Ladonnas Macht ist gebrochen. Vier Jahre hatte sie mit Hilfe ihres einzigartigen wie unheilvollen Feuerrosenzaubers viele Zaubereiministerien unterjocht. Nach ihrer Entmachtung fielen die noch nicht aus ihrem Bann befreiten in einen unaufweckbar erscheinenden Tiefschlaf. Die Ministerien werden bis auf weiteres von außenstehenden Hexen und Zauberern aus der Liga gegen dunkle Künste betrieben. Doch das kann und soll kein Dauerzustand bleiben. Außerdem müssen viele durch Ladonnas Treiben aufgeworfene Fragen abschließend geklärt werden, unter anderem was mit den von ihr gesammelten Zaubergegenständen und Aufzeichnungen geschieht oder was den Umgang mit anderen Zauberwesen wie Kobolden und Veelas angeht.
Nachdem Ladonnas Blutsiegelzauber um den Weinkeller der Girandelli-Villa verfliegt versuchen mehrere Gruppen von Hexen und Zauberern, die dort angehäuften Artefakte und Aufzeichnungen aus aller Welt zu erbeuten. Albertrude Steinbeißer gelingt es mit einem flächendeckenden Betäubungszauber, die Konkurrenten auszuschalten und sich in den Besitz deutscher und altägyptischer Zaubergegenstände zu bringen. Dabei trifft sie eine kleinwüchsige Frau mit gläsernem Helm und silbernem Bogen, die von Albertrudes Betäugungszauber weit fortgeschleudert wird. Die Kleinwüchsige ist die Koboldstämmige Diana Camporosso, der Ladonna kurz vor ihrem Verschwinden den erbeuteten Seelenglashelm des Koboldgeheimbundgründers Deeplook aufgesetzt und dessen darin lauernden Geist Dianas Gedanken und Willen unterworfen hat. Diana will nun Königin der Kobolde und damit Ladonnas Nachfolgerin werden. Sie sammelt mit Hilfe von Deeplooks Wissen überlebende Mitglieder des Geheimbundes der Kobolde um sich. Diese glauben, Deeplook sei der vorherrschende Geist im unfreiwillig angenommenen Körper der koboldstämmigen Hexe. Sie versuchen Gringotts zu übernehmen. Das misslingt, weil einer der Gringottszweigstellenleiter bereits unter dem Bannwort des schlafenden Königs steht und die Aktion an die Ministerien verrät. So bleibt Diana nur, sich nach Afrika zurückzuziehen, wo noch Schlupfwinkel des Geheimbundes sind.
In den USA wird lebhaft diskutiert, ob es nicht ein neues Zaubereiministerium oder einen neuen magischen Kongress der USA geben soll. Diesen bevorzugen die zehn mächtigsten Zaubererfamilien, darunter die Greendales und die Southerlands und arbeiten darauf hin, dieses Ziel zu erreichen.
In Europa ist noch unklar, was mit den ehemaligen Unterworfenen des Feuerrosenzaubers geschieht. Außerdem gilt es, den von Ladonna verursachten Kriegszustand mit anderen Zauberwesen zu beenden. Julius Latierre hofft darauf, einen Frieden zwischen den Menschen und Veelas herbeiführen zu können. Die französische Zaubereiministerin plant eine Rundreise, um mit anderen Zaubereiministerien darüber zu verhandeln. Bevor Julius am 16. März aufbricht erfährt er noch, dass seine Frau Millie und seine mit ihm und ihr in einer Dreiecksbeziehung zusammenlebende Schwiegertante Béatrice gleichzeitig von ihm schwanger geworden sind. Mit dieser Erkenntnis und mit der Hoffnung auf eine europaweite Verständigung zwischen magischen Menschen und Zauberern begibt er sich mit der hochrangig besetzten Abordnung des Zaubereiministeriums auf eine Reise für den Frieden zwischen Menschen und denkkfähigen Zauberwesen. Dabei gelingt es ihm und der französischen Abordnung, mit allen Nordeuropäischen Delegationen wichtige Vereinbarungen zu treffen. Julius ist erleichtert, dass Russland und alle anderen Länder, in denen Veelas und ihre mit Menschen gezeugten Nachkommen leben, einen ähnlichen Friedensvertrag schließen wollen wie er in Frankreich verfasst wurde.
In Ägypten üben Mitglieder der Bruderschaft des blauen Morgensterns die Amtsgeschäfte aus. Doch als die afrikanischen Zaubereiministerien zu einer Konferenz in Kenia einladen kommt es zur Machtrückeroberung durch die Familie Al-Assuani. Diese wollen die von Ladonna Montefiori entführten Zaubergegenstände aus Ägypten wiederhaben, vor allem jene Artefakte, die zu den zwölf Schätzen des Nils gehören.
Worum es sich dabei handelt erfährt Julius, nachdem ihm Béatrice einen in das Familiendenkarium ausgelagerten Traum zeigt, den ihr Ashtaria geschickt hat. Er erfährt den Grund, warum Millie es erlaubt hat, dass Béatrice noch ein Kind, diesmal möglicherweise eine Tochter, von ihm empfangen durfte. Denn Béatrice wird von Ashtaria, die als Vorbild der ägyptischen Muttergöttin Isis gegolten hat, eine magische Halskette aus jenen zwölf Schätzen zum Erwerb angeboten, die Kette der Isis, die ihrer Trägerin, sofern sie bis dahin kein Menschenleben genommen hat, neunfache Kraft auf alle heilsamen Zauber verleihen soll aber eben nur von Hexen getragen werden kann, die bereits einmal Mutter wurden.
Mit diesem unglaublichen Wissen und möglichem Vermächtnis in Aussicht reist Julius mit der französischen Ministeriumsdelegation auf die Insel Malta, wo es zum Treffen mit den Mittelmeeranrainern, darunter den Ägyptern kommt. Julius erfährt, dass das spanische Zaubereiministerium nicht beabsichtigt, den Friedensvertrag mit den Veelas zu übernehmen und dass Ägypten alle ehemaligen Fluchbrecher von Gringotts zur Fahndung ausgeschrieben hat.
Gleichzeitig baut Diana Camporosso ihre Rangstellung in dem im Neuaufbau befindlichen Geheimbund der Kobolde aus. Doch sie plant auch, mit den ehemaligen Feuerrosenschwestern Kontakt aufzunehmen. Vor allem in Afrika will sie eine sichere Basis finden. dabei gerät sie zunächst an Ullituhilia, die Tochter des schwarzen Felsens. Diese kann sie mit vier Todespfeilen aus Anhors Bogen bewegungslos machen und denkt, sie getötet zu haben. Doch als sie die Pfeile wieder aus dem Körper zieht erholt sich die Abgrundstochter. Diana hat eine neue starke Feindin. Außerdem gerät sie an die in einem mächtigen Ankerartefakt überdauernde Vampirherrscherin Akasha und ihre treuen Nachtkinder. Diese hatten bereits versucht, normale Menschen für sich einzuspannen, um Getreuen nach Amerika zu schicken. Doch der ausgewählte Transporteur stand bereits auf einer Todesliste der von aller Welt für tot gehaltenen Campoverde-Geschwister. Diese lassen das Privatflugzeug des von Akashas Untertanen erwählten Waffenschiebers aus Nordafrika über dem Atlantik explodieren und mit ihm Boten Akashas.
Diana Camporosso sucht die verbliebenen Schwestern auf und plant mit ihnen eine Neuauflage unter neuem Namen. Als Hauptquartier wählt sie eine Höhle eines ehemaligen Vampirherrschers. Nachdem sie die dort überdauernden Blutwürmer besiegen konnte plant sie die Neugründung eines dunklen Hexenordens.
In den USA bereiten sich alle magischen Menschen darauf vor, einen neuen magischen Kongress zu wählen. Doch findet diese Idee nicht überall Zustimmung. Außerdem erhebt sich dort eine Gruppierung, die einen außerlegalen Feldzug gegen alle angeblich dunklen Hexen führen will. Unruhen und Widerstand drohen, die Wiedervereinigung der US-amerikanischen Zaubererwelt zu verhindern. Dies wiederum bekümmert die zehn wichtigsten Familien dort, die ihrerseits ihre Hoffnungen in die Neuauflage des MAKUSAs setzen.
In Texas und anderen US-Staaten kommt es zum Widerstand gegen die Wiedereinsetzung des MAKUSAS. Ein Nachfahre des dunklen Magiers Durecore steuert über eine Reihe besonderer Zauberbilder die Aktionen gegen Regionaladministrationen. Die zehn mächtigsten Familien der Staaten müssen sich zusammenraufen, alte Rivalitäten zu begraben und unterstützen die Neuordnung der USA. Zeitgleich jagd die von Ladonnas Rosenzauber an den Rand des Wahnsinns gedrängte Atalanta Bullhorn danach, alle ihr missfallenden Hexen zu fangen und zu töten. Doch Anthelia sorgt dafür, dass ihre eigenen Schwestern unbehelligt bleiben. Weil Bullhorns Vorgehen zu grausam ist wird ihr Tun von den noch regierenden Regionaladministrationen als Verbrechen eingestuft.
Nachdem es gelingt, den Anstifter der Anschläge und Störversuche zu stellen wird dieser von einem lebendigen, offenbar teilbeseelten Hut Durecores verschlungen. Dieser wiederum wird mit einem Basiliskenzahn zerstört.
Atalanta Bullhorn lässt sich von Anthelia zu einer Bergregion bei Los Angeles locken, wo sie auf die Anführerin der Spinnenhexen trifft und sich mit ihr duelliert. Es endet damit, dass Anthelia Atalanta wieder in eine langstielige Rose verwandelt und diese dem neuen MAKUSA überlässt. Bullhorns illegale Organnisation wird zerschlagen.
Am 4. Juli wird Godiva Cartridge zur ersten Präsidentin des neuen MAKUSAS gewählt. Sie trifft sich heimlich mit Anthelia und schließt mit ihr einen Burgfrieden. Solange Anthelia keine Menschen innerhalb der USA behelligt darf sie ihren Orden weiterführen.
Die Zaubereiministerien wissen, dass es noch zu viele Widersacher auf der Welt gibt. Es dauert auch nicht mehr lange, bis sich neues Unheil regt. Die selbsternannte Kaiserin der Nachtschatten entsteigt wie von sich selbst geboren dem kristallinen Uterus, ihrem Ankerartefakt und trachtet danach, die vergangenen Monate aufzuholen. Vor allem zielt sie auf die Werwölfe und Vampire. Bei den Lykanthropen kommt es im Mai 2007 zum Führungswechsel. León del Fuego will eine gezielte Anwerbung von neuen Mitgliedern in den Reihen der südamerikanischen Zaubereiministerien. Doch seine Machtübernahme verläuft nicht so vollkommen, weil Lunera Tinerfeño, die einstige Anführerin noch lebt und ihn nicht anerkennen will. Um sie zu unterwerfen behauptet er, dass er über den Sohn ihres getöteten Kampfgefährten Fino Gewalt auf ihre Tochter Lykomeda ausüben kann. Lunera versendet darauf eine Gegendrohung, dernach der nun verwaiste Sohn Finos zur Gefahr für die Gefolgschaft Leóns wird und bietet ihm an, das bei einem Treffen auf Tenerifa zu klären. Als sie mit den beiden Kindern dort eintreffen und in Streit geraten überkommt sie und Leóns Abordnung ein heftiger Betäubungszauber. Als sie daraus erwachen sind beide Kinder fort. Sie konnten nicht ahnen, dass die Töchter des reinen Mondes die beiden Kinder überwachten und die Gelegenheit nutzten, jemanden mit einem starken Zaubergegenstand zum Treffpunkt zu schicken. Hierbei handelt es sich um Julius Latierre, den die Mondtöchter im Traum anrufen und dann, als er trotz gewisser Gewissensbisse dazu bereit ist, zwei Kinder von ihren Elternteilen fortzuholen, mit der Macht der Mondtöchter dorthin verfrachtet wird, wo sich die beiden Gruppen der Lykanthropen treffen. Der ihm mitgegebene Gegenstand betäubt sämtliche Werwölfe, so dass er die zwei Kinder aufnehmen und von der Macht der Mondtöchter getragen in deren Burg zurückreisen kann. Wochen später kehrt er noch einmal zur Mondburg zurück, um die von den Mondtöchtern vorsorglich vollständig an Körper und Geist wiederverjüngten Kinder und deren dort versteckten Elternteile in die Delourdesklinik zu bringen, von wo aus sie in ein geschüztes Haus gebracht werden.
León del Fuego kassiert noch zwei weitere Niederlagen. Zum einen manipuliert die Schattenkaiserin Mondordensmitglieder, in dem sie sie zu schattenlosen, einem umgekehrten Mondzyklus unterworfenen Gehilfen macht, deren Veränderung für übliche Werwölfe lebensbedrohlich ist. Zum zweiten schafft es die Schattenkaiserin, den mexikanischen Stützpunkt Leóns zu finden und treibt dessen Insassen fast zur völligen Niederlage. Nur von Leóns magisch begabter Gefährtin Bocafina erstellte Notfallportschlüssel befördern alle außer Gefahr. Der Stützpunkt vergeht nach der Evakuierung im Glutball in einer Sekunde freigesetzter fünf Stunden Sonnenlicht. Außerdem besteht seit der versuchten Unterwerfung Luneras und dem versuchten Zwang auf das Mitglied eines mächtigen Werwolfclans Streit zwischen den kriminellen Lykanthropen. León erkennt, dass seine Führungsmacht ins Wanken gerät. Doch kann er nichts tun, um seine Feinde zu besiegen.
Die Vampirgötzin Gooriaimiria entlockt dem in ihrem geistigen Corpus eingeschlossenen Iaxathan die Herstellung besonderer Rüstungen, die schier unzerstörbar sind und gegen alle auftreffenden Schadensformen schützen. Um die Rüstungen anfertigen zu lassen lockt Gooriaimiria mit ihren Dienerinnen zwanzig Schmiede, die alte Ritterrüstungen anfertigen können, in eine versteckte Burg bei Killarney. Unter der magischen Kontrolle von Gooriaimirias Dienerinnen schmieden diese Fachkundigen die Schattenrüstungen nach. Gooriaimiria erhofft sich dadurch eine bessere Streitmacht und die Möglichkeit, den Traum von Nocturnia wieder aufleben zu lassen. Die Rüstungen erweisen sich über Wochen als schier unzerstörbar und überwinden sogar die bisher wirksamen Vampirblutresonanzkristallbarrieren. So will sich Gooriaimiria wieder Fachleute für Viren und Mikrobiologie zusammenfangen, um mit deren Hilfe ein neues Vampirwerdungsgift erstellen zu lassen. Doch weil auch Vita Magica dies voraussieht bringen ihre Greifkommandos unbeabsichtigt mit magischen Fernortungsimplantaten versehene Gefangene in den Sammelstützpunkt. Vita Magica schickt erst von Zaubereiministerien entwickelte Vampirbetäubungsgasladungen dorthin, um dann mit einem Stoßtrupp alle Wissenschaftler einzusammeln und dann alle betäubten Vampire mit sich spontan entladenden Sonnenlichtkugeln zu töten.
Dann erweist sich, dass die schier unzerstörbaren Rüstungen eine entscheidende Schwäche haben. Berührung mit voller Lebenskraft steckender Baumsamen entkräften die Rüstungen und sprengen sie schließlich von ihren Trägern ab. Das dies funktioniert hat Julius Latierre von Temmie erfahren, die nicht wollte, dass er deshalb mit den Abgrundstöchtern spricht, die ihm anbieten, ihn über die Rüstungen aufzuklären. Gooriaimiria verordnet eine vorgezogene und ausgedehnte Winterruhe, um ihre verbliebenen Kämpfer und Dienerinnen vor der nun weltweiten Jagd auf Vampire zu verstecken.
Die Schattenkaiserin ist wegen ihrer Erfolge derartig übermütig, dass sie mit Thurainillas Wissen und können Lahilliotas Stützpunkt angreift. Mit ihren Armeen aus Nachtschatten und Dementoren kann sie ddie dort lebenden Ameisenmenschen außer Gefecht setzen und sich mit ihrer Macht bis zu Lahilliotas Königinnenkammer durchkämpfen. Dort erwarten sie aber auch dei Töchter der Lahilliota. Diese schaffen es, Thurainillas Seele aus dem Seelengefüge der Schattenkaiserin herauszulocken. So erfahren sie deren Entstehungsnamen: Birgute Hinrichter. Dieser wirkt bei Nennung auf die Schattenkaiserin wie ein Imperius-Fluch. Sie wird von den Abgrundstöchtern in ihre eigene Zuflucht zurückgetrieben und kehrt in ihren Ankergegenstand zurück. Die Abgrundstöchter behalten sich vor, sie als Helferin gegen die Vampire einzusetzen. Jedoch lassen sie sie ihren Nachtschatten befehlen, im freien zu bleiben, bis die Sonne sie auslöscht. Ullituhilia fängt Thurainillas freigekommene Seele auf und wird sie als ihre Tochter neu zur Welt bringen.
Nach dem Kampf zwischen Werwölfen, Vampiren und Nachtschatten sieht es nach einer etwas ruhigeren Zeit aus. Doch erweist sich dies als voreilige Hoffnung. Denn die entmachtete Rosenkönigin Ladonna hat bereits vor Jahrhunderten ein unheilvolles Erbe hinterlassen.
Zehn Jahre war es her, dass sie hierher gezogen war. Zehn Jahre, wo ihre Mutter ohne Spuren zu hinterlassen verstorben war. Auch wenn sie erst glückselig gewesen war, dass sie endlich wieder Zugang zum Haus ihrer Kindheit bekommen hatte trübte die Erkenntnis, eine liebende Gefährtin verloren zu haben die Überlegenheit der aufstrebenden Hexenkönigin Ladonna Montefiori. Zu der gewissen Betrübnis war noch die Sorge gekommen, dass ihre Mutter sich nur deshalb den Tod gegeben hatte, um ihr einen schweren Schlag zu versetzen. Daher hatte sie die ersten vier Jahre nach dem Zusammenbruch aller Bannzauber um dieses Grundstück damit zugebracht, die Leiche ihrer Mutter zu finden. Doch Domenica hatte wohl einen geheimen und mit Verhüllungszaubern umschlossenen Ort für ihren Freitod gewählt.
Die überragend schöne Frau mit den nachtschwarzen Haaren und dem ebenmäßigen Gesicht, der schmalen Nase und den kreisrunden Augen, die wie vollendete Smaragde schimmerten, hatte alle erdenklichen Vorkehrungen getroffen, um dieses Gut zu ihrer Residenz zu machen. Dabei war ihr jedoch eines vollkommen klar geworden: Wenn sie Macht erlangte würde sie immer mehr Feinde haben. Auch in den Reihen jener, die sie zu ihren Gefolgshexen machen wollte, mochte es welche geben, die auf eine Gelegenheit lauerten, sie zu stürzen. Daher galt es nicht nur, eine vorzeigbare Residenz und einen sicheren Ort für große Versammlungen zu haben, sondern auch ein nur ihr allein bekanntes Versteck zu besitzen, in dem sie all die Dinge und Schriften unterbringen wollte, die ihren Feindinnen und Feinden nicht in die Hände fallen durften, selbst wenn sie starb.
Ladonna hatte Monatelang das umliegende Gebiet erforscht. Da sie hauptsächlich in den Gefilden der italienischen Halbinsel herrschen wollte bot es sich an, ein Geheimversteck zu haben, das außerhalb dieses Gebietes lag, etwas, wonach ihre Feinde lange vergeblich suchen sollten. Ihr war klar, dass auch ihre Nährmutter Domenica ein solches Versteck gesucht hatte, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Also war es möglich, einen gesicherten Standort zu besitzen, an dem sie alles unterbringen wollte, was sie nicht jeden Tag brauchte. Endlich hatte sie einen Ort gefunden, an dem alle vier Weltenkräfte gleichstark wirkten, um die von diesen erzeugten Kraftströme der Magie zu bündeln und in die von ihr allein gewünschten Formen zu bringen.
Die Erfahrung, die sie mit ihrer eigenen Versammlungshöhle gemacht hatte, in der sie Feinderkennungs- und Feindvernichtungszauber, sowie die magische Schilde ansaugenden Kräfte der Erde eingewirkt hatte, sollten ihr auch helfen, den geheimen Unterschlupf zu sichern, einen Ort, an den sie sich im allergrößten Gefahrenfall zurückziehen und sogar über Jahre unauffindbar schlafen konnte. Heute wollte sie die genaue Abfolge der zu wirkenden Zauber aufzeichnen und an welchen Stellen des weitläufigen Höhlensystems sie welche Sicherung in Kraft setzen würde. Sie ging dabei von der Vorstellung aus, dass solche wie sie selbst versuchen würden, in das geheime Versteck einzudringen und die dort verborgenen Dinge oder Schriften zu entwenden. Also musste sie was machen, um grüne Waldfrauen und reinblütige Veelas genauso abzuwehren wie Vampire, kleinwüchsige Erdkinder und mit Zauberstäben hantierende Menschen.
Gegen die Freiflugbegabung grüner Waldfrauen entwickelte sie einen auf Erde und Luft gründenden Zauber, der auf einen Granitstein gelegt werden konnte, um gegen jede unnatürliche Beeinflussung der natürlichen Schwere zu wirken. Erst als sie durch gewagte Selbstversuche herausfand, wie genau dieser Kontravolantes-Zauber wirken musste und sie ihr vorübergehend auf die vierfache Größe gestiegenes Gewicht auf das von ihr beherrschbare Eigengewicht zurückgeführt hatte wusste sie, dass grüne Waldfrauen auf diese Weise aufgehalten werden konnten. Bei der Gelegenheit hatte sie auch einen wirksamen Gegenzauber gegen den zauberstabbasierten Levitationszauber erfunden. So konnten auch fliegende Besen oder die in der orientalischen Zauberergemeinschaft beliebten fliegenden Teppiche nicht durch den mit Antiflugsteinen gesicherten Bereich fliegen. Außerdem grub sie mit dem Effodius-Zauber tiefe Kanäle durch die Wände, in denen anschließend das Meerwasser strömte und somit ein ständiges Netzwerk fließenden Wassers bestand, was grünen Waldfrauen wie Vampiren Kraft entzog.
Gegen Veelas und Veelastämmige wie sie selbst kannte sie ein Mittel, dass ihre Mutter ihr leichtsinnigerweise vorgestellt hatte, das gläserne Sonnenfeuer. Ein mit einem Tausendstel Gewicht in Goldsand verstärkter Quarzkristall, in den das Blut einer Veelastämmigen eingefasst wurde, konnte alle Trägerinnenund Träger anderen Veelablutes zurückweisen und sogar je nach Reinblütigkeit von innen her in Flammen aufgehen lassen. Wichtig dabei war nur, dass jene Kristalle in der Nähe anderer magischer Lichtquellen angebracht wurden. Doch das war kein Akt, wo es Zauber wie "Candela Aeterna" oder "Lux Vitri" gab, um andere Kristalle zum leuchten zu bringen oder sich aus der Sonne oder den feurigen Eingeweiden von Vulkanen nährende Feuerquellen zu erschaffen, die solange brannten, wie die angezapfte Quelle brannte. Damit konnte sie also andere wie sie zurückweisen oder vernichten.
Mit Zaubern, die Sonnenlicht unter freiem Himmel einfangen und an vorbestimmte Orte übermitteln konnten waren Vampyri und Umbrae nocturnae ebenfalls keine Bedrohung mehr. Sie brauchte nur die ausgerechnet von den Zwergen abgeschaute Technik der Sonnenlichtspiegel zu übernehmen, die in den Hallen der Zwergenkönige bei Tag helles Licht erzeugen und bei Nacht ein für das Sehen ausreichend helles Rotlicht wiedergeben konnten.
Gegen die Erdkinder wollte sie mehrere sichere Abwehrzauber ausführen. Hierfür musste sie jedoch eine Menge handgeschmiedetes Eisen und gewaltsam entnommenes Zwergen- und Koboldblut in ihren Besitz bringen. Doch das war für sie wirklich kein Umstand. Denn sie kannte bereits genug fachkundige Zauberschmiede und -schmiedinnen, die ihr ohne zu wissen wofür genau die entsprechenden Stücke anfertigten. Bei der Gelegenheit ließ sie sich auch mit Silber- und Goldbeschlägen verzierte Holztüren und für die gegen Kobolde abzuschirmenden Bereiche Eisentüren und Eisenplatten schmieden, die sie dann zur gegebenen Zeit an den vorgesehenen Stellen einpasste.
Als sie das alles durchdacht und ausgefertigt hatte galt es noch, ihr selbst freien Zugang zu allem zu bewahren, was sie dort unten verstecken wollte. Sicher, die Träger des gläsernen Sonnenfeuers würden sie durchlassen. Doch wenn sie doch frei fliegen musste sollte sie nicht wie vorhin viermal so schwer werden und sich nicht mehr rühren können, sondern frei fliegen können. Hierfür und für die auf den Geist der Eindringlinge wirkenden Illusionen schuf sie Schlüsselzauber, die auf ihr Blut und ihre Lebensausstrahlung abgestimmt waren und wirkte Zauber, die die sonstigen Abwehrzauber für einhundert ruhige Herzschläge unterbrechen konnten. Diese galt es immer zuerst in die Magieträger einzuwirken, bevor die eigentlichen Abwehrzauber in Kraft gesetzt wurden. Nur so konnte sie sicherstellen, dass sie selbst an alles kam, was sie verstecken wollte.
Gegen Schildzauber aller Art hatte sie bereits bei der Einrichtung ihrer Versammlungshöhle wirksame Kräfte entwickelt. Wer einen Körper- und Zauberschild um sich schuf wurde an eine mit dem Ansaugzauber für Schildkräfte belegte Wand gezogen und fest daran angeheftet wie ein Eisenspan an einem sehr starken Magnetstein. Wer sich mit Geistesschutzzaubern wie den Aura-Calma-Zauber umschloss verlor körperliche Kraft bis zum völligen Zusammenbruch aller Lebensvorgänge.
Sie hatte gerade alle Pläne für die zu wirkenden Zauber aufgeschrieben, als einer der 24 Anuntiato-Anuntiandum-Zauber die Annäherung von drei weiblichen Magiequellen aus Nordnordwest vermeldete. Sogleich legte sie alle Pergamente mit den verräterischen Aufzeichnungen in den mit Blutsiegelzauber gesicherten Schrank und verschloss diesen sorgfältig. Da klang auch schon die freundliche Fanfare, dass jemand wohlgesinntes am nördlichen Eingangstor zu Domenicas Anwesen eingetroffen war.
Da sie für sich die Möglichkeit des Apparierens beibehalten hatte wechselte Ladonna zeitlos aus ihrem Studierzimmer zur Haustür. Durch die unzerbrechliche kreisrunde Sichtscheibe konnte sie drei Frauen sehen, eine Mutter und zwei Töchter. Sie lächelte. Also hatten die drei Camporossos doch beschlossen, ihr ihre Aufwartung zu machen.
Ladonna entriegelte die Türe und schickte mit einer von ihr festgelegten Zauberstabgeste einen Befehl an das zweiflügelige Eisenholztor. Den Zauber, der Feinde und Freunde für sie sichtbar machte beließ sie jedoch in Tätigkeit.
Als die drei Frauen über die aus schwarzem Stein bestehende Torschwelle stiegen umfloss sie grasgrünes Licht. Keine der drei hegte also feindliche Absichten gegen die Eigentümerin dieses Anwesens.
"Tretet unbesorgt vor mich hin, Schwestern!" rief Ladonna Montefiori auf Italienisch. Dann winkte sie der älteren der drei, Dareia Camporosso. Deren beiden Töchter Desdemona und Drusilla sollten ihr folgen.
Als die drei auf halbem Weg zwischen ummauerter Grundstücksgrenze und Haupthaus waren schwangen die beiden Torflügel wieder zu und verriegelten sich von alleine. Ab nun war eine Flucht durch Disapparieren unmöglich.
"Ich grüße dich, Königin der Feuerrose, Herrin der hohen Mächte aller Hexen und entbiete dir unseren Gruß", sprach Dareia Camporosso, während sie sich vor der Grundstückseigentümerin verbeugte. "Ich bin erfreut, dass du meine Einladung annahmst und sehe mit großer Freude, dass du es erreicht hast, weitere starke Töchter der hohen Kräfte zur Begleitung zu gewinnen."
"Verbeugt euch vor der Königin! Denn sie wird uns Hexen aus der Tyrannei der Männer befreien und uns den Rang zurückgeben, der uns von Mutter Erde her immer schon zustand!" befahl Dareia Camporosso ihren beiden Töchtern. Diese sahen die überragend schöne, schwarzgekleidete Hexe an und verbeugten sich dann. "Wir sind gekommen, dir zu dienen, Königin der hohen Mächte", sprachen Desdemona und Drusilla zeitgleich.
"Ich bin erfreut, euch zu erblicken, meine jungen Schwestern", sagte Ladonna. "Wie ich gewahre seid ihr die Töchter meiner bereits vereidigten Schwester Dareia. Wer von euch ist wer?" Die beiden Gefragten stellten sich nun ordentlich vor. Das grüne Licht, dass ihre Gesinnung verriet strahlte ungestört gleichmäßig um ihre Körper. Sie waren also vollkommen aufrichtig bereit, Ladonna zu dienen.
Die Herrin jenes Anwesens 28 Meilen westlich von Florenz lud die Besucherinnen ein, ohne Arg und Sorge über die Türschwelle zu treten, wobei sie jede beim Namen rief. So wurde auch der letzte Abwehrzauber ihres Hauses unterbrochen, der ungeladene Gäste zurückwies oder je nach Stärke von Magiebegabung und Ablehnung Unerwünschte besinnungslos machte oder gar tötete.
Im Haus führte Ladonna die drei Camporossos in einen runden Raum, den sie als persönlichen Audienzsaal festgelegt hatte. Dort holte sie den zur Vereidigung nötigen schwarzen Stein hervor. Auf diesem schworen Desdemona und Drusilla durch Opferung von eigenem Blut die ewige Gefolgschaft und bedingungslosen Gehorsam allen Befehlen der Königin gegenüber. Zwar hätte Ladonna auch den von ihr selbst ersonnenen Zauber der Feuerrose verwenden können, um sie zu unterwerfen. Doch da sie dafür eigenes Haar und Monatsblut benötigte wollte und würde sie diesen nur bei jenen anwenden, die ihr nicht so freiwillig zu folgen bereit waren und vor allem, wenn es mehr als nur drei oder vier waren. Wenn sie alle Vorbereitungen für die Machtübernahme auf der italienischen Halbinsel getroffen hatte würde sie jenen mächtigen Unterwerfungszauber einsetzen, um sich sämtliche Zauberräte der einzelnen Teilreiche zu unterwerfen. Vielleicht würde sie aber auch einen magischen Bürgerkrieg entfachen, der die Zahl ihrer Feinde so stark verringerte, dass die verbleibenden mühelos von ihr unterworfen werden konnten.
Ladonna erklärte den dreien, wo die Versammlungshöhle war, warnte sie vor der Benutzung jeglichen Körper- und Geistesschutzzaubers und befahl ihnen, am Tag der Frühlingsfeuer in der Nacht zum ersten Mai dort zu erscheinen, um mit ihr und allen bis dahin schon vereidigten Mitschwestern den Beginn der neuen Zeit zu feiern.
Als die drei Hexen das Grundstück Ladonnas verlassen hatten ging diese daran, die ausgewählten Trägersteine vorzubehandeln. Wie geplant musste sie erst jenen Unterbrechungszauber wirken, der in Erfassung ihrer eigenen Lebensausstrahlung jede magische Abwehr zurückhielt, bis sie entweder aus der Reichweite war oder einhundert ruhige Herzschläge stattgefunden hatten. Da sie für jeden Zauber selbst an die hundert ihrer Herzschläge benötigte mochte sie bis zum nächsten Morgen damit zubringen, alle Trägersteine zu bezaubern. Um dafür wach genug zu bleiben trank sie eine kleine Menge des vor zweihundert Jahren erfundenen Wachhaltetrankes, den sie jedoch auf ihre ganz eigene Körperbeschaffenheit eingestellt hatte. So schuf sie in den verbleibenden Tagesstunden und in den Stunden der Nacht einundneunzig Trägersteine, die sie an den Knotenpunkten der von ihr erkundeten Gänge auslegen wollte. Jeden einzelnen zu bezaubern würde die zehnfache Zeit dauern. Sie hoffte, alle bis zum Tag der Frühlingsfeuer vorbereitet zu haben, um sie danach in ihrem neuen Versteck auslegen zu können.
Jetzt wusste sie, wie ihre Nährmutter es angestellt hatte, ihren Todesort und damit den Verbleibsort ihres Leichnams unauffindbar zu machen. Sie hatte sich daran erinnert, dass es einen Zauber "Lied der Unauffindbarkeit" geben sollte. als sie diesen den Veelas eigenen Zauber genauer nachvollzogen hatte wusste sie, wie sie ihren geheimen Aufbewahrungsort für machtvolle Dinge und Aufzeichnungen noch besser gegen Fremdzutritt absichern konnte als mit Zauberfallen und mechanischen Todesvorrichtungen.
Am Morgen des ersten Augusttages des Jahres 1491 begann Ladonna Montefiori mit dem Gruß der aufgehenden Sonne und damit, das Lied der Unauffindbarkeit für die Sonnenaufgangsrichtung anzustimmen. So schritt sie jeden Schritt, den das feurige Tagesgestirn am Himmel auf seiner Bahn rund um das Firmament ausführte mit und sang dabei die entsprechende Strophe an Sonne und Mond, um das Lied der Unauffindbarkeit wie einen großen, unsichtbaren Ring um die karge Kegelspitze eines ruhenden Vulkanes zu legen. Wie der Stundenzeiger einer übergroßen Uhr schritt die überragend schöne Tochter einer Hexe, einer Veela und einer grünen Waldfrau auf den zerklüfteten Felsen entlang und sang mit einer Stimme, die die Sirenen der Griechen vor Neid in die Fluten des Meeres hätte treiben können, wobei sie immer wieder die Sonne ansah und dann im Regelmaß der rauschenden Brandungswogen atmend sang, dass hier ein Ort der stillen Rückbesinnung und Verborgenheit lag, geschützt von Sonne, Mond, Erde und Meer. Dabei besang sie die Stellen, die sich auf Licht und Feuer der Sonne bezogen mit nach oben und unten ausgeführten Gesten, wodurch sie das schlafende Feuer des Vulkanes mit der gleichmäßig gleißenden Glut der Sonne verband. Woher die Feuerberge ihr glutheißes Innenleben bekamen wurde von den Naturkundigen der Zaubererwelt wild diskutiert. Die Neptunier behaupteten, alles stoffliche sei dem Wasser entwachsen. Die sich Plutonier nennenden behaupteten, dass tief unter der Erde ein ebenso heißes Feuer brenne wie das, was tagtäglich vom Himmel herabgleiße. Die Veelas, von denen Ladonna abstammte, nahmen für sich in Anspruch, zu wissen, wie der Körper der Urmutter alles Lebendigen beschaffen war und dass alles stoffliche, das Tote wie das Lebendige, aus einem gewaltigen Urfeuer entstammte, von dem ein großer Teil in der Sonne und allen nachts leuchtenden Sternen verblieben sei und ein Teil tief im Leib der runden Erde brannte. Aus diesem verborgenen Feuer entsprangen die Quellen flüssigen Gesteins, die sich aus den Vulkanschloten an die Oberfläche ergossen. Ladonnas Ururgroßmutter Neumondhauch behauptete, dass somit alles scheinbar kalte und feste nichts anderes als "gefrorenes Urfeuer" sei und dass auch das dem niederen Feuer feindlich gesinnte Wasser einst ein Teil jenes Urfeuers gewesen sei oder dieses in sich eingeschlossen habe. Wie dem auch war, für Ladonna galt, dass sie hier auf diesem kargen Kegel aus erkalteter Gesteinsglut alle vier Grundkräfte der stofflichen Welt mit den Kräften der Lichtlosigkeit und des Lebens zu den sechs alles bewegenden und formenden Kräften zusammenbringen konnte und daher hier und jetzt das Lied der Unauffindbarkeit anstimmen konnte. Sie wusste auch, dass Mokushas Ruhesitz, der für alle Veelas und Veelastämmigen heiligste Ort der Erde, mit diesem Lied besungen worden sein musste, jedoch so, dass jeder reinblütige oder mindestens achtelblütige Nachfahre Mokushas den Ort sehen und betreten konnte, aber niemand sonst. Hier auf dem zur kleinen Insel gewordenen Gipfel eines auf dem Meeresgrund stehenden Feuerberges wollte sie sicherstellen, dass nur sie und vielleicht eine aus ihrem eigenen Schoß geborene Tochter ihn sehen und betreten konnte. Doch ihr war ebenso bewusst, dass sie vor der Geburt einer solchen Blutsverwandten sterben konnte. Daher flocht sie in ihren mit Meeresrauschen und Sonnenlauf verbundenen Gesang die Bedingung ein, dass eine magieerfüllte Frau, die in Treue und Gehorsam zu ihr, der Sängerin des Liedes, weiterlebte, einen Sonnenkreis später die Insel finden und betreten sollte, nachdem der letzte Funke von Ladonnas Seele aus der stofflichen Welt verschwunden sei.
Sie sang im vorgegebenen Lauf der Sonne und im Gleichmaß mit den an- und abrollenden Meereswellen das Lied der ewigen Feuerquelle, die alles mit ihrem Licht enthüllte, aber mit ihrer machtvollen Glut auch all das überstrahlen konnte, was für unerwünschte Augen nicht zu sehen sein sollte. Sie stimmte zum genauen Mittagszeitpunkt das Lied des ewigen Himmelsfeuers an und verband dies mit den weiteren Eigenschaften des Liedes des unauffindbaren Ortes. Im Verlauf des Nachmittags sang sie das Lied der ermüdenden Sonne und verband es mit den Zeilen, dass die Unauffindbarkeit dieses Ortes unermüdlich bleiben sollte, solange sie lebte oder ein Funke ihrer Seele oder ein Tropfen des von ihr weitervererbten Blutes in der Welt war. Als das gleißende Gelb der Sonnenkugel von einem immer stärkeren Rotton durchmischt wurde und das Wärme, Licht und Leben darbringende Gestirn immer tiefer sank sang sie das Lied des unauffindbaren Ortes im Einklang mit der Begegnung von Tag und Nacht an den Grenzen, wo das eine noch nicht endete und das andere noch nicht begann. Schließlich stand sie auf dem Punkt der steinernen Insel, an dem die Sonne unter den Rand des Himmels sank. Noch einmal sang sie die Zeilen über die Zeit, wo der Tag noch nicht vergangen und die Nacht noch nicht geboren war, bis die Sonne vollends unter dem Himmelssaum verschwand und nur noch ein Hauch ihres Feuers als immer dunkleres Gelbrot den Himmel erleuchtete. Dann kam die Dämmerung. Alles Rot verblasste mehr und mehr zu mittlerem Blau und dann zu trübem Grau. Sie sang das Lob an die ewigen Wächter der Nacht, die Geschwister des mächtigen Vaters Himmelsfeuer, die das ewige Dunkel durchdrangen und die Anrufungen des Mondes, den die Kinder Mokushas als große Schwester am Himmel anerkannten, die über die Kinder der Erde wachte und dabei selbst immer wieder neu geboren wurde, wuchs und wieder verging. Während die Wellen des Meeres zu schwarzgrauen Wogen abdunkelten stimmte Ladonna das Lied der alles in ihrem dunklen Mantel hüllenden Nacht an und verband es mit jenen Zeilen, die diesen Ort dauerhaft unsichtbar halten sollten, so wie er nun unsichtbar für die Augen des Vaters Himmelsfeuer geworden war. Sie schritt weiter über die unregelmäßigen, nun tiefschwarzen Felsbrocken, bis sie den Punkt der tiefsten Nacht erreichte. Im Schein des Mondes und dessen Widerschein der weiterhin an- und abrollenden Meereswellen sang sie die Zeilen des Liedes der Unauffindbarkeit, die sich auf die Dunkelheit in den tiefen der Erde und in den unendlichen Räumen zwischen den Sternen bezog. Sie spürte, dass der große Kreis sogut wie vollendet war. Jetzt galt es noch, die Zeilen zu singen, die von der Geburt des neuen Lichtes aus der Dunkelheit handelten und dass dieser Ort nur dann gesehen werden durfte, wenn die richtigen Augen ihn suchten. Mit dem ersten Silberstreifen am Morgenhimmel endete Ladonnas Liederfolge. Sie merkte, dass sie in den vielen Stunden zwischen Sonnenaufgang und neuem Morgenrot eine Menge Kraft in diesen Boden übertragen hatte. Wollte sie nicht gleich hier an diesem Ort erschöpft zu Boden sinken musste sie die Kraft der neuen Sonne anrufen, um das von ihr gesicherte Eiland wahrhaftig gegen unerwünschte Augen und Füße zu sichern. Auch wenn Ladonna einer Veelafamilie entstammte, die die Nacht und den Mond als ihre Kraftquellen nutzten kannte sie den Gruß an die neu entsteigende Sonne. Völlig unbekleidet bot sie dem nach seinem Vorboten, dem Morgenrot über den östlichen Himmelsrand aufsteigenden Glutball ihren Anblick dar und vollführte das von den meisten Kindern Mokushas erlernte Grußritual an das wiedergeborene Tagesgestirn. Dabei fühlte sie, wie der von ihr geschlossene Ring gefestigt wurde und dass sie aus der Verbindung Sonne und Erde neue Kraft schöpfte. Als die Sonne vollständig über den Rand des Himmels gestiegen war endete Ladonnas Gruß und Dank. Jetzt konnte sie darangehen, alle weiteren Vorkehrungen zu treffen, auch wenn diese eigentlich nicht mehr nötig waren. Doch die Feuerrosenkönigin argwöhnte, dass bei Verlöschen des Unauffindbarkeitszaubers nicht nur ihr treue Dienerinnen herbeikommen mochten, sondern auch ihre Feindinnen. Das einzige, was sie schon gesichert hatte war, dass kein schwächlicher, seinen niederen Körpertrieben und Reviergelüsten unterworfener Zauberer dieses kleine, unbewohnte Eiland betreten konnte.
Bevor sie darangehen wollte, die von ihr mitgebrachten Trägersteine für die zu wirkenden Abwehrzauber auszulegen zog sich Ladonna in eine der vielen kleineren Höhlen im schroffen Hang des Vulkankegels zurück, um ausgiebig zu schlafen. Erst wenn die Sonne wieder unterging wollte sie anfangen. Denn ihre Kraftstunden blieben die Stunden der Nacht, auch wenn sie gerade eben die Macht des Himmelsfeuers gepriesen und dafür einen kleinen Teil von dessen Kraft zurückerhalten hatte.
Das Gespür sowohl der Kinder Mokushas wie auch das der grünen Waldfrauen, wann die Sonne unter- und der Mond aufging weckte Ladonna wieder auf. Die Feuerrosenkönigin prüfte, ob die von ihr ausgeführte Bezauberung wahrhaftig in Kraft war. Dann setzte sie die ersten Trägersteine an die von ihr erkundeten Zugänge in das Herz des schlafenden Feuerberges. Sie opferte dafür auch Blutstropfen und Stücke aus ihrem seidenweichen, nachtschwarzen Haar, auch und vor allem um die Träger des gläsernen Sonnenfeuers auf sich allein abzustimmen. Mit Aushöhl- und Bedeckungszaubern brachte sie die von ihr mitgebrachten Eisenbolzen so unter, dass kein unter der Erde dahineilender Kleinling unbehelligt zu ihrer großen Haupthöhle hingelangen konnte. Auch brachte sie mit einem eisernen Stichel, den sie in getrocknetes Zwergenblut eintauchte die Zeichen für den größten Schrecken der Erdkinder an. Wer an den großen grauen Eisentroll glaubte, würde seine gierigen Hände zu sehen vermeinen oder sein Gebrüll nach Nahrung hören.
Die Steine, die jeden freien Flugzauber vereitelten, solange sie dies nicht durch ihre bloße Anwesenheit und die als Unterbrechungsschlüssel festgelegten Gedanken verhinderte, brachte sie in den Wänden der zwölf Zugangsschächte an und im Boden. Wer immer meinte, den Schacht im magischen Flug durchqueren zu können würde auf sehr einprägsame Weise belehrt, dass dies nicht ging. In den Gängen selbst kamen die von ihr als Albtraumsplitter bezeichneten Trägersteine zum Einsatz, die beängstigende Illusionen hervorriefen und jene, die sich ihnen auslieferten in panische Angst trieben. Außerdem setzte sie die Trägersteine mit den Schildzauberansaugkräften in die Wände, die dadurch zu großflächigen Fallen für mit Schildzaubern hantierenden wurden.
So vergingen die Stunden der Nacht, bis Ladonna alle von ihr ersonnenen Abwehrzauber an den ausgewählten Orten ausgespannt hatte. Drei große Höhlen lagen im Zentrum des Geflechtes aus Angst- und Fangzaubern. Hier würde sie alle für wichtig und gefährlich gehaltenen Dinge und Aufzeichnungen unterbringen, die sie länger als einen Monat unberührt lassen wollte. Hier würde ihre dunkle Abwandlung jenes sagenumwobenen Ortes entstehen, den die Ägypter des ptolomäischen Zeitalters errichtet und gehütet hatten. Vielleicht würde sie auch auf die Jagd nach den legendären Weihesteinen von spitzohrigen Erdkindern gehen, die sich anmaßten, von den britischen Inseln aus immer weiter nach Europa vorzudringen und bisher nur von den bereits länger hier angesiedelten Schwarzalben aufgehalten wurden.
Als Ladonna nach einem vollen Tag in den Eingeweiden des schlafenden Vulkanes an die Oberfläche zurückkehrte herrschte bereits wieder tiefe Nacht. Die Königin der Feuerrose betrachtete ihr gesamtes Werk und befand, dass es gelungen war. So würde sie neben ihrer Versammlungshöhle und der Residenz ein weiteres, nur ihr bekanntes Machtzentrum besitzen, wenn sie sich mehr und mehr Herrschaft verschaffte. Bald würde der Duft der Feuerrose durch die Stuben der Mächtigen wehen und die Botschaft von bedingungslosem Gehorsam in die Köpfe jener Menschen dringen, die Ladonna als Statthalter und Knechte ihres Reiches auserwählt hatte.
Sie überlegte noch, ob sie ihre für alle sichtbare Residenz noch mit dem Blutfeuernebel des Rufus Vulpius Palatinus umhüllen sollte. Doch dann fiel ihr ein, dass die in ihr wiedergeborene Giorgiana und Domenica zusammen einen Ring des friedfertigen Blutes um das Anwesen gezogen hatten, um Feinde friedlich zu stimmen. Dieser Zauber wehrte jeden auf Tod und Verdrängung gründenden Blutzauber ab und mochte mit diesem zusammen zu einer Verheerung aller Elemente ausufern. Also blieb ihr für die Residenz nur das Gespinnst der üblichen Schutzzauber.
Wieder zurück in ihrer Residenz betrachtete sie die von ihr dort gesicherten Aufzeichnungen. Welche davon würde sie zuerst in ihr neues Geheimlager bringen?
Was für die nichtmagischen Menschen die einzelnen Stadtstaaten oder Fürstentümer waren war für die aufstrebenden Magier und Hexen ein sich ständig änderndes Geflecht aus Herrschaftsgebieten, in denen einzelne Zauberer und Hexen oder vereinte Gruppen über das Wohl und Wehe der magischen und nichtmagischen Mitbewohner entscheiden konnten wie unumschränkte Königinnen und Könige. In Venedig brach im Jahre 1501 die zwanzigjährige Ära der Schattendogen an, jenen Zauberern, die im Hintergrund der von den Bürgern gewählten Stadtherrscher walteten und Schalteten, ja die amtierenden Dogen sogar mit Hilfe des römischen Unterwerfungszaubers wie Puppen an unsichtbaren Fäden laufen und sprechen ließen. In Florenz strebte die Familie Medici nach immer mehr Macht und streckte die Hände nach dem französischen Königshaus aus. Auch sie wurden von ihnen wohlgesinnten Zauberern unterstützt, die im Windschatten der Familie eigene Macht anstrebten. Allerdings kamen sie dabei immer wieder mit jenen Familien in Streit, welche die Fraternitas luporum romanorum gegründet hatten und ihrerseits nach einer unter magischer Oberhoheit stehenden Neuauflage des römischen Weltreiches strebten. Auf den britischen Inseln nutzten machtversessene Zauberer im Angedenken des großen Salazar Slytherin den Streit der Glaubensrichtungen aus, um sich zu kleinen Königen zu krönen, die je nach Gesinnung den dunklen blutgetränkten Pfaden schwarzer Druiden folgten oder das aus dem alten Rom erhaltene Erbe der zusammenführung orientalischer, afrikanischer und nordeuropäischer Zauberkenntnisse pflegten. Dort, wie auch im einstmals keltisch geprägten Frankenland konnten sogar Hexen groß und mächtig werden.
Fast unbemerkt von jenen um Macht und dauerhaften Ruhm streitenden beschritten zwei besonders kundige und fähige Hexen ihren Weg zum Gipfel der Macht. In Südfrankreich strebte die zwischen dem hellen und dunklen Erbe der Druiden und dem Erbe der griechischen Töchter Hecates wandelnde Hexe Sardonia vom Bitterwald nach immer mehr Macht. In Italien entstand das Reich der Feuerrose unter der heimlichen Herrschaft der selbstherrlichen aber auch überaus gefährlichen Hexe Ladonna Montefiori. Diese säte Zwietracht in den acht Familien der Lupi Romani und sorgte dafür, dass zwei von ihnen vollständig ausgelöscht wurden. Auch sie wollte eine Neuauflage des römischenWeltreiches und streckte ihre Hände nach den einstmaligen Besitzungen der Cäsaren und ihrer magischen Gönner aus. Statt sich zuerst die vollständige, unumstößliche und ihren eigenen Tod überdauernde Vorherrschaft auf der italienischen Halbinsel zu sichern versuchte Ladonna immer wieder, in den Nachbarländern eigene Untergebene zu gewinnen. Ihr war der Zauberrat des römischen Bundes unterworfen, der die Kleinstaaterei der Halbinsel und das Geplänkel magieloser Adelshäuser verachtete. Doch viel lieber wäre es ihr, wenn sie auch Frankreich, die deutschen Lande und die südslawischen Gebiete beherrschte. Sie wollte auch gerne in Ägypten und dem einstigen punischen Reich Fuß fassen. Doch die aus Indien und Persien stammenden Meister der Magie, die sich als Brüder des blauen Morgensterns bezeichneten, konnten Ladonnas Untergebene immer wieder zurückdrängen oder zeitweilig gegen ihre Herrin wenden. Allerdings bekam es den derartig Umgewendeten nicht, wenn sie versuchten, als Spione oder Attentäter in Ladonnas Machtbereich zurückzukehren, da der von ihr ersonnene Feindesenthüllungszauber sofort anschlug und der daran gekoppelte Verratstilger die ihr entwundenen tötete, bevor sie ihre neuen Aufträge erfüllen konnten.
Sowohl Sardonia als auch Ladonna erfuhren, dass es Entdeckungs- und Eroberungsreisen in ein westlich des atlantischen Meeres gelegenes Land gab, das nach einem solchen Entdecker Amerika genannt worden war. Doch weder Sardonia noch Ladonna legte einen Wert darauf, dieses Land, das auch als "Mundus Novus" bezeichnet wurde zu erforschen. Zu sehr waren sie mit der Festigung und Ausdehnung der eigenen Macht befasst.
Ladonna schaffte es in den vierzig Jahren des jungen 16. Jahrhunderts, mehrere mächtige Gegenstände zu erbeuten, darunter einen aus einem ihr unbekannten Metall geformten Amboss, der alles darauf geschmiedete nach dem Abkühlen dauerhaft machte und eingeritzte Zauberkraftsymbole zehnmal so stark wirksam machte wie auf gewöhnlichen Ambossen in Metall getrieben. Da sie die Geschichte ihres Großvaters von Domenicas Seite her kannte, dass dieser im Verbund mit der Familie Fulminicaldi als Erben des Vulcanus auftrat vermutete Ladonna, dass der Amboss wahrhaftig von einem mächtigen Magier stammte, der den Griechen und Römern als Vorlage für den Gott der Schmiedekunst und des Feuers gedient haben mochte. Gegen die Macht der Feuerlenkung, die die Fulminicaldis anwenden konnten, half ihr der von ihr selbst auf jenem Amboss geschmiedete goldene Ring, in den zwei rosenblütenförmige Rubine eingesetzt waren und den sie mit dem griechischen Namen Pyronike, Bezwingerin des Feuers, bezeichnete. In jeden dieser Rubine hatte sie einen durch gewaltsamen Tod freigesetzten Teil ihrer eigenen Seele eingeschlossen, so dass der Ring mit ihr eine geistige Einheit bildete und jeden Feuerzauber abfing oder aus den Tiefen der Erde stammende Glut in Form haardünner Strahlen auf ihre Feinde schleudern konnte oder sie in eine glutrote Kugelschale hüllen konnte, die jeden feindlichen Stoff oder Zauber von ihr abhielt.
Als Ladonna einmal mehr befand, dass sie nun in den italienischen Landen keinen Feind mehr zu fürchten hatte und deshalb einmal mehr nach Frankreich greifen wollte kam, was sich seit Jahrzehnten angedroht hatte. Sardonia vom Bitterwald, selbst im Besitz mächtiger Machtmittel und beschützt von einer von ihr selbst errichteten Kuppel aus vielen hundert geopferten Leben, mussten einander begegnen, um zu entscheiden, welcher der beiden dunklen Königinnen die Vorherrschaft in der alten Welt gebührte. Die Siegerin mochte danach auch die nach und nach eroberten Lande der neuen Welt unterwerfen.
Im Jahre 1540 kam es von den meisten magischen und nichtmagischen Menschen unbemerkt zum entscheidenden Zweikampf. Dabei gelang es Sardonia, Ladonnas Kraftquellen, die lebenden Bäume, zu verheeren und Ladonna den goldenen Ring ihrer Macht abzunehmen und sie anschließend in eine blaue Statue zu verwandeln, ohne sie wirklich zu töten. Sardonia führte danach einen Vergeltungsfeldzug gegen Ladonnas ehemalige Mitschwestern und schaffte es trotz der weiterwirkenden Schutzbanne um Domenicas Haus bei Florenz, den Fluch der verdorrenden Leben zu wirken, auf dass dort niemand länger als eine Woche überleben konnte. Dabei starben auch all jene, die von Ladonna Montefiori in langstielige Rosen verwandelt worden waren, um sie einerseits an eigenen Gegenschlägen zu hindern und andererseits als Wissensquellen für Ladonna verfügbar zu halten.
Auch wenn Sardonia wusste, dass es weitere Niederlassungen ihrer größten Widersacherin nach den Abgrundstöchtern gab war es ihr nicht möglich, diese zu finden. Auch jenes hinter vorgehaltener Hand erwähnte Geheimlager von Ladonnas machtvollsten Beutestücken blieb verborgen. Denn Dadurch, dass Ladonnas Seele in ihrem erstarrten Körper verblieb als auch die beiden Seelenbruchstücke in ihrem magischen Ring weiter in der Welt verblieben wurde Ladonnas besonderer Schutz über jener kleinen Vulkaninsel ostsüdöstlich des Santorini-Archipels in Kraft gehalten. Daher fand sich Sardonia damit ab, dass es Ladonnas geheimes Lager wohl doch nicht gab.
Ein weiteres Erbe Ladonnas war, dass Sardonia nicht den Fehler beging, mehr Macht im Ausland erstreben zu wollen. Dafür festigte sie ihre Macht in Frankreich und Belgien und konnte so ein ganzes dunkles Jahrhundert lang als Königin der Hexen, als dunkle Matriarchin herrschen, bis auch sie ihre Meister fand, als sie die sich selbst als Krieger der letzten Schlacht bezeichnenden Unheimlichen zum Kampf herausforderte, die einen Mantel aus Dunkelheit, Verzweiflung und eisiger Kälte um sich ausbreiten konnten. Doch auch Sardonia hatte einen kleinen Teil ihrer dunklen Seele ausgelagert und so unter anderem die Schutzwirkung der von ihr errichteten Schutzkuppel über Millemerveilles in Kraft gehalten. Nach Sardonia sprach niemand mehr von Ladonna Montefiori. Ihr Erbe war nur den allerwenigsten gelehrten Hexen und Zauberern bekannt.
Es war gelungen. Sie hatte mit Hilfe des Duftes der Feuerrose mehrere Zaubereiministerien unter ihre Kontrolle gebracht und somit auch Zugriff auf die dort gelagerten geheimsten Schriften über dunkle Zauber sowie beschlagnahmte Artefakte mit großer Macht erbeutet.
Ladonna zögerte nicht lange und holte sich aus dem römischen Geheimarchiv, der Crypta tenebrosa, alle ihre Natur betreffenden Bücher und Schriftrollen über wahrlich finsteres Zauberwerk wie die Erschaffung von Horkruxen, Mördergolems, das Bannen von verdorbenen Seelen zum Dienst und die Geschichte der uralten dunklen Könige, wie sie von den Römern, Ägyptern, Griechen und Persern niedergeschrieben worden war und von den Römern im Laufe ihres Weltreiches zusammengetragen worden waren. Als sie dann auch Zugriff auf das Archiv der finsteren Vermächtnisse in den früheren Hauptstädten Theben und Memphis in Ägypten erhielt fand sie dort das von vielen Alchemisten für einen Mythos gehaltene Werk "Die Säulen der Stofflichkeit- die hellen und dunklen Kräfte der lebendigen und toten Natur", das wohl noch im legendären Museion von Alexandria aufbewahrt worden war. Mit diesem Werk wollte sie sich später, wenn ihre Herrschaft über die Menschen gefestigt war und sie den Wildwuchs Gift verbreitender Maschinen beendet hatte befassen. Ihr war bewusst, dass allein dieses Werk an Dinge rührte, die die ganze Welt in Schutt und Asche legen konnten. Sicher wurde dort näheres über die Fackel der Vernichtung oder den Stoff, der nicht sein darf berichtet. Genau deshalb galt es, dieses Werk so schnell es ging vor allen anderen in Sicherheit zu bringen. Leider ließ sich dieses Buch nicht einschrumpfen wie die meisten Pergamente, die sie auf zehn aus den Staaten entführte Centinimus-Bibliotheken verteilen und in eine leicht zu transportierende Kiste packen konnte. Außerdem strahlte jenes Buch etwas aus, dass außerhalb abgeschirmter oder gegen unerwünschten Zutritt gesicherter Räume habgierige Widersacher anlocken konnte. Nur in seiner Kiste aus Occamysilber mit den Runen für Verborgenheit, Ruhe und der verlangsamten Zeit blieb es untätig. Diese konnte sie jedoch in ihren Weltenbummlerrucksack packen, den eine ihrer treuen Schwestern ihr in Australien besorgt hatte, noch bevor die Woge von überstarker Erdmagie den Kontinent durchlaufen hatte.
So reiste Ladonna am zweiten Mai nach Erstellung einer gründlichen Inventarliste mit ihren neuen Beutestücken auf einem tarnfähigen Besen der Harvey-Reihe aus Florenz ab, ohne dass jemand es bemerkte oder gar weitermeldete. Sie überquerte das Mittelmeer und näherte sich jener Stelle, wo sie einst ihr ganz geheimes Lager für machtvolle Hinterlassenschaften eingerichtet hatte. Sie musste jedoch drei Umlaufbahnen fliegen und dabei den geistigen Ruf nach dem Tor aus Wind und Meer denken, bis unmittelbar unter ihr eine schillernde Glocke aus silbernem Licht entstand, in der wiederum ein himmelblaues, flirrendes Tor entstand. Durch dieses flog Ladonna in den umfriedeten Schutzbereich ihrer Insel ein.
Der zerklüftete Vulkankegel war in all den Jahrhunderten um einige Meter kleiner geworden. Doch Ladonna sorgte sich nicht deswegen. Sie war ja gleich nach ihrer Wiedererweckung und der Inbesitznahme von Luigi Girandellis Haus hergekommen und hatte festgestellt, dass alles noch so war, wie sie es im Jahre 1491 eingerichtet hatte. Da sie innerhalb der Höhlen nicht auf einem Besen fliegen konnte verstaute sie den Flugbesen in einer röhrenförmigen Seitentasche mit Rauminhaltsvergrößerung. Dann betrat sie das mehrgeschossige Höhlensystem durch die der Sonne gerade am nächsten liegende Eingangstür.
Sofort fühlte sie wieder jenes Kribbeln wie von über ihre Haut jagenden Käfern, während sie durch die von ihr bezauberten Gänge und Schächte wandelte. Sie dachte an die von ihr festgelegten Zugangsbilder, die den Freiflugzauber für hundert Herzschläge freigaben und die albtraumhaften Illusionen unterdrückten, solange sie durch den davon belegten Raum eilte. Mit ihrem eigenen Waldfrauenzauber hob sie die auf sie wirkende Schwerkraft auf und ließ sich wie eine Vogelfeder in die Tiefe gleiten. Mehr als dreißig ihrer Längen tief reichte der erste Schacht in die tieferen Höhlen hinunter. In den Wänden lauerten die Flugzauberunterdrücker, ebenso am Boden. Doch sie schaffte es noch in der von ihr selbst festgelegten Zeit, diese erste Hürde zu überwinden. Dann betrat sie das von ihr erforschte und mit Zauberfallen und Tötungsvorrichtungen gespickte Höhlenlabyrinth. Auch hier wandte sie den Unterbrechungszauber an, um im freien Flug über all die Bodenstellen hinwegzuschweben, die niedersausende Fallschwerter, aus den Wänden schießende Giftpfeile oder das Wegklappen von Falltüren auslösten. Sie fragte sich dabei, ob es nicht doch mal ganz gut wäre, wenn einige ihrer ärgsten Feinde in dieses tückische Labyrinth eindrangen und darin den Tod fanden. Sie fühlte die lauernde Magie, die darauf wartete, unerwünschten Eindringlingen ihre schlimmsten Angstvisionen in die Köpfe zu treiben oder dass diese sich in die Körper umfließende Schildzauber hüllten, um dann wie Fliegen an einem extraklebrigen Fliegenfänger hängen zu bleiben, bis der Tod eintrat oder jemand wie sie kam, um die wirkenden Schildzauber aufzuheben. Immer wieder musste sie die nötigen Passwörter denken, um die eingerichteten Zauberfallen weiterhin unterbrochen zu halten.
Durch zehn Gänge und drei weitere Schächte erreichte sie mit ihrem rauminhaltsvergrößerten Rucksack auf dem Rücken die erste große Halle, die Halle der machtvollen Kenntnisse. Das war die Bibliothek für alles, was sie als nur für sie selbst bestimmt einordnete. Hier war sie richtig. Hier konnte sie nun alle von ihr beschlagnahmten Bücher und Karten unterbringen. Dafür hatte sie bereits damals aus Eisenquarz geformte Vitrinen anfertigen lassen, die geistige Zauber einsperrten oder Suchzauber von außen unterbrachen. Daher konnte sie die Schriftrollen aus Ägypten gleich in einem sargähnlichen Behälter unterbringen, der neben einer Vitrine mit uralten Landkarten stand. Für die unschrumpfbare Kiste mit dem Hauptwerk über die Säulen der Stofflichkeit wählte sie einen Platz zwischen zum Dreieck aufgestellten Regalen zu den Themen Alchemie und Elementarbezauberung. Denn dort gehörte dieses altägyptische Buch hin.
Nachdem sie alle neuen Unterlagen sicher fortgeschlossen hatte besuchte sie zunächst die zweite Höhle, die Halle der eigenwilligen Gebrauchsgegenstände und Kleidungsstücke. Sie fühlte die lauernde Erwartung der hier aushängenden Leder- und Fellkleidungen, die ihren Trägern vorgaukelten, übermenschliche Kräfte oder Allwissenheit zu erhalten, wobei sie die dunklen Gelüste in jedem Menschen freilegten und nährten. So gab es hier einen schwarzen Zylinder, der einen über fast vergessene Runenwebmuster das Legilimentieren jedes mit den Augen sichtbaren Wesens ermöglichte, ja durch Berührung der Ohren und des Hutrandes worthafte Gedanken hörbar machte. Doch der Preis dafür war eine gesteigerte Gier nach Gold und Grundbesitz sowie eine geschürte Angst vor Verlust.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle hier eingelagerten Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände weiterhin sicher waren betrat sie die Höhle der gnadenlosen Waffen und Rüstungen. Hier stand nicht nur der von ihr erbeutete magische Amboss, auf dem besonders starke Zauberwaffen und Rüstungsteile geschmiedet werden konnten, sondern in mannshoch aufragenden Ständern hingen Schwerter, Äxte, Dolche und Rüstungsteile aus Metall oder besonderem Leder. Ein schwarzes Bärenfell, zu dem eine aus Krallen verschiedener Raubtiere gemachte Kette gehörte, stammte aus dem Grab eines nordischen Häuptlings, der dem Bund der Berserker angehört hatte. Wenn ein Mann das Fell anlegte und er einen Feind erblickte floss die zehnfache Kraft eines Bären und die Gewandtheit einer Raubkatze in ihn über und schützte ihn zugleich vor allem der Erde und dem Feuer verbundenen Gewalten. Allerdings mochte das Fell keine Frauen und piekste sie am ganzen Körper, bis sie es wieder ablegten. Das genaue Gegenteil davon war eine aus der Haut von drei Drachen und einer Seeschlange gefertigte Vollrüstung einer skytischen Amazone. Wenn eine Kriegerin Helm, Panzer, Handschuhe und knielange Stiefel anlegte erwachte in ihr eine ähnlich starke Entschlossenheit und Wut wie beim Anlegen des Bärenfells des Berserkers. Nahm sie dazu noch das Schwert der rächenden Kriegerin, eine keltische Waffe, die in Händen von Frauen deren Wut auf ihre Peiniger entflammte und erst nachließ, wenn diese tot vor der Kriegerin lagen, wurde eine Kriegerin so zur unaufhaltsamen Furie, die alles und jeden niedermachte, was auch nur im Ansatz feindlich gesinnt war. Auch hier galt, dass die aus den Kräften von Erde und Feuer stammenden Waffen keine Wirkung hatten, also weder offenes Feuer noch Steingeschosse, noch Metallwaffen. Des weiteren hing in einer besonders gut verschlossenen Vitrine ein aus sich heraus blutrot glimmender Dolch, den Ladonna beim Kampf mit einem Vampirfürsten aus Anatolien erbeutet hatte. Der Dolch stammte von jenem Vampir, der den auch den Nichtmagiern bekannten Vlad Dracul zu seinem Artgenossen gemacht, es aber später bitter bereut hatte. Der legendäre Vooyvode und Türkenschlächter, der auch als Tepes, der Pfähler, unheilvolle Berühmtheit errungen hatte, brauchte mit dem Dolch nur jemanden zu ritzen und ihm oder ihr sofort einen Großteil der Körperkraft entreißen. Ladonna hatte insofern nur Glück gehabt, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon das Schwert der rächenden Kriegerin besessen und den Dolch damit abgewehrt hatte. Nun hingen beide gefährlichen Waffen in ihrer geheimen Waffenkammer. Weitere teilbeseelte oder mit verheerenden Flüchen wie den Carnecrematus-Fluch belegte Waffen lagerten in dieser Höhle und würden weder Ladonna noch ihren Verbündeten gefährlich, solange sie sie nicht aus den mit Bannzaubern verstärkten Behältern holte.
In der Ecke der Höhle gloste ein unlöschbares Feuer unter einem mit mehreren kleinen Löchern durchsetzten Steindeckel. Das war die Esse von Ladonnas privater Schmiede, wo sie eigene Metallgegenstände anfertigen wollte, sofern sie welche brauchte. Doch da sie als Enkeltochter einer grünen Waldfrau und einer Veela jedes Gramm Metall zu viel am Körper ablehnte vertraute sie Pyronike, ihrem wahrhaftigen Ring der Macht.
Ladonna wusste nicht, wann sie diesen Ort wieder aufsuchen würde. Daher prüfte sie sorgfältig, ob noch alles so war wie sie es bei ihrem letzten Besuch vor drei Monaten vorgefunden hatte. Dann hob sie die lauernden Abwehrzauber für sich selbst wieder auf und kehrte ans Mondlicht zurück. Sie bestieg ihren unsichtbar machenden Besen und flog zurück nach Italien.
Ladonna war sehr ungehalten. Ihre so großen Pläne waren allesamt durchkreuzt worden. Ihre Weltherrschaft der Feuerrose zerbröckelte, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Nur wenn sie ihre unterworfenen dazu anhielt, sich nie alle auf einmal an einem Ort zu treffen konnte sie diese weiterbehalten. Doch auch das gelang nicht immer, denn Spione der anderen Seite hatten die Rückzugsorte erkundet und so mehrere Zaubereiministerien aus ihrer Gewalt befreit.
Das Vorhaben, den wegen der Bändigung der Elektrizität größenwahnsinnig gewordenen Magielosen Einhalt zu gebieten war auch misslungen, weil jemand herausgefunden hatte, dass sie tausende von Verkehrsflugzeuglenkern unterworfen hatte, um die größten Stromerzeugungsstätten zu zerstören. Das hatte ihr bewusst gemacht, wie sehr das weltweite Informationsnetzwerk der nichtmagischen Menschen von den Hexen und Zauberern überwacht wurde. Also musste sie für einen neuerlichen Angriff auf die Energieversorgungseinrichtungen der magielosen Welt einen Weg finden, der nicht sogleich im Internet offenbart wurde.
Ladonna empfand auch eine gewisse Beklommenheit, weil sie nicht wusste, ob die während ihren Ohnmachtsanfällen aufkommenden Träume einen wahren Kern hatten oder nicht. Mochte es wahrhaftig sein, dass ihre Schwester Regina an diesem eigentlich doch nur mythischen Fluss der rastlosen Seelen wachte und sie bei sich haben wollte? Sie hatte was von einer dritten Tochter behauptet, die Ladonna stürzen sollte. Doch welches Hexenpaar würde den Weg finden, den Domenica und Giorgiana gefunden hatten, um zwei vaterlose Töchter auf die Welt zu bringen? Außerdem würde ihr magischer Ring Pyronike ihre Seele in der stofflichen Welt halten, sollte es doch jemand wagen, ihren Körper zu töten. Ja, sie ging davon aus, dass sie erneut einen unwissenden Menschen finden würde, der ihren Ring ansteckte und somit von ihr übernommen werden konnte. Doch sie wollte nicht sterben, um jahrhunderte zu warten, bis sie jemand wieder in die Welt zurückholte. Sie musste den Widerstand brechen, die ihr gefährlich geworrdenen Feinde vernichten, allen voran alle Kinder Mokushas. Doch um diese zu beseitigen brauchte sie eine Streitmacht, die nicht vom Duft der Feuerrose gelenkt wurde. Sie hoffte, dass die von ihr aus dem Grab des ungenannten Pharaos entführten Gegenstände ihr dabei helfen konnten.
Eigentlich hätte sie die aus Ägypten herübergeholten Waffen und Gegenstände längst in ihr Geheimversteck bei Santorini bringen müssen. Allein schon das Schwert war gefährlich genug, um auch ihr zu schaden. Sie hatte herausgefunden, dass es wohl dahingehend bezaubert war, seinem Nutzer eine erhöhte Geschwindigkeit und Gewandtheit zu verleihen. Doch dafür wollte es Blut trinken. Bekam es dies nicht von den Feinden seines Besitzers, so konnte es sich gegen diesen selbst wenden und ihn bis auf den letzten Tropfen aussaugen wie ein metallischer Vampir. Die Seele des Unseligen würde dann als blutroter Rachegeist weiterbestehen, dem unterworfen, der das Schwert in Besitz nahm, sofern der Unglückliche nicht unter freiem Himmel bei hellem Sonnenlicht den Tod fand.
Das Zepter ließ sich nur solange von einer Hexe anfassen, solange es sich in dem seinen Zauber unterdrückenden Lederrohr befand. Sie konnte es nur mit Drachenhauthandschuhen berühren, es aber nicht anheben. Zumindest konnte so keine ihrer Schwestern es an sich nehmen. Alle anderen Gegenstände konnte sie selbst gebrauchen. Den silbernen Bogen mit den hundert tödlichen Pfeilen hatte sie ja bereits Diana Camporosso übergeben, die weiterhin für alle anderen als tot und begraben gelten sollte.
Ladonna wollte sich einen Trank brauen, der ihr Bewusstsein erhielt, wenn sie irgendwohin unterwegs war und mal wieder wer dachte, ihr ihre Unterworfenen entreißen zu wollen. Doch um einen auf ihre besondere Natur abgestimmten Wachhaltetrank zu brauen musste sie besondere Kräuter und die Bestandteile ausdauernder Zaubertiere zusammenbekommen. Das hatte sie gleich nach der Rückkehr aus Ägypten angeregt. Doch alle die von ihr ausgeschickten Getreuen würden noch eine oder zwei Wochen brauchen, um die Bestandteile zusammenzubekommen. Es war Ladonna wichtig, das keine wusste, wozu sie diese Zutaten brauchte. Sie wollte keiner erzählen, wie leicht man ihr das Bewusstsein nehmen konnte. Es reichte schon, dass ihre Getreuen wussten, dass die Macht der Feuerrose gebrochen werden konnte.
"Wenn ich den Trank habe bringe ich die Schätze aus Ägypten in die drei Höhlen", dachte Ladonna. Sie hoffte, dass ihr die nötige Zeit blieb. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Sanduhr ihrer Herrschaft beinahe abgelaufen war und dass auch ihr mächtiger Ring sie nicht vor dem Untergang bewahren würde.
Endlich hatten sie es geschafft, die Höhle freizulegen. Monate lang hatten sie mit behutsamen Ausgrabezaubern daran gearbeitet, die besonders gehärteten Steinbrocken zu beseitigen und die noch in der ehemaligen Höhle ungerichtet wirkende Magie unschädlich zu machen. Zaubereiminister Francesco Torregrande selbst hatte bei der Aushebung der letzten Hindernisse mitgeholfen.
Auf einen vereinbarten Pfiff hin beendeten alle an der Ausgrabung beteiligten die grün flirrenden Excavatus-Zauber, mit denen Steine langsam zu staub zermalen wurden, um nicht durch eine heftige Sprengung oder oder unbeherrschbare Verlagerung Zerstörungen anzurichten, wie der Effodius- und der Confringus-Zauber sie zwangsläufig mit sich brachten. Deshalb hatte es auch sehr lange gedauert.
"Interessant, was alles für Magie in dieser Höhle gesteckt hat. Es wäre nicht unvorteilhaft gewesen, diese intakt zu erkunden", sagte Bonifatio Montecello, der seinem Ligakameraden bei der letzten Aushebung zur Hand ging. "Nach den ganzen Verhörprotokollen, die meinen Schreibtisch überladen haben war das meiste davon gegen Ladonnas Feinde gerichtet, vor allem gegen Zauberer. Willst du nicht echt, dass wir noch so einen von diesen Zaubern in voller Wirkung auslösen", sagte Francesco Torregrande. Dann winkte er einem der Lichtbändiger, die frei schwebende Sonnenlichtsphäre tiefer in die Höhle hineinzudirigieren.
"Und wenn die verschwundenen Schriften und Artefakte aus der Crypta nicht hier sind, Fran, was machen wir dann?"
"Die müssen irgendwo sein, Boni. In der Villa dieses nun neu aufwachsenden Lebemannes waren sie nicht. Barbanera konnte uns auch auf dem Stuhl der Wahrheit nicht verraten, wohin Ladonna die heimlich ausgeräumte Gruft der finsteren Hinterlassenschaften verräumt hat. Also müssen wir alle uns bekannt gewordenen Orte absuchen.
"Schon was von der Centinimus-Bibliothek von Alexandria Agemo gehört, Francesco Torregrande? Wenn die sowas angeschafft hat konnte sie wenigstens alle Pergamente und Bücher darin unterbringen und immer bei oder gar in sich tragen. Hexen können sowas ganz gut", erwiderte Bonifatio Montecello.
"Ach, mal wieder Zeit zum Phantasieren gefunden, Boni? Ich dachte, dein Beruf nimmt dich zu sehr in Anspruch. Natürlich haben wir das in Erwägung gezogen, dass sie sich eine oder mehrere Centinimus-Bibliotheken beschafft hat. Das Agemo-Patent ist ja seit der Freigabe vor zwanzig Jahren häufig genutzt worden. Aber einige der ehemaligen Kollegen, die in jeder Hinsicht unter Ladonna gearbeitet haben schilderten die mit ihr erlebten intimen Stunden. Die konnte unmöglich was so umfangreiches wie die dunkle Bibliothek in ihrem eigenen Körper verstecken, ohne dass es ihr oder den von ihr gehaltenen Liebessklaven irgendwann weh getan hätte. Du spielst auf die Berichte und Gerüchte über Lady Nyx und den ersten Versuch eines Vampirreiches an, weil die den Mitternachtsdiamanten in ihrem Körper versteckt hat. Für Pergamente mag das gelten. Aber für Artefakte wie den Blutdolch von Vlad dem Pfähler trifft das nicht zu", stellte Montecello fest. Torregrande bedachte diese Erläuterung mit Montecellos Lieblingssatz, wenn er längst bekannte Dinge zu hören bekam: "Und was gibt es neues?"
"Ich wollte den Mitstreiter in der Liga gegen dunkle Künste nur auf einen ihm wohlbekannten Umstand hinweisen", erwiderte Montecello.
"Ministre Torregrande, wir haben jetzt alle Zugänge freigelegt. Wir mussten noch aufgestaute Erdzauber, die in den Steinen geschlummert haben, austreiben", rief einer der sanften Ausgräber. "Gut, dann fahrt die Seriositätssonden, Maledictometer und Incantimeter aus und sucht nach allem, was noch stabile Zauberkräfte anzeigt!" rief Torregrande. Montecello, der die von allen Trümmern und Geröllhaufen freigeräumte Höhle betrachtete fragte sich, was in diesem großen Raum alles für Schandtaten beschlossen worden waren. Dann dachte er, dass es in den Alpen und anderen Gebirgen noch tausende solcher heimlichen Höhlen geben musste. Ladonnas Beute konnte auf mehrere davon verteilt sein wie die Nussvorräte eines Eichhörnchens oder die Futterkammern eines Hamsters. Dieses Frauenzimmer hatte damals, wo es über hundert Jahre gelebt hatte, genug Zeit gehabt, mehrere solcher Höhlen wie diese hier einzurichten. Am Ende barg ihre Hinterlassenschaft wesentlich mehr magische Schätze des Lichtes und der Dunkelheit als das, was in der Crypta tenebrosa enthalten gewesen war. Die Frage, die sich die Erben Barbaneras stellten war, ob Ladonna sowas wie ein Testament hinterlassen hatte, in dem sie festlegte, wer ihre Erbin wurde und wo ihr zusammengeraubtes Vermögen zu finden war. Das einzig sichere war, dass sie eine Hexe zur Nachfolgerin bestimmt hatte. Doch die bisher verhörten Hexen, die einmal für Ladonna gearbeitet und auch getötet hatten wussten nur von dieser Versammlungshöhle. Als sie an den Ort herangekommen waren hatten sie jedoch nur eingestürzte Kammern gefunden. Offenbar hatte da ein Selbstvernichtungszauber gewirkt. Wieso sollten sie also hier noch was finden? Doch Torregrande ging davon aus, dass sie alles absuchen mussten, wo Ladonna jemals länger als zwei Minuten gewesen war. Sie hatten ja alle zeit der Welt und unendlich viel Personal, mit dem das alles locker geschafft werden konnte. Doch das wollte er dem Mitstreiter nicht unter die Nase reiben. Der würde dann wieder fragen, was es neues gab und ihm seinerseits einen Vortrag halten, dass nichts zu tun schlimmer war, als etwas scheinbar aussichtsloses zu tun.
"Heh, was ist denn duuuu...." hörte Montecello jemanden erst mit normaler Stimme ansetzen, und dann in ein ins Knattern auslaufendes Brummen verfallen. "Oha, da wirkt wohl noch was, ein Zeitverzögerungszauber à la Lentavita!" rief ein anderer Zauberer. "Der wurde mi...uuuuu..." stieß einer aus und beendete seinen Satz in einem immer tieferen Brummen, dass in einem Knattern endete.
"Alle zurück, ein Pluritardescus-Fluch!" rief einer der anderen Ausgräber. "Wieso wird der nicht angezeigt?" fragte jemand anderes. "Weil der getarnt in einem Stein lauert. Passt auf, wo ihr drauftretet!" warnte der eine Ausgräber. Da erwischte es auch den dritten. Montecello sah in den frei schwebenden Lichtsphären, wie einer der Helfer versuchte, von einem Stück Boden zurückzuweichen und dabei mitten in der Bewegung erstarrte.
"Gemeine Fallen sind das", meinte Montecelloo.
"Besenflieger her. Die Steine sind erdmagisch. Wer drüberfliegt löst sie nicht aus", trieb Torregrande seine Leute an. "Und was ist mit Pietro, Rico und Giacchino?" fragte einer der Lichtbändiger.
"Der Zauber hält solange wie sie auf dem Auslösestein stehen. Wenn wir sie mit abgeschirmten Silberstangen von da herunterpflücken können kehrt ihr üblicher Zeitablauf wieder!" rief Montecello. Dann drängte er sich zu den anderen Ausgräbern, die bereits auf dem Rückzug waren. "Hier, das aussprühen. Es wechselwirkt mit allen den Körper beeinträchtigenden Zaubern. Wo es ... grün-blau flimmert liegen weitere Bremssteine. Denen möglichst zwei Schritt in allen Richtungen fernbleiben, wenn ihr keine neuen Werke Michelangelos sein wollt."
Aus einer silbernen Sprühflasche verteilten sie den Indikatornebel, der auf Körperbeeinträchtigungszauber ansprach da, wo die anderen hintreten wollten. So fanden sie eine Strecke von zehn Schritten länge, auf der in wechselnden Abständen grün-blau flimmernde Steine lagen, die beim ersten Hinsehen nicht auffielen und die von den üblichen Zaubermessgeräten nicht angezeigt wurden, weil die Magie in den Steinen so dicht gebündelt war, dass nur der Kontakt mit einem lebenden Körper sie entfaltete oder eben die kleinen bezauberten Teilchen, die auf fremde Zauber ansprachen.
"So konnte sie sicherstellen, dass niemand durch die Gänge eindrang oder flüchtete", sagte Torregrande. "Ja, aber nicht nur so, Minister Torregrande. In den Wänden müssen noch Fallenzauber gesteckt haben, die beim Zusammenbruch der Höhle zerstört wurden. Die Bremssteine haben das nur überstanden, weil sie tief genug im Boden liegen", bemerkte einer der Ausgräber. Da kamen vier Kollegen mit langen Silberstangen, zwischen denen Netze aufgespannt waren. Weitere trugen kurzstielige Besen herein, die fast wie Handfeger wirkten, aber noch lang genug waren, um darauf zu fliegen. Diese von der Besenmanufaktur Ventirossi entwickelten Fluggeräte waren speziell für das Durchfliegen geschlossener Räume gemacht, eine grandiose Mischung aus Kleinkindbesen und Rennbesen. Damit flogen die Helfer weit genug über die Bremssteine hinweg und fischten mit den Stangen die darauf gefangenen Kameraden herunter. Als diese weit genug von den glimmenden Fallensteinen fortgetragen wurden löste sich die Starre wieder, und sie beendeten die begonnenen Sätze, um dann festzustellen, dass sie mal eben vier oder fünf Meter wie appariert übersprungen hatten.
"Gut, Leute, ihr seht, wo die Dinger liegen. Haut den Conservatempuszauber drauf, der hebt sich mit dem Körperverlangsamungszauber auf, minus mal minus, wie die Rechenkünstler das nennen", ordnete Torregrande an, als alle von den Bremssteinen überrumpelten Männer wieder frei waren.
Bevor die Anweisung ausgeführt wurde schafften die weiter draußen bereitstehenden Helfer Brillen mit Gleitlichtgläsern heran, die alle aufsetzen mussten. Denn laut Torregrande entluden sich der Pluritardescus-Fluch und der Conservatempus-Zauber in überhellen Lichtblitzen, die bei direkter Sicht zur zeitweiligen oder dauerhaften Erblindung führen konnten, die wegen der magischen Natur nicht durch reine Augenheilzauber behoben werden konnte. Erst als alle die neuwertigen Brillen aus Frankreich auf den Nasen hatten griff die Besenbrigade mit dem Conservatempus-Zauber den Boden an. Tatsächlich erbebte die Erde. Dann schossen laut fauchend blaue und grüne Blitze aus dem Boden in die Decke und brachten diese zum erzittern. So räumten sie innerhalb von fünf Minuten die gesamte Strecke frei und erreichten eine weitere Kammer, in der jedoch weitere Fallenzauber wirkten. Diese konnten jedoch mit den mitgebrachten Messgeräten rechtzeitig erkannt werden.
So arbeitete sich die Expedition aus dem Mittelsaal der ehemaligen Versammlungshöhle durch insgesamt zwanzig Nebengänge und Kammern, bis feststand, dass hier außer übergebliebenen Fallenzaubern nichts mehr war, was sich zu bergen lohnte. Enttarnungszauber verrieten, dass hier nichts zum enttarnen war.
"Gut, damit haken wir diese Höhle ab. Hier mögen zwar die wichtigsten Versammlungen abgehalten worden sein, aber ansonsten ist hier nichts zu finden", stellte Torregrande fest. Die gesamte Expedition zog sich zurück und überließ die freigelegten Höhlen der Natur selbst.
Montecello dachte beim Heimflug daran, dass es wohl eine der vielen tausend anderen Höhlen in den Alpen sein musste, falls Ladonna nicht auf einer Insel im Mittelmeer ihr Geheimversteck eingerichtet hatte. Wenn ihnen kein hilfreicher Hinweis ins Haus flatterte konnten sie noch ein Jahrhundert lang danach suchen, Zeit, die sie alle nicht hatten.
Die Sonne war vor zwei Stunden untergegangen. Der erste Tag des vorletzten Kalendermonates war nun zu ende. Die Trägerin des Seelenglashelmes, in dem der Geist des Geheimbundgründers Deeplook eingebettet war, hatte den Bericht von der letzten Versammlung der Leitwächter des zunächst auf Südafrika beschränkten Bundes der nicht mehr ganz zehntausend Augen und Ohren studiert. Im kommenden Kalenderjahr wollte sie daran gehen, Kobolde in Europa anzuwerben und dort neue geheime Niederlassungen gründen. Es durfte nicht so bleiben, dass da, wo die meisten Kobolde wohnten, kein eingeschworener Kundschafter und Vollstrecker des Bundes mehr war. Am Ende paktierten die noch mit den Menschen oder gar diesen saufbärtigen Höhlenbewohnern, nur um sich noch mehr zu bereichern. Der Bund musste neu erstarken. Doch solange in Italien und anderen Ländern nach ihr gefahndet wurde konnte sie dort nicht erscheinen. Sicher konnte sie sich mit hilfe einer Vollstreckerinnenrüstung unsichtbar machen, bis sie dort war, wo ehemalige Niederlassungen waren. Doch wenn sie mit anderen Kobolden sprechen wollte musste sie sich denen zeigen, auch und vor allem, damit sie erkannten, dass sie den Seelenglashelm trug und so scheinbar der neue Wirtskörper für Deeplook war. Dabei war es genau umgekehrt. Diana Camporosso war mit Hilfe von Ladonna und jener geheimnisvollen Schreibtafel die Herrin Deeplooks und konnte jederzeit all sein Wissen abfordern. Außerdem baute sie in Südafrika zunächst mit den europäischstämmigen Hexen eine neue Schwesternschaft auf, die Sororitas Saxorum. zur hiesigen Sommersonnenwende würde sie die ersten hundert Schwestern in jener neuen Höhle in den Drakensbergen im Osten Südafrikas einschwören, die sie sich erobert hatte.
Ein leises summen drang aus Dianas gesichertem Haus. Was bedeutete das? Die feinohrige Hexe, die sowohl einen Kobold als auch einen Zwerg in der Ahnenlinie vorweisen konnte schlich in ihr Haus und folgte dem Ton. Er kam aus dem Keller.
Sie entzündete ihr Zauberstablicht und stieg so leise sie konnte die Steintreppe hinunter. Mit drei Stupsern entriegelte sie die magisch verschlossene Eisentür. Das Summen wurde lauter. Sie folgte dem mittelhohen Ton bis in den Raum, wo sie die aus ihrem eigenen Haus in Italien herübergeholten Kisten mit Büchern und Schriftrollen abgestellt hatte. Sie erinnerte sich, dass darunter auch die von ihrer Vorfahrin Drusilla geerbte schwarze Tafel war, die Ladonna dieser damals überlassen hatte. Angeblich oder wahrhaftig sollte diese durch ein Zeichen vermelden, was zu tun war, wenn die Feuerrosenkönigin entmachtet wurde. Bis heute war so ein Zeichen nicht gegeben worden. Deshalb vermutete sie, dass das Summen dieses lange erwartete Signal war.
Als Diana die eiserne Kiste mit der Aufschrift "Drusilla Camporosso öffnete klang der Summton so laut wie ein gleichmäßig gespielter Ton auf einem Kontrabass. Dann sah sie sie zum ersten mal seit der Flucht aus Italien, die anderthalb Meter mal anderthalb Meter große Tafel aus glattpoliertem Obsidian. Diana prüfte mit einigen Zaubern, ob davon eine Gefahr ausging. Ja, etwas steckte darin, jedoch nichts, was sofort gefährlich werden konnte. Dann betastete sie die Tafel mit ihren magieempfindlichen Fingern und meinte, eine Hundertschaft Kontrabässe in ihrem Kopf zu hören. Deeplooks Gedankenstimme schrie schmerzvoll auf. Diana blickte auf die sanft vibrierende Tafel und meinte, blutrote Funken darauf entlanghuschen zu sehen, die darum bemüht waren, klare Linien und Muster zu bilden und doch immer wieder zerstreuten. "Fass die nicht noch mal an. Da ist sicher ein Erfüllungsfluch drin", warnte Deeplook seine Trägerin und Herrin.
"Das ist das Signal, auf dass ich warten sollte", dachte Diana Camporosso. Das ist das Vermächtnis der Rosenkönigin."
"Die Rosenkönigin ist tot oder aus der Welt gestoßen. Warum willst du ihr Vermächtnis haben, wo du dein eigenes Reich gründen willst?" wollte Deeplook wissen.
"Weil sie in ihrem langen Leben so viel Zeug zusammengerafft hat, dass ich das eine oder andere davon sicher für die neue Schwesternschaft und für die Wiedererweckung des Bundes der alles hört und alles sieht gebrauchen kann", wusste Diana die Antwort. "Die Akashiten in Afrika müssen weg. Ich kann nicht jede Nacht auf Vampirjagd quer durch Afrika gehen. Falls die Königin noch was gefunden hat, um mit dieser Brut aufzuräumen, ohne sie einzeln zu jagen brauchen wir das. Auch glaube ich nicht, dass diese Schattenfürstin endgültig verschwunden ist. Auch die muss ich abwehren. Also ..." Sie griff beherzt nach der Tafel und überstand das wilde Bassgebrumm in ihrem Kopf. Sie zog die für ihre Größe leichte, weil gerade einen halben Finger dicke Tafel aus der eisernen Kiste. Dabei rutschte ein Stück Pergament herunter und landete auf dem Boden. Die roten Funken vermehrten sich nun wie in einem lodernden Feuer und formten wirr umherzuckende Muster. Erst als Diana die Tafel vollkommen frei in den Händen hielt vereinten sich die Funken zu stabilen Mustern. Sie erkannte, dass die Zwischenräume zwischen den haardünnen roten Linien winzige Buchstaben waren, zu klein, um sie aus dieser Entfernung zu lesen. Als sie die Tafel noch näher an die Augen hielt leuchteten die Muster noch heller. "Nicht zu nah, nachher zerstört es deine Augen!" drang Deeplooks Warnung durch das wilde Bassgebrumm in ihrem Kopf. Diana verstand, dass es gefährlich war, die Tafel zu nahe vor die Augen zu halten. Sie senkte sie wieder. Die Linien dunkelten ab. Als sie die Tafel wieder in die Kiste zurücksinken ließ zerfielen die Linien wieder zu Funken. Als sie die Tafel losließ erloschen die Funken, und auch das laute Bassgebrumm in ihrem Kopf verstummte. Ebenso klang das bisherige Summen der Tafel zu einem leisen, wiederkehrenden Wummern ab, das alle ddrei Sekunden ganz leise wurde, um dann auf eine gerade noch von ihr hörbare Lautstärke anzuschwellen. "Ich muss lesen, was da draufsteht, zum großen grauen Eisentroll", knurrte Diana innerlich. Dann fiel ihr wieder der Pergamentfetzen auf, der vorhin heruntergefallen war. Sie bückte sich und hob ihn auf. Sie las eine mit zarter Feder geschriebene Notiz:
Für die Erbin der Tafel!
Wenn die Tafel summt ist die Königin seit bald einem Jahr vergangen. Eine Treue Schwester kann sie lesbar machen, indem sie sie anhebt und mit Hilfe von Vergrößerungsgläsern anblickt. Nicht zu nahe vor die Augen halten, weil sonst schädliche Blitze herausschlagen!!!
Die brennende Rose muss zu dir hinzeigen. Dann lies links beginnend eine Zeile nach unten, die daneben nach oben, dann die übernächste wieder nach unten und so weiter! Denke an die Vergrößerungsgläser, mindestens dreißigfach!
Erweise dich dem Erbe würdig, meine Nachfahrin!
Druusilla Camporosso, eine treue Dienerin der Rosenkönigin
"Das Erbe der Königin", dachte Diana. "Ich muss es entschlüsseln und ergreifen."
"Ja, das musst du, allein schon um Vergeltung für all das zu üben, was sie dem Volk der Erdkinder angetan hat", erklang Deeplooks Gedankenstimme voller Verachtung. "Immerhin hat sie dir geholfen, nach deinem Tod einen neuen Körper mitbewohnen zu dürfen, also nicht undankbar werden, Deeplook!" ermahnte Diana ihren geistigen Untermieter. Es erfolgte keine Antwort. Warum auch. Sie wusste, dass Ladonna ihn und sie beide hereingelegt und sie zu einem lebenslangen Zweckbündnis gezwungen hatte. Auch deshalb wollte sie dieses Erbe antreten.
Sie holte aus der Ausrüstungskammer eine Lesebrille mit durch Gedankenbefehl einstellbaren Vergrößerungsstufen. Damit konnte sie einen Gegenstand scheinbar auf die hundertfache Größe bringen. Für die Tafel reichte das allemal.
Nur fünf Minuten später las sie die Tafel so, wie ihre Vorfahrin es empfohlen hatte. Die Sprache und Schrift waren lateinisch, etwas, das sie in Gattiverdi gelernt hatte und was auch Deeplook beherrschte. Es war eine Weg- und Verhaltensbeschreibung, die sie zu einem Ort bringen sollte, an dem Ladonna vor Jahrhunderten ein Geheimversteck für machtvolle Dinge und Schriften eingerichtet hatte. Sie wurde auch darauf hingewiesen, dass sie sich dort einer Nachfolgeprüfung stellen musste. Bestand sie diese, so würde sie Ladonnas rechtmäßige Erbin sein und durfte sich Feuerrosenkönigin nennen. Diana dachte jedoch, dass sie nicht die einzige war, die solch einen Hinweis aus vergangener Zeit erhalten hatte. War das also mit Nachfolgeprüfung gemeint, sich mit den anderen Schwestern zu messen, um sich als würdig zu erweisen? Das hieß sicher Kampf auf Leben und Tod. Das passte zu Ladonna, fand Diana Camporosso. Wer sie beerben wollte musste alle Mitbewerberinnen töten. Wollte sie sich darauf einlassen? Sie hatte den Bogen des Anhor und die tödlichen Pfeile und konnte sich unsichtbar machen. Doch was stand auf der Tafel:
... muss du dich in offener Prüfung auf Kraft und Wissen beweisen. Nur deine Fertigkeiten in der hohen Kunst sollen entscheiden, ob du die würdige bist, die mein Erbe ergreifen und nutzen darf.
"Das heißt, nicht unsichbar sein und nur mit Zauberstabzaubern kämpfen", übersetzte Deeplook. Doch beide zugleich erfüllten Dianas Bewusstsein mit dem Gedanken: "Könnte den anderen so passen." Diana dachte für sich, dass Ladonna wollte, dass sie die Nachfolgerin wurde, weil sie ihr den gläsernen Helm mit Deeplooks Wissen aufgesetzt und ihr den Bogen mit den hundert Todespfeilen überlassen hatte. Also würde sie diese Gaben auch nutzen.
Sie hatte beschlossen, es nicht zu einem Bußgang kommen zu lassen. Sie würde klar und deutlich erklären, dass sie ihr eigenes Privatleben genausowenig zum Gegenstand von Schülerdiskussionen machen wollte wie es die Kolleginnen und Kollegen taten. Gut, in Millemerveilles blieb nichts privates lange in einer Familie. Da hatte sie einen gewissen Vorteil, aber zugleich auch einen Nachteil. Dieser Elternabend vor allem für die Eltern der Zweitklässler war ja einberufen worden, um zu klären, ob sie mit ihrer Lebensweise eine Bedrohung für die sittliche Entwicklung der von ihr unterrichteten Kinder war oder nicht. Das lag sicher auch daran, dass die Leute hier in Millemerveilles eben nicht mitbekamen, was in der oberen Wohnung des Hauses Rue de Liberation 13 in Paris vorging. Da mochte die Phantasie, vor allem der selbsternannten Moralhüter, die wildesten Blüten treiben, wusste Laurentine Hellersdorf. Doch sie hatte nichts zu bereuen und sah auch nicht ein, dass ihre berufliche Eignung von ihrem Privatleben abhängig war. Denn dann, so dachte Laurentine trotzig, hätten ja auch alle Kolleginnen und Kollegen, die von Vita Magica zu einer hemmungslosen Fortpflanzungsorgie getrieben worden waren, ihre Eignung in Frage zu stellen, Kindern ein geordnetes Leben vorzuleben, welche Ordnung da auch immer gelten sollte.
Als sie das Schulgebäude durch den Personaleingang betrat hörte Laurentine schon das leise Raunen der hier zusammengekommenen Erwachsenen. Sicher waren Catherine und Joe auch schon da. Die wollten über den Reisesphärenkreis nach Millemerveilles kommen. Louiselle war mit Lucine in der Rue de Liberation.
Laurentine ging mit ruhigen Schritten durch den Gang zur kleinen Aula, wo Schulaufführungen stattfanden. Unterwegs prüfte sie noch einmal, ob ihre Kleidung und ihr Haar ordentlich saßen. Als sie sicher war, einen gepflegten Eindruck zu machen ging sie die letzten fünf Meter zur Doppeltür in den Aufführungsraum.
Mit einem Blick erkannte Laurentine Hellersdorf, dass alle Elternpaare der Zweitklässler da waren, aber auch die meisten Elternpaare der Klassen eins bis fünf. Sie sah auch ihre Kolleginnen und Kollegen, allen voran Direktrice Dumas, die auf der kleinen Bühne auf bequemen Stühlen saßen.
Im selben Augenblick, wo Laurentine die Aula betrat wurde es so still, als sei das hier kein Versammlungs- und Festraum, sondern eine Gruft. Alle Blicke richteten sich auf die von nichtmagischen Eltern abstammende Lehrerin, die in wenigen Tagen ihren sechsundzwanzigsten Geburtstag feiern durfte.
Die zu dieser Veranstaltung zitierte junge Hexe konnte an den ihr entgegenblickenden Gesichtern ablesen, wer bereits für und wer bereits gegen sie eingestellt war. Vor allem als sie vier ältere Hexen sah, die derzeitig keine eigenen Kinder in der Schule hatten war ihr klar, von wem das hier alles ausging. Dennoch blieb sie ruhig und schenkte allen Anwesenden ein höfliches Nicken zum Gruß. In der immer noch herrschenden Stille konnte sie das leise Knarrzen der Parkettteile hören, über die sie hinwegging. Dann klang noch einmal das Geräusch der sich öffnenden und wieder schließenden Tür. Laurentine unterdrückte die Neugier, sich umzublicken, wer denn da noch nach ihr eintraf. Sie sah auf ihre unmittelbare Vorgesetzte, die ihr mit einem ruhigen Wink zeigte, dass sie ebenfalls auf die kleine Bühne zu steigen hatte. Ohne ein lautes Wort der Begrüßung enterte die junge Lehrerin für nichtmagische Alltagsdinge, Rechnen und Naturkunde die Bühne und steuerte den für sie freigehaltenen Stuhl an. Dabei konnte sie sehen, welche der Kolleginnen uneingeschränkt für sie eintraten, welche sich nicht mehr sicher waren und welche ein steinernes Gesicht machten, um keine Gefühle zu zeigen.
"Ah, Madame Matine ist auch eingetroffen", sagte Direktrice Dumas und verriet damit, wer noch nach Laurentine hereingekommen war. Dann begrüßte sie alle Anwesenden, darunter die Brickstons aus Paris, die Latierres aus dem Apfelhaus und die beiden Ehepaare Dusoleil, von denen sie bereits wusste, dass sie sich weiterhin für sie aussprechen würden. Bei Madame Delamontagne wusste Laurentine es gerade nicht, wie sie gestimmt war. Doch sie blieb nach außen ruhig. Das hatte sie in Beauxbatons und später auch von Louiselle Beaumont gelernt: Zeige deine Gefühle nicht frei heraus, wenn du keinem Angriffsflächen bieten willst!
"Ich begrüße Sie, werte Damen und Herren, die ihre Mädchen und Jungen in unsere Obhut gaben, sowie Sie, werte Kolleginnen und Kollegen, die dabei helfen, unserem Nachwuchs alle wichtigen Grundlagen und Grundfertigkeiten zu vermitteln, um erst in Beauxbatons und darüber hinaus für das ganze Leben eigenständig und verantwortungsbewusst handeln zu können", sagte Geneviève Dumas. "Wie Sie alle schriftlich erfuhren wurde ich von den Damen Grandville, Bouvier, Rivolis und Boulanger gebeten, die Lehrtätigkeit und die vorbildhafte Funktion der Kollegin Laurentine Hellersdorf daraufhin zu überprüfen, ob sie weiterhin als zu achtendes Vorbild und geschätzte Lehrkraft in unserer Bildungseinrichtung arbeiten soll oder ob es unterrichtsbedingte oder sittliche Einwände gibt, sie weiterhin bei uns unterrichten zu lassen. Ich bin sehr beruhigt, dass diese Angelegenheit das Interesse erfährt, das sie verdient und wir so in der dafür nötigen Breite an Meinungen und Fachkenntnissen beraten können, wie es weitergehen soll. Um einen geordneten und somit sachlich einwandfreien Ablauf dieser Unterredung zu gewährleisten erbitte ich von Ihnen allen ein Handzeichen, ob Sie mit mir als Gesprächsleiterin und somit Wortzuteilungs- oder Wortentziehungsberechtigten einverstanden sind und falls nicht, wer diese Aufgabe Ihrer Meinung nach erfüllen soll."
Laurentine musste sich doch jetzt wundern. Geneviève Dumas stellte ihr eigenes Hausrecht zur Diskussion, in der Schule zu sagen, wer wann was zu sagen hatte? Dann begriff sie, dass sich die Direktrice bei der Gelegenheit auch darüber klarwerden wollte, ob man ihr selbst noch das nötige Vertrauen entgegenbrachte.
Keiner hier wagte es, gegen sie als Wortführerin aufzubegehren. Alle stimmten zu, dass die Direktrice die Gesprächsleitung besaß. Laurentine erkannte den psychologischenTrick Genevièves. Hätte sie kein Vertrauen erhalten wäre ja nicht nur Laurentines Unterrichtseignung in Frage gestellt worden. Das wollte wohl gerade niemand hier in Frage stellen.
"Für den Protokollführer, alle anwesenden Elternpaare erkennen mein Worterteilungsrecht und damit mich als Gesprächsleiterin an", bestätigte Madame Dumas für den Mitschreibenden. Dann rief sie die erwähnten älteren Damen auf, nacheinander zu erklären, warum sie darauf bestanden, dass hier und heute über die Lehrerin Laurentine Hellersdorf beraten und entschieden werden sollte.
Zuerst durfte Jacqueline Boulanger, die Großmutter des Erstklässlers Giscard Brussac, sprechen. Sie sah die Direktrice, dann die anderen Lehrkräfte und zum Schluss Laurentine Hellersdorf an. Dann bedankte sie sich höflich für das Recht des ersten Wortes. Dann war es aber auch schon mit den Höflichkeiten vorbei.
"Als ich vor vier Jahren erfuhr, dass eine in Unterrichtserteilung unerfahrene junge Hexe mit bragwürdigem Familienhintergrund und einer daraus erfolgten teilweise bedenklichen Entwicklung in Beauxbatons unsere Kinder und Enkel unterrichten sollte ging ich davon aus, dass es nur eine kurzfristige, aus einer mir nicht bekannten Notlage heraus erfolgte Personalentscheidung war. Auch musste ich wohl davon ausgehen, dass die junge Lehrerin wegen ihres in der internationalen Zaubererwelt beachtlichen Erfolges als trimagische Turniergewinnerin wegen eingestellt worden war, um als Beispiel für eine beharrliche, auf Fleiß und Verantwortungsbewusstsein begründeten Lebensweise zu dienen. Dennoch blieben mir und nicht nur mir gewisse Bedenken, dass hier jemand das Wissenund die Wohlentwicklung unserer Nachkommen mitbestimmen darf, die selbst noch Probleme damit hatte, sich in unserer Lebenswelt zurechtzufinden. Ich erinnere mich daran, dass Mademoiselle Hellersdorf vor der Einstellung als Grundschullehrerin in der Behörde für friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne magische Kräfte tätig war und diese Anstellung aus einem mir und wohl auch allen anderen hier unbekanntem Grund beenden musste oder wollte. Offenbar kam es während ihrer ersten Anstellung zu einem nicht zu lösenden Konflikt mit ihren Vorgesetzten. Welcher Art dieser war oder ist wurde sicher von Direktrice Dumas genau ergründet. Falls dem nicht so ist stellt sich nun noch die Frage, ob hier nicht schon Fahrlässig gehandelt wurde, jemanden zur Betreuung und Belehrung unserer Kinder zu beauftragen, die mit verantwortungsvollen Tätigkeiten und dem Verhältnis zu Vorgesetzten Schwierigkeiten hat.
Dann kam diese unsägliche Attacke dieser widerwärtigen Verbrecherorganisation, die sich euphemistisch als Gesellschaft zur Wahrung und Mehrung magischen Lebens oder Vita Magica bezeichnet und zwang uns allen eine Änderung unserer als gesichert geglaubten Lebenspläne auf." Dabei errötete die Sprecherin an den Ohren. "Das und die Zeit unter Sardonias zu neuem Unheilsdasein erstarkten Kuppel sollte uns zu denken geben, welche Sicherheit wir in unserer Gemeinde haben und welche Werte wir für zu bewahren betrachten. Ja, und vor einem Jahr erfuhr nicht nur ich über nicht behördliche Wege, dass Mademoiselle Hellersdorf einer anderen Hexe, deren Tätigkeit von zu vielen Geheimnissen umgeben ist, als genau zu befinden, ob sie zum Wohl oder Schaden anderer ausgeführt wird, mit Einverständnis ihrer Wohnungsvermieter Obdach gewährte und ja, dass diese Hexe, namentlich Louiselle Beaumont, zu diesem Zeitpunkt ein Kind unter dem Herzen trug, dessen Vater angeblich oder wahrhaftig kurz nach der Zeugung zu Tode kam. Mademoiselle Hellersdorf ignorierte dabei geflissentlich die bei uns in Millemerveilles geltende Werteordnung, demnach eine Lebensgemeinschaft mit Kind oder Kindern aus einem weiblichen und einem männlichen Erwachsenen zur gleichgewichtigen Ausrichtung des Kindes oder der Kinder zu bestehen hat. Diese klare Ausrichtung haben alle für öffentliche Belange tätigen Hexen und Zauberer einzuhalten, wollen und müssen sie als Vorbilder für unsere Kinder dienen. Wenn auch noch die Frage aufkommt, ob zwei erwachsene Hexen in derselben Wohnung nicht nur am selben Tisch sitzen, sondern womöglich auch noch im selben Bett schlafen, so muss ich als Großmutter eines gerade das erste Schuljahr verbringenden jungen Zauberers Einhalt fordern. So darf und so kann es nicht weitergehen. Klären Sie das, ob die Regel, der nach das private Leben von Hexen und Zauberern nicht zum öffentlichen Gegenstand erhoben werden darf, auch wenn sie ein öffentliches Amt bekleiden! Sorgen Sie dafür, dass diese höchst fragwürdige Lage gründlichst erläutert und zum Schutze unserer Kinder und Jugendlichen bereinigt wird, falls nötig durch die Neuordnung des Lehrkörpers von Millemerveilles!"
Jetzt zeigte sich, wer dieser Meinung war. Denn jene applaudierten, während die anderen ernstvoll schwiegen und abwarteten. Geniviève Dumas fragte Laurentine, ob sie sich dazu äußern wolle. Sie erwiderte darauf ganz ruhig: "Ich möchte erst alle Meinungen hören, bevor ich darauf eingehe." So durften die anderen Kritikerinnen an Laurentines Verbleib im Lehrkörper sprechen. Sie erwähnten auch, dass sie sich schon damit schwergetan hatten, dass eine so junge Hexe aus einer nichtmagischen Familie, die keine Wurzeln in Millemerveilles hatte, unterrichten durfte, ja auch dass "merkwürdige Sitten" der nichtmagischen Welt als Themen im Unterricht besprochen wurden. Weil dabei jedoch auch erwähnt wurde, dass diese Anstellung Tür und Tor für weitere Kinder von nichtmagischen Eltern geöffnet habe bat Catherine Brickston um das Wort. Madame Dumas erteilte es ihr.
"Also verstehe ich das richtig, dass es hier nicht wirklich um die sittliche Eignung einer Lehrerin geht, sondern um die Abgrenzung zur nichtmagischen Welt, die laut einigen gerade älteren Damen und Herren unbedingt gewahrt werden muss? Falls ja, dann gebe ich als betroffene Mutter zu bedenken, dass viele hier lebende erwachsene Hexen und Zauberer nichtmagische Großeltern haben oder hatten und dass jene, die aus anderen Familien in die Gemeinschaft eingeheiratet haben, ebenfalls keine sogenannten Reinblüter sind. Was dieses sehr bedenkliche Verhalten, Menschen nur noch nach der Abstammung einzuteilen angeht, so erinnere ich als studierte Magiehistorikerin und Fachhexe für die Abwehr dunkler Zauber daran, welche an den Rand der Selbstvernichtung treibende Entwicklung genau damit gerechtfertigt wurde, dass "die einen" in mehr als zwölf Generationen reinblütig magische Vorfahren vorweisen und "die anderen" teilweise oder vollständig von magisch inaktiven Menschen abstammen, wofür weder "die einen" noch "die anderen" was können. Was Mademoiselle Hellersdorfs Eignung zur Unterrichtserteilung betrifft und was ihre Eignung als Vorbild für unsere Kinder, also auch für meine gerade hier zur Schule gehende Tochter Claudine und bald auch für meinen Sohn Justin angeht, so darf sich Mademoiselle Hellersdorf meines vollsten vertrauens sicher sein." Joe Brickston nickte nur. Laurentine sah ihm an, dass er sich in dieser Runde absolut unwohl fühlte. Klar, sonst schickte er immer Catherine vor, wenn es um schulische Angelegenheiten ging. Doch der würde sich damit abfinden, wenn Claudine nach Beauxbatons ging.
"Ich muss also fragen, um was es hier und jetzt geht: Ist die Abstammung Mademoiselle Hellersdorfs der Grund für die hier geäußerten Bedenken, oder ihr schulischer Werdegang oder ihre Wohngemeinschaft mit Mademoiselle Luiselle Beaumont?" wollte Madame Dumas es nun ganz genau wissen. Viele der hier sitzenden überlegten, während die vier Hauptkritikerinnen an Laurentines Lehrtätigkeit und angeblich gefährdender Lebensweise klarstellten, dass das alles wohl zusammengehörte. Einige der hier sitzenden Elternteile nickten schwerfällig. Doch die meisten schüttelten ihre Köpfe. Dann sah Laurentine, wie einige Julius Latierre ansahen. Madame Rivolis, die sich dazu geäußert hatte, dass Laurentines Abstammung zu ihrer Entwicklung geführt habe meinte: "Wir bleiben dabei, dass die althergebrachte und bewährte Lebensweise in Millemerveilles in Frage steht, seitdem es offenbar keine Bedenken gibt, jemanden ohne eindeutig magischen Hintergrund zur Unterrichtung unserer Kinder anzustellen. Monsieur Latierre hier durfte ja trotz seiner hauptberuflichen Tätigkeit im für das Zaubereiministerium schon stellvertretend unterrichten, ohne einen klaren Nachweis seiner Befähigung und ohne Beschränkung der von ihm vorgeschlagenen Themen. Da muss doch die Frage erlaubt sein, wohin wir uns alle entwickeln sollen und welchen Wert die bisher gepflegten Werte noch haben sollen, die ja, was hier niemand abstreiten wird, maßgeblich für ein friedliches Miteinander sind."
"Ja, aber ein Miteinander ohne Erlaubnis zur Weiterentwicklung ist kein Leben, sondern automattenhaftes Wiederholen immer gleicher Handlungen", warf nun Jeanne Dusoleil ein und bekam dafür sowohl Zustimmung als auch Ablehnung in Form von Blicken und Gesten.
Madame Dumas gemahnte, dass sie immer noch das Wortzuteilungsrecht besaß und forderte Gesprächsdisziplin ein, auch um bestehende Missverständnisse aufzuheben und neue Missverständnisse zu verhindern.
Nun sollte Laurentine sich zu den Vorhaltungen äußern. Sie stellte sich aufrecht auf der Bühne hin und sah das nun ihr zugeneigte Publikum an.
"Mesdames et Mesdemoiselles, weder Madame Dumas noch wir vom Lehrkörper stellen in Frage, dass Sie ein berechtigtes Interesse daran haben, wer Ihre Kinder unterrichtet. Es ist ebenso unstrittig, dass Sie alle eine möglichst genaue Übersicht über all das erwarten dürfen, wer Ihren Kindern welche Kenntnisse und Fertigkeiten beibringt und welche Umgangsregeln dabei zu beachten sind, um das bereits hier erwähnte friedliche Miteinander und auch Füreinander zu gewährleisten. Genau aus diesen Gründen erhält Madame Dumas jedes Halbjahr von mir eine genaue Aufstellung von Themen, die ich zum Wohle Ihrer Kinder in den Unterricht einbringen möchte und inwieweit ich finde, dass diese Themen für die geistig-seelische Entwicklung Ihrer Kinder wichtig sind. Dabei genießt Madame Dumas das Vetorecht, also darf einschreiten, wenn etwas im Unterricht besprochen werden soll, dass nicht mit dem Bildungsauftrag und der Bildungsgüte ihres Lehrinstitutes vereinbar ist. Wir pflegen jedoch eine sehr gedeihliche Verständigungsgrundlage, dass wir, wenn sie etwas bedenkenswertes an meiner Unterrichtsplanung oder Unterrichtsgestaltung findet, darüber sprechen und dass es durchaus möglich ist, dass ich die Themen und Unterrichtsformen entsprechend abändere, um Madame la Directrice Dumas' Auffassung gerecht zu werden. Was gerade diejenigen, die gerade keine eigenen Kinder in der Schule haben versuchen ist, den Wert und die Zukunftsfähigkeit dieser Schule in Abrede zu stellen und genau das herbeizuführen, was sie eigentlich verhindern wollten, nämlich eine ungeordnete Entwicklung der hier lernenden Mädchen und Jungen auszulösen. Ich sehe es Ihnen an, Madame Boulanger, dass Sie diesen Vorwurf all zu gerne von sich weisen möchten. Aber dann möchte ich Sie auch darum bitten, klarzustellen, ob es Ihnen nur um Ihren Enkel geht oder ob Sie wirklich das Wohl und die Reife aller hier lernenden Kinder im Sinn haben. Ich kann mich an Notizen von Monsieur Latierre erinnern, dass während der Wochen unter der verdunkelten Kuppel Sardonias grundsätzlich gegen die Themen und die Art des Unterrichts angekämpft wurde, allerdings nur von einer Minderheit. Die Mehrheit aller hier lebenden Erwachsenen mit schulpflichtigen Kindern befürwortete damals die Unterrichtserteilung und Monsieur Latierre als meinen von Madame Dumas und Madame Grandchapeau erlaubten Stellvertreter. Nachdem die Sardonianische Kuppel gesprengt werden konnte - wofür Sie alle denen lebenslang danken müssen, die dies ermöglicht haben - durfte, ja sollte ich unverzüglich wieder das mir anvertraute Lehramt aufnehmen, wofür ich Madame Dumas und meinen Kolleginnen und Kollegen gegenüber aufrichtigen Dank und Respekt empfinde.
Was meine Abstammung angeht, so kann ich dafür nichts. Dass ich deshalb in Beauxbatons in den ersten Jahren Schwierigkeiten hatte muss ich auf die damalige finanzielle und gesellschaftliche Abhängigkeit von meinen Eltern zurückführen. Erst als ich lernte, dass mein Verhalten mein eigenes Leben beeinflusst und sonst keinem Zweck dient lernte ich, mit den mir zuerkannten Fähigkeiten leben zu können und auch leben zu wollen. Jene, die mit mir damals in Beauxbatons waren", wobei sie alle ansah, die sie noch als Schülerinnen und Schüler mitbekommen hatte "können sich daran erinnern, wie anstrengend das nicht nur für mich war, sondern auch für alle anderen, bis ich erkannt habe, dass ich so unmöglich ein freies, eigenständiges Leben führen kann. Diese Erkenntnis und Einsicht halfen mir, die letzten Jahre meiner Schulzeit zu einem Erfolg zu machen, von dem der Gewinn des trimagischen Turnieres nur der öffentlich herausragendste war.
Mir wurde vorhin in höchst gebildeter Sprechweise unterstellt, ich könne keine Verantwortung übernehmen und hätte Schwierigkeiten mit Vorgesetzten, weshalb ich meine Amtsanwartschaft im Zaubereiministerium aufgab. Das lag nicht an einer sittlichen Schwäche meinerseits, was Verantwortung und Gehorsam anging, sondern an einem Gewissenskonflikt, der durch eine mir zugeteilte Aufgabe entstand und den ich nur dahingehend auflösen konnte, dass ich mich für weitere Aufgaben dieser Art nicht mehr zur Verfügung stellen durfte. Meine damalige Vorgesetzte Nathalie Grandchapeau empfand zwar einen gewissen Unmut, dass sie mich für derlei Aufgaben nicht mehr einteilen konnte, aber nicht, weil ich grundsätzlich ungehorsam war, sondern weil ich ihr verdeutlichen konnte, dass ich aus meiner Lage, ja auch aus meiner mit Anfang zwanzig bereits für mich bedeutsamen Lebenserfahrung heraus nicht an Einsätzen teilnehmen könne, die zum Ziel hatten, Eltern ihre Kinder wegzunehmen, was vielleicht in einigen Fällen für das Kindeswohl sinnvoll erscheinen mag, jedoch einen schwerwiegenden Eingriff in eine bestehende Familie bedeutet und daher nicht mal eben veranlasst und durchgeführt werden darf. Wenn andere damit weniger Schwierigkeiten haben, dann habe ich diesen den Weg freigemacht. Ich jedenfalls lege Wert darauf, dass bestehende Familienverhältnisse erhalten werden sollten, sofern es genug Möglichkeiten gibt, Eltern und Kinder miteinander im gegenseitigen Respekt leben zu lassen. Daran und nur daran scheiterte meine für hoffnungsvoll befundene Laufbahn im Zaubereiministerium. Falls ich grundsätzlich Schwierigkeiten mit Gehorsam Vorgesetzten gegenüber hätte stünde ich hier und heute nicht vor Ihnen allen, sondern wäre wohl schon vor Jahren aus dem Schuldienst entlassen worden. Soweit zu diesem Vorwurf Ihrerseits, Madame Boulanger und Madame Rivolis. So bleibt noch der Vorwurf des ungebührlichen, nicht mit Ihren Familienwerten vereinbarten Zusammenlebens mit Mademoiselle Beaumont. Eigentlich gehört das nicht in eine Besprechung zwischen Eltern und Lehrern, wer mit wem unter einem Dach zusammenlebt. Gucken Sie bitte nicht so verdrossen, Madame Boulanger. Es steht im Vertrag zur Beaufsichtigung und Unterweisung schulreif befundener Kinder zwischen fünf und elf Lebensjahren, dass im Verhältnis zwischen Lehrkraft und Schülerin oder Schüler nur die Arbeit innerhalb der Unterrichtsstunden oder bei geplanten Schulausflügen zu zählen hat, nicht die Abstammung der Lehrkraft oder des Schulkindes. Immerhin gibt es hier in Millemerveilles Kinder, deren Eltern nicht ganz so einträgliche Berufe oder wichtige Anstellungen haben. Trotzdem gilt für jedes hier lernende Kind, dass es vor den Lehrern und den Mitschülern gleich ist. Also gilt auch, dass Lehrerinnen und Lehrer vor den Kindern gleich zu werten sind, ob ganz jung oder über viele Dutzend Berufsjahre tätig, ob aus Millemerveilles oder Paris und somit auch ob aus einer über zwanzig Generationen hinweg nur magischer Vorfahren oder wie ich aus einer Familie ohne magische Grundlagen. Wenn dem nämlich nicht so wäre stünde ich ebensowenig hier und jetzt vor Ihnen. Ich erinnere mich sehr gut an Bedenken, die Madame Dumas äußerte, weil ich mich dazu bereiterklärte, die unehelich schwanger gewordene Mademoiselle Beaumont in derselben Wohnung wohnen zu lassen, in der ich wohne. Natürlich musste ich das auch von den Eheleuten Brickston erfragen, ob sie mir das erlauben." Sie sah dabei Joe und Catherine an. Joe wirkte so, als müsse er sich sehr anstrengen, bloß nichts falsches zu sagen, während Catherine ihr zustimmend zunickte. "Ich bin mir meiner Verantwortung und auch meiner Vorbildfunktion bewusst. Daher will und werde ich weder Claudine Brickston noch einem anderen hier unterrichteten Kind eine Lebensweise einreden oder als einzig richtig vorgeben, mit der es mehr Schwierigkeiten als Erfolg haben kann. Ich kann Ihnen auch im Namen von Mademoiselle Beaumont zusichern, dass ihr als erwiesene Expertin in der Abwehr dunkler Zauber daran gelegen ist, keine unstete oder gefährdende Lebensweise zu vermitteln. Ja, und dass wir um des Platzes in der Wohnung wegen ein gemeinsames Zimmer bewohnen hat dieselben praktischen Gründe wie die Belegung der Schlafsäle in Beauxbatons. Oder gibt es hier eine oder einen, der oder die in Beauxbatons ein Einzelzimmer bewohnt hat?" Erst blickten viele verdutzt drein. Dann schüttelten alle bedächtig die Köpfe. Dabei dachte Laurentine, dass Pierre Marceau nicht hier war. Der hätte die Frage glatt mit "Ja" beantwortet. Dann stand Sandrine Dumas auf, sah Laurentine an und sagte: "Ich hatte im letzten Jahr ein Zweibettzimmer." Julius und Millie grinsten. Da sagte Millie: "Ach, du auch? Stimmt, jetzt wo du es erwähnst, Julius und ich auch, aber nur bis wer neues dazukam." Diese so frei heraus gemachte Aussage brachte die jüngeren Eltern zum grinsen und die älteren zum betretenen dreinschauen. Laurentine vermeinte, Hera Matine leise lachen zu hören und sah sie genau an. Dann besann sie sich, dass sie den von ihr gespielten Ball noch sicher ins Tor bringen wollte und sagte: "Also ist nichts verwerfliches dabei, wenn zwei Menschen, ob Jugendliche oder Erwachsene, ein gemeinsames Schlafzimmer haben. Wer meint, mehr da hineininterpretieren zu müssen sollte erst bei sich selbst anfangen mit der Beantwortung, wie statthaft, artig, sittlich oder anständig er oder sie lebt. Mademoiselle Beaumont und ich müssen uns deshalb nichts vorhalten lassen. Solange Madame Dumas und Sie alle von den Eltern gerade bei uns zur Schule gehenden Kindern es für richtig halten, dass ich Ihre Kinder unterrichte, solange werde ich das tun. Wer mich deshalb nicht mehr hier haben will, weil ich mit einer Hexe und ihrem Kind zusammenwohne muss sich dieselbe Frage stellen, die ich mir damals habe stellen müssen, nämlich die, ob nicht allein die Eigenschaft, Hexe oder Zauberer zu sein, unanständig und widernatürlich ist. Ja, es ist richtig, dass meine Eltern mir über die ersten Jahre einreden konnten, es sei verwerflich, zaubern zu können. Ja, es ist auch richtig, dass ich darauf ausging, möglichst schnell aus Beauxbatons entlassen zu werden. Ja, auch ist richtig, dass ich erst nach dem dritten Jahr lernte, meine Natur, die auch Ihre Natur ist, zu wertschätzen. Doch ebenso ist richtig, dass nicht alles abartig oder ungehörig ist, was in der nichtmagischen Welt an Wissenund Fertigkeiten bekannt ist. Genau diese nicht unanständigen Kenntnisse und Fertigkeiten möchte ich Ihren Kindern vermitteln, damit das friedliche Miteinander erhalten bleibt, das Miteinander aller Menschen, ob mit oder ohne Zauberkräfte. Ich weiß, die Geheimhaltungsvereinbarung verbietet uns, den nichtmagischen Menschen unsere Existenz zu offenbaren oder in deren Gegenwart alles mit Zauberkraft zu erledigen. Aber umgekehrt ist es nicht so. Wir müssen nicht alles aus der nichtmagischen Welt übernehmen, was die für richtig und nützlich halten, wenn wir genug Alternativen haben, es auch ohne elektrischenStrom oder Verbrennungsmotoren hinzubekommen. Aber wissen, dass es solche nichtmagischen Geräte gibt und warum die für die Nichtmagier so wichtig sind, das sollte doch bitte sehr schon den Kindern erklärt werden, damit sie die bestehenden Alternativen noch besser abwägen können, als nur zu denken, das ist hui und das ist pfui."
"Wir kamen früher ohne diese künstlichen Lichtquellen und diese merkwürdigen Gerätschaften aus, die die Muggel benutzen", ließ Madame Rivolis die Katze aus dem Sack. "Also brauchen unsere Kinder und Enkel das auch nicht zu wissen. Und was Ihre befremdliche Lebensweise angeht, Mademoiselle Hellersdorf, stimmt es nicht, dass Sie und Mademoiselle Beaumont sich zu einem homophilen Ehepaar haben erklären lassen, damit Mademoiselle Beaumont ohne Argwohn der Muggel bei Ihnen wohnen kann? Heißt das nicht, dass Sie beide wahrhaftig homophil leben?"
"Sie müssen nicht auf die Frage antworten, weil sie in Ihr ganz intimes Leben hineinreicht!" rief Hera Matine unvermittelt. Alle hörten sofort zu tuscheln auf. Laurentine stand ganz ruhig da und sah die Fragerin an. Dann sagte sie: "Zum Punkt eins, ja, Mademoiselle Beaumont und ich haben eine gemeinsame Partnerschaft eintragen lassen, auch um eine Rechtssicherheit zu haben, wenn was mit der kleinen Lucine ist. Nur so konnte ich sie adoptieren. Ja, und die nichtmagische Welt ist in der Hinsicht doch um einiges toleranter geworden, nicht völlig frei und grenzenlos, wie Sie vielleicht denken. Aber es ist kein Verbrechen mehr, wenn zwei gleichgeschlechtliche Erwachsene eine Familie gründen oder die Kinder aus früheren Beziehungen in eine neue Familie herüberholen. Soweit ich das nach Studium der Familienstandsgesetze weis, die mir Madame Matine freundlicherweise zur Verfügung stellte, gilt eine Familie im rechtlichen Sinne auch, wenn zwei Erwachsene sich gemeinsam um das Wohl eines oder mehrerer adoptierter Kinder kümmern, wenn das Kindeswohl dadurch geschützt und bewahrt wird. Oder möchte jemand hier Mademoiselle Uranie Dusoleil eine unanständige Lebensweise unterstellen, weil sie den Vater ihres Sohnes Philemon nicht geheiratet hat, beziehungsweise dieser sie nicht geheiratet hat und sie weiterhin im Haus ihres Bruders und seiner Familie wohnte, bis die bereits erwähnte Attacke von Vita Magica die meisten hier zur Neuausrichtung ihres Lebens gezwungen hat?" Natürlich wollte das hier keiner, zumal die Geschichte um Philemons Entstehung ja oft genug durch das Dorf gereicht worden war. Laurentine erkannte, dass die, die ihr vorhin noch skeptisch gegenübergestanden hatten erkannten, welche Doppelmoral sie da antrieb. Offenbar erkannte das auch Hera Matine. Denn diese bat ums Wort und betrat die Bühne.
"So, alle zusammen! Laurentine hier muss wegen ihres Lehramtes und des damit verbundenen Anspruches auf korrektes Benehmen förmlich sprechen. Gut, müsste ich als ausgebildete Heilerin auch. Doch weil ich euch alle ja schon kenne, viele von euch schon von vor eurer Geburt, bin ich mal nicht so förmlich. Ich sage euch ganz klar, dass Laurentine sicher nicht auf die Idee gekommen wäre, mit einer anderen Hexe in derselben Wohnung zu leben, wenn sie nicht außerhalb von Millemerveilles und der Rue de Liberation berechtigte Angst gehabt hätte, von Anhängerinnen Ladonnas oder anderer dunkler Orden überwältigt und zur Mittäterschaft gezwungen zu werden. Ich habe ihr damals empfohlen, eine Weiterbildung in der Abwehr dunkler Künste zu nehmen. Louiselle ist meine Nichte. Daher wusste ich von vorne herein, bei wem Laurentine da Unterricht nimmt. Als ich herausfand, dass Louiselle ein Kind trägt bot Laurentine von sich aus an, ihr und dem Kind Obdach zu geben. Sicher, Louiselle hat ein eigenes Haus, könnte also auch für sich leben. Aber wie ihr gerade eben ja um viele Ecken herum argumentiert habt, für ein Kind ist es wichtig, in sicheren, behüteten und fürsorglichen Verhältnissen aufzuwachsen. Was Laurentine euren Kindern nämlich bisher nicht beigebracht hat, weil sie hofft, dass sie das niemals erleben müssen ist, dass viele alleinerziehende Mütter oder Väter jeden Tag darum kämpfen müssen, genug zu verdienen, um ihre Kinder ohne zweiten Elternteil aufzuziehen. Weil Laurentine das weiß, wie ich aus Gesprächen mit ihr erfahren habe, hat sie in der von euch so treffend geforderten Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen zugestimmt, die Erziehung und Versorgung der kleinen Lucine mitzuübernehmen, sozusagen als Form der Entlohnung für die ihr beigebrachten Schutz- und Abwehrzauber, die ihr helfen, auch außerhalb unseres Schutzbereiches zu reisen und Angehörige zu treffen, die nicht den Vorzug genießen dürfen, unter ähnlichen Schutzzaubern zu wohnen wie wir sie in Millemerveilles, Beauxbatons oder den großen Stammsitzen der französischen Zaubererfamilien gewohnt sind. Mir lag und liegt viel daran, dass Laurentine ihr seelisches Gleichgewicht und ihre familiären Kontakte behält und so auch für eure Kinder als starke, verantwortungsvolle Lehrerin zur Verfügung stehen kann. Also, alles was ihr der jungen Dame hier gerade offen oder durch verschiedene Blumensträuße vorgehalten habt ist die Folge meiner Umsicht für sie und damit auch für euch. Ja, und damit Lucine Beaumont in gesicherten Verhältnissen groß werden kann haben Laurentine und Louiselle sich in der nichtmagischen Welt zu eingetragenen Partnerinnen erklären lassen und auch eine Vereinbarung getroffen, die jeder die Rechte eines Familienangehörigen einräumt, wenn der jeweils anderen etwas zustößt, was natürlich niemand wünscht. So, jetzt dürft ihr euch weiter darüber ereifern, ob eine Familie nur aus Vater, Mutter und Kind bestehen darf, oder ob der Begriff Familie nicht wieder als das gilt, was er von seinem lateinischen Ursprung her bedeutet: Gemeinschaft von Vertrauten. Bedenkt dabei bitte, dass ich ebenso für das Wohl eurer Kinder zuständig bin wie die Lehrerinnen und Lehrer hier an dieser Schule. Ich hätte niemals etwas angeregt oder gar gefördert, was diesem Wohl entgegenwirkt. Danke schön!"
Stille trat ein. Die meisten sahen nun sehr betroffen auf die Heilerin, die sich ganz offen und ohne jede Aufforderung vor Laurentine gestellt hatte. Die Latierres, Brickstons, Dusoleils und Sandrine Dumas waren die einzigen, die sehr erleichtert dreinschauten und nun abwarteten, wie die Sache ausging. Laurentine erkannte, welchen riskanten psychologischen Schachzug Hera gemacht hatte. Sie hatte denen hier allen zu verstehen gegeben, dass die Ablehnung Laurentines auch die Ablehnung von Hera Matine sein mochte und dass Hera Matine dann wohl bei Heilzunftsprecherin Eauvive um eine neue Niederlassung ersuchen müsste. Das hieße jedoch, dass Millemerveilles entweder keine residente Hebamme mehr hatte, falls Béatrice Latierre diesen Job nicht voll übernahm, oder dass jemand wildfremdes von außerhalb die Niederlassung bekam, die sich die Bürgerinnen und Bürger von Millemerveilles nicht aussuchen konnten.
Die nachdenkliche Stille hielt fast eine Minute vor. Dann sagte Madame Dumas: "Ich bin sehr erleichtert, ihnen anzusehen, dass die bisher geäußerten Bedenken gegen Mademoiselle Hellersdorf jeder rechtlichen oder sittlichen Grundlage entbehren. Daher frage ich nun ganz offiziell alle Vertreter der Eltern und vor allem die Eltern der von Mademoiselle Hellersdorf geführten Klasse, ob Sie weiterhin damit einverstanden sind, dass ebendiese in ihrer bewährten Art und in Abstimmung mit mir den Unterricht in den Grundlagen der nichtmagischen Welt, der Naturkunde und der Rechenkunst fortsetzt oder Sie ihr das Vertrauen entziehen wollen."
Laurentine erkannte, dass Geneviève und Hera der Dorfgemeinschaft quasi ihre Köpfe angeboten hatten, nur um sie auf ihrem Posten zu halten. Denn wollte man sie nicht, hieß das ja, dass auch die beiden anderen Hexen kein Vertrauen mehr hatten. Hätten sie das laut angekündigt wäre das eine glatte Erpressung oder hätte tatsächlich den Rücktritt von Madame Dumas und Heilerin Matine zur Folge.
Alle Anwesenden Eltern stimmten zu, dass sie nach der Aussprache nichts mehr gegen Laurentine einzuwenden hatten. Denn das Privatleben von Lehrern galt wirklich als unantastbar. Ganz sicher aber wollte hier niemand die Verantwortung übernehmen, wenn Hera Matine ihre Stellung als residente Hebamme aufgab, weil ihr zu viele Leute misstrauten. Am Ende blieben nur jene vier älteren Damen, die der Meinung waren, dass eine in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft mit unehelichem Kind zusammenlebende Hexe schlecht für das Sittlichkeitsempfinden von Hexen- und Zaubererkindern sein mochte. als Madame Dumas das an den Gesichtern der Anwesenden ablas sagte sie: "Ich stelle somit für das Protokoll fest, dass alle Abstimmungsberechtigten Eltern gerade schulpflichtiger Kinder Mademoiselle Hellersdorf weiterhin den Auftrag erteilen, den von ihr erteilten Unterricht fortzusetzen. Ich bedanke mich bei Ihnen allen für Ihr Erscheinen und Ihre Mitwirkung bei dieser doch nicht ganz so beiläufigen Angelegenheit. Ich wünsche noch einen erholsamen Abend und eine geruhsame Nacht!"
Damit war die Zusammenkunft beendet. Laurentine war von der Jury in allen Belangen freigesprochen worden. Einen winzigen Moment hatte sie schon gedacht, sich ab morgen was neues suchen zu müssen. Doch dann war ihr eingefallen, dass es genug Auswahlmöglichkeiten für sie gab, schnellstmöglich wieder in Lohn und Brot zu kommen. Denn was die alle hier nicht wussten war, dass sie, das Einzelkind von Renée und Simon Hellersdorf, viele tausend Schwestern hatte, von denen sie gerade mal die französischen und zwei in Deutschland lebenden kannte. Die hätten schon dran gedreht, dass sie an einer einträglichen und wohl auch wichtigen Stelle unterkam. Diese gewisse Zuversicht hatte sie den Abend überstehen lassen. Wohl auch diese Zuversicht und die damit nach außen erkennbare Selbstsicherheit und Ruhe hatten wohl noch mehr Eindruck gemacht, hier keine schuldbewusste Sünderin vor sich zu haben, sondern eine junge, selbstbewusste Frau, die wusste, was sie wollte und was sie tat.
Als Laurentine die Schule verließ und in Richtung Postamt ging, um von dort aus in die Rue de Liberation zurückzuflohpulvern hörte sie Heras Gedankenstimme in ihrem Kopf: "Du hast dich gut gehalten, Laurentine. Grüß Louiselle und die Kleine!" Laurentine blieb stehen und konzentrierte sich. Dann mentiloquierte sie an Hera: "Ja, danke für deine Hilfe. Ich werde es ausrichten."
"Und, musst du morgen die Stellenanzeigen studieren oder gar vor Gericht?" wollte Louiselle wissen, als Laurentine im Kamin "Pont des Mondes" eintraf. "Das mit dem Gericht hätten Madame Boulanger und Madame Rivolis gerne gehabt. Aber rein rechtlich habe ich nichts angestellt, was das gerechtfertigt. Außerdem haben Madame Dumas und deine Tante Hera für mich gesprochen und klargestellt, dass wer mir ans Bein strullen will auch ihnen auf die Füße pullert. Das hat die zum nachdenken gebracht, die mich gerne wegen meiner achso untraditionellen Lebensweise aus dem Schuldienst gekegelt hätten."
"Hat es eine Abstimmung oder dergleichen gegeben, oder hat Madame Dumas von ihrem Hausrecht Gebrauch gemacht?" wollte Louiselle wissen.
"Alle stimmberechtigten Eltern haben abgestimmt, alle für meinen Verbleib im Schuldienst, aber einige von denen wohl nur deshalb, weil sie Angst hatten, das Madame Matine ihren Posten zur Verfügung stellt. Ob Trice den dann übernommen oder gar zugeschustert bekommen hätte ist ja nicht so sicher, wo sie selbst gerade ein Kind im Kindergartenalter hat."
"Stimmt, das hätten die werten Damen im gebärfähigen Alter zwischen vierzehn und hundert Jahren sicher nicht riskiert", grinste Louiselle. "Apropos Béatrice Latierre, war die auch da?"
"Die hat sicher auf den ganzen Hexentanz im Apfelhaus aufgepasst, falls sie zu keinen Patienten musste. Ich habe kein Wort mit den Latierres gewechselt, um den sogenannten Traditionalisten nicht noch mehr Stoff für irgendwelches Gemecker zu liefern. Jedenfalls darf ich jetzt wohl wieder mit allen Kindern reden, die auch im von mir erteilten Unterricht sitzen, und ich darf ab morgen wieder die Belange der zweiten Klasse verwalten. Ich habe die Arbeit zum kleinen Einmaleins und den ganzzahligen Divisionen für die Woche nach meinem Geburtstag angesetzt. War nicht so einfach, das mit der Kollegin Bleulac abzustimmen, wann sie ihren Test zu französischen Tätigkeitswörtern und im Perfekt und Präsenz unterbringen konnte. Aber die Mädchen und Jungen sind motiviert. Ich muss nur bei Aurore aufpassen, dass die nicht schon Aufgaben der dritten Klasse macht, weil Claudine ihr schon erklärt hat, was sie da so alles gelernt haben. Nachher muss ich Aurore doch Zusatzaufgaben aufhalsen, wie sie es in Beaux bei ihrem Vater gemacht haben."
"Die lernt es noch, dass ein gutes Pferd nur so schnell läuft, hoch springt oder fliegt wie es wirklich muss, Laurentine. Ich bin als Grundschulmädchen auch sehr flott unterwegs gewesen, bis es mir doch zu anstrengend und langweilig wurde, immer schon vor den anderen fertig zu sein und habe da lieber zwanzig Notenpunkte pro Stunde liegen lassen als wie ein bestellter und nicht abgeholter Besen herumzustehen", erwiderte Louiselle.
"Punkte liegen lassen? Das ist eine Fußballphrase, von der sich die Sportreporter nicht einig sind, ob die nicht genauso phrasenschweinpflichtig ist wie "Der Ball ist rund" oder "Ein Spiel dauert neunzig Minuten."
"Stimmt, das sagen die ja, wenn eine Mannschaft eine sichere Führung verspielt und deshalb statt der drei Punkte nur einen aus dem Spiel mitnimmt", grinste Louiselle. Dann beschloss sie, dass es für Lucine Zeit für's Bett war. Für die zwei erwachsenen Hexen hieß das, dass sie sich im Klangkerker-Arbeitszimmer Laurentines weiterunterhalten mussten, damit Lucine schlief. Doch um elf Uhr abends waren auch Laurentine und Louiselle müde genug, um schlafen zu gehen. Mit den Brickstons und Latierres würden sie wohl an Laurentines Geburtstag wieder länger sprechen.
Julius erwachte von einem heftigen Zucken und einem kurzen aber lauten Aufschrei seiner neben ihm liegenden Frau. Sofort wusste er, was war. Es ging los!
"Ei, die da drinnen wussten, wie gut ich schlafen kann", seufzte Millie. Dann sagte sie: "Mach dich besser richtig vorzeigbar, bevor Hera hier ankommt!" Julius verstand. Weil Millie ein Wehenwarn-Armband trug wurde Hera Matine gerade alarmiert. Zumindest war die Frage geklärt, wann es passierte.
Weil Béatrice ohne die Verhüllungsunterwäsche jetzt selbst mehr breit als hoch aussah und sich in den letzten Tagen schon schwerfälliger bewegte wollten Millie und Julius ihr nicht zumuten, dass sie auf die vier jüngsten geborenen Kinder aufpasste, während Aurore und Chrysope zusehen sollten, wie ihre Maman die kleinsten Schwestern zur Welt brachte. Auch hatten Millie und Julius darauf bestanden, dass Julius bei den nun anstehenden Geburten bei Millie war, sofern Béatrice nicht am selben Tag niederkam.
Nur zwei Minuten nach dem Aufwachen läutete die magische Türglocke mit der Melodie "Wie leuchtet mir der Apfelbaum". Hera Matine stand vor der Tür. "Hallo Hera, schön, dass du schon da bist, Millie und ich wollen wieder die Wohnküche nutzen", sagte Julius. Hera Matine nickte und rief nach oben: "Millie, ich bin jetzt da, mach dich bitte schon bereit!"
"Ist gut, Hera!" rief Millie zurück.
Béatrice hatte inzwischen ihre Mutter Ursuline herbeigerufen, um auf Clarimonde, Flavine, Phylla und Félix aufzupassen. Auch war Béatrices älteste Schwester Hippolyte durch den orangeroten Schrank hereingekommen und saß bereits bei ihrer Tochter.
Aurore und Chrysope saßen in leicht zu säubernden Gebrauchsumhängen in der Wohnküche, die gerade mit Keimfreilösung gereinigt worden war. Hera hatte für sie eine Entschuldigung für die Schule ausgeschrieben und es damit begründet, dass eine junge Hexe jedes neue Familienmitglied bei der Ankunft beobachten sollte, um es auch als solches anzuerkennen. Millie und Julius unterschrieben die Entschuldigung und schickten sie mit Julius altgedienter Schleiereule Francis zu Laurentines Postfach in der Grundschule.
Als Millies vierte Senkwehe einsetzte läutete es wieder an der Tür. Camille Dusoleil stand mit ihrer lindgrünen Umhängetasche davor. "Hallo Camille, hat dich Geneviève Lucines Erbstück geweckt?" fragte er die Nachbarin und verschwägerte Verwandte, die einen glatten, völlig fleckenfreien grasgrünen Gebrauchsumhang trug. "Ja, sie hat mich und Flory geweckt und aus sich heraus wie ein alter Reisewecker geläutet. Da Jeanne im Moment ja kein Kind erwartet konnte es nur wegen Millie sein. Aber ich denke, Hera kriegt das hin. Nur ich kann dieses seeschlangenhäutige Anhängsel nicht einfach wo hinlegen, solange ich nicht wenigstens nachgesehen habe, warum es mich hochgescheucht hat", sagte Camille, während sie und Julius schon wieder die Treppe nach oben gingen.
"Hallo Camille, wurdest du auch alarmiert?" fragte Hera Matine und deutete auf Camilles besonderes Erbstück aus dem Haus ihrer Vorfahren. Camille nickte. "Du kennst das Ding. Geneviève Lucine Binoche hat es ja so bezaubert, dass es nach ihrem natürlichen Tod einen Gutteil ihrer eigenen Persönlichkeit aufnahm und deshalb meint, ich sollte ihre Aufgaben übernehmen", sagte die Kräuterfachhexe von Millemerveilles.
"Falls du Zeit hast darfst du gerne hierbleiben und assistieren", sagte Hera Matine mit einer gewissen Verdrossenheit. Millie erlaubte es, dass Camille dabei war.
Hippolyte Latierre saß ebenfalls in der Wohnküche, während sich ihre Mutter mit den vier Jüngsten beschäftigte. als um 06:12 Uhr die erste Eröffnungswehe einsetzte empfing Julius eine leicht gepeinigt klingende Gedankenbotschaft: "Julius, bei mir geht's auch los." Das war der Maximalfall, den Millie, Béatrice und Julius besprochen hatten, wenn beide von ihm schwangeren Hexen zeitgleich niederkamen. "Viviane, sage bitte Antoinette bescheid, dass wir doch noch eine Kollegin benötigen", sagte Julius dem in der Wohnküche aushängenden Vollporträt der Beauxbatons-Mitgründerin Viviane Eauvive zugewandt. "Ach, Béatrice auch?" fragte Viviane. Julius bestätigte das. Camille sah ihn verdutzt an. "Das ist was, dass wir eigentlich in der Familie halten wollten", sagte Julius zu Camille. "Ja und? Bin ich doch auch", erwiderte Camille und sah Hera an, die jedoch nicht so überrascht war wie sie. "Sie da aber nicht", setzte sie deshalb einen drauf. "Nicht frech werden, junge Dame, sonst darfst du gleich wieder das Geburtszimmer verlassen", drohte Hera Matine. Dann sah sie Millie an. "Darf er deiner angeheirateten Tante erzählen, was los ist?" fragte sie. Millie sah Julius an und sagte: "Helf Trice bitte, raufzukommen. Wen immer Antoinette dann schickt holst du bitte rein. Dann schreien wir uns eben gegenseitig was vor."
Julius eilte nach unten, wo Béatrice bereits ihre eigenen Utensilien nutzte, um sich für die anstehende Niederkunft bereitzumachen. "Einen zweiten Gebärstuhl hast du nicht im Haus, weiß ich. Vielleicht solltest du wen auch immer Antoinette schickt bitten, einen mitzubringen."
Doch als Julius seiner Schwiegertante, zweiten Partnerin und Retterin des Friedens zwischen Millie und ihm half, die Wendeltreppe hinaufzusteigen kam ihnen Camille schon entgegen. "Dieses hartnäckige Handtäschchen hat gerade einen hochlehnigen Gebärstuhl ausgespien. Wusste nicht, dass der auch in der Tasche gesteckt hat."
"Könnte derselbe Effekt sein, den der Raum der Wünsche in Hogwarts hat, Camille. Gloria und ich haben dir das ja erzählt, dass die da einen Raum haben, der genau das bereitstellt, was gerade erbeten oder dringend benötigt wird. Der hat ja für den Widerstand in Hogwarts eine zentrale Rolle gespielt."
"Das wird es wohl sein", meinte Camille und half ihm, Béatrice in die Wohnküche zu führen. "Hui, wie hast du den Bauch und die verheißungsvollen Brüste denn so lange versteckt, Béatrice?" fragte Camille. "Auf dieselbe Weise wie Madame Grandchapeau, durch die Umstandsverhüllungsunterkleidung für Hexen in öffentlichen Ämtern und Anstellungen, die ihre Schwangerschaft nicht zum dauernden Gesprächsthema machen wollen", sagte Béatrice und zuckte zusammen. "Ei, die Kleine will auch heute auf die Welt. Hat wahrscheinlich mitbekommen, dass ihre Halbbschwestern vor ihr ankommen wollen." Julius musste bei diesen Worten an einen Traum denken, in dem er Jeannes und Barbara van Helderns erste Kinder hatte streiten hören, wer von beiden demnächst zur Welt kommen wollte und erinnerte sich, dass Barbara noch am selben Tag, als Jeanne die kleine Viviane Aurélie bekam ihren Charles auf die Welt brachte. War das wirklich so abwegig, dass zwei Mütter, die unter demselben Dach zur fast selben Zeit schwanger wurden nicht auch zur selben Zeit niederkommen mochten?
Julius konnte sich die Frage nicht beantworten, auch weil gerade in diesem Moment die Türglocke läutete. Julius dachte, eine von den diensthabenden Hebammen aus der Delourdesklinik vor der Tür zu sehen. Doch tatsächlich stand dort Antoinette Eauvive persönlich. "Ich habe mir das schon gedacht, dass bei Béatrice die Wehen einsetzen, wenn es bei deiner offiziellen Angetrauten richtig losgeht", grüßte sie Julius. Er bedankte sich für ihr Hiersein und zeigte ihr, wo Millie und Béatrice für den großen Akt bereitsaßen.
"Ach nein, du bist auch angefordert worden?" fragte Antoinette Camille. Diese nickte und deutete auf ihre lindgrüne Umhängetasche. "Gut, dann sehen wir mal, wie weit du bist, Béatrice", sagte Antoinette.
Während sowohl Hera bei Millie als auch Antoinette bei Béatrice die letzten Vorbereitungen durchführte erzählte Julius Camille die Geschichte, dass sich Millie, Béatrice und er darauf verständigt hatten, dass Julius auch einige Nächte bei ihr verbrachte und dass sie davon ausgingen, dass die Verhütungslösungen wirkten wie sie sollten. "Tja, das haben viele schon gedacht, die unverbindliche Stunden miteinander verbringen wollten", meinte Camille mit einer Mischung aus Tadel und Erheiterung. "Und wie habt ihr das geregelt, wenn das Ministerium und Beauxbatons die Mitteilung erhalten?" Julius sah Béatrice an, die zwar sehr erschöpft aussah aber gerade keine weiteren Wehen zu ertragen hatte. Diese sagte dann: "Die drei wachsen als Geschwister auf. Was die Geburtsmeldungen angeht werden Millie, Julius und ich eidesstattlich erklären, dass Julius und ich mit Millies Erlaubnis das Bett geteilt haben, solange sicher ist, dass er sie nicht meinetwegen verlässt."
"Ihr zwei Wonneproppen habt euch den jungen Burschen hier aufgeteilt wie einen Honigriegel", grummelte Camille. "Und wir haben gerade am letzten Wochenende drüber geredet, wie vorbildlich Laurentines Hexenwohngemeinschaft ist." Doch dann sah sie Julius an und sagte: "Ich denke aber, du bist es wert, dass die zwei sich so um dich bemüht haben, und warum Béatrice den kleinen Félix bekommen hat weiß ich ja auch. Vielleicht war das der Preis der Mondtöchter dafür, dass Millie und du ihren Segen umgangen habt."
"Wie gesagt. Wir wollten auch kein Gerede hervorrufen", sagte Julius. "Wie sich die angeblichen Hüterinnen der Moral wegen Laurentines WG ereifert haben zeigt ja, dass es mit der Toleranz gegenüber neuen Familienmodellen in Millemerveilles noch sehr schwer ist."
"Ja, deshalb solltet ihr drei auch darauf achten, dass die Kinder in diesem Haus sich immer als Geschwister verstehen", sagte Antoinette."
Aurore, die wie ihre Schwester Chrysope zusah hörte gerade von ihrer Maman, dass auch die Tante Trice noch eine kleine Hexe auf die Welt brachte, weil sie, Millie, ihr das ganz klar erlaubt hatte, aber das in der Schule keiner mitbekommen sollte, weil deren Eltern dann meinten, sie müssten von hier wegziehen, weil sie was böses angestellt hatten, was aber nicht war.
Julius verfolgte nun mit, wie erst die kleine Hestia Hippolyte ihren Kopf ans Licht der Welt zwengte und dann innerhalb von nur anderthalb Stunden vollständig geboren war. Gleichzeitig traten auch bei Béatrice die Presswehen ein. Noch ehe Hidalga Hera mit ihrem Kopf den schützenden Schoß ihrer Mutter verließ entschlüpfte Chloris Agrippine aus Béatrices warmem Unterleib. wie bei allen bisherigen Geburten im Apfelhaus leuchtete es bei jeder Neugeborenen golden im ganzen Raum auf. Ashtarias mächtiger Schutzzauber hieß die neue Erdenbürgerin auf dieser Welt willkommen und würde sie wie alle anderen bereits hier wohnenden vor feindlichen Angriffen beschützen.
Julius stellte bei der ansage der Uhrzeiten fest, dass zwischen Hestia, Chloris und Hidalga jeweils zwölf Minuten lagen. Hestia Hippolyte war um 09:48 vollständig entbunden, Chloris Agrippine um genau 10:00 Uhr und HidalgaHeras Geburt war um 10:12 Uhr vollendet. Damit konnten sie das ganze wirklich wie eine Drillingsgeburt abhandeln.
Chloris war mit 3720 Gramm die schwerste der drei und mit 52,8 Zentimetern Länge auch die größte. Hestia wog 3480 und Hidalga 3360 Gramm. Beide waren 48 Zentimeter lang. Die Daten würden die Eltern nachher noch in die Geburtsmeldung an die Familie eintragen.
Aurore, die den beiden erwachsenen Hexen mit Spannung und teilweise Unbehagen zugesehen hatte fragte ihren Papa: "Wenn die Tante Trice jetzt mit dem Félix und der Chloris hier weggehen muss musst du dann auch weggehen, weil du sie mit ihr gemacht hast, Papa?"
"Millie, also deine Maman will das nicht, dass sie weggeht, und ja, dann müssten wir alle von hier weggehen, weil es hier einige gibt, die meinen, dass das nicht anständig ist, wenn zwei Hexen vom selben Zauberer Babys bekommen", sagte Julius. "Und die Chloris ist genauso deine Schwester wie der Félix dein kleiner Bruder ist", stellte Julius klar, dass Aurore keinen Unterschied machen sollte.
Als dann um 10:48 Uhr sowohl bei Millie als auch Béatrice die Nachgeburten ausgetrieben waren durften die anderen Kinder mit ihrer Urgroßmutter heraufkommen, um die neuen zu begrüßen.
"Ich denke, das sollte jetzt für dieses Haus genug Leben sein", meinte Ursuline, als sie Julius zum dreifachen Kindersegen beglückwünschte. Er sagte: "Ja, jetzt haben wir nur noch ein Gästezimmer, wenn wir den Empfangsraum unten nicht mit schalldichten Raumteilern aufteilen wollen, wenn wir mehr Gäste haben wollen." "Im Zweifelsfall zieht ihr dann alle zu uns ins Schloss um, falls die euch in Millemerveilles doch nicht haben wollen", flüsterte Ursuline. "Ach ja, die gute Blanche dürfte heute Nachmittag noch bei euch aufmarschieren und von euch dreien Rechenschaft fordern. Grüß sie schön von mir und sagt ihr, dass nicht die Entstehung eines Kindes bestimmt, ob es anständig oder unanständig ist, sondern wie dieses Kind aufwächst. Da wird sie mir hoffentlich zustimmen."
Hera bedankte sich bei Camille für ihre "behutsame aber hilfreiche Assistenz". Antoinette wünschte den beiden Mütternund dem stolzen Vater weiterhin alles gute und immer die nötige Geduld und Zielstrebigkeit bei der Erziehung aller nun neun Kinder im Apfelhaus. Dann verließ sie dieses wieder, um ihren eigenen Bericht zu schreiben, wie sie ihn von jeder Hebamme Frankreichs erwarten konnte. Sie würde dabei ausdrücklich notieren, dass Béatrices zweites Kind im Wissenund mit ausdrücklicher Zustimmung der offiziellen Ehefrau herangereift war und nach ihrer Geburt ausdrücklich Béatrice als die leibliche Mutter anerkannt wurde.
Um genau zwölf Uhr mittags gingen die Geburtsmeldungen an die Familienangehörigen raus. Es wurde von drei Töchtern gesprochen, aber nicht, dass die auf zwei Mütter verteilt waren.
Um zwei Uhr Nachmittags läutete es wieder an der Haustür. Wie zu erwarten war stand Madame la Directrice Blanche Faucon von der Beauxbatons-Akademie vor der Tür. Sie wirkte sehr angespannt. Julius, der sozusagen den Pförtnerdienst versah konnte ihr ansehen, dass sie gerne eine lautstarke Rüge vom Stapel lassen wollte, aber sich nicht sicher war, ob sie sich dabei nicht in eine peinliche Lage brachte. Daher bat er sie ohne jeden Anflug von Schuldbewusstsein oder Abschätzigkeit ins Haus. Hera Matine war noch da, weil sie genau damit gerechnet hatte, dass noch hoher Besuch aus Beauxbatons eintreffen würde.
"Ich erhielt heute drei Geburtsmeldungen, von denen die zweite mich doch sehr erstaunt hat", begann Blanche Faucon zu sprechen. "Ich ging bis dahin nämlich davon aus, dass Madame Mildrid Latierre bei der Eheschließung mit Monsieur Julius Latierre geborener Andrews eine Ausschließlichkeitsvereinbarung über seinen Nachwuchs vereinbart hatte. Gut, jetzt erfuhren wir ja vor zwei Jahren und sieben Monaten, dass es Ausnahmen von dieser Ausschließlichkeitsregel gibt, auf die sich die erwähnten Eheleute beriefen, als sie Mademoiselle Béatrice Latierre damit beauftragten, einen von einer außerweltlichen Instanz eingeforderten Sohn von Monsieur Latierre zu empfangen, auszutragen und zu gebären. Damit, so waren Professeur Fixus und ich uns sicher, sei dieser Ausnahmeregelung genüge getan. Deshalb erstaunte es mich heute morgen, bei der Vermeldung der Geburt von Mademoiselle Chloris Agrippine Latierre als Namen der Mutter erneut Mademoiselle Béatrice Latierre, cum potentia magica lesen zu dürfen und dass diese Geburt nur zwölf Minuten nach der Ankunft von Mademoiselle Hestia Hippolyte und zwölf Minuten vor der Ankunft von Mademoiselle Hidalga Hera erfolgte. Da ich selbst einmal den Vorzug genießen durfte, Mutter zu werden interessiert es mich, warum drei am selben Tag geborene Kinder zwei Mütter haben, und auch die Begründung dafür, wie es zur Zeugung dieser drei neuen Hexen kam. Ja, und falls sich hier jemand darauf berufen möchte, dass der Akt einer Kindeszeugung eine höchst intime Angelegenheit ist, so möchte ich als amtierende Schulleiterin der Beauxbatons-Akademie darauf hinweisen, dass die Vermeldung von Geburten und die Elternschaft der Neugeborenen als amtliches Dokument im Sinne der magischen Familienstandsgesetze und als Grundlage für die Aufnahmeprüfung für die Beauxbatons-Akademie gilt. Auch wies mich Madame Rossignol, die residente Heilerin der Beauxbatons-Akademie darauf hin, dass das Umfeld eines Kindes, das den Vorzug erhalten mag, die Beauxbatons-Akademie zu besuchen, sehr wichtig für dessen Entwicklung vor und während der Zeit in der Akademie sein kann, wie der Fall Hanno Dorfmann in höchst bedrückender wie einprägsamer Weise verdeutlicht hat. Daher hat sie mich gebeten, diese besondere Lage in eigener Person zu überprüfen, um für die Akademie und auch für ihre Tätigkeit dort Klarheit zu erhalten, wie wir auf Chloris Agrippine eingehen sollen, sollte sie in einem Umfeld der Verunsicherung bis Ablehnung aufwachsen. Ich bin nun bereit, mir von allen drei Mitverantwortlichen an dieser Ausnahmelage anzuhören, was genau geschah, warum es geschah und wie die Verantwortlichen damit umzugehen wünschen. Audio!"
Millie bat ums Wort und erhielt es von Hera, die als stille Gesprächsleiterin aushalf. Sie erwähnte, was sie mit Béatrice und Julius zur Bewahrung des gemeinsamen häuslichen Friedens vereinbart hatte und dass es offenbar noch ein Vermächtnis gebe, dass Ashtaria an eine dafür vollends geeignete Zauberkundige weitergeben wollte und dass sich Ashtaria dafür Béatrice ausgesucht habe, was durch einen verifizierten Traum von Ashtaria und den alten Schätzen des Nils bestätigt wurde, der im familieneigenen Denkarium aufbewahrt wurde.
"Sie erwähnten, dass dieser Traum Ihrer Tante verifiziert wurde, Madame Latierre. Wie genau?" fragte Madame Faucon. "Durch die Einwirkung von Ashtarias Schutzzauber auf das Denkarium und die hier wirksame Schutzbezauberung gegen feindliche Übergriffe", sagte Millie. Dann sah Madame Faucon Julius an und fragte ihn, ob er davon gewusst habe. So erzählte er nun zunächst von der Vereinbarung, dass er abwechselnd mit Millie und Béatrice die Nächte verbrachte, aber nicht in jeder Nacht mit der einen oder der anderen intim wurde, dies aber mit vollständiger Zustimmung Millies tun durfte. Dann erwähnte er, was er nach Bekanntgabe von Béatrices zweiter Schwangerschaft erfahren hatte und dass er wegen der in jenem Traum erfolgten Beschreibungen, Namen und Andeutungen sicher sei, dass dieser Traum von Ashtaria da selbst erzeugt, versandt oder überbracht worden war, je danach, wie das in der magischen Welt am besten beschrieben wurde. Als er klarstellte, dass er alle von ihm gezeugten Kinder genauso gleichwertig achten und umsorgen würde, wie er ihre beiden Mütter ehren und lebenslang für ihre Hingabe und Entschlossenheit danken würde meinte Madame Faucon: "Na ja, das könnte sie jedoch mit der Behörde für magische Familienfürsorge, Ausbildung und Studien in Konflikt bringen, weil diese dann nämlich befinden müsste, ob Sie hier einen Akt des Ehebruchs unter Ausnutzung einer Zwangslage bei Ihrer Ehefrau, nämlich jener, dass sie keine eigenen Söhne gebären kann, begangen haben und dass die Geburt von Chloris Agrippine als nicht in Gold oder anderen Werteinheiten zu entrichtende Gegenleistung sei, nämlich die, dass Mademoiselle Béatrice Latierre auf die Empfängnis und Mutterschaft von zwei Kindern bestanden haben könnte. Daher sollten wir wie im Falle Félix Richard Roland Latierre die Behauptung erneuern, dass Sie, Madame Latierre, aus heilmagischen Erwägungen nicht im Stande waren, drei Kinder auf einmal auszutragen und so eine ihrer Töchter von Ihrer eigentlichen Heilerin Béatrice Latierre ausgetragen und geboren werden sollte und dass Sie, Madame Latierre, mit Ihrer Tante und erwählten Heilerin vereinbart haben, dass sie auch die amtlich anerkannte Mutterschaft an diesem zweiten Kind zuerkannt bekäme. Oder haben Sie da was anderes notiert, Madame Matine?"
"Da ich die Geburten von Hestia und Hidalga betreute war es für meinen Bericht nur nötig, dass ich den Verlauf und die Elternschaft unstrittig dokumentierte, Madame Faucon. Was meine Kollegin Béatrice Latierre angeht mögen Sie sich bitte an deren Hebamme Madame Antoinette Eauvive wenden. Es kann nur sein, dass diese ihren Bericht über den Geburtshilfeeinsatz bereits vollendet und versandt hat", erwiderte Hera Matine ruhig.
"Hmm, dann werden Madame Rossignol und ich dies besser gleich erledigen", grummelte Blanche Faucon. "Mademoiselle Latierre, Sie dürfen sich sicher sein, dass mir das Wohl der von Ihnen geborenen und weiterhin anerkannten Tochter sehr wichtig ist und ich daher keine gerichtlichen Nachprüfungen der Familienstandsbehörde heraufbeschwören möchte. Ich werde jedoch darauf bestehen, mir jenen von Ihnen ausgelagerten Traum nachzubetrachten und dabei die mir als Mitglied der Liga gegen dunkle Künste verfügbaren Prüfzauber anwenden, um dessen Wahrheitsgehalt zu bestätigen. Ich hoffe nur sehr eindringlich, dass Sie nicht doch in betrügerischer Weise vorgingen, um sich ein zweites Kind von Monsieur Latierre zu erschleichen." Béatrice blieb ganz ruhig, als Blanche Faucon das sagte. Dann erwiderte sie: "Da ich mich ja noch nicht zu der ganzen Angelegenheit geäußert habe kann und will ich nur dazu sagen, dass ich jeder magischen Überprüfung dieser Angelegenheit mit Ruhe und vollem Bewusstsein meiner Schuldlosigkeit entgegensehe."
In dem Moment schrien die drei Neugeborenen. Hera sagte deshalb: "Sie hören es, die drei neuen Hexen legen keinen Wert darauf, ob ihre Entstehung mit allen Regeln der magischen Familienstandsgesetze übereinstimmen oder nicht, sie leben und wollen am leben bleiben."
"Einhalt, Madame Matine. Ich habe mit keinem Wort und keiner Andeutung gedroht, einer der drei etwas zustoßen zu lassen oder eigenhändig anzutun. Derartige Unterstellungen verbitte ich mir aufs schärfste", entrüstete sich Blanche Faucon.
"Ja, und ich verbitte mir die Unterstellung, ich hätte Ihnen unterstellt, Sie könnten wegen der nicht ganz den geltenden Regeln für die Zeugung und Aufzucht magischen Nachwuchses entsprechenden Umstände auch nur eine Sekunde lang daran denken, ein scheinbar unzulässiges Kind aus der Welt schaffen zu wollen. Das würde nämlich eindeutig gegen meine Fürsorgeverpflichtung als Heilerin verstoßen, und Madame Eauvive könnte sich als für diese Ausnahmelage eingesprungene Hebamme ebenfalls beleidigt fühlen. Also bleibt dieser letzte Teil unserer Unterredung besser schriftlich unerwähnt."
"Dem kann und muss ich voll und ganz zustimmen", schnarrte Blanche Faucon. Dann verabschiedete sie sich noch einmal mit besten Wünschen für Mütter und Kinder von den Latierres. Als sie der Eile wegen von der Wohnküche aus in das Foyer der Delourdesklinik flohpulverte musste Hera ganz gegen ihre eigene Achtung gebietende Haltung schulmädchenhaft grinsen. "Das war mir sowas von klar, dass die werte Blanche nur dann darauf eingeht, was ihr drei da veranstaltet habt, wenn sie nicht will, dass ihr unterstellt wird, sie wolle Chloris aus der Welt schaffen. Abgesehen davon dürfte die gute Antoinette allein wegen des Familienzusammenhaltes ihren Bericht entsprechend abgefasst haben, dass genau das dabei erwähnt wird, was wir schon bei Félix' Geburt vereinbart haben. Sie wird den schlafenden Drachen nicht kitzeln, was anderes zu behaupten oder von was anderem gewusst haben zu wollen."
"Na ja, Hera, aber mit einem hat sie recht, und das haben wir Aurore ja heute schon aus allen drei Richtungen mitgegeben: Wenn nicht noch mal sowas wie Hanno Dorfmann passieren darf muss Chloris genauso als Schwester unter Schwestern und dem kleinen Bruder aufwachsen wie Aurore, Chrysope, Clarimonde, Flavine, Phylla, Hestia und Hidalga", sagte Julius und zählte damit so ganz nebenher alle sieben Kinder auf, die Millie von ihm bekommen hatte. Sie erkannte, was er damit meinte und strahlte ihn trotz der noch anzumerkenden Anstrengung an. Dann holte sie sich auch die zwei, die ihr heute morgen auf so schmerzhafte und anstrengende Weise entschlüpft waren. Denn die beiden hatten wieder Hunger.
Am späten Nachmittag traf eine schnelle Eule aus Beauxbatons ein. Madame Rossignol beglückwünschte die Latierres zur Geburt ihrer drei jüngsten Familienmitglieder und sprach ihre Hoffnung aus, dass die drei in elf Jahren als körperlich und seelisch gesunde Kinder den Weg nach Beauxbatons finden mochten.
Am späten Abend traf noch eine amtliche Eule aus dem Zaubereiministerium ein. Im besten Amtsfranzösisch bekundete die für Familienstandsfragen zuständige Mitarbeiterin von Monsieur Descartes die Geburt der drei jüngsten Mitglieder der Latierre-Familie und drückte ihr Verständnis aus, dass die Umstände der Schwangerschaft mit Drillingen eine einvernehmliche Regel für den Ausnahmefall wie bereits im Fall Félix Richard Roland Latierre erforderlich machte. Es sei daher keinerlei weitere Überprüfung der Umstände nötig und somit keinerlei amtliche Ermittlung, warum die drei Kinder zwei Mütter besaßen. Mit dieser rechtlich verbindlichen Mitteilung war es für die drei erwachsenen Latierres möglich, ganz beruhigt schlafen zu gehen.
Seitdem Laurentine einen eigenen Satellitenempfänger benutzen konnte saßen sie und Louiselle wie fast jeden Abend um diese Uhrzeit vor dem Fernseher, um die Hauptnachrichtensendung des ersten deutschen Fernsehens zu sehen. Da Louiselle sehr gut Deutsch konnte war es für sie eine gute Übung, in dieser Sprache zu bleiben.
Zum einen berichteten sie dort von den Tagesereignissen wie einem schweren Sturm, der die britische und deutsche Nordseeküste heimgesucht hatte, sowie einen Beschluss des Deutschen Bundestages, sechs Monate lang die so genanten Metadaten bei Telefongesprächen und Internetkontakten auf Vorrat zu speichern, um diese Daten bei Strafermittlungen verwenden zu können, was von nicht wenigen kritisiert wurde. Hier sollte das Bundesverfassungsgericht überprüfen, ob der Staat da nicht zu sehr in das Privatleben seiner Bürger eingriff. Außerdem ging es um die Ankopplung eines weiteren Bestandteils der internationalen Raumstation, um diese zu vervollständigen, was natürlich Laurentine besonders interessierte. Allerdings wurde auch an die geschichtlichen Ereignisse dieses für Deutschland so besonderen Tages erinnert, an die erfreulichen wie die betrüblichen. Als dann die Wettervorhersage mit Satellitenfilm beendet war schaltete Laurentine wieder auf einen französischen Sender um. Louiselle fragte sie dann, was genau mit Metadaten gemeint war und warum die amtierende Bundesregierung fand, diese auf Vorrat speichern zu wollen und warum andere genau das ablehnten. Das konnte Laurentine ihr an den Protokollen versandter E-Mails verdeutlichen und auch erklären, warum die Bundesregierung fand, dass die Polizeibehörden und Geheimdienste sowas speichern wollten. "Die Gefahr, die die Kritiker dieses zugegeben sehr drastischen Überwachungsvorgangs sehen ist, dass jemand, der sein Leben lang arglos E-Mails und Internetchats betrieben hat, irgendwann in der Kontaktliste von schwer verdächtigen Leuten auftaucht, die als Terroristen, Mitglieder verbrecherischer Organisationen wie der sizilianischen Mafia oder den chinesischen Triaden oder einfach nur als Heiratsschwindler oder Enkeltrickbetrüger überwacht werden und deshalb selbst von der Polizei oder dem Inlandsgeheimdienst weiterüberwacht werden könnte. Die CDU, die von der Politik her in derselben Ecke steht wie bei uns in Frankreich die bürgerliche Partei, hofft darauf, durch diese Datenspeicherung mehr Straftaten aufzuklären oder vielleicht sogar verhindern zu dürfen. Aber über die Methoden darf gerne weiter gestritten werden. Aber wo das jetzt durch die Presse ging schicke ich das mal an Julius weiter, falls der das für seine Arbeit im Ministerium braucht. Nicht dass aus Versehen irgendwelche Aktivitäten aufkommen. Gut, ich schicke ihm die deutschen Originalmeldungen von der Tagesschau und einen eigenen Kommentar. Ich denke, der hat immer noch Kontakt zu den Weizengolds in Berlin."
"Dann haben die das da sicher schon längst mitbekommen", meinte Louiselle. Doch sie riet Laurentine nicht davon ab, ihre eigene Meinung dazu zu verschicken. Dann sagte sie: "Ja, nur ist dir ja auch bewusst, dass immer mehr über das Internet abgewickelt wird und dass es daher auch sehr viel mehr Mittel für Verbrechen gibt, die der Polizei bekannt sein sollten. Wo du das mit diesem Enkeltrick erwähnt hast, Laurentine, wir in der magischen Welt haben eine lückenlose Geburten- und Elternschaftsüberwachung, wie du ja gestern abend erst mitbekommen hast, als Tante Hera uns das mit den drei neuen Latierres mitgeteilt hat. Das könnten diese Damen und Herren Kritiker auch als all zu persönliche Überwachung bezeichnen, dass Geburten gleich bei der Familienstandsbehörde und in Beauxbatons gemeldet werden und zwar mit allen persönlichen Angaben, nicht nur, wer an wen um wie viel Uhr was verschickt hat oder mit wem A wi viel Zeit lang telefoniert hat, wenn B verdächtigt wird, etwas schlimmes verbrochen zu haben."
"Ja, stimmt, sogesehen hätte die Familienstandsbehörde Julius ja sowas wie Ehebruch vorwerfen können, weil Béatrice wieder ein Kind von ihm bekommen hat. Aber glaub's mir, Lou, dass Millie sich das garantiert nicht hätte gefallen lassen, wenn das nicht von ihr persönlich genehmigt worden wäre. Nur wundert es mich bei der ganzen Kiste, dass die Latierres immer als sehr fruchtbar und gebärfähig bekannt sind und Millies Oma Line im fortgeschrittenen Alter vier auf einmal austragen konnte und die wesentlich jüngere Millie Latierre gerade mal zwei auf einmal ohne Gefahr für sich und die Kinder ausbrüten konnte."
"Gut, wie genau das so ablief wie es lief ist ja Heras Ding. Wir, also besser du, wurdest ja nur deshalb darüber informiert, weil du Aurores Klassenlehrerin bist und die jetzt drei neue kleine Schwestern dazubekommen hat und damit klarkommen muss, dass eine von denen auch ihre Cousine sein kann", sagte Lou. Dann deutete sie an, dass es auch eine Vereinbarung zwischen Millie und Béatrice gegeben haben könnte, weil Millie und Julius bekanntermaßen bei den Mondtöchtern in den Pyrenäen geheiratet und die Hochzeitsnacht verbracht hatten und die daher erst einmal nur Töchter ermöglichten.
"Achso, und du vermutest, dass sie Béatrice aus welchem Grund auch immer darum gebeten haben, von Julius einen Jungen zu kriegen, weil Millie keine Jungs von ihm kriegen kann? Aber wieso hat sie dann noch ein Mädchen von ihm bekommen?"
"Also, offiziell ist es ja nicht unser Ding, Tinette. Aber weil wir ja selbst so eine unorthodoxe Familie sind kann ich mir vorstellen, dass es eine Art Forderung von Béatrice war, dass sie nach dem von Millie und Julius gewünschten Sohn auch noch ein vollwertiges Geschwisterkind für eben diesen bekommen wollte, also dass der nicht nur Halbschwestern hat. Aber wie erwähnt ist das eben nur eine Vermutung."
"Ja, und ich muss nur aufpassen, dass ich weder Félix noch Chloris anders behandel als Aurore, Chrysope, Clarimonde und Millies jetzt zweifachen Zwillinge. Ui ui ui, sieben Kinder zu kriegen lasse ich aber besser mal weg, dir zuzusehen hat mir schon gereicht."
"wie schon mal erwähnt, Tinette, das wäre nicht so unpraktisch, wenn du unser zweites Kind ausliefern könntest", mentiloquierte Louiselle. Laut sagte sie: "Immerhin hast du die Kleine dadurch auch anerkannt." Dem wollte und konnte Laurentine nicht widersprechen. Statt dessen umarmte und küsste sie ihre Mitbewohnerin innig.
Millie, Béatrice und Julius sangen zusammen mit Aurore, Chrysope und Clarimonde ein Geburtstagslied für Rosey Dawn, als diese mit ihrer Mutter zusammen als räumliche Abbildung in ihrer Mitte schwebte. Fünf jahre war Rosey rein körperlich alt. Dass in ihr die Seele von ihrer wahren Mutter Heather Springs wiedergeboren worden war wussten nur die drei Erwachsenen im Apfelhaus. Rosey freute sich auf jeden Fall, dass man an sie gedacht hatte. Sie fand es schade, dass die Apfelhausbewohner nicht "in echt" bei ihr vorbeikommen konnten. "Aber Mummy hat gesagt, dass ihr wieder drei neue Mädchen bekommen habt und deshalb erst mal nicht so weit fliegen dürft."
"Hera, also die Kollegin von deiner Mum hat gesagt, dass wir uns da noch richtig ausruhen müssen, weil das ja ganz anstrengend ist, ein Baby zu bekommen", sagte Millie. Béatrice nickte. "Aber wenn unsere Heilzunftsprecherin das mit der australischen Heilzunftsprecherin richtig hinkriegt könnt ihr ja am achten Dezember zur Willkommensfeier hinkommen", sagte Julius. "Das Ding ist schon durch, Julius", erwiderte Aurora Dawn und grinste. "Zunftsprecherin Laura Morehead hat mir für die Tage zwischen dem fünften und zwölften Dezember den Auftrag erteilt, mit den sowohl heilmagisch wie kräuterkundlichen Kollegen in Europa zusammenzutreffen, um die Exportvereinbarungen zwischen der Heilerzunft Australiens und der europäischen Assoziation magischer Heilkunst zum Abschluss zu bringen. Ich bekomme dafür die entsprechenden Vollmachten. Rosey hier darf auf der Reise mit, wenn ich sicherstellen kann, dass sie während der offiziellen Termine von Verwandten oder vertrauenswürdigen Bekannten betreut wird. Für England und Frankreich ist das ja kein Akt. Deutschland, Spanien und Belgien müssen noch abgeklärt werden. Aber am achten bin ich auf jeden Fall in Paris und kann sicher am Nachmittag nach Millemerveilles."
"Alles eine Frage der Organisation und der klaren Begründung", sagte Julius, der ja im Ministerium arbeitete. Béatrice stimmte ihm da zu und bot an, Rosey für die Gespräche in Paris zu betreuen, bevor Millie das machen konnte. "Oh, das wird Camille nicht freuen. Die wollte da schon drauf eingehen."
"ja, das mit dieser Kräuterhandelsvereinbarung, die wir ja im Sommer beschlossen haben, Camille sagt, die zuständige Ministerialbehörde hat dem nachgegeben, weil sowohl sie als auch Zunftsprecherin Eauvive da eine Menge Druck gemacht haben, auf diese Weise auch Rezepturen hochwirksamer Heiltränke zu kriegen. Ja, und der Kollege Tim Preston freut sich auch, dass seine neue dekontaminationsspülung dann auch ohne großen bürokratischen Hürdenlauf bis zu euch auf den fünften Kontinent gelangen kann."
"Und, war es anstrengender für dich, ein Mädchen auszuliefern als einen Jungen, Kollegin Béatrice?" fragte Aurora Dawn. "Sagen wir es so, es war wichtig, dass sie und ich uns danach lebendig in die Augen sehen konnten und dass ich jetzt genug Erfahrungen im Kinderkriegen habe, um noch besser als Hebamme zu arbeiten. Da habe ich dir ja jetzt was voraus, Kollegin Aurora Dawn."
"Ja, aber auch nur im Selbstausliefern. Im Kinder auf die Welt holen habe ich immer noch Vorsprung, selbst wenn deine Mutter damals vier auf einmal bekommen hat, deine Schwester Barbara zwei auf einmal bekam und wer sonst noch alles."
"Ach, hängt die Liste internationaler Hebammenrekorde auch bei euch in der Sano aus?" wollte Béatrice wissen. "Was meinst du denn? Die Kollegin Amalthea Honeydew legt viel Wert auf Fachkolleginnenmotivation. Die zwei einzigen, die wohl uneinholbar blleiben sind meine Vorgängerin als residenter Heilerin Melissa Thornapple und die US-amerikanische Kollegin Greensporn, die deinem Mitbewohner ja auch schon drei Geschwister zum Leben verholfen hat."
"Apropos Melissa Thornapple, wisst ihr jetzt mehr, wo sie gerade ist?" fragte Béatrice, während Rosey und Aurore ganz ruhig zuhörten. "Also, sie ist auf jeden Fall noch am leben, weil sonst schon was entsprechendes im australischen Heilerherold und der Zunftzentrale rumgegangen wäre. Aber wo sie gerade unterwegs ist weiß ich nicht, und ich habe eigentlich den regelmäßigsten Briefkontakt mit ihr", erwiderte Aurora Dawn. Béatrice nickte bestätigend.
"Ich lasse mir von Antoinette Eauvive die aktualisierte Liste zuschicken, um zu gucken, wer bei uns in Frankreich gerade den Rekord hält", sagte Béatrice. Dann wandte sie sich wieder an das Geburtstagskind Rosey Dawn: "Dann darfst du mit deiner Mum ja bald eine richtig lange Reise in ganz unterschiedliche Länder machen. Schon aufgeregt?"
"Au ja, ganz viel. Aber bei euch soll's ganz kalt sein, sagen Mum und Tante Laura, und deshalb soll ich immer ganz warme Sachen anziehen und Erkältungswegmachertrank dabei haben."
"Das Angebot an euch steht übrigens immer noch, dass ihr alle jetzt zwölf auch einmal die Weihnachtswoche bei uns im Land unten drunter verbringt, um am Weihnachtstag am Strand zu picknicken und im warmen Südpazifik zu schwimmen."
"Aber nur, wenn ihr sicherstellt, dass es da keine Haie gibt, Miss Dawn", meinte Béatrice. "Keine Sorge, wir haben da genug Krokodile, die aufpassen, dass da kein Hai an euch drangeht", konterte Aurora Dawn. Aurore verzog ihr Gesicht und fragte, ob das echt so war. "Keine Sorge, kleine Fast-Namensvetterin, die Badestrände werden nicht nur für die Muggel, sondern auch von uns von der Zaubererwelt so abgesichert, dass nichts mit scharfen Zähnen oder giftigen Nesselfäden euch und uns lästig wird. Nur die Wadditcher wollen unbedingt von Krokodilen oder Haien gekitzelt werden."
"Das wolltest du mir doch mal zeigen, wie das geht, Tante Rora", sagte Aurore. "Ja, nur dazu müsstet ihr entweder zu den Yankees von Neumakusanien oder zu uns hinkommen, weil ihr in Frankreich kein Wadditch spielt. Aber ganz ehrlich, Quidditch ist um viele hundert Besenlängen interessanter und spannender."
"Das stimmt", bestätigte Rosey. Julius hätte fast geantwortet, dass Rosey das ja sagen musste, weil Heathers Mann ja mit Quidditchbesen Geld verdient hatte, zumindest solange, bis die Australier meinten, nur noch Feuerblitze kaufen zu wollen. Aber damit hätte er sowohl Rosey als auch Aurora sehr heftig weh getan. Deshalb schwieg er besser.
"Gut, ihr seid dann morgen bei Laurentine und ihren Mitbewohnerinnen? Grüßt sie schön von mir", sagte Aurora Dawn. "Ja, von mir auch!" rief Rosey mit einer schon fast schrillen Stimme.
"Was ist mit Rosey, wenn die sechs wird, geht die dann schon nach Weihnachten in die Schule?" fragte Aurore ihre Eltern. "Nein, entweder lässt Aurora sie untersuchen, ob sie schon mit fünf eingeschult werden kann oder die wartet noch bis zum neuen Schuljahr in 2009", sagte Julius. Damit konnte Aurore, die schon die Zahlen bis 100 zusammenrechnen konnte noch nicht viel anfangen. Aber als ihre Mutter ihr erklärte, dass sie entweder noch vor dem sechsten Geburtstag in die Schule kam oder eben erst mehr als sieben Monate nach dem sechsten Geburtstag verstand sie das.
"So, die Mademoiselle Aurore, es ist jetzt vielleicht auch gut, wenn du ins Bett gehst um morgen wieder gut ausgeschlafen zu sein", sagte Julius. Aurore sah ihren Vater an, als sei es noch zu früh für's bett. Doch sowohl er, als auch Millie sahen sie sehr streng an. "Is' ja gut", grummelte Aurore und verabschiedete sich von ihrer Tante Trice, der sie jetzt auch beim Babykriegen zugesehen hatte und wusste, dass der das genauso weh getan hatte wie ihrer Maman.
"Ich glaube, die werte Madame Morehead hat es immer noch nicht aufgegeben, dich für die Heilerzunft zu werben", meinte Béatrice, als Julius ihr und Millie beim Stillen zusah. "Antoinette ja auch nicht", erwiderte Julius. "Kann sein, dass die zwei das deshalb zum Anlass nahmen, diese Auslandsreise zu planen. Na ja, werden sich auf jeden Fall alle freuen, noch vor Weihnachten was zu feiern."
"Stimmt, Mariä Empfängnis wird ja nur in den Kirchen selbst begangen, aber nicht groß gefeiert", meinte Béatrice. Julius musste erst überlegen. Dann fiel ihm ein, dass der achte Dezember ja eben jener hauptsächlich von den Katholiken begangene Feiertag der so genannten unbefleckten Empfängnis war, wo die von der so genannten Erbsünde Evas befreite Maria im Leib ihrer Mutter Anna empfangen wurde. Für ihn und auch für die Geschichte der europäischen Zaubererwelt stand dieser Tag dafür, dass seine Mutter Martha mitgeholfen hatte, die von Florymont Dusoleil erfundenen Kleidungsstücke zur Verhüllung der eigenen Zauberkraftausstrahlung nach Großbritannien zu schmuggeln, was vielen Dutzend Menschen das Leben gerettet hatte.
"Morgen der nächste Geburtstag", sagte Julius zu Millie und Béatrice. "Ja, mit Rorie, Chrysie und Clarimonde", bestätigte Millie. "Du darfst ihr auf jeden Fall alles gute von uns wünschen und erzählen, dass die werte Hera Matine uns beide mit langen unsichtbaren Ketten ans Wochenbett gebunden hat", sagte Millie. "Neh, lass das besser weg, Julius. Sicher wird Hera auch hingehen, wo ihre Nichte Louiselle ja auch da wohnt. Bring die werte Kollegin nicht auf interessante Ideen", erwiderte Béatrice.
"Ja, und auch nicht die Dame da im Bett neben mir", grummelte Millie. "Oder hast du vergessen, wie sie uns beide umsorgt hat, als Clarimonde auf die Welt kam?" "Öhm, ja, weiß ich noch", erwiderte Julius darauf. Dann lachten er und die zwei gerade erst wieder Mutter gewordenen Hexen im Apfelhaus.
Laurentine begrüßte alle eingeladenen Gäste. Julius war mit Aurore, Chrysope und Clarimonde herübergekommen und bat für Millie und Béatrice um Entschuldigung. Zudem waren Sandrine mit ihren Zwillingen Brian und Estelle, Céline und Robert mit allen bisher geborenen Kindern und auch Constance gekommen. Natürlich waren auch die Brickstons einschließlich Babette erschienen.
Laurentine ließ sich von Céline und Constance erzählen, wie es Cytera in ihrem ersten Halbjahr in Beauxbatons so erging. Immerhin war sie im grünen Saal gelandet, wo auch ihre Tante Céline und Laurentine gewohnt hatten. Ein wenig traurig stimmte sie, dass es in Beauxbatons Schüler gab, die meinten, Cythera wegen ihrer unehelichen Geburt aufziehen zu müssen, wenn keine Lehrerin oder kein Lehrer in der Nähe war. "Aber wir haben der geschrieben, dass die anderen nur deshalb so neidisch sind, weil die gerne selbst schon in Beaux das Kinderkriegen ausprobieren würden und genau wissen, dass sie das nicht dürfen", erwähnte Céline. Laurentine fragte: "Aber sie steckt das noch gut weg?""Sie hat mit den Kameradinnen einen guten Rückhalt, und Professeur Delamontagne hat ihr auch schon gesagt, dass sie sich nicht über die Typen aufregen soll, zumal sie ja keine Schuld hat, wie sie auf die Welt gekommen ist. Könnte nur sein, dass er da demnächst mal eine heftige Ansprache halten wird oder Königin Blanche", meinte Constance.
"Und ihr habt auch Kontakt mit der Saalsprecherin von den Grünen?" fragte Laurentine. "Das fange ich erst an, wenn ich von Delamontagne oder anderen Hinweise kriege, dass Cythera wegen dieser Nickligkeiten nicht mit dem Lehrstoff mitkommt", erwiderte Constance. "Ich will aber auch nicht den Eindruck vermitteln, Cythera in Watte einzupacken, weil das bekanntermaßen dann noch mehr Gehässigkeiten auslöst." Céline nickte bestätigend. Das hatten sie beide ja von Melanie Odin mitbekommen. Laurentine nickte nur bestätigend.
"Es ist doch schön, dass deine Maman die Umgangsregeln zwischen Lehrern und Schülern außerhalb der Unterrichtszeiten gelockert hat, Sandrine", meinte Laurentine zu ihrer ehemaligen Jahrgangskameradin in Beauxbatons. Diese deutete auf Aurore, Brian und Estelle sowie Claudine Brickston und meinte: "Das war ja auch ziemlich abwegig, wenn die meisten Kinder in Millemerveilles Verwandte haben, die Lehrer oder Lehrerinnen sind. Ja, und die Kinder der Lehrerinnen und Lehrer dürften dann ja auch keinen Kontakt zu ihren Elternteilen haben. Das war für Maman eine gute Gelegenheit, diese Abwegigkeit zu berichtigen."
"Ja, weil es ja in gewisser Weise noch abwegigere Sachen gibt", erwiderte Laurentine provokant. Sandrine nickte verhalten und sagte dann: "Sagen wir so, Laurentine, es ist gewöhnungsbedürftig, dass ich als Witwe mit den zweien alleine leben soll und du, eine unverheiratete Hexe, eine andere unverheiratete Hexe mit Kind in deine Wohnung aufgenommen hast und mir dabei die Erinnerungen an die dritte Runde im trimagischen Turnier in Beaux in den Sinn kommen." Laurentine wusste natürlich, was genau Sandrine meinte. Julius hatte ihr ja bestätigt, dass die damaligen Pflegehelfer jede Einzelheit der dritten Turnierrunde mitbeobachtet hatten, wo für die anderen Zuschauer an manchen Stellen nichts zu sehen gewesen war. Daher sagte sie nichts weiteres dazu, um keine friedlich schlafenden Hunde aufzuwecken.
Als sie mit Julius sprechen konnte fragte sie ihn, ob Millie nun genug Kinder bekommen hatte. Er erwiderte darauf: "Sagen wir so, die sieben, die ich ihr damals vorhergesagt habe sind jetzt auf der Welt. Ja, und sogesehen haben wir jetzt unseren Teil zur Erhaltung der magischen Menschheit erfüllt, sagen Millie und Béatrice."
"Du sagst das wegen Vita Magica oder wegen dieser ominösen Mondtöchter, bei denen Millie und du geheiratet habt?" fragte Laurentine. "Wohl für beide Gruppen, wobei die Mondtöchter auch damit zufrieden gewesen wären, wenn wir nur die eine Tochter bekommen hätten", raunte Julius.
Laurentine freute sich über die Geschenke, darunter selbstgemalte Bilder von Claudine und Chrysope. Julius hatte ihr zusammen mit Fflorymont Dusoleil eine Verbesserung seiner Laterna Magica angefertigt, die konzentriert gedachte Bilder in den Raum projizieren konnte, also nicht mehr allein auf vorbehandelte Bild- und Tonträger angewiesen war. "Damit kannst du im Unterricht Dinge oder Vorgänge vergrößert darstellen und in der Bewegung einfrieren, damit deine Schülerinnen und Schüler sie von allen Seiten ansehen können. Aber richtig stolz sind Florymont und ich darauf, dass das Projektionsgerät nur noch so groß wie ein handelsüblicher Lippenstift ist. Seine Mikromanipulatorvorrichtungen haben die Verkleinerung der Bauteile ermöglicht und der für die Duotectusanzüge entwickelte Pinkenbachexpander konnte die geringere Menge bereitgestellter Materie genausogut ausnutzen wie die ursprünglich benötigte Materialmenge. Du hast aber nicht den Prototypen, sondern die verbesserte Version 1.3 bekommen, die ausdrücklich auf von dem Anwender gewünschte Verbildlichungen anspricht und nicht gleich alles projiziert, woran einer denkt, der das Gerät in der Hand hält. Das war am Anfang lustig, wie wir das ausprobiert haben und na ja, sehr wilde Bildvorstellungen in den Raum geworfen wurden", erwiderte Julius und musste jungenhaft grinsen. "Soso, sind euch da manche Männerphantasien ausgerutscht und als räumliche Darstellungen entstanden?" fragte Laurentine. Julius nickte andeutungsweise. "Achso, und ich kann nur die Dinge und Töne wiedergeben, die ich auch wiedergeben will?" fragte sie. Julius bestätigte es und teilte ihr die beiden Codewörter für Beginn und Ende der Gedankenbildwiedergabe mit.
So konnte Laurentine das neue Hilfsmittel gleich ausprobieren und die auf eine Kugelzone von vier Metern Durchmesser wirkende Darstellung eines erwachsenen Einhorns in den Raum projizieren. das weißer als Schnee gefärbte Tier mit dem silbernen Horn trabte einige male im Kreis und ließ seinen silbernen Schweif dabei elegant schwingen. Dann hörten sie das räumlich vollkommen klingende Wiehern des Zaubertieres, bevor es wie eine ausgeschaltete Glühlampe erlosch. Babette meinte dazu, dass Julius sicher an die Vorführungen gedacht hatte, wie er ihr und ihren damals beiden ständigen Begleiterinnen Armgard und Jacqueline die Entstehung von Babys beschrieben hatte. "Stimmt, Babette, da habe ich auch dran gedacht. Nur dass bei der allerersten Version dieses Gedankenbildners die natürliche Entstehungsweise in den Raum gezaubert wurde."
"Mehr Einzelheiten sind nicht nötig", meinte Florymont Dusoleil, der mit Camille und Chloé unter den Gästen war. Babette und alle anderen jungen Erwachsenen verstanden es auch so und grinsten vergnügt.
"Vermarktet ihr diese Erfindung oder ist sie auf wenige Anwender beschränkt?" wollte Laurentine wissen. Florymont erwiderte: "Wenn du das im Unterricht richtig gut anwenden kannst und Geneviève sich nicht über irgendwas beschwert spiele ich mit dem Gedanken, den Imaginationsprojektor als Hilfsmittel für den Schulunterricht und für die Umsetzung amtlicher oder geschäftlicher Vorhaben anzubieten. Die Heilerzunft in Person von Hera Matine hat bereits Interesse angekündigt."
Hera Matine, die auch bei Laurentines Geburtstagsfeier anwesend war, nickte erst und fügte Florymonts Ankündigung hinzu: "Gut, es gibt schon sehr umfangreiche Illusionszauber, die im Unterricht für Heilmagieanwärterinnen und Anwärter erprobt sind. Aber für Erläuterungen außerhalb von Unterrichtsräumen ist dieser kleine Imaginationsprojektionsstift sehr gut geeignet. Florymont hat mir mit Julius' ausdrücklicher Anregung eine Ausgabe dieses Hilfsmittels angefertigt."
In Stellvertretung seiner Frau Mildrid überreichte Julius Laurentine ein Paar aus dünnen, goldenen Armbändern, in die kleine hellrote Schmucksteine eingearbeitet waren. "Die könnt ihr zwei auch zusammen tragen, mal sichtbar oder versteckt, je danach, wo ihr damit hingeht", erklärte Julius. Louiselle wisperte: "Ich erkenne, dass da irgendein Zauber drinsteckt. Welcher, Julius?"
"Millie sagte mir nur, dass es ein besonderer Feuerschutzzauber ist, also wohl einer, der gegen auf die Elementarkraft Feuer wirkende Zauber hilft und dass der solange wirksam bleibt, solange ihr die Armbänder jeden Tag eine Stunde lang von der Mittagssonne bescheinen lasst."
"Seit wann kennt sich deine Frau denn mit höheren Feuerelementarzaubern aus als jede andere Absolventin von Beauxbatons?" wollte Louiselle wissen. Darauf sagte Julius: "Das kann nur sie dir sagen, weil Latierre-Familiengeheimnis. Aber du darfst mir vertrauen, dass sie euch damit keinen Fluch anhängen will", erwiderte Julius.
"Gut, ich hatte zwar früher in Beauxbatons einige Schwierigkeiten mit Millie und ihrer roten Hexenbande. Aber das ist ja schon bald zehn Jahre her. Also traue ich ihr, wenn du ihr traust", sagte Laurentine und nickte Louiselle zu, die wohl überlegte, ob sie das ihr gereichte Armband hier vor allen Leuten einem höheren Magieerkennungszauber unterzog. Dann nickte Louiselle auch.
"So ergänzen wir einander immer weiter", meinte Louiselle dazu an Julius gewandt. Sie spielte damit auf das Xenographophon und den Kleiderfreundknopf an, den Laurentine erfunden hatte. Dem war nichts hinzuzufügen.
Während sie zu Abend aßen lauschten alle der Musik aus der Stereoanlage. So bekamen auch Aurore und ihre Schwestern mit, was in der nichtmagischen Welt gerade für Lieder gespielt wurden. Es waren Französische, englischsprachige und auch deutschsprachige Lieder. Dabei hatten Laurentine und Louiselle jedoch sorgfältig darauf geachtet, keine zur Gewalt oder hemmungslosen Geschlechtlichkeit auffordernden Texte abspielen zu lassen, aber keine reinen Kinderlieder ausgesucht.
Laurentine tanzte einmal mit Julius zu einem Stück, das eine Kölner Gruppe, die sonst eher für Karnevalslieder bekannt war, anlässlich der im Frühling gespielten Handballweltmeisterschaft in die Hitlisten gebracht hatte und übersetzte ihm den Kehrreim. "Wenn nicht jetzt, wann dann ...?"
Bei einem anderen deutschen Partylied über die Anbetung eines Sterns, der den Namen eines geliebten Menschen trug tanzte Laurentine mit Roger, während Julius mit Claudine herumhüpfte, weil richtiges Tanzen durch den Größenunterschied nicht möglich war. "Gut, dass wir gerade hier oben sind", meinte Joe dazu, weil die Gläser in den Schränken wackelten, wenn Julius und Claudine auf dem Boden aufkamen. "Der Hit wird in Deutschland bei jeder Festgelegenheit gespielt und war auch der Wiesenhit, also ein beliebtes Lied auf dem Münchener Oktoberfest", erklärte Laurentine und war froh, dass die Musik nicht von Schallplatte oder CD sondern von einer Digitalkarte abgespielt wurde.
Dafür konnte Claudine mit Brian Dumas einen mannierlichen Walzer tanzen, als ein französisches Tanzlied aufgespielt wurde.
Gegen neun Uhr abends bedankte sich das Geburtstagskind bei seinen Gästen und wünschte allen einen unbeschwerten Heimweg und weiterhin ein erbauliches und friedliches Miteinander. Dann flohpulverten sich die Gäste durch den Kamin in ihre jeweiligen Häuser zurück. Babette verließ mit ihren Eltern und den Geschwistern Claudine und Justin die Wohnung durch die Tür. Womöglich würde sie die Gelegenheit nutzen, mit ihren Eltern noch über die Familienangelegenheiten der letzten Wochen zu reden, bevor sie wieder nach Lyon zurückkehrte.
"Kann es sein, dass du Tante Hera angedeutet hast, bei ihr eine Ersthelferausbildung zu machen?" fragte Louiselle ihre Heimstattgeberin und eingetragene Partnerin. "Ich habe es ihr gestern nach dem Unterricht gesagt, dass es nicht unpraktisch ist, wenn ich die einfacheren Heilzauber auch kann, nachdem ich von dir die stärkeren Abwehr- und Kampfzauber gelernt habe und immer noch lerne. Sie meinte dann, dass ich das dann in den Ferien bei ihr lernen sollte und dass ich dann die gewisse Verpflichtung eingehe, für heilmagische Hilfeleistungen herangezogen zu werden, wie es ja bei Jeanne, Belisama, Sandrine, Millie und Julius der fall ist."
"Weil die internationale Vereinigung magischer Heilkundiger das so verlangt, dass Hexen und Zauberer, die die nicht in den allgemeinen Schulbüchern aufgeführten Heilzauber lernen, diese auf Antrag auch anzuwenden haben und dem residenten Heiler oder der Heilerin zur Verfügung stehen sollten. Das war ja, als diese Sauerei mit dem Fortpflanzungsrauschgas von Vita Magica passiert ist", sagte Louiselle. Laurentine bestätigte das. "Ich habe deshalb ja auch angefragt, weil ich als Lehrerin ja doch in die Lage geraten könnte, schnell Heilzauber anwenden zu müssen, wenn sich so Raufbolde wie Philemon Dusoleil prügeln und da nicht erst die residente Heilerin von Millemerveilles herbeigerufen werden soll. Geneviève Dumas hat erwähnt, dass alle sie selbst ja auch Pflegehelferin in Beauxbatons war und es bedauere, dass ihre Kolleginnen nur die Standardheilzauber wie Injuriclausa oder Episkye erlernt haben, aber keine Brüche versorgen können. Vielleicht kann ich bei den Eltern auf die Weise noch ein wenig schönes Wetter machen, ohne als reuige Sünderin rüberzukommen."
"Aha. Aber klar, dass die gute Tante Hera dir dann gleich eine halbe Heilerausrüstung mit Diptam und Erkältungsvertreibungstrank geschenkt hat", meinte Louiselle Beaumont dazu. Laurentine nickte.
Als Lucine im Bett lag beschlossen die beiden eingetragenen Partnerinnen den Tag mit fünf langsamen Tophits aus dem nicht mehr lange dauernden Jahr, darunter eine gefühlvolle Ballade, in der die Sängerin den auch leiblich geliebten Partner als "das Beste", was ihr je passiert sei zu preisen. "Das beste, nicht der oder die", schnurrte Louiselle, als sie zu diesem Stück einen klassischen Klammerblues tanzten, wie er in Beauxbatons und beim Sommerball von Millemerveilles nicht erwünscht war. "Hauptsache das beste", säuselte Laurentine zurück.
Als Louiselle nach den ruhigen Tanzstücken ins Bad ging, um sich bettfertig zu machen prüfte Laurentine, ob sie eine Nachricht von ihrer Zweiwegspiegelpartnerin aus Deutschland erhalten hatte. "Lanatea, Nachrichten?" wisperte sie, als sie in ihrem Arbeitszimmer saß. "Eine neue Nachricht von Helga von sieben Uhr und elf Minuten abends", klang die künstliche Stimme der besonderen Zweiwegspiegel-Bezauberung in Laurentines Kopf. Dann hörte sie auf dieselbe Weise Helga Säuselbachs Stimme: "Hallo Laurentine. Ich las, dass du heute Geburtstag hast. Da hast du sicher keine Zeit, um mit mir lange zu reden. Auf jeden Fall alles alles Gute auch von Oma Gesine, darf ich dir ausrichten. Bis dann irgendwann!"
Sichtlich erschöpft aber auch erfreut gingen die beiden Hexen um halb elf zu Bett. Sie gingen davon aus, dass sie nun ruhige Wochen vor sich hatten.
Giorgio Benvenuti studierte gerade die Prozessakten des Jahres 2005. Sämtliche Verfahren mussten neu verhandelt werden, weil die Richter allesamt Ladonnas Hörige gewesen waren. Hierfür mussten Termine neu vereinbart werden.
Es klopfte an der Tür. Giorgio fragte: "Wer da?" "Antonetti, Signore Benvenuti", erwiderte eine Männerstimme. "Ah, noch eine?" fragte Benvenuti. "Ja, Signore. Jetzt die vierte."
"Kommen Sie rein, Rico!" rief Benvenuto. Darauf rasselten die sechs in Türblatt und -rahmen versteckten Verriegelungen und die Tür sprang klickend auf. ein hagerer Zauberer in der Bekleidung der Sicherheitstruppen trat ein und klappte die Tür wieder zu. Er übergab seinem zweithöchsten Vorgesetzten einen Zettel.
"Aha, bei der Halbriesin ist also auch so ein Ding gewesen. Wieso kommen die jetzt erst darauf, uns die Dinger zurückzugeben, Rico?"
"Weil die zu summen angefangen haben, als wollten sie gleich laut losdröhnen, Signore Benvenuti", erwiderte Antonetti. Da haben die erst begriffen, was sie da in ihrem ganzen Wust hatten", fügte er noch hinzu.
"Und, hat diesmal eine Kollegin die Tafel prüfen könnnen, ohne dass sie zu Staub zerfiel."
"Öhm, anfassen ging. Aber die Tafel gab nichts preis. Als sie mit Enthüllungszaubern behandelt wurde zersprang sie in tausend Scherben. Gut, dass die Prüferin einen Drachenhautpanzer und eine Schutzbrille gegen blendendes Licht, Hitze und Säurewirkung trug", sagte Antonetti.
"Dann sind es also allein bei uns in italien vier Tafeln, die von ehemaligen Rosenschwestern gefunden wurden. Von wem stammt die letzte?" wollte Benvenuti wissen. "Gianna Pontevechio, ehemalige Regionaleiterin Ligurien aus Ladonnas Gnaden."
"Ist sie noch im Verhörraum?" fragte Benvenuti. "Natürlich, Signore Benvenuti", erwiderte Rico Antonetti.
"Gut, dann befrage ich sie, woher sie die Tafel hat und warum zum Pluto sie jetzt erst damit herüberkommt, wo wir sie bereits im März befragt haben, ob sie noch was von ihr hat."
"Das hat sie schon erzählt. Sie hat im Zuge ihrer Ahnenforschung eine Tropfsteinhöhle in Ligurien gefunden, in der ihre Ururururgroßmutter etwas aufbewahrt haben soll, darunter angeblich auch die Tafel, von der es hieß, dass sie von der Rosenkönigin selbst stammt."
"Oh, schön, jetzt schon!" spöttelte Benvenuti. Er konnte sich denken, dass die ehemalige Rosenschwester es irgendwie angestellt hatte, dem Stuhl der Wahrheit was vorzuenthalten.
Im späteren Verhör fand Benvenuti heraus, dass das Wissen um das Erbe von Giannas Urahnin nur deshalb nicht vorher enthüllt worden war, weil die darauf abzielende Frage nicht gestellt worden war. Damals war gefragt worden, ob sie noch Schriftstücke oder Gegenstände von Ladonna in Besitz habe. Dem war nicht so. Nach dem Erbe einer Urahne hatten sie damals nicht gefragt, diese Esel. Somit wollten sie alle schon einmal befragten dreihundert bekannten Rosenschwestern erneut vorladen, um sie nach Hinterlassenschaften ihrer Vorfahren zu befragen, die bereits mit Ladonna zu tun gehabt hatten. Denn Benvenuti wollte nicht davon ausgehen, dass alle irgendwo versteckten Tafeln im Zaubereiministerium abgegeben wurden. Sollten sie Stücke eines magischen Gefüges sein, so mochte dieses vielleicht schon unrettbar zerstört sein. Doch sicher sein konnte er da nicht.
Laurentine telefonierte am Jahrestag jener traurigen Ereignisse von 2001 mit ihrer Großmutter Monique. Zeitgleich saßen Catherine und Louiselle im Arbeitszimmer Laurentines, das sie zu einem Klangkerker gemacht hatten. So konnten sie hören, was Laurentine sagte, ohne dass Laurentines Großmutter mitbekam, dass noch jemand in der Wohnung war. Abgesehen davon hatte Catherine ihrer Ligakameradin Louiselle einiges zu erzählen, von dem sie nicht wusste, ob Laurentine das wissen sollte oder nicht.
"Es sind fünf Stück, Louiselle. Jetzt hat auch die einen Risen in der Ahnenlinie vorweisende Ex-Rosenschwester Celestina Quatroventi eine solche Obsidiantafel übergeben, weil die sich geregt hat. Ja, und wie bei den vier anderen, die von ehemaligen Gefolgshexen Ladonnas abgegeben wurden zerstörte dieses Artefakt sich in einem blutroten Feuer, als ein Zauberer sie anfasste. Ja, und noch was, Louiselle, Celestina Quatroventi war bei der Übergabe laut dem Bundesgenossen Montecello von einer grünlichen Aura umgeben, als müsse sie sich mit einem besonderen Schild abschirmen. Diese Aura erlosch, als sie die schwarze Tafel in die aus Koboldsilber gemachte Schatulle gelegt und diese verschlossen hatte. Torregrande, der immer noch Minister ist, geht davon aus, dass die ehemaligen Rosenschwestern ihre Dachböden oder Keller entrümpelt und dabei fragwürdige Treuegeschenke ihrer ehemaligen Anführerin wiedergefunden haben", sagte Catherine. Louiselle nickte und hörte weiter zu. "Ja, und jetzt ergibt eine Passage aus Ladonnas Tagebuch einen Sinn, dass sie dafür gesorgt hat, dass ihre wahren Schwestern wüssten, was zu tun sei, wenn sie da selbst verwelkt sein würde. Ich habe darauf die ganze Übersetzung noch einmal durchgelesen und nach weiteren Hinweisen auf mögliche Hinterlassenschaften gesucht. Ergebnis: Außer diesem einen Satz hat Ladonna nichts in ihr Tagebuch geschrieben."
"Du meinst, diese Tafeln sind magische Testamentskopien von Ladonna. Aber dann müssten die sich und eine untreu gewordene Schwester schon vernichten, wenn diese sie anfasst. Abgesehen davon gilt Ladonna seit dem zweiten Dezember 2006 als verschwunden, und der Blutsiegelzauber, von dem wir es hatten, erlosch einen Monat später. Wieso ist dann nicht gleich offenbart worden, was auf diesen Tafeln steht? Oder bilden die Tafeln Teile eines Ganzen, dass zusammengesetzt werden muss, um das Testament der Rosenkönigin zu enthüllen."
"Sogesehen könnten wir demnach beruhigt sein, dass diese Enthüllung nicht mehr möglich ist, wenn fünf der verteilten Tafeln zerstört sind", erwiderte Catherine. "Doch ich glaube das nicht, und du offenbar auch nicht, sehe ich dir an."
"Du hast Ladonnas Tagebuch entziffert und bist außerhalb ihrer Schwesternschaft die einzige, die ihre Geschichte am besten kennt", sagte Louiselle, während Laurentine ein wenig lauter sprach, als müsse sie die Unterhaltung ihrer beiden Hausmitbewohnerinnen übertönen. Offenbar ging es um ihre Cousine Hellen in New York. "Hattest du nicht was von sieben Regionalstatthalterinnen auf der italienischen Halbinsel erwähnt? Hat Celestina Quatroventi dazugehört?"
"Laut Montecello hat sie nicht zu den Statthalterinnen gehört. Ja, sie konnte deren Namen nennen, nachdem sie die Tafel abgegeben hatte", sagte Catherine. "Ja, und die haben sich auch selbst gestellt, als sie aus der langen Ohnmacht erwachten. Also standen sie nicht mehr unter Ladonnas Bann. Aber wie gerade erwähnt, ich glaube nicht, dass die Tafeln Teile eines Ganzen sind, das zusammengesetzt werden muss, sondern jede für sich was enthalten, was Ladonna nach ihrem körperlichen und seelischen Ende fortgeführt haben will."
"Das fürchte ich auch. Ja, und weißt du was, Catherine, auch wenn ich nicht alles von Ladonna mitbekommen habe, was es über sie zu wissen gibt behaupte ich jetzt mal, dass ihr Testament eine Aufforderung enthält, dass ihre treuesten Schwestern die eine, sie alle führende Nachfolgerin auszuwählen, und zwar in einem Ausscheidungskampf wie es bei den Nachtfraktionsschwestern üblich ist, wenn zwei sich um die Führerinnenschaft streiten. Aber wenn die aufgewachten Ex-RegionalStatthalterinnen ihre Erbstücke von Ladonna freiwillig abgegeben haben findet dieser Kampf nicht statt, oder?"
"Mémé Monique, Hellen legt's halt darauf an, berühmt und erfolgreich zu werden. Als Frau muss sie bei euch da mehr um sich hauen und nach unten treten als ein Mann. Bedauerlich, dass du es dann auch abkriegst", hörten sie Laurentine sagen. Dann antwortete Catherine auf Louiselles Frage: "Das hängt davon ab, wie viele Tafeln Ladonna in Umlauf gebracht hat und was sie eigentlich beinhalten. Diese grüne Aura, die Celestina Quatroventi umgeben hat besorgt mich. War es ein Schutzzauber oder ein Fremdbestimmungszauber, gegen den sie sich nur wehren konnte, weil sie einen Anteil Riesenblut im Körper hat?"
"Die Frage kann ich dir jetzt wieder beantworten", sagte Louiselle. "Laut den Berichten über Ladonnas Ende soll dabei doch eine grün leuchtende TVE entstanden sein, die nicht Ladonnas Willen durchgesetzt hat, sondern im Gegenteil alles von ihr angerichtete aufgehoben und umgekehrt hat, sofern es noch lebende Opfer ihrer Taten betraf. Es mag also sein, dass sie wirklich teilfremdbestimmt wurde, diese Tafel abzugeben. Wahrscheinlich haben auch die vier anderen Besitzerinnen deshalb so gehandelt, nur dass die nicht von so einer grünen Aura umflossen wurden. Oder wurde sowas erwähnt?"
"Nein, wurde es nicht, weil wir das dann ja als gemeinsames Merkmal verzeichnet hätten", sagte Catherine und nickte. Dass transvitale Entitäten, kurz TVEs im Stande waren lebende Menschen zu beeinflussen wusste sie aus den Berichten ihrer Mutter über jene TVE, die sich aus den Seelen der entkörperten Hexen Aurélie Odin und Claire Dusoleil gebildet hatte und auch, weil Ashtaria eine solche TVE war, die mächtigste bisher bekannte überhaupt. So sagte sie: "Die Frage ist nur, ob diese fünf Tafeln alle sind, die im Umlauf sind oder ob es irgendwo noch welche gibt, von denen gegenwärtige Hexen und Zauberer nichts wissen und auf die diese TVE nicht zugreifen kann, weil sie dazu lebende Erfüllungsgehilfen braucht."
"Hmm, klingt paradoxerweise beruhigend und unheimlich zugleich", erwiderte Louiselle. "Das beruhigende ist, dass die TVE offenbar verhindern will, dass Ladonnas letztes Vermächtnis enthüllt oder gar erfüllt wird. Das unheimliche daran ist, dass sie offenbar gezielt auf solche Leute einwirkt, die Ladonna zu ihren Geheimnisträgerinnen gemacht hat, also auf jeden Fall Hexen, weil die Tafeln ja bei Kontakt mit Zauberern verbrannt sind. Zum Glück haben die Betroffenen ja fluchsichere Handschuhe getragen."
"Ja, und so wie du das sagst gilt dann auch als gesichert, dass Ladonnas Geist in dieser TVE aufging und den noch darin enthaltenen Seelen vollständig unterworfen ist, sodass sie ihr ganzes Wissen ausnutzen und gegen Ladonnas ursprüngliche Absichten handeln kann beziehungsweise muss", spann Catherine den Gedanken Louiselles weiter.
"Ja, da war das, was Maman und ich am Tag nach deinem sechzigsten abgeliefert haben ja noch harmlos", hörten sie Laurentine mit einem ätzend spöttischem Unterton sagen. Beide Ligahexen sahen einander vielsagend an. "Wahrscheinlich hat dir Laurentine gleich eine Menge neues aus den USA zu berichten", meinte Catherine. "Aber bitte sage ihr von unserem Gespräch nur, dass die einstmals von Ladonna unterworfenen Zaubereiministerien nach weiteren Hinterlassenschaften von ihr suchen und dass die Liga sie dabei unterstützt", bestand Catherine darauf, dass Louiselle nichts von den schwarzen Tafeln erzählte. Catherine wusste ja nicht, dass die beiden Hexen, die seit mehr als einem Jahr in der Wohnung über der ihren wohnten, maßgeblich zu Ladonnas Entmachtung und zur Entstehung jener grünen TVE beigetragen hatten.
"Ich werde ihr nichts erzählen, was sie nicht unmittelbar betrifft", erwiderte Louiselle.
"Was soll ich Tante Suzanne erzählen, falls die auch noch mit mir spricht, Mémé Monique?" hörten sie Laurentine fragen. Welche Antwort sie bekam bekamen die zwei Ligakameradinnen jedoch nicht mit, weil sie nicht über magische Ohren wie Linda Latierre-Knowles verfügten. So sagte Catherine: "Du darfst ihr gerne sagen, dass wir Brickstons einschließlich Babette über die Weihnachtswoche bei meinen Schwwiegereltern in Gloucester sein werden. Wir sind zumindest froh, dass wir denen erzählen dürfen, was wir offiziell machen und dass Babette in einer erfolgreichen Quidditchmannschaft mitspielt."
"Und Babette reist mit euch zusammen? Ich dachte, die will jetzt nur noch ihr eigenes Leben leben", meinte Louiselle.
"Na ja, sie interessiert sich dafür, wo ihre Großeltern väterlicherseits jetzt wohnen, weil die ja bisher nicht da war und Gloucester ja auch eine interessante Geschichte hat. Die haben ja mittlerweile die Schäden der großen Flut vom 23. Juli beseitigt. Zumindest weiß ich, dass die okkulte Bibliothek unter der Kirche St. Mary de Lode noch existiert. Wenn wir das nichtmagische Touristenprogramm absolviert haben bring ich Babette dazu, mit mir da mal reinzugehen und zu prüfen, wofür sie sich nach Quidditch interessieren könnte."
"Ist da nicht Horatio Anttrail der Bibliothekar? Blanche, also deine Mutter, hat ja mal erwähnt, dass sie ihn während ihrer Studienzeit in Oxford getroffen hat."
"Ja, stimmt, der ist da noch, und der wird da wohl auch bis zu seinem Tod bleiben, sofern der nicht wie Cuthbert Binns eines Tages aufsteht und seinen toten Körper im Bett liegen lässt und einfach zur Arbeit schwebt, als wenn nichts wäre", meinte Catherine dazu. Louiselle lachte. Sie wusste ja genau, wen Catherine meinte, wo sie von Julius Latierre ja auch alles nicht als streng geheimes Zeug aus Hogwarts berichtetes kannte.
"Das könnte ihm wahrhaftig widerfahren", meinte Louiselle dazu. "Gut, das darf ich Laurentine also erzählen", fügte sie noch hinzu.
"Gut, Mémé Monique, dann mache ich jetzt die Leitung wieder frei, falls Tante Suzanne oder Vicky dich noch einmal anrufen wollen", hörten sie Laurentine. "ich denke, gleich ist die Unterhaltung vorbei, dann sollten wir auch durch sein", sagte Catherine zu Louiselle. "Ich danke dir, dass du mir die neuesten Sachen aus der Liga berichtet hast. Dann bin ich jedenfalls gut vorbereitet, wenn das Treffen am Monatsende stattfindet", sagte Louiselle. "Ja, werde ich wohl wieder weihnachten hinfahren, Mémé Monique. Ansonsten bin ich ja bei meinen direkten Nachbarn gut untergebracht. Bis dann, Mémé Monique!" Sie hörten noch, wie Laurentine einen Kuss ins Telefon schmatzte und es dann in seine Ladestation zurückstellte, was mit dem typischen Signal für beginnende Aufladung vermeldet wurde. "Catherine, Lou, ihr könnt jetzt wieder rauskommen!" sagte sie leise vor der Tür. Louiselle sah Catherine verschmitzt an. Diese verstand. Sie warteten. Erst nach einer Minute ging die Tür auf, und Laurentine trat ein.
"Ich kann es ihr immer noch nicht sagen, dass wir zusammen sind, Lou. Ich hake das immer unter dem Gesamtpaket Zaubererwelt ab", seufzte Laurentine. "Bis jetzt macht Mémé Monique auch keine Anstalten, dass sie mich besuchen will, weil sie noch genug um die Ohren hat beziehungsweise einige Stürme im Wasserglas zu überstehen hat, um diesen Muggelausdruck zu gebrauchen."
"Catherine hat mir gerade gesagt, dass sie mit der gesamten Familie über Weihnachten in Gloucester sein wird, da past noch eine Muggelmetapher."
"Die von der sturmfreien Bude?" fragte Laurentine. Catherine räusperte sich verhalten. Dann sagte sie: "Ja, es ist jetzt amtlich, dass wir, also Joe, Babette, Claudine, Justin und ich am neunzehnten Dezember nach England fliegen und Joes Eltern da besuchen. Jennifer hat zwei große Gästezimmer für uns alle, Joe und ich schlafen mit Claudine und Justin im gleichen zimmer, Babette kriegt ein eigenes Zimmer, eine Bedingung, weshalb sie überhaupt mitkommt und weil ich ihr was von der magischen Geheimbibliothek unter einer der dortigen Kirchen vorgeschwärmt habe."
"Eine magische Bibliothek unter einer christlichen Kirche?" wunderte sich Laurentine.
"Ja, weil diese Kirche, St. Mary de Lode, auf den Überresten eines altrömischen Tempels errichtet wurde, der der Hecate geweiht gewesen sein soll. Deshalb wurden dort magisch relevante Schriftrollen verstaut und gegen nichtmagischen Zugang abgesichert."
"A ja, sowas könnte uns auch interessieren, nicht wahr, Lou?" wandte sich Laurentine an Louiselle.
"Ich habe schon davon gehört. Sie gilt als eine der Außenstellen der arrkanen Fakultät der Waterside-Universität von Oxford gleich neben dem Fluss Isis, den die Londoner als Themse kennen."
"Na ja, aber von Oxford nach Gloucester ist es ja doch ein gutes Stück, okay, nicht in der Zaubererwelt", erwiderte Laurentine.
"Die haben in jener arkanen Fakultät ein transpiktorales Portal wie das, über das es zu den Räumen der amtierenden Schulleiterin von Beauxbatons geht", sagte Catherine. Damit konnten Laurentine und Louiselle was anfangen, weil beide stellvertretende Saalsprecherinnen gewesen waren.
"Na ja, muss meine Großmutter nicht wissen, dass ich über Weihnachten offiziell allein bin", meinte Laurentine. "Die hat genug wegen Hellen um die Ohren. Die spielt sich nämlich jetzt als erfolgreiche Karrieredame auf. Sie hat sich mit ihrer Mutter und ihrer Schwester verkracht und behauptet, mit denen nichts mehr am Hut zu haben, ja dass ihre Familie ihr am Ende noch die Karriere verderben könnte. Meine Großmutter meinte dann mal wieder, die Familienschlichterin sein zu müssen und hat sich von ihr einen Spruch eingefangen, dass eine, die mal geglaubt hat, dass ein Priester auch ein Engel sei ihr nicht zu raten hätte, mit wem sie wie zurechtzukommen hätte und bei der Gelegenheit noch rausgelassen, dass sie im nächsten Sommersemester nach Harvard wechseln würde, wenn das mit dem Beaufort-Stipendium für begabte Frauen klappen würde, wovon sie natürlich ausgeht."
"Harvard? Ist das nicht eine dieser Elitehochschulen in den Staaten? Da gibt es doch auch eine arkane Fakultät für internationales Zaubereirecht und den Sitz für die internationale Assotiation praktizierender Alchemisten okzidentaler Ausrichtung IAPAOA", wusste Louiselle."
"Das darfst du gerne Julius erzählen. Ich hab's doch eher mit Zauberkunst und Verwandlung", sagte Laurentine.
"Geht davon aus, dass der das schon weiß, wo der einen Dauerdraht in die Staaten hat", erwiderte Catherine. "Ja, und Hellen, die wir ja bei der Beerdigungsfeier für deine Eltern kennenlernen durften, hält sich bereits für eine erfolgreiche Anwältin, oder was genau will sie werden?" wollte Catherine wissen.
"Staatsanwältin, Richterin, Bundesrichterin oder vielleicht die erste nichtmagische US-Präsidentin, natürlich erst, wenn sie nicht über irgendwas stolpert und ihre Schwester Victoria Louise ihr nicht mit ihrer eigenen Lebensplanung aus Versehen die Tour vermasselt", ätzte Laurentine. "Jedenfalls bin ich froh, doch ein paar tausend Kilometer Atlantik zwischen ihr und mir zu haben, dass ich mich mit ihr nicht anlegen muss", sagte sie noch.
"Nicht gerade eine gute Stimmung, wo deine Mémé heute diesen traurigen Tag erlebt", sagte Louiselle. "Frag mich mal. Ich war die letzte, die meinen Großvater Henri noch lebend gesehen hat", grummelte Laurentine. Doch dann lächelte sie wieder: "Ich gehe davon aus, dass meine Großmutter sich jetzt ganz darauf einstimmt, das mit Hellen zu klären, auch wenn sie dabei womöglich eine Menge blaue Flecken auf der Seele abkriegen wird."
"Ja, oder blaue Augen", meinte Louiselle. "Aber so was ähnliches hat Großtante Zoé auch nicht davon abgehalten, Streitigkeiten in der Familie zu schlichten, da war die echt gut drin", sagte Louiselle. Laurentine wirkte so, als müsse sie über etwas ganz scharf nachdenken. Catherine erwiderte in dieser Zeit: "Nicht nur in ihrer Familie. Die hat sich damals auch mit meiner Urgroßmutter Claudine und einer Hexe namens Anouk Fontchaud zusammengesetzt, weil da was sehr im Argen lag, war kurz vor dem Höhepunkt von Grindelwalds Machtstreben", sagte Catherine. Louiselle nickte. Offenbar kannte sie diese Geschichte auch.
"Gut, wenn Mémé Monique das für richtig hält. Ich meine, sie hat es ja damals auch bei meiner Mutter und mir versucht, obwohl sie da überhaupt keine Ahnung hatte, warum wir uns auseinandergelebt haben und stand damals wohl noch unter dem Einfluss dieses Drogenverschiebepriesters Rojas", sagte Laurentine verdrossen. Catherine nickte ihr beipflichtend zu, ebenso Louiselle. "Auf jeden Fall ist sie eben jetzt mit anderen Sachen beschäftigt als sich um mich zu sorgen", fügte Laurentine noch hinzu.
"Ui, schon so spät?" fragte Catherine nach einem Blick auf die Wanduhr im Arbeitszimmer. "Dann gehe ich jetzt besser auch wieder runter, bevor Joe mich vermisst meldet." Sie stand auf und verabschiedete sich von den zwei direkten Wohnungsnachbarinnen.
Als Catherine durch die Wohnungstür war winkte Louiselle Laurentine noch einmal zu, sie in das Arbeitszimmer zu begleiten. Dort berichtete sie ihr, was Catherine ihr mitgeteilt hatte, eben weil sie und Laurentine unmittelbar mit Ladonnas Machenschaften zu tun hatten und es darum ging, dass Lucine nicht doch noch von rachsüchtigen Rosenschwestern heimgesucht werden konnte.
"Und auf diesen Tafeln hat nichts oder besser noch nichts gestanden?" fragte Laurentine. "Eben das ist es ja. Die wurden allen Berichten nach in Kisten gehortet, die von den Ahnen der betreffenden Hexen sicher verwahrt worden waren. Also ist davon auszugehen, dass die Tafeln aus der ersten Ära Ladonnas stammen, so wie es ja auch Artefakte gibt, die Sardonia hinterlassen hat. Aber die betreffenden Hexen konnten nichts damit anfangen außer, dass sie behaupteten, es seien Hinterlassenschaften Ladonnas, und sie wollten nichts mehr damit zu tun haben.""
"Ja, und diese grüne Aura um die Hexe, die eine ähnliche Abstammung wie Madame Maxime hat, die könnte von der neu entstandenen TVE stammen?" fragte Laurentine.
"Catherine, die sie nicht persönlich gesehen hat, hält das für möglich. Ich halte das sogar für sehr sicher, dass die was damit zu tun hat, dass die Tafeln an das Ministerium abgegeben wurden. Du hast ja noch in Erinnerung, was sie damals gesagt hat. - Auch schon fast ein Jahr her."
"O ja, das habe ich noch sehr gut in Erinnerung", bestätigte Laurentine. "Sie will alles beseitigen, was Ladonna angerichtet hat. Aber warum jetzt erst und nicht wie damals gleich nach ihrer Entstehung?"
"Gute Frage", meinte Louiselle. "Womöglich ist was eingetreten, dass sie dazu bringt, diese Hinterlassenschaft zu beseitigen, bevor sie gefährlich wird."
"Ja, oder es tritt noch ein. Du sagst es ja, es ist schon fast ein Jahr her, dass wir mit der Kleinen nach Italien gereist sind", erwiderte Laurentine. "Am Besten klären wir das mit Hera, die interessiert das sicher auch, wo sie uns ja gewissermaßen auf die Bahn geschubst hat", sagte sie noch. "Gut, klären wir gleich morgen abend", stimmte Louiselle Beaumont zu.
Als die beiden Mütter Lucines in ihrem gemeinsamen Bett lagen dachte Laurentine daran, dass sie immer noch nicht mit Ladonna fertig waren. Von jener TVE, die sich selbst als Wächterin am Fluss der rastlosen Seelen bezeichnete, hatten sie seit jenem geschichtsträchtigen zweiten Dezember 2006 nichts mehr mitbekommen. Angeblich oder wahrhaftig wollte die ja aufpassen, dass die unruhigenSeelen verstorbener Veelas nicht in die Welt der Lebenden zurückkehren konnten. Laurentine hatte aufgehört, an klar beschreibbare Jenseitsreiche wie Himmel und Hölle zu glauben. Aber war es echt abwegig, dass es nicht sowas wie Daseinszustände gab, die mit einer friedlichen Gemeinschaft oder einem Gegeneinander in Wut, Hass und ewiger Trübsal gefangener Geister zu tun hatten? Von Claire war sie sich nun völlig sicher, dass sie in einer friedlichen Daseinsform weiterbestand. Das es Geister gab wusste sie ja schon seit ihrem zweiten Tag in Beauxbatons. Das waren die wegen Angst vor dem Dasein nach dem Tod oder unerledigter Aufgaben in der stofflichen Welt verbliebenen Seelen ehemaliger Hexen und Zauberer.
Um sich zu entspannen dachte sie an die Zeit zurück, wo sie am trimagischen Turnier teilgenommen hatte und da den Erfolgsdruck von ganz Beauxbatons auszuhalten hatte. Das war gegenüber der Verantwortung für die ganze magische und nichtmagische Menschheit ein Klacks gewesen.
Louiselle atmete tief und ruhig. Sie schlief schon. So blieb Laurentine mit ihren Gedanken alleine. Sie holte sich die Erinnerungen an den Abend ins Bewusstsein zurück, als der Feuerkelch die Teilnehmer des trimagischen Turnieres ausspuckte. Wie viele andere in Beauxbatons hatte sie gedacht, dass der Kelch ihren Klassenkameraden Julius als Beauxbatons-Champion ausspeien würde. Das war echt wie ein wuchtiger Hammerschlag, als Madame Faucon ihren Namen vorlas und erst mal eine Sekunde totale Stille eintrat, bevor die einen aus Enttäuschung weinten und die anderen Laute der Verwunderung ausstießen. Acht jahre war das jetzt her.
Sie glitt völlig in die Erinnerungen an die Zeit danach, an die Vorbereitungen auf die erste Runde, diesen gewaltigen bunten Würfel, in den sie mit den zwei anderen Champions hineinsteigen musste, die Runde mit den Elementarmonstern und schließlich die Runde mit den Toren des Ruhmes. Sie sah sich gerade in jenem Raum mit den übergroßen Möbeln und den ebenso ins riesenhafte vergrößerten Ausgaben ihrer Eltern und ihres Katers Maximilian, als die Ausgabe ihrer Mutter aus sich heraus smaragdgrün aufleuchtete. Gleichzeitig wechselte die Umgebung eines Riesenwohnzimmers zum Rand einer unendlich langen, steil abfallenden, mehrere kilometertiefen Schlucht, an deren Grund sie meinte, dahineilende Gesichter zu sehen und das von Wut und Verzweiflung getriebene Brüllen, Heulen und Winseln wie aus der Hölle selbst zu hören. Dann sah sie, wie sich die bisher ihrer Mutter gleichende Gigantin veränderte und zu einer Frau aus reinem grünen Licht wurde, jedoch immer noch dreimal so groß wie Laurentine selbst.
"Du wolltest den Fluss sehen, Laurentine, weil du nicht glauben konntest, dass es ihn gibt", sprach die grüne Leuchterscheinung mit lauter, wie eine große Glocke lange nachhallender Stimme.
"Das muss ein Traum sein", dachte Laurentine und wunderte sich nicht schlecht, dass ihre Worte mit mehrfachem Echo zu ihr zurückwehten. "Wie dem auch sei, Laurentine. Du hast davon vernommen, dass die Tafeln des Vermächtnisses wieder aufgetaucht sind. Fast alle konnte ich finden. Doch eine liegt auch für mich unerkennbar und unerreichbar fort. Sie mag sich offenbaren und das dunkle Werk fortsetzen, dass Ladonna Montefiori einst begann mit der einen, die ich nicht erblicken und befreien kann. Auch muss ich hier weiter wachen, da es in dem Land unter dem Sonnenuntergang, dass die lebenden Menschen Amerika nennen, Nachfahren Mokushas gibt, die gegen die jahrelange Unterdrückung und die neuen Anfeindungen aufbegehren und so denen Brücken bauen könnten, die darauf warten, in die Welt der stofflichen Wesen zurückzukehren. Doch werde ich wohl nicht umhin können, nachdem ich die letzte von mir erreichbare Tafel mit dem Vermächtnis der Rosenkönigin hoffentlich noch vor ihrer Enthüllung unschädlich machen kann aufzuzeigen, wo das letzte Vermächtnis auf jene Hexe wartet, die willens und fähig ist, es zu erheischen und in ihrem und damit auch Ladonnas Sinn zu verwenden. Erbitte von der Gebärerin eurer gemeinsamen Tochter die Aufmerksamkeit und die Hilfe, meine Beschreibungen des Ortes zu erhalten, um das was dort verborgen liegt entweder zu bergen und an einen anderen, nicht durch die letzte Tafel enthüllbaren Ort zu bringen oder was zerstörbar ist zu zerstören, bevor es Menschen an Leib und Seele schaden kann."
Laurentine lauschte dieser überirdischen Botschaft. Dann hörte sie ein leises, triumphales Lachen von dort, wo jener Fluss aus rastlosen Seelen floss. Eine Gestalt aus orangerotem Licht schwebte wie in einer unsichtbaren Seifenblase nach oben und überquerte die grün leuchtende Frauengestalt. Laurentine erkannte, dass es eine makellos schöne, unbekleidete Frau mit auffallend langen, seidigweichen Haaren war. Dann sah sie, wie jene grüne Riesenfrau blitzschnell ihre Hände nach oben streckte, kurz in den Knien federte und mit einem mächtigen Satz nach oben sprang. Sie bekam die dahinschwebende orangerote Frauengestalt in der unsichtbaren Blase gerade noch zu fassen. Sie drückte die Blase zusammen, bis es vernehmlich knallte und wie bei einem Böllerschuss vielfach widerhallte. Die orangerote Leuchterscheinung lag nun wie ein verängstigtes Menschenkind in den Armen der grünen Riesenfrau. Diese landete ohne Erschütterung oder irgendein Geräusch auf dem Boden dieser außerweltlichen Landschaft, wirbelte herum und schleuderte die laut vor Angst und Enttäuschung schreiende orangerote Erscheinung weit in die Schlucht hinunter.
"Du siehst, es gab offenbar wieder eine, die ein Tor in die lebendige Welt öffnen wollte. Ich muss hier aufpassen und kann nur von hier aus helfen. So bitte jene, die eure gemeinsame Tochter geboren hat, im Wachzustand an mich zu denken, wenn sie genug Zeit hat, alle meine Hinweise entgegenzunehmen und so niederzuschreiben, dass jene, denen ihr beide vertrauen könnt, an den Ort gelangen können, wo Ladonnas letztes Vermächtnis auf seine Enthüllung wartet, die Roseninsel."
"Sie soll deine Botschaften hören? Warum ist sie dann nicht auch hier, wo wir sind?" wollte Laurentine wissen. "Weil ihr Geist gerade an einem Ort weilt, zu dem ich keine Verbindung herstellen kann wie zu deinem. Sie erlebt in ihrem Schlafleben gerade etwas, das nicht mit diesem Ort verbunden werden kann, um sie auch herüberzuholen. Du hast an deine damals größte Prüfung gedacht, an die Herausforderung, aber auch die von allen Mitmenschen aufgeladene Angst vor Misserfolg. Daher konnte ich dich erreichen, weil du diese Angst bewältigt und die dir aufgetragenen Aufgaben erfüllt hast. Dorthin lasse ich dich nun zurückkehren, damit du im Bewusstsein deines Seins und deiner Erinnerungen wieder erwachen kannst, ohne vergessen zu haben, was du gerade von mir erblickt und vernommen hast."
Mit diesen Worten fand sich Laurentine in jener Küche, wo eine leibhaftige Hydra auf sie gelauert hatte. Sie durchlebte erneut, wie sie mit jenem aus der griechischen Sagenwelt bekannten Ungeheuer fertig wurde und den Schlüssel zum nächsten der acht Tore des Ruhmes gewann.
Erst als sie alle Teilaufgaben der dritten Runde gelöst hatte und der trimagische Pokal mit ihr nach oben schwebte wachte sie auf. Sie hatte wahrhaftig geträumt. Aber so kraftvoll, wirklichkeitsnah und in allen Einzelheiten, das war ihr zuletzt ergangen, als sie sich klar dafür entschieden hatte, den Weg in die Zaubererwelt fortzusetzen. Da hatte sie mehrmals an die "guten alten Tage" mit ihren Eltern gedacht und entsprechende Erlebnisse nachgeträumt. Insofern passte das, was jene grüne TVE gesagt hatte, dass sie mit ihr Verbindung aufnehmen konnte, weil sie an schwierige Aufgaben und deren Lösungen gedacht hatte. Ja, es war schon unheimlich, zu erkennen, dass sie von einer höheren Warte beobachtet wurde, die nichts mit der christlichen Vorstellung von Gott und seinen Engeln zu tun hatte. Aber es war auch erhebend, zu erkennen, dass es mit dem Tod eben nicht vorbei war und dass jemand, der oder die das eigene Leben entsprechend führte, in einer beruhigenden Weise fortbestand. Selbst eine Verbrecherin wie Ladonna Montefiori bekam die Möglichkeit, ihre Untaten zu sühnen und dann hoffentlich ein friedliches Dasein zu führen. Dass sie, Laurentine, das Medium für diese grüne TVE sein konnte war ihr zwar unangenehm. Doch es war eine erträgliche, lösbare Aufgabe, so wie die Durchquerung der Übungsabschnitte auf dem Weg durch die Tore des Ruhmes, die allgemeine Anerkennung nach dem Sieg im trimagischen Turnier und die damit ermöglichte Anerkennung ihrer Rolle als junger Hexe, die ihren Platz im Leben gefunden hatte und für sich und andere wichtige Sachen machen konnte.
Laurentine sah auf den Radiowecker auf ihrem Nachttisch. Er zeigte 02:31:22 Uhr an. Sie konnte also noch drei und eine halbe Stunde schlafen, bevor er sie und Louiselle mit dem Klassiksender wecken würde, den Louiselle als Weckprogramm bevorzugte.
Lichtwachenobristin Karla Klingenschmidt genoss diesen ruhigen Morgen. Seitdem Ladonna Montefiori entmachtet und alle noch verbliebenen Gefolgssklaven aus dem Bann der Feuerrose befreit waren hatte sie in der ihr zugeteilten Region nichts anstrengendes mehr zu tun. Die Anhörung, weshalb sie es damals vermocht hatte, dem Duft der Feuerrose zu entgehen, hatte sie gut überstanden, indem sie wie alle ihre mitgeflüchteten Kameradinnen und Bundesschwestern ausgesagt hatten, dass es eine Vorwarnung gegeben habe, die wohl eine feuerrosenduftfreie Gefolgshexe Ladonnas übermittelt hatte. Da man ihr das Gegenteil nicht hatte beweisen können und sie unter Veritaserum ausgesagt hatte durfte sie ihren Rang behalten.
Der Wandkalender über ihrem Schreibtisch zeigte für den 25. November das Bild in großen Bottichen herumstampfender junger Frauen, Vinzerhelferinnen bei der Traubenlese. Die gleich rechts daneben hängende Wanduhr zeigte, dass von ihrer Schicht schon eine halbe Stunde vergangen war.
Sie lauschte den halbstündlichen Meldungen aus den anderen Lichtwachenleitstellen. In Baden wurden drei Zauberer Verhört, die sich mit einem Rudel Zwerge eine Kneipenschlägerei geliefert hatten. Das würde diesem säbelrasselnden Schreihals Malin unter den schwarzwälder Bergen nicht gefallen, dass drei seiner Kundschafter in sowas verwickelt worden waren, dachte Karla. Dann kam eine Meldung aus der nordrheinischen Leitstelle Köln, dass ein lange nach dessen offiziellem Ende aufgetauchter Nachläufer Vengors versucht hatte, in die geheimen Katakomben unter der Kölner U-Bahn einzudringen, wo die wandernde Bibliothek des Larentius Crassus Horatius vermutet wurde, von der die Lichtwachen bis heute nicht wussten, ob es eine seit der Römerzeit verbreitete Legende war oder auf eine wahrhaftige Begebenheit zurückging. Es hieß, wer den Göttern Pluto, Mars und Hecate verbunden sei würde diese ständig den Standort wechselnde Büchersammlung finden und könne sich daraus Schriften der damals bekannten dunklen Künste und dunkler Verkehrungen der siderischen Magie verschaffen. Das lockte immer wieder den dunklen Kräften zugetane Glücksritter unter die Straßen von Köln. Doch wenn es den Aufbewahrungsort noch geben sollte, so hatten den doch sicher schon etliche entschlossene Hexen und machtstrebende Magier gefunden und sich daraus bedient, so dass dort nichts mehr zu finden war, dachte Karla. Auch in der geheimen Schwesternschaft, in der sie Mitglied war, gab es Hexen, die meinten, diese Bibliothek zu plündern. Gundula Wellenkamm, die seit der Rückkehr aus Ladonnas Rosengarten wieder ihren Platz eingenommen hatte, behauptete, dass die dort gelagerten Bücher gegen ein ausreichendes Blutopfer an den unheimlichen Bibliothekar per Geminius-Zauber vervielfältigt wurden, damit die Originale in der Bibliothek verbleiben konnten, oder dass die Bücher einen Rückkehrzauber enthielten, der sie nach dem Tod ihres Entleihers oder der Entleiherin in die wandernde Bücherei zurückteleportierte.
"Frau Oberst Klingenschmidt, eine Hannelore Kohlenglut wünscht eine Unterredung mit Ihnen!" erklang die Stimme von Leutnant Dagobert Hasensprung, ihrem Vorzimmerdrachen, wie sie ihn gerne in Abwesenheit nannte.
"Was will sie, mich umbringen? Dann soll sie sich im Foyer eine Nummer ziehen und abwarten, bis sie aufgerufen wird", erging sich Karla in einem ihrer schwarzhumorigen Antworten, für die sie nicht nur bei den Lichtwachen berüchtigt war. "Nein, zumindest nicht heute", erwiderte Hasensprung. "Sie behauptet, ihr wäre im Traum eine Vorfahrin erschienen, die sie auf ein altes Erbe hingewiesen habe, das mit Ladonna Montefiori zu tun hat. Sie hat die Stelle besucht, sich durch ein Blutopfer identifiziert und dort etwas gefunden, das sie unbedingt einer ranghohen Hexe unserer Truppen zeigen muss", erklang Hasensprungs Stimme wie aus leerer Luft heraus. Karla überlegte. Mochte es sein, dass es wirklich noch Hinterlassenschaften Ladonnas gab, die der Welt gefährlich werden mochten?
"Gut, Schicken Sie sie mit zwei weiblichen Schutzkräften zu mir, bestenfalls die Leutnants Storchenschnabel und Buttergras!" befahl Obristin Klingenschmidt.
"Zu Befehl, Frau Oberst", erfolgte die Bestätigung.
"Protectio in Sede nunc surge ad attentionem!" befahl Karla und streichelte beide Lehnen ihres fliederfarbenen Chefinnensessels. Mit leisem Knistern baute sich ein unsichtbarer, mehrfach gestaffelter Schildzauber um sie herum auf, der zwar körperliche Berührungen durchließ, aber jede feindliche Handlung und fast jeden Zauber auf denAngreifer zurückprellte, ohne auf den umstrittenen schwarzen Spigel zugreifen zu müssen. alle in Befehlsrängen tätigen Lichtwächter besaßen diese Vorkehrung, genau wie der Minister und die Abteilungsleiter.
Zwei Minuten später betraten drei Hexen ihr Büro. Zwei trugen die weißen Umhänge mit goldenen Verzierungen der Lichtwachen. Die dritte trug ein wadenlanges, königsblaues Seidenkleid und glitzernde Hochhackige Schuhe und einen kleinen, veilchenblauen Hexenhut, ganz eine wohlhabende Hexe. Der schwarze Lederrucksack mit den eingewebten Silberfäden passte jedoch eher zu einem Abenteurer als zu einer Dame. Die beiden Hexen in Weiß legten zum Gruß die rechte Hand an den Rand ihrer hohen Zauberhüte mit goldenen Spitzen und standen stramm. "Guten Morgen Frau Oberst. Wie befohlen begleiten wir die Bürgerin Hannelore Kohlenglut", meldete die dienstälterer der beiden Hexen in Weiß.
"Danke, Leutnant Storchenschnabel! Rühren, Leutnants!" bevahl Karla Klingenschmidt, ohne sich von ihrem Sessel zu erheben. Die zwei untergeordneten Kameradinnen entspannten sich.
"Guten Morgen Obristin Klingenschmidt. Mir wurde am Meldestand mitgeteilt, dass Sie sich mit in Niedersachsen gefundenen Hinterlassenschaften böswilliger Hexen und Zauberer befassen", sagte die Zivilistin ruhig. "Achso, ich bin Hannelore Kohlenglut Geborene Wellenkamm."
"Ich kenne Sie noch. Sie waren damals bei der Jahresversammlung der Wellenweberschwestern dabei", sagte Karla Klingenschmidt. "Sie haben ein Anliegen, das nicht auf mein Lebensende abzielt?" fragte die Obristin verwegen.
"Öhm, ich persönlich will Ihren Tod nicht, seitdem ich von dieser Erblast befreit wurde, die meine in den dunklen Gefilden der Hel schmachtende Vorfahrin mir aufgebürdet hat, weil sie für die italienische Dreiblüterin gestritten hat. Doch offenbar ist deren gieriger Geist noch nicht aus der Welt. Denn anders kann ich es nicht verstehen, dass mir meine ruchvolle Ahne im Traum verriet, wo ein von dieser italienischen Furie übergebenes Erbe zu finden war, von dem ich vorhin nicht wusste."
"Soso, und dieses Erbe steckt in diesem Wanderrucksack auf ihrem Rücken?" fragte Karla Klingenschmidt. "Ja, so ist es", bestätigte Hannelore Kohlenglut. "Da dieser Rucksack nur von Hexen berührt und durchforscht werden kann habe ich ihn natürlich von Ihren Mitarbeiterinnen durchsuchen lassen." Ich konnte eine überaus große, scheinbar unbeschriftete Tafel und eine handschriftliche Notiz bergen, die mutmaßlich von meiner Ahne stammt. Diese Tafel erbebt, als wolle sie jeden Moment zerspringen oder etwas verheerendes freisetzen. Laut der Handschrift soll sie eine Botschaft der Dreiblüterin enthalten, wo ein erst nach ihrem körperlichen und seelischen Verlassen der Welt enthülltes Vermächtnis auf eine würdige Nachfolgerin wartet. Da ich nicht diese Nachfolgerin sein will übergebe ich Ihnen die Tafel, auf dass sie sie entschlüsseln oder zerstören, sollte dieses von Nöten sein", erklärte Hannelore Kohlenglut.
"Sie meinen, falls diese Tafel nicht vorher uns zerstört", erwiderte Karla Klingenschmidt. "Natürlich", erwiderte Hannelore.
"Sie erwähnten am Meldestand, dass sie vom Ort, wo sie das Artefakt gefunden haben geträumt haben. Berichten Sie mir diesen Traum!" befahl die Lichtwachenobristin.
Zehn Minuten lang erzählte Hannelore Kohlenglut von einem intensiven Traum, bei dem sie die erwähnte Urahne angetroffen hatte, die in einer tiefgrauen Aschelandschaft unter bleigrauem, gestirn- und wolkenlosen Himmel herumgelaufen sei, so ähnlich wie sich trotz der Christianisierung noch viele deutschen Stämme die Unterwelt der kraft- und ehrlos verstorbenen vorstellten. Deshalb fragte Karla, ob die geträumte Gesprächspartnerin was erzählt hatte, ob die Unterweltherrscherin Hel ihr diese Kontaktaufnahme erlaubt oder gar befohlen habe. "Davon war nicht die Rede. Sie erwähnt nur, dass wer der Rosenkönigin nachfolgen will die Tafel der Wegweisung benötigt und hat mir eben erklärt, wo ich sie finde. Womöglich steckt in meinem körperlich-geistigen Erbgut ein magisch eingepflanztes und von einer Tochter zur nächsten weitervererbtes Geheimwissen, dass jetzt erst offenbart wurde, wo der Jahrestag der Befreiung ansteht", vermutete Hannelore Kohlenglut.
"Ach die alte Geschichte von den Legata sanguinis et animarum", seufzte Karla. Mit sowas hatten es die Lichtwächter in den letzten Jahrhunderten immer wieder zu tun gehabt, dass Nachfahren dunkler Hexen und Zauberer wie mit Situationsflüchen zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Situationen von einer Generation zur Anderen weitergereichtes Wissen erhielten. Bei den Sardonianerinnen in Millemerveilles sollte es ja im Jahr 2003 genauso gewesen sein", dachte Karla.
"Die Tafel soll nur von Hexenhand berührt werden, weil sie sonst zerspringt oder verbrennt oder was?" hakte die Obristin noch einmal nach. "Ja, so ist es", bestätigte Frau Kohlenglut.
"Gut, dann zeigen Sie sie mir doch mal her!" befahl Karla Klingenschmidt.
Hannelore öffnete den Rucksack und griff mit beiden Händen hinein. Dann zog sie behutsam etwas heraus, dass sich außerhalb der Öffnung verbreiterte, als sauge es frische Luft in sich ein. Am Ende hielt sie eine einen Meter große, halbfingerdicke schwarze Steinplatte in der Hand, die sichtbar vibrierte.
"Untersuchungsbank!" rief Karla. Mit lautem Doppelplopp verschwand ihr mit Akten beladener Schreibtisch und machte einem steinernen Versuchstisch mit Haltevorrichtungen und alchemistischen Untersuchungsgeräten Platz. Außerdem waren mehrere Runen in den Stein eingraviert, die die Bank für alles stoffliche unangreifbar machte und gegen natürliche und magische Ausprägungen des Feuers schützten. "Darauf ablegen, bitte!" forderte Karla die Besucherin auf, die aus dem magischen Rucksack hervorgeholte Tafel abzulegen. Sie kam der Aufforderung nach.
Als die Tafel auf der steinernen Untersuchungsbank lag erfüllte ein schwirrendes Brummen, als würde ein eifriger Kontrabassist immer die gleiche Saite seines Instrumentes bestreichen. Gleichzeitig jagten rote und blaue Funken über die Tafel, die Anstalten machte, von der steinernen Bank hochzuhüpfen. "Aha, wahrhaftig mit Blutzaubern und Elementarzaubern belegtes Material, von der Erscheinungsform her Obsidian", konstatierte Ella Storchenschnabel, eine der zwei begleitenden Lichtwächterinnen.
"Ja, eindeutig. Sie will sich der Untersuchung verweigern. Das wiederum fordert ja geradezu heraus, dieses Artefakt zu untersuchen", sagte Karla Klingenschmidt, während die schwarze Tafel einen halben Zentimeter über der Steinplatte schwebte und wild bebte.
"Dann halten Sie dieses Ding für wichtig genug, um sich damit zu befassen?" fragte Hannelore Kohlenglut. "Auf jeden Fall. Sie haben den Zettel mit, der die Tafel beschreibt?" fragte Karla. Zur Bestätigung holte die Besucherin ein zusammengefaltetes Stück Papier aus ihrem umhang heraus. Sie entfaltete es zu einem handgroßen Zettel und reichte ihn Karla. Als sie ihn in Vertrauen auf die sie umgebenden Schutzzauber in die Hand nahm ertönte aus dem Zettel ein wütender Aufschrei, gefolgt von einem blutroten Feuerball, der aus Karlas Handfläche aufstieg und knappunter der Zimmerdecke mit lautem Peng zerplatzte. "Nette Mitteilung!" kommentierte Karla und dachte daran, dass ihr Sessel merklich vibriert hatte. Offenbar war der Zettel mit einem Fluch beladen, der jeden, der ihn nicht anfassen durfte mit ins Verderben reißen sollte.
"Ich bitte aufrichtigst um Verzeihung. Das wusste ich nicht", erwiderte Frau Kohlenglut mit knallrotem Gesicht, während die zwei Begleitoffizierinnen ihre Zauberstäbe in Einsatzbereitschaft hielten.
"Man muss sowas nicht wissen. Aber womöglich war der Zettel nur auf eine blutsverwandte Hexe geprägt. Die für meine Person wirksamen Schutzzauber bewahrten mich nur deshalb vor der Falle, weil sie auf sowas eingestimmt sind. Allerdings ist damit auch der Inhalt dieser Mitteilung verpufft. Können Sie sich genau erinnern, was darauf stand?"
Hannelore Kohlenglut nickte und gab die vollständige Mitteilung wieder. Diese Bestand daraus, wie die Tafel von einer würdigen Nachfolgeanwärterin zu lesen war und dass nur eine würdige Nachfolgeanwärterin den Weg zu jenem sich erst nach dem Tod der Königin offenbarenden Versteck finden und die Nachfolgeprüfung ablegen konnte, um alle von der Rosenkönigin zusammengetragenen Schätze und Kenntnisse besitzen und benutzen zu dürfen.
"Wie erwähnt lehne ich diese Nachfolge ab. Dieses Weibsbild hat in der Zeit, die es wieder auf der Erde herumlief genug Unheil angerichtet", sagte Hannelore Kohlenglut. Die drei Lichtwächterinnen nickten zustimmend.
"Sie haben die Tafel untersucht?" wandte sich die Obristin an die zwei weiblichen Leutnants. Diese schüttelten die Köpfe und verwiesen auf andere Kolleginnen in den Rängen von Oberleutnants. Jedenfalls stand fest, dass die Tafel von Hexen berührt werden konnte, aber nicht die erwähnte Aufschrift enthüllte.
"Gut, so verfüge ich, dass dieses wild über dem Tisch bebende Artefakt bei uns bleibt und wir es untersuchen, Frau Kohlenglut. Erheben Sie Anspruch auf finanziellen Ausgleich?"
"Dafür müsste ich wissen, wieviel dieses Ding wert ist", grummelte die Besucherin. "Ja oder nein reicht mir aus", hakte Karla Klingenschmidt nach. "Nein, Sie dürfen das Ding behalten und alles damit anstellen, was es dazu zwingt, seine Geheimnisse preiszugeben. Ich will davon nichts mehr wissen. Ladonna ist für mich aus und erledigt", erwiderte die Besucherin. "Wie gesagt reicht mir ein Ja oder ein Nein völlig aus", wiederholte die Obristin ihre Aufforderung. "Nein", sagte die Besucherin dann noch verdrossen.
"Gut, dann dürfen Sie jetzt in Begleitung der beiden Leutnants das Lichtwachengebäude verlassen. Noch einen angenehmen Tag!" entgegnete Karla Klingenschmidt.
Die Leutnants Storchenschnabel und Buttergras führten die Zivilistin wieder hinaus. Die von ihr hiergelassene Tafel schwebte ruckelnd über der steinernen Untersuchungsbank.
Karla überlegte, ob sie dieses nun über der Bank schwebende flache Ding wirklich den Lichtwachenkameradinnen überlassen sollte. Wenn darauf wirklich der Weg zu einem gehorteten Schatz Ladonnas stand sollte der doch besser nicht von so Leuten wie Güldenberg und ihrem Vorgesetzten Wetterspitz gefunden werden. Außerdem hieß es doch, dass mehrere Erbinnen der ehemaligen Feuerrosenschwestern einen solchen Hinweis erhalten mochten und sich dann dort trafen, wo die ominöse Nachfolgeprüfung stattfinden sollte. Laut Hannelore Kohlenglut sollte das eine Insel sein, eine unortbare und für Maglos unauffindbare Insel, wie es sie zu Dutzenden in der magischenWelt gab. Feensand war ja auch so eine. Dann fiel ihr ein, dass sie sich besser nicht um die Nachfolge Ladonnas bewerben sollte, da dies auch heißen konnte, das dieses dreiblütige Weib noch eine Art Instruktionszauber, vielleicht in Form eines Erfüllungsfluches oder einer letzten Feuerrose am Zielort hinterlassen hatte. Nein, sie war nicht vor dieser Kanallie geflüchtet, um nach deren Tod als willige Marionette von ihr die Welt umzustülpen. Dennoch piesackte sie sowohl als Lichtwächterin als auch als entschlossene Schwester die Vorstellung, dass da etwas zu erben war, dass der Hexenwelt einen uneinholbaren Vorsprung vor den Zauberern verschaffen konnte. Also sollte zumindest der Weg zu diesem Eilandd einigen bekannt werden. Doch welche ihrer Mitschwestern wollte sie ins Vertrauen ziehen? Dann beschloss sie, zwei ihrer Mitschwestern ins Vertrauen zu ziehen und dafür zu sorgen, dass die ihr überlassene Tafel nicht in die Hände Wetterspitzes und Güldenbergs geriet. Am Ende bestimmten die noch wen, um in ihrem Sinne an der Nachfolgeprüfung teilzunehmen. Dann sollte es schon eine entschlossene Schwester sein. Doch nur denen mitzuteilen, was sie gefunden hatte war jetzt nicht mehr möglich, da Elke Buttergras zu den Zögerlichen gehörte und jetzt schon ganz sicher daran dachte, die hohe Mutter Gesine Feuerkiesel anzumentiloquieren. Dann sollte sie das auch tun, um sich nicht den Unmut dieser unverwüstlichen, vielbegabten Übermutter einzubrocken, vor der selbst Gundi Wellenkamm kuschte, obwohl die dieses magieabwehrende Mieder aus einer Zwergenschneiderei hatte.
Sie konzentrierte sich auf die fünf Stufen des Gedankensprechens, wobei sie als stehendes Bild einen blühenden Kirschbaum in ihrem Garten nahm und dann so denkend, als spräche Gesine Feuerkiesel selbst formulierte: "Mutter Gesine, ich erhielt ein Artefakt, dass von einer ehemaligen Feuerrosenschwester stammte und an deren lebende Nachfahrin weitervererbt wurde. Wie soll ich es euch zukommen lassen?"
"Schaffe es in eine Untersuchungskammer und hänge ihm das blaue Taschentuch an, nachdem du seine Zusammensetzung und Ausmaße vollständig erinnert hast. Wenn das blaue Taschentuch seinen Dienst versehen hat erschaffe eine haargenaue Nachbildung und lasse diese mit genug Hui, Knall und Funkenschlag zerspringen und gib dann weiter, dass die Untersuchung dasArtefakt zur Selbstvernichtung getrieben hat!" erfolgte Gesines Antwort.
"Soll ich zu dir kommen?" gedankenfragte Karla Klingenschmidt. "Nein, bleib auf deinem Posten und verhülle das Wissen um die wahren Vorgänge vor deinem obersten Befehlshaber und dem Minister!" hörte sie Gesines Gedankenstimme laut und unumstößlich in ihrem Geist.
Aus einer himmelblauen Lichtspirale heraus verstofflichte sich eine einen Meter große, schwarze, flache Platte über einem silbernen Tisch, auf dem eingravierte Runen rot aufblitzten. Auf dem Gegenstand lag ein himmelblaues Stofftaschentuch mit eingearbeiteten Blumenmustern. Dieses rutschte nun von der wild ruckelnden schwarzen Tafel herunter.
Drei Hexen standen ausßerhalb einer silbernen Linie, die den silbernen Tisch kreisförmig umlief und in bestimmten Abständen mit magischen Symbolen durchsetzt war und grinsten für ihr Alter ungewohnt schulmädchenhaft. Die eine war zierlich, blond und trug ein dunkelgrünes Kleid, das gut zu ihren blattgrünen Augen passte. Die zweite hatte silbergraues Haar und veilchenblaue Augen. Die dritte war überaus knochig gebaut, besaß flachsblondes Haar und graublaue Augen, welche wie magnetisch angezogen auf die ruckelnde, über dem Silbertisch schwebende Tafel blickten.
"Sie wehrt sich gegen die Zauber der Quelle und der Bestimmungserkennung", sagte die Hexe mit den blattgrünen Augen, Gesine Feuerkiesel. "Ja, und ich kann schon sehen, dass sich wild pulsierende Linien in ihr verstecken, die bei körperlicher Berührung und Annäherung wohl auch für für natürliche Augen sichtbar werden", sagte die dritte, äußerlich jüngere Hexe, die den beiden anderen als Albertine Steinbeißer vertraut war. Die andere ältere Hexe, Gundula Wellenkamm starrte nun verdrossen auf die erbebende Tafel.
"Kannst du lesen, was da steht?" fragte Gesine ihre mit besonderen Augen ausgestattete Mitschwester, von der sie nicht wusste, wer sie wirklich war.
"Der Schutzkreis gegen alle zerstörungszauber von innen nach außen überlagert die magischen Spuren der eingeprägten Schrift. Aber wenn ich noch einen Schritt näher herantrete kann ich sie lesen. Lasst mich jetzt bitte konzentriert arbeiten!" erwiderte die flachsblonde Hexe.
"Wenn diese Tafel für eine treue Nachfolgerin Ladonnas wichtige Angaben enthält gehört sie in der Tiefsee versenkt", knurrte Gundula Wellenkamm. Doch innerlich dachte sie daran, ob sie nicht aus Vergeltung für die Monate in Ladonnas Rosengarten deren Nachfolgerin werden wollte. Dass ihre Mitschwester mit den zwei magischen Augenprothesen das auch dachte konnte sie nicht ahnen, weil diese ihr Gesicht gerade in eine höchst konzentrierte Anspannung versetzte und obendrein das Wissen um ihr wahres Ich tief in ihrem Geist verborgen hielt.
Nach zwanzig Minuten nickte die mit magischen Augen begüterte Mitschwester und sagte: "Es war nicht einfach. Aber die Tafel musste mir ihre Geheimnisse verraten, Mutter Gesiene und Schwester Gundula. Es soll eine Insel geben, die im Schutz von Unortbarkeit und für Zauberer unbetretbar vor Santorini liegen soll, eine Vulkaninsel. Allerdings soll sich diese Insel nur den Erbinnen der getreuen Schwestern von damals zugänglich zeigen, die das richtige Blut im Körper haben und die von ihren Ahnen ererbten Kennwörter im Geiste murmeln, um sich als Zutrittsberechtigte zu erweisen. Soweit für die, die keine Lust haben, sich mit magischen und mechanischen Fallen herumzuschlagen", sagte die, die sich den meisten anderen noch als Albertine Steinbeißer ausgab. Dabei verschwieg sie sowohl die genaue Lage der Insel, als auch, welcher Art die Fallen waren und was für ein Passwort die "würdige Nachfolgerin" benutzen konnte, um sich dort ungefährdet umzusehen, bis sie im Raum der Nachfolgeprüfung war, wo sie wohl auf andere Nachfolgeanwärterinnen treffen und sich mit ihnen messen musste. Wer das überlebte, so hatte sie gelesen, war die würdige Nachfolgerin Ladonnas und konnte das gehortete Vermögen an machtvoller Literatur und Artefakten benutzen.
"Hast du erkannt, wo genau die Insel liegt?" fragte Gesine. "Ja, habe ich", sagte sie die Wahrheit. "Aber wenn da steht, dass nur die Erbin rechten Blutes und erprobter Treue hineingelangen kann, wo der Schatz der Rosenkönigin gelagert wird, wird das sehr schwierig. Denn auf alle anderen warten mechanische Fallen wie in altägyptischen Grabstätten, Zauberfallen wie der Fluch der grausamen Träume oder ein Ausdörrungsfluch und etliche mehr. Willst du, dass ich alle die Fallen aufliste, von denen da nicht steht, in welchem Raum sie aufgespannt sind?" fragte die Hexe mit den magischen Augen.
"Ich könnte mir zutrauen, dort hineinzugelangen. Mein Mieder schützt mich vor den meisten Zaubern. Ja, und was die mechanischen Fallen angeht kann ich einen Vortriebszauber, der bei Wänden, Boden und Decke alle Auslöser betätigt, um die Fallen zuschnappen zu lassen, ohne dass ich einen Finger hineinstecken muss", sagte Gundula.
"Schwester Gundula, auch ich traue mir viel zu, um mit magischen Fallen aufzuräumen", sagte Gesine. "Doch wenn allein schon eine Prüfung auf Treue und fragwürdig ehrenvoller Abstammung erfolgt, die bestanden werden muss, dann brauchen wir uns um die Fallen selbst keine Gedanken zu machen, weil wir sowieso nicht hineinkommen. Öhm, steht da was, was dem oder der blüht, der oder die gewaltsam in das Versteck vordringen will?" fragte Gesine ihre mit magischer Sicht ausgestattete Mitschwester.
"Ja, es wird davor gewarnt, dass es einen Vernichtungszauber gibt, der das Versteck und jeden, der oder besser die sich darin Einlass verschafft hat tötet", erwiderte jene, die ein besonderes Schicksal ereilt hatte.
"Will sagen, wer nicht zu Ladonna hält und nicht von einer ihrer getreuen Erbinnen geboren wurde lläuft gefahr, das Versteck und sich selbst zu vernichten. Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Die Untreue sollte doch schon am Eingang eliminiert werden, ohne den dort gelagerten Hort machtvoller Erzeugnisse zu beschädigen."
"Du hast gefragt, was dem oder der blüht, wer immer sich gewaltsamen Zutritt verschafft, Mutter Gesine", erwiderte die flachsblonde Hexe.
"Touché, Schwester Albertine", grummelte Gesine Feuerkiesel. "Allerdings ist mir nicht wohl dabei, dass außer der von unserer Schwester Karla zugespielten Tafel noch unbekannt viele weitere Tafeln dieser Art existieren und eine der Besitzerinnen Ladonnas Nachfolgerin wird. Dann hätten wir zwar keine Dreiblüterin zu fürchten, aber eine, die alles von dieser über die lange Zeit ihres ersten Lebens und die Jahre ihrer zweiten Machenschaftsperiode gehorteten Schriften und Dinge ausnutzen kann, womöglich eine zweite Sardonia oder Gertrude Steinbeißer. Gerade dir, Albertine, die du weißt, was deine Ahnfrau alles angestellt hat sollte es wichtig sein, nicht von einer gleichwertigen Hexe unterworfen zu werden."
"Das ist völlig richtig, Mutter Gesine", erwiderte die Angesprochene und musste sich sehr bemühen, nicht erheitert zu grinsen. "Dennoch sollten wir, die wir ja auch die Vorherrschaft der Hexen zum Ziel haben, jede Möglichkeit nutzen, dieses Ziel zu erreichen, auch und vor allem, wenn wir auf eine Unmenge Wissen zugreifen können, das eine andere derartig bestrebte Hexe gehamstert hat. Ja, ich weiß, die Versuchung, mit zu viel Macht alles kaputt zu machen ist groß. Doch er wenn nicht wir Schwestern haben das Recht, dieses alte Erbe zu finden und in unserem Sinne zu nutzen. Geh bitte davon aus, dass die anderen Stuhlmeisterinnen ähnlich denken und dass die nicht ganz so geduldigen Schwestern sie dazu drängen könnten, dieses Wissen zu ergreifen. Willst du dann auch noch darauf verzichten? Oder willst du das Wissen um die Insel Ladonnas lieber doch Marga und ihren Verwandten im Zaubereiministerium aushändigen. Falls ja bereden wir, wie ich denen das mitteilen soll."
"Schwester Marga könnte auf die Idee kommen, es an ihre wahre Anführerin weiterzumelden, die Spinnenschwester", grummelte Gesine Feuerkiesel. "Dann könnten wir wahrhaftig eine zweite Sardonia erhalten."
"Wohl wahr", dachte jene, die sich den meisten anderen gegenüber als Albertine Steinbeißer ausgab. "Aber ich werde die anderen Stuhlmeisterinnen darüber informieren, dass es offenbar Hinterlassenschaften Ladonnas gibt, sofern sie noch nichts davon erfahren haben", sagte Gesine. Gundula und Albertine dachten unabhängig voneinander, dass das sicher ein Fehler war. Doch laut sprach keine von beiden das aus. Dann sagte die flachsblonde Hexe mit den magischen Augen: "Was ist, wenn da, wo noch solche Tafeln auftauchen, die zuständigen Zaubereiminister was erfahren und finden, Ladonnas Erbe beschlagnahmen zu wollen, Mutter Gesine? Am Ende schafft es eine dem jeweiligen Minister hörige Hexe, an alles heranzukommen. Dann könnte das eine Zaubereiministerium an Macht gewinnen und sich über alle anderen erheben, auch über uns, Mutter gesine.""Da hast du leider recht, Schwester Albertine", seufzte Gesine. "Kennen wir außer dieser Hannelore Kohlenglut noch welche, die mal freiwillig für Ladonna gearbeitet haben", fragte jene, die für die zwei anderen Albertine Steinbeißer war. Gundula Wellenkamm überlegte und nickte. "Die, die für Ladonna gearbeitet haben und nach ihrem Verschwinden für einen Monat geschlafen haben lehnen es ab, Ladonna weiter anzubeten. Ich kenne keine, die immer noch für sie eintritt", erwiderte Gundula Wellenkamm.
"Dann ist uns der Zugang zu dieser Insel verwährt", erwiderte Albertine Steinbeißer kategorisch. "Aber was wir tun sollten ist, diese Insel, sobald sie ihre Tarnung fallen lässt, unter Beobachtung zu halten um zu sehen, wer sich dort blicken lässt, Mutter Gesine. Am Ende taucht da noch die eine Hexe auf, die mit den Todespfeilen um sich schießt. Die ist sicher noch auf Ladonnas Pfaden unterwegs."
"O ja, die Gefahr besteht", erwiderte Gesine Feuerkiesel. "Gut, dann beschließe ich, dass Karla es so hindrehen soll, dass du mit deinen magischen Augen noch vorher hast sehen können, wo die Insel ist und dass da wohl ein Treueprüfzauber wirkt, der alle außer wahrhaft treuen Gefolgsschwestern abweist. Würde mich nicht wundern, wenn Güldenberg dich dann nicht losschickt, um die Insel zu beobachten, wer sich dorthin verirrt", sagte Gesine Feuerkiesel.
"Ja, machen wir das so, und sei es, dass wir es anstellen, den Vernichtungszauber auszulösen, damit die mögliche Nachfolgerin nichts mehr von all dem dort gelagerten Zeug hat", schnaubte Gundula Wellenkamm verdrossen. Das hätte jene, die sich als Albertine Steinbeißer ausgab fast loslachen lassen. Gundula wäre die erste, die versuchen würde, durch alle Fallen zu dringen, wenn sie diesen Treueprüfungszauber überwand, von dem sie gerade erzählt hatte. Wenn die wüsste, dass es den gar nicht gab und die Insel nur dagegen abgeschottet war, von Zauberern betreten zu werden ...
"Gut, dann regel ich das mit der Mitschwester Klingenschmidt und schicke dich gleich zu ihr hin, damit ihr euch abstimmt, Schwester Albertine", bestimmte Gesine Feuerkiesel. Die Angesprochene nickte zustimmend und verbarg ihre innere Freude, dass sie womöglich ganz offiziell losgeschickt werden konnte, um die Insel zu betreten.
Wenige Minuten später traf Karla Klingenschmidt auf der lüneburger Heide bei einer besonderen Wegkreuzung auf jene, die sie als ihre entschlossene Mitschwester Albertine kannte. Diese hatte ihr was aufgeschrieben, dass nur nach Nennung des richtigen Passwortes lesbar wurde. "Wir müssen das Gülddenberg und deinem offiziellen Obervorsitzenden klarmachen, dass auch die anderen Ministerien was davon mitbekommen könnten und dass es doch die eine oder andere Anwärterin auf Ladonnas freigemachtem Rosenthron gibt."
"Ja, und ich werde es Generalissimus Wetterspitz mitteilen, dass wir diese Insel überwachen müssen, falls es keine offizielle Übereinkunft mit anderen Zaubereiministerien gibt, sie zum verbotenen Land zu erklären. Sicher können dort meldesteine aufgestellt werden, die weitergeben, wer die Insel betritt."
"Ist diese Insel jetzt schon sichtbar für Hexen, die wissen, dass es sie gibt?" wollte Karla wissen. "Ich las was von einem Sonnenkreis und einer Mondphase nach dem letzten Lebenszeichen der Königin", erwiderte jene, die sich weiterhin Albertine nannte. Dass sie log und es nur einen Sonnenkreis nach dem letzten Lebenszeichen war bekam Karla trotz ihrer eigenen antrainierten Menschenkenntnis nicht mit.
"Dann haben wir ja noch bis Mitte Dezember Zeit", sagte sie. "Gut, dass soll dann Güldenberg befinden. Ich sage dem nur, dass die Tafel eine Sekunde vor ihrer Selbstvernichtung alle Geheimnisse preisgab und wir sie mit dem Memoria-revocata-reptilis-Zauber nachbetrachten konnten", sagte Karla Klingenschmidt überzeugt. Ihre Gesprächspartnerin nickte beipflichtend und verbarg ihre erneute innere Freude. Sie dachte nicht daran, dass Karla auch die Mitstreiterin Marga Eisenhut mit einweihen würde.
Lucine hatte sich nicht sattsehen können an den vielen Bildern, die Maman Lou in ihrem kleinen Familienschloss aufgehängt hatte. Zwar war die kleine Tochter zweier Mütter ein wenig traurig, nicht in jeden der vielen Räume hineingehen zu können. Aber weil Maman Lou und Maman Tinette ihr was von da schlafenden Gespenstern erzählt hatten, die bloß nicht wachgemacht werden wollten, hatte sie erst einmal das Interesse an diesen verschlossenen Räumen verloren. Gegen halb zehn Abends war es den zwei Müttern gelungen, sie in das mitgebrachte Reisebett zu legen und mit einem schalldichten Baldachin zuzudecken. Zusätzlich hatte Louiselle das Bettchen so bezaubert, dass wer darin lag so tief schlief, dass nur das unmittelbare Herausholen oder die ersten auf das Gesicht treffenden Sonnenstrahlen den Schlafzauber beendeten.
Als Lucine eingeschlafen war verließen Louiselle und Laurentine das Schlafzimmer, in dem sie, falls nötig, die ganze Nacht verbringen würden.
Laurentine hatte ihrer Lebensgefährtin und Gebärererin ihrer Tochter am Morgen erzählt, dass sie von der grünen Dame geträumt hatte. Näheres dazu wollte sie ihr erzählen, wenn sie an einem unbeobachtbaren Ort waren. So hatte Louiselle beschlossen, dass sie die Nacht zum 26. November in ihrem kleinen Privatschloss in der Nähe der Rhone zubringen wollten. Denn beiden war eingefallen, dass Catherine Brickston mitbekommen konnte, wenn außergewöhnnliche Zauber unter ihrem Dach ausgeführt wurden. Des weiteren galt es ja, eine intensivere Verbindung zu jener grünen Dame, die sich als Wächterin am Fluss der rastlosen Seelen bezeichnete, herzustellen. Ob der Sanctuafugium-Zauber von Catherines Haus das ermöglichte wussten beide nicht. Louiselle war jedenfalls gleich davon überzeugt gewesen, dass Laurentines Traum eine magische Botschaft gewesen war.
"Kannst du dich noch echt an alles erinnern, was in dem Traum zu sehen und zu hören war?" wollte Louiselle wissen. Laurentine wiegte ihren Kopf und nickte. "Gut, dann komm mit in die Schatzkammer bedeutsamer Erinnerungen!" forderte Louiselle ihre Gefährtin auf.
Sie durchschritten einige Korridore und wuchtige Türen, die sich nur mit Louiselles Handabdruck und einem korallenroten Schlüssel öffnen ließen. Dann betraten sie einen kleinen, fensterlosen Raum mit völlig glatten hellgrauen Wänden. An der der Tür gegenüberliegenden Seite ragte ein Regal mit zwanzig Ablagebrettern auf. In dem Regal reihten sich kleinere und größere Flaschen aus Glas oder Kristall. Auf dem untersten Regalbrett lagen vier große weiße Kissen. Das beeindruckende in diesem Raum war jedoch ein großer schwarzer Steinsockel, auf dem ein kreisrundes Gefäß wie eine übergroße Schale aus reinem Granit ruhte. Am Rand des schon eher einem Becken ähnelnden Behälters waren viele magisch bedeutsame Zeichen eingeritzt. Das Gefäß enthielt eine aus sich heraus silberweiß leuchtende Substanz, die weder flüssig noch gasförmig war.
Laurentine bekam große Augen. Sie hatte davon gelesen, dass es diese Art Behälter gab. Doch dass sie einmal sowas leibhaftig zu sehen bekam hatte sie sich bisher nicht vorgestellt. "Ein Denkarium", raunte sie ehrfürchtig und deutete auf den Behälter. "Du hast ein eigenes Denkarium."
"Sagen wir es so, ich habe es geerbt und verwende es zwischendurch weiter. Es gehört zu den Dingen in diesem Schloss, von denen außenstehende nichts mitbekommen sollen, Tinette. Aber da ich ja unser gemeinsames Kind bekommen habe und du somit zur Familie dazugekommen bist und die Lage es erforderlich macht, alle Einzelheiten so genau es geht nachzubetrachten darfst du neben meiner Tante Hera als einzige wissen, dass ich ein eigenes Denkarium habe. Woher kennst du solch ein Gefäß?"
"Wegen der dritten Runde im trimagischen Turnier habe ich in der Bibliothek nach Gedächtnisverstärkungs- und Erinnerungskonservierungsmöglichkeiten gesucht. Dabei fand ich auch das Buch "De memoriae et somniiis conservatis - von dauerhaft betrachtbaren Erinnerungen und Träumen". Darin wurde das Denkarium erwähnt und auch seine Herstellung beschrieben. Allerdings setzte der Schreiber oder die Schreiber das Wissen um alte Runen voraus, die ich Döspaddelin ja nicht gelernt habe. Daher konnte ich nur lesen, dass es, wenn alles richtig berunt und mit den richtigen Zaubern besprochen wurde jede mit dem Memoextracktionszauber aus dem eigenen Gedächtnis herausgespulte Erinnerung, ob an erlebte Ereignisse oder intensive Träume, dort eingelagert und mindestens tausend Jahre lang haltbar nachbetrachtet werden kann. Sowas soll vor allem dann wichtig sein, wenn der durch das Leben selbst möglichen Verfremdung von Erinnerungen entgegengewirkt werden soll. Öhm, und du hast deine wichtigsten und schlimmsten Erinnerungen da eingefüllt?" fragte Laurentine immer noch ehrfurchtsvoll und deutete auf die silberweiße Substanz im Denkarium.
"Nicht nur ich, sondern meine Mutter, meine Großmutter mütterlicherseits, Großtante Zoé und meine Urgroßmutter Nikephora, die das Denkarium hergestellt und in Kraft gesetzt hat. Insofern hast du heute eine ganz große Ehre, nämlich eine von dir stammende Erinnerung dort einzufüllen, obwohl du keine Blutsverwandte von den erwähnten Damen bist. Aber dadurch, dass ich unsere gemeinsame Tochter bekommen habe bist du ja gemäß der Regel, dass die geburt eines gemeinsamen Kindes ein Blutsversprechen darstellt berechtigt, von mir für wichtig gehaltene Ereignisse auszulagern. Ach ja, ich habe unser italienisches Erlebnis von vor einem Jahr auch schon dort eingefüllt, für Lucine und ihre nachgeborenen Töchter oder Nichten. Denn dieses Denkarium hier kann nur von Hexen befüllt und benutzt werden. Uroma Nikephora, die im Saal der Ahnen als Porträt aushängt, hat das so festgelegt, mit einem ähnlichen Zauber wie dem Clavimensis-Zauber, den ich dir beigebracht habe. Abgesehen davon hat sie ihre eigene Geburt und direkt danach alle drei Niederkünfte von ihr selbst als Aktivierungserinnerungen dort eingelagert und dabei noch einmal klargestellt, dass nur Angehörige des wahrhaft erhabenen Geschlechtes dieses Erinnerungsgefäß benutzen dürfen."
"Ui, was hätte die dann zu uns gesagt, dass wir eine gemeinsame Tochter haben und dass wir uns auch seelisch und körperlich lieben?" fragte Laurentine. "Das könntest du ihr Abbild fragen, das ja wie erwähnt im Saal der Ahnen aushängt. Aber im Moment haben wir ja wichtigeres zu tun. Du kennst den Memoextraktionszauber, um eigene Erinnerungen aus dem Gedächtnis auszulagern?"
"Den habe ich aus dem erwähnten Buch. Aber weil es da heißt, dass der nicht ganz ungefährlich für das eigene Gedächtnis ist und nur mit einer aus reinstem Glas oder Bergkristall bestehenden Flascula oder Phiole zusammen benutzt werden soll habe ich das erst einmal sein gelassen, eigene Erinnerungen auszulagern. Öhm, na klar, dafür sind die Flaschen da im Regal", erkannte Laurentine.
"Du kennst also den Wortlaut und die mentale Komponente für den Zauber?" fragte Louiselle. Laurentine bejahte es. "Gut, und vor allem, weil wir ja eh diesen Traum in allen Einzelheiten auslagern wollen gebe ich dir zwei Tropfen von Bicranius' Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit", sagte Louiselle und ging an das Regal. Sie griff auf Höhe des zweiten Brettes von oben nach einer kleinen, bauchigen, mit Flechtwerk umschlossenen Flasche und zog diese behutsam hervor. Laurentine sah dabei, dass die Luft um Louiselles Hand flimmerte. "Blutsiegelzauber?" fragte sie.
"Sowas in der Art", erwiderte Louiselle. "Sanguis Familiaris, ein automatisch auf jeden geschlechtsgleichen Blutsverwandten übergehender Zugriffsberechtigungszauber", erwiderte Louiselle und entkorkte die bauchige Flasche. Sie blickte hinein, nickte und füllte ein kleines Glas mit der darin enthaltenen Flüssigkeit.
Laurentine trank arglos das Gebräu, von dem sie natürlich auch schon gelesen hatte und überstand die einsetzende Wirkung. Als sie meinte, noch wacher zu sein als sonst verkorkte Louiselle die Flasche mit der Mixtur wieder und stellte sie an ihren Platz zurück. Dann sagte sie: "Erinnere dich jetzt genau an den Zauber, und zwar so, dass du die Erinnerung nicht aus dem Gedächtnis entfernen, sondern kopieren möchtest!"
Als hätte sie diesen Befehl in einen Computer eingegeben spulte sich vor Laurentines innerem Auge alles ab, was sie über den Zauber gelesen hatte einschließlich der geistigen Komponente, eine kleine silberne Quelle, aus der in einem langsamen Rhythmus kleine Fontänen hervorspritzten. Sie sagte völlig ohne Emotionen: "Gut, ich kann den Zauber jetzt ausführen. Ich brauche eine leere Kristallflasche." Louiselle griff erneut in das Regal und holte eine mittelgroße Flasche aus Kristall hervor.
Völlig ohne Arg, Unbehagen oder Aufregung begann Laurentine, sich an den Traum von letzter Nacht zu erinnern. Als sie sich völlig sicher war, jede kleinste Einzelheit daraus im Bewusstsein zu haben führte sie den Erinnerungskopierzauber aus und spulte die von ihr auszulagernde Erinnerung wie einen seidendünnen Faden mehr und mehr auf ihren an den Kopf gehaltenen Zauberstab auf. Erst als sie sicher war, alles zu erinnernde ausgelagert zu haben nahm sie den Zauberstab vom Kopf. Sie fühlte die schwache Erschütterung in ihrem Kopf und sah das Knäuel aus silberweißem Licht. Ihr fiel ein, dass sie es dann gleich ins Denkarium einfüllen konnte. . Doch genauso unmittelbar erinnerte sie sich, dass dies nur empfohlen wurde, wenn jemand bereits mit einem Denkarium gearbeitet hatte. Also spulte sie die aus ihrem Kopf gezogene Kopie der Erinnerung an den Traum von ihrem Zauberstab ab und füllte sie als silberweiße Substanz in die Flasche um. Als sich der letzte Rest davon von ihrem Zauberstab löste und wie ein zurückschnarrendes Gummiband in der Flasche verschwand nickte sie und übergab Louiselle das kleine Gefäß.
"Gut, die Wirkung der Dosis hält noch zehn Minuten vor. Ich kippe die Erinnerung jetzt in das Denkarium und hole sie an die Oberfläche, damit wir beide sie nachbetrachten können", legte Louiselle fest.
Behutsam leerte Louiselle die Flasche in das große Granitgefäß. Die darin befindliche Substanz geriet ins wogen und bildete kleine Strudel und Spiralarme aus. Dann verfärbte sie sich. Jetzt sah es für Laurentine so aus, als blicke sie durch ein kreisrundes Fenster von oben in einen Raum hinein, in dem vor allem die Farbe Smaragdgrün vorherrschte. Sie beobachtete, wie Louiselle ihren Zauberstab in die Substanz eintunkte und entschlossen darin herumrührte, bis die genaue Nachbildung jener smaragdgrünen Frauengestalt über dem Denkarium schwebte, die Laurentine und sie im Jahr zuvor unbeabsichtigt erzeugt hatten. Sie hörte die Stimme der aus den Seelen Domenicas, Reginas und Ladonnas vereinten Entität die letzten Worte aus dem Traum wiederholen. Dann sank die Erscheinung in das Becken zurück. "Noch zwei Kissen vorgelegt und dann können wir", kommentierte Louiselle das weitere Vorgehen. Sie holte zwei der weißen weichen Kissen aus dem Regal heraus und legte sie nebeneinander vor den Sockel mit dem Denkarium. "Das geht dann nicht so in die Knie, wenn wir uns davor niederlassen", sagte sie noch.
Nun knieten Laurentine und Louiselle vor dem Denkarium nieder und tauchten gleichzeitig ihre Köpfe hinein. Da der Gedächtnisverstärkertrank noch wirkte empfand Laurentine keine Furcht und wusste auch, warum passierte, was passierte. Es war wie ein Sturz durch eine schwarze Leere, der jedoch ohne einen schmerzhaften Aufschlag endete. Sie fanden sich beide nebeneinander in jener Landschaft wieder, die von der unendlich scheinenden Schlucht mit dem tief auf ihrem Grund dahineilenden Strom aus geisterhaften Gesichtern und Körpern beherrscht wurde. Auch sahen nun beide jene selbstleuchtende Gestalt der Wächterin. Nun hörten beide das, was Laurentine und die TVE miteinander besprochen hatten. Louiselle sah auch, wie die riesenhafte Erscheinung eine wesentlich kleinere Erscheinung aus dem Fluss in den Fluss zurückwarf. Louiselle erfuhr so in allen Einzelheiten, was die TVE von ihr selbst erwartete und warum es ihr nicht möglich war, sie genauso im Traum anzusprechen wie Laurentine. Dann verschwand alles in einem silberweißen Nebel. Laurentine wusste, dass dies das Ende einer gezielt nachbetrachteten Erinnerung war, die nicht mit anderen Erinnerungen verknüpft war.
Als sich beide wieder aufrichteten hörte auch die Wirkung des Erinnerungsverstärkers auf.
"Ich stelle zwei Sachen fest, Tinette. Zum ersten: Domenica hat damals, wo sie uns ihre eigene Geschichte in die Köpfe eingeflößt hat wohl auch etliches aus unseren eigenen Erinnerungen herausgeschöpft. Denn nur so erklärt sich mir, dass sie sich so sicher ist, dass wir alles so genau wir können von ihr nacherinnern. Zum zweiten: Sie will mich als ihr Medium haben, weil ich diejenige bin, die die kleine Lucine getragen und geboren hat. In der Magie sind intensive körperliche Erlebnisse zuweilen wichtige Komponenten, wie ja eben auch, um ein Denkarium in Kraft zu setzen. Außerdem findet ja während einer Schwangerschaft ein ständiger Blutaustausch zwischen Mutter und Kind statt. Blut ist ja ein besonders wichtiges Agens für körperliche und seelische Zauber. Nur kam sie an mich nicht heran, weil ich da eben nicht von meinen größten Erfolgen geträumt habe, sondern mich als kleines behütungswürdiges Mädchen im Haus von Großtante Zoé wiedergefunden habe, also ganz weit weg von dem, warum wir Kontakt mit dieser TVE bekommen haben."
"Ja, und wie willst du Kontakt mit ihr aufnehmen, Lou?" fragte Laurentine. "Ich lege mir einen der beiden Gürtel um, die ich in der Truhe der eigenen Erbstücke liegen habe", sagte Louiselle. Vorher treffe ich aber noch gewisse Vorbereitungen, um für den Fall, dass wir was aufschreiben nicht jedem auf die Nase zu binden, dass ich das aufgeschrieben habe. Es gibt ein paar gemeine Tricks, um den sonst so nützlichen Verfasserinnenanzeigezauber auszuhebeln, bringe ich dir bei der Gelegenheit gleich auch bei. Der Unterrichtsvertrag läuft ja noch immer", erwiderte Louiselle verschmitzt grinsend.
"Partielle Transfiguration, um das Aussehen zu ändern, Varivox, um die eigene Stimme zu verfremden", vermutete Laurentine. "Ja, zwei von drei nötigen Punkten, Tinette. Aber damit die Verfasserin sich nicht durch intensive Gedanken an ihre eigene Person verrät muss noch eine rein mentale Tarnung errichtet werden, der Velamen mentis. Das ist ein in Beauxbatons ungern erwähnter Zauber, um die eigenen Gedanken zu verschleiern, fast wie Okklumentik, aber mit dem Vorteil, dass er nur einmal gewirkt eine Stunde vorhält und jeden Legilimentor nur eine Abfolge im Nebel wandelnder Schatten sehen lässt, wenn der nicht mächtiger ist als die Person, die sich den Gedankenschleier übergezogen hat. Allerdings besteht die Gefahr, dass der oder die Zauberkundige selbst vergisst, wer sie wirklich ist und nach der Stunde Wirkungsdauer alles vergisst, was während der Stunde passiert ist. Der Zauber hat jedoch den unschätzbaren Vorteil, dass während seiner Wirkung geschriebene Briefe und Dokumente nicht mit dem Scriptorvista-Zauber oder dem Scriptum-Audietur-Zauber enthüllt werden können, wer das jeweils vorliegende Schriftstück geschrieben hat. Die beiden Zauber können dann nur Aussehenund Stimme wiedergeben, wie sie zum Zeitpunkt der Niederschrift beschaffen waren."
"Klingt aber nicht gerade beruhigend, wenn du danach alles vergisst, was innerhalb der einen Stunde passiert ist", meinte Laurentine. "Ja, oder dass ich vergesse, wer ich eigentlich bin. Aber ich habe den Zauber schon so häufig unter Aufsicht ausgeführt, dass ich ihn nicht nur beherrsche, sondern auch bedenkenlos an von mir für fähig befundene Mitschwestern weitergeben konnte. Das ist übrigens ein Kriterium, dass die, die ihn von mir lernt eine eingeschworene Schwester ist. Insofern kein Problem für uns zwei."
"Wie mit dem Lebensaurenverdunkelungszauber", raunte Laurentine. Louiselle nickte. "Öhm, aber da könnte der Gürtel der gemeinsamen Frucht sicher auch helfen, weil dieser Zauber doch eindeutig ein Schutzzauber ist", brachte Laurentine nach einigen Sekunden Bedenkzeit ein. Louiselle wiegte ihren Kopf und nickte dann heftig.
Jedenfalls haben wir hier alles erledigt, was zu erledigen anstand", sagte Louiselle. Dann räumte sie die beiden weichen Kissen ins Regal zurück und winkte Laurentine, ihr zu folgen. Sie verschloss die Tür zum Raum der gesammelten Erinnerungen von außen. Danach führte sie Laurentine in den Übungsraum zurück, in dem sie schon sehr viele Stunden die verstärkten Abwehr- und Schutzzauber trainiert hatten. Hier bat sie ihre Gefährtin zu warten.
Es dauerte zwei Minuten, bis die Tür zum Übungsraum wieder aufging und scheinbar eine andere Frau eintrat, die in ein helles Wollkleid gehüllt war, tiefschwarzes Haar und dunkelbraune Augen besaß und ein wenig kleiner als Louiselle war. "Na, was sagst du?" fragte die scheinbar unbemerkt ins Schloss gelangte Frau Laurentine mit einer Stimme, die der Soulsängerin Grace Jones alle Ehre gemacht hätte, wie Laurentine fand.
"Holla", erwiderte Laurentine. Dann sah sie, dass die andere hinter ihren Rücken griff. Sie sah mit einem leichten Schauer, wie die Hand und der Unterarm verschwanden und hörte ein leises Rascheln. Dann kehrten Unterarm und Hand zurück. Die Hand hielt zwei aus feinstem Haar geflochtene Gürtel mit silbernen Schnallen. "Den einen lege ich an und wende den Velamen-Mentis-Zauber an. Danach stimme ich mich auf unsere außerweltliche Kontaktperson ein, jetzt wo ich sie als voll ausgeprägte Entität und in ihrer Umgebung erinnern kann. Sollte mir irgendwas zustoßen, also dass ich ohnmächtig werde oder was anderes ungewöhnliches mit mir geschehen lege bitte den zweiten Gürtel an und prüfe nach, ob noch alles mit mir in Ordnung ist. Im Bedarfsfall kannst du mir wohl helfen, zurückzufinden, indem du mich anmentiloquierst", sagte die nur äußerlich und stimmlich veränderte Louiselle. Laurentine bestätigte die Anweisungen.
Louiselle hob den Saum des angezogenen Wollkleides. Jetzt konnte Laurentine die hellbraunen Schnürstiefel erkennen, die sie trug. Sie sah zu, wie sich Louiselle den einen der beiden besonderen Gürtel um die Taille schnallte. Für einen winzigen Moment meinte Laurentine, die Gestalt der Partnerin verschwimmen zu sehen. Doch dann stand sie in der gerade angenommenen Erscheinungsform vor ihr. "So, da der Gürtel wohl brauchte, um mich als eine zugriffsberechtigte zu erkennen kann ich jetzt den Geistesschleier wirken. Im Wesentlichen besteht er darin, siebenmal die Zauberformel "Ego", gefolgt vom eigenen vollständigen Namen "In Velaminem mentis me vesto", zu denken und bei jeder Wiederholung eine Farbe des Regenbogens zu imaginieren, wie sie von ganz oben bis ganz unten erscheinen. Dabei muss der Zauberstab genau in die Mitte der Stirn gehalten werden, also so", sagte Louiselle und führte es vor. "Wichtig ist eben, dass ich meinen Namen mitdenke, um nicht zu vergessen, wer ich bin. Außerdem kann der Zauber nur von Leuten verwendet werden, die zum einen mühelos ungesagt zaubern können, zum zweiten bereits geistige Zauber wie Okklumentik, Legilimentik oder Mentiloquismus erlernt haben und drittens keine störenden Gefühle in ihrem Bewusstsein wirken lassen. Daher ist es auch wichtig, in einer sicheren, entspannten Umgebung zu sein. Ich gehe das mit dir nachher noch einmal durch, wenn ich Kontakt mit der grünen Entität bekommen habe. So und jetzt lass mich ganz entspannt die letzte Absicherung machen!"
Laurentine setzte sich auf das Sofa, an das sie auch schon einige sehr anregende Erinnerungen hatte. Sie beobachtete, wie Louiselle immer ruhiger Atmete und dann ihren Zauberstab genau an den Mittelpunkt ihrer Stirn hielt. Sie hörte kein auch nur im Ansatz gesprochenes Wort. Sie dachte an die Lehrstunden, wo sie es von Situationsflüchen oder dem geräuschlosen Raum hatten. Sie konnte jedoch sehen, wie Louiselle die Luft anhielt und dann ruhig wieder ausatmete. Unbewusst zählte Laurentine mit und kam am Ende auf sieben solcher Atempausen. Als Louiselle den Zauberstab wieder vom Kopf wegzog und ihre Augen öffnete sagte sie mit ihrer gerade benutzten Stimme:
"Alles in Ordnung. Wer mich jetzt legilimentieren will sieht eben nur einen weißen Nebel und unförmige graue Schatten in meinem Bewusstsein."
"Dann möchtest du jetzt Verbindung mit der Wächterin am Fluss der rastlosen Seelen aufnehmen?" fragte Laurentine vorsorglich nach. Louiselle bejahte es. Dann apportierte sie ein Schreibpult in die Mitte jenes Übungsfeldes, auf dem sonst die Duellübungen stattfanden, setzte sich auf einen hochlehnigen Stuhl davor und entspannte sich erneut.
Laurentine hielt derweil den zweiten Gürtel der gemeinsamen Fruchtbarkeit in den Händen und bestrich die silberne Schnalle, die nicht aus Metall, sondern aus Einhornhorn bestand. In ihren Gedanken sah sie jenes pferdeähnliche Tier mit einem Fell weißer als Schnee, das mit vorausdeutendem Stirnhorn über eine Waldwiese galoppierte und dabei den langen, silbrigen Schweif hin und her schwingen ließ. Mondblitz hatte Domenicas Erinnerungsrückschau jenes fabelhafte Zaubertier genannt. Der Name passte, fand Laurentine. Dann konzentrierte sie sich wieder auf Louiselle.
Die Besitzerin des kleinen Schlosses in der Nähe der Rhone saß aufrecht vor dem Schreibpult. Sie wirkte so, als müsse sie über irgendwas sehr intensiv nachdenken. Laurentine behielt sie genau im Blick. Daher entging ihr nicht, wie ein leichtes, smaragdgrünes Flimmern den Körper ihrer Gefährtin umspielte und zu einer immer deutlicheren Aura wurde, die um ihre Körpermitte herum besonders leuchtkräftig schimmerte. Dann griff Louiselle fast mechanisch zu einer größeren Schreibfeder und tunkte deren Spitze in ein Fass mit rubinroter Zaubertinte ein. Laurentine sah, dass sie auch mitternachtsblaue, smaragdgrüne oder bernsteingelbe Tinte hätte nehmen können. Dann begann die grün umstrahlte Hexe auf eine ausgebreitete Pergamentrolle zu schreiben. Doch es waren keine Buchstaben, sondern kleine Bilder. Laurentine stand auf und trat so leise sie konnte hinter Louiselle. Sie sah, dass diese rubinrote Blütenkelche und Stiele malte. Warum zeichnete sie Rosen? Auch sah sie, dass sie die Rosenbilder von oben nach unten malte und dann, als sie am Fuß des ausgebreiteten Pergamentes anlangte, rechts daneben von unten nach oben zu malen begann. Dann hörte sie ein leises flüstern von Louiselle. Doch sie verstand es nicht. Gemäß der Anordnung ihrer Lebensgefährtin und Lehrmeisterin schnallte sich Laurentine ihren magischen Gürtel um und setzte sich schnell hin. Denn ihr war, als würden ihre Beine den Dienst versagen.
Nun konnte sie durch die grüne Aura die Louiselle umgab nicht nur Louiselles Körper überdeutlich sehen, sondern hörte auch, wie eine Stimme in einer fremden Sprache raunte. Als sie genauer hinhörte meinte sie, dass es Latein war. Dann hatte sie auch die Empfindung, alles glasklar zu verstehen, was Louiselle sagte. Nein, nicht Louiselle, sondern jene außerweltliche Erscheinung, die aus den Seelen von drei Hexen zusammengefügt worden war.
"Zweihundert römische Meilen gen Ostsüdost von den Inseln des schlafenden Feuers entfernt, da selbst der Leib eines schlafenden Feuerriesens, beherbergt das große Vermächtnis meiner Herrschaft, an jenes nur eine würdige Nachfolgerin rühren darf, die mir im Leben immer treu ergeben war.
Wenn ein Jahr und ein Tag nach meinem dauerhaften Vergehen aus dieser schönen Welt verstreicht, wird sie sichtbar werden, die Roseninsel und für zwei volle Mondkreise sichtbar bleiben, bevor sie bis zur Wiederkehr des nächsten Jahrestages meines Vergehens verschwindet. So eile dich, um zu erlangen, was dir zusteht!
Wenn du den aus dem Meere ragenden Berg auf der Roseninsel erblicken kannst suche nach dem Eingang an der Seite, die dem Stand der Sonne oder des Mondes zugewandt ist! Dort stelle dich auf festen Boden und denke in der Sprache der alten Römer: "Ich, eine treue Dienerin der Königin der Feuerrose, erbitte Eintritt. Neue Feuerrose!" Hast du dies trefflich vollbracht wird sich die Pforte auftun. Hat sich die erste Pforte aufgetan so tritt ein und betrete den ersten Abschnitt des Weges in waagerechter und senkrechter Richtung! ..."
Nun folgten mehrere Richtungshinweise und Warnungen, dass dem unerwünschten Eindringling mächtige Fallen harrten und dass die Würdige, die diese Wegbeschreibung las immer wieder "neue Feuerrose" denken musste, wenn ein neuer Abschnitt zu betreten war. Sie wurde auch darauf hingewiesen, dass jeder zum Fluge befähigende Zauber oder Zaubergegenstand versage und sie zusehen müsse, aus eigener Körperkraft durch die senkrechten Gänge zu steigen. Es wurde noch von einer Höhle der Entscheidungen berichtet, in der sie sich der letzten Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit zu stellen habe. Überlebe sie diese, so stünde ihr der Weg in die drei Kammern der Macht frei. Dort sollte die "würdige Erbin" erwählen, womit von dem dort gehüteten sie ihre eigene Macht errichten und verstärken konnte. Außerdem sollte sie dann noch dem Stein der Nachfolge sieben mal sieben Tropfen eigenen Blutes darbringen. Dann würde die Roseninsel für sie immer wieder erreichbar sein, wenn sie dort hinwollte.
Während Louiselle das alles sagte und Laurentine es so gut verstand, als spreche sie Deutsch oder Französisch, malte sie weitere Blumenmuster auf insgesamt drei Pergamentrollen.
Nach einer Zeit, die Laurentine nicht ermessen konnte, raunte Louiselle: "Hoc est voluntas mea. Quod scriptum sit factum!" - Dies ist mein Wille. Wie geschrieben sei es getan. Dabei zeichnete sie eine langstielige Vlume, von deren Blütenkelch Flammenzungen ausgingen. Dann zuckte sie wie erschrocken zusammen und ließ die gerade gehaltene Feder aus der Hand fallen. Gleichzeitig blitzte die sie umfließende Aura fast sonnenhell auf und erlosch dann vollständig. Louiselle sah sich um, als müsse sie erst einmal herausfinden, wo sie war. Laurentine fürchtete schon, dass der von ihr benutzte Gedankenschleier ihr Gedächtnis beeinträchtigt habe. Doch dann sagte Louiselle mit der gerade benutzten Stimme: "Ui, das mach ich nicht noch einmal. Es war wie ein Sturz in eine leuchtende grüne Wolke. Dann war da noch ein greller Blitz. Offenbar habe ich besser Kontakt bekommen als ich wollte. Wie spät ist es denn?" fragte sie. Laurentine und sie blickten zugleich auf die außerhalb des Übungsfeldes angebrachte Wanduhr. "Oha, eine halbe Stunde war ich weg. Offenbar habe ich in der Zeit was auf Pergament gebracht. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich Feder und Pergament ergriffen habe."
"Du bist in eine Art Trance gefallen, Lou. Dich hat eine smaragdgrüne Aura umgeben, so ähnlich wie die Farbe der TVE. Dann hast du angefangen zu malen und zu flüstern. Ich habe den zweiten Gürtel umgeschnallt, wie du's gesagt hast. Da konnte ich Verstehen, was du gesagt hast, auch wenn es Latein war, dass ich ja mittelgut beherrsche. Aber ich konnte das astrein verstehen. Du hast was von einer Roseninsel erzählt, die in Wirklichkeit der Körper eines schlafenden Feuerriesens sei, offenbar ein ruhender Vulkan. Dann ging es um einen labyrinthartigen Weg in diesen Berg hinein, wobei eine Würdige, die die Erbin sein soll, auf lauernde Fallen oder Gegenwirkungen gefasst sein soll, wenn sie nicht bei jedem Abschnitt die Worte "Rosa Ignis nova" denkt und sich dabei eine rubinrote brennende Rose vorstellt. Ja, und es ging noch um eine Halle der entscheidenden Prüfung auf Leben und Tod. Wer die übersteht darf in drei Kammern der Macht aussuchen, womit sie Ladonnas Nachfolgerin werden will", fasste Laurentine das gehörte zusammen.
"Dann war es wirklich heftiger als ich wollte. Statt mich wie du mit dieser grünen Dame zu unterhalten hat die wohl beschlossen, sich meinen Körper auszuleihen, um das da alles hinzumalen. Wie war das mit den drei N-Regeln?"
"Nichts mit bloßer Hand berühren, das eine unnatürliche Lebendigkeit besitzt, wenn du nicht weißt, dass es dir nicht schaden wird, nicht auf Bitten oder Forderungen von Wesen eingehen, deren Absichten du nicht kennst, ohne nachzuprüfen, dass du dabei nicht zum Schaden anderer handelst und nichts und niemandem vertrauen, was von alleine denkt, wenn du nicht siehst, wo es sein Hirn hat", fasste Laurentine die drei Basisregeln höherer Abwehrzauber zusammen und fügte in Gedanken hinzu: "Wobei wir gerade alle drei Regeln missachtet haben." Offenbar dachte Louiselle das auch, weil sie ein wenig missmutig dreinschaute. "Dieses transvitale Frauenzimmer hat mich wie ein Dibbuk übernommen und meine Hände geführt und wohl auch meinen Kopf benutzt. Das wollte ich eigentlich so nicht erleben", grummelte Louiselle. Doch dann sagte sie: "Hast du echt alles verstanden, was ich in dieser Trance von mir gegeben habe? Denn diese Rosenschrift da kann ich nicht lesen."
"Alles, was seit dem Anlegen des Gürtels gesagt wurde. Ich meine davor noch von dir den Satz "Quis volt succedere me lege et attende!"
"Was nur soviel heißt wie, Wer mir nachfolgen will lies und beachte", erwiderte Louiselle. Laurentine nickte beipflichtend.
"Gut, wir legen die Gürtel am besten wieder dahin, wo ich sie aufbewahre und gehen noch einmal zum Denkarium, damit du auslagerst, was du von mir mitbekommen hast. Danach legen wir uns besser schlafen und hoffen, nicht noch was unangenehmes zu träumen. Morgen früh prüfen wir, was wir mit dem ganzen Rosengarten da auf dem Tisch anfangen, damit der in die richtigen Hände kommt", legte Louiselle fest. Laurentine bejahte es und schnallte den Gürtel ab. Dass dies ging gab ihr die Zuversicht, dass sie nicht weiter von jener TVE ausgeborgt wurden. Sie erkannte auch, dass es richtig war, den zweiten Gürtel zu tragen, um mitzuhören, was die TVE diktiert hatte.
Louiselle brachte die zwei Gürtel wieder in einen der gut verschlossenen Räume, wo sie die über Jahre von den Sorores erhaltenen Bücher und Gegenstände verwahrte. Mittlerweile wusste Laurentine, dass Louiselle als Bewahrerin bedenklicher oder mächtiger Gegenstände auserwählt worden war, also im Grunde das tat, was im Zaubereiministerium der Archivar für obskure Angelegenheiten zu tun hatte, der in der Mysteriumsabteilung Dienst tat.
Wieder im fensterlosen Raum kopierte Laurentine die Erinnerung an Louiselles in Trance ausgesprochene Sätze in eine leere Erinnerungsflasche und sah zu, wie Louiselle diese in das Denkarium umfüllte. Dann betrachteten beide zusammen nach, was Laurentine ausgelagert hatte. Als die Erinnerung in einem silberweißen Nebel verschwand fragte Louiselle: "War das vollständig, woran du dich erinnern kannst?" Laurentine bestätigte es.
"Dieses Frauenzimmer hat uns beide instrumentalisiert und ich hoffe, wir müssen nicht selbst in diesen schlafenden Feuerberg bei Santorini hinuntersteigen und uns dieser Entscheidungsprüfung stellen. Mir kommt es nämlich so vor, dass diese Prüfung in einem Entscheidungskampf der potentiellen Nachfolgerinnen besteht, so wie die Ungeduldigen das mit ihren Nachfolgerinnen veranstalten, wenn sie mit ihren lebenden Anführerinnen unzufrieden sind.""
"Falls die uns dafür einspannen wollte hätten wir die Gürtel nicht mehr losschnallen können, Louiselle. Denn wenn das stimmt, dass sie darüber eine von uns in Besitz nehmen kann hätte sie doch gleich klargestellt, dass sie die Nachfolgerin ist und durch eine von uns körperlich in der Welt weitermacht", vermutete Laurentine. "Ja, und deshalb lassen wir die beiden Gürtel solange weggesperrt, bis geklärt ist, ob Ladonnas Vermächtnis geborgen werden und vor schädlichem Zugriff bewahrt werden kann. Ja, und ich hoffe, dass wir zwei nicht diesen finalen Akt in diesem Drama geben müssen."
"Wäre es nicht auch besser, wenn der Zugang zu diesem Labyrinth für alle Zeiten verriegelt wird?" fragte Laurentine. "Ich weiß es nicht, weil dieses grüne Weibsbild offenbar nicht niederschreiben wollte, was genau sie alles in diesem Berg versteckt hat."
"Dann denkst du, dass entweder die Sorores oder die Liga gegen dunkle Künste das wissen sollten, dass es noch eine Erbschaft von Ladonna gibt?" fragte Laurentine. "Außer Hera und Solange würde ich im Moment keiner unserer Schwestern erzählen, dass wir wissen, dass es dieses Vermächtnis gibt und wo es ist, um bei den verbliebenen Ungeduldigen nicht übergroße Begehrlichkeiten zu wecken. Ja, die Liga. Da mag es auch welche geben, die im Sinne, die mächtigen Dinge und Schriften zum besseren Schutz vor dunklen Mächten einzusetzen an Ladonnas Erbe wollen und nichts davon wissen wollen, diesen Berg zu verschließen. Aber um sicherzustellen, dass nicht doch eine von Ladonnas verbliebenen Dienerinnen in diesen Berg hineinsteigt sollten wir es wenigstens Catherine mitteilen, zumal sie die aus vielen Dutzend Rosenbildern bestehende Symbolschrift Ladonnas am besten kennt. Allerdings könnte es passieren, dass sich das griechische und italienische Zaubereiministerium darum streiten, wer Anspruch auf Ladonnas Erbe hat, da in diesem Berg sicher viele von ihr aus Italien entführten Schriften und Artefakte der dunklen Künste versteckt sind, die Insel aber laut der angabe selbst noch in der Nähe Griechenlands befindet."
"Ja, aber nach internationalem Recht schon außerhalb der Hoheitsgewässer. Also könnten sich auch andere Zaubereiministerien und magische Gruppierungen drauf stürzen, nach dem Motto: Wer zuerst kommt malt zu erst."
"Ja, aber nur wenn sie ihnen treue Hexen dahinschicken, Laurentine. Denn soweit ich das mitbekommen konnte darf nur eine Hexe die Insel betreten. Was mit Zauberern passiert will ich lieber nicht wissen, wo Ladonnas Strafaktionen eine Menge Möglichkeiten bieten", raunte Louiselle. Laurentine konnte und wollte ihr da nicht widersprechen. Statt dessen sagte sie: "Am besten schlafen wir darüber und hoffen, dass wir mit einer brauchbaren Idee aufwachen. Sicher ist nur, dass die TVE will, dass jemand auf diese Insel geht, wozu ist zu klären."
"Wohl wahr", meinte Louiselle. Dann führte sie Laurentine in einen Trakt, in dem ein Schlafzimmer und ein Badezimmer untergebracht waren. Zwanzig Minuten später lagen beide in einem geräumigen Himmelbett, in dem sogar drei erwachsene Menschen Platz gefunden hätten.
Laurentine hatte es gut verbergen können, was sie und ihre Gefährtin am Abend zuvor angestellt und dabei herausbekommen hatten. Der Unterricht ihrer eigenen Klasse, in der auch Aurore Latierre und die Dumas-Zwillinge Estelle und Brian waren, lenkte sie gut von den Gedanken an Ladonnas verborgenes Erbe ab.
Da der Winter vor der Tür stand ging es im Naturkundeunterricht um Eis und Schnee, was in Millemerveilles äußerst selten passierte. Doch die Zweitklässlerinnen und Zweitklässler kannten Verwandte, die in Gebieten wohnten, wo es sowas gab. Laurentine erwähnte auch, dass auf den ganz hohen Bergen der Alpen und den noch höheren Bergen auf anderen Erdteilen das ganze Jahr Schnee lag und dass es ja am Nord- und am Südpol immer Eis und Schnee gab und dass das dicke Eis da vom über das Jahr gefallenen Schnee immer dicker wurde. Sie hatte dafür extra einen Globus aus dem Lehrmittelraum herübergeholt, weil in den ersten zwei Klassen noch kein solches Modell der Erde zur Standarddekoration gehörte. Sie ließ mit ihrer neuen Gedankenprojektionsvorrichtung eine hundertfach vergrößerte Schneeflocke in der Luft schweben und sich langsam um sich selbst drehen. Aurore fragte:
"Mademoiselle Hellersdorf, wenn Eis festgefrorenes Wasser ist, wieso schwimmt es dann auf nicht gefrorenem Wasser? Muss das dann nicht gleichschwer sein?"
"Eine sehr wichtige Frage, Aurore. Eis ist gefrorenes Wasser, wie wir ja vorhin selbst ausprobiert haben. Aber Wasser ist ein ganz besonderer Stoff. Am schwersten ist es ganz wenig über dem Gefrierpunkt, also bevor es so kalt ist, dass es zu Eis wird", erwähnte Laurentine. "Sobald es unter diesem Wärmewert, die Großen sagen Temperatur dazu, abkühlt wird es wieder leichter und dehnt sich sogar immer mehr aus, bis es so kalt ist, dass es fest wird. Dann ist es aber immer noch leichter als das flüssige Wasser." Danach führte sie vor, was sie erklärt hatte, ohne auf Fachbegriffe wie Dichteanomalie oder Dipolcharakter des Wassers zurückgreifen zu müssen. Als sie mit Hilfe ihres Geburtstagsgeschenkes von Julius und Florymont alles erläuterbare bildhaft dargestellt hatte sah sie in große staunende Kinderaugen. Sie ließ die ehrfürchtige Stimmung einige Sekunden auf sich wirken. Dann sagte sie: "Deshalb können Fische und andere Tiere in großen Seen oder Flüssen auch im stärksten Winter weiterleben, weil alles, was in großen Seen oder Flüssen wohnt ganz ruhig unter dem Eis schlafen kann, bis der Frühling wiederkommt und das Eis wegschmilzt. Deshalb gibt es bis heute Wassertiere und deshalb auch uns, weil vor vielen tausend mal tausend Jahren noch alles im Wasser gewohnt hat, bevor es fliegende und laufende Tiere und später auch Menschen auf der Erdkugel gab."
Die Kinder nahmen diese Erklärung erst einmal mit großem Staunen hin. Mit Zahlen größer als 100 hatten sie bisher ja noch nicht rechnen müssen.
In der Klasse von Claudine hatte Laurentine mit den Grundlagen der Bruchrechnung zu tun und erklärte das Kürzen. Dazu schrieb sie mehrere Brüche an die Wandtafel und forderte dazu auf, diese so umzuwandeln, dass die Nenner möglichst klein wurden. Dabei waren auch Zahlen wie 125/250 oder 63/81 und 48/84. Alles in allem standen zwanzig ungeheuer groß wirkende Brüche an der Tafel. Im nächsten Halbjahr wollte sie dann die Dezimalzahlen beschreiben und einige Rechnübungen damit machen.
Nachmittags war dann noch einmal Naturkunde mit der Klasse, die im nächsten Sommer nach Beauxbatons eingeschult werden sollte. In Anregung der Experimente von Julius Latierre führte sie hier im wesentlichen Versuche zur Erklärung von Elektrizität, mechanischer Hebelkräfte und das Ausmessen von Körpern oder Rauminhalten durch.
Als der Unterrichtstag vorbei war traf sie sich zunächst mit Geneviève Dumas im Lehrerzimmer und ging mit ihr die noch anstehenden Themen bis zur Halbjahreszwischenprüfung durch. Seitdem sich die Mehrheit der Eltern dafür ausgesprochen hatte, dass Laurentine weiterunterrichten durfte war die Lage wesentlich entspannter.
Nach dem Treffen mit der Direktrice besuchte sie wie beiläufig ihre ausgewählte Heilmagierin Hera Matine. Diese hatte gerade keine Patienten oder Patientinnen. So konnte sie sich mit ihr über ihren Traum und was Louiselle und sie daraufhin erfahren hatten unterhalten. "Louiselle wird nachher mit ihren Aufzeichnungen vorbeikommen", sagte Hera im Schutze eines Klangkerkerzaubers. "So ganz ungefährlich war das ja nicht, was ihr da angestellt habt. Andererseits habe ich es auch von anderen Stuhlmeisterinnen, dass zum einen viele geheime und als gefährlich und verboten gekennzeichnete Unterlagen und Gegenstände aus den einst unterworfenen Zaubereiministerien verschwunden sind und zum anderen insgesamt acht dieser schwarzen Tafeln aufgetaucht sind. Mutter Gesine, die du ja kennengelernt hast, hat es geschafft, eine davon zu ergattern, bevor ein Zauberer sie gänzlich unbeabsichtigt zerstört hat. Es ist also was dran an diesem Vermächtnis Ladonnas. Ich gehe sogar davon aus, dass die Tafeln enthüllen, was die grüne TVE Louiselle eingeflüstert hat, nämlich dass Ladonna ursprünglich wollte, dass sich Hexen, die ihre Nachfolge antreten wollen, in Duellen bekämpfen müssen, damit es am Ende nur eine gibt, die würdig ist, die neue Rosenkönigin zu werden."
"Es kann nur eine geben", deklamierte Laurentine aus einem bei den Nichtmagiern bekannten Kinofilm. "Oha, müssen die sich dann mit Schwertern bekämpfen, bis eine der anderen den Kopf abschlägt oder reicht der Todesfluch, um sich als würdig zu erweisen?"
"Schwertkampf findet bei den Hexen höchst selten bis gar nicht statt. Zauberer von angeblich hohem Stande haben sich gerne auf sowas eingelassen, und ja, damals galt die Enthauptung des Gegners als besonderer Erfolg und angeblicher Gewinn der im Körper und Geist des Gegners enthaltenen Kräfte. Dunkle Hexen belassen es bei Schadenszaubern, wobei es bei den Ungeduldigen üblich ist, sich erst einmal in einem ausgiebigen Duell zu messen. Wer dann zu erschöpft ist um weiterzukämpfen oder die Gegnerin kampfunfähig machen konnte hat die nur bei dieser ungeduldigen Fraktion geltende Erlaubnis, den tödlichen Fluch auszusprechen. Wir Stuhlmeisterinnen bemühen uns zwar seit Jahrhunderten, diese barbarische Praxis der Nachfolgebestimmung auszurotten, aber wir predigen stocktauben Ohren, weil die Ungeduldigen sich all zu gerne über ihre Entschlossenheit und Skrupellosigkeit definieren lassen. Das ist zumindest seit Sardonias Herrschaft so."
"Dann steht zu befürchten, dass Ladonna genauso getickt hat", seufzte Laurentine. "Eindeutig", sagte Hera. Dann wechselte sie das so unangenehme Thema und sprach mit ihr über die Fortschritte Lucines. "Also, sie kann schon frei herumlaufen. Wir haben schon alles hochgelegt, was ihr zu gefährlich ist oder zu leicht kaputtgehen kann, ohne es schnell wieder reparieren zu können. Eigentlich möchte ich meiner Oma in den Staaten gerne erzählen, was wir für eine Freude an ihr haben, aber die ist trotz ihrer schockartigen Abkehr von der offiziellen Kirche immer noch auf den Werten, dass ein Kind nur bei Vater und Mutter aufzuwachsen hat eingestimmt. Louiselle und ich haben aber auch schon Einladungen bekommen, mal nach Viento del Sol zu reisen oder ins Sonnenblumenschloss. Wird für die Kleine auch mal Zeit, andere Orte zu sehen."
"Durchaus. Aber sie ist ja regelmäßig in Millemerveilles", sagte Hera.
"Bleibt es dabei, dass du von mir die Ersthelferinnenzauber lernen möchtest, Laurentine? Bedenke dabei, dass du dann auch eine Prüfung machen und bei Bestehen als zertifizierte Pflegehelferin bereitstehen musst!" Sprach Hera Matine noch etwas an, was schon bei Laurentines Geburtstagsfeier angedeutet worden war.
"Ja, ich möchte das lernen und ja, von Jeanne, Sandrine, Belisama, Millie und Julius weiß ich, was ich damit für eine Verantwortung übernehme", bestätigte Laurentine. "Gut, ab Januar habe ich jede Woche zwei Termine frei", erwiderte Hera und bot Laurentine die beiden Termine pro Woche an. Sie erklärte sich einverstanden, beide auszunutzen, um schneller als die Ferienkursteilnehmer die vorgeschriebenen Zauber und Trankbraukenntnisse zu erlernen.
Zehn Minuten später, Laurentine hatte noch ein paar Heiltränke und -salben mitbekommen, reiste Laurentine in die Rue de Liberation zurück. Als sie dort ankam fragte Louiselle: "Hat Tante Hera gerade zu tun?" "Nein, sie hat gerade Zeit. Sie wartet auf dich und was du ihr mitbringen möchtest."
"Lustig, wo ich das nicht lesen kann und sie auch nicht. Aber sei es. Ich erzähle ihr, was ich mitbekommen habe", erwiderte Louiselle. Dann flohpulverte sie nach Millemerveilles. Laurentine passte solange auf Lucine auf und spielte ihr deutsche Kinderlieder vor.
Eine halbe Stunde später war Louiselle wieder zurück und mentiloquierte: "Wir haben die Unterlagen auf Enthüllbarkeit getestet und sie künstlich auf alt getrimmt, damit auch Catherine denkt, die sind viel älter. Sie kontaktiert die Liga und spielt denen die Aufzeichnungen zu."
"Das heißt, wir sollen uns nicht weiter um diese Roseninsel kümmern?" gedankenfragte Laurentine. "So hat sie das gesagt und klargestellt, dass das vom letzten Jahr eine einmalige Sache zu bleiben hat und wir deshalb vorerst nicht mehr in die Nähe der beiden Gürtel kommen sollen."
"Das kommt mir sowas von entgegen", schickte Laurentine zurück.
Der restliche Abend verlief für Laurentine und ihre beiden Mitbewohnerinnen sehr entspannt. Sie bekaamen nicht mit, was sich in der Wohnung unter ihnen zutrug.
Catherine Brickston hatte den ganzen Tag damit zugebracht, Informationen aus den verschiedenen Sektionen der Liga gegen dunkle Künste zusammenzutragen. Da sie von denen allen als die Expertin für Ladonna Montefiori anerkannt war trauten sie ihr zu, aus den einzelnen Schilderungen ein Gesamtbild zusammenzusetzen. Feststand, dass nach den fünf Tafeln, die bereits aufgetaucht waren, noch zwei weitere aus Sardinien und Spanien aufgetaucht waren. Gerüchte, es habe auch in Deutschland eine Tafel gegeben waren widerrufen worden. Offenbar hatte sich jemand in Brandenburg einen Scherz erlaubt und eine mit irgendwelchen auffälligen Zaubern belegte Tafel als "Uraltes Vermächtnis" eingereicht. Daraus schloss Catherine, dass die Geheimhaltung doch nicht so gut funktionierte, wie die Liga es gerne hätte.
"Gegen halb neun abends landete der Leiter der französischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste im Flohpulverkamin "Rue de Liberation". Er wirkte sichtlich aufgeregt und präsentierte eine kleine silberne Aktentasche. "Im Archiv der Heilzunft sind mehrere Pergamentrollen gefunden worden, die angeblich aus der Zeit Ladonnas stammen", zischte er leise, weil er Catherines Mann und die Kinder nicht mit ganz geheimen Neuigkeiten aus der Liga bedenken wollte.
"Wir gehen in mein Arbeitszimmer. Dann dürfen Sie mir mehr erzählen", flüsterte Catherine.
"Ach neh, der Monsieur Orchaud", grummelte Joe Brickston, als er sah, wer da aus dem Partyraum der Brickstons heraustrat. "Psst!" machte der Besucher und legte die Finger auf seine ledertrockenen Lippen unter dem schneeweißen Schnurrbart. "Oh, wieder was ganz und gar geheimes", schnarrte Joe leise. "Ja, so geheim, dass jeder Muggel, der es hört auf der Stelle tot umfällt", erwiderte der uralte Zauberer Ban Orchaud verächtlich. Catherine räusperte sich laut und bat um beiderseitigen Respekt, bevor Joe zu einer lauten Entrüstung ansettzen konnte.
"Ich weiß, alte Bäume kann man nicht umpflanzen und auch nicht mehr beschneiden", meinte Catherine, als sie mit dem 210 Jahre alten Zauberer in ihrem Dauerklangkerker-Arbeitszimmer alleine war, "Aber das eben war eher im Stil eines dunklen Ordensbruders und nicht eines Angehörigen der Liga gegen dunkle Zauberkräfte", fühlte sich Catherine dazu berufen, den Besucher wider des Alters- und Rangunterschiedes zu kritisieren.
"Er sollte es langsam begreifen, dass es Dinge gibt, von denen er besser nichts wissen will, Catherine", erwiderte Ban Orchaud. "Zum Beispiel dass es offenbar doch eine Hinterlassenschaft Ladonnas gibt. Das deckt sich auch mit den Befürchtungen der Kollegen Montecello und Torregrande. Die suchen nämlich immer noch nach den ganzen Inhalten aus dem italienischen Archiv, seitdem die früheren Ministeriumsmitarbeiter wieder dorthin vordringen konnten. Ja, und dass auch aus Deutschland und Spanien wertvolle Unterlagen fehlen dürfte Ihnen Ihre Mutter schon mitgeteilt haben, Catherine." Die Angesprochene nickte bestätigend. "Also muss es außer dieser Villa dieses Luigi Girandelli noch andere Verstecke gegeben haben oder noch geben, in denen Ladonna oder ihre Schwestern alle erbeuteten Gegenstände zusammengetragen haben. Ja, und heute nachmittag tauchte im Heilerarchiv von Millemerveilles eine Zusammenstellung aus Pergamenten auf, die unter "Sardonias Trophäen" abgelegt war, wie Großheilerin Eauvive behauptet. Die Pergamente sind durch einen Sologenus-Zauber für Zauberer unberührbar. Ich habe sie nur deshalb mitnehmen können, weil Antoinette Eauvive so freundlich war, sie mir in meine Tasche für brisantes Material zu packen."
"Sologenus-Zauber, also in diesem Fall von einer Hexe nur für Hexen bezaubert", vermutete Catherine. "Ja, und was steht auf den Pergamenten?" fragte sie. "Das ist eben der Punkt, lauter Rosen in liegender, schräger, gebogener, kopfstehender oder gekreuzter Stellung mit großen und kleinen Blütenkelchen und als Sträuße von drei, vier oder fünf zusammengebunden. Zumindest konnte ich das bei Antoinette so sehen."
"Nichts für ungut, aber die gute Madame Eauvive hat vor zwei Jahren von mir die vollständige Tabelle mit allen achtundneunzig Übersetzungen von Ladonnas Rosensymbolschrift erhalten. Konnte sie das nicht selbst übersetzen?"
"Das schon. Aber sie meinte wohl, dass Sie die Schrift auf ihre Echtheit prüfen mögen, da das Pergament schon zu alt für eine Scriptorvista-Bestimmung sei."
"Sie haben es mit und es ist außer mit dem Sologenus-Zauber mit keinem anderen Zauber belegt?" wollte Catherine wissen.
"Ja und nein, ist mit keinem weiteren Zauber belegt", erwiderte Ban Orchaud. Catherine nickte. Außerdem ging sie davon aus, dass der Sanctuafugium-Zauber jeden Fluch unterband, der möglicherweise in den Pergamenten lauerte.
Orchaud klappte die Tasche auf und deutete auf die Pergamentrollen. Catherine sah sogleich, dass darauf die ihr so bekannten Rosensymbole in rubinroter Tinte prangten. Sie griff behutsam an einen der beiden silbernen Ringe, die die Pergamentrollen zusammenhielten und fühlte eine gewisse Wärme durch ihre Hand gehen. Sie zog die Rolle aus der gefütterten Aktentasche heraus und legte sie auf den steinernen Untersuchungstisch, um den ein Bannkreis gegen ausbrechende Feuer- und andere Elementarzauber gezogen war. Sie zog behutsam die Ringe von den Pergamenten herunter. Die Rollen begannen, sich auszubreiten. Als sie fast flach auf dem Tisch lagen zog Catherine doch noch Drachenhauthandschuhe an und glättete die Pergamentstücke vollständig. Sie sah die Reihen übereinander und nebeneinander aufgemalter Rosen mit kurzem, langem, geraden oder spiraligem Stiel, kleinen oder großen Blütenkelchen, einzeln oder verbunden. "Ich kann feststellen, ob es sich um eine Nachahmung von Ladonnas Geheimschrift handelt oder um eine bis heute geheime Niederschrift von ihr persönlich, wobei ich mich frage, wieso sie erst jetzt aufgetaucht ist und nicht schon nach Sardonias Entmachtung gefunden wurde", sagte Catherine.
"Stimmt, da haben Sie recht. Das habe ich Antoinette nicht gefragt", grummelte Ban Orchaud. Catherine wischte diesen Einwand mit einer Handbewegung aus. Dann sagte sie: "Ich prüfe das gleich nach, ob es Ladonnas Handschrift ist. Falls ja, kann ich ja mit der guten Antoinette darüber sprechen, woher sie diese Pergamente hat."
"Öhm, und dann hoffentlich auch verifizieren, was es mit diesem Text auf sich hat", meinte Ban Orchaud.
"Sie haben bereits die Übersetzung?" fragte Catherine, die schon anfing, die besondere Schrift im Kopf zu entschlüsseln. "Soweit konnte Antoinette Eauvive das hinbekommen. Es soll um eine von ihr in einem Unauffindbarkeitszauber versteckte Insel gehen, die eigentlich der aus dem Meer aufragende Teil eines schlafenden Feuerriesens sein soll, mutmaßlich eines erloschenen oder ruhenden Vulkans bei Santorini, also da, wo bereits vor mehreren tausend Jahren eine verheerende Vulkankatastrophe stattfand", erwiderte Orchaud.
"Ja, hier steht was von einer Roseninsel, die eigentlich ein schlafender Feuerriese ist und zweihundert Tausendschritt der Römer gen Sonnenaufgang und ganz leicht gen Mittag liegen soll", murmelte Catherine. "Wie erwähnt, wieso tauchte dieses Pergament erst jetzt bei den Heilern auf?"
"Es könnte ein Zeittresor gewesen sein oder ein Situationsfluch", vermutete Orchaud. "Möglich ist das", grummelte Catherine. Sie kannte den Zeittresorzauber, der nichtlebendige Körper für eine bestimmte Zeit unsichtbar und unangreifbar machte und natürlich auch Situationsflüche, schädliche Zauber, die durch einen bestimmten Umstand, zum Beispiel die Anwesenheit einer bestimmten Person, den gesellschaftlichen Zustand eines Menschen oder eine bestimmte Stellung der Himmelskörper ausgelöst wurden. Am Ende hatte Ladonna etwas gezaubert, dass wie eine weltweite Sanduhr abzulaufen begonnen hatte, als ihr magischer Ring zerstört wurde und ihre Seele aus der Welt verschwunden war. Ja, so wie sie diese Hexe kennenlernen musste und was sie von ihrer zweiten Ära mitbekommen musste traute sie ihr sowas zu, sowie ja magische Testamente hinterlegt werden konnten, die vier Wochen nach dem Tod des Erblassenden auftauchten und nicht vorher. Ja, sowas musste es sein. Aber dann ergab sich die Frage, warum es diese schwarzen Tafeln gab und die Heiler einen in Ladonnas Rosencode verschlüsselten Text auf Pergament hatten? Nicht die Heiler! Sardonia musste dieses magische Testament gefunden und versteckt haben, ohne zu wissen, was es bedeutete.
Catherine ließ sich nun den von Antoinette übersetzten Text geben und verglich ihn mit der Rosenschrift auf dem Pergament. Sie stellte dabei fest, dass Antoinette die poetische Sprache Ladonnas in eine rein sachliche Beschreibung umgedeutet hatte, zumal die Rosenschrift Ladonnas nicht nur eine Lautschrift war, sondern auch eine Beziehungsschrift, also dass sich zwei folgende Symbole nicht nur als Buchstaben, sondern aufeinander bezogene Worte lesen ließen. Allein schon, dass sie damals von oben nach unten und dann von unten nach oben zu schreiben entwickelt hatte musste immer bedacht werden.
Es dauerte fünf Minuten, bis Catherine alle drei Pergamentrollen bis zur unten prangenden Feuerrose durchgelesen hatte. Danach unterzog sie jedes Pergament und die zwei Halteringe weitergehenden Prüfzaubern.
"Ich muss wohl einräumen, dass der Sanctuafugium-Zauber jede Spur eines Situationsfluches ausgelöscht hat. Daher kann ich nicht mit sicherheit sagen, ob es einen gab oder nicht. Vom Alter der Pergamente her sind diese mehr als zweihundert Jahre alt, ebenso die verwendete Tinte. Die Schrift ist auf jeden Fall identisch mit den Symbolen in Ladonnas Tagebuch, als wenn sie selbst diese Pergamente beschrieben hat. Der Sologenus-Zauber liegt übrigens auf den Ringen. Falls Sie das Original wieder mitnehmen möchten kann ich die Ringe hierbehalten. Falls noch ein Fluch auf den Pergamenten gelegen haben sollte dürfte der durch den Aufenthalt in diesem Haus restlos ausgelöscht worden sein."
"Sie sind sich sicher, dass dies Ladonnas Originalhandschrift ist, Catherine?" fragte Ban Orchaud nach. "Zu neunundneunzig Prozent, Ban. Das eine Prozent Unsicherheit beruht darauf, dass Ladonna einer ihrer Schwestern eine ausführliche Unterweisung in jener Geheimschrift erteilt hat. Dem würde aber der Text widersprechen. Denn es darf angenommen werden, dass Ladonna Angst vor Feindinnen aus den eigenen Reihen hatte und deshalb längst nicht alle Geheimnisse ihrer Macht an andere weiterverraten hat. Deshalb die neunundneunzig Prozent, dass diese Pergamente wahrhaftig ihr Testament sind", legte sich Catherine fest. Dann fragte sie: "Ist Ihnen auch bewusst, was mit der Prüfung der Nachfolge gemeint ist? Ladonna hetzt ihre potentiellen Erbinnen aufeinander, damit diese ausfechten, wer von ihnen ihr Vermächtnis besitzen und benutzen darf. So will sie noch im Tode Unheil unter der magischen Menschheit anrichten."
"Ein Nachfolgekampf? Könnte es nicht auch eine Reihe von Rätseln sein, die bei unrichtigen Antworten zum Tode führen oder ein Gesinnungstest, der bei einem Misserfolg tötet?"
"Nein, Ban, ich bin mir da sehr sicher, dass Ladonna ihre Nachfolgerin danach aussucht, wer die mächtigste, skrupelloseste und entschlossenste ihrer ehemaligen Getreuen ist. Davon ausgehend, dass sie damals noch nicht damit rechnete, dass Sardonia sie im Kampf besiegen würde musste sie ja davon ausgehen, dass sie gerade einmal so alt wie eine reinrassige Veela oder grüne Waldfrau wird. Sie hätte also gerade vierhundert Jahre zu leben gehabt, sofern sie nicht den alten verbotenen Trick beherrschte, ihre Seele in den Körper eines neugeborenen Mädchens überwechseln zu lassen, sobald sie ihr Ende nahen fühlt. Abgesehen davon gab es ja diesen Ring, von dem wir jetzt wissen, dass er Ladonnas Seele oder einen Gutteil davon aufbewahrt und in der Welt gehalten hat. Ihr ging es darum, eine zu finden, die genauso mächtig wie sie war. Das wollte sie dann in einem Entscheidungskampf herausfinden. Es passt auch zu ihrer Mentalität, selbst nach dem Tod über Leben und Tod bestimmen zu können und dass die, die ihre Nachfolgerin wird immer daran denken muss, wie sie diese Nachfolge erlangt hat und wem sie die gehorteten Schriftstücke und Artefakte zu verdanken hat, die ihre eigene Macht vergrößern."
"Ich muss eingestehen, dass Sie da wohl recht haben, Catherine", grummelte Ban Orchaud. "Da bietet sich so ein Entscheidungskampf unter ehemaligen Schwestern doch richtig gut an, anstatt eine Nachfolgerin heranzuziehen, die sich nach dem Tod der Herrscherin so oder so mit ihren Rivalinnen hätte herumschlagen müssen."
"Wie auch immer, wir wissen jetzt, wo die Insel ist, auf der Ladonna ihre restliche Beute versteckt hat und kennen das Passwort, um hineinzukommen. Sollten noch andere Hexen im Besitz dieser Information sein wird es da wohl bald zu einem regelrechten Hauen und Stechen kommen."
"Ja, und da stand auch was von getreuer Schwester. Wenn sich jemand tarnt und eben keine getreue Schwester ist, dürfte sie trotz des mitgelieferten Passwortes Schwierigkeiten haben", vermutete Ban Orchaud.
"Das soll die Mitgliederversammlung entscheiden", sagte Catherine und hoffte zugleich, dass nicht sie die Probe aufs Exempel machen musste und sich mit vielleicht zwei, vielleicht auch zehn machtgierigen Hexen duellieren musste. Ebenso wollte sie auch nicht, dass ihre Mutter sich auf ein derartiges Gefecht einließ. Doch wer sollte in diese Vulkanischen Höhlen hinuntersteigen und sich mit möglichen Nachfolgerinnen herumschlagen? Die Frage wollte sie der Mitgliederversammlung stellen.
"Nach allem, was Sie mir gerade neues erzählt und bereits vermutetes bestätigt haben werde ich bis zum Monatsende eine Vollversammlung aller französischen Mitglieder einberufen und zusehen, dass Ihre Frau Mutter und der Kollege Phoebus Delamontagne zugegen sein können, ohne in Beauxbatons vermisst zu werden", sprach Ban Orchaud nach den Sekunden nachdenklichen Schweigens. "Es gilt zu beraten, ob wir dieses Wissen nutzen sollen oder ob es nicht besser ist, wenn wir das nicht den Ministeriumsmitarbeitern in Griechenland oder Italien überlassen."
"Ja, das sollten wir beraten", stimmte Catherine dem uralten Ligakameraden zu, der schon gelebt hatte, als ihre Urgroßmütter noch nicht geboren waren.
"Ich nehme die Schriftrollen ohne die Ringe an mich, Catherine. Danke für die Expertise", sagte Ban Orchaud. Dann nahm er die wieder zusammengerollten Pergamente und verstaute sie in seiner Aktentasche. Catherine geleitete ihn dann noch zum Partyraum zurück, wo der Flohnetzanschluss war. "Wünschen Sie Ihrem Gatten eine geruhsame Nachtt von mir", flüsterte Orchaud und stieg mühsam in das grüne Flohpulverfeuer. "Cinq Lacs!" rief er mit heiserer Stimme aus. Dann verschwand er mit lautem Rauschen im Kamin.
"Ach, ist der große Meister wieder abgereist. Konntest du junge Hüpferin ihm helfen?" fragte Joe spöttisch. "Ich konnte ihm die nötigen Informationen geben, die er brauchte. Inwieweit das eine Hilfe ist wird sich noch weisen müssen, Joe. Mehr werde ich dazu nicht erzählen", erwiderte Catherine. "Als wenn ich mit einer Geheimagentin verheiratet wäre", knurrte Joe. "Nicht meckern, Joe, du weißt, dass ich mich mit Dingen befasse, die längst nicht jeder wissen darf, auch nicht jeder Zauberer oder jede Hexe", erwiderte Catherine sehr streng. "Muss ich wohl, wenn ich nicht dauernd mit meinem Leben hadern will", erwiderte Joe schon fast selbstmitleidig. Catherine hielt es für richtig, nichts mehr dazu zu sagen.
Das ehemalige Wohnhaus der Hexe Tyche Lennox war nur jenen sichtbar, die wussten, dass es existierte und wo genau es stand. Außerdem durchzog und umgab es ein mächtiger Zauber aus dem Wissensschatz der mächtigen Erdmagiekundigen aus dem versunkenen Reich, der alle unerwünschten Kräfte vor allem von Erde, Feuer und Tod von ihm fernhielt. In dem Haus gab es viele Räume, die bis zum Ende der Gruppierung Sol Puritatis mit Stockbetten vollgestellt waren, in denen viele viele Mitglieder einer bestimmten Schwesternschaft im Zaubertiefschlaf überdauert hatten. Doch nun war außer der Besitzerin niemand im Haus.
Anthelia/Naaneavargia hatte viel Phantasie und noch mehr Gedächtniszauber darauf verwenden müssen, ihren untergeschlüpften Schwestern eine störungsfreie Rückkehr in ihre bisherigen Leben zu ermöglichen, ohne dass argwöhnische Sicherheitszauberer oder neugierige Zaubererweltbürger zu lange nachfragten, wo sie waren. Sie hatten meistens ausgesagt, und die Behörden hatten es so auch festgehalten, dass sie bei den Anzeichen, dass da jemand Hexen jagte, die angeblich oder wahrhaftig für fragwürdige Gruppen arbeiteten, zu Verwandten nach Übersee geflüchtet waren. All zu lange hatten die Befragungen auch nicht gedauert. Denn der heimliche Krieg zwischen Vampiren und Nachtschatten hatte die Sicherheitskräfte und Vergissmichs in aller Welt beschäftigt.
Nachdem Anthelia/Naaneavargia ihren treuen Mitschwestern die Rückkehr in die freie Welt ermöglicht hatte war es ihr darum gegangen, mehr über Ladonnas Hinterlassenschaften zu erfahren. Denn ihr war bewusst, dass noch nicht alles ans Licht gekommen war, was Sardonias und ihre Erzfeindin angestellt hatte und wo sie, die sich selbst für die geeignetere Herrscherin der Hexenheit hielt, einhaken und übernehmen konnte.
Weil sie die fleischlichen Gelüste der Erdmagierin Naaneavargia in sich trug besuchte sie immer wieder Städte außerhalb der Zaubererwelt, um sich zeitweilige Liebhaber zu verschaffen. Zwischendurch kehrte sie auch zu bereits erprobten Gespielen zurück, um mit ihnen wilde, unverbindliche Stunden bei Tag oder Nacht zu verbringen. So vermied sie, sich in einem leeren Haus einsam und nutzlos zu fühlen und konnte den Drang nach geschlechtlicher Befriedigung abbauen, um ihren Kopf für wichtige Dinge freizuhaben. Einmal hatte sie lauthals lachen müssen, als im Zuge der doch an die Öffentlichkeit geratenen Einzelgefechte von Vampiren und Nachtschatten von einer Unterhaltungsserie zum Thema Menschen gegen Dämonen gesprochen wurde, natürlich vom neuen MAKUSA und dem weiterhin unabhängigen Laveau-Institut verbreitet. Einer ihrer zeitweiligen Liebhaber, der als Hauptdarsteller einer schier endlosen Familiensaga mit viel Liebelei, Beziehungsproblemen und Intrigen mitspielte, war gefragt worden, ob er in dieser neuen Unterhaltungsserie mitwirken würde. Seine Antwort hatte sie derartig amüsiert, dass sie vor Lachen fast in Ohnmacht gefallen wäre. Dieser wilde, stets ihren sanften Forderungen erlegene Mann behauptete, mit Magie und Hexerei nichts zu tun zu haben. Das war einfach nur köstlich, fand Anthelia. Der hatte doch keine Ahnung, mit wem er sich bei heimlichen, gegen überneugierige Sensationsvoyeure abgesicherten Treffen vergnügte.
Als die Verschmelzung aus Anthelia und Naaneavargia am 27. November des bald endenden Jahres 2007 in ihr Wohnhaus und ihre Residenz zurückkehrte ging sie davon aus, zwei oder drei Tage auszuruhen, vielleicht noch etwas zu lesen.
Als dann am frühen Nachmittag eine kleine Glocke in ihrem eingerichteten Studierzimmer bimmelte wusste die Hausbewohnerin nicht, ob es eine gute oder schlechte Nachricht ankündigte. Jedenfalls musste einer der Zweiwegespiegel im dafür eingerichteten Fernsprechzimmer ausgelöst worden sein.
Sie verließ ihren Lese- und Schreibraum und wechselte in die kleine Abstellkammer unter der Kellertreppe über. Hier hingen hinter dünnen aber völlig Schall- und lichtundurchlässigen Vorhängen handgroße Spiegel an den Wänden. Einer der blauen Vorhänge hatte sich signalrot verfärbt und ruckelte. Also war der dahinterhängende Spiegel ausgelöst worden. Anthelia zog den Vorhang bei Seite und sah in das Gesicht von Marga Eisenhut in Deutschland. Sie überschlug schnell den Uhrzeitunterschied und vermutete, dass die Mitschwester gerade erst in ihr eigenes Zuhause zurückgekehrt sein musste.
"Höchste Schwester, gut, dass du da bist. Es gibt eine Neuigkeit", klang Margas aufgeregte Stimme aus dem Spiegel. "Ladonna hat ein Geheimversteck im Ägäischen Meer eingerichtet, das jetzt wohl enthüllt wird. Ich wurde am Nachmittag unserer Zeit zu einem Eiltreffen in das Haus von Schwester Karla Klingenschmidt bestellt, die mich als Mitglied des Zaubereiministeriums darauf ansetzen will, dem Minister von dieser Insel ostsüdöstlich von Santorini zu erzählen. Offenbar hat Karla für Schwester Gesine eine magische Schreibtafel großen Ausmaßes sichergestellt."
"Bist du allein und zu Hause?" unterbrach Anthelia den Redefluss ihrer Mitschwester sehr hart. "Öhm, ja, muss nur den Fernbeobachtungsabwehrzauber verstärken. Aber in fünf Minuten kannst du zu mir hinkommen", erwiderte Marga, die wusste, was die Frage bezweckte. "Gut, in fünf Minuten bei dir", bestätigte Anthelia. Dann endete die Spiegelverbindung. Die Bewohnerin des Hauses Tyches Refugium zog den Vorhang wieder davor und verließ die kleine Kammer.
Sie hatte die gganze Zeit damit gerechnet, dass Ladonna in all den Jahren, die sie schon auf der Erde herumgelaufen war mehr als nur ihre Versammlungshöhle und ihre Rosengärten eingerichtet hatte. War es also jetzt quasi amtlich, dass sie irgendwo ein großes Versteck eingerichtet hatte, wo sie alles untergebracht hatte, was nicht in die Hände ihrer Feinde kommen und für sie selbst als Machtvergrößerungsmittel dienen konnte? Die in der Villa dieses Girandelli hinterlassenen Dinge und Bücher waren da wohl nur das, was sie wegen der Turbulenzen ihrer angestrebten Weltherrschaft nicht rechtzeitig in jenes Versteck schaffen konnte.
Anthelia erkannte, dass falls sie es schaffte, Ladonnas letztes Erbe zu ergattern, einen gehörigen Schritt auf dem Weg zur Vorherrschaft der Hexen tun würde. Doch natürlich fiel ihr ein, dass wenn Gesine und Marga davon wussten auch andere heimliche Hexenschwesternschaften davon erfuhren und deren Mitglieder ähnlich dachten wie sie selbst, vor allem Hexen wie Gundula Wellenkamm, Proserpina Drake und vor allem Albertrude Steinbeißer, die immer noch im Brennpunkt der Geschehen tätig war und Verbindungen in die magische und Nichtmagische Welt unterhielt. Falls gerade Albertrude diese erschütternden Neuigkeiten erfuhr bestand die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass diese ihrerseits an Ladonnas Hinterlassenschaften gelangen wollte, um sich allen anderen mächtigen Hexen und Zauberern gegenüber Vorteile zu verschaffen. Dann konnte Anthelia die bisherige Zweckbündnisgefährtin zur ernsten Rivalin oder gar Erzfeindin bekommen. Also musste sie schnell herausfinden, was genau den anderen Schwestern bekannt war und feststellen, wo Ladonnas dunkler Hort versteckt war. Vielleicht hatte die verschwundene Rosenkönigin sogar bestimmt, dass diejenige, die ihn eroberte, ihre rechtmäßige Nachfolgerin werden durfte. Ja, sie musste handeln, wenn sie wusste, wann und wo es erforderlich war.
Zur festgelegten Zeit apparierte Anthelia in mehreren großen Etappen nach Deutschland und erschien unsichtbar in der Nähe von Margas Haus. Ihr Gedankenhörsinn tastete die Umgebung ab. Marga war allein und sehr aufgeregt. Sie saß in einem Zimmer ohne Fenster, Bilder oder Spiegel. "Schwester Marga, ich bin in der Nähe. Öffne dein Haus für mich", gedankensprach Anthelia zur wartenden Mitschwester. Diese erwiederte, dass sie den nördlichen Hintereingang benutzen sollte, da der Vordereingang zu sehr von vorbeigehenden Leuten gesehen werden konnte. So umging Anthelia das Haus und erreichte die kleine, hinter hohen Tannen verborgene Hintertür. Keine zehn Sekunden später erschien Marga dort. Anthelia wurde sichtbar und begrüßte ihre Mitschwester.
In jenem fensterlosen Raum innerhalb des Hauses berichtete Marga Eisenhut, was sie erfahren hatte und übergab Anthelia eine heimlich gemachte Kopie der Beschreibung, der Hexe, die beim Ministerium immer noch als Albertine Steinbeißer verzeichnet war. Anthelia las die Pergamente und nickte. "Die Zeit, all das einzurichten hatte sie. Doch ich gehe nicht davon aus, dass die Insel erst einen Mondwechsel nach dem verstrichenen Jahr von Ladonnas Verschwinden betreten werden kann, sondern viel früher."
"Wie kommst du darauf, höchste Schwester?" fragte Marga. "Ladonna hätte jeden Zeitpunkt nach ihrem Verschwinden wählen können. Ausgerechnet eine Mondphase nach dem vollendeten Jahr erscheint mir sehr unwahrscheinlich. Eher denke ich, dass genau am Tag des vollendeten Jahres die Verhüllung durchlässig wird und alle die Hexen, die von der Insel wissen dort hingelangen können. Treue Schwestern Ladonnas mögen das auch schon von ihr selbst erfahren haben, so dass es nicht auf jener Tafel stehen musste und dass es dort stand, weil Ladonna nicht ausschließen konnte, dass doch jemand wie unsere gute Schwester Albertine die magisch eingeprägte Wegweisung lesen kann. So mögen alle anderen denken, dass die sogenannte Roseninsel erst einen Mondwechsel nach dem Jahrestag auftauchen wird. Für die Eingeschworenen Schwestern genug Zeit, sich dort zu treffen und die Nachfolge auszufechten", erwiderte Anthelia. Dass sie in Wahrheit was anderes vermutete wollte sie Marga nicht verraten.
"Ausfechten? Du meinst, die sollen da gegeneinander kämpfen?" fragte Marga. "Hast du das da nicht gerade so verlesen?" erwiderte Anthelia schnippisch. "Jene, die sich um die Nachfolge bewerben müssen ihre Konkurrentinnen in einer Prüfung übertreffen, was heißt überleben, was heißt, sie im Zweikampf oder einem Massengefecht töten. Sie konnte ja nicht festschreiben, wer genau ihre Nachfolgerin sein sollte, da sie wohl zum Zeitpunkt der Vorbereitungen nicht wusste, wer alles zu ihrer Rosenschwesternschaft gehörte", argumentierte Anthelia. "Außerdem entspricht es ihrem eigenen Machtdenken, dass jemand, der sie beerben will, das eigene Leben dafür einsetzen muss. So kann sie auch nach dem Tod noch über Leben und Tod anderer bestimmen. Vielleicht hätte Sardonia das auch so gemacht, wenn sie nicht mit diesen Dementoren aneinandergeraten wäre. Ich habe in meinem ersten Leben mehrere Nachfolgeduelle bestreiten müssen und meinen ersten Körper im hohen Alter verloren. Wer mir damals nachfolgte musste auch um diesen Rang kämpfen."
"Ja, das könnte hinkommen. Aber was soll ich dem Ministerium jetzt mitteilen?" fragte Marga.
"Das, was du mir vorgelesen hast. Die sollen darauf hoffen, dass sie immer noch früh genug sind, um die Insel zu erobern, sofern sie überhaupt durch die Zugänge kommen. Denn wenn das zutrifft, was du mir vorgelesen hast werden dort nur Hexen eingelassen, die vom Blut und der Gesinnung her Ladonnas getreue Schwestern sind", erwiderte Anthelia.
"Ja, aber was bringt uns das?" wollte Marga wissen. "Dass wir beobachten können, wer alles meint, die würdige Nachfolgerin sein zu können. Wir können dann auch verfolgen, wer es wird und sie gegebenenfalls aufhalten, bevor sie uns zu unterwerfen denken meint. Dem Ministerium geht es garantiert um die Hinterlassenschaften. Ja, und sowei du und Schwester Albertine mir das ja mitgeteilt habt könnten da auch die Ministerien aus Italien, Ägypten und anderswo interessiert sein, die entführten Dokumente und Gegenstände zurückzubekommen und als Dreingabe noch alles andere, was Ladonna an sich gerafft hat. Das könnte sogar eine Schlacht zwischen hochanständigen Ministeriumstruppen geben", fügte die höchste Spinnenschwester noch hinzu.
"Ja, aber soll ich Güldenberg und den Wetterspitzschwägern jetzt was von einem Jahr nach Ladonnas Entmachtung erzählen oder das, was Schwester Albertine herausgelesen und im Zeitverzögerungs-Erinnerungsnachbetrachtungszauber erschlossen hat?"
"Schwester Marga, falls nicht nur in Deutschland, sondern vor allem in Ladonnas alter Heimat weitere solcher Tafeln auftauchen und deren Besitzerinnen ebenso vor der Aussicht, viel Macht und Einfluss zu erringen zurückschrecken wie diese Hannelore Kohlenglut, dann werden diese Ministerien auch erfahren, wo die Insel ist und auch, wann sie sich den Nachfolgeanwärterinnen zeigt. Gib also weiter, was Schwester Albertine dir vorgelesen hat. Im Zweifel muss sie dann ja bei einer Anhörung aussagen, was genau sie gelesen hat. Wenn du da was anderes behauptest müsstest du es auch begründen, und das würde sehr unnötige Fragen aufwerfen", antwortete Anthelia.
"Ja, das ist wohl wahr", stimmte Marga Eisenhut zu. "Ich bleibe mit Andronicus' Frau in Verbindung, die denkt, ich wäre nur eine von Gesines und Gundis treuen Mitschwestern." Anthelia nickte ihr beipflichtend zu.
Als sie wieder in ihrem eigenen Haus bei Boston apparierte überlegte sie, ob sie Albertrude einbestellen sollte, um sie auszuhorchen, was genau sie aus der Tafel herausgelesen hatte. Doch was würde das bringen, wo diese sich ihr gegenüber verschließen konnte? Nein, sie wollte diese in der Vorstellung belassen, dass Marga nichts von der Tafel erfahren hatte. Denn eigentlich hatte Karla ja den Auftrag von Gesine Feuerkiesel und Gundula Wellenkamm erhalten, die Lichtwachen zu informieren und damit Andronicus Wetterspitz und dessen Schul- und Skatkameraden Heinrich Güldenberg.
"Sie hofft darauf, dass alle darauf eingehen, dass erst ein Monat nach Ladonnas Verschwinden die Insel erreichbar ist", dachte Anthelia/Naaneavargia. Damit meinte sie Albertrude Steinbeißer. Diese ging davon aus, dass sie alleine weitergeben konnte, ab wann Ladonnas Roseninsel erreichbar war. Ja, und wenn Albertrude schon einen späteren Zeitpunkt als den Jahrestag nach Ladonnas Verschwinden bezeichnete, dann musste jemand wie Anthelia auch überdenken, was an der Aussage, dass nur Blutsverwandte ehemaliger Getreuer von Ladonna die Hinterlassenschaften erreichen konnten zutraf. Anthelia ging jetzt davon aus, dass dem eben nicht so war und in Wahrheit jede Hexe mit der Absicht, Ladonna zu beerben dort hingelangen konnte, sofern sie die aufgestellten Fallen entschärfen, umgehen oder zerstören konnte. So konnte sich Albertrude die zu vermutende Konkurrenz aus dem Ministerium vom Hals halten und auf eigenen Wegen wandeln. Falls sie wirklich so dachte, sollte sie sich da täuschen, beschloss Anthelia/Naaneavargia. Zwar kannte sie das Passwort nicht, mit dem die Fallen außer Kraft gesetzt werden konnten. Auch wusste sie nicht, ob Ladonna Hindernisse für Apparatorinnen und Besenfliegerinnen ausgelegt hatte. Doch sie kannte die mächtigen Zauber der Erdvertrauten, sowie viele Zauber aus Sardonias Lehre. Deshalb entschied sie sich dafür, ebenfalls alleine in die Nähe der Insel zu reisen und dort unsichtbar abzuwarten, bis diese sich enthüllte. Wenn sie richtig vermutete geschah das wohl am zweiten Dezember, in wenigen Tagen.
Catherine kannte es schon, gleich was wichtiges, womöglich entscheidendes zu berichten. Als sie durch die fünfeckige Falltür unter einem Pavillon am Montparnasse in die weltberühmten Katakomben von Paris hinabstieg und durch scheinbar massive Wände in für nichtmagische Besucher unbetretbare Gänge überwechselte dachte sie nicht mehr an den Text ihrer Ansprache. Mit dem Nigerilumos, dem scheinbaren Schwarzlichtzauber, der nur die davon berührte Stelle leuchten ließ, aber keinen Widerschein verursachte, fand sie ihren Weg. Als sie vor einer wuchtigen Bronzetür ankam prüfte sie, ob hinter ihr noch jemand war. Im Augenblick war sie alleine. So murmelte sie das Passwort "Liberi lucis". Die Tür entriegelte sich und ging auf. Wie durch einen unsichtbaren Vorhang betrat die Expertin für magische Geschichte und Abwehrzauber gegen dunkle Kräfte den geheimen Versammlungsraum der französischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste. Sie sah sogleich, dass fast alle da waren, Louiselle Beaumont, Germain Mirabeau, ja auch ihre Mutter und Phoebus Delamontagne. Also hatte Eleonores Schwiegervater es hinbekommen, in Beauxbatons nicht vermisst zu werden. Sie nickte allen zu, die schweigend auf ihren Stühlen saßen.
Um sechs Minuten nach halb zehn abends flimmerte der magische Vorhang hinter der Tür, der die Echtheit der Eintretenden prüfte. Auf seinen Gehstock gestützt trat Ban Orchaud in den Versammlungsraum ein. Der uralte zauberer trug wie bei diesen Anlässen üblich seinen braunen Zaubererhut auf dem haarlosen Kopf und einen ametystfarbenen Umhang.
"Nabend zusammen", grüßte der letzte Teilnehmer, der in Wirklichkeit der erste Vorsitzende dieser Versammlung war und schloss die Tür. Alle anderen standen auf und verbeugten sich vor ihm, dem bisher unbestrittenen Sprecher ihrer Sektion. Er bestieg das Rednerpodest, auf dem ein breiter, hochlehniger Ohrensessel stand, der ihm als Sitzgelegenheit zustand.
"Sie alle haben in der Einladung von mir erfahren, dass es offenbar neue Entwicklungen in der Angelegenheit Ladonna Montefiori gibt", eröffnete Orchaud mit seinem bekannten bretonischen Akzent die Sondersitzung. "Wir hatten ja schon darüber gesprochen, dass die in jener Villa bei Florenz vorgefundenen Gegenstände und Schrifterzeugnisse nur ein kleiner Teil des von ihr und ihren Gehilfinnen zusammengeplünderten Materials sein mussten. Seitdem die einst unter ihrem Feuerrosenzauber gebannten aussagten, wie oft Ladonna die Hochsicherheitsarchive der von ihr gelenkten Ministerien aufgesucht hatte steht fest, dass sie eine Menge höchst brisanter Dokumente und Artefakte erbeutet hat. Diese gelten immer noch als unauffindbar. Der Verdacht lag nahe, dass sie außer ihrer von einem Nichtmagier erstohlene Heimstatt noch weitere Unterbringungsmöglichkeiten besaß, um ihr genehme oder gar gefährliche Dinge vor unerwünschtem Zugriff zu verbergen. Sicher hatte sie einen Versammlungsort, wo sie ihre eingeschworenen Bundesschwestern zusammenrief. Aber sicher hat sie alles für sie wichtige vor dem Zugriff ihrer Helferinnen versteckt. Der Verdacht ist nun zur Gewissheit geworden. Denn seit geraumer Zeit häufen sich Meldungen über geheimnisvolle schwarze Steintafeln, die von ehemaligen Bundesschwestern Ladonnas an die jeweiligen Zaubereiministerien abgegeben werden. Ja, und Dank der französischen Heilerzunft erhielten wir vor wenigen Tagen eine Pergamentensammlung, die zum einen nur von Hexen berührt werden konnte und zum anderen in der von Ladonna erfundenen Geheimschrift verfasst ist. Unsere Mitstreiterin Catherine Brickston geborene Faucon, die ja durch die langwierige Übersetzung von Ladonnas Tagebuch eine Fachkenntnis über diese Geheimschrift erwarb, bestätigte in einem Persönlichen Gespräch mit mir, dass die Schrift höchst wahrscheinlich von Ladonna selbst auf Pergament gebracht wurde. Der Text weist darauf hin, dass Ladonna wohl in ihrer ersten dunklen Schaffenszeit ein Versteck für brisante Dinge und Schriften eingerichtet hat, das sich jedoch nur offenbart, wenn sie mit Leib und Seele aus der Welt verschwunden sein wird. Madame Brickston, bitte schildern Sie uns den vollständigen Text und welche Schlussfolgerungen Sie aus ihm ziehen!"
Catherine erhob sich und bestieg nun selbst die Bühne. Orchaud ließ derweilen eine silberne Leinwand an der türseitigen Wand heruntergleiten. Catherine öffnete ihre rauminhaltsbezauberte Handtasche, griff mit der Absicht, die Übersetzung der Pergamentrollen herauszuholen hinein und zog sie damit wieder heraus. Gleichzeitig öffnete Orchaud die silberne Aktentasche, die er mit in den Saal gebracht hatte und holte ebenfalls eine Pergamentrolle hervor. "Falls sie die Originalschrift zu präsentieren wünschen", flüsterte er der Mitstreiterin zu. Catherine hatte derweil mit den jedem hier bekannten Zauberstabgesten und dem ungesagten Beschwörungszauber den Durchblick-Präsentationstisch aus der Bühne emporsteigen lassen. Es war ein Tisch mit einer rechteckigen Platte, deren Ecken abgerundet waren und quer zur Leinwand ausgerichtet war. In die schwarze Holzplatte waren Runen eingeritzt, die in für die von ihnen gebündelten Zauber nötigen Ausrichtung zueinander angeordnet waren.
Catherine nahm erst die Pergamente von Ban Orchaud und legte das oberste Blatt mit der beschriebenen Seite nach unten. Unvermittelt glühten die eingeritzten Runen blau auf. Dann wurde die Tischplatte vollkommen durchsichtig. Zeitgleich erschien wie aus sich heraus leuchtend eine dreißigfache Vergrößerung des aufgelegten Pergamentstückes, sodass nun alle das darauf gemalte Muster aus Rosen in verschiedenen Größen, Stellungen und Anordnungen sehen konnten. Catherine legte nun noch das oberste Pergamentstück der Übersetzung links neben das eine Pergament. Unverzüglich erschien rechts von dem Rosenpergament die vergrößerte Darstellung des für alle hier lesbaren Textes auf der Leinwand.
"Oh, ich kann den Tisch noch benutzen", scherzte Catherine, als sie sah, dass der Text richtig herum zu erkennen war. Alle hier grinsten. Ihre Mutter Blanche Faucon rang sich nur ein flüchtiges Lächeln ab. Dann begann Catherine mit dem gebotenen Ernst und der von ihr erlernten Betonung für wichtige Erläuterungen zu erklären, was der Liga in die Hände gefallen war. Sie erwähnte die nicht gleich aus dem Text hervorgehenden Einzelheiten und legte im 5-Minuten-Interval die weiteren Pergamente mit den Übersetzungen auf den magischen Tisch, damit alle mitlesen konnten. Als Catherine noch das letzte Originalpergament mit der Feuerrosensignatur auflegte wandte sie sich wieder direkt an das Publikum.
"Ich bin zu mittlerweile einhundert Prozent davon überzeugt, dass diese Niederschrift von Ladonna selbst angefertigt wurde. Jetzt bei der Vergrößerung kann ich erkennen, dass die Linienführung dem entspricht, wie sie die aus achtundneunzig Einzelsymbolen mit Laut- und Sinnesbezug versehenen Rosensymbole gemalt hat. Sie war eine begnadete Malerin, schade, dass sie einen selbstzerstörerischen Lebensweg gewählt hat", bekräftigte Catherine, dass sie hier alle einen Originaltext von der selbsternannten Rosenkönigin vor sich hatten. Dann ging sie noch einmal auf die letzte Prüfung ein, von der Ladonna schrieb und erwähnte die martialische Tradition der Nachtfraktionsschwestern, ihre Anführerinnen durch Zweikämpfe auf Leben und Tod zu bestimmen und dass Ladonna diese blutige Praxis sicher auch bevorzugte. "Zudem dürfte sie es sehr erheitern, sich vorzustellen, wie Hexen, die ihr im Leben die Treue halten mussten, weit nach ihrem Tod noch ihr Leben einsetzen sollen, um ihr dunkles Vermächtnis zu erwerben und dass dafür womöglich mehrere Hexen sterben müssen, sozusagen als letzte von ihr befohlene ausgesuchte Opfer. Es dürfte auch feststehen, dass dieses dunkle Testament als Vorlage für die erwähnten schwarzen Tafeln gedient hat, die in den letzten Wochen in den Zaubereiministerien auftauchten und nur von Hexen berührt werden können. Womöglich haben jene, in deren Obhut sich diese Tafeln befanden, erkannt, welch finsteren Vergeltungsplan Ladonna im Sinn hatte und dass sie nicht für eine Herrscherin sterben wollen, die längst entmachtet ist. Das heißt aber nicht, dass es nicht noch mehr von diesen schwarzen Tafeln gibt und dass jene, die der Verlockung nicht erliegen können, Ladonnas dunkle Hinterlassenschaft zu bekommen sich nicht auf jener Vulkaninsel treffen, um im tödlichen Kampf zu entscheiden, wem dieses Erbe am Ende zufallen soll. Im Grunde müssen wir der dunklen Matriarchin Sardonia zuerkennen, dass diese Originalschrift in unseren Besitz gelangen konnte. Denn nur weil Sardonia alles von Ladonna geschriebene an sich riss, darunter ja auch das Tagebuch, können wir den Text jetzt lesen und wissen jetzt, dass es diese vorerst noch unauffindbare Insel gibt. Ich habe auch schon ausgerechnet, was zweihundert römische Meilen sind. Je danach was wir jetzt mit diesem Wissen anzufangen beschließen können Beobachterinnen oder gar allein aus Hexen bestehende Einsatzkräfte unseres Ministeriums oder dem Griechenlands oder Italiens dort hinreisen und versuchen, in die drei Schatzkammern vorzudringen, die nach der entscheidenden Prüfung zugänglich sein sollen. Immerhin kennen wir ja jetzt das immer wieder zu denkende Passwort und können es weitergeben."
"Es könnte einen heftigen Kamf um dieses Eiland geben", warf Jean Perrier ein, ein ehemaliger Schulkamerad von Catherines Mutter.
"Wie genau gelangte die Heilerzunft in den Besitz dieser Pergamente und warum hat sie uns diese überlassen?" fragte Blanche Faucon, nachdem sie ums Wort gebeten hatte. Ban Orchaud blickte in die Runde und antwortete:
"Laut der Antwort von Zunftsprecherin Eauvive auf genau diese Frage tauchte jene Pergamentensammlung bei einer Durchsuchung des Dokumentenarchives der Heiler von Millemerveilles auf, nachdem ein Behälter, der vorher noch nicht da war, zwischen den geordneten Dokumenten erschien. Die residente Heilerin von Millemerveilles, Madame Hera Matine, vermutet, dass es sich um eine späte Offenbarung der von Sardonia selbst angelegten Sammlung handelt. Sie übergab die Pergamente an Zunftsprecherin Eauvive, auf dass diese entscheiden möge, wer von diesen Pergamenten Kenntnis erhalten sollte. Diese bat mich, darüber zu entscheiden. Denn Madame Eauvive geht nicht zu unrecht davon aus, dass genau das eintreten kann, was Sie, Mitstreiter Perrier, befürchten, nämlich dass sich alle um ihre geheimen Unterlagen und beschlagnahmten Gegenstände gebrachten Ministerien einen worthaften oder gar gewaltsamen Streit um dieses Erbe liefern könnten. Wer selber unbedingt unter Verschluss zu haltende Dinge und Schriften besaß kann sich mühelos vorstellen, was auch die anderen an solchen Dingen hüteten und die Gelegenheit nutzen, sich in den Besitz solcher Sachen zu bringen, da es ja sicherlich keine an die Öffentlichkeit gelangende Unterhandlung geben soll, wem da was gehört. Genau das könnte auch in Ladonnas Sinne sein, nach ihrer Entmachtung noch Zwietracht und Chaos zu sähen. Wohl auch deshalb wollte Madame Eauvive nicht das Ministerium informieren, sondern uns diesen Schritt überlassen, sollte diese Versammlung sich dafür entscheiden."
"Catherine, Sie haben das Tagebuch Ladonnas übersetzt, viele von uns haben Ihre Übersetzung gelesen. Dennoch frage ich noch einmal, ob es darin einen Hinweis gibt, dass sie ein Erbe hinterlassen wollte?" wandte sich Blanche Faucon in förmlicher Form an ihre Tochter.
"Ja, den Hinweis gibt es, Madame Faucon", sagte Catherine, weil sie hier alle gleich waren und sie ihre Mutter nicht beim Vornamen nennen wollte. Sie zitierte den entsprechenden Abschnitt aus Ladonnas Tagebuch. So war die Grundlage für die nun folgende Diskussion gelegt.
Mehr als zwei Stunden argumentierten die Mitglieder der Versammlung über den vorgelegten Text. Es ging um die Art der Unortbarkeit der Insel, wie diese überwunden werden konnte, bevor die Insel von selbst wieder sichtbar wurde, welche Zauber es gab, die Zauberer oder Hexen alleine von einem Ort fernhalten konnten und wie diese zu überwinden waren und ob die Hinweise nicht selbst eine Falle für unerwünschte Eindringlinge waren und die wahren Schwestern aus anderen Quellen oder durch Ladonna selbst wussten, wie sie die Hinweise zu verstehen hatten. Albert Monier, dessen Mutter aus Deutschland stammte, erwähnte, dass es in einem trivialen Wildwestroman aus Deutschland einem goldgierigen Banditen den Tod gebracht hatte, als er auf der Suche nach dem Schatz eines Stammeshäuptlings einen geschriebenen Hinweis befolgte und damit eine Falle auslöste. Catherine, die diese Möglichkeit auch bedacht hatte wies jedoch darauf hin, dass sie hier eine Originalhandschrift Ladonnas vorliegen hatten, die wiederum als Vorlage für die Kopien, womöglich jenen auf den schwarzen Tafeln, dienen sollte. Darauf erfolgte die Frage von Monsieur Phoebus Delamontagne, ob diese Tafeln tatsächlich einen Text enthielten und ob dieser Text in der Rosenschrift oder in lateinischen oder griechischen Buchstaben abgefasst worden war. Die Frage konnte Orchaud nur mit "Zur Zeit der Übergabe waren die Tafeln blitzblank" beantworten. Catherine räumte ein, dass bereits der Weg durch das erwähnte Labyrinth zu jener Ausscheidungsprüfung gehören mochte, wenn eine Jägerin von Ladonnas Erbe sich nicht an alle Bedingungen hielt.
Die Experten für Zauberfallen sprachen davon, was unerwünschte Eindringlinge erwartete. Da nicht nur Flüche und andere als Fallen einsetzbare Zauber möglich waren wies Phoebus Delamontagne auch auf rein mechanische Fallen wie in ägyptischen Grabstätten hin. Er erinnerte auch daran, dass Ladonna was von Flugzauberunterdrückung geschrieben haben sollte. Catherine bestätigte das. "Sie ging wohl davon aus, dass jemand auf einem Flugbesen oder Flugteppich an allen lauernden Fallen vorbei und über alle mechanischen oder auf Berührung ansprechenden Fallen hinwegfliegen könnte. Da sie selbst zu einem Teil von einer grünen Waldfrau abstammte kannte sie natürlich auch deren Fähigkeit, flügel- und Hilfsmittellos zu schweben oder frei zu fliegen. Allerdings können Veelastämmige, zu denen Ladonna unbestreitbar gehörte, ihre Gestalt ändern und meistens als mehr oder weniger große Vögel fliegen. Wie ist es also mit dieser Möglichkeit, an den Fallen vorbeizukommen?"
"Der Text erwähnt keine derartige Einschränkung. Allerdings ist ein Animagus oder ein natürlicher Gestaltwandler in Tierform eingeschränkt, was schnelles Zaubern angeht oder den einfachen Umstand, Türen öffnen zu müssen oder Gegenstände zu ergreifen", antwortete Catherine. "Ein Vogel oder flugfähiges Insekt kann keine Türklinken drücken, keine Riegel aufshieben oder Kisten öffnen. Wer immer sich also einer flugfähigen Tiergestalt bedient, um Ladonnas Hinterlassenschaften zu ergreifen muss irgendwann wieder eine menschliche Form annehmen, die auch über ausreichend große Gepäckstücke verfügt, um etwas mitnehmen zu können. Da stark bezauberte Gegenstände sogut wie unverwandelbar sind besteht die Schwierigkeit, dass sie bei einem erneuten Gestaltwechsel nicht in tragfähiger Form mitgenommen werden können. Somit musste Ladonna keine Beschränkung für flugfähige Tiere einwirken." Das sahen alle hier anwesenden ein, vor allem jene, die selbst Animagi waren.
Als die Fragen zu möglichen Fallen und Barrieren dahingehend beantwortet waren, dass es keinen Sinn hatte, einen Zauberer abweisenden Zauber zu brechen, wenn der auf hundert räumliche Abschnitte gewirkt worden war, ja die Gefahr bestand, dass der Versuch entweder den Anwender tötete oder die gesamte Insel in die Luft sprengte ging es darum, ob es sinnvoll war, das Zaubereiministerium einzuweihen oder die Liga gegen dunkle Künste alleine damit zu betrauen. Dagegen wandte Phoebus Delamontagne ein, dass die Verhandlungen zwischen den Zaubereiministerien bereits gezeigt hatten, wie sehr Ägypten und Italien um die von Ladonna erbeuteten Gegenstände stritten und dass auch die italienischen Kollegen dafür eintraten, alles auf italienischem Boden beschlagnahmte zu behalten. "Ja, nur dass jene Insel außerhalb der Hoheitsgebiete liegtt", wandte Germain Maribeau ein. Er arbeitete als freier Rechtsberater für internationales magisches Handelsrecht und stammte aus dem Zaubererviertel von Calais.
"Nur dass das griechische Zaubereiministerium fast alle ägäischen Inseln als eigenes Hoheitsgebiet oder Protektorat ansieht", wandte Phoebus Delamontagne ein. "Das ist leider wahr und desshalb auch ein ständig schwelender Konfliktherd zwischen Griechenland, der Türkei und Libyen", bestätigte Maribeau. "Ja, und wenn eine solche Insel unter magischem Ortungsschutz existiert und irgendwann auftaucht werden sich unsere Mitstreiter aus Italien mit den wenigen Bundesgenossinnen und -genossen aus Griechenland darum streiten, wer das Zugriffs- und Verfügungsrecht haben könnte, auch ohne dass die zuständigen Zaubereiministerien eingeschaltet werden. Des weiteren müssten wir, sollten wir Anspruch auf diese Hinterlassenschaften erheben, damit rechnen, vor den Gamot zitiert zu werden, weil wir uns anmaßen, unser Zaubereiministerium über hoch brisante Hinterlassenschaften im Unklaren belassen zu haben. Da der amtierende Zaubereiminister Torregrande da selbst Mitglied der Liga ist könnte der wiederum darauf verfallen, den griechischen Kollegen und Ministerin Ventvit zu informieren oder, was ich leider für möglich halten muss, seinen ganz eigenen Vorteil aus der Sache ziehen und durch die Beschlagnahme der von Ladonna zusammengetragenen Gegenstände und Schriften eine herausragende Position in Europa zu ergattern. Hinzu kommt noch, dass wir eben nicht wissen, wie viele Abschriften dieses De-Facto-Testamentes existieren und in wessen Besitz sie sich befinden. Am Ende könnten diejenigen, die solche Abschriften haben beschließen, die Zaubereiministerien ihrer Heimat davon in Kenntnis zu setzen. Dann wiederum könnte die für uns unangenehme Frage erhoben werden, seit wann wir Kenntnis von diesem Nachlass besitzen und uns entsprechend maßregeln, weil wir nicht unverzüglich Meldung an die Zuständigen Stellen unseres Ministeriums gemacht haben. Was wir hier haben ist eine Tonne voller Erumpentflüssigkeit, die uns bei der kleinsten unachtsamen Bewegung um die Ohren fliegen wird, liebe Freundinnen und Freunde", legte Maribeau dar. Blanche Faucon und Phoebus Delamontagne nickten heftig. Auch Catherine nickte. "Ja, und genau darum sitzen wir jetzt alle hier, Germain", bestätigte Ban Orchaud. Also ging es nun um die rechtlichen Verstrickungen, die dieser Text mit sich brachte. Es bildeten sich zwei Lager heraus. Die einen, die dafür eintraten, die Zaubereiministerien wegen der erwähnten Rivalitäten und Besitzansprüche herauszulassen und jene, die als gesetzestreue Mitglieder der magischen Gemeinschaft um die gute Zusammenarbeit mit dem hiesigen Zaubereiministerium bedacht waren und daher die Entscheidung über einen Vorstoß zu jener Roseninsel Ministerin Ventvit und ihren Leuten überlassen wollten. Diese boten an, dass sie ja die Ministerin unterstützen konnten. Catherine hörte sich das ganze an, bis klar war, dass es eine hauchdünne Mehrheit für eine behutsame Information der Ministerin gab. Dann sagte sie: "Es wurde vorhin eingeworfen, dass weitere Kopien jenes Textes im Umlauf sind. Insofern ist es wohl für uns günstig, wenn wir wenigstens bekunden, dass wir bereits von diesem geheimen Versteck mit Ladonnas Vermächtnis wissen und bereit sind, bei der Aushebung mitzuhelfen, sollte das französische Zaubereiministerium diese für geboten halten."
"Torregrande und Montecello werden uns dafür mit lautstarken Wortstürmen beharken", meinte Ban Orchaud, der sich zum Lager derer bekannte, die das Ministerium nicht informieren wollten, um kein Rudel shlafender Drachen zu kitzeln. Dann bat Madame Faucon ums Wort und erhob sich.
"Werte Mitstreiterinnen und Mitstreiter, ein Punkt wurde hier noch gar nicht erwähnt. Ich muss sicherstellen, ob dieser allen von Ihnen so offensichtlich ist, dass er nicht erwähnt werden muss oder ob er in der Hitze der Debatte völlig unterging. woher wissen wir so genau, dass es diese Insel gibt? Es kann auch sein, dass Ladonna einen letzten, heimtückischen Schlag gegen ihre Widersacher führen will, dass sich alle, die ihre Nachfolge erstreiten wollen oder die sicherstellen wollen, dass die Hinterlassenschaften nicht missbraucht werden können an jenem Ort zusammentreffen sollen, um sich in einem gnadenlosen Gefecht gegenseitig den Garaus zu machen und dann, wenn jemand als einzige übrig bleibt, den umkämpften Ort mit jenem blauen Feuer vernichtet, in dem mehrere Niederlassungen von Vita Magica vergingen. Müssen wir nicht genau darauf gefasst sein?"
Betretenes Schweigen erfüllte die Versammlungshalle. Catherine überlegte, ob sie was dagegen einwenden konnte. Da ergriff Ban Orchaud das Wort:
"Blanche, zu Ihrer ersten Frage, ob wir uns alle dieser Möglichkeit so bewusst waren, dass sie nicht ansatzweise erwähnt wurde: Natürlich gehen wir hier alle von der Heimtücke Ladonnas aus und müssen deshalb auch darauf gefasst sein, dass der von ihr erwähnte Ort nichts wertvolles enthält und nur eine letzte gemeine Falle ist, ein posthumer Racheschlag gegen alle, die ihren Herrschaftsanspruch anfochten. Doch Fakt ist, dass es eine Unzahl Gegenstände und Schriftstücke gibt, die als verschwunden gelten und von denen wir ausgehen müssen, dass Ladonna sie wie eine Mischung aus Elster und Hamster zusammengerafft hat. Es muss also nachgeprüft werden, ob die uns zugegangene Information auf diesen Lagerort bezogen ist oder ob es sich um eine letzte Vergeltungsmaßnahme Ladonnas handelt. Also muss jemand dorthin. Auch deshalb war es von untergeordneter Bedeutung, ob die Insel eine Falle oder wirklich das Versteck eines Hortes dunkler Hinterlassenschaften ist. Was die mögliche Vergeltung Ladonnas angeht, so ist diese der Grund für mein Festhalten an der Überzeugung, dass wir es nicht den Zaubereiministerien überlassen dürfen, sich darum zu streiten. Sollten diese sich in einem magischen Krieg verlieren und dann auch noch die Insel als solche als Täuschung und tödliche Falle enthüllt werden, so tragen wir eine nicht geringe Mitschuld daran, dass Ladonna noch im Tode ihre große Rache bekommen hat. Bitte bedenken Sie das alle, die ihrer Bürgerpflicht gehorchen wollen!"
"Wollen ist gut", knurrte Mirabeau, der sich als Fürsprecher der Information an die Ministerin hervorgetan hatte. "Wenn wir jetzt anfangen, die gesetzlichen Pflichten zu hinterfragen machen wir das Ministerium argwöhnisch, nicht, dass ich das nicht vorhin schon einmal erwähnt hätte."
"Leute, die Liga gegen die dunklen Künste gründete sich aus der berechtigten Sorge um das Wohl magischer Menschen als unabhängige internationale Institution, die selbst dann noch ihre Prinzipien einhält, wenn ein Zaubereiministerium von dunklen Kräften übernommen und geführt wird", hielt Orchaud dagegen. "Das hat uns gegen Sardonia, Grindelwald und Riddle zusammengehalten und erst recht, als klar war, dass Ladonna Montefiori ein Zaubereiministerium nach dem Anderen unter ihre Herrschaft brachte. Wir vertreten nicht ein Zaubereiministerium, sondern das gesamte Wohl aller Menschen und haben uns darauf verpflichtet, diese vor den Auswirkungen dunkler Zauber zu schützen."
"Ja, wie die Bruderschaft des blauen Morgensterns im Orient", wandte Phoebus Delamontagne ein, der zu denen gehörte, die das Ministerium informieren wollten. Blanche Faucon erbat noch einmal das Wort und sagte:
"Ja, wir möchten weiterhin unabhängig sein. Aber genau um das zu gewährleisten müssen wir denen, die wie wir die Unterwerfung unter dunkle Kräfte bekämpfen beistehen, also in unserem Falle auch das gegenwärtige Zaubereiministerium. Wir müssen ja nicht ausplaudern, wer alles zu unserer Sektion gehört, abgesehen davon, dass meine Person und die von Madame Brickston dem Ministerium schon als Mitglieder bekannt sind. außerdem argwöhne ich, dass sich diese Diskussion im Kreis dreht und wir alle sicher noch einige Stunden Schlaf haben möchten, bevor wir unseren üblichen Tätigkeiten nachgehen. Daher erbitte ich nun von Ihnen, Monsieur Orchaud, eine Entscheidung, ob wir darüber abstimmen, welchen Schritt wir gemeinsam tun oder selbst eine Entscheidung zu treffen, der sich alle hier anwesenden dann unterwerfen. Diese Möglichkeiten stehen Ihnen zu."
"Wenn andere Ministerien davon erfahren, dass es diese angebliche Roseninsel gibt wird man uns fragen, ob wir nichts davon mitbekommen haben", versuchte Mirabeau noch einmal, alle auf seine Seite zu ziehen.
"Leute, Madame Faucon hat recht, dass wir jetzt nur noch im Kreis diskutieren. Also, die übliche Abstimmungsweise. Ja für die Einbezihung des Ministeriums, nein für unsere alleinige Vorgehensweise. Je nach Stimmenmehrheit dürfen wir dann drüber diskutieren, wie der Mehrheitsbeschluss genau umgesetzt wird. Catherine, bitte bitte machen Sie den Tisch frei, damit er in sein Lager zurückkehren kann!"
Catherine nahm die noch auf dem Tisch liegenden Pergamente herunter. Der Tisch wurde augenblicklich wieder undurchsichtig. Dann schickte sie ihn mit der ungesagten Rücksendeformel dorthin, wo er bis zur nächsten Vorführung von Pergamenten oder vergrößerten Darstellungen von zu besprechenden Gegenständen warten sollte.
"Alle Jas nach rechts, die Neins nach links und bitte beeilung, damit die Kollegin Faucon noch rechtzeitig ins Bett findet", trieb Ban Orchaud nun alle neunundneunzig Anwesenden dazu, sich gemäß ihrer eigenen Entscheidung aufzustellen.
Catherine überlegte noch einige Sekunden, dann reihte sie sich in die immer größer werdende Gruppe der Jastimmen ein. Auch ihre Mutter stellte sich zu denen, die das Zaubereiministerium informieren und dessen Entscheidung akzeptieren wollten. Dann gesellte sich auch Louiselle Beaumont, die sich an der Zauberfallendiskussion beteiligt hatte, zu den Befürwortern der Zusammenarbeit mit der Zaubereiministerin. Erst als alle 99 sich so hingestellt hatten, dass ein Durchzählen möglich war zählte Orchaud durch. Es ergab sich eine Mehrheit von 52 zu 47 für die Information des Zaubereiministeriums. Orchaud nickte dann. Zwar hatte er sich gegen die Information des Zaubereiministeriums ausgesprochen, durfte aber nicht selbst an der Abstimmung teilnehmen, weil er ja auszählen musste. Abgesehen davon würde seine Stimme keinen Umschwung bringen. So sagte er nach der mehrmaligen Auszählung: "Somit steht fest, dass Madame Catherine Brickston als erwiesene Fachkundige über Ladonna Montefiori die Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit, die Abteilung für magische Strafverfolgung und Sicherheit und die Zaubereiministerin da selbst über die uns zugegangenen Kenntnisse informieren möge und dabei die Pergamente und deren Übersetzung als Beweis vorlegen mag. Ich bitte Sie auch darum, alle Einwände zu erwähnen, die gegen eine unvorbereitete Aktion sprechen. Ich hoffe, wir haben heute abend keinen Schwarm wilder Wichtel auf sämtliche Dächer gejagt."
Die Angehörigen der unterlegenen Meinung nickten nur verhalten, während jene, die die Abstimmung gewonnen hatten aufatmeten. Sie mussten diese Last der neuen Erkenntnis nicht alleine tragen.
Catherine durfte nun alle auf dem Tisch liegenden Pergamente einsammeln und sicher fortstecken. Sie verkündete, dass sie gleich am nächsten Morgen eine Unterredung mit Ministerin Ventvit und den zuständigen Abteilungsleitern erbitten würde. Damit war die lange und zum teil hitzig geführte Unterredung beendet. Ban Orchaud bedankte sich bei allen für die Teilnahme und wünschte jeder und jedem einen sicheren Heimweg und eine erholsame Nachtruhe. Dann verließen die 100 Mitglieder der französischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste den Versammlungssaal.
Da Catherine und Louiselle denselben Heimweg hatten konnten sie nun zusammen durch die geheimen Gänge und die bezauberten Wände hindurch. Madame Faucon unterhielt sich noch mit Phoebus Delamontagne und bog in eine andere Richtung ab, um aus einem der anderen Ausgänge die Katakomben zu verlassen. Catherine hatte damit gerechnet, dass sie ihr noch was mitteilen wollte. Doch dann durchquerten die beiden Lehrkräfte aus Beauxbatons eine weitere meistens massive Wand als seien sie Gespenster. "Gut, Louiselle, dann machen wir uns auch mal zu unseren Lieben nach Hause", flüsterte Catherine.
"Laurentine ist bei Tante Hera zu besuch und bleibt die Nacht dort, Catherine. Ich übernachte in meinem Schlösschen. Da habe ich auch Zugriff auf alle nötigen Dokumente zu magischen Fallen."
"Dann disappariere ich gleich im Pavillon", legte Catherine fest.
"Kind, verfalle ja nicht dem Einfall, dich an einer wie auch immer gearteten Expedition zu jener ominösen Insel zu beteiligen", durchbrauste die Gedankenstimme ihrer Mutter Catherines Bewusstsein. Sie zuckte nicht zusammen und verzog auch nicht das Gesicht. Sie ging einfach weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Als Louiselle dann an ihr vorbeiging und zum Abschied winkte winkte Catherine zurück. Louiselle stellte sich so hin, dass sie beim Disapparieren eine möglichst dünne Luftsäule mit sich nehmen würde. Dann ploppte es leise, und die sogar Catherine an Wissen und Fertigkeiten überragende Mitstreiterin war weg.
"Maman, auch deshalb liegt mir was daran, das Ministerium zu benachrichtigen, damit ich Claudine und Justin nicht zurücklassen muss, sofern dies nicht nötig ist", mentiloquierte Catherine und wünschte ihr noch erfolgreiche Zeiten in Beauxbatons. Dann konzentrierte sie sich auf ihr eigenes Arbeitszimmer, hob ihren Zauberstab und vollführte eine gekonnte Drehung auf dem rechten Absatz. Den Widerhall des Apparierplopps hörte sie schon nicht mehr.
Sie apparierte in ihrem Dauerklangkerker-Arbeitszimmer, wo nur sie zeitlos erscheinen konnte. Joe saß noch an seinem Rechner und korrespondierte offenbar mit ausländischen Firmenpartnern. Als er mitbekam, dass seine Frau wieder zu Hause war tippte er auf Englisch: "Noch einmal danke für Ihr Interesse und viel Erfolg. gn8!"
"Soso, wenn Maman einmal länger ausbleibt hält sich der Papa am Bildschirm fest", flüsterte Catherine mit einer Mischung aus Strenge und Belustigung.
"Papa hat die Gunst der freien Stunden genutzt, nachdem der Kleine endlich schlafen wollte und konnte einige Verabredungen mit Leuten in New York treffen. Wird den Chef freuen, dass das Projekt noch vor Weihnachten in die Endphase treten kann. Mehr kriegst du nicht von mir, da ich ja wohl auch nichts von dir erzählt bekomme."
"Nur soviel, ich soll dich von meiner Mutter grüßen", sagte Catherine. "Aber jetzt sollten wir besser ins Bett. Es ist ja schon kurz vor zwölf."
"Schließet die Türen und die Fenster, denn da draußen sind Gespenster", erwiderte Joe. "Nicht in diesem Haus, Joe. Du kannst zuerst ins Bad."
"Ist aber nett", entgegnete Joe. Dann beendete er das Chatprogramm und meldete sich von seinem Firmenkonto ab. Danach drückte er die große runde Ein-aus-Taste an seinem Rechner. Catherine sah, wie sämtliche laufenden Programme beendet und alle Bildschirmfenster geschlossen wurden.
Kurz nach zwölf lagen auch die Besitzer des Hauses Rue de Liberation 13 in ihrem breiten Bett und schliefen dem neuen Morgen entgegen.
Catherine hatte damit gerechnet, gleich am Tag, als sie die Eule mit der Nachricht zu Händen der Zaubereiministerin versandt hatte einen Gesprächstermin zu bekommen. Doch dass der Termin nur drei Stunden nach Versandt ihrer Eule festgelegt wurde zeigte ihr, für wie wichtig die Ministerin den Grund der Unterredung hielt.
Catherine kannte es auch schon, in jenes Geheimbüro 369 zu flohpulvern. Sie war dort schon wegen Dairons Grab und anderer dringender Angelegenheiten, die nicht in der Zeitung erwähnt werden sollten gewesen. So war die Flohpulverreise für sie keine überragende Erfahrung. Auch dass sie bei der Ankunft von einem Gongschlag angekündigt wurde kannte sie schon. Neu war für sie, dass sie gleich nach dem Verlassen des Kaminrostes von Britta Gautier begrüßt wurde. Die war doch früher im Außendienst für die Sicherheitsabteilung beschäftigt gewesen. "Hallo Madame Brickston. Ich habe den Auftrag, Sie zu begrüßen und in das Beratungszimmer zu geleiten", sagte die blonde Hexe mit schwedischen Eltern und geleitete Catherine aus dem Kaminzimmer heraus in das für höchstens zehn Personen ausgelegte Büro. "Sind Sie jetzt dauerhaft zum Innendienst abkommandiert, Madame Gautier?" fragte Catherine neugierig. "Seit unserer Friedensreise hat die Ministerin mich zur Beamtin zur besonderen Verwendung aufgestuft, damit ich die mir zu Ohren gekommenen Geheimnisse auch kennen darf und sichergestellt ist, dass ich sie nicht weitereerzähle, wenn ich mit tatendurstigen Kollegen im Außeneinsatz unterwegs bin. Deshalb kann ich mal als Leibwächterin und mal als zusätzliche Koordinatorin für innere und äußere Angelegenheiten auftreten, was doch viel Innendienst ist", sagte Britta Gautier. Dann öffnete sie die Tür zum Büro 369, in das sonst nur Abteilungsleiter oder eben besondere Verabredungspartnerinnen und Partner Einlass bekamen.
Die Ministerin war schon dort, zusammen mit dem auf Bewährung arbeitenden Auguste Chaudchamp, dessen Stellvertreter Alain Dupont, Sicherheitsabteilungsleiter Belenus Chevallier und dessen Stellvertreter Rochfort, sowie die Leiterin der Abteilung zur Erfassung und Betreuung magischer Geschöpfe Barbara Latierre und deren Stellvertreter Lamarck. Mit letzten beiden hatte Catherine jetzt nicht gerechnet. Doch dann fiel ihr ein, dass Ladonna ja die Erbanlagen einer Veela und einer grünen Waldfrau in sich hatte. Insofern war die Abteilung für magische Geschöpfe auch betroffen.
Catherine grüßte die Anwesenden, allen voran die Ministerin. Dann durfte sie sich auf einen bequemen Besucherstuhl setzen. Britta Gautier nahm rechts der Ministerin Platz. Damit hatte Catherine es nun wirklich amtlich, dass Britta Gautier um mindestens eine Rangstufe aufgestiegen war.
"Sie haben uns unter den Stichworten "Ladonnas letztes Vermächtnis" und "mögliche Lagerstätte für gefährliche Gegenstände und Schriften" alarmiert, dass demnächst jene Lagerstätte für Nachfolgekandidatinnen der entmachteten und hoffentlich für immer verschwundenen Feuerrosenhexe zugänglich sein wird und angedeutet, dass der Zeitpunkt genau ab dem Jahrestag von Ladonnas Entmachtung liegen mag, Madame Brickston. Sie erwähnten, dass Ihnen beziehungsweise der Liga gegen dunkle Künste derartige Dokumente zugekommen sind und die Liga gnädigerweise
"Ich sagte es schon öfter, schon als Monsieur Grandchapeau noch auf eigenen Füßen herumlaufen und eigenständig sprechen konnte, dass der Status der Liga alljährlich auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen ist und ein jährlicher Bericht über erworbenes Wissen und clandestine Aktionen zu erstatten sein soll, Ministerin Ventvit", schaltete sich Belenus Chevallier ein. "Ich habe auch nicht schlecht gestaunt, als die Kollegin Latierre eine Anfrage an mich herantrug, ob auch in Frankreich irgendwelche Gefolgsschwestern Ladonnas mit schwarzen Tafeln zu Besuch kamen. Aber offenbar fanden die bei der Liga gegen dunkle Künste dankbarere Abnehmer für sowas."
"Mademoiselle la Ministre, Messieursdames, ich kann vollauf nachempfinden, wie verärgert und verunsichert Sie alle sind, dass der Anschein entstand, dass wir von der Liga gegen dunkle Künste mit uns zugegangenen Informationen hinter dem Berg halten würden", setzte Catherine zu einer Antwort an. "Auch wenn Sie es mir oder der französischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste nicht sofort glauben mögen möchte ich Ihnen allen versichern, dass uns die betreffende Information erst vorgestern zuging und wir erst einmal beraten mussten, ob sie echt ist oder eine Täuschung von Ladonna oder wem anderem, ob Gefahr im Verzug besteht oder die Gefährdung der Zaubererwelt noch in gebotener Ruhe und Sorgfalt verhindert werden kann. Wir wussten zu dem Zeitpunkt nicht, dass es im Archiv der Heiler von Millemerveilles eine Aufzeichnung gab, die Sardonia damals aus Ladonnas Besitz erbeutet hat. Auch das musste ja geprüft werden. Als wir alle für uns zugänglichen Faktoren geprüft haben beschlossen wir, das Zaubereiministerium vollumfänglich über den uns zugekommenen Text und dessen Bewertung zu informieren, weshalb ich als die Ihnen hinlänglich bekannte und hoffentlich auch vertraute Fachkundige für Zaubereigeschichte und dunkle Zauber und bösartige Zauberwesen bei Ihnen vorstellig wurde. Ich führe alle in Frage kommenden Unterlagen mit und bin bereit, mit Ihnen allen über die sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Gefahren zu sprechen. Wir von der Liga gegen dunkles Zauberwerk bekräftigen unsere Kooperationsbereitschaft mit dem Zaubereiministerium und bekunden unser Vertrauen, dass diese Zusammenarbeit helfen wird, entstehende Gefahren zu erkennen und zu beseitigen, auch und vor allem, weil wir davon ausgehen, dass eine mögliche Nachfolgerin Ladonnas aus den Fehlern der von ihr verehrten Vorgängerin gelernt haben mag und jene Insel, von der ich gleich berichten werde, zu ihrem unangreifbaren Stützpunkt machen kann, wenn sie die von Ladonna festgelegte Nachfolgeprüfung bestanden haben mag."
"Oh, eine Insel, was auch sonst", ätzte Belenus Chevallier. Die Ministerin sah ihn an und sagte ruhig aber nicht ohne Strenge: "Belenus, Sarkasmus und Zynismus hatten wir jetzt genug, nicht dass es uns hier noch langweilig wird." Dann sagte sie noch: "Madame Brickston, Sie haben hier und jetzt unser aller Aufmerksamkeit. Bitte legen Sie dar, was Sie erfahren haben und was die Liga daraus folgert!"
Die nächste halbe Stunde referierte Catherine über die von ihr mitgebrachten Pergamente, deren Übersetzung und alle sich daraus ergebenden Fragen, die ihre Ligakameraden diskutiert hatten. Sie ließ jedoch aus, dass knapp die Hälfte der Mitglieder einen Alleingang bevorzugte. Doch sie erwähnte die mögliche Hinterlist Ladonnas, ihre Feinde posthum gegeneinander auszuspielen und sogar einen gewaltsamen Konflikt zwischen den Zaubereiministerien zu entfachen, wer die von ihr hinterlassenen Gegenstände und Niederschriften für sich erkämpfen mochte, insbesondere weil die Insel ja außerhalb der eigentlichen Hoheitsgewässer eines Landes lag. Sie sah den Zuhörenden an, dass der eine oder die andere gerne eine Zwischenfrage stellen würde. Doch die Ministerin winkte sofort ab, wenn jemand aus ihrem Stab tief einatmete, um was zu sagen. Erst als Catherine ihren Vortrag damit beschloss, die Pergamente in die Obhut der Sicherheitsverwaltung zu übergeben und Belenus Chevallier die zwei Pergamentrollen aushändigte nickte die Ministerin.
"Auguste, sie wollten was fragen", sagte Mademoiselle Ventvit. Der Leiter der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit nickte und wandte sich an Catherine:
"Bestand oder besteht von Ihrer achso unabhängigen und weltweit operierenden Vereinigung der Einfall, diese Unterlagen dem italienischen Zaubereiministerium zu übergeben, die wir natürlich erst einmal auf Echtheit prüfen müssen?"
"Das war eine der von uns erörterten Fragen, wem wir von diesem Fund vordringlich berichten sollen, Monsieur Chaudchamp. In gewisser Weise hätten wir das italienische Zaubereiministerium ja auch sofort informieren können, da der amtierende Zaubereiminister Signore Torregrande ein Mitglied unserer weltweit operierenden Vereinigung ist und durch die Wahl in diesem Jahr vollständig zur Amtsausübung beauftragt wurde. Doch dann hätten Sie oder Ihr Kollege Chevallier zu recht eingewandt, dass Schriftstücke mit magierechtlicher Relevanz und Sicherheitsfragen gemäß internationaler Übereinkunft dem Zaubereiministerium vorgelegt werden sollen, in dessen Zuständigkeitsbereich sie gefunden wurden und in dessen Zuständigkeitsbereich die Besitzerinnen und Besitzer der betreffenden Schriften wohnhaft sind. In dem Fall wurden die mit den Rosensymbolen beschriebenen Pergamente in Millemerveilles gefunden und von französischen Hexen und Zauberern gelesen und ausgewertet."
"Eindeutig", kam Belenus Chevallier seinem Kollegen Chaudchamp zuvor. Dieser verzog das Gesicht, als habe er in eine ganze Zitrone gebissen.
"Sie erwähnten, dass sie diese Pergamente zeitweilig in Ihrem sanctuafugium-gesicherten Haus aufbewahrten und somit jede darin lauernde Verwünschung tilgten. Hatten Sie keine Angst, dass sich die Pergamente dadurch selbstvernichten könnten?" fragte Monsieur Chevallier. "Zu keinem Zeitpunkt, weil ja gerade die Selbstvernichtung wie ein bösartiger Zauber erfasst und beseitigt wwird, sobald ein Gegenstand oder Schriftstück in den Einflussbereich eines dauerhaften Sanctuafugium-Zaubers gelangt", antwortete Catherine. Chaudchamp sah den Kollegen an und erwiderte: "Wussten Sie das nicht, Kollege Chevallier. Vielleicht sollten Sie noch mal die UTZ-Jahre in Beauxbatons wiederholen."
"Monsieur Chaudchamp, unterlassen Sie derartige Abfälligkeiten gegenüber einem Ministeriumsbeamten, wenn Sie keine Minuspunkte auf Ihrem Bewährungskonto erhalten möchten", rief die Ministerin den Mitarbeiter zur Ordnung. Chevallier grinste überlegen. "Öhm, und Sie unterlassen gütigst solch pubertäres Grinsen, Monsieur Chevallier. Wir befinden uns hier nicht mehr auf dem Schulhof von Beauxbatons", rief die Ministerin auch Brunos Vater zur Ordnung. Dann nickte sie Barbara Latierre zu, die vorhin auch schon Anstalten gemacht hatte, etwas zu fragen oder einzuwerfen. Catherine sah die sie um fast einen Kopf überragende Hexe an. Diese fragte: "Sie erwähnten, dass Ladonna ihre Veela- und Waldfrauentalente eingesetzt haben mag, um die von ihr angedeuteten Zauberfallen einzurichten. Ebenso erwähnten Sie, dass sie sichergestellt habe, dass diese Roseninsel eigentlich nur aus einem aus dem Meer herausragenden Gipfel eines ruhenden oder gar erloschenen Vulkanes besteht. Also hat sie diese Insel wohl wegen der Beziehung zu allen vier Elementarkräften ausgewählt. Jetzt meine Frage: halten Sie es als Expertin für dunkle Künste für denkbar oder gar wahrscheinlich, dass nur eine ähnlich prädestinierte Hexe an die Hinterlassenschaften herankommt, sofern sie das erwähnte Passwort benutzen und die fragwürdige Nachfolgeentscheidungsprüfung bestehen kann?"
"Sowohl meine Ligakameradin Beaumont, Monsieur Orchaud und Professeur Delamontagne gehen davon aus, dass Ladonna ihr Versteck gerade gegen solche wie sie selbst eine war abgesichert hat, gerade um keiner Veelastämmigen ihren dunklen Schatz zu überlassen. Daher sind wir zuversichtlich, dass die Nachfolgerin keine Veelastämmige sein wird. Was den Waldfrauenanteil angeht erinnere ich an die Passage, in der von einem Geflecht aus eiligem Wasser die Rede ist, also ein Netzwerk aus Kanälen oder Rohrleitungen, in denen ständig Wasser fließt. Ihnen und dem Kollegen Chevallier ist hinlänglich bekannt, dass grüne Walldfrauen wie Vampire durch fließendes Wasser entkräftet werden und es daher um ihr Leben vermeiden, in einen Bach oder Fluss hineinzugeraten. Nein, ich behaupte, dass sie keine grüne Waldfrau auf ihre Insel lassen wollte. Die Veelastämmigen hat sie wohl mit jenen Vorrichtungen ausgesperrt, die die Delegation der internationalen Zaubererkonföderation in der Schweiz angetroffen hat und die nach Ladonnas Verschwinden in allen einst von ihr unterworfenen Ministerien beseitigt wurden."
"Noch einmal ich", schaltete sich Belenus Chevallier ein, "Ihnen dürfte wegen der Verbindung zur italienischen Zaubereiadministration bekannt sein, dass es eine Person gibt, die einen altägyptischen Kriegsbogen mit dazugehörigen verfluchten Pfeilen erhalten hat. Für wie wahrscheinlich hält die Liga, dass Ladonna diese nicht schon längst zu ihrer Nachfolgerin ausgewählt hat und diese nicht schon auf ihre Konkurrentinnen lauert, um sie aus dem Hinterhalt heraus zu töten?"
"Auszuschließen ist es nicht, dass die Nachfolge längst bestimmt wurde", antwortete Catherine. "Da wir jedoch nicht wissen, wer genau diese Besitzerin des altägyptischen Kriegsbogens und der dazugehörigen Pfeile ist könnte es auch sein, dass sie nicht zu den von Ladonna auserwählten Nachfolgekandidatinnen gehört, weil sie sie als Auftragsmörderin in Bereitschaft halten möchte. Doch wer immer auf die Insel gelangt sollte darauf gefasst sein, dass diese Bogenschützin bereits dort ist und auf sie lauert, auf sie, weil eben nur Hexen dort hingelangen können."
"Besteht keine Möglichkeit, den Geschlechtsbeschränkungszauber zu umgehen und mit einer ausreichend starken Einsatztruppe dort zu landen?" fragte Monsieur Chevallier. "Haben Sie nicht zugehört?" knurrte Alain Dupont. "Diese teilweise Sabberhexe hat die Insel nicht erst nach 2003 ausgesucht, sondern in den Jahrzehnten, in denen sie schon einmal gelebt hat. Die hatte alle Zeit, um jeden Umkehrungszauber gegen ihre Fallen zu ermitteln und zu blockieren."
"Dann können nur Hexen dort hinreisen", grummelte Brunos Vater. Offenbar hatte der schon daran gedacht, seine besten Männer dahinzuschicken. Barbara Latierre sah ihn mitleidsvoll an.
"Sie erwähnten die Bedenken, einer letzten Falle Ladonnas aufzusitzen und dass diese es darauf anlegen könnte, alle ihre Feinde zu einem gegenseitigen Vernichtungskrieg zu treiben, der in Chaos und Zerstörung enden mag. Was empfehlen Sie mir und den hier anwesenden Damen und Herren, wie wir damit umgehen sollen?"
"Ein Vorschlag von Louiselle Beaumont, die ich für sehr kompetent halte, lautet, dass es eine Absprache unter den Ministerien gibt, eine Sondertruppe aus Hexen zu entsenden, die aus allen interessierten Ministerien gestellt wird. Als Präzedenzfall ist hier der Fall "Wolfsherbst" zu nennen, wo ein Stützpunkt der Lykanthropenorganisation Bruderschaft des Mondes ausgehoben wurde", sagte Catherine. Madame Latierre und Monsieur Chevallier nickten heftig und sahen dann die Kollegen Chaudchamp und Dupont an.
"Gehen wir davon aus, dass die Insel sich ab dem zweiten oder dritten Dezember zeigen wird, wobei zeigen nur im Sinne von für Hexen erkennbar und betretbar zu verstehen ist, dann haben wir gerade noch drei volle Tage, um das wie und wer zu klären", sagte die Ministerin. "Monsieur Chaudchamp und Monsieur Chevallier, reaktivieren Sie bitte die Verbindungen zu den zuständigen Stellen im Fall "Wolfsherbst" und erklären Sie Gefahr im Verzug und dass es spätestens am ersten Dezember zu einer verbindlichen Aus- und Absprache kommen soll, ob und wenn ja wie die internationale Konföderation vorgehen soll. Ladonna hat sich geirrt, wenn sie davon ausgeht, dass wir Zaubereiministerinnen und Minister immer noch eigensinnige, auf das eigene Gebiet beschränkte Individuen sind wie damals, als sie ihr erstes Leben geführt hat. Madame Brickston, vielen Dank, dass Sie uns die Dokumente und die schriftlichen Aufzeichnungen der darauf basierenden Aussprache hinterlassen haben. Ob und wie wir auf kompetente Fachkräfte aus Ihrer Vereinigung zurückgreifen werden erfahren Monsieur Orchaud und Sie auf dem Weg der Expresseulen. Bitte halten Sie dafür Ihre Flohnetzkamine offen! Besteht sonst noch eine Frage oder Anregung?"
"Nur die, dass das Ministerium sich in nächster Zeit noch einmal damit befassen sollte, den Status unabhängiger Vereinigungen mit freischaffenden Fachleuten zu überprüfen, um nicht noch einmal unnötig Zeit zu vertrödeln", sagte Brunos Vater. Catherine, die derartige Vorstöße schon häufiger mitbekommen hatte blieb äußerlich ruhig. Innerlich bangte sie jedoch darum, ob das Ministerium nicht doch eine Art Zwangsverbeamtung oder Verbote für freiberufliche Experten beschließen könnte. Denn gerade nach den Turbulenzen in Großbritannien, den USA und Italien schätzte sie ihre Unabhängigkeit sehr.
"Die Anregung ist notiert und wird zu gegebener Zeit genauer betrachtet", sagte die Ministerin. "Ansonsten bleibt mir nur noch, alle amtlich tätigen Anwesenden darauf hinzuweisen, dass diese Angelegenheit auf der Geheimhaltungsstufe S9 eingeordnet wird und Sie, Madame Brickston, werden als reine Formsache darauf hingewiesen, dass Sie vor fünfzehn Jahren einen Eidessteinschwur abgelegt haben, Angelegenheiten der drei höchsten Geheimhaltungsstufen ebenfalls geheimzuhalten. Ich danke allen Anwesenden für Ihr Interesse und hoffe, dass die gerade besprochene Angelegenheit baldmöglich zu einem für uns alle beruhigenden Abschluss gebracht werden kann. Madame Brickston, Sie erhalten gleich noch eine Mitteilung für Ihren Sektionssprecher Orchaud. Er darf sich darauf gefasst machen, dass er im kommenden Kalenderjahr zu einer Anhörung vorgeladen werden könnte. Vielleicht erweitere ich diese Ankündigung noch auf Sie und Madame Faucon und Monsieur Delamontagne", fügte die Ministerin noch hinzu. Catherine erkannte, dass es diesmal nicht bei einem entrüsteten Aufruf bleiben mochte. Hatte die Liga gegen dunkle Künste eine rote Linie überschritten? Dann fiel ihr ein, dass die Ministerin auch die Heilerzunft zu einer Stellungnahme auffordern mochte und warum diese die Pergamentrolle nicht gleich bei Monsieur Chevallier abgegeben hatte. Doch Catherine wollte sich nicht Antoinette Eauvives Kopf zerbrechen. Warum die Heilerzunft erst die Liga gegen dunkle Künste angesprochen hatte hatte sie ja ausgiebig dargelegt.
Nachdem Britta Gautier Catherine einen verschlossenenund versiegelten Briefumschlag in die Hand gedrückt und einen silbernen Fingerhut mit Flohpulver übergeben hatte verabschiedete sie Catherine. "Als wenn wer erklärt hätte, dass ab morgen Krieg herrscht", raunte Britta zu Catherine. "Ja, und wir müssen uns jetzt heftig anstrengen, um genau das zu verhindern."
Catherine flohpulverte sich aus dem Vorzimmer von Büro 369 zurück in den Partyraum ihres Hauses. Von dort aus kontaktfeuerte sie mit Ban Orchaud und kündigte ihm einen Brief an. Der Sprecher der französischen Sektion der Liga gegen dunkle Künste gab seinen Kamin für sie frei. So konnte sie ihm den versiegelten Umschlag persönlich vorbeibringen.
Als er das Siegel mit Nennung seines Namens berührte brach es mit lautem Knack auseinander. Er öffnete den Umschlag und holte den Brief heraus, der eigentlich eine amtliche Ankündigung war.
"... wird Ihnen dringend nahegelegt, jedweden anstehenden Termin im Jahre 2008 als zweitrangig zu betrachten, sobald Zeit und Ort einer Befragung über Ausrichtung und Rangstellung der Liga gegen die dunklen Künste der Magie mitgeteilt werden", las er eine Passage laut genug vor. Dann las er noch weiter, bis er laut wiedergab: "... sollte im erwähnten Kalenderjahr eine Vereinbarun innerhalb Ihrer Vereinigung erfolgen, dass Sie nicht mehr der Ansprechpartner der französischsprachigen Sektion sein werden, so sind sie hiermit dazu aufgefordert, dem Leiter der Abteilung für magische Gesetzeswahrung und Sicherheit umgehende Meldung über die Veränderung und die Ihnen nachfolgende Person zu machen. Eine Zuwiederhandlung gegen diese dringende Aufforderung kann bei Kenntnis derselben zu strafrechtlichen Auswirkungen führen." Orchaud musste abfällig grinsen, als er das laut las. "Soso, die achso tolerante Dame auf dem Ministerstuhl droht mir Strafe an, wenn ich nicht brav melde, ob ich noch der Kontaktzauberer zur Liga bin oder nicht. Sie schwingt sogar die dicke Keule, auf meine zaubererweltbürgerliche Mitwirkungspflicht im Sinne einer friedlichen und sicheren Gemeinschaft hinzuweisen. Öhm, Sie haben der doch nicht auf den Teppich gepieselt, Catherine?"
"Nein, habe ich nicht, und wenn sie sich von jemandem unangenehm angegangen fühlt sind das womöglich Sie, Ban", erwiderte Catherine selbstbewusst.
"Haben sie der etwa erzählt, dass es eine Abstimmung gab und dass es eine gewisse Zahl von Leuten gab, die das Ministerium nicht informieren wollten?" fragte Orchaud. "Nein, habe ich nicht. Das war schließlich so vereinbart, dass es gleich nach der Unterredung einen Beschluss gab, das Ministerium zu informieren. Chevallier erwähnte was von vertrödelter Zeit, also dass er am liebsten vorgestern diese Pergamentsammlung bekommen hätte", erwähnte Catherine. "Ach ja, der poltert immer gerne, wenn was nicht schnell genug geht, hat er von seinem Großvater", grummelte Ban Orchaud. "Gut, Sie haben mir den Brief gegeben, der hat sicher weitergepetzt, dass ich ihn aufgemacht habe. Dann weiß die Ministerin, dass ich den achso dringlichen Schrieb gelesen habe. Dann dürfen Sie jetzt wieder zu Mann und Kindern zurückkehren, Catherine."
"Danke, Ban. Bis dann zur nächsten Versammlung, auf der wir hoffentlich Klarheit haben, was die Informationen aus der Pergamentrolle betrifft", antwortete Catherine. Dann flohpulverte sie sich zurück in das Haus Rue de Liberation 13.
Am Nachmittag traf sie sich mit Louiselle in der Wohnung über ihrer. Laurentine war mit Lucine noch in Millemerveilles, wo sie gleich eine Untersuchung der Kleinen bei Hera vereinbart hatte.
"Dass Belenus Chevallier so auf die Pauke haut von wegen Klärung der Unabhängigkeit ist zum einen nichts echt neues. Als ich vor dir in die Liga eintrat gab es das schon einmal, und soweit ich weiß käbbelt sich das Laveau-Institut auch immer wieder mit dem gerade amtierenden Ministerium und jetzt wohl auch mit dem MAKUSA darum, ob sie eine unabhängige Institution bleiben dürfen oder ein Wurmfortsatz der Sicherheitsabteilung der Magieadministration sein sollen. Auch kann ich mir vorstellen, dass es Belenus Chevallier ärgert, dass er nicht selbst auf diese Insel reisen kann, um Ladonnas Erbe einzusammeln. Ja, und ich riskiere es, dir was schon in den Sinn gekommenes zu sagen, Catherine." Catherine nickte ihr zu, als Louiselle eine Pause machte. "Die werden in den wenigen Tagen keine Einigung haben, was mit Ladonnas Erbe passiert. Die einen werden darauf bestehen, die Hinterlassenschaft auf Herkunft und zuständige Ministerien zu prüfen und entsprechend zu verteilen. Die anderen werden ihr Hoheitsrecht beanspruchen, also die Griechen oder die Italiener, weil Ladonna ja bei denen großgeworden ist. Wieder andere werden darauf bestehen, alles da herumliegende mit Dämonsfeuer oder heftigerem zu vernichten, damit nie nicht jemand was damit anstellen kann. Darüber wird es soviel Zank geben, dass wer immer sich für Ladonnas Nachfolgerin hält in Ruhe in Stellung gehen kann, um alles was dort noch ist an sich zu bringen. Wer bleibt dann übrig, um das zu verhindern, wir Unabhängigen."
"Ja, und weil wir beschlossen haben, das Ministerium zu informieren haben wir uns darum herumgemogelt zu entscheiden, was wir mit allen dunklen Hinterlassenschaften machen, sollten wir sie erobern", wandte Catherine ein. Leider hatte Louiselle ja recht. Falls es diese Insel gab, falls Ministeriumsbeamte dort hingelangten und sich durch die Fallen und Abwehrzauber durcharbeiteten war die Frage, was mit allem da versteckten passieren sollte.
"Deine Tante Hera wird sicher auch noch was zu hören kriegen, weil sie erst Antoinette Eauvive und die dann zunächst einmal uns Ladonnas Testament überlassen hat", sagte Catherine mit gewissem Unmut. "Im Zweifel werden sich die beiden heilkundigen Damen darauf berufen, dass die Heilerzunft mit den ihr zugehenden Dokumenten umgehen kann wie sie es für richtig hält und dass die Unabhängigkeit der Heilerzunft international verankert ist und bleibt, auch und vor allem nach dem dunklen Jahr in Großbritannien, wo die Gefolgsleute Riddles anständige Heilerinnen und Heiler zur Mitarbeit erpresst oder gleich dem Imperius-Fluch unterworfen haben. Also um Tante Hera mache ich mir überhaupt keine Sorgen, die hat schließlich getreu den Heilerzunftvorgaben gehandelt. Schließlich musste ja erst überprüft werden, ob was an diesem Testament dran ist oder nicht, oder?" Catherine nickte.
"Es ist schon ärgerlich, dass dieses veela- und waldfrauenstämmige Frauenzimmer uns immer noch Kopfzerbrechen macht und uns sogar in Alarmstimmung versetzen kann", sagte Catherine. Louiselle wiegte ihren Kopf und nickte dann.
"Was meinst du, könnten die auf die Idee kommen, uns beide einzuspannen, auf diese Insel zu reisen?" fragte Louiselle Catherine. "Also meine Mutter will das nicht und hat es dir ja im Grunde auch untersagt", erwiderte Catherine. "Tja, nur dass deine Frau Mutter außerhalb von Beauxbatons nur noch beratende, aber nicht bestimmende Vollmachten hat, und das weiß die auch", entgegnete Louiselle aufsässig. "Wenn Ministerin Ventvit uns von der Liga bittet, an einer Erkundung und möglichen Eroberung dieser Insel teilzunehmen, womit könnten wir das ablehnen, wo wir dort als Expertinnen für dunkle Zauber und deren Abwehr eingetragen sind?"
"Mit dem, was meine Mutter angeführt hat, dass wir zwei Kinder unter dem Schulalter haben, auch wenn mein Onkel François als Justins Pate einspringen kann und du Laurentine als gleichrangig erziehungsberechtigte für Lucine hast eintragen lassen. In diesem Zustand dürfen wir nur zur Selbstverteidigung und zum Schutz unserer Familien einspringen, auch wenn ich nicht abstreiten möchte, dass es mich sehr interessiert und bekümmert, was auf dieser ominösen Roseninsel zu finden ist."
"Natürlich interessiert mich das auch. Ich werde jedoch nicht nach vorne stürmen und darauf bestehen, dahinzureisen, um mich mit vielleicht einem Dutzend Möchtegernnachfolgerinnen herumzuschlagen und für den Fall, dass ich das überlebe am Ende herauszufinden, dass die ganze Geschichte nur ein Riesenschwindel Ladonnas war, die Möglichkeit hast du der Ministerin doch auch vorgelegt."
"Ich habe mich genau an das gehalten, was wir in der Versammlung beschlossen haben", versicherte Catherine. "Dann sollen die sich beraten, wie sie damit umgehen wollen", erwiderte Louiselle.
Es rauschte im Kamin im Wohnzimmer. "Lou, wir sind wieder da!" rief Laurentines Stimme. "Maman zu Hause!" quiekte Lucine.
"Gut, dann überlasse ich dich deinen Familienpflichten, Louiselle. Bitte kein Wort zu Laurentine, S9-Angelegenheit!" sagte Catherine. "Verstanden", erwiderte Louiselle.
"Hallo Catherine, wusste nicht, dass du auch hier bist", grüßte Laurentine ihre Vermieterin. "Ligamäßiges, Laurentine. Ladonna hat noch genug Baustellen hinterlassen, die alle nacheinander abgearbeitet werden müssen", sagte Catherine und log damit nicht einmal. Denn es gab immer noch genug Nachwehen von Ladonnas Zwangsherrschaft, welche die Liga gegen dunkle Künste betraf.
"Lucine geht es ausgezeichnet, auch wenn Madame Matine meint, dass sie in Millemerveilles frischere Luft und besseres Trinkwasser haben würde. Aber nach dem Gemurre wegen der WG mit Louiselle habe ich erst recht keine Veranlassung, dahinzuziehen", sagte Laurentine.
"Aber mit Claudine, Aurore und den anderen Kindern kommst du noch gut zurecht? Ich meine, manchmal reden Eltern ihren Kindern Sachen ein, die sie dann in der Schule herumerzählen."
"Also bei Aurore brauche ich mir da keine Sorgen zu machen, weil Julius und Millie ihr das schon klargemacht haben, dass eine Familie mehr ist als Vater, Mutter Kind. Ja, und was Claudine so von dir und Joe mitbekommt weißt du ja besser als ich", erwiderte Laurentine.
"Das werde ich nicht bestreiten", grummelte Catherine. "Noch einen schönen Nachmittag. Öhm, ihr habt auch die Einladung zur Willkommensfeier für die drei neuen Latierres bekommen?"
"Stimmt, wollte Julius noch verschicken", sagte Laurentine. Dann rief sie: "Lou, haben wir eine Einladung zu einem Fest vor Weihnachten bekommen?!" "Ja, war im Briefkasten, Tinette!" rief Louiselle zurück. "Dann können wir uns in den nächstenTagen zusammensetzen und ausklüngeln, was wir dahin mitbringen oder da selbst aufführen. Claudine meinte sowas, dass wir was für die Drillinge singen oder musizieren sollen. Das hat Joe nicht so gefallen, weil der durch den Flöten- und Klavierunterricht an seiner Schule vom Musikmachen abgebracht wurde."
"Er muss ja nicht mitspielen", sagte Laurentine grinsend. Dann begrüßte sie Louiselle, die zuerst ihre Tochter geherzt und geknuddelt hatte.
Catherine stieg wieder in die eigene Wohnung hinunter und unterhielt sich mit Claudine, was sie denn für Hestia, Chloris und Hidalga veranstalten konnten, wenn sie am achten Dezember bei ihnen eingeladen waren. Claudine wollte dann noch einmal von ihrer Maman wissen, wie das ging, dass eine andere Hexe das Kind einer Hexe im Bauch tragen konnte. Catherine erklärte ihr, dass es einen Heilerzauber gab, der das möglich machte aber "nur dann" erlaubt war, wenn die Hexe, die das Baby erwartete und das Baby selbst in Gefahr waren und das Baby deshalb im Bauch einer anderen Hexe zu Ende wachsen sollte.
"Du machst doch viel gefährliches Zeug, Maman. hättest du dann auch mich oder den Justin bei einer anderen Hexe dringelassen, damit nichts passiert?" Catherine musste erst schlucken. Claudine hatte was erwähnt, dass sie weder ihr, noch Justin und auch nicht Joe oder Babette auf die Nasen binden wollte. Als sie sicher war, eine gute Antwort parat zu haben sagte sie: "Wenn ich gewusst hätte, dass ich noch vor der Geburt sterben muss und wollte, dass du oder der Justin trotzdem auf die Welt kommt und bei einer lieben Hexe groß werdet hätte ich das wohl gemacht. Aber bisher war das nicht nötig."
"Wen hättest du denn da genommen, Maman?" fragte Claudine. Catherine schluckte wieder. Doch dann sagte sie: "Das hätte dann eine Heilerin wie Madame Matine oder Béatrice Latierre oder eine von den Eauvives sein müssen. Denn nur Heilerinnen dürfen die Kinder von anderen Hexen im Bauch tragen, bis sie geboren werden können oder sie der eigentlichen Mutter in ihren Bauch zurückzaubern können, damit sie die auch selbst auf die Welt bringen. Du hast es ja bei Justin gesehen, wie anstrengend das für mich war. Aber für eine Hexe, die ein Kind bekommt ist das trotzdem ganz wichtig, dass sie das Kind bekommt. Deshalb darf eine andere Hexe ihr das nicht vorher wegnehmen, wenn es keinen ganz lebenswichtigen Grund dafür gibt. Dass Millie die kleine Chloris bei ihrer Tante Trice gelassen hat, weil die sie auf die Welt gebracht hat ist eine Ausnahme und geht nur, wenn sich die zwei Hexen ganz doll vertrauen, fast so wie eine Mutter und ihr Kind."
"Verstehe. Aber bei wem hätte ich oder der Justin dann im Bauch wohnen und aus dem herausgeboren werden sollen, Maman."
"Im Zweifelsfall bei der guten Tante Heilerin Hera, weil ich die damals als die Heilerin ausgesucht habe, die mir helfen sollte, dich und den Justin zu bekommen."
"Och nöh, dann hätte ich zu der Maman sagen und deren Mamanmilch trinken müssen?" fragte Claudine. "Ja, hättest du dann wohl, und dir wäre es nicht anders ergangen als bei mir", sagte Catherine. "Och nöh, dann lieber bei dir", erwiderte Claudine. Catherine lachte und knuddelte ihre zweite Tochter. Dann hörten sie Justin rufen. Der wollte wohl was. Catherine und Claudine liefen zu ihm und kümmerten sich um ihn.
Währenddessen unterhielten sich Louiselle und Laurentine über den verbrachten Tag, weil Lucine ja noch dabei war. Zwischendurch mentiloquierte Louiselle Laurentine, dass Catherine wohl die Botschaft der grünen Geisterfrau weitergereicht hatte und es jetzt bei Ministerin Ventvit lag, was sie damit anfangen konnten.
"Die Italiener bestehen darauf, dass nur sie die Insel überwachen und betreten sollen, sofern Torregrande genug vertrauenswürdige und nicht der Verlockung nach mehr Macht erliegende Hexen zusammenbekommt", teilte Heinrich Güldenberg am letzten Tag des Novembers seinen höchsten Vertrauten mit. "Auch will die Kollegin Ventvit erfahren haben, dass die Insel gleich einen Tag nach dem vollendeten Jahr von Ladonnas Verschwinden erreichbar sein soll. Das ist mindestens siebenundzwanzig Tage früher als wir von Fräulein Steinbeißer zu hören bekamen."
"Na ja, sie hat es damit begründet, dass die Buchstaben auf der Tafel sich nur eine halbe Sekunde lang für ihre besonderen Augen gezeigt haben und die Art, sie zu lesen schwierig war, zumal die Dreiblüterin ja auf Latein geschrieben haben soll. Da könnte ein Missverständnis durchaus drin sein", erwiderte Lichtwachenkommandant Andronicus Wetterspitz. Dann fragte er: "Wen können wir denn überhaupt hinschicken, damit wir uns keine neue Ladonna ins Haus holen, Heinz?"
"Gute Frage. Du hast die Lichtwachen unter dir. Es wäre aber sicher vorteilhaft, einige von denen hinzuschicken, die durch Tarnzauber durchgucken können und gegebenenfalls in die unterirdischen Räume hineinblicken können. Wie viele von denen hast du?"
"Ausschließlich Hexen? Null, keine, niemanden", schnaubte Andronicus Wetterspitz. "Die einzige Hexe mit magischem Sehvermögen ist Albertine Steinbeißer. Ich müsste einen Amtshilfeantrag stellen, um sie vorübergehend in meine Truppe einzugliedern. Aber wie vertrauenswürdig sie ist kann ich nicht festlegen, da sie eben nicht zu den Lichtwachen gehört."
"Das missfällt mir", schnarrte Güldenberg. "Wenn die, die uns diesen Text mitgeteilt hat die einzige ist, die auch überwachen kann, wer wann auf dieser Insel erscheint, sofern es diese überhaupt gibt und wir nicht alle einem titanischen Schwindel aufsitzen, hängt unsere Aktionsfähigkeit allein an dieser einen Hexe. Das darf eigentlich nicht sein."
"Die Regeln für die biomaturgische Ausstattung von Ministeriumsmitarbeitern sind international festgelegt und bindend. Nur wer im offiziellen Einsatz schwer verletzt wwird und durch Magie nicht vollständig regeneriert werden kann hat Anspruch auf die natürlichen Leistungen übertreffende Ersatzorgane und -gliedmaßen", zitierte Eilenfried Wetterspitz, der Leiter der Abteilung für Gesetzesüberwachung und Sicherheit, die Übereinkunft, um ein Wettrüsten innerhalb von Zaubereiministerien zu verhindern.
"Gut, dann schicken wir eben Albertine dorthin, aber nicht alleine, sondern in Begleitung deiner fähigsten Lichtwächterinnen, welche nicht zu denen gehörten, die damals, wo wir anderen von diesem Feuerrosenanschlag überrumpelt wurden, rechtzeitig verschwanden", sagte Güldenberg.
"Moment mal, die, die damals verschwanden konnten glaubhaft vorweisen, warum sie noch rechtzeitig flüchten konnten", sagte Andronicus Wetterspitz.
"Ja, konnten sie. Aber hier will ich mich nicht drauf verlassen, dass sie weiterhin vertrauenswürdig sind, Andi. Wähle vier andere aus, die wie wir einige Monate unter Ladonnas Feuerrosenbann gestanden haben. Die werden hoffentlich nicht darauf verfallen, sie zu beerben", sagte Güldenberg.
"Heinz, mach jetzt bloß keinen Denkfehler!" schritt Eilenfried Wetterspitz ein. "Gerade jene, die wie du und ich Ladonnas Sklaven waren könnten überaus leicht darauf verfallen, sie zu beerben, um ihre angeschlagene Würde zu heilen und zugleich vor neueren Übergriffen sicher zu sein."
"Du meinst, die könnten Albertine dazu zwingen, ihnen zu verraten, wie sie in die Schatzkammern hineinkommen, um dann selbst Ladonnas Erbschaft anzutreten?" fragte Güldenberg. "Ja, und sie und sich gegenseitig umzubringen, bis nur eine übrigbleibt, die dann gegen alle aus anderen Ländern heranschleichenden Erbanspruchbesitzerinnen kämpft. Wollen wir das riskieren, dass sich wertvolle Mitarbeiterinnen von uns gegenseitig umbringen?" fragte Eilenfried. Andronicus schüttelte bereits den Kopf, während Heinrich Güldenberg noch überlegte. "Jedenfalls klappt das nicht, was sich die werte Mademoiselle Ventvit ausgedacht hat. Die Italiener wollen keine Zusammenarbeit, die Griechen sind sauer, weil sie erst gestern informiert wurden und meinen, alles was in der Ägäis ist sei ihr Hoheitsgebiet, die Nordafrikaner fordern die Herausgabe aller von Ladonna gestohlenen Artefakte und Schriften, sonst gebe es keine Zusammenarbeit. Ja, und wer weiß, ob nicht auch die Russen meinen, Ladonnas Erbschaft anzutreten, um sich Vorteile gegenüber den Veelas zu verschaffen, obwohl sie gerade erst einen Friedensvertrag mit denen abgeschlossen haben. Am Ende könnte diese ominöse Roseninsel das Pulverfass sein, das unsere gesamte internationale Zusammenarbeit in millionen Stücke sprengt. Daher ist es verdammt wichtig, dass wir wen haben, die uns Vorteile verschaffen kann, um bei internationalen Verhandlungen gut abzuschneiden."
"Heinz, so wie du das gerade ausmalst wäre es sicher besser, jemand klaut den Kernwaffenbesitzern eine ihrer Superzerstörungsbomben, bricht damit in die erwähnten Räume der Insel ein und zündet das Ding, damit die Insel und alles was drauf ist unwiederbringlich vernichtet wird", meinte Eilenfried Wetterspitz.
"Es würde schon völlig reichen, sämtliche Zugänge unumkehrbar zu verschließen oder Dämonsfeuer da reinzuschicken, das bekanntermaßen alles auffrisst, was lebendig, aus brennbarem Material und mit Magie erfüllt ist", sagte Andronicus Wetterspitz.
Heinrich Güldenberg überlegte gerade was. "Könntest du dir vorstellen, dass du einer deiner Lichtwächterinnen ein paar Haare stiebitzt, damit einen Vielsafttrank anrührst und dann als sie zu dieser Insel hinreist und dir den Zugang suchst, sofern das mit den treuen Hexen nur eine Schutzbehauptung Ladonnas ist, um unerwünschte Begehrlichkeiten abzuschmettern?" fragte der Zaubereiminister den obersten Lichtwächter.
"Frag deine Frau, ob sie dir ein paar Haare oder abgeraspelte Fingernägel spendiert und trink du den Trank, Heinz Güldenberg. Dann kannst du rausfinden, ob dieses Versteck jemanden reinlässt, nur weil er einen Frauenkörper hat oder da nicht doch noch eine Sicherung ist, die auf Gesinnung und geschlechtliche Eigenidentität prüft", schnaubte Andronicus Wetterspitz.
"Andi will nicht am Ende ins Protokoll schreiben, dass er sich einen Hexenkörper ausborgen musste, um Deutschland zu retten", feixte Eilenfried Wetterspitz.
"Sei du ganz still, Eilenfried Wetterspitz, sonst vergesse ich unsere Verwandtschaft", knurrte Andronicus Wetterspitz. Heinrich Güldenberg brüllte: "Ruhe jetzt!" Als seine Gesprächspartner still waren sagte er: "Ich erlasse hiermit, dass die Behörde für friedfertige Kooexistenz zwischen Menschen mit und ohne Magie die Mitarbeiterin Albertine Steinbeißer zu einem Sondereinsatz der Stufe S0 abstellen und dass Sie, Lichtwachengeneralissimus Andronicus Wetterspitz, vier nicht vor dem Feuerrosenzauber verschwundene Lichtwächterinnen als ihren Begleitschutz abkommandieren, ohne denen mitzuteilen, wo es hingeht und dass sie darauf achten mögen, dass Albertine nicht der Versuchung erliegt, Ladonnas Hinterlassenschaft zu erobern. Sie, Sicherheitsbeauftragter Eilenfried Wetterspitz, tragen Sorge dafür, dass die fünf Hexen ohne Kenntnis der Öffentlichkeit ausgerüstet und in Marsch gesetzt werden. Ich schreibe das gleich auf und lasse Sie beide unterschreiben."
"Heinz, dir ist klar, dass ohne internationale Absprache und Übereinkunft keine ausdrücklich kämpfenden Einheiten außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes eingesetzt werden dürfen", sagte Eilenfried Wetterspitz, bevor Andronicus was sagte. Güldenberg verzog das Gesicht, als habe er voll in eine frische Zitrone hineingebissen und funkelte Eilenfried wütend an. "Wieso haben Sie das nicht gleich eingewandt, Herr Sicherheitsleiter Wetterspitz?"
"Weil ich bis zu dieser Frage Ihrerseits fest davon ausging, dass Sie sich dieser gesetzlichen Vorgabe vollumfänglich bewusst sind und entsprechend beschließen, ohne sie zu verletzen und ich mir nicht anmaßen wollte, Sie vorzeitig zu korrigieren, Herr Minister Güldenberg." Andronicus blickte beide an und nickte dann schwerfällig. "Stimmt, Lichtwachen darf ich keine aussenden, und dass wir Albertine zu dieser Insel hinschicken darf nicht als ministerielle Maßnahme festgelegt werden. Das kann nur als Operatio sub velamine nigro bei dir, Eilenfried oder mir im Panzerschrank abgelegt werden."
"Soso, kann und muss sie das?" zischte der Minister, der sich gerade fragte, wieso er heute so wenig Durchblick zeigte. "Aber dann kannst du doch vier vertraute Lichtwächterinnen auswählen, die Albertine zu einer Übung in internationalen Gewässern begleiten, beispielsweise einer Flugübung mit den neuesten Donnerkeilbesen. Sollten sie dabei etwas finden, was vorher nicht verzeichnet war, mögen sie es beobachten und später berichten. Gut, ich befehle und genehmige eine solche OSVN, die Herren Wetterspitz. Die Stufe S0 bleibt jedoch gültig."
"Wenn dann für sowas", warf Eilenfried mit einer jungenhaften Frechheit ein. "Hallo, dein Beruf stand auch mal auf sehr wackeligen Beinen, Eilenfried Wetterspitz", wies der Minister ihn zurecht. "Genau wie deiner, Heinrich Güldenberg", hielt Eilenfried entgegen.
"Gut, Herr Minister, Sie erledigen die Angelegenheit mit diesem Friedensapostel Armin Weizengold, dass der seine scharfäugige Mitarbeiterin für eine Sonderübung über internationalen Gewässern abstellt, ohne zu fragen, was genau dabei passieren soll. Ich wähle vier Lichtwächterinnen aus, die dann in Zivil an der Übung teilnehmen sollen. Dabei soll das Auffinden unsichtbarer Gegenspieler und getarnter Orte geprobt werden", sagte Andronicus Wetterspitz mürrisch.
Auf den Wogen des Ägäischen Meeres wippte ein Boot. Doch niemand sah das Boot. Denn es barg in seinem Kiel einen Stein, der es für unmagische Augen völlig unsichtbar machte. Nur wer Gläser des wahren Blickes trug oder andere Durchdringungszauber aufgeboten hätte war im Stande, es zu erkennen. In dem Boot saß Gradanoxa Deeplook in einer Vollstreckerinnenrüstung des alles sehenden und hörenden Bundes. Sie war mit mehreren Hilfsmitteln aus den verborgenen Ausrüstungslagern des Bundes ausgerüstet. Dazu gehörte ein Fernglas, in dem Gläser des wahren Blickes verarbeitet waren und mit dem sie bei Nacht und bei Nebel glasklar erkennen konnte, was sich im Umkreis von zwei Tausendschritten befand.
Das Boot bewegte sich nun sehr langsam voran, um nicht völlig unbeabsichtigt gegen ein unsichtbares Hindernis zu prallen. Gradanoxa Deeplook suchte jenen Abschnitt des von Wellenbergen durchbrochenen Horizontes ab, in dem sie jene Insel vermutete, von der sie gelesen hatte. Doch sie sah sie nicht. Also bestand die Möglichkeit, dass es sie nicht gab oder dass sie von einem über reine Unsichtbarkeit hinausreichenden Unauffindbarkeitszauber umschlossen wurde. Da Ladonna auf ihrer Tafel dergleichen verheißen hatte musste die Lenkerin des unsichtbaren Bootes also noch ausharren. Doch sie wollte lieber zu früh in der Nähe sein als erst dann eintreffen, wenn sich Dutzende von anderen Erbwilligen auf diese Position begaben. Sie wollte die Insel betreten, bevor jemand anderes sie überhaupt wahrnahm.
Gradanoxa Deeplook alias Diana Camporosso vertraute ganz dem Ortungsschutz, den der ihr aufgesetzte gläserne Helm und die ihren Körperformen wie eine zweite Haut angepasste Vollstreckerinnenrüstung boten. In einer genau dafür gemachten, rauminhaltsbezauberten Tasche trug sie ihre mächtigste Waffe bei sich, den Bogen des Anhor und die dafür geschnitzten und bezauberten einhundert Pfeile. Außerdem führte sie Sondermittel zur Ablenkung und Betäubung mit, sowie Ausgrabungsvorrichtungen, die ähnlich wirkten wie der Excavatus-Zauber, nur fünfmal so stark, aber nicht so erschütterungsvoll wie ein Reducto- oder Confringozauber.
"Wann denkst du, wird sich die Unauffindbarkeitsumhüllung öffnen?" fragte Deeplooks in ihr gefangener Geist zum wiederholten mal. "Nicht vor dem zweiten Dezember, also in jetzt noch anderthalb Tagen", wiederholte Gradanoxa Deeplook ihre Antwort. "Dann müssen wir hier ausharren, mitten auf diesem widerwärtigen wogenden Meer, mehr als tausend Längen über festem Boden?" ereiferte sich Deeplook. "Ich kann sehr gut schwimmen, falls jemand uns das Boot durchlöchert", schickte Diana Camporosso zurück. Langsam benahm sich der ihr gegen ihren Willen aufgeladene Koboldpatriarch wie ein kleines, plärriges Kind. "Dies habe ich vernommen", klang Deeplooks verdrossene Gedankenstimme in ihr. "Ungebärdiges und ungebärbares Kind", fügte Diana Camporosso noch ihren Gedanken hinzu. Denn sie wusste, dass Deeplook ihr weder drohen noch irgendwas antun konnte. Ja, sie hatte echt den Eindruck, mit einem niemals ausreifenden Kind schwanger zu sein, das mit seinem Zustand haderte. Deeplook schwieg. Er wusste, dass solange Diana nicht von selbst starb sein Geist untrennbar mit ihrem Körper verbunden blieb, ohne diesen zu beherrschen. Dafür hatte Ladonna gesorgt. Auch deshalb wollte Diana Camporrosso sie beerben, damit sich diese Zusatzlast für beide lohnte.
"Du wirst müde werden und schlafen müssen, vor allem, wo dein Körper genauso auf die Verbindung zur großen Urmutter angewiesen ist wie der eines reinblütigen Erdkindes", wandte Deeplook ein.
"Ich werde das Fernrohr so einstellen, dass es einen nur für mich hörbaren Meldeton ausstößt", sagte Diana Camporosso und fingerte an den Einstellungsreglern ihres Fernglases herum. Dann befestigte sie es auf einem schwenkbaren Dreifuß, der alle dreißig Sekunden von links nach rechts ausschwang. "So, wir können jetzt warten", sagte Diana. "Accio Tintenfisch!" rief sie mit erhobenem Zauberstab. Dieser erbebte erst. Dann schoss eine einen Meter hohe Fontäne aus dem Wasser, aus der ein wild mit seinen acht Armen um sich schlagender Kopffüßler heraus ins Boot hineinschwirrte. Mit einem Triamantsteinhammer aus der Ausrüstungskiste erschlug Diana den auf diese ruppige Weise gefischten Tintenfisch. So kam sie an frische Nahrung. Wasser konnte sie beliebig aus leerer Luft herausbeschwören, weil eine Unmenge von Wasser um sie herum unt unter ihr vorhanden war. Ansonsten musste sie nur abwarten.
Albertrude wusste, dass Lichtwachengeneralissimus Wetterspitz ihr die schwarzhaarige Majorin Thekla Seidenspinner und die drei weiblichen Leutnants Flavia Buchenhain, Isolde Kirschholz und Iduna Apfelzweig als Aufsichtspersonen mitgegeben hatte. Offiziell waren sie ihre Leibwächterinnen und sollten ihr Ungemach vom Leib halten. Da Lichtwachen außerhalb Deutschlands keine offizielle Einsatzbefugnis besaßen, was auch für Gebiete jenseits aller Hoheitsgebiete bestehender Zaubereiministerien galt, trugen die vier Schutztrupplerinnen zivile Reisekleidung.
Offiziell sollten sie eine mehrtägige Übungsreise machen, um die Fähigkeiten der aus den Staaten als diplomatisches Geschenk spendierten Harvey-Besen auszuloten, sowie ihre navigatorischen Kenntnisse zu erproben und auszufeilen. Im Geheimen war das ganze jedoch eine verdeckte Operation, um in den Bergen des Balkans und über dem Ägäischen Meer nach getarnten Zaubererwelthinterlassenschaften zu suchen, um dann Güldenberg und den beiden Schwägern Wetterspitz direkt zu berichten.
"Bedenken Sie bitte, Fräulein Steinbeißer, dass die Ihnen per Gesetz zur heilmagischen Wiederherstellung durch Verletzung abhandengekommener Körperfähigkeiten zugestandenen Fähigkeiten Sie für weitaus wichtigere Aufgaben qualifizieren, als auf einem von Mohnmas überfüllten Verkehrsflughafen nach bestimmten Personen zu suchen", hörte Albertrude Güldenbergs Worte. Sie kannte die ZBV-Bestimmungen, die allerdings unter Geheimhaltungsstufe S8 oder höher klassifiziert waren. Demnach durften Mitarbeiter mit natürlichen oder nachgeburtlich erworbenen Sonderfähigkeiten zum Schutz und zur Kenntnisbeschaffung des Zaubereiministeriums angefordert oder gar in entsprechende Abteilungen versetzt werden. Bisher war dies noch nicht angedacht worden, weil Albertrude sich zu gut in der nichtmagischen Welt auskannte, als sie aus dem betreffenden Büro zu versetzen. Andererseits eröffnete sich durch die Befürchtung, Ladonna habe einen Hort dunkler Artefakte und Schriften hinterlassen, die Möglichkeit, sie für solche Sonderaufgaben einzusetzen. Allerdings wusste sie, dass Andronicus Wetterspitz ihr nicht mehr über den Weg traute. Denn sie hatte sich damals mit zwanzig Lichtwächterinnen und ihren Kollegen aus dem Büro für friedliche Koexistenz abgesetzt, als Ladonnas Feuerrosenzauber das restliche Zaubereiministerium unterworfen hatte. Daher waren die Majorin und die drei weiblichen Leutnants keine jener zwanzig rechtzeitig wegportierten und somit auch keine Bundesschwestern Albertrudes. Doch sie würde sie schon loswerden, wenn es ihr nötig erschien. Daher konnte sie mit der nötigen Selbstsicherheit und Selbstbeherrschung an den heiklen Auftrag herangehen, der laut der nur dem sogenanntenSkat-Trio bekannten Einsatzplanung bis zum 5. Dezember dauern sollte.
"Gucke-di-guh, such mich du!" witzelte Albertrude, die für die vier Damen aus verschiedenen Lichtwachen Deutschlands immer noch Albertine Steinbeißer war. Sie tauchte hinter einem zerklüfteten Bergrücken unter und bremste den sie und sich unsichtbar haltenden Besen knapp unter einem Felsüberhang. Sie blickte sich um. Thekla Seidenspinner zirkelte wie ein suchender Greifvogel weit über den Gipfeln der Skipetaren. Flavia schwang sich gerade um eine andere Felsnase herum. Das alles konnte Albertrude erkennen, weil sie ihre besonderen Augen auf Durchblick der Stufe 3 eingestellt hatte, der ihr sowohl Nachtsicht, Festkörperdurchblick und Durchblick durch Tarn- und Täuschzauber gewährte. Sie suchte nach Iduna Apfelzweig, die laut Manöverplan aus der Richtung der aufgehenden Sonne anfliegen sollte. Albertrude sah erst nichts. Doch dann erfasste sie einen schwarz flirrenden Punkt vor der Sonne. Der Tarnbesen kämpfte gegen den Überschuss auftreffenden Sonnenlichtes an. Es hieß im Handbuch zu jenem Besen, dass er an klaren Sommertagen nur halb so weit wie sonst fliegen konnte, weil die Helligkeit seine Tarneigenschaften bis zur Grenze ausreizte. Da ging dann nur halb so schnell fliegen, um denBesen nicht vorzeitig ermüden zu lassen.
"Ah, das Fräulein Leutnant Kirschholz will es ganz schlau anstellen und sucht mich mit dem Breitbandsichtfernrohr im Wärmesichtmodus. Das darfst du getrost vergessen, kleine Gardeoffizierin. Mein erweiterter Gleichwärmezauber hat auch den Besen und mich vor jeder Wärmeabstrahlung bewahrt", sinnierte Albertrude. Da im Moment Rufstille galt brauchte sie laut Manöverplan nur zwei Stunden abzuwarten, ob jemand sie unter diesem stark basalthaltigen Stein fand, wo sie den Besen außerhalb der Sonneneinstrahlung im Schwebeflug und damit unsichtbar hielt.
Sie beobachtete, wie die vier Lichtwächterinnen nun mit Suchzaubern nach magischen Resonanzquellen suchten. Die Suchzauber konnte sie nur sehen, wenn sie ihre Augen auf Aurensicht umstellte. Doch an den Zauberstabbewegungen vor allem Seidenspinners sah sie, dass sie den Monstrato Incantatem benutzte, der Felder und Ausstrahlung magischer Gegenstände als bis zu viermal vergrößerte goldene Lichtnachbildung des Objektes darstellte. Iduna Apfelzweig hatte den Vivideozauber im Gebrauch, erkennbar an dem grünen Licht an der Zauberstabspitze. Albertrude hatte darauf verzichtet, ihre Lebensaura zu verdunkeln, wie sie es bei den entschlossenen Schwestern unter Gundi Wellenkamm gelernt hatte. Doch der Lebensaurenanzeiger wirkte nur auf Rufweite der ihn benutzenden Person. Also ging die Suche weiter.
Albertrude, die unterwegs mehrere lose Felsblöcke mit pulsierender Magie aufgeladen hatte und sich Gertrudes Erbe zu Nutze machte, Pflanzen durch den Amplificatio vitalis bis zu sechsmal lebendiger zu machen und damit eine stärkere Lebensausstrahlung zu verpassen sah, wie die sie suchenden Hexen von den falschen Spuren in die Irre gelockt wurden. Selbst Seidenspinners auf die Hüllzauber der Harvey-Besen abgestimmte Durchblickbrille konnte nicht beides zugleich, durch Materie und Tarnzauber blicken. Das war ja auch für Albertrude schwierig, wenn sie zu weit vom beobachteten Objekt entfernt war.
Anderthalb Stunden dauerte die Suche, bis die junge Iduna Apfelzweig mit Hilfe eines Substantia-Resonanda-Zaubers die Felsen zu einer magischen Schwingung anregte, die wiederum alles Magie ausstrahlende zu einer Gegenschwingung mit entsprechenden Ober- und Unterschwingungen anregte. Damit ließ sie Albertrudes Besen und sie erbeben. Albertrude sah es um sich herum silbern Flimmern. Dann stieß die rotblond gelockte Iduna Apfelzweig wie ein auf Beutefang ausgehender Greifvogel nieder und hielt dabei auf den für Albertrude grün-rot-bräunlich flirrenden Felsen zu. "Gefunden!" vocamizierte sie erfreut. und gab die Bezugswerte weiter. Albertrude verließ ihr Versteck und landete. Dadurch erlosch die Unsichtbarkeit.
"Wäre ich eine böse Hexe hätte ich Sie locker mit Horritimor oder Satodii-Zauber treffen und zum unbändigen Hass gegen ihre Mitstreiter treiben können", sagte Albertrude. "Nur, dass ich mir schon einen Aura-Calma-Zauber auferlegt habe, um genau das zu verhindern", erwiderte Iduna Apfelzweig. Albertrude stellte per reinem Gedanken das rechte Auge auf Aurensicht und sah die für sie sonnenuntergangsfarbene, sanft und ruhig pulsierende Aura, die sie laut Training als wirkenden Gefühlsschild identifizierte.
"Gut, Zwanzig Manöverpunkte für Leutnant Apfelzweig, vierzig an Fräulein Steinbeißer wegen ausgedehnter Unauffindbarkeit über fast fünfzig Prozent der veranschlagten Übungszeit und null Manöverpunkte an mich und die Leutnants Buchenhain und Kirschholz", legte die Majorin fest, was in ihr Tagesprotokoll kommen würde. Auch wenn Albertrude mit den für Lichtwachen so essentiellen Manöverpunkten nicht viel würde anfangen können konnte ihr das bei der Bewertung ihrer Einsetzbarkeit doch mal gute Dienste leisten.
"Mit welchem Zauber haben Sie übrigens die Vitalauren der Büsche und dünnen Bäumchen verstärkt, dass die wie Urwaldbuschwerk und Mammutbäume erschienen?" fragte die Majorin. "Das habe ich gar nicht. Ich habe den Supervisibilis-Zauber benutzt, der im Handbuch für visuelle Enthüllungs- und Erkundungszauber erwähnt wird. Der verstärkt die gewünschte Sichtbarkeit eines Zaubers auf das vier- bis zehnfache, wirkt jedoch nicht auf unsichtbare Gegenstände oder Wesen. Mit dem habe ich übrigens auch die falschen Zauberkraftquellen hinbekommen, denen Ihre Leutnants so häufig aufsaßen", berichtete Albertrude. Dass sie für die Lebensaura einen anderen Zauber benutzt hatte ging die vier Anstandshexchen nichts an.
"Sogesehen müsste ich uns dreien Manöverpunkte abziehen, weil wir zu sehr auf diese Scheinziele hereingefallen sind", grummelte Majorin Seidenspinner. "Gut, dann kommt jetzt die Verfolgung dran. Wir haben es in den Alpen ja schon einmal gemacht und dabei festgestellt, dass Träger magischer Augenprothesen offenbar im Gebirge reaktionsschneller sind, sofern sie nicht meinen, durch dicke Berge hindurchzublicken und sich auf die Ausweichbefähigung ihres Besens verlassen müssen. Also, wir beginnen in fünf Minuten. Generalrichtung ist Südosten, damit wir heute noch die griechische Grenze erreichen, wo wir uns in einer der kartierten Höhlen einigeln, um keine große Einreisebürokratie zu verursachen", legte die Majorin fest.
Das Verfolgungsjagdmanöver gewann Albertrude, weil sie mittlerweile den Dawn'schen Doppelachser ausfliegen konnte und sich so immer wieder vor den zu Scheinangriffen zielenden Zauberstäben in Sicherheit bringen und sich statt dessen hinter die Angreiferin manövrieren und ihr einen Lichtzauber überbraten konnte und "Peng! Du bist tot!" rief. Natürlich missfiel das Majorin Seidenspinner, dass sie und ihre drei "Mädchen" gegen Albertrude verloren hatten. Natürlich erkannte Albertrude auch, dass sie dadurch noch mehr Misstrauen bei den vier Damen von der Lichtwache anhäufte. Ebenso war ihr klar, dass sie, als sie in einer Höhle in der Nähe der albanisch-griechischen Grenze das große Wohn- und Verpflegungszelt aufstellten, ihre Kabine mal wieder mit Meldezaubern bepflasterten, die sofort petzten, wenn sie aus ihrer einer Schiffskabine nachempfundenen Unterkunft hinausgehen wollte. Wegen des im Mittelraum des Zeltes diebstahlsicher aufgestellten Locattractus-Blocks konnte sie auch nicht mal eben davondisapparieren. Doch sie betrachtete diese Vorkehrungen als Akt des Unbehagens und der Hilflosigkeit. Es würde ihr sehr leicht fallen, die vier Aufpasserinnen von sich abzuschütteln und dann noch zu behaupten, sie wären in eine magische Falle von Unbekannt, bestenfalls Ladonna Montefiori hineingeraten. Doch bis dahin war noch Zeit.
Im Bewusstsein, von vielen netten Überwachungszaubern umhüllt zu sein tätschelte Albertrude noch einmal den diebstahlsicheren und getarnten Rucksack, den sie mit schützenden Kristallen gefüllt hatte, die gegen verschiedene magische Ausstrahlungen schützten, wenn entsprechendes in ihre Nähe geriet. Sie konnte schließlich nicht wissen, was sie auf Ladonnas Roseninsel mitgehen lassen konnte.
Seine Salmakis-Schwester Alexia erlaubte es ihm nach mehreren Wochen intensiver Kindesbetreuung mal wieder, in seiner eigenen Person aufzutreten und seine Amtshandlungen zu vollziehen. Heute hatte Alexios Anaxagoras eine Botin der Töchter Hecates zu Besuch, die durch die vereinbarte Legitimation mit ihm oder Alexia Tachydromos alleine sprechen durfte.
"Unsere Erd- und Wasservertrauten haben in den letzten Tagen Zeichen einer Verschiebung der natürlichen Flüsse von Erd- und Wassermagie ausgemacht. Ihren Berechnungen nach muss die Quelle östlich oder südlich des Santorini-Archipels zu finden sein. Sie atmet langsam ein und aus. Gilt die Anweisung, dass das Ägäische Meer bis drei römische Meilen vor Nordafrika unsere Obliegenheiten betrifft, Minister Anaxagoras?" fragte Chlorochtonia Herakleia.
"Wenn die drei Mütter wissen wollen, ob sie wen von Euch dort hinschicken dürfen, so lautet meine Antwort nur: "Findet einen triftigen Grund für eine solche Reise!"
"Den haben die Mütter. Denn auch die Feuervertrauten unseres altehrwürgigen Ordens sind in Sorge, weil die unter Santorini ruhende Feuerschale unregelmäßig klingt, als wolle sie bald wieder vernichtende Glut über uns ausschütten wie damals, als das große Brückenvolk dahingerafft wurde."
"Achso, und wenn ihr wisst, ob es was mit einer fremden Erd- und Wassermagie, vielleicht auch einer Vulkane beeinflussenden Feuermagie zu tun hat, dann wollt ihr erkunden, ob was dagegen unternommen werden kann oder nur an den Schutz unseres Landes gedacht werden soll, richtig?" Die Hecatianerin bejahte es.
"Gut, dann dürft ihr verreisen. Aber zu keinem außerhalb dieses Raumes oder eurer Versammlungshöhle ein Wort davon. Der türkische Kollege ist krass argwöhnisch wegen unserer besonderen Reisen, und der neue italienische Kollege ist schon wegen seiner Tätigkeit für die europäische Liga gegen dunkle Künste misstrauisch, was organisierte Hexen und Zauberer außerhalb von Ministerien angeht."
"Wir müssen suchen, wo die Quelle liegt und ob wir uns ihr entgegenstellen oder sie auf andere Ziele ausrichten können, die keinem Menschen schaden", erwiderte Chlorochtonia Herakleia entschlossen. Dann bedankte sie sich bei dem Minister.
"Ich kann mir denken, was die Quelle ist", dachte der Minister scheinbar nur für sich. "Ladonnas angebliche Geheiminsel, von der es die Liga in Italien und Frankreich gerade hat", gedankenantwortete die in ihm verborgene Alexia Tachydromos. "Vielleicht sollte ich mit denen mitreisen."
"Meine kleine Schwester, ich habe mehr als drei Wochen Ministeriumsanliegen nachzuarbeiten. Du lebst auch davon, dass unser Ministerium seine Arbeit erledigt", schickte der Minister zurück.
"Ja, aber so wärest du wortwörtlich hautnah am Geschehen dran und könntest dich Torregrande und Ranzuk Üzlügül gegenüber besser darstellen als einer, der ihnen Ungemach erspart hat."
"Die Italiener sind doch schon argwöhnisch, weil sie das mit Ladonnas Insel zu gerne unter ihrem eigenen Teppich gehalten hätten, um dann, wenn feststeht, ob es jene Insel gibt, selbst dort einmarschieren und alles brauchbare herunterholen, ohne dass wer anderes davon Wind bekommt. Torregrande und Amici ärgern sich doch schon, dass überhaupt erwähnt wurde, dass Ladonna noch irgendwo in der alten Welt ein Versteck unterhalten hat, in dem sehr brisante Sachen verschlossen sind. Nein, auch deshalb muss ich jetzt erst einmal hierbleiben und kann nur hoffen, dass du die nötige Geduld hast, mich die Sache erledigen zu lassen."
"Meine Zeit wird bald wiederkommen, Brüderchen. Du reist immer ganz gut, wenn ich nach außen trete und das mit den Hecatianerinnen zusammen hinbekomme, dass unser schönes Land Hellas nicht von Poseidon und Hades in die Tiefe gezogen wird. Apropos Poseidon, hat Mikos seinen Willen gekriegt und die kleine Herde dieser flieenden Riesenkühe aus Frankreich genehmigt bekommen, zu der ein Bulle namens Poseidon gehört?"
"Es konnte eine ausreichend große, gegen die Anmagoi absicherbare Weidefläche erschlossen werden, um diese kleine Herde aus drei Kühen und dem Bullen zu beherbergen. Wenn die Kälber kriegen darf die Herde aber nicht größer als zehn Tiere werden", gedankenantwortete Alexios Anaxagoras.
"Das wird ihn sicher freuen", schickte Alexia ihrem gerade nach außen präsenten Bruder zurück.
Es hatte Marga Eisenhut einiges an Zeit und noch mehr Sorgfalt gekostet, sicherzustellen, dass sie am Tag, an dem Ladonna aus der Welt verschwand, von ihrer Konkurrentin besucht werden konnte.
Die höchste Spinnenschwester saß ganz souverän im hochlehnigen Ohrensessel ihrer Gastgeberin und las sich die Aufzeichnungen noch einmal durch, die Marga von Karla Klingenschmidt erhalten hatte.
"Kann sein, dass die Insel heute auftaucht oder doch erst in einem Monat", meinte Marga. "Nein, ich bleibe dabei, Marga, dass die Insel entweder heute oder morgen, also ein Jahr und einen Tag nach Ladonnas letztem Lebenszeichen erscheinen wird und ich dort sein sollte, um zu erkunden, ob ich dort etwas für uns wichtiges oder gar gefährliches vorfinde. Soweit mir meine Quellen aus Italien und Frankreich wo angeblich die Urschrift jenes Testamentes aufgetaucht ist, erfahren konnte fürchten die Franzosen, dass sich mehrere Interessengruppen, darunter selbstverständlich wir vom Orden der Spinne, aber auch offizielle Einsatzgruppen der Anrainer dieser Region um die Insel streiten und sie zum Schlachtfeld machen könnten. Es gibt Leute, die gerne alles was dort sein soll in ihr eigenes Archiv überführen möchten und solche, die genau das verhindern wollen, dass irgendwer das alles archiviert und frecherweise noch benutzt und deshalb lieber Vernichtungszauber darüber ausbringen will, wie Dämonsfeuer, Erumpentflüssigkeit, Incantivacuum-Kristalle oder Hecates Tränen. Gerade letztes bringt mich darauf, dass ich am besten heute noch an den Ort reise. Deshalb werde ich dein Haus mit einem Unaufspürbarkeitszauber versehen und mit meinem tarnfähigen Flugbesen und dem Portschlüsselring in die Nähe des Ortes reisen. Wie vereinbart kein Wort zu den anderen Mitschwestern. Wenn ich will, dass die wissen, dass ich dort hingereist bin werde ich es ihnen persönlich mitteilen, auch weil ich nicht weiß, ob die nicht eigene Begehrlichkeiten haben.""
"Und was macht dich so sicher, dass ich keine Begehrlichkeiten habe?" fragte Marga riskanterweise. "Der Umstand, dass du diese Frage noch stellen konntest beruht darauf, dass ich weiß, dass du davon ausgehst, dass Ladonnas Insel eben nur ihr treue Hexen an sich heranlässt und die einzige, die dem vielleicht entgegenwirken kann bin ich", sagte Anthelia. Genau das musste sie selbst prüfen, keine andere.
"Und wenn stimmt, dass da nur Ladonna treue Schwestern hingelangen, höchste Schwester?" wollte Marga Eisenhut wissen.
"Dann werde ich die mir bekannten Zauber anwenden, um mich dem entgegenzustellen. Wenn da was ist, was sie damals schon vor Sardonia versteckt hat und wenn sie die im Mai letzten Jahres unterworfenen Zaubereiministerien geplündert hat, dann wäre ich sehr einfältig, das den anderen zu überlassen, was dort gehortet ist."
"Und wenn sie dort einen Basilisken als Wächter eingesetzt hat, höchste Schwester? Es steht in den Aufzeichnungen drin, dass sie Wächter und Fallen eingesetzt hat."
"Falls sie dort wahrhaftig einen Basilisken oder zwei in Tiefschlaf hält, die bei Annäherung aufwachen kann ich das aus sicherer Entfernung erspüren, Schwester Marga. Aber danke für den Hinweis. Gut, dass ich nicht unbewaffnet dort hinreise."
"Nimmst du das Schwert mit?" fragte Marga. "Da es eine Vulkaninsel sein soll ist es sehr praktisch", sagte Anthelia. Doch wo genau sie das Schwert hatte verriet sie nicht.
Eine halbe Stunde später, nachdem Anthelia/Naaneavargia einen Unaufspürbarkeitszauber um Margas Haus gelegt hatte, machte sie aus einem silbernen Serviettenring einen Portschlüssel, der sie bis auf eine halbe römische Meile an den wahrhaftigen oder nur scheinbaren Standort heranbringen konnte. Den Portschlüssel konnte sie noch über den Stiel des Harvey-Besens ziehen, ohne dessen Flug- und Tarneigenschaften zu beeinträchtigen. Unbemerkt von Marga Eisenhut hatte sie einen daumengroßen Granitwürfel mit abgerundeten Ecken und Kanten mit sechs Zaubern belegt, die in ihrer Summe einen Schutz vor allen aus der Erde stammenden Beeinträchtigungen bot, ähnlich wie der Zauber Gnade der großen Erdmutter, nur nicht so stark wie dieser, sondern eher als Dämpfer gegen Erdkräfte. Das mächtige Feuerschwert Yanxothars steckte in einer schwarzen Drachenhautscheide, die sie sich nach dem Abflug von Margas Haus auf den Rücken binden konnte.
Zwei Stunden nach Sonnenuntergang verließ Anthelia Margas Haus und bestieg ihren Besen. Als sie damit abhob wurden der Besen und sie sofort völlig unsichtbar. Nur Enthüllungszauber oder die magischen Augen Albertrude Steinbeißers vermochten den Tarnzauber zu durchdringen. Anthelia stieg auf die zwölffache Höhe von Margas Haus auf, knapp unter den Scheitelpunkt der unsichtbaren Glocke, die jeden innerhalb verwendeten Zauber unaufspürbar machte. Mit geübten Handgriffen befestigte sie die Scheide mit der Feuerklinge auf ihrem Rücken und hängte sich die zwei reiß- und feuerfesten Drachenhautfutterale für Besen und Zauberstab an einem körperspeichergesicherten Gürtel um die schlanke Taille, ohne dafür sehen zu müssen. Dann wandte sie den Besen in Ostsüdostrichtung und sagte mit ruhiger Stimme: "Tondarmirxula!" Der auf einen der drei Namen der mythischen Erdmutter aus Altaxarroi geprägte Portschlüssel am hinteren Besenende glühte silberweiß auf und hüllte Besen und Reiterin in eine mondlichtfarbene Spirale. Anthelia hatte sich auf die Herstellung von den Mond als Verstärkungsmedium nutzende Portschlüssel festgelegt, vor allem wenn sie damit bei Mondlicht verreiste.
Marga sah von unten nur jenen für eine Sekunde sichtbaren Lichtwirbel. Dann wusste sie, dass sie wieder für sich alleine war. Laut Anthelias Instruktion sollte sie von nun an eine volle Woche ausharren. Hörte sie bis dahin nichts von ihr oder erfuhr über andere Schwestern, denen sie vertrauen konnte, wie es ihr ging, sollte sie erst die deutschsprachigen Spinnenschwestern über Anthelias Reise informieren und dann die anderen. Ab jetzt also eine Woche, bis zum neunten Dezember 2007, dachte Marga Eisenhut.
Die Offizielle Auslandsübung über Bergen und Meer ging in ihre entscheidende Phase. Albertrude Steinbeißer, die bei den vier mitreisenden Aufpasserinnen immer noch Fräulein Albertine Steinbeißer war, brachte ihren Harvey-Besen bis auf nur einen Meter über die wogenden Wellen des Ägäischen Meeres. Die anderen sollten gleich nach ihr suchen. Denn es hatte sich erwiesen, dass die Unsichtbarkeit des Besens bei Annäherung an eine bewegte Wasseroberfläche breiter streute, je dunkler die Umgebung war. Somit mochte Albertrude für die Aufspürzauber wie eine große, phasenverschoben wabernde Nebelwolke auf dem Meer wirken. außerdem konnte sie auf diese Weise mit ihren biomaturgischen Augen durch das Wasser hindurchblicken, als wenn es reine Luft war. Wenn da was fremdes, nichtnatürliches zu sehen war würde sie es weitermelden. Die Frage war nur, wann genau?
Sie verwendete die Aurensicht und den Durchblickmodus der Stufe zwei, der Dunkelheit und Festkörper durchdrang. So stellte sich das hier an die tausend Meter tiefe Meer als schroffe, schrundige und hügelige Landschaft mit Felsen, Sandflächen und aufragenden Hügeln dar. Das war an sich schon faszinierend, fand die aus zwei Seelen zu einer vereinten Persönlichkeit verschmolzene Erbin Gertrudes. Damals, wo Gertrude gelebt und gewirkt hatte steckte die prothetische Thaumaturgie noch in den Kinderschuhen. Glieder konnten nur als mechanische klobige Anhängsel erstellt werden. Sinnesorgane, die nicht auf magische Weise wiederhergestellt werden konnten, konnten nur durch sehr armselige Ersatzohren und unübersehbare Glasaugen ausgetauscht werden. Ein gewisser Giacchino Spalanzani hatte im 16. und 17. Jahrhundert mit künstlichen Sinnesorganen und durch Gedankenkraft bewegliche Gliedmaßen experimentiert, allerdings auch mit für Heiler völlig und für die meisten anderen häufig unzulässigen Mitteln. Er hatte sogar damit experimentiert, lebende Gehirne in mit Erhaltungsflüssigkeiten gefüllte Sphäroide einzuschließen und zu erforschen, wie sie auf künstliche Außenreize ansprachen und ob es eines Tages möglich sein würde, den menschlichen Körper durch einen vollendeten Kunstkörper zu ersetzen und nur das Gehirn als lebendigen Bestandteil einzupassen. Sie dachte daran, dass Spalanzani sicher mit Ladonna oder Sardonia ins Gehege gekommen war. Denn er hielt nicht viel von Hexen, da sie seiner Meinung nach zu viel Wert auf die aus ihren Leibern heraus geborenen Nachkommen legten, statt der Perfektionierung des Menschens an sich. Vielleicht, so dachte Albertrude, hatte sie damals Schriften oder gegenständliche Ergebnisse seiner Versuche beschlagnahmt und in jenem Geheimversteck verwahrt, das sie nun suchte.
Eigentlich war vereinbart, Rufstille zu halten, selbst wenn ein Vocamicus-Zauber nicht von Unbeteiligten mitgehört werden konnte. Doch genau jetzt erklang Flavia Buchenhains Stimme gleichzeitig in Albertrudes beiden Ohren. "Meldung, zweiter unsichtbarer Besen aus Mondportschlüsselvortex verstofflicht, nähert sich Standort von Fräulein Steinbeißer. Fräulein Steinbeißer, bitte Ausschau nach unangemeldetem Besen halten und Reiter oder Reiterin identifizieren!"
"Albertrude blickte sich sofort um. Ein fremder Besen? Das konnte nur jemand wie Anthelia oder eine von Ladonnas übriggebliebenen Schwestern sein, die nachsehen wollte, ob das mit der Insel stimmte. Nach nur einem Rundblick machte sie die typische silberne Aura eines Harvey-5-Besens aus und sah auch, dass eine Frau auf ihm saß. Sie steuerte den Punkt an. Doch der Besen wich vor ihr aus. Also bemerkte die Reiterin, dass sie verfolgt wurde. "Schwester Anthelia, bist du gerade unterwegs?" gedankenfragte Albertrude und fühlte sich bestätigt, weil ihre eigene Gedankenstimme klar nachhallte.
Ja, du bist hinter mir her. Melde denen, die dich mir nachschicken, dass du eine Besenreiterin erkennst, die mit einem Meeresfernrohr hantiert, um den Grund abzusuchen. Sollten die meinen, mich fangen zu wollen verschwinde ich wieder."
Albertrude holte nun auf und meldete die Sichtung einer "ihr unbekannten" Hexe, die mit einem praktischen Teleskop mit Meerwasserdurchblickfunktion arbeitete, offenbar, weil sie was suchte. Als dann keine Antwort erfolgte blieb sie erst hinter Anthelia. Als die dann aber mit einer Zusatzbeschleunigung, die dem Harvey eigentlich gar nicht möglich war, davonschoss und in Richtung Italien flüchtete erkannte Albertrude, dass die drei Leutnants über ihr aufgetaucht waren und wohl meinten, die nur nach unten starrende Hexe einkassieren zu können, was rechtlich sehr, sehr bedenklich war, da sie hier in internationalen Gewässern operierten und genauso oder genausowenig hier herumfliegen durften wie jeder andere.
"Mist, die muss ein Vorwarnartefakt mithaben. Aber wie der Harvey so abzischen kann, unglaublich", hörte sie Flavia Buchenhains Stimme wie in beide Ohren gleichzeitig gesprochen.
"Hatten Sie Befehl, die Fremde festzunehmen, Leutnant Buchenhain?" fragte Albertrude. "Zumindest zu identifizieren", knurrte Flavias Vocamicus-Stimme. "Fremdbesen außer Sicht. Offenbar ein neueres Modell mit neuem Pinkenbachexpander für bessere Flugeigenschaften", gab die Majorin eine Vermutung zum besten. "Kurs italienische Halbinsel bestätigt."
"Was soll ich jetzt machen?" fragte Albertrude aufrichtig. "Gut, der Versuch wird wiederholt. Fliegen Sie noch einmal die geplante Strecke ab und gehen Sie auf unter zwei Meter Über Wellenbergen!" befahl die Majorin. Albertrude bestätigte es und kehrte an die Stelle zurück, wo sie vorhin gewesen war. Der Meeresgrund hatte sich nicht geändert.
Unterwegs dachte Albertrude, von wem Anthelia wusste, dass es hier eine Insel Ladonnas gab. Dabei fielen ihr sowohl italienische, französische und deutsche Mitschwestern ein. Es wäre doch zu schön gewesen, sie im Ungewissen zu halten und die Insel ohne sie untersuchen zu können, wenn es sie hier gab. Na ja, da musste sie jetzt mit leben. Denn sie war sich sicher, dass Anthelia bald zurückkommen würde. Also hieß es erst einmal, den Meeresgrund zu beobachten.
Der Meeresboden schien auf einmal in einem bläulich-grünen Licht zu leuchten. Gleichzeitig fühlte Albertrude, wie der Besen für einen Moment ruckelte. Sie sah unter sich, wie das fremdartige Licht schlagartig wieder erlosch. Sie vollführte eine Punktwende und blickte erst bis auf den Grund und dann immer weiter nach oben. Da sah sie ihn, den nach unten weit offenen, grünlich-blauen Trichter aus reiner Magie, der nach oben hin immer schlanker wurde, bis er als scheinbar nur einen halben Meter breiter Stiel ohne Fuß in den Himmel ragte. Sie steuerte noch einmal darauf zu und berührte ihn. Da lag dieser auch schon wieder weit hinter ihr. Ohne das leichte Vibrieren ihres Besens und ohne die Aurensicht ihrer magischen Augen hätte sie nicht bemerkt, dass sie dieses eindeutig magische Phänomen übersprungen hatte.
Sie prüfte es noch einmal nach und flog so langsam es ging auf jenen nur für sie sichtbaren Trichter zu. Als sie ihn mit der Besenspitze am nur noch zwanzig Meter breiten Grund berührte übersprang sie wohl wieder den Ort. Sie konnte nicht eindringen. Vielleicht war das auch gerade nicht angeraten. Da sie über Wasser nicht mit einem Naviskop hantieren konnte und das bei einem unsichtbar machenden Besen sowieso Unfug gewesen wäre errechnete sie den Abstand zum Äquator und nach den über ihren Uhrzeit-Ohrring erfragten Tagesstunde sichtbaren Sterne, wo sie ungefähr war. Dann versuchte sie noch einmall etwas.
Sie drehte auf dem Punkt und flog langsam auf den für sie sichtbaren Trichter zu. Dabei stellte sie sich eine Vulkaninsel im Mondlicht vor. Sie berührte den aufragenden Teil des umgestülpten Trichters. Ihr Besen erzitterte. Für genau zwei Sekunden sah sie eine wie in dichten, aus sich heraus leuchtenden Nebel gehüllte Landschaft, deren Zentrum ein aufragender, völlig karger Bergkegel war. Dann ruckte ihr Besen an und sie war wieder über die angesteuerte Stelle hinausgesprungen wie mit einem Transitionsturbo in einem magisch aufgerüsteten Kraftwagen der magielosen Welt.
"Im Moment werde ich das keinem sagen. Aber jetzt ist sicher, dass die Insel wiederkommt. Der Zauber hält mich noch ab, weil es zu früh ist", dachte Gertrudes Erbin und flog behäbig über den Wellen dahin, bis der Vocamicus-Zauber anschlug: "Fräulein Steinbeißer, können Sie mir gütigst erklären, wie sie mit ihrem Besen zwei Kilometer überspringen können, wo es im Handbuch heißt, dass der Unsichtbarkeitszauber mit dem Flugzauber schon die Höchstlast für die verwendete Materie darstellt?" klang Majorin Seidenspinners Stimme in ihren Ohren.
"Was verrät Ihnen, dass ich mit dem Besen derartige Sprünge vollführe, Majorin Seidenspinner?" fragte Albertrude über den Vocamicus-Zauber nach. "Dass die zugegeben bis auf die zwanzigfache Ausdehnung streuende Unsichtbarkeitsaura Ihres Besens zweimal innerhalb nur einer Sekunde zwei Kilometer übersprang, einmal von West nach Ost und dann von Ost nach West. Wie soll das bitte gehen?"
"Ich habe was unter Wasser leuchten sehen können. Kann sein, dass dort starke magische Stränge zusammenfließen, die das Raum-Zeit-Gefüge zusammenstauchen. Irgendwas mächtiges muss dort unten liegen", erwiderte Albertrude. "Wie sah jenes Leuchten aus?" wollte die Majorin wissen. Mann! War die neugierig!
"Wie ein mit der breiten Öffnung nach unten auf dem Grund abgestellter Trichter aus für mich blauem und grünem Licht, also vielleicht auf Erd- und Luftmagie oder Erd- und Wassermagie bezogenes", gab Albertrude ungern auskunft.
"Enttarnen Sie ihren Besen und senden Sie mit Nigerilumos ein Leuchtsignal. Leutnant Buchenhain und Leutnant Kirschholz haben die dafür geeigneten Sehhilfen angelegt."
Albertrude befolgte die Anweisung. Noch musste sie gute Miene zum gewagten Spiel machen. Doch wenn sie richtig vermutete würde sich die Insel tatsächlich morgen, ein Jahr und einen Tag nach Ladonnas Verschwinden, offenbaren, zumindest aber für jene sicht- und betretbar sein, die Ladonna für berechtigt gehalten hatte. Eines stand jedenfalls fest, der bisherige Unauffindbarkeitszauber ließ nach. Denn sonst würde niemand von außen einen Sprung von über zwei Kilometern beobachten können. Der Raum würde rein plastisch beschrieben über dem zu verbergenden Gebiet zusammengezogen, so dass ein Kilometer außerhalb der Abschirmung nur einen Meter entsprach, also nichts, was jemand ohne magische Gerätschaften wahrnehmen konnte.
Anthelia/Naaneavargia war ein wenig enttäuscht, weil sie so schnell und so zielgenau entdeckt worden war. Doch andererseits wusste sie nun, wer hier schon auf der Lauer lag und wie viele bei dieser angeblichen Übung mitmachten. Sie hatte die unabgeschirmten Gedanken dieser jungen Lichtwächterin Buchenhain gehört und wusste nun, dass die vier Lichtwächterinnen, die um Albertrude herumkreisten wie die Gallileischen Monde den Jupiter den Auftrag hatten, Albertrude, die sie natürlich noch immer für die Kollegin Albertine hielten, zu beobachten und bei andeutungsweisem Verhalten gegen die Interessen des Zaubereiministeriums handlungsunfähig zu machen und in die Gewahrsamszellen unter dem Berliner Zaubereiministerium zu verbringen. Was sie als Handlung gegen das Ministerium einstufen sollten hatte ihnen ihr großer Chef Andronicus vorgeschrieben, vor allem das ständige Umkreisen eines bestimmten Punktes, unzureichende Auskünfte über gemachte Beobachtungen, zeitweiliges Verschwinden oder Versuche, die "Schutzmannschaft" abzuschütteln, sofern diese nicht gelangen. Falls doch war jede Instruktion erst einmal undurchführbar. Dass Albertrude ihr nicht gleich nach Erhalt der Kenntnisse von Ladonnas Insel Bericht erstattet hatte konnte sie selbst als bedenkliches Verhalten einstufen. Sie wusste, dass Albertrude selbst die Führerin aller europäischstämmigen Hexen werden wollte und dabei sicher jede Gelegenheit nutzte, mehr Wissen und Macht zu gewinnen. Der Burgfrieden mit ihr würde nur solange halten, bis sie was in ihre Hände oder ihren Kopf bekam, dass ihr Vorteile gegenüber Anthelia verschaffte. Was bot sich da besser an, als ein ganzes schwarzmagisches Hamsterlager einer anderen machtgierigen Hexe? Sie dachte ja nicht viel anders. Also würde es zwischen ihr und Albertrude womöglich zu einem Entscheidungskampf um Ladonnas Vermächtnis kommen. Dass Albertrude sie nicht töten durfte wusste diese oder war zumindest davon überzeugt, dass es zutraf, was Anthelia ihr erzählt hatte. Aber wie eben Ladonna bewies, und wie auch Naaneavargias Schicksal zeigte gab es mehr als genug Mittel, eine Feindin dauerhaft unschädlich zu machen, ohne sie gleich zu töten. Damit musste auch sie immer rechnen, wie Daianira Anthelia bewisen hatte und weil sie Naaneavargias Wissen in sich trug. Dennoch wollte, ja musste sie jetzt erst recht auf diese Insel, und sei es, dass sie die dort gelagerten Gegenstände und Schriften zerstörte, damit keine andere sie in die Hände bekam, auch und vor allem nicht Albertrude Steinbeißer. Mit diesem Gedanken steuerte sie den Absatz des italienischen Stiefels an, um dort zu landen und ihr tarnfähiges Zelt aufzuschlagen, worin sie die Nachtstunden verbringen würde. Morgen, am dritten Dezember, würde sie die Entscheidung erzwingen, auf die Insel zu gelangen und dort nachzuforschen, was Ladonna dort hinterlassen hatte.
"Meldung, Aus Richtung griechisches Festland anfliegende Gruppe aus einundzwanzig Pegasios-6-Besen!" rief Flavia Buchenhain aus, die nach der Entdeckung von Fräulein Steinbeißer die Koordinaten des merkwürdigen Trichters umkreiste, während Albertine Steinbeißer selbst zu einem Jagdspiel mit Leutnant Apfelzweig und Leutnant Kirschholz beordert worden war. Flavia flog in mehr als zweitausend Metern Höhe und beobachtete das Meer und die ersten fünf Grad über dem Horizont mit einem nachtsichttauglichen Superomniglas. Damit hatte sie auch die Besen identifiziert und wusste, dass diese zwar nicht unsichtbar werden konnten, aber dafür eine dem britischen Feuerblitz vergleichbare Beschleunigung und Wendigkeit besaßen und sogar die Fähigkeit hatten, von 400 Stundenkilometern innerhalb von 0,25 Sekunden auf völligen Stillstand über einem Punkt zu verzögern, ohne die darauf reitende Person und deren Zusatzgepäck abzuwerfen. Allerdings hatten die Feuerblitzfabrikanten so viele gute Freunde in den Ministerien, dass der Pegasios-Besen wegen seiner Herstellungsmaterialien nicht für den internationalen Markt freigegeben wurde. Das ärgerte die Griechen jedoch keineswegs.
"Was wird das hier? Ein nächtliches Wettfliegen?" stieß Iduna Apfelzweig aus. "Vocamicus-Disziplin, Leutnant Apfelzweig! - Fremde Besen anfliegen und überprüfen!" befahl die Majorin. "Fräulein Steinbeißer, sie sichern Leutnant Apfelzweig ab!" ergänzte sie ihren Befehl noch.
Wenige Minuten später stellte sich heraus, dass es einundzwanzig Hexen waren, die sich als Kundschafterinnen der Elemente ausgaben und im Auftrag des griechischen Zaubereiministeriums ein Ungleichgewicht im Meeresboden und der vulkanischen Tätigkeit unter Santorini und Umgebung überprüfen mussten.
"Klar, die Ägäis ist ja griechenlands ureigene Badewanne", ätzte Leutnant Kirschholz. "Ich rufe erneut zur Disziplin auf", schnarrte Majorin Seidenspinner. "Was sagen die Damen aus Athen?"
"Das wir uns gerne auf griechisches Festland zurückziehen mögen und dort um eine offizielle Genehmigung für weitere Überflugtätigkeiten in diesem Abschnitt bitten mögen", teilte Iduna Apfelzweig mit. "Wie bitte?! Die erdreisten sich, uns dieses Ortes zu verweisen. Welchen grünen Wichtel hatten die zum Frühstück?" erging sich nun die Majorin in einer fehlenden Mitteilungsdisziplin.
"Nichts für ungut, Majorin. Aber die sind uns fünf zu eins überlegen, vier zu eins, sofern wir Fräulein Steinbeißer als kampferfahrene Hexe einstufen", stellte Leutnant Apfelzweig fest.
"Wie lautet die Einsatzregel für diese Übung? Keine Konflikte mit Außenstehenden beginnen und verschärfen. Wir ziehen uns auf Superomniglasreichweite zurück!" befahl die Majorin.
"Verstanden, wohin genau?" wollte die Hexe wissen, welche die vier Lichtwächterinnen mit Albertine Steinbeißer ansprachen. "Richtung nordafrikanische Küste. Wenn die uns bis dahin verfolgen locken wir sie nach Libyen. Dann kriegen die Spaß, weil wir uns unsichtbar machen können und die nicht", befahl die Majorin.
Als sich die fünf Besenreiterinnen mit gerade sichtbaren Besen an der befohlenen Stelle trafen beobachteten sie, wie die einundzwanzig Hexen scheinbar ziellos über dem Meer herumsuchten, dann kreisten und dann selbst einen großen Kreis über der Wasseroberfläche bildeten. "Jetzt wird es sehr lehrreich", bemerkte die zu betreuende Zivilistin mit den magischen Augen. Ja, und es wurde lehrreich.
Innerhalb des langsam um einen festen Punkt gleitenden Besenkreises flimmerte erst die Luft. Dann wallte immer dichterer Nebel auf, bis mit einem Schlag aus dunkelblauem Licht heraus eine halb durchsichtige, dreißig Meter durchmessende Schale mit zwei Meter hohem Rand erschien, die wie ein Boot oder Floß auf den Wellen schaukelte. Die einundzwanzig Hexen beschworen wohl was aus dem Nichts, was innerhalb jener Schale landete. Dann landeten sie in deren Mitte. Das Gebilde tauchte einen halben Meter tief ein, schwamm jedoch sicher weiter. Dann sahen die Beobachterinnen, wie zwanzig in alle Himmelsrichtungen und Unterabschnitte weisende Strahlen und ein lotrecht nach oben in den Himmel stoßender Strahl aus blauen Funken ein immer dichteres Netz über der Schale schufen, dass dann ohne Übergang zu einer nahtlos durchgängigen blauen Kuppel wurde. "Ei der Daus! Der Tessalische Frostwall, eine Kuppel oder in freier Luft oder auf See geschlossene Blase aus magischem Eis, die alle körperliche Gewalt abhält und die meisten auf Feuer gründenden Zauber ableitet oder auslöscht. Ist besonders dort leicht zu wirken, wo freies Wasser in der Nähe ist", sagte die Zivilistin. Flavia Buchenhain nickte verdrossen. Als eine, die in ihrer Ausbildung schwerpunktmäßig mit Elementarzaubern zu tun hatte kannte sie diesen Frostwallzauber auch und ging davon aus, dass er bei den Wasserbändigerinnen der Töchter Hecates oder bei allen von denen zum Pflichtprogramm gehörte. Dann sahen sie noch, wie die aus magisch erzeugtem Eis gebildete Schale auf einem bestimmten Punkt stehenblieb. Sie sahen auch, dass drei Zelte innerhalb der Schale aufgeschlagen wurden. "Die lagern mitten auf dem Mittelmeer und haben keine Angst, dass ein Magloschiff gegen ihren blauen Wall knallt", ereiferte sich Isolde Kirschholz. Die Ministeriumsbeamtin mit den magischen Augen fügte diesem Ausruf noch hinzu: "Ja, und zwischen den Zelten hissen die die griechische Flagge, als wenn die dieses Stück Meer in Besitz genommen hätten. Frech kommt eben doch weiter."
"Warum tun sie das wohl? Die warten hier auf etwas, weil ihnen jemand was zugetragen oder sie auf offiziellem Weg informiert hat. Das hätten wir gerne vor unserer Abreise erfahren dürfen", grummelte die Majorin. Flavia Buchenhain sah ihre zeitweilige Truppenführerin an und sagte: "Sie kennen doch die Redewendung für Einsatztruppen, Major Seidenspinner: Als erste gehen, als letzte Verstehen."
"Werden Sie nicht auch noch frech, Leutnant Buchenhain", knurrte die Majorin.
"Das ist keine Frechheit, sondern eine leider all zu weit verbreitete Politik beim Einsatz von kämpfenden oder bereinigenden Truppen, Major Seidenspinner", beharrte Buchenhain auf ihre Aussage. "Offenbar bekommt uns allen der Aufenthalt über dem Meer nicht so gut. Wir fliegen unsichtbar nach Nordafrika und schlagen dort unser Zelt auf. Morgen um fünf fliegen wir erneut hierher und und überprüfen die Beobachtung von Fräulein Steinbeißer."
"Warum nicht nach Griechenland?" fragte die erwähnte Beobachterin. "Jetzt werden Sie auch noch frech. Weil die Griechen womöglich schon auf uns warten, oder ist Ihnen die Verständigungsform des Mentiloquismus etwa unbekannt, Fräulein Steinbeißer?" schnaubte die Majorin, die sich zurecht um ihre eigene Autorität gebracht fühlte.
"Habe ich schon mal was von gehört, Geistsprechen, jemandem über große Entfernungen klar formulierte Gedanken übermitteln, wenn die Verbindung zwischen Absender und Empfänger gut genug ist", sagte die Zivilistin ruhig. Dann tat die auch noch so, als erkenne sie jetzt erst, mit wem sie es gerade zu tun hatten: "Achso, das sind Töchter der Hecate, eine unabhängige Hexenschwesternschaft, die in Griechenland sehr mächtig und gefragt ist. Ja, die können sicher mentiloquieren."
"Jetzt ist es genug!! Wir ziehen uns nach Nordafrika zurück, suchen einen geschützten Lagerplatz und bleiben da bis null fünfhundert hiesiger Ortszeit. Also, alle Mitglieder des Übungstrupps Ägäis mir nach!" befahl Majorin Seidenspinner.
Als sie sich der nordafrikanischen Küste näherten sollte Albertine Steinbeißer aufklären, wo sie sicher landen konnten, ohne vor dem nächsten Abflug entdeckt zu werden. Diese bestimmte einen dreihundert Meter aufragenden Hügel am Rande der libyschen Wüste. Da es schon auf Mitternacht zuging hatten sie nun noch fünf Stunden, um weit genug auszuruhen, um das Geheimnis des verhüllten Ortes zu ergründen.
Von den Hecatianerinnen und der Truppe aus Deutschland unbemerkt glitt ein mit mehrstufiger Tarnbezauberung verhülltes Boot mit Hilfe der aus Wellen und Wind gezogenen Vortriebskraft durch die Dünung der Ägäis. An Bord war nur eine einzige Person, die zum teil koboldstämmige letzte wirkliche Getreue Ladonnas, Diana Camporosso, die wegen Ladonnas Beschluss, Deeplooks Seelnglashelm durch ihr Leben zu tragen bei den Kobolden des früher so allgegenwärtigen und mächtigen Geheimbundes der zehntausend Augen und Ohren auch Gradanoxa Deeplook, Trägerin Deeplooks genannt wurde.
Diana beobachtete die scheinbare Übung der fünf Harvey-Besenfliegerinnen. Dabei erkannte sie, wie gut es war, nicht gleich zu jener Stelle hingefahren zu sein, an der Ladonnas Insel sein sollte. Denn sie erkannte, dass die eine, die diesen Punkt mehrmals überfflog, offenbar magische Sehhilfen trug, mit denen sie unsichtbares erkennen konnte. Ihr Glück war, dass sie mindestens drei Kilometer entfernt war und somit außerhalb der Sichtweite der meisten magischen Fernrohre. Dann beobachtete sie noch, wie einundzwanzig ungetarnte Besen mit ausschließlich Hexen heranflogen und die einundzwanzig erst eine Schale aus dauerhaftem Eis und darum herum eine blaue Lichtblase formten und dieses Gebilde dann über einer Stelle des Meeres fest verankerten. "Gut, ihr wollt auf die Insel. Ich will da auch hin. Dann mache ich eben auch hier fest", dachte Diana und ließ den unter dem Kiel in einer Lagerung verstauten Anker hinuntergleiten, bis er sicher fasste. Sofort stand das Boot sicher wie auf steinernem Boden. Die Wellen umliefen es nun. Nur die mit den magischen Sehhilfen oder Kunstaugen mochte erkennen, dass die Wellen von etwas um einen zehn Längen durchmessenden Kreis herumgelenkt würden. Diana stellte ihr Weitblickfernrohr so ein, dass es sofort warnte, wenn sich jemand zu Wasser oder durch die Luft näherte. Sie befestigte es auf einem Kugelgelenk auf einem stabilen Dreifuß und wirkte einen Rundschwenkzauber, der das Rohr in einer halben Minute einen Vollkreis beschreiben ließ und dabei gemäß seiner Blickwinkeleinstellung immer wieder nach oben und unten auspendelte, um möglichst alles über dem Horizont abzudecken.
Als das erledigt war legte sich Diana in den mitgebrachten wasserdichten und gleichwarm bezauberten Schlafsack. Deeplook hatte den ganzen Abend geschwiegen. Natürlich bekam der in ihrem Körper gefangene Geist des Geheimbundgründers alles von ihr mit. Doch er konnte sich nur mit Worten daran beteiligen. Offenbar fügte sich Deeplook endgültig in sein Schicksal, der innere Berater von Ladonnas Nachfolgerin zu sein, bis diese starb und sich erst dann der Glashelm mit seiner eingefügten Seele von ihr löste.
Der dritte Dezember begann für die Truppe um Albertrude Steinbeißer schon um halb fünf osteuropäische Zeit. Die Hexe mit den magischen Augen wurde von der morgenfrischen Iduna Apfelzweig geweckt. Dabei verschwanden die unsichtbaren Meldezauber, die Albertrude in ihrem Zimmer überwachten. Um zehn vor fünf wurde das Zelt mit allen Vorräten zusammengepackt und als gerade mal serviettengroßes Paket in der Ausrüstungstasche von Leutnant Kirschholz verstaut. Sie aßen alle noch Sättigungskekse, damit sie über den Tag keinen Hunger mehr hatten. Als Albertrude von jeder trupplerischen Disziplin entkoppelt einwarf, dass sie alle dann auch saugstarke Windeln tragen mussten, um nicht unterwegs die Nachttöpfe aus dem zusammengefalteten Zelt herausholen zu müssen präsentierte Majorin Seidenspinner eben solche Ausscheidungsvertilger, wie sie bei den Truppen genannt wurden, um die Mitglieder nicht mit Säuglingen und Kleinkindern gleichzusetzen. Albertrude grinste, als die Majorin nicht hinsah.
Punkt fünf Uhr, oder auch null fünfhundert, wie die Lichtwachen es nannten, ging es auf den unsichtbaren Besen von Libyen fort hinaus aufs Meer und mit Kurs auf jene Stelle, wo die geheimnisvolle Insel sein sollte.
Der Flug dauerte bis an die vier Stunden. Dann erreichten sie den fraglichen Punkt, der heute zum dreh- und wohl auch Wendepunkt der Ereignisse werden mochte. Albertrude hielt bereits Ausschau, ob sie bei Tageslicht besser sehen konnte. Vor allem sah sie die Hecatianerinnen in ihrem schalenförmigen Floß aus magischem Dauereis. Das Floß trieb zielgenau auf jenen Punkt zu, den Albertrude gestern eindeutig ausgemacht hatte. Dann sah Gertrude Steinbeißers Erbin im Aurensichtmodus den umgestülpten Trichter. Doch der glich nun mehr einer Kuppel, die sich bis zu einem Kilometer aus dem Wasser heraus wölbte. "Melde, voraus magisch erkennbare Tarn- und Schutzkuppel, womöglich von Außenwelt abgeschottete Insel. Durchmesser am unteren Rand an die zweitausend Meter. Scheitelpunkt über Meeresspiegel an die eintausend Meter!" verkündete Albertrude über den Vocamicus-Zauber.
"Die Enthüller für Harvey-Besen zeigen keine Kuppel, nur freies Wasser", ergänzte Isolde Kirschholz, die ein solches Gerät führte.
"Fräulein Steinbeißer, unsichtbarer Anflug aus Süden in Minimalflughöhe. Meldung bei Erkennung von abgeschirmtem Ort! Berührung mit Kuppel vermeiden!"
Albertrude bestätigte mit "Jawohl, Major Seidenspinner" und startete auf ihrem Besen durch. Sie trieb ihn erst einmal auf doppelte Beinlänge nach unten. Sie fühlte die von den Wellen verdrängte Luft als Auf- und Gegenwind. Doch damit wurde der Harvey noch fertig. Sie trieb den Besen auf die von den Herstellern empfohlene Reisegeschwindigkeit von 150 Stundenkilometer und genoss die ruckelige Partie durch die Luftverdichtungen. Was hatte Gertrude früher als junge Hexe wilde Besenausflüge gemacht? Damals gab es schon Polsterungszauber und den ersten Ansatz von Trägheitsausgleichern. Aber damals waren die Besen noch wie wild eingefangene und ungerittene Pferde, auf denen junge Männer und Frauen ihren Wagemut bewiesen, bis sie abgeworfen wurden. Dann war die Kuppel voraus. albertrude bremste jedoch nicht ab. Sie imaginierte jenen Vulkankegel, den sie gestern für wenige Sekunden gesehen hatte und steuerte weiter auf die Kuppel zu. "Heh, nicht zu nahe ran!" hörte sie hinter sich eine Stimme. Das war Flavia Buchenhain. Hatte dieses paranoide Frauenzimmer von einer Majorin ihr doch glatt die beste Besenfliegerin von 1993 aus dem Haus Taubenflug an den Besenschweif gehängt. Gut, dann eben ein schön wildes Überflugmanöver, dass allen die Ohren schlackerten. Sie zog den Besen knapp fünfzig Meter vor der Kuppel in den fast senkrechten Aufstieg nach Rosselini und jagte, sich immer noch der Kuppel nähernd, mit über 150 Stundenkilometern nach oben, bis sie den Scheitelpunkt der Kuppel genau unter sich hatte. "Nicht zu schnell, sonst brechen Sie noch durch die Zeitmauer!" rief Flavia Buchenhain ihr ohne magische Unterstützung hinterher.
"Ach, bin ich schon so schnell? Dann muss ich aufpassen, dass mich kein Blitz trifft", rief Albertrude nach hinten und drehte das linke Auge in seiner Höhle so, dass sie trotzdem den Kurs voraus absichern konnte.
"Was zur galoppierenden Gorgone und ihren Schwestern sollte das denn werden?!" bellte die Majorin, als die beiden Ausflüglerinnen zum Sammelpunkt zurückkehrten.
"Habe befehlsgemäß die Kuppel angeflogen und deren Ausmaße bestimmt, Major Seidenspinner. konnte erst eine Landschaft unter der Kuppel erkennen, als die von Ihrem Befehl abgedeckte Maximalannäherung erreicht war und ich durch den Scheitelpunkt sehen konnte."
"Einzelkämpferin, wie? Keinen Respekt vor erteilten Anweisungen, was? Ich sagte nur Annäherung und Vermeidung der Berührung. Wir wissen nicht, was hinter der Abschirmung ist, ob diese überhaupt jemanden durchlässt."
"Sie leitet um, Majorr Seidenspinner. Da sie mit dem von mir gestern abend beobachteten Trichter identisch ist kann ich dies mit absoluter Sicherheit feststellen. Jemand, der die Kuppel nicht sieht bemerkt nichts von der Umleitung. Unauffindbarkeitszauber wie bei Feensand, der Insel der hölzernen Wächterinnen, sowie, wenn den britischen Chroniken zu trauen ist, auch Avalon", erwiderte Albertrude.
"wir sind hier weder im Urlaub, noch bin ich Ihre Schülerin, Fräulein Steinbeißer. Also halten Sie sich ab sofort an alle meine Anweisungen oder tragen Sie die Konsequenz für ihre Impertinenz! Ist das verstanden!"
"Ja, habe ich. Wenn ich nicht tue, was Sie sagen hat das Konsequenzen", fasste Albertrude die harsche Anweisung zusammen und musste innerlich grinsen. Denn dass sie sich bald nicht mehr an die Anweisungen halten würde war sicher. Ja, und das würde natürlich auch Konsequenzen haben.
"Gut, ich gestatte den Eindringungsversuch bei minimaler Annäherungsgeschwindigkeit, die Damen Steinbeißer und Buchenhain. Leutnant Kirschholz, Sie übernehmen Rückendeckung und Beobachtung in zwanzig Besenlängen entfernung bei gleicher Flughöhe! Bei erfolgreichem Eindringen in umhüllten Bereich eine Minute freier Flug zur Aufklärung, dann unverzügliche Umkehr. Falls Umkehr erfolglos Vocamicus-Anruf an uns oder Mentiloquismus-Anruf von Ihnen an mich, Leutnant Buchenhain!"
"Verstanden", sagte Albertrude. "Zu Befehl, Frau Major", bestätigte Flavia Buchenhain.
Erst ging es wieder im schnellen Flug auf die Kuppel zu. Dabei meldete Albertrude, dass die Hecatianerinnen auf ihrem Eisfloß von Nordwest her auf das Ziel zusteuerten. "Erst mal nicht beachten! Befehl wie erteilt ausführen!" schnarrte Majorin Seidenspinners Stimme über den Vocamicus-Zauber.
"Werde ich froh sein, wenn ich diese Zinnsoldatin nicht mehr länger beachten muss", dachte Gertrudes Erbin und steuerte nun mit stark verzögertem Besen auf die blau-grün flirrende Kuppel zu. In nur einem halben Kilometer Entfernung sah sie den Vulkankegel, der von einem schwarzen Felsenstrand umsäumt wurde. "An eine Vulkaninsel mit schwarzem Felsenstrand denken, Leutnant Buchenhain. Das dürfte den Durchlass öffnen", sagte Albertrude über Vocamicus-Zauber. Dann erfolgte die Berührung mit der flirrenden Kuppel.
"Die wollen in die Kuppel eindringen. Offenbar enthüllte sich dort eine Insel, Schwestern. Wir dringen auch vor", befahl Ponthophila Anastasios, die von den drei Müttern ihres Ordens eingeteilte Erkundungsleiterin der einundzwanzig Töchter Hecates. Sofort wirkten die vier Wasserbändigerinnen, zu denen auch Ponthophila gehörte, den entsprechenden Vortriebszauber. Da sie auf einem Floß aus Dauereis fuhren und von einer dem Wasser verbundenen Schutzblase umhüllt wurden brauchten sie weder Segel noch Ruder noch eine Art von Schraubenantrieb, um auf die fünffache Wellengeschwindigkeit zu beschleunigen. Jene, die sich mit Erde und Feuer befassten summten eine Anrufung der Urmutter, um ihnen den Weg auf die unsichtbare Insel zu weisen. Dann berührte das Eisfloß die Kuppel.
Es glühte für eine Sekunde hellblau, aber noch nicht blendend. Es ruckelte heftig. Die blaue Schutzblase beulte sich ein und dann mit leisem Pjung-Laut wieder aus. Dann traf die magische Abschirmung auf schwarzes Lavagestein. Das Floß wurde angehoben und in nur einem Meter über dem Felsboden weitere fünfzig Meter auf den Strand befördert, bevor die Kraft versiegte und das Floß mit leisem Knirschen aufsetzte. "Beschwört alle Schutzkräfte für Körper und Geist und dann sendet die Kräfte des Frostwalls zurück zu den Gefügen des Wassers!" befahl Ponthophila Anastasios und zielte bereits auf sich, um ihre eigene Anweisung zu befolgen.
Nur eine halbe Minute später löste sich die blaue Kuppel in dem Meer entgegenfligende Funken auf. In einen durchsichtigen bunt flirrenden Mantel aus mehreren ineinandergreifenden Schildzaubern entstiegen die einundzwanzig Töchter Hecates ihrem eisigen Fahrzeug und betraten als nächste das seit Jahrhunderten vergessene Eiland. sie wussten nicht, dass bereits jemand anderes auf der Insel war. Sie wussten nur, dass ab nun ein Wettlauf stattfand, der Wettlauf zum letzten Erbe der Ladonna Montefiori.
Anthelia/Naaneavargia hütete sich davor, das Wasser zu berühren oder näher als zehnfache Rufweite an die deutlich sichtbare blaue Blase heranzufliegen. Sie hatte einen gehörigen Respekt vor den Hecatianerinnen und ihrer jahrtausende alten Magie. Außerdem galt ja offiziell noch ein Stillhalteabkommen mit jenen Hexen, auch wenn der Grund dafür seit nun einem Jahr und einem Tag aus der Welt war. Doch wegen der anderen Hexenfeinde auf der Erde war es noch nicht zum Bruch der Übereinkunft unter Schwestern gekommen.
Anthelia näherte sich dem Punkt, an dem die Insel sein sollte um kurz vor zehn. Da sie weder Albertrudes magische Augen noch ein damit vergleichbares Ersatzgerät mitführte nutzte sie ihre eigenen besonderen Sinne. Sie hielt sich an den Verlauf der Eisenweiselinien, was die modernen Menschen Erdmagnetfeld nannten. Sie fühlte, dass die unsichtbaren Linien von etwas ganz schwachem, nicht magnetischem oder elektrischen in eine bestimmte Schwingung versetzt wurden. Sie steuerte auf die Quelle dieser Schwingungen zu. Dabei dachte sie daran, dass sie, eine Hexe, dem Ruf Ladonnas folgte und auf die Roseninsel wollte, um dort das Erbe anzutreten. Sie stellte sich dabei auch den in der von Marga erwähnten Aufzeichnung geschilderten Vulkankegel vor und dachte an einen grollenden, rauch ausstoßenden Berg. Dann berührte die Unsichtbarkeitsaura ihres Besens eine andere magische Kraft. Der Besen ruckelte, wollte nach rechts ausbrechen, dann flog er weiter. Unter Anthelia lag sie, von einem tiefschwarzen Strand umschlossen, mit einem unbewachsenen Bergkegel in der Mitte, die Roseninsel, Ladonnas letzte Bastion auf dieser Welt, ihre Piratenhöhle, wie es Marga scherzhaft behauptet hatte.
"Gleich werde ich wissen, ob ich als Tochter der Magie willkommen bin oder bereits abgewisen werde", dachte Anthelia. Doch weil sie jenen Granitwürfel in ihrem scharlachroten hautengen Kostüm trug, der sie gegen Erdkräfte abschirmte, konnten ihr die übrigen Urelemente der Welt, Feuer, Wind, Wasser, lebender Geist und eisige Dunkelheit gefährlich werden.
Sie landete zunächst am Fuß des Vulkans. Sogleich fühlte sie das leichte Zittern des eingesteckten Granitwürfels. Ja, hier wirkten Erdkräfte, womöglich in Verbund mit Wasser und Feuer. Anthelia dachte erst an die ihr zugespielten Beschreibungen. Dann zuckte sie mit den Achseln und wischte diese Gedanken fort. Sie musste unterstellen, dass Albertrude ihren deutschen Mitschwestern nicht alles wahrheitsgemäß erzählt hatte. Denn es war ja schon falsch gewesen, dass die Insel erst einen Monat nach dem verstrichenen Jahr auffindbar und betretbar sein würde. Auch hatte Albertrude behauptet, nur die Ladonna weiterhin treu ergebenen Schwestern könnten in den Hort der Rosenkönigin vordringen. Falls das zutraf würde für jede Hexe außer jener, die diesen magischen Bogen erhalten hatte oder jenen, die sich immer noch zu ihr bekannten die Reise am Berg zu Ende sein. Was wollte sie dann hier? Also ging sie davon aus, dass das alles nicht stimmte und falls doch, dass sie es von sich abhalten oder ganz aus dem Weg räumen konnte. Ihr war klar, dass Albertrude und andere hinter Ladonnas Erbe Her waren.
Anthelia saß auf ihrem Besen auf und stieg in weitläufigen Spiralwindungen um den Berg herum höher und höher. Dabei tastete sie mit den über den Zauberstab gebündelten Gedanken nach besonderen Stellen. Sicher konnte sie einen Geheimtürenfindezauber wirken. Doch je größer die abzusuchende Räumlichkeit, desto anstrengender wurde der Zauber. So wie sie es machte war es besser.
Ja, da waren glatte Flächen, die unter ihren gebündelten Gedankenfingern spürbar vibrierten. Also wirkte in ihnen eine Magie, die sie am Ort hielt.
Anthelia umkreiste den Berg erst von unten nach oben. Sie blickte in den fünfzig Meter durchmessenden, wie ein gieriger Schlund klaffenden Krater hinunter, dessen Sohle an die zweihundert Meter tief lag. War dort der Eingang in Ladonnas Schatzhöhlen?
Sie umflog den Berg noch einmal in Abwärtsspiralen. Ja, sie hatte sich nicht geirrt. In den genauen Unterteilungen Osten, Südosten, Süden, Südwesten, Westen, Nordwesten und Norden lagen jene glatten Flächen. Anthelia erkannte sogar, dass die im Norden fast am Fuße des Berges lag. Dann stimmte zumindest die Aufzeichnung, dass es dem Sonnenstand entsprechende Zugänge gab. Ja, nur wer den Eingang wählte, der genau zur Sonne ausgerichtet war konnte Zutritt erhalten. Tja, Ladonna war doch ein Naturkind mit Respekt vor der Sonne und der Erde.
Als Anthelia auf der Sonnenzugewandten Seite des Berges in nur einem Meter Höhe im Schwebeflug verharrte um weiter unsichtbar zu bleiben erfasste sie wie aus dem Nichts erklingende Gedankenausstrahlungen. Jemand anderes war auf die Insel vorgedrungen. Dann erkannte sie eine von ihnen, Albertrude Steinbeißer. Noch war sie auf der südlichen Bergseite. Doch Anthelia wusste, dass sie sie bald ausmachen und vielleicht an ihre Kollegin weiterverpetzen würde. Dann hörte sie noch einen Chor aus singenden Frauenstimmen, die auf Altgriechisch die Verbundenheit der Urkräfte besangen. Auch die einundzwanzig Töchter Hecates waren angekommen. Anthelia überlegte, ob sie auf der Insel apparieren konnte. Doch womöglich wirkte hier ein Locorefusus-Zauber oder ein brutaler Locattractus-Zauber, der jeden Apparierversuch in einer tödlichen Falle enden ließ. Was war hier am tödlichsten? Wohl die immer noch tief unter der Insel glimmende Feuerkammer des Vulkans. Da musste sie ohne die in Kraft gesetzte Klinge Yanxothars nicht eindringen. Vielleicht ging aber der Feuersprung. Ja, das musste gehen, wenn sie genau wusste, wie ihr Zielort aussah. Doch weil sie dies nicht wusste fiel auch diese Möglichkeit erst einmal aus. Dann überlegte sie, ob sie zumindest in den Berg hinein durch die Erde reisen konnte. Doch wegen des Würfels und der hier wirkenden Erdkräfte war das auch nicht möglich. Jetzt galt erst einmal, den Berg zwischen sich und Albertrude zu bringen, damit sie sie nicht sah. Sie saß auf ihrem Besen auf und raste um den Berg herum. Als sie mitbekam, dass Albertrude auf der Südseite war verharrte sie um zu hören, wo sie weiter hinfliegen würde. Deshalb blieb sie erst einmal eine Minute lang in der Schwebe, bis sie gefahrlos weiterfliegen konnte. Sie wusste nicht, wie knapp sie ihrem eigenen Tod entgangen war, und dass sie nicht die erste auf der Insel war.
Diana Camporosso war schon früh am Morgen losgefahren und steuerte behutsam jenen Punkt an, an dem sie die Insel wähnte. Als sie die Stelle erreichte stellte sie sich vor, einen Vulkan mit Feuer und Rauch vor sich zu sehen und einenStrand aus abgekühlten Lavabrocken. Ihr Boot ruckelte und gab einen befremdlichen Summton von sich. Gleichzeitig war ihr, als erbebe ihr lebenslang unabnehmbarer Helm. Dann flimmerte die Luft, und wortwörtlich wie hingezaubert lag sie vor ihr, die Insel. Diana Camporosso blickte in die Sonne. sie begoss den Berg mit orangerotem Licht. Sie war angekommen. Sie war die erste. Jetzt galt es, in den Berg einzudringen und in dessen inneren nach dem Raum der Entscheidung zu suchen. Wenn sie die erste war und keinen Weg fand, sich zum eigentlichen Schatz durchzukämpfen würde sie wohl auf ihre Gegenspielerinnen warten müssen. Einundzwanzig Hecatianerinnen und fünf Hexen aus Deutschland, von denen ihr die mit den magischen Sehhilfen wohl am gefährlichsten werden mochte.
Sie verließ das Boot zwischen zwei unförmigen, mindestens vier ihrer Längen hohen Lavabrocken und holte ihren eigenen unsichtbar machenden Besen hervor. Sie saß auf und flog mehrmals um den Berg herum. Mit den Gläsern des wahren Blickes sah sie sofort, wo die mit aufgeklebter Lava getarnten Türen waren. Doch als sie in die Nähe der der Sonne zugewandten Tür kam fühlte sie eine verdammt vertraute Kraft, geschmiedetes Eisen. Ja, und nun sah sie es auch, eine durchgehende Eisenplatte und einen dito Türrahmen. Dahinter begann ein Gang, in dessen Boden, Decke und Wänden spitze Eisenstücke steckten. Dieser Zugang war für Kobolde unzugänglich. Aber sie war ja auch eine Hexe. Sie landete vor der Tür und zog die Kapuze ihrer besonderen Schutzkleidung über, um ohne eigene Anstrengung unsichtbar zu werden. Dann zog sie ihren Zauberstab und zielte auf die Tür. "Alohomora!" Pong! silberne Funken sprühten, Dianas Zauberstab erzitterte. Mehr geschah nicht. Das wäre ja auch zu einfach gewesen, dachten Deeplook und Diana zugleich. Doch gerade deshalb mussten die einfachsten Dinge zuerst ausgeschlossen werden. Jeedenfalls fühlte sie die hier vibrierenden Kräfte der Erde und sicher noch anderer Elemente. Sollte es sein, dass sie sich doch mit Gewalt Zugang verschaffen sollte?
Diana Camporosso alias Gradanoxa Deeplook stieg wieder auf ihren Besen. Der flackerte wild. Klar, zwei verschiedene Unsichtbarkeitszauber stritten um den Vorrang. Sie zog die Kapuze wieder vom Kopf um nur die Kraft des Harvey-Besens wirken zu lassen. Dann flog sie immer wieder um den Berg herum und tastete ihn mit verschiedenen Erkennungszaubern ab. Dabei fand sie heraus, dass in dem Berg etwas wie ein Strömungskreislauf wirkte, vergleichbar mit dem Blutkreislauf von Mensch und Tier. Wo ein Kreislauf war gab es auch ein Herz. Das suchte sie nun. Doch es hielt sich versteckt. Dann fiel ihr wieder ein, dass nur wer das Passwort "Rosa Ignis Nova" dachte durch die Tür gelangte. Aber das ging nicht, weil sie den Helm trug, der ihre Gedanken nach außen abschirmte. Vielleicht ging es, das Passwort zu sprechen.
Sie flog zurück zur sonnenzugewandten Tür. Dann rief sie das Passwort "Rosa Ignis Nova!" Doch die Tür blieb zu. "Sie kann dich nicht als denkendes Wesen erkennen, solange du mit meinem Helm verwachsen bleibst", erklärte Deeplook mit einer Mischung aus Missmut und Enttäuschung. Also war ihr der von Ladonna angebotene Zugang verwehrt. Dann blieb ihr eben nur die Gewalt oder eine List. Sie dachte daran, dass sie sich mit dem Fünffachsteinbrenner aus ihrer Ausrüstung einenWeg durch die dicksten Granit- und auch Diamantwände brechen konnte. Doch wenn ihr jemand die Tür aufmachte, warum nicht.
Diana Camporosso versteckte sich trotz ihrer Unsichtbarkeit zusätzlich unter einem Felsüberhang und prüfte, wie dick die Wand war. Dann hörte sie das nur für ihre feinen Ohren vernehmbare Schwirren eines fliegenden Besens. Sie blickte sich um und sah die typische Aura eines Harvey-Besens, der sich und eine Hexe unsichtbar hielt. Sie erkannte die Hexe sofort. Ladonna hatte sie ihr in allen Einzelheiten beschrieben. Auch die lange Hülle, die neben dem Rucksack der Hexe über deren Rücken lag konnte sie zuordnen. Die Feuerschwertkämpferin, die schwarze Spinne war angekommen und würde genau wie sie nach der Tür zum inneren des Berges suchen. Diana überlegte, ob es nicht die Gelegenheit war, neben dem Bogen des Anhor auch die magische Feuerklinge zu ergattern. Allein das wäre schon eine enorme Steigerung ihrer eigenen Macht. Sie beobachtete, wie die andere um den Berg herumflog und dann vor der sonnenzugewandten Seite über einem Plateau verhielt. Diana griff nach der kleinen Tasche, in der ihre mächtigste Waffe und die Pfeile verstaut waren. Sie öffnete sie und... "Einhalt! Wenn du sie hier tötest musst du wieder warten, bis jemand die Tür öffnet!" rief Deeplooks Stimme in ihren Gedanken. Diana hätte fast den Bogen fallen lassen. So klar konnte sie die andere Sehen. Doch dann wurde ihr bewusst, dass es wirklich ein Fehler war, die Feuerschwertträgerin jetzt schon zu töten. Außerdem musste sie dann den Pfeil zurückholen. Dann fiel ihr noch was ein. Vielleicht würde das Schwert sie nicht als seine Herrin annehmen. Ladonna hatte was behauptet, dass das Schwert beseelt sein mochte. Na und! Das Schwert würde jedem gehorchen, der seinen Vorbesitzer tötete. So war das doch auch mit dem unbesiegbaren Zauberstab, der nach der Schlacht von Hogwarts verschwunden war. Doch jetzt durfte sie die andere noch nicht töten.
Dann kamen noch andere, die Hecatianerinnen, eine für Diana fremde Sprache zu folgen.
Diana Camporosso erkannte auch, dass zwei von den fünf anderen Hexen auf Besen heranflogen. Sie musste machen, dass sie wegkam. Denn die andere konnte sie irgendwie sehen.
Sie schwirrte um den Berg herum und erkannte dabei, dass sie genau auf die Feuerschwertträgerin zuflog. Sie bremste und segelte lautlos über diese hinweg. "Die bekommt dich nicht mit, weil du keine nach außen dringenden Gedanken hast", freute sich Deeplook.
"Ich muss in den Berg, bevor die eine oder die anderen eine der Türen aufmachen", dachte Diana. "Sieh, wo die anderen landen und geh von der Gegenseite an den Berg heran. Dann öffne dir einen Weg mit dem Brenner und betrete die Höhlen. Ladonna hat sicher nicht damit gerechnet, dass jemand sich direkt durch die Wände Einlass verschafft", soufflierte ihr Deeplook, was sie tun sollte.
Sie beobachtete noch, wie die Hecatianerinnen um den Berg herumflogen. Dann fiel ihr ein, wie sie es machen konnte. Die Gänge in den Berg mochten für Kobolde unpassierbar sein. Aber in den Fuß des Berges hinein und langsam bis zu einem freien Gang hinauf war möglich.
Diana landete auf der Sonnenabgewandten Seite, zog erst die Kapuze wieder über den Kopf und steckte dann den Besen in das mitgebrachte Rauminhaltsvergrößerte Futteral. Dann konzentrierte sie sich und stampfte mit einem Fuß auf. Sofort sackte sie in den Erdboden, ohne dass dieser zur Seite auseinanderbrach. Sie tauchte wie in trübes Wasser und sank an die zwanzig Meter in die Tiefe. Sie fühlte, wie die hier wirkenden Erdkräfte an ihrer Rüstung rüttelten. Dann schob sie sich nach vorne. Es war anstrengend. Zum einen war sie keine reinblütige Koboldin. Zum zweiten wühlten die hier wirkenden Erdkräfte das Gestein auf. Dennoch schaffte sie es, nach den Magnetfeldlinien der großen Mutter sicher in den Berg hineinzutauchen. Dabei sah sie um sich herum rote und orangerote Entladungen. Hier wirkten auch feuerkräfte. Nur ihre Vollstreckerinnenrüstung schützte sie davor. Jetzt galt es, auf schmiedeeiserne Hindernisse im Gestein zu achten. Die Gläser des wahren Blickes halfen ihr, sich ihren Weg zu ertasten, bis sie aus einer wie schwappender schwarzer Teer wirkenden Oberfläche auftauchte und sofort auf festem Grund stand. Sie sah sogleich die blauen, roten, grünen und silbernen Lichtfäden, die hier ausgelegt waren und um sie herumliefen, ohne sie festzuhalten. Das war wohl ein Meldezauber. Doch der meldete sie nicht. Sie war im Berg. Doch dann sah sie, dass sie nur in einer kleinen Höhle war. Sie musste sich einen richtigen Gang suchen.
Anthelia traute ihrem Gedankensinn nicht, dass Albertrude nach nur einer Minute Überflug wieder zurückflog und mit ihrer Begleiterin die Insel verließ. Sie hätte jetzt gedacht, dass diese die Gelegenheit nutzen würde, sich der Aufpasserin zu entledigen. Dann wurde ihr klar, dass das zu früh gewesen wäre. Sie musste alle Aufpasserinnen auf einmal ausschalten. Wie sie das machen wollte bekam Anthelia nicht mit, weil da immer wieder etwas die Gedanken verfremdete und teilweise ganz verstummen ließ. Also war das wohl ein Divitiae-Mentis-Geheimnis. Jedenfalls hatte sie gerade freie Bahn und eilte auf ihrem Besen zur sonnenzugewandten Tür zurück. Sie stellte sich demonstrativ davor hin und berührte sie mit dem Zauberstab: "Ich, eine treue Dienerin Ladonnas, will dort hinein. Neue Feuerrose!" dachte sie auf Lateinisch. Unvermittelt klickte und rasselte es. Dann schwang die mit kleinen Bimssteinen getarnte Tür geräuschlos nach innen. Anthelia prüfte schnell, ob ihr gleich an der Schwelle ein tückischer Fluch auflauerte. Tatsächlich war dort eine Art Vorhang. Die oberste der Spinnenhexen schickte drei Fluchbrecher aus, die alle Ziele fanden. Doch dafür wollte die Tür wieder zufallen. Anthelia bündelte ihre Gedanken und stemmte sich mit ihrer telekinetischen Kraft gegen die Tür. Sie würde sich wieder schließen und verriegeln. Gerade soeben schlüpfte sie noch durch den immer kleiner werdenden Türspalt. Dann stand sie in einem Gang aus reinem Obsidian. Doch ihr Gefühl für die Erdmagnetlinien verriet ihr, dass in Boden, Wänden und Decken Eisenablagerungen sein mussten, nein, keine Ablagerungen, sondern Eisenstücke. Die Tür fiel laut und hohl nachhallend zu. Es wurde schlagartig dunkel. Doch dann entflammten an der Decke Kristallsphären erst orangerot, dann sonnengelb. Anthelia hörte eine geisterhafte Stimme aus leerer Luft: "Sei du die erste, die sich bereitmacht, meine Nachfolgerin zu werden oder in diesen Mauern zu sterben. Doch nur wenn du immer die richtigen Worte denkst, wirst du zur Halle der Entscheidung finden, die im Herzen aller Kräfte liegt."
Das war Ladonnas Stimme gewesen, dachte Anthelia. Glockenhell, makellos und gnadenlos. Sie hieß sie willkommen, obwohl sie sich den Weg herein erschummelt hatte. Aber vielleicht war das auch nur ein Test gewesen, wie arglos oder entschlossen eine Anwärterin durch eine offene Tür gehen würde. Anthelia beschloss, ab jetzt keine Fluchbrecher mehr zu benutzen, sondern immer den Satz zu wiederholen: "Ladonna, ich bin deine treue Dienerin. Neue Feuerrose." Ja, so ging es wohl. So begann sie ihren Weg zum Herzen der Kräfte. Was das war wusste sie als Erdvertraute natürlich. Damit war der magische, nicht unbedingt der räumliche Mittelpunkt eines Ortes gemeint, an dem alle natürlichen Elementarkräfte zusammenwirkten. Diesen Ort musste sie finden. Auch wie das ging hatte sie als Anthelia und Naaneavargia gelernt.
"Da sind acht Türen im Berg. Im Krater ist kein Eingang. Da geht es nur bis auf zweihundert Meter runter", meldete Albertrude ihren vier Aufpasserinnen, nachdem sie mit zusammengebissenen Zähnen und sehr unwillig den befohlenenRückweg angetreten hatte. Doch als sie daran dachte, dass sie sich der vier Gouvernanten gleich in einem der Räume im Berg entledigen würde beruhigte sie sich wieder. Anders ging es nicht.
"Die Hecatianerinnen sind auch unterwegs. Wir müssen schnell handeln", fügte sie hinzu.
"Durch welche Tür sollten wir eindringen?" fragte Majorin Seidenspinner diesmal nicht so überdiszipliniert und autoritär auftretend. "Durch die, wo gerade die Sonne drauffällt. So wie die Türen angeordnet sind gilt wohl, zu jeder Tageszeit die passende Eingangstür. Ab da weiß ich im Moment nicht weiter. Kann sein, dass jemand in dem Berg was versteckt oder hinterlassen hat. Sowie die Hecatianerinnen sich benehmen wissen die das genau", erwiderte Albertrude. "Und Sie, Fräulein Steinbeißer", knurrte die Majorin. "Darum geht es also unseren drei obersten Dienstherren, um eine Hinterlassenschaft eines dunklen Ordens oder einer bestimmten Magierin. Deshalb bestand Generalissimus Wetterspitz darauf, dass nur ein Trupp aus Hexen zu dieser Übung antritt. Wir sollen Ladonnas versteckte Schätze der Dunkelheit ausheben, richtig?!" Albertrude sah sie an und sagte: "So lautet mein Befehl von Minister Güldenberg höchst persönlich, Verifikationscode Drachenfels im Morgenrot." Die vier Aufpasserinnen nickten heftig. Das war der Code, der einen X-beliebigen Ministerialbeamten zum Führer einer Einsatztruppe mit Lichtwachenbeteiligung erhob. Dieser Code durfte nur einmal im Jahr benutzt und außer vom Minister oder dem Lichtwachenkommandanten von keinem an niemanden weiterverraten werden, weil dem sonst eine Hochverratsklage drohte. So sagte Albertrude: "Ich schlage vor, die Damen, dass wir nun alle fünf auf die Insel reisen, möglichst vor den Hecatianerinnen an die Tür treten und uns Einlass verschaffen. Der nur mental zu formulierende Code ist "Rosa Ignis Nova". Beim Eintreten diesen Code denken und bei jeder neuen Tür oder jeder Abzweigung oder jedem Treppenabsatz! Ist das verstanden?"
"Rosa Ignis Nova", wiederholten die vier Lichtwächterinnen einschließlich der sonst so gestrengen Majorin. Albertrude nickte. Dann befahl sie, die Insel wieder anzufliegen.
Nur zwei Minuten später durchdrangen sie mit Albertrude voran die unsichtbare Abschirmung gegen den Rest der Welt und flogen unsichtbar über die sich den Berg ansehenden Hecatianerinnen hinweg. "Die wissen noch nicht, wo sie hin müssen", teilte Flavia Buchenhain ihren vier Kameradinnen mit. "Ja, aber die haben schon eine der Türen gefunden und untersuchen sie. Das wird nicht lange dauern, bis die begreifen, dass sie in Sonnenlaufrichtung arbeiten müssen. Die Mittagstür ist jetzt noch benutzbar", entgegnete Albertrude Steinbeißer.
Sie flogen zur südlichen Tür, die fast unter dem Schlot des Vulkans war. Albertrude ließ Aufstellung davor nehmen und gab das Zeichen, während sie ihren Zauberstab auf das getarnte Türblatt richtete. Die Tür ruckelte. Dann schob sie sich erst langsam und dann schnell nach innen auf. Los alle rein, und weiter das Passwort denken", benutzte Albertrude den Vocamicus-Zauber, um weiterhin unhörbar zu sprechen.
Unerwartet hörten sie von draußen Geschrei. Die Hecatianerinnen hatten wohl mitbekommen, dass jemand die Tür aufgemacht hatte und stürmten nun heran. "Schnell alle rein!" zischte Albertrude. Sie gehorchten ihr. Was für eine Wohltat, dachte die Erbin Gertrudes und musste aufpassen, nicht überlegen zu lächeln.
"Ich versperre den Weg!" beschloss die Majorin. Albertrude nickte ihr zu. "Creato murum selectivum! Solum sagae germanicae passare possunt nunc!" Als sie das Auslösewort gewispert hatte entstand mit leisem Piff eine halbdurchsichtige Mauer aus grünem Licht. Doch nur eine Sekunde später wurde sie unsichtbar. Dann tauchten die ersten Hecatianerinnen auf ihren Besen auf. Die Besen wurden abgestoppt und wie von einer unsichtbaren Riesenhand zu Boden gezerrt. Die sechs Hexen konnten sich gerade noch davon lösen und auf ihren Füßen landen. Sie versuchten durch die Tür zu kommen. Doch eine blutrote Woge die aus einem der Gänge schoss fegte sie förmlich zurück. Sie stürzten in die Tiefe. Albertrude wollte schon sechs tote Hecatianerinnen verbuchen, als sie mit ihren Augen sah, dass ihre Kameradinnen sie im Fall auffingen und sicher zu boden sinken ließen.
"Moment, das war aber nicht unser Zauber", stellte Iduna Apfelzweig fest. Da schlug die Tür zu. Eine Sekunde blieb es dunkel. Dann flammten Kristallsphären auf. Auf Lateinisch erfolgte nun eine Begrüßung mit einer glockenhellen Frauenstimme. Da sie alle Latein konnten verstanden sie die Begrüßung und auch, dass sie jetzt auf dem Weg zu deren Erbe oder ihrem eigenen Tod waren. Albertrude sah trotz des noch wirkenden Rückhaltewalls und der verschlossenen Tür, wie die Hecatianerinnen sich vor der Tür neu versammelten und zwei von denen die Besen von den Boden hoben.
"Los weiter, die sammeln sich vor der Tür."
"Was bitte war das gerade für eine Welle, die uns verschont und die anderen weggeschwemmt hat?" fragte Iduna.
"Das dürfte der eigentliche Abwehrzauber gegen unberechtigte gewesen sein", vermutete Albertrude. Wer durch die Tür will und nicht brav das Passwort nennt wird rausgespült. Das heißt aber im Klartext, dass wenn wir nicht ständig das Passwort denken werden wir alle oder die jeweils säumige von uns als Untreu eingestuft und eliminiert, terminiert, beseitigt. Öhm, noch was. Ich hörte das Gerücht, dass Ladonna einen Schildzaubermagneten erfunden hat. Falls wir doch mal gegen was kämpfen müssen bloß keinen Schild zaubern sondern die passende Abwehr!"
"Das ist schon sehr anspruchsvoll", stellte Flavia Buchenhain fest. "Dafür sind Sie Lichtwächterin geworden, Leutnant Buchenhain", stellte die Majorin klar. Dann bat sie Albertrude, sie weiterzuführen.
"Das war wohl eine Warnung", sagte eine der jüngeren Hecatianerinnen zu Ponthophila Anastasios. "Ja, wir waren nicht erlaubt und angemeldet. Aber wie melden wir uns an?"
"Gar nicht. Wir rufen den Schlüssel der freien Wege und betreten diesen Hort auf direkte Weise", sagte Milena Myriodoi, eine Erdelementarmeisterin. Eine dem Leben verbundene Tochter Hecates warnte vor möglichen Fallen, die die unerwünschtenEindringlinge erwarten mussten, wenn bereits die Woge des verdrängten Blutes in Kraft trat. Also müssen wir den Schlüssel immer so beschwören, dass er jede Form von Ungemach erkennt und aus dem Weg schafft. Das dauert mindestens zwanzig Minuten, Schwestern." Die einundzwanzig versammelten nickten betroffen. Ihnen war klar, dass zwanzig Minuten eine Menge Zeit für die waren, die bereits in den Berg eingedrungen waren. Andererseits konnte ein gewaltiger Vorsprung an einem unüberwindlichen Hindernis zu Nichts zerrinnen, wussten sie alle aus der Ausbildung. Also gingen sie es an.
Sie brauchte doch den Fünffachbrenner. Sie holte jenes Achtkantrohr mit einem rutschfesten Griff und für Koboldfinger geeigneten Griffmulden und dem Kristall der Bündelung aus einer der Täschchen an ihrem Ausrüstungsgürtel. Sie wendete noch einmal den Zauber zur Erkennung magischer Ströme an und zielte dann mit dem Sonderwerkzeug des stark geschrumpften Geheimbundes auf eine Stelle in der Wand, in der keine Schmiedeeisenstücke sein konnten. "Akzuack!" zischte Diana Camporosso und presste die Finger in den Griffmulden bei jeder Silbe fest zusammen. Das achtkantige Silberrohr begann leise zu sirren. Gleichzeitig drang unhörbar ein hellgrüner, flirrender Lichtstrahl aus dem kugelförmigen Ausrichtungskristall und traf auf den Felsen. Eigentlich musste dieser sofort bei Berührung zu Staub zerfallen. Doch offenbar wirkte die hier anwesende Erdmagie Gesteinshärtnd. Das war also der Grund, warum sie so schwerfällig und nicht mit Erdstoßgeschwindigkeit hindurchgedrungen war. Es dauerte sieben Sekunden. Dann zeigten sich haarfeine Risse an der bestrahlten Stelle. Die Risse wurden breiter, länger und tiefer. Erster Staub rieselte aus dem Wirkungsbereich des flirrenden Strahles heraus. Die Risse wuchsen zu einem immer größer werdenden Loch zusammen. Der Strahl fraß sich in unerträglicher Langsamkeit durch das magisch gehärtete Gestein hindurch. Erst nach zwei vollen Minuten gelangte er auf die gegenüberliegende Seite und zerstäubte den Rest. Diana und Deeplook seufzten beide. Denn beiden wurde klar, dass der vom Bund der zehntausend Augen und Ohren so gefeierte Fünffachsteinbrenner auf einen ebenbürtigen Gegenspieler traf.
Nach knapp vier Minuten hatte sie endlich einen Durchbruch gebohrt, durch den sie mit ihrer vollen Ausrüstung hindurchkriechen konnte. Sie steckte den gut erwärmten Brenner zurück in die Ausrüstung. Laut Handbuch konnte er mit einer vollen Ladung Erdkraft, aufzunehmen in 24 Standardstunden, eine halbe Stunde lang betrieben werden. Von dieser halben Stunde hatte sie also schon fünf bis sechs Minuten verbraucht. Das konnte noch was werden, wenn sie den nächsten Durchbruch brennen musste.
Sie erreichte einen kreisrunden Tunnel, eher einen Kanal. Hier war sicher einst glutflüssiges Gestein hindurchgeflossen, dachte Diana mit Ehrfurcht. Laut den Zwergen und Kobolden schuf keine andere so schöne Höhlen wie die große Mutter Erde da selbst.
Durch den Lavakanal lief Diana mit hilfe ihrer Schnelllaufstiefel siebenmal schneller als ein langer Mensch. Doch sie musste immer wieder auf vor ihr ausgespannte Zauber reagieren. Diese löschte sie zum Teil mit Kraftschluckkristallen aus, die auch bei den Zauberstabträgern bekannt geworden waren. Zum Teil blockierte sie mechanische Fallen oder sprengte von ihr als solche erkannte Auslösesteine mit "Confringoo!" Wobei die Steine nicht mit Getöse zu Staub zerblasen wurden, sondern Knirschend und Knackend in Dutzende Bruchstücke zerfielen, als reiße sie etwas von außen in Stücke. Dass Diana damit nicht nur verriet, wo sie war, sondern auch dass sie damit ein tief im Berg schlummerndes Gefüge erschütterte wusste sie nicht.
Als sie eine weitere mit bösen Fratzen und gefräßigen Mäulern dargestellte Zauberfalle beseitigte konnte sie nur ihren scharfen Ohren danken, dass sie das Klicken in der Ferne rechtzeitig hörte. Etwas kam mit leisem Sirren angerast. Sie warf sich hin. Mit einem kaum hörbaren Wusch und einem sehr heftigen Windstoß sauste eine geflügelte Lanze über sie hinweg und jagte durch den Gang, bis sie mit lautem Pong von einer Wand abprallte. "Verdeckte Falle, immer wieder gerne genommen", ätzte Deeplook. Ja, das hätte sie doch wissen müssen, dass es sowas gab. Dann hörte sie, wie es hinter ihr neu zu Sirren ansetzte. Sie blieb liegen und bekam mit, wie die geflügelte Lanze mit derselben tödlichen Geschwindigkeit über sie hinwegschoss und dann viel weiter im Gang mit leisem Klack in einer Vorrichtung landete, wohl ihrem eigentlichen Wurfgerät.
"Magische Lanzen. Was macht ein guter Leitwächter und Gringotts-Sicherheitstruppler gegen sowas?" dachte Diana. "Jedenfalls froh sein, dass diese Lanze dich nicht erfassen konnte, weil die garantiert auf sichtbares und denkendes Leben zielt", erwiderte Deeplook.
Diana prüfte die fließenden Ströme und stellte dabei zum ersten mal fest, dass sie nicht mehr gleichmäßig zu einem gemeinsamen Zentrum flossen, sondern schwankten und dabei Stärke und Richtung änderten. Sie wusste nicht, ob es an ihr alleine lag oder ob nicht noch wer in den Höhlen war, welche die hier wirkenden Kräfte aus dem Lot brachten.
als sie wieder eine magische Falle vor sich sah warf sie einen kleinen, silberngesprenkelten Stein durch die lauernde Barriere. Der stein fiel auf den Boden und vibrierte. Sie beseitigte die Falle mit einem Fluch gegen Seelenpein. Die Barriere zerstob nach dem zweiten Durchgang. Wieder klickte es. Doch diesmal unmittelbar vor Diana. Sie sprang mit einem Gewaltsatz nach hinten, als aus dem Boden ein hellrot leuchtender Glutstrahl fauchte und sich zu mehreren umherschießenden Tropfen ausbreitete. Zwei davon trafen Diana an der Kapuze und zerstoben. Sie fühlte ein leichtes Ruckeln im Kopf. "Ei, da spuckt aber jemand ganz heißes Zeug. Das ist wahrhaftige Gesteinsschmelze, Lava, wie die Langen Leute das nennen", kommentierte Deeplook den neuen Angriff.
Nach zehn vollen Sekunden fiel die zu einem glühenden Pilz auseinanderstrebende Lavasäule in sich zusammen, wobei eine in alle Richtungen laufende Welle aus hellrotem Brei durch den Gang schwapte und Dianas Stiefel versengte. Sie qualmten, weil sie nicht Teil der Vollrüstung, sondern über die Füßlinge übergestreift waren. "Zwergendreck!" fluchte Diana, als sie erkannte, dass ihre magischen Schnellläufer sich gerade von ihr verabschideten, während die am Boden brodelnde Lava sich in das Loch zurückzog, aus dem sie gespritzt war. Sicher baute sich da unten wieder neuer Druck auf, um das überreichliche Ausgangsmaterial auf das nächste Opfer loszulassen.
"Zieh die Stiefel aus, die sind jetzt wertlos!" drang Deeplooks Stimme in ihr Bewusstsein. Ja, er hatte leider recht. Die Stiefel hatten der Mordshitze nicht einmal drei Sekunden standgehalten. Nur die Füßlinge der Rüstung konnten die Macht glutflüssigen Gesteins für mehr als eine halbe Minute standhalten, genug, um durch einen schmalen Lavabach zu laufen, aber nicht, um durch einen See aus diesem heißen Zeug zu waten.
Auf den Füßlingen zu laufen hatte zwar den Nachteil, dass sie nicht mehr so flink unterwegs war, bot aber den Vorteil, dass sie nun noch leiser unterwegs war. Gut, solange sie niemandem Begegnete war das unwichtig.
Die nächsten Fallen waren schon am Erscheinungsbild in den Wahrheitsgläsern als Albtraumräume zu erkennen. Glitschige, mit rotglühenden Zänen besetzten Saugnäpfen bewehrte Fangarme, zuckende Körper, an denen sich ringelnde Würmer fraßen, feurig lodernde oder tiefschwarze Spinnen und Skorpione, monströse Raubinsekten und immer wieder niedersausende Klingen, die etwas unsichtbares Zerstückelten. Doch für Diana war das alles kein Problem. Sie trat in den Fallenzauber ein und hörte ein mittellautes Summen unter ihrer Schädeldecke. Der gläserne Helm fing die Kräfte ab, die ihre eigenen schlimmsten Albträume hervorrufen wollten. Durch das Gebrumm des Helmes hätte sie beinahe einen der Auslösesteine für eine mechanische Falle übersehen. Sie stieg noch rechtzeitig darüber hinweg. Als sie nach dreißig ganzen Schritten und an drei ihr auflauernden Fallen vorbeigekommen war verließ sie den Albtraumzauber.
"Wer darauf nicht gefasst ist stürzt sich in Panik in das nächste ihn grüßende Schwert", spottete Deeplook, den dieser Parcours der magischen und mechanischen Fallen sichtlich gefiel, solange er seine Trägerin vor ihnen sicher wusste.
Dann gelangte Diana an eine verschlossene Tür, auf der ein von Flammen umgebenes Scheusal mit sechs Armen und einem Echsenschädel prangte. Sie las und übersetzte: "Willst du hindurch, beweise deine Treue und gib der Tür dein Blut. Sonst vertilgt dich meine Glut."
Diana konnte die Rüstung nicht ausziehen, ohne ihre Unsichtbarkeit aufzugeben. Doch ihre Handschuhe würden jeder Nadel standhalten. Sie zählte noch die Kraftschluckerkugeln. Es waren nur noch drei übrig. Sie hätte doch wissen müssen, dass sie mehr brauchte. Dann kam sie auf die Idee, sich an dem lauernden Feuerdämon vorbeizuschummeln, indem sie sich einen eigenen Eingang durch die Wand brannte.
Der Fünffachsteinbrenner trat wieder in Tätigkeit. Diana führte mit ihm eine Auf-Ab-Wischbewegung aus, solange, bis die Wand neben der Tür zerbröselte und Eisenstücke herausfielen. Dann begann die Tür zu erbeben und immer heller zu glühen. Der auf dem Türblatt gemalte Dämon begann seine Arme zu bewegen und immer räumlicher zu werden. Diana rannte auf den rutschfesten Sohlen der Rüstungsfüßlinge durch die von ihr geschaffene Öffnung. Sie hörte noch, wie ein lichterloh brennender Arm hinter ihrem Rücken niedersauste und ein metallisches Gebrüll erklang. "Heimtückisches Automaton, deine eisernen Eingeweide werde ich zerschmelzen.
"Automaton?" dachten Diana und ihr geistiger Untermieter. "Der Feuerdämon hält mich für ein magicomechanisches Abbild." Diana rannte weiter, während hinter ihr der aufgeweckte Feuerdämon brüllte und um sich schlug, obwohl längst nichts mehr da war, was er hätte treffen können. Offenbar war diese Art von Wächterzauber nur auf den Raum unmittelbar bei der Tür beschränkt.
Anthelia spürte die dunklen Barrieren, die auf sie lauerten. Doch sobald sie das Passwort "Rosa Ignis Nova" dachte, zogen sie sich zurück. Die mechanischen Fallen blockierte sie mit dem Bann der unverrückbaren Erde, mit dem alles aus Stein oder Metall in der gerade eingenommenen Lage blieb, bis das Lied der freien Erde darauf angewandt wurde. Mit ihren Gedankenfühlern konnte sie auch ertasten, wo weitere Fallen warteten.
Zwischendurch lauschte sie. Ja. Sie vernahm die zu verzerrten Echos ausufernden Gedanken von fünf Frauen, davon war eine Albertrude Steinbeißer, die mit ihren Begleiterinnen offenbar einen Ort suchte, wo sie sich ihrer entledigen konnte. Zumindest das konnte sie heraushören. Und sie hörte auch, dass die fünf nicht denselben Weg wie sie gingen, sondern in einem Parallelgang drei Wände weiter unterwegs waren. Das ließ sie vermuten, dass jede, die durch die Tür eingelassen wurde, in ihrem eigenen Gang laufen musste. Nur wenn mehrere zugleich durch die Tür gingen klappte das wohl nicht.
Sie riss sich von den Gedankenausstrahlungen los, als sie fühlte, dass sich die dunklen Fühler der hier lauernden Abwehrzauber zu regen begannen. Schnell dachte sie wieder an das Passwort. Die dunkle Abwehr zog sich zurück. "Vertue nicht die Zeit! Finde den Raum der Entscheidung!" hörte Anthelia die leise und tadelnd zischende Stimme Ladonnas. Das alles hier war eine reine Abfolge vorbestimmter um nicht zu sagen programmierter Vorgänge, vor Jahrhunderten festgelegt und bis heute nicht benötigt. Ladonna hatte das alles hier sicher auf ihre besondere Lebensaura abgestimmt, dass sie gefahrlos und ohne Anstrengung passieren konnte, dachte Anthelia. Doch die programmierte Aufforderung war richtig. Sie durfte nicht trödeln. Nur wenn sie eher als alle anderen an die Schätze der vergangenen Gegnerin gelangte hatte sich die ganze Reise gelohnt. Vielleicht konnte sie das alles hier austricksen und sich wahrhaftig auf Ladonnas Thron setzen. Das würde der sicher nicht gefallen. Aber was wollte sie noch dagegen tun?
Unterwegs fielen ihr außer den immer verzerrteren Gedankenausstrahlungen noch die Schwankungen der Erdmagie in den Wänden auf und sie fühlte immer wieder ein leichtes Beben durch den Boden gehen. Sie nutzte die Pause vor dem nächsten Abzweig und lotete die fließenden Erdkräfte aus. Dabei fand sie tief unten ein immer wilder wallendes Gemisch aus flüssiger Erde, Lava. Natürlich war das ein Vulkan, der noch nicht ganz erkaltet war. Doch das unhörbare Brodeln von tief unten gefiel ihr nicht.
Als sie vor einer Tür ankam, auf der ein flammenumkränzter Dämon mit sechs Armen verhieß, dass er die Tür bewachte und Blut forderte betrachtete Anthelia die aus dem Türschloss ragende Nadel. Gegen Gift war sie immun, auch gegen die allermeisten Seuchenerreger. Doch wenn ihr Blut verriet, dass sie keine treue Schwester war ...
Anthelia überlegte immer noch, ob Sie etwas Blut für einen gemalten Feuerdämon erübrigen wollte, als sie etwas mitbekam, was sie grinsen ließ und dann zur Erkenntnis brachte, dass sie jetzt besser schnell vorankommen sollte.
Albertrude und ihre vier Aufpasserinnen gingen auf der Hut vor mechanischen und magischenFallen durch die Gänge. Albertrude erkannte, dass diese sich kurz vor dem Erreichen leicht nach rechts oder links ausrichteten, sodass sie in einen von vier Gängen gerieten. Wurde somit ausgelost, wer wo entlangmusste, um sich der Prüfung zu stellen? Jedenfalls vertrauten ihr alle Begleiterinnen.
Als sie in eine größere Kammer mit einer meterhohen Decke gelangten erkannte Albertrude die leicht glühenden Spitzen mehrerer Fallgitter und hielt die vier Begleiterinnen zurück. "Ich sehe die Auslöser, unter den Bodenfliesen versteckte Lebenskraftaufspürzauber. Mal sehen, ob das Passwort hilft." Sie dachte es und wies die anderen an, es ihr gleichzutun. Es gelang diesmal nur halb. Die Spitzen in den Fallgittern glühten nicht mehr. Doch irgendwo verliefen noch schwache Magiestränge im Boden, die sich in einer der Wände sammelten und verdichteten. "Murus Solis!" rief Albertrude und hielt ihren Zauberstab der Wand entgegen. Auff Ganzer Höhe und Breite spannte sich eine von ihrer Seite her durchsichtige Mauer aus sonnengelbem Licht. In dem Moment schossen grüne Flammen aus der Wand hervor und schlugen mit einem metallischen Knall in die errichtete Mauer ein. Dann rumorte es, weil die Flammen die Sonnenlichtwand erschütterten. Diese begann zu flimmern. Albertrude erkannte, wie alle gebannt auf die gezauberte Barriere blickten und ihrerseits weitere solche Barrieren in den Raum beschworen. Da kam Albertrude der Einfall, dass es hier sein musste. Als sie sicher war, dass alle vier die Aufmerksamkeit auf das Geschehen an den Sonnenlichtmauern richteten zog sie eine nur von ihren Fingern zu öffnende Tasche ihrer Bluse auf, zog einen Gegenstand wie einen Wattebausch hervor und ließ diesen zu Boden fallen. Dann sprach sie die zwei Auslöseworte, die das, was da auf dem Boden landete erweckten. Schlagartig strahlte um sie alle herum grün-blau flirrendes Licht auf und schien von den Wänden wider. Albertrude fühlte, wie es um ihre Taille wild zuckte und ruckte. Sie hielt den Atem an und wartete, bis das grün-blaue Lichtgewitter vorbei war. Mit leisem Piff erloschen die Sonnenmauern. Albertrude warf nun noch einen kleinen blauen Quader von der Größe ihres Daumens nach vorne. Als dieser auftitschte und die grünen Flammen gerade neuen anlauf nahmen, um durch den Gang zu jagen entstand eine Wand aus tiefblauem Eis. Diese wurde blitzartig so breit und hoch wie der Saal. Die Flammen krachten dagegen und kamen nicht weiter. Albertrude sah ihre vier Aufpasserinnen, die gerade völlig besinnungslos auf dem Boden lagen. Es hatte geklappt. Die vier hatten keine Abwehrmöglichkeit gehabt.
Albertrude prüfte schnell, ob der von ihr vorsorglich mitgenommene Eiswandquader den Flammen noch standhalten konnte. Als sie zufrieden war wirrkte sie auf die vier Betäubten den Mikramnesia-Zauber und löschte somit das Gedächtnis der letzten fünf Minuten aus. Dann tat sie noch was. Sie zog aus einer anderen von außen nicht erkennbaren Tasche ihrer Bluse einen Leinenbeutel hervor. Dann sammelte sie von jeder die Besenfutterale ein und steckte sie in ihren Rucksack, den sie ganz offen mit sich herumtrug. Danach nahm sie den Lichtwächterinnen ihre Erkennungsmarken ab, die durch den Betäubungszauber mindestens fünf Minuten unabrufbar blieben und auch nicht petzten, dass ihre Trägerinnen ohnmächtig oder tot waren, zumal sie hier ja sehr weit von zu Haus waren. Als sie die Marken in jenen Leinenbeutel gesteckt hatte vollführte sie an den vieren noch einen Verwandlungszauber. Jede wurde zu einer gelben Erbse. Danach steckte sie auch diese in den Leinenbeutel und schnürte ihn zu. Danach berührte sie mit dem linken kleinenFinger ein Symbol, dass eine Sanduhr darstellte, die oben und unten halb voll war. Die Sanduhr leuchtete kurz grün auf. Damit war der an- und abstellbare Conservatempuszauber des aus Feenhaar gewebten Beutels in Kraft und verzögerte alles auf ein Zweihundertstel Geschwindigkeit und Verfallsrate, was in ihm steckte. Das würde so bleiben, bis sie den Beutel wieder öffnete.
Albertrude blickte noch einmal zu den grünenFlammen. Sie wurden immer schwächer. Nur noch einzelne leckende Feuerzungen glitten an der ebenfalls dünner werdenden Eiswand ab. Dann erstarb das Feuer. Albertrude zielte schnell nach oben und wirkte den Blockadezauber gegen mechanische Vorgänge. Danach ging sie mit ihren nun betäubten und gefangenen Begleiterinnen auf die Eiswand zu. Sie tippte sie mit dem Zauberstab an und sagte "Finis Glacies!" Die Eiswand zerrann zu blauem Nebel, der ihr polarkalt entgegenwehte und sich dann verflüchtigte. Der kleine Quader lag nun auf dem Boden, halb durchsichtig, unten noch blau. Daran las die Erbin Gertrude Steinbeißers ab, dass ihr Eiswallzauber noch die halbe Wirkungsdauer besaß, wenn er in einem ähnlich breiten und hohen Raum benutzt wurde. "Sucht keinen Streit mit einer Großmeisterin der Elementarzauber", dachte sie, bevor sie noch einmal das lateinische Passwort dachte. Daraufhin glitt die Wand beiseite, und die konservierte Stimme Ladonnas sagte: "So hast du bereits eine Entscheidung gefällt, deinen Weg alleine fortzusetzen, Anwärterin meiner Erbschaft. Erreiche nun den Raum, der die letzte Entscheidung fordern wird!"
"Dann schnell weiter!" dachte die Hexe, die außer Anthelia alle von ihrer neuen wahren Identität getäuscht hatte.
Sie nahm den kleinen Eiswandquader an sich, steckte ihn gut weg, damit er nicht noch einmal mit festem Boden in Kontakt geriet und durcheilte die offene Wand.
Sie behob mechanische Fallen oder unterdrückte Zauber, indem sie das Passwort dachte. Offenbar hatte sie durch ihren dreisten Streich mit dem von Gertrude erfundenen Flächenbetäubungszauber eine Art Vorzugsbehandlung erspielt. Denn Sie konnte nun innerhalb von nur fünf Minuten zu einer Tür kommen, auf der Ladonnas Abbild prangte. Dieses regte sich. Ihre Stimme erklang auf Italienisch:
"Würdige Anwärterin, entschlossene Schwester. Durch diese Tür tritt ein und erwarte die Ankunft der anderen Entschlossenen, die mein Erbe erhalten wollten. Warte eine Stunde und falls keine kommt lege dich auf eine der Liegen, bis die nächste Anwärterin vor ihrer Tür steht und Einlass erhalten soll. Sind mehr als zwei von euch im Raume fechtet die Entscheidung aus, wer mein Erbe besitzen und wer den Raum nimmer mehr verlassen soll. Tritt nun ein, würdige!"
Die Tür entriegelte sich. Albertrude sah auf den dahinterliegenden Raum. Es war ein Raum aus Stein, mit zwölf eisernen Türen mit silbernen und goldenen Beschlägen. An den Wänden standen einfach Pritschen mit Fellbezug zum ausruhen, bis die nächste hier hereinkommen sollte. Wohl wahr, Ladonna hatte eine Menge Zeit gehabt, das alles hier einzurichten. Albertrude durchschritt die Tür. Diese fiel wieder zu und verriegelte sich. Sie sah sogleich den silbernen Vorhang aus Zauberkraft, der sich vor die Tür senkte. Als sie auf die anderen Türen zuging fiel auch dort ein Silbervorhang. "Erwarte die anderen und findet die Entscheidung!" klang Ladonnas Stimme wieder durch den Raum.
Albertrude sah schnell mit ganzer Durchdringungskraft ihrer Augen durch die Türen und Wände. Dabei fiel ihr auf, dass hinter einer Wand ein Gang begann, die Wand jedoch aus verhärteter Lava und einer mindestens drei Zentimeter dicken, mit Eisenverstärkungszauber aufgeladenen Stahlplatte bestand. Da begriff sie, dass das wohl der Gang war, durch den die Siegerin des Entscheidungskampfes weiterkommen konnte. Sie blickte nach unten und erkannte tief unter der mit Eisenbolzen durchsetzten Steinplatte einen Drehmechanismus und auch, dass in den Plattenrändern ineinandergehakte Verschlüsse eingewirkt waren. Offenbar sollte sich der Raum nach der Entscheidung so drehen, dass eine Tür zu jenem weiterführenden Gang führte. Was würde passieren, wenn sie den Mechanismus zu zerstören versuchte? Sie blickte nach unten und oben und erkannte, dass in der Decke große, blasenförmige Einschlüsse waren, die über Kanäle mit einem weitläufigen Netzwerk verbunden waren. Da begriff sie, dass jeder Versuch, den Mechanismus zu überwinden etwas von oben herabfallen lassen mochte, Säure, Pech oder natürlich auch glutflüssige Lava. So kam sie also auch nicht in den Gang, selbst wenn sie wusste, wie sie die Vorhänge vor den Türen öffnen konnte.
"Och joh, meint die mich mit einem Wintermondvorhang aufzuhalten?" dachte Albertrude. Dann wurde ihr bewusst, dass dieser zur Zeit Ladonnas nur ganz wenigen Mondhexen bekannt gewesen war und für die meisten anderen ein schier unüberwindbares Hindernis war. Offenbar hatte sie nicht mehr daran gedacht, dass sich das in den letzten vierhundert Jahren geändert hatte, dachte Albertrude. Tja, die werte Dreiblüterin hatte so vieles nicht bedacht, ebenso wie ihre ärgste Gegenspielerin Anthelia, die trotz aller Vorkehrungen nicht darauf gekommen war, Gertrudes letzten Willen zu vereiteln, die ja damals fast in Daianiras dickem Bauch zu einer ihr gehorsamen kleinen Tochter herangewachsen wäre, wenn eine andere nicht weit genug voraussehende Hexe nicht einen Fluchumkehrzauber gewirkt hätte, der die Rollen von Mutter und Ungeborenen verändert hatte. Was musste sie nun tun, um nicht selbst in eine vorhersehbare Falle zu tappen? Erst einmal hatte sie Zeit, dachte sie.
"Wer hat diesen eigensinnigen Frauenzimmern aus Hecates unversiegbarem Schoß erlaubt, nach Ladonnas Insel zu suchen", knurrte Bonifatio Montecello auf Englisch, als er bei Minister Anaxagoras im Büro saß.
"Welche Insel?" fragte Anaxagoras unschuldsvoll dreinschauend. "Tun Sie jetzt bloß nicht so, als hätten die Franzosen Sie nicht auch mit in ihr wackeliges Boot holen wollen, in dem wir alle hätten rudern sollen. Die franzosen haben sich angemaßt, jeden darüber zu informieren, dass es eine Insel im Ägäischen Meer gibt, auf der Ladonna Montefiori alle von ihr geraubten Dokumente, Bücher und Gegenstände zusammengehortet hat, die sie in ihrer Zeit auf Erden erbeutet hat. Das ist allein unsere Angelegenheit, dieses Eiland zu durchsuchen. Unsere Delegation traf ein, als sie mitbekam, dass bereits eine Gruppe von Hecates Töchtern dort gelandet war. Unsere Einsatztruppe bemüht sich gerade, eine der Türen zu finden, die in das Innere der Insel führen. Ihre auf archaischen Mutterkult beharrenden Weibsbilder ..."
"Für einen würdigen älteren Zauberer und Vertreter eines Zaubereiministeriums benehmen Sie sich gerade sehr unreif und rüpelhaft, Signore Montecello. Ich habe den Töchtern Hecates erlaubt, die Quelle einer uneinschätzbaren Veränderung in der Erde zu untersuchen. Von einer Insel oder gar Ladonnas Hinterlassenschaften haben die nichts gesagt. Sonst hätte ich sie natürlich darauf hingewiesen, dass dies mit allen betroffenen Ministerien geklärt werden müsse, was dort liegt, falls dort noch was liegt", sagte Anaxagoras.
"Sie lügen mich an, ohne rot zu werden, Kirios Anaxagoras. Deshalb sage ich nur so viel: Unsere Spezialtruppe der italienischen Sicherheitsbehörde wird jede nichtitalienische Hexe arretieren und von der Insel schaffen, bis sie freien Zugang zu allen Hinterlassenschaften Ladonnas hat. Klingt das immer noch unreif?"
"Nein, jetzt klingen Sie wie ein Säugling, der statt bei seiner Mutter an der Brust seines Vaters saugt und sich aufregt, dass es ihn nicht satt macht", erwiderte der Minister und ertappte sich dabei, dass er das doch eigentlich nicht sagen wollte. Montecello, untersetzt, aber würdig, sprang von seinem Stuhl auf. Da sagte Alexios Anaxagoras: "Die Ägäis ist unser Meeresabschnitt. Sie haben Zugriff auf das ionische Meer und können nach einfacher Anmeldung bei uns dort frei handeln, solange keine Zaubererweltbürger Griechenlands betroffen sind. Aber die Ägäis ist unser Meer, seitdem Poseidon mit seinem Dreizack dort ins Wasser gestiegen ist. Also, da Sie hier Gast sind nehme ich das von eben zurück und sage statt dessen, dass die Töchter Hecates größtenteils unabhängig sind. Wenn Sie sich beschweren wollen fahren sie nach Tessalien und suchen den für magische Menschen ausgeschilderten Weg zu einem der Tempel Hecates. Sofern die dortigen Wächterinnen Sie einlassen, obwohl Sie keine Hexe sind, können Sie Ihre Beschwerde dort vorbringen."
"Ja, aber dann sollten Sie sich auch beschweren, weil diese ... Personen sich was herausnehmen, was ihnen nicht zusteht. Oder wollen Sie haben, dass eine von denen Ladonnas Nachfolgerin wird? Wissen die Töchter Hecates, dass nur die die Nachfolgerin wird, die alle anderen zur gleichen Zeit in ihrem Versteck befindlichen Hexen tötet? Falls nicht, dann können Sie vielleicht ein paar Leben retten und sie noch zurückrufen."
"Halt mal! Verstehe ich das richtig, dass wenn mehrere Hexen auf dieser Insel sind nur eine an Ladonnas Hinterlassenschaften darf, die eine, die alle anderen umbringt? Wieso haben Sie dann eine ganze Truppe hingeschickt, wenn Sie das wussten?"
"Weil es uns eben nicht darum geht, eine Nachfolgerin Ladonnas zu bekommen, sondern wir nur unser geraubtes Eigentum zurückholen wollen", sagte Montecello.
"Och joh, das ist auch ein himmelweiter Unterschied, ob jemand nur wegen eines Piratenschatzes in dessen Höhle geht oder weil er selbst mit dem Schatz und dem Schiff der neue Schrecken aller Meere werden will. Abgesehen davon, sollte da wirklich Ladonnas Erbe im Spiel sein, dann hat die doch sicher festgelegt, dass nur die Hexe an ihre Sachen kommt, die die Bedingungen des Testamentes erfüllt. Da können Sie schlecht sagen, dein Geld nehmen wir, aber die Königskrone wird verschrottet und das Reich kann auch wer anderes regieren", sprach der Minister. "Unsere Leute sind diszipliniert und ohne falschen Erhgeiz. Sie werden Ladonnas Hinterlassenschaften beschlagnahmen und ..."
"Wenn das auf einer Insel im Ägäischen Meer ist beschlagnahmen wir das, sofern die Töchter Hecates uns das mitteilen, dass da was ist."
"Die Insel gehört nicht zu Griechenland", sagte Montecello kategorisch. Ebenso kategorisch antwortete Anaxagoras: "Ja, aber zu Italien erst recht nicht. War es das, warum Sie meine Mittagspause unterbrechen mussten? Falls ja lade ich Sie auf ein Mittagessen in unserem Speisehaus ein."
"Ich lehne dankend ab und erkläre, dass ich zum Mittagessen keine Zeit habe. Ich muss sicherstellen, dass es keinen Hexen-Massenauflauf auf der Insel gibt, wenn noch andere Interessengruppen erfahren, wo sie ist. Ladonnas Hinterlassenschaften müssen in sichere Hände. Danach kann und wird darüber verhandelt werden, wessen Eigentum sie an sich gerissen hat."
"Gerissen stimmt wohl nur im Bezug auf die Art, wie sie sich Ihr Land und andere Länder unterworfen hat. Danach musste sie nichts reißen, sondern musste nur befehlen, es ihr zu bringen", bohrte Anaxagoras in einer wohl immer noch schmerzenden Seelenwunde Montecellos. "Ich danke für Ihre Zeit, auch wenn ich meine dafür verschwendet habe", knurrte Montecello und stand auf. "Bis um eins sind die griechischen Hexen von der Insel herunter. Ansonsten entsendet Minister Torregrande eine Hundertschaft Sicherheitstruppen und holt sie da herunter."
"Haben Sie mir gerade ein Ultimatum gestellt, wozu Sie gar keine Berechtigung haben?" fragte Anaxagoras. "Minister Torregrande sagte wörtlich: "Wenn die Hecatianerinnen die Insel nicht bis eins verlassen holen unsere Leute sie da herunter und jeden, der oder besser die da noch ist. Wir hörten nämlich sowas, dass auch die Deutschen wen schicken. Nur den Franzosen konnten wir ausreden, einen Alleingang zu machen."
"Ui, lassen Sie nicht die Wirte auf Rhodos, Kos, Kreta und Mykonos hören, dass anderswo viel mehr los ist", scherzte der Minister gegen seine übliche Art. Montecello setzte schon an, vor ihm auszuspucken. Doch weil Anaxagoras bereits ein rosarotes Taschentuch in der Hand hatte unterließ er es. Er verließ das Büro.
"Hat der schon sein Soll an eigenen Kindern für Vita Magica erfüllt. Falls nicht könnten sie ihn selbst noch einmal in Windeln und Wiege zurückversetzen", hörte der Minister die Gedankenstimme seiner Salmakis-Schwester.
"Du hast mich zu diesen völlig überzogenen Spötteleien gedrängt, kleine Schwester. Bitte lass das bleiben. Montecello wäre fast explodiert. Die Sauerei hättest du nicht wegputzen wollen."
"Dieser übertemperamentvolle Bursche hat kein Recht, uns ein Ultimatum zu stellen. Abgesehen davon dass die Hecatianerinnen wissen, welch übergroße Versuchung Ladonnas Erbschaft birgt und sie diesen rumorenden Vulkan zur Ruhe bringen müssen, bevor er ausbricht", erwiderte Alexia. Das sah ihr Salmakis-Bruder ein.
Anthelia/Naaneavargia hatte sich entschieden, kein Blut an das Türschloss zu opfern. Sie trat zurück und griff hinter ihren Rücken. Mit vielfach geübter Bewegung zog sie ihre mächtigste Waffe nach ihrem eigenen Wissensschatz blank. Im Licht der Kristallsphären schimmerten die rosigen Flammen entlang der Schwertklinge wie gefrorenes Feuer. "Faiyanshaitargesh!" rief sie aus. Mit einem kurzen Fauchen und dann einem ganz leisen Knistern erwachten die Flammen auf der Klinge zu orangerot leuchtendem Leben. "Feuer gegen Feuer", dachte Anthelia und holte aus. Sie schlug zu und traf den unvermittelt selbst aufleuchtenden Feuerdämon an der Brust. Dieser brüllte: "Verrat! Frevel!" Dann durchschnitt die brennende Klinge, die mehrmals so heiß wie glutflüssige Lava werden konnte, das Türblatt. Der brennende Dämon wurde zu einer Feuerwolke, die auf Anthelia zuschnellen wollte. Doch das lodernde Schwert riss die frei fliegenden Flammen an sich und saugte sie förmlich auf. Die Tür zerfiel zu glühenden Fetzen. Doch dafür klickte und zischte es hinter der Tür. Anthelia sprang zurück und sah gerade noch mehrere Eiszapfen und Obsidianbolzen heranfliegen. Unvermittelt fühlte sie jene Kraft, die sie vor drei Jahren und fast vier Monaten auf einer Insel im Japanischen Meer empfunden hatte. Die ersten Geschosse prallten auf die brennende Klinge und zerbarsten daran oder zischten als Dampfwolken davon . Anthelia sah, dass die Geschosse ganz gemütlich durch die Luft glitten. Sie konnte jedes davon mit der Klinge abfangen, zerschlagen oder verdampfen. Ladonna hatte offenbar damit gerechnet, dass jemand sich den Aura-Sanignis-Zauber auferlegte, um einem Feuerschlag zu widerstehen. Deshalb lieferte sie noch einen Überfall mit Erd- und Eisgeschossen nach.
Als Anthelia das letzte Geschoss, das aus ihrer Warte nicht schneller als ein eiliger Mensch auf sie zutaumelte im Fluge zerstäubt hatte hörte sie ein merkwürdiges Zittern wie von einem meterlangen Gummiband zwischen zwei Holzknöpfen oder eine falsch gestimmte Basssaite. Gleich darauf hörte sie ein leises Säuseln, das sich ihr Näherte. Sofort fuhr sie herum und sah gerade noch den auf sie zueilenden Pfeil mit der bleichen Spitze, der genau auf ihren Brustkorb zielte. So schnell sie konnte hielt sie dem Geschoss das brennende Schwert entgegen. Der Pfeil prallte auf und zerbarst mit hässlichem Knack. Der Schaft loderte auf wie staubtrockener Zunderschwamm und brannte innerhalb von nur einer Sekunde vollständig zu Asche herunter. Anthelia starrte mit nun Schlagbereit gehaltenem Schwert nach vorne. Sie sah nichts und niemanden. Auch hörte sie keine Gedankenstimme. Aber sie begriff, dass sie Yanxothars Klinge einmal mehr ihr Leben zu verdanken hatte. Sie lief los, die Feuerklinge nun schnell und in unregelmäßigen Abständen die Gangbreite abdeckend. Wo immer die unsichttbare Gegnerin war, sie würde sie treffen, wenn diese nicht auch einen Beschleunigungszauber hatte wie den, dem sie gerade unterworfen war. Sie rannte bis zum Ende des Ganges, wobei die Wände stark verrusten. Wenn die nicht genauso schnell wie sie war musste sie sie gleich treffen. Da fühlte sie, wie etwas in die Erde eindrang. Anthelia senkte die Klinge. Sie fühlte, wie die unbekannte Kraft unter ihren Füßen durchwischte und sich entfernte. Also konnte man hier durch die Erde gehen? Anthelia riskierte es und löschte die Flammen des Schwertes. Dadurch kehrte sie wieder auf ihre übliche Empfindungs- und Bewegungsebene zurück. Sofort ließ sie sich zu Boden Fallen. Sie fühlte, dass hinter ihr was gefährliches war. Das wiederum trieb sie dazu, zu einer schwarzen Spinne zu werden. Sie hörte noch das leise Twitschen einer losgelassenen Bogensehne und das fast unhörbare Schwirren eines abgeschossenen Pfeils. Dann vollendete sich die Verwandlung.
Diana Camporosso hatte die Tür mit dem Feuerdämon vor sich und sah, wie ihre Gegnerin mit dem Feuerschwert einfach dreinschlug. Das Feuer wurde sofort verschluckt. Dann jedoch schwirrten Dutzende von Geschossen aus Eis und Obsidian aus dem Raum hinter der Tür. Die Andere schien plötzlich zu einem wild huschenden Schemen zu werden. Ihre orangerote Feuerklinge zuckte förmlich durch die Breite des Ganges und zerstörte die Geschosse. Die die an ihr vorbeischwirrten trafen sie am Brustkorb und zerplatzten, egal ob Eis oder Gestein. Da kam Diana der Einfall, das vorhin verschobene jetzt zu erledigen.
Sie riss den Bogen des Anhor aus seiner Spezialtasche und zog mit ihren behandschuhten Händen einen der hundert Pfeile heraus. Das Auflegen und Ausspannen des Bogens war nur noch eine Sache von zwei Sekunden. Dann sah sie, wie die Gegnerin das letzte Geschoss zerstörte und jetzt ruhig stehenblieb, ideal für einen tödlichen Schuss in den Oberkörper. Diana gab die silbrige Sehne frei. Es war nur ein ganz leises Twitschen. Der Pfeil war bereits auf halbem Weg, als die Sehne zur Ruhe kam. Da warf sich die wohl gerade unter einem Beschleunigungszauber stehende Hexe herum. Ihre wie ein oranger Blitzstrahl zuckende Feuerklinge traf den eigentlich vollendet gezielten Pfeil an der Spitze und ließ ihn regelrecht wie ein in Öl getauchtes Zündholz abbrennen. Diana erkannte, dass sie jetzt ganz schnell fort musste. Da lief die andre schon los, dreißig Meter Gang zwischen sich und ihr. Diana stampfte schnell auf und versank in jener wie dicker Wackelpudding beschaffenen Gesteinsmasse. Gerade soeben sah sie noch, wie das Feuerschwert mit einer zuckenden Wischbewegung über ihren Kopf hinwegfuhr. Dann schloss sich das Gestein um sie herum.
Diana eilte mit zehnfacher Schrittgeschwindigkeit den Gang entlang und stoppte gerade noch rechtzeitig vor auf sie zilenden Eisenbolzen im Boden. Sie blickte hoch und fand den Weg frei. Sie entfuhr dem Boden wieder. Den Bogen hatte sie noch. Sie blickte sich um. Die andere war gerade am Ende des Ganges angekommen. Diana zog leise den nächsten Pfeil auf, nur noch neunundneunzig, dachte sie. Dann wartete sie. Ja, die andere ließ das Schwert erlöschen. Jetzt kehrte sie sich wieder der Tür zu und sah auf sie, ohne sie wirklich zu sehen. "Dann jetzt", dachte Diana und schickte den nächsten Pfeil auf die Reise. Während er durch den Gang schwirrte verwandelte sich die Hexe im scharlachroten Kostüm in eine menschengroße, schwarze, behaarte Spinne. Da traf der Pfeil. Doch er prallte mit einem roten Lichtblitz von ihrem gepanzerten Vorderleib ab und fiel in jeder Hinsicht entkräftet zu boden.
Diana staarrte auf das achtbeinige Scheusal, dass mit seinen acht Augen zurückstarrte und dabei über dem erloschenen Feuerschwert verharrte. Diana versuchte es noch einmal mit einem Pfeilschuss. Diesmal wurde der Pfeil im Flug abgelenkt und traf die Wand rechts von der Spinne. Die Spinne bewegte ihre Insektenfühlern ähnlichen Tastorgane und kauerte sich zum Sprung. Diana erkannte, dass etwas an ihr nicht getarnt war, ihr Geruch. Spinnen konnten sicher sehr gut riechen. Zwei Pfeile lagen nun im Gang und das Feuerschwert, das gerade nicht glühte. Sie könnte es riskieren, es sich zu holen. Da schnappte sich die Spinne das Schwert mit ihren Beißwerkzeugen und warf sich herum. Diana wusste, was das Biest vorhatte. Sie sprang schnell in den geöffneten Raum hinein und duckte sich. Da hörte sie es auch schon laut klatschen und merkte, dass etwas versuchte, sie zurückzuziehen. "Pfui Spinne!" fluchte Deeplook. Diana indes zog einen nach dem Blankziehen vibrierenden Triamantdolch und kappte den haarfeinen aber unheimlich festen und klebrigen Faden, der ihr beim zurückschnalzen fast ins Gesicht schlug. Dann steckte sie schnell den Bogen weg, um eine freie Hand für den Zauberstab zu haben. Sie erinnerte sich, dass die Spinne gegen den Todesfluch immun war. Ladonna hatte das erzählt. Also blieb ihr nur, eine Trennwand zwischen ihr und sich zu schaffen. "Glacimurus!" rief sie aus, während die Spinne schon auf sie zurannte, das Feuerschwert sicher zwischen ihren Beißscheren. Da sprang mit lautem Knall eine Wand aus Eis zwischen das unheimliche Spinnenwesen und die unsichtbare Bogenschützin. Die Spinne konnte den Anprall gerade noch mit allen acht Beinen abfangen. Wieder ein Unentschieden. Diana konzentrierte sich und apportierte die zwei verschossenen Pfeile zu sich. Der eine war noch bleich und somit tödlich. Der zweite war an der Spitze schwarz, und die Spitze war gesplittert. Mit diesem Pfeil ließ sich kein lautloser Tod mehr versenden. Zwei der hundert Pfeile hatte sie eingebüßt, und die Spinnenfrau hockte nun vor der Eismauer. Sollte sie warten, bis die Spinne sich zurückverwandelte und es noch einmal versuchen? Nein, sie wollte hier weg. Sie fühlte, ob sie durch die Erde konnte. Nein, hier ging das nicht, weil unter dem Boden geschmiedete Eisenplatten lagen. Also durch die Tür. Sie lief los, wobei sie hinter sich eine Nebelwand entstehen ließ und sprang durch die nächste Tür hindurch. Sie hörte noch, wie der Eiswall zersplitterte. Dann war sie auch schon unterwegs in Richtung nächsten Abschnitt.
Sie hatte es wissen wollen. Jetzt wusste sie es. Als Hexe konnten ihr diese Pfeile gefährlich werden, weil sie nicht mit Ansage kamen wie der Todesfluch. Als Spinne prellte ihr Panzer den Pfeil und damit seine lautlose Todesmagie ab. Den dritten ihr zugedachten Pfeil lenkte sie telekinetisch gegen die Wand, weil sie wissen wollte, was damit passsierte. Sie hatte nun nach Geruch jagen wollen, nach dem Geruch von fremdartigem Leder, Frauenschweiß und Angst. Doch die andere konnte noch zaubern und blockierte den Weg mit einem Eiswall. Das war sehr geschickt, weil Eis ihr auch gerade in der Spinnenform zusetzen konnte. Sie trug das Feuerschwert vor den Eiswall und erfasste mit ihren schallempfindlichen Körperhaaren, wie eine Tür auf- und wieder zuging. Sie wagte es und wurde wieder zur Hexe. Geduckt ergriff sie das Feuerschwert. Es mochte sie noch einmal beschleunigen. Sie entzündete es mit einem Gedankenbefehl, weil sie nicht wollte, dass irgendwer das Auslösewort mitbekam. Das ging auch. Mit einem einzigen kräftigen Streich zerschlug sie die magische Eiswand. Die Flammen flackerten dabei zwar für eine Sekunde dunkelrot. Doch der Weg war nun frei. Anthelia ließ das Schwert erlöschen und steckte es wieder fort. Sie wagte es, nach den ihr zugedachten Pfeilen zu sehen. Doch die waren weg. Offenbar hatte die andere sie sich per Apportationszauber wiedergeholt. So ging es auch, dachte Anthelia. Dann wurde sie wieder zur schwarzen Spinne. Sie wusste, dass sie nur in dieser Gestalt mit der hinterhältigen Bogenschützin fertig wurde. Auch würden ihr die mechanischen Fallen und Elementarflüche nichts anhaben, wenn sie schnell genug war. Außerdem konnte sie immer noch das Passwort denken. Denken! Die andere hatte keinen noch so flüchtigen Gedanken ausgestrahlt. Daher hatte sie ihren Angriff bis zur allerletzten Sekunde nicht mitbekommen. Ja, die andere war sehr, sehr gefährlich. Doch falls es ihr gelang sie, Anthelia/Naaneavargia zu töten, würde sie keine Freude daran haben, ob unsichtbar oder nicht.
Unterwegs auf nun allen acht Beinen sinnierte die Arachnanthropin Anthelia/Naaneavargia darüber, was Albertrude mit ihren vier Aufpasserinnen angestellt haben mochte, um sie so gründlich und ohne jede Gegenwehr zu betäuben. Nichts von dieser Methode hatte sie mitbekommen. Sie hatte nur mitbekommen, dass Albertrude ihre vier Bewacherinnen in Erbsen verwandelt und in einen kleinen neuartigen oder vielleicht urwüchsigen Conservatempus-Beutel gesteckt hatte. So konnte sie mit denen weiterlaufen, ohne von ihnen überrumpelt zu werden. So konnte sie sich freier bewegen und schneller ans Ziel kommen. Ja, ans Ziel. Sie erfasste ihre Gedanken. Sie waren ganz nahe und nicht mehr durch die magisch aufgeladenen Wände verzerrt. Sie war bereits im Raum der Entscheidungen und sollte da auf ihre Duellgegnerin warten. Wer würde das sein? Im Grunde trafen sich gleich in Ladonnas Namen die drei mit Abstand gefährlichsten Hexen der Welt. Die Bogenschützin war wegen ihrer Unsichtbarkeit und Gedankenabschirmung gefährlich und weil ihr Bogen ohne lange Vorwarnung und so gut wie lautlos tötete. Außerdem war sie koboldstämmig und konnte durch festes Gestein reisen. Gut, das konnte Anthelia auch. Außerdem hatte sie das Wissen um die Zauber des alten Reiches, das Feuerschwert Yanxothars und die Fähigkeit, zu einer schier unverwundbaren schwarzen Riesenspinne zu werden. Albertrude besaß die magischen Augen, mit denen sie auch unsichtbare Wesen sehen, magische Auren erkennen und überhaupt weit entferntes erblicken konnte. Außerdem besaß sie das Wissen und die Raffinesse einer der gefürchtetsten Hexen nach Sardonia und ihr selbst und vielleicht auch irgendwann den zweiten Lotsenstein und somit Zugang zum alten Wissen. Die Hecatianerinnen sah sie als gefährliche Gegner, solange sie in einer kampf- und zaubermächtigen Gruppe handelten und mehrere zugleich sich auf sie alleine konzentrieren konnten. Dennoch würde es wohl auf einen Endkampf zwischen ihr, Albertrude und der ihr noch nicht vorgestellten koboldstämmigen Bogenschützin hinauslaufen. Das alles dachte sie, während sie auf weitere Türen zulief und diese mit den Beißscheren öffnete. Dann erreichte sie ihn, den Raum der Entscheidungen.
Diana Camporosso sah sogleich, dass die Tür, auf die sie zusteuerte, einen Zauber enthielt, der wie ein mit den Spitzen nach unten liegender Halbmond aussah und in einem langsamen Takt von zwei Sekunden Länge heller und dunkler leuchtete. Auch las sie mit den Gläsern des wahren Blickes die eine auf dem Kopf stehende lateinische Schrift, die noch dazu spiegelverkehrt war, bis sie mit dem geflüsterten Befehl "Geheimtext zu Klartext" die Schrift vollständig lesbar vor sich sah. Sie Las: "AULA DECISSIONIS POST INTRATIONEM CLAUSA SIT AD ULTIMAM!" Zwei Atemzüge später stand da in Koboldschrift: "Die Halle der Entscheidung schließt nach Eintritt bis zur letzten." Darunter blinkte rot eine Warnung, "Vorsicht, Falle!"
"Was du nicht sagst", dachte Diana der nur für sie lesbaren Schrift zugewand. Doch sie war entschlossen, durch diese Halle zu gehen und sich ihr rechtmäßiges Erbe zu holen, ihre Entschädigung dafür, dass sie eine Ausgestoßene war, dass sie mit diesem Glashelm auf dem geschorenen Schädel keinen Mann fürs Leben finden konnte, statt dessen einen alten Patriarchen ihr Leben lang in sich herumtragen musste, weil die, die diese ganze Einrichtung erbaut hatte, das von ihr so verlangte.
Wehmütig dachte sie daran, nur noch 98 Pfeile für den Bogen zu haben. Das klang nach viel, doch die Symbolik der zehn mal zehn war mit dem Schuss auf diese Spinnenhexe und ihr zwergendreckiges Feuerschwert kaputt. Es sei denn, irgendwo da in diesen noch zu betretenden Hallen fand sie eine Schnitz- und Bezauberungsanleitung, wie sie die zwei verlorenen Pfeile eins zu eins nachmachen konnte.
Sie trat vor und griff mit der rechten Hand nach dem Türknauf. Dieser rührte sich nicht. Sie rüttelte an der Tür. Sie war wie festgemauert. Sie wusste jedoch, dass sie da hinein musste. "Die Rüstung schirmt dein Fleisch und Blut ab. Die Tür will wissen, ob du eine Hexe bist", vermutete Deeplook. "Toll, muss ich die Rüstung ausziehen und gleich hinter der Tür wieder anziehen?" fragte sie sich und ihren unfreiwilligen Körpermitbewohner. "Falls du dann noch Zeit dazu hast. Vielleicht stehen da aber auch schon zehn Hexen drin und warten auf dich, um sich mit dir auf Leben und Tod zu beharken", schickte Deeplook eine weitere Vermutung. "Gut, dann brenne ich mir einen eigenen Eingang in die Wand", dachte Diana. Doch als sie mit einer kleinen Version einer Wünschelrute ausmaß, ob Metall in den Wänden war bekam sie sogleich womöglich mit Ferrifortissimus-Zauber belegte Eisenplatten angezeigt. Die Tür selbst war aus geschmiedetem Eisen, für Kobolde und ihre Zauber größtenteils unüberwindlich.
"Ich werde nicht vor dieser Tür stehenbleiben und warten, bis wer anderes auftaucht und sie aufmacht", dachte sie.
Dann hörte sie hinter der Tür was. Sie schloss die Augen und hörte es nun so, als gäbe es zwischen ihr und dem Raum dahinter weder Tür noch Wände.
"Ach, auch schon da, alte Webspinne. Wie bist du denn durch die Türen durchgekommen?"
"Musste ganz schnell und bestmöglich gepanzert laufen. Wir könnten noch Besuch von der unsichtbaren Bogenschützin kriegen. Och joh, Wintermondvorhänge. Hatte Ladonna keine Zeit, neuere Absperrzauber einzurichten. Die hat doch drei Jahre in der modernen Zeit geherrscht."
"Nicht mehr sprechen. Lupa in Fabula ante portas!" Hörte sie die andere zischen.
Ab da war es still. Doch Diana war sich sicher, dass die eine die Spinnenhexe war und dass sie die andere kannte und diese andere womöglich die mit den durchblickenden Augen war. Die konnte also durch die Tür sehen und durch den Wintermondvorhang. Wintermondvorhang?! Fast lachte Diana, als ihr klar wurde, welche Nachlässigkeit Ladonna begangen hatte, die achso große, alles überblickende, allem überlegene Dreiblüterin. Sie hatte einen für sie damals ganz mächtigen Hexenzauber mit allem hier wirkenden verwoben, aber nicht bedacht, dass für wahrhaft entschlossene Hexen alle Hexenzauber erlernbar geworden waren und der Wintermondvorhang fast schon zum Standard gehörte, der durch was ganz einfaches aufgehoben werden konnte. Doch warum sprachen die da hinter der Tür nicht mehr? Klare Frage, klare Antwort. Sie mentiloquierten miteinander, weil sie wussten, dass sie, die "Wölfin in der Fabel" bereits auf der anderen Seite lauerte.
"Novalunux maxima!" zischte sie, als sie mit dem Zauberstab eine das Türblatt in der Breite abdeckende Kreisbewegung unmittelbar vor der Tür machte. Eine völlig schwarze Kugel erschien aus dem Nichts, erst winzig wie ein Kirschkern, um in der nächsten Zehntelsekunde die vierfache Größe eines Quaffels anzunehmen und Diana damit von der Tür trennte. Die Kugel erzitterte erst und flutschte dann durch das Türblatt hindurch. Es klackte sehr laut. Die Silberbeschläge an der Tür liefen an, die Goldbeschläge blitzten einen Sekundenbruchteil hellblau. Dann klappte die Tür nach innen auf.
Diana überblickte sofort, dass die Spinnenhexe wieder als Frau dastand und ihr gegenüber eine knochige Frau mit flachsblondem Haar und graublauen Augen, von denen eines genau auf sie gerichtet war. Diana sprang durch die Tür, als ein roter Blitz auf sie zuschoss und mit lautem Poff und in einer prasselnden Funkenwolke verging. Die Rüstung der Vollstreckerinnen hatte den ihr geltenden Schockzauber zerstreut.
Diana sah, dass von hier aus noch elf Türen abgingen. Dann hörte sie ein leises, gleichmäßiges Grummeln tief im Boden. Es war wie ein gewaltiges Herz, das stärker schlug.
"Avada Kedavra!" rief die mit den magischen Augen. Diana hechtete nach rechts weg und Zog alle Glieder eng an sich. Der gleißendgrüne Todesblitz sirrte für ihre Ohren schmerzhaft knapp über sie hinweg und schlug mit dumpfem Donnerschlag ein Loch in die Wand. Der dünne Wandverputz platzte prasselnd ab. Glutflüssiges Eisen spritzte in weißglühenden Tropfen umher. Zwei davon trafen sie an der Kapuze. Sie fühlte, wie sich die Rüstung heftig zusammenzog und sie für einen Moment dachte, wie in Stein oder Metall eingebacken zu sein. Dabei kullerte sie wie ein müder Quaffel über den Boden und kam fast vor dem senkrechten Riss in der Wand zu liegen.
"Ugilai Guradinir!" hörte sie die andere Stimme, die der Feuerschwertkämpferin und Spinnenfrau. Sogleich fühlte sie etwas mächtiges über sie wegfegen, etwas, dass ihren Sinn für das Erdmagnetfeld überreizte und dabei alle Empfindungen ins Gegenteil kehrte. Dann sah und hörte sie, wie der gerade noch für sie ausreichend breite Riss knirschend zusammenwuchs. Sie Sprang auf alle Viere, stieß sich kräftig nach vorne ab und drang durch den Riss in der Wand. Dabei meinte sie, ein rotes Flirren um sich herum zu sehen und fühlte, wie ihre Rüstung sich erhitzte, obgleich diese doch Hitze und Kälte von ihr abhalten sollte. Dann landete sie mit reflexhaft bis unter den Bauch gerissenen Knien jenseits der beschädigten Wand. Sie hörte noch, wie der Riss mit leisem metallischen Schmatzen verschlossen wurde. "Immerhin stecke ich in einem sehr gelenkigen und starken Mädchen", bemerkte Deeplook dazu.
"Ruhe im Glashut, brauche Konzentration!" dachte sie wütend. Sie würde diesem in ihrem Kopf eingesperrten Frechling demnächst klarmachen, dass er sie weiterhin mit Achtung andenken sollte. Im Augenblick galt für sie, dass sie in einem Gang gelandet war, der mit Lavagestein ausgekleidet war. Doch ihr Magnetsinn sagte, dass auch hier Eisen verbaut war. Das war ihr jetzt egal. Sie lief los.
Anthelia hatte sofort verstanden, was Albertrude meinte, als sie von der Wölfin in der Fabel sprach. Ja, und offenbar machte die gerade die verschlossene Tür mit genau dem Zauber auf, der als leicht erlernbarer und deshalb einfacher Gegenzauber zum Wintermondvorhang erkannt worden war, weshalb Hexen diesen Zauber nur noch gegen zauberstablose Kreaturen einsetzten.
Albertrude wollte die unsichtbare, die Anthelia nicht erkennen konnte, mit einem Schockzauber betäuben. Doch der prallte auf ein festes Hindernis und zersprühte in einer roten Funkenwolke. Anthelia zielte auf die Stelle und versuchte, was immer in der Wolke war telekinetisch festzuhalten. Doch ihre Gedankenströme fanden keinen Halt. Dann sah sie, wie Albertrude den Zauberstab nachführte und hörte, wie sie den Todesfluch ausrief. Der traf jedoch kein lebendes Wesen, sondern sprengte einen zwei Meter hohen Riss in die Wand. "Mist, die kann da durch", dachte Albertrude. Anthelia begriff und rief die Worte des wachsenden Eisens, der eigentlich ein gesonderter Reparaturzauber war. Der Riss in der Wand zog sich zusammen. Das dauerte jedoch zwei volle Sekunden. Dabei pulsierte für einen Moment ein rotes Licht, das den Wachstumsvorgang für einen winzigen Augenblick unterbrach. Dann schloss sich die Wand wieder. Anthelia deutete durch den Raum. "Sie ist durchgeschlüpft. Die hat garantiert auch Zwergenanteile im Körper."
"Oha, Da unter uns wurde gerade ein sehr starker Erdumwälzungszauber in Gang gesetzt. Das ganze arkane Geflecht ist aus den Fugen. Wir müssen zusehen, noch vor der anderen in die Lagerräume zu kommen, Schwester", zischte Anthelia.
"Ich idiotin habe der die Wand aufgemacht. Dahinter ist genau der Gang, den wir nutzen müssen. Noch mal der Todesfluch?" fragte Albertrude und dachte: "falls das nicht meine letzten Worte sind."
"Nein, das Schwert. Wir wären eben fast von den Flüssigeisentropfen getroffen worden", zischte Anthelia und riss das Schwert aus seiner Scheide. Sie entzündete es mit dem konzentrierten Gedankenbefehl "Faiyanshaitargesh!" Als es loderte stürmte sie vor, wobei sie die Klinge senkrecht nach oben reckte. Einen halben Schritt von der Wand entfernt schlug sie zu. Mit einem schrillen Kreischen und lauten Zischen schnitt die brennende Klinge durch die drei Zentimeter dicke, magisch gehärtete Eisenplatte bis ganz nach unten. Die dabei glühenden Ränder erkalteten unverzüglich. Das Schwert flammte dabei orange-grün. Nochmal versetzte Anthelia dem Wandstück einen senkrechten Schnitt und dann auf Kopfhöhe einen nahezu waagerechten. Dann trat sie energisch gegen das so freigeschnittene Eisenstück. Es kippte und klirrte laut zu Boden. Dann trat Anthelia zur seite. "Du voraus, halte Ausschau nach ihr und nach dem Ziel. Wir teilen, was wir tragen können!" bestimmte Anthelia. Denn ihr war nun klar, dass sie ohne die magischen Augen Albertrudes nur sehr wenig Chancen gegen die zwergen- oder koboldstämmige Bogenschützin mit ihrer Gedankenabschirmbezauberung hatte.
"Wie großzügig, Schwester", erwiderte Albertrude spöttisch. Ihr war natürlich auch bewusst geworden, dass sie gerade aufeinander angewiesen waren. Doch irgendwie hatte Anthelia leider recht. Was immer Ladonna aufbewahrte, sie konnten nicht alles auf einmal mitnehmen. Und die Zeit lief ihnen hör- und spürbar davon. Denn das Beben wurde stärker und die Erdstöße erfolgten in einem kürzeren Abstand als vor einer halben Minute noch.
Anthelia löschte das Flammenschwert und steckte es mit einer hundertfachgeübten Bewegung sicher zurück. Dann folgte sie Albertrude und überwachte ihre Gedanken.
Es ging erst durch einen zwanzig Meter langen gang, der dann zu einer abwärtsführenden Spirale wurde, beinahe wie eine Wendeltreppe ohne Stufen. "Dieses Biest mit dem Bogen rutscht runter", dachte Albertrude, die wusste, dass Anthelia es mitbekam. "Dann tun wir das auch", zischte Anthelia, damit sie nicht groß mentiloquieren musste. "Glisseo!" zischte sie und deutete vor Albertrude auf den Boden. Diese warf beide Beine hoch wie eine Prima Ballerina und landete auf ihrem offenbar sehr gut gepolsterten Hinterteil.
Anthelia musste grinsen, als ihr klar wurde, warum Albertrude sich so hart hinsetzen konnte. Sie setzte sich nicht ganz so abrupt hin. Sie sah, wie Albertrude sich mit beiden Armen kräftig nach vorne abstießund dann losrutschte.
Alle zwanzig Meter erneuerten die beiden die Rutschbarkeit des Bodens und bekamen so viel Schwung, dass sie immer mehr an der runden Außenseite der Spiralbahn entlangschlidderten. Deshalb machten die zwei Zweckbündnisschwestern auch die Wände schlüpfrig und jagten tiefer und tiefer in den Berg hinunter. "Wir holen auf. Ihr Podex ist nicht rutschig genug. Aber wenn wir die Bahn vor uns weiterbehandeln wird auch sie schneller. Neue Meldung, sie kugelt sich runter. Offenbar trägt sie eine Kleidung, die sie in eine feste Kugelschale einhüllen kann und wird schneller. Die wird vor uns ankommen."
"Ist jetzt nicht zu ändern, Schwester", stieß Anthelia auf Deutsch aus, weil sie hoffte, dass ihre unsichtbare Gegenspielerin das nicht verstand.
Diana Camporosso brauchte Deeplooks Hinweis nicht, dass sie rutschend schneller vorankam als rennend. Dann wartete der noch mit einer echten Neuigkeit auf: "Befiel Erdschaleneinschluss und zieh alles weitmöglichst zusammen und halte die Augen geschlossen, bis die Rüstung richtig heftig ruckelt!"
Diana hörte die beiden Gegnerinnen weit hinter sich. Die mit Lavabrocken überdeckte Eisenröhre trug den Schall viele hundert Meter weit. Sie befahl auf Koboldogack: "Erdschaleneinschluss!" Unvermittelt entstand über ihr eine grüne Halbkugel, die zu einem glasartigen, halbdurchsichtigen Stoff aushärtete. Sie sprang hoch und zog Arme und Beine an. In dem Moment umschloss sie eine vollständige Kugel und titschte zweimal auf den Boden wie eine angeschobene Kegelkugel, bevor sie richtig ins Rollen kam und immer schneller wurde. Diana erkannte wie weise Deeplooks Rat war, die Augen zu schließen. Doch dafür hörte sie noch intensiver. Das Kullern der sie umschließenden Kugelschale auf dem Boden wurde laut wie hundert galoppierende Büffel, und sie fühlte, wie die gewohnte Schwerkraft mal von unten, von der Seite und von oben zog, bis die Fliehkraft die vorherrschende Kraft wurde. Offenbar erhöhte sich die Rollgeschwindigkeit. Denn sie hörte die beiden anderen immer weiter weg. Doch deren Trick mit der mehr als bei Glatteis wirkenden Schlüpfrigkeit war auch sehr praktisch, dachte sie. Doch so wie jetzt kam sie auf jedenfall als erste an.
Sie hörte das alle drei Sekunden anschwellende Beben und fühlte, dass es auch die auf sie wirkende Fliehkraft erschütterte.
Sie hielt die Augen geschlossen, bis sie fühlte, wie sie frei fiel oder flog. Dann gab es einen lauten Aufschlag. Davon spürte sie jedoch nur ein wildes Ruckeln in der Rüstung. Sie hörte ein leises, hölzernes Knarzen. Dann lauschte sie mit geschlossenen Augen nach hinten. Sie hatte vielleicht noch eine Minute, bis die beiden anderen auf ihre Weise bei ihr waren. Das war wenig Zeit. Sie musste sich beeilen, um in Stellung zu gehen. Der Raum der Entscheidungen würde der hinter der Tür da sein.
Sie riss die Augen auf und befahl "Regelschutzzustand!" Die grüne Kugel verschwand mit leisem Säuseln. Sie bekam wieder Boden unter ihren Körper. Sie sprang auf und sah die pechschwarze Tür vor sich und erstarrte einen Moment vor Schreck.
Melana Selenoros, die zur Gruppe der einundzwanzig Töchter Hecates gehörte, besaß längst Übung darin, den Schlüssel der freien Wege zu beschwören. Mindestens drei, bestenfalls neun mal neun eingeschworene Schwestern konnten dieses mächtige Ritual wirken, um sich einen Durchgang oder Fluchtweg zu verschaffen. Da in diesem Falle ein Einbruch geplant war galt es, die erste weise Mutter Hecate davon zu überzeugen, dass in "diesem Berg aus Erde und Feuer" eine Quelle großer Gefahr sprudelte, die es zu verschließen galt. Hierfür stellten sich achtzehn der einundzwanzig zu einem gleichseitigen Dreieck zusammen, dessen der Bergwand zugekehrte Spitze von Ponthophila Anastasios gebildet wurde. Hinter ihr links und rechts entlang der beiden Dreieckslinien standen Melana Selenoros und Delia Argyropotamos, die auch schon Erfahrung mit dem Schlüsselritual hatten. Sie sangen mit drei schön zusammenklingenden Stimmen die Anrufung der ersten weisen Mutter, Hüterin der Wege und Schlüssel, Gebieterin der hohen Künste, Schutzherrin aller Hexen und Zauberinnen ob des Lichtes, der Dämmerung oder der Dunkelheit. Es war zu erwarten, dass wegen der hier wirkenden Magien Ladonnas und der natürlichen Kräfte des schlummernden Vulkans ausgiebiger gesungen und Kraft gesammelt werden musste. So dauerte es ganze sieben Durchgänge des neunstrophigen Liedes, bis von der dem Strand zugekehrten Grundlinie und den beiden Seitenlinien im Takt des Gesangs bewegten Händen silberne Funken durch die Luft flogen und sich zwischen Ponthophilas wie zum halten eines Unsichtbaren Gegenstandes gehaltenen Händen sammelten. Die Funken wurden immer dichter und bildeten eine silberne Wolke, die selbst bei Sonnenlicht noch hell wirkte. Die Wolke zog sich in die Länge und formte eine anderthalb Arme lange, silberne Erscheinung, die von Silbe zu Silbe, Funken zu Funken mehr und mehr einem großen Schlüssel aus reinem Licht entsprach. Weiter sangen die achtzehn Ritualhexen, während ihre drei übrigen Begleiterinnen die Gegend unter Beobachtung hielten, ob ihnen jemand in die Quere kommen wollte. Der Boden erbebte leicht. War das eine Reaktion auf das Ritual, das ja Erde, Wasser, Wind und Feuer mit der inneren Kraft des Lebendigen verwob?
Weitere dreistimmig gesungene Teile des Ritualliedes später hielt Ponthophila einen wie aus leuchtendem Eisen bestehenden Schlüssel in Händen. Dieser fiel nicht nur durch sein eigenes Leuchten und die gewaltige Größe auf, sondern auch, dass er oben und unten einen Bart besaß und einen bogenförmigen Griff, der es ermöglichte, dass er zweihändig gehalten und gedreht werden konnte. Sie sangen noch einmal das Lied und dankten der ersten Mutter Hecate, ihnen allen beizustehen. Dann schritten sie in Zweierreihen hinter ihrer auserwählten Erkundungsführerin her. Diese trat auf eine flache Stelle am Fuß der Nordseite zu. "Wir treten durch die miternächtige Tür ein, weil dies der kürzeste Weg ist, meine Schwestern. Allerdings wird diese Tür gerade am stärksten verriegelt. Doch genau das ist auch unser Vorteil. Denn jene, die diesen Hort ihrer Machtgier errichtet hat hat sicher nicht damit gerechnet, dass Töchter der hohen Künste als geschlossene Gemeinschaft gegen sie vorgehen, weil sie davon ausging, dass jede gegen jede andere fechten wird, sobald sie eine Möglichkeit sieht, mehr Macht als alle anderen zu erhalten", sagte Ponthophila und steuerte auf die mit Lavabrocken überdeckte Stelle zu. Dann rammte sie mit den Worten des Einlasses den rituell beschworenen Schlüssel gegen die Stelle. Diese erbebte heftig und schleuderte grüne und rote Funken, die jedoch von dem magischen Schlüssel aufgesaugt wurden. neun, zehn, nein elf kräftige Stöße brauchte es, bis die berührte Stelle mit lautem Prasseln auseinanderbrach. Die dahinterliegende Eisenplatte bog sich unter roter Glut nach innen. Wieder stieß Ponthophila den Schlüssel nach vorne, dorthin, wo bei einer Tür Klinke und Schloss zu finden waren. Das Türblatt erzitterte noch einmal. dann gab es laut knirschend nach. "Welle des verachteten Blutes!" rief die hinter Ponthophila laufende Hestia Chrysopolis, eine hochgewachsene Hexe mit feuerroten Ringellocken. Sofort traten alle vor, die wie sie auf die Elementarkraft Feuer und auf die durch Blut und auf Blut wirkende Zauber bezogen waren. Sie sangen eine kurze aber mächtige Anrufung des Schutzes des Blutes. Vor ihnen schnellte eine blutrote, die ganze Breite und Höhe des Ganges ausfüllende Wand auf. Gleichzeitig toste eine blutrote Lichtwalze heran. Alle Hecatianerinnen legten ihren Vorderläuferinnen die Hände auf die Schultern. Die rote Walze prallte auf den gleichgefärbten Wall und erschütterte diesen. Dann zerstob die Walze. als wenn sie damit einem Ungeheuer in die Seite gestochen hätten ertönte ein Gebrüll knapp über der unteren Hörbarkeitsschwelle. Der Boden bebte. "Hat die da doch einen lebenden Wächter eingesetzt?" fragte eine von den jüngeren Mitreisenden. "Kein natürlich geborenes Geschöpf, aber durchaus von einer bedenklichen Lebendigkeit", vermutete Hestia Chrysopolis.
Der wall des zu schützenden Blutes fiel wieder zusammen und gab den verbliebenen Rest der für ihn aufgewandten Lebenskraft an die sieben mal drei Hexen zurück.
An der Decke des Ganges hingen Kristallsphären, die gerade völlig dunkel waren. Hestia Chrysopolis führte einen ungesagten Erkundungszauber aus und erkannte, dass es schlummerndes Lebensfeuer war, das wohl auf darauf abgestimmte Eindringlinge überspringen und sie überhitzen sollte. Sie gedankenflüsterte es an die Anführerin weiter. "Das geht gegen die Überschönen, die sich selbst Töchter der Mokusha nennen", gedankengrummelte Ponthophila zurück, die weiterhin den beschworenen Schlüssel vor sich ausstreckte.
Als sie in einen scheinbar leeren Gang vordrangen schnellten aus den Wänden lodernde Schlangen und Skorpione hervor. Das war wieder ein Auftrag für die Feuerhexen unter den einundzwanzig. Doch sie merkten, dass es nicht echte Feuerkreaturen waren, sondern Illusionen. Diese wurden von sechs der Hecatianerinnen mit den Worten für Wahrheit und Klarheit hinfortgesungen. Doch dabei lösten sie eine weitere Woge des verachteten Blutes aus, die wesentlich stärker als die am Eingang war. Der in der mit einer vereinten, zweisilbigen Anrufung erneuerte Blutschutzwall bog sich bedrohlich nach hinten durch. Wenn er brach bekamen sie alle die Wut des Abwehrzaubers ab. Doch der Wall hielt, weil alle einundzwanzig denen, die ihn gerufen hatten, durch Handauflegen ihre Lebenskraft darbrachten. Endlich brach die rote Welle in sich zusammen. Der Schutzwall sprang mit einem lauten Wupp in seine gerade Ausrichtung zurück, bevor er von seinen Ruferinnen wieder aufgelöst wurde. Diesmal fühlten sie jedoch keine zu ihnen zurückkehrende Lebenskraft.
In weiteren Räumen mussten die Vertrauten von Erde und Dunkelheit versteckte Vorrichtungen erstarren lassen. als ein Lavastoß aus dem Boden schoss wirkten die Kundigen des Feuers einen Feuerbann und die des Wassers einen Gefrierzauber. Die der Erde beschworen die Kraft der großen Urmutter, den aus ihrem Schoß entfahrenen Todesboten zurückzunehmen. Die Lava erstarrte zu einer erst rotglühenden und dann tiefschwarzen Steinsäule, die dann laut prasselnd in sich zusammenfiel und in jener Öffnung verschwand, aus der sie entfahren war. Aus dem Nichts klang eine wütende Frauenstimme, die sie auf Lateinisch als Verräterinnen an der Urkraft der Hexen beschimpfte. Die einundzwanzig scherten sich nicht darum. Denn sie hatten mit weiteren gegen sie geschickten Zaubern und auf sie lauernden Fallen zu tun.
Sie kämpften sich durch alle Hindernisse, immer auf das Ziel zusteuernd, dass sie als das Herz der hier wirkenden Kräfte ermittelten. Dass sie dadurch die zurückgetriebenen Zauber in einen tief unterhalb liegenden Raum drängten, wo Ladonna ein letztes Mittel gegen unerwünschten Zugriff verborgen hatte wussten die drei mal sieben nicht.
Es war eine Mischung aus Drache, Tausendfüßler und Riesenschlange aus einem bläulich flirrenden Licht mit einer den Kopf wie eine Krone umfließenden violetten Aureole, die auf der großen Holztür prangte. So sah es durch die Gläser des wahren Blickes aus, die gerade wieder auf Gefahrenanzeige umgesprungen waren. Das war ähnlich diesem Feuerdämon, nur noch gräulicher und sicher auch mächtiger als der.
Diana überlegte, ob sie eine der drei letzten Kraftschluckerkugeln benutzen wollte, die sie noch hatte. Doch da fiel ihr ein, dass sie damit womöglich auch was von dem zerstörte, was hinter der Tür lag. Sie wollte aber auch nicht auf die Trägerin des Feuerschwertes Warten. "Ein Feuerfüßer", gedankenwimmerte Deeplook. "Entweder als Wächterzauber in die Tür eingebaut oder als Warnung, dass hinter der Tür einer schläft."
Diana prüfte die Wand mit dem Metallerkenner. Da steckte wieder dieses widerliche Schmiedeeisen drin. Wann hatte Ladonna das alles schmieden lassenund von wem? "Unwichtig! Ghe zwanzig Schritt zurück und spreng die Tür mit dem Feuersphärenzauber weg, den ihr Zauberstabträger könnt!" bestimmte Deeplook gegen die ihm auferlegte Art. Das gab Diana zu denken. Konnte es sein, dass Deeplook durch alle bestandenen Gefahrenund Prüfungen erstarkte? Natürlich gab der nun keine Antwort darauf. Doch sein Rat war brauchbar. Sie lief die zwanzig Schritte durch den Ausläufer der Spiralbahn, durch die sie hergelangt war und blieb erst stehen, als die Tür aus dem Zielbereich zu geraten drohte. "Bollidius Maxima!" zischte Diana und führte eine schnelle Kreiselbewegung gegen die Tür aus. eine grünlich-blaue Feuerkugel entstand vor ihrem Zauberstab und raste fauchend auf die Tür zu. Mit dumpfem Schlag traf sie auf. Diana warf sich herum, als sie sah, wie aus der kleinen Feuerkugel eine blaugoldene Flammenwolke wurde und die bereits angesplitterte Tür weiß aufglühte. Sie warf sich zu Boden. Ein schauriges Brüllen wie von einem wütenden Drachen ertönte von der Tür her. "Flach liegenbleiben, nicht atmen!" wisperte Deeplooks Gedankenstimme.
Diana hörte das wilde Brüllen und das Klatschen mächtiger Krallen auf dem Boden. Sie hörte ein sehr erzürntes Grollen. Dann erklang ein schriller Schrei, der in der Tonhöhe anstieg und dann schlagartig leiser wurde. Diana blieb drei Sekunden liegen. Doch als sie hörte, dass ihre Gegnerinnen nur noch um drei Windungen herumkullern mussten sprang sie todesmutig auf und blickte zur Tür. Diese war mitsamt Rahmen aus der Wand gefetzt. Die Wand war stark verrußt. Dahinter öffnete sich eine gewaltige Halle.
Diana lief los und überquerte die noch glühenden Reste der Türschwelle mühelos. Sie blickte sich schnell mit dem Durchblickmodus ihrer Brille um und erkannte, dass sie in einer Bücherei angekommen war. Regale reihten sich an den waagerechten Wänden. In der Mitte stand ein großer Tisch mit nur einem einzigen Stuhl. Ebenso standen mehrere Truhen und Metallkisten. da. Eine der Eisenkisten strahlte eine blutrot-tiefblau wechselnde Aura aus. Darüber drehte sich in blutroter Koboldschrift der Text: "Sei gewarnt vor dem Inhalt, Gefahr außer Einordnung!"
"Gut, später prüfen", dachte Diana. Denn hier musste sie erst einmal ihre beiden Gegenspielerinnen erwarten und erledigen.
Sie lief bis zum anderen Ende der Halle, zog den Bogen und einen der nun noch 98 tödlichen Pfeile frei. Sie legte den ersten Pfeil auf die Sehne. Wen sollte sie zuerst töten, die Hexe mit den magischen Augen, weil diese sie sehen konnte? Nein, sie musste erst die Feuerschwertkämpferin töten, weil sie als schwarze Spinne gegen die Pfeile gefeit war. Sie durfte keine Gelegenheit haben, sich zu verwandeln oder ihr verfluchtes Feuerschwert in die Schussbahn zu halten.
Die zwei sich für sehr mächtig haltenden Hexen Anthelia und Albertrude sausten durch die abwärts führende Spirale. Albertrude dachte ihre Beobachtungen an Anthelia weiter. "Mir würde alles aus Mund und Hinterteil rausfallen, wenn ich mich so schnell kullern ließe", dachte sie. "Womöglich dämpft der Zauber jedes Schwindelgefühl, und sie hat die Augen zu, bis sie irgendwo gegenschlägt", dmentiloquierte Anthelia, bevor sie mit "Glisseo maxima" die nächste Spiralwindung rutschig machte.
Jetzt knallt sie wo gegen, eine Tür mit einer starken Aura, noch etwa zwanzig Windungen unter uns", dachte Albertrude und kämpfte um ihre Balance.
Als sie eine weitere Windung nach unten gerutscht waren hörten sie das Aufbrüllen eines Ungeheuers von weiter unten. "Oha, ein lodernder Feuerfüßer, lange keinen mehr gesehen. Muss Ladonna wohl noch einige Eier von stiebitzt haben, bevor Sardonia sie erstarren ließ."
"Viel Feind, viel Ehr'", mentiloquierte Anthelia und dachte daran, was Sardonia und sie über jene legendäre Züchtung gelernt hatten, die wie der Basilisk auf Herpo dem Üblen zurückzuführen war. "Entwarnung, nur ein Dinocustos-Fluch, der bei unberechtigtem Türöffnen freigesetzt wurde, aber heftig stark war der. Ist jetzt weg, weil er weder auf Sicht noch auf Gefühlsausstrahlung zielen konnte. Im Moment kann ich sie nicht sehen, weil wir gerade noch zu hoch über ihr sind. Aber was glaubst du, macht sie, wenn sie genug zeit hat?"
"Ihren Flitzebogen rausholen und spannen", mentiloquierte Anthelia. "Wer ist die gefährlichere für sie, du oder ich?" dachte Albertrude ohne voll zu mentiloquieren.
"Du kannst sie sehen und auf sie zielen. Ich kann ihren Pfeilen nur widerstehen, wenn ich in der Spinnenform bin. Deshalb wird sie wohl versuchen, mich in meiner Menschengestalt zu erwischen", schickte Anthelia zurück. "Was macht man dagegen?"
"Unsichtbarkeit oder Illusionszauber", brachte Anthelia vor. "Besser ist was anderes. Am Ende kann die wie Kobolde durch Verhüllungen oder Illusionen sehen. Aber mir fällt gerade was ein. Mal sehen, ob das geht."
Sie rutschten weiter, bis sie auf einer leicht ansteigenden Auslaufbahn ankamen, die sie wie eine Skisprungschanze nach oben schleuderte und durch die weggesprengte Tür trugen. Der hier lauernde Dinocustos-Fluch war ja schon verbraucht.
Da kamen sie an. Diana sah, dass die mit den magischen Augen zuerst durch die Türöffnung flog. Dahinter folgte - die schwarze Spinne, die jedoch die Scheide mit dem Feuerschwert auf dem Rücken trug. Offenbar konnte es nicht in die verdammte Verwandlung einbezogen werden. Also musste sie schnell die mit den Augen erwischen, damit sie sich mit der Spinne mehr Zeit nehmen konnte. Sie zielte, während die in menschlicher Gestalt steckende Gegnerin ihren Fall abfing und sofort zur Seite wegsprang. Sie führte den Pfeil nach. Sie musste doch nur treffen. Da passierte was unerwartetes. Zwischen ihr und der mit den Augen entstand eine halbdurchsichtige Wand wie aus stark verrußtem Glas, ein schwarzer Spiegel. Als ihr das bewusst wurde hatte sie jedoch die Bogensehne bereits losgelassen. Der Pfeil schwirrte innerhalb einer Sekunde auf das Ziel zu und prallte darauf. Diana hörte ein Pong und ein Schnalzen. Sie hatte sich vorsorglich auf die Knie fallen lassen und sah, wie der abgeschossene Pfeil zu einer hölzernen Sprungfeder zusammengeschoben mit irrwitziger Geschwindigkeit einen Meter an ihr vorbeiflog. Sie sah, dass die Spitze schwarz und plattgedrückt war. Schnell wechselte sie ihre Position. Die konnte unmöglich mehrere schwarze Spiegel auf einmal aufrufen. Sie meinte jetzt freies Schussfeld zu haben. Da sprang die schwarze Spinne zwischen sie und die Hexe mit den magischen Augen. Die konnte sie so nicht erschießen. Ja, und von der anderen bekam dieses Biest Anleitungen, wo sie, ihre Feindin, gerade hockte. Sie rannte schnell zur Seite, weil die Spinne schon wieder diese Gemeinheit mit den Fangfäden ansetzte. Weil sie lautlos lief konnte sie nicht gehört werden. Doch eines der graublauen Augen folgte ihr mühelos. Selbst als sie weit um den schwarzen Spiegel herumlief, um freies Schussfeld zu bekommen und sich das sie beobachtende Auge in den Kopf seiner Besitzerin hineindrehte war sie sich sicher, weiterhin unter Beobachtung zu stehen.
Die Spinne brach derweil ihren Angriffsversuch mit Fangfäden ab und rannte in die neue Richtung. Diana wollte gerade wieder auf die mit den magischen Augen zielen, als die Spinne wie von einem Satz Sprungfedern getrieben lossprang und über die Hexe hinwegsetzte. Diana machte einen gewaltigen Hechtsprung nach rechts, der sie fast gegen ein Regal prallen ließ. Die Spinne landete und erbebte. Diana erkannte, dass der Bogen ihr gerade nichts einbrachte. Sie musste es mit dem Zauberstab erledigen.
Sie warf sich den Bogen über die Schulter, zog den Zauberstab frei und zielte auf die Hexe mit den magischen Augen. Doch die hatte bereits ihren eigenen Zauberstab freigezogen und zielte auch auf sie. Wer würde schneller sein?
"Avada Kedavra!" stieß Diana mit ganzer Wut und Gnadenlosigkeit aus. Doch als sie das zweite Wort ausrief zuckte sie geblendet zurück. Die andere strahlte urplötzlich so hell wie die Mittagssonne, ja noch heller. Ihre Brille erbebte und verdunkelte sich schlagartig, eine Vorkehrung gegen Blendzauber. Doch das war taktisch sowas von verfehlt, weil sie nun auch nichts sehen konnte. Dafür verstärkte sich ihr Gehör auf das zehnfache. Ihr Todesfluch dröhnte wie ein ganzes Rudel Harpyien in ihren Ohren. Hatte sie getroffen, war die Feindin tot?
Im nächsten Moment hörte sie einen lauten Knall, gefolgt von einem wilden Prasseln, das aber wegen des unangenehmen Pfeiftons in beiden Ohren wie durch dicke Watte gefiltert klang. Das war die überdeutliche Antwort. Vor allem wusste sie, dass sie gleich angegriffen würde. Sie ließ sich hinten überfallen und kroch auf gut Glück davon, bloß kein deutliches Ziel bitend. Ihre Rüstung erbebte, und durch das schmerzhafte Pfeifen in ihren Ohren klang Deeplooks Stimme. "Der Sonnenlichtmantel, Zwergendreck. Hinter die Eisenkiste! Warte bis der Helm deine Ohren wieder frei macht!"
"Die sind kaputt, du nerviger Neunmalkluger", dachte Diana höchst verzweifelt. Doch gerade wurden die Brillengläser wieder durchsichtig. Sie erkannte jetzt, dass die Bücherei in helles Licht getaucht war. Sie Meinte noch den Ansatz von "Avada" zu hören, doch es kam kein grüner Blitz der sie aus der Welt stieß. Offenbar hatte die andere noch rechtzeitig davon abgesehen, den Todesfluch irgendwo hinzuschicken, wo er mehr Schaden anrichten konnte.
Sie sah aus den Augenwinkeln, wie die gerade aus reinem Sonnenlicht zu bestehen scheinende ihre Position wechselte, wohl, weil sie wartete. Diana sprang auf und weit nach vorne. Ihre zwergenstämmigen Kraft- und Gewandtheitsanteile halfen ihr, hinter einer der Truhen Deckung zu nehmen. Falls die verfluchte Sonnenbeschwörerin auf sie zielen wollte würde sie vielleicht wertvolle Schriften vernichten. Dianas Pech war nur, dass sie gerade nur ein lautes Pfeifen in den Ohren hatte und die andere nicht ansehen konnte, ohne entweder geblendet zu werden oder dass ihre Brille sich wieder totalverdunkelte, was für sie auf das gleiche herauskam. Also brachte es der über ihrer Schulter baumelnde Bogen auch nicht. War die Spinne im Stande, bei dieser Helligkeit nach ihr zu suchen? Sie blickte sich vorsichtig um. Wieso konnten diese Gläser des wahren Blickes sich nicht teilverdunkeln wie diese in letzter Zeit so hochgelobten Gleitlichtbrillen? Sie sah mit leicht brennenden augen, wie die schwarze Spinne auf die Regale und Truhen zutrippelte. Sie musste ja nicht in die sonnengrelle Aura um den Körper der anderen hineinblicken. Da meinte sie, warme, sich drehende Bürsten in beide Gehörgänge fahren zu fühlen. Sie erschrak darüber so heftig, dass sie fast den Zauberstab aus der Hand fallen ließ. Sie hörte über das Pfeifen hinweg ein leises Schaben. Dann fiel das Pfeifen in der Tonhöhe und Lautstärke ab, bis es mit einem vernehmlichen Knacklaut endete. Sie fühlte, wie diese unheimlichen Ohrenbürsten sich wieder zurückzogen. Dann hörte sie wieder ganz klar und frei von inneren Störgeräuschen. "Na, ist mein Helm gut oder ist er gut, mein wildes Schützenmädchen?" hörte sie Deeplooks Gedankenstimme. Diana dachte nur, dass sie das nicht gewusst hatte. Doch dann fiel ihr ein, dass sie zwei Gegnerinnen hatte, von denen die eine immer noch so hell wie aus der Sonne selbst geschnitten strahlte und die andere auf acht langen, haarigen Beinen immer näher kam. Sie hatte sie schon springen gesehen. Wenn sie noch fünf Meter näher kam konnte dieses Biest sie locker anspringen. Nichts da!
Zuerst zauberte sie ungesagt den schwarzen Spiegel genau in die Lauf oder Sprungbahn der Spinne. Wenn sie einem Fluch unterlag würde sie genauso zurückprallen wie ihr Pfeil gerade eben. Die Spinne entspannte sich und begann dann, einen anderen Weg zu laufen.
Diana riss ihren Zauberstab senkrecht nach oben und stieß halblaut aus: "Tenebrae maxima!" Leider konnte dieser Zauber nicht ungesagt gewirkt werden. Aber er konnte vielleicht den Sonnenzauber der anderen auslöschen. Schlagartig wurde es in der Bücherei dunkel. Diana beließ die Brille im Gefahren- und Fallensichtmodus und blickte zu der anderen. Diese stand immer noch in einem hellen Licht da. Diana sah, wie meterlange blaue und rote Flammenzungen aus der Lichtaura hervorschossen und sich in der beschworenen Finsternis verloren. Diana blickte sich um und erkannte nun eine blau-grüne Abbildung der schwarzen Spinne, die vor dem Schwarzen Spiegel hockte. Da zerbarst dieser unter einem Lichtzauber, über dem Diana für eine Sekunde das Wort "Wundheilzauber Stufe 2" lesen konnte.
"Ich idiotin", dachte Diana. "Achtung, schwarze Spinne!" warnte sie Deeplook. Da lief diese achtbeinige Abscheulichkeit auch schon los, um ihrem Geruchsinn zu folgen. Diana wusste, dass sie ihre Deckung nicht mehr lange halten konnte. Außerdem erkannte sie, dass ihr Verfinsterungszauber wieder lichtdurchlässiger wurde. Sie sah, wie die Spinne von links kam und die andere in ihrer verfemten Sonnenlichtumkleidung von rechts kam, jedoch ohne Angriffszauber auszuführen. Sie wollte offenbar die Truhe nicht beschädigen, hinter der Diana immer noch hockte. Die drei Hexen bildeten ein Dreieck, erkannte Diana. Sie überlegte, ob sie die Spinne gezielter mit dem Bogen treffen konnte, in eines ihrer Augen vielleicht oder dann, wenn sie ihr Maul öffnete einen Pfeil hineinjagen konnte. Da durchbrach etwas die immer schwächer werdende Finsternis.
Ponthophila Anastasios rammte den Schlüssel gegen die nächste Tür, auf der ein krakenartiges Ungeheuer aus tiefschwarzer Farbe aufgemalt war. Sie war sich sicher, es mit einem Schreckenswächter, einem besonderen Vergeltungsfluch, zu tun zu bekommen. Doch sie mussten da unten hin, da wo die magischen Kraftströme zusammenflossen.
Die Tür erbebte. Dann löste sich das aufgemalte Meeresungeheuer. Doch Ponthophilas Gefährtinnen waren wachsam. Sie sangen in einem auf ihre stärkste Stimmlage ausgerichteten Dreiklang die Worte der Bindung des Gefräßigen Feindes. Das wie ein krakenförmiger Nachtschatten aussehende Gespenst erbebte, glühte silbern auf und schrumpfte dann unter einem in der Tonhöhe aufsteigenden und in der Lautstärke abfallenden Zischlaut zu nichts als nichts zusammen. Der Weg war frei.
"Ui, die Fangarme hatten mich fast", sagte Ponthophila Anastasios. "Danke, Melana, Ophelia und Eudokia!"
"Es war ein Schreckenswächter, der aus der Angst des Ertrinkenden und vor achtarmigen Meerestieren zusammengefügt und mit Eigenblut verstärkt wurde", sagte Eudokia Philoponthos vergrätzt. "Die Dreiblütige hat wahrlich grausame Taten vollbracht, um ihre Macht zu mehren."
Jene, die auf den hellen Pfaden wandelten nickten ihr zu. Jene, die die Gefilde der Dämmerung als ihre geistige Heimat betrachteten wiegten nachdenklich die Köpfe. Jene, die sich offen oder heimlich zu den dunklen Pfaden der Macht bekannten verzogen über diese Feststellung nur ihre Gesichter zu einem verkniffenen Grinsen. Andererseits war das hier für alle die Warnung, dass selbst die größte Macht endlich war, egal auf welchen Wegen sie errungen und gestärkt wurde.
"Schwester Ponthophila, die Erde ist erzürnt. Unsere Taten haben das hier ruhende Gefüge gestört und verändert", warnte Chloe Chrysopolis, die leibliche Schwester von Hestia Chrysopolis, die sich der Erde und der Pflanzenmagie verbunden fühlte, während Hestia dem Feuer aus Sonne, Herd und Erdkern ihre Aufmerksamkeit widmete.
"Ich fühle, dass von tief unten neues Tiefenfeuer nach oben drängt. Es kann dazu führen, dass dieser Berg in wilde Wut gerät und uns mit seinem feurigen Zorn zerstört", sagte Hestia. Die wie sie dem Feuer vertrauten Hecatianerinnen nickten.
"Wir können uns nicht darauf verlassen, dass diese Wut des Berges die Hinterlassenschaft der Dreiblütigen vernichtet. Wir müssen dort hin, soweit wir kommen", sagte Ponthophila Anastasios. Keine widersprach ihr da. Alle wussten, dass sie wortwörtlich auf einem Vulkan tanzten.
Auf einmal wurde sie von smaragdgrünem Licht eingehüllt. Sie verlor den Boden unter den Füßen. Für genau einen Atemzug meinte sie, wie ein Fisch in einem unendlichen Meer aus grünem Licht zu schwimmen. Dann fühlte sie, wie sich alles um sie herum verhärtete. Ihre Arme und Beine, Ihr Körper, alles wurde von einer Erstarrung befallen. Ihre Lungen kämpften gegen einen sich fest um ihren Brustkorb schließenden Ring an. Auch fühlte sie es immer kälter werden. Ihr Herz begann wilder und schneller zu schlagen. Sie röchelte nach Luft. Doch was sie einatmete war etwas wie eine warme, klare Flüssigkeit. Ihr Kopf begann zu vibrieren.
"Zwergendreck, was hast du gemacht, Diana. Wir sind von der Erde weg. Wir sind gefangen in einer erdlosen Welt. Zwergendreck! Das ist wie wo ich zwischen meinem Helm und diesem goldenen Seelenschlucker festhing. Wir werden sterben und dann in diesem grünen Licht verbrennen, einfach verbrennen!" zeterte Deeplook über das nun auf einer mittleren Tonlage klingende Gebrumm des Helmes hinweg. Diana Camporosso alias Gradanoxa Deeplook teilte dieses Gefül von völliger Hilflosigkeit und Todesangst. Auch wusste sie nicht, was ihr da zugestoßen war. Hatten die zwei Hexen irgendwas gezaubert, ohne dass sie es mitbekommen hatte. Oder hatte eine Falle Ladonnas sie alle erwischt, und das hier war ihre letzte Minute im Leben.
"Diana Camporosso, Trägerin des gläsernen Helmes des Deeplook", hörte sie wie aus allen Richtungen zugleich eine ihr unbekannte Frauenstimme sagen. "Ich wusste, dass du der Verlockung verfallen und nach Ladonnas Erbe suchen würdest. Ich konnte dich nun ergreifen, weil du es gewagt hast, in Ladonnas Schriftenraum der Macht einzudringen. Du fühlst wohl, dass die aus Koboldbeständen und Koboldzauber erschaffene Rüstung ohne Verbindung zur Erde deine eigene Kraft aufsaugt. Ich könnte jetzt warten, bis du stirbst und dich und den in dir eingesperrten Geist Deeplooks danach in mich aufnehmen und deinen Leib und seinen Helm irgendwo auf der Welt ablegen. Doch ich will, dass du weiterlebst und eine Vermittlerin zwischen den Erdkindern und den Menschen wirst. Da du dabei auch Feinde zu fürchten hast werde ich jetzt nicht verlangen, dass du den Bogen des Anhor und die beigefügten Todespfeile an jemanden abgibst, zumal ich erkennen muss, dass er dann von jemand anderem geführt und wohl gegen Unschuldige eingesetzt wird. Außerdem kannst du damit auch die Feinde von Erdkindern und Menschen bekämpfen, die blutdurstigen Nachtkinder und andere nicht in reiner Lebensschöpfung zwischen Liebenden entstandene Wesen. Dies sei dein Auftrag. Sei die Jägerin der Menschenfeinde und die der Erdkindfeinde! Werde die Beschützerin jener, die zu der einen oder der anderen Art gehören! vereitele das Reich der Nachtkinder! Ja, und finde einen, der dich um deiner Selbst liebt, ohne ihn zu zwingen und empfange von ihm von jedem Geschlechte ein Kind, auf dass du am Ende deines Lebens die Erbschaft Deeplooks und Anhors an deinen Sohn oder deine Tochter weitergeben wirst! Trachte nicht mehr nach der Herrschaft über alle. Denn was Ladonna lernen musste, die Welt beherrschen zu wollen führt zur eigenen Vernichtung. Oder sie führt dazu, alles zu zerstören, was einem Angst und Wut bereitet, sodass am ende nichts bleibt, was sich zu beherrschen lohnt und unendliche Einsamkeit und Selbstverachtung. Das haben Regina und Ladonna Montefiori schmerzvoll lernen müssen, das hat Sardonia erfahren müssen und auch herrschsüchtige Wahnwitzige wie Grindelwald, Voldemort und Vengor haben dies lernen müssen. Begeh nicht ihre Fehler und richte dein Streben und Handeln auf das Miteinander und Füreinander aus, nicht auf die gnadenlose Unterwerfung!
Ich werde dich nun an einen Ort bringen, von dem aus du in deine alte oder neue Heimat zurückkehren kannst, um meinen Auftrag zu erfüllen, den Auftrag der grünen Wächterin."
Diana wimmerte in Gedanken. Dann versuchte sie, etwas zu sagen. Doch sie bekam gerade genug Atem, um nicht ohnmächtig zu werden.
Im Nächsten Moment fühlte sie Grund unter den Füßen. Das unendlich erscheinende Meer aus smaragdgrünem Licht war verschwunden. Diana stand auf festem Boden. Sie hörte Meeresrauschen in der Ferne. Dann sah sie sich um. Es war Nacht! Sie blickte nach oben. Sie sah die Sterne. Es waren die Sterne des nördlichen Nachthimmels. Sofort fühlte sie, wie dicht die Linien der Eisenweisekraft hier zusammenliefen. Sie fühlte die magnetischen Kraftlinien und auch, dass die Starre aus ihrer Rüstung wich, nun wo diese wieder sicher mit der sie belebenden Erde verbunden war.
"Wer und was war das?" wimmerte Deeplook. "Eine transvitale Entität, eine übergeordnete Art Geisterwesen, die zwischen unserer Welt und Totenwelt wechseln kann und dabei stärker ist als jedes bedauernswerte Gespenst, das in verfallenen und verlassenen Häusern herumspukt", sprudelte es aus Dianas Gedächtnis.
"Die hat uns gerade mal eben irgendwo abgesetzt. Wo genau?" wollte Deeplook wissen. "Auf einer Insel, irgendwo weit westlich von da, wo wir gerade noch waren. Ich muss die Sterne genau beobachten. "Befiehl Ortsbestimmung!" grummelte der Geist Deeplooks. Sie fühlte, dass er seinen Ärger über die geäußerte Todesangst gerade noch unterdrücken konnte. Diana befahl ihrer Brille die Ortsbestimmung und blickte nach oben. Dass diese vom Bund der zehntausend Augen und Ohren gemachten Brillen das konnten hatte sie bisher nicht herausgefunden. "Du hast mich nicht danach gefragt", kam die schon leicht spöttische Antwort Deeplooks zurück.
Die Gläser des wahren Blickes zeigten ihr die Sterne. Dann entstanden grüne und rote Linien am Himmel, die vom Scheitelpunkt bis zum Himmelssaum reichten und nun noch durch blaue Linien des Erdmagnetfeldes ergänzt wurden. Die Linien blinkten im Wechsel mit der blauen Schrift: "BITTE WARTEN!"
Nach der zehnten Wiederholung dieser Aufforderung las sie durch die Brillengläser in grüner Schrift. "Du stehst auf Ellesmere Island im Hoheitsgebiet Kanada, 315 Tausendschritt nördlich der Ansiedlung Grise Fjord. Keine Gringottsniederlassung. Keine Niederlassung des Bundes!!!"."
"Dieses Unwesen hat uns am Rande des Nordpolarmeeres abgesetzt", zeterte Deeplook. "Hier wohnt doch kein Erdkind."
"Zu weit zum Apparieren. Ja, und für einen Portschlüssel ist es auch sehr weit, aber möglich."
"Bitte heute keine Erdlosigkeit mehr. Appariere oder fliege, bis du weißt, wie wir in dein Haus oder auf die zwergendreckige Insel Ladonnas zurückkommen, aber bitte keinen Portschlüssel!" wimmerte Deeplook. Diana verstand ihn. Doch dann erkannte sie auch, warum jene grüne Wächterin sie soweit von Europa und Afrika abgesetzt hatte. "Sie will Zeit gewinnen, um Ladonnas Erbe zu zerstören. Die kann doch jede da wegholen, die da gerade drangeht."
"Den großen grauen Eisentroll rufen, um die Insel zu fressen vielleicht auch. Dieses grüne Unwesen will keine Feuerrosenschwestern haben."
"Ja, und wohl auch keine Königin der Erdkinder", gedankengrummelte Diana. Sie sah gerade jeden Ansatz ihrer Pläne zu Staub zerfallen. Denn ihr war klar, dass sie beobachtet wurde. Auch wenn die andere ihr das nicht offen gesagt hatte wusste sie, dass sie förmlich auf Bewährung war. Doch dann kehrte ihre Entschlossenheit zurück. "Wer sagt, dass sie nicht genau das will, dass ich mit dir zusammen die Erdkinder regiere, auch und vor allem, um sie davon abzubringen, sich gegenseitig umzubringen oder mit den langen Leuten einen Vernichtungskrieg anzuzetteln. Ich mach erst mal was sie will. Vielleicht kann sie uns auch nicht immer beobachten, sondern nur da, wo was von Ladonna übergeblieben ist. Sonst hätte sie mich doch schon viel Früher eingefangen."
"Und was ist, wenn sie dich doch überall finden und einfangen kann? Sie hat gesagt, dass sie uns töten kann, dich und mich. Ich will nicht in einem ewig bestehenden Weibsstück eingekerkert sein. dass Ladonna mich dir einverleibt hat reicht mir schon aus."
"Da sind wir einer Meinung, Deeplook", bestätigte Diana. Dann beschloss sie, auf dem vorsorglich eingesteckten Besen zum Festland zu fliegen und von dort aus einen schnellen und unauffälligen Weg nach Südafrika zu finden, wo ihre Leute auf sie warteten.
"Es gibt in Toronto hoffentlich noch die Niederlassung Nordblick zwei. Von da aus kannst du einen Transport nach Südafrika erhalten, wenn Ladonna diesen Stützpunkt nicht zerstört hat."
Diana Camporosso willigte ein. Dann stieg sie auf ihren Besen und flog erst einmal in Richtung Südwesten davon. Über das, was ihr gerade eben widerfahren war, wollte sie erst weiter nachdenken, wenn sie in ihrem sicheren Zuhause ankam.
Albertrude sah es und staunte. Anthelia sah es auch und fühlte sogar eine unvergleichlich starke Geistesausstrahlung. Eine smaragdgrüne Lichtkugel fiel von der Decke und landete hinter der Truhe. Dann blähte sie sich auf und nahm die Form einer vier Meter großen Frauengestalt aus reinem grünen Licht an. Anthelia konnte einen leicht verschwommenen dunklen Umriss in der Körpermitte der Erscheinung sehen. Dann verschwand sie mit einem leisen Plopp.
Albertrude starrte mit ihren beiden Augen auf die Stelle, wo sich das gerade eben abgespielt hatte. "Eine TVE, eine sogenannte positive TVE, eine übergeordnete Daseinsform. Ich habe nicht gedacht, sowas einmal zu sehen zu bekommen. Die hat sich die Bogenschützin einverleibt und ist mit der disappariert. Schwester, ich glaube, wir sollten ganz schnell machen, dass wir von hier wegkommen, so ungern ich das sage. Ich habe gesehen, wie die andere in der TVE eingeschlossen und erstarrt wurde, bevor die einfach verschwunden ist."
"Ich weiß, was diese Daseinsformen können, wenn genug Seelen in ihnen vereint sind", grummelte Anthelia. "Ja, und ich gebe dir recht. Aber nicht sofort. Die wird sich die andere erst einmal vornehmen, was die hier wollte. Das wird mindestens eine oder zwei Minuten bbrauchen. "Hast du einen Portschlüssel dabei?"
"Du schätzt mich richtig ein, Schwester Anthelia", erwiderte Albertrude, die nun wieder ganz ohne grelle Sonnenlichtaura dastand. "Dann bleibt es bei der Absprache, jede soviel, wie sie tragen kann. Ab jetzt!" sagte Anthelia und peilte bereits Regale an, ob dort interessantes Material war.
Albertrude blickte noch einmal auf die glänzende Kiste und erkannte, dass es Occamy-Silber war. Dann sah sie die magischen Stränge und den Inhalt und schüttelte den Kopf. Zwar interessierte sie der Inhalt. Doch als sie mit der Aurensicht genauer hinsah erkannte sie eine kugelbäuchige Amphore, in der offenbar Schriftrollen steckten. Sie sah jedoch auch,, wie aus der Amphore zwar langsam aber eindeutig lebendig lange, dunkle gezähnte Fangarme hervortasteten und gegen die Wandung der Kiste stießen, was immer mit einer schwachen Magieentladung und -wiederaufnahme einherging. Nein, wenn sie das richtig sah steckte in der Kiste ein besonders mächtig bezaubertes Buch aus der Zeit, wo Bücher noch als Lose Papyri in Rollen oder Amphoren zusammengefasst waren, dass womöglich seinen Leser oder schon seinen Besitzer beeinflussen und unterwerfen konnte. Sowas kannte sie aus Gertrudes Erinnerungen und aus Berichten der Lichtwachen über die Kammer des Schreckens in Hogwarts von 1993. Dann erkannte sie eine Kiste, auf der "Vollbestand Schattenkerker Deutschland" stand. Ebenso sah sie eine Kiste, auf der "ttutti dokcumenti secreti di Crypta Tenebrosa, Italia" stand. Als sie auf Durchdringung wechselte erkannte sie viele kleine Schachteln, in denen noch winzigere Bücher steckten, Centinimus-Reisebibliotheken. Immerhin hatte Ladonna das noch ausgenutzt, dachte Gertrude Steinbeißers Erbin. Dann beschloss sie, das Deutsche und das Italienische Paket für den eigenen Hausgebrauch mitzunehmen, vor allem das Buch "De artibus creandi, Homunculorum, automatorum et creaturarumartificialium" von Giacchino Spalanzani, dass sie nach kurzem Heranholblick in der Italienischen Kiste sah.
Sie öffnete den Rucksack und dann die Kisten. Dann hielt sie den Rucksack mit der Öffnung in Richtung der beiden Truhen und zischte "Carpe monstratum!" Der Rucksack pulsierte wie ein schnell schlagendes Herz. Mit jedem Pulsschlag saugte er die verkleinerten Reisebibliotheksschränke aus den Kisten, bis keine mehr drin war. Er wurde dadurch jedoch nicht schwerer oder praller, da er einen besonderen Rauminhaltsvergrößerungszauber enthielt. Dafür brauchte Albertrude bereits dreißig der empfohlenen sechzig Sekunden. Sie stellte fest, dass sie keine Bücher aus den Regalen einsaugen konnte, weil die durch einen entsprechenden Schutzbann gesichert wurden. Doch mit bloßen Händen konnte sie noch zehn dicke Bücher ohne eigene magische Aura aus den Regalen ziehen und in ihrem magischen Rucksack versenken. Dann ließ sie die Kisten wieder zuklappen.
Das gleiche tat Anthelia, die sich mehrere Werke auf Lateinisch und sogar auf Altfranzösisch einsteckte. Dann entdeckte sie noch eine an der Wand hängende gerahmte Landkarte mit der Überschrift "Tumuli Titanium" und hätte fast durch die Zähne gepfiffen, als sie Symbole aus Altaxarroi darauf erkannte und sah, dass es eine Karte war, die den gesamten Atlantik mit Europa, Afrika und den beiden TeilKontinenten Amerikas enthielt. Die Karte maß gut und gerne drei mal zwei Meter. Anthelia hob sie telekinetisch an und prüfte, ob sie sie einschrumpfen konnte. Es gelang. Sie war also nicht bezaubert. So ließ sie sie zu sich hinfliegen und in ihrem Rucksack verschwinden. Da sie davon ausging, dass die hier abgestellten Bücher und Schriftrollen nicht aus ihren Regalen herausbeschworen werden konnten suchte sie schnell nach weiteren Hinweisen auf die damals schon mythischen Grabstätten der turmhohen Krieger, deren Wirken auch Eingang in die griechische Mythologie gefunden hatte."Schwester, die Minute ist um, ich bin soweit durch. Gute Heimreise!" rief Albertrude. Anthelia erschrak erst. Doch dann begriff sie. Sie rannte schnell zu einer Truhe, auf der "Hostes Sagarum" stand. Ihre Wahrnehmung für dunkles Zauberwerk schlug an. Sie fühlte, dass sie belauert wurde. Also wirkte eine auf sie persönlich oder jede Hexe feindselige Magie. Wie Ladonna es geschafft hatte, diese Machtquelle hier abzustellen würde ihr geheimnis bleiben.
"Willst du wirklich den Hexenfresser von Gregorianus Planopedes haben, Zwei-Seelen-Trägerin?" hörte sie eine rein geistige Frage und erstarrte. Wer war das. "Ich war das, die grüne Wächterin. Verschwinde mit dem, was du dir in meiner Abwesenheit eingeheimst hast oder erwarte dein Ende in Feuer und Glut, Tochter der Nigrastra und Verschmelzung mit Naaneavargia."
Anthelia blickte sich um. Gerade verschwand Albertrude in einer sonnengelben Portschlüsselspirale. Sie hatte die Gedankenstimme nicht gehört.
"Du bist die, die die Unsichtbare und Unhörbare fortgebracht hat. Wieso hast du mich und meine Bundesschwester nicht ...?" dachte Anthelia eine Frage. Da erbebte die Erde. Gleichzeitig hörte sie die Gedanken der einundzwanzig Hecatianerinnen immer näher kommen.
"Weil die andere mir gehörte, auch wwenn sie das nicht wusste und bestreiten würde. Du willst die Welt der Menschen beherrschen und auf einen deiner Meinung nach besseren Weg führen, genau wie die mit den magischen Augen, die doch nicht mutig genug war, das bewachte Buch von den Säulen der Stofflichkeit an sich zu nehmen, weil sie dessen ausgreifende Geistesarme erspäht hat? Dann bedenke, was ich jener, die ihr gejagt habt und die euch jagen wollte sagte: Strebe nicht danach, die ganze Welt beherrschen zu wollen. Du würdest sie nur in Schutt und Asche legen und dann als einsame, dich selbst verachtende Seele zurückbleiben, bis der Tod sich deiner erbarmt und aus der Welt trägt. Kein Herrscher und keine Herrscherin bei gesundem Verstand will eine zerstörte Welt ohne Volk beherrschen, und wer zu viel will wird dort enden, wo alles begann, im Nichts und ohne weltlichen und geistigen Reichtum."
"Wer warst du früher?" gedankenfragte Anthelia, die sich sicher war, gerade nicht in Gefahr zu sein. "Ich war, bin und werde sein, die Wächterin am Fluss der rastlosen Seelen. Mehr zu wissen steht dir nicht zu, Anthelia und Naaneavargia. So entschwinde mit deiner Beute und nutze sie weise, wenn du nicht von ihr verschlungen und verdaut werden willst!"
Anthelia fühlte, wie die vorhin sehr intensiv verspürte Ausstrahlung, die einen gewissen Nachhall hinterlassen hatte, nun ganz verschwand. Sie stand alleine in der Bibliothek Ladonnas, umgeben von einer Fülle Macht und Erfolg verheißender Schriften. Ja, und irgendwo gab es noch Gegenstände, die wie ihr Schwert mehr Macht verliehen. In dem Moment, wo sie das dachte erbebte die Erde noch mehr. Sie lotete schnell die Erdmagie aus und erkannte, dass sich durch alles was in den letzten Minuten ereignet hatte ein immer stärkerer Widerstand aufbaute. Der Vulkan würde dadurch zum Ausbruch kommen und alles zerstören. Sie musste wirklich weg von hier.
Sie zog ihr Feuerschwert und entzündete es. Seine Flammenklinge drängte nach unten. Ja, da war wahrhaftig eine Menge in Bewegung. "Sag mir wo du hin willst oder versuche, gegen diese herrliche Wut da unten anzukämpfen", hörte sie Yanxothars Geistesstimme. Er klang provokant aber auch ein wenig verunsichert. Warum sollte sie dagegen ankämpfen, um alles hier zu bewahren? Dann hörte sie einige unachtsam ausgestrahlte Gedanken der jüngeren Hecatianerinnen. Das trieb sie dazu, nicht mehr hierbleiben zu wollen.
Sie beschwor den Feuersprung des Phönix mit Ziel Tyches Refugium. Von dort aus wollte sie sich bei Marga bedanken und behaupten, dass die Insel von sehr eifrigen Hecate-Töchtern in die Luft gesprengt worden war. Was die vorhatten kam dem schon sehr nahe.
Als sie durch den scheinbar unendlichen Raum aus verschiedenfarbigem Feuer in den Aufenthaltsraum ihres eigenen sicheren Hauptquartieres übergewechselt war ging sie schnell in den Raum, in dem sie die Zweiwegespiegel hinter Vorhängen aufbewahrte. Sie ließ die Flammen des Schwertes wieder einschlafen und wandte sich dem für Marga Eisenhut eingerichteten Spiegel zu. Sie zog den Vorhang auf und rief ihren Namen. Als sie sich im Spiegelglas erblicken ließ sagte Anthelia nur: "Ladonnas Vermächtnis ist gerade von einer siebenfachen Dreiheit von Hecates Töchtern in die Luft gejagt worden. Schwester Albertine hat gerade noch die centinimisierte Sammlung aus dem deutschen Archiv an sich bringen können. Danke für deine Hilfe."
"Dann gibt es die ganzen Sachen nicht mehr, die Ladonna zusammengehamstert hat?" wollte Marga wissen. "Es ist nichts mehr zu retten gewesen", sagte Anthelia sehr beherrscht. Dass sie sich viele Bücher eingesteckt hatte musste im Moment keine andere außer ihr und Albertrude wissen, und die würde es nicht weiterverraten.
Da unten ist was mächtiges, lauerndes. Aber wir müssen bis zu den Lagerräumen", trieb Ponthophila Anastasios ihre Mitschwestern an.
Die Erde bebte immer wilder. Die Feuerkundigen warnten vor aufsteigender Glut. Alle waren bereit das eine Wort zu rufen, mit dem sie die an ihren Körpern getragenen Portschlüssel auslösen würden, die mit einem magischen Gegengewicht in der Versammlungshöhle der Töchter Hecates verbunden waren.
Endlich erreichten sie nach mehreren Wanddurchbrüchen und Zurückweisung gefährlicher Abwehrzauber den Bücherraum. Hinter einer getarnten Tür, die mit dem immer noch mitgeführten Schlüssel der freien Wege aufgestoßen wurde, fanden sie den zweiten Raum, mit unheimlich knisternden und raschelnden Kleidungsstücken, Taschen und Schuhwerk. "Die sind alle verflucht und locken mit besonderen Stärken und Reichtum, wenn sie getragen werden", warnte Eudokia Philoponthos. Chloe Chrysopolis stimmte dem bei.
"Erfüllt den Auftrag und dann am besten alle zusammenschließen!" befahl Ponthophila. Da schnellten die Ärmel von Mänteln und alten Blusen hervor. Ritterrüstungen erstrahlten in blutrotem Licht und kamen scheppernd und stampfend auf die einundzwanzig Hexen zu. "Die spüren, was wir vorhaben, Schwestern schnell!"
Die einundzwanzig zogen aus besonderen Taschen kleine rote Stofffetzen und warfen sie zielgenau auf die immer unheimlicher wirkenden Kleidungs- und Ausrüstungsstücke. "Wagt nicht, wider uns zu kämpfen oder findet euren Tod!" tönte es blechern aus dem Helm einer Ritterrüstung. Da traf sie einer der roten Stofffetzen Ponthophilas. Danach eilten sie in die Dritte Kammer, wo Waffen aller Art außer modernen Feuerwaffen an den Wänden hingen. "Da ist Vlads Blutdolch. Soll der auch?" fragte eine der Hexen. "Lass den bloß da. Wenn der nach so vielen Jahren wieder Blut kostet wird er unberechenbar", rief Eudokia Philoponthos, eine der mitgereisten Heilkundigen.
Weitere rote Stofffetzen segelten durch den Raum und trafen Vitrinen und Schwerter. Einer traf den erwähnten Dolch mit der blutroten Klinge. In dem Moment entstand über dessen Griff das geisterhafte Abbild eines kriegerischen Mannes, der ihnen zwei messerscharfe Fangzähne präsentierte, bis er wohl merkte, dass der mit Blut getränkte Stofffetzen nicht Labsal sondern Vernichtung bedeutete. Er schrie stumm auf und zerstob in einer Kaskade blutroter Blitze.
"War er das, Vlad Tepes?" fragte eine der jüngeren Hecatianerinnen. "Ja, das war Vlad der Pfähler, Geißel der Osmanen", erwiderte eine der auf Blutmagie und damit zusammenhängende Verzweigungen spezialisierten Hexen.
"Den Amboss da nehmen wir mit. Das ist der Amboss des Hephaistos!" rief Hestia Chrysopolis und deutete auf den klobigen silbrig glänzenden Metallgegenstand bei der glosenden Feuerstelle. Die Feuervertrauten stimmten sofort zu. So beschworen sie ein Tragegeschirr herauf, in dass sie den Zentnerschweren Amboss einhängten. Sieben von ihnen waren nötig, den unbezauberbaren Metallklotz zu transportieren. Die Erdvertrauten sammelten schnell noch alle dazu passenden Werkzeuge ein und verstauten sie in einem Seeschlangenhautsack.
"Haltet den aber aus der Reichweite unserer Mitbrinsel!" befahl Ponthophila Anastasios.
Sie eilten mit dem Schweren Amboss in der Mitte zurück durch den Raum mit den verwunschenen Kleidungsstücken, die mittlerweile von einer blutroten, aggressiven Substanz überzogen und immer mehr zerfressen wurden. Sie schafften es gerade so, nicht von einem damit besudelten Ärmel berührt zu werden.
Im Bücherraum legten sie die letzten roten Fetzen in die Regale und auf die noch stehenden Truhen. "Es sind Bücher verschwunden, Schwester Ponthophila. Da an der Wand hing wohl ein Bild oder eine Karte aus", stellte Hestia Chrysopolis fest. Ponthophila nickte verdrossen. "Wir sind zu spät losgezogen", grummelte sie.
Die Kiste da strahlt was sehr bedrohliches aus. Die auch?" fragte Chloe Chrysopolis.
"Ja, auf jeden Fall ganz zum Schluss, falls wir nicht vorher flüchten müssen!" rief Ponthophila. Hestia lauschte nach unten. Chloe nahm die Hand ihrer Schwester und bildete so einen geistigen Block, der Feuer und Erde zugleich erfassen konnte. "Höchstens noch zwei Minuten, bis die flüssige Glut durch den Steinkorken durch ist", sagte Hestia. Sie sah zu, wie Ponthophila und die anderen neunzehn Mitschwestern die letzten roten Stoffetzen auf große Regale ablegten. Dann warf Ponthophila noch ein rundes Stück Stoff auf die silberne Kiste. "Was immer dort drin ist soll vergehen", sagte sie. Die Kiste erstrahlte sogleich in einem roten Schein. Fast sah es so aus, als könnte dieses Licht den roten Stofffetzen herunterwerfen. Doch dann schnellten aberdutzend feine, blutrote Auswüchse wie haardünne Fangarme aus dem runden Stoff. Das Licht flackerte und erlosch. Dann begann sich der Stoffuntersetzer in das Occamysilber hineinzufressen. Alle hier wussten, dass es dabei die eingelagerte Magie aufnehmen und sich dadurch vermehren würde, gierig fressend, was in seine Reichweite geriet.
Alle zu mir, Kreis bilden, Hände Reichen!" befahl Ponthophila, während die Kiste sich schüttelte und auf diese Weise versuchte, das Stück Stoff abzuwerfen, das unbeirrt weiterwuchs und sich dabei immer tiefer in das Occamysilber hineinfraß.
"Synodia!" riefen alle auf Ponthophilas Kopfnicken aus. einundzwanzig blaue Lichtspiralen verschmolzen zu einem wirbelnden Kreis, der sie umschloss. Das letzte was die der Kiste zugewandten sahen war, dass die rote Masse durch ein Loch in das innere hineinschwappte. Was immer darin war würde vernichtet, wenn es auch nur einen Funken eigene Magie besaß. Dann umfing sie alle der unendlich erscheinende bunte Raum eines Portschlüsseltransportes. So bekamen sie auch nicht mit, wie es in der sich immer mehr auflösenden Kiste laut Ploppte, bevor die rote Substanz vollständig dort eindrang und das magische Silber in sich einschloss.
Das Werk der Einundzwanzig, die ausgeschickt worden waren, Ladonnas Vermächtnis zu vernichten, war im Gange. Überall dort, wo mit Magie getränkte Gegenstände von der roten Masse berührt wurden, vermehrte sich diese je nach Widerstand und magischer Gesamtkraft und fraß auf, was bezaubert war. Hecates blutige Tränen, die wohl gründlichste, gegen alle magischen Reparaturmöglichkeiten bestehende Zerstörungskraft, vertilgte fast alles, was Ladonna Montefiori in Jahrzehnten angesammelt hatte. Dabei geriet das magische Gefüge der Inselfestung endgültig aus den Fugen. Die aus Hecates Tränen entstehende Masse berührte nun auch den Boden und die Wände und fand magische Kraftlinien, an denen sie sich weitertasten und in das eigentlich gegen so vieles gehärtete Gestein hineinfraß. So verloren die Kammern des letzten Vermächtnisses immer mehr Zusammenhalt. Als sie zusammenstürzten spritzte weitere zerstörerische Masse durch die Gegend und fand neue Ziele. Das führte zum endgültigen Aufruhr im Vulkan.
Mit einem heftigen Knall barst der tief unter den Höhlen steckende Lavakorken. Eine über fünfzig Meter breite Fontäne aus glutflüssigem Gestein, durchsätzt mit heißen Gasen, jagte nach oben und flutete alle Gänge, Höhlen und Kammern. Die Gase stauten sich unter den Decken und drückten sie nach oben, bis sie barsten und die feurige Wut des aufgeweckten Berges sich ihren weiteren Weg nach oben bahnte.
Die Truppe italienischer Hexen aus der Sicherheitszentrale erreichte die angegebenen Bezugspunkte um ein Uhr Mittags. Doch als sie in die Nähe der verborgenen Insel kamen wurden Sie Zeuginnen eines unheimlichen Schauspiels.
Aus den Fluten des Meeres schossen blaue, rote und grüne Blitze in den Himmel. Eine farbige Nebelbank kreiselte auf der Stelle. Dann verschwanden die Nebel, und sie sahen einen wild erbebenden Vulkan.
"Der bricht gleich aus!" rief die Anführerin, Paola Grimaldi. "Rückzug mit Gefahrenstufe. Wer immer da noch ist ist des Todes oder schon längst weg!" rief sie noch. "Unser Archiv, die Crypta Tenebrosa!" rief eine der hundert. "Geht gleich in Asche und Rauch auf oder versinkt mit der Lava im Meer", zischte Paola Grimaldi. Ein sehr drängendes grollen und Wummern gemahnte sie, besser die Flucht zu ergreifen.
Sie drehten bei und befahlen ihren Superfalcone-Besen die Gefahrenflucht. In dem Moment brach der Vulkan, der seit vielen Hundert Jahren von keinem uneingeweihten Menschen erblickt worden war, zum ersten und zum letzten mal aus. Er schleuderte eine fast einen Kilometer hohe Fontäne aus Lava, Dampf und glühender Asche in die Luft. Er bebte so heftig, dass er in der Mitte auseinanderbrach. Ein Glutball, mindestens zweitausend Meter durchmessend, dehnte sich über das Meer aus. Wehe jenen, die dort hineingerieten. Auch alle Meerestiere, die in diesen tödlichen Auswurf gerieten fanden den Tod.
Weiter im Norden, in der unterseeischen Hauptstadt der Ägäischen Wassermenschen, erfuhr seine allwasserweite Majestät König Bathos IV., was sich zutrug und dass die ausgespiene Glut aus dem Vulkan sich über dreißigtausend Flossenschläge weit in alle Richtungen ausbreitete. Seltsamerweise kam es zu keinen heftigen Flutwellen.
"Das war der versteckte Feuerberg. Er wurde wiedergefunden", sagte Bathos' Gemahlin Kallineria, die als lebendes Gedächtnis der alten und neuen Geschichten diente, seitdem ihre eigene Mutter eins mit den ewigen Fluten geworden war, wie es hieß, wenn eine von ihnen nach über vierhundert Jahren starb.
Albertrude hatte bereits vor der Abreise damit gerechnet, dass sie mit einem Portschlüssel flüchten musste, so oder so. Doch nun konnte sie das so drehen, als wenn sie einem Notfallplan gefolgt war. Sie prüfte, ob ihr magischer Rucksack fest verschlossen und die in ihm eingefangenen Beutestücke gesichert waren. Dann holte sie den kleinen Leinenbeutel mit der Conservatempus-Bezauberung aus der unauffälligen Tasche ihrer Bluse und schnürte ihn auf. Behutsam kippte sie die gelben Erbsen heraus. Dann holte sie aus dem Rucksack die Besenfutterale und legte sie neben die gelben Erbsen und Lichtwächterkennzeichen. Dann legte sie noch einen grauen Stein daneben, einen Unaufspürbarkeitsstein. Erst dann bezauberte sie die vier gelben Erbsen mit einem zeitverzögert wirkenden Rückverwandlungszauber. Als sie damit fertig war strich sie noch einmal über den Rucksack, dessen rauminhaltsvergrößertes Geheimfach nur von ihr geöffnet werden konnte. Dann legte sie sich auf den graubraunen Boden, der im Frühling und Sommer blühendes Heideland war. Sie steckte ihren Zauberstab fort und zählte die Sekunden. Als sie bei "zweihundertneunundneunzig" war hörte sie ein vierfaches Ploppen. Dann hörte sie ein Aufstöhnen. Durch die Hin- und Rückverwandlung war jeder Schlaf- und Betäubungszauber ausgelöscht. Doch die gerade aus ihrer Betäubung erwachten würden sich nicht erinnern, was passiert war. Albertrude vertraute auf ihren Divitiae-Mentis-Zauber, der die Art, wie sie die vier überrumpelt hatte verbarg. außerdem konnte sie mindestens doppelt so gut okklumentieren wie ein vergleichsweise ausgebildeter Lichtwächter.
Als alle vier sich bewegten tat sie so, als sei sie auch aufgewacht. Sie blickte sich um. Der Graue Stein lag da, als gehöre er hierher und würde jeden Erkundungszauber schlucken.
"Drachendreck, wo sind wir?" stieß Leutnant Kirschholz aus. Dann stöhnte Majorin Seidenspinner: "Wir waren doch gerade durch eine Tür auf dieser Insel durch. Wo sind wir? Ist das eine Illusion?"
"Ich prüfe nach", ächzte Albertrude und blickte sich um. "Keine Illusionskraftstränge. Wir sind offenbar mit den einmaligen Fluchtportschlüsseln aus dem Berg befördert worden, weil wir bewusstlos wurden", seufzte sie schon am Rande der Wehleidigkeit. Flavia Buchenhain prüfte schon nach, was sie noch bei sich hatte. Dann fand sie einen Lichtwachenanstecker. "Die müssen auf die Falle reagiert und sich dabei losgerissen haben", vermutete Albertrude. "Da waren wir aber wohl schon im Portschlüsseltransferraum."
"Leutnant Buchenhain, Ortsbestimmung!" befahl Majorin Seidenspinner.
Wenige Minuten später wussten sie, dass sie wieder in Deutschland waren. Albertrude erwähnte, dass sie vor der Abreise Portschlüssel in Form kleiner Wollfäden angefertigt hatte, die im Falle einer mehr als drei Sekunden dauernden Ohnmacht auslösen sollten, um sicherzustellen, dass keine von ihnen Gefangen werden konnte.
Zehn Minuten später landeten zwanzig Kollegen der vier Lichtwächterinnen auf Besen. Die fünf heimgekehrten Hexen wurden gleich in das berliner Zaubereiministeriumsgebäude gebracht. Dort wurden sie zwei Stunden lang verhört und mussten auch ihre schriftlichen Expeditionsberichte vorlegen. Da sie Albertrude nur beweisen konnten, dass sie sich und die vier nach Deutschland zurückgeportschlüsselt hatte mussten sie davon ausgehen, dass ihre Angaben zutrafen. Denn die Rückschau mit dem Retrocular zeigte nur einen Zeitraum in tiefgrauer Unschärfe, typisch für einen Unortbarkeitszauber. Den führte Thekla Seidenspinner auf die Magie der Insel zurück, gegen die sie hatten kämpfen müssen.
"Wir haben erfahren, dass der Vulkanberg, den Sie erreicht haben, auseinandergebrochen ist und sich mindestens ein Kubikkilometer Magma ins Mittelmeer ergossen hat", grummelte Andronicus Wetterspitz. "Mittlerweile wissen wir, dass die Hecatianerinnen, die sie beobachtet haben den Auftrag hatten, alles magische im Berg zu vernichten. Damit ist das komplette deutsche Archiv dunkler Künste vernichtet oder mit der Glut im Meer versunken und wird sicher im Meeresgrund eingebacken. Ihre Mission ist gescheitert, Majorin Seidenspinner."
"Weil sie da unsere Kleider mit Rückzugsportschlüsseln versehen hat. Hatte sie dazu die Erlaubnis?" ereiferte sich die Majorin und deutete auf Albertrude.
"Als Mitarbeiterin zur besonderen Verwendung steht es mir zu, zur Sicherheit der mir anvertrauten Einsatzteilnehmer Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Oder wollten sie von Ladonnas Nachfolgerin gefangengesetzt und verhört werden?" fragte Albertrude sehr streng klingend.
"Wie dem auch sei, wir haben unser Archiv nicht mehr zurückbekommen. Eintausend Jahre deutsche Zaubereigeschichte in Rauch und Asche vergangen", lamentierte Andronicus.
"jetzt aber nicht so trübselig, Generalissimus Wetterspitz", setzte Albertrude an. "Es betraf nur den kleinen Teil wirklich finsterer Hinterlassenschaften. Alles andere ist ja noch da."
"Alles andere ist noch da, sagt sie. Alles andere ist noch da", widerholte Wetterspitz halbwütend. "Sie verschwinden jetzt auf der Stelle. Der Minister wird befinden, ob Sie noch einmal an einem Sondereinsatz teilnehmen dürfen. Raus hier!"
"Zu Befehl, Generalissimus Wetterspitz", erwiderte Albertrude ruhig. Sie stand auf und verließ den Verhörraumm, zusammen mit ihrem getarnten magischen Rucksack. Aus dem Foyer apparierte sie in ihr geschütztes Haus. Dort angekommen grinste sie ihr Gesicht im Spiegel an. Dann brachte sie ihren großen Fang in den noch mehr abgesicherten Keller. Wenn sie in ihr wahres Archiv gelangte, das blaue Haus, konnte sie alles dort unterbringen, was sie ergattert hatte.
Als sie eine kurze Bestandsaufnahme machte wäre sie fast vor Freude in die Luft gesprungen. Sie hatte mehrere Bücher erbeutet, die sie auf jeden Fall haben wollte. Damit konnte sie ihre eigene Rangstellung gegenüber den schweigsamen Schwestern und auch dem Spinnenorden gegenüber ausbauen. Doch das musste behutsam geschehen.
Sowohl die Griechen als auch die Italiener meldeten sofort weiter, was in der Ägäis geschehen war. Da die Zaubereiministerien seit drei Tagen von Frankreich, Griechenland und auch Deutschland gewarnt worden waren wurde das unterseeische Spektakel mit einem einminütigen Erdbeben zwischen Stärke vier und kurzer Spitze auf Stärke 6 als Platzen einer Magmablase in der Nähe Santorinis ausgegeben. Es wurden keine Tsunamis festgestellt, weil das Beben offenbar unter der für dieses Gebiet kritischen Stärke geblieben war. So brauchten die Vergissmichs keine anderslautenden Erinnerungen zu erzeugen.
Die im Arkanet tätigen Ministeriumsangehörigen teilten die Nachricht und erfuhren aus Deutschland und Athen, warum der angebliche Unterwasservulkan ausgebrochen war. Es wurde auch bekanntgegeben, dass der Vulkan alle in seinem inneren versteckten Güter und Aufzeichnungen zerstört hatte. Den Italienern gefiel das nicht, wie ein Text im Arkanet es verdeutlichte. Doch auch wenn eine Menge altes Wissen verlorengegangen sein mochte überwog doch am Ende die Meinung, dass es vielleicht besser war, wenn soviel geballte Macht der Dunkelheit nicht in die Hände einer einzelnen skrupellosen Person geriet. Somit wagte der italienische Arkanetbeauftragte die Vermutung: "Dann bleibt uns Ladonnas Erbin erspart, auch wenn unser Archiv dafür draufging."
Es war durch alle Reihen der alten Schwesternschaft gereicht worden, dass sie nur ihren Auftrag erfüllt und alles dunkle Erbe vernichtet hatten. Nur die Feuervertrauten erfuhren, dass es gelungen war, den vor zweitausend Jahren von Römischen Zauberern entführten Amboss zurückzuerobern, der angeblich dem Schmiedegott Hephaistos, der bei den Römern sinnigerweise Vulcanus geheißen hatte, gehört haben sollte. Dieser magische Amboss, der die Kräfte von Feuer und Erde in sich barg und die darauf geschmiedeten Stücke mit einer beachtlichen Grundmagie erfüllen konnte, stand nun bei den Töchtern Hecates, nicht mehr in jener alten Schmiedewerkstatt, aus der die Römer ihn damals entführt hatten. Wie Ladonna ihn an sich gebracht hatte konnten sie nicht erklären. Doch sie musste gute Helferinnen gehabt haben, die den Amboss und die dazugehörigen Werkzeuge gefunden und in jenes Inselversteck geschafft hatten, bevor Ladonna ihnen wohl das Gedächtnis oder gleich das Leben genommen hatte.
Hestia Chrysopolis nahm die Anerkennung ihrer Mentorin Phlegetonia Anaxapyroi sehr stolz und dankbar hin.
"Die Italiener sind höchst verärgert und haben unserem Zaubereiminister angedroht, über eine Million Lot in Gold einzuklagen, weil Minister Anaxagoras angeordnet hat, dass wir das italienische Archiv für dunkles Zauberwerk zerstören, statt es an seine rechtmäßigen Besitzer zu übergeben. Die drei Mütter sind sehr erheitert, ebenso unsere Eingeschworene Alexia Tachydromos. die sollen froh sein, dass durch die sich entladenden Zauberkräfte der Vulkanberg so brüchig wurde, dass er nnicht mit großem Druck zerplatzte, sondern wie eine Sandburg auseinanderbrach und die Lava so freie Bahn ins Meer bekam."
"Na ja, aber ungefährlich war das alles nicht, Mutter Phlegetonia", sagte Hestia. "Ja, und wir sollten uns freuen, dass Ladonna keine Erbin bekommen hat."
"Irgendwer auf dunklen Wegen wird sich bald wieder erheben, um ihren Platz einzunehmen, Mutter Phlegetonia", seufzte Hestia.
"Natürlich haben wir noch Platz für euch gefunden, Britt, Linus, Leo und Brooke", grüßte Julius Latierre seine angeheiratete Cousine Brittany Brocklehurst, die mit ihrem Mann und ihren Kindern herübergekommen war. "Wir haben einen Teil der großen Halle abgeschirmt, dass Mum und ihre Familie übernachten können. Ihr kriegt natürlich das Gästezimmer, in dem ihr schon häufiger wart."
"Mindestens zweimal", grinste Brittany ihren angeheirateten Cousin an. Dann beglückwünschte sie Millie und Béatrice zur erfolgreichen Geburt der drei neuen Mitbewohner.
Aurora Dawn traf gegen Mittag französischer Ortszeit zusammen mit Rosey ein, ihrer angeblichen Ziehtochter, von der nur wenige wussten, wie sie wirklich zur Welt gekommen war und wer sie in Wirklichkeit war. Aurora wollte an der Willkommensfeier für Hestia, Chloris und Hidalga teilnehmen und dann morgen mit Kolleginnen in der Delourdesklinik konferieren, während Rosey bei den Latierres bleiben würde, bis sie sie wieder abholte.
Als alle eingeladenen Gäste gegen drei Uhr Nachmittags zusammensaßen erhoben sich Millie und Julius Latierre. Dann erklärte Millie noch einmal, wieso es schon wieder passiert war, dass drei Kinder auf zwei Mütter verteilt waren und warum sie Béatrice dankte, dass sie ihr geholfen hatte, dass alle drei Kinder auf die Welt gefunden hatten. "Woran das liegt, dass ich nicht so gut mit drei oder mehr Kindern im Bauch herumlaufen kann wissen wir nicht. Julius und ich haben nur beschlossen, dass die drei jüngsten vorerst genug sind. Dass sie nicht die letzten bleiben müssen wissen wir ja von dir, Oma Line. Aber ich stimme meinem Mann und meiner Vertrauensheilerin und Mutterschaftspartnerin Béatrice zu, dass wir das Haus jetzt wirklich voller Leben haben und es seinen Flohnetznamen redlich verdient hat. Danke, dass ihr alle bei uns seid, um mit uns das neue Leben zu feiern."
"Nachdem, was da vor fünf Tagen im östlichen Mittelmeer passiert ist ist das ja auch nicht so selbstverständlich", meinte Eleonore Delamontagne. Laurentine und Louiselle nickten zustimmend.
"Immerhin gab es diesmal keine Tsunamis über zehn Zentimeter. Noch einmal Glück gehabt", meinte Julius' Mutter. Dann kehrten sie zum erfreulichen Grund ihres Zusammenseins zurück.
Zeremonienmagier Laroche kam in seinem blütenweißen Umhang und hielt eine Willkommensrede, wobei er die Besonderheit der drei Kinder erwähnte, aber nicht tadelte, was einigen der älteren Besucher nicht wirklich gefiel. Doch weil sie alle wussten, was die Latierres aus dem Apfelhaus für Millemerveilles getan hatten wagte niemand sich darüber auszulassen.
Die zwei großen Wiegen wurden herausgetragen. Jeder Gast und jede Gästin durfte nun daran vorbeiparadieren und den nun schon einen Monat alten Säuglingen leise seine oder ihre Wünsche für das ganze Leben zuflüstern. Danach führten Gäste wie die Brickstons zusammen mit Laurentine und Louiselle oder die Dusoleils kurze Musikstücke mit Flöten, Geige, Klarinetten, Akkordeon und Schellentrommeln auf, um den neuen Erdenbürgerinnen die Schönheit der achso lauten Welt zu zeigen. Anschließend wurden die drei ganz jungen Latierres in der großen Halle hinter einem schalldämpfenden Wandschirm verstaut, während die größeren Kinder den schönen Sonnentag im Dezember ausnutzten, um auf dem hauseigenen Spielplatz zu tollen und zu toben. Lucine krabbelte und trippelte hinter ihrer Mutter Louiselle oder hinter Laurentine her, freute sich aber auch über so viele Kinder.
Laurentine erhielt die Gelegenheit, mit Hera, Geneviève und Eleonore zu sprechen, wie sich die Stimmung im Dorf entwickelt hatte. "Na ja, die älteren vor allem Damen widert es immer noch an, dass die angeblich ehernen Familienwerte immer mehr aufgeweicht werden", sagte Eleonore. "Aber ich muss sagen, dass mir wichtiger ist, dass Kinder, die zur Welt kommen, ein sicheres und friedliches Umfeld haben. Das merke ich ja an einen Kleinen, die schon bald vier Jahre alt sind. Als Zuchtstute von Vita Magica benutzt zu werden ist für keine von uns erfreulich. Da kam natürlich der Verdacht auf, dass ihr, also Louiselle und du, widernatürliche Unzucht getrieben und Louiselle auf eine nicht übliche Weise in andere Umstände versetzt habbt. Aber was bringt es noch, darüber zu richten. Die Kleine ist auf der Welt, genau wie meine ganz jungen, die ich immer noch treten und boxen fühle, wenn sie in Sicht kommen. Roseanne sieht es auch so, dass du unsere Kinder weiterunterrichten möchtest, auch und vor allem, wenn die Frühlingskinder in drei Jahren eingeschult werden. Da sollten wir froh sein, genug einsatzbereite Lehrerinnen und Lehrer zu haben."
"Ja, und ich werde unseren Gastgeber beim Wort nehmen, dass er für die Zeit, die die Frühlingskinder in der Grundschule sind mithilft, sie auf ihren Weg in die Zaubererwelt zu führen", sagte Geneviève Dumas. "Da können und werden wir uns keine neue Debatte über angebliche oder wahrhaftige Familienwerte leisten. Das habe ich den Elternvertretern schon klargemacht. Also, dein Posten ist für die nächsten sieben Jahre gesichert oder solange wie Lucine selbst zur Schule geht."
"Sandrine hat es erst in Beauxbatons gut weggesteckt, Kind einer Lehrerin zu sein. Gérard war da nicht so begeistert, dass seine Mutter seine Mitschüler unterrichtet hat", wandte Laurentine ein.
"Ja, da werde ich mit unserem Gastgeber auch noch einmal drüber sprechen, wie es ihm geht", sagte Geneviève.
"Selber Kontakt aufnehmen dürft ihr nicht, Geneviève. Im Zweifel kann ich auch bei der Kollegin Moonriver anfragen, wie es ihrem Ziehsohn Stephen geht."
"Das ist jetzt wohl nicht so ganz meine Baustelle", sagte Laurentine. "Deine was?" fragte Eleonore. Laurentine erklärte den Begriff, wenn ein Thema für jemanden unwichtig war oder es ihn nichts anging.
"Und ihr bleibt dabei, dass Lucine deine und Louiselles Muttersprache erlernt, Laurentine?" fragte Hera Matine. Laurentine bejahte das, während Louiselle sich mit Martha Merryweather über die neuesten Alltäglichkeiten und Besonderheiten der nichtmagischen Welt unterhielt und dabei Lucine auf dem Schoß wiegte.
Nach dem siebengängigen Abendessen, jedoch ohne Froschschenkel und Schnecken, aber mit genug veganen Alternativen für Brittany und alle die es ausprobieren wollten, sangen sie den unter drei Jahre alten Kindern noch Schlaflieder, darunter "Kleines Kind, was bist du müd'", an das Julius auch ganz besondere Erinnerungen hatte. Dann trugen Millie, Béatrice und Julius ihre ganz jungen Kinder und die davor angekommenen in ihre Schlafzimmer hoch. Millie richtete den Meldezauber ein, der wie ein elektronisches Babyfon in der nichtmagischen Welt wirkte
Spät abends verabschiedeten sich die Gäste, die im Dorf wohnten oder bei welchen im Dorf übernachteten, darunter Mutter und Tochter Dawn.
Als Millie und Julius im gemeinsamen Ehebett lagen meinte Millie zu ihm: "Und, hat die gute Geneviève schon wieder die Frage gestellt, wann du für sie arbeitest?"
"Ja, hat sie. Ich habe ihr gesagt, dass wenn im Ministerium nichts wirklich heftiges passiert, dass ich in vier Jahren antreten kann, wenn Aurore nach Beaux wechselt. Aber das mit dem Vulkan in der Ägäis, über den du nur schreiben durftest, dass da wohl eine magische Erschütterung wie bei dem Tsunami 2004 passiert ist, zeigt, dass es immer noch was gibt, was uns Ärger machen kann."
"Ja, und trotzdem haben wir beiden Süßen und die Süße da im Bett nebenan drei quirlige kleine Wickelhexlein hinbekommen und freuen uns, dass die schon so groß geworden sind, dass Hestie und Hildie bald ein größeres Doppelbettchen brauchen."
"Ja, wenn Flavine und Phylla sich damit abfinden, dass wir ihnen kleine Einzelbetten in das Zimmer gestellt haben", sagte Julius. Dann küsste er seine Frau zur guten Nacht und drehte sich in seine bevorzugte Einschlafstellung.
Laurentine und Louiselle nahmen die Einladung der Latierres an, die Weihnachtswoche bei ihnen zu verbringen. Die Brickstons waren ja bei Joes Eltern in Gloucester. Laurentine hatte sich bei ihren nichtmagischen Verwandten abgemeldet und erwähnt, bei guten Bekannten in Südfrankreich Urlaub zu machen. Doch am 25. Dezember nutzte sie die eine oder andere Minute, mit ihrem Mobiltelefon Grüße in die Verwandtschaft zu senden. Ob sie dabei erwähnte, dass sie zu Weihnachten nur Regen gehabt hatten wusste Julius nicht und fragte auch nicht danach.
Um zu zeigen, dass sie zusammengehörten besuchten Laurentine und Louiselle am Jahrestag der Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean das Grab von Laurentines Mutter. Diesmal ließ der kircheneigene Küster sie in Ruhe. Das mochte auch daran liegen, dass sein Chef, der Abbé, öffentlich hatte eingestehen müssen, dass dessen Schwester eine eingetragene Partnerin angenommen hatte und der konservative Kirchenmann deshalb zumindest in Aussicht gestellt hatte, dass Gott und vor allem Jesus Christus jede Liebe segneten, die in ihrem Namen und zum Wohl aller Menschen gelebt würde. Ob er damit bei Papst Benedikt und seinen Glaubenshütern besser ankam war Laurentine egal, denn sie war ja kein eingetragenes Kirchenmitglied mehr. Sie freute sich vor allem, weil sie hatte mithelfen können, dass Ladonnas letztes Vermächtnis nicht in falsche Hände geraten war.
Am letzten Tag des Jahres 2007 saßen sie alle im Musikpark von Millemerveilles und erzählten sich die Erlebnisse des nun noch wenige Stunden dauernden Jahres, das diesmal mehr erfreuliches zu bieten hatte. Die Vampire und Nachtschatten hatten sich selbst an den Rand der Vernichtung gekämpft. Auch wenn Julius nicht sicher war, ob er das als gute Nachricht werten sollte, dass die Nachtschattenkaiserin von den wachen Töchtern Lahilliotas besiegt worden war hielt er es mit den anderen, die sich freuten mehr friedliches als schlimmes erlebt zu haben. Die Latierres sahen vor allem dem ersten Jahr mit den drei Neuzugängen entgegen. Julius hatte Bilder von Dominique Aurore Weasley zu sehen bekommen und wusste, dass auch Gabrielle Marceau das zweite Kind erwartete.
Als mit buntem und lautem Feuerwerk 2008 begann prosteten sich alle zu, ob mit oder ohne Sekt. Laurentine genoss den wortwörtlichen Zauber dieses Zusammenseins mit so vielen Menschen, die alle froh waren, dass es sie gab und dass sie für ihre Kinder da waren. Sie vergoss Tränen der Rührung. Louiselle umarmte sie und küsste sie sogar auf den Mund. Im Augenblick störte das niemanden hier. "Wir zwei sind schon ein besonderes Paket vom Schicksal", sagte sie zu Laurentine. Diese bejahte das. Nur sie und Hera wussten, was sie beide im Jahr 2006 vollbracht hattenund dass sie im gerade erst verflogenen Jahr 2007 wieder etwas höchst wichtiges geschafft hatten. Sie dachten beide an die Wächterin am Fluss der rastlosen Seelen, die dankbar war, dass die Altlast, die sie mit ihrer Entstehung aufgeladen bekommen hatte, aus der Welt war. Es lag nun bei den Menschen mit und ohne Magie, wie sie das gerade begonnene Jahr, das wieder einen Tag mehr haben würde, bestritten und ob es diesmal ein überwiegend friedliches Jahr für sie alle werden mochte. Doch das, so wusste Laurentine, hofften die Menschen in jedem neuen Jahr.
"Julius Latierre freute sich, dass es den beiden Frauen gut ging, die nun die wichtigsten Frauen seines Lebens waren. Doch musste er auch daran denken, welches Erbe Béatrice im nun begonnenen Jahr antreten durfte. Er wusste aus eigenen Erfahrungen, dass alte Erbschaften nicht ohne Risiko zu bekommen waren. Vielleicht durfte er ihr auf einem Teil ihres Weges helfen. Spannend wurde das auf jeden Fall, vor allem, wenn sie Erfolg hatte und dadurch zu einer der mächtigsten Heilhexen der Welt werden konnte. Aber bis dahin würden noch mehrere Monate vergehen. Solange die kleine Chloris von ihr gesäugt werden musste oder wwollte stand die große Sache aus der alten Zeit ja noch nicht an.
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