiministeriums eingeladen. Es ging darum, die durch die Vernichtung des Ministeriumsgebäudes und allen darin befindlichen Gegenständen und Unterlagen ein geordnetes Arbeiten zu gewährleisten. Das war jedoch nicht so einfach, weil es ja so viele Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung und des inneren und äußeren Friedens gab, die zu beachten wahren.

Erst erstatteten alle Abteilungsleiter einzeln Bericht. Dann diskutierten sie darüber, wie durch die unbeabsichtigte Dezentralisierung des Ministeriumskomplexes möglicherweise einzelne Problemfelder auf die entsprechenden Regionalverwaltungen verteilt werden konnten. Dabei meinte Wayne Rutherford, der die magische Personenverkehrsabteilung leitete, dass die Angelegenheit mit den Werwölfen ja von den texanischen und kalifornischen Ministeriumsniederlassungen aus gehandhabt werden mochten, da es ja erwiesen sei, dass die Mondbruderschaft vorzugsweise südlich der US-Grenze zu Mexiko aus operierte. Das aber wollte Toby Rockwood, der aus Texas stammte und in der Abteilung für magischen Handel arbeitete, nicht auf sich sitzen lassen. Er blaffte Rutherford an, was dem einfiele, zu behaupten, dass die Lykanthropen über die Südstaaten einfielen. Der erwiderte darauf ganz gelassen, dass dies ja wohl stimme und Rockwood wohl deshalb auch so empfindlich reagiere. Der Minister sah es dann als gegeben, einzuschreiten. Er räusperte sich und mahnte alle Beteiligten zu respektvollem und disziplinierten Umgang. Dann sagte er: "Die Lage ist ernst, die Herrschaften. die Werwölfe der Mondbruderschaft haben sich wieder ans Licht gewagt, trotz der aus obskuren Quellen zugespielten Bestätigung, dass es sich bei der sogenannten Hohepriesterin der schlafenden Göttin der Vampire um die griechische Luftfahrtunternehmerin Eleni Papadakis handelt kommen wir in dieser Sache keinen Meter voran, weil diese Frau seit der Enthüllung ihrer Funktion nur noch in fliegenden Flugzeugen unterwegs ist, in die weder Portschlüssel noch Apparatoren eindringen können. Dann ist da immer noch diese ebenfalls fragwürdige Gruppierung der schwarzen Spinne und zu allem Verdruss noch jener Dunkelmagier, der sich aus den Trümmern des Welthandelszentrums einen seine Zauberkraft verstärkenden Kristall beschafft hat und seitdem arglose Hexen und Zauberer getötet hat. Wir haben von den Leuten aus dem Laveau-Institut, dass dieser Verbrecher offenbar danach trachtet, an ein uraltes schwarzmagisches Erbe zu rühren und deshalb miteinander verwandte Hexen und Zauberer ermordet hat, darunter wohl auch meinen deutschen Kollegen Güldenberg, der bis heute nicht in sein Ministerium zurückgekehrt ist. Da sollten wir uns fragen, welche Freunde und Verbündete wir überhaupt noch in der Welt haben."

"Sicher nicht Vita Magica, die wollen nur eins: Leute mit magischem Blut aufeinanderjagen wie Hähne auf die Hennen", sagte Rutherford. "Sie wissen sicher, dass einige Hexen und Zauberer Aufforderungen erhalten haben, innerhalb eines halben Jahres Nachwuchs zu zeugen oder zu empfangen. Das spricht nicht wirklich für menschenfreundliche und respektvolle Zeitgenossen."

"Haben Sie auch so eine Aufforderung erhalten, Wayne?" wollte Nancy wissen. Der Gefragte wollte gerade antworten, als durch das Verbaventus-Wortübermittlungssystem eine dringende Nachricht weitergegeben wurde:

"Minister Dime und auch alle für Muggelweltbelange zuständigen Kollegen, drei von den vier an Halloween verschwundenen Kindern sind wieder aufgetaucht. Rein äußerlich waren sie unversehrt. Aber sie benahmen sich den Zeugenaussagen bei der Polizei nach merkwürdig. Von zwei Kindern wissen wir, dass die mit ihren Eltern noch in der Nacht ihrer Rückkehr mit unbekanntem Ziel losgefahren sind. Deshalb wurde unsere Abteilung informiert, da nicht auszuschließen ist, dass die Kinder als Gehilfen bösartiger magischer Elemente missbraucht werden."

"Wir übernehmen das, Lenny!" rief Peter Morefield, der zwischen magischer Strafverfolgung und Muggelweltkontaktbehörde vermittelte.

"Ich gebe Ihnen die Generalvollmacht, Material und Personal nach eigenem Befinden einzusetzen", sagte der Minister mit sichtlicher Beklommenheit. Er dachte an die neue Vampirvereinigung. Doch was wirklich geschah war der Auftakt eines magischen Infernos, dass sein Ministerium sehr stark belasten sollte.

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25. November 2002

"Dein Pinselschwingerfreund lässt sich aber Zeit", sagte die unheimliche, bis auf die blau glimmenden Augen tiefschwarze Erscheinung, die mit Vengor im selben Raum war. Dieser sah die Unheilsgestalt verdrossen an und erwiderte: "Wenn sein Bote mir bis übermorgen keine Nachricht bringt, dass sein vollmundiges Ablenkungsmanöver angelaufen ist werde ich eben nur auf Kanoras und die dreißig Getreuen zurückgreifen. Dann sollen die in der Muggelwelt Unheil und Chaos anrichten, um die Ministerien zu beschäftigen."

"Es ist nur eine Frage, Herr, keine Anregung", setzte die schattenhafte Daseinsform von Corvinus Flint an. "Könntest du dir vorstellen, die Blutsauger von dieser neuen Sekte für uns arbeiten zu lassen?

"Natürlich, wenn ich weiß, wen von denen ich in den nächsten Tagen zu fassen kriegen und als meinen Boten zu deren angeblicher Göttermutter hinschicken kann", knurrte der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte. "Aber soweit ich weiß verschwinden die sofort, wenn die in die Enge gedrängt werden. Schon eine imposante Magie, dieser schwarze Kraftstrudel, in dem die weggeholt werden", schnaubte Vengor mit einer Spur ungewollter Anerkennung in der Stimme. "Aber wenn Iaxathan und ich unseren Bund geschlossen haben werde ich von ihm sicher erfahren, wie genau dieser Zauber gewirkt wird und vor allem, wie ihm entgegengewirkt werden kann."

"Vielleicht kann ein schwarzer Spiegel, der durch den Wirkungszonenausrichtzauber geformt wird, das Verschwinden vereiteln", vermutete Corvinus Flint. "Oder ich versuche, einen dieser Sektenlangzähne festzuhalten, damit ihn nicht dieser schwarze Strudel wegreißen kann", fügte Flint noch hinzu.

"Das ist eine nicht so schlechte Idee", erwiderte Lord Vengor. Doch im Moment wusste er nicht, ob er sich leisten konnte, sich für diese Vampirbrut als Köder anzubieten, um einen von denen zu fangen, ohne selbst gefangen oder getötet zu werden. Er war trotz aller gewonnenen Macht nicht so einfältig, anzunehmen, dass er unverwundbar für wirklich jede Form der dunklen Magie war. Am Ende konnte diese angebliche Göttin ihn genauso in einen schwarzen Strudel einschließen und davonreißen wie ihre willigen Erfüllungsgehilfen. Da wäre der aus ärgster Bedrängnis zum Nachtschatten gewordene Corvinus Flint das kleinere Opfer. Doch das sprach er nicht laut aus.

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Niels von Adlersdorf wusste, dass seine Frau das nicht mochte, wenn er erst nach ein Uhr ins Bett kam. Aber als er die scheinbar ewig sprudelnde Geldquelle des Internethandels für sich entdeckt hatte und fünf der sieben familieneigenen Immobilien in Hamburg und Umgebung verkauft hatte, um genug Startkapital für seine neue Passion zu generieren, war er fast jede zweite Nacht erst um halb zwei im Bett gewesen. Denn wenn New Yorks Börse schloss machte die in Tokio bald schon wieder auf. Auch mit Aktien und Wertanteilen aus Finanzgeschäften in Hongkong ließ sich was machen. Zwar hatte das Platzen der Blase mit Internetfirmen fast ein unstopfbares Loch in Niels' Finanzdepot gerissen. Doch das hatten ihm die Fanatiker vom elften September, die ja eine Zeit lang sogar in seiner Heimatstadt unbehelligt und unauffällig gelebt hatten, durch ihren Anschlag wieder wettgemacht, weil er über den Goldpreis einiges zurückholen konnte.

Für heute hatte er aber genug mit virtuellem Geld jongliert. Er fühlte eine gewisse Müdigkeit. Also sollte es für diesmal gut sein. Leise schlich er aus seinem Arbeitszimmer durch den dunklen Flur. Die dicken Tepppiche dämpften jeden seiner Schritte. Er suchte das pompöse Badezimmer auf, in dem Marmor und vergoldete Armaturen jedem verkündeten, wie viel Geld in dieses herrschaftliche Haus gesteckt worden war.

An den blau, weiß und grün gekachelten Wänden hingen wasserdicht verglaste Bilder, darunter ein drei mal zwei Meter großes Ölgemälde. Alle Bilder zeigten Dinge aus der Seefahrt oder der am oder im Meer angesiedelten Götter und Fabelwesen. Vor allem das drei mal zwei Meter große Bild mit der Ansicht eines aus Korallen und Riesenmuscheln errichteten Palastes war imposant. Davor schwammen zierliche Nixen mit langen, hellen Haaren und stämmige Wassermenschen mit Dreizacken in den Händen und Helmen aus Muschelschalen auf den Köpfen. "Palast des Meerkönigs" hieß dieses Werk eines unbekannten Malers. Allerdings hatte der auch furchterregende Ungeheuer in diese Unterwasserlandschaft eingefügt. Im Hintergrund schwammen Haie mit weit geöffneten Mäulern, ruderten blaue oder schwarze Kraken mit ihren weit ausgreifenden Fangarmen oder krochen grüne Riesenseeigel mit gefährlich langen und spitzen Stacheln herum. Wohl wahr, dass das Meer schönes wie hässliches, das Leben und den Tod bereithielt, überhaupt die ganze Natur.

Niels war gerade mit seinen letzten Verrichtungen fertig und wollte jetzt ins Schlafzimmer hinaufsteigen. Hoffentlich schlief Helga schon tief und fest. Sich noch mal was anzuhören, weil er mal wieder länger am Rechner gesessen hatte wollte er nicht wirklich. Er wandte sich gerade der Tür zu, als er ein sphärisches Singen von der Wand her hörte. Da wo das Bild mit dem Palast des Meerkönigs hing klang ein Chor aus wunderschönen Frauenstimmen. Wie ging denn das an? Als Niels das Bild nun genau ansah fiel ihm auf, dass die im Vordergrund schwimmenden Krieger ihre Dreizacke gesenkt hatten und sich die betörenden Nixen so gedreht hatten, dass sie dem Betrachter, also Niels von Adlersdorf, ihre ganze Vorderseite zukehrten. Wie konnte das denn sein? Das war doch eindeutig ein auf Leinwand gemaltes Ölgemälde, kein Flachbildschirm, dachte Niels. Er hatte nichts getrunken und auch keine Aufputschmittel eingenommen. Aber trotzdem musste das alles eine Halluzination sein. Gemalte Dinge konnten sich nicht bewegen. Ja, und wie der immer lauter und schöner klingende Chorgesang entstand verstand Niels auch nicht. Doch als die Nixen ihm mit Armen und sachte schwingenden Schwanzflossen einladend zuwinkten und dann auch noch das mächtige rote Korallentor aufging und ein Meermann mit einer goldenen Krone und eine goldhaarige Nixe mit fünf Perlenketten und silbernen Brustschalen herausschwammen fragte er sich ernsthaft, ob er noch bei klarem Verstand war. So wie das alles jetzt aussah und klang war das da kein Bild mehr, sondern ein sechs Quadratmeter großes Fenster in eine andere Welt. Und der sphärische Chorgesang klang immer lauter. Jetzt konnte Niels die Sängerinnen sehen, Es waren rothaarige Nixen, deren Oberkörper wie von gerade sechzehn jahre alten Mädchen beschaffen waren. Sie glitten singend durch das offene Tor hinaus und bildeten einen senkrechten Kreis um das Unterwasserkönigspaar.

Niels fühlte, wie die lockenden Laute der singenden Meerjungfrauen ihn immer mehr auf das hinter Glas liegende Bild zuzogen. Er spürte, wie es ihn dazu trieb, das Bild anzufassen. Seine Finger trafen auf das Sicherheitsglas, das mit Gummidichtungen am wasserabweisend lackierten Zusatzrahmen befestigt war. Das Glas fühlte sich handwarm an und vibrierte unter den Tönen der Nixen. Die Sängerinnen verstummten. Niels fand wieder zu sich. Jetzt sah das Bild wieder wie ein starres Gemälde aus, aber mit neuem Vordergrund. Ein inneres Gefühl trieb ihn an, schnell zwei Schritte zurückzugehen. Als er das getan hatte stießen die Chornixen unvermittelt einen sehr hohen Ton aus, der an Niels' Ohren rüttelte. Für das Sicherheitsglas über der Leinwand war dieser Ton wesentlich verheerender. Knisternd entstanden erst feine und dann immer breitere Risse. Dann platzte das Glas mit lautem Klirren ab. Da es Sicherheitsglas war entstanden keine scharfkantigen Scherben, sondern winzige, stumpfe Bruchstücke, die laut auf den Marmorfliesenboden prasselten. Niels hatte jedoch keine Zeit, näher darüber nachzudenken, was diese plötzliche Zerstörung sollte. Denn sogleich setzten die Chornixen ihren betörenden Gesang fort, noch lauter, noch eindringlicher als vorher. Niels fühlte, wie die Töne und Worte ihn wieder auf das Bild zuzogen. In einem letzten Aufbäumen seines eigenen Willens dachte er an die Episode aus der Odyssee, wo der Held Odysseus an der Insel der Sirenen vorbeifahren musste. Wer die Sirenen singen hörte und sich frei bewegen konnte verfiel ihnen und strebte zu ihnen hin, hinein in sein Verderben. Dann gewann jedoch das mit voller Lautstärke gesungene Lied die völlige Macht über seinen Verstand. Er trat vor, kümmerte sich nicht um die auf dem Boden liegenden Glasstückchen und streckte seine Hände vor.

"Niels, was geht denn hier vor?!" schnitt eine laute verärgerte Frauenstimme in diese für ihn so unwiderstehliche Musikdarbietung hinein. Er zuckte zusammen. Auch die fischschwänzigen Sängerinnen hörten mit ihrem Lied auf. Hinter Niels stand Helga in ihrem fliederfarbenen Seidennachthemd, die weichen Seehundfellpantoffeln an den Füßen. Niels sah sie verstört an, als sei sie eine unerwartete Besucherin, ein Eindringling. Sein Mund stand offen. Er brachte kein Wort heraus. Dann sprach der Meerkönig mit sonorer Bassstimme:

"Landbewohner, wir, die allwasserweite Majestät Pelanaxos, erweisen euch die große Gnade und Gunst, Bürger unseres Reiches zu werden. Denn wahrlich, wir erstreben eine weltweite Verbundenheit zwischen uns Wassergeborenen und euch Landbewohnern. Auch meine Gemahlin, die von allen Wellen und Strömen getragene Panthalassa, wünscht den ewigen Frieden zwischen den Welten. Tretet herüber zu uns und seid Mitglieder unserer erhabenen, alle Weltmeere bevölkernden Gemeinschaft!"

"Ich träume das wohl", knurrte Helga und kniff erst sich und dann Niels in den Arm. Beide zuckten unter Schmerzen zusammen. Als dann aber wieder, diesmal von der mit Perlen geschmückten Meerkönigin begonnen, der Chor der Meerjungfrauen sang, verflog Helgas Verärgerung und Verstörtheit und Niels' letzter Rest von Argwohn und Furcht. Sie streckten ihre Hände aus und berührten die Oberfläche des Bildes. Doch das war keine Leinwand mehr. Ihre Hände tauchten in tropisch warmes Wasser ein und glitten immer tiefer hinein. Als sie schon bis zu den Schultern im merkwürdigerweise nicht aus dem Bild flutenden Nass versunken waren griffen die auf unerklärliche Weise lebendig gewordenen Meeresbewohner nach den Händen. Die Königin und eine sie flankierende Meerjungfrau ergriffen Helga. Der König und ein Kriger, der seinen Dreizack auf den Boden gelegt hatte packten Niels' Arme und zogen ihn blitzartig zu sich heran. Niels schrie nicht einmal, als sein Kopf durch die Bildoberfläche drang und damit von Wasser umgeben war. Er glitt ganz und gar hinein in die unnatürlich erwachte Welt. Ebenso erging es seiner Frau. Als Niels den Mund öffnete, um einzuatmen, schoss das ihn umgebende Wasser in seine Lungen hinein. Doch er fühlte keine Angst, keinen Schmerz, nur grenzenlose Glückseligkeit und eine in alle Fasern seines Körpers ausstrahlende Kraft. Er fühlte, wie seine Beine wie von einem sich zusammenziehenden Eisenring zusammengedrückt wurden und sah im Rausch der ihn durchflutenden Glückseligkeit, wie bei Helga die mit den Jahren und dem Wohlstand angeschwollenen Beine zu einem blassblau geschuppten Fischschwanz verschmolzen wurden. Da erkannte er, dass er dieselbe Verwandlung durchlief.

"Wir begrüßen euch in unserer Mitte, die Botschafter unseres Reiches. Ihr erhaltet von uns die Macht, als Wasserbewohner und als Landbewohner zu wandeln. Tretet ihr auf trockenes Land und atmet Luft, so seid ihr Landmenschen. Taucht ihr ganz in Wasser ein, so seid ihr Wassermenschen. Diese große Macht soll euch helfen, uns zu dienen, die Zahl unserer Untertanen zu mehren und unseren Vollstreckern den Weg zu öffnen, das gegen alle Wasserwesen begangene Unrecht zu vergelten, auf dass unser Reich auf alle Länder und Meere ausgedehnt werden kann", sprach der König, während seine Chormädchen leise weitersangen, um die Unterwerfung der beiden Menschen aufrecht zu halten. Dann sagte die Königin noch:

"So werdet ihr in unserem Namen zurückkehren und weitere Landbewohner zu uns führen, auf dass wir die Mutter eines vereinten Volkes werden und alle Frevler und Widersacher dahingerafft werden können."

Zur selben Zeit, wo in einer Villa in Hamburg Blankenese das Bild eines Unterwasserreiches lebendig wurde, hörten die Eheleute Alois und Dorothea Eisengruber aus ihrem Salon das typische Chorgeheul von Wölfen. Es weckte sie aus ihrem Schlaf auf und ließ sie aufhorchen. Alois argwöhnte ein Ablenkungsmanöver, um sich heimlich in sein Haus in München Grünwald einzuschleichen. Doch das Wolfsheulen kam wahrhaftig aus dem Haus. Entweder waren die Lumpen schon eingedrungen, trotz der merhfach gestaffelten und mit Sensoren gespickten Alarmanlage, oder irgendwie hatte Alois' Neffe Ferdl es bei seinem letzten Besuch geschafft, eine Abspielvorrichtung mit Zeitschaltung zu verstecken, die dieses Geheul hervorbrachte.

"Hat der Ferdl wohl was bei uns eingebaut", grummelte Alois, der sich was darauf einbildete, dialektfreies Hochdeutsch zu sprechen. Den gebürtigen Münchner kehrte er nur beim Oktoberfest heraus.

"Schau nach, ob's vom Ferdl wos is'", knurrte seine Frau. Seit vierzig Jahren teilten sie schon Tisch, Bett und Bankkonto. Eigene Kinder hatten sie wegen ihrer Karriereambitionen nie wirklich eingeplant. Es hatte ja auch was für sich, begehrte weil begüterte Erblasser zu sein.

Als Alois Eisengruber aus dem zweiten Stockwerk hinunterstieg, um dem Wolfsgeheul auf die Schliche zu kommen, bemerkte er den Duft von frischem Blattwerk und feuchter Walderde. Das war sicher auch eine versteckte Spielerei, die zu dem Wolfsgeheul passen sollte, dachte Eisengruber.

Als er die Tür zum Salon öffnete sah er, dass das drei mal drei Meter große Bild mit einer Waldlandschaft, in deren Mitte ein mächtiger Eichenbaum stand, in einem unirdischen grünen Licht leuchtete. Vier Wölfe standen im Vordergrund und heulten den über der Landschaft scheinenden, ebenfalls grünen Mond an. Eisengruber hatte das Bild vor einem halben Jahr gekauft, weil der Maler selbst behauptet hatte, es auf Grundlage einer uralten Sage gemalt zu haben, die von einem germanischen Waldgott handelte, der als Fürst der Wälder bezeichnet wurde und von Donar selbst zum Herrscher aller Pflanzen und Tiere des Waldes erhoben worden war. Alois hatte sich schon immer für germanische und nordische Mythologie interessiert. Deshalb hatte er das sehr sorgfältig und detailgenau gemalte Bild überhaupt gekauft, auch wenn 30.000 Euro eine Menge Geld für das Werk eines noch unbekannten Malers waren. Und jetzt stand er vor diesem Bild und sah vier Wölfe, hörte sie heulen und wunderte sich, dass sie im Verhältnis zu den Bäumen größer waren als üblicherweise. Dann fiel sein Blick auf den majestätischen Eichenbaum. Jetzt erst fiel ihm das in die Rinde unter der Krone eingegrabene Gesicht auf. Das sah so aus, als habe jemand einen Menschen mit diesem Baum verschmolzen. Das passte zu dieser Geschichte, die ihm der Maler des Bildes aufgetischt hatte. Der Mund, der schon eher ein Maul war, ging auf. Zwei Reihen bernsteinfarbener Zähne und eine im selben Grünlicht wie der Mond leuchtende Zunge wurden sichtbar. "Sterblicher Sohn der habgierigen Frevler, die meine Untertanen niederhauen. Erweise mir Demut und Unterwerfung!" dröhnte eine knarrende Stimme von dem Baum her. Alois Eisengruber fühlte, wie die Kraft dieser Stimme in sein Bewusstsein eindrang und seinen Willen verdrängte. Er schaffte es nicht im Ansatz, dem Befehl zu widerstehen. Er ging nach vorne, berührte die Bildoberfläche mit seinen Fingern und beugte sich vor. Als sein Kopf die Bildoberfläche berührte sank er wie in einen tiefen Schacht hinein. Als er sich dann auf der anderen Seite wiederfand wollte er zurück. Doch hinter ihm war nur eine massive, durchsichtige Wand. "Tritt zu mir und gib dich mir hin!" dröhnte die Stimme des mächtigen Baumgeistes. Alois Eisengruber trat vor und schritt an den hirschgroßen Wölfen vorbei auf den Stamm des Baumes zu. Knarzend wuchsen riesige Arme aus dem Stamm heraus und schwangen ihm entgegen. Er konnte und wollte nichts dagegen tun, als ihn zwei Hände die so groß wie er selbst waren anhoben und auf die Höhe des im Stamm eingebetteten Gesichts hinaufhoben.

Dorothea Eisengruber hörte die unheimliche Stimme, die wie eine Mischung aus Hirschröhren und Motorsägengeknatter klang. Sie rief nach ihrem Mann. Doch der antwortete nicht. Sie fühlte unmittelbare Angst. Das war garantiert kein Scherz von ihrem Neffen Ferdl. Als sie eine Minute lang nichts mehr hörte war sie sich sicher, dass Alois irgendwas zugestoßen war. Sie griff nach dem Mobiltelefon auf ihrem Nachttisch. Der Akku war sicher wieder voll genug, um einen Anruf bei der Polizei oder zumindest beim von den Hauseigentümern bezahlten Wachdienst zu machen.

Sie hatte gerade die Nummer des Wachdienstes ausgewählt und auf "Anrufen" gedrückt, als sie das laute Hächeln hörte, dass von unten heraufdrang. Dazu kam noch das laute Klatschen auf den Holzstufen der Treppe. Dorothea sah, dass der Anruf aufgebaut wurde. Sie hoffte, noch ihren Hilferuf loswerden zu können. Doch da verdunkelte sich die Anzeige ihres Telefons. Es vibrierte kurz. Dann war nichts mehr. Dorothea hielt das kleine Fernsprechgerät in ihren zitternden Händen und lauschte dem näherkommenden Etwas. Es stand nun vor der Tür. Sie hörte das Geräusch, als wenn ein großes Tier schnaufe. Dann schabte es an der Schlafzimmertür. Die Klinke wurde niedergedrückt, und im Schein der Nachttischlampe konnte Dorothea gerade noch die bedrohliche Schnauze eines gewaltigen Wolfes erkennen. Dann fiel auch die Lampe aus. Dorothea schrie laut auf und sprang aus dem Bett, wollte zum Fenster hinüberlaufen und über die Feuerleiter entkommen. Doch der überlebensgroße Wolf stand bereits zwischen Bett und Fensterfront. Dorothea Eisengruber wollte zur Tür abbiegen, als das Ungeheuer nach ihr Schnappte. Sie fühlte die scharfen Zähne auf ihrem Körper. Doch seltsamerweise biss das Ungeheuer nicht so fest zu, dass es sie ernsthaft verletzte. Es wandte gerade mal den nötigen Druck auf, um die Hausbewohnerin sicher vom Boden zu heben und dann im Geschwindschritt die Treppen wieder hinunterzujagen. Dorothea schrie laut auf, während das sie tragende Untier sie in den Bildersaal hineinbeförderte und auf die gemalte, gerade in einem unirdischen Grün leuchtende Waldlandschaft zutrug. "Bring sie vor mich hin, treuer Vollstrecker!" dröhnte die knarrende Stimme, die Dorothea schon gehört hatte. Sie schrie nicht mehr. Die Kraft dieser Stimme hatte irgendwie ihre Willenskraft und auch ihre Angst verdrängt.

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Die Worte ihres Herrn und Meisters waren wie belebendes Wasser auf ihre Köpfe. Die drei einäugigen Schwestern, die in einer gemalten Höhle wohnten und von denen eine bereits eigentlich frei hinaustreten konnte, wo die kleinen, zerbrechlichen, nahrhaften Menschlinge wohnten, blickten mit ihren grün leuchtenden Zyklopenaugen erwartungsvoll durch die durchsichtige Barriere. Dann verfielen sie in eine konzentrierte Starre. Die drei Schwestern und die Umgebung veränderten sich. Jetzt war es mal wieder jene idyllische Wiese, auf der drei graziöse Frauen mit je zwei Augen auf einen sie erhörenden Mann warteten. Sie wussten auf Grund der in ihre Welt eingewirkten Magie, wer in Hörweite war und sangen seinen Namen. Er sollte zu ihnen hinunterkommen und in ihre Welt eintreten. Zwei Schwestern brauchten noch je drei lebende Wesen, um sich aus der gemalten in die wirkliche Welt hinausbewegen zu können.

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"Nun dürft ihr zu euren Eltern hingehen und auch Ihnen helfen, zu mir hinzukommen. Sie werden natürlich nicht freiwillig herkommen wollen. Deshalb dürft ihr ruhig den Blick der Unterwerfung benutzen. Ich habe euch dafür genug Kraft gegeben", sprach die in einem Lederkleid steckende Frauengestalt, zu deren Füßen vier Kinder von gerade neun oder zehn Jahren knieten. Sie streichelte ihnen über die Köpfe, worauf sie förmlich mit Kraft aufgeladen wurden. Wortlos verließen sie den altehrwürdig eingerichteten Raum mit einem Kamin, in dem aber kein Feuer brannte. Will Bradley, der wie in tiefer Trance der Aussendung der vier Kinder zusah, verneigte sich vor seiner neuen Herrin, der Blutamme. Begehrlich sah er auf ihre bloßen Rundungen. Doch sie winkte ab. "Du hast für diese Nacht genug bekommen, mein Kleiner. Was ich zu geben habe gehört den Erzeugern der vier kleinen Süßen, die du mir gebracht hast", sagte die unheimliche Frau, die sich Menschen durch eine dunkle Verkehrung des belebenden und verbindenden Stillvorganges unterwerfen und zu halben Nachtkindern machen konnte. Ihr Herr und Schöpfer hatte ihr endlich erlaubt, ihre große Gunst auch anderen Menschen zu gewähren, um als Stillmutter einer neuen Rasse in die Geschichte einzugehen, die die Eigenschaften der Nachtkinder und die der Tagmenschen miteinander vereinen sollten.

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Nakamura Hiro erfreute sich schon seit dreißig Jahren der großen Ehre, Yamamotosan, dem Geschäftsführer der Yamamoto-Robotikfabrik, als hausdiener zur Verfügung zu stehen. Er hatte die Aufsicht über die drei Diener, den hauseigenen Elektriker, sowie die fünf fleißigen Dienstmädchen, die ihrem Herren jeden Wunsch erfüllten, sobald er dies anzeigte. Zudem war Nakamura der erste, an den sich Besucher und Anrufer zu wenden hatten. Er durfte entscheiden, wessen Anliegen wichtig genug war, um dem Hausherren persönlich mitgeteilt zu werden. Bei manchen Besuchern reichte aber schon deren Rangstellung, dass er sie so schnell es Sitte und Anstand zuließen in das hauseigene Büro von Takeshi Yamamoto schickte. Zu diesen besonderen Herrschaften, die auch mit der Nachsilbe -san angesprochen werden mussten, gehörte Hikaro Takahashi, der Chef einer Bergbaugesellschaft, die für Yamamotos Firma Kupfer, Silizium und andere wichtige Stoffe förderte. Für heute hatte sich Takahashisan für drei Uhr nachmittags ankündigen lassen. Nakamura kannte die Vorlieben des Besuchers. Wenn er sich zu einem Vieraugengespräch mit Yamamotosan einfand wünschte er immer frisch gemalenen brasilianischen Kaffee, sowie eine Schüssel mit verschiedenen Obstarten, die in mundgerechte Stücke zerschnitten waren. Deshalb hatte Nakamura eines der Dienstmädchen auf den Markt geschickt, um einzukaufen.

"Hiro, ich erwarte noch einen Anruf von einem Herrn Namens Ogawa aus Düsseldorf, Deutschland. Es geht um die Vorbereitung des deutsch-japanischen Handelsaustausches. Bitte stellen Sie ihn sofort durch, wenn er das Codewort "Blauer Mond über dem Kirschtal" mitgeteilt hat!" hörte Nakamura die Stimme seines Herren durch die Gegensprechanlage in seinem Dienstbotenzimmer. Er bestätigte unverzüglich den Erhalt dieses Befehls.

"Die Fenster sind alle Sauber", quäkte die Künstliche Stimme eines spinennförmigen Putzroboters, der an den breiten Panzerglasfenstern hinauf- und hinuntergewuselt war, um sie blitzblank und durchsichtig zu halten. Der diener sagte: "Verstanden! Zurück in Bereitschaftsmodus!" Das achtbeinige Kunstgeschöpf bestätigte durch ein leises Zirpen und zog sich in die kleine Aufbewahrungsbox rechts unter dem Fenster zurück. Dort würde es sich selbstständig an die Stromversorgung anschließen.

Insgesamt gab es schon zehn verschiedene Arbeitsroboter im Haus, alles herausragende Produkte von Yamamotos Firma. Keiko, eines der Dienstmädchen, hatte einmal gefragt, ob der Staubsaugroboter auch einen Namen bekommen sollte. Sauberfix eins null zwei war ja kein wirklicher Name für einen nützlichen Helfer. Nakamura hatte darauf geantwortet, dass dies der Hausherr zu entscheiden habe.

Der oberste Hausdiener Yamamotos prüfte gerade die vom Chefkoch zusammengetragenen Kosten für die geplanten Speisen der nächsten Woche, als er das Dienstmädchen Keiko laut aufschreien hörte. Erst dachte er, wie ungehörig das war, so laut zu schreien und den Herrn bei seiner Arbeit zu stören. Doch in dem Schrei hatte was sehr angst- und schmerzvolles geklungen. Nakamura drückte schnell eine Taste des hauseigenen Sprechsystems und befahl dem untergeordneten Diener Naguro, nachzusehen, was passiert war. Naguro war nicht nur Diener, sondern auch Sicherhheitsexperte. Er beherrschte alle japanischen Kampfsportarten, konnte mit allen Schusswaffen von der Pistole bis zum MG umgehen und verstand sich auf jede Form elektronischer Absicherung und Überwachung. Wenn Yamamoto verreiste begleitete Naguro ihn oft als Leibwächter zusammen mit der nicht minder kampfgeschulten Michiko, die auch eine vollständige Geisha-Ausbildung besaß.

Eine Minute verging, ohne dass Naguro sich meldete. Nakamura rief über die Rundsprechfunktion nach ihm, wobei er den Lautsprecher im Arbeitszimmer seines Herrn tunlichst ausgeschaltet ließ. Der durfte nur im Feuer- oder Erdbebenfall zugeschaltet werden. Naguro meldete sich immer noch nicht. Dafür rief Michiko bei Nakamura durch und fragte, was mit Keiko sei. Am Ende sei sie im Rückzugsbereich für das weibliche Personal verunglückt, und Naguro traue sich nicht hinein, weil er nicht wisse, ob er die Erlaubnis dazu habe.

"Die hätte er dann erfragt und von mir auch erhalten, Michiko. Er sollte prüfen, was mit Keiko passiert ist und ..." Ein lautes, unheilvolles Fauchen klang aus dem Keller des Hauses. Dort hatte Yamamoto seine private Bildergalerie und einen Raum mit seltenen Objekten aus aller Welt, die ihm von seinen Geschäftspartnern als Gastgeschenke verehrt worden waren. Michiko hatte das Fauchen auch gehört und fragte, was das sein sollte.

"Dies ist mir ebenso unbekannt wie Ihnen", sagte der oberste Diener. Da klingelte das Telefon.

Als er sich ordnungsgemäß gemeldet hatte hörte er eine Frauenstimme sprechen: "Hier spricht die Sekretärin des ehrenwerten Herrn Takahashi. mein Dienstherr lässt durch mich ausrichten, dass er es sehr bedauert, die vereinbarte Unterredung zur verabredeten Zeit nicht wahrnehmen zu können, da er in einer unerwartet eingetretenen Angelegenheit benötigt wird. Er gab das für diesen Fall vereinbarte Codewort "Die Sonne verbirgt sich hinter einer roten Wolke." Nakamura kannte diesen Code. Er stand für eine finanzielle Komplikation, die dringend behoben werden musste. Meistens war damit eine Nachprüfung von Steuerzahlungen gemeint, konnte aber auch einen Verlust von Marktanteilen bedeuten. Er fragte zur Sicherheit noch nach einem zweiten Codesatz, der Takahashis Leute als von ihm beauftragt auswies und erhielt diesen Code. Er verabschiedete sich höflich von der Anruferin und drückte die Anruftaste für das schalldichte Büro seines Herren. Dieser war ein wenig ungehalten, dass Takahashi die angesetzte Unterredung abgesagt hatte. Doch im Geschäftsleben konnte immer was unvorherplanbares eintreten.

Als Nakamura gerade mit dem Telefon die zum Einkaufen geschickte Dienstbotin zurückbeordern wollte krachte es laut im Haus, und wieder fauchte es laut, diesmal so, als käme es aus zwei Quellen. Nakamura wurde die Sache jetzt doch sehr unheimlich. Er rief nach Naguro und Michiko. Doch beide meldeten sich nicht. Das war absolut ungehörig. Falls den beiden nichts passiert war, was diese Antwortverweigerung gerechtfertigte konnten die mit einer unehrenhaften Entlassung rechnen. Yamamoto wünschte sich von seinen lebenden Dienstboten eine ähnliche Effizienz und Verfügbarkeit wie von seinen Robotern. Roboter? Vielleicht sollte Nakamura die neueste Errungenschaft losschicken, Chiropterbot, ein fledermausförmiges Fluggerät, das als verkleinerte Aufklärungsdrohne für Polizei, Katastrophenschutz und Militär hergestellt werden sollte. Wie viele Erfindungen von Yamamoto hatte er sich den durchentwickelten Prototypen als persönliche Ergänzung des Sicherheitspersonals ins Haus geholt.

Nakamura wollte gerade die entsprechenden Schaltungen vornehmen, als er ein lautes Knurren wie von einem gereitzten Kater hörte. es klang aus dem Keller. Und dann wieder dieses Fauchen. Er tippte die Codezeilen für den geflügelten Such- und Aufklärungsroboter ein und startete diesen aus seiner Bereitschaftsbox unter dem Dach. Eigentlich hätte er sich hierfür Yamamotos Erlaubnis einholen müssen. Doch in möglichen Notfällen durfte er auch ohne sichernde Anfrage vorgehen. Und er hielt das hier für einen Notfall.

Über einen drahtlos mit dem fliegenden Roboter verbundenen Monitor überwachte Nakamura den Flug, bei dem im wesentlichen kleine Propellermotoren den Auftrieb erzeugten. Für eine naturgetreue Benutzung der Flügel waren die auf Piezokristallbasis aufgebauten Kunstmuskeln noch nicht stark genug. Doch Yamamoto war zuversichtlich, bei stärkeren Akkus auch echtes Fliegen zu ermöglichen.

Als die fledermausförmige Drohne gerade durch die auf ihre Annäherung aufschwingenden Servotüren in den Kellerbereich einschwebte und zu den Kameras auch auf Sonar umschaltete, traute Nakamura der Bildübertragung nicht.

Da, wo die Tür zur Galerie war, klaffte nur ein großes Loch. Die feuerfeste Panzertür lag zu einem unförmigen Klumpen geschmolzen auf dem Boden. im Saal dahinter krabbelten zwei rot schimmernde Geschöpfe herum, die laut Sonar Wirbeltiere von anderthalb Metern Größe waren. Dann fielen sämtliche Übermittlungskanäle aus. Nakamura hoffte, dass die redundanten Systeme der Drohne schnell übernahmen. Doch dem war nicht so. Der Flugroboter hatte die Übertragung komplett beendet, wenn auch völlig abrupt. Nakamura ließ die letzten Bilder auf der Festplatte in Zeitlupe zurücklaufen, bis er die zwei fremden Tiere klar erkannte. Das waren schlangenartige Echsen, nur dass sie je vier Beine hatten und auf dem Rücken zusammengefaltete, feucht glänzende Flügelpaare wie bei sich häutenden Insekten. Geflügelte Echsen gab es jedoch nicht, sofern die Legenden und Märchen von Drachen ausgeschlossen blieben. Drachen? Da unten im Keller waren kleine Drachen? Das musste ein Fehler der Übertragung gewesen sein. Aber die zerschmolzene Tür, die sonst einem Großbrand standhalten sollte.

Nakamura überprüfte schnell alle Sicherheitssysteme und stellte fest, dass die Alarmanlage für den Keller total ausgefallen war, jedoch ohne dass die überwachungssoftware dies gemeldet hatte. Das lag aber wohl daran, dass Keiko die Anlage ausgeschaltet hatte. Sie war als ehemalige Museumsfachkraft für die Pflege der Bilder zuständig und durfte als eine der wenigen in die Galerie. Doch wenn sie dort hinging musste sie die Alarmsysteme immer mit einer genauen Frist programmieren, wann sie wieder aktiv sein sollte. Tat sie das nicht, wurde die Abschaltung verweigert und der Abschaltversuch an die Überwachungszentrale gemeldet. Irgendwas stimmte hinten und vorne nicht, dachte Nakamura.

Er hatte jedoch nicht mehr die Zeit, weitere Maßnahmen zu ergreifen oder Gedanken zu entwickeln, was passiert war. Denn unvermittelt drang das Fauchen aus zwei Quellen durch das Erdgeschoss des zweistöckigen Hauses. Nakamura wusste instinktiv, was das hieß. Was immer im Keller aufgetaucht war hatte den Weg nach oben gefunden. Er rief bei seinem Herren durch und wollte ihm gerade die Lage schildern, als die Tür zu Nakamuras Bereitschaftszimmer in einem plötzlich auflodernden violetten Feuer verglühte. Nakamura fühlte keine Wärme von diesen Flammen ausgehen. Wohl deshalb sprang der Feueralarm auch nicht an. Dann sah er die zwei geflügelten Echsenwesen auf sich zulaufen. Er griff sofort in eine Schublade seines Schreibtisches. Er konnte zwar die 9-Millimeter-Pistole noch hervorziehen und entsichern. Doch dann schnappten die beiden roten Zwerg- oder Jungdrachen nach seinen Beinen und rissenihn mit brutaler Entschlossenheit mit sich. Er wollte schießen. Doch die Waffe versagte. Dass auch alle elektronischen Anlagen im Zimmer ausgefallen waren bekam er nicht mit. Er fühlte nur eine lähmende Kraft in seinen Beinen aufsteigen. Diese Biester hatten ihn vergiftet. Auch seine Arme gehorchten ihm nicht mehr. Er wollte noch das absolute Notfallcodewort rufen, um sämtliche Sicherheitsanlagen und den einzigen im Haus befindlichen Kampfroboter zu aktivieren. Doch auch seine Stimme wollte nicht mehr so wie er. Diese an ihm zerrenden Drachenwesen hatten ihn schnellund gründlich überwältigt.

Während auch der Rest seines Körpers von einer steigenden Taubheit erfüllt wurde bekam Nakamura noch mit, wie er in den Keller hinuntergeschleift wurde und an der zerschmolzenen Tür vorbei in die Galerie hineinbugsiert wurde. Jetzt ließen die Drachen ihn los. Doch nur, um sich an Kopf und Füßen unter ihn zu schieben und ihn aufzuheben, damit sie ihn an die untere Kante eines großen Bildes schaffen konnten. Nakamura erkannte das Bild. Die Brut der Götterdrachen hieß es und sollte angeblich eine Darstellung der Rückkehr von teuflischen Drachen sein, die am Ende des Menschenzeitalters ausschwärmen sollten. Seine Füße geriten in das eine natürliche Höhle zeigende Bild hinein, als sei die Höhle wahrhaftig vorhanden. Dann sah er, dass die sieben roten Rieseneier, die angeblich die titelgebende Drachenbrut enthalten hatten, nicht mehr da waren. Statt dessen hockten fünf einen Meter große Geschwister der zwei ihn tragenden Drachen in der Höhle. Eines davon stürzte sich sofort auf ihn und schnappte nach seinem linken Fuß. Er spürte nicht, wie das kleine Ungeheuer ihm den Fuß abbiss und sich dann im Stil eines Apfelwicklers immer weiter an ihm hinauffraß. Erst als das Ungeheuer sich in seine Bauchhöhle hineingewühlt hatte versagten seine Organe endgültig und gewährten ihm die Gnade der Bewusstlosigkeit. Sein letzter Gedanke war, dass Keiko und Naguro ihm auf diesem Weg vorausgegangen waren und er nicht das letzte Opfer dieser unheimlichen Eindringlinge war. Dann versank die Welt um ihn in endgültiger Finsternis.

Yamamoto horchte auf. Ein leises Pingeln verriet, dass etwas mit der Haustechnik nicht mehr stimmte. Er wählte sofort die entsprechenden Abfrageprogramme und stellte fest, dass Nakamuras Rechner nicht mehr am Hausnetzwerk hing und auch nicht ordentlich davon abgemeldet worden war. Außerdem waren die Alarmsysteme für die Galerie und die Steuerungssignalgeber für die Arbeitsroboter ausgefallen. Yamamoto schaltete die nur von ihm abfragbaren Kameras ein und bekam nur schwarze Bildschirme zu sehen. Also war auch die Überwachungstechnik ausgefallen. Da sein Raum schalldicht war, um Gespräche nicht abhören zu lassen aber auch nicht von den Vorgängen im Haus selbst abgelenkt zu werden, hatte er nicht mitbekommen, welches Grauen sich in diesem Moment in seinem angeblich so sicher und ordentlich überwachten Haus ausbreitete. Versuche, mit seinen Dienstboten zu reden scheiterten. Sollte er durch die Tür und selbst nachsehen. Wehe denen, die ihn zum Narren hielten! Dann fiel ihm ein, was los war. Jemand hatte das Haus angegriffen. Nur der Umstand, dass seine Tür von ihm verriegelt worden war, hatte ihn bisher davor bewahrt, ergriffen und entführt zu werden. Doch Nakamura hatte die Notfallcodes, um den Raum zu öffnen, wenn es brannte oder ein Erdbeben stattfand. Wenn der mit den Angreifern paktierte ... Yamamoto beschloss, sich nicht gefangennehmen zu lassen. Noch funktionierte die Elektronik in seinem Büro. "Totalverschluss. Absetzen nach Code Sonnenfeuer!" rief Yamamoto und hielt sich an den Armlehnen seines bequemen Sessels fest. Unvermittelt sank der ganze Raum ab. Das war eine Sondervorrichtung, die außer ihm nur noch sein Freund Ishiro kannte, der sein Haus entworfen und mit der Sicherheitstechnik ausgestattet hatte. Sein Büro war zugleich ein Panikraum, eine gerade bei reichen und/oder berühmten Leuten gerne genommene Schutzmaßnahme, um im eigenen Haus vor unerwünschten und böswilligen Eindringlingen geschützt zu werden.

Allerdings brachte ihn der Mechanismus nicht in Sicherheit, sondern beförderte ihn geradewegs in die tödliche Falle. Denn als er mit seinem versenkbaren Arbeitszimmer im Kellergeschoss eintraf fielen alle elektronischen Geräte aus. Ebenso versagten das Licht und die separate Belüftungsanlage. Yamamoto versuchte, die mehrfach redundanten Systeme neu zu starten. Doch irgendwie hatte etwas alle elektronischen Komponenten außer Funktion gesetzt. Nichts sprang an. Yamamoto entriegelte die rein mechanischen Türsicherungen, die bei einem Stromausfall noch bedient werden konnten. Doch als er seinen Panikraum durch den zweiten Ausgang verlassen wollte, sprangen ihn gleich vier echsenartige Wesen an und bissen ihn in Arme und Beine. Keine zwei Sekunden später breitete sich eine völlige Lähmung in Yamamotos Körper aus. So konnte er nichts mehr tun, als die vier Echsenwesen ihn aufluden und schnell in den Galerieraum liefen, um ihn den drei noch wartenden Geschwistern vorzuwerfen.

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Zur selben Zeit, wo in Deutschland, Schottland, Japan und den USA Pickmans unheilvolle Gemälde ihre böse Macht entfalteten betrachtete die halbaboriginale Ethnologin Yandra Maruwanga zusammen mit Devon Pollard, dem Sammler von Artefakten der Ureinwohner ein drei mal drei Meter großes Ölgemälde, das mit dem Namenszug H. P. signiert war. Es zeigte tanzende Ureinwohner mit Klangstäben und Didgeridoos vor einer Höhle bei Mondlicht. "Der Tanz des blauen Teufels", hatte der Maler das Bild mit einer königsblauen Farbe betitelt. Tatsächlich wiesen die gemalten Tänzer und ihr Hintergrund einen leichten Blaustich auf. Yandra war vor allem begeistert, wie detailgenau der Maler den Vollmond und die Sternbilder des südlichen Sternenhimmels gemalt hatte. Das Bild wirkte mit seinen gestochen scharfen Linien und Formen eher wie eine Fotografie als wie ein Ölgemälde. Vor allem die Augen der sich in Ekstase tanzenden Ureinwohner wirkten sehr lebendig, als seien die zwölf Männer mitten beim Tanz in allen Bewegungen erstarrt, als habe jemand die Zeit für diese Männer angehalten und nicht wieder voranschreiten lassen.

"Dieser Henry Price, der das Bild gemalt hat, behauptete, er habe den Beschwörungstanz tatsächlich mal gesehen. Bei dem blauen Teufel soll es sich um einen Dämon handeln, der in einen extra für ihn künstlich erschaffenen Körper aus Erde, Menschen- und Tierblut hineinbeschworen werden soll, indem der Oberzauberer einen Stein mit eingeritzten Zauberzeichen in den Kopf der Figur setzt und dann mit seinen Jüngern einen magischen Tanz aufführt, eben den, der da vor uns hingemalt hängt." Yandra nickte. Sie hatte von ähnlichen Mythen gehört. Aber meistens erzählten diese von einer grausamen Bestrafung jener, die wagten, das Recht der Götter auf die Erschaffung von Leben einzufordern. Außerdem fühlte sie eine von dem Bild ausgehende Kraft, eine regelrechte Aura, die ihr Unbehagen bereitete. Deshalb wollte sie mehr von diesem Henry Price wissen. Pollard erwähnte, dass er den Maler vor einem Jahr getroffen habe, als er in Melbourne bei einer Zusammenkunft von Interessenten an präeuropäischer Kunst Australiens teilgenommen habe. Dabei hatte der Maler seine Reiseerlebnisse geschildert und erwähnt, dass er von einem inneren Drang besessen gewesen sei, den Tanz des blauen Teufels auf die Leinwand zu bringen. Yandra trat einen Schritt näher an das Bild heran. Diese unheimliche Ausstrahlung verstärkte sich. Sie meinte, die dargestellten Tänzer singen zu hören und verstand Worte, die nicht für sie gedacht waren. Wie von einem elektrischen Schlag getroffen schrak sie zurück. Dann sagte sie: "Ich weiß, Sie werden meine Meinung mal wieder als lächerlichen Aberglauben abtun, Devon. Aber ich möchte Ihnen doch raten, dieses Bild schnellstmöglich zu vernichten, nicht zu verstecken oder zu verkaufen. Ich kenne den Maler nicht, vermute zumindest, dass es ein Weißer ist. Aber wie auch immer ist er bei seinen Forschungen an wahrhaftige Schwarzmagier geraten. Womöglich hat er das Bild deshalb malen müssen, um deren Macht in dieser Welt zu verstärken."

"Sie wollen mir echt mal wieder erzählen, das ich einen echt magisch aufgeladenen Gegenstand habe?" fragte Devon Pollard. Yandra Maruwanga nickte heftig. "Ich spüre von dem Bild etwas böses, gieriges ausstrahlen. Das ist anders als bei dem Stein der Anangu-Magierin, den Sie sich auf sicher sehr dunklen Wegen angeeignet haben. Der Stein strahlt eine belebende Kraft aus. Dieses Bild da strahlt Gefahr und Tod aus", sagte Yandra.

"Natürlich müssen Sie sowas sagen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass der Maler kein Ureinwohner war. Der sprach Londoner Englisch, wie meine selige Oma", sagte Pollard.

"Ja, und wenn Sie dieses Bild nicht bald loswerden, ohne seine böse Macht wem anderen anzuhängen, könnten Sie bald schon mit Ihrer Frau Großmutter Wiedersehen feiern, sofern Ihre Seele dorthin gelassen wird, wo Ihre Großmutter weilt. Ich erkenne in der Haltung der Tänzer eine sehr böse Anrufung, die nur durch frisch getötete Tier- und Menschenopfer vollzogen werden kann. Am Ende hat dieser unwissende Mensch namens Price Ingredentien benutzt, die auch von den ursprünglichen Magiern verwendet wurden."

"Will sagen, dass er die Farbe mit dem Blut eines von ihm ermordeten angerührt hat?" wollte Pollard wissen und musste grinsen.

"Das würde zumindest erklären, warum ich diese böse Aura spüre, die das Bild umgibt", sagte Yandra.

"Ich spüre keine solche Aura", tat Pollard die Erwähnung mit einem verächtlichen Tonfall ab.

Yandra wollte gerade noch was sagen, als sie fühlte, dass die unheimliche Ausstrahlung stärker wurde. Wieder meinte sie, Gier und Tod zu fühlen und hörte die Tänzer verbotene Worte singen. Jetzt meinte sie auch, dass sie sich bewegten. Hatte sie einen Fehler gemacht, Pollard zu warnen? Manche Flüche wirkten erst, wenn sie offen erwähnt wurden. Doch offenbar merkte jetzt auch Pollard etwas. Er deutete auf den mit Knochen und Zähnen geschmückten Anführer der Tänzer und sagte: "Jetzt habe ich wohl Halluzinationen von Ihrer Behauptung. Der bewegt sich echt. Und die anderen auch." Yandra konnte das nicht abstreiten. Die Tänzer erwachten zum Leben. Sie hörte jetzt auch mit den Ohren das leise Brummen und dann das Singen der tanzenden. Während sie die von dem Bild ausstrahlende Kraft immer weiter zurücktrieb und jetzt auch noch ihre Halskette zu vibrieren anfing, das Geschenk einer Urgroßmutter von ihr, die nach europäischer Weltanschauung glatt als Hexe eingestuft worden wäre. Also wirkte wahrhaftig böse Magie in dem Bild und breitete sich nun aus. "Kommen Sie weg da!" rief sie Pollard zu, der Anstalten machte, auf das bläulich glimmende Bild zuzugehen. Sie streckte ihre linke Hand aus, um ihn zu ergreifen und traf auf einen unsichtbaren Widerstand, der steinhart war und ihr zu alledem noch das Gefühl eines über ihren Arm laufenden Ameisenschwarms vermittelte. Pollard hob den rechten Fuß zum nächsten Schritt an. Da erwachten die Tänzer vollends zum Leben. Yandra hörte die Worte von Tod und Unterwerfung. Sie sah das blaue Licht, dass aus der Höhle drang. Ihre Halskette, gemacht aus einer Schnur aus Haaren und durchbohrten und rundgeschliffenen Flusskieseln, erzitterte noch mehr. Unvermittelt stand sie selbst von einer wasserblauen Aura umstrahlt da und hörte die Stimme ihrer vor zehn Jahren im stolzen Alter von hundertundzwei Jahren verstorbenen Urgroßmutter. Sie sang das Lied der Heilung und der Reinigung, das sowohl Krankheiten als auch bösen Zauber beheben konnte. Yandra fühlte sich von diesem Lied belebt und stark genug, Pollard zu retten. Sie trat entschlossen vor, streckte ihre Hand aus und erschrak. Denn im selben Augenblick, wo sie ihn fassen wollte, riss ihn eine unsichtbare Macht nach vorne und sog ihn förmlich in das Bild hinein, auf die Tänzer zu, die ohne in ihrem rituellen Tanz innezuhalten Messer mit schwarzen Klingen freizogen. Dann prallte sie selbst wieder auf ein unsichtbares Hindernis und wurde zurückgestoßen. Sie konnte sich gerade noch ausbalancieren, um nicht zu stürzen. Sie sah, wie Devon Pollard zu einem weiteren Bestandteil der gemalten Szenerie wurde, die auf so erschreckende Weise lebendig geworden war. Sie sah auch, wie drei der Tänzer auf ihn zusprangenund ihm ihre Messer über den Körper zogen. In diesem Moment strahlte das blaue Licht aus der Höhle noch heller. Ein urwelthaftes Brüllen drang aus dem Bild heraus, und die Tänzer gerieten noch mehr in wilde Bewegungen. Yandra versuchte noch einmal, nach vorne vorzustoßen. Doch der unsichtbare Widerstand war immer noch da. Schlimmer noch, er drängte sie nun aktiv immer weiter zurück, während Pollard vor ihren Augen von den in Ekstase befindlichen Beschwörungstänzern mit ihren Messern massakriert wurde. Offenbar fühlte er keinen Schmerz. Denn er schrie nicht.

Hinter ihr war nur noch die Wand. Wenn sie nicht zur Seite auswich würde der böse Zauber sie an diese Wand drücken und womöglich zerquetschen. Dann hielten die Tänzer auf einmal in ihrer Bewegung inne. Aus der Höhle trat, aus sich heraus in einem kalten blauen Licht leuchtend, eine unförmige, annähernd menschliche Gestalt mit langen Armen und säulenartigen Beinen. Die Arme wirkten wie an den Körper gesetzte Schlangen, deren Köpfe die Hände des Unholds waren. Der große, klobige Kopf besaß das Gesicht einer Echse und blau flackernde Facettenaugen wie ein überlebensgroßes Insekt. Als der Blick dieser Augen den im eigenen Blut liegenden Pollard traf glomm dessen Körper in violettem Licht auf und zuckte wild. Jetzt meinte Yandra, einen Schrei von ihm zu hören. Dann sah sie auch, dass sich aus seinem Körper ein bläuliches, geisterhaftes Abbild von ihm löste und auf das aufklaffende, raubtierhaft bezahnte Maul des blau leuchtenden Dämons zuflog. Die Tänzer jauchzten auf, als das Ungeheuer die geisterhafte Erscheinung Pollards in sich einsog und verschlang. Im selben Moment zerfiel der entseelte Körper im violetten Licht zu Staub.

Die Tänzer stießen Laute der Verzückung aus. Der Vortänzer rief Worte der Beherrschung und deutete um sich. Das Blaue Ungetüm blickte sich um. Wo seine Augen hinsahen leuchtete es da blau auf, wo reines Gestein war und violett, wenn sie einen Tänzer anblickten. Yandra verstand nun, das der Maler dieses Bildes ein Besessener gewesen sein musste, der unter dem Zwang einer uralten bösen Magie dieses Bild gemalt hatte, damit der gefährliche Zauber neue Opfer finden konnte. Der blaue Teufel war wahrhaft erschienen und hatte bereits ein Opfer gefunden. Würde Yandra das nächste Opfer? Aber warum war sie dann nicht in die immer noch auf wenige Meter begrenzte Darstellung hinübergerissen worden? Das lag sicher an der Schutzkette von Yandras Urgroßmutter Aymalala. Würde dieser Heilsgegenstand sie auch weiterhin schützen?

Das blaue Ungeheuer blickte sich suchend um. Yandra konnte nicht vor und nicht zurück. Denn nun stand sie zwischen der sie zurückweisenden Barriere und der Wand eingekeilt, umhüllt von jener wasserblauen Aura, die anders als das Augenleuchten des Dämons eine gewisse Wärme ausstrahlte, wie ein blauer Sommertagshimmel. Dann trafen die blau flackernden Strahlen Yandra. In diesem Moment flammte der sie umfließende Strahlenkranz noch heller auf. Dann meinte sie, in etwas erbarmungslos auf alles an ihr pressendes, völlig lichtloses hineingedrückt zu werden. Doch dieses sie so sehr einengende Etwas wirkte wohl nur eine Sekunde auf sie ein. Dann gewann die Welt um sie herum wieder Raum und Licht.

Sie fand sich auf eine ihr völlig unerklärliche Weise auf einem Platz stehen, der ihr von frühester Kindheit an bekannt war. Hier war sie von ihrer zauberkundigen Urgroßmutter ihren Ahnen vorgestellt worden, als sie noch ein Säugling war. Hier hatte sie zur Ehrung der Erdgöttin etwas von ihrem ersten Monatsblut auf den Boden tropfen lassen, um sich mit den göttlichen Mächten zu verbinden und sie um Fruchtbarkeit und Schutz zu bitten. Wie kam sie hierher? Die einzige Erklärung, wie sie mal eben über viertausend Kilometer versetzt worden war spottete allen naturwissenschaftlichen Gesetzen: Der Zusammenprall zweier Magien hatte sie zeitlos an den Ort ihrer rituellen Herkunft versetzt, teleportiert. Sie hatte bisher nie geglaubt, dass sowas überhaupt ging, auch mit Magie nicht. Für sie waren Zauberkräfte auf den Geist, den Ort und die unmittelbaren Körper der sie wirkenden beschränkt.

"Du musst jene finden, in deren Adern ebenfalls das Blut der göttlichen Kräfte fließt!" hörte sie wie aus großer Ferne die Stimme ihrer Urgroßmutter. "Ein dunkler Meister der weißen hat das untersagte Wissen gefunden und für seine eigene Machtgier ausgenutzt. Der von ihm gemalte blaue Teufel wird weitere Opfer suchen. Du bist nur durch die Kraft des von mir erbetenen Segens gerettet worden. Die Kraft der ahnen bringt dich zu deinem Wohnhaus zurück, wenn du sie darum bittest. Suche und finde die Zauberer und Zauberinnen der Weißen und unserer Stammesbrüder. Sie müssen den blauen Teufel niederringen, bevor er das ganze Land verschlingen kann."

Als ihre verstorbene Urgroßmutter das gesagt hatte erlosch die blaue Aura um Yandras Körper wieder. Die Urenkelin Aymalalas erkannte, dass das magische Erbe ihrer Vorfahren in ihr erwacht war. Es war nur durch die Anpassung an die Lebensweise der Weißen unterdrückt worden. Nur die direkte Auseinandersetzung mit einer anderen Magie hatte ihr Erbe aus dem tiefen Schlaf gerissen. So begann sie, den von ihrer Ahne erlernten Anrufungstanz zu tanzen. Da hier noch die Sonne schien musste sie dafür kein Feuer entfachen. Sie beschwor ihre weiblichen Ahnen, ihr den Weg in ihr eigenes Haus zu öffnen und sie dort hinzutragen, so wie ihre Urgroßmutter es ihr geraten hatte. Ihr Tanz wurde immer schneller und ekstatischer. Dann, als sie schon meinte, gleich erschöpft umzufallen, durchfuhr sie ein schmerzhafter Kraftstoß, der sie erneut in jene alles an ihr zusammenquetschende Dunkelheit hineinpresste.

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26. November 2002

Es war hier in Chicago gerade drei Uhr morgens, als eine Gruppe von acht jungen Männern von einem Mann im schwarzen Umhang und mit feuerroter Teufelsmaske durch die Räumlichkeiten von Pokes Pandämonium geführt wurden, ein vor zwei Jahren eröffnetes Gruselkabinett nur für erwachsene Besucher. Eigentlich machte dieser Gruselkeller, wie Mark Benson, einer der Besucher die Attraktion heimlich nannte, nur zu bestimmten Tagen beziehungsweise Nächten auf, vor allem an Halloween und Walpurgis. Aber für Benson, dessen Vater zu den vierhundert Topverdienern von Chicago gehörte, war es kein Thema gewesen, zum Geburtstag seines Freundes Phil Gibson eine exklusive Führung zu organisieren. Phil war Horrorfan und galt an der Uni als Experte für alle möglichen Dämonen und Höllenvorstellungen. Da passte ein Ausflug in das Pandämonium doch genau richtig hin. Hier sollte es neben alten Folterinstrumenten auch auf dunklen Wegen beschaffte Überreste von als Hexen verbrannten Frauen geben. Die echte Skeletthand eines berüchtigten Teufelsanbeters sollte hier auch zu sehen sein. Natürlich fehlten auch keine Voodooutensilien, zu denen auch angeblich der vor der Beerdigung abgezweigte Kopf der berüchtigten Voodookönigin Marie Laveau gehörte. Natürlich war das alles Schmuh, billige Jahrmarkttrickserei, dachte Mark. Doch weil er Phils bester Freund war und die vierhundert Dollar, die er für diesen Ausflug hatte berappen müssen, nur 'ne Tüte Erdnüsse für ihn war hatte er diesen Ausflug spendiert, bei dem auch Phils Vettern und der sich mit den Salemer Hexenprozessen befassende Crake Dunning mit von der Partie waren.

"Und hier haben wir das Porträt von Rore McIntosh, dem Kopfsammler", sprach der im Teufelskostüm steckende Führer, Jerry Pokes persönlich. Dann deutete er auf das Bild eines Mannes im Schottenrock. Allerdings fehlte dem der Kopf. Statt dessen hielt er in jeder Hand einen abgetrennten Männerkopf. "In Schottland heißt es, dass er vor vierhundert Jahren als Leird, also Häuptling seines Clans ziemlich grausam geherrscht hat, bis ihn zwei Männer bei Nacht und Hochlandnebel geköpft haben. Allerdings sollen die vergessen haben, ihn in geweihter Erde zu begraben. Deshalb, so die Geschichte, stehe der Geköpfte in jeder Neumondnacht auf und suche nach seinem Kopf. Tja, und wenn er dabei einen Mann aus dem Clan trifft, dessen Mitglieder ihn umgebracht haben, dann schneidet er dem den Kopf abund setzt ihn sich auf, um nach seinen Mördern zu suchen", sagte Pokes mit wohl einstudierter Theatralik in der Stimme. Die jungen Männer grinsten.

"War das also ein Highlander? "Es kann nur einen geben!" sprach Tom, einer von Phils drei Vettern aus New York.

"Die Geschichte ist schon älter als der Film, Leute. Aber es heißt, dass wenn einer vom Clan der McDuncans, die McIntosh geköpft haben, hier im Museum auftauchen sollte, dann steigt der Geist vom alten Kopfsammler aus dem Bild heraus und holt sich die Birne des von ihm verfluchten", sagte Pokes und fragte, ob wer hier aus diesem Clan stamme. Natürlich war keiner ein McDuncan.

In einem Raum fanden sie das Skelett einer Frau, die vor dreihundert Jahren verbrannt worden war, weil sie einen Hexenzirkel in Jamestown angeführt hatte. Ihre Knochen waren aber nicht verbrannt und wären angeblich auch nicht auseinandergefallen. So hätte man sie nur mit einem geweihten Silberkreuz behangen und mit Weihwasser benetzt, um ihren Geist in den Knochen zu bannen. Aber weil "so'n Ahnungsloser" das Grab geöffnet und das Kreuz gestohlen hatte wäre es möglich, dass Hetty Charcoals Geist wieder aufwachen würde, wenn er die Nähe eines Nachfahrens der Mörder wittert. Mark glaubte nicht, dass das pechschwarze Gerippe einer echten Hexe gehört haben sollte. Das war sicher nur aus angekohltem Holz oder gar Plastik gemacht worden, eben ein billiger Gruselscherz. Aber als angehender Mediziner konnte er zumindest anerkennen, dass die Macher dieser Knochenfrau auf alles wichtige geachtet hatten.

So ging es noch durch andere Abteilungen, wo der angebliche Kopf Marie Laveaus ausgestellt war, deren Geist deshalb wohl keinen Frieden fand und auf den Tag der Rache lauere, der angebliche Reißzahn eines Drachens zu bestaunen war und eine silberne Urne, in der die angebliche Asche von Gladys Finn, einer der letzten in Salem verbrannten Hexen, aufbewahrt wurde. Wer die Asche in Wein oder Wasser auflöste und trank würde ihr Erbe antreten. Deshalb stand das Gefäß in einem Panzerglaskasten mit deutlich sichtbaren Alarmsensoren. Mark musste darüber nur grinsen.

In einem anderen Saal waren Filmrequisiten zu bestaunen, wie der rot-grüne Pullover und der mörderische Klingenhandschuh des Teenagerschrecks Freddy Krueger oder der echte Zahn eines weißen Hais, der als Vorlage für den Mörderfisch in den erfolgreichen Kinofilmen gedient hatte.

"Aber den echten Schädel eines Tyrannosaurus Rex aus "Jurassic Park" haben Sie hier nicht auch noch?" fragte Mark Benson.

"Kriegen wir demnächst rein", sagte Pokes. Dann deutete er auf eine weitere rote Tür mit einer Teufelsfratze. "Und jetzt zum Höhepunkt, die Halle der höllischen Freuden, Gentlemen", kündigte der falsche Teufel die abschließende Attraktion an.

Tatsächlich hingen und standen in der Halle Bilder und Statuen von mit Menschen wilde Liebesakte erlebenden Dämonen und Hexen. Dabei war auch die Statue eines Mannes, der mit einer violetthäutigen Riesin zu Gange war und wohl nicht wusste, wie dieses an die zehn Meter große Weib ihn verschlingen würde. Mark sah vor allem das drei Meter mal drei Meter große Bild mit sechs Monstern, die wie eine Mischung aus Raupen und Menschen aussahen. "Die nimmersatten Larven lodernder Gelüste" las Mark den blutrot geschriebenen Titel. Als Maler der sich wie für einen wilden Liebesakt anbietenden drei weiblichen und drei männlichen Horrorgeschöpfe hatte ein gewisser H. P. signiert. Vielleicht war das ein Verwandter von Mr. Pokes, dachte Mark. Er bewunderte die morbide Darstellung der drei breitbeinig dastehenden Frauen mit grüner Haut und die drei violett gestalteten Monstermänner, die neben sechs krakenartigen Armen übergroße Genitalien zur Schau trugen. Pokes bemerkte, wo Mark hinsah und führte aus:

"Das genial detailgenaue Bild habe ich vor einem Jahr vom Maler selbst gekauft. Es zeigt die Opfer eines mörderischen Fluches, der sie dazu verdammt, erst durch Sex und dann mit ihren Mündern Lebenskraft aus ihren Opfern zu saugen, wie die freundlichen Damen da hinten, die sich über die arglos schlafenden Jünglinge hermachen", wobei er auf die darstellung geflügelter, schlangenhaariger Frauen deutete, die auf den nackten Körpern in Betten liegender Männer hockten.

"Aber mit solchen Bräuten will doch niemand zusammen sein", sagte Mark und deutete auf die grünhäutigen Frauen mit den sechs Armen.

"Wollen will wohl keiner. Aber die Biester sind stark und können, so der Maler, ihren Opfern vorgaukeln, die schönsten Männer oder Frauen zu sein, bevor sie sie zu packen kriegen."

"Neh is' klar. Die ewige Angst des Mannes vor der Frau als Urbild der Todsünden", musste Crake Mulligan loswerden, der sich kein Stück für Dämonengeschichten begeistern konnte.

"Ich kann ja mal den Zauberspruch rezitieren, den Hank Preston, der Maler, in das Bild reingeschrieben hat", sagte Pokes. "Allerdings soll der nur klappen, wenn mindestens so viele Frauen wie Männer in einer Gruppe zusammen sind."

"Klar!" spottete Crake. Denn in dieser Gruppe ging keine einzige Frau mit. Womöglich achtete Pokes auch bei offiziellen Führungen darauf, dass nicht genausoviele Männer wie Frauen in einer Gruppe mitgingen, um diese Ausrede bringen zu können.

Mark stierte noch einmal die drei grünen Frauen an. Da war ihm, als verschwömmen deren Konturen. Unvermittelt sah er Betty Hooper, Daisy Fields und Nancy Shariton vor sich, die für ihn schönsten Frauen seines jungen Lebens. Immer wieder hatte er davon geträumt, mit einer der drei das berühmte erste Mal zu erleben. Am Ende war es doch Kathy Worthington geworden, die Nichte eines Geschäftspartners seines Vaters und wohl auf die Beendigung der Unberührtheit wohlbehüteter Jünglinge ausging. Aber jetzt hatte er die drei Wunschgeliebten vor sich. War das ein weiterer Trick, diesmal ein nicht ganz so billiger?

"Komm, schöner Jüngling. Du darfst uns alle drei haben. Unsere großen Brüder sind gerade nicht da", hörte er sie leise wispern. Irgendwie war ihm, als sei er gerade nicht in einem Bildersaal, sondern vor einem Mädchenschlafsaal. Ja, und außer den drei in spärlicher Kleidung steckenden Mädchen war auch niemand zu sehen. Mark trat vor und näherte sich einer der drei, Betty Hooper, einer halbafrikanischen Schönheit, die er im ersten Semester aus der Ferne zum ersten Mal gesehen hatte.

Wie aus der Ferne hörte er einen Ruf: "Ey, Bursche, nicht zu nah ran an die Damen, sonst vernaschen die dich doch noch!" Doch er hörte nicht, sondern streckte seine Arme aus. Da war ihm, als würde er durch warmen Nebel wie in einem Dampfbad hindurchtreten. Dann fühlte er nur noch, wie er von mehreren Armen zugleich umschlungen und nach vorne gerissen wurde. "Schön, dass du mich erhört hast. So werden wir zwei jetzt richtig viel Spaß haben", hörte er nun eine laut fauchende Stimme und sah vor sich das grüne, schleimige Gesicht mit den bernsteinfarbenen Facettenaugen, das er vorhin nur als Bild gesehen hatte. Er schrie auf. Doch es war schon zu spät. Das Ungeheuer drückte ihn an sich und heizte seinen Körper dabei regelrecht auf. "Lass uns eins sein!" schnarrte die Abscheulichkeit. Dann fühlte er, wie er mit diesem Monstrum wahrhaftig vereint wurde. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Er fühlte noch die reißnägelartigen Zähne der Abscheulichkeit in seinen Hals dringen, während er gleichzeitig eine steigende Lust verspürte, dieses Höllenwesen zu beschlafen.

Pokes starrte erschrocken auf die sich ihm und allen anderen bietende Szene. Der blonde Bursche, der die vierhundert Dollar in Bar auf den Tisch gelegt hatte, war wie ein Zombie oder eine Marionette auf das Bild zugetorkelt, im nächsten Augenblick darin verschwunden und von einer der drei Monsterfrauen umarmt und durch ein grünliches Licht völlig entkleidet worden. Er wollte gerade noch was rufen, als zwei der männlichen Ungetüme sich in Nebel auflösten und dann unvermittelt als echte Gestalten im Raum standen. "Dank sei unserer Schwester, dass sie uns das Tor geöffnet hat. Nur Burschen hier. Schade. Dann können wir nur Fressen und nicht mehr werden", brüllte eines der Unwesen. Dann stürzten sich die beiden auf die ihnen am nächsten stehenden, Crake und Tom. Phil Gibson sah nur seinen Freund Mark in allen sechs Armen der grünen Dämonin und sich mit dieser in wilden Bewegungen ergehen. Dann sah er Dina Fenwick und Chris Hanson, zwei von ihm vergötterte Frauen, die er in einer Bar in New York gesehen und mit denen er eine Wilde Nacht verbracht hatte. Doch er dachte sofort an ein Trugbild. Das waren echte Dämonen, Ausgeburten schwarzer Magie, die ihn auch noch einfangen wollten wie Mark. Er brachte genug Willenskraft auf, sich umzudrehen und sofort wieder mitzubekommen, wie zwei violette Männer mit je sechs Armen und blauen Insektenaugen über Crake und Tom herfielen und ihnen ihre Zähne in Hals und Wangen schlugen. Pokes, der verkleidete Teufel, stand ganz starr da. Die anderen jungen Männer versuchten, ihre Begleiter aus den Fangarmen herauszureißen. Doch sie wurden mit wuchtigen Schlägen zur Seite geschleudert. "Ihr kommt auch gleich an die Reihe", dröhnte einer der violetten Monstermänner. Doch darauf wollte hier keiner warten. Phil trieb sie alle an, das Weite zu suchen. Für Mark und die zwei anderen war es schon zu spät. Aber die anderen konnten noch überleben, wenn sie flohen.

"Los, die Cops und am besten gleich eine Brigade von der Armee her", rief Phil, während er mit den anderen floh.

Pokes löste sich aus seiner Schockstarre. Er sah und hörte, wie die zwei Horrorwesen ihre Opfer massakrierten und hörte auch die Geräusche aus dem Bild. Das konnte es doch nicht echt geben. Aber er sah und hörte es. Also passierte das echt. Er musste auch hier weg. So rannte er den flüchtenden Jungen nach, wobei er sich schnell den Umhang vom Körper streifte, um besser ausschreiten zu können.

"Bleibt gefälligst hier! Wir haben immer noch Hunger!" brüllte eine wütende Stimme hinter ihm her. Doch er wollte nicht bleiben.

Zehn Minuten später saßen fünf Jungen und ein sichtlich blasser Gruselkabinettsbesitzer zwei sichtlich verdrossen dreinschauenden Stadtpolizisten gegenüber und gaben ihre Erlebnisse zu Protokoll.

"Und was für Drogen haben Sie alle vorher konsumiert?" wollte einer der Cops wissen, auf dessen Namenschild Sgt. Billings zu lesen stand. Pokes wartete, bis alle verneinten, irgendwelche Drogen genommen zu haben. Dann sagte er: "Ich bringe Sie und jeden Ihrer Kollegen gerne dahin, wo es passiert ist. Dann können Sie es selbst nachprüfen."

"Na klar, zwei von Monstern gefressene und einer, der in ein spukendes Bild reingezogen wurde, um von einer Schwester dieser Monster zu Tode beschlafen zu werden, wie?" Ist Ihnen klar, dass Sie alle sich gerade der Irreführung der Polizei schuldig machen?" sagte Billings. Sein Kollege Sergeant Wittman erwiderte: "Womöglich hat sich jemand in Ihrem Kabinett versteckt und wollte Ihnen einen sehr üblen Streich spielen, Mr. Pokes. Haben Sie Feinde oder Konkurrenten, die Ihnen übelnehmen, dass Ihr Geschäft so gut läuft?"

"Das waren keine Konkurrenten von mir. Und außer Halloween Hannah, die diese Hexenshows abzieht wüsste ich auch keine, die mich ernsthaft als Konkurrenten sehen würde."

"Wir schicken eine Streife zu Ihrem Laden. Und wehe, wenn da wirklich echte Tote zu finden sind, Mr. Pokes. Dann könnte Ihnen glatt eine Mordanklage drohen. Deshalb bleiben Sie alle erst mal hier."

"Soll uns recht sein, wenn diese Monster nicht schon aus meinem Laden raus sind und weiterjagen", sagte Pokes. Er sah Billings genau an. Dieser deutete zu seinem Kollegen. "Bert, sage Lieutenant Bruster, dass wir zwei Wagen zu diesem Pandämonium-Palast hinbeordern!"

"Geht klar", sagte der zweite Sergeant und erledigte die notwendigen Funksprüche, bevor er ins Büro seines Revierleiters ging.

Pokes konnte nun sehen, dass an den Wänden in der Wache mehrere Bilder hingen. Täuschte er sich oder spukte es hier auch schon? Aus einem der Bilder, dass eine Frau in einem roten Kleid zeigte, flog eine kleine Eule los, gegen die Ecke des Rahmens und war weg. Als er noch mal genauer hinsah war die gemalte Frau jedoch starr und reglos, wie es sich für gemalte Personen einfach gehörte.

Um nicht ausbüchsen zu können wurden die verbliebenen Teilnehmer der Horrorführung mit ihrem Führer in einen fensterlosen Raum getrieben und eingeschlossen. Pokes konnte einen großen Spiegel sehen und argwöhnte, dass dieser Spiegel von einer Seite durchsichtig war. Offenbar waren sie in einem Raum, wo Leute für Gegenüberstellungen bereitstehen sollten.

"Wenn die nichts finden außer den Leichen?" fragte Tom Barkley.

"Kann sein, dass die Dämomen sich wieder in ihr verhextes Bild zurückgezogen haben, um auf neue Opfer zu warten", meinte Phil Gibson. Trotzdem er miterlebt hatte, dass sein Hobby zur grausamen Wirklichkeit geworden war und sein bester Freund das Opfer einer Höllenkreatur geworden war schien er äußerlich ganz ruhig zu sein. Doch das mochte täuschen, wusste Pokes. Denn er hatte auch schon Leute durch sein Gruselkabinett geführt, die sich anderen gegenüber nicht anmerken lassen wollten, dass sie von den Requisiten doch in Angst und Schrecken versetzt wurden.

Eine halbe Stunde später öffnete einer der anderen Polizisten und winkte Pokes heraus. "Jetzt möchten wir das noch mal genau wissen, was da passiert ist", sagte der Beamte mit hörbarer Anspannung in der Stimme. Pokes beschrieb noch einmal das Erlebnis und erwähnte auch, wann und von wem er das Bild gekauft hatte. "Wir haben da zwei Streifenbesatzungen reingeschickt. Keiner von denen hat sich mehr gemeldet. Also was läuft da, Mister?"

"Glauben Sie mir, ich würde das auch zu gerne wissen, was ich mir da ganz blauäugig eingehandelt habe, Sergeant Rippley", erwiderte Jerry Pokes.

"Okay, wir haben das Sondereinsatzkommando hingeschickt. Sollte denen auch was passieren buchten wir Sie wegen mehrfachen Mordes ein, Mister", drohte Sergeant Rippley.

"Suchen Sie besser den Kerl, der mir das verfluchte Bild angedreht hat! Der kann Ihnen das sicher genau erklären", grummelte Pokes. Doch ihm war klar, dass der Maler dieses Unheilsbildes wohl nicht aufzufinden sein würde. War das vielleicht der leibhaftige Teufel gewesen oder einer seiner Helfer?

"Glauben Sie mir, gegen das, was Ihnen blüht, wenn Sie und ihre fünf Komplizen uns wirklich in eine tödliche Falle reingelockt haben, ist all der Plunder in Ihrem Gruselschloss ein buntes Bilderbuch für Kleinkinder."

"Ich hoffe, dass von Ihren Kollegen keiner zu Schaden gekommen ist", sagte Pokes.

Unvermittelt standen drei Männer in hellblauen Umhängen im Verhörraum. Sergeant Rippley wollte schon einen Alarmknopf drücken. Doch da richtete einer der drei einen Holzstab auf ihn. Pokes dachte noch an echte Zauberer, als sich auch ihm ein solcher Stab entgegenstreckte und er unvermittelt bewusstlos wurde.

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Der Hilferuf ihrer Schwester Melonia hatte sie sichtlich alarmiert. Drei junge Männer waren von sechsarmigen Monstern getötet worden, die aus einem Gemälde entstiegen waren. Solche eindeutig schwarzmagischen Vorgänge beherrschte nicht jeder. Selbst Anthelias Tante Sardonia hatte sich mit der Verschmelzung von Wirklichkeit und Abbildung schwergetan und sich dann doch lieber auf Flüche, Tränke, Verwandlungszauber und magische Gesänge festgelegt.

Wie konnte jemand aus Bildern entstiegene Wesen bekämpfen? Indem die sie beherbergenden Bilder gefunden und zerstört wurden. Allerdings würde ein skrupelloser Zaubermaler darauf achten, seiner dunklen Kunst eine gewisse Unzerstörbarkeit zu verleihen. Sicher war auch, dass Incantivacuum-Kristalle jeden vorhandenen Zauber in einem Umkreis von zwölf Metern aufheben konnten. Doch Anthelia hatte keine Incantivacuum-Kristalle. Ihre diesbezüglichen quellen waren tot oder unerreichbar in der Tiefe des Meeres verschwunden. So blieb ihr nur ein wirksames Zerstörungsmittel außer dem Todesfluch: Yanxothars Klinge.

Anthelia holte das gerade nicht entflammte Schwert aus dem alten Reich aus seinem Versteck und band es sich auf den Rücken. Dann apparierte sie umgehend bei ihrer Mitschwester Melonia, um näheres über den Vorfall zu erfahren.

"Besteht eine Möglichkeit, dieses Bild sicherzustellen, um es zu erforschen?" wollte Melonia wissen.

"Wenn es wahrhaftig ein mit dunkler Magie erfülltes Bild ist kann es schlimmer sein als ein Horkrux. Es kann den Betrachter beeinflussen, ihn verschlingen und in etwas anderes verwandeln, dass die Macht dieses Bildes vergrößert. Insofern ist es ähnlich einer Meute Lykanthropen, die in eine Menge argloser Muggel hineinstürmen und wahllos um sich beißen", knurrte Anthelia. Dann wollte sie endlich wissen, wo dieses Bild war. Denn sie musste verhindern, dass die drei getöteten zu neuen Ungeheuern wurden. Melonia gab ihr die genaue Adresse.

Keine halbe Minute später apparierte die in ihrem scharlachroten Kostüm steckende Anthelia im Foyer eines Hauses, das offenbar dazu diente, seine Besucher durch mehr oder weniger kunstvolle Gruseleffekte und -geschichten zu unterhalten. Am Eingang standen zwei offene Särge, in denen Skelette aus Kunststoff lagen. An der Wand lehnte eine Wachsfigur, die einen Mann in altenglischer Kleidung darstellte. Die Figur hielt ein zweischneidiges Messer mit langer Klinge in der rechten Hand. Doch das alles beeindruckte die höchste Spinnenschwester nicht. Sie belächelte sowas eher als billige Zurschaustellung für Leute, die eigentlich nicht an derartige Erscheinungen glaubten.

Wichtiger als die zur Begrüßung aufgestellten Gruselrequisiten waren die auf sie einströmenden Gedanken von Ordnungshütern der Unbegüterten. Sie suchten nach Spuren einer angezeigten Bluttat. Ja, da waren Gedanken an Flucht und an sechs abscheuliche Monster dabei. fünf Männer der Ortspolizei waren bereits tot oder gerade im Bann der Unheimlichen. Am besten machte sie sich unsichtbar.

Der nötige Zauber dauerte nur eine Viertelminute. Die Gedanken der gerade von diesen Ungeheuern unterworfenen wiesen ihr den Weg.

Seltsamerweise vernahm sie von dort, wo sie hergekommen waren, keinen worthaften Gedanken. Doch wenn hier wahrhaftig ein schwarzmagisches Bildnis wirkte konnten dessen Darstellungen wieder mit dem Bild selbst verschmolzen sein. Gedanken von gemalten Wesen konnte sie dann doch nicht hören, auch nicht nach der Verschmelzung mit Naaneavargia. Deren Wissens- und Gefühlsanteil riet ihr, vorsorglich einen Bann der Erde gegen gierige und mit dunklen Kräften erfüllte Wesen zu errichten, um weitere Vorfälle zu vereiteln. So schwang sie am Fuß der Treppe ihren silbriggrauen Zauberstab und beschwor die große Mutter Erde, nichts mit dunkler Kraft vorbeizulassen, was ihr, Anthelia/Naaneavargia, feindlich begegnen würde. Als zwischen ihr und der Treppe eine rot-grün flirrende Barriere stand tastete sich Anthelia bis zu einer offenen Tür vor. Sie fühlte unmittelbar die Aura dunkler Magie dahinter. Deshalb steckte sie den Zauberstab fort und zog das Schwert Yanxothars aus seiner Drachenhautscheide auf dem Rücken. "Faiyanshaitargesh!" zischte sie. Mit einem kurzen Fauchen erwachten die Flammenmuster auf der Klinge zum Leben und verlängerten die Waffe auf anderthalb Meter Länge.

Mit dem flammenden Schwert in der rechten Hand betrat sie den großen Raum. Sie konnte noch sehen, dass hier viele Darstellungen hingen, die eine Verbindung zwischen Schreckens- und Liebesphantasien boten. Dazu gehörte sicher auch jenes sechsarmige Ungetüm, das scheinbar wie eine Statue vor einem metergroßen Gemälde stand. Es wirkte wie eine Verschmelzung aus Frau und Raupe. Der Leib schimmerte giftgrün, wobei der Oberkörper eindeutig einer Menschenfrau mit dunkelbraunen Haaren und ebensolchen Augen gehörte. Als Anthelia näher herankam konnte sie auch die auf dem Bild dargestellte Gruppe von fünf gleichartigen Wesen erkennen, drei männliche und zwei weibliche. Als sie die Gruppe der Männlichen ansah verschwammen deren Konturen vor ihren Augen. Sie fühlte, wie eine lange unterdrückte Begierde sie erhitzte und sah drei unbekleidete Männer vor sich, die sie, die Unersättliche, sehr ausgiebig geliebt hatten: Ailanorar, Naaneavargias leiblicher Bruder, Anton, der sie in seiner Berghütte so richtig ausdauernd beschlafen hatte und Ianokotar, den sie vor ihrer Gefangennahme durch Iaxathan zum Orden der Erdvertrauten hingeführt hatte. Sie fühlte, wie ihr Leib danach gierte, alle drei Männer hintereinander zu berühren, ihre Kraft in sich aufzunehmen. Doch da drang ein Gedanke durch diese wolllüstige Vorfreude: "Ianokotar und Ailanorar sind tot." Da begriff sie, dass sie, Anthelia/Naaneavargia, beinahe in eine unentrinnbare Falle getappt war. Sofort wischte sie mit konzentrierten Gedanken alle Gier und Sehnsucht aus ihrem Bewusstsein weg und baute statt dessen einen Panzer gegen Geisteseinflüsse auf. Gerade noch rechtzeitig erkannte sie, wie das weibliche Ungeheuer nur noch eine seiner Armlängen von ihr entfernt war. Eher aus Reflex als aus Entschluss heraus stieß sie mit ihrem Schwert zu. Die Flammenklinge drang ohne Widerstand in den Körper der Hybridkreatur ein und brachte sie von innen her zum aufleuchten. Das Ungeheuer stieß einen unirdischen, gurgelnden Schmerzensschrei aus und zerschmolz im orangeroten Licht, das aus ihrem inneren strahlte. Die Schreckgestalt zerfloss zu einer Pfütze, die wie gerade erst ausgeströmte Lava leuchtete. Dann ploppte es laut, und die Glutpfütze war fort. Statt dessen standen nun die drei männlichen Kreaturen vor dem Bild, während sich auf dem Bild selbst aus orangeroten Funken eine neue Gestalt zusammenfügte. "Nimm uns und diene uns und dem Meister! Oder vergehe und gib uns dein Leben!" schnarrte einer der drei männlichen Hybriden. Anthelia fühlte, wie sie wohl versuchten, ihren Geist zu unterwerfen, ihn erneut mit anregenden Trugbildern zu vergiften, um sie doch noch zu kriegen. Doch sie war hier, um diesem Spuk Einhalt zu gebieten. Bei der großen Mutter und bei Sardonias Andenken, sie ließ sich nicht noch mal so überrumpeln.

Mit einem nun wohl geführten Schwerthieb trennte sie einem der drei die zwei auf sie zustoßenden Arme ab. Dann führte sie die brennende Waffe wie ein japanischer Samurai und zerteilte den vordersten Angreifer mit einem Hieb. Sein Körper zerbarst in orangerotem Feuer. Dann köpfte sie den zweiten. Der enthauptete Rumpf zerfloss. Der abgetrennte Kopf flog als kleiner Feuerball auf das Bild zu und traf darauf. Flammen züngelten aus der Oberfläche. Das Gemälde erzitterte. Die darauf dargestellten Wesen schrien auf. Doch ebensoschnell erstickten die Flammen wieder. Nicht mal ein schwarzer Fleck verunzierte das Bild. Dann schlang der dritte seine beiden oberen Armpaare um Anthelia. Doch diese stieß bereits das Schwert vor und durchbohrte den Feind, der ebenso zu einer glutflüssigen Masse zerrann wie seine Artgenossin. Im Moment hatte Anthelia Ruhe. Doch sie sah, dass auf dem Bild alle sechs Kreaturen wiedervereint waren. Die von ihr getötete Hybridin schüttelte gerade die letzten Fetzen schwarzer Haut ab, aus denen sie sich wie eine Schlange herausschälte. Der enthauptete Halbmensch setzte sich gerade den Kopf auf und erzitterte, weil Körper und Kopf sich wiederverbanden. Anthelia wusste, dass es hier wie der Kampf mit einer Hydra war. Doch wie eine Hydra konnte auch dieser Feind besiegt werden. Sie sprang vor und rammte das flammende Schwert bis zum Heft in die Mitte des Bildes. Dann zog sie es wie ein durch Teig schneidendes Messer nach unten. Das Bild flammte grell auf. Die dargestellten Wesen schrien laut auf. Ihre Schreie wurden von wildem Prasseln überlagert und verklangen dann in einem wie vom Wind verwehender Klagelaut. Gleichzeitig zerbarst das große Gemälde in einer Wolke aus weißen und goldenen Flammen. Das reine Feuer von Sonne und Erdkern hatte die dunkle Kraft vertrieben. Als Anthelia unbeeindruckt von den ihr entgegenschlagenden Flammen das Schwert zurückzog klaffte in der Wand ein die ganze Wandhöhe ausfüllender Spalt, um den herum eine metergroße, flache Mulde lag, die innen rot glühte. Anthelia fühlte, dass die dunkle Kraft restlos aus diesem Raum verdrängt worden war. Sie sah sich um. Eigentlich rechnete sie damit, dass die drei Magielosen tot oder lebendig zurückkehrten. Doch offenbar hatte sie deren körperliche und seelische Beschaffenheit mit dem Bild zusammen ausgebrannt. Statt dessen sah sie jenseits ihrer Barriere sieben Menschen in Umhängen, vier Zauberer und drei Hexen mit einsatzbereiten Zauberstäben.

"Leg dein Schwert weg und ergib dich, Spinnenlady! Wir haben bereits einen Antidisapparierzauber um das Haus gelegt!" rief einer der Zauberer.

"Ach, seid ihr auch schon da?" fragte Anthelia zurück. "Das hier war nur der Auftakt. Da wo das Bild herkam gibt es sicher noch mehrere. Ich kann diese Machwerke zerstören. Also lasst mich meines Weges ziehen!"

"Nein, können wir nicht. Wir werden die Barriere niederreißen und dich festnehmen", sprach der Zauberer, ein leicht untersetzter Typ mit kurzen, dunkelbraunen Haaren. Seine Truppe versuchte gerade, die Erdbarriere niederzufluchen. Doch sämtliche Aufhebungszauber wurden kurz vor der Barriere in den Boden abgeleitet, wo sie qualmende Miniaturkrater hinterließen. Anthelia hatte für diese Versuche nur ein müdes Lächeln übrig. Dann hob sie feierlich ihr flammendes Schwert und dachte den Befehl, den Weg des schnellen Feuers zu gehen. Unvermittelt wurde sie in einen orangeroten Feuerball eingehüllt, der sie übergangslos von diesem Ort fortbrachte.

Als Anthelia/Naaneavargia wieder in ihrem nordamerikanischen Wohnsitz, der alten Daggers-Villa fünf Meilen entfernt von Dropout, Mississippi eintraf nahm sie umgehend Kontakt zu allen weltweit tätigen Mitschwestern auf und schilderte die Lage und ihre Vermutung, dass der Maler des Chicagoer Schreckensgemäldes auch in anderen Städten der Welt seine dunklen Kunstwerke untergebracht hatte und diese wohl ebenso zu ihrem gefährlichen Eigenleben erweckt hatte wie das Bild mit den Raupenmenschen. "Geht davon aus, dass diese Bilder gegen rein körperliche Gewalt und ätzende Stoffe gefeit sind. Bringt euch in Besitz von Witterwasser, Brenngebräu oder wenn möglich Basiliskenzähnen! Wenn es gar nicht anders zu machen ist hetzt den Gemälden das Dämonsfeuer auf die Leinwand!" So lautete die über ein Netz von Gedankensprecherinnen verteilte Botschaft, die alles in allem eine halbe Stunde brauchte, um alle Mitschwestern zu erreichen. Das war aber mindestens zehnmal so schnell als mit einem Schwarm von Posteulen, den Anthelia eh nicht hatte. Danach befand die Verschmelzung aus zwei mächtigen Hexen, dass sie die Warnung des Bildes mit den Raupenmenschen sehr ernst nehmen musste. Wenn sie nicht in nächster Zeit ihre eigenen geschlechtlichen Bedürfnisse befriedigte, mochte das nächste Unheilsbild sie genau damit ködern, wie es das Bild in Chicago beinah geschafft hätte.

So reiste Anthelia/Naaneavargia am Abend der in Mississippi und Louisiana gültigen Zeit nach Baton Rouge, um dort in einem sogenannten Swinger-Club ihre Gelüste auszuleben und dabei auch die Gelüste der männlichen Clubbesucher zu befriedigen. Sie konnte ja nicht wissen, dass jemand anderes, die ebenso die körperlichen Freuden zum Leben schätzte wie sie, auf dieselbe Idee kam, nur viele Tausend Kilometer weiter östlich von Baton Rouge.

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Pickman traute seinen Augen und Ohren nicht. Unvermittelt explodierte jener Verbindungsstein, der das Bild mit den sechs Larven der lodernden Lust zugänglich machte, in einem orangeroten Feuerball. Die Flammenkugel wurde so groß, dass sie beinahe den Verbindungsstein des Bildes mit den Knochenpiraten erfasst hätte. Nur ein tiefschwarzer, an Sohle und Rändern glasierter Miniaturkrater zeigte, wo der Verbindungsstein vorhin noch gelegen hatte. Pickman starrte auf seinen Arbeitstisch. Das konnte nicht angehen, dass jemand die Verbindung so heftig getrennt hatte. Doch es war passiert. Jemand hatte eine Art Rückstoß erzeugt, dass der Stein davon zersprengt worden war. Das hieß doch, dass jemand das Bild mit einem mächtigen Zauber angegriffen und wohl auch zerstört hatte. Doch seine Bilder waren genauso gegen die meisten magischen Zerstörungen abgesichert wie ein Horkrux, etwas, das herzustellen er sich bis heute nicht getraut hatte. Da gab es nur wenige Mittel, unter anderem ... "Dämonsfeuer!" stieß er aus. Jemand hatte das Bild mit Dämonsfeuer zerstört. Offenbar waren die Ministeriumszauberer doch risikofreudiger als er gedacht hatte. Natürlich, wo der Idiot Sandhearst sogar eine Bombe gebaut hatte, die das ganze Ministerium in einen Krater verwandelt hatte. Er schnaubte und starrte die vier anderen Steine an, die mit Bildern in den Staaten verknüpft waren. Offenbar war es ein Fehler gewesen, die sechsarmigen Raupenmenschen in einem öffentlich zugänglichen Raum aushängen zu lassen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie da schneller Beute machen konnten war eben auch sehr groß gewesen. Doch die anderen Bilder würden sich weiter entfalten und das von ihm erhoffte Chaos verbreiten.

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Der Raum war stockdunkel. Ein großteil davon war mit dicken, mit glatten Leinenlaken bezogenen Matratzen ausgelegt, die so eng zusammenlagen, dass keiner, der sich über sie hinwegbewegte, den Übergang wahrnahm. In der von sich angeregt bewegenden Körpern erhitzten und befeuchteten Luft hingen neben dem Geruch von Schweiß und lustvoller Erregung auch die Gerüche von Körperpflegemitteln, anregenden Parfüms von spottbillig bis exquisit und ein Hauch von Alkohol. Denn viele, die sich in diesen lichtlosen Raum wagten brauchten vorher einige Schluck angetrunkenen Mutes. Über die vielstimmigen Laute lustvoller Männer und Frauen strichen die sanften Klänge einer zum Ort und zur hier gepflegten Stimmung passenden Musik. Köpfe, Körper, Arme und Beine zuckten, wanden sich und tasteten nach Gleichgesinnten. Das Tier Mensch feierte hier ganz gepflegt die freie Liebe, jeder mit jedem, nur der mit der, der mit ihr oder sie mit ihm wollte.

zwischen allen, die sich im Dunkelraum des Clubs "Aufgehender Freudenstern" austobten waren auch zwei, für die das alles hier kein reines Vergnügen, sondern eine reichlich dargebotene Form von Nahrung war. Sie konnten in dieser völligen Dunkelheit so gut sehen wie bei hellem Tage. Die eine nicht zum üblichen Kundenkreis gehörige Erscheinung war eine kleine, zierliche Frau, die durchaus asiatische Eltern gehabt haben mochte. Sie hatte sich gerade mit einem nicht wesentlich größeren jungen Mann zusammengelegt, der es nicht nötig gehabt hatte, etwas von den flüssigen Muntermachern zu sich zu nehmen, um in Laune und Form zu kommen. Der zweite war ein europäischstämmiger junger Mann. Doch das war nur noch seine körperliche Fassade. Denn er war der Diener Thurainillas, der Tochter der kosmischen Dunkelheit und konnte die ihn umhüllende Dunkelheit genauso als lebensnotwendige Nahrung nutzen wie die Lebenskraft jener zwei Meter großen Matrone, die erst wohl gedacht hatte, hier niemanden abzubekommen. Doch trotz seiner direkten Verbindung zu Thurainilla, seiner Herrin und Beschützerin, die zehn Leiber weiter zu tun hatte, zog es ihn für solche Ausflüge doch noch gerne in die Arme großer, sehr gut genährter Frauen. Und Rita, so hieß jene, deren Wärme und Wonne er gerade genoss, freute sich über den jungen Burschen, der sie so richtig gut in Fahrt brachte. Dass er ihr dabei einen Teil der körperlich-seelischen Ausdauer absaugte würde sie später auf die wilden Bewegungen und den ausdauernden Akt schieben.

Aldous Crowne, der auch als Schattenreiter durch die Nächte jagen konnte, fühlte sich etwas unwohl, weil er immer mehr aus den Gedanken und Erinnerungen Ritas mitbekam, je länger sie und er zusammen waren. Er wollte schon den Akt vorzeitig beenden, weil er fürchtete, dass er sich in den wilden Gedanken der am Tage biederen Sekretärin in der US-Botschaft in Tokio verlieren konnte. Doch Dann erkannte er, dass er die Kraft, mit der er ihre Lebensenergie in sich hineinsog reduzieren konnte und somit auch nicht mehr alles mitbekam, was Rita sonst so umtrieb. Als sie endlich am Ziel ihrer Wünsche war und ihn mit einem leidenschaftlichen Kuss freigab musste er sich erst einmal sortieren. In ihm brodelte Ritas eingesaugte Kraft. Dieses Mädel hätte auch noch mit drei wie ihn nicht genug gehabt, wusste er. Doch Thurainilla und er hatten beschlossen, diese supergünstige Gelegenheit nicht zu verderben, indem sie hier einen Ohnmächtigen oder gar einen aller Lebenskraft beraubten Toten hinterließen. So suchte er sich eine weitere Gespielin und fand eine halbchinesische Geschäftsfrau aus Hongkong, die ihre Reisen nach Tokio immer dazu nutzte, nicht nur ihr finanzielles Glück zu machen.

"Al, wenn du mit Li den Gipfel der Wonne erklettert hast müssen wir fort. Ich hörte gerade einen Ruf meiner Mutter. Sie will uns alle sehen, die mit ihr verbunden sind", hörte er in seinem Geist die Stimme seiner Herrin.

"Typisch, da ist man gerade voll in Fahrt und Mummy pfeift einen zurück", dachte Aldous an Thurainillas Adresse.

"Tja, davor sind auch wir unsterblichen Töchter der Elemente und Kräfte nicht sicher", bekam er eine schnippische Antwort in sein Bewusstsein zurück.

Eine halbe Stunde später verließen die zwei selbst für diese Örtlichkeit höchst ungewöhnlichen Besucher den Club. Thurainilla gab dem Portier noch ein kleines Bündel Yenscheine und zwinkerte ihm zu. Dann ging sie alleine in Richtung der diskret zwischen biederen Geschäftshäusern versteckten U-Bahn-Station. Aldous, der fünf Minuten nach ihr den besonderen Club verließ bestieg sein draußen geparktes Motorrad, das er Sharon genannt hatte. Nur er konnte diese Maschine starten. Wer es sonst versuchte kam bestenfalls nicht vom Fleck. Schlimmstenfallls konnte es ihm passieren, dass Sharon ihm ohne Umweg durch Biss oder Sex die Lebenskraft aus dem Leib sog und ihn in tiefe Bewusstlosigkeit stürzte, bis Aldous oder Thurainilla ihn lossprachen. Doch heute hatte Sharon nichts dergleichen angestellt. Sie knatterte kraftvoll auf die schmale Straße hinaus, die erst in einem Kilometer Entfernung auf eine der äußeren Ringstraßen Tokios einmündete. Als Aldous aus den äußeren der aus mehreren Städten zusammengefügten japanischen Hauptstadt heraus war und keine Straßenbeleuchtung ihm die Kraft rauben konnte wechselte er mit Sharon in die Schattenform über, in der er zehnmal so schnell vorankommen und durch alles was Licht durchließ hindurchfahren und sogar der Schwerkraft entgegenwirken konnte. Das einzige Problem in Tokio war das Streulicht. Es machte einen Höhenflug bis in die Wolken unmöglich. Aldous musste sich also damit abfinden, in nur zweihundert Metern über dem Boden durch die Luft zu jagen, aber dafür mit doppelter Schallgeschwindigkeit, ohne jenen verräterischen Doppelknall, den Feste Körper erzeugten, die durch die Schallmauer brachen.

Thurainilla, wie ihr Untergebener randvoll mit erbeuteter Lebensenergie, fuhr nur drei Stationen weit. Dann suchte sie eine der Bahnhofstoiletten auf, suggerierte der dortigen Servicekraft, niemand sei hier gewesen und verschwand aus einer der Kabinen heraus.

Als sie alle am Berg der ersten Empfängnis zusammentrafen machte sich Aldous als einziger Mann in der reinen Frauenrunde schon merkwürdig aus. Deshalb wunderte es ihn nicht, dass ihn alle so herablassend bis befremdet anstierten. Außerdem fehlte eine, nämlich Errithalaia, die Herrin über den Fluss der Zeit. Diese haderte immer noch damit, dass ihr der Seelenanteil Lahilliotas entrissen worden war und sie seitdem nur noch mit halber Machtund halber Körpergröße leben musste und sich erst langsam wieder auf ihre einstige Körpergröße hinarbeitete.

"Meine Töchter, und auch mein Enkel Schattenreiter. Jemand sterbliches hat vor einer mir nicht bekannten Zeit ein unglaubliches Verbrechen begangen. Er hat sich angemaßt, einer von euch etwas Haar oder Blut zu rauben, um damit seine Vorstellungen von einer weiteren Tochter aus meinem Schoß zu verbildlichen. Ich weiß das, weil ich bereits gedankliche Verbindung mit ihr hatte. Sie hat sich aber sofort zurückgezogen und ihr Sein vor mir verhüllt. Aber ich weiß, dass es sie gibt und dass ihr Schöpfer ein sterblicher Mann ist. Sie sollte wohl eine reine, durch schwächlichen Zauber belebte Phantasie bleiben, ihrem Erschaffer immer unterworfen und ausgeliefert. Doch irgendwie hat sich wohl die Kraft unserer erhabenen Familie durchgesetzt, und aus der reinen Phantasie ist ernsthafte Wirklichkeit geworden", sagte Lahilliota, deren Seele durch besondere Umstände in einem neuen Körper Halt gefunden hatte. "Ich sage es euch gleich: Ich will dieses Weib nicht bestehen lassen. Ich wollte nur euch, meine Töchter. Solche, die ich auf meine Weise in mir erzeugte, trug und gebar. Die andere ist nicht geboren worden, sondern durch Pinselstriche, Bruchstücke von Haar oder anderen Körperbestandteilen und einer Reihe von Zaubersprüchen entstanden. Doch hat sie sich von der Unterlage gelöst, auf der sie dargestellt war. Sie ist leibhaftig und lebendig geworden und trachtet wohl danach, unserer erhabenen Familie beizutreten, ja am Ende noch die mächtigste von euch zu sein, vielleicht sogar, mich selbst zum Zweikampf zu fordern, weil ich nicht ihre leibliche Mutter bin. Sie ist keine Verbündete und erst recht keine Verwandte von uns. Sie ist eine Todfeindin, schlimmer als die Brüder des blauen Morgensternes und vielleicht sogar noch unerträglicher als die Abkömmlinge meiner Schwester Ashtaria. Wir müssen herausbekommen, wer sie erschaffen hat und wie er sie leibhaftig gemacht hat. Ich habe ihre Ausstrahlungen von einem Ort weit im Westen verspürt. Ich bitte euch nun, mir bei der genauen Standortbestimmung zu helfen. Aldous, da du von Thurainillas Schattenschwester Riutillia getragen und geboren wurdest, trägst du auch einen Teil unserer erhabenen Kraft in dir. So hilf uns!"

Die vier Töchter Lahilliotas, sowie Aldous Crowne bildeten einen Kreis um Lahilliota. Diese begann einen merkwürdigen Singsang, wie ihn Aldous aus Dokumentarfilmen über Naturvölker kannte. Doch diese Art von Gesang trug reine Magie in sich. Sie verband alle anderen mit der Vorsängerin. Dann stimmten die treuen Töchter mit einem Summchor in den Gesang ihrer Mutter ein. Aldous wusste sofort, welchen Ton er summen und halten musste. Dann verfiel Lahilliota in eine tiefe Trance. Aldous meinte, eine violette Aura zu erkennen, die sich immer weiter ausdehnte, alle hier berührte, durchflutete und noch weiter um sich griff. Dann sah er eine geisterhafte, von innen her violett leuchtende Erscheinung Lahilliotas, die einen Augenblick später verschwand. Danach konnte er eine andere Frau sehen, die scheinbar in einem durchsichtigen Baum steckte, der nicht aus Holz, sondern aus Millionen phosphoreszierender Leuchtkäfer bestand. Sie wand sich und schnaubte vor Wut. Dann wurde der sie umschließende Baum ganz undurchsichtig und strahlte ein grelles Grünlicht aus, das alle zurückschrecken ließ. Mit einem lauten Aufschrei fand sich Lahilliota in ihrem Körper wieder und keuchte. "Sie ist in dieser Stadt, New York heißt sie. Doch sie versteckt sich. Sie sucht nach ihrem Schöpfer, wohl um zu verhindern, dass er sie vernichtet. Also müssen wir auch nach ihm suchen, um ihn dazu zu zwingen, sie zu vernichten. Sie ist viel mächtiger als ich fürchtete. Sie zieht die Kraft aus unterworfenen Menschenseelen und lebenden Pflanzen. So eine Tochter wollte ich nie haben. Das wird mir ihr Schöpfer bitter büßen", schnaubte Lahilliota. Dann sagte sie ganz ruhig: "Suchen wir Hironimus Pickman. Denn seinen Namen konnte ich doch erfahren."

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"Wie kann das angehen, dass wir erst dann eine Reaktion auf den Spürsteinen haben, wenn eine mächtige Elementarkraft und eine Woge dunkler Magie auf einmal freigesetzt werden", polterte Arno Tinspoon, der Leiter einer Inobskuratorentruppe des US-Zaubereiministeriums zuständig für die Region der großen Seen.

"Ist es sicher, dass wir es mit einer schwarzmagischen Malerei zu tun hatten?" fragte sein Kollege Donovan Wood zurück. "Ich meine, wir haben doch nur die sechs von irgendwelchen sehr grausamen Wesen entfleischten Männer gefunden und den Aschehaufen und das Brandloch in der Wand."

"Den Berichten dieser sechs Muggel nach war das nichts anderes. Aber wer zur dreigeschwänzten Gorgone hat vor uns gewusst, dass dieses Bild existierte?"

"Wer wohl: Der Maler natürlich, dann womöglich dieser Lord Vengor, der vielleicht einen Konkurrenten gefürchtet hat und dem zeigen wollte, wo der Hammer hängt, Vita Magica, die vielleicht mit dem Maler irgendwie zu tun hatten und verhindern mussten, dass wir das Bild unbeschädigt in die Hände bekommen und aus selbem Grund die dunklen Ladies von den diversen Schwesternschaften, allen voran die Spinnenhexen."

"Will sagen, jemand wusste vor uns schon bescheid und hat beschlossen, dem Spuk schnell ein Ende zu machen, bevor der uns auf den Plan ruft. Das kommt mir aber nicht noch einmal vor, Gentlemen. Wir klären das jetzt, wer dieses Bild gemalt haben könnte", sagte Tinspoon.

"Die Verhöre der Zeugen laufen noch. Aber es deutet sich an, dass es ein gewisser H. P. war, und damit ist hoffentlich nicht Harry Potter gemeint", sagte Wood. Sein Großneffe Oliver hatte mit Harry Potter einmal den Quidditchpokal für sein Haus in Hogwarts gewonnen.

"Ich denke da an einen gewissen H. Pickman, wenn Sie schon so tönen, Don. Von dem habe ich als Anwärter gehört, dass der sich mit schwarzmagischer Malerei befasst haben soll. Ich ging nur davon aus, dass der entweder tot oder in Haft ist."

"Selbst wenn könnten seine Bilder immer noch wie fröhlich tickende Zeitbomben aus dem Muggelfernsehen auf ihre große Explosion warten oder alle auf einmal explodiert sein", sagte Wood.

"Wie dem auch sei, wir müssen zusehen, dass wir das eher erfahren, wenn noch mal sowas passiert, bevor wir in den Zeitungen wieder so blöd wegkommmen, weil uns außerministerielle Gruppen die Arbeit abnehmen."

"Natürlich, Mr. Tinspoon", sagte Wood.

Wenige Minuten später erfuhren sie von ihrem Computerexperten, der die Polizeinetzwerke überwachte, was in New York vorgefallen war. Ob das auch mit einem schwarzmagischen Bildnis zu tun hatte?

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Minister Dime hatte nach den ersten aufgetretenen Auswirkungen jener unbekannten Wesen, von denen die einen Vampire und die anderen Zwischenformen zwischen Menschen und Raupen waren die Sondergruppe Chaossturm gegründet, zu der neben ihm die Abteilungsleiter für magische Strafverfolgung, Aufsicht und Führung magischer Geschöpfe, das Muggelkontaktbüro und die Abteilung für experimentelle Magie gehörten. Nancy Gordon hatte wegen einer ähnlichen Sache in Paris, Frankreich den Antrag gestellt, die für das dortige Zaubereiministerium tätige Martha Merryweather hinzuzuziehen. Diese war nach der Drillingsschwangerschaft und der Wochenbettphase wieder körperlich voll einsetzbar und geistig ohnehin sehr rege. Allerdings durfte sie wegen ihrer Drillinge nur zehn bis fünfzehn Minuten erübrigen. So sprachen sie kurz über das, was passiert war, vor allem die sechsarmigen Ungeheuer, die aus einem großen Ölgemälde in Chicago herausgetreten waren und eine Gruppe junger Menschen überfallen hatten. Einen von ihnen hatten sie in ihr Bild hinübergezerrt. Zwei andere hatten die daraufhin aus dem Bild herausgetretenen Ungeheuer bei lebendigem Leibe aufgefressen. Offenbar hatten die Geflüchteten noch die Polizei informiert, die dann zwei bewaffnete Streifen zum Tatort geschickt hatte. Dann war wie auf einen unhörbaren Notruf diese Hexe im scharlachroten, sündhaft hautengen Kostüm aufgetaucht und hatte das betreffende Bild mit einem flammenden Schwert eingeäschert. Diese Hexe hatte dann auch noch gemeint, dass dies wohl nur der Auftakt war.

"Wenn es wirklich Monster waren, die aus einem Bild gestiegen sind, dann ist doch die Frage, wer sich auf solche Sachen versteht", hatte Martha Merryweather eingeworfen. Das war logisch. So wurde nach Zauberkünstlern gesucht, deren Spezialität das Malen lebendiger Bilder war. Sicher konnte jeder kunstbegabte Schüler lernen, Bilder mit lebendigen Motiven oder wechselnden Ansichten zu malen. Aber für derartig hochpotente Zauberbilder kamen nur fünf oder zehn Leute in Frage. Martha half mit dem Ausschlussverfahren bei der Ausgrenzung der nicht in Frage kommenden. Dann sagte der Leiter der Strafverfolgungsbehörde: "Dann bleibt nur Hironimus Pickman. Der stand schon während der ersten Herrschaft dieses unnennbaren Zauberers im Verdacht, Bilder mit fließenden Grenzen zwischen Darstellung und Wirklichkeit zu malen. Allerdings ist er nach der Schlacht von Hogwarts spurlos verschwunden."

"Und die anderen üben ganz offen Berufe aus oder sind wegen nachgewiesener Mittäterschaft noch in Haft", fasste Martha zusammen. Die anderen nickten. Dann sagte Minister Dime:

"Wir wissen auch nicht, welchem Zweck diese Anschläge dienen. Sollen Sie eine reine Machtdemonstration sein oder ein magischer Feldzug gegen Menschen mit und ohne Magie?"

"Was ist, wenn Pickman oder jemand anderes für Vita Magica oder die Vampire oder diesen Vengor arbeitet?" fragte Nancy Gordon.

"Vita Magica hat es nicht nötig, schwarzmagische Bildnisse einzusetzen, um ihre Ziele zu verfolgen", sagte Minister Dime. "Bisher hatten sie mit allen Unternehmungen Erfolg. Wieso sollten die jetzt darauf ausgehen, ein schwarzmagisches Chaos anzurichten, bei dem auch magische Menschen gefährdet werden?"

"Da stimme ich Ihnen zu, Minister Dime", pflichtete Martha dem zeitweiligen Zaubereiminister bei. "Ich vermute daher, dass es sich um einen Auftrag im Namen der Vampirsekte der schlafenden Göttin handelt, wofür die Sache mit den entführten und wieder aufgetauchten Kindern steht, oder für den sich Lord Vengor nennenden Massenmörder. Wie ich auf den komme? Offenbar trachtet er danach, die Welt in ein so großes Chaos zu stürzen, dass niemand mehr gegen ihn vorgehen kann. Wir sind gezwungen, gegen diese Bildermagie zu kämpfen und dafür Personal aufzuwenden. Zwar erhalten Sie offenbar Hilfe von unerwünschter Seite, namentlich die Führerin der Spinnenschwestern, die ja dieses Feuerschwert an sich genommen haben soll. Aber wir müssen trotzdem eigenes Personal aufwenden, um die Angriffe abzuwehren. Das perfide dabei ist, dass wir keinen Hinweis erhalten, wann und wo der nächste Angriff stattfindet. Das wiederum heißt, dass wir in ständiger Einsatzbereitschaft bleiben und uns nicht anderen Dingen zuwenden dürfen. Das lähmt die grundlegene Arbeit jedes Zaubereiministeriums. Also haben wir es mit einem Zauberer oder einer Hexe zu tun, der oder die die Arbeit eines Zaubereiministeriums undurchführbar machen möchte. Vita Magica - lassen wir dieser Bande das Vergnügen, sich immer noch so zu nennen! - hat das nicht nötig, weil die zum einen wunderbar im Untergrund arbeiten können und jeden Versuch, ihrer habhaft zu werden erfolgreich vereiteln konnten, einschließlich dieser irrsinnigen Superbombe, die Mr. Sandhearst einsetzen wollte."

"Dann ist davon auszugehen, dass VM mit diesen Anschlägen nichts zu tun hat. Wäre es da vielleicht nicht zweckmäßig, diesen Leuten nahezulegen, ihre Aktivitäten einstweilen einzustellen, um uns in Ruhe arbeiten zu lassen?" fragte der Minister in die Runde. Alle stimmten ihm zu. Nur Nancy Gordon sah ihn verächtlich an und meinte: "Wollen Sie denen dann nicht gleich einen dauerhaften Frieden anbieten? Am Besten von diesen Leuten die Zusage erbitten, ihre umstrittenen Vorhaben nicht mehr auf dem Boden der USA oder unter Einbeziehung von US-Bürgern zu verwirklichen?"

"Dann müssten wir ja wissen, wer zu dieser Organisation dazugehört, Nancy. Solange wir das nicht wissen sind überhaupt keine Verhandlungen möglich", erwiderte Minister Dime ruhig. Er wusste, dass Nancy Gordon Vita Magica verachtete und es schon sehr persönlich nahm, was diese Leute trieben. Aber sie musste einfach begreifen, dass sie nicht nur gegen diese Leute anzukämpfen hatte.

"Gut, ich möchte Ihnen Gründe darlegen, warum es nicht VM sein kann, auch wenn ich dieser fragwürdigen Vereinigung keine Sympathien entgegenbringe", sagte Martha, die sich zur Antwort veranlasst sah. "Doch ich muss Minister Dime in drei Punkten beipflichten: Zum einen kann es nicht im Interesse einer auf die Vermehrung magischer Menschen versessenen Gruppe sein, dass amoklaufende Ungeheuer aus bezauberten Bildern die Menschheit terrorisieren. Zum zweiten besteht die Möglichkeit, diese Grupppe von der Verübung weiterer Aktionen gegen unsere Ehr- und Moralbegriffe abzuhalten. Zum dritten müssen wir wie erwähnt jede Fachkraft zur Bekämpfung dunkler Zauberei entlasten, um diese Bildermonster aufzuhalten oder deren Ursprung auszulöschen. Was Sie hier vielleicht noch nicht wissen: Ich erhielt vor drei Stunden aus dem Arkanet einen Kurzbericht aus Tokio. Dort soll es zum Schlüpfen von roten Drachen gekommen sein, die aus einem Gemälde heraus auf Jagd gegangen sind. Die haben also mindestens auch so ein Zauberbild. Im Auftrag von Zaubereiministerin Ventvit habe ich bereits zugesagt, alle in Frankreich geschehenen Vorfälle dieser Art nach Tokio weiterzumelden, damit die japanischen Kollegen die Gefahr schnell genug eindämmen können. Es kann nicht sein, dass einzelne Leute ganze Großstädte in Geiselhaft nehmen und terrorisieren. Es reicht schon völlig aus, dass es in der magielosen Welt Fanatiker gibt, die meinen, im Namen ihrer Weltanschauung Leute umbringen zu dürfen. Wenn das jetzt auch wieder aus der magischen Welt droht kommen wir alle schnell dahin, wo uns die Hexenjäger im ausgehenden Mittelalter hingestellt haben. Das kann und wird auch nicht im Sinn von Vita Magica sein, auch wenn ich bei dem Gedanken, diesen Leuten einen Waffenstillstand oder gar Burgfrieden anzubieten die letzten Wehen fühle, unter denen ich meine drei Kinder bekommen musste. Auch weiß ich, dass mehrere Dutzend Kollegen von diesen Leuten entführt und entweder zur unfreiwilligen Nachzucht gezwungen oder gleich zu körperlich-geistig zurückgestuften Säuglingen gemacht wurden. Insofern bin ich auch nicht für eine Generalamnestie für diese Leute. Doch wie war vorhin die Frage: Welche Freunde haben wir noch? Ich könnte Sie ebenso fragen, ob nicht noch einmal darüber nachgedacht werden sollte, mit dieser Spinnenschwesternschaft friedlich zu verhandeln. Doch im Moment fehlt mir die letzte Gewissheit, dass diese mit diesen Angriffen nichts zu tun hat. Dass deren Anführerin diese Raupenmenschen zerstört hat muss nicht heißen, dass sie nicht von einem solchen Chaos profitieren möchte. Aber bei Vita Magica bin ich mir sicher, dass die nichts mit diesen Ereignissen zu tun haben und auch nichts dafür übrig haben. So, und da ich hier nicht stimmberechtigt bin und meine Zeit eh schon weiter ausgereizt habe möchte ich mich an dieser Stelle verabschieden."

Martha Merryweather verließ die Sitzung. Danach entspann sich eine teilweise sehr hitzige Debatte darum, mit wem und wie genau das Ministerium Verhandlungen um Burgfrieden oder außerministerielle Hilfeleistung führen sollte. Am Ende stimmten alle Mitglieder der Sondergruppe Chaossturm zu, dass zumindest versucht werden musste, mit außerministeriellen Gruppierungen eine Vereinbarung zu treffen, das sich abzeichnende Chaos zu bekämpfen. Vielleicht, so Cunningham, ergaben sich daraus die Möglichkeiten, über die Hinterleute von VM oder der schwarzen Spinne mehr zu erfahren oder fraglos fähige Leute, die nur wegen einer fragwürdigen Idee auf die falsche Bahn geraten waren, in die Reihen ehrbarer Hexen und Zauberer zurückzuholen, wenn sie sich um die Beseitigung des aufziehenden Chaossturms verdient machten. Somit hatte der Minister die offizielle Zusage, dass er mit Vita Magica und der Spinnenschwesternschaft sprechen sollte. Es galt vordringlich, jede Störung der einen oder anderen Gruppe auszuschließen, um das erwähnte Personal für die Bekämpfung der Zauberbildmonstrositäten zur Verfügung zu haben. Das war auch nötig, wie die nächste Meldung über das magische Wortübertragungssystem bestätigte:

"Gerade ist die Nachricht reingekommen, dass in New York Hybriden zwischen Menschen und Zauberwesen aufgetaucht sind. Es ist wohl eine größere Angriffsserie."

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27. November 2002

"Einen herrlichen gemeinen Morgen, Vengor! Mein Herr und Schöpfer hat erfolgreich das mit dir abgesprochene große Ablenkungsmanöver losgetreten", krächzte die boshafte Stimme des gemalten Clownsgesichtes, das ohne Ankündigung durch die schwarze Bildoberfläche gebrochen war. Der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte, wollte nun wissen, wie und wo genau Pickmans unheilvolle Gemälde ihr verheerendes Eigenleben begonnen hatten. Als er das erfuhr musste er sogar lachen. In den achso freien Staaten wurde Freizügigkeit als unmoralisch verpönt, war aber hinter sorgsam zugezogenen Gardinen und Vorhängen sehr willkommen. Hinzu kam, dass es schon einen gehörigen Eindruck machen würde, dass die seit der letzten Halloweennacht verschwundenen vier Kinder wieder aufgetaucht waren und mithalfen, Angst und Schrecken zu verbreiten.

"Sag deinem Herrn, wenn er es schafft, dass bis übermorgen alle Zaubereiministerien der Welt mit seinen Bildern zu tun haben werde ich ihm bei meinem Blut und meiner Seele schwören, ihm nicht nach dem Leben zu trachten, auch wenn er es bisher ablehnt, sich mir unterzuordnen!" wandte sich Vengor an den gemalten Clown und dachte dabei, dass er bis dahin sicher schon von Iaxathan wusste, wie er den Originalpickman aufspüren konnte.

"Mein Herr und Schöpfer hält, was er verspricht. Versprich du nichts, was du nicht halten kannst!" kam ihm dieses schrillbunt geschminkte Gesicht frech. Vengor fühlte den Drang, das Bild mit einem Fluch zu Staub zu zerblasen. Doch dann erkannte er die Falle, die ihm Pickman stellte. Wenn er den Clown der Grausamkeit jetzt schon zerstörte wusste Pickman, dass er von Vengor keinerlei Gegenleistung für seine Hilfe erhalten würde. Das musste der aber jetzt noch nicht wissen. So konnte sich Vengor doch noch zusammennehmen und verwünschte eher die in ihm wirkende Macht des Unlichtkristalls, die seine eigene Selbstbeherrschung schwächte. Er konnte nur hoffen, dass er nicht in einem wirklich entscheidenden Moment die Fassung und Beherrschung verlor. Doch erst mal galt, Kanoras an seine Zusage zu erinnern. Wenn der noch seine Schattenwesen ausschwärmen ließ würde ihm weder ein Zaubereiministerium noch eine dieser außerministeriellen Clubs zur Bekämpfung machtstrebender Zauberer nachjagen. Die wussten ja auch nicht, wo sein Hauptquartier lag.

"Los, sag deinem Herrn, was ich dir gesagt habe!" befahl Vengor dem noch sichtbaren Clownsgesicht. Dieses grinste breit und verschwand ohne ein Wort der Bestätigung oder gar Unterordnung in der schwarzen Bildoberfläche. Vengor nahm es so hin. Ihm ging es nun um Kanoras.

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Armin Weizengold stand seit dem Verschwinden von Zaubereiminister Güldenberg wie auf glühenden Kohlen. Zwei Monate hatte Güldenberg wegbleiben wollen, um dem Ritualmord Vengors seinen Wert zu nehmen. Doch Güldenberg blieb bis heute unauffindbar. Offenbar hatte Vengor ihn und Hagen Wallenkron doch noch töten können. Jetzt ging es im deutschen Zaubereiministerium darum, wer Güldenbergs Nachfolger oder Nachfolgerin wurde. Neben Gleißenblitz und Wetterspitz wurden auch Elisabeth Sonnenfink und er selbst als mögliche Nachfolger gehandelt. Wollte er das, Zaubereiminister werden? Er sah seine Anstellung als Leiter der Behörde für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne magische Kräfte als wichtig und verantwortungsvoll genug an. Auch Hildegund, seine Frau, lag ihm nicht in den Ohren, noch weiter auf der Karriereleiter nach oben zu klettern. Doch die anderen sahen das wohl ähnlich. Anders als in Frankreich, den Staaten oder Australien wurde der amtierende Zaubereiminister nicht von der Bevölkerung gewählt, sondern vom Ting des roten Turmes, dem Ältestenrat freier Zauberer und Hexen, vorgeschlagen oder eingesetzt.

"Herr Weizengold, das könnte uns interessieren", meldete sich Titus Achterdiek, Weizengolds Verbindungsmann zu den Landeskriminalämtern in Norddeutschland über Kontaktfeuer. Achterdiek trug sein fuchsrotes Haar bis auf wenige Millimeter gekürzt und besaß keinen Bart.

"Was genau?" fragte Weizengold den im Kamin sitzenden Kopf.

"In Hamburg sind Leute verschwunden, als wenn da jemand einen großen Stöpsel gezogen hätte und alles in einem unsichtbaren Abfluss verschwinden ließe. Im Moment sind zwanzig Leute aus Blankenese verschwunden."

"Vielleicht sind die alle zu einem Kurzurlaub nach Sylt gereist", meinte Armin Weizengold.

"Neh, kann ganz ausgeschlossen werden, weil die alle von ihren Verwandten, Freunden oder Kollegen vermisst werden. Und seitdem da in der Gegend auch sowas wie ein fliegender weißer Hai gesichtet wurde könnte das was für uns sein."

"Ein was?!" entfuhr es Weizengold. "Ein weißer Hai, der nicht im Meer schwimmt sondern durch die Luft gleitet und arglose Vögel verputzt wie Schokoladenstücke, hat zumindest ein Muggel gesagt, der für einen dieser privaten Radiosender da arbeitet, Blankenese Live oder so. So'n kleiner Stadtteilsender, der die Leute da mit für die wichtigem Zeug und klassischer Musik berieselt."

"Ein fliegender Hai? Wenn das stimmt ist das unbestreitbar was für uns", sagte Weizengold. "Hat unser Verbindungsmann in Hamburg schon mehr herausbekommen?"

"Verbindungsfrau. Seit drei Monaten ist Heike Heckendorn für Hamburg zuständig, nachdem Sven Eschenwurz zum Gemeindevormann von Feensand gewählt wurde."

"O ja, habe ich doch gelesen, dass Sven Eschenwurz ganz auf die Insel zurückgegangen ist. Er hat aber versäumt, mir mitzuteilen, wer für ihn im Hamburger Kriminalamt unsere Augen und Ohren ist. Und was sagt Frau Heckendorn?"

"Das wir vielleicht wen schicken sollten, der oder die ein Auge oder zwei auf die Sache wirft. Bevor sie die Lichtwächter aufscheucht sollten wir klären, ob da nicht wer mit einem technischen Trick diesen fliegenden Hai imitiert."

"Ich möchte erst selbst mit der Dame reden, Titus. Wenn da was los sein sollte, dann geht es über Dienstweg null sicher schneller."

"Die Frau Heckendorn ist gerade in einer Besprechung. Melomäßig kann ich die nicht erreichen, nur ihre Schwester Heimgard kann das. Die ist aber für ihre Firma unterwegs."

"Gut, ich komme selbr zu Ihnen rüber", sagte Armin. Dann fügte er noch hinzu: "Am besten bringe ich dann gleich auch Fräulein Steinbeißer mit."

"Gute Idee, Herr Weizengold", sagte Titus' Achterdieks Kopf.

Wenige Minuten später saß Armin Weizengold mit seiner Mitarbeiterin Albertine Steinbeißer im Sprechzimmer von Titus Achterdiek. Dieser informierte sie dann noch ausführlicher über die verschwundenen Muggel. Albertine wartete, bis ihr direkter Vorgesetzter ihr das Wort erteilte. Dann sagte sie: "Das sieht nach einem großangelegten Angriff auf die Muggelwelt aus. Könnte dieser Lord Vengor sein, der uns jetzt den totalen Krieg erklärt hat."

"Oder dessen Gegenspieler, die Spinnenschwestern, die Vampire oder die wiederaufgewachten Abgrundstöchter", warf Titus ein. "Seitdem wir diesen Zusammenstoß mit diesem halben Nachtschatten auf dem Phantom-Motorrad hatten müssen wir ja immer damit rechnen, dass der oder seine Herrin wieder was anstellen."

"Hmm, was hätten die Spinnenschwestern oder andere Hexen überhaupt davon, wen spurlos verschwinden zu lassen?" wollte Albertine wissen. "Vielleicht sind es auch die Werwölfe von der Mondbruderschaft, die ein neues Lykotopia gründen wollen."

"Und was soll dann bitte ein fliegender Hai?" fragte Achterdiek. Da klopfte es an die Tür. Er sah Armin fragend an. Albertine blickte die Tür an. "Es ist Frau Heckendorn, Titus", sagte Albertine. Achterdiek nickte und rief "Herein!"

Armin hatte die Hexe aus Hamburg lange nicht mehr gesehen. Für ihre fünfzig Lebensjahre und die vier zur Welt gebrachten Kinder sah sie jedoch sehr zierlich aus und hatte ihr dunkelblondes Haar zu einem Zopf gebunden. Sie berichtete nach der Begrüßung der Anwesenden, dass mittlerweile fünfzig Menschen aus ihren Häusern verschwunden waren und dass neben mittlerweile drei fliegenden Haien auch sieben übergroße Seeigel und Seesterne gesichtet worden waren. Daher habe sie die Lichtwache alarmieren müssen, auch ohne Armin Weizengold zu fragen. "Es ist ganz sicher ein magischer Vorgang, falls wir die Umtriebe außerirdischer Wesen außer Acht lassen. Es ist dringend nötig, alle Augenzeugen zu desinformieren und die Quelle dieser Erscheinungen trockenzulegen."

"Also Gefahr im Verzug", knurrte Achterdiek. Weizengold stimmte ihm zu. Dann beauftragte er Albertine Steinbeißer, sich umzusehen, aber möglichst keinem dieser Ungeheuer in die Quere zu kommen. Sie sollte nur beobachten.

Als Armin Weizengold wieder in seinem eigenen Büro war sah er sofort das Zauberergemälde seiner als hochschwangere Hexe gemalten Urgroßmutter. "Bertholds geborener Doppelgänger hat mich kurz besucht und geflüstert, dass in München riesenhafte Wölfe in Grünwald herumlaufen. Außerdem wachsen da kleine Bäume aus dem Straßenbelag heraus. Am Ende hat da auch wer was übles freigesetzt", sagte die grün-weiß-blau gekleidete Vorfahrin Armin Weizengolds. "Hast du noch Leute, die du da hinschicken kannst, Armin?"

"Im Raum München habe ich Ludwig Mooskehrer als Kontaktbeamten, Oma Mechthild. Dem kann ich noch zwei Leute von hier aus hinschicken. Am Besten informiere ich auch gleich die Lichtwachen am Standort München. Oder hat die wer schon in Marsch gesetzt?"

"Mir ist diese Mitteilung doch gerade erst in den Schoß gefallen, Armin", erwiderte Armins Urgroßmutter mit einem verwegenen Lächeln auf dem runden Gesicht.

"Gut, dann gebe ich das schnell noch raus", sagte Armin Weizengold. Die gemalte Hexe nickte und lehnte sich wieder in ihren hochlehnigen Sessel zurück.

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Die Sonne stand bereits unterhalb der höchsten Gipfel in dieser Region des Atlasgebirges. Der Himmel glühte in einem rosaroten Licht. Es würden nur noch wenige Minuten vergehen, bis die letzten Sonnenstrahlen über den Horizont reichten. Dann würde es hier schnell dunkel werden. Das war die Zeit der unheimlichen Schattenwesen von Kanoras.

Der selbsternannte Erbe Lord Voldemorts öffnete einen der kleinen Aufbewahrungsbeutel, in denen er drei ganz heimlich hergestellte Besenbeißer aufbewahrte. Einen der für unbezauberte Augen unsichtbaren magicomechanischen Zerstörungsapparate ließ er auffliegen wie ein Falkner seinen Jagdfalken. Schließlich hatte er schon die Erfahrung gemacht, dass die Ministeriumszauberer und -hexen wussten, wo Kanoras' Höhle lag. Wenn die mal wieder wen schickten, der oder die ihm ins Handwerk pfuschen wollte sollte dessen oder deren Flugartefakt ohne Vorwarnung angefallen und schlagartig verbrannt werden.

Vengor wartete noch ab, bis wirklich kein Sonnenlicht mehr durch die Berge drang. Dann öffnete er seine kleine Unterwerfungsphiole und befahl der darin eingeschlossenen Daseinsform von Corvinus Flint, herauszukommen. Mit seinem treuen Schattendiener betrat Vengor den Eingang zum Höhlensystem, das zu Kanoras' Reich führte. Unvermittelt quoll schwarzer Nebel aus einer Spalte in der Wand und formte sich innerhalb von nur zwei Sekunden zu einer riesenhaften Gestalt mit rot glühenden Augen und klar erkennbaren Vampirzähnen, der Blutriese, einst ein lebender Gigant, der als einer der Wenigen zu einem Vampir geworden war. Sofort wuchs auch Corvinus Flint auf doppelte Größe an, um dem anderen Schatten ebenbürtig zu erscheinen. Doch Vengor ließ sich vom Auftritt des Riesenschattens nicht beeindrucken. Er sagte ganz ruhig:

"Die Nacht der Schatten ist gekommen, Kanoras, mein Bundesgenosse im Kampf um die Herrschaft der wahren Mächtigen. Sende nun deine Diener aus, sich zu vermehren und den armseligen menschen aus Fleisch und Blut Furcht und Verzweiflung zu bringen!"

"Jetzt erst?" hörte er die wie von überall zugleich klingende Stimme ohne geschlechtliche Festlegung. "Konntest du deine Vorbereitungen jetzt erst abschließen?" Vengor fragte sich, wie er auf diese schon abfällig klingende Frage antworten sollte. Denn Kanoras war ihm an Macht ebenbürtig, und er war bereits Iaxathans treuer Diener. Er durfte es sich nicht mit ihm verderben, solange er nicht wusste, wie er Kanoras' Macht übertreffen konnte. So sagte er:

"Für ein Vorhaben wie unseres ist eine sorgfältige Vorbereitung der halbe Sieg, bevor die Schlacht beginnt. Deshalb musste ich warten, um alles in Gang zu bringen, was für unser gemeinsames Ziel wichtig ist."

"Du weißt, dass ich der einzige noch lebende treue Diener des obersten Dieners der alles endenden Finsternis bin. Nur er allein steht über mir. Du hast mir schon gelobt, dich ihm zum Dienst zu verbinden, als du dich meiner Unterstützung versichern wolltest", erwiderte die unortbare und geschlechtslose Stimme des Schattenträumers.

"Ja, das ist so. Was erwartest du noch von mir, wo ich dir schon meinen dienstbaren Schatten anvertraut habe?" fragte Vengor.

"Du musst mir bei der Unversehrtheit deiner Seele und deinem körperlichen Leben schwören, dich allen Forderungen und Anweisungen meines Herrn und Meisters zu fügen, ihm so treu und gehorsam zu dienen wie ich dies tue. Nur dann darf und werde ich meine eigenen Diener für dich ausschwärmen lassen und jene, die weiter fort von hier leben vor die Wahl stellen, meine Getreuen zu werden oder zu vergehen."

Vengor hatte mit einer derartigen Bekräftigung gerechnet und sich entsprechend vorbereitet. Denn was weder Kanoras noch Flint noch Iaxathan wussten war, dass er sich nach Empfang des Unlichtkristalls mit einem wirksamen Zauber belegt hatte, der jeden magisch geleisteten Eid entkräftete, sobald er dies für geboten hielt. So ging er auf Kanoras' Forderung ein, sich mit einem scharfen Unlichtkristallsplitter die Pulsadern aufzuschneiden und eine kleine Silberschale mit seinem Blut zu füllen. Dieses übergab er dem Schatten des einstigen Vampirriesens. Der verschlang den Inhalt der Schale, während Kanoras Vengor die Eidesformel vorsprach, an die er sich binden sollte. Während der Schatten des Blutriesens so Vengors Blutopfer einverleibte und damit auch Kanoras einen winzigen Teil von Vengors Lebenskraft zuführte - zumindest ging der Herr der Unheilsschatten davon aus -, tropfte noch etwas von dem Blut des selbsternannten Erben Voldemorts auf den Boden. Erst als die Eidesformel mit "Ich schwöre es beim Fluss meines Blutes und der Unversehrtheit meiner Seele" vollendet war, durfte sich Vengor die selbst beigebrachte Wunde wieder schließen. Vengor wusste, dass jemand anderes, der an Unlichtkristalle herankam, ihm ebenfalls Verletzungen beibringen konnte. Diesem Zweck diente wohl das dargebrachte Blutopfer.

Ich werd' mich dir zum Dienst verbinden
und werd' nicht rasten und nicht ruh'n,
und sollte unser Meister dies befinden,
so ist's an dir, mir gleiches wohl zu tun", sprach die Stimme aus unergründlicher Quelle. Vengor musste grinsen. Woher kannte denn der Schattenträumer eines der bekanntesten Dramen aus Deutschland, dass er dieses in seinem Sinne umtexten konnte? Das sollte ihm egal sein. Denn wenn er es schaffte, Iaxathan als seinen gleichrangigen Verbündeten zu gewinnen oder gar erreichen, dass dieses sich ihm unterordnete, weil er sonst keine körperliche Macht auf der gegenwärtigen Erde ausüben konnte, war Kanoras' Geplenkel mit seinem Blut unwichtig.

"Dann sende jetzt deine Armee aus, sobald ich von hier abgereist bin! Unterwerfe dir diesen Erdteil, wenn du magst!" sprach Vengor.

"Das werde ich tun. Doch gelobe mir vorher auch, meine Rache zu vollenden. Denn mir sind vier Sterbliche entkommen, die mit Strahlen aus haardünn gebündeltem Licht meine Diener schwächen und so vor ihnen flüchten konnten. Wenn du durch mich die Ehre des großen Meisters erhältst, sein mächtiger Diener zu sein, finde und ergreife die vier, deren Namen ich dir bereits genannt habe!" sprach die unortbare Stimme von Kanoras. Vengor überlegte, ob er diesen Wunsch schon jetzt erfüllen konnte. Doch Kanoras hatte es erwähnt, dass er dafür besser erst mehr Macht erlangen sollte, bestenfalls Herr der deutschsprachigen Hexen und Zauberer werden sollte, um die vier Muggel, die ein Jahrtausendglücksfall vor Kanoras' Macht geschützt hatte, doch noch ihrer Bestimmung zuzuführen. So versprach er dem Schattenträumer, seinen Wunsch zu erfüllen, wenn er die Gunst des großen Meisters Iaxathan erworben hatte. Danach sagte er noch einmal: "schicke deine Diener aus, um diesen Erdteil zu deinem Reich werden zu lassen, sobald ich aufbreche! Bringe denen, die bisher nicht an dich geglaubt haben bei, wer hier herrscht!" Zwar behagte es ihm nicht, sich einen ganzen Kontinent voller herumstrolchender, Seelen jagender Schatten vorzustellen. Doch den achso gutherzigen Hexen und Zauberern dieses Kontinentes würde das auch nicht gefallen, und die würden sich mit Kanoras' Schattendienern einen langen Kampf liefern. Nur das allein zählte für den Zauberer, der sich Lord Vengor nannte. "Komm, Flint, wir müssen uns auf die Reise zu ihm machen, dem Meister, dem Diener der alles endenden Dunkelheit", sagte Vengor seinem schattenförmigen Begleiter. Dieser nickte und folgte ihm.

Außerhalb der Höhle ließ Vengor seinen Besenbeißer in den Aufbewahrungsbeutel zurückschwirren. Das heimtückische Artefakt hatte in der Zeit keine Beute gefunden. Also hatten die Ministeriumszauberer es wohl vermieden, noch einmal Leute zu verlieren. Er wusste zwar, das Träger magischer Augenprothesen durch die Unsichtbarkeitsaura der getarnten Besenbeißer hindurchsehen konnten, aber von denen gab es nicht so viele auf der Welt und hier in Marokko so weit er wusste keinen oder keine einzige.

Mit einem vorbehandelten Portschlüssel, der bei Nacht mondlichtsilbern leuchtete, verschwand Vengor, nachdem er Flint befohlen hatte, wie ein versklavter Dschinn in die an ihn gebundene Phiole zurückzukehren, um besser auf die Reise mitgenommen zu werden.

Kaum war Vengor mit seinem schattenhaften Sklaven verschwunden strömte tiefschwarzer Nebel aus dem Eingang zu Kanoras' Höhlensystem. Der Nebel breitete sich in alle Richtungen aus. Dann teilte er sich in mehrere Dutzend dunkle Einzelschatten auf, darunter drei riesenhafte Erscheinungen, einen gewaltigen Vogel, einen geflügelten Löwen und einen Riesen mit rot glimmenden Augen. Kanoras' nächtliche Armee der Schatten rückte aus, Angst und Verderben über die Menschen zu bringen.

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27. November 2002

Theia Hemlock hörte sich an, was am Vortag in Chicago passiert war und was seit dem 25. November in New York los war. Die Nachricht über neuartige Vampire beunruhigte sie schon. Was die Sache in Chicago anging so war ihr sofort klar, dass jemand Anthelia früher informiert hatte als das Zaubereiministerium.

"Ich fürchte, wir haben es mit einer Serie von schwarzmagischen Gemälden zu tun, die dazu dienen sollen, Chaos und Tod zu verbreiten", grummelte Theia. Ihre Tochter Selene nickte. Dann sagte sie: "Ich kann mich dran erinnern, dass da mal wer gelebt hat oder noch am Leben ist, der solche Bilder gemalt hat. Hironimus Pickman heißt der, Mom!"

"Der Name sagt mir auch was. Es hieß bei den Entschlossenen, dass er dem dunklen Lord eine zweite Galerie des Grauens malen sollte, eine, die nicht auf die Bilder alleine beschränkt bleiben sollte. Vielleicht hat er diesen Auftrag auch nach Riddles Tod weitergeführt und vollendet."

"Für sich oder diesen Vengor, Mom?" fragte Selene. Doch in ihrem Blick stand die Gewissheit, dass sie die Antwort schon kannte.

"Garantiert für diesen zweiten Wahnwitzigen, der meint, Riddles Thronerbe im Reich der dunklen Zauberer zu sein und diesen Kristall an oder in sich trägt. Entweder sind die Vorgänge ein Test, oder der Schöpfer dieser entarteten Kunstwerke möchte damit einen großen Schlag führen."

"Was ist das mit den vier Kindern, Mom? Haben die ihre Eltern jetzt abgeholt und entführt oder was?"

"Die wurden sicher verwandelt und mit magischen Kräften ausgestattet, um ihre Eltern denselben Weg gehen zu lassen", grummelte Theia Hemlock.

"Bloß nicht. Dann haben wir mehr als drei verschiedene Ungeheuergruppen am Hals, nach den wieder aufgetauchten Wolfsmenschen und den Anhängern dieser bösen schlafenden Göttin", seufzte Selene Hemlock. Wie sehr wünschte sie sich, wieder groß und zauberberechtigt zu sein, um gegen diesen Unrat vorgehen zu können. Doch sie musste weiter das drei Jahre und vier Monate alte Hexenmädchen bleiben, das die letzten Monate vor der Geburt bewusst miterlebt hatte und seit der schmerzvollen Rückkehr auf die Welt nichts von dem vergessen hatte, was davorund danach geschehen war.

"Wenn diese Spinnenhexe auch mit ihrer Feuerklinge alle Bilder dieses gleichsam genialen wie wahnwitzigen zerstören kann hindert das ihn sicher nicht daran, neue Machwerke auf die Menschheit loszulassen", sagte Theia Hemlock.

"Stimmt wohl, Mom. Aber was kannst du da schon machen. Ich bin ja nur ein kleines, unschuldiges Hexenmädchen, Daianira Hemlocks unverhoffte Enkeltochter", erwiderte Selene mit unüberhörbarer Verdrossenheit.

"Ich werde mich mit den anderen Tanten aus Oma Daianiras Vereinigung unterhalten, wie wir erfahren, ob dieses Bildnis wirklich von Pickman war und ob das mit den verschwundenen Kindern auch auf so ein Bild zurückgeht."

"Theia, sie hat mir eine dringende Einladung geschickt, dass wir alle uns bei ihr treffen, wegen dieser Angelegenheit in Chicago!" rief Eileithyia Greensporns Stimme aus dem Wohnzimmer, wo der ans Flohnetz angeschlossene Kamin stand.

"Bin unterwegs!" rief Theia, nachdem sie die Tür zum dauerklangkerkerbezauberten Arbeitszimmer geöffnet hatte. "Selene, liebes, bleib brav hier und spiel ein bisschen. Mom macht nur noch alle Türen zu, damit nichts und niemand böses reinkommen kann."

"Hast du das Buch "Die Kunst der Schattenwelt - Magische Bildhauerei und Malerei zu verbotenen Zwecken"?" mentiloquierte Selene. Seitdem sie selbst sprechen konnte klang ihre Gedankenstimme nicht mehr wie die von Austère Tourrecandide, sondern eben wie die von einem kleinen Mädchen. Immerhin durfte sie jetzt auch ohne Gedankensprechen vereitelndes Armband herumlaufen, da sie sich mit ihrer Rolle arrangiert hatte.

"Ja, habe ich. Aber das ist im Raum mit den beißenden und Blitze werfenden Büchern. Da gehst du mir nicht rein", erwiderte Theia auf dieselbe Weise wie ihre Tochter.

"Dann hol mir das bitte zum lesen, Mom! Oder nimm es mit zu den anderen Schwestern!"

"Ja, mach ich", gedankenantwortete Theia. Dann verließ sie das Arbeitszimmer. Wenige Minuten später hatte Selene ein Buch mit dem Titel "Die größten Untaten der Zauberkunst" in den Händen, während ihre Mutter ein dunkelblaues Buch mit einem schattenhaft darauf dargestellten Skelett unter dem Arm trug. Damit verschwand sie im smaragdgrünen Flohpulverfeuer. Selene sorgte noch dafür, dass es von diesem Feuer keinen Rest gab, auch wenn ihre zweite Mutter sehr genau wusste, wie viel von dem magischen Reisepulver sie verwenden musste, um keine Aschwinderin zu erbrüten. Dann setzte sich Selene auf die Eckbank im Wohnzimmer und las in dem Buch, in dem auch Horkruxe erwähnt wurden, jedoch nicht, wie sie genau hergestellt werden konnten. Der Verfasser begründete diese Auslassung damit, dass er nicht mithelfen wollte, dass diese größte aller magischen Untaten durch ihn Verbreitung und Nachahmung fand. Dagegen beschrieb er ausführlich Zauber zur Bekämpfung lebender Statuen, durch ein Verbindungsartefakt aufgezwungener Verwandlungen und auch, dass durch Mord und Folter ermöglichte Bilder darauf ausgingen, lebende Wesen aus der wirklichen Welt in sich einzusaugen, damit gemalte Figuren das Bild verlassen und ihr Unwesen in der wirklichen Welt treiben konnten. Damit stand für Selene fest, welchem Zweck das von Anthelias Nachfolgerin zerstörte Bild dienen sollte und dass es ganz sicher nicht das einzige war. Ihr fiel auch ein, dass Vengor versucht hatte, die Angehörigen einer bestimmten Blutlinie zu töten. Ob ihm das vollständig gelungen war wusste sie nicht. Falls doch, so könnte das ein wichtiges Ritual gewesen sein, um ein Tor zu öffnen, das sonst verschlossen bleiben musste. Manche Schwarzmagier vor Grindelwald und auch Riddle selbst hatten solche Tore geschaffen, die nur geöffnet werden konnten, wenn etwas unwiderbringliches dafür geopfert wurde, die eigene Seele, das Leben von Angehörigen oder Feinden. Ja, dafür hatte dieser selbsternannte Erbe Riddles wohl gemordet. Dann fiel ihr mit dem über mehr als ein Jahrhundert angesammelten Wissen von Austère Tourrecandide ein, dass es da wohl immer noch jenen Geist eines uralten Erzmagiers geben sollte, der in einem von diesem erschaffenen Artefakt eingeschlossen war. Adamas Silverbolt hatte mal bei einer Sitzung der Liga gegen dunkle Künste erwähnt, dass er das Versteck dieses mächtigen Geistes gefunden hatte und Vorsorge getroffen hatte, dass niemand mit dunkler Gesinnung oder belasteter Seele dorthin vordringen konnte. Außerdem hatte er alles Wissen über den genauen Standort aus seinem Gedächtnis ausgelagert, damit niemand mehr gezielt an diesen Ort gelangte. Was wenn Vengor aus anderen Quellen erfahren hatte, wo dieser Iaxathan zu finden war? Dann mochte die Auslöschung einer bestimmten Blutlinie genau das Mittel sein, um Silverbolts Vorkehrung zu überwinden. Gut, so ähnlich hatten sie schon einmal vermutet. Aber jetzt gab das mit den Bildern auch einen Sinn. Sie waren nichts weiteres, als ein groß angelegtes Ablenkungsmanöver. Wenn Pickman wirklich dahintersteckte, dann hatte der nicht nur in den vereinigten Staaten Bilder unter die Leute gebracht. So ein Ablenkungsmanöver machte nur dann einen Sinn, wenn die ganze Welt davon betroffen war. Das mochte der Grund sein, warum jene ihr nicht mit Namen bekannte "Sie" ihre ganzen Schwestern zur Krisensitzung einbestellt hatte.

Zwei stunden später war Theia wieder da. Selene begrüßte sie mit den Worten: "Und, wie viele böse Bilder sind schon aufgetaucht, Mom?"

"Aufgetaucht leider noch keines. Aber die anderen vermuten wie du, dass die Sachen, die gerade in der Welt passieren auf solche Bilder zurückgehen. In Norwegen sind skelettierte Piraten aufgetaucht, die junge Mädchen und halbwüchsige Jungen entführen. In Deutschland verschwinden in Hamburg und München Menschen. Dafür tauchen überlebensgroße Raubtiere auf, die über arglose Menschen herfallen, sie entweder töten oder verschleppen. In Schottland sind hundert Zauberer damit beschäftigt, gegen eine dunkle Kraft zu kämpfen. In Barcelona, Spanien, sind brennende Meigas aufgetaucht, deren Anwesenheit alle natürlichen Feuerquellen und jede künstliche Elektrizität erstickt. Sie entführen vor allem Mädchen so schnell, dass kein Besen hinter denen herjagen kann. Also, es ist schon einiges Los in der Welt. Ob in Australien und Japan vielleicht auch was passiert wissen wir noch nicht. Da müssen wir erst die Kontakte in die jeweiligen Zaubereiministerien kitzeln, ohne selbst dabei aufzufallen."

"Und wer hat der Hexe mit dem Feuerschwert verraten, wo eines dieser Bilder ist?" wollte Selene wissen.

"Unsere Stuhlmeisterin vermutet eine der vor Jahren von Hyneria Swordgrinder versteinerten Hexen. Wie die an diese Kenntnis gelangt ist wissen wir aber auch nicht. Möglich, dass in dem Haus, wo das Bild mit den sechsarmigen Monstern war, noch etwas anderes versteckt ist. Aber das werden uns Dimes Leute wohl nicht freiwillig erzählen, wenn sie etwas derartiges gefunden haben."

"Habt ihr auch darüber gesprochen, dass dieser Lord Vengor nach dem Versteck von Iaxathan sucht und das mit den Bildern eine reine Ablenkung von ihm sein könnte?" fragte Selene.

"Du wirst es nicht glauben, aber genau das war das erste, was unsere Stuhlmeisterin gesagt hat: "Ich fürchte, werte Schwestern, dass der irregeleitete Zauberer mit dem Kampfnamen Lord Vengor jetzt kurz vor seinem Ziel steht und deshalb jemanden beauftragt hat, ihm den Rücken freizuhalten", hat sie genauso gesagt."

"Und wollen deine Mitschwestern auch noch mal prüfen, ob Adamas Silverbolt nicht doch einen Hinweis hinterlassen hat, wo dieses Versteck ist, bevor er zu Adrian Moonriver wurde?"

"Dann sollte er sie vielleicht wieder suchen. Denn dem kann doch nicht recht sein, dass dieser Dunkelkristallabhängige dort hingelangt und nachholt, was der selbsternannte Spiegelknecht nicht erreicht hat", schnaubte Theia Hemlock und ging noch mal ins Wohnzimmer. Selene fühlte die Wut ihrer zweiten Mutter. Diese Information hätte die ganz sicher gerne zwei Stunden vorher gehabt.

Nach fünf Minuten Kontaktfeuergespräch kam Theia zurück und sagte: "Das hat Adrians Ziehmutter schon versucht, an diese Erinnerungen zu kommen. Aber der kleine Adrian ist gut gegen geistige Zugriffsversuche abgeschirmt und konnte schon als Säugling gut okklumentieren. Aber vielleicht möchte er doch mithelfen, diesem Chaos Einhalt zu gebieten, bevor es Überhand nimmt."

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Es begann mit einem leisen Grummeln. Viele hielten es für eines der vielen leichten Erdbeben, die hier in Tokio an der Tagesordnung waren. Dann knirschte es laut im Mauerwerk des großen Hauses von Yamamoto. Risse bildeten sich in den Wänden. Die mehrere Zentimeter dicken Panzerglasfensterscheiben vibrierten leicht singend. Dann bebte das Gebäude sichtbar. Die Risse im Mauerwerk verbreiterten sich zusehens. Dann brachen die ersten Dachzigel ab und fielen zu Boden, auf dem sie laut krachend zersprangen. Nun konnten die nur wenige Dutzend Meter entfernt wohnenden Nachbarn den violetten Feuerschein sehen, der hinter einem der Fenster auftauchte. Unvermittelt zerfielen die von außen sichtbaren Möbel in hellen Flammen. Währenddessen wankte und schwankte das Haus. im Umkreis von hundert Metern liefen die Bebenwellen durch den Boden. Die den hervorragend gestalteten Garten aufwühlten und die vielen Zierpflanzen aus ihren Beeten herausschüttelten. Dann, mit einem lauten Getöse, brach das eigentlich erdbebensicher gebaute Haus Yamamotos in sich zusammen. Dabei schlugen weitere violette Flammen aus den zerberstenden Mauern. Die Sicherheitstüren und Fenster krachten auf den nun selbst von Rissen durchzogenen Boden. Eine gewaltige, von violettem Qualm durchsetzte Staubwolke breitete sich in alle Richtungen aus. Dieses örtlich begrenzte Ereignis wurde von mehreren Überwachungskameras aufgenommen. Außerdem schlugen auf schwere Beben eingestellte Warnvorrichtungen Alarm. Doch die unsichtbaren Wellen, die bei den Beben und den Feuererscheinungen in alle Richtungen davonjagten konnten nur bestimmte Vorrichtungen erfassen und zuordnen, Vorrichtungen, die gesondert auf elementare Zauberkräfte ansprachen. So begann ein Wettlauf zwischen Sicherheitstruppen der nichtmagischen Stadtverwaltung Tokios und den "Händen Amaterasus", wie in Japan die magischen Kämpfer gegen dunkles Zauberwerk genannt wurden. Doch das störte die sieben sich durch die Trümmer brennenden und fressenden kleinen Ungeheuer nicht. Sie wollten nur noch in die Freiheit hinaus, weiterfressen, um weiterzuwachsen. Die Bewohner des Hauses hatten sie schon vertilgt und in einen gehörigen Wachstumsschub umgesetzt. Doch sie wurden von ihrem Urtrieb vorangepeitscht, immer größer zu werden, bis sie selbst so groß waren, dass sie Junge kriegen konnten. Ihr Schöpfer hatte sie so gemalt, dass sie zwar mit der üblichen Geschwindigkeit ihrer natürlichen Artgenossen liefen, fraßen oder irgendwann auch flogen. Doch er hatte ihre Wachstumsgeschwindigkeit auf das tausendfache gesteigert. Bekamen sie genug zu fressen waren sie nach nur fünfzig Tagen ausgewachsen. Dann würde es mehr von ihnen geben, immer mehr. Sie witterten Körper aus Fleisch und Blut, sowie den Duft von Seelen lebendiger Wesen. Die wollten und würden sie fressen.

Nach nur einer halben Minute waren die vier ersten Jungdrachen bereits aus dem Trümmerberg heraus und liefen durch die Gärten auf die nächsten Häuser zu. Im Moment war dort keiner, weil es noch nicht Feierabend war. Deshalb brannten die freigekommenen Drachenjungen die Häuser aus Wut an. Ihre Flammenstöße zerschmolzen die Mauern. Dann brannte das Feuer weiter, als wenn die Mauern aus Papier gemacht wären. innerhalb von Sekunden gingen so drei Häuser in violetten Flammen auf.

Einer der jungen Drachen brannte und wühlte sich durch den Boden, ließ hinter sich immer Erdreich nachrutschen. Dabei fraß er alles, was im Boden kreuchte. Als er auf ein dickes Rohr aus Kunststoff stieß, dass er mit seinen noch geringen kräften nicht aus dem Weg biegen konnte, blies er seinen violetten Flammenstrahl dagegen. Das Rohr und das darüberliegende Erdreich zerschmolzen. Sofort fauchte es laut aus dem zerstörten Rohr. Der junge Drache roch den unter Druck stehenden Brodem, erkannte ihn als Artverwandten vulkanischer Austrittsgase und blies sein Feuer hinein. Mit lautem Knall und einer mehrere Manneslängen nach oben gereckten Flammensäule brannte das Gas weiter ab. Der Drache wurde durch die unterirdische Sprengwirkung zwei Meter zurückgeworfen. Doch dann durchdrang er mühelos die brennende Gasfontäne und wühlte sich weiter durch den Boden, um bald den ersten Menschen außerhalb des Yamamoto-Hauses zu erreichen.

Die wild tosende Flammensäule überlagerte das mehrfache Ploppen, mit dem fünf Männer in gelben Anzügen ähnlich wie die von Karatekämpfern vor dem knarzend und knirschend zusammensackenden Trümmerberg des einst so prachtvollen Yamamoto-Hauses erschienen. Sie trugen mit altjapanischen Schriftzeichen bestickte Kopfbedeckungen, an deren Vorderseite eine rote Sonne stand, bei der sechs der zwanzig Strahlen wie schlanke Arme mit langfingrigen Händen gestaltet waren. Ihr Truppenführer hielt seinen Zauberstab aus Kirschbaumholz wie eine Wünschelrute vor sich und summte leise Zaubersprüche, die auf die Urgötter selbst zurückgehen sollten. Die durch den Ausbruch der sieben Drachen entstandenen Wellen aus Zauberkraft hatten Takayama und seine vier Mitarbeiter zu diesem Ort gerufen. Wenn irgendwo im japanischen Kaiserreich Magie entfesselt wurde, die stärker war als die, die einen Raum von nur zwei mal zwei mal zwei Manneslängen ausfüllte, war dies eine Angelegenheit für den hochehrenwerten Bund der "Hände Amaterasus". Takayama war Spezialist für magisch erzeugte Feuer, Fluten, Stürme und Beben, während sein Mitarbeiter Kobayashi sich mit magischen Wesen auskannte. Die drei anderen waren Großmeister in der Wirkung und Aufhebung bösartiger Zauber. Takayama fühlte das leichte Zittern im hinteren Ende seines auspendelnden Zauberstabes. Die drei in violettem Feuer niederbrennenden Häuser. Er stellte sofort fest, dass die Flammen Magie verströmten. Da rief Kobayashi: "Hier gibt es Drachen, Meister, aber wohl noch ganz junge!" Takayama wirbelte herum und hielt seinen Zauberstab in Kampfhaltung. Er fragte seinen Mitarbeiter, wo das Drachennest war. Dann sah er es selbst. Unvermittelt brach vor ihm wie ein stummelfüßiger Regenwurm etwas aus dem Boden und riss das Maul auf. Nur seinen ständig in Übung gehaltenen Kampfreflexen verdankte Takayama, dass das wie mit Dolchspitzen bezahnte Maul des vor ihm aufgetauchten Drachens nicht seinen Fuß zu fassen bekam. Ein enttäuschtes Schnarren klang vom Boden her. Dann setzte der gerade einen Arm lange Jungdrache mit Hilfe seines nackten Schwanzes zum Sprung an. Takayama ließ sofort eine bläulich flimmernde Wand aus verdichtetem, eiskaltem Nebeldunst zwischen sich und das junge Ungeheuer auftauchen. Dass dafür der Druck in allen Wasserleitungen im Umkreis von hundert Schritten auf die Hälfte abfiel bekam Takayama nicht mit und hätte sich auch nicht dafür interessiert. Jedenfalls hörte er das schmerzgepeinigte Quieken des gerade für ihn nicht sichtbaren Drachens. Der eisige Nebel der Undurchdringlichkeit hatte den direkten Angriff auf Takayama vereitelt.

"Er wird wieder von unten durchbrechen, Meister Takayama!" rief Kobayashi, der gerade erfasste, wie viele Drachen noch in hundert Schritten Umkreis zu finden waren. Da schlugen gerade Flammen aus einem weiteren Haus heraus.

"Betäuben und erstarren lassen!" rief Takayama. Da fühlte er, wie ihm schwindelig wurde. Er sah sich um, woher das kommen mochte und erkannte die lodernde Gasfontäne. Sie leuchtete in einem Blau, durchsetzt mit violetten Blitzen. Da begriff er. Das abbrennende Gas entzog der Umgebung nicht nur Sauerstoff, sondern auch magische Kraft. Als Takayama das erkannte fühlte er schon, wie seine Beine nachgaben. Auch sah er, wie der von ihm gerufene Nebelwall lichter wurde und sich mit eiskalten Dunstfetzen über ihn gleitend langsam auflöste. Da begriff er, was los war.

"Rückzug auf zweihundert Schritte. Das Feuer saugt Magie auf!" rief er seinen Leuten noch zu, die gerade versuchten, den aus dem brennenden Haus hervorspringenden Drachen mit Netzen aus grünem Licht oder sonnengelben Blitzen zu treffen. Da begannen die anderen auch zu taumeln. Einer schaffte es nicht mehr, dem zuschnappenden Maul des auf ihn wie eine angreifende Viper zuschnellenden Drachens zu entgehen. Das kleine Ungeheuer verbiss sich sofort im Bein des Zauberers. Auch Takayama fühlte, wie die Flammen ihm die Kraft raubten, da sein Körper von Magie durchflossen wurde. Dann sah er den vorhin zurückgetriebenen Drachen wieder auf ihn zukriechen und stieß noch zwei Zauberwörter aus, die jedes Lebewesen in Ausrichtung auf der Stelle zu Eis gefroren. Der junge Drache glomm von innen her blau auf und erstarrte. Doch er wurde kein Eisblock, sondern blieb sichtbar zitternd am Boden liegen. Takayama fühlte, wie seine Beine nachgaben. Doch er kämpfte mit seinem eisernen Willen dagegen an. Der Körper unterstand dem Geist. Und Takayamas Geist war stark. Er konzentrierte sich auf seinen Mitarbeiter, der von dem Drachen angegriffen worden war und wäre fast vor Schreck umgefallen. Das kleine Ungeheuer hatte sich bereits bis zur Hüfte des Zauberers hinaufgefressen. Dieser verspürte offenbar keine Schmerzen. Die Zauberflüche der Kollegen prallten von dem gefährlichen Jungtier ab wie Sonnenstrahlen vom Spiegel. Und so trafen die eigentlich lähmenden Zauber die zwei anderen Mitstreiter. Hätten sie nicht goldene Amulette mit mehreren Schildzaubern getragen, so wären sie unter ihrer eigenen Magie umgefallen. Doch die nun zu grünen und blauen Blitzen zerfasernden Rückpraller knisterten unschädlich für Mensch und Gegner. Takayama versuchte noch mal den Vereisungszauber, als er mit Entsetzen feststellte, dass der ein wenig größer gewordene Drache sich blitzartig in den Leib seines Kollegen hineinfraß. Immer noch fühlte dieser wohl keine Schmerzen. Er blickte weltentrückt, ja wie im Opiumrausch nach vorne. Takayama fühlte den ihn schwächenden Sog wieder, der von der brennenden Gassäule ausging. Er wusste, dass er dem Mitarbeiter nicht mehr helfen konnte. Takayama strauchelte. Dann sah er den ihn bedrängenden Drachen wieder zum viperngleichen Sprung ansetzen. Er disapparierte. Auch seine noch unverletzten Kollegen zogen sich auf diese Weise zurück.

"Da sind noch fünf weitere. Aber die graben sich nach unten. Offenbar suchen die unter der Erde nach Beute", sagte Kobayashi, bevor er ernst dreinschaute. "Frisch geschlüpfte Götterdrachen. Wer ihnen schon zur Beute gefallen ist ist nicht zu retten. Das in den Zähnen enthaltene Gift wirkt Körper und Seele zersetzend. Kazeyama ist leider nicht mehr zu retten."

"Dann hätten wir ihm den Gnadentod geben müssen, damit diese Geschöpfe ihn nicht gänzlich verdauen können", knurrte Takayama. Dann sah er auf den Boden und vollführte einen Lotungszauber. "Da unten ist einer der Tunnel der Schienenbahnen, mit denen die Unbegüterten unter der Stadt herumfahren können. Dahin wollen sie. Wir müssen sie aufhalten."

Die verbliebenen vier Männer apparierten nach Takayamas Angaben mehrere Dutzend Meter weiter unten in einer von schwachem Notlicht beleuchteten Betonröhre. Sie konnten gerade noch einen im Tunnel dahinjagenden Zug erkennen, aus dessen Hinterteil violette Flammen schlugen. Sie waren wohl zwei Sekunden zu spät gekommen. Dann schlugen vor ihnen aus der Decke weitere violette Flammen. Takayama und Kobayashi wechselten ohne Zeitverlust über zwei Kilometer weiter nach vorne. Es galt, die lodernde Untergrundbahn aufzuhalten. Sie bauten schnell den eisigen Nebel der Undurchdringlichkeit auf. Dabei flocht Kobayashi noch einen Zauber ein, der Eisenwehr hieß und alles, in dem Eisen steckte bis auf zehnfache Armlänge von ihm fernhielt. So entstand eine dunkelgrüne Nebelwand, die innerhalb von zwei Sekunden zu einer grünlich-blau flirrenden Eiswand aushärtete. Das lag an dem hier verbauten Stahl in den Wänden und den Schienen, gegen den der Elementarzauber ankämpfte. Da kam der Untergrundzug lodernd herangebraust. Takayama und Kobayashi zogen sich noch zehn Schritte weiter zurück. Dann hörten sie, wie die sechs Wagen in voller Fahrt auf die Barriere prallten. Ein lautes Fauchen und schnauben klang von der anderen Seite der Barriere her. "Schnell, wieder nach hintenund die andere Richtung versperren!" zischte Takayama seinem Mitarbeiter zu.

So wurde keine hundert Schritte hinter dem Zug eine zweite Barriere errichtet. Doch reichte das aus? Das wütende Schnauben und Fauchen nicht mehr ganz so kleiner Drachen verhieß Unheil.

"Die Biester können alle von ihnen verbrannte genauso fressen wie lebendes Fleisch", knurrte Kobayashi. "Hätte nie gedacht, diese mächtigen Wesen in dieser Zeit noch anzutreffen. Die Götterdrachen galten als Urahnen aller Drachen."

"Mag sein, Kobayashi, aber wir müssen sie wohl töten. Denn ist es nicht auch so, dass sie zum Wachsen die Seelen von Menschen einsaugen?" fragte Takayama. Sein Mitarbeiter bejahte es abbittend dreinschauend.

Wieder an der Erdoberfläche gingen sie auf die Suche nach den drei weiteren Drachen. Einen fanden sie, den der ihren Kollegen auf dem Gewissen hatte. Das kleine Ungeheuer maß nun drei Meter und hatte keine Stummelfüße mehr. Es ging sofort auf die zwei Zauberer los, deren Magie es wohl als verlockender ansah als die lebenden Menschen im Umkreis. Kobayashi versuchte den Gesang der tiefen Besänftigung, der jedes bösartige Wesen lähmte. Doch im Rhythmus seiner Silben flackerte um den Drachen eine bläuliche Aura. Der Drache hielt auf die beiden zu. Wieder rief Takayama den eisigen Nebel der Undurchdringlichkeit auf. Doch dieser zerfloss bereits gleich nach dem Erscheinen, obwohl die ihn speisende Magie genug Wasser an den Erschaffungsort brachte. Die brennenden Häuser saugten wie die Gasfontäne Zauberkräfte ab. So blieb den beiden Mitstreitern der Hände Amaterasus nur die Flucht, gerade als der nicht mehr ganz schlupffrische Götterdrache seinen vernichtenden Flammenstoß ausspie.

Es dauerte fünf Minuten, bis Takayama und die verbliebenen Mitglieder der Einsatztruppe genug Mitkämpfer zusammenbekommen hatten. Denn in Kioto hatte ein wohlhabender Mann aus Versehen den Fluch eines dunklen Priesters aus derEdo-Zeit ausgelöst, der alle Menschen im Umkreis von tausend Schritten zu blindwütig dreinschlagenden Tobsüchtigen machte. Hassfeuer hieß dieser Fluch aus der alten Zeit und entstand, wenn einer eine davon getränkte Kerze, Fackel oder Öllampe entzündete. So musste sich Takayama mit nur zwölf Mitstreitern begnügen, um das mittlerweile von den geschlüpften Drachen durchwühlte Viertel abzuriegeln. Sie löschten die brennenden Feuer mit dem Zauber "Wasser der Dunkelheit", an und für sich auch ein bösartiger Zauber, der pechschwarze Wasserstrahlen aus den Zauberstäben freisetzte, die alles was sie trafen um den hundertfachen Wert so schnell verheerten wie die gleiche Menge unbezauberten Wassers. Davon getroffene Menschen ertranken auf der Stelle. Ein Tropfen in ein Herdfeuer ließ dieses erlöschen. So kamen sie zumindest den magischen Bränden bei. Doch die mittlerweile zwischen den Nebelwänden nach oben gestiegenen Drachen jagten Menschen in vorbeifahrenden Autos oder wollten sich wieder in U-Bahn-Schächte hineinwühlen. Nur der Umstand, dass ihre Feinde auf fliegenden Besen saßen verhinderte, dass sie weitere Beute machten. Denn fliegen konnten die jungen Drachen noch nicht.

Als auch die Truppe gegen dunkle Hinterlassenschaften aus dem japanischen Zaubereiministerium eintraf war es den zwölf Händen Amaterasus wenigstens gelungen, die insgesamt sieben Drachen auf einen nicht untertunnelten Platz zusammenzutreiben. Zehn Häuser waren zwar hoffnungslos zerstört und im Boden klafften drei Krater. Doch noch waren nur hundert Menschen gestorben. Sicher, das waren hundert zu viele. Doch wenn sie dem Drachenspuk nicht bald Einhalt geboten würden es Millionen werden, und dann würde Tokio eine Stadt der brennenden Ruinen und darüber hinwegfliegenden Drachen sein.

Mühsam hielten sie den vereisenden Nebel der Undurchdringlichkeit aufrecht, als Izanami Kanisaga zusammen mit zwei Kollegen eintraf und sich nach Aussprechen der vereinbarten Losungswörter einen Überblick über die Lage verschaffte. Auch sie wusste, dass die legendären Götterdrachen vor zweitausend Jahren zuletzt gesehen worden waren. Es hieß zwar, dass der dunkle Wächter, der Hofmagier eines den dunklen Künsten verschriebenen Fürsten, ein tief im Boden gelegenes Nest von Götterdrachen gefunden und eines der in Dunkelheit und Kälte erstarrten Eier aufgetaut und ausgebrütet hatte. Doch wo dieses Nest gelegen hatte war mit dem dunklen Wächter gestorben. Womöglich hatte jemand anderes das Nest gefunden und alle verbliebenen Eier ausgebrütet. Da die Drachen genug Freiraum hatten, sich aus dem Weg zu gehen war es nicht zum bei diesen Tierwesen häufig vorkommenden Geschwisterkannibalismus gekommen.

"Könnte es auch sein, dass ein Anhänger böser Zauberkünste ein Bild von den Götterdrachen erschaffen hat, das so verflucht war, dass jeder Mensch, der es zu einer bestimmten Zeit berührte, hineingesogen und zum Opfer der Schlüpflinge wurde, bis diese groß und stark genugg waren, in der natürlichen Welt zu entstehen?" fragte Izanami ihren Vorgesetzten unterwürfig. Dieser sah sie verdutzt an, überlegte und fragte zurück: "Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?" wollte Izanamis direkter Einsatzleiter wissen.

"Ich dachte an den Tanz der tausend Farben, einen der mächtigsten dunklen Zauber aus China. Dieser beschwört aus an Wände oder auf helle Unterlagen gemalte Gestalten zu tödlichem Eigenleben. Nur ihr Beschwörer wird verschont, solange er ein Bruchstück des bemalten Stoffes bei sich trägt."

"Das wäre äußerst verheerend, wenn jemand diese Zaubermacht gerufen hätte, um die alten Götterdrachen auferstehen zu lassen. Aber dann gibt es einen Weg, ihr Treiben zu beenden, bevor sie ausgewachsen sind. Das sie beherbergende Bildnis muss gefunden und mit unabwendbarem Zerstörungszauber vernichtet werden. Aber wo ist dieses Bildnis?"

"Woher kamen die Drachen zuerst?" fragte Izanami zurück. Dann deutete ihr Vorgesetzter auf das mittlerweile flach ausgestreckte Trümmerfeld, wo das Yamamoto-Haus gestanden hatte. Izanami verstand. Sie lotete mit ihrem Zauberstab das Trümmerfeld aus und zuckte zusammen. "Ich erspüre die Quelle einer ganz dunklen Macht, die wohl immer stärker wird. Das könnte das Bildnis sein. Was erwarten Sie von mir?"

"Dringen Sie in diese Ruine ein, finden und zerstören Sie die dunkle Quelle, sofern dies noch geht!" befahl Kazeyama, der Großonkel des von einem geschlüpften Götterdrachen gefressenen Mitkämpfers von Takayama und seinen Leuten.

Izanami verbeugte sich ehrerbietig. Dann flog sie über die zwanzig Meter hohe Nebelbarriere hinweg. Die davon eingeschlossenen Drachen spien Feuer dagegen, schafften es immer wieder, kleine Risse in die wabernde Wand zu brennen. Izanami konnte sehen, dass die sieben Ungeheuer bereits doppelt so groß wie erwachsene Europäer waren. So schnell wuchsen auch Götterdrachen nicht, wusste sie. Also konnten es nur Ausgeburten einer bösartigen Phantasie sein, die durch dunkle Magie zur Wirklichkeit geworden war. Sie erkannte auch, dass die Biester stärker als der Nebel waren. Wurde dieser nicht ständig durch die nötigen Beschwörungen aufrechterhalten waren sie bald wieder frei und konnten weiter wüten, ja womöglich noch weiter wachsen, bis sie so groß, schnell und zerstörungsmächtig waren, dass sie selbst mit allen Ministeriumszauberern zugleich nicht mehr besiegt werden konnten.

Izanami stürzte sich genau über das Trümmerfeld hinunter. Dabei rief sie bereits den Effodius-Zauber aus, den sie nach ihrer langwierigen Ausbildung in den Hallen der höheren Künste in einem zweijährigen Schnellkurs europäischer Zauber erlernt hatte. Die Trümmerstücke flogen von unsichtbarer Kraft gepackt zur Seite. Ein Tunnel entstand, durch den Izanami in den noch leicht qualmenden Berg hineinflog. Ein lautes Kreischen klang hinter ihr auf. Das klang wie das Gebrüll eines wütenden Raubtiers. Da wusste sie, dass die Drachen mitbekommen hatten, was sie vorhatte. Sie würde nur diese eine Chance haben. Verfehlte sie ihr Ziel, so würde auch sie diesen Ungeheuern zum Fraß fallen.

Die von ihr bereits erfasste dunkle Aura strömte aus dem fensterlosen Keller, der größtenteils unzerstört war. Nur ausgebrannte Türöffnungen und Aschehaufen wohl einstiger Gegenstände verrieten, dass die Drachen hier gewesen waren. Diese dunkle Magie füllte den ganzen Keller aus und pulsierte wie ein unsichtbares Herz. Izanami Kanisaga griff hinter ihren Rücken. Dort hatte sie in einer Scheide aus roter Drachenhaut ihr Familienerbstück, das Katana "Blitz in der Dunkelheit", das wie sie wusste, ähnlich wirkte wie das Feuerschwert Yanxothars, welches Anthelia besaß. Ob sie auch wie ihre höchste Schwester ein bezaubertes Bild zerstören konnte würde sich gleich erweisen. Da hörte sie das wilde Fauchen und Schnauben herankommender Jungdrachen. Sie gab sich selbst nur eine Minute Zeit. Da hörte sie noch die Stimme ihres Vorgesetzten: "Vier Drachen haben eine unterirdische Elektrizitätsleitung angebissen. Sie wachsen schneller. Die Elektrizität wirkt wie ein Vergrößerungszauber!"

Zu dieser Warnung passte auch, dass das wilde Schnauben und Schnarren immer tiefer und raumfüllender Klang. Dann bewegten sich die nicht zur Seite geschafften Trümmer. "Saxunifico!" rief Izanami mit erhobenem Zauberstab. Ein grünes Leuchten brach aus ihrem Stab und hüllte den Keller ein. Knirschend und prasselnd fügten sich lose nebeneinanderliegende Steine zusammen, vereinten sich zu einem unförmigen Klumpen. Izanami dankte ihrer britischen Lehrerin Dana Witherspoon, dass sie diesen Zauber von ihr gelernt hatte. Jetzt mussten die Drachen mehr Kraft aufwenden, um zu ihr durchzubrechen.

Ihr Schwert glühte weiß auf. Das geschah, sobald es gezogen war und feindliche Ausstrahlungen witterte. Im Lichte dieses Glühens konnte sie es sehen, das große Gemälde mit dem verlassenen Nest, in dem noch rote Eierschalen herumlagen. Sie war goldrichtig angekommen. Ein lauter, wuchtiger Schlag dröhnte zu ihr herunter. Dann hörte sie ein unheilvolles Brausen. Der über ihr entstandene Steinklumpen glomm an einer Stelle leicht violett.

"Izanami, ich ersuche um höchste Eile!" hörte sie ihren Vorgesetzten auf dem Weg der fliegenden Stimme zu ihr rufen. Ihr war auch klar warum er dies verlangte. Ja, und sie stand genau richtig. Mit einigen Worten beschwor sie die ganze Kraft ihres Schwertes, mit dem sie bereits mehrere Gegner gefällt hatte, Gegner des Ministeriums und Gegner Anthelias. Das Schwert strahlte nun in greller Weißglut. Sie holte aus und schlug zu. Die leicht gebogene Klinge schnitt wahrhaftig wie ein weißer Blitz von links oben bis rechts unten durch das Bild. Draußen erklang ein langgezogener Schmerzensschrei. Dann schlug Izanami von rechts oben nach links unten. Das Gemälde glühte rot auf und erzitterte wild. Doch offenbar war es noch nicht schwer genug beschädigt. Dann dachte Izanami daran, dass ja sieben Drachen aus diesem Machwerk böser Zauberkunst hervorgekommen waren. Also hieb sie weiter auf das Bild ein. Ein Schlag von links nach Rechts durch die Mitte, einer von oben nach unten durch die Mitte. Vier Hiebe hatte sie dem Bild versetzt. Es glühte orangerot auf. Die gemalte Landschaft schien im flammenlosen Feuer zu brennen. So hieb sie noch drei mal in das Gemälde hinein. Beim letzten Streich brach über ihr der Felsen auseinander, und ein metergroßes Drachenmaul tat sich über ihr auf. Doch im selben Moment flammte das Bild in weißem Feuer auf und zerfiel innerhalb von einer Sekunde zu Asche. Das sie zu verschlingen drohende Maul erzitterte, erstrahlte für einen Moment im violetten Schein, um dann mit einem letzten, urwelthaften Schrei zu verglühen. Der Drache, der sie beinahe noch erwischt hätte, verglühte von innen her. Nur leuchtendes Gas blieb von ihm übrig.

"Glückwunsch! Sie haben es wahrhaftig geschafft, Izanami!" hörte sie ihren Vorgesetzten rufen. Izanami nickte einem unsichtbaren Gegenüber zu, sprach die Worte des Schlafes auf ihr Schwert, so dass es wieder kalt und lichtlos in ihrer Hand lag.

"Das wäre die Mutter aller Unglücke geworden, wenn diese Ungeheuer unversehrt geblieben wären", begrüßte ein sichtlich erleichterter Kazeyama seine Mitarbeiterin. Diese verbeugte sich tief und unterwürfig tuend. "Das hat niemand erwartet, dass diese Ungeheuer sich an gezähmter Elektrizität laben und davon wachsen können."

"Die Drachen offenbar auch nicht, Kazeyamasan. Denn sonst hätten sie diesen Vorteil schon gleich nach dem Schlüpfen genutzt. Dann wäre das Heer der Vernichtung nicht mehr aufzuhalten gewesen, wenn mir diese bescheidene Vermutung gestattet ist", erwiderte Izanami. Sie war froh, dass jemand, über den sie hier kein Wort verlieren durfte, ihr rechtzeitig von den zum bösen Eigenleben erwachten Zauberbildern erzählt hatte.

Der Schaden war groß. Hundert Menschen hatten sterben müssen, weil ein menschenfeindlicher Zaubermaler eine üble Schöpfung auf arglose Leute losgelassen hatte. Um die Verheerungen für die Unbegüterten zu erklären wurde vom Zaubereiministerium Japans verfügt, dass es sich um die Auswirkungen eines örtlich begrenzten Erdbebens mit großvlächiger Gasexplosion und Einsturz eines U-Bahn-Tunnels gehandelt hatte. Vom angerichteten Schaden her kam dies auch hin.

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Hironimus Pickman hörte das leise Zischen aus seinem Arbeitszimmer. Alarmiert lief er sofort dort hin und sah, wie der eiförmige Stein, der als Verbindungsstein zum Bild mit den Drachenjungen diente, wild Funken sprühend in seiner Mulde herumhüpfte. Pickman erkannte mit großem Grimm, was das hieß. Jemand hatte das Bild gefunden und griff es an. Aber dann sollten die Drachen es doch verteidigen und ... Peng! Mit lautem Knall zerplatzte der eiförmige Stein in einem weißen Lichtblitz. ein bis zur Decke aufschießender Rauchpilz verkündete das Ende eines weiteren dunklen Meisterwerkes von Hironimus Pickman. "Diese Japsen haben mein Bild zerstört. Wieso kamen die so schnell dahinter?" fluchte Pickman. Doch alles Fluchen half nichts. Zwei seiner mächtigen Zauberbilder waren in weniger als vierundzwanzig Stunden zerstört worden. Das auf mehrere Tage ausgelegte Ablenkungsmanöver für Lord Vengor drohte vorzeitig zu enden. Doch noch hatte er genug Bilder am Werk. Viele davon waren nicht so frei einsehbar aufgehängt. Doch ihm wurde klar, dass die Ministeriumszauberer und -hexen wirksame Mittel hatten, um den spukenden Bildern beizukommen. Die Frage war eben nur, wie lange sie brauchten und ob die entfesselten Verheerungen bis dahin nicht schon unumkehrbar wurden. Aber gerade auf das Nest der Götterdrachen hatte er große Hoffnungen gesetzt. Denn er hatte die Drachen so gemalt, dass sie sich auch von Blitzen ernähren konnten. Die hätten dann die künstliche Elektrizität der Muggel aufsaugen können wie labende Luft. Aber jetzt gab es sie nicht mehr. Sollte er Vengor das mitteilen, dass dieser nicht so viel Zeit hatte? Nein, er würde ihm mitteilen, dass das von ihm gegebene Versprechen eingelöst worden war. Damit würde er nicht einmal lügen.

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28. November 2002

Die Schenke zur reuigen Rotkappe war an diesem Morgen schon gut besucht. Viele durchreisende Hexen und Zauberer, sowie die in den fünf Fremdenzimmern logierenden Gäste saßen im Schankraum an den Tischen und genossen das vielfältige Frühstück. Herribert Frohwein, der bohnenstangengleiche Wirt mit der flachsblonden Haarpracht und den wie blühende Vergissmeinnicht gefärbten Augen, hatte alle seine Angestellten eingeteilt, keinen Gast länger als zwei Minuten auf eine Bestellung warten zu lassen.

Dankward Frohwein, Herriberts Sohn und irgendwann auch einmal Erbe von allem, sprach gerade mit der kleinen, kugelrunden Hella Heckendorn, die im Besenkontrollamt Sektion Norddeutschland arbeitete. Herribert stand hinter der Theke und sah dem magischen Ballett aus Geschirr, schaumigem Spülwasser und Schwämmen zu. Einen Zauber, um Geschirr und Besteck schlagartig wieder sauber zu zaubern war trotz aller Versuche bisher noch nicht bekannt. Dann hörte er die Gedankenstimme seines Sohnes: "Papa, die Hella will wissen, ob schon was wegen der Riesenwölfe von München Grünwald oder den Verschwundenen von Blankenese im Umlauf ist."

"Was für Wölfe?" gedankenfragte Herribert Frohwein zurück. Dann verließ er seinen Überwachungsposten hinter der langen, rustikalen Theke und ging möglichst ruhig wirkend zu seinem Sohn und Hella hinüber.

"Irgendwie sind sämtliche Vergissmichs und Lichtwächter seit gestern im Dauereinsatz. Bei uns oben in Hamburg verschwinden Leute aus ihren Häusern. Statt dessen tauchten frei in der Luft schwebende Riesenheie und Krakenungeheuer auf. Tja, und in München Grünwald scheint etwas dem Stadtteil seinen Namen gerecht zu werden", sagte Hella leise. "Aber psst, das habt ihr nicht von mir", fügte sie im allgemeinen Gemurmel und Besteckgeklapper hinzu. Herribert Frohwein sah die kleine runde Hexe an, von der er nicht ganz unberechtigt hoffte, dass sie seinen Sohn Dankward dazu bringen konnte, das Junggesellendasein aufzugeben.

"Ein Anschlag von diesem Vengor, der den Minister umzubringen versucht hat", vermutete Frohwein. Dann bat er, sich näheres berichten zu lassen, zumindest das, was Hella mitbekommen hatte. Sie fing damit an, dass sie zur Bereitstellung der im Endzulassungstest befindlichen Besen gebeten wurde, weil möglichst viele Einsatzkräfte fliegen mussten. Da noch keine Geheimhaltungsklassifizierung erfolgt war verriet sie, dass sie von magischen Vorkommnissen in Hamburg und München erfahren habe. Herribert Frohwein ließ sich dann im Schutz des allgemeinen Gemurmels die wenigen Hella bekannten Einzelheiten aufzählen.

"Als hätte da wer eine Art Weltentor aufgemacht, Papa. Etwas, was viele Dunkelmagier gerne immer wieder versuchen, um noch gefährlichere Ungeheuer zu uns herüber zu beschwören oder Verbindung mit den Toten zu kriegen", vermutete Dankward, der seinem Vater erstaunlich ähnelte, bis auf den kecken blonden Spitzbart und den nicht minder verwegenen Schnauzbart, während sein Vater Wert auf eine vollständige Rasur legte.

"Weltentor. Das sind aus der Muggelwelt in unsere rübergeschwappte Märchen, weil die Muggels nicht von ihrer Jenseitsvorstellung ablassen können", tat Herribert Dankwards Vermutung ab. Doch Hella sah beide mit großen Augen an. Dass sie schon dreißig war fiel nicht auf. Die meisten mochten sie für gerade achtzehn Jahre alt halten.

"Na ja, die Wissenschaftler der Muggel fabulieren von so genannten Quantenrealitäten und möglichen Paralleluniversen, also was ähnlichem, was wir mit den Raum-Zeit-Einschüben machen, um Orte wie die Blaubirnengasse zu verbergen. Aber es soll mal Magier gegeben haben, die es hinbekamen, gemalte Wesen oder Figuren aus geschriebenen Texten in die Wirklichkeit herüberzuholen, und das Traumrufsyndrom hat ja auch ähnliche Auswirkungen, wenngleich da meine Tante Irmela da mehr drüber weiß."

"Über schwarzmagische Bildzauber?" fragte Dankward verwegen grinsend. Hella funkelte ihn kurz an. Dann meinte sie verdrossen: "Neh, vom Traumrufsyndrom. Aber so ganz abwegig ist das mit dem Weltentor nicht. Wenn auf der Einen Seite Leute verschwinden und auf der anderen Seite irgendwelche Ungeheuer auftauchen könnte das ähnlich laufen wie der Raumtauschzauber, eben nur bei lebenden Wesen."

"Oder Translokalisation", warf Dankward ein. Herribert Frohwein sah seinen Sohn und seine noch sehr heimlich erhoffte zukünftige Schwiegertochter genau an. Dann sagte er: "Es gibt so viele Dinge auf der hellen und dunklen Seite der Magie, die wir Normalmenschen schwer bis gar nicht begreifen können. Wo genau in Hamburg war das mit den Riesenhaien?" wollte er dann noch wissen. Hella erwähnte es.

"Dann hoffe ich mal, dass die Leute vom gerade führungslosen Ministerium den Spuk beenden können. So ganz zufällig kam der ja wohl nicht auf." Für sich selbst dachte er jedoch, dass er sich der Sache annehmen sollte, da er als Nachfahre Ashtarias die Aufgabe hatte, dunkle Mächte zu bekämpfen und zu entkräften. Sollte das wirklich eine Art Weltentorzauber sein, so konnten die vom Ministerium das Tor vielleicht nicht mehr zuwerfen oder riskierten, die Verschwundenen für immer zu verlieren.

Die nächsten zehn Minuten meinte er, den Boden unter den Füßen immer heißer werden zu fühlen. Natürlich war das nur eine Einbildung. Aber er wurde immer unruhiger. Die ihm sonst so zuverlässig anhaftende Gelassenheit und Fröhlichkeit bröckelten langsam von ihm ab. Er fühlte sich in seinem eigenen Reich eingesperrt. Doch als die Mehrzahl der Gäste den Schankraum verlassen hatte, um den eigenen Tagesbeschäftigungen nachzugehen, winkte er Dankward zu sich:

"Danni, ich muss das rausfinden, was für eine Schurkerei da in Hamburg und München vorgeht. Am Ende kann nur ich dem Einhalt gebieten. Passt du bitte auf die Wirtschaft auf?"

"Papa, und wenn da echt wer ein Tor zu einer Monsterwelt aufgestoßen hat und Menschen gegen Bestien ausgetauscht werden? Wenn du da selbst reingeraten solltest und stirbst? Du hast mir doch die Kiste mit dem arabischen Zauberer erzählt, der von gewöhnlichen Mördern abgeknallt wurde", zischte Dankward.

"Trotzdem muss ich da hin. Wenn es echt dieser Irre ist, der sich Vengor nennt, könnte der uns alle in den Untergang reißen. Solange ich das Erbe unserer Vorväter habe muss ich dagegen kämpfen, genau wie du eines hoffentlich fernen Tages das tun wirst."

"Gut, Papa, ich pass auf, dass kein Bembel kaputt geht und die Mäuse uns nicht alles wegfressen", sagte Dankward Frohwein. Sein Vater nickte erleichtert. Dann betrat er durch die mit "Nur Personal" beschilderte Tür sein Büro. Von hier aus konnte er problemlos disapparieren.

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Auch wenn sich herausgestellt hatte, dass in anderen Städten der USA keine unheimlichen Wesen aufgetaucht waren war es um so schlimmer, dass sie die zwei verschiedenen Gruppen von Ungeheuern in New York nicht stoppen konnten. Da waren diese neuen Vampire, zu denen auch die Eltern der an Halloween verschwundenen vier Kinder gehörten. Sie bissen keine Menschen, sondern zwangen sie nur mit einem magischen Unterwerfungsblick, sie irgendwohin zu begleiten. Jeder Versuch, sie direkt oder durch Rückschaubetrachtung zu orten schlug fehl. Wenn wirklich Hironimus Pickman hinter diesen neuen Monstern steckte, so hatte der alles über Unortbarkeitszauber gelernt, was es dazu zu lernen gab.

Ebenso war es nicht möglich gewesen, die Mischwesen zwischen Mensch und Tier zu orten. Bekannt war nur, dass mittlerweile hundert Menschen aus drei Wohnvierteln verschwunden waren und in diesen Vierteln solche Hybriden aus Mensch, Schlange, Fisch oder Insekt aufgetaucht waren.

"Wenn eines oder beide Bilder bekannt sind mit Incantivacuum-Kristallen neutralisieren!" lautete Dimes Generalanweisung an seine Leute. Auch das Laveau-Institut hatte sich in die Jagd auf Pickmans Bilderwesen eingeschaltet. Dabei war herausgekommen, dass die neuartigen Vampire von den Vampirblutresonanzkristallen oder den Vampyroskopen nicht erfasst werden konnten. Es schien echt so, als wenn es sie gar nicht wirklich gab. Das brachte Sheena O'Hoolihan darauf, um ein Treffen mit dem Zaubereiminister zu bitten.

"Wie geht es Mr. Davidson, Mrs. O'Hoolihan?" eröffnete Dime die Unterredung mit einer Erkundigung.

"Die Psychomorphologen im HPK haben festgestellt, dass der Zauber, den er sich selbst auferlegt hat, langsam nachlässt. Allerdings kreisen seine Gedanken immer noch durch alle bisher gesammelten Erinnerungen und finden noch nicht zurück in das Hier und Jetzt, Herr Minister. Wir sind aber zuversichtlich, dass Mr. Davidson im kommenden Jahr auf seinen Posten zurückkehren kann. Aber ich denke, wir haben gerade drängendere Angelegenheiten zu erörtern", erwiderte Sheena O'hoolihan. Dime stimmte ihr zu.

"Wir haben versucht, einen dieser Neovampire zu fangen, als er gerade einen Schulbus mit dreißig Kindern entführen wollte. Der Homenum-Revelius-Zauber hat ihn als einen Menschen angezeigt, aber nur dann, wenn er auch im Sichtbereich des den Zauber ausführenden stand. Rein optisch war es ein im Umwandlungsvorgang stehender Vampir, der jedoch schon einen starken suggestiven Blick auf jemanden ausüben konnte. Als wir ihn festnehmen wollten verschwand er in einem blutroten Lichtblitz, nicht so wie die uns mittlerweile zu sehr vertrauten Vampire dieser schlafenden Göttin, die in einem schwarzen Strudel verschwinden können oder aus einem solchen heraus auftauchen."

"Und was schließen Ihre Leute daraus?" fragte Dime.

"Eben das, dass es sich bei den neuartigen Vampiren um nicht wirklich existierende Wesen handelt. Sie führen ein Dasein zwischen Wirklichkeit und Imagination, so unser oberster Experte für Zauberkunstgegenstände. Ihr Auftrag ist wohl, andere wirkliche Menschen, vorzugsweise ohne eigene Magie, zur Quelle ihrer Entstehung zu schaffen und sie dort zu ihresgleichen werden zu lassen."

"Öhm, dann gilt diese Einschätzung auch für die Hybridwesen, die wie nobel gekleidete Dämonen aus mitteralterlichen Höllenvorstellungen aussehen?" fragte Minister Dime. Sheena O'Hoolihan nickte sehr entschlossen. Der Minister nickte dann auch. Dann fragte er, ob man dem Spuk ein Ende machen konnte, wenn die entsprechenden Bilder, also die Quellen, mit Incantivacuum-Kristallen vernichtet wurden.

"Nur falls Sie die davon betroffenen Menschen schon für tot und unrettbar halten, Minister Dime", seufzte Sheena. "Ich weiß, wenn ein Vampir ein Vampir ist oder ein Werwolf ein Werwolf gibt es derzeit keine Möglichkeiten, diesen Zustand wieder umzukehren. Daher müssen Sie ja davon ausgehen, dass alle betroffenen Menschen tot sind. Aber wenn wir es hier ernsthaft mit einer Verschmelzung aus Wirklichkeit und magischer Imagination zu tun haben, so besteht durchaus die Möglichkeit, die Opfer aus dem Bann der dunklen Magie zu befreien, wenn die zu ihrem Schicksal führenden Zauber bekannt und durch genau darauf abgestimmte Umkehrzauber widerrufen werden können. Mr. Hammersmith arbeitet bereits daran, Pickmans Methode zu erfassen. Ich werde Sie dann umgehend informieren, wie diese zu kontern und bestenfalls umzukehren ist. Das ist der Anlass der erbetenen Unterredung mit Ihnen. Natürlich versteht es sich dann von selbst, dass wir vom LI freie Hand bei der Suche nach den Ausgeburten von Pickmans kruder Phantasie haben und deren Natur erkunden."

"Will sagen, Sie wollen mich um eine Generalerlaubnis bitten, in Ihrem Sinne handeln und wirken zu dürfen, ohne bei mir oder den zuständigen Abteilungsleitern des Zaubereiministeriums nachzufragen, ob dieser oder jener Ansatz gestattet wird oder nicht", grummelte Dime. Sheena O'Hoolihan nickte. "Dann könnte ich eine solche Erlaubnis gleich an die Spinnenhexen oder die von den schweigsamen Schwestern aussprechen, zum feuerroten Donnervogel noch mal!" blaffte Dime. "Ja, und am besten noch per Zeitung und Rundfunk Vita Magica zusichern, dass wir sie wegen der kriminellen Aktionen der letzten Monate nicht belangen werden, wenn deren Machthaber und Handlanger uns die Arbeit abnehmen, diese Brutstätten zu finden und auszulöschen, wie?"

"Ich weiß, dass Ihnen das widerstrebt, wie mir auch, Herr Minister. Aber was die Spinnenschwestern angeht wissen wir doch jetzt, dass diese sich auch ohne ministerielle Erlaubnis betätigen und das tun, was ihre Anführerin für geboten hält. Sie ist eindeutig skrupellos genug, die bereits betroffenen Menschen für unrettbar zu halten. Vielleicht denken die Leute von VM da ähnlich wie wir und möchten lieber menschliches Leben erhalten."

"Ja, von Hexen und Zauberern. Muggel können deren Anschauung nach zu Millionen verrecken oder spurlos verschwinden", stieß Dime aus.

"Ja, wenn diese Muggel dann nicht in anderer Form zurückkommen, um magische Menschen zu behelligen, sie entweder auch mit ihrem Fluch anzustecken oder zu töten", sagte Sheena O'Hoolihan. "Stellen Sie sich mal vor, jemand zündet in Manhattan eine magische Bombe, die alle im Wirkungsbereich zu Zombies oder Nachtschatten macht, und die laufen los und übertragen durch reine Berührung ihre dunkle Daseinsform auf arglose Menschen. Wie schnell kann da ein Zauberer oder eine Hexe bei sein? Nein, Vita Magica will sicher keine Gefahr für magische Menschen bestehen lassen, die noch viele kleine Hexen und Zauberer zeugen oder gebären können", bestand Sheena darauf, dass Vita Magica nichts mit Pickmans dunklen Bildnissen zu tun hatte. Das musste Dime auch einsehen. So gewährte er Sheena O'hoolihan und ihren Mitstreitern vom Laveau-Institut, unbeeinträchtigt von ministerialer Überwachung und Regulierung gegen Pickmans Gemälde zu kämpfen. Er hoffte nur, dass er diese Freigabe nicht auch Vita Magica erteilen musste.

Als er dann im Verlauf des Tages erfuhr, dass der Einsatz von Incantivacuum-Kristallen tatsächlich die von Pickmans Bildern betroffenen Menschen nur als Leichen zurückbrachte hoffte er inständig, dass es auch andere Möglichkeiten gab, diesem Spuk beizukommen. Denn hinter jedem toten Muggel standen Freunde, Verwandte, Arbeitskollegen und schlimmstenfalls eine ganze nichtmagische Öffentlichkeit, die Rechenschaft über das Verschwinden und Versterben des Betrauerten verlangte. So viele Vergissmichs hatte kein Zaubereiministerium zur Verfügung, um das lange durchzuhalten. Zumindest erkannte er nun an, warum es auch wichtig war, Computerkenntnisse zu besitzen und sich mit den frei zugänglichen wie weniger zugänglichen Bereichen des Internets auszukennen. Sollte Martha Merryweather wirklich den Arbeitgeber wechseln musste er das sicher entsprechend honorieren. Tja, er dachte halt immer noch wie ein Finanzbeamter und Buchhalter, nicht wie ein auf die Fürsorge für Menschen vereidigter Politiker.

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Albertine Steinbeißer kreiste über Hamburg Blankenese wie ein auf Beute lauernder Greifvogel. Ihre vom Ministerium erhaltenen magischen Augen suchten jedes Haus ab. Mittlerweile waren an die hundert Männer, Frauen und Kinder verschwunden. Die Vergissmichs hatten eine Menge zu tun, deren Verschwinden bis auf weiteres unter der Decke zu halten.

Nur der Umstand, dass Albertine gerade nach vorne sah, um ihr nächstes Beobachtungsobjekt anzupeilen half ihr, das durchsichtige, gallertartige Ungetüm früh genug zu sehen, das gerade durch die Luft trieb wie durch Sirup. Von dem gespenstischen Geschöpf wehten mehrere Dutzend Meter lange hauchdünne Fangarme in alle Richtungen. Albertine hatte bisher nur grüne Riesenseeigel und blaue, mehr als vier Meter große Seesterne gesehen. Die durch die Luft schwebende Riesenqualle war neu. Albertine dachte an die vielen Berichte über die Giftigkeit der Nesselfäden der an sich einfach beschaffenen Meerestiere. Deshalb musste sie sofort ihre Kollegen warnen. Das Tat sie über die in den Zaubereiministerien bewährten Vocamicus-Sprechdosen.

Unmittelbar nach ihrem Warnruf brausten gleich zehn Zauberer auf neuen Donnerkeilbesen heran und nahmen das Quallenungeheuer aufs Korn. grün-blaue Feuerbälle flogen und krachten voll in die durchsichtige, geleeartige Masse. Die Fangfäden zersprühten, und das Ungetüm glühte hell auf und verschwand von seinem Standort, um keinen Augenblick später völlig unversehrt zweihundert Meter weiter südlich aus dem Nichts aufzutauchen. Apparierfähige Riesenquallen? Albertine erkannte, dass sie es hier mit sehr heimtückischen Gegnern zu tun hatten. Das hatten sie schon erfahren müssen, als einer von Albertines Kollegen einen der Riesenhaie mit dem Todesfluch getroffen hatte und dieser darauf zu zwei artgleichen Wesen verdoppelt wurde. Allerdings konnten diesen Kreaturen die Feuer- und Wasserelementaren Zauber zumindest zusetzen, dass sie nicht weiter als einen Kilometer vom Sichtungsort fortfliegen konnten.

"Achtung, Kollegen, die Riesenqualle hat sich weiter südlich eingefunden. Macht besser den Eiszauber drauf!" sprach Albertine in die kleine Silberdose an einer Halskette.

"Das kann doch nicht angehen, dass jemand solche Monster erschaffen hat", klang es blechern aus der Dose zurück. Immerhin wirkten die auf die Qualle geschleuderten Eispfeile, sowie der von fünf Kollegen gewirkte Nebel, der von den anderen mit einem Sofortgefrierzauber durchwoben wurde. Die Qualle erstarrte und wurde zu einem gläsernen Gebilde, das wie ein Stein in die Tiefe fiel und in bunten Funken am Boden zersprühte. Albertine konnte derweil mit ihren magischen Augen einen Mann erkennen, der aus einem Haus auftauchte. Der Mann schien erst Probleme zu haben, sich auf seinen Beinen zu bewegen. Doch dann rannte er geduckt durch die üppigen Vorgärten und überkletterte wieselflink einen Zaun. Er rannte auf zwei junge Männer zu, die gerade auf ihren Fahrrädern die Straße entlangfuhren. Albertine unterdrückte den Impuls, den rennenden Mann zu stoppen. Denn sie musste ja sehen, was er vorhatte. Außerdem konnte sie eine Frau in einem großen Wagen sehen, die gerade losfuhr. "Kollegen, eine Muggelfrau im Geländewagen Marke Jeep fährt aus dem Überwachungsbereich raus. Zulassungsnummer: Hamburg Nordpol Anton zwo null drei. Kann das mal bitte wer prüfen, wem der Wagen gehört?"

"Haben wir gerade keine Zeit für, Al. Uns hängen gleich drei dieser weißen Riesenhaie am Besenschweif", schepperte es aus der silbernen Sprechdose. "Gut, dann hänge ich mich an die Frau dran. Die kam aus demselben Haus wie ein Mann, der gerade zwei Radfahrer verfolgt und ..." Albertine wollte noch was sagen, als ihr von unten etwas wie ein schmerzhafter Hitzestoß durch den Körper jagte und sie reflexartig den Besen nach oben riss. Dann sah sie unter sich einen bohnenstangengleichen Mann im blauen Umhang. Irgendwie schien die Luft um diesen für sie zu flimmern. Dann erkannte sie die Quelle dieser Erscheinung. Es war ein bläulich flirrender, fünfzackiger Stern aus Silber, den der andere unter seiner Kleidung trug. Doch warum hatte dessen Kraft sie hier, in hundert Meter Höhe, so eindeutig zurückgeworfen? Das konnte nur heißen, dass dessen Träger alles abwehrte, was zumindest einmal mit dunkler Magie gewirkt hatte. Albertine fühlte auch gegen alle bisherigen Erfahrungen mit ihren neuen Augen, wie diese vibrierten und ihr leichte Kopfschmerzen machten, wenn sie den anderen ansah. Dann konnte sie auch das Gesicht des Mannes sehen und erkannte ihn. Jetzt wusste sie, warum sie früher in der Schenke zur reuigen Rotkappe in Frankfurt immer das Gefühl hatte, von unsichtbaren Nadeln gepiesackt zu werden, lange bevor sie ihre neuen Augen bekommen hatte, aber da schon im Auftrag der entschlossenen Schwestern mehrere Feinde getötet hatte. Also gehörte auch Herribert Frohwein zu jenen, von denen Anthelia erzählt hatte, den Kindern Ashtarias.

Um nicht unnötig die Kollegen drauf zu bringen, was sie gerade so unerwartet getroffen hatte sagte sie schnell, dass sie einem fliegenden Hai hatte ausweichen müssen, der aus einer offenen Garage hervorgeschossen war. Dann gab sie weiter, dass sie die Frau im Geländewagen verfolgen würde. Das tat sie dann auch und bekam mit, wie sie auf eine Gruppe Jungen und Mädchen zufuhr und dabei das Fenster herunterließ. Sie stimmte einen Gesang an, der die arglos auf dem Bürgersteig entlanglaufenden Kinder verlangsamen ließ. Albertine befand, dass sie hier nicht tatenlos zusehen wollte. Denn ihr war klar, dass diese Frau im Geländewagen dabei mithalf, dass Menschen verschwanden. Ob sie das freiwillig tat oder magisch beeinflusst war wusste sie noch nicht.

Sie flog rasend schnell auf den Wagen zu und hörte schon aus hundert Metern Entfernung ein sphärisches Lied, das auch auf sie einen gewissen Einfluss ausübte. Es war nicht auf Deutsch oder einer anderen Albertine vertrauten Sprache. Doch wie es wirkte erkannte die Hexe. Sie stemmte sich gegen die Wirkung des magischen Liedes und zielte auf die Kinder: "Sensofugato!" rief sie. Ein greller Lichtblitz und ein ohrenbetäubender Knall trafen die in Trance geratenen Kinder und warfen sie um. Die Frau im Auto schrak kurz aus ihrem magischen Gesang auf. Dann trat sie voll auf das Gaspedal und jagte den Wagen in Richtung Elbe davon. Albertine nahm sofort die Verfolgung auf. Sie musste den Wagen stoppen. Sie versuchte es mit einem Impedimenta-Zauber. Doch der prallte silbern leuchtend an der Motorhaube ab. Auch der alle beweglichen Teile blockierende Mechanetus-Zauber wirkte nicht. Irgendwie schien der Kraftwagen gegen Zauberangriffe gepanzert zu sein. Sollte sie noch den Fangnetzzauber ausprobieren?

Der Wagen brach jedoch durch das Netz, das in bläulichen Blitzen verbrannte und dröhnte auf den breiten Strom zu, dem Hamburg seinen Hafen und damit seinen Reichtum verdankte. Albertine traute sich nicht, die eindeutig von Magie durchdrungene Frau in tödliche Gefahr zu bringen. Sie mussten sie lebend fangen und verhören. Doch alle bremsenden oder den Weg versperrenden Zauber wurden abgewehrt oder durchbrochen. Albertine dachte nicht, dass die Fliehende sich selbst umbringen wollte. Doch welchen Grund hatte es, dass sie genau auf die Elbe zuraste?

"Fahrerin des Geländewagens durch Zauber unangreifbar, hätte fast Gruppe von achtjährigen Kindern durch magischen Gesang in Trance versetzt und womöglich entführt. Subjekt fährt gerade auf die Elbböschung zu. Alle Bremszauber prallen ab. Jetzt fährt sie ... in den Fluss." Albertine sah, wie der Wagen ungebremst in die Elbe hineinraste und versank. Dann konnte sie mit Hilfe ihrer vieles durchdringenden Augen sehen, wie die Fahrerin ruhig abwartete, wie ihr Kraftfahrzeug mit Wasser volllief und dann die Fahrertür aufstieß. Dabei vollzog sich mit der Frau eine Verwandlung. Ihre Beine wuchsen zusammen und formten sich zu einem blassblau geschuppten Fischschwanz. Der Oberkörper blieb jedoch der einer Frau. Die Fremde konnte sich in eine Nixe verwandeln. In dieser Gestalt schwamm sie nun tief unter Wasser dahin. Albertine konnte sie dank ihrer Augen unter Beobachtung halten und ihr auf ihrem Besen folgen.

Die wandlungsfähige Frau, die gerade als Meerfrau unterwegs war, suchte sich einen leicht zu erkletternden Bereich in der Uferböschung, nachdem sie erst einen Kilometer weit geschwommen war. Albertine folgte ihr. Als die Unbekannte aus dem Wasser hinausrobbte sah sie die über ihr fliegende Beobachterin und ließ sich blitzartig ins Wasser zurückgleiten. Sie schwamm mit kräftigen Schlägen ihrer Schwanzflosse in die Mitte des Stromes und schwamm dann in die Gegenrichtung. Albertine wusste, dass sie sie so nicht fangen konnte. Zwar konnte sie den Kopfblasenzauber. Aber unter Wasser war ihr die Unbekannte bewegungsmäßig weit überlegen. Sie musste hoffen, dass sie irgendwo wieder an Land kroch und dann womöglich wieder eine Menschenfrau wurde. Hoffentlich war sie nicht selbst gegen Fang- oder Lähmzauber immun!

Die ungleiche Verfolgungsjagd Besenreiterin gegen Meerfrau zog sich eine Viertelstunde lang hin. Dann kroch die Nixe am östlichen Elbeufer an Land. Albertine war inzwischen bis auf zwei Kilometer aufgestiegen, die für ihre neuen Augen gerade so noch überwachbare Höhe. Die Nixe blickte sich um, sah aber die Verfolgerin nicht. Da kroch sie weiter aufs Land und verharrte einige Sekunden keuchend. Dann verformte sich ihre Schwanzflosse wieder, und ihr Hinterleib spaltete sich in zwei Frauenbeine und einen weiblichen Unterleib auf. Albertine staunte, wie die Wandlungsfähige es hinbekam, bei der Rückverwandlung gleich in trockener Kleidung zu stecken, als wäre der Ausflug in die Elbe nicht passiert. Dann geschah etwas ganz anderes.

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Yandra Maruwanga hatte mit Hilfe ihrer Kette Kontakt zu lebenden Zauberern ihres Stammes erhalten, wohl auch, weil der Geist ihrer verstorbenen Urgroßmutter dies ermöglichte. Diese hatten dann über ihre Kontaktleute das sogenannte Zaubereiministerium von Australien unterrichtet. So wunderte es Yandra nicht, dass eine Viertelstunde nach ihrem Alarmruf drei weiße Männer in langen Umhängen und mit hölzernen Stäben in den Händen mit scharfem Knall aus dem Nichts heraus bei ihr erschienen. Da sie zum einen Zeugin des unheilvollen Vorgangs mit dem blauen Teufel gewesen war und zum anderen durch ihr erwachtes magisches Erbe darüber informiert werden durfte, wie es weiterging, nahmen die drei Zauberer sie durch einen viel zu engenen Durchgang zwischen zwei Standorten mit zum Tatort.

Die unmittelbar alarmierten Kampftruppler konnten in Pollards Haus nur noch die kahle Stelle finden, an der das Bild gehangen hatte. Es selbst war fort. Deshalb hatte eine größere Suche begonnen. Erst als Berichte von erst verschwundenen und dann blau leuchtenden Menschen in das Zaubereiministerium gelangt waren hatten sie einen neuen Ansatzpunkt. Yandra Maruwanga hatte sich an der Suche beteiligt, weil ihr Schutzamulett mithelfen konnte, das verfluchte Bild zu orten.

Gerade fanden sie sich von blau leuchtenden Männern und Frauen umzingelt, die nicht durch Schock- und Lähmzauber überwältigt werden konnten. Erst als Yandra Maruwanga einen alten Gesang der Ureinwohner anstimmte und ihr Schutzamulett dabei auspendeln ließ, konnten sie die offenbar beeinflussten Menschen zurücktreiben.

"Hundert Leute sind von dieser bösen Kraft betroffen", seufzte Larry Gunawarra, dessen Vater ein Zauberpriester der Anangu war. Er konnte ähnlich wie Yandra auch jene Magie verspüren, die so alt war wie die ältesten Stämme des Südkontinentes. Zusammen mit ihm und Yandra suchten auch fünf Auroren des australischen Zaubereiministeriums nach der Quelle des bösen Einflusses.

Schliesslich konnten Yandra und Larry die Quelle der dunklen Magie ausmachen und stellten fest, dass dabei wohl auch Menschenleben geopfert wurden, um dieses dämonische Bild zu erschaffen. Wallly Greenbrook, der Truppenführer, ein körperlich nicht gerade imposanter Zauberer mit dunkelbraunem Haar, fragte die zwei von Ureinwohnern abstammenden Begleiter noch einmal, ob sie sich nicht geirrt hatten. Denn irgendwie schien aus allen Richtungen der dunkle Atem böser Magie zu ihnen hinzuwehen.

"Die von dem bösen Geist beherrschten Menschen haben sein Bild und damit seine Machtquelle in dieser Höhle verborgen. Aber vorsicht. Es sind wohl noch Wächter in der Höhle", sagte Nugarra und richtete den grauen, porösen Stein noch einmal aus, der bei Anwesenheit bösartiger Zauberkraft vibrierte und zudem die Macht besaß, verborgene Feinde sichtbar zu machen, ob lebende Wesen oder Geister. Dann deutete er nach unten. "Zwanzig Manneslängen unter uns muss die Quelle der bösen Kräfte sein. Achtung!" rief er noch. Da schoss eine von blauen Flammen umkleidete Schlange aus dem Boden hervor und stürzte sich auf Yandra und die sechs Zauberer.

Greenbrook versuchte den tödlichen Fluch. Doch der ansonsten so tödliche oder zerstörerische grüne Blitz zersprühte in den blauen Flammen, die die fünf Meter lange Schlange umzüngelten, ohne dem Geschöpf selbst etwas anzuhaben. Nur auf ihren schnellen Besen konnten sie dem Angriff der Schlange entgehen. Tim Goldfield, einer der mitgeschickten Abwehrzauberer, wollte schon den grün-blauen Feuerball auf das brennende Ungeheuer werfen. Doch Greenbrook hielt ihn gerade so noch davon ab. "Bloß nicht. Wenn das Biest aus Feuer seine Kraft bezieht haben wir hier entweder ein mehr als hundert Meter langes Monster oder einen unlöschbaren Feuerteppich!" rief er. Nugarra stimmte zu und erwähnte gierige Geister, die er in den blauen Flammen zu sehen vermeinte. Sogleich begann er einen Zauber gegen böswillige Geisterwesen zu singen und hielt dabei seinen grauen Stein der Schlange entgegen. Diese fauchte so laut, dass es selbst aus hundert Metern Höhe noch bedrohlich klang. Dann erstarrte sie. Die sie umzüngelnden blauen Flammen gefroren zu unheilvoll leuchtenden Gebilden. Jetzt konnten auch die anderen verzerrte Gesichter in den Spitzen der Flammen und die Ansätze von Klauen an den Seiten erkennen. Die Schlange wurde von einer Abart des Dämonsfeuers umschlossen. Nugarra, der sein uraltes Zauberlied sang, konnte dazu gerade nichts sagen. Doch Yandra Maruwanga erkannte nun die Art dieses Schlangenzaubers. Sie flüsterte Greenbrook, auf dessen Besen sie mitflog, zu: "Der Schöpfer der Schlange hat alte Feuergeister an diese Schlange gebunden, um sie zu beschützen. Sie dürfen kein Zauberfeuer dagegen wirken. Jetzt ist auch klar, warum der grüne Todesblitz Ihres Kollegens nicht wirkt. Er erreicht die brennende Schlange nicht, und die Seelen der im Feuer gebundenen Wesen sind bereits ohne verwundbaren Körper."

"Gut, dann eben so", knurrte Greenbrook und pflückte die mitgebrachte Armbrust von seinem Rücken. Er berührte einen aus einem roten Kristall bestehenden Bolzen mit seinem Zauberstab, worauf der Bolzen aufleuchtete und vibrierte. Greenbrook legte den Bolzen auf die Armbrust und zielte auf die brennende Schlange. Dann schoss er. Kaum war der Bolzen in die blauen Flammen eingedrungen blähte sich eine silberne Lichtkugel auf, die die Schlange und die sie umkleidenden Feuerzungen vollständig einschloss. Dann fiel die Kugel ebenso plötzlich wieder in sich zusammen wie sie entstanden war und hinterließ nur einen kleinen Haufen grauer Asche. Nugarra griff sich an den Kopf und hustete.

"Mensch, Mr. Greenbrook, das hätten Sie mir vorher sagen dürfen", röchelte er. "Es hätte mir fast die Stimmbänder zerrissen, als mein Zauber mit der Entladung zusammenprallte."

"Jedenfalls wirkte mein Zauber schneller und vor allem endgültig", erwiderte Greenbrook.

"Incantivacuum-Bolzen?" fragte Goldfield seinen Truppenführer.

"Die wirksamste Form der magischen Abwehr", triumphierte Greenbrook. Dann befahl er, wieder zu landen und endlich zur Quelle der Verheerung vorzustoßen.

Devon Pollards Bild hing nun nicht mehr in einem luxuruiösen Haus, sondern in einer natürlichen Tropfsteinhöhle. Als die sieben Ausgesandten durch Ausgrabezauber und Sprengflüche in die von blauem Licht erhellte Kammer vordrangen eilten ihnen sofort mehrere Dutzend Menschen entgegen, die mit brennenden speeren bewaffnet waren. Nur Nugarras Lied gegen böse Geister trieb sie wirksam zurück. Dann standen sie vor dem Bild, auf dem wild tanzende Stammeskrieger und ihr Magier zu sehen waren, wie sie ein überlebensgroßes, blau leuchtendes Wesen mit Funken sprühenden Augen und flammenden Hörnern verehrten. Da sprang aus dem Bild heraus ein hünenhafter Mann auf Goldfield zu, der gerade noch einen Erstarrungszauber versuchte. Doch der misslang. Gleichzeitig zuckte ein dreifacher himmelblauer Blitz auf, und Nugarra brach unter einem lauten Schmerzensschrei zusammen. Dann dröhnte vom Bild her die Stimme des blauen Dämons:

"Glaubt ihr sterblichen Fleischlinge echt, ich, der Herr von Feuer, Stein und Blut, lässt sich so leicht bezwingen. So gebt mir nun eure Seelen, dass ich meine Kraft und meinen Willen weiter in die Welt hinausschicken kann!" Yandra sah, wie die gerade noch erstarrten, blau leuchtenden Menschen wieder erwachten. Sie griff nach ihrem Zauberamulett. Sofort umfloss sie eine himmelblaue Aura, die wie eine magische Rüstung wirkte. Sie fühlte auch, dass ihr Talisman sie wohl zu bereitwillig wieder von hier fortgetragen hätte. Doch diesmal wollte und musste sie hierbleiben.

Der von den drei Blitzen betäubte Nugarra wurde von zwei der Beeinflussten gepackt und in Richtung des Gemäldes gezerrt. Goldfield war ebenfalls von drei Männern überwältigt worden und wurde gnadenlos zu dem Bild mit dem blauen Dämon und seinen Anbetern hingeschleift. Greenbrook rief zum Rückzug. Seine Leute gehorchten sofort. Allerdings konnten sie sich gerade zwanzig Meter weit zurückziehen. Denn hinter ihnen tauchten weitere blau leuchtende Menschen auf. Yandra hielt ihnen ihren Talisman entgegen, worauf sie wie von einer unsichtbaren Hand gepackt und zurückgeschleudert wurden. Dann rief Greenbrook: "Achtung, ich schieße!" Alle fuhren herum und sahen, wie Greenbrook einen weiteren rot glimmenden Bolzen zwischen zwei Angreifer hindurch genau auf den blauen Dämon im Vordergrund des Bildes feuerte. Das Ungetüm lachte laut auf, weil es wohl dachte, dass ihm niemand etwas anhaben konnte. Dann schlug der Bolzen in die Leinwand ein und brachte sie zum Vibrieren. "Hinlegen!" rief Greenbrook. Allerdings wurden er und die anderen da gerade von den Feinden ergriffen, bis auf Yandra, deren Schutzamulett immer noch eine himmelblaue Schutzaura um sie verbreitete. Dann erstrahlte silbernweißes Licht in der Höhle. Es prasselte laut. Dann wurde es schlagartig dunkel. Auch Yandras Schildaura erlosch. Dennoch fühlte sie, dass hier keine böse Kraft mehr wirkte.

"Sind Sie alle wohlauf?" hörte sie nach fünf Sekunden Schweigen Greenbrooks Stimme. Einer nach dem anderen meldete sich. Nur Larry Nugarra sagte nichts. Schnell riefen sie "Alberilumos!" um an den Enden ihrer Zauberstäbe weißes Licht erstrahlen zu lassen. In diesem Licht bot sich den gerade sechs Handlungsfähigen ein schauriger Anblick.

Dort wo das Gemälde an der Wand gestanden hatte erhob sich ein Haufen aus mehr als dreißig leblosen Körpern, die wie einfach so hingeworfen durcheinanderlagen. Es waren ausnahmslos europäischstämmige Männer und Frauen. Sie trugen die übliche Kleidung der australischen Muggelwelt. Als Greenbrook seinen leuchtenden Zauberstab schwenkte, um die Umgebung genauer zu betrachten, konnte Yandra auch hinter sich und um sich herum leblose Körper erkennen. Greenbrook löschte Das Zauberstablicht und wirkte den Vivideo-Zauber, mit dem die natürliche Aura lebender Wesen als grünliches Lichtgebilde sichtbar gemacht werden konnte. Der grün-blaue Lichtkegel aus seinem Zauberstab strich über die bewegungslosen Körper, ohne sich zu die Körperformen nachzeichnenden Lichtgebilden zu verbreitern. Damit bestätigte sich leider, dass die wie unachtsam durcheinanderliegenden Menschen nicht mehr lebten. Als der Zauberlichtkegel auf Larry Nugarra traf umfloss diesen eine schwach pulsierende grüne Aura. Er lebte noch.

"Verdammt, das habe ich nicht geahnt, dass das so wirkt", seufzte Greenbrook, als auch ihm klar wurde, was hier passiert war. Zwar hatte die Incantivacuum-Entladung allen Zauber des schwarzmagischen Bildes ausgelöscht, damit aber auch alle die getötet, die bereits davon durchdrungen worden waren, ja, deren Lebenskraft in dieses Bild aufgesogen worden war und nun durch die Incantivacuum-Kraft restlos ausgelöscht worden war. Greenbrook überblickte die Ansammlung von Toten, die er gänzlich unbeabsichtigt verschuldet hatte. Dieser Anblick verdarb die Siegesfreude, ein höchstgefährliches Erzeugnis dunkler Zauberkunst unschädlich gemacht zu haben.

"Wir müssen rauskriegen, wer der Maler dieses Machwerks war und den zur Verantwortung ziehen", knurrte Greenbrook. Da deutete Yandra Maruwanga auf einen der Toten. "Das ist Devon Pollard, der Besitzer dieses Unheilsgemäldes", sagte sie.

"Wir holen die Kollegen, damit sie untersuchen, wie lange die Menschen hier schon tot sind", sagte Greenbrook sichtlich betroffen. Jeder hier konnte sich ausmalen, wie schuldig er sich fühlte, obwohl er es nur gut gemeint hatte.

"Sollen wir sie hier begraben, wenn unsere Leichenbeschauer ihre Arbeit gemacht haben?" fragte Jerimias Billington, eigentlich als Kenner von schwarzmagischen Artefakten mitgekommen.

"Jedenfalls müssen wir den Angehörigen ins Gedächtnis pflanzen, dass ihre Verwandten oder Freunde bei einer heftigen Explosion in dieser Höhle erschlagen wurden. Dazu müssen sämtliche Toten identifiziert werden", legte Greenbrook die nächsten Schritte fest. Alle stimmten ihm zu. Dann verließen sie die Höhle, in der ein grauenhaftes Bildnis vernichtet worden war und dafür alle seine Opfer als Leichname hinterlassen hatte.

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Anthelia hatte gerade von Izanami Kanisaga die Nachricht erhalten, dass sie in Tokio ein Bild des dunklen Künstlers zerstören konnte. Ihr magisches Katana war mit einer ähnlichen, wenn auch nicht so mächtigen Feuermagie aufgeladen, wie es Yanxothars Klinge war. Für das spukende Bild mit den sieben blitzartig wachsenden Götterdrachen hatte es jedoch voll und ganz gereicht.

"Es ist also nun sicher, dass Hironimus Pickman, ein versierter Zauberbildmaler und wohl nicht nur den Gerüchten nach glühender Anhänger Riddles das Chaos in die Welt schicken will", verkündete Anthelia ihren in Eile zusammengerufenen Schwestern. Auch Beth McGuire war dabei. Dass sie gerade eher mit ihrem von Vita Magica aufgedrängten Schicksal haderte war im Moment nebensächlich.

"Gehen wir davon aus, dass jener, der sich Vengor nennt, ihn irgendwie für sich verdingt hat, so musste er ihn irgendwie finden. Mir sind Zauber vertraut, namentlich bekannte Menschen zu finden, wenn sie sich nicht in diesen Zaubern entgegenwirkenden Schutzsphären einschließen. Ich kenne mindestens zwei Erkundungszauber, die Pickman nicht gelernt haben wird, da sie älter sind als die Magie der Ägypter und Inder." Alle sahen sie erwartungsvoll an. Dass Anthelia durch die Verschmelzung mit der Anderen auch das Wissen aus Atlantis in sich trug war längst bekannt. So sprach Anthelia weiter: "Ich werde an den Ort seiner Geburt reisen und dort mit einem Zauber, den nur geschlechtsreife Hexen und Zauberer wirken können, nach ihm suchen. Der Eintritt in die Welt und die ersten Lebensäußerungen eines Menschen außerhalb des Mutterleibes verbinden den Ort und ihn bis zu seinem Tode. Das wissen die Vertrauten von Erde, Wasser und Luft und auch die Folger des sogenannten reinen Lichtes und die der alles verschlingenden Dunkelheit. Die dem Feuer vertrauten beziehen sich da eher auf den großen Vater Himmelsfeuer, die Sonne, die für alle Wesen auf dieser Welt gleich ist. Finden wir also heraus, wo Pickman geboren wurde, ja womöglich noch seine lebendige Mutter. Denn wenn jene sich dem Zauber unterwirft ist die Erfolgswahrscheinlichkeit zwanzigfach so groß wie ohne sie. Ja, Schwester Beth?" Beth stand auf. Doch Anthelia bedeutete ihr, wieder Platz zu nehmen. Sie musste nicht erwähnen, dass sie Beth in ihrem besonderen Zustand körperlich schonen wollte. Beth berichtete nun:

"Hironimus Pickman wurde eine viertelstunde nach Mitternacht am sechsten August des Jahrres 1945 in Hogsmeade geboren. Seine Mutter Sheryll Pickman geborene Greenwater hegte kein Vertrauen in eine Heilerin und stand die Niederkunft mit ihm ohne heilmagische Betreuung aus. Beinahe wäre sie dabei gestorben. Doch ihr Mann Erasmus konnte sie noch vor dem Tod im Kindbett bewahren und sie gesundpflegen. Sie mussten dann 1950 umsiedeln, weil Erasmus Pickman sich mit der Familie Nitts angelegt hat. In diesem Streit drohte beinahe eine völlige Spaltung von Hogsmeade in jene, die den dunklen Künsten zugetan waren und jenen, die damit nichts zu schaffen haben wollten. Wie genau Pickmans Schulzeit in Hogwarts verlief wird gerade von den zögerlichen Schwestern in Großbritannien erforscht. Sicher ist nur, dass er damals wohl überragend in Zauberkunst, Verwandlung und Verteidigung gegen dunkle Künste gewesen ist. Der damalige Schulleiter Dipped schloss wohl nicht aus, dass Pickman eines Tages selbst als Lehrer nach Hogwarts zurückkehrte. Achso, er hat dort im Haus Slytherin gewohnt, falls wen das interessiert." Alle nickten. Natürlich war es für sie wichtig, welches Umfeld jemand hatte, der ihr Interesse auf sich zog, im guten wie im Schlechten.

"Jedenfalls verlegte er sich wohl nach Hogwarts auf magisches Kunsthandwerk und machte damit einige Galleonen. Als dann noch sein Vater bei einem Kampf mit einem walisischen Grünling starb bekamen seine Mutter und er zu gleichen Teilen eine hohe Abfindung vom Zaubereiministerium. Damit setzte er sich ab. Seine Mutter beschloss, ebenfalls das Land zu verlassen. Wo sie sich aufhält wissen die zögerlichen und entschlossenen Schwestern noch nicht. Es steht zu befürchten, dass sie ihrem Sohn oder dessen Gönner Riddle im Weg gestanden hat und eines der unerwähnt gebliebenen Opfer des Emporkömmlings geworden ist", fuhr Beth in ihrem Bericht fort.

"Was macht die anderen Schwestern so sicher, dass Sheryll Pickman nicht mehr lebt?" wollte Anthelia wissen.

"Der Umstand, dass seit dreißig Jahren nichts mehr von ihr zu hören oder zu lesen war", antwortete Beth McGuire. Dann wurde sie gefragt, wo genau Pickmans Haus gestanden hatte und ob bekannt war, ob dort noch jemand wohnte. Dazu konnte Beth nichts sagen. So meinte Anthelia, das dann eben alleine herausfinden zu müssen.

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Pickman saß wieder in jenem Raum, in dem alle Verbindungssteine ausgelegt waren. Gerade verfolgte er durch das eine Auge einer der Zyklopendrillinge mit, wie diese die sie bestürmenden Auroren aus London mit grünen Lichtstrahlen aus ihren Augen in ihren Bann schlugen und dann dazu zwangen, gegeneinander zu kämpfen. Die nun frei herumwandelnden drei Riesinnen lachten höhnisch, als sie sahen, wie sich fünfzig kampfstarke Hexen und Zauberer mit Flüchen beharkten. Sie sogen die Streukräfte der freigesetzten Zauber wie morgenfrische Luft in sich auf. Dann hörte er ein lautes Kullern. Er trennte die magische Sichtverbindung zu den drei Riesenschwestern und blickte auf seinen Tisch. Jener Stein, der mit dem Bild des blauen Teufels verbunden war, hatte seinen Lageort verändert. Er befand sich nun einen Meter weiter rechts von seinem zugewiesenen Platz. Wie war das passiert?

Pickman nahm den Stein und murmelte die Beschwörung, um durch die Augen des blauen Teufels zu sehen, der in den letzten zwei Tagen mehr als fünfzig Menschen und ihre Seelen erbeutet hatte. Doch die Worte flossen ins Leere. Er fühlte eher, dass ihm selbst Kraft abfloss, als habe er einen Selbstschwächungszauber auf sich gelegt. Doch eine Sichtverbindung zum blauen Teufel kam nicht zu Stande. Als er fast an der Grenze zur Ohnmacht den Stein von der Stirn nahm war ihm klar, was passiert war. Jemand hatte das Bild unschädlich gemacht, es entweder mit einem ihm unbekannten Bann belegt oder vernichtet, ohne den daran gekoppelten Edelstein zu zerstören. Der war nur an einen anderen Platz gesprungen. An die drei Tage hatte das Bild sein finsteres Werk verrichtet. Nur drei Tage. Aber woher hatten die Aussis gewusst, wo es zu finden war? Er hatte doch Pollard, nachdem der blaue Teufel ihn gänzlich in seinen Bann geschlagen hatte, dazu gebracht, das Bild schnellstmöglich anderswo hinzubringen, eingehüllt in Pickmans neuen Unortbarkeitszauber. Also, wie waren diese Leute doch noch hingekommen? Dem schwarzmagischen Maler wurde klar, dass sein großartiges Ablenkungsmanöver tatsächlich nicht so lange dauern würde. Er war von mehr als einem Monat ausgegangen, ja sogar von einem weltweiten Inferno, wenn seine Bilder immer mehr Einfluss bekommen hätten. Aber er gab noch nicht auf. Der Dämonenball, die Blutamme, die Zyklopendrillinge und die Bilder des Meerkönigs und des Waldkönigs würden schon bald ganze Regionen unter ihrem und damit seinem Einfluss haben.

Mit diesen Vergeltungsgedanken im Kopf nahm er die Sichtverbindung zu den Zyklopendrillingen wieder auf. er wollte sich daran ergötzen, wie die Feinde der gefräßigen Drillingsschwestern sich gegenseitig massakrierten.

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Herribert Frohwein pirschte sich gerade an einem riesigen grünen Seeigel vorbei. Die mehrere Meter langen Stacheln mit den verhängnisvollen Widerhaken an den Spitzen drohten ihm ein grausames Schicksal an, wenn er nur einen Meter zu weit vom sicheren Pfad abwich. Sein silberner Stern, das Erbstück seines Großvaters Guntram, vibrierte unter seiner Kleidung und hüllte ihn in eine silberndunstige Sphäre ein. Je näher er der Quelle der bösen Magie kam um so stärker vibrierte sein Heilsstern.

Gerade rannten zwei Männer aus dem Haus heraus und eilten auf ihn zu. Doch als sie näher als fünf Meter an ihn heran waren umfloss sie eine grünlich-blaue Aura. Die Männer erstarrten mitten in der Bewegung. Herribert Frohwein meinte, in der grünlich-blauen Aura die Umrisse von übergroßen Meermenschen mit menschlichem Oberkörper und einem Fischleib als Unterleib zu erkennen. Was war das für eine Magie? Jedenfalls war sie der Kraft des Heilssterns feindlich gesinnt. Denn der Stern glühte nun in einem ebenso grünlich-blauen Licht auf. Dieses war so stark, dass es die Kleidung des frankfurter Schankwirtes durchdrang. Er zog den Stern ganz unter der Kleidung hervor und hielt ihn den erstarrten entgegen. Diese erstrahlten nun ganz im grünlich-blauen Licht. So standen sie sich eine Weile gegenüber. Dann erkannte Frohwein, dass er besser weitergehen sollte, bevor die Kraft seines Heilssterns erschöpft war. Denn diese Macht brauchte er noch sehr dringend. So passierte er die wie drei Meter große Wassermenschen aus grünlich-blauem Zauberlicht aussehenden Fremden und lief durch die noch offene Tür in das Haus hinein, aus dem sie herausgestürmt waren.

Er hörte bereits den sphärischen Gesang von Männern und Frauen, als er erst im Flur des Hauses stand. Er fühlte, wie sich sein Talisman leicht erwärmte und ihm kraftvolle Ströme durch den Körper schickte. Da wusste er, dass der Gesang eine dunkle Zauberkraft in sich trug, die ihn wohl betören und unterwerfen sollte. Doch Frohwein widerstand diesem magischen Angriff und hielt nun entschlossen auf die Quelle des Gesanges zu.

Die Quelle befand sich in einem weiträumigen Badezimmer, das eines Königspaares würdig sein mochte. Offenbar hatte der Hausbesitzer eine Menge Geld zusammengerafft, um sich dieses Luxusbad einrichten lassen zu können.

Als Frohwein den ersten Eindruck überstanden hatte konzentrierte er sich auf ein Gemälde an der Wand. Es zeigte ein Unterwasserschloss aus Korallen, Muscheln und Steinen. Davor schwammen singende Meerfrauen und Meermänner, sowie ein alle anderen hier an Körpergröße um die Hälfte überragendes Königspaar. Da wusste er, was er vor sich hatte. Es war wahrhaftig ein magisches Weltentor, ein mit viel dunkler Zauberkraft geschaffenes Bild, dass durch Anlocken und einverleibung natürlicher Lebewesen lebendige Inhalte in die Wirklichkeit ausspeien konnte und dadurch an Macht gewann. wer sowas malte war ebenso genial wie gnadenlos grausam. Ja, und da kam einer von den Wassermenschen aus dem Bild heraus, klatschte mit seiner silber-grünen Schwanzflosse auf den Boden und wand sich wie unter starken Krämpfen. Frohwein sprang vor und drückte dem seinem Bild entschlüpften Meermenschen den Heilsstern auf den Oberkörper. Ein Grünlich-blauer Blitz zuckte auf. Der Fremde schrie auf und wurde innerhalb einer Viertelsekunde zu einem gewöhnlichen, zweibeinigen Landmenschen. Dann sank er ohnmächtig zu Boden. Da rief der gemalte König über den betörenden Gesang seiner Diener hinweg:

"Ein Feind unseres Reiches. Tötet ihn!"

Auf diesen eindeutigen Befehl hin schnellten aus dem Bildhintergrund mehrere riesenhafte Haie in den Vordergrund, um gleich darauf wie durch eine Wand brechende Angreifer auf Herribert Frohwein zuzuschnellen. Dieser warf sich reflexartig zu Boden. Um ihn herum erglühte eine goldene Aura. Die Riesenhaie schossen über ihn hinweg. Sie hatten ihn nicht erwischt und konnten ihn im Moment nicht sehen. Denn Herribert war gerade für feindliche Augen unsichtbar.

Zehn Sekunden blieb der Träger eines Heilssterns am Boden liegen. Zwei weitere Meermänner entstiegen dem Bild. Sie trugen Dreizacke aus Korallen. Doch auch die neuen Feinde konnten Herribert nicht erkennen. Sie wurden zu Landmenschen und eilten aus dem Badezimmer, dessen Tür den Durchbruch der Haie ohne Schäden überstanden hatte. Da war Herribert klar, dass diese Monster wie Geister waren, die durch feste Stoffe drangen, aber dort, wo sie zupacken wollten, sicher ganz handfeste Körper annahmen. Eine ganz gemeine Eigenschaft, die jeden unmagischen Schutz wertlos machte.

Als keine weiteren Angreifer aus dem Bild stiegen befand Herribert Frohwein, dass es nun an ihm war, in die Sphäre des Feindes einzudringen. Er sprang beinahe übergangslos auf. Das hob zwar seine Unsichtbarkeit auf, war aber jetzt auch nicht mehr so wichtig. Er rannte auf das Bild zu, während der König erneut zum Angriff rief. Er sprang vor, drückte den Stern gegen die Oberfläche und fühlte, wie er hindurchstieß. Um ihn entstand eine silberne Lichtblase, die wohl auch genug Luft zum Atmen für ihn einschloss. Er trieb nun vor dem Palast, der nun, wo er die Barriere zwischen der gemalten und der echten Welt durchstoßen hatte, als räumlich vollkommenes, imposantes Prunkgebäude vor ihm aufragte. Auch die hier anwesenden Meerleute waren nun keine flachen Abbildungen, sondern dreidimensionale Erscheinungen, bereit, ihn anzugreifen. Herribert wusste, dass er vielleicht nur wenig Zeit hatte, um der Magie in dieser Welt zu widerstehen. Also musste er hier und jetzt alles einsetzen was er aufbieten konnte. So rief er ohne weiteres Zögern die mächtige Formel, die einen silbernen Heilsstern Ashtarias zur Freisetzung seiner ganzen Kraft brachte:

"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!"

Ein vielstimmiger Aufschrei erklang, als um Herribert alles in einem erst grünlich-blauen und dann weißgoldenen Licht erstrahlte. Er fühlte sich schwerelos im Zentrum dieser Lichtexplosion treiben und hörte das wehklagende Geschrei und Gestöhn vieler Dutzend Stimmen. Dann hörte er ein dumpfes Grollen. Er fühlte, wie sein silberner Stern immer wärmer wurde und wie ein schlagendes Herz pulsierte. Dann fühlte er einen kräftigen Stoß, der ihn sich in der weißgoldenen Lichterflut überschlagen ließ. Dann sah er, wie das gleißende Licht um ihn zu einer hellen Fläche vor ihm gebündelt wurde und fühlte, wie er gegen eine Wand krachte. Das raubte ihm fast die Besinnung. Er fiel unsanft auf den gefliesten Boden und hörte um sich herum weitere Körper aufschlagen. Dann erlosch das Licht vor ihm, und er sah nur eine alte, vergilbte Leinwand, die mit kreuz und quer verlaufenden Rissen überzogen war. Dann zerfiel die Leinwand in mehrere hundert Fetzen mit ausgefransten Rändern. Der Rahmen des Bildes brach laut klackernd auseinander. Morsches Holz regnete zu Boden und zerbrach auf den Fliesen. Doch das erstaunlichste waren die mehr als fünfzig aufeinandergefallenen Körper von Menschen. Herribert hörte ein schmerzvolles Aufstöhnen und Wimmern. Die Menschen lebten noch.

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Alontrixhila fühlte, wie sie es wieder versuchten. Diese anderen Weiber wollten sie finden und dann wohl vernichten. Nur der Umstand, dass sie sich in New York in einer alten Eiche im Zentralpark versteckte und diese die suchenden Kräfte um sie herumlenkte, vereitelten es Lahilliota. Sie musste bald den Schöpfer finden und ihn in sich einkerkern, ob ihm das gefiel oder nicht. Nur so konnte sie sich ihr Bestehen erhalten. Ja, und eines Tages mochte sie stark genug sein, Lahilliota selbst zu entthronen. Wenn sie schon keine zehnte Tochter haben wollte, dann sollte sie eben nicht mehr weiterbestehen.

Sie suchte ihrerseits nach den Körperschwingungen des Schöpfers. Doch es war immer noch so wie vorher. Sie vernahm viele Echos aus allen Richtungen. Dieser Kurzlebige, der es geschafft hatte, sie zu erschaffen, verbarg sich in einem Netz aus falschen Lebenskraftschwingungen. Gut, so würde niemand ihn finden, auch nicht ihre sie ablehnenden Schwestern oder deren wiederverkörperte Mutter. Doch sie hatte geschworen, sofort dort zu sein, wo der Schöpfer war, wenn es gelang, ihn aus diesem Geflecht aus Lebensschwingungen herauszutreiben.

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Albertine wollte gerade landen, um die flüchtende Frau, die im Wasser zu einer Nixe werden konnte, endlich festzunehmen. Da erstrahlte diese aus sich heraus erst in einem grünlich-blauen Licht, um dann in einem weißgoldenen Blitz zu erglühen. Albertines Augen zitterten wild, und durch den Körper der Hexe jagte ein heißkalter Schauer und das Gefühl, hier nicht erwünscht zu sein. Dann war es auch schon wieder vorbei. Sie sah die Frau am Boden liegen, wohl ohne Bewusstsein. Denn mit dem Wärmesichtvermögen ihrer Augen konnte Albertine erkennen, dass die andere noch lebte.

So schnell sie konnte landete die Ministeriumshexe und Anhängerin Anthelias neben der Bewusstlosen. Zwei weitere Prüfzauber ergaben, dass sie im Moment nicht mit dunkler Magie behaftet war und wahrhaftig bewusstlos war. Albertine rief umgehend ihre Einsatzzentrale an und ließ einen Heiler zu ihrem jetzigen Standort kommen. Dieser stellte fest, dass die Muggelfrau nicht in einem Koma lag, sondern in einem besonders tiefen Schlaf. Doch dieser ließ gerade nach. Albertine nutzte die Konzentration des Heilers auf seine Patientin aus, um über eine bewährte Kette aus Gedankensprecherinnen ihrer eigentlichen Anführerin die Ereignisse der letzten Minuten zu übermitteln. Eine Minute später erwachte die fremde Frau aus ihrem Schlaf.

"Hallo, wo bin ich denn hier?" fragte sie. Albertine und der magische Heiler sahen sich grinsend an. Das war in 999 von 1000 Fällen die erste Frage, die ein aus tiefer Bewusstlosigkeit erwachender stellte, wenn er seinen Standort nicht erkannte.

"Sie wollten ein Bad in der Elbe nehmen, Frau ..." setzte der Heiler an.

"von Adlersdorf. Helga von Adlersdorf. Aber das ist doch völlig unmöglich. Ich bin doch gerade erst ins Bett gegangen. Wo um Himmels Willen bin ich denn hier?" erwiderte die andere.

"Welchen Tag hatten wir, als Sie sich hingelegt haben?" wollte der Heiler wissen. Die gerade erst erwachte sah ihn verdrossen an und spie aus: "Den fünfundzwanzigsten November. Verdammt, was ist passiert?"

"Abgesehen davon, dass heute schon der achtundzwanzigste ist", setzte Heiler Wiesenrain an, "haben Sie irgendwelche Erinnerungen an das, was ihnen in den letzten Tagen so passiert ist?"

"Ich will wissen, wo ich hier bin und wie zum Teufel ich hergekommen bin", schnarrte die Erwachte.

"Gut, Sie sind am östlichen Elbeufer, es ist heute der achtundzwanzigste November 2002, und Sie sind erst mit dem Auto gefahren und dann durch die Elbe geschwommen", sagte Albertine. "Und woran können Sie sich noch erinnern?" fragte Heiler Wiesenrain.

"Sie wollen mich wohl veralbern. Was für Gangster sind sie beide? Was führen Sie hier auf? Wollen Sie mir vorgaukeln, ich sei von einer Hexe mit Besen und einem Zauberer im grünen Umhang entführt worden, oder was? Das wird Ihnen auch nicht viel einbringen."

"Woran erinnern Sie sich noch?" beharrte Heiler Wiesenrain auf die erbetene Auskunft.

"Das geht Sie nichts an", schnaubte die andere und wollte aufspringen. Da wurde sie von Albertines Bewegungsbann getroffen. Wiesenrain nickte ihr zu und nutzte dann die Kunst der Legilimentik, um die letzten Erinnerungen der Muggelfrau zu erfassen. Auf diese Weise erfuhren Albertine und er, dass sie überhaupt keine Erinnerungen an die letzten drei Tage hatte. Zumindest wussten sie, wo sie wohnte. Dann versenkte der Heiler die Patientin behutsam in einen Zauberschlaf. Albertine und er apparierten dann mit der Patientin in der Nähe ihres Wohnhauses.

Sie erfuhren, dass die gefährlichen Seetiere auf einmal in einem weißgoldenen Blitz verschwunden waren und dass ein gewisser Niels von Adlersdorf in der Nähe seines Hauses ebenfalls in einem gerade ausklingenden Tiefschlaf gefunden worden war. Im Haus selbst fanden sie über fünfzig im Badezimmer liegende Menschen, die nicht wussten, wie sie dort hingekommen waren. Doch einen fanden sie nirgendwo vor: Herribert Frohwein. Da nur Albertine wusste, dass dieser hier aufgetaucht war, und weil sie mit Anthelia vereinbart hatte, nur dann auszupacken, dass er wohl ein Sohn Ashtarias war, verriet sie auch niemandem, dass wohl er den Spuk des Bildes beendet hatte.

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Herribert Frohwein setzte sich sofort ab, als er sicher war, dass die wie aus dem Nichts aufgetauchten Menschen noch lebten. Zum einen wollte er hier keinem auf die Nase binden, dass er ein Sohn Ashtarias war. Zum anderen musste er jetzt auch nach München, wo wohl noch so ein verfluchtes Bild seine böse Macht entfaltete. Er wusste aber auch, dass er mindestens einen halben Tag warten musste, um die Kraft seines Heilsterns wieder freizusetzen. Denn das magische Kleinod bezog seine Kraft nicht nur aus irgendwelchen übergeordneten Sphären der Magie, sondern auch aus der Lebenskraft seines Trägers. Also musste er sich genauso erholen wie ein lebendes Wesen.

Arglos tuend kehrte er in seine Schenke zurück und übernahm dort wieder die Versorgung der Gäste. Dass er gesehen worden war wusste er nicht. Er wusste nur, dass es wohl an ihm und den anderen Kindern Ashtarias hing, diesem Bilderspuk den Garaus zu machen, bevor dieser sich über die ganze Welt verbreitete. Da er ja jetzt alle kannte, die von der Linie Ashtarias abstammten, war es für ihn eine Kleinigkeit, mehrere Eulen zu verschicken, nach Frankreich, Israel, Großbritannien und in die Staaten. In den Briefen stand nur, dass ein hell strahlelnder Stern die dunklen Träume aus unheilvollen Bildern vertreiben konnte.

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Kingsley Shacklebolt persönlich war nach Carlisle gereist, um den dort entfachten Schrecken zu begutachten. Als er die im hellen Tageslicht umherschreitenden Riesinnen mit je einem Auge auf der Stirn sah begriff er, dass selbst ein alter Recke wie er immer noch neues Grauen zu sehen bekommen konnte. Er wusste auch sofort, wem er diese Ausgeburten des Unheils zu verdanken hatte. Als er dann sogar mitbekam, dass alle seine Leute, die näher als zehn Schritte auf die Riesinnen herankamen, von deren grünen Augen in eine Art Beserkerrausch versetzt wurden und gegeneinander kämpften musste er seine langjährigen Kampferfahrungen aufbieten, um die aufgehetzten Mitarbeiter zur Ruhe zu bringen. Deshalb konnte er nicht eingreifen, als die Zyklopinnen sich aus den aufeinander einfluchenden Leute herausfingen. Einmal meinte er, dass Harry Potter, der junge Auror, von einer dieser Kreaturen gepackt wurde. Doch dann stellte er fest, dass es Bruster Woodworth war, der ähnlich pechschwarzes Struwelhaar hatte wie der Zauberer, der die Welt von Tom Riddles Schreckensherrschaft befreit hatte. Nur einem tollkühnen Verwandlungszauber und folgendem Aufrufezauber Shacklebolts war es zu verdanken, dass Woodworth nicht im gewaltigen Maul der Riesin verschwand. Als Shacklebolt Woodworth wieder in seine natürliche Gestalt zurückverwandelt hatte apparierten beide Seit an Seit im Museum. Denn jetzt war Shacklebolt klar, dass er ein Bild suchen musste, das eine schwarzmagische Ausstrahlung besaß.

"Ui, schon heftig, Herr Minister. Bald hätte mich eine von denen zum Mittag verspachtelt", keuchte Woodworth.

"Ja, und ich fürchte, die haben schon zu viele Leute gefressen, um so stark zu werden", brummte Shacklebolt. "Aber wenn wir deren Quelle finden ist der Spuk schnell vorbei", setzte er noch mit wilder Entschlossenheit hinzu.

"Öhm, wie denn, Sir?" fragte Woodworth.

"Kriegen Sie gleich mit", kündigte Shacklebolt an und vollführte dann mit seinem Zauberstab sanfte Bewegungen, wobei er ganz leise Zauberworte murmelte. Dann drängte sein Zauberstab in eine ganz bestimmte Richtung. "Revelio Distantiam!" brummte Shacklebolt, während sein Zauberstab nun auch noch in einem grünlichen Licht flimmerte. Dann ergriff er Woodworths Hand. "Begleiten Sie mich zur Quelle des Horrors!" schnarrte Shacklebolt. Für Bruster Woodworth war das ein klarer Befehl, mit seinem obersten Dienstherren Seit an Seit zu apparieren.

Die beiden Zauberer erschienen mit lautem Knall in einem weitläufigen Kellerraum, der mit unzähligen Bildnissen wild wuchernder Schreckensphantasien geschmückt war. "Soll wohl eine Art Giftschrank sein, wo die abstoßendsten Kunstwerke eingelagert werden, damit kein unschuldiger Mensch davon schockiert werden kann", knurrte Shacklebolt. Dann sah er jenes Gemälde, auf dem eine Höhle zu sehen war, in der viele Dutzend Gebeine herumlagen. Ein Feuer brannte in dieser Höhle, ein richtiges, leuchtendes, mit sich bewegenden Flammen brennendes Feuer. "Haben wir dich!" schnaubte Shacklebolt. Er las den Titel und auch die Signatur: H. P.

"Pickman!" stieß er wie einen Fluch aus. "Also doch. Und wir alle haben wohl tief und fest geschlafen, während er irgendwelchen Muggeln seine gemalten Mörderbilder aufgeschwatzt hat, zur dreigeschwänzten Gorgone noch mal!"

"Pickman? Hironimus Pickman, Sir?"

"Eben jener", schnaubte Shacklebolt. "Aber das Bild da ist gleich Geschichte. Die Größe passt gerade so. Mindestens zwölf Meter abstand halten, Bruster!" befahl Shacklebolt. Dann rannte er vor, holte aus seinem dunkelgrünen Umhang einen rötlichen Kristall hervor und legte diesen genau unter das Bild. Dann tipte er den Kristall mit dem Zauberstab an. Von weiter draußen klang lautes Brüllen und Wutgeschrei. Doch das störte Shacklebolt nicht. Eiskalt rannte er zu Woodworth, der mehr als die befohlenen zwölf Meter zurückgewichen war. Dann entlud sich die antimagische Kraft des von Shacklebolt platzierten Kristallkörpers. Silberweißes Licht flammte auf, hüllte das Bild ein und schuf für einen winzigen Moment eine in den Raum hinein gewölbte Halbkugel aus Licht. Dann erlosch dieses auch schon wieder. Von draußen erklang ein langer Aufschrei, der wie in seine einzellaute zerrissen ausklang. Dann war es still.

Da wo das Gemälde gewesen war glitten gerade vergilbte Leinwandfetzen zu Boden, und ein wie von Millionen von Holzwürmern zerfressener Rahmen fiel in seinen Einzelteilen auf die Erde und löste sich zu schwärzlichem Staub auf. "So geht das, Mr. Pickman!" triumphierte Shacklebolt. Dann apparierte er mit seinem Mitarbeiter zurück am Ausgangsort. Doch dort wurde ihm schlagartig bewusst, zu welchem Preis er mal eben ein gefährliches Zauberbild zerstört hatte. Denn draußen lagen nicht nur ohnmächtig gewordene Hexen und Zauberer mit Fluchmarken, sondern auch die vollständig entfleischten, lose durcheinanderliegenden Knochen und Schädel von mindestens zwanzig Menschen. Offenbar waren das alles Opfer der gefräßigen Riesinnen. Woodworth starrte entsetzt auf den riesigen Knochenhaufen und sagte: "Oha, dem Club wäre ich fast beigetreten."

"Es gibt auch im magischen London genug Clubs, die es wert sind, denen beizutreten, Bruster", erwiderte Shacklebolt darauf. Dann traf er alle notwendigen Maßnahmen, um die Kollegen ins St.-Mungo-Krankenhaus bringen zu lassen und die Knochen zu untersuchen, wem sie einmal gehört hatten. Er hoffte nur, dass diesmal kein Vampirskelett dabei war.

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Pickman schrie auf, als der mit den zyklopischen Drillingen verbundene Stein ihm einen gehörigen Energiestoß durch den Kopf versetzte und dann wie von einer Schleuder geschnellt durch die Luft zu fliegen. Doch sofort war dem schwarzmagischen Malkünstler klar, was das bedeutete. Auch die Drillingsschwestern waren vom Zaubereiministerium erledigt worden. Diese Bande war ausgeschlafener als er erst gedacht hatte. Sollte er jetzt nicht besser doch Vengor informieren, dass er sein Versprechen nicht so gut halten konnte? Genauso hätte er sich aber auch fragen können, ob er lebensmüde war. Weil aber die Antwort auf diese Frage ein klares Nein war ließ er es bleiben, Vengor über die bereits erlittenen Rückschläge zu unterrichten. Er wusste nur, dass es wohl nicht die letzten waren. Das ärgerte und ängstigte ihn gleichermaßen.

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Das Haus war eigentlich schon eine Ruine. Irgendwie dachte Anthelia an Sarah Redwoods Haus. Doch Sarahs Haus war in einem wesentlich besseren Zustand als diese halb zerfallene Ruine.

Anthelia umschlich das östlich von Hogsmeade gelegene Anwesen wie eine Katze das Rattennest. Sie musste bis eine Viertelstunde nach Mitternacht warten, um ihren Zauber zu wirken. Die Tagesstunde und der genaue Ort der Geburt waren für das Lied der ersten Regungen unverzichtbar. Doch unvermittelt fühlte sie eine weitere Präsenz, die einer anderen Hexe und erkannte sie als die von Ursina Underwood, der Sprecherin der entschlossenen Schwestern Großbritanniens. Was wollte die denn hier?

Anthelia verbarg sich und ihre Lebensaura sorgfältig. Wenn es ganz drängend wurde konnte sie sogar unter die Erde tauchen. Doch das war nicht nötig. Ursina eilte in das abbruchreife Haus hinein und durchsuchte es mit einigen sehr interessanten Zaubern. Dann hatte sie wohl, was sie wollte und verschwand wieder aus dem Haus. Kaum im Freien disapparierte sie. "Soso, du hast nach verbliebenen Körperresten der Pickmans gesucht. Schlau, Lady Ursina. Aber leider nicht so wirksam wie mein Zauber", dachte Anthelia.

Als es endlich soweit war betrat sie das Haus. Sie suchte und fand ein Zimmer, das wohl mal ein Schlafzimmer gewesen war. Sie führte einige Prüfzauber durch und erkannte, dass hier wohl ein neuer Mensch das Licht der Welt erblickt hatte. Dann beschwor sie die Kräfte der Erde, um ihr mit dem Lied der ersten Regungen zu helfen, Pickmans Standort zu finden. Selbst wenn er sich in einen Unortbarkeitszauber einhüllte. Die Ströme der Erde würden ihn berühren und zu ihr zurückfließen und ihr Entfernung und Richtung zeigen. Ihr war klar, dass ihre Zauberei vielleicht von Julius Latierre oder der Abgrundstochter Ullituhilia wahrgenommen werden mochte. Doch das musste sie riskieren, um ihr Ziel zu erreichen. Im Zweifelsfall konnte sie Julius diesen Zauber auch beibringen, falls sie es nicht schon getan hatte, jene, die ihr das Vergnügen vorenthalten hatte, ihn zu einem der Erdvertrauten zu machen.

Es dauerte einige Minuten. Dann strömten an die dreißig Antwortschwingungen auf sie ein. Sie kamen aus allen Richtungen. Dreißig starke Echos trafen auf sie und verrieten ihr, dass sie aus allen Teilen der Welt zurückgeworfen worden waren. Anthelia/Naaneavargia starrte auf den Boden, der nur für sie sichtbar in grüner und roter Musterung schimmerte. Wie konnte das angehen, dass sie dreißig Antworten empfing?

Als sie noch einmal den Zauber wirkte und dasselbe Ergebnis erzielte war ihr klar, was passiert war. Pickman war ganz schlau und hatte auf eine nur ihm bekannte Weise seine Körperaura vervielfacht und sie auf lebende oder tote Ankerkörper übertragen, die nun an den vielen Orten der Welt verborgen waren, um die Suche nach ihm zu vereiteln. Wer viele Feinde hatte und keinen Fidelius-Zauber machen konnte, weil er dazu ja wem vertrauen musste oder andauernd unterwegs war, der hatte mit so einem Zauber eine geniale Absicherung, musste Anthelia neidvoll anerkennen. Mit dem Lied der ersten Regungen kam sie so nicht weiter. Falls Pickmans Mutter noch lebte mochte es klappen, die Originalaura von den Abbildern zu unterscheiden. Sollte sie jetzt nach Sheryl Pickman suchen?"

"Ein sehr interessanter Zauber, Antheelia. Aber offenbar bringt er dir genausowenig ein wie mir", hörte sie eine Frauenstimme von draußen. Sie erkannte die Stimme. Das war Ullituhilia. Anthelia verschloss ihren Geist und vollführte einen Schutzbann gegen die Kräfte der Erde. Dann trat sie hinaus.

"Ihr sucht auch nach dem Maler?" fragte sie keck, als sie der schwarzhaarigen Abgrundstochter gegenüberstand.

"Er hat was getan, das wir nicht hinnehmen dürfen, kleine Erdmagierin. Wenn wir ihn finden wird er uns helfen, diesen Fehler auszulöschen oder auf ewig in qualvoller Gefangenschaft leben, falls er nicht im Lebenskrug einer von uns landen darf."

"Was für einen Fehler hat er denn begangen, dass ihr auch böse auf ihn seid?" fragte Anthelia leise.

"Das betrifft nur uns Schwestern und unsere erhabene Mutter. Nur so viel: Wenn er auffindbar ist, steht uns besser nicht im Weg herum!"

"Ich denke, die magischen Menschen haben die älteren Rechte als ihr, Ullituhilia", sagte Anthelia. "Er muss das Unheil beenden, dass er entfesselt hat und uns erklären, wo sein wahrer Herr und Meister ist. Denn das alles tut er nur für ihn, wohl auch das, was ihr ihm vorwerft."

"Wir kriegen ihn, wenn er zu finden ist. Steh uns dabei nicht im Weg! Es wwürde deine allerletzte Stunde sein."

"Träume besser nicht von meinem Tod, Ullituhilia. Denn das wäre dein schlimmster Albtraum. Lass dir von deiner Schwester Itoluhila berichten, warum sie mich damals nicht getötet hat, als wir uns trafen. Sie weiß, dass mit meinem Tod nicht alles aus ist, sondern das wirklich schlimme nur anfängt. Tja, und Ilithula, die einzige, die das noch hätte abschwächen können, rührt sich nicht mehr. Wieso das so ist hat deine Schwester Itoluhila dir sicher nicht erzählt."

"O doch, das hat sie", schnaubte Ullituhilia. "Weil sie sich geweigert hat, Hallitti neu zu gebären, ist diese im Leibe von Ilithula gelandet und mit dieser von Julius Latierre und den Kindern Ashtarias in der Erde versenkt worden. Vielleicht gelingt es mir eines Tages, sie dort wieder hervorzuholen, jetzt, wo Errithallaia wieder aufgewacht ist. Aber vorher müssen wir Pickman finden und dazu bringen, die große Beleidigung aus der Welt zu schaffen, die er meiner Mutter angetan hat."

"Ach, hat er ein Bild gemalt, auf dem er mit deiner Mutter noch ein süßes Abgrundsmädchen zeugt?" fragte Anthelia. Zur Antwort erbebte die Erde unter ihren Füßen, und um sie herum wirbelten biolette und grüne Lichter wie ein wilder Reigen aus Irrlichtern. Ullituhilia verzog ihr Gesicht. Dann schnaubte sie: "Verlass dich nicht zu sehr auf die in dir vorhandenen Kräfte der Erde! Sie könnten unzureichend sein, wenn ich wirklich wütend werde!" Sprach's und verschwand lautlos im Nichts. Anthelia grinste. Offenbar hatte sie mit ihrer frechen Andeutung genau ins Schwarze getroffen. Dann hatten Lahilliota und ihre Töchter einen Grund, ihn zu hassen und zu jagen. Denn sowas durfte sich kein Maler herausnehmen, zumindest kein Zauberbildmaler. Und was die Originalaura Pickmans anging, so hatte Anthelia jetzt eine Idee, wie sie diese doch herausfinden konnte. Denn so mochte der zweite ihr vertraute Zauber helfen. Das Lied der klingenden Verbundenheit. Hierfür brauchte sie jedoch einen festen Körper, in dem die genaue Ausprägung von Pickmans Aura eingespeichert werden konnte. So vollführte sie erst den Prägezauber mit einem handteller großen Stein, den sie aus der Mauer herausbrach. Dann legte sie diesen an den Punkt, wo Pickman seinen ersten Atemzug getan hatte. Dann vollführte sie dreimal den Zauber Lied der ersten Regungen. Dabei flossen die zuströmenden Antworten in den Stein ein. Als dieser rot aufleuchtete nahm sie ihn auf und verbarg ihn in einer kleinen Ledertasche. Sie disapparierte unverzüglich.

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29. November 2002

Der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte, erwachte aus einem neuerlichen Traum aus dem Leben eines ihm bis vor wenigen Wochen völlig unwichtigen und unbekannten Menschen. Er hatte geträumt, wie er als gläubiger Muslim in den vereinigten Staaten in einer Schule für angehende Steuerleute dieser lauten, auf Feuerstrahlen reitenden Eisenvögel gelernt hatte, um das große Ziel zu erreichen, dem verhassten Feind, dem Wertesystem der vereinigten Staaten von Amerika, eine tiefe, seelische Wunde zu schlagen. Vengor hatte durch diesen Traum erfahren, dass der Mann, dessen Lebenskraft den Unlichtkristall miterschaffen hatte, der ihm wie ein zweites Herz im Körper pochte, wegen seiner Strenggläubigkeit auch von anderen Glaubensgenossen bemitleidet bis verachtet wurde und deshalb bis zu seiner Ausbildung zum Flugmaschinensteuermann keinerlei bleibende Liebesbeziehung begonnen hatte. Der auf Selbsttötung ausgehende Mann hoffte auf die verheißenen zweiundsiebzig Jungfrauen im Paradies, die jedem für seinen Glauben gestorbenen Märtyrer bereitstanden, um ihm bis in alle Ewigkeit zu dienen. Vengor hatte die fanatischen Gedanken des in seinem Unlichtkristall verankerten Seelenfragments geteilt. Doch nun, wo er wieder hellwach und Herr seiner ganz eigenen Gedanken war tat er diese Nachtodbelohnungsvorstellung als haarsträubenden Irrsinn ab. Niemand wusste wirklich, was hinter der letzten Schwelle lag. Daher galt es, das Leben davor zu einem eigenen Erfolg zu machen. Am Ende wurde jemand noch zu etwas, das ohne körperliche Empfindungen und Begierden existierte. Wozu dann noch irgendwelche unterwürfigen Jungfrauen und dazu noch zweiundsiebzig? Er verlachte den Glauben jener Männer, denen er selbst seine ganze Macht verdankte. Denn nur weil deren Fanatismus zum Anschlag auf das Welthandelszentrum führte, bei dem über 3000 Menschenleben ausgelöscht wurden, besaß Vengor einen ausreichend großen Unlichtkristall. Nur dieser verlieh ihm eine beinahe perfekte Unverwundbarkeit und verstärkte jeden gegen Leben oder Unversehrtheit zielenden Zauber von ihm auf ein zehnfaches, dass er mit einem einzigen Todesfluch zehn lebende Wesen in Zauberstabausrichtung töten konnte.

Woran glaubte Vengor? Er glaubte an das Recht des Magiers, alle Macht an sich zu bringen, die er erlangen konnte. Er glaubte daran, dass nur den mächtigen und begabtesten die Welt gehörte. Er hoffte auf den Ruhm, alle anderen Hexen und Zauberer seines bisherigen Lebens überflügeln und weit hinter sich zurücklassen zu können. Bisher hatte er sich tunlichst gehütet, seinen wahren Namen preiszugeben. Doch wenn er Iaxathans Wissen und damit einen Teil von dessen Macht gewonnen hatte, dann konnte er auch unter seinem wahren Namen auftreten. Doch wollte er das noch? Er vertraute nicht auf eine großzügige Belohnung nach dem Tod. Er hoffte auf eine unumschränkte, unerschütterliche Macht zu Lebzeiten, nahezu unsterblich durch den in ihm wirkenden Unlichtkristall, alle Hexen und Zauberer in die Bedeutungslosigkeit zu verdammen, die bisher als Sinnbilder für rücksichtslose Macht standen: Afranius von Augusta Trevirorum, Salazar Slytherin aus den Düstersümpfen Schottlands, Lady Medea von Rainbowlawn, Gudrun Ginstermoor aus eben demselben, Ladonna Montefiori, die italienisch-französische Dunkelmagierin des 16. Jahrhunderts, die dann von einer noch gnadenloseren entthront worden war, Sardonia vom Bitterwald. So setzte er die Reihe aller vorangegangenen Hexen und Zauberer fort, bis er bei Grindelwald, Bokanowski und schließlich Lord Voldemort anlangte. All diese auf Macht und Vorherrschaft ausgehenden Vorgänger würde er überflügeln, wenn ihm gelang, was sich nicht einmal der mächtige dunkle Lord getraut hatte, Iaxathans Wissen zu erwerben, mit diesem zu einem unschlagbaren Gespann aus lebendem Zauberer und kundigem Geist zusammenzufinden. Was wollte er dann noch mit zweiundsiebzig Jungfrauen? Sowas war doch nur was für auf ihren Körper beschränkte, in ihrer geistigen Entwicklung in den Jugendjahren steckenbleibende Muggel, die nie wirklich erfahren würden, wie sich wahre Macht über Leben und Tod anfühlte.

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Es war wie ein wildes Summen und Brummen, das Pickman umgab. Er hatte das Gefühl von tausend auf ihm landender Mücken oder Fliegen auf seiner Haut. Doch er sah kein solches Insekt. Wollte ihn da jemand in den Wahnsinn treiben? Schnell stand er von seinem Ruhelager auf und eilte in sein Arbeitszimmer, um das er vorsorglich einige starke Schutzzauber gelegt hatte. Damit verging zwar das Gefühl, von myriaden Mücken angeflogen zu werden. Doch das leise Summen umgab ihn immer noch. Es war aber auch kein Insektengesumm, wie er nun genauer erkannte. Es war vielmehr wie ständig angestrichene Saiten eines Kontrabasses. Dann fühlte er auch, dass etwas von unten durch den Fußboden in ihn einströmte und ihn von innen her im selben Schwingungsmuster vibrieren machte, in dem das ihn umklingende Gesumm lag.

"Vengor, das machst du wohl!" knurrte er und versuchte, einen Gegenzauber zu singen, der alle beeinträchtigenden Hör- und Lichteindrücke verdrängte. Dann sah er etwas, mit dem er nach dem Untergang des Meerkönigreiches schon gestern irgendwie gerechnet hatte.

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Herribert Frohwein reiste gleich am Morgen des 29. Novembers nach München Grünwald. Hier bot sich ihm ein Bild wie von einer bestürmten Festung, bei der es nicht darum ging, hineinzugelangen, sondern einen Ausfall der Besatzung unter allen Umständen zu verhindern.

Mehrere Dutzend drei Meter große Wölfe versuchten, gegen silberne Barrieren anzukämpfen. Hinter den Wölfen wuchsen stattliche Eichen aus dem aufgesprengten Asphalt heraus. Die meisten Häuser dieser eher wohlhabenden Gegend waren bereits von Wald umgeben. Kam er zu spät? Dann sah er über den Wipfeln der rasch aufwachsenden Bäume noch gewaltige Adler, groß wie junge Drachen, die darauf ausgingen, die sie bekämpfenden Hexen und Zauberer zu attackieren. Diese wehrten sich jedoch mit Netzzaubern, Blendzaubern und anderen Abschreck- oder Fangzaubern. Mittlerweile waren an die hundert Lichtwächter vor Ort und wohl ebenso viele Vergissmichs, die alle Hände voll zu tun hatten, die Anwohner zum einen in ihren Häusern zu schützen und zum anderen deren Gedächtnis zu verändern. Doch solange die unheilvolle Verwandlung dieser Gegend bestand und die überlebensgroßen Raubtiere auf Beute ausgingen war dem wohl nicht beizukommen.

Dann sah er die Hexe Albertine Steinbeißer, die anders als ihre Tante Auriga keinen Sinn für männliche Begleitung entwickelt hatte. Natürlich wusste der Wirt der reuigen Rotkappe, dass Albertine wohl eher mit Frauen das Lager teilte, wenn die das wollten und sie wohl auch deshalb von ihrer Mutter Agnes verstoßen worden war. Hatte er nicht gehört, dass sie wegen einer Sache hoch im Norden geblendet worden war und deshalb nun magische Kunstaugen trug, mit denen sie x-mal besser als vorher sehen konnte?

Womöglich sollte Albertine die Gegend beobachten. Das hieß dann aber wohl für ihn, dass sie ihn auch sah und vielleicht weitermeldete, dass ein einfacher Bembelputzer aus Frankfurt auf einem magischen Schlachtfeld aufgetaucht war. Egal! Er musste da rein und zusehen, auch diesem Spuk ein Ende zu machen, wenn das überhaupt noch ging.

Mit einer Beschwörung, die er von seinem Großvater Guntram erlernt hatte, stellte er über seinen Heilsstern eine Verbindung zu einem Ort her, an dem das Zentrum böser Kraft im Umkreis von zwei Kilometern lag. Dann disapparierte er.

Er kam mitten im Wald heraus. Um ihn erglühte eine silberne Aura. Vor sich sah er ein vornehmes Haus, das gänzlich im Schatten von gewaltigen Eichen und Buchen lag. Dann hörte er das laute Hächeln. Er fuhr herum und sah einen dieser rotbraunen Riesenwölfe auf sich zujagen. Sofort verhielt er sich ganz ruhig. Die silberne Aura um seinen Körper leuchtete nun golden. Der Wolf verhielt im Lauf und blickte sich um. Gleichzeitig vibrierte seine Nase. Hoffentlich konnte die Bestie ihn nicht wittern. Dann musste er vorher schon den Heilsstern beschwören. Tatsächlich galoppierte das riesige Raubtier nach zehn weiteren Sekunden weiter auf ihn zu. Herribert wurde klar, dass seine Duftspur weiter wehte als die schützende Aura seines Erbstückes. Doch er zögerte jetzt keinen Moment mehr. Er disapparierte, um in genau dem Haus zu landen, das er vor sich gesehen hatte. Trotzdem draußen der wildeste Urwald Europas wucherte war hier noch alles in Ordnung. Vielleicht lag es daran, dass die Bestien nur den Auftrag hatten, draußen zu jagen.

"Feind unseres Reiches. Du magst unseren Aufspürern zwar entschlüpft sein. Aber jetzt bist du in unserer Gewalt. Ergib dich mir, dem grünen König!" dröhnte eine leicht knarzig klingende Stimme aus dem Haus. "Der grüne König?" fragte Frohwein, der das leichte Mitschwingen des Heilssterns bei dieser Stimme wohl wahrgenommen hatte.

"Ich bin der Herr aller Wälder und ihrer Geschöpfe. Wer mir dient wird mächtig und allen Menschen überlegen. Wer mich bekämpft stirbt und wird zur Nahrung meines Hofstaates. Wähle also, ob du dienen oder sterben willst!"

"Dann sag mir, wo du bist!" rief Herribert zurück. Die Antwort bekam er sogleich. Der Zauberer aus der jahrtausende alten Blutlinie Ashtarias lächelte. Dann steckte er den Heilsstern erst einmal weg. Er ging durch das Haus und fand den angegebenen Raum.

Er sah das metergroße Gemälde an der Wand. Eine alle Bäume überragende Eiche mit einem Gesicht unter dem ausladenden Wipfel. Der Riesenbaum wurde von drei Wölfen umkreist. "Tritt zu mir hin und sei mit mir vereint, auf dass ich dich als meinen neuen Diener in die Menschenwelt zurückschicke!" knarzte das Gesicht der Rieseneiche. Herribert nickte und ging auf das Bild zu. Als er die gerade durchlässige Barriere mit dem Fuß berührte vibrierte sein Heilsstern. Dann übertrat er die unsichtbare Grenze zweier Welten. Unvermittelt stand er im dichten Wald, hörte die Geräusche der hier lebenden Tiere, roch den Duft von sommerlichem Waldboden. Dabei war in der wirklichen Welt Spätherbst. Dann trat er weiter vor, auf den Baum zu. Laut knarrend und ächzend wuchsen dem mehr als vierzig Meter hohen Baumungetüm mit großporiger Rinde bedeckte Hände aus dem Stamm. Den Händen folgten Arme, so dick wie die Stämme junger Bäume. "Sei mein allein!" knarzte der unheilvolle Baumriese. Da riss Herribert den Heilsstern hervor und rief dessen mächtige Anrufungsformel aus:

"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!"

Wie im Bild mit der Unterwasserlandschaft erstrahlte weißgoldenes Licht. Herribert meinte, schwerelos in einem Meer aus diesem Licht zu treiben. Er hörte ein lautes, schmerzvolles Brüllen und Knarzen, gefolgt von einem vielstimmigen Heulen von weiter fort. Er meinte, um ihn alles erbeben zu hören. Dann wurde er von einer unsichtgbaren Macht zurückgeworfen.

Als er sich wieder in der echten Welt fand war er wieder einmal nicht der einzige, den die Magie seines Heilssterns hervorgeholt hatte. Mehrere Dutzend Männer und Frauen, ja sogar fünf Säuglinge waren mit Herribert aus dem unheilvollen Reich des grünen Königs befreit worden. Um bloß keine weiteren Fragen beantworten zu müssen disapparierte er umgehend. Falls Albertine Steinbeißer seinen Besuch mitbekommen hatte und es weitermeldete, dann würde er behaupten, er sei nur wie ein Tourist nach München Grünwald gekommen, um zu sehen, worüber man sich in seiner Schenke die Mäuler zerriss.

Was nach seinem Eingreifen passierte bekam er dann auch keine halbe Stunde später im Schankraum der reuigen Rotkappe berichtet. Auf einmal hätten alle Bäume weißgolden geleuchtet, als hätte sie von unten her ein Blitz getroffen. Dann waren sie einfach zu Staub zerfallen. Die Wölfe und Greifvögel waren einfach verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Jetzt waren die vom Zaubereiministerium dabei, alle Bodenbeschädigungen zu reparieren und den Leuten was vorzugaukeln, dass in den letzten Tagen nichts außergewöhnliches passiert sei. Das war sicher schwerer als gegen die Ungeheuer des grünen Königs zu kämpfen, fand Herribert Frohwein.

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Erst war es ein waldgrünes Glimmen, um dann als weißgoldener Blitz auszuarten. Pickman sah, wie der mit dem Bild des grünen Waldkönigs verbundene Stein regelrecht implodierte. Dann war er einfach nicht mehr da.

"Verflucht, wer immer das ist, der so mit meinen Bildern umspringt. Ich kriege das raus, und dann werde ich ihm das Lebenslicht ausblasen", schimpfte der schwarzmagische Maler. Wenn das wer von einem Ministerium war würde der seine Dienste auch anderen anbieten.

Was Pickman jedoch immer noch Sorgen machte war das nicht nachlassende Gesumm und Gebrumm um ihn herum. Dann kam da noch ein Geräusch wie an- und abschwellende Wellen aus tiefen Tönen hinzu, die mal von vorne, mal von rechts, von hinten oder von links klangen. Was war das für ein verdammter Zauber? Wurde er angegriffen, oder suchte da jemand nach ihm. Dann biss er sich aber an den vielen Nachbildungen seiner eigenen Aura die Zähne aus.

Auf einer dieser Tonwellen flutete ihm eine Frauenstimme in den Kopf, die er zu gut kannte: "Ich finde dich, Hironimus Pickman. Ich bin bald bei dir, um mich für meine Erzeugung zu bedanken", klang die Stimme. Pickman hoffte, dass er sich diese Botschaft nur eingebildet hatte. Sie konnte doch nicht mehr leben. Er hatte ihr Bild und damit sie selbst vernichtet.

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Maria Valdez erfuhr am Nachmittag des 29. Novembers von den bezauberten Bildern und auch, dass sie wohl mithelfen konnte, sie zu vernichten. Zusammen mit ihrer Gönnerin Almadora Fuentes Celestes reiste sie deshalb per Portschlüssel nach New York. Dort wusste man ja, dass sie eine Tochter aus Ashtarias Linie war. Sie bot an, die nach den wiedergekehrten Kindern aufgetauchten Vampirartigen zu suchen. Mittlerweile waren sich alle einig, dass diese ebenfalls auf ein schwarzmagisch erzeugtes Gemälde zurückgingen. Gelang es ihr, dieses zu finden, konnte sie wohl mit der Kraft ihres Erbstückes, das für sie ein silbernes Kreuz an einer Kette war, die gesamte Kraft des Bildes ins Gute umpolen und alle davon betroffenen Menschen befreien.

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Die Nacht war ihr Reich, ihre Kraft und ihre Herrlichkeit. Lautlos und schnell jagten sie über das Land. Die einen glitten wenige Finger Breit über dem Boden dahin. Andere flogen mit unhörbar schwingenden Flügeln hoch in der Luft, angeführt von einem Geschöpf, das mit seinen blau glimmenden Augen die Finsternis durchdrang und alles sah, was lebte, auch wenn es unter mehreren Stocklängen Erde und Gestein versteckt war. Es waren zweihundert dieser Kreaturen, die nicht aus Fleisch und Blut bestanden, sondern finstere Geisterwesen waren, durch bösen Zauber in der Welt gehaltene, ihrem Schöpfer bedingungslos unterworfene arme Seelen, die dazu getrieben wurden, lebende Wesen zu fangen oder zu töten. Wehe den lebenden, fühlenden Wesen, die ihren Weg kreuzten!

Als Akila Amahdi mitten in der Nacht von einem unheilvollen Gebrüll aus ihrem Schlaf gerissen wurde und das wilde Zittern ihres smaragdgrünen Halbmondsymbols an einer silbernen Kette auf dem Brustkorb fühlte wusste sie, dass etwas böses, gieriges in der Nähe war. Sofort dachte sie an die wiedererwachten Unheilsschatten von Kanoras, dem Schattenträumer. Die Hexe, die ohne Wissen ihrer Eltern, Brüder und ihres Mannes seit Jahrzehnten den Töchtern des grünen Mondes angehörte, griff ihren Zedernholzzauberstab. Da fühlte sie auch schon, wie sich ein nach Leben girendes Wesen näherte.

Unvermittelt strömte silberweißes Licht aus dem Halbmondsymbol und hüllte Akila ein. Die Macht des Mondes war mit ihr. Dann sah sie vor ihrem halboffenen Fenster die nachtschwarze Gestalt eines Mannes dahingleiten. Sie eilte so leise sie konnte zum Fenster hin. Ja, der unheilvolle Schatten verhielt in seiner Vorwärtsbewegung. Dann wandte er sich um und jagte nun schnell wie ein abgeschossener Pfeil auf Akilas Haus am Rande des kleinen Dorfes westlich von Marakesch zu. Akila sah die zwei eisblauen, eiskalt leuchtenden Lichter und wusste, dass dies die Augen des Unheimlichen waren. Dann fühlte sie noch zwei gierige Wesen, die aus anderen Richtungen auf sie zujagten.

Als der genau auf sie zurasende Schatten nur noch zehn Schritte entfernt war stieß Akila ein dreisilbiges Zauberwort aus dem alten Ägypten aus. Leise prasselnd fegten grelle weiße Blitze aus ihrem Zauberstab und trafen den Schatten. Dieser glomm nun ganz im blauen Licht und bebte heftig. Sie hörte ein leises Stöhnen. Sie hhielt sich nicht mit einer längeren Beobachtung auf und richtete den immer noch blitzenden Zauberstab nach rechts oben. So erwischte sie einen weiteren Schatten, der gerade an der Hauswand herunterglitt, um sie von oben her anzugreifen. Laut und sphärenhaft aufschreiend dehnte sich da, wo der Schatten an der Wand hing blaues Licht aus, das verschwommene menschliche Umrisse zeigte. Akila schwang ihren Zauberstab nach links und erwischte noch einen Schatten, der am Boden entlangkroch. Dieser wurde von dem blauen Licht auf die Erde gedrückt. Erst jetzt flaute die unheilvolle Gier ab, die Akila von außen verspürte. Sie richtete nun den Zauberstab genau auf den Mond aus. Das sie umhüllende silberweiße Licht wurde noch heller, während aus dem Zauberstab bei jedem ihrer Herzschläge zwei Blitze in den Himmel zuckten.

"Sagt eurem Herrn Kanoras, dass seine Brut hier nicht erwünscht ist!" rief Akila den in blauem Licht gebannten Schatten zu. "Er soll wieder einschlafen und nie wieder erwachen! Das sendet ihm eine mächtige Tochter des Mondes. Und nun verschwindet!" Sie rief ein weiteres altägyptisches Zauberwort aus. Dabei schlug sie mit dem Zauberstab einen Bogen vom leuchtenden Mond zur Erde hinunter. Mit einem lauten, dreistimmigen Aufschrei vergingen die Schatten im weißblauen Licht.

Das silberne Licht, das Akila bis jetzt umstrahlt hatte erlosch in dem Moment, als die drei Schattenwesen unter dem Bann des richtenden Mondes in die Erde hineingestoßen wurden. Das zerstörte ihre sichtbare Erscheinung und schwächte ihre geisterhafte Beschaffenheit derart, dass sie in dieser Nacht nicht wieder auf Beute ausgehen konnten. Womöglich kehrten sie in Gedankenschnelle zu ihrem Herrn und Meister zurück. Akila wusste aber, dass dieser dämonischen Brut damit kein Einhalt geboten wurde. Ihr war nur wichtig, die drei ausgesandten Schatten von ihrem Haus und ihrer Familie fernzuhalten. Zumindest bekamen ihre drei Söhne und Layla, ihre kleine Tochter, nichts von ihrem nächtlichen Zauber mit. Denn in dem Moment, wo ihr Mondtalisman zu leuchten angefangen hatte waren alle, die keine Mondtöchter waren in einen tiefen Schlaf gesunken, dem Tode näher als dem Leben.

Akila Amahdi murmelte belebende Zauberformeln, wobei sie ihr Mondsymbol immer wieder auf das still und sanft leuchtende Nachtgestirn richtete. Immer wenn sie ihren Zauber geflüstert hatte ging ein warmer Kraftstrom durch den Talisman auf Akila über. Jetzt war sie wach und ausdauernd genug, weitere Angriffsversuche zu vereiteln.

Ihre Vorkehrung erwies sich als sehr umsichtig und lebensnotwendig. Denn als sie schon daran dachte, in die Küche zu gehen, um sich Tee zu kochen fühlte sie von weit oben den Ansturm gnadenloser Gier gepaart mit Rachsucht. Sofort strahlte jenes Silberlicht aus ihrem Mondsymbol wieder auf und schloss sie ein. Dann sah sie den Todesadler, den Schatten eines einstmals großen Raubvogels, der rechts neben dem Mond auftauchte und im Sturzflug auf ihr Haus niederstieß. Sie rief erneut jenes altägyptische Wort, dass die Kraft von Mond, Himmel und Erde entfesselte und beschwor erneut weißglühende Blitze herauf. Der Todesadler wich zwar den ersten Lichtentladungen aus. Doch dann wurde er getroffen und erstrahlte im blauen Licht. Diesmal beließ es Akila nicht dabei, das Schattenwesen zu bannen. Sie rief eine Reihe von Silben aus, die in der Tonhöhe anstiegen. Dann entlud sich mit lautem Knall ein bläulich-grüner Blitz, der in das blau wabernde und zitternde Leuchtgebilde einschlug. Keinen Moment später blähte sich ein silberner Glutball auf, der für zwei Herzschläge wie ein doppelt so großer, viermal so heller Zwilling des Mondes am Himmel hing. Akila hörte den von allen festen Körpern der Umgebung widerhallenden Schrei eines tödlich getroffenen Vogels. Der Schrei wurde leiser und schriller, als schrumpfe das ihn ausstoßende Wesen immer mehr zusammen. Dann fiel der silberne Glutball in sich zusammen und erlosch. Von dem Todesadler war nichts mehr zu sehen. Das Lied der fliehenden Seelen hatte den Schattenvogel auf einen Schlag aller Kraft und Beschaffenheit beraubt. Mehr noch. Sie hatte ihn mit Hilfe des Mondes aus der Stofflichen Welt verbannt. Ob Kanoras ihn wieder erwecken konnte wusste sie nicht. Normalerweise war dieses Lied der Vernichtungsschlag gegen alle feindseligen Geister in Zauberstabausrichtung, solange der Mond zu sehen war. Doch sie merkte, dass ihr Bannspruch ihr viel Ausdauer geraubt hatte. Dieser dämonische Geist war mächtiger als sie selbst gewesen. Ohne die Vorkehrungen mit der labenden Kraft des Mondes hätte sie leicht selbst das Bewusstsein verlieren oder gar sterben können. Nur das Vertrauen auf die in ihr angesammelte Kraft des Mondes hatte sie überhaupt ermutigt, diese mächtige Magie zu entfesseln. Sie hoffte nur, dass Kanoras es nach dieser Niederlage erst einmal unterlassen würde, ihr weitere seiner niederen Diener zu schicken. Aber sie war sich darüber klar, dass Kanoras sie nun erbittert bekämpfen würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen würde.

"Schwester Akila, der Schattenträumer hat wieder seine Unterdämonen ausgeschickt", hörte sie die Gedankenstimme ihrer Mitschwester Salome. Sie griff zu ihrem Mondsymbol und konzentrierte sich. Jetzt erschien das räumliche Abbild Salomes vor ihr, als stehe diese ihr leibhaftig gegenüber. "Ja, ich habe auch schon vier seiner Unheilsboten zurückschlagen müssen, Salome. Was befiehlt die grüne Mutter?"

"Schützt alle, die ihr liebt vor den jagenden Schatten!" hörte sie nun Salomes Stimme so, als spräche diese wahrhaftig zu ihr. Akila bestätigte diese Grundsatzanweisung. Dann fiel ihr ein, dass ja vor einigen Wochen herausgekommen war, wo die Schattenwesen herausschlüpfen konnten. Offenbar galt es nun, die Brut Kanoras' mit allen Mitteln zu bekämpfen und zu vernichten. Da jedoch nur die Töchter des grünen Mondes das altägyptische Lied der fliehenden Seelen konnten - zumindest waren sie sich dessen sehr sicher -, standen sie vor einer schwierigen Entscheidung. Denn mit dem Lied konnten sie die mächtigen Diener von Kanoras bannen und womöglich endgültig auslöschen. Doch dabei würden sie sich all denen gegenüber offenbaren, die ihnen bis heute feindlich gesinnt waren. Doch wenn die grüne Mutter befahl, alle zu schützen, die sie liebte, würde sie wohl nicht zögern, all ihr Wissen und ihre Künste aufzubieten, um die niederen Diener von Kanoras auszulöschen.

Was sie jedoch tun konnte war das marokkanische Zaubereiministerium zu benachrichtigen, dass Kanoras nun wohl zum Großangriff auf alle lebenden Wesen in der Reichweite seiner Schatten angesetzt hatte. Warum Sie vier Schattenungeheuer zurückschlagen konnte würde sie mit mächtigen, über Geschlechter aufrechterhaltene Schutzzauber gegen böse Geister begründen.

Es verging keine Viertelstunde, da erhielt sie die Gedankenbotschaft der grünen Mutter, dass die Zauberer des Magieministeriums losgezogen waren, um sich Kanoras' Schatten zu stellen. Die Schlacht um das Heimatland hatte begonnen.

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Anthelia blickte auf das fremdartige Wesen, das einen menschlichen Körper, lange Vogelbeine mit vier Zehen und einen spiralförmig zusammengerollten Schlangenhals besaß, auf dem ein schwarz beharrter Großkatzenkopf steckte. Anthelia hatte ähnlich wie die Ministeriumszauberer nach dunklen Kräften gesucht, die in diesem Stadtteil New Yorks wirkten. Allerdings war dieses Wesen nur während der Abendstunden in seiner wahren Gestalt sichtbar. Oder war es vielleicht auch nur ein Trugbild? Denn Anthelia vermochte keine worthaften oder auch nur tierhaften Gedanken zu vernehmen. Doch die dunkle Aura, die das Mischwesen umgab konnte sie deutlich spüren.

Gerade war das fremdartige Geschöpf dabei, auf eine junge Frau zuzugehen, die völlig arglos auf dem Weg nach Hause war. Anthelia riskierte es und apparierte zwischen diese und das Dämonengeschöpf. Mit einem schnellen Schockzauber betäubte sie die harmlose Passantin. Damit verdarb sie dem Mischwesen wohl den Apetit. Denn es zischte laut und wütend. Dann fuhr der Schlangenhals aus, wurde an die drei Meter lang und schwang gegen Anthelia aus. Die rasiermesserscharfen Reißzähne schnappten nach Anthelia. Doch diese wich aus. Dann sprang sie vor und berührte das Ungeheuer mit ihrem silbriggrauen Zauberstab. "Alonatarkash miriamadrash!" schnarrte sie. Da wickelte sich der ausgestreckte Schlangenhals um ihre Hüfte und zog sich zusammen. Dieses Biest wollte ihr doch wahrhaftig wie eine Würgeschlange die Luft und Blutzufuhr abwürgen. Dann schnappten auch noch die scharfen Zähne zu, die sicher nicht nur etwas durch- oder abbeißen konnten. Sie drangen nur wenige Millimeter in Anthelias Haut ein, hielten sie einen winzigen Moment fest und erzitterten dann. Dann sprühten Funken zwischen den Zähnen in das Maul der Mischgestalt. Sie zuckte und ließ ihr Opfer los. Anthelia lachte nur. Dann sprach sie zwei sehr berüchtigte Zauberwörter: "Avada Kedavra!" Aus ihrem Stab sprang ein gleißender grüner Blitz über die wenigen Zentimeter auf das Ungeheuer über. Ein natürliches Lebewesen musste sofort sterben. Auch ein Phönix konnte diesem Fluch nicht widerstehen. Er verbrannte unverzüglich zu Asche. Allerdings konnte er wenige Minuten danach wiederverjüngt wiedererstehen. Bei dem von Anthelia getroffenen Wesen geschah etwas andderes. Es leuchtete hellgrün auf, gab einen sphärischen hohen Klang von sich wie ein sanft mit feuchtem Finger angestrichenes Weinglas. Dann ploppte es, und das Mischwesen war weg. Anthelia suchte sofort die Umgebung ab. Doch es war nicht zu sehen. Also vollführte sie den nächsten Zauber, einen Verfolgungszauber, der auf den zuvor von ihr gewirkten alten Zauber abgestimmt war. Dabei stellte sie sich das verschwundene Fremdwesen so gut vor wie sie konnte und löste den Zauber dann mit "Xatari Danmadrashin" aus, was "Bring mich ans Ziel, große Mutter" hieß. Dann disapparierte sie. Ihr Ziel wurde von ihrem Zauber bestimmt.

"Haben Sie das gesehen, Tinspoon?" fragte Rico Donelli, ein Kollege des Ministeriumszauberers Tinspoon.

"Irgendwie hat sie wohl rausgekriegt, wo diese arme Kreatur hin ist. Wir müssen ihr nach!" Doch das gelang nicht. Denn trotz eines Restspurverstärkungszaubers gelang es nicht, Anthelias Zielpunkt zu bestimmen. Das lag wohl auch daran, dass dieser unortbar bezaubert war.

"Und jetzt?" fragte Tinspoon. "Sollen wir wieder zulassen, dass uns diese Spinnenhexe die Arbeit abnimmt?"

"Wenn sie es tut sollten wir froh sein", sagte Donelli. "Wir jagen diese herumtanzenden Dämonen schon seit zwei Tagen und schaffen es nur, sie zu verjagen, aber nie, ihren Schlupfwinkel zu finden."

"Und was macht Sie sicher, dass diese Spinnenhure das weiß?"

"Weil sie Zauber gemacht hat, die wir nicht gelernt haben", erwiderte Donelli. "Würde mich nicht wundern, wenn sie damit eine magische Markierung an diesem Biest angebracht hat, der sie nun folgen konnte. Ja, wir haben das auch versucht und nichts erreicht. Deshalb hoffe ich ja, dass die was machen konnte, was wir nicht können."

"Soll das so in Ihrem Bericht stehen, Sir oder in meinem, Sir?" fragte Tinspoon. Sein Begleiter schüttelte sehr wild den Kopf. "Dachte ich's mir", erwiderte Tinspoon auf diese Geste. Dann verschwanden beide, um vielleicht doch noch eines dieser Dämonenwesen einzufangen.

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Fünf Feuer brannten in großen Schalen. Sie leuchteten blau und strahlten weder Hitze noch Kälte aus. Sie waren in einem Fünfeck mit fünf gleichlangen Seiten um eine gewaltige Schale aus einem silbernfarbenen Metall angeordnet. In der Schale schwamm in einer schützenden und nährenden Flüssigkeit die grauweiße Masse eines gigantischen Gehirns unter einer durchsichtigen Kuppel. Das war die körperliche Daseinsform des Schattenträumers Kanoras. Die blauen Feuer waren die Quelle seiner Macht über Leben und Geist anderer Wesen. Tief unter der bergenden Schale lebten mehrere Männer und Frauen, die keinen eigenen Willen hatten und nur die schlagenden Herzen für das körperlose Gehirn boten.

Kanoras selbst träumte gerade. Zumindest war es ähnlich einem Traum eines schlafenden Menschen. Doch seine Träume waren grausam für alle anderen. Denn sie erschufen die sichtbaren Schattenformen seiner unheimlichen Diener. Aus von Dunkelheit mit Kraft versorgtem Dunkelkraftgebilde bestehenden Schatten jagten durch das Land. Wo sie lebende Menschen fanden, entzogen sie ihnen alle Lebenskraft und gefroren diese. Wenn Kanoras es wollte, rasten die Schatten mit halbtoten Opfern zur Höhle zurück und warfen die Körper ihrer Opfer in eines der fünf blauen Feuer. Darin vergingen die bedauernswerten Menschen. Doch ihre Seelen wurden umgeformt und entglitten den Flammen als neue Schattendiener. Ihre Augen glommen im Licht des blauen Feuers, das vor undenklich langer Zeit aus dem glühenden Kern der Erde und Anrufungen von Nacht und Unterwerfung entfacht worden war.

Kanoras fühlte, wie drei ausgesandte Diener, die bereits an die Grenze der in einer halben Nacht zu schaffenden Entfernung erreicht hatten, von einer Trägerin der Kraft mit widerlichem Licht gefesselt und dann geschwächt wurden. Er konnte die mit großer Wucht davongeschleuderten Seelen gerade noch einfangen und in Gedankenschnelle zu sich zurückholen. Woher konnte dieses Weib eine solche Kraft aufwenden? Kanoras schickte den Adler aus, der dreimal so schnell wie die menschlichen Diener durch die Luft eilen konnte. Doch als dieser über dem Haus der Fremden niederstieß wurde er erst wie die drei anderen Schatten gefesselt und dann von innen her auseinandergerissen. Es war, als riefe jemand die Leuchtkraft von vier Vollmondnächten auf einmal an, die schneller als ein Wimpernschlag den Raum ausfüllte, den der Todesadler benötigte. Kanoras fühlte, wie sein Diener unter entsetzlichen Qualen verging. Seine nichtstoffliche Form verwehte wie Rauch im Sturm. Dann erlosch seine Seele, besser, sie entwich aus der stofflichen Welt und verschwand. Kanoras stieß mit seinen Gedankenfingern in völlige Leere hinein, als er versuchte, den Todesadler zurückzubefördern. Das war schlimmer als dieses wiederliche gebündelte Licht, mit dem diese vier Jetztzeitmenschen den Todesadler geschwächt hatten. Da hatte er zumindest die Geistform seines Dieners noch auffangen und zurückholen können. Doch die war jetzt restlos ausgelöscht.

"Widerwärtiges Weib. Ich werde dich in Stücke zerreißen lassen, wenn meine Diener dich erwischen!" brüllte er mit seiner magischen Stimme. Das riesenhafte Gehirn ohne Körper zuckte und ruckte in seinem Schutzgefäß. Hatte er gedacht, dass er leichtes Spiel mit den Jetztzeitleuten haben würde? Er hatte doch gewusst, dass es auch noch die Abkömmlinge der widerlichen, der unnennbaren Feindin gab. Doch was seinen Todesadler ausgelöscht hatte war eine ganz andere Kraft. Das war uralte Mondkraft, die Geisterwesen wie seinen Schatten genauso zusetzen konnte wie Feuer oder Gift lebendigen Wesen. Sollte er noch einmal Schatten zu diesem Haus senden? Da fühlte er, wie vier weitere seiner menschenförmigen Diener von jenen fesselnden Blitzen getroffen wurden und dann bis auf ihre Grundkraft abgeschwächt zu gedankenschnellen Bündeln ihrer Selbst wurden, die er gerade so noch ergreifen und zurückholen konnte. Da wusste er, dass die Schlacht um diesen Erdteil kein leichtes Unterfangen sein würde. Doch er würde nicht aufgeben. Er würde nur anders vorgehen. Statt alle seine Schatten wahllos ausschwärmen zu lassen würde er kleine Gruppen gezielt in die größten erreichbaren Ansiedlungen schicken. Dort lebten mehr Menschen ohne die Kraft. Ja, dort würden seine Diener leichtere Beute machen. Doch halt! In den jetztzeitigen Städten benutzten sie flammenloses Licht, so grell wie die Sonne. Das lähmte seine Diener. So ging es also auch nicht. Dann entschied er sich, die sicher auf ihn aufmerksam gewordenen Träger der Kraft zu erwarten und diese einen nach dem anderen in seine Reihen hineinzuholen. Doch was tun gegen dieses widerliche Licht, das Laserstrahl genannt wurde? Er fühlte Erheiterung. Das war doch Licht. Das konnte doch gespiegelt werden. Er musste nur unerhitzbare, vollständig spiegelnde Körper herstellen lassen, um diese widerliche Waffe abzuwehren. Er rief alle seine Schattenkrieger zurück, um diese Spiegelkörper bauen zu lassen. Hierfür brauchte er gediegenes Silber und genug Sand, um diesen zu Glas zu machen. Ja, so würde er sich zumindest gegen diese Form von Licht verteidigen können.

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"Das hätte ich ihr gleich sagen können", grinste Theia Hemlock, als sie von ihrer Urgroßmutter Eileithyia erfuhr, dass Ursina Underwoods Vorstoß gescheitert war, genug Körpersubstanzreste für einen weitreichenden Suchzauber zusammenzutragen. Selbst Similicorpus, der Zauber, mit dem künstliche Leichname von anderen Wesen erzeugt wurden, gelang bei der geringen Menge noch dazu hoffnungslos veralteten Materials nicht.

"Und wie willst du es machen", sagte Eileithyia. "Kannst du dir ansehen. Aber das kann nur eine alleine machen, Uroma."

Theia stellte sich in ihrem Arbeitszimmer in einen aus eigenem Blut gezeichneten Kreis hin. Dann sang sie eine altkeltische Litanei, bei der sie den Namen und den der Eltern von Hironimus Pickman einbezog. Unvermittelt glühte der Zauberkreis blutrot auf. Dann wurde Theia durchsichtig. Eileithyia wollte schon in den Kreis eindringen. Doch eine kleine Hand bekam sie am Umhang und zog sie energisch zurück. "Lass sie bitte, Oma Thyia. "Das hat sie gestern und heute schon zwanzigmal gemacht. Das ist der Zauber "Weg zum Erwählten", sagte Selene Hemlock. In diesem Moment verschwand Theia in einem roten Lichtblitz. Der Kreis glomm noch zehn Sekunden. Dann erlosch er. Die zurückgebliebenen Hexen mussten zwei bange Minuten ausharren. Dann tauchte sie wieder auf, in den Händen ein pulsierendes Etwas, ein roter Stein, der aus sich heraus leuchtete und so groß war wie das Herz einer Kuh. Der Stein pulsierte auch wie ein schlagendes Herz. Sein Leuchten verstärkte und schwächte sich im Rhythmus des Pulsierens. "Nummer fünfundzwanzig", knurrte Theia und legte ihre Beute in eine berunte Kristallschale, die gerade groß genug war und die auf dem Regal rechts von ihr stand. "Diesmal war das Artefakt von einem Versteinerungszauber umgeben. Aber der Zauber des freien Blutes hat mich mal wieder beschützt, Kleines", sagte sie und deutete auf ihren Unterleib. Nur ihre Tochter und sie wussten, dass sie darin einen mit eigenem Monatsblut getränkten und bezauberten Rubin in Kugelform aufbewahrte, der einen vollen Monat lang alle Fleisch und Blut der betreffenden Hexe schädigende Zauber abwehrte, solange es nicht Dämonsfeuer, Witterwasser oder der Todesfluch war.

Theia sah ihre Urgroßmutter Eileithyia an und sprach weiter: "Normalerweise kann ich mit diesem Zauber zu jedem nicht durch Schutzbanne oder Fidelius-Zauber gesicherten Ort, an dem der gesuchte Mensch sich zu mehr als einem halben Tag aufhält oder gerade dort ist. Aber ich finde bisher nur schwarzmagisch manipulierte Gegenstände, die wie aus lebenden Körpern gerissene Organe aussehen, aber wohl nur mit Blut getränkte Steine sind. Sie wurden als Träger von Pickmans Lebensaura bezaubert und durch dunkle Magie zu Hybriden aus lebenden Organen und toten Gegenständen gemacht, um diese Aura gleichstark und sehr lange zu bilden. Geh mal davon aus, dass Anthelia den Zauber auch kennt, Oma Thyia."

"Wieso zeigst du den nur mir und nicht den anderen Schwestern?" wollte Thyia wissen.

"Soll ich denen sagen, dass ich den von meiner kleinen Tochter gelernt habe, als es darum ging, wie jemand zu einem gesuchten Menschen hinfindet, der nicht durch entsprechende Magie geschützt ist?"

"Das ist nicht wahr, oder?" schnaubte Eileithyia und machte Anstalten, Selene an das rechte Ohr zu greifen. Diese wehrte den Griff ab und quiekte: "Mom hat doch recht. Soll das wirklich jede von euch wissen, wieso ich diesen Zauber kenne? Auch wenn ihr euch sicher längst darüber im klaren seid, dass ich eine Wiedergeburt bin und mein Gedächtnis behalten habe muss das doch wahrhaftig nicht jede rangniedere Hexe wissen, oder?"

"Gut, ihr zwei. Dann sammelt deine Mom jetzt also die scheinlebendigen organförmigen Gegenstände ein, bis sie keine falsche Aura mehr findet. Aber der echte sitzt garantiert von mehreren Schutzzaubern umgeben in seinem Versteck."

"In dessen Nähe ich mich begeben werde, wenn ich keine simulierte Aura mehr ansteuere und die bereits gesammelten Aurenträger als Fokus für die genaue Zielausrichtung zum Original benutzen kann. Während ich wieder unterwegs bin erklärst du deiner Ururoma bitte, was du mir über die Brücke der Lebenskraft erzählt hast, Kleines!" Das tat Selene dann auch. Eileithyia erfuhr so, dass es möglich war, einen Träger von Lebensschwingungsspuren als Wegführer einzusetzen. Je mehr man hatte, desto genauer und erfolgreicher gelang der Zauber.

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Anthelia hörte die sphärische, sanfte Musik. Sie klang fremdartig und doch sehr schön. Sofort wirkte sie den Zauber, der ihren Geist vor ungewolltem Einfluss panzerte. Jetzt klang die Musik zwar immer noch sphärenhaft, aber im Rhythmus leicht verschoben und irgendwie leierig. Die magischen Schwingungen, die ihren Verstand durchfluten sollten, wurden abgehalten.

Jedenfalls war sie da, wo sie hin wollte. Denn vor sich sah sie einen gewaltigen Ballsaal, auf dessen schwarzem Boden hunderte von Paaren zu jener Musik ihre Figuren austanzten. Die Musiker waren skelettierte Mischwesen, zwischen deren Knochen ein grünliches Licht flirrte. Ebenso grün flammten die Kerzen und Leuchter in diesem Saal. Anthelia sah gerade, wie aus einer grünen Lichtwolke ein zottiges Ungetüm trat, dass den Leib eines schwarzen Bären und den Kopf eines Kondors hatte. In den langen Armen trug es eine junge Frau, die wie in Trance geschehen ließ, dass das unheimliche Wesen sie auf den Saal zutrug und dann hineintrat, wobei beide kurz aufflimmerten. Da wusste Anthelia, dass es sich in Wirklichkeit um ein Weltentor handelte. Der Tanzsaal war eigentlich nur eine gemalte Szenerie. Doch offenbar war sie durch die in sie eingebrachten Menschenopfer immer räumlicher und wahrhaftiger geworden. Hier konnte sie wohl mit dem Feuerschwwert nicht viel ausrichten. Denn dieses hätte sie in eine erkennbare Leinwand hineinrammen müssen. Auch besaß sie kein Artefakt Ashtarias, um diese Scheinwelt auszulöschen. Was blieb ihr dann noch? Sie musste die Quelle der Kraft vernichten, von innen heraus. Die Quelle dieser Kraft war zweifellos die magische Musik, zu der alle tanzten. Sie sah auch, wie die gerade in die Szenerie getragene Frau von einem dieser Langhalsdämonen gebissen wurde und sich zu verwandeln begann. Gleich würde sie auch eine der vielen Tänzerinnen sein. Doch dann musste für sie ein Partner gefunden werden.

Anthelia sprang vor und prallte gegen die Barriere. So ging es nicht. Sie entfesselte das Feuerschwert Yanxothars. Ja, damit konnte sie sich eine brennende Bresche in den unheilvollen Tanzsaal schlagen. Sie sprang durch die weißflammig geränderte Bresche und stand unvermittelt in einem Ballsaal, der zwanzigmal so groß war wie der größte Tanzsaal eines herrschaftlichen Schlosses. Sie blickte auf die ebenfalls teils tierhaft, teils menschlich gestalteten Musiker. Von ihnen ging die unheilvolle Kraft aus, die verstummen musste. Doch dann fiel Anthelia siedendheiß ein, dass sie gemalte Wesen innerhalb eines magischen Bildes nicht töten durfte, weil dann zwar die ganze Szenerie vernichtet wurde, aber auch der, der den Frevel begangen hatte. Die Musiker zu töten war also grundverkehrt. Ja, und wenn noch wer mit Incantivacuum-Kristallen angriff verschwand auch Anthelia aus der Welt, Tränen der Ewigkeit hin oder her. Also musste sie schnell eine Lösung finden.

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Pickman hörte, wie das ihn umfließende Summen sich immer mehr in westlicher Richtung bündelte und dort zu einem misstönenden Gebrumm anschwoll. Irgendwas passierte da. Irgendwas wurde dort gebündelt. Hatte das immer noch was mit einer Suche nach ihm zu tun. Aber wieso bündelte sich dann diese merkwürdige Kraft im westen von ihm? Als ihm die einzig sinnvolle Möglichkeit einfiel erbleichte er. Jemand sammelte seine Aurenträger. Die dunklen Zauber, mit denen er sie gegen Angriffe oder Diebstahl gesichert hatte reichten offenbar nicht aus. Irgendwann würde der oder die Unbekannte alle Träger beisammen haben und konnte sie dann zerstören. Dann blieb nur noch seine einzig wahre Originalaura übrig. War es Vengor? Nein, der war sicher unterwegs, sein eigenes Vorhaben abzuschließen. Also war es ein Feind.

"Ich rufe euch, meine Wächter, meine Schergen und Kämpfer! Erwacht und erwartet den Feind!" rief er laut hallend. Aus allen Richtungen erklangen schnaubende, knurrende, zischende und fauchende Laute. Seine Leibgarde war erwacht. Wenn wirklich jemand den Weg zu ihm fand würden hunderte von hungrigen Ungeheuern jeden Feind töten. Wer immer ihn jagte würde selbst zur Beute. Von ihm oder ihr würde nichts übrigbleiben.

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Anthelia hörte über die Musik hinweg das Ploppen apparierender Hexen und Zauberer. Woher wussten die ...? Unwichtig! Sie musste schnellstens hier raus. Sie schlug sich mit der Flammenklinge eine Gasse durch die Tänzer, die sie sonst nicht weiter behelligten. Denn offenbar galt, dass jeder und jede hier der Musik unterworfen war. Diese Wesen konnten nicht eigenständig handeln, wenn sie hier waren. Anthelia sprang wieder durch die Barriere und sah sich gleich zwanzig Zauberern und zwei Hexen gegenüber. "Leg dein Schwert nieder und ergib dich, Lady der Spinnenschwestern! Diesmal wirst du mitkommen."

"Hat Ihnen schon wer gesagt, dass Ihre Umgangsformen sehr überarbeitungsbedürftig sind, Mr. Tinspoon?" fragte Anthelia und ließ ganz lässig die Flammenklinge erlöschen. Dann machte sie Anstalten, sie in die Schwertscheide zu stecken. Da fühlte sie das sanfte Vibrieren um ihren Kopf. "Och neh, Leute!" knurrte sie, als sie sah, wie Tinspoons Zauberstab wild erzitterte. Sie hatte ihn nicht denken hören können. Das war der Nachteil ihres Geistesschutzzaubers. Aber sie war sich sicher, dass er den Imperius-Fluch an ihr versucht hatte. Dann sah sie, wie die anderen immer mehr dem Rhythmus der fremden Musik folgten, erst in ihren Bewegungen. Dann immer mehr in ihren Bewegungen auf die Barriere zu. Anthelia verstand, dass die Zauberer und Hexen direkt in den Bann des Dämonenballgemäldes hineingerieten. Wenn dieses Unheilsbild sie als weitere Opfer bekam würde es noch mächtiger, noch weiter um sich greifender, wie ein Schneeball aus dunkler Zauberkraft. Das musste sie verhindern.

Die anderen senkten ihre Zauberstäbe. Die fremde Musik hatte sie also nun völlig gepackt. Diese Lage nutzte Anthelia aus, um in schneller und geübter Folge jeden hier in ein rosarotes Taschentuch zu verwandeln. Tote Gegenstände, auch wenn sie ursprünglich mal lebende Wesen waren, konnten sich nicht mehr eigenständig bewegen. Als auch der letzte von ihnen seine menschliche Gestalt verloren hatte sammelte Anthelia sie alle mit dem Aufrufezauber ein und steckte sie in ihre mitgebrachte Umhängetasche. Dann disapparierte sie. Denn ihr war klar, dass sie dieses Bild so nicht unschädlich machen konnte. Sie musste Pickman finden und dazu zwingen, alle Bilder wieder einschlafen zu lassen, falls möglich ihre Opfer wieder auszuspeien.

Wieder zurück in ihrem Hauptquartier besah sie sich den seit bald einem Tag laufenden Zauber. Sie hatte damit die einzelnen Auraechos von Pickmans Abbildern räumlich eingeordnet. Wenn sie alle falschen Schwingungen erkannt hatte konnte sie das Original orten und dann einen magischen Weg durch die Erde erschaffen, um in dessen Nähe zu kommen.

Als sie erkannte, dass viele Scheinziele sich immer mehr an einem räumlichen Punkt bündelten dachte Anthelia an Ursinas Ausflug zum verlassenen Pickman-Haus. Dann schlug sie sich vor den Kopf. "Der Weg zum Vertrauten", eine alte druidische Zauberei, die jemanden zu einem lebenden Menschen befördern konnte, dessen Namen und die seiner Eltern er oder sie in den Zauber einfließen ließ. Den hätte sie auch nutzen können, um die falschen Aurenträger zu finden. Aber wer hatte ihn verwendet. Garantiert nicht Ursina. Die hatte sich nie für altdruidische Zauberei interessiert. Das wusste sie von ihren britischen Mitschwestern. Dann musste sie lachen. Natürlich war es die kleine Selene gewesen, die jemanden darauf gebracht hatte, ihn zu wirken, ganz sicher ihre Wiedergebärerin. Anthelia gab sich der grenzenlosen Erheiterung hin, dass sie indirekt mitgeholfen hatte, dass die allen geheimen Schwesternschaften misstrauende Austère Tourrecandide freiwillig einer Nachtfraktionsschwester alte Zauber verriet, sofern Theia, die früher mal Daianira oder Lysithea geheißen hatte, den nicht schon längst kannte. So oder so war ihr klar, was die beiden vorhatten. Die wollten auch zu Pickman hin. Also war es ein Hexenrennen, wer zuerst genug Material und Magie vereinen konnte, um zu ihm hinzukommen. Sie nickte in den Raum hinein. "Gut, dein Zauber wird meinen noch beschleunigen, süße kleine Selene. Na, bist du mir immer noch böse, dass du statt meiner in Daianiras warmem Bauch liegen musstest und dich durch ihre enge Scham in diese Welt zurückzwengen musstest?" Sie grinste mädchenhaft. Dann nutzte sie die sich ihr bietende Gelegenheit, ihren eigenen Zauber abzustimmen. Als in nur noch einem der benutzten Widerhallsteine ein lautes Brummen erklang und die anderen ohne jede sichtbare und hörbare Regung dalagen vollführte sie mit sieben Zauberworten und drei Pendelbewegungen ihres Zauberstabes einen Zauber, der einen grünlich-rot flimmernden Lichtbogen schlug. Dann verfärbte sich der eigentliche Suchstein, der mit Pickmans genauem Geburtsort und der Geburtsstunde verbunden worden war. Der Stein wurde erst silbern, dann bernsteinfarben und dann Veilchenblau. Dabei wurde er halbdurchsichtig. Anthelia konzentrierte sich und summte leise eine Melodie aus tiefen Tönen, bis ihr Summen wohl genau die Schwingungszahl des veilchenblauen Flimmerns traf. Dann sah sie ein Gesicht in dem Stein und wusste, dass dies Hironimus Pickman war, der einzig echte. Sie sah aber auch schwarze Schlieren, die durch diese Projektion wischten. Das verriet ihr, dass er von starken Zaubern oder mächtigen Helfern umgeben war. Sie war also gewarnt. Sie dachte an Fino, den Werwolf, den sie aus dem untergetauchten Unterseeboot der Mondbrüder herausgeholt und wieder hineingetragen hatte. Gelang ihr das auch mit Pickman? Sie sah und hörte, wie der andere Stein zu brummen und zu zittern aufhörte. Die Abstimmung auf die einzig wahre Lebensaura Pickmans war vollzogen.

Anthelia nahm den blau leuchtenden Stein. Dann vollführte sie erst den ungesagten Zauber, der sie pfeilschnell im Boden versinken ließ. Dann dachte sie das Lied der Wegführung und zugleich den Wunsch, dem Weg zu folgen. Da begann auch schon die schallschnelle Reise unter der Erde, durch Gesteinsschichten, Wasserläufe und die vielen größeren und kleinen Hohlräume hindurch, immer dem blauen Stein nach, der genau wie Anthelias Körper gerade feinstofflich war. Mit der im Gestein möglichen Schallgeschwindigkeit raste sie dahin, genau auf den Ort zu, an dem sie Pickmans Versteck wähnte.

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Die Widerschwingungen bündelten sich. Alontrixhila fühlte, wie sich die vielen Zile zu einem verdichteten. Nein, da blieb immer noch eines übrig. Doch das streute sehr stark. Außerdem fühlte sie die tastenden Geistesströme ihrer Halbschwestern. Wenn sie sich aus ihrem Versteck wagte wurde sie auffindbar. Dann hatte sie womöglich alle wachen Schwestern am Hals. Wollte sie das wirklich riskieren? Sie musste es. Denn ohne Pickman war sie eben nur eine zeitweilige Erscheinungsform, die solange lebte, wie Pickman lebte. Sie musste ihn kriegen und mit sich vereinen, damit sein Leben ihr Leben wurde und sie damit endgültig unangreifbar für ihre anderen Schwestern wurde. Also wollte sie auf das schwächere Ziel losgehen, wenn sie es ganz klar erfassen konnte. Sicher hatte der Schöpfer eine Schutzmannschaft um sich versammelt oder Zauberfallen aufgebaut.

Dann endlich hatte sie nur noch zwei Ziele zur Auswahl. Sie wählte das schwächere von beiden, weil es ihr sinnig erschien, dass jemand die falschen Ziele an einem Ort zusammengetragen hatte, um das einzig echte Ziel zu bestimmen.

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30. November 2002

Vengor frühstückte noch einmal reichlich, wobei er wie in den letzten Monaten darauf achtete, tagesfrisch gesammelte Eier, Gemüse und frisch gebackenes Brot zu sich zu nehmen. Alles was älter als eine Nacht war konnte seinen Körper nicht mehr sättigen. Er steckte die von Kanoras erhaltenen Kristalle ein, an die zwanzig von dessen Schattendienern gebunden waren. Zwar hoffte er darauf, dass er bei seinem zweiten Vorstoßversuch in die Nimmertagshöhle im Himalayagebirge nicht behelligt werden würde. Doch die Erfahrung hatte ihn gelehrt, mit unliebsamen Überraschungen zu rechnen. Aus diesem Grund nahm er auch die drei von ihm heimlich gebauten Besenbeißer mit. Er würde nach seiner Mission im Himalaya nachforschen, woher die Werwolfbruderschaft des Mondes einen oder gar zwei von ihm versteckte Besenbeißer hatte. Beinahe wäre ihm das zum Verhängnis geworden, dass diese Pelzwechsler einen davon gegen die deutsche Ministeriumshexe und bekennende Lesbierin Albertine Steinbeißer eingesetzt hatten. Da bestand noch Aufklärungsbedarf. Doch erst musste er sein vordringliches Ziel erreichen und Zugang zu Iaxathan erlangen.

Zum Schluss seiner Reisevorbereitungen steckte er den in seiner Phiole eingeschlossenen Corvinus Flint in eine Außentasche seines schwarzen Reiseumhangs. Er überlegte, ob er wie damals die grüne Maske tragen sollte, als er zum ersten Mal versucht hatte, zu Iaxathan in die Nimmertagshöhle zu gelangen. Immerhin war sie Teil seiner neuen, erhabenen Identität, die er seit dem Aufruhr im deutschen Zaubereiministerium beibehalten hatte. So beließ er die von ihm erfundene Ganzkopfmaske aufgesetzt. Dann bezauberte er zwei Taschentücher als wörtlich auslösbare Sonderportschlüssel, die an die Kräfte der Himmelskörper gebunden waren und nicht wie die üblichen an die Kräfte von Wasser, Luft und Erde gekoppelt wurden, um innerhalb von Sekunden oder Minuten mehrere tausend Kilometer zu überwinden. Da er nur in der Dunkelheit der Nacht am richtigen Zielpunkt ankommen wollte musste er noch drei Stunden ausharren, bis es dort wirklich stockfinstere Nacht war, wo er hinwollte. Dann löste er den ersten der beiden Portschlüssel aus. In einer sonnenuntergangsroten Lichtspirale, die von keinem üblichen Portschlüsselüberwachungszauber erfasst werden konnte, verschwand Vengor.

Die Reise dauerte wohl nur eine halbe Minute. Er konnte noch sehen, wie er aus einer silbernen Lichtspirale herausfiel, weil hier bereits der Mond das den Himmel beherrschende Gestirn war.

Die Gegend hatte sich nicht verändert, seitdem er vor dreizehn Monaten hier gewesen war. Immer noch stand das spärliche Buschwerk vor der Felswand, hinter der jene geheime Zuflucht Iaxathans verborgen lag. Nur war in diesen Tagen wohl mehr Schnee gefallen als damals, wo er zum ersten Mal in dieser Gegend war.

Wie schnell war doch dieses so wichtige Jahr und der eine Kalendermonat verflogen. Er hatte Dutzende von Hexen und Zauberern von gerade erst geboren bis mehrere Dutzend Jahre alt getötet, um endlich die Zutrittsbedingung zu erfüllen. Er bedachte den übergutherzigen Zauberer, der meinte, den Zugang zur Nimmertagshöhle mit einer mächtigen Barriere aus heller Magie zu versperren. Diese Barriere würde er nun durchdringen, weil er mehr Gnadenlosigkeit und Entschlossenheit aufgeboten hatte, als diese abhalten konnte. Er hatte die Tode seiner Opfer, alles nähere und fernere Verwandte von ihm, in den in ihm pulsierenden Unlichtkristall aufgenommen. Dessen dunkle Aura, die ihn im Moment als unsichtbare Kraft umgab, würde die weißmagische Barriere überwinden und ihm den Weg in die Nimmertagshöhle öffnen.

Vengor öffnete die Phiole, in der er Corvinus Flint, den an ihn gebundenen Nachtschatten, eingekerkert hatte. "Ich werde erst alleine durch die Barriere gehen, sagte Vengor. "Du bewachst die Rufkristalle für die von Kanoras mitgegebene Leibwache. Sollte doch jemand meinen, meinen Aufenthaltsort herauszufinden, sollen sie erscheinen und die Feinde töten."

"Du kannst sowieso keinen von uns mitnehmen. Denn freie Geisterwesen ohne lebenden Körper kommen nicht in die Nimmertagshöhle hinein, weil der Meister dort den nächtlichen Dunst der Seelenmauer ausgebreitet hat, um Wesen wie mich oder diese perlweißen Schwächlinge davon abzuhalten, das Auge der Mitternacht zu ergreifen oder wie auch immer zu zerstören", erwiderte Flint.

"Gut, dann lasse ich die zwanzig Rufkristalle hier", knurrte Vengor. Ihm war klar, warum er nicht in Begleitung selbstständiger Geisterwesen in die Nimmertagshöhle gehen konnte. Doch jetzt aufzugeben lag ihm auch nicht. So legte er den Rucksack mit den zwanzig Rufkristallen auf den Boden. Dann legte er auch das gerade wieder völlig schwarze Bild mit dem Gesicht des Clowns der Grausamkeit daneben. Dieser hatte sich kurz vor der Abreise noch einmal gemeldet und erwähnt, dass nun alle Bilder Pickmans ihr dunkles Eigenleben entfesselt hatten. "Bewache das hier und töte jeden, der sich vielleicht doch hierher verirren sollte!" befahl er seinem unheimlichen Diener Corvinus Flint. Der tiefschwarze Schatten, der gerade an die fünf Meter groß war, schwebte Lautlos über den Rucksack und das daran angelehnte Zauberbild.

Um auf Besen oder Fliegenden Teppichen anfliegende Feinde zu bekämpfen ließ der Zauberer, der sich Vengor nannte, auch noch drei unsichtbare Besenbeißer in die Luft steigen. Diese gingen in eine viertausend Meter durchmessende Kreisbahn, wobei der am niedrigsten fliegende gerade fünfzig Meter über dem schneebedeckten Boden flog, der zweite genau einhundert Meter über Grund und der dritte zweihundert Meter über dem Boden kreiste. Wehe denen, die nun wagten, sich diesem Ort zu nähern.

Vengor straffte sich und genoss die völlige Stille, die ihm eine gewisse Erhabenheit des Augenblicks vermittelte. Er stand nun kurz vor der Erfüllung seines größten Traumes, von dem er wusste, dass es für den Rest der magischen und nichtmagischen Menschheit der größte Albtraum sein würde. Doch die waren durch Pickmans Schöpfungen und die ausschwärmenden Schattendiener Kanoras' bereits so sehr in ein ständig zunehmendes Chaos verstrickt, dass seine Machtergreifung vielleicht ein Gnadenakt für die alle sein mochte. Mit diesen schon an Selbstherrlichkeit grenzenden Gedanken ging er los, auf die für Augen unsichtbare Barriere zu, deren Wirkung er in einer Veränderung des in ihm pochenden Unlichtkristalls fühlen konnte. Es fehlten nur noch wenige Schritte bis zum entscheidenden Kontakt. Vengor dachte daran, dass er beim letzten Mal auf einem Besen gesessen hatte und dieser den Zusammenprall mit der Abwehrmauer nicht überstanden hatte. Diesmal würde er diese Mauer durchbrechen, vielleicht sogar durchschreiten wie einen leichten Nebelhauch.

Immer deutlicher spürte er die magische Wechselwirkung zwischen der Barriere und seinem Unlichtkristall. "Ja, durchschreite die störende Wand und komm zu mir!" hörte er im Geist Iaxathans Stimme. Sein neuer Bündnispartner erwartete ihn so sehnlich, wie er es nicht mehr erwarten konnte, vor dessen mächtiges Aufbewahrungsartefakt zu treten. Jetzt fehlten nur noch zwei seiner Schritte bis zur Entscheidung. Dann war es nur noch einer. Er hielt kurz inne, um diesen erhabenen Moment zu genießen. Auch Iaxathan erkannte wohl, dass diese herrliche Empfindung wichtig für seinen neuen, lebenden Bündnispartner war. Fünf Sekunden stand Vengor vor dem Punkt, an dem er das letzte Mal so heftig und unüberwindlich zurückgeworfen worden war. Einen winzigen Moment dachte er daran, dass er vielleicht noch etwas hätte bedenken müssen. Doch dann wischte er den letzten Zweifel an seinem Erfolg aus dem Bewusstsein. Er hob den rechten Fuß zum alles entscheidenden Schritt.

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Maria Valdez betrachtete den von starken Eisenringen umschnürten Mann, der sich wand und gegen seine Fesseln ankämpfte. "Macht mir die Dinger ab, oder meine Brüder und Schwestern werden euch alles Blut aussaugen und eure Kinder zu ihr hinbringen, damit sie sie zu unseren Geschwistern macht!" drohte er. Der Ministerialzauberer Norman Whitefire, einer aus der Vampirbekämpfungstruppe, sah den Gefangenen an. Die Eisenringe bogen sich ganz langsam nach außen. Dieser Gefangene besaß eine unglaubliche Körperkraft. "Wer ist sie, Blutsauger. Meinst du diese Götzin, die ihr anbetet?"

"Sieh mir in die Augen und erkenne die Antwort auf deine Frage", schnaubte der Gefangene. Doch Whitefire grinste und deutete auf seine goldgeränderte Brille. "Hast du schon bei meinen Kollegen versucht, deinen Unterwerfungsblick einzusetzen. Aber das hat bei denen nicht geklappt und bei mir geht's auch nicht. Also, wen meinst du mit "sie"?"

"Sieh mich ohne dieses widerliche Gestell an!" schnaubte der Gefangene. Dann schien er erst Maria zu bemerken, vielleicht auch, weil sie sich jetzt erst wieder bewegte. "Hey, wer bist du denn? Ich stehe auf Latinas."

"Ich aber nicht auf Vampire", erwiderte Maria. Dann fing der Blick des Gefangenen den ihren ein. Unvermittelt durchströmte sie eine starke Kraft von ihrem magischen Talisman her. Der Gefangene verzog sein Gesicht. Er keuchte und wand sich. "Wieso kannst du das. Was ist das?" stieß er aus. Maria holte ihr silbernes Kreuz hervor, das in einem sanften blutroten Licht schimmerte. Erst grinste der Gefangene. Doch dann erbebte er und wand sich noch stärker. "Bitte beantworten Sie unsere Fragen, dann sind Sie die Schmerzen auch schon los", sagte Maria ganz kühl. Ihr widerstrebte es zwar, Wesen zu quälen. Doch der Gefangene war ein Feind, der sie und alle anderen töten wollte. "Sie wird dich umbringen, Puta", knurrte der Gefangene.

"Wer denn, die schlafende Göttin und ihre Kristallvampire?" wollte Maria wissen. "Nein, die Nährmutter der neuen Rasse. Sie wird ..." Unvermittelt krachte es, und der Gefangene hatte die oberen Ringe gesprengt. Sofort hieb er mit den Händen nach Whitefires Brille. Maria trat vor und hielt ihm das Kreuz entgegen. Darauf leuchtete der gefangene Vampir aus sich heraus blutrot auf und verschwand mit lautem Knall. Die zwei restlichen Eisenringe klirrten leer zu Boden.

"Verdammt, etwas hat ihn weggeholt", schnaubte Whitefire. "Dabei sind die Ringe mit einem Antidisapparierzauber imprägniert."

"Offenbar ist der nicht stark genug, um einen dieser neuen Vampire zu halten. Aber haben Sie das gesehen, dass er nicht in einem schwarzen Strudel verschwunden ist?"

"Das ist mir aufgefallen", bestätigte Whitefire.

Die nächsten Minuten vergingen mit Recherchen nach Begriffen wie "Nährmutter der neuen Rasse" oder "gemalte Nährmutter" oder "gemalte Amme". Dabei kam heraus, dass ein gewisser Will Bradley wohl ein schauervolles Gemälde erstanden hatte, das "Die Blutamme" hieß. Maria Valdez ließ sich sofort die Adresse geben. Da sie sich in der magielosen Welt immer noch am besten von allen hier zurechtfand und sie ja auch den entscheidenden Schlag führen sollte stimmten ihr die Ministeriumsleute zu.

Als Maria alleine bei der Adresse ankam fand sie nur ein großes, scheinbar leerstehendes Haus vor. Der Besitzer hatte wohl alles mit Sack und Pack verlassen. Maria holte ihren Talisman hervor, um nach Spuren dunkler Magie zu suchen. Da flogen ihr plötzlich aus drei Richtungen zugleich Kugeln um die Ohren. Einige prallten laut pfeifend von einem unsichtbaren Widerstand ab, der Marias Körper umgab. Ja, es war schon richtig gewesen, die Drachenhautpanzerung anzuziehen, die ihr Almadora hatte machen lassen. Die Erkenntnis, dass die neuen Vampire bewaffnet waren oder bewaffnete Helfer hatten störte sie nicht sonderlich. Sie wusste nur, dass sie schnellstmöglich klären musste, wo Will Bradfield und sein höchstwahrscheinlich verhextes Gemälde abgeblieben waren.

Mit einem Einbruchsbesteck, das sie schon zu ihrer Zeit als FBI-Agentin eingesetzt hatte, verschaffte sie sich unerlaubten Zutritt zu dem Haus. Sie durchsuchte erst die oberen Etagen. Dann stieg sie in den Keller hinunter, immer darauf gefasst, den Portschlüsselzauber zu benutzen, der diesmal in ihrer Strumpfhose eingewirkt war. Doch die Angreifer hatten sie nicht verfolgt. Das war mehr als alarmierend.

Maria haderte, ob sie nicht besser sofort verschwinden sollte oder doch erst alle Räume überprüfen sollte. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als ihr unvermittelt schwindelig wurde und etwas wie ein pechschwarzer Vorhang vor ihren Augen niederfiel. Das Klopfen ihres Herzens und das Rauschen ihres Blutes wurden schlagartig lauter, bis sie in einer Woge aus Rauschen und Schwerelosigkeit versank.

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Theia legte sechsunddreißig der von ihr erbeuteten Träger von Pickmans Lebensaura um sich aus. Es sah wirklich so aus, als habe sie viele große, schlagende Herzen, sich windende Gedärme oder zuckende Gliedmaßen zu einer entsetzlichen Installation krankhafter Kunst vereint. Wenn Selene nicht schon früher, vor ihrer Empfängnis als Selene Hemlock, so viel grauenvolles und widerwärtiges gesehen hätte, dann hätte ihre Mutter diesen Zauber sicher erst gemacht, wenn sie mit ihrer Ururgroßmutter weit genug weg gewesen wäre. So durfte Eileithyia dem schauerlichen Sammelritual und dem diesem folgenden Zauber zusehen.

"Wenn ich in zwei Stunden nicht wieder zurück bin bleibst du bei Oma Thyia, Selene. Und du, Oma Thyia, erklärst bitte den Schwestern, wie der Zauber geht und schickst mir bitte die stärksten von uns nach, auch wenn sie für mich vielleicht zu spät kommen", sagte Theia.

"Ich warte nur eine Viertelstunde, meine werte Enkeltochter. Bist du dann nicht wieder hier schicke ich dir alles nach, was wir und das Ministerium aufbieten können", sagte Eileithyia.

"So was ähnliches habe ich von dir erwartet, Oma Thyia", feixte Theia. Dann konzentrierte sie sich auf ihren Zauber.

Die pulsierenden nachbildungen um sich tastender und ruckender Arme, Beine, Herzen, Lungen oder anderer Innereien glühten blutrot auf, um dann einen veilchenblauen Farbton anzunehmen. Theia sah noch einmal aus dem magischen Kreis heraus zu ihren Verwandten, zu ihrer Tochter, die sie ohne von einem Mann berührt zu werden empfangen hatte, als sie aus Hynerias Zeitfresserkiste geschleudert worden war und zu der älteren Hexe, die ihr geholfen hatte, dieses besondere Mädchen auf die Welt zu bringen, ihr das zweite Leben zu geben, weil sie es damals abgelehnt hatte, Tourrecandides Tochter zu werden.

Die Luft um Theia knisterte hörbar. Dann ging das Knistern in ein sphärisches Rauschen über. Dann klang es wie ein vielstimmiges Sirren, um dann mit einem lauten Schwirren einen blauen Blitz freizusetzen. Theia verschwand in diesem Licht. Mit dumpfem Knall stürzte die Luft außerhalb des Kreises in das entstandene Vakuum hinein. Selene und ihre Ururgroßmutter fühlten den Sog, der sie fast in den Kreis hineinzog. Die schwarzmagisch belebten Artefakte waren alle restlos zu Asche zerfallen. Sie hatten die ganze in sich gespeicherte Kraft freigesetzt, um Theia an den Zielort zu versetzen, vielleicht durch sämtliche Schutzzauber hindurch, die Pickman um sich aufgespannt hatte.

""Okay, Kleines, wie abgestimmt", wisperte Eileithyia und berührte mit dem Zauberstab Selenes Bauchnabel. "Sanguis Matris per Sanguinem Filiae totum monstrato!" wisperte sie. Selene wisperte dazu: "Sanguis meum cum sanguine matris correspondeto!" Dann schloss sie ihre Augen. Dieser mächtige Hexenzauber galt lange Zeit als Vorstufe von Exosenso, dem Zauber, mit dem jemand sich in die Wahrnehmung eines vertrauten Lebewesens einfühlen und darauf einstimmen konnte. Tatsächlich durchdrang Exosenso aber keine magische Barriere, während der von Eileithyia Greensporn und Selene Hemlock gewirkte Zauber alle Barrieren durchdrang, solange Mutter und Kind am leben waren. Jetzt empfand Selene es wieder mal als den besseren Umstand, Daianiras alias Theias Tochter geworden zu sein, statt diese in sich auszutragen und dann doch zur Vampirin zu werden.

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"Tinspoon hat noch mentiloquiert, die Spinnenhexe gesehen zu haben. Mehr kam dann nicht", meldete Gregory Westerly an Minister Dime weiter. Westerly war der Schwager von Tinspoon. Deshalb hatte er seine Schwester als Melo-Kontaktstelle verpflichtet. Immerhin hatte es geklappt, eine Muggelfrau mit einem Markierungszauber zu versehen und diesem zu folgen. Als zehn Minuten vergangen waren sandte Westerly, der eigentlich Strafverfolgungszauberer in Texas war, die nächste Truppe los, diesmal mit Incantivacuum-Kristallen und vor allem Alraunen-Ohrenschützern. Denn Tinspoon hatte was von einem Tanzsaal und einer merkwürdigen Musik mentiloquiert. Womöglich war das eine gefährliche Falle.

Fünf Minuten später wussten sie, dass dort niemand von Tinspoons Leuten zu finden war. Denn sie waren auch nicht zu Dämonenwesen geworden. Das war klar, weil Westerlys Truppe den Ballsaal aus sicherer Entfernung mit Incantivacuum-Kristallen beschossen hatte, bis der ganze Ballsaal erst ein gähnendes schwarzes Loch war und dann mit einem Schlag hunderte von Leichen ausspuckte, die Opfer des Dämonenballes. Zwar hatten sie gehofft, diese Maria Valdez und ihr Schmuckstück noch einsetzen zu können. Doch diese hatte sich nach dem ersten Kontakt zu diesen neuen Vampiren nicht mehr gemeldet. Also hatten wieder hunderte von Menschen sterben müssen, um der menschenfeindlichen Vorstellungskraft eines Hironimus Pickman zu dienen. Das ärgerte Westerly. Doch Tinspoons Leiche war nicht unter den Toten, auch nicht die seiner Mitkämpfer. Also musste die Spinnenhexe sie irgendwie überwältigt und verschleppt haben. Natürlich, das hatte sie doch schon mal gemacht, erkannte Westerly. Dann sollte eben nach dieser Spinnenhexe gesucht werden.

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Anthelia schoss förmlich aus dem Erdboden hervor. Der Stein in ihrer linken Hand glühte noch stärker. Sie fühlte die unmittelbare Nähe tödlicher Gegner und dunkler Magie. Statt den Zauberstab zog sie schnell das Flammenschwert Yanxothars, dass im Kampf gegen mehrere Gegner zugleich gut erprobt war. Und da kamen sie auch schon, erst schattenhafte, dann unbestreitbar handfeste Kreaturen, mehr als drei Meter groß. Wesen, die vom Körper her Menschen waren, aber mit dicken Hornplatten gepanzert waren und vier Tentakel statt Armen trugen oder mit gewaltigen Pranken um sich schlugen, an denen handlange Krallen wie Dolche herausragten. Anthelia wirbelte herum und teilte damit einen mächtigen Rundschlag aus, der die ersten Gegner verstümmelte. Dabei loderte um sie herum eine Feuerwand auf. Sie rief noch eine Beschwörung des schützenden Feuers hinein, die an und für sich aus Sardonias Zeit stammte, aber in der Sprache des alten Reiches auch das Flammenschwert nutzen konnte. Die angreifenden Monster sprangen vorwärts. Brüllten laut auf und gerieten in die orangerot lodernde Feuerwand. Anthelia beschwor diese noch weiter und vor allem dichter. Jetzt stand sie von einem kompakten Ring aus mindestens vier Flammenwänden umschlossen da und hörte die sie bestürmenden Monster. Doch sie musste vorwärts. Wenn sie wartete entkam Pickman ihr womöglich. denn das er hier zu finden war verrieten die wütend angreifenden Kreaturen.

Sie musste den Feuerring in die Richtung öffnen, wo Pickman zu finden war. Nein, besser. Sie benutzte die besondere Kraft des Schwertes, um durch die Reihen der Angreifer hindurchzuspringen, wenn diese abgelenkt waren. So ließ sie den Flammenring blitzartig noch weiter ausgreifen, bis sie nur noch ein wildes Schreien und Brüllen hörte. Dann ließ sie den Flammenring einfach verpuffen und konzentrierte sich auf die massive Tür, in der das Maul eines Drachens eingraviert war. Sicher würde jemand, der da durchgehen wollte von einem konservierten Flammenstoß verbrannt. Doch Yanxothars Schwert konnte das sicher verhüten. Aber Anthelia musste ja die Tür nicht anfassen.

Als die Monster merkten, dass ihre Gegnerin schutzlos war preschten sie wieder vorwärts und stießen zu. Doch gerade als mehrere Dutzend Todespranken zuschlugen verschwand Anthelia in einem orangeroten Feuerball. Als die Ungeheuer diese Überraschung verdauten bemerkten sie, dass aus einer blauen Lichtsäule ein weiterer Eindringling auftauchte. Sofort stießen sie vor, diesen zu ergreifen. Da rief eine entschlossene Frauenstimme: "Congelanto Omnimagines!"

ENDE DES 1. TEILS

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