DER RING DER ROSENKÖNIGIN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Es gibt Dinge aus der Vergangenheit, die sollten besser vergessen und niemals mehr berührt werden. Dass wissen die auf ein friedliches Miteinander von Menschen mit und ohne Zauberkräfte hinwirkenden Hexen und Zauberer nicht erst seit dem Versuch eines deutschen Thaumaturgen, Voldemorts Erbe zu werden, indem dieser sich den im Himalayagebirge versteckten Geist eines Erzdunkelmagiers aus dem versunkenen Reich Altaxarroi dienstbar machen wollte. Ebenso sind die aus langem Schlaf erwachten Kinder Lahilliotas eine weitere Bedrohung aller Menschen, auch wenn diese gegen andere mächtige Feinde zu kämpfen haben. So sind sich alle Hexen und Zauberer, die wissen, dass es das alte Reich wirklich gab und/oder Kenntnisse daraus gewonnen haben darin einig, dass der gerade herrschende Frieden trügerisch ist. Was sie noch nicht wissen ist, das weit vor der Entmachtung Lord Vengors durch die skrupellose Vereinigung Vita Magica bereits eine Kette von Ereignissen begann, die die magische und Nichtmagische Welt betreffen.

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"Henri, bei Abschnitt sieben musst du aufpassen. Da ist in den letzten Jahren immer was vom Hang runtergekommen", quäkte es blechern aus dem kleinen Funkgerät, dass der stämmige Henri Dubois an einem Riemen um den Leib trug. Er nahm das Gerät und drückte die Sprechtaste: "Ich weiß, Charles. Deshalb hat Monsieur Mardi uns doch vorgeschickt, bevor die großen Gelben anrollen. Ich marschiere jetzt los. Ich melde mich, wenn ich den Abschnitt gecheckt hab'. Over!"

"Geht klar, Henri. Aber pass auf, dass du nicht in Cleopatras goldenen Nachttopf reintrittst! Sonst sind die Archis wieder sauer, dass wir denen alles durcheinandergemacht haben", scherzte Henris Kollege Charles Gabin.

Henri nahm das kleine Gerät, das sie seit einem Jahr bei ihrer Arbeit immer mitzunehmen hatten, PDA hieß das, persönlicher digitaler Assistent. Er trug darin ein, dass er um zehn Uhr am zweiten September 2002 den ihm zugewiesenen Abschnitt sieben von zwölf für die neue Umleitung der Autobahnverbindung Toulouse - Paris prüfte. Dann zog er aus dem aufgesetzten Lederrucksack ein hochmodernes Metallsuchgerät, das nicht nur auf im Boden versteckte Metallkörper ansprach, sondern diese auch noch in Umrissen abbilden konnte. Eine Infrarotverbindung konnte die erfassten Körper auch in den Speicher des PDAs überspielen. Doch Henri hatte einen unvorschriftsmäßigen Kunstgriff genutzt, dass nur das gespeichert blieb, was er wollte. Dass er vor diesem Job als Baustreckenbegeher einen Kurs in Computerprogrammierung gemacht hatte wusste außer ihm keiner. Denn er hatte in seinem schon dreißig Jahre dauernden Leben erfahren, dass es nicht immer klug war, sein Wissen raushängen zu lassen. Sollten die ihn doch für den armseligen Trottel halten, der nur gut genug war, das Minensuchkommando für Archäologen oder die ihm nachfolgenden Bagger und Planierraupen zu machen.

Das tragbare GPS-Gerät zeichnete den zu begehenden Abschnitt auf der elektronischen Landkarte vor und markierte Dubois Standort mit einem rot blinkenden Kringel. Er fragte sich da immer, wie die früher die zu bebauenden Strecken abgegangen waren, wo es dieses elektronische Gedöns noch nicht gegeben hatte.

Seine schweren Stiefel drückten deutliche Spuren in den lehmigen, von kleineren und größeren Geröllbrocken durchsetzten Boden, der in der Nähe eines von wild wuchernden Büschen bewachsenen Steilhangs lag. Mit dem Blick des seit fünf Jahren solche Wege absuchenden Begehers konnte Henri Dubois sofort sehen, welche Pflanzen jung waren und welche schon alteingesessenes Gestrüpp waren. Er bewunderte sogar die aus dem Grünzeug herausragenden Bäume, die es schafften, sich trotz des Abhangs sicher am Boden zu halten und es hinbekamen, schnurgerade in den Himmel zu wachsen. Wenn nach einem heftigen Regen so ein Baum aus dem Boden gelöst wurde durfte bloß keiner im Weg stehen, wenn der runterkam, dachte Henri einmal mehr. Tatsächlich sah er die gerade erst wieder zugewachsenen Schneisen, wo mal der halbe Hang runtergerutscht war. Ebenso sah er die aufgeworfenen Erd- und Geröllhügel, die wie langgezogene Wellen den Abschnitt sieben bedeckten. Vier Kilometer durch diese ungenutzte Landschaft. Dabei musste er immer darauf achten, ob sein Metallsucher lospiepte. Die Vorschrift verlangte, dass vor Beginn größerer Aushub- und Bauarbeiten die Strecke auf Altlasten aus den zwei Weltkriegen oder auf altertümliche Fundstätten zu prüfen war. Immerhin hatten hier in der Gegend einige Scharmützel stattgefunden, und es hieß, dass hier auch einige Flugzeuge der berüchtigten Legion Kondor abgeschmiert waren. Doch von denen hatte Dubois bisher kein einziges geortet.

Immer und immer ging er von links nach rechts und von rechts nach links über die vorgegebene Breite des Weges. So ähnlich machten das auch Hunde, wenn sie nach hinterlassenen Duftspuren schnüffelten. Seine Hundenase war in dem Fall das vor sich gehaltene Metallsuchgerät.

Er hatte gerade zwei der vier zu prüfenden Kilometer geschafft. Dafür hatte er nur eine Stunde gebraucht, weil der Boden doch gängiger war, als sie erst befürchtet hatten. Dabei hatte er mit seinem Metallsucher ein altes Fahrrad aus den dreißigern gefunden und den fund und die Koordinaten offiziell in seinem PDA gespeichert. Er hoffte noch auf eine verschüttete Handelskarawane der alten Römer. Bei denen hatte er schon einige Goldmünzen gefunden, die er für sich selbst abgezweigt und über drei Strohleute zu Geld gemacht hatte. Wenn er demnächst die Tochter eines hohen Tiers bei einer Bank heiraten wollte brauchte er mehr als das läppische Baustreckenbegehergeld.

Wieder piepte das Metallsuchgerät und ließ dabei auch das PDA piepen. Dubois schwenkte den Suchkopf des Ortungsgerätes behutsam von links nach rechts und zurück. Die auf getrennten Schwingungswellen arbeitenden Erfassungssensoren konnten so den Abschnitt besser aufzeichnen, um die Form des Körpers anzeigen zu können. Zugleich bekam das Gerät heraus, aus welchem Metall das vergrabene Ding gemacht war. Dubois pfiff durch die Zähne, als er erkannte, dass es ein winziges Ding war, echt nicht größer als eine Schraube oder eine Münze und dass es aus hochwertigem Gold gemacht sein musste. Als er den Fund auf dem kleinen Flüssigkristallschirm ansah pfiff er wieder durch die Zähne. Unter der Erde, wohl einen halben Meter tief, lag ein goldener Ring. Wo der war gab es sicher noch mehr wertvolles Zeug. Aber den Ring wollte er jetzt schon rausholen. Er wies die Anfrage des PDAs zurück, ob der Fund und seine Koordinaten abgespeichert werden sollten und holte statt dessen eine kleine Plastikschaufel aus seiner Tupperdose, in der er sein zweites Frühstück und sein Mittagessen hatte. Ganz behutsam, als würde gleich was aus dem Boden rausschießen oder ihm die Erde unter den Füßen weggeblasen, schaufelte er Erde und Geröll zur Seite. Er wusste, dass er sich nicht zu lange Zeit nehmen durfte. Charles, der die Uhr in der Hand und seinen GPS-gestützten Standortpunkt auf dem Schirm hatte würde nach spätestens zehn Minuten wissen wollen, warum Henri so lange am selben Fleck rumstand. Also musste er bald die zaghafte Löffelei lassen und die kleine Schaufel schon kräftiger in den Boden reinstoßen. Eine Minute vor der geschätzten Anrufzeit hatte er den goldenen Ring freigelegt und griff danach. Er fühlte das Metall, das nur von einer dünnen Erdschicht bedeckt war. Angucken konnte er ihn später. Denn er fühlte, dass in dem Ring mindestens zwei Brillanten von besonderer Form eingebaut waren. Den wollte er also behalten. So wickelte er ihn in ein Taschentuch ein und steckte ihn schnell in die Tupperdose, wischte die Schaufel mit einem anderen Papiertaschentuch sauber und steckte sie auch weg. Da kam Charles' Funkanruf.

"Ich bin voll in ein von Erde bedecktes Loch reingeraten. Musste mich erst mal wieder rausarbeiten und mich wieder einsatzfähig machen, Charles. Durch die Erdrutsche sind hier wohl irgendwelche Hohlräume zugeschüttet worden. Schon 'ne gefährliche Strecke hier."

"Dann markier die Stelle besser! Am Ende sackt noch einer von den großen Gelben weg, wenn der mit seinen zwanzig Tonnen deiner Spur folgt", sagte Charles.

"Habe ich gemacht, als ich wieder einigermaßen saubere Pfoten hatte, Charles. Ich mach jetzt weiter. Bis dann denn! Ende!"

"Weiterhin Hals- und Beinbruch!" wünschte Charles.

Henri Dubois ging weiter. Dabei kreisten seine Gedanken immer um diesen Ring, den er sich eingesteckt hatte. War da noch mehr Schmuck im Boden verbuddelt? Was davon konnte er so heimlich wie den Ring an den Kollegen vorbeischmuggeln? Doch je weiter er sich wie vorhin von links nach rechts und zurück voranarbeitete, desto komischer kam ihm das vor, dass er keine weiteren Goldsachen im Boden fand. Hatte wer diesen Ring auf dem Weg verloren und später versäumt, danach zu suchen? Dann war das Ding vielleicht nicht halb so viel wert wie das Metallsuchgerät gezeigt hatte. Selbst der reichste Schnösel ließ kein Gramm Gold auf dem Boden rumliegen. Tja, oder wer immer war von einem dieser Erdrutsche erwischt worden und hatte danach kein Verlangen mehr nach Gold, dachte Henri Dubois. Immer wieder blickte er den Steilhang hoch, um zu sehen, ob dessen Boden noch hielt. Immer wieder sah er Nadelbäume mit kerzengeraden Stämmen oder sich windende Laubbäume, die auf halber Höhe standen. Ansonsten gab's hier nur Gestrüpp und dazwischen wildes Gras.

Weiteres Gold oder anderes vergrabenes Metall fand er in den nächsten zwei Stunden nicht. Er beschloss, das letzte Wegviertel nach der Mittagspause zu machen. Als Gewerkschaftsmitglied war ihm die Mittagspause heilig. So aß er die kalte Bockwurst mit Senf in einem langen Brötchen und kippte sich einen halben Liter lauhwarmen Tee in den Schlund. Da es hier keine öffentlichen Toiletten gab wässerte er das wilde Grünzeug am Steilhang und ging dann weiter.

Als er Abschnitt sieben abgeschritten hatte meldete er seinem Kollegen, dass er bis auf das verrottende Fahrrad nichts antikes gefunden hatte und jetzt noch Abschnitt acht angehen wollte.

"Na, da wirst du uns zwei aber wohl zwei Überstunden aufladen, wenn du den heute noch durchkriegen willst, Henri", sagte Charles.

"Die und die fünf anderen feier ich dann vor Weihnachten ab", sagte Henri Dubois.

"Klar, mit der süßen Lehramtsstudentin, die du im Tangodrom getroffen hast, wie?" fragte Charles.

"Keinen Neid. Wer hat der hat", antwortete Dubois darauf. Charles sollte sich nicht so aufspulen, nur weil er es hingekriegt hatte, ein etwas besser gebildetes Mädel zu kriegen als die, an der Charles schon seit zwei Jahren herumbaggerte.

Tatsächlich wurde es sieben Uhr abends, bis er den Abschnitt acht auch noch als begangen und für den Ausbau frei gemeldet hatte. Ziemlich erledigt aber doch auch glücklich, was wohl doch interessantes abgegriffen zu haben fuhr Dubois auf seinem zehn Jahre alten Motorrad nach Hause. Er wohnte in einem kleinen Appartment in einer grauen Mietskaserne am Nordrand von Toulouse, wo auch Fabrikarbeiter von Airbus Industries untergekommen waren. Er dachte kurz wieder daran, dass er genauso bei dieser Firma hätte arbeiten können. Doch das war längst Geschichte, erkannte er. Im fensterlosen Badezimmer seiner 70-Quadratmeter-Wohnung besah er sich den unterschlagenen Goldring. Ja, der war echt aus Gold und hatte zwei ganz genial gearbeitete Rubine. Dubois hatte sich eine Lupe genommen, um die roten Edelsteine genauer anzugucken. Die waren so geschliffen, dass sie wie kleine Rosenblütenkelche aussahen, sogar mit Stempel und angedeuteten Staubgefäßen. Wer immer den Ring gemacht hatte war ein Meistergoldschmied, und wer immer den Ring bestellt hatte, der oder die hatte sicher eine Menge Zaster gehabt, dachte Dubois anerkennend und beinahe ehrfürchtig. Er konnte nur nicht erkennen, ob der Ring für einen reichen Burschen oder für dessen Herzensdame gemacht worden war. Probehalber steckte er den Ring auf die rechte Ringfingerkuppe, wagte es aber nicht, das Schmuckstück richtig durchzuschieben. Irgendwie meinte er, dass der Ring sich sanft zusammenzog und wieder nachgab, als würde er immer wieder kleiner und dann wieder größer. Doch das war sicher, weil der für seine Finger zu eng war und deshalb seine eigenen Adern zusammendrückte und deshalb sein Blut nur unter größerem Druck weitergepumpt wurde. Doch als er den Ring eine halbe Minute trug meinte er, etwas sanft in seinem Kopf tastendes zu fühlen. Da wummerte es aus der Nachbarwohnung. Der pickelige Rotzbengel aus der Nachbarwohnung hatte seine Privatdisco aufgedreht und ließ mal wieder alle anderen seine Lieblingshits mithören. Dass nebenan Leute wohnten, die den ganzen Tag und drei Stunden mehr malocht hatten war dem klapperdürren Bürschlein doch voll egal. Doch irgendwie ärgerte das Dubois heute nicht so wie sonst, wo er je nach Tageslaune schon mal gegen die Wand gebollert oder den Futtergeber von diesem Technojunkie die Meinung gesagt hatte. Er war hin und weg von dem Ring, den er gerade am Finger hatte. Dieses Pochen am Finger war, als würde der Ring mit ihm reden. Er sah die zwei rosenblütenartigen Rubine an und dachte daran, dass dieser Ring doch das geniale Verlobungsgeschenk für seine Freundin Rose Britignier war. Er musste ihr nur was von einer Versteigerung im Internet erzählen, bei der er das Ding ergattert hatte. Irgendwie kam ihm dann die Frage in den Sinn, was das eigentlich war, das Internet. Er musste grinsen. Ja, stimmt, die Frage hatte er sich vor sechs Jahren echt gestellt, als er bei der Ausbildung von Kollegen gehört hatte, die mit E-Mails und Webseiten rumjonglierten. So verlor er sich eine volle Minute von hämmernden Bässen unterlegter Zeit in Gedanken an das Internet und wie er das selbst schon fast beiläufig benutzte. Dann hatte er die Idee, seiner Freundin Rose eine Mail zu schicken, dass er sie gerne am kommenden Wochenende in Paris treffen würde. Als er die Nachricht abgeschickt hatte zog er vorsichtig den Ring vom Finger. Der war jetzt ganz warm. Er säuberte ihn mit Reinigungsalkohol, damit er morgen auch richtig funkeln und blitzen konnte. Morgen würde er seiner Freundin die Frage aller Fragen stellen.

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Rose Britignier war Anfang zwanzig, schlank und dunkelhaarig. Sie sah zwar eher wie der Durchshnitt aller französischen Mädchen aus, aber dann doch eher im oberen Bereich der Skala.

Eigentlich hatte ihr Vater geplant, dass sie ein BWL-Studium machte und dann in einer der international tätigen Banken anfing, um wie er viel Geld anderer Leute zu jonglieren. Aber das war nie ihr Ding gewesen, Zahlen, Buchhaltung und dergleichen. Sie hatte sich als junges Mädchen immer schon für alte Geschichten und wichtige Ereignisse interessiert und war als Juniorin im Turniertanzen und Schwimmerin auch sehr sportlich unterwegs, wo ihr Vater diesen elitären Golfsport verehrte, nicht weil das ein Sport war, sondern weil er dabei immer mit irgendwelchen wichtigen Leuten zusammenkam. Also hatte sie beschlossen, Geschichte und Sport auf Lehramt zu studieren, was ihr Vater als "Proletenkinderdompteuse" abgetan hatte, ihre Mutter, die als Journalistin tätig war, jedoch hellauf begeistert hatte. Die hatte ihrem Vater dann einen Vortrag gehalten, dass dessen Kunden ja nur dann viel Geld anlegen konnten, wenn sie nicht dumm waren und dass irgendwer denen ja alles beibringen musste. So hatte Rose sich eher leicht als schwer vom Elternhaus abgekoppelt und an der Pariser Eliteuni Sorbonne angefangen. Das Geld für die kleine Wohnung erarbeitete sie sich mit Nachhilfeunterricht für Oberschulkinder, weil ihr Erzeuger ihr von seinem hart erarbeiteten Geld nichts für ein für den so unpraktisches Studium rüberreichen wollte.

Als Rose nach einem abwechslungsreichen Tag ihren Klapprechner anschaltete und nach eingetroffenen Mails suchte fand sie auch die Nachricht von Henri Dubois, der in Toulouse wohnte, aber an den Wochenenden meistens nach Paris fuhr, um da weit weg von den Kollegen die Arbeitswoche abzuhaken. Dabei hatte sie ihn in einem gehobenen Tanzlokal namens Tangodrom kennengelernt. Zwar war der "nur" Angestellter in einer Straßenbaufirma. Aber was er da machte war schon wieder interessant. Er musste geplante Bauabschnitte prüfen, ob da was lag, was beim Bau kaputtgehen konnte oder gar für die Bautruppe gefährlich sein konnte wie alte Minen oder Fliegerbomben. Er hatte ihr auch mal erzählt, dass er ein Nachtlager durchziehender Legionäre aus dem Imperium Romanum aufgespürt hatte, weil da irgendwelche Leute kaputtgegangene Tongefäße entsorgt hatten. Er hatte sich darauf hin einen von ihr spontan gehaltenen Vortrag über den gallischen Krieg anhören müssen, das aber irgendwie auch gut weggesteckt. Klar, wo der mit Asterix und Obelix groß geworden war fand er das wohl mal richtig, über die geschichtlich belegten Einzelheiten unterrichtet zu werden. Sie fand an ihm so anziehend, dass er trotz der angeblich so rangniedrigen Arbeit eine Menge auf dem Kasten hatte. Vor allem seine dunkelbraunen Augen strahlten Intelligenz und eine Spur von Verwegenheit aus. Genau deshalb hatte sie mit ihm diese Wochenendbeziehung angefangen, wobei sie wegen ihrer katholischen Schulbildung schon drauf wertlegte, dass vor einer Hochzeit nichts heftiges lief.

Als das Wochenende kam zog sich Rose ihr grünes Tanzkleid an und traf sich mit Henri Dubois, der im dunkelbraunen Anzug und hellgrauem Hemd ankam im Tangodrom im Quartier Latin. Dass Henri schon seit Jahren einen festen Job hatte interessierte die hier auch tanzenden Studenten nicht. Für die war Henri ein älteres Semester, das wohl nicht wusste, was genau eigentlich laufen sollte.

Nach dem Tanzabend kehrten Rose und Henri noch in einer kleinen Bar ein. Bei leise aus den versteckten Lautsprechern rieselnder Jazzmusik sprachen sie über die verstrichene Woche und dass Henri jetzt die Gegend um seine Heimat Toulouse abgehen musste, um bloß keine wertvollen Altertümer zu beschädigen, wenn die großen Raupen und Schaufelbagger anrückten. Als die bestellte Karaffe Cognac zur hälfte geleert war fand Rose in ihrem Glas etwas glitzerndes. Es war ein schmaler Goldring, von dem aus wie zwei rote Sterne eingefasste Steine glommen. Als sie den Ring aus dem edlen Weinbrand herausfischte fragte Henri sie: "Rosie, jetzt sind wir schon drei Jahre an den Wochenenden zusammen. möchtest du auch alle Wochentage mit mir zusammen sein, als meine Frau?"

"Och, hast du den Ring extra für mich machen lassen?" fragte sie zurück, ohne seine Frage zu beantworten. Er sah sie sehr erwartungsvoll an, als sie den Ring genauer untersuchte. Die zwei zu Rosenblütenkelchen geschliffenen Rubine gefielen ihr unübersehbar gut. Dann sagte sie: "Dir ist klar, dass ich dich dann meinen Eltern vorstellen muss, wo du so Angst hast, vor denen im Boden zu versinken?"

"Jetzt habe ich diese Angst nicht mehr, Chérie", erwiderte Henri.

"Ich möchte da gerne eine Nacht drüber schlafen, mon Cher. Sowas möchte ich nicht übers Knie brechen", erwiderte Rose. "Machen wir es so. Wenn ich dir vor deiner Rückfahrt den Ring wiedergebe, dann bleiben wir besser nur Freunde. Behalte ich ihn, dann heiraten wir nächstes Jahr, wenn ich die Zwischenprüfung geschafft habe. Ich muss ja dann auch überlegen, wer zu wem zieht. Oder möchtest du ohne Job im viel zu teuren Paris wohnen?"

"Es gibt Läden und Lokale in Toulouse, die können locker mit Paris mithalten", grummelte Henri, der eigentlich gehofft hatte, sie würde gleich verbindlich ja sagen. Sie sah ihm die gewisse Enttäuschung an. Doch sie wollte nicht die mit romantischen Spielereien zu beeindruckende Prinzessin geben, wo der Prinz nur auf einem weißen Pferd anzureiten brauchte, um sie dahinschmelzen zu lassen. Sie wollte sich das schon genauer überlegen. Außerdem sah sie in seinem Blick das nicht mehr ganz so gut versteckte Begehren, die Nächte in Prais nicht schon nach dem Tanz oder dem Gespräch in einer Bar zu beenden. Doch genau da war sie zu sehr festgeklopft, dass derlei nur nach einer offiziellen Hochzeit abzulaufen hatte. Solange hatte jeder zu warten, auch Henri.

Nach einer halben Minute Stille sagte Henri: "Mir war klar, dass du dir das ganz genau überlegen willst. Aber ich habe gehofft, dass du dir genauso sicher bist wie ich, dass wir zwei auch das ganze Leben zusammen sein können."

"Wie gesagt, ich schlafe drüber. Am Sonntag nachmittag sage ich dir, wie ich mich entschieden habe. Aber jetzt mal doch: Hast du den Ring extra für mich machen lassen? Die zwei Rosenrubine sind ja ganz fein gearbeitet."

Den Ring habe ich diese Woche im Internet gesehen, als ich nach irgendwas schönem zum Thema Rosen gesucht habe", erzählte Henri. Tja, und da kam ich gerade noch rechtzeitig zu einer Versteigerung dazu. Natürlich sage ich nicht, was ich bezahlt habe. Aber dieser Ring schien zu sagen, dass nur du den bekommen solltest."

"Mein Vorname ist nicht so selten, Henri. Sicher hat den schon eine andere Rose vor mir getragen. Aber ich probiere ihn mal an, wenn du möchtest." Er mochte. So steckte sie sich den Ring auf ihren rechten Ringfinger. Ja, er glitt beinahe wie von selbst darauf, saß aber gerade fest genug, um nicht wieder abzurutschen. Rose fühlte das sanfte Pochen im Finger. War der Ring vielleicht doch zu eng? Dann empfand sie das nicht mehr. Vielmehr meinte sie, ein Gefühl von Erhabenheit und Vorfreude zu empfinden, als wenn sie gleich zu einer sehr wichtigen Feier hinging, die nur für sie veranstaltet wurde. Ein wohliges Gefühl von Wärme schien sich von ihrer rechten Hand aus durch den Arm in ihren ganzen Körper auszubreiten. Sie empfand es so, als habe sie nach vielen Jahren endlich den Halt im Leben gefunden. Das mochte die Vorstellung sein, an Henris Seite vor einen Traualtar zu treten, ihre bucklige, geldsüchtige Verwandtschaft hinter sich tuscheln hörend und Henris sicher bodenständige Anverwandtschaft auf der anderen Seite vom Gang, die strahlende weiße Braut bewundernd. Dann kam ihr komischerweise der Gedanke, dass sie auch genausogut nur standesamtlich heiraten konnte. Katholische Priester und Nonnen hatten sie schließlich lange genug begluckt und bevormundet. Ja, vielleicht flog sie mit Henri auch nach Las Vegas, um in einer der zwar kitschigen aber auch praktischen Hochzeitskappellen zu heiraten. Jedenfalls war es sehr lieb von ihm, dass er ihr diesen wunderschönen Ring gegeben hatte. Wollte sie den wirklich wieder hergeben? Sie musste es wohl, wenn sie fand, dass Henri doch nicht der richtige für eine Ehe war.

Die wohlige Wärme, die ihren Körper erfüllte, hielt vor, bis sie vor dem noblen Appartmenthaus aus dem Taxi stieg, dass sie von der Bar aus genommen hatte. Der Ring mit den Rosenrubinen steckte nun wie für sie gemacht an ihrem Finger. Sie würde ihn nicht ablegen.

Behutsam verrichtete sie alle Angelegenheiten, bevor sie sich ins Bett legte und sofort einschlief.

Sie hatte lange keinen Traum mehr in ihren Erinnerungen behalten, und wenn, dann waren es meistens Träume von Ereignissen, über die sie kurz zuvor gelesen hatte. Doch was sie jetzt im Traum erlebte stand in keinem der vielen Geschichtsbücher, die sie auf den an die Wand gedübelten Brettern aufgereiht hatte.

Sie hockte mit weit gespreizten Beinen über einer Mulde. Eine zierliche Frau mit nachtschwarzem, sehr feinem Haar hockte ihr gegenüber und sah auf ihren weit vorgewölbten Bauch. Sie erschrak, als sie erkannte, dass ihr Unterleib weit geöffnet war und Blut und andere Flüssigkeit daraus herauslief. Sie schrie auf wie vor Schmerz, obwohl sie selbst irgendwie keine Schmerzen fühlte. Sie kam gerade nieder. Sie fühlte Panik, weil das zu gebärende Kind nicht auf die natürliche Weise ans Licht der Sonne kommen wollte. Als sie dann noch hörte, dass es wohl quer in ihrem Becken steckte flossen Tränen aus ihren Augen. Die andere half ihr, ihre Gefährtin, ihre Geliebte, die zweite Mutter dieses Kindes. Sie wusste, dass sie mit dieser Frau das Kind gezeugt hatte, mit Hilfe von Magie, weil keine von beiden einen Mann an sich heranlassen wollte. So gelang es der anderen auch nur durch Magie, das ungeborene Kind zu drehen. Doch dabei musste sie wohl was in ihr, der Gebärenden, verletzt haben. Denn als das Kind ans Licht der Welt drängte blutete sie viel zu stark nach. Sie fühlte, dass sie das nicht überleben würde und sang ein Lied, dass die Helferin und Geliebte sichtlich erschreckte. "Giorgiana, du wirst nicht sterben. Nein, du musst nicht das Lied des Übergangs singen!" hörte sie. Doch die Gebärende, die eigentlich Rose Britignier war, hörte nicht auf. Da meinte sie, wie sie aus ihrem immer weiter ausblutenden Körper hinausglitt wie unter einer dünnen Daunendecke hinweg, auf das ihr gerade erst entbundene Kind zu, dass gegen ihr Lied anschrie, darauf zu und dann, mit einem Ruck, war sie auf nur ein Drittel der üblichen Größe verkleinert. Sie fühlte unbändige Angst und Hilflosigkeit und schrie diese mit der laut widerhallenden Stimme eines neugeborenen Mädchens in die viel zu große Welt hinaus. Einer dieser Schreie war so laut, dass sie davon aufwachte und gerade noch hörte, dass sie wie ein gerade erst geborenes Baby schrie. Rose erschrak, als sie sich in einem dunklen Raum wiederfand. Erst nach zwanzig bangen Sekunden erkannte sie, dass sie nur geträumt hatte. Sie war nicht wirklich erst die unter freiem Himmel niederkommende Frau gewesen, die dann durch ein Zauberlied in den Körper ihrer gerade geborenen Tochter eingefahren war, um den sterbenden Erwachsenenkörper aufzugeben. Sie schob den Traum darauf, dass sie vor kurzem Berichte über die achso bösen Hexen gelesen hatte, die mit dem Teufel Kinder zeugten oder wenn sie doch ergriffen und getötet wurden in die Körper unschuldiger Neugeborener schlüpften, um darin neu heranzuwachsen. Ja, anders konnte dieser Albtraum nicht gedeutet werden. Sie horchte, ob jemand in einer der Nachbarwohnungen vielleicht ihre Schreie gehört hatte. Doch es blieb still. Sie hörte nur ihr immer noch wild pochendes Herz und fühlte den immer noch an ihrer rechten Hand steckenden Ring im gleichen Rhythmus pochen. Der erste Gedanke, den im Moment noch geborgten Ring abzunehmen verflog. An dem Ring lag es ja nicht, was sie so für Träume hatte, dachte sie. Sie sah auf die schwach glimmende Anzeige ihres Funkweckers und beschloss, die zwei Stunden bis zum offiziellen Aufstehen noch zu schlafen.

Wieder fand sie sich im Körper einer Neugeborenen, die jedoch gerade gestillt wurde. Die Frau, deren Milch sie gierig in sich aufsaugte sang ihr beruhigende Zeilen. Sie erinnerte sich, dass ihre Austrägerin gleich nach der beschwerlichen Geburt verblutet war und dass ihre Nährmutter sie angenommen und ihr den Namen Ladonna gegeben hatte. Auseinandergeschrieben bedeutete der Begriff im italienischen sowohl Frau als auch Herrin. Schon ein erhabener Name für eine Zwei-Hexen-Tochter, dachte sie. Dann fiel ihr ein, dass Domenica, ihre zweite Mutter und nun auch Amme, vorher schon eine Tochter bekommen hatte, Regina. Die war acht Jahre älter als sie gerade und schlief von einem Trank betäubt. Ihr würde sie dann wohl bald vorgestellt werden. "Guck, Ginella, das ist deine kleine Schwester Ladonna. Oh, Mamma Giorgi ist weggegangen und wartet auf uns alle im Land der Vorausgegangenen. Schon ein lästiger Gedanke, den sie da hatte. Aber andererseits hatten sie beide das Ziel erreicht, sie und ihre Geliebte, deren Ziehtochter sie nun sein würde. Sie hatten es geschafft, miteinander je ein Kind zu haben. Doch wenn sie gewusst hätte, dass sie in diesem Mädchen neu groß werden musste ... Darüber wachte sie auf und fand sich als erwachsene Rose Britignier wieder im Bett. Wie ging das an, dass sie nahtlos an ihren vorigen Traum angeknüpft hatte. Sowas hatte sie bis heute nicht hinbekommen. Egal! Gerade piepte der Wecker und blinkte hell mit den Ziffern, die zeigten, dass es nun 09:00:00 Uhr war, Zeit zum Aufstehen.

Auch wenn heute Sonntag war legte Rose viel Wert auf einen geordneten Tag-Nacht-Rhythmus. Denn sie wollte nicht das Klischee bedienen, Studenten würden erst mit dem Schlag der Mittagsglocken aufstehen. Außerdem ging sie um zehn gerne in den Gottesdienst, wo Abbé Maret die vom Arbeits- und Universitätsstress geplagten Gemeindemitglieder mit der Zuversicht versorgte, dass der Herr ihren Fleiß und ihre Demut dereinst belohnen würde, aber gleichzeitig auch sehr aufmerksam zu den ganzen Kindern sprach, die zwischen Gelangweilt und Schlafpause auf den Bänken hingen, sofern sie nicht gerade im Jahr der Erstkommunion steckten und deshalb meinten, der Abbé sei die wichtigste Person überhaupt.

Als Rose im dunkelblauen Sonntagskleid in einer der zwanzig Bankreihen saß und der Kantor die letzten Töne des Eröffnungschorals abspielte dachte sie mit gewisser Abfälligkeit daran, dass diese Kirche mit Geldern zur Reue getriebener Leute gebaut worden war und der Abbé auch nur ein Diener jener scheinheiligen Bruderschaft war, die im Namen ihres Heilands mehr Unheil als Segen in die Welt gebracht hatten. Ihr Wissen von der Geschichte piesackte sie mit Bildern von Kreuzrittern, die im nahen Osten Städte belagerten und dann plünderten, wobei sie völlig unchristlich über die vor Angst weinenden Frauen und Mädchen hergefallen waren. Sie dachte an die Inquisition, die wie ein ständiges Damoklesschwert über jedem hing, der nicht daran glauben konnte, dass die Priester und Äbte immer recht hatten. Sie dachte an die organisierte Verfolgung angeblicher Hexen und Zauberer, deren durch Folter erpresste Geständnisse und die für den ebenfalls in Angst und Schrecken gehaltenen Pöbel zur Mahnung und erheiterung öffentlich verbrannt wurden. Ja, und sie dachte auch an die ersten Kolonisationserfolge der Spanier in Amerika. All das vertrat dieser gerade wieder mal das Loblied auf den alle und jeden beschirmenden Herrgoot psalmodierenden Mann in der schwarzen Sotane, die genausogut rot vom Blut all derer sein konnte, die im Namen dieser heuchlerischen Bande dahingemetzelt worden waren. Statt des sonst so warmen Gefühls der Verbundenheit und demütigen Andacht fühlte sie nur Widerwillen und Verachtung für den Priester und seine Worte. Sie fragte sich keinen Moment, warum sie so anders fühlte. Doch sie wusste auch, dass sie hier und jetzt nicht auffallen durfte, dass sie weiterhin die andächtige Zuhörerin geben musste, damit dieser Pfaffe da auf der Kanzel nicht dumm fragte. Irgendwie musste sie innerlich grinsen, als sie sah, wie innig er einen der jungen Messdiener ansah, der zu seinen lange nachhallenden Worten die rituellen Handlungen vollzog. Gerade stimmte der Kantor das nächste Lied an. Sie sang mit und schaffte es so, ihre außergewöhnliche Stimmung zu verdrängen.

Als der Abbé die Gemeinde mit "Gehet hin in Frieden" aus der Messe verabschiedete dachte sie daran, ob sie von dem wirklich getraut werden wollte. Vielleicht sollte sie ihm einen Streich spielen und doch vor den Glocken mit Henri oder einem anderen Mann schlafen. Doch komischerweise empfand sie diesen rebellischen Gedanken auf einmal als abartig. Wenn sie mit einem Mann schlafen wollte dann nur, wenn der auch bereit war, mit ihr ein Kind zu haben. Sie konnte sich zwar vorstellen, dass Henri auch ohne Hochzeitsglocken ein Kind großziehen konnte. Aber ob er das wollte wusste sie nicht. Nein, sie musste den Typen erst heiraten, damit der bloß nicht auf die Idee kam, sie sitzen zu lassen, sobald sie schwanger war. Bei diesem Gedanken hörte sie die Schmerzensschreie aus ihrem Traum wieder im Kopf. Das war schon absonderlich, dass ein Kind von zwei Frauen abstammen sollte. Denn an Magie und Hexerei glaubte sie doch nicht im Ernst. Es war eben auch nur ein Traum, der ohne Logik und naturwissenschaftliche Grundlagen auskam.

Im Verlauf des Nachmittages dachte sie jedoch ganz stark darüber nach, dass sie von Henri ein Kind oder zwei haben wollte und dass sie ihn deshalb auf jeden Fall heiraten wollte. Sie würde ihm den Ring nicht mehr wiedergeben, statt dessen würde sie ihm sich selbst schenken.

Als sie sich um sieben Uhr noch einmal in einem Restaurant trafen sagte sie ihm: "Ja, ich will deine Frau werden, die Mutter deiner Kinder. Wenn die Zwischenprüfung geschafft ist heiraten wir. Ich überlasse es dir, ob du in einer Kirche oder nur auf dem Standesamt heiraten willst. Aber ich bitte dich um einen feierlichen Eid auf den Ring, den du mir verehrt hast, dass du genauso alle Zeit für mich da sein willst, wie die beiden Rosen auf diesem Ring blühen."

Henri Dubois legte seine rechte Hand auf den von ihr getragenen Ring und schwor ihr, genauso alle Zeit bei ihr zu sein, wie die beiden Rosen auf dem Ring blühten. Dann zog er seine Hand zurück, jedoch ein wenig ungeschickt. Die Ränder der Rosenblüten ritzten seine Haut, und zwei winzige Blutstropfen rieselten auf Roses rechte hand. Doch beide machten darum kein Aufsehen, zumal keine großen Wunden geschlagen worden waren.

Als Henri seine nun zukünftige Frau auf dem Südbahnhof küsste, bevor er in den Hochgeschwindigkeitsexpress nach Tolouse stieg, dachte Rose daran, dass sie froh war, zu leben und alles zu tun, damit es sich lohnte.

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Henri Dubois besah die zwei kleinen geronnenen Blutstropfen an seiner rechten Handinnenfläche. Er hatte nicht gedacht, dass dieser Rosenring so scharfkantig war. Immerhin hatte seine Mission den gewünschten Erfolg erzielt. Rose Britignier würde bald seine Frau. Dann würde sie ihm auch nicht mehr was von wegen katholischer Enthaltsamkeit erzählen. Bei dem Gedanken fühlte er eine deutliche Erregung im Unterleib. Er musste schnell an was anderes denken, um nicht für alle sichtbar erregt dazusitzen. Denn ihm gegenüber saßen zwei alte Frauen, von den Gesichtern her Schwestern. Nachher bildeten die sich ein, er stehe auf eine von denen. So dachte er schnell an die letzten Berichte, die er hatte schreiben müssen, um seine Baustreckenbegehung bürokratisch abzuschließen. Er wusste nicht, wem der Ring früher gehört hatte und warum der ausgerechnet auf diesem Weg gelegen hatte. Hätte ihm das jemand alles erzählen können, so hätte er womöglich lauthals losgelacht und den Erzähler für einen genialen Märchenerzähler gehalten, der vielleicht mal ein paar leichte Gruselgeschichten schreiben sollte.

Spät am Abend traf er in seinem eigenen Apartment ein. Nachbars Burschi ließ wieder seine Hammerdisco laufen. Diesmal hatte er jedoch keinen aktuellen Ohrwurm laufen, sondern einen hammerharten Technohit der Neunziger "Hyper Hyper", rief der sattsam bekannte Technoguru Scooter gerade durch die Wand. Henri grummelte und ging zur Nachbarwohnung hinüber.

Auf sein Klingeln tauchte ein hochgewachsener Bursche um die neunzehn Jahre auf, der wohl Arnold Schwarzenegger als Vorbild verehrte. "Eh, Mann ganz cool bleiben. Wir feiern nur in Jeans Geburtstag rein."

"Du bist nicht Jean. Wo sind dem seine Eltern?" fragte Dubois.

"Tja, die sind auf Martinique, da auch mal abfeiern", sagte der halbfertige Muskelmann.

"Jungs, ich war auch mal jung. Ist noch nich' so lange her. Aber ich hab immer drauf geachtet, dass meine Alten keine Probs mit den Nachbarn hatten. In zehn Minuten ist die Pressluftmucke aus oder hier reitet die Discotruppe mit der blauen Lichtorgel an. Gib das bitte an Jean weiter!"

"Eh, du kleiner Proll willst die Bullen rufen?" lachte der neunzehnjährige Möchtegernbodybuilder. "Dann kriegst du aber Terz mit Jeans alten. Die wollen hier keine Bullerei im Haus haben."

"Ist kein Thema, Jungs. Ihr zieht die Musik auf Zimmerlautstärke runter, dann ist für alle gut", sagte Henri unbeeindruckt, dass der Jüngling da seine Oberarmmuskeln aufpumpte. Der Halbstarke hatte doch keinen Dunst, was er an Muckis brauchte, um den Job zu machen, den er machte. Doch irgendwie beeindruckte den halben Schwarzenegger das, wie ruhig und unerschütterlich Jeans Nachbar vor der Tür stand. "Gut, Monsieur. Ich geb's weiter", sagte der andere. Dann ging die Tür wieder zu. "Ey, Jaen, Janine, Babs, die Mucke leiser. Der Bauarbeiter von nebenan will sonst die Cops rufen!" hörte Henri noch durch die geschlossene Tür. Den darauf folgenden Fluch verstand Henri nicht. Doch dass Scooter gerade abgewürgt wurde nahm er mit gewissem Triumph zur Kenntnis.

Eine halbe Stunde später lag er im Bett. Ob die ganz sachten Quietschgeräusche, die er hörte, echt von nebenan kamen oder er nur träumte, dass er mit Rose gerade ganz nah zusammen war wusste er nicht mehr. Beinahe übergangslos schlief er ein.

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Die nächsten Wochen vergingen. Es wurde Oktober. Es wurde November. Rose Britignier brauchte unter der Woche immer viel Kaffee, um in den Tag hineinzukommen. Das lag daran, dass sie jede Nacht was anderes abgedrehtes träumte.

Es hatte damit begonnen, dass sie als kleines Mädchen mit ihrer größeren Schwester Regina genannt Ginella darum etteiferte, wer die bessere im Aufsagen von Zaubersprüchen, Tanzen, laufen, Schwimmen oder sticken war. Ginella hatte immer klargemacht, dass sie die ältere war und Domenica ihre Mutter war und sie, Ladonna oder Donnina, nur das Ziehkind, weil deren Mutter sie nicht mehr haben wollte. Es hatte sie immer in der Zunge gekribbelt, dieser püppchenartigen Göre zu zeigen, dass sie ihr in allem überlegen war. Doch sie wusste, dass es dafür noch zu früh war.

Als wenn Rose in den Träumen das Leben dieser Ladonna durchlebte bekam sie mit, wie aus dem Mädchen, in dessen Körper der Geist ihrer unter der Geburt verstorbenen Mutter eingezogen war, eine junge Frau wurde. Sie erlebte mit, wie sie in den Künsten einer Hexe ausgebildet wurde. Dass sie dabei Zauberstäbe benutzten, wie Rose es eher von Feen und Zauberern kannte, hatte sie nach dem Aufwachen immer gewundert. Doch irgendwie war ihr nie die Idee gekommen, dass es sich um tatsächlich erlebte Ereignisse handelte. Nur wenn sie von ihrer eigenen Kindheit, dem katholischen Mädcheninternat und die endlosen Gespräche mit ihrem Vater über ihre Zukunft träumte wusste sie, dass das so abgelaufen war. Als dann die Ausschnitte aus dem Leben dieser Hexe namens Ladonna mit den Bildern ihrer Firmung zusammenflossen, und sie über die salbungsvollen Worte des Priesters hinweg die Worte: "Heuchler, Seelenfänger, Hexenfresser" mit Ladonnas aus dem Nichts klingenden Stimme rufen hörte fragte sie sich schon, ob da nicht irgendwas war, das nicht mehr ganz richtig war. Sie wusste, dass Studenten, die auf eine wichtige Zwischenprüfung hinarbeiteten, merkwürdige Träume haben konnten. Aber dass sie, eine höhere Tochter, die gerade auf eine Anstellung als Oberschullehrerin hinarbeitete, das Leben einer mit Zauberstab hantierenden Hexe nachträumte war schon komisch. Sie überlegte, ob da nicht irgendwas in ihrem Unterbewusstsein schlummerte, was jetzt, wo die Zwischenprüfungen anstanden, aus ihr herausbrach. Einmal dachte sie daran, dass sie erst dann diese Träume hatte, als Henri ihr den Ring mit den zwei Rubinen geschenkt hatte. Doch dann verwarf sie diese Idee wieder. Sie glaubte doch nicht an Magie und damit auch nicht an sowas wie Zauberringe wie den, von dem es ihre Mitstudenten gerade mal wieder hatten, weil Tolkiens Epos vom Herrn der Ringe als mehrteilige Kinofilmreihe aufgelegt worden war.

Ladonnas Hexenleben begleitete sie weiter durch ihre Nächte und machte, dass sie sich am nächsten Morgen immer sehr ausgezehrt fühlte. Sie hatte sogar davon geträumt, wie diese Hexe mit ihrem Blick alleine Männer dahinschmelzen lassen konnte, dass sie mit vierzehn schon voll erblüht war, was ihrer älteren Schwester Ginella sichtlich zu schaffen machte und dass sie mit fünfzehn Jahren zum ersten Mal Sex hatte. Die Einzelheiten dieser Liebesnacht waren so klar und überdeutlich gewesen, dass Rose am nächsten Morgen mehrmals nachprüfen musste, ob sie selbst noch jungfräulich war. Wieso konnte sie so genau davon träumen, wie es sich anfühlte, Liebe zu machen, wo sie das selbst noch nie erlebt hatte?

Zwischendurch musste sie immer wieder Henris Ring ablegen, wenn sie sich die Hände eincremte. Dabei meinte sie immer, irgendwas wichtiges fehle ihr.

Ihre Träume erzählten die Geschichte der jungen Hexe weiter, wie diese eine eigene Schwesternschaft gegründet hatte und gegen Zauberer und ihr nicht gefallende Hexen gekämpft hatte. Dabei hatte sie keinen ihrer Feinde umgebracht, sondern nur betäubt, in das Haus ihrer Mutter bei Florenz verschleppt und dort aufgeweckt, nur um ihn oder sie dann damit zu konfrontieren, ihn oder sie in eine langstielige Rose zu verwandeln, die fest verwurzelt in einem Gartenbeet stand. Außerdem war sie der Schreck jeder sittsamen Familie, weil sie deren gerade erst zu Männern heranreifenden Söhne auf ihr Lager lockte und sie benebelt von der wilden Lust und ihrem übernatürlichen Charme zurückzuschicken. Wer sie deshalb der Hexerei bezichtigte fand sich bald als weitere Rose in ihrem weitläufigen Garten. Ihre Ziehmutter hielt jedoch die schützende Hand über sie, bis Ginella, die sich von ihren handzahmen Mitschwestern nur Donna Regina nennen lassen wollte, ihre jüngere Schwester zur Rede stellte, was ihr einfiele, mit Mogglinos herumzuhuren wie eine verlauste Straßendirne aus Florenz. Außerdem hatte die es gewagt, Ladonna einen Unterwerfungsschwur abzufordern. Darauf war Ladonna nicht eingegangen. Sie hatte gerufen: "Ich, die wahre Herrin, unterwerfe mich doch nicht einer eifersüchtigen Jungfrau, die meint, eine Königin zu sein, aber doch nur eine Prinzessin im vergleich zu ihrer eigenen Mutter. Mamma Domenica hat mich großgezogen, damit ich das wahre Erbe von ihr und Mamma Giorgina antrete. Sicher, die haben dich Regina genannt, was ja Königin heißt. Aber dann haben sie doch gemerkt, dass du nicht mal halb so mächtig werden wirst wie sie gehofft haben. Kommt eben doch auf den Bauch an, aus dem jemand herauskrabbelt. Ich musste schneller wachsen, um geboren zu werden. Ich wäre im Leib von mamma Giorgina fast erstickt, und wegen mir hat Mamma Giorgina ihr Leben verloren, damit ich groß und mächtig werden kann."

"Du hast dich mir zu unterwerfen, Donnina", hatte Regina da gezischt und irgendwie weißen Flaum ins Gesicht bekommen, wie die Daunenfedern eines Schwans.

"Solange ich mit Leib und Seele eins bin werde ich mich weder dir noch Donna Lucina noch wem anderes unterwerfen, Ginella. Wenn du mich unterwerfen willst, dann musst du mich im Duell besiegen", hatte Ladonna ihrer großen Schwester entgegengespieen und aus dem Zauberstab einen rosenroten Federhandschuh herausfliegen lassen, der genau vor Reginas schmalen Füßen gelandet war. Die andere hatte den Handschuh sofort aufgenommen und gezischt, sich um Mitternacht in einem Waldstück zu treffen, um es ein für alle mal auszukämpfen. Ladonna hatte da wohl erst gedacht, dass Domenica das nicht sonderlich mögen würde. Doch jetzt war das Wort gesagt und musste wahrgemacht werden.

Was bei dem Duell passiert war erlebte Rose Britignier dann in der nächsten Nacht. Ladonna und Regina hatten sich unter wilden bunten Lichtentladungen, aus dem Nichts kommenden Ungeheuern, Feuerbällen oder lautem krachen, Spotzen und Prasseln wie zwei Degenfechterinnen ihre Zauberstäbe entgegengestreckt, damit geschwungen und gewedelt, zugestoßen oder unsichtbare Schläge damit abgeschmettert. Das ganze war über eine gefühlte halbe Stunde gegangen und hatte mehrere Bäume entweder zersprengt, in verschieden farbigen Flammen aufgehen lassen oder in abartige Gebilde verwandelt, die sogar von alleine herumlaufen konnten. Doch dann waren Reginas Attacken immer seltener gekommen. Der silberne Schild, der sie wie einen Mantel aus Licht umgab, hatte geflackert. Und mit einem mächtigen, vierfarbigen Zauberstrahl hatte Ladonna den Schild zersprengt und ihre ältere Schwester auf die Knie gezwungen. "Tja, dein Pech, dass du wie ich wegen unserer Abkunft her nicht von wem anderen Verwandelt werden kannst. Sonst hätte ich dich gerne zu Don Enrico in meinen Garten gestellt, diesen Mogglino, von dem du dir zwei Halbmoogglinos hast einbrocken lassen. Aber deine und meine Abkunft machen das unmöglich. So sei es eben die Nachwelt für dich."

"Wenn du mich tötest werden Mamma Domenica und Nonna Cantanotte das mitkriegen und du wirst große Schmerzen haben, die eigene Schwester zu töten."

"Glaubst du, Ginellina", hatte Ladonna da gelacht. "ich bin die Tochter einer Waldfrauennachfahrin, nicht die einer halben Veela. Avada Kedavra!" Das Sirren, der hellgrüne Blitz und die mit vor entsetzen weit aufgerissenen Augen niederstürzende Regina in ihrem purpurroten Umhang rissen Rose aus diesem Traum. "Avada Kedavra? Möge dieses Ding verschwinden?" dachte Rose. Sicher, das war ein aramäischer Bannspruch, um Krankheiten und Unheil zu tilgen, hatte sie gelernt. Aus ihm sollte sich das populäre Zauberwort Abracadabra entwickelt haben, das den Titel eines großen Schlagers ihrer frühen Kindheit geliefert hatte. War dieser Zauberspruch echt mal ein Todesfluch gewesen? Unfug! Was sie da träumte war blanker Unsinn, von dem sie nicht wusste, wie der in ihren Kopf kam. Als sie wieder daran dachte, dass sie vielleicht doch mal einen Psychologen deshalb aufsuchen sollte fegte der Gedanke an die dann flötengehende Lehreranstellung diese Bedenken weg wie mit einem stählernen Besen. Ja, es mochte einen Grund haben, warum sie das alles träumte. Sie würde ihn aber selbst herausfinden.

Noch abgedrehter war es, als sie zwei Nächte danach davon träumte, wie sie einen Rubin mit ihrem Zauberstab und einem eigenen Blutstropfen dazu brachte, jene Rosenblütenform anzunehmen. Das gleiche machte sie mit einem zweiten Stein dieser Art. Einen Augenblick später trug sie den fertigen Ring am Finger, den Rose schon kannte. Tja, und dieser Ring konnte machen, dass etwas, das Ladonna verabscheute oder vernichten wollte, erst in rubinrotem Licht flimmerte und dann in einer hellen Leuchterscheinung restlos verschwand. Offenbar, so dachte Rose nach dem Aufwachen, hatten die Geschichten um den Herrn der Ringe ihr doch mehr zugesetzt als sie ursprünglich gedacht hatte. Mochte daran liegen, weil sie mit Claude und Armand aus ihrem Kurs die Mythen der Germanen und den Vergleich mit Tolkiens Ideen diskutiert hatte.

Neben ihren schon zwei Lehramtsfächern Geschichte und Sport hatte sie irgendwie beschlossen, auch noch ein Physiklehramtsstudium anzufangen. Vielseitigkeit zählte in dieser Konkurrenz eine ganze Menge. Deshalb vertiefte sie sich in den freien Stunden in ihre alten Physikaufzeichnungen. Damals hatte sie immer Probleme mit dem Fach gehabt. Biologie hatte ihr da wesentlich mehr gelegen. Irgendwie empfand sie beim Lesen in den alten Büchern und im Internet einen aufsteigenden Hass auf die technische Zivilisation. Die hatten echt die Geheimnisse der Elektrizität herausgefunden und diese zum Magieersatz gemacht? Die saugten das schwarze Blut der Erde aus dem Boden, um es in pferdelosen Wagen zu verheizen, und sie hatten es sogar geschafft, das Atom zu spalten, was rein wörtlich gar nicht gelingen durfte. Aber sie hatten das getan und damit mehr Macht errungen als ihr bekannte Hexen und Zauberer in früheren Zeiten, sogar als Sardonia vom Bitterwald. Dabei fragte sie sich, woher sie diesen Namen kannte. Vorher hatte sie zwar schon Namen von angeblichen Hexen gekannt. Aber Sardonia war ihr noch nie untergekommen.

Die Frage beantwortete die darauf folgende Nacht, die Nacht vom fünften zum sechsten November. In dieser Nacht träumte sie davon, wie Ladonna, die mal wieder von ihr selbst verkörpert wurde, erst von der eigenen Mutter aus dem Haus gejagt worden war, weil sie ihre Schwester getötet hatte. Dann hatte sie sich mit einigen Getreuen in Frankreich einen neuen Hexenzirkel aufgebaut, bis eine Hexe namens Sardonia vom Bitterwald in Südfrankreich groß und Mächtig geworden war. Da nur sie, Ladonna, die Königin aller Hexen sein wollte, hatte sie sich mit dieser Emporkömmlingin ein heftiges Duell geliefert. Doch diese Kanalie hatte schnell erkannt, dass Ladonna von gesunden Bäumen bei Kräften gehalten wurde und hatte sämtliche Bäume in einem grünen Feuer verbrennen lassen, das sie mit den Worten "Dendrothanasia devoranto arbores!" aufgerufen hatte. Ab da war Ladonna von Schlag zu Gegenschlag immer schwächer geworden. Nur dem Ring, den sie trug verdankte sie, dass sie aus der Erde noch Kraft bekam. Sie versuchte, ihn selbst als Waffe einzusetzen und Sardonia in jener roten Glut aufzulösen. Doch dabei war ihr der Ring unbeschreiblich heiß geworden. Um Sardonia hatte nur eine wild wirbelnde Wolke aus rubinroten Funken getobt, die wie auf ein unhörbares Zeichen in alle Richtungen davongeschwirrt und verloschen waren. Sardonia hatte über diesen Angriff nur gelacht. Danach hatte sie selbst einen mit blauem Licht einhergehenden Zauber gewirkt: "Incubatur in Saxasomnio!" waren die Zauberworte. Sofort hatte Rose, die mal wieder Ladonnas Leben nachträumte, gefühlt, wie sie von einer immer dichteren Masse umschlossen und immer langsamer wurde. Ihr Ring strahlte dagegen an. Das sah auch Sardonia. Sie hielt ihren blau flirrenden Zauberstab weiter auf die Feindin. Gleichzeitig meinte Rose, dass ihr eine unsichtbare Hand den Ring vom Finger zog. Dieser blitzte grellrot auf, bevor er wie an einem Fanghaken hängend durch die Luft schwirrte. Da fiel es ihr ein, dass Sardonia und ihre Blutsverwandten im Ruf standen, Gedankenhände zu besitzen, mit denen sie auch ohne Zauberstab Dinge ergreifen, bewegen oder verformen konnten. Dagegen war der Magieschluckzauber ihres Ringes offenbar nicht gefeit gewesen. Was Ladonna alias Rose Britignier jetzt jedoch spürte war, dass das sie umschließende blaue Licht nun schlagartig zu einer unnachgiebigen Umhüllung verstofflicht wurde. Sie fühlte, wie ihr Herz aussetzte und fühlte, wie ihre Lungen zusammengedrückt wurden. "Ich weiß, dass ich dich nicht verwandeln kann oder dass dein Tod mir sämtliche Veelas der Welt auf den Hals jagt. So sei dein eigenes Denkmal, Ladonna Montefiori. Aber ich werde dich nicht zum Kultobjekt deiner irregeleiteten Schwestern werden lassen. Am Ende kommt noch eine darauf, ihr Blut über dir zu vergießen, weil sie noch Jungfrau ist. Dagegen konnte ich meine geniale Bestrafung noch nicht absichern", hörte die in Stein eingeschlossene, bevor ihre Sinne immer mehr schwanden und in ein lautes Wummern und hektisches Schnaufen übergingen. Rose fand sich wieder in ihrem Bett. Doch in ihrem Kopf hatte sie irgendwie den Gedanken, dass Ladonnas Körper auf ein Schiff getragen worden war und damit weggebracht worden war.

Als Rose wieder einschlief träumte sie ausnahmsweise mal wieder was von sich selbst, wie sie damals den Wettbewerb im Streckentauchen mitgemacht hatte, um ihrer Klassenkameradin Désirée zu beweisen, dass sie doch mehr Ausdauer hatte. Sie war sicher schon vierzig Meter am Beckenboden entlanggeschwommen, als sie merkte, dass sie keine Beine mehr hatte, sondern mit einer schnell hin und her schlagenden Schwanzflosse das Wasser zurückstieß. Auch war sie nicht mehr in einem Schwimmbecken unterwegs, sondern im offenen Meer. Irgendwas drückte ihr von innen gegen den Bauch. Sie wusste nicht, was das war. Dann überkam sie die Angst, weil sie den dunklen Schatten sah, der sich über sie legte. Sie hatte Todesangst. Sie schwamm schneller, merkte dabei, dass sie auch keine Arme mehr hatte und das Wasser selbst ein- und ausatmete. Dann schnappte ein gewaltiges, tödlich bezahntes Maul um sie herum zusammen und löschte für einige Momente alle Sinne aus. Danach fand sie sich wieder in jenem Körper mit einer mächtigen Schwanzflosse. Jetzt erkannte sie, dass sie ein Haifisch sein musste, ein Haifisch, der einen kleineren Fisch gefressen hatte. Ja, dieser Körper war wahrlich mächtig. Aber er war ihr nicht mächtig genug. Sie musste wieder an Land, sich an Sardonia rächen, dass sie sie derartig verwünscht hatte. Mit diesem Gedanken wachte sie auf und war wieder sie selbst, Rose Britignier, schweißgebadet, aber nicht unter Wasser. Wieder dachte sie daran, ob sie wegen dieser verrückten Träume nicht doch mal einen Profi fragen sollte. Dann kam ihr in den Sinn, dass sie doch einfach mal zwei Tage den Ring ablegen konnte, um zu sehen, ob es nicht doch irgendwie daran lag. Ach Quatsch! Dann wäre dieser Rubinring ja dasselbe Ding wie der ominöse Meisterring aus Tolkiens Fantasiewelt Mittelerde. Andererseits sollte sie doch echt mal den Ring weglegen ... wenn der ihr zu stark auf den Finger drückte.

Wie heftig sie dieser Traum vom Duell der Oberhexen geschlaucht hatte merkte Rose, als sie beinahe während der Vorlesung über Marcus Portius Cato einschlief. Nur der Gedanke, dass sie über dessen geschichtsträchtigen Hass auf Karthago demnächst ein vergleichendes Referat halten wollte, in dem sie Feindbilder durch alle Epochen erwähnen wollte, hielt sie wach. Was sie trotz der großen Müdigkeit merkte war, dass viele Mitstudenten sich immer wieder nach ihr umsahen und ihr hinterherlächelten, als sei sie Kandidatin für einen Modelwettbewerb oder sowas. War das schon immer so gelaufen, oder war das was neues? Lag es an dem Parfüm, das ihr Henri vor zwei Wochen geschenkt hatte? Das sollte sie ihm dann besser nicht erzählen.

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Henri Dubois sah zu, wie die gewaltigen Schaufelbagger die Erde und Geröllschichten umwälzten. Heute, genau zwei Monate und fünf Tage nach seinem Prüfgang, wurde der Bauabschnitt sieben umgekrempelt. Was er da nicht festgestellt hatte wurde jetzt zerlegt und zum Abraum gekippt. Er dachte an den goldenen Ring, den er gefunden hatte. Immer wenn er seine Rose traf trug sie ihn so wie an dem Tag, als er ihn ihr geschenkt hatte. Weihnachten sollte er ihren Eltern vorgestellt werden. Dafür sollte er sich wohl noch ein paar neue Anzüge zulegen. O Mann, das würde ins Geld gehen. Aber dafür das Dispo anfressen wollte er garantiert nicht. Die Bank kassierte dann gleich dreizehn Prozent Überziehungszinsen für den angefangenen Monat. Also wie sollte er an einen gescheiten Anzug rankommen?

"Heh, Henri. Der dicke Brummer ist schon halb durch deinen Streckenabschnitt. Dabei sind erst fünfzig Minuten um", feixte Charles, der gerade um die Ecke kam.

"Der hat ja auch 'n paar tausend Pferde mehr unter der Haube als ich", grinste Henri. Dann kam ihm eine Idee: Noch hatte er das nicht rumgehen lassen, dass seine pariser Prinzessin ihn erhören wollte, weil er zu recht wusste, dass die dann mindestens zehn Kisten Bier exen würden. Doch bei Charles konnte er zumindest was unterbringen, was in die Richtung ging, ohne gleich das Superbesäufniss zahlen zu müssen.

"Charles, ich fürchte, ich kriege trotz Weihnachtsgeld dieses Jahr Krach mit meiner Bank. Ich musste lernen, dass eine Freundin aus höheren Kreisen doch ein wenig mehr kostet als zwei Hamburger mit Pommes im Monat. Jetzt hat die sowas angedeutet, ich sollte Weihnachten mal zu ihren Eltern mit. Aber das sind voll die Schlipsträger- und Rüschenkleidfraktion. Kennst du wen, der mir einen guten gebrauchten Anzug verkaufen kann, ohne dass ich jetzt schon das Konto überziehen muss?"

"Nur unter einer Bedingung, Henri. Du lässt dich im feinen Zwirn fotografieren, das Foto auf Postergröße aufblasen und hängst es bei uns in den Besprechungsraum rein. Denn wie du im Anzug aussiehst will nicht nur ich gerne wissen. Öhm, wenn die Eltern von deiner Perle finden, du passt gut in einen Anzug, kriegst du die dann auch zur Frau?"

"Das liegt ganz allein bei ihr", sagte Henri. "Aber das mit dem Foto ist gebongt, Charlie."

Charles erwähnte einen Laden, indem jedes Jahr um die Adventszeit alte Anzüge im Topzustand verscherbelt wurden, weil die Besitzer wohl zu Weihnachten neue Ausführklamotten bekamen. Henri bedankte sich für die Info und sah dann weiter zu, wie der Bagger den Weg für die Autobahnumleitung aushob.

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Rose konnte sich jeden Morgen an ihre Träume erinnern, mal Träume von sich und dann wieder, wie sie wer anderes war. Mal träumte sie, eine einfache Fischersfrau zu sein, die vor dem aufgeschnittenen Bauch eines Haifisches stand. Mal war sie eine Küchenmagd, die in einem feinen Haus Gemüse schnippeln oder Korn zu Mehl mahlen musste. Immer wieder kamen Träume aus ihrem eigenen Leben dazwischen, wie sie sich mit dreizehn in den fünf Jahre älteren Roger Leblanc verliebt hatte und beinahe dessen Freundin Angelique verprügelt hätte. In der kommenden Nacht hatte sie sich im Körper einer Amme wiedergefunden, die das uneheliche Kind einer Gräfin als ihr eigenes ausgeben sollte. Zur Bezahlung hatte sie jenen rubinbesetzten Ring bekommen, den sie seit Henris Heiratsantrag trug. Das hatte sie nach dem Aufwachen drauf gebracht, dass es wirklich der Ring sein musste, der wie auch immer ihre Träume manipulierte. Irgendwas stimmte an dem nicht. Doch es war ihr unmöglich, den Ring vom Finger zu ziehen. Es war, als sei der Ring damit verwachsen. Normalerweise hätte ihr das eine panische Angst einflößen müssen. Doch irgendwie beruhigte sie das sogar, dass ihr der Ring nicht vom Finger rutschen konnte. Ja, sie dachte sogar, dass der Ring ihr mehr Kraft gab als vorher.

Wenn sie schwamm schaffte sie die hundert Meter in nur noch zwei Dritteln der bisherigen Zeit. Das gleiche galt für das Laufen. Und wo sie früher an steileren Straßen vom Fahrrad absteigen musste, konnte sie ohne heftiges Keuchen den Anstieg hinauffahren. Außerdem schien was auch immer ihr eine besondere Ausstrahlung zu geben. Immer mehr Jungen und auch gestandene Männer sahen ihr lange und selig lächelnd nach. Langsam glaubte sie, dass sie wahrhaftig einen magischen Ring am Finger trug, in dem irgendwie Ladonnas Erinnerungen eingespeichert sein mussten wie auf einer CD. Aber dann konnte dieser Ring sie ja doch auch manipulieren, sie zu Sachen anstiften, die sie nicht machen wollte. Doch jeder neue Versuch, den Ring loszuwerden misslang, und auch der Gedanke an eine Bedrohung durch ihn verflog immer wieder. Vielmehr war sie stolz, ihn am Finger tragen zu dürfen.

Als eine ihrer Komilitonen fragte, woher sie den Ring hatte, hatte sie ihn nur angelächelt und geantwortet, dass er in einem Schluck Cognac geschwommen hatte. Als der Mitstudent den Ring anfassen wollte war der wie von einem Stromschlag getroffen zusammengezuckt. Danach schien bei dem eine Gedächtnislücke zu sein. Denn er erinnerte sich nicht daran, was er gerade noch gefragt hatte.

Nun eher neugierig und gespannt, wie die Geschichte von Ladonnas Rosenring weiterging ließ sie sich in weiteren Träumen durch weitere Leben tragen. Der schlimmste Albtraum war der, als sie als junge Herzogin im Jahre 1792 unter wildem Gejohle tausender von Schaulustigen von zwei Henkersknechten die Stufen zu einer Guillotine hinaufgetrieben worden war. sie sah bereits sechs abgetrennte Köpfe im Auffangkorb liegen und wusste, wessen Kopf als siebter dazukommen würde. Weil der Traum sie zu heftig aufgeregt hatte oder weil eine überirdische Gnade das verhindern wollte, wachte Rose noch vor dem tödlichen Fall des Beils auf.

Es war die Nacht zum ersten Advent, als Rose davon träumte, wie sie im Körper eines verwegen gekleideten Mannes steckte, der gerade seinen blutigen Säbel mit einem Schwamm und einer weinartigen Mixtur reinigte und dabei grinsend zu vier bärtigen Kumpanen hinüberlachte. "Kuckt mal, Brüder. Seh ich mit diesem Klunker nicht gleich viel erhabener aus?" Alle lachten. Doch dann bekam Rose mit, wie sie im Körper dieses Banditen vor ihn verfolgenden Ungeheuern flüchten musste. Sie dachte an die römischen Furien, die Mördern und gegen die Götter aufbegehrende jagten. Wo ihre Flügel gegen Mauern und Pflanzen stießen loderte rubinrotes Feuer auf, dass mit sengender Hitze den flüchtenden Banditen bedrängte. Er rannte weiter und weiter. Rose versuchte, ihn abzubremsen. Doch das gelang nicht. Sie musste miterleben, wie er von den Feuerfurien an den Rand eines Abgrundes getrieben wurde und dann aus Angst vor der ihn jagenden Lohe in die Tiefe sprang. Der Aufschlag tief unten endete mit einem grellen Blitz und Roses Erwachen. Irgendwie kam ihr danach in den Sinn, dass sie von nun an keine Träume früherer Leben mehr durchleiden musste. Und das beruhigte sie sehr. Denn sie wollte am Tag Mariä Empfängnis zu Henri fahren, um sich von ihm durch Toulouse führen zu lassen. Außerdem wollte sie aus dem Unigetriebe heraus, weil es ihr langsam lästig wurde, dass die Männer ihr alle begehrend oder weltentrückt nachglotzten und die Frauen sie immer wieder anfauchten wie futterneidische Katzen, wenn sie einem von den Männern näher als zwei Meter kam. Wenn das wirklich mit dem Ring zu tun hatte wurde es langsam Zeit, dass sie das klärte, woher Henri den hatte. Ja, das war ihr nächstes Ziel.

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Henri nutzte Roses Besuch, um seinen Anzug vorzustellen, mit dem er ihre Eltern beeindrucken wollte. Anders als vorher geplant hatte er sich doch für eine Maßanfertigung entschieden, weil er seinen Großonkel François was von einer Verlobungsfeier um Weihnachten herum erzählt hatte. Der sonst sehr knauserige, aber doch auf viel äußere Erscheinungsform bestehende Bruder seines Großvaters hatte ihm sofort eintausend Euro in Bar zukommen lassen. "Besser du lässt dir eine anständige Ausstattung schneidern, als dass mein versoffener Sohn das Geld nach meinem Tod verzecht", hatte sein Onkel ihm am Telefon gesagt, als Henri sich bedankt hatte. So trat er nun im genau auf ihn zugeschnittenen dunkelblauen Tweetanzug vor Rose hin, die ein nicht minder schickes schwarzes Satinkleid trug. Er fühlte, dass diese Frau genau die war, mit der er das restliche Leben verbringen wollte. Noch nie vorher hatte er das so deutlich erkannt wie jetzt.

"Oh, das ist aber ein sehr feiner Anzug", lobte Rose die Ausstattung ihres Verlobten. Dieser wusste vor Entrückung und Verlegenheit nichts zu antworten. Nicht mal nicken konnte er. Erst nach einer halben Minute ließ die ihn übermannende Woge aus überirdischer Ausstrahlung nach. Er bedankte sich und lobte ihr Kleid. "Meine Komilitonin Laure hat zwar geätzt, dass das eher zu 'ner reichen Witwe passt. Aber mir gefällt das sehr. Und, was möchtest du mir heute und morgen so zeigen?" Er stammelte die von ihm geplanten Haltepunkte herunter und musste es hinnehmen, dass sie amüsiert grinste. Doch dann schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln, und er meinte wieder, in einen Schwall erst kochendheißes und dann sofort eiskaltes Wasser zu geraten.

Beinahe wie in Trance geleitete er seine nun wie eine Göttin neben ihm wirkende Verlobte zur Besichtigung seiner Heimatstadt. Allerdings vermied er tunlichst die Kneipen, in denen er nach Feierabend öfter mit seinen Kollegen abhing. Am Ende waren die noch voll neidisch und machten Terz. Außerdem hatte er wegen der Geldspende seines Erbgroßonkels noch was auf seinem Konto.

Als es schon weit nach Mitternacht war waren die beiden vom teuren Wein und einigen tropischen Cocktails sehr gut beschwipst. Bei Henri kam noch hinzu, dass er von der ungewöhnlichen Ausstrahlung seiner Zukünftigen sowieso schon dauerbenebelt war. Mit einem Taxi ließen sie sich zu Henris Appartmenthaus bringen. Henri hatte gelobt, dass seine Besucherin bei ihm unbesorgt vor bösen Männern wie ihn schlafen konnte. Er hatte für Ehrengäste ein richtiges Bett in seinem Gästezimmer. Zu dem Zimmer gab es sogar einen Schlüssel. Rose konnte sich also wenn sie wollte vor ihm verschließen. Aber wollte er das? Er musste das wohl zulassen. Denn wenn er mehr wollte als einen Gute Nachtkuss würde sie ihn zum Mond schießen und sich einen reichen Schnösel aus dem Bekanntenkreis ihrer stinkreichen Eltern ziehen, um mit dem zwei Dynastien zusammenzubacken und als eine einzige weiterzuführen.

So verabschiedete er seine Zukünftige zur Nacht und zog sich selbst in sein eigenes Schlafzimmer zurück. Er wälzte sich in seinem Bett herum, fand trotz des guten Pegels keinen Schlaf. Immer wieder musste er daran denken, wie sich Rose, diese unerwartet heftig anregende Zauberblume, in seinem Gästezimmer erst die helle Winterjacke und dann das Kleid und dann die Unterwäsche vom Körper gestreift hatte. Mann, was für ein Schlappschwanz war er, dass er sich selbst so abgewürgt hatte, das nicht auszunutzen. Die war doch bestimmt noch mehr beschickert als er, der durch die Saufgefechte mit seinen Kollegen gut im Training war. Der Gedanke, mit Rose die erst im nächsten Juni anstehende Hochzeitsnacht noch vor Weihnachten zu erleben trieb ihn schier an den Rand des Wahnsinns. Verdammt noch mal! Er wollte sie doch eh heiraten. Warum bestand die dann so heftig auf dieses altbackene Keuschheitsgebot, bloß keinen Sex vor der Ehe zu haben? Er fühlte auch, dass er gerade voll drauf aus war, es mit ihr zu treiben. Er musste es doch probieren. Sein Gewissen sollte ihn in Ruhe lassen. Die wartete doch förmlich darauf, dass er zu ihr hinging. Die hatte ihn doch beim Abendessen immer wieder so angeheizt angeguckt. Er stand also auf und schlich aus seinem Zimmer durch den Flur wie ein pickeliger Junge in der Jugendherberge, der doch nur mal gucken wollte, was die Mädels nachts so anhatten. Er lauschte an der Tür zum Gästezimmer. Er hörte nichts. Dann klopfte er behutsam an. Wenn die die Tür echt zugeschlossen hatte sollte die ihm sagen, ob er wieder in sein Zimmer sollte oder nicht oder ihm die Tür aufmachen.

"Henri, auch noch wach? Dieser eine Kaffeecocktail. Öhm, wenn du nicht gerade nackt bist darfst du reinkommen. Die Tür ist noch offen!" trällerte die Stimme seiner Zukünftigen von drinnen. Das und der Umstand, dass die Tür wirklich noch unverschlossen war sagten Henri, dass dies die Nacht der Nächte sein würde. Den neunten Dezember 2002 würde er dann rot im Kalender anstreichen, auch wenn der Tag mal gerade drei Stunden alt war.

Entschlossen und Vorfreudig betrat er in seinem violetten Schlafanzug das zehn Quadratmeter große Gästezimmer mit einem schmalen Bett, einem Tisch, an dem gerade mal zwei Leute sitzen oder einer was schreiben oder lesen konnte und einen schmalen Schrank für mitgebrachte Klamotten.

Am Tisch saß Rose. Sie trug ein rosafarbenes Nachthemd und nichts darunter. Sie sah ihn sehr eindringlich an. Dann fragte sie: "Wolltest du mich mal im Nachthemd sehen, Henri? Ja, und?" Er konnte nichts darauf sagen. "Wenn das alles war geh bitte wieder. Ich möchte mich gleich hinlegen", sagte sie noch. Wie? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein, dachte Henri und ging auf sie zu. Sie stand nun von dem einen Stuhl auf und zog sich in Richtung Bett zurück. Das war doch glatt eine Einladung, ihr zu folgen. Er setzte ungestüm nach. Da schoss die glatt vom Bett hoch auf ihn zu und stieß ihn mit beiden Fäusten zugleich zurück. "Mach, dass du rauskommst, du Lügner! Du hast gesagt, hier passiert mir nichts", zischte sie unerwartet leise. Aber Henri verstand trotzdem alles. Doch so ging es nicht. Die hatte ihn scharfgemacht, dass er fast schon dreibeinig zu ihr ins Zimmer gegangen war und jetzt. Er stieß wieder vor. Da stieß sie ihn mit beiden Händen zugleich so hart zurück, dass er den Boden unter den Füßen verlor, gegen den Stuhl am Tisch prallte, mit dem zusammen umfiel und dabei mit dem Hinterkopf voll gegen die Tischkante knallte, dass er nur noch einen wilden bunten Sternenschauer sah. Der Rausch verflog in diesem Moment wegen der in seinem Blut kochenden Hormone. Er wollte gerade aufspringen, um der anderen zu zeigen, dass die den nicht so einfach umschubsen konnte, als die schon über ihm war. Er meinte, zwei handwarme Backen einer Kneifzange um den Hals zu fühlen. Dann ruckelte es, und mit einem heftigen Schmerz erlosch die ganze Welt in einem Blitz und dann grabesstiller Schwärze.

Rose stand keuchend über dem leblosen Körper des Mannes, der gerade noch gemeint hatte, sie mal eben nehmen zu können wie ein brünftiges Kaninchen. Einen Moment lang hatte sie vorgehabt, sich ihm hinzugeben, seine Begierde zu befriedigen und dabei ihre eigenen verbotenen Gelüste zu sättigen. Doch irgendwas hatte sich in ihr aufgebäumt und sie dazu getrieben, jede Annäherung mit ganzer Kraft abzuwehren. Als Henri dann von ihrem Abwehrstoß erst über den Stuhl und dann gegen die Tischkante gekracht war hatte sie die wilde Angst umgetrieben, dass er gleich wieder aufspringen und sich grausam für diesen Schubser rächen würde. Sicher, sie hätte um hilfe rufen können, Aber was hätte das noch gebracht, wenn der ihr noch die Unschuld raubte, bevor die Hilfe in der Wohnung war. Sie war dann katzenhaft losgesprungen, hatte ihn aus dem Sprung heraus beide Hände um den Hals gelegt und dann mit einer für sie selbst unheimlichen Leichtigkeit die oberen Halswirbel gebrochen. Das Knacken der Knochen und das letzte Zucken seines Körpers würde sie sicher noch in ihren Träumen verfolgen wie diese Feuerfurien, die den Räuber gejagt hatten, der Ladonnas Rubinrosenring gestohlen hatte. Doch dann durchflutete etwas wie eine große Erheiterung ihren Verstand, verstärkte den in ihr noch wirkenden Alkoholrausch um ein vielfaches. Sie meinte, ein triumphierendes Lachen zu hören und hatte den Eindruck, dass dieses aus ihrem eigenen Mund kam. Doch Sofort verstummte sie. Sie durfte nicht zu laut sein. Bisher hatte niemand im Haus mitbekommen, dass sich dieser Trottel da unten eine Dame ins Haus mitgenommen hatte. Sie fühlte keinerlei Reue, dass sie mal eben einen Menschen umgebracht hatte, einfach so, als wenn sie das immer schon so getan hätte.

Rose fühlte, wie ihre Arme und Beine sich bewegten. Sie spürte, wie ihre Hände völlig ohne ihr Zutun den noch warmen Körper henris in den Kleiderschrank bugsierten und diesen wie beiläufig verschloss.

Sie nahm den Schrankschlüssel an sich und besah sich die verräterischen Spuren. Es war ein wenig Blut aus der Hinterkopfwunde am Tisch und auf dem Laminatboden gelandet. Das musste zumindest unsichtbar werden. Sie eilte barfüßig aus dem Zimmer hinaus in die Küche, wo sie nach Putzmitteln suchte. Die fand sie allerdings nur im Badezimmer, zusammen mit einem wohl sehr selten benutzten Aufnehmer. Damit ausgerüstet kehrte sie in das Gästezimmer zurück und wischte so leise sie konnte die Blutspuren von Tisch, Stuhllehne und Laminatboden, bis nichts mehr davon zu sehen war. Die feuchten Stellen trocknete sie mit ihrem seidigen Nachthemd. Ihr war zwar klar, dass sie die verräterische Spur nicht vollkommen verwischen konnte, weil sie hierfür das Elixier der völligen Reinigung hätte haben müssen. Doch das Nachthemd würde sie bei nächster Gelegenheit vernichten. Jetzt galt es, die Wohnung zu verlassen. Sie dachte an das, was sie über Fingerabdrücke gelesen hatte. In der Wohnung gab es noch genug hochprozentigen Alkohol. Den hatte sie in diesem Aufbewahrungsschrank gesehen. Damit vertilgte sie alle von ihr hinterlassenen Fingerspuren, nachdem sie ihre Tagesbekleidung wieder angezogen hatte. Dann griff sie ihren Rucksack, indem sie ihr Kosmetikzeug und das Nachthemd mitgebracht hatte, sowie ihre Handtasche.

Immer noch ohne jede Spur von Reue oder schlechtes Gewissen schlich sie sich aus der Wohnung von Henri Dubois hinaus. Sie suchte und fand einen Hinterausgang, der wohl für den Brandfall eingebaut worden war.

Irgendwie merkte sie, wenn ihr jemand entgegenkam, der sie nicht sehen sollte, als sie aus dem Notausgang heraus war. Sie nutzte die dunklen Stellen zwischen den spärlichen Straßenlampen aus, schlüpfte zwischen Müllcontainern und geparkten Autos entlang und wartete immer, bis wirklich kein Auto zu hören war, um die Querstraßen in zwei schnellen Sätzen zu überwinden. An ihrer rechten Hand pochte heiß und heftig der Rubinrosenring. Sie fühlte, wie ihre Arme, Beine und ihr Rumpf sich bewegten, ohne dass sie das wollte. Irgendwie meinte sie wieder zu träumen. Ja, das hier war jetzt alles ein Traum. Dass Henri ihr an die Wäsche gehen wollte, dass sie ihn deshalb umgestoßen und dann mal eben so umgebracht hatte konnte nur ein Traum sein. Also brauchte sie nur darauf zu warten, dass sie aufwachte und sich in Henris Gästebett wiederfand, falls sie überhaupt aus Paris abgereist war, um ihn zu besuchen. Ja, und auch nur im Traum konnte sie sowas wie fühlen, ob ihr jemand zusah oder nicht. Und nur im Traum ging das, dass sie bei völliger Dunkelheit genug sah, um durch unbefahrene Seitenstraßen zu laufen, bis sie wieder an eine stärker befahrene Straße kam, wo gerade ein junger Mann dabei war, seinen Motorwagen aufzuschließen.

Es konnte auch nur im Traum gehen, dass sie den Burschen mit einer sehr verheißungsvollen Stimme ansprach und dann, als der sich umdrehte, durch einen sehr tiefen Blick in die Augen förmlich hypnotisieren konnte. "Du bringst mich mit deinem Wagen nach Paris, wo du mich rauslässt!" befahl sie. Der junge Mann nickte marionettenhaft. Dann ließ er Rose einsteigen. Rose dachte daran, dass der Traum wohl eine Fortsetzung dessen sein sollte, was sie bis dahin geträumt hatte. Offenbar spann sich ihr Gehirn gerade die Geschichte zurecht, wie es war, wenn die Hexe Ladonna wirklich durch ihren Ring in sie selbst eingefahren wäre.

Der von ihr unterworfene Fahrer brachte sie nach einem fälligen Tankstop über nicht mautpflichtige Nebenstrecken bis in die westlichen Außenbezirke von Paris. Da gab sie ihm noch einen Befehl: "Fahre zur Seine und versenke dich mit deinem Wagen darin! Bleib im Wagen sitzen und lasse alles ohne Angst über dich ergehen!"

Sie stieg aus und sah völlig ungerührt zu, wie der von ihr behexte Mann mit seinem kleinen Renault zielgenau in Richtung Seineufer davonbrummte. Hoffentlich waren die Mogglinos dieser Zeit immer noch so unfähig gegen ihren von ihrer Waldfrauengroßmutter geerbten Unterjochungsblick wie die damals, die sie sich auf ihre Lager geholt hatte, um deren Männlichkeit zu genießen. Rose versuchte, diese ihr völlig abwegigen Gedanken zu verdrängen. Doch das ging nicht. Ladonnas Ich schien sie gerade unabwendbar zu durchdringen, sie in ihrem eigenen Körper einzusperren, gerade mal dazu fähig, mitzubekommen, was um sie herum passierte.

Ein Taxifahrer, den sie wie den in den Tod geschickten Mann aus Tolouse mit einem konzentrierten Blick ihrem Willen unterwarf, fuhr sie ohne die Uhr einzuschalten zu ihrem Appartment. Dort befahl sie ihm, sich nicht mehr an sie zu erinnern. Dann kehrte sie in ihr eigenes Appartment zurück.

Als sie sich in ihrem eigenen Bett wiederfand schnaufte sie. Was war passiert? Ach ja, sie hatte geträumt, dass Ladonna sich ihrer Bemächtigt hatte und einen Mann in seiner Wohnung umgebracht hatte und einen anderen Mann durch einen magischen Blick dazu getrieben hatte, sie mit seinem Auto zu fahren, um sich danach selbst in die Seine zu stürzen. Aber wen hatte sie angeblich umgebracht. Ihr fiel der Name nicht ein. Ja, irgendwie meinte sie, auch diesen Mann immer nur im Traum gesehen zu haben. Der Ring, den sie trug, fiel ihr nicht auf. Eher war der für sie wie ein immer schon vorhandener Körperteil.

Unheimlich war es ihr aber schon, dass sie sowas geträumt hatte. Am Ende war das doch kein Traum gewesen, und diese Ladonna hatte sie wie ein Dämon in Besitz genommen und benutzt, wie sie eine Zahnbürste, einen Schreibstift oder eine Nagelschere benutzte. Aber sowas gab es doch nicht. Das waren Geschichten für Leute, die nicht erwachsen werden wollten und sich immer noch von Spuk- und Dämonengeschichten beeindrucken ließen. Aber irgendwie faszinierte sie die Vorstellung, mehr über diese Ladonna Montefiori herauszufinden. Vielleicht hatte sie von der schon mal was gelesen und es irgendwie mit den ganzen Gruselgeschichten über Hexen und Dämonen in einen Bereich ihres Unterbewusstseins gepackt.

Der Tag jedenfalls verlief wie sonst auch. Keiner und keine sprach sie auf Sachen an, die am Vortag gelaufen sein mussten. So verlor Rose den Rest von Argwohn über diesen unheimlichen Albtraum.

In den nächsten Tagen war sie immer wieder in der Bibliothek der Sorbonne, um in alten Chroniken zu blättern. Denn das Internet hatte ihr auf keine der Suchanfragen zum Thema Ladonna Montefiori antworten geben können. Tatsächlich wurde sie fündig. Sie hatte eine uralte Handschrift von einem Pater Guillaume de Lyon vor sich, der von einem Hexenduell in einem Wald bei Lyon berichtet hatte. Er, damals ein einfacher Mönch, wollte beobachtet haben, wie die Siegerin des infernalischen Kampfes die Besiegte in blauen Stein eingeschlossen und von fünf Hexenmägden in eine hölzerne Kiste hatte sperren lassen, die sie kurz in smaragdgrünes Licht eingehüllt hatte. Danach war sie im Nichts verschwunden, vielleicht in die Hölle hinabgefahren, um ihrem Herrn und Meister ihren Sieg zu verkünden. Pater Guillaume hatte versucht, die frei stehen gelassene Kiste zu öffnen, ja hatte sie sogar mit seinem geweihten Kreuz berührt, um die böse Kraft daraus zu verjagen. Doch die Kiste war unaufbrechbar und hatte auch nicht auf die Berührung des geweihten Gegenstandes reagiert. So hatte der Mönch aus einem Versteck heraus zusehen müssen, wie die Kiste von fünf verschwiegenen Männern in dunkelgrünen Kapuzenumhängen abgeholt worden war. Er hatte dann beobachtet, wie die Kiste auf einen Karren geladen und davongebracht wurde. Einer von den Männern hatte was von einem Boot erzählt, mit dem das Ding fortgeschafft werden sollte. Das hatte in ihr die Erinnerung an den Traum geweckt, dass sie mal ein kleiner Fisch und dann ein Hai gewesen war. Ja, das würde passen. Diese andere Hexe hatte Ladonnas Körper dann mit einem Schiff fortschaffen und im Meer versenken lassen, damit bloß niemand an sie rankäme.

Irgendwie fühlte sich Rose jetzt merkwürdig. Denn bis zu dieser Entdeckung war sie bereit, alles bisherige eben nur als warum auch immer entstandene Traumbilder hinzunehmen, als nicht wirklich passiert. Aber dieses Schriftstück war wirklich vorhanden. Allerdings hieß das nicht, dass es wirklich auf wahrhaftige Begebenheiten beruhte. Nein, sie brauchte mehr Informationen.

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Rose empfand überhaupt keine Vorweihnachtsstimmung. Die Suche nach einem Schiff, dass die angebliche Holzkiste aus Frankreich geschafft hatte nahm sie voll in Anspruch. Selbst die Vorbereitungen auf eine Klausur, die am fünften Januar anstand litten unter diesem inneren Antrieb, erst mal nur die Sache mit dem Schiff zu klären.

Die Frage ihrer Eltern, wann genau sie nach Strassburg kommen wollte und ob sie allen Ernstes mit der Bahn und nicht mit Jacques, dem Fahrer ihrer Eltern, von Paris abfahren wollte, nahm sie als nicht ausrottbares Bedürfnis ihrer Eltern hin, sie weiterhin umsorgen zu müssen, obwohl sie schon oft ganz alleine unterwegs gewesen war.

Am sechzehnten Dezember endlich fand sie nach ungezählten Stunden in diversen Bibliotheken die Erwähnung eines Schiffes, dass in Frage kam. Die Sette Étoiles war das einzige Schiff, dass zum fraglichen Zeitraum den Hafen von Marseille verlassen hatte, um über Cadiz und die Kanarischen Inseln die Insel Hispaniola anzufahren, auf der die neugegründete Kolonie der spanischen Krone mit Gütern aus der guten alten Welt beliefert werden sollte. Alle anderen Schiffe hatten die italienische, spanische oder Nordafrikanische Küste zum Endziel. Ihr erschien es nur logisch, dass sowas brisantes wie eine angeblich unaufbrechbare Kiste so weit wie möglich übers Meer geschafft werden sollte, immer vorausgesetzt, dieser Pater Guillaume hatte nicht doch ein Märchen erzählt. Doch irgendwie fühlte sie innerlich, dass es nur dieses Schiff gewesen sein konnte.

Damit hätte es Rose eigentlich gut sein lassen können und sich lieber weiter auf ihre Klausur über den dritten punischen Krieg vorbereiten und noch ein paar Übungen aus dem Leitfaden für Didaktik machen können. Doch jetzt erwachte in ihr der Drang, der Route der Sette Étoiles nachzufahren, um zu prüfen, ob sie auch wirklich auf Hispaniola angekommen war. Die große Insel, die von der touristisch sehr beliebten domenikanischen Republik und der durch seine letzten Machthaber ausgeplünderten Republik Haiti in Anspruch genommen wurde, bot sich gerade zu als Endstation für eine unliebsame Fracht an. Aber wie sollte sie dahinkommen. Unvermittelt fiel ihr ein, dass sie ja immer noch den Ring mit den Rubinrosen hatte, den sie für tausend Euro im Internet ersteigert hatte, weil ihr die Rubine in Rosenblütenform so gefallen hatten. Wenn sie wen fand, der mehr darüber wusste oder wissen wollte, dann fand sie auch wen, der oder die sie zum Endziel der Sette Étoiles brachte. Die erste Eingebung, mit einem Flugzeug zu fliegen verwarf sie. Mit einem Flugzeug konnte sie unterwegs nicht einfach anhalten. Außerdem war ihr das irgendwie zu wider, mit einem dieser lauten, Feuer und Rauch speienden Eisenvögel durch die Luft zu reisen. Sie konnte sich diese Angewidertheit nicht erklären, wo sie doch früher immer ganz begeistert gewesen war, mal eben in sechs Stunden über ein großes Meer hinwegzufliegen und sich immer gefreut hatte, in Papas Firmenjet mitfliegen zu dürfen, wenn der für einige Wochen unterwegs war.

Im Internet suchte sie unter dem Decknamen Francine Lenoir nach sogenannten Schatzjägern, Leute, die eine Menge Ahnung von Archäologie hatten, dieses Wissen aber nicht akademisch nutzten, sondern für nicht ganz astreine Auftraggeber beschafften, was diese gerne haben wollten, solange es noch nicht in einem Museum oder Privathaushalt angekommen war.

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Der Mann, der unter dem Decknamen Jean Rocher als berühmt-berüchtigter Wracktaucher und Höhlenplünderer reiste war förmlich hin und weg von der Erscheinung, die seine Auftraggeberin bot. Die ganz in Schwarz gekleidete junge Frau, die von sich behauptete, seit einem Jahr Witwe zu sein, weil ihr Mann unbedingt gemeint hatte, mit einem Freiballon über die Alpen hinwegfahren zu müssen und dabei in ein Gewitter geraten war behauptete, dass sie von dessen Angehörigen regelrecht ausgebootet worden sei. Das habe sie veranlasst, Ahnenforschung zu betreiben. Dabei habe sie ermittelt, dass er vor über fünfhundert Jahren mit einer französischen Seitenlinie des englischen Adelshauses von Lancaster verwandt gewesen sein sollte und Handel mit den neuen Kolonien in Amerika betrieben habe. Dabei habe er eine Ladung Goldschmiedearbeiten, sowie das Standbild seiner Mutter zu seinem Bruder auf Hispaniola schaffen sollen. Von dem Schiff habe nach der Abfahrt niemand mehr was gehört. Als einziges Schmuckstück habe sie das Verlobungsgeschenk an die Braut des besagten Verwandten bekommen, weil das auch ihr eigenes Verlobungsgeschenk gewesen sei. Rocher, der in Wirklichkeit Brussac hieß, hörte nur halb zu. Die Ausstrahlung der Frau überwältigte ihn förmlich. Wie konnte soeine superattraktive Frau immer noch Witwe sein?

"Öhm, und ich soll rausfinden, ob das Schiff angekommen ist oder nicht?" fragte er halblaut zurück.

"Dass es nicht angekommen ist weiß ich schon. Ich habe über verschiedene Mittelsleute in allen relevanten Verzeichnissen suchen lassen, was mich bereits ein gutes Stück Geld gekostet hat. "Ich hörte, dass sie der einzige sind, der verlorene Schiffe nicht nur findet, sondern auch noch untersuchen kann, wenn sie mehr als tausend Meter tief auf dem Meeresgrund liegen. Deshalb möchte ich Sie beauftragen, die Sette Étoiles zu finden. Falls es Ihnen gelingt, die Ladung zu bergen dürfen Sie alles zu Geld machen und vierzig Prozent davon zurückbehalten."

"Soso, weil Sie das nicht selbst verkaufen können, ohne dass gleich wer fragt, wo Sie's herhaben, Madame", grinste Rocher alias Brussac. Dann überflutete ihn die Kraft, die im Blick der anderen lag. Er fühlte, dass die sie umgebende Aura förmlich in alle seine Fasern drang und ihn von innen her aufwärmte. So nahm er seine nicht ganz so angemessene Äußerung zurück und erklärte sich bereit, den Auftrag anzunehmen. Schriftlich wurde nichts ausgemacht. Doch der Mann, der sich Rocher nannte räumte ein, dass er schlecht mit einem Fischkutter oder Containerschiff losfahren konnte, weil das auffiel. Dafür hatte die andere aber schon eine Lösung parat:

"Wir reisen beide zusammen alleine oder mit einem Dienstboten. Sie chartern eine Yacht. Die Kosten dafür dürfen Sie vom Gewinn an der Sache einbehalten. Schließlich liegt mir was daran, dass ich die Stücke sichte, bevor sie in den Handel kommen."

"Und die Legende, Madame?" fragte er zurück. "Wir sind ein Liebespärchen, dass im alten Jahr die alte Welt verlässt und im neuen Jahr in der neuen Welt ankommt, um da ein paar heiße Wochen zu verbringen. So wie sie aussehen kann ich mir sogar vorstellen, dass wir die Geschichte in gewissen Teilen sogar wahrmachen könnten", sagte die Frau im schwarzen Kostüm. Rocher alias Brussac meinte, sich verhört zu haben. Die Frau da bot ihm an, mit ihm auf hoher See Liebe zu machen?

"Wenn wir finden, was ich suche, dann stelle ich Ihnen gerne ein paar intime Stunden in Aussicht. Aber bis dahin sind wir nur Geschäftspartner", säuselte die andere. Rocher nickte.

Als die andere wieder fort war musste er erst einmal durchatmen. Das hatte er nicht geträumt. Die Superfrau war wirklich bei ihm gewesen. Er rief seinen Partner Jacques Reinier über Mobiltelefon mit eingebautem Zerhacker an. Der bestätigte ihm, dass die andere keine sendenden Geräte am Körper getragen hatte und wahrhaftig bei ihm gewesen war. "Und, gehst du auf den Handel ein? Am Ende will die dir nur einen üblen Streich spielen", warnte Jacques.

"Ich nehme unseren bewährten GPS-Spion mit. Wenn was schrägläuft schicke ich dir die übliche Warnung. Aber ich glaube nicht, dass die mich linken will. Die ist heiß auf ein Abenteuer, meint wohl, eine Art Lara Croft zu sein."

"So sieht die aber nicht aus", kam die Antwort von Jacques. "Woher weißt du das so genau, wo die im schwarzen Abendkleid unterwegs war?"

"Das Wunder der Wärmebildtechnik macht selbst die frömmste Nonne nackig, Jean. Was immer die an sich hatte, in der Bluse hatte sie es nicht."

"Tja, das kommt eben davon, wenn jemand Frauen nur nach der Oberweite bewertet", erwiderte Jean Rocher, der für sich selbst dachte, dass Jacques nur eifersüchtig war, dass er ein paar runden kostenlosen Sex haben konnte und dafür noch Kohle kassierte, ohne als männliche Hure dazustehen.

"Okay, Jean. Du fährst mit der Los. Kriege ich nicht jeden Tag das vereinbarte Signal oder schickst du das Gefahrensignal, kriege ich raus, wer die Kleine auf dich angesetzt hat. Öhm, die könnte sich auch mit einem starken Pheromon eingenebelt haben, dass dich so aus der Spur gedrängt hat, Jean. Ich trau der Frau nicht über den Weg."

"gut, als mein Partner musst du natürlich dran denken, dass uns jemand ablinken will. Machen wir das also so wie bei der Sache mit der goldenen Aztekenmaske."

"Wo sich rausstellte, dass es nicht die Totenmaske Montezumas war, sondern eine von Cortez' Compañeros gemachte Fälschung. Wie viel hat uns diese Lehrstunde noch mal gekostet?"

"Red bitte nicht mehr davon, Jacques! Ich habe diesen Fehlschlag abgehakt", knurrte Jean Rocher alias Maurice Brussac.

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Sie war sich wieder sicher, nur zu träumen. Ja, das konnte nur ein neuer Traum sein, dass sie gerade mit diesem undurchsichtigen Burschen, der in der Zivilisation im dunklen Anzug rumlief und an Bord dieser Yacht im blauen Jogginganzug herumlief auf hoher See war. Sie hatte ihren Eltern vor einer Woche erzählt, dass sie mit ihren Studienfreunden Weihnachten und Neujahr feiern würde. Über Satellitentelefon hatte sie am 25. Dezember ihren Eltern fröhliche Weihnachten gewünscht und erfahren, dass der Chauffeur versucht hatte, sie am Vortag in ihrer pariser Studentenbude anzutreffen. Da war sie aber schon unterwegs. Sie erwiderte, dass sie eben nicht die übliche Weihnachtsfeier haben würden, sondern auf hoher See feiern wollten, nur fünf junge Leute und das Meer.

Heute war schon der 29. Dezember 2002. Zumindest empfand sie es so. Denn die letzten Tage waren irgendwie wie ein schnell vorgespulter Videofilm an ihr vorbeigerauscht. Sie erinnerte sich nur daran, dass sie die erst vorsichtigen und dann mal ernsteren Annäherungsversuche ihres angeblichen Partners zurückgewiesen hatte. Erst bei Lieferung kam die Bezahlung, so hatte sie ihm immer wieder gesagt und beim Schlafengehen immer sichergestellt, dass ihre Kabinentür fest verschlossen und der wasserfeste Eichenholztisch davorgestellt worden war. Dass sie den Tisch so locker wie einen Daunenschlafsack anheben und ohne damit über den Boden zu schaben vor die Tür bugsieren konte sprach dafür, dass sie das alles hier nur im Traum erlebte.

Auch dass sie an diesem Tag ein wildes Vibrieren in dem Ring an ihrer rechten Hand fühlte und sofort wusste, dass sie hier richtig waren, konnte nur ein Traum sein. Ebenso hatte sie nur im Traum die Kraft, einen Mann durch einen tiefen Blick in seine Augen innerhalb von zwei Sekunden zu unterwerfen. So hatte sie erfahren, dass ihr Begleiter nicht Jean Rocher, sondern Maurice Brussac hieß. So konnte sie ihn sogar noch besser kontrollieren, wenn sie durch Blickkontakt ihre Befehle an ihn aussprach.

"Maurice! Lass den Greifer hier runter. Ich bin mir sicher, dass die Sette Étoiles hier versunken ist", sagte sie entschlossen und deutete mit der beringten Hand über die Steuerbordreling der kleinen Kabinenyacht, die Gloire d'Ocean hieß. Maurice Brussac, der mit ihr an Deck stand enterte die Steuerkabine und würgte die auf volle Fahrt stehenden zwei Dieselmotoren ab. Dann gab er für eine halbe Minute volle Kraft zurück. Dabei ließ sie über die kleine Bedieneinheit den Anker auslegen und ins Meer plumpsen. Das wasserfeste Kohlefasertau spulte sich ab, bis bei etwa zweitausend Metern der Grund erreicht war. Das kleine Motorschiff ruckelte kurz. Dann war es ordentlich verankert.

Brussac betätigte den zwischen den Proviantkisten mitgeführten Elektrokran mit eingebauter Seilwinde und ließ eine Konstruktion zu Wasser, die aussah wie ein gelber Metallkrake. Das war eine Erfindung von Maurices Partner Jacques, die er nur deshalb nicht patentieren ließ, weil damit mehr Geld zu machen war, wenn niemand wusste, dass es Pulpiño gab. Neben Restlichterfassenden Kameraaugen und über seinen Körper gut verteilte LED-Leuchtelemente verfügte das achtarmige Gerät über Kurzstreckensonar, Infrarotsensoren und ein metallsuchgerät. Mit seinen saugnapfbewehrten Armen konnte es sich auf zu bergende Gegenstände draufkleben und alles bis zu 1,5 Tonnen Gewicht aus bis zu dreitausend Metern Tiefe nach oben bringen, wenn die Elektrowinde, an der er hing, genug Strom hatte.

Maurice beobachtete, wie das Unterwasserbergungsgerät in den Fluten versank und ging in die Kabine, wo er eine Stunde nach Einfahrt in internationale Gewässer den Überwachungsmonitor aufgebaut hatte. Er fühlte sich durch die Nähe der anderen irgendwie berauscht. Die Vorstellung, gleich den Schlüssel zu ihrer Kaabine und zu ihrem Bett zu kriegen verstärkte dieses Gefühl noch. Er merkte zwar, dass die andere das auch wusste, fühlte sich jedoch im Recht. Allerdings mussten sie dafür erst mal klären, ob das gesuchte Schiff echt da unten lag. Dann mochte es sehr finster aussehen, weil die Tiefsee nach so vielen Jahrhunderten garantiert nicht mehr viel übriggelassen hatte.

"Maurice", sag mir bitte, wenn du die Ladung oben hast! Ich kümmere mich derweil ums Mittagessen", flötete die angebliche Witwe. Maurice wusste bis heute nicht, warum er der seinen wahren Namen verraten hatte. Aber komischerweise machte ihm das auch nichts aus.

Mehr als eine halbe Stunde lang ließ er Pulpiño in die Tiefe gleiten, immer darauf gefasst, gleich nur schlammigen Meeresboden zu sehen zu kriegen. Doch als der krakenförmige Roboter nur noch zwanzig Meter über dem Grund schwebte übermittelten dessen Kameras metallische Körper, die im kurz aufgeblendeten Licht der LED-Scheinwerfer als plattgedrückte, rostbesetzte Rohre zu erkennen waren. Daneben lagen, tief im Schlamm verborgen, weitere Metallkörper, die der Roboter beim Absinken genauer orten und darstellen konnte. Das waren die eisernen Räder von Kanonen, und die Rohre waren die Kanonenrohre selbst. Ansonsten zeigte nichts, dass hier ein altes Schiff versunken war. Der Wasserdruck von zweihundert Atmosphären hatte genug Zeit gehabt, alles zu zerdrücken, was ihm ausgeliefert war. Den Rest hatte das Salzwasser besorgt. Maurice dachte an Jules Vernes Geschichte von Kapitän Nemo, der alle Wracks der Welt als persönliche Schatzkammer angesehen hatte. Damals war das noch Utopie, Science Fiction. Heute war es echt möglich, die meisten Schatzschiffe anzusteuern und zu plündern. Wer da technisch auf der Höhe war konnte stinkreich werden.

Wenn die die Ladung nicht in einem Tresor verstaut haben sehe ich pechschwarz, Madame Lenoir", dachte Maurice und sah bereits seine Chance auf wilde Liebesnächte auf hoher See und ein fürstliches Honorar wortwörtlich ins Wasser fallen. Na ja, im Zweifelsfall würde er ihr immer noch die Charter, die Betriebskosten für den Roboter und seine Arbeitsstunden in Rechnung stellen. Wenn sie ihm dafür den Ring geben musste war er auch schon gut bedient.

Pulpiño glitt zwischen die plattgedrückten und vom Meerwasser zerfressenen Kanonenrohre. Außer deren Rest an gediegenem Metall war da offenbar nichts mehr, bis auf etwas, dass tief im Schlamm steckte, mindestens zwei Meter lang und einen Meter breit war, sowie ein Metallkörper. Der Roboter begann auf Brussacs Eingabe hin den Schlamm mit seinen Arbeitsarmen wegzuschaufeln, bis er die Oberfläche eines glatten Gegenstandes unter sich hatte. Da unten lag etwas wie eine Holzkiste. Doch die konnte unmöglich dem hohen Wasserdruck standgehalten haben. Doch die kurzen Ultraschallabtastungen ergaben, dass es wirklich ein Hohlkörper war, der allen Regeln der Physik zum Trotz mit unverdichtetem Gas gefüllt war. Doch das Ding wies nur schwache Metallanteile aus, vielleicht Nägel, Schrauben oder Scharniere. Irgendwie dachte Brussac an einen Sarg oder eine große Reisetruhe. Doch wieso dieser Behälter immer noch seine ursprüngliche Form hatte wollte ihm nicht einleuchten. Er musste das rausfinden, am besten noch, bevor die angebliche Witwe nachfragte, was sei. So gab er dem Roboter den Befehl, die geheimnisvolle Kiste ganz freizulegen und sich dann mit allen Saugnäpfen darauf festzukleben. Als der Roboter diese Anweisungen befolgt hatte startete er die Elektrowinde. Diese orgelte wimmernd gegen das ihr zugemutete Gewicht an, bis sie endlich gleichmäßig surrte. Bei dieser Aktion fiel Brussac auf, dass andauernd irgendwelche Bildstörungen über den Monitor huschten und zwischendurch immer wieder Meldungen aufblitzten, dass ein System ausgefallen war und durch dessen Redundantes System ersetzt werden musste. Störte da was die Elektronik des Roboters?

"Hast du was am Haken?" kam die Stimme seiner Auftraggeberin von der Kombüse her.

"Ich habe was am Haken. Könnte aber ein altes Kanonenrohr sein. Konnte ich bei dem trüben Wasser nicht genau sehen", erwiderte Brussac.

"Gut, ich seh mir das gleich auch an", sagte seine Auftraggeberin. Brussac erkannte, dass sein Versuch, sie hinzuhalten gerade grandios danebengegangen war. Sobald das Arbeitsgeräusch der Winde sich veränderte würde sie aus der Kombüse herauskommen und die Kiste sehen.

Während die Kiste langsam nach oben gezogen wurde musste Brussac mehrere Funkanrufe beantworten, weil es doch einigen Schiffen aufgefallen war, dass die Yacht gerade mehr als eine Stunde auf offener See ankerte. Er verwünschte den Erfinder des Radars, weil dadurch so mancher heimliche Raubzug von vorne herein vereitelt werden konnte. Unter den besorgten Funkanrufen war auch der von der USS Barry Dodger. Mit deren Kapitän hatte er vor drei Jahren zu tun gehabt, als er vor der Südostküste der Staaten nach einem spanischen Goldfrachter gesucht hatte. Zwar war er da in Internationalen Gewässern unterwegs gewesen. Aber dieser Marinekommandant hatte wohl gemeint, den Sheriff vom Atlantik geben zu müssen. Nur weil er da ein ausrangiertes U-Boot aus ehemaligen Sowjetbeständen benutzt hatte war er noch mit zehn Tonnen Gold an Bord entwischt. Aber wenn die seine Stimme als Audioprofil gespeichert hatten ...

Es gelang ihm, jeden Anruf damit abzuwehren, dass sie gerade den ungetrübten Sternenhimmel genießen wollten. Allerdings wurde ihm nahegelegt, bald weiterzufahren, wenn es keine Havarie gab.

Nach zwanzig Minuten - wobei er immer wieder unterbrach, um einen möglichen Druckausgleich in der Kiste zu gestatten - ttauchte der Roboter aus den Fluten auf. Er hielt die Kiste fest mit den gelenkigen Armen umschlossen. Behutsam holte er die Maschine und ihre Beute mit dem Kran ein und setzte beides auf dem Verdeck ab.

Die Kiste wirkte so, als sei sie niemals im Meer gewesen. Sie war glatt, unversehrt und wirkte knochentrocken. Sowas konnte nicht sein, wo der auf ihr festgesaugte Roboter tropfte wie ein aus dem Bad gesprungener Hund.

"Und, was ist es?" fragte die angebliche Witwe Lenoir aus der Kombüse. Brussac nahm jetzt erst den Geruch von geschnittener Paprika und Zwiebeln wahr.

"Muss ich noch reinigen. Moment!" rief er und eilte an die Bedienung für den Roboter. Dieser löste leise zischend die Verbindung mit der Kiste und glitt einfach daran herunter. Mit einem Werkzeugkasten bewaffnet lief Brussac darauf zu. Da in der Kiste ja nichts metallisches mehr zu sein schien argwöhnte er auch keine Sprengfalle oder sowas. Trotzdem kam ihm die Geschichte immer abgedrehter vor. Wieso war die Kiste noch unversehrt? Er suchte nach Nägeln oder Schrauben. Ja, tatsächlich war der Kistendeckel mit mehreren dutzend Nägeln festgemacht. Er holte eine flache Zange aus dem Werkzeugkasten und versuchte, einen der Nägel herauszuziehen. Doch er bekam die Zange nicht im Ansatz so um den Nagelkopf, dass er das Verbindungsstück herausziehen konnte. Deshalb versuchte er es bei einem anderen Nagel. Auch den konnte er nicht fassen. Es war, als hätte jemand eine reißfeste Plastikfolie um die ganze Kiste gewickelt und alle Luft zwischen Folie und Kiste abgepumpt. Er griff an die Kiste und fühlte das Material glatt und ... warm? Wieso fühlte sich das Holz so warm an wie eine Stunde in der Sonne?

"Also stimmt doch, was ich gelesen habe", raunte es von hinten. Brussac drehte sich um und sah seine Auftraggeberin, die gerade die hellblaue Küchenschürze trug und in der rechten Hand ein silbernes Tafelmesser hielt. Einen Moment dachte er, dass sie ihm damit gleich die Gurgel durchschneiden wollte. Doch dann traf sein Blick den von ihr. "Ich habe das nur für ein Gerücht gehalten. Aber wenn du die Kiste nicht aufbrechen kannst und die echt so aussieht, als wäre die nie im Wasser gewesen, dann stimmt vielleicht doch, dass sie verzaubert ist."

"Verzaubert?" fragte Brussac argwöhnisch. "Ja, von einer bösen Hexe, die wollte, dass das Standbild meiner Vorfahrin nie wieder das Tageslicht erblickt. Angeblich sei das auch keine richtige Statue, sondern meine Vorfahrin selbst, die sich mit der Hexe ein Zauberduell geliefert haben soll."

"Hömm-ömm, Magie und Flüche kenne ich auch von anderen alten Sachen. Aber bisher hat sich alles noch rein wissenschaftlich erklären lassen, Madame Lenoir. Außerdem habe ich den Trennschleifer mit. Der kriegt selbst Stahlplatten durchgeschnitten", sagte er und lief in die Kabine zurück. Dass er die andere mit der Kiste alleine ließ störte ihn gerade nicht. Wenn er die nicht aufbekam bekam die sie auch nicht auf.

Er war gerade mit dem akkubetriebenen Trennschleifer unterwegs zurück aufs freie Verdeck, als er sah, wie die andere gerade das blutige Tafelmesser auf die Planken legte und ihre linke Hand auf die Kiste drückte. Es blitzte blutrot und Waldmeistergrün auf wie Elmsfeuer. Dann schien ein blutrot flirrender Dunst aus der Kiste zu entweichen.

"So, probier es bitte noch mal mit der Zange!" rief sie, bevor sie merkte, dass er sie schon beobachtete. Er wollte fragen, was sie gemacht hatte. Da traf ihr Blick wieder seinen. Sie wiederholte die Anweisung, und er befolgte sie ohne weitere Verzögerung.

Nagel um Nagel zog er frei. Jeder Nagel rostete, sobald er aus dem Holz gezogen war, als wenn die letzten Jahrhunderte nachgeholt würden. Dann hob seine Auftraggeberin den Deckel ab. Brussacs Augen wurden größer und größer. Er hatte zwar schon davon gehört, aber es zu sehen war doch ein himmelweiter Unterschied.

In der nun offen dastehenden Kiste lag eine lebensgroße Statue. Sie stellte eine in einer Art Angriffspose abgebildete Frau in einem wadenlangen Kleid dar. Ihr Gesicht war schmal, ihre Lippen jedoch voll. Ihre Nase besaß schon aristokratische Züge. Überhaupt wirkte diese im Licht des aufgestellten Scheinwerfers saphirblau schimmernde Statue übernatürlich schön, beinahe schon einer altgriechischen Aphrodite nachgebildet. So ähnlich mochte auch die künstliche Frau Pandora ausgesehen haben, als die olympischen Götter sie zu den Menschen schickten, um ihnen alles Unglück der Welt zu bringen.

"Gefält dir meine Vorfahrin, Maurice?" fragte die junge Frau, deretwegen er auf diese Reise gegangen war. Er kam nicht umhin, das zu bestätigen.

"Und sie wird noch schöner und mächtiger sein, wenn sie wieder aufwacht", sagte die junge Lehramtsstudentin. Brussac dachte noch über diese Worte nach, als sie sich mit dem Messer schnell und entschlossen die Pulsadern am linken Arm aufschnitt. Sofort strömte das Blut aus den Wunden heraus. Er wollte ihr zu Hilfe kommen. Doch sie brauchte ihn nur anzusehen, und er stand auf dem Fleck wie angenagelt. So musste er handlungsunfähig zusehen, wie das Blut der jungen Frau sich über die blau schimmernde Statue verteilte. Da begann sie zu vibrieren. Rote und blaue Funken sprangen aus der scheinbar steinharten Oberfläche. Dann verschwamm das blaue Schimmern zu einem violetten Nebel, der lautlos aus der Kiste herausquoll und in einer sanften Spirale himmelwärts stieg.

Das ganze hatte gerade einmal eine Minute gedauert, als das wirklich unglaubliche passierte. Die bisher steinhart und unbeweglich erschienene Frauengestalt bewegte sich. Als der letzte Nebeldunst verwehte konnte Brussac sehen, dass sie hellhäutig war und oberkörperlanges, nachtschwarzes Haar besaß. Das Kleid, dass bisher nur bretthart ihre Körperformen bedeckt hatte, floss nun seidigweich und ebenso schwarz wie ihr Haar um ihren sich wie nach langem Schlaf streckenden Körper. In der rechten Hand hielt sie einen dünnen Holzstab. Dann schlug sie die Augen auf, die im Licht des tragbaren Scheinwerfers smaragdgrün glänzten und kreisrund waren wie aus einem Bilderbuch. Dann deutete sie mit dem Stab auf ihn und blickte ihn an. Unvermittelt meinte Brussac, in eine unsichtbare, unnachgiebige Masse eingebacken zu sein.

"Danke, dass du mich geweckt hast, Jungfer", hörte er die Stimme der gerade zum Leben erwachten Frauengestalt. "O, dein Arm ist verletzt. Halt still!" Die angebliche Witwe erstarrte mit immer noch ausgestrecktem, stark blutendem Arm. Ein rotes Licht entstieg dem Holzstab der Wiedererwachten und bestrich die gefährlichen Verletzungen. Augenblicklich stoppte die Blutung. Brussac sah es nicht wirklich. Aber er war sich sicher, dass die zum Leben erweckte Statue die Schnittwunden heilte. Als sie dann den leuchtenden Stab senkte stemmte sie sich hoch. Die Kiste sah nun nicht mehr so glatt und unangreifbar aus. Es schien, als bestehe sie nur noch aus völlig durchtränkter Pappe. Sie wellte sich und bekam Risse, als die andere sich hochstemmte und dann mit einem grazilen Schritt über den Kistenrand auf die Planken trat.

"Du hast mir sehr brav gedient, junge Maid. Dafür ist dir eine großzügige Belohnung gewiss", säuselte sie. Dann wandte sie sich Brussac zu und sah ihn an. Wieder meinte er, in einen heftigen Rausch zu verfallen. Doch diesmal war es um ein vielfaches heftiger. So meinte er zu träumen, als die aus der immer schneller verrottenden Kiste kletternde sagte: "Dich gold- und Fleischeslüsternen Vagabunden brauche ich nicht mehr." Er konnte nicht antworten. Er stand da, zu keiner eigenen Regung mehr fällig. Dann hörte er die Wiedererwachte entschlossen die Worte "Avada Kedavra!" zischen. Das letzte, was er mitbekam, waren ein gleißendes grünes Licht und ein unheilvolles Sirren. Wie bei einer Marionette, der die Fäden durchgeschnitten werden klappte er zusammen und fiel auf den Rücken, die augen in einer Art eingefrorener Entrücktheit erstarrt.

"Rose Britignier stand nur da. sie sah nur die von ihrem Blut aus der Erstarrung gelöste Frau an. Dass diese mal eben den Schatzjäger mit einem bösen Zauber getötet hatte kam ihr nicht zu Bewusstsein. Die aus dem Versteinerungsbann befreite Frau sah überragend schön aus, nicht wie eine böse Hexe aus dem Märchenbuch, sondern eher wie eine Fee oder eine Göttin aus der griechisch-römischen Sagenwelt. Im Moment konnte sie sich nicht bewegen. Etwas aus dem Zauberstab der Wiedererweckten hatte sie erstarren lassen. Doch diese Erstarrung verflog Pulschlag für Pulsschlag.

"Ah, ich merke, du gewinnst deine Beweglichkeit zurück, Jungfer Rose. Dann kannst du mir meinen Ring zurückgeben, ohne dass ich ihn mir mit Gewalt zurückholen muss. Komm! Gib mir meinen Ring wieder!"

"Das kann nicht wirklich sein", dachte Rose, während die andere da vor ihr stand. Ihre Schönheit, ihre Ausstrahlung, alles das verblies die merkwürdige Stimmung, in der Rose die Vorgänge bisher verfolgt hatte. Doch der Ring an ihrer rechten Hand begann zu vibrieren und sich aufzuheizen. Die beiden Rubinrosen glühten aus sich heraus in einem geisterhaften Rot.

"Jungfer Rose, gib mir meinen Ring wieder! Du brauchst ihn nicht mehr", säuselte sie. Rose versuchte, sich dagegen zu wehren. Doch ihre linke Hand glitt bereits zu ihrer Rechten und umschloss den immer wilder vibrierenden Ring mit Daumen und Zeigefinger. Dann zog sie ihn einfach ab, als wenn ihr Finger nur noch strohhalmdünn war oder sie ihn mit besonders gleitfähigem Öl eingerieben hätte. Sie schaffte es nicht, das immer heißer werdende Kleinod in der Hand zu halten. Sie legte es in die ihr entgegengestreckte linke Hand der Wiedererweckten.

"Ich danke dir, dass du mir ein so treffliches Gefäß und eine so große Hilfe warst", sagte die andere. Dann steckte sie sich den Ring selbst an den linken Ringfinger. Die beiden Steine glühten nun hell auf, um dann wieder zu erlöschen. "Ich werde ihn mit einem weiterführenden Bann gegen fremdes Bewegen belegen müssen, damit mir sowas wie bei Sardonia nicht nochmals widerfährt", grummelte sie. Dann wandte sie sich noch einmal der Studentin aus Paris zu. "Dein Name war der Schlüssel zu unserem gemeinsamen Schicksal. So soll er auch unsere weitere Zeit besiegeln", sagte sie entschieden.

Rose Britignier fühlte, wie sie erwachte. Ja, sie erwachte nun endgültig. Alles bisherige war für sie wie ein böser Traum gewesen. Doch der Traum war Wirklichkeit. Die andere stand vor ihr, den verfluchten Ring an der linken Hand, einen Zauberstab in der rechten Hand. Mit dem hatte die Wiedererweckte ihren Begleiter totgehext. Rose erkannte, dass alles, was sie für unmöglich gehalten hatte wahrhaftig passiert war. Sie hatte den Zauberring einer im Hexenduell unterlegenen Schwarzmagierin getragen, in dem der Geist dieser Hexe eingebettet war. Dieser böse Geist hatte ihre Träume gelenkt und dadurch immer mehr von ihr selbst in Besitz genommen. Sie hatte mitgeholfen, einer wahren Dämonin den Weg auf die Welt zu ermöglichen. Sie hatte Henri Dubois umgebracht, im Bann des bösen Geistes, der nun mit seinem ursprünglichen Körper wiedervereint worden war. Sie fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. "Na, wer will denn gleich weinen, wo dieser Tag der glücklichste überhaupt ist?" lachte die andere. Rose rang mit den Tränen. Sie wollte losbrüllen, dieser Satanstochter da die wüstesten Verwünschungen ins Gesicht brüllen. Doch ihre Stimme versagte.

"Na, nicht grob werden", zischte die aus ihrer Verbannung befreite Hexe und wischte Roses vorschnellende Hand mit einer beiläufigen Bewegung zur Seite.

"Hebe dich hinweg, Dinerin Satans!" rief Rose.

"Rose, meine kleine Rose! Du hast mich kennengelernt, wie ich dich kennengelernt habe. Glaubst du, eine Tochter zweier Mütter wird die Magd eines aufrechtgehenden Ziegenbocks? Aber bevor du dich noch mal verwundest ..." Rose fühlte, wie sie in der Bewegung erstarrte.

"Ich werde jetzt in meine Heimat zurückkehren und nach meinen Besitzungen sehen, ob diese Malefizschwestern ... Vermaledeit!"

Rose verstand nicht, warum die andere nicht weitersprach und statt dessen wie zu Tode erschrocken an ihr vorbeistarrte, als sei dort gerade ein weiterer Dämon aufgetaucht, der ihr ans Leben wollte.

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Sie hieß Sternennacht und lebte schon zweihundert Jahre auf der Welt. Ihre Heimat war das Land, dass die kurzlebigen, ihr schwächlich und hinfällig erscheinenden Menschen Bulgarien nannten. Hier lebte sie in einem der letzten Auwälder am breiten Strom der Donau. Früher war das eine sehr idyllische Wohngegend. Doch seitdem die Kurzlebigen vom bösen Drang besessen waren, die hohen Kräfte durch die Luft verpestende Geräte und Fahrzeuge zu imitieren, war die Donau kein lieblicher Strom mehr, sondern eher ein offener Abwasserkanal, in dem sie nicht mal einen kleinen Zeh halten würde. Zum Glück konnte sie zu drei Quellen ausweichen, um zu trinken oder sich Wasser aus der Luft heraus verdichten lassen, wenn sie baden wollte.

Am kommenden Tag würden die Menschen wieder dieses Fest mit den künstlichen Feuergaukeleien feiern. Das Pfeifen, Zischen, Prasseln und Knallen, Wummern und Knattern würde wieder alle Tiere in der Umgebung von Menschensiedlungen aufscheuchen. Als Naturwesen hatte Sternennacht ein besonderes Gespür für ihre wildlebenden Mitgeschöpfe. Sie selbst konnte zu einem schwarzen Storch werden, wenn sie große Strecken überwinden wollte. Doch im Moment lauschte sie auf die leisen, säuselnden Klänge ihrer in den Nachbarländern lebenden Verwandten, drei Schwestern, zwei Brüdern und zwölf Nichten, Neffen und drei Töchtern.

Es war wohl gerade nach Mitternacht, als Sternennacht ein fernes Flüstern hörte, dass zu einem klaren Ton wurde, einem aus weiter Ferne zu ihr dringenden Freudenschrei, nicht dem eines gerade geborenen Verwandten, sondern den eines weiblichen Erwachsenen, der aus tiefem Schlaf erwacht und sich freut, die Sonne aufgehen zu sehen. "Ich bin wieder frei. Ich bin wieder da!" hörte sie die frohlockende Stimme.

"Ich höre dich, meine Blutsverwandte. Wer bist du denn?!" sang Sternennacht ihre Frage, und auf den Schwingungen ihres Gesangs eilten die Worte weit über jede Hörweite hinaus in den Geist der gerade aufgewachten. Als diese die gesungene Frage hörte erschrak sie spürbar. Dann, als wenn sie genauso unvermittelt wieder eingeschlafen war, verstummte die andere Stimme wieder. Sternennacht sang ihr noch einmal die Frage zu, ja fügte dem ganzen einen besorgten Unterton hinzu. Denn wie alle ihrer Art achtete sie sehr auf die Unversehrtheit ihrer Blutsverwandten. Doch die andere antwortete nicht mehr. Nur die leise im Hintergrund klingenden Stimmen der zueinander singenden Verwandten wurden lauter. Eine Nichte Sternennachts sang die Frage zurück, ob jemand wisse, wer die andere gewesen sei, da sie die Stimme nicht erkannt habe. Doch wer das war wusste niemand. So baten die Geschwister und Abkömmlinge Sternennachts darum, dass sie den Rat der Ältesten benachrichtigte, um herauszufinden, wer die unbekannte war, die sich so sehr über ihr Erwachen gefreut hatte.

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"Vermaledeite Verwandtschaft!" dachte Ladonna Montefiori, als sie es auch mit Hilfe ihres wiedergewonnenen Ringes hinbekam, sich gegen das aufdringliche Gesinge aus der Ferne zu verschließen. Ihr Blut war durch diese Töne zum prickeln gebracht worden und hätte sie fast dazu gedrängt, zu antworten. Nur weil sie ihre Seele dreigeteilt hatte und zwei Teile davon in ihrem Ring verwoben waren hatte sie diesem widerwärtigen Anteil ihrer Abkunft Einhalt gebieten können, bevor sie noch verraten hätte, wo sie war und dass es sie war, Ladonna, die Zwei-Mütter-Tochter. Vielleicht war es auch der im Mutterleib eingeflößte Anteil an Waldfrauenblut, der ihr half, für diese überragend schönen Wesen still zu bleiben.

Als sie endlich wieder frei von Sorgen um unerwünschte Entdeckung handeln konnte wandte sie sich an die von ihrem Erstarrungsbann gefesselte Jungfrau. Ja, die hatte ihr mit ihrem Blut geholfen, sie aus Sardonias Steinkokon herausgelöst. Dafür hatte die sich eine Belohnung verdient.

Aus den ihr durch das Überstreifen ihres Ringes zugeflossenen Erinnerungen aller seiner Wirtskörper erfuhr sie, dass an Bord eine große Glaskaraffe stand. mit dem Apportierzauber ließ sie diese zeitlos vor ihr auf dem Boden erscheinen. Dann ließ sie aus dem Kristallglas feinstes Chinaporzellan werden. Danach hielt sie den Zauberstab über die so entstandene Vase und murmelte "Fertilihumus!" Doch zunächst geschah nichts. Nichts?! Das durfte nicht sein. Doch dann fiel ihr ein, dass sie gerade auf dem offenen Meer war. Da gelang dieser Zauber nicht so rasch wie auf festem Land. So murmelte sie das Zauberwort noch dreimal, bis erst zaghafte Körnchen, und dann ein breiter Strahl frischer Erde in die Vase rann. Als diese halb voll war zielte sie auf Rose Britignier. Wohl war, ihr Name war ihr Schicksal, dachte Ladonna und vollführte den schon hundertfach gewirkten Zauber, der aus einem Menschen innerhalb einer Sekunde eine langstielige Rose werden ließ. Als die so verwandelte am Boden lag, die unversehrten Wurzeln hilflos im Wind, hob Ladonna sie auf und grub sie sacht in die von ihr in die Vase gefüllte Erde. Als sie sicher war, dass die von ihr Verwandelte so sicher und wohlbehalten untergebracht war ließ sie mit einem ungesagten Aguamenti-Zauber einen Schluck Wasser über ihr niederregnen, der in die trockene Erde einsickerte. Danach hielt sich Ladonna die linke Hand an den rechten Arm und ritzte sich mit den Rubinen ihres Ringes so stark, dass ein paar Blutstropfen in die Vase sickerten. "Per Sanguinem meum Vitae nostrae unificatae sint! Hic et nunc est factum!" sprach sie. Ihr Ring glühte auf. Sein blutrotes Licht hüllte die zur zartrosafarbenen Rose gewordene Ex-Studentin ein, während die sie umschließende, mit Wasser und Blut getränkte Erde aus sich heraus rot glühte. Dieser Zustand hielt eine halbe Minute vor. Dann erlosch das Licht. Der Blutpakt war geschlossen. Rose Britignier würde in ihrem jetzigen Zustand solange leben, wie Ladonnas Körper von Blut durchströmt wurde. Somit würde sie nicht wie andere Rosen verblühen oder vor Kälte erstarren. Das war die Belohnung, die Ladonna Montefiori ihrer Wiedererweckerin gewährte.

Ladonna deutete mit der beringten Hand auf den Leichnam Brussacs. Sie dachte die auslösenden Worte "Ignis invictus!"Kaum hatte sie die beiden Wörter gedacht strahlten die beiden Rubinrosen hellrot auf, hüllten den Toten in dieses Licht ein, bis es aussah, als erstrahle es aus ihm selbst. Seine Formen verschwammen in diesem Licht, lösten sich sacht flirrend auf und waren weg. Kaum war der Tote restlos verschwunden erlosch das unheimliche rote Leuchten ihres wiedergewonnenen Rings. Auf dem metallenen Deck war keine Spur von dem Toten zu sehen. Ladonna nickte. Zumindest war das eine Errungenschaft, Schiffe nicht mehr nur aus Holz zu bauen.

Die Wiedererweckte trug die zum Dasein als nie verblühende Rose verwünschte Gehilfin in die Kabine. Sie gedachte, den Anker aufzuheben und dann mit diesem kleinen Schiff zurückzukehren. Da fingen ihre hochempfindlichen Ohren aus dem Plätschern und Rauschen des an die Bordwand spülenden Meeres geisterhafte Stimmen auf, die aus Richtung der Steuerkabine kamen. Sofort fiel ihr ein, dass die Mogglinos seit mehr als hundert Jahren mit Hilfe der von ihnen gebändigten Elektrizität ihre Laute in unsichtbare Wellen verwandeln und über die ganze Welt schicken konnten. Die Zeit als Roses Körpermitbenutzerin hatte ihr dieses Wissen erschlossen. Also rief jemand nach diesem Schiff. Wenn er keine Antworten bekam würde wohl jemand nach diesem kleinen Schiff suchen. Also stellte sie die Vase mit der besonderen Rose auf den Tisch und eilte leichtfüßig in die am Bug errichtete Steuerkabine.

Mit dem zu ihrer natürlichen Lebzeit neu erfundenen Varivox-Zauber verstellte sie ihre Stimme so, dass sie wie die von Maurice Brussac klang und griff zum Hineinsprechteil des klobigen Kastens namens Funkgerät. "Hier die Gloire d'Ocean. Bei uns ist alles in Ordnung. Meine Begleiterin und ich haben nur den Zauber des Meeres und der Zweisamkeit genossen", sagte sie.

"Sie haben vier Stunden vor Anker gelegen. Sind Sie völlig sicher, keine Hilfe zu benötigen?" fragte die aus dem Kasten mit den vielen winzigen Löchern dringende Stimme. "Oder haben Sie etwa mit einem Mini-U-Boot verbotenerweise nach etwas getaucht, Mr. Rocher?"

"Das Meer gehört allen, die sich darauf und darunter bewegen können", erwiderte Ladonna darauf.

"Soso, und dann einfach Wracks ausplündern, weil die toten Seeleute darauf sich nicht dagegen wehren können, wie? Wir kommen an Bord, wenn's genehm ist."

"Wir sind auf freiem Meere außerhalb aller Reichsgrenzen, Hoheitsgewässer sagt ihr dazu", erwiderte Ladonna, bevor ihr klar wurde, dass ihre Art zu sprechen in dieser Zeit offenbar nicht mehr zählte. Außerdem sprach eine andere Stimme.

"Stimmt, die Amis sollen sich nicht aufspielen. Die "Gloire d'Ocean ist weit genug weg von den Staaten."

"Sie hören es. Wir dürfen auf dem offenen Meer fahren und halten, wann wir dies wünschen", erwiderte Ladonna Montefiori. Dann schaltete sie das Ding aus, dass Funkgerät genannt wurde. Sie ging auf das Verdeck hinaus und wirkte an Bug, Steuerbord Mittschiffs, Backbord mittschiffs und achtern einen von ihr erfundenen Zauber, der bei feindlicher Annäherung albtraumhafte Angstbilder in die Sinne fühlender Wesen flößte. Dies, so dachte sie, sollte reichen. Doch sie unterschätzte dabei die Errungenschaften des 21. Jahrhunderts. Vor allem wusste sie nicht, welche Unterlassungssünde sie begangen hatte, Brussac nicht erst genauer auszuforschen, wer auf ihn wartete und wie er ihr vielleicht noch hätte dienen können. Der Rausch der wiedererlangten Macht und die Freude, ihren eigenen, allen gewöhnlichen Menschen überlegenen Leib zurückerhalten zu haben, hatte ihren sonst so scharfen Verstand betäubt. Sie glaubte, mit dem kurzen Gespräch über den mit vorgetäuschter Magie betriebenen Fernrufkasten jeden Arg zumindest für ausreichend lange Zeit getilgt zu haben. Denn weil Rose es nicht wusste und ihren Begleiter nie gefragt hatte, wusste auch Ladonna nicht, was Maurice Brussac alias Jean Rocher mit seinem Partner vereinbart hatte.

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Commander Tod Mahony, kommandierender Offizier der USS Barry Dodger, verwünschte den Umstand, diese kleine Kabinenyacht in nicht mal zehn Seemeilen Entfernung nicht einfach so stürmen zu dürfen. Sicher hatte dieser Schatzjäger und Raubtaucher wieder ein altes spanisches Schiff gefunden und geplündert, auch wenn das bei dieser Meerestiefe gerade ziemlich aufwendig war. Mahonys Rechtsberaterin Lieutenant Commander Caroline Garner sah ihren Vorgesetzten fragend an und bekam von ihm ein eher hilflos wirkendes Achselzucken zur Antwort. "Dieser dreiste Frachterkapitän da hat leider recht, dass wir nicht mal eben an Bord gehen dürfen", sagte sie mit gewissem Bedauern in der Stimme. "Aber dass wir diese kleine Luxuswanne da beobachten kann uns keiner verbieten, oder?" fragte Mahony. Garner nickte ihm zu. So wandte er sich an seinen ersten Offizier, Lieutenant Commander Cliff Saulton. Der stand sofort stramm. "Wenn ich gleich auf Freiwache gehe klären Sie das, dass jede Bewegung von diesem Grabräuber verfolgt wird!" befahl Mahony. "aye aye, Sir", bestätigte Saulton unverzüglich.

"Sind Sie absolut sicher, dass einer von der Besatzung dieser Monsieur Rocher ist, der vor Florida nach spanischen Schiffen getaucht hat?" fragte Lieutenant Commander Garner.

"Wir haben die letzten Meldungen von dem durch den Stimmvergleicher laufen lassen. Der Computer hat ihn zu einhundert Prozent erkannt. Daher muss ich davon ausgehen, dass eine kriminelle Unternehmung vorliegt oder noch bevorsteht", beantwortete Mahony die Frage der ihm zugeteilten Seerechtsexpertin.

"Wir behalten die Yacht unter Radarkontrolle", fügte Saulton noch hinzu. Mahony sagte dazu nichts weiteres.

Der Kommandant wollte gerade die Brücke verlassen, um die vorgeschriebene Pause zu machen, als die Radarüberwachung meldete, dass die Gloire d'Ocean auf Kurs Ostnordost einschwenkte und beschleunigte. "Sieh an, die wollen wieder in die Heimat, wo die Reise doch als reine Vergnügungsfahrt gemeldet ist", grummelte Mahony. "Ich brauche eine Verbindung mit dem Kommando Atlantikflotte!" Eine Minute später stand die Satellitenverbindung. Mahony schilderte die Lage und bat um die Genehmigung, die Yacht zu verfolgen. Mit den Beschränkungen, die Yacht weder ohne ausdrücklichen Befehl aufzubringen noch zu entern und nur mit Erlaubnis der zuständigen Seeüberwachung in fremde Hoheitsgewässer einzudringen durfte er die Yacht verfolgen. So ließ er Verfolgungskurs setzen, befahl aber, bis auf weiteres außer Sichtweite zu bleiben. Erst wenn die Yacht sich einer Küste näherte sollte die Dodger aufschließen und sich zumindest zeigen, damit die Besatzung der Yacht darüber im Bilde war, nicht unbeobachtet zu bleiben. Mahony bedauerte nur, dass es keine Handhabe gab, die Yacht wegen möglicher terroristischer Umtriebe aufzubringen. Aber die internationalen Bestimmungen untersagten das, ein Zivilschiff ohne Notlage oder von dort ausgehende Erlaubnis zu entern, solange kein Krieg herrschte. Dafür brauchte Mahony nicht mal seine Rechtsberaterin Lieutenant Commander Garner zu fragen.

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"Lass dich nicht ärgern, Monju!" verabschiedete Millie Latierre ihren Mann am zweiten Tag des taufrischen Jahres 2003 in die Arbeit. Julius würde ab heute auf Anweisung von Ministerin Ventvit ein eigenes Büro für die Vermittlung zwischen Menschen und intelligenten Zauberwesen beziehen, dass sozusagen die Schnittstelle zwischen den bereits bestehenden Verwaltungsorganen für diese Bereiche bildete. Zudem hatte Mademoiselle Ventvit nachgefordert, dass die Leitstelle für die Truppe zur Umkehr verunglückter Magie ebenfalls mit diesem neuen Büro zusammenarbeitete. Auch wenn nach Lefeux unrühmlichem Ausscheiden wegen des schwerwiegenden Verdachtes einer Vergewaltigung in Tateinheit mit Benutzung des unverzeihlichen Imperius-Fluches mit Bernard Villeneuve ein toleranterer Büroleiter am Drücker saß wusste Julius sehr wohl, dass sein schneller Aufstieg trotz der Sache mit Meglamoras künftigen Kindern nicht von allen befürwortet wurde. Dem wollte und musste er durch Respekt und Behutsamkeit entgegenwirken.

Die erste Amtshandlung, die er vollführte, als er in das bisherige Büro ging war, seine Familienfotos vom Schreibtisch zu nehmen und sicher zu verstauen. Die zweite Amtshandlung bestand darin, seinen Stellungswechsel ordnungsgemäß schriftlich festzuhalten, allein schon, um künftig Pergament und Tinte zugeteilt bekommen zu dürfen. Als Pygmalion Delacour, der ab heute ganz allein die reinen Zauberwesenangelegenheiten regeln sollte, die Versetzungsurkunde unterschrieben hatte sagte er: "Ich wünsche Ihnen die Umsicht, Geduld und vor allem nötige Intuition, um Ihre Aufgaben erfolgreich auszuführen, Monsieur Latierre. Ich bedanke mich für die Zeit, die Sie mir und Mademoiselle Ventvit zur Verfügung standen."

"Ich bedanke mich, dass ich bei und von Ihnen lernen durfte, wie es hier zugeht und wie ich mit den Besuchern und Antragstellern umgehen muss, um die Abteilung in Gang zu halten", erwiderte Julius. "Außerdem hoffe ich, dass Ihr Büro und das mir zugeteilte weiterhin für alle nützlich zusammenarbeiten können. Ich für meinen Teil werde alles mir mögliche daransetzen, dass dieses Ziel erreicht werden kann."

"Passen Sie immer gut auf Ihre Selbstbeherrschung auf, junger Monsieur! Jetzt, wo Sie auf Madame Grandchapeaus Etage arbeiten darf meine Schwiegermutter und jede blutsverwandte von ihr Sie ja uneingeschränkt besuchen. Nicht, dass meine werte Schwiegermutter doch noch findet, sie mit einer ihrer anderen Enkeltöchter zusammenbringen zu müssen."

"Ich denke, die Lage wird jetzt nicht mehr eintreten, wo Euphrosyne Blériot zu Madame Lundi geworden ist", wiegelte Julius ab. "Ich werde wohl die spukenden Stühle vermissen. Das war jeden Morgen eine kleine Sportübung vor dem Büroalltag", sagte er und deutete auf die fünf scheinbar unschuldig an der Wand stehenden Stühle. In seinem neuen Büro würde er keinen von einem scherzbold verzauberten Stuhl haben, der erst vor ihm wegzulaufen versuchte.

Da Julius schwerpunktmäßig zwischen der sogenannten Muggel- und der Zaubererwelt zu vermitteln hatte war zwischen Vendredi und Grandchapeau vereinbart worden, dass er näher an zur Zeit Belle Grandchapeaus Büro saß. So fuhr er mit dem kleinen Karton, in dem seine wenigen Habseligkeiten verstaut waren, bis zur entsprechenden Etage hinauf. Das Büro war früher die Arbeitsstätte für den Verwalter von Grundstücken der magischen Ansiedlungen gewesen, was Einwohnermeldeamt und Grundbuchamt in einem darstellte. Diese Dienststelle war jedoch seit drei Jahren in die Handelsabteilung eingegliedert worden, da Grundstücke verkäufliche Güter darstellten und so eben auch eine Angelegenheit für die Handelsabteilung waren. Die letzte Fachkraft, die in diesem Raum gearbeitet hatte war Louane Troisrieu. Diese war extra aus der Handelsabteilung herübergekommen, um dem neuen Insassen alles zu zeigen. Zugleich waren noch Monsieur Vendredi, Leiter der Abteilung für Führung und Aufsicht Magischer Geschöpfe und Belle Grandchapeau, zeitweilige Leiterin des Büros für friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne magische Kräfte herübergekommen.

So erfolgte die nächste Amtshandlung, die Übernahme des neuen Arbeitsplatzes, im Beisein der mit Julius hauptsächlich zusammenarbeitenden Kollegen.

Louane Troisrieu, eine Hexe von fünfzig Jahren, klein, untersetzt mit bis auf die Schultern fallenden dunkelbraunen Locken, übergab Julius feierlich zwei der insgesamt vier Zugangsschlüssel für das Büro. Außerdem bekam er für drei verschließbare Schreibtischschubladen Clavunicus-Schlüssel ausgehändigt, ebenso wie für den Schrank mit den noch leeren Aktenmappen. Dann durfte er sich die zwei magischen Fenster so einrichten, wie er das gerne hatte. Er wählte die Aussicht auf die Rue de Camouflage, sowie den Blick nach Süden von der höchsten Plattform des Eiffelturms aus. Das wurde von dem in einem hellblauen Umhang gekleideten Zauberer von der Zentralverwaltung eingerichtet, ebenso wie die Verknüpfung mit dem Memoverteilernetz, damit an Julius adressierte Nachrichten den Weg zu ihm fanden. Das ganze dauerte eine Viertelstunde. Dann wünschte Madame Grandchapeau ihm und sich eine gedeihliche Zusammenarbeit. Dem musste sich auch Arion Vendredi anschließen, dem anzusehen war, dass er diese Personalentscheidung der neuen Ministerin nicht wirklich guthieß. Immerhin war Julius nun nicht mehr direkt und ausschließlich ihm unterstellt und von der Rangordnung her nur noch eine Stufe unter ihm. Eigentlich konnte sich Julius nun eigene Mitarbeiter aussuchen. Doch derzeit waren im Bereich der Einsatztruppen und der Ausrüstungsverwaltung mehr freie Posten als Bewerber verfügbar und sollten erst besetzt werden, bevor Julius überhaupt mal anmerken durfte, dass er vielleicht auch einen weiteren Mitarbeiter gebrauchen könnte.

Die an der Wand hängende Uhr mit Bildern magischer Wesen zeigte genau sechzehn Minuten nach neun Uhr, als die ganze Prozedur der Büroübernahme und -eröffnung abgeschlossen war. So ging Julius die nächste Amtshandlung an, die Versendung von zehn Memos, dass er in Befolgung der ministeriellen Anordnung vom 20. September 2002 am 2. Januar 2003 das Büro für die Vermittlung zwischen Menschen und menschenähnlichen Zauberwesen übernommen hatte. Er kennzeichnete diese Memos mit dem für diesen Tag und seine neue Arbeitsstelle festgelegten Aktenzeichen und legte den Textentwurf selbst als Dokument 00001 in einem der jungfräulichen Aktenordner ab. Eine Kopie davon wanderte per Memoflieger ins Archiv.

Nun reihte er die mitgenommenen Familienfotos so auf, dass sie immer sichtbar aber nicht sichtbehindernd auf dem Schreibtisch standen, wobei er seine Familie mit der gerade wieder schwangeren Millie ganz rechts platzierte. Er hatte aber auch Modelle von Big Ben, dem Eiffelturm und dem Uhrenturm von Viento del Sol mitgebracht, die er zwischen Federhalter, Tintenfass und Lampenhalter aufstellte. Millie hatte scherzhaft vorgeschlagen, auch die von seiner Schwiegertante Barbara geschenkte Miniatur der Flügelkuh Temmie in sein neues Reich zu nehmen. Doch das wollte er dann doch nicht.

Fünf Minuten vor der üblichen Frühstückspausenzeit segelten die ersten bunten Memoflieger durch die kleine Luke in der Wand zu ihm herein. Es waren erste Anfragen von Belle Grandchapeau, sowie die Einladung zu einer Konferenz am Nachmittag, wo es um die Folgen von Vengors Untaten ging.

Pünktlich zur Frühstückszeit apparierte eine Hauselfe mit einem Teewagen, obwohl er nicht darum gebeten hatte. "Ministerin Ventvit hat befohlen, Ihnen Frühstück zu bringen, Monsieur Latierre", trällerte die Hauselfe. "Sie sagte, dass Sie bitte nicht vergessen dürfen, regelmäßig zu essen und zu trinken."

"Sehr aufmerksam", erwiderte Julius. Innerlich fragte er sich aber doch, für wie unselbstständig die Ministerin ihn hielt, dass er ohne Erinnerung nicht ans Essen denken würde. Aber sie hatte ihn als einen kennengelernt, der erst dann eine Arbeit unterbrach, wenn er dazu aufgefordert wurde. Insofern wunderte ihn nicht, dass Ornelle Ventvit eine Hauselfe abgestellt hatte, ihm unaufgefordert das zweite Frühstück zu bringen. Am Ende hatte die noch irgendwas gemacht, dass er auch ja nicht die Mittagspause verpassen konnte.

Nach dem Frühstück suchte ihn Belle Grandchapeau auf, die wegen des Alarmplans bei Auftauchen einer der Abgrundstöchter in der magielosen Welt was wissen wollte. Julius erwähnte, dass Itoluhila, die Tochter des schwarzen Wassers, wohl weiterhin in Sevilla tätig war, wo sie laut Maria Valdez und Almadora Fuentes Celestes als Beschützerin der freischaffenden Straßendirnen und Bordellhuren auftrat. Doch das sei nun einmal die Angelegenheit des spanischen Zaubereiministers, ob dieser Zustand hingenommen wurde oder wie er behoben werden konnte. Feststand nur, dass dieses schöne Ungeheuer wohl gute Freunde bei der magielosen Polizei hatte und noch dazu als eine Art Sicherheitsgarantie in der Halbwelt von Sevilla fungierte. Sie zu entmachten hieße auch, einen offenen Nachfolgekrieg unter den mit käuflichem Sex Geschäfte machenden Banden und Einzeltätern zu entfachen. Erschwerend kam noch dazu, dass die Töchter des Abgrundes nicht für immer verschwanden, wenn jemand sie tötete. Also hatten die Spanier den Status quo akzeptiert, solange dieses Wesen nicht übermäßig dreinschlug. Dass die Seele ihrer Mutter im Körper von Julius' magisch auf gerade neunzehn Jahre verjüngten Tante Alison steckte hatte er Belle und auch Pygmalion Delacour mitgeteilt.

"Besteht die Möglichkeit, herauszufinden, ob noch weitere der bisher als schlafend geltenden Schwestern von Itoluhila erweckt wurden?" wollte Belle wissen. Julius verneinte das. Denn das hieße ja, dass er Itoluhila, ihre Schwester Ullituhilia oder gar Lahilliota selbst immer wieder fragen musste. Die würden ihm doch nichts erzählen oder ihn mit Schauergeschichten von nun allen wieder aufgewachten Schwestern bedenken, damit er ja merkte, wie unsinnig es gewesen war, Hallitti und Ilithula in den ewigen Schlaf geschickt zu haben. Aber das wusste er auch schon selbst.

Nach dem Mittagessen, das er wie die meisten anderen in der hauseigenen Kantine einnahm, stattete ihm Léto, die reinrassige Veela, ihren Antrittsbesuch ab. "Der Rat der zwei mal vierundzwanzig Ältesten beglückwünscht Sie zu Ihrer neuen Anstellung und dass Sie nun höchstoffiziell die Ihr und unser Volk betreffenden Dinge erledigen dürfen", sprach Léto im Stil einer amtlichen Bekanntmachung. Dann wechselte sie zur persönlichen Anrede über: "Ich hoffe doch sehr, dass du und ich immer ohne Streit zurechtkommen. Sah ja im letzten Jahr sehr danach aus, dass es wegen Euphrosyne zum großen Streit zwischen deiner Arbeitsstelle und meiner Rasse kommen könnte."

"Die darf ich wohl auch noch anschreiben, dass ich jetzt hauptamtlich für ihre Angelegenheiten zuständig bin", seufzte Julius.

"Vielleicht machst du das gleich noch. Dann hast du es hinter dir", erwiderte Léto. Julius nickte. Dann dachte er wieder die Zeilen vom Lied des inneren Friedens, um Létos magische Ausstrahlung vertragen zu können, ohne die gefühlsmäßige Selbstbeherrschung zu verlieren.

Nach Léto besuchte ihn auch Mademoiselle Maxime, die als amtliche Fürsprecherin ihrer reinrassig riesischen Tante das neue Verhältnis zwischen dieser und dem Ministerium besprach. Julius hatte extra für sie einen Sessel aus dem Ausrüstungsdepot kommen lassen, der nach Gebrauch zusammengefaltet werden konnte, im entfalteten Zustand jedoch groß genug war, dass die halbriesische Besucherin ohne sich beengt zu fühlen sitzen konnte. "Meine Frau Tante fragt an, wann Sie wieder ein Foto von ihr und ihren ungeborenen Kindern machen möchten. Offenbar erfüllt es sie mit einer gewissen Freude, dass sie und ihr Nachwuchs in Frankreich leben dürfen", sagte Mademoiselle Maxime. Julius hätte fast gegrinst. Meglamora wollte nur wieder von dem besonderen Blitzlicht angeleuchtet werden, das sogar ungeborene Wesen auf einem Foto sichtbar machen konnte. Die Riesin empfand diese Wirkung irgendwie körperlich anregend, wusste Julius. Offiziell sagte er, dass er erst einmal eine Woche darauf verwenden wollte, in seinem neuen Arbeitsfeld Tritt zu fassen und alle Abläufe einzuüben. Schließlich sei er ja jetzt Büroleiter und Außendienstmitarbeiter in einer Person. Das erfordere eine sinnvolle und möglichst reibungslose Arbeitseinteilung. Wenn er das alles geklärt habe würde er noch mal wegen eines neuen Fototermins anfragen. Mit dieser Nachricht verließ Mademoiselle Maxime das neue Büro für die Vermittlung zwischen Menschen und intelligenten Zauberwesen.

Den Rest des Arbeitstages verbrachte Julius mit einer schriftlichen Aufstellung der von ihm zu erledigenden Angelegenheiten und groben Einteilung seiner Innen- und Außendienstzeiten, die als Gerüst für kommende Terminabsprachen gelten sollte.

Erst als er sah, wie im Fenster mit dem Südblick vom Eiffelturm aus die Lichter von Paris aufflammten und die an der Wand hängende Uhr mit sechs kirchenglockenartigen Schlägen verkündete, dass der Arbeitstag vorbei war, schloss Julius das Büro von außen ab und reiste aus dem Foyer mit Flohpulver in das Apfelhaus.

"Wie, und die haben dir keine Zimmerpflanzen reingestellt?" fragte Camille Dusoleil, die aus erster Hand wissen wollte, wie Julius den ersten Tag in der neuen Umgebung verbracht hatte. Julius verneinte das. "Das kann so nicht bleiben, mein Junge. Ich schicke dir morgen gleich zwei von meinen Leuten, die dein Büro entsprechend ausstatten. Dann kann und soll jeder sehen, dass du nicht nur ein Aktenwälzer bist."

"Solange du mir keine Teufelsschlingen oder Rauschnebelhecken ins Büro stellen willst soll es mir recht sein", sagte Julius.

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Himmelsglanz, die bei den magischen Menschen Léto hieß, kehrte in ihr Zuhause zurück, wo sie eine von ihrer Schwester Sarja gesungene Nachricht empfing. "Sternennacht hat angeblich eine bis dahin unbekannte Verwandte gehört. Sie bittet uns vom Rat, sie deshalb anzuhören. Wenn du einverstanden bist treffen wir uns mit ihr morgen auf der Insel unserer erhabenen Urmutter."

"Sternennacht hat eine Verwandte gehört, die sie noch nicht kannte? Wusste gar nicht, dass in ihrer Verwandtschaft jemand neues dazukommen sollte", sang Himmelsglanz zurück.

"Das soll und will sie uns dann allen erzählen. Ich warte noch auf andere Antworten."

"Gut, neuer Tag. Ich bin dann morgen auf Mokushas Insel", erwiderte Himmelsglanz. Sie wollte noch fragen, wie es Diosan ging. Doch sie wusste zu gut, dass dies ein immer noch sehr schmerzhaftes Thema war.

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Ladonna Montefiori nutzte die viele Zeit, die sie nicht dieses kleine Schiff steuern musste, um sich noch mehr über die gegenwärtige Welt zu unterrichten. Allein die allgemeine Sprache, sowohl was Französisch, als auch Spanisch, Englisch und ihre Muttersprache Italienisch anging, hatte sich doch sehr verändert, seit dem sie mehr als ein Jahrhundert lang nichts mehr von der Welt mitbekommen hatte. Allerdings trug sie durch den wiedererlangten Ring das Wissen aller Frauen in sich, die den Ring ihr Leben lang getragen hatten. Am Ende hatte sich Ladonnas Geduld wahrhaftig ausgezahlt, und sie hatte mit einem Gerät, das in die damals unergründliche Tiefe vordringen konnte, ihren Körper zurückbekommen, in dem das Blut von zwei Hexen und je ein Viertel von einer Veela und einer grünen Waldfrau floss. Deshalb konnte sie nun auch wieder viermal so gut hören, was bei den beiden Brennöl trinkenden Antriebsvorrichtungen im Moment nicht wirklich angenehm war und mit einem Viertel des für Normalmenschen nötigen Umgebungslichtes so scharf sehen wie gewöhnliche Menschen am hellen Tag oder in einer von vielen hellen Feuern erleuchteten Umgebung. Um zu begreifen, wie sehr sich die damals so schwächlichen Mogglinos von der Magie unabhängig gemacht hatten spielte sie gerne mit der Schiffsbeleuchtung herum, genoss es, Stunden lang in der kleinen Duschkabine in einem tropisch warmen Wasserfall zu stehen oder das Wunder der Mikrowellen zu erleben, wenngleich sie den in durchsichtigen Stoff oder gerippten und nur mit Zauberkraft oder einem merkwürdigen Werkzeug aufzubekommenen Behältern enthaltenen Speisen nicht über den Weg traute. Doch sie fühlte nun einmal wieder als lebendes Wesen, das Luft, Wasser und was zu essen brauchte.

Um die sie immer noch lästigerweise beobachtenden Schiffe bei Laune zu halten sprach sie mal mit Roses, mal mit Maurices Stimme zu den Menschen, die ihr über diese Elektrofunkwellen ihre Stimmen schickten und ihre Worte auf dieselbe Weise zurückerhielten. Ihr kam es jedoch seltsam vor, dass jener aufdringliche Fürsprecher eines aus den englischen Kolonien Amerikas stammenden Kriegsschiffes sich nicht mehr erkundigt hatte, wo die doch Verdacht geschöpft hatten. Sie kannte es, dass Hunde darauf abgerichtet werden konnten, bei Witterung mit dem Bellen einzuhalten, bis sie das gesuchte Opfer gestellt hatten. Widerfuhr ihr dies nun auch? Sie wusste, dass mit den elektrischen Wellen nicht nur Worte in die Ferne geschleudert werden konnten, sondern auch entfernte Dinge ertastet und für deren Benutzer als leuchtende Punkte sichtbar gemacht werden konnten, wie es der Mentijectus-Zauber vermochte. Nur wer selbst diese Vorrichtungen besaß und anwenden konnte vermochte einen für die Augen zu weit entfernten Widersacher zu erspähen oder dessen Spähwellen da selbst zu entdecken. Ihr Schiff hatte zwar eine ähnliche Vorrichtung, die jedoch gerade mal zwei Meilen weit spähen konnte, um unerwünschte Zusammenstöße im Nebel zu vereiteln. Da Rose sich mit Brussac immer darüber unterhalten hatte, wie sie die Gerätschaften bedienen konnte, hantierte Ladonna mit jenem Spähgerät, das von seinem Erfinder Radar genannt worden war. Die leuchtende Oberfläche zeigte ihr jedoch keine anderen Schiffe. Weil das Radargerät nur zur Kurzstreckenüberwachung von Schiffen, Booten oder aus dem Meer ragender Felsen gemacht war bekam Ladonna nicht mit, dass etwas sehr weit über der Yacht in der Luft auf sie herabsah, etwas, dass sie als fliegendes Auge oder Flugautomaton bezeichnet hätte.

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Es war das erste Mal seit acht Jahrzehnten, dass Sternennacht die geheiligte Insel ihrer Urmutter Mokusha betrat. Damals hatte sie dem Ältestenrat erzählen müssen, dass ihre Tochter Abendhauch einen völlig ohne die erhabene Kraft geborenen Mann zum Gefährten und Vater ihrer Kinder erwählt hatte. Das war damals noch eine Unerhörtheit gewesen. Doch seitdem feststand, dass Neuer Tag mit einem übereifrigen, rücksichtslosen Zauberstabträger einen Sohn gezeugt hatte war das, was Abendhauch beschlossen hatte harmlos.

Die Insel hatte sich in allen Jahrhunderten nicht verändert. Die kleinwüchsigen Wölfe und Füchse streiften durch den Wald, der den langgestreckten Hügel säumte, unter dem die Versammlungsstätte der Veelas lag. Sternennacht flog in ihrer Tiergestalt als schwarze Störchin an und landete. Wie es auf diesem Eiland Gesetz war trug sie keine Kleidung am Körper, als sie sich wieder in ihre menschenähnliche Gestalt zurückverwandelte. Dann erkannte sie weitere Artgenossen, die alle mindestens dreihundert Sonnenkreise erlebt hatten. In wohl hundert Jahren würde sie wohl auch dazugehören, sofern eine Ratsangehörige zu den Ahnen in Mokushas ewigen Schoß hinüberging und damit ein Platz im Ältestenrat frei wurde.

Als sich der Rat der 24 weiblichen und 24 männlichen Veelas mit der diese Zusammenkunft erbittenden in der großen Versammlungshöhle im Angesicht der überlebensgroßen, halb liegend dargestellten Statue ihrer gemeinsamen Urmutter begrüßt hatten durfte Sternennacht, die als einzige hier nachtschwarzes, aber ebenso hauchzartes, leicht und anmutig fließendes Haar besaß, ihr Anliegen vorbringen. Sie beschrieb den Eindruck, wie sie diesen ihr fremden Geistesruf gehört hatte und dass auch andere Verwandte von ihr diese erweckte Wesenheit mitbekommen hatten. Die versammelten Ältesten einschließlich Himmelsglanz und ihrer Schwester Neuer Tag lauschten der Erzählung. Dann fragte Sommerwind, die älteste von allen: "Und du bist dir völlig sicher, dass es eine gerade erwachte Erwachsene warr und kein Neugeborenes?"

"Ich habe ihre Erleichterung und ihre Siegesfreude vernommen, kein hilfloses oder nach Zuwendung verlangendes Aufschreien eines Neugeborenen. Es ist eine bereits erwachsene Frau, deren Gedankenstimme ich bis dahin nicht kannte", erwiderte Sternennacht.

"In welcher Sprache hat sie ihre Freude hinausgerufen?" wollte Lebensfeuer, der älteste der männlichen Ratsangehörigen wissen. Sternennacht überlegte. Dann erwähnte sie, dass es wohl italienisch war. Aber sie habe keine Verwandte auf der stiefelförmigen Halbinsel, noch dazu eine, die in einem langen Schlaf gelegen haben könnte.

"Und als du sie angesungen hast, Sternennacht, da ist sie erschrocken zurückgewichen und schweigt seitdem?" wollte Sommerwind wissen. Sternennacht bestätigte das.

"Dann will sie wohl nichts mit uns zu tun haben oder mehr, sie fürchtet, dass wir sie finden", vermutete Sonnenhauch, eine Ratsangehörige mit sonnenaufgangsrotem Haarschopf. Die anderen stimmten ihr durch Nicken zu.

"Aber dann könnte sie was übles erwägen", seufzte Sternennacht. "Denn was sonst treibt eine von uns, sich vor ihren eigenen Verwandten zu verbergen. Ich meine, das mit Himmelsglanz Tochtertochter Euphrosyne fing doch genauso an."

"Ja, das tat es wohl", bemerkte Neuer Tag mit unüberhörbarer Schadenfreude. Doch dann wurde auch ihr klar, was es hieß, wenn noch eine Nachfahrin Mokushas in der Welt der Menschen auf verbotenen Wegen wandelte. Allein schon der Umstand, dass sie womöglich aus einem ihr aufgebürdeten Tiefschlaf erwacht war sprach dafür, dass sie nur deshalb in diesen Schlaf versetzt worden war, weil sie bereits etwas übles getan hatte. Das brachte die Ratsangehörigen auf den einzig dazu passenden Schluss. Alle sahen sich betroffen an. Dann sprach es Sommerwind aus:

"Also stimmt es doch, dass Nachtlied eine weitere Tochtertochter bei den Kurzlebigen hatte."

"Was hat meine Muttermutter Nachtlied gehabt? Ich weiß nichts von anderen Töchtern von ihr außer meinen drei Tanten", erwiderte Sternennacht aufgebracht. Die anderen sahen erst einander und dann sie an. Sommerwind seufzte:

"Es war deiner Muttermutter wohl die größte Schande, dass eine von ihrem Blut stammende, eine Nachgeborene der großen Urmutter, offenbar unter den Menschen gewohnt hat. Was immer es war, sie hat es vor hundertfünfzig Jahren mit in Mokushas ewig warmen Schoß genommen", sagte Sommerwind.

"Aber das darf doch nicht sein, dass solche Dinge nicht an uns weitergegeben wurden, wo wir alles Wissen unserer Eltern und Voreltern bewahren und weitergeben sollen", erregte sich Sternennacht.

"Sieh es so, Schwester Schwarzhaar, dass deine achso erhabene Muttermutter wohl einmal was richtig schlimmes getan hat und nicht wollte, dass dies zum Wissensschatz ihrer Blutsverwandten und deren Nachkommen werden sollte", erwiderte Neuer Tag mit unverkennbarer Verachtung. Offenbar sonnte sich die Schwester von Himmelsglanz in der Vorstellung, dass sie nicht die erste war, auf die alle einhackten, weil sie was achso böses getan haben sollte.

"Dann ist es so, dass wir nicht wissen, wen wir suchen sollen, weil ich nicht erfahren habe, wie Nachtlieds Tochter oder Tochtertochter heißt?" fragte Sternennacht. Die anderen nickten. Dann ergriff Sommerwind das Wort:

"Wir wissen es nicht. Aber wenn dieses Mädchen bei den Kurzlebigen groß und mächtig wurde, so kennen diese vielleicht ihren Namen und ihre Taten. Denn wenn stimmt, dass sie jetzt aus langem Schlaf erwacht ist, Schwestern und Brüder, so mag einer von deren Vorfahren diesen Zauber ausgeführt haben, der wohl sehr stark gewesen sein muss, weil wir ja sonst gegen viele Formen der Zauberkraft gefeit sind."

"Ich erkenne, was du willst, Schwester Sommerwind", sagte Himmelsglanz. Ihre leibliche Schwester Neuer Tag grinste verwegen. "Ich werde als eure Gesandte mit dem Vermittler zwischen uns und den Kurzlebigen herausfinden, wessen Stimme Sternennacht gehört hat. Schwester Sternennacht, bist du Willens, mit mir zusammen mit ihm zu sprechen, falls er das möchte?"

"Du meinst den Jungen, den du auf Diosans Fährte geführt hast, Schwester Himmelsglanz. Ja, ich bin Willens, mit ihm zu sprechen", erwiderte Sternennacht darauf.

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Jacques Reinier stand unter Strom. Seit nun mehr als 24 Stunden war das vereinbarte Signal überfällig, dass alles in Ordnung war. Zwar schickte Jeans heimlich mitgenommenes GPS-Überwachungsgerät alle fünfzehn Minuten die verschlüsselten Positionsdaten einschließlich Temperatur und Luftdruckmeldung ab. Doch das jeden Tag einzufügende Signal, dass alles in Ordnung war, wurde bis jetzt nicht gesendet. Ebenso war aber auch kein Gefahrensignal geschickt worden. Hieß das, dass Jean Rocher alias Maurice Brussac überrumpelt worden war, bevor er das entsprechende Alarmsignal absetzen konnte? Davon musste Jacques ausgehen.

Den Koordinaten nach hatte die Yacht ihren ursprünglichen Kurs nach Westen verlassen und war nun wieder auf Kurs Europa. Vier Stunden lang hatte sie jedoch an einem Standort zugebracht, der südwestlich der Kanaren auf offener See zu finden war. Jacques Reinier musste wen hinschicken, der nachsah. Deshalb rief er Louis Charpentier an, den Drohnenkönig.

"Um Engelsauge an die richtige Stelle zu bringen brauche ich mindestens fünf Stunden, wenn da in der Nähe kein Marinekreuzer ist", sagte Louis, nachdem beide ihre aufeinander abgestimmten Zerhacker eingeschaltet hatten. "Und wenn mein Baby fremdes Radar wittert muss ich es möglicherweise abstürzen lassen, damit es nicht in fremde Hände fällt."

"Ich prüfe noch was nach, bevor ich dir sage, ob du nur das Engelsauge oder Schlusspunkt hinschicken sollst. Ja, ich weiß, dass mich das mehr als fünfhundert Riesen kosten wird. Machen wir's für eine runde Million. Unser vorletzter Auftrag für den Ölscheich hat genug Kohle eingebracht.""

"Vielleicht geht es auch anders. Ich mach mal eine Umfrage bei meinen kleinen Doppelagenten", sagte Louis.

"Doppelagenten?" fragte Jacques argwöhnisch.

"Willst du lieber nicht wissen, falls ich dich anschließend nicht erschießen soll oder es jemand anderes tut", sagte Louis.

"Haha, wie lustig", knurrte Jacques.

"Oha, da hätte Engelsauge aber mächtig Ärger gekriegt, Jacques. In der Nähe der von dir geschickten Koordinaten kreuzt ein Navy-Zerstörer. Der hat zwei Predator-Drohnen geladen. Okay, wenn es dunkel ist lasse ich nachsehen."

"Noch was, Louis", sagte Jacques. "Ich habe hier gerade das Bild von der Dame, die unseren Partner angeworben hat. Die wird mittlerweile landesweit gesucht, wobei die Polizei nicht weiß, ob sie nur eine wichtige Zeugin oder eine Mordverdächtige ist."

"Ach, dein ganz privater Nachrichtenservice aus dem Internet. Bist du da überhaupt noch gut abgeschirmt, dass dir keiner draufkommt?" wollte Louis wissen.

"Du hast deine Betriebsgeheimnisse, ich meine, Louis. Wichtig ist nur, dass wenn die Schnalle noch auf der Yacht ist und unser Freund nicht mehr, die irgenddwie kassiert werden muss, um zu erzählen, wer die auf Jean angesetzt hat."

"Dann machen wir das doch gleich ganz einfach so, dass die von Interpol gesucht wird", sagte Louis. Reich mir über unseren Privatkanal alles rüber, was du von der hast! Dann brauchen wir keine Drohnen zu schicken."

"Klar, weil du dann was drehst, dass die Polizei oder die Marine die Yacht einkassiert?" fragte Jacques.

"Wieviel Ahnung hast du vom Seerecht oder überhaupt internationalen Bestimmungen?" wollte Louis wissen. Jacques grummelte. Natürlich konnten keine Kriegsschiffe mal eben ein Zivilschiff und dessen Besatzung einkassieren, solange das in internationalen Gewässern unterwegs war. Wenn es sich in die Hoheitsgewässer eines Staates begab durfte dann auch nur die Polizei oder Küstenwache dieses Staates ein Schiff aufbringen und die Besatzung festnehmen.

"Hat euch sicher auch schon oft den Arsch gerettet, wenn ihr vor einer Küste nach Wracks gesucht habt, nicht wahr?" fragte Louis. Jacques musste das eingestehen. "Dann lassen wir das mit Interpol. Wir müssen keine schlafenden Hunde aufwecken, wenn es nicht echt was bringt", grummelte er. "Aber wie kommen wir drauf, was auf dem Schiff passiert ist, ohne dass die Yankees das mitkriegen?"

"Indem wir uns auf einen Wissenschaftssatelliten aufschalten, der die Gegend überfliegt. Ich kenne da wen, der Zugang zu den Softwareentwicklern eines Meeresforschungssatelliten hat. Der kann Infrarot und Mikrowellen und hat eine hochauflösende Kamera. Dieser Schlüssel für die Hintertür wird aber nicht billig. Zehn Prozent vom Kaufpreis gehen an mich für die Vermittlung."

"Wann hat dir Jean gesagt, dass du ein Halsabschneider bist, Louis?" grummelte Jacques.

"Als er aufgehört hat, mich einen Abzocker zu nennen, Jacques. Du musst ja nicht kaufen", erwiderte Louis.

"Ich checke meine Konten und rufe dann an, ob ich mir diesen goldenen Hintertürschlüssel leisten kann", sagte Jacques. Denn das mit dem Satelliten hatte ihn auf eine Idee gebracht.

"Ich bin noch eine stunde unter dieser Nummer erreichbar. Wenn du mich danach erreichen willst musst du einen Monat warten", sagte Louis. Jacques hatte mit so einer Antwort gerechnet. Er grinste unhörbar, während er sich verabschiedete. Dann rief er eine andere, nur ihm selbst bekannte Satellitentelefonnummer an. Auch hier war nach einigen Sekunden eine Zerhackerverbindung eingerichtet, um nicht jeden mithören zu lassen, der die Telefonfrequenzen kannte.

"Habt ihr noch den Draht zu diesem Seenotüberwachungssatelliten, den Telepontos vor drei Jahren hochgeschickt hat?" Seine Gesprächspartnerin bejahte das und sagte sogar, dass sie die Daten von bis zu einer Woche zurückverfolgen konnten. "Okay, zehn Riesen pro Tag bis zum 29. Dezember zurück, wenn ich die Bilder über unser kleines Dunkelnetz in einer halben Stunde habe, Cyn."

"Welches Gebiet, Jacques?" wollte seine Gesprächsteilnehmerin wissen. Jacques gab ihr die aktuellen Koordinaten und die von vor zwei Tagen durch. "Alles was um den Bereich herum unterwegs war oder ist bitte identifizieren."

"Sagen wir tausend Euro pro Stunde pro Tag, Jacques. Wenn du sowas von uns haben möchtest muss das sehr dringend oder sehr vielversprechend sein."

"Ja, beides, Cyn. Gut, gebongt", erwiderte Jacques. "Zug um Zug, pro aufgezeichnete Stunde tausend Euro. Wenn die ersten Bilder da sind, ausgehend von heute zurückgerechnet, rollen die Euronen zu euch rüber." Seine Gesprächspartnerin bestätigte das. Jacques prüfte noch mal eines der geheimen Konten, die er und sein Partner Maurice auf diversen Inselbanken liegen hatten. Er entschied sich dafür, die fällige Summe auf vier der sechs Konten aufzuteilen.

Anschließend rief er Louis an und fragte ihn nach dem Kaufpreis für die Hintertür. Als er hörte, dass der bei drei Millionen Euro lag sagte er nur: "Vor Weihnachten war es wohl billiger, wie. Danke, kein Interesse. Ich muss dann eben warten, bis sie Jeans Leiche aus dem Atlantik fischen oder selbst hinfahren."

"Dann Petri Heil!" erwiderte Louis verbittert. Denn von den drei Millionen hätte er als Vermittler dann ja 300000 dazubekommen.

Eine Stunde später hatte Jacques die ersten Bilder von der betreffenden Gegend. Die Yacht war deutlich zu erkennen, ebenso das nur 19 Kilometer entfernte Kriegsschiff aus Amerika. Die Infrarotaufnahmen zeigten außer den laufenden Motoren und der Heizungsanlage nur eine weitere Wärmequelle, die an Deck war. Nur eine Wärmequelle? Jacques fragte sich, ob die zweite Person in der Kabine war. Als dann weitere Bilder geliefert wurden wurde es höchst interessant. Denn zwischendurch gab es drei gleichstarke Wärmequellen auf dem Schiff. Das war gerade noch im Erfassungszeitraum für diese Seegegend. Bei den zeitlich darauf folgenden Aufnahmen gab es dann nur noch eine einzige Wärmequelle an Deck. Tja, und dann gab es noch Aufzeichnungen von einem über der Yacht kreisenden Flugkörper, der zu klein für ein bemanntes Flugzeug war und mit berechnet fünftausend Metern über grund auch zu hoch für ein Sportflugzeug flog. Für einen Privatjet flog es auch zu langsam. Also hatten die Yankees eine Drohne losgeschickt, die diese Gegend ausspähen sollte. Die blauen Jungs von der Navy wollten also auch wissen, was auf der Yacht abging, dachte Jacques vergrätzt. Es ärgerte ihn, dass die Amerikaner sich derartig neugierig und aufdringlich verhielten. So würden die bei einer echten Notlage schneller an der Yacht dran sein als jedes andere Schiff. Aber warum es drei frei bewegliche Wärmequellen gegeben hatte war Jacques Reinier nicht klar. Oder hatte wer das Schiff überfallen. Dann hätte zumindest ein Boot oder ein anderes Schiff zu sehen sein müssen. Denn Piraten, die mal eben aus dem Wasser stiegen gab es noch nicht.

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Am Morgen des dritten Januars 2003 erhielt Julius Besuch von Léto und einer anderen reinrassigen Veela. Zumindest hatte Léto sie so angekündigt. Als Julius dann die zwei überragendschönen Wesen sah fragte er die ihm unbekannte, ob sie wirklich eine reinrassige Tochter Mokushas war. Denn die andere besaß nachtschwarzes Haar, wo er bisher nur goldblonde oder silberblonde Veelas kennengelernt hatte.

"Ich bin die Nachfahrin der einen von zwölf lebenden Töchtern unserer erhabenen Stammmutter, die dunkles Haar besitzen und damit stärker den Kräften von Wasser, Erde und Mond verbunden sind", sagte die ihm unbekannte. Er hatte bereits das von Ashtarggayan erlernte Lied des inneren Friedens in Kraft gesetzt. Sonst hätte ihn die Ausstrahlung und die Stimme der schwarzhaarigen Veela um den Verstand gebracht. Léto erwiderte noch:

"Die Kinder Mokushas, die du von meiner Seite her kennst, sind Sonnenkinder, während Sternennacht hier und einige andere Kinder von Abend, Nacht und Morgengrauen sind. Doch jetzt möchte Sternennacht dir erzählen, warum sie und ich zu dir gekommen sind." Julius nickte der dunkelhaarigen Veela zu. Diese atmete kurz durch. Dann erzählte sie ihm, was sie und ihre Blutsverwandten gehört hatten und dass ihre Großmutter mütterlicherseits offenbar doch noch eine Tochter oder Enkeltochter gehabt hatte, die nicht für alle wahrnehmbar gestorben war wie eine andere Nachfahrin von Nachtlied, Sternennachts Großmutter. Sternennacht berichtete auch, dass die andere sich sofort gegen jede weitere Erfassung verschlossen hatte, als ihr klar wurde, dass ihre Verwandten sie erspüren konnten.

"Das heißt, von Ihnen lebt noch eine Blutsverwandte, vielleicht von einem Menschen abstammend, die jetzt erst zum ersten Mal Lebenszeichen geäußert hat?" fragte Julius. Das bestätigte Sternennacht. Julius wollte wissen, ob Nachtlied noch lebte. Doch diese Veela war vor hundertfünfzig Jahren in den ewigen Schoß ihrer Urmutter zurückgekehrt. Zumindest glaubten die Veelas, dass ihre vom verstorbenen Körper freikommenden Seelen in den jenseitigen Leib ihrer Vormutter zurückkehren würden. Julius tat diesen Glauben nicht als primitive Religion ab. Denn er selbst kannte eine überirdische Erscheinung, die ihn selbst einige Male in ihrem aus reiner Energie bestehenden Körper beherbergt hatte. Dann fragte er Sternennacht, ob sie nicht sämtliche Blutsverwandten ihrer Vorfahrin kenne, da sie doch sicher ihre vollständige Blutlinie auswendig konnte.

"Ja, das tue ich. Aber von den Töchtern Nachtliedes, die womöglich entfernte Verwandte von mir sind, ist mir von meiner eigenen Mutter nichts vorgesungen worden, als ich lernte, von wem ich abstamme", sagte Sternennacht sichtlich ungehalten. Léto sah Julius tadelnd an. "Junge, ich habe dir damals, wo ich dich in die Gesetze und Gebräuche meiner Art einführte erklärt, dass nur die unmittelbaren Blutsverwandten eines Kindes von Mokusha die genauen Vorfahren kennen dürfen. Dass du meinen Stammbaum erlernt hast liegt nur daran, dass du von mir zum Teil als Abkömmling angenommen wurdest. Sternennacht darf und wird dir nicht erzählen, wer unmittelbar mit ihr verwandt ist."

"Das wollte ich auch nicht so fragen, Léto. Ich wollte nur wissen, ob Sternennacht vielleicht weiß, wer diese irgendwie die Jahre überdauernde ist. Ich kann die ja schlecht Dornröschen oder die schlafende Schönheit nennen."

"Wen meint er, Himmelsglanz?" hörte er Sternennacht in der alten Sprache der Veelas fragen, die Julius verstand, weil sie mit der Sprache aus Altaxarroi verwandt war.

"Eine Geschichte über eine Königstochter, die wegen eines bösen Zaubers hundert Jahre verschlief, ohne älter zu werden und durch den Kuss eines sie suchenden Königssohnes wiedererweckt wurde", erwiderte Léto. Dann sagte sie auf Französisch:

"Wenn Sternennacht wüsste, wer da erwacht ist, so hätte sie sie mit ihrem wahren Namen angesungen. Doch sie hat es nicht gewusst."

"Aber dass es eine Tochter oder Enkeltochter von Nachtlied ist ist sicher?" fragte Julius.

"Es kann nur so sein, weil ich sonst alle meine lebenden Verwandten kenne", erwiderte Sternennacht gereizt. Léto sah sie beruhigend an und wisperte, dass Julius diese Fragen stellen musste, wenn er ihnen helfen sollte.

"Was genau möchtest du, dass ich für dich tue, Sternennacht?" fragte Julius die schwarzhaarige Veela.

"Ich hatte das Gefühl, als ob die Wiedererwachte nichts gutes im Sinne hatte, dass sie womöglich deshalb im tiefen Schlaf gefangen gewesen war, weil sie die Feindin von jemanden war, der oder die wusste, dass unsereins nicht getötet werden darf. Wenn die Wiedererwachte ergründet, in welcher Zeit und welcher Weltlage sie nun angekommen ist, so weiß ich nicht, ob sie ihre Kraft nicht dazu verwendet, Macht über die Kurzlebigen zu ergreifen, wenn keiner da ist, der ihr verrät, was sich alles geändert hat. Am Ende ist sie darauf aus, alles nachzuholen, was ihr damals versagt wurde."

"Das klingt für mich so, als wüsstest du doch, wer die Unbekannte ist", sagte Julius argwöhnisch. Léto sprang ihrer Begleiterin bei und sagte: "Wir müssen das vermuten, weil die Wiedererwachte sich sonst nicht sofort vor Sternennacht verschlossen hätte. jeder oder jede andere mit einem Teil von Mokushas Blut in den Adern hätte sich sicher gefreut, lebende Verwandte zu hören und hätte sich zu erkennen gegeben. Doch nachdem, was Euphrosyne getan hat können wir ein willentliches Verbergen der eigenen Seelenstimme nur so verstehen, dass sie nach ihrem Erwachen etwas unheilvolles beabsichtigt."

"Ja, doch wenn Sternennacht mir entweder nicht verraten darf oder kann, wer diese Nachfahrin ihrer Großmutter Nachtlied ist wird das schwierig, wenn auch nicht unmöglich. Besteht die Möglichkeit, dass andere von Sternennachts Verwandten wissen, wer die Wiedererwachte sein könnte?"

"Ich habe alle gefragt. Keiner kennt sie. Nachtlied hat das Wissen um sie in Mokushas ewigen Schoß mitgenommen. Es daraus hervorzurufen würde uns allen die gnadenlose Wut der großen Urmutter eintragen", sagte Sternennacht. Julius verstand es so, dass die Veelas vielleicht sowas wie Geisterbeschwörungen machen konnten, es aber nicht durften, weil das gegen den Willen ihrer Urmutter war. So sagte er ganz ruhig:

"Nun, vielleicht besteht die Möglichkeit, dass wir Zauberer und Hexen von Nachtlieds bei uns geborenen Kindern wissen. Vielleicht kannst du sie dann noch mal anzusingen versuchen, wenn du ihren wahren Namen kennst."

"Jetzt weißt du, was wir von dir und deinen Artgenossen wollen", erwiderte Léto darauf. Julius nickte. Er dachte daran, dass das eine langwierige Pergamentwühlerei werden mochte. Wenn er offiziell um Unterstützung bat würden sie alle fragen, warum er das tat. So musste er von Sternennacht noch wissen, ob sie was dagegen hatte, wenn auch andere Hexen und Zauberer nach der Wiedererwachten suchten. Sternennacht schüttelte den Kopf.

"Eure Zaubereiministerien trauen uns Kindern Mokushas nicht über den Weg. Daher darf nicht jeder wissen, dass ich die Regungen einer Verwandten gehört habe. Wenn du jemanden fragen willst, dir zu helfen, darf er oder sie nicht für das Zaubereiministerium arbeiten", bestimmte Sternennacht. Julius sagte ihr, dass er auch für das Ministerium arbeitete. Darauf erwähnte Léto, dass er aber gelobt hatte, die Wünsche von Veelas anzuerkennen und nicht zu missachten. Wenn Sternennacht wollte, dass kein anderer aus dem Ministerium von ihrer Wahrnehmung wusste, dann musste er sich daran halten, so sehr ihn das frustrierte. Doch dann hatte er eine Idee, wie er Sternennachts Wunsch respektieren konnte, aber dennoch mehrere Leute in die Sache einbeziehen konnte. Falls das nichts brachte würde er zu den Altmeistern gehen und Madrashmironda oder einen anderen, der ihm gewogen war fragen. Denn die Altmeister bekamen alles mit, was lebende Wesen mit ihren Sinnen wahrnahmen und besaßen sozusagen das Gedächtnis der ganzen Welt. Allerdings bestand die Möglichkeit, dass die von ihm gesuchte sich der dunklen Seite zugewandt hatte und er deshalb von den reinen Lichtfolgern und Madrashainorians Mutter oder Kailishaia keine Auskunft erhalten durfte, weil deren Orichalkregel festlegte, dass Dinge der verschiedenen Ausrichtungen nicht an deren Gegenspieler verraten werden durften. Doch zuerst wollte er seinen ersten Ansatz versuchen.

"Gut, ich erkenne deinen Wunsch an, niemandem im Ministerium zu verraten, was du mir anvertraut hast, Sternennacht. Ich werde versuchen, es ohne das Ministerium zu ergründen, wessen Stimme du gehört hast." Sternennacht nickte und schenkte ihm einen erfreuten Blick aus ihren mitternachtsblauen Augen. "Ich darf also keinem aus dem Ministerium sagen oder es für einen Ministeriumsmitarbeiter aufschreiben, was du von mir erwartest?" fragte er noch, froh, dass das Lied des inneren Friedens noch in ihm wirkte.

"Ich, Sternennacht, Erbin von Nachtlied und somit auch Vertraute ihrer Blutlinie, untersage dir, einem deiner Amtsgenossen zu sagen oder zu schreiben, was du gerade von mir erfahren hast", erwiderte Sternennacht. Julius nickte schwerfällig wirkend. Innerlich fühlte er sich jedoch gerade erleichtert, diesen Wortlaut von ihr gehört zu haben.

"Rufe mich, wenn du eine Spur hast, Julius. Sternennacht wird dann von mir unterrichtet." Julius bestätigte es. Dann sah er noch zu, wie die zwei Veelas sein Büro verließen. Er atmete auf. Endlich musste er das Lied des inneren Friedens nicht weiter durch seine Gedanken klingen lassen.

Julius löste den inneren Konflikt, loyal zum Ministerium zu stehen und gleichzeitig Sternennachts Wunsch zu achten dadurch, dass er aufschrieb, dass Léto ihn in der Angelegenheit einer Artgenossin angesprochen habe, die offenbar prüfen wollte, welcher ihrer Verwandten gerade im französischen Hoheitsgebiet unterwegs sei. Dann ging er in die ministeriumseigene Eulerei und sandte eine schnelle Eule zu Catherine Brickston. Er schrieb ihr, dass er von einer Veela namens Sternennacht, die von einer Veela namens Nachtlied abstammte, erfahren hatte, dass sie offenbar noch eine lebende erwachsene Verwandte habe, die jedoch keinen Kontakt mit ihren Blutsverwandten haben wollte und er deshalb von ihr und allen, die nicht im Ministerium arbeiteten Hilfe erbitte, um die betreffende Verwandte zu finden.

Es vergingen nur anderthalb Stunden, da bekam er über die Sicherheitsposten des Ministeriums eine Antwort von Catherine Brickston, die kurz und knapp lautete:

Komm unverzüglich nach Büroschluss zu mir hin, Julius.

Drei Stunden lang musste Julius noch mit Anfragen aus Belles Büro jonglieren, weil ein halbzwergischer Zauberer in Avignon in eine überwiegend von Nichtmagiern bewohnte Gegend ziehen wollte. Dann konnte er endlich mit Flohpulver abreisen. Er kehrte erst ins Apfelhaus zurück, als würde er nur nach Hause wollen. Da Catherine und ihre Familie noch immer in Blanche Faucons Haus wohnten, bis geklärt war, wie Joe Brickston ohne weitere Anfechtungen in die magielose Welt zurückkehren konnte, brauchte er nur aus der Wohnküche zu disapparieren, nachdem er seine erstgeborene Tochter begrüßt und sie auf später vertröstet hatte. Seine Frau hatte er schon mentiloquistisch über Catherines Antwort informiert.

Als Julius von Catherine ins Haus ihrer Mutter hineingelotst worden war zogen sie sich sofort in das Arbeitszimmer zurück, das ein Dauerklangkerker war. Joe unterhielt sich mit Babette gerade darüber, wie er für die Leute hier als Nachrichtenübersetzer aus der magielosen Welt arbeiten konnte. "Immerhin reden die zwei miteinander, nachdem es ja vor Silvester zwischen ihnen so geknallt hat", sagte Catherine, als sie die Tür verschlossen hatte, um den Dauerklangkerker wirksam werden zu lassen. Dann kam sie sofort auf Julius' Anfrage:

"Wenn ich das als dein Hilfsgesuch an die Liga gebe müsstest du dich damit einverstanden erklären, dass die Liga alles von dir erfährt, was die Veelas dir sonst noch so mitteilen. Das würde aber mit deiner Zusage kollidieren, deren Wünsche zu respektieren, Julius. Daher muss ich das ohne Unterstützung der Liga regeln, nur mit Maman und möglicherweise Phoebus Delamontagne. Aber vielleicht muss ich dass auch nicht mehr. Bei mir hat das alle Alarmglocken zum läuten gebracht, als du was von einer Veela namens Nachtlied geschrieben hast, Julius. Vorausgesetzt, der italienische Name Cantanotte ist identisch mit Nachtlied."

"Moment, dann kennst du Nachtlied?" fragte Julius.

"wie erwähnt wusste ich nicht, dass es eine Veela sein könnte. Aber geahnt habe ich schon, dass es ein besonders mächtiges Wesen sein konnte", sagte Catherine. Dann holte sie aus einem Regal ein rosenrotes Buch hervor. "Ich habe dir doch erzählt, dass ich mit einigen anderen aus der Liga ein altes Tagebuch übersetzt habe, nachdem wir herausgefunden hatten, dass es nicht verflucht oder beseelt war wie Riddles Tagebuch, dem Ginny Weasley beinahe zum Opfer gefallen ist. Die Verfasserin hat es mit einer Symbolschrift geschrieben, die aus Rosen in verschiedenen Stadien, Farben, und Lagen besteht. Das hat uns viel Zeit gekostet, diese Symbolschrift in lateinische Buchstaben zu übersetzen. Außerdem hat die Verfasserin den Text auch noch verschlüsselt und mit poetischen Bildnissen umschrieben. Als wir dann die auf Latein verfassten Einträge entschlüsseln konnten entbot sich uns eine Menge dunkler Geheimnisse, bis auf zwei, die nur erwähnt aber nicht enthüllt wurden." Sie klappte das Buch auf und erwähnte, dass dies die ins Französische übersetzte Fassung des Tagebuches der schwarzen Hexe Ladonna Montefiori war. Julius entsann sich, den Namen mal auf einer Liste dunkler Hexen und Zauberer gelesen zu haben, als er sich über Sardonias Werdegang schlaugelesen hatte.

"Ja, ich habe den Namen unter anderem in das Buch über Sardonia eingebracht, weil es Berichte aus dritter Hand gab, dass Sardonia mit dem abrupten Verschwinden dieser Hexe namens Ladonna was zu tun haben mochte. Als wir das Tagebuch bekamen, hinter dem ein gewisser Tom Riddle hergejagt ist, erschloss sich uns, dass die erwähnte Dunkelmagierin wohl Sardonias größte Widersacherin vor den Abgrundstöchtern gewesen sein muss. Außerdem erfuhren wir bei der Übersetzung, dass sie "ihr älteres Blut aus anderem Schoß" niedergekämpft und "im grünen Licht des raschen Todes" hat verschwinden lassen. Da sie im vorangehenden von einer sich Königin nennenden Rivalin geschrieben hat ist zu vermuten, dass damit eine Schwester oder Halbschwester gemeint war, weil das mit dem anderen Schoß ja durchaus auf eine andere Frau ihres Vaters hindeutet." Julius nickte und hörte weiter zu.

Catherine erwähnte dann, dass Ladonna Montefiori wie Sardonia eine Gruppe Hexen um sich geschart hatte, um die Welt zu erobern. Dass sie dann mit Sardonia aneinandergeraten war erschien wohl unvermeidlich. Da über diese direkte Begegnung jedoch nichts stand war zu vermuten, dass sie bei dieser Begegnung den Tod gefunden hatte. So waren ihre letzten Worte wohl gewesen: "Und sollte die schwächliche Tochter vom Fleisch und Blute der reinen Kurzlebigkeit meine Macht nicht anerkennen und mich aus einer bösen Laune der Weltordnung heraus besiegen, so soll sie daran keine Freud' empfinden und mir alsbald in die andere Welt folgen, nur dass ich dort dann endgültig zur Herrin werde."

"Und wo erwähnt sie eine Cantanotte oder Nachtgesang oder Nachtlied?" fragte Julius. Catherine blätterte einige Seiten um und deutete dann auf eine Passage, wo stand, dass die Schreiberin ihre Abkunft auf ein anmutiges, langlebiges Wesen zurückführe, dass Cantanotte heiße aber wohl keinen Drang verspürt habe, ihre blutsverwandte Gegenspielerin und sie, die beide Töchter von zwei verschiedenen Müttern waren, anzutreffen oder aus der Ferne zu rufen und zu wagen, sie anzuleiten.

"Wenn Ladonna von einer Veela abstammt hatte sie ähnliche Kräfte wie Euphrosyne oder die Delacours, Julius. Dir brauch ich ja nicht zu sagen, dass Veelakräfte sich über mehrere Generationen weitervererben."

"Stimmt, und dann hat sie ähnlich wie Euphrosyne gedacht, dass ihre Veelaverwandtschaft sie mal am Abend besuchen kann und versucht, ihr eigenes Ding zu machen", sagte Julius.

"Ja, und dass diese Sternennacht so allergisch auf deine Anfrage reagiert hat spricht auch dafür, dass Nachtlied damals wohl was nicht wirklich gern gesehenes angestellt hat oder dass sie die Verbindung zu ihren Abkömmlingen verloren hat, was bei diesen Wesen ja schon ein ziemliches Ärgernis ist, wo sie sonst über jeden Verwandten egal welcher Generation im Bilde bleiben wollen", sagte Catherine.

"Das ist unbestreitbar", sagte Julius. "Aber hat diese Ladonna Montefiori erwähnt, ob ihr Vater Nachtlieds Kind war oder ihre Mutter?"

"Genau das ist etwas, worüber wir uns trotz der Übersetzung noch völlig unklar sind, Julius. Sie erwähnt immer nur zwei Mütter, ihre eigene und die ihrer Schwester oder Halbschwester, wobei sie noch nicht mal von einer Halbschwester schreibt, was bei dem sonstigen Hass, mit dem sie sie umschreibt, sicher klar als Halbschwester bezeichnet hätte."

"Hmm, wenn du meinst, dass sie unbedingt herausstreichen wollte, dass diese andere eben keine vollwertige Verwandte von ihr war, Catherine. Aber dann müsste sie rein logischerweise von einem Sohn von Nachtlied abstammen. Sternennacht hat aber ausdrücklich was von einer Tochter oder Enkeltochter erwähnt."

"Vielleicht hatte sie keinen Vater, sondern war das magisch erzeugte Ergebnis einer Form der künstlichen Befruchtung, Julius", sagte Catherine. "Ich erinnere mich an die Experimente von Leandra und Deimia, zwei griechischen Hexen, die vor siebenhundert Jahren versucht haben, ihre Eizellen durch einen Verschmelzungszauber zu einer gemeinsamen Tochter zu machen. Es ist nur daran gescheitert, dass sich beide nicht einig waren, wer die Belastung einer Schwangerschaft und Niederkunft auf sich nehmen wollte. Beide waren homophil veranlagt, also Lesbierinnen, die kein Kind von einem Mann haben wollten."

"Ups, Moment, davon hat mir meine Schwiegertante Béatrice erzählt, dass schon mal Hexen versucht haben, miteinander Kinder zu haben, aber nicht wussten, wie sie ihre Eizellen miteinander verschmelzen und so zu vollwertigen Leibesfrüchten machen konnten."

"Ja, und womöglich haben es andere Hexen geschafft, es aber nicht verraten oder niedergeschrieben. Du hast ja die Experimente von Victor Moureau ansehen müssen, als du mit Millie in den Erinnerungen von Serena Delourdes unterwegs warst. Wirklich üble, die Natur verachtende Zeitgenossen damals und heute konnten da sicher was machen, um Nachkommen nach ihrem Bild zu erschaffen. Das erklärt dann doch einiges. Ich fürchte, die von mir und meinen Kollegen erstellte Übersetzung muss noch mal überarbeitet oder mit entsprechender Begleitliteratur ergänzt werden", seufzte Catherine.

"Moment, dann haben da zwei Hexen vielleicht experimentiert, um mindestens ein gemeinsames Kind zu haben. Das erste Experiment ist wohl geglückt. Eine von den beiden hat das Ergebnis, eine Tochter von beiden zusammen, ausgetragen und geboren. Dann wollte die andere wohl auch wissen, ob sie das hinbekommt und hat irgendwann das Ergebnis eines zweiten Versuches als gemeinsames Kind auf die Welt gebracht. Schon abgedreht, die Vorstellung, grenzt schon an Lahilliotas Töchter."

"Ja, und Ladonna war dieser zweite Versuch. Jetzt ist die Frage, ob sie von der Tochter Nachtliedes getragen und geboren wurde oder von der anderen. Denn das könnte ihre Abneigung gegen die ältere erklären, je danach, ob sie ihre Veelastämmigkeit als eine art Adelsrang ansah oder als Makel", sagte Catherine.

"Tja, hat Ladonna in ihrem Tagebuch die Namen ihrer Mutter und möglicherweise der zweiten Keimzellenspenderin erwähnt?" fragte Julius.

"Eben das nicht. Da sind wir ja bis heute noch nicht schlau. Wir wissen zwar, dass sie wohl so gegen 1428 geboren worden sein muss, weil sie was vom neun mal neunten Jahr nach dem großen Erntefest des schwarzen Todes schrieb, womit wohl die große Pestepidemie von 1347 gemeint sein mag. Aber wer genau jetzt ihre Mutter war erwähnt sie nicht, nur dass diese, kaum dass ladonna ihrem Leib entwunden war, gestorben sein soll. War bei Hexen, die sich keiner Heilerin anvertrauten leider genauso möglich wie bei nichtmagischen Frauen in der Zeit."

"Moment, und wer hat sie dann großgezogen? Womöglich die sogenannte andere Mutter, richtig? erwiderte Julius."

"Stimmt, das haben wir wohl auch vermutet. Deshalb ging einer meiner Kameraden auch von Milchgeschwistern aus, also dass sie mit dem natürlichen Kind einer Ziehmutter zusammen aufgewachsen ist. Aber genau deshalb sind wir nicht darauf gekommen, dass sie von einer Veela abstammt. Denn eine Veela hätte wohl bei ihrem Tod einen Ruf an ihre Verwandten losgeschickt, und die hätten das Neugeborene dann wohl eingefordert", sagte Catherine. Julius nickte. Genauso lief das, sofern die Veela oder Veelastämmige das von ihr geborene Kind nicht selbst aufziehen wollte oder konnte.

"Es sei denn, Catherine, die leibliche Mutter war nicht die Veelastämmige", vermutete Julius.

"Moment, dürfen Veelastämmige die Kinder anderer humanoider Wesen als ihre eigenen großziehen?" fragte Catherine.

"Ja, dürfen sie, wenn sie ihren Blutsverwandten das Kind vorstellen und erklären, warum es von ihnen großgezogen werden soll. Sobald es dann von der Veela gestillt wird ist es deren Kind. Wenn es aber stimmen sollte, dass da zwei Hexen ein Experiment gemacht haben, ohne einen Vater ein gemeinsames Kind zu haben, dann war Ladonna auf jeden Fall mit der Veelastämmigen Blutsverwandt, auch wenn sie von einer reinrassig menschlichen Hexe geboren wurde."

"Gut, Julius, ich denke, wir hängen gerade sehr heftig unbewiesenen Hypothesen nach. Wenn Sternennacht nicht diese andere hätte rufen hören können, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass Ladonna von einer Veela abstammen könnte, obwohl sie sich auch gerne als mit großer Anmut und Betörungskraft bedacht beschrieben hat. Aber das haben viele größenwahnsinnige Hexen getan, die dem Klischee von der hässlichen alten Frau entgegenwirken wollten, als die eine Hexe bei den Menschen ohne Zauberkräfte gerne angesehen wird. Ja, und ein gewisser Narzismus ist bei auf ihre eigene Macht versessenen Hexen auch häufig, also die schon krankhafte Überzeugung, das beste und schönste Wesen überhaupt zu sein."

"Krankhafte Selbstverliebtheit, wahnhafte Eitelkeit. Ich kenne den Begriff auch im Zusammenhang mit Veelas, weil ich wissen wollte, ob das bei denen verbreitet ist. Bei Fleur und Gabrielle habe ich zumindest immer wieder mitgekriegt, dass sie sich anderen Mädchen überlegen fühlten und eine Menge auf ihre eigene Schönheit geben", erwiderte Julius.

"Gut, wir schweifen zu sehr in psychomorphologische Deutungen ab. Bleiben wir bei der Vermutung, dass Ladonna eine Veelastämmige war, dann hätte sie natürlich Sardonia durch die eigenen Kräfte überwältigen können, wenn sie stark genug geworden wäre. Jetzt wissen wir aber alle, wer da zuletzt gelacht hat. Aber das würde jetzt, wo wir das hier so durchgehen auch erklären, warum Sardonia keine Leiche von Ladonna vorgezeigt hat, wie sie es sonst mit allen tat, die es gewagt hatten, sich ihr in den Weg zu stellen. Sie wird wohl gewusst haben, dass auch eine Halb- oder Viertelveela den Schutzgesetzen der Veelas unterstand. Hätte sie Ladonna getötet ..."

"Hätte sie Nachtlied und deren Verwandte gegen sich gehabt", sagte Julius. "Und Anthelia hätte wohl auch nicht über ein Jahrhundert lang in England herrschen können, geschweige denn, ihre Seele irgendwie so auslagern können, dass andere Hexen sie nach Jahrhunderten in einen neuen Körper hineinbeschwören konnten", stellte Julius klar. "Gut, wenn ich eine Veelastämmige mit einer PTR von über vierhundert nicht mal eben töten oder ohne heftige Gegenwehr verwandeln kann, was bleibt dann noch?"

"Perithanasia-Zauber, vielleicht Perithanasia in Verbindung mit Lentavita oder ... Saxosomnius, der steinerne Schlaf, Julius. Sardonia hat manche ihr abtrünnig gewordene Hexe damit in eine Statue verwandelt, die je nach eigener Lebensaura wie aus Saphir, Rubin, Onyx oder Smaragd ausgesehen hat. Allerdings war der Zauber zu brechen, indem eine Jungfrau, kein unberührter Junge, freiwillig Blut über die Statue vergossen hat."

"Öhm, dann hätte doch irgendwer bis heute diese Ladonna, sofern die auch in diesen Versteinerungszauber eingeschlossen wurde, aufwecken können, nach dem Motto, irgendwer gräbt die versteinerte Hexe aus und ein unschuldiges Mädchen tröpfelt Blut über sie."

"Na ja, wenn Sardonia es keinem erzählt hat, wo Ladonna versteckt war wäre das nicht so einfach gewesen."

"Gut, wir wissen überhaupt nicht, ob die, welche Sternennacht gehört hat, diese Ladonna Montefiori war oder ist. Sie hat aber erzählt, dass sie den Gesang vom westlichen Meer her gehört hat und ... Autsch!" Catherine wollte wissen, was Julius derartig schmerzte. Er erwiderte, dass Sardonia ihre wohl sehr gefährliche Konkurrentin von irgendwelchen bestimmt nicht mehr jungfräulichen Männern auf ein Schiff hat bringen lassen, dass dann irgendwo auf dem Meer untergegangen ist, mit oder ohne Sardonias Einwirken. Dann hat irgendein Tiefseeabenteurer die Statue gefunden und an die Oberfläche geholt. Aber ohne das Blut einer reinen Jungfrau wäre die nicht erweckt worden, es sei denn, die Jungfrau war mit an Bord, weil jemand genau wusste, was zu tun war."

"Ja, das tut wirklich weh, auch wenn es so absurd klingt. Aber was ist in der Magie noch nicht an absurden Dingen zur bitteren Wirklichkeit geworden? Dass Armand Grandchapeau als sein eigener Sohn mehr als vierzig Jahre darauf warten muss, geboren zu werden ist ja auch so schwer zu begreifen", sagte Catherine. Dann schlug sie sich vor den Kopf. "Und ich fürchte, was Riddle getan hat, um seine zweite Existenz zu erreichen war damals auch schon bekannt. Kann sein, dass nicht nur Anthelia, sondern weit vor ihr Ladonna diesen Weg genommen hat und irgendwie Kontakt zu einem unbedarften Menschen bekommen hat, der dann auf ihre Erweckung hingearbeitet hat, so wie Ginny Potter, damals noch Weasley unter Riddles dunklem Einfluss die Kammer des Schreckens geöffnet hat."

"Okay, dann mach ich jetzt mal folgendes. Wenn das ganze nicht von der Zaubererwelt ausgegangen ist, dann könnte wer sich über eine gewisse Ladonna Montefiori oder über merkwürdige Gegenstände informiert haben. Weiß meine Mutter schon, dass vielleicht was von dieser Hexe in Umlauf ist, Catherine?"

"Da sie offiziell für tot gehalten wurde bestand bisher kein Grund, deine Mutter darum zu bitten, ihren Namen im Zusammenhang mit möglichen Vorkommnissen in das Arkanet zu programmieren", sagte Catherine.

"Gut, dann suche ich bei mir mal, ob jemand den Namen schon mal gesucht und falls ja, was er oder sie dazu gefunden hat", sagte Julius. Catherine nickte.

"Wie erwähnt, wenn ich jetzt die Liga so informiere, dass du eine Anfrage gestellt hast müsstest du demnächst wohl als Gegenleistung alles erwähnen, was die Veelas dir mitteilen. Wenn du das nicht willst mache ich das am besten so, dass ich im Zuge der Bearbeitung von Ladonnas Tagebuch die Fragen, die wir uns gerade vorgenommen haben an die Liga stelle und es dann so drehe, dass ich dich als Veelabeauftragten einbeziehe, falls sich erweist, dass Ladonna hoffentlich nur veelastämmig war und nicht ist. Nachdem, was ich in diesem Tagebuch gelesen habe war sie Sardonia was Grausamkeit und Raffinesse angeht mindestens ebenbürtig. Wir brauchen nicht noch eine auf Weltherrschaft ausgehende Großhexe. Unsere fliegende Spinnendame reicht da schon völlig aus. - Öhm, Julius, ich seh's dir an. Denk bitte nicht einmal daran, die auch noch zu fragen. Deren Preis dürfte dir noch weniger gefallen als der von meinen Kameraden von der Liga gegen dunkle Künste", fügte Catherine hinzu, als sie bemerkte, wie Julius über etwas nachdachte.

"Dann könnte ich ja gleich Itoluhila fragen. Die war zu der Zeit sicher auch unterwegs in der Welt", grummelte Julius. Doch ganz abstreiten wollte er nicht, dass er schon daran gedacht hatte, Anthelia/Naaneavargia zu fragen, was die von Ladonna Montefiori mitbekommen hatte, und sei es nur eine Heldinnengeschichte ihrer Tante Sardonia gewesen. Aber Catherine hatte leider recht. Anthelia könnte etwas von ihm fordern, was er auf gar keinen Fall erfüllen wollte. Also wollte er lieber keine schlafende Spinne wecken. Allerdings wollte er hier und jetzt umsetzen, was ihm bei Sternennachts Besuch eingefallen war.

"Catherine, ich darf keinem Ministeriumskollegen erzählen oder selbst in die Akten reinschreiben, was Sternennacht mir persönlich erzählt hat. Allerdings sollte das Ministerium irgendwie darin einbezogen werden. Deshalb frage ich dich, ob du nicht einen Antrag an das Ministerium stellen kannst, wegen Fragen zu Ladonna Montefiori überprüfen zu lassen, ob es von ihr noch Hinterlassenschaften gibt, die in diesem von dir übersetzten Buch erwähnt wurden. Dabei könntest du, falls du dem zustimmst, auch anfragen, ob es vielleicht eine Verwandtschaft zu den Veelas gegeben haben mag, eben wegen dieser Äußerungen von ihr, so überirdisch schön und überlegen zu sein und Cantanotte nun mal kein geläufiger Hexenname ist."

"Achso, du selbst darfst keinem Kollegen was verraten. Aber du darfst Nichtkollegen einweihen, denen du vertraust. Ob die dann deine Kollegen und/oder dich offiziell anschreiben kannst du natürlich nicht verhindern", erwiderte Catherine grinsend. Julius nickte und erwähnte den genauen Wortlaut Sternennachts, als er sie wegen dieser Aufforderung gefragt hatte. "Und die hat es nicht bedacht, dass du dir einen anderen Weg suchen könntest, deine Kollegen doch noch zu informieren?" fragte Catherine. Julius nickte. Hätte Sternennacht ihm aufgetragen, dass er nichts von dem, was er von ihr erfuhr auf welche weise auch immer zu den Kollegen dringen lassen dürfe, hätte er wahrhaftig einen inneren Interessenskonflikt zu bestehen.

"Gut, ich gebe dir sagen wir mal zwei Tage Vorsprung. Solange keine akuten Sachen vorliegen, dass Gefahr im Verzug besteht, wäre es eh ein Wichtelscheuchen, da jetzt alle möglichen Leute loszuschicken", sagte Catherine. Julius bedankte sich für dieses Entgegenkommen.

Zurück in seinem Geräteschuppen ließ er das Suchmaschinenabfrageprogramm laufen, dass Seine Mutter programmiert hatte und das über gewisse nicht ganz astreine Module auf Hintertüren in den Knotenpunkten der bekanntesten Suchmaschinen zugreifen konnte, um eine zeitliche Zusammenfassung zu erzeugen, wann von wem beziehungsweise welcher IP-Adresse aus nach einem oder mehreren Begriffen gesucht wurde. Julius musste sich nur auf dem Knotenpunkt in Frankreich einwählen und von da aus das Rückschauprogramm auf die Daten loslassen. Als Suchbegriffe nahm er "Ladonna Montefiori", "Meer" und "Societas arcana Rosae Ignis", sowie die Übersetzungen dieses lateinischen Namens ins Englische, Französische und Spanische. Dann hieß es abwarten.

Aurore kam angewuselt und wollte mit ihrem Vater spielen, bevor es was zu essen gab. Da Julius davon ausging, dass die Suche wegen der Satellitenverbindung länger andauern würde als im Rechnerraum des Ministeriums ging er drauf ein, zumal er Aurore so gut vom Rechner weghalten konnte.

Millie bestand darauf, dass sie erst zusammen Abendbrot aßen, bevor Julius wieder in den Schuppen durfte, um zu sehen, ob die Umfrage was ergeben hatte. So war es dann schon halb zehn, als er wieder in den Schuppen ging und ganze zehn Suchergebnisse mit daranhängenden Zeitangaben und Adressen fand. Da er das IP-ADressen-Abfrageprogramm mit aufgeschaltet hatte sah er, dass von der Bibliothek der Sorbonne, sowie diversen Pariser Internetcafés aus nach den eingegebenen Begriffen gesucht worden war. Er wusste von seiner Mutter, dass sie ein Protokollerheischungsprogramm geschrieben hatte, das auf anderen Rechnern die Benutzungszeiten und Benutzerkonten ausspionieren konnte. Allerdings war seine Mutter eine Ministeriumsmitarbeiterin und somit leider tabu, wegen Sternennachts Wunsch. Er selbst hatte dieses Programm nicht zur Verfügung, weil seine Mutter meinte, dass er schon genug sehr grenzüberschreitende Sachen mit dem Arkanet anstellen konnte. Aber ihm fiel was anderes ein. Er machte eine schnelle Abfrage nach dem Systemadministrator der Bibliothekscomputer der Sorbonne, sowie des Systemadministrators der von den Studenten benutzbaren Zugangskonten. Mit den Daten und einem auf CD-ROM gespeicherten Dietrichprogramm, dass er aus dem Ministerium abgezweigt hatte, als Belle ihm dessen Funktion erklärt hatte, begab er sich nach Mitternacht in das Rechenzentrum der Sorbonne und startete den Hauptrechner einfach neu, wobei die von ihm mitgebrachte CD als System-CD benutzt wurde. Er wusste, dass es schon kriminell war, einfach in ein hochsensibles Datenverwaltungszentrum hineinzuapparieren, einen der Zugangsrechner zu kapern und dann noch damit so zu tun, als habe sich der Systemadministrator beim Neustart bereits auf seiner Hauptebene angemeldet. Denn er hatte beim Neustart nur den Benutzernamen des Administrators eingeben müssen, dessen E-Mail-Adresse er ja vorher schon erfragt hatte. Jetzt ging der Rechner von der total falschen Lage aus, von seinem Zugangsberechtigten freigeschaltet worden zu sein. Julius brauchte jetzt nur die Protokolle der fraglichen Sitzungen zu suchen und so herauszufinden, dass es sich bei der betreffenden Person um eine Rose Britignier, E-Mail rbritignier@stud-usbp.fr handelte. Deren Lebensdaten ließ er sich bei der Gelegenheit noch ausdrucken. Er war gerade fertig, als der in den Korridoren aufgespannte Annäherungsmeldezauber reagierte. Jemand näherte sich dem Rechnerraum. Julius pflückte schnell die Papierseiten aus dem Drucker, ließ die System-CD auswerfen, nahm sie und drückte die Zurücksetztaste. Dann disapparierte er. Keine halbe Minute später kam ein sichtlich erregter Mann in einer Uniform des Wachdienstes in den Rechnerraum hinein und sah, wie einer der Zugangsrechner gerade neu startete. "Hey, ist da wer? Rauskommen!" rief der Wachmann. Doch niemand meldete sich. Die Suche mit mehreren Kollegen blieb ebenfalls erfolglos. Julius' Programm hatte beim Systemstart sämtliche Protokollfunktionen unterdrückt. Allerdings hatte er nicht mehr an den Speicher im Drucker selbst denken können. So war es dem aus dem Schlaf geklingelten Systemadministrator möglich, die zuletzt gedruckten Texte und Bilder noch einmal abzurufen. Dass irgendwer es geschafft hatte, unbemerkt in den Rechnerraum zu kommen, sich wohl problemlos auf der Administratorebene anzumelden und dann gezielt die Daten über eine gewisse Rose Britignier ausdrucken zu lassen war dem Computerverantwortlichen sichtlich unheimlich. Als der Kollege des Wachmanns, der den heimlichen Einbrecher beinahe erwischt hatte, das Bild der Frau als das erkannte, was seit einigen Stunden auf einer internationalen Fahndungsliste stand, machte das die Angelegenheit noch unheimlicher. Jedenfalls stand für die Zeugen fest, dass dieser Vorfall bloß nicht an die Öffentlichkeit gelangen durfte. Was den ungewollten Verrat durch einen der Rechner anging, so mussten sie sich da wohl was besseres einfallen lassen, womöglich eine Zwei- oder Dreifachbestätigung des Systemadministrators und gegebenenfalls nicht im Internet verfügbare Angaben über den derzeitigen Verwalter.

Julius selbst hatte zumindest was er wollte. Als er am nächsten Morgen Catherine die Daten präsentierte meinte sie: "Darf meine Mutter nicht wissen, wie du daran gekommen bist, Julius. Nicht jeder Zweck heiligt jedes Mittel."

"Ja, weiß ich, Catherine. Aber wenn diese Ladonna echt von dieser Studentin hier gesucht worden ist ist immer noch unklar, warum jetzt erst und nicht vor zwanzig oder dreißig Jahren. Irgendwas ist passiert, dass diese Frau auf die Idee gebracht hat. Tja, und jetzt noch der nächste Paukenschlag: Die Mademoiselle Britignier wird von Interpol gesucht. Als ich heute morgen die bekannten Daten zu dieser Frau von meinem Rechner aus nachgeprüft habe hätte mich so'n Rückverfolgungsprogramm von Interpol fast zu fassen bekommen, wenn Mutters Abschüttelroutinen und Spurentilger nicht so schnell und gründlich arbeiten würden. Offenbar sind die Jungs von der internationalen Kriminalpolizei hinter Rose Britignier her, weil sie im Zusammenhang mit einem Mord in Toulouse gesucht wird. Der Ermordete ist ein Bauabschnittsbegeher gewesen, also jemand, der zu bebauende Flächen oder Wege nach Hindernissen oder möglichen archäologischen Fundstätten absucht. Warum wird so jemand umgebracht, und was hat eine Lehramtsstudentin für Sport und Geschichte damit zu tun?"

"Ich stelle fest, dass ich langsam wohl auch lernen muss, mit diesen Rechnerdingern umzugehen, auch und vor allem nach dem, was Joe damit passiert ist", grummelte Catherine. "Ich möchte, bevor du in dein Büro gehst noch gerne alle Daten über den Mordfall in Toulouse und die Angaben über diese Studentin." Julius nickte und legte ihr die gewünschten Daten bereits fix und fertig ausgedruckt auf den Schreibtisch. "Lümmel!" knurrte sie. "Wieso? Nur weil ich mir denken konnte, dass du das alles haben möchtest?" tat Julius unbedarft. Catherine konnte darauf nichts anderes tun als ihn anzulächeln.

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Ladonna Montefiori war sich bewusst, dass sie nicht unbeobachtet an Land gehen konnte. Diese widerwärtigen Ausspähvorrichtungen der Mogglinos kamen einem Fernbeobachtungszauber schon sehr übel nahe. Vor allem als die Stimme von einem, der wohl auf einem der Frachter fuhr über Funk vermeldete, dass über ihnen eine Drohne kreiste erweckte das ihren Argwohn. Auch wenn sie Drohnen bisher als männliche Einzelwesen staatenbildender Insekten kannte konnte sie sich vorstellen, dass damit auch eine dieser neumodischen Maschinen gemeint war. So sprach sie mit der Stimme von Maurice Brussac, was er davon zu halten hatte und bekam die Antwort, dass eine Drohne dazu da war, wie ein geflügeltes Auge über einem Gebiet zu fliegen, um zu sehen, was dort vor sich ging. Ladonna trat deshalb an Deck und sah hinauf in den Himmel. Sie stimmte sich mit ihren Sinnen auf die Nähe lebender Wesen ein und fühlte derzeitig nur unter dem kleinen Schiff schwimmende Fische. Dann sah sie etwas wie einen Vogel. Ihr falkengleich scharfer Sehsinn gab ihr die Möglichkeit, das unter den Wolken kreisende Etwas zu sehen, das keine erkennbaren Flügelschläge machte. Also war da oben noch so eine Magienachahmungsvorrichtung, die irgendwem weitermeldete, was sie mit ihren künstlichen Augen sehen konnte, wohl eher die gesehenen Bilder selbst weiterschickte, wieder mal über diese vermaledeiten Funkwellen. Da musste sie was gegen machen. Wenn jemand sie selbst auf diesem Schiff sah würde vielleicht jemand fragen, wie sie dorthin gekommen war. Da sie nicht wusste, ob es außer ihr noch genug andere Hexen und Zauberer gab oder nur ihre Veelaverwandten die großen Kämpfe überlebt hatten wusste sie nicht. Überhaupt war sie was die Gemeinschaft von Hexen und Zauberer anging sehr unwissend. Doch jetzt galt es erst mal, sich den Verfolgern und Beobachtern zu entziehen.

Sie wirkte in den das kleine Schiff umhüllenden Abschreckzauber noch eine dem Element Feuer verbundene Magie ein, die jede elektrische Regung erstickte, die von außen auf sie einwirkte. Damit waren die Radarstrahlen unwirksam. Um den mechanischen Erkundungsvogel oder die Drohne abzuschütteln konzentrierte sie sich auf das Fluggerät und hob die linke Hand. Wieder dachte sie die zwei Auslöseworte des Vernichtungsfeuers, mit dem sie feste Körper ohne Flammenbildung verglühen lassen konnte. Dabei hielt sie die kreisende Flugmaschine im Blick wie ein zu erbeutendes Tier.

Diesmal strahlte der Ring kein weit ausfächerndes Leuchten aus, sondern versandte einen blutrot flirrenden, nadeldünnen Lichtstrahl, der ausschließlich auf das zu treffende Ziel gerichtet blieb. Als er dieses berührte und seine tödliche Macht entfaltete glomm die Drohne im selben Licht auf, wurde heller und heller, bis sie in einem kurz gleißenden Feuerball zerplatzte. Ladonna fauchte wütend. Damit hätte sie doch rechnen müssen, dass dieses Gerät mit einem Brennölantrieb in der Luft blieb. Aber jetzt war es weg. Auch wenn das fliegende Auge noch gesehen hatte, dass ihm das unbesiegbare Feuer in Form eines nadelfeinen Vernichtungsstrahles entgegengeschlagen war würden seine Benutzer nicht begreifen, warum ihr Fluggerät vernichtet wurde. Alles was sie sehen konnte konnte sie mit der in ihrem Ring zu bündelnden Kraft auch treffen. Der einzige Nachteil in dieser tödlichen Kraft bestand darin, dass ihre Nutzerin sich ausschließlich darauf besinnen musste und nicht zeitgleich andere Zauber auszuführen hatte. Sonst hätte Sardonia vom Bitterwald mit Sicherheit nicht über sie triumphieren können.

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"Verfolgungsziel Romeo Charlie zwo null drei vom Schirm verschwunden", meldete der Radaroffizier der Dodger. Commander Mahony fragte nach, ob etwas ungewöhnliches vorher passiert war. "Die Yacht hat sich regelrecht aufgelöst, Sir."

"Drohnenführer, Meldung!" sprach Mahony ins Mikrofon, nachdem er schnell den Sprechkanal gewechselt hatte.

"Drohne Delta Sierra sieben weiterhin einsatzfähig. Klares Bild vom Ziel. Moment, Laserbeschuss! Drohne gerät unter Laserbeschuss und ... Sir, Ausfall von Delta Sierra sieben."

"Hallo, seit wann führen Vergnügungsyachten Hochenergielaser mit?" knurrte Mahony. Doch bis vor wenigen Sekunden hätte er auch nicht geglaubt, dass eine Yacht mal eben eine Art Tarnkappe aufsetzen konnte, um nicht mehr vom Radar erfasst zu werden. "Verbindung zu Kommando Nordatlantikflotte, Geheimstufe Alfa!" befahl Mahony dem Funkoffizier vom Dienst. Dieser stellte die befohlene Verbindung her. Mahony musste die Berechtigungskennzahl durchgeben und seine Stimme analysieren lassen. Erst als die andere Seite überzeugt war, mit dem Kommandanten der Dodger zu sprechen berichtete dieser und ließ über die aufgebaute Satellitenfunkstrecke die Radar- und Drohnenaufzeichnungen überspielen.

"Predatordrohne Starten. Erst aufklären. Wenn Ziel neue feindliche aktionen ausführt Zerstören!" kam nach einer Minute der Befehl aus dem Flottenkommando.

"Sir, wenn Sie ein Zivilschiff zerstören ist das nicht gerade eine Werbung für mögliche Koalitionen im Antiterrorkrieg", warnte ihn Garner. "Commander Garner, Sie haben den klaren Befehl von Admiral Rossfield gehört. Wir müssen davon ausgehen, dass auf dem Schiff feindliche Individuen sind, die noch dazu eine Radarabwehrtechnik verwenden."

"Ja, und die sollten wir eigentlich in einem Stück erbeuten, Sir", warf Garner ein.

"Ist mir bewusst und zu Protokoll genommen", sagte der Kommandant. "Aber wenn wir nicht an Bord dürfen ..."

"Ich habe keinen weiteren Einwand zu machen, da wir ja nachweislich angegriffen wurden", sagte Garner leicht frustriert. Mahony nickte nur und gab die ihm erteilten Befehle an die ausführenden Offiziere weiter.

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Julius hatte die Kanäle von Interpol mitgehört beziehungsweise alle Datenübermittlungen mitverfolgt. Demnach war Rose Britignier angeblich auf einer Studentenparty auf hoher See unterwegs. Dann war wohl jemandem von Interpol eingefallen, die Schiffsbewegungen nachzuvollziehen. Die Überwachungskameras im Hafen von Marseille hatten dann eine Frau aufgezeichnet, die dem Phantombild entsprach. Jetzt stand fest, dass sie auf der Kabinenyacht Gloire d'Ocean unterwegs war. Das Schiff wurde bereits seit mehreren Tagen beobachtet, weil es für vier Stunden an einem Punkt zirka hundert Kilometer südwestlich von Gran Canaria geankert hatte, als sei dort eine Pause geplant worden oder es habe eine Havarie gegeben. Danach war das Schiff auf Gegenkurs gegangen und steuerte nun wieder in Richtung Europa. Die Interpolbeamten, die zur rechtlichen Absicherung des Aufbringmanövers an Bord gegangen waren, funkten mit ihren von Julius' Mutter gehackten System Nachrichten über die Verfolgung. Daher wusste Julius auch, dass die Yacht vom Radar verschwunden war und eine ausgeschickte Beobachtungsdrohne eine Zeit lang beobachten konnte, bis das unbemannte Erkundungsflugzeug von einem roten Strahl getroffen und restlos vernichtet worden war. Natürlich mochten die Marinesoldaten jetzt an Außerirdische glauben. Darum musste sich später gekümmert werden. Julius, der so tat, als sei er von der Entwicklung selbst überrascht worden, schickte Botschaften an Brenda Brightgate, die für das Laveau-Institut bei der CIA arbeitete. Dann bekam er mit, wie die Yacht auf die Küste Gran Canarias zuhielt. Offenbar hatte die Besatzung beschlossen, anzulanden und zu Fuß zu flüchten. Doch das kleine Schiff wurde nicht langsamer.

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Ladonna ahnte es eher, als es zu wissen, dass die Vernichtung des fliegenden Automatons nicht viel eingebracht hatte. Wenn die Benutzer dieser Gerätschaft ihr nun direkt entgegenstürmten konnte das in einer Vernichtungsschlacht enden. Sie wollte eigentlich nicht gleich nach ihrem Wiedererwachen mit Lakeien möglicher Feinde kämpfen. So blieb ihr nur eins, das Schiff möglichst nahe an Land zu bringen und zu disapparieren.

Ladonna Montefiori lenkte das Schiff nun mit äußerster Kraft auf die ihr nächste Insel zu, Gran Canaria. Als der Kurs anlag stieg sie unter Deck und hantierte dort mit den Propangastanks. Zischend entwich das zum Heizen und Kochen benötigte Gas. Auch so eine Mogglino-Erfindung, um sich über wahrhaftige Kräfte zu erheben. Sie verließ die unteren Bereiche des kleinen Schiffes und verschloss die Türen mit einem Dichtigkeitszauber, der jede schlechte Luft aus- oder in dem Fall einsperrte. Das freigesetzte Gas sammelte sich nun unter Deck.

Als sie die Küste Gran Canarias sah nahm sie die Porzellanvase mit der in eine langstielige Rose verwandelten Jungfrau, die als letzte ihren Ring hatte tragen dürfen, hob den Zauberstab und wirbelte auf der Stelle herum. Mit scharfem Knall verschwand sie im Nichts. Doch mit ihr verschwand auch der Radar schluckende Zauber. Das kleine Schiff wurde nun wieder erfassbar.

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Mahony war von der Brücke in die Operationszentrale gewechselt, um alle Stationsmeldungen und Aufzeichnungen schnellstmöglich zur Verfügung zu haben. So bekam er mit, wie der vor einer Stunde noch verschwundene Radarkontakt wieder auftauchte. Das kleine Schiff jagte mit mehr als 40 Knoten auf die Küste Gran Canarias zu. Die ihr nachgeschickte Drohne holte es ein, nur um mitzuverfolgen, wie es ungebremst und scheinbar führerlos auf die Felsenküste zuhielt und dann dagegenprallte. Keine Sekunde später hüllte ein blauweißer Blitz und dann ein heller Feuerball das Schiff ein. Die ausgeschickte Drohne geriet in eine Druckwelle und konnte sich nur dank der eingebauten Stabilisierungsprogramme in der Luft halten. Als der Feuerball in sich zusammenbrach trieben von dem Schiff nur noch lodernde oder geschmolzene Trümmer im Wasser. Einige Bruchstücke waren durch die Explosion in die Felsen hineingetrieben worden.

"Die hatten Sprengstoff an Bord?" fragte Garner, die ebenfalls mit in der OPZ saß. Der Drohnenführer schüttelte den Kopf.

"Sah nach einer absichtlich herbeigeführten Gasexplosion aus. Wenn das Schiff genug Gas für Herd und Heizung mitgeführt hat, um zwei Monate ohne nachzutanken auf dem Meer zu fahren musste wer auch immer nur alle Ablassventile aufmachen und das Gas im Schiff verteilen."

"Haben wir noch Bilder vom Steuerhaus?" wollte Mahony wissen.

"Hier, Sir", sagte der Drohnenführer und rief die letzten vier Sekunden vor der Explosion ab. In zwanzigfacher Verzögerung konnten sie nun alle sehen, dass das Schiff ohne sichtbare Lenkung auf die Felsen zugerast war.

"Dann hat jemand in den zwei Stunden, wo unsere Drohne suchen musste das Schiff verlassen, womöglich mit einem Mini-U-Boot. Sieht diesem Monsieur Rocher ähnlich", erwiderte Mahony. "Soll das Flottenkommando das mit den Spaniern klären, wer nach dem kleinen Boot suchen soll."

"Was meinen Sie, Sir. War diese Yacht unterwegs in die Staaten?" wollte der erste Offizier Saulton wissen.

"Das zu erörtern möchte ich doch höheren Diensträngen als meinem und Ihrem überlassen, XO", sagte Mahony. Er wollte bloß keine Gerüchte streuen. Die Lage war schon angespannt genug. Wenn Terroristen eine französische Privatyacht gekapert hatten, um die vereinigten Staaten anzugreifen, warum hatten die dann nicht gleich ihre Antiradar-Technik benutzt? Ja, und warum hatten sie unter deren Schutz nicht den Weg auf die amerikanische Ostküste fortgesetzt, sondern waren wieder umgekehrt? Zu viele Fragen, die ihm durch den Kopf gingen und die er gerade selbst nicht beantworten konnte.

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Ladonna apparierte auf einem karstigen Berghang. Sie wusste, dass die Insel von starken Vulkanausbrüchen geformt worden war. Doch das war für sie gerade unwichtig. Sie prüfte, wie weit sie vom Meer fort sein musste, mindestens sieben Meilen, erahnte sie. Dann hörte sie den dumpfen Knall, der hundertfach von den Bergen widerhallte. "Na, meine kleine Rose, da ist das schöne kleine Schiff doch wahrhaftig mit lautem Schlag in Rauch undFeuer aufgegangen", wisperte Ladonna. Dann dachte sie daran, dass sie bald weiter musste. Jetzt, wo sie ihren eigentlichen Körper, sowie ihre vollständige Seele wieder hatte, würde sie sich unbehelligt und unbemerkt in ihr Geburtsland begeben, um zu sehen, ob das Haus ihrer Stillmutter noch stand und damit ihr achso schöner Rosengarten, wenngleich die Rosen wohl schon alle verwelkt sein mochten, weil die ordnende und umsorgende Hand nicht mehr da gewesen war.

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Julius erfuhr, dass die verfolgte Yacht Gloire d'Ocean mit überhöhter Geschwindigkeit gegen eine Felswand gerast und explodiert war. Offenbar hatte jemand sämtliche Gasvorräte an Bord ausströmen lassen, um dem kleinen Schiff einen wahrhaft bombastischen Abgang zu verschaffen. Hieß das, die Besatzung hatte sich selbst vernichtet? Nein, nicht wenn jemand an Bord war, der oder die apparieren konnte. Da hatten drei Sekunden gereicht, um noch von Bord zu kommen, bevor die Yacht ihre Kamikazefahrt beendete.

Ein schwerwiegendes Problem hatte Julius nun jedoch. Er durfte nicht von sich aus anregen, dass die Aufzeichnungen über die Gloire d'Ocean verändert wurden. Denn außer Sternennachts Bericht hatte er ja nichts, was darauf hinwies, dass jemand mit einer Verbindung zu den Veelas erwacht war. Um keinen Konflikt zwischen seiner Loyalität zum Zaubereiministerium und dem Versprechen an Sternennacht zu schaffen informierte er über Viviane Eauvives Bild Jane Porter alias Araña Blanca, die wiederum ihre Kollegin Brenda Brightgate über die Sache unterrichtete, ohne zu verraten, von wem sie das hatte. Die Laveau-Institutsmitarbeiterin Brenda Brightgate hatte eine Tarnexistenz als Innendienstmitarbeiterin der CIA. Sowas wie mit dem Marinekreuzer war sicher ein gefundenes Fressen für die auf alles verdächtige losgehenden Geheimdienste. Allerdings dauerte dieser Umweg mehr als sieben Stunden. Doch dann hatte er die Bestätigung, dass sich der Vorfälle angenommen werde.

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Ladonna brauchte zwei Tage, um sich einen auf sein Geld und seine Erscheinung versessenen jungen Mann namens Luigi Girandelli gefügig zu machen, dass der sie mit seiner Yacht Principessa Fierentina nach Italien mitnehmen würde. Dass noch drei Kameraden von Girandelli und fünf weitere Frauen mit an Bord waren, von der vierköpfigen Besatzung abgesehen, störte sie nicht. Mittlerweile hatte sie ihren Ring so bezaubert, dass er ihr von keiner Gewalt mehr vom Finger gezogen werden konnte.

Als die Principessa Fierentina am Abend von Playa de Inglés aus abfuhr fragte sich die Wiedererwachte, ob sie alle niederen Mogglinos an Bord in ihre Dienste zwingen sollte oder nicht. Die Überfahrt würde wohl eine Woche dauern. Das sollte reichen, um das herauszufinden.

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Julius' Hoffnungen, dass Catherine wissen mochte, woher Ladonna Montefiori gekommen war, wurden enttäuscht. Catherine hatte aus dem ihr zugegangenen Tagebuch nur herauslesen können, dass Ladonnas Wiege irgendwo in der Toscana gestanden haben sollte. Da Julius nicht von sich aus irgendeinen Ministerialzauberer einweihen durfte konnte Catherine nur von sich aus einige Ligamitglieder aus Italien anspitzen, nach Orten mit dunkler Vergangenheit zu suchen, nach Wäldern oder einzelnen Häusern, um die es im 16. Jahrhundert möglicherweise Kämpfe gegeben hatte. Ebenso setzte sie zusammen mit ihrer Mutter und dem Ligakameraden Phoebus Delamontagne die französischen Mitglieder darauf an, die Orte zu überwachen, an denen Ladonna zu ihrer nachgewiesenen Lebzeit in Frankreich gewohnt hatte. Sie las Julius auch einen kurzen Abschnitt aus dem von ihr übersetzten Buch vor, der ihn sicher genauso wie sie aufmerken lassen mochte.

"Und so begab ich mich im dreißigsten Jahre nach Erlangung meines Körpers in die einstmaligenKönigreiche der iberischen Halbinsel. Mir war von meinen wackeren Schwestern die Kunde gebracht worden, dass in der Stadt Hispalis eine mächtige Magierin wirken sollte. Da mir die widerlich rasch aufstrebende Rivalin Sardonia bereits einige Schwestern abspenstig zu machen wagte, so musste ich darauf bedacht sein, dass sie auch andere mächtige Hexenmeisterinnen in ihre Dienste nehmen will.

Doch meine Kundschafterinnen verschwanden, als sie in Hispalis eintrafen. So oblag es mir selbst, die Ursache dieses Verschwindens zu enthüllen. Dabei offenbarte sich mir, welch mächtige Feindin des Menschenvolkes in dieser Umgebung ihren Schlupfwinkel erwählt hat. Sie gebietet durch reine Gedanken über die Kräfte des Wassers und des Eises und trinkt die Lust gewöhnlicher Männer und Jünglinge wie belebenden Honigwein. Also ist es keine reine Mär, dass es auch westlich von Konstantinopolis jene ohne Vater gezeugten Schwestern gibt, die jede für sich eine der Elementarmächte zu beherrschen vermögen. Mir gelang die Flucht vor der Wasserbändigenden nur, weil ich die machtvollen Anteile meiner beiden Mütter aufbieten konnte und aus den Bäumen und Sträuchern die Kraft schöpfte, um ihren vereisenden Nebeln zu entwischen. Jetzt weiß ich besser als Sardonia, dass diese vaterlosen Töchter niemals unsere Dienerinnen sein werden. So kann ich trotz aller großen Verärgerung nur davor warnen, in ihr Jagdrevier einzudringen. Selbst meinem Ring, dem Ring der Rosenkönigin, vermochte dieses Weib zu widerstehen, weil sich die Kräfte des unbesiegbaren Feuers und ihre Kraft des dunklen Eises gegeneinander aufhoben. Mir verblieb nur die Flucht über den Weg ohne Zeit. So seiet alle gewarnt, meine Schwestern, dass diese vom Beischlaf zehrenden sich rächen mögen, wenn ihnen jemand ein Joch aufzuerlegen trachtet." Mit diesen Worten blätterte Catherine die Seiten um und suchte nach einer anderen für Julius interessanten Stelle. Dann las sie ihm vor, was es mit der geheimen Schwesternschaft der Feuerrosen auf sich hatte, dass es eine den bereits bekannten schweigsamen Schwestern abtrünnige Gesellschaft von Hexen war, die ähnlich wie Sardonia die natürliche Herrschaft der Hexen auf Erden erstreiten wollte. Außerdem las sie ihm vor, wie Ladonna ihre Feindinnen bestrafte, nicht durch Folter und Tod, sondern durch dauerhafte Verwandlung in langstielige Rosen. Männliche Widersacher wurden dabei sogar zu mannshohen Gewächsen mit einem unstillbaren Hunger auf lebende Wesen mit eigener Körperwärme. Julius nahm diese Beschreibungen mit einer nach außen hin wohl verborgenen Anspannung auf. Wenn diese Hexe wahrhaftig von Sardonia nur durch eine Versteinerung gebannt werden konnte und jetzt irgendwer sie wieder aufgeweckt haben mochte, dann würde sie da weitermachen, wo sie damals aufgehört hatte. Allerdings mochten die Jahrhunderte sie erst einmal irritieren, weil sie nicht wusste, was die magische und nichtmagische Welt in dieser Zeit alles entdeckt und erfunden hatte.

Als Julius dann abends noch auf seinem eigenen Rechner mit Arkanetzugang herausfand, dass jemand nach einem Ring gesucht hatte, der genauso aussah, wie der, den Catherine ihm aus dem Buch über Ladonna Montefiori beschrieben hatte, wurde ihm klar, wie das genau abgelaufen war. Jemand hatte den Ring gefunden, vielleicht dieser Henri Dubois, der als Toter in einem Kleiderschrank gefunden worden war. Der hatte dann statt den Ring als historische Fundsache abzugeben wohl gedacht, bei dieser Rose Britignier gutes Wetter machen zu können. Tja, und ab da hatte sich Ladonnas Fluch erfüllt, der den Ring zu seiner einstigen Meisterin zurückführen sollte. Nachdem was Catherine ihm über die Wirkungsweise dieses Kleinods erzählt hatte konnte der feste Körper in Sichtweite seiner Anwenderin schlagartig und ohne Flammenausbruch verglühen lassen. Dass diese Kraft auch wie ein superstarker Laserstrahl auf weit entfernte Ziele geschickt werden konnte hatte Julius nicht erfahren. Aber nach den gesicherten Berichten der Besatzung der Dodger war eine ihrer Drohnen mit einem roten Laserstrahl vom Himmel geholt worden. Hatte da also wer Ladonnas Ring und konnte dessen Macht nutzen? Davon musste er nun wohl ausgehen.

"Dir ist klar, dass du dich da auf verdammt dünnem Eis bewegst, Julius", sagte Millie, als sie abends mit ihrem Mann im Musikzimmer saß. Aurore schlief diese Nacht bei ihren Verwandten im Château Tournesol. Julius bestätigte, dass er schon sehr hart an der Illoyalität entlangschrammte. Außerdem musste das geklärt werden, ob da nur eine Nachahmerin von Ladonna, die in einem bis dahin arglosen Menschen eingenistete Seele der dunklen Hexe oder diese höchstpersönlich in Aktion getreten war.

"Bestell Catherine demnächst mal bitte einen schönen Gruß von mir, dass mich grundsätzlich alles interessiert, was im Zusammenhang mit Feuerzaubern der dunklen Seite erwähnt wurde. Aber von diesem mächtigen Glutzauber habe ich schon gehört. die flammenlose Glut bezieht ihre Kraft wie die Phönixe aus dem Kernfeuer der Erde. Da das Kleid Phönixeigenschaften hat macht es dagegen immun, solange es getragen wird."

"Und wie ist das bei Veelas. Sind die auch dagegen immun?" fragte Julius.

"Also, wenn dieser Zauber als gezielter Strahl und nicht als plötzlich wirksame Kraft auf sein Ziel überspringt können die Veelas wohl durch eine Art Gegenfeuerwand die Kraft unterbrechen. Vielleicht geht auch ein schwarzer Spiegel. Aber das möchtest du sicher nicht selbst miterleben, was dann passiert, wenn diese Vernichtungskraft fünfmal stärker auf ihren Auslöser zurückprallt."

"Hast du bei deinen Unterrichtseinheiten gelernt, wie Menschen gegen flammenlose Glut geschützt werden können, ohne das Kleid anziehen zu müssen?" fragte Julius.

"Im Grunde genauso wie damals, wo Diosan sein Unwesen getrieben hat oder Euphrosyne sich mit diesem Aron Lundi abgesetzt hat. Außerdem gibt es seit der Zeit, von der Catherine und du es hattet die Unfeuersteine. Am Besten trägst du immer da, wo keine offenen Feuer brennen sollen immer einen bei dir, Monju. Ich kann dir einen Bauen, der länger als die bisherigen vierundzwanzig Stunden hält, zumal du ja sicher ein paar Erdzauber kannst, um die Aufnahme für Magie in einem Stein oder Metallkörper zu steigern."

"Dann darf ich mit dem aber auch nicht mehr an den Rechner. Unfeuersteine schwächen den elektrischen Strom, habe ich mittlerweile rausgefunden."

"Ich durchdenke das noch mal, was genau ich machen kann, um eine Art Schild gegen diesen Feuerring zu machen. Aber genausowenig wie du deinen Kollegen auf die Nase binden durftest, von wem du wusstest, dass da was passiert ist möchte ich von dir natürlich, dass keiner mitbekommt, von wem du und andere so wertvolle Schutzgegenstände habt. Abgesehen davon, Monju: Wir zwei alleine oder auch noch Catherine, können gegen dieses Weib wohl nicht ankämpfen. Töten dürfen wir sie ja auch nicht, weil wir sonst zum einen die vier alten Zauber nicht mehr machen können, die du von Ianshira gelernt hast und wir zum zweiten die Blutrache der Veelas abkriegen. Denn sonst hätte Sardonia diese Konkurrentin doch mal eben so abmurksen können wie andere Feinde", sagte Millie.

"Catherine und ich haben entschieden, dass wir erst eine klare Bestätigung brauchen, dass irgendwer diese Ladonna Montefiori wieder aufgeweckt hat oder als Wirt für ihre Seele herumläuft. Dann können wir vielleicht auch mit den Veelas reden, dass wir das Ministerium einweihen müssen."

"Damit Ornelles Leute und du dann diese Feuerfurie jagt, ohne sie ernsthaft besiegen zu können? Gut, ich verstehe, dass irgendwas gemacht werden muss", grummelte Millie.

"Ich habe echt einmal mit dem Gedanken gespielt, das der Spinnenlady zukommen zu lassen, dass da eine neue Rivalin um ihren Thron der schwarzen Hexen aufgetaucht ist. Aber dann bin ich wieder davon weg, weil mir klar ist, dass dieses Weibsbild mich vielleicht damit erpressen will, dass ich sachen weiß, die das Ministerium sehr interessieren könnten."

"Denke da immer dran, Julius. Du bist dieser Spinnenhexe gegenüber nicht zu irgendwelchen Sachen verpflichtet. Schon schlimm genug, dass Catherine dieser Vita-Magica-Bande dankbar sein muss, dass Joe demnächst wieder in seine gewohnte Welt zurück darf. Bring diese Hexe nicht drauf, dass die dir irgendwas schuldet oder du ihr!" sagte Millie. Julius bekräftigte, dass ihm nicht daran gelegen war, Anthelia/Naaneavargia von sich aus zu helfen.

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Sie hatte die Eifersucht und Hassgefühle der weiblichen Mitreisenden locker weggesteckt. Wenn ihr eine von den fünf anderen Frauen was tun wollte, weil sie gerade mit einem ihrer Auserwählten ein paar leidenschaftliche Stunden verbracht hatte, konnte sie die Angriffe durch eine weitere Kraft ihres Ringes unterbinden, die macht des gebundenen Blutes. Damit hatte Rose Britignier ihren Verlobten dazu gebracht, sie zu begehren, und so genügte es Ladonna, jeder Konkurrentin eine kleine aber verheerende Verletzung mit ihrem Ringzuzufügen, um sie zu harmlosen, ja wie lebende Puppen handelnden Gefolgsmädchen zu machen. Es hatte nur einen Tag gedauert, bis sie alles und jeden auf dem Schiff unter ihrer magischen Kontrolle hatte. Diese Leute würde sie nun führen können, wie sie es wollte. Die Frauen wollte sie nach ihrer Ankunft zu weiteren Blumen in ihrem neuen düsteren Rosengarten machen, während die Männer in ihren Machtstellungen verbleiben und ihr auf diese Weise helfen sollten, bis sie ihrer überdrüssig war.

Als sie an Spanien vorbeifuhren musste die Wiedererweckte an ihren harten Kampf gegen diese Eisdämonin denken, dir ihr beinahe den Garaus gemacht hätte. War die immer noch wach, oder hatte es in den Jahrhunderten jemand vollbracht, sie doch noch zu vernichten oder zumindest in tiefen Schlaf zu versenken?

Was sie auf jeden Fall herausfinden musste war, ob es auch noch eine geordnete Gemeinschaft der Magier und Hexen gab. Dass sie in der ganzen Zeit nur von einem magielosen Wirtskörper zum Nächsten existiert hatte gab ihr schon zu denken, dass sie da womöglich eine Menge wichtiger Sachen nicht mitbekommenhatte. Das wurde ihr überdeutlich klar, als sie nach der Ankunft der Principessa Firentina in Gestalt einer schwarzen Störchin, ihrer Animagus-Form, das Grundstück überflog, auf dem das Haus ihrer Nährmutter gestanden hatte. Von einem Haus oder gar einem Garten war nichts mehr übrig geblieben. Alles war von Bäumenund Sträuchern überwuchert. Außerdem verriet ihr der Ring, dass hier wohl vor langer Zeit ein Fluch ausgesprochen worden war, der jede Menschenseele verderben sollte, die es wagte, länger als einen Tag und eine Nacht an diesem Ort zu verbringen. Das sah Sardonia wohl ähnlich. Ladonna erkannte, dass das Wissen um ihr Zuhause doch von irgendwem an diese verhasste Rivalin weitergegeben worden sein musste. Konnte es dann auch sein, dass ihr Tagebuch den Feindinnen in die Hände gefallen war? Sie musste das herausfinden, ohne weitere schlafende Drachen zu kitzeln. Zehn Ziele musste sie absuchen, bevor sie sicher war, dass wirklich alles von ihr verraten worden war.

"Finde ich raus, wer mich hintergangen hat, werden deren Nachfahren meine Rache zu spüren bekommen", dachte Ladonna, während sie in der Gestalt einer Störchin über den wilden Wald flog, unter dem einst ihr Kindheitshaus gestanden hatte. Bald würden es alle, die es betraf erfahren, dass sie wieder da war und dass sie alle über die Jahrhunderte aufgelaufenen Schulden einfordern würde, vor allem bei möglichen Nachkommen Sardonias. Falls es jedoch dazu gekommen war, dass sämtliche Hexen und Zauberer ausgestorben waren, weil sie sich zu häufig mit magielosem Blut vermischt hatten, so würde sie als nächstes wohl die Verpestung der Umwelt beseitigen, die dafür verantwortlichen Leute vernichten oder in eine ihr genehme Form verwandeln. Doch erst einmal musste sie die Welt genauer kennenlernen, in die sie zurückgekehrt war. Hierfür sollte ihr dieser Luigi Girandelli noch wertvolle Dienste leisten. Es sollte damit losgehen, dass sie sich sein Haus aneignete, um es zu ihrem neuen Bollwerk der wahren Herrinnen zu machen.

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Julius stand vor Sternennacht, Léto und drei ihm nicht vorgestellten Veelas mit dunkelblondem bis dunkelrotem Haar. Er berichtete darüber, was sich seit dem 30. Dezember 2002 ereignet hatte und welche Vermutungen sich daraus ergeben hatten. Sternennacht seufzte einmal, als ihr klar wurde, dass ihr da eine höchst unwillkommene, ja schändliche Anverwandte beschert worden war.

"Dir ist klar, Julius, dass niemand diese Frau töten darf, der nicht will, dass Sternennachts Familie ihm und seiner ganzen Verwandtschaft nach dem Leben trachtet", erinnerte ihn Léto an das, was sie ihm vor mehr als einem Jahr eingeschärft hatte. Julius nickte. Dann sagte Sternennacht noch:

"Sage dieser Catherine Brickston, ich möchte eine Abschrift jenes Buches haben, das von dieser unnatürlich entstandenen Blutsverwandten berichtet. Womöglich muss ich es als Erbin Nachtliedes vollbringen, sie zu entmachten."

"Wenn sie unortbar ist wie ihr kann sie sogar drauf los zaubern wann und wo sie will", seufzte nun Julius. "Außerdem haben wir immer noch keinen endgültigen Beweis für ihre Wiederkehr. Aber ich weiß, dass das bei Anthelia auch so war, dass es keiner außer ihren Mitschwestern mitbekommen hat."

"Teile dieser Hexe, die sich für Anthelias Wiedergeburt hält mit, dass eine große Feindin auf die Welt gekommen ist. Sie darf sie nicht töten", sagte Sternennacht. "Oder sie wird in uns ihre Henker finden", fügte die grazile, schwarzhaarige Veela noch hinzu.

"Die Damen, ich darf Ihnen Ratschläge geben oder mir Anliegen von Ihnen anhören. Aber Befehle geben dürfen Sie mir nicht", stellte Julius klar. "Wenn ihr wollt, dass die Wiederverkörperung von Anthelia weiß, mit wem sie es vielleicht zu tun hat, dann nehmt bitte selbst Kontakt mit ihr auf."

"Du bist der Vermittler, Julius Latierre. Du wirst zwischen ihr und uns vermitteln, ein Gespräch zwischen ihr und mir ermöglichen", beharrte Sternennacht auf ihre Forderung. Léto sah die andere an. Dann sagte sie ruhig:

"Da ich Julius zu einen Schützling von mir erklärt habe unterliegt er nur meinen Weisungen aus unserem Volk. Und ich verstehe, dass er nicht hingehen möchte, um diese Anthelia zu finden. Außerdem könnte sie denken, dass wir sie verunsichern wollen, um sie zu entmachten." Julius nickte, obwohl er sich schon fragte, ob Anthelia das glauben würde oder nicht. Doch dann erkannte er, dass es erst dann seine Sache sein würde, wenn Ladonna Montefiori oder ihre Erbin versuchte, sich breit zu machen.

"Himmelsglanz, weise deinen Schützling an, meinen Willen zu befolgen. denn sollte meine Verwandte sterben, werde ich ihm die Mitschuld daran zuweisen. Er weiß, was das heißt."

"Sternennacht, ich bin Mitglied im Rat der Ältesten und verbiete dir, ihm in dieser Weise zu drohen. Wir müssen mit den Menschen in Frieden zusammenleben, nicht im Krieg. Wir müssen erst einmal wissen, ob deine Wahrnehmung wirklich wegen Nachtlieds missratener Enkeltochter über dich und deine Blutsverwandten kam. Alles andere ist im Augenblick nur wüstes Geknurre und Gefauche", sagte Léto.

"Er soll mir sagen, wie ich diese Anthelia erreichen kann. Mehr will ich von ihm nicht", erwiderte Sternennacht. Julius atmete einmal durch. Er war froh, dass er das Lied des inneren Friedens immer und immer wieder durch seinen Kopf gehen ließ, sonst hätte ihm diese schwarzhaarige Schönheit da sicher schon längst alles abverlangt, was er besaß. Doch dann dachte er, dass es gar nicht so schlecht war, wenn die Veelas mit Anthelia sprachen, ohne ihn dazwischenzuschalten. So sagte er:

"Wenn ihr Eulen als Boten versenden könnt, schickt eine davon an die Adresse: Lady des Ordens der schwarzen Spinne, auch genannt Anthelia. Denn wo sie wohnt weiß auch ich nicht."

"Ich halte meine Warnung aufrecht. Stirbt meine wiedererwachte Verwandte, so düster und widernatürlich auch ihr ganzes sein ist, bevor ich mit ihr in irgendeiner Weise zusammentreffen konnte, so sterben alle, die an ihrem Tod die Schuld oder Mitschuld tragen", wiederholte Sternennacht ihre Drohung.

"Sternennacht, willst du wahrlich wen zur Verwandten haben, die jeden beseitigt, der ihr in den Weg gerät?" wollte Léto wissen. "Ich will, dass sie den langen Schlaf schläft oder ihrem bösen Tun abschwört", sagte Sternennacht. Dann sah sie Julius unvermittelt so an, als habe sie eine großartige Idee. "Als Himmelsglanzes angenommener Schützling darf ich dich nicht töten. Aber deine Angetraute und deine Töchter können wir töten, wenn die Blutrache es verlangt. Es sei denn, du als Himmelsglanzes Schutzbefohlener erweist mir die Ehre, Mutter einer Tochter zu werden. Diese wäre dann auch mit deinen beiden Töchtern blutsverwandt und damit auch über deren Blut mit deiner Angetrauten verbunden. Also überlege es dir, mir zu helfen oder verbinde dein Fleisch und Blut mit meinem! Sonst leben die deinen in ständiger Gefahr, wenn meine erwachte Verwandte durch deine Untätigkeit zu Tode kommt."

"Sternennacht, das ist ..." setzte Léto an, musste dann aber nicken. "Sie hat leider recht, Julius. Solange du dich nicht mit ihr zusammentust und mindestens eine Tochter mit ihr zeugst darf ihre Familie deine töten, wenn sie findet, dass ihre Verwandte wegen dir sterben musste. Insofern ist es besser für dich, du ermöglichst das Gespräch mit dieser Anthelia und Sternennacht. Es muss ja sonst niemand wissen, dass du sie beide zusammengeführt hast."

"Vielleicht geht da was", sagte Julius, dem die Vorstellung, Millie nur dadurch am Leben zu halten, indem er sie mit einer reinrassigen Veela betrog, nicht gefiel. "Ich kenne Hexen, die mit ihr in Verbindung treten können. Wenn ich die entsprechenden Stichworte nenne könnte sie darauf eingehen. Aber gebt mir bitte einige Tage Zeit! Ich bin mir sicher, dass diese Wiedererweckte bis dahin nicht mit Anthelia zusammentreffen wird. Denn beide wissen nichts voneinander."

"Du siehst den Mond über uns?" setzte Sternennacht an und fuhr fort: "Wenn er einmal alle Zustände durchlaufen hat, will ich mit dieser anderen Hexe reden. Wenn nicht, bleiben dir nur die Furcht vor meiner Rache oder die fruchtbare Vereinigung mit mir. Finde die für uns beide beste Möglichkeit!"

"Das werde ich, Sternennacht", erwiderte Julius.

Als er wie früher schon im selbstgeschrumpften Zustand auf Létos Schwanenrücken ritt gedankensprach die Großmutter von Fleur und Gabrielle Delacour: "Ich habe den nicht ganz zu verdrängenden Verdacht, dass meine geliebte Schwester Sarja ihr diesen Entschluss eingeflüstert hat, dich derartig zu bedrängen, Julius. Aber das Gesetz der Blutschonung gilt wie das der gnadenlosen Blutrache. Finde diese Anthelia oder freunde dich mit dem Gedanken an, mit Sternennacht deine überragenden Erbanteile zu vereinigen. Anders kommst du leider nicht aus dieser Zwangslage heraus."

"Ihr wisst alle, dass ihr mich damit für das Zaubereiministerium beinahe wertlos macht, weil die mir irgendwann nicht mehr vertrauen können", erwiderte Julius ebenfalls auf gedanklichem Weg. "Aber es ist für mich leichter, Anthelia zu finden als meine Frau zu hintergehen."

"Dann finde sie und sprich mit ihr! Ich will nicht haben, dass Sarja am Ende noch frohlockt, weil sie dich durch Sternennacht gedemütigt hat."

"Die Zeit reicht völlig aus", erwiderte Julius.

Da er Millie nicht auf die Nase binden wollte, was Sternennacht ihm angedroht oder gar angeboten hatte sagte er ihr nur, dass die Veelas sich Sorgen machten, was passierte, wenn die möglicherweise wiedererwachte Verwandte mit heute lebenden Zauberern und Hexen aneinander geriet. Millie verstand das.

Bevor Julius sich hinlegte verfasste er eine E-Mail an Gwendartammaya, in der er kurz schilderte, dass eine alte Erbfeindin Sardonias wieder aufgetaucht war und wegen ihrer Abstammung von einer sehr schönen, langlebigen Zauberwesenart deren uneingeschränkten Schutz genoss. Auch wenn Gwendartammaya alias Patricia Straton nichts mehr mit Anthelia selbst zu tun hatte besaß sie offenbar noch Verbindungen zu deren Schwestern. So erwähnte er auch Begriffe wie "Ring der Rosenkönigin" und "Ladonna Montefiori". Letzteren Begriff ergänzte er durch die selbst recherchierten Suchanfragen zu dieser Person. Dann schickte er die Nachricht ab. Mehr konnte und mehr wollte er im Moment nicht tun.

"Wenn es sein muss, dass Aurore, Chrysope, unser drittes Kind und ich nur noch in einem Schutzzauber wie den von Ashtaria leben dürfen, Monju, dann sage uns das bitte früh genug", empfing Millie ihn nach seiner Sitzung im Computerhäuschen. Julius versprach ihr, dass er sein körperlich-seelisch möglichstes tun wollte, um weitere Gefahren von seiner Familie fernzuhalten. Ob er das einhalten konnte wusste er nicht mit Sicherheit. Doch er vertraute darauf, dass wahrhaft intelligente Wesen immer einen Weg fanden, unnötige Feindschaften zu vermeiden. Ein wenig hoffte er das auch bei dieser Verwandten von Sternennacht. Vielleicht kam sie ähnlich wie Anthelia zur Einsicht, dass eine weltweite Unterdrückung aller Menschen der falsche Weg war. Aber in Anthelia steckte ja auch Naaneavargia. Oder war es umgekehrt, dass die Schwester von Ailanorar und Enkeltochter von Madrashmironda Anthelias Seele in sich einverleibt hatte und sie nur soweit gewähren ließ, wie es ihrer eigenen Überzeugung diente? Womöglich würde er das irgendwann erleben. Er wusste nur nicht, ob er sich vor diesem Augenblick fürchten oder darauf hoffen sollte.

ENDE

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