DIE PFLICHTEN DER TÖCHTER

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die Gefahr durch das Vampirreich Nocturnia konnte durch das Lebensopfer des wiedererwachten Sonnensohnes Darfaian gebannt werden. Das Zweckbündnis zwischen dem Hexenorden der schwarzen Spinne und den Zaubereiministerien der verschiedenen Länder ist damit nicht mehr nötig. Für Anthelia, die mit der Erdmagierin Naaneavargia zu einem Körper und Geist verschmolzen ist, stellt sich nun die Frage, wie sie mit der neuen Lage umgehen soll. Sie hofft darauf, daß die Zaubereiminister und ihre Kettenhunde von der magischen Strafverfolgung zunächst nichts davon erfahren, daß Nocturnia vernichtet wurde. Außerdem weiß Anthelia, daß die Wergestaltigen gerne mehr Einfluß und Vorrangstellung erringen möchten. Wie werden die indischen Wertiger und die mit ihnen verbündeten Werwölfe der Mondbruderschaft auf Nocturnias Ende reagieren? Diese Fragen treten jedoch in den Hintergrund, als die Militärastronautin Doris Fuller bei der Rückkehr von einer streng geheimen Space-Shuttle-Mission mit der nichtstofflichen Daseinsform der besiegten Abgrundstochter Hallitti zusammenstößt und von dieser immer stärker beeinflußt wird. Sie entzieht ihrem festen Freund durch Sex all seine Lebenskraft und erfährt, daß sie von einem anderen Wesen besessen ist. Hallitti gewinnt immer mehr Macht über Doris Fuller und schafft es, trotz der Verfallsreaktion ihres Wirtskörpers, einen Teil der alten Fähigkeiten zurückzugewinnen. Zu denen gehört neben dem Lebenskraftraub auch die geistige Beeinflussung von Menschen, sowie das Entfachen des dunklen Feuers. Da Doris Fuller als Hauptverdächtige wegen des Todes ihres Freundes Clark Styles verfolgt wird, gerät sie zwischendurch in gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei und diese unterstützenden Zauberern und Hexen. Sie sucht nach Hallittis letztem Abhängigen, um diesen zu töten. Denn nur dadurch, so eerfährt sie von ihrer wachen Schwester Itoluhila, kann sie den unbrauchbaren Wirtskörper loswerden und als Itoluhilas Tochter wiedergeboren werden.

In der Kleinstadt Salisbury im US-Staat Maryland leidet der vierjährige Junge Jerimy Wilson unter wiederkehrenden Alpträumen. In diesen kommt eine rothaarige Riesenfrau mit goldenen Augen vor, die Männer aus einem goldenen Krug zerrt und lebendig verschluckt oder lebende Männer und Jungen mit ihrer Scham in sich hineinsaugt. Jerimy ist der Adoptivsohn von Leslie und mortimer Wilson. Diese sind sehr besorgt um den Jungen und lassen ihn von mehreren Psychologen untersuchen. Eine Psychologin bekommt durch Hypnose heraus, daß Jerimy womöglich schon einmal gelebt haben könnte. Denn er behauptet in Trance, daß er Richard Andrews heiße und kann mit dem Wortschatz eines gebildeten Erwachsenen beschreiben, was in seinen Träumen vorkommt. Eine E-Mail der Psychologin an ihren Doktorvater wird von Brandon Rivers und den Sonnenkindern mitgelesen. Ebenso treten die Mitarbeiter des Laveau-Instituts auf den Plan, denen die Aktionen der flüchtigen Astronautin Doris Fuller zu sehr den Aktivitäten Halittis ähneln.

Am Vorabend vor Weihnachten kommt es zum Zusammenstoß zwischen Doris Fuller alias Hallitti, den Sonnenkindern und den LI-Leuten. Jeff Bristol vom LI sieht keine andere Möglichkeit, sich dem dunklen Feuer zu entziehen, als Doris Fuller mit dem Todesfluch anzugreifen. Dadurch schleudert er die schlagartig um Jahrzehnte alternde Trägerin von Hallittis Geist aus dem Raum-Zeit-Gefüge. Sie landet in der Nähe von Rio, wo sich gerade Itoluhilas Abhängiger Mario Lopez alias Claude Andrews gegen Auftragsmörder der neonazi-Gruppe Tropas Blancas wehren muß. Die Besessene vernichtet die Söldner mit dunklem Feuer und greift Itoluhilas Abhängigen an, um ihm alle Lebenskraft und die in ihm lagernden Kräfte Itoluhilas auszusaugen.

Die Wilsons werden vom LI in deren sicheren Haus versteckt, bis klar ist, ob dem Jungen, der früher einmal Richard Andrews geheißen hat, weiterhin Gefahr droht. Die Sonnenkinder ziehen sich wieder auf ihre kleine Insel zurück, um abzuwarten.

Anthelia hat zunächst genug mit einer Bedrohung aus dem alten Reich zu tun. Sie muß die zu erwachen drohende Riesenschlange Skyllians bekämpfen, die auf der Polarinsel Nordostland unter einem Gletscher verborgen ist. Dabei trifft sie auf den jungen Zauberer Julius Latierre, der vom konservierten Geist Agolars die nötigen Zauber erlernt hat, um die Gefangenen der Riesenschlange zu befreien. Als dies geschehen ist, und Anthelia und er einem mittelstarken Nachtschatten entronnen sind, vernichtet Anthelia die Riesenschlange mit dunklem Feuer aus einem magischen Speicher. Danach findet sie Zeit, sich um die Gefahren der Gegenwart zu kümmern. Sie erfährt, daß ihr Sieg über Hallitti offenbar nicht endgültig war und kann eine bis dahin unzugängliche Erinnerung Sardonias nachbetrachten, in der Ilithula, die Tochter des schwarzen Windes, Sardonia verkündet, daß es nichts bringt, sie und ihre Schwestern zu töten, da jede getötete Schwester danach von einer anderen noch wachen Schwester jungfräulich empfangen und als deren Tochter wiedergeboren wird. Damit steht für Anthelia fest, daß es nicht damit getan ist, Hallitti oder ihren Wirtskörper zu töten. Doch weil sie nicht früh genug erfährt, wo Hallitti sich zeigt, ist sie eher zum Zuschauen verdammt. Das will sie ändern. Sie hofft darauf, ihre zehn gefangenen Mitschwestern zu befreien, um in den USA nicht ganz alleine dazustehen.

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Er hatte es gehört, bevor er es erkannte. Dumpf dröhnende Wellen, die durch das Geflecht der tiefen Erde rollten wie sehr stark verlangsamte Meeresbrandung. Als die zweite Welle vor und zurückgerollt war wußte er, was es war. Es gab also doch noch einen Wächter Skyllians. Auch wenn er damals geboten hatte, sie alle zu finden und zu töten, hatte einer überlebt. Der letzte Wächter mußte die Tausendersonnen im Überdauerungstiefschlaf zugebracht haben. Anders konnte sich der in seinem mächtigen Spiegel eingelagerte Geist Iaxathans nicht erklären, warum er erst jetzt, nach all den vielen verstrichenen Sonnenkreisen, das typische Atmen dunkler Erdkräfte vernahm. Und er war nicht der einzige, der diese tiefen, langsamen Atemzüge erspürte. Er fing schwache Wellen der Verwunderung von jener auf, die seinen Stein der Mitternacht befallen und den darin wirkenden Wächter in sich aufgesaugt hatte. Er fühlte Wut, Verachtung, aber auch eine gewisse Schadenfreude. Die Sterblichen der Jetztzeit wußten doch gar nicht, wie sie mit diesem beinlosen Ungetüm fertigwerden konnten. Es würde vollends aufwachen und nach Nahrung suchen. Allein jetzt schon nahm es seine bevorzugte Nahrung auf, menschliche Seelen, mit ihren Körpern. Die Wellen dunkler Erdkraft rollten in kürzeren Abständen hin und her. Der beinlose Wächter fand langsam aber unaufhaltsam zu sich selbst zurück. "Hast du doch noch eines deiner alten Ungeheuer versteckt, Spiegeldämon?" hörte er die vor Verachtung triefende Gedankenstimme dieses machtgierigen Weibes, das aus hunderten Kindern der Nacht zu deren schlafender Göttin geworden war.

"Das kleine Tier wird alle Menschen dieser Zeit fressen. Aber was bringt mir das? Es wird sich Artgenossen suchen oder vor Wut auf seine Einsamkeit alles lebendige verschlingen und die Welt unbrauchbar machen", strahlte er Gedanken voller Wut in das Raum-Zeit-Gefüge aus. Seine Ablehnung der ehemaligen Blutkönigin, die mit ihren eigenen Kindern zu einer übermächtigen Geistesballung verdichtet war, geriet bei dem Gedanken an das Ungeheuer der Endzeit in den Hintergrund. Für die beiden eingekerkerten Geisterwesen zählten Tage wie Augenblicke. So konnten sie nicht sagen, wann es passierte, daß zwei unterschiedliche Wesen reinigende Erdkräfte freisetzten, ja, den Aufwachvorgang des letzten beinlosen Wächters umkehrten. Der Beherrscher des Auges der Finsternis erkannte, daß das Wissen der Erdvertrauten seines Heimatlandes doch nicht vergessen war. Womöglich kannte noch wer die alten Straßen und konnte sie begehen und so um Hilfe bitten. Jedenfalls bekamen die beiden einander mißgönnenden Geistwesen mit, wie der letzte Wächter erst in seinen tiefen Schlaf zurückgetrieben wurde, bevor eine andere Kraft ihn förmlich zerriß, daß wilde Stöße durch die magischen Adern der Erde rasten. Der letzte der großen fünf war vernichtet, endgültig.

"Ich glaube, daß war sie, diese widerliche Wiederkehrerin oder welche von diesen Sonnenkindern, die mich aus meinem Körper gebrannt haben", vermutete die Herrin des Mitternachtssteins.

"Aber sie haben wen zurückgelassen", erkannte Iaxathan. Denn er fühlte, wie etwas ganz leise wimmerndes weit von ihm fort die Vernichtung seines neuen Gebieters betrauerte und immer wieder ohnmächtige Wut durchdringen ließ. Iaxathan fühlte, daß er mit diesem wimmernden Etwas, daß auch nur ein mit dunkler Kraft gefüllter Geist war, Verbindung aufnehmen konnte.

"Wer bist du und warum weinst du um den beinlosen Riesen?" schleuderte er eine für Ohren unhörbare Frage hinaus in den Raum. Das Wimmern hörte auf. Der andere hatte verstanden: "Ich war der Bote des großen Meisters. Ich wollte ihm Nahrung und Kraft geben. Doch ein junger Bursche, ein Zauberer, hat mich mit einem widerlichen Licht fast ganz verbrannt und in mein Versteck geschleudert. Ich kann hier nicht raus, weil draußen Sonne ist", wimmerte der andere. Iaxathan empfand Erheiterung, aber auch sowas wie Ansporn, mehr zu erfahren. So ließ er sich berichten, daß der Wimmernde zu seiner Zeit als Mensch Gunnar Ipsen geheißen hatte, bis der Ruf des großen Wächters ihn erreicht hatte. Sein damaliger Vorgesetzter, der norwegische Zaubereiminister Lasse Sigurson, hatte versucht, ihn daran zu hindern, sich dem großen Wächter hinzugeben und dabei seinen Körper in Dunkelstoff, auch schwarzs Ektoplasma oder Nyktoplasma verwandelt. Doch dadurch sei er noch mächtiger geworden. Er habe dann die Seelen seiner fleischlich gebliebenen Verwandten in sich aufgenommen und dadurch an Größe und Stärke zugelegt. Doch diese Größe und Stärke war ihm von besagtem Zauberer im Leib des Wächters entrissen worden. Wenn der Fluchtgedanke nicht stark genug gegen das ihn fressende Licht des reinen Lebens durchgedrungen wäre, hätte es ihn womöglich völlig aufgelöst. Doch er konnte nun nicht mehr mit Gedankenkraft den Standort wechseln. Iaxathan lachte erst. Er kannte die von verdichteter Dunkelkraft erfüllten Geisterwesen. Sie hatten ihm immer treu gedient, wenn er ihre wahren Namen erfahren hatte. Dieser Ipsen hatte keine Chance gehabt, seinen Namen zu verschweigen, weil er gerade zu schwach war. So konnte Iaxathan ihn befehligen und ihn beauftragen, in der dunklen Jahreszeit neue Beute zu machen, bis er groß und stark genug war, nach einem von tiefster Dunkelheit erfüllten zu suchen, den er zu ihm, Iaxathan bringen sollte. Das es dauern konnte wußte der in das Exil seines eigenen Machtinstrumentes entwichene dunkle König sehr wohl. Doch wenn er etwas im Überfluß besaß, so war dies Zeit. die Herrin des Mitternachtssteins, eine Kaiserin in einer unzerbrechlichen dunklen Eierschale gleich, bemerkte, daß der Erschaffer des Steins sich gerade einen auf der Erde umherwandelnden Geist dienstbar machte. Sie versuchte, diese Verbindung zu unterbrechen. doch Iaxathan und der fast bis auf Handgröße geschrumpfte Nachtschatten Ipsen waren nicht mehr zu trennen.

Wollte sie es, daß Iaxathan einen neuen Knecht unter den Lebendigen fand? Sie erinnerte sich zu gut daran, wie es vor mehr als hundert Jahren war, wo ein dunkler Magier einen winzigen Splitter des Unlichtkristalls gefunden hatte und damit in den Bann des versteckten Spiegels geraten war. Gab es von dieser kristallisierten Bosheit noch Bruchstücke, die zu einem neuen Sklavenring geschmiedet werden konnten? Sie beschloß, nun selbst eine Verbindung mit einem stofflichen Wesen zu suchen, einem Kind der Nacht. Früher war es nötig, daß ein stoffliches Wesen den Mitternachtsstein berühren und halten mußte, um dessen Kraft zur Herrschaft über die Kinder der Nacht einzusetzen. Doch nun war es durch die Zusammenballung entleibter Nachtkinder möglich, genau umgekehrt zu handeln. Doch die Herrin, die Iaxathan abfällig als schlafende Göttin der Nachtkinder bezeichnet hatte, wußte, daß sie erst einen auf ihrer Gedankenwelle erreichbaren Sohn oder eine Tochter der Nacht finden mußte. Doch sie gab die Hoffnung nicht auf, ein solches Wesen zu finden. Damit begann der Wettlauf der eingekerkerten Übergeister, der Wettlauf um nichts geringeres, als die Vorherrschaft auf der belebten Welt.

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Vor ihr lag dieser Weihnachtsmann, der mit seinen Sechs Kumpanen die Casa del Sol, ein Freudenhaus in Sevilla, gestürmt hatte und nun acht ihrer Mädchen und deren gerade gewonnenen Kunden bedrohte. Sie hatte ihn als Kontakterin des schwarzen Engels, von dem nur sie wußte, daß dieser und sie ein und dieselbe Person waren, in das Büro gelockt. Dort hatte sie erst Schmerzwellen verspürt, die ihr klarmachten, daß ihr stärkster Abhängiger körperlich angegriffen wurde. Die Wut, daß sie ihm nicht so einfach zu Hilfe eilen konnte, hatte sie den mit ihr ins Büro gegangenen Verbrecher niederschlagen lassen. Der weiße Wattebart färbte sich bereits blutrot. Sie horchte, was ihrem Abhängigen passierte und fing einen Gedankensplitter von ihm auf, daß eine Frau aus dem Nichts seine Gegner mit schwarzem Feuer vernichtet und auch seinen Wagen damit zerstört hatte. Als sie diese Erkenntnis gewann fühlte sie auch schon, wie jemand ihn angriff und niederwarf. Da er offenbar mittelschwere Verletzungen abbekommen hatte konnte er sich nicht gegen die andere wehren. Sie fühlte beinahe körperlich, wie die andere seinen Geist zu unterwerfen versuchte, ihn mit ihrer eigenen Körperkraft niederrang und dann ihren Körper mit seinem zusammenbrachte. Sie fühlte, wie die andere ihren Abhängigen mit Küssen und der Vereinigung ihrer Geschlechtsteile auszuzehren begann, was für Itoluhila wie ein saugen am ganzen Körper war. Sie bekam weiche Knie, keuchte und schnaubte. Sie schrie in wütenden Gedanken: "Hallitti, lass es sofort sein! Der gehört mir!" Doch Hallitti wollte nicht hören. Nein, sie wagte es, sich über die Gebote der neun Schwestern hinwegzusetzen und den magisch unterworfenen Abhängigen einer anderen leerzusaugen. Itoluhila wußte, daß sie sehr schnell sein mußte, um zu verhindern, daß Hallitti Mario Lopez alias Claude Andrews seine Lebenskraft und die in ihn hineinfließende Kraft Itoluhilas entriß. Denn wenn sie das schaffte würde Itoluhila je nach Heftigkeit des Vorgangs ein körperliches Lebensjahr pro Minute älter werden. Doch wenn sie jetzt nach Rio reiste würden die falschen Weihnachtsmänner ihr Bordell verheeren, ihre Mädchen töten und deren Kunden gleich mit. Das würde ihrem Ruf als Beschützer der freischaffenden Huren erheblichen Schaden zufügen. Doch mit den Weihnachtsmännern konnte sie locker fertigwerden. Sie wankte, vom magischen Sog ihrer Schwester geschwächt, zu ihrem Schreibtisch hinüber. Sie pflückte den Hörer von ihrem elfenbeinfarbenen Telefon und tippte eine dreistellige Nummer ein. Das Hausnetz verband sie nun mit einem gut verborgenen Computer. Dieser fragte mit einer digitalisierten Männerstimme: "Soll Schaltung Sandmännchen ausgelöst werden?" Itoluhila tippte die eins, was für "Ja" stand. Dann mußte sie noch einen fünfstelligen Zahlencode tippen, um sich als Befehlsberechtigt zu identifizieren. Dann drückte sie die Nummerntaste an der Telefontastatur und legte den Hörer wieder auf. Sie wartete. In diesem Augenblick wurden alle Zimmer, Flure und der Barraum mit einem unsichtbaren, geruchlosen Betäubungsgas geflutet. Sie horchte, während sie das rhythmische Saugen ihrer Schwester fühlte. Sie mußte in fünf Sekunden hier weg, bevor die ihren Abhängigen soweit ausgesaugt hatte, daß sie nur noch Itoluhilas Kräfte einverleiben konnte. Über die Verbindung zu Mario Lopez alias Claude Andrews konnte sie Itoluhila fortwährend anzapfen wie eine frische Wasserquelle. Zu ihrer Beruhigung bekam sie mit, wie die sechs noch in der Bar verbliebenen Weihnachtsmann-Banditen die Besinnung verloren. Einer versuchte noch, seine Maschinenpistole abzufeuern. Doch da schwand ihm die Kraft. Das reichte Itoluhila, um auf kürzestem Wege zu ihrem Abhängigen hinüberzuspringen.

Sie landete an einer unbefahrenen Straße. Ein Haufen Roststaub lag zehn Meter entfernt. Doch was wirklich wichtig war waren die zwei nackten Körper, die sich gerade auf dem Boden herumwälzten. Itoluhila sprang vorwärts und packte die langen, flachsblonden Haare der Frau, die gerade über dem ihr unterworfenen Mann hockte. Mit unbändiger Wut riß sie die Untäterin hoch. Diese stieß einen Wutschrei aus, versuchte, sich mit ihren Händen am Hals des sehr ausgezehrten Mannes festzuhalten. Da bekam sie einen Kniestoß in den Magen und wurde endgültig zurückgerissen. Itoluhila, durch ihre Wut erstarkt, drehte die nackte Sünderin herum, daß diese ihr ins Gesicht sehen mußte.

"Ein wenig früher als gehofft", knurrte die gerade wie eine Frau mitte dreißig wirkende Frau. Itoluhila, die sich bei den Normalsterblichen auch Loli nannte, fauchte sie wütend an: "Nicht früh genug, um dich gierigen Unrat abzuhalten. Ich habe dir gesagt, du sollst ihn in Ruhe lassen. Der da gehört mir, und du hast das gespürt. Du hast dich gegen eines der ungeschriebenen Gesetze unserer Mutter vergangen, daß wir uns gegenseitig nicht nach dem Leben trachten dürfen. Du wußtest genau, daß du mich damit körperlich angreifst, wenn du ihn ganz leergesaugt hättest."

"Ich brauchte seine und deine Lebenskraft. Der Junge lebt noch. Ich konnte ihn nicht töten. Verdammte Feuerzauberer haben ihn mit einem fiesen weißen Zauberfeuer beschützt. Da ich in diesem unerträglichen Leib nicht gedankenspringen kann hätte ich zu ihm hineingehen müssen. Doch einer dieser Zauberstabschwinger hat mich mit dem Lebensraubzauber getroffen und mich damit hierhergeschleudert, weil er da gerade hier war", schnaubte die immer noch an den Haaren gehaltene Frau und deutete auf den keuchend und röchelnd am Boden liegenden Mann. "Sei froh, daß ich ihn gefunden habe. Eine Horde gedungener Totmacher wollte ihm den Garaus machen. Da hätten wir beide nichts von gehabt."

"Das ist absolut keine Rechtfertigung, dich an meinem Abhängigen zu vergreifen. Gib mir sofort das zurück, was du ihm weggenommen hast!"

"Nein, Schwester. Ich will deine Tochter werden. Das geht nur, wennn ich deine Kraft in mir drinhabe. Also, bring diesen unbrauchbaren Leib um mich herum um und laß mich in dich rein, damit ich in dir einen eigenen Körper kriege."

"Du bist wirklich frech, Hallitti. Du wandelst in einem dir nicht passenden Körper herum und vergreifst dich an meinem Eigentum. Und dann willst du noch, daß ich dir helfe, mir einen dicken Bauch zu machen, in dem du dann wohl auch herumturnst, um mir als Krönung des ganzen noch unzumutbare Schmerzen zu versetzen, um wieder auf die Welt zurückzukommen. So einfach geht das aber nicht. Ich kann dich nämlich nicht töten."

"Wie, du kannst mich nicht töten?!" brüllte die flachsblonde Frau ungeachtet, daß jemand sie hören konnte. Itoluhila nickte und verzog ihr Gesicht zu einem überlegenen Grinsen.

"Ich hab's gerade gesagt, daß wir uns nicht gegenseitig nach dem Leben trachten dürfen. Da ich weiß, daß du in diesem Körper drinsteckst, darf ich ihn nicht töten. Ich darf dir nur das herausziehen, was du unberechtigt an dich gebracht hast. Aber dich töten darf ich nicht."

"Dann werde ich mich eben selbst töten", schnarrte Doris Fuller und versuchte, sich aus dem Griff der dunkelhaarigen Frau zu lösen. Es gelang, weil Itoluhila alias Loli gerade zu sehr erschöpft war. Doch diese reagierte nicht verärgert sondern amüsiert. Sie deutete auf ihre halbwegs wiedergekehrte Schwester und konzentrierte sich: "Erstarre durch die Kraft, die du von mir in dir trägst!" dachte sie. Als Doris Fuller fühlte, daß ihr Körper immer mehr erstarrte, stieß sie noch einen Gedankenruf aus: "Du hinterhältiges Biest!"

"Ich lege dich auf eis, bis ich weiß, wie ich es hinkriegen kann, daß du aus deinem nutzlosen Körper herausgelöst und von mir wiedergeboren werden kannst. Denn ich muß wohl einsehen, daß ich keine andere Wahl habe, weil die Pflichten der Töchter Lahilliotas das so bestimmen", gedankenantwortete Loli. Dann schickte sie noch einmal einen Gedankenimpuls zu ihrer teilweise wiedergekehrten Schwester aus. Da gefror diese zu einer schwarzen Eisstatue. Ihre Gedanken verlangsamten sich innerhalb eines Augenblicks auf ein Tausendstel der üblichen Geschwindigkeit. Jetzt gab es nur noch eine pechschwarze Eisstatue, an der sich bereits die hier herrschende Luftfeuchtigkeit niederschlug und zu feinem, aber immer fester werdendem Reif gefror. Selbst der brasilianische Hochsommer würde diese magische Eisskulptur nicht auftauen können. Doch nun hatte Itoluhila zwei weitere Probleme. Zum einen mußte sie den gerade halbtoten Mario Lopez in Sicherheit bringen. Zum anderen mußte sie die in dunklem Dauereis eingefrorene Schwester an einen Ort schaffen, an dem sie so schnell niemand finden würde. Zu allem Überfluß hörte sie nun die unverkennbaren Laute nahender Polizeisirenen. Jemand hatte die Schüsse gehört oder die Verfolgungsjagd beobachtet. Wäre sie eine von den Zauberstabschwingerinnen gewesen, hätte sie jetzt beide Körper da vor sich eingeschrumpft und mitnehmen können. Doch Schrumpfzauber konnte sie nicht ausführen. Was sie jedoch konnte würde die Polizei auch gut auf Abstand halten. Sie wußte, daß sie danach mindestens vier neue Leben aus dem Lebenskrug schöpfen mußte. Doch wo sie die herbekam wußte sie auch. Deshalb riskierte sie es. Sie breitete ihre Arme aus und konzentrierte sich auf die Vorstellung, eine gewaltige Nebelwolke zu erzeugen, die die Bewegungen lebender Menschen erschweren würde. Mochten die Kurzlebigen mit Zauberkraft dem nachgehen. Hauptsache, sie schaffte ihren Abhängigen und die freche Schwester auf die Seite.

Erst war es weißer Dunst. Dann waberte grauer Nebel um sie herum und breitete sich aus. Im Zentrum der Nebelwolke wurde alles Licht verschluckt. Der magische Brodem breitete sich immer weiter aus und füllte erst die gesamte Breite der Straße und dann auch die Länge der Straße aus. Die magische Nebelwolke kroch lautlos an den Hauswänden hoch, bis sie die Höhe der höchsten Dächer erreichte. Loli keuchte. Dieser großräumige Nebelzauber zehrte sehr stark an ihrer verbliebenen Substanz. Das sollte Hallitti noch bereuen, ob als gerade umherlaufende Menschenfrau oder als irgendwann wiederzugebärende Tochter Itoluhilas. Jetzt lag die gesamte Straße im dunkelgrauen Nebel. Die Sicht reichte keinen halben Meter mehr weit. Itoluhila dachte an die Dementoren. Deren Aura vermochte eine Zone tiefster Dunkelheit und Eiseskälte zu schaffen. Ihr Nebelzauber kam dem schon sehr nahe. Das wilde Wimmern der heranpreschenden Polizeiwagen wurde wie das Licht der fast untergegangenen Sonne geschluckt. Wer jetzt in diesen Nebel eintrat würde meinen, in eiskaltes Wasser zu geraten und an allen Gliedern erstarren, bis der Nebel sich wieder verflüchtigt hatte. Selbst leblose Mechanismen erlahmten, wenn sie mit dem Nebel in Berührung kamen. Das gab ihr genug Zeit. Sie ergriff erst den Arm von Mario Lopez, dem der Nebel nichts ausmachte, weil noch genug Kraft seiner Gebieterin in ihm steckte. Eine Sekunde später war sie mit ihm verschwunden und landete in ihrer Schlafhöhle. Dort legte sie ihn auf die Strohmatte und befahl ihm: "Schlaf ein und erhol dich!" Der Abhängige stöhnte noch einmal. Dann verfiel er in den befohlenen Schlaf. Keine Sekunde später war Loli alias Itoluhila wieder verschwunden. Hallitti wollte sie nicht in ihre Höhle bringen. Durch den Gefrierzauber war ihre innere Widerstandskraft gegen magische Versetzungen ausgeschaltet. So konnte Itoluhila, nachdem sie einen Schutzzauber auf ihre Hände gewirkt hatte, den tiefgefrorenen Körper ergreifen und damit verschwinden. Sie landete in mitten des Amazonas-Dschungels, dort, wo bisher kein Mensch seinen Fuß hingesetzt hatte. Ihr Erscheinen löste eine panische Massenflucht aller im Umkreis von hundert Metern lebenden Tiere aus. Affen kreischten angstvoll. Ganze Insektenschwärme wuselten und wirbelten in alle Richtungen davon. Vogelschwärme jagten hinauf in die Baumkronen und suchten das Weite. Schlangen zuckten und wanden sich, um möglichst schnell davonzukommen. Doch das alles kümmerte Itoluhila nicht. Ihr war nur wichtig, daß sie ihre eingefrorene Schwester sicher untergebracht hatte. Doris Fuller alias Hallitti wurde an einen der hier emporragenden Urwaldbäume gelehnt. Sofort entstand zwischen ihr und dem Baumriesen eine erst dünne und dann feste, unbrechbare Eisschicht. Der ganze Baum würde auf kurz oder lang vom magischen Eis, daß aus der Dunkelheit und Kälte des nächtlichen Himmels erhalten wurde, zu einem Eisblock werden. Bis dahin mußte Itoluhila sich etwas einfallen lassen.

Zunächst jedoch kehrte sie mit der letzten verbliebenen Energie in ihre Höhle zurück, wo sie für eine volle Minute splitternackt in ihrem goldenen Lebenskrug badete, um aus den dort eingelagerten Lebensenergien ihrer früheren Opfer genug neue Kraft zu schöpfen. Als sie endlich wieder ihre alte Stärke fühlte, zog sie sich wieder an und versetzte sich in das Büro der Casa del Sol. Dort packte sie den niedergeschlagenen Weihnachtsmann, um diesen in ihre Höhle zu schleppen. Er war der Wortführer. Er sollte ihr verraten, wie sie an seinen Auftraggeber Don Pedro herankam, bevor dieser seine sieben Handlanger vermißte. Die anderen sechs waren eben nur Handlanger.

Wieder zurück in der Casa del Sol instruierte sie den Sicherheitscomputer, das freigesetzte Gas wieder abzupumpen. Die davon betäubten würden noch eine halbe Stunde lang unweckbar bleiben. Itoluhila wartete, bis der Sicherheitscomputer vermeldete, daß alle Räume wieder mit Normalluft gefüllt waren. sie versetzte sich in die Bar. Die acht Dirnen und ihre Freier lagen übereinander am Boden. Allerdings waren sie noch bekleidet. Maruja, die Bardame, lag an die Rückwand der Theke gelehnt da. Die sechs anderen Banditen im Weihnachtsmannkostüm waren der Länge nach hingefallen, als sie das Betäubungsgas erwischt hatte. Ihre gefährlichen Schußwaffen lagen neben ihnen. Die brauchte Itoluhila nicht. Sie griff sich gleich zwei Banditen auf einmal. Da sie gerade bewußtlos waren konnten sie ihr keinen geistigen Widerstand bei der Ortsversetzung entgegenbringen. Nur magisch begabte Menschen hätten da noch zu viel Grundwiderstand geboten. Das war wohl damals Hallittis Verhängnis, als sie versucht hatte, den Jungzauberer Julius Andrews zu entführen und dabei auf die lächerlichen Transportgeräte der Magielosen zurückgreifen mußte. Nach drei Minuten gab es in der Bar keinen Banditen mehr. Itoluhila klaubte die sechs Maschinenpistolen auf und trug sie zu Fuß in den Keller, wo sie sie in einen mit drei Schlössern gesicherten Kellerraum schaffte. Sie würde die Dinger nach und nach über Spanien verteilen und sich amüsieren, was die Polizei anfing, wenn die Waffen wieder auftauchten. Dann versetzte sie sich wieder in ihre Schlafhöhle. Dort entkleidete sie die Gefangenen. Zwar konnte ihr Lebenskrug nichtmetallische Materie auflösen, wenn sie von einem Lebewesen berührt wurde. Doch das würde nur die Lebensessenz im Krug zähflüssiger machen. Besser war es, die gefangenen Banditen komplett nackt hineinzuwerfen. Doch dazu wollte Itoluhila sie erst einmal zu sich kommen lassen.

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Der Vorfall in der Casa del Sol schlug keine weiteren Wellen. Loli hatte, nachdem sie die falschen Weihnachtsmänner nacheinander in ihren Lebenskrug eingeworfen hatte, die gerade wieder zu sich kommenden Mädchen und Freier durch ihren magischen Blick unterworfen und ihnen einsuggeriert, daß nichts passiert sei, außer, daß sie noch gut miteinander gefeiert hatten. Sie bekam mit, wie die Bordellbesucher mit den ausgesuchten Gesellschafterinnen auf die Zimmer gingen und fühlte die Wogen der gekauften Lust. Sie lächelte. "Maruja, war ein Anruf für mich?" fragte sie die Bardame.

"Du meinst, daß er dir fröhliche Weihnachten gewünscht hätte, Loli?" fragte Maruja zurück. Loli lächelte. "Wird wohl jetzt in der Kirche sein. Wir können ja froh sein, daß wir überhaupt Gäste haben."

"Ja, und unsere Freunde von der Polizei trauen sich nicht mehr her, nachdem ich ihrem Chef das Video gezeigt habe, wie er mit Estrella "gespielt" hat." Maruja grinste.

"Du bist das gewievteste Luder, daß jemals im horizontalen Gewerbe gearbeitet hat, Loli", grinste Maruja.

"Ich bin nur so gut, wie man mich läßt, Maruja", erwiderte Loli in falscher Bescheidenheit. Sie hoffte darauf, in dieser Weihnachtsnacht noch was abzustauben.

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Don Pedro Molinos fühlte sich wieder großartig. Wenn er mit seiner Familie Weihnachten feierte, konnte er sich immer als netter Opa, Papa und Onkel darstellen. Seine Enkelkinder und die drei Neffen und zwei Nichten fragten ihn nie, woher die tollen Weihnachtsgeschenke kamen, die er mit seinem Lieferwagen vor das große Landhaus karren ließ. Sein ältester Sohn Miguel sollte zwar eines Tages das ansehnliche Glückspiel- und Bordellimperium erben, wußte jedoch bisher nichts von seinem fragwürdigen Glück. Für seine erwachsenen Verwandten war Don Pedro Molinos ein erfolgreicher Immobilienhändler, der Häuser in angesagten Lagen ebenso vertrieb, wie er Firmen günstige Grundstücke für ihren Betrieb zuschustern konnte. Darüber hinaus hielt er mehrere Aktienpakete, deren Wert in den letzten zwei Jahren deutlich gestiegen war. So zumindest dachten seine Verwandten.

Gerade sah er seinem jüngsten Enkel Diego zu, wie er mit vor Vorfreude leuchtenden Augen das große Paket aus dem bunten Papier befreite. Der gerade vier Jahre alte Junge hatte sich vom Weihnachtsmann eine Modelleisenbahn mit drei Loks und fünf verschieden kombinierbaren Zügen gewünscht. Diegos Vater, Pedros zweiter Sohn Marco, blickte leicht ungehalten auf das große Paket. Er hatte damals nichts für Modelleisenbahnen übrig gehabt, war ein rechter Juniormatrose gewesen, der immer ans, aufs und ins Meer wollte, wenn er die Gelegenheit dazu hatte. Insofern würde Diego wohl für sich allein mit der neuen Eisenbahn spielen dürfen. Don Pedro wollte eigentlich sehen, wie sein Enkel sich über das große Geschenk freute, als es in seiner Hemdinnentasche deutlich vibrierte. Da er wußte, daß seine Verwandten es nicht mochten, wenn er mitten bei einer Feier das kleine Mobiltelefon hervorholte, ließ er den kleinen Apparat solange vibrieren, bis wer immer ihn angerufen hatte es aufgab. Er sah, wie Diego mit strahlendem Gesicht die in einem großen Karton verpackte Eisenbahn mit Schienen, einem kleinen Bahnhof und den zwei Dampf- und der einen Diesellok betrachtete. Diegos Vater blickte seinen Vater vorwurfsvoll an. Auch Laura Elena, Diegos Mutter, war nicht sonderlich begeistert über das große Geschenk für ihren Sohn. Doch dem Jungen zeigte sie das nicht. Sie lachte und sagte, daß der Weihnachtsmann wohl gehört hatte, daß er, Diego, im nächsten Jahr brav sein wollte und ihm deshalb den Wunsch erfüllt hatte, weil er ihm zeigen wollte, daß Artigsein belohnt wurde. Don Pedro wollte gerade noch was dazu sagen, als es schon wieder in seiner Hemdtasche vibrierte. Diesmal bekam Marco das sogar mit, auch wenn das Handy keinen Klingelton von sich gab. Er verzog das Gesicht. Don Pedro nickte nur und wünschte seinem Enkel viel Spaß mit der neuen Eisenbahn. Dann ging er in das Badezimmer, das schalldicht verbaut war. Er schob den Riegel vor und zog das kleine Telefon frei.

"Was ist los? bin gerade bei der Familienfeier", knurrte er in das winzige Mikrofon. Die Anzeige verriet ihm, daß Alfonso, sein Statthalter in Andalusien, am Apparat war.

"Don Pedro, unsere Weihnachtsbotschaft ist offenbar nicht erfreut aufgenommen worden. Habe von den sieben Weihnachtsmännern nichts mehr gehört, seitdem die sich vor erwähntem Objekt aufgestellt haben. Rafael hatte wohl recht, daß wir Sevilla besser nicht auf unsere Karte setzen sollten."

"Die werden nicht reden, Alfonso. Die werden eher bis zum Tod kämpfen", knurrte Don Pedro. Er war froh, daß der Verschlüsselungschip im Handy seine Stimme so gut verwürfelte, daß eventuelle Mithörer von der Polizei nicht merkten, wie angespannt er war. Alfonso war als malagenischer Ferienhausverwalter eingetragen. Soeiner durfte ruhig mit einem angesehenen Immobilienmakler telefonieren. "Kann sein, daß die nicht eher telefonieren, bis die klarhaben, was anliegt. Wenn die bis übermorgen immer noch nichts gemeldet haben oder irgendwas in den Nachrichten ist, daß in Sevilla was unfeines passiert ist, ruf mich noch mal an! Ich will die Feiertage mit meiner Familie genießen. Sonst hätte ich dich ja nicht als Aufpasser abgestellt." Alfonso bestätigte die neue Anweisung und seinen Status. Dann legte er auf. Don Pedro verstaute das abgesicherte Mobiltelefon wieder in seiner Hemdinnentasche. Gerade wollte er den Riegel der schalldichten Badezimmertür zurückschieben, um zu seiner feiernden Verwandtschaft zurückzukehren, als genau da, wo die große, himmelblaue Badewanne stand, die Luft flimmerte und von einem auf den anderen Moment eine splitternackte Frau mit milchkaffeefarbener Haut in der Wanne auftauchte. Ihr langes, schwarzblaues Haar wehte luftig leicht um ihren Rücken. Sie lächelte Don Pedro an. Ihre Wasserblauen Augen fingen seinen Blick ein. Ihm wurde unvermittelt heiß und kalt. In der nächsten Sekunde erwachte in ihm das Verlangen, diese so wundersam zu ihm gekommene Frau zu beschlafen. Da sagte sie mit einer alles verheißenden tiefen Stimme:

"Ich hörte, daß du ein sehr ausdauernder Liebhaber sein kannst, wenn du die richtige Frau triffst. deine Gattin ist ja in der Hinsicht nicht mehr so bedürftig. Deshalb bin ich als großes Geschenk des Himmels zu dir gekommen. Nimm mich in die Arme, Liebster!" Don Pedro fühlte, daß irgendwas seinen Geist vernebelte. Doch das innere Verlangen, dieses makellose, hüllenlos dastehende Geschöpf zu besitzen, trieb ihn an, der Aufforderung zu folgen. Er beugte sich vor und umfing die Fremde mit seinen Armen. Sie sang leise ein Lied, dessen Text er nicht verstand. Doch die Melodie drang über seine Ohren tief in sein Gehirn ein und überlagerte jedes in ihm verbliebene Mißtrauen. Er fühlte den warmen, weichen, pulsierenden Körper, spürte die festen Rundungen an seinem Brustkorb nachgeben und sah das Gesicht der Fremden, die einladend geöffneten Lippen. Als die Unbekannte mit ihrem säuselnden Gesang aufhörte, küßte er sie. Sie umschlang ihn mit ihren Armen und drückte ihn fest an sich, daß er ihr Herz durch ihren und Seinen Brustkorb schlagen fühlen konnte. Dann meinte er, mit der Unbekannten in einen Strudel aus Farben hineinzustürzen, dessen einziger fester Halt die nackte Schöne war, deren Mund seinen berührte und die ihn genauso fest umarmte wie er sie. Als der farbenfrohe Strudel verschwand, standen sie in einer gewaltigen Kuppelhöhle. Don Pedro nahm es nur zur Kenntnis, ohne sich darüber zu wundern. Als er auch noch sah, daß sein Mitarbeiter im Weihnachtsmannkostüm reglos auf einer Strohmatte lag, glomm ein wenig Argwohn in seinem Bewußtsein. "Wenn du mich wirklich willst, dann leg das ganze störende Zeug ab!" hörte er die Stimme der Unbekannten, als sie die innige Berührung ihrer Lippen unterbrach. Die Anweisung war für Don Pedro eine Verheißung. Sie gab ihn aus ihrer Umarmung frei. Er ließ sie los und begann damit, seine Kleidung abzulegen, wobei er mit großer Ungeduld zu Werke ging. Seine Verheißung indes zog den reglosen Weihnachtsmann von der Strohmatte herunter und rollte ihn einige Meter weiter fort. Jetzt konnte Don Pedro auch den aus sich selbst golden leuchtenden Krug seen. "Er hier stört uns nur", sagte die Unbekannte. Don Pedro gab ihr schweigend recht.

Gänzlich berauscht, ja gefesselt von der Kraft, die die Fremde über ihre Augen auf Don Pedro ausübte, befolgte er alle ihre Aufforderungen und Anregungen, während sie auf der Strohmatte eins miteinander wurden. Daß er dabei immer müder und unkonzentrierter wurde fiel ihm nicht auf. Denn seine Gedanken waren längst dem Willen der Fremden unterworfen, die ihn führte, ihn sicher hielt und dabei immer mehr auszehrte. Erst als sie wußte, daß er ihr nicht mehr entrinnen würde löste sie den magischen Bann, mit dem sie ihn gefügig gemacht hatte. Er erkannte plötzlich, daß er gerade in einer tödlichen Falle steckte. Eine teuflische Kreatur hatte ihn überwältigt und verschleppt. Er wollte von ihr weg. Doch sie hielt ihn und warf ihn herum, so daß sie über ihm zu liegen kam. Er fühlte ihr Gewicht. Er konnte es nicht mehr aushalten. Doch sie wurde immer schwerer, je mehr Kraft von ihm in sie überfloß. "Leute wie du sind wie Kakerlaken. Aber als Liebhaber bist du sehr brauchbar. Schade, daß ich dich nicht zu einem meiner Abhängigen machen kann, weil du schon zu bekannt bist. Sollen sich deine Erben um das bißchen Zeug zanken, daß du dir schon unter den Nagel gerissen hast!" Er versuchte, sie von sich fortzustoßen. Doch sie erzwang nun die geschlechtliche Vereinigung mit ihm und trieb ihm damit immer mehr Kraft aus dem Körper.

"Verdammt, wer bist du?" röchelte Don Pedro. "Ich bin der schwarze Engel, der, den du von deinen wahrhaftigen Weihnachtsmännern vom Markt nehmen lassen wolltest. jetzt verschwindest du vom Markt", ächzte Don Pedros allerletzte Geliebte. Da umfing ihn schon die Ohnmacht. Wie sein Körper immer schlaffer wurde, bis das Herz aussetzte, bekam er nicht mehr mit. Nur einen Moment lang fühlte Don Pedro, daß er gerade in einem anderen Körper steckte. Doch dann verging sein Geist restlos.

Als Marco Molinos nach einer halben Stunde doch einmal wissen wollte, warum sein Vater so lange im Badezimmer war und ob er da nur telefonierte, ging er durch das große Haus. Er überprüfte jede Badezimmertür. Drei der vier waren offen. Die vierte war fest verriegelt. Marco klopfte laut an die Tür und rief nach seinem Vater. Als er keine Antwort erhielt eilte er in den Festsaal zurück und holte seinen Bruder Alvaro. Die Kinder wurden von ihren Müttern beaufsichtigt. Alvaro kannte sich mit verschlossenen Türen aus. So war die Badezimmertür in weniger als zwanzig Sekunden ohne großen Aufwand geöffnet. Im Badezimmer lag Don Pedro Molinos mit offenem Hemd, die linke Hand auf die behaarte Brust gelegt. Sein Gesichtwar eine einzige bleiche Maske der Furcht und des Abscheus. Er regte sich nicht, als seine beiden Söhne ihn laut ansprachen. Marco warf sich über seinen Vater und rüttelte an ihm. Doch das half nichts. Sie versuchten, ihn durch Herzmassage wiederzubeleben. Doch das Herz Don Pedros schlug nicht mehr. Mit etwas mehr als achtundfünfzig Jahren Betriebszeit hatte es der Belastung der letzten Minuten nicht mehr standhalten können. Marco und Alvaro fühlten Trauer und Furcht. Sie hatten es nicht mitbekommen, wie ihr Vater im Badezimmer starb. Die Trauer verbreitete sich im ganzen Haus Molinos. Die Kinder, die keine halbe Stunde vorher noch überglücklich gestrahlt und gelacht hatten, weinten nun bitterlich, weil ihr geliebter Großvater und Onkel tot war. Daß ihr Verwandter nicht der nette Mensch war, als der er sich ihnen immer dargestellt hatte, und daß dieses Geheimnis ihm den Tod gebracht hatte, erfuhren sie nicht.

Doktor Ortega, der Hausarzt und ehemalige Studienkamerad Don Pedros, kam zusammen mit der Polizei zu den Molinos. Er konnte nur den Tod feststellen. Er gab als Todesursache Herzinfarkt an. Einer der mitgekommenen Polizisten fragte, ob der Leichnam obduziert werden dürfe. Die Familie hatte nichts dagegen, half es doch, jeden Verdacht auszuräumen, sie hätten Pedro Molinos ermordet. So wurde der Verstorbene zunächst insForensische Leichenschauhaus überführt. Weihnachten war für die Familie Molinos damit erledigt. Es dauerte bis zum zweiten Januar, bis die Rechtsmediziner feststellten, daß Pedro Molinos nicht durch Gewalteinwirkung oder Giftstoffe zu Tode gekommen war. Das Mobiltelefon wurde jedoch ohne Wissen der Familie ausgewertet. Capitan Fernandez von der Staatspolizei verfügte, daß alle Ermittlungen bis auf weiteres ohne Kenntnis der Familie stattfinden sollten. Denn Pedro Molinos stand bei den Ordnungsbehörden schon seit Jahren auf einer Liste von Verdächtigen. Sowohl die Abteilung illegales Glücksspiel wie Sittlichkeitsdelikte führten ihn als möglichen Betreiber von Flüsterkasinos und Hinterhausbordellen in Madrid, Barcelona, Alicante, Valencia und Zamorra. Fernandez telefonierte mit seinem Kollegen in Sevilla und fragte ihn, ob es in letzter Zeit zu Übergriffen zwischen Mitgliedern des Rotlichtmilieus gekommen sei. "Hier in Sevilla hat der schwarze Engel immer noch alle Fäden in der Hand. Unsere Spitzel kommenjedoch nie näher an ihn heran als an die Mädchen auf der Straße. Wir haben noch immer keinen Verdächtigen", sagte Fernandez' Kollege über abhörsichere Telefonleitung. "Sähe dem aber ähnlich, einen zu aufdringlich gewordenen Konkurrenten zu eliminieren. Hat Don Pedro echt nichts auffälliges an sich gehabt?"

"Unser Gerichtsmediziner atestiert Herzschlag in Folge starker Erschöpfung und vermutet, daß Don Pedro Molinos vor seinem Tod womöglich masturbiert hat. Allerdings haben wir keinerlei Spuren davon gefunden, als wir das Badezimmer untersucht haben. Fremdeinwirkung scheidet auch aus, weil außer den Fingerabdrücken der Familienangehörigen nur Fingerabdrücke des Opfers gefunden wurden. Wir mußten die Leiche freigeben, weil wir keinen Hinweis auf eine Tötungshandlung finden konnten."

"Wäre der erste Rotlichtpapst, der beim Einhandspiel den Abflug gemacht hat", hörte Fernandez den Kollegen in Sevilla grinsen. Dann sagte er, daß er weiter auf dem Posten bleiben würde, ob es im Zusammenhang mit Molinos doch irgendwas gab, was mit dem schwarzen Engel zu tun habe.

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Die Neujahrsfeier hier in San Francisco gefiel ihr nicht. Seit geschlagenen fünf Stunden tanzte und trank sie mit hundert Unbegüterten. Es waren zwar hübsche Männer darunter. Doch zum einen waren zwanzig von denen in weiblicher Begleitung, und sie wolte keinen Stutenkampf vom Zaun brechen. Zum anderen soffen die diese bunten Mischgetränke, die sinnigerweise auch noch Cocktails, Hahnenschwänze, hießen. Romina Hamton, ihre Bundesschwester, hatte ihr die Eintrittskarte für diese Feier besorgt, weil sie meinte, daß sie, die Führerin der Spinnenschwestern, hier den einen oder anderen interessanten Muggel kennenlernen konnte. Doch die ganzen Leute hier kannten nur Trinken, Essen, und ihre auf Selbstvermehrung dressierten Geldkonten. Das hier war ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, der fast schon in dekadente Vergnügungssucht ausartete. Kurz vor Mitternacht war noch ein Paar gekommen. Er hochgewachsen, schwarze Locken, dunkelgrüne Augen. Sie füllig, rotbraunes Haar. Beide traten so auf, als hätten alle hier nur auf sie gewartet. Gerade trat der Veranstalter dieser großen Jahreswendfeier auf sie zu und stolperte fast mit seinem Champagnerglas über den Saum ihres apfelgrünen Festkleides.

"Huii, sie sind ja noch ganz fit im Schritt, N-Nancyyy", lallte er und grinste breit. "G-gleich is zwölf. Dann hamwer zweitausend überstanden. Hicks!" Die höchste Schwester des Spinnenordens sah Rod Brubaker, den Veranstalter, mit kaltem Lächeln an und erwiderte:

"Ja, und zweitausendeins wird genauso ein hektisches Jahr wie das davor." Sie widerte es an, wie durcheinander die Gedanken der schon gut berauschten Gäste waren. Sie mußte sich dagegen abschotten, wenn sie nicht in Wut geraten wollte. Viele hier dachten daran, zwischen den Laken ins neue Jahr hineinzutanzen. Das hätte sie dieser Feier hier auch vorgezogen. Wenn dieses schottische Lied gesungen war und sie alle die wollten mit ihren Tischnachbarn auf das neue Jahr angestoßen hatten, würde sie sich von Romina Hamton, die an einem Tisch mit vier schon sichtlich betrunkenen Männern saß, verabschieden und in die Ruhe ihres Zuhauses zurückkehren. Morgen konnte sie anderswo nach wem suchen, der das neue Jahr würdig mit ihr feierte und dabei auch an ihren Lebenskelch dachte.

Sie öffnete ihren für fremde Gedanken empfänglichen Geist wieder. Das wilde Schwirren unzusammenhängender Gedanken war zu einem wahren Brausen geworden. Sie sah jeden in Blickrichtung genau an. Dann blieb sie bei dem schwarzgelockten hängen. Der dachte noch sehr klar, wenngleich seine Gedanken irgendwie verschleiert waren. Sie konnte die von ihm gedachten Worte nicht so verstehen, wie sie es bei der geringen Entfernung mußte. Konnte der etwa okklumentieren? Sie blickte ihm in die Augen und konzentrierte sich. Da war ihr, als senke sich ein Nebel über die Gedanken des Anderen. Es gelang ihr zwar, Gedankengänge zu erkennen, aber nicht in der Klarheit wie sonst. Doch was sie erfaßte genügte, um sie von einem auf den anderen Moment von angeödet zu alarmiert wechseln zu lassen. Der Mann dachte daran, daß seine Gefährtin und er sich an die beiden volljährigen Kinder des Gastgebers ranmachen wollten, um sie ihr zu beschaffen. Wer "sie" war konnte Anthelia nicht erkennen, aber die Begierde und Hingabe, die er bei dem Gedanken an sie hegte ließ nur einen Schluß zu: Hier waren zwei Abhängige einer der gerade wachen Abgrundstöchter unterwegs, um Beute zu machen. Sicher, in gewisser Weise wollte sie das auch, nur mit dem Unterschied, daß ihre unverbindlichen Gespielen es zum einen auch wollten und zum anderen danach müde, aber doch noch lebendig waren. Sie mußte herausbekommen, für welche der beiden, oder waren es wirklich schon drei, die beiden auf Lebensraub ausgingen. Das konnte sie aber nur, wenn sie den anderen zwingen konnte, an seine Herrin zu denken. Sie belauschte nun auch die Rothaarige. Auch ihre Gedanken wurden von einer Art Nebel verhüllt. Doch wenn Anthelia sich voll konzentrierte, konnte sie heraushören, daß sie gerade versuchte, Barney, den Erstgeborenen des Gastgebers, für sich zu begeistern. Anthelia stand behutsam auf und stellte sich wie zufällig in die Blickrichtung der Rothaarigen, deren Gedanken von spanischen Wörtern wimmelten, woraus zu schließen war, daß das ihre Muttersprache war. Die Rothaarige verlor den Blickkontakt und sandte eine Welle der Verärgerung aus. Anthelia tat so, als wolle sie sich mit dem übergewichtigen Mr. Prescott unterhalten, der im wesentlichen nur an die Vermehrung seines Aktienvermögens dachte. Die Rothaarige hatte keine andere Wahl, als sich auch hinzustellen, um an Anthelia vorbeizusehen. Diese drehte sich jetzt aber so, daß sie Barney ansah. Doch der war bereits so berauscht, daß er nicht mehr geradeaussprechen oder -denken konnte. Er lachte dümmlich über billige Witze und erwähnte, daß er seit seiner Vorschulzeit nicht mehr vollkommen Nüchtern ins neue Jahr hineingefeiert hatte. Seine Tischnachbarin kicherte darüber wohl albern. Dann stand er auf, um nach seinem Champagnerglas zu greifen. Da kippte das Glas um und zwar so, daß ihm der überteuerte Schaumwein voll auf die gute Hose lief. "Mist verdammt, eh!" fluchte er und verrieb das verschüttete Edelgetränk noch mehr. Er versuchte, sich umzudrehen, als er das Gleichgewicht verlor und mit dem Hinterkopf wuchtig an eine Stuhllehne knallte. Alle Gäste verstummten. Nur die bereits an der Grenze zum Vollrausch entlangschwankenden lachten schadenfroh. Barney versuchte, auf die Beine zu kommen. Doch anscheinend mußte er sich beim Aufprall eine wichtige Stelle am Nacken verletzt haben. Der Alkohol im Blut tat sein übriges dazu, daß er sich unter Angst- und Schmerzenslauten am Boden wälzte und seine Beine hilflos zuckten, aber keinen sicheren Halt fanden. Sofort waren drei Sanitäter mit Trage da. Sie untersuchten Barney und stellten eine mittelschwere Platzwunde fest. Offenbar hatte er sich aber auch den Rücken angeprellt. Die Sanitäter hoben den Sohn des Hauses so schnell sie es bei seiner Verletzung verantworten konnten auf die Trage und brachten ihn hinaus. Offenbar wollte der Hausherr die Veranstaltung nicht eine Minute vor dem Jahreswechsel aus dem Ruder laufen lassen. Er sagte nur: "Keine Sorge, Ladies and Gentlemen, mein Sohn hat das schon mal gehabt, daß er bei einer Feier vom Stuhl gekippt ist. Der fängt sich wieder. In seinem Sinne möchten wir weiterfeiern. Denn gleich ist das achso mythische Jahr zweitausend Geschichte. So singen wir nun das traditionelle Abschiedslied für dieses achso turbulente Jahr!"

Anthelia kannte das schottische Lied, was in den meisten englischsprachigen Ländern zum Jahreswechsel angestimmt wurde. Ihre Auffassung von harmonischem Gesang entsprach diese Stehgreifdarbietung hier zwar nicht, aber sie mußte trotzdem lächeln. Denn die Rothaarige würde nun nicht an ihr Opfer herankommen, wollte sie nicht zu sehr auffallen. Blieb noch der schwarzgelockte. Anthelia beschloß, gleich nach dem vollzogenen Jahreswechsel so zu tun, als sei sie für ihn empfänglich. Sie war jedoch auf der Hut vor einem magischen Blick. Richard Andrews hatte sich damit Dutzende von Dirnen unterworfen, obwohl die wußten, wie der Hurenmörder aussah.

Das Lied verklang. Alle griffen zu den Gläsern. Dann zählten sie alle die letzten Sekunden des Jahres 2000 hinfort. Als es genau Mitternacht war und draußen schon die großen Böller krachten und die ersten Raketen in den Nachthimmel über San Francisco zischten, stießen alle mit ihren Nachbarn an und wünschten sich ein glückliches neues Jahr. "Möge zwanzig null eins unserem neuen Präsidenten mehr Sicherheit geben, als seine Wahl es vermuten ließ!" brachte einer einen spontanen Trinkspruch aus. Anthelia überhörte das. Wenn sie schalten und walten durfte wie sie wollte, hätte dieser Präsident seine Inauguration keine Minute überlebt. Das hieße aber, offen gegen die magielose Welt anzugehen, und wohin das führen konnte hatte sie leider in den letzten Jahren des soeben wahrhaftig verwehten Jahrhunderts erleben müssen. Sie dachte einen Moment daran, was passiert wäre, wenn diese Weltretterin Tourrecandide nicht auf die Insel der Hölzernen Wächterinnen gekommen wäre. Nein, daran wollte sie nicht denken. Eher pries sie im Geiste den Jungzauberer Julius Latierre, der ihr ohne es zu wollen zweifach geholfen hatte. Dann fiel ihr wieder ein, daß da noch ein Abhängiger einer Abgrundstochter lauerte, der bereits beim Zutrinken nach seiner Beute Ausschau hielt. Sie versuchte, ihn zu locken, seinen Blick auf sich zu ziehen. Doch als sie sich gegen seinen sanften Einflußversuch stemmte, zuckte er nur zusammen und sprang auf. Sie erkannte, daß er wegen ihr in Alarmstimmung geraten war. Er tippte seine Begleiterin an. Anthelia vernahm von ihm zu ihr überspringende Gedanken: "Rufi, weg hier. Da ist eine von denen, vor denen Loli uns gewarnt hat!" Anthelia mußte sich arg zusammenreißen, nicht hinter den beiden so plötzlich aus dem Festsaal hinauslaufenden herzustürmen. Sie mußte gesitteter von hier weg, damit niemand hier darauf kam, daß sie nicht das war, was sie vorgegeben hatte. Sie schaffte es gerade noch, die beiden soweit zu überwachen, daß sie wußte, daß sie draußen vor der Tür ein kleines Auto hatten. Sie sah Romina an, die bereits Champagnerselig auf ihrem Stuhl hockte. "Muß weg hier. Zwei Abhängige von Abgrunstochter ausgemacht. Beide flüchtig. Muß sie verfolgen", mentiloquierte sie der Mitschwester. Dann stand sie auf und kniff die Beine zusammen, als müsse sie etwas ganz fest dazwischen festhalten. Die Geste wurde offenbar so gesehen, wie sie es wollte. Sie begann, in Richtung des Badezimmers zu eilen. Sie öffnete die Tür und ließ sie wie von unsichtbarer Hand geführt hinter sich wieder zufallen. Sie rannte erst in Richtung Badezimmer. Dann ließ sie ihre kleine Handtasche zu sich hinfliegen, fischte ihren Zauberstab heraus und drehte sich noch im Laufen in eine Disapparition. Das deutliche Plopp ging im Lachen der Festgäste und dem Krachen, Wummern, Zischen, knattern, Heulen und Pfeifen des Feuerwerks unter.

Anthelia erschien knapp hundert Meter vom Haus entfernt. Ja, da kam ein kleines Auto, auf dem Seat stand, was wohl der Markenname dieses Vehikels war. Anthelia schaffte es noch, außerhalb der Scheinwerferstrahlen zu bleiben. Sie wartete noch einige Sekunden. Dann hob sie einfach vom Boden ab. Der Freiflugzauber wurde von ihr in Vollendung beherrscht. Sie schaffte es damit, den vom Haus der Festgesellschaft fortrollenden Seat einzuholen. Dann brachte sie ein neues Zauberstück zur Vorführung. Sie steckte ihren silbergrauen Zauberstab fort, landete so leise sie konnte und klammerte sich mit den Händen fest. Ein konzentrierter Gedanke gekoppelt mit dem Gefühl, einen Feind bekämpfen zu müssen, und aus Anthelia wurde Naaneavargias zweite Natur, die menschengroße, schwarze Spinne. Als solche besaß sie nicht nur vier Gliedmaßen mehr zum laufen, sondern auch zum festhalten. Sie konnte aber weiterhin klar denken. So erkannte sie, daß es nichts bringen würde, die beiden Sklaven einer Abgrundstochter zu töten. Sie mußte sie sicherstellen und gut verstauen.

Offenbar aber merkten die beiden etwas. Ja, jetzt fühlte Anthelia/Naaneavargia es auch, daß aus dem Wagen unsichtbare Kräfte wirkten, die sie abtasteten und dann versuchten, sie vom Dach zu drücken, nicht mit telekinetischer Energie, sondern einfach durch eine starke Abweisung. Doch aus der Abweisung wurde für Anthelia eine Hingezogenheit. Denn in ihrem Körper wirkte noch etwas von Dairons dunklem Seelenmedaillon, das sich immer zu Quellen und Wesen dunkler Zauberkräfte hingezogen gezeigt hatte. Da bremste der Wagen so abrupt, daß jedes andere Ding oder Wesen vom Dach geschleudert worden wäre. Doch die schwarze Spinne hatte die Absicht früh genug erkannt und sich mit ihren acht krallenbewehrten Beinen festgeklammert. Die beiden Türen des Wagens flogen auf. Der Fahrer kam, unüberhörbare Wogen von Feindseligkeit und Angriffslust verbreitend, aus dem Fahrzeug. In der rechten Hand hielt er einen Revolver. Als er sah, was sich da auf dem Dach festgekrallt hatte, stieß er einen kurzen Schreckensschrei aus. Dann feuerte er. Alle sechs Schüsse krachten lange von entfernten Häusern und Bäumen widerhallend. Sechs Kugeln klatschten auf den halbrunden Spinnenleib und schwirrten laut pfeifend in die Nacht davon. Da war die Begleiterin des Fahrers, den vernebelten Gedanken nach ebenfalls von einer magischen Kraft beeinflußt, aus dem Wagenund brachte ein Sturmgewehr in Anschlag. Keine Sekunde später prasseltenmehrere schwere und durchschlagskräftige Projektile auf die schwarze Spinne ein und miauten als Querschläger davon. Drei davon schlugen in das Automobil ein. Eines zerschmetterte die hintere Seitenscheibe. Ein zweites brachte mit lautem Knall den rechten Vorderreifen zum platzen. Die dritte Kugel schlug mit einem Geräusch wie ein auf den Amboss niederfahrender Schmiedehammer in den Motorraum ein. Doch der auf dem Dach hockenden Riesenspinne konnte das nichts anhaben. Diese vollführte eine halbe Drehung, um die beiden Unterworfenen vor ihrem Hinterteil zu haben. Der Wind stand günstig, sagten ihr die Sinneshaare. Mit allem nötigen Druck schleuderte sie einen fingerdicken Fangfaden von sich. Die beiden Abhängigen konnten gerade noch ausweichen. Doch da war schon der zweite Fangfaden heran und klatschte dem Schwarzgelockten um die Brust. Die klebrige Substanz auf dem Faden haftete sofort an. So konnte die Spinne den Faden mit dem daran hängenden Mannheranziehen. Der rief in Gedanken um Hilfe. Genau das wollte Anthelia. Sollte seine Gebieterin erscheinen. Sie konnte jetzt sogar das Bild der betreffenden Abgrundstochter sehenund erkannte, daß es Itoluhila war, die Tochter des schwarzen Wassers. Die würde sich gleich wundern. Da passierte es auch schon. Die Rothaarige wurde von einer Wolke aus Licht eingehüllt, die sie scheinbar verbrannte. Doch so erleichtert wie sie sich fühlte war es eher eine Errettung als ihre Vernichtung. Der am klebrigen Fangfaden hängende und davon immer mehr eingeschnürte sendete weiterhin geistige Hilferufe aus. Dann umfing auch ihn eine Lichtwolke. Doch Anthelia stemmte sich dagegen an, ihn loszulassen. Die Kraft, mit der Itoluhila ihren Abhängigen fortholen wollte, schaffte es nicht, ihn fortzureißen. Sie dehnte sich weiter aus und prallte auf die schwarze Spinne, die sich mit aller Macht wünschte, an diesem Ort zu bleiben. Sie wußte, daß sie der Versetzungsmagie einer Abgrundstochter widerstehen konnte, wenn sie sich weigerte, den Standort zu wechseln. Nur deshalb hatte Hallitti, die jetzt als eine ständig das Alter wechselnde Weltraumfliegerin auf der Erde herumirrte, Julius Andrews nicht gleich in ihre Höhle verschleppen können. Anthelia versuchte, den Gefangenen noch mehr einzuspinnen. Dann passierte das, was Anthelia zum einen erhofft und zum anderen gefürchtet hatte. Eine machtvolle Präsenz, getragen von Wut und Verunsicherung, wurde an diesem Ort erkennbar. Anthelia wußte, daß sie als Spinne Naaneavargia Vereisungszaubern ausgeliefert war. Doch wenn die Tochter des schwarzen Wassers sie damit tötete, würde sie und jeder hier in der Umgebung den schlimmsten vorstellbaren Schrecken zu spüren bekommen. Anthelia bemühte sich nicht einmal, diese Gedanken zu verhüllen. Sie kämpfte darum, den Gefangenen zu halten.

"Lass ihn sofort frei, du Monstrum!" brüllte eine sichtlich erregte Frauenstimme. Dann fühlte Anthelia die sie umwabernde Eiseskälte. Ihr Spinnenkörper erstarrte fast augenblicklich. Die Zeit schien auf einmal schneller abzulaufen. Das lag daran, daß Itoluhilas Gefrierzauber die Körper- und Geistesregungen der Spinne immer mehr verlangsamte. Anthelia fürchtete schon, sich diesmal doch verhoben zu haben. Doch der Gedanke daran, dann als unaufhaltsamer Sturmgeist über dieses vaterlose Biest hereinzubrechen, verdrängte ihre Angst. Sie bekam aber mit, wie etwas großes, gewaltiges hinter ihr vom Boden hochschnellte und mit einem schnellen, kräftigen Stoß den Spinnfaden kappte. Anthelia konzentrierte sich auf ihre Menschenform. Sie schaffte es in zwei Subjektivsekunden, in ihre Originalgestalt zurückzukehren. Sie stand nun bis zur Unterkante Brustkorb in einem schwarzen Eisblock. Ihre Beine verloren jedes Gefühl. Doch Anthelia besaß noch ihre telekinetischen Kräfte. Sie versetzte dem Abhängigen Itoluhilas einen Stoß. Er fiel um. Die Abgrundstochter flog in ihrer Kampfgestalt als mehr als zwei Meter großer schwarzer Rochen heran und landete punktgenau vor der gefangenen Anthelia. Diese dachte jedoch schon die Worte des dunklen Tauwetters, die besonders gut bei Dunkelheit wirkten und magisch erzeugtes Eis brechen konnten. Itoluhila sah, wie Anthelia sich auf diese Weise freisprengte. "Caloram revoco!" stieß sie in Gedanken aus und zielte auf ihr rechtes Bein. Ein heftiger Wärmestoß durchfuhr es. Doch bevor sie auch das linke Bein aus seiner Eisesstarre befreien konnte, fuhr Itoluhila in ihrer Kampfgestalt auf sie los. Sie konnte gerade so noch einen Wall aus gelöstem Erdreich zwischen ihr und sich entstehen und sich verfestigen lassen. Itoluhila schaffte es nur knapp, über den zwei Meter hohen Sofortwall hinwegzusteigen. Sie brüllte. Anthelia wußte aus ihrem Kampf mit Hallitti, daß die Abgrundstöchter auch in ihrer Zweitgestalt das mit ihnen verbundene Element beeinflussen konnten. Ja, und da flog auch schon ein fingerdicker, armlanger Eisspeer auf sie zu. Sie konnte nur noch zur Seite forttauchen. Laut Klirrend bohrte sich der Eisspeer bis zum oberen Viertel in den Straßenbelag. Ja, daß hätte Anthelia ihr drittes Leben kosten können. So rief sie nach oben: "Bring mich um, und du hast den größten Fehler deiner verkommenen Existenz gemacht, Wasserschlange!" Sie dachte an den Fluch ihrer mütterlichen Vorfahren, gestandenen Luftmagiern. Wer einen von ihnen gewaltsam tötete, verhalf ihm oder ihr zu einem Fortbestand als König oder Kaiserin der Luftdschinnen, die alle Winde im Umkreis mehrerer Hundert Schritte bündeln konnten. Offenbar bekam Itoluhila das mit und auch, mit wem sie gerade aneinandergeraten war. Sie zögerte. Dann ließ sie sich laut aufbrüllend vor Anthelia auf den Boden sinken und nahm ihre menschliche Gestalt an. Ja, sie sah wirklich unwiderstehlich aus, diese Ausgeburt einer alten Dunkelhexe, die meinte, die Göttin von Leben und Tod zu sein. Dann hörte sie sie:

"Du bist sie. Du hast dich ... Ich kann es nicht glauben. Aber ich hörte von einem Volk, daß durch einen mächtigen Vergeltungszauber gegen den gewaltsamen Tod ..." Anthelia dachte an die Begegnung in Sibirien, gerade als Wladimir Volakin vernichtet war. Damals hatte Itoluhila gedacht, Anthelia auf ihre Seite ziehen zu können. Das und weil Anthelia die Abgrundstochter vor der Niederlage bewahrt hatte, war sie überhaupt noch am leben.

"Du siehst, ich habe es nicht mehr nötig, dein großzügiges Angebot anzunehmen, Itoluhila", sprach Anthelia aus, was Itoluhila erkennen mußte. "Mein Glück war, daß ich mich mit einer mächtigen Trägerin der Kraft verbinden konnte, deren Vermächtnis ich nun weiterführe. Wer mich dabei stört oder mich gar tötet, wird es bitter bereuen, Mensch, Bestie oder Geisterwesen."

"Wieso habe ich in den letzten Wochen das Gefühl, daß ich nicht mehr respektiert werde", schnarrte Itoluhila. "Die beiden da sind mein Eigentum. Ich bestimme, was sie tun, was sie sagen und wann und wie sie sterben."

"Ich wollte sie nicht töten, nur dich beschwören, kleine Dämonenprinzessin", spottete Anthelia. Sie mußte zwar damit rechnen, daß Itoluhila sie sofort tötete. Doch die Aussicht, sie dadurch noch mächtiger werden zu lassen schien die Abgrundstochter sichtlich zu irritieren. Das mochte vielleicht ein Bluff sein. Aber sie fühlte die vereinigte Präsenz, die mindestens doppelt so stark war wie eine gewöhnliche Hexe. So sagte Itoluhila: "Die beiden gehören mir. Sie leben für mich. Wer sie dabei stört ist mein Feind."

"Hast du das auch deiner unverhofft wiedergekehrten Schwester Hallitti gesagt?" provozierte Anthelia ihre Gegnerin. "Oder weißt du noch nicht, daß sie wieder auf der Erde herumläuft. Oder hast du sie schon in deinen kleinen Warteraum für neue Erdenbürger eingelassen, damit du sie neu ausbrüten kannst?" Itoluhila hob die rechte Hand. Doch gerade so vermied sie es noch, Anthelia einen Eispfeil ins Herz zu rammen. Die Aussicht, daß der Vergeltungsfluch wirklich existierte und sie selbst nichts dagegen tun konnte, hielt sie ab. Dann sagte sie: "Meine Schwester Hallitti ist gerade nicht handlungsfähig. Sie hat sich zu viel herausgenommen und wird die nächste Zeit an einem Ort bleiben, wo nur ich sie finde. Wenn sie Demut vor mir lernt, dann lasse ich sie vielleicht meine neue Tochter werden. Aber das hat dich dann nicht zu interessieren, Anthelia, oder wie du sonst noch heißt."

"Dann pack diesen spanischen Frauenhelden da auch ein und bring ihn bloß da unter, wo er mir nicht mehr über den Weg läuft, Itoluhila! Ich kann dich nicht töten, weil deine windige Schwester Ilithula dich dann sofort unter ihrem Schlafrock trägt. Das weiß ich jetzt, daß ihr so nicht zu packen seid, wenngleich Hallitti wohl noch jeden Tag verflucht, den sie meinet- und meiner Schwestern wegen ohne eigenen Körper sein mußte."

"Ja, das habt ihr wirklich sehr gut eingefädelt, ihren Abhängigen zum Säugling zurückzuschrumpfen. Das ging aber nur, weil er ihre in sich übertragene Lebenskraft schon fast verbraucht hatte. Aber es hat gereicht, sie fernzuhalten. Glückwunsch! Ich hatte sie gemahnt, sich zurückzuhalten. Sollte es mir passieren, sie noch mal auf die Welt zu bringen, dann wird sie lernen, meine Worte zu beherzigen. Gut, ich werde meinen Abhängigen jetzt aus deinem widerlichen Klebefaden wickeln und mitnehmen. Doch rate ich dir gut, mir nicht mehr in die Quere zu kommen. Ich kann dich auch lebendig einfrieren und dann Jahrtausende lang als schmückendes Standbild in meiner Höhle aufstellen. Der einzige Grund dafür, daß ich es hier und jetzt nicht getan habe ist der, daß ich dir immer noch dankbar bin, weil du mir gegen diesen verseuchten Blutsauger geholfen hast. Aber damit sind wir jetzt quitt. Der Angriff auf meinen Abhängigen, ja ihn und seine Gefährtin davon abzubringen, meine Anweisungen auszuführen, hat die Schuld endgültig getilgt, die ich bei dir hatte. Die nächste Begegnung wirst du nicht so glimpflich überstehen."

"Oder du nicht, Itoluhila. Jetzt wo ich weiß, daß eure Geister sofort aus dem Körper in einen der wachen Schwestern überspringen, werde ich mich mit einem Seelenschlingstein aus Ägypten oder dem Sudan eindecken." Itoluhila erschrak regelrecht. Anthelia grinste überlegen. "Ah, du kennst diese netten schwarzen Ziersteinchen also auch." Itoluhila spielte mit dem Gedanken, Anthelia hier und jetzt in eine lebendige Eisskulptur zu verwandeln. Doch die grinste weiter und sagte: "Dunkles Eis ist kein Problem für mich, wie du gemerkt hast."

"Nur weil ich nicht schnell genug ..." In der Ferne wimmerten Polizeisirenen. Man hatte die Schüsse gehört und das angezeigt. Anthelia gab Itoluhila noch mit, daß sie das dunkle Eis nicht fürchtete, weil es eben nur eine unveränderliche Gestalt umschließen konnte. Itoluhila fauchte nur was unverständliches. Dann ergriff sie ihren Abhängigen und verschwand mit leisem Zischen im Nichts. Anthelia grinste. Dann fiel ihr ein, daß sie hier besser nicht warten sollte und aparierte in den Waschraum des Hauses, in dem das Neujahrsfest stattfand. Sollten die Ordnungshüter doch rätseln, was der leere Seat auf der Straße zu suchen hatte. Fingerabdrücke von ihr würden sie wohl finden. Aber anfangen konnten sie nichts damit.

So genoß Anthelia/Naaneavargia den Rest der Feier bis vier Uhr Morgens. Dann ließ sie sich mit einem Taxi zum Flughafen bringen. In der dortigen Damentoilette disapparierte sie aus einer verschlossenen Kabine heraus.

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Trotz der mehr als üblich besetzten Passagierkabine kam das zwischen Millemerveilles und Viento del Sol pendelnde Luftschiff gut über den Atlantik und den nordamerikanischen Kontinent bis Viento del Sol. Camille Dusoleil freute sich auf die Hochzeit von Martha Eauvive. Geneviève Dumas hingegen hielt sich höflich zurück.

Nach der Landung bezogen alle aus Europa angereisten Hochzeitsgäste Unterkünfte bei verschiedenen Einwohnern. Julius und seine Frau kamen bei Brittany Brocklehurst und ihrem Mann unter. Die Trauung und anschließende Feier sollten im Gemeindehaus stattfinden.

Camille nutzte die Zeit bis zur Trauung, um im Kräutergarten von Viento del Sol herumzuspazieren und sich die amerikanischen Zauberpflanzen anzusehen. Dabei sprach sie auch mit der Thorntails-Kräuterkundelehrerin Verdant, die die Weihnachtsferien nutzte, um mit ihren kindern ein paar schöne Ferientage zu verbringen.

Die Hochzeit verlief mit großem Auftritt der Trauzeugen und Brautjungfern. Der aus Sacramento angereiste Zeremonienmagier hielt eine anrührende Rede, daß auch aus der Mitte des Lebens immer noch was neues entstehen konnte. Dann fragte er die Brautleute, ob sie wirklich einander lieben, ehren und achten würden und in guten und schlechten Zeiten füreinander dasein wollten. Als beide es mit "Ich will" beantwortet hatten ließ der Zeremonienmagier goldene Funken über ihnen niederregnen. Die Gäste klatschten beifall. Die zu diesem Zweck bestellte Musikkapelle spielte dreimal einen Tusch und dann einen getragenen Marsch, zu dem die frisch vermählten durch den Mittelgang zwischen den Reihen der Festgäste schritten, um die Hochzeitsgesellschaft anzuführen, als es zum Hof ging, wo Braut und Bräutigam ihre Blumensträuße warfen. Den Brautstrauß fing Pina Watermelons Schwester auf. Den Strauß von Lucullus Merryweather fing Steve Cotton auf, der wie sie ja mit den Eauvives verwandt war.

Während die beiden berühmt-berüchtigten Musikgruppen die Lauten Lassospringer und die Mittagströter sich bei der Musikdarbietung abwechselten und die vor allem mit viel Blechblasinstrumenten aufspielenden Tröter sehr behände mit ihren beiden Maskottchen, einer kakaobraunen und einer milchweißen Langhornkuh tanzten, kam Camille ins Gespräch mit Catherine Brickston. Denn Florymont tanzte gerade mit seiner Tochter Jeanne. Joe Brickston hatte sich mit Daniel Forester zusammengesetzt, um das gemeinsam getragene Los eines reinen Muggelehemanns in einer Zaubererfamilie zu erörtern.

"Ich würde gerne mit dir mal alleine sprechen, ohne daß Julius oder Millie, Florymont oder Jeanne das mitbekommen, Camille", sagte Catherine.

"Worum geht es?" wollte Camille wissen.

"Wir waren ja beide schon da, wo Julius zuerst alleine hingereist ist. Da ich weiß, daß du in gewisser Weise auch ein schweres Erbe aufgeladen bekommen hast, würde ich gerne mit dir darüber sprechen, was mir gesagt wurde. Ich wollte lediglich fragen, wann du mal Zeit hast, ohne daß auffällt, wenn du fort bist."

"Ich schicke dir eine Eule rüber, wenn ich kann, vorausgesetzt, du hast dann Zeit", erwiderte Camille. Ich hörte sowas, daß du offenbar was werfahren hast, was dir nicht sonderlich gefällt, du es aber Julius nicht erzählen wolltest." Catherine nickte. Sie blickte nach oben zur Decke. Der Saal war nach außen unabhörbar gemacht worden, gerade um lange Debatten und Feierlichkeiten veranstalten zu können. Also konnte Linda Knowles, die nach der Trauung ein kurzes Interview mit den neuen Eheleuten geführt hatte, nicht mithören, was hier besprochen wurde.

"Eindeutig. Da du die einzige bist, die ich außer meiner Mutter einweihen kann, ohne die Liga mit hineinzuziehen, wollte ich eben wissen, wann wir uns treffen können", sagte Catherine.

"Im Moment habe ich wieder mehr Freiraum, wo Chloé in der Marienkäferhorde ist und im Winter nicht viel zu hegen und pflegen ansteht. Ich schicke dir meine Eule, wenn ich weiß, wann ich zu dir kann", wiederholte Camille. Dann sprachen die beiden über die Feier und wie das war, als sie beide geheiratet hatten.

"Ich bin zuversichtlich, daß die beiden wirklich gut miteinander auskommen werden, wo die Scheidungsquote in der Zaubererwelt doch sehr klein ist", sagte Catherine. Camille nickte. Dann wollte sie wissen, ob Catherine schon das Haus besichtigt hatte, in dem Martha und ihr zweiter Ehemann Lucullus Merryweather leben würden.

"Ich habe erst gedacht, die beiden würden sich finanziell verheben, als ich den Namen Santa Barbara hörte. Die Stadt gilt als Wohngegend für sehr reiche Leute. Aber als wir dann zwanzig Kilometer stadtauswärts gefahren sind und das Haus mit dem Brunnen und den zwei Windmühlen gesehen haben fühlte ich mich irgendwie erleichtert, daß es wohl nicht all zu teuer war. Das liegt daran, daß Madam Merrywweathers Eltern Lucullus bei seiner Geburt eine großzügige Menge Gold angelegt haben, die er aber erst ausschöpfen durfte, wenn er heiraten würde.

"Dann beruhigt mich das auch, und wenig verdient Martha ja nicht, wenn sie für Nathalie weiter als Auslandsverbindungshexe und Computersachenfachfrau arbeitet. Hat sie dir schon gesagt, wie ihre UTZs liefen?" wollte Camille wissen.

"Außer in Kräuterkunde alles wohl so wie erhofft", erwiderte Catherine. Camille verzog das Gesicht und wollte gerade ansetzen, nachzufragen, warum ausgerechnet Kräuterkunde Probleme bereitet habe. Da grinste Catherine wie ein Schulmädchen, daß einen netten Scherz gemacht hat. "Och mann, wäre fast drauf reinggefallen", lachte Camille. Dann beobachteten sie die tanzenden Paare. Julius war gerade mit Brittany Brocklehurst zusammen, während Millie mit Jeannes Mann Bruno tanzte.

Nach der langen Hochzeitsfeier schliefen die aus Europa angereisten Gäste lang und tief. Camille bekam mit, daß Brittany sich mit ihrer früheren Schulkameradin Melanie Redlief darüber unterhalten hatte, ob Julius im September schon ein Halbgeschwisterchen bekommen würde. Brittany hatte darauf geantwortet, daß das nicht unmöglich sei, Martha Merryweather aber sicher erst einmal andere Interessen hatte.

Die Fahrt zurück nach Millemerveilles bestaunten die Reisenden den rasant ablaufenden Sonnenlauf. Sie jagten sozusagen dem vergehenden Tag entgegen.

Wieder in ihrem trauten Heim dachte Camille daran, was Catherine von ihr besprechen wollte. Sicher, soweit sie mitbekommen hatte, war Catherine nicht nur bei den Lichtmagiern gewesen, sondern auch bei einer Windmagierin namens Ailansiria. Offenbar hatten die überdauernden Erzmagier, die das gläserne Konzil von Khalakatan bildeten, jedem Besucher sein Element zugeteilt. Camille war ja durch die Abstammung von Aiondara für die Wasservertrauten vorgemerkt worden, Catherine war, soweit sie es von ihr und Julius mitbekommen hatte, zu den Windmagiern geschickt worden, während Julius für den Kampf gegen die große Schlange starke Erdzauber erlernt hatte. Millie hatte ja das Erbe der Feuermagierin Kailishaia übernommen. Alle gemeinsam hatten aber auch die mächtigen Zauber der Lichtmagier erlernt. War das ein Plan der Altmeister, die ja selbst nicht in die laufenden Ereignisse eingreifen konnten? Seitdem sie ihn mit Florymont vor Martinique aus dem Ozean geborgen hatte, stand Aiondaras immer voller Muschelkrug in einem Hochsicherheitsverlies von Gringotts Millemerveilles. Sie hatte sich bisher nicht getraut, ihn erneut zu berühren, auch wenn sie jetzt einige Zauber kannte, um seine Macht sinnvoll zu nutzen. Zudem hatte Darxandrias Cousine ihr auch noch einige Zauber beigebracht, die sie in Verbindung mit dem silbernen Pentagramm um ihrem Hals verwenden konnte. Davon hatte sie Catherine nichts gesagt, weil sie sich dachte, daß das nur für die Kinder Ashtarias bestimmt war. Jedenfalls war ihr ein umfangreicher Überblick über die sieben Zweige vom Stamm Ashtarias gewährt worden. Damit kannte und wußte sie schon mehr als ihre Mutter, die ihren Körper für die Errettung von Julius aufgegeben hatte. Dieser Gedanke warf in ihr die Frage auf, ob sie irgendwann auch wieder mit Ammayamiria Kontakt haben würde. Seit der Sache mit Aiondaras Krug hatte sich die Zweiseelentochter Aurélie Odins und Claire Dusoleils nicht mehr im Traum bei ihr gemeldet. Hieß das, daß sie, Camille, nun stark und ausgebildet genug war, ohne ihren Rat und ihre Hilfe auszukommen? Sicher wurden die Dusoleils und Julius kleine Familie weiter von Ammayamiria beobachtet. Dieser Gedanke beruhigte sie mehr als alles andere.

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Nur noch zwei Seelen fehlten ihm, um stark genug zu werden, durch Gedankenkraft den Standort zu wechseln. Jetzt, wo der nordische Winter mit seinen langen, eiskalten Nächten das Land fest im Griff hielt, konte er endlich aus seinem Höhlenversteck heraus. Drei Menschenseelen hatte er seit seiner Geburt als Nachtschatten verschlingen können, Höhlenkundler, die es gewagt hatten, in die kleine Kaverne einzudringen. Der erste hatte sich gewundert, über seinem eigenen Schatten einen gerade unterarmlangen zweiten Schatten zu sehen, bis es ihm das rechte Bein umschlungen und vereist hatte, um sich durch den gefrierenden Körper hindurchzufressen. Danach war er so groß wie ein Zehnjähriger. So gestaltet konnte er den zweiten Höhlenkundler schneller überwältigen. Er hatte gehofft, daß man nach den beiden Männern suchen würde. Doch es hatte bis zum Einbruch des Winters gedauert, bis der dritte Mensch den Weg zu ihm fand und ihm verfiel. Nun schlich er laut- und spurlos über das Eis, daß im Gegensatz zu ihm noch lauwarm zu sein schien. Er folgte den sanft zu ihm hinwehenden Gedankenströmen. Da war denkendes Leben, Menschen, die über das Eis jagten. Er fühlte auch die Lebenswellen niederer Tiere. Dann wußte er, was es war. knapp zwei Kilometer vor dem Eingang seiner Höhle eilte ein Hundeschlitten über Eis und Schnee. Der Nachtschatten beschleunigte seinen Lauf. Da er keinen lebenden Körper mehr besaß verspürte er weder Hunger noch Erschöpfung. Nur das Licht von Feuer und Sonne vermochten, ihn zu schwächen und ihm seine dunkle Substanz zu zerschmelzen. Doch die verhaßte Sonne würde in den nächsten neun Stunden nicht aufgehen. Das war mehr als ausreichend lange. Jetzt konnte er auch das Heulen und Winseln der dahinjagenden Hunde hören. Die kurzen und lauten Kommandos des Schlittenführers waren wie ein Ruf zum Essen für ihn. Mit immer längeren Schritten eilte er über das Eis. Wie gerne würde er sich in eine kompakte, schwarze Kugel verwandeln oder zu einer weiten, schwarzen Wolke werden, um von oben her anzugreifen. Doch so ging es auch. Ja, da war der Schlitten. Die Hunde fühlten die Annäherung des gefährlichen Gegners. Unvermittelt legten sie sich so heftig ins Geschirr, daß der Schlittenführer fast aus seinem Fahrzeug geschleudert wurde. Wild jaulend jacherten die acht Hunde im Gespann über den festgefrorenen Schnee hinweg. Doch entkommen konnten sie nicht mehr. Er, Gunnar Ipsen, der Bote des vernichteten großen Wächters, holte auf. Der Schlittenführer wollte seine in Panik dahinhetzenden Tiere zügeln. Er wußte nicht, was in seine sonst so gehorsamen Gespannhunde gefahren war. Dann verlor er doch die Gewalt über den Schlitten. Dieser kippte zur Seite. Der Führer flog im hohen Bogen heraus. Die Hunde zerrten den nun führerlosen Schlitten weiter, bis das Geschirr die Spannung nicht mehr aushielt und zerriß. Wild jaulend und winselnd galoppierten die freigekommenen Hunde davon. Der Schlittenführer schrie ihnen noch hinterher, stehenzubleiben. Doch sie hörten ihn nicht mehr. Da sah er ihn, den Schatten ohne festen Körper. Er starrte in die dunklelblau flimmernden Augen des Unwesens, das nun, wo es keinem Schlitten mehr nachlaufen mußte, ganz ruhig heranglitt. Der Schlittenführer glaubte an die unsichtbaren Wesen des Nordens, die Trolle, Elfen und die Zwerge der alten Götter. Als er nun den eigenständigen Schatten sah ahnte er, gleich von einem Dämon des Winters heimgesucht zu werden. Er versuchte, sich aufzurappeln. Doch beim Sturz hatte er sich Arme und Beine geprellt. Nur mühsam bekam er das Amulett mit dem kleinen Kristall zu fassen, daß angeblich eine von Odins Tränen sein sollte, die er um den Verlust eines Auges geweint hatte. Er hielt dem Schatten den Talisman entgegen. Doch dieser lachte erheitert auf. Die Stimme ging dem Schlittenführer durch Mark und Bein. Dann war das lichtlose Geschöpf bei ihm. Ein lautloser Sprung, zwei nachtschwarze Arme, die den gestürzten Schlittenführer umschlangen. Dann fühlte dieser, wie sein Körper erkaltete. Die Sinne schwanden ihm. Daß seine Seele gerade restlos im bösartigen Schatten aufging bekam er nur dadurch mit, daß er etwas wie ein inneres Reißen fühlte und sich schreien hörte, bevor wie in einem rückwärtslaufenden Zeitrafferfilm sein ganzes Leben vor ihm vorbeiflog. Dann gab es auf dem festen Schnee nur einen zu Eis erstarrten Körper, dessen Temperatur mindestens zwanzig Grad unter der Umgebungstemperatur lag.

Ipsen freute sich. Jetzt konnte er seine Gestalt verändern, wieder fliegen. Damit war es noch einfacher, Seelen zu sammeln. als nachtschwarze Wolke hüllte er zwei weitere Schlittenführer ein, deren Hunde sich gegenseitig bissen, weil sie sich nicht aus dem Geschirr befreien konnten. Dann hatte er die drei fehlenden Seelen. Nun war er größer als fünf Meter, der Schatten eines Riesen. Er lachte. Dann konzentrierte er sich auf seine neue Gabe, ohne einen Schritt den Standort zu wechseln. "Sigurson, heute Nacht hol ich dich!" rief er noch.

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Der Zwischenfall mit Molinos' Leuten war für Itoluhila das kleinere Übel gewesen. Das größere war ihre im dunklen Eis erstarrte unvollständig wiedergekehrte Schwester Hallitti. Bisher wußte die andere wache Schwester noch nichts von deren halber Rückkehr. Das lag sicher an der großen Entfernung zwischen Amerika und dem Zweistromland, wo Ilithula ihr Jagdrevier besaß. Hätte Hallitti nicht die in Amerika lebenden Abhängigen Itoluhilas aufgespürt, hätte die Tochter des schwarzen Wassers womöglich auch nichts von ihrem sogenannten Glück gewußt.

Es war ein gewisses Risiko, selbst in die Nähe jenes Jungen zu kommen, den Hallitti als ihren letzten Abhängigen vor der Vernichtung ihres geborenen Körpers kultiviert hatte. Doch Itoluhila mußte wissen, woran sie war. Wurde die Familie weiterhin beschützt, die den Jungen aufgenommen hatte? Falls nicht, so würde sie, Itoluhila, den kleinen Jungen wohl entführen, nicht um ihn zu töten, sondern vor ihrer Schwester Hallitti zu verstecken, um sie unter Kontrolle zu halten. Wurde er von diesen kurzlebigen Zauberern beschützt, womöglich sogar diesen verfluchten Abkömmlingen ihrer Tante Ashtaria, so kam Hallitti erst recht nicht an ihn heran. So oder so mußte sich Itoluhila dann entscheiden, wie sie mit ihrer unvollständig wiederverkörperten Schwester umging. Im Moment war ihr ganz und gar nicht danach, ihre wache Schwester Ilithula einzuweihen. Am Ende stand die noch Hallitti zur Seite und würde Itoluhila dazu zwingen, die Pflicht der Töchter zu erfüllen, eine ihres angeborenen Leibes beraubte Schwester jungfräulich in sich zu empfangen und neu zur Welt zu bringen.

Salisbury bekam nichts von der ungebetenen Besucherin mit. Unsichtbar und unhörbar war die Tochter des schwarzen Wassers auf dem zentralen Platz aufgetaucht. Es bedurfte nicht viel magischen Geschicks, um herauszufinden, wo die Wilsons wohnten. Die Dekorationen für die Weihnachtstage waren bereits von Häusern und Gärten entfernt. Die abgebrannten Böller und Raketen des Silvesterfeuerwerks waren längst von den Straßen gekehrt und im Müll gelandet. Itoluhila näherte sich zu Fuß jenem Haus, in dem die Wilsons wohnten. Schon aus mehr als zweihundert Schritten Entfernung fühlte sie eine magische Aura, die für Kurzlebige vollkommen unbemerkbar das Haus und den Garten umhüllte. Womöglich war das ein Einfriedungszauber, der jeden ungebetenen Eindringling weitermelden würde. Itoluhila verlangsamte ihre Schritte. Zwei Halbwüchsige auf untermotorisierten Krafträdern knatterten mehr laut als schnell an ihr vorbei. Ihr Trieb nach männlicher Lebensenergie trübte für einige Sekunden ihren für magische Kräfte empfänglichen Geist. Als sie fast in die hauchzarten Ausläufer der magischen Kraft geriet, erkannte sie, daß sie sich gerade sehr nahe an eine Entdeckung manövriert hatte. Denn sicher würde ihre eigene starke Präsenz jeden Meldezauber in Aufruhr versetzen. Sie nahm ein Fernglas zur Hand und spähte zu dem Haus hinüber. Doch draußen war niemand. Sie spielte mit dem Gedanken, in Nebelform noch näher an das Haus heranzugleiten. Doch wer immer die magische Aura erzeugt hatte mochte genau damit rechnen. Als sie dann am Fenster das scheinbar unbekümmerte Gesicht eines kleinen Jungen sah fing sie mit ihrem Blick den seinen ein. Sie fühlte sofort, daß da kein unschuldiges Kind war, sondern jemand, der seinen eigenen Geist verhüllen konnte. Das konnte nur ein erwachsener Zauberer. Hatte sich also einer von denen dazu herabgelassen, im Körper eines kleinen Jungen herumzutapsen, um so eine wie sie oder Hallitti zu verulken? Nein, nicht um sie ging es, sondern die Leute in der Stadt sollten verulkt werden. Sie sollten weiterhin glauben, die Familie Wilson sei vollständig und wohlauf. Jedenfalls genügte es der mit der Erfahrung von Jahrtausenden gewappneten und mit betrügerischen und brutalen Menschen vertrauten, die Lage zu erfassen. Die Wilsons hatten sich in Sicherheit begeben, oder sie waren von den Zauberstabschwingern in Sicherheit gebracht worden. Also wartete man auf einen zweiten Angriff. Hallitti hatte es vermasselt. Anstatt erst zuzusehen, daß ihr letzter Abhängiger seinen Wohnort verließ und ihn in offenem Gelände zu fangen, war sie ungeduldig und unüberlegt vorgeprescht. Natürlich hatten die Zauberstabschwinger mitbekommen, was Hallitti im Körper dieser Weltraumfliegerin angestellt hatte und die einzig richtigen Schlüsse gezogen. Damit hätte dieses dumme Ding von Schwester doch rechnen müssen. Für Itoluhila ergab sich aber aus dieser Lage ein neues Problem. Solange dieser Junge, der mal Hallittis Abhängiger gewesen war, lebte, konnte sie wohl nicht aus ihrem jetzigen Körper heraus und in den einer anderen Schwester hineinschlüpfen, um dort in einem neuen Körper heranzuwachsen. Einerseits empfand Itoluhila das als gute Nachricht. Andererseits würde dieser Bengel irgendwann wieder ein erwachsener Mann sein, wenn die ihn nicht in Zauberschlaf hielten. Vielleicht würde Hallitti ihn sich dann erneut gefügig machen wollen. Am Ende brachte sie ihn doch noch um und konnte dann ihren unpraktischen Leihkörper abwerfen. Dann hatte Itoluhila sie wohl wirklich zu tragen. Denn Hallitti hatte bereits zu viel von Mario Lopez alias Claude Andrews in sich einverleibt. Eben das gefiel Itoluhila nicht. Wegen dieser Weihnachtsmänner Molinos' hatte sie zu spät eingegriffen. Sicher, die dreisten Banditen hatten ihr dafür ihre gesamte Lebensenergie opfern müssen. Doch das änderte nichts am Umstand, daß Itoluhila nun Hallittis Empfängerin sein würde.

Die Tochter des schwarzen Wassers zog sich wieder zurück. Sie entfernte sich zweihundert Schritte vom magisch geschützten Haus der Wilsons und wechselte dann in Gedankenschnelle in ihre Höhle in Spanien zurück. Dort schlief Mario Lopez alias Claude Andrews im magischen Tiefschlaf. Doch er war nicht wie sie. Er konnte nicht Jahrhunderte verschlafen, ohne zu verhungern. Außerdem nützte er ihr so nichts mehr. Sie betrachtete den schlafenden Abhängigen. Er war der Bruder des Mannes, den vorwitzige Hexen in einen Säugling zurückverwandelt hatten, um Hallitti zu schwächen. Konnte sie ihn weiter kultivieren? Dazu mußte sie erst wissen, ob die Halunken, die sich für die Kämpfer der weißen Rasse hielten, ihn noch immer suchten. Weil Hallitti die Auftragsmörder im schwarzen Feuer vernichtet hatte, konnte sie die leider nicht mehr fragen. Doch sie hatte ja noch einige Namen von diesem sogenannten El Comandante.

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Lasse Sigurson hatte die Berichte von den Höhlenkundlern wohl vernommen. Jetzt im Januar war die Dunkelheit so langgedehnt, daß in ihrem Schutz die schlimmsten Übeltäter umherstreifen konnten. Das einzige, was die von ihm verwalteten Hexen und Zauberer tun konnten war, Sonnenlichtkugeln zu entzünden. Doch die kurzen Tage gaben nicht mehr viel Sonne her. Als Lasse Sigurson mit seiner Familie in der Nacht vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten Januar alle Fenster fest verschlossen und mindestens hundert hohe Kerzen entzündet hatte, hoffte er, eine weitere Nacht ohne Schrecken zu erleben. Zwar umfriedeten starke Schutzzauber das Haus des norwegischen Zaubereiministers. Doch würden die auf lange Sicht helfen?

Sigurson dachte an die große Schlange. Diese war im August vernichtet worden, Fünf Monate war dies nun her. War Ipsen wirklich erledigt, wie seine Mitarbeiter behaupteten, oder war er lediglich in ein dunkles Versteck zurückgeworfen worden?

"Marne und Morton lagen schon in ihren Betten, als Lasse Sigurson noch einmal alle Fensterläden prüfte. Die Türen und Fensterläden waren wie die Wände mit Geisterbannzaubern belegt. Die brennenden Kerzen gaben genug Licht, um lichtscheue Geschöpfe fernzuhalten. Bisher hatte das immer funktioniert. Die beiden Jungen lagen in Himmelbetten mit lichtschluckenden Vorhängen. Sigursons Frau Mila betrachtete ihre Webarbeiten. Den magisch betriebenen Webstuhl durfte sie wegen der schlafenden Kinder nicht weiterbetreiben.

"Glaubst du wirklich, Ipsens verdunkelte Seele geistert immer noch umher? Der ist sicher mit dieser Riesenschlange vernichtet worden", sagte sie. Lasse sah auf seine Frau.

"Mila, du kennst das doch, was du nicht selbst gesehen hast, ist schwer hinzunehmen", seufzte Lasse Sigurson.

"Ein sehr wahres Wort, du hinterhältiger Mörder", wisperte es aus dem Nichts. Sigurson fuhr herum. Sein Zauberstab flog ihm fast in die Hand. Doch er sah nichts. Erst als er den Blick unter den Webstuhl richtete konnte er die abgrundtiefe Schwärze sehen, die sich unter dem Arbeitsgerät ausbreitete. "Ich blas euch jetzt alle Lichter aus und hol mir eure Bälger", zischte die geisterhafte Stimme vom Webstuhl her, die Sigurson schon manchen Alptraum bereitet hatte. Doch jetzt wurden alle bösen Träume der letzten vier Monate wahr. Ipsens rächender Schatten war da, durch alle Geistersperren hindurch, einfach so im Wohn- und Handarbeitszimmer der Sigursons. Doch nachdem sich Sigursons erster Schrecken gelegt hatte, lachte er:

"Du hast es also wirklich gewagt, zu mir hinzukommen, Ipsen. Hast du denn gedacht, ich wäre nach deinem letzten großen Raubzug nicht auf dich vorbereitet?"

"Wenn du diese Kerzen meinst, die halte ich aus", zischte die feindselige Geisterstimme. "Ich blase die gleich alle aus. Dann hol ich mir deine beiden Jungen, dann dein dickes Weib. Hmm, jede Menge Lebendfleisch. Das wird mich noch größer machen."

"Das glaubst auch nur du", zischte Sigurson und stieß jenes Zauberwort aus, mit dem brennende Lampen und Kerzen zehnmal heller und größer brennen konnten. Gleißendes Licht erfüllte den Raum. Gleichzeitig wurde Milas Webstuhl völlig durchsichtig. Das Schattenwesen schrie auf und wurde zu einer murmelgroßen schwarzen Kugel, die gleich einer flüchtenden Schabe unter den Wohnzimmerschrank flitzte. "Ich kriege euch doch, Sigurson. Draußen laufen genug frische Seelen herum. Morgen oder übermorgen seid ihr vier Eisleichen", jammerte eine winzige Stimme.

"Nicht, wenn wir dich restlos zersetzen. Expecto Patronum!" Rief Sigurson. Aus Sigursons Zauberstab schoß silberweißes Licht und formte die Gestalt eines Lachses, der mit kraftvollen Schwanzflossenschlägen in Richtung Schrank durch die Luft schwamm, hinabtauchte und unter den Schrank schlüpfte. Sigurson gab dem gestaltlichen Patronus den Befehl, den Gegner in sich aufzunehmen und somit unschädlich zu machen. Einen winzigen Augenblick lang hörten Lasse und seine Frau ein angstvolles Quieken wie von einer Maus, deren Schwanz bereits im Katzenmaul festklemmt. Dann sahen sie, wie ein kompakter schwarzer Tausendfüßler unter dem Schrank hervorschoß und durch den Raum rannte. Der Lachs-Patronus eilte ihm nach. Für Menschen war der silberweiße Lichtfisch unschädlich. Der gerade auf hunderten von Beinchen dahinflitzende Nachtschatten versuchte, zu den beiden Betten der Kinder hinzulaufen. Doch da glühten die Bettrahmen sonnenhell auf. Sigurson hatte in den Lack Goldkörnchen streuen lassen, die er vorher langwierig mit dem Zauber zur Aufnahme von Sonnenlicht belegt hatte. Der Nachtschatten kreischte, zerfloß zu einer kleinen, schwarzen Wolke und stieg zur Decke hinauf. Der beschworene Patronus schnellte in eine senkrechte Lage und stieg ihm hinterher. Wenn der silberne Fisch den sich verformenden Nachtschatten in sich einschließen konnte, war Ipsens dunkle Zweitexistenz beendet, wußten Mila und Lasse Sigurson. Die schwarze Wolke wurde wieder zur Kugel und versuchte, sich auf Sigursons Frau zu stürzen. Doch diese hielt dem Schattenphantom ein kleines goldenes Speichenrad an einer Goldkette entgegen. Blitze zuckten daraus, Segen der Sonne, die auf die heranstürmende dunkle Substanz wirkten. Der Nachtschatten prallte zurück und geriet dabei fast in das aufklappende Lachsmaul. Dann löste sich der dunkle Eindringling einfach in Nichts auf. Der silberne Lachs schnappte mehrere Male hilflos nach dem zu bekämpfenden Gegner. Doch der war nicht mehr da. Wegen der fehlenden Präsenz erlosch der Patronus übergangslos.

"Verflixt, nicht ganz so wie ich wollte. Aber dieser Schattenstrolch weiß jetzt, daß wir uns wehren können", sagte Sigurson. Die eben noch sonnenhell gleißenden Bettrahmen nahmen wieder die dunkelbraune Ausgangsfarbe an. Die beiden Kinder des Zaubereiministers waren nicht wachgeworden, weil das Abwehrlicht ohne Widerschein nach außen abgegeben worden war.

"Den Sonnenscheinschutzzauber solltest du dir patentieren lassen, Lasse", lobte Mila Sigurson.

"Geht nur bei Leuten, die sich den Goldstaub leisten können, leider. Aber die Segen der Sonne und die Flammenvergrößerungszauber gehen auch", sagte der Zaubereiminister und ließ die Kerzenflammen wieder auf ihr Normalmaß zurückschrumpfen. Die Kerzen waren jedoch innerhalb der letzten zwei Minuten so stark niedergebrannt wie sonst in einer Stunde.

"Glaubst du, er kommt heute Nacht noch einmal?" wollte Mila wissen.

"Jetzt, wo wir wissen, daß er noch umgeht präparieren wir alles und uns mit Sonnensegen und Geisterabweiser", sagte Sigurson. So geschah es auch. Zwar hörten die Sigursons in der verbleibenden Nacht noch zweimal ein leises, verärgertes Knurren aus dem Wohn- und Badezimmer. Doch die Betten waren mit weitgreifenden Sonnensegen- und dem widerscheinlosen Sonnengleißzauber belegt. So blieb Ipsen nichts anderes übrig, als das Haus der Sigursons einstweilen in Ruhe zu lassen.

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"Ich gebot dir, nicht auf deine eigene Rache zu sinnen, sondern die gewonnene Stärke zu nutzen, mir einen neuen Knecht zu finden", tadelte Iaxathan seinen nyktoplasmatischen Diener. "Erst wenn mein Knecht seinen Dienst angetreten hat, kannst du deine eigenen Bedürfnisse befriedigen", fügte der im Auge der Finsternis gefangene Iaxathan noch hinzu. Ipsen, der bei den Angriffsversuchen auf den Zaubereiminister beinahe die Schwelle zur gedankenschnellen Ortsversetzung unterschritten hatte, bereute seinen Rachefeldzug und begann die lange Suche. Denn er mußte zum einen einen Splitter Unlichtkristall finden, einen Stoff, der nur dort in geringen Mengen entstand, wo hundertfacher Haß, Peinigung und Mord geschahen. Für die zur Magie unfähigen waren die winzigen Fragmente Unlichtkristall nicht zu erkennen. Doch sie bildeten den Keim für größere Kristallkörper, die durch gezielte Tötungen am Ort dieser Splitter gezüchtet werden konnten. Gab es genug von dem Unlichtkristall, so konnte Iaxathan sie durch die eigene Magie seines Machtinstrumentes zum Schwingen bringen und sie auf sich einstimmen. Doch nur ein von Herrsch- oder Habsucht beflügelter Zauberkraftträger konnte einen Unlichtkristall berühren, ohne ihn sofort in einer Woge aus Schmerz und Kälte zerfallen zu lassen. Also galt es, den Kristall an den geeigneten Träger heranzubringen.

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Camille traf Catherine Brickston am zwanzigsten Januar in ihrem Haus in der Rue de Liberation 13. Claudine war zu Besuch bei Miriam Latierre. Joe war wegen einer beruflichen Angelegenheit in Marseille.

Catherine stellte eine volle Kaffeekanne und zwei Kaffeegedecke in ihrem Arbeitszimmer bereit. Dann schloß sie die Tür. Nun konnte sie von außen keiner belauschen.

"Camille, da du ja auch so einen Silberstern Ashtarias trägst ist dir sicher auch bekannt, daß deine Ahnenlinie immer auch gegen diese Abgrundstöchter gekämpft hat, zumindest dafür gesorgt hat, daß sie nicht überhand nehmen können."

"Ich weiß, daß eine meiner orientalischen Vorfahren mütterlicherseits mitgeholfen hat, daß Hallitti auf die britischen Inseln geflüchtet ist, wo sie am Ende ja für Jahrhunderte in den Überdauerungsschlaf versenkt wurde. Mittlerweile ist dieses Geschöpf ja vernichtet."

"Und das ist genau die Frage", grummelte Catherine. "Als ich in Khalakatan war und bei dieser Ailansiria über meine Bestimmung, die alten Windzauber zu erlernen war, hat die mir etwas gezeigt, daß ich wie einen Iterapartio-Kokon in großem Ausmaß angesehen habe, eine durchsichtige Blase, groß wie eine Badewanne, in der halbdurchsichtig, wie ein ungeborenes Kind zusammengerollt eine Frauengestalt schwebte, die vom Gesicht her Hallitti zu sehr ähnelte, als nur ein Zufall zu sein. Ich selbst habe dabei in einer größeren Höhe als die Überseeluftschiffe über einer Wüstenlandschaft geschwebt. Diese geisterhafte Riesenfruchtblase wanderte langsam hin und her. Ailansiria hat gesagt, daß dies der an die Welt gekettete Geist einer zur Wiedergeburt verfluchten sei, die durch das Lager mit erwachsenen Männern ihre Nahrung bekommt. Die wußte, daß ich wußte, wer damit gemeint war. Sie meinte dann noch, daß es reichen würde, wenn ein Mensch genau dann ihren Weg kreuze, wenn dieser aus Angst oder Aufregung nicht genug geistigenWiderstand leisten könne. Sowas sei durch die in den Weltraum fliegenden Männer und Frauen jederzeit möglich und ich solle es denen, mit denen ich schon mehr als zwanzig Jahre Abwehrkampf gegen dunkles Zauberwerk betreibe sagen und es ja Julius gegenüber verschweigen. Er würde, so Ailansiria, nur dann ein sorgenfreies Leben führen, wenn er dies nicht wisse. Denn sonst könnte er darauf verfallen, sein ganzes Leben danach auszurichten, ob die von ihrer Wiederverkörperung abgehaltene auf die Welt zurückkommt oder nicht." Catherine erklärte Camille nun auch, daß Ailansiria vermutete, daß eine andere Beherrscherin des Windes diese im hohen Himmel gefangene Daseinsform zu finden. Doch wie und wo genau habe sie ihr nicht verraten dürfen, weil dies die Interessen der in Mitternachtsblau gekleideten betreffe. Camille schnaubte: "Ja, die Orichalkregel. Hat man mir auch gesagt." Dann fragte sie Catherine, ob diese damit rechne, daß Hallittis Geist demnächst auf die Erde zurückkehren würde. Zur Antwort legte Catherine ihrer Besucherin einen Zeitungsbericht aus den Staaten und einen über dunkle Kanäle aus dem US-Zaubereiministerium stammenden Aktenordner zum Durchlesen hin. Der Ordner war mit "Fall Dayja Voo" übertitelt. Camille konnte die englische Sprache besser lesen und schreiben als sprechen. Doch sie mußte über die Schreibweise lachen. "Das hat wohl einer mit einer Flotte-Schreibe-Feder hingeschrieben, der selbst kein Französisch sprechen kann, wie? - Gut, ich verstehe, daß das hier ernst ist", sagte sie dann noch und las die Akten, die vor allem von einem Ira Crawford und einer Lydia Franklin ergänzt worden waren. Der eine arbeitete in der Zentrale des Auslandsgeheimdienstes CIA, die zweite war Außeneinsatzagentin bei der Kriminalermittlungsabteilung innerhalb der Kriegsmarine NCIS. Beide erwähnten die offenbar um ihren Verstand gekommene Astronautin Doris Fuller, daß diese irgendwie junge Männer ohne äußere Verletzungen und Gifteinwirkung tötete, bis auf den Umstand, daß NCIS-Agentin Lydia Franklin bezeugte, daß Doris Fuller das dunkle Feuer entfacht hatte.

"Deshalb nennen sie diesen Fall Déjà Vu, seufzte Camille. "Ähm, wie du an diese Akten gekommen bist muß ich nicht wissen?"

"Du und diejenigen, von denen ich die Akte haben können besser schlafen, wenn du es nicht weißt", erwiderte Catherine. "Du siehst es aber auch so, daß Hallitti in dem Körper dieser Weltraumfahrerin steckt?"

"Das springt einem ja regelrecht ins Auge", grummelte Camille. Von ihrer sonst so gern gezeigten Unbekümmertheit und Fröhlichkeit war im Moment nichts zu hören und zu sehen. Dann las sie noch, daß am Vorabend zu Weihnachten ein Überfall auf eine Familie Wilson zurückgeschlagen werden mußte, bei dem das dunkle Feuer zum Einsatz kam und daß Doris Fuller offenbar mal älter und mal jünger ausgesehen habe. Catherine fragte Camille, ob sie die Dibbukim kenne. Sie nickte. Jetzt war sie froh, neben Kräuterkunde, Zaubertränken, Zauberkunst und Verwandlung auch Verteidigung gegen dunkle Künste behalten zu haben. Catherine nickte erleichtert, nicht die Zeit mit langwierigen Erklärungen vertun zu müssen und erwähnte nur, daß Hallitti offenbar so ein dämonisches Geisterwesen geworden sei, daß einen lebenden Menschen in Besitz nahm und denKörper dadurch so stark beanspruchte, daß dieser schneller als üblich alterte. Bei Hallitti kam wohl auch hinzu, daß sie durch die Macht einer Abgrundstochter verlorene Lebenszeit zurückgewinnen konnte. Was das mit den Wilsons auff sich hatte wollte Camille gerne wissen. Da erwähnte Catherine, was sie über den angeblichen Tod Richard Andrews' wußte. Camille hörte mit steigender Bestürzung zu. Dann fragte sie, ob Julius wisse, wo sein infanticorporisierter Vater abgeblieben war. Catherine schüttelte den Kopf und erwähnte, daß er ausdrücklich darum gebeten habe, nicht darüber informiert zu werden, um nicht immer daran denken zu müssen, wo sein Vater nun wie aufwuchs, ohne zu wissen, daß es sein Vater war. Camille nickte. Damit stellte sie klar, daß Julius von ihr auch nicht erfahren würde, wer Jerimy Wilson war. "Sie wollte ihn gleich töten, Camille. Das heißt für uns von der Liga, daß sie sich erhofft hat, die verhinderte Wiedergeburt als eigenständiges Wesen zu ermöglichen."

"Von wem wäre dieses Ungeheuer denn wiedergeboren worden, wenn Richard Andrews wirklich gestorben wäre?" fragte Camille, obwohl sie sicher war, die Antwort schon zu kennen.

"So wie es sich darstellt und wie ich in der nur für Liga-Mitglieder benutzbaren Bibliothek nachschlagen konnte, sind die neun Abgrundstöchter durch Zauber ihrer Mutter dazu verpflichtet, eine entkörperte Mitschwester in sich aufzunehmen und genauso jungfräulich empfangen wie sie selbst waren auszutragen und wiederzugebären. Also würde eine der wohl wachen Schwestern dafür einzustehen haben. Kann sein, daß Hallitti deshalb versucht hat, ihren letzten Abhängigen vor der Vernichtung zu töten, um den unpassenden Leihkörper töten und als neuer Lebenskeim bei einer ihrer beiden wachen Schwestern landen zu können." Camille nickte. Genau die Antwort hatte sie erwartet. Dann waren diese Unwesen nicht zu vernichten, nur für gewisse Zeit handlungsunfähig zu machen.

"Wissen deine um ihren guten Schlaf besorgten Quellen, wo Hallitti alias Doris Fuller jetzt steckt? Vielleicht würde es reichen, sie in einen magischen Tiefschlaf zu versetzen oder in den Incapsovulus-Zauber einzuschließen."

"Weil ein mir noch nicht persönlich vorgestellter LI-Mitarbeiter namens Jeff Bristol so voreilig war, gleich mit dem Todesfluch gegen dieses Geschöpf vorzugehen und es damit wie wegteleportiert hat verschwinden lassen, wissen wir es nicht. Seit diesem Tag fehlt von Doris Fuller jede Spur. Womöglich werden wir früher als uns lieb ist von ihr hören."

"Ähm, klingt vielleicht merkwürdig. Aber könnte sie durch einen regulären Liebesakt mit einem fruchtbaren Mann sich selbst quasi wiedergebären, also im Körper eines Ungeborenen neu heranwachsen und sich von der dann von ihr befreiten Doris Fuller zur Welt bringen lassen?"

"Wird wohl nicht gelingen, weil sie die Kräfte einer Abgrundstochter hat. Alles lebendige, das von außen in sie eindringt, wird entkräftet und vertilgt. Deshalb muß dieses Geschöpf auch keine Angst vor Geschlechtskrankheiten haben. Nein, wenn sie überhaupt neu verkörpert werden will, muß sie den unzureichend mit ihr zurechtkommenden Wirtskörper loswerden. Aber solange Richard Andrews alias Jerimy Wilson lebt bleibt sie wohl nur ein Geisterwesen, bewegungs- und handlungsunfähig."

"Es sei denn, sie zwingt einen von Richards Blutsverwandten dazu, sich für sie zu opfern", vermutete Camille. Catherine nickte so heftig, daß ihr schwarzer Haarschopf über ihr Gesicht auf den Oberkörper geschleudert wurde. Sie strich sich schnell die Haare in den Nacken zurück und sagte dann: "Genau das ist meine größte Befürchtung. Martha hat angedeutet, daß ihr Schwager Claude an eine im Raum der iberischen Halbinsel umherstreifende Abgrundstochter, wohl Itoluhila, die Tochter des schwarzen Wassers, geraten ist, die ihn genauso kultiviert wie Hallitti Julius' Vater. Wenn diese Itoluhila und die unzureichend wiedergekehrte Hallitti sich einigen, daß Hallitti vollständig wiedergeboren werden soll, könnten sie Claude Andrews als magisches Bindeglied für die vorgesehene Wiederempfängnis opfern. Problem nur, daß Claude Andrews seit dem Verschwinden nirgendwo aufgefallen ist. Er jagt also nicht hinter arglosen Frauen her."

"Und wenn es nicht der Bruder des letzten Abhängigen sein kann?" Fragte Camille, wieder voller dunkler Vorahnung, welche Antwort sie zu hören bekommen würde:

"Müssen wir leider damit rechnen, daß Julius von dieser Itoluhila ausgesucht werden könnte, die von ihrer Mutter festgelegte Wiedergeburt ihrer Schwester zu ermöglichen", seufzte Catherine. Camille nickte. "Am besten ist, daß Julius außerhalb seiner Berufszeiten nirgendwo hinfährt, wo keiner von uns in der Nähe ist, um ihn zu beschützen. Doch wenn ich mit dem, was ich weiß zu Minister Grandchapeau gehe will der natürlich wissen, woher ich weiß, was ich weiß. Wie erwähnt möchten die, von denen ich die Akten habe weiterhin gut schlafen, und zwar nicht im Seelenkerker von Doomcastle. Denn die Akten hier unterliegen, wie du lesen konntest, der Geheimhaltungsstufe S9. Immerhin wurden diesmal ein paar Leute mehr eingeweiht. Aber meine Quelle würde sehr große Probleme kriegen, wenn sie enthüllt wird."

"Gut, du möchtest jetzt, daß ich auf Julius aufpasse, wenn er sich außerhalb seines Hauses und der Schutzglocke von Millemerveilles aufhält und weder hier bei dir noch im Château Tournesol ist?"

"Mir wäre es nach dem hier echt lieber gewesen, er hätte sich von dir anwerben lassen, die grüne Gasse zu hegen und zu pflegen", seufzte Catherine. "Du kannst ihm nicht hinterherlaufen wie eine Anstandsdame oder ein Kindermädchen. Aber ihr haltet über Viviane Eauvives Bild Verbindung. Sollte irgendwas passieren, wo Julius ganz schnell Hilfe benötigt, teile mir das bitte umgehend mit und hilf mir bitte. Mit dem Heilsstern kannst du Sachen machen, die ich mit einem Zauberstab alleine nicht machen kann."

"Du hast mein Wort drauf, Catherine. Ähm, Florymont soll nicht wissen, daß ich bei dir war?"

"Nein, besser nicht, Camille, Julius und Millie auch nicht. Ich bin zumindest froh, daß wir bei Marthas Hochzeit gute Abwehrzauber aufgeboten haben, die jeden Unbefugten früh genug gemeldet und festgesetzt hätten."

"Das wollten deine Mutter und du ja so haben und Marthas Schwiegermutter ja auch. Die hat es ja auch aus erster Hand, was damals passiert ist."

"Eindeutig", bestätigte Catherine.

"Kann ich deine verbotenen Schriften kopierzaubern oder wird das blockiert?" fragte Camille. Catherine wollte wissen, warum. "Weil ich unter Umständen mit anderen Kindern Ashtarias Kontakt aufnehmen muß. Meine Mutter hat versäumt, mir eine Liste der ihr bekannten Abkömmlinge Ashtarias zu hinterlassen, zumal noch nach der zweiten Hexe oder Muggelfrau gesucht werden muß, die von Ashtaria abstammt."

"Du kannst Mimicrius?" wollte Catherine wissen.

"Ich habe den von der gelernt, die bald ein Jahr lang alles, was sie gegessen hat an dich abgegeben hat", sagte Camille darauf. Catherine mußte wider den Ernst der Lage grinsen. Camille vollführte den Geminius-Zauber an dem Aktenordner und steckte die Kopie ein. Dann bedankte sie sich bei Catherine für das Vertrauen, ihr dieses brisante Wissen anzuvertrauen.

"Du bist die einzige, die ich kenne, die genug Macht hat, Julius zu helfen, wenn eine dieser Abgrundstöchter ihn belästigt. Sicher kann ich auch die vier alten Schutzzauber. Aber ich habe auch schon erleben müssen, daß sie nicht uneingeschränkt gegen lebende Wesen benutzt werden sollten. Danke Camille."

"Im Moment hoffe ich, daß die Arbeit in der Zauberwesenbehörde für Julius zu stressig wird und er mich dann fragt, ob ich noch was für ihn freihabe", sagte Camille. Dann verabschiedete sie sich.

Ihr gefiel es nicht, daß sie nun etwas wußte, daß sie keinem anderen weitersagen durfte. Sie liebte Julius wie den Sohn, den sie bisher trotz aller Mühen nicht bekommen hatte. Sie würde für ihn genauso ihr Leben einsetzen wie für Jeanne, ihre Kinder, Denise und Chloé. Sie hoffte nur, daß diese so ernste Entscheidung niemals von ihr verlangt werden würde.

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Der Januar verstrich ohne weitere Ereignisse. Anthelia erfuhr, daß Martha Eauvive, die mal Andrews geheißen hatte, mittlerweile zum zweiten mal verheiratet war und jetzt mit Lucullus Merryweather in einem Haus außerhalb von Santa Barbara in Kalifornien lebte, wo sie von Leuten des Laveau-Institutes gute Schutzzauber erhalten hatte. Ob diese jedoch so gut waren wie Sanctuafugium wußte Anthelia nicht. Im Moment lag ihr auch nichts daran, das auszuprobieren.

Am zweiten Februar, der im Hexenkalender eine besondere Rangstellung einnahm, erhielt sie eine Nachricht, die sie sehr erfreute. Romina Hamton war zu ihr gekommen und hatte aufgeregt verkündet: "Höchste Schwester, ich habe sichere Erkenntnisse, wo unsere zehn gefangenen Mitschwestern sind." Sie zeigte Anthelia eine Karte und darauf besonders die Markierung einer Berghöhle. "Ich habe erfahren, daß Hyneria oft in dieser Gegend war und daß die Höhle von einem alten Erdgeist bewohnt sein soll. Würde mich nicht wundern, wenn sie unsere zehn Schwestern in dessen Obhut gegeben hat."

"Erdgeist? Selbst wenn unsere Schwestern nicht dort sein sollten wäre es sicher interessant, einen Erdgeist zu unterwerfen. Die Höhle werde ich mir ansehen, aber erst in drei Wochen, wenn das erste Tauwetter einsetzt."

"Das Murmeltier hat vorausgesagt, daß wir noch sechs Wochen Winter haben sollen", meinte Romina. Anthelia mußte lachen. Sie kannte den Brauch, der jedes Jahr am zweiten Februar zelebriert wurde, in letzter Zeit mit besonders viel Kitsch und Touristenspektakel, was wohl an jener Laufbildkommödie lag, wo ein zynischer Wetterbeobachter diesen Tag immer wieder erleben mußte, bis er sich zum besseren Menschen veränderte. Schon eine Art gemeine Folter, dachte Anthelia. Jeden Tag dasselbe erleben, dieselben Leute mit denselben mehr oder weniger geistreichen Sprüchen ertragen zu müssen, ein Karussell des ewigenDéjà-vus.

"Nun, ich werde erst einmal abwarten bis zum März. Hallitti hat sich seit Weihnachten nicht mehr gerührt, und ihre eisige Schwester weiß jetzt, daß wir in den Staaten aufpassen. Ich habe den Eindruck, daß ihr nicht daran gelegen ist, selbst in den langen Schlaf zurückzufallen oder entkörpert zu werden", behauptete Anthelia ganz zuversichtlich. Romina wagte es nicht, ihr da zu widersprechen. Sie hoffte jedoch, daß ihre Anführerin sich da mal nicht irrte.

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Maria Valdez wußte, wie gefährlich es war, in diese Gegend zu gehen. Hier herrschte der schwarze Engel. Wer sich dahinter verbarg wußte sie besser als alle Polizeibeamten Spaniens. Würde es ihr heute gelingen, jene gefährliche Kreatur in die Enge zu treiben und zu bannen, so könnte ihre Tochter Marisol endlich ein freies Leben führen, mit gleichaltrigen Kindern spielen und die Welt ihrer Mutter kennenlernen.

Die Straße war erleuchtet. Doch in der Reihe der Laternen klafften dunkle Lücken. An jeder Straßenecke ging eine aufreizend gekleidete Frau auf und ab. Wo gerade keine Dirne auf Kundschaft wartete, konnte Maria Valdez damit rechnen, daß diese gerade besetzt war, wie sie es nannten. Dafür standen hier die nicht gerade vertrauenswürdigen Häuser herum, die für die Mädchen sowohl Arbeits- als auch Schlafplatz waren. Wobei der Begriff Mädchen altersmäßig nicht immer zutraf. Maria hatte auf ihrem Weg hierher tatsächlich auch Damen jenseits der fünfzig Jahre gesehen, die auf motorisierte Kundschaft warteten, um mit ihr einen vergnüglichen Abend gegen harte Pesetas zu verbringen. Maria war zu ihrer Zeit als FBI-Agentin öfter in Hurenvierteln unterwegs gewesen, hatte sogar einige Male selbst wie eine Dirne gekleidet auf bestimmte Leute angesessen wie eine lebende Mausefalle. Doch hier fühlte sie, daß sie auf brandgefährlichem Territorium wandelte. Zwar sahen die hier anschaffenden Frauenzimmer alle sehr entspannt aus, ja konnten sich sogar aussuchen, mit wem sie mitgehen wollten. Doch das eigentliche Problem waren nicht die käuflichen Damen, sondern eine, die sich gerne unter diese mischte, um auf ihre Weise Liebe gegen Bezahlung anzubieten.

Maria Valdez prüfte noch einmal die Uhrzeit. Es war halb zwölf abends. Bisher hatte sich nichts getan, was ihr bedrohlich erschien. In einer halben Stunde würde der zehnte Februar anbrechen. In sechs Tagen wurde ihre Tochter Marisol vier Jahre alt. Es wurde wirklich Zeit, daß sie ... Maria blieb stehen. Unter ihrer dunklen Bluse vibrierte es merklich. Kalte Schauern durchpulsten ihren Brustkorb. Ihr silbernes Kreuz hatte eine magische Bedrohung empfangen, ein ihr gefährliches Wesen. Behutsam ging Maria weiter. Zwar wußte sie, daß sie dann, wenn sie an einem Punkt stehen blieb, von bösen Augen nicht gesehen werden konnte. Aber sie hielt es doch für besser, in Bewegung zu bleiben, kein stehendes Ziel zu bieten. Die warnenden Kälteschauer verstärkten sich. Die Gefahr lauerte vor Maria. Da sah sie sie. Keine hundert Meter entfernt stand eine aufreizend gekleidete Frau mit langen schwarzblauen Haaren. Ihre linke Körperhälfte wurde soeben noch vom Streulicht einer Straßenlampe beleuchtet. Ja, das war dieses Geschöpf. Maria wußte, daß sie auch schon erkannt worden war. Ihr Kreuz verbreitete eine starke Aura, die darauf empfindlich reagierende Wesen aus mehreren Schritten Entfernung fühlen oder gar sehen konnten. Im Moment war kein anderer Mensch außer zwei Straßendirnen zu sehen. Maria wußte, daß es schnell gehen mußte. Sie mußte dieses Geschöpf da mit dem Kreuz berühren, wie es in einem Vampirfilm immer wieder vorkam. Vielleicht reichte es auch schon, die verbindende Formel zu rufen, die jeder Nachkomme Ashtarias in seiner oder der Ursprungssprache gelernt hatte. Wenn es ihr jetzt gelang, das Geschöpf da zu schwächen und zu bannen, konnten die von Vergilio in Bereitschaft gehaltenen Zauberer es womöglich fesseln, wenn sie es nicht mit so viel Betäubungszaubern beschießen wollten, daß sie sich nicht mehr bewegen konnte.

Die andere drehte sich um. Das Streulicht traf sie nun von hinten und bildete eine orangerote Aura, die einen tiefgrauen Schatten umhüllte. Dann kam dieses Geschöpf auch noch auf Maria zu. Es suchte offenbar die Konfrontation. Ihm war es egal, daß sie hier jederzeit von arglosen Passanten gesehen und beobachtet werden konnten. Dem Monstrum in Gestalt einer makellosen, erwachsenen Frau war es unwichtig, ob die hier auf Kunden hoffenden Huren einen magischen Zweikampf mitbekamen oder nicht. Maria sah, wie die Kreatur lässig auf sie zukam.

"Suchst du Anschluß oder Arbeit!" rief sie Maria zu. Diese mußte sich angesichts einer solchen Dreistigkeit zusammenreißen. Dann sagte sie:

"Ich suche den schwarzen Engel, und ich glaube, ich habe ihn gerade gefunden."

"Das haben schon viele geglaubt und sich geirrt", lachte die andere. Dann deutete sie auf eine der beiden Huren. "Hagelschauer!" rief sie. Das war wohl eine Art Alarmparole. Denn sofort verließen alle gerade freien Prostituierten ihre Warteplätze und eilten durch schmale Hauseingänge in die verschwiegenen Häuser. Dann winkte die Unheimliche. Marias Silberkreuz vibrierte nun besonders stark. Nur die Kälteschauern blieben aus.

"Ich habe mich echt gefragt, wann wir beide uns wiedersehen. Es wundert mich, daß das so lange gedauert hat. Ich hätte gerne mit dir geklärt, wie wir zwei in Frieden leben können. Aber du kannst ja nicht ohne dieses geschmacklose Ding um deinen Hals aus dem Haus gehen, Base."

"Ich wüßte nicht, daß Sie meine Cousine wären", sagte Maria. "Für diese Anrede bin ich sicher viel zu jung."

"Ja, aber in dir scheint ein Stück meiner Tante zu leben, sonst könntest du nicht dieses überreagierende Stück Metall benutzen. Nein, laß es besser wo es ist. Es ist hier hell genug", sagte die Unheimliche und kam noch näher. Maria mußte das Kreuz aber freiziehen, wollte sie die Gegnerin damit angreifen. Diese zerfloß zu weißem Dunst. Sowas kannte sie auch aus Vampirfilmen. Der Dunst flimmerte. Dann war er unvermittelt keine vier Meter von Maria entfernt. Er verfestigte sich wieder.

"Du gehst offenbar darauf aus, mich mit deinem kleinen Erbstück da handlungsunfähig zu machen. Aber ich sage dir was, wenn dir das gelingen sollte wirst du auf der ganzen Welt keinen Frieden mehr finden. Ich habe mich seit unserer letzten Begegnung mehrfach abgesichert", sagte die Unheimliche. Dann nahm sie wieder Frauengestalt an. Maria versuchte, unter die Bluse zu greifen. Doch ihre Jacke war viel zu fest verschlossen, der Kragen ihrer Bluse zu eng,um locker darunterlangen zu können.

"Denkst du, ich lasse mich auf einen Handel mit dir ein, du Mörderin. Du hast meinen Mann mit deiner dunklen Hexenkunst verführt und gegen mich einzusetzen versucht. Du hast es hingenommen, daß er starb und du nimmst es hin, daß jeden Tag Dutzende von Menschen unter deiner Gier leiden. Wenn wir dich schon nicht töten können, dann werde ich zumindest dafür sorgen, daß du für den Rest der Menschheitsgeschichte schläfst."

"Meine liebe Base, Maria, oder heißt du jetzt anders, nachdem man dich wohl in den Staaten für tot und eingeäschert hält. Wenn ich es wirklich darauf angelegt hätte, dich zu töten, dann hätte ich das in eurem Hotel damals tun können. Es hätte völlig gereicht, eisigen Nebel in euer Zimmer zu leiten. Selbst wenn das da", wobei sie dorthin zeigte, wo das silberne Kreuz sein mußte, "auf meine Angriffe reagiert hätte, wärest du nicht aus dem Zimmer entkommen,weil alles gefroren wäre. Ich will nur das, was du für selbstverständlich hältst, das Recht auf Leben. Würdest du dich einsperren oder umbringen lassen, nur weil ein paar Rechtsanwälte im Namen der Species Hausrind Anklage wegen Rindfleischessens erhoben hätten? Würdest du dich von einem Haufen Hofhühner einsperren und mit Körnern füttern lassen, weil sie nicht wollen, daß du ihre Eier oder ihr Fleisch ist? Du wirst mich mein Leben führen lassen, wenn du willst, daß du ein lebenswertes Leben hast. Das Ding da an deinem Körper mag dich schützen. Aber jeder und jede, mit dem du mal in Kontakt gekommen bist, wird meiner Rache ausgeliefert sein."

"Du bist kein natürliches Wesen, das im Kreislauf einer natürlichen Lebensgemeinschaft entstanden ist", erwiderte Maria. "Du bist eine bewußte Verspottung der Natur, eine gefahr für alle natürlichen Wesen der Erde. Daher müssen wir dir Einhalt gebieten. Da ich das am besten kann muß ich das auch tun."

"Irgendein mir gerade nicht mehr einfallender Philosoph hat gesagt, daß nicht nur die körperliche Fortentwicklung den Rang oder Daseinszweck eines Wesens bestimmt, sondern auch die geistige Entwicklung. Ich bin entstanden, weil meine Mutter, deine Urtante, befunden hat, daß die große Gabe der Frau, neues Leben zu schenken, nicht vom Wohlwollen oder der Entscheidung eines Mannes abhängig sein soll. Also bin ich die Fortentwicklung eines Prozesses, der ganz natürlich verläuft, denn ich entstamme der Verschmelzung zwischen Körperlichem Leben und gedanklicher Schöpfungskraft. Bei euch in der Maschinenwelt werden jeden Tag Kinder erzeugt, die außerhalb des Mutterleibs entstehen. Sind die etwa natürlich? Wenn nicht, dann mußt du denselben Maßstab bei denen anlegen wie bei mir und sagen, was nicht natürlich entstanden ist, darf nicht bestehen."

"Diese Kinder haben Vater und Mutter, eben nur, daß diese ihre Keimzellen nicht auf die übliche Weise zusammenbringen können. Natürlich gibt es in meiner Welt zu viele Sachen, wo der Drang sie zu tun, weil es getan werden kann, über alle Fragen, ob es richtig oder gar schädlich ist hinweggeht. Aber ich bin nicht hier, um mit dir die Unterschiede meiner und deiner Welt zu besprechen. Ich fordere dich auf, an deinen Schlafplatz zurückzukehren und dort zu bleiben. Ich weiß, daß ihr die Jahrhunderte verschlafen könnt, wenn wir euch schon nicht töten können."

Die Unheimliche lachte über Marias Forderung. Sie kam noch ein wenig näher. Goldene und violette Funken begannenin der Luft zu tanzen.

"Du bist nicht in der Position, mir Forderungen zu stellen, kleine Mexikanerin. Du bist ja noch nicht einmal in diesem Land angemeldet. In deinem früheren Heimatland giltst du sogar als tot. Wäre es dann Mord, eine Tote zu töten? Ich werde mich nicht einfach so zum ewigen Schlaf niederlegen. Dafür habe ich zu lange gebraucht, um mir das alles hier aufzubauen. Dafür sind zu viele Leute auf mich angewiesen. Ja, du hörst verdammt richtig, du schwächliche Ausgeburt einer selbstgerechten Frau, die meinte, nur Bewahrung und Selbstunterwerfung erhielten die Welt. Ich weiß, daß in dieser Gegend mehrere Zauberstabschwinger lauern. Du sollst versuchen, mich mit deinem kleinen Silberkreuz zu schwächen, damit die kommen und mich entweder restlos erledigen oder in ihre Versuchslabore für unbekannte Geschöpfe verschleppen können. Zwei von denen haben sich nicht so gut gegen meinen Gedankenspürsinn verhüllt wie sie meinten. Daher weiß ich, daß deren Bandenführer mich lebend haben will, zumal er weiß, daß mich körperlich zu töten nicht viel bringt. Wie naiv bist du, zu glauben, daß ich Jahrtausende überlebt haben könnte, wenn ich so leicht einzuschüchtern und ebensoleicht zu vernichten wäre?"

"Es hat nur noch keiner versucht", knurrte Maria Valdez. Sie wußte im Moment nicht, wie sie die Bemerkung über die abwartenden Zauberer einschätzen sollte. War es eine Lüge oder stimmte es, daß diese die Abgrundstochter für Laboruntersuchungen einfangen wollten. Wenn ja, welchem Zweck sollten die Versuche dienen? Dann stieß Maria aus: "Du hast Menschen gegen ihren Willen von dir abhängig gemacht, sie dazu mißbraucht, dir andere Menschen zuzuführen. Das sind schwere Verbrechen. Dafür kommt ein Mensch bei uns ins Gefängnis."

"Ja, weil ihr zu kurz lebt und daher jeden Tag, den ihr nicht frei verleben könnt ein verlorener Tag ist und ihr deshalb Angst vor dem Eingesperrt sein habt. Hast du keine Angst vor dem Eingesperrt sein?" fragte die Unheimliche. Maria wollte gerade auf diese Frage antworten, als zwei helle Lichtbalken von hinten aufglühten. Sie hörte den Motor eines Wagens. Sie wollte nicht den Fehler machen, sich umzudrehen. Auch wenn die andere sie nicht mit bloßen Händen attackieren oder ihre bösen Zauberkräfte gegen sie einsetzen konnte, so könnte sie ihr doch glatt etwas an den Kopf werfen. Da diese Biester stärker als drei erwachsene Männer waren, könnte sie sie glatt damit töten. Dann sah Maria Valdez den Wagen neben sich anhalten. Die Beiden Vordertüren klappten auf. Itoluhila grinste. "So ein Pech, daß die Nachtstreifen hier immer sehr gründlich sind." Sie trat einige Meter zurück, während zwei Beamte der Stadtpolizei aus dem Wagen heraussprangen. "Polizei! Hände flach auf den Kopf! An den Wagen ran! Beine Auseinander!" befahl einer der beiden Männer. Der Andere deutete auf Itoluhila. "Eh, Nutte, herkommen oder ich hole ..." Da blieb der Polizist wie angewurzelt stehen. Der erste hielt Maria eine Dienstpistole unter die Nase. Die ehemalige FBI-Agentin wog ihre Verteidigungs- und Fluchtchancen ab. Der Beamte stand zu weit für einen Karatetritt oder einen Kung-Fu-Schlag. Außerdem hielt er seine Waffe beidhändig. Er würde sie auf jeden Fall treffen, und ihr Silberkreuz war kein Schutzschirmgenerator gegen gewöhnliche Geschosse. Marias Blick flog von dem Beamten, der sie gerade in Schach hielt zu Itoluhilas Platz. Die Unheimliche war fort, hatte sich einfach in Nichts aufgelöst. Oder war sie nur unsichtbar? "Los, an den Wagen ran! Diego, was ist mit dir?" brüllte der noch frei bewegliche Beamte. Der gebannte kam jetzt wohl wieder zu sich. "Bin klar, Jaime", sagte er und eilte dem Kollegen zu Hilfe. Maria hob die Hände. Doch sie hoffte, daß ihre brisante Lage bemerkt worden war. Zunächst aber konnte sie nichts dagegen tun, als sie an den Wagen herangeschoben wurde. Die Beamten wollten ihr sehr ruppig die Arme über den Kopf reißen. Am Ende langten sie auch noch zwischen ihre Beine, angeblich, um sie gründlich genug abzutasten. So rief sie: "Wenn sie mich für eine Verdächtige halten fordern Sie eine Beamtin an. Andernfalls habe ich vor Gericht allen Grund, Ihre Methoden als unzulässig und erniedrigend hinzustellen."

"Was will sie?" Fragte der, der bis vor wenigen Sekunden noch gebannt dagestanden hatte. Maria begriff, daß ihr mittelamerikanisches Aussehenund das dito klingende Spanisch sie als mögliche Hure aus Lateinamerika hinstellen mochten.

"Sie droht mit einem Anwalt. Für wen läufst du!" schnarrte der erste beamte.

"Sehe ich wirklich wie eine Dirne aus?" wollte Maria wissen, während der zweite Beamte Anstalten machte, sie anzufassen. Da krachte ein roter Blitz von einem Hausdach her. Doch statt Maria oder den seine Befugnisse überreizenden Beamten zu treffen prallte der Blitz knapp hinter dem Rücken des Beamten ab. Maria fühlte das leichte Zittern unter ihrer Kleidung. Der Polizist stand mit ihr im Schutzbann des Kreuzes. Auch der andere stand so nahe bei ihr, daß die unsichtbare Aura ihn vor magischen Angriffen bewahren würde. Doch der Angriff war nicht erfolglos. Die beiden Beamten rissen ihre Waffen hoch und feuerten in die Richtung, aus der der Blitz gekommen war. Dadurch bot der, der Maria gerade abtasten wolte seinen Nacken dar. Ein wuchtiger Handkantenschlag Marias raubte dem Polizisten die Besinnung. Der zweite wollte gerade herumfahren, hielt die noch rauchende Handfeuerwaffe in nur einer Hand. Da wischte ein kräftiger Fußtritt genau gegen seinen Arm und prellte ihm die Waffe aus der Hand. Sofort ging der Polizist in Kampfstellung. Doch Maria dachte nicht daran, gegen ihn zu kämpfen. Sie wirbelte herum und spurtete los. Das brachte sie drei Meter von den beiden Polizisten fort, gerade weit genug, daß ein weiterer roter Blitz diesmal das ausgewählte Ziel erreichen und seine Wirkung tun konnte. Drei Zauberer und Almadora erschienen aus dem Nichts. Da wurde es immer dunkler. Um Maria herum entstand ein goldener Strahlenkranz. Sie griff unter ihre Kleidung und zerrte das silberne Kreuz hervor. Kaum lag es frei, schlugen goldene und blaue Blitze heraus und erhellten eine rußfarbene Nebelwand, die sich um die vier Helfer Marias schließen wollte. Maria rief die Verbindungsformel in ihrer Heimatsprache aus. Das goldene Licht wurde heller und erleuchtete nun die halbe Straße. Der schwarze Nebel glühte violett auf. Dann wurde er weiß und zerfloß im goldenen und blauen Flackerlicht.

"Das hätte sie gerne so gehabt, zwei einfache Polizisten und vier Ministeriumszauberer", knurrte Almadora. Dann deutete sie auf die beiden betäubten Streifenpolizisten. Einer der drei Zauberer nickte und ging daran, den beiden ein neues Gedächtnis zu verpassen. Da hörten sie in der Ferne Sirenengeheul. Die Pistolenschüsse und die offenbar ausbleibenden Lagemeldungen der beiden Streifenbeamten hatten weitere Einsatzfahrzeuge auf den Plan gerufen. Almadora ergriff Maria beim Arm und sagte ihr: "Du mußt dort sein wollen, wo ich bin, sonst könnte dein Talisman uns hier festhalten." Maria ergriff ihr Kreuz und dachte konzentriert, daß sie mit Almadora zusammen verschwinden und bei ihr zu Hause ankommen wollte. Da umfing sie auch schon jener bunte Farbenwirbel, den nichtmagische Menschen erlebten, die den zeitlosen Weg des Apparierens mitgingen.

"Halten wir fest, daß dieses Weib die Polizei herbeigerufen hat. Das wiederum heißt, daß sie bei denen ihre Abhängigen hat. Zwar bist du bei denen als Interpol-Beamtin registriert. Aber wenn sie ihren Leuten suggerriert, Jagd auf mexikanische Dirnen zu machen, braucht sie keine Kontrolle auf alle anderen Beamten auszuüben. Am Ende kennt sie auch noch wen, der Berufsmörder anführt", grummelte Almadora.

"Im Klartext heißt das, ich komme nicht mehr an dieses Weib heran, ohne von meinen ehemaligen Kollegen aufgegriffen und festgesetzt zu werden", schnarrte Maria.

"Und schlimmer, sie könnten dir dein Silberkreuz fortnehmen, solange sie außer ihren Einsatzbefehlen keinem anderen Zwang unterworfen sind", stellte Vergilio klar. "Gut, jetzt wissen wir, warum dieses Weib sich so ungeniert unter gewöhnliche Straßenmädchen mischen kann", sagte Almadora.

"Ja, und sie verhöhnt uns. Irgendwas haben wir alle nicht mitbekommen", knurrte Maria.

"Daß sie sich in den vierzig Jahren, die wir sie für eingeschlafen hielten, ein regelrechtes Sicherheitsnetz geknüpft hat", stellte Almadora fest. "Solange wir in ihrem kontrollierten Gebiet arbeiten haben wir nur nachteile. Sie wollte wissen, was du dir zutraust. Jetzt weiß sie, wie sie sicherstellen kann, daß du ihr nicht gefährlich werden kannst", knurrte Vergilio. Maria fühlte Wut. Ihr Temperament drohte, ihren analytischen Verstand zu überwältigen. Sie schnaubte: "Dann verrate mir bitte wer, wie wir ihr beikommen können! Oder wollt ihr haben, daß dieses Höllenflittchen bei euch in Spanien machen kann was es will?"

"Wir könnten ihr nur beikommen, wenn wir den Krug finden und sie zwingen, dort hineinzuflüchten, wie es die Hexen von dieser Wiederkehrerin gemacht haben. Aber sie wird uns nicht den Gefallen tun, uns dorthin zu führen, es sei denn, wir legen einen Köder aus", sagte Vergilio.

"Das vergiß ganz schnell, Vergilio", knurrte Almadora. "Ich riskiere nicht das Leben eines unschuldigen Menschen. Wer bei diesem Biest in der Höhle ist kann sich dort aus eigener Kraft nicht mehr befreien. Wir können lediglich mit guten Elementarschutzschilden Jagd auf sie machen und so oft mit tödlichenFlüchen belegen, bis sie zu schwach ist, um ohne Lebensenergiezufuhr von außen wachzubleiben. Aber wenn sie sich immer dort herumtreibt, wo immer auch unschuldige Leute sind, geht das nicht."

"Ich könnte einer ihrer Schützlinge eine Botschaft geben, daß ich mit ihr an einem neutralen Ort verhandeln möchte", schlug Maria vor.

"Das könnte klappen", sagte Vergilio. "Da ihr beide gleichstark seid wird sie keine Angst haben, dort hinzukommen."

Eine Eule flog durch das geöffnete Fenster der Fuentes Celestes. Sie überbrachte einen Brief des spanischen Zaubereiministers. Vergilio las ihn und nickte. "Alle in der Straße anwesenden und anwohnenden Muggel wurden gedächtnisverändert. Du warst nie da, Maria. Die Funkaufzeichnungen der Polizei werden gerade überarbeitet. Demnach hat es in der Straße einen Überfall einer rivalisierenden Bande südamerikanischer Zuhälter und ihrer Handlanger gegeben, der nur mit Mühe zurückgeschlagen werden konnte. Okay, versuchen wir es noch einmal mit einer Verhandlung schön weit weg von allen Muggeln", sagte Vergilio noch.

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Er hatte es für blankes Geschwätz eines abergläubischen Indianers gehalten. "Weckt nicht den schlafenden Erddämonen auf. Denn er kennt nur Hunger", hatte dieser Medizinmann namens Grauer Biber gesagt, als der Professor ihn nach dem Einstieg gefragt hatte. Kartadschahans Maul, wie der in einer Bergflanke verborgene Einstieg hieß, war vor vierhundert Jahren eine Opferstätte, wo ein durch Masern und Pocken restlos dahingeraffter Stamm seine Feinde und die gegen ihre Häuptlinge und Medizinleute aufbegehrenden Angehörigen hineingeworfen hatten. Zum Lohn dafür habe der in dem Berg wohnende Dämon ihnen keine harten Winter und keine Hungersnöte mehr gebracht, bis die Weißen mit ihren unheilbaren Krankheiten aufgetaucht waren und die Anhänger des Kartadschahan-Kultes wie die Fliegen krepiert waren. Allerdings hatten die Weißen nichts von dem so freigewordenen Land. Steinschläge und Lawinen, Sturzfluten und Dürren hatten eine Besiedlung des Gebietes vereitelt. Es hatten sich neue Stämme dort breitgemacht, die vor dem Siedlungsdrang der Weißen ausweichen mußten. Woher Indianer aus dem Westen der Staaten die Legende von Kartadschahan kannten wußte niemand. Doch als Professor Raymond Borrows aus Kalifornien mit Walters Mentor Professor Payne über diesen Kult gesprochen hatte, war der auf die Idee gekommen, die wohl noch unerschlossenen Höhlen zu erkunden. An den bösen großen Erddämon hatte er genausowenig geglaubt wie Walter Strout und seine drei Komilitonen, alles Studenten der Geologie. Doch jetzt waren sie eines besseren belehrt worden.

Es hatte nach dem erfolgreichen Abstieg in den fast senkrechten Schacht angefangen. Da waren diese Gefühlswallungen von Beklommenheit und Gefahr gewesen. Sieben mannsshohe Gänge waren von dem Schacht abgezweigt. Zu viele, um sie alle auf einmal zu untersuchen. Wo sie in einen Gang eingedrungen waren, hatte sich das Gefühl, von einer bösen Kraft bedroht zu werden verstärkt. Zudem hatte Strout den Eindruck gewonnen, daß ihre elektrischen Lampen nicht mehr mit voller Kraft geleuchtet hatten. Das alles ließ sich vielleicht noch wissenschaftlich erklären, beispielsweise mit der Bewetterung der Höhle, die niederfrequente Schallwellen erzeugte. Die Lampen mochten wegen der Feuchtigkeit Probleme machen. Aber was das rhythmisch wiederkehrende Gefühl der Hilflosigkeit anging, daß Strouts Kameraden John Billings immer wieder heimsuchte, wußte keiner, was dafür die Ursache war.

Sechs Gänge hatten sie erforscht und mit Führungsseilen versehen. In einem Gang war eine Art natürliche Falltür gefunden worden, ein Felsblock, der nur zu einem Drittel auf festem Boden lag. Beinahe wäre Mark Stoker durch diese Falltür gestürzt, wenn Billings und Strout ihn nicht am Seil gesichert und rechtzeitig zurückgerissen hätten. Der Felsblock war dann in die Tiefe gerutscht und zehn Sekunden lang gefallen, bevor das Geräusch seines Aufschlages bis zu den Höhlenforschern nach oben gedrungen war. Um die gähnende Fallgrube zu überwinden bauten die fünf Höhlenkundler eine Hängebrücke aus drei Seilen und Kunststoffrohren, die sie eigentlich zur Entwässerung überfluteter Kavernen einsetzen wollten. Doch hier unten gab es kein Wasser. Obwohl viele hundert Meter weiter oben Schnee und Eis das Bergmassiv bedeckten, drang hier kein einziger Wassertropfen herab. Ebenso hatte sich kein Grundwasser gesammelt. Es gab keine Stalaktiten und Stalakmiten. Überhaupt wirkte das Höhlensystem wie ein natürlich gewachsenes Bergwerk, nur ohne stützende Balken.

Gang Nummer sechs war wirklich wie ein dunkler Schlund. Das Licht wurde von den Wänden regelrecht verschluckt. Außerdem war es hier wesentlich kälter als in den anderen Gängen. Am Ende des Ganges lag eine kleine Halle in der Form einer Bienenwabe. Billings hatte gescherzt, daß sie gerade die Kammer einer längst ausgestorbenen Bienenkönigin gefunden hatten. Der Professor hatte das als Unsinn abgetan. Allerdings fragte er sich wie alle anderen, wo denn die Überreste der Geopferten abgeblieben waren. Denn selbst nach Jahrhunderten mußte es doch mindestens Knochensplitter geben. Proben, die von den pechschwarzen Wänden abgekratzt wurden, ergaben, daß es sich um reine Steinkohle handelte. Doch warum sie nicht als kompakter Flöz vorhanden war wie in den Bergwerken von Montana oder den Kohlerevieren in England und Deutschland, konnte der Professor auch nicht erklären. Was jedoch alle mitbekamen war das steigende Gefühl von Feindseligkeit, daß beim Abkratzen der schwarzen wände aufkam. Daß Infraschall Unwohlsein und auch Angstzustände auslösen konnte war den Höhlenforschern bekannt. Aber das damit auch ein direktes Gefühl der Unerwünschtheit, ja der Bedrohung induziert werden konnte war allen fremd. Strout dachte daran, doch mal die interdisziplinäre Vorlesung Neuropsychologie zu hören, um über die Arten der Beeinflussung der Sinne zu lernen, was zu lernen war.

Gang Nummer sieben, den sie scherzhaft Kartadschahans Speiseröhre tauften, endete an einer massiven, grünlich glitzernden Wand. Sofort dachten alle an einen Wall aus Smaragden. Payne ließ sich das tragbare Präzisionsecholot bringen, um zu prüfen, ob die Wand massiv war oder ob es hinter einer dünnen Oberfläche andere Gesteinsschichten gäbe. Gleichzeitig beauftragte er Billings damit, den Diamantkernbohrer bereitzumachen. Wenn sie hier wirklich auf eine Smaragdader gestoßen waren, was geologisch ein absolutes Wunder war, dann mußten sie schon mit schwerem Bohrgerät anrücken. Als dann aber das Echolot seine Ultraschallimpulse aussandte und diese wie durch leere Luft weit nach vorne gestrahlt wurden, bevor sie, in etwa hundert Metern Entfernung, von mehreren festen Hindernissen reflektiert wurden, war das Staunen groß. Payne maß noch einmal aus, wie breit die Wand war und wie hoch. Doch für das Echolot existierte sie nicht. Strout trat vor und rief laut. Tatsächlich kam das Echo seiner Stimme erst nach zwei Dritteln einer Sekunde zurück. Alle hörten, daß da vor ihnen keine Wand sein mußte. War sie womöglich nur eine Spiegelung? Billings trat vor und berührte die Wand. Er zuckte zurück. "Die Kribbelt ja", sagte er. Gleichzeitig hatten alle das Gefühl, irgendwas taste in ihre Köpfe hinein und streiche ihnen über die Körper. Der Professor wollte das nicht ungeprüft hinnehmen und trat selbst an die Wand heran. Er legte seine Hände an das ebene Gestein und verzog das Gesicht. "Fühlt sich an, als leite die Wand elektrischen Strom von schwacher Stärke. Höchst außergewöhnlich", sagte er. Dann befahl er, den Diamantbohrer anzusetzen. Dieser gab jedoch nach nur zehn Sekunden seinen Geist auf. die innen und außen angebrachten Diamanten wurden regelrecht zermalen, und der Bohrer drang keinen Millimeter in das fremdartige Gestein ein. Doch eine Welle von Hilflosigkeit gepaart mit Verärgerung brandete über alle hinweg. Irgendwie empfanden sie die Hilflosigkeit von der anderen Seite der Wand her, während die Verärgerung, die wieder zur Feindseligkeit wurde, aus allen Richtungen kam.

"Langsam halte ich die Existenz von irgendwas grenzwissenschaftlichem doch nicht mehr für unmöglich", tat sich Bender hervor. Strout grinste nur.

"Wenn Sie uns gleich mit der Existenz von Außerirdischen oder Dämonen zu kommen wünschen, Mr. Bender, so vergegenwärtigen Sie sich bitte, daß es früher viele Dinge gab, die als übernatürlich abgetan wurden. Die Beschaffenheit dieser Wand entbehrt allerdings jeder bekannten physikalischen Grundlage."

"Was sind das eigentlich für Objekte hinter der Wand?" wollte Billings wissen. Der Professor prüfte das nach, indem er das Echolot von reiner Gesteinsanalyse auf Strukturabtastung umschaltete und den Schallkopf der Maschine von einer Automatik von links nach rechts und umgekehrt führen ließ, erst auf Bodenhöhe und dann immer weiter nach oben, bis das Gerät die Höhlendecke erfaßte. Die Umrechnung der aufgenommenen Daten ergab, daß es zehn mannshohe Gebilde waren, die jedoch keine scharf umgrenzten Konturen zu besitzen schienen, weil sie den auf sie treffenden Ultraschall ähnlich verwürfelten wie flüssiges Quecksilber. Doch darum konnte es sich nicht handeln, weil die Gebilde zum einen senkrecht waren und zum anderen offenbar fest am Boden standen. Payne hatte dann versucht, mit einem Plasmaschneider die Wand aufzuschweißen. Dabei war es dann passiert.

Der gleißende Strahl des hocherhitzten Gases, mit dem normalerweise die härtesten Metalle und Gesteinsarten sauber zerschnitten werden konnten, glitt durch die Wand hindurch wie durch Luft. Insofern nichts wirklich außergewöhnliches. Doch irgendwie brachte er die Wand zum glühen. Sie glühte aber nicht rot, gelb oder gar weißblau wie der Plasmastrahl, sondern jadegrün. Das Grün wurde immer heller. Und dann quollen glühende Wolken aus der Wand. Gleichzeitig hörten sie alle in ihren Köpfen einen höchst verärgerten Knurrlaut und fühlten sich so, als wolle jemand sie angreifen. Das passierte sogar. Denn die aus der Wand hervorquellenden Wolken schwebten schnell und zielgenau auf den Professor und drei von Strouts Kameraden zu. Die vier Männer wurden eingehüllt und verloren den Boden unter den Füßen. Strout sprang zurück und entging der ihm zugedachten Glutwolke, die wohl nur eine begrenzte Reichweite besaß. Er hörte den Professor, Billings, Bender und Stoker laut schreien. Doch ihre Schreie klangen gedämpft wie von dicken Kissen erstickt. Die Glutwolken trugen die vier Männer durch die glühende Wand hindurch davon. Strout konnte im Schein der unheimlichen Barriere erkennen, wie sie auf die zehn anderen Objekte zutrieben, die im weißblauen Licht der Plasmaflamme halbdurchsichtig wurden. Strout erkannte zehn Frauenkörper, die wie Statuen aus grünem Kristall dastanden, während die vier gefangenen Höhlenforscher auf sie zutrieben. Dann zogen sich die Glutwolken zusammen, wurden selbst zu einer grünen kristallinen Substanz, die die vier Männer konturgenau einschloß. Die Schreie der Forscher erstickten endgültig. Als das passiert war erstarb auch die Flamme des Plasmaschneiders. Einen Sekundenbruchteil später lag die Wand wieder so fest und glitzernd vor Strout, dem einzigen, der diese Katastrophe überlebt hatte. In seinem Kopf wühlten Gedanken der Verärgerung seinen Verstand auf. Er hörte eine dröhnende Stimme, in deren Obertönen auch die einer Frau mitschwangen: "Du kommst hier nicht weg. Geh auch zu den anderen oder verhungere elendig!" Strout erkannte, daß an den Dämonengeschichten der Indianer doch was dran sein mußte. Das war nie im Leben was totes, rein physikalisches. Er sah, wie die Wand wieder zu glühen begann, sanft nur, aber erkennbar. Er wußte, daß sie auf ihn wartete. Doch er wollte nicht in diese grüne Masse eingeschlossen werden. Er wollte leben. Er warf sich herum und rannte durch den gesicherten Gang zurück zum Schacht. Doch dort erwartete ihn die nächste böse Überraschung.

Zwanzig Meter über dem Grund spannte sich eine Decke durch den Schacht. Nicht eine aus Stein oder Holz oder Glas, sondern eine aus grünem Feuer. Strout sah, daß die in dieser Höhe in die Wand getriebenen Klettereisen fast durchgerostet waren. Am Boden hatte sich bereits Roststaub angesammelt. Jetzt sah er auch, wie aus der lodernden Decke aus grünem Feuer kleine Flammen nach unten züngelten, sich tastend Fuß um Fuß nach unten vorarbeiteten. Strout starrte zwanzig Sekunden in die Flammendecke hinauf. Da hörte er das laute Lachen in seinem Kopf, das Lachen jener unheimlichen Stimme. Doch nun drang der weibliche Anteil dieser Stimme besonders hervor: "Du kommst da nicht mehr raus. Ihr wolltet mein Versteck betreten und habt euch damit strafbar gemacht. Am Besten gehst du wieder zurück und nimmst die Umschließung hin, wenn du nicht verhungern oder im Entkörperungsfeuer verbrennen und mir deinen Geist als Nahrung geben willst."

"Wer bist du?!" rief Strout verzweifelt. Die bösartige Stimme schwieg für einige Sekunden. Doch auch die nach unten tastenden Flammen erstarrten einen Moment. Dann erklang die Antwort auf Walters Frage direkt in seinem Kopf: "Ich bin Kartadschahan-Hyneria. Doch das sagt dir armseligem Muggel nichts."

"Muggel? Ich will hier raus!!" brüllte Strout.

"Nichts da. Du gehörst jetzt auch mir und wirst mit den zehn Verräterinnen und deinen überneugierigen Spießgesellen bei mir bleiben für den Rest aller Zeiten."

"Das werden wir sehen", knurrte Strout. Und er sah es. Doch was er sah gefiel ihm nicht. Die Flammen aus der lodernden Decke peitschten nach rechts und links und leckten die in die Wand geschlagenen Steighilfen einfach weg wie Wassertropfen. Gleichzeitig wanderten weitere Flammenzungen armdick flackernd nach unten weiter. Strout hatte keine Wahl. Er mußte zurückweichen. Als die Flammen den Boden berührten wurden sie zu Säulen. Diese verbreiterten sich. Strout wußte nicht warum. Aber er hatte das Gefühl, schnell in Sicherheit springen zu müssen. Er wollte gerade einen der Gänge aussuchen, die für relativ Harmlos befunden worden waren, als aus den grünen Glutsäulen beindicke Seitentriebe hervorschossen, die Strout fast erreicht hätten, wenn er nicht in dem Moment in den Kohlegang hineingesprungen wäre. Kohle konnte brennen, wußte er zu gut. Wenn die höllischen Feuerarme jetzt die Wände anzündeten. "Die Falltür", dachte Strout und rannte durch den Gang bis zur provisorischen Hängebrücke. Er dankte Gott, daß er noch seine Bergausrüstung auf dem Rücken hatte. Er hörte hinter sich ein lautes Fauchen und fühlte sowohl Hitze als auch einen zum Schacht hinweisenden Sog. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu sehen, was das bedeutete. Er konnte den Widerschein eines gewöhnlichen Feuers erkennen. Da war die Brücke. Er löste die Seile und zog die Brücke von der Grube weg. Dann hangelte er sich über den Rand der Grube und trieb den ersten Karabiner in die Wand. Zu seinem Glück bestand sie nicht aus Diamant oder einem überirdischen Material. Die Stimme in seinem Kopf lachte nun. "Dann sei es der Hungertod", hörte er sie verächtlich in seinem Bewußtsein nachhallen. Doch Strout dachte nicht daran, jetzt schon verhungern zu wollen. Er hakte ein festes Seil ein und hangelte sich nach unten. Er hörte das laute Fauchen des sich nähernden Kohlefeuers. Wenn das ihm den Sauerstoff nahm war es aus. Doch jetzt steckte er in dem Schacht. Er kletterte so schnell er konnte weiter nach unten. Er fürchtete, mehrere tausend Meter klettern zu müssen, als er den letzten Karabiner in die Wand trieb. Doch nach weiteren zwanzig Metern stießen seine Stiefelsohlen auf festen Grund. Er war unten. Er blickte nach oben und sah, wie die Grube zuwuchs. Ja, sie verschloß sich wie ein steinernes Maul. Jetzt saß er endgültig in der Falle.

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Maria Valdez wußte, daß es riskant war. Zwei Wochen waren seit dem gescheiterten Einsatz gegen Itoluhila verstrichen. Beobachter der Muggelwelt hatten vermeldet, das die angebliche Loli sich nicht mehr in den Hurenvierteln und auch nicht im Bordell Sonnenhaus hatte blicken lassen. Doch irgendwie hatte eine Botschaft Marias die richtige Adressatin erreicht. Denn einen Tag nach dem Überbringen rief Loli selbst auf dem Mobiltelefon an, daß Maria sich hatte beschaffen lassen.

"Du möchtest unser Gespräch fortsetzen und wissen, warum es mich gibt? Dann komm in die Sierra Nevada!" Es erfolgte ein GPS-Koordinatensatz. dieses Monstrum kannte und bediente die modernsten Hilfsmittel der technischen Zivilisation, mußte Maria anerkennen.

Nun stand sie in der Schlucht, die Itoluhila angegeben hatte. Almadora hatte ihr vor der Abfahrt mit einem gemieteten Seat ohne magische Ausstattung einen Schluck von einem Zaubertrank gegeben, der Felix Felicis hieß. Dieser, so hatte Almadora gesagt, bewirkte eine Steigerung der Intuition, der Gewandtheit und Reaktionsfähigkeit. Das führte dazu, daß der, der ihn trank über die durch die Dosen bestimmte Wirkungsdauer allen Gefahren entgehen und alle Handlungen zum größtmöglichen Erfolg bringen konnte. Maria überlegte, ob sie nicht doch mit Itoluhila kämpfen mußte. Dann war ihr, als müsse sie ganz genau auf die linke Wand der Schlucht blicken. Ihre Augen saugten sich an der schroffen, schräg ansteigenden Wand fest. Dann erkannte sie eine Vertiefung, in der etwas lag, daß nicht wie ein Felsen aussah. Unvermittelt dachte sie an eine große Gefahr, die von dem Etwas ausging. Dann fiel ihr ein, auch die oberen Regionen der Felsenwände genauer zu betrachten. Der Eindruck der Gefahr stieg. Sie hatte sogar den Eindruck, daß die Wände wackeln und ins rutschen geraten würden. Da kam ihr der Gedanke an Sprengstoff. Sofort machte sie auf dem Absatz kehrt. Sie blickte noch schnell in den Himmel. Sehen konnte sie nichts. Doch der Eindruck, von dort aus beobachtet zu werden blieb. Da donnerten die ersten zwei von insgesamt zwanzig Detonationen. Maria Valdez versuchte, den rettenden Wagen zu erreichen. Doch da polterten die ersten schweren Brocken genau auf das Dach des kleinen Autos und drückten es wie Alufolie zusammen. Die nächsten Explosionen wummerten. Staub, Steinsplitter und dann gewaltige Steinlawinen rasten von den Wänden herunter. Maria Valdez rannte. Der Trank in ihrem Körper ließ sie ohne hinsehen zu müssen ihren Weg zwischen den niedergehenden Gesteinstrümmern und Staubwolken finden, genau rechtzeitig zur Seite hechten, wo kleinwagengroße Gesteinsbrocken aufschlugen und ohne nachzudenken über bereits im Weg liegende Trümmer hinweghechten. Doch das Inferno verstärkte sich. Explosionen in immer kürzeren Abständen rüttelten an Marias Trommelfellen und warfen ihr Zentnerweise Staub entgegen, bevor die gewaltigen Gesteinsmassen folgten. Sie fühlte, daß sie nicht mehr von hier fort konnte. Ihr Silberkreuz würde ihr gegen die künstlichen Steinlawinen nicht helfen. Da kam sie auf die Idee, die Wörter "Tango Infernal" zu rufen. Wie sie es schaffte, dabei keinen Staub zu schlucken wußte sie nicht. Womöglich regulierte der in ihr wirkende Zaubertrank ihren Atem. Unvermittelt riß etwas sie wie mit einem Haken am Bauchnabel fort. Sie hörte und sah noch tonnenschwere Felsen, die genau über ihr herabstürzten. Dann fiel sie durch einen bunten Strudel ohne räumliche Begrenzung. Nach Minuten wie sie meinte, prallte sie unsanft auf. Dann fühlte sie, daß sie offenbar unterwegs ihre Unterhose verloren hatte. Ihr silberkreuz pochte ein wenig. Doch es war nur ein kurzes Erzittern wegen der auf es und seine Trägerin einwirkenden Magie.

Sie nahm ihr Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich vorsichtig die Augen staubfrei. Jetzt konnte sie ungefährdet sehen, wo sie war. Sie saß in einem kleinen Raum auf einem Teppich. Der Raum maß gerade drei mal vier Meter in der Fläche und zweieinhalb Meter in der Höhe. Er bestand ganz aus Balken, Bohlen und Brettern. Der Teppich, auf dem sie hockte, füllte den ansonsten leeren Raum zur Hälfte aus. Dann leuchtete es zwei Meter vor ihr blau auf. Eine Lichtspirale wirbelte aus dem Boden und gab drei Menschen und ein Katzenwesen frei. Almadora, Vergilio und Marisol waren auf magische Weise angekommen. Ebenso Rottatze.

"Wir hatten echt gehofft, dieses Biest würde zu neugierig und zu heftig von sich überzeugt sein, so daß es weiter mit dir plaudern wollte. Aber als Vergilio das Bild von der Schlucht und den genauen Treffpunkt sah kam er auf die Idee, man könnte diese Schlucht wohl in die Luft sprengen. Deshalb habe ich dir den Trank gegeben, ohne dir zu verraten, daß du einen wörtlich auslösbaren Portschlüssel am Körper trägst. Ich habe mir bei der letzten Wäsche erlaubt, eine deiner Unterhosen entsprechend zu bezaubern. Felix hat dir in der größten Not, wo keine andere Fluchtmöglichkeit mehr blieb, den Auslöser offenbart. Vorher hättest du keinen Gedanken an einen höllischen Tango verschwendet oder gedacht, einen bezauberten Gegenstand am Körper zu tragen. Womöglich hat dieses Monstrum dich aus weitem Abstand beobachtet, um sicherzustellen, daß du unter den Trümmern begraben wirst. Der Umstand, daß du bei deiner Ankunft hier einen Anmeldezauber ausgelöst hast hat uns informiert, dir zu folgen. Achso, dein Gepäck und das Spielzeug von Marisol."

"Was ist mit ihr?" fragte Maria argwöhnisch, weil das kleine Mädchen ebenso teilnahmslos auf dem Boden hockte wie der Kniesel.

"Schlafdunst, damit sie nicht aus versehen aus dem Wirkungsbereich hinaushüpfen", sagte Vergilio. Dann gaben Almadora und er Maria ihr gesamtes in den letzten Jahren angesammeltes Hab und Gut, vor allem Wäsche und Bücher. Maria fragte, wo sie war und erkannte noch vor der Antwort, daß sie nicht mehr in Spanien oder gar Europa waren. "Cloudy Canyon, Vereinigte Staaten von Amerika", sagte Almadora. "Hier wohnt eine Verwandte von mir. Wir tun jetzt so, als wenn du bei der gemeinen Aktion zerschmettert worden wärest. Ich denke nicht, daß dieses Weibsbild versucht, die Spuren deines Silberkreuzes zu finden. Soll die sich erst einmal in ihrem vermeintlichen Erfolg suhlen."

"Ja, aber wenn sie jetzt noch mehr Unheil anrichtet?" wollte Maria wissen.

"Holen wir dich als Trumpfkarte ins Spiel zurück, wenn wir wissen, wie wir sie selbst in die Enge treiben können."

"Hmm, habt ihr schon mal probiert, sie an einen abgesicherten Ort zu beschwören?" wollte Maria wissen.

"Ich denke, daß hast du vor einem Jahr schon mal gefragt", grinste Vergilio. "Wir bräuchten dafür etwas von ihrem Körper, ein Haar, einen abgebrochenen Fingernagel oder am besten ihr Blut oder einen ihrer sicheren Abhängigen, den wir dann aber quälen müßten, um sie zu ihm hinzulocken. Sowas wie Anrufungsformeln alleine bringen es nicht."

"Wäre auch zu schön gewesen", grummelte Maria. Dann faßte sie zusammen, daß sie offenbar bis auf weiteres aus Spanien herausgeschafft bleiben sollte, bis sicher war, wie man der offenbar gut in der Muggelwelt vernetzten Itoluhila beikommen konnte. Zumindest hieb diese wohl nicht um sich wie ein im sterben liegendes Raubtier.

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Anthelia fühlte die fremde Magie wie eine unhörbare Ablehnung auf sie einwirken. Ja, hier war sie goldrichtig. Diese Höhle beherbergte wahrlich einen uralten und bösartigen Zauber. Auch fühlte sie, daß dieser Zauber aus den Tiefen der Erde gespeist wurde, Naaneavargias vertrautem Element.

Anthelia landete ihren Bronco Parsec knapp fünfzig Meter unterhalb eines kleinen Höhleneingangs. Sie fühlte beinahe körperlich, wie etwas gieriges, feindseliges durch diese Öffnung ausströmte. Etwas war da, was auf für Magie empfängliche Menschen wirkte. Anthelia/Naaneavargia fragte sich, ob das immer schon so war oder erst seit der Expedition dieser Höhlenforscher, von denen Romina ihr erzählt hatte. Sie stieg vom Besen und wirkte einen behutsamen Erkundungszauber. Sofort erfaßte sie, daß tief im Berg eine lebendige Kraft war, die auf Beute lauerte und gleichzeitig etwas bewachte. Ihr Gedankenspürsinn erfaßte jedoch auch die geistige Ausstrahlung eines jungen Mannes, der von Zweifeln und Todesangst erfüllt war. Zudem hörte sie noch etwas wie einen Chor aus leise summenden Bassstimmen, die einen unregelmäßigen, sehr langsamen Singsang von sich gaben, als habe jemand einen Chor mit einem quadrierten oder dreifach mit sich malgenommenen Lentavita-Zauber belegt. So konnte sie nur erkennen, daß dort jemand lebendiges war. Doch wer es war und was sie dachten erfaßte sie nicht. Dann konzentrierte sie sich auf die feindselige Kraft, die aus dem Berg kam. Diese hatte sicher den Erderspürungszauber bemerkt. Das Gefühl, einen Todfeind vernichten zu müssen gepaart mit dem Drang, etwas wertvolles zu bewachen steigerte sich. Anthelia wappnete sich durch einen Zauber, der ihren Körper vor versteinernden Zaubern schützte und okklumentierte, um mögliche Gedankenangriffe zu parieren. Dann zog sie Yanxothars Schwert aus der Drachenhautscheide auf ihrem Rücken. Die Waffe aus dem alten Reich glänzte rotgolden im Licht der Mittagssonne. Die Flammenzungen entlang der Schwertklinge wirkten wie gefrorenes Feuer. Genau das waren sie auch. Anthelia hatte das Schwert mitgenommen, um sich gegebenenfalls durch massives Felsgestein schlagen zu können wie ein Urwaldwanderer mit seiner Machete. Sie zischte "Faianshaitargesh!" Die Flammen erwachten flackernd zum Leben und wuchsen, worauf die Schwertklinge von neunzig Zentimetern auf knapp zwei Meter Länge anwuchs. Anthelia stieg im violetten Flimmern ihrer Antiversteinerungsaura, getrieben von ihrem Freiflugzauber nach oben und näherte sich dem Höhleneingang. Dieser war gerade groß genug, um zwei Leute nebeneinander hindurchzulassen. Die Schwertspitze nahm einen grünlichen Farbton an. Anthelia wunderte sich nur einen Moment. Doch dann erkannte sie, daß nicht nur Erd-, Sondern auch Feuerzauber diese Höhle erfüllten. Sie dankte ihrer Eingebung, das mächtige Schwert Yanxothars mitgenommen zu haben.

Sie glitt in den Eingang hinein, ungeachtet der ihr entgegenatmenden Feindseligkeit und Todesdrohung. Doch Anthelia war die Auren schwarzer Magie gewöhnt und hatte sie auch nicht nur einmal selbst erzeugt. Auch mit Naaneavargias Anteil in sich widerstand sie der Abweisenden Kraft, die dieser Höhle innewohnte. Sie erreichte einen fast senkrechten Schacht und glitt ohne die Wände zu berühren hinunter. Auf halber Höhe entdeckte sie das erste Hindernis, eine lodernde Decke aus grünem Feuer: Entfleischungsfeuer. Sie hielt das Schwert auf den Flammenteppich gerichtet, aus dem ihr unvermittelt armdicke Lohen entgegenjagten: "Weichet feindliche Feuer! Weichet!" rief sie in der Sprache Altaxarrois. Das Schwert schien breiter zu werden. Gleichzeitig saugte es die Anthelia angreifenden Flammen an, verdrehte sie zu einer grünen Feuerspirale, die laut zischend in die Schwertspitze eindrang. Das ganze Schwert nahm einen grünlichen Farbton an. Doch dann fauchte es, und die Flammendecke unter Anthelia zersprühte. Alles grüne Feuer wurde in das Schwert hineingesaugt und in Form orangeroter Funken wieder von ihm abgestrahlt, unschädlich für seine Trägerin. anthelia vernahm einen gequälten Aufschrei aus den Tiefen des Berges. Dann fauchte noch eine orangerote Stichflamme aus dem Schwert heraus. Die züngelnden Flammen auf der Klinge loderten nun in ihrer gewohnten Farbe weiter.

Anthelia sank in den Schacht hinein. Sie mied den Bodenkontakt. Denn sie hatte draußen erfaßt, daß die Höhle von Erdmagie durchdrungen wurde. Auch wenn die Aura gegen Versteinerung sie schützte, mochte der Höhlenboden plötzlich unter ihr nachgeben und sie innerhalb einer Sekunde verschlingen. Solche gemeinen Tricks kannte sie zu gut. So hielt sie das noch lodernde Schwert in jeden der sieben sich anbitenden Gänge hinein. Ein Gang glühte noch. Der Boden war kniehoch mit pechschwarzer Asche bedeckt. Sie erfaßte, daß der gefangene junge Mann in diesem Gang feststeckte, besser, er steckte unter dem Gang. Die von ihr wahrgenommenen Gedankenfragmente drangen aus einem anderen Gang. Den wollte sie zuerst erforschen. Sie flog im Schein ihrer magischen Aura und der lodernden Flammenklinge wie ein biblischer Racheengel durch den Gang. Sie merkte, wie ihre Antiversteinerungsaura mit tastenden Impulsen aus den Wänden wechselwirkte. am Ende mochten sich die Wände zusammenziehen und Anthelia auf diese Weise einschnüren. Doch das geschah nicht. Sie erreichte einen Raum, an dessen Ende eine grüne Wand im Licht des Flammenschwertes glitzerte. Als sie die Klinge vorsichtig auf die Wand zubewegte, zuckten grüne Blitze durch diese hindurch. Als die Klinge die Wand berührte, meinte Anthelia, die gefangenen Seelen von mehreren Dutzend Menschen in wilden Schmerzen aufschreien zu hören. Doch das Schwert prallte auf festen Widerstand. Anthelia versuchte, damit eine Furche in die Wand zu ziehen. Da erfolgte eine Reaktion. Die Wand leuchtete nun vollständig im grünen Licht auf. Eine gewaltige grüne Wolke drang aus ihr hervor. Gleichzeitig wurde die Barriere durchscheinend. Die Wolke wehte Anthelia entgegen und traf erst das brennende Schwert. Laut krachend und prasselnd flogen grüne Feuerkugeln von Anthelia weg. Die Wolke schrumpfte zusammen. Dann berührten ihre Ausläufer die violette Aura. Wie zwei einander abstoßende Magneten wirkten die Magie der grünen Wolke und Anthelias Antiversteinerungszauber. Die Hexenlady wurde mit unbändiger Wucht in den Gang zurückgeschleudert. Beinahe prallte sie dabei mit dem rechten Fuß gegen die Wand. Nur ihr Gedanke, so gerade wie möglich zu fliegen half ihr. Der Schwung des Rückstoßes brachte Anthelia bis auf zehn Meter an den Schachtgrund heran. Noch konnte sie sich in der Luft halten. Doch sie fühlte, daß der Flugzauber sie doch sichtlich anstrengte. Sie trieb sich wieder vorwärts, wieder auf die Wand zu. Anthelia löschte die Flammen des Schwertes. Sie hatte eine bessere Idee. Sie steckte das schwert zurück in seine Scheide und nahm den silbergrauen Zauberstab zur Hand. Sie zielte nach vorne und rief sieben Wörter aus der magischen Abwandlung von Naaneavargias Heimatsprache. Es war die Anrufung der Erde, innezuhalten. Damit erkaufte sich ein Erdmagier mindestens einen Zwölfteltag Ruhe vor allen natürlichen und übernatürlichen Bewegungsarten der Erde. Sie flog nach vorne und sah, daß die Wand vor ihr nun nicht mehr grün, sondern steingrau war. Sie hörte ein gequältes Stöhnen, als habe jemand dumpfe, wiederkehrende Schmerzen. "Was immer du früher warst, der Erde verbundener Geist, hier steht Naaneavargia, die Vertraute der großen Mutter alles lebendigen und Toten!" rief Anthelia und beschrieb mit ihrem Zauberstab ein magisches Sechseck vor der Wand. "Enthülle, was du birgst!" rief sie in Naaneavargias Heimatsprache. Als habe sie mit ihrem Zauberstab ein Loch in die Wand gegraben entstand genau innerhalb der von ihr gezogenen Linien eine durchsichtige Öffnung. Durch diese konnte Anthelia in eine weite Halle hineinsehen. Sie entzündete das Zauberstablicht und ließ es in die Halle hineintasten. Sie sah sofort die vier grünen widerscheinenden Körper und erkannte vier erstarrte Männer, die wie aus grünem, kristallinen Material erschaffen aussahen. Sofort dachte sie an Hynerias Vergeltung gegen zehn ihrer Mitschwestern. Ja, und da konnte sie auch weitere Körper erkennen, die gerade so noch in Reichweite des Zauberstablichtes standen. "Du bist das, du gemeines Biest bist sie", schnarrte jene zweistimmig anmutende Gedankenstimme. Anthelia erwiderte im Geiste: "Ja, ich bin das. Ich bin gekommen, meine Schwestern heimzuholen."

"Sie gehören jetzt mir. Sie wurden mir von meinem lebenden Sein übergeben, um sie zu behalten. So bleibe auch du hier!" rief die Gedankenstimme. Doch mehr passierte nicht. Denn der Abwehrzauber gegen Erdbewegungen wirkte noch. Damit war auch die Magie in der Wand eingefroren. Anthelia lachte nur. "Ich werde wieder gehen. Aber ich komme zurück." Dann flog sie durch den Gang zurück. Denn sie wußte nun, daß sie sich auf die Befreiungsaktion besser vorbereiten mußte. Allerdings wollte sie den Gefangenen mitnehmen und verhören, um zu ergründen, was genau passiert war.

Anthelia flog durch den mit Asche bedeckten Gang zu einer scheinbar massiven Platte aus Gestein. Ihre Antiversteinerungsaura flirrte bei der Annäherung. Anthelia lachte nur und zielte auf die Steinplatte. Mit drei Zaubersprüchen entlud sie die im Gestein wirkende Erdmagie in unschädlichen blauen und violetten Blitzen. Dabei zerbröckelte das Gestein und öffnete sich zu einer weiten Grube. Lautes Husten drang aus der Tiefe herauf, weil der Gefangene Student Walter Strout den herabrieselnden Staub in Mund und Nase bekam. Anthelia ließ sich kopfüber in die Tiefe sinken. Sie leuchtete mit ihrem Zauberstab nach unten und erfaßte das Gesicht des jungen Mannes. "Stupor!" dachte sie. Ein roter Blitz traf den Mann am Kinn und ließ ihn ohnmächtig zusammenbrechen. "Ihr bleibt hier!" schrillte die geheimnisvolle stimme in Anthelias Gedanken. Doch diese hörte nicht darauf. Sie ließ den Magielosen auf Handgröße zusammenschrumpfen und telekinierte ihn mühelos zu sich nach oben. Dann wandte sie sich um und jagte im geschwinden Flug durch den verkohlten Gang zurück zum Schacht. Dieser erzitterte. Anthelia rief erneut die Zauberformel gegen sich bewegende Erde auf, wartete, bis der Schacht nicht mehr bebte und flog wie ein aus der Flasche schnellender Korken hinauf und hinaus aus der verfluchten Höhle. Ein Aufschrei der Enttäuschung und der unbändigen Todesdrohung trieb Anthelia an, möglichst schnell ihren Besen zu besteigen und damit loszufliegen. Da bebte die Erde, und der Höhleneingang brach donnernd unter niederstürzenden Felsbrocken in sich zusammen.

"Wird dir nichts nützen, Erdgeist. Ich komme wieder!" rief Anthelia dem Berg zugewandt. Dann jagte sie mit dem Bronco Parsec davon.

Im Schutz ihres Hauptquartiers weckte sie den Befreiten aus der magischen Betäubung. Als dieser erkannte, daß er weder im Himmel noch in einem Krankenhausbett aufgewacht war, wollte er aufspringen. Doch Die ihn an die Rückenlehne eines feudalen Eichenholzstuhles fesselnden Stricke hielten ihn sicher zurück. Anthelia/Naaneavargia hatte sich ihm gegenüber hingesetzt und lächelte ihn an. Sie trug ein Kurzkleid aus scharlachroter Seide. Ihr mittlerweile auf die Schultern reichendes Haar floß bei der sanften Bewegung ihres Kopfes, als sie sich dem Studenten Walter Strout zuwandte. Dieser vermied die nach langer Ohnmacht sonst so häufige Frage und fragte statt dessen: "Wer sind Sie?"

"Ich bin die, die dich befreit hat, Junge", erwiderte Anthelia mit ihrer tiefen Stimme. "Du warst als einziger von deinen Leuten noch aktionsfähig. Deshalb möchte ich jetzt gerne von dir wissen, wie du in einen Schacht gekommen bist, der oben mit massivem Fels verschlossen war." Strout straffte sich. Die Führerin der Spinnenschwestern erkannte, daß sich der angehende Erdbeschaffenheitskundler gut in Form hielt. Sein dunkles Haar mochte auf südländische Vorfahren zurückgehen. Die hellgrauen Augen verrieten einerseits eine große Wachsamkeit, aber in diesem Moment auch sehr große Unsicherheit.

"Was sind Sie, zum Teufel? Sagen Sie jetzt nicht, Sie sind eine Hexe oder Zauberin oder dergleichen!" seufzte der befreite Student. Anthelia grinste. Dann erwiderte sie: "Gut, was ich bin sage ich dann nicht. Nur so viel, ich kam wohl gerade noch rechtzeitig, um dich aus der Gewalt eines gierigen Wesens zu erretten. Deshalb steht es mir zu, zu erfahren, was du und die in Einkerkerungskristalle eingeschlossenen Männer in der Höhle gesucht habt." Strout kicherte hilflos. Dann stieß er aus, daß es um die Erforschung eines noch nicht erkundeten Höhlensystems gegangen sei, daß im Verruf stand, verflucht zu sein. "Ich habe keine Sekunde lang geglaubt, daß da wirklich was dran sein sollte", stieß er verbittert aus. "Meine Kameraden ... Aber warum soll ich Ihnen das erzählen? Nehmen Sie mir sofort die Fesseln ab!" Anthelia schnalzte mißbilligend mit der Zunge und fragte sehr ungehalten: "Wie heißt das?" "Gut, nehmen Sie mir bitte die Fesseln ab, Ma'am, wie immer Sie heißen."

"Ich wollte lediglich verhüten, daß du beim Aufspringen stürzt", erwiderte Anthelia scheinheilig. Der junge Mann da dachte nur an seine Begleiter und den Lehrmeister, der mit ihm und den anderen in die Höhlen eingedrungen war. Sie hörte den indianischen Namen Kartadschahan aus seinen Gedanken heraus. Sie nahm ihren Zauberstab und zeigte damit auf die Stricke: "Descarcerus!" murmelte sie. Da lösten sich die Stricke um Arme, Brustkorb und Beine des Überlebenden der verfluchten Höhle in Nichts auf. Strout dachte einen Sekundenbruchteil daran, aufzuspringen und sich auf die unheimliche, wenn auch sehr attraktiv aussehende Frau zu stürzen. Doch als sie ihm provozierend zuwinkte vergaß er das schnell wieder. Er entspannte sich wieder.

Anthelia fragte den unfreiwilligen Gast, woher sein Lehrmeister die Geschichte von Kartadschahan kannte und was er in dessen Höhle wahrhaftig zu finden gehofft hatte. Während Strout resignierend alle Fragen Beantwortete, lauschte sie auch auf dessen für sie frei zugängliche Gedanken. Selbst wenn er ihr etwas hätte vorschwindeln wollen, hätte er es nicht geschafft. Seine Erlebnisse in der verfluchten Höhle hatten sein bisheriges Weltbild zu Staub zerblasen. Er atmete auf, als Anthelia ihm verhieß, ihn und seine Begleiter unversehrt in die Zivilisation zurückzuschicken, sobald sie es geschafft habe, den die Höhle beseelenden Geist zu bannen und dessen Gefangene aus dem Einkerkerungskristall herauszulösen. Bis dahin würde er bei ihr bleiben. Er wollte schon protestieren. Doch da drangen schon die ersten Töne eines Schlafzaubers über ihre Lippen. Er kämpfte noch fünf Sekunden gegen das wachsende Verlangen, hier und jetzt einzuschlafen. Aber am Ende übermannte ihn doch die Müdigkeit. Er sank mit dem Rücken gegen die hohe Lehne und verfiel in einen Tiefschlaf, in dem alle körperlichen Regungen auf ein Zwanzigstel des üblichen verlangsamt wurden. Zwar hätte Anthelia ihn auch in einen toten Gegenstand verwandeln und sicher verstauen können. Doch die Erfahrung mit Ben Calder und dessen zweite Identität Cecil Wellington hatten ihr gezeigt, daß es kein Problem war, unfreiwillige Gäste in reinem Zauberschlaf zu beherbergen.

Als sie Walter Strout entkleidete und ihn in eine gleichwarm bezauberte Bettdecke einwickelte, mußte sie die von Naaneavargia übernommene Begierde niederhalten. Dafür hatte sie jetzt echt keine Zeit. In einem der freien Gästeschlafzimmer lagerte sie den Befreiten auf das alte Bett ohne Himmel und Vorhänge. Dann zog sie sich in ihr eigenes Schlafgemach zurück, um darüber nachzudenken, wie sie Kartadschahan und das mit ihm verbundene Seelenfragment Hynerias überwinden konnte. Denn ihr war klar, daß die Höhle nur deshalb noch intakt war, weil die Magie dieses alten Erdgeistes sie tränkte. Verebbte diese, so mochte das Höhlensystem schlagartig in sich zusammenbrechen. Natürlich erinnerte sie sich noch an alle Erdzauber aus dem Wissensschatz Naaneavargias. Doch mal eben eine Magie gegen eine andere auszutauschen war riskant, weil zeitabhängig. Also mußte sie etwas tun, um den Erdgeist lediglich daran zu hindern, gegen ihre Befreiungsaktionen vorzugehen. Sie dachte an Skyllians letzte Riesenschlange. Die war schlafend noch gefährlicher als Kartadschahan. Da sollte es doch möglich sein, ihre zehn Schwestern zu befreien.

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Sie fühlte die sie abweisende Kraft aus dem Berg. Zwar war der Höhleneingang nun mit schweren Felsbrocken verbarrikadiert. Doch für eine Vertraute der Erde war dies kein Hindernis. Anthelia/Naaneavargia näherte sich dem Berg. Bei sich trug sie einen großen Lederbeutel. In diesem ruhte ein großer, rotbrauner Stein, so groß wie ein Kinderkopf. Anthelia hatte sich mit Grauer Biber, dem Medizinmann der Indianer unterhalten, die die Nachfahren der vor Jahrhunderten aus dieser Gegend fortgezogenen Ureinwohner waren. Der mittlerweile fünfundneunzig Jahre alte Medizinmann hatte zwar versucht, Anthelia zu vertreiben, weil er ihre magische Ausstrahlung erspürt und sie für den Atem des bösen Geistes angesehen hatte. Doch die Führerin der Spinnenschwestern hatte sich nicht von ihm verjagen lassen. Sie hatte seine Gedanken ausgeforscht und erfahren, daß Kartadschahan früher auch ein mächtiger Medizinmann gewesen war, der jedoch dem bösen Geist gedient hatte und ihm die Herzen von Kindern geopfert habe. So sei er eines Tages vom Vater eines unberührten Mädchens, der selbst ein mächtiger Medizinmann gewesen sei, verflucht worden. Er hatte ihm nach hartem Kampf mit und ohne Einsatz von Magie das Herz aus der Brust geschnitten und dabei den Fluch ausgesprochen, daß Kartadschahan solange in den Eingeweiden seines eigenen Berges verweilen müsse, solange sein steinernes Herz nicht in den Berg zurückgebracht und eingesetzt würde. Anthelia hatte daraufhin herausbekommen, daß dieses versteinerte Herz von dem letzten Feind Kartadschahans mitgenommen worden sei. Es sei in einem Bach zweihundert Tageswanderungen von der Höhle versenkt worden. Von da an war es für Anthelia einfach gewesen. Sie mußte nur den aus Grauer Bibers bildhaften Erinnerungen geschöpften Ort aufsuchen und mit Zaubern der Erde nach einem Träger dunkler Erdmagie suchen. Am Ende war sie im Schutz einer Kopfblase in die Fluten des Flusses eingetaucht und hatte den großen, herzförmigen Stein, der wie der Auswurf aus einem Vulkan anmuten mochte, herausgefischt. Hier und heute wollte sie Herz und Seele des Besiegten wiedervereinen. Wie Hyneria sich dem Bergdämon verbunden hatte wußte Anthelia nicht. Sie ging jedoch von einem Blutschwur-Zauber aus, den Hyneria Swordgrinder womöglich vor Jahren schon ausgeführt hatte. Also brauchte sie nur das Blut der zum kleinen Mädchen zurückverwandelten zu nehmen, um den Schwur nichtig zu machen. Darin hatte der eigentlich heikle Teil bestanden. Denn sie mußte heimlich nach Misty Mountain reisen und wie damals Lavinia Thornbrook zu der jetzt Sheila Fender heißenden Ex-Hexenlady hinschleichen, um ihr ein Zwölftel ihres Blutes zu entnehmen. Dieses Unterfangen war ihr nur gelungen, weil sie das Haus der Fenders mit geruchlosem Schlafgas umnebelt hatte. Das gewonnene Blut trug sie in einer Phiole aus reinem Silber bei sich.

"Du glaubtest, daß du meine Schwestern vor mir verbergen könntest, Kartadschahan. Auch wenn Hyneria mit dir die Blutsbindung gefeiert hat, werde ich euch beide bezwingen!" verkündete Anthelia vor dem verschütteten Eingang. Dann begann sie mit erhobenem Zauberstab, auf den vor ihr aufgetürmten Felshaufen einzusingen. Es waren vier Liedzeilen, die jede für sich mit der Anrufung" Amadrash Sharamirin", "O Große Mutter von Tod und Leben" begann. Bei der zweiten wiederholung der vier Zeilen begannen die Felsen zu rucken. Aus dem Zauberstab trat ein dunkelgrünes Licht aus. Nach der dritten Wiederholung der vier Beschwörungszeilen glühten die Felsen im dunkelgrünen Licht. "Nein, laß das! Hör sofort auf damit!!" peitschten unbändige Gedanken durch Anthelias Kopf. Doch sie hörte nur auf ihre eigene Stimme. Die Felsen bewegten sich, wurden leicht und trieben wie Herbstlaub im Wind zur Seite. Sie kullerten um Anthelia herum zu Tal. Der Höhleneingang war frei. Sofort schlugen grüne Flammen aus der Höhle, die Flammen der Entfleischung. Doch dagegen half wie zwei Wochen zuvor das Schwert Yanxothars. Als sie die volle Kraft der Feuerklinge wachgerufen hatte, zog es die Flammen zu einer grünen Lichtspirale zusammen, die in die Schwertspitze hineingesaugt wurde, um dann als orangerote Funken von der Klinge abgestoßen zu werden. Als dann kein grünes Feuer mehr zu sehen war, fauchte noch einmal eine Stichflamme aus der Klinge. Ein lauter Schrei drang aus der Höhle. Anthelia wirkte erst ihre Antiversteinerungsaura und dann den Freiflugzauber. Mit noch brennendem Schwert voran stieß sie wie ein weiblicher Racheengel in die Höhle vor. Sie rief noch die Formel der verharrenden Erde, um sich gegen magische und nichtmagische Erdbewegungen zu schützen. "Nein, laß es sein. Du findest den Tod, wenn du mich bekämpfst", brüllte Kartadschahans Stimme mit der von Hyneria im Duett in Anthelias Geist. Diese gab jedoch nichts darauf. Wo mußte sie das steinerne Herz des Besiegten und zum Bergdämon gewordenen hinlegen? Die Wände zitterten. Doch sie vermochten nicht, sich zu verformen. "Du wirst sterben, Frevlerin. Du wirst in meinem Schlund zermalen und zu Staub zerfallen. weg mit dem Stein!" krakehlte die reine Gedankenstimme des in seiner Höhle gebannten. "Du miststück Anthelia. Du magst der Strahlung widerstanden haben. Aber uns überlebst du nicht!" drang nun Hynerias Stimme lauter hervor. Anthelia, die in der linken Hand das brennende Schwert und in der Rechten den Zauberstab führte, suchte den Schacht auf, aus dem sie Walter Strout herausgeholt hatte. Ja, dort mußte sie hin. Sie fühlte es, weil das versteinerte Herz im Lederbeutel unvermittelt immer schwerer wurde. Dann tauchte sie in den Schacht ein. Sie spürte, daß ihr Bannzauber gegen magische Erdbewegungen stark belastet wurde. Wenn er nicht hielt, würde der Schacht sie töten. Doch sie landete und holte den Stein aus dem Beutel. Als er frei zu sehen war erklang ein urwelthafter Aufschrei in ihren Gedanken. Gleichzeitig tobte ein eiskalter Sturm um sie herum. Sie mußte sich dagegen abschotten, von der Woge der gequälten Gedanken und der Wellen der Angst überrollt zu werden. Das steinerne Herz in ihren Händen begann zu pulsieren, erst langsam, doch spürbar. Es glühte im sanften Rotton auf, wurde heller und dann wieder dunkler. "Der Fluch deines alten Feindes wird heute getilgt, Kartadschahan!" rief Anthelia. Sie schritt am Grunde des Schachtes entlang, bis das von ihr getragene Steinherz am hellsten glühte und dabei erst fast glühendheiß und dann eisigkalt wurde. Da wußte sie, wo sie es niederlegen mußte. Sie steckte es aber zunächst in den Lederbeutel zurück. Die wilden Angstschreie und Furchtwellen klangen ein wenig ab. Doch ein banges Wimmern und Seufzen blieb in Anthelias für fremde Gedanken empfänglichem Geist zurück. Sie holte die silberne Phiole hervor und entkorkte diese. Dann zog sie das steinerne Herz erneut hervor. "Euer Bund sei gelöst, durch Herz und Blut!" beschwor Anthelia und beträufelte den großen Stein mit Sheila Fenders Blut. Dabei sah sie sich vor, nicht zu viel zu verschütten. Denn sie wußte, daß sie ein wenig davon noch in der Halle der Gebannten brauchen würde. Ein lauter Aufschrei, diesmal nur von einer weiblichen Stimme, erschütterte Anthelias Bewußtsein. Doch sie kämpfte dagegen an und sah, wie das steinerne Herz das ihm dargebrachte Blut aufsaugte und dann mit vernehmlichem Wummern zu pochen begann. Anthelia nahm den Rhythmus des in ihren Händen zuckenden Steinherzens auf und sang dazu eine Litanei, mit der ein besiegelter Blutschwur gelöst werden konnte, wenn einer der Bundesgenossen tot war und der Überlebende sich von jedem Vermächtnis freimachen wollte. Als sie die Entbindungsformeln dreimal ausgesprochen hatte, ruckte das in ihren Händen pochende Steinherz so heftig, daß sie es fallen ließ. Es schlug auf den Boden auf. Ein wildes "Neeeeiiiiin!!!" wie aus dem Schlund eines Riesens erklang. Die Höhle glühte im blutroten Licht auf. Der Boden begann im Takt des steinernen Herzens zu beben. Eine blutrote Stichflamme schlug aus dem sich immer tiefer in den Boden hineinsenkenden Stein heraus. Sie formte für eine Sekunde den Körper Hyneria Swordgrinders nach, gerade einmal so groß wie ein zweijähriges Kind. Dann zersprühte die Flamme mit einem letzten Aufschrei Hynerias, der allerdings nicht schmerzvoll oder angstvoll klang, sondern höchst erfreut, als habe Anthelia ihr damit einen unerwarteten Gefallen erwiesen. Kartadschahans Gedankenstimme brüllte nur noch. Doch sie wurde immer leiser. Anthelia stieß sich vom Schachtboden ab und raste durch den Höhlengang zurück, in den Gang mit der grünen Wand hinein.

Die Wand glühte vor ihr. Anthelia träufelte sich etwas von Sheila Fenders Blut auf die linke Handfläche und klatschte diese gegen die Wand. Diese erzitterte. Dann flimmerte sie und verschwand völlig. Anthelia eilte in die Höhle der Gebannten. ein bedrohliches Knistern und Knirschen verriet ihr, daß sie nicht viel Zeit hatte. So wirkte sie vorsorglich noch einmal den Zauber gegen Erdbewegungen. Das unheilvolle Knirschen und Knistern verstummte. Doch das rhythmische Beben in der Höhle blieb. Anthelia trat erst an eine der gefangenen Mitschwestern heran und berührte sie mit der immer noch blutgetränkten Hand. Mit demZauberstab tippte sie sie an und sprach: "Per Sanguinem Inimicae tuae te absolvo!" Die grüne Kristallform erglühte, sprühte erst grüne und dann rote Funken, um dann mit lautem Fauchen zu einer grünen Dunstwolke zu werden, die in alle Richtungen davonwirbelte. Zum Vorschein kam eine lebendige Frau im blauen Umhang, Portia Weaver, eine der verschollenen Spinnenschwestern. Sie reckte sich und gähnte. Da war Anthelia aber schon bei der nächsten und wirkte den Zauber, wobei sie nun ein paar Tropfen des gestohlenen Blutes über sie ausschüttete. Die silberne Phiole hatte sich mal wieder als nützlich erwiesen. In ihr konnte frisches Blut in flüssiger Form erhalten werden. Erst wenn es vergossen wurde, setzte der übliche Gerinnungsvorgang ein. Wieder fauchte eine grüne Wolke davon und gab Melonia Bluetail frei. So ging es weiter, bis nach nur fünf Minuten alle zehn Verschollenen befreit waren und auch die vier gefangenenHöhlenforscher aus dem grünen Kristall herausgelöst waren. Ein leises Knistern verhieß, daß der Schutz vor Erdbewegungen wieder erlahmte. Da begann es auch schon zu knirschen. Anthelia befahl den zehn befreiten Hexen, sofort durch den geöffneten Gang hinauszulaufen und mit dem Muscapedes-Zauber den Schacht zum Höhleneingang hochzuklettern. Denn die zehn Befreiten trugen alle noch ihre Kleidung und ihre Zauberstäbe. Melonia fragte die ihr noch unbekannte Hexe, ob sie nicht disapparieren könnten. Anthelia erwiderte, daß dies wohl besser außerhalb der magischen Höhle getan werden sollte. Dann sagte sie noch: "Wer draußen vor dem Berg ist soll in das Hauptquartier der schwarzen Spinne. Ich werde euch dort aufsuchen!" Die zehn Befreiten sahen ihre Befreierin skeptisch an. Doch von der Decke rieselnde Steine zeigten ihnen, daß alle gerade unnötigen Fragen besser anderswo geklärt werden sollten. Die zehn Hexen rannten los. Anthelia verkleinerte die vier Höhlenkundler, die nicht wußten, wie ihnen geschehen war. Im eingeschrumpften Zustand verbarg sie die vier in jenem Lederbeutel, aus dem sie Kartadschahans versteinertes Herz genommen hatte. Dessen Schläge wurden nun immer lauter. Jeder Schlag brach kleine Gesteinsbrocken aus Decke und Wände. Es war klar, daß die Höhle nur deshalb noch stand, weil sie fünf Minuten lang dem Erdbewegungsbann unterworfen gewesen war. Anthelia sicherte, daß niemand in der Halle der Gebanten zurückgeblieben war. Dann wirkte sie ihren Freiflugzauber und jagte über die Köpfe ihrer befreiten Bundesschwestern hinweg durch den Gang, wobei sie die Decke mit kurzfristigen Verhärtungszaubern belegte, um den Einsturz noch länger hinauszuzögern. Da krachte es auch schon. Einer der anderen Gänge war soeben zusammengebrochen. Das trieb die anderen an, mit "Duro!" die Wände und den Boden zu behexen, so daß diese noch viel härter und unzerbrechlicher wurden. Das nun kanonendonnerlaute Pochen des steinernen Herzens peitschte die elf Hexen voran. Anthelia selbst fuhr im freien Flug zum Schacht hinaus, wobei sie die Wände noch einmal mit dem Härtungszauber bestrich. Vor dem Berg wartete sie auf die zehn Befreiten. Als diese endlich vollzählig waren schlug Anthelia vor, daß sie nun in die Daggers-Villa apparieren sollten. Da begriffen die zehn, daß die ihnen vom Aussehen her völlig unbekannte Hexe ihre höchste Schwester sein mußte. Warum sie nun anders aussah war im Moment zweitrangig. Jedenfalls wußten die zehn nun, woran sie waren. Sie verschwanden. Die Zeit in der kristallischen Einkerkerung hatte ihnen nichts von ihrem Können und Wissen genommen. Anthelia stand vor der Höhle und lauschte dem rhythmischen Donnern. Dann war die Belastung selbst für die gehärteten Steinwände zu groß. Krachend stürzten sie ein. Anthelia konnte noch in Deckung gehen, bevor eine regelrechte Garbe aus Gesteinstrümmern aus dem Berg herausschoß. Sie sah, wie der Eingang unter jedem neuen Donnern zusammenbrach, bis der ganze Hang zitternd und bebend in Bewegung geriet. Das genügte der Hexenlady, um zu wissen, daß Kartadschahans Maul sich nun für alle Zeiten schließen würde. Der Fluch des Höhlendämons war getilgt, seine Gefangenen entkommen.

Zurück in der Daggers-Villa berichtete Anthelia, was seit jener Zusammenkunft geschehen war, bei der Donata Archstone das Duell gegen Hyneria verloren hatte und warum sie nun so aussah wie sie aussah. Die Befreiten fragten nach dem ersten Erstaunen, was nun aus ihnen werden sollte, Immerhin sei ja doch einiges an Zeit vergangen.

"Ihr offenbart euch euren treuen Angehörigen, belegt sie dabei aber mit einem Verschwiegenheitszauber. So sollt ihr zunächst ohne Wissen des Zaubereiministeriums in euer Lebenzurückfinden. Wann ich es vermag, euch wieder ganz offen euer Leben leben zu lassen weiß ich nicht. Denn es gibt noch zu viele Aufgaben, die ich bewältigen muß, allen voran die mögliche Wiederkehr Hallittis, aber auch das Bündnis der Wergestaltigen, die jetzt finden könnten, Nocturnia zu beerben. Außerdem erscheint es mir wahrscheinlich, daß es noch weitere Hinterlassenschaften aus der Vorzeit gibt, nicht nur die Schlangenkrieger und das Schwert des Feuermeisters.

Zwar hatte Anthelia nun wieder zehn US-amerikanische Bundesschwestern. Dadurch, daß sie jedoch im Verborgenen bleiben mußten, konnten sie ihr nicht so helfen, wie sie es früher geschafft hatten. Was sie aber konnten war, ihre Angehörigen und die portraitierten Vorfahren einzusetzen, um für Anthelia zu erforschen, was die Wergestaltigen und die im Körper der Astronautin Doris Fuller wiedergekehrte Abgrundstochter tun mochten.

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Juan Mondego de Casillas betrieb einen lukrativen Schmuggelservice: Rauschgift, Waffen, Mädchen, es gab nichts, was seine kleine Fluggesellschaft Air Verde nicht von Kontinent zu Kontinent beförderte. Seit dem unverhofften Zusammenbruch des Parker-Konsortiums vor vier Jahren hatte der halbasiatischstämmige Juan Mondego de Casillas seine aus dreißig Propeller- und zehn zweistrahligen Düsenflugzeugen bestehende Flotte behutsam ausgebaut. Einige der Maschinen wurden sogar unter anderen Besitzern geführt. Als der hinter einem Schwarm von Strohleuten gut versteckte Chef der Air Verde am zehnten April den Anruf von Pablo Molinar aus Granada erhielt, dachte er zunächst an einen anstehenden Langzeiturlaubsflug. So nannte er es, wenn ein in Europa oder den vereinigten Staaten per Haftbefehl gesuchter Flüchtling eine neue Identität und einen neuen Aufenthaltsort kaufen wollte. Doch dann horchte Mondego de Casillas auf:

"Ich habe ein Päckchen bekommen, vom schwarzen Engel, Boss. Offenbar will er die Allegro-Kompanie übernehmen und braucht dafür wen, der auch über Flugzeuge verfügt."

"Der schwarze Engel? Vergiss es, Pablo. Wer sich auf den einläßt oder gar gegen ihn vorgeht geht hops. Würde mich nicht wundern, wenn der Molinos den Herzinfarkt verpaßt hätte", sagte Mondego de Casillas. Er war froh, daß das Gespräch über eine von seiner Firma installierten Relaiskette im Atlantik vermittelt wurde und nicht über die üblichen Tiefseekabel oder gar irgendwelche Satelliten lief. Zudem wurden die beiden Stimmen komplett digitalisiert und in nicht als Schallschwingungen auffallenden Datenpaketen übermittelt. Nur seine europäischen und US-amerikanischen Strohmänner besaßen ein entsprechendes Telefon.

"Ich habe wie gesagt ein Päckchen bekommen. Drin war eine Minidisk mit einem aufgesprochenen Text. Ich habe die Stimme durch unseren Stimmenerkenner laufen lassen. Keiner, den wir kennen. Jedenfalls ein Mann. Sagte was, daß es für "meine Fluggesellschaft" sicher interessant sei, Beziehungen nach Marokko und Algerien zu kriegen. Das das vom schwarzen Engel kommen soll liegt zum einen an der beigefügten Nippesfigur, die einen schwarzlackierten Weihnachtsengel darstellt. Außerdem verwendet der Absender Begriffe, die auf den schwarzen Engel hindeuten."

"Wie erwähnt, Pablo. Das wird eine Falle sein. Entweder ist es die Polizei, oder der schwarze Engel will uns feindlich übernehmen, um seine Mädchen weltweit transportieren zu können. Wenn zweites der Fall ist, dann hat er großen Ärger zu erwarten."

"Er sagte sowas, daß er Parkers Police nicht mehr bezahlen wollte und die Firma deshalb bankrott gehen mußte", erwiderte Molinar.

"Parkers Firma ist wegen denen, die hinter diesem Hurenkiller in den Staaten standen, abgewickelt worden", erwiderte Mondego de Casillas. Dann überlegte er, ob der, der sich in Spanien als schwarzer Engel bezeichnen ließ, nicht doch mit diesen Leuten zusammenarbeitete. Doch der schwarze Engel war im Rotlichtgeschäft tätig, wenngleich es hieß, daß er nur freiwillige Mitarbeiterinnnen beschäftigte und als eine Art Lebensversicherung für freischaffende Prostituierte eintrat.

"Ich denke, Boss, ich schicke dir das Päckchen mal zu. Keine Angst, ist kein Peilsender bei. Außerdem kann ich das in einem funkdichten Stahlkanister verschicken."

"Spiel mir die Botschaft vor!" verlangte Mondego de Casillas. Auf seiner goldbraunen Stirn glitzerten erste Schweißtropfen. Molinar bestätigte und schaltete den Minidisk-Abspieler auf die Leitung. Mondego de Casillas blickte auf die Sprechzeitanzeige seines Telefons. Das Gespräch wurde automatisch mitgeschnitten, damit er im Zweifelsfall immer was gegen seine Strohmänner in der Hand hatte, wenn diese meinten, auf eigene Rechnung arbeiten oder ihn hinhängen zu können. Er lauschte den zehn kurzen Sätzen einer tiefen, irgendwie müde klingenden Stimme. Er hatte sogar den Eindruck, daß der Sprecher im Schlaf spräche. Dann fragte er seinen Mittelsmann in Granada:

"Ist dir aufgefallen, daß der Sprecher im Tran ist oder vielleicht sogar unter Hypnose gestanden haben könnte?"

"Oder er war da gerade auf einem Trip", vermutete Molinar. Juan Mondego de Casillas hätte fast durchs Telefon gerufen, daß er sich von seinem Strohmann nicht verarschen lassen wollte. Dann sagte er aber:

"Auf jeden Fall einer, der nicht der schwarze Engel ist. Wir haben es also nach wie vor mit einem Typen oder einer Schlampe ohne Gesicht und Stimme zu tun. Bis wann sollst du antworten?"

"Bis zum einundzwanzigsten. Was soll ich sagen?"

"Du willst den schwarzen Engel persönlich treffen. Deinetwegen kann das an einem ihm genehmen Ort sein. Da du ja die kleine Fluglinie Mirlo Air betreibst, wird der schwarze Engel wohl nicht darauf kommen, daß das nur eine Tarnfirma ist. Der Typ oder die Schlampe weiß nur, daß du Flüge nach Nordafrika im Programm hast. Daß du auch mit befreundeten Fluglinien die Türkei und Afghanistan bedienst muß das Phantom nicht wissen. Merk dir das gut."

"Das sowieso. Ähm, Afghanistan: Stimmt das, daß das Safrankonsortium aus Mumbai da jetzt fest im Sattel sitzt, oder sind da immer noch die Blumenhändler auf dem Markt?"

"Mach dir keinen größeren Kopf, als ich ihn habe, Pablo! Bring nur das rüber, was ich dir gerade gesagt habe. Du willst den schwarzen Engel selbst treffen. Wenn du ihn getroffen hast, und sei es, daß er hinter einer geschwärzten Glaswand mit Stimmverzerrer sitzt, handel aus, daß er oder sie dich wegen Flugplänen antexten soll, wenn er oder sie zufrieden ist! Mehr ist von dir aus nicht nötig."

"Alles klar, Boss." Die Verbindung wurde getrennt. Wenn Mondego geahnt hätte, daß er gerade sein ganzes illegales Transportnetz ausgeliefert hatte, hätte er Pablo womöglich zur sofortigen Abreise aus Spanien aufgefordert.

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Pablo hatte schon von der Casa del Sol gehört. Es hatte verschiedene Versuche gegeben, das lukrative Bordell zu übernehmen. Alle Versuche waren gescheitert. Die Organisationen, die es versucht hatten, waren danach wie Seifenblasen im Sturmwind zerblasen worden. Entsprechend mulmig fühlte sich Pablo Molinar, als er am fünfzehnten April in die weitläufige, mit dicken Teppichen ausgelegte Eingangshalle eintrat. Unter dem Decknamen Luigi Longi war er vom Pförtner des Etablisements eingelassen worden. "Signore Longi, Ihre Verabredung wartet bereits auf Zimmer fünfzehn", sagte der Portier mit professionellem Lächeln. Der als scheinbarer Gast aus Italien auftretende Molinar bedankte sich und gab dem Pförtner eine goldene Kreditkarte. Angeblich hatte er die ganze Nacht gebucht. Doch laut Absprache mit dem schwarzen Engel würde er nach dem zeitlich offenen Gespräch durch das Hinterhaus hinausgeschleust. Der Pförtner führte die Karte in das Lesegerät ein und tippte die Abbuchungsdaten ein. Das sündige Vergnügen würde achtzigtausend Peseten kosten. Molinar dachte daran, daß ab nächstem Jahr die neue Gemeinschaftswährung gelten würde. Dann war es aus mit den schwindelerregend hohen Werten. Ob dadurch aber die Geschäfte besser liefen würde sich noch zeigen müssen.

Als Molinar, der durch geschicktes Haarfärben und tägliches Krafttraining zehn Jahre jünger aussah als er war, vor Zimmertür 15 im ersten Stock des Lasterhauses stand fragte er sich, ob er nicht doch besser zwei Jungs seines Werksschutzes mitgenommen hätte. Er klopfte an. "Komm rein, Luigi!" säuselte eine tiefe Frauenstimme hinter der Tür. Er öffnete und trat ein. Die Tür fiel beinahe geräuschlos zu. Pablo hatte bisher kein Bordellzimmer von innen gesehen, außer in irgendwelchen Fernsehsendungen. Deshalb blieb er erst einmal stehen und nahm die Eindrücke der verruchten Umgebung in sich auf. Leise, akustische Musik rieselte sanft aus hinter einem dünnen, erotische Motive zeigenden Wanndteppich verbauten Lautsprechern. An der Decke baumelte ein fünfstrahliger Deckenleuchter mit vergoldeten Metallteilen und scharlachrotem Schirm. Offenbar konnten die Birnen einzeln ein- und ausgeschaltet werden. Denn im Moment glühten nur zwei der fünf Leuchtkörper. Über dem zwei mal zwei Meter messenden Bett war ein Spiegel an der Decke angebracht, um den Besuchern bei ihren intimen Verränkungen zu helfen. Auf dem Bett saß eine Frau in textilarmer Unterwäsche. Sie hatte ihre nackten Beine verschränkt und das schwarzblaue Haar gleichmäßig links und Rechts über ihre Schultern gekämmt, daß es als zusätzlicher Blickschutz über ihren Brustkorb wallte. Die wasserblauen Augen der milchkaffeefarbenen Dame strahlten den Besucher einladend an. Molinar bewegte seinen Kopf mit der fast rahmenlosen Brille. Daß darin eine kleine, alle zehn Sekunden fotografierende Digitalkamera verbaut war wußte außer ihm nur der Boss in Mexiko-Stadt. Er betrachtete die ihm dargebotene Frau auf dem Bett für mindestens zwanzig Sekunden, genug Zeit, um sie zweimal vollständig abzulichten. Doch war sie der schwarze Engel? So wie sie da saß konnte sie auch zum gewöhnlichen Hauspersonal gehören und ...

"Willkommen in der Casa del Sol, Luigi. Es freut mich, daß du die Einladung angenommen hast."

"Entschuldigung, Señorita, aber ich ging eigentlich von einer geschäftlichen Verabredung aus", sagte Molinar. Die Frau auf dem Bett lächelte.

"Du bist vollkommen richtig. Ich bin deine geschäftliche Verabredung."

"Ach neh, Sie sollen der schwarze Engel sein?" fragte Molinar, jetzt den aufgesetzten italienischen Akzent vergessend.

"So war es verabredet", sagte die Fremde. "Nenn mich Loli." Molinar bekam einen Lachanfall. Eine einfache Dirne sollte jener unheimliche Herr der Huren von Sevilla und Granada sein? Dieses leichte Mädchen da konnte nie im Leben über die Möglichkeiten verfügen, ganze Banden auszulöschen, die in sein Territorium vorzudringen versuchten. Die Kleine verschaukelte ihn garantiert. Doch er nahm es mit Humor und antwortete: "Das du wie ein südlicher Engel aussiehst sehe ich. Ich kann mir auch denken, daß deine Organisation dich gerne vorschickt, um neue Kunden anzulachen. Gut, dann tun wir mal so, als seist du der schwarze Engel. Ich möchte gerne auf das Angebot zu sprechen kommen, daß deine Organisation mir gemacht hat."

"Gerne doch. Aber hier drinnen ist es doch viel zu heiß. Leg am besten alles ab, was zu unbequem ist!"

"Nichts für ungut, aber ich habe es nicht nötig, mich mit Professionellen einzulassen", sagte Molinar. Doch die Frau auf dem Bett lachte: "Wem willst du was vormachen? Ich weiß von mindestens drei Frauen, deren besondere Zuwendungen du schon in Anspruch genommen hast." Molinar erstarrte fast. Woher wußte die von den Geburtstagsdrillingen, die sein Chef ihm vor einem Jahr in Acapulco verehrt hatte? Dann sah er ihre Augen. Sie blickten ihn einladend, ja auffordernd an. Etwas im Blick der anderen benebelte ihn. Sofort fiel ihm ein, daß der Sprecher der Minidiskaufnahme vielleicht unter Hypnose gestanden hatte. Vielleicht hatte dieses Luder da auf dem Bett daher die Macht, eine ganze Organisation zu leiten. Er versuchte, sich aus dem immer tiefer in seinen Verstand eingrabenden Blick loszureißen. Es gelang ihm sogar. Er sagte: "Netter Versuch, Mädchen! Aber ich falle nicht auf Kulleraugen rein." Die Frau auf dem Bett grinste nur wie ein kleines Mädchen, daß etwas lustiges gehört hat und wiegte den Kopf. Ihre Haare wehten dabei zur Seite. Eine sehr sanfte Bewegung ihrer Schultern ließ es nach hinten auf den Rücken fallen. Zeitgleich streifte sie die dünnen Träger ihres hauchdünnen Büstenhalters ab. Molinar lachte. Er wollte die Darbietung als plumpe Anmache abtun, als sein Blick wieder von den Augen der anderen eingefangen wurde. Er kniff die Augen zu. Er wollte sich garantiert nicht von einer halbnackten Nutte hypnotisieren lassen. Außerdem kam zu der Vorstellung, daß dieses Geschöpf da eine gewisse Begabung haben mochte, auch das Unbehagen, daß sie mehr über ihn wußte, als er zulassen durfte. Wenn es wirklich der schwarze Engel war, hatte er sich ihm ausgeliefert. Womöglich war es besser, den Raum zu verlassen und die Verabredung als unbefriedigend abzusagen. "Seh ich so häßlich aus, daß du vor Schreck die Augen zukneifst", lachte die Fremde überlegen. Molinar riß die Augen wieder auf, aber nur, um sich der Tür zuzuwenden. Er sagte: "Meine Zeit ist zu kostbar, als sie mit einem leichten Mädchen zu verplempern. Das Angebot ist zu lächerlich, um es weiter zu besprechen." Er ging zur Tür und versuchte, den Türknauf zu drehen. Doch der rührte sich nicht. Er rüttelte an der Tür. Sie saß fest wie vernagelt. Da wußte er, daß er gerade in der Falle steckte, und der Speck dieser Falle war dieses verruchte Frauenzimmer auf dem Bett. Auf dem Bett? Sie saß nicht mehr auf dem Bett. Nun ganz unbekleidet schritt sie langsam mit sanft schwingenden Hüften auf ihn zu. Er überlegte, ob er um Hilfe rufen sollte. Doch mit einer nackten Hure wurde er auch so fertig. Er ging in Karategrundstellung, bereit, dem nackten Geschöpf da mit einem Handkantenschlag die Lichter auszublasen. "Du kleiner kurzlebiger Handlanger willst mich hauen?" lachte Loli und bot ihm ihren freien, schwindelerregend üppig gerundeten Oberkörper als Ziel an. Er ließ die Handkante vorschnellen, um sie der Frau an die Stirn zu klatschen. Doch diese bog sich so flink zur Seite, daß er den Schlag nicht mehr korrigieren konnte und ein Loch in die Luft drosch. Er versuchte sofort mit der anderen Hand, nachzusetzen. Doch dieses Biest blockte den Schlag mit der Unnachgiebigkeit eines Stahlträgers. Dann bekam sie seinen Arm zu fassen. Er wollte noch einen Tritt landen. Doch als sein rechter Fuß hochflog riß sie Molinar mit einem Ruck herum. Der Schwung des Tritts und die Schleuderbewegung warfen Molinar zu Boden. Sein wuchtiger Karatetritt ging ins Leere. Zwar löste sich dabei der Griff der Anderen. Doch ihre dadurch wieder freiwerdende Hand bekam ihn am Hals zu fassen. Wie mit einer Stahlzange packte sie zu und riß Molinar wieder in die Senkrechte hoch. Er meinte schon, gleich wieder angreifen zu können, als er von zwei schlanken Armen um die Hüften gepackt wurde und wie von einem professionellen Judowurf quer durch das Sündenzimmer geschleudert wurde. Er rollte sich auf dem roten Vorlegeteppich ab, um wieder auf die Füße zu kommen. Doch als er fast wieder senkrecht stand sah er genau in die wasserblauen Augen seiner Gegnerin. Diesmal setzte die Unbekannte ihre ganze Kraft ein. Sein letzter Gedanke, bevor seine Willenskraft erlosch, war, daß sie bisher mit ihm gespielt hatte und jetzt ernstmachte. Wie im Traum bekam er mit, wie die andere ein leises Lied sang und ihn damit mehr und mehr berauschte. Er fühlte seine Hände wie Ferngesteuert über seine Kleidung gleiten und erst die Jacke, dann das Hemd und dann das Unterhemd abstreifen. Wie ein Balletttänzer in Zeitlupe hob er erst das rechte und dann das linke Bein, um die Schuhe und Strümpfe loszuwerden. Er stieg aus Hose und Unterhose und stand seiner Gegnerin nun ebenso naturbelassen gegenüber wie sie ihm. Doch damit war das verhängnisvolle Zusammentreffen nicht zu Ende. Was nun folgte war ein Rausch aus Leidenschaft und Ohnmacht, Begierde und Unterworfenheit. "Na, bin ich wirklich ein so leichtes Mädchen?" hörte er sie säuseln, als sie ihn zum zweiten Mal in lustvolle Wallungen getrieben hatte. Er hörte sich wie im Halbschlaf antworten: "Für mich warst du nicht zu schwer, Loli." "Das kann ich nur erwidern", entgegnete Loli.

Während der nächsten Stunden hielt sie Molinar mit Beinen und Blick bewegungslos, während sie ihm Fragen stellte. Er hörte sich antworten und sah dabei auch Bilder, Bilder von Mondego de Casillas, von geheimen Akten und hörte Sätze aus ganz geheimen Absprachen. Er wußte, daß er längst nicht alles von Mondego de Casillas wußte. Doch was er wußte reichte Loli aus, um sich zu freuen. Als sie ihn vollständig verhört hatte gewährte sie ihm noch einmal eine leidenschaftliche Vereinigung. Er verlor dabei die Besinnung. Als er wieder aufwachte gehörte ihm sein Körper nicht mehr. Er war nur noch eine eigenständig handelnde Hülle im Auftrag des schwarzen Engels.

Am nächsten Morgen durfte Molinar die Casa del Sol verlassen und in sein kleines Vorstadthaus fahren. Im Abhörsicheren Arbeitszimmer griff er zum Überseetelefon und rief seinen wahren Chef an.

"Boss, die haben versucht, mich aufs Kreuz zu legen. Da war erst so eine halbnackte Nutte, die mich abgelenkt hat. Dann sind drei Typen über mich hergefallen, die hatten Spritzen dabei. Ich habe es geschafft, einem von denen die Spritze wegzunehmen und sie ihm und dann noch einem zweiten reinzujagen. Die Nutte wollte mich dann mit Kampfgas umhauen. Da habe ich der die Handkante verpaßt. Dabei muß ich wohl zu hart zugeschlagen haben. Ich habe es in ihrem Genick knacken gehört. Die ist umgefallen. Konnte mich erst nicht drum kümmern. Da war ja noch der dritte. Der hat versucht, mir seine Spritze in den Arm zu rammen. Ich trat sie ihm weg und setzte ihm die Kanyle von seinem Kumpel. Der und die beiden anderen sind ohnmächtig umgefallen. Die Hure war tot. Ich konnte gerade so noch abhauen und bis zu mir. Boss, ich fürchte, die setzen mich noch heute auf die Abschußliste."

"Dann setz dich mit dem Flieger ab nach Quito. Ruf mich mit dem Codesatz an, wenn du da gelandet bist. Wir treffen uns dann im Büro und planen neu!" stieß Mondego de Casillas aus. Molinar bestätigte und legte auf. Dann klaubte er alle Disketten und CDs zusammen, die er im Geheimtresor aufbewahrte. Danach schloß er die sechs gut versteckten Semtexladungen an die Zündzeitschaltuhr an, die er auf den achtzehnten April 2001 23.44 Uhr einstellte. Er verließ das Haus, um zum Flughafen zu fahren, um mit der firmeneigenen Gulfstream nach Ecuador aufzubrechen. Er dachte daran, daß er seinem Boss drei Sätze durchs Telefon sagen konnte, einen für ein erbetenes Treffen, einen zur Bestätigung, ein befohlenes Treffen wahrzunehmen und einen, wenn er verfolgt wurde oder gefangen war.

Nach fünf Stunden Vorbereitungszeit und Absegnung seines Flugplanes startete Molinar, der selbst steuerte. Damit brachte er die Maschine an einen Ort, von dem er bald wen anderen abholen sollte.

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Don Juan Mondego de Casillas war mit fünf Mann Schutztruppe und seinem eigenen Privatjet von Mexiko-Stadt nach Quito geflogen. Dankbare Hände hatten dafür gesorgt, daß es von seinem Flug keine Aufzeichnungen gab. In dem kleinen Penthaus auf dem Dach des Nobelhotels Real, dessen Mitarbeiter alle bei Casillas in Lohn und Brot standen, erwartete er den Anruf seines Strohmannes aus Granada. Über das Internet hatte er erfahren, daß es vor sieben Stunden eine Explosion gegeben hatte und die Polizei gerade nach dem Grund suchte. Da läutete das Telefon. Casillas nahm ab und meldete sich mit seiner Tarnidentität "Gonzales, bitte sprechen!"

"Hier ist Paco. Der Condor steigt hoch in die Luft", erklang eine Männerstimme.

"Dann kann das Fest beginnen", antwortete Mondego de Casillas. "Die Flötenspieler sind schon unterwegs", sagte die andere Männerstimme. "Ich freue mich auf die Musik", erwiderte Mondego de Casillas. Dann legte er auf. Die Codesätze seines Strohmannes Molinar verrieten, daß er nicht verfolgt wurde und auch nicht in Gefangenschaft war. Denn dann hätte er die Ankunft einer Salsa-Truppe erwähnt und gesagt, daß der Tanzabend wie geplant stattfinden würde.

Eine Stunde später traf Mondego de Casillas im Untergeschoss eines ehemaligen Kolonialherrenhauses ein, daß er zu einem abhörsicheren Büro und Bunker gemacht hatte. Drei Leibwächter bezogen Posten an der servogesteuerten Stahltür. Ein Mann durchsuchte das Büro nach Wanzen und Bomben. Erst als der vermeldete, daß keinerlei Fallen und Horchgeräte vorhanden waren, betrat Casillas das Büro. Der fünfte Leibwächter ging hinter der Badezimmertür in Stellung, die Hand an der 44er Magnum. Dann begann das Warten. Es dauerte. der festgelegte Zeitpunkt kam und ging. Fünf weitere Minuten verstrichen. Das gefiel Don Juan nicht. Seine Leute waren wider alle Vorurteile über südamerikanische Leute zur Pünktlichkeit angehalten. Wenn sie sich verspäteten gab es Ärger. Denn Casillas wußte, daß er sich nicht zu lange außerhalb seiner hermetisch abgeriegelten Privaträume aufhalten durfte. Wieder verwehte eine Minute. Don Juan wollte gerade seinen Türsteher losschicken, Molinar eine SMS von außerhalb des Bunkers zu schicken, da sah er den dunklen Rauch, oder war es schwarzer Dampf? Er quoll unter der Tür hindurch und breitete sich zu einer wabernden Walze aus lichtschluckendem Dunst aus. Casillas erkannte die ihm gestellte Falle, ohne zu wissen, wie genau sie funktionierte. "Durch die Hintertür raus!" zischte er seinem Leibwächter an der Badezimmertür zu. Dieser rannte schon auf eine Wand zu, die durch Handauflegen zur Seite glitt und den Durchgang zu einem batteriegetriebenen Aufzug freigab. Doch da erfaßte der dunkle Brodem die Beine von Casillas und seinem Vertrauten. Er meinte, in eiskalten Beton geraten zu sein. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Sein Leibwächter kam auch nicht von der Stelle. Doch ihm widerfuhr noch schlimmeres. Er geriet vollständig in den dunklen Dunst hinein und erstarrte zu einem Eisblock. Das hielt jedoch nur fünf Sekunden vor. Dann zerbarst der schockgefrorene Wächter lautlos und löste sich restlos auf. Casillas, bis zu den Oberschenkeln im dunklen Nebel stehend, versuchte, seine Beine freizubekommen. Doch sie rührten sich nicht mehr. Dann, ohne hörbaren oder sichtbaren Auslöser, zog sich der düstere Dunst zurück, verschwand völlig lautlos durch die Türspalte. Casillas fühlte ein Klopfen und Kribbeln in den Beinen. Er kämpfte um sein Gleichgewicht. Langsam schaffte er es, die wieder zum Leben erwachenden Gliedmaßen zu bewegen. Allerdings fragte er sich, warum das mörderische Gas ihn nicht erledigt hatte. Die Antwort darauf trat in Gestalt einer schlanken Frau mit langem dunklem Haar direkt aus dem Nichts an seine Seite.

"Danke, daß ich die Gelegenheit erhalten durfte, den dunklen Nebel präzise zu steuern, Don Juan", säuselte die Fremde mit europäischem Akzent. Don Juan hob die Fäuste, zielte auf den Kopf der Unbekannten. Da traf ihn ihr Blick. Sofort fühlte er, wie seine Arme erlahmten. Er konnte nicht mehr zuschlagen. Er wollte nicht mehr zuschlagen. "Ich will nur deine ganze Fluglinie. Wenn du schön lieb zu mir bist und mir alles gibst, was ich will bin ich auch ganz doll lieb zu dir und lasse dich womöglich sogar noch weiterleben wie deinen netten Handlanger Molinar", säuselte die Unbekannte. Dann stellte sie Don Juan Fragen zu seinem illegalen Lufttransportunternehmen, daß nach außen Hin eine ganz harmlose Chartergesellschaft war. Das unter magischer Beeinflussung ablaufende Verhör dauerte mindestens eine Stunde. Dann unterwarf sich Itoluhila auch den Körper Don Juans. Als er wieder aufwachte war er alleine im Büro und glaubte, ohne seine Leibwächter dort hingegangen zu sein. Er nahm das Telefon und rief beim Flughafen an, daß er für den fünfundzwanzigsten April einen Flug von Quito über Madrid und Athen nach Bagdad anmelden wollte. Näheres sollte sein hauseigener Privatjetpilot mit dem Flughafen abstecken. Danach verließ er das Büro und fuhr in sein privates Quartier auf dem Hotel Real. In der Nacht träumte er davon, Kolonialherr von Quito zu sein und eine halbindianische Frau zu lieben, die von ihm wollte, daß er ihren Stamm vor den Goldsuchern schützte. Davon sichtlich in Wallung gebracht erwachte er keuchend und fragte sich, wann er das letzte mal einen derartig leidenschaftlichen Traum durchlebt hatte.

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Das dunkle Eis hatte sich über den ganzen Baum ausgebreitet. Er bildete eine einzige Eisskulptur, die die feuchtheiße Tropenluft verhöhnte, die ihn umwehte. Das dunkle Eis wirkte aber auch auf alle Tiere der Umgebung. Je mehr es davon gab, desto weniger Tiere hielten es im Umkreis des Baumes aus. Nach nur zwei Monaten hatte sich alles tierische Leben bis auf zwei Kilometer von dem vereisten Baum entfernt. Eingeschlossen vom dunklen Eis und dem davon gefrorenen Regenwasser steckte die von ihrer eigenen Schwester gebannte Hallitti im Körper der Astronautin Doris Fuller. Ihre Denkprozesse waren auf ein Tausendstel verlangsamt. So bekam sie nicht mit, wie lange sie gefangen war. Dann, erst wie ein kurzes, schrilles Zwitschern, erklang etwas in Hallittis Geist. Aus dem Zwitschern wurde ein hohes Schrillen. Dann erklang in Hallittis Geist der Ruf: "Sei befreit und rege dich!" Dieser Befehl wirkte nicht nur auf Hallittis Geist, sondern war gleichermaßen eine Aufforderung an das sie umgebende Eis. Laut krachend barst es. Die zu Eis erstarrten Blätter und Äste brachen aus der Baumkrone ab und fielen nieder. Klirrend zersprangen sie auf dem Boden. Dann brach der Eismantel um den tiefgefrorenen Baum völlig auf. Tischtuchgroße Eisplatten klirrten zu Boden. Dann stand Hallitti von einer dunklen Nebelwolke umhüllt da. Wie unter starken Stromschlägen zuckte ihr Körper zusammen. Dann verflog der dunkle Nebel und wurde eins mit der feuchten Urwaldluft. Hallitti erwachte wieder. "Du Miststück von Schwester!" schrie sie in Gedanken.

"Na, sprichst du so von deiner zukünftigen Mutter?" erklang eine verärgerte Frauenstimme in ihrem Geist. Hallitti knurrte hörbar. Dann fragte sie, was das mit dem Eis sollte. "Es gab dir und mir die Zeit, die nötig war, um mich auf dich vorzubereiten. Weil du deinen mit unweckbarer Magie angereicherten Abhängigen nicht töten konntest, mußte ich einen neuen Weg finden. Ich habe ihn gefunden. Ich hätte dich gerne dort abgeholt, wo du jetzt bist. Aber meine Vorbereitungen verlangten, daß ich in meiner Höhle bleibe. Aber ich habe für dich etwas vorbereitet. Gehe zum Fluß, der vier Tausendschritte von dem Baum entfernt ist. Dort wird in zwei Stunden ein Boot anlegen und dich aufnehmen. Der Mann im Boot steht unter meinem Willen. Versuch erst gar nicht, ihn dir zu unterwerfen! Ich merke das. Dann jage ich das Boot mit einem Fernzünder in die Luft und lasse deinen freigesprengten Geist als Urwaldgespenst zurück."

"Wieso so umständlich, Schwester?" wollte Hallitti wissen, die nichts sehnlicher wünschte, als den ihr übergestreiften Körper loszuwerden.

"Weil deine letzten Aktionen die ganze Clique der Magier aufgescheucht haben. Die Hexen, die dich damals entkörpert haben lauern nur darauf, dich noch einmal zu entkörpern. Sie wissen wohl, daß du als Geisterwesen überlebt hast. Ich kann mir sogar vorstellen, daß sie es wagen, diese Seelenschlingsteine aus Ägypten gegen dich einzusetzen. Deshalb darf deine freiwillige Entkörperung nur da stattfinden, wo du sofort zu mir in meinen Schoß überspringen kannst. Solange bist du angreifbar, wenn du die ererbten Kräfte benutzt."

"Welche Kräfte?" gedankenhöhnte Hallitti. Doch die Sache mit den Seelenschlingern hatte ihr sichtlich zugesetzt. Sie kannte diese in großen Steinen gebannten Geisterwesen, die sich von körperlosen Seelen ernährten und daher lebendige, denkende Wesen dazu treiben konnten, einander umzubringen, um neue Seelen freizusetzen. Das konnte dem, der solch ein verfluchtes Steinmonstrum fand genauso gefährlich werden wie einem bis dahin unangreifbar scheinenden Gespenst. Insofern hätte diese vermaledeite Hexe tatsächlich etwas, um Hallitti endgültig aus der Welt zu schaffen.

"Kennst du mittlerweile diese Hexe?" Fragte Hallitti. Itoluhila antwortete darauf:

"Die Anführerin dieser Gruppe ist wohl schon tot. Sie hat sich an einem verseuchten Vampir verhoben. Aber ihre Bundesschwestern leben noch."

"Wer war sie?" wollte Hallitti wissen.

"Eine Wiederverkörperung von Anthelia, Sardonias kleine, eifrige Nichte."

"Das erzählst du mir bitte, wenn ich dir glücklich entschlüpft bin", erwiderte Hallitti. Itoluhila bejahte es. Dann wiederholte sie ihre Anweisung. Hallitti ging darauf ein.

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Das Boot brachte die im Körper Doris Fullers feststeckende Hallitti über den Amazonas zu einer kleinen Ansiedlung, die sich dadurch auszeichnete, daß sie einen Flugplatz auf einer Waldlichtung besaß. Mit einer viermotorigen Propellermaschine ging es im Direktflug nach Quito in Ecuador. Dort, so die geistig übermittelten Angaben Itoluhilas, sollte sie den Privatjet eines Señor Mondego de Casillas suchen und sich mit dem Losungswort: "Morgenlandprinzessin" als erwartete Passagierin zu erkennen geben. Mit hilfe ihres eigenen Gedankenspürsinns fand sie den Besitzer des Privatflugzeuges in der Flughafenbar, wo dieser sich an einem großen, alkoholfreien Cocktail festhielt. Als der Gesuchte die körperlich gerade über siebzig Jahre alte Frau sah huschte ein amüsierter Gedanke durch seinen Kopf: "Die Oma ist wohl die Mutter eines großen Bosses." Hallitti alias Doris Fuller vermied es, den Südamerikaner auf ihre wahre Natur hinzuweisen. Denn sie fühlte die sanften, unverkennbaren Grundschwingungen ihrer Schwester Itoluhila. Der Mann da vor ihr gehörte ihr. So blieb sie beim Decknamen "Morgenlandprinzessin" und flüsterte mit ihm über den Flug.

"In vier Stunden von jetzt an sind wir schon in der Luft, Señora", raunte Casillas. Er dachte an seine Anweisungen. Er durfte der Passagierin nichts böses sagen oder antun. Außerdem lief sie in Sachen rum, die für eine über siebzig Jahre alte Frau zu jugendlich ausfielen. Doch seine heimliche Herrin hatte ihm klare Anweisungen ins Unterbewußtsein gepflanzt. So verzichtete er auf direkte Fragen und abschätzige Bemerkungen.

Als Don Juan Mondego de Casillas mit seiner Passagierin in den Bereich für Privat- und Geschäftsflüge wechselte, sahen ihnen mehrere Leute nach. Die meisten dachten daran, daß der halbasiatische Mann im feinen Anzug seine eigene Mutter oder Tante begleitete. Hallitti fühlte sich in diesem gerade halb vergreisten Körper sichtlich unwohl. Ihre vorher flachsblonden Haare glänzten silbergrau, und mit ihren angejahrten Beinen und Brüsten würde sie ohne Einsatz ihres hypnotischen Blickes wohl kaum noch einen Mann betören. Doch das alles war nun bald überstanden. Denn ihre Schwester Itoluhila mußte sie einfach zu sich nehmen, so das Erbe ihrer Mutter Lahilliota.

Der zweistrahlige Privatjet war bereits für die Strecke Quito - Madrid vollgetankt. Außer dem Eigner war noch Pancho Ortíz, der Pilot mit dabei. Die Kabine des Jets mutete wie ein gemütliches Wohn-Schlafzimmer an. Ein dicker Wollteppich bedeckte den Boden. Neben vier bequemen Ledersitzen mit Ausklapptischen gab es noch eine Bar und einen Großbildfernseher und einen DVD-Abspieler. Der interessierte Doris Fuller jedoch nicht. Sie sah nur den Piloten der Maschine, einen jungen, schwarzhaarigen Mestizen, der Kraft und Willensstärke verströmte. IN seiner unsichtbaren Lebensaura schwang nichts von Itoluhila mit. Also gehörte der Pilot im Moment nur sich selbst. Hinter einem Vorhang, in einer fensterlosen Abteilung der Kabine, war ein französisches Bett am Boden verschraubt. Es war frisch bezogen und mit mindestens sechs weichen Kissen geschmückt. Offenbar feierte der Besitzer dieser Flugmaschine während seiner Reisen die Wonnen der Liebe, dachte Hallitti und fühlte jene Mischung aus Hunger und Begierde, die ihrem früheren Körper die Unsterblichkeit verheißen hatte und sie in diesem Körper regelmäßig wiederverjüngt hatte. Ortíz bemannte das Cockpit. Er mußte die Maschine starten und auf Kurs bringen. Etwas wehmütig sah Hallitti ihm nach. Vielleicht sollte sie ihre zukünftige Mutter darum bitten, ihn ihr zu gönnen, bevor sie diesen Körper abstreifte und sich ihr mehr übel als wohl anvertraute.

Der Learjet rollte los. Nach nur fünf Minuten Fahrt über das Rollfeld bog er auf die ihm zugeteilte Startbahn ab und beschleunigte. Die beiden Düsen brüllten förmlich auf, als das kleine Flugzeug über den Beton preschte. Dann hob es ab. Hallitti fühlte die leichte Vibration, als das Fahrwerk eingezogen wurde. Der Flughafen von Quito fiel unter den drei Reisenden zurück. "Bin unterwegs!" versuchte Hallitti ihre Schwester geistig anzurufen. Doch sie bekam keinen Kontakt. Dieser verfluchte Körper unterdrückte alle ihre früheren Kräfte. Gerne hätte sie auch mit Ilithula Kontakt aufgenommen, um sich zu erkundigen, wie es ihr erging. Doch durch die ihr in den vereinigten Staaten regelrecht über den Weg gelaufenen Abhängigen Itoluhilas war sie nun zu sehr auf diese festgelegt. Ein wenig zweifelte sie daran, daß Itoluhila sie allen Ernstes als ihre eigene Tochter wiedergebären würde. Andererseits konnte sie sie nun nicht mehr von sich fernhalten. Denn durch das Aussaugen der Lebenskraft dieses Claude Andrews hatte sie sich noch mehr mit der Tochter des schwarzen Wassers verbunden. Selbst wenn sie hier und jetzt getötet würde, so würde ihr freiwerdender Geist direkt in Itoluhilas Leib eindringen und dort die jungfräuliche Empfängnis bewirken, aus der heraus sie im neuen Körper auf die Welt zurückkehrte. Da Itoluhila das wußte, würde sie nichts unternehmen, was Hallitti vorzeitig töten konnte. So nahm sie das Angebot an, sich nach Erreichen der Reiseflughöhe in das Bett zu legen. Mondego de Casillas zog sogar für sie den Vorhang zu, aber auch nur, weil er "das Elend" nicht mit ansehen wollte, wenn sich die alte Frau entkleidete. Sie ärgerte sich auch darüber, daß sie mit diesem Körper keine Beute mehr machen konnte, sofern sie nicht nach der Landung am Zielort Bagdad den Piloten einverleiben durfte. Sie streckte sich auf dem breiten Bett hin und verscheuchte die Gedanken daran, wie viele Stunden der körperlichen Leidenschaft es bereits miterlebt haben mochte. Auch die Idee, daß Itoluhila mit diesem Halbasiaten auf diesem Bett die Bindung vollzogen hatte scheuchte sie von sich. Sie schloß die Augen und entspannte sich. Richtig tief schlafen konnte sie eh nicht. Aber um die lästige Reisezeit so angenehm wie möglich zu überstehen war es schon gut genug.

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Mario Lopez alias Claude Andrews wachte in einem kleinen Zimmer auf. Er wußte nicht, wo er war. Doch das war ihm jetzt egal. Wichtig war, daß er nicht mehr verletzt war und daß seine Gebieterin ihn weit genug von den Neonazis fortgeschafft hatte. Er wußte allerdings nicht, daß er monatelang in Itoluhilas Höhle geschlafen hatte und jetzt bereits der sechsundzwanzigste April des Jahres 2001 angebrochen war. Das einzige, was er wußte war, daß er wohl ein neues Leben anfangen sollte.

Er benutzte das kleine Badezimmer nebenan und zog den ordentlich über einem breiten Sessel ausgebreiteten Anzug an. Als er seine Armbanduhr umlegte und aus dem Fenster blickte, sah er, daß die angezeigte Zeit mit der natürlichen Tageszeit übereinstimmen mochte. Es war nach seiner Uhr 08.00 Uhr.

Als er das Zimmer verließ stellte er fest, daß er sich in einer kleinen Drei-Zimmer-Pension aufhielt. Sowas kannte er aus seinen Jugend- und Studententagen, als er während der Ferien quer durchs Land gereist war. Als er den Frühstücksraum betrat erkannte er, daß er der einzige Gast war. Die künstlich erblondete Wirtin erwartete ihn mit einem berufsmäßigen Lächeln. Sie hatte einen kleinen Tisch gedeckt. Mario Lopez wagte nicht nachzufragen, wann er sich hier eingemietet hatte und wie lange er hier wohnen würde. Das würde ihm seine Geliebte sicher noch mitteilen, bevor er dieses kleine Haus verließ. Als die Pensionswirtin ihn auf Englisch mit Yorkshire-Dialekt ansprach wußte er, daß Loli ihn mal eben in seine alte Heimat zurückversetzt hatte. "Na, junger Mann, haben Sie sich von der Feier erholt?" wollte die Wirtin wissen. Mario Lopez alias Claude Andrews überlegte, wovon die Frau sprach. Dann sagte er: "Ja, ich konnte mich gut erholen, Madam. Danke der Nachfrage."

"Oh, aus London sind Sie, Sir. Die etwas anrüchig gekleidete Person, die Sie hier abgeliefert und für zwei Übernachtungen mit Frühstück bezahlt hat meinte sowas, daß Sie womöglich erst gegen zehn aufwachen, weil Sie gerade von einer längeren Südamerikareise zurückgekehrt seien. Gut, ich will nicht wissen, was Sie mit dieser, ähm, Frau, zu schaffen hatten. Ich habe ihr nur gesagt, daß meine Pension kein Stundenhotel sei. Sie hat es dann gewagt, mich auszulachen und gemeint, daß Sie, Sir, ähm, für derlei Tätigkeiten wohl auch gerade nicht in Stimmung seien und erwähnte sowas wie eine Betriebsfeier."

"War das eine Frau mit schwarzblauen Haaren und milchkaffeebrauner Haut?" wollte der Mann wissen, der sich jetzt wieder eher als Claude Andrews empfand. Die Wirtin nickte bestätigend. "Dann war das die Sekretärin von meinem Chef. Die hatte wohl den Auftrag, mich und meine Kollegen sicher unterzubringen. War doch ein wenig viel gestern abend", erwiderte er dann und faßte sich kurz an den Kopf, obwohl ihm dort nichts weh tat. Die Pensionswirtin grinste verhalten, bevor ihr einfiel, besser nicht zu deutlich zu zeigen, was sie über ihre Gäste oder deren Begleiter dachte. Er erfuhr dann noch, daß sie nach dem Bezahlen für zwei Nächte auch gleich wieder mit dem Taxi weitergefahren sei, daß vor der Tür gestanden habe. Der einzige Pensionsgast nickte erneut. Dann genoß er sein Frühstück.

Um präzise 09.14 Uhr verließ er die Pension "Meridith" und bestellte mit dem Mobiltelefon, daß ihm aus der Mario-Lopez-Existenz verblieben war ein Taxi. Immerhin wußte er jetzt, daß er in Leeds in der Grafschaft Yorkshire aufgewacht war. Als das Taxi ankam hörte er Lolis Gedankenstimme im Kopf: "Sag dem Fahrer, er soll dich zum Dorf Upper Flagley hinfahren und dich dort am östlichen Dorfeingang absetzen!" Der Mann, der sich gerade als Claude Andrews empfand, brauchte den Erhalt der Botschaft nicht zu bestätigen. Durch den Ring an der linken Hand stand er ja mit seiner Herrin in Verbindung.

"Oh, ist nich' g'rad ums Eck, Sir. Hamse genuch bares, weil mein Boss nich' auf Karte fahren läßt?" wollte der Fahrer wissen. Der Fahrgast präsentierte seine Schlangenlederbrieftasche und fand fünf 100-Pfund-Noten, acht Fünfziger und sechs Zwanziger. So fragte er den Fahrer, ob der wisse, wie teuer das denn würde. "Na, mit hundertfünfzig Pfund müssense rechnen, Sir", grummelte der Fahrer. "Okay, zweihundert, wenn Sie mich in zwei Dritteln der üblichen Zeit hinbringen, Mister", erwiderte der Fahrgast. Der Taxifahrer nickte heftig und fuhr an.

Der Fahrgast sah im Rückspiegel sein Gesicht. Das war immer noch das von Mario Lopez. Doch wer den in England nicht kannte würde auch nicht vermuten, daß er eigentlich Claude Andrews hieß. Er hoffte nur, daß er nicht schon in irgendwelchen Polizeidateien verzeichnet war. Am Ende kassierte ihn Scotland Yard noch wegen Mitgliedschaft in einer internationalen Verbrecherbande. Doch davor brauchte er nun wirklich keine Angst zu haben.

Die Fahrt nach Upper Flagley verlief mit belanglosem Geplauder über das Wetter, über die Fußballsaison und über Demonstrationen bei Sallerfield, weil ja heute der fünfzehnteJahrestag der Atomkatastrophe von Tschernobyl sei und das alle Atomkraftgegner gerne zum Anlaß nahmen, die Abschaltung von Kernkraftwerken und kerntechnischen Anlagen zu fordern. Claude Andrews hatte einmal als Anwalt zwei junge Frauen verteidigen müssen, die sich mit freien Oberkörpern an den Metallzaun eines Kernkraftwerkes angekettet hatten und vor den Beinen Transparente getragen hatten, auf denen was von nackten Tatsachen über die Risiken und Kosten der Kernenergie gefordert wurden. Immerhin hatte er es hinbekommen, die Anklagepunkte auf Erregung öffentlichen Ärgernisses zu beschränken. Die Betreiber wollten die beiden gerne wegen versuchter Sabotage und geschäftsschädigendem Verhalten zur Kasse bitten. Wenn er daran dachte, daß das alles in einem anderen Leben stattgefunden hatte. Suchten sie Claude Andrews in England noch immer? Was hatten diese verdammten Feinde Lolis mit seiner Frau Alison gemacht? Am Ende hatten sie sie in eine Irrenanstalt gesteckt. Allein der Gedanke an so ein Elendsquartier jagte ihm eiskalte Schauer den Rücken hinunter.

"In dem Ort, wose hinwoll'n hausen Leute, die tun so, als wennse im Mittelalter leben oder machen so Rollenspielkram mit Rittern, Hexen und Zauberern und sowas. Also nich' wundern, wenn so'n Typ im Umhang mit spitzem Hut auf'm Kopf auf der Straße langläuft. 'n Kollege von mir hat einen von denen mal kutschiert. Der hat voll gut geschauspielert, als wenn der ein Zauberer aus'm Mittelalter wäre, der null Dunst von Autos und Ampeln hat. Hat einen erzählt, er hätte kein Gold für den fahrenden Ritter mit, um schnell nach Hause zu kommen. Mein Kollege hat nur gegrinst und den armen Wicht vor einem alten Fachwerkhaus wie aus dem vierzehnten Jahrhundert abgeliefert. Gab zumindest gutes Trinkgeld für die Tour."

"Leute gibt's", erwiderte Claude Andrews. Doch bei der Erwähnung eines Zauberers waren innere Alarmglocken angesprungen. Um seine Verschrecktheit nicht zu zeigen überspielte er die Erzählung mit einem Lachen und bemerkte: "Hat wohl auch die Serie Catweazle geguckt." Der Taxifahrer lachte mit und nickte. Er kannte die Kinderserie um den aus dem Mittelalter in die Neuzeit verschlagenen Zauberer also auch.

"Da is' der Dorfeingang, Sir. Steht Ihre Ansage noch?" wollte der Fahrer wissen, als sie am östlichen Rand eines verschlafen wirkenden Ortes anlangten. Zur Antwort gab ihm Claude Andrews die ausgemachten zweihundert Pfund in vier Fünfzigern. Der Taxifahrer prüfte die Geldscheine genau, konnte aber keine Unregelmäßigkeit daran entdecken. So durfte sein Fahrgast unbehelligt aussteigen. Als der große Wagen beidrehte und in Richtung Leeds zurückfuhr stand Claude Andrews einige Sekunden ratlos herum. Dann empfing er Lolis Gedankenbotschaft: "Setz dich in den Pub zum grünen Kobold. Der Laden liegt in einer Seitenstraße. Kann sein, daß da Nebel ist. Aber da kommst du durch. Wenn in den Laden eine Frau mit orientalischem Aussehen reingeht, stell dich ihr als Mario Lopez aus Buenos Aires vor. Weiteres dann, wenn du sie siehst."

Der Abhängige Itoluhilas folgte den schmalen Straßen, bis er tatsächlich eine Seitenstraße erreichte, vor der das Schild für eine Sackgasse stand. Die die Gasse flankierenden Häuser wirkten baufällig. Zerschlagene Fenster, Dächer, bei denen das von Regen und Wind angegriffene Gebälk des Dachstuhls zwischen den verwitterten Dachziegeln durchlugte und wucherndes Unkraut in den Vorgärten verrieten, daß hier seit Jahren oder Jahrzehnten niemand mehr wohnte. Womöglich war es ein Erbstreit, oder die Bewohner konnten ihre Dorfbehausungen nicht gewinnbringend veräußern, dachte Mario Lopez. In der Gasse selbst waberte eine fahlgraue Nebelwolke. Unwillkürlich überkam Mario Lopez alias Claude Andrews das Heimweh nach London. Er näherte sich der schmalen Sackgasse. Da erwärmte sich sein Ring an der linken Hand. Die heruntergekommenen Häuserfronten begannen vor seinen Augen zu verwaschen. Er tat noch zwei Schritte darauf zu. Da erkannte er adrette kleine Ziegelhäuser mit rauchenden Schornsteinen. Die Fenster waren tadellos in Ordnung. Allerdings besaßen sie weiß- oder himmelblau angestrichene Läden statt Jalousien. Auch der graue Nebel in der schmalen Gasse lichtete sich ein wenig. Ein Straßenschild schälte sich aus dem zurückweichenden Dunst: "Falkenfelsgasse", raunte Itoluhilas Abhängiger. War das also der wahre Name jener fremdartigen Gasse? Vor dem Zugang stand auf dem Sackgassenschild nur Zum rauhen Felsen. Claude Andrews alias Mario Lopez betrat die schmale Gasse. Doch auch ihre Enge verlor sich in dem Moment, wo er sie bewußt betreten hatte. Kaum war er zwei Schritte in sie eingedrungen, meinte er, auf einer mittelalterlichen Hauptstraße zu wandeln. Sie war jetzt breit genug, um mit drei Mercedes-Limousinen zugleich hineinzufahren. Außerdem zog sich der graue Nebel so weit zurück, daß er erkennen konnte, daß es eine sehr lange Straße war. Links und rechts standen Häuser mit skuriler Architektur. Da war ein Tortenhaus mit weißem Dach wie Zuckerguß, ein buntes Zirkuszelt und sogar ein zirka zwanzig Meter aufragender Turm, auf dem ein goldener Wetterhahn über einer klar lesbaren Windrose thronte. Kaum hatte der Betreter dieser merkwürdigen Straße den Hahn genauer angesehen, krähte dieser laut wie zehn lebende Artgenossen. Claude Andrews fürchtete schon, daß das Krähen im ganzen Dorf zu hören sein mußte und beeilte sich. Er erkannte, daß hier sowohl Wohnhäuser standen, als auch kleine Läden aufgebaut waren. Das bunte Zelt zum Beispiel wurde durch ein frei in der Luft schwebendes Schild mit selbstleuchtender Schrift als "Erasmus Maglan - Magische Reisen für alle Preisklassen" ausgewiesen. Unter dem Schriftzug waren ein Reisigbesen über einer Wolke, ein von Blitzen umzuckter Schlüssel und ein geflügelter indischer Elefant mit einem Turban tragenden Mahud darauf aufgemalt. Ein würfelförmiger Bau wurde als "Zentrale der englischen Gobsteinliga" Ausgewiesen. Am Ende der langen Gasse stand ein großes Blockhaus mit moosgrünem Dach, über dessen Tür ein rundes Schild mit einem grünen Zwerg mit spitzen Ohren prangte. Als Claude Andrews näher an dieses Gebäude herankam konnte er auch den Namen "Zum grünen Kobold" lesen und erfahren, daß sich dieses Gasthaus schon seit 1259 im Besitz der Familie Bitterling befand. Er ging durch die wie bei einem Westernsaloon frei schwingende Tür in den Schankraum und meinte gleich, in die Zeit der ersten Königin Elisabeth zurückversetzt worden zu sein. Hier brannte kein elektrisches Licht. Kerzen und Öllampen standen für die Nachtbeleuchtung bereit. Eichenholztische und lange Sitzbänke bildeten den Großteil des Mobiliars. Beherrscht wurde der Schankraum von einem knapp anderthalb Meter hohen und drei Viertel der Raumbreite ausfüllenden Tresen mit gepolsterten Hockern davor. Hinter dem Tresen stand ein Mann mit nachtschwarzer Borstenfrisur und dunkelbraunen Augen im stoppelbärtigen Gesicht. Er trug eine grüne Lederschürze, die bereits einige Fett und Flüssigkeitsflecken aufwies. Claude Andrews grüßte, wie ihm angewiesen war mit spanischem Akzent. Er durfte hier nicht zeigen, daß er gebürtiger Engländer war. Der andere nickte ihm zu und grüßte zurück: "Schönen Tag, Sir. Ich bin Woody Bitterling, der Wirt hier." Claude Andrews stellte sich mit seiner Zweitidentität vor und bat darum, hier auf jemanden warten zu dürfen. Als er gefragt wurde, auf wen erhielt er in Gedanken den Namen der Person, die er hier erwarten sollte. Woody verzog kurz das Gesicht und nickte. "Kommt gerne zum Nachmittagstee her, da sinse 'n bißchen früh dran, Sir. Aber ich kann ihr 'ne Eule schicken, Wennse woll'n. Dann brauch ich aber den Grund, warumse mit ihr reden woll'n." Claude Andrews wiegte erst den Kopf und sagte dann: "Ich bin Mario Lopez aus Buenos Aires und bin hergekommen, weil ich von dem Chrysodactylos-Trank gehört habe, mit dem einer vergrabenes oder in der Erde steckendes Edelmetall erspüren kann wie ein Wünschelrutenläufer."

"Ach, das? Hat sich das schon bis zu den Südamerikanern rumgesprochen", grummelte der erst freundliche Wirt ein wenig verdrossen. Dann kehrte seine berufsmäßige Freundlichkeit wieder zurück und er erwähnte, daß er die Kontaktperson von Mario Lopez anschreiben wollte.

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Woody Bitterling hatte sich nichts anmerken lassen, daß ihm die Sache nicht gefiel. Zum einen fühlte er, daß dieser Fremde in Muggelsachen von etwas umgeben war, daß Gefahr verhieß. Dann hatte der sich nur ein großes Glas Fruchtsaft bestellt, wo doch allen, die bei ihm einkehrten bekannt war, daß er ein vorzügliches Butterbier ausschenkte und sogar Feuerwhisky im Angebot hatte. Dann wollte dieser Reisende auch noch mit seiner Urgroßtante Semiramis reden, die sich was auf den morgenländischen Zweig ihrer Vorfahren einbildete und darauf, daß sie sich genial mit Zaubertränken und Flüchen auskannte. Aber er war Wirt und hatte zuzusehen, daß seine Gäste möglichst zufriedengestellt wurden, solange das mit den Zaubereigesetzen vereinbar war. Außerdem hatte er lernen müssen, daß es nicht ratsam war, sich in die Angelegenheiten seiner Urgroßtante einzumischen. Sein Bruder Willy hatte das vor dreißig Jahren sehr bitter bereut, als er versucht hatte, ihr nachzuschleichen und von heftigen Eindringlingsabwehrzaubern um ihr Haus auf dem Bärenkopfhügel körperlich und geistig arg in Mitleidenschaft gezogen worden war. Die Heiler von St. Mungos hatten den damals gerade vierzehn Jahre alten Jungen einen Monat lang behandeln müssen und ihm zur Vorsorge einen Teil der Erinnerungen genommen, um damit gekoppelte Vergeltungsflüche aufheben zu können. Das hätte Semiramis Bitterling zwar fast die Lehrerlaubnis in Hogwarts gekostet. Doch sie hatte vor dem Gamot und den Schulräten glaubhaft belegen können, daß Willy versucht habe, die umfriedenden Schutzzauber mit dunklen Gegenzaubern zu durchbrechen, also er sich eindeutig als Feind verhalten hatte.

Die Eule war wohl nur zehn Minuten unterwegs gewesen, als die Schwingtür aufging und Semiramis Bitterling in einem langen, wasserblauen Umhang hereinkam. Sie grüßte Woody kurz und kalt und ließ sich von ihm zeigen, wo der neue Gast saß. Nach einiger Zeit bestellte sie für ihn und sich englisches Frühstück. Sie lud den anderen sogar dazu ein, womit Woody kein Geld an dem verdienen konnte. Denn die Bitterlings hatten eine Vereinbarung, daß Sach- und Dienstleistungen innerhalb der Familie kostenlos zu bleiben hatten. Er vermied es, den beiden zuzusehen. Denn er fühlte, daß seine Urgroßtante in Abwehrhaltung dasaß, als sei der Gast ihr nicht ganz geheuer. Das mochte bei einer Großmeisterin von Flüchen und Gegenflüchen schon was heißen. Vielleicht war dieser Mario Lopez auch ein ehemaliger Verbündeter des Unnennbaren, der jetzt erst davon erfuhr, daß es diesen Seelenverderber und Tothexer nicht mehr gab. Auch der andere schien sichtlich angespannt zu sein. Womöglich war der Verlauf der Unterhaltung nicht so, wie er das gerne wollte. Dennoch lächelte er, als Semiramis Bitterling ihm zuwinkte, nachdem beide ihr Frühstück aufgegessen hatten. Irgendwie meinte Woody Bitterling, daß die Luft leichter zu atmen war, als die beiden mit einem kurzen Abschiedswink in seine Richtung den grünen Kobold verließen. Doch er hütete sich davor, näher darüber nachzudenken.

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Er hatte es sofort gefühlt, als sie in den Pub gekommen war. Eine unheimliche, wenngleich auch vertraute Ausstrahlung ging von ihr aus. Dazu waren noch die eindringlichen Warnungen seiner Gebieterin und der Hinweis gekommen, daß sie die Verbindung mit ihm solange einfrieren mußte, wie er nicht in unmittelbarer Gefahr schwebte. Das hatte sich darin geäußert, daß sein magischer Ring einen Moment lang eiskalt geworden war. Die Unterhaltung mit der schwarzgelockten Frau mit arabisch-indischem Hautton, die auch noch den mythischen Namen Semiramis als Vornamen trug, hatte er in der gewohnten Manier eines Geschäftsanwaltes abgehandelt. Demnach vertrat er eine Gruppe magischer Prospektoren, die in Argentinien bis dahin unerschlossene Gold- und Silbervorkommen ausbeuten wollten und nicht mit den dafür üblichen Ausrüstungsgütern herumwerkeln wollten. Er hatte von seiner Gebieterin eingeflüstert bekommen, daß das argentinische Zaubereiministerium jede auf Edelmetalle ansprechende Aufspürvorrichtung überwachte und die Käufer registrierte. Auch sei in den letzten Jahren herausgekommen, daß diese Geräte nicht nur ihren Nutzern, sondern auch dem Zaubereiministerium mitteilten, wenn sie etwas gefunden hatten, wodurch gleich die Geldeintreiber des Ministers auf den Plan traten, wenn die Ergiebigkeit der gefundenen Ader ermittelt war. Trotzdem hatte er gefühlt, daß die andere ihm nicht so recht traute. Fühlte sie vielleicht, daß ihn Lolis Schutz umgab? Er vermied es auch, der anderen in die Augen zu sehen. Immerhin kamen sie darüber ein, daß mit ihrem Zaubertrank, von dem er bis dahin nichts gehört hatte, ein freieres Arbeiten möglich war und deutete an, daß seine Auftraggeber sie an jedem gemachten Fund beteiligen wollten. Damit hatte er sie zumindest an den Haken bekommen. Er brauchte sie nur noch einzuholen. Eine Warnung Lolis beachtend bat er darum, daß sie ihm den Trank in freiem Gelände vorführte und nicht in ihrem eigenen Haus. Sie ging darauf ein und bat ihn nach dem Frühstück, für das er glücklicherweise nichts bezahlen mußte, aus dem Pub. "Wir apparieren Seit an Seit", legte Semiramis Bitterling fest. Mario Lopez ging darauf ein. Für ihn war diese magische Ortsversetzung ein Wirbeln in einem hautengen Farbentunnel mit schwarzen Schlieren. Es fühlte sich nicht so sanft an wie mit seiner Gebieterin. Doch es erfüllte seinen Zweck. Semiramis Bitterling brachte ihn in einem Augenblick auf einen Hügel, der wirklich wie der Kopf eines großen Bären aussah. Er sah, wie sie durch ein grasgrün angestrichenes Tor in einem drei Meter hohen Jägerzaun mit lanzenartigen Spitzen einen fußballplatzgroßen Vorgarten betrat und auf ein mittelgroßes Granithaus zuging. Als Mario sich dem Zaun näherte fühlte er etwas wie eiskalten Gegenwind, der ihn zurückdrängte. Gleichzeitig zuckten violette Blitze von seiner linken Hand um ihn herum. Sein Ring wechselwirkte mit etwas im oder hinter dem Zaun. Dann wurde der Ring wieder eiskalt, so daß Mario Lopez fürchtete, er würde ihm den Finger abfrieren lassen. Doch eine halbe Minute später ließ dieser grimmige Kälteschauer nach. Er wartete vier Minuten vor dem wehrhaften Zaun, in dessen Verstrebungen er aus zwanzig Schritten Entfernung Muster wie Schlangen, Skorpione, Flammen und niederfahrende Blitze erkannte. Er wollte gerade noch einmal versuchen, näher an den Zaun heranzugehen, als die Hausbewohnerin durch das Tor ins Freie zurücktrat. Sie trug eine bauchige Feldflasche bei sich und einen Lederbeutel. "Ich werde sie in eine Region bringen, die kein Muggel erreichen kann", sagte sie auf Spanisch mit europäischem Akzent. "Da werde ich dann fünfzig verschiedene Münzen im Umkreis von einer Quadratmeile vergraben, bevor Sie den Chrysodactylos-Trank probieren können." Mario Lopez nickte, obwohl ihm bei der Vorstellung, daß sie ihn an einen für magielose Menschen unerreichbaren Ort teleportieren wollte, ein wenig beklommen zu Mute wurde. Andererseits beschützte Loli ihn. Er mußte nur aufpassen, daß er dieser Hexe da nicht in die Augen sah.

Sie nahm ihn wieder bei der Hand und vollführte mit ihm den zeitlosen Ortswechsel. Wo sie genau ankamen wußte er nicht. Feststand nur, daß sie in einem Talkessel standen, der ringsum von schroffen Berghängen eingeschlossen wurde. Semiramis Bitterling ließ seine Hand los und lächelte ihn überlegen an: "Hier sind wir bis zum Abend ungestört, bevor das Grünlingsweibchen, das hier seinen Schlafplatz hat, von der Jagd zurückkehrt. Bis dahin können Sie Ihr Glück mit meinem Trank versuchen." Sie zeigte ihm noch einmal den Inhalt der Ledertasche, Gold- und Silbermünzen. Dann löste sie sich mit leisem Plopp in Nichts auf. Mario Lopez versuchte, seine Gebieterin in Gedanken zu rufen. Doch er bekam keinen Kontakt. Vielleicht lag über diesem Tal ein magisches Störfeld gegen Telepathie. So konnte er nur hoffen, daß im Augenblick der unmittelbaren Gefahr sein Ring reagieren und ihn beschützen würde. Seine Anweisung war klar. Er sollte diese Hexe da überrumpeln und dann gegen ihren Willen beschlafen, um ihre Zauberkraft in sich einzuverleiben. Doch wenn dieses morgenländisch aussehende Hexenweib das ahnte war das sehr riskant. Außerdem fühlte er einen gewissenWiderwillen, weil er diese Frau altersmäßig nicht einschätzen konnte. Woody hatte im Pub fast ausgeplaudert, wie genau er mit ihr verwandt war. Doch irgendwie hatte der geradeso noch die Kurve gekriegt und nur gesagt, daß Semiramis Bitterling mit ihm verwandt sei.

Er sah nicht, wo genau die Hexe war. Zwischendurch hörte er nur ein vernehmliches Ploppgeräusch, ab und an sogar einen scharfen Knall, der in diesem Talkessel vielfach widerhallte. Es dauerte knapp zehn Minuten, bis sie mit leisem Plopp wieder vor ihm Gestalt annahm. Sie zeigte ihm den nun leeren Lederbeutel und löste die Wachsversiegelung vom Korken der Zaubertrankflasche. Er stellte jedoch fest, daß der darin eingefüllte Trank nicht mehr bläulich-weiß glänzte, sondern kristallklar wie reines Wasser aussah. Das versetzte ihn in Alarmstimmung.

"So", setzte sie an. "Ich habe alle Münzen vergraben. Wenn sie gleich selbständig nach ihnen suchen möchten steht Ihnen der ganze Talkessel und alle Berggipfel zur Verfügung. Ich kann Ihnen versichern, daß Sie es körperlich fühlen, wenn sie weniger als einen Schritt vor einer vergrabenen Münze stehen. Die Tiefe ist dabei egal. Mit Ausgrabezaubern können Sie die Münze sicher so schnell freilegen, wie ich sie vergraben habe. Hier, trinken Sie bitte!" Mario Lopez war auf der Hut. Er wußte nicht, wie sein Körper auf magische Mixturen reagierte. Loli hatte ihm nur gesagt, daß er zwei Liter Blausäure auf Ex trinken konnte, ohne daran zu verrecken. Außerdem traute er dieser Hexe nicht über den Weg. Womöglich arbeitete die sogar für Lolis Feinde, von denen sie ihm erzählt hatte. So mußte er so tun, als tränke er den Trank, auch wenn er dann garantiert kein wandelnder Metalldetektor sein würde. Er hielt die Flasche gerade so, daß er gleich den Inhalt trinken würde, als sein Fingerring sich leicht erwärmte. Das sah er als Warnung an. So machte er was, womit die andere nicht gerechnet hatte. Er ließ die Flasche einfach zu Boden fallen. Zwar war sie aus einem unzerbrechlichen Kristall. Doch der Inhalt lief zur Hälfte aus. "Oh, war nicht meine Absicht", heuchelte er Ungeschick. Semiramis Bitterling fauchte ihn an. Dann hielt sie ihren Zauberstab in der Hand und zielte auf die Flasche. Diese stieg so vom Boden auf, daß kein weiterer Tropfen danebenging. Sie zischte ihn an, besser zuzugreifen, der Trank sei schließlich aus seltenen Zutaten und sehr langwierig zu brauen. Dann übergab sie ihm die Flasche. Er streckte die Hand aus, um zuzugreifen ... und hieb ohne jeden Ansatz nach dem Zauberstab der Hexe. Er prellte den dünnen Holzstab aus Bitterlings Hand und wirbelte ihn weit durch die Luft davon. Als die Hexe begriff, daß sie gerade angegriffen wurde, ließ sie die noch halbvolle Flasche fallen und versuchte, Mario Lopez das linke Knie in die Weichteile zu rammen. Der war auf diesen Gegenangriff gefaßt und drehte sich so, daß der Kniestoß nur seinen angespannten Oberschenkel erwischte. Der Stoß war nicht schwach und hätte einem anderen wohl das Bein weggeschlagen. Doch Mario Lopez war durch die Gaben seiner Gebieterin mit übermenschlicher Körperkraft und Unverwüstlichkeit ausgestattet. Er mußte jedoch feststellen, daß die andere auch nicht schwach war. Sie versuchte, ihn mit ihren Fingernägeln im Gesicht zu erwischen. Er blockte den katzenhaften Angriff mit dem rechten Arm ab und versetzte der Hexe gleichzeitig einen linken Haken, der sie punktgenau am Kinn traf. Die Box-AG in Eton war mal wieder für was gut, dachte der angebliche Argentinier. Semiramis Bitterling strauchelte und kippte fast um. Da fühlte er, wie etwas sie mit neuer Kraft stärkte. Gleichzeitig erhitzte sich sein Ring und pulsierte. Ihm kam eine Ahnung. Er riß schnell die linke Hand auf den Rücken und rammte seinen rechten Arm vor. Er erwischte den Hals der Hexe, die ihrerseits versuchte, ihn in einen Würgegriff zu bekommen. Doch er wollte sie nicht erwürgen. Er bekam eine Halskette zu fassen und meinte, von zwei Seiten her mit Stromschlägen traktiert zu werden. Eine Entladung ging durch den rechten Arm. Die andere jagte durch den linken Arm. In seinem Körper trafen sich beide Entladungen und erzeugten einen fast unerträglichen Hitzeschauer. Dazu kam noch eine Wolke aus violetten Blitzen, die aus seinem Körper herausschlugen. Er behielt jedoch die Kette fest zwischen den Fingern, während Semiramis ihre Hände um seinen Hals schloß und ihm die Luft abzudrücken versuchte. Er riß die rechte Hand hoch und zerrte dabei die Kette frei. An dieser hing ein kleines, silbernes Medaillon, das von einer violetten Aura umflossen wurde. Im Zentrum des kreisrunden Schmuckstückes sah er für einen Moment ein Gesicht erscheinen, das von langem, schwarzen Haar umflossen wurde. Tiefgrüne Augen, groß wie von einem Kind, funkelten ihn höchst verärgert an. Er wollte das Medaillon gerade mit einer wuchtigen Armbewegung von sich fortschleudern, als es regelrecht in einer Wolke aus violettem Licht explodierte.

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Die Lichtwolke schloß Mario Lopez alias Claude Andrews und die Hexe völlig ein. Er hoffte noch, daß sein Ring ihn vor jedem feindlichen Zauber beschützte. Doch dieser erkaltete auf einmal wieder. Mit einer Hand am Medaillon, die Hände von Semiramis Bitterling um seinen Hals geklammert, fühlte er, wie etwas gnadenloses ihn vom Boden hochriß und mit dem Leib der anderen zusammenstieß. Dann fühlte er, wie er mit Gewalt durch einen wilden Wirbel gesaugt wurde. Er versuchte noch, dagegen anzukämpfen. Doch eine gnadenlose Entschlossenheit hielt dagegen und zerrte ihn weiter. Erst als die violette Wolke mit kurzem Zischen in das sich wieder materialisierende Medaillon zurückzog und ein kräftiger Stoß ihn von Semiramis fortschleuderte, erkannte er, daß er mal eben durch einen magischen Raumtunnel an einen anderen Ort geschafft worden war. Er befand sich nun in einer kuppelartigen Höhle. Semiramis Bitterling kam gerade auf die Beine und hielt triumphierend das von einer nun wieder sichtbaren violetten Aura umflossene Medaillon hoch. Zu diesem unirdischen Licht kam noch ein goldener Schein, der die ganze Höhle flutete. Mario Lopez fühlte unvermittelt, wie sein Ring schwerer und kälter wurde. Er sah noch, daß in der Mitte der Höhle ein gewaltiger Krug mit ausladenden Henkeln stand, der aus sich selbst leuchtete. Aus diesem Krug stieg eine Frau heraus, die nichts anderes trug, als das ihren Rücken umwehende schwarze Haar. Sie glitt unbekümmert über den Rand des Kruges und kam auf ihre schmalen Füße. Ihr gesicht wirkte wie das Gesicht eines neunjährigen Mädchens, eines Mädchens aus dem indischen Kulturkreis. Nur ihre dunkelgrünen Augen schienen nicht dazu zu passen. Sie war makellos schön und vom Gesicht abgesehen vollkommen erblüht. Was Mario Lopez jedoch an der anderen sofort auffiel war die unsichtbare Aura der Überlegenheit. Grenzenlose Verärgerung stand der anderen ins Gesicht geschrieben. Jede ihrer Bewegungen verriet Wut und Angriffslust. Mario Lopez versuchte, den linken Arm zu heben und sah dabei, wie der Ring an seiner Hand mattschwarz glänzte.

Die Nackte aus dem Krug wechselte ein paar Worte mit Semiramis Bitterling, die sich anders als Mario Lopez in dieser Höhle sichtlich obenauf fühlte. Dann sagte die Unbekleidete auf Spanisch: "Was fällt dir ein, dich an meiner Leibdienerin zu vergreifen? Hat meine Schwester dir nicht gesagt, daß die Diener und Abhängigen ihrer Schwestern unantastbar sind? Weg mit dem Ring!" Mario Lopez rief in Gedanken um Hilfe. Doch es war, als drücke ihm eine unsichtbare Riesenfaust die Schädelknochen zusammen. Außerdem wurde der Ring an seinem Finger immer schwerer. "Weg mit dem Ring, habe ich gesagt! Hier in meiner Höhle sag ich, wo es langgeht." fauchte die unheimliche Nackte aus dem Krug. Mario Lopez begriff. Er war in eine Falle gegangen. Besser, er war ein einfacher Bauer eines magischen Schachspiels gewesen, der versucht hatte, den Bauern der Opponentin zu schlagen. "Los, mach den Ring ab!" schnarrte die Unbekleidete. Er fühlte, daß der Ring von seinem Gewicht gezogen immer mehr von seinem Finger herunterrutschte. Er ahnte, daß nur dieser Ring die Andere davon abhielt, ihn mit ihrer eigenen Zauberkraft anzugreifen und versuchte, den Ring wieder richtig auf den Finger zu schieben. Doch er fühlte sich von außen eiskalt an. "Du bist stark. Aber gegen meine Kraft hier hilft dir das nicht", schnaubte die Frau aus dem leuchtenden Krug. Der Ring wurde noch schwerer und rutschte nun endgültig vom Finger Mario Lopez'. Er sah noch, wie er zu Boden fiel und hörte, wie er klirrend darauf zersprang, als sei er aus geschwärztem Glas gemacht gewesen. Gleichzeitig fühlte er, wie alle Kraft und Willensstärke von ihm abfielen. Als die andere seinen Blick auffing verflog ihre Wut für einen Moment und machte grenzenloser Überlegenheit Platz.

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Er rief sie. Sie hörte es. Doch sie tat so, als höre sie nicht. Im Gegenteil. Sie hielt krampfhaft alle Kraft zurück, die sie sonst instinktiv zu ihm übertragen hätte. Sie wußte, daß er seinen Auftrag nicht erfüllt hatte. Falls ihre Schwester zu ihm hinfand und es schaffte, ihn in ihre eigene Höhle zu verschleppen, war er für sie verloren. Sie öffnete ihren goldenen Krug. Wie gut, daß sie in den letzten Wochen so viele Leben erbeutet hatte. Völlig unbekleidet tauchte Itoluhila in die orangerote Essenz reiner Lebensenergie ein. Sie hörte noch, wie er sie rief. Doch dann verstummten seine Rufe, und sie fühlte, wie etwas ihr mit einem Ruck Kraft entriß. Sofort trank sie neue Lebenskraft nach. In einem halbstofflichen Zustand wartete sie ab, was weiter geschah. Claudes Gedankenrufe waren jäh verstummt, er selbst mit Sicherheit in Ilithulas Höhle gefangen. Womöglich hatte sie ihm den Verbindungsring abgenommen, um frei über ihn verfügen zu können. Sie rechnete damit, daß ihre körperlich unversehrte wache Schwester sie gleich im Geiste anrufen würde. Doch vorher fühlte sie, wie immer stärkere Wellen durch ihren Lebenskrug gingen, Wellen, die sie zum einen entkräfteten, um sie jedoch sofort wieder mit frischer Kraft zu erfüllen. Die Wellen folgten in immer kürzeren Abständen aufeinander, bis eine letzte Woge übermächtiger Auszehrung sie fast in den Abgrund der Ohnmacht und des dauerhaften Tiefschlafes riß. Nur ihre Zuflucht im goldenen Krug bewahrte sie davor, für unbestimmte Zeit handlungsunfähig zu werden. Als der Höhepunkt der Entkräftung überstanden war, flossen sofort neue Energien aus dem Vorrat des Lebenskruges in Itoluhila ein und stabilisierten sie körperlich und geistig. Kurze Nachwellen rüttelten noch einmal an ihrer Ausdauer. Doch dann war es vorbei. Sie wußte, was passiert war und konnte es jetzt nicht mehr widerrufen. Allerdings konnte nun auch Ilithula nicht mehr ungeschehen machen, was sie gerade getan hatte. Dieser Gedanke erfüllte sie mit Triumph und Schadenfreude. Dann kam der erwartete Geistesruf:

"Ich habe gefühlt, wie wichtig er dir war. Er besaß unweckbare Kräfte. Doch meiner Leidenschaft konnte er sich nicht entziehen, Schwester. Auch wenn du nicht in den tiefen Schlaf gestürzt bist, so sei dir das eine endgültige Warnung: Lass die Finger und alles andere von meinen Dienern und Abhängigen! Vor allem laß deine eisigen Pranken von Semiramis Bitterling. Die gehört mir und bleibt auch bei mir."

"Du hast meinen Abhängigen leergesaugt, du Biest!" gedankenfauchte Itoluhila in Richtung ihrer noch voll handlungsfähigen Schwester.

"Wer ist hier das Biest, Itoluhila? Du weißt genau, daß wir Schwestern uns nicht am Eigentum der jeweils anderen vergreifen dürfen. Das hättest du diesem heuchlerischen Abhängigen verraten sollen, bevor er sich an meiner Leibdienerin vergreifen wollte."

"Ich wollte nur, daß er eine Hexe unterwirft und sich damit zum vollwärtigen Begleiter für mich macht. Dann hätte ich ihn zum Leibdiener machen können", gedankenschnaubte Itoluhila. "Ich konnte nicht wissen ..."

"Du wußtest, daß ich in England eine Dienerin habe und hast ihn gezielt auf sie angesetzt, du Stück verdorbenen Fleisches. Ich habe alle seine Erinnerungen mit seiner Lebenskraft in mich einverleibt und alles von dir, was er mir bis zum Versagen seines Herzens geben konnte. Danke für diese erquickende Spende, werte Schwester!" spottete Ilithula.

"Ich wollte es wissen, ob Semiramis im Ernst deine Dienerin ist. Wäre sie es nicht gewesen, hätte er sie anstandslos für mich leersaugen können. In dem Moment wo du wußtest, daß er mir gehört, hättest du mich anrufen und dieses Mißverständnis mit mir klären können", gedankenfauchte Itoluhila zurück. Sie mußte sich sehr anstrengen, ihre eigentlichen Empfindungen nicht nach außen dringen zu lassen.

"Jetzt weißt du es. Wie erwähnt, er war eine sehr erquickende Spende frischer Lebenskraft. Ich weiß jetzt auch, warum unsere Mutter nicht wollte, daß wir uns gegenseitig was geben und nehmen. Das war die herrlichste Vereinigung, die ich je mit einem kurzlebigen erlebt habe. Vielen Dank dafür. Und nur dieser Dank ist es, der mich davon abhält, dich im direkten Zweikampf zu stellen und dich in den wohlverdienten Tiefschlaf zu stürzen."

"Du windige Heuchlerin, du hättest mich auch dann nicht in den tiefen Schlaf gestürzt, wenn ich auf deine Kampfaufforderung eingegangen wäre. Genausowenig darf ich dich in den langen Schlaf stürzen, nachdem nur wir wachen Schwestern sicherstellen können, daß unsere jüngste Schwester nicht von sich aus aufwachen kann, solange wir wach sind."

"Vermaledeit, du hast leider recht", hörte Itoluhila die verärgerte Antwort in ihrem Geist nachschwingen. Dadurch, daß Hallitti entkörpert und offenbar unrettbar ausgelöscht war gab es ja nur sie beide, die gerade wach waren.

"Wie dem auch sei, Claude Andrews steckt jetzt in meinem Körper und bleibt da drin, und ein Stück von dir ist jetzt auch in mir drin. Atme und trinke genug Lebenskraft, Itoluhila! Wer weiß, wann du sie wieder brauchst!"

"Ich habe noch genug frei herumlaufende Abhängige, du fehlgewanderter Leibwind. Du mußt aufpassen, daß dich diese Blauen und ihr Anführer, dieser Abkömmling von unserem Vetter Sharvas, nicht zum langen Schlaf treiben. Nachher bist du es noch schuld, daß sie wieder aufwacht, weil ich alleine das Gegengewicht nicht aufrechthalten kann."

"Och, du Wassertreterin, bei dieser Sache mit Volakin wärest du eher in Tiefschlaf gestürzt als ich bei allen Kämpfen gegen die blaue Bande. Außerdem kann ich mir immer wieder welche von denen in meinen Krug legen oder sie mit Genuß in mich selbst aufnehmen. Und ich werde es hinbekommen, daß die Linie von Sharvas stirbt, nachdem ich es geschafft habe, die Söhne des Trägers von unbeeinflußten Mördern erledigen zu lassen und seine Bruthenne sich nur noch innerhalb des versteckten Hauses aufhalten kann, weil ich den Bann des entkräftenden Windes über sie gesprochen habe. Abgesehen davon werde ich bald schon mächtiger sein als die Mörderin unserer Mutter. Dann solltest du mir besonders dankbar sein, wenn ich dich wachbleiben lasse und dich nicht in den tiefen Schlaf stürze."

"Ich weiß, du spielst immer noch mit dem Gedanken, den Rufer der grauen Vögel zu finden und ihn dir zu unterwerfen. Du weißt ja noch nicht mal, wer es ist."

"Stimmt, wissen tu ich es nicht. Aber ich werde es herausbekommen und dann ..." Den rest des Satzes vermochte Ilithula nicht mehr zu denken. Etwas brandete urplötzlich zwischen den beiden auf und überlagerte die Verbindung. Itoluhila fühlte, wie ihr erneut etwas entrissen wurde. Sie tastete schnell nach der Verbindung zu Hallitti.

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Der Flug nach Madrid verging ohne erwähnenswerte Ereignisse. Hallitti war nach der Landung an Bord geblieben. Da Don Juan Mondego de Casillas Diplomatenstatus besaß war die Grenzkontrolle nur eine reine Registratur. Hallitti war darauf gefaßt, einem Zollbeamten durch ihren magischen Blick einzugeben, es sei niemand im Badezimmer des Jets. Doch niemand behelligte sie. Eine Stunde später hob der Privatjet wieder ab und nahm Kurs in Richtung Osten. Sie dachte an Itoluhila und schickte ihr zu, daß sie unterwegs zu ihrem Revier war. Überaus deutlich erklang Itoluhilas Antwort in ihrem Geist: "Gut. Ich bereite mich auf dich vor. Wenn du eine Kraft fühlst, die dich zu sich hinziehen will, streife deinen erbärmlichen Körper ab und komm zu mir!" hörte sie die andere noch. Hallitti bestätigte das.

Sie flogen gerade von der Türkei aus über die irakische Landesgrenze hinweg. Keine zehn Kilometer entfernt tauchten plötzlich zwei andere Feuerstrahlflugmaschinen auf. Hallitti, die nun hellwach und für alles bereit war bannte Mondego de Casillas mit ihrem Blick und öffnete mit einer lockeren Handbewegung das Cockpit. Pancho Ortíz, der Pilot dachte erst, sein Chef wolle was von ihm. Doch als er die alte Frau sah, die dieser mit an Bord gebracht hatte, verzog er das Gesicht. "Ich muß gleich mit fliegenden Cowboys da draußen verhandeln, daß die uns nicht vom Himmel schießen. Wir sind in der UN-Flugverbotszone, Señora", sagte er harsch.

"Das wäre nicht nett von denen", säuselte Hallitti und freute sich, daß ihre gealterten Stimmbänder doch noch eine Spur Verführung vermitteln konnten. Dann sah sie dem Piloten in die Augen und schickte ihm zu, daß er sie ganz gerne neben sich sitzen haben wollte. Sie gaukelte ihm sogar die Halluzination vor, sie sei seine heimliche Geliebte, deren Bild sie beim direkten Blickkontakt in seinen Erinnerungen entdeckt hatte. Immerhin beherrschte sie diese Kunst der neun Töchter Lahilliotas noch. Er war regelrecht erregt, daß seine Freundin ihn begleitete und bot ihr natürlich den freien Copilotensitz an. Er lauschte auf die ersten Funkanrufe und identifizierte sich.

"Bleiben Sie auf dem gegenwärtigen Kurs, bis sie aus der Flugverbotszone heraussind", hörte Hallitti durch Ortízes Ohren einen Mann auf amerikanischem Englisch sagen. "Wenn sie nur ein Grad vom angemeldeten Kurs abweichen sind wir berechtigt, Sie zur Landung zu zwingen oder zu vernichten. Haben Sie das verstanden?" Ortíz antwortete mit einem kühlen: "Roger". In Gedanken durchlebte er gerade eine heiße Liebesnacht mit seiner Freundin, die da neben ihm saß. Hallitti fühlte sich von der vorauseilenden Begierde des Piloten selbst angeregt. Doch sie durfte ihn sich nicht nehmen, solange sie nicht gelandet waren. Aber sie beschloß, daß er ihr ein paar verlorene Lebensjahre zurückgeben würde, wenn sie in Bagdad angekommen waren. Sie fragte sich, warum Itoluhila ihre Höhle nur zwanzig Kilometer von der alten Kalifenstadt entfernt angelegt hatte, wo sie bis zu ihrem unrühmlichen Kampf mit gegnerischen Zauberern davon ausgegangen war, daß Ilithula und Itoluhila weit genug von den Schlafplätzen der anderen Schwestern entfernt sein wollten. Aber wenn sechs der anderen fest schliefen, warum sollte Itoluhila da nicht im Land wohnen, wo sie damals von ihrer mächtigen Mutter Lahilliota geboren worden war? Hallitti malte sich sogar aus, wie erhaben es am Ende sein mochte, nicht weit von ihrer eigenen Geburtsstätte auf die Welt zurückzukehren. Die Vorstellung, in Itoluhilas Leib neu heranzuwachsen behagte ihr zwar nicht sonderlich. Doch sie wußte, daß Itoluhila das auch nicht unbedingt haben wollte und es nur deshalb tat, weil sie, Hallitti, vollendete Tatsachen geschaffen hatte und die Pflichten der Töchter Lahilliotas geboten, daß eine entleibte Schwester von einer ihrer körperlich erhaltenen und wachen Schwestern wiedergeboren wurde.

Als hätte sie mit ihren Gedanken und mit dem, was sie aus Pancho Ortízes Geist mithörte den Anstoß gegeben, überkam sie auf einmal ein immer mächtiger werdender Sog. Es war wie ein unhörbarer Ruf, wie eine Hand, die nach ihr greifen und sie eilig mit sich ziehen wollte. Wie heranrauschende Wellen, die immer höher wurden, fühlte sie, wie etwas sie ergreifen und zu sich hinziehen wollte. Da wußte sie, daß der von ihrer Schwester angekündigte Moment gekommen war. Sie baute nun eine immer stärkere Verbindung zu ihr auf, die durch die räumliche Nähe immer rascher anwuchs. Sie wußte, daß sie nicht viel Zeit hatte, um diese Verbindung auszunutzen. Sie mußte aus ihrem Körper heraus. Die Wogen der Hingezogenheit wurden immer stärker und höher. Es war, als zöge etwas sie schon ohne ihr Zutun aus dem halbverwelkten Leib einer Weltraumfliegerin heraus. Doch Itoluhila hatte deutlich gefordert, daß sie selbst ihren unbrauchbaren Körper abstreifte. Das hieß, daß sie ihn hier und jetzt töten mußte. Doch sie fühlte sofort den ihr eingeprägten Überlebenswillen, der sie davon abhielt, sich selbst zu töten. Sie wußte nicht, ob dieser Überlebenswille am Ende nicht die magische Sogwirkung überwinden würde, mit der Itoluhila sie an sich ziehen wollte. Sie selbst konnte sich nicht töten. Doch sie konnte machen, daß wer anderes dies tat. "Neunzig Grad Backbord!" befahl sie dem Piloten. Sie gaukelte ihm dabei vor, daß seine Freundin zu ihm sprach. Doch die Angst, gegen die Anweisung der Kampfpiloten zu verstoßen stemmte sich gegen die Kraft des Befehls. Sie wiederholte ihn. Da sie den Piloten noch nicht im Traum beeinflußt und zu ihrem endgültigen Abhängigen gemacht hatte konnte sie ihm nicht vorgaukeln woanders zu sein. Aber was sie machen konnte war, ihn handlungsunfähig zu machen. Sie verdrängte seine gesamte Willenskraft und damit seine Besinnung. Dann betätigte sie den Ausschalter des Autopiloten. Wie sowas bedient wurde wußte sie noch aus den Erinnerungen von Doris Fuller. Nachdem sie die Maschine übernommen hatte drehte sie nach links ab und flog nun quer zur bisherigen Flugrichtung. Zudem brachte sie die Maschine noch um zweihundert Meter nach unten. Beinahe hätte sie eine besonders starke Woge der Hingezogenheit aus der Konzentration gebracht. Als sie sah, daß sie nun den gewünschten Kurs flog schaltete sie den Autopiloten wieder ein. Dann löste sie ihre Sicherheitsgurte und die von Ortíz und gab ihm einen Teil seiner Willensfreiheit zurück. Doch das geschah nur, damit er auf sie einging, wenn sie sich nun über ihn hermachte. Pancho Ortíz fühlte zwar Angst, weil er nicht wußte, ob sein Flugzeug noch auf Kurs war. Doch die ihn begehrende Frau neben ihm säuselte, daß der Autopilot sie die nächsten zwanzig Minuten sicher weiterfliegen würde. Er verließ seinen Sitz und ließ sich von ihr durch die Cockpittür bugsieren und hinter den Vorhang der fensterlosen Schlafnische führen. So konnten sie beide nicht hören, wie der Führer der Jagdstaffel versuchte, den Learjet Lear 330 SL zum Kurswechsel aufzufordern.

Während sie Pancho Ortíz mit ihren geistigen Kräften gefügig machte um mit ihm zu schlafen, braute sich das Ende des Learjets und seiner drei Insassen zusammen.

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Major Collin Wilder hatte erst gedacht, sein Jägerleitoffizier hätte ihn verkohlt. Doch dann sah er es selbst, wie die Privatmaschine mit ecuadorianischer Beflaggung mal eben um neunzig Grad nach Backbord herumschwenkte und dabei sogar noch in weniger als einer halben Minute zweihundert Meter Höhe verlor. Dann pendelte sich die Maschine wieder aus und flog nun schnurgerade auf dem neuen Kurs weiter, immer noch in der von den vereinten Nationen festgelegten Flugverbotszone im Nordirak, die zum Schutz der kurdischen Bevölkerung errichtet worden war.

"Lear drei drei null Sierra Lima, gehen Sie unverzüglich auf den angemeldeten Kurs!" rief er ins Funkmikrofon. Seine beiden Staffelkameraden, die wie er in diesem Halbjahr die Flugbeschränkung über dem Irak durchzusetzen hatten, hielten sich aus dem Funkverkehr raus. Wilders Jägerleitoffizier meldete, daß keine Reaktion erfolgte und erwähnte, daß die Maschine gerade auf eine der größeren Städte zuhielt. "Lear drei drei null Sierra Lima, sofort zurück auf den alten Kurs! Sonst müssen wir sie zur Landung zwingen", warnte Wilder. Er sah durch die transparente Haube seiner F-16 hinaus und konnte den kleinen Düsenflieger erkennen. Er wechselte schnell auf die Frequenz für den Befehlsstand und meldete, daß der angemeldete Jet den genehmigten Überflugkurs verlassen habe und nun in Richtung Osten durch die Flugverbotszone flog. Da die fliegenden Ortungsbasen den Zivilfunk mithörten wußte der in der Türkei stationierte Befehlshaber General Morgan, daß Wilder schon mehrere Warnrufe abgesetzt hatte. "Noch mal anrufen und dann Überflug in geringster Höhe durchführen. Falls dann keine Reaktion auf ein Viertel FK-Reichweite zurückziehen und verdächtige Maschine zerstören!" kam Morgans Befehl nach vier Minuten. Offenbar hatte er sich mit dem Gefechtsstandsanwalt der Luftwaffe beraten, ob sie die Maschine fliegen lassen oder abschießen mußten. Zumindest hoffte Wilder, daß der Befehl rechtlich abgesichert war. Ihm fiel ein, daß er schon einmal einen vom Kurs abgekommenen Learjet hatte abschießen müssen. Vier Jahre und acht Monate war das nun schon her. Doch damals waren keine lebenden Insassen an Bord gewesen. Es hatte sich herausgestellt, daß alle Insassen durch einen explosiven Druckverlust erstickt waren. Doch mit denen hier hatte er gerade erst gesprochen, und die exakte Kursänderung um neunzig Grad nach Backbord sprach für eine willentliche Handlung. Er ging noch mal auf die Frequenz für zivilen Luftverkehr und rief die Lear noch zwei mal an. Dann wechselte er auf die vereinbarte Gefechtsfrequenz zurück und bestätigte, daß die Besatzung des Learjets nicht auf die erneute Warnung reagierte. Dann flog er seinen zwei Kameraden voraus und jagte mit beinahe Schallgeschwindigkeit knapp über die unbeirrt dahingleitende Privatmaschine hinweg. Seine Kameraden folgten keine zwei Sekunden später. Sie flogen eine 180-Grad-Kurve mit verträglicher Fliehkraft aus und überflogen die Lear noch einmal. Dann passierten zwei der F-16 die Zivilmaschine an Steuerbord und Backbord. Auch darauf erfolgte keine Reaktion. Major Wilder fühlte sein Herz rasen. Feinde im ehrlichen Luftkampf abzuschießen war kein Problem für ihn. Doch eine Zivilmaschine mal eben vom Himmel zu holen gehörte nicht wirklich zu dem, worauf er bei seinem Eintritt in die Luftwaffe der vereinigten Staaten vereidigt worden war. Er mußte jedoch erkennen, daß da jemand in der Manier japanischer Kamikazeflieger einen gezielten Absturz vorhaben mochte. Immerhin flog die Maschine so, daß sie in nicht einmal zehn Minuten eine größere Stadt treffen konnte. Sollte er den Abschuß hinauszögern, bis sie wußten, ob die Maschine in den endgültigen Sinkflug überging?

"Die Firma aus Langley hat gerade freundlich gemeldet, daß Casillas womöglich für Saddam einen Absturz planen könnte, um die Flugverbotszone zu diskreditieren. Los, holen Sie das Ding vom Himmel!" bellte General Morgan in Wilders Kopfhörern.

"An Blue Sky zwei und drei, hier Blue Sky eins, Befehl ausführen! Auf ein Viertel FK-Reichweite gehen und feuern!" bestätigte der Major den klaren Befehl für die Kameraden seiner Staffel. Sofort gingen die drei Flugzeuge auf Abstand, gerade ein Viertel so weit, wie ihre Luft-Luft-Raketen fligen konnten. Offenbar wollte der General sicher sein, daß von der Maschine kein zusammenhängendes Wrack übrigblieb, dachte der Major. Schweiß rann ihm unter der Fliegermütze über die Stirn. Hoffentlich würde er niemals mehr im Leben eine Zivilmaschine abschießen müssen. Doch wenn da wirklich ein Feind an Bord war, dann mußte er sie auch wie einen uneinsichtigen Feind behandeln und ihn von seiner verheerenden Absicht abbringen. Er wartete, bis er den Summton der Zielerfassung hörte, auch als seine beiden Staffelkameraden meldeten, den Ton zu haben, feuerte er eine radargelenkte Rakete ab. Da alle drei Kampfjets gerade auf einer Linie nebeneinanderflogen bestand keine Gefahr, das die Rakete einen der Kameraden erwischte. Mit der Nase auf den Learjet zielend half er dem Geschoß, sein Ziel zu finden. Es erfolgte keine Gegenmaßnahme seitens der Besatzung des Zivilflugzeuges. So traf die Sparrow-Rakete genau in den Heckbereich und explodierte. Sofort geriet der Learjet ins Trudeln. Nun feuerten auch die beiden anderen Piloten ihre radargelenkten Luft-Luft-Raketen ab. Zwei weitere Treffer zerrissen die Lear in der Luft. Die Trümmerteile regneten sich wild überschlagend zu Boden. Wilder kämpfte gegen den Drang an, sich bei der Besatzung der abgeschossenen Maschine zu entschuldigen. Am Ende war das noch nicht mal ein bemanntes Flugzeug gewesen. Den Befehl, die Maschine anzufliegen und per Infrarot nach lebenden Personen zu suchen hatte er nicht erhalten. Feuer und Wrackteile fieln immer weiter unter der Jagdstaffel zurück. Sie waren weit genug fort, um nicht sehen zu müssen, ob auch die Überreste von Menschen unter den Trümmern waren. Wilder wußte, daß er nach dieser Patrouille dringend mit dem Psychologen im Gefechtsstand sprechen mußte. Diesen Abschuß würde er nicht mit der Uniform und der Unterkleidung ausziehen können, und die beiden anderen Piloten sicher auch nicht. Doch anders als er hatten sie nicht die schwere Verantwortung für die Operation dieser Staffel zu tragen. Allerdings würde der gerade erst zum Lieutenant beförderte Ian O'Grady sicher auch noch manchen Alptraum träumen, eine unbewaffnete Verkehrsmaschine abgeschossen zu haben.

"Verdächtiges Flugzeug vernichtet!" meldete Wilder mit dem letzten Rest von Disziplin, den er noch aufbieten konnte.

"Gut, Bergungstrupp in Marsch gesetzt. Markieren Sie Aufschlagzone und setzen Sie Patrouillenflug fort wie befohlen!" erklang Morgans Stimme in den Kopfhörern. Wilder wußte nicht, ob er sich das einbildete. Doch irgendwie klang der General selbst ein wenig verunsichert, weil er diesen verhängnisvollen Befehl erteilt hatte.

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Es war wie ein unendlich beglückender Rausch, der Hallitti überkam. Sie und Ortíz vereinigten ihre Körper. Sie fühlte, wie seine Lebenskraft in sie überfloß. Sie sog gierig ein, was er ihr gab. Dabei wirkten auch jene Wellen, die Hallitti immer stärker zu sich hinziehen wollten. Minuten vergingen. Sie hörte das dreifache Fauchen von draußen und wußte, daß die Kampfflugzeuge nun hinter ihnen her waren. Dann fühlte sie den stärksten Sog in eine bestimmte Richtung. Sie klammerte sich an ihrem Opfer fest, entriß ihm mit aller Kraft dessen Rest an Leben, daß er mit einem letzten, leidenschaftlichen Aufschrei von sich gab. Die Wellenfront verebbte. Hallitti fühlte zwar einen stetig stärker werdenden Sog in eine bestimmte Richtung. Doch jene hohen Wellen der Hingezogenheit waren erloschen. Hallitti hoffte, daß sie nicht zu spät ihres unbrauchbaren Körpers entledigt wurde. Es dauerte einige Minuten. Dann brach es mit Urgewalt über sie herein, ein lauter Knall, dann der plötzliche Druckabfall, gefolgt von einer wuchtigen Detonation. Hallitti fühlte, wie Splitter in ihren Körper einschlugen. Sie fühlte die Schmerzen jedoch sofort wieder verebben. Doch als zwei weitere Explosionen die Maschine erschütterten, war dies auch für ihren gerade mit frischer Lebenskraft gesättigten Körper zu viel. Feuer und Sprengwirkung überwanden die Selbstheilungskräfte Hallittis. Sie fühlte, wie ihr welker Körper seinen letzten Atemzug tat. Sie fühlte, wie sie von diesem Atemzug aus dem um sie herum in Feuer und Fetzen zerfallenden Flugzeug fortgerissen wurde. Sie fühlte, wie der bisher so beharrliche Sog zu einem unentrinnbaren Strudel wurde, in den sie mit einem gedanklichen Freudenschrei hineinstürzte. Sie sah noch die zerschossene Flugmaschine und die drei Kampfflugzeuge, die ihr, ohne es zu ahnen, einen großen Dienst erwiesen hatten. Dann sah sie nur noch, wie sie mit steigender Geschwindigkeit über eine karge Landschaft hinein in eine Wüste gerissen wurde, wie sie immer schneller auf einen ganz bestimmten Punkt zuraste. Sie wollte Itoluhila noch rufen, daß sie endlich zu ihr käme. Doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie raste immer schneller auf den einen, sie anziehenden Punkt zu. Dann durchdrang sie den Boden, wurde dabei stark abgebremst. Sie sah noch einen goldenen Schein und eine unbekleidete Frau mit einem Kindergesicht und tiefgrünen Augen. Tiefgrüne Augen? Außerdem war die Haut etwas dunkler Getönt als die Itoluhilas. "Ilithula!" rief Hallitis entkörpertes Bewußtsein in einem Aufruhr des Erstaunens. Dann sah sie den Körper der nahen Schwester immer größer werden, fühlte, wie sie darauf zuglitt und dann, vom letzten Ruck des sie hierherholenden Soges durch die Geschlechtsöffnung der ins Riesenhafte gewachsenen Ilithula in einen dunklen Raum hineingleiten. Sie wurde mit einem Ruck abgebremst. Sie wußte, daß sie gleich ihre Besinnung verlieren würde, bis ihr neuer Körper neue Sinnesorgane ausgebildet hatte. Doch sie schaffte es noch, "Wieso bin ich in dir gelandet?" zu fragen. Ilithulas Bewußtsein, daß sie nun berühren konnte, war über dieses Ereignis wohl auch grenzenlos erstaunt. Hallitti hörte den Herzschlag der Schwester, ihre Atemzüge. Sekunden oder Minuten vergingen. Dann erfolgte die Antwort:

"Dieses verdammte Miststück! Sie hat mich doch wahrhaftig hereingelegt." Hallitti fühlte die Wut ihrer Schwester, deren Tochter sie bald werden sollte. Sie fragte, ob sie beide sich geeinigt hätten, daß sie Ilithulas Tochter werden sollte. Die Gefragte versuchte, ihre andere Schwester zu rufen. Doch diese antwortete nicht. "Itoluhila, du betrügerisches Aas, antworte gefälligst. Seit wann wußtest du, daß Hallitti nicht ganz erledigt war?" Doch es kam keine Antwort.

"Ilithula, sie hat mir gesagt, sie wollte meine Mutter werden, weil nur sie das konnte, nachdem ich zwei von ihren Abhängigen angerührt habe."

"Bevor du in mir einschläfst und erst als strampelndes Stück neues Menschenfleisch meine Eingeweide durcheinanderbringst will ich wissen, wieso du nicht gleich zu ihr oder zu mir gefunden hast", hörte sie Ilithulas Gedankenstimme wie mit den Ohren. Hallitti öffnete ihren Geist vollständig für ihre Schwester, die wohl nun unumkehrbar ihre neue Mutter werden würde. So dauerte es keine vier Sekunden, bis Ilithula alles wußte, von der Schlacht gegen die Hexen, von Richard Andrews' Wiederverjüngung und der Gefangenschaft im erdnahen Weltraum bis über das Eindringen in den Körper Doris Fullers und den verzweifelten Kampf gegen ihre Kurzlebigkeit und die Hexen und Zauberer. Daß sie es nicht geschafft hatte, den Wiederverjüngten zu töten, um dadurch ihren letzten Halt in der Welt aufzugeben empfand Ilithula als Bestätigung dafür, warum sie über Jahre nichts von ihrer entkörperten Schwester gehört hatte. Als sie dann noch übermittelt hatte, daß sie Claude Andrews zu unterwerfen versucht hatte hörte sie Ilithula auch körperlich stöhnen. "Sicher, wenn dieses betrügerische Aas nicht seine Chance gewittert hätte, dich damit wortwörtlich auf Eis zu legen, bis sie wußte, wie sie dich endgültig loswerden würde, hätte sie dich wohl nach einer erneuten Entkörperung zu sich holen müssen, so wie ich dich durch die Eroberung ihres Abhängigen zu mir geholt habe. Sie wußte genau, wie sie es anstellen mußte. Daran siehst du, daß sie durchtriebener ist als wir beide zusammen, Hallitti."

"Das will was heißen. Aber was ist jetzt? Werde ich jetzt deine Tochter?"

"Daran wirst du dich wohl genauso gewöhnen müssen wie ich. Aber wenn dieses Luder meint, damit sei sie alle Last mit dir los, wird dieses Weib sich noch wundern, wenn ich erst weiß, wo Ailanorars Flöte der Winde ist und wer sie hat."

"Jemand hat sie gefunden und benutzt?" wollte Hallitti wissen.

"Ja, muß er. Ich habe es gefühlt, wie die alten Kampfvögel des großen Windmagiers auf die Erde zurückkehrten und die Schlangenkrieger der Vorzeit bekämpften. Das können sie nur getan haben, weil ein heute lebender Zauberer sie herbeigeflötet hat."

"Und du kannst es herausfinden, wer das war?" wollte Hallitti wissen. Sie wunderte sich, daß sie immer noch ein waches Bewußtsein besaß.

"Meine Leibdienerin, die dieser Claude Andrews, den du gewiß noch öfter in meinen Eingeweiden nachgluckern hören wirst, überfallen hat, ist auf der Spur. Sie weiß, daß die Liga der dunklen Künste weiß wer das war, weil diese Riesenvögel noch einmal zurückkamen, um den oder die abzuholen, der oder die diese Flöte gespielt hat."

"Es muß jemand sein, der die Melodie kannte", erkannte Hallitti und hörte, obwohl sie keine stofflichen Ohren mehr besaß, ein leises Rumpeln und Grummeln.

"Also jemand, der entweder von Ailanorar abstammt oder jemanden kennt, der das tut oder jene verschollene Stadt betreten konnte, in der die Seelen der alten Götter schlafen."

"Die nichts anderes sind als die Geister der alten Magier, die weit vor unserer Mutter Zeit gelebt haben", schlußfolgerte Hallitti. Ilithula bestätigte das. Dann gebot sie, daß Hallitti sich ihrer Wiederempfängnis hingeben solle. Sie könnten ja wieder miteinander in Kontakt treten, wenn sie neue Sinnesorgane besaß.

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"Ja, wertes Schwesterchen, wer anderen eine Grube gräbt, obwohl schon längst eine ausgehoben ist, der fällt selbst hinein", dachte Itoluhila, die sich tunlichst vor den geistigen Wutausbrüchen ihrer ausgetricksten Schwester abschirmte. Sie hatte noch mitbekommen, wie Hallitti, die ja bis zum Zusammentreffen mit Ilithula noch mit ihr verbunden war, ihren neuen Warteraum zur großen Welt gefunden hatte. "Wir sind noch nicht fertig, Dirnenkönigin. Ich brüte sie neu aus und dann stopfen wir zwei dich für den Rest der Ewigkeit in deinen Schlafkrug hinein!" hörte sie es wie ein Flüstern in ihrem Geist. Sie mußte sich anstrengen, nicht zu lachen. Sie dachte nur: "Aus dir schreit der Neid, Ilithula. Hättest du dich nicht darauf festgelegt, gegen die Zauberstabschwinger zu kämpfen und hättest dir so behutsam wie ich neues Leben einverleibt, wärest du selbst eine Dirnenkönigin."

Als Ilithulas Wut endlich verebbt war trank Itoluhila noch vier erbeutete Leben in sich hinein, darunter das jenes Weihnachtsmanntruppführers, der dem schwarzen Engel das Revier abjagen wollte. Ja doch, er hatte ihr wahrlich ein sehr schönes Geschenk gemacht, indem er sie davon abgehalten hatte, ihrem Abhängigen Claude Andrews sofort beizuspringen. Denn nur so war es ja möglich gewesen, ihn als Anziehungspol für Halliti einzusetzen. Sicher, sie hatte mit ihm einen sehr ergiebigen Abhängigen geopfert, sich dadurch aber einer lästigen Schwangerschaft mit einer widerborstigen Tochter entzogen.

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Die befreiten Bundesschwestern Anthelias konnten nicht so gut helfen wie früher. Dennoch empfand die Führerin der Spinnenschwestern es als wichtigen Erfolg, vor allem, weil sie damit für sich und alle anderen Schwestern gezeigt hatte, daß sie sich nicht kleinhalten ließ. Immerhin konnten die zehn Befreiten ihr über ihre Angehörigen und portraitierte Angehörige aus vergangenen Tagen einige Informationen zuspielen. So erfuhr Anthelia, daß seit Weihnachten nichts mehr von der umhersuchenden Doris Fuller zu hören war. Der Umstand, daß die scheinbar so unstürzbare Daianira die Entschlossenen nicht mehr anführte und Beth McGuire die zehn Befreiten wieder in die Gruppe der sogenannten Entschlossenen aufgenommen hatte, gab Anthelia auch wieder mehr Einblick in die Tätigkeit der Nachtfraktionsschwestern. Sicher ging Anthelia davon aus, daß Lady Roberta Sevenrock Wind davon bekam, daß die zehn bereits für tot erklärten Hexen wieder aufgetaucht waren. Doch dagegen tun konnte sie nichts.

Es war vier Tage nach der Walpurgisfeier, an der neben Romina und Beth auch die zehn Befreiten teilgenommen hatten. Anthelia hatte einen Tag darauf noch auf Naaneavargias bevorzugte Weise das Frühlings- und Fruchtbarkeitsfest der alten Zeiten nachgefeiert. Jetzt saß sie in ihrer Schlafstube und überlegte, wie sie gegen die Abgrundstöchter vorgehen könne, wenn Hallitti wahrhaftig wiedergeboren werden sollte. Da bat Romina Hamton um eine Unterredung. Anthelia gewährte diese.

"Höchste Schwester, unser mit Internetsachen herumspielender Sonnensohn hat mir einen streng geheimen Bericht zugemailt. Ich mußte höllisch schnell zusehen, den aus dem elektronischen Briefkasten zu löschen. Zumindest war das Ding hochverschlüsselt. Es geht um eine über dem Irak abgeschossene Privatmaschine", begann sie und legte dann Anthelia den Geheimbericht vor. Warum der Bericht so geheim war lag an drei Sachen: Erstens sollte die Öffentlichkeit nicht erfahren, auf welche Weise eine unbewaffnete Geschäftsmaschine beim Flug in Richtung Bagdad vom Himmel gefallen war. Zweitens war der Eigner und registrierte Passagier des Flugzeuges ein ranghoher Diplomat aus Südamerika, was leicht von Feinden der USA und ihrer Verbündeten ausgeschlachtet werden mochte. Aber was die Angelegenheit endgültig zur Geheimsache der obersten Stufe gemacht hatte, das war die genetische Untersuchung der Leichenteile, die nach dem Absturz gefunden und geborgen werden konnten. Zwei Männer und eine Frau waren an Bord gewesen. Die Männer waren der Flugzeugeigner und sein Pilot. Die Frau jedoch war nach der Genuntersuchung keine geringere als die seit September 2000 zur Amokläuferin gewordene Astronautin Doris Fuller. Allerdings konnten sich die DNA-Experten nicht erklären, wieso die untersuchungsfähigen Körperzellen die einer fünfzigjährigen Frau waren, wo Doris Fuller gerade mitte dreißig gewesen war. Anthelia hörte und las diese Ungeheuerlichkeit. Dann fragte sie, ob der Absender dieser Nachricht Ungemach zu befürchten habe.

"Er schrieb mir, daß er sichergestellt habe, daß keiner mitbekommen hat, wo Absender und Empfänger der Nachricht wohnen. Ich hoffe mal, das kann ich so hinnehmen", sagte Romina Hamton. Anthelia fragte, ob Lorne Vane oder das LI davon erfahren hätten.

"Da fragst du mich zu viel. Aber ich weiß, daß jemand vom Ministerium und jemand vom LI bei der CIA arbeitet. Kann sein, daß dieses Dokument auch bei denen über den Tisch geflattert ist."

"Das tut auch jetzt nichts mehr zur Sache. Für mich steht fest, daß sie ihren unzureichenden Körper aufgegeben hat und weil sie das nicht von sich aus tun konnte ein paar geflügelte Krieger angestiftet hat, sie zu töten. Wahrhaftig aber dürfte ihr Geist nun entweder in den Leib Itoluhilas oder Ilithulas übergewechselt sein."

"Dann müssen wir jetzt darauf gefaßt sein, daß sie wiederkommt und der ganze Ärger vom neuen losgeht?" wollte Romina wissen.

"Damit müssen wir wohl rechnen", seufzte Anthelia. Doch dann mußte sie grinsen. "Allerdings könnte es ihr nicht helfen, solange ihr letzter Abhängiger immer noch lebt. Da könnte sie aus dem kochenden Kessel ins brennende Drachenmaul geraten sein und jetzt den Rest der Ewigkeit handlungsunfähig im Leib der ausgesuchten Schwester gefangenbleiben."

"Ja, aber wenn sie sich den Bruder von Richard Andrews vornehmen oder dessen Sohn, Julius Latierre?" fragte Romina. Anthelia hörte zu grinsen auf und überlegte. Dann sagte sie: "Prüf du nach, was mit dem Bruder von Richard Andrews ist. Um den Jungen mach ich mir die wenigsten Sorgen. Der wird besser beschützt als alles Gold in Gringotts."

"Dann sollen wir uns den Jungen nicht holen, um ihn vor diesen Abgrundsweibern zu schützen?" fragte Romina.

"Klar,ich könnte ihn anschreiben und höflich einladen, einen unbefristeten Urlaub von seinem Leben zu nehmen, weil eine der beiden wachen Abgrundsschwestern ihn gerne demnächst für ein Rendezvous mit ihrer körperlosen Schwester werben möchte. Was glaubst du, was dann passiert?" fragte Anthelia mit unüberhörbarem Sarkasmus. Romina nickte betrübt.

"Wenn das dazu führt, daß er dort bleibt, wo er am sichersten ist, und diese Brut nicht an ihn herankommt, fürchte ich eher, daß er uns nicht glauben wird", seufzte sie.

"Er ist stark geworden, Romina. Er hat mich bei unserem letzten Zusammentreffen sehr überrascht, wie du weißt. Ich gehe davon aus, daß er weiß, daß er immer noch von den Abgrundstöchtern gesucht wird. Außer Louisette käme auch keine von uns unauffällig an ihn heran. Und spätestens dann, wenn sie ihn entführt, weiß jeder, daß Louisette zu uns gehört. Denn der Junge steht in ständiger Verbindung mit starken Vertrauten, die erspüren können, wo er gerade ist. Wir können ihn uns nicht holen. Die einzigen, die ihn beschützen können sind diese Weltverbesserer von der sogenannten Liga gegen dunkle Kräfte und deren Gegenstück hier, dieses Laveau-Institut."

"Dann werden wir nichts tun?" wollte Romina wissen.

"So leid mir das tut, solange ich nicht weiß, wie ich die starke Verbindung zwischen dem Jungen und seinen stärksten Vertrauten trennen kann, ohne ihn zu töten, können wir nur beobachten." Die letzten Sätze sprach Anthelia mit unüberhörbarer Verdrossenheit. Denn insgeheim hätte sie Julius Latierre lieber gestern schon in ihr Haus geholt, um ihn für ein Leben an ihrer Seite zu erwärmen. Doch sie wußte zu gut, daß sie gegen das Erbe Ashtarias und die in einer Latierre-Kuh wiederverkörperte Darxandria einen schweren Stand hatte. Doch gerade diese für sie so betrübliche Gewißheit brachte sie wieder zum schmunzeln: "Wenn wir davon ausgehen, daß die Abgrundstöchter den jungen Zauberer immer noch für jenen zwar zauberstarken, aber unerfahrenen Burschen halten, der er damals schon nicht mehr war, dann könnte die, bei der Hallitti nun die nächsten Wochen und vielleicht Jahre zubringen muß, noch eine sehr große Überraschung erleben", sagte die höchste Schwester des Spinnenordens.

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Hallitti wunderte sich, daß sie immer noch alles mitbekam, was um sie geschah. Ein Viertelmonat war vergangen. Das wußte sie, weil sie heimlich Ilithulas Gedanken mithörte. Diese wußte sicher auch, daß die Wiederempfängnis wohl nicht vollzogen worden war. Darüber hinaus bekam Hallitti mit, daß Semiramis Bitterling mittlerweile einen Angehörigen der Liga gegen dunkle Künste in ihre Gewalt gebracht und verhört hatte, bevor sie ihm mit einem Gedächtniszauber die Erinnerung an die Gefangenschaft genommen hatte. Wer genau die Riesenvögel gerufen hatte konnte der andere nicht verraten, nur daß ein spanischer Kollege genaueres mitbekommen habe. Dann hatte Semiramis, die zur Tarnung wegen einer Unterredung mit Zaubertrankbrauern in Spanien dorthin gereist war, den betreffenden Zauberer in einem harten Duell, bei dem ihr die Fluchresistenz von Ilithulas Gabe geholfen hatte, in ihre Gewalt gebracht. Doch er konnte es nicht verraten, wer die Riesenvögel gerufen hatte. Nur daß es ein "Er" war hatte dieser herausbringen können. Semiramis Bitterling hatte es gerade noch geschafft, den Zauberer Riofuerte mit einem Gedächtniszauber zu versehen, bevor seine Kollegen angerückt waren und konnte mit einem Notfallportschlüssel entwischen. Sie hatte es so hingestellt, daß es die Wiedergekehrte war, von der Hallitti und Ilithula mittlerweile wußten, daß diese sich mit einer alten Magierin aus dem alten Reich körperlich und geistig zu einem Wesen verbunden hatte. Semiramis hatte Riofuerte ins Gedächtnis gepflanzt, daß sie diese Wiederkehrerin gewesen sei. "Das ist aber nicht ungefährlich, Semiramis. Wenn sie wirklich unverwüstlich und sehr kundig ist, wird sie nachforschen, wer da in ihrem Namen gegen diese Weltverbesserungssüchtigen gekämpft hat. Aber wenn es ein "Er" ist, warum kannst du nicht mehr erfahren?"

"Weil ein starker Geheimniswahrungszauber ihn wohl schützt. Fidelius womöglich oder der Zauber der schlummernden Preisgabe, der erst dann Erinnerungen freigibt, wenn ein diese betreffendes Ereignis bevorsteht oder stattfindet", vermeldete Semiramis. "Sardonia kannte diesen Zauber genauso wie alle, die sich mit dunklen Künsten auskennen. Er ist aber unbrechbar, solange das besagte Ereignis nicht eintritt. Darüber hinaus gibt es noch Familiengeheimhaltungszauber, die Angehörige mächtiger Zaubererfamilien davor schützen, gegen ihren Willen Verrat zu begehen und auch vermeiden, daß freiwillige oder unfreiwillige Mitwisser Verrat begehen können."

"Du hättest eigentlich weiterunterrichten sollen, Semiramis", stellte Ilithula mit gewissem Spott in der Stimme fest. "Weißt du auch, welche Familien diesen besonderen Schutzzauber wirken können?"

"Zwanzig in der alten Welt, von denen es auch Nebenzweige in Amerika und Australien gibt, Gebieterin. Ich habe dir alle Namen aufgeschrieben und auch eine Liste aller lebenden Mitglieder zusammengestellt. Denn ich habe ja nicht genug Zeit, um dir alle zu erläutern."

"Du gehörst immer noch mir, auch wenn der in meinem Wanst versickerte Claude Andrews dich fast von mir weggerissen hätte, um dich meiner verräterischen Schwester zu schenken. Ich sage, wann du mir welchenDienst erweist und wo!" stellte Ilithula die Verhältnisse klar. Doch dann sagte sie ruhig: "Doch du hast dich schon weit genug vorgewagt. Laß mir die Liste hier und erwarte meine Beschlüsse, wen du wann befragen sollst und zu mir bringen wirst!"

"Sehr wohl, Gebieterin. Ähm, trägst du nun deine entkörperte Schwester oder nicht?"

"Warum willst du das wissen?" fauchte Ilithula.

"Weil ich fürchte, daß meine Kämpfe der letzten Wochen eine Auffrischung eurer Gnade bald wieder erforderlich machen. Deshalb bin ich ja keine Lehrerin geblieben, weil du gesagt hast, daß der Fluch des Unnennbaren mich schneller ausgezehrt hat als die verrinnende Lebenszeit."

"Im Moment fühle ich keine Umstellung. Doch du hast recht. Du könntest mir schlicht weg zerfallen, wenn ich dir keine neue Lebenskraft einflößen kann. Doch ich bin bei einer angetretenen Schwangerschaft eingeschränkt. Versuche den Flötenspieler herzubringen! Dann kann ich dich vielleicht in Tiefschlaf versetzen wie meine Schwester Itoluhila das mit Hallitti gekonnt hat, bis ich sie sicher auf die Welt zurückgeworfen habe." Semiramis Bitterling bedankte sich für die Hilfe und Gnade. Dann wurde sie zu ihrem draußen liegenden Portschlüssel zurückgebracht.

Hallitti, die nicht durch Ilithulas Augen sehen konnte, mußte ihre worthaften Gedanken verfolgen. "Wenn ich in zwei Wochen keine Bestätigung fühle, daß du da drinnen neu heranwächst muß ich deinen letzten Abhängigen wohl eigenhändig umbringen, um dich richtig auszubrüten", gedankengrummelte Ilithula. Dann las sie die Liste der Namen. In Großbritannien war die Familie McFusty in der Lage, Familiengeheimnisse zu bewahren, aber auch die McClouds und die Bonhams. In Frankreich waren es die Eauvives, Latierres und Champverds. Als sie vorlas, wer alles zu diesen Familien gehörte, regte sich Hallittis Bewußtsein. "Julius Latierre, geborener Andrews, verheiratet mit Mildrid Latierre, seit dem zweiten Mai 2000 Vater von Aurore Béatrice Latierre. Anmerkung: Julius ist Ruster-Simonowsky-Zauberer und entging sowohl der Nachstellung der vernichteten Abgrundstochter Hallitti als auch den Schlangenkriegern Tom Riddles."

"Er lebt also nun sein Leben als Erwachsener", gedankenschnarrte Hallitti. "Ich dachte, er sei von diesen Hexen getötet oder bei der Zerstörung meines Lebenskruges vernichtet worden. Davon hat mir Itoluhila kein Wort gesagt."

"Tja, ist wohl ihre Art", erwiderte Ilithula. Dann fühlten beide, daß sie womöglich einen sehr wichtigen Hinweis erhalten hatten. Außerdem hatte Semiramis alles, was über Julius Latierre öffentlich bekannt geworden war mitgeliefert, weil er ja Hallittis Annäherungsversuch überlebt hatte und ja durch eine gewagte Bluttransfusion auch dem Schlangenmenschengift widerstanden hatte, was Semiramis als Expertin für magische Gifte und Flüche natürlich beeindrucken mußte. Ilithula stellte zum Schluß fest: "Der Junge weiß nicht, welches große Glück er vor sich hat, es sei denn, dir liegt nichts daran, deine späte Genugtuung zu bekommen, Kleines."

"Noch bin ich kein Wickelkind, also nenn mich nicht Kleines", gedankengrummelte Hallitti. Dann bejahte sie, daß sie Genugtuung für die Sache in der Mojavewüste haben wollte. Die Idee, den zaubermächtigen Jüngling doch noch irgendwie zu unterwerfen gefiel ihr.

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Ilithula fühlte zwar, daß sie etwas an Kraft verloren hatte, doch von den körperlichen Umstellungen einer Schwangerschaft fühlte sie nichts. Jetzt war es schon einen halben Monat her, daß Hallitti ihr wortwörtlich in den Schoß gefallen war, und das nur, weil die Tochter des düsteren Windes gemeint hatte, sich an ihrer anderen wachen Schwester rächen zu müssen. Alle Versuche, sie anzurufen waren fehlgeschlagen. Dieses Biest hatte sich gegen sie, eine leibliche Schwester, vollständig verschlossen. Da meldete sich Hallittis Gedankenstimme: "Ich fühle mich immer noch so leicht, aber in deinen Eingeweiden eingesperrt. Trägst du mich jetzt schon als neue Tochter oder was?"

Ilithula verzog das Gesicht. Die Frage war leider all zu berechtigt. Sie verließ ihre sichere Höhle und tauchte unsichtbar im Stadtzentrum von Bagdad auf. Dort suchte sie eine der Apotheken, wo es auch jene Früherkennungsmittel gab, um eine begonnene Schwangerschaft nachzuweisen. Der Apotheker händigte ihr das gewünschte Mittel aus und erklärte ihr, wie sie es benutzen mußte. Unter der willentlichen Kontrolle der Abgrundstochter blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr die kleine Packung ohne Bezahlung zu überlassen. Sie befahl ihm dann noch, ihren Besuch und ihr Anliegen zu vergessen. Dann verließ sie das Geschäft.

Wieder zurück in ihrer Höhle trank sie erst einmal etwas. Auch wenn ihre eigentliche Nahrung die Lebenskraft beseelter Wesen war, aß und trank sie doch auch zwischendurch wie ein kurzlebiges Menschenkind, das Mutter und Vater besaß. Als sie dann genug Blasendruck hatte führte sie den Schwangerschaftstest durch, obwohl sie nicht wußte, ob dieser so anschlug wie bei diesen Zwei-Eltern-Kindern. Wenig später hatte sie das Resultat: Sie war nicht schwanger. Also hing der Geist ihrer Schwester noch in ihr fest, ohne einen neuen Körper zu beseelen. Sie erkannte, daß ihre Schwester Itoluhila sie noch gründlicher verladen hatte, als sie erst gedacht hatte.

"So wie es aussieht kann ich dich erst als meine Tochter kriegen, wenn dein letzter Abhängiger ganz erledigt ist", grummelte sie. Hallittis Geist erwiderte: "Ich kann ihn jetzt nicht mehr umbringen. Du mußt das machen."

"Was du nicht sagst", gedankengrummelte Ilithula zurück. Doch sie wußte, daß ihr wohl keine andere Wahl blieb.

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Die Bewohner von Salisbury im Bundesstaat Maryland waren im Frühling ja einiges gewohnt, Wolkenbrüche, Sturmfluten und strahlenden Sonnenschein, zwischendurch auch noch einmal Schneeschauer. Doch als am zehnten Mai mitten auf dem Meer keine zwei Kilometer vor dem Strand eine laut tosende Wasserhose auftauchte staunten doch viele. Dann, als die wild rotierende Säule aus Meerwasser den Strand erreichte, wuchs sich das unerklärliche Wetterereignis zum echten Hurrikan aus, der von Minute zu Minute an Stärke zulegte. Der Wirbelsturm fauchte und heulte über den Strand und warf mächtige Wellen gegen die Kaimauern des Hafens. Die Wetterwarte in der Stadt registrierte innerhalb von nur drei Minuten einen Druckabfall von über zweihundert Millibar. Das war höchst ungewöhnlich.

Die Mitarbeiter des Laveau-Institutes, die gerade als Familie Wilson auftraten, erkannten sofort, daß der Sturm durch eine dunkle Windzauberei entstanden war. Ihnen war auch klar, daß sie aus der magisch umfriedeten Schutzzone um das Haus der Wilsons herausgescheucht werden sollten. Doch Elysius Davidson, der gerade mal wieder den kleinen Jerimy verkörperte, rief in das linke Ohr seines braun-weißen Teddybären: "Angriff auf Schutzzone sieben mit starkem Windzauber. Louis Anore bitte sofort herkommen und Gegenzauber aufbauen!" Die ersten Dachpfannen klapperten. Gleich würden sie heruntergeweht. Laut heulend rüttelte der immer stärker werdende Sturm an Fenstern und Türen. In Davidsons Ohren knackte es wie beim Steigen um mehrere hundert Höhenmeter in kurzer Zeit. Dann hörte er jemanden laut aber außerhalb europäischer Tonskalen singen. Dazu mischte sich noch das rhythmische Schlagen einer Trommel. Anore, der LI-eigene Experte für schamanistische Ritualzauber und besonders für Windzauber, hatte Davidsons Ruf gehört und unverzüglich gehandelt.

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Ilithula keuchte. Normalerweise war das heraufbeschwören eines örtlich begrenzten Wirbelsturmes doch kein Akt. Sie saß in einem Boot auf dem Meer, im Auge der von ihr beschworenen Windmagie. Als der von ihr entfachte Wirbelsturm über den Strand hinausreichte trieb sie ihn noch einmal kräftig an und verschwand dann aus dem Boot. Jetzt mußten diese Nachahmer aus ihrem geschützten Haus herauskommen. Denn gegen die tosenden Luftmassen half ihr Einfriedungszauber nichts. Sie wußte, daß Jerimy Wilson nicht mehr hier war. Doch sie wollte den fangen, der ihn gerade zur Belustigung oder Beruhigung der anderen Kurzlebigen darstellte. Der wußte sicher, wo der echte Junge war. So postierte sich Ilithula zweihundert Meter vor dem Haus. Eine unsichtbare Aura schützte sie vor den tosenden Luftmassen. Zudem war sie noch unsichtbar. Zwei Minuten vergingen. Um sie herum flogen die ersten losen Gegenstände durch die Luft, brachen Zweige von den Bäumen oder lösten sich Dachziegel. Der Sturm würde noch mehr zunehmen. Wenn diese Nachahmer das Haus nicht besonders stabil gezaubert hatten, würde es ihnen förmlich davongeblasen werden, dachte Ilithula. Dann hörte sie das leierige Singen und fühlte sofort, daß jemand sich gegen ihre Windbeschwörung stemmte.

Louis Anore, Schamane der Inuit und Vertrauter des Windes, gehörte zu den Mitarbeitern des Laveau-Institutes, die von Geburt an einen anderen Zugang zur Magie gelehrt bekamen. Als sein Chef ihn über eine errichtete Fernrufverbindung zu Hilfe gerufen hatte, war er sofort erschienen. Er blickte auf das Geschehen um sich herum. Gerade fegte eine besonders starke Windböe fauchend heran. Doch mit drei Worten umschloß sich der Inuk mit einem Zauber des Windfriedens. Dann begann er, das Ruhelied des Windes zu singen, daß bei einem natürlichen Sturm den Bereich in Rufweite vor stürmischen Winden verschonte oder bösen Windzauber bekämpfte. Er erkannte sofort, daß hier wahrliche böse Windmagie im Spiel war, allerdings keine, wie übliche Zauberstabbenutzer sie einzusetzen verstanden. Es war etwas, daß wie eine Vereinigung zwischen der Luft und einem starken, feindlichen Geist war. Aber es war kein Luftdschinn aus dem Land östlich des großen Meeres. Er sang gegen die feindliche Zauberkraft an, die diesen künstlichen Sturm erschaffen hatte und schaffte es nach nur drei Minuten, den Hurrikan abzuschwächen. Dabei sah er allein vor sich das angestrengt und verärgert dreinschauende Gesicht, daß dem eines neunjährigen Mädchens glich. Dunkelgrüne Augen blickten ihn haßerfüllt an. Schwarzes Haar wehte wild um das frei vor ihm schwebende Gesicht. Er fühlte die Nähe des bösen Geistes, ein weibliches Wesen. Mit Worten der Bedrängung und dem Lied der Windesruhe zwang er das böse Wesen dazu, diesen Ort zu verlassen. Mit einem letzten Aufschrei verflog die Vision des Gesichtes. Louis Anore fühlte, wie der Rest der feindlichen Windzauberei wortwörtlich vom Winde verweht wurde. Die Unordnung in den natürlichen Luftbewegungen wurde aufgehoben. Mit seinem Lied stellte er den vom natürlichen Wettergeschehen vorgegebenen Zustand wieder her und bedankte sich rituell bei seinem Namensgeber, dem Windgott Anore, daß er ihm gnädig gewesen war und jene, die seine Macht herausgefordert hatte, vertrieben hatte. Als Louis seinen Kollegen und dem gerade in Körper und Kleidung eines viereinhalbjährigen Jungen erscheinenden Chef Bericht erstattet sagte Davidson mit der gerade verfügbaren Stimme:

"Dann haben wir es amtlich, daß auch die anderen Abgrundstöchter hinter den Wilsons her sind. Nachdem Hallitti es nicht geschafft hat, haben wir es jetzt mit Ilithula zu tun bekommen, ihrer natürlichen Todfeindin, Louis."

"Sie ist eine Beleidigung des göttlichen", schnarrte Louis Anore. "Aber sie hat nicht ihre volle Stärke gezeigt. Ich konnte fühlen, daß sie durch irgendwas oder irgendwen zurückgehalten wurde. Einen Moment meinte ich, neben ihrer Stimme noch die einer anderen Frau zu hören. Doch ich konnte das zunächst nicht weiterverfolgen. Davidson nickte und sagte dann sehr beklommen:

"Dann ist Hallitti offenbar ihren nicht mehr brauchbaren Körper losgeworden und teilt sich mit Ilithula den Körper in untergeordneter Stellung. Womöglich trägt diese Windmacherin ihre eigene Schwester nun als jungfräulich empfangene Tochter aus." Diese Feststellung gefiel keinem der Laveau-Mitarbeiter. Doch Davidson irrte sich. Gerade der Angriff Ilithulas bewies, daß Hallitti noch nicht zur neuen Tochter der eigenen Schwester heranwuchs. Ihnen war jedoch erst einmal wichtig, daß der Angriff zurückgeschlagen worden war. Louis Anore sollte nun im Gästezimmer des Wilson-Hauses unterkommen, um künftige Angriffsversuche unverzüglich abzuwehren.

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Anthelia fühlte sich erst ein wenig verstimmt, als ihre spanische Mitschwester Carlota Montealto Casagalinas ihr persönlich mitteilte, daß jemand es gewagt hatte, einen gewissen Fernando Riofuerte von der Liga gegen die dunklen Künste zu überfallen und zu verschleppen. Allein das war schon erstaunlich. Doch was Anthelia zunächst mißfiel war die Behauptung des später freigelassenen, daß seine Entführerinnen die Angehörigen der schwarzen Spinne waren, die von ihm wissen wollten, ob er den Rufer der grauen Riesenvögel kenne und wo dieser zu finden sei. Offenbar, so erkannte Anthelia, wollte da mal wieder wer eine falsche Spur legen. Der oder die durfte damit nicht durchkommen, wenn deshalb erneut zur großen Jagd auf sie und ihre Mitschwestern geblasen wurde. Dann aber sagte Carlota: "Der Minister wollte erst groß verkünden, daß das Stillhalteabkommen damit endgültig erledigt sei. Doch Riofuerte hat selbst gesagt, daß er wohl einem Gedächtniszauber aufgesessen sei, da - und jetzt kommt's - wir ja wüßten, wer die grauen Riesenvögel gerufen habe und daher ja wohl keinen Grund hätten, deshalb wen zu überfallen, dabei unser Leben zu riskieren und das sowieso schon sehr zerbrechliche Abkommen mit den Zaubereiministern zu beenden. Riofuerte erwähnte, daß er sich mit seinen Kollegen aus der Liga unterhalten habe und die Franzosen ihm klargemacht hätten, daß der Überfall eindeutig nicht von uns verübt worden sein kann, da ja unsere Anführerin, also du, Höchste Schwester, es ja "aus erster Hand" wüßte, wer da warum wie diese Riesenvögel gerufen habe. Ähm, Da die Liga das wohl glaubt und den Minister wohl überzeugen konnte, daß Riofuertes Angreifer wer anderes gewesen sein muß, darf ich dich fragen, ob diese Vermutung stimmt, Höchste Schwester?"

"Im vollem Umfang, Schwester Carlota", erwiderte Anthelia und mußte lachen. "I-him vo-ho-hol-len U-humfang." Dann vereitelte ein unbändiger Lachanfall jedes weitere klare Wort. Erst nach anderthalb Minuten hatte sich Anthelia wieder soweit gefangen, daß sie der verdutzten Mitschwester erklären konnte, daß die Magierin, mit der sie eins geworden war, an dem Ort gewohnt habe, an dem das Mittel zum Ruf der grauen Riesenvögel aufbewahrt worden war. "Das ist ja überhaupt einer der Gründe, warum ich so wie ich jetzt bin vor dir stehe, weil jener, der das Werkzeug gesucht hat, jene Magierin, mit der ich eins wurde aus einer jahrtausende währenden Gefangenschaft befreien mußte, um ihr zu entkommen." Carlota machte nur "Häh?!" Anthelia verfiel wieder in ungehemmtes Lachen. Doch als sie dieses überstanden hatte wurde sie schlagartig bitterernst:

"Wer immer diesen Riofuerte entführt und verhört hat sucht nach diesem Werkzeug. Es ist das Artefakt eines Großmeisters der Luftmagie. Offenbar hat da jemand Angst vor Konkurrenz. O, ich muß mich berichtigen, es ist eine "Sie", die Angst vor Konkurrenz hat."

"Wen meinst du, Höchste Schwester?" wollte Carlota erfahren, der der schlagartige Stimmungsumschwung ihrer Anführerin unheimlich war.

"Es gibt zwei wache Töchter des Abgrundes, Itoluhila, die Tochter des schwarzen Wassers und Ilithula, die Tochter des düsteren Windes, gegen welche Sardonia damals eine Blutfehde geführt hat. Wahrscheinlich hat Ilithula erfahren, daß die grauen Riesenvögel nur von einem Bewohner des festen Erdbodens gerufen werden konnten und will nun diesen Jemand in die Finger bekommen und vor allem das Instrument, mit dem er das geschafft hat. Was sie dabei wohl nicht weiß, aber deshalb vielleicht einen noch größeren Fang machen könnte, ist, daß der Rufer auch in anderer Hinsicht für sie interessant sein kann." Anthelia wunderte sich, warum sie nicht frei heraus sagen konnte, daß es Julius Latierre war und das Ilithula den Jungen sowieso wegen seiner Abstammung von Hallittis letztem Abhängigen jagen mochte. Dann würde sie zwei Erfolge mit einer Aktion einfahren. Sollte es ihr wahrlich gelingen, ihn dazu zu zwingen, sich ihr voll und ganz anzuvertrauen, so würde sie wohl nicht umhinkommen, ihn und sie aus der Welt zu schaffen. Denn Ailanorars Stimme durfte keiner dieser vaterlosen Huren in die Hände fallen. Wenn überhaupt, dann durfte nur sie, Anthelia/Naaneavargia, das Instrument aus Mondglanz in ihrem Besitz haben.

"Ähm, wissen die von der Liga das auch?" wollte Carlota wissen. Da ploppte es, und Melonia Bluetail stand im Weinkeller der Daggers-Villa. Sie erfaßte, daß sie mitten in ein Vier-Augen-Gespräch hineingeplatzt war und verneigte sich mit hochrotem Gesicht. Anthelia sah die befreite Mitschwester an und fragte sie, welche Meldung sie überbringen müsse, die keinen Aufschub dulde.

"Es hat einen Hurrikan in Maryland gegeben, mitten im Mai und sehr eng begrenzt. Ich hörte von einem Vetter, der in Maryland wohnt, daß der Sturm sich auf den Ort Salisbury konzentriert hat. Aber der Sturm muß magischer Natur gewesen sein. Sonst hätten die Leute vom LI nicht ihren Eskimo-Windmacher hingeschickt, um den Sturm wegzusingen."

"Schwester Carlota", wandte sich Anthelia auf Spanisch an ihre europäische Mitschwester, "ich danke dir für diese so wichtige Nachricht aus deiner Heimat. Wie es aussieht wagt sich die erwähnte Kreatur nun weit vor, wohl weil sie hofft, das von Hallitti begangene Versäumnis auszuräumen. Das bestätigt, was ich schon vermuten mußte. Bitte reise in deine Heimat, bevor dich noch jemand vermißt! Halte dort weiterhin Augen und Ohren offen!" Carlota Montealto Casagalinas nickte und disapparierte. Anthelia hatte nun Zeit genug, sich von Melonia alles erzählen zu lassen, was diese mitbekommen hatte. Als die vor kurzem aus Hynerias Kristalleinkerkerung befreite Mitschwester wieder fort war dachte Anthelia: "Besser konntest du keinen mit der Nase drauf stoßen, daß du gerade ein großes Problem hast, Windsbraut. Dein Pech, daß du offenbar durch die Last, die du trägst, in deinen Fähigkeiten eingeschränkt bist." Dieser Gedanke zauberte ein leichtes Lächeln auf ihr makelloses Gesicht. Vielleicht sollte sie noch einmal nach Spanien und versuchen, Itoluhila zu interviewen. Doch dann dachte sie, daß diese sich wohl gerade sehr unauffindbar hielt, um nicht mit ihrer sicherlich verärgerten Schwester aneinanderzugeraten, weil die nun mit Hallittis entkörpertem Geist herumlaufen mußte.

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"Du bist immer noch unempfangen, verdammt. Solange ich dich mit mir rumschleppen muß bin ich zu schwach", schimpfte Ilithula. Hallitti erwiderte: "Kann ich was dafür, daß ich mal wieder auf halbem Weg hängengeblieben bin? So musikalisch klingt dein Bauch auch nicht, daß ich hier alle Ewigkeit festsitzen will."

"Gut, dann hole ich mir seinen verfluchten Sohn."

"Du darfst ihn nicht töten, wenn ich durch ihn einen neuen Körper kriegen will, Ilithula."

"Weiß ich. Im Gegensatz zu Itoluhila und dir kenne ich das Vermächtnis unserer erhabenen Mutter in allen Einzelheiten", gedankenschnaubte Ilithula.

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Das Mädchen fühlte bereits die ersten Symptome. In ihrer Sprache nannte man das einen Affen schieben. Sie brauchte verdammt noch mal Geld, wenn sie von Lobo dem Narbengesicht neuen Stoff haben wollte. Bisher hatte sie es geschafft, es nicht zu tun. Doch ihre Familie konnte sie nicht anpumpen. Die würden sie sofort in die Klapse einweisen lassen oder sonst wo hinstecken, wo sie nicht eher wegkam, bis die meinten, daß sie ganz runter wäre. Aber sich zu verkaufen, wildfremde Männer an ihr rumspielen und mit ihr rummachen zu lassen, das hatte sie bisher verabscheut. Doch jetzt, wo sie nichts mehr hatte, mußte sie zusehen, daß sie Geld kriegte, und wenn es nur so ging, daß sie einen Typen erst über sie drüberlassen mußte, um ihn dann ganz abzuzocken. Juana Elena Ortega Valdez wollte hier in Sevilla ihre ersten Fangversuche landen. Deshalb hatte sie sich so knapp wie es ging bekleidet. Sie mußte aufpassen, nicht zu früh das Zittern zu kriegen, damit nicht gleich jeder hier wußte, was sie nötig hatte. Nachher trieben die Kerle noch den Preis runter, weil sie so oder so Geld brauchte. Sie stellte sich an eine spärlich beleuchtete Straßenecke, nicht zu dicht im Stadtzentrum. Sie hatte nachgeforscht, daß hier von Zeit zu Zeit ein paar Südamerikanerinnen anschafften. Gut, die hatten ihre sogenannten Beschützer, brutale Männer. Sie konnte nur hoffen, nicht so einem ausgeliefert zu sein. Was hatte sie gehört? Die Kleinganoven hier hielten sich zurück, weil in diesem Stadtviertel ein Supergangster das Sagen hatte, den sie nur den schwarzen Engel nannten.

"Eh, Kleine, die Ecke ist die von Rosa Margarita. Wenn die gleich hier antanzt ist ein neues Gesicht fällig", krakehlte eine Frau in einer dunklen Einfahrt das gerade sechzehn Jahre alte Mädchen an. Dieses reagierte nicht. "Eh, Schlampe, hast du die Ohren zu? Das ist Rosa Margaritas Platz. Verpiss dich!"

"Was ist denn bei euch los, Blanca?" fragte eine Frauenstimme von weiter die Straße runter.

"So'n Baby hat sich auf Rosa Mags Platz hingepflanzt und will der die Tour versauen", erwiderte die Frau, die Juana schon angepöbelt hatte. Keine halbe Minute später stand ihr eine rassige Mischlingsfrau mit wasserblauen Augen gegenüber. "Hi, ich bin Loli, die Aufpasserin hier. Dein Leben ist so schon zu kurz, um dich mit einer meiner Kolleginnen anzulegen. Also geh nach Hause und werd erst mal richtig groß, bevor du dich bei uns hinstellen möchtest." Die Frau klang wohlwollend, doch ihr Blick verhieß auf einmal ungemach. Ehe Juana, deren Entzugserscheinungen ihr immer mehr zu schaffen machten reagierte, bekam sie von der anderen eine schallende Ohrfeige. "Ist euer verdammtes Leben nicht schon viel zu kurz, daß ihr meint, euch immer wieder vergiften zu müssen und gierigen Leuten euer Geld und euer Leben zu opfern?!" rief sie. "Los, mach dich vom Acker und bleib bloß von unseren Straßen weg. Der schwarze Engel hat verboten, daß Fichserinnen in seinem Revier anschaffen. Abflug!"

"Eh, Alte, ich brauch was, verdammt",heulte Juana.

"Eindeutig, du brauchst was, aber nicht hier. Sag Lobo, der soll damit aufhören, seine Kundinnen zu uns zu schicken, sonst feiert er Hochzeit mit Gevatterin Tod! Steck dem das!" Juana flennte nun hemmungslos. Doch das stimmte die andere nicht freundlicher. "Hier ist das Revier vom schwarzen Engel. Ich bin seine Asistentin. Wenn du nicht von selbst von dem Dreck loskommst such dir wen, der dir hilft, aber garantiert nicht hier. Wir hier machen es, weil wir das wollen und nicht, weil jemand unser Geld haben will, kapiert! Abflug!" Juana stieß aus, daß sie verrecken würde, wenn sie nicht mindestens tausend Peseten kriegen würde.

"Ja, und dann sind's zehntausend, dann hunderttausend und dann 'ne Million, weil Lobo und die anderenDreckhändler denken, daß in unserem Revier gut Kasse gemacht wird. In zehn Sekunden bist du hier weg, oder ich werf dich persönlich auf den Müll, wie sich das für wertlose Verpackungen gehört." Juana wollte auf die andere los, die jedoch genau das erwartet hatte. Ein Handkantenschlag genügte, und das Mädchen fiel bewußtlos auf die schmutzige Straße. "Mist, wieder 'ne Nadelpuppe? Die werden echt immer jünger", bemerkte die Frau, die von der blauäugigen Aufpasserin als Blanca angesprochen worden war.

"Ich habe anderswo schon welche mit zwölf gesehen, die sich das Zeug besorgen mußten", erwiderte Loli. Dann klaubte sie das bewußtlose Mädchen auf und trug es wie einen Sack Federn zu ihrem Auto. Sie legte Juana beinahe Zärtlich auf den Rücksitz und setzte sich hinter das Lenkrad.

Zwanzig Minuten später wurde vor dem Tor des Hospitals Santa Rufina ein bewußtloses Mädchen gefunden. Zunächst stellten die Ärzte fest, daß sie eine mächtige Beule am Kopf hatte. Dann jedoch fanden sie auf ihrem Körper mehrere Einstiche, den jüngsten von vor einem Tag. Bei dem gefundenen Mädchen lag ein Zettel, der von einer Frauenhand beschrieben und mit einem schwarzen Engel mit ausgebreiteten Flügeln markiert war.

Die kleine war im Revier vom schwarzen Engel. Wollte da anschaffen. Der Boss will keine Fichserinnen. Kriegen Sie raus, wer sie ist und kriegen Sie ihre Leute dazu, sie von dem Dreck loszukriegen!

Mit freundlichen Grüßen

Die Aufpasserin vom schwarzen Engel

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Semiramis Bitterling kannte ihren neuen Auftrag. Ihre wahre Herrin hatte ihr über die errichtete Geistesverbindung befohlen, einen gewissen Julius Latierre in ihre Gewalt zu bringen. Natürlich wußte sie auch, warum Ilithula ihn haben wollte. So brauchte sie nicht nachzufragen. Allerdings wußte sie auch, daß der junge Zauberer von Leuten aus der Liga gegen dunkle Künste beschützt werden mochte und daß er sicherlich auch starke Abwehrzauber in Beauxbatons erlernt hatte. Sie wußte aber auch, daß er sehr wißbegierig war und wohl darauf eingehen mochte, nach England zu kommen, wenn sie durchblicken ließ, daß es wohl passieren könnte, daß künstliche Zauberwesen entstehen konnten. So beantragte sie bei Minister Shacklebolt eine Zusammenkunft interessierter Zaubertrank- und Zauberwesenexperten, die Mitte Mai stattfinden sollte. "Sieh zu, den Jungen ohne Zauberstabzauber zu überwältigen und nimm ihm alles ab, was an magischen Sachen bei ihm ist!" befahl Ilithula, als Semiramis bestätigte, daß die Zusammenkunft in Upper Flagley stattfinden konnte.

Am neunzehnten Mai trafen dreißig Hexen und Zauberer aus Europa in der Gemeindehalle von Upper Flagley ein. Das Thema lautete: Zaubertrankinduzierte Nachahmung von existierenden Zauberwesen und/oder Neuschöpfung bis dahin unbekannter Zauberwesen aus natürlich gewachsenen Menschen und Tieren Semiramis hatte es durch gründliche Recherche hinbekommen, die Wollmilchmenschen und die Schlangenkrieger als quasi zaubertrankbasierte Zauberwesenart zu sehen und hatte angekündigt, auf Grund ihrer Forschungen neue, erschreckende Ergebnisse erzielt zu haben.

Sie überblickte die Gruppe der Teilnehmer. Fast jeder und jede, der und die mit Zauberwesen und Zaubertränken beschäftigt war, hatte sich eingefunden. Aus Frankreich war die Sprecherin der Heilzunft, Antoinette Eauvive erschienen, die zusammen mit Julius Latierre angekommen war. Semiramis kannte das Bild des durch mehrere magische Vorkommnisse zum hünen erwachsenen Zauberers und hielt sich nicht zu lange damit auf. Ceridwen Barley war ebenfalls anwesend. Die rothaarige Hexe beäugte Semiramis mit gewissem Mißtrauen, als wisse sie, weshalb diese Veranstaltung eigentlich stattfand. Aus Australien war der französische Zaubertierexperte Maurice Pivert erschienen. Semiramis hoffte nur, daß die Führerin der Spinnenschwestern nicht auch noch kam. Auch wenn sie die Zusammenkunft auf Europa beschränkt hatte mochte dieses unverwüstliche Weibsbild doch irgendwie Wind davon bekommen haben. Schon eine komische Vorstellung, dachte Semiramis im Schutz ihrer hervorragenden Legilimentik, wo sie selbst die Dienerin der Tochter des düsteren Windes war.

Die Diskussion wurde von Amos Diggory eröffnet, den Bitterling als Komoderator angeheuert hatte. Er erwähnte, daß man nicht mehr darüber schweigen könne, daß es Zaubertränke gebe, die einfache Menschen permanent in magisch begabte Halbgeschöpfe verwandeln konnte. Er erwähnte den Lykonemesis-Trank, der die Werwolfsverwandlung steuerbar und willentlich beherrschbar machte, aber auch den Unfall, aus dem heraus die erste Wollmilchfrau Australiens entstanden war. Semiramis nickte. Pivert bat ums Wort und erhielt es. Er wandte ein, daß zu diesem Thema auch eine der beiden Heilerinnen hätte gehört werden sollen, die damals den Unglücksfall bearbeitet hatten. Doch er akzeptierte, daß im Moment erst einmal die europäer besprechen sollten, was in nächster Zeit zu tun war. Diese kurzfristige Zusammenkunft sollte als Vorbereitung für gesonderte Konferenzen dienen, wo die einzelfachlichen Gegebenheiten erörtert werden sollten, so Semiramis Bitterling. Das eröffnete ihr die Möglichkeit, über ihre neuen Erkenntnisse zu referieren. Sie hob hervor, daß die Zusammenkunft als S2-Ereignisse der magischen Verwaltungsvorschriften gewertet wurde, es aber durchaus auch um Sachen gehen mochte, die einen höheren Geheimhaltungsstatus erforderten. Sie sprach über Tränke, die bestimmte Eigenschaften wie Gewandtheit, Sehvermögen, Gehör oder Unverwüstlichkeit permanent erweitern konnten, aber auch, daß es katalytische Tränke gebe, die mit den Körperteilen bekannter Zauberwesen postnatale Mutationen geben könne, die nicht mehr umzukehren waren. Der Fall Luella Fairsky in Australien habe ja bewiesen, wie schnell eine permanente Körperveränderung durch Zusammenwirken von Zauberstabzaubern und Zaubertränken passieren könne. Dann warf sie nicht ganz zufällig ein, daß der offenbar getötete Zauberer Igor Bokanowski ja solche Versuche gemacht habe und die Nachzucht der Entomanthropen Sardonias ja beweise, wie neuartige Zauberwesen oder -tiere gezüchtet werden konnten. Sie blickte mit ihren dunkelbraunen Augen auf Julius Latierre und fragte ihn, ob er der interessierten Zuhörerschaft seine Erlebnisse in Bokanowskis Burg schildern mochte. Der Zauberer nickte arglos und kam auf die kleine Bühne. Amos Diggory nahm im Publikum Platz. Julius setzte gerade an, über seine Entführung in die Monsterburg zu sprechen und erwähnte dabei, daß eine Kopie von Belle Grandchapeau ihn überrumpelt hatte, als ihm und fast allen anderen die Besinnung schwand. Das ging so plötzlich, daß keiner darauf gefaßt war. Wie hätten die Anwesenden auch wissen können, daß Semiramis Bitterling heimlich vor der Zusammenkunft eine gläserne Phiole in jede der dekorativ aufgestellten Blumenvasen untergebracht hatte, die bei Erwähnung des Namens Belle Grandchapeau unhörbar ein farb- und geruchloses Betäubungsgas freisetzten, das innerhalb von nur einer Sekunde alle nicht davor geschützten Lungenatmer ausschaltete. Julius schaffte es nicht einmal, sich abzufangen, als er wie eine Marionette mit durchtrennten Fäden zusammenklappte und auf die Bühne stürzte. Semiramis, die wegen ihrer Beziehung zu Ilithula gegen magische und unmagische Gifte immun war, fing ihn mit bloßen Händen auf. Dabei meinte sie, ein starker elektrischer Strom fließe durch ihren Körper. Sie erschauerte. Doch als Julius vollkommen besinnungslos war fühlte es sich nur wie ein sanftes Prickeln an. Die einzig bei Besinnung gebliebene Hexe lächelte alle auf ihren Stühlen zusammengesackten Teilnehmer überlegen an. Semiramis Bitterling wußte, daß sie gerade vier Minuten Zeit hatte, bis das von ihr ausgebrachte Betäubungsmittel seine Wirkung ebenso schlagartig verlor wie sie eingesetzt hatte. Sie wollte Julius alles abnehmen, was er an magischen Gegenständen am Körper trug. Doch sowohl die Armbanduhr, als auch das Gürtelfutteral mit dem Zauberstab wie auch der umgehängte Brustbeutel waren Diebstahlsicher bezaubert. Doch gegen diesen hatte die findige Hexe heimlich einen Gegenzauber entwickelt. Sie brauchte nur drei Tropfen Blut von Julius und sich auf einen aus reinem Silber bestehenden, mit eingravierten Runen beschrifteten und von mehreren Zaubern durchdrungenen Unterteller träufeln zu lassen, mit dessen Unterseite sie die geschützten Gegenstände berühren mußte und "Confidentis!" flüstern mußte. Allerdings mußte sie die geschützten Gegenstände danach zu ihrem Wohnort bringen. Denn die Wirkung des Diebstahlschutzes wurde nur unterbrochen, nicht vollständig beendet. Die eine Minute, die die Wirkung blieb reichte jedoch aus. Semiramis brachte per Apparieren die erbeuteten Dinge in ihr mit mehreren Flüchen und Gegenflüchen umfaßtes Haus. Dann kehrte sie in den Besprechungsraum zurück. Dann holte sie ein blaßgrünes Taschentuch aus ihrer Handtasche und legte es auf Julius' Stirn. Sie legte ihre Hand auf das Tuch und murmelte: "Lebensquelle!" Sofort setzte die Magie eines Portschlüssels ein und trug beide davon.

Als sie sich unter gleißender Sonne mitten in der Wüste wiederfand, rief sie in Gedanken nach Ilithula. Diese erschien aus dem Nichts heraus. "Irgendwas ist an ihm, was mich erst abweisen wollte. Ich habe aber alle seine Zaubersachen mit meinem berunten Vertrauensteller an mich genommen. Kannst du den Jungen so in deine Höhle bringen, Herrin?"

"Wie lange wird er noch schlafen?" wollte Ilithula wissen. "Noch drei Minuten", erwiderte Semiramis. "Dann hilf mir, ihn hineinzutragen!" befahl Ilithula und faßte an. Dabei zuckte sie zusammen, als sei irgendwas an oder in dem Jungzauberer elektrisch geladen. Doch sie packte entschlossen zu und trug ihn mit Semiramis zu der Stelle, wo der Eingang zur Schlafhöhle Ilithulas lag. Diese tat sich auf. Die Abgrundstochter und die Hexe bugsierten Julius gerade so durch den Eingang.

"Irgendwas ist in ihm, daß offenbar feindlichen Zugriff vermeiden soll. wird ihm nichts nützen, solange er bei mir ist. Wenn er tut, was ich ihm sage, wird er diesen Schutz abstreifen. Aber nun sieh zu, wieder dorthin zu kommen, wo du hingehörst, bevor du vermißt wirst!" befahl Ilithula.

"Gelten die anderen Anweisungen noch, Herrin?" fragte Semiramis unterwürfig.

"Ja, sie gelten noch. Beschaffe mir seine Mutter, seine Frau und seine Tochter! Denn nur mit diesem Unterpfand kann ich ihn zwingen, in meine innere Obhut zu kriechen." Semiramis nickte. Dann beschwor sie vor der Höhle die Portschlüsselmagie noch einmal.

Als sie wieder auf der Bühne ankam legte sie sich dekorativ hin, als sei sie ebenfalls von der Wirkung des Betäubungsgases beeinträchtigt worden. Als diese nachließ stellten alle bestürzt fest, daß Julius Latierre verschwunden war. Sofort wurde gerätselt, wie das möglich war. Eine Rückschaubrillenuntersuchung wurde veranlaßt. Doch weil Semiramis den Ort bereits vor zwei Tagen in einen Unortbarkeitszauber eingeschlossen hatte, ergab die Rückschau nur dauerhafte Nachtschwärze. So blieb den britischen und französischen Besprechungsteilnehmern nur, ihre Minister zu bitten, eine stille Fahndung zu veranlassen. Da die Unterredung eh einer Geheimhaltungsstufe unterlag, sollte zunächst niemand von der Presse über das Verschwinden des Jungzauberers informiert werden.

Als die Dienerin Ilithulas in ihrem Haus saß grinste sie. Doch dann sah sie den Herzanhänger. Hatte der nicht vorhin pulsiert, als sie ihn hervorgeholt hatte? Jetzt lag der rubinrote Anhänger an seiner silberkette vor ihr auf dem Tisch. Sie konnte ihn noch anheben. Er war nicht diebstahlsicher. Das konnte nur heißen, daß eine starke Magie in ihm steckte, die diesen Zauber unwirksam machte. Sie überlegte, warum der junge Zauberer diesen Anhänger getragen hatte. Dann erschrak sie. Sie erinnerte sich an eine kitschige Erfindung aus Amerika, die Zuneigungsherzen, die wie die Hälften eines Sandwiches aufgeteilt werden konnten und an zwei Ketten hingen, um auf die Lebensschwingungen der beiden einander wahrhaft liebender Partner abgestimmt zu werden, um diese über die gesamte Erdkugel hinweg miteinander zu verbinden. Damit hätte sie doch rechnen müssen. So war Julius' Ohnmacht und die Trennung der Verbindung womöglich schon bekannt geworden, als sie den Diebstahlschutz aufhob und den Anhänger fortnahm. Ihr war natürlich klar, wer den zweiten Teil dieses magischen Schmuckstücks trug und daß die Latierres sicher ein eulenpostunabhängiges Nachrichtenübermittlungsnetzwerk unterhielten. So mochte die Entführung des jungen Zauberers bereits an die richtigen Stellen gemeldet worden sein. Ihr vorhaben, heimlich die Merryweathers überfallen und Martha Merryweather ebenso zu Ilithulas Schlafhöhle bringen zu können konnte zum Fehlschlag werden. An Julius' Weib Mildrid und die gemeinsame Tochter kam sie wohl aber nicht mehr heran, wenn die sich unter diese sardonianische Käseglocke flüchten konnten. Sie mußte sofort los. Da schlugen ihre Abwehrzauber an. Jemand griff sie an.

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Auch wenn der Mai der stressigste Monat für die Kräuterhexe Camille Dusoleil war, so liebte sie diesen Monat am meisten von allen im Jahr. Das hatte auch was damit zu tun, daß im Mai die kleine Chloé geboren worden war, die auf den Tag genau zwei Jahre älter als die kleine Aurore war, an deren ersten Geburtstag sie alle bei den glücklichen Eltern gefeiert hatten. Aurore hatte schon angefangen, sich an Stühlen und Bänken hochzuziehen und daran entlangzuhangeln. Somit hatte Jeanne ihre Wette gegen ihren Mann Bruno gewonnen. Der hatte behauptet, die kleine Aurore würde eher auf einem Besen zu fliegen lernen als zu laufen, weil die Latierre-Erbanlagen das so festlegten. Immerhin hatte sie jetzt einen kleinen schnuckeligen Spielzeugbesen, wie es sich für eine kleine Hexe gehörte.

"Julius ist heute Morgen zu einer irgendwie geheimen Konferenz ins Ausland, Camille. Er hat mich aber gebeten, dir die Pflanzen zu zeigen, und wie er sie gerne haben möchte", grüßte Millie ihre verschwägerte Tante, als sie am Nachmittag ihre Gartenbeetpatrouille machte, wie sie es nannte.

"Wenn es der Rhododendron ist, den er auf der dem Gerätepilz gegenüberliegenden Seite von eurem Lebensapfel gesetzt hat, hat er mir schon gesagt, wie er die haben will, Millie. Aber die Regenbogensträucher sind bei euch ja richtig üppig geworden."

"Ja, wenn Dusty die nicht als Jagdrevier für Spatzen und Blaumeisen entdeckt hätte. Öhm, will Jeanne wirklich beide Krawallschwestern haben?" Fragte Millie und deutete auf Goldschweifs rundes Wohnhaus, wo sie ihre sieben Jungen versorgte.

"Jeanne hat gesagt, sie nimmt auch beide Schwestern", sagte Camille. "Ist zwar ein wenig stressiger, als nur ein Knieselmädchen in der Wohnung zu haben. Aber wenn die beiden wirklich so aneinander hängen wollen Jeanne und Bruno sie beide haben."

"Dann bleiben die zumindest in der Gegend. Wir müssen dann nur aufpassen, daß Dusty nicht meint, seine eigenen Töchter bespringen zu wollen", erwiderte Millie.

"Eindeutig", grinste Camille. "Und, ich hörte sowas, du wolltest demnächst noch mal mit deiner Tante reden, ob Aurores Geschwisterchen schon auf dem Weg ist oder nicht."

"Im Moment geht's mir wieder besser als damals mit Aurore unter dem Umhang. Aber wenn Julius wiederkommt lasse ich Tante Trice mal in millies kleine Backstube reingucken und ..." Millie sprach nicht weiter. Ihr vorfreudiges Gesicht wurde zu einer Miene der Bestürzung. Dann wiegte sie den Kopf. Schließlich verzog sie das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. "Tante Camille, Julius ist wohl betäubt worden. Wer auch immer hat ihm den Anhänger abgenommen. Auf einmal war alles weg, was ich von ihm gespürt habe", sagte sie. "Jetzt ist mein Anhänger starr und hart. Das heißt, Julius trägt seinen nicht mehr."

"Nein, daß darf doch nicht sein", knurrte Camille, der der Schrecken über diese Mitteilung die Blässe ins Gesicht trieb, was bei ihrer hellbraunen Haut schon was heißen wollte. Millie prüfte ihren roten Herzanhänger. Dann verfiel sie in konzentrierte Haltung und erbleichte auch. Dann sagte sie: "Julius ist wo, wo kein Gedanke zu ihm hinkommt. Irgendwer hat den mal eben irgendwo hingeschleppt."

"Verdammt", ließ sich Camille zu einer nicht damenhaften Äußerung verleiten. Dann deutete sie auf das Apfelhaus. "Komm, wir haben was wichtiges zu besprechen." Millie sah ihre verschwägerte Tante an und wußte nicht, was sie sagen sollte. Camille ergriff Millie etwas ruppiger als einer zartfühlenden Hexe eigen war am Arm und trieb sie vor sich her.

Im Apfelhaus baute sie in der Wohnküche einen Klangkerker auf und erklärte Millie, was sie seit Januar befürchten mußte, das Catherine sie vor einem Angriff der Abgrundstöchter gewarnt habe. Millie entrüstete sich, daß Julius das ruhig auch schon früher hätte wissen können. Camille verteidigte Catherine und sich, daß ja niemand gewußt habe, wann und wo und wie und Julius ja nicht die ganze Zeit im geschützten Haus absitzen konnte, nur weil es irgendwann mal passieren mochte. Millie knurrte sie dann an, daß man aber zumindest besser darauf hätte vorbereitet sein können. Dann sagte sie: "Gut, wir müssen wissen wo er genau war. Viviane, weißt du, wo Julius hinwollte?" Das lebendige Bildnis von Viviane Eauvive erklärte Millie, wo Julius hinwollte und bot an, die Meldung sofort an alle ihre Portraitmehrlinge weiterzugeben. Millie tat dasselbe mit dem Pappostillon, der alle ihre Familienangehörigen erreichte. Ebenso eilte die gemalte Aurora Dawn los, um ihre Ableger zu unterrichten. Sie war auch die erste, die zurückkam und mitteilte: "Upper Flagley, eine Zusammenkunft zu den Themen Zaubertränke und neugezüchtete Zauberwesen und -tiere. Alle Teilnehmer sind umgefallen. Shacklebolts Truppe untersucht das schon. Außer Julius keiner verschwunden. Also zielte das tatsächlich auf ihn."

"Drachenmist", stieß Millie aus. Dann überlegte sie, wie sie weiter vorgehen sollte. Nachdem, was Camille ihr gerade eingeschenkt hatte wäre es wohl günstiger, alle möglichen Ashtaria-Kinder zusammenzutrommeln. Als wäre dies ein Stichwort gewesen trat Antoinette Eauvive zusammen mit Viviane in den Bilderrahmen ein. Keine drei Sekunden später verließ sie leibhaftig eine Leuchtspirale, die aus dem Bild kam. "Millie, ich weiß, du möchtest helfen. Ich weiß aber auch, daß du denkst, gerade wieder schwanger zu sein. Außerdem kannst du nicht viel machen", sagte Antoinette, nachdem sie ordentlich gegrüßt hatte. Millie bestand jedoch darauf, Julius zu helfen, wenn sie wußte, wie. Antoinette sah Camille an. Diese sagte: "Die wird jetzt nicht hierbleiben, Antoinette. Wenn ich mit ihr mitgehen kann kann ich auf uns beide aufpassen. Außerdem können wir Dusty mitnehmen."

"Dusty? Wieso ... Na klar. Ich dachte schon, ihr wolltet Artemis mitnehmen." Millie schüttelte den Kopf. "Wäre vielleicht zu groß."

Viviane vermeldete, daß alle, die es betraf bescheid wüßten, auch ein gewisser Junge aus Hogwarts. Millie grinste. Sie wußte, wer gemeint war. Auch Camille verstand. Immerhin hatte Julius es ihnen nach seiner Rückkehr von der Party derSterlings erzählt.

"Okay, dann wohin?" wollte Millie wissen.

"Zu mir ins Château. Das kriegt niemand mit!" sagte Antoinette Eauvive, die selbst verärgert war, daß Julius in ihrer Anwesenheit verschleppt worden war.

So flohpulverten Millie und Camille mit dem Knieselkater Dusty in seinem Körbchen ins Château Florissant. Antoinette indes benutzte ihr eigenes Intrakulum, um sich mit Hilfe ihrer Urahnin an einen anderen Ort bringen zu lassen.

__________

Adrian Moonriver ging gerade durch die Korridore des sechsten Stocks, als die gemalte Quidditchspielerin Aurora Dawn auf ihrem Besen durch die Bilder flog und ihm keuchend zuzischte: "Julius Latierre ist aus Upper Flagley entführt worden. In Millemerveilles vermuten sie einen Angriff der Abgrundstöchter. wir werden zusehen, alle schnell erreichbaren Kinder einer gewissen Ashtaria zusammenzutrommeln. Leider kennt man in Millemerveilles nur dich. Aber du kommst hier ja nicht raus."

"Wenn ich weiß wohin komme ich da in einer Minute von jetzt an hin. Also wo?" blaffte Adrian und sah sich um. Im Moment war keiner zu sehen, auch nicht der mürrische Hausmeister, der nach Filches unrühmlicher Selbstdemontage eingestellt worden war. "Im Moment sind die im Château Florissant. Aber das ist nur für Blutsverwandte der Hausherren anapparierbar."

"Och joh, Florissant. Lange nicht mehr da gewesen, nicht seitdem mir Antoinettes Oma über den Festumhang gestrullert hat, nur weil ich sie zu schnell aus der Wiege gehoben habe. Okay, die Minute läuft. Schwirr ab, Aurora!"

"Wie wollen Sie denn von hhier weg, Mr. Moonriver?" schnarrte die gemalte Aurora.

"Frag dein lebendes Vorbild, wie gut ich auf und von Hogwarts herumapparieren kann. Die Minute tickt", sagte er und griff unter seinen Schulumhang. Auch wenn die Sache todernst war und der Junge in großer Gefahr schwebte, falls stimmte, was er über dunkle Kanäle aus Amerika gehört hatte, freute er sich. Ja, er freute sich, weil er dem ganzen langweiligen Wiederholungsstress und dem pubertären Getue seiner Mitschüler entwischen konnte, ohne dafür ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Er berührte das kleine silberne Schmuckstück auf seiner Brust und wußte, daß es darauf wohl am meisten ankommen würde. Dann konzentrierte er sich, bat in Gedanken um die Hilfe bei der Reise, womit der Heilsstern durch silbernes Licht eine Zone erschuf, in der alle ihn zurückhaltenden Zauber aufgehoben wurden. Dann disapparierte er einfach. Daß er mal eben eine Stunde bei Professor Barley versäumte kümmerte ihn nicht. Die wollte doch eh nichts neues von ihm lernen.

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Maria Valdez hatte sich gut in Cloudy Canyon bei Almadoras Verwandten eingelebt. Das sie keine Hexe war störte hier im Moment keinen. Marisol hatte Spielkameraden gefunden die in ihrem Alter waren. Es hatte sich als sehr vorausschauend erwiesen, daß Maria Valdez ihrer Tochter neben Spanisch auch schon einfache Sätze auf Englisch beigebracht hatte. So hatte sie mit dem Sprechen keine Schwierigkeiten.

Als Maria am frühen Morgen von einer aus einem Bild dieser Viviane Eauvive herausmaterialisierten Frau direkt auf Spanisch gebeten wurde, sie zu begleiten, weil ein junger Mann in Gefahr war, von einer der Abgrundstöchter getötet oder versklavt zu werden hatte sie sich sofort bereiterklärt, mitzukommen. Allerdings hatte sie ihr silbernes Kreuz abnehmen und in eine kleine Schachtel legen müssen, die Antoinette in ihrem Umhang verstaute. Dann hatte Maria Valdez zum ersten Mal im Leben eine Verwandlung über sich ergehen lassen müssen. Was genau sie wurde bekam sie nicht mit, nur daß sie offenbar so klein wurde, daß Antoinette sie bequem in einer ihrer Umhangtaschen verstauen konnte. Dann war es durch einen Sturm aus Licht gegangen, über scheinbar mehrere Zwischenpunkte hinweg, bevor es durch einen zweiten Lichtsturm ging. Dann wurde Maria aus der Umhangtasche befreit und nach wenigen Sekunden zurückverwandelt. Sie sprang hoch und wirbelte ihre Arme und Beine, als hätten sich die Bewegungsreize der letzten Minuten freimachen müssen. Als sie sich wieder als lebenden Menschen empfand und ihren Körper unter Kontrolle gebracht hatte, bekam sie auch ihr silbernes Kreuz zurück. "Es hätte die notwendige Umwandlung sicher verhindert", sagte Antoinette. Dann tauchten eine südländisch aussehende Frau in grüner Gartenschürze mit Erdflecken und eine fast zwei Meter große, sportlich aussehende Frau mit rotblonden Haaren und rehbraunen Augen aus einem grünen Funkenwirbel im Kamin des herrschaftlich wirkenden Zimmers auf. Und kaum waren diese zwei Frauen, wohl echte Hexen, auf diese für Maria absolut fremdartige Weise eingetroffen, glühte es mitten im Zimmer silbern auf. Eine Lichtspirale rotierte dreimal ganz schnell, bevor sie einen Jungen zwischen sechzehn und achtzehn mit blonden Haaren und grasgrünen Augen ausspuckte. Das war ja schon wie das Beamen beim Raumschiff Enterprise, dachte Maria. Also gab es noch mehr zeitlose Reisearten in der magischen Welt als jene Portschlüssel, die sie schon kennengelernt hatte. Antoinette Eauvive betrachtete den mitten in ihrem Kaminzimmer erschienenen Jungen, der sie so ansah, als wäre das doch kein Thema, mal eben aus einer silbernen Leuchterscheinung zu materialisieren.

"Ups, jetzt habe ich doch einen Moment gedacht, in die Vergangenheit appariert zu sein", scherzte der Junge in bestem französisch. Maria verstand es zwar nicht, aber Antoinette wiederholte es und deutete auf die hier alles andere als gut orientierte Besucherin. So wechselten sie alle von Französisch zu englisch. Als Millie hörte, daß Maria Valdez Mexikanerin war begrüßte sie sie auf Spanisch. Antoinette bat dann alle, sich zu setzen.

In kurzen Worten beschrieb sie die Situation, erwähnte Maria gegenüber auch, wer Julius Latierre war und warum eine der Abgrundstöchter ihn nun für sich haben wollte. Der Junge aus dem Silberlicht meinte dann dazu:

"Klar, wenn Hallitti irgendwie wieder auf die Welt zurückwill und ihr letzter Abhängiger der Vater von Julius ist, sie den aber wohl nicht mehr erwischen konnte, um Hallitti wieder zu einer voll handlungsfähigen Tochter Lahilliotas zu machen, muß wer von den beiden Dreckdosen auch immer ihr helfen will ihren Geist in sich aufnehmen und dann Julius dazu bezirzen, in ihren Lebenskrug einzusteigen, um sich dadurch in reine Energie aufzulösen. Dadurch landet er dann zusammen mit Hallitti im dunklen Bauch von deren Schwester und wird sozusagen mit ihr zusammen zu einem Zwillingspaar. Hoffentlich ist der Bursche nicht so blöd, auf das Bezirze von der Höllenbraut einzugehen." die rotblonde Hexe, die sich als Mildrid Latierre vorgestellt hatte, verzog das Gesicht. Erst erbleichte sie, dann wurde sie wütend.

"Wenn das echt geht, Mr. Moonriver, dann wird's Zeit, der Dame kräftig auf die Füße zu treten, damit die meinen Mann nicht soweit kriegt, daß der noch von der herumgetragen und neu auf die Welt gebracht werden will. Aber der weiß, was er in unserer Welt vermissen würde, wenn er das macht. Außerdem wäre er sicher nicht so dämlich, sich zum Bruder Hallittis machen zu lassen."

"Die können so gut lügen, Mädchen, daß Rita Kimmkorn dagegen ein Faß voller Veritaserum ist, Mädchen", knurrte der Junge, der Adrian Moonriver hieß und offenbar sowas ähnliches bei sich trug wie Maria. Denn er holte einen silbernen Fünfzackstern an einer Kette hervor. Sofort umfloß ihn, die Hexe in der Gartenschürze und Maria eine goldene Aura, und Maria fühlte große Wärme und Zuversicht durch ihren Geist strömen. Sie holte nun ihr Kreuz hervor, das gerade aus sich selbst heraus golden erstrahlte. dann zeigte auch die Hexe in der erdverkrusteten Gartenschürze einen fünfzackigen Stern an einer Kette, der gerade golden leuchtete.

"Sie können Zaubern, Señora Valdez?" fragte Adrian Moonriver. Antoinette räusperte sich lautstark. Maria schüttelte den Kopf. "Drachenmist, dann sind sie die verschollene Tochter aus der Linie von Isa, von der keiner wußte, wo sie lebt", grummelte Adrian. "Klar, das Kreuz, eine Eigenschaft der Erbstücke Ashtarias, sich in das am meisten mit der vorherrschenden Vorstellung von Frieden, Heil und Schutz verbundene Symbol zu verwandeln, an dessen Kraft der Träger oder die Trägerin fest glaubt."

"Okay, Leute. Ich will mit meinem Mann noch das eine oder andere eigene Kind haben, und das geht nur, wenn dieses Abgrundsflittchen den nicht selbst in ihren verdreckten Backofen sperrt und da zu einem ihr genehmen Braten werden läßt", schnarrte Millie. Antoinette räusperte sich wieder. Adrian lachte befreit über diese so unverkrampfte Aussage. Dann fragte Camille Maria, seit wann sie wisse, daß sie eine Tochter Ashtarias sei und wie sie mit ihrem Talismanumgehen könne. Maria Valdez faßte wie ein Stichwortprotokoll zusammen, wie sie die wahre Kraft ihres Kreuzes kennengelernt hatte, daß Jane Porter sie darüber aufgeklärt habe, daß es von starken Magiern erschaffen worden war und wie sie mehrere Begegnungen mit Abgrundstöchtern überstanden hatte, darunter auch jene mit feuerroten Haaren.

"Na ja, aber wenn sie nicht zaubern können können Sie mit dem Kreuz nicht alles bringen, was es hergibt, außer die Schutzformel und den Patronus, so heißt das silberne Lichtwesen, was Ihnen gegen die Dementoren geholfen hat", sagte Adrian. Dann sah Millie Maria an:

"Hier in diesem Schloß sind sie sicher, Señora. Es steht unter sehr starken Schutzzaubern. Könnten sie das Kreuz an jemanden weitergeben, der oder die zaubern kann. Sie würden es sicher wiederkriegen."

"Mädchen, das Ding funktioniert nur an einem würdigen, weil blutsverwandten Träger des Geschlechtes, das der erste Träger hatte", schnarrte Adrian.

"Ach ja? Abgesehen davon, daß ich Julius schon ein Kind geboren habe und vielleicht gerade mit seinem zweiten Kind schwanger bin habe ich von Julius gehört, daß so ein Heilsstern oder eben auch dieses Silberkreuz auch in der Hand eines Zauberers oder einer Hexe wirkt, der oder die seinem rechtmäßigen Träger helfen will. Außerdem hat mich kein halbes Hemd Mädchen zu nennen, auch wenn das halbe Hemd im Kopf schon über hundert Sommer erlebt hat. Ist das angekommen?"

"Millie, das ist nicht so einfach. Du denkst, du fast das Kreuz oder Camilles Heilsstern an, denkst an Julius und rufst die Formel, und schon weißt du, wo er ist oder hilfst ihm. So einfach geht das leider nicht, vor allem nicht, wenn er in einer gegen von außen kommende Magie abgeschirmten Höhle ist", versuchte Antoinette, die Gemüter zu beruhigen. Doch Camille ging Millies Frage und ihre Erwiderung auf Adrians von oben herab geäußerten Formulierungen nicht aus dem Kopf. Sie bat ums Wort und sagte:

"Isch weiß, daß nischt nür Trägerr, auch Geliebte, Eltern, Ehepartner davon beschützt werden. Also wäre Millie die einzige, die la Croise, öhm, die Kreuz, benützen kann."

"Richtig, und ich kenne auch diese Heilsformel, weil ich mir sie von Julius und von derselben Quelle, die Tante Camille erwähnt hat habe erklären lassen."

"Millie, du kommst nicht in die Höhle rein, auch nicht mit dem Kreuz. Dazu bräuchten wir sowas wie Incantivacuumkristalle, und die kriegen wir so schnell nicht", sagte Antoinette, die besser Englisch konnte als Camille. Maria hob die Hand:

"Ich habe früher bei der amerikanischen Bundespolizei gearbeitet. Da haben wir es immer wieder geschafft, einem Bandenmitglied oder Zuliferer ein Mikrofon oder Peilgerät zuzustecken, damit er uns zeigt, wo seine Kumpane sich versteckten oder auch mithören konnten, was sie sagten. Wenn ich das eben richtig gehört habe kann eine Abgrundstochter einen Zauberer nicht direkt mit in ihre versiegelte Unterkunft teleportieren, beamen oder apparizieren. Dann muß Julius wohl auf nichtmagischem Weg vor die Höhle geschafft werden. Außerdem, Mr. Moonriver, könnte es dieser Dämonentochter einfallen, ein Faustpfand zu beschaffen, entweder Julius' Mutter ... oder ..." sie sah Millie an. Die nickte.

"Moment, Millie soll als Angelköder hingehängt werden?" wollte Camille wissen. Millie nickte wieder. Dann meinte Adrian: "Also wenn Julius mal eben aus England rausgeschafft wurde, dann tippe ich doch glatt auf einen Verbündeten, beziehungsweise auf eine ganz bestimmte verbünde-te. Wer war bei der Zusammenkunft noch mal tonangebend, Madame Eauvive?" Antoinette erwähnte die Organisation und die Gesprächsleitung. Adrian sprang mit zornrotem Gesicht von seinem Stuhl auf. "Also doch. Also hat sich dieses heuchlerische Rabenaas wahrhaftig drauf eingelassen. Hätten wir echt mal zwei Jahre früher wissen dürfen." Dann knallte er den Anwesenden ansatzlos auf den Tisch, daß er Semiramis Bitterling für die Entführerin hielt. Die hätte das dann auch mit dem Schlafgas oder was es war einrichten können. Wenn die dann noch einen Portschlüssel erschaffen hatte, um den Betäubten direkt vor dem Eingang zur Schlafhöhle ihrer Herrin abzuliefern, brauchte man sich um Flugzeuge und Autos nicht zu kümmern.

"Dann könnte es schon zu spät sein?" fragte Antoinette. Millie funkelte sie dafür zornig an.

"Nur wenn er "Wunderbar, ich will Lahilliotas süßer Enkelsohn werden!" gerufen hat und sich auf das Manöver seiner Entführerin einlassen will, Madame Eauvive", erwiderte Adrian. Dann sagte Maria etwas, was alle erst betroffen schweigen und dann bewundernd auf sie schauen machte.

"Sie müssen nicht selbst zu dieser Höhle hinreisen, Madame Latierre. Es würde vielleicht helfen, wenn sie dieser Mrs. Bitterling einen der Sterne oder mein Kreuz umhängen. Wenn ich das richtig verstanden habe, arbeiten die Erbstücke Ashtarias und die Magie der Abgrundstöchter gegeneinander. Damit würde diese Mrs. Bitterling für ihre Herrin unbrauchbar oder diese müßte sie unverzüglich unterstützen. Ich habe das ja erlebt, wie ich in England diesen Claude Andrews erretten wollte. Also würde es reichen, die Dienerin dieser Dämonentochter mit einem der hier vorhandenen Zaubergegenstände zu berühren, es ihr bestenfalls umzuhängen. Falls sie von ihrer Herrin unterstützt wird könnte man sie mit den beiden anderen Gegenständen lähmen oder gar bannen. Töten ist uns ja nicht erlaubt, und bei diesen Geschöpfen sowieso nur vorübergehend möglich."

"Ja, das könte gehen. Focus Amoris. Falls das Kreuz auch unabhängig von Ihnen seine Kraft entfaltet würde es sogar mit in diese gebündelte Kraft einwirken", sagte Adrian. Antoinette fragte dann, was wäre, wenn Semiramis Bitterling von ihrer Herrin zeitlos in ihre Höhle geholt würde. Alle schienen davon überzeugt zu sein, daß Semiramis Bitterling eine Dienerin der Abgrundstochter war. Da wartete Camille mit etwas auf, was die spontan zusammengetrommelte Rettungsmannschaft sehr zuversichtlich stimmte. Millie ging sogar darauf ein, den Köder zu spielen. Außerdem, wenn sie gerade wieder von Julius schwanger sein sollte, würde das Kreuz sie als Trägerin seines Erben akzeptieren. Warum sie da so sicher war erklärte sie damit, daß sie erfahren hatte, daß Julius offenbar Kontakt mit Ashtaria gehabt hatte und von dieser vor einer großen Gefahr in ihrem Körper aus Licht beschützt worden war. Adrian nickte heftig. Denn das deckte sich mit seinen eigenen Vermutungen, die er seit der zerstörten Feier bei den Sterlings hegte.

"Gut, dann machen wir das so, und ich hoffe, Madame Dusoleil, daß Ihre Wissensquelle so zuverlässig war wie es nur sein kann."

"Das weiß ich erst, wenn ich es ausprobiere", sagte Camille. Dann sahen alle Maria Valdez an. Diese wußte, was jetzt von ihr verlangt wurde. Ohne dazu aufgefordert werden zu müssen stand sie auf, ging zu Millie und hängte ihr behutsam ihr silbernes Kreuz um. Kaum hatte es Millies pralle Brüste berührt, leuchtete es für einen winzigen Moment golden auf, um dann nur im Widerschein der Kerzen silbern zu glänzen.

"Holla, das hat mich ja richtig durchgewärmt und mich so fühlen lassen, als sei ich selbst gerade ungeboren."

"Das kommt von dem gemeinsamen Zauber, den ich mit dir, Julius und der kleinen Aurore vollführt habe", sagte Camille. Erwähnte kleine Aurore wurde im Apfelhaus von Millemerveilles von Millies Tante Béatrice behütet.

"Also dann los. Wir reisen nach England zurück. Sie gehen nach Upper Flagley und erzählen, Julius hätte sich mit Ihnen im Pub zum grünen Kobold verabredet. Wenn Semiramis Bitterling allen Ernstes auf eine dieser Abgrundsschwestern eingegangen ist, wird sie dort auftauchen", gab Adrian die Marschroute vor.

"Und wie kommen wir da hin?" wollte Millie wissen.

"Ich bring uns alle zum Ortseingang. Dann machen Madame Dusoleil und ich uns nett unsichtbar für alle Augen, während sie in den Pub gehen und nach ihrem Mann fragen. Wenn die noch nicht wissen, daß er verschwunden ist werden die Sie erst mal nicht behelligen." Millie Nickte. Sie bat um noch eine Minute Zeit. Diese nutzte sie, um aus einem Brustbeutel eine kleine Flasche herauszuholen und zu entkorken. Maria sah eine goldene, sprudelnde Flüssigkeit in dem Fläschchen. Antoinette bekam große Augen, als Millie zwei kleine Schlucke davon trank. Dann verkorkte sie die Flasche wieder sorgfältig und steckte sie in den Brustbeutel zurück. "Nur, damit ich nicht zu früh oder zu spät dran bin", sagte sie. Adrian grinste, während Camille Millie erstaunt anblickte. Dann ergriff sie Camilles und Adrians Hände. Adrian zog einen etwas betagt wirkenden Zauberstab, nach eigenen Worten den, den er schon im ersten Leben gut gebrauchen konnte. Dann erstrahlte silbernes Licht, das sich von ihm zu Millie und zu Camille fortpflanzte und dann alle drei in einer aufleuchtenden Wolke aus wirbelndem Silberlicht einhüllte. Eine Sekunde später war die Wolke weg, als hätte jemand sie wie elektrisches Licht ausgeschaltet. Maria sah Antoinette an.

"Meine Tochter ist noch da, wo Sie mich abgeholt haben. Können wir sicherstellen, daß ihr nichts geschehen kann."

"Ich hol sie auch hierher. Julius' Tochter ist da, wo sie ist doppelt beschützt. Hier wirkt der Sanctuafugium-Zauber, der eine für böse Wesen und Kräfte unerreichbare Zuflucht bietet."

"Aha, also ein Kofferwort aus Sanctuarium für Heiligtum und Refugium für Zuflucht", vermutete Maria Valdez.

"Hmm, und Sie sind sicher, daß keine ihrer Vorfahren eine Hexe war, und kommen Sie mir bitte nicht mit "Um Gottes Willen! Wenn es diesen allgegenwärtigen Schöpfer wahrhaftig gibt, sind wir Hexen und Zauberer ebenso die von ihm gewollten Kinder wie die Menschen ohne Magie."

"Ich kann mich nicht erinnern, daß eine meiner Vorfahrinnen der Hexerei bezichtigt wurde oder entsprechende Ereignisse hervorgerufen hat", sagte Maria Valdez.

"Könnten Sie sich mit dem Gedanken anfreunden, ein vollwertiges Mitglied der magischen Welt zu werden, jetzt wo wir wissen, daß es Sie gibt und Sie wissen, daß es uns gibt?"

"Das weiß ich nicht, zumal meine Tochter wohl auch keine eigenen Zauberkräfte haben wird. Abgesehen davon würde das mein ganzes Leben umwerfen", sagte Maria.

"Das ist wohl wahr und deshalb ja auch schon passiert", stellte Antoinette fest. Dann erklärte sie, warum sie auf dieses Thema kam.

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Hallitti fühlte die Nähe des fast eroberten jungen Zauberers. Doch sie fühlte auch, daß er sich verändert hatte. Damals hatte sie noch einen unschuldigen, gerade vierzehn Jahre alten Jungen in ihrer Gewalt gehabt. Doch was Ilithulas handzahme Jagdhündin da angeschleppt hatte war trotz der noch spürbaren Besinnungslosigkeit stark und gereift. Das war unmöglich ein fast neunzehn Jahre alter Jüngling. Ilithula fühlte sich etwas unbehagt. Sie hatte körperlich gespürt, daß dem Jungen etwas anhaftete, was sie abwies. Warum wirkte das in ihrer Höhle immer noch. Egal! Sie mußte ihn sowieso dazu bekommen, freiwillig und unbezaubert in ihren Lebenskrug zu steigen. Vielleicht ging das auch, ohne ihn unter Druck zu setzen.

Als Julius schlagartig wieder munter wurde fühlten das beide Schwestern. Der Zauberer erkannte mit einer unangenehm schnellen Auffassungsgabe, daß er gerade gefangen und waffenlos war. Dann hörte Hallitti über Ilithulas Körpergeräusche hinweg, wie der Junge ein rein gedankliches Lied anstimmte, das Ton für ton leiser wurde, bis überhaupt keine Gedanken von ihm zu hören waren. Nur die Aura seines lebendigen Körpers strahlte durch Ilithulas Bauchdecke und ließ Hallittis körperloses Ich sanft vibrieren. Ja, der Junge war offenbar in den Jahren, die sie körperlos weit über der Erde getrieben war erstarkt. "Vorsicht, Schwester, unterschätze ihn nicht!" warnte sie gedanklich ihre unfreiwillige Trägerin.

"Er kann seinen Geist einschließen", dachte Ilithula. Dann hörte Hallitti wie mit körperlichen Ohren Julius' Stimme:

"Okay, Mädel. Irgendwie hast du mich zu dir hingeschafft. Glückwunsch! Ich dachte schon, daß ginge nicht so einfach. Hattest wohl einen Helfer bei den Leuten. Aber wenn du glaubst, du könntest bei mir landen, wo deine feuerrote Schwester das schon nicht konnte, dann hast du dich geschnitten."

"Was ist denn das für eine Begrüßung, säuselte Ilithula. Ich habe dich nur zu mir holen müssen, weil meine Schwester Ilithula meint, einer aus deiner Familie hätte etwas, was ihr mehr Macht geben würde als mir."

"Ach neh! Und du bist?" fragte Julius trotzig. "Ich bin die Tochter des schwarzen Wassers. Wie ich wahrhaftig heiße muß dich nicht kümmern", erwiderte Ilithula. Hallitti wunderte sich nicht über diese Falschaussage. Sie stimmte ihrer unfreiwilligen Trägerin sogar zu. Warum sollte Ilithula sich nicht für das gemeine Spiel ihrer Schwester revanchieren. Wenn Julius sich auf sie und damit auf ein Leben als Hallittis Zwillingsbruder eingelassen haben würde, war immer noch genug Zeit für die Wahrheit.

"Erst das Feuer und dann das Wasser", stieß Julius verdrossen aus. "Was immer du vorhast, vergiss es. Wenn du nicht alle aus dem Versammlungsraum entführt hast suchen die anderen jetzt nach mir." Hallitti und ihre Schwester erkannten, daß das leider nicht von der Hand zu weisen war. Doch Semiramis sollte nur ihn zu Ilithula bringen. Das mochte ein Fehler gewesen sein, die anderen dort zu lassen. Mit dem magischen Reiseding namens Portschlüssel hätte Ilithulas Apportierhündin doch die anderen auch anbringen können. Doch Ilithula war auf diesen Einwand gefaßt und antwortete amüsiert:

"Hast du gedacht, mir ginge es darum, ein Fest zu feiern? Sicher, es gefällt mir sehr, mit starken Männern und klugen Frauen zu feiern. Aber mir ist im Moment nicht nach Feierstimmung. Dafür ist die Lage zu ernst."

"Klar, weil du gerade mal nur einen Zauberer pro Zeit vernaschen kannst und die anderen dir da locker hätten querkommen können, nicht wahr?" gab Julius aufsässig zurück. Immer noch waren seine Gedanken nicht zu hören. Hallitti hätte sowieso nur über ihre Schwester mitbekommen können, woran sich der Gefangene erinnerte.

"Wo hast du denn solche Wörter her?" tat Ilithula entrüstet. "Sicher, ich lebe damit und davon, mich mit gesunden Männern und Frauen in körperlicher Wonne zu vereinigen und empfange von ihnen neue Kraft und Ausdauer. Aber sie wurden alle bei mir glücklich, und im Gegensatz zu meiner entkörperten Schwester Hallitti bringe ich nicht gleich jeden um, mit dem ich die herrliche Zweisamkeit auslebe. Also vernasche ich niemanden, sondern wenn überhaupt, genieße ich das Beisammensein mit ihm oder ihr. Aber ich habe dich nicht zu mir geholt, um deine Wortwahl zu bemängeln oder zu berichtigen, sondern weil ich fürchte, daß meine Schwester Ilithula unsere Welt kaputtmachen will."

"So, und du nicht? Achso, du melkst die Menschen nur, du schlachtest sie nicht", entgegnete Julius mit unüberhörbarem Sarkasmus.

"Ein wenig abschätzig aber in der Sache wohl richtig", grinste Ilithula. "Meine Schwester ist die Tochter des düsteren Windes. Sie sucht nach dem, welcher diese grauen Riesenvögel gerufen hat, die gegen die Schlangenmenschen gekämpft haben. Sie hat mir erzählt, das wäre nur mit einem Werkzeug oder einem Musikinstrument möglich gewesen, daß mit starken Windelementarzaubern verbunden ist. Sie meint, wenn sie dieses Werkzeug oder Musikinstrument hat, und den, der es benutzt hat, würde sie ihre Fähigkeiten verzigfachen. Ich traue ihr das durchaus zu, daß sie herausbekommt, wer der Rufer oder die Ruferin war. Außerdem will sie bei der Gelegenheit auch noch das dunkle Feuer beherrschen."

"Soso. Das, was deine in die Luft gesprengte Schwester Hallitti gekonnt hat, Abgrundstochter?" fragte Julius immer noch sehr aufsässig.

"Richtig. Sie weiß, wo Hallittis Geist abgeblieben ist und hat ihn zu sich geholt, um ihn in einem uns bekannten Ritual als ihre Tochter zu empfangen. Sie hat getönt, daß das gelungen sei und sie jetzt in Ruhe nach dem suchen kann, der oder die dieses Windmagieding benutzt hat. Da meine Diener, von denen einer dich zu mir gebracht hat, während du schliefst, mir berichtet hat, daß nur wer aus einer alten Zaubererfamilie das gewesen sein kann, die ihre Geheimnisse zu wahren erlernt haben, bist du in Gefahr. Ja, und weil sie jetzt mit Hallitti wieder schwanger ist bist du erst recht in Gefahr, weil Hallitti ihre Mithilfe an die Bedingung geknüpft hat, daß Ilithula deine ganze Lebenskraft und Magie in sich und damit sie einverleibt oder dich zu ihrem Sohn, dem Zwillingssohn Hallittis macht."

"Neh, is' klar. Wie soll das denn gehen?" fragte Julius. Da fühlte Hallitti, wie die Gedanken des Gefangenen zurückkehrten. Doch dieser erkannte das wohl auch und dachte sofort wieder das Lied, das seinen Geist unbelauschbar machte. Ilithula lachte jedoch im gleichen Moment und erwiderte:

"Ihr alle habt gedacht, wir Töchter der großen Mutter würden so einfach sterben, wenn jemand meint, unseren Körper zu zerstören. Da habt ihr euch alle getäuscht. Wenn eine von uns aus ihrem Körper getrieben wird, reist ihr Geist um die Welt und kehrt in den Körper derjenigen wachen Schwester ein, der ihr am nächsten ist. Dann begehen beide ein Ritual, wodurch in der wachen Schwester ein neuer Lebenskeim entfaltet wird. In diesen fließt der Geist der Entkörperten ein und wächst als Tochter der Trägerin heran, wird geboren und wächst bei ihr auf, bis sie groß genug ist, wieder eigenständig weiterzuleben. Hat dir das keiner gesagt?" Eine halbe Minute Schweigen folgte. Offenbar mußte Julius diese Mitteilung erst einmal verdauen. Dann sagte er, jetzt weniger widerborstig:

"Angedeutet, aber nicht gesagt, weil das wohl bisher noch nicht passiert sein soll. Aber wenn Hallitti echt nicht richtig aus der Welt geblasen wurde, warum ist sie dann nicht sofort zu dir oder Ilithula hingeflogen, um neu ausgebrütet zu werden?"

"Tja, weil diejenigen, die Hallitti entkörpert haben ihren stärksten und letzten Abhängigen nicht getötet, sondern verjüngt haben. Zumindest hat Ilithula mir das geistig mitgeteilt, daß Hallitti deshalb nicht von dort wegkam, wo sie über Jahre gefangen war."

"Achso, und Ilithula ist mal eben zu ihr hin, um ihr sozusagen entgegenzukommen?" fragte Julius nun wieder etwas abfälliger.

"Als Tochter des düsteren Windes kann sie höher und weiter fliegen als unsere anderen Schwestern und ich", behauptete Ilithula. Hallitti wollte ihr gerade mitteilen, Julius endlich aufzufordern, in den Krug und damit zu ihr in Ilithulas Leib zu steigen, als Julius fragte: "Und weil deine Schwester meint, ich wüßte was von dieser ... ähm, diesem Werkzeug oder was es ist, will die mich jetzt haben und weil Hallitti jetzt in der neu anwächst will die für die den Racheengel machen?"

"So ist das, Julius. Da du, wie du gemerkt hast, nirgendwo anders auf der Welt sicher bist als bei ihr oder mir, habe ich beschlossen, dich zu mir zu holen, bevor sie dich findet."

"Ach, damit ich dein Abhängiger werde oder was?" fragte Julius. "Vergiß es."

"Willst du lieber von meiner Schwester ausgeforscht und dann - wie sagtest du es so abfällig? - vernascht werden, falls sie dich nicht dazu zwingt, Hallittis Zwillingsbruder zu werden?"

"Wenn ich eins von euch weiß, Tochter des schwarzen Wassers, dann ist es, daß ihr allesamt für Menschen tödlich gefährlich seid. Abgesehen davon, daß ich nicht glaube, daß du so menschenfreundlich bist. Nur weil du diesen blauen Wertiger in Sibirien plattgemacht hast bist du noch keine Freundin der Menschen."

"Es war kein Wertiger, sondern ein Vampir", erwiderte Ilithula. "Volakin hieß der und war abartig und wesentlich gefährlicher als wir Töchter Lahilliotas zusammen. Ich habe fast meinen Körper dafür verloren und wäre dann auf Ilithulas Gnade angewiesen gewesen, also darf ich von dir ein wenig mehr Respekt erwarten."

"Es ist wohl warh, daß ich gerade in deiner Gewalt bin und dich nicht übermäßig reizen darf", sagte Julius mit abbittendem Tonfall. Wie viel hätte Hallitti dafür gegeben, zu hören, ob er es auch wirklich so meinte, wie er es sagte. Ilithula schien jedoch mit seiner verhaltenen Abbitte zufrieden zu sein. Sie sagte mit ruhigem Ton:

"Ich habe dich nicht zu mir bringen lassen, damit du das bist, was dein Vater für Hallitti war. Ich habe das nicht nötig, jemanden für mich auf die Suche nach freiwillig gegebener Lebenskraft zu schicken. Wenn ich das will kann ich in einer Nacht zwanzig Liebhaber zu mir lassen und mir von jedem genug geben lassen, um ihn nicht in Wahnsinn oder Tod enden zu lassen, aber auch, um die nächsten Tage unbesorgt zu überstehen."

"Also doch eine Hure, nur daß du kein Geld dafür nimmst", grummelte Julius.

"Ihr wertet das Zusammensein von Mann und Frau als eine heilige, nach strengen Regeln zu pflegende Angelegenheit. Und doch gibt es heute noch genug Männer, die nicht in der vorgeschriebenen Partnerschaft glückliche Stunden erleben möchten und Frauen, die diesen Bedarf befriedigen, wie der Bäcker oder Fleischer den Hunger stillt. Ich hörte, du hättest dich auch sehr sehr früh auf eine von einem sogenannten Zeremonienmeister festgelegte Partnerschaft eingelassen, nur um schon mit jungen Jahren die Früchte der Lust zu genießen, die eure längst verwitterten Gemeinschaftsregeln verbieten, solange Mann und Frau nicht ordentlich zusammengesprochen wurden, am Besten noch im Namen irgendeiner Gottheit. Die einzige Gottheit, die es gibt, ist das Leben selbst in seinen verschiedenen Formen. Und allen Lebewesen ist gemeinsam, daß sie vom Tod anderer Lebewesen zehren, ja auch die Pflanzen, deren Nahrung die Überreste toter Tiere im nährenden Erdreich oder andere tote Pflanzen sind. Meine Schwester Hallitti hat dir Angst gemacht, das erkenne ich wohl. Aber sie war auch zu ausgehungert und übereifrig, weil sie so lange hat schlafen müssen. Ilithula und ich sind seit unserer Geburt immer wach gewesen, von freiwilligen Schlafpausen abgesehen. Wir haben gelernt, nicht nur von euch Kurzlebigen, sondern auch mit euch zu leben. Insofern paßt dein gehässiger Vergleich mit dem Vieh, daß gemolken und nicht geschlachtet wird, am Ende doch. Aber ich weiß nicht, ob wir genug Zeit haben. Ich wollte dir eigentlich was zu essen beschafft haben. Doch mein Diener mahnte zur Eile. Und wenn ich meine Höhle öffne könntest du versucht sein, um Hilfe zu rufen, weil die Angst vor meiner Schwester Hallitti dich in den Haß auf uns getrieben hat. Außerdem muß ich davon ausgehen, daß Ilithula schon nach deinen Angehörigen sucht, um sie gegen dich auszuspielen, solltest du mein Angebot zurückweisen."

"Welches Angebot eigentlich?" fragte Julius jetzt doch mit einer Spur Neugier in der Stimme.

"Im Grunde dasselbe, was Ilithula dir abgezwungen hätte. Sicher, ich könte dir von meiner unerschöpflichen Lebenskraft etwas einflößen und dich damit für sie unantastbar machen", raunte Ilithula. Hallitti wurde es langsam zu lang. Doch sie wagte nicht, in die Gedanken ihrer Schwester hineinzufuhrwerken. "Aber um ganz sicher zu sein, daß Ilithula dich nicht für sich gewinnen kann biete ich dir meinen Leib als Quelle eines neuen Lebens an. Wenn du zu mir in meinen Lebenskrug steigst und dir wünschst, mein Sohn zu werden, wird dein Geist in meinen Schoß überfließen und mit deiner und meiner Lebenskraft einen neuen, wesentlich stärkeren Körper entstehen lassen. Du magst jetzt denken, daß du dich mir nicht so mir nichts dir nichts ausliefern willst. Doch bedenke dabei bitte, daß ich auch ein Opfer bringen muß."

"Ach neh, welches denn?" versetzte Julius.

"Zum einen die Unannehmlichkeiten einer Schwangerschaft zu bewältigen bis hin zur Niederkunft und Stillzeit. Zum anderen müßte ich, während ich an dir tragen würde, auf das Zusammensein mit meinen hingebungsvollen Verehrern verzichten, was mich wiederum einschränkt, meine ganze Kraft einzusetzen, um mein Revier zu verteidigen."

"Will sagen, wenn ich so blöd sein sollte, dein Sohn zu werden, damit deine Schwester nicht an mich rankommt, könntest du andere Männer nicht totlieben?" wollte Julius wissen.

"Ja, und ich könnte nicht gegen übergierige und verseuchte Vampire oder Wertiger kämpfen. Ich müßte ständig im Verborgenen bleiben und müßte es zulassen, daß mein Revier von diesen Geschöpfen heimgesucht und geplündert oder unhaltbar gemacht wird. Aber ich will und werde es auf mich nehmen, weil ich nicht will, daß Ilithula für Hallitti Vergeltung übt."

"Klingt alles schön süß wie Honig, aber auch so klebrig, und mit dem Beigeschmack, daß in dem Honig noch vereinzelt ausgerissene Bienenstachel herumschwimmen", erwiderte Julius verstimmt. "Und wenn ich dein Angebot ablehne, was dann?"

"Bleibt mir nichts anderes übrig, als dich solange hier bei mir zu behalten, bis Ilithula Hallitti neu geboren und großgezogen hat. Ich müßte dich immer bewußtlos schlagen, wenn ich aus meiner Höhle hinauswolte, nur um dir was zu essen und zu trinken zu beschaffen."

"Wie, kannst du mich nicht mit deinem magischen Blick niederhalten. Hallitti konnte das", wagte Julius eine dreiste Provokation. Hallitti und Ilithula knurrten gleichzeitig in Gedanken. Die eine, weil sie daran erinnert wurde, daß sie Julius fast gehabt hätte, die andere, weil sie offenbar keinen Zugang zu Julius' Geist fand, um diesen zu unterwerfen, zumal sie dies eh nicht durfte, wollte sie haben, daß er ihr Sohn und Hallittis Zwillingsbruder wurde. Denn wenn sie ihn mit dem Blick der Unterwerfung bannte, würde er nicht zu ihrem Sohn, und damit nur freiwerdende Lebenskraft. Das dies nicht reichte, um Hallitti wiederzuempfangen hatte ja der in Ilithulas Körper zerflossene Claude Andrews bewiesen.

"Ich darf dich nicht unter meinen Willen zwingen, Julius. Wenn du mein Sohn sein willst, dann, weil du es von dir aus willst. Auch wir Töchter Lahilliotas sind an gewisse Regeln gebunden, allein schon, um sicherzustellen, nicht jedesmal schwanger zu werden, wenn ein Widersacher von uns in unseren Lebenskraftkrügen sein unwürdiges Dasein aushaucht. Aber wenn ich dich hier bei mir festhalten muß, bis Hallitti wieder eigenständig handeln kann, wird sie sich grausam rächen, erst an denen, an die sie rankommt, deine Freunde, Bekannten, deine Mutter, die Frau, mit der du dich hast zusammensprechen lassen und dein Fleisch und Blut, bis niemand mehr übrig ist. Wenn du dann in die Welt der Kurzlebigen zurückkehrst wirst du niemanden mehr finden, der dir was bedeutet hat."

"Was ist dir denn so wichtig daran, daß deine Schwester mich nicht kriegt, Tochter des schwarzen Wassers?" wollte Julius wissen.

"Das ich nicht die Unterworfene meiner eigenen Schwester sein will, das einzige denkende Wesen auf dieser Welt, wenn alle Menschen tot oder zu entseelten wandelnden Hüllen gemacht sein werden. Denn genau das würde passieren, wenn Ilithula dich und dann noch das Machtmittel in ihre Gewalt bekommt, um alle Winde der Welt und alle Feuer innerhalb und außerhalb der Erdkugel zu lenken."

"Meine Verwandten können sich wehren, meine Bekannten auch", erwiderte Julius. "Außerdem können sie sich an einen unüberwindlich geschützten Ort zurückziehen."

"Glaubst du. Aber essen und trinken müssen sie doch, und jemanden, der für sie Nahrung erzeugt muß es auch geben", erwiderte Ilithula. "Ich will nicht, daß Ilithula so stark wird, daß sie mit einem Gedanken oder einer Handlung die ganze Welt entvölkern kann. Denn sie weiß nicht, wie dieses Werkzeug zu benutzen ist."

"Wer sagt euch, daß es auf der Erde ist?" fragte Julius nach zwei Sekunden. "Es könnte doch genauso mit den grauen Vögeln zusammen verschwunden sein." Jetzt war es an Ilithula, zu überlegen. Hallitti gedankenknurrte: "Sag ihm endlich, der soll zu mir in dich reinkriechen, wenn er nicht will, daß das Weib, daß sein Balg ausgetrieben hat stirbt oder die, die ihn ausgetrieben hat als lebende Tote rumlaufen muß!"

""Ich habe ihn schon fast so weit, Schwester. Deine Überhast kann alles verderben. Also schweig und erwarte deine Wiederempfängnis in Geduld!"

"Ich hänge schon einen vollen Monat in dir rum und muß mir das Geglucker und Gerumpel deiner Eingeweide anhören. Ich gäbe viel dafür, in vollen Windeln zu liegen, nur, damit ich bald wieder frei und eigenständig bin."

"Lass es mich auf die ruhige Art tun. Zwingen kann und darf ich ihn nicht. Er wird noch darum flehen, dein Bruder sein zu dürfen, Schwester. Also gedulde dich!" Für Julius hörbar sagte sie dann: "Wenn dem so wäre, so wird sie es nur dann glauben, wenn sie weiß, daß der, der die Vögel rief, nicht mehr auf der Erde lebt. Auf jeden Fall will sie dich haben, um dich mit Hallitti zusammen neu zur Welt zu bringen. Willst du das, eine Zwillingsschwester haben, die euer ganzes, dann ewiges Leben lang mit Verachtung und Überlegenheit auf dich herabblickt? Oder willlst du lieber in Ilithulas Lebenskrug zerfließen und im Fleisch Hallittis aufgehen?"

"Dein Angebot ist nicht wirklich besser, Abgrundstochter. Allein schon, daß dein Diener oder deine Dienerin mir alles hat abnehmen können, was an und für sich diebstahlsicher war, zeigt mir, daß ich dir nicht trauen darf."

"Mein Diener hatte die Anweisung, dafür zu sorgen, daß niemand deinen Weg zu mir verfolgen kann. Deshalb mußte er dir alles abnehmen. Ich zog dir die Kleidung aus, damit ich sicherstellen konnte, daß du unverletzt bist. Mein Diener deutete an, daß es bei der Reise vielleicht ein wenig holperig geworden sein kann."

"Achso, und deshalb hat dieser Leibsklave mir sogar die Uhr abgenommen. Wo hat er oder sie meine Sachen hingetan?"

"Soweit ich weiß in einen gesicherten Schrank, wo sonst niemand herankommt. Daß die unstehlbaren Sachen doch genommen werden konnten liegt einfach daran, daß mein Diener einen Teil meiner eigenen Kraft übertragen bekommen hat."

"Achso, und mit mir kannst, willst oder darfst du das nicht so machen?" stieß Julius aus.

"Aus dem einfachen Grund, daß ich zwölf Jahre nach Wahl eines mit meiner Kraft gesegneten Dieners einen weiteren erwählen und mit meiner Kraft stärken kann und der letzte von mir so erwählte vor elf Jahren in meine Dienste trat. Ich muß also noch ein Jahr verstreichen lassen, was für mich nur ein kurzer Augenblick ist, aber unbedingt eingehalten werden muß. Wenn du dich aber freiwillig dazu bereitfindest, dich in meinen schützenden Schoß zu legen und dort neu heranzuwachsen, würdest du nicht nur einen Teil meiner Kraft erhalten, sondern auch deine eigenen Zauberkräfte dazugewinnen und somit mächtig genug sein, um dich gegen Ilithula und Hallitti zusammen zur Wehr setzen zu können. Aber ich erkenne, daß das alles zu viel auf einmal für dich ist und ..." Ilithula wollte gerade noch sagen, daß sie ihm eine Stunde Bedenkzeit lassen wollte, als sie Semiramis' geistigen Wutschrei und dann ein angstvolles Wimmern vernahm. Gleichzeitig war ihr, als reiße ihr jemand etwas aus dem Leib. Hallitti geriet dadurch in Bewegungen, die sie durch alle organischen Hohlräume im Körper ihrer Schwester kreisen ließen. Sie fand sich mit ihrem Blut im Herz, wurde in den Kreislauf hineingepumpt und geriet in die Lunge, wo sie fast aus Ilithula hinausgeatmet worden wäre, wenn nicht der Sog der Verbundenheit sie knapp hinter Ilithulas Mundhöhle zurückgehalten hätte. Mit dem nächsten Atemzug floß Hallittis Geist wieder in den Körper ihrer Schwwester, geriet durch das Zwerchfell hindurch in die Bauchhöhle, in den gluckernden Magen und dann dorthin, wo sie eigentlich schon längst hätte ruhen wollen, in Ilithulas Gebärmutter. Der ganze Aufruhr dauerte eine Minute. Ilithula keuchte. Dann stieß sie aus: "Sie versucht, mich anzugreifen, weil sie ahnt, daß ich weiß, wo du bist, Julius. Ich muß mich gegen sie wehren. Das kann dauern. Solange hast du Bedenkzeit." Sprach's und tauchte in ihren Lebenskrug ein. Mit lautem, selbst für Hallitti unüberhörbarem Klong schloß sich der Deckel des Kruges über Ilithula. Die orangerote Substanz im Krug leuchtete bis zu Halliti hinein. "Dieses verdammte Spinnenweib hat Semiramis mein Medaillon weggenommen und zerstört. Semiramis mußte flüchten. Dabei hat sie mir glatt vier ganze Leben entrissen. Wenn ich den sehr standhaften Burschen zu mir nehmen will brauche ich genug einverleibtes Leben", gedankensprach Ilithula zu ihrer Schwester. "Außerdem will ich ihn jetzt hinhalten. Semiramis wird weiter nach seinen Angehörigen suchen. Wenn er wahrhaftig nicht freiwillig zu mir will, dann muß ich ihn eben mit dem Leben seiner Liebenden erpressen, was ich gerne vermeiden möchte."

"Wie lange willst du ihn hinhalten?"

"Einen Tag. Wenn er Hunger hat und merkt, daß ich ihn glatt hier verhungern lassen könnte, wird er mich auch so bitten, ihm Unterschlupf zu geben", erwiderte Ilithula sehr zuversichtlich.

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Von ihren britischen Mitschwestern erfuhr sie es zuerst, daß Julius Latierre bei einer nichtöffentlichen Zusammenkunft entführt worden sein mußte. Anthelia hatte erst grinsen müssen, weil sie dachte, daß diese beinahe heimliche Zusammenkunft wohl auch ihretwegen stattgefunden hatte. Dann jedoch fielen ihr vier Sachen auf, die die Zusammenkunft und die Entführung von Julius Latierre in ein anderes Licht rückten. Zum einen ging es um zwei Themen, die zusammen nicht von vielen Zauberern und Hexen beherrscht wurden. Zum zweiten war diese Zusammenkunft wohl nicht ganz zufällig nach dem wortwörtlichen Erstürmungsversuch von Salisbury angesetzt worden. Als unbestreitbare Expertin sowohl für Tränke wie für die Züchtung von magischen Tier- und Zauberwesen hätte man es ihr doch schon wesentlich früher mitgeteilt, wenn die Zusammenkunft mehr als ein halbes Jahr im Voraus geplant worden sein sollte. Drittens hatte sie nicht in Hogsmeade oder im Zaubereiministerium von London, sondern im Dorf Upper Flagley in Yorkshire stattgefunden, wo nicht nur Hexenund Zauberer wohnten. Viertens, und das gab für Anthelia den Ausschlag, hatte nicht der Zaubereiminister oder der Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe, sondern die Zaubertrank- und Fluchexpertin Semiramis Bitterling dieses geheime Treffen erbeten, angeblich, weil durch "solche Subjekte" wie die Spinnenhexen oder die Wergestalten die Frage aktuell war, ob das internationale Kreuzungsverbot überhaupt noch durchsetzbar war und wie leicht es sein mochte, neue Zaubergeschöpfe in die Welt zu setzen. Daß da Leute wie Ceridwen Barley, Sophia Whitesand, Patience Moonriver und Antoinette Eauvive hingingen war klar, ebenso wie die junge Hexe Hermine Granger. Aber eben alles von Semiramis Bitterling beantragt und im wesentlichen Vorbereitet. Dem mußte sie, Anthelia unbedingt nachgehen. Denn sie hatte einen bestimmten Verdacht.

So geschah es, daß die Führerin der Spinnenschwestern keine zehn Minuten nach der Entführung von Julius Latierre in Upper Flagley vor einem drei Meter hohen Zaun stand und unsichtbar um das davon umfriedete Grundstück herumlief. Mit nach unten zielendem Zauberstab und leise gesungenen Zaubersprüchen aus dem alten Reich befragte sie die große Mutter Erde, welche Fallen- und Wehrzauber auf sie lauern mochten. Sollte sie ganz banal den Glockenstrang am Gartentor ziehen und um Einlaß bitten. Das war insofernunklug, weil vor dem Tor eine Falltür im Boden eingelassen war, die beim Läuten der Glocke ausgelöst wurde, wenn der Läutende feindliche Absichten hatte. Mit einem Tiefenlotungszauber entdeckte Anthelia, daß zwanzig Meter unter der Falltür ein Acromantulanetz aufgespannt war. Die dazu gehörige Spinne wurde in einem Käfig gehalten, der nach Belieben der Hausherrin verschlossen blieb oder geöffnet wurde. Sie konnte selbst zur Spinne werden und wußte, wie klebrig große Netze sein konnten. Wäre vielleicht amüsant, eine elefantengroße Riesenspinne zum direkten Spinnenduell herauszufordern. Aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Gedanken fing sie wenigstens keine auf. Das mochte aber nichts heißen. Bis zu einer Zone von zehn Schritten um das Haus herum lauerten vielfältige Fang-, Lähm- und Geistesverwirrungsflüche, von denen der Horritimor noch der harmloseste war. Über dem Haus und dem Zaun hinweg spannte sich das unsichtbare Netz des Flugsperrenzaubers. Als ob das nicht völlig ausreichte, fliegende Eindringlinge abzuhalten war dieses Netz auch noch mit einem Nesselfluch aufgeladen, der dem gefangenen Eindringling schmerzhafte Brandwunden mit zeitweiliger Gliederlähmung zufügte. Alles in allem schon eine beachtliche Eigensicherung, mußte Anthelia anerkennen. Die Frage war nur, vor wem Semiramis derartig auf der Hut war. Galt das alles ihr? Sicher hatte sie auch vor den Nachläufern Riddles aufpassen müssen. Daß der Zaun als Locorefusus-Zauber für Apparierversuche herhielt hakte Anthelia unter "War zu erwarten" ab. Sie lächelte, als sie zwischen sich und den Zaun auf die Erde blickte. Was Skyllians Schlangenmenschen gekonnt hatten und Kobolde immer noch nutzten war einer Erdvertrauten so selbstverständlich wie einem Fisch das Schwimmen. So zielte sie mit ihrem Zauberstab erst auf ihren Kopf und erzeugte ungesagt eine rötliche Sphäre. Das war keine gewöhnliche Kopfblase. Mit dieser Leuchtsphäre konnte sie selbst in massivem Erdreich eingegraben weiteratmen und hatte dazu noch eine angenehm helle Lichtquelle. Dann zielte sie zwischen ihre Füße auf den Boden und murmelte "Madrash Ghedon adanoi!" Ein silberner Blitz zuckte nach unten. Gleichzeitig verlor Anthelia den festen Bodenunter den Füßen. Schneller als ein Augenzwinkern verschwand die Hexenlady im Erdboden, der über ihr wie unversehrt aussah. Sie raste vier Sekunden lang wie im freien Fall in die Tiefe. Dann genügte ein Gedanke, um wieder wie auf festem Boden zu stehen. Allerdings dauerte es nur eine Viertelsekunde. Dann raste sie mehrere Dutzend Meter unter der Erdoberfläche in Richtung Haus. Mit einem Zehntel der im Gestein möglichen Schallgeschwindigkeit sauste sie unter dem Zaun und allen verfluchten Bodenplatten und Wiesenstücken hindurch bis in die fluchfreie Zone. Dort dachte sie "Nach oben und raus!" worauf sie wie ein Korken aus einer viel zu heftig geschüttelten Champagnerflasche ans Tageslicht zurückschoß. Hinter ihr knisterte es vernehmlich. Vor ihr im Haus ging ein Katzenjammerzauber los. Gleichzeitig begann noch was im Haus zu scheppern, von dem Anthelia wohl dachte, daß es ein Feinderkennungsartefakt sein mochte, vielleicht eines dieser Spickoskope, die ihr Dana Moore mal gezeigt hatte und das sich bei ihrer Anwesenheit regelrecht in Stücke gescheppert hatte. Die Tür wurde durchsichtig. Zwei grüne, mit tellergroßen Saugnäpfen besetzte Fangarme schossen aus dem Türrahmen heraus. Von künstlichen Krakenarmen umschlungen zu werden stand nicht auf Anthelias Liste erotischer Erlebnisse.So wirbelte Anthelia kurz herum, wobei sie mal eben einen nach außen wachsenden Feuerring erzeugte, in dem die sie jagenden Krakenarme brutzelnd und übel riechend verkohlten. Ein gellender Aufschrei aus dem Haus war die erste Reaktion. Die zweite kam in Form einer im lindgrünen Umhang gekleideten Hexe mit schwarzen Locken und brauner Haut. Die Hausbewohnerin hielt ihren Zauberstab in der Hand und wirkte sichtlich bedrängt. Als sie sah, wer da mal eben durch alle lauernden Fallen- und Abwehrzauber hindurchgebrochen war, ohne nur einen auszulösen, verzog sie ihr Gesicht. "Du bist das, Anthelia, oder wie heißt du wirklich. Ich dachte, dein heuchlerisches Abkommen mit den Zaubereiministerien sei dir zu wichtig, um harmlose Zaubererweltangehörige zu behelligen."

"Ich entschuldige mein etwas unorthodoxes Vordringen, da ich befürchten mußte, daß der Türklingelmechanismus mich als unbefugt und damit zur Spinnenfütterung vorgesehen einstuft", erwiderte Anthelia unbekümmert. "Es geht mir nur um zwei Sachen, erstens, warum wurde ich als erwiesene Expertin für Tränke und magische Züchtungen nicht zu eurer trauten Gesprächsrunde eingeladen? Zweitens: Wer beauftragte dich damit, die Falle für Julius Latierre aufzustellen?"

"Bitte was? Ich dachte, du hättest den Jungen entführt", knurrte Semiramis. Sie hielt ihre Gedanken wohl verhüllt, so daß Anthelia ihr nicht gleich auf den Kopf zusagen konnte, daß sie log. Trotzdem war sie sich sicher, daß die orientalisch aussehende Ex-Lehrerin mit der Entführung was zu tun hatte.

"Wenn ich ihn hätte würde ich kaum hier vor dir stehen, Semiramis Bitterling, Tochter der Soraya und des Sixtus."

"Is' klar", erwiderte Semiramis. "so tun, als ob du nichts damit zu tun hättest", tönte sie weiter. Anthelia ließ ihr das durchgehen, fragte aber, ob sie einem ihrer früheren Schüler eine solche Bemerkung hätte durchgehen lassen. Sie lachte und schüttelte den Kopf. "Crucio!" zischte Anthelia. Doch der sonst auf Menschen und Tiere äußerst schmerzhaft wirkende Zauberspruch blieb ohne Wirkung. Semiramis lachte nur und erwiderte, daß sie Anthelia deshalb jetzt mühelos wegen Verwendung eines unverzeihlichen Fluches anzeigen konnte.

"Da mußt du dich aber in einer sehr sehr langen Reihe anstellen, glaube ich", erwiderte Anthelia, die trotz des Fehlschlages überlegen grinste. Statt dessen verzog Semiramis nun das Gesicht, als sei ihr siedendheiß etwas lebenswichtiges eingefallen. Sie schnaubte verärgert: "Ich habe den Jungen nicht entführt. Geh zum Zaubereiminister und zeig mich doch an, wenn du dich traust."

"Deterrestris", dachte Anthelia. Der Zauber versagte erneut. Da nutzte sie ihre telekinetische Kraft, um Semiramis gegen die Erdschwerkraft anzuheben, was spielendleicht gelang. Semiramis kreischte erschrocken. Offenbar hatte sie damit nicht gerechnet. Vor allem als Anthelia sie mit den Füßen gen Himmel ausrichtete schien die bis eben noch souveräne Hausherrin einen Moment lang eingeschüchtert zu sein. Doch dann feuerte sie einen giftgrünen Blitz aus ihrem Zauberstab ab, der jedoch an Anthelia abprallte. Denn unter ihrem rosaroten Umhang trug sie Sardonias Zaubermantel, der die meisten Flüche parieren konnte. Dann wirkte sie auf sich selbst den Contramotus-Zauber, um telekinetische Angriffe von sich abzuhalten. Sie fiel danach zwar einige Meter, wurde aber wie von einem unsichtbaren Kissen aufgefangen, kam auf die Füße und eröffnete ein Duell mit mehreren Flüchen in schneller Folge. Anthelia hatte nun Gewißheit. Denn der leichte Umhang der Hausbewohnerin war wohl kaum mit einem so ausdauernden Schildzauber versehen, um alles abzuwehren. Semiramis versuchte es sogar mit dem Imperius-Fluch, was Anthelias allerletzten Zweifel zerstreute, daß die ehemalige Schullehrerin vielleicht doch eine unbescholtene Bürgerin war. Selbst in Notwehr durften keine Unverzeihlichen Flüche gegen Menschen benutzt werden. Anthelia mit der Kraft der aus zwei Seelen verschmolzenen Einheit drängte den Befehl, auf die Wiese zu gehen zurück. Sie versuchte nun ihrerseits, Semiramis den Imperius aufzuerlegen. Doch dieser prallte funkenstiebend vor Semiramis ab. Diese versuchte es mit Materialisationskomponenten wie aus dem Nichts hervorbrechenden Dolchen, schwarzen Schlangen, brennenden Netzen oder Eisbällen auf kurze Entfernung. Anthelia zog dagegen nur kurz auflodernde blaue, rote oder violette Feuerwände hoch. Als die Hausbewohnerin mit "Volantapes" einen wilden Bienenschwarm auf Anthelia hetzte ließ diese um sich eine giftgrüne Aura entstehen, in der die beschworenen Kampfbienen laut knackend zu weißen Dampfwolken zerplatzten. Dann versuchte es Semiramis mit "Terra devorato inimicam!" Anthelia hielt aber schon beim ersten Wort, das das lateinische Wort für die Erde war, den Zauberstab nach unten und zischte "Madrash mailaishadri!" Mit dumpfem Knall flogen um Anthelia herum mehrere Dutzend Bodenplatten in die Luft und zersprangen beim Aufschlagen in tausende Einzelsplitter. Doch jetzt mußte Anthelia erkennen, daß Semiramis sie verladen hatte. Denn während Anthelia den Erdverschlingzauber zu einem Schutz vor dem Zorn der großen Erdmutter umgewandelt hatte, war es der Hausbewohnerin gelungen, einen Halbkreis zu schlagen, dessen Bogen um Anthelia herum nach hinten und zum Haus zurückführte. Da wurde sie urplötzlich von einer unsichtbaren Kraft hochgerissen. Sie hörte das Fauchen und Zischen in Aufruhr geratener Luftmassen. Sie rief dagegen an: "Elementa recalmata!" doch ein laut knallender weißer Lichtblitz war alles, was ihr Zauber bewirkte. "Du hättest dich nicht zu mir hintrauen sollen, Spinnenschwester. Jetzt lernst du fliegen, ohne Besen, bis du gegen einen meiner Bäume geschmettert wirst", frohlockte Semiramis Bitterling. Anthelia erkannte, daß sie nicht einfach in einen Windzauber hineingeraten war, sondern daß dieser mit einer Schutzkomponente gegen die Eindämmung von Elementarzaubern angereichert war. Wie auf einem unsichtbaren Karussell, das sich immer schneller drehte, kreiste Anthelia immer wieder um das Haus herum. Sie schaffte es noch, sich in der Senkrechten zu halten, während der sie über dem Boden haltende und immer schneller immer weiter nach außen tragende Wirbelwind an Kleidung und Haaren zerrte. Bis zu den zu verwischten Schemen gewordenen Bäumen waren es vielleicht nur noch zwanzig Meter. Anthelia versuchte es mit diversen Fluchtzerstreuern. dann versuchte sie, sich selbst in eine Windhose einzuschließen, die gegen die sie herumwirbelnde ankämpfen sollte. Doch diesmal hoben die Windelementarzauber sich nicht gegenseitig auf. es geschah nur, daß Anthelia jetzt nicht nur um die Senkrechtachse des Hauses kreiste, sondern dazu auch noch um ihre eigene Achse zu rotieren begann. Das stellte sie schnell wieder ab, als sie ihren eigenen Windzauber aufhob. Zumindest das gelang ihr. Doch jetzt hatte sie die endgültige Bestätigung für ihren Verdacht. Semiramis Bitterling diente Ilithula, der Tochter des düsteren Windes. Sie war ihre gehorsame Sklavin und hatte ihr den hochtalentierten Zauberer Julius Latierre beschafft. Aber was nützte diese Erkenntnis, wo sie gleich gegen einen der rasend schnell vorbeihuschenden Baumstämme krachen würde? Immer noch nahm das Tempo zu. Die Fliehkraft zog Anthelias äußeren Arm immer weiter hoch. Womöglich würde sie erst einen Arm einbüßen, bevor sie mit dem ganzen Körper gegen einen Baum prallte. Da dachte sie an ihre Freiflugformel. Diese wirkte. Sie dachte, nach oben zu steigen. Ja, es gelang. Sie blieb nicht in einem unsichtbaren Netz hängen. Dieses war nur auf von außen hereinfliegende Störenfriede und Feinde ausgerichtet. Sie stieg höher und höher und überflog dabei die Baumwipfel. Dann ließ der sie treibende Wirbelwind nach. Er reichte nur bis in die Gartenanlage hinein. Die auf Annäherung wirkenden Flüche griffen ebensowenig, weil Anthelia über einer üblichen Besenflughöhe herumkreiste. Sie ließ die Wirbelei noch einige Sekunden über sich ergehen, bevor sie sich ganz vom Haus forttrieb. Sie landete, wobei sie noch im Fallen den Erdeintauchzauber wirkte. So prallte sie nicht auf die Erdoberfläche, sondern verschwand wie ein einschlagender Blitz im Boden. Diesmal ließ sie sich nur drei Sekunden lang in die Tiefe sinken. Dann dachte sie: "Richtung Norden!" Das rasante hinabtauchen wurde wieder zur raschen Vorwärtsbewegung durch das wie flüchtig passierbare Erdinnere. Kurz vor dem Haus verharrte sie einige Sekunden, bis sie sicher war, daß der ihr geltende Sturmzauber verklungen oder aufgehoben war. Dann entfuhr sie der schützenden Obhut der Erde und tauchte genau hinter Semiramis auf. Unverzüglich dröhnte etwas im Haus los. Die Hausherrin wirbelte herum. Anthelia riß das rechte Bein hoch und traf genau Semiramis' Hand, die den Zauberstab führte. Auch wenn die Dienerin der Abgrundstochter übermenschlich stark und unermüdlich ausdauernd sein mochte war sie auf diesen muggelmäßigen Angriff einer Hexe nicht gefaßt gewesen. Der Stab entfiel ihr. Semiramis wollte danach hechten. Doch Anthelia krallte beide Hände in das Haar der Hausbewohnerin. Vor Schmerz und Wut schrie diese auf. Da sah Anthelia den Schimmer im Nacken der Gegnerin. Semiramis dachte wohl auch gerade daran, daß sie noch nicht ganz so wehrlos war. Anthelia riß die Widersacherin herum und langte ihr brutal an den Hals. Da fühlte sie das Stück Metall. Ein starker Energiestoß durchraste ihren Körper. Was immer es war wehrte sich gegen Raub und Diebstahl. Auf die Hexenlady wirkte dieser magische Gegenstoß jedoch wie ein Verwandlungszauber. Innerhalb von einer halben Sekunde wurde sie zur schwarzen Spinne. Im ersten Moment fühlte sie Wut und auch Hunger. Sie konnte dieses Weib da beißen und dann genüßlich vertilgen. Doch dann überwog ihr menschlicher Verstand. Wenn sie Semiramis umbrachte, würde sie nicht erfahren, wo Julius Latierre genau war. Semiramis schrie noch einmal auf. Dann riß sie das glitzernde Medaillon an der Kette hervor und hielt es der Achtbeinerin entgegen. "Gut, dann sei es der Wind der endzeit", schnaubte Semiramis. Dann rief sie: "Herrin Ilithula, töte meine Feindin!"

Das Medaillon begann in einem hellroten Licht zu glühen. Die schwarze Spinne hieb mit einer nur ihrer Tierform gegebenen Reaktionsgeschwindigkeit die rechte Beißschere nach der Kette, an der das Medaillon hing. Zwar fühlte sie noch etwas wie eine glühendheiße Riesenfaust, die sich von vorne um sie zu schließen tversuchte. Doch dann hatte sie die Kette durchtrennt. Ein greller Blitz zuckte aus der zerschnittenen Kette. Das Medaillon hörte zu glühen auf und klirrte zu Boden. Die Spinne packte mit der rechten Beißschere zu und bekam das Medaillon zu fassen. Es wehrte sich immer noch. Doch diesmal wurden die Abwehrströme über Anthelias magisch gepanzertes Außenskelett abgelenkt, wie Blitze vom Blitzableiter. Die Spinne warf sich herum. mit einem Kraftakt pumpte sie Körperflüssigkeit in ihre Beine und stieß sich auf diese Weise so kräftig ab, daß sie bald fünf Meter nach oben katapultiert wurde. Dann bekam sie die Außenfassade des Hauses unter ihre Krallenfüße. Wieselflink eilte die Spinne an der Hauswand aufwärts und lief die Dachschräge hinauf bis zu einem der Kamine. Sie wetzte um den Kamin herum und eilte zur gegenüberliegenden Dachschräge. Dort krallte sie sich in den Dachziegeln fest und beendete damit ihren raschen Lauf. Sie vollführte eine schnelle Drehung und schleuderte das erbeutete Medaillon über den Dachrand hinweg in den Wipfel eines Baumes, der fünfundzwanzig Meter entfernt stand. Semiramis hatte inzwischen ihren Zauberstab wiedergefunden und jagte um das Haus herum. Anthelia/Naaneavargia konzentrierte sich auf ihre Menschengestalt. Es dauerte, weil sie noch zu aufgeregt war. Semiramis rannte auf den Baum zu. Sie versuchte nicht erst, daß Medaillon herunterzuzaubern. Womöglich war es gegen jede Bewegungsmagie gefeit. Endlich schaffte Anthelia es, wieder ihre anziehende Hexengestalt anzunehmen. Sofort hob sie ihren Zauberstab und zielte auf das im Geäst hängende Medaillon. "Avada Kedavra!" rief sie. Laut brauste der gleißende grüne Blitz durch die Luft und fand sein Ziel. Instinktiv kniff Anthelia die Augen zu. Es gab einen gewaltigen Donnerschlag. Selbst durch die geschlossenen Augen konnte sie ein grelles Licht flackern sehen. Eine Druckwelle aus sengendheißer Luft warf die Hexenlady nach hinten. Dann war es vorbei. Sie rappelte sich auf und blickte nach vorne. Von dem Baum war nichts mehr übrig als ein verkohlter Stumpf. Semiramis war nicht da. Offenbar hatte sie sich per Disapparition abgesetzt, als sie Anthelia die beiden verbotenen Worte rufen hörte. Entweder hatte die Dienerin Ilithulas nicht darauf vertraut, gegen den Todesfluch immun zu sein oder sie hatte gewußt, was Anthelia vorhatte und wußte auch, wie das ausgehen würde. Die Hexenlady sah noch einmal zu dem Baum hin. Daß ein Baum bei aufschlagendem Todesfluch so infernalisch detonierte war unüblich. Also hatte sie das Medaillon erwischt, und das hatte sich und den Baum regelrecht atomisiert. Damit hatte Anthelia die Bestätigung dafür, daß die Versklavungsartefakte der Abgrundstöchter dem Todesfluch nicht widerstehen konnten. Doch wo war Semiramis? Hätte sie im Wirkungsbereich der Explosion gestanden, wäre sie ja zumindest umgerissen worden, maximal zu einem Haufen aus Asche und verkohlten Knochen geworden.

Anthelia lauschte mit ihrem Gedankenspürsinn. Dann prüfte sie auf menschliche Wesen in hundert Metern Umkreis. Danach versuchte sie, durch den Kamin in das Haus einzudringen. Doch der Kamin war mit einem unsichtbaren Sperrzauber verschlossen, der wohl nur Luft und Rauch passieren ließ. Mit einem weiteren Untersuchungszauber erkannte sie, daß das ganze Haus vom Keller bis zum Dach mit dem Megadamas-Zauber und mit Geisterabwehrzaubern durchzogen war. Damit war es für Geister und Kobolde unbetretbar. Doch auch für Anthelia war dieser Zauber ein Hindernis. Sie konnte es zwar beseitigen. Doch das würde dauern, weil jeder Stein mit einem eigenen Zauber belegt war. Semiramis hatte sich wahrlich gegen fast alle Feinde abgesichert.

Anthelia rief nach der Gegnerin. Sicher würde die sich jetzt nicht mehr zum Duell stellen, wo sie einen Teil ihrer überragenden Kraft verloren hatte und zu dem nicht mehr so schnell von ihrer wahren Herrin fortgeholt werden konnte. Dann sah sie um den Zaun herum mehrere dutzend zauberer apparieren. Darunter erkannte sie einen hageren, schwarzhaarigen Zauberer. Sie mußte genauer hinsehen, um Harry Potter zu erkennen. Zu ihrem Glück hockte sie gerade hinter dem Kamin und wurde wohl nur gesehen, wenn jemand genau über das Dach blickte. Sie machte sich unsichtbar. Dann wendete sie den Freiflugzauber an und stieg erst sanft nach oben, bis sie auf der Höhe des Fangnetzzaubers war. Dieser hielt sie nicht auf. das hatte sie gehofft. Nun beschleunigte sie ihren Flug und sah noch, wie die zwölf Zauberer mit ihren Zauberstäben den Zaun abtasteten. Sollten die ruhig das Gewebe der Fallen- und Abwehrzauber erforschen, mit dem Semiramis Bitterling ihr Haus umgab. Anthelia stieg noch höher und höher, bog dann nach Osten ab und flog noch zwanzig Minuten, bevor sie sicher sein konnte, gefahrlos disapparieren zu können.

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Im Schutze ihres Lebenskruges bekam Ilithula mit, daß Semiramis Bitterling in ihr Haus zurückgekehrt war. Die schwarze Spinne war fort. Julius' Zaubergegenstände waren noch in Semiramis' Studierzimmer. Dann hatte sie erfahren, daß Julius' Frau Mildrid nach England kommen wollte, um ihren Mann abzuholen, wie sie es abgesprochen hatten. Sicher würde sie die gemeinsame Tochter mitbringen. Semiramis wollte beide vor Ilithulas Höhle schaffen. Sollte es nicht klappen, Julius in den Krug zu locken, würde Ilithula sie zu sich hineinholen und ihm androhen, beide nacheinander in ihren Lebenskrug zu werfen. Dann würde seine Mutter drankommen, dann seine Freunde aus Hogwarts und Beauxbatons, jeden halben Tag einer, bis er mit angesehen hätte, daß niemand mehr auf ihn wartete. Diese finale Folter würde er nicht durchhalten. Sie durfte ihn nur nicht mit ihrer Magie beeinflussen oder ihn mit eigenen Händen in den Lebenskrug stoßen. Von Zwang hatte Lahilliota nichts gesagt. Sie hatte Semiramis ihr Einverständnis für die Gefangennahme Mildrids und Aurores erteilt. Nun konnte sie wieder aus ihrem Lebenskrug aussteigen, um Julius weiterhin zu bearbeiten, aus reiner Überzeugung ihr Sohn zu werden.

Zu gerne wollte sie wissen, was Julius dachte, um genau am richtigen Punkt ansetzen zu können. Sicher hatte er Angst um seine Liebsten und wußte, daß er aus eigener Kraft nicht die Höhle verlassen konnte. Denn ohne seinen Zauberstab konnte er diesen Verschwindetrick nicht ausführen, mit dem er sich und seinen ausgelaugten Vater aus Hallittis Höhle gerettet hatte. Julius verschloß jedoch immer wieder seine Gedanken. Hallitti verfolgte diese angespannte Situation. Irgendwas bahnte sich an. Hallitti wußte aber nicht, ob es was gutes oder schlechtes war. Dann hörte sie aus Ilithulas Geist heraus einen Entsetzensschrei, noch lauter als vorhin, als Semiramis flüchten mußte. Der Schrei wurde gefolgt von andauernden Schmerzensschreien: "Nein! Hilfe! Aufhören! Diese Schmerzen! Nein, ich verbrenne! Gnaaaadeee!" Julius sagte gerade: "Ich will lieber hier verhungern, als mich von dir oder Ilithula kleinmachen zu lassen, wenn du nicht diese Ilithula bist. Denn Itoluhila hat meiner Erinnerung nach blaue Augen und kein Kleinmädchengesicht." Ilithula erschrak regelrecht. Ja, es war fast wie Panik, die durch ihren Geist tobte. Zum einen wußte Julius wohl, wie die einzelnen Abgrundstöchter aussahen. Zum anderen waren da die gellenden Schreie von Semiramis. Irgendwas setzte ihr gnadenlos zu und raubte auch Ilithula Kraft. Sie hatte nur die Möglichkeit, sie zurückzuholen, auch ohne das verbindende Medaillon. "Ah, habe ich dich erwischt, was, Windsbraut?" hörte Hallitti noch Julius triumphieren. Ilithula stieß einen Wutschnaufer aus. Doch dann konzentrierte sie sich auf ihre in Agonie schreiende Dienerin.

"Komm zu mir. Dein Leben ist meins. Sei bei mir!" hörte Hallitti ihre Schwester in ihrer Muttersprache rufen. Dreimal. Dabei klangen immer noch Semiramis' Schmerzensschreie in ihrem Geist. Sie rief laut: "Nein, aufhören! Ja, ich bereue alles! Ich bereue doch alles!"Dann hörte Hallitti die Dienerin Ilithulas sogar durch die Bauchdecke ihrer Schwester. Der Schrei wurde zu einem gequälten Wimmern und schluchzen. Julius rief nur: "Verdammt, dieses hinterhältige Weib!" Dann bekam Hallitti mit, was die herbeigerufene so quälte. Ilithula empfand eine Mischung aus Unsicherheit, Wut und verachtung. "Wer ist denn auf die Idee gekommen, das Symbol dieser Heuchlersekte mit einem Feindesbekämpfungszauber zu belegen?" lachte sie. Dann griff sie wohl nach etwas. "Würde ich besser nicht anfassen, Irrlauftrulla", mußte Julius einen unpassenden Kommentar ablassen. Da fühlten Ilithula und Hallitti es gleichermaßen, wie eine Folge von Blitzen durch sie beide hindurchzuckte. Hallitti hörte eine zornige Frauenstimme wie aus großer Ferne: "Lass ab von ihr!" rufen. Ilithula schrie auf. Hallitti konnte in diesem Moment sogar durch Ilithulas Bauchdecke hindurchsehen und erkannte Julius, der vollständig bekleidet dastand und gespannt zusah. Doch was Hallitti nun auch sah, das war ein millionen goldene Funken sprühendes Kreuz, das wohl an einer Kette befestigt war und auf Semiramis Oberkörper lag. Aber wieso sah Semiramis so wie ein halbwüchsiges Mädchen aus? Dann verschwanden die Bilder wieder. Hallitti blickte nur gegen die Innenseite von Ilithulas Bauchdecke und hörte sie zornig schnauben: "Hier drinnen nicht!" Hallitti wußte aus den Gedanken ihrer Schwester, daß sie das Kreuz an einer Kette abgenommen hatte und es in die hintere Ecke der Höhle warf. Sehen oder hören konnte sie es wegen Ilithulas wummerndem Herz und ihrem schnellen Atem nicht. "Offenbar meinte wer, die alten Zauber meiner in alle Winde verblasenen Mutterschwester imitieren zu können und diese auf dieses lächerliche Stück Silber zu legen. Aber offenbar hat es gereicht, um ..." sie verstummte. Entsetzen flutete ihren Geist. Hallitti erfaßte den Gedanken: "Nein, sie verwelkt. Das darf nicht sein." Zehn Sekunden lang schien die Tochter des düsteren Windes nicht zu wissen, wie sie handeln mußte. Konnte sie ihre Dienerin noch retten, indem sie ihr Lebensessenz einflößte? Doch Julius würde die beiden dabei stören, sie anspringen und auseinandertreiben. Außerdem verwehten Semiramis Lebensjahre im Sekundentakt. Es würde schwer sein, dagegen anzukämpfen. Irgendwas hatte den Bund zerstört, die schützende Magie aufgelöst. Konnte das wirklich dieses Kreuz gewesen sein? Doch jetzt lag es in der Ecke und würde niemanden mehr vor ihr schützen, auch Julius nicht. Denn nun unterlag es dem Zauber der Höhle. Hallitti schickte ihrer Schwester zu: "Laß sie verrecken! Nicht in den Krug werfen!"

"Ruhe da drinnen. Sie gehört immer noch mir. Und wenn ich sie mir nicht mehr erhalten kann, werfe ich sie eben weg", schickte Ilithula zurück. Hallitti fühlte, daß Semiramis' Pein und die Kraft dieses Kreuzes auch hier in der Höhle noch für beide Schwestern gefährlich werden konten. Sie erinnerte sich an eine Szene, wo sie eine ähnliche, abweisende Kraft gefühlt hatte, damals vor dem Purpurhaus. Ja, dieses Kreuz übte eine ähnliche, wenn nicht sogar dieselbe Abweisung auf die beiden Schwestern aus. Während Hallitti sich dessen klar wurde, fühlte sie, wie Ilithula ihre wertlos gewordene Dienerin in den Lebenskrug hineinwarf. Sie fühlten beide, wie sie sich auflöste. Doch es war nicht die sonst so beglückende Wonne, wenn ein ganzes Leben in einer Sekunde auf sie überfloß. Es war ein Glühen und prickeln. Außerdem erfaßte Hallitti, daß Ilithula goldene Funken aus dem Krug fliegen sah, die auf das in der Höhlenecke liegende Kreuz zurückflogen. Gleichzeitig hörten die beiden miteinander verbundenen Schwestern einen aus der Ferne heran- und in die Ferne zurückflutenden Aufschrei, jedoch keinen aus Angst oder Schmerz, sondern als freue sich jemand darüber, von einer unerträglich schweren Last befreit worden zu sein. Ilithula fühlte, wie Schwäche ihren Körper erfaßte. Für Hallitti war es, als presse sie eine unsichtbare Hand zusammen. Ilithulas Herzschläge wurden lauter, ebenso das in ihren Adern rauschende Blut. Sie stieß rein geistig Laute der Qual aus. Über diese hinweg hörte sie noch Ilithulas Befehl: "Laß es liegen!" Das galt Julius, der offenbar fand, sich das weggeworfene Kreuz zu holen. Ilithula konnte ihn nicht zurückhalten. Offenbar saugte ihr etwas Kraft aus dem Körper. "Laß das verdammte ..." Da hatte Julius es aber offenbar schon. Sie schrak zurück. Denn was immer ihn vorher schon abweisend gemacht hatte, es verstärkte sich auf einmal. Sie brüllte ihn an, sie würde jeden töten, den er liebte, egal wann, egal wie. Er blieb ruhig. Ja, seine Lebensaura war zu einem ständigen, zurückdrängenden Wind geworden, der nicht nur Ilithula betraf. Dann erschütterte etwas anderes Ilithulas und Hallittis Gedanken.

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Adrian Moonriver hätte sie am liebsten an Ort und Stelle mit ihrem eigenen Haar erwürgt, als Semiramis Bitterling endlich in den Pub ging und auf Millie zusteuerte. Millie begrüßte sie mit der Höflichkeit, die einer älteren Hexe von einer jüngeren zusteht. sie unterhielten sich einige Minuten. Millie wollte dann den Ort sehen, wo Julius verschwunden war. Scheinheilig, wie Adrian fand, willigte Semiramis ein. Sie konnte ja nicht wissen, daß in Millies Körper der hilfreiche Zaubertrank Felix Felicis wirkte. Der würde ihr hoffentlich früh genug verraten, ob es ratsam war, das Gemeindehaus zu betreten. Eigentlich hatte Millie Dusty mitnehmen wollen. Doch der hätte eine gefährliche Feindin vielleicht unverzüglich angegriffen.

"Was ist denn jetzt mit der schwarzen Spinne. Konnten Sie sie verjagen?" wollte der Wirt des Pubs noch von Semiramis wissen. Diese erwiderte, daß ihr Haus sie ohne Schwierigkeiten abgewehrt habe und daß Minister Shacklebolt von ihr noch einen genauen Bericht zuzüglich einer offiziellen Anzeige wegen Hausfriedensbruches in Tatmehrheit mit versuchter Körperverletzung oder versuchten Mordes erhalten würde. "Damit kann sich diese Heuchlerin ihre dürftige Übereinkunft mit den Yankees in ihre Spinnenbeinhaare schmieren", mußte sie noch anbringen. Adrian, der wie Camille stocksteif in seiner Ecke des Pubs gewartet hatte, damit Semiramis nicht vielleicht die Aura seines Heilssterns verspürte, mentiloquierte Camille:

"Wenn sie eine Sklavin ist, dann fehlt ihr ein Verbindungsschmuckstück. Aber dazu später. Hinterher, aber plus silent."

Sie folgten Millie und Semiramis. Millie gab sich so, als sei sie ganz unbekümmert. Das silberne Kreuz hatte sie in einer Umhangtasche. Dann waren sie an der Halle der Zusammenkunft. Millie sah, daß niemand in der Halle war und im Umkreis von hundrt Schritten auch niemand zu sehen war. Camille und Adrian wagten sich sogar bis auf zwanzig Schritte heran. Madam Bitterling lächelte. Sie öffnete die Tür. Millie stand einen Moment ganz ruhig da. Dann glitt sie sachte zur Seite, sodaß Semiramis Bitterling zwischen sie und die Hauswand geriet. Dann prallte Milie ansatzlos gegen die Zaubertrankbrauerin. Diese reagierte zwar, aber eine Zehntelsekunde zu spät. Denn als wäre es Millie in die Hand gesprungen, zog sie in dieser Zeit das silberne Kreuz hervor, von dem aus goldene Funken sprühten, ähnlich wie bei Felix Felicis. Semiramis versuchte, Millie von sich zu stoßen. Doch mit einer Anmut, die einer Hochgeschwindigkeitsballerina Ehre gemacht hätte, gab Millie gerade mal so weit nach und drehte sich dabei so schnell aus der Stoßrichtung, daß Bitterlings Arme mit voller Wucht ins Leere stießen. Millie schwang ihre rechte Faust, aber nicht zum zuschlagen, sondern nur, um die dünne Halskette wie ein Lasso ausspannen zu lassen. Ihre Gegnerin versuchte, sich vor ihr wegzuducken. Doch mit der linken Faust drückte Millie ihr den Kopf gerade soweit hoch, daß die Kette darüberglitt und sich um ihren Nacken legte. Da traf das silberne Kleinod die Brust Madam Bitterlings. Die goldenen Funken wurden auf einmal zu violetten und dann zu blau-goldenen Blitzen, die um Semiramis Bitterling herumzuckten. Diese schrie laut auf und versuchte, sich das ihr umgehängte Kreuz abzureißen. Millie wich indes mit einem geschmeidigen Rückwärtssprung zwei Meter zurück. Dann verdichtete sich das blaue und goldene Blitzgewitter noch mehr. Adrian und Camille fühlten, wie ihre Heilssterne erzitterten und warme Schauer aussendeten. offenbar berührten Ausläufer der verwandten Magie ihren Kern. Dann passierte es. Semiramis Bitterling wurde auf einmal immer durchsichtiger. Ihre Konturen verschwammen im violetten, blauen und goldenen Licht. Dann löste sie sich in einer nervenaufreibenden Langsamkeit auf, bis am Ende nur noch eine Wolke aus goldenen Funken verblieb. In diesen Prozeß hinein riß Camille ihren Heilsstern hervor, rief Adrian, er solle sie irgendwo zu fassen kriegen und rief "Daramatani Darvasanori!" - Gleiches Licht erleuchte, Demweg des Lichtes folge." Camille hatte nicht überprüfen können, ob es so funktionierte. Sie hatte sich nur auf Ianshiras Worte verlassen können. Doch es funktionierte. Die gerade noch tanzenden Funken flogen zu Camilles Heilsstern, der nun selbst in blauen und goldenen Blitzen erstrahlte und die Unsichtbarkeit aufhob. Auch Adrian Moonriver wurde sichtbar und hielt seinen Heilsstern, der sein Licht mit dem Camilles vereinte. Keine Sekunde später waren beide in einem goldenen Blitz verschwunden. Millie stand alleine vor der Halle.

Camilles Beschwörung hatte einen Tunnel aus goldenem Licht geöffnet. Innerhalb dieses Tunnels sahen sie ein violett und weiß flackerndes Kreuz, das zwischendurch immer wieder zu einem fünfzackigen Stern wurde. Wo immer das Kreuz hinbefördert wurde, Camille und Adrian folgten seiner magischen Spur durch das Raum-Zeit-Gefüge. Dann sahen sie jedoch eine dunkle Wand, auf die das Kreuz prallte, einschrumpfte und bis auf einen Funken verlosch. In dem Moment fielen die beiden Heilssternträger unsanft auf sandigen Boden. Heißer, trockener Wind umwehte sie. Am südwestlichen Himmel stand eine mörderisch heiße Sonne.

"Also hat sie sie stante Pede zu sich zurückgeholt", grummelte Adrian auf Französisch. "Wir kommen nicht rein, weil wir zwei Sekunden zu spät los sind, vertrackt noch eins."

"Aber die Verbindung besteht noch", sagte Camille leise und zog den Heillstern über ihren Kopf. Sie hielt ihn dabei Sicher und ging einige Schritte weiter, bis ihre Hand kurz erzitterte. "Da genau ist unsere Verbindung abgeschnitten worden. Bis hierhin verläuft die Kraftlinie. "So dann, dann bleiben wir eben hier und versuchen, die Höhle aufzubrechen", sagte Adrian.

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Anthelia überlegte, daß Semiramis oder ihre Herrin selbst einen Unterpfand sichern wollte, um Julius dazu zu zwingen, freiwillig in ihr inneres Nest zu kriechen, um dort mit Hallitti zusammen der Wiedergeburt entgegenzuschlummern, sofern jene, die ihn überwachten, das zuließen. Eine gewisse Aussicht auf erfolg sah Anthelia bei den Merryweathers. Dort erschien Anthelia zusammen mit drei befreiten Mitschwestern im Schutze von Unsichtbarkeitszaubern. Doch als sie einen Kilometer vor der Grundstücksgrenze apparierten und mit Bildverpflanzungsfernrohren und Schallansaugrohren ausspähten, was mit Martha und Lucullus Merryweather los war, mußten sie feststellen, daß die Merryweathers bereits von zehn Zauberern und zwei Hexen unterstützt wurden, um weiterführende Schutzzauber um das Anwesen zu legen. Die vier Hexen konnten gerade so noch entkommen, bevor eine Art silberner Nebel vom Hausgrundstück her auf sie zueilte, sicher ein Feindverdrängungs- oder Feindlähmungszauber.

"Ohne ihr Sklavenzeichen kann Bitterling sich dem Haus von Julius' Mutter wohl nicht mehr nähern, ohne gleich in mehrere simultane Abwehrbanne zu geraten. Insofern können wir uns wohl zurückhalten. Denn soweit ich weiß, ist der alte Schutzzauber um das Schloß der Latierres noch wirksam, und die große Kuppel über Millemerveilles steht besser denn je", sagte Anthelia. "So verbleibt uns nur, weiterzubeobachten, ob die vaterlose Windsbraut ihren Willen und damit gleich zwei Kinder bekommt. Wissen wir das, werden wir neu planen." Ihre Zuhörerinnen nickten. Dann kehrte jede für sich an ihren Wohnort zurück.

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Es war, als habe jemand mit einem großen Rammbock die Höhle getroffen. Gleichzeitig vernahm Hallitti Wut und Entsetzen von ihrer Schwester. "Das ist nicht wahr! Das kann nicht wahr sein!" Doch es war wahr. Eine fremde Kraft drang von außen in die sonst so absolut sichere Höhle ein, breitete sich immer mehr aus und brach die Höhle gänzlich auf. Es war anders als damals das mit den Zauberkraftverschlingern, erkannte Hallitti. Diese Kraft kannte sie auch - viel zu gut.

"Wie kann das sein", lamentierte Ilithula und versuchte, ihre Windmagie zu beschwören. Von draußen erklang die Stimme eines Halbwüchsigen, vom Akzent her Engländer:

"Xarisobrin ashranin,
laishadri aigin, Arixi Naanaigin!"

Woher kannte dieser grüne Junge diese mächtige Anrufung, die Hallitti als die zweitgehaßte Anrufung ihrer Existenz ansah? Offenbar trug er auch noch eines dieser verhaßten Erbstücke der verwünschten Tante bei sich. Denn auf einmal rollte eine Woge aus Kraft durch die Höhle, die Ilithula laut aufschreien ließ. Hallitti konnte für fünf Sekunden durch ein helles Licht aus Ilithulas dunkler Bauchhöhle hinaussehen und erkannte, daß vor der Höhle ein Junge und eine Frau standen, die jeweils einen dieser in den tiefsten aller Abgründe zu verdammenden Silbersterne in der Hand hielten. Von den beiden Sternen flutete abwechselnd blau und gold flackerndes Licht in die Höhle. Dann sah sie Julius, der ein golden leuchtendes Kreuz trug, von ddem ein goldener Schimmer seinen ganzen Körper umgab. Die blauen und goldenen Blitze fingen sich in diesem goldenen Schein wie Fliegen im Spinnennetz. Sie verdichteten den goldenen Strahlenkranz und ließen das Kreuz immer heller aufglühen. Ilithula schrie auf. Hallitti fühlte es wie schmerzhafte Schwerthiebe, die immer wieder Stücke aus ihr herausschlugen, die dann ebenso schmerzvoll an ihren angestammten Platz zurücksprangen. Damit war beiden Schwestern klar, daß die Rollen von Fallenstellern und Beute vertauscht waren. Ilithula stieß unartikulierte Laute aus. Dunkler Nebel entstand vor ihrem Körper und wurde zu einer Säule aus wirbelnder Luft. Da wurde es für Hallitti wieder so dunkel, wie nach ihrer Einkehr in Ilithulas Leibeshöhle. Das sie zurückdrängende Gefühl wurde jedoch stärker. "Zurück in deinen Schlummerkrug, du Monster!" brüllte Julius. "Im Namen Ashtarias und ihrer Kinder Sharvas, Isa, Mosan, Sorakan, Ariman, Ashgarat und Daramiria, geht beide schlafen, ihr Töchter Lahilliotas!" Bei den Namen Ariman, Isa und Daramiria fühlte Hallitti, wie sie erneut von dieser unsichtbaren Riesenfaust umschlossen und zusammengestaucht wurde. Jetzt hatte sie es endgültig begriffen, daß Julius gegen sie und ihre Schwestern ausgebildet worden war. Wie dumm waren Ilithula und sie doch gewesen, ausgerechnet ihn zu sich zu holen? Doch er hatte unmöglich die Kinder der verhaßten Tante zu ihnen hinführen können. Ilithula brüllte wütend und versuchte, gegen die Kraft anzukämpfen, die sie zurücktrieb. Jetzt rief die Frau vor der Höhle auf Französisch: "Im Namen Ashtarias, meiner Urmutter und meiner Stammmutter Daramiria, schlaft ein!" Jetzt kam auch noch ein zusätzlicher Kraftstrom dazu, der den ersten erheblich ergänzte. Ilithula schrie wütend und schlug wohl um sich. "Wir zertreten euch, ihr Kakerlakenbrut! Itoluhilaaaaa!" Der Name der wachen Schwester jagte als Gedankenruf hinaus ins Raum-Zeit-Gefüge. Hallitti fühlte, daß er sein Echo fand. Die zweite Schwester hörte sie. "Die Bälger der Verhaßten greifen mich an! Komm und hilf uns!" Mit hörbarer Stimme brüllte sie Julius an, der ihr offenbar am meisten zusetzte. Er rief:

""Was dein Angebot angeht, Ilithula, die Antwort ist nein. Ich habe schon zwei Mütter, meine leibliche und Ashtaria." Diese Offenbarung erschütterte Ilithula und Hallitti heftiger als die beschwörenden Worte von gerade eben. Wie konnte es sein, daß dieser Junge sich als Sohn der verhaßten Tante bezeichnete, ja tatsächlich die alte Kraft ihrer sieben Bälger zu Hilfe rufen konnte? Doch es mußte so sein, weil ihm diese Kraft wohl schon ohne das hergebrachte Kreuz beigestanden hatte. Jetzt begriff Hallitti, was genau die abweisende Kraft war, die Ilithula die Lust auf körperliche Berührungen vergellt hatte. Von irgendwoher war ihm die Kraftaura der Verhaßten aufgeprägt worden. Am Ende hatte der wahrhaftig eine Zeit lang in dieser nicht ausrottbaren Widersacherin gelegen und sich von ihr mit ihrer ungenießbaren Kraft auffüllen lassen. Beide Schwestern erkannten mit der Wucht der großen Enttäuschung, daß es wohl nicht mehr zu Hallittis zweitem körperlichem Leben kommen würde. Sie schrien beide nach ihrer wachen Schwester, die ihnen helfen sollte. Hallitti fühlte die Wut auf Itoluhila. Die hatte sich geweigert, ihr ein neues Leben zu geben, hatte die Pflichten der Töchter Lahilliotas zurückgewiesen. Hatte die vielleicht schon gewußt, daß es ohne Richard Andrews oder dessen Sohn nicht gelingen würde? Hatte die vielleicht sogar schon gewußt, daß Julius nach der Begegnung mit Hallitti mit der Verhaßten, die durch das Erbe ihrer Kinder immer noch wirken konnte, in Berührung kam? Wie auch immer diese Fragen zu beantworten waren, es war zu spät dafür. Hallitti versuchte, nach oben oder zu den Seiten aus Ilithulas Leibeshöhle zu entschlüpfen. Doch sie prallte gegen nachgiebigen Widerstand und blieb wo sie war. "Itoluhila, du feiges und verräterisches Weib, komm uns gefälligst zu Hilfe, damit wir gleichviele sind!" stieß Ilithula noch einen Gedankenruf aus, bevor sie noch einmal versuchte, mit einen dunklen Windzauber zu wirken. Doch damit vergeudete sie nur in sich gespeicherte Lebenskraft. Sie keuchte. Dann durchbrandete sie ein heftiger Schmerz, der zugleich wie ein gewaltiger Stoß wirkte. Hallitti fühlte die Lebensessenz ihrer Schwester. Sie tauchten in Ilithulas Lebenskrug ein. "Ihr werdet hnicht siegen! Wir werden nicht sterben!" rief Ilithula noch. Dann schloß sich mit einem lauten Klong der Deckel des Lebenskruges. Hallitti fühlte, wie erfrischende Kraftströme in sie eindrangen. Ilithula wollte neue Kraft sammeln, um die in ihr Reich gedrungenen Feinde mit einem gewaltigen Gegenschlag hinauszuwerfen, um die Höhle zu verschließen. Doch dazu kam es nicht. Denn Julius' Stimme, jetzt metallisch hallend und weiter entfernt, begann jene Formel zu rufen, die Hallitti als die meistgehaßte Anrufung sah:

"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!" Schon nach dem ersten Wort fielen zwei weitere Stimmen in diese Anrufung ein, holten Julius Vorsprung ein und sangen mit ihm die zwei letzten Teile der Anrufung im Terzett.

Die stärkste aller Anrufungen Ashtarias war verklungen. Da brach es über Ilithula und ihre körperlose Schwester Hallitti herein. Das innere des Kruges schien plötzlich zu kochendem Wasser zu werden. Denn Ilithula schrie auf. Dann hörten sie die wie von einer übergroßen Frau ausgestoßenen Worte:

"Vaterlose Kinder meiner Schwester, Ilithula und Hallitti, schlaft beide tief im Schoß der großen Mutter, bis erneut sie eins mit dem großen Vater Himmelsfeuer endet. Schlafet beide im Schoß der großen Mutter, bis erneut sie eins mit dem großen Vater Himmelsfeuer endet!"

"Nein, Ashtaria", erscholl eine zweite Frauenstimme, leiser aber dennoch entschlossen. "Du hast kein Recht, meine Kinder zu befehligen. Sie sollen leben. Verschwinde mit deiner Brut und lass meine Kinder leben!" Doch diese Aufforderung verklang immer mehr. Hallitti erkannte die Stimme ihrer leiblichen Mutter. Doch diese, wohl als letzte Abwehrhandlung ihrer beiden bedrängten Geister, verebbte schneller als sie aufgewallt war. Jetzt begann Ashtaria zu singen. Der Gesang enthielt ihre letzten Anweisungen an die beiden Schwestern. Diese konnten sich der Kraft dieser Melodie nicht mehr entwinden.

Hallitti fühlte es fast körperlich, wie ein mächtiger Sog sie erfaßte und mit sich riß. Sie sah noch einen rotgoldenen Strudel und hörte Ilithulas langen Aufschrei, während sie beide in den immer tiefer hinabreichenden Wirbel hineingezogen und verschlungen wurden. Dann hörten Raum und Zeit für sie auf.

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Nachdeem Camille und Adrian durch das Kreuz Maria Valdez' nach außen greifende Verbindung mit ihren Heilssternen die Höhle geöffnet hatte und mit einem Bannspruch, der die Macht der sieben Kinder gegen den erkannten Feind richtete, verausgabte sich Ilithula mit ihren Windzaubern. Sie mußte sich in ihren Lebenskrug zurückziehen, weil Julius sie fast mit dem angeregten Kreuz berührte. Der Deckel schloß sich. Da begann Julius die mächtige Formel zu rufen, die die volle Stärke des magischen Talismans freimachte. Nach dem ersten Wort stimmten auch Camille und Adrian in die Beschwörung ein. Zwar war Julius ihnen um ein Wort voraus. Doch als das von ihm eingesetzte Kreuz hell erstrahlte, holten die beiden anderen Kinder Ashtarias den Vorsprung auf. Da flutete von beiden Heilssternen ein breiter goldener Lichtstrahl in die Höhle, verstärkte das goldene Glühen um Julius und teilte es in zwei immer konturgenauer gestaltete Erscheinungen, eine rotgoldene hinter Julius und eine weißgoldene vor ihm, die von den Energien aus drei Artefakten Ashtarias gespeist immer größer und gestaltlicher wurde. Camille wußte nicht, ob nur sie die rotgoldene Erscheinung sah. Denn diese war üblicherweise nur für sie und ihre blutsverwandten, sowie für Julius sichtbar, wenn sie dies wollte. Julius schrumpfte, während das von ihm zur vollen Stärke aktivierte Kreuz aus seinen Händen glitt und dabei zu jenem weißgoldenen Schein wurde, aus dem heraus eine über vier Meter große Frauengestalt aus purem Licht entstand. Die rotgoldene Erscheinung barg Julius wie einen gerade wenige Stunden oder Tage alten Sohn in den Armen, während die gleißend goldene mit der Macht einer weithallenden Glocke Befehle gab, die Camille nicht verstand, weil sie in einer ihr fremden Sprache erteilt wurden. Adrian verstand es jedoch und grinste überlegen. Da baute sich über dem verschlossenen, golden flackernden Krug eine dritte Erscheinung auf, jedoch nur geisterhaft durchsichtig, flackernd und nur aus Kopf, Oberkörper und Armen bestehend. Diese rief gegen die Befehle der weißgoldenen Lichtgestalt an. Doch das half nichts. Sie wurde vielmehr in den Krug zurückgedrängt. Die goldene Erscheinung sang nun ein Lied und legte dabei die Hände auf den Krug, um den herum auf einmal goldene Lichtspiralen kreisten, den Krug umwickelten und dann schlagartig wie einen schweren Steinbrocken durch reine Luft in die Tiefe stürzen ließen. Der mannshohe Krug der Abgrundstochter Ilithula raste in einem immer tiefer verlaufenden Schacht und wurde immer schneller. Die feste Materie der Erde wirkte nicht, nur die Schwerkraft und womöglich noch eine magische Abstoßung, die den Krug weiter und weiter, tiefer und tiefer von der Höhle entfernte. Dann erlosch der goldene Spiraltunnel. Die Höhle erbebte. Camille rief Julius zu, herauszukommen. Doch er hing immer noch eingeschrumpft in den Armen der rotgoldenen Gestalt: Ammayamiria. Die goldene, zweifelsohne Ashtaria selbst, wandte sich Julius zu und sagte mit einer Stimme, die selbst die anderen Heilssternträger verstanden: "Du hast dich standhaft, mutig und entschlossen gezeigt und damit bewiesen, daß du es wert bist, mein Sohn zu sein. Und du hast es erreicht, daß drei meiner Kinder dir beistanden. Dies ist die Grundlage meines Vermächtnisses. Auch wenn das Vermächtnis Lahilliotas ebenso unauslöschlich ist, so ist das meine dank euch stark genug, ihm entgegenzuwirken und damit die Welt vor der Gier und Gnadenlosigkeit der neun Töchter Lahilliotas zu schützen. Gehet nun in Frieden und lebt euer gesegnetes Leben weiter!" Ihre letzten Worte hallten noch lange von den Felsen der Umgebung wider, als Ashtaria schon zusammenschrumpfte und zu einem goldenen Stern wurde, erst so groß wie ein Wagenrad, dann wie ein Suppenteller, bis er die gewohnte Ausgangsgröße erreicht hatte. Dann erlosch sein Licht. Julius wurde von der ihn sicher haltenden Erscheinung auf den Boden gesetzt, die dann übergangslos verschwand. Vor dem wieder zur gewohnten Körpergröße angewachsenen Zauberer lag ein silbernes Pentagramm an einer Kette. Wo war das Kreuz?

"Er hat sich wieder in die Ausgangsform zurückverwandelt!" bellte Adrian. "Und jetzt komm raus da, bevor die restliche Magie aus der Höhle ist und die zusammenstürzt!" Julius packte den silbernen Stern und kletterte aus der Höhle heraus.

"Gut, schnell weg hier, bevor alles zusammenbricht!" zischte Julius. Offenbar hatte er das Erlebnis besser überstanden, als zu erwarten war. Camille deutete von Julius' gerade getragenen Stern zu ihrem und dem Adrians und rief: "Darvanori Darrokori!" - Vom Licht gekommen, das licht zurückkehre. Unvermittelt baute sich jener goldene Spiraltunnel auf, in dem Camille und Adrian dem Kreuz, das gerade ein Silberstern war, gefolgt waren.

Als sie wieder aus dem Tunnel herausfielen, standen sie vor jenem Haus, in dem die Zusammenkunft gewesen war.

"Eine Minute später hätten wir den Rückkehrzauber nicht machen dürfen", sagte Camille zu Adrian, während Millie und Julius einander umarmten und ungeniert auf den Mund küßten. Zehn Beamte des Zaubereiministeriums standen um sie herum und beobachteten das Spektakel. Dann trat ein Zauberer mit rotem Haarkranz und Brille an die Latierres heran und räusperte sich.

"Nichts für ungut, Madame und Monsieur Latierre", setzte er in seiner Heimatsprache an. "Aber wir möchten doch gerne noch die Angelegenheit zum Abschluß bringen. Dazu sollten wir allerdings nicht hier in der Öffentlichkeit miteinander reden. Ich denke, das ist ganz in Ihrem Sinne."

Julius löste sich aus der Umarmung mit seiner Frau und sah den Zauberer an. "Natürlich, Mr. Weasley. Mir und meinen Begleitern liegt eine Menge daran, daß die Angelegenheit möglichst diskret abgeschlossen wird." Der Leiter der Strafverfolgungsbehörde des britischen Zaubereiministeriums nickte und winkte dann mit seinem grün leuchtenden Zauberstab. Daraufhin erschien eine dunkelgrüne Limousine, in der fünf Ministeriumszauberer und Mr. Weasley, sowie Millie und Julius, Camille und Adrian bequem Platz fanden.

Eine halbe Stunde später trafen sie sich im Büro von Mr. Weasley. Dort machten die vier ihre Aussagen, wobei Millie so tat, als habe sie da erst von den Erben Ashtarias gehört. Das hatten sie und Camille so vereinbart, bevor sie nach Upper Flagley gereist waren. Adrian Moonriver wurde dazu befragt, seit wann er wisse, welche Bewandnis es mit seinem Talisman habe. Der äußerlich gerade erst siebzehn Jahre alt aussehende Zauberer sagte, daß er über die Herkunft seines Erbstückes von seinem Vater unterrichtet worden sei, aber nicht befugt sei, es allen zu verraten, was er darüber wisse. Ähnliches sagte Camille Dusoleil. Sie fügte nur hinzu, daß ihre Mutter, von der sie den silbernen Stern geerbt hatte, ihr was von mächtigen Feinden und Feindinnen erzählt habe. Daß damit die Abgrundstöchter gemeint waren erfuhr sie erst, nachdem die Begegnung zwischen Julius und Hallitti überstanden war. Julius erwähnte, daß er gehofft hatte, daß seine Frau nach der Trennung der gemeinsamen Herzanhängerverbindung die richtigen Schritte unternehmen würde und betonte, daß diese Hoffnung ihn nicht getrogen habe. Mr. Weasley erkannte, daß wohl nicht viel mehr über Ashtarias Kinder und deren Auftrag aus den vieren herauszuholen war, zumal sowohl Camille als auch Adrian bekundeten, daß sie den Auftrag hatten, Menschenleben zu schützen und keinem Menschen Schaden zuzufügen. Hier hakte Mr. Weasley jedoch ein und bezog sich auf Julius' Aussage, was mit Madam Bitterling passiert war. Julius betonte noch einmal, daß Madam Bitterling erst dann körperlich zu verfallen begonnen habe, als ihre unheimliche Gebieterin das Artefakt von ihr weggenommen habe, mit dem er am Ende aus Ilithulas Gewalt freigekommen war. Mr. Weasley notierte sich das alles und sagte: "Nun, außer uns hat niemand die magischen Ereignisse vor dem Gemeindehaus mitbekommen. Wir können diesen Vorfall also unter der Geheimhaltungsstufe S7 verzeichnen. Das heißt, daß außer meiner Abteilung und dem Zaubereiminister niemand davon Kenntnis erhält, wer die Erben Ashtarias sind. Den Tod von Madam Bitterling können und werden wir gemäß Ihrer Aussage, Monsieur Latierre, als von ihrer nichtmenschlichen Herrin herbeigeführt notieren, womit von einer möglichen Anklage wegen Entführung in Tatmehrheit mit Mord gegen Madame Dusoleil, Madame Latierre und dem werten Jüngling hier abgesehen werden kann." Er deutete auf Adrian Moonriver, der jedoch ganz gelassen dasaß. Julius bat dann noch darum, die ihm entwendeten Gegenstände zurückzuerhalten.

"Na ja, das ist nicht so leicht, weil Madam Bitterlings Haus mit mehreren verschiedenen Flüchen und Fallenzaubern umgeben ist. Ich habe aber die fünf in Upper Flagley verbliebenen Mitarbeiter darauf angesetzt, diese Hindernisse auszuräumen."

"Nichts für ungut. Aber in dem Haus könnte eine Art Selbstvernichtungszauber schlummern, der bei erfolgreicher Beseitigung der Außenabwehr in Kraft tritt", knurrte Adrian Moonriver. Mr. Weasley konnte das nicht ganz ausschließen. "Dann sollten da leute direkt ins Haus rein. ich mach das zusammen mit dem Burschen hier. Der hat ja noch den geborgten Stern um. Der dürfte ihn genauso beschützen wie meiner mich beschützt." Mr. Weasley sah Adrian verdrossen an. Doch dann nickte er. Julius stand auf und hielt sich bei Adrian Moonriver fest. Dieser reckte den Zauberstab nach oben und löste eine silberne Leuchtspirale aus. Diese ergriff auch Julius, und beide verschwanden.

Millie und Camille bangten mehrere Minuten. Dann kehrten die beiden aus einer ähnlichen Leuchtspirale wieder zurück. Julius nickte den Anwesenden zu und zeigte seinen Zauberstab, die Weltzeituhr und den Practicus-Brustbeutel vor. Auch das rote Herz hing um seinen Hals und pulsierte, was vor allem seine Frau sichtlich erfreute.

"Ist dann noch irgendwas zu klären, Mr. Weasley?" fragte Adrian keck. Der Leiter der Strafverfolgungsbehörde wiegte den Kopf. Dann schüttelte er ihn. "Was Sie, Mr. Moonriver, noch zu klären haben betrifft dann wohl eher Professor McGonagall und Professor Barley. Aber das dürfen Sie dann alleine durchstehen", sagte Mr. Weasley.

"Mist, in Hogwarts ist gerade Abendessenszeit. Na ja, dann komme ich eben erst später wieder hin", grummelte Adrian Moonriver. Mr. Weasley wollte den vieren einen weiteren Ministeriumswagen vor die Tür beordern. Doch Adrian, Millie und Julius erwähnten, daß sie damit wohl kaum nach Frankreich fahren konnten. Sie verabschiedeten sich von Mr. Weasley. Dann verschwanden alle sich an den Händen haltenden Besucher in einer weit ausladenden Lichtspirale und mit scharfem Knall.

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Die wellen von Licht und Dunkelheit erschütterten das Raum-Zeit-Gefüge. Da waren gerade zwei verwandte, aber gegensätzliche Gruppen aufeinandergeprallt. Die des Lichtes hatte obsiegt. Zwei von dunklem Leben beseelte hatten aufgeschrien, nach Hilfe aus ihren Reihen gerufen. Dann waren ihre Schreie in Tonhöhe und Lautstärke abgefallen, bis sie zu einem knatternden Gebrummsel wie weit weit fort verwehten und nur noch Schweigen übrigblieb. Die Herrin des Mitternachtssteines lachte laut. "Das waren gleich zwei von diesen Abgrundstöchtern. Jemand hat sie mit geballten Reinigungszaubern gebannt und in Tiefschlaf gezwungen."

"Die neun vaterlosen Bälger?" schnarrte Iaxathan. Seine geistige Gesprächspartnerin lachte und bestätigte es. "Sie begehren gegen mich auf. In jeder von der steckt etwas von ihrer männerhassenden Mutter. Sollen sie doch alle zu Staub zerblasen werden."

"Kannst ja deinen dienstbaren Schatten drauf ansetzen, oder hast du mittlerweile einen geeigneten Handlanger aus Fleisch und Blut entdeckt?" gedankenfragte die Herrin des Mitternachtssteins.

"Ja, ich habe einen gefunden, den ich bald in seine neue, wertvolle Bestimmung einführen werde. Aber wer es ist wirst du nicht von mir erfahren."

"Nicht jetzt. Aber sei dir sicher, daß er nicht so stark wird, wie du ihn gerne haben möchtest, Iaxathan", erwiderte die Herrin des Mitternachtssteins. Iaxathan schwieg. Natürlich wußte er, daß seine Rivalin alles tun würde, um den neuen Spiegelknecht zu bekämpfen, sobald sie wußte, wer es war. Doch der Weg in die Finsternis mußte beschritten werden. Die Menschheit hatte sich zu lange dagegen aufgelehnt. Andererseits war dieses Zeitalter auch sehr gut dazu geeignet, denn Haß, Habgier, Neid und Zerstörungssucht hatten durch die gewachsene Erdbevölkerung ebenso zugenommen. Darauf hoffte Iaxathan. Damit konnte er arbeiten, wenn sein neuer Knecht erst einmal eingeschworen war.

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Trotzdem, daß Itoluhila ihren Geist vor ihren Schwestern verschlossen hielt, hörte sie zumindest was diese dachten. Sie erlebte die unverhoffte, wenn auch eindeutige Niederlage beinahe Körperlich mit. Sie hörte einmal, daß ihre Schwester Ilithula von der Macht eines silbernen Kreuzes bedrängt wurde. Itoluhila erschrak. Hieß das, daß dieses verhaßte Schmuckstück dieser lieber ihren Tod begrüßenden Nachfahrin nicht unter den Felsen begraben war? Hatte es sogar die Macht besessen, sich einen neuen Träger auszusuchen? Oder war seine rechtmäßige Trägerin womöglich den künstlich ausgelösten Steinlawinen entronnen? Die Energiewogen der sich bekämpfenden Kräfte, die zwar verwandt und doch entgegengerichtet waren, hatte Itoluhila sogar weit ab von Ilithulas Höhle verspüren können. Auch hatte sie das für sie wie ein fernes Flüstern klingende letzte Wortgefecht zwischen Ashtaria und Lahilliota vernommen. Noch einmal schrien Ilithula und Hallitti auf. Doch ihr Schrei entfernte sich und fiel immer tiefer in der Tonhöhe. Nach nur einer weiteren Minute war der Schrei nicht mehr zu hören. Die Wogen, die auch Itoluhilas Lebenskrug aufgewühlt hatten, ebbten ab. Die Schwester des schwarzen Wassers war nun mit ihrem Körper und ihren Gedanken ganz allein. Ilithula und Hallitti hatten irgendeine Schwäche offenbart, und drei Nachkommen der Verhaßten hatten sie genutzt. Sie erinnerte sich, daß einer der beiden jungen Rufer der Formel so klang wie Julius Latierre, dessen Stimme sie kurz über Ilithulas und Hallittis Gedanken mitgehört hatte, als sie in Wut an sie, Itoluhila, gedacht hatten. Wie konnte es sein, daß dieser Zauberstabschwinger ein Sohn aus einer Linie Ashtarias war? Wenn ja, warum hatten ihre beiden Schwestern sich dann überhaupt darauf eingelassen ... Weil Hallitti sonst nie wieder geboren worden wäre. Die Tochter des schwarzen Wassers dachte mit großem Schrecken daran, daß es auch sie hätte treffen können, wenn sie sich dafür entschieden hätte, Hallitti in sich aufzunehmen und sie in neuem Körper wieder auszustoßen. Hatte sie ursprünglich nur aus Eigensinn gegen die ihr auferlegten Pflichten aufbegehrt, so empfand sie es jetzt als Glücksfall, daß ihr das Schicksal erspart wurde, daß ihre Schwestern ereilt hatte. Jetzt war sie die einzige wache Tochter Lahilliotas. Doch mit eisigem Schrecken erkannte sie, wie gefährlich das war. Nicht, weil die Brut Ashtarias sie nun bei Gelegenheit auch noch mal eben erledigen konnte, sondern weil ihr Wachbewußtsein allein nicht ausreichte, die niederhaltende Kraft zu speisen, die den Bann über ihre jüngste und gefährlichste Schwester gelegt hatte. Denn nun, wo nur noch Itoluhila wach war, mochte der Schleier der Elemente durchlässig sein, den sie und ihre damals noch sieben anderen Schwestern errichtet hatten, um die Tochter der verfliegenden Zeit unauffindbar zu halten. Jetzt konnte jemand förmlich über ihren Schlafplatz stolpern. Trug dieser Jemand auch noch unaufweckbare Magie in sich, machte er die letzte der neun wach. Dann stand sie als einzige wache Tochter Lahilliotas als einzige auf der Racheliste der überwältigten Schwester. Nein! Solange sie noch was tun konnte, würde sie dafür sorgen, daß ihre jüngste Schwester weiterschlief. An Ilithula und Hallitti kam sie wohl nicht mehr heran. Wenn sie richtig gehört hatte, waren diese von Ashtaria tief in den Schoß der Erde verbannt worden. Da kam kein Mann mit starken, aber ungeweckten Zauberkräften mehr heran. Sie wußte jedoch, wo ihre fünf anderen,harmloseren Schwestern schliefen. Ihr wurde klar, daß sie eine von ihnen wecken mußte. Doch nur ein erwachsener Mann mit unweckbaren Zauberkräften konnte das, und zwar, ohne es zu wollen, ohne es darauf anzulegen. Das war auch ein Fluch Ashtarias, als sie ihr körperliches Dasein beendet hatte. Wenn sie schon nicht sterben konnten, so sollten die Töchter Lahilliotas ewig solange schlafen, bis ihre Jagdbeute ahnungslos mehr als einen Zwölfteltag an ihrem Schlafplatz weilte. Aber was sie tun konnte und tun mußte war, den entsprechenden Mann zu finden und ohne Einwirkung ihrer Magie an den Ort zu bringen, an dem eine ihrer Schwestern schlief. Ja, das konnte und das mußte sie tun. Eine weitere Frage war, ob sie die Trägerin des Silberkreuzes nun getötet hatte und das verhaßte Schmuckstück sich auf magische Weise einen neuen Träger gesucht hatte oder diese weltfremde Kurzlebige ohne erkennbare Zauberkräfte von jemandem mit wirksamer Magie gerettet worden war. Gab es also immer noch sieben Kinder Ashtarias oder nur sechs? Oder gab es jetzt sogar acht Kinder Ashtarias, weil Julius Latierre als Sohn dieser die wahre Macht verneinenden Tante anerkannt war? Da sie nicht wußte, wie viel Zeit ihr blieb, begann sie unverzüglich mit ihrer Suche.

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Durch die Appariersicherungen des Ministeriums hinaus und durch die des Château Florissants hindurch ging es zurück in Antoinettes Kaminzimmer, wo Julius die beiden verbliebenen Mitglieder des für ihn zusammengetrommelten Rettungstrupps kennenlernte.

Als Julius erfuhr, daß das Kreuz Maria Valdez gehörte entschuldigte er sich erst, daß es wohl nicht mehr so war, wie sie es aus den Händen gegeben hatte. Dann gab er ihr den Heilsstern. Maria Valdez betrachtete ihn. Dann hängte sie ihn sich um. Da glühte der Stern auf, blähte sich auf Suppentellergröße auf, leuchtete als goldene Sonne und fiel wieder in sich zusammen. Zurück blieb das silberne Kreuz, daß Maria Valdez von ihrer Großmutter geerbt hatte. Sie fühlte dabei wohlige Wärme und große Glückseligkeit, ja wallende Wollust, in der ihr Körper erglühte. Dann ebbte jene Empfindung ab. Die anderen hatten nicht mitbekommen, was sie empfunden hatte. Vor ihrem Brustkorb baumelte das silberne Kreuz, äußerlich nur wegen seiner Verarbeitung wertvoll.

"Gut, dann habe ich ja doch keinen so großen Mist verzapft", scherzte Julius.

Sie verbrachten noch einige Stunden damit, daß erlebte aus allen Warten zu erzählen. Dann sah Adrian auf seine Uhr und grinste: "Heftiger als das, was ich heute gelernt und mitbekommen habe kann die gute Megan Barley mir das nicht im Unterricht beibringen. Aber bevor die mein Abendessen mitessen sehe ich mal lieber zu, wieder nach Hogwarts ..." Eine Glocke ertönte. Das war die Türglocke vom Château Florissant.

"Entschuldigen Sie die Störung, Madame. Mein Name ist Patience Moonriver", sprach eine Frau mit ungehaltener aber noch beherrschter Stimme von der Tür her. Daß Patience Französisch konnte nahmen Camille, Millie und Julius einfach so hin. Antoinette erwiderte, daß sie die Kollegin aus England erkannte und bat sie herein. Als beide Heilerinnen im Kaminzimmer ankamen blickte Patience in die Runde und fixierte dann Adrian, der ihr aufrecht entgegenblickte, als habe er nichts verbotenes getan.

"Ich erfuhr, daß Sie in Ihren ehrbaren Räumen meinen Zögling Master Adrian Moonriver beherbergen. Sicher hat er Ihnen nicht erzählt, daß er heute Nachmittag ohne Abmeldung bei seiner Hauslehrerin und demzufolge auch ohne deren Erlaubnis das Schulgelände von Hogwarts verlassen hat. Da er dabei eine Unterrichtsstunde versäumt hat und seinetwegen eine Suche anlief, wurde ich von Professor McGonagall mit gewisser Besorgnis gefragt, ob mein Zögling den ihm angebotenen Unterricht nicht weiter zu besuchen wünsche und daß er, sollte dem nicht so sein, unverzüglich nach Hogwarts zurückkehren solle, um erstens drei Stunden bei Professor Barley nachzusitzen, zweitens dem Hausmeister bei der Reinigung der Flure und Klassenzimmerböden zu assistieren, wobei ihm der Gebrauch von Zauberkraft untersagt sei und drittens damit zu leben habe, daß Gryffindor seinetwegen von Platz eins der Punktewertung um zweihundert Punkte hinter das Haus Hufflepuff zurückgefallen sei. Sollte er sich jedoch wahrhaftig dazu entschlossen haben, auf den weiteren Unterricht zu verzichten und damit auch auf die UTZs, solle er das schriftlich angeben, um seine Habe zurückzuerhalten, wobei er für den Transport aufzukommen habe."

"Und die Punkte bleiben trotzdem im Keller, Patience?" fragte Adrian nun doch ziemlich erschüttert.

"Das verhandelst du am besten mit den Damen McGonagall und Barley persönlich, zumal die beiden brennend daran interessiert sind, wie du es geschafft hast, ohne die Schloßtore zu öffnen und ohne einen der geheimen Ausgänge zu benutzen vom Gelände herunterzukommen, Bübchen!"

"Zweihundert Punkte hinter den Hufflepuffs. Die erwürgen mich, wenn ich da wieder auftauche", lamentierte Adrian Moonriver. Millie und Julius mußten jedoch schadenfroh grinsen. Maria Valdez bekam davon eh nichts mit, weil sie alle Französisch sprachen. Das merkte Millie nun und ging zum Spanischen über, das Julius gerade so verstand und einige gute Sätze zu Stande brachte. Immerhin wurde er dafür von Maria Valdez sehr wohlwollend angesehen.

Nachdem Patience Moonriver mit ihremZögling unter vier Augen gesprochen hatte kehrten die beiden per Flohnetz nach Großbritannien zurück. Millie und Julius reisten ebenso per Flohpulver ins Apfelhaus, wo Béatrice Latierre sie sehnsüchtig erwartete.

"Maria Valdez sah ihrer Tochter und Rottatze zu, die miteinander spielten. Dann sagte sie: "Ich habe eine Entscheidung getroffen, Madame Eauvive: Ich möchte zu Almadora und Vergilio zurückkehren und zwar so, wie ich dort abgereist bin. Ich habe es mir überlegt, wie viel gutes ich tun könnte, wenn ich Ihre Kräfte erwerben könnte. Doch habe ich auch erlebt, wie groß die Versuchung ist, im Namen des Guten böses zu tun oder wegen mangelndem Wissen unbedacht Schaden anzurichten. Deshalb möchte ich lieber so bleiben wie ich bin. Ich hoffe, Sie empfinden das nicht als Beleidigung."

"Sie sind erwachsen und stehen im Leben. Sie haben Erfahrungen und ein Gewissen. Wenn das alles Ihnen sagt, daß Sie Ihren Weg so fortsetzen möchten, wie bisher, dann ist es mir nicht gestattet, dagegenzusprechen. Darf ich sie zumindest noch zu meinen Verwandten zurückbringen?" Maria Valdez nickte.

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Als Anthelia von Louisette Richelieu las, daß Julius nach einer unfreiwilligen Reise ins Morgenland vor interessierten Schülerinnen und Schülern als Gastredner im Zauberwesenseminar von Beauxbatons gesprochen hatte, erfuhr die Führerin der Spinnenschwestern, daß er die zweite Begegnung mit den Abgrundstöchtern überstanden hatte, weil gleich zwei Erben einer alten Familie ihm geholfen hatten, nicht zu Ilithulas ersten Sohn zu werden. Zwar hatte er beim betreffenden Gastauftritt keine Namen und Einzelheiten genannt. Doch sei es nun so, daß es nur noch eine wache Tochter des Abgrundes gäbe. Anthelia lächelte. Daß Julius Ashtarias Erbe geworden sein mochte war genau die Überraschung gewesen, die Ilithula nicht bekommen war. So schrieb sie Julius einen Brief:

Ich grüße dich, Julius Latierre,

ich bin hocherfreut, daß du der schwelenden Rache der Abgrundstöchter entrinnen konntest. Ebenso bin ich hocherfreut, daß du davor bewahrt wurdest, im dunklen Leib Ilithulas neu heranwachsen zu müssen, womöglich noch durch ihr vergiftetes Blut dazu gebracht zu werden, mit Hallitti zusammen auf Beute auszugehen und damit am Ende doch noch mein Feind zu werden. Mir lag und liegt nichts daran, daß wir uns befehden, auch wenn die, die meinen, dir raten und vorschreiben zu dürfen, was du tun und lassen sollst, dir beigebracht haben, mich zu verachten und dein Erlebnis in der Höhle von Ailanorars Stimme dich vor mir ekelt. Ich kann und will dir versprechen, daß ich nun mehr Frau als Ungeheuer bin, etwas, daß die, deren fragwürdiger Mutterfreude du entrissen wurdest, nicht für sich beanspruchen kann.

Auch wenn du es einmal mehr weit weit von dir weisen möchtest, auch und gerade nach deinem neuerlichen Zusammentreffen mit einer der Abgrundstöchter, so beharre ich darauf, daß unsere Wege sich weiterhin immer wieder kreuzen mögen. Gerade durch deine Errettung bist du mehr verpflichtet, das Erbe der wahrhaft zerstörerischen Bewohner des alten Reiches einzudämmen. Gut, du magst mich auch dazu rechnen, das kann ich dir offenbar nicht ohne magischen Zwang austreiben. Doch solltest du dir immer darüber im klaren sein, daß Licht ohne Schatten keine Konturen besitzt und die angeblich bösen Taten, die ich bisher begangen habe und wohl auch weiterhin begehen muß, am Ende die Welt vor dem endgültigen Chaos und der Zerstörung bewahren. Deshalb empfinde keine Scheu, in einer Lage, wo die reine Lebensschonung Darxandrias und Ashtarias alleine nicht hilft, an mich zu denken und dich mir anzuvertrauen, um das Ungemach einzudämmen, dem du dich zu stellen hast!

Ich freue mich, daß du dein Leben fortsetzen darfst und daß wir alle zwei Feindinnen weniger zu fürchten haben.

Ich weiß jetzt, daß du selbst ein Sohn Ashtarias geworden bist. Denn sonst könntest du dich ihrer Fürsorge und ihrer Kraft nicht bedienen. Sonst hätten dir die anderen lebenden Abkömmlinge von ihr nicht helfen können. Damit gehörst du wie ich zu denen, die zweimal geboren wurden, ohne das Wissen aus dem ersten Leben zu vergessen. Das ist eine Gemeinsamkeit, die mich sehr zuversichtlich stimmt, daß wir uns, wenn wir uns schon nicht in Freundschaft oder Partnerschaft zusammentun können, zumindest keine ewigen Feinde sind, die einander das Leben zum immerwährenden Alptraum gestalten wollen. beschreite mit den deinen die Pfade, die du beschreiten kannst, während ich mit den Meinen die Pfade beschreite, die nur ich beschreiten kann. Sie werden sich immer wieder kreuzen. Und das stimmt mich sehr glücklich.

Mit wohlwollenden Grüßen

Die führerin der Schwarzen Spinne

Vier Tage vergingen ohne weiteres Ereignis. Anthelia/Naaneavargia ließ ihre Mitschwestern weltweit ausschau nach den Wergestaltigen halten. Es beunruhigte sie ein wenig, daß diese sich nach dem Zusammenbruch Nocturnias so still verhielten. Planten die Wertiger etwas, oder hatten sie die Warnung der schwarzen Spinne doch beherzigt, sich nicht aus ihrem üblichen Lebensraum hinauszuwagen? Das konnte sich Anthelia eigentlich nicht vorstellen. Denn gerade die Wertiger hielten sich doch für unüberwindlich, weil sie von keiner nichtmagischen Waffe getötet werden konnten und in ihrer Tiergestalt sogar jede Magie in ihrer Umgebung unterdrückten. Womöglich setzte es Nachtwind und ihren Tigermenschen zu, daß die mit ihnen verbündeten Werwölfe in Europa und den USA an Boden verloren hatten. Die gemäßigten Lykanthropen waren bereit, mit den Zaubereiministerien zusammenzuarbeiten, um die nach Vormacht strebenden Werwölfe der Mondbruderschaft niederzuhalten. Vielleicht, so hoffte Anthelia, wollten die Tigermenschen erst abwarten, wie ihre lykanthropischen Verbündeten diese Kraftprobe überstanden, bevor sie weitere Aktionen durchführten.

Als kurz vor den letzten Sonnenstrahlen eine Waldohreule auf die Daggers-Villa zuflog und diese in weitem Bogen zu umkreisen begann, als wisse der Vogel nicht, wo genau er eigentlich landen sollte, konnte Anthelia einen silbernen Ring und einen sonnengelben Umschlag am rechten Bein des Vogels schimmern sehen. Silberne Ringe benutzte das US-Zaubereiministerium für behördliche Eulen, die auch durch das Flohnetz geschickt werden konnten, um innerhalb von Minuten von einer Küste zur anderen zu kommen oder von der Grenze zu Kanada an die Grenze zu Mexiko überzuwechseln. Anthelia verließ ihr Hauptquartier, nicht ohne sich mit den silbern beschichteten AntiFluchhandschuhen auszustatten, mit denen sie verfluchte oder vergiftete Gegenstände anfassen konnte. Als sie aus dem vom Fidelius-Zauber beschützten Bereich heraustrat beendete die Waldohreule gerade die achte Umkreisung. Jetzt sah der Vogel die Adressatin und stürzte fast im freien Fall auf sie zu. Erst drei Meter vor ihr fing er den rasanten Sinkflug mit den Flügeln ab und landete flatternd vor Anthelia. Die Hexenlady konnte zwar von Tieren keine worthaften Gedanken erfassen. Doch verspürte sie, daß der Postvogel sichtlich angespannt war, auch wenn er nach außen ganz ruhig auf dem Boden hockte. Sie fühlte einen inneren Widerstreit zwischen einem Befehl und dem Drang, sofort wieder loszufliegen, wenn er seine Last losgeworden war. Anthelia sah in die großen Eulenaugen. Tiere zu legilimentieren war sinnlos. Dabei kamen nur fluten von Bildeindrücken heraus, die höchstens mit Grundstimmungen wie Lust oder Furcht verbunden waren, aber nicht zwischen erlebten und geträumten Eindrücken unterschieden werden konnten. Anthelia konnte jedoch sehen, wie ein kleinwüchsiger Mensch der Eule den Umschlag umband. Sie erkannte ihn trotz der nebelhaften Art, wie die Erinnerungen von Tieren beschaffen waren. Also hatte Lorne Vane, der von Zwergen oder Kobolden abstammende Leiter der Strafverfolgungsbehörde den Brief geschickt. Anthelia mußte wider den Ernst dieser Erkenntnis grinsen. Sie prüfte den Sitz ihrer Handschuhe, ging zu der am Boden hockenden Eule hin und löste den Umschlag sehr behutsam vom rechten Bein des Vogels. Dieser blieb zwar ruhig sitzen, doch die Anspannung stieg für Anthelia deutlich spürbar an. Sie wog den Umschlag in den Händen. Sie fühlte weder ein Zittern noch eine Erwärmung. Wenn der Umschlag mit einem Körperkontaktfluch behandelt war, der sie als Adressatin ereilen sollte, dann griff dieser eben erst, wenn er direkten Hautkontakt bekam. Die Eule wurde immer unruhiger. Fürchtete der Vogel womöglich, daß was immer im Umschlag war ihm übel mitspielen mochte? Der Umschlag wog ein wenig mehr als bei einem einfachen Pergamentbogen üblich war. Anthelia drückte behutsam auf den Umschlag. Er fühlte sich weich an, als habe wer Mehl oder Daunenfedern in ihn hineingesteckt. Daunenfedern? Anthelia drehte den gelben Umschlag noch einmal in den Händen. Dann machte sie Anstalten, ihn unter den Augen der immer noch am Boden sitzenden Eule zu öffnen. Der Vogel stieß einen angstvollen Schrei aus und stieß sich vom Boden ab. beinahe senkrecht wie eine aufsteigende Rakete jagte er drei Meter nach oben, bevor er sich in eine halsbrecherische Kurve warf und dann mit sehr raschen Flügelschlägen in nordöstlicher Richtung davonraste.

Anthelia ließ den Umschlag verschlossen und lachte dem wie von zehn hungrigen Drachen gehetzten Briefboten nach. Gegen die Überlebensinstinkte von Tieren konnte auch ein klarer Befehl seines Besitzers nicht bestehen, wenn das Tier absolut sicher war, in tödlicher Gefahr zu sein. Und wenn der Vogel sich in Lebensgefahr wähnte, dann galt diese wohl auch und vor allem für die, der er diesen gelben Umschlag gebracht hatte. "Kleiner Wicht, für wie einfältig hältst du mich, daß ich das nicht früh genug merke", schnaubte Anthelia halblaut. Sie trug den Umschlag in die Villa und apparierte damit in den Weinkeller. Dort, wo sie ihr zweites Leben begonnen hatte, legte sie den Umschlag auf den Steintisch. Dann zog sie sich die Handschuhe aus und holte die schwarze Drachenhautscheide mit Yanxothars Schwert herbei. Als sie die in der Klinge gefrorenen Flammen entzündet hatte hielt sie das Schwert gerade so nahe an den Umschlag, daß die Flammenzungen ihn nicht von sich aus erfassen konnten. Der Umschlag glühte auf, verfärbte sich orangerot. Funken stoben von ihm fort. Er zitterte auf dem Tisch. Anthelia hoffte, daß er nicht von sich aus in Flammen aufgehen würde. Doch nach nur zehn Sekunden hörte das Funkenstieben auf, und der Umschlag nahm wieder seine sonnengelbe Farbe an. Anthelia hielt das Schwert noch einige Zentimeter näher an den Umschlag, daß dieser fast von den Flammen der Klinge ergriffen wurde. In dieser Stellung blieb sie fast eine Minute, bis sie befand, daß die unmittelbare Gefahr wohl gebannt war. Dann befahl sie den Flammen auf der Schwertklinge, wieder zu erstarren. Sie steckte das Schwert in seine schwarze Drachenhauthülle zurück und zog sich die silbernen Handschuhe wieder über. Auch wenn die auf Daunenfedern eines gerade aus der Asche neu entstandenen Phönixes geprägte Feuerfalle entschärft sein mochte, konnte der Briefumschlag noch einen anderen Körperschädigungsfluch tragen, und wenn nicht der Umschlag dann der Inhalt.

Behutsam öffnete Anthelia den Briefumschlag. Zunächst fand sie nur einen Haufen weißer Asche vor. Sie mußte sich hüten, diese nicht einzuatmen. Als sie die Asche so langsam sie konnte über dem Tisch ausgestreut hatte, fand sie ein kleines Stück wie von einer Goldmünze abgebrochen. Das war also der Zünder des eingewirkten Feuerfluches, erkannte Anthelia. Gold, das Metall der Sonne, war der am schwierigsten zu bezaubernde, dafür aber mit den stärksten Zaubern überhaupt anzureichernde Stoff unter der Sonne. Als Anthelia mit mehreren Untersuchungszaubern das Goldstück überprüfte konnte sie erkennen, daß jemand gleich acht Feuerballzauber darin eingewirkt hatte, die durch die ausgerupften Daunenfedern eines gerade wiedererstandenen Phönixes in Zaum gehalten werden konnten. Berührte jedoch ein vom inneren Feuer des Stoffwechsels erfülltes Wesen nur eine dieser Federn, wurden die eingewirkten Zauber schlagartig frei. Womöglich hatte Vane gehofft, daß Anthelia dann in einem acht mal so großen oder heißen Feuerball wie bei Bollidius üblich ihr Dasein aushauchen würde. Anthelia mußte lachen. Auch wenn ihr dieser Zauber in ihrer Menschengestalt vielleicht den Garaus gemacht hätte und womöglich alles im Umkreis von hundert Metern eingeäschert hätte, so hätte Vane diesen üblen Streich sehr bitter bereut. Mehr hatte er offenbar nicht für nötig erachtet, um ihr zu zeigen, daß er das Abkommen mit seinem Vorgesetzten für beendet ansah. sollte er das denken und sollte er erst einmal denken, sie sei seiner Feuerfalle zum Opfer gefallen? Das bittere Erwachen würde ihm dann um so schlimmer bevorstehen. Mit diesen Gedanken ließ Anthelia die zu Asche zerfallenen Federn mit dem Staubsammelzauber zu einer weißen Kugel werden und im Nichts verschwinden. das als Zünder verwendete Goldstück legte sie zu den Andenken ihrer bisherigen Aktivitäten. Vielleicht, so dachte Anthelia/Naaneavargia, würde sie es Lorne Vane schon bald zurückerstatten, wenn sie es für angebracht hielt.

Anthelia dachte daran, daß Vane wohl deshalb diesen Anschlag ausgeführt hatte, weil sie dabei beobachtet worden war, wie sie Semiramis Bitterling angegriffen hatte. Natürlich mußte jeder Zaubereiminister, der sich bis dahin an das Abkommen mit ihr gebunden gefühlt hatte, davon ausgehen, daß dieses Abkommen von ihr aus gebrochen worden war und sie somit wieder als rechtmäßig zu bekämpfende Feindin galt. Sie dachte daran, daß man nun auch wieder nach ihren weltweit lebenden Schwestern fahnden würde. Wenn sie sich totstellte waren ihre Schwestern vielleicht sicher. Doch die Erfahrung mit Daianira und Hyneria hatte ihr überdeutlich gezeigt, daß es eher umgekehrt verlaufen würde. Man würde die ihr verbundenen Hexen sorglos jagen, weil man sie, die Anführerin, für endgültig vernichtet hielt. Also war es wohl besser, sich nicht totzustellen. Die Hexenlady mußte wieder lachen. Ihr fiel nämlich gerade ein, daß Vanes wortwörtlicher Brandbrief womöglich ohne Wissen und Genehmigung seines Chefs verschickt worden war. Ja, so mußte es sein. Denn sie hielt Cartridge für jemanden, der erst fragte, bevor er mit Brachialgewalt zuschlug. So nahm sie ihr Schreibzeug und schrieb direkt an den Zaubereiminister der vereinigten Staaten:

Sehr geehrter Zaubereiminister Cartridge,

Heute wurde mir von Ihrem eifrigen Mitarbeiter Mr. Lorne Vane per ministerialer Eule eine höchst befremdliche Postsendung zugestellt, deren Aussage sich mir leider verschließt. Denn außer einer Mischung aus Gold und Phönixkükenfedern, die mit einem mehrfachen Feuerballzauber beladen waren, fand ich in dem mir zugestellten Briefumschlag keine weitere Mitteilung. Daß Mr. Vane der Absender dieses Briefes sein muß schöpfe ich aus dem Umstand, daß keinerlei rechtfertigendes Schreiben beigefügt war und daß Mr. Vane nach den Erlebnissen mit den brennenden Skeletten, Nocturnia und den Wergestaltigen offenbar davon überzeugt ist, daß endgültige Maßnahmen ohne schriftliche oder mündliche Rechtfertigung den Frieden der Zaubererwelt herzustellen und/oder zu bewahren vermögen. Sollten Sie den Versuch, mich durch einen in Phönixfedern und Gold eingeprägten Feuerfallenzauber aus der Welt und Ihnen vom Hals zu schaffen genehmigt haben, so muß ich das wohl als Bekundung auffassen, daß das zwischen Ihnen und mir getroffene Abkommen vom heutigen Tag an nichtig ist. Womöglich schöpfen Sie diese Auffassung daraus, daß ich am 19. Mai genötigt war, mich der britischen Zaubererweltbürgerin Semiramis Bitterling zu nähern, um Auskünfte über ihr Verhalten einzuholen. Da diese versuchte, mich mit Flüchen und Fallenzaubern zu töten, kam es für wohl einige amtliche Zeugen klar erkennbar zu einer Auseinandersetzung. Natürlich mußten Ihre Kollegen in Großbritannien davon ausgehen, bei dieser Auseinandersetzung habe es sich um einen böswilligen Überfall meinerseits gehandelt. Mittlerweile dürfte aber auch an Ihre Ohren oder vor Ihre Augen gedrungen sein, daß Madam Bitterling keineswegs eine unbescholtene Hexe war. Sollte diese Erkenntnis noch nicht bis zu Ihnen vorgedrungen sein, so überlasse ich es Ihren Kollegen in Großbritannien und Frankreich, sie ins Bild zu setzen, zumal ich nach der mir soeben überstandenen Maßnahme Ihres Strafverfolgungsleiters überdeutlich erkennen muß, daß Sie jede meine Aktion rechtfertigende Aussage für erlogen erachten müssen. Sollte dieser hinterhältige Anschlag auf mein Leben, dem ich nur auf Grund der hervorragenden Gefahreninstinkte der überbringenden Posteule entgehen konnte, nicht mit ihrer Kenntnis und Billigung ausgeführt worden sein, so frage ich doch jetzt mal mit allem gebotenen Respekt nach, wie gut Sie Ihr Haus in Ordnung zu halten vermögen, wenn untergeordnete Mitglieder ihres Personals derartig eigenmächtig und riskant agieren können, ohne daß Sie davon Kenntnis erhalten? Zumindest aber muß ich wohl davon ausgehen, daß das zwischen Ihnen und mir getroffene und bis heute zu unser beider Nutzen eingehaltene Abkommen nichtig wurde. Denn Sie dürfen wohl nicht von mir erwarten, daß ich einen solch dreisten Anschlag als blankes Versehen abtun kann. Sicher war es ein Fehler, den Ihr Mitarbeiter begangen hat. Statt mich nach meinen Beweggründen zu fragen, die mich zu Semiramis Bitterling trieben, wollte er gleich eine ihm gefährliche Feindin eliminieren. Dies ist ihm nicht gelungen. Sagen Sie ihm dies bitte. Sagen Sie ihm aber bitte auch, daß er sich das nie wünschen möge, mich körperlich zu töten. Im Gegenteil würde ich durch meinen körperlichen Tod noch mächtiger, als ihm recht sein kann. Warum genau muß Sie persönlich nicht kümmern. Es wäre nur gut, wenn Ihre Mitarbeiter sich dessen bewußt werden, daß tödliche Anschläge auf mich so oder so übel vergolten werden. Nur der Umstand, daß ich den soeben ausgeführten Anschlag überlebte und dabei nichts und niemand zu Schaden kam bewahrt Sie und Ihre Mitarbeiter vor einer Vergeltung meinerseits. Ein weiterer Anschlag auf mich wird nicht ungeahndet bleiben. Wenn es das war, was Sie erreichen wollten, dann dürfen Sie das als Erfolg verbuchen.

Mich loszuwerden wird Ihnen nicht so einfach gelingen. Außerdem sollten Sie froh sein, daß viele Ihrer Feinde auch meine Feinde sind und ich Ihnen deshalb nolens volens helfe, diese in Schach zu halten oder unschädlich zu machen.

Im Respekt, den auch zwei erbitterte Gegner voreinander empfinden müssen, bitte ich Sie darum, sich bei denen, denen Sie vertrauen, über die Umstände zu unterrichten, die zu meinem Zusammentreffen mit Semiramis Bitterling führten! Ansonsten verbleibt mir nur noch, Ihnen eine glücklichere und sicherere Hand bei der Ausübung Ihres wichtigen Amtes zu wünschen und meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß ihre im Juli erwartete Tochter ein langes und größtenteils friedliches Leben vor sich hat, weil sie einen besonnenen Vater ihr eigen nennen darf.

Die schwarze Spinne

Anthelia schickte den Brief mit einer ihrer vier Posteulen in derselben Nacht los. Sie bedauerte es, daß der Burgfrieden zwischen ihrer Schwesternschaft und den Zaubereiministerien wohl beendet war. Doch wenn das der Preis für den endgültigen Sieg über Hallitti und die Beseitigung einer weiteren Abgrundstochter war, so mußte sie ihn hinnehmen.

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Der Rücktausch vollzog sich so heimlich, wie der Hintausch von Statten gegangen war. Am ersten Juni, nach mehreren Tagen konzentrierter und sorgfältiger Gedächtniskorrekturen, betraten die echten und wahren Eheleute Leslie und Mortimer Wilson und ihr vierjähriger Adoptivsohn Jerimy wieder das kleine Haus in Salisbury, Maryland.

Guten Morgen Salisbury. Heute ist ein herrlicher Frühsommertag, auch wenn der Kalender das noch nicht wahrhaben will. So starten wir fröhlich und munter in diesen hervorragenden Sommertag hinein und bringen Ihnen und euch die größten Hits aus dem jungen einundzwanzigsten Jahrhundert", hörte Jerimy seinen Vater im Radio, das aussah wie eine Pepsi-Cola-Dose. Er wußte nicht mehr, daß er vor bald einem Jahr unter wiederkehrenden Alpträumen gelitten hatte. Er wußte nicht mehr, daß er die böse Frau, die mal jung und mal alt sein konnte, wahrhaftig gesehen hatte. Vor allem wußte er nicht, daß er, Jerimy Wilson, früher einmal Richard Andrews geheißen hatte. So lebte er sein Leben, zusammen mit seinen Eltern Leslie und dem Radiomann Mortimer, seinen Freunden Jojo und Ralf und allen anderen. Das einzige was ihm nicht gefiel war, daß er noch immer zu klein für die Schule war. Denn er hatte keine Ahnung davon, wie schnell die Zeit verstreichen konnte, und wie wertvoll jeder Tag im Leben sein konnte.

ENDE

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