DIE HEIMLICHE KRIEGERIN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Ladonnas Macht ist gebrochen. Vier Jahre hatte sie mit Hilfe ihres einzigartigen wie unheilvollen Feuerrosenzaubers viele Zaubereiministerien unterjocht. Nach ihrer Entmachtung fielen die noch nicht aus ihrem Bann befreiten in einen unaufweckbar erscheinenden Tiefschlaf. Die Ministerien werden bis auf weiteres von außenstehenden Hexen und Zauberern aus der Liga gegen dunkle Künste betrieben. Doch das kann und soll kein Dauerzustand bleiben. Außerdem müssen viele durch Ladonnas Treiben aufgeworfene Fragen abschließend geklärt werden, unter anderem was mit den von ihr gesammelten Zaubergegenständen und Aufzeichnungen geschieht oder was den Umgang mit anderen Zauberwesen wie Kobolden und Veelas angeht.

Nachdem Ladonnas Blutsiegelzauber um den Weinkeller der Girandelli-Villa verfliegt versuchen mehrere Gruppen von Hexen und Zauberern, die dort angehäuften Artefakte und Aufzeichnungen aus aller Welt zu erbeuten. Albertrude Steinbeißer gelingt es mit einem flächendeckenden Betäubungszauber, die Konkurrenten auszuschalten und sich in den Besitz deutscher und altägyptischer Zaubergegenstände zu bringen. Dabei trifft sie eine kleinwüchsige Frau mit gläsernem Helm und silbernem Bogen, die von Albertrudes Betäugungszauber weit fortgeschleudert wird. Die Kleinwüchsige ist die Koboldstämmige Diana Camporosso, der Ladonna kurz vor ihrem Verschwinden den erbeuteten Seelenglashelm des Koboldgeheimbundgründers Deeplook aufgesetzt und dessen darin lauernden Geist Dianas Gedanken und Willen unterworfen hat. Diana will nun Königin der Kobolde und damit Ladonnas Nachfolgerin werden. Sie sammelt mit Hilfe von Deeplooks Wissen überlebende Mitglieder des Geheimbundes der Kobolde um sich. Diese glauben, Deeplook sei der vorherrschende Geist im unfreiwillig angenommenen Körper der koboldstämmigen Hexe. Sie versuchen Gringotts zu übernehmen. Das misslingt, weil einer der Gringottszweigstellenleiter bereits unter dem Bannwort des schlafenden Königs steht und die Aktion an die Ministerien verrät. So bleibt Diana nur, sich nach Afrika zurückzuziehen, wo noch Schlupfwinkel des Geheimbundes sind.

In den USA wird lebhaft diskutiert, ob es nicht ein neues Zaubereiministerium oder einen neuen magischen Kongress der USA geben soll. Diesen bevorzugen die zehn mächtigsten Zaubererfamilien, darunter die Greendales und die Southerlands und arbeiten darauf hin, dieses Ziel zu erreichen.

In Europa ist noch unklar, was mit den ehemaligen Unterworfenen des Feuerrosenzaubers geschieht. Außerdem gilt es, den von Ladonna verursachten Kriegszustand mit anderen Zauberwesen zu beenden. Julius Latierre hofft darauf, einen Frieden zwischen den Menschen und Veelas herbeiführen zu können. Die französische Zaubereiministerin plant eine Rundreise, um mit anderen Zaubereiministerien darüber zu verhandeln. Bevor Julius am 16. März aufbricht erfährt er noch, dass seine Frau Millie und seine mit ihm und ihr in einer Dreiecksbeziehung zusammenlebende Schwiegertante Béatrice gleichzeitig von ihm schwanger geworden sind. Mit dieser Erkenntnis und mit der Hoffnung auf eine europaweite Verständigung zwischen magischen Menschen und Zauberern begibt er sich mit der hochrangig besetzten Abordnung des Zaubereiministeriums auf eine Reise für den Frieden zwischen Menschen und denkkfähigen Zauberwesen. Dabei gelingt es ihm und der französischen Abordnung, mit allen Nordeuropäischen Delegationen wichtige Vereinbarungen zu treffen. Julius ist erleichtert, dass Russland und alle anderen Länder, in denen Veelas und ihre mit Menschen gezeugten Nachkommen leben, einen ähnlichen Friedensvertrag schließen wollen wie er in Frankreich verfasst wurde.

Gleichzeitig baut Diana Camporosso ihre Rangstellung in dem im Neuaufbau befindlichen Geheimbund der Kobolde aus. Doch sie plant auch, mit den ehemaligen Feuerrosenschwestern Kontakt aufzunehmen.

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Sie fühlte sich endlich wieder stark genug, ihr Reich und ihr Volk zu verteidigen. Die schmerzvolle Schmach, die ihr der ungenannte Pharao, besser der ihm zum fleischlichen Träger dienende Rotblütler zugefügt hatte, war nicht vergessen. Doch dessen dienstbarer Sklave, den er dem Träger ihrer Macht, den Stein der Entscheidungen, eingetrieben hatte, war von ihren verbliebenen obersten Dienern durch Blutgaben und die Anrufung der einzig mächtigen Königin der Nachtkinder dieses vielfältigen und großen Erdteils ausgetrieben und in die Gefilde der entkörperten Seelen verstoßen worden. Auch hatten ihre Späher vermeldet, dass es wohl zu einer aufreibenden Schlacht zwischen jener, die sich wegen der Eroberung des Mitternachtssteines und der Einverleibung mächtiger Seelen als Göttin der Nachtkinder verstand und einer fleisch- und blutlosen Mutter dunkler Geister und ihrer gehorsamen Kinder gekommen war, bei dem die fleischlichen Kinder der Nacht von den schattenhaften Dunkelgeistern vernichtet worden waren. Weil danach jedoch nichts von der Mutter der fleisch- und blutlosen Dunkelgeister mehr zu hören war mochte der Eindruck entstehen, dass sich beide ihr unangenehn ebenbürtig bis überlegen erwisenen Trägerinnen nächtlicher Macht aufgerieben hatten und entweder vernichtet waren oder wegen ihrer fehlenden Gefolgschaften machtlos in ihren Unterschlüpfen ruhen mussten. Die Gebieterin aller Nachtkinder jenes Erdteils, der weite trockene Wüsten und feuchtheiße, vor Leben überquellende Urwälder trug, war nicht einfältig. Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass Geisterwesen und vom Blute anderer lebende Wesen viele Dutzend Jahre untätig verschlafen konnten, bis jemand kam, um sie zu wecken oder einfach nur in ihre Reichweite geriet, um ihnen zum Opfer zu fallen. In den meisten Fällen kam beides zusammen vor. So ging sie von der schlimmsten Annahme aus, dass beide Widersacherinnen noch auf der Welt waren und sich von ihren Verlusten erholten. So war es wichtig, die ihr und ihren Dienern gewährte Zeit auszunutzen, um ihre Rangstellung zu festigen. Zwar galt sie seit Jahrtausenden, ob schon als lebende Königin der Nachtkinder, oder als im Blutstein der Entscheidungen weilend, als die Herrin dieses Erdteiles. Doch um das auch gegen künftige Widersacher zu behaupten musste sie mehrere Untertanen haben. Allein schon, dass die aus mehreren Seelen zusammengefügte selbsternannte Göttin der Nachtkinder ihren einstigen Hohepriester Mondberg verschlungen und damit alles Wissen von ihm über sie und ihr Reich in sich aufgenommen hatte war eine sehr ernste Bedrohung für ihre eigene Herrschaft.

Nachdem sie von der Unterdrückung durch den ungenannten Herrscher befreit worden war hatte sie über die noch lebenden Mitglieder ihres höchsten Rates drei neue, mächtige Untertanen zu neuen Ratsmitgliedern erheben lassen, um ihren ausführenden Rat aus vier mal vier treuen Dienerinnen und Dienern zu vervollständigen. Danach hatte sie jedem der vier mal vier den Auftrag erteilt, seiner- und ihrerseits je vier neue Nachkommen oder treue Gefährten zu erschaffen, so heimlich es ging. Denn ihr war bewusst, dass die rotblütigen Zauberstabträger sehr auf der Hut waren, ob sie sich noch regte oder nicht. So hatte es mehrere Monde gedauert, bis dieser Befehl ausgeführt worden war.

Zum zweiten hatte sie befohlen, dass das bisherige Vorgehen, nur alle vollständige Mondfinsternisse frisches Blut auf dem Stein der Entscheidungen zu vergießen, auf jeden Neumond verlegt wurde, sodass der Stein regelmäßig genährt und somit noch mehr verstärkt wurde. Über die mit ihren vier mal vier Dienerinnen und Dienern geknüpften Gedankenstränge erfuhr sie, dass jene vier mal vier neuen Dienerinnen und Diener an den Grenzen zwischen Land und Meer, sowie in den unter der Glut der verhasssten Sonne ausgedörrten Landen und in schwer erreichbaren kleinen Siedlungen mitten in den feuchtheißen Urwäldern wohnten und sie so eine gute Übersicht über den ganzen Erdteil hatte. Nun galt es, mindestens ein Drittel der jetztzeitigen Rotblütler zu ihrem starken Volk zu machen. Dabei galt vor allem, dass sie endlich die für Nachtkinder beinahe unüberquerbaren Meere überwinden und die auf andere Erdteile ausgewanderten Nachkommen der hierzulande geborenen Rotblütler vor die Wahl stellen wollte, in ihr Volk hineingeboren zu werden oder ihren Untertanen als belebende Nahrung zu dienen. Sie wusste, dass die mit dem Miternachtsstein verwachsene dasselbe Ziel hatte, nur dass sie eben alle Rotblütler der ganzen, großen Welt für sich haben wollte. Wenn die selbsternannte Göttin aller Nachtkinder wieder aufwachen oder genug neue Diener haben sollte wollte sie mit ihr verhandeln, dass sie weiterhin die Herrin dieses Erdteils und seiner Menschen bleiben wollte.

"Meine erhabene Königin, ich hörte gerade, dass die Führer der zaubernden Rotblütler sich in den nächsten Tagen auf einem Eiland in Sonnenaufgangsrichtung zusammenfinden wollen, um über das weitere Geschehen auf unserem Erdteil zu beraten. Wir müssen damit rechnen, dass es denen auch darum geht, uns zu bekämpfen", vernahm sie die Gedankenstimme von Mitternachtsglück, ihrem neuen höchsten Fürsprecher und Hohepriester. Sie sandte die Frage aus, woher ihr Diener das wusste. "Einer derer, die ich unter Vortäuschung seines Todes durch die gefährlichen Feuerlöwen als neuen Diener gewinnen konnte wusste von einer Zusage seines Zaubereiministers. Er weiß, dass sie sich auf einer von starken Schutz- und Verbergezaubern umschlossenen Insel treffen wollen, wo auch keine ungeladenen Rotblütler hinkommen."

"Sie werden sicher was beraten, was gegen uns geht, womöglich ihre unseligen Jäger auf uns hetzen. Daher ist es um so dringender, weitere neue Untertanen zu gewinnen, wenn nicht hier, dann auf dem Erdteil in Sonnenuntergangsrichtung. Ja, ich weiß, das weite Meer trennt uns von denen. Doch wenn andere Nachtkinder es überqueren können müssen wir das auch können. Finde den Weg und benenne zwei Diener und zwei Dienerinnen, die auf jenen Erdteil wechseln, auf den vor Jahrhunderten unzählige Kinder dieses Erdteiles verschleppt wurden, um dort als lebendes Eigentum der Landnehmer zu schuften. Deren Nachkommen will ich als neue Untertanen haben. So ist mein Wille!"

"Ich habe dich vernommen, Gebieterin. Dein Wille geschehe", antwortete Mitternachtsglück unterwürfigst. akashas im Stein der Entscheidungen verbliebener Geist bedachte es mit Wohlwollen.

"Doch wenn wir diesen, deinen Willen erfüllen, so müssen wir die von uns verachteten Mittel der zauberunfähigen Menschen wählen, die lauten, starrflügeligen Eisenvögel, meine erhabene Königin."

"Jene, von denen Blutstern berichtet hat?" fragte Akasha ihren obersten Diener. "Ja, genau jene", antwortete dieser mit unüberhörbarem Widerwillen. "Dann sende ich sie aus, uns einen solchen Eisenvogel und seinen Lenker zu schaffen, damit vier unserer mehrsprachigen Diener damit fliegen können."

"Blutstern wird vielleicht immer noch von den zauberunfähigen Rotblütlern gesucht. Sie hat berichtet, dass deren Hescher und Ordnungshüter die Bilder von anderen Menschen einfangenund in dafür bestimmte Kisten einlagern können. Wenn sie wieder zu denen hingeht könnte sie jemand erkennen, meine erhabene Königin."

"So, könnte jemand das?" fragte Akashas Geist nun sehr ungehalten. Dann verlangte die ihren körperlichen Tod überdauernde Königin der afrikanischen Nachtkinder, mit Blutstern selbst zu sprechen. Da sie Mitternachtsglücks Blutstochter war konnte er ihr die Verbindung schaffen. Sie forderte sie auf, unverzüglich zu ihr zum Stein der Entscheidungen hinzukommen. Dafür brauchte sie jedoch eine halbe Nacht, weil sie gerade an der dem Sonnenaufgang zugekehrten Grenze des Erdteils weilte. Akasha befahl es ihr.

So dauerte es vom Untergang der Sonne bis nach Mitternacht, bis sie fühlte, wie eine treue Untertanin durch die unterirdischen Gänge eilte und den vom Stein der Entscheidungen ausgehenden Hauch der Macht berührte und durchdrang. Akashas Geist verstärkte seine Anwesenheit. Für die gerade eintretende Dienerin sah es nun so aus, als glühe die zwei Manneslängen aufragende Steinsäule in einem flammenlosen Feuerschein. Doch dieses Licht tat der Dienerin nichts. Im Gegenteil. Sie erspürte, dass sie willkommen war.

Blutstern war vor fünf mal zwölf Mondwechseln in das Volk der Nachtkinder geboren worden, als Mitternachtsglück und seine Gefährtin durch die Nächte Mondschweigen sich entschlossen hatten, eine der in die neuere Zeit geborene Rotblütlerin zu ihrer Tochter zu machen. Seitdem hatte sich Blutstern zu einer sehr wertvollen Botin zwischen den Untertanen der Gottkönigin und den zauberunfähigen Menschen entwickelt.

Blutstern sah die hellrot glühende Steinsäule. Bisher war sie nur in Begleitung ihres Blutsvaters Mitternachtsglück hier gewesen. Dass die erhabene Königin der Nachtkinder sie allein zu sich rief war eine Ehre, die sie nicht ausschlagen durfte.

Blutstern kniete vor der Säule nieder und berührte deren Fuß mit ihrer Stirn. Augenblicklich entstand eine unmittelbare Verbindung zwischen der lebenden Nachtgeborenen und ihrer den eigenen Tod überdauernden Königin. Bilder jagten durch Blutsterns Bewusstsein. Gleichermaßen tauschte sie mit der Königin schneller als gesprochene Worte Gedanken aus. Es ging um die eisernen Vögel der zauberkraftunfähigen, Flugzeuge genannt, und vor allem jene, die mit feuerspeienden Auswüchsen unter ihren starren Flügeln sehr schnell in großer Höhe fliegen konnten, Düsenflugzeuge oder Jets genannt. Innerhalb von nur zwanzig Atemzügen wusste die Königin alles, was Blutstern über diese nichtmagischen Maschinen wusste und auch, dass die nicht beliebig von jedem Ort der Welt losfliegen und an jedem anderen Ort der Welt wieder herunterkommen konnten. Auch erfuhr Akasha, dass es regelmäßige Reisedienste für sehr viele Menschen auf einmal gab, aber auch kleine Flugzeuge für sehr reiche Menschen, die nicht von festgeschriebenen Flugplänen abhängig sein und auch nicht mit dem sogenannten gemeinen Volk zusammen fliegen wollten. Einen dieser Privatjets wollte die Königin für ihr Volk, vor allem von einem, der in den Ländern unterhalb des Sonnenuntergangshorizontes lebten. Blutstern teilte ihr unmittelbar und ohne umschweifende Worte mit, dass sie dafür ein Verzeichnis der Besitzer brauchten und wo dieses wohl zu bekommen war.

"Gib mir einige Tropfen deines Blutes und empfange dafür mehr Kraft für deinen Körper und Geist, Blutstern!" befahl die Königin noch über die Direktverbindung. Blutstern ritzte sich mit ihren Fangzähnen eine Wunde in den linken Unterarm und presste die Verletzung gegen die Steinsäule. Nun geschah körperlich, was vorher auf rein geistiger Ebene geschehen war. Blutstern meinte, von wohligen warmen Strömen durcheilt zu werden. Sie fühlte, wie sie stärker wurde. Ja, sie meinte jetzt, so stark zu sein, als habe sie drei erwachsenen Menschen all ihr Blut aus den adern gesaugt. "Einen vollen Monddurchlauf kannst du nun mit meiner zusätzlichen Kraft wirken. Hast du bis dahin deinen Auftrag erfüllt, so magst du noch einen weiteren Mond lang von mir bestärkt sein. Versagst du, so werde ich dir alle Lebenskraft entreißen und deinen Geist in meinen einschließen und zu meinem eigen machen. So geh und erfülle meinen Willen!"

"Dein Wille geschehe, erhabene Königin", erwiderte Blutstern. Dann zog sie ihren linken Arm und ihren Kopf vom Stein der Entscheidungen zurück. Ihr Arm war nicht mehr verletzt.

Blutstern fühlte, wie der Mond ihr zusätzliche Kraft gab. So konnte sie in der Gestalt einer menschengroßen Fledermaus doppelt so schnell fliegen wie auf dem Hinweg. Doch sie flog nicht mehr nach Osten, sondern nach nordwesten. Ihr Ziel war der Flughafen von Algier. Dort wollte sie die nächste Nacht abwarten und sich die dort gelandeten Privatjets ansehen, um einen auszusuchen, der den Willen der Königin erfüllen konnte.

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Damals, als sich die großen Menschen mit und ohne Zauberstäbe in dieser Gegend der Welt angesiedelt hatten waren auch hundert Kinder der Erde mitgekommen, um das hier vermutete Gold zu fördern. Denn sie besaßen das schriftlich und durch Steineid besiegelte Recht, den Wert des mächtigen Metalls zu bestimmen und es für jene, die damit Waren und Dienste bezahlten sicher aufzubewahren. Wo Zauberstabträger hinzogen musste bei einer bestimmten Anzahl mindestens ein Goldprüfer und eine Zweigstelle der Aufbewahrungsstätte Gringotts zu finden sein. Wo wären sie auch hingekommen, wenn sie den menschlichen Drang, immer mehr von der Welt zu besiedeln, nicht berücksichtigt hätten. Vor allem dann, als sich herausgestellt hatte, dass es hier im südlichen Afrika eine Menge im Schoße der Allgebärerin ruhendes Gold gab war es um so wichtiger, Prüfer undAufbewahrer unterzubringen, die darauf achteten, dass der Wert des Goldes sicher und hoch blieb. Ja, und wie ein über ihnen allen schwebender unsichtbarer Beobachter war auch der Bund der zehntausend Augen und Ohren mit in den Süden der Welt gezogen, um sicherzustellen, dass es innerhalb der Gemeinschaft keine Grenzübertretungen gab und dass die Zauberstabträger keine Vorteile aus der Goldgier einzelner Mitglieder ziehen konnten. So waren im Laufe von nur zweihundert Jahren an die 1000 neue Erdenkinder auf diesem Boden zur Welt gekommen und zu Goldhütern und Überwachern herangewachsen. Ihre Frauen galten der uralten Sitte nach als Lebenshüterinnen, was hieß, dass sie sich eben nur um die Kinder und das Heil innerhalb der Familie zu kümmern hatten.

Leitwächter Bonecrack, Lenker von drei Zenturien aus spähenden Augen, horchenden Ohren und vollstreckenden Händen, hatte die aus Ägypten geflohenen Mitglieder des Bundes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui in der Geheimniederlassung südliches Afrika knapp 100 Koboldmeilen ostnordöstlich von Kapstadt untergebracht. Seitdem feststand, dass der Vater aller Augen nach dem Tod seines natürlichen Leibes in einer koboldstämmigen Frau neuen Halt gefunden hatte haderte der Leitwächter Südafrikas mit der Loyalität dem Vater aller Augen gegenüber. Es widerte ihn immer wieder an, dieses halbblütige Weib anzusehen, dass den gläsernen Helm des Gründers aller zehntausend Augen und Ohren trug und somit dessen lebende Hülle sein sollte. Doch immer wieder drängte die ihm in den Jahren der Unterweisungen und Einschwörungen ins Gehirn gehämmerten Grundsätze alle Gedanken an Widerstand zurück. Wenn die richtigen Worte gesagt wurden galt der, der sie sprach als Befehlsberechtigt. Das galt für ihn als Leitwächter wie auch eben für den Vater aller Augen.

Es war der Tag, den die Zauberstabträger den 23. März nannten, als Bonecrack kurz nach Sonnenaufgang in den Überwachungsraum des geheimen Stützpunktes eintrat. An der kreisrund verlaufenden Wand des Raumes saßen alle zehn 10-Augen-Späher hinter ihren Überwachungstischen und blickten durch ihre Allsichtgläser in die Umgebung oder zu eingesetzten Kundschaftern. In der Mitte des zwanzig Koboldschritte durchmessenden, an die vier Koboldhöhen aufragenden Raumes stand ein silberner, halbmondförmiger Tisch, An dessen nach innen gewölbter Seite standen drei Sessel bereit, der himmelblaue für 100-Augen-Späher Backlook, der erdbraune für 100-Ohren-Horcher Rushpick und der rubinrote, mit goldenen Armlehnen und Fußrasten geschmückte Sessel für den amtierenden Leitwächter, also ihn. Bonecrack bedachte die hier wachenden Augen und Ohren mit einem "Bin da, weiterarbeiten!" und nahm in seinem Sessel Platz.

"Leitwächter Bonecrack. Es ist nun amtlich. am 28. März wollen sich alle afrikanischen Zaubereiminister treffen. Es ist Horcher 10 gelungen, den Treffpunkt zu erlauschen. Er soll irgendwo auf einer Insel bei Mombasa sein. Die genauen Bezugspunkte bekommen wir hoffentlich noch, falls Kradanoxa Deeplook danach fragt", meldete Rushpick ganz unaufgefordert.

"Was machen die von Kradanoxa Deeplook in Marsch gesetzten Vollstrecker, die nach dem Schlupfwinkel der vaterlosen Erdmeisterin suchen?" wollte Bonecrack wissen. "Ich habe Vollstreckerführer Toprag wie befohlen mit der Auswahl der Kundschafter betraut. Er wird die höchstrangigen Vollstrecker mit Befehlsgewalt über Einsatztruppen aussenden. Aber wie unsere Erfahrungen lehren kann sich dieses vaterlose Geschöpf gegen Ortungszauber absichern. Wir müssen also schon wissen, wo es seinen Unterschlupf hat."

"Ja, und deshalb müssen wir danach suchen, Rushpick. Eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Da sie sich auch nicht wie ein Löwe von einer angebundenen Ziege anlocken lässt bleibt nur die Suche. Bei der Gelegenheit sollen die Vollstrecker gleich die Kristalle für das große Netz suchen und nach Möglichkeit finden", sagte Leitwächter Bonecrack. rushpick bestätigte das. Allerdings wussten sie nicht, wielange die Suche dauern mochte. Immerhin wurde ja schon seit vier Jahren behauptet, dass die erwachte Tochter des schwarzen Felsens irgendwo im südlichen Afrika hausen sollte.

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Karim Al-Assuani fühlte wieder dieses unangenehme Brennen und Zwicken in seinem Gedärm. Diese von Seth und Anubis zu vertilgenden Wüstenhunde des blauen Morgensternes dachten nicht daran, ihn und seine verbliebenen Brüder und Vettern wieder in Amt und Würden zurückzuberufen. Diese machtbetrunkenen Besserwisser aus allen arabischsprachigen Ländern, sowie Persien und Indien nutzten das kalt wie die Wüstennacht aus, dass die ehrenwerte Al-Assuani-Familie mehrere Monate lang am unzerreißbar scheinenden Gängelband der Mischblüterin Ladonna Montefiori gelaufen war, ja dieses Unweib als anbetungswürdige Königin verehrt hatte. Jetzt hatten diese Morgensternhalunken auch noch über seinen Kopf hinweg entschieden, dass sich die Vertreter Nordafrikas mit den Vorteilsnehmern der ehemaligen Kolonialzeit zusammensetzten, um eine neue Ordnung für Afrika zu beraten. Immerhin durften er und sein für auswärtige Angelegenheiten zuständiger Bruder Hosnin bei dieser Schauveranstaltung zusehen, wohl auch, um wie vor Gericht Fragen zu beantworten. Gericht! Eigentlich war doch geplant, dass er und seine in Amt und Würden gewesenen Verwandten vor dem hohen Gericht der freien ägyptischen Familienväter aussagen sollten, warum sie es nicht verhindern konnten, dass Ladonna Montefiori sie unterwarf und sich von jenem Gericht bestätigen zu lassen, ob sie als an allem schuldige Mittäter oder als schuldunfähige Sklaven eines fremden Willens einzuordnen waren. Im zweiten Fall sollten sie dann doch wieder ihre alten Ämter zurückerhalten. Aber wie es eben so mit achso wohlmeinenden Leuten war, sie versprachen viel und merkten dann, dass sie dabei nur Nachteile erlitten, wenn sie es wahrmachten. Die Morgensternbruderschaft hatte die Gunst genutzt und war jetzt an der Macht und würde sie nicht mehr hergeben, solange die ägyptischen, libyschen, sudanesischen, marokkanischen, algerischen und tunesischen Zauberer das zuließen. Karim Al-Assuanis einzige Möglichkeit, seine ererbte Ministeriumswürde zurückzugewinnen war, dass das Volk, auf das er und seine Brüder und Vettern sonst so herablassend herabschauten, ihn wiederhaben wollte. Diese blauen Morgensterne wussten aber, wie sie die anderen beschwatzen konnten, sich mit dem gegenwärtigen Stand zu begnügen. Mancher Basarhändler mochte da vor Neid erblassen, wie gut die sich als erhabene, alles und jeden wohlwollend behütende Macht verkauften.

"Immerhin halten sie sich bei der Zeitangabe an den christlichen Kalender, weil der in den alten Kolonialländern gilt", knurrte Hosnin Al-Assuani, als er sich mit seinem älteren Bruder im eigenen Haus traf.

"Stimmt, Hosnin. Eigentlich müssten sie den islamischen Kalender als verbindliche Zeiteinteilung nehmen", hielt Karim Al-Assuani entgegen. Doch dann meinte Hosnin: "Ja, nur dann würden die Hindus von denen widersprechen, weil deren Kalender noch viel älter ist als der des Propheten."

"Achso, du meinst, sie nutzen aus, dass sie ja bis auf weiteres auch mit den ehemaligen Kolonialländern verhandeln müssen, um sich nicht darum zu zanken, wessen Kalender jetzt zu gelten hat, Hosnin?" fragte Karim. Sein jüngerer Bruder, Zuständig für auswärtige Angelegenheiten und Vermittlungen, grinste jungenhaft. Dann sagte er noch: "Wenigstens sehen es die Morgensternbrüder ein, dass die von den Kobolden und dann von unserer in den Feuersee im tiefsten Tal des Totenreiches verfluchten Ex-Königin aus unserem Land entführten Schätze zu uns zurückkehren müssen. Die Italiener, ebenfalls von einer Truppe machtbetrunkener Günstlinge verwaltet, wollen die im Haus der Verfluchten angehäuften Dinge nicht herausgeben. Sie behaupten, dass diese Dinge nicht noch einmal in menschenverachtende Hände geraten dürfen, als wenn die selbst so vor aller Versuchung und Macht sicher seien."

"Ja, doch die wissen auch, dass es Handelsabkommen mit unserem Land gibt. Feriz hat den Morgensternbrüdern auf deren unerhörter Nachfrage hin alle Listen von Handelsbeziehungen ausgehändigt. Also können und werden die damit vor die Europäer treten und denen klarmachen, dass sie die aus unserem Land entführten Dinge und Aufzeichnungen zurückzugeben haben, Karim."

"So, werden sie das? Vielleicht werden die auch hinter fest verschlossenen und mit Zaubern der Unabhörbarkeit geschützten Türen aushandeln, dass all diese Dinge aus unserem Land in die uns bis heute unbekannte Hauptniederlassung aller Brüder des blauen Morgensterns, jene geheime Festung alten Wissens, geschafft werden sollen, wo sie vor einzelnen Zaubereiministerien geschützt werden", sagte Karim Al-Assuani.

"Dies steht zu befürchten", knurrte Hosnin Al-Assuani. Die Vorstellung, dass seine bis zu Ladonnas verfluchtem Feuerrosenzauber so mächtige Familie zu nichts als kleinen Bittstellern oder Halbsklaven geschrumpft war gefiel ihm nicht. Dann fiel ihm was ein. "Diese Morgensternbruderschaft lebt doch auch nach bestimmten Regeln, damit keiner von denen sich über die anderen erheben kann. Falls es unter diesen Regeln welche gibt, die verbieten, dass mächtige Gegenstände aus einem bestimmten Land entführt werden, können wir die doch dazu bringen, uns unsere mächtigsten Schätze zurückzugeben, zumindest das, was noch davon übrig ist."

"Moment mal, wie meinst du das, kleiner Bruder?" wollte Karim Al-Assuani wissen. "Ich hörte sowas, dasss die Italiener längst nicht alle die Dinge geborgen haben, die unseres Wissens nach von Ladonna Montefiori aus Ägypten fortgeholt wurden. Ich weiß nicht genau, welche Gegenstände das sein sollen. Aber dieser eine Morgensternbruder, der sich gerade auf deinem Ministerstuhl breitmacht, großer Bruder, hat durchsickern lassen, dass da wohl einige der gestohlenen Schätze von wem anderen geraubt oder heimlich bei Seite geschafft worden sind. Falls dem so sein soll ..."

"Ist das ganz sicher nichts, worüber wir uns freuen dürfen, Hosnin. Egal welcher der bereits von den Koboldknechten aus dem bisherigen Versteck geholte Gegenstand von wem anderem ergriffen wurde kann der diesem Menschen, womöglich einer Hexe, eine ungeahnte, vernichtende Macht verleihen. Was meinst du, warum wir uns so viel Sorgen wegen des wiederauferstandenen dunklen Pharaos gemacht haben, dein Vetter Leyth, dein hoffentlich in friedlichen Gefilden übergegangener Bruder Kaya und ich." Hosnin nickte betroffen. Sogesehen barg schon jeder der mächtigen Gegenstände einzeln eine große gefährliche Versuchung in sich, ob das Zepter des Totenrichters, das Schwert des Reput oder der Kriegsbogen des Anhor mit den ihm beigegebenen Todespfeilen. Auch wer den Griffel des ewigen Schreibers besaß und alte Zauberschriften beherrschte, bestenfalls die Hieroglyphenschrift und Aussprache der Alten konnte damit jede Menge Unheil anrichten. Deshalb hatten die alten, mächtigen Vorfahren ja diese Gegenstände auch größtenteils unauffindbar und unerreichbar versteckt, bis diese vorwitzigen, ewig an ihnen nicht gehörenden Sachen rührenden Engländer die alten Grab- und Tempelstätten aufgebrochen und diese Dinge herausgeholt hatten. Ja, er erinnerte sich auch, dass Karim, Feriz und auch er dem damals zugestimmt hatten, um sicherzustellen, dass kein unbedarfter ägyptischer Zauberer oder gar eine dieser ungebärdigen Weiber von der unerwünschten Schwesternschaft des grünen Mondes daran rührte. Natürlich hatten sie von den Kobolden auch genug "Entschädigung" dafür erhalten und sich selbst ein sorgenfreies Leben gesichert. Hosnin bangte, dass die Morgensternbruderschaft das herausbekommen und ihnen das als Beihilfe vorhalten mochte.

"Wann und wo soll dieses Treffen genau stattfinden, Hosnin?" holte Karim seinen jüngeren Bruder aus seinen Grübeleien heraus.

"Wie erwähnt, am frühen Morgen des 28. März christlicher Zeitrechnung. Es geht auf Flugteppichen zu einer Insel mit einem schwer aussprechlichen Namen in der Nähe von Mombasa, Ostafrika. Dort sollen wir uns mit denen aus Tunesien, Algerien, Marokko, dem Sudan, Äthiopien und den anderen einstmals von Europäern kolonisierten Zaubereiministerien treffen", sagte Hosnin.

"Wir müssen vorher mit unseren Nachbarn im Maghreb verhandeln, welche gemeinsame Haltung wir haben, Bruder. Immerhin wurden wir ja schon für den 2. April dieses Jahres auf die einstmals arabisch zivilisierte Insel Malta eingeladen", sagte Karim. "Tja, wenn uns diese blauen Brüder da alleine hinreisen lassen, großer Bruder", seufzte Hosnin Al-Assuani. Karim konnte und wollte darauf keine Antwort geben.

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Diana Camporosso hatte mittlerweile Übung darin, das trotz der eindeutigen magischen Festlegung vorkommende Aufbegehren Deeplooks im ersten Ansatz niederzukämpfen. Die Trägerin des gläsernen Helmes hatte ihr weiteres Vorgehen klar festgelegt. Trotz des Rückschlages, den sie mit Gringotts erlebt hatte wollte sie zur neuen Königin aller Kobolde, später auch der Zwerge aufsteigen und zeitgleich die versprengten und untergetauchten Schwestern des Feuerrosenordens zu einer neuen mächtigen heimlichen Schwesternschaft zusammenbringen, um das eigentliche Ziel Ladonnas zu verwirklichen, die Weltherrschaft aller Hexen in einer Welt ohne diese auf Erdölverbrennung und gezähmter Elektrizität gründenden Maschinengesellschaft.

Sie hatte aus Deeplooks Erinnerungen entnommen, dass es auf der von den zehntausend Augen und Ohren erkundeten Welt mehrere natürliche und durch Menschen- oder Zauberwesenwerk geschaffene Kraftorte der Erde gab, meistens tief in den Leib der allgebärenden Mutter hinabreichende Höhlengefüge.

Deeplook, der in seiner Jugendzeit zwischen 15 und 30 Lebensjahren vom Forscherdrang beseelt war, alle erreichbaren Höhlen Britanniens und Irlands zu erkunden, hatte diese Höhlen in drei Kategorien eingeteilt: Die einladenden Höhlen, wo erdkraftgebundene Wesen mühelos hineingelangen und sich an der dort wirkenden Erdmagie stärken und sie zur Herstellung mächtiger Gegenstände nutzen konnten. Die abweisenden Höhlen, die einen naturmagischen Kraftstein von großer Menge in sich trugen und durch diesen einen ständigen Wirbel und ausstrahlende Erdkräfte erzeugten, der die natürlichen Erdzauberstränge immer wieder veränderte, sodass unmittelbar von Erdmagie abhängige Wesen sich nicht einmal annähern und erst recht nicht eindringen konnten. Die dritte Ausprägung bildeten die gestalteten Höhlen, in denen zauberkundige Menschen, Kobolde, Zwerge oder andere nach außen wirkende Zauber ausführende Wesen ihre Kräfte einlagern und durch ständige Lebenskraftopfer auf sie allein abgestimmte unterirdische Bollwerke erschaffen konnten.

Eine dieser gestalteten Höhlen war jene, in der Ladonna ihren Versammlungsraum der Feuerrosenschwestern eingerichtet hatte. Dort kam sie wegen des ihr auf Lebenszeit angewachsenen Seelenglashelmes nicht hinein. Ob das so bleiben würde wusste sie nicht. Doch sie würde jede Möglichkeit ausnutzen, doch noch dort hineinzugelangen. Jedenfalls würde sie eine von den freien einladenden Höhlen nutzen, um dort das Versammlungszentrum ihrer neuen Schwesternschaft zu begründen. Ebenso wollte sie in weiteren Höhlen neue Stützpunkte des Bundes einrichten. Dazu würde sie das Wissen der Ahnen nutzen, das tief in Deeplooks Erinnerungsschatz eingebettet war und zu dem sie erst Zugang nehmmen wollte, wenn der Bund wieder mehr als ausreichend viele Mitglieder hatte.

Als Diana am 24. März von jenem Treffen afrikanischer Zaubereiministeriumsabordnungen erfuhr flossen ihr sogleich alle Kenntnisse aus Deeplooks eigenem Wissen zu. Die verhüllte Insel war eine ehemalige Vulkaninsel, die vor Jahrtausenden aus dem Meer gewachsen war, das die Neddlwogs Indischer Ozean nannten. Die Zauberstabträger hatten dieses Eiland wegen der dort vorkommenden Anteile mit aufgestiegenen Eisenerz und Gold übernommen und zu einer unsichtbaren Seefestung ausgebaut, die von Neddlwogs gar nicht gesehen und wegen sanfter Umleitungszauber auch nicht mit Booten oder Schiffen erreicht werden konnte. Doch wegen der angewandten Zauber aus Ägypten und dem Zweistromland wirkte das darin steckende Eisen gegenmagnetisch, also drängte die natürlichen Kraftlinien der allgebärenden Mutter zurück. Dadurch umliefen die natürlich entstandenen Stränge der Erdkräfte die Insel in mehr als fünfhundert Koboldschritten abstand und bildeten einen unendlich tief in den Boden hinunterreichenden Schutzwall gegen jene, die entlang der Erdkraftstränge reisen konnten. Ebenso war es nicht möglich zeitlos auf der Insel zu erscheinen oder von dort zu verschwinden, weil die einstigen Kolonialherren Ostafrikas die Antiapparierwallbezauberung um die Insel gelegt hatten. Denn dieses Eiland sollte schließlich auch als Rückzugsort für angegriffene Ministerialzauberer dienen.

Wer im Fluge die Insel erreichen wollte musste ein gewisses Maß starker Flugbezauberung an oder bei sich haben, um durch das Dach der zwölf Winde gelassen zu werden, sofern es kein Vogel oder fliegendes Kerbtier war. Die vier Gebäude auf der Insel waren zudem noch mit anflugsperrzaubern gesichert. Wer dort hinein wollte brauchte die nötigen Schlüssel und musste zu Fuß an die Tore herantreten. Ansonsten blieb ihm oder ihr nur übrig, mehr als zwanzig Schritte von den abgesicherten Grundstücken entfernt zu landen und zu warten, bis einer der dortigen Wachenden ihn oder sie hereinließ.

Diana erfuhr innerhalb eines Augenblickes, dass der alles überwachende Bund deshalb nie auf diese Insel gelangt war und dass er immer erst auf Umwegen aus Gringotts und den Mithörsteinen in der Nähe der ostafrikanischen Ministeriumsstellen erfahren konnte, was auf jener verhüllten Insel besprochen und beschlossen wurde. Offenbar wollten sich die Zauberstabträger genau dort treffen, weil die dachten, dass ihnen keiner der Erdgeborenen zu nahe kommen konnte. Doch sie wussten nicht, dass die neue Lenkerin des erholungsbedürftigen Bundes der gerade nur 300 Augen und Ohren eine gelernte Hexe war, die auf einem Besen reiten konnte und über Ladonna Montefiori auch einen jener aus den USA stammenden Tarnbesen erhalten hatte, solange Ladonna noch die Herrschaft in Nordamerika besessen hatte. Also würde es an ihr selbst liegen, was sie von jener Zusammenkunft erfuhr. Das hieß aber auch, dass sie sich selbst in eine ungewisse Gefahr begeben musste, vor allem die Gefahr, vorzeitig erkannt und gestellt zu werden. Eigentlich sollte es ja noch niemand von den großen Leuten wissen, dass sie, die Trägerin von Deeplooks gläsernem Helm, die Erbin der vergangenen Rosenkönigin war und dass sie alle Geheimnisse des früher allgegenwärtigen Geheimbundes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui in sich trug. Doch was half es? Sie mussten wissen, wie die Zauberstabträger auf die veränderte Lage reagierten.

Diana Camporosso nutzte die Zeit bis zur Konferenz, um sich auf dieses gewagte Unternehmen vorzubereiten. Da die üblichen Mithörsteine wegen der Erdstrangumlenkung nicht benutzt werden konnten wendete die Trägerin des gläsernen Helmes die in der Welt der Zauberstabnutzer übliche Schallverpflanzungsbezauberung aus dem Elementarbereich Luft und Wind an, um eigene Fernhörohren herzustellen, die zumindest die außerhalb von Klangkerkerzaubern gewechselten Worte einfangen und an genau darauf abgestimmte Empfänger weiterreichen konnten. Sie wendete dabei jenen Kunstgriff an, den auch die Mitglieder des Geheimbundes für die erdzaubergebundenen Mithörohren nutzten, nämlich das Einsammeln von Geräuschen und Worten über einen bestimmten Zeitraum und das dann gebündelte, in einem hundertstel der belauschten Zeitspanne zum eingestimmten Empfänger zu schicken. Um möglichst zur selben Zeit wie das gesagte mitzubekommen, was gesagt wurde stimmte Diana die acht aus alten Silberkannen hergestellten Fernhörer auf eine Lauschzeit von je zehn Sekunden pro Durchgang ein. Was erlauscht wurde, sollte dann eben in einer Zehntelsekunde an den Empfänger geschickt werden. Damit konnte sie auch die bestmögliche Ausschöpfung der hörbaren Töne und fließende Lautstärken einbeziehen, was bei längeren Lauschzeiten und entsprechend kürzeren Übertragungstätigkeiten schwierig war, da Luftschallverpflanzungszauber nicht so gründlich waren wie die in erdmagische Schwingungen umgewandelten Geräusche, die über die sonstigen, an sich wesentlich empfindlicheren Mithörsteine weitergeleitet wurden.

Als sie alle dafür nötigen Schritte mehrmals durchgespielt und die acht zu benutzenden Vorrichtungen hergestellt hatte übte sie noch einmal mit dem ihr vermachten Silberbogen des Anhor, um die Abläufe so schnell es ging auszuführen. Im Gefahrenfall musste sie innerhalb von nur zwei Sekunden einen der 100 Todespfeile freiziehen, auflegen und so abschießen, dass er das lebende Ziel traf, um den Feind innerhalb einer Sekunde zu töten, bevor dessen Mitstreiter gewahrten, was da gerade über ihn hereinbrach. Als sie sicher war, dass sie die nötigen Handgriffe nicht nur im Schlaf, sondern auch im Schutz völliger Unsichtbarkeitszauber ausführen konnte lächelte Diana Camporosso. Falls sie es musste konnte und würde sie für jeden Feind zum unsichtbaren Tod werden.

Der Harvey-Besen, den Ladonna damals für sie abgezweigt hatte, um die kleinwüchsige Mitstreiterin nicht nur beweglicher zu machen, sondern sie auch als unsichtbare Kundschafterin einsetzen zu können, wurde mit den von Deeplooks Leuten bereits erkundeten blauen Steinen verziert, die den Zauber der zwölf Winde durchdringen konnten. Immerhin das hatte der Bund der zehntausend Augen und Ohren hinbekommen, selbst wenn Kobolde und Zwerge das Fliegen verabscheuten.

"Wir werden erfahren, was die Abordnungen der Zauberstabträger zu beraten haben. Selbst wenn sie sich in gegen Mithörer gesicherte Räume zurückziehen werden wir genug erfahren, um zu beraten, wie es weitergeht", teilte Diana Camporosso allen afrikanischen Leitwächtern am Vortag der angesetzten Zusammenkunft mit.

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Jophiel Bensalom musste sich sehr zusammennehmen, keine Wut und keinen Unmut zu zeigen. Sie hatten ihn nicht zu jener Zusammenkunft bei Mombasa eingeladen, weil seine älteren Mitbrüder aus Afrika dies für "ihre Vaterlandspflicht" hielten und er aus dem Volk der Juden eben die Belange seines Geburtslandes zu schützen hatte. Jophiel wusste, dass dies auf dem Mist vor allem Ibrahim Musas, Alman Amurs und Ali Barzanis gewachsen war. Diese drei aus Nordafrika stammenden Brüder waren ihm nicht gewogen, weil er es gewagt hatte, die Morgensternbrüder dazu aufzufordern, sich mit anderen den hellen Kräften verbundenen Gemeinschaften zusammenzutun. Gut, gegen Ladonna und den ungenannten Herrscher hatte es eine kurzzeitige Zusammenarbeit gegeben. Aber genau das ärgerte die ältesten drei so sehr, vor allem, dass Jophiel so bereitwillig mit den Töchtern des grünen Mondes zusammengegangen war und dass er sich den anderswo lebenden Nachkommen Ashtarias mehr verbunden fühlte als dem alten Eid der Morgensternbruderschaft. Ja, und die wussten auch, dass Hassans verwaister Silberstern einem Europäer zugefallen war, dem Ashtarias Gunst gewährt worden war und nicht einem von ihnen. Ja, es war bei Allah, Osiris, Wishnu und jedem anderem Gott, an dem in dieser Bruderschaft jemand glaubte nicht einfach, die eigenen Gefühle im Zaum zu halten, selbst für einen Sohn Ashtarias nicht.

"Sie wollen dich und mich auch deshalb nicht dabeihaben, weil sie wissen, dass dein neuer Bruder des Silbersternes unter den Gesandten aus Europa sein wird, Bruder Jophiel", sagte ihm Mehdi Isfahani, der gewissermaßen Leidensgefährte Jophiels. "Ja, und sie wissen auch, dass sie ihn nicht verraten dürfen, weil der Eid besagt, dass sie ein Kind Ashtarias nicht an außenstehende verraten dürfen", erwiderte Jophiel und musste jetzt doch verwegen grinsen. Mehdi Isfahani, der aus dem ehemaligen Persien stammende Morgensternbruder lächelte.

"Denkst du, sie werden dem Al-Assuani-Stamm die Macht am Nil zurückgeben, obwohl der nachweislich mächtige Dinge in unbefugte Hände geraten ließ?" wollte Mehdi wissen.

"Dieses Treffen erst bei Mombasa und dann auf Malta ist die Gnadenfrist, die unsere Brüder Al-Kahiri, Musa und Amur Karim Al-Assuani einräumen. Haben die bis dahin nicht reuevoll gestanden, was sie für die Preisgabe der alten Schätze bekommen haben, so werden sie das wohl vor dem Gericht der freien Familienväter auf der Insel des Ra zu hören kriegen", sagte Jophiel Bensalom. "Oh, das wusste ich nicht, dass Al-Assuanis Verwandte eine Möglichkeit haben, sich reinzuwaschen", erwiderte Mehdi Isfahani.

"Na ja, reinwaschen geht nur mit Wasser, Bruder Mehdi. Aber die aufgebrachten Mitbrüder aus Ägypten, allen voran Al-Kahiri und Amur, zürnen den Al-Assuanis, dass die Kobolde und ihre Gehilfen überhaupt die Schätze des Nils zusammentragen durften. Da werden sie es nicht mit Wasser abwaschen, sondern mit dem Feuer des Zorns und der Vergeltung von ihnen herunterbrennen", sagte Jophiel Bensalom. "Es sei denn, die Al-Assuanis verzichten mit Bluteid auf die Macht am Nil und bitten darum, ihr Geburtsland verlassen und bis zu ihrem Tod nicht wieder betreten zu dürfen", sagte der Perser mit mitleidsvollem Blick. Denn seinem Urgroßvater war genau diese Strafe auferlegt worden, als er sich gegen die Gesetze der magischen Achtheit vergangen und vom geheimen Hofzauberer des Shahs dazu verurteilt worden war, Persien für alle Zeit zu verlassen und weder lebend noch tot dorthin zurückzukehren, wenn ihm nicht die Zerstückelung von Leib und Seele und das Verfüttern seiner sterblichen Überreste an Geier und Schakale widerfahren sollte. Es mochte sein, dass die beiden ältesten ägyptischen Mitbrüder sich noch daran erinnern konnten, wie Mehdis Vater Hussein davon erzählt hatte.

"Verschärfend kommt ja noch hinzu, dass von den erbeuteten Schätzen bereits welche entfernt wurden, als unsere Mitbrüder auszogen, sie aus Italien zurückzuholen und in diese falle einer möglichen dunklen Hexe gerieten, vielleicht Ladonnas vorbestimmter Erbin. Auch deshalb wollen die drei nicht, dass wir zwei bei der Zusammenkunft dabei sind, Bruder Mehdi", vermutete Jophiel. Mehdi bejahte es. Denn auch er hatte davon gehört, dass bereits Gegenstände der sogenannten zwölf Schätze des Nils verschwunden waren, als die Morgensternbrüder die ehemalige Heimstatt Ladonnas aufgesucht hatten. Jophiel dachte daran, ob sein Erbzeichen Ashtarias ihn vor dem großflächigen Betäubungszauber beshützt hätte. Doch weil er eben nicht dabei war blieb diese Frage unbeantwortbar, bis er selbst dieser Macht begegnete.

"So bleibt uns beiden nur die Rolle der duldsamen Gartenfreunde, die dem Werk der Gärtner zusehen und abwarten, wie das von ihnen gesähte wächst und gedeiht", philosophierte Mehdi Isfahani. Dem konnte Jophiel bedingungslos zustimmen.

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Die Hauptstadt von Algerien pulsierte vor Geschäftigkeit, auch zu dieser späten Stunde am ausklingenden 24. März 2007 christlicher Zeitrechnung. In dieser Stadt sollte sich an diesem Abend etwas ereignen, was die Geschichte aller menschlichen Wesen erschüttern mochte.

Winston Homer Offenhouse gehörte zu jenen, die nicht in den täglichen Nachrichten vorkamen. Doch vieles was er tat hatte das Zeug, in den Nachrichten zu landen. Er galt als einer der erfolgreichsten Rohstoffmakler Afrikas und hatte Kontakte in die arabische Welt, nach China, Europa und den USA. Brauchte jemand seltene Erden, er wusste, wer zu fragen war und handelte dann meistens auch den entsprechenden Vertrag aus. Wollte jemand Rohöl einkaufen brauchte er oder sie ihn nur anzurufen und ihm die Liter oder Barrel anzusagen und hatte nur drei Stunden später eine Liferzusage. Ja, und in den letzten Jahren hatte er eine weitere Rohstoffquelle aufgetan, Benutzerdaten von Internetplattformen. Es gab Firmen, die dafür eine hübsche Stange Geld zahlten.

Um selbst möglichst Mobil zu sein besaß er einen stets in Bereitschaft gehaltenen Privatjet mit zwei Piloten und einer Reichweite von bis zu 12000 Kilometern und einen Wagenpark, mit dem er locker zwischen Flughafen und individuellem Reiseziel pendeln konnte.

Gerade weilte Offenhouse in Algier, weil er dort mit saudischen Würdenträgern über einen Handel Öl gegen moderne Elektronik aus dem Silicon Valley reden wollte. Allerdings ging es um geheime Anfertigungen, die die US-Regierung nicht herausrücken wollte. Offenhouse hatte auch läuten hören, dass die Araber nicht die Endabnehmer waren, sondern Zwischenhändler. Doch das kümmerte ihn nicht. Er hatte die Kontakte und konnte vermitteln. Also vermittelte er.

Die Verhandlung mit den diskreten Geschäftspartnern lief nicht so glatt über die Bühne wie er gehofft hatte. Die Araber erzählten ihm was, dass ihre Regierung wegen der Teilnahme am Krig gegen den Terrorismus Abkommen mit den US-Geheimdiensten geschlossen hattenund das Geschäft daher wesentlich riskanter wurde. Offenhouse hatte da schon gedacht, er sei in eine Falle der CIA geraten. Doch es war den Arabern nur um einen anderen Vertriebsweg gegangen. Auch wollten sie mehr von diesen Supergeheimchips und dazu die neueste Software haben, um diese bestmöglich auszunutzen.

Es war am späten Abend, als Offenhouse das mit Abhörsicherungen gespickte Hotelzimmer verlassen konnte. Wie er schon hergekommen war verließ er es durch den Lieferanteneingang, der nicht kameraüberwacht war und bestieg seinen kugelsicheren Mercedes. Da er die Unterredung besonders diskret handhaben wollte verzichtete er für diesen Ausflug auf einen Chauffeur. Nur wenn er mal wieder zu einem diplomatischen Empfang vorfuhr ließ er sich gerne von einem Berufsfahrer kutschieren.

Es war 23:00 Uhr, als er seinen Wagen in die schon einem kleinenAtombunker Ehre machende Tiefgarage lenkte und ihn zwischen dem Porsche 911 und den durchgerostet wirkenden roten Renault R-4 parkte. Den Porsche nutzte er wie viele reiche Männer als Spielzeug für große Jungs, um damit auf den passenden Strecken ordentlich Gas zu geben. Der Renault war eher Tarnung, um auch in die Viertel vorzustoßen, in die erfolgreiche Gentlemen besser nicht reinfahren sollten. Doch manchmal war es ja nötig, auch die untersten Etagen abzuklappern, wenn wer ganz oben was besonderes haben wollte, und sei es billige und verschwiegene Arbeitskräfte, um eine unangemeldete Mine auszubeuten.

Offenhouse zog die Schlüsselkarte für den Fahrstuhl durch den Leseschlitz und wartete, bis die Liftkabine auf seiner Höhe hielt. Mit seinem rechten Daumenabdruck wies er sich als Zugangsberechtigt für eines der drei obersten Stockwerke des Hochhauses aus. Er fuhr an drei weiteren Tiefgaragendecks vorbei, am Erdgeschoss, dann den Stockwerken 1 bis 12a und hielt auf dem Stockwerk 14. Noch einmal musste er sowohl die Karte als auch einen Fingerabdruck benutzen, um eine fast mit der Wand verschmolzene Tür zu öffnen. Ja, diese diskreten Flure waren schon was feines.

Um die eigene Wohnungstür zu öffnen benutzte er einen Schlüssel mit Laserkodierung. Leise summend tat sich die von Servomotoren getriebene Tür nach innen auf. . Jetzt war er zu Hause, zu mindest in seiner algerischen Niederlassung.

Er wollte noch eine Dusche nehmen und dann bis morgen um neun durchschlafen. Um elf Uhr stand ja schon der nächste Termin an. Er genoss die vielfältig dosierbaren und leicht auf bestimmte Temperaturen einstellbaren Wasserstrahlen und seifte sich Schweiß und Staub des Tages vom Körper.

Als er dann in Nachtzeug in das mit zwei schalldichten Fenstern versehene Schlafzimmer trat stutzte er. Er konnte nicht sagen, was genau ihn hier störte, der Geruch, die Stille, das von draußen einfallende Mondlicht? Ja, wieso hatte die automatische Rollladensteuerung die Jalousie nicht heruntergelassen? Ja, und hing nicht ein Hauch von fremdem Parfüm in der Luft? Das letzte mal, wo er Damenbesuch gehabt hatte war schon drei Wochen her, und die leichte Lady hatte da ein herbes Duftwasser benutzt, fast schon zu billig für eine Edelhure. Das hier war eine nicht aufdringliche Kräuteressenz. Seine diskrete Putzfrau Fatma benutzte keine sündhaften Duftstoffe.

Offennhouse fühlte sich plötzlich nicht mehr so wohl in diesem Zimmer. Er hatte den Eindruck, dass es gerade zur Falle wurde. Deshalb blickte er sich hektisch um. Außer dass die Rollläden nicht heruntergelassen waren und ein ihm fremdes Parfüm im Raum schwebte sah er aber nichts, was auf eine Unregelmäßigkeit hindeutete. Er blickte unter das Bett. Da war nichts und niemand, nicht einmal Staub. Fatma hatte also gründlich genug geputzt. Die Möbel standen auch so, wie er sie am morgen noch gesehen hatte. Dann öffnete er den Kleiderschrank und erstarrte.

In dem Schrank hockte eine Frau, dunkelhäutig und leicht bekleidet. Sie blickte ihn vergnügt an, wobei sie ein Lächeln vermied. Dafür blickten ihre großen Augen ihn sehr einladend an. "Schön, dass du endlich gekommen bist. Ich fürchtete schon, ich hätte mich hier umsonst versteckt", sprach die Fremde in einem exotischen Französisch, wie es die Bewohner der Ex-Kolonien benutzten. Offenhhouse starrte auf die unerwartete und deshalb auch ungebetene Besucherin. Sie wirkte so, als wolle sie sich ihm anbieten. Doch wer hatte ihm dieses pikante Überraschungsgeschenk gemacht? Dann verfing sich sein Blick in ihrem, und er fühlte, wie ihm die Kraft schwand. Er sackte fast zu Boden. "O, das ist aber sehr ehrerbietig, vor mir knien zu wollen. Aber ich bin nicht die erhabene Königin, sondern ihre Botin. Und ich habe eine Botschaft für dich, Winston Homer Offenhouse", sprach die andere weiter. Er merkte, wie sein Bewusstsein immer mehr schwand. Diese Fremde konnte ihn innerhalb einer Sekunde hypnotisieren. Normalerweise müsste er jetzt dagegen ankämpfen, die Unbekannte festnehmen und der Polizei ausliefern. Doch er konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. Er hörte sich wie ein Schlafwandler fragen: "Was für eine Botschaft hast du?"

"Morgen abend eine Stunde nach Sonnenuntergang sind du und dein Pilot am Flughafen und deine Gulfstream für einen Flug über den Atlantik vollgetankt und durchgecheckt. Am Flugzeug wirst du auf zwei andere Damen und zwei Herren warten. Mit denen fliegst du nach New York! Schaffst du das, sollst du nach deiner Rückkehr eine große Belohnung erhalten. Schaffst du es nicht, wirst du den Sonnenaufgang von Übermorgen nicht mehr erleben. Nein, du wirst niemandem sagen, dass du mich hier getroffen hast! Du wirst denken, mich nur geträumt zu haben. Du wirst aber einen Flugplan für dich alleine einreichen, weil du unbedingt mit einem Geschäftspartner in New York zusammentreffen willst, ohne dass das wer mitbekommt. Dazu wirst du vier Berater mitnehmen."

Offenhouse fühlte, wie die Worte der Fremden in ihn eindrangen und sich in sein Gehirn einbrannten. Dann hörte er die letzten Befehle der Fremden: "Lege dich hin und schlafe dich aus! Doch erfülle den Auftrag meiner Königin! Schlafe und erhole dich und erfülle den Auftrag meiner Königin!"

Offenhouse fühlte, wie er wie an unsichtbaren Fäden geführt zu seinem Bett hinging, es aufschlug, sich hineinlegte, sich in seine bevorzugte Einschlafstellung legte und die Augen schloss. Er hörte schon nicht mehr, wie die Frau im Kleiderschrank aus eben diesem schlüpfte und mit katzenhaft lautlosen Schritten das Schlafzimmer verließ. Er hörte nicht mehr, wie sie ganz leise die Tür schloss und durch die Wohnung schlich um den kleinen Schalter neben der einbruchssicheren Wohnungstür zu drücken. Leise surrend schwang der Servomotor die schwere Tür auf. Die Unbekannte aus dem Schrank huschte durch den geheimen Gang und wählte dann den Abzweig zum Nottreppenhaus. Sie wollte nicht riskieren, dass die Überwachungszentrale an den Protokollen der Fahrstühle ablas, wann wer damit noch unterwegs war.

Die unheimliche Besucherin eilte so leise sie konnte die Treppen hinunter bis zum Erdgeschoss. Dort lauschte sie, ob draußen jemand warten mochte. Sie hörte und fühlte niemanden. So verließ sie das Haus durch den Notausgang, der auf eine weniger ansehnliche Seitenstraße führte. Dort suchte sie ein sorgfältig angekettetes Motorrad auf. Sie löste den auf demGepäckträger festgezurrten und mit zwei Bügelschlössern gesicherten Rucksack. Diesem entnahm sie eine schwarze Motorradkluft für Frauen und einen dunkelroten Helm mit getöntem Visier. Als sie das alles angelegt hatte öffnete sie das Kettenschlossund saß auf. Die gesondert schallgedämpfte Maschine erwachte mit sattem Brummen zum Leben. Im nächsten Augenblick preschte die Maschine davon.

Unterwegs dachte Blutstern, die Botin der Königin, wie schwächlich doch alle Rotblütler waren. Es war so leicht gewesen, einen der Hausverwalter mit ihrem Unterwerfungsblick zu bannen und ihm vorzugaukeln, sie müsse zu Offenhouse, weil sie eine ganz diskrete Besprechung mit ihm habe. Sein verwegenes Grinsen hatte sie wohl gesehen. Doch wichtig war ja nur, dass er ihr alle Türen aufgemacht hatte und er jetzt schon nicht mehr wusste, dass er sie in Offenhouses angeblich völlig einbruchssicheres Heiligtum eingelassen hatte.

Weil sie sich aufs Fahren konzentrieren musste konnte sie ihre Königin noch nicht über den ersten Erfolg unterrichten. Das tat sie erst eine Stunde später, als sie die "geborgte Maschine" wieder bei dem Geschäft abstellte, von wo sie sie am Abend mitgenommen hatte. Danach sendete sie ihrer Königin, was sie unternommen hatte und wie es weitergehen sollte. Die Königin war mit ihr bis dahin zufrieden. "Dann werde ich jene Diener ausschicken, die die Sprache namens Englisch beherrschen. So soll mein Reich wachsen. Melde mir, wenn dein auserwählter Eisenvogellenker mit den vieren in der Luft ist und suche dann nach jemandem, der oder die Verbindungen zum nördlichen Erdteil hat und beauftrage auch diesen Rotblütler, vier geheime Reisegäste mitzunehmen, die nicht unmittelbar auf dem Meer reisen wollen!" erwiderte die Stimme der erhabenen Königin in ihren Gedanken.

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Elysius Davidson rief am Morgen des 25. März alle seine mit der nichtmagischen Welt beschäftigten Mitarbeiter zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Darunter waren auch Jeff Bristol und Brenda Brightgate, die beide in der nichtmagischen Welt für tot und beerdigt gehalten wurden, sowie Martha Merryweather, die seit ihrem Rauswurf aus dem US-Zaubereiministerium die elektronische Nachrichtenüberwachung für das Marie-Laveau-Institut leitete.

"Jetzt ist es schon bald ein Jahr her, wo Sie, Miss Brightgate und Sie, Mr. Bristol, auf Grund von Ladonnas Machtergreifung Ihren Tod vortäuschen mussten", setzte Davidson an. "Seitdem sind die wichtigsten nichtmagischen Ermittlungs- und Nachrichteninstitutionen ohne unsere Überwachung. Gingen wir zunächst davon aus, dass dieser taktische Rückzug keine nennenswerten Nachteile für uns barg belehrte mich unsere Kollegin Martha Merryweather eines besseren. Bitte, Martha, berichten Sie, was Sie herausgefunden haben und welche Auswirkungen Sie für wahrscheinlich halten!"

Martha Merryweather, gerade auch erst wieder aus der Babypause zurück im Beruf erläuterte den derzeitig nur im Untergrund tätigen Kolleginnen und Kollegen, dass sie Anzeichen dafür gefunden hatte, dass die Gefahr für die Zaubereigeheimhaltung größer denn je war. Zwar verhinderten die aus Japan eingehandelten Gürtel, die Elektronische Bild- und Tonaufzeichnungen löschen oder verfremden konnten, dass es bereits zu weltweiten Diskussionen über gesichtete Drachen, Meermenschen oder Werwölfen gekommen sei. Ebenso hatten sie und alle in Zaubeereiministerien tätigen Arkanetvertrauten Nachrichtenüberwachungsprogramme in Internetknotenpunkte eingeschleust, die auf die Zaubererwelt hinweisende Meldungen, Bild- und Tonaufzeichnungen abfingen, löschten oder falls nur Text derartig umänderten, dass sie für überbordende Phantasie oder unglaubhafte Verschwörungserzählungen gehalten wurden. Doch es mehrten sich die Anzeichen, dass gerade die Werwölfe der Mondbruderschaft aus ihrer Verborgenheit zurückkehren würden. Offenbar, so Martha und blickte einen der anderen Kollegen an, musste die Machtverteilung innerhalb jener Organisation neu geregelt werden. Wer da nun was zu sagen hat wissen wir noch nicht. Wir müssen aber davon ausgehen, dass sich die Werwölfe und die Vampire, ja auch jene unheimlichen Schattengeister bald wieder rühren werden. Was in der deutschen Stadt Oberhausen in Nordrhein-Westfalen geschehen war hätte beinahe alle Sicherheitsvorkehrungen zur Geheimhaltung der Zauberei unwirksam gemacht. Deshalb habe ich Direktor Davidson und Vicedirektrice O'Hoolihan vorgeschlagen, dass wir nun, wo Ladonna keinen Einfluss mehr auf die US-Zaubereiverwaltung hat, unsere mit nichtmagischen Behörden und Nachrichtenverbreitern befassten Kollegen an neuen Punkten ansetzen, um auch vor Ort eingreifen zu können, wenn verdächtige Meldungen aufkommen. Allein schon die Hilfe von Kollegin Brenda Brightgate bei der Tarnung jener Sichtung eines orientalischen Luftgeistes an der irakisch-türkischen Grenze und die damit verbundene Enthüllung eines beinahe zur Katastrophe gewordenen Planes eines einzelnen Geisterbeschwörers zeigt, wie wichtig es ist, auch Leute vor Ort zu haben. Der Kollege Bristol saß dort, wo er war auch ganz gut und konnte sogar enthüllen, dass es in der nichtmagischen Welt eine illegale Organisation gibt, die weltweit vernetzt ist und sich nichts geringeres als die Weltherrschaft zum Ziel setzt. Sein von Direktor Davidson als taktischer Rückzug bezeichnetes Absetzmanöver beraubte uns leider der Möglichkeit, die Einflussversuche der Führungspersonen jener Organisation auf die Nachrichtenverbreitung der New York Times zu verfolgen. Natürlich können wir nicht so tun, als habe es die Todesfälle nicht gegeben und alles auf den Stand von vor dem dritten Mai 2006 zurückdrehen, auch wenn ich hörte, dass es wahrhaftig ein magisches Artefakt gibt, mit dem jemand in die Vergangenheit zurückkehren kann. Aber bei der Gelegenheit erfuhr ich auch, dass jeder Eingriff in vergangene Zeiten gefährliche Ausmaße annehmen kann. Das deckt sich auch mit allen Überlegungen, die ich aus meiner eigenen Vergangenheit aus Fiktionen, die Zeitreisen beinhalten kenne. Also gilt es, aus der Gegenwart heraus neue Möglichkeiten zu entwickeln, um in Behörden wie dem FBI, der CIA, der NSA und anderen Überwachungs- und Ermittlungsbehörden tätig werden zu können, sollte sich die magische Welt in juristischer Person von Vita Magica, den Werwölfen oder den Dienern jener Vampirgötzin der nichtmagischen Methoden und Behörden bedienen, um eigene Machtansprüche durchzusetzen. Gerade die überstandene dunkle Ära Ladonna Montefiori zeigt überdeutlich, wie schnell jemand mit genug Skrupellosigkeit und Kenntnissen über die nichtmagische Welt erst Chaos anrichten und dann eine eigene, für die allermeisten Menschen unerträgliche neue Ordnung schaffen kann."

"Ja, und Sie denken, Sie könnten uns alle wieder in wichtigen Anstellungen unterbringen, Martha?" fragte Jeff Bristol skeptisch. Martha Merryweather wiegte den Kopf und sagte: "Ich musste lernen, dass auch eine Hexe nicht alles mit einem Zauberstabwink erledigen kann, vor allem, wenn die Leben und Verhaltensweisen von abermillionen Menschen betroffen sind. Was ich jedoch tun kann ist, alle elektronisch erfassbaren und nachprüfbaren Angaben zu jeder neuen Lebensgeschichte, meinetwegen auch Legende, bereitzustellen. Gut, jetzt weiß ich auch, dass jene skrupellosen Verbrecher, die die Times als Verbreiter ihnen genehmer Nachrichten missbrauchen, Jeff, mittlerweile nachprüfen, ob es außer Ihrer Identität als dunkelhäutiger Mitarbeiter noch andere doppelt oder dreifach existierende Identitäten gibt. Ich musste selbst sehr aufpassen, um nicht von diesem sauberen Geschwisterpärchen ermittelt zu werden, als ich herausbekam, dass da jemand Ihre zehn Ausweichidentitäten herausgefunden hat."

"Na toll", knurrte Jeff Bristol. "Dann kann ich meine Wechselarmbanduhr gleich in die Verschrottung geben."

"Nein, müssen Sie nicht", erwiderte Martha Merryweather. "Ich erwähnte, ich musste selbst sehr genau aufpassen, dass mich dieses kriminelle Geschwisterpaar, das sich auch ohne Magie für alle Welt für tot und begraben ausgibt, nicht erwischt. Ich beziehe mich dabei auf meine Gegenmaßnahmen, um Ihre zehn Ausweichidentitäten als Testlauf der CIA zu verkleiden, angeregt durch einen gewissen Ira Waterford, zuständig für Spionageabwehr und Infiltration in feindlichen Landen. Er hat Phantomidentitäten erschaffen, so habe ich es hingedreht. Ihre zehn Ausweichidentitäten sind nur zehn von jetzt an die 200. Ob Claudia oder Cesare Campoverde jetzt den Triumph feiern, eine ganz geheime Datenbank der CIA geknackt zu haben weiß ich nicht. Ich weiß jedoch, dass Sie, Jeff, weiterhin mit einer der Identitäten handeln können, allerdings sollten Sie das nicht in New York tun, sondern vielleicht in Washington."

"Zweihundert Doppelidentitäten?" fragte Jeff Bristol. "Wie haben Sie das denn so schnell hinbekommen?" wollte er noch wissen. "Schnell war dafür, dass ich fast ein Jahr Zeit hatte gar nicht nötig. Dafür konnte ich es gründlich tun. Ich habe die Datenverfremdungssoftware der NSA und der CIA benutzt und ein von mir vor drei Jahren erarbeitetes Programmpaket namens Chamaeleonklon damit verknüpft, das ich für die Verfremdung von Zaubererweltidentitäten in der nichtmagischen Welt entwickelt habe. Ich habe die Theorie ausgenutzt, dass jeder lebende Mensch auf der Erde mindestens einen äußerlich identischen Doppelgänger haben mag, auch wenn die Wahrscheinlichkeit von milliarden unterschiedlichster Menschen durch die Kodierung in der DNA gegeben ist. Doch weil es ja nicht milliarden von unterschiedlichen Fortpflanzungspaaren gab, sondern viele miteinander blutsverwandt sind ... gut, mag jetzt zu theoretisch sein. Jedenfalls fallen Ihre zehn Ausweichidentitäten jetzt mit 190 reinen Phantomdopplungen zusammen. Ich werde um den Anschein, dass diese auch immer mal wieder verwendet werden das neue Programm für virtuelle Spuren benutzen, um die eine oder andere Identität hier und da in der Welt auftreten zu lassen, natürlich harmlos genug, dass die Campoverdes dem nicht immer nachgehen, ja irgendwann davon eingelullt werden, dass weitere Meldungen auch nur harmlose Aufträge zur Überwachung oder Informationsbeschaffung sind. Sie können also unter einer äußeren Erscheinungsform aus Ihrem Auswahlrepertoir in einer Behörde oder Medienfirma mit nationalem und internationalem Gewicht anfangen, sofern Direktor Davidson dies genehmigt. Ja, Brenda, ich höre Sie schon einwenden, dass es Jahre und sehr sauber vorgelegte Unterlagen braucht, um eine wasserdichte Legende zu stricken, mit der jemand bei einem Geheimdienst wie der CIA angestelltwird, eben gerade weil diese sogenannte Firma auf Auskundschaften, falsche Identitäten und Furcht vor feindlicher Infiltration alle Methoden kennt, um falsche Legenden zu enthüllen. Aber Sie haben es damals auch ohne mich und das Internet geschafft, dort Fuß zu fassen. Daher denke ich, dass es auch diesmal keine Jahre dauert, um sie erneut dort unterzubringen, vielleicht noch nicht in der Zentrale in Langley selbst, aber in einem sogenannten Feldbüro der CIA in den Staaten oder Mexiko. Dort könnten Sie mit Ihrer Erfahrung und den von mir entwickelten Werkzeugen auch an Daten in der Zentrale gelangen und diese entweder nur sichten oder im Sinne der Ziele des Marie-Laveau-Institutes abändern."

"Ich habe trotz Gedächtniszauber, Dokumentenverfremdung und angeblichen Zeugen meiner Tätigkeiten, wobei es da natürlich nicht all zu viele geben durfte, an die zwei Jahre gebraucht, um mich in Langley unterzubringen. Dabei glaubte die Firma auch, ich hätte drei Jahre im Feldeinsatz in Südamerika gearbeitet und hätte sogar mit Widerstandsgruppen auf Kuba in Kontakt gestanden. Natürlich weiß ich, wie verdammt wichtig mein Job war und dass ich den nur deshalb aufgegeben habe, weil die Gefahr an einer brennenden Rose schnuppern zu dürfen damals zu groß war", erwiderte Brenda Brightgate. Dann rückte sie damit heraus, dass sie bereits erste Schritte unternommen hatte, sich eine neue Anstellung zu sichern, ja und eben nicht als Mitarbeiterin Brenda Brightgate, sondern als Feldeinsatzkoordinatorin Deborah Mills. Sie arbeitete bereits seit fast einem Jahr an allen Details, um nicht nur eine Legende zu haben, sondern im Bedarfsfall auch Zeuginnen und Zeugen ihrer Tätigkeiten vorweisen zu können. "Vielleicht komme ich auf diese Weise auch in den Genuss einer Beförderung ins Hauptquartier, wo ich dann nur auf den neuen Kollegen Nicholas Woodworth aufzupassen habe, seitdem Ira Waterford als vermeintlicher Todesschütze im Fall Brenda Brightgate eine andere Abteilung hatte suchen müssen, weil man doch nicht ganz auf ihn verzichten wollte."

"Falls Direktor Davidson dies erlaubt kann und werde ich Ihnen gerne bei der Absicherung Ihrer neuen Lebensgeschichte und Qualifikationsnachweise helfen", bot Martha Merryweather der Kollegin Brightgate an. Davidson nickte zustimmend, wandte jedoch ein, dass sie das bitte so machen sollten, dass keine US-Zaubererweltbehörde davon Wind bekam. Damit war es quasi amtlich, dass alle, die bereits in der Außenwelt, sozusagen im Feldeinsatz gearbeitet hatten, neue Aufgaben erhalten sollten, um in der nichtmagischen Welt auf Ereignisse aus der Zaubererwelt zu reagieren. Davidson stellte noch klar: "Auch wenn es nun von der Gnade der zehn großen Familien der USA her zu einer Neuauflage des magischen Kongresses der USA kommt müssen wir unsere Eigenständigkeit und unsere eigenen Netzwerke pflegen und notfalls gegen eben diesen Kongress verteidigen. Denn eines dürfte auch klar sein, der neue Makusa kann und wird vordringlich die Interessen seiner größten Gönner bedenken und umsetzen. Das werden jene, die vorher im gesamten Zaubereiministerium oder der nordamerikanischen Zaubererweltföderation tätig waren zu spüren bekommen."

"Ja, und die menschenfeindlichen und weltherrschaftsgierenden Einzelwesen und Gruppierungen werden sich nicht davon beeindrucken lassen, ob sie im Sinne jener zehn großen Familien handeln oder nicht", fügte die Vicedirektrice Sheena O'Hoolihan hinzu. Damit stand fest, dass nun mit Nachdruck an der Neuausrichtung und Neuvernetzung des LIs in der nichtmagischen Welt gearbeitet wurde. Nur zu sichten, was dort vorging reichte bald nicht mehr aus.

Jeff Bristol räumte ein, dass er in einer FBI-Niederlassung vielleicht doch wieder besser untergebracht war als bei einer Zeitung, auch und vor allem, weil er dort gleich an der Quelle saß, statt erst einmal darauf warten zu müssen, dass etwas ruchbar wurde. Er erinnerte in dem Zusammenhang an den Versuch der Vampirsekte, das FBI zu infiltrieren. Dieser Versuch konnte mittlerweile wiederholt worden sein oder irgendwann wieder unternommen werden, da längst noch nicht genug VBR-Kristalle bestanden, um jede FBI-Zweigstelle gegen einfache Vampire abzusichern. Quinn Hammersmith, der wegen der ihn auch betreffenden Beratung über neue Jobs in der nichtmagischen Welt zugegen war wandte ein, dass ja jetzt auch die halbe internationale Heilerwelt die Rezeptur für VBR-Kristalle erhalten hatte. Offenbar wollte er nach Mitgefühl fischen. Doch die Vicedirektrice O'Hoolihan würgte das ab, indem sie sagte: "Was kein Schaden für uns ist, sondern womöglich hilft, möglichst viele davon herzustellen, Kollege Hammersmith."

Davidson erarbeitete nun mit allen Anwesenden genaue Vorgehensweisen, wann und wie sie in neue Feldeinsätze geschickt werden konnten. Ihm und seinen Mitarbeitern war klar, dass sie schon zu viel Zeit vergeben haben mochten.

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Die Gulfstream von Offenhouse stand startbereit vor dem Hangar auf dem Flughafen von Algier. Der diensthabende Pilot Clark Simpson hatte die letzten vorbereitenden Funktionsprüfungen abgeschlossen. Die Tanks waren für einen Flug bis New York gefüllt.

Simpson hatte nur gehört, dass er sich für einen Transatlantikflug bereithalten sollte und dass er einen "dringenden Nachtflugplan" einreichen sollte, um noch während der Nachtstunden nach New York zu reisen. Er hoffte, dass er noch vor dem Start erfuhr, warum sein Dienstherr diesen dringenden Nachtflug antreten wollte. Er konnte ihn nicht direkt danach fragen, sondern höchstens, ob Offenhouse einen eigenen Wagen am Flughafen John F. Kennedy erwartete oder von seinem Geschäftspartner abgeholt wurde. Im größten Glücksfall konnte er diesen Geschäftspartner sogar noch sehen. Aber spätestens zwei Stunden nach der Landung sollte Simpson alle ihm ohne auffällig zu fragen erhältlichen Inforrmationen zusammenhaben.

Auf seiner Bruch- und Stoßsicheren Fliegerarmbanduhr mit beleuchtbarem Zifferblatt war es jetzt 22:00 Uhr Ortszeit in Algerien. Da sah Simpson den Mercedes seines Dienstherren an den Abflugbereich für Privatmaschinen heranfahren. "Wer gut schmiert, der gut fliegt", dachte Clark Simpson. Der Mercedes rollte auf einen der Stellplätze für Kurzparker. Ein Chauffeur öffnete Offenhouse die Hintertür. Der Rohstoffmakler stieg mit einem feuerfesten Aktenkoffer aus. Der Fahrer klappte den Kofferraum auf und wuchtete einen schwarzen Hartschalenkoffer mit Rollen heraus.

"Offenhouse sah Simpson vor der Gulfstream stehen und winkte ihm zu. Simpson machte das Zeichen für "alles in Ordnung". Mit weit ausgreifenden Schritten eilte der gebürtige Brite, der wenn er musste mehrere englische Akzente sprechen konnte, auf die Maschine zu. Simpson sah, wie der Chauffeur den schwarzen Reisekoffer über die Betonplatten zog. "Ah, Captain Simpson. Schön, dass alles geklappt hat", grüßte Offenhouse seinen Piloten. Dieser nickte erneut und meinte, dass die algerische Luftaufsichtsbehörde heute einen guten Tag gehabt habe. Das hieß, dass die Dringlichkeitsgebühr und die Vorrangbehandlung der Gulfstream weniger als sonst gekostet hatte. "Wollen wir nur hoffen, dass die FAA diesen dringendenFlug auch ohne weitere Nachfragen angenommen hat", sagte Offenhouse. "Na ja, wo Sie mir gesagt haben, ich sollte auf die Dringlichkeisstufe eins verweisen, die Sie mit unserem Agenten bei denen ausgehandelt haben ging es. Wir können jetzt ohne weitere Formalien nach NY hinüberfliegen. Soll ich dann gleich wieder für den Weiterflug auftanken lassen oder wird Ihre Unterredung länger als einen Tag dauern?"

"Das mache ich davon abhängig, was meine vier Berater mir raten", sagte Offenhouse. Simpson stutzte. Welche Berater? Offenhouse fügte noch hinzu: "Für diese Unterredung habe ich noch vier Personen engagiert, die sich mit dem Thema auskennen und auch Kontakte haben. Eigentlich sollten die schon hier am Flughafen sein."

"Das heißt, wir nehmen vier Passagiere mit?" fragte Simpson. Offenhouse bejahte es und fragte, ob das wegen der Tankfüllung in Ordnung gehe. "Ichhabe Reserve für 200 Kilometer eingerechnet. Mit den Passagieren könnte die auf 100 Kilometer schrumpfen, Sir", sagte Simpson. "Soll ich da nicht besser nachtanken?"

"Nein, die 100 Kilometer reichen völlig aus. Oder liegt eine Wetterwarnung vor?" Simpson erwähnte, dass sie mit keinen nennenswerten Turbulenzen zu rechnen hatten, sofern sie auf einer Flugfläche von über 9000 Metern bleiben durften.

Simpson blickte sich um, wo denn die gerade eben angekündigten Zusatzpassagiere herkommen würden. Dabei bekam er nicht mit, wie vom Hangar her zwei Frauen und zwei Männer auf die Gulfstream zumarschierten. Als er sie sah und sich wunderte, warum die nicht schon längst bei ihm gewesen waren fing er den Blick einer der beiden Frauen im hautengen Kleid auf und erstarrte. Er konnte sich einfach nicht mehr bewegen, bis die vier auf seiner Höhe waren. "Wir wurden angekündigt", sagte einer der Männer zu Offenhouse. Dieser nickte. Dann sagte die Frau, die Clark Simpson mit ihrem Blick zum Stillstehen zwang: "Wenn alles vorbereitet ist fliegen wir jetzt los." Simpson bejahte es mit einer Stimme, als stehe er unter Drogen oder sei in Trance.

"Du wirst uns fliegen, ohne zu fragen, wer wir sind und was wir am Ziel vorhaben!" befahl die Frau mit der nicht ganz dunklen Hautfarbe. Simpson bejahte es. "Los, einsteigen, bevor hier noch wer neugierig wird", sagte der zweite unbekannte Mann. Seine Begleiterin sprach derweil mit dem Chauffeur, der den Reisekoffer ans Flugzeug bugsierte. Weil Simpson gerade keinen freien Willen mehr hatte konnte er nicht erkennen, dass auch Offenhouses Chauffeur einen nun geistesabwesenden Eindruck machte. Dass die mit diesem sprechende Frau mal eben den schweren Hartschalenkoffer hochhob und wie einen leeren Pappkarton in den Laderaum der Gulfstream warf nahm er wie in einem Traum zur Kenntnis. Dann kam noch einmal der Befehl, nun einzusteigen. Er wunderte sich nicht mal, dass die vier anderen kein Gepäck mithatten. Er führte nur noch unmittelbar gegebene Befehle aus wie ein Roboter.

Als alle in der Maschine waren blieb die Frau, die ihn durch ihren ultraschnell hypnotischen Blick gebannt hatte im Cockpit, während die drei anderen unheimlichen Zusatzpassagiere mit Offenhouse in die für bis zu zehn Pasagiere ausgelegte Kabine gingen.

"Gullfstream Golf Yankee Bravo fünfer drei für Flug mit Ziel New York JFK bereit", meldete Simpson über Funk. Der Tower antwortete: "Ist alles in Ordnung bei Ihnen, Gulfstream Golf Yankee Bravo Fünfer drei? Sie klingen leicht geistesabwesend." "Alles in Ordnung", erwiderte Simpson, der jetzt wieder einen Gutteil seiner Willensfreiheit zurückerhielt. Doch der Befehl, nichts über die vier zusätzlichen Passagiere zu verraten blieb wirksam. "Hatte schon gedacht, Sie wären zu Müde", erwiderte die Stimme aus dem Tower. "Öhm, Gulfstream Golf Yankee Bravo fünfer drei, Sie haben Rollerlaubnis bis Startbahn drei. Starterlaubnis in von jetzt an zehn Minuten. Guten Flug!" "Danke Algier Tower. Rolle zu Startbahn drei und erwarte Startfreigabe in zehn Minuten", bestätigte Simpson und ließ die Triebwerke anlaufen.

Der Privatjet schob sich aufs Rollfeld und fuhr mit gemäßigtem Tempo bis zur Startbahn drei. Dort musste sich die kleine Maschine in eine Warteschlange einreihen. Größere Maschinen wollten noch vor ihr starten. Simpson fühlte wieder den Blick und die damit verbundene Kraft, die seinen freien Willen lähmte. "Wenn die Abflugerlaubnis kommt ohne große Bestätigung losfliegen!" bekam er den Befehl.

Als auch das letzte der vor ihm eingereihten Flugzeuge auf die Startbahn fuhr und mit vollem Schub die nötige Geschwindigkeit zum abheben gewann richtete Simpson die Nase der kleinen Maschine zur Mitte der Startbahn aus. Dann erhielt die Gulfstream mit dem Rufzeichen Golf Yankee Bravo fünf drei die Startfreigabe. Simpson bestätigte mit "Roger. Start erfolgt!" und gab vollen Schub auf die Triebwerke. Nur eine halbe Minute später stieß die Maschine im 45-Grad-Winkel nach oben. Das Fahrwerk zog sich in den Bauch der Gulfstream zurück. Simpson erhielt noch Anweisungen für die freigehaltene Flughöhe und bestätigte mit einem simplen "Roger!" Dann brachte er seine Maschine auf den Kurs nach New York. ER dachte nicht daran, dass er eigentlich vor dem Start noch wem hätte mitteilen müssen, wo er hinflog und falls bekannt auch zu wem genau.

Als die Maschine auf der zugewiesenen Flughöhe war und der Kurs für die nächsten vier Stunden anlag schaltete Simpson den Autopiloten ein und meldete das der Luftraumüberwachung Nordafrikas. Hier sprach er wieder frei von jeder geistigen Trägheit. Die neben ihm sitzende Frau hatte offenbar mitbekommen, dass es auffiel, wenn sie den Piloten unter ständiger Willenskontrolle hielt. Doch sie war sich wohl ihrer Sache sicher genug, um Simpson auch mal frei handeln und sprechen zu lassen.

Simpson fand nun Zeit, darüber nachzudenken, was er da gerade erlebte. Er beförderte vier unangemeldete Passagiere im Flugzeug seines offiziellen Dienstherren über den Atlantik. Eine von denen hatte ihn unter eine Art Blitzhypnose gesetzt und führte ihn nun wie ihre persönliche Marionette. Doch wenn er versuchte, sich gegen diese Behandlung zu wehren hörte er immer wieder ihren Befehl, niemandem was zu verraten und sie einfach nur zu fliegen. Als er dann doch daran dachte, dass er jemandem bestimmtes eine >Meldung machen musste wusste er, dass es jetzt zu spät dafür war und dass diejenige, die neben ihm saß, das garantiert mitbekam. Jemand hatte ihn und Offenhouse überrumpelt. Nicht Offenhouse hatte was geplant, sondern jemand hatte ihn instrumentalisiert, um vier Leute nach Amerika zu kriegen. Genau das sollte eigentlich jemand bestimmtes erfahren, um womöglich ein Empfangskomitee bereitzustellen. Doch der Befehl, es nicht zu verraten überlagerte seine Loyalität dem eigentlichen Auftraggeber gegenüber.

"Du machst einfach deine Arbeit, Pilot! Dann wird dir und den deinen nichts geschehen", sagte die Fremde auf dem Copilotensitz. Er wollte schon ansetzen, sie nach dem Namen zu fragen. Doch da griff der ihm bereits erteilte Befehl, nicht nach den Namen der Passagiere zu fragen. Er lauschte über das Arbeitsgeräusch von Triebwerken und Klimaanlage hinweg auf das, was in der Kabine gesagt wurde. Doch dort herrschte völliges Schweigen. Er machte anstalten, aufzustehen und nach hinten zu gehen. Doch die ihm zugeteilte Aufpasserin wollte das nicht. Sie hielt ihn mit einer Hand sicher fest und zwang ihn durch direkten Blickkontakt, auf seinem Platz zu bleiben. "Wenn du nichts auszuscheiden hast bleibst du auf diesem Sitz und überwachst den Flug", sagte sie. So entspannte er sich und lehnte sich in seinem Pilotensitz zurück.

Als sie über dem Atlantik flogen konnte Simpson den Mond und die hellsten Sterne als Spiegelung tief unter sich erkennen. Er hatte das schon ein paarmal erlebt, wenn er Nachtflüge machte, dass das Meer oder eben der Ozean heller aussah als die nicht spiegelnde Landmasse eines Kontinentes. Nur da wo Städte mit ausreichender Elektrizitätsversorgung waren hoben diese sich als große Lichtflecken aus der Dunkelheit hervor. Vielleicht überflogen sie auch auf dem Ozean fahrende Schiffe. Dann mochten deren Positionslichter als winzige, rot-grüne Punkte auf der spiegelnden Oberfläche glimmen.

Simpson wusste nicht, wer die vier Unbekannten waren und dass diese vor dem Abflug bangten, dass die Reise über eines der großen Weltmeere ihnen Kraft entziehen mochte. Doch als sie in mehr als zehntausend ihrer eigenen Körperlängen Höhe über das Meer dahinflogen verspürten sie keine Auswirkungen. Die ständig im Fluss gehaltenen Wogen konnten ihnen hier oben nichts anhaben. Wichtig war für sie nur, dass dieser eiserne Vogel schnell genug den anderen Erdteil erreichte, bevor die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont tasteten.

Die Zeit verging. Die vier Passagiere wussten nun, dass sie in dieser Flughöhe weit genug über allen fließenden Wassern keine Auswirkungen zu fühlen brauchten. Selbst der von Blutstern erwähnte mächtige Meeresstrom, der östlich der Küste Amerikas verlief, mochte ihnen in dieser Entfernung zur Wasseroberfläche nichts anhaben. Was sie jedoch besorgte war die Frage, ob sie weiterhin mit ihrer Herrin in geistiger Verbindung bleiben konnten oder ob sie nach der Ankunft am Ziel auf sich selbst gestellt sein würden, in einer fremden Umgebung, in der sie auf keinen Fall willkommen waren. Doch nun war es zu spät, um darüber weiter nachzudenken.

Wie stark jener Golfstrom war bekamen sie jedoch zu spüren, als die Gulfstream über dessen Breite vor der amerikanischen Ostküste dahinflog. Es war, als sauge ihnen jemand bedächtig Kraft aus den unteren Körperteilen, nicht zu stark, um davon gelähmt oder gar bewusstlos zu werden. Doch sie fühlten, dass dort unten viel mehr Wasser im Fluss war als sie jemals hätten erwarten können. Dann war das Flugzeug über den Golfstrom hinweg. Die an ihnen saugende Kraft fließenden Wassers ebbte ab. Doch dafür wurde der mit aller Anstrengung niedergehaltene Blutdurst immer stärker. Die vier heimlichen Auswanderer spürten, dass sie nicht all zu lange warten durften, um ihren durch den Kraftraub gestiegenen Trieb zu befriedigen. Sie erbebten und blickten gierig auf den schlafenden Winston Offenhouse hinunter. Der war zwar kein ehrenvoller reinblütiger Bewohner von Akashas Land. Doch sie mussten ihn ja nicht zu ihrem Artgenossen machen. Aber Blutstern hatte als Botin ihrer Königin befohlen, ihn nur dann anzurühren, wenn er sich den Befehlen der Königin widersetzte. Bisher hatte er das nicht getan. Außerdem war es nur einer. Der würde sie nicht alle satt bekommen. Wenn sie den Lenker der Maschine auch noch zur Ader ließen war keiner da, der die Flugmaschine landete. In dieser Höhe auszusteigen und aus eigener Kraft zu fliegen war unmöglich, weil die Maschine viel schneller flog als sie selbst konnten und in dieser Höhe zu wenig Luft war, um mit eigenen Flügeln darin zu fliegen. Sie müssten erst einmal viele tausend Längen nach unten. Aber da lauerte das Meer, und wie stark seine Strömungen noch in diese Höhe reichten hatten sie gerade gespürt. Nein, sie mussten die zwei Männer in Ruhe lassen, ja, sie durften nicht sterben, bevor sie keinen sicheren Unterschlupf auf dem neuen Erdteil hatten und die ersten Nachkommen von sich erzeugt hatten. Hierbei galt, nur reinblütige Afrikaner zu neuen Untertanen der Königin zu machen.

Unvermittelt wurden Pilot und Passagiere wie von einer unsichtbaren Faust in ihre Sitze zurückgestoßen und fühlten sich auf einmal viel schwerer als üblich. Es war, als hätte im Heck der Maschine ein leistungsstarker Raketentreibsatz gezündet. Gleichzeitig stieg das bereits unerträglich laute Geräusch der Triebwerke. Die aus den Düsen schießenden Feuerstrahlen wurden länger und immer heller. Zeitgleich setzte ein Tuten und Pingeln ein, von dem die Passagiere nicht wussten, was es bedeutete.

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"Er hat kurzfristig einen Nachtflug nach New York beantragt. Angeblich muss er da mit einem seiner guten Bekannten sprechen", hörte Cesare Campoverde über Kopfhörer die Stimme eines seiner Agenten in Nordafrika. "Hat es das Gespräch mit den angeblichen Vertretern der saudischen Regierung schon gegeben?" fragte der für die aller meisten ehemaligen Feinde für tot und begraben gehaltene. "Ja, Herr", erwiderte die Stimme des Nordafrika-Agenten. "Gut, klär das mit Abdul, dass die Leute kassiert werden, bevor die ihre wahren Auftraggeber anreden. Öhm, wurde die Vorkehrung in Offenhouses Gulfstream eingebaut?"

"Ja, ging von der Zeit her gerade noch so, bevor dessen Pilot die Maschine für den Flug über den Atlantik aufgetankt hat. Die Unfallauswerter werden rätseln, was genau passiert ist. Das war eine geniale Idee von Ihnen, Herr", lobte der Nordafrikaner seinen ihm unbekannt gebliebenen Auftraggeber. "Hat wohl noch niemand vorher probiert. Ansonsten ist es eigentlich ganz einfach, solange die Besitzer eines Jets den nicht ständig bewachen lassen und den gründlicher warten als nur, ob alles funktioniert wie es soll", erwiderte Cesare. "Bezahlung geht an deinen Mechanikfachmann über vier Konten aus Panama, Liechtenstein und der Schweiz."

"Ich danke dir, Herr", sagte der Nordafrikaner. Damit endete die über fünf verschiedene Satelliten gleichzeitig im Echtzeitdatenrekonstruktions-Stimme-über-Internet-Verfahren geführte Unterhaltung. Die eingeschalteten Satelliten löschten die Gesprächsdaten von ihren internen Festplatten. So konnte niemand, der sonst noch Zugriff auf sie hatte nachprüfen, wer da mit wem gesprochen hatte, auch wenn die Unterhaltung an sich durch mehrfache Verschlüsselungsalgorithmen abgesichert worden war.

"Claudi, der englische Ölprinz hat es echt gewagt und die Geheimwürfel aus Sacramento an die Iraner verkauft, um deren illegal gefördertes Erdöl in saudisches Verkaufsöl umetikettieren zu lassen", meldete er über eine ähnliche Nachrichtenverbindung an seine Schwester weiter, die gerade 1000 Kilometer von ihm entfernt war. "Und, wann nehmen wir ihn vom Brett?" fragte Claudia Campoverde ihren Bruder. "Die Aktion Sternschnuppe läuft schon, Claudi. Signore Vadis handzahmer Flugzeugmechaniker hat die Vorrichtung eingebaut, von der wir gesprochen haben."

"Auslösestrecke?" wollte Claudia wissen. "Ich war so frei, die auf viertausend Kilometer setzen zu lassen. Sind die überquert wird die Ladung in alle Treibstofftanks freigesetzt und erreicht wenige Sekunden später das infernale Finale."

"Ja, und kein Gramm nachweisbarer Sprengstoff", meinte Claudia Campoverde. "Joh, verflüchtigt sich alles im Winde oder gibt bei einer Landung einen hübschen Feuerzauber. Könnte sein, dass er gerade in dem Moment, wo wir zwei miteinander reden seinem Schöpfer begegnet, weil der schon mit der Maschine über dem Atlantik unterwegs ist."

"Und die Handelspartner?" fragte Claudia. "Wir wissen, wer die sind. Unser nordafrikanisches Büro für unumgängliche Angelegenheiten besorgt das."

"Huggins ist auf der Gefängnisinsel angekommen. Wann darf ich ihn von dort abreisen lassen?" fragte sie. "Such es dir aus. Für ihn wird es eh viel zu früh sein", erwiderte Cesare mit verächtlicher Betonung. Dann beendeten sie beide die hochverschlüsselte Unterhaltung. Beide wussten nicht, dass ihr hinterhältiges Vorgehen, um einen ihnen lästig gefallenen internationalen Schieber vom Markt zu nehmen, eine unheilvolle Invasion beenden sollte, bevor sie begann. Hätten sie es gewusst, ihnen wäre auch auf einige andere Fragen eine höchst unangenehme Antwort eingefallen.

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Der Pilot der Gulfstream meinte, in einer Rakete richtung Weltall zu sitzen. Er wurde mindestens mit dem doppelten Körpergewicht in seinen Sessel gepresst. Er meinte, mehrere Kilogramm schwere Bleigewichte an den Armen hängen zu haben. Was geschah da?

Simpson blickte auf die Alarmanzeigen. Triebwerksüberhitzung, Geschwindigkeit mehr als 100 Knoten über voreingestelltem Wert, Probleme mit der Treibstoffzufuhr. Irgendwas passte da nicht zusammen. Was jedoch ganz sicher war: Die Gulfstream hatte ein massives Triebwerksproblem. Jetzt war für alle Triebwerke zugleich der Feueralarm losgegangen. Simpson sah die neben ihm sitzende Frau an, die nicht wusste, wie sie mit dieser Lage fertig werden sollte. Dann versuchte er durch Notabschaltung und die Feuerlöscher zu retten, was noch zu retten war. Doch da klang ein immer lauteres Brodeln innerhalb der Maschine. Kochte etwa der Treibstoff? Das durfte es nicht geben, dachte Simpson. Doch nur vier Sekunden später dachte er nichts mehr.

Plötzlich jagten über beide Tragflächen weißblaue Flammengarben in die Maschine hinein und trafen mit finalem Knall zusammen. Ein gleißender Feuerball brach aus der Maschine hervor. Die sechs Insassen von Gulfstream GYB 53 hatten keine Chance mehr. Der Glutball, ungewöhnlich heiß und hell, sprengte die Maschine auseinander und beendete das Leben aller in einem einzigen Augenblick. Mehrere Sekunden lang blähte sich der Feuerball bis auf die zwanzigfache Größe der kleinen Düsenmaschine auf. Dann flackerte er und stürzte in sich zusammen. Übrig blieben nur eine Unzahl vom Restschwung herumgewirbelter Trümmer und die verkohlten Fetzen der ehemaligen Insassen, die nun mehr als 11000 Meter in die Tiefe stürzten. Eines der Trümmerstücke war der intakte Flugschreiber. Doch ob er geborgen werden konnte war fraglich. Selbst dann, wenn er aus dem Atlantik gehoben werden sollte würde er nur verraten, dass die Triebwerksleistung unvermittelt auf über 300 Prozent gestiegen war, bis dann die Maschine von einer nicht mehr nachweisbaren Kraft in Stücke gerissen wurde.

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Die im Stein der Entscheidungen wohnende Seele der afrikanischen Königin aller Nachtkinder erbebte, als sie für genau einen Herzschlag die geistigen Schreie von vier weit entfernt befindlichen Dienern erfasste. Diese Schreie erstarben so plötzlich, dass kein Zweifel bestand, dass die sie ausstoßenden übergangslos gestorben sein mussten. Akasha erkannte, dass es jene vier waren, die sie ausgesandt hatte, um auf dem Erdteil unterhalb des Sonnenuntergangshorizontes neue Untertanen zu erschaffen. Dieser Versuch war also fehlgeschlagen. Doch warum dies so war wusste sie noch nicht. Sie wusste nur, dass damit eine vielversprechende Möglichkeit vergangen war, sich der selbsternannten Göttin gegenüber zu behaupten. Doch wenn es gelang, vier weitere von ihren Dienern wweiter in Mittagsrichtung auf den anderen Erdteil zu bringen bestand zumindest noch eine kleine Hoffnung. Aber unheimlich war es für die, die selbst anderen Angst einjagte. Was hatte ihre vier Abgesandten so plötzlich getötet, ohne dass sie es ihr noch mitteilen konnten?

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Es war ein Wagnis, ein Tanz mit der großen Schlange Apep, wusste Karim Al-Assuani, der gegenwärtig wegen der laufenden Untersuchungen von seinem Amt beurlaubte Zaubereiminister Ägyptens. Er wollte sich jedoch nicht darauf verlassen, dass die Morgensternbruderschaft, die sich ungefragt in seinem Ministerium breitgemacht hatte, mit Hilfe des Rates der hohen Familienväter darüber bestimmte, ob er weiterhin Minister blieb oder womöglich sogar aller Ämter und Errungenschaften verlustig gesprochen wurde. Seine Familie hatte seit dem ruhmreichen Schachzug seines Großvaters Sadek ben Hassan Al-Assuani die vollständige Führung der ägyptischen Zauberergemeinschaft behauptet. Er wollte sie wiederhaben. Daher musste er die von den Morgensternbrüdern beschlossene Afrikakonferenz nutzen, um in "seinem Land" klare Verhältnisse zu schaffen. Er hoffte, dass alle die dunklen Zeiten der letzten Jahre überlebenden Brüder und Vettern ihm beipflichten würden. Wagte er es nicht, die Macht der Al-Assuanis wiederzuerstarken, taugte er als Clanführer nichts mehr.

Weil er genau wusste, dass die Morgensternbrüder seine Familie unter Beobachtung hielten war es schon schwierig, alle noch lebenden männlichen Mitstreiter an einem Tag an einem geheimen Ort zusammenzukriegen, ohne dass die sichtbaren und unsichtbaren Späher der Morgensternbruderschaft davon erfuhren. Es war viel leichter, den Treffpunkt gegen magische Überwachung aus der Nähe oder Ferne abzusichern. Da boten die alten Zauber Ägyptens genug Möglichkeiten. auch konnte Karim Al-Assuani seiner Familie treue Zauberer dazu gewinnen, das kleine Haus an der ägyptisch-sudanesischen Grenze zu bewachen, um jeden Spion oder jeden gedungenen Mörder aufzuhalten. Schließlich bekam er es hin, seine lebenden Brüder und Schwäger, Vettern und Neffen, die mit ihm zusammen unter Ladonnas Feuerrosenzauber gestanden hatten, am 26. März des christlichen Kalenders in jenes kleine Haus einzubestellen. Jeder Al-Assuani musste durch einen auf einen silbernen Nagel gegebenen Tropfen Blut seine Blutsverwandtschaft bekunden, um durch die von außen unsichtbare Tür in das kleine, fensterlose Haus hineinzukommen. Als sich dann die Tür hinter Leyth Al-Assuani, dem Vetter Karims schloss, der für magische Sicherheitstruppen und Tierwesenüberwachung zuständig gewesen war, erstrahlten goldene Scheiben an der Decke, in denen das Licht der Sonne eingefangen worden war und solange leuchtete, wie die goldenen Scheiben selbst dem Licht der Sonne ausgesetzt worden waren.

"Was hielt dich noch auf?" fragte Karim Al-Assuani den letzten Ankömmling. "Gut, deine Frage bekräftigt, dass du es wissen willst", setzte Leyth Al-Assuani an. "Alman Amur, der sich auf Vetter Ferizes Stuhl gesetzt hat, wollte von mir doch glatt eine Kosten-Leistungs-Aufstellung haben, wie meine Behörde die Ausweisung aller Kobolde gehandhabt hat. Offenbar planen die Morgensternbrüder die Rückkehr der britischen Kleinlinge, weil sie es trotz ihres achso großen Wissens nicht geschafft haben, die Verliese in Gringotts ohne Gefahr für Leben oder Eigentum der Verliesinhaber zu öffnen. Deshalb konnte ich erst vor zwei Minuten fort."

"Amur, dieser machtgierige Sohn einer Schakalin", knurrte Feriz Al-Assuani. "Der wollte auch von mir eine Aufstellung über alle Handelsabkommen mit den europäischen Kleinlingen haben."

"Brüder, Vettern und Neffen, dazu kommen wir gleich noch im Einzelnen", schaltete sich Karim Al-Assuani ein. Dann erwähnte er die "höfliche Einladung" zur Teilnahme an der Zusammenkunft afrikanischer Ministeriumszauberer auf einer getarnten Insel bei Mombasa und konnte sich auch einen gewissen Spott in Richtung des kenianischen Zaubereiministers nicht verkneifen. Dann fragte er alle nach den Ereignissen der letzten Tage. Sein Bruder Anwar, der wie er und Feriz an jener Zusammenkunft teilnehmen durften, ohne verbindliche Beschlüsse fällen zu dürfen, erwähnte die ihm "gnädigerweise" zugestandenen Mitteilungen aus dem Ministerium und seine eigenen, auf heimlichen Wegen erhaltenen Mitteilungen aus den arabischen Nachbarstaaten. "Es steht nun sicher fest, Bruder Karim, Brüder, Vettern und Neffen, dass der algerische Zaubereiminister wieder in Amt und Würden ist, weil die aus zwölf nicht unter dem Feuerrosenzauber stehenden Richter bereits während unser aller viel zu langer Schlafenszeit geurteilt haben, dass er und alle anderen nicht für die Taten unter Ladonnas Herrschaft verantwortlich seien. Da bei uns ja wegen dir, Bruder Karim, die zwölf obersten Gesetzesweisen unter den Bann dieser Hyäne Ladonna gerieten wird ja noch ausgesiebt, wer von den verbliebenen, nicht von ihr verwünschten Zauberern, den neuen Zwölferrat bilden darf, um dich, mich, ja uns alle zu verhören. Ich muss wie du, Karim, befürchten, dass die Morgensternbrüder ihre eigenen Mitstreiter in diese Ämter berufen, um sicherzustellen, dass die beiden Al-Kahiri-Brüder und ihr treuer Mitstreiter Alman Amur weiterhin die höchsten Ränge des Zaubereiministeriums behalten dürfen."

"Danke, Bruder Anwar", knurrte Karim. Als er auch noch hörte, dass der tunesische Zaubereiminister von sich aus auf die Fortführung seines Amtes verzichtet habe meinte er: "Darauf warten diese selbsternannten Hüter des Guten, dass wir alle aus reinen Schuldgefühlen von unseren Ämtern zurücktreten, damit sie sie unter sich aufteilen können. Doch ich erkenne die Rechtmäßigkeit der Übergangsverwalter nicht an. Eben gerade weil die zwölf obersten Gesetzesweisen mit uns in diesen Schlaf gestürzt sind haben die keine Berechtigung, unsere Arbeit zu machen."

"O doch, Vetter Karim, das haben sie", wagte Leyth zu widersprechen. Alle sahen den ursprünglich reinen Tierwesenfachzauberer verunsichert bis missmutig an. Vor allem Karim blickte ihn verärgert an. Doch Leyth ließ sich davon nicht verunsichern. Er fuhr fort: "Gerade weil die Rolle von Luxor, die vor zweihundert Jahren alle Verpflichtungen und Befugnisse festlegte die Vermeidung eines ungezügelten freien Zauberervolkes, bei dem jeder gegen jeden wirken kann fordert und die vier ägyptischen Morgensternbrüder zu den sechs hohen Sippen gehören konnten und mussten sie eingreifen. Außerdem steht ja als Ergänzung unseres in ehrenvollen Gefilden weilenden Großvaters Sadek, dass jene aus den hohen Sippen stammenden Zauberer die Verantwortung für unsere magische Gemeinschaft haben sollen, die das Vertrauen von mindestens zwei Dritteln aller im Lande lebenden Familienoberhäupter gewinnen. Immerhin hat Großvater Sadek es damals vor achtzig Sonnenjahren auf diese Weise erreicht, dass wir Al-Assuanis dauerhaft die Amtsführung behalten durften. Der Kreis der zwei Dutzend Sonnenjahre konnte so unterbrochen werden und wir dauerhaft an der Macht bleiben, wi du genau weißt."

"Ich habe mittlerweile mit einigen dieser Väter gesprochen", erwähnte Karim. "Die haben sich nur deshalb darauf eingelassen, dass die Morgensternbrüder das Ministerium leiten, weil es sonst offene Nachfolgekämpfe gegeben hätte. Einige haben mir gegenüber angedeutet, dass sie sofort für uns eintreten, wenn ich ihren Familien besondere Zuwendungen zuspreche. Widrigenfalls könnte denen einfallen, die Rolle von Luxor aus ihrem sicheren Versteck zu holen und zu beschließen, dass der Kreis der zwei Dutzend Sonnenkreise wieder in Kraft tritt und demnach die Familie Amur für die nächsten vierundzwanzig Jahre alle Amtsgeschäfte übernimmt. Was meint ihr, warum diese Morgensternbesserwisser den alten Alman Amur aus seiner kleinen Oase geholt haben, um ihn im Ministerium walten zu lassen. Amur könnte gemäß der Rolle von Luxor beschließen, dass er die Würde des Amtes gleich an die laut dem Kreis der vierundzwanzig Sonnenjahre aufgeführte Familie weitergibt, also die Al_kahiris. Dann wären wir Al-Assuanis erst wieder in fünf mal vierundzwanzig Sonnenjahren an der Reihe." Er deutete auf sich und ließ seine Hand einmal über die Zahl der hier versammelten kreisen. "Das wird dann ohne einen von uns stattfinden. Ja, und wenn sieben von zwölf vom Rat der lebenden Väter anerkannten Richter beschließt, dass wir alle eine Schuld an den Ereignissen der letzten Monate hatten, beispielsweise, dass wir uns nicht gegen diesen Überfall abgesichert haben, können die auch entscheiden, dass wir Al-Assuanis solange kein Recht mehr auf ein Amt erheben dürfen, wie der Nil Wasser führt und Ras Angesicht jeden Tag die Welt erhellt. Ja, schlimmstenfalls könnten die uns alle aus der von den hohen Mächten begüterten Gemeinschaft der Zauberkundigen verbannen. Wer von euch will in einer vor Verbrennungsrauch und Straßenunrat stinkenden, vom Lärm von kleinen Explosionen betriebener Fuhrwerke erfüllten, übervölkerten Stadt wohnen, ohne auch nur einen einzigen Zauber benutzen zu dürfen?" Keiner bejahte das. "So hört mich an. Ich will nicht warten, ob ein von diesen Besserwissern zusammengestellter Rat willfähriger Rechtsprecher mich und damit euch für schuldig oder unschuldig erklärt. Denn schuldunfähig gesprochen zu werden heißt womöglich auch, dass wir für machtunwürdig erklärt werden. Der tunesische Kollege ist zurückgetreten. Der Algerier hat womöglich eine großzügige Bußleistung zugesagt, um weiter im Amt zu bleiben. Diese Schmach will ich nicht auf mich nehmen und erwarte auch, dass keiner von euch dies in Betracht zieht. So hört mich an, meine Brüder und Vettern!" Nun legte Karim seinen Verwandten dar, was er vorhatte. An den Gesichtern seiner Zuhörer las er ab, ob sie ihm zustimmten oder ob sie darum bangten, dass er doch zu viel wagte. Als er dann dazu aufrief, seine und Anwars Abwesenheit auszunutzen, um Stimmung gegen die zeitweilige Verwaltung zu schüren konnte er Feriz ansehen, dass dieser nicht so recht damit einverstanden war.

"Du willst die Maus sein, die auf dem Tisch tanzt, wenn die Katze das Haus verlässt, Bruder karim. Du gehst davon aus, dass wenn die drei ägyptischen Morgensternbrüder mit dir, Hosnin und Anwar unterwegs sind keiner von denen mehr da ist, der verhindert, dass unsere Verwandten sich mit den lebenden Familienvätern unterhalten und diese zu einem außerordentlichen Rat zusammenrufen. Am Ende wecken wir die schlafende Schlange auf, dass die lebenden Väter die Ablösung unserer Familie einfordern."

"Ganz sicher nicht", widersprach Karim. "Wenn klargestellt wird, dass wir vollkommen eigenständig sind, was auch heißt, dass wir die Kobolde nicht mehr ins Land zurücklassen, werden die lebenden Familienväter eher uns das Vertrauen aussprechen als den Morgensternbrüdern, die sich niemals von Einflüsterungen von außen freisprechen können und ja, auch wegen der Handelsbeziehungen mit Europa die Kobolde zurückholen wollen, um über diese Gold und Wertgegenstände befördern zu lassen."

"Ich muss Vetter Feriz zustimmen", wagte nun auch Leyth einen Widerspruch. "Was du willst ist ein Aufruhr, von dem weder du noch ich wissen, ob er nicht in einem wilden Sturm von Gewalt und Tränen ausufert. Du willst die Entscheidung der freien Familienväter anfechten, auf eine gerichtlich einwandfreie Prüfung unserer Schuld oder Unschuld zu warten. Das werden sie dir und damit uns als Ungeduld und Undankbarkeit auslegen, als fehlende Achtung jener, die dieses Land in unserer Abwesenheit in Ordnung gehalten haben. Abgesehen davon beherrschen die Morgensternbrüder genauso wie wir die Kunst des zeitlosen Reisens. Al-Kahiris Freunde in der Abteilung für magische Wesen sind bereits in Stellung gegangen, um im Zweifelsfall auch ohne mich alles weiterzuhüten. Du hast es sicher nicht mitbekommen, weil du in den Wochen nach dem Wiedererwachen ständig unterwegs warst, Vetter Karim. Doch die meisten Beamten des Ministeriums haben sich bereits Al-Kahiri und Amur angeschlossen. Wir würden in der Tat einen schlafenden Drachen wecken, wenn wir jetzt um unsere vorherige Macht kämpften. Wir sollten die Geduld aufbringen, das Gericht der freien Familienväter entscheiden zu lassen und ..."

"Schweig still, du weichherzige Schlotterzunge", knurrte Karim seinen Vetter an. "Diese Machträuber dürfen nicht damit durchkommen. Nur weil einer in ein gerade leeres Haus eintritt ist er nicht gleich dessen neuer Eigentümer, selbst wenn er durch offene Türen eintreten konnte. Großvater Sadek hat es klar festgelegt, dass nur die Familie herrschen soll, die den Mut und die Entschlossenheit aufbringt, sich das Vertrauen der lebenden Väter zu erringen. Wir Al-Assuanis haben dieses Vertrauen gehabt, bevor diese dreiblütige Hure aus Italien uns mit ihrem von Seth und Apep vergifteten Zauberrauch betäubt und unterworfen hat."

"Was natürlich völlig unvorhersehbar geschah, wo wir ja doch von genug Leuten vorgewarnt wurden, uns nicht auf ungesichertes Gebiet zu begeben, wenn wir eine Zusammenkunft verschiedener Zaubereiminister besuchen", warf Leyth Al-Assuani ein und sah, wie das bei Karim sehr heftig wirkte.

"So, du glaubst also doch, dass ich Schuld daran trage, dass wir dermaßen ernidrigt wurden?" fragte Karim Al-Assuani nun unverhohlen wütend. Leyth Al-Assuani sah seinen Vetter entschlossen an und sagte: "Du hättest dich vor einem Jahr besser vor diesem giftigen Rauch schützen müssen, wo du wusstest, dass Ladonna Montefiori jede Gelegenheit ausnutzen würde, mehrere Minister auf einen Schlag zu unterwerfen. Ja, du trägst eine gewisse Schuld. Und ja, das denken sicher auch viele der freien Familienväter. So würdest du wahrhaftig einen schlafenden Drachen wecken, wenn du jetzt versuchst, sie gegen Al-Kahiri und Amur aufzuwiegeln. Hoffe lieber darauf, dass wir alle von jeder direkten Schuld an allem freigesprochen werden, statt noch mehr Beweise für unsere neidischen Gegenspieler zu schaffen, dass wir nicht mehr würdig genug sind, dieses Land zu führen."

"Feiges Rattenaas!" brüllte Karim und spie kräftig vor Leyth Al-Assuani aus. "Da ist die Tür! Und im Namen unseres Blutes wage es nicht, dieses Treffen weiterzuverraten oder vergehe wie das Wachs in der Kerzenflamme!" fauchte er, während er eine wütende Handbewegung Richtung Tür machte. "Ja, und geh davon aus, dass du nach unserer Rückkehr ins Haus der obersten Verwaltung dort selbst nicht mehr erwünscht bist. Denn ich bin der Vater unserer Sippe, somit dein Herr. Wer mir widerspricht verwirkt allen Schutz und alle Rechte der Familie."

"Ich werde nicht verraten, was ihr hier vorhabt, Karim. Aber bedenke, dass ein Feigling niemals gewagt hätte, dir offen und ehrlich ins Gesicht zu sagen, dass dein Vorhaben gefährlich und womöglich erfolglos ..." zischte Leyth, bevor Karim "Rauuuus!!" rief. Die Tür flog von selbst auf. Leyth nickte den anderen Blutsverwandten zu und verließ ohne Abschiedsworte den Besprechungsraum. Kaum war er draußen fiel die Tür zu und setzte damit wieder alle Fernbeobachtungsabwehrzauber in Kraft.

"Findet außer ihm und vielleicht dir, Feriz noch wer, dass wir Al-Assuanis ängstlich geduckt wie die Wüstenmaus vor dem heranfegenden Sandsturm abwarten sollen, was andere über uns beschließen?"

"Karim, bei aller Achtung deines Ranges und aller Verdienste für unsere Sippe und unserer Heimat", setzte Feriz an, "Leyth mag es an Achtung fehlen lassen und er hielt sich nicht an das Gebot, bittere Wahrheiten mit dem Honig der höflichen Wertschätzung zu süßen. Aber leider hat er recht, wenn er fürchtet, dass unsere Gegner in den anderen Familien nur darauf warten, dass wir zum heimlichen oder gar offenen Aufstand aufrufen. Außerdem möchtest du sicher keinen gewaltsamen Streit zwischen den Familien. Großvater Sadek hat damals schon sehr geschickt ausgelotet, wer was bekommen muss, um ihm zu gestatten, das Rad der wechselnden Macht, den 24-Sonnennjahres-Kreislauf zu unterbrechen. Wir sind seit achtzig Jahren die herrschende Dynastie. Deine Söhne und Enkel hoffen darauf, uns beerben zu dürfen. Willst du deren Hoffnungen zerstören? Willst du womöglich, dass sie in Schande aus der Zauberergemeinschaft vertrieben werden?"

"Genau das will ich nicht. Deshalb müssen wir sicherstellen, dass niemand uns entrechtet", zischte Karim. "So frage ich dich, Bruder Feriz und auch euch anderen, wer folgt mir auf jedem Weg, den ich für gangbar halte und geht ihn mit mir bis zum Ende?" Alle noch anwesenden gelobten ihm Gefolgschaft. Dann legte er fest, dass Leyths bisherige Ämter von Hosnins Söhnen Sanan, einem Zauberwesenexperten und Yamin, einem Experten für magisches Recht und Ordnung übernommen werden sollten, sobald es gelang, die Familie Al-Assuani wieder als herrschende Familie der ägyptischen Zaubererwelt einzusetzen. Danach besprach er nun mit denen, die sich ihm weiterhin verpflichteten, wie es weitergehen sollte. Ziel war, dass bei der Rückkehr nach Ägypten der Rat der Familienväter Karim Al-Assuani das Vertrauen aussprach und den drei Morgensternbrüdern nahelegten, entweder ihrer Bruderschaft zu entsagen oder ihre Heimat für immer zu verlassen. Ja, es war ein sehr großes Wagnis. Doch die Al-Assuanis liebten es auch, alles zu wagen, um alles zu gewinnen. Das hatte ihre Familie über die Jahrhunderte so reich, mächtig und mit allen wichtigen Stellen der Zaubererwelt verwoben gemacht.

Die Unterredung dauerte mehr als zwei Stunden. Dabei wurde auch besprochen, dass Gringotts nur noch von Menschen betrieben werden sollte, um die Goldwertbestimmung zu sichern. Die Kobolde sollten nicht nach Ägypten zurückkehrenund als "Teil fremdländischer Unterdrückungsmacht" dauerhaft des Landes verwiesen bleiben.

Als Karim Al-Assuani sicher war, dass alle ihm noch verbliebenen Verwandten sein Vorhaben mittrugen bedankte er sich bei ihnen und wünschte ihnen einen friedlichen Heimweg. Anschließend kehrte er auf dem nur ihm bekannten Weg zurück in das Privathaus bei Assuan, in dem er seine freien Stunden verbrachte, wenn er nicht im Ministerium übernachtete.

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Die Nachrichtensender und Internetplattformen brachten die Meldung vom plötzlichen Verschwinden eines Privatjets von den Radarschirmen der Flugsicherungsdienste. Das Unglück musste so schnell geschehen sein, dass kein Notruf mehr abgesetzt werden konnte. Sicher war nur, dass die Maschine sechs Sekunden vor dem Verschwinden erheblich beschleunigt hatte und dabei an die 100 Meter nach oben gestiegen war. Als dann durchsickerte, wem die Maschine gehörte und wo sie hinfliegen sollte erblühten die wildesten Spekulationen, ob es wirklich ein Unfall war oder der Eigner der Maschine, der laut Augenzeugen selbst an Bord gegangen war, von einem der sicherlich vorhandenen Feinde umgebracht worden war. Vor allem die Frage nach zwei Männern und zwei Frauen, die kurz vor dem Start noch eingestiegen waren beschäftigte die Nachrichtenagenturen. Falls es kein Unfall war mochte es ein Anschlag gewesen sein. Falls es ein Anschlag war konnte der auch jenen vier in letzter Minute zugestiegenen Passagieren gegolten haben. Doch die Medien waren uneins, ob es diese zwei Männer und zwei Frauen überhaupt gab und ob es wegen ihnen wohl noch Ermittlungen geben mochte.

Auch die Campoverdes bekamen diese Nachrichten zu hören und zu lesen. Da sie aus Sicherheitsgründen immer einen Abstand von mindestens 1000 km zwischen sich hielten konnten sie nur über ihre eigenen Datenübertragungsleitungen darüber sprechen, wie die Welt mit dieser Nachricht umging. Dass nur eine Stunde nach dem tödlichen Unglück von Offenhouses Gulfstream fünf angebliche Bürger Saudi-Arabiens auf unterschiedliche Weise den Tod fanden erfuhren jedoch nur die Geheimdienste Israels, Frankreichs und der USA. Darüber wurde schnell der Mantel des Schweigens gebreitet. Denn die mit den Algeriern zusammenarbeitenden Franzosen wollten nicht, dass herauskam, dass jemand auf algerischem Boden geheime Geschäfte mit einem möglichen gefährlichen Gegner machte. Die Israelis wollten nicht herauskommen lassen, dass einer ihrer Agenten in den Reihen der Getöteten war, der diese unterwandert hatte, um geheime Technologietransfers in den Iran zu erkunden, und die Amerikaner wollten bloß nicht herauskommen lassen, dass Offenhouses Kontaktleute geheime Zentralprozessoreinheiten gestohlen hatten, die nur ein Achtel so groß wie übliche PC-zentralprozessoren waren, aber jeder für sich dreimal so leistungsfähig sein konnte und diese im Verbund ein zigfaches der Standardleistung aufbrachten. Damit hätten sich unbemannte Flugzeuge mit einem Grad an künstlicher Intelligenz genauso steuern lassen wie Anlagen zur Urananreicherung oder staatliche Überwachungsnetze. Auch durfte die in Sacramento ansässige Firma nicht verraten, dass sie derartige CPUs herstellte, um keine weiteren Begehrlichkeiten zu wecken.

So wurde die mutmaßliche Explosion eines Privatjets als Auswirkung unzureichender Wartung weitergemeldet und so nebenbei einmal mehr auf die unzureichenden Wartungsqualitäten auf nordafrikanischen Flughäfen hingewiesen. Was wirklich geschehen war war in den Eingeweiden eines orangeroten, bombensicheren und druckfesten Kastens begraben, der einsam auf dem Grund des Atlantiks seine Rufsignale aussandte. Doch um ihn aus mehr als 3000 Metern tiefe zu holen war sehr aufwändiges Gerät erforderlich.

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Für Mensch und Tier war er völlig unsichtbar, Choprock, Kundschafter des geheimen Bundes Axdeshtan Ashgacki az Oarshui. Dank seiner mit besonderen Zaubern belegten Stiefelsohlen war er nahezu unhörbar. An den Händen trug er mit Silberfäden verstärkte Drachenhauthandschuhe, die sowohl wie Panzerplatten wirkten als auch wie mit Saugnäpfen sicheren Halt an glatten Felswänden boten. Neben seiner geschmeidigen Ganzkörperrüstung trug der Vollstrecker auch noch einen Gürtel, an dem eine Menge kleiner bis winziger Werkzeuge und Waffen hingen. Vor seinem gerade völlig unsichtbarem Gesicht trug er eine Maske mit eingesetzten Gläsern, die sowohl im dunkeln sehen machten, als auch auf Gedankenbefehl die von Dingen und Wesen ausstrahlende Wärme sichtbar machten und durch um die Linsenränder eingravierte Zauber der größtmöglichen Nahsicht bei festem Blick auf ein nahes oder weit entferntes Ziel dieses scheinbar auf ein Hundertstel der Entfernung heranrückten oder eben auf das hundertfache vergrößert darstellten. Der Vollstrecker im zweithöchsten Rang des Bundes war sich sicher, bestmöglich für die ihm zugewiesene Aufgabe ausgerüstet zu sein.

Kradanoxa Deeplook wollte Gerüchten nachgehen, dass hier in Südafrika, wohl in der Nähe des Tafelberges bei Kaptstadt, eine der neun vaterlosen Töchter hausen sollte. Die in den afrikanischen Niederlassungen des alles sehenden und regelnden Bundes hatten ermittelt, dass irgendwo hier eine von lebendem Geist gelenkte Quelle starker Erdzauber vorhanden war. Die Trägerin des Vaters aller Augen hatte klargestellt, dass dieses vaterlose Unwesen gefährlich war. Aber genau deshalb galt es, dieses Geschöpf genau zu orten und wenn möglich festzusetzen und falls nötig unschädlich zu machen. Choprock, der Leitwächter Bonecrack direkt unterstand, hatte nicht gefragt, warum erst jetzt geprüft werden sollte, was an den Vermutungen und Geschichten dran war. Er war Vollstrecker, also hatte er zu vollstrecken.

Choprock turnte wie ein unsichtbarer Felsenaffe an den Steinwänden hinauf, nutzte jeden sich bietenden Vorsprung. Gerade erbebte der um seinen Hals gehängte Fremdlingsstein, der auf die Lebensausstrahlung magischer Fremdwesen ansprach. Choprock griff nach dem halbkugelförmigen Kristall an der aus dreifachen haardünnen Gliedern geschmiedeten Kette und hielt ihn behutsam nach vorne, streckte ihn nach oben, nach unten und drehte sich dann lautlos auf dem rechten Absatz einmal im Kreis herum. Dann wusste er, von wo die fremde Ausstrahlung kam. Er fühlte auch, dass die fremde Ausstrahlung mit einer Unauffindbarkeitsschwingung übertragen wurde. Für die meisten Zauberstabträger war sie also nicht zu orten.

Behutsam kletterte Choprock in die Richtung, in der er die Quelle der feindlichen Ausstrahlung ermittelt hatte. Ja, einer der hier oben für magielose Leute, die Neddlwogs, unzugänglichen Einschlüsse im Berg musste das Versteck der auf Gefahrenstufe zwölf eingestuften Gegnerin sein. Choprock hoffte, dass der an seinem Gürtel befestigte Unortbarkeitsstein verhinderte, dass die Feindin ihn entdeckte. Denn auch wenn er ein tödliches Waffenarsenal am Gürtel trug wollte er nicht gegen dieses Wesen kämpfen, wenigstens nicht alleine. Wenn er eindeutig wusste wo sie war wollte er über den in seiner Drachenhautkapuze eingearbeiteten Schallverpflanzungszauber nach seinen Mitstreitern rufen. Es war jedoch möglich, dass die Feindin ihn trotz Unsichtbarkeit und Unortbarkeit entdeckte, bevor er seine Leute herbeirufen konnte.

Choprock erklomm einen weiteren Felsvorsprung und prüfte mit dem Fremdausstrahlungsskristall den weiteren Weg. Ja, er war nun ganz nahe. Der Kristall erbebte heftig in seiner Hand. Wenn er den jetzt auf ein leeres Hohlgefäß legte würde es wohl summen. Er hoffte, dass nicht genau das seinen eigenen Standort verriet.

Der Vollstrecker schlich auf den lautlos bezauberten Sohlen auf einen buckelartigen Felsvorsprung zu. Jetzt meinte er auch mit den eigenen Sinnen die Nähe einer gefährlichen Feindin zu spüren. Ja, jemand mächtiges war hier. Seine in jahrzehnte langer Ausbildung und Übung gewachsenen Sinne warnten ihn, näher an den buckelförmigen Felsen heranzutreten. Er musste gleich hier die klärenden Messungen machen, ob hinter dem Felsen wirklich die Höhle der Feindin war. Dazu nahm er von seinem Gürtel die nötigen rein durch spürbare Auswirkungen vermeldenden Gerätschaften und legte sie so behutsam und zielgenau er konnte vor dem besonderen Felsvorsprung auf den Boden. Dreißig Herzschläge lang sollten die Geräte die Wechselwirkung von Luft, Erde und allem in der Umgebung wirkenden Leben aufnehmen und darauf ansprechen. Dann konnte er mit Sicherheit sagen, ob sie hier wohnte oder etwas anderes gefährliches in dieser Wand steckte.

Choprock setzte durch die festgelegten Berührungen mit den Fingern der linken Hand die reine Aufnahmewirkung der Messkristalle in Kraft. Dann zog er sich drei Schritte zurück, um die Aufspürgegenstände nicht durch seine eigene starke Lebens- und Zauberkraftausstrahlung zu verwirren.

Er atmete so leise er konnte und schloss die Augen, um den Schlag seines Herzens am besten zu hören. Dabei vernahm er auch das leise, auf einem niedrigen Ton klingende Summen des Fremdlingskristalls.

Plötzlich knackte es für ihn gerade erschreckend laut über seinem Kopf. Er fühlte einen kurzen, heftigen Stoß von Erdverformungszauberkraft wie eine aufgepeitschte Welle in ruhigem Wasser. Er riss die Augen wieder auf und blickte nach oben. Ja, in dem nur hundert seiner Längen über ihm hervorragenden Vorsprung entstanden gerade kurvige Risse, die immer länger und breiter wurden. Zu Staub zerbröckelndes Gestein riselte nach unten. Nun merkte er, dass die ganze vor ihm liegende Wand auf eine unheilverheißende Weise lebendig wurde. Wieder durchfuhr eine Erdzauberkraftwelle den Boden und zog ihm beinahe die Füße weg. Er sah mit festem Blick auf die ausgelegten Erfassungs- und Bestimmungsgeräte. Sie glühten im grünen und roten Flackerlicht. Das Flackern wurde sowohl heller als auch häufiger. Choprock fühlte nun auch, wie der Fremdlingskristall immer mehr erbebte, ja regelrecht vor seiner Brust auf- und abhüpfte. Wieder durchraste eine Erdmagiewelle Wand und Boden. Der Überhang hundert längen über Choprock bekam immer größere Risse. Jetzt brachen größere Brocken heraus. Der Vollstrecker sprang gerade noch aus dem Weg, als die abgesprengten Gesteinsbrocken auf den Boden trafen. Dann sah er, wie sich der buckelförmige Vorsprung vor ihm in der Mitte teilte. In dem Augenblick zersprangen die ausgelegten Erfassungsgeräte mit lautem Klirren und Krachen. Sie hatten die in sie einschießenden Kräfte nicht mehr ausgehalten. Choprock wusste nun mit Sicherheit, dass hier eine lenkende Macht wirkte. Er hatte den ersten Abschnitt seiner Aufgabe erfüllt. Er musste nun nach den anderen rufen, um sie an diesen Ort zu bekommen. Doch wie sollte das gehen? Die nun in kürzeren Abständen folgenden Erdzauberkraftstöße störten die sicheren Kraftstränge, die Choprock und die seinen nutzen konnten, um unter der Erde zu reisen.

Der Vollstrecker merkte, wie die entfachte Unruhe seine eigenen Sinne belastete. Er merkte, dass sein Richtungssinn von den Entladungen verdreht wurde. Sollte er nun wieder hinunterklettern und zusehen, dass er mit mindestens hundert handelnden Händen zurückkam? Als er diese Frage dachte hörte und fühlte er, wie die Kante des Felsplateaus hinter ihm abbrach und zu einer Gerölllawine wurde. Der ganze Hang war nun in Aufruhr. Jetzt zurückzuklettern war gefährlich.

Der Spalt vor ihm klaffte knarrend und prasselnd weiter und weiter auseinander, bis er eine Öffnung von vier seiner Längen und das zweifache seiner Breite erreichte. Für Choprock, der wusste, was mit Erdzaubern alles angerichtet werden konnte war klar, dass jemand diese Öffnung schuf, um aus dem Berg herauszutreten. Ja, die Feindin oder welches übermächtige Wesen hier auch immer hauste wollte zu ihm heraus.

Choprock verwarf den Gedanken an eine Flucht. Wenn er schon sterben sollte dann im Kampf, in der Erfüllung seines Auftrages, sein Leben für die vier Grundsätze des alles überwachenden und alles regelnden Bundes gebend. So zog er aus dem angelegten Einsatzgürtel zwei flache Scheiben mit besonders scharf geschliffenen Rändern. Was ihm da gleich immer entgegentrat sollte davon in Stücke geschnitten werden. Mit dem klaren und starken Gedankenbefehl: "Zeig mir das wahre", stellte er die Augenlinsen seiner Einsatzmaske darauf ein, alle Verhüllungen und Täuschungen in Blickrichtung zu durchdringen und die davon verborgenen Dinge sichtbar zu machen.

Weitere Erschütterungen durchliefen den Hang und den Felsvorsprung, auf dem Choprock stand. Der Vollstrecker merkte, dass die Bodenhaftungsbezauberung seiner Stiefel dieser feindlichen Magie nicht so standhielten wie er hoffte. Er meinte, auf einer spiegelglatten, mit besonders rutschigem Schleim besudelten wackelnden Platte zu stehen. Immer wieder musste er ein Hinschlagen abfangen, tanzte unter ihm durchrasende Erschütterungswellen aus und konnte gerade noch den von oben nachregnenden Gesteinsbrocken ausweichen. Doch sein Blick richtete sich auf den nicht mehr weiter aufklaffenden Spalt in der buckelförmigen Felswand. Er wollte bereit sein, wenn der Feind oder die Feindin dort herauskam. Dann sah er etwas.

Er hatte mit einem festen Körper gerechnet, einer Gestalt, die wie er einen Kopf, einen Rumpf, zwei Arme und zwei Beine hatte. Doch was da aus der Höhle hervordrang war ein schmaler, weißer Nebelstreifen, als ließe ein großer, brodelnder Kessel Dampf ab. Doch die auf die Erkennung von Wahrheiten eingestimmten Augengläser zeigten ihm, dass in diesem Nebel etwas gefährliches steckte. Er meinte, das geisterhafte Gesicht einer Menschenfrau zu erkennen, die sich kurz umsah, wo der Eindringling in ihr Revier stand. Der Nebeldunst schwebte ungeachtet der weiter herabfallenden Gesteinsbrocken aus der Höhle heraus. Die bisher immer wieder durch das Gestein brandenden Wellen ließen an Stärke nach, erfolgten jetzt aber viel häufiger. Ja, es entstand eine gleichbleibende, andauernde Bodenerschütterung, die auf der Höhe eines besonders tiefen Tones schwang. Choprock fühlte die körperliche Erschütterung durch die Füße in seinen Unterleib dringen und fühlte mit seinem Sinn für Erdzauber das Schwingen der freigesetzten Kraft. Der ihm entgegengleitende Dunst blieb von all dem unbehelligt. Doch nun konnte er erkennen, dass es eben kein lebloser Dunst war, sondern eine in dieser Form auftretende Frauengestalt, halb Geist halb Dampfwolke. Choprock war sich sicher, dass er das nur wegen der Funktion des wahren Blickes seiner Einsatzmaske erkannte. Für unbewaffnete Augen mochte die weiße Erscheinung ein harmloser Nebelstreif sein.

Als aus dem Nebelstreifen ein schmaler Dunststrahl herausragte sprang sein Fremdlingskristall wild auf und ab und hämmerte ihm dabei gegen Brustkorb und Kinn. Er meinte das bisher so hilfreiche Gerät auf der Höhe der im Boden klingenden Schwingungen brummen zu hören. Dann sah er die geisterhaft durchsichtigen Finger der Fremden, die auf ihn zielten. Die Gegnerin wusste genau wo er war! Die Gegnerin konnte ihn sehen!

"Notspruch. Mich orten und zur Hilfe kommen. Habe Feindin ausgemacht und stehe unmittelbar vor Kampfhandlung!" flüsterte Choprock in das ihn vor Giftgebräu und Staub schützende Mundstück seiner Einsatzmaske. Der Schallverflanzungskristall in seiner Kapuze übertrug die Botschaft und die von den Kraftlinien der Eisenweisekraft der Erde vermittelten Standortwerte. Selbst wenn er in wenigen Sekunden den Tod finden sollte würden seine Leute ihn zum Sieg verhelfen. Von dieser großen Zuversicht bestärkt erwartete er den Angriff der nebelgestaltigen Feindin.

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Diana Camporosso wusste, wie viel sie wagte, dass sie nur einen Tag vor der Zusammenkunft der afrikanischen Zaubereiminister die von ihr für sehr gefährlich gehaltene vaterlose Tochter aufstöbern wollte. Doch die Gelegenheit, zumindest schon mal diesen Gefahrenherd zum erlöschen zu bringen durfte sie sich nicht entgehen lassen.

Gerade saß die sich bei den verbliebenen Mitgliedern des Koboldgeheimbundes Kradanoxa Deeplook nennende im kreisrunden Befehls- und Überwachungsraum der südafrikanischen Geheimniederlassung. Rechts von ihr saß das höchste Ohr der niederlassung, Zuständig für alle worthaften Nachrichten von außen und von innen. Links von ihr saß Bonecrack, der Leitwächter des Abschnittes südliches Afrika. vor ihr saß 100-Augen-Späher Backlook in seinem blauen Arbeitssessel.

"meldung, Vollstrecker Choprock hat Feindberührung!" rief Rushpick und gab sogleich die Bezugspunkte weiter. "Er hat Notruf gemeldet."

"Standortwerte bekannt?" fragte Bonecrak. "Liegen vor und gehen an Einsatztrupp sieben. Einsatzbefehl?"

"Einsatzbefehl Felssturz. Feindin ist dauerhaft kampfunfähig zu machen!" bestätigte Bonecrack.

"Wo ist Choprock?" wollte Diana Camporosso wissen. "Augenblick. Hier sind die Bezugswerte der Eisenweiselinien", sagte Rushpick. "Backlook, Außenbeobachtung über Truppenleiter Sieben auf große Bilderzeugungswand!" rief Bonecrack erregt. Diana konnte förmlich riechen, wie die Erregung in den ihr untergebenen Kobolden stieg. Sie hatten es schon geahnt, dass die Tochter der dunklen Erdkräfte, eine höchst gefährliche Gegnerin, in der untersuchten Umgebung sein mochte. Sie jetzt gestellt zu haben war für die Überlebenden des Bundes ein kleiner Triumph, konnte aber auch zur großen Schmach werden, ähnlich der Vernichtung eines Großteils aller Niederlassungen des Bundes.

"Trupp sieben kann erst in zwei Minuten vor Ort sein. Die Gegnerin hat verwirrende Erdkräfte entfacht", meldete Rushpick. Backlook bestätigte die Meldung und ergänzte, dass der Einsatztrupp wegen starker Erdkraftschwingungen nur mit einem Zehntel der Erdstoßgeschwindigkeit vorankam.

"Mach mir den Schnellausstieg auf, Bonecrack!" befahl Kradanoxa Deeplook ihrem ranghöchsten Untergebenen. "Öhm, ja!" erwiderte Bonecrack zögernd. Dann hieb er mit flachen Händen und so weit möglich abgespreitzten Fingern gegen kleine, rote Flächen im halbmondförmigen Befehlsstand. Die Trägerin von Deeplooks Geist und Wissen schnellte aus ihrem Kommandantinnensessel und eilte mit drei schnellen Schritten in die Mitte eines von Koboldrunen gebildeten Kreises aus eingelegten Silbersträngen. Dann sagte sie das Wort für den Schnellausgang. Es rumpelte eine Sekunde im Boden. Dann stampfte sie mit dem rechten Fuß auf und verschwand im Boden. Die schmiedeeisernen Sperren zwischen Befehlsraum und Außenmauer waren für genau zehn Sekunden zur Seite geklappt, sodass wer das Schnellausgangswort sprach auch die Sperre im Ausgangskreis aufhebenund auf Koboldweise die Niederlassung verlassen konnte. So überwand Diana Camporosso alias Kradanoxa Deeplook in nur zwei Sekunden die zweihundert Meter bis zur außengrenze und raste dann mit der in diesem Gestein möglichen Höchstgeschwindigkeit in Richtung Tafelberg davon.

Diana wusste aber, dass sie ebenfalls nicht durch eine aufgewühlte Erdmagie hindurchkam. So blieb sie nur zehn Sekunden lang unter der Erde. Dann schnellte sie aus dem Boden, sah sich um und stellte sich die genauen Kreuzungspunkte der Eisenweiselinien vor, wie sie der Vollstrecker Choprock weitergemeldet hatte. Das war für sie, die sie das schon früher geübt hatte, genausogut wie die bildhafte Vorstellung oder eine klare Richtungs- und Entfernungsvorstellung des Zielortes. Als sie und der in ihr dienstbare Deeplook sicher waren, die genauen Bezugslinien richtig zu erfassen wirbelte sie auf ihrem rechten Absatz herum. Jetzt nutzte sie die Fähigkeiten einer ausgebildeten Zauberstabträgerin und überwand die verbleibende Strecke im zeitlosen Sprung. Kam sie noch rechtzeitig?

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Choprock fühlte, wie etwas tief von unten her auf ihn zuraste. Er sprang mit einem gewaltigen Satz zur Seite. Laut krachend tat sich genau da, wo er gerade noch gestanden hatte ein viele Dutzend seiner längen tiefer Schacht auf. Von seinem Rand wirbelten Gesteinsbrocken und Staubwolken viele Dutzend weitere Längen nach obenund vermischten sich mit den immer noch herabrieselnden und -krachenden Gesteinsbrocken. Wieder krachte es, und der tödliche Schacht schloss sich so schnell wie er sich aufgetan hatte. Nur sein Gespür für schädliche Erdmagie hatte den Vollstrecker vor dem sicheren Tod bewahrt. Doch würde ihm das auch weiterhin gelingen?

Die Feindin flimmerte. Ihre bisher nebelhafte Erscheinung zog sich zusammen. Innerhalb eines Lidschlags nahm sie feste Gestalt an. Choprock erstarrte, als er sah, dass die andere völlig nackt war und eine überragend anziehende Erscheinung bot. Die Haut glänzte wie polierte Bronze, die Haare wehten weich wie schwarzbraun eingefärbte Seidenfäden um Kopf, Schultern und Rücken, und die Augen der Fremden glänzten tiefschwarz wie vom Sternenlicht beleuchtete Seen. Aber vor allem die Figur, die Länge der Beine, die Oberweite und die verheißungsvoll schwingenden Hüften fesselten den Blick Choprocks. Der merkte, wie er unbewusst die Nahbetrachtungseinstimmung seiner Sehlinsen aufrief und die Unbekannte auf ihn zuflog und er nur noch einen kleinen aber höchst privaten Ausschnitt ihres Körpers vor sich sah. In dieser zwischen leidenschaftlicher Erregung und Erstaunen harrenden Geisteslähmung bekam Choprock nicht mit, wie die Feindin mit der rechten Hand eine kreiselnde Bewegung machte. Erst als er das leise Knistern und prasseln hörte sprang sein Sehvermögen wieder auf die übliche Umgebungserkennung zurück. Jetzt sah er, wie die andere mit schnellen Handbewegungen den Staub und die Gesteinsbrocken vom Boden aufsteigen und sich an den Spitzen ihrer Finger sammeln ließ. Er erkannte, wie aus den kleinen Brocken feste, eiszapfengleiche, nadelspitze Geschosse wurden und wusste, was ihm bevorstand. Er sprang zur Seite und nach hinten weg und zog Arme und Beine an. Keine halbe Sekunde später schwirrten leise pfeifend fünf tödliche Geschosse auf ihn zu und über ihn hinweg. Choprock fühlte das beruhigende Erbeben seines Höhlentrollhauthemdes. Womöglich hätte sein geschmeidiger Kampfanzug die fünf Steinzapfen von ihm abgelenkt, wie alles andere aus Gestein oder reinem Metall bestehende, was nicht mit entsprechenden Durchdringungszaubern belegt war.

"Ich weiß wo du bist, Giftzwerg", hörte er plötzlich die überragend klare, tief in Körper und Seele eindringende Stimme der Feindin. Hatte die eben "Giftzwerg" zu ihm gesagt? Sie hielt ihn für einen Zwerg?! Das heizte seine Wut und seinen Kampfeswillen an. Sie hatte ihre Möglichkeit gehabt. Jetzt war er dran.

Aus einer in hundertfacher Übung vervollkommneten Bewegungsabfolge zielte er mit den zwei bereitgehaltenen Wurfscheiben und schleuderte diese mit tödlicher Genauigkeit in Richtung der Gegnerin. Da die Flugscheiben gegen Metallabweisezauber imprägniert waren und von feindlicher Lebensausstrahlung angezogen wurden konnte die andere sie nicht abschüttteln. Choprock ertappte sich bei dem Gedanken, dass es schade war, dieses unglaublich schöne Wesen derartig in Stücke zu zerteilen. Es fehlte nur ein halber Herzschlag bis zum tödlichen Doppeltreffer. Da löste sich die Feindin wider in reinen weißen Nebeldunst auf. Die zwei Wurfscheiben schnitten pfeifend durch den Nebelstreifen, schwirrten wild kreiselnd durch den Höhleneingang und schlugen laut und schrill schabend gegen eine in der Dunkelheit aufragende Wand. Keinen Herzschlag später stand die nackte Unheilsfrau wieder in ihrer unirdisch schönen Festgestalt da.

"Netter Versuch, Giftzwerg", knurrte die Gegnerin verständlicherweise verärgert. Dann hieb sie mit der linken Faust in Richtung Boden. Choprock ahnte, dass sie jetzt wieder einen Erdzauber auslöste und fühlte, wie da, wo der Schlag den Boden hätte treffen sollen eine Woge aus Erdkraft freigesetzt wurde, die den steinharten Boden wie ein dünnes Tischtuch in Falten warf und Choprock die Beine wegreißen sollte. Doch der Vollstrecker hüpfte kräftig nach oben, sodass der ihm geltende Erdzauber unter ihm durchlief und laut rumpelnd und polternd den Hang hinunterjagte. weitere Tonnen von losgelöstem Geröll gerieten dabei ins Rutschen.

Choprock entschied in einer Sekunde, dass er keine weitere Wurfwaffe an dieser Unglücksfrau vergeuden wollte. Sobald er was immer warf würde die wieder zu Nebel werden und es einfach durch sich durchfliegen lassen. Doch er hatte was, das wirkte nicht auf Körper. Mit einer ebenfalls in unzähligen Übungsrunden erprobten Sicherheit und Schnelligkeit zog er einen Gegenstand frei, der wie eine versilberte Feder beschaffen war. Das war eine der gemeinsten Waffen des alles überwachenden Bundes, die Seelenfeder. Vom Freizihen bis zum Ausrichten dauerte es keine Viertelsekunde. Er dachte das Wort "Sainxwakash!" In der Sprache der Kobolde hieß das Seelenschwund. Gleich würde die andere von einem wie in sich selbst freiwerdenden Kraftstoß die Besinnung und vielleicht auch alle ihre Erinnerungen verlieren. Die Feder vibrierte und spreitzte sich. Choprock fühlte die Kraft, die in diesem gefährlichen Werkzeug schlummerte und nun nach außen und zum erwählten Ziel drängte. Gerade als die Seelenfeder mit einem lauten Sirren ihre größte Stärke erreichte verschwand die Feindin einfach. Die freigemachte Kraft entlud sich nun in einer Folge silberner und weißer Blitze. Dann erschlaffte die Feder. Choprock erkannte, dass die andere noch mehr Abwehrtricks konnte als die reine Vernebelung. Verdrossen steckte er die entladende Feder wieder zurück in den Gürtel. Er hatte nur die eine mitgenommen, weil deren Herstellung so schwer war und dafür immer das Leben eines erwachsenen, möglichst intelligenten Wesens geopfert werden musste, um die jeder atmenden Seele entgegenwirkende Kraft aufzunehmen. Was blieb ihm noch an Waffen, wenn die einfach verschwand, wenn es ihr zu gefährlich wurde? Er musste gegen ihre Erdmagie anwirken, auch wenn er selbst dabei den Tod fand. Ja, er musste den Erdenkraftverdränger nehmen und zusehen, dass die drei Atemzüge, die ihm blieben reichten, aus dessen Wirkungsbereich zu entwischen. Ja, er wollte diesen Höhleneingang verschließen.

Er griff an einen kleinen am Gürtel hängenden Lederbeutel, quetschte ihn zweimal kurz und pflückte dann ein nach oben herausquellendes, eiförmiges Ding heraus.

Einer eingeschliffenen Gefahrenwahrnehmung gehorchend warf sich Choprock zu boden, als von hinten ein neues fünferpulk der Steinzapfen heranflog. Noch im niederfallen gelang ihm eine schnelle Drehung. Er sah die Beine der Gegnerin. Die hatte sich also wahrhaftig hinter ihn gestellt. Er sah, wie ihre Hände vorschnellten. Da er gerade auf allen vieren kauerte und in der einen Hand den Erdkraftverdränger hielt gelang es ihm nicht, das unter ihm aufquellende Stück boden zu verlassen. Choprock wurde mit einem plötzlichen Schwung nach oben geschleudert, genau in die Zielrichtung der Gegnerin, die wieder einmal diesen Steingeschosszauber ausführen wollte. "Dann soll uns beide der große graue Nimmersatt verschlingen", dachte Choprock und wollte den seit dem Freiziehen sanft pochenden Gegenstand von sich schleudern. Wenn er dann mit einer gewissen Härte auf Erdreich oder Felsgestein traf würde der seine ganze Macht entfalten und im Umkreis von hundert Koboldschritten eine alle Erdzauber zurückdrängende Explosionswucht erzeugen. Er wollte den Erdkraftverdränger gerade auf die Feindin schleudern, als diese wie von einem Blitz getroffen zusammenfuhr und mit dem Gesicht nach unten stürzte. Gerade soeben noch brach er den Wurf ab. Die ihn gerade noch bewegende Erdzauberei verflüchtigte sich, weil ihr die Lenkung fehlte und zerstreute sich in kurzen, erträglichen Erderschütterungen. Der aufgeworfene Boden erstarrte und zerbröckelte dann, weil die ihn aufweichende Kraft verflog.

Choprock sah den silbernen Pfeil im Rücken der Gegnerin stecken. Der Pfeil zuckte wie ein schlagendes Herz. Ob es die magischen Sehlinsen waren oder es auch für unbewaffnete Augen so aussah wusste er nicht. Doch er war sich sicher, ein regelmäßiges orangerotes Aufleuchten zu sehen, einmal, zweimal, dreimal. Dann schwirrte ein weiterer Pfeil aus dem Nichts heran. Choprock gab den rein gedanklichen Befehl an seine Maske, ihm die Wahrheit zu zeigen. Doch alles was er sah war ein silbriges Flimmern, aus dem heraus zwei weitere Pfeile flogen. Da wusste er, dass jemand in der verbesserten Unsichtbarkeitsrüstung eines Vollstreckers erschienen war und diesem Unwesen da mit einer ihm bis dahin unbekannten wirksamen Waffe den Garaus gemacht hatte.

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Ob es an Deeplooks in ihr geborgenem Wissen über die Eisenweiselinien lag oder weil sie zu den besten Apparierschülerinnen von Gattiverdi gehört hatte wusste Diana Cammporosso nicht. Jedenfalls kam sie genau auf der Höhe jenes in Aufruhr geratenen Felsplateaus an. Sie schaffte es noch, vier ihr entgegenkullernden Felsbrocken auszuweichen. Dann bekam sie einigermaßen festen Boden unter die Füße. Durch den aufgesetzten Zwicker des wahren Blickes sah sie einen kaum wahrnehmbaren silbernen Schemen. Erst als sie den Gedankenbefehl "Freundesblick" dachte konnte sie den nun wie aus silberblauem Glas bestehenden Vollstrecker Choprock erkennen und wie hinter ihm in einen Mantel aus silbernem Licht eingehüllt die unbekleidete Unheilsfrau erschien und versuchte, mit fünf aus losem Gesteinsstaub gebündelten Geschossen hinterrücks zu erschießen. Gut, dann sollte es ihr ebenso ergehen, dachte Diana Camporosso alias Kradanoxa Deeplook. Sie löste schnell den mitgebrachten Bogen des Anhor von ihrer Schulter und zog den ersten der hundert Todespfeile aus dem Lederköcher. Als sie sah, wie Choprock dem Schwarm Steinzapfen entging und seinerseits etwas freizog, das wie ein Taubenei aus blau-purpurn flimmerndem Stoff aussah wusste sie, dass sie keine Zeit vertun durfte. Pfeil auflegen, Bogen Spannen, zielen, Abschuss. Diese Abfolge dauerte nur noch zwei Sekunden. Gerade als Choprock zum Wurf ausholte traf Dianas tödlicher Gruß den ungedeckten Rücken der gefährlichen Feindin. Diese zuckte zusammen, erstarrte und fiel steif wie ein Brett nach vorne. Diana Camporosso sah, wie der zwischen die Schulterblätter eingedrungene Pfeil zuckte und orangerot irrlichterte. Da erkannte sie, dass es mit einem tödlichen Pfeil nicht getan war. Sie zog nacheinander drei weitere Pfeile aus dem Köcher und schoss sie in den Körper der Widersacherin. Erst dann hörten das Zucken und das orangerote Lichterspiel auf. Offenbar hatte sie diesem überirdisch anzihend aussehenden Ungeheuer alle in ihm gespeicherten Leben entrissen. Ja, und offenbar hatte es auch keines mehr in seinem Lebenskraftbehälter, von dem der alles sehende und hörende Bund nur wusste, dass darin die überschüssigen Lebenskräfte durch leidenschaftliche Liebesakte entkräfteter Opfer eingelagert wurden.

Choprock zwengte den unheilvoll flirrenden Gegenstand in den dafür gemachten Lederbeutel zurück. Olik Daimarxash, das Ei der Zerstörungswut, würde heute hoffentlich nicht ausgebrütet.

Diana wusste, dass der Vollstrecker sie wohl genauso geisterhaft sah wie sie ihn, weil sie beide verbesserte Rüstungen trugen, die die koboldeigene Unsichtbarkeit vervielfachten und so auch für die Gläser des wahren Blickes beinahe unerkennbar wurden.

Die Erderschütterungen hörten auf. Das hieß wohl, dass die zur Todfeindin der höchsten Stufe nach dem großen, grauen Eisentroll erklärte Feindin wahrhaftig erledigt war. Hätten die Ägypter das damals gewusst, dass man dieser Ausgeburt mit Anhors Todespfeilen beikommen konnte hätten die sicher damit alle neun vaterlosen Ausgeburten vernichtet, dachten Diana und Deeplook zeitgleich.

"Enthülle dich, Choprock! Du bist unter Freunden!" rief Diana in der geheimen Sprache des alles sehenden und hörenden Bundes. Choprocks geisterhafte Gestalt flimmerte und wurde undurchsichtig. Der Vollstrecker erhob sich, während Diana ihrerseits die körpereigene Unsichtbarkeit in die Erde zurückfließen ließ und für ihn vollständig sichtbar wurde.

"Kradanoxa Deeplook, Trägerin des Vaters aller Augen", sagte Choprock und vollführte eine gekonnte Verbeugung. "Ja, die bin ich", erwiderte Diana, der es keine Mühe machte, die selbst für die meisten Kobolde unverständliche Geheimsprache zu benutzen.

"Da muss ihre Höhle sein. Sollen wir rein und nachsehen, was sie dort aufbewahrt hat?" fragte Choprock.

"Ja, wir schicken da Kundschafter mit entsprechenden Geräten rein, Choprock. Aber wenn sie da einen mannshohen Behälter aus einem uns nicht bekannten Stoff finden sollten sie sich davor hüten, den zu öffnen oder zu zerstören. Er könnte dann eine noch größere Vernichtungswut entfesseln wie dein Ei der Zerstörungswut. Wundere mich, dass Leitwächter Bonecrack dich damit ausrüsten ließ."

"O Kradanoxa Deeplook, ich bin ranghöchster Vollstrecker. Ich habe diese Waffe aus eigenem Ermessen mitgenommen. Vielleicht sollten wir die Höhle damit sprengen, aber so, dass wir noch früh genug wegkommen."

"Ich behalte mir diese Möglichkeit als allerletzten Ausweg vor", erwiderte Diana Camporosso alias Kradanoxa Deeplook. "Gib mir den Beutel mit dem Olik Daimarxash, Vollstrecker Choprock!"

Der Untergebene gehorchte ohne zu zzögern. Denn er hatte gelernt, dass die halbstämmige Deeplooks neue Erscheinungsform war, und dass er weiterhin dem Vater aller Augen zu gehorchen hatte. Nicht gehorchen war Verrat.

Wie eine Welle wogten von einem weiteren Vollstrecker in Choprocks Rang angeführte handelnde Hände heran und entschlüpften dem felsigen Boden. "Vollstrecker Snatchback mit Einsatztrupp sieben zur Stelle, Kradanoxa Deeplook. Oh, die Feindin ist bereits am Boden?" fragte der Vollstrecker nach der Meldung. Diana deutete auf die leblose Gestalt am Boden. "Wir nehmen sie mit, wenn wir eine Tragemöglichkeit haben, um sie unauffällig fortzuschaffen", sagte sie. Da rief ein Einsatztruppller im Rang eines erkundenden Auges: "Warnung! Aus Richtung Halbabend anfliegende Besen, Blitzzählung errgibt zwanzig!"

"Zwergendreck, dann haben die die ganze Erdmagieentladungswut mitgekriegt", dachte Diana. "Alle weg hier! Sofortiger Rückzug. Getötete Feindin zurücklassen!" rief Diana. Alle gehorchten unverzüglich und tauchten unter die Erde. Diana sah noch das splitternackte Unwesen an, das immer noch steif wie versteinert am Boden lag. Versteinert! Mochte es sein, dass dieses Weib im Tode zu dem wurde, woran ihr Leben und ihre Macht gebunden worden waren. Wie es auch von uralten Kobolden hieß, dass sie im Tode versteinerten und so zu Denkmälern ihrer Selbst wurden. Konnte sie die vier auf dieses Unwesen abgeschossenen Pfeile dann nicht mehr mitnehmen? Das musste sie wissen. Sie machte sich erst wieder unsichtbar. Dann blickte sie sich um. In der gemeldeten Richtung erkannte sie noch keinen Besen, weil ihr Zwicker nur enthüllende Zauber aber keinen hundertfachen Fernblickzauber enthielt. Doch sie sah einen winzigen, flirrenden Punkt und sah es als gesichert an, dass da wirklich ein Trupp Zauberer und Hexen auf Besen angeflogen kam.

diana sprang zu der leblosen Feindin und griff nach dem ersten Pfeil. Sie rüttelte daran und zog ihn frei. Der Pfeil erzitterte kurz. Seine Spitze war nicht mehr bleich, sondern schwarz. Das geschah immer, wenn er seinen tödlichen Fluch übertrug und sich davon erholen musste. Diana atmete auf, als sie auch die Pfeile zwei bis vier aus der versteinerten Leiche freizog. Doch als der vierte Pfeil dem Körper entnommen war schlugen orangerote Blitze aus dem immer noch gähnenden Höhleneingang auf die Feindin über. Sie zuckte unter jedem Blitz. Die Starre wich. Da war Diana Klar, dass sie sich zu früh gefreut hatte. Sie hatte die Abgrundstochter der dunklen Erdkräfte nicht vernichtet.

Ein schneller Blick verriet ihr, dass die anfliegenden Besenreiter nur noch einen Kilometer entfernt sein mochten. Wenn die auf den schnellsten Besen unterwegs waren brauchten die nicht mal mehr zwanzig Sekunden!

"mach dass du wegkommst, Kradanoxa!" brüllte Deeplooks Stimme in ihrem Geist. Diana Camporosso überlegte. Sie war doch unsichtbar. Doch als sie erkannte, dass es nur noch Sekunden dauerte, bis die nicht ganz besiegte Gegnerin wieder vollständig erstarkt war wusste sie, dass sie besser verschwinden sollte. Denn sicher würde dieses Unweib sehr, sehr wütend sein, wenn es wieder zu Bewusstsein kam.

Diana verwarf auch den Gedanken, das Ei der Zerstörungswut in den sich bereits wieder schließenden Höhleneingang zu werfen um zumindest noch einen furiosen Vernichtungsschlag zu landen. Sie nahm ihren Zauberstab und disapparierte in dem Augenblick, wo die am Boden liegende Gegnerin auf ihre Füße hochschnellte und in eine flirrende Wolke aus orangerotem Licht gebadet wurde.

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Jesse van Rieten gehörte zu den Wachzauberern, die für den Fall "Erdentanz" eingeteilt worden waren. Denn seitdem die südafrikanische Zaubereiverwaltung wusste, dass irgendwo in ihrem Hoheitsgebiet jene verwünschenswerte Ausgeburt hauste, die als Tochter des schwarzen Felsens bekannt war, galt es, sie zu finden. Dabei bot es sich an, auf verräterische Erdmagie zu lauschen. Als die ihnen endlich den Gefallen getan hatte waren sie sofort losgeflogen, zehn Hexen und zehn Zauberer.

Als sie eine für Menschen schwer bis gar nicht besteigbare Seite des Tafelberges bei Kapstadt erreichten sahen sie, dass hier gerade eine starke Gesteinslawine abgegangen war. Dann sah Jesse van Rieten das Ziel.

Er meinte, eine in orangerotem Feuer brennende Frau zu sehen. Dann fiel ihm auf, dass es kein Feuer war, sondern eine aus sich heraus leuchtende Substanz. Dann sah er, wie die völlig unbekleidete Erscheinung in die Höhe sprang, dabei eine halbe Drehung vollführte und dann mit Wucht wieder aufkam. Unvermittelt erzitterte der Berghang. Das Plateau, auf dem sie gelandet war, zerbarst in einem gewaltigen Tosen. Aberhundert Tonnen losgelöster Felsen gerieten ins rutschen und stürzten zu Tal. Die Unheilsfrau verschwand im selben Augenblick in einem grün-roten Blitz. Van Rieten konnte gerade noch sehen, wie ein A-förmiger Spalt im Felsen zusammenfiel, nein, sich vollständig schloss. Dann geriet auch diese Seite des Gipfels in Aufruhr. "Abstand halten, bloß nicht landen!!" rief van Rieten seiner Truppe zu. Da kamen ihnen schon die ersten aufgewirbelten Staubwolken entgegen. Die Ministeriumstruppe stieg im Rosselini-Raketenaufstiegsmanöver beinahe senkrecht in den Himmel. Krachend und prasselnd brachen weitere Felsen vom Hang los und rollten zu Tal.

Sie warteten noch zwei Minuten, bis sich der Aufruhr legte und die in die Luft geschleuderten Staubmassen sich endlich wieder absetzten oder vom Wind verweht wurden. Erst als sicher war, dass es keinen zu dichten Staub mehr gab landeten die zwanzig Besenflieger. "Prüft nach, ob hier noch Magie wirkt!" sagte van Rieten. Die dafür ausgebildeten Kollegen gingen sofort daran. "Ui, eine Menge sich gegenseitig aufschaukelnder Erdzauber ist hier freigesetzt worden. Öhm, ja, und etwas ähnliches wie der Standorttauschzauber. Es sieht danach aus, als wenn gerade vor einer Minute viele Tonnen Gestein in den Berg eingefügt worden sind, die vorher nicht dort vorhanden waren. Zumindest finden wir keine magische Ausprägung eines Verhüllungszaubers."

"Will heißen, sie hat ihre Höhle anderswo hinverschoben und den dafür nötigen Abraum hier abgesetzt?" wollte Betty Howard wissen, die eigentlich mit Tierwesen arbeitete wie auch ihre Kollegin Della Witherspoon, die ebenfalls zur Sondereinheit Erdentanz gehörte.

"Sie haben den Kollegen van Duyne gehört, Kollegin Howard", sagte van Rieten.

"Rückschaubrille, Sir?" "Nützt nichts. Diese Biester haben einen angeborenen Ortungsschutz", knurrte van Rieten. Es ärgerte ihn immer, wenn er daran erinnert wurde, dass die von den Franzosen und ihren Verbündeten so hochgelobten Rückschaubrillen im Kampf gegen die Töchter des Abgrundes wertlos waren, ja auch bei Veelabrütigen wie Ladonna völlig wertlos gewesen waren.

"Gut, alle messbaren Ausprägungen notieren, in den Geräten speichern und dann abrücken. Hier liegen nur noch lose Steine rum", grummelte van Rieten.

"Aye, Sir", sagte Della Witherspoon keck grinsend. Zehn Minuten später flogen die zwanzig Einsatztruppler wieder fort. Zwanzig Minuten danach erhielt der südafrikanische Zaubereiminister Will de Groot einen erschütternden Bericht. "Wer immer sie aufgestöbert hat muss sie derartig gereizt haben, dass sie sich mit ihrer ganzen Macht gegen ihn oder sie gewehrt hat. Ja, und dann hat sie wohl gemerkt, dass wir das mitgekriegt haben mussten und hat diesen Höhlenumzugszauber gemacht, von dem wir aus den Berichten des Zauberers Julius Latierre geborener Andrews und Meridith Daniels von unserer Sektion der Liga gegen dunkle Künste gehört haben", sagte de Groot den für diesen Bereich zuständigen Mitarbeitern. "Sie kann nun irgendwo in einer anderen Gegend unseres Hoheitsgebietes untergeschlüpft sein oder sich irgendwo sonst auf dem afrikanischen Erdteil verstecken. Das heißt leider nicht, dass wir jetzt vor ihr sicher sind."

"Kann es sein, dass die hiesigen Kobolde gemeint haben, sie aufzustöbern und umzubringen?" fragte Della Witherspoon, die als Zaubertierverwaltungsbehördenleiterin arbeitete, wenn sie nicht gerade für die Sondereinheit Erdentanz flog.

"Della, mag sein, dass die Kobolde jetzt, wo Ladonna nicht mehr da ist, wieder richtig frech werden. Wir müssen ja davon ausgehen, dass deren geheimer Spionage- und Femedienst hier bei uns am Kap und wohl auch bei den Ostafrikanern ein paar aktive Mitglieder hat. Die könnten darauf ausgehen, sich wieder mehr Respekt bei ihren Volksangehörigen zu verschaffen", sagte de Groot. "Indem sie genau das Wesen bekämpfen, dass bei denen auf der Gefahrenskala gleich nach jenem mythischen grauen Riesentroll rangiert?" wollte Della Witherspoon wissen.

"Viel Feind viel Ehr', Della", scherzte van Rieten.

"Ja, und vielleicht haben die Spitzohren sie wirklich so heftig gepiesackt, dass sie sich nicht anders wusste, als denen einen halben Berg auf die Köpfe zu werfen. Kann sein, dass sie jetzt mit denen im Krieg liegt", sagte de Groot. Seine Mitarbeiter sahen ihn betrübt an. "Leute, was bringt es, die Sache runterzuspielen. Wir haben dieses Frauenzimmer nicht so beharkt, dass es einen halben Berg zusammenkrachen ließ. Wenn es die Kobolde waren könnte sie finden, sich gebührend revanchieren zu müssen. Das könnte aber dann auch wieder uns betreffen. Sie erinnern sich ja alle noch ganz gut an die Goldkrise nach der unverhofft heftigen Erdmagieturbulenz vom 26. Dezember 2004. Sowas könnten wir wiederhaben, wenn die Kobolde sich gegen eine wie die Tochter des schwarzen Felsens verbarrikadieren müssen."

"Da kann ich Ihnen leider nur zustimmen, Minister de Groot", sagte Della Witherspoon.

"Das möchte ich mir auch ausgebeten haben, Ms. Witherspoon", erwiderte der Minister.

"Sollen wir unsere Teilnahme in Kenia absagen oder nur die kleinen Trommeln hinschicken?" fragte Hank van Buren, de Groots Sekretär.

"Nein, wir reisen so wie abgestimmt nach Kenia. Della, Sie reisen auch mit zur Afrikakonferenz, weil mir wichtig ist, dass Sie gleich mit den Bwanas aus Kenia die Hege -und Populationsverträge für Feuerlöwen und Errumpenten sichern."

"Natürlich, Minister de Groot", erwiderte Della Witherspoon. Dann schien sie in sich hineinzulauschen. "Allerdings sollte ich danach wieder herkommen, um für den Fall, dass es zwischen den Kobolden und der Abgrundstochter richtig zur Sache geht koordinieren zu können."

"Genehmigt", sagte de Groot.

Als die Besprechung vorbei war feilte de Groot an seiner Ansprache. Die Sache mit der aufgestöberten und deshalb amok zaubernden Abgrundstochter gefiel ihm nicht. Doch er musste es den Kolleginnen und Kollegen berichten. Nicht dass dieses widerwärtig wunderschöne Weibsbild bei einen von denen im gepflegten Garten wütete.

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Sie hatte erst nicht gewusst, was sie da getroffen und ihr schlagartig zwei Leben entrissen hatte. Sie hatte sich nicht bewegen können. Dann waren noch drei dieser überaus schmerzhaften Geschosse in sie eingedrungen. Von da an hatte sie gedacht, alles um sie herum verliefe mit vielhundertfacher Geschwindigkeit. Sie hatte ein wildes Beben im Rücken gespürt, als wenn jemand versuchte, ihr die Muskeln und die Wirbelsäule zu zermalmen. Dann hatten die Schmerzen und das Gefühll der viel zu schnell weiterwandernden Sonne nachgelassen. Schlagartig waren alle von ihr ferngehaltenen Leben in sie zurückgeflossen. Beim Erwachen aus jener widerwärtigen Lähmung hatte sie noch die Gedanken dieses Giftzwerges mit Namen Choprock aufgefangen. Der hatte gesehen, dass seine Herrin vier Pfeile in sie hineingeschossen hatte. Doch von dieser Herrin bekam sie nichts mit, weder die Lebensausstrahlung noch die Gedanken. Dann waren sie geflohen, weil diese kurzlebigen Zauberstabschwinger auf ihren Reisigbesen anflogen. Es hatte sie nur wenig beruhigt, dass eine davon ihre auserwählte Dienerin war. Diese hatte sie immer und immer wieder zu rufen versucht. Ja, und als sie, Ullituhilia, ihr endlich hatte antworten können hatte ihre Dienerin gewarnt, dass sie nun wussten, wo die Höhle war. Daraufhin hatte sie drei der sieben auf einen Schlag in sie zurückgeschossenen Leben verwendet, um einen gewaltigen Erdmagieaufruhr zu erzeugen. Diesen hatte sie genutzt, um den schon vor Jahren ausgewählten Zufluchtsort aufzuladen, um ihren Lebenskrug dorthin zu versetzen und das dort gelagerte Naturgestein in ihre bisherige Heimstatt zurückzuschicken. Durch die wilde Erdmagieentfaltung konnte das niemand mitbekommen, wohin sie gereist war. Als Della dann mitteilte, dass man den "Umzug" mitbekommen hatte, aber eben nicht wohin sie umgezogen war, hatte sie erst aufgeatmet. Doch die Beruhigung hielt nicht lange vor. Während sie ein heilsames Bad in den von ihr gesammelten Lebenskräften nahm fragte sie sich, wer die Herrin dieser Giftzwerge war, warum sie sie nicht hatte wahrnehmen können und wieso diese vier in sie hineingeschossenen Pfeile sie derartig außer Gefecht setzen konnten. Sie erkannte mit einem heißen Schrecken, dass diese Pfeile mit einem ähnlichen Fluch beladen gewesen sein mussten wie es der aramäische Todesfluch war, eben nur länger vorhielten. Ihr Glück war, dass sie festen Kontakt zur sie belebenden Erde besessen hatte und ihre Höhle gerade offen war, so dass die von dort verströmende Lebenskraft sie in der Welt halten konnte. Was wäre, wenn sie auf hoher See oder im freien Flug von einem oder mehrerer dieser verfluchten Pfeile getroffen würde? Würde sie dann doch ihren Körper verlieren und zur nächsten neu zu gebärenden Tochter einer ihrer Mitschwestern werden? Oder würde sie vollständig sterben? Der Gedanke, dass jemand, die mit den Kobolden gemeinsame Sache machte, ja diesen gegenüber wie eine Herrin auftreten konnte, eine derartige Waffe gegen sie und vielleicht auch alle anderen besaß machte ihr Angst. Da sie dieses Gefühl höchst selten empfand ärgerte es sie um so mehr, dass sie offenbar eine höchst gefährliche Todfeindin hatte, gefährlicher als die Nachkommen Ashtarias oder die Möchtegernwohltäter von der Morgensternbruderschaft. Es galt, mehr über diese Feindin herauszufinden, nach deren Schwäche zu suchen und sie dann genauso rücksichtslos zu töten, wie diese es gewagt hatte, sie unsichtbar von hinten niederzuschießen. Allein schon für diesen Akt der Feigheit musste dieses Koboldweib sterben.

"De Groot sah mich eben wieder so an, als wolle er mich gerne auch bei der Konferenz auf Malta mit dabei haben, meine Herrin. Soll ich nicht doch mitreisen?" hörte sie Dellas Geistesstimme in sich. "Nein, Della. Das hatten wir doch schon. Bei den Europäern wird wohl auch Julius Latierre sein, der jüngste Sohn Ashtarias. Der könnte dich enttarnen, und das willst du nicht wirklich."

"O ja, du hast sicher recht, meine Herrin", erwiderte Della. Dann musste sie sich wohl wieder mit den anderen unterhalten und hatte die perfekte Ausrede. "Die gehen davon aus, dass du jetzt mit den Kobolden Krieg hast. Ist das so?"

"Nicht mit denen allen, nur mit diesen Frechlingen von deren Geheimbund und deren offenbar sehr entschlossenen Anführerin."

"Kann es sein, dass das eine Erbin Ladonnas ist?" fragte Della. "Du meinst weil ich dir Grüße von meiner spanischen Schwester ausgerichtet habe, dass wir aufpassen, dass es von der Veela- und Waldfrauenbrütigen nicht noch getreue Nachläuferinnen gibt? Ja, könnte durchaus sein, Della. Doch jetzt besinne dich nur auf die Zusammenkunft in Kenia, damit du mir anschließend berichten kannst, wie die Kurzlebigen das aufnehmen, dass ich einen halben Berg zum Einsturz gebracht habe."

"Wie du befiehlst, meine Herrin", schickte Della Witherspoon die vorerst letzte Gedankenbotschaft an jene, die sie ins Leben zurückgeholt und zu ihrer Dienerin und Beobachterin im Reich der kurzlebigen Zauberstabnutzer gemacht hatte. Dann gab sich Ullituhilia dem heilsamen Fluss freigelegter Lebenskräfte hin, um die verfluchten Wunden in ihrem Rücken restlos verheilen zu lassen. Fehlte ja noch, wenn ihre makellose Schönheit durch diese Wunden verdorben worden wäre.

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Der 28. März war gerade erst vier Stunden alt. Noch deckte die Nacht das Land von Horizont zu Horizont. Die Sterne strahlten klar und fast zum greifen nahe vom Himmel. Der Mond beschien das Land mit seinem kalten Licht. Dieses spiegelte sich wie flüssiges Silber im nur wenige hundert Schritte von ihnen dahinfließenden Strom, der seit vielen Jahrtausenden die Lebensader dieses Landes war.

Trotz der noch so frühen Stunde herrschte am westlichen Nilufer bereits eifriges Treiben. Dreißig erwachsene Männer zwischen 25 und 140 Lebensjahren versammelten sich um fünf auf dem sandigen Boden ausgebreiteten Teppichen. Diese waren mit geheimnisvollen Mustern durchwebt, die im Schein des Mondes in geheimnisvollen Graustufen wiederschienen. Diese Muster gaben den Knüpfkunstwerken ihre Eigenschaften, ihre Macht und ihren Wert. Die dreißig Männer, die wegen der noch herrschenden Nachtkühle dicke, dunkle Umhänge über ihrer Tageskleidung trugen, steuerten mit in bestimmten Bewegungen schwingenden Zauberstäben schwere Gepäckstücke, dass diese wie von unsichtbaren Riesenhänden gehalten auf einen der ausgebreiteten Teppiche hinüberflogen und dort sanft landeten. Einer der Zauberer lenkte mit gezielten Zauberstabbewegungen breite Lederriemen, die sich wie kopflose Schlangen um die aufgeladenen Gepäckstücke wanden und sie so miteinander verbanden, dass sie nicht verrutschen konnten. Als auch der letzte lange Schrankkoffer auf jenem Teppich zu liegen kam umschnürten ihn sofort drei breite Riemen und verbanden sich mit jenen, die die anderen Gepäckstücke zusammenhielten. Der Lenker der Lederbänder blickte in die Runde jener, die den geisterhaften Verladevorgang gesteuert hatten. Einer der auf dem Sandboden stehenden Zauberer reckte den schlanken Stab in die Luft und ließ ihn dreimal kurz im sattgrünen Licht aufleuchten. Der Zauberer auf dem Teppich antwortete mit demselben Zeichen, dass alles in Ordnung war. Dann sah er zu, wie die 29 weiteren Zauberer sich auf die vier noch unbeladenen Teppiche verteilten.

"Na, ob dein großer Trageteppich soviel Edelgepäck sicher durch die Luft bringen kann, Ali?" flüsterte einer der 29 Männer, die sich nach einem vorher mitgeteilten Plan auf die vier freien Teppiche aufteilten. Der Angesprochene lächelte überlegen und deutete auf den gerade mit unterschiedlich großem und schwerem Gepäck beladenen Teppich. "Der Fürst der Wüstenträger hätte alle 35 Kriegselefanten der Streitmacht Hannibals tragen können, wenn es ihn damals schon gegeben hätte", flüsterte er. Hätte er laut gesprochen hätte er seiner Stimme sicher den unverkennbaren Ton unerschütterlicher Überzeugung verliehen.

"Dann hast du deine Konkurrenten aus Persien wohl übertroffen", flüsterte der, der Ali gefragt hatte. Ali Bashir verzog kurz das Gesicht, um dann mit einer entschlossenen Bejahungsgeste zu verdeutlichen, dass es genauso war. Der schon seit vielen Jahrhunderten dauernde Wettstreit der ägyptischen Familie Bashir und der persischen Familie Isfahani um die vielfältigsten, ausdauerndsten und herausragendsten Flugteppiche galt in der arabisch-persischen Welt als Triebfeder für immer bessere Reiseteppiche und andere nützliche Zaubergegenstände.

Ali Bashir betrat einen der kleineren Teppiche, auf dem mit ihm sechs ältere Zauberer zusammenkamen, darunter der zur Zeit beurlaubte Zaubereiminister Karim Al-Assuani, seine Brüder Anwar und Hosnin und jene drei, die die Al-Assuanis gerade vertraten, Jamil und Omar Al-Kahiri und Alman Amur.

"Und, weiß dein Teppich, wo er hinfliegen soll?" fragte Alman Amur Ali Bashir. Dieser grinste jungenhaft und deutete in Richtung Südosten. "Die Gestirne und die unsichtbaren Stränge der Eisenweisung zeigen jedem meiner Teppiche, wo das Ziel ist. Tja, und mit der gewebten Landkarte konnte er auf jedes darauf eingetragene Ziel eingestimmt werden. Ich brauch es nur noch auszurufen, Herr Amur." Weil es um seine Teppiche ging, den Stolz seiner Familie, konnte Ali Bashir die Verachtung diesem überheblichen Kerl gegenüber wunderbar verbergen. Er sah in Amur einen von diesen selbsternannten Wächtern des guten ferngelenkten Emporkömmling, einen Nutznießer von Ladonnas dunkler Zwangsherrschaft. Doch weil es eben darum ging, dass die ägyptische Reisegruppe auf Bashir-Teppichen reiste musste Ali die Ruhe und nach außen gezeigte Freundlichkeit eines Geschäftsmannes bewahren, der erfreut war, dass man seine Wahre haben wollte und sicher gerne bereit war, sie zu loben und zu preisen.

"Alle Teppiche besetzt, Bruder", hörte Ali Bashir die mit dem Zauber Flüstern im Wind übermittelte Stimme seines jüngeren Bruders Kassim, der auf dem Transportteppich stand. "Wir können aufbrechen, Herr Al-Kahiri", verkündete Ali Bashir und stellte sich so, dass er seinem Teppich ohne laut zu werden die nötigen Anweisungen geben konnte. "Gut, geben Sie das Zeichen zum Aufbruch!" befahl Jamil Al-Kahiri. Ali Bashir machte eine beinahe unterwürfige Geste und befahl auf Altägyptisch "Sohn des Windes fliege dem goldenen Ziele zu!"

Das "goldene Ziel" war vor dem Ausbreiten der Teppiche durch Zauberstabberührungen an den eingewebten Zeichen für Weg und Ziel von der magischen Landkarte aus verwobener Seide geprägt worden. Deshalb musste weder Ali Bashir noch einer seiner Brüder und Vettern ständige Richtungskommandos erteilen.

Fast zeitgleich hoben alle Flugteppiche ab. Auch der mit dem gesamten Gepäck der Reisegruppe beladene Teppich stieg schnell und ohne zu ruckeln empor. Zunächst galt es, die für bestmöglich erachtete Flughöhe zu erreichen, an die viertausend altägyptische Ellen. Erst dann sollten die Teppiche dem zum einen kürzesten und zum anderen möglichst weit genug um große Siedlungen herumführenden Weg folgen. Die noch herrschende Nacht mochte ihnen da gute Dienste leisten. Als alle Teppiche die Reisehöhe erreichten schwenkten sie wie auf einen unhörbaren Befehl in die Richtung, in der das eingeprägte Ziel lag. Sie ruckten an und flogen nur drei Sekunden später schneller als der schnellste Wüstenwind. Die auf ihnen reisenden Zauberer spürten nichts vom Wind und auch nicht von der dünneren Luft. Denn die von Ali Bashirs Familie und ihren treuen Zauberwebern geknüpften Teppiche besaßen an den Rändern eingewebte und durch die dazugehörigen Sprüche in Kraft gesetzte Zauber wie den Wall der sicheren Luft, der vor Windböen, Flugwind und Ersticken schützte und zugleich wie eine völlig unsichtbare Glocke den Teppich überspannte und verhinderte, dass auch nur ein Reisender oder ein Gepäckstück im freien Flug heruntergeraten und zu Boden stürzen konnte. Darauf waren die Bashirs sehr stolz, weil sie mit ihren Reiseteppichen selbst in die eisigen und luftarmen Höhen des "Daches der Welt" vordringen und dessen höchste Gipfel überfliegen konnten. So hatte Alis Urururgroßvater Achmed es vor 240 Jahren geschafft, über dem höchsten Gipfel der Welt zu kreisen, ohne zu ersticken. Drei Jahre später war es ihm dann auch gelungen, für einen halben Tag auf jenem Berg zu wandern und Gesteins- und Eisbrocken von ihm mitzunehmen. Die Isfahanis hatten dazu noch zwanzig Jahre gebraucht, sehr zum Neid der indischen Teppichknüpfrerfamilie Barata.

Ali Bashir wartete, bis sein Flugteppich den silbern glänzenden Nil überquert hatte und nun über eine dunkelgraue Fläche dahineilte. Nun holte er aus seiner Umhangtasche eine von einem befreundeten Glasschleifermeister aus Luxor erstandene Brille mit dem Namen "König der Falken" hervor. Damit konnte er sowohl bei ausreichendem Mondlicht wie am hellen Tag sehen als auch durch reine Augenbewegungen und Gedanken weit unter ihm liegende Dinge und Bodenmerkmale so nahe sehen, als flöge er nur zwei Ellen darüber hinweg. Kaum hatte er die Brille aufgesetzt fischten auch die mit ihm reisenden hochrangigen Zauberer nach solchen Sehhilfen, um die unter ihnen dahineilende Landschaft zu betrachten. So hatten die Reisenden was von der Überquerung der großen Wüste, die bald in schroffes Bergland und dann in einen weit ausgedehnten Urwald überging. Ali genoss es, die einzelnen Bäume näher heranzuholen und dachte an seine treue Gattin Genna, die eine Meisterin der magischen Pflanzenkunde und Zaubertrankbraukunst war. Die hätte sicher alle zwei Meilen landen und die im Urwald wachsenden Kräuter genauer betrachten und auf ihre Verwendbarkeit prüfen wollen. Doch die mit Ali zusammen reisenden hohen Herren hatten verlangt, ohne Zwischenlandung ans gewünschte Ziel zu reisen. Immerhin konnten die Bashir-Teppiche das völlig mühelos, ja hätten bei Erreichen des Ziels gleich kehrtmachen und an den Ausgangsort zurückkehren können, ohne sich erholen zu müssen.

Die Stunden vergingen wortwörtlich im Fluge. Als die Morgenröte den östlichen Himmel beherrschte mussten die Reisenden ihre für Fernsicht bei Nacht eingestimmten Sehhilfen abnehmen, sonst wären sie wohl vom Widerschein des Morgenlichtes geblendet worden. Als dann die Sonne selbst als großer, gelbroter Glutball über den Horizont stieg und die unter ihnen dahinjagende Landschaft erleuchtete war es, als überflögen sie einen unendlich großen grünen Teppich, der nur ein wenig flirrte. Sie hatten schon lange jenen Breitengrad überquert, den die europäischstämmigen Landvermesser und Kartenzeichner als Äquator bezeichneten. Nicht mehr lange, und sie würden über den Indischen Ozean fliegen.

Als sie im Licht der nun strahlend hellgelben Sonne das weite Weltmeer unter sich hatten genossen die Reisenden jenes himmelgleiche Blau. Noch flogen sie auf der vorbestimmten Reisehöhe. Ali nutzte den für Fernverständigung erdachten Luftzauber, um sich bei seinen drei jüngeren Brüdern und dem Vetter zu erkundigen, die auf den anderen Teppichen flogen und die Unterhändler der einzelnen Abteilungen beförderten. "Das Zeichen für nahes Ziel glüht auf, Bruder Ali", hörte Ali seinen auf dem Gepäckbeförderungsteppich wachenden Bruder. Ja, jetzt sah er es auch, dass das eingewebte Zauberzeichen für Bestimmungsort und sichere Lage nicht mehr im regenbogenfarbigen Muster der gefärbten Fäden schillerte, sondern einen roten Farbton angenommen hatte, der von Atemzug zu Atemzug immer heller wurde. Der Teppich erfasste über all die in ihm wirkenden Ortsbestimmungszauber, dass er in der Nähe des festgelegten Zieles war. Wenn das Zeichen für Bestimmungsort von Rot zu Sonnengelb und dann zu Himmelblau wechselte waren sie über dem Ziel, ob unsichtbar oder nicht. Dann würden die Teppiche von selbst in federgleichem Sinkflug hinabgleiten und durch die aus verschiedenen Luft- und Wasserzaubern geformte Verhüllung dringen. Wie das mit den Flugzaubern der Teppiche zusammenwirkte galt es noch zu erfahren. Denn bis heute war noch kein Flugteppich aus Nordafrika, Indien oder Persien auf dieser Insel gelandet.

"Wir sind über dem Ziel!" verkündete Ali, als das erwartete blaue Leuchten des Bestimmungsortzeichens glomm. Als habe er dem Teppich die Landung befohlen sank dieser auch schon in die Tiefe. Noch war kein Land zu sehen. Es wirkte, als würden die fünf ägyptischen Flugteppiche gleich im offenen Ozean nidergehen und sich dann mit Salzwasser vollsaugen und versinken. "Nah, großer Bruder, sind wir am rechten Orte?" fragte Alis jüngerer Bruder Hassan, der den Teppich mit den Schreibern und Stellvertretern Al-Kahiris führte.

"Wenn nicht ist die Verhandlungsreise gleich gescheitert", gab Ali nur für seine Brüder und den Vetter hörbar zurück. Jamil Al-Kahiri, der derzeitige Zaubereiminister Ägyptens, blickte den Teppichlenker an und sagte: "Offenbar sorgen Sie sich, dass wir vielleicht die falschen Standortangaben erhalten haben. Doch seien Sie versichert, dass meine treuen Gesinnungsbrüder diesen Ort und seine Lage auf der Erdkugel genau bestimmt und weitergemeldet haben."

Ali hütete sich, bei der Erwähnung von Al-Kahiris Gesinnungsbrüdern verächtlich zu grinsen. Dieser zeitweilige Lenker der ägyptischen Zaubererwelt machte keinen Hehl daraus, wem seine eigentliche Verbundenheit gehörte. Bashir dachte mal wieder daran, dass seine Familie schon mehrmals mit jener Bruderschaft aneinandergeraten war, die sich berufen fühlte, die Menschen vor dunklem Zauberwerk zu schützen und dabei nicht selten selbst auf dunkle Zauberei zurückgriff, weil manches Gift nur mit einem entsprechenden Gegengift und mancher Flächenbrand nur mit einem Gegenfeuer bekämpft werden konnte, so die Brüder des blauen Morgensternes, zu denen auch Alis größter Gegenspieler in Sachen Flugteppiche gehörte.

Unvermittelt begann der Reiseteppich zu erbeben. Seine Ränder flatterten und warfen Falten, die den Reisenden beinahe die Beine wegschlugen. Ali fiel halb von den unbeherrschbar scheinenden Bewegungen halb aus eigenem Antrieb auf die Knie. Er legte seine linke Hand auf eines der eingewebten Zeichen und zog mit der rechten seinen Sandelholzzauberstab mit Phönixfederkern frei. Falls die Flugbezauberung des Teppichs völlig aus dem Gleichgewicht geriet oder gar erlosch musste er sofort den Zauber "Weg der losen Feder" wirken, der alles in Rufweite solange federleicht machte, bis sie für mehr als einen langen Atemzug auf festem Boden waren. Diesen Notlandezauber musste jeder Meister der Zauberteppichweberzunft im Schlaf beherrschen.

Tatsächlich ruckelte und bockte nicht nur Alis Flugteppich wie ein scheuendes Kamel bei aufziehendem Sandsturm. Mal drehte sich der Teppich links herum, mal rechts herum. Mal drohte er, nach rechts oder links umzuschlagen wie ein kenterndes Schiff im Sturm. Dabei formte sich aus dem bisher blauen Widerschein des Meeres erst graublauer, flirrender Nebel, dann ein verwirrendes Flackern und dann die Aussicht auf ein fest im Meer ruhendes Stück Land. Die Teppiche drehten sich und hüpften. Die darauf reisenden Zauberer drängten sich um die Teppichführer, während die Ränder der Teppichränder wild flatterten. Dann, mit einem mal, sanken alle Teppiche lotrecht zur nun klar erkennbaren Landmasse ausgerichtet zu boden. Ali und seine Brüder mussten den Federleichtzauber nicht mehr ausführen. Sicher und ruhig sanken die fliegenden Teppiche auf eine von frischem Gras bewachsene Fläche hinunter. Nun konnten die Reisenden auch die aufgebauten Zelte erkennen, die auf dem genauen Mittelpunkt des Eilandes standen. Jeden Atemzug um zwei Ellen sanken die Teppiche herunter. Dann kamen sie mit ihren ganzen Flächen auf der kurzgeschnittenen Grasfläche auf. In dem Augenblick erlosch auch die unsichtbare Schutzkuppel gegen Windböen und Luftmangel. Das merkten die Reisenden daran, dass sie auf einmal das regelmäßige Rauschen der Brandungswellen hörten, die feuchte Meeresluft auf ihrer Haut fühlten und die in der Luft gelösten Salzwassertröpfchen rochen. Die Teppiche waren sicher gelandet. Sie waren am gewünschten Ziel.

"Hochgeschätzte Herren Ministeriumszauberer, im Namen meiner altehrwürdigen und ruhmreichen Familie verkünde ich, dass wir das von Ihnen gewünschte Reiseziel erreicht haben und bedanke mich für das in die Künste meiner Familie gesetzte Vertrauen. Sie können nun den Teppich verlassen und sich mit Ihren anderen Mitreisenden zusammenfinden. Ich wünsche Ihnen allen einen erfolgreichen, gewinnbringenden Aufenthalt auf der verborgenen Insel der Verhandlungen", sprach Ali Bashir mit unüberhörbarer Erleichterung und Stolz. Jamil Al-Kahiri bedankte sich im Namen des ägyptischen Zaubereiministeriums und winkte seinen Mitreisenden zu, vom Flugteppich herabzusteigen, damit dieser zusammengerollt und in dem von den Bashirs auf dem Gepäcktrageteppich mitgeführten Zelt der eisernen Sicherheit verstaut werden konnte.

Jenes Zelt der eisernen Sicherheit war als oberstes Frachtstück auf dem Gepäckteppich befestigt gewesen und wurde innerhalb von nur zehn Sekunden heruntergezaubert. Ali winkte mit dem Zauberstab dem von ihm geführten Teppich zu und befahl "Begib dich zur Ruhe!" Sogleich rollte sich der Teppich so fest zusammen, das gerade noch eine Maus hindurchlaufen konnte, ohne an der Innenseite der Rolle anzustoßen. Wie aus dem Nichts erschinen blaue Seile, die sich wie blitzartig bewegende Schlangen um den aufgerollten Teppich wickelten und auf Alis vielgeübte Zauberstabbewegungen hin miteinander verknoteten, sodass der Teppich nicht mehr entrollt werden konnte. Jetzt erst sah Ali, dass auch seine Verwandten ihre Teppiche zusammengerollt und mit Seilen gebunden hatten. Keine zwanzig Schritte vom Landefeld entfernt wurden die zwölf silbernen Heringe des Zeltes der eisernen Sicherheit in den Boden getrieben. Das graublaue Zelt richtete sich wie von selbst auf. Ali öffnete die rundbogenförmige Zeltklappe durch Handauflegen. Dann beförderten sie die zusammengerollten Teppiche mit den vielfach verwendeten Fernlenkzaubern ins Zeltinnere. Sie hörten dabei, wie die angekommene Reisegruppe von einem anderen Zauberer begrüßt wurde, der Englisch mit ostafrikanischem Akzent sprach, wie ihn Ali und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Arif von Handelsreisen an die Ostküste kannten.

"So es uns aufgetragen wurde, Brüder und Vettern, so ist es nun nicht mehr an uns, den zusammenfindenden Gesandtschaften beizuwohnen, bis wir den klaren Rückkehrbefehl von Minister Al-Kahiri oder dessen Bruder Omar erhalten, der ja gerade die auswärtigen Angelegenheiten verwaltet. Richten wir uns also im Lager der Lenker und Gepäckträger ein!"

"Ali, die Landung hier war nicht so ungefährlich", wandte Arif ein. Wenn sie unter sich waren galt die brüderliche und geschäftliche Hierarrchie nicht, und jeder konnte jederzeit seine Meinung äußern. Ali schloss schnell das Zelt von innen. Jetzt galt der eiserne Schutz, der zugleich auch vor Fernbelauschung und Fernbeobachtung schützte.

"Arif, ich bin ganz deiner Meinung", sagte Ali Bashir. "Irgendwas im Verhüllungsgefüge dieser Insel stört die Abstimmung von Fluglage und Wegfindezauber und hat auch mit dem Wall des beschützenden Windes gestritten. Wenn einer von unseren Reisenden zu nahe am Rand gestanden hätte wäre er womöglich doch vom Teppich gefallen. Einen Moment lang hatte ich wirklich die Befürchtung, wir müssten Tote beklagen und hunderte von Pfund reinen Goldes an die Hinterbliebenen auszahlen."

"Ja, es war schon ein sehr guter Rat, die Gepäckstücke zusammenzubinden", erwiderte Tarik, der den Gepäcktrageteppich geführt hatte.

"Wie viele Ellen sicheren Sinkens hast du gezählt, großer Bruder?" fragte Tarik den Familienältesten. "Gerade zweihundert, Tarik. Deine Frage zielt darauf ab, wie sicher wir wieder aufsteigen können. Nun, Ich empfehle daher beim Abflug von hier, den Aufstieg nur halb so schnell zu vollziehen wie beim Abflug aus Ägypten, damit die Fluglagebezauberung sicherer wirkt."

"Das sehe ich genauso, Ali", sagte Tarik. "Jedenfalls sollten wir einen vollen Tag vergehen lassen, bevor wir unsere Teppiche wieder zum Fliegen bringen." Dem stimmten alle hier zu. Also musste die ägyptische Reisegruppe wenigstens bis morgen Mittag durchhalten, bevor sie wie auch immer erfolgreich wieder abreisen konnte.

"Gut, wir lassen die Teppiche jetzt hier im Zelt und suchen dieses Lager der Lenker und Gepäckträger auf, damit wir da angemeldet sind", legte Ali Bashir fest. Da erklang ein merkwürdiges Wimmern und Summen. Sofort richteten sich alle Blicke auf den Allwarner, eine aus einem handgroßen Smaragd herausgemeißelte Kugel auf einem siebenbeinigen Silbergestell. Diese Kugel drehte sich gegen die Sonnenlaufrichtung im Kreise und blitzte alle zwei Sekunden goldbraun auf. "Irgendwer ist unsichtbar in den Warnkreis unseres Zeltes eingedrungen", sagte Ali und blickte genauer auf den Allwarner. "Er kann den Eindringling jedoch nicht erfassen, sondern nur, dass der Enthüllungszauber gegen magisch unsichtbare Unbefugte erschüttert wird. Das heißt, wer da draußen herumschleicht ist immer noch unsichtbar."

"Häh?! Unsere Warn- und Enthüllungszauber brechen jeden Unsichtbarkeitszauber", knurrte Arif. "Ich habe noch die Schreie von Demiguisen im Ohr, die aus blanker Neugier meinten, einmal in dieses Zelt reinzu wollen und dabei ihre natürliche Unsichtbarkeit eingebüßt haben. Das muss denen richtig wehgetan haben und ... Oh, jetzt ist der Allwarner wieder ruhig." Alle sahen auf die nun schlagartig zum Stillstand gekommene, weder summende noch blitzende Kugel.

"Gut, es ist wohl nötig, dass mindestens einer von uns hier wacht, bis wir wieder abreisen. Arif, den Losbecher. Wir würfeln aus, wer zuerst hierbleibt und wielange die Wachzeiten sind", grummelte Ali Bashir ungehalten. Denn wenn es hier wirklich Spione gab, die gegen den Enthüllungszauber gesichert waren mussten sie ihre kostbaren Flugteppiche ständig beaufsichtigen. Der eiserne Schutz alleine mochte da nicht ausreichen.

Der sechsseitige Würfel bestimmte den jüngsten der fünf Teppichlenker zum ersten Wachhabenden. Der zwölfseitige Wachzeitwürfel zeigte die sechs, was hieß dass die Wachzeit sechs Stunden dauerte.

"Bei Isis und Horus, sechs Stunden ohne Essen und Trinken und in diesem Zelt ohne Sichtöffnungen", knurrte Abul-Abbas, den das Los getroffen hatte. Ali gemahnte ihn, Haltung zu bewahren. "Wir bringen dir zwischendurch was. Das Zelt hält die Hitze fern. Bleib in der Nähe des Allwarners, dass du uns im Bedarfsfall darüber erreichen kannst!" sagte Ali. Dann verließen er und die drei anderen das Zelt des eisernen Schutzes.

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In ihr stritten die Freude Dianas am schnellen Fliegen und die Abscheu Deeplooks, überhaupt zu fliegen. Immer wieder drangen die Erinnerungen Deeplooks in Dianas Bewusstsein, dass er von diesem verfluchten dunklen Pharao überrumpelt und auf einem Flugteppich in dessen dunkles Grab entführt worden war. Reinrassige Kobolde verabscheuten jede Fortbewegung, bei der sie nicht auf oder unter der Erde reisen konnten, ob Schwimmen oder Fliegen. Diana fragte sich dabei mal wieder, wie es die britischen Kobolde geschafft hatten, auf den europäischen Kontinent zu gelangen und von da aus noch über die großen Ozeane auf andere Erdteile vorzudringen. "Schiffe mit großen Ladungen Bruchgestein!" erhielt sie eine nicht wirklich erfreut tönende Antwort von Deeplook, als sie geradewegs über die Insel Mombasa hinwegflog.

"Beeile dich mit der Landung. Dieses Herumgefliege ist eine Beleidigung für deine und meine Art", drängte Deeplook. "Du befindest dich ganz bequem, da wo du bist. Ich bin immer noch eine Hexe, Deeplook", schickte sie dem in ihr lebenslänglich eingekerkerten Geist des Gründers eines einstmals gefürchteten Geheimbundes zurück. "Du dringst gleich in den Verhüllungszauber der Insel ein und ..." Da passierte es auch schon. Diana Camporosso hörte die an ihrem unsichtbaren Besen angebrachten Zaubersteine laut sirren und fühlte, wie unsichtbare Kräfte versuchten, sie aus der Bahn zu drängen. Ein plötzliches Dröhnen, nicht über die Ohren, sondern über ihren Sinn für die Erdmagnetkraftlinien, peinigte ihren Kopf. Der Besen zwischen ihren Beinen bockte kurz und schien sich innerhalb von wenigen Sekunden aufzuheizen. Dann war es auch schon vorbei. Der Harvey-Besen war weiterhin unsichtbar und glitt nun völlig sicher über die scheinbar aus dem Ozean aufgetauchte Insel hinweg. Allerdings erkannte die unsichtbare Besenfliegerin, dass ihr der Sinn für den Verlauf der Erdmagnetfeldlinien verlorengegangen war. Besser, sie konnte keine Magnetfeldlinien hier erspüren. Damit hatte sie jedoch rechnen müssen, wo sie wusste, dass die Insel alle Erdmagnetkraftlinien um sich herumlenkte und zu einer unsichtbaren Glocke aus verdichteter Magnetkraft machte.

Diana Camporosso überflog jenen Ort, an dem die Versammlung stattfinden sollte. Hier würde sie heute noch die mitgebrachten acht Luftschallverpflanzungskannen verteilen und hoffte, dass diese genug außerhalb der möglichen Klangkerkerbezauberung gesprochenen Worte einsaugen und speichern konnten.

"Flugteppiche!" hörte sie Deeplook, als sie über sich wie aus einer flimmernden Nebelwolke heraus fünf fliegende Teppiche erscheinen sah, die noch wild und ungebärdig herumkreiselten und schaukelten. Als diese dann völlig waagerecht liegend in die Tiefe glitten nahm die unsichtbare Besenreiterin genug Abstand, um zu sehen wer kam. Sie erkannte die ägyptischen Ministeriumszauberer und ihr Gepäck. "Die waren offenbar nicht ganz so gut gegen die Verhüllungs- und Schutzzauber abgesichert", spöttelten Diana und Deeplook gleichzeitig. Diana empfand das Fehlen der Erdmagnetwahrnehmung noch immer als befremdlich. Dennoch war sie entschlossen, ihren Plan weiterzuverfolgen. Sie wollte wissen, wie die Afrikaner zu den Kobolden standen und worauf sie sich mit den Europäern einlassen würden.

Als sie sah, wo die Teppiche landeten erkannte sie Dank Deeplooks Wissen auch die ägyptische Zaubereiministeriumsabordnung. Sie interessierte es, wo die Teppiche aufbewahrt wurden. Als sie das von den Lenkern aufgebaute Zelt sah beschloss sie, es sich näher anzusehen. Das wollte sie jedoch zu Fuß tun, weil sie sich trotz ihrer Hexenabstammung mit den Kräften der Erde besser fühlte als auf einem nicht ganz so schnell fliegenden Stück Holz mit silberner Lackierung und dem Schweif aus Demiguisenhaar.

Sie landete etwa hundert Meter von jenem Zelt entfernt und steckte den Besen in das von Ladonna erhaltene Schrumpffutteral zurück. Dann machte sie sich auf die ihr eigene Art völlig unsichtbar und lief los. In diesem Zustand konnte sie leider nicht die besondere Fähigkeit nutzen, bei geschlossenen Augen mindestens zehnmal so gut zu hören wie bei sicht auf die Umgebung.

Als sie nur noch dreißig Meter von jenem graublauen Zelt entfernt war, in welches die Flugteppiche hineingeschafft worden waren meinte sie, von einer wild kreisenden Luftsäule umschlossen zu sein. Sie fühlte, wie ihre Rüstung sich erhitzte und meinte, ein bedrohliches Flackern vor sich zu sehen, als wolle gleich die ganze Welt in grellen Flammen verschwinden. Sie musste jeden Schritt zurück hart erkämpfen. Doch es gelang ihr. Alle sie bedrängenden Empfindungen waren wieder weg. Sie stellte jedoch fest, dass sie nicht mehr völlig unsichtbar war. Sie sah sich selbst wie einen bleigrauen Nebel mit geisterhaften Merkmalen von Armen und Beinen. Sie eilte schnell noch einige Meter zurück und konzentrierte sich. Ja, die Erde gab ihr die nötige Kraft, wieder ganz unsichtbar zu werden. Doch sie meinte, dass ihre besondere Rüstung um einiges schwerer und bei weitem nicht mehr so geschmeidig am Körper lag. "Also gibt es ihn doch, den Ruf der dreifachen Enthüllung", erhielt sie eine Bemerkung Deeplooks als unerfragte Antwort auf das, was ihr gerade widerfahren war. "Nur die Rüstung des hochehrenwerten und hoffentlich bald wiedererstarkenden Bundes hat dich davor bewahrt, sichtbar zu werden. Alle nicht mit dieser Rüstung bekleideten wären wohl enthüllt und sicher auch an Ort und Stelle festgesetzt worden."

"Wo kommt der Zauber her?" fragte Diana und wusste sofort, dass er angeblich in einem Reich vor Ägypten erfunden worden war und die Karthager und Ägypter ihn wohl benutzt hatten. Doch weil die Kobolde des Bundes bisher nie damit in Berührung geraten waren wusste von denen auch keiner, ob es nur Gerüchte und Drohungen waren. Sie wusste es nun genauer und erkannte, dass ihr Vorhaben, die Zusammenkunft zu belauschen, erheblich riskanter geworden war als sowieso schon vermutet.

Nun einen großen Bogen um die Zelte der Ägypter machend suchte sie nach den Stellen, wo sie ihre Schalsammelgefäße absetzen wollte. Dabei merkte sie, dass die Rüstung nicht mehr so leicht und geschmeidig war. Sie hatte den Eindruck, in dicken, bis in die letzte Faser vollgesogenen Wollsachen herumzulaufen. "Schwächezeichen der Rüstung wegen Überlastung", fiel es ihr ein, was dies bedeutete. Die Rüstung einer Vollstreckerin hatte fast alle eingewirkte Kraft aufgebraucht, um sie weiterhin unsichtbar und unfestsetzbar zu halten. Hätte sie noch länger an diesem Zelt der Teppichreiter herumgestanden wäre sie womöglich nicht nur völlig sichtbar geworden, sondern hätte eine bleischwere, unbewegliche Panzerrüstung mit sich herumzutragen gehabt.

Ohne worthafte Gedanken auszutauschen erfuhr Diana Camporosso, dass sie ihre Rüstung wieder mit voller Kraft aufladen konnte, wenn sie außerhalb der Magnetlinien-Aussperrblase für mindestens hundert Herzschläge durch die Tiefen der Erde reiste. Denn die natürlichen Erdstränge konnten viele Koboldbezauberungen regenerieren.

Als sie endlich alle acht mitgebrachten Schallsammelkannen so verteilt hatte, dass sie zusammen die in den Beratungszelten oder darum herum gesprochenen Worte einsammeln und speichern konnten schlich sich Kradanoxa Deeplook zu ihrem Besen zurück. Da sich unterschiedliche Unsichtbarkeitszauber gegenseitig auszulöschen trachteten musste sie erst wieder sichtbar werden. Sie meinte, ein heißer Schwall Wasser flösse aus ihrem Körper die Beine entlang in den Boden ab. Ihre Rüstung erzitterte. Sie wurde wieder sichtbar. Schnell bestieg sie den Harvey-Besen und klammerte sich an ihm fest. Sie stieß sich ab und stieg damit unsichtbar nach oben. Allerdings meinte sie nun, dass ihr Körper immer schwerer und schwerer würde. Sie fürchtete schon, dass der Besen dieses Gewicht nicht mehr tragen konnte. Doch der Harvey-Besen stieg weiter unbeirrt. Also wurde sie nicht schwerer, sondern nur schwächer. "Fliegen ist und bleibt das größte Verbrechen an den Erdkindern!" zeterte Deeplooks Gedankenstimme. Sie erfasste, was ihr da widerfuhr. Weil der feste Bodenkontakt fehlte saugte ihr die Rüstung Körperkraft aus dem Leib, weil diese durch den Kobold- und Zwergenanteil in ihrem Blut die Schwingungen der natürlichen Erdmagie ausstrahlte.

Diana fühlte, wie der feste Griff um den Besenstil immer schwächer wurde. Sie brachte den Besen wieder zu Boden und landete hinter einem natürlich gewachsenen Felsen. Kaum stand sie wieder sicher auf dem Boden verflog der Eindruck, eine zentnerschwere Last zu tragen. Die Vollstreckerinnenrüstung begann im Takt ihres eigenen Herzens zu pochen. Diana versuchte, sich wieder unsichtbar zu machen. Doch sie schaffte es nicht, genug Kraft aus der Erde zu ziehen. Besser, die von ihr beschworene Kraft wurde von ihrer Rüstung restlos absorbiert. "So geht's auch, Diana. Immer wieder Unsichtbarkeit versuchen!" trieb Deeplook seine Trägerin an. Diana keuchte schon, weil der bereits erlittene Verlust ihrer Körperkraft und die Fehlversuche, unsichtbar zu werden, nicht nur körperlich anstrengten. Dennoch versuchte sie es alle fünfzig Herzschläge, unsichtbar zu werden. Ja, die Rüstung fühlte sich nicht mehr so steif und schwer an wie vorhin noch. Ja, sie konnte sie offenbar damit auffrischen, dass sie die für den Unsichtbarkeitszauber nötige Kraft aus dem Boden saugte. Was sie jedoch nicht mitbekam war, dass die von ihr gewirkte natürliche Erdzauberei bemerkt wurde.

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Jamil Al-Kahiri blickte mit mehr Erstaunen als Unbehagen zu dem baumstammgleichen Mann im goldgelben Umhang hinauf, dessen tiefbraunes Kraushaar und gleichartiger Vollbart den Eindruck eines aufrechtgehenden Löwens vermittelte. Doch Akil Mbenga, der kenianische Zaubereiminister oder wie er aus dem Swaheli übersetzt wurde, höchster Weiser der hohen Künste und Mächte, war kein Löwe, kein Simba. Er war seit fast einem Jahrhundert der von den anderen 143 magischen Familienvätern Kenias bestätigte Fürsprecher und Verwalter deren Regeln. Der etwas mehr als zwei Meter hohe ostafrikanische Zaubereiminister strahlte eine ruhende Kraft aus, die man achten musste und sich davor hütete, sie zu verärgern. Allein schon seinetwegen war es die Reise wert, empfand der von den Brüdern des blauen Morgensternes zum vorläufigen, vielleicht sogar dauerhaften Zaubereiminister Ägyptens ernannte Jamil Al-Kahiri.

Mbenga freute sich ganz ehrlich, dass die meisten afrikanischen Zaubereiminister seiner Einladung gefolgt waren. Al-Kahiri wollte deshalb keine Beschwerde äußern, weil seine Abordnung fast über der Insel abgestürzt war.

Mbenga begrüßte sämtliche Gäste persönlich. Er machte dabei keinen Unterschied, ob der gegrüßte Gast ein rechtmäßig amtierender oder nur ein auf Zeit eingesetzter Zaubereiminister war. Außerdem bewertete er Al-Kahiri und Al-Assuani gleichrangig. Das mochte Karim Al-Assuani behagen oder nicht, Jamil Al-Kahiri musste seine in langen Jahren erprobte Selbstbeherrschung anstrengen, um sich seine Abneigung gegen Al-Assuani nicht anmerken zu lassen. Omar Al-Kahiri hielt sich bereits an den kenianischen Amtskollegen, mit dem er nachher eingehende Verhandlungen führen wollte, und zwar so, dass im Falle, dass den Al-Assuanis die Zaubereiverwaltung Ägyptens zurückgegeben werden sollte, nichts mehr dagegen machen konnte, ohne diplomatische Verwerfungen zu erzeugen.

Als alle Gäste begrüßt waren lud Mbenga sie in das Zelt der Beratungen ein, ein an die vier Meter hohes, achteckiges Zelt aus grauem Leder, das durchaus aus der Haut von Errumpenten gegerbt worden sein mochte. Innerhalb des Zeltes befanden sich zwölf saalgroße Abteilungen mit kreisrunden Sichtluken auf durchschnittlicher Augenhöhe. Die waren von außen nicht zu sehen gewesen. Also kannten sie in Ostafrika ähnliche Erscheinungsbildüberdeckungszauber wie in den arabischen und europäischen Zauberergemeinschaften. In der Mitte des Zeltes lag ein kreisrunder Saal, dessen Zentrum wiederum eine mannsgroße Trommel war, neben der mehrere unterschiedlich große Schlegel bereitlagen, welche mit hartem und welche mit weichem Ende. Al-Kahiri fragte sich, ob Mbenga mit ihnen ein animistisches Begrüßungsritual vollziehen wollte, um die Ahnengeister seines Volkes gewogen zu stimmen. Doch Mbenga machte keine Anstalten, ein solches Ritual zu vollziehen. Er erwähnte in seinem von den alten Kolonialherren aus England erlernten Dialekt, das sie in den nun anstehenden vier Tagen aus dem Gewirr vieler Stimmen die eine, laute Stimme bilden wollten, die zu den Europäern sprechen sollte. Für dieses Vorhaben sollten nun die Vertreter verschiedener Zweige der Zauberei in den betreffenden Beratungskammern zusammentreten und mit ihrer Beratung beginnen.

Gerade als die in der großen Halle versammelten Abordnungen durch die vier offenen Türen hinauseilen wollten rannte ein junger Zauberer herein und rief was in der Sprache Swaheli, die Jamil nicht konnte. Sein Bruder Omar verstand es jedoch und zischte ihm zu: "Die Überwachungszauberer haben eine pulsartig wiederkehrende Erdkraftentnahme ermittelt. Zaubereiminister Mbenga soll beschließen, was dagegen zu tun ist."

"Ungenehmigte Erdkraftentnahme? Wer von den allen hier könnte sowas veranlasst haben?" fragte Jamil. "Jedenfalls keiner von uns. Könnte ein erdkraftgebundenes Wesen sein ... vielleicht sie, die Tochter des schwarzen Felsens."

"Wie, wieso sollte die hier sein, und vor allem, wie soll sie auf die Insel gelangt sein, wo gerade hier eine Abschirmung gegen Erdmagnetkräfte wirkt?" fragte Jamil.

"Sie kann den kurzen Weg gehen, Bruder Jamil. Am Ende hat sie von der Konferenz erfahren und will hier fette Beute machen. So viele Zaubereiminister und ihre ranghöchsten Mitarbeiter auf einmal."

"Woher soll sie wissen -? Wir sollten zusehen, das herauszufinden. Sag den anderen Mitbrüdern bescheid, die kein Swaheli können und ..."

"Werte Gäste!" verschaffte sich Akil Mbenga Aufmerksamkeit. "Meine Überwachungszauberer melden, dass womöglich jemand einen Angriff gegen uns vorbereitet oder bereits ausführt. Daher bitte ich Sie alle, hier in der Halle zu bleiben. Das Beratungszelt ist, sobald es für Beratungen geöffnet wurde, eine vielfach gepanzerte Festung. Hier kommt niemand hinein, nicht durch die Erde, nicht durch die Luft, nicht über den zeitlosen Weg, solange die ranghöchsten Mitglieder der Beratung in dieser Halle versammelt sind. Also bleiben Sie ruhig und warten sie, bis unsere Eingreiftruppe den Vorfall aufgeklärt und eine womöglich bestehende Gefahrenquelle beseitigt hat! Danke!"

"Minister Mbenga, wir sind von einer Bruderschaft, die gegen gefährliche Wesen kämpft", erwiderte Omar Al-Kahiri. Ich erbitte die Genehmigung, das Beratungszelt zu verlassen und Ihren Truppen im Kampf gegen was auch immer beizustehen."

"Mir ist bekannt, dass Sie jener morgenländischen Vereinigung von Zauberkriegern angehören, Mr. Al-Kahiri. Doch im Augenblick erfüllen Sie die Aufgaben eines ministeriellen Beamten und sind daher Schutzbedürftig. Ich kann und darf Ihr Leben nicht gefährden, selbst wenn Sie mich darum bitten, so das Gesetz zur Abhaltung internationaler Unterredungen mit ranghohen Beteiligten, das auch in Ihrem Land gilt."

"Will sagen, Sie lassen uns nicht mehr hinaus, bevor ..." die Türen schlossen sich schnell und laut, bevor Omar Al-Kahiri seine Frage vollendet hatte. "Gut, Frage beantwortet", schnarrte Omar Al-Kahiri. Nicht nur er kam sich gerade vor wie die Maus in der Falle, welche noch dazu unter einer stählernen Käseglocke stand. Omar wisperte seinem Bruder zu: "Amm Ende erwischt uns alle was ähnliches wie bei Ladonnas pseudorömischer Villa."

"Ruf ja nicht den Namen der Chaosschlange, wenn du nicht fähig bist, gegen sie zu kämpfen!" unkte Jamil Al-Kahiri.

Einer der Delegierten versuchte wahrhaftig den Versammlungsort auf zeitlosem Weg zu verlassen und stellte dabei sehr schmerzhaft fest, dass eine starke, vielleicht mehrfach gestaffelte Apparierabwehr in Kraft war. Zwei Heiler aus Mbengas Gefolge eilten zu dem aus einer Wolke aus knisternden Blitzen reapparierten und luden ihn auf eine der Sitzbänke, die noch frei waren. "Dies war nicht nötig", bemerkte Akil Mbenga bedauernd dazu. Dann hörte er auf das Flüstern seines Botens. Es war für alle anderen zu leise.

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Es waren Schwingungen in der Luft, die sie warnten. Dann hörte sie aus der Richtung des großen Versammlungszeltes aufgeregte Stimmen. Sofort hörte sie damit auf, Unsichtbarkeitskraft aus der Erde zu beschwören. Noch konnte sie sich selbst nicht unsichtbar machen. Zumindest aber konnte sie sich in ihrer Rüstung wieder schnell bewegen. Als sie sich umblickte erkannte sie mehrere auf ihren Standort zufliegende Besen. Offenbar hatte ihr Tun ausgelegte Spürvorrichtungen angeregt. Die Ostafrikaner verließen sich also nicht allein auf den die Insel umgebenden Wall der zwölf Winde. Durch die Erde fliehen konnte sie nicht, weil die ausgesperrten Magnetlinien diesen Zauber verfremdeten. Blieb ihr also nur der Harvey 5.

Diana Camporosso saß auf und stieg beinahe senkrecht nach oben. Dabei beging sie den nächsten Unterlassungsfehler. Sie versuchte, durch den Scheitelpunkt des die Insel umgebenden Walls zu brechen und löste eine Kaskade von blauen und roten Blitzen aus, weil sie die sich hier oben kreuzenden Kraftströme unterbrach und diese dadurch um sie herum entlud. Dadurch verriet sie auch wo sie gerade war. Sogleich erkannte sie, wie das fliegende Einsatzkommando der Kenianer auf ihren neuen Standort einschwenkte und beschleunigte. Diana Camporosso sah, dass ihre neuen Gegner auf Feuerblitzen ritten. Ihr Harvey 5 konnte diesen superschnellen Rennern nicht davonfliegen. Außerdem kam sie so nicht durch die Absperrung. Sie schaffte es gerade noch, zwei ausfächernden Zauberflüchen zu entrinnen und jagte nun im Tiefflug über den Boden dahin. Die Unsichtbarkeit war im Moment ihre einzige Absicherung. Doch die Kerle hatten noch einen Trick auf Lager. Sie schleuderten kleine, silberne Feuerbälle aus ihren Zauberstäben, die dünne Linien in die Luft zeichneten. Als Diana erkannte, dass vier der kleinen Feuerkugeln eine meterbreite, kreisende Röhre aus silber-blauem Licht erschufen stellte sie fest, dass dieses magische Leuchten genau die Flugbahn ihres Besens nachzeichnete. Die ausgeschickten Feuerkugeln flogen weiter und weiter und verschmolzen, als sie die kreiselnde Röhre aus magischem Licht berührten. Diana erkannte, dass diese Feuerkugeln die Spur von Flugbezauberung, ja vielleicht auch die eines Unsichtbarkeitszaubers sichtbar machten. Den gemeinen Trick kannte sie noch nicht. "Im Land von unsichtbaren Tieren und Geisterwesen durchaus verständlich", hörte sie Deeplooks Gedankenstimme in sich. Sie verzichtete darauf, ihm zu antworten. Denn gerade erkannte sie, dass die ihre Flugbahn nachzeichnenden Feuerkugeln nur noch hundert Meter entfernt waren und bei deren Geschwindigkeitsüberschuss nur noch wenige Sekunden brauchten, um sie einzuholen. Sie wagte es, hart nach links abzubiegen und flog dabei steil nach unten, um nur zwei Meter über dem Boden im gleichen steilen Winkel wieder aufzusteigen. Das hatte sie beim Quidditch damals in Gattiverdi zweimal gemacht, als sie dort als Sucherin für ihr Schulhaus spielen durfte und ihre Gegnerin auf diese Weise für einen vollen Tag ins Schulkrankenhaus gebracht hatte. Dass ihr Besen das mitmachte war beachtlich. Jedenfalls hielt sie im Aufstieg wieder auf die unsichtbare Abgrenzung zu. Als sie diese nun nicht im Kreuzungspunkt erreichte umwirbelten sie blaue und rote Blitze. Doch diesmal gelangte sie durch die Absperrung hindurch. Das wilde Dröhnen, dass verriet, dass hier die ausgesperrten Erdmagnetlinien gebündelt waren ertrug sie nur, weil sie sonst nur hätte landen können.

Ihr Besen bockte nun wild. Die Schutzsteine flammten auf und sprangen krachend vom Stiel ab. Der Harvey-Besen und seine Reiterin flackerten hell wie eine Kerzenflamme im Sturmwind. Diana Camporosso kämpfte gegen die nun auf sie einstürmenden Luftzauber, versuchte den Besen möglichst auf Höhe zu halten um nicht auch noch in eine Meereswelle einzutauchen. Sie hörte nur das laute Dröhnen, das von ihrem Magnetliniensinn ihren Hörsinn belastete. Dann kippte der Besen nach vorne über und schlug einen halben Looping. Jetzt war oben unten und der Besen flog in Richtung der Insel zurück. Diana fühlte, dass sich der Stiel merklich erhitzte. Wenn sie nicht bald aus den wütenden Windzaubern freikam würde sich der Besen überhitzen, ihr erst die Hände und Schenkel verbrennen und dann womöglich unter ihr in Flammen aufgehen. Ihr blieb somit nur eine einzige Möglichkeit. Sie griff nach ihrem Zauberstab, hielt ihn so fest es ging, während der Besen wieder in Richtung Insel raste. Dann vollführte sie mit dem Harvey 5 zwischen ihren Beinen eine Drehung um die Hochachse und wünschte sich dabei mindestens hundert Kilometer weiter fort.

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Der Einsatztrupp Mbengas hatte die Anweisung, nach unsichtbaren Gegnern zu suchen, die wohl versuchten, den Schutzwall um die Insel zu durchlöchern, womöglich um weitere Mitstreiter dorthin vordringen zu lassen. als der Einsatzleiter dann das Lichterspiel sich entladender Zauberkräfte sah wurde ihm klar, dass jemand auf einem unsichtbar machenden Besen oder selbst als unsichtbares Flugwesen den Ausbruch durch den Scheitelpunkt versuchte. Daher schossen sie alle die Flammen der unerbittlichen Verfolgung aus ihren Zauberstäben. Darauf waren sie stolz. Denn so konnten sie fliegende Wesen und flubezauberte Gerätschaften jagen, die für Augen unsichtbar waren. Tatsächlich fanden und zeichneten die Verfolgungsflammen eine Spur nach, bis diese in einem hektischen Flattern nach links und dann steil nach unten führte. Die Verfolgungsflammen schlingerten und verwirbelten zunächst die sichtbare Spur. Dann nahmen sie offenbar wieder die Schwingungen von Flug- und Unsichtbarkeitszauber auf und jagten steil nach unten. "Nicht hinterherfliegen, warten!" rief der Truppenführer auf Swaheli. Seine Leute gehorchten und sammelten sich auf seiner Höhe. Als die Verfolgungsflammen ein silber-blau flirrendes V nachgezogen hatten befahl der Truppenführer, auf der gerade geflogenen Höhe weiter vorzustoßßen. "Die Feuerblitze sind nicht für eine weitere Jagd über die Grenze hinaus ausgelegt!" rief einer der Einsatzzauberer eine Warnung aus. Alle verstanden und flogen gerade soweit, bis sie fast in den verdichteten Luft- und Wasserzauber gerieten. Nur der unübertreffliche Sofortbremszauber der Feuerblitzbesen bewahrte sie vor der eigenen Vernichtung. Sie sahen, wie ein erst unsichtbarer Besen wild aufleuchtend flackerte. Eine kleinwüchsige Gestalt saß darauf und begann mit den auf sie einstürmenden Luftzaubern zu ringen. Dann überschlug sich der Besen fast und flog wieder auf die Insel zu. "Wenn dieses zu kurz geratene Wesen das aushält umzingeln und zur Landung zwingen!" rief der Truppenführer. Er ging davon aus, dass der kleinwüchsige Eindringling entweder den Besen verlor oder bereitwillig landen würde. Dann blitzte es hell auf. Nur eine halbe Sekunde später krachte ein dumpfer Donnerschlag. Dann war dort nichts mehr, kein Flackern, kein zwischen Unsichtbarkeit und überdeutlicher Sichtbarkeit schwingender Besen mit kleinwüchsigem Reiter.

"Haben Sie das gesehen, Truppenführer Mwangi. Das war eine kleine Frau, vielleicht von einem der kleinwüchsigen Erdvölker aus Europa abstammend. Sie hat die Drehung in den zeitlosen Sprung gemacht."

"Ja, habe ich gesehen", knurrte Mwangi. "Sie ist verschwunden. Vielleicht ist sie aber bei der Ankunft in Millionen Stücke zerplatzt, so laut wie das gerade gedonnert hat."

"Jedenfalls ist sie nicht mehr da. Die Verfolgungsflammen zerfließen im Wallzauber", bemerkte ein anderer Mitstreiter. Mwangi bejahte das und befahl den Rückflug. Er würde Zaubereiminister Mbenga persönlich Bericht erstatten.

Als feststand, dass es auf der Insel keine weiteren Eindringlinge gab und der gemessene Erdzauber wohl dazu diente, jemandem Kraft zuzuführen gingen Mbengas Leute von einer Koboldstämmigen Hexe aus, die sich hier wohl für einen Einbruchsversuch in das Beratungszelt stärken wollte und nicht damit gerechnet hatte, dass ihre Zauberei angemessen werden konnte. Allerdings suchten Mwangis Leute nun nach Spionagevorrichtungen. Als einer seiner Fachkundigen etwas fand, das in regelmäßigen Abständen eine kurze Luftelementarschwingung aussendete schwärmten sämtliche Sicherheitszauberer aus und fanden acht sorgfältig verteilte Silberkannen, die einen ihm unbekannten Luftelementarzauber enthielten. "In sicherem Abstand mit dem Feuer der Vergeltung zerstören!" befahl Mwangi. Die Bestätigung erfolgte sofort.

Als Einsatztruppenleiter Mwangi seinem obersten Dienstherren die vorgeschriebene Meldung gemacht und einen mündlichen Kurzbericht erstattet hatte durfte er sich wieder auf seinen Wachposten zurückziehen. Er hatte nun Befehl, in regelmäßigen Abständen das Beratungszelt umkreisen zu lassen, um neuerliche Spionageversuche im Ansatz zu verhindern.

Werte Gäste. Offenbar wurde unser Treffen an die noch tätigen Mitglieder jenes Koboldgeheimbundes verraten, der in Europa und Nordafrika größtenteils vernichtet wurde. Ebenso offenbar hat es sich bei dem Eindringling um eine weibliche Person gehandelt, die sowohl von Kobolden als auch Menschen abstammen und sowohl das Besenfliegen und das Apparieren erlernt haben muss. Sie muss wohl genau an der Schwelle der Appariersperre verschwunden sein. Dabei hat sie eine Menge Luft mitgerissen, wohl als Aufschaukelung des sie schon umdrängenden Luftzaubers. Ob sie in einem Stück an ihrem wo immer gewählten Zielort ankam oder vielleicht sogar im Transit verlorenging, weil die Zielauswahl zu wirr war wissen wir nicht. Ich habe veranlasst, doppelte Wachen aufzustellen und mit schwenkenden Enthüllungszaubern gegen unsichtbare Eindringlinge abzusichern, dass uns nicht noch ein solcher höchst ungebetener Gast heimsucht."

"Eine Hybridin zwischen Kobold und Mensch, oder zwischen Zwerg und Mensch", knurrte Omar Al-Kahiri. "Ja, und sie flog auf einem tarnfähigen Besen. Es könnte auch jemand aus Ladonnas Feuerrosenschwesternschaft sein, die wissen wollte, wie es nach dem Verschwinden ihrer dunklen Herrin weitergeht", legte Jamil Al-Kahiri nach. Alman Amur, der die Unterhaltung seiner Landsleute und Mitbrüder gehört hatte fügte dem noch hinzu: "Ja, und sie muss zumindest unbeschadet und unentdeckt bis auf die Insel vorgedrungen sein. Erst als sie versucht hat, mehr Kraft aus der Erde zu ziehen ist sie im wahrsten Sinne des Wortes aufgeflogen. Halten wir fest, dass wir die Italiener fragen müssen, wen die kennen, auf den diese Beschreibung passt."

"Wenn es die zehntausend Augen und Ohren waren, werter Mitstreiter Amur, könnte es nicht von deiner Abteilung an die weitergemeldet worden sein, dass hier und heute so viele Zaubereiminister auf einem Haufen zusammensitzen?" fragte Jamil Al-Kahiri argwöhnisch. Dabei sah er, wie Karim Al-Assuani seine Ohren spitzte. "Wissen Sie vielleicht, wer das war, Herr Al-Assuani?" fragte Jamil Al-Kahiri erbost.

"Ich kenne nicht ihren Namen. Aber Ladonna hat mir gegenüber mal von einer kleinwüchsigen Kundschafterin mit besonderen Fähigkeiten gesprochen, mit der sie die Koboldbrut in unserem Land auskundschaften wollte, wenn wir es nicht geschafft hätten, die alle zu erwischenund fortzuschaffen", erwiderte Al-Assuani. "Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass eine erklärte Feindin jenes Koboldgeheimbundes für diesen arbeitet, zumal dieser Bund überwiegend männliche Mitglieder hat."

"Das dürfen Sie uns allen im Lauf der nächsten Stunden oder Tage gerne noch genauer darlegen", erwiderte Jamil Al-Kahiri verdrossen. Er hoffte nur, dass die Spionin sich bei ihrer Flucht durch das Nichts selbst gerichtet hatte.

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Es war ein kurzer, durch alle Fasern ihres Körpers jagender Schmerz. Der auf ihrem Schädel festgewachsene Glashelm dröhnte wie eine große Bronzeglocke. Sie meinte, in einem Schacht aus tiefschwarzen Schatten und gleißenden Blitzen zu verbrennen oder zerdrückt zu werden. Dann war es vorbei. Sie und der Besen zwischen ihren Beinen fanden sich in mehr als tausend Metern Höhe über wogenden Wellen. Diana Camporosso prüfte sofort nach, ob sie noch alles von sich an und in sich hatte. Sie fühlte nur den dumpfen Nachklang der überstandenen Schmerzen. Aber ihr fehlte nicht einmal ein Finger- oder Zehennagel. Hätte es ihre Eingeweide zersplintert müsste sie jetzt starke Bauchschmerzen und womöglich eine starke Blutung aus dem Unterleib erleiden. Doch solange sie die Vollstreckerinnenrüstung trug wirkte diese wie eine besonders saugfähige Wochenwindel und Monatsblutauffangvorrichtung. Sie musste das sofort klären, ob sie noch in einem Stück war. Der Besen jedenfalls war mit ihr zusammen sichtbar und trudelte dem Boden entgegen. Sie schaffte es jedoch, ihn weit genug über dem wogenden Meer abzufangen. Auch konnte sie mit ihrem Sinn für die Magnetlinien erfassen, wo sie war und welchen Weg sie zum Land nehmen musste. Nur zehn Minuten später kam sie zwei Kilometer von der Küste Ostafrikas auf festen Boden an. Sie schlüpfte schnell aus ihrer hauteng gewordenen Rüstung und stellte mit ihrem Zauberstab fest, dass sie keine inneren Verletzungen hatte und auch kein Blut verloren hatte. Sie legte die geschmeidige Rüstung wieder an und beschloss, sich für mindestens einen halben Tag irgendwo zu verstecken, um sicherzustellen, dass sie wenigstens auf dem Besen wieder nach Südafrika zurückkehren konnte. Sie überprüfte schnell, ob ihre acht Mithörkannen noch in Tätigkeit waren. Dabei bekam sie mit, wie eine von denen alle gespeicherte Zauberkraft auf einmal freimachte. Die anderen sieben waren bereits entladen oder vernichtet. So hatten die Sicherheitsleute von der Insel gleich richtig gefolgert, dass es ihr nicht um einen Angriff auf die versammelten Vertreter Afrikas ging, sondern um Spionage. Das ärgerte sie. Auch konnte sie mit dem Besen so nicht noch einmal zur verhüllten Insel fliegen, weil die Schutzsteine gegen den Wall der zwölf Winde abgesprungen und zerfallen waren. Neue mussten erst geschliffen und bezaubert werden. Das würde vier Tage dauern. Damit war ihre Spionagemission gescheitert. Womöglich hatten ihre Verfolger sogar noch sehen können, wen sie gejagt hatten. Sie überlegte, ob die Nordafrikaner von der Rosenkönigin erfahren hatten, dass es eine kleinwüchsige Mitstreiterin gegeben hatte. Falls ja mochten die sich denken, dass die Erbin der Feuerrosenkönigin die Gelegenheit nutzen wollte, eine Konferenz von Zaubereiministern zu belauschen. Andererseits hatte Ladonna ja eine falsche Leiche von ihr erschaffen, weil sie als Trägerin des gläsernen Helmes nicht mehr bei ihren Angehörigen und Freunden auftauchen durfte. Für wen oder besser mit wem sie wirklich zusammenarbeitete mussten die jetzt noch nicht wissen.

"Sie werden uns suchen, meine wildentschlossene Trägerin", knurrte Deeplooks Gedankenstimme. "Besser ist es, wir besinnen uns zunächst auf die Wiedererrichtung des allgegenwärtigen Bundes. Dann bekommen wir auch heraus, was die Zauberstabträger da so zu verhandeln hatten."

"Ich stimme dir zu, mein ganz privater Ratgeber", schickte Diana Camporosso zurück. Doch sie dachte auch daran, die verstreut und versteckt lebenden Feuerrosenschwestern aufzusuchen, um sie zu einem neuen Orden zusammenzuführen. Gerade diese im Ansatz gescheiterte Mission zeigte ihr, wie nützlich es war, möglichst viele Begabungen zu bündeln, nicht nur die von Zauberstabnutzerinnen, sondern auch die von Kobolden. Mit dieser Erkenntnis und diesem weiterführenden Vorhaben suchte sie sich in der Küstenregion ein Versteck, in dem sie mindestens einen halben Tag ausharren konnte. Falls der Besen seine Unsichtbarkeitsbezauberung verloren hatte musste sie so fliegen, dass keiner sie beobachten konnte.

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Mbengas Selbstsicherheit war zerstört. Das Auftauchen der Spionin hatte seinen Auftritt als großer, sicherer Gastgeber vorerst rettungslos beschädigt. Alle hier hatten sich bis zu diesem Spionageversuch auf dieser Insel sicher gefühlt. Dieses Gefühl war nun fort. Statt der anfänglichen Entschlossenheit, eine gemeinsame Linie und Stimme gegenüber den Europäern und Amerikanern zu finden traten nun die alten Vorbehalte und Unstimmigkeiten vor allem benachbarter Länder wieder in den Vordergrund. Schlimmer noch, Mbenga und sein südafrikanischer Kollege de Groot wurden bar jeder diplomatischen Behutsamkeit als "Aufführer eines üblen Schmierentheaters" beschimpft, weil sie offenbar mit den Kobolden weiterhin in bester Geschäftsbeziehung weiterhandeln wollten und weil sie sich als die wahren Gewinner der Vorherrschaftsträume Ladonnas sahen. Denn so oder so hätten sie wohl von ihrer Herrschaft profitiert, während die Nordafrikaner ihre südlichen Nachbarn unterworfen und in Ladonnas Sklavenreich eingegliedert hätten hätten die Südafrikaner mit ihrem unermesslichen Goldvorrat und die Ostafrikaner wegen ihrer Handelsrouten auf den südasiatischen Kontinent Mittel und Wege gefunden, sich gegen Ladonna zu stellen, um die vorherrschenden Mächte Afrikas zu werden. Dass Ladonna auf eine allen hier unerklärliche Weise verstorben war habe diesen Plan wohl nur vorübergehend gestört. Doch nun wollten Südafrika und Kenia sicherstellen, dass sie die Führungsrollen in Afrika bekamen. Der gerade nur als Erlebnisberichterstatter und stimmrechtlose Zuschauer anwesende Karim Al-Assuani sagte es deutlich, dass diese ganze Konferenz hier nur dem Zweck diente, Kenia und Südafrika mit der Verwaltung ganz Afrikas zu betrauen und dabei auszunutzen, dass Nordafrika durch Ladonnas Umtriebe angeblich nicht mehr im Sinne der Europäer funktionierte. Um zu funktionieren brauchten sie jedoch bestehende und gesicherte Handelsbeziehungen. Was eignete sich dafür besser, als mit den Kobolden einen Pakt zu schließen, um sie wieder an alle früheren Standorte zurückzuholen. Al-Kahiri aus Ägypten deutete an, dass die Auffindung der möglichen Spionin womöglich das erste Steinchen in diesem Spiel war. Mbenga und sein für internationale Angelegenheiten zuständiger Mitarbeiter widersprachen zwar, doch damit heizten sie die Missstimmung nur noch mehr an. Als es den Vertretern Südafrikas zu lange dauerte offenbarte de Grott, dass die einstigen Kolonien Afrikas südlich der Sahara und an den Küsten von Atlantik und indischem Ozean bereits mehrere Absprachen getroffen hatten, wie sie die seit Ende der Kolonialzeit bestehenden Handels- und Forschungsbeziehungen auf den Stand vor Ladonna zurückführen konnten, ohne dabei jedoch die arabisch geprägten Länder Nordafrikas mit einzubeziehen. Diese reagierten wie zu erwarten sehr verstimmt auf diese Enthüllung de Groots und seiner Leute. Al-Kahriri blickte seine Kollegen aus Marokko, Tunesien und Algerien an und sprach in Richtung Mbengas:

"So müssen wir dieser unbekannten Spionin des koboldischen Überwachungstrupps am Ende noch dankbar sein, dass sie Ihre geheimen Absprachen enthüllt hat. Sie hatten nie die Absicht, eine gesamtafrikanische Einheit gegen die Möchtegernweltherren aus Europa zu begründen, sondern wollten nur die honigsüßen und speckhaltigen Errungenschaften aus der Kolonialzeit retten, auch gegen die immer lauter werdenden Stimmen Ihrer Völker, die ihre ursprüngliche Lebensweise und Vorrechte an erworbenem Wissen wiederhaben wollen. Ja, und wir, die unter dem Banner des Propheten und seiner Stellvertreter auf Erden gedeiehenden Länder sollten umschlossen und eingeschnürt sein, bis wir von uns aus auf alles eingehen, was Ihre ehemaligen Herren und Meister von uns verlangen, wo wir Ägypter zu den ältesten Kulturvölkern der Erde zählen und die in Ihren Ländern wohnenden Menschen die direkten und unverfälschten Nachfahren der ersten Menschen der Welt sind."

"Wollen Sie mir und Mr. de Groot vorwerfen, dass wir uns und angeblich auch Sie an die einstigen Kolonialmächte Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien, Portugal, die Niederlande und Spanien zu verkaufen trachten?" fragte Mbenga verdrossen. "Ja, Mr. Mbenga, das werfe ich Ihnen und allen Vorteilsnehmern aus der Zeit unrühmlicher Fremdbestimmtheit vor", bestätigte Al-kahiri. Dann ließ er noch eine Katze aus dem Sack. "Ich wollte es eigentlich erst am Ende der Unterredung erwähnen, wenn wir uns doch auf eine einheitliche Vorgehensweise zu einigen vermocht hätten. Doch nun, wo die Kobolde nicht warten wollten, um von Ihnen und Ihren Mitstreitern unterrichtet zu werden sage ich hier und jetzt, dass es uns von jener Bruderschaft, die zu vertreten ich die Ehre habe, nicht entgangen ist, dass Sie, de Groot und die Kollegen aus dem Senegal, Gambia, Mali und Simbabwe sich in Kapstadt trafen, um die alten Geschäftsbeziehungen miteinander und die mit Ihren ehemaligen Fremdherrschern zu klären. Insofern wäre es wohl sehr spannend geworden, wie Sie Ihre Interessen mit uns aus den Maghrebländern in Einklang hätten bringen wollen."

"Ja, stimmt, die vier hatten bereits das sehr zweifelhafte Vergnügen", stimmte ihm der marokkanische stellvertretende Zaubereiminister bei. Al-Assuani, der die ganze Zeit sehr angespannt zugehört hatte, bangte nun darum, dass diese Zusammenkunft vorzeitig beendet würde. Er strengte sich an, seine Gesichtszüge zu beherrschen. Auch hielt er den inneren Schutzwall errichtet, der das Ausspähen seiner Gedanken und Erinnerungen verwehren sollte. Er konnte nur noch hoffen, dass sich diese entflammte Auseinandersetzungweiter in die Länge zog, weil sonst seine eigenen Pläne zu Staub wurden.

"Was soll dieser künstliche Aufruhr! Wenn Sie bereits wussten, dass wir von der West-, Süd- und Ostküste mit unseren direkten Nachbarn bereits eine vorab auslotende Zusammenkunft hatten, so hätten Sie aus dem Norden doch bereits zu Beginn fragen können, was diese Zusammenkunft erbracht hat und dann ganz im sinne gleichberechtigter Mitsprache Vorschläge machen können, wie all unsere Interessen zu einer einheitlichen Haltung zusammengeführt werden könnten. Denn um nichts anderes ging und geht es mir", erwiderte Mbenga. Doch die nordafrikanischen Vertreter gefielen sich offenbar in der dreifachen Opferrolle, weil sie diejenigen waren, die unmittelbar von Ladonnas Macht erfasst worden waren, weil das Missverhältnis mit den Kobolden die Handelsbeziehungen mit Europa bedrohte, ja durch die jahrelangen Beutezüge der Kobolde und ihrer menschlichen Gefolgsleute macht- und wertvolle Gegenstände entführrt worden waren und weil die nicht arabisch geprägten Länder Afrikas offenbar ihr Recht auf Eigenständigkeit für mehr angebliche Wohltaten aus Europa verkaufen wollten und die Maghreebländer dabei ins Hintertreffen geraten mochten, falls sie nicht bereit waren, ihre mühsam nach der Entkolonisierung gefestigten Rangstellungen aufzugeben. Gerade jetzt, wo der blaue Morgenstern seine Chance witterte, tätig in die Führung arabisch geprägter Zaubereiministerien einzugreifen sah es danach aus, als wenn die ehemaligen Eroberer erneut triumphieren würden. Al-Kahiri warf Mbenga vor, dass er ja als Zaubereiminister am meisten von den "honigsüßen und reichlich speckhaltigen" Zuwendungen aus dem einstigen Kolonialland Großbritannien profitierte und diese Zuwendungen nicht gefährden wollte. Mbenga wollte das natürlich nicht so stehen lassen und warf Al-Kahiri seinerseits Günstlingshandlung vor, weil er nur deshalb gerade geschäftsführender Zaubereiminister sein konnte, weil die Rolle des Assuani-Clans zu klären war und die Zeit, die er gerade hatte, nutzen wollte, um möglichst viele Morgensternbrüder in wichtige Stellungen zu bringen. Er warf Al-Kahiri und seinen Mitstreitern aus Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen vor, Ladonnas Entmachtung zu nutzen, um eine neue Revolution in den nordafrikanischen Ländern anzutreiben, welche die Maghrebländer zu einem ähnlichen Konstrukt machen sollten wie die Theokratien in Saudi-Arabien und Persien. Ja, so MBenga, die vom blauen Morgenstern trachteten danach, von den regierten völkern unabhängige Herrschaftsgeflechte zu spinnen, wo nur die wohlweislich im Hintergrund verborgenen Anführer jener Bruderschaft bestimmten, wer Algerien, Ägypten, Libyen, Marokko und Tunesien verwalten durfte. De Groot aus Südafrika sprang Mbenga bei und wandte ein, dass er sich auch nur auf diese hier stattfindende Zusammenkunft eingelassen habe, weil er für sein Land und sein Volk eine friedliche, stabile Lage erreichen wollte, dass weiterhin mit allen gehandelt werden konnte, die südafrikanische Erzeugnisse schätzten und erwerben wollten. Doch nun müsse er fürchten, dass der blaue Morgenstern die Lage in Gesamtafrika zur Glaubensangelegenheit machen wolle und dass sich die Bruderschaft unter dem Einfluss des Korans für die Vertreter der einzig richtigen Weltanschauung hielten. Als Alman Amur dem widersprach und erwähnte, dass die Bruderschaft sich nicht allein auf die Lehren des Islams beriefen, sondern auf die Erfahrungen mit den hellen und dunklen Mächten aus der Geschichte des gesamten Zweistromlandes musste der senegalesische Zaubereiminister laut lachen. "Ich hatte schon mit zweien von Ihnen zu tun, die meinten, wegen der wenigen Muslime in der senegalesischen Zauberergemeinschaft Ansprüche an Unterrichtserteilung und Mitsprache anzumelden. Ihnen geht es genauso wie Ladonna um Ausdehnung des eigenen Machtbereiches. Ja, das wollte ich eigentlich nicht hier und jetzt sagen. Doch wenn Sie derartig dreist behaupten, Ihnen ginge es nur um Frieden in der magischen Welt, dann ist das die reinste Heuchelei. Der Kollege Mbenga hat wohl leider recht, dass Sie Ladonna Montefioris Bezwingern heimlich danken, Ihnen endlich die Gelegenheit verschafft zu haben, sich stärker als in allen Jahrhunderten zuvor in die magische Weltordnung einzumischen. Am Ende haben Sie über Ihre Hinterleute noch dafür gesorgt, dass diese Spionin der Kobolde wusste, wo wir zusammentrafen und wie sie die Schutzmaßnahmen umgehen konnte. Ja, am Ende haben Sie vom blauen Morgenstern ihr noch die Aufhebungskristalle zugespielt, um die Elementarsperrenum die Insel zu durchbrechen."

"Das ist eine sowohl bösartige wie spottbillige Behauptung, die davon ablenken soll, dass Sie aus dem noch nicht förmlich besiegelten Bund europäische Bequemlichkeiten verehrender Ex-Kolonien unsere dem Frieden und der Stabilität dienende Verwaltung der nordafrikanischen Länder dienende Tätigkeit missbilligen und uns lieber gestern als morgen in die Wüste zurückdrängen würden, wo angeblich unser heimlicher Befehlsstand verborgen ist", sagte Jamil Al-Kahiri und sah die afrikanischen Kollegen an. Diese wirkten jedoch sehr misstrauisch. Dann sah er Karim Al-Assuani an. Der wiederum wirkte nach außen so, als berühre ihn diese Auseinandersetzung nicht. Das wiederum machte Jamil Al-Kahiri stutzig. Er war bisher davon ausgegangen, dass Karim Al-Assuani mit dem Verlust seiner Macht haderte. Hatte der sich etwa nun ganz damit abgefunden? Das konnte und wollte Al-Kahiri nicht glauben. Doch bevor er weiter über Al-Assuanis nach außen gezeigte Gleichgültigkeit grübeln konnte traf ihn bereits der nächste Vorwurf, diesmal vom tansanischen Zaubereiminister. Der behauptete nämlich nun, dass die Nordafrikaner bereits ein bindendes Abkommen mit dem Bund arabischer Zaubereiverwaltungsbehörden getroffen hätten, alle nichtarabischen Einflüsse in ihren Ländern zurückzudrängen und somit auch alle Handelsbeziehungen zu ihren südlichen, westlichen und östlichen Nachbarn aufzukündigen. Das erschließe sich ihm nun, obwohl er wie alle anderen hier bis dahin gehofft hatte, dass es eine gemeinsame Haltung geben konnte. Auch warf er Al-Kahiri vor, dass er sich bis jetzt als Sprecher der nordafrikanischen Zaubereibehörden dargestellt hatte, in Wirklichkeit aber wohl nur eine Schachfigur jener Bruderschaft sei, die seit ihrer Gründung versuche, ein Großreich der Magie in ganz Afrika und Südasien zu errichten, womöglich mit einem König, Shah oder Khan der östlichen Zaubererwelt.

Derartig offen und fast unvorhergesehen angeklagt drohte die Zusammenkunft wahrhaftig an unüberwindlichen Hoheitsinteressen und der Beharrung auf kulturelle Ausprägungen und Unterschiede zu zerbrechen. Doch Mbenga gelang es, die zum überkochen angeheizte Stimmung dadurch zu beruhigen, dass er sagte: "Ich habe euch und Sie alle zu dieser Zusammenkunft eingeladen, weil ich daran glaube, dass wir eine einheitliche Haltung im Umgang miteinander und ein starkes Auftreten gegenüber allen anderen Ländern erzielen können, wenn wir uns darüber klar sind, wer unser aller Widersacher sind und dass wir diesen nur als Gemeinschaft entgegentreten können. Hätte ich diese Hoffnung nicht, dann hätte ich wohl kein Stäubchen Gold und keinen Wimperschlag Zeit dafür hergegeben, dass wir hier alle zusammentreffen können. Also lasst uns im Namen all jener, die auf unseren Rat und unsere Taten angewiesen sind wieder zusammenfinden und all das besprechen, was wir gemeinsam haben und was jeder von uns dem jeweils anderen zu geben bereit ist, statt auf längst bekannten Unterschieden herumzureiten! Jeder von euch will doch, dass die unrühmliche Zeit unter Ladonnas Herrschaft möglichst schnell überwunden wird. Oder gibt es hier einen, der ihr nachtrauert und sie lieber gestern als morgen wieder zurückhaben möchte?" Natürlich wollte hier niemand Ladonnas Feuerrosenherrschaft wiederhaben. Außerdem wollte sich niemand vor den Karren des Koboldgeheimbundes spannen lassen und diesem dadurch helfen, dass es in Afrika nur noch Misstrauen zwischen den magischen Menschen gab. So konnte Mbenga die eigene Verunsicherung wegen des geglückten Eindringungsversuches der Koboldspionin abschütteln und seiner Rolle als Gastgeber vollumfänglich gerecht werden. Natürlich wusste er, dass die ausgesprochenen Vorwürfe nicht aus der Welt waren. Doch wusste er auch, dass jeder von hier darauf angewiesen war, mit den Nachbarn möglichst gut und friedlich zurechtzukommen. Auch und gerade weil die Kobolde eine Spionin geschickt hatten hieß das doch, dass diese davor bangten, dass sich sämtliche Hexen und Zauberer Afrikas zusammentaten und die Bedingungen für den Handel mit den Kobolden umschreiben konnten. Immerhin ging Mbenga nicht mehr von einem geplanten Mordanschlag auf die hier zusammengetroffenen Abordnungen aus. Was hätte sie davon gehabt?

Al-Assuani verfolgte die nun etwas ruhiger verlaufende Beratung mit gewisser Erleichterung. Doch auch diese durfte er nicht offen zeigen. Denn je länger die Al-Kahiris und Alman Amur auf dieser Insel blieben, wo keine Gedankenbotschaft hingelangen konnte, desto günstiger lief es für Al-Assuanis Familie. Sollten die hier weiterdebattieren. Er würde die ihm aufgezwungene Rolle des reinen Zuhörers und Beobachters durchhalten, bis die ägyptische Reisegruppe wieder in die Heimat zurückkehrte. Jetzt wähnte Al-Assuani die Zeit wieder auf seiner und seiner Familie Seite.

Auch wenn die herzliche Stimmung von der Begrüßung nicht wieder aufkommen wollte überwog doch nun der Zwang zur Gemeinsamkeit im Angesicht mehrerer weltweit handelnder Feindesgruppen. Die Beratung verlief nun in sachlichem Tonfall. Keiner hier warf wem anderen noch etwas vor, zumindest für's erste nicht.

Am Ende des ersten Tages stand fest, dass gerade wegen des beinahen Streites noch einiges an unmissverständlicher, allen gerecht werdender Formulierungsarbeit zu erbringen war. Daher vertagte sich die Zusammenkunft auf den nächsten Tag. Die Teilnehmer zogen sich in die mitgebrachten Reisezelte mit eingewirkten Schutzzaubern zurück.

Akil Mbenga ließ Wachen aufstellen, um auf ungebetene Besucher besser vorbereitet zu sein. Als er mit seinem für internationale Beziehungen zuständigen Mitarbeiter im Schlafzelt Kenias war bat er ihn noch einmal in einen gegen alle ihm bekannten Formen von Belauschung und Fernbeobachtung gesicherten Raum ohne Fenster und gebot ihm mit einer Handbewegung, sich mit ihm an den dort aufgestellten Schreibtisch zu setzen. Als die Tür mit drei Schlössern sorgfältig verriegelt war sagte er: "Das wäre fast im ersten Sprung in den Abgrund gestürzt, Moko. Wie konnten wir auch so einfältig sein zu glauben, dass die Ägypter und Tunesier das nicht mitbekamen, dass wir uns mit den Senegalesen und den anderen aus dem Westen und Süden getroffen haben? Gut, die haben sich ja auch ohne uns zusammengesetzt, und diese Morgensternbrüder haben ja auch fast offen zugegeben, was sie vorhaben. Aber wie schätzt du den Stand von heute für die nächsten Monate ein?"

"Wie ein Haufen trockenes Holz, bei dem ein Funke reicht, ihn in Flammen aufgehen zu lassen, Akil", erwiderte Moko Mbutu, der Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen. "Wie du es so schön bildhaft gesagt hast, der erste Sprung wäre fast im Abgrund gelandet. Kann uns morgen immer noch passieren, wenn es darum gehen soll, wer was zur Bekämpfung der Blutkönigin Akasha beitragen kann. Ich fürchte, dass uns die Morgensternbrüder da eigene Bedingungen diktieren, die nichts mit den von ihnen zeitweilig verwalteten Ländern zu tun haben."

"Du gehst davon aus, dass die Morgensternbruderschaft sich nicht mehr an die eigenen Regeln gebunden fühlt, dass sie nur in den Ländern arabiens, Persiens und Indiens handeln darf, Moko?"

"Sagen wir es so, keine Regeln ohne Ausnahme. Die Brüder haben jetzt vielleicht sogar wortwörtlich Blut geleckt, dass ihr ganzes Sein und Streben gefährdet ist, wenn sie nicht die Gelegenheit nutzen, sich möglichst viel Macht und Einfluss zu sichern. Die werden die von ihnen geführten Länder nicht mehr kampflos an irgendwelche dort lebenden Zauberer zurückgeben, die nicht in ihrer Bruderschaft sind. Al-Kahiri und seine Mitbrüder haben zwar den ägyptischen Familienhäuptling Al-Assuani mitgebracht, damit er hier zuhören kann, aber wohl auch nur, um dem und seiner über Jahrzehnte herrschenden Familie zu beweisen, dass seine Zeit um ist und alles hier beschlossene ohne ihn und sein Zutun umgesetzt wird."

"Dafür wirkte Karim Al-Assuani aber sehr unbeeindruckt. Hmm, obwohl bei dem hitzigen Streit nach dem Ertappen der unsichtbaren Spionin hatte ich den Eindruck, dass er Angst vor dem Scheitern dieser Zusammenkunft hat. Erst als ich uns alle wieder auf einen für alle vertretbaren Tonfall zurückgeführt habe wirkte der sehr unbeeindruckt."

"Hast du keine Gefühle von ihm erfasst, Akil?" wollte Moko Mbutu wissen. "Nein, keinen Funken Gefühl. Al-Assuani hat wohl eine innere Mauer des Geistes errichtet und sie sehr beherrscht aufrechterhalten, wohl auch, um seinem Amtsnachfolger keine Gelegenheit zu geben, etwas gegen ihn verwendbares zu ergreifen."

"Ich konnte auch kein Gefühl von ihm verspüren. Aber ich habe ja nicht nur unsere ererbte Gabe des Gefühlshörens zur Verfügung, sondern konnte ja auch genug Erfahrung im Gesichterlesen verwenden. Al-Assuani wirkte von den Gesichtszügen her unbeteiligt. Doch seine Augen verrieten mir, dass er auf etwas wartet oder etwas erhofft. Findet nicht zeitgleich mit unserer trauten Zusammenkunft hier die gerichtliche Prüfung seiner Taten unter der Feuerrose statt?"

"Du bist der Fachmann für internationale Angelegenheiten, Moko", gab Mbenga die Frage zurück. "Offenbar erhofft sich Al-Assuani durch die Abwesenheit Al-Kahiris und seiner Mitbrüder einen gehörigen Vorteil, vielleicht nicht ausdrücklich für sich, aber für seine eigene Familie. Du weißt ja, dass die Ägypter in einer Art nachkolonialen Aristokratie leben, dass Al-Assuanis Familie eine Art Königsclan ist. Womöglich hofft der ungekrönte König von Ägypten, dass er nach dieser Zusammenkunft hier wieder auf seinen Thron steigen darf. Das erklärt zumindest für mich die Angst, die er bei unserem kleinen aber heftigen Streit gezeigt hat. Ein vorzeitiges Scheitern dieser Zusammenkunft würde ja eine vorzeitige Rückkehr der Al-Kahriris nach Kairo bedeuten. Ganz sicher hat Karim Al-Assuani was geplant oder bereits in Bewegung gesetzt. Du weißt ja, wenn das Löwenrudel jagd schleicht es immer erst gegen die Windrichtung an seine Beute heran und brüllt nicht laut umher."

"Ja, und eine Elefantenherde spricht mit unhörbaren Stimmen, die kein Menschenohr vernehmen kann über viele Meilen hinweg", griff Mbenga das Bild der heimischen Tierwelt auf. "Du könntest also recht haben, dass Al-Assuani sich nicht kampflos in sein Schicksal fügt, vor allem, wenn seine ganze Sippe davon abhängt. Ja, und was die Morgensternbrüder angeht, Moko, so teile ich die Ansicht, dass diese durch Ladonna, die Blutgöttin und die tödlichen Schattengeister dazu getrieben wird, ihre Handlungen über die eigenen Heimatländer hinaus auszuführen und dass sie wegen der Blutkönigin Akasha, die sicher was gegen eine Bevormundung durch die angebliche Göttin aller Blutsauger hat, ganz Afrika zu ihrem Jagd- und Schutzgebiet erklärt. Sie könnten das damit begründen, dass sie nicht an den eigenen Landesgrenzen warten, bis ein tobender Buschbrand bis zu ihnen vordringt, sondern ausrücken, um ihn zu löschen, auch wenn sie nicht darum gebeten wurden. Oder sie könnten, um bei diesem Bild zu bleiben, die Hüter anderer Länder - womöglich auch uns - davon überzeugen wollen, dass es nur noch mit ihnen eine sichere, lebenswerte Zukunft gibt und wir ihnen im Namen unserer Völker gestatten sollten, uns mit ihren Mitteln zu helfen."

"Das würde aber dem widersprechen, was diese Bruderschaft mal über den algerischen Zaubereiminister hat äußern lassen, Akil. Sie haben doch immer betont, dass es ihnen darum geht, böse Geister und menschenfressende Tierwesen zu bekämpfen, nicht in einem Land zu herrschen, weil das ja so viel Zeit und eigene Arbeitskraft kostet."

"Ja, doch dieser Grundsatz wurde ja schon aufgegeben, weil die ja sonst kaum die arabisch geprägten Länder Nordafrikas verwalten würden und dann noch so offen, dass jeder mitkriegt, dass die Bruderschaft des blauen Morgensterns dahintersteht", widersprach Mbenga seinem Fachmann für internationale Angelegenheiten. Dieser musste zugeben, dass da was dran war. so sagte Moko Mbutu: "Richten wir uns also darauf ein, dass die Morgensternbrüder uns in den kommenden Stunden oder Tagen Angebote machen, von denen sie denken, dass wir sie nicht ablehnen können."

"Dazu möchte und werde ich erst was sagen, wenn wir solche Angebote zu hören oder zu lesen bekommen, Moko."

"Ich erwähne das auch nur, weil wir uns darauf einrichten sollten, wie die anderen auf solche Angebote reagieren. Ich denke, dass de Groot und der Kollege aus dem Senegal da nicht mitmachen werden, auch weil die Morgensternbrüder in der Hitze der Auseinandersetzung verraten haben, dass sie sich nicht in ihrer Ausrichtung dreinreden lassen werden. Ich denke, dass wir uns darauf einrichten müssen, dass diese Zusammenkunft am Ende doch noch in Asche und Rauch aufgeht und wir danach turmhohe eiserne Grenzmauern haben werden, die zwischen dem arabischen Norden, den ihre Freiheit erstreitenden Ex-Kolonien, den im Zentrum und uns von den Küstenländern voneinander trennen, sofern wir nicht bereit sind, die Morgensternbrüder als unsere Schutzherren anzuerkennen. Aber ob die sich als solche anbieten bekommen wir eben nur mit, wenn sie uns ihre Bedingungen vorlegen. Da gebe ich dir recht, dass wir erst dann eine klare Antwort drauf geben sollten. Aber uns in Gedanken auf eine Zeit der klaren Trennung einzurichten halte ich für nötig, Akil."

"Zur Kenntnis genommen", sagte Akil Mbenga. Dann wünschte er seinem Mitarbeiter eine erholsame Nachtruhe.

Auch im Zelt der ägyptischen Abordnung wurde noch über den verstrichenen Tag gesprochen, wobei Karim Al-Assuani von den drei Morgensternbrüdern aus seiner Heimat gefragt wurde, wie er denn diese hitzige Auseinandersetzung bewältigt hätte. Al-Assuani sah seinen derzeitigen Amtsnachfolger Al-Kahiri scheinbar unbeeindruckt an und sagte: "Hätten Sie das wissen wollen, Herr Al-Kahiri, so hätten Sie nicht darauf bestanden, dass Sie meine Amtsgeschäfte ausführen und unser geliebtes Heimatland bei dieser Zusammenkunft vertreten. Ich wundere mich sowieso, dass Sie mich bei dieser Unterredung überhaupt dabei haben wollen."

"Wieso wundern Sie sich, Herr Al-Assuani? Solange der Rat der Familienoberhäupter Sie nicht für die Taten unter der Feuerrose verantwortlich erklärt hat besteht doch immer noch die Möglichkeit, dass Sie in Ihr Amt zurückkehren dürfen und wir uns allein auf den Schutz unseres Volkes besinnen dürfen", sagte Jamil Al-Kahiri. Karim Al-Assuani entging jedoch nicht, dass dessen Mitstreiter und Verwandte ihn verdutzt anblickten, ehe ihnen klar wurde, dass diese Regung mehr verraten mochte als ihnen lieb war. So sagte Al-Assuani mit unüberhörbarem Spott: "Ach, dann wurden Sie von Ihren obersten Mitbrüdern nicht dazu bestimmt, unser geliebtes Heimatland bis zur Vernichtung aller enthüllten und noch im Verborgenen lauernden Feinde zu führen?"

"Über meine Mitbrüder darf ich zu außenstehenden nicht sprechen", erwiderte Al-Kahiri, bevor ihm mit sichtbarem Widerwillen klar wurde, dass Al-Assuanis Spott einen wunden Punkt getroffen hatte. So verwunderte es den derzeit seines Amtes enthobenen ägyptischen Zaubereiminister nicht, dass Omar Al-Kahiri für seinen leiblichen Verwandten und geistigen Bruder einsprang: "Sie haben mit Absicht oder durch bösen Einfluss dazu gezwungen für viele tödliche Feinde die Tore unseres Landes aufgetan. Der ungenannte Herrscher wäre sicher nicht erwacht, wenn Ladonna ihn ernst genug genommen hätte."

Karim Al-Assuani musste sich nun sehr stark anstrengen, seine eigene Selbstbeherrschung zu behalten und nicht schallend loszulachen. Mit großer Mühe brachte er so gefühlsfrei wie möglich heraus: "Im Gegenteil, Ladonna Montefiori hat die vergrabene Pyramide als eine der gefährlichsten Hinterlassenschaften unserer Vergangenheit betrachtet. Daher wollte sie ja haben, dass sie noch stärker abgeriegelt wird. Dass die Kobolde deshalb ihre handzahmen Zauberstabträger losgeschickt haben, um vor der völligen Abriegelung noch nach dort vergrabenen Schätzen zu suchen beweist ja, dass Ladonna diese Hinterlassenschaft fürchten musste. Ja, und auch wenn ich es bereue, nicht mit aller Willenskraft gegen die Beeinflussung dieses Unwesens angekämpft zu haben komme ich leider nicht darum herum, klarzustellen, wer diesem bösen Dämon in Gestalt eines Gringotts-Beauftragten den Garaus gemacht hat. Das war nicht die Nachtschattenkönigin, sondern eben die Feuerrosenkönigin, die in deren Schatten in die umgedrehte Pyramide eindrang und den ungenannten Herrscher zum Endkampf stellte. Deshalb konnten Teile aus den zwölf Schätzen des Nils überhaupt nach Italien entführt und dort in Ladonnas Schatzkeller eingesperrt werden. Ja, das weiß ich alles noch und wundere mich doch sehr stark, dass Sie und Ihre nicht für Außenstehende zu erwähnenden Mitbrüder das nicht erkennen konnten oder wollten. Ja, ich gehe sogar noch weiter und behaupte, dass Sie wegen der Beschränktheit auf die arabische Welt nicht ansatzweise mitbekommen haben, welche Macht die Feuerrosenkönigin errungen hat und dass diese groß genug für mehr als eine Erbin ist. Denn ich vermute sehr stark, dass jene, die von Mbengas wackeren Wachposten aufgestöbert wurde, eine dieser Erbinnen ist, die sichern wollte, dass der Duft der Feuerrose weiterhin über Afrika weht."

"So, das vermuten Sie. Na sicher, weil Sie ja davon gehört haben, dass dieses dreiblütige Unweib eine wohl auch von einer kleinwüchsigen Zauberwesenart abstammende Magd besessen hat, die vielleicht jetzt davon ausgeht, die Erbin ihrer verschwundenen Königin zu werden", knurrte Jamil Al-Kahiri. Sein Mitbruder Alman Amur sagte schnell: "Ja, und es würde Ihrer endgültigen Beurteilung sehr viel mehr nützen, wenn Sie uns verrieten, wer diese kleinwüchsige Anhängerin dieses auf widernatürliche Weise entstandenen Weibes ist, damit wir auf ihren Namen und ihr Aussehen geprägte Wach- und Fangzauber einrichten können."

Herr Amur, jetzt enttäuschen Sie mich aber sehr ernst", setzte Karim Al-Assuani an und schaffte es nur mit Mühe, den bisher unterdrückten Lachanfall weiter niederzuhalten. Doch an seinem gequälten Grinsen konnten die drei Morgensternbrüder erkennen, dass er gerade darum rang, nicht in wilde Erheiterung auszubrechen. "Die selbsternannte Königin aller magischen Menschen hat uns unwürdigen weil männlichen Unterlingen alles vorenthalten, was ihre eigene Macht betrifft. Natürlich wollte sie nicht, dass wir wussten, wo ihre Stärken und Schwächen liegen. Deshalb hat sie uns nur erzählt, dass sie eine kleinwüchsige Botin in ihren Reihen hat, die zu einem Teil von den Kobolden abstammt. Doch ihren Namen hätte sie uns wohl nur verraten, wenn sie gewollt hätte, dass wir dieser kleinwüchsigen Frau Dienste erweisen. Dass es nicht dazu kam hat jemand verhindert, der oder die an das herankam, was Ladonnas Macht zu Fall brachte. Wer immer die kleine Frau ist, sie ist nun frei in ihren Entscheidungen und könnte, das haben wir doch heute alle zu hören bekommen, die von Ladonna geschwächten Truppen des Koboldgeheimbundes hinter sich scharen, um aus dem Untergrund heraus gegen uns achso selbst- und machtbewusste Zauberstabnutzer und Ritualtrommler vorzugehen. Wüsste ich also ihren Namen, Sie und Ihre Mitbrüder hätten ihn gemeinsam mit den anderen afrikanischen Amtsträgern aus meinem Mund erfahren. Ja, und ich weiß auch, dass jeder Funke Erkenntnis über Ladonnas Machtfülle und Gefolgschaft meinem Ansehen dienen würde, wenn der Rat der Familienväter mich danach fragt, sofern der blaue Morgenstern diesen Rat nicht selbst für von Ladonna unterwandert hält und dessen Urteil überhaupt anerkennt. Dazu haben Sie nämlich bisher nichts geäußert, wohl weil Sie ganz genau wissen, dass Sie damit noch mehr Misstrauen und Unmut in unser Volk treiben würden. Mehr steht mir aus dem Grund, dass ich auf das Wohlwollen der Familienväter angewiesen bin nicht zu. Doch wo Ihre Bruderschaft so gut mit der europäischen Liga gegen dunkles Zauberwerk zurechtkommt besteht sicher keine Schwierigkeit, diese darum zu bitten, Ladonnas Gefolgschaft zu enthüllen und den Namen der koboldstämmigen Gehilfin zu ermitteln, wo die ja schon klargestellt haben, dass sie die bei ihnen aufgefundenen Erzeugnisse unserer Vergangenheit nicht ohne lange Verhandlungen herausgeben werden.""

"Der Tag ist nahe, wo Sie und Ihre von diesem widernatürlichen Weib verführten und geknechteten darum betteln werden, dass wir, die unser Land vor dem Sturz in Unfrieden und Unordnung bewahren wollen, Ihre Ohnmacht und Schwäche als ausreichende Entschuldigung dafür anerkennen, um Sie alle nicht wegen erwiesener Beihhilfe abzuurteilen", knurrte Omar Al-Kahriri. Sein Bruder Jamil funkelte diesen erzürnt an und legte seine Finger auf die von einem nachtschwarzen Schnauzbart bedeckten Lippen. Doch die worte waren ausgesprochen und ließen sich nur mit magischer Gewalt wieder einfangen. Alman Amur tastete nach seinem Zauberstab. Doch Jamil Al-Kahiri wies ihn wortlos an, nichts zu unternehmen. Er flüsterte wohl was, da auf der Insel kein Sprechen im Geiste möglich war. Al-Assuani wirkte nach außen hin unberührt und unerschütterlich. Diese in vielen Jahren geübte und angewandte Fertigkeit hatte schon manchem seiner Gegner eine böse Überraschung bereitet. Genau das, so der zeitweilig seines Amtes enthobene Zaubereiminister, sollte auch diesen drei von sich sowas von überzeugten Morgensternbrüdern widerfahren. Er musste sich nur weiterhin beherrschen. "Wer herrschen will muss sich selbst am besten beherrschen", hatte er von seinem Großvater Sadek gelernt, als er damals noch ein leicht in Wut versetzbarer Jüngling gewesen war. Ja, Großvater Sadek hatte recht. Was nützte es, die ganze Welt beherrschen zu wollen, wenn er oder sie sich selbst am wenigsten zu beherrschen vermochte? Viele selbsternannte Weltherrscher waren genau darüber gestürzt, ob jener geisteskranke, sich selbst entstellende Engländer, dessen selbsternannter Rächer und ja womöglich auch Ladonna Montefiori. Dass die Morgensternbrüder immer noch nicht wussten, wer sie entmachtet hatte und ob sie tot oder nur bewegungsunfähig irgendwo verstaut war nagte an diesen wie ein Rudel Ratten an einem achtlos liegengelassenen Stück Fleisch, dachte Al-Assuani. Dann hörte er Jamil Al-Kahiri noch sagen: "Ich denke, wir alle hier sollten darauf hoffen, dass wir in der nächsten Zeit die Antworten erhalten, die uns helfen, weiterhin friedlich miteinander auszukommen, in welcher Lage auch immer. Womöglich ist es auch besser, wenn wir uns nun zur Ruhe legen. Der Tag heute war lang und so der allmächtige Gott Muhammads will wird es morgen sicher ein genauso anstrengender Tag für uns werden."

"Da stimme ich Ihnen zu", sagte Karim Al-Assuani mit ehrlicher Überzeugung. Er vollzog dann mit den dreien, die er als Erzrivalen um seine Macht sah die rituelle Waschung vor dem Nachtgebet an Allah. Gemeinsam sprachen sie die vom Koran vorgegebenen Anrufungen und Bitten aus. Dann zogen sie sich in ihre eingerichteten Schlafkabinen zurück.

Karim Al-Assuani prüfte noch einmal die von ihm vorgenommenen Schutzvorkehrungen, dass er unbehelligt und unbeobachtet ruhen konnte. Dass er hierfür auch auf altägyptische Zauber zurückgriff, die weit vor dem Wort des Propheten entwickelt worden waren mochten die Morgensternbrüder zwar mitbekommen. Doch dagegen tun konnten sie nichts, wollten sie nicht das ganze Zelt niederreißen und ihn gewaltsam ums Leben bringen. Noch brauchten die ihn, wohl auch, weil er mit seinem vom lebenden Herzen in Bewegung gehaltenen Blut die letzten Kammern im Ministerium aufsperren musste, falls er sein Amt wahrhaftig für immer aufgeben musste. In dieser klaren Gewissheit lag seine Zuversicht, dass die Morgensternbrüder nicht die ganze Machtfülle erlangen würden, die seine Familie errungen und ihm als derzeit ältesten lebenden Nachkommen übertragen hatten. Tja, und was den Rat der Familienväter anging, so hoffte Al-Assuani, dass die Zeit für ihn arbeitete und natürlich seine in der Heimat verbliebenen Brüder und Vettern.

Wie er es schon seit Jahrzehnten tat nutzte er den Übergang zwischen Wachen und schlafen dazu, einen Erinnerungsaufhellungszauber zu wirken, der alle von seinen Sinnen erfassten Eindrücke besonders hervorhob. So konnte er auch das Geflüster von Jamil an Alman nachhören und wie durch einen Schallverstärkungstrichter lauter erklingen lassen. So hörte er Jamil wispern: "Bist du von Sinnen, Alman. Jeder an seine Erinnerungen rührender Zauber kann vom Rat der Väter erkannt und gegen uns verwendet werden." Wohl wahr, dachte Karim Al-Assuani. Abgesehen davon hätte er jedem Gedächtnisumformungszauber entgegengewirkt, bis entweder der Angreifer aufgab oder sein Gehirn unter der Anstrengung zusammenbrach und er entweder in eine dauerhafte Bewusstlosigkeit oder den Tod gestürzt wäre. Doch ihn umzubringen war ja eben für die blauen Morgensternbrüder verboten. Nur ein Al-Assuani im anerkannten Amte konnte die letzten verschlossenen Kammern aufsperren. So ein Unglück für die achso selbstsicheren selbsternannten Wächter des Guten, dachte der derzeit amtsenthobene Zaubereiminister Ägyptens. Dann sank er in den erholsamen Schlaf, den er nötig hatte.

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Diana Camporosso hatte schnell umdisponiert. Wenn sie schon nicht mithören konnte, was die afrikanischen Zaubereiminister berieten, so würde sie sich auf mehrere Möglichkeiten vorbereiten. Sie wollte es ausnutzen, dass es kulturelle Unterschiede gab. Sie wollte es ausnutzen, dass die dunkelhäutigen Afrikaner den arabischen Nachbarn nicht bedingungslos über den Weg trauten. Ebenso wusste sie auch, dass die Freiheits- und Eigenständigkeitsbewegungen der afrikanischen Zauberergemeinschaften nach Ende der Kolonialzeit an der Frage scheiterten, ob sie die von den Kolonialherren überlieferten Kenntnisse und Errungenschaften verzichten sollten um wieder in das vorzeitliche Stammesdenken zurückzufallen und dann mitzuerleben, wie alle, die die Fortschritte Europas und Asiens ausnutzten und sie dann größtenteils mit Ritualzaubern und in kleinen Stammesgemeinschaften weiterleben mussten. Ja, und wie Ladonna schätzte auch Diana die Vorgehensweise "Divide et impera" - teile und herrsche. Darauf aufbauend wollte sie die Afrikaner dazu bringen, einander so sehr zu misstrauen, dass jede gerade erzielte Einigkeit zerbrach. Abgesehen davon, so dachte sie, brauchte sie die afrikanischen Zaubereiminister ja auch nur solange, wie diese dem Bund der alles hört und sieht Raum für geheime Tätigkeiten bieten sollten. Wenn der Bund wieder stark genug war, die zerstörten Stellungen neu aufzubauen und die alte Stärke zurückzugewinnen konnte ihr Afrika eigentlich völlig egal sein. Könnte, aber würde es nicht. Denn Diana wusste natürlich, dass die Macht des geheimen Bundes nur dort wirkte, wo auch offizielle Vertreter der Erdkinder wohnen und arbeiten durften. Also war es wichtig, dass die Kobolde überall dort, wo sie vorher waren weiterarbeiten durften und überall da, wo sie bisher noch nicht gewohnt und gearbeitet hatten hingelassen und erlaubt wurden. Ja, dazu brauchte sie wohl die Zustimmung der afrikanischen Zaubereiminister, die sie sich dadurch sichern wollte, dass sie deren Bedürfnis nach Wohlstand und weltweiter Anerkennung bediente. Wer nicht international handeln wollte war nicht wichtig genug. Wer handeln wollte brauchte Partner und Zwischenhändler, Goldverwahrer und Fürsprecher. All das konnten die Kobolde liefern, wenn es ihnen erlaubt wurde.

Sicher ärgerte sich Diana darüber, dass sie die Absicherungen jener unsichtbaren Insel unterschätzt hatte und dass sie diese Erdzauber angewendet hatte, um neue Kraft zu bekommen. Doch jetzt aufzugeben kam nicht in Frage. Sie wollte und sie würde die Erbin der Rosenkönigin werden. Warum auch sonst hatte diese ihr den gläsernen Helm mit Deeplooks Seele darin aufgesetzt? Das würden auch alle versteckten Schwestern einsehen, die sie in den nächsten Tagen aufsuchen wollte, wenn sie die Leitwächter Afrikas auf ihren Ausweichplan eingeschworen hatte, um die Zaubereiminister bei Laune zu halten, egal was diese gerade auf der unsichtbaren Insel aushandelten.

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Die magische Öffentlichkeit bekam nicht mit, was die afrikanischen Zaubereiminister gerade berieten. Dass sie sich trafen war das höchste, was Zeitungen wie das "Feuer der Neuigkeiten" oder "Die trommel der Botschaften" verkündeten, Zaubererweltzeitungen, die von den einst aus den Mutterländern der Kolonialmächte eingewanderten Hexen und Zauberern gegründet worden waren und seit Ende der Kolonialzeit von den Ureinwohnern unter den Namen weiterbetrieben wurden.

Was die Öffentlichkeit in Ägypten zum Teil mitbekam war, dass die große Versammlung der dreißig Familienväter stattfand, um über Schuld oder Unschuld der Al-Assuani-Sippe zur Zeit von Ladonnas Feuerrosenzauber zu verhandeln. Die Beratung fand im achteckigen Saal der versammelten Väter statt, der auf der Insel des Ra mitten im Nil lag und eine direkte Verbindung mit dem Haus der Verdächtigen oder den weitläufigen Kerkern der erwiesenen Unholde besaß.

Am Vortag war es um die ohne zusätzliche Befragungen erwiesenen Taten der Al-Assuanis gegangen, welche durch die Vorlage verfügbarer Niederschriften nachvollzogen werden konnten. Heute sollte es in einer genaueren Befragung um die wirklich heftigen Vorwürfe gehen und auch, was genau zur Wiederauferstehung des verschwiegenen Königs und zur vollständigen Abschiebung aller Gringotts-Kobolde führte.

Dieser Beratung wohnte auch Machmut Al-Kahiri bei, dessen älterer Bruder Jamil ja gerade östlich von Kenia weilte. Er hörte sich an, was Karims im Lande gebliebener Bruder Feriz vorbrachte und dass er den hier zusammensitzenden Familienvätern klarmachte, dass auch sie dem Zauber der Feuerrose unterworfen worden wären, wenn Ladonna dies für geboten gehalten hätte. Da er sich an alles erinnern konnte, was er unter Ladonnas Bann getan hatte konnten die hier versammelten Familienväter auf jede Frage eine Antwort bekommen. Der Stuhl der eisernen Wahrheit, auf dem Feriz als von Karim beauftragter Fürsprecher seiner Familie hingesetzt worden war, verhinderte jede Lüge, konnte aber auch durch Verfärbung ins dunkelblaue anzeigen, wenn der auf ihm angekettete sich nicht an die gefragten Einzelheiten erinnern konnte, weil ihm womöglich ein Gedächtniszauber wie das eherne Siegel der Erkenntnisse oder der Nebel der Verhüllung auferlegt worden war. Doch bisher zeigte der Stuhl der eisernen Wahrheit keine farbliche Veränderung. Feriz erwähnte alles, was er im Auftrag der Rosenkönigin getan hatte. Machmut Al-Kahiri, der als Sprecher seiner Sippe auftrat, bekam mit, dass nicht wenige der Familienväter dazu bereit waren, den Al-Assuanis alle Schuld an ihrem Handeln abzusprechen und sie wieder in Amt und Würden zurückzuberufen. Die einzigen, die es begrüßen würden, wenn den Al-Assuanis alle Macht abgesprochen wurde waren jene Familienoberhäupter, die gemäß der zwei-Dutzend-Sonnen-Regelung die Nachfolge der Al-Assuanis als Ministeriumsverwalter erhalten hätten.

"Was kannst du uns über die Abschiebung aller Kobolde berichten, Feriz Al-Assuani?" fragte der von den Familienvätern zum Hauptsprecher ernannte Halef mottasadek aus der Sippe der vor allem im Süden sehr mächtigen mottasadeks. Feriz berichtete nun, was er als Hüter der Gold- und Handelsgüter untternommen hatte und dass die Kobolde maßgeblich Schuld daran trugen, dass der Geist des unerwähnten Königs aus seinem von dunkler Magie erfülltem Grab entsteigen und im Körper eines britischen Gringotts-Gehilfens Angst und Schrecken verbreiten konnte. Das, so Feriz, habe ausgereicht, alle für Gringotts tätigen Kobolde der Beihilfe zum Massenmord und der Verschwörung gegen das ägyptische Menschenvolk zu verurteilen und aus dem Land zu verfrachten. Näheres über die Vorgehensweise konnte Leyth Al-Assuani aussagen. "Den werden wir später noch befragen, wenn es um alle sicherheitsbezogenen Unternehmungen zur Zeit der Feuerrosenkönigin geht", erwiderte Halef mottasadek darauf. Dann fragte er Feriz, wieso sie den Kobolden über solange Zeit gestattet hatten, vergrabene Schätze ausgraben zu lassen. Feriz erwähnte etwas, dass Machmut aufhorchen ließ.

"Es deutete sich vor fast hundert Jahren an, dass die Engländer und Franken von sich aus Jagd auf die verborgenen Schätze unseres Volkes machen würden. Somit standen wir vor der Wahl, diese Gier ungelenkt walten zu lassen und keine Herrschaft mehr über die Schätze unserer Vorväter zu besitzen oder es jenen zu gestatten, die nicht ausdrücklich für die Zauberstabträger aus den europäischen Ländern arbeitenden nach den Schätzen unserer machtvollen Vergangenheit zu suchen und diese an einem uns wohlvertrauten Ort zusammenzubringen, wo sie vor den fremdländischen Zauberern sicher verwahrt wurden. Hierzu erteilte mein Onkel und Vorgänger in meinem Amte Amir den Kobolden von Gringotts eine Erlaubnis, nach magisch versteckten Schätzen zu suchen und diese an einem mit diesen abgesprochenen Ort zu bringen, wo wir jederzeit Zugriff darauf bekommen sollten. Hierzu verpflichteten sich die Hüter von Gringotts zur Zahlung einer Erlaubnisgebühr, die fünf bis zehn Hundertstel des stofflichen und machtbezogenen Wertes jedes von ihnen geborgenen Gegenstandes betragen sollte. Von diesem Gold konnten wir alle für unsere Eigenständigkeit nötigen Anschaffungen bezahlen, die Ägypten im Reigen der afrikanischen Länder wohlhabend und mächtig erhalten haben." Der Stuhl der eisernen Wahrheit erbebte leicht, färbte sich jedoch nicht rot, was für eine Lüge stand. Dennoch erkannten hier alle, dass diese sogenannte Erlaubnisgebühr eher dem Wohlstand der Al-Assuanis diente als dem Wohl aller ägyptischen Zauberer. Doch offenbar hatten die seit 80 Jahren herrschenden Al-Assuanis doch einen gutteil von den erhaltenen Goldmitteln in die Förderung des Landes eingezahlt, weshalb der Stuhl der eisernen Wahrheit die Aussage nicht als reine Lüge anzeigte. Weil Feriz das mitbekam legte er noch nach: "Für die Kobolde, die auf Intrigen und eigener Vorteilsnahme ausgerichtet sind wurde das natürlich so ausgelegt, als wenn nur wir Al-Assuanis diese Goldzahlungen nutzen würden, als Bakschisch für nicht gerade ehrenvolle Unternehmungen. Weil die Kobolde uns also für bestechlich und leicht ruhig zu halten betrachteten übernahmen sie die Ausbeutung der verfluchten Grabstätten, an die wir wegen des vergessenen Wissens nicht mehr herankamen. Dass sie dabei englische Fluchbrecher einsetzten schonte das Blut und die seelische Unversehrtheit unserer eigenen Volksangehörigen, damit auch eurer Brüder, Söhne und Enkel. Doch als die Kobolde wohl auf Drängen ihres alles überwachenden Geheimtrupps beschlossen, auch die verbotene, vergrabene Pyramide zu öffnen und alles was darin war herauszuholen überschritten sie eine tiefrote Linie. Sie ließen es zu, dass der zum lauernden Dämon gewordene dunkle Pharao einen neuen Körper ergreifen und in ihm seinem Grab entsteigen konnte. Das konnten und durften wir natürlich nicht ungestraft hinnehmen. Als uns die widernatürlich entstandene Herrin der Feuerrose befahl, alle Kobolde aus dem Land zu jagen hatten wir somit die für euch alle unbestreitbare Begründung. Leider hatte der dunkle Paharo schon den Ort überfallen, an dem die von den Kobolden gehobenen und zusammengetragenen Schätze verwahrt wurden. Dass Ladonna Montefiori sie später, als sie ihm da selbst entgegentrat diese als Beute an sich brachte und in ihr eigenes Versteck hinübertrug war nicht von uns gewollt. Doch wir konnten zu diesem Zeitpunkt nichts gegen sie ausrichten."

"Ja, und wir wissen jetzt, wo die geraubten Schätze sind. Worum geht es genau?" wollte Halef mottasadek wissen. Feriz erwähnte den Begriff der zwölf Schätze des Nils und dass die Kobolde mehrere Stücke daraus gefunden und erbeutet hatten, darunter so machtvolle Stücke wie den Schild des Horus, das Zepter des Totenrichters und den silbernen Bogen des Anhor. Das beeindruckte alle hier. Denn alle hier kannten die zwischen geschichtlich erwiesener Tatsache und bloßer Legende angesiedelten Berichte über die zwölf Schätze des Nils. Feriz musste nun alle ihm bekannten Beutestücke erwähnen, von denen er oder sein Bruder im Sicherheitsdienst erfahren hatte. Als einer der letzten Gegenstände sei das Auge der Bastet entführt worden, was wie zu erwarten war von den heute noch lebenden Anhängern der altägyptischen Katzengöttin verurteilt wurde. "Du sagtest eben, dass die Kobolde euch selten erzählt haben, was genau sie gerade jagten, Feriz ben Janek al-Assuani", schaltete sich Machmut Al-Kahiri nun ein. "Woher wusstest du das mit dem Auge der Bastet?"

"Aus zwei Quellen. Zum einen suchte uns die amtierende Hohepriesterin der Katzengötzin auf und drohte uns mit blutiger Vergeltung, wenn wir nicht dafür sorgten, dass das von den britischen Räubern erbeutete Heiligtum zurückgebracht würde. Zum zweiten erfuhren wir es von Ladonna da selbst, dass sie jenes Kultobjekt "sichergestellt" hatte, als sie die geheimen Lagerräume des Koboldgeheimbundes der zehntausend Augen und Ohren aushob und dass sie diesen Gegenstand behalten würde, um jeden Missbrauch damit zu verhindern. Die Diener der alten Katzengöttin warten immer noch auf die Rückerstattung. Wie reinblütige Katzen sind sie geduldig, aber auch bereit, jederzeit zuzuschlagen, wenn sie das Ziel ihrer Jagd in Reichweite wähnen. Wir wissen, dass die Italiener den Schatzkeller Ladonnas öffnen konnten. Doch sind dabei wegen eines Überfalls wohl einer möglichen Nachfolgerin mehrere der dort eingelagerten Gegenstände verschwunden. Die noch verbliebenen wollen die Italiener noch nicht zurückgeben, weil sie nicht wissen, wer hier in Ägypten verantwortlich ist."

"Was ja das Ziel dieser ausführlichen Befragung und Beratung ist", sagte Halef Al-mottasadek verdrossen. Dann fragte er Feriz noch, ob es wenigstens dem ägyptischen Zaubereiministerium gelungen sei, eine Liste der in diesem Land tätigen Gringotss-Fluchbrecher zu erhalten, um diese entweder ungestört Beute machen zu lassen oder ihnen falls nötig Einhalt zu gebieten. Feriz nickte und sagte, dass die Liste in einer der sechs versiegelten Kammern liege, die nur der Familienälteste Al-Assuani im Range eines Zaubereiministers öffnen konnte und dass die bekannten Fluchbrecher bereits zur Fahndung ausgeschrieben seien. Doch, so Feriz, "natürlich" würde deren Heimatland die Auslieferung verweigern, wodurch die dem Zaubereiministerium noch nicht bekannten Beutezüge unbekannt bleiben würden. Feriz sollte die Namen der bekannten Fluchbrecher verraten. Doch der konnte sich darauf herausreden, dass diese nur von einem Al-Assuani in hohem Rang erfragt werden durften. Der Stuhl der eisernen Wahrheit leuchtete für drei Herzschläge dunkelblau auf, was hieß, dass die Antwort auf die Frage mit einem Schutzzauber gegen geistige Durchforschung belegt war, womöglich dem ehernen Siegel der Erkenntnisse, was die europäer unter dem Begriff Divitiae-Mentis-zauber kannten. "Du willst uns die Namen also nicht verraten?" fragte mottasadek. "Erst wenn du ein Mitglied der Al-Assuani-Sippe wirst und als Vertreter der Sicherheitsbehörde Anrecht auf dieses Wissen erwirbst", entgegnete Feriz schon laut knirschend am Rande der Frechheit entlangschrammend. "Nun, dies wird der Allerhöchste wohl in diesem Leben nicht mehr wirken", knurrte mottasadek. Feriz hatte ihm und allen anderen verraten, dass es noch viele Geheimnisse gab, an die auch mit magischer Gewalt nicht heranzukommen war. Dass damit ein Teil von Karims Plan aufging konnte Machmut Al-Kahiri nicht einmal erahnen. Ebensowenig wusste er, dass zwanzig der dreißig hier zusammengetretenen Familienväter bereits Absprachen mit den Al-Assuanis hatten, was die Aufstufung ihrer Familien anging und dass sie nur die Wahl hatten, die alten Verhältnisse wiederherzustellen oder sehenden Auges einer neuen Fremdherrschaft zuzuarbeiten, in diesem Falle den Brüdern des blauen Morgensternes. Dann sagte Feriz noch etwas, was die anderen außer Machmut sehr alarmiert dreinschauen ließ: "Wir wurden schon häufiger von den sich Brüder des blauen Morgensternes nennenden Zauberern befragt, welche Gegenstände die Kobolde aus den alten Grabstätten und vorislamischen Heiligtümern entnehmen ließen. Außer den erwähnten Gegenständen aus dem Reigen der zwölf Schätze des Nils sind da viele Dinge bei, die den orgensternbrüdern die völlige Macht über ganz Afrika und vielleicht dem Rest der Welt geben. Deshalb sind diese ja auch so sehr dahinter her, den Aufbewahrungsort zu erfahren, und deshalb machen die auch mit den Italienern gemeinsame Sache, um die gefundenen Schätze nicht nach Ägypten zurückkehren zu lassen. Weil hier der Bruder eines sich als Morgensternangehörigen enthüllten Familienoberhauptes anwesend ist unterbindet das Siegel der verborgenen Kenntnisse jeden Versuch, mein Wissen preiszugeben. Will ich es freiwillig verraten, so wird mir nichts als Gestammel entweichen. Will ich es aufschreiben, so werde ich wohl dutzende von Papyrusblättern mit Tinte besudeln, ohne etwas lesbares hinzubekommen. Aber natürlich warten die Brüder des blauen Morgensternes darauf, dass die sechs versiegelten Kammern geöffnet werden, um alle Geheimnisse unseres Landes zu erfahren."

"Das ist eine bösartige Behauptung", schritt Machmut ein. "Das ist eine Lüge, um uns, die wir euer Wohlwollen und euren Frieden bewahren wollen als machtheischende Günstlinge hinzustellen", fügte er noch hinzu. Doch alle sahen auf den Stuhl der eisernen Wahrheit. Dieser glänzte stumpfgrau im durch eine die halbe Raumesfläche überdeckende, achteckige Glasplatte dringenden Sonnenlicht.

"Der Stuhl der eisernen Wahrheit sagt, dass der auf ihm sitzende die Wahrheit spricht. Also hat es früher schon Fragen der Morgensternbruderschaft gegeben, welche Gegenstände unserer Heimat von den Kobolden geborgen wurden, Machmut Al-Kahiri?"

"Das kann ich nicht sagen, da ich kein eingeschworener Bruder des blauen Morgensternes bin", erwiderte Machmut Al-Kahiri verdrossen.

"So, bist du das nicht? Ich dachte eigentlich, dass eure ganze Sippschaft dieser Bruderschaft angehört", warf Halef Al-mottasadek in den Raum. "Treue Helfer der Gerechtigkeit, helft ihm dort auf den zweiten Stuhl für wichtige Zeugen!" befahl er. Sogleich traten bis unters Kinn in dunklen Gewändern steckende Zauberer aus den acht Ecken des Raumes hervor und näherten sich Machmut Al-Kahiri. Dieser unterdrückte den Reflex, nach seinem Zauberstab zu greifen und sich gegen jede Form der Handgreiflichkeit zu wehren. Doch ihm fiel ein, dass in diesem Raum kein Kampfzauber wirkte, ja dem, der ihn zu wirken wagte sehr unangenehm entgegenschlug. Die Halle der versammelten Väter unter dem allsichtigen Blick der Sonne durfte nicht als Schlachtfeld genutzt werden und war deshalb entsprechend vielfältig gegen magische Auseinandersetzungen abgesichert. So blieb Machmut nichts übrig, als freiwillig von seinem hölzernen Stuhl aufzustehen und von den wortlos handelnden Helfern der Gerechtigkeit, was anderswo Gerichtsdiener genannt werden mochte, zum von einer dunklen Decke verhüllten Stuhl geführt zu werden. Die Decke wurde zurückgeschlagen und der Zwillingsbruder vom Stuhl der eisernen Wahrheit wurde sichtbar.

"Wir weisen dich der mitschreibenden Feder des gesicherten Wortes wegen hin, dass du von uns als Zeuge wichtiger Unterredungen befragt wirst und dein Rang als auserwählter Sprecher deiner Sippe für die Dauer der Befragung ruht, Machmut Al-Kahiri. Setz dich auf den zweiten Stuhl der eisernen Wahrheit und vertraue deinen Leib und deinen Geist seiner Behütung an!"

"Da ich mir keiner Schuld bewusst bin vertraue ich mich diesem Stuhl an und erkenne an, dass ich von dir und allen anderen gerade als Zeuge zu ermittelnder Angelegenheiten vernommen werden soll", schnarrte Machnmmut. Er wusste jedoch schon, dass diese Befragung seinem Bruder Jamil nicht gefallen würde. Das hatten diese Al-Assuanis offenbar mit den Familienvätern abgesprochen.

Er setzte sich auf den Stuhl, der sich hart und kalt anfühlte. Doch dann umschlangen seine Arme, Beine und seinen Bauch dünne silberne Ketten, die sich leise Klickend mit zunächst unsichtbar gebliebenen Verriegelungen in Sitzfläche, Rückenlehne und Stuhlbeinen verbanden. Darauf erbebte der Stuhl und wurde so warm, als habe Machmut bereits mehr als eine Stunde darauf gesessen. Dann erfolgte die erste Frage, die nach seinem Namen. Er nannte ihn. Nichts weiteres geschah. Doch dann erfolgte bereits eine Frage, die Machmut all zu gerne unbeantwortet lassen wollte: "Bist du ein Bruder des blauen Morgensternes?" Machmut fühlte, wie das in seinem Geist verankerte eherne Siegel der Erkenntnisse gegen die Beantwortung dieser Frage anwirkte. Doch genau das veranlasste den Stuhl, wild zu erbeben und sich dunkelblau zu färben. Er fühlte einen von außen wirkenden Drang, die gestellte Frage wahrheitsgemäß zu beantworten. Doch die in ihm verankerten Schutzzauber gegen freiwilligen und unfreiwilligen Verrat kämpften dagegen an. Doch genau deshalb erbebte der Stuhl immer mehr und strahlte sein dunkelblaues Licht für erfasste Gedächtnisbezauberungen aus. Gleichzeitig entfuhren Machmut zusammenhanglose Silben und Laute, als sei er gerade erst ein Jahr alt und lerne das Sprechen. Er fühlte, wie sich sein Kopf erwärmte und spürte das Beben des Stuhles unter seiner Schädeldecke nachschwingen. Er stieß weitere unklare Laute aus, während die ihn festhaltenden Ketten sich immer enger zusammenzogen, bis sie den Punkt erreichten, wo sie ihm den Atem zu rauben drohten. Dann erfolgte ein den ganzen Körper durchzuckender Schmerz. Das blaue Licht blitzte viermal so hell auf wie bis dahin. Dann ließen das Beben und der Druck der ihn haltenden Ketten nach. Er fühlte Schweiß von seiner Stirn rinnen und auch dass sein Körper unter der aufgezwungenen Anstrengung schwitzte. "Wir sehen und hören, dass der Stuhl der eisernen Wahrheit in dir einen mächtigen Schutz vor Verrat gefunden hat und du die dir gestellte Frage nicht beantworten kannst, selbst wenn du dies wolltest, Machmut. Doch gerade deshalb gilt nun, zu ergründen, welche Fragen du uns zu beantworten vermagst", sagte Halef Al-mottasadek. Machmut stieß aus, dass er sich gerade wie ein schwerer Verbrechen angeklagter Unhold fühlte. "Dann beantworte alles, was du beantworten kannst, ohne gegen die dir aufgeprägten Siegel der Geheimhaltung verstoßen zu müssen", sagte Halef Al-mottasadek. "Was wwissen deine Brüder von den aus den alten Grab- und Kultstätten entführten Gegenständen?"

Wieder kämpfte der Stuhl gegen die Geheimhaltungszauber in Machmuts Geist an. Wieder konnte er dem Zwang zur wahren Aussage nur durch unverständliches Gestammel und Gelalle widerstehen. So erging es ihm mit allen weiteren Fragen, bis Halef verkündete. "So haben wir dir fünf Fragen zum Wohle unserer Heimat und Familienangehörigen gestellt. Alle von denen hast du verweigert oder wurdest von jenen, die dich in ihre Reihen aufnahmen mit einem Zauber gegen jedweden Verrat ausgestattet. Fünf verschwiegene, unser Wohl betreffende Geheimnisse birgst du in dir. Damit verwirkst du das Vertrauen, dass wir, die hier versammelten Familienväter, in dich gesetzt haben. Da du für deinen gerade auf Reisen befindlichen Bruder sprichst besteht unsere Sorge, dass er dem falschen die Fürsprache übertragen hat oder dass du selbst gegen ihn und gegen uns tätig bist, ob im Namen jener Bruderschaft des blauen Morgensternes oder aus ganz eigenem Wunsch. Somit bleibt uns leider nur, die von Feriz Al-Assuani erhobenen Beschuldigungen für zumindest möglich zu halten. Da jedoch für ein abschließendes urteil greifbare und für alle nachvollziehbare Beweise erforderlich sind bleibt uns nur, den Stammsitz eurer Familie zu durchforschen, um Beweise für die Behauptung Feriz' zu finden oder eure Unschuld anzuerkennen, aber dann zu erwägen, ob ihr für die Bruderschaft oder für unsere Heimat eintretet, wenn die Lage dies erfordert. Bis dahin wirst du im Haus der zu prüfenden Verdächtigen wohnen, ohne Mittel zur Ausübung von Zaubern, abgeschirmt gegen alle Formen der magischen Verständigung.""

"Ihr wagt es, mich, den Vertreter des von euch in sein Amt eingesetzten Zaubereiministers, wie einen Verbrecher zu behandeln, nur weil ihr mir Fragen gestellt habt, die ich aus sehr guten Gründen nicht beantworten darf?" ereiferte sich Machmut, der schon wusste, dass seine Bruderschaft im allgemeinen und seine Familie im besonderen vor einer entscheidenden Niederlage standen. "Wir begründeten, was wir zu tun veranlasst sind", sagte Halef Al-mottasadek mit hörbarem Bedauern in der Stimme. Dann lösten sich die Ketten um Machmut. Er wollte schnell zu seinem Zauberstab greifen. Doch da schnappten schon zwei flinke Hände nach seinem Arm, zogen ihn hoch und damit den bereits umschlossenen Zauberstab. Dieser wurde Machmut mit spürbarem Nachdruck aus der Hand entwunden und von einem der Helfer entgegengenommen. Im nächsten Augenblick fand er sich von zwei Helfern ergriffen und wurde abgeführt. "Ihr versündigt euch am Wohl und der Zukunft unseres Landes. Gebe es der allerhöchste, dass ihr diesen Ausbund von Misstrauen nicht schon sehr bald bereuen müsst", stieß er noch aus, bevor ihm jemand ein dunkles Tuch um den Mund band und zwei weitere Paar Hände ihn sehr nachdrücklich von hinten schoben.

Machmut wurde durch die westlichste der acht Zugangstüren aus dem Saal der versammelten Familienväter hinausgeschoben. Durch diese Tür betraten ehrlose Zauberer den Raum, um vor Gericht zu stehen und durch ihn verließen all jene den Saal, die für höchstens sieben Tage oder nach einem mehrheitlichen Urteil für mindestens einen Monat oder den Rest des Lebens in Haft gesetzt wurden.

Machmut hatte wie alle Ägypter gehofft, diesen engen Gang zum Haus der Verdächtigen niemals durchschreiten zu müssen. Der Gang wurde so eng, dass die ihn hindurchführenden vor und hinter ihm gehen mussten. Dabei hielt der vor ihm hergehende seine Schultern, während der hinter ihm gehende seine Unterarme nach Hinten zog und festhielt. An Flucht war jetzt nicht mehr zu denken. "Jamil, die haben mich festgenommen!" gedankenrief er und hörte seine Stimme überlaut und heftig verzerrt und mit vielen in der Tonhöhe verschobenem Widerhall in seinem Schädel dröhnen. Also galt die Sperre gegen Geistsprechen auch schon in diesem Tunnel. Nein, es musste auch eine am Zielort seines Bruders wirksame Sperre wirken, weil er sonst nur einen Druck auf dem Kopf gespürt und keinen Nachhall vernommen hätte, erkannte Machmut. Dann tat sich vor ihm eine niedrige Tür auf. Er wurde in einen von nur einer kleinen, blakenden Wachsleuchte erhellten Flur hineingetrieben, von dem aus mehrere eiserne Türen abgingen. In den Türen waren siebartige Löcher, vor denen es leicht silbrig flimmerte. An einer Tür blieben sie stehen. Diese schwang lautlos nach außen auf. Dahinter lag ein fensterloser, viereckiger Raum mit einer einfachen Bettstatt, einem eiförmigen Tisch und in einer Ecke ein mit Deckel verschlossener Topf, ganz sicher zur Aufnahme der Notdurft, dachte Machmut. Er fühlte auch, dass bereits bei geöffneter Tür ein starker Zauber wirkte. Der sollte ihn wohl an jeder Flucht hindern. "Dort verweile, bis die Väter dich zur Verkündung ihres Ratschlusses rufen!" sprach einer der bis dahin völlig worttlos handelnden Diener die ersten und wohl auch einzigen Worte. Sie stießen Machmut Al-Kahiri wie einen ergriffenen Schurken in die Zelle hinein und schlossen die Tür. Diese wurde gut hörbar mehrmals verriegelt. Vor der siebartigen Aussparung in der Tür legte sich das silberne Flimmern, das Machmut bereits bei anderen Türen gesehen hatte. Das war der Wall des wachenden Mondes oder auch Wehr des Horus, wusste Machmut. Damit stand fest, dass er die Tür nicht einmal berühren konnte. Denn der Zauber stieß alles von Blut durchströmte Gewebe im Abstand einer Fingerbreite zurück. Auch merkte Machmut, dass der schon verspürte Zauber noch stärker wurde. In seinem Kopf erbebte etwas, dass gegen die von außen einströmenden Gedanken ankämpfte, sich hier sicher behütet und geborgen zu fühlen und nichts zu tun, um diesen Schutz zu gefährden.

"Damit ist es amtlich, dass wir in Ägypten dieselben Unterdrückungszauber gegen Gefangene haben wie sie im Irak, Persien und dem Königreich Saudi-Arabien verwendet werden", stellte Machmut mit großer Verbitterung fest. Der Bann gegen jede Art von Fluchtgedanken und offenem Widerstand galt in der östlichen arabischen Welt als wirksamster Schutz gegen jeden Widerstand von Gefangenen. Er als Morgensternbruder war dagegen zwar abgesichert, weil ihm neben dem ehernen Siegel der verborgenen Kenntnisse auch der alle Vollmondnächte aufzufrischende Zauber Stärke der Gedanken eingeprägt war. Doch was nützte ihm das, wenn er hier ohne Zauberstab absitzen und zum höhepunkt aller Demütigungen in einen einen halben Meter hohen Tontopf hineinmachen musste. Verhungern würde er sicher nicht, weil der mit den Füßen im Boden eingemauerte Tisch sicher ein Darreichungstisch war, bei dem auf einem anderen Tisch etwas hingestellt und innerhalb eines Lidschlages auf diesem Tisch erscheinen würde. Leider konnte kein lebendes Wesen auf diese Weise den Standort wechseln, weil der Tisch ausdrücklich nur totes Fleisch beförderte. Wie lange sollte er hier nun absitzen? Vor allem, was würden die nun ohne ihn weiterberatenden Familienväter beschließen, ohne dass er es mitbekam? Von alle dem bekamen seine Brüder gerade nichts mit, weil die Sitzung als größtenteils unöffentlich bekanntgegeben wurde und bereits für mehrere Tage angesetzt war. Solange würden seine Brüder und Vettern ihn nicht vermissen, und seine Mitbrüder vom blauen Morgenstern konnten ihn auch nicht orten, solange er im Haus der versammelten Familienväter weilte, weil eben das gegen Fernortungszauber abgesichert war. Ja, die konnten ihn hier jetzt die vollen sieben Tage festhalten, die das ägyptische Gesetz für magische Gerichtsbarkeit für Anfangsverdächtige vorsahen.

Machmut überlegte, ob er gerade der einzige war, der hier einsaß. Sollte er mal laut rufen? Unsinn! Der silberne Schleier vor der Tür blockierte nicht nur die Berührung mit den Fingern, sondern dämpfte auch jeden Laut auf ein Hundertstel herunter, egal ob von innen oder außen. Wer hier einsaß war allein mit sich und den eigenen Gedanken wusste er nun. Für wahrhaftige Untäter mochte das schon eine harte Strafe sein. Wielange würde er es aushalten? Vor allem, woran merkte er, wie viel Zeit verging? Ach ja, sie hatten ihm seine Uhr gelassen. Er nahm sie hervor und sah, dass sie stand. Das hieß nicht, dass in dieser Zelle die Zeit stillstand, sondern nur, dass jede magicomechanische Vorrichtung angehalten wurde und seine Uhr, die durch die Bewegung der Gestirne in Gang und auf der am gerade eingenommenen Standort gültigen Sonnenzeit hielt blockiert wurde. Dann sah er, woran er den Lauf der Zeit ablesen konnte, oder wie sie ihm vorgeben mochten, wie viel Zeit verstrich. Über ihm an der Decke wanderte eine kleine, kugelförmige Leuchte entlang, die in einem satten Goldgelb erstrahlte und in einer haarfeinen Schiene verankert war. Also hatten sie die in vielen wohlhabenden Häusern vorhandene Tageslichtuhr eingebaut, die genau dem Lauf der Sonne folgte und wie das Tagesgestirn selbst am Morgen und Abend gelbrot leuchtete. So konnten in Fensterlosen Räumen ohne Bildverpflanzungszauber auch die Tagesstunden dargestellt werden. Die Frage war nur, ob diese Sonnenlichtuhr auch wirklich dem Lauf der Sonne folgte oder nicht schneller oder langsamer ging, um einen falschen Eindruck von der verstreichenden Zeit zu erschaffen.

"Das werdet ihr bereuen", dachte Machmut an die Adresse der versammelten Familienväter. Doch wie sie es bereuen würden konnte er im Moment nicht entscheiden. Denn während er das dachte versuchte der Zauber gegen Flucht- und Vergeltungsgelüste seinen Geist auszufüllen. Er musste sich sehr gegen die ihm Sicherheit und Schutz einflüsternden Gedanken stemmen. Dabei verlor er jedoch die Lust auf Rachegedanken. Sicher mochten die Brüder des blauen Morgensternes entscheiden, wie sie diese Demütigung vergelten würden. Womöglich würden sie den Ägyptern alles Schutzrecht lebender Menschen absprechen und sie mit allen Feinden von innen und von außen alleine lassen. Ja, das war doch sicher eine befriedigende Vorstellung. "Du bist hier sicher. Gefährde nicht deine Sicherheit!" drang die stimmlos flüsternde Botschaft in ihn ein. Er schaffte es nur mit Mühe, diese ihn einlullenden Gedanken wieder abzuschütteln. Doch weil es ein fest eingewirkter, an den Lauf der Gestirne gebundener Zauber war besaß dieser auch die unendliche Ausdauer der über den Himmel wandernden Gestirne Sonne und Mond. Jeder Gedanke an Flucht oder Rache würde dieses stimmlose Flüstern in ihm aufrufen. Er konnte seinen freien Willen nur dadurch behalten, dass er an alles andere als an Flucht oder Rache dachte. So setzte er sich auf den schmalen Stuhl am Darreichungstisch und gab sich Erinnerungen an bessere Zeiten hin, als er noch wunderbar damit leben konnte, dass die Al-Assuanis die Zwei-Dutzend-Sonnen-Regel aufgehoben hatten. Er dachte auch, dass er hier von keinem der von den Morgensternbrüdern erkannten Feinde behelligt werden konnte. Denn die Sonnenlichtuhr wirkte auch gegen sonnenlichtempfindliche Wesen wie Blutsauger und Schattengeister, und auch die bei den Brüdern für höchst gefährlich eingestuften vaterlosen Töchter des Abgrundes mochten ihn hier nicht heimsuchen, weil die Türsperre auch Wände, Decke und Boden durchtränkte und unerlaubtes Erscheinen aus dem Nichts abwies. Mit dieser nur wenig beruhigenden Erkenntnis begann Machmuts Warten auf die Entscheidung der versammelten Väter.

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Kradanoxa Deeplook hatte sämtliche afrikanischen Leitwächter in der südafrikanischen Niederlassung zusammengerufen. "Mein Versuch, die Konferenz der afrikanischen Zaubereiminister zu belauschen misslang, weil die auf derartige Vorhaben vorbereitet waren. Das liegt daran, dass dort die für uns so wichtigen Erdmagiestränge verändert werden und wir deshalb keine Mithörsteine ausbringen konnten. Daher müssen wir nun besprechen, welche Möglichkeiten es gibt, wie diese Versammlung ausgeht und wie wir auf welche davon antworten können", erwähnte die Trägerin des Seelenglashelmes. Südafrikas Leitwächter Bonecrack fragte sie, wie sie darauf antworten sollten, außer sie zu zwingen, Gringotts in Nordafrikanischen Ländern wiederzueröffnen.

"Das könnte einer der Schritte sein, Leitwächter Bonecrack", sagte Kradanoxa Deeplook. "Aber zunächst müssen wir beraten, welche Möglichkeiten die Zauberstabträger haben."

Nun begann eine mehr als dreistündige Beratung, die sich vor allem darauf bezog, wie die afrikanischen Zaubereiminister unter den europäischen Kolonien gehandelt hatten und was nach dem Ende der Kolonialzeit beibehalten oder verändert wurde. Am Ende legten die versammelten Leitwächter sich fest, dass die Afrikaner sechs Auswahlmöglichkeiten hatten:

Erstens, sie widerriefen alles, was unter dem Einfluss von Ladonna Montefiori durchgesetzt wurde und ließen überall wieder Kobolde ins Land, in deren Windschatten auch der Geheimbund wieder tätig werden konnte. Zweitens könnten sie sich darauf einigen, dass sie alle nicht ursprünglich aus Afrika stammenden Zauberwesen vertreiben wollten. Dann ginge es auch Gringotts an den Kragen. Drohte dies konnte sich der Geheimbund für Flucht, Verstecken oder offenen Krieg oder heimlich ausgeführte Anschläge entscheiden. Drittens mochten sich die Afrikaner darauf einigen, dass jeder seine eigenen Angelegenheiten verwaltete. Das hieß, dann nur die Zaubereiministerien zu beeinflussen, die Gringotts und damit das Leben von Kobolden auf ihrem Hoheitsgebiet ablehnten. Viertens könnten sich alle darauf einigen, überhaupt keinen Handel mehr mit anderen Ländern zu treiben. Dann brauchten sie kein Gringotts mehr. In diesem Fall galt auch, Flucht, Versteck oder gewaltsamer Kampf. Fünftens mochten die Afrikaner sich nur dazu entscheiden, eine einheitliche Vorschlagsliste an die Europäer zu verfassen und deren Antwort abzuwarten. Tja, und sechstens konnten die afrikanischen Zaubereiminister Interessensblöcke bilden, in denen dann wieder entschieden werden konnte, mit wem und wie genau Handel und Goldverkehr stattfinden sollte.

"Was tun wir gegen die vaterlose Tochter der Erde?" wollte Bonecrack wissen. "Richtet alle Stützpunkte so ein, dass sie fremde Eindringlinge mit mindestens drei unterschiedlichen Arten auf einmal zu Tode bringen und gebt euren Untergebenen genug Schutzmittel, um selbst nicht davon getötet zu werden! Ganz einfach", erwiderte Kradanoxa Deeplook. Sie dachte dabei an die Absicherungen, mit denen Ladonna ihre Versammlungshöhle ausgestattet hatte. "So möge es sein", sagten sämtliche Leitwächter der noch verbliebenen afrikanischen Niederlassungen.

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Julius genoss die kurze Auszeit zwischen den Verhandlungsrunden. Er spielte mit seinen bereits geborenen Kindern und führte lange Gespräche mit den zwei Hexen, die ihm zu diesen Kindern verholfen hatten und bereits drei weitere Kinder von ihm erwarteten. Früher, so wusste er, hätte er sicher abgestritten, dass er für zwei Frauen gleich viel Zuneigung, Achtung und auch körperliches Begehren empfinden konnte. Er hatte sich früher, wenn er doch mal Filme über untreue Ehemänner oder Frauen gesehen hatte gefragt, warum sich jemand sowas antat, ob es als tragische oder komödiantische Geschichte daherkam. Immerhin gab es zwischen ihnen dreien keine Heimlichkeiten. Sie führten eine klare, allen Seiten gleichermaßen anerkannte Dreiecksbeziehung, auch wenn Millie, seine anngetraute Frau, mehr Vorrechte einfordern könnte. Doch genau das tat sie nicht, seitdem feststand, dass Béatrice ihr zweites Kind von Julius trug. Eigentlich hatte sie mit Félixes Geburt ihre angenommene Aufgabe als Friedensretterin erfüllt. Doch aus einem Julius' nicht mit Logik ergründlichem Anlass nahm Millie es ohne Anflug von Eifersucht oder Verachtung hin, dass ihre Tante wieder von ihm schwanger war. Vielleicht, so dachte Julius einmal, lag es daran, dass alle drei unter dem Schutz und im Auftrag der beiden TVEs Ashtaria und Ammayamiria lebten und handelten. War es denn ausgeschlossen, dass die beiden nicht heimlich auf alle drei einwirkten, um sie weiterhin friedlich zusammenleben zu lassen? Doch das kam ja schon einer Schicksalsergebenheit und Abwandlung von Gottesfurcht gleich, wehrte Julius diesen Gedanken ab. Sie drei lebten zusammen, weil er beide gleichermaßen liebte und Millie Béatrice weiterhin dafür dankte, dass sie mitgeholfen hatte, ihren Albtraum von einer von bösen Geisterwesen und Kreaturen verheerten Welt möglichst unerfüllbar zu machen. Er konnte ja nicht wissen, dass die zwei sich bereits vor der zeitnahen Zeugung der drei neuen Kinder miteinander beraten hatten.

Weil Julius das noch nicht wusste nahm er es am Ende als Glücksfall hin, dass er mit den beiden Frauen und Hexen friedlich zusammenleben und den bereits beachtlichen Stall seiner Kinder in Ordnung und in Schwung halten wollte.

Am 29. März erfuhr Julius von Brittany, dass die zehn großen Familien der USA ihre Masken hatten fallen lassen und dem künftigen Makusa ihre Bedingungen für ein friedliches, erfolgreiches Bestehen diktiert hatten. Einigen hohen Herrschaften der US-amerikanischen Zaubererwelt schmeckte das nicht. Doch weil der übergroße Teil der zu Amt und Würden gelangten Hexen und Zauberer aus einer jener zehn Familien stammten und die schon traumatische Fremdherrschaften Vita Magicas und Ladonnas noch all zu bewusst waren verpuffte der Widerstand wie ein kräftig in den Wind abgelassener Leibwind. Zumindest tönte so der Radiozauberer Roderic Kruger.

"Dann könnte Cartridges Frau oder Witwe, beziehungsweise Ziehmutter wieder was wichtiges werden?" wollte Julius von Brittany wissen, als sie ihm und seinen beiden erwachsenen Mitbewohnerinnen die tagesfrischen Nachrichten mitgeteilt hatte. "Goddy Cartridge steht bereits mit aufstiegsbereitem Besen am Start. Aber ob sie im Makusa nur eine Abgeordnete oder eine der Regierungshexen wird, höchstenfalls die neue Präsidentin, zeigt sich erst am vierten Juli, der ja auch bei uns Hexen und Zauberern als Unabhängigkeitstag gefeiert wird. Ab übermorgen sollen alle, die kandidieren wollen ihre Vorhaben bekannt geben und ab dem zweiten April sollen dann wie bei den Nichtmagiern Vorwahlen bestimmen, wer für wo antritt. Wie gesagt haben die großen Zehn nun klar angesagt, wo und was sie bestimmen wollen", sagte Brittany Brocklehurst noch. Dann war mal wieder die alltägliche Begrüßungs- und Verabschiedungsrunde zwischen Brittanys erstem Sohn Leonidas und Aurore Latierre dran. Millie erinnerte Brittany daran, dass sie und ihre Familie zwischen dem 24. und 27. April gerne herüberkommen und Millies 25. Geburtstag mitfeiern konnten. Bis dahin würde die Konferenz auf Malta hoffentlich längst vorbei sein.

"In der nichtmagischen Welt wirkt sich das immer auf alle anderen Staaten aus, was in den USA passiert", meinte Julius, nachdem Brittanys räumliches Abbild verschwunden war. "Ja, und immer fragen sich alle außerhalb der USA, ob die Yankees und Ex-Sklavenhalter noch alle beisammen haben."

"Nicht so ganz, geliebter Ehegatte", erwiderte Millie. "Als der erste Makusa existierte und die vereinigten Staaten die Auswirkungen der gewaltsamen Repatriierungsaktionen überstanden hatten haben die sich weitestgehend aus allem rausgehalten, was in Europa, Afrika oder Asien passiert ist. Deshalb waren die für uns auch nur bedingt wichtig. Allein schon dieses Ausfuhrverzögerungsgesetz, dasss deren Sachen erst zwanzig Jahre nach der Erfindung außerhalb der USA verkauft werden dürfen, ist ja noch so ein Überbleibsel von deren Abschirmungspolitik. Tja, und ich wage es als Nichtministeriumshexe zu behaupten, dass der neue Makusa das nicht nur nicht lockern wird, sondern womöglich ein dauerhaftes Ausfuhrverbot für US-Erzeugnisse durchdrückt. Während du mit der Sonnenkarosse unterwegs warst habe ich mich über jene großen zehn Familien schlauer gelesen. Über Jacqueline Corbeau bekam ich sogar über Digeka noch Texte aus der Southerlandsippe, wo die mal nur wortreichen, mal handgreiflichen Auseinandersetzungen erwähnt wurden. Die Greendales, von denen Godiva Cartridge abstammt, sind maßgeblich für die Einführung dieses Ausfuhrverzögerungsgesetzes verantwortlich, weil das der von allen akzeptierte Kompromiss war. Für euch Zahlenjongleure heißt das wohl der kleinste gemeinsame Nenner, was auch immer genau damit gemeint ist. Ja, und du musst mir das jetzt nicht erklären, Monju." Julius hatte in der Tat schon den Mund geöffnet, um seiner Frau eine Stegreifvorlesung über Grundlagen der Bruchrechnung zu halten, obwohl er wusste, dass sie das meiste davon sowieso schon kannte. Aber warum Zwölftel der kleinste gemeinsame Nenner bei zwei miteinander verwurstelten Brüchen aus Dritteln und Vierteln war schien sie gerade nicht zu wissen. Aber wenn sie es auch jetzt nicht wissen wollte sollte er es auch nicht erwähnen. Wenn Millie schwanger war war sie was Erklärungen anging immer sehr ungeduldig oder empfindlich. Für sie zählte im Moment auch eher, dass sie wieder Zwillinge im Bauch hatte und dass sie zusehen musste, die beiden sicher auszutragen und auf die Welt zu bringen.

"Mit wem von den großen zehn ist unsere angeheiratete Cousine verwandt?" fragte Julius. Millie überlegte. "Hmm, habe ich jetzt nicht mitbekommen. Wird also eine sehr weit entfernte Verwandtschaft sein. Aber Jackie Corbeau, sowie die Familie Ross bei Denver stammen von den Southerlands, die ja der amerikanische Nebenzweig der Latierres sind. Also haben wir auf jeden Fall eine Zutat im Kessel des neuen Makusa", erwähnte Millie noch. "Was längst nicht immer ein Vorteil ist, Millie", meinte Béatrice dazu. Dann lauschte sie auf das Juchzen und Toben von Félix und Flavine, die von Chrysope im weitläufigen Garten beaufsichtigt wurden. "Die machen sich schon müde, bevor die Kindergartenstunden anfangen", meinte Béatrice. Millie und Julius nickten zustimmend.

Julius durfte Aurore zur Schule fliegen, während Millie und Béatrice mit Chrysope, Clarimonde, Félix, Flavine und Phylla den örtlichen Kindergarten aufsuchten, der bereits nach weiteren Betreuerinnenund Betreuern suchte. Denn durch die von Vita Magica entfachte Kinderflut reichten die bestehenden Gruppen nicht mehr aus, um wirklich alle gleichermaßen zu beaufsichtigen und zu fördern.

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Albertrude Steinbeißer beobachtete mit ihren biomaturgischen Augen die Umgebung von Malins unterirdischem Höhlenreich. Sie hatte herausgefunden, dass sie nicht höher als einhundert Meter über Grund fliegen durfte, um in die tiefen Schächte, Gänge und Hallen der Zwerge hineinblicken zu können. Malins Untertanen hatten beachtliche Beobachtungsstörzauber entwickelt. Dort wo der aufsässige König sich mit seinen engsten Beratern zu treffen pflegte wirkten sogar fünf ineinander verzahnte und durch Erdkraftunterschiede angetribene Fernbeobachtungsaussperrzauber. Diese hätten der Ministeriumshexe fast den Verstand geraubt, weil sie sich beinahe im wilden Flackern, Flirren und Wirbeln von bunten Lichtentladungen verloren hätte. Nur ihrer schnellen Auffassungsgabe und der in ihr wiedererwachten Erfahrung Gertrudes hatte sie verdankt, nicht im bunten Irrsinn zu ertrinken. So behielt sie seither nur die Versammlungshöhlen im Blick, weil dort nur schwache Beobachtungsabwehrzauber wirkten.

Gerade verfolgte sie den Aufbruch eines jener legendären Tiefenkreuzer, eines walzenförmigen Großfahrzeuges von mehr als hundert Metern Länge, das mit Hilfe zwergischer Erdmagie in die härtesten Gesteinsschichten der Erde eintauchen und diese durcheilen konnte wie eine Schallwelle. Das magische Fahrzeug schien in einen bodenlosen Schacht zu stürzen und verschwand keine Sekunde später aus dem Erfassungsbereich von Albertrudes magischen Augen. "Notiz für Tagesbericht: subterrestrisches Großfahrzeug verlässt Malins Reich um helf Uhr und zehn Minuten morgens in Richtung Nordnordost. Verfolgung mit biomat-Sichtvermögen nur eine Sekunde möglich. Verfolgung unmöglich, Ziel unbekannt", diktierte Albertrude einer winzigen Flotte-Schreibe-Feder, die auf einem winzigen Pergamentstück niederschrieb, was ihr zugeflüstert wurde. Dann fühlte die auf ihrem Donnerkeilbesen patrouillierende Hexe, wie etwas nach ihr und dem Besen zu greifen versuchte. Also wagten sie es erneut, sie mit Ansaugstrahlen niederzuholen. Das wollte sie denen gleich verderben. Albertrude ließ ihre linke Hand in eine Tasche ihres Umhanges fahren und fischte einen erdnusskerngroßen Stein heraus, diesen drehte sie dreimal gegen den Uhrzeigersinn und schleuderte ihn entschlossen nach unten. Dann stemmte sie sich mit Händen und Füßen am Besen anklammernd gegen den immer stärker werdenden Sog. Jetzt konnte sie auch das goldene Licht erkennen, das diesen Zugstrahl bildete. Keine zehn Sekunden später prallte der von ihr abgeworfene Stein auf den Boden und zersprang. Dabei setzte er in einem einzigen Augenblick die eingespeicherte Erdmagie frei, die ausreichte, um ein Erdbeben mittlerer Stärke zu erzeugen. Unvermittelt erzitterte der Boden und warf einen halben Meter hohe Wellen und brach in langen, gezackten, abgrundtiefen Spalten auf. Gesteinshagel und Staubfontänen flogen der Besenreiterin von unten entgegen. Doch die von Gertrude Steinbeißer ersonnene Hülle der Mutter der Stürme, eine unsichtbare Abwandlung des Amniosphaerazaubers, prellte alle feststofflichen Geschosse ab. Diese wurden in hellblauen Lichtentladungen abgewiesen und fast mit gleichbleibendem Schwung in unterschiedliche Richtungen davongeschleudert. Die Hauptwucht der freigemachten Erdzauber wirkte jedoch auf die ober- und unterirdischen Einrichtungen um das Zwergenreich herum. Der goldene Zugstrahl erlosch in zwei grün-goldenen Blitzen. Unzählige sichtbare und unsichtbare Wachposten Malins wurden herumgeschleudert oder drohten in den aufklaffenden Erdspalten zu verschwinden. Auch wenn die Umfriedungen des weitläufigen Zwergenreiches gegen massive Erdbezauberungen hielten mochte es innerhalb der unterirdisch angelegten Begrenzungsmauer laut und in allen weichen Körperteilen nachschwingend dröhnen. Nach nur drei Sekunden war der losgelassene Aufruhr beendet. Die davon betroffenen Zwerge rafften sich auf und wollten mit ihren Steinschleudern auf die vertückte Besenreiterin schießen. Doch die mit Wut und Geschick geschleuderten Steinkugeln zerplatzten blau aufblitzend an der Schutzblase um Albertrude und ihren Besen. Eigentlich hätte diese die Geschosse nur zurückprellen müssen. Also waren die Steinkugeln mit einem Zauber getränkt, der die Berührung mit einem dichten, räumlich klar geformten Luftzauber nicht überstand und sich entladen musste. Albertrude notierte, dass sie es nötig hatte, einen ihr geltenden Zugriffsversuch gemäß der ministeriellen Genehmigungen für massive Gegenwehr mit einem der Erdkraftentladungssteine zurückzuweisen und dafür mit bezauberten Steingeschossen angegriffen worden war. Dann hörte sie einen der Zwerge von unten rufen: "Wenn ihr Langen Krieg wollt reicht ein Wort, und wir bauen euer Ministerium zum Schlackehaufen um!"

"Wir haben die Anweisung, alle kriegerisch anmutenden Bewegungen von Ihnen zu beobachten und zu vermerken. Jeder Versuch, uns daran zu hindern zieht drastische Maßnahmen nach sich!" rief Albertrude, während ihr eine weitere Steinkugel entgegensauste und mit dumpfem Knall im blauen Licht zersprang. "Leute, lasst das! Sonst werfe ich noch einen Erdbebenstein zu euch runter!" drohte Albertrude. Dabei könnte sie den Zwergen da unten die Wolke der lähmenden Dunkelheit entgegenschicken, die eine ähnlich heftige Wirkung hatte wie die Aura der Dementoren und jener übermächtigen Nachtschattenkönigin, die im letzten Herbst ein Einkaufszentrum in Dunkelheit, Kälte und Panik gehüllt hatte.

"Koboldmatratze!" rief ein anderer Zwerg auf Zwergisch, was Albertrude nicht erst seit der Vereinigung zwischen Albertines und Gertrudes Seele konnte. "Du willst es nicht anders"!, knurrte sie ganz leise und zog aus einer anderen Tasche einen münzgroßen Gegenstand. Diesen versetzte sie in Schwung und warf ihn gezielt zwischen die Steinschleuderer. Diese zuckten wie von Blitzen getroffen zusammen und schlugen die Hände über ihre Ohren. "Im Zweifelsfall geht das bei euch kleinem Gemüse immer noch am besten in den Kopf." Die wie unter heftigen Schlägen zuckenden Zwerge krümmten sich zusammen, wanden sich wie Regenwürmer, die mit reinem Essig übergossen wurden und blieben dann bibbernd am Boden liegen, während der münzförmige Gegenstand nur zwei Meter über dem Boden verhielt und sich unter Aussenden silberner Funken rasend schnell im Kreis drehte. Albertrude wusste, dass die davon erzeugten Ultraschallschwingungen jedem auf hohe Töne ansprechenden Gehör so zusetzten, dass dabei auch das Gehirn überanstrengt wurde. So ließen sich nicht nur Wichtelrudel auf einen Schlag betäuben, sondern eben auch Zwerge und Kobolde. Wussten die Kollegen, dass Gertrude Steinbeißer diese Lähmschallscheiben erfunden und damit schon ganze Fledermauspopulationen von Wändenund Decken heruntergefegt hatte? Jedenfalls genoss die aus zwei Seelen vereinte Hexe ihren Erfolg mit sichtlicher Überlegenheit. Zehn weitere Sekunden blieb die Lähmschallscheibe in Tätigkeit. Dann trudelte sie aus und fiel auf den Boden. Albertrude zielte mit dem Zauberstab darauf und wirkte den unmittelbaren Apportationszauber, um sie in ihre freie Hand zurückzuholen. Sie hatte noch drei davon angefertigt. Doch die eine reichte den Wachen da unten aus, um zu wissen, dass sie die vom Ministerium zugeteilten Beobachter nicht weiter behelligen sollten. Die waren da und konnten sich besser wehren als Malins Bodengruppe. Zumindest ging Albertrude Steinbeißer davon aus, bis ihre magischen Augen zwei für natürliche Augen unsichtbare Flugsessel mit wild schwirrenden Flügeln sah, die wie die mechanischen Nachbildungen von Greifvogelschwingen beschaffen waren. In jedem Flugsessel saßen drei Zwergenkrieger. Albertrude musste lächeln. Zwerge die es wagten, einen fliegenden Gegner im Fluge anzugreifen waren wirklich frech. Aber diese Art von Frechheit tat am Ende nur denen weh. So verstärkte Albertrude die Wirkung ihres unsichtbaren sphärischen Zaubers mit altnordischen Worten des wütenden Sturmes. Da kamen die drei Sessel angeflogen. Sie sah, dass die Zwerge Stangen mit dicken, wohl hoffentlich weichen Kugeln an den vorderen Enden führten. Die wollten sie doch nicht etwa damit niederboxen und vom Himmel holen. Dann prallten die anfliegenden Sessel gegen die unsichtbare Schutzblase und wurden in blauem und grünem Licht gebadet. Die Stangen mit den Kugeln bogen sich wie zusammengedrückte Sprungfedern durch. Die fliegenden Sessel bockten wie wilde Pferde, kippten nach links und rechts und sackten schließlich nach unten durch. Die Insassen, durch die magischen Entladungen aus ihrer Unsichtbarkeit gerissen, hingen in breiten Sicherheitsgurten. Das mochte deren Glück sein. Denn ihre fliegenden Sessel stürzten mit schlaff an den Seiten herabhängenden Flügeln ab. Da sah Albertrude, dass die Zwerge sich nicht auf die Flugbezauberungen alleine verließen. Denn unvermittelt schnellten mehrere Quadratmeter große Fallschirme aus den Rückenlehnen und entfalteten sich vollständig. Immerhin mussten die frechen Flieger nicht beim Aufprall sterben, dachte Albertrude.

Sie konnte noch vier Sessel ausmachen, die an der entgegenliegenden Grenze des unterirdischen Reiches aus dem Boden glitten und wohl ein silbernes, für natürliche Augen unsichtbares Netz ausspannten. Als sie damit über ihr herabsanken brachte Albertrude jene Wolke der lähmenden Dunkelheit, die nur wirken konnte, der oder die bereits lebenden Wesen Schmerz, schlimmstenfalls den Tod zugefügt hatte. Die das Netz heranbringenden gerieten unmittelbar in einen völlig lichtschluckenden, dichten, Kälte verbreitenden Nebel hinein. Albertrude hatte ihren gemeinen Zauber auch noch mit einer zusätzlichen Komponente angereichert, die auf magisch aufgeladenes Metall wie ein Schwall konzentrierter Säure wirkte. Das Netz sprühte rostrote Funken und zerriss laut ratschend. Die Metallbestandteile der vier Flugsessel wurden spröde und löcherig. Die schnellen Schwingen brachen aus ihren sonst so stabilen Gelenken und flatterten davon, während die Sessel auseinanderbrachen. Die in der dunklen Wolke eingehüllten Zwerge wurden von dieser jedoch aufgefangen und festgehalten. Innerhalb einer Viertelminute war keiner von denen mehr aktionsfähig. Albertrude lenkte mit dunkel klingenden Worten die Wolke zu Boden. Dass da gerade eine halbe Zenturie Zwerge auftauchte um den Kameraden Beizustehen nahm sie als willkommene Dreingabe hin. jedenfalls gerieten die hinzugeeilten Zwerge ebenfalls in die Wolke der lähmenden Dunkelheit hinein und erstarrten, während ihre Kameraden von ihr ohne starken Aufprall zu Boden gebracht wurden. Als Albertrude mit ihren magischen Augen sah, dass alle überwundenen Gegner am Boden lagen löste sie die Wolke auf. Dann nahm sie etwas mehr Höhe, um ihren Patrouillenflug fortzusetzen.

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"Spielt die nur mit uns oder will die wahrhaftig einen Krieg mit uns?" wollte der Großmeister der deutschen Zwergenkriegergilde wissen, als er mitbekam, wie alle Wachen von verschiedenen Flächenwaffen handlungsunfähig gemacht wurden. Sich vorzustellen, dass die mit magischen Kunstaugen ausgestatteten Beobachter noch mehr von diesen Waffen mitführten, ja ihrerseis eine ganze Zenturie fliegender Kämpfer herbeirufen konnten, um mit diesen Erdkraftentfesselungs-, Schrillern oder jener unheilvollen Dunkelwolke vorgingen würde dem König nicht gefallen. Der hatte befohlen, die Beobachter zurückzutreiben, um einen Ausfall einer Flotte Tiefenkreuzer abzusichern. Die Flotte sollte an eine Stelle unter dem Harz verlegt werden, wo sie für den großen Feldzug gegen die Kobolde bereitgehalten werden sollte. Wenn die Zauberstabnutzer das mitbekamen waren auch die Kobolde gewarnt und würden dem Ansturm zuvorkommen. Doch diese eine Beobachterin ließ sich eben nicht zurückscheuchen und vertreiben, sondern setzte flächendeckende Waffen ein, die nicht unmittelbar töteten. Doch wenn die auch noch echt tödliche Waffen bei sich hatte ... Vor allem beunruhigte Kriegsgildengroßmeister Schmetterhammer, dass die Besenreiterin einen besonderen Schildzauber verwendete, der selbst die Stein- und Metallbrechergeschosse zu Staub zerblies. Dass die Zauberstabschwinger sowas konnten war ihm neu. Hatte die Kundschaftergilde da was nicht mitbekommen? Das sollte der König selbst fragen.

Malin VII. hatte natürlich das wenige Atemzüge dauernde Dröhnen mitbekommen und erfahren, dass eigentlich wohl ein durch die Erde wütendes Beben beabsichtigt war. "Die können wie wir und diese dem nimmersatten Sohn der allgebärenden Mutter zum Fraße vorzuwerfenden Spitzohren einen Erdzauber in totes Gestein zwengen und ihn da freisetzen, wo er heftig wirkt", schnaubte der König. Als er dann noch von Schmetterhammer erfuhr, dass eine ganze Wachzenturie außer Gefecht gesetzt worden war hieb der König auf die linke Lehne des eisernen Herrscherstuhles, das diese deutlich eingedellt wurde. "Wenn ihr sie nicht zu fangen schafft lasst sie eben auf ihrem Holzstecken über uns herumfliegen und macht jede Menge grelles Licht und grauen Sichtvereitelungsnebel, statt sie gezielt anzugreifen. Vielleicht fliegt sie dann von alleine davon."

"Mit Verlaub, mein König, aber diese Beobachterin gehört wie drei andere zu den Trägern alles und jeden erblickender Kunstaugen, die nicht mit blendender Helle oder die Sicht verderbender Nebelpfannen überwunden werden können. Nur unsere in Stein gemeißelten und mit unseren eigenen Händen und eigenem Blut eingewirkten Fernbeobachtungszauber können uns in dieser Tiefe vor unerwünschtem Einblick schützen", erwähnte der Leiter der inneren Sicherheitstruppe. Der Meister der Kriegergilde fügte dem noch hinzu: "Nur wenn wir diese unerwünschten Beobachter nicht auf mehr als tausend unserer Längen zurückweisen können befürchte ich, dass sie die Verlegung unserer Kreuzerflotte mitverfolgen und an das Ministerium melden wird. Unsere Einzelkreuzer sind schon auffällig, selbst wenn sie unmittelbar nach dem Losfahren Erdstoßgeschwindigkeit plus ein Zehntel davon erreichen können. Die Verlegung der Kreuzer unter die Berge des Harzes kann nur unerkannt gelingen, wenn jemand mit alles durchblickenden Augen weit außerhalb von tausend Zwergenhöhen verbleiben muss."

"Die Frist zur Übergabe des Goldwertrechtes dauert ja noch an. Vielleicht sollte ich über eine Verkürzung nachdenken", knurrte Malin. Dann sagte er entschlossen: "Die ganze Behinderung unserer eigenen Wehrkraft wird die Zauberstabträger gemessen an der uns aufgebürdedeten Zeit zur Vorbereitung Gold kosten. Wenn sie uns am Ende doch das Goldwertrecht überlassen müssen könnten sie alle zu nackten, obdachlosen Bettelleuten werden."

"Mein König, wollt Ihr nicht erst abwarten, ob der Rat der neun Könige zusammentritt und was dieser beschließt?" fragte der Bewahrer der Erinnerungen und Bräuche den Herrscher. Dieser wusste zu gut, dass der Bewahrer kein Freund von ihm war und argwöhnte erst eine unerlaubte Verzögerung. Dann musste er jedoch nicken und sagte: "Es fällt mir nicht leicht. Doch muss ich dir hier doch zustimmen. Erst wenn ich weiß, ob der Rat der Könige zusammentreten kann und falls ja, was dieser beschließt kann ich ungefährdet von allen Klagen und gegen mich aufgehetzte Artgenossen den längst fälligen Feldzug wider die Kobolde befehlen. Dann sollte es auch keinen Unterschied mehr machen, ob unsere Tiefenkreuzer beim Losfahren beobachtet werden oder nicht. Ja, ich befehle, die ohnmächtigen Krieger und Wächter zu bergen und in den Räumen der Heilung wieder zu Kräften zu bringen. Die Beobachterin dort draußen soll einstweilen unbehelligt bleiben. Womöglich kann ich ihre unzulässige Gegenwehr vor das Zauberergericht bringen und ihr Gewicht in reinem Gold an Schadensersatz verlangen oder sie da selbst zu Diensten in unseren Höhlen verurteilen lassen." Keiner hier wagte auf diese völlig unerfüllbare Bestrafungsanregung zu lachen. Sie alle wussten, dass Malin VII. merkwürdige Vorstellungen besonders von großen Frauen hatte. Er wollte sich nicht allein damit begnügen, König unter den deutschen Bergen zu sein. Doch wer zu viel wagte mochte am Ende alles verlieren. So beschloss Malin, eben keine weiteren Aktionen gegen die Beobachterin vorzunehmen und die geplante Kreuzerverlegung auf die Zeit nach dem Rat der neun Könige zu vertagen.

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Albertrude Steinbeißer bekam nun mit, wie Zwerge in den weiten, himmelblauen Umhängen der Heilergilde um die bewusstlosen Wachsoldaten kümmerten. Das hieß vor allem, sie möglichst schnell und lautlos durch die mit dreifachem Wachpersonal besetzten Zugangstore in das unterirdische Reich hinunterzutragen. In nur einer Viertelstunde lag kein ohnmächtiger Zwergensoldat mehr vor den Zugängen herum. Die Trägerin magischer Augen beobachtete, wie die Trümmer der von ihr zerstörten Goldlichtausrichter zusammengeklaubt und im trügerischen Schutze von Unsichtbarkeitszaubern fortgeschafft wurden. Da sie unbehelligt weiterbeobachten konnte wagte sie es, auf die für die bestmögliche Nutzung ihrer magischen Kunstaugen nötige Minimalhöhe von 100 Metern abzusinken. Sie behielt jedoch die aus starkem Luftzauber errichtete Schutzblase aufrecht. Der in ihrem Körper wirkende Wachhaltetrank erlaubte ihr, diese an die fünf Stunden zu wirken, sofern es keine neuerlichen Durchdringungsversuche gab.

Zwanzig Minuten nach der kurzen Auseinandersetzung zwischen ihr und den Wachen von Malins Reich wies nichts mehr auf den Schlagabtausch hin. Eher war es nun so, dass die zu Fuß oder per seltener Flugartefakte passierbaren Tore vollständig verschlossen und verriegelt waren. Albertrude konnte dank der Sichteinstellung für magische und lebendige Ausstrahlungen erkennen, dass die Zwerge ebenfalls magische Mauern vor ihre Tore gesetzt hatten. Sie fühlten sich offenbar belagert.

"Na, wann werdet ihr einen eurer violetten Botenläufer losschicken, um euch über uns Beobachter zu beschweren?" dachte Albertrude eine Frage an Malin und seine Berater. Natürlich bekam sie keine Antwort. Sie konnte jedoch sehen, dass Malin und seine obersten Gildenmeister in einer gegen alle magischen Fernbeobachtungen abgeschlossenen Versammlungshalle sein mussten. Denn außer den grün-rot-blau flirrenden, flackernden und verwirbelnden Lichtern konnte sie an den betreffenden Punkten nichts erkennen, auch nicht aus so geringer höhe, die gerade noch ausreichte, um geworfenen Speeren auszuweichen.

Weil es zu Albertrudes Aufgabe gehörte, nicht nur die Zwerge in ihrem unterirdischen Reich zu überwachen, sondern auch aufzupassen, ob nicht eine Armee von Kobolden einen Präventivschlag gegen Malins Volk führte umflog sie das von den Gipfeln und Wipfeln des Schwarzwaldes überdeckte Reich der deutschsprachigen Zwerge. Vor allem musste sie die Gegenden prüfen, unter denen die Elementarzauberfachkräfte besonders starke Erdmagiestränge ausgemacht hatten. Ebenso blickte sie immer wieder in den Himmel, nur für den Fall, dass von dort Unheil drohte. Doch während ihrer Wachschicht ereignete sich nichts neues.

Sie übergab nach weiteren drei Stunden die Überwachung an den Lichtwachenoberleutnant Balduin Rapsgold, bei dem nur das rechte Auge durch eine umfangreich befähigte Prothese ersetzt worden war. Während Albertrude ihren Geist vor dem Nachfolger verschlossen hielt berichtete sie von ihrem kurzen Scharmützel mit den Wachen, die versucht hatten, sie vom Himmel herunterzuzerren. "Tja, Sie dürfen leider nicht den Goldlichtschlucker benutzen, den unsere Truppe hat, Fräulein Steinbeißer. Aber gut zu wissen, wie nervös Malins Leute sind. Aber Sie müssen drachenmäßig aufpassen, dass Sie denen keinen Grund für einen offenen Krieg liefern. Ah, gerade verlässt wohl ein violetter Läufer von denen das Land unter den Bergen", sagte Rapsgold. albertrude blickte sich schnell um und erkannte einen in einer für sie grün-blau flimmernden Blase fliegenden Sessel, in dem ein wie in überheißer Luft flimmernd sichtbarer Zwerg in violetter Kleidung saß. "Der will sicher zu Erlenhain und sich über uns beschweren", bemerkte Albertrude dazu und fügte hinzu: "Wundere mich nur, dass der nicht gleich nach der unschönen Sache mit den Goldlichtschützen und der Wachzenturie losgeflogen ist."

"Das kann ich Ihnen verraten, weil die wissen, dass Sie jetzt Schichtende haben. Der Bote wird darauf drängen, Sie vorzuladen, um zu klären, ob Sie das Recht hatten, sein Volk zu bedrängen. Dieser Erdbebenstein, den Sie geworfen haben könnte Ihnen als gezielter Angriff auf alle zivilen Bürgerinnen und Bürger von Malins Reich ausgelegt werden."

"Ja, wenn die mir nachweisen können, dass ich nicht gewusst habe, dass die ihr Land nach der Erdmagiekommotion nicht noch mehr gegen Erderschütterungszauber abgesichert haben. Doch weil es darüber genug Berichte bei den Kollegen von der Zauberwesenabteilung und auch bei Ihnen von den Lichtwachen gibt, Oberleutnant Rapsgold, kann mir kein gezielter Angriff auf das Leben der Zivilbevölkerung unterstellt werden. Denn dafür hat die Wirkung nicht ansatzweise ausgereicht."

"Winkeladvokatin, wie?" fragte Lichtwachenoberleutnant Rapsgold. "Ich habe jeden Tag mit den Auswirkungen von Magie in der nichtmagischen Welt und deren Umdeutung für die Magielosen zu tun. Da lernt jemand sowas", erwiderte Albertrude. Sie verabschiedete sich mit den vorgeschriebenen Ablösungsformeln und brauste auf ihrem Donnerkeilbesen in Richtung Norden davon. Sie war froh, jetzt erst einmal achtzehn Stunden Freizeit zu haben.

Als sie mehr als hundert Kilometer von Malins Reich entfernt war landete sie und apparierte von dort aus in ihrem eigenen Haus. Dort stellte sie sicher, dass ihre unehelich und klammheimlich bekommene Tochter Prunella noch im Zaubertiefschlaf lag und zog sich in ihre mit Blutsiegelzauber verriegelte Bibliothek zurück. Dort hatte sie alle aus der Girandelli-Villa mitgenommenen Bücher und Dokumente in Wandelraumschränken verstaut, die es sogar einer wie sie verwehrten, den Inhalt zu betrachten, wer nicht wusste, wonach er oder eben sie suchen musste.

Sie holte sich die dicke, armlange Pergamentrolle mit dem Verzeichnis aller für dunkle Hexen nutzbaren Elementarkraftquellen Europas hervor. Diese Rolle war ein Zwischending zwischen Landkarte und beschreibendem Text. Albertrude hatte bereits bei der ersten Übersicht erkannt, dass hier Großmeisterinnen magischer Schreibkunst gearbeitet hatten. Die die Erdkraftquellen bezeichnenden Markierungen und Beschreibungstexte waren in zwergischer Mondschrift abgefasst. Die für die Wasserelementarkräfte stehenden Markierungen und Texte waren in der aus runden und ovalen Symbolen der meerischen Lautsprache abgefasst. Die für das Element Luft und dessen Ausprägungen Wind und Unwetter waren in der von den Himmelsrichtungen abhängigen Schrift der angeblichen Sturmreiter aus dem Norden abgefasst. Die auf Feuerkraftquellen hindeutenden Markierungen und Texte waren in der angeblichen Lautschrift jener Zyklopen abgefasst, die dem Feuer- und Schmiedegott Hephaistos oder Vulcanus gedient hatten. Die Kunst hierbei bestand darin, dass sich die Schriftzeichen nur offenbarten, wenn eine Hexe, kein Zauberer, einen auf das eigene Blut wirkenden Enthüllungszauber benutzte oder entsprechende Enthüllungsgläser oder eben magische Kunstaugen verwenden konnte. Auch war es Tageszeitenabhängig, welche der vier Schriften enthüllt werden konnte. Getreu der alten Kunde stand der Morgen für die Luft, der Mittag für das Feuer, der Abend für die Erde und die Mitternacht für das Wasser. Da es gerade zwischen Nachmittag und Abend war konnte sie wohl leichter die Erdelementarkraftquellen studieren. Natürlich war ihr klar, das diese Quellen natürliche Magiequellen und ortsgebunden waren. Doch zu wissen, wo sie für welchen Zauber geeignete Kraftverstärker ffinden konnte war ihr als entschlossene Hexe sehr wichtig. Besonders jetzt, wo sich eine Auseinandersetzung mit Zwergen und / oder Kobolden androhte erschien es der aus zwei Seelen vereinten Hexenmeisterin geboten, deren Kraftquellen zu kennenund zu nutzen. Das passte auch insofern, da Albertrude wusste, dass die ebenfalls aus zwei Seelen zu einer vereinten Persönlichkeit geformte höchste Schwester des Spinnenordens eine Großmeisterin der uralten Erdzauber des versunkenen Reiches war. Im Bestreben, ihr ebenbürtig zu werden, ja sie so leise und heimlich wie sie konnte irgendwann zu überflügeln schätzte sie den Gewinn der Pergamentrolle sehr hoch ein. Noch wusste Anthelia und mit wem sie da vereint worden war nicht, welche der von Ladonna zusammengerafften Beutestücke sie sich angeeignet hatte. Das durfte auch gerne so bleiben, fand Albertrude.

So studierte sie mit Hilfe ihrer biomaturgischen Augen die immer klarer hervortretenden Mondbuchstaben, die je nach Ausrichtung des auf ganzer Länge entrollten Pergamentes hervorhoben, in welcher Himmelsrichtung die Wurzel der Beständigkeit war, der Berg der vereinten Strömungen von Leben und Tod oder der als Thron der Gaia bezeichnete Felsen, der in vorhelenistischer Zeit als zentrale Anbetungsstätte für die Erdmutter Gaia genutzt wurde. Sicher wussten die Töchter der Hecate noch, wo jener Felsen zu finden war. Sicher war der ähnlich stark von Magie durchströmt wie der tibetanische Kailash oder der australische Uluru. Falls sie den "Thron der Erdmutter" aufsuchen wollte musste sie sich vor den Hecatianerinnen vorsehen.

"Es wird zeit, dass ich an meine versteckten Bücher komme", dachte Albertrude im Sinne von Gertrude Steinbeißer. Denn sie wusste, dass sie über die hier erwähnten Quellen einige alte Bücher und beschreibende Pergamente zusammengetragen hatte, die in jenem geheimen Haus lagerten, in dem auch der zweite noch existierende Lotsenstein des alten Reiches verborgen war. Also galt es, darauf hinzuarbeiten, dass sie dort wieder hin konnte.

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Die Vertreter afrikanischer Zaubereiministerien waren sich beinahe einig, wie sie mit einer gemeinsamen Stimme auf die neue Lage in der zaubererwelt antworten wollten. Die Vertreter der Länder südlich der Sahara willigten ein, dass sie den Mittelmeerstaaten zustimmten, dass die ins Ausland entführten und teilweise von den Kobolden einbehaltenen Artefakte alter Kulturen, nicht nur der Ägypter, zurückzuerstatten waren.

Der international geltende Kalender nach christlicher gregorianischer Zeitrechnung wies aus, dass heute der 30. März 2007 war. Um neun Uhr Vormittags trafen die Abgesandten der afrikanischen Zauberergemeinden wieder zusammen. Es galt heute, den auf die guten Beziehungen mit den ehemaligen Kolonialländern beharrenden Zaubereiministern zu ermöglichen, wie viel Zuwendungen sie von den einstigen Fremdherrschern erhalten durften, ohne sich von diesen an langen Führstricken lenken zu lassen. Die Vertreter aus Zentralafrika wollten noch einmal klarstellen, dass die bei ihnen überlieferten Formen von Zauberei und gesellschaftlichen Miteinanders wieder verstärkt werden sollten und dass die in Afrika eröffneten Zaubereischulen die traditionellen Zauberformeln und Rituale gesondert unterrichteten, auch um die Zauberpriester der Urwaldvölker aufzuwerten. Immerhin, so erwähnte Mbenga, sei die Auffindung des ersten unrühmlichen Gefangenenlagers in Frankreich der althergebrachten Zauberkunst von Blut, Wort und Seele zu verdanken. Dem stimmten alle zu, egal aus welchem Kulturkreis und mit welchem Interesse.

Als die Uhr die Mittagsstunde schlug lag ein auf vier Pergamentseiten niedergeschriebener Beschluss vor, dass die afrikanische Zaubererwelt ein internationales Rückgabeverfahren für aus Afrika entführter Gegenstände forderte. Da fanden sich auch die ägyptischen Vertreter wieder. Ebenso sollte über die Ausfuhr von magischen Tier- und Pflanzenprodukten sowie nur in bestimmten Regionen des Erdteils vorkommende Kristalle verhandelt werden. Die bis dahin geltenden Handelsabkommen sollten ab dem ersten juni nicht mehr gelten. Falls die Europäer Wert auf weitere Erzeugnisse aus Afrika legten mussten sie bis dahin Nachfolgeverträge aushandeln. Das würde einigen Herrschaften nicht behagen, dachte Akil Mbenga. Doch wenn sie schon einmal mit einer Stimme und gemeinsamer Kraft auftraten sollte es sich auch für alle lohnen.

Wie es bereits in den ersten Verhandlungsstunden angedeutet worden war wurden die Vertreter Ägyptens, Tunesiens, Algeriens, Libyens und Marokkos beauftragt, zusammen mit Mbenga für die Ostafrikaner, dem senegalesischen Vertreter für Westafrika und de Groot für Südafrika nach Malta zu reisen und im Tempel der namenlosen Erdmutter mit den Europäern zusammenzutreffen. Bis dahin galt, dass der auf vier Standardpergamentrollen geschriebene Beschluss geheimgehalten werden musste. Um dies zu gewährleisten wurde eine besondere Wandelraumtruhe mit silbernen Beschlägen herbeigeschafft, deren sieben Schlüssel an je einen aus jeder Himmelsrichtung des afrikanischen Erdteiles ausgehändigt wurden. Da stand Karim Al-Assuani auf, der bisher als reiner Zuschauer anwesend war. Er wandte sich an die Versammlung.

"Werte Teilnehmer dieser am Ende wohl geschichtsträchtigen Zusammenkunft. Bevor Sie darüber einkommen, wer von den Nordafrikanern einen der sieben Schlüssel erhalten soll, nutze ich das mir gewährte Recht, zumindest eine Bitte zu äußern. Bitte bedenken Sie, dass mein Land und auch Tunesien, Algerien und Marokko gerade nicht von Landsleuten verwaltet wird. Geben Sie bitte nicht einen der unentbehrlichen Schlüssel in die Hände von Leuten, die nur ihrer achso länderübergreifenden Bruderschaft verbunden sind! Bedenken Sie bitte, dass der Schlüssel Nordafrikas auch als Schlüssel zur Macht über uns alle genutzt werden kann, wenn er nicht wie von Ihnen beschlossen verwendet wird, sondern solange fortgesperrt wird, bis Sie sich den sicher von den Morgensternbrüdern aufgestellten Bedingungen unterwerfen." Alle sahen Al-Assuani an, der ganz entschlossen und unerschüttert vor ihnen stand. Jamil Al-Kahiri, der bereits Anstalten machte, nach dem für die Nordafrikaner vorgesehenen Schlüssel zu greifen, starrte den derzeitig des Amtes enthobenen Al-Assuani an und rang mit seinen Gefühlen. Dafür sprach Alman Amur.

"Es war doch vollkommen vorhersehbar, dass Herr Al-Assuani auf diese Gelegenheit gewartet hat, um doch noch Unfrieden zwischen uns zu stiften. Natürlich will er darauf hinaus, dass nur solche, die keiner länderübergreifenden Vereinigung angehören, einen der sieben Schlüssel erhalten. Ja, und dass er uns von der Bruderschaft des blauen Morgensternes weiterhin als machtversessene Bande hinstellt war ebenso zu erwarten. Doch stelle ich fest, dass wir die von uns verwalteten Länder vertreten. Mein Bruder und ich stammen aus Ägypten, wie Herr Al-Assuani. Uns liegt daran, dass es unserer Heimat gut ergeht. Zu behaupten, es ginge nur um unsere Machterweiterung ist unverantwortlich, da wir ja auch dafür sorgen wollen, dass wir gegen die Akashiten und die sicher bald wieder auftauchenden Schattengeister ankämpfen werden. Daher hoffe ich, dass sie Al-Assuanis Einwand als das sehen, was er ist, der Ausdruck der Unfähigkeit, eine Niederlage hinzunehmen und die Verantwortungslosigkeit gegenüber jenem Volk, dessen Obliegenheiten er angeblich so wertschätzt. Geben Sie mir oder meinem tunesischen Kollegen den für Nordafrika eingeteilten Truhenschlüssel, damit die hier in der Stimmung gegenseitiger Achtung beschlossenen Vorhaben ohne weiteren Zeitverlust verwirklicht werden können. Die Bruderschaft des blauen Morgensterns erklärt durch uns, dass sie keine Absicht hat, die bestehende Lage zu missbrauchen, um irgendwelchen Machtbestrebungen zu folgen. Unsere Aufgaben sind bereits so verantwortungsvoll, dass wir uns derartige Ränke und Begierden nicht erlauben."

"Der Schlüssel für Nordafrika bleibt in meiner Verwahrung", sagte Mbengas Vertreter für internationale Zusammenarbeit. Die Al-Kahiris, sowie Alman Amur und zwei tunesische Mitstreiter starrten Mbenga verdrossen an. Jamil Al-Kahiri zischte die Frage: "Heißt das, dass Sie diesem vom Schicksal entthronten Familienoberhaupt da eher trauen als uns, Minister Mbenga?"

Mbenga sah auf den von seinem Mitarbeiter einbehaltenen Schlüssel und erwiderte: "Ich muss anerkennen, dass die Machterschütterungen in Nordafrika doch zu groß sind, als dass ich gerade wem von dort ohne Bedenken vertrauen kann. Herr Al-Assuani mag einen Versuch wagen, Sie für vertrauensunwürdig zu erklären. Gleichermaßen weiß ich nicht, inwieweit ich ihm und seinen Weggefährten vertrauen kann. Da die Zusammenkunft auf Malta schon in wenigen Tagen stattfindet kann ich es auch nicht darauf anlegen, dass die landeseigenen Zauberergerichte ein klärendes, dauerhaft geltendes Urteil verkünden, wer berechtigt ist, für sein Volk zu sprechen oder nicht. Also bleibt am Ende nur, dass wir, die wir die Truhe zur Verfügung stellen, abschließend festlegen, wer die Schlüssel dazu erhält oder nicht."

"Hören Sie es, Minister Mbenga steht nicht zu der Vereinbarung, die wir in Tagen der langen Unterredungen getroffen haben. Außerdem lässt er sich zu leicht vom Wort eines nicht Stimmberechtigten verunsichern, statt es mit der für einen obersten Verwalter gebotenen Entschlossenheit und Anerkennung aller Folgen zu vollenden, was er mitbeschlossen hat."

"Ja, aber wissen wir echt, ob ihr Morgensternbrüder nicht doch meint, erst mal eure eigenen Machtbereiche abzusichern oder die schon bestehenden weiter auszubauen?" fragte südafrikas Zaubereiminister de Groot die respektvolle Anrede vernachlässigend. Dafür sahen in die Al-Kahiris und ihre Mitbrüder aus Algerien sehr verärgert an. De Groot nahm das jedoch ebenso nach außen unbeeindruckt hin wie Karim Al-Assuani. Er sagte: "Allein schon, dass ihr euch doch davor fürchtet, eure zeitweiligen Ämter wieder abgeben zu müssen zeigt, warum ihr so überempfindlich auf Al-Assuanis Vorschlag anspringt. Wäre es echt nur ein hilfloses Aufbäumen gegen die eigene Entmachtung könntet ihr doch einfach sagen, dass ihr einseht, dass es noch genug Misstrauen in Ägypten gibt und hättet darum gebeten, dass jemand anderes den Schlüssel bekommt, um gerade zu beweisen, dass Herr Al-Assuani unrecht hat. Da ihr das aber versäumt habt verstehe ich, warum der Kollege Mbenga da nicht so zuversichtlich ist, wie er es vorhin vielleicht noch war."

"Wir sind die von den ägyptischen Zauberräten zur zeitweiligen Amtsführung berechtigten Vertreter des Zaubereiministeriums", knurrte Jamil Al-Kahiri. "Wir haben somit alle Rechte amtierender Zaubereiministeriumsmitarbeiter, also auch das, an internationalen Absprachen und Handlungen teilzuhaben."

"Hätte ich an deiner Stelle auch bekräftigt, Jamil ben Faruk al-Kahiri", stichelte Karim Al-Assuani. Jamil versuchte den derzeitig entmachteten Zaubereiminister mit seinem Blick niederzustarren. Doch wie ein Felsen im Sandsturm hielt Al-Assuani dem Blick stand. Dann sagte der noch was, dass Al-Kahiris aufgesetzte Selbstsicherheit sichtbar erschütterte. "Woher wissen wir hier denn, ob der Rat der Familienväter nicht schon längst beschlossen hat, wer von uns beiden weiterhin Zaubereiminister ist, Jamil ben Faruk Al-Kahiri. Immerhin haben wir hier mehrere Tage in völliger Abgeschlossenheit verhandelt."

"Das Gericht der Familienväter soll erst nach unserer Rückkehr zusammentreten", schnaubte Jamil. Da sagte dessen sowohl leiblicher wie geistiger Bruder Omar: "Vorausgesetzt, die Familienväter haben keinen Grund, diese Verhandlung vorzuziehen. Am Ende haben seine Verwandten da genug Zweifel und Anschuldigungen in die Welt gesetzt, dass die Familienväter sich gezwungen sahen, genau darüber zu verhandeln. Ist es daher nicht geboten, erst in der Heimat nachzufragen, ob ein solches Gerichtsverfahren stattfindet oder womöglich schon zum Abschluss gelangte?"

"Ohne uns als Zeugen, Bruder Omar?" fragte Jamil Al-Kahiri. Doch dann merkte er, dass seine Frage wertlos war. Denn natürlich waren sie keine Zeugen der Geschehnisse während der Feuerrosenherrschaft. Genau deshalb hatte ihre Bruderschaft sie als "unbedenklich" darstellen können.

"Ich erbitte die Erlaubnis, den verschwiegenen Bereich zu verlassen und neue Nachrichten aus der Heimat einzuholen", sagte Al-Kahiri. Al-Assuani bedachte ihn dafür mit einem herausfordernden Gesichtsausdruck. "Damit es geklärt wird, wem von uns beiden das Vorrecht des Zaubereiministers zusteht, Jamil ben Faruk Al-Kahiri? Dann hättest du nicht herkommen dürfen und mich auch nicht mitnehmen dürfen."

"Da die Unterhandlung sowieso beendet ist und es nur noch an den Unterschriften fehlt beschließe ich, dass wir alle innerhalb der nächsten Stunde den verschwiegenen, abgesicherten Ort verlassen und in die Heimatländer zurückkehren können", sagte Mbenga. Alle hier anwesenden stimmten ihm zu. Damit galt es nur noch, die Dokumente zu unterschreiben und sie dann in der gesicherten Truhe zu verstauen.

Jeder hier sah den Al-Kahiris an, dass sie es auf einmal sehr eilig hatten, als sei unter der verschwiegenen, unsichtbaren Insel ein alter Vulkan zu neuem Leben erwacht und wolle jeden Augenblick mit Urgewalt ausbrechen. So ähnlich mochten sich die Vertreter Ägyptens auch fühlen, dachte Karim Al-Assuani. Er wusste zwar, dass er selbst gerade mit sehr hohem Einsatz spielte und da selbst alles noch vorhandene verlieren mochte. Doch allein um diesem selbstsicheren Morgensternbruder den größten Schrecken seines Lebens eingejagt zu haben war es wert. Sollte es tatsächlich zu einem Schuldspruch gegen die Al-Assuanis gekommen sein würde der oberste der Familie zum letzten Mittel greifen, die Perle der verstrichenen Zeit, das am schnellsten wirkende Verdauungsgift, dass die ägyptischen Alchemisten jemals zusammengerührt hatten, und die Al-Assuani seit seiner Amtseinführung als Zaubereiminister in seinem linken unteren Backenzahn trug. Er musste nur viermal innerhalb von zwei Herzschlägen darauf beißen, um sie zu öffnen und das in ihr enthaltene Todesgift freizusetzen. Wenn er dann auf der Schwelle zwischen den Welten stand würde er sich entschließen, als verweilende Seele in der Welt zu bleiben.

Die Gesandten der afrikanischen Zaubereiministerien beeilten sich, nach den Unterschriften und dem Verschließen des Abschlussdokumentes ihre Habe zusammenzupacken und die seit Tagen bereitstehenden Beförderungsmittel zu besteigen, um in ihre Heimatländer zurückzukehren. Für die ägyptische Abordnung hieß das, dass Ali Bashir und seine Brüder die für die Reise bereitgestellten Teppiche ausrollten und flugbereit machten. Die an den Teppichen angebrachten Hilfsmittel hatten sich sicher von der Anreise erholt.

Ali Bashir erfuhr gemäß der Vereinbarung der Minister und ihrer Stellvertreter nicht, was genau diese alles beraten und beschlossen hatten. Doch dem Teppichfabrikanten vom Nil fiel auf, wie angespannt die Al-Kahiris waren und dass auch Alman Amur nicht mehr die Selbstsicherheit besaß, die er auf der Hinreise ausgestrahlt hatte. War irgendwas gesagt worden, dass die drei verunsichert, ja regelrecht erschüttert hatte? Doch als reiner Teppichlenker stand ihm keine Antwort auf diese Frage zu. Er stellte nur klar, dass alle mitgereisten Ägypter die ausgerollten Teppiche bestiegen.

Als der dunkelhäutige Gastgeber Mbenga noch einmal die in seiner Heimat üblichen Abschiedsworte gerufen hatte, konnten die fliegenden Teppiche abheben und durch die aus Wind- und Wasserzaubern errichtete Abschirmung durchdringen. Jetzt, wo Bashir und seine Brüder wussten, wie unbändig die Kräfte auf die Teppiche wirkten galt es nur, möglichst behutsam durch die bestehende Barriere zu gleiten, um jede Ablenkung sofort auszugleichen. Er dachte aber auch an jene ungebetene Besucherin, die es irgendwie geschafft haben musste, auf die Insel zu kommen und nur deshalb aufgespürt werden konnte, weil sie sich zu sicher gefühlt hatte.

Der "Sohn des Windes" genannte Flugteppich mit den sechs wichtigsten Mitgliedern der ägyptischen Abordnung schwankte ein wenig, als er im beinahe federgleichen Schwebeflug durch die unsichtbare Abgrenzung drang. Die an ihm befestigten Hilfskristalle glommen in verschiedenen Blautönen auf. Dann beruhigte sich die Lage für den Flugteppich. Ali Bashir überblickte schnell, ob auch die drei anderen Teppiche, darunter der Fürst der Wüstenträger, erfolgreich aus dem gesicherten Bereich um die Insel freigekommen waren. Die Insel selbst war nun nicht mehr zu sehen. als feststand, dass alle Teppiche unbehelligt weiterfliegen konnten befahl Bashir dem Sohn des Windes den Rückflug zum Ort der Abreise. Dort würden sie wohl vor dem nächsten Morgenrot eintreffen.

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Jophiel Bensalom sah in die Runde der hier versammelten Mitbrüder. Er brauchte weder die Kunst des Gedankenhörens noch die der Geistesdurchforschung um zu wissen, was mit denen los war. Es war ja auch sehr schnell und sehr weit umhergeflogen, was in Ägypten und wie bei einem Dominospiel auch in Algerien und Tunesien geschehen war. Die dort Recht sprechenden Räte und Richter und Räte hatten in weniger als zwei Tagen beschlossen, dass die einstweiligen Zaubereiminister schuldlos in die Falle Ladonnas geraten waren, da sie ja nur auf eine Einladung geantwortet hatten und nichts gegen den Feuerrosenzauber hatten ausrichten können. Das allein wäre für die höchsten Vertreter der Bruderschaft des blauen Morgensternes kein Problem gewesen. Doch die zuständigen Räte und Richter hatten fast zeitgleich geurteilt, dass es unrechtmäßig war, dass Morgensternbrüder die Macht übernommen hatten und diesen sogar vorwarfen, Ladonnas Entmachtung auszunutzen, um eigene Machtgelüste zu befriedigen. Dann hatten sie in Ägypten sogar Hausdurchsuchungen befohlen und angeblich Aufzeichnungen über eine Ausdehnung der Macht gefunden. Leider war es nicht möglich gewesen, die in Kenia weilenden Mitbrüder zu warnen. In Ägypten waren sogar Al-Kahiris männliche Verwandte verhört und die erwiesenen Morgensternbrüder unter dem Vorwurf der Verschwörung gegen die ägyptische Zaubererwelt eingekerkert worden. Das hieß für die Al-Kahiri-Brüder, dass sie in eine offene Falle hineinflogen, wenn sie zurückkehrten. Doch solange die auf der unsichtbaren Insel weilten kam niemand an sie heran, auch kein geflügelter Bote und auch kein übermittelter Geistesruf.

"Sind die noch in Ägypten und Algerien weilenden Mitbrüder wenigstens in Sicherheit?" wollte Musa wissen. Ein anderer Mitbruder erwähnte, dass die Al-Kahiris, die noch in Freiheit waren, vorsorglich die Grenze zum Sudan überquert hatten und auf weitere Anweisungen warteten.

"Das ist Al-Assuanis Werk gewesen. Der hat sich die Stimmen und das Wohlwollen der ägyptischen Richter gesichert", meinte Jophiel Bensalom. Seine Mitbrüder wollten ihm da nicht widersprechen. Vor allem der eine, höhnische Ausspruch von Leyth Al-Assuani klang den Morgensternbrüdern noch in den Ohren: "Wenn der König des Tagesgestirns seinen Thron am Himmel besteigt verblassen alle Sterne, auch der Morgenstern."

"Mag es sein, dass unsere Mitbrüder Jamil, Omar und Alman ihre Macht falsch eingeschätzt haben?" fragte Mehdi Isfahani. "Sie haben nicht mehr den alten Spruch bedacht, dass die Mäuse auf dem Tisch tanzen, wenn die Katze aus dem Haus ist."

"Macht ist und bleibt das süßeste aller berauschenden Gifte. Unsere Mitbrüder Jamil, Omar und Alman haben das nicht mehr bedacht und wollten zu viel davon haben."

"Wir werden erreichen, dass unsere Mitbrüder, sofern sie eingekerkert wurden, wieder in Freiheit gesetzt werden und dass wir weiterhin unbehelligt in den Ländern, wo wir leben wirken dürfen, allein schon, um die Jünger Akashas zurückzudrängen, die meinen, im langen Schatten der Blutgötzin Afrika erobern zu dürfen", sagte Musa.

"Dabei wissen wir nicht, wie die Unterhandlungen ausgegangen sind", sagte Jophiel Bensalom. Das wirkte auf die anderen nicht wirklich beruhigend.

"Es wird sich herumsprechen, dass die Al-Kahiris sich die Macht in Ägypten sichern wollten, trotz der Vorbehalte wegen der ausstehenden Verhandlungen", meinte Musa. "Selbst wenn Al-Assuani nicht mehr Zaubereiminister werden sollte mag er genug Misstrauen schüren, um uns aus seinem Land hinausdrängen zu können."

"Sagt nicht, dass wir die drei nicht gewarnt haben. Aber die waren ja der Meinung, dass gerade wegen der Vermächtnisse des Pharaonenreiches Ägypten eindeutig und unumkehrbar von uns Brüdern des blauen Morgensternes verwaltet werden sollte. Und ihr, werte Mitbrüder, habt den dreien sogar noch zugestimmt und ihnen Allahs und Ashtarias Segen gewünscht", sagte Jophiel Bensalom. Dafür wurde er von den anderen streng angesehen. Doch das hielt er aus. Sonst wäre er schon längst aus der Bruderschaft ausgetreten. "Wo wir wissen, dass Ladonna machtvolle Gegenstände außer Landes gebracht hat war es eben wichtig, deren Rückgabe einzufordern und sicherzustellen, dass diese Gegenstände in unserer Festung des alten Wissens verstaut werden und die Orte, wo noch mächtige Gegenstände zu finden sind gegen unberechtigten Zugriff abzusichern."

"Ja, und ihr habt Jamil angespornt, die Ausliferung aller für Gringotts arbeitenden Fluchbrecher zu verlangen, was bestimmt eine Menge Erheiterung in London hervorgerufen hat", stichelte Jophiel Bensalom und nahm die nächste Runde tadelnder Blicke auf sich. Musa sprach aus, was wohl viele der altvorderen Brüder dachten: "Wähne dich nicht als Kronprinz Ashtarias über allem schwebend, was wir von der Bruderschaft für richtig und wichtig ansehen, Jophiel Bensalom. Allein schon, dass du gegen unsere Ziele verstießest und es einem außenstehenden ermöglichtest, den verwaisten Heilsstern zu ergreifen und ihn zu seinem Eigentum zu machen berechtigt dich nicht, unser uneingeschränktes Vertrauen zu besitzen."

"Brüder, das hatten wir doch schon", kam Mehdi Isfahani seinem gerade getadelten Mitbruder zuvor. "Nicht wir bestimmen, wer die silbernen Sterne der heilsamen Macht trägt, sondern die zwischen den Welten wachende Mutter derer Schöpfer. Und wenn Ashtaria beschlossen hat, dass der nicht aus unseren Landen und Reihen stammende Jüngling Julius Latierre den verwaisten Stern erhalten sollte wird sie ihre Gründe dafür haben, allein schon, dass er mehr unabhängige Träger und Trägerinnen der weiteren Erbzeichen kennt, die mit euch oder auch mir nicht mehr so frei zusammengehen wollen, seitdem Yassin iben Sina damals eine der Trägerinnen und ihre ganze Familie an Leib und Leben bedroht hat und eben diese Trägerin und eine ihrer Enkeltöchter zu Tode gebracht hat." Jophiel nickte zustimmend.

"Was hält dich eigentlich noch bei uns, Teppichknüpfer?!" stieß Musa verbittert aus. Mehdi Isfahani sah ihn ruhig an und erwiderte: "Der Umstand, dass ihr sonst eben keine wendigen und ausdauernden Flugteppiche mehr bekämt und ich nicht Schuld sein möchte, wenn deshalb fliegende Ungeheuer wie die Kinder der Schattenkönigin oder die Blutsauger Akashas oder der sie an Macht übertreffenden Blutgötzin euch jagen. Außerdem habe ich meinem Vater und meinem Großvater gelobt, unser Wissen zu nutzen, um die Menschen vor den Ausgeburten der Dunkelheit und Zerstörungswut zu schützen. Ja, und ohne mich in unstatthaftem Eigenlob zu suhlen möchte ich daran erinnern, dass wir nur gemeinsam mit euren Fähigkeiten und meiner Erfahrung als Teppichknüpfer die Umtriebe von Omar Al-Hamit beenden und die Welt vor einem ungleichen Feldzug von versklavten Dschinnen gegen die sich für so überragend haltenden USA bewahren konnten. Also frage mich bitte nicht erneut, warum ich weiterhin dieser Bruderschaft angehöre!""

"Immerhin wurde Al-Hamit seither nie wieder gesehen", meinte Musa. Bensalom nickte verhalten.

"Bleibt uns am Ende nur, uns von Jamil Al-Kahiri loszusagen, weil er unseren Auftrag falsch aufgefasst hat?" verkleidete einer der älteren Morgensternbrüder einen Vorschlag als Frage. Doch die anderen verwiesen ihn darauf, dass die Al-Kahiris eine Menge Aufzeichnungen aus den vergangenen Jahrtausenden besaßen, eben nur jene nicht, die sich mit den Standorten aller zwölf Schätze des Nils befassten, weshalb es ja so wichtig gewesen wäre, auch in die geheimen Kammern des Zaubereiministeriums vorzustoßen, um die Pläne und Beschreibungen über die den Morgensternbrüdern noch unbekannten Aufbewahrungsorte zu erlangen. Jophiel dachte nur für sich, dass genau dieses Vorhaben am Ende die Verbannung der Bruderschaft aus Ägypten bedeuten mochte, falls sie es nicht schafften, die Al-Kahiris vorzeitig zu wwarnen und ihnen eine Gelegenheit boten, bis auf weiteres unauffindbar zu werden. Hierbei wollte Jophiel Bensalom wenigstens mitwirken. Da kam ihm eine Idee.

"Brüder, wir können doch eine Wache zwischen Mombasa und Ägypten postieren, die unseren Mitbrüdern auf dem Weg des Gedankensprechens oder anderer nur von ihnen wahrnehmbarer Fertigkeiten eine Warnung übermittelt. Bruder Mehdi, welcher ist dein ausdauernster Flugteppich, der zugleich auch unsichtbar macht?"

"Sandsturmfänger. Er kann bei kleinster Geschwindigkeit bis zu vier Tage ohne erholsamen Bodenkontakt in der Luft bleiben und vermag wie du und ihr anderen wisst viermal so schnell zu fliegen wie der wildeste Sandsturm. Mit mir als seinem einzig anerkannten Herrn und Meister können noch fünf weitere von euch darauf reisen. Aber wo genau sollen wir uns bereithalten, wo wir nicht wissen, wann genau und in welche Richtung genau die Abordnungen fliegen."

"Das wiederum ist leicht. Denn wo zwei oder drei unserer Brüder an einem Ort ob am Boden auf See oder in den Lüften zusammen sind kann der lautlose Ruf der Offenbarung sie erreichen und ihnen helfen, uns zu ihnen zu leiten", sagte Jophiel Bensalom. Die älteren Mitbrüder starrten ihn verdutzt an. Mehdi jedoch nickte. "Natürlich", erwiderte der persische Flugteppichknüpfmeister. "Woher weißt du vom Ruf der Offenbarung, junger Mitbruder Bensalom?" fragte Ibrahim Musa argwöhnisch.

"Babylonische Zauberkunst, Bruder Ibrahim. Da war auch mein in den Gefilden Ashtarias selig ruhender Vater drin bewandert und gab mir schon früh von seinem Wissen mit", erwiderte Jophiel, dem es doch eine gewisse Freude machte, den für babylonische Zauberkunst angeblich einzigen Fachmann was entgegensetzen zu können.

"Das muss ich wohl annehmen", grummelte Ibrahim Musa. "Jamil Al-Kahiri und sein Bruder Omar erwähnten, dass sie eine Karte der Reisestrecke angefertigt hatten, um trotz Nachtfluges die größeren Ansiedlungen der Magieunkundigen umfliegen zu können. Offenbar hat hat Bruder Mehdis ägyptischer Zunftbruder Ali Bashir keinen tarnfähigen Teppich im Angebot."

"Keinen der unsichtbar machen kann. Aber einen, der sich der Umgebung und der Farbe des Himmels angleichen kann. Ob er einen davon benutzt oder lieber auf Schnelligkeit und Tragfähigkeit setzt vermag ich nicht zu bestätigen", sagte der persische Mitbruder. "Wie kommen wir an die Karte?" fragte einer der anderen Brüder. "Gar nicht mehr, weil sie im ägyptischen Zaubereiministerium aufbewahrt wird und das gerade von unseren treuen Mitbrüdern entblößt wird."

"Ist ja auch nicht so dringend, wie du weißt, Bruder Ibrahim. Wir kennen die Namen unserer Mitbrüder und den Ruf der Offenbarung. Wenn wir auf halber Strecke zwischen Ägypten und Kenia wachen können wir den Ruf jeden tausendsten Herzschlag erklingen lassen, ohne dass wer anderes als einer unserer Mitbrüder ihn vernimmt und beantworten kann", sagte Jophiel Bensalom. "Dann fliegen wir drei und die Mitbrüder Janek, Davud und Abdul los und suchen unsere Brüder, nicht nur die aus Ägypten, sondern auch jene aus Tunesien, Algerien und Marokko. Bereite den Kristall des Rufes auf die Namen vor!" befahl Ibrahim. Jophiel Bensalom und Mehdi bestätigten es.

"Bevor es losgeht, Brüder, ist es gesichert, dass die Mutter der Schattendämonen noch irgendwo verborgen ist oder können wir hoffen, dass sie beim Kampf mit dem ungenannten Herrscher ihr verdientes Ende gefunden hat?" wollte einer der älteren Mitbrüder wissen.

"Wir dürfen, ja müssen davon ausgehen, dass sie nicht restlos erloschen ist und sich in einem sicheren Versteck erholt, womöglich von ihren noch bestehenden Dienern mit heimlichen Seelenopfern gefüttert wird, bis sie es wieder wagen kann, ihr Versteck zu verlassen. Wir vermuten auch, dass sie in derselben Umgebung wie Ihr ehemaliger Lenker Kanoras zu finden ist. Doch wie erwähnt dürfte sie aus dessen Niederlage gelernt und ihr Versteck wesentlich besser gegen Aufspürer und Eindringlinge abgesichert haben."

"Ja, und wenn stimmt, was ich erfuhr, dass sie vorher noch die Tochter der Dunkelheit zwischen den Sternen im Kampf besiegt und sich ihre Kraft und Seele einverleibt hat ist sie viel Stärker als jeder andere Schattendämon. Die unheilvolle Begebenheit in einem großen überdachten Einkaufsgebäude in Deutschland bewies, dass sie mehr Macht errungen hat. Wir sollen uns darauf einrichten, früher als uns lieb ist von ihr zu hören", sagte Jophiel Bensalom.

"Wenn ich es richtig in Erinnerung habe erfuhrst du von jenem, der Hassans verwaisten Stern erhielt, dass er angeblich von einer der wachen Unheilstöchter über die drahtgebundene Stimme der Magielosen darüber unterrichtet wurde. Ich vermag es bis heute nicht ganz auszuschließen, dass ihm und damit auch dir eine falsche Botschaft zugespielt wurde, Bruder Jophiel."

"Das kann und will ich nicht ändern, dass du dies glaubst, Bruder Abdul", sagte Jophiel dem Zweifler. "Aber bedauern kann ich das", fügte er noch hinzu. Damit musste der andere nun leben.

"So lasst uns aufbrechen, um sicherzustellen, dass wir noch rechtzeitig ankommen. Noch sind Jamil und seine Brüder nicht nach Ägypten zurückgekehrt, weil wohl sonst der zwischen ihnen und uns vermittelnde Papyrus der Verheißung angesprochen hätte."

Nur zehn Minuten später saßen Mehdi Isfahani, Jophiel Bensalom, Ibrahim Musa und drei in direkten Kampfzaubern bewanderte Mitbrüder auf jenem Flugteppich, mit dem sie die von Dschinnenmeister Al-Hamit benutzte Waffenfabrik gefunden und die dort in Kriegsmaschinen eingezwengten Erd-, Feuer- und Luftdschinnen ausgetrieben hatten.

__________

Die fünf fliegenden Teppiche glitten durch den langsam verlöschenden Tag über Afrika dahin. Sie flogen die Strecke, die sie hergekommen waren, eben nur in umgekehrter Richtung. Karim Al-Assuani lauschte in sich hinein, ob er irgendwas außergewöhnliches vernahm. Dabei behielt er seine Mitreisenden im Blick. Die hatten es gerade sehr eilig, in die Heimat zurückzukehren. Er auch? Er hoffte, dass seine Absprache den gewünschten Erfolg gezeitigt hatte. Zeit hatten sie ja nun doch mehr als genug gehabt. Fast hätte er schadenfroh gelächelt, wenn er daran dachte, wie selten einfältig und überheblich die Morgensternbrüder waren, dass sie nicht im Traum daran dachten, wie mächtig die Al-Assuani-Familie war und dass selbst eine Ladonna Montefiori diese Macht nicht hatte brechen können. Wichtig war nur, dass sowohl er als auch der von ihm als Thronräuber betitelte Jamil ben Faruk Al-Kahiri für eine bestimmte Zeit außer Landes waren. So hatten Karims Brüder und Vettern die Saat legen können. Doch ob sie auf fruchtbaren Boden gefallen war wusste er nicht. Am Ende war es doch Al-Kahiri, der frohlocken durfte und ihm standen nur noch lebenslanger Kerker, eine Zeit im Haus der Heilung oder die buchstäbliche Verbannung in die Wüste bevor. Vielleicht durften er und seine männlichen Verwandten auch nur das Land wechseln und nie wieder nach Ägypten zurückkehren. Doch im Moment war er zuversichtlich, dass sein Plan erfolgreich umgesetzt worden war.

Die fünf in einer Kreuzformation mit dem Lastenteppich im Schnittpunkt fliegenden Teppiche überquerten nun den tropischen Urwald Zentralafrikas. Was hielten diese turmhohen Baumriesen im Schatten ihrer Baumkronen noch an Wundern und Erkenntnissen bereit? Immer wieder hatten es wagemutige Zauberer und auch Hexen vollbracht, neue Zauberkräuter oder die Proben dort versteckt lebender natürlich entstandener Tierwesen mitzubringen. Davon gedieh der Handel mit magischen Erzeugnissen ganz gut.

Was auch immer es war, dass seine schweifenden Gedanken verscheuchte und ihn schlagartig in das Hier und Jetzt zurückholte wusste er nicht. Er sah nur, dass die Al-Kahiris erstarrt waren und wie auf einen fernen Ruf lauschend verharrten. Vielleicht war dem genau so. Deshalb beschloss er, seinen jüngsten Bruder Amir im Geiste zu Rufen. Als es ihm nach nur zwei Versuchen gelang erhielt er eine Antwort, über die er beinahe laut schallend lachen musste. "Großer Bruder, deine Saat ging auf. Alle Al-Kahiris und andere Mblauen Morgensterne wurden verhaftet oder sind auf der Flucht."

"Ihr wisst es auch schon", dachte Karim Al-Assuani schadenfroh, als er die vor Sorgen und dann blanker Angst verzerrten Gesichter der Mitreisenden sah. Karim argwöhnte, dass die drei Morgensternbrüder auf diesem Teppich und die die anderen auf den anderen versuchen mochten, ihn und seine beiden Brüder Hosnin und Anwar als Geiseln zu nehmen, um freien Abzug zu erpressen. Dem musste er zuvorkommen. So sagte er: "Werte Herren Ex-Kollegen, ich erfuhr gerade, dass mich das Gericht der Familienväter freigesprochen hat und dafür euch den Vorwurf der unrechtmäßigen Machtergreifung macht. Kommt ja nicht auf die Idee, mir was anzutun. Passiert mir was ist das der Tod eurer Verwandten gemäß des Blutvergeltungsgesetzes, dass die Familie eines Attentäters mit ihm zusammen hingerichtet wird, wenn er einen Minister oder dessen Stellvertreter tötet. Also bleibt ganz ruhig auf dem Teppich."

"Wir landen da auf der Lichtung", schnarrte Jamil Al-Kahiri. "Einen der Teppiche bekommen wir für alle unsere Mitbrüder. Sind wir in Sicherheit, bekommt Herr Bashir das Gold für den Teppich per Boten ausbezahlt."

"Oder sonst?" fragte Karim und sah bereits auf Ali Bashir. "Oder sonst werden meine Mitbrüder mich noch vor Erreichen Ägyptens im Fluge befreien. Dabei könnten aber unschöne Löcher in die Teppiche gebrannt werden. Wir trachten nicht danach, Gewalt anzuwenden oder Sie und Ihre von der Klammerung an die Macht verdorbenen Brüder als Geiseln zu nehmen. Aber unsere Freiheit und unsere Unversehrtheit rechtfertigen alle Mittel der Verteidigung, ohne gleich töten zu müssen."

"Was ist vorgefallen?" wollte Ali wissen und sah, wie die drei anderen mit Menschen besetzten Teppiche die Formation verließen und auf einen erdbraun glitzernden Fluss zusteuerten. Ali sah, wie seine Brüder und der Vetter mit vorgehaltenen Zauberstäben bedroht wurden. Da richtete Jamil Al-Kahiri ebenfalls einen Zauberstab auf ihn. Ali ging davon aus, gleich den Zwang der völligen Unterwerfung auferlegt zu bekommen. "Wenn Sie den Teppich dort bei dem Fluss landen bleibt er ganz und kann sie und die drei hinterhältigen Halunken nach Hause zurückbringen. Wir brauchen nur einen oder zwei von denen und die Befehlswörter", sagte Jamil Al-Kahiri.

"Oder wir landen und werfen Sie alle von den Teppichen runter. Dann könnt ihr zusehen, ob ihr von hier aus in eure Unterschlüpfe überwechseln könnt", sagte Al-Assuani. "Euch vermisst ja keiner mehr."

"Halten Sie Ihren verdorbenen Mund, Karim Al-Assuani", knurrte Jamil Al-Kahiri. Da blitzte es regenbogenfarbig über den ganzen Teppich auf. Karim Al-Assuani fühlte einen schmerzhaften Hitzestoß durch den Körper jagen und dann erst einmal gar nichts mehr.

Als er wieder aufwachte flog er mit seinen Brüdern Anwar und Hosnin alleine mit Ali Bashir viele tausend Manneslängen über dem wogenden grünen lebenden Dach des tropischen Urwaldes dahin. Ali Bashir grinste wie ein Junge, der einen lustigen Streich gespielt hatte und den Erfolg genoss. "Ah, Sie sind auch wieder wach, Herr Al-Assuani. Wir haben die drei ängstlichen Wüstenmäuse an dem Flussufer zurückgelassen und denen ihre Koffer zurückgegeben. Wir sind ja keine Räuber."

"Was bitte war das gerade mit dem Blitz und ... oh, eine Stunde vergangen?" knurrte Anwar Al-Assuani. "Eine Sicherung gegen Teppichräuber und Geiselnehmer. Der Regenbogenschlag raubt allen außer dem Lenker des Teppichs die Besinnung, damit der Lenker genug Zeit hat, zu entscheiden, was er tun soll. Als die werten Herren Morgensternbrüder klar zeigten, dass sie Angst hatten und deshalb zur Gewalt verleitet wurden habe ich mit der Berührungsgeste eines Fußes diese Sicherung ausgelöst. Meine Brüder und Vettern haben das auch getan. Die ganze Morgensternmannschaft muss jetzt zusehen, wie sie von diesem Fluss, den ich nicht kenne wieder wegkommen."

"Das werden sie schaffen, wenn die genau wie wir schon weit vor der Heimat gewarnt wurden", erwiderte Karim Al-Assuani.

"Wohl wahrscheinlich. Öhm, Herr Bashir, achten Sie jedoch darauf, ob uns nicht unterwegs fremde Teppiche entgegenkommen, die nach diesen Thronräubern suchen!" wies Karim Al-Assuani den Teppichlenker an. "Oder diese hölzernen Flugbesen oder ein gezähmter Felsenvogel oder ein fliegender Streitwagen mit vorgespannten Flügelpferden oder gar Feuerlöwen", spann Ali die Möglichkeiten aus, wer ihnen womit entgegenkommen konnte. Karim Al-Assuani rief ihn sanft zur Ordnung und bestand darauf, ernstgenommen zu werden. "Ich nehme Sie ernst, Herr Al-Assuani. Es gab und gibt in unserer magischen Welt so viele Beförderungsmittel mit bezauberten Gegenständen wie unseren Teppichen oder lebenden Tierwesen. Auch hörte ich, dass die Morgensternbrüder außer den Teppichen meines beachtenswerten Zunftkollegens Mehdi Isfahani geflügelte Pferde aller bekannten Größen, ja und auch einige Feuerlöwen besitzen. Auch weiß ich aus dem Irak, dass dort mit vom Ei an abgerichteten Felsenvögeln Flugdienste für hochrangige und goldträchtige Reisende betrieben wird. Allerdings haben die in den letzten vierzig Jahren zunehmende Schwierigkeiten, weil ihnen die mit lauten Feuerrohren unter ihren starren Flügeln fliegenden Silbervögel der Magielosen die freie Luft streitig machen und wegen der Sichtungen der Felsenvögel deren Einsatz im Rahmen der Magiegeheimhaltung sehr stark eingeschränkt wurde. Da ist so ein sorgfältig geknüpfter und bezauberter Flugteppich leichter zu verbergen."

"Verbergen ist ein gutes Wort, Herr Bashir. Soweit ich hörte konnte Ihr persischer Mitbewerber auf dem Teppichmarkt bereits unsichtbar machende Teppiche weben. Insofern, Bruder Karim, wird es vielleicht nicht viel helfen, nach entgegenkommenden Fliegern Ausschau zu halten."

"Oh, dann könnten die finden, dass wir ihre werten Mitstreiter "verlegt" haben", meinte Hosnin zu Anwars Einwand.

"Ali, ändern Sie unverzüglich die Flugrichtung, falls wir noch auf der vorgegebenen Strecke unterwegs sind!" befahl Karim Al-Assuani.

"Oder sonst?" fragte Ali Bashir verschmitzt. Anwar tastete nach seinem Zauberstab. Da lachte Ali Bashir. "Wir haben seit der ungeplanten Zwischenlandung bereits einen anderen Weg eingeschlagen, weil wir ja auch damit rechnen müssen, dass die Morgensternbrüder uns am vorgesehenen Landeplatz erwarten. Deshalb werden wir zehn Meilen vom vorgesehenen Landepunkt entfernt niedergehen."

"Sie sind und bleiben ein durchtriebener, schlauer Wüstenfuchs, Herr Bashir", grummelte Karim Al-Assuani. Dennoch bestand er darauf, weiterhin zu beobachten, ob sich jemand ungebetenes näherte. Doch der Rest der Reise verlief ohne Begegnungen und ohne weitere Zwischenfälle.

Kaum gelandet konnte Karim seine Verwandten per Gedankensprechen zum neuen Landeplatz hinlotsen. Mehrere Sicherheitszauberer aus seiner alten Riege apparierten und begrüßten den alten und wieder eingesetzten Zaubereiminister. Der eigentlich vorgesehene Landeplatz wurde ebenfalls untersucht. Doch natürlich fand sich dort kein Morgensternbruder ein. Natürlich hatten die unterwegs abgesetzten Al-Kahiris, die nun alles andere als unbesiegbar anmuteten, ihren Leuten mitgeteilt, dass man sie überrumpelt hatte. Ali Bashir musste sich nur von dem von Karim in Amt und Würden eingesetzten Yamin Al-Assuani fragen lassen, warum sie die Morgensternbrüder nicht gefesselt und mitgebracht hatten. Darauf gab Ali die Antwort: "Hätten wir sie gefesselt auf die Teppiche gelegt hätten die eine kampfstarke Befreiungstruppe herbeigerufen. Ich hatte die Verantwortung für die unversehrte Rückführung der mir anvertrauten hohen Beamten und durfte nicht wagen, sie unterwegs zu verlieren."

"Ja, aber bis gestern war Jamil Al-Kahiri noch amtierender Zaubereiminister. Also hätten Sie den auch nicht verlieren dürfen", sagte Yamin Al-Assuani. "Wir Bashirs betreiben schon seit über sechshundert Jahren das Flugteppichgewerbe. Wenn jemand uns auf einem unserer Teppiche an Leib und Leben bedroht und unter Gewaltandrohung einen anderen Landeplatz befiehlt ist er ein Räuber. Und für Räuber sind unsere Teppiche zu schade. Indem Augenblick, wo Herr Al-Kahiri meinte, uns zur Landung zwingen zu müssenund damit drohte, dass seine Leute uns unterwegs angreifen könnten wurde er vom Zaubereiminister auf Zeit zum Teppichräuber. Auch deshalb wirkte der in jeden meiner Teppiche eingeflochtene Raubabwehrzauber. So durfte ich gemäß den alten und von allen ägyptischen Zaubereiverwaltungsbehörden genehmigten Geschäftsbedingungen landen und den oder besser die enthüllten Räuber zurücklassen."

"Merken Sie sich bitte diese Ihre Aussage gut, falls der Rat der Familienväter Sie wegen unerlaubten Aussetzens von anvertrauten Reisenden oder gewaltsame Entledigung nicht durch Schrift oder mündlich an ihr Ohr gedrungenen Richterspruch entmachteten Zaubereiministers vorladen sollte", erwiderte Yamin Al-Assuani. Ali Bashir grinste wieder jungenhaft. "Das werden ich und meine Brüder ebenso überstehen wie damals die Vorhaltungen über den verbotenen Handel mit fliegenden Teppichen in Großbritannien." Dem war nun wirklich nichts hinzuzufügen. Denn diesen Fall kannte Feriz Al-Assuani ganz genau.

Wieder zurück im Ministerium übernahm Karim AlAssuani vor den fünf wichtigsten Familienoberhäuptern das Amt des Ministers. Von den in Ägypten tätigen Morgensternbrüdern und jenen, die sie unterwegs zurückgelassen hatten hörte er eine geraume Zeit lang nichts. Außerdem gab es jetzt wichtigeres. Er und die ebenfalls wieder in Amt und Würden eingesetzten Kollegen aus den anderen Maghrebstaaten würden am zweiten April nach Malta reisen, um dort mit den anderen Afrikanern mit vereinter Stimme und gemeinsamen Forderungen aufzutreten. Leyth Al-Assuani, der von seinem Vetter wegen angeblicher Feigheit des Amtes enthoben worden war, hatte bereits bekundet, das Land zu verlassen und in der Zauberergemeinschaft Algeriens weiterzuleben. Karim segnete diese Entscheidung ab. Ihm war zu wichtig, Stärke und Entschlossenheit zu zeigen, gerade nach den unsäglichen Monaten unter dem Bann einer ausländischen, mischblütigen Frau.

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Jamil Al-Kahiri erwachte mit kribbelnden Armen und Beinen und leichtem Druck auf dem Kopf in einem scheinbar abgedunkelten Zelt. Um sich herum hörte er die Atemgeräusche weiterer gerade erst aufwachender Männer. "Zum glutheißen Mittelpunkt der Erde mit diesen Teppichklopfern", schnaubte Alman Amur. Omar Al-Kahiri stöhnte: "Was war das und wo sind wir?"

"Hallo zusammen", begrüßte eine Stimme, die Arabisch mit persischer Sprachmelodie sprach. Jamil erkannte ihn jetzt auch. "Wie habt ihr uns gefunden und wo sind wir zum neunköpfigen Urdrachen?"

"Punkt eins, unser Ruf der Offenbarung konnte euch auch erreichen, als ihr ohnmächtig wart, weil ein netter Mensch, womöglich mein Fachkollege Bashir, euch wenigstens in diesem Zelt am Flüsschen Ukuluwatu abgelegt hat. So konnten wir euch finden. Ja, und weil mein Sandsturmfänger nur Platz für sechs Leute hat und ich schon fünf besorgte Mitbrüder mitgenommen habe warten wir jetzt auf drei größere Teppiche. Das kann aber noch fünf Stunden dauern. Eine habt ihr ja dank Alis Räuberschreckverflechtung schon verschlafen."

"Räuberschreckverflechtung?" wiederholte Jamil Al-Kahiri ein Wort aus Mehdis Bericht. "Achso, weiß natürlich nicht jeder, dass besonders wertvolle Teppiche, auf denen hochgestellte Leute verreisen, eine eingewebte Schutzvorkehrung vor Entführern oder Räubern, auch Luftpiraten genannt, besitzen. Wie die ausgelöst wird ist das Geheimnis des Teppichlenkers. Sie entreißt allen bis auf dem Lenker die Besinnung für mindestens eine Stunde. Manche bleiben auch einen halben Tag bewusstlos. Das ist euch passiert."

"Bashir, du Schweinefresser", knurrte Al-Kahiri. "Na, der wird euch nur so abgestraft haben, wenn ihr irgendwas angestellt habt, das sonst nur Piraten tun."

"Fluch über meine Unbeherrschtheit", knurrte Jamil. "Ja, ich habe Bashir den Zauberstab unter die Nase gehalten und verlangt, mit uns zu landen und uns einen seiner Teppiche frei zu überlassen."

"Bei Hassan und Hussein, damit kommt der vor jedem Kadi davon, wenn er dafür genug Zeugen hatte." Al-Kahiri grummelte, dass die Al-Assuanis das natürlich mitbekommen hatten und somit auch ganz frei bezeugen würden. Dann wollte er wissen, wie es in Ägypten aussah. Man hatte ihm und den anderen ja laut schrillende Warnrufe in die Gehirne gebrüllt."

"Das war Ibrahim Musa. Der wollte unbedingt, dass ihr früh genug wisst, was uns in Ägypten, Algerien und Marokko droht. Offenbar sind wir alle auf einen hinterhältigen aber genialen Schachzug der Al-Assuani-Sippe hereingefallen, und die entmachteten Leute aus Marokko, Tunesien, Algerien und Libyen haben die Gunst der Stunde genutzt, sich ebenfalls von unserer Amtsführung freizumachen."

"Will sagen, das Vorhaben der Ältesten ist gescheitert?" fragte Jamil Al-Kahiri. Mehdi Isfahani nickte betrübt. "Wir sind wieder dazu verdammt, im Untergrund und ohne die Sonne des Ruhmes zu wirken. Nur dass wir nun auch wegen versuchten Umsturzes in gleich vier Ländern auf Fahndungslisten stehen hatten wir zuletzt vor siebenhundert Jahren."

"Ja, toll, wir müssen uns verstecken, und die Herrschsüchtigen Dirnen vom grünen Mond können weiter unbehelligt in unseren Heimatländern herumlaufen und von einer neuen Hexenkönigin träumen."

"Bei aller Achtung vor dir, Mitbruder. Aber die Töchter des grünen Mondes haben genauso gegen Ladonnas Vorherrschaft gekämpft wie wir. Immerhin konnten wir ja zeitweilig mit ihnen zusammenarbeiten."

"Ich weiß, der jüdische Mitkämpfer Bensalom konnte mit den zwei altgedienten Mondschwestern aus der Al-Burak-Sippe die Vernichtung der umgekehrten Pyramide bezeugen. Aber sie haben Ladonna nicht aufgehalten."

"Wo ihnen fast die Pyramide um die Ohren geflogen ist wäre das eine verbotene Selbsttötung geworden. Bekanntermaßen darf nur Allah Leben beenden."

"Deiner oder meiner, Shiit?" fragte Jamil Al-Kahiri. "Bitte jetzt nicht auch das noch, zumal du doch immer noch heimlich zu Osiris, Serapis, Horus und Ra betest. Nenne dich also bitte nicht einen Rechtgläubigen", konterte Mehdi Isfahani. Die hier gerade aufwachenden kicherten und feixten zur Antwort.

"Wo sollen wir jetzt hin?" fragte Omar Al-Kahiri, um die unangenehme Stimmung zu beenden. "Erst einmal zur Oase der wohligen Winde. Die liegt ja in einem Kreis der Unauffindbarkeit. Dann werden wir wohl bei einer Vollversammlung aller Brüder die neue Lage beraten wie es weitergeht. Nur verstecken wird uns nicht helfen. Die Blutsauger der steinernen Königin sind auf dem Kriegspfad, und unsere Kundschafter suchen noch nach den neuen Schlupfwinkeln der aufgewachten Abgrundstöchter, auch wenn Jophiel Bedenken hat, die offen anzugreifen."

"Oh, seit wann denn dieses, wo er doch der einzige bei uns verbliebene Sternträger ist", spöttelte Jamil Al-Kahiri. "Wegen der Verwandtschaft", flüsterte Mehdi. "immerhin ist Lahilliota mit Ashtaria verwandt."

"Tja, dann gilt wohl, dass Blut dicker als Wasser ist", grummelte Jamil Al-Kahiri. "Ja, doch oft sind die schlimmsten Feinde aus der eigenen Sippschaft, Brüder, Vettern, ja sogar Vater und Sohn", seufzte Mehdi Isfahani.

Fünf stunden später landeten vier große Flugteppiche und nahmen die im Urwald des Kongobeckens ausgesetzten Ex-Ministeriumsbeamten aus Ägypten auf. In der geheimen Zuflucht erfuhren sie, dass die Mitbrüder aus den anderen arabisch geprägten Ländern Nordafrikas gerade so ihrer Verhaftung entgangen waren, aber nun als Unerwünschte in ihren Heimatländern galten. Damit stand fest, dass die afrikanische Delegation anders zusammengesetzt sein würde als vor einem Tag noch vereinbart.

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Giovanetta Donnizetti fühlte sich seit Wochen unwohl. Seitdem sie dem Rat der anderen sechs ehemaligen Mitstreiterinnen gefolgt und weit genug von ihrer Heimatregion fort untergetaucht war hatte sie das Gefühl, dass der Schatten der verschwundenen Rosenkönigin ihr wie eine lauernde Löwin folgte. Im Grunde konnte sie doch nichts mehr tun, ohne in der ständigen Gefahr zu schweben, als ehemalige Feuerrosenschwester enttarnt zu werden. Sicher hatten bereits viele aus dem Feuerrosenzauber erwachte Ministeriumsleute ihre Beschreibung weitergegeben und suchten nach ihr. Ständig mit Hexenkosmetik die Augen- und Haarfarbe verändern war auch nicht in ihrem Sinne, und mit Selbstverwandlungen war sie nie wirklich warm geworden.

Es war die Nacht zum ersten April 2007. Heute würden diese einfältigen Leute wieder ihre Mitmenschen verulken, irgendwelche derben Scherze treiben oder irgendwelche Lügengeschichten spinnen, die denen, denen sie aufgetischt wurden, das blanke Erstaunen bereiteten. Sicher würden da auch einige Moggli bei sein, die behaupteten, echte Zauberei erlebt zu haben. Früher hatte sie im Amt für mogglotaugliche Scheinbehauptungen jeden Tag als ersten April hingebogen, wo es sein musste. Tja, das Ministerium. Das gehörte jetzt diesen Besserwissernund Gutmenschen von der Liga gegen dunkle Künste. Anhörungen waren angesetzt, die erweisen sollten, wer freiwillig und wer unfreiwillig für die Königin gearbeitet hatte. Pontio Barbanera, Ladonnas erster großer Diener, weilte in der Abteilung für magische Seelenschäden, weil er von schmerzhaften Schuldgefühlen gequält wurde. Immerhin hatte er ja die Rosenkönigin in das Ministerium hineingeschmuggelt. Die anderen beriefen sich einfach darauf, dass sie von Barbanera überrumpelt worden und der Königin als williges Menschenmaterial dargebracht worden waren.

Plötzlich klang in ihren Ohren ein leises Schwirren wie von pianissimo spielenden Geigen, dass innerhalb der nächsten Sekunden in der Lautstärke anstieg und in der Tonhöhe immer weiter absank. Das war ihr Fremdlingsmeldezauber, der noch nicht erfasste, ob Freund oder Feind. Ein Freund würde mit fröhlichem Glockenspiel angekündigt, während ein Feind ein warnendes Krächzen eines Eichelhähers auslöste.

Giovanetta Donnizetti befahl die Ortung des Fremdlings. Doch es konnte nur erkannt werden, dass jemand über die mit Meldezaubern belegten Wegplatten gegangen war und sich dem Haus näherte. Ein Unsichtbarkeits- und Unortbarkeitszauber? Das verhieß eigentlich nichts gutes.

Giovanetta, die einstige Regionalstatthalterin von Venezien, griff ihren Zauberstab und horchte weiter auf die Annäherungsmeldungen. Hineinapparieren konnte hier niemand und weil die Rosenkönigin es sich mit den Kobolden verdorben hatte lagen um das Haus herum tief in den Boden eingegrabene handgeschmiedete Eisenspitzen im Boden. Also musste wer immer zu Fuß zu ihr hin.

Dann erklang die Türglocke. Sofort wurde die Haustür durchsichtig wie hauchdünnes, reines Glas. Doch zu sehen war niemand. "Wer immer da zu mir will möge erst sichtbar werden oder gleich vollständig verschwinden!" rief Giovanetta Donnizetti. Da flimmerte die Luft vor der Tür, und eine erwachsene Frau, nicht größer als ein achtjähriges Mädchen, mit einem im Mondlicht gläsern glänzenden Helm auf dem Kopf, stand vor der Tür. Das bis dahin erklungene Streichertrillern wurde zu jenem fröhlichen Glockenspiel auf der Lautstärke Pianissimo, bevor es nach nur drei Sekunden verhallte. Die Hausherrin erstarrte vor Staunen. Wie konnte es sein, dass sie vor der Tür stand? War sie nicht tot? Die hatten doch ihre Leiche gefunden, angeblich von Veelafreunden umgebracht.

Giovanetta öffnete schnell die Tür und umarmte jene, die davorstand.

"Dianina, du bist noch am leben? Wie hast du das angestellt? Öhm, und was ist das für ein Helm auf dem Kopf?" sprudelten mehrere Fragen aus ihrem Mund. Dann zog sie die kleinwüchsige Besucherin herein.

"Die Königin hat mich für einen Geheimauftrag angeworben und für alle, die mich vermissen eine gefälschte Leiche von mir ausgelegt. Der Helm auf dem Kopf gehört zu diesem Geheimauftrag, Schwester Giovanetta", sagte Diana Camporosso. Giovanetta fragte sie dann, warum sie einen durchsichtigen Helm trug. "Der letzte Auftrag der Königin, Schwester Giovanetta. Ich bekam den heiligen Helm des Wissens aus einem von ihr niedergebrannten Stützpunkt des Koboldgeheimbundes. Sie und ich mussten ihn jedoch erst einmal entschärfen, weil der versucht hatte, meinen Willen zu lähmen, statt mir Zugriff auf die in ihm gespeicherten Geheimkenntnisse der allgegenwärrrtigen zehntausend Augen und Ohren zu geben. Ja, aber deshalb kann ich ihn nicht mehr abnehmen. Er ist so auf meinen Kopf eingeprägt, dass er wie eine zweite Kopfhaut angewachsen ist."

"Oh, das tut mir aber leid. Du hattest früher so schönes fließendes Haar", sagte Giovanetta. "Der Preis des Wissens, Schwester Giovanetta. Aber ich bin nicht hier, um mich von dir bedauern zu lassen", sagte Diana. "Du suchst nach uns verstreuten Schwestern. Ich hörte, dass die anderen sich erst einmal abgesetzt haben."

"Ja, nur dass ich von der Rosenkönigin weiß, wo eure Ausweichquartiere sind und da schon zwanzig von euch gefunden habe. Du bist die magische Einundzwanzig."

"Woher weiß ich, dass die Königin dich als ihre Erbin auserwählt hat?" fragte Giovanetta Donnizetti. "Im Grunde hat sie alle von uns zu ihren Erbinnen auserwählt. Nur dass ich wegen des letzten Auftrages von ihr alles weiß, was sie bis dahin noch an neuen Erkenntnissen gesammelt hat und durch den Helm Zugang zu den Geheimnissen des Koboldgeheimbundes habe, wodurch wir dessen Erben in Italien werden können."

"Ja, aber erst wenn kein Han auf einem stinkenden Misthaufen mehr nach uns kräht", schnaubte Giovanetta Donnizetti. "Ich bin gerne bereit, den Feuerrosenorden mit dir und den anderen neu aufzubauen und das Erbe der Königin anzutreten. Doch wenn wir zu früh loslegen kriegen uns die achso geläuterten Ex-Kollegen und deren neue Gönner, die Liga gegen dunkle Künste. Das läuft auf die zweite große Hexenjagd unserer Geschichte hinaus."

"Wichtig ist mir nur, dass wir zusammenhalten und einen neuen Orden bilden. Die Feuerrose ist verblüht und erloschen. Wir bauen was neues auf, wenn du mitmachst. Und keine Trübsal und kein Selbstmitleid, davon werden wir nicht stark", erwiderte Diana Camporosso.

"So, und wie soll der neue Orden dann heißen und woran für die Eingeweihten zu erkennen sein?"

"Sorores saxorum, die steinernen Schwestern", sagte Diana ohne zu zögern. "Ja, und wie wir einander erkennen habe ich dank des mir wortwörtlich übergestülpten Wissens auch schon erarbeitet. Allerdings musst du gleich auf einen von mir geprägten Eidesstein schwören, dass du mitmachst und treu und Loyal zu mir und den anderen Schwestern sein wirst."

"Dazu muss ich erst einmal alles wissen, wie es mit uns weitergehen soll", sagte Giovanetta Donnizetti. So berichtete Diana Camporosso, wie sie nach dem Verschwinden der Rosenkönigin erwacht war, aber nun das gespeicherte Wissen des Koboldgeheimbundes in sich übernehmen konnte. Dann erwähnte sie, dass sie, um wieder ein freies Leben führen zu können, einen neuen Hexenorden gründen wollte, um die unter der Königin erworbenen Errungenschaften weiterzuführen. Sie erwähnte auch, was in der Girandelli-Villa geschehen war und vermutete, dass andere Hexenorden bereits danach trachteten, Ladonnas versteckte Schätze zu heben und die Girandelli-Villa nur eines dieser Verstecke war.

"Von den ägyptischen Artefakten habe ich gehört. Sie sollen deren alten Göttern geweiht und sehr mächtig sein. Angeblich soll das mächtigste davon eine Art Metallsarkophag sein, in dem jemand, der oder die weniger als einen Tag tot ist ins Leben zurückgeholt werden kann oder wer schwerste Verletzung erlitt vollständig geheilt werden, wenn er oder sie in diesem magischen Sarkophag liegt."

"Ja, diese Geschichte hörte ich auch und weiß nicht, ob ich sie für wahr oder ein Zaubererweltmärchen halten soll wie die Geschichten vom Regenbogenvogel oder dem grünen Einhorn aus dem Walde Immerfrühling, dass meine Nonna mir früher immer gerne vor dem Einschlafen erzählt hat."

"Ja, aber einige von diesen märchenhaften Gegenständen wie die Heiligtümer des Todes oder eben die Schätze des Nils soll es ja doch geben", erwiderte Giovanetta Donnizetti. "Ja, das hat die Königin mir auch so vorgeführt. Allerdings sind die leicht fortzutragenden von diesen Dingern verschwunden. Wer immer die hat wusste entweder genau, was damit anzufangen ist oder muss dies noch herausfinden. Und da genau kommen wir ins Spiel, weil wir uns ausdrücklich damit befassen werden, was genau die Ägypter so zu bieten hatten und wie wir wieder darankommen. Ach ja, wir müssen auch damit rechnen, dass der Koboldgeheimbund nach dem mir aufgedrückten Helm suchen wird und dass sich die Babymacherbande Vita Magica wieder aus ihrem Rattenloch heraustraut, wenn sie davon überzeugt ist, dass die Rosenkönigin endgültig aus der Welt ist. Am Ende werden die uns beide noch dazu treiben, mit irgendwelchen ignoranten Zauberern neue Kinder auszubrüten. Will ich nicht und willst du sicher auch nicht."

"Davon darfst du ganz sicher ausgehen, Schwester Diana", erwiderte Giovanetta Donnizetti. Dann willigte sie ein, der neuen Schwesternschaft beizutreten.

Diana atmete sichtbar auf. Sie holte aus einer Tasche ihres bei Kerzenschein dunkelblauen Reiseumhanges einen grobkörnigen, schwarzen Stein und dann einen Dolch mit einer Klinge aus Obsidian. "Das wird ähnlich wie der unbrechbare Eid, Schwester Giovanetta. Einmal geschworen ist er nur durch den Tod aufzulösen", warnte Diana ihre wiedergefundene Mitschwester. Giovanetta überlegte nur kurz. Dann stimmte sie der Vereidigung zu. Sie ging davon aus, nichts mehr zu verlieren zu haben.

Zunächst ritzte Diana ihr die rechte Handinnenfläche mit ihrem Obsidiandolch auf. Dann legte Giovanetta ihre verletzte Hand auf den schwarzen Stein. "Durch mein Blut gelobe ich feierlich, dem Orden der steinernen Schwestern ewig treu zu sein, jeder mir offenbarten Schwester mit allem beizustehen, was mir möglich ist und eher den Tod zu erleiden, als untreu gegenüber meinen Schwestern zu werden", sprach Diana die Eidesformel vor. Giovanetta wiederholte sie gewissenhaft und fühlte, wie ihr bei jedem Teil des Eides etwas Kraft schwand. Dann schloss sie mit "Dies schwöre ich bei meinem Blute und meinem reinen Leben." Der schwarze Stein erhitzte sich und pochte wie ein dem Körper entnommenes, aber noch lebendiges Herz. Giovanetta meinte auch, dass durch den Stein ihr Blut hindurchgepumpt wurde. Eine halbe Minute lang blieb der Stein an ihr haften. Dann kühlte er sich ab. Das Pochen erstarb und der Stein löste sich aus der verletzten Hand.

"Ja, willkommene Schwester im Geiste und Blute der steinernen Schwestern, nun folgt der Teil, wie du die deinen erkennen kannst und von jenen erkannt wirst", sagte Diana. Dann holte sie aus ihrem Umhang einen kleinen, eiförmigen Obsidianklumpen hervor. "Wie das Obsidian durch heiße Glut aus grobem Stein entsteht bildet es in seiner Form und Beschaffenheit die Brücke zwischen Leben und Tod. Um seine Kraft zu nutzen musst du dir den Stein mit der noch blutenden Hand in den eigenen Schoß hineinschieben und dann das Auslösewort sprechen, dass ich dir nur sage, wenn du den Stein in dir hast. Dann werden er und du alle Gemeinsamkeiten vereinen und du wirst stärker als zuvor und vor allem langlebiger als zuvor. Außerdem erzeugt der Stein, wenn er mit dir eins wird eine für andere unsichtbare Aura der pulsierenden Erdkraft, die von jenen, die ebenfalls einen solchen Stein in sich aufnahmen gesehen werden kann. So erkennst du deine Mitschwestern und sie dich als ihre Mitschwester. Leider gelingt das nicht bei mir, weil der gläserne Helm der Erkenntnisse jede andere Erdmagie verschluckt, die nicht aus mir selbst gewirkt wird."

Giovanetta dachte jetzt doch, einem Aprilscherz aufzusitzen und sah Diana fragend an. Doch sie konnte in deren Gesicht keine Spur von Scherz oder List erkennen. "Ich soll dieses Ding da ... in mich reinschieben?" fragte Giovanetta. "Ja, tu es, im Namen der steinernen Schwestern, nimm den Stein dort auf, wo alles Leben entspringt! Dies ist mein erster Befehl."

Giovanetta fühlte sofort, wie der Gedanke, den Befehl abzulehnen ihre Kraft raubte. Wenn sie nicht tat, was ihr befohlen wurde würde sie einfach tot umfallen. Also lupfte sie ihren Rock und beförderte mit der noch immer blutenden Hand den eiförmigen Obsidianklumpen in ihren Unterleib. Sogleich meinte sie, dass der Stein lebendig wurde. Er fühlte offenbar den Ursprung von Weiblichkeit und neuem Leben. Doch noch fehlte die vollständige Aktivierung. "Agnurtak", sagte Diana. "Das ist Koboldsprache für Hingabe der Frau an den, mit dem sie das Lager teilen will, meistens das erste Wort im Brautbett gerade angetrauter. Also sage das Wort!"

"Agnurtak!" sprach Giovanetta. Sofort meinte sie, dass etwas in ihrem Körper aufquoll, sich ausbreitete und in jede Faser ihrer Eingeweide drang, sich von dort nach oben tastete und in ihrem Oberkörper weiter aufquoll. Sie meinte sogar, ihre Brüste anschwellen zu sehen. Dann erreichte der ausgelöste Vorgang ihren Hals und dehnte ihn aus. Sie meinte, heiße Luft ein- und wieder auszuatmen. Dann kroch der von ihr wachgerufene Zauber in ihren Schädel hinauf und erzeugte ein buntes Feuerwerk und wild durcheinanderklingendes Gewirr von Tönen. Sie erbebte unter den Schauern der ihr bis dahin fremden Magie. Dann, nach einer Zeit, die sie nicht erfassen konnte, ließen die Gefühle nach. Sie meinte, ein zweites schlagendes Herz zu fühlen, jedoch nicht in der Brust, sondern in den Tiefen ihres Schoßes. Dann merkte sie noch was. Sie war hellwach und fühlte etwas, das wohl aus der Erde kam und wie haarfeine, leicht flirrende Stränge durch die Luft zog. Ja, und als sie sich ansah stellte sie fest, dass ihre Haut straffer geworden war. Ihr Brustumfang hatte sich wahrhaftig vergrößert. Sofort trat sie vor einen Spiegel und erschauerte. Sie sah ein bildschönes, junges Mädchen im Spiegelglas, dessen Haare tiefschwarz und seidenweich über die Schultern fielen. Ihre Nase war schlank und kurz. Ihre Lippen prall und von natürlicher Röte. Sie fühlte sich stärker und wacher als je zuvor. "Willkommen in den Reihen der steinernen Schwesternschaft, Schwester Giovanetta. Gut siehst du aus. Der Stein hat dich in ein am Ende der Jugend stehendes, deinen Erbanlagen bestmöglich gestaltetes Wesen verwandelt. Von nun an wirst du nicht mehr altern. Gifte und Krankheiten werden dir nicht mehr schaden können. Nur die geballte Kraft der Elemente kann dich aufhalten, also offene Flammen, Überflutung deines Körpers, ein Sturz aus mehr als der zehnfachen Höhe deines Körpers. Nur die Kraft der Erde wird dich nicht verheeren, solange keiner dich mit Waffen aus Obsidian oder geschmiedetem Silber oder Gold angreift. Eisen und Gestein sonstiger Art wird von dir abprallen."

"So wie ich jetzt aussehe werde ich aber nicht mehr in meiner früheren Anstellung arbeiten können", sagte Giovanetta und erschauderte über den glockenreinen Klang ihrer Stimme. "Deshalb bekommst du eine neue Identität und wirst die nächsten Wochen damit zubringen, mindestens drei weitere Sprachen zu erlernen. Da Zaubertränke übrigens auch nicht mehr auf dich wirken wirst du eine Abwandlung des Kobolderkenntnishelmes benutzen, die silberne Scheibe der schnellen Erkenntnisse", verkündete Diana und holte eine kleine, rechteckige Silberplatte hervor. "Lege die Seite des Buches, aus dem du lernst für eine Minute auf die Scheibe, solange der Mond scheint. Dann drücke dir die Scheibe mit der spiralförmigen Musterung gegen die Stirn und wiederhole das Schlüsselwort, dass dich mit dem Stein verbunden hat! Danach wirst du alle Worte der aufgelegten Buchseite in dein Gedächtnis übernehmen wie ein Schwamm Wasser aufsaugt. Das kannst du solange tun, solange es Mondlicht gibt, dass das Silber nachlädt. Sprechübungen kannst du gemäß der Lautschriftvorgaben machen. Mal sehen, was du in den nächsten drei Wochen alles neues kannst. Ja, und dann wirst du deine neue Identität von mir erhalten, die nichts mit dem zu tun hat, was du vorher warst."

"Ich spüre immer noch ein gewisses Pochen im Unterleib. Soll das so sein?" fragte Giovanetta. "Ja, soll so. Denn der kleine Obsidianstein hat sich mit deinem Körper verbunden und tauscht mit dir seine Kraft aus."

"Moment, dann kann ich aber wohl keine Kinder bekommen, oder?"

"Wolltest du jemals welche?" fragte Diana zurück und gab damit gleich die Antwort, die Giovanetta eigentlich nicht hören wollte. "Das ist wohl der Preis für die Unsterblichkeit", sagte sie.

"Ja, und dass du pro Tag nur zwei Stunden lang vom Erdboden losgelöst sein darfst, weil der Stein in dir die belebende Kraft von Mutter Erde braucht, um dich und sich am Leben zu halten. Bist du auf dem Meer oder fliegst länger als zwei Stunden auf einem Besen, Teppich oder Flugtier erlischt der Pakt des Steines, und alle von ihm von dir abgehaltene Alterung holt dich innerhalb von einer Sekunde ein. Und wenn du wieder landest braucht der Stein zwei Stunden, um sich zu erholen. Aber je danach, wie viele Monate oder Jahre du in der Zeit älter wurdest bleibst du auf diesem Stand. Das, meine liebe Mitschwester, ist der wahre Preis für diese Art Unsterblichkeit, die Abhängigkeit von festem Erdboden."

"Und ich kann keine Kinder bekommen. Kann ich wenigstens Liebe machen?" fragte sie.

"Laut dem, was ich gelernt habe würde es dem, mit dem du Liebe machen willst so vorkommen, als würde ihm oder ihr jemand pro Bewegung die zwanzigfache Kraft entreißen. Du würdest sein wie ein Succubus, der sich von der Leidenschaft und Wonne seiner Opfer ernährt."

"Also doch viele Einschränkungen", grummelte Giovanetta und warf ihrem neuen Spiegelbild einen verdrossenen Blick zu. Doch Diana erwähnte nur, dass der Weg zur Weltherrschaft der Hexen eben mit großer Opferbereitschaft erkauft werden musste, ja und dass sie ab heute eine der Hexen war, die nicht von Vita Magica zur ungewünschten Fortpflanzung gezwungen werden konnte. Sie sagte dann noch: "Ich habe gehofft, ich könnte das auch. Doch wie erwähnt ist der mir auf Lebenszeit aufgedrückte Helm hinderlich. Damit sind wir beide fertig. Ich werde in dieser Nacht noch drei weitere Schwestern aufsuchen und fragen, ob sie in unseren Kreis eintreten wollen. Du bleibst erst einmal im Schutze deiner Abwehrzauber hier und studierst mindestens drei weitere Sprachen, damit ich oder eine von mir gesandte Schwester dir eine neue Aufgabe zuteilen kann."

"Ich hoffe, dass ich diesen Schritt niemals bereuen muss", sagte Giovanetta. "In dem Moment, wo du dies tust wirst du sterben", bemerkte Diana Camporosso staubtrocken. Dann verließ sie das Haus.

Giovanetta blieb allein zurück, mit einem bis auf wenige Ausnahmen unverwüstlichen, jugendlich frischem Körper, in dem wie ein nährender Quell ein kleiner, schwarzer Obsidianklumpen steckte.

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"Ich hörte sowas, dass eine kleinwüchsige Hexe herumläuft, die womöglich eine Schwester von Diana Camporosso ist und von der dreiblütigen Furie einen unabnehmbaren Glashelm auf den Kopf gedrückt bekam. Die soll nach ehemaligen Feuerrosenschwestern suchen, wohl um sie zu einem neuen Orden zusammenzuführen. Gianna. Was wirst du machen, wenn sie vor dir steht und meint, dich für was auch immer einspannen zu können, weil sie weiß, dass du zum Feuerrosenorden gehört hast?" wollte Ivana Borsolino von ihrer ehemaligen Mitschwester Gianna di Sorente wissen.

"Du, das mit dem Glashelm, davon habe ich schon mal gehört. Die Kobolde haben sowas erfunden, um entweder ihre eigenen Gedanken und ihren Willen abzuschirmen oder um ihre eigene Seele in der Welt zu behalten und in den nächsten Kobold zu verpflanzen, der so einfältig ist, den Helm aufzusetzen. Angeblich soll der Gründer des Bundes der zehntausend Augen und Ohren so einen Helm getragen haben. Also werde ich dieser Hexe besser nicht folgen. Am Ende hat die sich so einen Seelenwanderer angelacht und wird von dem gesteuert."

"Ja, aber was machst du, wenn sie vor dir steht?" wollte Ivana wissen. "Höflich ablehnen reicht wohl nicht. Dann werde ich wohl zusehen, dass sie mich nicht verrät. Mehr muss ich wohl nicht sagen", erwiderte Gianna. "Nein, musst du nicht", sagte Ivana. "Genauso werde ich das nach dem, was du gerade erzählt hast auch handhaben."

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Diana genoss den Triumph, dass drei von drei aufgesuchten Schwestern sich der von ihr und Deeplook entwickelten Prozedur unterzogen hatten. Tja, die würden nun brav in ihren Häusern bleiben, bis sie die auferlegten Aufgaben erfüllen durften. Sie würden allein schon der relativen Unsterblichkeit wegen gehorchen. "Treue, lebende Puppen", empfing sie einen Gedanken, der eindeutig nicht von ihr stammte. Das Vorgehen, unverwüstliche Vollstrecker zu erschaffen, dass vom Bund der zehntausend Augen und Ohren ersonnen worden war, hatte bei männlichen Kobolden nur einen Teilerfolg erzielt, wenn sie den Belebungsstein durch die Gesäßöffnung bis tief in den Enddarm schoben. Doch die Gefahr, dass der Stein ausgeschieden wurde war nicht zu unterschätzen. Geschah das starb dessen Träger innerhalb einer Minute an totaler Erschöpfung. Nur bei Koboldinnen wirkte er so überragend, wenn sie ihn mit eigenem Blut berührten und in ihre Gebärmutter einführten, wo er sich dann mit ihnen verband. Ja, sie bedauerte es selbst, den Belebungsstein nicht in sich selbst aufnehmen zu können. Doch andererseits wollte sie auch nicht zu abhängig von festem Erdboden sein und irgendwann vielleicht doch einmal eigene Kinder bekommen. "Wwaaass?!" erscholl eine von Schreck und Ekel überlaute Gedankenstimme. "Wenn ich ein Kind will, werde ich eines bekommen, und du wirst nichts anderes tun, als mitzufühlen, wie es in mir heranwächst und aus mir heraus geboren wird."

"Aber dann musst du ja ... mit einem anderen Mann ..."

"Ins Bett steigen", ergänzte Diana verächtlich. "Wenn es der Mann wert ist und er dich in deinem kleinen Glashäubchen beim Liebesspiel akzeptiert dann ja."

"Nein, bitte nicht. Es ist doch schon so ganz unangenehm, in dir zu wohnen, ohne dass du diesen Körper noch mit einem Balg auffüllen lässt", beklagte sich Deeplook. "Ruhe, oder ich such mir gleich einen richtig schönen, strammen Burschen und kriege ihn dazu, mir gleich drei Bälger in den Wanst zu stoßen. Du bist mir untertan, mein ständig verfügbarer, immer wahrheitstreuer Berater. Was ich mit meinem Körper anfange bestimme weiterhin ich", stellte Diana klar. Dann überlegte sie, welche der noch bekannten Schwestern sie aufsuchen wollte. Sie dachte daran, wie häftig sie Giovanetta belogen hatte. Von wegen 21 bereits gesicherte steinerne Schwestern. Sie musste ja erst herausfinden, ob was bei den wenigen Vollstreckerinnen der Kobolde ging auch bei reinrassigen Menschenfrauen gelang. Jetzt wo sie es wusste konnte sie wirklich nach neuen Schwestern suchen.

"Kradanoxa Deeplook. Wir haben gerade über verschlungene Pfade erfahren, dass die nordafrikanischen Zaubereiministerien sich aller dort eingenisteten Morgensternbrüder entledigt haben. Wenn die morgen nach Malta in den geheiligten Tempel reisen, wo wir leider nicht hineinkönnen, werden die sicher eine Menge zu klären haben", teilte ihr Leitwächter Bonecrack aus Kaptstadt mit. Sie griff nach ihrem mitgeführten Signalhorn und murmelte die Frage hinein, ob es was neues von der gesuchten Abgrundstochter gebe. "Nein, wir konnten die bereits aufgezeichneten Erdkraftbesonderheiten bisher an keinem anderen Ort finden, Kradanoxa Deeplook. Womöglich hat sie sich weit außerhalb von Südafrika hinversetzt und sucht da jetzt nach neuen Opfern."

"Ja, aber sie wird uns ebenso jagen, weil ich ihr vier magische Pfeile in den Leib geschossen habe. Witzig fand sie das ganz sicher nicht. Ja, und weil diese Biester sich für unbesiegbar und unverwüstlich halten wird sie das nicht all zu lange auf sich sitzen lassen. Die wird uns früher oder später heimsuchen. Dann sollten wir auf sie vorbereitet sein", sagte jene, die als Kradanoxa Deeplook bei den Resten des einst so mächtigen Geheimbundes bekannt war und sich wegen ihres silbernen Jagdbogens und der tödlichen Pfeile als heimliche Kriegerin oder unsichtbare Jägerin verstand. "Wir haben schon die erwähnten Todesfallen in den noch besetzten Niederlassungen eingebaut", erwiderte Bonecrack. Kradanoxa Deeplook alias Diana Camporosso bestätigte diese Meldung.

Diana wollte fragen, welchen "heiligen Tempel" Bonecrack meinte, als ihr auch schon die Antwort einfiel. "Die Brutkammer von Ranxamaha Pangulim, der Mutter der Tiefenvölker, eine uns leider abweisende Anordnung von tiefen Höhlen", wisperte Deeplooks Stimme in ihrem Geist. Sogleich sah sie Bilder eines karg bewachsenen Hügels, in dem ein von flimmernden Tarnzaubern versteckter Höhlenzugang war und meinte, für einen Moment tief in die unterirdischen Räume hineinzufliegen. Dann glaubte sie, gegen eine gleißendgrüne Wand zu prallen und fand sich unmittelbar im offenen Meer schwimmen. Da verschwanden die in ihr Bewusstsein gefluteten Erinnerungen. "Ranxamaha Pangulim, die vergessene Königin des Urvolkes", hörte sie noch Deeplooks Stimme. Nun wusste sie auch, warum Kobolde dort nicht hineinkonnten und Zwerge Angst hatten, dass sie dort zu Stein erstarrten. Ranxamaha Pangulim galt als die Mutter aller Erdenkinder, erste Tochter der allgebärenden Mutter als solcher. Fünfzig Kinder hatte sie von fünf verschiedenen menschlichen Wesen unterschiedlicher Größe. Aus denen gingen die fünf Völker der Erde hervor, aber auch gefährliche Ungeheuer. Trolle, Zwerge, Kobolde, Gnome und Erddschinnen beriefen sich auf diese gottgleiche Urmutter. Es hieß, dass da, wo sie niederkam, mächtige Zauber der schützenden Erde wirkten, die alle bereits erwachsenen Kinder davon abhielten, sie im Kindbett zu behelligen. Fünf solche Kindbetthöhlen gab es auf der Erde zwischen Europa, Afrika und Asien. Tja, und auf der Insel Malta gab es eine von denen. Kobolde konnten dort nicht auf übliche Weise hinein und durften auch nicht Unsichtbar sein, weil sie dann mit Urgewalt zurückgewiesen wurden. Der grellgrüne Lichtwall, den sie zu sehen gemeint hatte, war eine bildhafte Beschreibung, was solchen geschah, die unter der Erde dort einzudringen versucht hatten und dann zurückgewiesen und ins offene Meer getrieben oder getötet wurden. Also kam auch kein Vollstrecker des alles überwachenden Bundes dort hinein. Das bedauerte die, die Deeplooks Erbe angetreten hatte.

"Woher wissen die Zauberstabträger von dieser Höhle?" dachte Diana die Frage an Deeplook. Keinen Herzschlag später flutete eine weitere Folge von Bildern und mit Deeplooks Gedankenstimme vertonter Beschreibungen ihr Bewusstsein. Danach wusste sie, dass zum einen die Zauberstabträger schon vor über tausend Jahren Karten von mächtigen Erd, Wind-, Feuer- und Wasserkraftzentren auf den damals bekannten Erdteilen Europa, Afrika und Asien besaßen, als auch dass es in den letzten siebenhundert Jahren mehr als zwanzig Kobold- und / oder zwergenstämmige Kinder von Hexen oder Zauberern gab. Darunter waren besonders zu beobachten vermerkte wie die Familie Pumphut, sowie die Vorfahren von Professor Filius Flitwick aus Großbritannien und eben auch die beiden Familien, die ihre Blutlinien in die Familie Camporosso eingebracht hatten, weshalb Diana nun mit Deeplooks Seelenglashelm auf dem Kopf und seinem ihr unterworfenen Geist im Körper dasaß. Somit war ganz klar, dass die Zaubereiministerien die fünf Geburtskammern der Ranxamaha Pangulim kannten, die bei den Zwergen Ralanu Tausendmutter hieß und bei den Trollen Morrtschngrmortsch. Es war somit auch klar, dass sie keine auf Erdkraft gründenden Mithörartefakte anbringen konnte und die eigentlich für die Afrikakonferenz gedachten Mithörkannen nicht nahe genug an die Höhlen der Ranxamaha Pangulim herangetragen werden konnten.

"Es bleibt nur, den alles sehenden und hörenden Bund wieder groß zu machen, um zu erfahren, was in den Ministerien und den Geschäftsstellen von Gringotts beschlossen wird", erkannten Diana und ihr geistiger Unterworfener.

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Julius Latierre musste es erst von drei verschiedenen Stellen bestätigen lassen, dass er keinem Aprilscherz aufsaß. Die Morgensternbrüder in Nordafrika waren von den dort zuständigen Zaubererweltgerichten, meistens Ältestenräte der führenden Familien, entmachtet worden und zu Unerwünschten erklärt worden. Die wegen Ladonnas Feuerrosenzauber zeitweilig ihrer Ämter enthobenen Ministeriumszauberer wurden von jenen Gerichtsversammlungen freigesprochen und in ihre alten Ämter eingesetzt. Das hieß auf jeden Fall, dass die vor dem Feuerrosenzauber amtierenden Zaubereiminister Ägyptens, Algeriens, Tunesiens und Marokkos zur Mittelmeeranrainerkonferenz nach Malta kommen würden. Einerseits konnte es Julius recht sein, sich nicht mit irgendwelchen Morgensternbrüdern auseinandersetzen zu müssen. Andererseits wusste er, dass rehabilitierte Menschen gerne auf Vergeltung an denen ausgingen, die sie in Ungnade gestürzt hatten. Gerade in den patriarchalischen, quasi aristokratisch geführten Zaubereiministerien Nordafrikas war das wohl noch wahrscheinlicher.

Am Nachmittag des ersten Aprils trafen sich alle Mitglieder des stillen Dienstes im Haus von Catherine Brickston. Joe saß in seinem Arbeitszimmer und befasste sich mit Projektentwürfen für seinen Arbeitgeber. Claudine war bei den Latierres im Sonnenblumenschloss, wo auch Millies und Julius' Kinder über zwei Jahren waren.

Zunächst ging es um jene in Ladonnas Hauptquartier sichergestellte Gegenstände. Weil einer der Morgensternbrüder so unachtsam war, es klar zu benennen, dass es sich um Stücke aus einer Sammlung aus zwölf Schätzen handeln sollte hatten Catherines Kollegen von der Liga gegen dunkle Künste nachgeforscht, was sie davon wussten. Julius empfand bei der Andeutung dieser zwölf Schätze ein Gefühl von Déjà Vu. Er hatte den Eindruck, schon einiges über diese legendären Schätze gehört zu haben. Als Catherine dann weitersprach verstärkte sich dieses Gefühl des bereits erlebten bei ihm.

"Die zwölf Schätze des Nils, eine Gruppe höchstpotenter, zu hellen oder dunklen Zwecken verwendbare Artefakte, sind seit über zweitausend Jahren bekannt und in Ägypten selbst eine Legende. Es darf davon ausgegangen werden, dass die Kobolde ebenfalls davon erfuhren und sie gezielt suchten oder besser jagten. Sie befanden sich oder befinden sich in alten Grab- und Tempelstätten die nach alten ägyptischen Göttern benannt sind und deren wesentliche Eigenschaften verkörpern", leitete Catherine ihren Bericht ein, da sie diese Gruppe als die am ehesten für dieses Wissen geeignete hielt, vor allem jene, die bereits mit dem alten Reich Altaxarroi zu tun hatten, wie sie ja auch. Sie zählte die den Ligakollegen bekannten Gegenstände auf und erwähnte auch, welche davon in Ladonnas Residenz bei Florenz gefunden und sichergestellt worden waren. "Das Zepter des Totenrichters gilt als nur für Zauberer benutzbar. Doch wissen wir von der Liga und somit wohl auch viele helle und dunkle Hexensororitäten, dass Gertrude Steinbeißer, eine dunkle Hexe des 18. Jahrhunderts, einen Zauber erfunden haben soll, der die auf Zauberer beschränkten Gegenstände auf Hexen umstimmt. Falls eine Hexe oder eine Gruppe von Hexen den Überfall auf die Wächter in der Villa durchgeführt haben nützt ihnen dieses Zepter nichts, wenn keine von denen diesen Umstimmungszauber beherrscht. Hingegen ist die Halskette der Isis ausdrücklich für magische Frauen vorbehalten, die bereits Mutter wurden und die bis zum Erwerb der Kette noch kein denkfähiges Wesen getötet haben. Da sie von mächtigen Zaubern und in der Welt verbliebenen Geistern mächtiger Isisdienerinnen bewacht wird kommt ein Zauberer nicht an sie heran, weil er eben nicht Mutter werden konnte. Daher dürfte sie genauso wie der Helm des Upuaut, die Kralle der Anat und das schon märchenhaft mächtige Gnadenbett des Osiris am ursprünglichen Standort sein. Für Mutter gewordene Hexen ist sie deshalb begehrenswert, weil sie diesen bekannte Schild- und Schutzzauber verstärken und alle ihnen bekannten Heilzauber auf die neunfache Stärke erhöhen kann. Also könnte ein einfacher Episkye-Zauber nicht nur eine kleine Wunde heilen, sondern großflächige innere oder äußere Verletzungen narbenlos verheilen oder ein Ossafracta Restaurata zur Behebung von einfachen Knochenbrüchen multiple Knochenbrüche und auch Trümmerbrüche heilen." Da hakte Hera Matine ein:

"Klingt höchst verlockend für Heilerinnen, Catherine. Aber dann ist es doch sehr wahrscheinlich, dass bereits eine Hexe mit den erwähnten Grundbedingungen Zugang zu dieser Kette gesucht und erhalten hat."

"Natürlich ist es wahrscheinlich, falls eine Heilerin weiß, wo die Kette verborgen wurde, den Zugang zu ihrer Aufbewahrungsstätte zu öffnen vermag und die dort wachenden Geister sie durchlassen", erwiderte Catherine. "Aber was den Zugangsort angeht ist darüber nur bekannt, dass es ein Verehrungsort der Isis war. Tja, und diese Göttin gilt als eine der bekanntesten und beliebtesten Göttinnen des ägyptischen Pantheons, vergleichbar mit deiner griechischen Namensgeberin oder der Göttin Artemis oder der christlichen Gottesmutter Mirjam, Miriam, Maria oder Marie. Bisher wurde zumindest noch nicht berichtet, dass eine passende Erbin der Kette diese gefunden und an sich genommen hat. Falls doch, dann könnte die Kette nach deren Tod auch wieder an ihren Lagerort zurückgekehrt sein, sofern sie keine eigene Tochter geboren hat, der sie die Kette rechtmäßig vererben konnte." Julius meinte nur: "Ups! Kommt mir bekannt vor!"

"Das wohl nicht ganz zufällig", meinte Catherine. "Soweit uns Camille mal erzählt hat gilt Ashtaria als magisch historisch belegbare Vorlage für die erwähnten Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttinnen, also auch der Isis." Julius fühlte über die Verbindung der goldenen Herzanhänger, dass Millie sehr erregt war, als erfahre sie gerade etwas verdammt wichtiges. Natürlich, sie hatte mehr als nur eine erbberechtigte Tochter geboren, konnte Heil- und Schildzauber. Vielleicht dachte sie wie Hera Matine, dass diese Kette der Isis genau ihr Ding war, dachte Julius. Hier und jetzt fragen wollte er sie nicht.

Catherine fuhr in ihrer Erläuterung der der Liga bekannten Schätze des Nils fort. Sie sagte: "Falls die Morgensternbrüder recht haben, und Ladonna auch den Bogen des Anhor erbeutet hat und dieser nun fehlt, dann läuft da draußen jemand herum, der oder die eine sehr tödliche und tückische Waffe führen kann. Der Bogen erhöht die Treffsicherheit seines Schützens, und die ihm zugeordneten hundert Pfeile des Jagd- und Kriegsgottes töten bei einem bloßen Durchdringen der Haut innerhalb weniger Sekunden oder wandeln schwarzmagisches Scheinleben in vernichtendes Feuer um. Trifft ein Pfeil das Herz oder unmittelbar in dessen Nähe ist die Wirkung ebenso augenblicklich und unabwendbar wie der tödliche Fluch Avada Kedavra, nur dass der Pfeil geräuschlos sein Ziel ansteuert und kein gleißendes Licht ausstrahlt und der Schütze oder die Schützin kein lautes Wort rufen muss, um ihn zum tödlichen Geschoss zu machen. Kein Wunder also, dass sowohl meine Ligakollegen in Italien als auch die Brüder des blauen Morgensternes höchst alarmiert sind. Dann fehlt angeblich noch das Ohr des Anubis, jenes ohrenförmige Amulett, mit dem die Nähe von Geisterwesen hörbar gemacht werden kann, sofern der Träger bereits dem Tod begegnete oder ihn gar selbst herbeiführte und keinen eingewirkten Situationsfluch mit Todesfolge in sich trägt. Denn dann würde er oder sie von jenem Situationsfluch getötet, Anubis halt."

"Natürlich kennen die Morgensternbrüder die zwölf Schätze, wenn die Heilssternträger sie schon kannten", sagte Julius. Denn ihm war klar, woher er dieses Déjà Vu hatte. Mindestens einer seiner Vorgänger von den Heilssternträgern hatte mit den zwölf Schätzen des Nils zu tun bekommen.

"Da dürftest du leider recht haben, Julius", bestätigte Catherine. "Deren Pech ist nur, dass sie es nicht geschafft haben, sich dauerhaft im ägyptischen Zaubereiministerium festzusetzen, und dass die italienische Sektion der Liga gegen dunkle Künste jetzt erst recht die Herausgabe verweigert, aus ähnlichen Gründen, wie sie die Morgensternbrüder haben mögen."

"Nur, dass die Morgensternbrüder wohl auch alle Auslösewörter oder sonstigen Verwendungsgebote kennen, wie diese Gegenstände zu benutzen sind", brachte Julius ein. Er dachte schon daran, mit Jophiel Bensalom Kontakt aufzunehmen und ihn zu fragen. Doch dann verwarf er den Gedanken. Der würde wohl nichts sagen, weil die Brüder des blauen Morgensterns das als nur ihnen zustehendes Geheimnis ausgeben wollten. Geheimbund halt.

"So ist es also sicher, dass der Al-Assuani-Clan sich mit Hilfe der heimlichen und offenen Beziehungen an die Macht zurückgehievt hat", stellte Nathalie Grandchapeau klar. "Karim Al-Assuani wird höchst wahrscheinlich die unverzügliche Rückgabe der aus Ägypten entführten Zaubergegenstände verlangen, die nach Ladonnas Entmachtung in der von ihr besetzten Girandelli-Villa gefunden wurden. Jetzt weiß ich, dass auch die Kobolde von Gringotts die sofortige Rückgabe der in der Girandelli-Villa vorgefundenen Gegenstände fordern, weil diese, so deren Lesart, dafür bezahlt haben, sie zu erhalten, so die Verträge mit den bei ihnen angestellten Fluchbrechern. Catherine, Sie erwähnten, dass die Liga gegen dunkle Künste weiterhin die Rückgabe der hochpotenten Zaubergegenstände ablehnt. Hat sich daran etwas geändert?"

"Nur in der Hinsicht, dass Ägypten die Rückgabe der Zaubergegenstände und Aufzeichnungen nicht pauschal, sondern einzeln beantragen soll und die Prüfung auch ergeben soll, wem die einzelnen Gegenstände gehören und falls es keine lebenden Eigentumsanspruchbesitzer gibt, wer deren Rechtsnachfolger sind", antwortete Catherine Brickston auf Nathalies Frage. Julius verzog das Gesicht. Bei Altertümern gab es keine lebenden Erben mehr. Damit konnten die Italiener die Herausgabe locker verweigern.

"Das dürfte außer Frage stehen, dass hier die internationale Regel zur Verzeichnung und Aufbewahrung magischer Gegenstände älter als 500 Jahre aus dem Jahr 1750 zur Anwendung kommt", meinte Nathalie. Das um ihren Unterbauch gebundene Cogison quäkte: "Schön hast du das gesagt, meine hoffnungsvoll duldsame Trägerin."

"Ja, und gemäß der Gesetzesnovellierung von 1945, auch Kriegsbeutereform genannt, gelten alle aus zerstörten oder vergessenen Gebäuden geborgenen und aus dem Land des Fundortes verbrachten Gegenstände weiterhin als Eigentum des Zaubereiministeriums, auf dessen Hoheitsgebiet die Fundstücke entdeckt wurden", sagte Nathalie noch. "Aber jetzt kommt es, nur dann, wenn die Fundstücke nicht älter als 500 Jahre alt sind und ohne vorherige Ankündigung bei dem hoheitlich zuständigen Zaubereiministerium geborgen und fortgebracht werden. Also gilt, wenn etwas ausgegraben und weggeschafft wird, lange bevor das Zaubereiministerium davon erfährt, ist jenes Zaubereiministerium einstweilen für Gegenstände älter als 500 Jahre zuständig. Also müsste das Zaubereiministerium in Kairo nachweisen, dass die Kobolde ihm immer und zu jeder Zeit zu jedem geborgenen Fundstück eine klare Beschreibung geliefert und die Ausfuhr beantragt oder eben nicht beantragt haben."

"Ja, Maman, aber da kommt noch ein für diesen Fall entscheidender Punkt hinzu", quäkte das auf Demetrius' Gedanken eingestimmte Cogison. "Wenn das betreffende Zaubereiministerium Kenntnis hatte, dass Gegenstände älter als 500 Jahre vordringlich zu bösartigen Zwecken erschaffen und benutzt wurden fallen sie bei Entdeckung und Sicherstellung unverzüglich unter die Verfügungsgewalt des Zaubereiministeriums, auf dessen Hoheitsgebiet der Gegenstand gefunden oder verwendet wurde. Ja, und was die schlitzohrigen Spitzohren von Gringotts angeht haben die ja sowieso ihre eigene Vorstellung von Eigentum."

"Ich hoffe, es wird Ihnen nicht zu anstrengend, derartig ausformulierte Gedanken zu denken", sagte Eleonore Delamontagne in Richtung von Nathalies gewölbtem Unterbauch. "Neh, bin daran gewöhnt, werte Eleonore", cogisonierte Demetrius. "Außerdem hat die, die mich trägt und für mich isst, trinkt und atmet Wachhaltetrank getrunken. Der hält mich auch wach genug."

"Das ist aber nett, dass wir das erfahren", meinte Hera Matine. "Ich hoffe, sie können heute zeitig zu Bett gehen, Nathalie."

"Hängt davon ab, wie lange wir heute noch darüber debattieren wollen, wie verantwortungsvoll oder verantwortungslos es ist, dass ich für mich und meinen weiterhin ungeboren bleibenden Sohn Wachhaltetrank einnehme, damit er und ich die Unterredung bei voller Konzentration und nötiger Geistesausdauer verfolgen können", konterte Nathalie und wurde dafür wohl beipflichtend in ihren Bauch gestupst.

"Also gilt wohl, dass weil Ägyptens Zaubereiministerium sicher nicht zeitnah von den Kobolden erfahren hat, dass bestimmte Gegenstände gefunden und geborgen wurden, diese eben ohne Kenntnisse oder mit Kenntnis des Ministeriums von den Kobolden eingelagert wurden. An eine Ausfuhr war ja wohl nicht gedacht. Die Kobolde sind ja auch nicht schuldig, dass diese Gegenstände ohne Erlaubnis des Ministeriums außer Landes geschafft wurden. Aber es gilt auch, dass klar den dunklen Künsten zugeordnete Gegenstände von dem Ministerium beschlagnahmt und verwahrt werden dürfen, auf dessen Hoheitsgebiet sie gefunden wurden. Damit sind die Italiener im Recht", fasste Eleonore Delamontagne zusammen. Catherine nickte und bestätigte, dass sich der Leiter der französischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste genauso geäußert hatte. Dann fügte sie hinzu: "Allerdings findet derzeitig eine sehr kontroverse Diskussion innerhalb der französischen Sektion und zwischen den Sektionen Frankreich und Italien statt, ob die Liga gegen dunkle Künste weiterhin zaubereiministerielle Rechte geltend machen kann und dass bei einer neubewertung der Zuständigkeiten auch eine Neubewertung der Eigentumsansprüche stattfinden könne. Ja, und unsere Quellen im Koboldverbindungsbüro in London vermelden, dass die fraglichen Gegenstände über Jahrzehnte mit stiller Genehmigung des ägyptischen Zaubereiministeriums in gesicherten Verliesen von Gringotts Kairo gelagert worden waren und somit dem Zugriff böswilliger Menschen mit magischer Ausprägung vorenthalten blieben, was im Grunde heißt, dass die Kobolde die Genehmigung des Ministeriums in Kairo hatten, in dessen Auftrag die aus alten Grab. und Tempelstätten geholten Zaubergegenstände aufzubewahren, sowie ja auch Wertgegenstände und Münzgeldvermögen für geschäftliche Unternehmen und Behörden aufbewahrt werden können. Jaha, und wer weiß, was dann noch für ein Recht zur Anwendung kommt?" fragte Catherine. Nathalie zuckte zusammen. "Drachendreck, vergesse immer, dass ich den Arm nicht hochreißen soll", quäkte das Cogison. "Wahrscheinlich die Anlage zehn Unterabschnitt drei Bedingung a des Standardgeschäftsvertrages zwischen Gringotts und einem rechtmäßigen Zaubereiministerium", schnaubte Nathalie. "Jawoll, vom eigenen Torraum voll durch den gegnerischen Mittelring", antwortete Demetrius per Cogison. Das Gesetz kannte auch Julius und nickte, als Demetrius den rechtskräftigen Wortlaut wiedergab. "JeEine natürliche oder juristische Person, die mindestens ein Verlies ob Mindestsicherheits- oder Höchstsicherheitsstufe anmietet hat das Recht, zu jeder Stunde der offiziellen Öffnungszeiträume von Gringotts an die in diesen Verliesen gelagerten Wertsachen oder Gegenstände zu gelangen und beliebig viele oder beliebig oft davon zu entnehmen oder einzulagern. Handlt es sich bei dem Mieter um ein zaubereiministerium oder eine diesem untergeordnete Behörde, entrichtet dieses Verwaltungsorgan den Kobolden die für die Bereitstellung übliche Gebühr und / oder gewährt ihnen weitergehende geschäftliche Handlungen zur eigenen Gewinnschöpfung im Rahmen eines dafür nötigen Zusatzvertrages. - Damit behiellt sich das Ministerium in Kairo die Möglichkeit vor, die von den Fluchbrechern geborgenen Gegenstände jederzeit selbst hervorholen und benutzen zu dürfen, meine werten Selbstatmerinnenund Selbstatmer."

"Deshalb hat seine Mutter den Wachhaltetrank geschluckt", mentiloquierte Julius an Hera. "Was es trotzdem nicht weniger bedenklich macht", erhielt er zur Antwort.

"Gut, nur dass die Morgensternbrüder in Kairo nachgeforscht und herausgefunden haben, dass die Kobolde dem Zaubereiministerium jährliche Lizenzgebühren bezahlt haben, um auf deren Hoheitsgebiet nach wertvollen Hinterlassenschaften suchen und diese bei sich unterbringen zu dürfen", sagte Catherine. "Ja, und weil die Kobolde dafür keine offiziellen Ministeriumsverliese benutzt haben, sondern Verliese zum gringottsinternen Wertschöpfungsbedarf, also da, wo sie die durch andere Geschäftstransaktionen erzielten Erlöse unterbringen, ist die Verfügbarkeitsklausel nicht gültig. Die Kobolde haben dem Ministerium pauschal alles abgekauft, was keinem lebenden Zauberstabträger gehört und sich bis zum Fund unbekannterweise auf ägyptischem Boden befunden hat."

"Ja, und das obwohl das Ministerium wusste, dass gerade in alten Tempelstätten und in Gräbern von Magiern mit zweifelhaftem Ruf höchst gefährliche Gegenstände verwahrt wurden", erwiderte Nathalie Grandchapeau. "Damit hätte sich Al-Assuanis Familie, die ja quasidynastische Amtsgewalt erlangt hat, der Beihilfe zum Handel mit gefährlichen und / oder zu bösartigen Zwecken erschaffener Gegenstände schuldig gemacht. Auch das dürfte ein Grund sein, warum die Ägypter die in Italien aufgefundenen Gegenstände lieber gestern als morgen zurückbekommen möchten."

"Zunächst wollten das die Morgensternbrüder", wandte Julius ein. Catherine bestätigte das.

"Der Beihilfeparagraph gilt für nichtverbeamtete Hexen und Zauberer und das auch nur im Geltungsbereich des internationalen Rechts- und Handelsabkommens von 1809. Haben die Ägypter das damals mitunterschrieben?" wandte Catherine ein. Eleonore Delamontagne wiegte den Kopf. "Das möge bitte nachgeprüft werden", sagte sie. Demetrius cogisonierte: "Damals war Ägypten Teil des osmanischen Reiches, und die Türken, die dieses maßgeblich beherrscht haben verweigerten eine Unterschrift, die ihre Auffassung vom Umgang mit alten Vermächtnissen aus ihrem Hoheitsgebiet missachtete. Mit dem Zerfall des osmanischen Reiches und der Selbstständigwerdung Ägyptens entstand die morgenländische Magieverwaltungskonföderation, die sich nicht an die in Europa und den europäischen Kolonien und deren Rechtsnachfolgern vereinbarten Absprachen gebunden fühlte, sondern nur darauf bestand, dass morgenländische Zaubergegenstände solange Eigentum des Herkunftslandes seien, solange diese Gegenstände nicht von nachprüfbaren Erben erhalten und an andere magische Personen, natürlich oder juristisch, verkauft wurden. Tja, die werten Zuhörer außerhalb von Mamans warmem Bauch: Da Gringotts seit 1613 als anerkannte rechtliche Person gemäß der magischen Straf-Zivil- und Handelsgesetze gilt war es also möglich, dass jemand, der sich nicht an den Vertrag von 1809 gebunden fühlt und sich pauschal als Erbe alter Hinterlassenschaften verstehen darf, an die juristische Person Gringotts alle Eigentumsrechte und Nutzungsrechte verkaufen darf, solange dies in entsprechenden Verträgen für alle Seiten nachprüfbar festgeschrieben steht. Wenn also die Al-Assuanis, die schon Zaubereiminister stellten, wo mein Großvater gerade einmal zur Welt gekommen ist, die Kobolde entsprechend beauftragt und bewilligt haben, alle in Ägypten herumliegenden Zaubergegenstände auszugraben und bei sich unterzubringen und dafür immer ein gewisses Geld, auch Backfisch genannt - Mist, das Quäkteil kann das Wort nicht wiedergeben -, also eine Schweige- Schmier- oder Stillhaltegeldzahlung herausgibt, kann das von deren Gummiparagraphenbiegern - komisch, das Wort kam jetzt so raus, wie ich es dachte - entsprechend ausgelegt werden, sowohl bei den Al-Assuanis als auch bei den Kobolden von Gringotts."

"Womit sich Ägypten nun, wo die Al-Assuanis wieder vollbeamtet sind, aalglatt aus der Angelegenheit herauswinden kann", legte Julius nach, nachdem er durch Handheben ums Wort bat. "Ja, aber sowas von glatt, dagegen ist ein Aal ein starres Stück Reibeisen", musste Demetrius dem noch draufsetzen.

"Weshalb es den Morgensternbrüdern ja sehr entgegengekommen wäre, wenn sie nicht nur als zeitweilige Vertreter, sondern rechtmäßig eingesetzte Beamte hätten weitermachen können. Die hätten dann nämlich die Vorgehensweise der Al-Assuanis rückwirkend als private Gewinnschöpfung und Beihilfe zum Erwerb und Gebrauch bösartiger Zaubergegenstände ausgelegt und den Italienern nahegelegt, diese an eine zertifizierte Stelle zur Bewahrung und / oder gefahrlosen Vernichtung solcher Gegenstände abzugeben und zugleich auf die morgenländischen Zaubereigesetze verwiesen, in denen Kobolde aus Gringotts zu den geschäftsunfähigen Zauberwesen und somit ohne entsprechende Rechte aufgeführt sind", sagte Catherine.

Julius hob wieder den Arm und erhielt das Wort. "Nur dass die Liga gegen dunkle Künste sich darauf beruft, dass solche Gegenstände auf italienischem Hoheitsgebiet gefunden wurden und - jetzt biege ich mal den Gummiparagraphen - eindeutig nachweisbar ist, dass eine nichtbeamtete Hexe mit unstrittig dunkler Ausprägung diese Gegenstände eingesammelt hat, um sie bei jeder sich ihr bitenden Gelegenheit zur freien Benutzung zur hand zu haben, wodurch die Ligakollegen von dir, Catherine, die gerade als zeitweilige Zaubereiminister arbeiten, den Beihilfeparagraphen gegen die unter Ladonnas Einfluss stehenden Al-Assuanis verwenden können und damit die Herausgabe der Gegenstände verweigern können, unabhängig davon, ob sie als dauerhafte Beamte bestätigt werden oder ihre Posten an neue Ministeriumsbeamte abtreten müssen. Denn die Al-Assuanis waren ja zeitweilig von Ladonnas Willen abhängig und haben ihr somit nichts verkaufen oder schenken können, sondern es auf ihren Befehl hin herausgerückt. Die Liga gegen dunkle Künste genießt in Europa eine ähnlich hohe Rangstellung im Umgang mit gefährlichen Kenntnissen und Erzeugnissen wie das Laveau-Institut in den USA sie vor der Dreizackföderation besaß und derzeitig wieder zurückerhalten möchte. Also wird der Ligakollege in Italien die Herausgabe der gefundenen Gegenstände verweigern, egal ob in Kairo Morgensternbrüder oder eine durch welche Tricks auch immer quasi dynastische Herrscherfamilie das Zaubereiministerium leitet."

"Wohl wohl", bemerkte Demetrius dazu.

"Womit wir wieder am Anfang sind, so gut haben wir das Gummi jetzt gebogen", meinte Eleonore und nickte Julius zu. "Catherine, besteht die Aussicht, dass Ägyptens Zaubereiministerium die aus seinem Land entführten Gegenstände zurückerhält? Falls ja, an wen gehen diese dann? Wie kann neuerlicher Missbrauch verhindert werden, und besteht die Aussicht, dass Gringotts die Gegenstände als rechtmäßig erworben einfordern kann? Falls nein, was gedenken die italienischen Kollegen mit den sichergestellten, nach meinem Wissen nicht vollständig aufgefundenen Gegenständen zu tun? Ich behaupte jetzt einmal, dass diese in dem Moment, in dem sie in ein wie auch immer gesichertes Verlies von Gringotts eingelagert werden, die Geschäftsführung von Gringotts die sofortige Rückgabe an Gringotts geltend machen und die Gegenstände für sich selbst sicherstellen will. Also kann und wird die Liga ganz gewiss nicht riskieren, die gefundenen Gegenstände in die Nähe von Kobolden zu bringenund sie dort für unbestimmte Zeit einschließen zu wollen."

"Die Haltung der italienischen Kollegen lautet: Was wir an schwarzmagischen Gegenständen sicherstellen bleibt in unserer Verwahrung, bis geklärt ist, wie der Gebrauch dieser Gegenstände dauerhaft geregelt wird oder ob es möglich und geboten ist, sie gefahrlos zu vernichten. Letzteres ist derzeit noch nicht möglich, habe ich von Professeur Delamontagne", erwiderte Catherine Brickston.

"Will sagen, die wollen alles was sie haben bei sich einschließen, aber nicht bei den Kobolden, zumal Gringotts in Italien ja gerade geschlossen ist", vermutete Julius. Catherine nickte ihm zu. Dann sagte sie: "Ja, und damit sind wir bei dem, warum wir kurz vor deiner Reise nach Malta zusammentreffen, Julius. "Geh davon aus, dass das italienische Zaubereiministerium die Herausgabe der ägyptischen und aus anderen Ländern gefundenen Gegenstände ablehnt, solange dort die Liga gegen dunkle Künste das Zaubereiministerium verwaltet oder das dort anerkannte Gericht über die von Ladonna erbeuteten Gegenstände befindet."

"Dann hoffe ich mal, dass es wie auf Gotland eine Einteilung der Fachgruppen gibt", sagte Julius. Denn die Gegenstände an sich hatten ja nichts mehr mit Zauberwesen zu tun.

"Wurde mittlerweile erwähnt, wer wie Ladonna besiegt hat und ob sie nicht doch irgendwann wieder auftaucht wie der Chef der Todesser oder Sardonias Geist?" wollte Millie Latierre wissen. Hera Matine straffte sich und wartete, bis ihr die volle Aufmerksamkeit gewiss war. Dann berichtete sie:

"Mit Genehmigung des Sprechers der italienischen Heilmagiezunft, Großheiler Professore Dottore Alberto Massimo Dolcevento, und der Genehmigung von Professeur Docteur Antoinette Eauvive, Sprecherin der französischen Sektion der magischen Heilzunft darf ich aus dem Heilerherold vom 31. März 2007 zitieren. Die Untersuchungen des Vorganges, der am 2. Dezember 2006 zur Entmachtung und höchst wahrscheinlichen entkörperung der dunklen Hexenmeisterin Ladonna Montefiori führten ergab, dass zwei durch unbekannten Schutzzauber gegen die Auswirkungen des um das von Ladonna okkupierte Grundstück bei Florenz, Toskana, wirksamen Blutfeuernebels nach Rufus Palatinus geschützte Hexen südeuropäischen Erscheinungsbildes die dort seit Jahren hausende Ladonna Montefiori zu einem Dreifachduell oder Triell forderten, bei dem alle drei Kombatantinnen durch erweiterte Schildzauber gegen die meisten Offensivzauber geschützt waren, bis es der dunklen Hexenmeisterin gelang, die zwei Gegnerinnen, die laut Augenzeugenberichte der beobachtenden Ministeriumsbeamten unter Ladonnas Einfluss entweder Mutter und Tochter oder zwei Schwestern waren, niederzukämpfen und sich von der jüngeren der beiden ein magisches Schwert aneignete, dass wohl von jener als Mittel der Wahl gegen Ladonna benutzt werden sollte. Offenbar wohnte dieser Waffe jedoch ein magisches Eigenleben inne, sodass die Klinge Ladonna da selbst verletzte und in einem blauen Licht auflöste, aus dem da selbst drei menschliche Wesen weiblichen Geschlechtes im Zustand neugeborener Kinder heraus verstofflichten und durch die für Neugeborene üblichen Angst- und Forderungslaute ihre Lebensfähigkeit bestätigten. danach, so Professore Dolcevento, seien die Augenzeugen bewusstlos geworden und erst Wochen später wieder zu sich gekommen und hätten sich vom Zwang des auf sie gelegten kombinierten Zaubers namens Duft der Feuerrose befreit wiedergefunden. In der Zwischenzeit haben die beiden den Kampf offenbar überlebenden Hexen sämtliche Spuren ihres Tuns beseitigt und auch den von Ladonna mehrfach eingesetzten Goldring mit zwei rosenblütenförmigen Rubinen zertrümmert, wobei sie laut untersuchender Fachkundiger der Liga gegen dunkle Künste, einen mit Basiliskengift imprägnierten Gegenstand, mutmaßlich einen Zahn eines solchen höchst gefährlichen Tierwesens verwendet haben. Was das erwähnte Schwert angeht haben die beiden finalen Gegnerinnen Ladonnas dieses wieder an sich genommen und mitgenommen. - Für diesen ganzen Text brauchte ich eine winzige Dosis von Bicranius' Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit."

"Moment, zwei Hexen haben Ladonna besiegt, ohne vom Blutfeuernebel getötet zu werden?" fragte Catherine. Hera erwähnte, dass dies von den Heilern nicht erklärt werden könne. Die Augenzeugen wollten gesehen haben, dass die zwei in silberfarbene Auren eingehüllt waren.

Julius hatte sich bis hierhin sehr beherrschen müssen. Doch die Erwähnung eines Schwertes, unter dessen Wirkung ein Wesen in blaues Licht und dann zwei oder mehr eigenständig lebende Körper aufgelöst wurde hatte bei ihm alle Glocken von Notredame zum läuten gebracht. Deshalb fragte er, wo sie hier im Stillen Dienst zusammensaßen, ob es sich bei der Klinge um ein Kurzschwert mit rosiger Klinge, vergleichbar einem römischen Gladius gehandelt habe. Auf die zu erwartende Gegenfrage, woher er das so genau benennen könne erwähnte er, was ihm in Slytherins Galerie des Grauens widerfahren war und dass er die dort herumfliegenden Entomanthropen mit eben diesem Schwert in ihre Ursprungswesen aufgetrennt hatte, wobei der Bienenanteil als erwachsenes Tier, zoologisch Imago genannt, und der menschliche Anteil als eben neugeborenes Kind verstofflicht wurde. Er wusste ja, dass hier mindestens vier Leute sein Abenteuer in der magischen Bilderwelt kannten. So sagte er noch: "Ich erfuhr damals, dass das in der Bilderwelt vorhandene und voll wirksame Schwert der Entschmelzung eine natürliche, also reale Vorlage besaß, die wohl aus dem im alten Reich verwendeten Zaubermetall Orichalk geschmiedet worden war. Der als Kallergos bezeichnete Zauberschmied, der, wie ich später herausfand, wohl nicht ganz zufällig dem griechischen Hephaistos nachempfunden wurde, hatte es in seiner Sammlung besonderer Zaubergegenstände und erhielt es später wieder zurück. Wo das Original war erfuhr ich nie. Tja, offenbar hat jemand es den zweien mitgeteilt und ihnen auch gezeigt, wie sie gegen den Blutfeuernebel immun sind. Wenn das wirklich silberne Auren waren, die die beiden umhüllt haben, könnte das auch ein Mondkraftschild gewesen sein, ein mehrzweckdefensivartefakt, dass wie ein futuristischer Energiefeldschutzschirm Angriffe mit Geschossen oder Kraftstrahlen, also auch Zauberflüchen, solange abwehrt, bis seine vom Mond erhaltene Aufladung aufgebraucht ist. Hmm, sehr interessant. Wir hier sind also offenbar nicht die einzigen, die Zugriff auf Erzeugnisse des alten Reiches haben. Da will ich nur hoffen, dass die zwei Damen, die Ladonna in ihre drei Ausgangslebensformen zerlegt haben gutartige Hexen sind und nicht darauf ausgehen, sie irgendwann zu beerben."

"Könnten das dann nicht auch Gefolgshexen jener Spinnenhexe sein, von der hier schon mehrmals die Rede war?" fragte Eleonore Delamontagne und erhielt ein beipflichtendes Nicken Catherines. Julius wollte das nicht ausschließen, da er davon ausgehen musste, dass noch wer Zugang zu den Hinterlassenschaften des alten Reiches hatte. Dann meinte er: "Es könnten aber auch angehörige des Volkes der Sonnenkinder gewesen sein, die vordringlich gegen Vampire kämpfen, aber auch andere dunkle Kreaturen bekämpfen, sofern sie dazu die Möglichkeit haben. Die haben auf jeden Fall Ausrüstungsgüter aus dem alten Reich. Millie und Hera nickten ihm zu. Dass er noch flüchtigen Kontakt mit den Sonnenkindern hatte wussten die Mitglieder des stillen Dienstes.

"Soweit mir bekannt ist besitzen die Sonnenkinder eine goldbraune Hautfarbe", sagte Nathalie. "Könnten die sich dann also durch Kosmetika oder Selbstverwandlungen wie Europäerinnen maskiert haben, um weiterhin den Anschein zu erwecken, dass die Sonnenkinder wieder eingeschlafen sind?"

"Möglich ist das", sagte Julius. "Aber ich bekam bisher keine Mitteilung welcher Art, dass die Sonnenkinder an Ladonnas Entmachtung beteiligt waren. Aber das heißt ja nicht, dass die mir alles erzählen, was sie so anstellen, vor allem wo ich ja Beamter bin und deshalb locker in einen Loyalitätskonflikt geraten könnte."

"Hört hört!" musste Demetrius dazu bemerken. "Als wenn wir hier nicht alle in einem gewissen Konflikt mit der Loyalität zu den uns vertrauenden Behörden oder Gruppierungen stehen, die wir diesen außerministeriellen Geheimclub betreiben."

"Den zu gründen dein Herr Vater uns Eingeweihten sehr nahegelegt hat", wusste Julius die passende Antwort. "Als wenn der das nicht wüsste", meinte Nathalie dazu.

"Halten wir also fest, dass zwei Hexen, die mutmaßlich in magischer Verkleidung auftraten, um nicht erkannt zu werden, an Dinge gelangt sind, die laut unserem Experten für das alte Reich, Monsieur Latierre, ebendort entstanden sind. Da wir die beiden nicht in Marsch gesetzt haben- immerhin bestreitet hier das niemand - können die beiden von den Sonnenkindern oder dem Orden der schwarzen Spinne entsandt worden sein. Gegen die schwarze Spinne spricht das von Monsieur Latierre angeführte Bedürfnis, errungene Siege über mächtige Feinde möglichst weltweit zu verkünden. Da eine derartige Verkündung bisher ausblieb ist es wahrscheinlicher, dass die Sonnenkinder hinter dieser Aktion stecken, um eine gefährliche Hauptgegnerin zu vernichten, um sich für die anderen bestehenden Gegner freizuhalten", fasste Elenore Delamontagne die zusammengetragenen Erkenntnisse zusammen. "Wir werden wohl nicht erfahren, wer genau Ladonna aus der Welt geschafft hat und ob die Veelastämmigen, die mit ihr verwandt sind auf Blutrache ausgehen, da sie ja durch Ladonnas Ende selbst befreit wurden. Bleibt eben nur zu hoffen, dass die beiden an Ladonnas Ende beteiligten Hexen eher der hellen als der dunklen Seite zugetan sind und dass sie nicht von unerwünschter Seite erkannt und für fragwürdige Zwecke eingesetzt werden mögen. Ich beziehe mich hier auf das von Monsieur Latierre identifizierte Kurzschwert. Mit einem derartigen Machtmittel können nicht nur dunkle Züchtungen aus der Welt geschafft werden. Ich denke, diese Zusammenfassung können wir alle mittragen." Alle hier bestätigten das für das geheime Protokoll. Denn sie gingen davon aus, dass spätere Mitglieder des stillen Dienstes, womöglich Millies und Julius' Kinder und vielleicht auch der noch zu gebärende Demetrius Grandchapeau, nachlesen wollten, was in den ersten Jahren des dritten Jahrtausends so los war.

Es ging dann noch um Julius' Kontakt zu den sechs anderen Kindern Ashtarias, von denen der stille Dienst von Millie abgesehen nur Camille Dusoleil und Adrian Moonriver kannte. Was weitere Hinterlassenschaften aus Altaxarroi anging wollten die Anwesenden weiterhin alle offiziellen und privaten Kontakte nutzen, um zeitnah zu erfahren, wo etwas neues aufgetaucht war. Da Julius den Anwesenden nach der erfolgreichen Suche nach dem verwaisten Heilsstern von den Visionen erzählt hatte, die bei dessen vollständiger Aktivierung in sein Bewusstsein geflutet waren wussten sie hier alle, dass es wohl noch mehr gigantische Waffen gab, in denen die Seele eines Überriesens schlummerte und dass diese in den Grabstätten der ursprünglichen Titanen verborgen waren. Er hatte auch die Lage der europäischen Grabstätten bezeichnet. Ab da galt, dass alles was um diese herum geschah, vor allem magische Forschungsarbeiten, so schnell wie möglich an den Stillen Dienst gemeldet werden sollte, um das Erwachen auch nur eines Titanen zu verhindern. Einer allein mochte schon ausreichen, erst die Magiegeheimhaltung und dann beide Zivilisationen in Stücke zu schlagen. Im Grunde hatten die Norweger nur Glück gehabt, dass der auf Spitzbergens Inseln gefundene Riesenhammer mit dem Zauberer der ihn angefasst hatte ins Meer gestürzt war. Mit den anderen Waffen mochte es nicht so glimpflich ausgehen. Julius erhielt die Genehmigung, die Lage jener Gräber an die Sonnenkinder weiterzugeben, sollten die sich noch einmal bei ihm melden. Er verschwieg vorerst, dass er genau das bereits erledigt hatte. Er dachte auch, ob er das mit dem Schwert und den silbernen Schutzauren an Faidaria und ihre Sonnenkinder weitergeben sollte. Vielleicht hatten die ja doch was damit zu tun. Vielleicht wollten die dann aber auch, dass das nicht jeder wusste. Also wollte er erst mal nichts in dieser Richtung weitermelden.

"Also, ich kann nur froh sein, wenn wir ab morgen Fachgruppen bilden und ich das mit den Veelas, was wir auf Gotland ausgehandelt haben, auch bei den Spaniern, wo noch eine veelastämmige Familie wohnt, unterbringen kann", meinte Julius.

"Ist das der einzige Punkt, weshalb Sie mitreisen, Monsieur Latierre. Julius erwiderte, dass es vielleicht auch um das Arkanet ging, auch wenn die nordafrikanischen Zaubereiministerien dem noch skeptisch gegenüberstanden. "Gerade deshalb hätte ich es gerne, dass Sie, wenn die Unterhandlungen über die Rechte der Veelas abgeschlossen sind, zurückkehren und den Ausbau des Verbindungsnetzwerkes europäischer Zaubereiministerien beaufsichtigen", sagte Nathalie.

"Gerade was Europa angeht hoffe ich auf interessante Unterredungen mit den Vertretern der Mittelmeerländer", sagte Julius darauf. "Ansonsten hoffe ich doch, dass die gesamte Unterhandlung nur wenige Tage dauert."

"Gut, dann haben Sie meinen Segen, bis zum Ende der Konferenz dabei zu sein und erwarte Ihren Abschlussbericht bei Wiederaufnahme Ihrer üblichen Bürotätigkeit", ordnete Nathalie an. Hera Matine fühlte sich berufen, einzuwenden, dass derartige ministerielle Anordnungen eben nur dort erteilt werden sollten, da sie alle hier ja einen engen Zeitplan hatten, um eben nicht aufzufallen. Nathalie erwiderte darauf: "Es bot sich an und dauerte ja auch nicht lange."

Julius erwähnte nun, was er aus Madrashainorians Erinnerungen über natürliche Zentren der Erdmagie herausgeholt hatte. "Der alte Erdgöttinnentempel auf Malta ist ein Ort, an dem weit vor dem alten Reich ein Brocken Silber mit einem Brocken Orichalk zusammengetroffen sein muss und unter starker Hitzeentfaltung zu einer größeren Menge Mondglanz verschmolzen ist. Mondglanz ist eine Legierung aus neunzehn Teilen Silber und einem Teil Orichalk. Aus einem den alten Erdvertrauten nicht bekannt gewordenen Grund wurde der Brocken so geformt, dass er natürliche Erdmagiestränge wie ein Spiegel aus allen Richtungen kommende Erdmagiestränge umkehren und zurückdrängen kann. Daher verdichtet sich die natürliche Quelle für Erdmagie dort besonders. Laut den Vertrauten gibt es insgesamt acht dieser Quellsteine, die mindestens eintausend Meter unter dem Boden liegen und wegen ihrer Eigenschaft alles darüber liegende Gestein auf beinahe Diamanthärte verstärken, dass es nicht möglich ist, ihn mit nichtmagischen Mitteln auszuheben. Die Erdvertrauten schätzen, dass der Mondglanzbrocken das Gewicht von eintausend erwachsenen Männern haben soll, also zwischen sechzig und hundert Tonnen Standardgewicht. Sie warnen auch davor, den Quellstein von der Erde zu lösen, weil dann alle von ihm umgelenkten Erdmagiestränge wie straffgezogene und dann losgelassene Gummibänder zusammenschnurren und dabei eine Welle von Erdstößen erzeugen können. Daher wurde an diesem und den sieben anderen Orten der Erde nur Aufladungszauberei betrieben. Als sie die magischen Verbindungsstraßen bauten mussten sie diese mindestens dreitausend Meter um die Erdkraftsteine aus Mondglanz herumlenken, um die Verbindungen sicher und dauerhaft zu machen. Mehr kann ich dazu nicht erzählen und tue dies auch nur in diesem Kreis der Eingeweihten."

Alle hier hörten ihm sehr aufmerksam zu. Dann fragte Millie: "Ja, und wie wirkt der Stein auf Erdgebundene wie die Kobolde, Zwerge oder dich?"

"Also die natürlichen Erdstränge werden erst zusammengeknäuelt und dann in ganz andere Richtungen umgeleitet. Deshalb kommen Kobolde auf diesem Weg nicht in die Höhlen hinein. Abgesehen davon können sie ihre Unsichtbarkeit entweder gar nicht einsetzen, weil sie hierfür Kraft aus der Erde ziehen müssen, oder werden nicht nur unsichtbar, sondern auch steinhart, weil sie soviel Kraft in sich reinziehen, dass sie sich nicht mehr bewegen können. Mir wird wohl nur passieren, dass ich meinen antrainierten Sinn für Magnetfelder überreize. Aber dagegen kann ich was machen, indem ich den inneren Zauber "Eisenruhe" wirke, der mich für die Magnetfeldlinien unempfänglich macht. Ich kann vielleicht den Kraftaufladungszauber machen, der mir mehr Ausdauer gibt, aber muss dabei wohl höllisch aufpassen, nicht zu spät abzusetzen, weil die im Boden strömende Magie so stark ist, dass sie wie beim Öffnen eines Dampfventils in mich einschießt. Daher werde ich das lieber lassen, mich dierekt im Tempel aufzuladen, falls das nötig sein sollte."

"Dann hoffen wir, dass Sie nicht von diesem Ort überladen und zerstört werden", sagte Eleonore Delamontagne.

Catherine, die als offizielle Gesamtsprecherin dieser geheimen Vereinigung galt, beschloss die Sitzung und dankte allen Anwesenden für das Erscheinen und die volle Aufmerksamkeit.

Bevor Millie und Julius ihre großen Kinder aus dem Sonnenblumenschloss abholten wollte Béatrice wissen, was bei dem Gespräch alles erwähnt wurde, da sie ja indirekt auch zu den Eingeweihten gehörte, aber eben aus gewissen Gründen nicht in den Stillen Dienst übernommen werden konnte, weil das unangenehme Fragen nach sich gezogen hätte.

"Ich stimme dir zu, dass dir Jophiel nichts verraten wird, was die zwölf Schätze des Nils angeht. Doch hast du nicht erzählt, dass du hunderte von Lebensausschnitten vorangegangener Heilssternträger in das Denkarium ausgelagert hast?" fragte Béatrice. Julius nickte und schlug sich vor die Stirn. "Klar, da waren auch vier Hüter der magischen Abteilung der Bibliothek von Alexandria bei. Könnte sein, dass die schon was von diesen zwölf Schätzen mitbekommen haben. Hmm, ich müsste ganz genau wissen, wessen Erinnerung an was genau ich aufrufen muss, um nicht in dem ganzen Wust verloren zu gehen. Wir drei wissen ja auch, dass Erinnerungen, in die jemand eintaucht, wie das sie erzeugende Erlebnis selbst durchlaufen. Ich kann da nur den Blickwinkel und einen gewissen Abstand zum sichtbaren Urheber jener Erinnerung einnehmen, aber nicht wie bei einem Videofilm vor und zurückspulen oder an einer besonders interessanten Stelle auf Standbild drücken oder was auch immer in vielfacher Zeitverzögerung durchlaufen lassen. Ja, und dann kommt noch was hinzu, nämlich dass ich zwar die Sprache dessen, dessen Erinnerung ich nachbetrachte hören kann, aber ich habe bisher noch nicht mitbekommen, ob ich auch Bücher in fremden Sprachen lesen kann, die in einer erinnerten Bibliothek herumstehen."

"Zum einen könntest du kein Buch aus einem Regal herausnehmen, weil sich ein Bücherregal wie jede feste Wand verhalten würde, da ja nur die Nachbetrachtung oder besser das Nacherleben der bereits geschehenen Ereignisse möglich ist. Aber du könntest, wenn jemand liest, über die Schultern mitlesen oder, wenn der Mensch dir an einem Tisch gegenübersitzen kann, über Kopf mitlesen, sofern der Mensch die geschriebene Sprache verstehen kann. Es würde sich dann in deinem Kopf wie von ihm leise vorgelesen anhören. Abgesehen davon gibt es noch einen mentalmagischen Zauber, der als Alternative zu Bicranius' Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit erfunden wurde, Memoria revocata reptilis, auch als träger Strom der erinnerten Bilder bekannt."

"Hmm, hattenwir in Beaux nicht", meinte Julius. "Wundert mich auch nicht, weil der dazu führt, dass jemand sich stundenlang in Erinnerungen verlieren kann, bei denen eine Sekunde zwischen zwanzig und sechzig Sekunden lang dauern kann, je danach, ob der Anwender sich traut, die erste, zweite oder dritte Stufe dieses Zaubers auszuführen", sagte Béatrice. "Unsere Ausbilderin in Psychomorphologie hat das mal mit einigen von uns gemacht, sie durch eine im hauseigenen Denkarium gelagerte Erinnerung von nur zehn Sekunden kriechen zu lassen, jede Bewegung mehr als fünf Subjektivsekunden lang dauernd. Ja, und du verbrauchst dafür die doppelte bis achtfache Ausdauer, die du in derselben Zeit durch natürliches Erleben verbrauchst. Deshalb wird dieser Zauber auch nur denen beigebracht, die von Berufswegen mit viel zu schnellen Einzelbildfolgen in der eigenen Erinnerung oder der von fremden Wesen suchen müssen. - Ich erwähne das auch nur jetzt, weil ich mir vorstellen kann, dass es mal sehr wichtig sein könnte, die von dir aufgenommenen und wieder ausgelagerten Erinnerungen auf bestimmte Ereignisse zu prüfen. Und natürlich wirst du das auch nur dann tun, wenn sichergestellt ist, dass du während der Sitzung nicht gestört wirst und nach der Sitzung genug Erholungszeit hast, falls du keinen großen Ärger mit mir, Hera und Antoinette Eauvive kriegen möchtest."

"Öhm, was soll dann bitte an diesem Zauber besser als an Bicranius Trank sein?" fragte Millie. "Zum einen, dass der Trank noch mehr Ausdauer kostet als der Zauber, zum zweiten, dass der Zauber hilft, fremde Erinnerungen langsam zu durchleben, ob in einer einvernehmlichen Legilimentiksitzung oder bei einem Denkarium. Bicranius' Trank dient ja vordringlich der Durchforschung und zeitweiligen Verstärkung des eigenen Gedächtnisses.", sagte Béatrice. Das sah Millie ein.

"Gut, ich erkenne, dass es heute auf keinen Fall was damit wird, zumal ich diesen Zauber ja erst mal lernen müsste und der bestimmt nicht auf Anhieb so gelingt wie gehofft. Aber vielleicht gibt es auch andere Möglichkeiten, an das nötige Wissen zu kommen, zum Beispiel fragen, was an diesen zwölf Schätzen so superernst ist, dass es sich lohnt, sich darum zu streiten. Könnte nur sein, dass die Ägypter das unter S0 laufen lassen, um eben keinen drauf zu bringen, danach zu suchen", sagte Julius.

"Weshalb wir ja eben auch Wege an diesen Geheimniswahrern vorbei suchen wollen, falls es mal für euch vom stillen Dienst wichtig ist, mehr darüber zu wissen", stellte Béatrice fest. Millie meinte dann noch: "Ich stelle mir gerade vor, jemand anderes außer mir hätte kailishaias Kleid gefunden, Jahre lang aufbewahrt und dann an wen verloren, der oder besser die nur Unsinn damit anstellt, bis wer drittes kommt, der Diebin eins überbrät und danach das Kleid an sich nimmt. Tja, wem gehört es dann?"

"Genauso verhält es sich wohl mit den von Ladonna geräuberten Gegenständen. Ja, und die Italiener haben erwähnt, dass die auch nicht mehr vollzählig sind, weil die ihnen jemand geklaut hat, kaum dass Ladonnas Blutsiegelzauber erloschen war. Deshalb haben die ja Krach mit den Morgensternbrüdern und vielleicht jetzt mit den ägyptischen Ministeriumszauberern", sagte Julius. Dann erwähnte er, was Catherine über die Macht der einzelnen Stücke berichtet hatte. Dabei bekam er mit, wie Millie und Béatrice einander sehr kurz anblickten und dass Millie wieder dieses Gefühl von aufmerksamer Erregung empfand. Da erkannte Julius, dass was für sie und Hera galt ja auch für seine Schwiegertante und inoffizielle Zweitfrau galt ... und er erstarrte, weil er dachte, dass Béatrice ja noch keine Tochter geboren hatte, aber bereits Mutter war. Als ihm die Folge dieses Gedankens bewusst wurde merkte er, wie Millie und Béatrice ihn ansahen, als hätte er endlich etwas herausgefunden, was für ihn und sie beide sehr, sehr entscheidend sein mochte. Beinahe wollte er Béatrice fragen, ob sie es darauf anlegte und falls ja, ob ihr wer schon vorher erzählt hatte, dass es diese Kette gab. Doch er traute sich nicht, aus Furcht, einen schlafenden Drachen zu kitzeln oder sich total zu blamieren, weil er voll danebenlag. So blickten sie drei sich nur an, mehrere Sekunden lang. Nur Millie fühlte, was in ihm vorging und er fühlte, dass sie innerlich aufatmete. Dann bekam er mit, wie die beiden einander ansahenund in konzentrierter Haltung erstarrten. Als Millie sich wieder regte und auch Béatrice sich entspannte sagte sie: "Ich habe etwas in unser Denkarium eingefüllt, nachdem ich es mit Millie besprochen habe, dass du es erfahren sollst, wenn es dir offenbart werden soll. Wir hoffen beide, dass du deshalb nicht verärgert bist, weil du dich ausgenutzt fühlen könntest."

"Hat dir Ashtaria oder Ammayamiria was von der Kette der Isis erzählt und wo sie zu finden ist, Trice?" stellte Julius nun doch die Frage, die ihm gerade in den Sinn gekommen war. "Ja, Ashtaria", antwortete Béatrice. Die beiden Worte reichten für eine ganze lange Erklärung, fand Julius. "Im Traum?" fragte er. "Im Traum", widerholte Béatrice die Frage als Antwort.

"Darf ich mir den ansehen?" fragte Julius, der nicht wusste, wie er sich gerade fühlen sollte. Millie nickte Béatrice zu und die nickte ihm zu. Dann begleitete sie ihn in die Bibliothek. Dort holte er das Denkarium aus dem Blutsiegelschrank. Da dieser nur auf Millie und ihn eingestimmt war stand fest, dass Millie bereits in dieses Vorhaben eingeweiht und einbezogen worden war.

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Diana Camporosso wusste in dem Moment, dass sie in einen Hinterhalt geraten war, als aus den Nischen des nur scheinbar gemütlichen Salons drei weitere Hexen heraustraten. "Leiste besser keinen Widerstand, Diana. Wir bringen dich in das Hospedale di Lune Piene. Da können sie dir diesen Unglückshelm abmachen, damit Ladonnas letztes Erbe aus der Welt verschwindet", sagte Alice Buonaventura, die ehemalige Statthalterin von Umbrien. Die drei anderen, ihre Basen Lyra, Melina und Agata nickten zustimmend. Sie zielten mit ihren Zauberstäben auf Diana Camporosso. Doch diese sah nur Alice an und sagte: "Ich habe dir ein Angebot gemacht, dass du nicht ablehnen solltest, Schwester Alice. Aber wenn du nicht willst werde ich sehr gerne wieder gehen."

"Nix da, Koboldhalbling", stieß Agata aus und bewegte ihren Zauberstab. Diana kam nicht dazu, ihren Zauberstab freizuziehen. Doch der ihr geltende Schockzauber zerbarst an der unter einem roten Hexenkleid verborgenen Rüstung einer Vollstreckerin. Sogleich entfaltete sich die Kapuze über Dianas Kopf. Ein weiterer Schockzauber prallte mit lautem Knall von ihr ab. Die eingewirkten Schildzauber waren ausgezeichnet. Diana sah, wie drei Flüche zugleich auf sie zurasten und mit lautem Prasseln an ihr zersprühten. Sie fühlte jedoch, wie ihre Rüstung nicht mehr so geschmeidig war. Sie verlor die Schutzkraft.

"Mädels, ich will euch nichts tun, außer dass ihr vergesst, dass ich hhier war und ..." Rums! zwei Schockzauber und ein Fesselzauber krachten gegen sie. Die Stricke glühten funkensprühend und zerfielen zu Staubb. Die zwei Schocker leuchteten als rote flirrende Wand vor ihr auf. Diana hörte, wie alle Türen und Fenster verschlossen wurden. Disapparieren konnte sie nicht. Sie griff nach ihrem Zauberstab. Doch dieser wurde ihr unverzüglich aus der Hand geflucht, weil ihr Schildzauber nicht weit genug von ihr fortreichte, vielleicht deshalb, weil die Rüstung einer Vollstreckerin des Geheimbundes bereits an Kraft verloren hatte. Sie wollte dem Zauberstab nachspringen. Doch da flog dieser von einem leise gezischten "Accio" Agatas zu dieser hin, während die drei anderen ihr weiter mit Schockern Lähm- und Betäubungszaubern zusetzten. Sie wusste, dass sie nur noch wenige Sekunden Bewegungsfreiheit hatte. Sie griff in eine nur auf ihre Hand abgestimmte Außentasche ihres roten Kleides und zog zwei Dinge heraus, einen röhrenförmigen Köcher und einen Bogen. Diese waren in der durch von Kobolden und Zwergen geschätzten Rauminhaltsbezauberung unauffällig mitgekommen. Sie sah, wie Melina ihren Zauberstab anhob und auf Diana zielte. Etwas wie unter hohem Druck stehender weißer Dampf schoss aus dem Zauberstab, hüllte Diana ein. Sie fühlte, wie ihre Rüstung wild erzitterte und sah Funken von ihr fortsprühen. Durch hundertfache Übung bekam sie mit ihrer fleischfarben behandschuhten Hand einen der hundert Pfeile freigezogen. "Expelliarmus!" rief Agata. Der scharlachrote Entwaffnungszauber fauchte auf Diana zu und traf den silbernen Jagdbogen. Laut pfeifend und knisternde Funken sprühend prallte der Zauber als Querschläger ab und schlug laut krachend in das viersitzige Ledersofa ein. Schwarzer Qualm stieg aus der getroffenen Stelle auf. Dann hatte Diana die Bogensehne weit genug ausgezogen, um den gerade bereitgehaltenen Pfeil aufzulegen. Die vier Hexen sprangen sofort in verschiedene Richtungen davon, damit sie bloß kein Ziel boten. Nur Melina, die immer noch ihren weißen Einkapselungsdunst auf Diana schleuderte stand günstig. Sie musste sie ja nicht voll treffen. Diana gab die gespannte Sehne frei. Mit einem kaum hörbaren Twitschen und einem fast unhörbaren Schwirren flog der Pfeil von der Sehne und traf keine Sekunde später den rechten Oberarm Melinas. Diese zuckte zusammen wie von einem Blitz getroffen. Der Zauberstabarm schlackerte. Der Zauberstab entfiel der plötzlich schlaffen Hand. Der Arm sackte nach unten. Dann krümmte sich Melina wie unter heftigen Schmerzen zusammen, schwankte und fiel um. Noch einmal zuckte ihr Körper. Dann rührte sie sich nicht mehr. Diana hatte da bereits den zweiten Pfeil aufgelegt, zog die Sehne weit genug aus und jagte das tödliche Geschoss in Richtung Alice. Der Pfeil traf diese an der linken Brust und wirkte noch verheerender als bei Melina. Denn Alice fiel ohne weitere Zuckung und ohne letztes Aufbäumen um und blieb liegen. Der Pfeil hatte sie zu nahe am Herzen getroffen, um ihr noch eine einzige Sekunde Lebenszeit zu lassen. Von dieser für die zwei verbliebenen Hexen so erschreckenden Wirkung gelähmt mussten diese hinnehmen, wie Diana einen dritten und einen vierten Pfeil abschoss. Weil sie diesmal besser zielen konnte traf sie gleich so, dass die Wirkung unverzüglich eintrat. Agata und Lyra mussten nicht leiden. Sie fielen um wie leere Pappbecher im Wind. Keine der vier regte sich mehr.

Diana sah auf ihr Todeswerk. Sie hatte das nicht gewollt. Doch es hatte sein müssen. Sie durfte nicht in die Fänge der italienischen Heilerzunft geraten. Selbst wenn sie es geschafft hätten, ihr Deeplooks Helm abzulösen hätten sie sie danach in Gewahrsam genommen. Doch sie wollte frei sein, das große Werk fortsetzen, Ladonnas Traum vom Reich der Hexen und ihren Traum vom Königreich der Kobolde wahrmachen. Dafür hatte sie jetzt töten müssen. Dafür würde sie wohl auch noch häufiger töten müssen. "Na, doch ein zartes Halblingsmädchen, wie?" hörte sie Deeplooks spöttische Gedankenstimme. "Ruhe da drinnen", dachte Diana verärgert. Das reichte. Deeplook würde erst wieder was äußern können, wenn sie ihm das erlaubte oder eine Frage dachte, die er beantworten konnte und deshalb auch beantworten musste.

Diana fühlte, wie die Kapuze der Vollstreckerinnenrüstung sich wieder zurückfaltete und unter ihrem Kleid verschwand. Die auf Gefahrensituation oder Kampfesgefühle eingestimmte Rüstung erkannte, dass es hier gerade nichts mehr zu bekämpfen gab.

Diana Camporosso ging nun mit erhobenem Kopf auf die vier toten Gegnerinnen zu. Anders als die unselige vaterlose Tochter würden die nicht noch einmal aufstehen, wenn sie die Pfeile aus den Körpern zog. Dennoch verharrte Diana gerade bei der ersten von ihr getroffenen, ob diese sich nicht doch noch einmal regte. Aber sie blieb reglos liegen. Sie steckte den Pfeil in den Köcher zurück, genau darauf achtend, welcher es war. Dann zog sie auch die anderen Pfeile aus den Toten und steckte diese fort. Die Pfeile musste sie in ihrem Versteck eine Woche lang so auslegen, dass sie immer vom Licht der Gestirne getroffen wurden. Gut, dass sie noch ihr kleines Gartenhaus hatte.

Als sie die Pfeile und den Bogen wieder fortgesteckt hatte überlegte sie, ob sie die vier Leichen verbrennen oder einfach hier liegen lassen wollte. Doch dann fiel ihr was ein, dass Eindruck machen würde. Sie würde diese vier offen auslegen, damit die anderen Schwestern erfuhren, was denen blühte, die sich der Rosenkönigin und ihrer Erbin widersetzten. Ja, dieses Exempel würde sie statuieren.

Sie zog aus einer anderen Tasche ihres bezauberten Kleides eine Drachenhautlederscheide und daraus den Obsidiandolch, mit dem sie Giovanetta, Angelina und Isadora in ihre kleine, aber bald sehr schlagkräftige Schwesternschaft eingeschworen hatte. Damit ritzte sie jeder von ihnen ihr neues Zeichen, eine sich vierfach windende Schlange, die ein geschlossenes Oval umschlang. Die Schlange wirkte wie zwei untereinander geschriebene und miteinander verbundene S. Das war ihr neues Zeichen für die Sorores Saxorum. Dann wendete sie einen Verwandlungszauber für totes zu totem an und machte aus den vier Leichen kindlich harmlos wirkende Holzpuppen. So konnte sie die vier in eine der rauminhaltsvergrößerten Taschen stecken. Dann besah sie sich den Kampfort und erkannte, dass das Sofa durch den Querschläger beinahe in Flammen aufgegangen wäre. Sie ließ es mit einem Reparozauber wieder wie neu aussehen. Sie sammelte die Zauberstäbe der anderen ein und öffnete die versperrte Tür mit einem Entsperrungsstift aus dem Ausrüstungsschatz des Koboldgeheimbundes. So entkam sie dem Haus von Alice Buonaventura. Die Unortbarkeitsbezauberung ihrer Rüstung würde jede mögliche Rückschau verderben.

Weit genug vom Haus entfernt konnte sie disapparieren.

Kurz vor Mitternacht erschien sie im Schutze der verstärkten Unsichtbarkeit auf dem Gipfel des Brenners, der Süd- und Nordtirol voneinander trennt. Dort legte sie Alices wieder zurückverwandelten Leichnam ab. Eine Minute später tat sie dies mit Melinas Leiche am östlichsten Punkt Italiens unmittelbar an der Grenze zum südslawischen Staat Slowenien. Wieder eine Minute später legte sie Agatas Leiche am brodelnden Krater des Vesuvs ab. Dann, nur eine Minute vor Mitternacht, platzierte sie Lyras Leiche vor der Gipfelhütte des Monte Bianco, der bei den Franzosen Mont Blanc hieß. Hier war vor wenigen Monaten noch einer der geheimen Tempel der Blutgötzin, dachte sie. Dann kehrte sie in ihr gesichertes Versteck zurück. Deeplook schwieg in all der Zeit.

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Die Wächterin am Fluss der Rastlosen fühlte die Tode jener, die einst Ladonna gedient hatten. Doch sie besaß keinen Bezug mehr zu ihren Standorten. Sie erkannte jedoch, dass es jene getan hatte, der Ladonna aus reiner Verwegenheit und Machtbetrunkenheit den gläsernen Helm Deeplooks aufgesetzt hatte. Doch eben dieser machte sie für geistige Suchzauber und für viele Ortungszauber unaufspürbar. Selbst sie, die die Kraft von drei magischen Frauen in sich trug und durch diese Verschmelzung neunmal so stark war wie eine einzelne Hexe konnte diesen Unauffindbarkeitszauber nicht durchdringen. Denn sonst hätte sie Diana Camporosso bereits bei ihrer eigenen Werdung den Funken der Reinigung zugesandt, mit dessen Hilfe sie jede von Ladonna unterworfene Kreatur von ihrem Einfluss befreit hatte. Irh war bewusst, dass Ladonnas dunkles Vermächtnis weiterwirkte, dass es womöglich noch viel mehr Leid und Tod verursachen würde als die Wächterin gehofft hatte. Sie bereute es, dass Ladonna, die in ihr aufgegangen war, diesen irrsinnigen Einfall gehabt hatte, Diana diesen verwünschten Helm aufzusetzen. Sicher, Diana war durch Ladonnas Zauber mit dem Griffel des ewigen Schreibers vor Deeplooks Zugriff sicher. Doch das hieß nicht, dass sie deshalb friedvoll und menschenfreundlich war. Nein, vielmehr konnte Diana sich als die wahre und einzige Erbin Ladonnas empfinden und da weitermachen, wo die zwei entschlossenen Hexen, die eine gemeinsame Tochter gezeugt hatten, Ladonnas Weg beendet hatten. Und solange sie Diana nicht räumlich erfassen konnte, solange war sie, eine mächtige Wesenheit, zur Hilflosigkeit verdammt. War das der Preis für allen Hochmut, den die in ihr aufgegangenen drei Seelen geäußert hatten?

Sie blickte hinunter in die scheinbar viele hundert Längen tiefe Schlucht, an deren Grund ein viele Meilen breiter Strom dahineilte, aus dessen schimmernden Wellen immer wieder durchsichtige Gesichter herausblickten, Gesichter voller Schmerz, Wut und Reue. So sahen jene aus, die wirklich leiden mussten, für immer und ewig gefangen im unendlich eilenden Strom der rastlosen Seelen, die es wegen ihres Lebens nicht verdient hatten, in Mokushas behütenden Schoß zurückzukehren. Sie hatte es auch nicht verdient, dort ewigen Frieden und Freude an der Gesellschaft der friedvoll heimgekerhten Seelen zu finden. Sie musste hier wachen, damit keine der dort unten für immer und ewig verdammten Seelen aus dem Fluss entstieg, weil eine Tochter Mokushas einen großen Frevel am Erbe der Urmutter begangen hatte wie es Euphrosyne Lundi getan hatte und dafür fast die Seele Sturmhaars in den heranreifenden Leib ihrer Tochter hätte aufnehmen müssen. Sturmhaar, auch die Königin der tausend Tränen, hatte fünfhundert Jahre vor Domenicas Geburt einen Feldzug gegen all die Menschen geführt, die es wagten, die Kinder Mokushas zu schmähen und zu demütigen.

Die Wächterin lauschte. In ihrem Zustand und an diesem Ort außerhalb der Welt der Lebenden konnte sie das Rauschen der rastlos flüsternden Seelen hören. Wenn sie sich darauf einstimmte konnte sie jene hören, die nach Reginas vorzeitigem Tod hier eingekehrt waren. Doch dann vernahm sie auch Sturmhaars am Rande des Irrsinns kichernde Stimme und hörte sie sagen: "Der Tag meiner Wiederkehr ist nicht fern. Du hast ihn nicht verhindert, Regina Montefiori!"

"Mokusha will, dass du bleibst wo du bist, Sturmhaar!" rief die Wächterin hinunter, froh, dass sie damals, wo nur Regina Montefiori in ihr wirkte, die nötige Kraft gehabt hatte, Sturmhaar lange genug aufzuhalten, um nicht doch in Euphrosynes Tochter einzufahren und als diese neu aufzuwachsen. Erst als diese dem Mutterleib entschlüpft war und ihre ersten eigenen Atemzüge tat hatte Sturmhaars beharrliches Drängen aufgehört und sie war in die Fluten der abertausend anderen rastlosen Seelen zurückgefallen. Wer würde als nächstes zu entsteigen trachten? Sie würde bereit sein, ihn oder sie aufzuhalten.

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Er war gespannt, was er zu sehen bekommen würde. Als er seiner Schwiegertante, Zweitfrau oder offiziell von Millie genehmigten Geliebten Béatrice zusah, wie sie mit ihrem Zauberstab in der silberweißen, weder gasförmigen noch flüssigen Essenz unzähliger Erinnerungen und Träume rührte fragte er sich nur, ob er sich nicht doch benutzt fühlen sollte, nicht von Millie oder Béatrice, sondern von Ashtaria oder Ammayamiria. Dann dachte er, wie selbstentwertend er dachte. Er hätte nicht mit Béatrice schlafen müssen, nachdem sie Félix geboren hatte. Weder Ashtaria noch Ammayamiria hatten ihn dazu gedrängt. Doch nun würde er wohl erfahren, warum sich Béatrice darauf eingelassen hatte, ein zweites Kind von ihm zu bekommen und warum Millie, die bis dahin ihren Anspruch bekundet hatte, dass nur sie seine Kinder gebären sollte, nicht im Mindesten Eifersüchtig war.

Als statt des silberweißen Lichtes ein Stück grünes Land im kreisrunden Steinbecken des Denkariums erschien und Julius die entweder winzige oder scheinbar weit unter ihm dahinwandernde Gestalt sah wusste er, dass Béatrice die gesuchte Erinnerung hervorgerufen hatte. "Du kennst das ja, Julius, tauch ein und erfahre alles, was nötig ist. Wir reden dann später, wenn es vorbei ist", sagte Béatrice. Millie holte derweil einen auf Briefumschlagsgröße zusammengefalteten Sessel aus ihrer ihrer Rocktasche und entfaltete ihn. Béatrice lächelte sie an und winkte dann Julius, in die hervorgehobene Erinnerung einzutauchen.

Wie oft hatte er das schon erlebt? Oft genug, um es für fast alltäglich zu halten. Erst meinte er, in einen tiefschwarzen Schacht hinabzustürzen, fast wie am Ende eines Albtraumes. Dann fand er sich mit beiden Füßen auf grünem Gras stehend. Er hörte in nicht all zu großer Ferne das Plätschern eines eiligen Baches oder Flusses. Hier war gerade sonniger Mittag.

Als er sich umblickte erkannte er grüne Hügel und eben jenen dahineilenden, doch mehr als zwanzig Meter breiten Fluss. An diesem entlang ging eine Frau im fliederfarbenen Nachthemd. Das schulterlange, rotblonde Haar wehte bei jedem ihrer Schritte. Da er in eine von Béatrice ausgelagerte Erinnerung eingetaucht war war sie diese Frau. Julius wusste, dass er ihr folgen musste, um sie nicht aus der Sicht zu verlieren. Das würde ihn unverzüglich aus der gerade ablaufenden Erinnerung hinauswerfen.

Sie anzusprechen wäre sinnlos, wusste Julius. Er konnte nur beobachten. Also verfolgte und beobachtete er Béatrice. Doch zunächst ging diese nur einen grünen Hügel hinauf, wobei sie ein Lied sang. Er kannte das Lied. Es war ein altfranzösisches Wiegenlied, dass sie bereits für Félix gesungen hatte und von dem er mittlerweile wusste, dass sie es von ihrer Mutter gelernt hatte.

Plötzlich krachte ein greller Blitz aus heitterem Himmel herunter und spaltete den grünen Hügel in mehr als zehn brennende Stücke. Ein unheimlich lauter Donnerschlag begleitete den feurigen Einschlag. Wie apportiert hingen ohne langes Vorspiel pechschwarze Wolken am Himmel und schluckten alles Sonnenlicht. Die brennenden Bruchstücke des Hügels rutschten zu Boden und entzündeten das nun dunkel wirkende Gras. Dann sah Julius, was unter dem Hügel gelegen hatte. Vor Béatrice und ihm brannten die Mauern eines Schlosses. Er hörte laute Schmerzensschreie. Unzählige Menschen versuchten sich qualmend und bereits brennend ins Freie zu retten. Béatrice schrie laut auf. Julius erkannte warum. Da torkelten Ursuline und ihre vier jüngsten Kinder aus den lodernden Trümmern hervor. Sie schrien vor Schmerzen. Wie lebende Fackeln brannten ihre Körper. Béatrice sprang vor und zielte mit ihrem Zauberstab auf die dem Feuertod geweihten Verwandten. Mit armdicken Wasserstrahlen kämpfte sie die züngelnde Lohe nieder. Tatsächlich schaffte sie es, jede kleinste Flamme von den Körpern ihrer Mutter, ihres Stiefvaters und ihrer Halbgeschwister zu löschen. Doch die sechs sahen übel zugerichtet aus. Ja, und da kamen weitere Bewohner des Schlosses heraus, Schulkameraden von Béatrice, die er bei ihren beiden letzten Geburtstagsfeiern getroffen hatte. Sie stürzten vom Schmerz und von der Hitze entkräftet und fielen in die glühenden und flammenden Trümmer. Bei zweien schaffte sie es noch, das an ihnen fressende Feuer zu löschen. Doch sie würden es nicht lange überleben, wusste wohl auch Béatrice. Denn sie ließ den Zauberstabarm sinken. Dann riss sie ihn wieder hoch und ging daran, die Körper ihrer vor Schmerzen schreienden Verwandten mit dem Conservacorpus-Zauber zu sichern. Sie musste die sechs doch retten. Das war ihre Pflicht als familieneigene Heilerin. Julius versuchte, ihr zu helfen. Doch aus seinem Zauberstab kam weder der eisblaue Brandlöschzauber noch ein Tropfen linderndes Löschwasser. Natürlich konnte er das hier nicht aufhalten, niemandem helfen. So konnte er nur zusehen, wie Béatrice erst ihre Halbgeschwister und dann ihre Mutter mit dem Conservacorpus-Zauber belegte. Doch als sie ihre Mutter damit für weitere Behandlungen in der Delourdesklinik sichern wollte stieß Ursuline den letzten gequälten Atemzug aus. "Ich habe dich immer geliebt, meine kleine Trice!" hörten sie und Julius die wie geisterhaft hallenden Worte in der Ferne verschwinden. Dann zerbarst Ursulines Körper und wurde zu weißem Staub. Das war die Wirkung, wenn der Körperbewahrungszauber auf einen Leichnam angewendet wurde. Dann wurde aus dem Bewahrungs- ein Sofortzerstörungszauber. Béatrice blickte auf die schrecklich zugerichteten, durch ihren Zauber wie mit dünnem Glas überzogen wirkenden Verwandten und weinte bitterlich. Ihre Tränen vermischten sich mit dem unvermittelt einsetzenden Wolkenbruch. Kübelweise stürzte das Wasser vom Himmel. Zischend schrumpften die bis dahin unaufhaltsam scheinenden Flammen, bis sie fauchend und dampfend verloschen. Zurückblieb ein gewaltiger Trümmerhaufen, das einstige Château Tournesol.

Béatrice kniete vor der Stelle, wo der Leichnam ihrer Mutter zu Staub zerfallen war. Der weiße Staub war längst vom niederstürzenden Regen fortgeschwemmt. Doch am Boden war immer noch der Eindruck zu sehen, wo Ursulines Körper gelegen hatte.

Weitere Blitze schossen grell und von lautem Getöse begleitet nieder und schlugen tiefe, qualmende Spalten in den Boden. Béatrice erkannte, dass die bereits gebildete Wasserfläche für sie tödlich sein würde, wenn einer der Blitze in ihrer unmittelbaren Nähe niederfuhr. Zumindest ging Julius davon aus, weil Béatrice total durchnässt aufsprang und versuchte, den Notrufzauber zu wirken. Doch sobald die nach "Evoco Medicum!" aus ihrem Zauberstab sausende Lichtschnur in die Regenfluten geriet zerfaserte sie und verpuffte. Julius hatte nicht gehört, dass der Notrufzauber auf diese Weise zu unterbrechen war. Er wusste nur, dass er ausschließlich unter freiem Himmel seine volle Wirkung entfaltete. womöglich waren die sich über diesem Ort des Grauens und der Zerstörung ballenden Wolken genauso undurchdringlich wie eine feste Decke aus Stein oder Holz. Jedenfalls konnte Béatrice keine Hilfe herbeirufen. Dann kam ihr wohl die Idee, sich und die fünf noch verbliebenen Verwandten schweben zu lassen. Ja, das gelang, bis eine starke Windböe heranfauchte, einen dichten Vorhang aus Regenwasser vor sich hertrieb und dann die frei schwebenden Körper auseinandertrieb. Béatrice versuchte, sie durch den Heranholzauber "Corpus indicatum attractum sit!" zu sich zurückzuholen. Doch sie konnte nur einen Körper zur Zeit auf diese Weise bändigen und zurückholen. Außerdem folgte der ersten Böe eine zweite, länger anhaltende, wesentlich stärkere. Sie selbst verlor die Kontrolle über ihre Flugbahn. Denn sie konnte ja nicht jenen Freiflugzauber, den Julius von Garoshan erlernt hatte. Alles sah danach aus, als wenn Béatrice ihre ganze Verwandtschaft auf einen Schlag verlieren sollte. Noch kämpfte sie gegen die ihr zusetzenden Elementarkräfte an. Sie apportierte einen Flugbesen und saß auf. Doch kaum war sie fünf Meter aufgestiegen zerbrach das Fluggerät in hundert Holzsplitter. Béatrice fiel schreiend zu Boden. In dem Moment ereilte sie das gefürchtete Verhängnis.

Mit einem die ganze Welt in Stücke sprengenden Knall und einem Licht wie eine Supernova in unmittelbarer Nähe schlug ein Blitz auf den Boden. Julius hörte nur diesen einen, lang nachhallenden Donnerschlag. So ähnlich musste sich eine unmittelbar beobachtete Atombombenexplosion anhören, dachte er, während er in einem weißen Licht schwebte. Dann sah er Béatrices Körper vor sich. Sie war halb durchsichtig wie Milchglas und leuchtete in einem heidekrautfarbenen Lila gegen das den ganzen Raum ausfüllende Weiß an. Als er an sich selbst herunterblickte sah er, dass er ebenfalls halbdurchsichtig war und aus sich heraus im satten Grün leuchtete, dass er seit seiner Zeit als Madrashainorian als die von Madrashmironda aufgeprägte Farbe seiner Lebensaura kannte. Dann hörte er die Stimme, die sein Leben bestimmt hatte. Sie klang hallend und majestätisch wie eine mittelgroße Kirchenglocke. "Béatrice, Tochter der Ursuline, Tochter der Barbara, sorge dich nicht um das Leben der von dir geliebten. Denn du stehst unter meinem Schutz, nachdem du mir geholfen hast, die Gemeinschaft der sieben wiederzuerwecken. In dir fließt noch ein Teil vom Blute des Sohnes meines jüngsten Sohnes. Daher kann ich zu dir sprechen.

Die Zeit der alten Vermächtnisse, die der Dunkelheit und die des Lichtes, schreitet weiter voran. Nachdem jene, die euch in den letzten Jahren Angst und Sorge bereitet hat ihre endgültige Bestimmung fand trachten ihre Erben und jene, die von ihrem dunklen Hort angelockt wurden danach, sich die Schätze großer und weiser Meisterinnen und Meister anzueignen. Doch bevor ich dir zeige, was ich für dich selbst bereithalten möchte, beantworte mir ehrlich und aus tiefster Seele eine Frage: Liebst du Julius Latierre, auch wenn du ihn mit einer deiner Schwestertöchter teilen musst?" Stille trat ein. Das weiße Licht wirkte nicht blendend, sondern wie ein Meer aus millionen ferner Lichter, eine Galaxis mit aberbillionen Sternen. Dann sagte Béatrice mit einer nicht minder weit hallenden, glockenreinen Stimme: "Ja, ich liebe Julius. Ich liebte ihn schon, als wir Orions frechen Zauber aus meinem Elternhaus austrieben. Ich wollte ihn, doch wollte ich ihn nicht bedrängen und wollte auch nicht, dass er meinetwegen Schwierigkeiten bekommt. Auch hielten mich die Heilerregeln davon ab, offen um ihn zu werben. Doch ich liebe ihn und ja, ich bin froh, dass er und Millie ein erfülltes Leben miteinander haben. Ich bin froh und dankbar, daran teilzuhaben und dass ich ihm und ihr helfen durfte, ihren Frieden zu bewahren. Ich liebe Julius Latierre!!" Ihre letzten vier Worte wurden von weit entfernten Wänden und einer wörtlich himmelhoch über ihnen beiden hängenden Decke zurückgeworfen und brachen sich hundertfach und erhaben in der weißen Unendlichkeit. Julius fragte sich, ob Béatrice ihm da nicht einen netten Aprilscherz ins Denkarium gelegt hatte. Sicher, dass sie ihn liebte ließ sie ihn immer wieder fühlen, wenn er sie ansah, wenn sie ihn umarmte, wenn sie ihn in ihren Körper einließ, um mit ihm zu den Gipfeln der Lust hinaufzufliegen. Doch dass Ashtaria ihr einen Traum geschickt haben mochte, in dem diese sie fragte, ob sie ihn aufrichtig liebte ...

Julius schrie auf und meinte, selbst in einem Besenschrank mit Wolldecken zu stecken. Unvermittelt fanden er und Béatrice sich im freien Fall durch ein Meer aus dunkelrotem Licht. Er hörte ein gleichmäßiges Pochen, das aus allen Richtungen zugleich kam und immer lauter wurde. Dann sah er einen goldenen Lichtpunkt wie eine ferne Sonne, nur nicht über, sondern unter sich. Die Sonne wurde größer und heller. Dann, als er meinte, gleich geblendet und verbrannt werden zu müssen, fanden er und Béatrice sich in einem steinernen Saal wieder. Männer in langen Gewändern ordneten mit behandschuhten Händen große Gefäße mit je zwei Henkeln oder stapelten hölzerne Rollen in gezimmerte Regale.

"Wo soll das Buch hin, Meister Uschanaguran?" rief die Stimme eines jungen Mannes. Julius erschauerte, als er die Stimme des Antwortenden erkannte. "Das ist die Schrift von Amenophes Meket, richtig. Das Buch der zwölf Schätze des Nils. Das muss in die Halle der Unvergänglichkeit. von diesem Werk gibt es nur vier Ausführungen. Wo die anderen drei sind suchen deine Arbeitsgenossen noch."

Julius konnte nun den Mann sehen, zu dem die Stimme gehörte. Ja, das war Uschanaguran, ein Träger des Heilssterns, den Julius über viele Generationen und das Erlöschen der alten Blutlinie hinweg geerbt hatte. Das war einer der Hüter der legendären Bibliothek von Alexandria. Dann sah er die Amphore, die der Junge gerade von einem tragegestell herunterhob. Sie schimmerte wie pures Gold und trug mehrere eingravierte Schriftzeichen, womöglich Hieroglyphen. Doch dann erkannte er sogar griechische Buchstaben. Natürlich, Alexandria war ja vom Makedonenherrscher Alexander, den man den Großen nannte, erbaut worden. "Secretum duodecis Thesaurorum Nili", hörte er auf einmal Béatrices Stimme wie aus allen Richtungen und verstand auch, was sie sagte: "Das geheimnis der zwölf Schätze des Nils. Also bis vor wenigen Stunden hatte er diesen Begriff wohl nur im tiefsten Unterbewusstsein abgespeichert. Hatte Béatrice ihn schon länger gekannt? Aber woher kannte sie Uschanaguran? Natürlich, aus seinen Denkariumsauslagerungen von der Aktivierung des siebten Heilssterns. Aber dass der mal die Bibliothek von ... Ui, fast hätte er den Anschluss verpasst. Er sollte aufhören zu grübeln. Was immer Béatrice nun geträumt hatte musste er in ganzer Länge mitbekommen, sonst musste er noch einmal von vorne anfangen.

Julius hielt sich auf derselben Höhe wie Béatrice. Der grauhaarige Hüter Uschanaguran und ein junger für einen Bücherwart sehr athletisch gebauter Mann mit tiefschwarzem, schulterlangen Haar trugen die Amphore aus Gold zwischen sich. Es ging durch einen dicken Vorhang in einen von Fackeln erleuchteten Gang. Dieser endete an einer massiven Steintür. Uschanaguran nahm den Zauberstab, den Julius in der Rückschau aller vorangegangenen Heilssternträger mal gesehen hatte und murmelte Zauberformeln oder auch nur eine Reihe von festgelegten Passwörtern, wobei er die in das steinerne Türblatt eingeritzten Hieroglyphen mit dem Stab berührte. Ein grünes T aus Licht flammte über die halbe Höhe des Türblattes auf. Nein, kein T, ein Anch, das Symbol des Lebens, wenn er sich da nicht voll vertat. Die Tür ruckte und schabte langsam und unaufhaltsam nach außen. Ihre Innenseite spiegelte das Licht der Fackeln wie pures, blitzblank poliertes Gold. "Sei erleuchtet, Kammer der Unvergänglichkeit!" hörte Julius Uschanagurans Stimme und verstand jetzt auch, was sie sagte. Er sah noch, wie die Wände erst golden spiegelten und dann im satten Dotterblumengelb aus sich heraus leuchteten. Der Boden war jedoch schwarz und glatt, glattgefeiltes und poliertes Obsidian. Der Raum, ja der Saal, mochte an die hundert mal hundert Meter in der Fläche und zwanzig Meter in der Höhe messen. An den Wänden zogen sich Regale, die wie pures Gold glänzten. Auch durch den ganzen Saal zogen sich Reihen meterhoher Regale wie aus Gold. Das konnte doch nicht echt alles pures Gold sein, dachte Julius und musste schnell weitergehen, weil sich die steinerne Tür laut schabend zu schließen begann. "Öhm, wie gelangen wir wieder ins Freie, Meister Uschanaguran?" fragte der junge Gehilfe des Hüters der Schriften und Kunstwerke der magischen Welt.

"Wenn du musst und damit drohst, in den Raum zu wässern oder zu koten wird der Saal dich freiwillig freigeben", sagte Uschanaguran. Julius versuchte aus dieser Antwort den Anflug von Scherz herauszuhören. Doch es gelang ihm nicht. Auch Béatrice wirkte nun, wo sie wieder so aussah wie zu Beginn, als könne sie das gerade gehörte nicht fassen.

"Wo soll bitte die Amphore hingestellt werden?" fragte der Jüngling. "Willst du nicht erst nachsehen, ob das Buch vollständig ist, Anchises?" stellte Ushanaguran eine Gegenfrage.

"Oh, Ihr erlaubt es mir, Meister Uschanaguran?"

"Wenn sich die Amphore von dir öffnen lässt darfst du auch lesen, was sie enthält", sagte der Meister und wirkte wieder so, als meine er das völlig ernst. Er zog etwas aus seinem Gewand hervor. Das war Uschanagurans Sehilfe, die er selbst in der Rückschau vorangegangener Träger seines Heilssterns gesehen hatte. Allerdings war das Wissen um diese erste echte Brille mit magischen Besonderheiten irgendwo im Sand der Zeit versunken, so dass es einem viel späteren Jahrhundert überlassen blieb, erst Lesesteine, dann Monokel, Zwicker und dann Bügelbrillen in Massen hervorzubringen.

Jedenfalls hielt der Meister seinem offenbaren Lehrling Anchises das Sehwerkzeug hin. "Kann sein, dass der alte Amenophes mit etwas ähnlichem wie dem hier vor den Augen geschriebenund die Schrift gerade mal so klein gemacht hat, dass nur wer mit den Gläsern des scharfen Blickes sie erkennen und deuten kann. Aber mach erst mal den Deckel von der Amphore auf! Augenblick! Stell sie nicht auf den Boden, sondern da in das Steinbecken! Ja, so ist es gut", wies ihn der Meister an. Dann versuchte Anchises den Deckel zu drehen. Doch der war wie festgeschweißt. "Du musst die Handhüllen ablegen und dem Gold dein reines Fleisch aufdrücken", sagte Uschanaguran. Der Junge, oder vielleicht gerade so alt wie Julius selbst, legte die Schutzhandschuhe ab und berührte den Deckel der Amphore.

Béatrice und Julius schraken gleichermaßen zusammen, als aus dem Rand des Deckels spitze, goldene Stacheln oder Fangzähne hervorschnellten und sich blitzartig in die rechte und die linke Hand des Lehrlings gruben. Dieser zuckte zurück, versuchte seine Hände zu lösen. Doch Uschanaguran rief: "Nicht wehren! Also stimmt es, was ich las. Keine Angst, Anchises, mein Junge!"

"Nicht mehr knab und noch nicht mann,
will an mein geborgenes ran.
Jünglings unverdorb'nes Blut,
sei belohnt für deinen Mut!" drang eine metallisch klingende Stimme aus dem inneren der Amphore. Gleichzeitig leuchteten die eingravierten Schriftzeichen im blutroten Licht. Anchises' bloße Hände zuckten wie unter wiederkehrenden Schmerzen. Dann schnellten die goldenen Stacheln, Klingen oder Zähne in den Deckel zurück. Für einen Moment konnte Julius eine Öffnung sehen, die wie ein Mund aussah. Dann schloss sich diese wieder. Dafür begann sich der Deckel zu drehen.

Anchises riss die bluttriefenden Hände zurück. Sofort war sein Lehrmeister bei ihm und überstrich die verletzungen mit einem warmen, rosaroten Licht. Unverzüglich verschwanden die tiefen Wunden in den Handinnenflächen. Die letzten Tropfen Blut fielen in das steinerne Becken hinein. "Ui, beinahe hättest du den Boden dieser Kammer besudelt. Das hätte dem wachenden Geist dieses Ortes nicht behagt."

"Wieso habt ihr mich nicht vorgewarnt, Meister Uschanaguran?" fragte Anchises mit unüberhörbarem Tadel. "Weil du dich der Prüfung ungewarnt stellen musstest. Amenophes verabscheute altkluge Halbgreise wie mich. Daher hat er viele seiner Amphoren mit dem Schloss des unschuldigen Blutes versehen. Traut sich ein unberührter Jüngling wie du, es zu versuchen, und sein Blut mundet ihm, öffnet es sich und den Behälter, in den es eingewirkt wurde." Wie zur bestätigung sprang der Amphorendeckel mit einem satten, metallisch nachhallenden Plopp aus dem zweihenkligen Behälter, schwebte zur Seite und fiel dann klirrend auf den blanken Obsidianboden, ohne diesen zu beschädigen oder selbst angekratzt zu werden.

"Ich wähnte mich schon von einer eingesperrten Ausgeburt Akashas angefallen und all meines Blutes beraubt", zischte Anchises. "Na, nicht wehleidig sein, wo die Amphore doch gerade deinen Mut geschmeckt und für gut befunden hat", erwiderte der Meister, diesmal eindeutig erheitert klingend.

"Die amphore ist nicht besudelt. Die hat echt alles von mir abgesaugte Blut geschluckt", stellte der Jüngling fest. Dann sah er, was der blutsaugende Behälter bereithielt.

Es waren Papyri, die zu einer kompakten Schriftrolle zusammengedreht waren. Der Lehrjunge Uschanagurans nahm das äußerste Blatt heraus und starrte auf die Schriftzeichen. "Sehgläser?" fragte der Meister. Anchises nahm die Urmutter aller modernen Brillen entgegen und setzte sie auf. Dann las er was auf dem Papyrus stand.

"Ich, Amenophes Meket, Hochmeister des alten Wissens und der zwanzig Schriften, zog vor zehn Nilfluten aus, um zu ergründen, was an den überlieferten Geschichten ist, die von zwölf machtvoll wie kunstvoll geschaffenen Schätzen der alten Zeiten künden. Mir war bekannt, dass es Schriften gibt, in denen sie beschrieben werden und Männer mit dem Segen der hohen Mächte, die über die Schöpfer und Fundstätten Kenntnis haben. Mir war jedoch auch bewusst, dass ich mich auf gefährliche Pfade begebe, die von Ungeheuern der Apep gleich gesäumt sein mochten oder von Todesqualen wie der Feuersee in der Mitte der Totenwelt. Ja, womöglich mochte meine Seele da selbst in jenes Reich einkehren, aus dem heraus bisher keine Kunde drang und es dem Wunschdenken und den gesehenen Wundern der Menschen oblag, sich die dortigen Gegebenheiten auszudenken.

Ich, Amenophes Meket, dritter Sohn des Tuth Ramses von Abydos, will nun alles beschreiben, was ich auf meinem Wege durch fünf Sonnenkreise und auf Spuren, die von vielen Zeitaltern in das Gewebe der Ewigkeit getreten wurden wandelte, bis ich eine vollständige Übersicht über die wahren und erdichteten Berichte über die zwölf Schätze des Nils erstellen konnte. Jüngling, der die Amphore dieser Kenntnis mit mutig gegebenem Blute geöffnet hat, beweise zum Mute auch Geduld und Standhaftigkeit, um zu lesen, was ich niederschrieb. Denn dein wird das Los sein, deinen Erben davon zu künden oder es einem würdigen Nachfolger zu überantworten, der da einst wie du noch unberührt an mein Wissen rühren möchte."

Julius meinte nun nicht mehr in jener goldenen Halle mit Obsidianboden zu sein und Anchises' junge Vorleserstimme zu hören, sondern das alles wirklich nachzuerleben, was der sich Amenophes Meket nennende Schreiber berichtete. Es war wie ein 360-Grad-Videofilm in höchster Bildauflösung und Bildrate. Natürlich, es war Béatrices Traumerinnerung und womöglich doch von Ashtaria übermittelt. Jedenfalls sah er gerade weder sie noch sich selbst, sondern bekam nur mit, wie Männer, offenbar Zauberer und Zauberpriester, mit Schmiedewerkzeugen oder aus Ton, mit Schnitzmessern und den Knochen von Tieren jene Zauberkunstwerke und Insignien einer fast vergessenen Macht erschufen. Er erlebte mit, wie die Kralle einer Sphinx in Gold gefasst und in eine Höhle verbracht wurde, in der zwölf lebende Sphingen als Wächter blieben. Die Sphingen erstarrten auf das Wort des Artefaktmachers wie versteinert. Doch leise klang Anchises' Stimme aus allen Richtungen: "Doch wer die Kralle der Anat, Gottheit über alles Getier, für sich gewinnen will muss in die Höhlen der zwölf tödlichen Rätselgeber und jedes Rätsel lösen. Misslingt ihm das nur einmal, so wird ihn jener Rätselgeber, dessen Rätsel er nicht löste töten und sein Fleisch, Blut und Gebein mit seinen hungrigen Brüdern teilen. Die Seele wird jedoch für Zeit und Ewigkeit in den Hallen der zwölf tödlichen Rätsel gefangenbleiben und den zwölf Wachenden beistehen, um jeden zu strafen, der unwürdig ist, die Kralle der Anat zu gewinnen.

So ging es weiter. Julius und die gerade nicht sichtbare Béatrice beobachteten, wie ein Griffel aus Knochen erschaffen wurde, dem mächtige Zauber aufgeprägt wurden, dass alles damit geschriebene, wenn laut vorgelesen zur Wirklichkeit oder zum unausweichlichen Handeln wird. Sie bekamen mit, wie ein Bogen aus einem Tierknochen und eine Sehne von einem jungen männlichen Sphinx benutzt wurde, einen Jagd- oder Kriegsbogen zu bauen, der dann noch in sehr weiches, aber unzerkratzbares und unschwärzbares Silber eingefasst wurde und mit Mondzaubern belegt wurde. Dazu wurden hundert Pfeile geschnitzt, deren Spitzen mit einer tödlichen Kraft versehen waren, die Kraft des erlöschenden Lebensfeuers. So erfuhr Julius, dass der Bogen und die Pfeile beinahe lautlos töten konnten, so wie es Catherine vorhin erläutert hatte und warum die Ägypter und Italiener entsprechend alarmiert waren.

Beide sahen zu Anchises' aus dem Hintergrund klingender Stimme, wie mehrere Frauen einen faustgroßen Smaragdstein umtanzten, der in Form eines übergroßen Auges mit senkrechter Pupille geschliffen worden war. Sie bekamen mit, dass das Auge der Katzengottheit Bastet geweiht war und dass es den Sehsinn erheblich verstärkte, vor allem um vergrabene Schätze oder sich verbergende oder aus großer Ferne nähernde Feinde zu sehen. Die Katzenfrauen trugen jenes grüne Kleinod in eine Höhle hinein, an deren Ende ein grlühender Nebel waberte. Dort hinein trugen sie ihren Schatz, ohne dass noch zu sehen war, wo sie ihn genau ablegten oder verstauten.

Julius bekam in der von Béatrice ausgelagerten Traumerinnerung auch mit, dass es einen aus Tierknochen gemachten Griffel gab, der die besondere Eigenschaft besaß, die mit ihm in für Magie aufnahmefähiges Material geschriebenen Texte Wirklichkeit werden zu lassen, wenn sie laut vorgetragen wurden oder bereits über magische Zeichen wirkende Zauber zu zerstören, indem der Griffel über die fremden Zeichen hinwegstrich.

Ein Helm, der dem Wegefinder Upuaut gewidmet war, vermochte eben jenes, immer den schnellsten Weg zum gewünschten Ziel oder aus einer Notlage heraus zu finden. Allerdings hieß es, dass der Helm mit dem Träger zusammenwachse, je länger er ihn trug, je jünger der Träger war und je schwieriger der zu findende Weg war. So hatte der letzte Träger des Helmes dafür gesorgt, dass nur noch er in das Versteck gelangen konnte, einen ständig die Richtungen ändernder Irrgarten auf mehr als zehn Etagen, wobei sich die Wegrichtungen auch nach oben oder unten ändern konnten. Außerdem wachten alle hier verhungerten Seelen als Wächtergeister und verwirrten die, die es doch wagten, nach dem auf dem Kopf seines letzten Trägers zurückgebliebenen Helm zu suchen. "Gut, dass wir genug Knisel haben", dachte Julius für sich und hörte seine Stimme merkwürdig plätschernd nachhallen.

Es ging noch um das Geisterzepter, das Geisterwesen unterwerfen oder verschlingen konnte oder den Schild des Horus, der die Kräfte von Sonne und Mond in sich bündeln und alle magischen und nichtmagischen Waffen abwehren konnte, solange er nicht vom Mantel des Seth berührt wurde. Was das war erfuhr Julius gleich im nächsten Augenblick, als es stockdunkel und klirrend kalt wurde. Diese Erscheinungen kannte er auch schon zu gut. Doch es kamen keine röchelnd und saugend atmenden Dementoren um die Ecke, sondern nur ein dunkel gewandeter Totenpriester, der den Träger des Schildes niederringen wollte, bis der ihm einen Obsidiandolch in den Körper rammte. "Seth, nimm mich auf in deiner Gnade!" röchelte der niedergestochene Priester. Dann war die Kälte und Dunkelheit vorbei. Der Mann mit dem Dolch blickte sich mit seinen hellorange glühenden Augen um und wog besorgt den mitgeführten Schild des Horus. Wo der dann am Ende verstaut wurde kam als nächste Bilderfolge. Julius hörte auch Ortsangaben im Bezug zu Tageszeit und Sonnenstand und erinnerte sich an die ersten Vermessungsversuche der Erde und dass die Ägypter Tempel und Brunnen bauten, die so ausgerichtet waren, dass zu den Sonnenwendtagen das Sonnenlicht am Morgen oder abend genau hineinfiel.

Er bekam die Schöpfung eines aus jenem rosigen Metall bestehenden sargähnlichen Behälters mit, den Catherine wohl mit dem Gnadenbett des Osiris gemeint hatte. Doch wo war die Kette der Isis, um die es hier garantiert gehen sollte. Denn nun wusste Julius, was dieser Traum zu bedeuten hatte.

"Das wichtigste zum Schluss", dachte er, als er sich und Béatrice neben einer Frau in blauen Gewändern sah, die in eine Schmiedewerkstatt eintrat. Dort bekam sie von neun unten herum unbekleideten Frauen mit Blut besudelte Silberstücke. "Das ist wohl nicht wahr", hörte er Béatrices Gedankenstimme. Doch Anchises las es im Hintergrund vor, dass neun erblühte und Mutter gewordene Dienerinnen der Göttermutter mit dem Blut ihrer wiederkehrenden Fruchtbarkeit das Silber des Mondes mit dem Segen der wiederkehrenden Fruchtbarkeit benetzten, woraus die in Zauberdingen gelehrten Schmiedinnen, da selbst schon Mütter geworden, die aus neun mal neun Gliedern bestehende Kette mit den eingravierten Anrufungen der Isis schmiedeten. Jede der Schmiedinnen brachte nach Vollendung die dem Mond und der Sonne dargebrachte Kette einen der neun mächtigen Anrufungszauber der Isis auf, sodass jene, die die Kette tragen mag, wenn selbst schon des Mutterglückes teilhaftig geworden, in Gefahr einen silbernen Schild des schützenden Mondes um sich errichten kann, der vor den meisten bösen Zaubern und allen nichtmagischen Waffen aus Metall, Gestein und Holz beschützt und so sie die Künste des magischen Heilens von Isis und ihren treuen Dienerinnen erlernt haben mag, jene Heilzauber mit neunfacher Stärke verwenden kann, wo nur eine einzige Kraftanstrengung ausreicht. Leser meiner Schrift, auch wenn du selbst nicht dazu bestimmt sein magst, die Kette der Isis zu finden und zu tragen, so lausche doch wie vorher allen Wegbeschreibungen und Sonnenständen. Sei jedoch gewarnt, dass du dort selbst nicht hindarfst. Drei Warnungen werden dir erteilt ..."

Julius und auch Béatrice sahen wie ein Mann in die von glitzernden Kristallen geschmückte Vorhöhle einer unterirdischen Anlage eindrang und sogleich von einem Schwarm weiblicher Gespenster von halbwüchsigem Mädchen bis zu weißhaarigen Greisinnen ergriffen wurde und in einem silbernen Blitz in einen anderen Raum versetzt wurde, wo eine Statue der Isis auf einem altarähnlichen Stein thronte. "Was wollte ich hier? Was suche ich denn überhaupt?" hörte Julius den anderswo hinteleportierten fragen, während durch ein Loch in der Decke der Mond hereinschien.

Als der Fremde ein zweites mal in die gesuchte Höhle einzudringen versuchte wurde er erneut von silbernem Licht umhüllt und anderswo hinversetzt. Er landete auf einer mit Fellen bedeckten Bettstatt und erstarrte. Julius sah, wie durch ein rundes Loch die Sonne hereinschien und im nächsten Augenblick wieder erlosch. Dieses Schauspiel wiederholte sich. Als der Schlafende wieder aufwachte wusste Julius, dass er 81 Jahre verschlafen hatte, nicht ganz so lange wie die Märchenprinzessin Dornröschen, aber lange genug, dass viele seiner Freunde und Verwandten nicht mehr lebten oder ihn schon für sehr lange tot hielten.

Als jener, der die zweite Warnung nicht beachten wollte zum dritten mal in die Höhle mit Isis' Kette einzudringen versuchte wurde er erst von silbernem und dann von rotem Licht umschlossen, angehoben, in eine leuchtende Sphäre gehüllt, die innerhalb von nur drei Sekunden auf Stecknadelkopfgröße zusammenschrumpfte. Er sah, wie das rote Winzkügelchen irrsinnig schnell durch die Luft flog und dann in einem fast dunklen Raum landete. In der nächsten Bilderfolge bekam Julius die ihm vertraute Entwicklung eines Kindes im Mutterleib mit, verfolgte die Geburt des Kindes und hörte, dass dies die dritte Warnung an jeden Mann sei, der die Heilkraft der Göttermutter für sich gewinnen wolle. "Wenn der Mond neun mal zehn mal zehn vollständige Wandlungen durchstanden hat wird sich der neu in die Welt geborene erst wieder seines vorherigen Lebens und seiner Gier nach der Kette der Isis entsinnen. Sucht er ihren Tempel erneut, wird er wieder neu geboren aber dann nichts mehr von früher wissen und zurückerlangen. Denn Isis überwindet den Tod, straft aber nicht mit ihm."

In dem Moment wechselte die Ansicht wieder in die goldene Kammer mit dem Obsidianboden zurück. Anchises las die letzte Rolle zu Ende. "So hoffe ich, dass du alles, was ich niederschrieb wohl verwahrst in deinem Geiste und all mein Werk fein und ordentlich verwahrst, bis der nächste kommt, der es zu lesen wagen will. Ob ich noch lebe, wenn du dies liest vermag ich nicht zu sagen. Falls du weit nach meinem Gang ins Reich der Toten diese Schrift liest sei gegrüßt aus alten Zeiten, auf dass du mir hilfst, das alte Wissen wohl zu bewahren und es wie eine leuchtende Fackel weiterzureichen an den nächsten würdigen Wissenssucher. Dies schrieb ich, Amenophes Meket aus Abydos."

"Na, schon eine Menge aufregende Geschichten", sagte Uschanaguran zu anchises und strich ihm väterlich durchs schwarze Haar. "Wohl wahr, Meister Uschanaguran. Jetzt weiß ich auch, warum dir daran liegt, dieses Wissen in der Halle der Unvergänglichkeit zu verwahren", sagte Anchises anerkennend. "Dann schließe die Amphore wieder! Keine Furcht. Sie wird dich nicht noch einmal beißen", sagte Uschanaguran aufmunternd. Anchises steckte die behutsam und sorgfältig zusammengerollten Papyri wieder in die Amphore zurück und setzte den Deckel auf. Er drehte diesen, bis er sich fest verschloss. Einen Augenblick erzitterte das Gefäß. "Jetzt ist sie wieder fest verschlossen. Wenn du die Schrift wieder lesen willst musst du ihr neuen Mut beweisen", erwähnte Uschanaguran.

"Ich denke, ich habe alles gelesene in meinen Geist aufgenommen, Meister Uschanaguran. Falls nicht kann ich es ja mit den Worten der Erinnerung zurückrufen, nicht wahr?" "Ja, dies vermagst du zu tun", sagte Uschanaguran. Da ging Julius auf, dass Uschanaguran das wohl auch mehrmals gemacht hatte, um es als das Wissen mit in die Geborgenheit Ashtarias hinüberzunehmen, von wo aus diese es erst seinen Nachfolgern und am Ende ihm vermacht hatte. Ja, er war sich nun völlig sicher, dass Béatrice das genauso geträumt hatte.

Julius sah nun wie Béatrice, dass die goldene Amphore in eines der freien Regale ganz weit oben hineingestellt wurde. Dabei wandten die zwei keinen Fernlenkzauber an, sondern benutzten die hier bereitstehenden Leitern und Zugseile. Offenbar war die Amphore gegen telekinetische Zauber abgesichert. So würde sie auch keiner mal eben zu sich hinzaubern können.

"Drängt dich Blase oder Darm?" fragte Uschanaguran seinen Schüler. "Ja, ein gewisses Rühren im Unterleib verheißt, dass ich überschüssiges Wasser von mir geben kann." "Dann sage laut, dass du gleich auf den Boden oder an eine der Wände wässern musst. Dann kommen wir hier wieder raus", sprach der Meister zum Schüler.

"Merke auf, Macht, die die Halle bewacht. Ich muss überschüssiges Wasser von mir gießen. Finde ich kein Gefäß dafür muss es auf den Boden fließen!" rief Anchises und nestelte bereits an seinem Gewand, um es zu lupfen. Unvermittelt strahlten die Wände blutrot. Gleichzeitig knirschte es laut. Die Tür schwang nach außen auf. "Diese Halle ist kein Abbort. Begib dich hin zum rechten Ort!" klang eine befehlende Stimme aus der Decke selbst. Die zwei Bücherwarte grinsten sich an und beeilten sich, hinauszulaufen. Béatrices Denkariumsversion und Julius folgten ihnen so schnell es ging.

Gerade als sie den dicken Vorhang aus dem Tunnel zu den anderen Lagerräumen durchquerten fanden sich Béatrice und Julius unter dem Vollmond vor einem Hügel, der wie der Rücken eines flach auf dem Boden liegenden Riesenkamels aussah. Der Kamelrückenhügel, so hatte es Anchises vorgelesen. Hier sollte die Kette der Isis verwahrt werden. Unvermittelt erschien neben Béatrice die weißgolden leuchtende Gestalt Ashtarias. "gib mir deine Hand, damit ich dich zu ihr hinführen kann, mutige und kundige Gefährtin meines jüngsten Sohnes!" sagte Ashtaria nun ohne die kirchenglockenartig hallende Stimme. Béatrice ergriff die Hand aus Licht, erschauerte einen Augenblick und ließ sich dann von der astralen Erscheinung in die hinter taarnenden Nebeln verborgene Höhle führen. Dort wurde Béatrice von jenen weiblichen Geistern erwartet, die vorhin in der Bilderfolge den unbelehrbaren Schatzjäger abgestraft hatten. Diese stellten Béatrice Fragen, nein Rätsel. Julius erkannte, dass sie alle was mit dem Leben, dem Heil, dem Mond und der Mutterschaft zu tun haben mussten, von wegen, es ist ein Ort mit zehn Türen. Verlässt man ihn, geht eine Tür zu und neun dafür auf." Ähnliches gab es dann noch zu Isis in den Kulten der Ägypter, ihren Kindern, wer ihren Mann Osiris getötet hatte und wie sie diesen wiedererweckt hatte. Irgendwie konnte Béatrice alle diese Fragen beantworten. Julius schwante, dass Ashtaria ihr die richtigen Anntworten vorgab. Doch dann sagte sie: "Das sind alle Rätsel. Doch nur neun davon musst du lösen. Welche das sind werden die Wächterinnen unter sich entscheiden." "Sechsunddreißig Rätselfragen", hörte Julius Béatrice denken. Dann ging es durch weitere Höhlen, wo sie noch weitere Rätsel lösen musste und sich auch gefallen lassen musste, dass eine der Geisterfrauen in ihren Bauch hineinlangte um zu erkennen, dass dort schon einmal neues Leben gewachsen war. Dann erreichten sie eine mit bglauen Steinen ausgekleidete Kammer, wo hinter einem weißen Stoffvorhang eine lebensgroße Nachbildung der Isis saß, die den da wohl gerade erst geborenen Horus in den Armen hielt und ihm die Brust gab. Um den Hals der Statue lag, wie aus sich selbst im mondlichtfarbenen glanz schimmernd, die gesuchte Kette aus neun mal neun feingeschmiedeten Silbergliedern, die nicht die Spur verrieten, womit sie einmal imprägniert worden waren. "Nimm sie nur in Demut vor ihr und ihrem Sohn an. Ich weiß, mich haben sie damals, wo ich meinen dritten Sohn gebar und ihn in dieser hingebungsvollen Haltung nährte für die fleischgewordene Mutter von Himmel und Erde gehalten. Ich habe es versucht, es ihnen auszureden. Doch mein Wirken und meine Taten brachten sie nicht davon ab. Daher stellten sie Isis so dar, die nährende, immer das Leben und die Liebe darbringende Mutter."

Béatrice verbeugte sich erst. Dann kniete sie vor der Statue, die genausogut eine katholische Madonnenfigur sein konnte. Dann streckte sie behutsam ihre Hände aus und griff nach der Kette. Sie zog sie vorsichtig über den Hals der steinernen Muttergöttin und befreite sie sorgsam aus der Einzwengung zwischen Mutter und Kind. Dann hängte sie sie sich selbst um und verharrte einige Sekunden in der der Demutshaltung.

Im Nächsten Augenblick stand sie, mit der Kette um den Hals, wieder auf jenem grünen Hügel, auf dem alles angefangen hatte. Wieder krachte ein Blitz aus heiterem Himmel und zerschlug den Hügel, der eigentlich nur eine Tarnung war. Diesmal jedoch vermochte Béatrice eingehüllt in silbernes Leuchten durch die Flammen zu schreiten und sie mit beindicken Wasserstrahlen, in denen auch schon dicke Eisbrocken steckten, auszulöschen. Als sie ihre Familie sah konnte sie die Flammen mit einem einzigen Zauberstabschwung von ihnen herunterfegen. Die erlittenen Verletzungen zu heilen vollzog sich ähnlich wie im Film mit E.T., dem Außerirdischen in einem rosaroten, alle umhüllenden Licht. "Dies mag dir ansporn sein, die Kette der Isis zu gewinnen, sofern sie noch keine würdige vor dir errungen hat, Béatrice Latierre", sagte Ashtarias Stimme. "Doch um dich ihrer würdig zu erweisen bitte ich von dir einen neuen Beweis deiner Hingabe, deiner Stärke, deiner Fruchtbarkeit und Liebe. Bringe es fertig, mit meinem jüngsten Sohn erneut ein Kind zu zeugen und veranlasse seine von amtlichen Sprechern zugesprochene Gefährtin, sich ebenfalls auf eine weitere Schwangerschaft einzulassen, damit ihr nicht in gegenseitiger Eifersucht entbrennt. So dieses Kind eine Tochter wird, so sei dir nach ihrer Entwöhnung gestattet, die Kette der Isis zu suchen und für dich und die dir lieben und wichtigen Gefährten zu gewinnen. Doch verrate zunächst einmal nur Mildrid, was ich dir auftrug. Willigt sie ein, und willigst du ein, so sei dieser Pakt beschlossen. Und sollte die Mutter allen Lebens, die mächtiger ist als ich es bin, befinden, dass du noch einen Sohn von ihm empfängst, so mag dessen erste Tochter, sobald sie Mutter wurde, darauf ausgehen, die Kette zu suchen und zu finden."

Als Ashtaria diese Worte gesprochen hatte sah Julius Béatrice in ihrem Bett liegen. Dann wechselte die Umgebung. Er sah Béatrice und Millie im Musikraum. Dem Tageslicht nach mochte es kurz nach Mittag sein.

Sie unterhielten sich erst über Béatrices Geburtstag. Dann ging es um den Traum, den sie geträumt hatte und den Millie da wohl genau wie er gerade nacherlebt hatte. "Wir dürfen es ihm nicht sagen, weil der sonst meint, wir beide wollten ihn verulken, oder Ashtaria wollte ihn als eine Art Zuchtbullen halten", sagte Millie. "Nein, er muss weiterhin aus freien Stücken mit dir und mir schlafen, wie wir das vereinbart haben. Aber da wir zwei ja schon lange genug zusammenwohnen, um aufeinander abgestimmt zu sein kriegen wir das mit der zeitnahen Schwangerschaft hin, falls du dich darauf einlassen möchtest."

"Könnte ich die Kette der Isis auch benutzen?" fragte Millie. "Sicher könntest du das. Ich weiß nur nicht, warum Ashtaria sie dir dann nicht anbietet, sondern mir. Heilzauber kannst du auch, und Töchter zum Weitervererben hast du ja auch mehr als für diesen Zweck ausreichend."

"Hmm, ich habe eine komplette Feuerhexenausbildung überstanden und das Kleid und den goldenen Drachen Kailishaias bekommen und teile mit Temmie Gedanken. Julius hat die Ausbildung als Erdvertrauter bekommen, hat den Lotsenstein erhalten und hat Ashtarias Heilsstern geerbt. Catherine hat sich zur Windmagierin ausbilden lassen und sich die Flöte Ailanorars gesichert. Camille hat den Heilsstern ihrer Mutter geerbt und ist wohl zur Wassermagierin ausgebildet worden und hat weitere Schutz- und Lebenszauber gelernt. Tja, dann soll es wohl sein, dass du die Kette der Isis bekommst, weil du uns und damit Ashtaria geholfen hast, unseren Ehefrieden und die Siebenheit der Heilssternträger zu retten. Wenn das geht, Trice, dann will ich diesmal dir helfen. Und wenn ich dabei noch einmal was quirliges kleines in mir ausbrüten darf soll das auch recht sein."

"Denke daran, dass du nur Töchter bekommst, solange diese Wartezeit der Mondtöchter nicht eingehalten wird!" sagte Béatrice. "Ja, und?" fragte Millie in ihrer typischen lässigen Art. "Ich will mich darauf einlassen, sofern wir sichern können, dass Julius nicht sein Selbstwertgefühl verliert, sobald wir ihm von diesem zweifachen Kuhhandel erzählen."

"Muh!" erwiderte Millie. "Nein, ich denke, wenn wir ihm erklären, warum wir das mit ihm angestellt haben oder noch anstellen wird er sich höchstens fragen, wie er zwei weitere Kinder sattbekommt, falls ich nicht wieder zwei oder drei auf einmal ausbrüte."

"Gluck Gluck Gluck!" Erwiderte Béatrice darauf. "Aber ein stolzer Hahn hat meistens mehr als zwei Hennen und kommt trotzdem mit den vielen Küken zurecht."

"Wir sind echt zwei gemeine Biester, über wen zu reden, der nur will, dass es uns gut geht", sagte Millie. Béatrice erwiderte: "Ja, aber ihn fragen bringt ihn nur in Gewissensnot. Dann wird er erst recht sein Selbstwertgefühl vermissen. Also, gehen wir es an?"

"Jederzeit, Zweitfrau."

"Freche Hummel, wie deine Mutter", schnarrte Béatrice und kniff Millie in die Nase. Dann stellten sie sich einander gegenüber, lupften ihre Umhänge und rieben die noch flachen Bäuche aneinander. "Auf dass da neues Leben einzieht", sagte Millie. "Möge Félix auch ein vollwertiges Geschwisterchen bekommen", sagte Béatrice. Dann ließen die beiden ihre Oberkleidung wieder sittsam herunterhängen. Dann verschwanden sie und die Umgebung in silberweißem Licht.

Julius fühlte seinen gebeugten Rücken und seinen Kopf tief im Denkarium. Er zog ihn behutsam nach oben und stemmte sich wieder auf die Füße. Wie lange hatte er hier zugebracht? Seine Uhr verriet ihm, dass er allenernstes eine halbe Stunde in dieser Haltung zugebracht hatte. Manchmal konnten Denkariumssitzungen über Stunden gehen, aber Jahre von Erinnerungen wiedergeben.

"Han gefällt mir doch besser als Zuchtbulle", sagte Julius. Auch wenn Perseus, Poseidon, Priapus und Polybios sich wohl ganz wohl mit sechzehn drallen Damen fühlen ähnelt das hier doch eher einem Hühnerhof mit einer Menge fröhlich zwitschernder Küken", meinte Julius und stieß ein lautes "Kikereki!!" aus. Dann half er Millie, das Familiendenkarium in den Blutsiegelschrank zurückzustellen. Immerhin hatte Millie bereits genug zu tragen. Der Preis der großen Errungenschaften, dachte Julius. Millie und Béatrice mussten dafür Kinder kriegen, und er musste sich mit Bürokraten oder Monstern herumschlagen, zwischendurch im Internet nach ausgebüchsten Zaubererweltereignissen auf Video suchen. Dennoch dachte er, dass Millie und jetzt vor allem Béatrice die größere Last zu tragen hatte. Damit meinte er nicht ihre zweite Schwangerschaft, sondern die Verantwortung dafür, dass ihr gemeinsames Familien- und Liebesleben nicht im schieren Wahnsinn enden mochte und auch die Last, trotz aller für ihn empfundenen Liebe die Frau hinter Millie zu sein, nicht die an seiner Seite. Als er das dachte überkam ihn der Drang, beide zugleich zu umarmen. Sie gingen darauf ein und umarmten dabei auch einander. In dieser wohligen, warmen Verbundenheit fühlten sie ihre Herzen schlagen. Julius meinte auch, die bereits schlagenden Herzen der ungeborenen Kinder zu hören. Doch das war wohl nur Wunschdenken.

Als sie erkannten, dass es noch andere Menschen in ihrem gerade so innig gefeierten Zusammenleben gab flüsterten sie sich zu, dass sie den Kindern vorerst nichts davon erzählen wollten, dass Julius nun ganz absichtlich mit beiden bei ihm wohnenden Frauen auf neue Kinder wartete.

Aurore, Chrysope und Clarimonde waren fix und fertig, als ihre Eltern und die heimlich auf das nächste Halbgeschwisterchen wartende Großtante sie abholten. Ursuline fragte Julius noch, ob das mit dem sechsten April sicher geregelt sei. "Die Ministerin steht hinter ihrer Zusage, und Madame Grandchapeau, Nathalie hat schon angemerkt, dass sie mich eigentlich schon wieder im Ministeriumsgebäude haben will, statt mit debattierlaunigen und trinkfesten Seniorbeamten durch die Gegend zu fliegen."

"Klar, Julius. Gut, dass Millies Papa nicht mitgereist ist. Der hätte die gestandenen Schluckspechte unter jeden Tisch getrunken, und du hättest mit der guten Anne Laporte zusammen die Met- und Schnapsleichen einsammeln und in die Betten bringen müssen. Das mach lieber nur mit denen, die du auch selbst in wilder, wonniger Lust gezeugt hast." Die letzten Worte brachte sie mit einer verrucht tiefen, lächzenden Betonung heraus. Julius hätte sie fast gefragt, ob sie nicht doch noch ein Kind haben wollte. Doch Ursuline könnte das falsch verstehen oder ihn fragen, ob er sich über sie lustig machen wolle. Immerhin hatte sie Adonis' beinahe Totgeburt davon überzeugt, dass sie mit sechzehn Kindern ihre Rolle als Blutlinienbewahrerin mehr als erfüllt hatte. Ob sie aber mit Ferdinand noch wilde Liebesakte erlebte wusste er nicht und würde sich das auch nie zu fragen erlauben, auch wenn seine angeheiratete Schwiegergroßmutter und inoffizielle Zweitschwiegermutter ihm das vielleicht sogar erzählte, um ihm zu zeigen, dass fortgeschrittenes Alter nicht lustlos bleiben musste. Aber das glaubte er ihr auch so, wenn er sie ansah und wie sie mit Ferdinand mal kindlich und mal leidenschaftlich scherzte und schmuste, wenn sie wusste, dass man ihr nur unfreiwillig zusah./p>

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Es war wie bei der Landung der mächtigen Ministeriumskarosse. Mehrere Reporterinnen und Reporter standen wenige Dutzend Meter von ihr entfernt und beobachteten, wie die 36 elefantengroßen, goldfelligen Flügelpferde angespannt wurden. Diesmal durften sich die Angehörigen der französischen Abordnung von ihren Männern, Frauen, Kindern oder Geschwistern verabschieden. Das war was ganz anderes als die heimliche Abreise, fanden die Latierres.

"Pass weiter gut auf Julius auf, Tante Babs", meinte Millie zu ihrer Tante mütterlicherseits. Diese grinste und antwortete: "Ob er sich in Gefahr bringt oder nicht kann ich nicht beeinflussen, da ich nicht mehr seine unmittelbare Vorgesetzte bin, Millie. Aber ich will auch nicht, dass deine Kinder und der kleine Félix ohne Vater groß werden müssen. Aber danke an Hera, dass wir das Instantankontragas gegen dieses Fortpflanzungstriebgebräu von Vita Magica in die Kutsche einbauen durften. Dann kann mir wenigstens nicht passieren, dass Aurore einen Bruder bekommt, der zugleich ihr Cousin ist und sich Julius mit Jean darum duellieren muss, wer für ihn aufkommt."

"Und du siehst zu, nicht vom Besen zu fallen, César", gab Belenus Chevallier dem rundlichen Paradehüter der Mercurios noch mit. Dieser meinte dann noch: "Keine Sorge, Belenus. Ich werde deinen Enkelkindern noch von meinen Glanzzeiten beim Quidditch erzählen."

"Muss ich das jetzt kapieren?" fragte Julius seine Angetraute. Diese erwiderte rein mentiloquistisch: "Machtwort von Célestine Chevallier, dass die zwei sich nicht noch mal öffentlich käbbeln dürfen, wenn sie nicht rumtrompeten will, von wem ihre Frühlingskinder sind."

"Autsch", gedankenantwortete Julius. Dann sagte Millie hörbar: "Bruno hat es seinem Papa geeult, dass César beim Training für das Spiel gegen Babettes Truppe von einem Klatscher so heftig zum Ausweichen getrieben wurde, dass sein Besenschweif dabei am rechten Ring zerbröselt wurde. Da die Chevalliers ja zu den Geldgebern der Mercurios gehören sorgt sich Belenus Chevallier um seine Investition."

"Das hab ich gehört", knurrte Belenus Chevallier und funkelte Millie an. Doch mehr sagte er dazu nicht, weil seine Frau Célestine ihm noch einmal einen innigen Kuss geben wollte. Julius nutzte die Gelegenheit, in die nun fertig bespannte Karosse einzusteigen.

"Halt dich wacker", mentiloquierte Millie ihm zu. "Bedenke, was wir schon beim letzten Aufbruch durchgegangen sind", fügte sie noch nur für ihn vernehmbar hinzu. "Danke, Mamille. Werde ich hinkriegen", schickte er ihr zurück.

Als die mehr als hausgroße Reisekutsche mit einem kurzen Anlauf der vorgespannten Flügelpferde anrollte und dann mit Schwung in den frühmorgentlichen Himmel über Millemerveilles hinaufstieg meinte die jüngere Schwester Césars, die auch Célestine hieß zu Millie: "Na, wann wirst du deinen Süßen wiedersehen?"

"Wenn er wiederkommt", erwiderte Millie darauf. Dann fragte sie, ob es nun amtlich war, dass sie mit ihrem Auserwählten nach Paris umzog. "Auch wenn's hier in Millemerveilles richtig schön ruhig und sauber ist möchte ich doch mindestens eine Prise Flohpulver und ein paar hundert Kilometer zwischen meinen Verwandten und mich kriegen. César ist eifersüchtig, dass ich mir meinen Süßen geangelt habe und er wegen der verqualmten Kiste mit VM wohl so bald keine mehr findet, die mehr mit ihm anfangen will als Quidditchpokale zu gewinnen. Aber wenn das Haus klar ist wird eine Einweihungsfete gefeiert."

"Ich hoffe, dein Süßer und mein Süßer haben dann auch beide Zeit", sagte Millie. Célestine grinste über ihr rundes Gesicht und meinte, dass sie das schon hinbekamen. Dann ging sie zu dem jungen Zauberer, den sie vor zwei Monaten auf den Besen gehoben hatte, was hieß, dass sie ihn bald heiraten und eine gemeinsame Wohnung beziehen würde. Anders als viele hatte sie es nicht gleich im siebten Jahr darauf angelegt, sich den Mann für ihr Leben zu sichern, sondern hatte erst abgewartet, dass er ihr einen Antrag machte. Danach hatte sie ihn auf den Besen gehoben.

Millie kehrte zu Béatrice ins Apfelhaus zurück, die den Abflug der Sonnenkarosse über Radio verfolgt hatte.

"Es war doch richtig, ihm das jetzt schon zu verraten, was Ashtaria mir im Traum erzählt hat, Millie. Ich fühle mich jetzt auf jeden Fall freier und zuversichtlicher", sagte Béatrice. Millie erwiderte: "Das war auch für ihn richtig, dass er nicht so fies im Dunkeln gehalten wird. Vor allem wissen wir zwei jetzt, dass er auf sich aufpasst, wenn er noch ein Vermächtnis Ashtarias sichern möchte und dass er dich genauso lieb hat wie du ihn. Das ist für uns alle hier wichtig, vor allem, wenn es wieder heftiger werden sollte."

"Eben das meine ich ja mit Zuversicht", sagte Béatrice.

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"Die Ägypter wollten also ihre Herrscherfamilie Al-Assuani wiederhaben", grummelte Francesco Torregrande, der zeitweilige Zaubereiminister Italiens. Bonifatio Montecello bestätigte es. "Das ändert nur den Wortlaut unserer klaren Vereinbarung, nicht das Ziel", sagte Montecello. "Bei den Morgensternbrüdern hätten wir auf Ausnutzung eines Machtungleichgewichtes in Ägypten plädiert. Aber bei den Al-Assuanis können wir die Herausgabe der sichergestellten Gegenstände damit begründen, dass jene Ladonna erst die Möglichkeit gaben, diese zusammenzuraffen und wohl von den Kobolden dafür bezahlt wurden, sie aus den bisherigen sicheren Verstecken herauszuholen. Wir machen dann noch klar, dass unser Rat der 49 ältesten das klären soll, unabhängig davon, wer zum alten oder neuen Zaubereiminister erwählt wird", sagte Torregrande. "Und du hast keine Angst, dass auch in deiner Abwesenheit die Mäuse auf dem Tisch tanzen und die Anhänger Barbaneras ihn aus der geschlossenen Abteilung zurückholen?" fragte Montecello. "Ich mache mir eher Sorgen um die Überreste der Lupi Romani. Seitdem wir wissen, dass die tatsächlich jeden Zaubereiminister am Nasenring geführt haben müssen wir damit rechnen, dass die wieder meinen, einen von ihnen gesteuerten Minister haben zu wollen."

"Immerhin haben wir sämtliche Aufzeichnungen über die Stammsitze der verbliebenen Familien", sagte Montecello. "Richtig aufpassen müssen wir nur auf die Fulminicaldi-Sippe. Die könnte meinen, mit ihrer hinterhältigen Feuerlenkungskraft den Ton anzugeben. Die drei anderen sind ja größtenteils ausgerottet und ihre Stammsitze vernichtet."

"Wissen wir, ob von der spanischen Abordnung einer von denen dabei ist?" fragte Torregrande. "Wurde geklärt. Keiner, der mit einer der vier großen Verbrecherfamilien in Beziehung steht", sagte Montecello.

"Minister pro tempore Torregrande, die Neptunbarke liegt bereit zur Einschiffung", erklang eine aus der Luft tönende Meldung. Der zeitweilige Zaubereiminister rief in Richtung Decke zurück: "Gut, ich bin mit der Abordnung gleich am Porto Bellmare!" Dann sagte er zu Bonifatio Montecello: "Also, treuer Waffenbruder, lass uns nach Malta segeln, um unsere Ehre und unsere Eigenständigkeit zu behaupten!"

"Ja, tun wir das", sagte Bonifatio Montecello.

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Während die Sonnenkarosse über das Mittelmeer dahinflog nutzten die an Bord befindlichen Ministeriumsabgeordneten die Zeit, um ihre Haltung zu den ihre Abteilungen betreffenden Themen noch einmal abzustimmen. Julius saß mit Barbara Latierre und ihrem Untersekretär Maurice Valvert in einer der kleineren Besprechungskabinen. Julius hörte sich erst an, wie es mit den Zuchtbestimmungen für magische Tiere weitergehen sollte. Dann ging es um die Meermenschen im Mittelmeer, die endlich eine Entscheidung wollten, wie das Problem der Meeresverunreinigung durch nichtmagische Schiffe und Industrieanlagen gelöst werden sollte. Klar war, dass sie nicht hingehen konnten und den Nichtmagiern jede moderne Technik zu verbieten. Das war ja das, was Ladonna all zu gerne getan hätte. Jedenfalls wollten Barbara und ihr Untersekretär eine gemeinsame Absprache aller Mittelmeerstaaten herbeiführen, um zumindest eine Absicherung der Unterwasserkolonien durchzusetzen. Barbara kündigte in förmlicher Anrede an, dass sie bei Nathalie Grandchapeau beantragen würde, dass die Internetüberwachungsabteilung alle in der nichtmagischen Welt stattfindenden Debatten über Meeresschutz versus Wirtschaftswachstum also reine Profitmehrung mitverfolgen und die für die Zaubererwelt relevanten Neuigkeiten an die Abteilung zur Erfassung und Betreuung magischer Wesen weitergeben sollte.

Dann ging es um das, weshalb Julius mitgereist war. Als Barbara erwähnte, dass die Ägypter und Spanier möglicherweise gegen einen Frieden mit den Veelastämmigen argumentieren würden, indem sie sich als nun von jedem Einfluss Ladonnas frei und wiedererstarkt und selbstständig empfanden und Ministerin Ventvit und Julius Latierre da selbst eine Abhängigkeit von Léto unterstellen mochten musste Julius erst einmal schlucken. Diese Argumentationsgrundlage, wenn sie denn so genannt werden durfte, hatte er bisher nicht einkalkuliert. War er vielleicht doch noch zu grün für knallharte Diplomatie? Nein, er würde sich auch auf einen derartigen Vorwurf einstellen. "Wichtig ist, das wir um keinen Preis von uns aus irgendwas unterstellen, dass die Spanier, Ägypter und die anderen Nordafrikaner durch den Feuerrosenzauber seelisch verletzt sind und daher gegen alles ankämpfen, was auch nur im Ansatz mit Ladonna zu tun hat. Das könnte uns zum Bumerang werden", sagte Barbara und sah vor allem Julius an. Der begriff, welche Angriffspunkte er bieten mochte und ging sie mit Barbara Latierre und Maurice Valvert durch. Er erkannte, wie wichtig es war, noch vor der eigentlichen Konferenz alle möglichen Punkte anzusprechen und Argumente für das eine oder gegen das andere zu finden.

Erst als sie sich sicher waren, dass alle möglichen Anschuldigungen und Vorwürfe bedacht waren ging es weiter mit den Kobolden. "Die Ägypter könnten uns auch hier Fallstricke spannen, Madame Latierre", sagte Maurice Valvert. "Immerhin sind wir eine der wenigen Zaubereiverwaltungsbehörden, die einen klaren Frieden mit den Kobolden und den Zwergen vereinbart hat. Das könnten uns welche neiden und übelnehmen." Julius nickte. Da sagte Barbara Latierre: "Ja, mag sein. Aber das darf uns nicht daran hindern, darauf hinzuweisen, dass ein Frieden zwischen uns, den Kobolden und den Zwergen für alle Beteiligten mehr Vor- als Nachteile bringt. Hier gilt es, Vertrauen in die eigene Leistung und Überzeugungskraft aufzubieten. Ich hätte Sie beide nicht in diese Vorbereitungsrunde geholt, wenn ich der Meinung wäre, dass Sie dem nicht gewachsen seien, Messieurs." Darauf konnte Maurice Valvert nichts mehr erwidern.

Nachdem sie alle noch zu klärenden Punkte besprochen hatten erlaubte Barbara Latierre ihren Gesprächsteilnehmern, sich in die eigene Reiseunterkunft zurückzuziehen oder in die Sonnenkuppel zu steigen, um den Flug über das Meer und die Zielankunft zu verfolgen.

Julius hatte sich natürlich vor der Reise über die angewählten Reiseziele schlaugelesen. So wusste er, dass die Inselrepublik Malta aus drei Inseln bestand und dass sie im Laufe der letzten viertausend Jahre alle höheren Kulturen der alten Welt mitbekommen hatte, weil sie ziemlich zentral im Mittelmeer lag. Zuletzt hatten seine Landsleute, die Briten, die Inselgruppe als Kolonie geführt und sie zu einem strategisch wichtigen Punkt im zweiten Weltkrieg gemacht. Die Magiehistoriker und Mythologieentschlüsseler behaupteten, dass auf der Insel Gozo jene Höhle sein sollte, in der die Meeresnymphe Calypso, nach der eine seiner Schwiegercousinen benannt war, den Sagenhelden Oddysseus beherbergt und was noch so alles mit ihm angestellt hatte. Tatsächlich hatten die Magiehistoriker Überreste einer vor viertausend Jahren bestehenden Sippe aus Nachkommen von Menschen und Wassermenschen gefunden, die auf den drei Inseln Maltas gelebt hatten und zum teil den etruskischen und später römischen Kult um einen Meeresgott mit Dreizack begründet haben mochten. Allerdings waren die hemitritonen, wie die Meermensch-Landmensch-Nachkommen genannt wurden, irgendwann doch ins Meer zurückgekehrt und ihre Zivilisation war ausgestorben. Vor allem der zunehmende Kult um Erde, Sonne und Mond, der unterirdische Tempel und Steinkreise ähnlich Stonehenge hervorgebracht hatte, war den Hemitritonen wohl zum Verhängnis geworden. Später, als die Araber ihr Weltreich des Propheten errichten wollten, hatten Zauberer aus dem Morgenland festgestellt, dass auf jeder der drei Inseln eine Wiege der Dschinnen stand, eine des Wassers, eine der Luft und eine der Erde, eben jener naturbelassene, unterirdische Tempel, der rein äußerlich ein System aus Tropfsteinhöhlen war. In deren Zentrum sollte es laut Wissen der altaxarroischen Erdvertrauten jenen viele Tonnen schweren natürlich entstandenen Mondglanzbrocken geben. Was die Wiege der Luftdschinnen anging mochte das für Catherine, die ja zu den Wind- und Mondvertrauten des altaxarroischen Wissens geworden war, sicher sehr interessant sein. Doch womöglich kam er nicht dazu, sich die magischen Kraftorte der drei maltesischen Inseln anzusehen, zumal die Tricenturia, die nur 300 auf Malta angesiedelten Hexen und Zauberer, diese Orte sicher als gesondert zu schützendes Vermächtnis absicherten. Dass sie überhaupt in jenen geheimen Erdtempel durften lag wohl nur daran, dass sich die Tricenturia nicht mit den Kobolden und Zwergen herumschlagen wollte. Zwar galt auf Malta weiterhin das Abkommen von 1613, demnach Gringotts dort die Goldverwahrung und den Goldwert verwaltete. Doch so vergrätzt wie die Kobolde aus den von Ladonna unterworfenen Ländern drauf waren mochten diese ihre Artgenossen dazu anstiften, für sie wieder mehr herauszuholen.

Als die Sonnenkarosse sich der kleinen Inselgruppe näherte konnte Julius mit seinem mitgenommenen Omniglas die kleinen Dörfer und die Städte Slima und Valetta identifizieren. Er sah auch die von mehr Grün bedeckte Insel Gozo und deren altarabisch geprägten Städte. Dann unterschritt die Sonnenkarosse die Höhe, von der aus er einen vollständigen Rundblick hatte. Die Kutsche flog durch unmittelbar über der Insel aufgetauchte Wolken. Julius sah, dass diese merkwürdig bläulich flimmerten. "Wir landen im Schutz eines kolektiven Nebula-Protectiva-Zaubers, damit wir von den Nichtmagiern nicht bemerkt werden", klang die Stimme von LVD Moureau. Tatsächlich umschloss sie der bläulich flimmernde Dunst wie eine wabernde Seifenblase. Julius wusste, dass der Nebel eigentlich nur von außen undurchsichtig war. Aber womöglich lag es hier an der gleichzeitigen Bezauberung. Jedenfalls bekamen sie mit, wie erst die 36 Zugtiere und dann die Räder der Kutsche den Boden berührten. Vom üblichen Klingelzeichen angekündigt sagte Moureau durch: "Ministerin Ventvit, Mesdames, Mesdemoiselles et Messieurs, die Sonnenkarosse ist im vorbestimmten Zielfeld gelandet. Wir wünschen Ihnen allen einen erfreulichen und erfolgreichen Aufenthalt."

"Ob unser Terminplan zulässt, dass wir uns die drei Inseln mal näher ansehen, Julius?" fragte Belenus Chevallier. Die Berge auf Malta und Gozo hatten ihn, den Freizeitkletterer, angesprochen. Julius erwiderte: "Mich würden eher die magischen Kultur- und Kultstätten interessieren. Aber ich fürchte, da kommen wir nicht ohne Aufsicht rein."

"Ja, aber ich kann vielleicht auf die Berge raufklettern", erging sich Belenus Chevallier in einer gewissen Vorfreude.

Der bis jetzt die Kutsche umgebende Nebel lichtete sich. Nun konnten die in der Sonnenkuppel sitzenden Reisenden einen Trupp aus zwanzig südländisch aussehenden Menschen in hellgrünen Umhängen erkennen, von denen zwei die maltesische Nationalflagge und zwei eine Flagge mit einem gleichwinkligen Dreieck aus blauem, grünen und silbernen Linien und darin eine blaue Welle, ein grüner Felsen und ein silberner zunehmender Mond von drei kleinen, silbernen Wolken umgeben zeigte. Wasser, Erde und Luft. Nur die Elementarkraft Feuer fehlte in dieser Darstellung. Die hatten die maltesischen Magier bisher nicht auf ihren Inseln Malta, Gozo und Comino gefunden. Einige behaupteten, die Sizilianer hätten alle Feuerelementarquellen für sich beansprucht.

"Ah, da ist ja auch mein Amtskollege Romeo Casaforte", sagte Belenus Chevallier und deutete auf einen Koloss von Zauberer, der mindestens zwei Meter groß war und mindestens anderthalb Meter breit war. Der imposante Herr im Begrüßungskomitee besaß einen rabenschwarzen Haarkranz und eine adlerschnabelartig gekrümmte Nase, ähnlich wie der selige Professeur Dumbledore. Neben dem raumgreifenden Herren stand einer in einem grün-silbernen Umhang und trug auf dem Kopf einen mindestens einen Meter aufragenden Spitzhut. Sein mausgraues Haar hing als glatt gekämmter Schopf bis in seinen Nacken. Er überragte den neben ihm stehenden Casaforte um noch ein paar Zentimeter Körperlänge, war aber im Verhältnis dünn wie eine Bohnenstange. "Und Nathanael Terravechia ist auch da", bemerkte die Zaubereiministerin und deutete auf den hageren Hünen neben Casaforte. Julius mentiloquierte sogleich seine Frau an: "Maltas oberste Ministerriege hat längere Leute zu bieten als uns."

"Terravechia? Ist der immer noch Tricenturio?" hörte er Millies Gedankenstimme. Er fragte, ob Terravechia der amtierende Sprecher der maltesischen Zauberertricenturia war, weil er sich bei einem Minister nicht vorstellte, dass der als Fahnenträger daherkam. Ministerin Ventvit bestätigte es und sagte auch, dass sich in Terravechia alle auf Malta angesiedelten Volksgruppen vereinten und er laut der Abstimmung noch zehn Jahre von zwanzig zulässigen als Zaubereiminister oder Tricenturio amtieren durfte. "Der darf noch zehn Jahre, Mamille", schickte er sogleich an die weiter, die nicht anwesend war aber die Frage gestellt hatte. "Gut, dann erfolgreiches Schaffen", schickte Millie zurück.

Als alle Insassen der Sonnenkutsche ausstiegenund Julius zum ersten Mal den natürlichen Boden betrat fühlte er sofort, dass in unmittelbarer Nähe eine langsam atmende, schlummernde Erdmagie wirkte. Sie waren also bereits nahe jenes alten Erdgöttinnentempels, von dem die Kobolde behaupteten, dass hier ihre unmittelbare Urmutter die ersten ihres Volkes zur Welt gebracht haben sollte. Er stimmte sich deshalb gleich darauf ein, sich nicht von starken Erdkräften überwältigen zu lassen, aber so, dass er nicht als Eindringling und Feind erscheinen mochte.

"Im Namen der dreihundert urwüchsig maltesischen Hexen und Zauberer heiße ich die Abordnung aus Frankreich herzlich am Tempel der uralten Erdmutter willkommen. Meine Ratskameradinnen haben dafür gesorgt, dass uns die uralte Erdmutter hold ist, damit wir in ihrem Schutz tagen dürfen, solange es gewünscht und / oder erforderlich ist", sprach Terravechia Englisch mit dem wohl hierzulande üblichen Akzent. Er erwähnte dann auch noch, dass von den dreihundert Mitgliedern der maltesischen Zauberergemeinschaft die besten zwanzig erschienen seien, um den Erfolg dieser Zusammenkunft zu sichern. Sie warteten noch auf die Abordnungen aus den afrikanischen Ländern, sowie Spanien, Portugal, Italien und Griechenland. "Gerade bei Italien dürfte sicher sein, dass sie am Schluss erscheinen. Denn wer am nächsten wohnt lässt sich gerne viel mehr Zeit und trifft dann häufig als letzter ein", scherzte Terravechia. Julius verkniff sich ein Lachen, genauso wie die anderen hier.

Bis zur Ankunft der erwähnten Delegationen durften sich diejenigen, die nicht unter freiem Himmel warten wollten, in die Kutsche zurückziehen. Julius blieb draußen und stellte bereits einige heimliche und ungesagte Zauber mit der wirkenden Erdmagiequelle an. Er fand auf diese Weise heraus, dass in den Tiefen des unterirdischen Tempels ein Knotenpunkt von Erdmagie war und dass deshalb die natürlichen Erdzauberstränge bis mehr als eintausend Schritte weit ausschwangen und zwischendurch miteinander verknäuelten, aber dann ohne eine spürbare Erschütterung wieder voneinander loskamen. So war es ihm und allen dazu fähigen unmöglich, durch festes Gestein zu reisen. Trotz des Rhythmusses verwobenund entwirrten sich die Erdmagiestränge unvorhersehbar, weil jeder natürliche Erdmagiestrang eine ganz eigene Grundstärke und Grundschwingung besaß und die Erdmagiestränge auch vom Stand von Sonne und Mond abhängig waren.

"Sind Sie koboldstämmig, junger Mann?" fragte ihn eine kleine Hexe im grünen Umhang. Julius verneinte es. Fast hätte er frech geantwortet, dass er dafür eindeutig zu lang geraten war. Doch er ahnte, warum ihm diese Frage gestellt wurde und erkannte, dass er sich wohl doch weiter vorgewagt hatte als er wollte. "Sie wirken so, als könnten sie auf die hier wirkenden Erdkraftströme lauschen. Achso, Mirella Terravechia, die Angetraute und für magische Hinterlassenschaften unserer kleinen Republik zuständige Ratshexe."

"Angenehm, Julius Latierre, Veelabeauftragter des französischen Zaubereiministeriums und hauptamtlicher Nachrichtenüberwacher im Büro für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne magische Kräfte. Und ja, ich habe wegen meiner Tätigkeit für die Veelastämmigen einige Zauber der Erde gelernt, um deren natürlichen Verlauf zu erfassen", sagte Julius weit ab von der Wahrheit. Doch was sollte er der Ministergattin seine wahre Lebensgeschichte auftischen.

"Nun, dann haben Sie gerade mitbekommen, dass die schlafende Erdmutter sichergestellt hat, dass nur solche ihrer Kinder zu ihr in die tiefe Audienzhöhle dürfen, die in Demut auf der Oberfläche wandeln und nicht versuchen, durch die Eingeweide der Erde zu eilen. Deshalb ist dieser Ort für die aus Ihrem Geburtsland herübergekommenen Kobolde sowas wie heiliger aber auch unbetretbarer Boden", sagte Mirella Terravechia. Julius meinte, dass wohl auch Veelastämmige diesen Ort für etwas ganz besonderes halten würden. Das war nicht gelogen.

"Ja, nur dass wir auf unseren Inseln keine Veelas wohnen haben und auch kein Interesse hegen, welche anzusiedeln. Diese Wesen neigen leider dazu, sich für wichtiger und überragender zu halten und alle glauben zu machen, dass dies so ist, nur damit Sie wissen, dass Sie hier wohl nicht viel zu tun haben."

"Ich wurde von unserer Zaubereiministerin gebeten, mitzukommen, da nicht nur die Italiener, die ja von einer Veelastämmigen unterworfen worden waren, sondern auch die Spanier, bei denen eine kleine Gemeinde Veelastämmiger wohnt, anwesend sein werden", sagte Julius. Da trat der hagere Hüne Nathanael Terravechia zusammen mit Ministerin Ventvit hinzu. "Ah, Mirella, hast du den Herren schon kennengelernt, den die Spanier und Italiener unbedingt hierhaben wollten?"

"Er vermag, in den Boden zu lauschen und die Erdkraftstränge zu spüren, Nate", sagte Mirella. Immerhin sprachen sie Englisch und mentiloquierten nicht, erkannte Julius. Er wusste, dass die Malteser eine eigene Sprache besaßen, die wie ihre Geschichte aus allen hier einmal herrschenden Volksgruppen übernommen und zusammengefügt worden war.

"Ich habe Ihrer Gattin erklärt, dass ich wegen meiner zusätzlichen Aufgabe als Veelabeauftragter einige Elementarzauber mehr erlernt habe, darunter eben auch Zauber der Erde", sagte Julius und stellte sich dem Tricenturio, der hier einem Zaubereiminister gleichgestellt war vor. "Dann wird es sicher für Sie ein interessantes Erlebnis, wenn wir nachher in den Tempel der vergessenen Erdmutter gehen", sagte Nathanael Terravechia. Julius bejahte das.

Nacheinander trafen nun die Delegationen aus Afrika auf fliegenden Teppichen oder auf fliegenden Besen ein. Julius erfuhr später, dass die nicht aus arabischen Ländern stammenden Abordnungen mit ähnlichen Schiffen angereist waren, wie sie die trimagische Gruppe aus Durmstrang beim Turnier in Hogwarts verwendet hatten. Julius hielt sich nach seinem doch wem aufgefallenen Abtastungen der Erdmagie zurück und hielt sich in der Nähe von Barbara Latierre und Belenus Chevallier auf.

Die ägyptische Abordnung reiste auf vier imposanten Flugteppichen an. Gleichzeitig landeten zwanzig Flugbesen, an denen die italienische Nationalflagge und das Wappen der Società magica Italiana wehte. Von Catherine Brickston wusste Julius, dass anders als in Ägypten und den Maghrebstaaten in Italien noch ein zeitweiliger Zaubereiminister amtierte, ein gewisser Francesco Torregrande. Der maß gerade 1,60 Meter und wirkte vom reinen Erscheinungsbild schmächtig und zerbrechlich. Doch das war in der Zaubererwelt völlig unbedeutend. Seine Begleiter waren nicht viel größer und teilweise kugelförmig gebaut. Sie benutzten ihre Hände beim Reden, wie er es von diversen Urlaubsreportagen und Fußballerinterviews kannte. Julius bekam mit, wie sich Barbara und Britta neben ihm aufstellten, als wollten sie ihn flankieren. Auch fühlte er, dass es bereits zu einer gewissen Anspannung zwischen den Ägyptern und Italienern kam. "Musst du nicht eher auf die Ministerin aufpassen?" fragte Julius seine schwedischstämmige Schwippschwägerin. Diese deutete auf ihre drei Kolleginnen, die mit den anderen Personenschützern in der Nähe der Ministerin standen. "Wir zwei werden hier wohl die wenigsten Gelegenheiten für Heldentaten kriegen", sagte Britta ein wenig resignierend. Auf Gotland hatte sie noch als Reiseführerin und Simultanübersetzerin auftreten dürfen. Hier war sie eine von vier Leibwächterinnen, die sich in der direkten Absicherung ihrer Schutzperson abwechseln konnten.

"Seht euch das an, wie triumphal die Al-assuanis wieder auftreten", grummelte Barbara Latierre, während die ranghöchsten Vertreter der Ministerien sich begrüßten.

Nun trafen noch die Griechen ein. Sie kamen in vier großen Wagen, vor die silbergraue Pferde mit weißen Mähnen und himmelblauen Flügeln gespannt waren, Pegasi, die von vielen für die Urform geflügelter Pferde gehaltenen Tirwesen. Diese begannen sogleich laut zu wiehern, als sie die mit Rückhalteringen auf einer weitläufigen Koppel untergebrachten, elefantengroßen Abraxanerpferde der Sonnenkarosse sahen und witterten. Die französischen Riesenpferde erwiderten mit wesentlich tieferer Stimme die Begrüßung.

"Oha, da wird wohl gleich noch ein großes Umparken der Gespanntiere anstehen", meinte Barbara, als sie den Leithengst des französischen Gespanns ansah, wie der den Hengsten der grieschischen Gespanne mit starkem Imponiergehabe entgegenblickte.

"Ich fürchte, wir müssen unsere Zugtiere etwas weiter voneinander entfernt unterstellen", rief Ministerin Ventvit. Dem schloss sich auch die aus einer der Kutschen entstiegene Hexe Alexia Tachydromos an. Da Minister Anaxagoras nicht persönlich eintreffen konnte und seine Schwester zudem mit drei Botinnen des alten Ordens der Töchter Hecates zusammen an der Versammlung teilnehmen wollte führte der Leiter der Abteilung für internationale Zusammenarbeit für die griechische Gruppe.

Julius fiel auf, dass Alexia Tachydromos' Umhang um Bauch und Taille weiter war. Das kannte er von Umstandsmoden, die nicht auf ein Verbergen der guten Hoffnung ausgelegt waren. Doch laut sagen wollte er das nicht.

Als dann auch die Spanier eintrafen konnte die Zusammenkunft der europäischen und afrikanischen Zaubereiministeriumsabordnungen beginnen.

Der bohnenstangengleiche Nathanael Terravechia verkündete, dass sie gleich durch einen getarnten Einstieg in die natürliche Kultstätte einer nicht mehr mit Namen bekannten Erdgöttin hinabsteigen würden. Er wies darauf hin, dass innerhalb des Höhlensystems nicht appariert oder disappariert werden konnte, da der Rückhalt der Erde durch die dort gebündelt auftretende Erdmagie vervielfacht würde. Außerdem sei es innerhalb der Höhlen nicht möglich, mit außenstehenden worthafte Gedanken auszutauschen. Das schien erst mal keinen hier zu bekümmern. Dann sagte der Tricenturio

"Da in den Höhlen eine natürliche Zirkulation von Erdmagie herrscht sind magische Lichter schwerer zu entzünden. Daher werden Sie gleich von uns tragbare Laternen erhalten, die mit natürlichen Wachskerzen bestückt sind. Die fünf zertifizierten Wegkundigen meiner Abordnung werden die Laternen mit grünen Schirmen erhalten, um für Sie alle deutlich sichtbar voranzugehen. Alle anderen, ich eingeschlossen, werden die sonnengelben Laternen tragen. Ich hoffe, bei Ihnen leidet niemand unter Angst vor Dunkelheit oder engen Räumen. Falls doch, bitte hier und jetzt bekanntgeben. Er oder sie ist dann von der Anwesenheitspflicht entbunden und darf die von unserer Eulenzucht bereitgestellten Postvögel als Verbindungshelfer nutzen. - Nein? Kein Klaustrophobie- oder Skotophobiefall? Gut, dann teil bitte die Laternen aus, Mirella!"

Mirella Terravechia zog an einem Stück leere Luft und hielt eine seidenweiche, silberne Decke in der Hand. Da, wo sie die Decke aus leerer Luft gezogen hatte stand nun ein Leiterwagen, auf dem mehrere Dutzend Laternen gestapelt waren. Laurentine hatte den Latierres und Brickstons von den alljährlichen Martinsumzügen in den römisch-katholischen Regionen Deutschlands erzählt. Vor allem die Kinder freuten sich immer darauf, mit selbstgebastelten Laternen mitzugehen, ob mit elektrischen oder natürlich brennenden Kerzen. Dabei sangen sie Lieder über Laternen und die Sterne, weil das im Deutschen gut gereimt werden konnte. Also stand vor dem großen diplomatischen Ereignis ein Laternenzug an, dachte Julius.

"Hier bitte, Mr. Latierre", sagte Mirella Terravechia und gab ihm eine gelbe Laterne und ein Streichholzbriefchen. "Falls Sie denken, unterwegs noch mehr in die kreisende Erdmagie zu lauschen unterschätzen Sie das bitte nicht. Kobolde und Zwerge kommen nicht einmal bis auf fünfhundert Meter an die Quellhöhle heran."

"Danke für die Warnung, Mrs. Terravechia", sagte Julius. Er konnte gerade noch verschlucken, dass er sich am Morgen extra noch einen kleinen Granitstein in Form eines Würfels in eine der Innentaschen gesteckt hatte, dem er in Gewissheit, ein Zentrum von Erdmagie zu besuchen, entsprechende Schutzzauber eingeprägt hatte, um ihn vor überstarker Ausstrahlung von Erdmagie zu schützen. Der Zauber würde ungeachtet der auf ihn wirkenden Erdkräfte eine volle Erddrehung vorhalten oder konnte nur von ihm aufgehoben werden. Allerdings musste er dann eben jeden Morgen vor dem Frühstück die sechs Schutzzauber erneuern.

Es zeigte sich, dass die meisten Delegierten noch nie mit Streichhölzern hantiert hatten. So brannten nach einer Minute nur alle grünen Laternen. Julius half denen aus, die bei ihm standen. "Warum mit Mogglofeueranzündern?" knurrte der spanische Zaubereiminister Pataleón. Bei zwei Abgeordneten aus Südafrika fingen die Laternen Feuer. "Nur die Kerzen sollen brennen", scherzte Nathanael Terravechia und löschte die flammenden Laternen. Die beiden Delegierten erhielten natürlich Ersatz.

"Wie erwähnt, magische Lichtquellen können bereits hier nicht mehr genutzt werden. Tiefer in der Höhle gelingt kein Lumos- oder Amplumina-Zauber mehr, und die anderswo so trefflichen Sonnenlichtkugeln glimmen nur noch tiefrot und sind nach nur einer Stunde erschöpft", sagte Terravechia. Dann teilte er mit einstudierten Handbewegungen die Gruppen ein, die je einer grünen Laterne hinterherziehen sollten. Julius, der seiner Delegation ausgeholfen hatte, marschierte mit Barbara und Britta zusammen hinter Mirella Terravechia her. "Die haben dich angeglubscht wie einen rosarroten Wichtel", flüsterte Britta Julius zu. Dieser nickte nur.

Durch eine silbern-grün flirrende Wand ging es in einen schmalen, niedrigen Gang. Die entzündeten Laternen beschinen die grauweißen Kalkwände. Keiner traute sich etwas lautes zu sagen. Sie folgten so leise sie konnten den grünen Laternen.

Sie durchquerten Höhlen so groß wie ein Tanzsaal und mussten aufragendenStalakmiten ausweichen oder ihre Köpfe einziehen, um nicht gegen herabhängende Stalaktiten zu stoßen. Julius dachte an Bergwerksbesichtigungen mit seinen Grundschulklassen. Da hatten sie immer Helme mit befestigten Lampen aufgesetzt.

Julius musste sich darauf besinnen, nicht zurückzufallen oder gar den Marsch zu behindern. Deshalb lauschte er nur flüchtig auf den Verlauf der Erdmagnetlinien und erkannte, dass diese in einem langsamen Takt schwangen. Ein Kompass wäre hier unten völlig nutzlos. Er fühlte auch, dass sein Erdkraftschutzwürfel sanft vibrierte. Ebenso fühlte er seinen Heilsstern unter dem Unterhemd warm und wohlig pulsieren. Also wirkte hier unten eine lebensfördernde Kraft.

Sie passierten Abzweigungen, Kreuzungen und Säulengänge, stiegen Rampen hinauf und wieder hinunter. Julius sah keine Markierungen in den Wänden. Dafür fiel ihm auf, dass Mirella Terravechia ihre Lippen bewegte, als wolle sie den Text eines Liedes nachempfinden, ohne ihn laut zu singen. Er vermutete, dass sie einen Merktext vor sich hinflüsterte, der ihr half, die richtigen Abzweigungen zu nehmen. So ähnlich machten es auch die australischen Ureinwohner, wusste Julius von Aurora Dawn. Gesungene Landkarten, die den Eingeweihten verrieten, wo es langging und wo wichtige Dinge wie Wasserstellen, heilige Steine oder besonders wildreiche Jagdgebiete zu finden waren. Es wurde ihm aber auch bewusst, dass selbst er, der Erdvertraute, ohne fremde Hilfe nicht hinausgelangen würde. Am Ende lagen hier in den abgelegenen Gängen und Höhlen noch die Skelette glückloser Höhlenforscher herum. Oha, fast hätte er wegen seiner Gedanken das Marschtempo vergessen. Schnell rückte er vor und hielt nun den Abstand zu seiner Vorderfrau Barbara Latierre.

Es ging in eine Höhle, von der aus ein Stollen mit einem 45-Grad-Gefälle in die Tiefe führte. "Bitte jetzt besonders aufpassen! Nicht ausrutschen!" warnte Mirella Terravechia.

Die Marschgruppen durchquerten nun den letzten Stollen. Der Boden war fast spiegelglatt und wie Julius sehen konnte leicht angefeuchtet. Die Warnung war also völlig berechtigt. Gut, dass er sich festes Schuwerk mit rutschfesten Sohlen angezogen hatte. Monsieur Chaudchamp, der hinter der Ministerin unmittelbar hinter Mirella Terravechia herging glitt aus und knallte mit dem Hinterteil auf den Boden. Er stieß eine Wüste Verwünschung auf Französisch aus. "Bitte nicht fluchen. Die schlafende Erdgöttin könnte es hören", sagte Mirella. "Haha, Sie glauben dochnicht echt an eine alte Göttin aus der Steinzeit", schnaubte Chaudchamp. Die Ministerin räusperte sich und erinnerte ihn an seine Vorbildfunktion. Er biss die Zähne zusammen und hielt damit eine neue Verwünschung zurück.

Am unteren Ende des abschüssigen Stollens öffnete sich eine Höhle, so groß, dass in ihr das Hauptschiff von St. Paul oder Nôtredame hineingepasst hätte. Das Laternenlicht reichte nicht bis zu den gegenüberliegenden Wänden. Die Decke hing mehr als achzig Meter über ihnen. In der Mitte jener imposanten Höhle standen ein großer, kreisrunder Tisch und viele hochlehnige Stühle. Ob der Tisch gedeckt war hätte nur jemand mit einer Gleitlichtbrille mit Restlichtverstärkung sehen können. Denn der Widerschein der Laternen reichte noch nicht aus. Erst als sie näher an den Tisch herankamen und die Fünf Untergruppen sich so aufteilten, dass sie alle einen Kreis um den Tisch bilden konnten sah Julius, dass der Tisch gedeckt war und dass auf ihm bereits gefüllte Kelche standen. Mehr zur Tischmitte hin stand ein zwei Meter hoher Kerzenleuchter mit breitem Fuß. In diesen waren mindestens 24 dicke Kerzen eingesetzt.

Julius fühlte, wie sein Erdkraftschutzwürfel alle fünf Sekunden vibrierte. Sein Heilsstern verströmte nun dauerhaft ein Gefühl wohliger Wärme. Sie mussten die nächste Nähe zum Zentrum der natürlichen Erdmagie erreicht haben, und ja, der Würfel musste eine sehr starke Ausstrahlung dämpfen, um seine Sinne für Erdzauber nicht zu überreizen. Ob Mirella Terravechia das mitbekam, wo sie sich im Grunde auch als Erdkraftvertraute offenbart hatte?

Willkommen im Heim der vergessenen Erdgöttin", begrüßte Nathanael Terravechia die Gäste. Seine Stimme hallte erhaben von den fernen Wändenund der sich weit über ihnen wölbenden Decke wider. "Bevor wir den ersten gemeinsamen Trunk zur Begrüßung und zur Hoffnung auf eine erfolgreiche Zusammenkunft zu uns nehmen werden meine Ratskolleginnen und Kollegen der Tricenturia alle verfügbaren Lichter entzünden, um genug sehen zu können."

Die Träger grüner Laternen eilten nun durch die kathedralengroße Höhle und entzündeten mit ihren Streichhölzern kleine Kerzen, an deren Flammen sie widerum Wachsschnüre entzündeten, die in Eile zu hohen Kerzendochten hinaufbrannen und diese dann entzündeten. Dieser Vorgang dauerte zehn volle Minuten. Dann bat Terravechia seine Gäste, die mitgebrachten Laternen zu löschen. Sie konnten sie an einer Halterung an der Rückenlehne ihres Stuhles einhängen. Als alle wieder am Tisch standen lasen sie die Platzkarten auf der im Licht der unzähligen Kerzenflammen und Laternen grün schimmernden Tischdecke und stellten sich entsprechend hinter die Stühle. Terravechia verkündete nun, dass sie an diesem Tisch Frühstück, Mittagessen und Abendbrot einnehmen würden. Die Zeiten waren sieben Uhr für Frühstück, zu beenden um acht, Mittagessen um eins, zu beenden um zwei und Abendessen um sieben, zu beenden nach Sättigung. Dann stellte er die für die Fachgruppen internationale Zusammenarbeit, Sicherheit, Handel, magische Geschöpfe und die Ministerrunde vor und erwähnte, dass sie gleich nach dem Begrüßungsschluck in die vorbereiteten Höhlen gehen und die erste Gesprächsrunde einleiten konnten. Dann fragte er, ob jemand keinen Alkohol trinken wolle oder dürfe. Alexia Tachydromos meldete sich und erwähnte gesundheitliche Gründe. Julius vermutete nun erst recht, dass die griechische Abgesandte schwanger war. Er war da wohl auch nicht der einzige. So bekam sie einen anderen Kelch hingestellt. Dann durften alle die Kelche anheben und einander zutrinken.

Julius dachte erst an Met, als er die goldgelbe Flüssigkeit in den Mund nahm. Doch als er den ersten Schluck tat brannte die Flüssigkeit sich ihren Weg durch die Speiseröhre, um in seinem Magen eine kurze Hitzewallung zu erzeugen. Was für ein Gesöff war das bloß? Sollte er das laut fragen? Nein, erst einmal nicht. Er vertraute wenigstens auf seine durch Ursulines Lebenskraftspende und Madame Maximes Blutspende erhöhte Gifttoleranz und damit verbundene Trinkfestigkeit.

Als die Kelche bis zur Neige geleert waren winkte Lisa Geraldini, die Fachhexe für magische Geschöpfe, die Fachgruppe magische Wesen hinter sich her. Sie trug eine grüne Laterne.

Es ging durch die große Höhle und in einen Seitenstollen, der durch einen dicken blauenVorhang verdeckt war. Von dort aus folgten sie der grünen Laterne bis zu einer geräumigen Felsenkammer, in der bereits mehrere Kerzenleuchter entzündet waren und ein langer Konferenztisch mit Stühlen bereitstand. Auf dem Tisch rhob sich ein Würfelförmiges Gehäuse mit je einem goldenen Zifferblatt in den Seitenflächen. Die Zeiger standen auf eine Minute vor elf Uhr.

Lisa Giraldini drückte auf einen großen runden Knopf auf dem Uhrenwürfel. "Zehn Uhr, neunundfünfzig Minuten und zwanzig Sekunden. Sitzungsbeginn am zweiten April zweitausendundsieben", tönte eine blecherne, geschlechtslose Stimme aus dem Würfel.

"Ab nun schreibt unsre Protokollfeder mit", sagte Lisa Giraldini. "Ich möchte zunächst die in dieser Höhle enthaltenen zeitweiligen Einrichtungen vorstellen. Danach verlese ich die im Vorfeld vereinbarte Tagesordnung. Dann können wir uns darüber abstimmen, ob diese Tagesordnung von Ihnen so eingehalten werden soll. Bei einer Stimmenzahl von mehr als drei Vierteln der Stimmberechtigten gilt ein Beschluss als getroffen und verbindlich. Nach dem Mittagessen kann dann der vereinbarte Tagesordnungspunkt eins besprochen werden."

Lisa Giraldini deutete nun zu der der Eingangsöffnung genau gegenüberliegenden Wand und winkte mit ihrem Zauberstab. Die Wand schien sich aufzulösen. Tatsächlich erschinen vier zwei Meter hohe, schrankartige Einrichtungsstücke in Weiß. Auf den zwei äußeren prangte das Bild eines Mannes in blauem Umhang. Auf den beiden Türen in der Mitte war das Bild einer Frau im sonnengelben Kostüm zu sehen. Lisa Giraldini stellte die vier schrankartigen Möbel als mobile Badezimmer vor, die von bis zu vier Personen zugleich benutzt werden konnten. "Wer Bedarf hat meldet sich mit "Benötige Badezimmer" und kann für bis zu zehn Minuten das mit dem Bild des zutreffenden Geschlechtes gekennzeichnete Mobilbad aufsuchen. Die Badezimmer sind beidseitig schalldicht, um die Intimsphäre zu wahren. Es gelten die innerhalb der Kabinen aushängenden Benutzungsrichtlinien, die in englischer Sprache aushängen. Da wir in dieser Höhle keinen beliebigen Wassernachfüllzauber verwenden können enthalten die rauminhaltsvergrößerten Sanitärzisternen genug Frischwasser für rundgerechnet eintausend vollständige Spülungen und dito Handwaschungen. Soweit dazu."

Nun verlas Lisa Giraldini den Entwurf der Tagesordnung. Julius erkannte, dass es heute erst um die Zuchtvereinbarungen für magische Nutztiere und den Verkauf von deren Erzeugnissen ging. Am dritten April sollte dann über die Wassermenschen gesprochen werden. Am vierten April sollte es um die Kobolde gehen, vor allem ob diese in die Gringottsfilialen Nordafrikas zurückkehren durften. Am fünften April sollte es um das Verhältnis zu den Veelastämmigen in Spanien, Portugal und Frankreich gehen, wobei hier Julius die Lage in Frankreich erwähnen und das dortige Verhältnis als Grundlage für einen möglichen internationalen Friedensschluss mit den Veelastämmigen Europas und falls möglich für nach Afrika auswandernde Veelastämmige zur Debatte stellen durfte. Julius konnte hier schon an den Gesichtern der betreffenden Ministeriumsvertreter sehen, dass er wohl diesmal keinen so leichten Stand wie bei den slawischen Zaubereiministeriumsvertretern haben mochte. Spaniens Abgesandter Rafael Vargas Ruiz wirkte irgendwie angriffslustig, als er Julius ansah. Doch dieser brauchte nur seine Selbstbeherrschungsformel zu denken. Er hoffte, dass er das Thema nicht in den sechsten April hineinverlagern musste. Denn laut Ministerin Ventvit stand für den sechsten um neun Uhr morgens ein Portschlüssel nach Paris für ihn bereit. Von dort konnte er dann per Flohpulver oder im Appariersprung nach Millemerveilles wechseln, um den zweiten Geburtstag seines Sohnes Félix zu feiern. Klappte es so, dann betraf Julius der Tagesordnungspunkt über den Umgang mit den Vampiren nicht, auch wenn es ihn schon interessierte, was die afrikanischen Delegierten dazu zu sagen hatten. Am siebten sollte es noch einmal um die Informationspflicht der Zaubereiministerien den nichtmagischen Regierungen gegenüber bei der zeitweiligen oder dauerhaften Einfuhr von magischen Tierwesen gehen und wie sich in der Hinsicht die im Mai stattfindende Konferenz der Spiele- und Sportabteilungen für die Ende Juli beginnende Quidditchweltmeisterschaft in Indien verhalten sollten. Julius wusste schon von seiner Schwiegertante Barbara, dass sie da noch mit seiner Schwiegermutter Hippolyte einige Brocken aus dem Weg räumen musste, weil der französische Quidditchverband unbedingt wieder die Feuerraben als Maskottchen mitnehmen wollte, das indische Zaubereiministerium jedoch einen Einfuhrstop für Feuer versprühende Tierwesen verhängt hatte. Das lag wohl an den Bonsaidrachen, die ein windiger Tierhändler aus Japan nach Indien geschmuggelt hatte.

Wenn alles so blieb wie gerade vorgelesen sollte am achten April über riesenhafte Zauberwesen und Tierwesen debattiert werden, vor allem über die Tarnung jener Wesen vor nichtmagischen Menschen. Hier mochte es auch um die in Frankreich lebende Familie von Meglamora und ihren drei Kindern gehen. Julius war von Barbara Latierre und der Ministerin vorgewarnt worden, dass es dabei auch um die gezielte Befruchtung Meglamoras gehen mochte und wie die anderen Ministerien dies be- und verurteilen mochten. Doch auf diese Debatte war er bereits vor der Reise nach England vorbereitet gewesen. Sie hatte dort jedoch nicht stattgefunden, wohl auch, weil Professor McGonagall Wert ddarauf legte, dass Hagrid und sein Halbbruder Grawp nicht noch weiter in den Akten des Ministeriums herumgereicht wurden.

Falls alle Tagesordnungspunkte an den angeführten Tagen abgehandelt werden konnten sollte am neunten, spätestens am zwölften April die Abschlussveranstaltung mit der Vorstellung aller in den Einzelgruppen erörterten Themen und Ergebnissen stattfinden. Die Rückreise der Delegierten waren dann für den frühen Morgen des Tages danach geplant.

Als die Tagesordnungspunkte verlesen waren stellte Lisa Giraldini jeden einzelnen Punkt zur Abstimmung, ob er zur angesetzten Zeit besprochen werden sollte. Da passierte es dann. Die Afrikaner wollten das Thema Vampire und Werwesen unbedingt um einen Tag vorverlegen, also auf den fünften April. Dafür sollte das Thema Veelastämmige dann am sechsten April besprochen werden. Julius musste sich sehr anstrengen, keine Miene zu verziehen. War das womöglich Absicht, um ihm die Geburtstagsparty zu verderben? Die afrikanischen Abordnungen brachten insgesamt 16 Stimmberechtigte, die Mittelmeeranrainger zwölf. Eine Dreiviertelmehrheit galt bei 21Jastimmen. Da die Abstimmung immer namentlich erfolgte konnte jeder sehen, wer mit "Ja", "nein" oder "Enthaltung" stimmte. So konnte Julius bei Aufruf der Jastimmen sehen, dass Vargas Ruiz und sein Sekretär mit den Afrikanern stimmte und auch der Italiener Albano Buonaventura, von dem Julius dachte, dass der in der noch amtierenden Vertretungsriege aus der Liga gegen dunkle Künste stammte. Auch die beiden malteser Mitglieder dieser Fachgruppe stimmten mit "ja. Damit war die entscheidende 21 erreicht. Julius stimmte trotzdem mit der Griechin Alexia Tachydromos und seiner Schwiegertante Barbara und deren Sekretär Valvert mit nein. Der griechische Spezialist für besonders mächtige Tierwesen und Buonaventuras zwei Stellvertreter enthielten sich. Julius überlegte schon, wie er es Millie und Béatrice beibringen sollte, dass es mit dem sechsten April nichts wurde, als Barbara Latierre anmerkte, dass das Thema Vampire und Werwesen auch zu wichtig war, um erst am fünften April besprochen zu werden. Es wurde dann neu abgestimmt, ob es nicht gleich morgen als Gesamttagesblock festgelegt werden konnte. Dem stimmten die Afrikaner zu und auch Julius, Barbara und Alexia Tachydromos, sowie die beiden Vertreter der maltesischen Tricenturia. Damit wurde die Verlegung des Themas vom fünften auf den dritten April gültig. Julius sah seine Schwiegertante an und bekam ein Nicken zur Antwort, da Mentiloquieren hier ja nicht ging. Er bat ums Wort und fragte höflich, ob dann der Tagesordnungspunkt "Verhältnis zu Veelas und Veelastämmigen" wie im Entwurf auf dem 5. April verbleiben konnte. Der ägyptische Vertreter Sanan Al-Assuani merkte an, dass es Julius offenbar sehr wichtig sei, das Thema frühestmöglich zu besprechen. Das stritt er nicht ab, weil er ja wegen dieser Beratung von seinen eigentlichen Aufgaben freigestellt worden sei. Er erhielt 21 von 28 Stimmen, wobei Julius mitbekam, dass die Spanier mit "nein" stimmten. So wwurde das Verhältnis zu den Wassermenschen auf den 6. April umgelegt. Alle anderen Tagesordnungspunkte blieben auf den vorgeschlagenen Terminen. So konnte um halb zwölf die abgeänderte Tagesordnung neu verlesen werden und wurde mit allen anwesenden Stimmen gebilligt oder auch verabschiedet, wie es im Politikerjargon hieß.

Da es nur noch knapp eine halbe Stunde bis zum Essen dauerte wurden für den ersten Tagesordnungspunkt schon einmal Unterthemen gesetzt, über die dann nach dem Mittagessen gesprochen werden sollte. Dann suchten alle 26 Gruppenmitglieder nacheinander die mobilen Sanitäreinrichtungen auf, um sich zu erleichtern und sich die Hände zu waschen. Dabei fing Julius den lauernden Blick von Rafael Vargas Ruiz auf und schaffte es, sich nichts anmerken zu lassen, wie er diesen einstufte. Sie würden noch früh genug miteinander debattieren.

Das Mittagessen bestand aus drei Gängen, bei denen des Verhandlungsortes gemäß mediterane Fisch- und Gemüsespezialitäten gereicht wurden. Beim Essen saß Julius zwischen Barbara Latierre und Belenus Chevallier. Gemäß der geltenden Vereinbarung, nicht über die in den Fachgruppen besprochenen Themen zu sprechen ging es nur um die Einrichtungen und dass die Anlage im Gefahrenfall auch für mehr als eine Woche zweihundert Menschen beherbergen konnte. Allerdings mochte dann sowas wie Bunkerstimmung aufkommen und das Zeitgefühl verschoben werden. Julius wollte nicht offen aussprechen, dass wegen der an in den Höhlen schwankenden Magnetfeldlinien sein darauf abgestimmtes Richtungsempfinden und Zeitgefühl versagte. Denn als Erdkraftvertrauter hatte er auch gelernt, die Tageszeit am Verlauf der Eisenweiselinien zu erkennen. Als Astronomie- und Astrophysikinteressierter wusste er, dass diese Schwankungen durch den auf das Erdmagnetfeld einwirkenden Partikelstrom von der Sonne, den Sonnenwind, herrührte. Doch in diesen Hölen war damit nichts anzufangen. Er merkte nur an, dass ein Kniesel oder Postvogel vielleicht probleme haben mochte, sich hier unten zu orientieren, weil Erdmagie ja wohl auch die Magnetkräfte der Erde beeinflusste. Barbara Latierre erwiderte darauf: "Das mag für die geflügelten Säugetiere und für Vögel gelten. Aber Kniesel finden die richtigen Wege nicht allein durch den Erdmagnetsinn, Julius. Das solltest du als Halter mehrerer Kniesel eigentlich wissen." Julius erinnerte sich, dass Goldschweif einen Weg nicht nur nach Nord- und Südrichtung einstufte, sondern intuitiv erfasste, wie richtig, harmlos oder gefährlich er war. Das waren die besonderen Instinkte dieser Zauberwesenzüchtung, die nach Möglichkeit nicht mit dem Schwert der Entschmelzung in Berührung kommen durften. Doch von diesem Schwert sagte Julius natürlich auch nichts.

"Fourier und Chaudchamp sehen sehr angespannt aus, als wenn sie schon jetzt wieder nach Hause wollten", meinte Belenus Chevallier. Julius konnte es den Gesichtern der Kollegen ansehen, dass sie wohl schon voll in einer Auseinandersetzung steckten. Er sah zu Ministerin Ventvit hinüber, die mit ihren Amtskollegen einen Block bildete und sich gerade mit dem zeitweiligen Zaubereiminister Italiens unterhielt. Dessen ägyptischer Amtskollege Karim Al-Assuani wirkte sehr entschlossen, ja kampfeslustig. Womöglich lief da was auf ganz hoher Ebene, dachte Julius.

Nach dem Essen ging es dann mit den Zuchtverzeichnissen magischer Tierwesen weiter. Das war eindeutig Barbara Latierres Thema. Die Vertreter aus Kenia und Algerien wollten was über die europäische Unterstützung der Feuerlöwenreservate erfahren und auch, was wegen der algerischen Felsenvogelbestände unternommen werden konnte. Hier zeigte sich, dass die Nordafrikaner in einer selbstgemachten Zwickmühle steckten. Einerseits lehnten sie jede Einmischung aus Europa, besonders den ehemaligen Kolonialmächten, entschieden ab. Andererseits waren sie aber auf genau diese Staaten angewiesen, um die bei ihnen wild und halbwild lebenden Bestände großer, interessanter aber auch wortwörtlich brandgefährlicher Tiere zu sichern. Der Untersekretär des Abteilungsleiters für magische Geschöpfe aus Algerien brachte das Argument, dass ja auch europäische Zauberschulen wie Beauxbatons und Hogwarts immer gerne Klassen zur Erkundung dieser Tiere schickten und der "an natürlichen Vorlagen ausgerichtete Fachunterricht" sicher nicht eingeschränkt werden sollte. Darauf erwiderte Barbara Latierre, dass es in anderen afrikanischen Ländern wie Kenia und dem Senegal bereits Tierpatenschaften gab, an denen sich nicht an gewinnbringender Verwendung interessierte Zaubereifamilien und -institutionen beteiligen konnten und erinnerte den algerischen Kollegen daran, dies schon mehrmals angeboten zu haben. Die kenianischen und senegalesischen Fachkollegen bejahten es. So durften Barbara und die erwähnten Kollegen aus Ost- und Südafrika es noch einmal für die hier versammelten darlegen, wie diese Tierpatenschaft geregelt war und wie gut sie funktionierte. Am Ende stimmte der algerische Abgesandte dafür, diese Einrichtung mit dem Leiter der Handels- und Vermögensabteilung seines Zaubereiministeriums besprechen zu wollen, selbst jedoch sehr zuversichtlich sei, dass dieser der Regelung zustimmen würde. Julius dachte wohl wie Barbara, dass jemand sicher nicht nein sagte, wenn er kein eigenes Geld, sondern das anderer ausgeben durfte, um für ihn wichtige Sachen zu bezahlen.

Die Unterredung verlief bis zum Abendessen und endete mit einem Beschluss zur Verwaltung privater Bestände von Tierwesen der internationalen Gefahren- und Haltungsschwierigkeitsstufe XXX und XXXX. Entsprechend zufrieden wirkten alle Beteiligten, als sie zum Abendessen gingen. Da kein Bedarf bestand, nach dem Essen noch weiter über das Thema des Tages zu sprechen konnten die Mitglieder der Fachgruppe magische Wesen sich Zeit lassen. Die aus der Handelsabteilung wirkten dagegen so, als müssten sie heute noch was wichtiges besprechen und beschließen. Ministerin Ventvit führte eine Unterhaltung mit Spaniens wieder in Amt und Würden eingesetzten Minister Pataleón. Julius hatte den rein subjektiven Eindruck, als drehe sich diese bereits um sein Thema und Pataleón sei auf Konfrontationskurs mit Ventvit.

Belenus Chevallier hielt sich mit Gesprächsanteilen zurück. Irgendwie meinte Julius, dass der Leiter der Sicherheitsabteilung mit irgendwas haderte. Er sprach ihn aber nicht darauf an. Vielleicht ergab sich nachher in der französischen Reisekutsche die Gelegenheit, fachgruppenübergreifende Informationen auszutauschen, dachte Julius.

"Und es bleibt dabei, dass unsere Schätze zu uns zurückkehren, Herr Aushilfskollege Torregrande. Ihre Argumentation und die Ihrer ihres für die Wahrung der Sicherheit zuständigen Kollegen Montecello sind inakzeptabel und unrechtmäßig", schallte die Stimme Karim Al-Assuanis über den Tisch. Alle leise geführten Gespräche verstummten wie mit einem Schalter abgestellt. Nur der Nachhall schwappte immer leiser zwischen den weit auseinander liegenden Wänden und der Decke hin und her. Dann war es totenstill. "Kollege Al-Assuani, wenn Sie schon die ganze große Höhle beschallen müssen nehmen Sie wenigstens Rücksicht auf Ihre mitreisenden Fachkundigen, die die angesetzte Zeit gerne nutzen möchten, um alle Angelegenheiten in der gebotenen Ruhe und Sorgfalt zu besprechen", erwiderte Torregrande. Terravechia fügte dem hinzu: "Außerdem wollenSie doch sicher nicht vor den Kollegen hier als aufbrausender kleiner Junge dastehen, Kollege Al-Assuani."

"Klar, Italien ist ein guter Freund und guter Nachbar. Dem muss man beistehen. Aber hinter mir steht die ganze ägyptische Zauberergemeinschaft", erwiderte Al-Assuani. "Der Raub unserer Vergangenheit muss beendet werden."

"Sie legen keinen Wert auf einen erholsamen Tagesausklang, Kollege Al-Assuani. Das ist bedauerlich", sagte Terravechia. Torregrande fand, den ägyptischen Amtskollegen noch weiter piesacken zu müssen und sagte für alle am Tisch hörbar: "Wenn Sie und Ihre wohlvertrauten Mitarbeiter den Kobolden nicht gestattet hätten, Ihre alten Grab- und Kultstätten auszuplündern hätte Ägypten seine Schätze noch. Also beruhigen Sie sich gütigst. Das ist ja sonst peinlich."

"Peinlich?! Sie und ihre angebliche Heldentruppe gegen böse Zauberer und Zauberwesen heucheln, nur der Sicherheit wegen die Rückgabe unserer Altertümer zu verweigern. Dabei können Sie die noch nicht einmal zusammenhalten und lassen sich von einer Erbin Ihrer Feuerrosenkönigin mächtige Gegenstände unter Ihren Nasen wegstehlen. Also rücken Sie alles raus, was Sie noch von uns haben und sehen Sie zu, dass sie die gestohlenen Sachen schnellstens wiederfinden und ebenfalls zurückerstatten, bevor noch wer damit schweren Schaden anrichtet, weil er oder besser sie keine Ahnung von der richtigen Handhabung hat."

"Was bei uns in Italien ist unterliegt unserer Rechtsprechung. Außerdem war Ladonna Montefiori Ihre Königin, nicht meine, Kollege Al-Assuani."

"Aber meine werten Kollegen. heizen Sie den Kessel nicht noch mehr als er schon brodelt!" versuchte Terravechia einzuschreiten. Doch Pataleón sagte zu Torregrande: "Dieses mischblütige Weib stammt aus Ihrem Land und wollte ihre Form des römischen Imperiums wiedererrichten. Ihre sogenannte Liga gegen dunkle Künste hat versagt, sie rechtzeitig zu ergreifen und ihre bis dahin schon versklavten Landsleute zu befreien. Das wissen Sie ganz genau. Also tun Sie das einzig richtige und treten Sie von dem Amt zurück, in das sie nicht gewählt wurden!"

"O doch, das wurde ich, Kollege Pataleón", erwiderte Torregrande. "Und wenn Sie und die Kollegen aus Nordafrika weiter so um sich beißen und kratzen wie angestochene Raubkatzen besteht kein Zweifel, dass die Wahl meiner Landsleute richtig und weise war", erwiderte Torregrande. Terravechia beharrte dann darauf, diese unangenehme Unterhaltung in den Reihen der Minister fortzusetzen, da die hier versammelten ja die Anweisung hätten, nicht über die in ihren jeweiligen Gruppen gesprochenen Themen zu reden. Darauf meinte Pataleón: "Quod licet iovi non licet bovi." Belenus Chevallier verzog nur das Gesicht, während Julius wie alle anderen aufmerksam zuhörte, wie es weiterging. "Möchten Sie, dass wir Ministerinnen und Minister die Mahlzeit in unserem Besprechungsraum fortsetzen?" fragte Terravechia. "Mein Standpunkt und damit die Linie aller meiner Mitarbeiter steht fest wie die großen Pyramiden", erwiderte Al-Assuani. Darauf meinte Torregrande: "Gut zu wissen. Dann haben wir ja noch viertausend Jahre Zeit, miteinander alles entscheidende zu regeln." Nicht wenige am Tisch schmunzelten oder lachten verhalten. Al-Assuani erhielt ein zustimmendes Nicken aus seiner Delegation, die zum größten Teil aus Brüdern und Vettern bestand. Doch Karim Al-Assuani erkannte, dass er sich hier und jetzt wirklich der Lächerlichkeit preisgab. Er verzichtete auf weitere laute Einwände. Nach einer halben Minute totaler Stille begannen die anderen am Tisch sitzenden wieder mit ihren nicht ganz so weltbewegenden Unterhaltungen.

"Da wir heute schon mit unserem Tagesplan durch sind kehren wir nach dem Essen in die Reisekutsche zurück", legte Barbara Latierre fest. Belenus Chevallier grummelte: "Ihr habt's gut. Nach der gerade aufgeführten Nummer werde ich wohl noch bis Toresschluss mit meinen Kollegen reden müssen."

Um halb neun ließ sich Barbara Latierres Abteilung von Lisa Giraldini durch die Gänge und Kavernen wieder ins Freie bringen. Julius merkte, wie der Erdkraftschutzwürfel zu vibrieren aufhörte. Als sie die Sonnenkarosse erreichten gab Barbara das mit der Flugbesatzung vereinbarte Lichtzeichen. Hier draußen konnten magische Lichter problemlos entzündet werden.

"So, bis zum Nachtschutzmodus haben wir noch mehr als eine Stunde, davon abhängig, wann die Ministerin selbst zurückkommt", sagte sie zu Julius, als sie auf dem Weg durch die hausgroße Reisekutsche war. Sie dirigierte ihn in das kleine Besprechungszimmer, dass sie sich für Abstimmungsgespräche außerhalb des Konferenzgebäudes reserviert hatte. "Ich habe schon gedacht, die würden das mit den Veelas auf den allerletzten Tag verschieben. Rafi Vargas sa so aus, als wollte er dir zusammen mit seinem portugiesischen Kollegen und den Afrikanern gründlich den Tag verderben. Aber es war eine gute Idee, die darauf festzunageln, den Termin am fünften zu halten. Natürlich weiß ich, was du am sechsten vorhast und will auch, dass das gelingt. Wenn du schon meine kleine Schwester dazu bringst, ein Kind von dir zu kriegen sollst du auch bei dessen zweitem Geburtstag dabei sein."

"Ich dachte erst, dass Vargas Ruiz das mitbekommen hat, dass ich den sechsten schon was vorhabe, Tante Babs. Aber dann dachte ich, dass der das nicht mitbekommen hat, was Ministerin Ventvit mit mir vereinbart hat", erwiderte Julius ganz ruhig, obwohl er den Sarkasmus in Barbaras Stimme wohl vernommen hatte. Die würde sich noch wundern, dachte er nur für sich. Er dachte auch daran, dass er sich noch einmal auf die vor der ersten Abreise besprochenen Punkte konzentrieren sollte. Denn so wie Vargas Ruiz ihn angesehen hatte musste er wirklich auf stürmischen Gegenwind gefasst sein.

"Was machen wir hier eigentlich?!" polterte Belenus Chevallier, als er um halb elf in die Sonnenkarosse zurückkehrte. "Die haben doch nicht mehr alle Reiser am Besen, zur dreigeschwänzten Gorgone und all ihrer Brut!"

"Was rechtfertigt es, dass ein erwachsener Mann flucht wie ein Beauxbatons-Drittklässler, Monsieur Chevallier?!" rief Barbara Latierre zurück. Sie hatte mit Julius noch einmal über die Argumentationslinien für die Veelas und die Wasserleute gesprochen, denen er ja auch schon mehrere Besuche abgestattet hatte. "Dass alles darauf hinausläuft, dass wir nur als Zuschauer dieses Spiels ohne Schnatz und Quaffel aber mit acht Klatschern herhalten dürfen, weil sich die Messieurs Maghreb-Zaubereiminister darauf festgelegt haben, alles abzulehnen, was wir vor dieser mischblütigen Drei-Sickel-Wonnefee vereinbart haben und jetzt die Stimme Afrikas erklingen lassen, wo wir bitterbösen Ex-Kolonialmächte nur noch vor denen im Staub zu kriechen haben wie die Würmer. Und mein gerade erst wieder ins Spiel reingenommener Kollege macht bei diesem Hauen und Stechen gegen Italien und Griechenland mit."

"Kollege Chevallier, ich bitte mir die nötige Disziplin und gemäßigte Lautstärke aus", rief die Ministerin, als sie wohl auch gerade erst wieder einstieg. "Die Handelsgruppe braucht noch, Madame Duchamp", rief sie noch.

"Klar, weil die Al-Assuanis in allen Teilbereichen auf totalen Krawall eingeschworen sind", rief Belenus Chevallier. Dann erreichte er das Besprechungszimmer von Barbara Latierre. "Babs, ich hoffe, deine Leute haben weniger Drachenfeuer vor der Brust als meine oder die von Fourier, wobei sich der sicher noch heftiger rütteln und schütteln muss, um aus dem Getümmel unbeschadet herauszukommen", sagte er nun mit gemäßigter Lautstärke und grüßte Julius. Barbara Latierre erwiderte nur, dass ihr die hoch angespannte Stimmung bei den anderen Gruppen durchaus aufgefallen war.

Die Ministerin erreichte ebenfalls das kleine Besprechungszimmer. "Madame Latierre und Monsieur Latierre, bei allem was Sie von den anderen Gruppen zu hören bekommen werden möchte ich Sie bitten, weiterhin Ruhe und kühlen Kopf zu bewahren. Es war doch zu erwarten, dass sich die von Ladonna Montefiori geknechteten nun gegen die auflehnen, die in Freiheit bleiben konnten. Ja, und ich verstehe Torregrande nicht, dass der auch noch den Drachen unter der Zunge kitzelt, damit der noch mehr Feuer speit. Ich bin fast versucht, einen Antrag in der Ministerrunde zu stellen, dass er seinen Status als anerkannter Zaubereiminister verliert, zumindest bei dieser Verhandlung. Ich fürchte nur, dass das ein brennender Bumerang werden könnte, weil Torregrande, Pataleón und Montebranco so gestimmt sind, als müssten sie jetzt auch meine Vertrauenswürdigkeit in Frage stellen."

"Ja, schon heftig, dass der ägyptische Zaubereiminister sich dazu verstiegen hat, bei einem offiziellen Abendessen vor allen seinen und aller anderen Leute so auf die dicke Pauke zu hauen", fühlte sich Julius berechtigt, was dazu zu sagen. Die Ministerin sah ihn an und sagte mit einem sehr ernsten Tonfall: "Wenn das in diesem Tonund dieser Stimmung weitergeht muss ich mir sehr ernsthaft überlegen, ob ich diesenAbschnitt der Reise nicht als totales Fiasco verbuchen muss. Bitte sorgen Sie alle dafür, dass ich diesen Schritt nicht tun muss!" Julius hoffte das für den Teil, der ihn betraf schon seit dem Morgen. Ja, und in drei Tagen würde er es wissen, ob sich seine Mitreise gelohnt hatte oder er nicht doch nach einer anderen Anstellung suchen sollte. Die Ministerin bat ihn und Babs Latierre noch darum, vorerst nur für die Temps herauszugeben, dass die Verhandlungen fortgesetzt würden und mit Endergebnissen erst ab dem achten April zu rechnen sei. Das versprachen Barbara und Julius Latierre.

Um zehn Minuten vor Mitternacht traf noch die kleine Truppe aus der Handelsdelegation ein. Julius bekam es nur mit, weil der allgemeine Nachtschutzmodus ausgelöst wurde. Über die Herzanhängerverbindung hatte er Millie über den Tagesverlauf informiert und dass er noch einmal Glück gehabt hatte, dass die Beratung über die Veelas nicht auf den sechsten April verschoben wurde. Dann wünschte er ihr und dann auch Béatrice noch eine gute Nacht.

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Minister Torregrande erfuhr am frühen Morgen des dritten Aprils, dass in Italien die Leichen von vier gesuchten Hexen gefunden worden waren, jede von ihnen auf einem Berg, eine im osten, eine im Süden, eine im Westen und eine im Norden. Jede von ihnen wies eine Einschusswunde auf, die nicht länger als fünf Sekunden geblutet haben mochte. Die Thanatologen der Liga hatten festgestellt, dass sie wie von einem plötzlichen Kraft- und Wärmeschwund zu Tode gebracht worden waren. Da kein Gift nachgewiesen werden konnte gingen die Leichenprüfer von verfluchten Geschossen aus. "Dreigeschwänzte Gorgone, dann hat wirklich eine von denen diesen verfluchten Bogen und macht Jagd auf ehemalige Rosenschwestern", dachte Torregrande. Er informierte Bonifatio Montecello. "Ja, sieht laut unseren Unterlagen und dem, was die zeitweiligen Kollegen aus Ägypten ausgeplaudert haben nach diesem Bogen des Jagdgottes Anhor aus. Die Frage ist, wurde er am zweiten Januar gestohlen oder schon vorher von Ladonna an ihre ausgewählte Thronerbin übergeben?"

"Wenn das rauskommt kriegen wir noch mehr geballtes Drachenfeuer unter dem Kessel, weil die Al-Assuani-Sippe dann erst recht behaupten kann, wir hätten uns an mächtigen Gegenständen vergriffen. Ja, und er Bogen ist die am einfachsten zu erlernende und zugleich tödlichste Hinterlassenschaft aus den zwölf Schätzen", grummelte Montecello. Er machte sich immer noch Vorwürfe, dass er diesen dreisten Betäubungszauber und anschließenden Diebstahl nicht verhindert hatte. Am Ende war er wirklich schuld an den vier Toten, auch wenn die als erwiesene Feuerrosenschwestern nichts besseres verdient hatten. Ja, auch als Angehöriger der Liga gegen dunkle Künste gönnte er seinen Feinden auch noch einen vorzeitigen Tod und begründete es damit, dass der Tod des Verruchten hunderte unschuldige Leben retten würde.

"Unsere Brüder haben zwar versucht den Deckel draufzuknallen, aber drei großohrige Schmierfedern von der Zaubertrommel und der Fackel der Ereignisse haben es mitbekommen, das eine von denen auf dem Brenner lag. Ja, und Rosshuflers Leute haben schon bei unseren Stellvertretern angefragt, ob sie jetzt auch mit toten Ex-Rosenschwestern zu rechnen haben."

"Der Rosshufler hat seine Pressemeute noch weniger im Griff als die Briten. Dann steht's auch schon im Zauberhorn und dann in der Feenstimme, sowie allen bunten Hexenklatschzeitschriften", knurrte Torregrande. "Exzellent, wo ich mich heute mit diesem Möchtegernpharao Karim Al-Assuani darüber auseinandersetzen muss, dass er und seine Sippschaft Ladonna die Schlüssel zu den zwölf Schätzen des Nils in die Hand gedrückt hat und dafür von den Kobolden ein ganzes Zimmer voller goldener Nachttöpfe für jeden Tag der Woche einen gestiftet bekommen hat."

"Fran, das wirst du dem doch echt nicht so um die Ohren hauen", erschrak Montecello und sah schnell, ob die Schotten und Bullaugen der Ministerkabine fest verschlossen waren.

"Nein, so wahnsinnig bin ich noch nicht, auch wenn dieser Beruf schon an den Abgrund des Verstandes treibt. Aber du weißt, was ich meine", erwiderte Torregrande. "Auch muss ich aufpassen, dass mir Pataleón nicht auch noch querkommt, weil der mich für einen Nutznießer seines Elends hält." "Da stehst du doch drüber, Francesco", sagte Montecello. "Denk ddran, der ist ein Opfer wie einer, der lange Jahre unter dem Imperius-Fluch stand. Der bemitleidet sich mehr als alles andere, vor allem, wenn der sich noch an alles erinnern kann, was Ladonna Montefiori ihm abverlangt hat."

"Ja, und dass sie seine Frau auf dem nicht vorhandenen Gewissen hat. Doppeltraumatisiert, Bonifatio. Das macht die vier Leichen noch brisanter, vor allem, wenn die dazu dienen, die noch lebenden einzuschüchtern und auf sich einzuschwören."

"Da rufst du aber gerade einen großen Drachenunter dem Vesuv und dem Ätna gleichzeitig, Francesco", seufzte Bonifatio Montecello.

"Was verlautbarte Albano von der Sitzung der Zauberwesengruppe?"

"Dass sie heute schon über die Vampire reden wollen, weil die Afrikaner fürchten müssen, dass die Akashiten wieder stark werden, weil sie schon so lange nichts mehr von der anderen Möchtegerngöttin gehört haben", sagte Montecello. "Und das mit den Veelas ist wann?" "Am fünften. Wird sicher interessant, wie Vargas Ruiz auf die Erwähnung des Friedensvertrages zwischen Ventvits Ministerium und den Veelas reagiert."

"Oh, das wird sicher spannend. Ich hoffe nur, dieser junge Bursche ist wirklich so selbstbeherrscht wie die Kollegen aus Frankreich beteuern."

"Glaub's mir, Francesco, dass die den auf seinen Auftritt so gründlich vorbereitet haben wie einen Hochseilartisten, der auf einem Bein auf dem Seil tanzt und zugleich zehn Bälle jongliert, ohne Zauberkraft."

"Ja, oder fünf Äxte. Wenn eine danebenfält und das Seil durchtrennt", grummelte Torregrande. "Das machen wir doch gerade, nur dass unter unserem Seil über zweihundert Meter Abgrund und ein glutflüssiger Lavastrom warten", sagte Montecello. Dem wollte Torregrande nicht widersprechen.

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Ihre neuen Kundschafter hatten ihr von einem Schlupfwinkel gefährlicher Blutsauger berichtet. Sie nannten sich Kinder Akashas und hielten sich für die Herrinnen und Herren des afrikanischen Kontinentes.

Für Diana Camporosso, die heimliche Kriegerin, war es unbedingt wichtig herauszufinden, ob sie mit dieser Bedrohung besser fertig wurde als mit der Abgrundstochter der Erde. Vor der mussten sich ihre Leute ja auch in Acht nehmen. Da konnte sie keine weiteren nächtlichen Parasiten gebrauchen.

Im Schutze der eigenen Unsichtbarkeit, verstärkt durch die Kraft ihrer Vollstreckerinnenrüstung schlich die neue Gesamtleiterin des Bundes der zehntausend Augen und Ohren durch die Dunkelheit. Weil Vampire auch dem Geruch des Blutes folgten hatte sie sich über ihre Rüstung noch eine Decke gewickelt, die den eigenenBlutgeruch durch den von Hyänen übertraf. Ihr stank es zwar auch. Doch wenn sie nahe genug an das Versteck der Akashiten herankam lohnte sich diese Tortur. Ihr Zwicker mit den Gläsern des wahren Blickes lies sie bei Dunkelheit genauso gut sehen wie eine Vampirin.

Sie erreichte eine Anhöhe, auf der ein Höhleneingang lag. Dort drinnen sollte das südafrikanische Nest dieser Brut sein. Sie würde keine großen Ansagen machen und auch keine Gefangenen. Wer ihr vor den Bogen kam sollte sterben. Mittlerweile konnte sie den für sie schon körpergroßen Kriegs- oder Jagdbogen in einer rauminhaltsbezauberten Seitentasche befördern um ihn so sicher mitzuführen und nicht durch seine Größe behindert zu werden.

Sie hörte ein Geräusch, das nicht der Wind war. Jemand schnüffelte. "Zur Mitagssonne, wo kommen denn die Hyänen her?" hörte sie eine Männerstimme auf Afrikans schimpfen. Sie wand sich um und sah eine Gestalt, klein, gedrungen. Dann fiel das Mondlicht auf das Gesicht. Es schimmerte dunkelgrau, nicht so dunkel wie bei einem reinblütigen Afrikaner. Sie sah, wie er seine Nase über den Boden hielt. Verdammt, der roch eine Spur wie ein scharfer Bluthund. Was anderes war es ja auch nicht. "Brüder, hier läuft was rum, das nicht wie wir ist!" rief der Fremde unvermittelt. Er stürmte auf Diana zu, verzog die Nase und warf sich herum. Er stieß seine Hände vor. Doch er packte nur dünne Luft. "Mittagssonne, werd gefälligst sichtbar, du feiger Wurm!"

Diana hatte bereits mit behandschuhter Hand einen Pfeil aus dem Köcher gezogen und legte ihn auf die Bogensehne. Dabei wich sie so schnell sie konnte dem sie jagenden Vampir aus, der bereits mit weit offenem Mund und zum Zuschnappen gefletschten Zähnen nach vorne und zu den seiten sprang, um den unsichtbaren Feind zu erwischen. Er sprang gerade in ihren Weg, als sie den Pfeil von der Sehne Schnellte. Der musste nur drei Meter überwinden und traf den Späher voll an der Brust. Funken sprühten aus dem Körper des Blutsaugers, der nur noch einen kurzen Röchellaut von sich gab. Dann geschah das unheimliche.

Sie kannte es, dass Opfer des Bogens von Anhor entweder sofort tot umfielen oder noch Sekunden Todesqualen zu überstehen hatten. Jedenfalls blieben die dann liegen und konnten monatelang herumliegen. Der von ihr gerade niedergeschossene Vampir sprühte blutrote und silberne Funken wie eine menschengroße Wunderkerze. Dabei zerfiel sein Körper wie in loderndem Feuer, bis am Ende nur ein kohlpechrabenschwarzes Skelett übrig blieb. Der Pfeil steckte zwischen der fünften und sechsten Rippe. Da hörte sie leises Rascheln und Trappeln. Die anderen kamen!

Diana sprang zu dem von ihr so gründlich und nachhaltig erledigten Vampir und pflückte den tödlichen Pfeil aus dem wie verbrannt wirkendem Skelett. Doch sie hatte nur noch Sekunden. Die anderen mussten wohl noch aus einer Höhle hervor, nach dem Hall, den sie machten. Doch für Menschenohren mochten sie lautlos sein. Diana Camporosso schlüpfte schnell hinter einen Felsbrocken. Da waren sie auch schon, sechs Männer in ledernen Lendenschurzen. Jetzt spielte sie ihre besondere Reaktionsgeschwindigkeit aus. Denn die sechs anderen waren ebenfalls sehr schnell, zu schnell für reinrassige Menschen. Der nächste Pfeil erwischte einen, der zwanzig Meter von ihr fort war. Der hielt sich plötzlich die Schulter und begann dann heftig zu zucken und wandt sich. Wie bei dessen Bruder im Freien vollzog sich jene gruselige Verbrennung. Noch im Laufen fiel ihm das zu Asche verbrennende Fleisch von den Knochen. Seine Daseinsbrüder sahen und rochen es wohl und erstarrten einen Augenblick. Diana hatte da bereits Pfeil Nummer drei aufgelegt und schickte diesen fast lautlos auf die todbringende Reise. Er traf den zweiten der sechs voll an der Brust und brachte ihn damit unverzüglich zu Tode. Aus dem Körper schossen die rotenund silbernen Funken. Sein Körper schien sich in dieses Feuerwerk aufzulösen, bis auch sein schwarz angelaufenes Knochengerüst klappernd zu Boden fiel und dabei in hunderte von Stücken zersprang.

Jetzt musste Diana aber zusehen, aus der Reichweite zweier weiterer Blutsauger zu entkommen, die in weiser Voraussicht, gleich beschossen zu werden in zwei Richtungen auseinandersprangen und nach der nach Hyänenblut riechenden, aber unsichtbaren Gefahr zu suchen. Diana fand ein leichteres Ziel. Einer der noch aus der Höhle hervorstürmenden Vampire schwang eine mächtige Keule, die mindestens anderthalbmal so lang wie sein Arm war. Diana konnte gerade noch einem wuchtigen Schlag ausweichen. "Versuch's besser mit dem Dolch, Diana, hörte sie Deeplooks Gedankenstimme. Doch sie hatte schon wieder einen Pfeil aufgelegt und schoss ihn aus nur zwei Metern ab. Auch dieser Schuss traf unmittelbar ins Herz und zerstörte damit einen weiteren Untertanen jener ominösen Vampirkönigin. Jetzt wussten die zwei anderen, wo die Feindin war und versuchten, sie von beiden Seiten zugleich anzuspringen. Diana Camporosso verdankte es ihrer eigenen Geschicklichkeit, dass sie dem kombinierten Überfall gerade noch entwischen konnte. Allerdings kam sie deshalb nicht dazu, den nächsten Pfeil aufzulegen. Nur ein gewagter Weitsprung hinter den Felsen rettete ihr das Leben. Denn gerade schleuderten die zwei jüngeren Blutsauger faustgroße Felsbrocken mit solcher Wucht, dass einer davon sicher getroffen hätte. Sie hörte, wie der Stein mit hässlichem Knacken zersprang und sah eine Staubwolke. Sie bekam den Ritualdolch zu fassen, zog ihn und warf ihn dem Fremden entgegen. Das Bluteisgift an der Klinge konnte Menschen und Zwerge innerhalb von Sekunden erstarren und weit unter Lebenstemperatur abkühlen lassen. Als der Vampir von dem Dolch getroffen wurde rang er nach Luft und bibberte. Dann zog er sich den Dolch aus der Bauchwunde. Das bibbern blieb. Doch der Vampir holte aus und warf die Klinge in die dezente Hyänenblutwolke hinein. Diana duckte sich. Mit lautem Pong und einem Splittern zersprang etwas an ihrem Kopf. Dann sah sie, dass es ihr Dolch war, der da in Stücke gegangen war. Die Kapuze der Rüstung und der gläserne, schier unzerstörbare Helm Deeplooks hatten sie gerettet. Doch nun war sie gerade waffenlos, als der Dolchwerfer auf sie zustürzte. "Dein Blut um meines zu stärken", knurrte er. Diana griff nach ihrem Zauberstab und rief das Wort "Heliotelum!" Ein weißgelber Lichtspeer zischte auf den Vampir zu und traf ihn am Kopf. Der Blutsauger kippte um und blieb liegen. Also klappten die altbewährten Methoden immer noch. Schnell nahm sie den magischen Bogen wieder zur Hand und erwartete den nächsten Angreifer.

Als sie noch einen aus der Höhle stürmenden Vampir mit einem weiteren Todespfeil traf und hörte, dass niemand mehr nachkam sammelte sie die zuverlässigen Geschosse ein und steckte sie in den Teil des Köchers, wo die bereits verschossenen Pfeile steckten, um in Dianas Schlupfwinkel eine Woche lang neu aufgeladen zu werden. Sie lauschte, ob in der Höhle noch wer war. Dann nutzte sie die Lichtverstärkung ihrer Augengläser und betrat die Höhle. Sie fand dort einen Schlafplatz für acht und eine kleine Statue, die eine mütterlich gerundete Frau mit einem zufriedenen Lächeln zeigte. Zwischen den Lippen lugten die zwei langen Fangzähne hervor. "Bist du Akasha?" zischte Diana ohne wirklich auf eine Antwort zu hoffen. Da erglühte der Stein in blutrotem Licht. Dann hörte sie eine wie aus großer Entfernung klingende Stimme. Doch sie verstand nicht was sie sagte. Doch die plötzliche weißblaue Stichflamme, die aus der Statue fauchte und bis zur Decke reichte war überdeutlich. Ebenso das verdächtige Rumpeln und beben. Diana zog ganz schnell ihren Zauberstab wieder frei und beschwor einen Erkundungszauber. Der sagte ihr, dass diese Höhle wohl einem plötzlichen Zerfall ausgeliefert war und machte, dass sie hinauskam. Hinter ihr knirschte, knackte, krachte und polterte es. Eine Walze aus Staub und Gesteinsbröckchen drängte aus der Höhle und würde in nicht einmal zehn Sekunden bei ihr sein. Sie riss den Zauberstab hoch genug und disapparierte wie eine reinblütige Hexe. Die meterhohe und breite Staubwalze berührte nur noch die schwarzen Skelette, die unter der Wucht zerbröselten.

"Für das Protokoll, Anhors zauberpfeile verwandeln reinblütige Vampire in verkohlte Knochengerüste. Habe heute einen Schlupfwinkel von Akasha quasi im Alleingang ausgehoben", diktierte sie einer besonderen Schallsammeldose. Dann berief sie die Mitglieder des im Wiederaufbau befindlichen Geheimbundes und teilte ihnen mit, dass sie Akashas Blutdiener vernichten konnte und sie darauf gefasst sei, jeden weiterenBlutsauger auf diese Weise zu erledigen. Anschließend zog sie sich in ihr Studierzimmer zurück und ging die Listen der noch gesuchten Rosenschwestern und denen, die bereits auf sie eingeschworen waren und jenen, die ihre Widerborstigkeit mit dem Leben bezahlt hatten durch. Noch fünfzig namentlich bekannte Schwestern. Die waren jetzt sicher gewarnt, weil sie vier ihr widerstrebende hingerichtet hatte. Doch womöglich interessierte sich die eine oder andere für eine Fortsetzung des Ordens. Diana hoffte, mindestens fünfzig, wenn nicht sogar hundert zusammenzukriegen. Bald schon würde sie der Welt ihre Bedingungen stellen. Dann würde sie die neue Hexenkönigin und zugleich die oberste Heerführerin der Koboldwelt überhaupt. Mit diesem Wunschtraum legte sie sich schlafen.

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Sie hatte die geistigen Todesschreie ihrer Wächter im Süden vernommen. Einer nach dem anderen war einem unsichtbaren Feind zum Opfer gefallen. Das einzige, was die in ihrer Steinsäule der Entscheidung überdauernde Königin der Nachtkinder noch erfuhr war, dass jemand ohne Lebenshauch, aber mit Hyänenblut am Körper und für Augen unsichtbar tödliche Pfeile verschoss. Wo sie unmittelbar in die Nähe des Herzens trafen erlosch das der Nacht geweihte Leben in einem einzigen winzigen Augenblick. Wo sie einen Körperteil trafen dauerte es nur wenige Atemzüge. Dabei empfanden die Todgeweihten es so, als sei plötzlich die Sonne aufgegangen und habe in einem einzigen Sprung den Weg zur Mittagshöhe vollendet.

"Jemand jagt uns. Jemand sieht in meinen Kindern nichts als leichte Beute. Wer wagt das?!" jagten die von Angst und unbändiger Wut getragenen Gedanken durch den Geist der überdauernden Königin. Da gerade niemand in der Höhle der Verehrung war konnte auch niemand erleben, wie der zwei Manneslängen hohe Stein der Entscheidungen erbebte und in einem gelbroten, flammenlosen Feuer erglühte. Weil gerade keiner ihrer treuen Untertanen in der Nähe des Steines weilte konnte auch keiner das von erst Wut und dann abgrundtiefem Hass geformte Gesicht einer Frau im durchsichtig gewordenen Stein erkennen.

Wut, Angst und daraus geborener Hass loderten wie ein unlöschbares Feuer im Geist der Königin der Nachtkinder. Deshalb konnte sie nicht in Ruhe daran denken, wer so mächtig und verwegen war, ihren Kindern wie Wilden Tieren nachzustellen. Auch konnte sie keine klare Rufe an ihre vier mal vier obersten Diener versenden. Sie war allein, gefangen in diesem von einem unbekannten Feind entzündeten Feuer der Wut, der Angst und des Hasses. So erfuhren ihre Diener zunächst nicht, dass ein tödlicher Feind in der Welt war, womöglich tödlicher als der Löwe es für das Neugeborene Gazellenkalb war oder tödlicher als der Fuß eines Elefanten für eine arglos dahinkrabbelnde Ameise. "Hyänenblut", das war das einzige klare Wort, das im ihre vom fleischlichen Dasein gelöste Seele peinigenden Feuer vernehmbar war. "Hyänenblut", der Begriff für den unsichtbaren Jäger oder die unsichtbare Jägerin. Das letztte warnende Wort der zum endgültigen Erlöschen verdammten Wächter wurde zum Namen des neuen Feindes.

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Über ihre Verbindungen nach Italien erfuhr auch die oberste der Spinnenschwestern, was sich in der Nacht zum zweiten April in Italien ereignet hatte. Nachdem, was Albertrude ihr berichtet hatte wusste sie sogleich, wie die vier ehemaligen Feuerrosenschwestern ums Leben gekommen waren. Auch erkannte sie, dass jene kleinwüchsige Bogenschützin keinen Wert darauf legte, ihre Gegner heimlich und von der restlichen Welt unbemerkt zu töten.

"Ich brauche mehr Informationen über diese Waffe", dachte Anthelia. "Und ich muss wissen, wer von Ladonnas Mägden kobold- oder zwergenstämmig war, um deren Namen zu erfahren." Sie dachte auch daran, ob sie, die sie gegen so vieles, ja sogar den tödlichen Fluch, gefeit war, mit diesen tödlichen Zauberpfeilen verletzt oder getötet werden konnte. Falls ja, dann würde die kleine Bogenschützin es keine Minute überleben. Doch dann würde auch sie, Anthelia/Naaneavargia, kein übliches Leben mehr haben. Da sie jedoch noch viel vorhatte wollte sie es noch nicht darauf anlegen, es herauszufinden, ob die Todespfeile ihr schaden konnten oder nicht. In diesem Fall galt, sich erst über die Feindin zu erkundigen, statt ihr gleich offen entgegenzutreten.

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Nicht nur Julius bemerkte, dass irgendwas mit den Italienischen Abgesandten vorging. Sie wirkten alarmiert, so als müssten sie unverzüglich flüchten, dürften aber ihren Posten nicht kampflos aufgeben. Vor allem in der Fachgruppe für magische Wesen wirkte der von Torregrande mitgenommene Fachzauberer Albano Buonaventura sehr angespannt. Das äußerte sich in wilden, fast unbeherrschten Gesten, wenn er was sagte, aber auch, dass er grundsätzlich gereizter Stimmung war. Lisa Giraldini, die maltesische Fachgruppensprecherin und Gesprächsleiterin der Beratungsrunden musste den ägyptischen Vertreter Sanan Al-Assuani mehrfach zur Ordnung rufen, dass der seinen italienischen Kollegen nicht noch zusätzlich verärgerte.

Abgesehen von dieser angespannten Stimmung verlief die Diskussion über Vampire in Europaund Afrika ganz sachlich. Julius hörte zum ersten mal was vom Orden Akashas, einer von ihren Gefolgsleuten göttinnengleich verehrten Blutsaugerin, die vor über viertausend Jahren mit einem aus dem Norden stammenden Artgenossen einen Machtkampf um die "Jagdrechte" geführt hatte. Akasha war erst dessen Gefährtin durch die Nächte gewesen, eine Tänzerin in einem Kult, der Rituale mit magischenTrommeln vollzog und die vier großen Elementarkräfte und die Mächte von Leben und Tod beschwören und lenken konnte. Julius horchte auf, als der kenianische und der ägyptische Delegierte ergänzend berichteten, dass dieser Kult der Weltentrommler sogar die Geister von Tieren zum Dienst rufen und aus den Seelen gefallener Krieger und Jäger mächtige unsichtbare Sklaven gemacht hatte, die an tote Gegenstände gebunden immer dann zum Dienst gerufen werden konnten, wenn es galt, übermächtige Feinde oder Rudel von gefährlichen Tieren niederzukämpfen oder im Auftrag der sich auch Trommeltänzer nennenden Kultisten gezielte Mordaufträge ausführte, "Besuche machte". Beinahe hätte Julius seine mühevoll aufrechterhaltene Selbstbeherrschung verloren. Denn mit diesem Kult hatten Catherine Brickston und er bereits zu tun gehabt. Wie mächtig diese afrikanischen Ritualtrommler waren wusste er womöglich besser als die meisten anderen hier. Aus diesem Kult war also die einst mächtigste Vampirin Afrikas oder gar der ganzen Welt hervorgegangen. Der südafrikanische Abgesandte erwähnte auch, dass die Trommeltänzerinnen den Trommlern selbst in der Wirkung mächtiger Zauber nicht nachstanden. Also konnte, ja musste als gesichert angenommen werden, dass Akasha es vor ihrem körperlichen Tod vermocht hatte, ihren Geist in der Welt zu halten, wohl an einen eigenen festen Ankergegenstand, was die Europäer als Materiellen Fokus bezeichneten, zu binden oder darin zu wohnen und so weiterhin Macht auszuüben. Nun, wo es anderswo auf der Welt eine mächtige, ja gottgleiche Entität gab, die sich als Gebieterin aller Vampire verstand, musste davon ausgegangen werden, dass Akashas Kullt entweder gegen diesen neuen Kult ankämpfte, sich ihm im Kamf gegen die an Sonne und kurze Lebenszeiten gewöhnten Menschen anschloss oder vom Kult der Mutter aller Nachtkinder einverleibt wurde und sie damit eine neue Basis in Afrika erhalten mochte, wo die nicht minder gefährlichen neuen Nachtschatten und ihre ebenso mächtige Königin die sieben Tempel der blutroten Göttin ausgehoben und viele ihrer Anhänger durch gnadenlosen Lebenskraftentzug ausgelöscht hatten.

"An die Kollegen aus Nordafrika, wissen Sie denn mittlerweile, wo das Versteck jener sich als Kaiserin der wahren Nachtkinder ausgebenden dunklen TVE ist?" fragte die griechische Zauberwesenexpertin Alexia Tachydromos. Julius sah dies als eine Gelegenheit, eine Frage zu stellen. Doch zuvor wartete er die Antwort der Nordafrikaner ab, weil die ihn ebenso brennend interessierte und nicht nur ihn, wie er an Buonaventuras unvermittelter Aufmerksamkeit mitbekam. Die Vertreter aus Marokko und Algerien räumten ein, dass sie vielleicht wieder dort untergeschlüpft war, wo einst Kanoras, der legendäre Herr der tödlichen Schatten, zu finden gewesen war. Doch Untersuchungen der Gegend hatten bisher nichts erbracht, nicht einmal verdächtige Unfälle mit und ohne Todesfolge. Julius sah Lisa Giraldini anund hob den rechten Arm zur Wortmeldung. "Was bitte bedeutet die Abkürzung TVE und was darf ich, der hier der jüngste Teilnehmer bin, darunter verstehen?

"Transvitale Entität, eine noch mächtigere Nachtoderscheinung einstmals in einem lebenden Körper geborener Seelen, die mächtiger als Geister sind und je mehr mit ihnen in Beziehung stehende lebende Wesen es auf der Welt gibt um so wirkmächtiger sind, aber eben nicht wie Geister dauerhaft in der stofflichen Welt verbleiben, sondern in einem Zwischenstadium zwischen der stofflichen Welt und der uns wweitestgehend unsichtbaren Totenwelt existieren", antwortete Alexia Tachydromos. Buonaventura sah Julius an und sagte ungehalten: "Tun Sie bloß nicht so, als hätten Sie von derartigen Wesenheiten noch nie was gehört, Mr. Latierre. Angeblich haben Ihnen doch die Kinder Ashtarias im Kampf gegen die vaterlosen Töchter der nicht laut zu nennenden etwas von ihrem Wissen anvertraut."

"Ja, und Sie wissen, dass ich das Wissen jener nicht an Außenstehende weiterverraten darf", erwiderte Julius. Darauf zischte Sanan Al-Assuani: "Ja, weil die heuchlerischen Brüder des blauen Morgensternes ja sonst zugeben müssten, dass sie schon Jünglinge mit ihren heuchlerischen Lehren verführen, die nicht an Allah und den Propheten glauben."

"Es ist sicher kein Geheimnis mehr, dass es auch in Indien Brüder des blauen Morgensternes gibt", erwiderte Julius. "Ja, aber in unseren Ländern werden sie sich nun in den tiefsten Rattenlöchern verkriechen müssen, wenn sie nicht von unseren Fängern ergriffen und wegen Umsturzabsichten abgeurteilt werden wollen", zischte Sanan Al-Assuani verächtlich. Julius hatte den Eindruck, dass der Ägypter auch ihm damit eine Warnung mitteilen wollte, sich nicht zu sehr auf die Ziele der Morgensternbrüder einzulassen. Doch Julius war froh, dass er Buonaventuras schon fast anklagende Äußerung über seine Frage damit abgewettert hatte. Alexia bat noch einmal ums Wort und fragte: "Möchte dann auch einer der nordafrikanischen Kollegen unserem jungen Kollegen erklären, was die Besonderheit von dunklen transvitalen Entitäten ist oder lassen Sie mir als Dame den Vortritt?" Die Nordafrikaner warfen ihr vorwurfsvolle Blicke zu. Die eindeutig aus südlicheren Regionen Afrikas stammenden Zauberer grinsten fast lausbübisch, fand Julius. Offenbar durfte Alexia den Begriff erklären.

"Nicht nur die erwähnten Weltentrommler und ihre Zaubertänzerinnen konnten die Geister von Tieren und Menschen zu völlig gehorsamen Sklaven machen, sondern auch die in meiner Heimat lebenden Vorfahren der Hellenen. Daher ist den Kundigen alter und mächtiger Künste bekannt, dass es helle TVEs gibt, die durch die Liebe zu ihren Freunden und Angehörigen und einen mächtigen magischen Opfertod ihrer Körper entstehen. Sie wissen auch, dass es dunkle TVEs gibt, die gewaltsam getötet wurden und dann durch unterwerfende Anrufungen entstehen und nicht wie die hellen an die Lebensfreude und Lebendigkeit der Beziehungsmenschen gebunden sind, sondern an mit gewaltsam vergossenem Blut und anderen Ausprägungen dunkler Ziele und Handlungen erfüllte Gegenstände gekettet werden, in die sie nach Erfüllung ihrer Sklavendienste zurückkehren müssen und von denen, die diese Gegenstände schufen jederzeit neu erweckt und zu ihnen gefälligen Taten gezwungen werden können, wer ihre wahren Namen als lebende Wesen und den Namen der Sklavenexistenz kennt. Die dunklen TVEs trachten zwar immer danach, Herren des Ankergegenstandes zu werden um von ihren Herren loszukommen. Aber ohne diesen Gegenstand vergehen sie, anders als die Hellen, in jenem Gefüge, das wir für wahrscheinlich existent halten, aber es nicht mit Begriffen aus der stofflichen Welt erklären können, also kein Himmel und keine Hölle, wie die Herren Muslime in dieser Runde es für gesichert annehmen und auch kein Hades mit Abzweigungen zum Tartaros und den Elysischen Feldern für verdiente Seelen von Denkern, Künstlern und Helden, wie es die Glaubenswelt meiner Vorfahren annahm."

"Sie beten immer noch zu dieser Hexenmutter Hecate. Also lassen Sie uns gütigst unseren Glauben an den einen Gott und seine Propheten und Kalifen", bestand der marokkanische Vertreter auf die Achtung der jeweiligen Religionen. Das nahm die griechische Kollegin mit einem leicht verwegenen Grinsen zur Kenntnis. Sie beendete dann ihre Erläuterung mit dem für Julius nun zu erwartenden Kommentar: "Ja, und was eine Herrin ihres eigenen Ankergegenstandes anrichten kann haben wir gerade hier besprochen, nämlich die selbsternannte Kaiserin der wahren Nachtkinder, die aus zwei weiblichen Nachtschatten, die an Ankergegenstände gebunden waren, zu einer einzigen verschmolzen wurden, als jene beiden Ankergegenstände von einem vom Größenwahn getriebenen Unheilsstifter zu einem einzigen Gegenstand zusammengefügt wurden und dieser unverzüglich in den Besitz der einen, da wohl noch einen eigenen wahren Namen suchenden gelangen und mitgenommen werden konnte. Ja, und vorher gab es den von den Ritualtrommlern erschaffenen unsichtbaren Henker Otschungu, den letzten Besucher, bis dieser wohl von jemandem mit großer Macht unterworfen und dessen Ankergegenstand zerstört werden konnte." Julius hätte fast "Was Sie nicht sagen" hinterhergeschickt. Denn wer diese Sieger über Otschungu waren und wem er am Ende wirklich unterlag wussten nur er, Catherine Brickston und die Tochter des schwarzen Felsens. Aber seine Frage war nun beantwortet.

"Gut, der junge Kollege scheint nun auf demselben Stand zu sein, was dunkle TVEs angeht", ergriff Lisa Giraldini wieder das Wort. "Kehren wir zurück zum Akasha-Kult und wie Sie in Afrika mit dessen Anhängern bisher umgingenund was Sie von uns erhoffen, um ihn niederzuhalten, bevor er zum willigen Hilfstrupp der wohl viel mächtigeren Vampirgötzin wird."

Nun ging es um rein organisatorische Fragen, die alle auf dritthöchster Geheimhaltungsstufe eingeordnet werden sollten, also nichts davon an untere Dienstränge außerhalb von Vampirbekämpfungstruppen weitergegeben werden durfte. Buonaventura sprang einmal von seinem Stuhl auf, als der ägyptische Vertreter ihn mutwillig vorhielt, dass diese Vereinbarung dann ja doch gleich in die Zeitungen gesetzt werden könne, wo in Italien ja die angeblich so gute Liga gegen dunkle Kräfte das Ministerium übernommen hatte und diese Liga auch viele außerministerielle Mitglieder zählte. "Sie wollen Hilfe von uns gegen die europäischen Vampire, die Ihren Akasha-Kult übernehmen oder sich mit ihm zusammentun wollen. Dann verbitte ich mir solche Vorhaltungen", stieß Buonaventura mit wilden Armbewegungen aus. Al-Assuani legte sogleich nach und forderte: "Erst rücken Sie die Gegenstände aus unserem Land heraus, die Ihre veelablütige Erzdunkelhexe in ihrem Königinnenpalast zusammengerafft hat! Dass Sie die nicht sichern können wissen wir ja jetzt."

Bounaventura stand immer noch und straffte sich angriffslustig. Er zischte die Frage, was ihm Al-Assuani genau vorwarf. Da ließ der Ägypter die Katze aus dem Sack und erwähnte Zeitungsmeldungen, denen nach vier ehemalige Feuerrosenschwestern an prominenten Punkten Italiens tot aufgefunden worden waren und eindeutig durch verfluchte Geschosse oder Klingen zu Tode kamen und dass da wohl ein Kriegsbogen aus Ägypten verwendet wurde, der tödliche Pfeile verschießen konnte. "Ja, und wenn Sie nicht aufpassen werden Ihnen auch noch die anderen Waffen aus unserem Land weggenommen und gegen Menschen benutzt, ob schuldig oder unschuldig. Wenn ich die Meldungen richtig verstehe war eine dieser vier eine gewisse Alice Buonaventura. War das ihre leibliche Schwester, Signore Buonaventura? So gut abgesichert war und ist Ihre sogenannte Liga gegen dunkle Künste wohl doch nicht. Also rücken Sie gefälligst alles heraus, was nicht in Ihrem Land hergestellt wurde, nicht nur die aus Ägypten stammenden Gegenstände, sondern auch andere aus Afrika stammende Gegenstände! Das gilt natürlich auch für Sie anderen aus dem achso mächtigen Europa. Mehr muss ich nicht sagen, weil meine ... Fachkollegen in den anderen Gruppen dies ebenfalls einfordern."

"Ja, haben wir gehört, dass der ägyptische Zaubereiminister Spielsachen der alten Pharaonen vermisst", erwiderte Alexia Tachydromos unerwartet flapsig. Nun fühlte sich Al-Assuani angegriffen und spie ihr entgegen, dass es keine Spielsachen waren und es mal wieder beweise, wie einfältig Frauen waren und daher keine hohen Zauberkünste erlernen und nutzen durften. Das rief nicht nur ein verächtliches Grinsen bei Alexia Tachydromos hervor, sondern eine den Verhaltensregeln dieser Zusammenkunft gemäße Rüge der Gesprächsleiterin. Der aus Südafrika stammende Zauberwesenbehördenleiter erwiderte mit einem verwegenen Grinsen: "Wo wir es gerade von mächtigen Frauen in der Magie hatten, die es schafften, sehr viel Macht zu erringen schon eine sehr armselige Forderung, Kollege Al-Assuani. Der Ägypter sah den Südafrikaner nun sehr wütend an. Doch seine Kollegen aus Algerien und Marokko zischten ihm wohl zu, wieder zur Ruhe zu kommen. Buonaventura sagte dann noch: "Wenn Sie dem Tintengeschmiere in ausländischen Zeitungen mehr glauben als unserem Wort, Kollege Al-Assuani, dann wundern Sie sich nicht, wenn morgen jemand kommt und behauptet, in einer Zeitung sei die Cheopspyramide zum Kauf angeboten worden und er wolle sie gleich einschrumpfen und mit nach Hause nehmen umm sie im Zentrum seines Wohnortes in Originalgröße wieder hinzustellen."

"Sie werden noch an uns denken", knurrte Al-Assuani, bevor er sich endlich wieder beruhigt hatte. Es konnte weiter um die Organisation der internationalen Vampirbekämpfung gehen. Barbara Latierre und die anderen Abteilungsleiter würden nach diesem Sitzungstag die Dokumentation der hier beschlossenen Vorhaben erhalten.

Das Mittagessen bot eine willkommene Unterbrechung dieser von den kleinen Provokationen zwischen Italien und Ägypten abgesehen trockenen Veranstaltung. Immerhin hatten Barbara und Julius nun eine Ahnung, was die Italiener in diese Alarmstimmung versetzt hatte. Wenn da echt wer mit Anhors Kriegs- oder Jagdbogen herumschoss wie Robin Hood, der König der Gesetzlosen, dann war das kein Spaß und kein Spiel, nachdem was Julius über dieses Artefakt aus den zwölf Schätzen des Nils erfahren hatte. Diese Waffe war brandgefährlich, weil heimlich, lautlos und bei genügend Übung damit auf sichere Entfernung präzise, die Waffe eines Auftragsmörders.

Am Nachmittag wurden die noch verbliebenen Fragen zur Organisation und Informationsübermittlung besprochen. Julius scheiterte jedoch mit seinem Angebot, die elektronischen Überwachungs- und Nachrichtenmittel seines Büros einzusetzen. Die Afrikaner wollten keine europäischen und noch dazu magie- und seelenlosen Gerätschaften benutzen. Das musste Julius respektieren.

Am Abend mentiloquierte er über die Herzanhängerverbindung mit Millie. Die bestätigte, dass sie über Gilbert und andere mit ihm verbundene Journalisten von den vier totenFeuerrosenschwestern gehört hatte und dass Italiens stellvertretender Zaubereiminister da ganz schnell den Mantel des Schweigens drüber ausgebreitet hatte.

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"Wo ist das genau, dieses unterirdische Zentrum eines angeblichen oder wahrhaftigen Vampirkultes?" fragte Kradanoxa Deeplook den Hüter der Aufzeichnungen im Stützpunkt Südliches Afrika.

"Ihr meint die Höhle des Tiefenkönigs, Kradanoxa Deeplook", sagte Ragnod. "Den Aufzeichnungen nach, die wir auf Grundlage von Berichten von Gringottsmitarbeitern erstellt haben, soll es in den Drakensbergen im Osten Südafrikas eine große Höhle geben, in der Verehrer eines Menschenblut trinkenden Gottes ihre Blutopfer gebracht haben. Der Tiefenkönig wird von den meisten Zauberwesenkundler als Neumondvampir eingestuft, der noch vor Akashas Kult geherrscht haben soll. Er soll an die tausend Jahre alt geworden sein. Dann hat ihn laut den Aufzeichnungen eine unbekannte, wohl auch vergessene Macht mit allen seinen Anbetern aus der Welt geschafft. Aber sein unterirdischer Palast und Tempel soll noch von der Magie der vielen tausend Opfer erfüllt sein. Es gibt sogar die Behauptung, dass er versucht habe, im Kongo Anhänger zu finden und er da seinen Feind oder seine Feinde gefunden habe. Aber nichts genaues ist wegen der fehlenden Aufzeichnungen und fehlenden Kundigen überliefert. Aber unsere Kundschafter haben die Höhle geortet. Die Bezugspunkte anhand der Eisenweiselinien ist aber nur dem Leitwächter gestattet ... oder dem Vater aller Augen natürlich."

"Dann fordere ich von dir im Namen unseres starken Bundes all die Aufzeichnungen, die ihr von diesem Tiefenkönig und seiner Kultstätte habt!" befahl Kradanoxa Deeplook. Sie erwähnte noch die drei bekräftigenden Worte des Vaters aller Augen. Daraufhin bekam sie einen versilberten Aktenkoffer überreicht, indem die zwanzig Seiten verstaut waren, die der Bund der zehntausend Augen und Ohren angefertigt hatte.

"Es ist sicher interessant wie gefährlich, diese Höhle zu erkunden, Diana", gedankenwisperte Deeplooks innere Stimme. "Vielleicht ist es eine einladende oder abweisende Höhle, aber sicher auch eine gestaltete." Diana Camporosso, die sich von den zehntausend Augen und Ohren Kradanoxa Deeplook, die Trägerin des Vaters aller Augen, nennen ließ, dachte zurück, dass es wichtig sei, das herauszufinden. Womöglich konnte sie diese Höhle als afrikanischen Stützpunkt nutzen, entweder für den Bund der zehntausend Augen und Ohren oder als Treffpunkt der Sorores Saxorum.

Schon am Nachmittag desselben Tages flog sie auf ihrem wiederhergestellten Harveey-Besen über den Drakensbergen. Um die Höhenluft zu vertragen hatte sie sich eine Kopfblase gezaubert. Mit einem auf das Erkennen von Erdmagie und Blutmagie geprägten Kristall an einem Band aus Seeschlangenleder kreiste sie über den erkundeten Bezugspunkten. Doch erst als sie knapp hundert Meter über dem Boden schwebte reagierte der Suchkristall durch Erwärmung und immer schnelleres Pulsieren. Als sie einen bestimmten Punkt erreichte summte der Kristall und fühlte sich an wie eine Tasse heißer Kaffee. "Wieso haben diese langen Trottel da nicht schon längst nachgesehen?" fragte sie sich selbst. Dann landete sie. Kaum standen ihre Füße sicher auf dem Boden fühlte sie Deeplooks Helm erbeben. Etwas griff wohl nach ihrem Willen und zwar mit Macht. Vor ihren Augen sah sie einen Vorhang aus flimmernder Luft. Das Erbeben des mit ihr verwachsenen Helmes erfolgte noch eine halbe Minute lang. Dann erstarb es. Jetzt konnte sie herausfinden, dass sie beim Landen wohl auf einen Stein getreten war, der einen Abwehrzauber freigesetzt hatte. Als sie den Stein mit einem behutsamen Zerstäubungszauber in einen kleinen Sandhaufen verwandelte erzitterte der Boden. Sie fühlte den Ansturm von Erdmagie und stieg mit ihrem Besen auf. Der Boden klaffte auf und enthüllte einen zehn Meter breiten Spalt, der tief in den felsigen Boden einschnitt. Dann sah sie Bewegungen in diesem Spalt. Als sie erkannte, was da aus dem Boden kam schüttelte sie sich vor Ekel. Aus dem Schacht krochen mehr als vier Meter lange, mit rostrotem schleim bedeckte armdicke Würmer, erst nur drei, dann fünf, dann zehn Stück. Die aus der Tiefe der Erde entkriechenden Tiere richteten ihre Vorderenden in alle Richtungen. Diana sah, wie die sie anekelnden Tiere Suchbewegungen ausführten. Zwei von Ihnen rollten sich blitzschnell zu Spiralen zusammen und streckten sich wieder aus. "Also gibt es sie doch, die Blutwürmer Afrikas", hörte sie Deeplooks Gedankenstimme in sich und sah mit noch mehr Ekel eine Höhle, in der hunderte von diesen schleimigen, schlauchartigen Kreaturen herumwuselten, und sie sah auch ein Ding, das wie ein meterdicker, zusammengerollter Feuerwehrschlauch aussah. "Die Königin der Blutwürmer, wie sie die Gesamtheit aller lückenhaften Berichte darstellt", kam ihr ein Gedanke, der nicht von ihr selbst gedacht wurde. Auch wusste sie jetzt, dass diese Geschöpfe wohl auf den sie bedrängenden Geisteszauber abgestimmt waren und eigentlich ein wehrloses Opfer hätten vorfinden sollen. Diana schüttelte sich bei dem Gedanken, diese Kreaturen bekämpfen zu müssen. Die Pfeile konnte sie sofort vergessen. Sie wollte keinen davon aus einem von Schleim überzogenen Kadaver ziehen. Abgesehen davon gab ihr Deeplooks Erinnerung ein, das diese Biester beim Tod auseinanderplatzten und alles Blut, dass sie in ihrem Leben in sich aufgenommen hatten, mit einem Schwall freisetzten. Also der Todesfluch.

Sie nahm genau die Höhe, aus der heraus sie den tödlichen Fluch zielsicher und vol wirksam ausführen konnte. "Avada Kedavra!" rief sie mit auf einen der suchenden Blutwürmer zielendem Zauberstab. Sirrend schoss der gleißendgrüne Blitz des gnadenlosen Todes auf sein Ziel zu und traf es. Mit einem lauten Knall, gefolgt von einem Dianas Magen verkrampfenden Spritzen zerplatzte der Wurm und hinterließ eine viele Meter große Blutlaache. Seine Artgenossen witterten das vergossene Blut und stürzten sich ausgehungert darauf. "Brrr!" entfuhr es Diana. Doch dann zielte sie wieder. Wenn diese Blutwürmer die flüssigen Überreste eigener Artgenossen einverleibten sollte das eben deren Henkersmahlzeit sein. "Avada Kedavra!" rief sie erneut. Denn den Todesfluch konnte man nicht als Wiederholzauber ausführen. Peng, spritz, klatsch! Wieder war einer der sie zu tiefst anwiedernden Würmer zerstört. Seine Arrtgenossen stürzten sich auf das, was von ihm übrig blieb. Es gab jedoch solche, die nicht dem Ruf des vergossenen Blutes folgten, sondern ihre Vorderenden nach oben reckten und sich zu sprungfedergleichen Spiralen zusammenzogenund dann mit unerwartet heftiger Wucht vom Boden schnellten. Diana verriss beinahe ihren Besen, den sie gerade nur einhändig fliegen konnte. Die sie anspringendenWürmer erreichten doch tatsächlich fast ihre Flughöhe. Sie musste ihnen ausweichen und hoffen, dass sie beim Aufschlagen verendeten. Doch sie rollten sich zu kompakten Ballen zusammen und titschten wie zu Boden fallende Quaffel vom Felsenboden auf und hüpften dreimal, bevor sie wieder fest auf der Erde blieben. Sofort zogen die sich wieder zusammen, während die noch lebenden weiter das vergossene Blut aus den zerplatzten Leibern ihrer Artgenossen verschlangen. Wieder schnellten sie nach oben. Diana erwischte einen von denen mit einem Todesfluch und konnte sich nur im Rosselini-Raketenaufstieg vor der ihr entgegenstrebenden Blutwolke retten. Sie fühlte, wie ihr Mageninhalt nach oben zu drängen drohte. Gleich konnte sie den Würganfall nicht mehr niederhalten. Würde sie durch die Kopfblase hindurchspeien oder blieb das Zeug darin hängen? Dieser nicht minder ekelerregende Gedanke verstärkte den Brechreiz. Sie hatte keine Wahl, als sich zur Seite zu lehnen und in die Tiefe zu speien. Die Kopfblase ließ ihren Mageninhalt mühelos durch. Was für ein Glück. Als sie sah, wie ihr Erbrochenes auf dem Boden ankam und die in der Nähe befindlichen Würmer sich blitzartig davon zurückzogen wusste sie, dass auch sie diesen Ekelkreaturen Übelkeit bereiten konnte. Erst als sie sicher war, nichts mehr im Magen zu haben besann sie sich wieder auf das, was sie da aus der Erde gerufen hatte.

Die Biester waren nicht intelligent, genau zu planen, wie sie sich verteidigen konnten. Sie zielten wohl nur auf ihre Stimme, wenn sie rief. Deshalb wechselte sie nun nach jedem Todesfluch den Standort und vernichtete einenBlutwurm nach dem anderen. Erst als sie keinen armdicken, schleimigen Leib mehr sehen konnte wagte sie es, auf den Spalt im Felsboden zuzusteuern. Dieser begann sich gerade wieder zu schließen. Sie wagte es und stürzte sich mit dem Besen in die Tiefe. Um sie herum grummelte und dröhnte der Felsen. Noch klaffte der Spalt zehn Meter, doch nach nur zwei Sekunden waren es nur noch neun Meter. Diana Camporosso trieb den Harvey-Besen zur höchsten Eile an, ohne dessen Gefahrenstufe zu wecken. Denn dann hätte der sie gleich wieder nach oben und aus dem sich schließenden Spalt hinauskatapultiert. Der Spalt wurde zu einem immer engeren Schacht, der an die hundert Meter in die Tiefe reichte. Sie schaffte es noch, aus dem sich wieder verbreiternden Ende herauszustoßen und knapp zwei Meter über dem mit verkrustetem Zeug bedeckten Boden zu stoppen, bevor sie von weiter oben ein scheinbar endgültiges Donnern hörte. Der Spalt hatte sich wieder geschlossen. Konnte sie von hier disapparieren? Nein! Vorher wollte sie erkunden, wo die Blutwürmer hergekommen waren, auch wenn es hieß, dass da noch mehr von denen lauern mochten.

Diana hob die Wirkung der Kopfblase für vier Sekunden auf und hielt die Luft an. Sie praktizierte den Zwicker mit Gläsern des Wahren Blickes auf ihre Nase und stellte die Kopfblase wieder her. Mit der Sehhilfe konnte sie verhülltes und unsichtbares sehen. Da Dunkelheit eine Verhüllung war sah sie durch die Gläser so gut wie bei Vormittagssonnenlicht. Sie wagte es nicht, auf dem verkrusteten Belag zu landen, weil ihr klar war, dass dort die hervorbeschworenen Blutwürmer gelagert hatten. Außerdem blieb sie solange unsichtbar, wie sie keinen festen Boden unter den Füßen hatte. Erst als sie in einen langen Gang hineinflog überlegte sie, ob es nicht doch besser war zu landen. Doch noch konnte sie mit gebeugtem Rücken weiterfliegen. Als sie dann am Ende des Ganges eine Steinwand sah summte ihr Kristall so laut wie ein mittelhoher Orgelton bei ständig mit voller leistung zugeführter Luft. Sie wagte die Landung.

Es knirschte wie grober Sand unter ihren Füßen. Sie besah sich die Wand und erkannte wegen der Gläser des wahren Blickes, dass diese wohl eine magische Barriere war. Als sie die für sie allein rot glimmende Gravur eines Gesichtes mit weit geöffnetem Mund mit vielen spitzen Zähnen sah erkannte sie, dass sie diesem Stück Stein wohl Fleisch oder Blut opfern musste. Doch sie wusste auch, dass diese Höhle von Vampiren genutzt worden war, nicht von Koboldstämmigen wie sie eine war. "Der Stein des Aufstoßens!" fiel ihr etwas ein, was wohl noch ein Geheimnis des Geheimbundes war. Sie Zielte auf ein Stück der Decke und sprengte mit Confringo mehrere Steinbrocken heraus. Einen davon bezauberte sie mit Worten aus der Koboldsprache und zog sich einige Meter zurück. Sie blickte auf die Wand und warf den bezauberten, nun grünlich glimmendenStein nach vorne. Der Stein traf genau die rote Gravur des zum zubeißen geöffneten Mundes und entlud seine Kraft in Form in alle Richtungen ausstrahlender grüner Lichtstränge. Die Wand erbebte heftig. Dann versank sie im Boden. Diana klaubte schnell einen weiteren Stein auf, den sie für den möglichen Rückweg einsetzen wollte, falls es ein Zurück gab.

Hinter der Wand lag eine weitläufige Höhle, die im Zauber der Gläser des wahren Blickes rötlich pulsierte. In der Mitte befand sich eine genau kreisförmige Mulde im Boden, fast eine in den Grund eingefügte Schale. Daneben lag ein Steinquader, in dessen Oberfläche tiefe Rinnen eingegraben waren. Die Rinnen verliefen bis zu jener Mulde im Boden. Ein höchst primitiver Opferstein, dachte Diana diesmal aus eigenen Überlegungen heraus. Dann erkannte sie, wie der Stein mit dem Rot der Höhlenwände wechselwirkte. Sollte sie ausprobieren, was geschah, wenn sie eigenes Blut in eine der Rinnen tropfte? Da fühlte sie wieder ein leichtes Erzittern ihres gläsernen Helmes und hörte ein knapp über ihrer Hörbarkeitsuntergrenze klingendes Brummen und Grummeln. Als sie dann sah, wie aus dem Opferstein blutrote Lichter durch den Boden eilten und in eine der Wände eindrangen sah sie, dass diese Wand wohl auch nur eine verschiebbare Barriere war. "Rückzug, Feind hinter Barriere!" drang Deeplooks Gedankenstimme in ihr Bewusstsein. Diana Wollte sich zurückziehen. Doch da schob sich bereits die Wand zu dieser Höhle wieder nach oben, während die gegenüberliegende Wand im Boden versank und entblößte, was sie eigentlich hätte erwarten müssen.

Erst sah sie nur einen zwei Meter dicken, immer schneller pulsierenden Klumpen, der aus der sich öffnendenWand herausquoll. Dann erkannte sie, dass es ein spitzer Kopf mit punktförmigen tiefschwarzen Augen war. Dann klaffte das klumpenartige Gebilde auseinander und erwies sich als gewaltiges Maul mit mehr als hundert langen, spitzen Zähnen. "Die Mutter der Blutwürmer!" durchfuhr sie Deeplooks von Anwiderung und Angst getragener Gedanke.

Wie eine lebende Kreatur mehrere Jahrtausende überdauern konnte war im Moment unwichtig. Wichtig war, dass sie lebte und nun neue Beute suchte. Weil Diana gerade auf festem Boden stand war sie sichtbar. Sollte sie die Unsichtbarkeit ihrer eigenen Natur herbeiführen? Sie zielte mit dem Zauberstab auf die immer weiter aus der anderen Höhle hervorkriechende Abscheulichkeit, deren Ende sie noch nicht erkennen konnte. "Kann sein, dass die Höhle einstürzt, wenn sie stirbt", durchzuckte sie eine Vermutung Deeplooks. "Ja, aber wenn ich sie nicht stoppe verschluckt die dich und mich und behält deinen Glashelm vielleicht ihr restliches Leben im Bauch." "Durch den Boden weg, schnell, bevor sie sich frei bewegen kann!" trieb sie Deeplooks eingekerkerter Geist an.

Ich versuche es", dachte Diana und konzentrierte sich auf ihr koboldisches Erbe. Sie versuchte, durch Aufstampfen im Boden zu verschwinden. Doch es war, als hüpfe sie auf einem straff gespannten Sprungtuch auf und ab. In den Höhlenwänden flackerten Lichtentladungen. Da erkannte sie, dass jede nicht mit diesem unterirdischen Gefüge abgestimmte Erdmagie zurückgeworfen wurde. Währenddessen schob sich die Königin der Blutwürmer weiter aus ihrer eigenen Höhle heraus. Ihr Vorderende ragte nun schon zwanzig Meter in die große Höhle mit dem Opferstein.

"Disappariere!" flehte Deeplook. Diana Versuchte es. Doch ihr war, als lege sich eine bleischwere Decke um ihren Körper. Sie kam nicht weg von hier! Drei Sekunden lähmte sie dieses Gefühl, eingeschnürt zu sein. Drei Sekunden, in denen die Königin der Blutwürmer sich vier weitere Meter aus der anderen Höhle heraus entrollte.

Diana wusste, dass sie es wagen musste. Sie stieg auf ihren Besen und hob ab. Immerhin ging das noch. Sie stieg fast bis zur vierzig Meter hohen Decke hinauf. Dabei merkte sie, dass da wieder jenes Vibrieren im Helm war. Jemand versuchte ihren Geist zu verwirren oder ihren Willen zu brechen. Doch der Helm fing jeden solchen Zauber zuverlässig ab. Sie brachte ihren Besen zum schweben und rief dessen Unsichtbarkeit auf. Ja, das ging hier unten auch noch. Sie hörte ein tiefes, die ganze Höhle erfüllendes Brummen, das ihr die Eingeweide durchwalkte. War das ein Angriffslaut oder ein Klagelaut, weil das Ungeheuer die hier vermutete Beute nicht gefunden hatte? Diana Camporosso zielte nun wieder auf das langsam auf- und zuklappende Maul. Als es am weitesten offen war rief sie die beiden Worte: "Avada Kedavra!"

Es sirrte laut und schrill von allen Wänden widerhallend. Der grüne Blitz des schnellen Todes raste auf sein unverfehlbares Ziel zu. Dann erleuchtete er das Innere des gewaltigen Rachens der schleimigen Kreatur. Für einen winzigen Augenblick vermeinte Diana, über dem Kopf des Ungeheuers einen geisterhaft durchsichtigen, grünen Totenschädel zu erkennen. Dann erstarben das Leuchten und das Sirren. Ein langgezogenes, ihre Eingeweide knetendes und ihre Knochen erschütterndes Grollenund Brummen ertönte. dann dehnte sich das getroffene Ungeheuer wie von einem inneren Druck langsam immer mehr aufgepumpt aus. Diana war sich sicher, dass sie besser noch zur wieder verschlossenen Wand zurückfliegen sollte. Da erfolgte ein lautes Reißen und Spritzen. Als Diana wieder hinsah und eine gewaltige Blutwolke zu sehen erwartete erschrak sie fast so sehr, dass sie vom Besen fiel.

Die Königin der Blutwürmer zerplatzte nicht wie ihre Brut. Sie zerfiel langsam in kleinere Stücke. Diese Stücke wurden zu länglichen Gebilden, die platschend und klatschend zu Boden fielen. Dann begannen sich die Einzelstücke zu bewegen . Das Muttertier zerfiel im Tode in aberhundert Jungtiere. Die auf diese grauenvolle Weise geschlüpfte Brut begann unverzüglich herumzukriechen und nach neuer Beute zu suchen. Wenn da auch solche Sprungfederspezialisten bei waren war es gleich mit ihr aus. Nein! Sie wollte nicht als Wurmfutter enden!

Bollidius!" rief Diana Camporosso von weiter oben und hinten und zielte nach unten. ein kleiner Feuerball schoss aus ihrem Zauberstab, blähte sich im Flug auf und krachte mitten hinein in das Gewimmel. Mit lautem Knall barst der Feuerball zu einer zwölf Meter durchmessenden Feuerwolke auseinander. Ein vielstimmiges kurzes Zischen erklang. Als die Flammenkugel in sich zusammenfiel hatte sie an die zwanzig Schlüpflinge zu qualmenden verkohlten Klumpen verbrannt. Die noch lebenden zogen sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit schlängelnd zurück. Diana setzte nachund schickte noch einen Feuerball direkt in die andere Höhle hinein. Wieder zischte es laut. Wieder gab es zwanzig oder dreißig Schlüpflinge weniger. Diana schuf auf diese nicht minder grauenhafte Weise eine Schneise aus verkohlten Kadavern und dankte der Eingebung, die Kopfblase weiterbehalten zu haben.

Sie spürte, dass ihr jeder Feuerball Kraft raubte. Doch sie musste es hier und jetzt zu Ende bringen. Die oder sie selbst? Es musste eine Entscheidung her.

nach dem zehnten Feuerball war sie sicher, dass da unten kein Blutwürmling mehr lebte. Doch was außer den vielen verkohlten Kadavern in der anderen Höhle war konnte sie im Augenblick nicht sehen. Da kam ihr die Idee, den Verschwindezauber auf die Überreste dieser Schlacht anzuwenden. Ja, der gelang. "Evanesco solidus!" rief sie wieder und wieder aus und schickte die getöteten Blutwürmlinge in das Nichts, von dem keiner wirklich wusste, ob es Nichts war oder nicht doch ein anderer Zustand von Materie, weil ja aus diesem Nichts heraus auch tote Gegenstände beschworen werden konnten. Jedenfalls beseitigte sie so die Opfer ihres Feuerballinfernos. Dann fegte sie mit dem Ratzeputzzauber durch die Höhle, bis es keine Spuren mehr von allem hier gab. Jetzt konnte sie auch sehen, dass sie in einer zylinderförmigen Höhle angekommen war, die gut und gerne achtzig Meter nach oben aufragte und zwanzig Meter durchmaß. An den weiter oben erkennbaren Ablagerungen erkannte sie, dass die Königin der Blutwürmer diesen zylindrischen Hohlraum mit ihrem ganzen Körper ausgefüllt haben musste. Was für eine gruselige Vorstellung. Doch nun sah sie am Boden etwas schimmern, wohl weil ihre Gläser des wahren Blickes es enthüllten. Sie steuerte mit dem Besen darauf zu. Es war ein Kreis aus glitzernden, in den Boden eingelassenen Steinen, der in mehr als zwanzig Abschnitte unterteilt war. Sollte sie mal versuchen, dort zu landen? Doch im letzten Moment brach sie das Manöver ab. Es konnte eine letzte Falle der Erschaffer dieser Höhle uralten Horrors sein. Sie landete außerhalb des Kreises. Dabei musste sie wohl wieder einen Meldestein berührt haben. Denn innerhalb des Kreises stiegen rote Funken an die zwei Meter nach oben. Diese bündelten sich zu einer flirrenden Säule, aus der heraus eine aus sich rot leuchtende, durchsichtige Geistererscheinung entstand. Es war die Gestalt eines hageren Mannes. Als dieser seinen Mund öffnete konnte sie die zwei langen Eckzähne sehen. Dann hörte sie ihn mit einer verwaschen klingenden Stimme etwas sagen. Doch sie verstand die Sprache nicht. Sie merkte nur, dass der ihr aufgesetzte Glashelm leicht nachbebte. Eine halbe Minute lang sprach der Geist aus dem Kreis. Dann verschwand er völlig übergangslos.

"Der Helm hat verhindert, das seine Botschaft in deinem Geist übersetzt wurde", erkannte Deeplook. Sofort erinnerte sich Diana an ähnliche Fälle, wo Deeplook eine alte Botschaft gefunden hatte, aber wegen seines Seelenglashelmes die direkt in das Gehirn übermittelte Übersetzung nicht verstehen konnte. "Heißt das jetzt, dass wir hier fertig sind?" fragte Diana ihren Unterworfenen. "Das heißt nur, dass die Botschaft ausgelöst wurde, wohl weil jemand es geschafft hat, lebend in diese Höhhle einzudringen. Vielleicht kannst du dir nun die Höhle gefügig machen. Ein Blutopfer wäre jetzt wohl möglich. Doch wenn ein ganzes Lebewesen dafür ausbluten muss wäre das ein zu großes Opfer." Diana Camporosso sah das ein. Was blieb ihr? Sie kehrte in die Höhle mit dem Opferstein zurück, erschuf sich aus dem mitgebrachten Steinbrocken einen neuen Stein des Aufstoßens und schaffte es damit, die andere Barriere im Boden versinken zu lassen. Rasch flog sie zu dem Schacht zurück. Sie blickte nach oben und erkannte, dass dieser gerade bis ins freie führte. Sie jagte im Rosselini-Raketenaufstieg nach oben und stieg auf fünfzig Meter Höhe. Dann sah sie, wie der Spalt sich wieder schloss.

"Wenn wir Gefangene machen können wir sie opfern, womöglich welche von den Akashiten", schlug Deeplook vor. Diana verstand. Wenn sie es schaffte, die Höhle wieder zu öffnen konnte sie sie wohl durch ein Blutopfer auf sich abstimmen. Vielleicht war es das, was die magische Erscheinung des Vampires hatte sagen wollen. Jedenfalls hatte sie erst einmal genug Grusel und Abenteuer erlebt. Sie putzte mit dem Ausscheidungsverschwindezauber nur noch ihren Auswurf weg, damit keiner merkte, dass jemand hiergewesen war. Danach flog sie weit genug von der Höhle fort, um zu disapparieren. Sie würde wiederkommen. Denn dieses Versteck war gut geeignet für ihre neue Schwesternschaft.

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Es war der 5. April 2007. Heute war der Tag, an dem sich entscheiden sollte, ob Ministerin Ventvits und Julius' Latierres Hoffnung berechtigt war, dass auch andere Zaubereiministerien Friedensverträge mit den in ihren Hoheitsgebieten lebenden Veelastämmigen machen würden oder nicht.

Auch an diesem Morgen sorgte Julius dafür, dass der Erdkraftschutzwürfel mit einer überschüssige Erdkraft abschirmenden Kraft aufgeladen war. Wie an den letzten Tagen üblich nahmen alle Abordnungen ein gemeinsames Frühstück in der kathedralengroßen Versammlungshöhle ein. Julius musste dabei häufiger seine Selbstbeherrschungsformel denken, um sich nicht durch die ihm geltenden Blicke aus der Ruhe bringen zu lassen. Außerdem half ihm dieses von seinem Karatelehrer Tanaka beigebrachte Mantra, keine überflüssigen Gedanken in sein Bewusstsein zu lassen.

Als sich die Beratungsgruppen um acht Uhr morgens in den zugeteilten Höhlen trafen eröffnete Lisa Giraldini die Sitzung mit den Worten: "Heute steht der Antrag des französischen Zaubereiministeriums auf der Tagesordnung, über das bisherige und weitere Verhältnis der Zaubereiministerien zu den in ihren Zuständigkeitsbereichen lebenden reinrassigen Veelas und der mit üblichen Hexen und Zauberern gezeugten Nachkommen zu sprechen. Der für die in Frankreich zuständige Vertreter zwischen Menschen und Veelas, Monsieur Julius Latierre, wird hierzu über die Auswirkungen von Ladonnas Machtergreifungen außerhalb Frankreichs und die Beziehung zu den in Frankreich lebenden Veelastämmigen berichten. Anschließend ist eine Diskussion über die berichteten Erfahrungen und deren Auswirkungen möglich. Ich erteile somit das Wort dem französischen Menschen-Veela-Beauftragten, Mr. Julius Latierre. Bitte sehr!"

Julius erhob sich und begrüßte die Anwesenden. Dann erläuterte er, wie sich das Verhältnis zu den Veelastämmigen vor Ladonna dargestellt hatte, wie es sich während deren Herrschaft über andere Länder weiterentwickelt hatte und dass Ministerin Ventvit und die von den französischen Veelastämmigen anerkannte reinrassige Veela Léto sich auf einen Friedens- und Anerkennungsvertrag geeinigt hatten. Diesen Vertrag las er in der von ihm selbst angefertigten Übersetzung vor. Dabei blickte er nur auf seine Unterlagen. Erst als er alles verlesen hatte blickte er die anderen an. Er nahm Vargas' verdrossene Miene zur Kenntnis und Buonaventuras nachdenkliches Gesicht. Dann sagte er noch, dass die Zaubereiministerien Russlands, Bulgariens, Rumäniens und Polens bereits darüber eingekommen seien, Frieden mit den Veelas zu halten und sie als verhandlungsfähige Gruppe anzuerkennen. Dann sagte er noch: "Ich erhielt sowohl die Erlaubnis von Ministerin Ventvit, als auch von Madame Léto, meine eigene Ansicht zu diesem Thema zu äußern. In der Hoffnung, Ihr Interesse geweckt zu haben möchte ich all meinen Erläuterungen anfügen, dass wir alle, nicht nur in Frankreich, dem guten Willen und der Einsatzbereitschaft der Veelastämmigen danken dürfen, dass Ladonna Montefiori ihre Ziele einer weltweiten Alleinherrschaft nicht erreichen konnte und es möglich wurde, ihrem Feuerrosenzauber entgegenzuwirken, selbst wenn sie überaus schnell reagiert und ihre damaligen Unterworfenen versteckt hat, um sie bloß nicht der sich als wirksam erwiesenen Methode auszuliefern, den Bann zu lösen. Ich weiß, dass hier nicht wenige sitzen, die über Monate Ladonnas gehorsame, willenlose Dienerinnen und Diener waren. Als solche haben Sie gegen Ihren Willen gehandelt und unter anderem versucht, alle Veelastämmigen in Ihren Ländern zu fangen oder zu töten. Ich erkenne auch an, dass Sie bis heute mit möglichen Schuldgefühlen zu kämpfen haben, ob sie damals nicht mehr gegen Ladonnas Zauber hätten ausrichten können. Dass Ihnen das nicht gelang dürfen Sie nicht als Vorwurf verstehen und müssen dies auch nicht als unverzeihliche Schwäche betrachten. Ich möchte nur sagen, dass Ladonna auch von den Veelas verachtet und gefürchtet wurde. Wohl auch deshalb gelang es Ministerin Ventvit und Léto, im Schatten von Ladonnas Feuerrosenimperium einen Pakt zu schließen, jenen, den ich gerade vorgelesen habe. Ich bin sehr zufrieden und beruhigt, dass dieser Vertrag sicherstellt, dass es keine Übergriffe auf Veelas und auch keine Übergriffe von Veelas auf Menschen geben wird, solange auf beiden Seiten vernünftige, tolerante Wesen sitzen, die über die nötige Macht verfügen, dieses Bündnis in friedlichem Ausgleich zu halten. Soweit mein Beitrag zu Beginn dieser Aussprache. Mrs. Giraldini, Ladies and Gentlemen, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und gebe das Wort zurück an unsere Gesprächsleiterin." Julius verbeugte sich kurz, wartete, bis Lisa Giraldini wieder zu sprechen begann und setzte sich auf seinen Stuhl.

"Ich bedanke mich zunächst bei Mr. Latierre für seine Darlegungen und das Vertrauen, dass er im Namen Ministerin Ventvits in uns setzt. Ich habe mir erlaubt, die Regungen während Ihres Vortrages als Wortbeitragsreservierungen zu deuten und werde zunächst dem spanischen Kollegen Vargas Ruiz das Wort erteilen, da auf dem Hoheitsgebiet seines Zaubereiministeriums Veelastämmige wohnen. Bitte Mr. Vargas Ruiz."

"Danke, Madam Giraldini", sagte der spanische Zauberwesenbehördenleiter. "Ich bedanke mich ebenfalls bei Mr. Latierre, dass er sich die Zeit nahm, um uns zu berichten, was Ministerin Ventvit zusammen mit Léto und ihm ausgehandelt hat. Es ist auch sehr wichtig, Einzelheiten zu kennen, um darüber sprechen zu können. Soweit das Grundsätzliche." Der Spanier machte eine kurze Pause. Julius sah ihm an, dass jetzt was ihm unangenehmes folgen musste. "Im Namen von Minister Pataleón, wie auch im Namen all jener, die von März bis Dezember 2006 unter dem schändlichen Einfluss von Ladonna Montefiori standen muss ich das zwischen den Zeilen Ihres Wortbeitrages mitschwingende Mitleid für uns als unnötig und unerwünscht zurückweisen. Wir sind uns dessen bewusst, dass wir in der erwähnten Zeit nicht mehr die Herren unseres Willens und Handelns waren. Ja, und wir wurden dafür von Gerichten und Heilern überprüft, ob wir eine bewusste und zu ahndende Schuld auf uns luden. Die Heiler haben uns bescheinigt, dass wir zu keinem Zeitpunkt der Unterwerfung frei handeln konnten. Die Gerichte erkannten das Gutachten an und sprachen uns von allen Anklagen frei, die wegen unseres Handelns aufkamen. Soweit das. Doch gerade die Erfahrung mit einer sich selbst für zu wichtig haltenden Veelastämmigen hat uns gelehrt, zu viel Vertrauen in diese Wesen zu setzen. Hinzu kommt, dass die einzige Familie die von Veelas abstammt, bereis gewisse Möglichkeiten hat, sofern es von den Gesetzen zum Umgang und zur Einordnung magischer Wesen zulässig ist. Weil diese Gesetze sehr strickt sind, um keine Aufweichung und / oder vermeidbare Missverständnisse zu verursachen, ja und weil wir es unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern gegenüber verantworten müssen, alle Zeit für Ihr Wohlergehen und ihre Sicherheit einzustehen, ist uns daran gelegen, die größtmögliche Kontrolle über alle Zauberwesen zu haben, auch und vor allem wenn diese mit Menschen wie Sie und ich gesunde, selbst fortpflanzungsfähige Nachkommen haben. Jene Nachkommen wurden bis zum Jahre 1937 mit reinrassig menschlichen Hexen und Zauberern gleichgestellt. Dann erwies es sich, dass unser Vertrauen in die Ältesten dieser Gemeinschaft verfehlt war, und meine Vorgänger mussten zu beschränkenden Maßnahmen greifen, die die Bewegungsfreiheit und Berufsauswahl der Nachkommen auf wenige Ausnahmen begrenzte. Es drohte fast die Aberkennung der Berechtigung, Zauberstäbe zu führen und anzuwenden und die Veelastämmigen in den Status menschenförmiger, magisch begabter Wesen herabzustufen. Ich hörte von Ihnen kein Wort über die schier unbegrenzte Selbstdarstellungsbegierden der Veelas, der Auffassung, ihres äußeren Erscheinungsbildes wegen und wegen verschiedener zauberstablos ausführbarer Elementarkraftzauber nicht nur ebenbürtig, sondern eine uns Menschen überlegene Lebensform zu sein und daraus mehr Rechte abzuleiten und einzufordern, ähnlich wie es die bei uns heimischen und aus guten Gründen von größeren Ansiedlungen ferngehaltenen Vampire tun. Die Älteste von ihnen ist derartig auf ihr Aussehen, ihre Intelligenz und ihre Erfolge bezogen, dass sie sich wie eine Fürstin, ach was, wie eine heimliche Königin geriert und ständig für ihre Kinder und Kindeskinder die besten Anstellungen heraushandeln will. Das Zaubereiministerium konnte ihr und ihren Verwandten nur dahingehend entgegenkommen, dass die für vollwertig ausgebildete Hexen und Zauberer gehaltenen Kinder und Kindeskinder ihre Zauberstäbe weiterführen dürfen und nach Vorlage von Unbedenklichkeitsgutachten in Behörden und Unternehmen arbeiten dürfen. Der einzige, der zur Zeit bei uns arbeitet ist Ignacio Lucio Bocafuego Escobar. Ja, und wäre seine Großmutter, die sich als Familienoberste der bei uns lebenden Sippe von Veelastämmigen versteht nicht so oft anmaßend und Überheblich aufgetreten, so können wir uns vorstellen, dass wir weitere Veelastämmige aufgenommen hätten. Doch wir, also der Minister und wir, seine Mitarbeiter, legen keinen gesteigerten Wert darauf, uns über die Veelastämmigen in Spanien unterwandern und unsere Autorität untergraben zu lassen. Denn das würde passieren, wenn wir nicht 1990 die freie Berufsauswahl beschränkt hätten. Außerdem hegen meine Kollegen aus der Sicherheitsbehörde den Verdacht, dass die Großmutter von Señor Bocafuego Escobar mit anrüchigen Gruppierungen verkehrt und damit die letzte Spur von Vertrauen in ihre Person zu zerstören droht. Wohl gemerkt, es ist ein Verdacht. Doch durch Ladonnas drastische Unternehmungen wissen wir nun, dass Veelastämmige, die noch dazu zaubern können, ganz hinterhältige Mittel besitzen, um uns, die magischen Menschen, auszuschalten und nur noch nach ihrem Willen leben zu lassen. Um das von vorne herein zu unterbinden lehnen wir es ab, dieser Sippe mehr als nur eine freie Berufswahl zu erlauben. Ja, wir können es nicht vor unseren Mitbürgern verantworten und rechtfertigen, wenn Veelas mit jungen Burschen ihr neckisches Spiel treiben, um sie am Ende zu willfährigen Erfüllungsgehilfen zu machen. Wir können und werden es verhindern, dass jene selbsternannte Matriarchin Espienela Flavia Bocafuego de Casillas ihre aus ihrem Erbgut entspringenden Macht- und Ruhmträume auf Kosten aller Menschen auslebt. Mag sein, dass Madame Léto zurückhaltender auftritt. Doch sie ist für unsere Veelastämmigensippe nicht zuständig. Ja und auch wenn sie von den Ältesten der Veelas als deren Vermittler zu uns und von uns zu ihnen erwählt wurden sehen wir keinerlei Anlass, den Vertrag zu kopieren und nur die spanischen Namen einzusetzen. Doch vielleicht irre ich mich im Bezug auf Létos Zurückhaltung und muss sogar unterstellen, dass sie ebenfalls ihr Spiel um Macht und Einfluss spielt, indem sie es zuließ oder gar anregte, dass eine ihrer Enkelinnen einen hochbegabten und dadurch erfolgsversprechenden Sportler dazu verführte, mit ihr ein Paar zu bilden, diese Verbindung aber nur unter der Bedingung gestattet wurde, dass der bedauernswerte junge Mann seine Berufssportlerkarriere aufgibt, damit die Zaubereigeheimhaltung gewahrt bleibt. Dass diese wegen der ihr so entgangenen Gelegenheit, richtig viel Aufmerksamkeit zu erringen dann Rache nahm, und zwar auf eine höchst nachhaltige Weise, zeigt doch, dass diese Wesen auch mit menschlichen Erbanteilen immer noch als überhebliche Charaktere auffallen. Ja, und jener Racheakt, der scheinbar doch nur Vorteile für die Ministerin eintrug, wurde zum Erpressungsmittel, um den Verbleib als freie Bürgerin Frankreichs zu erzwingen. Wie erwähnt weiß ich es nicht mit Bestimmtheit, kann mir jedoch vorstellen, dass Léto dies alles zuließ, um indirekten Einfluss auf das Zaubereiministerium zu erhalten. Dann war es nur eine Frage der Gelegenheit und der Wortwahl, dass die bei Ihnen lebenden Veelastämmigen allesamt auf dieselbe Stufe wie reinblütige Menschen gestellt wurden. Wir werden uns nicht auf derartig fragwürdige Vereinbarungen einlassen, auch und vor allem, wo wir jetzt die sehr bittere Erfahrung gemacht haben, wie leicht es eine sogenannte Tochter Mokushas anstellen kann, arglose Menschen zu versklaven, wenn sie skrupellos genug ist. Ich wurde von Minister Pataleón ermächtigt, Sie alle und Mr. Latierre im besonderen darüber in Kenntnis zu setzen, dass wir in Spanien ein Bewegungs- und Berufsbeschränkungsgebot beschlossen haben, damit wir jederzeit wissen, wer von den der Veelastämmigen wo zu finden sind und dass sie ausschließlich das tun, was den für sie geltenden Gesetzen entspricht. Es mag für Sie sehr bedauerlich sein, Mr. Latierre, aber wir lehnen jede Aufwertung der selbstüberschätzenden, selbstverliebten Geschöpfe ab. Die dürfen doch froh sein, dass sie zumindest nicht in ein Schutzlager einquartiert werden."

"Hat jemand anderes dazu was zu sagen?" fragte Giraldini. Der Italienische Vertreter Buonaventura stand auf und sagte: "Ja, es ist wahrlich bedenklich, dass eine Zaubereiministerin, die von einem mächtigen Veelazauber betroffen ist, mit der Verwandten jener Veela einen weitreichenden Anerkennungsvertrag abschließt und dass diese Person es nicht für geboten hielt, Kontakt mit den freigebliebenen Hexen und Zauberern Europas zu suchen um diesen ganz uneigennützig zu helfen, gegen Ladonna zu bestehen. Deshalb erkennen wir vom italienischen Ministerium für magische Angelegenheiten aller Art den Friedensvertrag nicht als nachahmenswert an, ja können uns sogar damit tragen, ihn vor der globalen Magierkonferenz auf seine Rechtmäßigkeit prüfen zu lassen. Am Ende wird er noch für ungültig erklärt." Julius schluckte. Dieser Vertrag könnte nämlich auch dazu verleiten, dass andere denkfähige Zauberwesen ähnliche Gleichstellungs- und Machtansprüche stellen. Daran haben Sie wohl nicht gedacht, Mr. Latierre."

"Doch, haben wir durchaus", erwiderte Julius, als ihm das Antwortrecht gewährt wurde. "Deshalb gibt es ja bei uns auch ein Friedensabkommen zwischen Menschen, Kobolden und Zwergen, wo anderswo die beiden kleinwüchsigen Zauberwesenvölker sich gegenseitig belauern oder die Menschen für sich und ihre Ziele einzuspannen versuchen." Alle schluckten ob Julius' so ruhiger und unverzüglicher Antwort und dass er ihnen allen gewissermaßen vorhielt, dass bei ihnen die Kobolde gerade schlecht behandelt wurden, ohne es laut auszusprechen. Es wunderte ihn jedochnicht, dass der ägyptische Vertreter Al-Assuani sogleich und ohne Worterteilung rief: "Bei uns wird es das auch nicht geben, weil wir erkennen, dass wir ohne Gringotts genausogut leben können." Lisa Giraldini räusperte sich und mahnte Gesprächsdisziplin an. Dann fragte sie Julius, ob er noch was sagen wolle. Er verneinte es "für's erste". Die Nordafrikaner erwähnten nun, dass sie ihren Zaubereiministern nicht empfehlen würden, einem Gleichberechtigungsvertrag mit ihren Zauberwesen abzuschließen, um eben keine Begehrlichkeiten zu wecken. Al-Assuani stellte nach ordentlicher Worterteilung klar, dass das ägyptische Zaubereiministerium nach Ladonna und wegen der Akashiten und Nachtschatten jede Bewegungsfreiheit von menschenförmigen Zauberwesen einschränken würde und jedes Bestreben, diesen Wesen mehr Rechte und damit mehr Machtanspruch zu gewähren, als "Gefährdung der freien Zauberergemeinschaft Ägyptens" einstufen und zum Straftatbestand erheben würde. Damit hätte Julius jetzt nicht gerechnet und auch gar nicht, dass die anderen Maghrebstaaten dem voll und ganz beipflichteten. Südafrikas Vertreter räumte ein, dass mögliche Ausnahmen für friedfertig angelegte Zauberwesen erlaubt sein sollten und dass sein Land weiterhin mit den Gringotts-Kobolden zusammenarbeiten würde, sofern die Kobolde nicht noch einmal sowas wie mit den angeblichen quaffelgroßen Naturdiamanten versuchen würden. Weil die Kobolde ja am Vortag das den ganzen Tag beherrschende Thema waren musste hierzu nicht noch mehr gesagt werden.

Julius musste wieder daran denken, dass ihm Vargas Ruiz und Buonaventura Handeln unter Veelaeinfluss unterstellt hatten und Buonaventura mögliche Schritte gegen eine internationale Anerkennung des französischen Friedensvertrages angedeutet hatte. Offenbar planten die italienischen Ligazauberer etwas und wollten Frankreich in eine bestimmte Richtung treiben. Doch das würde er denen nicht aufs Brot schmieren. Am Ende weckte er noch einen schlafenden Hund.

Jedenfalls zeigte sich, dass seine Schwiegertante Béatrice und Hera Matine recht hatten, dass die einstigen Unterworfenen Ladonnas jede gleichberechtigte Zusammenarbeit mit menschenförmigen Zauberwesen ablehnten. Da Julius nur Vorschlagsberechtigt war und auch die klare Anweisung hatte, nicht auf eine Nachahmung der französischen Veelabeziehungen zu drängen konnte er nur weiter zuhören, wie Vargas Ruiz über die spanische Veelastämmige Bocafuego de Casillas herzog und dass Minister Pataleón nur deshalb alle von Ladonnas Veelavernichtungsvorrichtungen hatte beseitigen lassen, weil er fürchtete, dass diese irgendwann auch Menschen vernichten konnten, nachdem diese aus Ladonnas Bann befreit waren.

Als es dann Mittagessenszeit war stand die mit 24 zu 4 Stimmen beschlossene Erklärung, dass Veelastämmige ähnlich wie geduldete Vampire sich nicht weiter als 30 Kilometer von ihren zugesprochenen Wohnorten entfernen durften. "Tja, kann der Rat der Veelas der spanischen Veelastämmigen mitteilen, dass die keinen solchen Friedensvertrag wie die Französischen Teilartgenossen bekommen würden. Julius war zumindest froh, die befürchtete Direktkonfrontation mit den ehemaligen Abhängigen Ladonnas überstanden zu haben. Da er im Vorfeld schon mit Béatrice und Hera durchgespielt hatte, was diese ihm unterstellen oder vorwerfen könnten war es ja noch glimpflich ausgegangen. Nur die Ankündigung Buonaventuras gefiel ihm nicht so. Nachher drehte der es so, dass Ministerin Ventvit die weiterhin beeinflusste Hexe war und daher keine Rechte als Zaubereiministerin mehr haben sollte. Dass die Nordafrikaner eine gemeinsame Trotzfront gegen die Europäer bildeten galt ja schon seit Beginn dieser Zusammenkunft. Dass die Ägypter dabei die Führung hatten erstaunte Julius ein wenig. Er schob es darauf, dass er sich in der nordafrikanischen Zaubererpolitik nicht auskannte. Am Ende hatten die Ägypter immer schon die erste Geige gespielt, seit den Pharaonen, während der griechischen Kolonialzeit, dem Dasein als römische Provinz und so weiter.

Der Nachmittag verlief dann für Julius uninteressanter, weil es jetzt, wo das mit den Veelas besprochen war, noch einmal um das Verhältnis der südafrikanischen zu den Europäischen und den nordamerikanischen Kobolden ging und inwieweit die Zauberwesenbehörden da Rechte von den Leitern für internationalen Handel bekamen, die Kobolde genauer zu kontrollieren. Diese Debatte endete damit, dass kein tragfähiger Beschluss gefunden werden konnte. Das Thema sollte also morgen noch einmal auf die Tagesordnung. Julius kündigte an, dass die Ministerin, nun wo er seine besondere Aufgabe erfüllt habe, zwei Tage für eine Familienangelegenheit freigegeben hatte. "Soso, hat die Ministerin dies auch früh genug beantragt?" fragte Vargas Ruiz an Lisa Giraldinis Adresse. Diese bejahte es unverzüglich. Damit nahm sie dem Spanier wohl sämtlichen Wind aus den Segeln. Denn er nickte nur kurz und lehnte sich dann auf seinen Stuhl zurück.

Abends in der Sonnenkarosse erstatteten alle der Ministerin Bericht. "Ja, dass sie den Friedensvertrag nicht zum allgemeingültigen Modell erheben konnten war zu befürchten. Die spanischen Veelastämmigen pflegen ein ganz anderes Verhältnis zu den dortigen Hexen und Zauberern. Und ja, wie Sie ja nicht abstreiten können, Monsieur Latierre, sind Veelas wegen ihrer besonderen Begabungen und vor allem wegen ihres übermenschlich anziehenden Erscheinungsbildes sehr von sich eingenommen und nutzen jede Gelegenheit, dies deutlich darzustellen, wie der Fall Euphrosyne Blériot gezeigt hat. Wahrscheinnlich auch deshalb wollte Vargas Ruiz Sie und mich auch als von Léto beeinflusst darstellen. Was die Italiener angeht, so teile ich Ihre Besorgnis, dass die dortige Sektion der Liga gegen dunkle Künste als selbsternannte Erretter der freien italienischen Zaubererwelt darauf bestehen könnten, meine Willensfreiheit im Umgang mit Veelas überprüfen zu lassen. Aber gut, dass Sie sich nicht von ihm zu irgendwelchen Reaktionen verleiten ließen, Monsieur Latierre. Er wollte testen ob es speziell Ihnen weh tut, wenn er mit einer Überprüfung meines und Ihres Statusses droht. Denn rechtlich darf er als zeitweiliger Beamter erst einmal gar nichts überprüfen. Zweitens bedarf eine solche Prüfung eines Grundes, der eindeutig in sein Hoheitsgebiet reicht, und außer dem, was die von Ladonna unterworfenen Hexen und Zauberer damals versucht haben, um mich zu entmachten kann er keinen Grund vorbringen, dass ich seine Zauberergemeinschaft bedroht hätte. Dann würde ich nämlich im Akt der Verteidigung beantragen, dass er und sein Mitstreiter Torregrande nicht befugt seien, die Überprüfung zu verlangen. Ja, und wenn ich Sie, Madame Latierre richtig verstanden habe, wolllten die Nordafrikaner wohl ausloten, wie einig oder uneinig wir in dieser Frage sind. Da wollenund werden sie ansetzen, wenn ich bedenke, was sie gestern zu unserem Friedensvertrag mit Zwergen und Kobolden geäußert haben. Die Gefahr, dass diese Zusammenkunft scheitert ist also noch nicht aus der Welt, Messieursdames."

"Ja, und was die Sicherheitslage angeht so hat mein Kollege aus Algerien noch einmal angekündigt, dass jeder Besucher aus Frankreich darauf überprüft werden darf, ob er mit in Algerien unerwünschten Zauberwesen oder Hexen und Zauberern Kontakt hatte. Ja, und was Sie sicher sehr interessiert, Ministerin Ventvit, Madame Latierre und Madame Lebois: Die Maghrebstaaten wollen eine einheitliche Begleitpflicht für Hexen einführen, was heißt, dass alleinstehende Hexen nur in männlicher Begleitung eines vom Zaubereiministeriumzugeteilten Zauberers durch ihre Hoheitsgebiete reisen dürfen und verheiratete oder minderjährige Hexen nur in Begleitung des Ehegatten oder ihres Erziehungsberechtigten, in loco parentis auch einem Lehrer einreisen und die Länder besuchen dürfen. Dies, so mein Kollege, sei eine der Konsequenzen, die die nordafrikanischen Staaten aus Ladonnas Machtgier ziehen müssten, zumal es bei der einheimischen Zauberergemeinschaft auch nicht so gut ankommt, wenn ausländische Hexen mehr Rechte einfordern oder erhalten als einheimische Hexen. Aber ich denke, da liegen die Herren Kollegen sowas von hinter dem Mond und merken das nicht einmal."

"Da freuen sich dann die Brüder des blauen Morgensterns", ätzte Julius. Denn diese Hexenfeindlichkeit kannte er ja auch von denen. Hexen sollten bei denen nur ihren Gatten dienen und ihnen alle häuslichen Probleme vom Hals halten. Jophiel Bensalom und seine Frau Deborah hatten es bei der Zusammenkunft der Kinder Ashtarias im Apfelhaus erwähnt, dass sie bei den Morgensternbrüdern mit Argwohn betrachtet würden und Jophiel nur wegen des Erbes Ashtarias vollwertiges Mitglied bleiben durfte. Ja, und nicht nur er hier wusste, dass sich die arabischen und indischen Hexen in eigenen Schwesternschaften organisierten, die heimlich eigene Zauberstudien und -übungen abhielten. Insofern hatte Brunos Vater völlig recht, dass die Zaubereiverwalter des Maghreb hinter dem Mond lebten, wobei nicht gesagt werden konnte, von welchem Planeten.

"Also, die Ägypter mauern gegenüber den Italienern, solange die ihre angeblichen Schätze nicht wiederbekommen", klagte Fourier. "Ja, und heute hat mein dort tätiger Kollege mit einem Handelsverbot für ägyptische Tränke und thaumaturgische Erzeugnisse gedroht. Wie heißt das noch einmal? Lumbago?"

Julius hätte fast laut losgelacht. Doch er konnte sich gerade noch beherrschen. "Em-bar-go", korrigierte die Ministerin ihn. "Ein Lumbago ist eine schmerzhafte Verkrampfung der Rückenmuskeln, von den Nichtmagiern auch Hexenschuss genannt."

"Ei, wie peinlich wäre das gewesen", seufzte Fourier, während die anderen doch zumindest grinsten. Julius bat ums Wort und zählte die ihm bekannten Embargos der nichtmagischen Welt auf, besonders das Embargo gegen das ehemalige Appartheidsregime in Südafrika und das Embargo der USA und ihrer Verbündeten gegen die von Castro regierte Insel Kuba.

"Danke für diese tatsächlich wichtige Berichtigung", erwiderte Fourier. "Ich kannte nur das Wort Ausfuhrsperre oder Handelspause."

"Wir können also für uns selbst festhalten, dass bisher nur eine Aufbesserung der Nachrichtenübermittlung zwischen den Mittelmeerländern, eine Organisation zur Ortung und Überwachung von Vampiren über Hoheitsgrenzen hinaus und die Beibehaltung der internationalen Zuchtverzeichnisse magischer Tierwesen erreicht wurden und alle anderen Ziele entweder abgelehnt oder zu einer auf unbestimmte Zeit erfolgenden Prüfung vertagt wurden", sagte die Ministerin. "Mehr ist bisher wohl nicht drin, wo klar ist, dass die Afrikaner nun ihr eigenes Selbstbewusstsein fördern und die Sache mit den in Italien aufgetauchten Gegenständen einen langwierigen Streit mit Ägypten entfacht hat. Bleiben wir also weiterhin hoffnungsvoll, aber verlangen wir auch nicht mehr, als man uns zu geben bereit ist! Ich bedanke mich bei Ihnen allen für Ihre bisherige Arbeit und hoffe, dass wir zum Abschluss dieser Reise doch noch einige Erfolge verbuchen dürfen", sagte die Ministerin wohlwollend. Dann erlaubte sie allen, sich in die Kabinen zurückzuziehen.

"Es hat nicht so geklappt, wie Mademoiselle Ventvit und ich gehofft haben. Die Spanier lehnen jede Gleichstellung von Veelas ab und erlauben gerade mal den Veelastämmigen, weiterhin Zaubereischulen zu besuchen und in der Zaubererwelt zu arbeiten, Mamille", gedankensprach Julius zu seiner Frau. Dann schickte er noch nach: "Ich bin dann morgen früh um zehn bei euch. Die zwei freien Tage sind von den Maltesern genehmigt worden. Die mussten ja die Portschlüsselfreigabe erteilen."

"Gut, dann morgen früh wieder bei uns, Monju. Ich freu mich", erwiderte Millie über die vielen hundert Kilometer zwischen Millemerveilles und Malta.

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Diana Camporosso konnte am Abend des fünften Aprils drei neue Mitschwestern in ihren Reihen begrüßen. Ihr Vorhaben, sowohl den Geheimbund der Kobolde neu aufzubauen, als auch eine Nachfolgeschwesternschaft der Feuerrose zu gründen, nahm langsam Form an.

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Julius umarmte erst Millie, dann Félix und dann dessen Mutter, als er am nächsten Morgen um zehn Uhr im Apfelhaus apparierte. Als Portschlüssel für die hin- und Rückreise hatte er einen löcherigen Zaubererhut erhalten, bei dem die Spitze fehlte. Mit dem musste er dann am Abend des siebten April wieder im Foyer des Zaubereiministeriums sein, um nach Malta zurückportiert zu werden. Doch zunächst stand erst einmal die Party zu Félix Richard Rolands zweitem Geburtstag an. Da er noch nicht schreiben konnte hatten Millie, Béatrice und Julius die Einladungskarten für alle jungen Eltern verschickt, die mit den Latierres mitfeiern wollten. Dass Béatrice den kleinen Jungen mit den grünen Augen seines Großvaters mütterlicherseits zur Welt gebracht hatte hatten mittlerweile alle akzeptiert. Doch wie würde es sein, wenn Béatrice und Millie drei weitere Kinder gebaren?

Otto Latierre, der Pate des kleinen Jungen, schenkte ihm einen Allwetter-Spielanzug, wie ihn auch seine größte Halbschwester Aurore schon besessen hatte. Damit konnte er sogar ins Wasser fallen, ohne unterzugehen. So konnte Félix wohl beim dritten Geburtstag schon weiter als bis zur Grundstücksgrenze des Apfelhauses oder des Kinderhortes die Umgebung erkunden. Um seine Musikalischen Anlagen anzusprechen bekam er eine kleine, goldene Trompete, die wahlweise mit Selbstspielzaubern bis zu fünfzig lustige Lieder spielen konnte oder eben als Tonhör- und -nachspielinstrument bis zum freien Spielen alles hergab, was ein Lärminstrument zum Lerninstrument machte. Ob Félix später Flöte, Mundharmonika, Klarinette oder Klavier lernte wie seine Eltern oder Xylophon, Triangel, Tamborin oder Kinderharfe wie seine Geschwister konnte er ja im Laufe seines hoffentlich noch sehr langen Lebens herausfinden.

Béatrice freute sich unübersehbar, dass Félix sich so gut entwickelte und bereits mehrere Freunde gefunden hatte. Denn für sie hieß es, dass sie auch als seine Mutter anerkannt wurde. Julius freute sich, dass er diese für ihn so wichtige Auszeit vom politischen Gerede haben durfte. Beide dachten nicht daran, dass der kleine, quietschfidele Bursche mit den rotblonden Haarenund den jadegrünen Augen irgendwann mal Ashtarias Erbe übernehmen sollte und sich dann mit Unwesen wie den Nachtschatten, Dschinnen oder Vampiren herumschlagen musste. Aber vielleicht wurde er auch Zauberkunsthandwerker oder Heiler. Alles war möglich.

Die Feier dauerte bis neun Uhr abends. Dann aber war Félix auch schon so müde, dass seine Mutter ihn ins Bett tragen musste. Julius bedankte sich bei den Gästen für ihre Teilnahme und in Félix' Namen für die vielen bunten Geschenke. Dann sah er zu, wie sie nacheinander auf ihren Besen davonflogen oder durch den Flohnetzkamin im Erdgeschoss des Apfelhauses davonrauschten. Ui, war dieser Tag schnell vergangen! Morgen durfte er sich noch einen Tag Auszeit gönnen, bevor er sich wieder in das Palaver um Riesen und andere Zauberwesen stürzen musste.

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Albertrude Steinbeißer musste sich sehr in Acht nehmen, nicht aufzufallen. Sie sammelte nämlich seit mehreren Wochen Berichte aus Italien, Ägypten und anderen Nordafrikanischen Staaten. So hatte sie auch die Sache mit den vier ehemaligen Feuerrosenschwestern mitbekommen, die mit einem einzigen Geschoss, mutmaßlich einem Pfeil, umgebracht wurden. Natürlich wusste sie, dass es die kleinwüchsige, koboldstämmige Frau war, die sie von Girandellis Grundstück vertrieben hatte. Die Italiener wussten das auch schon. Denn trotz der wohl vereinbarten Verschwiegenheit war aus Malta durchgesickert, dass es bereits zu einer Auseinandersetzung zwischen dem italienischen und ägyptischen Zaubereiminister gekommen war.

Als Albertrude noch einmal alle mitgenommenen Unterlagen aus der Girandellivilla prüfte fand sie in einem der Bücher über dunkles Zauberwerk ein kleines Lesezeichen. Es war mit verschieden großen und farbigen Rosen bemalt. Die Hexe mit den Kunstaugen grinste. Das war Ladonnas eigene Geheimschrift. Die war jedoch unter anderem von Catherine Brickston entschlüsselt worden. Die entsprechende Tabelle lag bei ihr im Studierzimmer. Also nahm sie das bemalte Lesezeichen und holte sich die Übersetzungstabelle. "Wieso habe ich dich nicht schon vor Wochen gefunden?" fragte die Verschmelzung aus der ehemaligen lesbischen Ministeriumshexe Albertine und der dunklen Hexe der Barockzeit Gertrude. Da fiel ihr die Antwort ein: Sie hatte sich zuerst mit den ägyptischen Artefakten und ihrer Verwendung beschäftigt und so nebenbei ja noch ihren Job bei Malins Zwergenreich gemacht. Aber jetzt wollte sie es wissen.

Es dauerte eine Stunde, bis sie alle Rosensymbole auf dem Lesezeichen mit den von Catherine Brickston ermittelten Buchstaben verknüpfte und den Text erst von unten nach oben schrieb, ihn aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzte um ihn dann so zu übersetzen:

Das größte meines Wissens, die Schätze meiner eigenen Macht, sind in meinem eigenen Reiche untergebracht. Da ich weiß, dass man es wagte, mein Tagebuch zu übersetzen wird meine Erbin eines Tages dieses finden und wissen, wo und was ich meine, vor allem die, der ich bereits viel mehr Macht gab, als ihr ursprünglich zustand, ich die Königin aller Hexen.

"Meine Königin warst du nicht und wärest es nie geworden, Ladonna Montefiori", dachte Albertrude Steinbeißer. Doch nun hatte sie ein neues Rätsel. Wo hatte Ladonna ihr eigenes Reich? Es war einmal von einer Höhle in Italien die Rede. Aber wo diese war ging aus ihrem Tagebuch nicht hervor. Was waren die größten Schätze ihrer eigenen Macht? Fraglos der Ring - den hatte sie aber sicher dabei, als sie ihr Ende fand - sowie die Rezeptur, um die Feuerrosenkerzen zu erschaffen. Und welche Macht hatte sie wem gegeben? Die Frage war schon wieder einfach zu beantworten. Der silberne Bogen des Anhor und seine verfluchten Pfeile waren zwar nicht Ladonnas Erfindung. Doch sie hatte diese Macht an eine offenbar ihr würdige weitergegeben, eben diese kleinwüchsige, die womöglich sonst nicht viel hätte erreichen und werden können. gut, dass sie, Albertrude, diese Nachricht gefunden hatte. So konnte sie sich auf die Suche nach jener geheimen Höhle machen und herausbekommen, wie sie in diese eindringen konnte. Denn ihr war als Meisterin der dunklen Künste klar, dass diese Höhle nur von Ladonna erwünschte Mitstreiterinnen einlassen würde. Da sie das nicht war musste sie auf heftige bis tödliche Absicherungen gefasst sein. Doch sie nahm sich vor, dieses Geheimnis zu knacken und die ihr in den Weg gestellten Hürden zu nehmen. Ja, sie dachte sogar daran, dass ihr Ladonnas geheime Errungenschaften womöglich einen Machtvorsprung vor Anthelia geben konnten. Das war die Sache wert, fand die aus zwei Seelen vereinte Hexe.

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Julius wollte eigentlich noch den siebten April mit seiner Familie verbringen. Doch am Morgen empfing er eine Melonachricht seiner Schwiegergroßmutter Ursuline auf: "Julius, du musst im Ministerium die komplette Akte "Meglamora" beschaffen, beziehungsweise alle darin enthaltenen Dokumente kopieren und vom Archivar beglaubigen lassen und heute abend mit zurücknehmen."

"ich dachte, Tante Babs hätte alle Unterlagen dabei", schickte Julius zurück. "Nur die, die den Aufenthaltsstatus von Meglamora betreffen", schickte Ursuline zurück. "Am besten kommst du zuerst zu mir und flohpulverst von da aus ins Ministerium hinüber."

Julius vertat keine weitere Zeit. Er wechselte mit dem hauseigenen Verschwindeschrank ins Sonnenblumenschloss über, nachdem Aurore und ihre Geschwister in der Schule und dem Kindergarten waren. Von Ursuline erfuhr er, dass Barbara, weil sie immer noch am besten mit ihr mentiloquieren konnte, eine "Brandmeldung" übermittelt hatte, dass die Algerier wohl vorhatten, das Ministerium zur Überstellung von Meglamoras Familie zu zwingen und für deren Unterbringung Gold zu erhalten oder eine Anklage wegen gefährdung der internationalen Geheimhaltung in Tateinheit mit Gefährdung von Menschenleben durch gefährliche Zauberwesen mit hoher körperlicher und / oder geistiger Kraft zu erheben. Deshalb wollte Barbara alle bisher verfassten Berichte und Meldungen über Meglamora vom Zeitpunkt ihres unangemeldeten Eintreffens in Frankreich haben. Wo Julius schon einmal im Lande war konnte er diese Akten noch rechtzeitig beschaffen.

"Babs erwähnte, dass sie nur mit Jean oder mit mir hätte mentiloquieren können, da über der Landestelle der Kutsche eine gewisse Melosperre liege, die nicht so stark wie in Beauxbatons sei, aber stark genug, nicht mit anderen als durch magische Verbindungsgegenstände oder Blutsverwandtschaft, bestenfalls Mutter und Kind, bestehende Verstärkungen zu mentiloquieren. Da sie Jean nicht einweihen dürfe hat sie mich gebeten, dich anzumentiloquieren, weil wir zwei hübschen ja durch meine Lebensgabe sehr gut aufeinander abgestimmt sind", beantwortete sie ihm die unausgesprochene Frage, wieso sie ihn anmentiloquiert hatte. Er bedankte sich bei ihr für die Nachricht und bat sie, seiner Schwiegertante zurückzusenden, dass er bis zur geplanten Portschlüssel-Abreise die nötigen Unterlagen beisammen hatte. Dann flohpulverte er sich ins Ministeriumsfoyer.

Die nächste Stunde verbrachte er damit, die im Archiv der Zauberwesenbehörde gelagerten Pergamente unter dem Aktentitel "Meglamora" zu sichten und zu kopieren. Der Archivar vom Dienst setzte einen mit silberhaltiger Zaubertinte versehenen Beglaubigungsstempel auf jede Rolle oder jede formatierte Seite. Dabei konnte Julius auch den Schriftverkehr zwischen Mademoiselle Ventvit und ihrem algerischen Kollegen lesen. Dieser endete mit der Bestätigung, dass er die gesetzliche Abschirmung eines potentiell gefährlichen Zauberwesens vor Kontakt mit nichtmagischen Menschen für zufriedenstellend hielt und so die Rücknahme der Anfrage unter Einhaltung der Zusicherung, dass sowohl die Magiegeheimhaltung als auch die Abschirmung gefährlicher Wesen gegeben sei, als "innere Angelegenheit des französischen Zaubereiministeriums" anerkenne. Damals hatte nicht zuletzt Monsieur Vendredi in Übereinkunft mit dem damaligen Handelsabteilungsleiter Midas Colbert klargestellt, dass die von Algerien veranschlagte Unterbringungsgebühr von 500 Galleonen für jeden erwachsenen Riesen und die Menge geteilt durch zwanzig mal der vollendeten Lebensjahre jedes Riesenkindes zu hoch war. Natürlich waren auch die Unterlagen über die gezielte Befruchtung Meglamoras und die Absicherung ihrer Schwangerschaft und der daraus entstehenden Kinder enthalten. Damit wollten die Konkurrenten von Ornelle Ventvit ihr damals am Zeug flicken und ihn gleich noch für untragbar abstempeln. Das war schon eine sehr brisante Sache, die nicht umsonst auf einer sehr hohen Geheimhaltungsstufe eingeordnet wurde. Die wegen der Aktion Freudenspender und der Mitteilung an die Presse entstandenen Briefwechsel waren ebenso Bestandteil der gesamten Akte. Aber was Julius für sehr willkommen hielt war ein Satz Briefe, den Vendredi wohl persönlich zu jener Akte hinzugefügt hatte. Das mochte den Ausschlag geben, dachte Julius. Vor allem als er las, dass diese zusätzlichen Schriftstücke mit dem Stempel S0 gekennzeichnet waren. Der Archivar vom Dienst fragte deshalb noch einmal nach Julius' Freigabestufe und nickte. "Natürlich weiß ich, dass sie bis s0 freigegeben sind, Monsieur Latierre. Aber des Protokolles wegen musste ich dies noch einmal fragen", erwiderte der Archivar.

Als Julius endlich alle Akten in seinem mitgenommenenAktenkoffer verstaut hatte kehrte er per Flohpulver ins Apfelhaus zurück und mentiloquierte: "Meldung an Tante Babs, alle Akten vollständig kopiert und für Präsentation bei Bedarf sortiert und verstaut."

"Und die haben dich nicht darauf festgenagelt, dass du zu vielen Leuten Dank schuldest oder dass du ja schon in jungen Jahren mit sehr bedrückenden Ereignissen konfrontiert wurdest?" fragte Béatrice ihren Schwiegerneffenund Teilzeitgeliebten.

"Nachdem wir ihnen zugestanden haben, dass sie ja von deinen Kollegen für amtsfähig befunden wurden haben sie es nicht mehr darauf angelegt, mich oder Mademoiselle Ventvit zu behelligen. Die Spanier lehnen eben jede Aufwertung der bei ihnen lebenden Veelastämmigen ab", entgegnete Julius.

"Bleib aber weiter auf der Hut. Vielleicht wollen dich die ehemaligen Unterworfenen Ladonnas in Sicherheit wiegen und dann, wenn sie in eine ihnen unangenehme Verhandlungsposition geraten, deine Dienstfähigkeit anzweifeln." Julius nickte und erwähnte, dass er immer noch darauf gefasst sei und hoffte, auf die betreffenden Vorhaltungen die passenden Antworten bereitzuhalten.

Am Abend übergab er auf Malta den löcherigen Zaubererhut, der ihn sicher in die Nähe der Versammlungsstätte zurückgebracht hatte. Der Mitarbeiter Terravechias, der als "Rat für magische Reisen" bezeichnet wurde, bedankte sich und verstaute den ramponierten Zaubererhut in einer Kiste. Er quittierte Julius die erfolgreiche Rückkehr und Rückgabe des genehmigten Portschlüssels und wünschte ihm noch einen angenehmen Abend.

Ganz so angenehm wurde er erst nicht, weil die Ministerin und Barbara Latierre ihn auf den neuesten Stand der beiden Verhandlungstage bringen wollten. Die Ägypter drohten nun offen mit einer Handelssperre gegen Italien und Ausfuhrzöllen, falls die Europäer die aus Ägypten bezogenen Waren nach Italien weiterleiteten. Sie wollten ihre Gegenstände zurückhaben und begründeten es damit, dass sich die Kobolde als Hüter dieser Artefakte als unzureichend bis vollkommen unzuverlässig erwiesen hätten und so eine Vertragsklausel galt, dass den Kobolden überlassene Gegenstände zurückgefordert werden konnten, egal, in wessen Obhut diese gerade waren. "Oh, haben die doch eine Hintertür in ihrem so wasserdichten Vertrag gefunden?" fragte Julius. "Offenbar hat Minister Al-Assuani das gesamte Vertragswerk und alle Präzedenzfälle durchsehen lassen", sagte Barbara Latierre. Dann ging es noch um die Wassermenschen, die darauf bestanden, den nichtmagischen Landmenschen die Meeresverschmutzung zu verbieten oder die Benutzung von brennstoffgetriebenen Schiffen und die Ausbringung von Abfällen im Mittelmeer zu unterbinden oder damit rechnen zu müssen, dass die Wassermenschen dies in Eigenverantwortung taten, getreu des vertraglich zugesicherten Rechtes auf Selbstverteidigung und Abwehr feindlicher Angriffe auf ihre Unterwassersiedlungen. "Tja, da hätte ich dich als Muggelweltexperten und Alchemisten gerne dabei gehabt. Valvert fragte nämlich, ob es nicht möglich sei, ähnlich wie bei der Absicherung gegen Kernspaltungsbomben und die dazu benötigten Selbstzerfallsstoffe auch Abwehrglocken gegen alle ihnen gefährlich erscheinenden Stoffe zu errichten, mit denen wenigstens die Siedlungen gesichert werden könnten oder die halfen, den Meeresgrund von giftigem Unrat zu befreien", sagte Barbara. Julius nickte. Das Problem mit der Meeresverschmutzung war ja auch für die Nichtmagier zum ernsten Problem geworden. Aber jetzt alle Transport- und Abfallbeseitigungsmittel der nichtmagischen Welt zu sabotieren verstieß gegen den Geheimhaltungsparagraphen und alle Gesetze zur Nichteinmischung in magielose Angelegenheiten. Doch er bot an, noch einmal über die größten Umweltbeeinträchtigungen nachzudenken. Ihm schwebte schon was vor, das Plastik in allen Größen in seine Grundstoffe auflöste und so aus Chlorhaltigen Kohlenwasserstoffen reines Wasser und Kochsalz zu machen, etwas, was in der nichtmagischen Chemie ein bisher sehr aufwändiges und daher kostspieliges Verfahren war und deshalb nicht groß verfolgt wurde, solange die von irgendwem festgelegten Grenzwerte eingehalten wurden.

"Soweit dazu, Monsieur Latierre. Konnten Sie meinen über gesicherte Kanäle erteilten Auftrag erfüllen?" fragte Barbara Latierre. Julius bejahte es und überreichte ihr die mitgebrachten Akten. Dann wies er sie auf jene wenigen Pergamentblätter hin, von denen er hoffte, dass sie jede Anklage ohne Lärm abschmettern konnten. Er hatte auch die Bestimmungen für die kostenpflichtige Betreuung magischer Geschöpfe außerhalb der Zuständigkeitsgrenze des französischen Zaubereiministeriums besorgt.

"Sehr vorausschauend, Monsieur Latierre. Da bin ich trotz meiner langjährigen Erfahrung in der Zauberwesenbehörde nicht drauf gekommen", lobte ihn die Ministerin. "Ein Teil des Lobes gilt dem Kollegen Delacour, der mich auf Anfrage, ob es grundlegende Abkommen für die Einfuhr, Betreuung oder Ausfuhr und den Verkauf magischer Tierwesen und die Betreuung von Zauberwesen im Ausland gab, beispielsweise im Rahmen von magischen Wettbewerben wie der Quidditchweltmeisterschaft oder einem trimagischen Turnier gibt, darauf hinwies, was vor hundert Jahren sowohl in Konföderationsvereinbarungen als auch gegenseitiger Abkommen beschlossen wurde. Ja, und weil Frankreich damals Kolonialmacht von Algerien und Tunesien war und die Algerier, um schnellstmöglich auch in der Zauberei eigenständig zu werden, nur unterschrieben haben, dass sie die Rechtsnachfolger der Kolonialverwaltung seien, gilt was wir damals unterschrieben haben in Algerien heute immer noch."

""Da ich mich weder mit Hipp, noch Millie noch Trice duellieren will küsse ich dich besser nicht", mentiloquierte Barbara Latierre, die hier, wo sie einander ansehen konnten, keine Mühe mit der Beschränkung dieser magischen Kunst hatte.

"Warten wir besser ab, ob das alles auch hilft", schickte Julius zurück. Mit körperlicher Stimme sagte er: "Bleibt abzuwarten, ob sich die Herren aus Algerien noch daran erinnern können, was sie vor hundert Jahren und zwischen 1998 und 2003 an uns geschickt und von uns erhalten haben."

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Millie war sichtlich angespannt, als sie am achtenApril ihrem Alltag nachging. Sie musste sich immer wieder zurückziehen, weil sie die Angespanntheit und auch das Gefühl, gleich angegriffen zu werden mitfühlte. Also musste sich ihr Mann gerade gegen eine Bedrohung oder offene Anfeindung wehren. Dann, beinahe übergangslos flutete aus ihrem goldenen Herzanhänger ein Gefühl von Triumph und Überlegenheit. Offenbar hatte er die Lage nicht nur überstanden, sondern war als Sieger aus ihr hervorgegangen. Sie durfte ihn jedoch nicht anmentiloquieren.

Am späten Abend hörte sie seine Gedankenstimme und legte ihren goldenen Anhänger an die Stirn, um die bestmögliche Verbindung herzustellen. "Die Algerier haben sich von den Ägyptern aufhetzen lassen, die Überstellung von Meglamora und ihren Kindern aus Frankreich einzufordern oder uns vor dem internationalen magizoologischen Tribunal wegen Gefährdung der Menschen durch unsachgemäße Unterbringung so gefährlicher Zauberwesen in der Nähe von Ansiedlungen zu verklagen, Mamille. Damit haben wir ja gerechnet. Dieser Sanan Al-Assuani aus Ägypten wagte es dann echt, mich als noch immer unter Mademoiselle Maximes Blutwirkung stehend zu bezeichnen und dass ich, wenn Barbara und ich die Überstellung verweigern würden, ebenfalls angeklagt werden sollte. Dem habe ich dann gesagt, dass der Rest von Olympe Maximes Blut, sofern es noch mehr als ein Tröpfchen sei, eher meinen Körper stärke als meinen Geist schwäche. Dann hat Tante Babs ihm den geheimen Schriftverkehr zwischen dem algerischen Zauberwesenbeauftragten und Monsieur Vendredi vorgelesen. Der Mann wurde fast so bleich wie ein Vampir und erzitterte wirklich, weil ihm laut und für alle hörbar vorgelesen wurde, dass er mit Vendredi eine Übereinkunft getroffen hatte, dass der ihm jede Woche einen Bericht über Meglamoras Entwicklung vorlegte. Tja, und weil darin bis zu Vendredis Umsattlung zur Ameisendrohne auch die Aktion Freudenspender akribisch beschrieben wurde und er, der algerische Korrespondenzpartner, alles darüber wissen wollte, war von einer Unterbringung in Algerien nicht mehr die Rede. Tante Babs hat ihn dann aufgefordert, sich einem Wahrheitszauber zu unterziehen oder im Falle, dass wir ernsthaft verklagt werden sollten, diese Korrespondenz als Beweismittel der Verteidigung vorlegen würde. Sie hat dann vor uns allen die Vorlesebezauberung auf die von diesem Herren geschriebenen Briefe angewendet, weil die Darstellung der Gestalt des Verfassers wegen der starken Erdzauber nicht klappte. Tja, da musste der Bursche zugeben, dass er sich mit Vendredi darauf geeinigt habe, lieber eine Erforschung der Riesin und ihres Lebens aus sicherer Entfernung mitzuverfolgen, als eigene Leute in Gefahr zu bringen. Vor allem, dass er die Freudenspenderaktion als "höchst interessantes Mittel zur gezielten Zuchtwahl" vermerkt hatte hat ihm nicht gefallen. Auf Drängen der anderen musste er dann zugeben, dass er davon ausging, dass Vendredi ihm versprochen hatte, die Korrespondenz nur über seinen Tisch laufen und nichts für das Archiv zurücklegen zu lassen. Als ich ihm dann mitteilte, dass Vendredi seit seiner Verwandlung in einen Ameisenmenschen keine Macht mehr über die in seinem Büro versteckten Briefe hatte fiel der Mann aus Algier doch fast vom Stuhl. Denn davon hatte er bis zu diesem Zeitpunkt nichts gehört. Tja, unser Geistermeister Simon Beaubois hat damals alle bei Vendredi gelagerten Briefe als Geheimdokumente ins Archiv gegeben und weil Vendredi so ordentlich war, die Briefe mit einem Stempel "Betrifft Akte Meglamora" zu versehen hat er die wohl alle zu der entsprechenden Akte hinzufügen lassen, ohne die vorher zu lesen. Dann habe ich noch ausgepackt, dass ich für das australische Zaubereiministerium Riesenblut erbitten konnte, um gegen die Schlangenmenschen da zu kämpfen und dass das sicher nicht gegangen wäre, wenn die Familie von Meglamora weit fort von allen Freunden und Feinden untergebracht gewesen wäre. Gut, weil ihm genausowenig an einem Skandal gelegen war wie uns haben wir uns darauf geeinigt, dass Meglamora und ihre Kinder weiterhin in Frankreich bleiben und das französische Zaubereiministerium lieber eine zusätzliche Unterstützungsgebühr für das Feuerlöwenreservat und die Felsenvogelvolière bezahlt, so hundert Galleonen im Jahr. Dabei gingen auch die anderen Kollegen aus Europa mit. Ja, und was die anderen Riesenwesen anget gilt ab Juni eben eine verstärkte Absicherung ihrer Wohngebiete. Von einer Überstellung mit rückwirkender Betreuungsgebühr war danach keine Rede mehr. Zwar hat es Sanan Al-Assuani zusammen mit dem Spanier Vargas Ruiz versucht, mir die Abhängigkeit von gleich mehreren Zauberwesen als Dienstunfähigkeitsbegründung vorzuhalten und meine Absetzung als Veelabeauftragten zu verlangen, aber darauf habe ich ihm ganz ruhig geantwortet, dass er dann erst mal mit Espinela Bocafuego de Casillas einen Gleichstellungsvertrag schließen müsse, um diese davon zu überzeugen, beim Rat der Ältesten vorzubringen, dass ich nicht mehr für die tätig sein darf. Der wollte mir dann doch echt an die Kehle. Da habe ich dem aus Notwehr einen Karateschlag an die Schläfe versetzt, und Ruhe. Bis auf Al-Assuani haben dann alle bezeugt, dass er mich angegriffen habe und ich mich nur "sehr erfolgreich" gewehrt habe. Dieser Bruder aus der Möchtegernpharaonenfamilie hat mich angeglotzt wie eine wandelnde Mumie mit einem goldenen Schwert in der Hand. Aber gesagt hat er nichts. Lisa Giraldini hat dann die HVD gerufen, die sich dann alles noch mal hat berichten lassen. Dank an dich, Trice und Hera, dass wir das durchgekaut haben, dass mich die ehemaligen Abhängigen Ladonnas als von anderen Unterworfener hinstellenund auf meine heftigen Erfahrungen mit dunklen Wesen reduzieren könnten. Uff! Langsam wird mein Kopf richtig heiß."

"Dann hör besser jetzt auf, Monju. Auch die Herzanhänger machen dich nicht unbegrenzt Melofähig. Außerdem musst du auch an meinen eigenen Zustand denken", schickte Millie zurück. "Wisst ihr denn schon, wann ihr wiederkommt?"

"Es bleibt beim zwölften, da die anderen noch einiges abzuarbeiten haben, Mamille. Aber vielleicht kriegen Tante Babs und ich die Erlaubnis, uns Malta anzusehen. Besen haben wir ja mit."

"Knurr! Da wäre ich gerne mit bei."

"Dann sage ich mal, wenn ich die Erlaubnis bekomme, dann erkunde ich, wo wir alle Urlaub machen können, wenn die beiden kleinen Prinzessinnen in deiner ganz eigenen Kemenate geruhen, unsere Welt mit ihrem lebenslangen Besuch zu beehren."

"Ja, mach das bitte", schickte Millie zurück. Dann wünschte sie ihm noch eine gute Nacht. Julius würde nur Trice mitteilen, dass er diesen harten Tag erfolgreich überstanden hatte und ihr auch eine gute Nacht wünschen.

"Tja, da hat die Königin der Ameisenmenschen dir ganz unbeabsichtigt den Schnatz zum Spielgewinn in die Hand gespielt", dachte Millie ein wenig verdrossen.

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Diana Camporosso reiste in der Nacht zum neunten April zu einem Unterschlupf, wo sie die ehemalige Rosenschwester Ivana Borsolino zu finden hoffte. Als sie unsichtbar vor einem überwucherten Hügel landete verrieten ihr die Gläser des wahren Blicks, dass der Hügel in Wahrheit ein zweigeschossiges Haus aus Granitblöcken war und dass die Türen und Fensterrahmen in einem silberblauen Licht schimmerten, eindeutig das Zeichen für starke Schutzzauber. Dann traf sie ein umhertastender flirrender Strahl und brachte die Luft um sie zum leuchten. "Zwergendreck! Jemand verwendet einen Enttarnstrahl dieser verwünschtenSaufbärte", tönte Deeplooks Stimme in ihrem Geist. Sofort wusste sie, dass die Zwerge die Unsichtbarkeitsaura eines Koboldes mit einem auf Erde und Feuer beruhenden Zauber überladen konnten, sodass diese hell auflleuchtete. Die Zauberstabträger wussten bisher nichts davon.

Diana zog den silbernen Bogen des Anhor aus der rauminhaltsbezauberten Tasche. Die Waffe war beinahe so hoch wie sie selbst und ließ sich gerade noch gut führen. Sie zog einen der voll mit tödlicher Kraft geladenen Pfeile frei und war bereit, ihn aufzulegen, als sich eines der unter der Tarnung verborgenen Fenster auftat und eine Zauberstabspitze herauslugte. "Avada Kedavra!" rief eine Frauenstimme. Diana Camporosso schaffte es gerade noch, beim zweiten Wort einen gehörigen Satz zur Seite zu tun. Der grüne Todesblitz sirrte zwei Meter an ihr vorbei und verging in mehr als hundert Metern zu nichts als einem Flirren. Gleich darauf erfasste Diana wieder der Enttarnungsstrahl und brachte ihren Unsichtbarkeitszauber zum leuchten. Sie fühlte, wie ihr Kraft schwand. Sie musste sichtbar werden, bevor sie zu schwach für weite Sprünge war. So ließ sie den Unsichtbarkeitszauber in die Erde zurückfließen. Das sie umfließende Leuchten erstarb. Doch dafür fühlte sie ein Beben im Boden.

Warum sie es tat wusste sie hinterher nicht mehr. Sie rannte nach vorne auf den Hügel zu und spannte dabei den Bogen mit einem aufgelegten Pfeil. Dann sah sie, wie aus einem anderen Fenster ein Zauberstab auf sie zielte. "Avada ..." hörte sie noch. Da schnellte ihr Pfeil von der Sehne und war unmittelbar vor Beendigung des zweiten Zauberwortes am Ziel. Eine grüne Funkenentladung prasselte aus dem Haus heraus. Dann war es still.

Diana schlich nun auf das getarnte Haus zu, immer darauf gefasst, blitzschnell zur Seite oder nach unten ausweichen zu müssen. Dann sah sie den Rauch und gleich darauf das Feuer aus dem Haus dringen. Diana erschrak. Was war mit ihrem Pfeil?

Sie überlegte nur kurz. Die Volstreckerinnenrüstung, die sie trug und die sich jetzt ein wenig schwerer als vorhin anfühlte, schützte vor gewöhnlichem Feuer. Sie klappte die Kapuze über den gläsernen Helm und zauberte sich eine Kopfblase. Dann rannte sie los, auf das immer heller brennende Feuer zu.

Nach einer halben Minute erreichte sie das Haus und sah, dass der Brand sich bis jetzt in einem einzigen Raum austobte. Die heimliche Kriegerin steckte den Bogen in die feuerfeste Umhängetasche und sprang an das Fensterbrett hoch. Es war, als würden ihr mehrere hundert Ameisen in die Hände beißen. Doch sie blieb eisern und zog sich über das Brett. Knisternd und krachend zerstoben magische Entladungen an ihrer Rüstung. Dann schwang sie sich in das brennende Zimmer hinüber.

Auf dem mit Holzdielen belegten Boden lag die in schmerzhaft verkrümmter Haltung verstorbene Ivana Borsolino. In ihrer rechten Schulter steckte der von Diana abgefeuerte Pfeil. Sie bückte sich und zog ihn schnell heraus, bevor die Hitze und die Flammen ihn womöglich unbrauchbar machten. Dann hörte sie das rhythmische Ticken. Irgendwo im Haus ging eine große Uhr ihren Gang. Die Zimmertür war noch verschlossen. Diana überlegte, ob sie sie öffnen sollte. Da vernahm sie eine merkwürdig metallisch klingende Frauenstimme: "Wer immer du warst, der den Tod in dieses Haus brachte. Gleich ist auch dein Leben vorbei. Tick Tack!"

Diana wollte sich nicht davon einschüchtern lassen. Doch als sie die Wände immer heller glühen sah und das Ticken wie von einer großen Standuhr immer lauter wurde, dass es schon wie Hammerschläge klang, wusste Diana, dass sie besser doch verschwinden sollte. Sie machte kehrt und schwang sich zurück durch das Fenster. Dann rannte sie los. Sie wusste ja nicht, wie viel Zeit sie noch hatte.

sie mochte kaum hundert Meter zurückgelegt haben, als mit Getöse der getarnte Hügel hintr ihr in die Luft flog. Die Druckwelle holte sie ein, riss sie vom Boden und schleuderte sie viele Dutzend Meter weit durch die Luft. Als sie wieder landete rutschte und kullerte sie noch einige Dutzend Meter weiter. Dann kam der Gegensog der zurückstürzenden Luft. Sie blieb liegen und wartete, bis er laut heulend und in den Baumwipfeln tosend abklang. Dann erst stand sie wieder auf und sah sich um. Da wo der Hügel gewesen war tanzten haushohe Flammenzungen wie zu einem wilden Reigen umeinander und durcheinander.

Die selbsternannte Erbin Ladonnas und durch diese Trägerin der Seele Deeplooks erkannte, dass sie hier nichts mehr finden würde. Sie sprang auf und lief zu der Stelle, an der sie ihren Harvey-Besen verstaut hatte. Sie war kaum dort als aus leerer Luft heraus mehrere Zauberer apparierten. Diana legte es nicht darauf an, sich mit ihnen herumzuschlagen. Sie sprang auf den Besen und wurde mit diesem unsichtbar. Fünf Schockzauber fauchten knapp unter ihr hindurch und links oder rechts an ihr vorbei. Dann war sie hoch und schnell genug, um unbemerkt davonzufliegen. Sie hatte ihre Mission nicht erfüllt. Ivana Borsolino hatte nicht einmal im Ansatz hören wollen, was sie ihr anzubieten hatte. So blieb ihr nur, zu ihrem vorübergehenden Geheimversteck zurückzukehren und von da aus nach Südafrika zurückzukehren. Ihr war bewusst, dass der eine oder andere sie gesehen haben und erkannt haben konnte. Wie schnell mochte es herauskommen, dass die von Ladonna ausgelegte Leiche nur eine Fälschung gewesen war? Sie musste sich bis auf weiteres von Italien fernhalten, alle hier lebenden Ex-Ordensschwestern einstweilen in Sicherheit wiegen, bevor sie nach neuen Schwestern auf der stiefelförmigen Halbinsel suchte.

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"Diana Camporosso. Sie ist es", erschauerte Gianna di Sorente. Ivana hatte ihr kurz vor ihrem verfrühten Tod und der damit einhergehenden Selbstvernichtungszauberei ihres versteckten Häuschens ein klares Bild der nächtlichen Besucherin übermittelt. Ja, das war eindeutig die kleine Diana Camporosso. Aber was war das für ein silberner Flitzebogen? Wie tödlich dessen Geschosse waren erfuhr Gianna keine halbe Minute später. Ivana hatte gerade noch sechs Sekunden gelebt und dabei noch einen Todesfluch knapp zum Fenster hinaus aber unschädlich in den Himmel geschickt.

"Dann hat Ladonna uns alle verulkt, eine gefälschte Leiche ausgelegt, weil sie die Koboldbrütige mit diesem Glashelm bepflastert hat und wir deshalb keine Fragen stellen sollten", dachte Gianna di Sorente. Doch was würde sie mit diesem Wissen anfangen? Sollte sie es an die ehemaligen Mitschwestern weitergeben? Sie wusste, dass Diana wusste, wo sie sich häufig aufhielt. Also galt, ganz woanders in Deckung zu gehen, wollte sie nicht genauso enden wie Ivana. Denn ihr wurde überdeutlich klar, dass Diana mit dieser Waffe schneller schießen konnte als einer beide Worte des tödlichen Fluches auszusprechen vermochte.

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Julius informierte seine beiden Frauen am Abend des neunten Aprils, dass Rafael Vargas Ruiz auf die Forderung seines Vorgesetzten auf jede Anklage gegen Julius Latierre verzichtete, da es zu viele Zeugen seines Wutausbruches gegeben habe. Julius hatte aber keine Genehmigung erhalten, auf den drei Inseln herumzufliegen, solange er als Mitglied einer hochoffiziellen Reisegruppe geführt wurde. Das hatte er einsehen müssen.

Weil die Untergruppe für Zauberwesen und Tierwesen mit allen vorgeplanten Tagesordnungspunkten durch war gingen sie an den verbleibenden Tagen bis zur Rückreise noch einmal Detailfragen durch. Hierbei vertrat Miguel Sánches Tresarboles Rafael Vargas Ruiz. Als dann die Nordafrikaner klarstellten, dass weitere Verhandlungen nicht mehr erwünscht waren, solange die in Italien aufgetauchten ägyptischen Artefakte nicht an Ägypten zurückgegeben wurden und die anderen afrikanischen Zaubereiministerien ebenfalls die zeitnahe Rückgabe der von England, Frankreich, Spanien und Portugal aus ihren Ländern entführten Gegenstände verlangten beschlossen die Ministerin und Minister, dass weitere Unterhandlungen sinnlos seien.

So kehrte die französische Abordnung bereits am elften April nach Paris zurück, wo die mitgeschriebenen Gesprächsinhalte sortiert und archiviert wurden. Julius konnte seine offizielle Ehefrau und seine zweite Lebenspartnerin am Abend in die Arme schließen. "Und, Erfolg oder Misserfolg?" wollte Millie wissen.

"Was einen Friedensvertrag mit den Veelastämmigen angeht null, was die Riesen in Frankreich angeht fünfzehn Punkte, was den Schutz meiner Reputation und körperlichen Integrität angeht auch fünfzehn Punkte. Alles andere liegt irgendwo zwischen sieben und zehn Punkten", berichtete Julius, wobei er das Benotungssystem von Beauxbatons benutzte.

"Von wem bekomme ich was für meine Zeitung, Julius?" "Morgen ist eine PK mit allen mitgereisten Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern. Die darfst du dann zu allem fragen, was die nicht für geheim erklären. Also besser nicht die Kiste mit Meglamoras kleiner Familie ansprechen, sofern Tante Babs oder die Ministerin das nicht selbst auf den Tisch legt. Ist auf jeden Fall genug für einen langen Artikel."

"Das will ich hoffen, Monju", sagte Millie.

ENDE

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