LIEBESDIENSTE FÜR LORETTA

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Als das trimagische Turnier zu Hogwarts mit dem Tod Cedric Diggorys endet, beginnt die zweite dunkle Ära des Hexenmeisters Lord Voldemort. Doch die Ereignisse um das Turnier führen auch dazu, daß jemand anderes die Bühne der Zaubererwelt wieder betritt. Denn Barty Crouch, der Voldemorts Handlanger in Hogwarts war, wird überwältigt und von einem Dementor seiner Seele beraubt. Der so völlig willenlose Körper wird versteckt. Eine Hexe, die nicht mit den Zielen der Zaubereiministerien einverstanden ist, holt diesen Körper und bringt die in einem dunklen Medaillon aufbewahrte Seele der Hexenmatriarchin Anthelia in diesen Körper, nachdem dieser vom Mann zur Frau verwandelt worden ist. Sie gründet danach den Orden der Spinne, um die ihrer Meinung nach natürliche Vorherrschaft der Hexen in der ganzen Welt zurückzuerobern und die Umtriebe Voldemorts zu beenden, den sie für einen irrsinnigen Emporkömmling hält. Sie beschafft sich das Wissen der früheren Hexenmatriarchin Sarah Redwood und wirbt neue Mitglieder für ihre Schwesternschaft. Bald jedoch erkennt sie, daß eine düstere Kreatur, eine der neun Töchter des Abgrunds, in ihrem Gebiet unterwegs ist und daß Voldemort alte Getreue um sich sammeln will. Geschickt treibt sie die konkurrierenden Gruppen schwarzer Magier in gewaltsame Auseinandersetzungen, an deren Ende es keine bedeutenden Machtgruppen in Amerika und Australien mehr gibt.

Das Wiederbelebungsritual für Anthelia wurde von dem ahnungslosen Jungen Benny Calder belauscht. Anthelia bringt ihn in ihre Gewalt und unterwirft ihn Zaubern, die ihn geistig mit ihr verbunden halten. Als Ben dann wie seine Familie und Nachbarn Heim und Besitz verliert, weil zwei Großbanden ihren Krieg in seiner Heimatstadt Dropout austragen, zieht er nach Seattle um, wo er selbst jedoch in Streitigkeiten mit brutalen Mitschülern gerät und fliehen muß. Anthelia läßt ihn einfangen und legt ihn für geraume Zeit in magischen Tiefschlaf, bis sie in dem durch einen Reitunfall ins Koma gefallenen Senatorensohn Cecil Wellington eine neue Erscheinungsform für Ben Calder findet. Benny lebt nun von Anthelias Gnaden das Leben eines Sohnes reicher und wichtiger Eltern, was Anthelia auch ausnutzt, um an Informationen aus der nichtmagischen Welt zu kommen.

Anthelia erfährt von dem Massenausbruch von zehn Getreuen Voldemorts. Sie entführt die Ausbrecherin Bellatrix Lestrange und verlangt von ihr, Voldemort abzuschwören. Grausam gepeinigt wird Bellatrix Lestrange zu ihrem Unterschlupf bei der Familie Malfoy zurückgebracht, allerdings erst, nachdem magische Rituale sie davon abhalten, daß sie irgendwem was erzählt. Denn ihr eigenes Leben und das eines ungeborenen Kindes hängen davon ab, daß sie schweigt.

Die Tochter des Abgrunds, die von dem mit unweckbarer Zauberkraft versehenen Richard Andrews aus jahrhundertelangem Zauberschlaf geweckt wurde, sucht erst in dessen Träumen und dann als angebliche Archäologin Loretta Irene Hamilton seine Nähe und zieht ihn durch körperliche Liebe und Magie in ihren Bann. Die FBI-Agentin Maria Montes erfährt, daß sie, obwohl sie nicht zaubern kann, magische Vorgänge mit ihren Sinnen wahrnehmen kann wie vollwertige Hexen und Zauberer und daß sie ein mächtiges Artefakt von ihrer Großmutter geerbt hat, das sie vor diversen dunklen Kräften schützt. Loretta indes bemerkt, daß sie gesucht wird und wehrt Anthelias Hexen ab, was sie viel Kraft und Anthelias Spinnenorden drei Mitschwestern kostet.

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Das Rennrad flog mehr als es fuhr. Der sportlich aussehende Junge mit dem hellblonden Schopf jagte das Hochgeschwindigkeitsfahrrad mit einer hohen Trittzahl pro Minute über den Asphalt. Seit zwei Tagen war es nun trocken genug, daß er das neue Rad, daß er sich von seinem neuen Vater erarbeitet hatte ausfahren konnte. Buck, ein bulliger Mann Mitte vierzig, folgte dem Rennrad auf einem Motorrad. Er wunderte sich, daß er seine Maschine bereits mit fünfundreißig Meilen die Stunde fahren mußte, um einen gleichbleibenden Abstand zu halten. Er versuchte, das Rennrad einzuholen. Für den Jungen darauf, der in voller Rennkombi in die Pedale trat, war das wohl ein Ansporn, noch schneller zu fahren, bis er plötzlich innehielt und das Rad im Freilauf weiterrasen ließ, bis Buck ihn ein- und schließlich überholte.

"Junger Mann, das glaube ich nicht, daß Sie mich fast abgehängt haben", sagte Buck und wirkte sichtlich gestresst. Der Junge auf dem Rad blickte ihn an und meinte:

"Wie schnell war ich denn?"

"Mein Tacho hat schon sechsunddreißig Meilen gezeigt. Du weißt genau, was dein Vater dir geraten hat, Bursche. Ich muß in deiner Nähe bleiben. Außerdem darfst du dich nicht verausgaben."

"Wie soll ich denn bitte sonst in Form zurückkommen?" Fragte der Junge frech. "Daddy macht sich noch viel zu viele Gedanken wegen mir."

"Hat er dazu keinen Grund?" Fragte Buck sehr erbost. "Immerhin bist du ja beim Sport ..."

"Vom Pferd gefallen, weil es durchging", beendete der Junge den Satz, den sein motorisierter Nebenmann nicht auszusprechen wagte. "Aber mit Rädern geht das besser, weil ich da bremsen kann, wann ich will. Daddy soll sich nicht so haben!"

"Das sagst du dem bestimmt nicht", lachte der Mann auf dem Motorrad. Dann fragte er, wie weit die Fahrt noch gehen sollte. Der Junge wollte noch zehn Kilometer abstrampeln und beschleunigte wieder.

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Anthelia, die wiedergekehrte Nichte Sardonias, der mächtigsten Hexenmatriarchin aller Zeiten, überwachte den mit ihr magisch verbundenen Cecil Wellington. Sie merkte, daß er wohl versuchte, seinen Leibwächter auf einem von einer lauten Kraftmaschine angetriebenen Zweirad abzuschütteln und schickte einen kurzen, lautlosen, nur von Cecil wahrnehmbaren Befehl aus: "Fahr sofort langsamer, Knabe!" Cecil gehorchte zwar, aber sie fühlte, daß er allzugerne versucht hätte, dieses neue Zweirad, das er mit eigener Muskelkraft vorantreiben konnte, so schnell wie möglich zu fahren. Sie verfolgte die Fahrt noch, bis der Junge und sein Begleiter auf das Anwesen bei Harrisburg zurückkehrten, wo die Familie des Jungen wohnte. Sie bekam mit, daß er in seinem Zimmer eine gesprochene Botschaft in jenem Kasten hatte, den die Zaubereiunfähigen der Jetztzeit Anrufbeantworter nannten. Es war eine Nachricht von Laura Carlotti, der Tochter eines aus Italien stammenden Baumeisters. An und für sich hatte sie ihrem Schützling und heimlichen Kundschafter in der nichtmagischen Welt untersagen wollen, dieses Mädchen wiederzusehen. Doch sie hatte ihre Pläne geändert. Immerhin verschaffte ihr dieses junge Mädchen die Möglichkeit, in die Netzwerke einer weltweit arbeitenden Geheimgesellschaft mit verbrecherischen Methoden einzudringen. Neben ihrer Schwesternschaft der Spinne würde eine Verbindung zu diesen von ihr ansonsten verachteten Leuten ihrer eigenen Macht dienen.

Anthelia lauschte ohne Cecils Wissen, was dieser sagte und dachte, welche Bilder in sein Bewußtsein aufstiegen und wie er sich mit Laura unterhielt.

Ein lauter Knall von unten brachte Anthelia in ihre eigene Gegenwart zurück. Jemand aus ihrer Schwesternschaft war in der Eingangshalle der alten Plantagenbesitzervilla appariert. Sie öffnete die Augen und erhob sich von ihrem bequemen Bett. Sie ging hinunter in die pompöse Empfangshalle und traf eine kleine, zierliche Hexe mit blonden Zöpfen, die fast wie ein Schulmädchen wirkte.

"Hallo, Schwester Romina. Hattest du eine gute Anreise?" Begrüßte Anthelia die Besucherin in ihrer warmen, mütterlich wirkenden Art. Romina Hamton lächelte und erwiderte, daß sie wohlbehalten angekommen sei. Immerhin war sie aus Kalifornien herübergekommen, um die siebentausend Kilometer von der Villa entfernt. Sie war eine sogenannte Muggelstämmige, eine Hexe ohne Zauberer in der Verwandtschaft. Patricia Straton hatte sie vor einem halben Monat anwerben können, weil sie sich in der Zaubererwelt untergebuttert fühlte. An und für sich arbeitete sie im Büro für muggeltaugliche Entschuldigungen, Sektion Westküste, hatte aber von Anthelias Schwesternschaft was gehört, wenngleich nichts konkretes, weil die aktiven Mitglieder unter einem Zauber standen, der sie sofort tötete, wenn sie ein Wort zuviel verloren. Anthelia freute sich, nach dem Verlust von Lobelia Wagner eine neue Computerexpertin in der Zaubererwelt gefunden zu haben. Denn sie wollte bald wieder nach jener Kreatur suchen, die als Tochter des dunklen Feuers bekannt war. Dazu wollte sie die Informationsverbreitungsmittel der Nichtmagier ausschöpfen. Sie wußte zwar, daß sie von vorne beginnen mußte, weil mit Lobelias Tod auch alle gesammelten Daten verlorengegangen waren. Doch mit Rominas und Patricias Hilfe würde sie es wieder schaffen.

Anthelia unterhielt sich mit Romina lange über die Fortschritte der Schwesternschaft, die mittlerweile auf allen fünf Kontinenten vertreten war, ja sich sogar aus Angehörigen der schweigsamen Schwesternschaft zusammengefunden hatte. Sie besprachen, was Lady Ursina nach dem Tod der vermeintlich ihr allein treuen Mitschwester Lucretia Withers unternommen hatte und wie die amerikanische Zaubererwelt auf den Vorfall reagierte, den der Kampf gegen die Tochter des dunklen Feuers hervorgerufen hatte. Einige Minuten später verschwand Romina wieder mit einigen Notizen. Anthelia freute sich. Bald würden sie die Spur des Ungeheuers wieder aufnehmen können. Diesmal wollten sie behutsamer vorgehen.

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Jane Porter, eine rundliche Hexe mit graublondem Lockenhaar, saß im Schankraum des betrunkenen Drachens, dem Gasthaus im Weißrosenweg in New Orleans. Sie spielte gerade gegen einen betagt wirkenden Zauberer namens Friedebold Eschenwurz Schach. Dieser war aus Mecklenburg in Deutschland herübergekommen, um das "wilde amerikanische Leben" zu kosten. Jane Gewann nach einer harten Partie. Friedebold nickte anerkennend und zupfte seinen aschgrauen Kinnbart zurecht. Dann nahm er die silberne Brille von der Nase, wechselte sie gegen eine goldgeränderte Brille aus und suchte die Bedienung. Die in eine rosenrote Schürze gehüllte Philomena Vineyard bediente gerade eine Gruppe junger Zauberer vier Tische weiter weg.

"Sie sehen so aus, als hätten Sie Sorgen, Jane", sagte Eschenwurz mit stark deutschem Akzent. Jane Porter lächelte berufsmäßig. Sie beugte sich über den Tisch und meinte:

"Sorgen direkt nicht, Friedebold. Die Sache ist nur die, daß wir meinen, daß dieser dunkle Magier in England sich zurückgemeldet hat und der dortige Zaubereiminister das nicht wahrhaben will. Außerdem ist es hier zu merkwürdigen Vorfällen gekommen, die noch nicht ganz geklärt sind."

"Ich hörte davon, Jane. meine Kollegin Gudrun Rauhfels hat mir das erzählt, als wir uns zur Lichtmessfeier trafen. Das dunkle Feuer ist ausgebrochen, nicht wahr?"

"Sie meinen, jemand hat das dunkle Feuer beschworen, dann stimmt es, Friedebold."

"Natürlich, Jane. Entschuldigen Sie meine unzureichenden Sprachkenntnisse. Aber ich bin ja nun eher in Deutschland und Frankreich unterwegs als bei Ihnen", sagte Eschenwurz und lief rot an. Er zupfte sich verstohlen am Bart und prüfte den Sitz seines lindgrünen Umhangs. Neben ihm auf dem Stuhl lag ein grüner Jagdhut mit einer Bussardfeder. Manche hatten ihn deshalb schon für einen Oberförster gehalten, wenn er im nun spärlichen Wald bei Rostock herumging, um die dort scheu lebenden Zaubertiere zu inspizieren.

"Sie müssen sich nicht entschuldigen, Friedebold. Ich kann ja dafür kein Deutsch, im Gegensatz zu meiner Kollegin Bläänch oder Professor Dumbledore."

"Sie meinen Professeur Faucon. Glaubt die denn daran, er, der nicht mit Namen genannt werden darf, sei wieder da?" Fragte Eschenwurz.

"Ja, sie weiß es, daß er wieder da ist. Allerdings hat sie ja wegen ihrer Tätigkeit nicht viel Zeit, sich um alles zu kümmern. Ich denke, Frau Rauhfels ist da nicht anders dran", sagte Jane. Eschenwurz nickte.

"Sie hat einiges um die Ohren, seitdem Willibald seinen Posten aufgegeben hat und sie den Betrieb hauptamtlich in Schwung halten muß. Aber sie hat ihre Ohren noch überall."

"Ich auch, Friedebold", grinste Jane schelmisch. "Ich habe meine Ohren und Augen auch da, wo es sein muß. Durch einen jungen Mann, der vor einem Jahr noch mit meiner Enkelin Glo zusammen in der Schule war habe ich sogar einen Kontakt nach Australien gekriegt. Aber wir schweifen ab. Sie wollten wissen, ob ich Sorgen habe? Im Grunde habe ich nur dieselben Sorgen wie jede anständige Hexe, daß Voldemort sich wieder herumtreibt. Keiner weiß, wieso er nicht gestorben ist. Wir wissen nur von seiner Rückkehr, was Harry Potter erzählt hat."

"Das ist Fudges Problem, daß er dem Jungen nichts glaubt, habe ich von Dumbledore gehört. Immerhin hat der uns ja doch alle angeschrieben, die wichtig und verständig sind", sagte Eschenwurz, als Philomena Vineyard herankam und fragte, ob sie noch etwas bringen dürfe.

Die Tür ging auf und eine junge Frau mit dunkelbraunen Haaren trat ein. Sie blickte sich mit dunkelgrünen Augen um, die im Widerschein der großen Öllampen an der Decke leicht grau schimmerten. Sie grüßte mit einem Blick die vier Zauberer am Tisch und sah die Wirtin an, die eilfertig auf sie zukam.

"Ach, die junge Ms. Straton habe ich aber lange nicht mehr im Drachen gesehen", flüsterte Jane Porter. Die junge Hexe setzte sich an einen freien Tisch und holte ein Notizbuch und Schreibzeug heraus, während einer der vier Zauberer laut rief:

"Eh, Pat, mußt du auch hier noch schaffen?"

"Gute Einfälle müssen sofort niedergeschrieben werden, Jack. Das weißt du doch", erwiderte die junge Hexe lächelnd.

"Oh, die ist aber keineswegs schüchtern", amüsierte sich Friedebold Eschenwurz. "Wohnt die auch hier?"

"Nein, Friedebold. Ms. Straton wohnt bei ihrer Mutter, ein wenig weiter nördlich von New Orleans. Sie ist Zauberkunstexpertin und laut Professor Turner die bislang beste Verwandlungskünstlerin, die er in den letzten zwanzig Jahren in seinen UTZ-Klassen hatte. Sie arbeitet als freie Zauberkunstexpertin."

"Achso", sagte der deutsche Besucher, als noch eine Besucherin eintrat. Sofort wurde es mucksmäuschenstill.

Die Hexe im flaschengrünen Kleid war klein und zierlich. Sie besaß in den Nacken reichendes, nachtschwarzes Lockenhaar, ein schmales Gesicht mit einer schlanken Nase, einem Mund mit schmalen Lippen und hellgrüne Augen, die sehr aufmerksam, ja forschend und durchdringend den Schankraum musterten. Jede Bewegung von ihr verriet Selbstsicherheit und Überlegenheit. Sie lächelte kalt als sie die vier Zauberer sah, die förmlich erstarrten. Dann sah sie Patricia Straton an und wiegte den Kopf. Als ihr Blick Jane Porter traf, schien sie zu überlegen, was sie tun sollte. Dann lenkte sie ihre Schritte zur Theke, wo gerade ein Haudegen von Zauberer aus Kanada, breit wie ein Bär mit dunkelbraunem Haar und Bart auf einem der gepolsterten Hocker saß und einen großen Humpen Feuerwhisky stemmte.

"Madame Vineyard, bitte sorgen Sie für ein großes Glas Kürbissaftlikör! Ich gedenke, einige Minuten hier zu verweilen, bis mein Besuch eintreffen wird", unterbrach die gerade eingetroffene Besucherin mit einer tiefen, leicht schnarrenden Stimme sprechend. Die untersetzte Wirtin mit dem sonst so unbekümmert wirkenden Gesicht nickte heftig und lief hinüber in den Vorratsraum.

"Howdy, Mrs. Purplecloud. Ich dachte, in Thorny hätten sie schon wieder Unterricht", wollte der bärenartige Zauberer an der Theke die eiskalte Stimmung wieder aufwärmen. Doch die Hexe sah ihn durchdringend an und meinte:

"Nur weil Sie immer schon mehr wissen wollten als für Sie gut ist, Paddington, muß ich das heute immer noch nicht tolerieren. Meine Angelegenheiten betreffen Sie nicht und müssen Ihnen daher auch nicht dargelegt werden", fertigte die Hexe den Kanadier ab, der wie ein getretener Hund vor ihrem Blick zurückwich.

"Ach, ich dachte, die Lehrer bei Ihnen würden während der laufenden Schulzeit in Thorntails wohnen", wunderte sich Eschenwurz. Die Hexe in Grün hatte das wohl gehört. Sie drehte sich um, sah Jane Porter an und kam ungefragt herüber. Jane Porter blieb ruhig.

"Hallo, Nirvana. Schön, daß Sie sich mal Zeit nehmen konnten, hier hereinzuschneien", grüßte Jane Porter die Hexe, die wohl jeden hier mit einem Blick einschüchtern konnte, von Jane abgesehen.

"Dringende Dinge drängen zur unverzüglichen Durchführung, Mrs. Porter", schnarrte sie. Dann sah sie Janes Gast an und wiegte den Kopf. Dieser lächelte sie an, als sei sie ein junges Mädchen auf einem Ball, das er gerne zum Tanzen auffordern würde.

"Herr Eschenwurz, Friedebold? Was verschlägt Sie so weit von Ihrem, sagen wir mal Jagdrevier?" Flüsterte die Hexe in Flaschengrün. Eschenwurz grinste und meinte:

"Hmm, haben Sie es noch nicht gehört, daß der Schnatermannkobold in den Sümpfen von Bayoo zum Angeln gehen wollte? - Gut, Spaß bei Seite", sagte Eschenwurz, als die Hexe ihn mit ihren hellgrünen Augen anfunkelte. "Ich habe mir einige Tage freigenommen. Bei uns im alten Europa ist zur Zeit nicht viel los, von Sie-wissen-schon-wem abgesehen, der wohl auf seiner Heimatinsel von den Toten auferstanden ist."

"Wenn Sie diesen Hexer meinen, der sich selbst Lord Voldemort nennt, Herr Eschenwurz, so war dieser niemals tot. Er hat sich mit diversen Zaubern künstlich am Leben gehalten. Sie glauben also, er sei wieder da, wie Professor Dumbledore und die Halbriesin Maxime und ihre rechte Hand, Professeur Faucon?"

"Nun, irgendwann mußte man ja damit rechnen", sagte Friedebold Eschenwurz. Die Besucherin, Professor Nirvana Purplecloud, Lehrerin an der Thorntails-Akademie, nickte. Dann wünschte sie den beiden noch einen schönen Tag und zog sich an einen freien Tisch zurück. Ihre bloße Anwesenheit hielt jedes Gespräch auf Tischlautstärke. Selbst die vier Zauberer, die bis dahin laut geschwatzt hatten, tuschelten überaus leise miteinander, während Patricia Straton ihre Notizen prüfte und zwischendurch ihren Zauberstab zückte, um etwas heraufzubeschwören und dann in schnellen Abfolgen zu verwandeln.

Zwei weitere Hexen trafen ein, die sofort zu Professor Purplecloud hinübergingen und sich zu ihr hinsetzten. Jane Porter kannte die beiden nicht. Sie mochten aus einem anderen Land stammen.

"Ich hoffte, Maya Unittamo hier noch einmal anzutreffen", sagte Eschenwurz leise. Jane lächelte.

"Die ist wieder einmal unterwegs in der Weltgeschichte. Ich weiß nicht einmal, wo genau." Dabei dachte sie an jemanden, den sie vor einer Woche hatte besuchen wollen, der aber da schon zu einer Geschäftsreise aufgebrochen war.

"Schade. Ich hätte mich gerne noch einmal mit ihr über ihr neues Buch über die alten Wälder Europas unterhalten. Wunderte mich, daß sie mich nicht besucht hat, als sie in Deutschland unterwegs war."

"Sie hat da ihre eigenen Mittel, Sachen herauszufinden, Friedebold", gab Jane amüsiert zur Antwort. "Ich denke, sie wird sich mal bei Ihnen melden, wenn sie wieder zu Hause sind."

"Das hoffe ich doch", wandte Eschenwurz ein.

Als es draußen dunkel wurde verließen die Gäste den betrunkenen Drachen wieder. Jane Porter zeigte ihrem Gast aus Deutschland das für ihn vorbereitete Gästezimmer in ihrem Haus, bevor sie selbst mit ihrem Mann Livius zu Bett ging.

Sie konnte jedoch nicht sofort einschlafen. Die Gespräche mit Herrn Eschenwurz hatten halb verschüttete Erinnerungen wieder hochgespült und die Fragen wieder laut werden lassen, die sie sich seit einigen Wochen stellte. Seine Bemerkung vom Ausbruch des dunklen Feuers hatte sie heftig berührt. Schwer hatte sie sich beherrschen können, um nicht loszuplappern, daß sie vermutete, daß da mehr unterwegs war als ein Magier, der dunkles Feuer beschwören konnte. Andererseits hatten ihre Nachforschungen nichts nennenswertes gebracht. Doch als sie sich traute, einen Nichtmagier namens Richard Andrews aufzusuchen, war dieser gerade nach Texas abgereist, von wo aus er quer durch die vereinigten Staaten zu reisen hatte. Dann fragte sie sich, was die Hexe Purplecloud im betrunkenen Drachen gewollt hatte. Grizwald Paddington, der sie ja danach gefragt hatte, war ja sichtlich zusammengeschrumpft, weil sie ihn wohl bitterböse angesehen hatte. Also war es was geheimes, was wohl nicht einmal Schulleiterin Wright wußte. Sollte sie ihre frühere Lehrerin für Zauberkunst anschreiben und fragen? Nein, das war noch nicht ihr Ding, sich in die Unternehmungen von Nirvana Purplecloud einzumischen. Sicher war diese Hexe nicht das, was man ihr selbst gerne nachsagte, eine vertrauenswürdige Hexengroßmutter. Aber sie hatte sich bislang nie etwas zu Schulden kommen lassen und genoss einen sehr guten Ruf als Lehrerin. So schlief sie ein.

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Richard Andrews hatte sich sehr gefreut, als sein neuer Chef Degenhart ihn aus dem Bürodienst herausholte und ihn beauftragte, Niederlassungen der Firma aufzusuchen, um die dortigen Produktionsmöglichkeiten zu prüfen, da er, der Kunststoffexperte, neue Herstellungsverfahren vorgeschlagen hatte, Autoteile aus Plastik noch billiger aber haltbarer anfertigen zu lassen. Doch schon bald mußte der frühere Starchemiker der londoner Omniplast-Werke erkennen, daß er offenbar unter Wert beschäftigt wurde oder irgendwie etwas anleiern sollte, wofür weder sein neuer Chef noch dessen Junioren ihre Köpfe hinhalten oder ihre kostbare Zeit vertun wollten. Sicher, er kannte sich in der Branche aus und konnte sich mit den Filialleitern sachkundig unterhalten. Doch warum mußte er dafür von Dallas nach Barstow, San Francisco, Chicago und St. Louis? Wollte sein Chef ihm die weite der USA zeigen, die man nur im Flugzeug in annehmbarer Zeit durchmessen konnte? Er saß nun im breiten Polstersessel der Geschäftsleuteklasse einer Boeing 737 von San Francisco Inlandsflughafen nach Chicago und dachte an das letzte Wochenende, das zweite im Februar. Er hatte seine Mission in Dallas hinter sich gebracht und war in das von seiner Firma gebuchte Hotelzimmer gegangen. Dort hatte ihn große Einsamkeit überfallen wie eine eiskalte Kreatur aus dunkler Nacht. Er hatte daran gedacht, seine Exfrau Martha anzurufen, um ihr zu sagen, daß er alleine unterwegs war. Doch der Stolz hatte ihm das verboten. Seit der Sache damals mit Julius, seinem durch irgendwas zum abartigen Jungen gewordenen Sohn, hatte er sich geschworen, Martha nie von sich aus anzurufen. Sie rief ihn zwischendurch an. Das mußte genügen! Doch die unpersönliche, wenn auch sehr komfortable Umgebung dieses Zimmers lastete auf seiner Seele, die nun, wo der berufliche Teil abgehandelt war, ihrer Gefühlslast bewußt wurde.

Richard ging wie ein Tiger im Käfig im Zimmer auf und ab und überlegte, wie er den Abend erträglicher machen sollte. Dann nahm er den Telefonhörer und wählte eine Nummer in Kalifornien.

"Ja, hier Hamilton", hatte sich Loretta Irene Hamiltons Stimme gemeldet. Richard fühlte sofort, wie ihn ein gewisses Verlangen ergriff, diese Frau hier und jetzt bei sich zu haben. Er fragte sie, was sie so mache und erfuhr, daß sie wohl am letzten Tag in einer alten Indianersiedlung nahe der mexikanischen Grenze gewesen sei. Sie unterhielten sich noch lange über ihre verschiedenen Arbeitssachen, sofern Richard nichts geheimes verriet. Dann hatte er sich hingelegt und in der Nacht von Loretta und sich geträumt, leidenschaftlich und über alle maßen wirklichkeitsnahe. Irgendwie jedoch war es ihm so gewesen, als habe er statt zu schlafen einen Marathonlauf hinter sich gebracht. Denn wesentlich geschwächter als vor dem einschlafen war er aufgestanden und hatte sich tagesfertig gemacht. Irgendwie wirkte er wohl krank auf seine Umgebung. Denn einige Hotelgäste sahen beim Frühstück besorgt zu ihm herüber, schwiegen jedoch diskret. Er schob es auf den Stress, den er sich nun antat, weil er von A nach B reisen mußte.

Nun flog er nach Chicago und überdachte die Punkte, die er mit den Leuten dort besprechen wollte. Doch irgendwie konnte er sich nicht darauf konzentrieren. Lorettas Schlaflied ging ihm im Kopf herum. Sie sang es immer, wenn sie sich geliebt hatten und total erschöpft zusammenlagen. Er versuchte, die Gedanken, die mit diesem fremdartig aber eindringlich klingenden Lied verbunden waren, zurückzuscheuchen. Doch gerade das bewirkte, daß sie sich noch stärker in sein Bewußtsein drängten und dort wild und ausschweifend herumwuselten. So gab er es auf, sich auf irgendwas anderes zu konzentrieren. Er fühlte die körperliche Erregung, als er an Lorettas rotes Haar dachte, das ihn federleicht umfing, wie ihre warmen Arme ihn an ihren pulsierenden Körper drückten und er ihren Herzschlag durch den eigenen Brustkorb dringen spüren konnte. Sein Sitznachbar, ein schnieke angezogener Manager, der seinen Laptop-Computer vor sich auf den Knien hatte, um schon einmal was vorzuarbeiten, blickte Richard kurz an und wirkte leicht verlegen. Richard schaute zurück und erkannte, daß er offenbar in wilden Träumen trieb. Er holte sofort seine Aktenmappe unter dem Vordersitz hervor und zwang sich, die anstehenden Gespräche vorzubereiten. Als dann das Zeichen "Gurte Schließen" aufleuchtete, legte er seine Aktenmappe wieder fort und bereitete sich auf die Landung vor.

Stunden später saß er in einer kleinen Bar in der Nordstadt von Chicago und trank ein großes Glas Traubensaft. Sein Gastgeber, der Leiter der hiesigen Degenhart-Autoteile-Filiale sah ihn bedauernd an, weil Richard nicht wie dieser Champagner bestellt hatte.

"Ich habe schon vor Monaten aufgehört, Alkohol zu trinken", sagte Richard, obwohl er nicht wußte, wieso er dem Geschäftsmann das erzählen sollte. Dieser sah ihn mitleidig an, wirkte dabei so, als habe er eine Antwort auf eine unausgesprochene Frage gefunden. Richard vermeinte, die Gedanken des Mannes zu erraten. So sagte er: "Ich hatte nie ein krankhaftes Verlangen nach Alkohol oder gar eine Alkoholsucht, bevor Sie meinen, ich dürfe deshalb nicht. Ich habe nur erkannt, daß ich auch ohne Ethanol in meinen Getränken vergnügt sein kann."

"Da haben Sie natürlich recht, Dr. Andrews", bemerkte der Leiter der chicagoer Filiale, mußte jedoch verhalten grinsen. Offenbar glaubte er das nicht, was der Chemiker aus England ihm erzählte.

"Heute abend haben wir unser Betriebsjubiläum. Ich würde mich freuen, Sie als unseren Gast begrüßen zu dürfen. Wir bieten auch nichtalkoholische Drinks an."

"Hmm, mein Flug nach St. Louis geht morgen um zwölf Uhr Ortszeit von hier ab. Ich denke, ich schaffe es, wenn ich um acht uhr wieder aufstehen kann. In Ordnung, Mr. Patterson, ich komme hin", nahm Richard die Einladung an.

Die Party war für Richard das übliche von einer Firma verordnete Vergnügungsprogramm mit Tanz und Musik. Er machte jedoch gute Miene und unterhielt sich mit den Gästen über England und Europa. Wieder einmal wunderte er sich, wie beschränkt die Allgemeinbildung mancher Amerikaner doch war, die nicht über die Grenzen des eigenen Kontinents hinauszureichen schien. So wurde er doch glatt von einem Buchhalter der Filiale gefragt, ob Winston Churchill nicht langsam zu alt wäre, um noch Premierminister zu sein. Er verbiss sich ein Lachen und erwiderte, daß er schon längst zurückgetreten sei, verschwieg jedoch, daß schon mehrere Amtsnachfolger zwischen ihm und dem jetzigen Regierungschef amtiert hatten. Muriel Patterson, die Tochter des Filialleiters, hatte versucht, ihm schöne Augen zu machen. Doch er hatte sie dezent darauf hingewiesen, daß ein Flirt bei einer Betriebsfeier nie gut ausgehen würde und er daher gerne auf unangenehme Folgen verzichtete. Als er dann in seinem Hotelzimmer aus dem feinen Anzug stieg, berührte er das Medaillon, welches Loretta ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Es fühlte sich warm an und schien zwischen seinen Fingern zu pulsieren. Er hatte es nie länger als für fünf Minuten abgelegt, nur wenn er geduscht hatte. Merkwürdig war es dann immer, wie trübselig er sich dann gefühlt hatte. Auch kam immer ein Gefühl von Geborgenheit auf, wenn er es wieder umhängte. Doch er dachte nie daran, dieses Gefühl mit dem Medaillon zu verbinden, zumal es ja keine zwei Sekunden vorhielt. Er legte sich ins Bett und dachte an die noch anstehenden Besprechungen. Dabei kam ihm ein verrückter Gedanke. Er könnte doch, wenn er es wieder nötig hatte, mit anderen Frauen zusammenkommen. Diese Muriel Patterson wollte wohl was von ihm. Warum hatte er sie zurückgewiesen? Loretta mußte ja davon nichts mitkriegen. Außerdem waren sie ja nicht verheiratet. Wußte er, ob sie nicht zwischendurch mit anderen Männern zusammen war, ja vielleicht auch für Frauen empfänglich war? Komisch, er hatte sich nie so heftig gefragt, warum er mit dieser Frau so innig zusammengefunden hatte. Warum sollte das, was er bei und mit ihr empfand, nicht auch bei anderen Frauen funktionieren?

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Jane Porter stand vor dem Mietshaus, in dem gutverdienende Muggel wohnten. Sie hatte sich das Wochenende freigehalten, um endlich nachzusehen, was der Vater von Julius Andrews machte. Sie hatte sich auch überlegt, ihn mal direkt aufzusuchen, ganz offen und freundlich. Sicher würde er sie wieder fortschicken wollen. Doch sie glaubte an den guten Kern in fast jedem Menschen und setzte darauf, daß Richard Andrews immer noch seinen Sohn vermißte, ja gerne was über ihn hören wollte. Sie blickte auf ihre kleine Armbanduhr. Diese zeigte fünf Minuten vor sechs uhr. Vielleicht, so dachte die großmütterliche Hexe, konnte sie sogar einen kurzen Sprechkontakt zwischen Vater und Sohn Andrews einfädeln. Denn sie hatte in ihrer Handtasche einen magischen Spiegel, der in Verbindung mit einem gleichartigen Spiegel stand, welchen Julius Andrews in seinem Besitz hatte.

"Heh, Ma'am, zu wem möchten Sie bitte?" Fragte ein Pförtner hinter einer Panzerglasscheibe durch einen Lautsprecher. Jane Porter lächelte den Türwächter an und erwiderte:

"Ich hoffte, Dr. Richard Andrews anzutreffen. Ist er gerade zu Hause?"

"Nein, Ma'am. Der ist auf Reisen. Soll ich ihm eine Nachricht hinterlegen?" Antwortete der Pförtner.

"Nein, ist nicht nötig, Sir", erwiderte Jane Porter. Sie zog ihren Zauberstab vorsichtig heraus und richtete ihn auf den Mann hinter der Glasscheibe. Dieser sah sie verdutzt an, ließ eine Hand zu einem roten Knopf gleiten, da sprach Jane schon "Obleviate". Mit völlig geistesabwesendem Gesichtsausdruck starrte der Pförtner sie an. Zwei Sekunden dauerte es, bis Jane sein Gedächtnis so verändert hatte, daß er sich nicht erinnern würde, diese Frau getroffen zu haben. Nachher würde der Richard Andrews noch erzählen, daß da eine untersetzte Frau wohl mitte sechzig mit graublondem Lockenhaar und einem Strohhut auf dem Kopf nach ihm gefragt hatte. Wenn sie ihn nicht aufsuchen konnte, mußte er auch nicht wissen, daß sie hier war. Sie zog sich leise zurück. Der Gedächtniszauber würde den Muggel erst in zehn Sekunden wieder klar denken lassen. Diese Zeit reichte aus, in den Strom der üblichen Menschen zurückzukehren, welcher auf den Straßen dieser Stadt dahinfloß. Sie bog um eine Ecke, betrat eine verlassen wirkende Seitenstraße und dachte an einen Besen, den sie hier an eine Wand gelehnt hatte.

"Ey, Lady, Tasche und Kohle her!" Rief sie eine barsche Männerstimme von hinten an. Jane wandte sich um. Zwei halbwüchsige in ziemlich heruntergekommener Kleidung standen vor ihr. Einer hielt ihr ein Klappmesser unter die Nase.

"Ich bin nicht von hier. Mit meinem Geld könnt ihr nichts anfangen", sagte Jane ruhig, als wären die beiden Jungen keine gefährlichen Straßenräuber, sondern niedliche kleine Jungen, die mit ihr spielen wollten.

"Ist mir scheißegal", knurrte der mit dem Messer und grabschte nach der Handtasche. Er zog daran, doch schien an einem in eine massive Wand eingemauerten Eisenring zu ziehen. Er zog dabei sein Messer zurück. Der zweite Gangster zog einen Revolver und spannte ihn. Jane dachte daran, daß sie wohl ohne Zauberkunst nicht davonkommen würde und sah den Jungen an, während der erste immer noch an der Tasche zerrte, ohne sie um einen Millimeter bewegen zu können.

Jane öffnete den Mund. Der Jüngling mit dem Revolver schnauzte sie an, bloß nicht zu schreien. Doch da sang die Hexe, wobei sie den Gangster konzentriert anblickte. Schon der erste Ton schien dem Jungen die Lust aufs Schießen auszutreiben, weil sein Revolver merklich nach unten sank. Jeder weitere Ton wirkte auf den Angesungenen wie eine ständig steigende Dosis Betäubungsmittel. Der Bursche taumelte, schaffte es nicht einmal, irgendwas zu sagen, verlor das Gleichgewicht und sank nieder. Der erste Gangster, der die Melodie hörte, schien in bleischwere Wäsche gepackt zu sein. Er versuchte, das Messer in Richtung der Frau zu stoßen. Doch sie wich ihm ohne große Mühe aus. Als der Jüngling mit dem Revolver am Boden lag, blickte sie den anderen Burschen an, der merklich aus der Balance geriet, die Tasche der Hexe losließ und versuchte, dem konzentrierten Blick auszuweichen. Er schaffte es nicht, während die magische Melodie auf ihn einklang und verlor ebenfalls sein Gleichgewicht. Er sackte um und lag auf dem Asphalt.

"Wohin führt diese sogenannte Zivilisation noch, wenn ältere Damen keinen Schritt mehr tun dürfen, ohne von irgendwelchen Verbrechern überfallen zu werden", dachte Jane mitleidsvoll. Sie holte ihren Harvey-5-Besen, der unsichtbar hinter einem Metallzaun gelegen hatte, saß auf und wurde selbst unsichtbar. So verließ sie Bay City.

Keine fünf Minuten später schwirrten zwei andere unsichtbare Besenreiter heran und fanden die magisch betäubten Gangster. Mit schnellen Gedächtniszaubern behandelten sie die jungen Straßenräuber und weckten sie auf, bevor sie unsichtbar wieder davonflogen.

Jane Porter bekam einen Brief von der Überwachungsabteilung magischer Vorkommnisse in einer reinen Muggelsiedlung, weil sie den Cantasomnius-Zauber hatte wirken müssen. Sie antwortete darauf mit der Begründung, daß sie sich gegen nichtmagische Kriminelle, die sie mit einer Schuß- und einer Stichwaffe bedroht hatten, zur wehr gesetzt hatte und wartete, was danach kam. Natürlich wurde sie von ihrem Chef Davidson per Kontaktfeuer angerufen.

"Was suchten Sie in dieser Muggelstadt, Jane?" Fragte Davidsons Kopf, der mitten in den prasselnden Flammen des gemütlichen Kamins der Porters saß. Jane lächelte und antwortete:

"Nun, das mit dem Gedächtniszauber mußte sein, weil ich nicht wollte, das jemand mißtrauisch wird, der mich kennt und falsch reagiert hätte. Das mit dem Schlafzauber war reine Notwehr in zulässigen Bahnen. Ich wollte Dr. Richard Andrews aufsuchen, von dem ich Ihnen ja schon einmal erzählt habe. Er befindet sich jedoch auf einer Reise und war nicht persönlich anzutreffen."

"Nun, ich würde es sehr begrüßen, Jane, wenn Sie derartige Reisen zukünftig anmelden und entsprechend absichern würden. Außerdem betrifft uns dieser Richard Andrews doch gar nicht. Sie erzählten mir, daß sein zauberkundiger Sohn bei dessen Mutter lebe und die Beauxbatons-Akademie besuche. Sein Vater legt ja doch keinen Wert darauf, mit uns in Kontakt zu bleiben."

"Das mag sein, Elysius. Doch ich fühle mich doch irgendwie verpflichtet, dem nachzugehen, eben weil unter anderem ich ja doch irgendwie zu dieser Lage beigetragen habe."

"Mir wäre nicht bekannt, was", erwiderte Elysius Davidson. Sein schwarzer Schnurrbart ragte einige Zentimeter in die Flammen hinein, wurde aber nicht einmal angesengt.

"Nun, immerhin habe ich Mutter und Sohn Andrews davon überzeugt, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen und damit ungewollt den Bruch mit Richard Andrews ausgelöst. Aber wie gesagt ist das eine private Angelegenheit."

"Nicht, wenn Sie andauernd Magie einsetzen müssen, Jane. Ich bitte Sie also daher, entweder die Reisen genauer anzumelden und dann möglichst ohne zauberischen Aufwand durchzuführen."

"Wie Sie meinen, Elysius", stimmte Jane zu.

"Wo ich Sie aber schon einmal spreche, Jane, haben Sie neues von jenen, die das dunkle Feuer beschworen haben? Wissen Sie, was Lobelia Wagner angestellt hat, weshalb sie sterben und ihr Haus vernichtet werden mußte?"

"Nein, Elysius, ich forsche immer noch in eine bestimmte Richtung. Sie haben ja meinen vorläufigen Bericht auf dem Tisch."

"Nun, darin schrieben Sie, daß Sie noch Beweise suchen, um eine bestimmte Vermutung zu stützen, daß Lobelia Wagner einer mächtigen Kreatur auf der Spur war. Glauben Sie wirklich noch daran, daß es der Tochter des dunklen Feuers gelungen ist, ihr Versteck in England zu verlassen? Wir haben keine Anzeichen dafür gefunden, daß sie nun in Amerika umgeht."

"Eben deshalb muß ich weiterforschen, Sir", sagte Jane, nun die förmliche Anrede gebrauchend, um den Ernst ihrer Worte zu unterstreichen. Davidsons Kopf ruckte im Feuer einmal vor und zurück. Dann sagte er:

"Ich konnte Ihnen bisher voll vertrauen, Jane. Sie haben immer einen untrüglichen Instinkt für dunkle Vorkommnisse. Allerdings kann ich ja nicht zu Minister Pole gehen und ihm unterbreiten, daß an den Berichten um die Töchter des Abgrunds mehr dran ist als eine Legende die körperliche Liebe verteufelnder Menschen aus dem Mittelalter. Sie und ich wissen, daß es diese Wesen gibt. Aber bislang haben wir keine Aktivitäten von Ihnen verzeichnen können."

"Zumindest nicht in der Zaubererwelt, worauf es bei Minister Pole sicher ankommt", schränkte Jane die Feststellung ihres Chefs ein. Dieser verzog das Gesicht, schwieg jedoch. "Wie geschrieben suche ich nach weiteren Beweisen, die meine Theorie untermauern, ja zur belegbaren Tatsache aufwerten, Sir. Aber in diesem Zusammenhang ist schon zu erwähnen, daß Lobelia Wagner nicht weit von jenem Haus entfernt aufgefunden wurde, in dem Dr. Andrews zurzeit wohnt. Wie wahrscheinlich ist es, daß dies ohne jeden Zusammenhang passiert ist?"

"Hmm, darüber vorerst keine weiteren Spekulationen, Jane!" Erwiderte Davidson. Jane spürte in jedem Wort eine gewisse Bedrohung mitschwingen. Er hätte ihr auch gleich sagen können, daß sie gefälligst keinen wie auch immer bestehenden Zusammenhang erwähnen sollte. Dann wechselte er noch das Thema und sagte: "Was ist mit Ihrer anderen Theorie der neuen Hexensororität? Gibt es da näheres zu?"

"Eine Verbindung zu jener Gruppe, die nicht öffentlich erwähnt werden will hat mich bestätigt, Elysius. Irgendwer wirbt offenbar alleinstehende Hexen an, die jedoch nicht näher darüber sprechen wollen, wer. Zumindest vermutete das meine Informantin."

"Nun, dann haken Sie dem nach! Ich möchte nicht haben, daß wir unvorbereitet mit einer solchen Gruppe in Konflikt geraten", befahl Davidson sichtlich erleichtert, etwas gefunden zu haben, um Jane von ihrer abstrusen Idee vom in Amerika umherwandernden Monster in Frauengestalt abzulenken. Jane nickte und verabschiedete sich von Davidson. Als dessen Kopf wieder aus den Flammen verschwunden war wiegte sie den Kopf und dachte:

"Irgendwie steht der gute Elysius unter Druck. Offenbar hat er meine Vermutung an Pole weitergeleitet. Vielleicht hat der gesagt, niemandem was davon zu erzählen, was mit dem Tod von Lobelia Wagner und Charity Joyce zu tun hatte, wenn nicht hieb- und stichfeste Beweise vorlagen. Doch Jane wurde das Gefühl nicht los, einer mörderischen Sache auf der Spur zu sein, die sich irgendwann auf die Welt der zauberer und die der Muggel auswirken mochte.

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Cecil Wellington erwachte von einem merkwürdigen Lied, das in seinem Kopf klang. Er warf einen verschlafenen Blick auf die Leuchtanzeige des Weckers und stellte fest, daß es halb acht am letzten Februarsonntagmorgen war. Er dachte angestrengt:

"Was soll das?" Darauf verstummte das Lied in seinem Kopf.

"Wenn du dein Morgenmal gekostet hast, Cecil, begebe dich an die Rechenmaschine deines Vaters und verschaffe dir Einlaß in den Wissensspeicher einer Bundesbehörde, die da genannt wird FBI! Ich gebe dir nähere Kunde über die Dinge, die du für mich dort auskundschaften wirst, wenn du bereit bist."

"Mann, Anthelia, lass mich gefälligst mit deinem Spionagekram ..." dachte Cecil und schrie sofort vor Schmerz auf.

"Ich weiß, du wirst folgen. Gedenke, du bist mein! Sträube dich also nicht wider derartig einfache Gebote!" Kam eine sehr gefährlich klingende Gedankenantwort zurück. Cecil grummelte ein zustimmendes "Ja, klar" und verließ sein Bett.

Weit von Cecil entfernt saß gerade Romina Hamton vor ihrem Computer, zusammen mit Patricia Straton und Anthelia. Die Führerin der Spinnenschwestern hielt den Kontakt zu Cecil Wellington, der vor einigen Monaten noch Benny Calder geheißen hatte und nun, da er in der Welt seiner Eltern für unauffindbar gehalten wurde, das Leben dieses Senatorensohnes weiterführte, der in der Daggers-Villa in einem zeitlich stark verlangsamten Zauberschlaf ruhte. Romina wählte sich gerade in das allgemeine Internet ein und erklärte Anthelia, was damit alles möglich war. Eine Stunde lang ließ die muggelstämmige Hexe alle möglichen Informationen über Dämonen, Hexen und Magie über den Bildschirm laufen, um Anthelia zu zeigen, was die sogenannten Muggel alles meinten, darüber zu wissen. Dann sagte Anthelia:

"Mein Kundschafter erlangte Zugang zum Wissensspeicher. Wie soll er suchen, Schwester Romina?"

"Lass ihn folgendes Suchmuster eingeben, höchste Schwester! Am besten erfrage das Passwort für die Einreisemeldungen und registrierten Straftaten!"

Anthelia folgte dem Vorschlag. Cecil Wellington führte die telepathisch erhaltenen Anweisungen so gründlich wie möglich aus. Sein Vater war gerade mit seiner Mutter dabei, eine am Nachmittag angesetzte Party vorzubereiten. Cecil wußte, daß er arg dran war, wenn er am Computer erwischt wurde. Aber dann würde Anthelia ihren wertvollen Spion verlieren, was ihm irgendwie auch recht sein mochte. Dennoch suchte er die Informationen, die er finden mußte, bekam sogar eine E-Mail-Adresse übermittelt, an die er alles schicken sollte, was er fand und wühlte sich durch die für die Öffentlichkeit unzugänglichen Regionen der Behördennetzwerke. Dabei fand er heraus, daß es eine Verbindung zwischen den Flughäfen und den Geheimdiensten gab. Offenbar wurde jeder, der mit einem Flugzeug aus dem Ausland eintraf elektronisch registriert, was an und für sich einer staatlichen Überwachung gleichkam. Er stellte die gewünschten Informationen zusammen und schickte sie an die telepathisch mitgeteilte Adresse. Er wartete, bis Anthelia ihm unhörbar zuflüsterte, daß sie seine Botschaft empfangen hatte und löschte die Spuren der abgeschickten Mail sehr sorgfältig. Dann wollte er den Computer herunterfahren.

"Was zum Teufel machst du hier?!" Herrschte Senator Wellington den Jungen an, der gerade auf "Beenden" klickte. Der Junge, der bis dahin völlig auf Anthelias Gedankenstimme eingestimmt war, schrak heftigst zusammen. Der Fall X war also eingetreten.

"Darf ich dir nicht sagen", sagte Cecil. Sein Vater blickte ihn wutrot an. In dem Moment kam über den Bildschirm die Mitteilung, er könne den Computer jetzt ausschalten.

"Ich will wissen, was du in drei Teufels Namen an meinem Rechner zu schaffen hast, Bursche! Meinst du, mein Computer sei für jeden einfach zugänglich. Ich habe gesehen, daß du auf meiner Benutzeroberfläche warst. Woher hast du mein Passwort?!" Brüllte Senator Wellington. Ein lauter Knall ertönte, erst unten, dann genau vor der Tür. Der Politiker schrak zusammen, weil er glaubte, es seien Schüsse gefallen. Dann flog die Tür auf, und eine Frau in blütenweißem Umhang mit zurückgeschlagener Kapuze trat seelenruhig in den Raum ein. In ihrer rechten Hand hielt sie einen silbriggrauen Stab.

"Sein Wissen hat er von mir, Statthalter", sagte sie mit einer ruhigen, mittelhohen Altstimme und deutete mit ihrem Stab auf den Senator, der gerade den Mund auftat, um nach seinen Leibwächtern zu rufen.

"Deine Wachen sind bereits in meiner Gewalt. Ich kann nicht hingehen lassen, daß du meinen Schutzbefohlenen an seinem Tun hinderst. Stupor!"

Cecil schrak zusammen, als aus dem silbernen Stab ein roter Blitz schoss, der Senator Wellington voll in die Brust traf. Cecils Vater kippte wie ein gefällter Baum um. Doch eine unsichtbare Kraft fing den Sturz ab und ließ ihn weich auf dem Boden aufliegen.

"Meine Fresse, wußte nicht, daß du so schnell bist", dachte Cecil.

"Du siehst, ich stehe zu allen meinen Ankündigungen, Cecil", sagte Anthelia, um die es sich bei der ungebetenen Besucherin handelte.

"Was ist mit den anderen?" Fragte Cecil.

"Meine Schwestern haben sie unter Bewachung und formen ihr Gedächtnis, daß sie nicht bemerken, was hier geschieht. Ich danke dir, daß du mir die nötige Kunde verschafft hast, Cecil. Kehre in das dir zugewiesene Zimmer zurück! Deinem Vater wird nichts geschehen, was bleibenden Schaden an ihm hinterlassen könnte."

Cecil sprang auf, ging in respektvollem Abstand an Anthelia vorbei und eilte in sein Zimmer. Er wollte nicht wissen, was die Hexe mit dem Senator anstellte. Interessierte es ihn auch? Das war ja nicht sein richtiger Vater, selbst wenn er alles wußte, was der echte Cecil Wellington mit ihm erlebt hatte und für ihn empfand.

Er lauschte gespannt auf jedes Geräusch. Doch irgendwie war nichts zu hören, bis es an seine Tür klopfte. Er rief "Herein!" Anthelia trat selbstsicher in das geräumige Zimmer ein, das ihr Schützling bewohnte. Sie sah ihn ruhig an und sagte:

"Es ist alles erledigt. Dein Vater wird sich nicht daran erinnern, dich an seiner Rechenmaschine ertappt zu haben, Cecil. Ich werde nun Dank deiner Mithilfe wichtige Werke tun können, um unsere Welt von einer dunklen Bedrohung befreien zu können. Lebe weiter so unauffällig wie es hier möglich ist!" Dann verschwand sie mit einem lauten Knall. Keine Minute später konnte Cecil wieder Geräusche im Haus hören. Er schloß die Zimmertür und wartete ab, was passierte. Er hatte wieder spioniert und wäre dabei wirklich beinahe erwischt worden. Anthelia hatte ihn jedoch nicht aus ihrer merkwürdigen Obhut gelassen. Also brauchte sie ihn sicher noch. Der Gedanke, nicht nur ein heimlicher Beobachter zu sein, sondern ein beliebig benutzbares Werkzeug, ärgerte ihn. Doch was konnte er dagegen tun? Wenn er jemandem was erzählte, würde Anthelia ihn grausam quälen oder zusehen, wie es Leute in einer Irrenanstalt taten. Dahin wollte er bestimmt nicht. Denn keiner würde ihm glauben, daß er eigentlich Benny Calder aus Dropout, Mississippi war und nur als Cecil Wellington rumlaufen konnte, weil eine böse Hexe ihn dazu gemacht hatte. Nein, er konnte das keinem erzählen, was ihm passiert war.

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Mark Degenhart, der Chef der Degenhart-Autodesign-Kompanie, traute seinen Ohren nicht, als er einen Anruf von Mike Halligan, dem Verwalter des Hauses in dem Richard Andrews wohnte, erhielt. Es war der erste Montag im März. Andrews war nun seit zwei Wochen wieder in seinem Büro tätig und würde erst eine Woche vor Ostern zu einer weiteren Reise aufbrechen müssen. An und für sich hatte Degenhart den Chemiker deshalb eingestellt, weil dieser in seiner Heimat offenbar nicht mehr vermißt wurde und erkannt, daß er ihn für niedere Botenreisen gut einsetzen konnte. Doch was er nun hörte, erstaunte ihn doch.

"Ich weiß, daß Sie auf Ihre Mitarbeiter nichts kommen lassen möchten, Sir", sagte Halligan, der den südirischen Akzent seiner Großeltern nicht verlernt hatte. "Aber ich habe hier viele Beschwerden wegen fortgesetzter Ruhestörung von den Bewohnern des Hauses, in dem Dr. Andrews von Ihnen untergebracht wurde. Ich habe mich nur noch nicht getraut, Polizei zu rufen, um das zu unterbinden. Es ist nämlich sehr delikat, Sir."

"Was meinen Sie, Mr. Halligan?" Wollte Degenhart wissen.

"Nun, der Lärm ist, öhm, sehr privater natur, sir", rang sich Halligan einige Worte ab. Degenhart mußte grinsen. Dann fragte er:

"Ach, kommt das in diesem Haus nicht so häufig vor? Mal abgesehen davon, daß Dr. Andrews wieder unverheiratet ist und seine Privatangelegenheiten erledigen kann ..."

"Es ist zwar richtig, Sir, daß Sie sich um die Privatdinge Ihrer Mitarbeiter nicht kümmern müssen. Aber das kann doch nicht angehen, daß alle zwei Tage derartige Laute zu hören sind. Ich meine, vielleicht könnten Sie Dr. Andrews darauf hinweisen, daß seine Privatsachen nicht von jedem mitgehört werden müssen, Sir."

"Nun, dann erzählen Sie mir bitte, was genau passiert und seit wann!" Verlangte Degenhart, der sichtlich angespannt wirkte.

Als Halligan seinen Bericht beendete, wirkte Degenhart verärgert. Immerhin war er bis zu dieser Stunde davon ausgegangen, mit seiner Neuerwerbung einen biederen, ja sehr enthaltsamen Mann in seinem Unternehmen zu beschäftigen. Doch als er das bedachte, fiel ihm wieder der Spruch von den stillen Wassern ein, die doch so tief seien.

"Ich werde mich privat bei Dr. Andrews einfinden, wenn diese Dame wieder zu Besuch war. Wer ist denn von den beiden da am lautesten?"

"Öhm, das sind nicht die Laute von denen, sondern der Krach vom Bett, Sir. Offenbar sind die beiden bei dem was sie tun sehr kraftvoll."

"Dann könnten wir die Sache doch regeln, indem wir die Möbel austauschen, oder?"

"Das müssen Sie wissen, Sir. Wenn ich jedoch wieder eine Meldung wegen nächtlicher Ruhestörung kriege, kann ich nicht mehr anders als die Polizei rufen. Ich hoffe nur, daß Ihr Ruf dadurch nicht gefährdet wird", warf Halligan noch eine zaghafte Drohung ein. Degenhart nickte und sagte, daß er sich darum kümmern würde, so rasch wie möglich.

Als Halligan aufgelegt hatte, rief der Chef der Degenhart-Autodesign-Kompanie die Daten über seinen Mitarbeiter Richard Andrews aus dem Computerarchiv der Personalabteilung ab. Er fand nichts auffälliges. Andrews' Exfrau lebte mit dem gemeinsamen Sohn in Paris. Der Junge besuchte eine Privatschule in Frankreich, über die er jedoch keine Angaben hatte. Die Akten von Andrews' früherem Arbeitgeber wiesen ihn bis zu einigen Unerfreulichkeiten kurz vor dem Firmenwechsel als soliden und vertrauenswürdigen Mitarbeiter mit hohen Führungsqualitäten aus. Degenhart fragte sich, ob da nicht der Schlüssel zu Dr. Andrews' wildem Treiben lag, wie es ihm Halligan gerade geschildert hatte? Nun, das konnte auch stark übertrieben sein. Immerhin hatte Halligan seine Informationen wohl von dritter Seite und interpretierte sie bereits um. Er würde wohl selbst entscheiden müssen, ob er das hingehen lassen sollte oder sich einzumischen hatte.

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Richard Andrews fühlte sich merkwürdig ausgelaugt. Das lag zum einen daran, daß er im Büro von Degenhart immer kniffligere Aufgaben zu lösen hatte, seitdem er von seiner Rundreise durch die Staaten zurückgekehrt war. Zum anderen hatte sich seine rothaarige Freundin Loretta freigenommen und war zu ihm hinübergekommen, was ihn auch in den Nächten nicht zur Ruhe kommen ließ. Sicher, jedesmal, wenn er sich mit ihr in einer weiteren leidenschaftlichen Liebe erschöpft hatte, war er in tiefen Schlaf gefallen. Doch er wachte immer sehr geschafft auf. Er sorgte sich um das Gesicht, das ihm beim Rasieren aus dem Badezimmerspiegel anblickte. Es war merklich eingefallen und bleich. Nur die Augen wirkten jung und gesund. Er dachte oft daran, sich körperlich doch mehr zurückzunehmen. Doch wenn er abends in sein Bett stieg und Loretta ihn anblinzelte, verlor er die Beherrschung und tat mit ihr, was immer sie wollte. Er erkannte mehr und mehr, daß nicht er entschied, was sie zusammen taten, sondern sie bestimmte, was er zu tun und zu lassen hatte. Doch wenn er versuchte, sich deshalb gegen sie aufzulehnen, lächelte sie ihn nur an, und jedes Aufbegehren verpuffte wie heiße Luft. Er bemerkte, das die Kollegen ihn in der Firma immer ansahen, als sei er schwerkrank, und sein Kaffeeverbrauch war mittlerweile Legendär. Nina Zager, seine direkte Arbeitskollegin, wagte es in der ersten Märzwoche mal, ihn zu fragen, ob er irgendwelche Schwierigkeiten hätte, unterstellte ihm sogar gesundheitsschädigende Gewohnheiten, woraus er schloß, daß sie ihn für drogensüchtig hielt. Er hatte darauf sehr brüsk geantwortet:

"Miss Zager, ich habe seit bald einem halben Jahr keinen Tropfen Alkohol getrunken, rauche nicht und nehme auch sonst keine Drogen ein. Alles andere geht Sie nichts an. Klar?"

"Ich bin nur besorgt um Sie, Dr. Andrews", hatte Nina verstimmt geantwortet.

Gereth Degenhart, der ihn am Flughafen Detroit abgeholt hatte, fragte ihn einmal direkt heraus:

"Dr. Andrews, Sie erscheinen hier immer sehr abgekämpft. Manchmal habe ich den Eindruck, Sie hätten Ihr bett nicht gefunden. Das wird zudem noch schlimmer mit Ihnen. Woran liegt das?"

"Mr. Degenhart, ich wüßte nicht, was meine Privatsachen hier zu suchen haben. Oder habe ich auch meine Arbeit vernachlässigt?" War Richards unangemessen aggressiv klingende Antwort. Gereth degenhart sah ihn verstört und dann verärgert an und meinte:

"So wie Sie sich offenbar verausgaben ist das nur eine Frage der Zeit, bis Sie entweder nachlassen oder zusammenbrechen, Herr Doktor. Außerdem sollten Sie nicht vergessen, mit wem Sie sprechen."

"Natürlich nicht, Mr. Degenhart. Aber Sie selbst haben ja immer betont, daß Sie in der Firmenhierarchie nicht so weit oben stehen. Ich gehe also davon aus, daß Sie auf gleicher Stufe mit mir stehen. Sonst hätte ich bestimmt nicht so geantwortet", sagte Richard barsch und kehrte dem sich selbst gerne als Gammamännchen bezeichnenden Juniorchef zweiter Klasse den Rücken zu.

Gereth Degenhart wartete, bis Richard Andrews sich in das Büro zurückgezogen hatte, das ihm zur Verfügung stand und ging dann zu seinem Bruder Roger, der in der Vertriebsabteilung arbeitete.

"Könnte es sein, Roger, daß wir uns mit dem Andrews ein faules Ei ins Nest geholt haben?" Fragte er direkt heraus, als er mit seinem Bruder im abhörsicheren Sprechzimmer saß, aus dem weder Schall noch Funksignale hinausdringen konnten.

"Ach, ist dir das auch aufgefallen, daß der englische Doktor immer so ausgepumpt hier antritt. Lommond von der Pforte hat meiner Sekretärin mal erzählt, Andrews würde wohl die Nacht durchmachen, seitdem er von der Rundreise zurück ist. Immerhin hat er mir da einen guten Weg abgenommen, und ich konnte die Sache mit dem japanischen Konkurrenten aus der Welt schaffen. Amy hat sogar gesagt, er sehe aus wie ein lebender Toter."

"Tja, und das Sekretärinnennetzwerk weiß bestimmt auch, woran das liegt, nicht wahr, Roger?" Erwiderte Gereth amüsiert.

"Nein, Gereth. Was immer der so anstellt, keiner weiß davon was. Der erzählt doch auch nichts. Wieso auch? Der sitzt mit Dr. Zager im Büro, macht da seinen Job und fährt wieder nach Hause. Ich weiß noch nicht einmal, ob der seine früheren Sachen aus England rübergeholt hat oder nicht."

"Roger, ich denke, entweder ist der wirklich krank oder arbeitet noch nebenbei. Ich denke, wir sollten das klären. Weil wenn er noch anderswo arbeitet verstößt er gegen den Vertrag mit uns. Immerhin kriegt er ja wohl genug Geld von Daddy."

"Natürlich, Gereth. Ich gehe nachher zu Daddy und frag ihn, wielange er sich das ansehen will. Immerhin hat uns der Engländer doch eine Menge Geld gekostet. Nachher stellt sich raus, daß die von Omniplast ihn liebendgern abgeschoben haben und wir die Idioten waren, ihn zu übernehmen", sagte Roger.

"Gut", sagte Gereth nur nickend und verließ das Sprechzimmer.

Richard Andrews spürte es, das sich irgendwas über ihm zusammenbraute. Er konnte förmlich das Flüstern und Tuscheln seiner Kollegen hören, merkte, wie angespannt Nina Zager war, wenn er zu ihr ins Büro kam. Doch er wollte keine schlafenden Hunde aufwecken.

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Anthelia sah die Zahlen und Buchstaben auf dem Computermonitor flimmern. Sie mochte diese elektronischen Leuchtzeichen nicht lange ansehen. Doch diesmal war sie förmlich gefesselt von den Statistiken, die Romina Hamton erstellt hatte. Sie hatte ein an und für sich geheimes Programm aus einem der FBI-Computer ergaunern und auf ihrem Rechner installieren können, weil sie die Passwörter von einem EDV-Fachmann der Bundesermittlungsbehörde bekommen konnte. Nun jagte das Programm durchs Internet, klinkte sich sogar in für die Öffentlichkeit verbotene Regionen ein und zapfte Informationen daraus ab, die dann unter Verwendung eines Spurenlöschprogramms unrückverfolgbar auf Rominas Rechner heruntergeladen wurden. Heute, am dreizehnten März 1996, würden Anthelia und ihre Schwestern endlich erfahren, wer der Auserwählte von Halitti, der Tochter des dunklen Feuers war.

"Wenn wir die Angaben haben, werden davon sofort mehrere Abschriften verfertigt, Schwester Romina!" Bestimmte Anthelia. Ihr steckte der letzte Versuch, der Kreatur in Frauengestalt habhaft zu werden noch in den Gliedern. Lobelia Wagner hatte das Rätsel lösen können. Doch die Unterlagen dazu waren wie sie selbst von jener Bestie vernichtet worden.

"Höchste Schwester, der Rasterprüfer läuft jetzt. Ich habe alle relevanten Angaben einbezogen, wie Zeitraum des Auftauchens, gewaltsame Tode ohne nähere Erklärung, sowie Einwanderungen von Leuten, die vorher in der Nähe von Dover in Großbritannien gewesen sind. Mal sehen", verkündete Romina, während der Computer verschiedene Zahlen- und Buchstabengruppen über den Bildschirm schickte.

"Wann können wir mit einer endgültigen Bestätigung rechnen?" Fragte Anthelia.

"In einer Viertelstunde, höchste Schwester", erklärte Romina.

"Was machen wir, wenn wir diese Angaben haben, höchste Schwester?" Fragte Patricia Straton, die wieder dabei war.

"Wir werden den Mann beobachten. Vielleicht schaffen wir eine Situation, daß er gezwungen ist, das Versteck der Kreatur aufzusuchen. Dorthin müssen wir, um sie endgültig zu stellen", sagte Anthelia.

"Wäre es nicht besser, die vom Laveau-Institut das erledigen zu lassen, höchste Schwester?" Fragte Romina.

"Du meinst, die mögen sich beim Versuch, der Bestie ledig zu werden verausgaben, Schwester Romina?" Reagierte Anthelia mit einer spöttischen Gegenfrage. Dann setzte sie eine sehr entschlossene Miene auf und sprach weiter: "Dieses Geschöpf hat sich gegen uns gerichtet. Ich erachte es für geboten, es mit unseren Mitteln zu jagen und zu erlegen. Dies sehe ich als erste Bewährungsprobe unserer Schwesternschaft."

"Warum sollten wir andere das tun lassen, was die schon längst hätten tun können?" warf Patricia Straton ein. Anthelia lächelte. "Die Anzeichen waren doch schon seit Monaten vorhanden. Spätestens nach Schwester Lobelias und Schwester Charitys Tod sollten die wissen, was Sache ist."

"So ist es", bestätigte Anthelia. "Sie haben nichts getan, um der Kreatur habhaft zu werden. Aber, Schwester Romina, füge noch den Fundort von Schwester Lobelia und Schwester Charity hinzu!"

"Jawohl, höchste Schwester", stimmte Romina zu und unterbrach den Rasterabgleich, um noch den Tatort und das Datum einzutragen. Dann ließ sie das Programm noch einmal von vorne durchlaufen, bis nach zehn Minuten folgende Mitteilung auf dem Bildschirm erschien:

"Als Person mit allen angegebenen Faktoren kommt Dr. Richard Andrews, geboren in London, Großbritannien als einziger in Betracht."

Dann erschienen alle mit diesem Namen in Verbindung gebrachten Daten, von seinem Besuch bei einer Gebäudesprengung im September, über die Vorfälle in New York, die mittelbar mit ihm zusammenhingen, sowie die Abwerbung zu einem Unternehmen für die Ausstattung von Automobilen in Detroit, was dem von Schwester Dana Moore angegebenen Zeitpunkt voranging, an dem Hallitti ihren Schlafplatz gewechselt hatte. Damit lag die Wahrscheinlichkeit, daß der Kunststoffherstellungsfachmann Richard Andrews mit der gesuchten Kreatur in Verbindung stand, bei 99,9995 Prozent, zumal sein derzeitiger Wohnsitz keine fünfzig Meter vom Ort der blutigen Morde an den Mitschwestern Lobelia und Charity entfernt lag.

"Offenbar hat Schwester Lobelia genau dieselben Angaben zusammengefügt und wohl ein ähnliches Ergebnis erhalten", stellte Romina fest und rief nun alle verfügbaren Daten zu Richard Andrews ab, die sie im freien und verbotenen Computernetz weltweit ergattern konnte.

Anthelia war bei der Erwähnung von Richard Andrews schlagartig in eine Bilderflut von Erinnerungen versunken. Sie sah sich in einem Klassenzimmer vor zehn gerade zwölfjährigen Jungen und Mädchen stehen und hörte sich mit knurriger Stimme sprechen. Sie sah mit einem Auge durch Tischplatten hindurch und auf weit hinten hingelegte Pergamente, die merklich größer erschienen, als sie sie ansah. Dann hörte sie sich sagen:

"So, Mr. Andrews. Dann will ich doch mal sehen, ob Sie wirklich den Körperschutzzauber beherrschen. Asinaures!"

Sie fühlte, wie ein Zauberstab in ihrer rechten Hand auf einen hellblonden Jungen im schwarzen Hogwarts-Umhang deutete, der wie seelenruhig seinen Zauberstab hob. Der von ihr ausgestoßene Fluch raste als heller Lichtblitz auf den Jungen zu und prallte knapp vor seinem Kopf auf ein unsichtbares Hindernis, wo er in goldenen Funken zerstob.

"Aber gewiss doch", dachte Anthelia. "Dieser Mann hat einen Zauberer als Sohn, ohne selbst zaubern zu können."

"Hier sind die Daten, höchste Schwester. Ich schicke sie sofort über den Drucker. Zehn Kopien wolltest du haben?"

"Wie? Ja, genau! Verfertige zehn Abschriften dieser Unterlagen!" Bestätigte Anthelia. Dann grinste sie überlegen.

"Die Wahrscheinlichkeit liegt übrigens bei einhundert Prozent, Schwestern. Dieser Andrews hat einen nicht schlecht begabten Zauberer zum Sohne, der in jenem Jahr, wo der Spender meiner fleischlichen Hülle sich als Lehrer in Hogwarts ausgab, die zweite Klasse besuchte, aber da schon erstaunlich gute Körperschutz- und Schildzauber beherrschte. Mich würde nicht wundern, wenn dieser Junge über mehrere Generationen hinweg das magische Vermächtnis alter Familien zur Blüte gebracht hat, wo seine Eltern diese Gaben nicht zuvor erkennen oder nutzen konnten. Das war es also. Offenbar hat Schwester Lobelia auch nach derartigen Zusammenhängen geforscht und sie gefunden."

"Da ist was dran, höchste Schwester", bestätigte Romina, die gerade die Angaben über Richard Andrews las, die zeitgleich von ihrem Tintenstrahldrucker auf Papier gebracht wurden. "Hier steht was von einem einzigen Sohn, Julius, der zunächst in einer angeblichen Theodor-C.-Beaufort-Schule für Kinder erfolgreicher Akademiker gewesen sein soll und nun in einer französischen Schule in der Provence unterrichtet werden soll. Das Theodor-C.-Beaufort-Internat gibt es nicht. Genauere Anfragen zeigten das. Die andere Schule gibt es jedoch, zumindest was dem Internet zu entnehmen ist. Allerdings bin ich mir da nicht sonderlich sicher, ob das nicht eine bessere Tarnung für etwas anderes ist."

"Oh, was steht denn sonst noch zu diesem Unfähigen in den Unterlagen?" Fragte Anthelia und fischte nach einem frisch bedruckten Blatt hinter dem Drucker. Sie las die Angaben und stellte belustigt fest, daß sich der fragliche Mann im August von seiner Frau einvernehmlich getrennt hatte und diese mit dem Jungen nach Frankreich umgezogen sei, zu Bekannten, deren Adresse sie auch bekam. Sie lächelte.

"Offenbar ist dieser Knabe in meiner alten Heimatschule untergekommen. Nun, wenn er wirklich so fähig ist, wie das, was ich den Erinnerungen dieses Crouch entnehmen kann, wird man ihm dort alles abverlangen, was er zu vollbringen mag."

"Diese Catherine Brickston, bei der Andrews' Frau untergekommen ist, ist die Tochter von Professeur Faucon, höchste Schwester. Ich fürchte, das macht den Jungen für uns unerreichbarer als gewöhnlich", sagte Patricia Straton.

"Ah, ich hörte davon, daß diese Blanche Faucon eine Großmeisterin aller hellen und dunklen Künste sei. Nun, derzeitig gilt unser Sinnen dem Vater. Sollte es sich als nötig erweisen, uns des Knaben zu bemächtigen, werden wir schon einen Weg finden, ihn in unsere Gewalt zu bekommen", sagte Anthelia zuversichtlich.

"Es passt also alles zusammen", sagte Romina. "Der Mann, den wir suchen, ist der magieunfähige Vater eines Zauberers und trägt wohl selbst unweckbare Zauberkräfte in sich. Daß der Sohn nun bei einer berühmten Hexe Unterschlupf gefunden hat, belegt diese Vermutung unerschütterlich. Dann wissen wir nun alles was wir brauchen."

"Es wäre mir sehr recht gewesen, die dahingegangene Schwester Lobelia hätte mir diese Kunde schon vor gebracht, bevor sie ausging, den Abhängigen der Abgrundstochter aufzusuchen. Sie wäre dann noch am Leben, und wir hätten dieses Ungeheuer wohl schon in die sichere Vernichtung getrieben", schnaubte Anthelia verärgert.

"Nun, wie ist dein Plan, höchste Schwester?" Fragte Patricia Straton.

"Ich will Gewissheit. Ich will sehen, ob dieser unzulänglicher Alchemie zugetane Mann wirklich im Banne Hallittis steht. Wir müssen jemanden beauftragen, dies für uns herauszufinden. Jedoch dürfen wir keinen Funken Zauberkraft dabei verwenden! Dieses Wesen darf nicht gewahren, daß wir seines Opfers Heimstatt bewachen. Also werden wir uns auf die Versuchung des Geldes verlassen, mit dem vieles in dieser Zeit erworben werden kann", sagte Anthelia.

"Du möchtest einen Privatdetektiv oder Belauschungsspezialisten beauftragen, höchste Schwester?" Fragte Patricia Straton.

"Nun, wenn dies die Bezeichnung für jene ist, die andere Leute ausforschen, so stimme ich zu. Erteile einem solchen Menschen den Auftrag, Heim- und Arbeitsstätte dieses Richard Andrews auszuspähen. Wie gesagt, ich wünsche keinen Funken Zauberkraft bei dieser Sache!" Stellte Anthelia unumstößlich klar. Patricia und Romina nickten ergeben.

Anthelia brachte die Kopien der über Richard Andrews zusammengestellten Unterlagen in die Daggers-Villa, das Haus der Sarah Redwood in England, sowie zum Richtbaum, an den sie im kalten Januar Bellatrix Lestrange gequält hatte. Sie wollte sicherstellen, daß die Unterlagen nicht von unbefugten gefunden wurden. Sie war jedoch auch nicht so naiv zu denken, daß nicht auch Leute wie der Emporkömmling Voldemort oder die mit ihr konkurrierende Nachtfraktion der schweigsamen Schwestern nach dem Succubus forschen und dieselben Ergebnisse bekommen konnten. Doch sie wußte, wo ein von diesem Wesen behexter Mensch lebte und würde sicherstellen, ihn niemals mehr unbeobachtet zu lassen.

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Voldemort schäumte vor Wut. Wieder einmal war es mißlungen, an jene Prophezeiung zu gelangen, die Aufschluß über sein Schicksal geben würde. Rookwood, der im Januar aus Askaban ausgebrochene Getreue, hatte eindeutig bestätigt, daß nur die Träger der Namen unter der gelagerten Glaskugel diese ohne Angst vor dem Wahnsinn berühren und an sich nehmen konnten. Voldemort hatte den Getreuen dafür dem Cruciatus-Fluch ausgesetzt, bevor seine Wut weit genug abgeklungen war und er wieder klar denken konnte.

"Herr, wenn Ihr nicht selbst geht, werden wir die Prophezeiung nicht bekommen", hatte Rookwood wimmernd berichtet. Voldemort schnaubte gefährlich. Doch dann grinste er.

"Warum sollte ich dort hineingehen? Steht nicht unter der Kugel, daß auch Harry Potter sie nehmen kann? Nun, warum sollen wir uns diesen Mischblutbastard nicht mal zu Nutze machen, wenn er immer noch nicht tot ist?"

"Herr, der ist in Hogwarts", warf Rookwood zitternd ein. Voldemort nickte und grinste breit und böse.

"Er wird lernen, daß dieser Ort ihn nicht vor mir schützen kann, Rookwood. Genauso wie du lernen mußt, daß ich keinen Versager in meinen Reihen haben will. Ich gewähre dir noch eine Gnadenfrist, Rookwood, weil du für mich in Askaban ausgeharrt hast. Plane voraus, wie es mir und meinen treuen Todessern gelingen mag, unbemerkt in das Ministerium für Zauberei und in die Abteilung für Mysterien einzudringen!"

"Ja, Herr! Wie Ihr befehlt, Herr!" Stieß Rookwood überaus erleichtert hervor. Er verbeugte sich höchst unterwürfig vor dem dunklen Hexenmeister und küßte dessen Umhangsaum. Als Voldemort ihn entließ disapparierte Rookwood in sein Versteck.

einige Wochen später erfuhr der dunkle Lord, daß sein Erzfeind Albus Dumbledore von Minister Fudge unter dem dringenden Verdacht, eine Gruppe von Schülern gegen ihn ausgebildet zu haben gefangennehmen wollte, Dumbledore jedoch hatte fliehen können und nun irgendwo versteckt sei.

"Herr, Hogwarts gehört nun uns", hatte Lucius Malfoy frohlockt, der den dunklen Lord zu sich nach Hause eingeladen hatte, um mit ihm die Vertreibung Dumbledores zu feiern. Auch die Lestranges freuten sich. Bellatrix lachte laut und gehässig, bevor sie sagte:

"Herr, Lucius ist zwar ein gemeiner Drückeberger. Aber er hat Fudge in der Hand. Wir können nun jemanden in Hogwarts beauftragen, die Schule für unsere Pläne herzurichten."

"Ihr seid alle Toren!" Brüllte Voldemort kalt und klirrend wie ein zuschlagendes Schwert, und ebenso scharf schnitten seine Worte jedes frohe Lachen ab. "Glaubt ihr denn wirklich, Dumbledore hätte dieses Geständnis, das im Tagespropheten drinsteht freiwillig gemacht, wenn ihm nicht daran gelegen wäre, seine eigenen Pläne zu erfüllen? Ihr seid doch alle Toren, wenn ihr meint, dieser alte Tatterich würde sowas eingestehen und sich zum Gejagten machen. Er wollte damit was bestimmtes erreichen. Solange wir nicht wissen, was dies ist, haben wir nichts zu feiern. Aber ich gebe dir recht, Lucius, daß Hogwarts nun, wo er nicht mehr dort ist, von uns übernommen werden sollte. Wir können aber unmöglich dort rein, solange ich nicht sämtliche Geheimnisse kenne, die die Mauern dieses Schlosses umgeben. Du sagtest, diese Dolores Umbridge, die Fudge aus der Hand frißt und dafür alle ihr untergebenen Schüler beißt, habe nun seine Stelle? Nun, dann sorge dafür, daß uns genehme Schüler ihr helfen dürfen, die Störenfriede dort zu züchtigen, bis wir offen dort hineingehen dürfen! Außerdem bietet sich doch nun die Gelegenheit, etwas zu tun, was ich sehr gerne tun will. ich muß dazu noch alte Schriften lesen, um sicher zu sein, alles unmißverständlich weitervermitteln zu können. Außerdem sollten wir mindestens zwei Monate verstreichen lassen, bis ich dir den endgültigen Auftrag erteile, meinen Plan dort in Hogwarts durchführen zu lassen."

"Mein Sohn ist bereit, o Herr. Ich sagte ihm, daß er sich ruhig verhalten soll und warten möchte, bis Ihr ihn braucht", sagte Lucius Malfoy unterwürfig. Seine Frau meinte noch:

"Vielleicht ergibt sich dabei auch eine Möglichkeit, den Halbblüter Harry Potter aus dem Weg zu schaffen. Nachdem was mir dieser Creacher erzählt hat, dürften wir mit diesem Bengel keine großen Schwierigkeiten kriegen."

"Dies nehmen wir in Angriff, wenn wir das andere in Hogwarts sicher erledigt haben", erwiderte Voldemort unumstößlich. Narcissa Malfoy nickte untergeben.

"Was tun wir nun?" Fragte Rodolphus Lestrange seinen Herrn und Meister.

"Wir lassen diesen Dummkopf Fudge erst einmal seine neue Macht auskosten und nach Dumbledore suchen. Um so heftiger wird unser Schlag dann treffen", erwiderte Voldemort leise aber mit lauernder Betonung. Alle anderen schwiegen.

"Lucius, schenk uns noch einmal von deinem köstlichen Bordeaux ein!" Schlug Voldemort vor.

Am Abend, als der dunkle Lord gegangen war, lagen Bellatrix und ihr Mann noch eine Stunde wach. Rodolphus fragte sie, ob es wirklich klug sei, Dumbledores Abwesenheit in Hogwarts nicht sofort auszunutzen. Bellatrix sah ihn kurz sehr böse an.

"Wenn der Herr gesagt hat, daß wir warten sollen, hat er seine Gründe. Oder glaubst du, daß er nicht wüßte, was er tut?"

"Bella, sicher weiß ich, das er schon das richtige tut. Doch bevor wir Hogwarts nicht unter unsere Kontrolle gebracht haben haben wir doch keine Chance, die reinblütigen Zauberer alleine weiterlernen zu lassen."

"Woher willst du wissen, ob der Herr nicht genau das vorbereitet?" Antwortete Bellatrix schnippisch. "Er hat ja nur gesagt, daß wir nicht direkt dort einmarschieren können. Er hat schon einen Plan, glaub's mir!"

"Ja, ich glaube es dir, Bella", stimmte Rodolphus Lestrange seiner Frau zu und drehte sich um, um zu schlafen.

Bellatrix dachte wieder an diese schreckliche Nacht, in der sie von weißgekleideten Hexen entführt und an den Richtbaum gefesselt worden war. Sie fühlte das in wenigen Minuten in ihr heranwachsende Kind, das sie von Rodolphus empfangen hatte, durchlitt den Schmerz der unnatürlich schnellen Geburt und hörte das Schreien des Kindes, wie es von dieser Hexe, die wie Barty Crouches Schwester aussah, in den Baum gebannt wurde, damit sie schwieg. Seit dieser Nacht, über die sie niemandem berichten durfte, ohne sofort zu sterben, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als daß Voldemort dieses Hexenweib fand und mit aller Grausamkeit tötete. Doch wie sollte dieser sie finden, wo sie sich offenbar nirgendwo in der Welt offen zeigte? Sie durfte es auch keinem erzählen. Sie durfte auch niemandem von den Briefen erzählen, die sie morgens unter ihrem Kopfkissen fand. Alleine das jemand heimlich bei ihr ein- und ausgehen konnte, ohne die Alarmzauber auszulösen, erschreckte sie immer wieder. Doch immer stand in den Briefen:

"Bedenke, daß du nicht seine Dirne zu sein hast, Schwester! Kehre ihm den Rücken und geselle dich deiner wahren Bestimmung zu! Anthelia!" Alleine der Name erschreckte sie, obwohl sie ihn nun so oft gelesen hatte. Auch das Symbol einer schwarzen Spinne in silbernem Netz, das unter jeden Brief gesetzt war, stach ihr immer noch heftig in die Augen. Diese verdammten Hexen um die angeblich wiedergekehrte Anthelia, die in dem durch den Contrarigenus-Fluch zur Frau umgewandelten Körper von Bartemius Crouch lebte, hatte sie nicht vergessen und wollte nicht, daß Bellatrix sie vergaß.

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Es war am vierzehnten März, als ein sichtlich irritiert wirkender Mark Degenhart aus dem Haus kam, in dem Richard Andrews wohnte. Er passierte einen geparkten Ford Sedan, ging an einem roten Porsche 911 vorbei und setzte sich in seinen cremefarbenen Mercedes. Dort verschnaufte er erst einmal. Er ließ die Ereignisse der letzten Stunde revuepassieren.

Halligan hatte ihn wieder angerufen, weil Richard Andrews offenbar wieder Besuch von seiner neuen Bekannten hatte. Degenhart, der gemeint hatte, er würde sich sofort darum kümmern, war so schnell es die Polizei erlaubte nach Bay City gefahren und hatte bei Richard Andrews geklingelt. Dieser hatte ihm nach gewissem Zögern die Tür geöffnet. Mark Degenhart erbleichte, als er das total übermüdete und kreidebleiche Gesicht des Chemikers sah. Der sonst so willensstarke Firmenchef stand vor der Tür und wußte nicht, was er sagen sollte. Als er seine Worte wiederfand lauteten diese:

"Dr. Andrews, ich fürchte, ich muß mit Ihnen was bereden."

"Ich wüßte zwar nicht was, Mr. Degenhart, solange es nicht mit meiner Arbeit zu tun hat. Aber bitte", hatte Richard Andrews darauf nur geantwortet. Er winkte Mark Degenhart hinein. Der Firmenchef blickte kurz auf seine Armbanduhr. Die Zeiger standen auf fünf Minuten vor zwölf Uhr Mitternacht.

Im Wohnzimmer bot Richard seinem Überraschungsgast einen Platz und dann einen Drink an. Degenhart bat um ein großes Glas Sodawasser und trank vorsichtig davon, während er Richard nicht aus den Augen ließ. Sein Mitarbeiter wirkte erschöpft, nicht schlaftrunken. Seine blonde Halbglatze war merklich zerzaust und die kahle Fläche bis runter zum Hals war kalkweiß, als sei der Kopf total blutleer. In den Augen von Richard Andrews funkelte Mißtrauen und eine gewisse Anspannung, als sei er gerade bei einer sehr wichtigen Sache unterbrochen worden. Mark hatte einen ähnlichen Ausdruck einmal bei seinem Sohn Roger gesehen, als er ihn mit einer jungen Frau in seinem Haus erwischt hatte. Offenbar stimmte es doch, was Halligan gesagt hatte.

"Nun, worum geht's, ich habe nicht viel Zeit für firmeninterne Dinge, wenn Sie mich nicht umgehend zu einem Sondereinsatz abberufen wollen", sagte Richard ohne Respekt vor dem Vorgesetzten. Dieser war darüber sehr irritiert, daß er fünf Sekunden brauchte, um seine gewohnte Stärke zurückzugewinnen.

"Was bilden Sie sich ein, wie Sie mit mir reden dürfen, Doktor Andrews? Erstens bekommen Sie eine Menge Geld von mir. Zweitens verdanken Sie mir diese Wohnung. Drittens steht in Ihrem Arbeitsvertrag, daß ich Sie zu jeder Zeit einbestellen darf, um anfallende Leistungen sofort erledigen zu lassen. Ich bin hier, um dies klarzustellen, um Ihnen und damit auch der Firma, für die sie arbeiten, einen Skandal zu ersparen. Das sollte Ihnen den offenkundig mangelnden Respekt vor mir wiedergeben."

"Oh, Sie meinen, ich dürfte in diesem Land nicht als de Jure unverheirateter Mann mit einer Bekannten meiner Wahl intim werden, Mr. Degenhart?" Preschte Richard unerwartet deutlich vor. Dem Chef der Autodesignfirma blieb nur ein bestätigendes Nicken.

"Es geht mir nicht um die Frage, ob Sie das dürfen oder nicht, sondern darum, daß nun seit mehreren Wochen mehrere Beschwerden bei der Hausverwaltung aufgelaufen sind, die über sehr heftige Aktivitäten berichten. Mit wem Sie sich verlustieren hat mir egal zu sein, solange Sie dabei niemanden in der Nachbarschaft um den Schlaf bringen und damit mich als eingeschriebenen Mieter dieser Wohnung in Verruf bringen. Ich bin persönlich erschienen, um unnötiges Getratsche in der Firma zu unterbinden und Ihnen die letzte Gelegenheit zu geben, sich zu besinnen, zukünftig doch etwas leiser zu Werke zu gehen, wenn Sie mit Ihrer Bekannten intim werden. Sie wissen es vielleicht nicht, aber in diesen Teilen der USA hegt man gewisse Aversionen gegen übermäßige Sexualität, insbesondere bei unverheirateten Paaren. Sie hätten besser die hiesigen Sitten studieren sollen, Doktor Andrews."

"Ach, die lieben Puritaner", spottete Richard und lachte gehässig. "Was die einen sich verhalten dürfen die anderen dann auch nicht. Es lebe der blanke Neid!"

"Ich weiß jetzt nicht, was diese kindische Reaktion von Ihnen soll, Doktor Andrews, aber ich ermahne Sie deutlich, sich mir gegenüber respektvoller zu betragen", kehrte Degenhart seine Autorität heraus. Richard sah ihn mitleidsvoll an, dann blickte er zu einer Tür, durch die gerade eine Frau mit langen roten Haaren eintrat. Sie trug einen dunkelblauen Bademantel, wohl eher einem für Herren gedachten, Sie sah Degenhart mit ihren großen braunen Augen an und strich sich verspielt die ins Gesicht hängenden Strähnen zurück. Dann blickte sie Richard Andrews an. Degenhart vermeinte, eine unausgesprochene Anweisung in diesem Blick zu erkennen.

"Loretta, Darling, das ist mein Chef, Mr. Mark Degenhart", stellte Richard Besucher und Geliebte einander vor. Degenhart fühlte, daß diese Frau etwas merkwürdiges umgab. Sie strotzte vor Leben. Ihr Gesicht war rosig wie das eines jungen Mädchens. Doch sie strahlte nichts mädchenhaftes aus. Eher wirkten ihre Bewegungen und Gesten auf ihn so, als sei sie über alles erhaben, ja allem überlegen. Dazu paßte auch die innere Ruhe, die die Bekannte von Richard Andrews besaß. Sie sprach mit einer warmen, tiefen, in Degenharts Gehirn eindringenden Stimme:

"Ach, diesem Herrn verdanken wir, daß du so ein schönes großes Bett hast? Schade, daß die Federung so erbärmlich quietscht."

"Öhm", machte Degenhart. Er wußte nicht, was er jetzt sagen sollte. Sowas hatte er zu allerletzt erwartet. Er hätte eher gedacht, daß die Fremde ihn verlegen ansehen würde und nur "Angenehm" gesagt hätte. Doch diese forsche Antwort kam total überraschend.

"Mr. Degenhart kam her, um uns zu bitten, nicht mehr so laut zu sein, weil sonst die Polizei kommen müßte", sagte Richard Andrews ruhig.

"Öhm, davon habe ich kein Wort ...", erwiderte Degenhart. Doch das konnte sich ja wirklich jeder ausrechnen, daß irgendwer mal die Polizei rufen würde, wenn jemand andauernd Lärm machte. Wenn es dann auch so delikate Sachen waren, die nicht jeder hinnahm, war das nur logisch.

"Hmm, daran ist was wahres", erwiderte die Frau und wandte sich Degenhart zu. Dabei schwang der übergeworfene Bademantel leicht zur Seite. Degenhart sah darunter nichts anderes als Lorettas wohlgeformten Körper. Sie merkte, daß der Besucher sie kurz entblößt gesehen hatte und schloß den Bademantel schnell aber keineswegs verlegen.

"Wie lange kennen Sie sich?" Fragte Degenhart mit fester Stimme, die Richard unmißverständlich zeigen sollte, daß er es nun sehr ernst meinte.

"Seit Oktober letzten Jahres, Mr. Degenhart", antwortete Richard Andrews.

"Wo wir uns getroffen haben muß er nicht wissen", flüsterte Loretta, aber gerade so laut, daß Degenhart es hörte.

"Stimmt, ich muß das nicht wissen", erwiderte Mark Degenhart laut. "So wie Sie auftreten, Miss, müßte ich an der Integrität von Doktor Andrews zweifeln."

"Ach, Sie meinen wegen des Bademantels?" Fragte die Bekannte des Wohnungsinhabers. Degenhart nickte automatisch, bevor er erkannte, daß diese Frau ihm eine Falle gestellt hatte. Er sollte wohl was bestimmtes denken und war noch so dumm, das auch auszudrücken.

"Also Loretta ist eine ganz anständige Frau, die nicht irgendwelchen in diesem Land sehr anrüchigen Sachen nachgeht, die keiner will und doch viele ausnutzen", preschte Richard wieder vor. "Sie ist Archäologin. Wo wir uns trafen muß Sie nicht interessieren. Falls es Sie beruhigt, Mr. Degenhart, wir werden von nun an leiser sein. Möchten Sie noch etwas?""

"Nur das eine, Doktor Andrews: Kommen Sie morgen sofort zu mir ins Chefzimmer! Ich fürchte, was Sie hier betreiben dürfte sich auf Ihr Arbeitsverhältnis auswirken. Da ich jedoch nicht bereit bin, Sie ohne Klärung aus meinem Dienst zu entlassen, sollten Sie im eigensten Interesse meiner Einbestellung folgen. Ansonsten gibt es hier und jetzt nichts zu sagen. Ach, doch! Versuchen Sie, in dem Bett auch einmal richtig durchzuschlafen. Dafür ist es wohl immer noch geeignet."

Degenhart stand auf und ging ohne weiteres Wort hinaus aus der Wohnung.

Jetzt saß er in seinem Mercedes. Der Chronometer vor ihm tickte die bleischwere Stille tapfer weg. Es war nun Viertel nach zwölf am vierzehnten März.

"Dieses Weib ist nicht normal", dachte Degenhart. "Die hat den unter Kontrolle. Der war kein bißchen verlegen. Sie hat den im Griff. Der hat ja keinen Respekt vor mir gehabt, solange die dabei war. Hoffentlich ist das noch zu beheben, sonst bin ich für's Leben blamiert."

Er startete den Motor und fuhr los. Er wagte es nicht, zu dem Haus hinüberzusehen, wo Richard Andrews wohnte.

"Vielleicht wirkt dieses Musikflittchen auch noch nach, das hier aufgewachsen ist", dachte Degenhart, als er den Wagen durch die Straßen von Bay City lenkte.

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Romina hatte es erreicht, einen Termin bei Schlessinger & Co. zu bekommen, der besten Privatdetektei der Nordstaaten. Desmond Schlessinger, der Chef persönlich, hatte sie empfangen. Romina trug die Mode neureicher Damen und hatte sich mit protzigem Goldschmuck behängt. Diese Aufmachung wirkte auf Schlessinger, der erst die Person komplett beäugte, von den aufwändig frisierten, hellblonden Haaren bis hinunter zu den glänzenden Schuhen. Er sah ihre Hände an, die verschränkt auf der Platte seines Schreibtischs ruhten und erkannte neben drei Ringen alle Anzeichen für eine feine, nicht auf körperliche Arbeit ausgerichtete Herkunft. Als er der Besucherin direkt in die Augen sah, wurde ihm klar, mit einer wichtigen Person zu sprechen.

"Sie sind also Miss Alexandra Glocester? Ich habe von dem Unternehmen Ihres Vaters schon viel gelesen. Er weiß sein Umfeld offenbar gut zu schützen, daß ich Ihr Bild noch nicht gesehen habe", sagte der geschäftsmäßig gekleidete Detekteichef.

"Nun, daß Sie mein Bild in keiner Zeitung gesehen haben sollte Sie nicht wundern. Ich bin die Nichte von Vincent Glocester und lebe weit genug fort von der Heimat meines Onkels", sagte die Besucherin ruhig. "Kommen wir auch gleich auf den Punkt. Ich soll, eben weil niemand mich mit den Glocesterwerken in Beziehung bringt, einen höchst diskreten Auftrag meines Onkels ausführen, zu dessen Durchführung ich Sie benötige."

"Öhm, ich hoffe, Sie erwarten von meinem Unternehmen keine Schmutzige Arbeit", wandte Desmond Schlessinger ein. seine Besucherin beruhigte ihn.

"Es geht lediglich darum, daß Sie ermitteln, ob an einem Verdacht etwas dran ist, den mein Onkel schon seit langer Zeit hegt. Er vermutet, daß jemand aus Detroit eine Gruppe Werksspione gegen ihn rekrutieren will. Um es unauffällig zu gestalten wurde ein hochrangiger Wissenschaftler aus Großbritannien dazu beauftragt. Mein Onkel hat durch eigene Recherchen in Erfahrung bringen können, daß Dr. Richard Andrews aus London zum Schein sein früheres Unternehmen verlassen hat und nun von hier aus Kontakte mit Mitarbeitern der Glocesterwerke sucht. Da es zunächst keine Beweise gibt, und meinem Onkel jeder Skandal höchst unwillkommen ist, bat er mich, eine professionelle Ermittlungsfirma mit der Beobachtung des Briten zu beauftragen. Hier sind alle Unterlagen die Sie brauchen."

Desmond nahm die durchsichtige Plastikhülle mit mehreren Papieren darin und studierte sie sorgfältig. Dann meinte er:

"Nun, wir dürfen nicht einfach drauf los schnüffeln. Die Polizei könnte mir die Lizenz aberkennen, wenn der, den Sie gerne überwachen lassen wollen uns anzeigt. Ich möchte mehr als nur einige Dokumente sehen. Weisen Sie sich bitte aus und verraten Sie mir, warum wir ausgerechnet diesen Mann überprüfen und überwachen sollen."

Die aufgedonnert wirkende Besucherin schnaufte verärgert und holte zögerlich weitere Papiere aus ihrer Krokodilledertasche. Ein Ausweis auf den Namen Alexandra Glocester, der ihr Bild zeigte, war ebenso dabei wie ein persönlicher Brief von Mr. Vincent Glocester. Schlessinger las ihn gründlich durch. Dann meinte er:

"In Ordnung, Miss Glocester. Ihr Onkel gibt Ihnen Carte Blanche, um seine Wünsche zu erfüllen?"

"Oui, Monsieur", erwiderte die Besucherin selbstsicher.

"Nun, so wie das hier steht hätte Ihr Onkel gerne eine Rundumüberwachung auch mit elektronischen Mitteln. Da wir grundsätzlich keine unerlaubten Wohnungsbetretungen begehen, müßten wir Richtmikrofone und Fernkameras einsetzen, Lasermikrofone anbringen und eventuell Peilsender an das Fahrzeug des zu observierenden anbringen. Mal abgesehen von der Mannstärke, die ich dafür freihalten muß, wird das nicht billig."

"Wie gesagt habe ich unbegrenzte Mittel, um die Untersuchung erfolgreich zum Abschluß zu bringen. Erfolgreich heißt auch, daß Sie beweisen, ob er ein Spion ist oder nicht. Allerdings wüßte ich nicht, was Sie daran hindert, das Telefon des Mannes zu überwachen. Immerhin räumt mein Onkel Ihnen dafür zweihunderttausend Dollar mehr ein, die nicht unbedingt über die Geschäftsbücher abgewickelt werden müssen."

"Das dies illegal ist wissen Sie", sagte Schlessinger.

"Was Sie aber offenbar nicht davon abgehalten hat, diese Sonderleistungen bereits zu vollbringen, wenn ich Onkel Vincents Bemerkung zu dem Fall Vermont richtig verstanden habe", sagte die Frau leise. Schlessinger errötete. Von diesem Fall wußten nur sehr wenige, und er hatte dort wirklich haarscharf am Rande des Lizenzverlustes und einer Gefängnisstrafe operiert. Er nickte.

"Nun gut. wir schließen einen offenen und einen unterschwelligen Vertrag. Der offene enthält die Details zur Observation. Der unterschwellige regelt die Sonderleistungen und Bezahlungen", flüsterte Schlessinger. zweihunderttausend Dollar mehr von einem Multimillionenunternehmen waren nicht zu verachten, wenn er diesmal etwas sorgfältiger daran ging. So sagte er zu und holte die entsprechenden Formulare. Diese füllte die Besucherin aus. Um die Unterschrift machte sich der Detektiv keine Sorgen, als die Besucherin die Unterlagen über das Faxgerät im Büro an eine Adresse in Kalifornien schickte und keine zehn Minuten später eine von einer schwungvollen Unterschrift gezeichnete Kopie zurückgefaxt bekam. Schlessinger lächelte und schickte den Entwurf für den zweiten, geheimen Vertrag an dieselbe Faxnummer. Auch hier dauerte es keine zehn Minuten, und die unterschriebene Kopie dieser Unterlagen aus dem Faxapparat kam.

"Die moderne Kommunikationstechnik vereinfacht doch sehr vieles", grinste Romina Hamton und sagte zum ersten und einzigen Mal in diesem Büro die Wahrheit. Dann überließ sie die Unterlagen aus der durchsichtigen Mappe dem Detektiv zusammen mit zwanzigtausend Dollar in Hundertern als Anzahlung. Der Rest sollte über elektronische Geldüberweisungen laufen. Als die Frau den Besprechungsraum verlassen hatte, notierte sich Schlessinger:

"Für Woodley & Partner. Möglicherweise Handhabe gegen die Glocesterwerke falls benötigt." Dann scannte er die von der Besucherin mitgebrachten Unterlagen ein, speicherte sie als Bilddateien auf CD-ROM und verschloss diese in seinem Tresor, bevor er die nötigen Daten an seine Mitarbeiter weitergab und die Papiervorlage der Dokumente von den Verträgen abgesehen im Reißwolf zerschreddern ließ. Hätte er gewußt, daß am anderen Ende der Faxleitung nicht Vincent Glocester sondern Patricia Straton gewartet hatte, die die Unterschrift des Glocesterwerksbesitzers von einem beschafften Dokument in den Computer Rominas eingescannt und als einfügbaren Zusatz für Faxnachrichten gespeichert hatte, wäre er wohl nicht so zufrieden gewesen.

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Die Schlessinger-Detektei arbeitete schnell, diskret und präzise. Meabh O'hara, die im Großraum Detroit tätige Mitarbeiterin, fand schnell die Adresse heraus, wo Mr. Andrews wohnte. Ihr Kollege Williams, der einen schneidigen Porsche fuhr, holte sie am Hauptbahnhof von Detroit ab und fuhr mit ihr nach Bay City. Dort kundschafteten sie zunächst die Gegend aus. Ein Pförtner bewachte den Eingang zwischen morgens fünf bis abends um zehn. Von da an waren die Türen mit zusätzlichen Schlössern gesichert. So warteten die beiden Privatermittler einige Straßenecken weiter, bis die ermittelte Arbeitszeit von Dr. Andrews beendet war. Dann fuhren sie den Porsche außerhalb des Sichtbereichs des Pförtners. Sie bezogen Posten am Vorder- und Hintereingang und testeten ihre Abhörgeräte und Minikameras. Als Williams über Handy meldete, daß der zu überwachende eintraf, wurde er fotografiert. Dann richtete Williams einen Infrarotlaser so aus, daß der nadelfeine, aber wirkungsschwache Strahl genau auf das Wohnzimmerfenster des zu Observierenden zeigte. Er fixierte den Laser auf einem Stativ, schloss einen Licht-Schallwandler mit Verstärker an und stöpselte diesen mit einem neuartigen Digitalrekorder zusammen, der Tonaufzeichnungen für vier volle Stunden auf einen Mikrochip bannen konnte. Dann hieß es warten.

Außer Musik und Küchengeräuschen kam zwei Stunden lang nichts bei den bezahlten Lauschern an. Der durch die schwachen Schwingungen der Fensterscheiben vibrierende Laserstrahl wurde so zurückgeworfen, das der Licht-Schall-Umwandler die damit übertragenen Töne wieder hörbar machte und über den Verstärker auf für Lauschaktionen ausreichende Lautstärke hochregelte.

"So um neun Uhr kam ein Taxi mit einer Frau in silbergrauem Kleid an. Eugene Williams starrte die Frau an, deren lange rote Haare verrucht fließend ihre aufreizende Gestalt umspielten. Meabh schoss mehrere Bilder von der Besucherin und dem Taxi, mit dem sie gekommen war.

"Kriegst du 'ne Internetverbindung hin, Meabh? Ich will dem Chef die Bilder zeigen", sagte Williams. Seine Kollegin nickte und klappte ihren Laptop-Computer auf. Sie steckte die kleine Filmcasette in ein dafür präpariertes Lesegerät, ließ sie kurz durchlaufen und wartete, bis der Rechner die belichteten Bilder in brauchbare Negative und Fotos umgescannt hatte. Die Fremde war irgendwie undeutlich auf dem Bild zu erkennen, als ob die Aufnahme verwackelt wäre. Doch zumindest war zu erkennen, daß sie rote Haare besaß.

"Häh! Kuck dir das an, Eugene!" Flüsterte sie, während das Laserrichtmikrofon den Klang der Türglocke übermittelte.

"Du hast nicht richtig draufgehalten, Meabh", flachste der Detektiv.

"Ich habe die Frau voll erwischt, Eugene, fünf Bilder in Serie", beteuerte Meabh O'hara.

"Na klar, oder glaubst du, die Frau war ein Gespenst. Die kann man ja bekanntlich nicht fotografieren", feixte Eugene Williams. Dann lauschten sie, was von drinnen kam.

"Zumindest hat sie eine Stimme", sagte Meabh, als eine Frauenstimme laut und vernehmlich im Widergabegerät des Richtmikros erklang.

"Wieso habe ich die nicht richtig aufs Bild gekriegt?" Wunderte sich die Detektivin. Sie lauschten dem Liebesgeturtel im Wohnzimmer und hörten, wie die beiden, Dr. Andrews und seine Besucherin zu Abend aßen. Dann irgendwann, so um zehn Uhr, verließ der Pförtner seinen Posten und schloß die Türen so, daß nur die abgestimmten Schlüssel der spätheimkehrenden Bewohner sie aufsperren konnten.

"Ups, jetzt geht's zur Sache, Schätzchen!" Mußte Williams einen derben Kommentar zu dem abgeben, was das Abhörgerät ihnen übertrug. Zu sehen war ja nichts. Kameras würden sie erst morgen anbringen können, wenn der zu beschattende in seiner Firma war.

"Eugene, du weißt genau, daß wir sowas nicht kommentieren sollen", rief Meabh ihren Kollegen zur Ordnung.

Als das Treiben in der belauschten Wohnung um viertel vor Zwölf immer noch nicht zu ende war und die Detektive keine Tonbandwiederholungsschleife heraushörten, weil immer andere Geräusche und Laute aufgefangen wurden, mußte auch Meabh einen Kommentar loswerden.

"Das muß man dem lassen. Er ist wohl noch sehr ausdauernd."

So um zehn vor zwölf kam ein Mercedes mit detroiter Kennzeichen. Die Detektive warteten, wo der einzelne Insasse dieses Wagens hinging und hörten, daß er wohl zum Überwachten wollte. Sie belauschten das Gespräch und fotografierten den Mercedes kurz. Dann warteten sie auf ihrem Horchposten, bis der Fremde wieder gegangen war. Danach ließ sich noch neckisches Treiben von oben belauschen, das bis ein Uhr anhielt.

"Die sind heftig drauf. Der Chef von dem taucht hier auf und wird von beiden voll abgefertigt. Immerhin haben sie sich jetzt anderswo ausgetobt", sagte Eugene Williams. Als sie hörten, das es oben still wurde, bauten sie die mitgebrachte Außenüberwachung in Form unauffälliger Pappkartons so auf, daß sie die kommenden und gehenden aufnehmen konnten, auch bei Nacht.

"Mail die Notizen an die Zentrale!" Verlangte Williams. Meabh tat es mit ihrem Computer, von dem aus sie das Modemkabel an einer Spezialbuchse ihres Handys anschloss und die Notizen auf drahtlos verschickte.

"Wird zeit, daß die Dinger schneller und kleiner werden", sagte Eugene, als nach einer Minute die Internetverbindung beendet werden konnte.

"Mich wundert das immer noch, wieso ich diese Frau nicht scharf aufs Bild gekriegt habe."

"Mach dir keinen Kopf drum! Die nehme ich beim Rauskommen auf Video. Die schläft da oben", sagte Eugene nur. Dann zogen sie sich zurück. Ihre Kollegen kamen am nächsten Morgen, um die Wache zu übernehmen. Doch die unbekannte Frau, die irgendwie nicht richtig fotografiert werden konnte, tauchte erst auf, als Richard Andrews das Haus verließ. Verblüfft starrte Williams' Kollege auf den Kontrollschirm der Videokamera. Andrews hatte er scharf und deutlich aufnehmen können. Die Besucherin war nur schemenhaft zu erkennen, nur eine Hundertstelsekunde deutlich genug zu sehen.

"Ich glaube doch nicht an Geister", sagte der Detektiv und spielte mit dem Gedanken, die Fremde anzusprechen. Doch sie verschwand mit Andrews in ein Taxi und fuhr davon.

"Was sagen wir der Zentrale?" Fragte der Detektiv, der die Videoaufnahme von der umwerfend schönen Frau mit den roten Haaren machen wollte.

"Wir schicken dem einen kurzen Bericht und merken an, daß wir von dieser Frau keine direkte Aufnahme gekriegt haben, weil sie sich zu gut im Hintergrund gehalten hat", sagte sein Kollege.

Sie verschickten den aktuellen Lagebericht und folgten dem Taxi. Die Frau mit den roten Haaren stieg auf Höhe eines Supermarktes in der Nähe des Bahnhofes aus, während Andrews zum Bahnhof selbst weiterfuhr, wo er seinen Zug nahm, um nach Detroit zu fahren.

"Meabh ist wohl jetzt im Bett. Sonst würde ich vorschlagen, das eine Kollegin die da verfolgt, egal wo die ... Hups, die ist weg", meldete einer der beiden Detektive per Mobiltelefon, der die Rothaarige Frau, die angeblich Archäologin war, verfolgt hatte. Sein Partner überlegte rasch. Konnte an den Spionageverdächtigungen doch mehr dran sein? War diese Frau eine Agentin, Typ Mata Hari? Oder was hatte sie. Er fragte sich auch, wieso man sie nicht fotografieren oder filmen konnte. Mochte es angehen, daß sie tatsächlich unaufnehmbar war. Dann hätten sie die Stimme von ihr nicht auf Tonchip ziehen können. Also konnte es ja nur an der Kamera liegen. Doch dann hätte ja auch die Straße nicht klar auf dem Bild oder dem Film zu sehen sein dürfen, oder Andrews, als er neben der Frau ging. Er wollte gerade einen telefonischen Bericht an seinen Chef schicken, als hinter ihm im Wagen ein weißer Dunstschleier aus dem Nichts auftauchte, der sich innerhalb eines Lidschlages zu einer festen Form verdichtete. Der Detektiv erschrak und erstaunte zugleich. Hinter ihm auf dem Rücksitz hockte die geheimnisvolle Rothaarige. Das war kein handelsüblicher Zaubertrick. Das war schwarze Magie oder außerirdische Gewalt!

"Für wen arbeitest du?" Fragte die Fremde mit ihrer anregend tiefen Stimme. Der Detektiv griff nach dem Telefon. Doch die Frau aus dem Nichts schnappte es mit einer raubtierschnellen Bewegung fort und steckte es hinter sich zwischen die Sitzpolster. Als der Privatermittler an ihr vorbeilangen wollte, umfing sie ihn mit einem Arm wie eine Fangheuschrecke. Der sonst so abgebrühte Detektiv wußte, daß er wohl die letzten Minuten seines Lebens vor sich hatte.

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"Sie haben sie gesehen und nicht auf ihre Bildaufnahmegeräte bekommen können, höchste Schwester", meldete Romina Hamton Anthelia kurz vor sieben Uhr morgens. Anthelia fragte sie, woher sie die Nachricht hatte. Romina lächelte.

"Du weißt doch, daß ich eine Anwahlnummer für mein Telefaxgerät an diese Firma weitergegeben habe. Die haben mir sehr eindrucksvolle Berichte zugeschickt. Darin hieß es auch, daß sie eine rothaarige Frau beobachtet hätten, die sie jedoch nicht mit einer Kamera aufnehmen, aber über ein mit sehr scharf gebündeltem Lichtstrahl arbeitendes Schallaufnahmegerät belauschen konnten. Nun haben wir es sprichwörtlich amtlich, daß die Abgrundstochter sich an Richard Andrews herangemacht hat."

"Tatsächlich. Nun, Vermutungen bleiben Vermutungen, während eindeutige Beweise handfeste Belege sind", sagte Anthelia. Natürlich wußte sie, daß man auch Dokumente oder Aufzeichnungen fälschen konnte. Sie selbst hatten ja am Tag zuvor nichts geringeres als sowas getan. Doch zu wissen, daß diese Kreatur wirklich hinter Richard Andrews her war, nein, ihn schon längst in ihrem Bann hielt, willenlos, ständig bereit, ihr durch körperliche Nähe von seiner Lebensenergie zu geben, bestärkte Anthelia in dem Wunsch, das Geschöpf eigenhändig zu erledigen.

"Schwester Romina. Wir müssen davon ausgehen, daß dieses Wesen deine Späher enttarnt und ausforscht, wem sie verdingt waren. Hast du deine Apparaturen in Sicherheit gebracht?"

"Natürlich habe ich das Faxgerät als einziges da gelassen, wo mein Unterschlupf war, höchste Schwester. Mir wäre es aber lieb, wenn wir dieser Kreatur, falls sie meine kleine Computerbasis finden sollte, eine bombige Überraschung bieten."

"Wie meinst du das? Ah, du möchtest eine Schießpulverladung oder vergleichbares dort verbergen, falls unsere Gegnerin angreifen will", gab Anthelia Lächelnd zurück. Sie verschwand kurz aus dem Weinkeller der Daggers-Villa, wo sich die beiden Hexen unterhalten hatten und kehrte eine halbe Minute später zurück.

"Erumpenthornflüssigkeit. Sie ist in einem Ruhebehälter. Stelle diesen auf, entferne vorsichtig den Deckel und tunke das Ende eines Seiles oder Drahtes dort ein, das die Flüssigkeit in Aufruhr bringt, wenn es bewegt wird! Ich fürchte jedoch, daß wir diese Kreatur damit nicht erledigen können. Sie steckt voller fremder Lebenskraft und vermag unverletzt durch mehrere Dutzend Todesarten zu bleiben. Sichere jedoch noch allles, was aus der Maschine herauskommt, bevor du dich zurückziehst!"

Romina nahm den bauchigen Behälter mit der Erumpenthornflüssigkeit, dem in der Zaubererwelt gefährlichsten Natursprengstoff. Sicher gab es noch heftigere Zerstörungswaffen wie das Drachengallengas oder das Höllenbrandgebräu. Doch die Flüssigkeit aus dem Horn eines Erumpenten konnte ganze Gebäude zertrümmern, wenn sie mit leichter Erschütterung dagegenprallte. Anthelia wollte also auf Nummer Sicher gehen.

Romina verbarg die Flüssigkeitsladung unter ihrem Schreibtisch, zog noch vier Seiten aus dem Faxgerät. Den Computer hatte sie bereits zum Haus ihrer Cousine nach San Francisco geschafft. Sie öffnete den Behälter, steckte vorsichtig das Ende einer langen Schnur hinein, die sie mit der Tür verbunden hatte und disapparierte mehrere Meter vom Auslöser entfernt.

"So, außer uns weiß niemand, wo das Faxgerät steht. Könnte also nur diese Kreatur herausbekommen, falls sie es wagt, uns nachzuforschen. Doch dabei dürfte sie schwerlich um die Zaubereiüberwachung herumkommen."

"Sie kann kommen und gehen wann sie will und weniger Spuren zurücklassen als ein böser Traum", bemerkte Anthelia. "Meine Tante hat gegen ein solches Geschöpf Jahre lang gekämpft, bis sie es endlich in die Enge getrieben hat. Doch töten konnte auch sie dieses Ungeheuer nicht. Das lag daran, daß sie nicht ihren Lebensquell finden konnte, dessen Vernichtung allein diesem Wesen der Garaus machen kann."

"Ich verstehe", sagte Romina.

"Es ging mir bei der Explosionsvorrichtung nicht darum, die Kreatur als solche zu töten, sondern alle Spuren zu tilgen, die irgendwie auf uns zurückweisen könnten. Wir warten nun eine volle Woche ab, was passiert. Dieses Fernrufgerät kannst du ja auch an jedem Ort dieses Erdteils benutzen?"

"Um die von Schlessingers Detektei anzurufen, höchste Schwester? Ja, kann ich", bestätigte Romina Hamton, die nun, wo sie aus der unmittelbaren Gefahr heraus war, etwas freier atmen konnte.

"Gut, daß diese Unfähigen nicht wissen, daß du eine Hexe bist, Schwester Romina. Gut, daß wir keinen Gedächtniszauber haben anwenden müssen. So wird dieses Geschöpf unsere Fährte rasch verlieren, wenn es sich nicht unbestreitbar gefährlich mit der Zaubererwelt anlegen will. Diese Wesen hegen jedoch kein Interesse an öffentlicher Bekanntheit. Jahrhunderte lang galten sie als Legende. Ja, selbst heute halten viele Hexen und Zauberer sie für nicht mehr existent oder denken nur daran, daß sie irgendwo schlafen. Sie wird sich rasch zurückziehen und wohl ihren Abhängigen hegen. Mir geht es darum, diesen Mann zu überwachen. Sollten die Späher, die du angeworben hast, die nächste Woche überleben, besteht die Möglichkeit, diesen Mann weiterzubeobachten, ohne daß wir selbst dies tun müssen", sagte Anthelia. Die Möglichkeit, daß die ausführenden Detektive in höchster Lebensgefahr schwebten, falls sie der Tochter des dunklen Feuers lästig wurden, schien sie nicht sonderlich zu bedrücken. Offensichtlich, dachte Romina, fühlte sich Anthelia schon als Feldherrin in einem Krieg, der viele unschuldige Opfer verlangte, um gewonnen zu werden.

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"Ich werde dir nichts tun, Kurzlebiger. Doch wissen möchte ich schon, wer dich mir und meinem Geliebten nachgeschickt hat", sagte die Unheimliche, die ihren Gefangenen mit stahlhartem Griff umklammert hielt.

"Ich bin Privatermittler", keuchte der Schlessinger-Detektiv. "Wir wollten nichts von Ihnen, nur von diesem Andrews. Er soll für jemanden geheime Sachen auskundschaften. Wir sollten nur prüfen, ob da was dran ist."

"Soso, jemand verdächtigt meinen Geliebten, geheime Unterlagen zu stehlen oder zu kopieren. Wer ist das?"

"Weiß ich nicht", sagte der gefangene Detektiv. Die Höllenfrau ließ ihn los.

"Ich habe erkannt, daß du nicht lügst. Nun, ich finde es nicht in Ordnung, daß du und deine Leute mich und meinen Gefährten beim nächtlichen Treiben belauscht. Du wirst also deinem Vorgesetzten berichten, daß ihr keine Handhabe mehr hättet, uns auszuspionieren. Ich weiß wo du wohnst, Theobald Stone", sagte sie noch und verschwand übergangslos wie ein Traumbild beim Aufwachen. Der Schlessinger-Detektiv hockte da, halb zwischen Vordersitzen und Rückbank eingeklemmt. Was sollte er nun tun. Dieses Wesen, eine Hexe, ein Geist oder gar eine weibliche Form des Teufels, hatte ihn mit wenigen eindrucksvollen Dingen gezeigt, wie überlegen es ihm war. Sie wußte, wo er wohnte. Offenbar konnte sie seine Gedanken lesen. Dann wußte sie auch, wo die Zentrale war. Wenn sie in Sekundenbruchteilen auftauchen oder verschwinden konnte konnte sie niemand zurückhalten. Dieses Wesen war brandgefährlich. Jetzt war er sich sicher, es mit einem überirdischen Geschöpf zu tun zu haben. Denn es war eine wirkliche Gestalt gewesen, kein dreidimensionales Trugbild. Der Klammergriff, mit dem sie ihn in einer halben Umarmung festgehalten hatte, war eindeutig echt gewesen. Er hatte dieser Urgewalt nichts entgegensetzen können. Aber was sollte er jetzt machen?

Das Handy klingelte. Er holte es zwischen den Polstern der Rückbank hervor und nahm das Gespräch an. Er erfuhr, daß Andrews im Zug saß und auf dem Weg nach Detroit war.

"Ja, ist gut", sagte Theobald Stone nur und legte auf. Hier hatte er jetzt nichts mehr zu tun. Falls diese Kreatur aus der Hölle oder von einem anderen Planeten nicht bei seinem Chef auftauchte, wollte er darüber nichts verraten, daß sie ihn hier aufgesucht hatte.

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Mark Degenhart hatte nach der Begegnung mit Richard Andrews' heißblütiger Bekannten kein Auge mehr zutun können. Er war direkt in sein Büro gefahren und hatte einen alten Studienkameraden in Kalifornien angerufen, der dort im internationalen Wissenschaftleraustauschprogramm arbeitete. Da es in Berkeley drei Stunden früher war als in Detroit störte er den Kameraden nicht sonderlich.

"Mir ist heute jemand vorgestellt worden, von der ich gerne was wissen möchte, Lionel", sagte Mark Degenhart nach der höflichen Begrüßung.

"Schieß los!" Forderte Lionel Backster seinen detroiter Kameraden auf.

"Was habt ihr über eine Archäologin namens Loretta Irene Hamilton?"

"Moment, der allwissende Rechner muß damit erst gefüttert werden", sagte Backster. "Wie hieß die Dame?"

"Hamilton, Loretta Irene", gab Degenhart den Namen noch einmal durch. Er hörte im Hintergrund das Klackern schnell auf einer Computertastatur tippender Finger. Dann sagte Backster:

"Nöh, die gibt's nicht. Wo soll die herkommen?"

"Dem Akzent nach aus England", sagte Degenhart. Wieder klackerte es am anderen Ende der Leitung.

"Nop, Mark. So'ne Dame ist im internationalen Wissenschaftlerverzeichnis nicht drin. Wenn die jetzt gerade hier in den Staaten ist, müßte die sofort aufgelistet werden, falls sie nicht Urlaub macht."

"Wenn ich das richtig mitbekommen habe hält sie sich schon länger hier auf, Lionel."

"Ich kann es nur wiederholen, eine Archäologin mit dem Namen Loretta Irene Hamilton ist hier nicht verzeichnet. Ich habe hier zehn Lorettas und dreihundert Irenes, und vierzigmal taucht der Nachname Hamilton auf. Aber in der von dir angeforderten Kombination ist nichts dabei."

"Soll ich jetzt beruhigt sein, weil ich das erwartet habe? Oder soll ich mich nun beunruhigt fühlen, weil mir jemand da einen Riesenbären aufgebunden hat?" Fragte sich Mark Degenhart wortlos. Laut sagte er dann noch:

"Danke, Lionel. Dann hat sich da wer einen Scherz erlaubt oder wollte einfach sicherstellen, daß ich beruhigt nach Hause fahren konnte."

"Nichts für ungut, Mark. Hoffentlich war der Scherz nicht zu heftig", sagte Lionel Backster.

"Das hoffe ich für die Person, die diesen Scherz veranstaltet hat", sagte Degenhart rasch und verabschiedete sich von seinem Freund aus Studententagen. Als er den Hörer aufgelegt hatte, lehnte er sich zurück und atmete mehrmals ein und aus. Also hatte Richard Andrews ihn belogen. Besser, diese Frau hatte einen falschen Namen angegeben. Das paßte ihm absolut nicht. Konnte es sein, daß die beiden mit ihren Bettgeschichten nur etwas vortäuschten, um etwas anderes zu vertuschen? Er würde am Morgen mit Andrews sprechen und das rauszufinden versuchen.

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Richard Andrews war müde wie jeden Morgen nach einer wilden Nacht mit Loretta in die Bahn gestiegen. Irgendwie fühlte er sich stärker beobachtet als jemals zuvor. Was ging da mit ihm vor? Seit Wochen und Monaten wußte er nicht mehr genau, was in ihm vorging. Manche Dinge, die er früher locker weggesteckt hatte, regten ihn heute auf. Bei manchen Sachen, wo er eine unbändige Durchsetzungskraft bewiesen hatte, fehlte ihm heute der Wille zum handeln. Auch konnte er die Gerüchte und Vermutungen nicht ignorieren. Kollegen hielten ihn für krank, überarbeitet oder gar für einen Drogensüchtigen. Sicher, beweisen konnten sie das nicht, weil er wohlweißlich niemandem was aus seinem Privatleben erzählte. Doch gerade sowas schürte jede haarsträubende Vermutung und Unterstellung.

Doch wenn er morgens in den Spiegel sah, wußte er selbst nicht, was er von sich halten sollte. Irgendwie sah es so aus, als würde er nachts, wenn er mit Loretta in allernächster Zweisamkeit verbunden war, halb sterben und brauchte dann einen vollen Tag, um sich wieder zu erholen. Doch weil er ja arbeiten mußte, konnte er sich nie richtig erholen. Warum hielt er sich dann nicht zurück bei Loretta? Ja, versucht hatte er es immer wieder, nicht auf ihre Wünsche einzugehen, wenn das hieß, wieder alle Ausdauer und Kraft zu verbrauchen. Doch er konnte sich nicht davon lösen. Er mußte es tun, wenn sie das wollte. Sie selbst war danach nicht so abgekämpft wie er. Ihr schien die leidenschaftliche Liebe neue Kraft zu geben. Doch jedesmal, wenn er diesen Gedanken faßte, verdrängte ihn etwas wichtigeres, was mit seiner Arbeit zu tun hatte. Dennoch wußte Richard, er war nicht mehr der Mann, der im August noch entschlossen war, lieber seine Frau in die geschlossene Anstalt zu schicken als zuzugeben, daß er nicht mehr alles vorherbestimmen konnte. Loretta war in sein Leben getreten und hatte es ihm aus der Hand genommen. Er wußte das mit übergroßer Deutlichkeit. Wie er in der Nacht, als sein Chef sie beide aus der körperlichen Ekstase geklingelt hatte, mit diesem geredet hatte, wäre ihm früher nie in den Sinn gekommen. In Eton hatte er gelernt, Vorgesetzten immer zu gehorchen, Ihnen allen Respekt zu zollen, den sie von ihm verlangten. Sicher hatte er als Schuljunge nicht so oft diese Vorgaben eingehalten. Doch der Drill von Eton hatte doch gewirkt, und als verantwortungsvoller Wissenschaftler und Familienvater hatte diese Erziehung ihn doch noch voll in den Griff bekommen. Doch jetzt war das alles von ihm abgefallen. Er war nicht mehr der Mann, der durch große Verantwortung und Respekt aufgefallen war. Wie konnte das passieren? Dann kam ihm ein merkwürdiger Gedanke. Mochte es sein, daß die Leute, die seinen Sohn zu einem der ihren erklärt hatten ihm diese Frau auf den Hals gehetzt hatten, um ihn zu kontrollieren? War Loretta vielleicht eine Hexe, die ihn mit einem Fluch belegt hatte, der ihn auszehrte, ihn dabei aber immer fester an sie band? Doch nein! Diese Priestley, die seinen Sohn entführt hatte, weil er ihn nicht diese unnatürlichen Sachen lernen lassen wollte, hatte ja eindeutig betont, daß er in Ruhe gelassen würde. Doch er wußte zuviel. Er trug das Geheimnis um seinen Sohn und die Welt, die ihn sich geholt hatte mit sich. Doch nein! Sie mußten ihn nicht deswegen jagen und irgendwie verfluchen. Denn sie konnten was viel schlimmeres, nämlich das Gedächtnis anderer Menschen manipulieren, daß sie nicht mehr wußten, daß sie mit dieser Welt der Magie in Berührung gekommen waren. Also war das Unsinn.

"Die Fahrausweise bitte!" Rief ein uniformierter Mitarbeiter der Nordwest-Eisenbahngesellschaft. Richard holte seine neue Monatskarte hervor, die er kurz nach der Rückkehr von Gereth Degenhart bekommen hatte. Er zeigte sie dem Schaffner, der ihn ansah wie einen Geist. Dann ging er weiter.

"Seltsam, wie der mich angeglotzt hat", dachte Richard. Dann fiel ihm ein Mann im unauffälligen Straßenanzug auf, der fünf Reihen hinter ihm saß. Ein merkwürdiger Gedanke kam in ihm auf, daß dieser Mann ihn beschattete. Wieso sollte ihn jemand beschatten? Hatte Degenhart ihm vielleicht wen auf den Hals geschickt, weil er ihn gestern so respektlos behandelt hatte? Der Mann in unauffälliger Kleidung wirkte gelassen und schien sich nicht für seine Mitreisenden zu interessieren. Richard wandte seinen Blick wieder ab und sah sein undeutliches Spiegelbild in der Fensterscheibe. Da glaubte er auch, einen Geist zu sehen, bleich und durchscheinend mit tief in den Höhlen liegenden Augen.

Als Richard Andrews das Bürogebäude der Degenhart-Autodesign-Kompanie betrat, legte sich eine angespannte Stimmung auf ihn. Irgendwie wurde es stiller als üblich, als er nach oben fuhr, um das Büro seines Chefs aufzusuchen.

Degenhart saß mit seinen beiden Söhnen, sowie Nina Zager und dem Personalchef Mathews im Büro. Richard sah die drei Kollegen und zwei Chefs genau an. Stand er jetzt vor einem firmeninternen Gericht?

"Kommen Sie herein, Doktor Andrews!" Befahl Mr. Mark Degenhart sehr entschlossen. Dr. Andrews gehorchte und schloss die Tür hinter sich. Ein freier Stuhl vor der Gruppe der fünf Firmenangehörigen wartete auf den Einbestellten. Er ging locker darauf zu, grüßte mit einer einfachen Handbewegung die Degenharts und nahm Platz.

"Doktor Andrews, wie ich Ihnen gestern sagte, möchte ich gerne mit Ihnen über das sprechen, was ich bei Ihnen angetroffen habe", begann Mark Degenhart. Seine zwei Söhne blickten abwechselnd ihn und den Kunststoffexperten Andrews an. Gereth runzelte die Stirn, während Roger sichtlich betreten dreinschaute. Richard fiel auf, daß sie alle seinen direkten Blick mieden. Nur der oberste Chef, das sogenannte Alphamännchen der Firma, blickte ihm fest in die Augen. "Ich sehe diese Unterredung als sehr wichtig an. Daher habe ich, mit Ihrem Einverständnis, meine wichtigsten Mitarbeiter als Zeugen der Unterredung herbestellt. Ich habe hier noch niemandem erzählt, was ich gestern abend bei Ihnen erlebte. Ich finde, Sie sollten dabei sein, wenn ich es nun darlege", setzte der Chef sehr ernst klingend fort und berichtete, was er am Vortag in der Wohnung von Richard Andrews angetroffen hatte. Dieser wirkte von diesen Schilderungen völlig unberührt. Er saß da, wartete seelenruhig und schien überhaupt kein Unbehagen zu spüren, auch wenn er hier massiv als heftiger Lüstling dargestellt wurde. Als er dann gefragt wurde, ob er was dazu sagen wolle, blickte er alle an. Nina Zager wirkte verdutzt, ja merkwürdig irritiert. Gereth sah ihn beeindruckt an, Roger wirkte kühl wie ein Eisblock. Mr. Mathews runzelte die Stirn und der oberste Chef machte eine gebieterische Miene wie ein Herrscher, der einen Untertan maßregelt. Ruhig sagte Richard:

"Ich habe, als ich in dieses achso große und freie Land kam, daran gedacht, daß die privaten Dinge eines Menschen, sofern er nicht in Politik, Unterhaltungsbranche oder Sport engagiert ist, keinen etwas angingen. Gut, ich möchte einräumen, daß wir, meine Freundin und ich, oft sehr stürmisch miteinander sind und das wohl wer mithören mußte. Aber was hat das jetzt mit meiner Arbeit hier zu tun? Wieso halten Sie hier jetzt diese Art Gericht ab, Mr. Degenhart? Könnte es sein, daß mir nun, wo Sie vielleicht denken, ich sei die Anwerbungsmühen nicht wert gewesen, einen Grund vorhalten wollen, mir zu kündigen und keinen anderen Grund finden als über mein Privatleben herzuziehen? Jeder Angeklagte vor Gericht kann die Aussage verweigern. Sie sind kein Richter, und was sie hier vorgebracht haben ist Privatsache. Meine Arbeit hat darunter nicht gelitten. Oder können Sie mir echte Beweise bringen?"

"Es geht darum", knurrte Mark Degenhart, "daß Sie Ihre Leistungsfähigkeit bewußt gefährden und Ihrem privaten Vergnügen offenbar zu viel Energie opfern. Dann geht es mich schon was an. Vor allem frage ich mich und damit auch Sie, ob Sie in irgendeiner Weise von dieser Dame, die sich Loretta Hamilton nennt, abhängig sind. Offenkundig ist sie sehr unersättlich, und Sie gehen darauf ein. Oder wie darf ich das verstehen, daß der Hausverwalter berichtete, die ersten Beschwerden wegen Ruhestörung seien schon um zehn Uhr eingegangen und ich sie beide quasi bei der Ausübung Ihrer körperlichen Umtriebe gestört habe?"

"Wer kann der hat, Mr. Degenhart", entgegnete Richard Andrews schnippisch. Dem Chef der Autodesign-Kompanie blieb das Gesicht stehen. Seine Söhne schlugen die Hände vor die Gesichter, jedoch nicht vor Entrüstung, sondern um das aufkommende Grinsen zu verstecken. Nina Zager sah Richard beeindruckt an, schlug jedoch sofort die Augen nieder, als ihr oberster Chef in die Runde blickte.

"Das ist keine Antwort, Doktor Andrews. Ich will von Ihnen wissen, warum Sie Ihre Leistungsfähigkeit derartig aufs Spiel setzen, obwohl Sie von mir ein fürstliches Gehalt bekommen!" Rief Mark Degenhart.

"Entschuldigung, Sir. Das Gehalt bekomme ich, weil Sie mehr bezahlen mußten, um mich überhaupt anzustellen. Damit haben Sie mich aber nicht gekauft", erwiderte Richard nun leicht gereizt.

"Nein, aber ich kann dafür verlangen, daß Sie nicht in diesem halbtoten Zustand hier erscheinen und arbeiten. Immerhin haben Sie sich ja auch verpflichtet, repräsentative Aufgaben zu erfüllen. Soll ich mir von möglichen oder langjährigen Kunden anhören, ich würde meine Mitarbeiter überfordern oder zu Grunde richten? Haben Sie da schon einmal dran gedacht, wie Sie morgens aussehen, wenn Sie hier hereinkommen?"

"Ich brauch da nicht dran zu denken. Ich sehe mich jeden Morgen beim Rasieren im Spiegel, Sir", erwiderte Richard. Merkwürdige Lässigkeit, ja die Aufsässigkeit eines Teenagers schien ihn ergriffen zu haben. Er saß aufrecht und trotzig dreinschauend auf dem Stuhl.

"Noch mal die Frage: Sind sie von dieser sogenannten Archäologin sexuell oder anderweitig abhängig? Falls Sie es nicht genau wissen, antworten Sie bitte mit "Das weiß ich nicht."

"Ich vergaß, ich bin im Land der Puritaner", erwiderte Richard, den strengen Blick seines Chefs total ignorierend. "Nein, ich weiß es nicht, ob man das abhängig nennen kann, Sir. Wissen Sie, ob Sie von irgendwem oder irgendwas abhängig sind?"

"Ich bin mal so gnädig und werte das als "Ich weiß es nicht", Doktor Andrews", sagte Mark Degenhart. Dann spielte er sein Trumpf Ass aus.

"Wissen Sie, daß diese Frau Sie und damit auch mich die ganze Zeit belügt. Sie ist keine Archäologin. Im Verzeichnis aller aprobierten Wissenschaftler und Kandidaten für wissenschaftliche Grade ist keine Loretta Irene Hamilton erwähnt. Ich nahm mir die Freiheit, dies nachzuprüfen."

Alle sahen Richard Andrews erschüttert an. Dann legte Mark Degenhart nach:

"Sie sagten, sie hätten diese Frau im Oktober in New York kennengelernt. Ich unterhalte gute Beziehungen zu Leuten bei den Einreiseregistraturen. Keine Frau dieses Namens oder der Beschreibung ist in diesem Zeitraum in die vereinigten Staaten eingereist! So, und jetzt kommen Sie, Doktor Andrews, falls dies überhaupt Ihr richtiger Name ist!"

"Jetzt hört es auf", empörte sich Andrews. "Sie bezichtigen mich hier der hemmungslosen, ja arbeitskraft schädlichen Sexsucht, ja wie auch immer laufenden Abhängigkeit von einer sehr kultivierten Frau, die tagsüber auch andere Dinge tun kann als mich für ihre achso schmutzigen Gelüste zu verheizen. Dann werfen Sie mir irgendeine Behauptung hin, sie sei weder die, die sie ist noch irgendwie legal in die achso tollen Staaten eingereist. Na klar. Sie ist über den Atlantik geschwommen, wie? Oder glauben Sie an ...? Ne bestimmt nicht." Richard Erschrak. Er mußte daran denken, daß es wirklich ging, daß Menschen einfach von einem Ort verschwanden und anderswo wieder auftauchten, ohne einen Schritt zu tun. Das wäre die einzige Möglichkeit, wie jemand an allen Grenzkontrollen vorbeischlüpfen konnte, kam und ging wie er, besser sie, das wollte.

"Woran soll ich glauben, Andrews?" Fragte Mark Degenhart. "Oder wollen Sie mir jetzt unterstellen, ich glaubte an dieses Ortsversetzungszeug aus den Weltraummärchen oder gar an Zauberei?"

"Sie haben es doch gehört, daß ich Ihnen das nicht unterstelle", sagte Richard ruhig. "Aber was mich angeht, so weiß ich seit ich zwei Jahre alt bin, daß ich Richard Andrews bin. Seit dreizehn Jahren habe ich den Doktor der Naturwissenschaften inne. Ihre guten Freunde sollten mich in dem von Ihnen als Supertrumpf hingeworfenen Verzeichnis an allen Ecken und Kanten finden, mit meiner Doktorarbeit, meinem Werdegang und meinen Veröffentlichungen. Also spulen Sie sich nicht so auf. Denn wenn Sie mich hier bezichtigen, Ihnen was vorgemacht zu haben, dann stimmt das auch nicht, daß es keine Archäologin Loretta Hamilton gibt. Alles eine Frage der Logik."

"Mit der Sie wohl im Moment überhaupt nichts am Hut haben, Mister", schnaubte Degenhart. Seine ganze Autorität, seine strenge Miene, seine laute Stimme, seine straffe Körperhaltung, wirkten nicht auf diesen Mann, der wie ein halbtoter Mensch aussah und plötzlich so heftig aufbegehrte, ohne selbst dabei laut zu werden. Ja, Andrews grinste ihn nun an, weil er ihn offenbar ausgetrickst hatte. Natürlich war das ein Fehler gewesen, ihm auch noch falsche Angaben über sich zu unterstellen. Und es kam noch schlimmer.

"Ich bin hier in diese Firma gekommen", fuhr Richard ruhig sprechend fort, "weil meine Qualitäten als Chemiker gefragt waren und nicht, weil hier jeder in das Privatleben des Anderen hineinfuhrwerken kann, auch wenn es der oberste Chef ist. Geht mich etwa an, wie Sie ihre Abende verbringen, Sir? Habe ich je einen Ihrer Juniorchefs gefragt, ob sie noch Junggesellen oder Familienväter sind? Nein, das habe ich nicht, weil es mich hier auch nicht betrifft. Genauso betrifft Sie mein Privatleben nicht. Oder möchten Sie etwa, daß jeder hier weiß, daß sie seit zwei Jahren von ihrer Frau getrennt sind und zur Befriedigung ihrer geschlechtlichen Bedürfnisse nach Las Vegas fliegen, weil dort die Prostitution erlaubt ist? Geschäftsreisen nennen Sie das. Aber mir haben Leute auf der Reise, die Sie mir aufgetragen haben Fragen gestellt, ob an den Gerüchten was dran sei, daß Ihre Firma wegen erwiesener Verschwendungssucht des Chefs vor die Hunde geht. Ich muß Ihnen gestehen, da habe ich mich heftig erschreckt. immerhin habe ich ja alle Brücken nach England abgebrochen und möchte nicht schon in diesem Jahr arbeitslos werden. Ja, und damit Sie nicht wieder davon anfangen, Sir, ich bin mir bewußt, wie heftig ich es mit meiner Körperkraft treiben darf. Aber das berechtigt gerade Sie nicht, mir hier Vorhaltungen zu machen und mich hier quasi anzuklagen. Ich bin noch in der Probezeit. Wenn Sie eine Handhabe haben, die meine Kündigung erzwingt, machen Sie nicht so einen Aufstand! Aber dann gehe ich vor ein ordentliches Gericht und werde dort die Begründungen für die Kündigung fordern. Dabei wird dann auch herauskommen, was Sie mit Ihrem Kollegen in Barstow unter den Büchern durch für Gelder einkassieren: Stichwort Madre des Dolores, Mexiko."

"Wo-woher wissen Sie das? Was wissen Sie?" Fragte Mark Degenhart erschrocken. Er war nun genauso bleich wie Richard Andrews, nur wesentlich betretener. Seine Söhne starrten auf den Neuling, Nina Zager lief verlegen rot an. Offenbar wollte sie das nicht mithören, wenn hier Firmeninterna ausgeplaudert wurden. Mathews schüttelte den Kopf.

"Wie gesagt, ich weiß es aus Barstow. Sie halten mich für einen Süchtigen? Immerhin trinke ich kein Glas Alkohol, im Gegensatz zu Ihrem netten Geschäftspartner, der an einem Abend sieben Tequilas getrunken hat. Wenn Leute nichts vertragen, sollen sie es besser lassen, bevor sie was sagen, was sie nachher bereuen. Offenbar habe ich einen besseren Eindruck hinterlassen als Sie beabsichtigt haben, Sir. Also, was ist nun?"

"Mr. Andrews", sagte Mark Degenhart. "Ich habe sehr gute Anwälte. Keiner würde vor einem Gericht haltlose Anschuldigungen akzeptieren, die er von jemandem im Alkoholrausch erzählt bekommen hat. Aber ich merke, daß Sie offenbar den Sinn für Ihre Umgebung verloren haben. Da dies sich auf ihre Arbeit hier auswirkt, aber aus Ihrem Privatleben herüberkommt, darf ich als Chef eine Anweisung geben, die Sie dazu anhält, Ihr Privatleben zu überdenken. Halten Sie sich von dieser Frau fern! Ich weigere mich, jemanden zu beschäftigen, der mit einer sexbesessenen Betrügerin verkehrt und sich dabei körperlich und moralisch zu Grunde richten läßt. Falls Sie nicht von dieser Person lassen können, empfehle ich Ihnen allerdringenst, ärztliche Hilfe zu suchen! Das ist eine verbindliche Anweisung, Herr Doktor Andrews!"

"Ach, jetzt möchten Sie mich für krank und unzurechnungsfähig erklären lassen, wie? Ich kann mir heute überlegen, ob ich mich heute abend wieder mit Ms. Hamilton treffen will oder nicht. Aber ich lasse mich nicht wie einen Idioten behandeln. Ich weiß, wie einfach es geht, jemanden, der einem nicht paßt für verrückt erklären zu lassen, Sir. Ich werde also keinen Arzt aufsuchen, weil ich nicht krank bin."

"Ich gebe Ihnen diesen Tag frei, um ihre Meinung zu überdenken. Bevor ich nicht ein eindeutiges Atest auf Mr. Mathews' Schreibtisch liegen sehe, daß Sie körperlich und geistig arbeitsfähig sind, verbiete ich Ihnen jede weitere Arbeit hier. Betrachten Sie sich also auf unbestimmte Zeit für beurlaubt!"

"Den Sie mir jedoch bezahlen werden, wenn Sie keine Handhabe haben, mich endgültig aus Ihrer Firma auszuschließen", sagte Richard Andrews trotzig.

"Mit der Hälfte des vereinbarten Gehaltes", schränkte Degenhart Senior ein. Richard nahm diese Einschränkung lächelnd hin. Verhungern würde er deswegen nicht. Doch Degenhart war noch nicht fertig. "Da Sie wissen, daß ich der Mieter der Wohnung bin, die Sie derzeit bewohnen, solange Sie Angestellter dieser Firma sind, habe ich ein gewisses Hausrecht. Deshalb verbiete ich dieser sogenannten Archäologin, die nicht so kultiviert ist wie Sie uns hier verkaufen wollten, diese Wohnung zu betreten oder zu benutzen. Ich weiß, ich hätte Ihnen diese Einschränkung, Damenbesuche zu beherbergen, schon bei der Einstellung auferlegen sollen. Aber es ist nicht zu spät dafür. Ich habe diese Entscheidung dem Pförtner bereits mitgeteilt. Außerdem werde ich klären, wo sie derzeit wohnt. Oder hält sie sich vielleicht in der Wohnung auf?"

"Das ist doch Ihre Wohnung. Finden Sie's raus!" Schnaubte Richard, der nun doch sichtlich wütender wurde. Gereth Degenhart blickte seinen Vater an. Dieser nickte ihm zu. Dann sagte er zu Richard:

"Ich gebe Ihnen diesen Tag und jeden danach Urlaub zum halben Gehalt, wenn Sie sich ernsthaft überlegen, ob Sie wirklich so weitermachen wollen."

"Will sagen, solange ich nicht beim Idiotendoktor war oder meine Freundin zum Mond geschossen habe, darf ich hier nicht mehr reinkommen?" Fragte Richard Andrews.

">Das haben Sie zumindest verstanden", sagte Degenhart erleichtert, doch irgendwie zu dem aufsässigen Mann durchgedrungen zu sein. Dieser stand auf, verabschiedete sich kurz von den fünfen und ging hinaus.

"War das jetzt richtig, Dad?" Fragte Roger Degenhart.

"Verdammt, ja, Roger", sagte der Firmenchef. Dann schickte er bis auf seine Söhne alle hinaus aus dem Büro. Er wandte sich an Gereth.

"Glaubst du, der ist wirklich so abgebrüht, Gereth."

"Dad, ich fürchte, Roger hat mit seiner Frage recht. Das war jetzt verkehrt, was du gemacht hast. Wenn der wirklich von dieser Frau abhängig ist, dann hat er jetzt alle Zeit, sie zu treffen und mit ihr drüber zu reden, was sie beide gegen dich machen können. Das mit Madre des Dolores ist ein Hammer. Wenn er das von Jennings in Barstow hat, kann der dich erpressen, weißt du das?"

"Kann er nicht, Sohn. Denkst du, ich ließe mich von so'nem englischen Plastikmixer derartig aus dem Trott bringen", sagte Mark Degenhart, nun alle geschäftsmäßige Sachlichkeit vergessend. "Ich habe unten beim Tor bescheid gesagt, daß Andrews wohl gleich wieder rausgeht. Wenn er das tut, wird er wohl ein Taxi zum Bahnhof nehmen. Ich habe meinen alten Studienkollegen gebeten, fünf seiner Wagen so hinzustellen, daß dieser Engländer einen davon nehmen muß, ohne Verdacht zu schöpfen. Hat doch was für sich, wenn man Leute im unteren Dienstleistungssektor kennt. Dann werden wir bald wissen, wo er hinfährt. Davon mache ich es abhängig, ob der morgen zwangseingewiesen wird oder nicht."

"Bitte, Dad?"

"Junge, du hast das gestern nicht gesehen, wie diese Frau ihn mit ihren Blicken wie an unsichtbaren Fäden geführt hat. Die hat den unter Kontrolle. Sein Auftritt hier hat das ganz klar bewiesen, daß ihm alles egal ist, solange er mit diesem Weib zusammen sein kann."

"Ach, dann meinst du, du hättest das Recht, ihn wegen irgendwelcher Geistesgestörtheiten in eine Irrenanstalt sperren lassen zu müssen?" Fragte Gereth verunsichert. Wenn das wirklich so einfach ging, daß jemand wen anderen für irre erklären lassen konnte, ging Amerika bald zum Teufel.

"Die ganze Reaktion hier, diese offenbare Unerschütterlichkeit. Kein klar denkender Mensch hält sowas durch, wenn es um seine Existenz geht. Daß Andrews das nicht im Ansatz gemerkt hat, hat mich überzeugt, daß er offenbar nicht mehr klar denken kann."

"Dad, wenn ich richtig informiert bin hast du den Meister der Wirtschaftswissenschaften gemacht und keinen Doktor der Psychologie oder Psychiatrie. Bei allem Respekt, du kannst nicht hingehen und jemanden für bescheuert erklären lassen, nur weil er nicht so tickt wie du meintest, daß er ticken soll", sagte Gereth.

"Ich muß den auch nicht für irgendwie krank erklären, Gereth. Das soll bitte ein Profi machen. Aber ich kann immerhin anfragen, ob das normal ist, wenn jemand so derartig ausgelaugt zur Arbeit kommt und so tut, als sei das in Ordnung. Außerdem gehört es zum gesunden Menschenverstand, einen gewissen Respekt vor dem Vorgesetzten zu haben."

"Tut es das?" Fragte Roger amüsiert. "Dad, in Amerika ist niemand wirklich normal. Das kann doch keiner festlegen, was normal ist. Wenn das dann doch einer macht, gehören wir alle in die Gummizelle. Ich bitte dich also, dir das besser noch einmal zu überlegen, was du für Hämmer auspackst, Dad. Wenn der wirklich von dieser Frau abhängig ist, kann das jedem passieren. Aber woher weiß der, was du in Las Vegas tust?"

"Das hat er doch nur als Unterstellung gebracht, um seine eigene Position zu stärken, Roger. Oder hältst du mich für einen Halbweltler, der es nötig hat, Straßenmädchen zu besuchen?"

"Neh, Dad", sagte Roger verlegen. Gereth meinte noch:

"In einem Punkt hat er aber recht, Dad. Wenn dir seine Arbeitshaltung nicht paßt, kündige ihm. Der geht jetzt hin und macht Ferien auf unsere Kosten."

"Das darf er nicht, Gereth. Im Vertrag steht eindeutig drin, daß ..." Das Telefon unterbrach den Satz. Mark Degenhart nahm den Hörer ab und lauschte. Dann sagte er nur:

"In Ordnung, verstehe" und legte auf.

"Und, was sagt dein Taxiunternehmer?" Fragte Roger.

"Der Mann ist wohl besser als ich dachte. Er muß jemanden angerufen haben. Zumindest hat die Hausüberwachung Mobilfunksignale aus dem Fahrstuhl aufgefangen, aber nicht entschlüsselt. Jedenfalls kam er bei der Pforte vorbei und wurde von jemandem abgeholt, einem Mann. Mit dem ist er zusammen weggefahren. Da wir ja dachten, er würde ein Taxi nehmen, verfolgt den natürlich jetzt keiner."

"Dad, ich fürchte, die CIA wird dich dafür nicht einstellen", lachte Gereth überschwenglich. Sein Vater, der gerne drei Schritte vorausplante, hatte jemanden gefunden, der ihm in dieser Kunst mindestens ebenbürtig war.

"Nichts desto trotz werden wir den überwachen", sagte Mark Degenhart. Offenbar war diese Panne für ihn nur der Anlaß, verbissener vorzugehen. Er nahm den Telefonhörer erneut und rief weitere gute Freunde, sowie Hausverwalter Halligan an, dem er ein großzügiges Trinkgeld bot, um sicherzustellen, daß zum einen diese Loretta Hamilton nicht mehr in die Wohnung kam, zum anderen Richard Andrews genau überwacht wurde.

__________

"Der will mich abservieren", dachte Richard. Als er im Aufzug war, nahm er sein Handy und wählte eine Nummer, die er vorher nicht gewählt hatte. Als ob es völlig normal für ihn war sagte er:

"Wenn Sie schon draußen vor der Tür auf mich lauern, können Sie mich auch mitnehmen. Ich denke, das kommt Ihnen entgegen."

Richard verließ das Bürogebäude und suchte einen grünen Chevrolet, der harmlos hinter der östlichen Ecke des Gebäudes geparkt war, knapp vor den Angestelltenparkplätzen. Der Wagen rollte an, kam herüber und hielt. Richard öffnete die Hintertür und stieg ein, obwohl er diesen Wagen noch nie gesehen oder den Fahrer je kennengelernt hatte. Zum Erstaunen von fünf bereitstehenden Taxifahrern glitt der grüne Chevy an den auf Hochglanz polierten Cadillac-Limousinen vorbei und nahm Fahrt auf.

"Sollen wir dem nachfahren?" Fragte einer der Taxifahrer seinen Kollegen hinter ihm.

"Hat der Boss nix von gesagt", kam die Antwort. Tja, und als man doch die Funkmeldung bekam, den Wagen zum Zielort zu verfolgen, war der schon nicht mehr zu sehen, und in der kurzen Zeit konnte er in zehn verschiedene Querstraßen einbiegen.

Richard Andrews saß ruhig auf der breiten Rückbank. Der Fahrer sah leicht verlegen in den Rückspiegel. Er mußte jedoch fahren, wie der eigentlich heimlich zu beobachtende Fahrgast es verlangte. Denn neben ihm saß eine unsichtbare Beifahrerin.

Der Detektiv, der von Schlessinger zur Arbeitsstelle von Richard Andrews beordert worden war, hatte hier Posten bezogen und wollte gerade seine Kamera prüfen, ob sie funktionierte, als aus dem Nichts heraus eine Frau mit roten Haaren neben ihm auf dem Beifahrersitz erschien. Sie sah ihn mit goldenen Augen an, und er war sofort in eine Trance gefallen, in der er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Er mußte tun, was sie ihm sagte. So wartete er, bis er einen Anruf bekam, daß er den, den er beobachten wollte, mitnehmen sollte. Die Fremde wurde unsichtbar. Doch der Fahrer wußte, daß sie noch da war. Er nahm Richard Andrews ins Auto und fuhr los. Eine innere Stimme sagte ihm, wo er hinfahren sollte.

__________

Die Schlessinger-Detektive hatten eine gewisse Mühe mit dem Türschloß von Richard Andrews' Wohnung. Doch als Profis in ihrem Fach hatten sie von vielen Sicherheitsschlössern Musterschlüssel, zumal ja die Hausverwaltung sicher einen Generalschlüssel haben mußte. Erst der zehnte Spezialschlüssel griff nahtlos und sperrte das Schloß auf.

"Schnell rein und aufbauen!" Flüsterte der Anführer des Lausch- und Spähkommandos. Denn sie wollten in der Wohnung Abhörgeräte und Minikameras verstecken. Nach nur fünf Minuten waren die elektronischen Minispione so platziert, daß ein ungeübter sie nicht mehr finden würde. Sie wollten gerade den Rückzug antreten, als vor der Tür Geräusche erklangen. Sofort versteckten sich die drei ungebetenen Gäste in den großen Schränken im Schlafzimmer, unter dem Bett und hinter dem Duschvorhang im Badezimmer. Sie warteten, ob jemand die Tür öffnen würde. Tatsächlich drehte jemand einen Schlüssel um, sperrte auf und trat ein. Er flüsterte mit jemandem, wobei er mit südirischem Akzent sprach. Ein weiterer Mann trat in die Wohnung und ging so leise wie er wohl gehen konnte in die Küche, wo er mit irgendwas hantierte. Der erste, der wohl den Schlüssel hatte, ging ins Wohnzimmer und besah sich da irgendwas. Dann klapperte etwas, bevor der ebenfalls ungebetene Besucher zurückging und zum Schlafzimmer schlich. Dort konnte der unter dem Bett liegende Schlessinger-Detektiv beobachten, wie er die Nachttischlampe nahm, den Schirm umklappte und eine Wanze mit hauchdünner Klebefolie an der Innenseite befestigte. Danach verließ der Fremde das Zimmer wieder. Eine Minute später klappte die Wohnungstür zu, und der Schlüssel wurde im Schloß gedreht.

Der Detektiv unter dem Bett wußte, daß sie offenbar nicht die einzigen waren, die hier unerlaubt schnüffelten. Er holte ein wie aus einem effektlastigen Agentenfilm stammendes Gerät, das wie ein zweites Handy aussah, aus seiner Hosentasche und schaltete es ein. Im Display blinkten Zahlen, die von 109 bis 900 sprangen, dann rot leuchteten und genau bei 929,4 stehenblieben. Der Detektiv gab diesen Wert in die Tastatur ein und sah, wie ein grünes "OK" im Display aufblinkte.

"Mac, kannst aus dem Schrank kommen. Irgendwelche Hobby-Agenten haben hier 'ne 900er-Wanze angeklebt. Leicht zu orten und noch leichter zu überlagern", flüsterte der Detektiv. Sein Partner kam aus dem Schrank und machte eine fragende Handbewegung.

Sein Partner zeigte auf den Nachttischlampenschirm. Beide grinsten.

"Dann hat er den 3-Gigahertz-Brummer im Lampenfuß nicht bemerkt. Was spielen wir denn hier? Wer stellt sich blöder beim Verwanzen an?"

"Das würde jedenfalls zu dem passen, was der Chef uns gesagt hat, Mac", sagte der Detektiv, der unter dem Bett gelegen hatte. Beide hatten keine Angst, der elektronische Minihorcher würde sie verraten. Denn mit dem kleinen Gerät hatten sie seine Sendefrequenz ermittelt und dreifach überlagert, sodaß nur ein stummes Trägersignal beim Lauscher in der Ferne ankam.

Sie fanden noch zwei weitere Wanzen, die auf dieselbe Trägerfrequenz eingestellt waren wie die im Schlafzimmer. So konnten sich die Lauschangreifer von Schlessingers Detektei unbemerkt aus der Wohnung zurückziehen. Draußen, etwa zehn Meter entfernt, wurde der Wanzensignalüberlagerer ausgeschaltet. Wer immer mithören mochte bekam jetzt wieder die Originalaufnahmen seiner überhastet versteckten Mikros.

"Nicht daß die hier noch Kameras eingebaut haben", unkte Mac. Doch seine Partner schüttelten ruhig die Köpfe.

"Außer unseren Fernsehsignalen haben wir hier keine angepeilt. Offenbar hat der Ire sein Lauschbesteck aus 'nem Möchtegernspionenladen. Der hat nämlich keine 3-Gigahertz-Geräte verwenden können. Jetzt bin ich gespannt, ob sich das alles wirklich lohnt", sagte der Mann, der die Wanze im Schlafzimmer ausgetrickst hatte.

Die Detektive kehrten nach unten zurück und nahmen ihren Platz in einem Lieferwagen ein, der ein heimlicher Übertragungswagen war und die im Haus aufgefangenen Bilder und Töne über ein ständig die Frequenzen wechselndes Funkgerät verschlüsselt an die Zentrale schickte.

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Der Chevrolet fuhr zu einer Aphoteke, wo Richard ohne weiteres Wort ausstieg und hineinging. Fünf Minuten später kehrte er mit einer Tüte zurück. Danach ging es zu einem Supermarkt, wo Richard eine weitere Tüte voll heraustrug. Der Fahrer des Chevrolet konnte dazu nichts sagen, nicht einmal Melden, wo er war. Die unsichtbare Beifahrerin hielt ihn in ihrem Bann und lenkte ihn. Erst als Richard noch in einem Baumarkt und einem Fachgeschäft für Glaswaren gewesen war, fuhr ihn der schweigsame Fahrer weiter bis hinaus aus Detroit zu einer Hütte, die fünf Kilometer abseits der Stadt lag. Dort stieg Richard aus und ging mit den großen und kleinen Tüten in die Hütte. Der Fahrer drehte bei und brachte seinen Wagen auf die Autobahn zurück, fuhr schneller und schneller, bis er mit über 200 Stundenkilometern ungebremst gegen den Stahlbetonfeiler einer Eisenbahnbrücke krachte. Selbst der blitzartig freigesprengte Airbag konnte ihm da nicht mehr helfen.

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"Der will mich vernichten", dachte Richard Andrews. Doch irgendwie war er nicht mehr Herr seines Verstandes. Er saß im Auto und fühlte nur Haß auf Degenhart und seine Leute, blanken, vernichtungswütigen Haß. Ihm war es völlig egal, wieso der Fahrer dort hielt, wo er hinwollte. Er suchte eine Apotheke auf, um sich mit Einwegspritzen, und harmlosen Schmerzmitteln einzudecken. Im Supermarkt kaufte er Reinigungsmittel, Spiritus und Pflanzenschutzmittel. Im Baumarkt besorgte er sich kurze Schläuche, einen mit Benzin betriebenen Generator inklusive einem Liter passenden Treibstoff, sowie allerlei elektrisches Bastelmaterial, eine kleine Sauerstoff- und eine kleine Propangasflasche und im Glasereifachgeschäft Reagenzgläser, Kolben und Destillationsapparate. Hier mußte er eine Ausrede gebrauchen, wozu er die Sachen brauchte. Er sagte schlicht:

"Ich bin Chemielehrer an der Jefferson-Highschool und muß einen Satz neuer Glasgeräte beschaffen." Doch dann war er vollständig ausgerüstet. Das erlebte er irgendwie wie im Traum, nicht so als wolle er das oder wüßte, was er damit anstellen wollte. Als er dann vor einer Hütte außerhalb von Detroit ausstieg und die leere Hütte betrat, fing er an, darüber nachzudenken, was er jetzt machen sollte.

"Dieser Kerl will Loretta und mich abservieren", dachte er nun wieder. "Was fällt dem ein?" Dann kamen ihm merkwürdig bedrohliche Gedanken. Degenhart würde ihn nicht mehr frei herumlaufen lassen. Seine Wohnung würde bestimmt verwanzt, damit er alles hören könne, was Loretta und Richard trieben. Er mußte sich verstecken. Doch er hatte nichts bei Seite schaffen können, um mehrere Tage auszuhalten. Er hatte Zeug für ein improvisiertes Chemielabor und hochgiftige Mittel zusammengekauft, alles mit Bargeld bezahlt. Aber wozu brauchte er das alles?

"Degenhart will mich umbringen, weil er Loretta haben will", schoss ihm ein weiterer Gedanke durch den Kopf. "Er will meine Loretta für sich haben!" Das war die Erklärung dafür, was Degenhart angezettelt hatte. So wie Richard war auch Degenhart dem Charme und dem Körperbau Lorettas verfallen und meinte nun, sie kriegen zu können. Ja, das paßte dann auch, daß er ihm verboten hatte, sie wiederzutreffen. Mochte es sein, daß Loretta Degenhart auch wollte? Nein, das war nicht möglich. Eher würde Degenhart warten, bis Richard aus dem Weg war. Deshalb hatte er das Zeug hier. Er wollte Degenhart zuvorkommen. Aber nein, das durfte er doch nicht! Das war doch Mord!

"Tu es für mich, Richie", flüsterte Lorettas Stimme in Richards Kopf. "Er wird dich nicht mehr in Ruhe lassen, wenn du ihm nicht zuvorkommst."

"Nein, das geht nicht", begehrte Richards Gewissen ein allerletztes Mal auf. Dann überschwemmte eine Flut von Angstbildern ihn. Er sah sich in einer Zwangsjacke in einer mit Gummipolstern ausgekleideten Zelle. Ein Mann in weißem Kittel zog gerade eine Spritze auf und sagte:

"Nur ein Beruhigungsmittel, Mr. Andrews. Gleich haben Sie's hinter sich." Er fühlte den Einstich im linken Handgelenk und verlor die Besinnung.

"Der will mich umbringen lassen", dachte Richard bestürzt. Aus der Angst wurde Wut. Wieso hatte er diesen Kerl nicht abgewiesen, als er vor der Haustür gestanden hatte? Aus der Wut wurde wieder glühender Haß, der sich zu einem festen Entschluß verdichtete: Mark Degenhart mußte sterben, und zwar so schnell wie möglich.

Das Gewissen des Chemikers war verstummt. Er sah nur den verhaßten Konkurrenten, dachte an leidenschaftliche Erlebnisse mit Loretta, in die dieser Kerl sich immer wieder hineinzudrängen versuchte. Ja, er hatte diese Chemikalien gekauft, weil sie allgemein zu kriegen waren und nur ein Experte wußte, wie man die darin enthaltenen Giftstoffe so gefahrlos wie möglich isolierte und mit anderen Giftstoffen verband. Richard hatte in einem Studiensemester Toxikologie belegt. Dabei hatte er alles gelernt, wie man mit den alltäglichsten Reinigungs- und Insektenvernichtungsmitteln tödliche Cocktails zusammenrühren konnte. Eine Mitstudentin, Selma Baker, hatte den Professor mal gefragt, ob das überhaupt erlaubt war, dies zu lernen, weil es doch dann möglich war, schnell und billig Mordwaffen herzustellen. Der Professor hatte geantwortet, daß nicht das Wissen um die Mittel den Mörder machte, sondern die Absicht und die Entschlußkraft. Man könne ja auch jemanden mit einem Hosengürtel erwürgen oder mit einer vollen Champagnerflasche erschlagen. Trotzdem würde nur jeder millionste Gürtelträger ein Mörder, von der geringen Wahrscheinlichkeit, jemandem mit edlem Schaumwein den Schädel einzuschlagen ganz zu schweigen. Alle hatten dann gelacht und nicht nur die Gifte, sondern auch die Gegengifte studiert, die man auch aus verschiedenen Alttagssachen herstellen konnte. Richard dachte daran, daß sein Sohn Julius ja in dieser Mutantenakademie Hogwarts schon mit zwölf Jahren Giftgebräue studierte. Was sollte da noch die Frage nach dem Wieso und Weshalb? Richard dachte nur daran, Mark Degenhart aus dem Weg zu schaffen, der ihn bedrohte, ihn in die nächste Irrenanstalt sperren und dort dann an einer Überdosis Beruhigungsmittel krepieren lassen wollte. Ja, und Loretta wollte das so haben. Er durfte sie nicht enttäuschen.

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Schlessinger erschrak sichtlich, als er im Laufe des Vormittags die Nachricht bekam, das sein Mitarbeiter Clark Michelsen mit dem Chevrolet offenbar wegen Versagens der Bremsen gegen einen Brückenfeiler geprallt war. Der Wagen mußte wohl mit über 200 Stundenkilometern von der Autobahn abgekommen sein. Michelsen war sofort tot gewesen. Denn alle Sicherheitseinrichtungen des Autos hatten bei der hohen Geschwindigkeit nicht mehr viel ausrichten können. Er war im zusammengequetschten Auto umgekommen.

"Hat der Mann Angehörige?" Fragte der Autobahnpolizist, der Schlessinger angerufen hatte.

"Ja, eine Frau und zwei Kinder. Ich gebe Ihnen die Adresse", sagte der Chef der Privatdetektei. Dann hörte er sich noch an, was genau passiert war. Er erkundigte sich bei seinen Leuten, wieso Michelsen überhaupt so weit weg von der derzeitigen Zielperson war. Keiner wußte darauf eine Antwort.

"Verdammt, Clark würde sich doch nicht einfach totfahren!" Brüllte er in den Hörer, als sein Mitarbeiter in Bay City bemerkte, daß Andrews eventuell den Verfolger bemerkt hatte und Michelsen keine Zeit mehr gehabt hätte, das zu melden.

"Ach, wie soll der denn ohne Auto zweihundert Stundenkilometer überschreiten? Ich hoffe, wir kriegen das noch raus."

"Der arbeitet nicht alleine, Chef. Offenbar hat er Kontakte zu Leuten, die ihm bei sowas sofort helfen. Außerdem haben wir hier in der Wohnung noch Konkurrenz. Der Hausmeister selbst hat da Wanzen gesetzt. Ich hoffe mal, der kommt uns nicht in die Quere."

"Bitte? Interessant. Offenbar ist das doch ein sehr heißes Eisen, was wir da angefaßt haben. Das hätte ich einkalkulieren müssen", ärgerte sich Schlessinger.

"Was sollen wir machen, Boss?" Fragte der vor Richards Wohnhaus stationierte.

"Ich würde den am liebsten auf Schritt und Tritt überwachen. Aber wir haben uns schon zu weit aus dem Fenster rausgelehnt. Mehr würde uns mehrere Jahre Zwangsurlaub auf Staatskosten einbringen. Bleibt ja auf dem Posten und hört und seht euch an, was in der Wohnung passiert!"

"Geht klar, Boss!" Stimmte der Mitarbeiter zu.

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Richard Andrews werkelte lange. Er mußte vorsichtig sein, weil er weder Gasmaske noch Handschuhe besorgt hatte. Doch nach einigen Mühen gelang es ihm, fünf höchstgefährliche Giftstoffe zusammenzurühren, die in einer Wasserlösung leicht auf eine der Einwegspritzen aufgezogen werden konnten. Sein Verstekc in der Hütte wurde nicht entdeckt, obwohl keine zweihundert Meter entfernt eine belebte Autostraße verlief. Als er seine Giftcocktails gebrauchsfertig angerührt hatte, lächelte er. Sollte er Degenhart zu sich in die Wohnung einladen? Oder sollte er ihn in seinem Büro treffen. Nein, das war zu riskant. In der Wohnung würden sie mittlerweile ihre Wanzen untergebracht haben, und in das Büro konnte er im Moment wohl auch nicht hinein. Vielleicht sollte er ihn und seine Söhne nach Büroschluß aufsuchen. Dann fiel ihm noch was ein. Mathews und Zager hatten mitbekommen, daß Degenhart ihn wegen Loretta fertigmachen wollte. Das waren gefährliche Zeugen, die ebenfalls verschwinden mußten. Ihn störte es überhaupt nicht, wie ein berufsmäßiger Mörder zu denken. Er sah es sogar als einzig brauchbaren Ausweg, endlich ein friedliches Leben mit der Frau zu führen, die er so leidenschaftlich begehrte und verehrte. Es galt also, eine Reihenfolge zu treffen, die einen Mißerfolg so gering wie möglich machte.

Ihm fiel ein, daß er am nächsten Morgen noch einmal ins Bürogebäude gehen und die einzelnen Leute dort aufsuchen wollte, nach und nach. Anders bekam er sie ja nicht zu fassen. Vorher galt es, genug Kraft zu sammeln, um möglichst wach und frisch vorgehen zu können. Ihm kam ein verwegener Gedanke.

"Such dir eine Frau für käufliche Liebe!"

So wartete er bis zum Abend, bis er sein Versteck verließ und an der Schnellstraße einen Wagen anhielt, dessen Fahrer ihn in eines der verruchten Vergnügungsviertel von Detroit brachte, ohne darüber zu grübeln, warum er diesen Mann im schnieken Anzug da mitnahm. Richard Andrews wechselte kein Wort mit dem Fahrer des kleinen Fords, der ihn in die Stadt zurückbrachte und ihn zwei Ecken von der sündigen Meile der Auto- und Soulmusikstadt entfernt absetzte.

Für Richard, der sich an einem Geldautomaten mit mehr als vierhundert Dollar Bargeld versorgte, war es ein leichtes, eines der aufreizend gekleideten Freudenmädchen zu angeln, mit dem er in einem nahegelegenen Hotel für solche Sachen verschwand. Er lebte sich mit ihr so heftig aus, wie er es sonst bei Loretta tat. Doch er fühlte sich nicht schuldig, sie zu betrügen. Ja, was er jetzt tat, tat er für sie. Wild und schier unersättlich nahm er sich von der käuflichen Dame, was er an Energie und Lebenskraft haben wollte. Ihm fiel nicht auf, daß sie immer schwächer wurde, ja irgendwann ihre professionellen Techniken immer schwerfälliger ausführte. Ihm genügte es, sie zu nehmen. Sicher, sie hatte auf Verhütung bestanden. Doch Richard wußte, daß es nur eine Frage von Minuten war, bis er mit ihr alles machen konnte, was er wollte. Ihm war diese Frau vollkommen gleich. Hauptsache sie gab ihm zurück, was er in den letzten Wochen verloren hatte. Irgendwann, mindestens eine Stunde über der Zeit, die er bezahlt hatte, lag die übermäßig geschminkte und wasserstoffblondierte Prostituierte reglos neben ihm. Ihr Atem ging immer flacher, und ihr Körper kühlte langsam ab. Richard hingegen fühlte sich wie eine voll aufgeladene Batterie oder ein vollgetankter Jumbojet, frisch, kraftvoll und entschlossen. Als ein gefährlich aussehender Mann im geschmacklosen Anzug das Zimmer betrat, in dem Richard sich Lustgewinn gegen Geld verschafft hatte, hatte sich der Chemiker gerade wieder angekleidet.

"Eh, Typ, du hattest nur 'ne halbe Stunde mit Veronique. Warst wohl lange nicht mehr reiten, was? Aber jetzt mußt du nachlöhnen, klar!"

"Ach, sind Sie der Buchhalter dieser netten Dame? Ich habe ihr zweihundert Dollar gegeben. Für das, was sie mir geboten hat reichten die völlig aus", erwiderte Richard.

"Eh, Typ, wie bist denn du drauf?" Fragte der verwegen aussehende Mann und starrte Richard drohend an. Dieser grinste jedoch nur.

"Haben Sie das nicht mitbekommen? Ich habe bezahlt, was ich bekommen habe. Mehr gibt's nicht."

"Ach, du hältst dich wohl für supercool, mit Max so reden zu können. Entweder bist du total lebensmüde oder komplett unwissend. Das Mädel schafft für mich, und wenn ich sage, was jemand wie du hinzulegen hat, dann legt er das hin. Also rück noch mal zweihundert raus!"

"Mr. Max, Ihre Angestellte ist das nicht wert gewesen. Kucken Sie sich doch mal an, wie kaputt die jetzt ist. Daß ich überhaupt so lange mit ihr konnte lag nicht an ihr."

"Eh, was?" Fragte der Mann, der wohl Max hieß und sah auf das immer schlaffer auf dem Bett liegende Freudenmädchen. Er beugte sich vor und berührte ihre Stirn. Perplex suchte er dann ihre linke Hand und versuchte, den Puls zu ertasten. Er beugte sich über die Frau und legte sein Ohr an ihre linke Brust. Er achtete nicht auf Richard, der schnell und lautlos eine halbvolle Einwegspritze aus seinem Jacket fischte, die Plastikkappe über der Nadel abzog und in einer fließenden Armbewegung die spitze Nadel in einem bogenförmigen Schlag in den Bauch des Zuhälters rammte. Dieser zuckte heftig zusammen, während Richard den Kolben der Spritze voll durchdrückte. Max starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und versuchte, auf die Beine zu kommen. Doch was immer der lettzte Freier von Veronique ihm da in den Bauch gejagt hatte wirkte bereits. Er taumelte und schlug neben seiner Dirne auf das Bett, das protestierend quietschte. Er sah mit immer glasigerem Blick Richard, der die Spritze unter den Wasserkran des schmutzigen Waschbeckens legte und das Wasser aufdrehte, sodaß das eigentlich zum Heil dienende Injektionsgerät von kaltem Wasser überspült wurde. Max röchelte, zuckte unkontrolliert und schnappte immer heftiger nach Luft. Richard sah ihm zu. Max blickte seinen Mörder mit letzter Willensanstrengung an. Dieser lächelte. Dabei trat ein merkwürdiger Glanz in seine Augen, wie von goldenen Knöpfen.

"Du Schwein!" Röchelte Max. Dann blieb er reglos liegen. Die sechsfache Todesdosis des Giftes, das Richard aus alltäglichen Chemikalien herausgemischt hatte, hatte ihr erstes Opfer gefunden. Richard sah noch einmal auf die immer schwächer werdende Frau, deren Liebesdienst er mehr genossen hatte als sie sich jemals hatte vorstellen können. Ohne jedes Mitgefühl zu zeigen verließ er das verrufene Hotel wieder. Der Portier ließ ihn anstandslos davonziehen. Denn niemand hatte es gehört, wie dieser fein gekleidete, merklich kraftstrotzende Mann zwei Menschenleben ausgelöscht hatte, von dem eines ihm zur Wiederbelebung der eigenen Körperkräfte gedient hatte. Erst als er die wasserstoffblonde Dame der Nacht vermißte, die diesen Mann hier hineingeführt hatte, fragte er sich, ob nicht irgendwas passiert war. Er nahm den Hörer vom Haustelefon und wählte das Zimmer an, in dem Veronique gearbeitet hatte. Keiner ging dran.

"Da ist was passiert", stand es nun für den Portier fest. Er schloß die Tür des schummerig erleuchteten Eingangs und hetzte die ausgetretenen Holztreppen nach oben. Als er die angelehnte Zimmertür aufstieß, mußte er heftig schlucken. Auf dem Bett lag Max, der Rotlichtkaiser, der mächtigste Zuhälter dieser Gegend, in einer merkwürdig zusammengekrümmten Haltung neben Veronique, die soeben den letzten Atemzug tat.

"Scheiße!" War das einzige Wort, was ihm dazu einfiel. Er starrte auf die völlig nackte Frau, dann auf ihren sogenannten Beschützer. Wie war das passiert? Er mußte die Polizei holen! Nein, besser nicht. Er sollte wohl zuerst Max' Stellvertreter anrufen, um zu klären, ob man die Polizei nicht raushalten konnte.

Wenige Minuten später stürmten drei bullige Männer, allen voran ein dunkelhaariger Bursche im schwarzen Maßanzug herein. Sie liefen sofort zu dem Zimmer hoch, wo Max und Veronique lagen. Als dann der dunkelhaarige Mann mit einem der drei Muskelmänner zurückkehrte, wirkte er sehr gefährlich.

"Johnny, wer war das?" Wollte er wissen.

"Wird dieser Typ im englischen Anzug gewesen sein. So einer mit 'ner blonden Halbglatze und blauen Augen. Komisch, als Veronique den hier angeschleppt hat wirkte der total abgeschlafft. Als der dann wieder ging war der richtig tagesfrisch und rosig."

"Häh?" Wollte der Mann im Maßanzug wissen.

"Ja, der sah ziemlich bleich aus und hatte eingefallene Augen. Doch als der wieder ging war der total jugendlich rosig und hat mich kurz mit superwachen Augen angeblinzelt."

"Ach, neh, Johnny! Du wirst mir doch wohl nicht erzählen wollen, das ein Vampir Veronique allegemacht hat. Und Max hat der dann gleich auch gekillt, was?"

"So war das aber. Das fällt mir jetzt auch erst auf, wie ausgepumpt dieser Typ ausgesehen hat."

"Veronique ist hin, und Max sieht so aus, als hätten den zehn Klapperschlangen auf einmal gebissen. Ich hab schon mal wen an Gift krepieren sehen können", sagte der dunkelhaarige Mann. Dann sagte er zu seinem Begleiter:

"Arch, bleib hier! Daß bloß keine Bullen gerufen werden, klar!"

"Geht klar, Wood."

"Jetzt hast du mich mit Boss anzureden, Archie", lachte Wood und lief wieder hinauf zum Zimmer, wo eine Dirne und ihr Zuhälter tot auf demselben Bett lagen. Fünf Minuten später trugen die Gorillas von Wood die beiden Leichen in Teppiche eingedreht hinunter. Johnny, der Portier, hatte ihnen den Hinterausgang durch den Keller geöffnet, sodaß der normale Betrieb in der sündigen Absteige weitergehen konnte. Da keine Polizei gerufen wurde, bekam niemand mit, daß Richard Andrews zwei Menschen getötet hatte.

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"Der geht nicht mehr in die Wohnung", stellte Romina Hamton fest, als sie abends bei Anthelia Bericht erstattete. Die Führerin der Spinnenschwestern wiegte nachdenklich den Kopf.

"Offenbar hat die Kreatur ihr Opfer gewarnt und dazu angehalten, anderswo Unterschlupf zu suchen. Damit erklärt sich auch der Tot dieses Spähers. Ich hätte ihn doch selbst beobachten sollen", schnaubte sie verärgert, daß der Mann, den sie beobachten wollten sich der Überwachung entzog. Denn keiner wußte, wo er nun steckte.

"Wir könnten die Polizei auf ihn ansetzen, höchste Schwester", sagte Romina.

"Mit welcher Begründung sollten wir solches Aufsehen erregen, Schwester Romina? Nein, wir sollten die gedungenen Späher weiterbeobachten lassen. Sicher wird er seine Heimstatt wieder aufsuchen müssen. Bisher hat Hallitti ja noch nichts unternommen, von der Tötung dieses Clark Michelsen abgesehen."

"Wir sollten ihn einfangen und herholen. Dann kriegen wir auch dieses Ungeheuer", schlug Romina vor. Doch Anthelia schüttelte energisch den Kopf.

"Es ist nicht damit getan, es in unsere Nähe zu locken. Wir müssen seine Schlafstatt finden, wo alleine wir finden, was uns das Geschöpf überwinden läßt. Ich werde am nächsten Morgen selbst in dieses Sprechzimmer dieses Schlessinger reisen, um an Ort und Stelle zu erfahren, was die Beobachtungen erbringen", bestimmte Anthelia. Dann schickte sie Romina fort, die unterwürfig nickte und disapparierte.

Um zehn Uhr abends legte sich Anthelia in Stanley Daggers' ehemaligem Schlafzimmer zur unbedingt einzuhaltenden Ruhe. Denn der Gürtel Dairons, den sie in einem kurzen und schmerzhaften Ritual ihrem Körper untertan gemacht hatte, verlangte, daß sie acht volle Stunden tief und unweckbar schlief, um sie gegen zwei Dutzend Todesarten zu schützen.

Romina Hamton verbrachte die Nacht bei Patricia Straton, die in einem abgelegenen Haus in den Bergen von Montana ein geheimes Zauberkunstlabor betrieb, in dem sie einst für die Nachtfraktion der schweigsamen Schwestern und nun für Anthelias Spinnenorden arbeitete und auch Gäste unterbrachte, die das Hauptquartier nicht kannten oder dort nicht erwünscht waren, bis Anthelia sie persönlich aufgesucht hatte. Hier funktionierte auch Rominas Handy wieder. Sie bekam einen Anruf ihrer Mailbox, zwei Nachrichten seien eingegangen. Beide Mitteilungen stammten von der Schlessinger-Detektei. Eine besagte, daß Richard Andrews wieder in seine Wohnung zurückgekehrt sei. Die zweite Nachricht betraf eine Anfrage der Polizei, die wissen wollte, für wen der mit seinem Auto verunglückte Michelsen arbeitete.

"Bitte rufen Sie mich so rasch wie möglich zurück, Miss G., um zu klären, wie wir das regeln können", waren die letzten Worte von Schlessinger. Romina Hamton nickte.

"Es war nur zu erwarten, daß dieser Mann in seine Wohnung zurückmuß, Schwester Romina", sagte Patricia Straton, die gerade ein Buch über Vivimetallurgie an seinen Platz zurückgezaubert hatte.

"Ich dachte, die Abgrundstochter hält ihn von allen Beobachtern fern", wunderte sich Romina.

"Das er am Tag nicht in die Wohnung zurückgefahren ist, nachdem er wohl irgendwie von seiner Arbeitsstelle weg ist, ohne verfolgt zu werden, macht mich auch stutzig, Schwester Romina. Aber er muß den Schein wahren, solange diese Kreatur und er nicht in die Enge getrieben werden. Deshalb ist er am Abend wieder in die Wohnung zurückgekehrt. Stell dir vor, sein Chef sucht ihn und findet ihn nicht. Dann würde die Polizei nach ihm suchen. Das kann sich dieses Ding nicht leisten."

"Ist diese Kreatur wirklich so gefährlich?" Fragte Romina, die in Patricias Stimme ein schwer unterdrücktes Unbehagen mitschwingen hörte.

"Ja, sie ist im wahrsten Sinne brandgefährlich, Schwester Romina. Unsere Schwestern Lobelia und Charity haben alleine versucht, sie zu stellen und starben. Als die höchste Schwester, meine Mutter und zwei englische Mitschwestern dann bei Schwester Lobelia im Haus erschienen, kam es zum Kampf mit dieser Bestie. Dabei hat sie dunkles Feuer ausgestoßen, in dem Schwester Lucky verbrannt ist und wir auch fast verbrannt wären. Sie ist übermächtig. Selbst dieser Voldemort muß sie fürchten. Immerhin hat er sie nicht selbst aufgesucht, wo sie noch in England war. Ihre Elementar- und Mentalzauberkräfte sind sehr stark. Hinzu kommt,daß der Fluch des ewigen Lebens sie befähigt, mehrere Dutzend Menschenleben in sich aufzunehmen und damit so gut wie unzerstörbar ist. Was die Muggel über Dämonen daherphantasieren mag auf Berichte über Wesen wie sie zurückgehen. Sardonia vom Bitterwald, die größte Hexe der Neuzeit, hat damals die Schwester Hallittis zur Erzfeindin gehabt und wäre fast dabei gestorben. Du weißt ja, wie mächtig Sardonia war."

"Nicht so richtig. Europäische Zaubereigeschichte hat mich nie so recht interessiert", sagte Romina. Patricia Straton nickte beipflichtend. Dann holte sie aus einem Bücherschrank einen in Drachenhaut eingeschlagenen Folianten mit dem Titel "Sardonia, die dunkle Matriarchin" und gab ihn Romina.

"Ich denke, die höchste Schwester möchte haben, daß alle von uns wissen, wie ihre Tante damals gelebt hat. Allerdings haben die Schreiber dieses Buches sehr negativ über sie berichtet, als sei grundsätzlich alles böse gewesen, was Sardonia getan hat", sagte Patricia Straton noch.

"Hatten wir es nicht davon, daß der Sohn von diesem Richard Andrews nun bei dieser Catherine Brickston wohnt?" Griff Romina etwas auf, daß sie gestern noch gehört hatte.

"Ja, das ist richtig. Wenn ich das, was du mit diesem Internet eingeholt hast, richtig gelesen habe, hat Richard Andrews sich wohl von seiner Frau getrennt. Vielleicht wollte er nicht haben, daß sein Sohn Zauberei lernt, dieser Idiot. Als wenn wir das zuließen, daß ein Junge oder ein Mädchen mit Zauberkräften wild und ungesteuert Magie freisetzt. Na ja, offenbar ist er da schon von diesem Monster vernebelt gewesen."

"Die höchste Schwester hat gesagt, wir bräuchten uns um den Jungen erst einmal nicht zu kümmern. Aber interessieren tut es mich schon, wie der von Hogwarts nach Beauxbatons gekommen ist", gestand Romina.

"Bei Gelegenheit kriegen wir das raus. Wir arbeiten doch noch dran, Leute in Frankreich an wichtigen Stellen hinzusetzen. Die vier, die wir jetzt schon haben, müssen aufpassen, weil der Minister dort sehr mißtrauisch ist, nachdem dieser Emporkömmling sich wieder gerührt hat und der britische Minister das nicht weiter beachten will."

"Hast recht, Schwester Patricia", gestand Romina ein.

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Richard Andrews verbrachte eine Nacht alleine in seiner Wohnung. Er war nach Hause gekommen, hatte sich nicht anmerken lassen, daß er heimliche Mithörer vermutete und war rasch zu Bett gegangen. Daß er vor nicht einmal drei Stunden eine Frau und einen Mann umgebracht hatte, war ihm gleichgültig. Solange die nicht die Polizei riefen, machte er sich daraus nichts. So schlief er tief und ohne Erinnerung an einen Traum bis zum nächsten Morgen, bis sein Radiowecker ihn mit klassischer Musik aus dem Schlummer holte. Ruhig und schnell stand er auf, frühstückte und verließ leise das Haus. Mehrere Stellen verzeichneten, wie er ein Taxi bestieg, das direkt nach Detroit abfuhr.

Richard Andrews hatte seinen Plan genau durchdacht. Er wollte zunächst in die Stadt fahren, um angeblich einen Arzt für seelische Probleme aufzusuchen. Dann wollte er Degenhart anrufen, um ihm mitzuteilen, daß er ihn und die vier anderen von gestern noch einmal sprechen wollte. Er hatte drei volle Giftspritzen so in seinem Anzug versteckt, das sie nicht sonderlich auffielen. Wenn er getan hatte, was er heute tun mußte, würde er den Wagen Degenharts vom Parkplatz holen und schnell zu seiner Wohnung fahren, wo er nur das nötigste mitnehmen würde, um dann zu Loretta zu fahren, die in einem kleinen Hotel bei Bay City übernachtete.

"Das Wetter wird wohl nicht so recht heute, was Sir?" Versuchte der Taxifahrer, den sehr schweigsamen Fahrgast in ein belangloses Gespräch zu verwickeln.

"Das Wetter ist mir gleich", sagte Richard und tat damit kund, daß er sich nicht für diese überflüssige Plauderei interessierte.

"Okay", grummelte der Taxifahrer nur und brachte Richard zu einem Gebäude, in dem der Psychologe Dr. Albert Wells seine Praxis hatte. Er bezahlte den Fahrpreis plus zehn Prozent Trinkgeld und ging in das Gebäude.

""Hier Wagen siebzehn, Geoff. Sage Larry, der englische Fahrgast ist jetzt bei Dr. Wells", meldete der Taxifahrer über Funk.

"In Ordnung, Siebzehn! Sollst du warten?"

"Nope, Geoff. Der meinte, er hätte eine Stunde da zu tun. Ich bin also frei."

"Joh, dann fahr mal zum Hafen und nimm da eine gewisse Mrs. Straker auf. Die hat vor zehn Minuten angeklingelt."

"Ist gemacht, Geoff", sagte der Taxifahrer und setzte den Cadillac vor dem Hauseingang soweit zurück, das er sich problemlos in den Stadtverkehr einsortieren konnte.

Richard Andrews dachte nicht daran, sich bei diesem Seelendoktor zu melden. Er fuhr mit dem Fahrstuhl bis ins oberste Stockwerk, suchte dort die öffentlichen Toiletten auf und schloß sich für eine Stunde in einer Kabine ein. Er prüfte noch mal seine Mordinstrumente. Er würde höllisch aufpassen müssen, daß er beim Setzen der Spritzen nicht selbst die Nadeln ins Fleisch bekam. Er überlegte sich, mit wem er sich zuerst anlegen sollte. Sicher würde Nina Zager die schwächste der fünf sein. Doch er durfte sie nicht unterschätzen. Am gefährlichsten mochten Gereth und Roger sein. Sie waren fünfzehn Jahre jünger als Richard und trieben viel Sport, wie er wußte. Er überlegte, wie er die beiden mit einem Schlag ausschalten konnte. Ja, anders ging es nicht.

Nach der Stunde rief er zunächst ein Taxi und dann bei Degenhart an, um ihn zu bitten, noch einmal mit allen Leuten von Gestern zusammenzukommen. Als er Degenhart sagte, er habe sich mit dem Doktor unterhalten, in den nächsten Wochen eine umfassende Therapie zu machen, willigte Degenhart ein, noch einmal mit ihm zu sprechen. Tatsächlich war er auch einverstanden, seine Söhne, Personalchef Mathews und Nina Zager hinzuzuholen. Richard Andrews bedankte sich und schaltete sein Handy ganz aus.

Mit dem gerufenen Taxi fuhr er zum Degenhart-Autodesign-Kompanie-Gebäude.

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"Gereth, Roger, ich möchte, daß ihr dabei seid, wenn der Engländer mit mir redet. Nachher behauptet er noch, ich hätte ihn unfair behandelt", sagte Mark Degenhart zu seinen beiden Söhnen. Roger nickte ihm zu. Gereth fragte:

"Hast du bei Wells angerufen, ob der wirklich dort war?"

"Der würde mir doch nichts erzählen, Gereth. Ärztliche Schweigepflicht."

"War nur 'ne Frage", sagte Mark Degenharts jüngster Sohn.

"Halligan und die von der Taxifirma haben alle bestätigt, daß er ganz ruhig und gelassen war, als er aus dem Haus kam. Ich denke mal, er hat begriffen, daß er mit dieser Frau danebenliegt."

"Wo ist die eigentlich gewesen, Dad?" Wollte Roger wissen.

"Weiß ich nicht, Roger. Sie war auf jeden Fall nicht in Andrews' Wohnung. Offenbar hat er sie eerst einmal zurückgepfiffen. Immerhin scheint ihm ja doch was an seiner Arbeit hier zu liegen."

"Mir schmeckt das nicht, Dad", gab Roger zu verstehen. "Du hast Doktor Andrews gestern einfach so abrücken lassen. Was ist, wenn er nur so tut, als wäre er auf deine Bedingungen eingegangen?"

"Ich lasse die Wohnung von dem weiter beobachten. Halligan hat mir sogar erzählt, er hätte kleine Spielsachen da versteckt. Wenn der in vier Wochen von jetzt an immer noch mit dieser Frau zusammen ist, kündige ich ihm fristlos", sagte Mark Degenhart.

"Halligan hat die Wohnung verwanzt. Dir ist klar, daß das illegal ist, Dad", erhob Roger vorsichtig Widerspruch.

"Wenn man es herausfindet, Roger. Auch wenn dein Juraexamen in Harvard mich sehr viel Geld gekostet hat solltest du mal fürs erste vergessen, was in den Gesetzbüchern drinsteht!" Stellte Degenhart sehr bestimmt klar. Roger nickte und behielt jeden weiteren Einwand für sich.

"Sir, Doktor Andrews ist gerade reingekommen!" Meldete der Pförtner über das Haustelefon. Mark Degenhart sagte, daß er ihn erwarte und rief dann Nina Zager und Mr. Mathews in das schall- und abhörsichere Sprechzimmer. Als Dr. Andrews eintraf, gingen die Degenharts und er dorthin.

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Anthelia war nicht in ihrer üblichen Erscheinungsform zu Schlessinger gereist. Sie hatte nach einem kurzen, schnellen Flug auf ihrem Harvey-5-Besen kurz vor dem Gebäude die Gestalt einer großen Krähe angenommen und war vor das Fenster von Schlessingers Büro geflogen. Ohne weiteres belauschte sie von hier aus alles, was der Chef der Detektei an Nachrichten bekam und weiterleitete. Sie erfuhr, daß man den zu überwachenden am Morgen in seiner Wohnung beobachtet hatte, wie er von Bay City nach Detroit gefahren war und dort wohl eine Stunde im Gebäude mit verschiedenen Arzt- und Anwaltspraxen geblieben war, bevor er zu seiner Arbeitsstelle gefahren war. Die Detektive hatten danach herumgefragt, ob jemand den Mann irgendwo im Gebäude gesehen habe, um rauszufinden, wo er die Stunde zugebracht hatte. Doch niemand hatte ihn gesehen. Er war weder bei einem der Anwälte, noch bei einem der fünf Ärzte gewesen.

"Verdammt, was wollte der denn dann da?" Fragte Schlessinger seinen Mann vor Ort.

"Das weiß hier keiner", hörte Anthelia durch die Ohren des Detekteichefs mit. "Es sieht glatt so aus, als wäre der nur in das Gebäude gegangen, um Zeit zu schinden. Im obersten Stockwerk ist ein öffentlicher Toilettentrakt. Wenn er da in einer Kabine saß ..."

"Wieso habbt ihr nicht sofort, wo der im Gebäude verschwunden war nachgesehen?" Fragte Schlessinger sichtlich wütend. "So unerfahren seid ihr ja wohl nicht mehr."

"Chef, Sie selbst haben gesagt, nur beobachten. Er durfte uns nicht entdecken, sagten Sie", wandte der Mann am anderen Ende der Telefonverbindung ein.

"Vergessen wir's", schnaubte Schlessinger. "Ich checke mal gegen, wer in dem Gebäude schon mal was mit der Polizei zu tun hatte. Vielleicht haben wir ja da Glück."

"Was sollen wir jetzt machen?" Fragte Schlessingers Mitarbeiter.

"Wir müssen jemanden bei Degenhart reinbringen. Nachher ist da wirklich noch was im Argen. Sag Meabh, sie soll da hin und sehen, ob sie was rauskriegt! Die ist doch gelernte Schauspielerin."

"Geht klar, Chef", kam die Bestätigung. Dann wurde die Fernsprechverbindung beendet.

"Der Abhängige spielt mit den Beobachtern. Er weiß also, daß er beobachtet wird", erkannte Anthelia. "Dann weiß die Kreatur, wer ihn beobachtet. Vielleicht war sie deshalb nicht in seinen Räumlichkeiten."

Es dauerte einige Minuten, bis Schlessinger einen weiteren Anruf bekam, diesmal von Romina Hamton, die sich als Alexandra Glocester ausgab. Schlessinger hörte, wie sie eindeutig klarstellte, daß die Polizei nichts davon erfahren durfte, wem die Detektei nachspürte. Es gäbe eine halbe Million dafür, wenn sie eine glaubwürdige Entschuldigung finden würden. Das munterte Schlessinger auf, der Polizei eine Lügengeschichte von einem eifersüchtigen Ehemann zu erzählen, der seine Frau mit deren angeblichen Geliebten verfolgt habe. Anthelia stellte mit einer Mischung aus Bewunderung und Mißgunst fest, wie kreativ die Unfähigen dieser Zeit doch waren, wenn es darum ging, die Gesetzeshüter zu belügen, und welche Methoden sie dazu benutzen konnten. Denn Schlessinger rief auf seinem Computer mehrere Dateien auf, die er flux umbenannte und in das Verzeichnis für vertrauliche Akten überspielte. Die Dateien waren angelegt worden, um bei heiklen Aufträgen unbedenkliches Aktenmaterial vorzutäuschen. Er änderte die Zeitdaten des Betriebssystems und schrieb in die Textdateien neue Namen und Ortsangaben hinein. Dann ließ er einen Zufallsbildgenerator aus vorgespeicherten Bildelementen fünf Männer und sieben Frauen zusammenstellen, die dann als Fotomotive in passende Hintergrundbilder eingefügt wurden, bevor die Daten als täuschend echte Fotoabzüge gedruckt wurden. Doch während diese Datenfälschung im Gang war, traf eine erschütternde Meldung ein.

__________

Die Tür zu dem Besprechungszimmer schloß sich, und der Funkstörer schaltete sich ein. Bis zu einer Funkfrequenz von vier Gigahertz konnte er alle Sender überlagern, die jemand in das Zimmer mitgebracht oder dort versteckt haben mochte. Ein Lauscher an der Wand war auch nicht zu fürchten, weil die Wände doppelt so dick mit schallisolierendem Material gepolstert waren wie bei einem Musikübungsraum. Gleiches galt für die Tür, in deren Füllung noch ein Summer eingearbeitet war, der dem Versuch, daran zu lauschen, mit lautem Dröhnen entgegenhielt, was drinnen jedoch niemand vernehmen konnte.

Nach einer kurzen Begrüßung nahmen die sechs Firmenangehörigen Platz. Richard Andrews wirkte ruhig und gelassen. Niemand ohne telepathische Begabung bekam mit, wie gespannt er in Wirklichkeit war. Er saß da und beobachtete ruhig, wer wo saß. Nina Zager saß ihm am nächsten. Mark Degenhart saß ihm direkt gegenüber, flankiert von seinen Söhnen, wie ein Richter und seine Geschworenen. Mathews saß am Schreibtisch und blickte fast gelangweilt in die Runde. Warum sollte er bei dem Schauspiel dabei sein? Entweder würde er die Kündigung des Engländers sowieso mitbekommen oder ihn weiterhin in der Personalakte führen.

Richard erzählte ruhig, wie er gestern den Tag mit viel Spazierengehen verbracht hatte. Degenhart, der nicht zugeben wollte, daß er seinen Mitarbeiter beobachtete, hörte nur interessiert zu. Dann erwähnte Richard den Psychologen, den er am Morgen aufgesucht hatte. Als Degenhart fragte, ob er die Unterlagen dieses Arztes sehen dürfe, nickte Richard.

Er nahm seine Aktentasche, klappte sie auf, griff hinein und holte drei bedruckte Blätter heraus. Er reichte sie Degenhart mit der unbeschriebenen Seite nach oben. Der Firmenchef nahm sie entgegen. Wobei er die Hand von Richard Andrews berührte. In dem Moment schnappte diese wie eine Rattenfalle zu und riss ihn am Arm vom Stuhl herunter. Die Schrecksekunde traf alle hier im Raum. Richard kam mit der zweiten Hand aus den Tiefen der Tasche zum Vorschein, die einen länglichen Gegenstand hielt. Als Degenhart der Länge nach vor Richard hinfiel, pflückte dieser mit einer schnellen Bewegung ein Plastikkäppchen von der Spritze und stieß diese in den linken Oberarm des Firmenchefs. Durch den Stoff des dunklen Anzugs bohrte sich die spitze Nadel durch die Haut und in das Muskelfleisch darunter. Kurz tippte Richard den Kolben an, das dieser zur Hälfte im Zylinder versank. Dann hatte er das Injektionsbesteck wieder herausgezogen und machte damit eine schnelle Bewegung zu Nina Zager. Diese fuhr auf, als sie erkannte, was passierte. Da traf sie die Nadel jedoch schon in den Hals. Wieder drückte Richard den Kolben weiter in den Zylinder, bis er ganz darin verschwunden war. Mit einer von ihm unerwarteten Schnelligkeit und Präzision holte er eine zweite Spritze aus seiner Jackettasche, zog die Schutzkappe von der Nadel und richtete sie auf Gereth Degenhart, der vorsprang, um den Angreifer kampfunfähig zu machen. Seine Hand griff voll in die spitze Nadel. Gereth schrie vor Schmerz auf, während Nina Zager laut um Hilfe rief. Doch das achso schalldichte Zimmer ließ ihren Ruf nicht mehr nach außen.

Roger zog eine Schublade auf. Richard wußte, woher auch immer, daß darin eine schußbereite Pistole lag. Er Warf sich mit der nun halb vollen Spritze vorwärts. Krachend entlud sich eine Patrone aus der Waffe, die Roger herausgezogen hatte. Die Kugel verschwand in der gepolsterten Wand. Keine Sekunde Später bohrte sich die tödliche Nadel der Spritze in seinen Hals. Richard hieb auf den Kolben, um den Inhalt in den Leib des ältesten Sohnes von Degenhart zu jagen. Er handelte wie ein Roboter, ohne jedes Gefühl, schnell und über alle Maßen zielsicher.

Nina Zager röchelte und brach zusammen. Auch Mark Degenhart, dem die erste Giftladung gegolten hatte, kämpfte den aussichtslosen Kampf um Luft. Seine Lungen wurden von dem schnell wirksamen Gemisch aus der Spritze immer stärker verkrampft, seine Muskeln versagten den Dienst.

"Sie Mörder!" Brüllte Mathews, als er erkannte, was innerhalb von nur zehn Sekunden passiert war. Richard Andrews sah ihn kalt lächelnd an.

"Für Loretta tu ich das gerne", sagte er. Ein irgendwie weltentrückter Blick traf Mathews, der vorspringen wollte, um den offenbar Amok laufenden Mitarbeiter zu stoppen. Er prallte jäh zurück, als er in große, golden schimmernde Augen blickte, die ihn wie mit Diamantbohrern durch das Gehirn stachen. Mathews stand starr da, konnte sich nicht mehr bewegen, bis er den sein Ende verheißenden Schmerz einer einstechenden Injektionsnadel im Hals spürte, wie das Teufelsgebräu aus der Spritze in seine Adern gepumpt wurde und bereits auf dem Weg zum Herzen alles betäubte. Er konnte kaum mehr atmen, verlor das Gleichgewicht und sackte zu Boden. Jeder außer Richard war nun im Todeskampf gefangen, aussichtslos dem Ende geweiht. Richard, immer noch in einem stillen Rausch der Gefühllosigkeit und Schnelligkeit, zog die halbvolle Spritze zurück, verkappte die Nadel vorsichtig wieder und sah sein Todeswerk an. Vor ihm lag Mark Degenhart, der bereits keinen Atemzug mehr tun konnte. Nina Zager war gegen die rechte Wand gefallen und lag in einer erschreckend an ein Kind im Mutterleib erinnernden Haltung zusammengekrümmt da. Roger und Gereth röchelten noch. Doch gegen die Dosis, die dreimal so hoch war wie die tödliche Mindestladung, konnten auch ihre in guter Form befindlichen Organismen nichts mehr aufbieten, wußte Richard. Sie lagen ebenfalls am Boden. Mathews hatte mit einer letzten Kraftanstrengung den Hörer des Telefons hochgerissen, ließ ihn jedoch herunterfallen. Das rauhe Tuten des Freizeichens klang wie Musik eines Geistes durch den Raum, spielte ein einfaches Todeslied für die führenden Mitarbeiter von Degenhart-Autodesign. Richard wartete, bis niemand außer ihm noch irgendeine Regung zeigte. Er nahm den an seiner Schnur herabbaumelnden Telefonhörer und legte ihn auf die Gabel zurück. Er bedauerte, daß in diesem Raum kein Wasseranschluß war, um die Fingerspuren von den Spritzen und dem Hörer zu wischen. Doch als er im Schreibtisch noch eine volle Flasche Whiskey fand, umspielte ein triumphierendes Lächeln seine Mundwinkel. Er nahm die leergedrückten Spritzen, spülte Kolben und Zylinderaußenseite mit dem Bourbon ab und ließ sie liegen. Dann schüttete er den hochprozentigen Stoff über das Telefon aus. Daß der Apparat das nicht heil überstand, war dem nun siebenfachen Mörder völlig egal. Sollte sich die Polizei darum sorgen. Den Rest aus der Flasche kippte er über die Blätter, die er Degenhart in die Hand gedrückt hatte. Dann sammelte er die zwei Plastikkappen ein, drehte den Schraubverschluß wieder auf die Flasche und nahm diese, die Pistole aus dem Schreibtisch, seine Aktentasche und Degenharts Brieftasche und Wagenschlüssel mit sich. Er zog sich einen Jacketärmel über die rechte Hand. Wie froh war er doch, daß er beim Betreten die Tür nicht von außen angefaßt hatte. Er ging hinaus und ließ die Tür einfach zuschnappen. Mit Degenharts Schlüsseln schloß er sie von außen ab. Die dritte Spritze war gesichert aber einsatzbereit in der Außentasche seines Jacketts verborgen. Er blickte sich um. Niemand war um diese Zeit in diesem Bereich des Gebäudes. Hier kam nur her, wer etwas vertrauliches zu besprechen hatte.

Immer noch im merkwürdigen Rausch der absoluten Gefühllosigkeit marschierte Richard seelenruhig durch das Gebäude. Er hörte die Gespräche seiner baldigen Ex-Mitarbeiter hinter den Bürotüren, das Klingeln von Telefonen, rattern von Druckern oder Surren von Faxgeräten. Hier lief der Betrieb so weiter, als sei der Chef nicht gerade ermordet worden und sein Mörder dabei, sich abzusetzen. Richard Andrews blickte auf den großen Wandkalender, der einen roten Chrysler Imperial zeigte. Heute, am fünfzehnten März 1996, hatte Richard endgültig mit allem gebrochen, was er je gelernt und beachtet hatte. Doch er dachte nicht daran. Noch hielt ihn irgendwas oder irgendwer davon ab, irgendwas zu denken, was seine Flucht behindern mochte.

Der nun zum Mörder gewordene Chemiker fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter zur Tiefgarage für die Autos der leitenden Angestellten und des Chefs. Er passierte einen Spiegel, der als Kopie eines venezianischen Meisterwerks die rechte Wand zierte. Er wußte nicht, daß dieser Spiegel von hinten durchsichtig war und eine leistungsfähige Videokamera dahinter jeden aufnahm, der aus der Garage kam oder dort hineinging. Arglos öffnete Richard die Stahltür und verließ den mit weichen Kunstfaserteppichen ausgelegten Flur. Er ging mit schnellen Schritten zu dem cremefarbenen Mercedes, der auf einem von starken Neonlampen erleuchteten Parkplatz wartete. Sein Besitzer würde ihn nie wieder benutzen. Warum sollte Richard ihn dann nicht als komfortables Transportmittel benutzen? Er sperrte die Fahrertür auf und schlüpfte auf den bequemen, mit Büffelleder bezogenen Sitz. Leise klappte die Fahrertür zu. Ohne Probleme ließ Richard den mit Wegfahrsperre gesicherten Motor an, schaltete die Scheinwerfer ein und bugsierte den majestätischen Wagen vom Parkplatz herunter. Ruhig fuhr er auf die Stahltore zu, die per Fernbedienung zu öffnen waren. Richard hatte die Fernbedienung im Handschuhfach gefunden und tippte eine Codenummer ein, die Gereth Degenhart mal in seiner Anwesenheit benutzt hatte, als er ihn zum Antritt seiner Arbeitsstelle hergebracht hatte. Gehorsam schwangen die Servotore wie von Zauberhand bewegt nach außen und ließen Degenharts Mercedes mit seinem Dieb am Steuer hinausfahren. Da klingelte das Autotelefon. Richard ignorierte es. Doch das Klingeln hielt vor. Wer wollte denn jetzt was von Degenhart?

Eher aus Genervtheit als aus Dreistigkeit nahm Richard den Hörer ab und sagte mit dunkler Betonung "Hallo."

"Mr. Andrews. Sind Sie das?" kam die Stimme des Pförtners aus dem Hörer. Richard drückte sofort auf die Gabel, legte den Hörer neben das Telefon und gab Gas, um schneller vom Parkplatz herunterzukommen. Wieso hatte der Türsteher vermutet, Richard sei in dem Mercedes?

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Martin Reynolds, der diensthabende Pförtner bei Degenharts, wunderte sich sehr über die Gelassenheit, mit der Richard Andrews am Morgen an seiner Loge vorbeigekommen war und einfach nur gesagt hatte:

"Mr. Degenhart möchte mich sprechen. Sagen Sie ihm bitte, ich sei jetzt unterwegs zu ihm!" Reynolds wunderte sich. Die letzten Tage hatte der britische Kunststoffspezialist wie ein halbtoter Mann ausgesehen. Doch heute Morgen wirkte sein Gesicht richtig jung und frisch. Seine blauen Augen strahlten Gelassenheit und Ruhe aus, als er den Pförtner angesprochen hatte. Wie kam das, daß der wohl kranke Mann so heftig erholt aussah? Als dann etliche Minuten später Reynolds Kollege aus der Videozentrale anrief, daß Andrews die Tiefgarage betreten und den Mercedes des Chefs genommen hatte, staunte Reynolds. Er rief sofort bei Degenhart im Büro an. Niemand ging ran. Dann wählte er die Nummer des schallisolierten Sprechzimmers. Dort kam jedoch nur ein kurzes Freizeichn und dann mit lautem Knacken und Knistern ein Besetztzeichen zurück. Er wählte die Nummer des Autotelefons. Eine tief gestellte Stimme meldete sich. Er fragte, ob es Mr. Andrews sei. Da wurde die Verbindung getrennt.

Rasch erkannte Reynolds, was passiert war. Andrews hatte dem Chef die Wagenschlüssel abgenommen. Er drückte schnell den Knopf, der alle elektrischen Türen und Schranken auf dem Firmengelände blockierte. Dann nahm er den Hörer des Haustelefons und drückte die Zifferntaste neun für den Werkschutz. Dieser war jedoch von der Videozentrale aus informiert worden und bereits unterwegs, um zu klären, ob Degenhart dem britischen Mitarbeiter seinen Wagen geliehen hatte. Reynolds schaltete einen Monitor ein, mit dem er sich auf Außenkameras rund um das Gebäude schalten konnte. Er wählte die Videoüberwachung des Parkplatzes. Er sah, wie der cremefarbene Mercedes auf die gerade wieder heruntergeklappte Schranke zuraste, kurz davor bremste und genau mit der Motorhaube darunter zum Stehen kam. Er sah, wie Richard Andrews aus dem Wagen sprang und sich von unten gegen die Schranke stemmte.

"Was wird denn das jetzt. Will der eine mit zehn Tonnen Gegengewicht gesicherte Schranke hochdrücken?" Fragte sich Reynolds. Doch Andrews hantierte mit einer Chipkarte aus einer großen braunen Brieftasche. Es ruckelte kurz in der Schranke, und schon schwang sie freigiebig nach oben.

"Der hat Degenharts Überbrückungskarte", erkannte Reynolds. Zu den Privilegien des Chefs und seiner Söhne gehörten die kleinen Kartenleser, die die Sicherheitssperren überbrücken konnten, wenn eine spezielle Schlüsselkarte und die dazugehörige Geheimnummer benutzt wurde. Aber woher kannte Andrews die Geheimnummer? Woher hatte er überhaupt die Karte? Während sich Reynolds diese Fragen stellte, brauste der Mercedes seines Chefs bereits davon, unangefochten.

Der Werkschutz eilte in Gestalt von sechs rotuniformierten Mitgliedern über den Parkplatz. Reynolds konnte sehen, wie sie unter der sich wieder schließenden Schranke hindurchschlüpften und gerade noch die blaue Rauchfahne aus dem Auspuff der Luxuslimousine aus Deutschland zu sehen bekamen.

"Reynolds, der Chef ist tot! Seine Söhne, Mathews und Nina Zager auch!" Kam eine sehr aufgeregte Durchsage aus Reynolds Haustelefon. Dieser schluckte hörbar. Dann fragte er:

"Hat Andrews sie etwa alle ermordet?"

"Davon müssen wir ausgehen", erwiderte der Mann vom Werkschutz.

"In Ordnung! Ich rufe die Polizei an", erklärte der Pförtner und starrte bleich auf das weiße Auswärtstelefon. Er nahm den Hörer ab und wählte die 911, die allgemeine Polizei- und Notrufnummer. Mit schwer im Zaum gehaltener Bestürztheit forderte er von der Dame am anderen Ende der Leitung die Kriminalpolizei an, da es bei Degenharts fünf Tote gab und einen flüchtigen Autodieb, der wohl auch ein fünffacher Mörder war.

Einige Minuten später trafen vier Beamte des Detroiter Polizeidepartments ein, zusammen mit Dr. Remmington, dem Gerichtsmediziner. Da Reynolds seinen Posten nicht verlassen durfte, bekam er nur die Polizeiausweise und den Ausweis des Pathologen zu sehen, erfuhr jedoch nicht sofort, was passiert war.

Eine Minute dauerte es, bis Inspektor Denvers die Pförtnerloge wieder besuchte. Er fragte nach Kennzeichen und eingeschlagenem Weg des Mercedes und ließ sich berichten, was der Mann in der Pförtnerloge beobachtet hatte. Dieser Fragte dann

"Weiß man, wie Mr. Degenhart gestorben ist?"

"Gift, Mr. Reynolds. Wir haben zwei leere Einwegspritzen gefunden, und die Toten lagen alle in einer schmerzhaft verkrampften Haltung da. Der Täter hat mit Whiskey versucht, die Fingerspuren zu beseitigen. Nun, wenn es wirklich dieser Andrews war, nützt ihm das nur bedingt was. Wo wohnt er?"

"Der Personalchef muß ... Oh, natürlich. - Also im Personalbüro müssen die Unterlagen sein. Fragen Sie gordon vom Werkschutz!"

"Kein Problem", sagte Inspektor Denvers, nahm sein Funkgerät und gab die Anweisung an seine Leute durch, sich mit dem Werkschutzleiter die Personalakten von Dr. Andrews zu besorgen. Dann sagte er noch:

"Sie haben doch eine Rundsprechanlage. Geben Sie an alle Mitarbeiter die Weisung aus, sich bis auf weiteres im Gebäude aufzuhalten! Ich möchte sie alle verhören. Vielleicht kann mir jemand sagen, was zu diesem Massenmord geführt hat."

"Natürlich, Sir", sagte der Pförtner und schaltete die Rundsprechanlage ein. Er sagte allen, daß ihr Chef, Mr. Degenhart, sowie die Juniorchefs Gereth und Roger, ermordet worden seien und die Polizei alle bitte, sich für Vernehmungen zur Verfügung zu halten. Der Werkschutz sicherte die Ein- und Ausgänge und half den Polizisten dabei, die Spuren der Tat zu sichern. Dr. Remmington befragte alle Mitarbeiter, ob ihnen an Richard Andrews was besonderes aufgefallen sei und was der Grund für einen Mord sein mochte. Doch keiner konnte was dazu sagen, da alle die was wußten tot waren. Der Gerichtsmediziner erfuhr nur, daß Dr. Andrews in den letzten Wochen immer sehr ausgezehrt und bleich gewesen sei. Der Pförtner verriet in Übereinstimmung mit dem Mann aus der Videozentrale, daß Richard Andrews an diesem Morgen sehr erholt, ja jugendlich frisch ausgesehen und gewirkt hatte.

"Hmm, wenn das eine Krankheit ist, die diesen Mann umtreibt, dann hat er wohl einen sehr heftigen Gesundungsschub erfahren", vermutete Remmington dem Inspektor gegenüber. Dieser meinte nur, daß man das vielleicht noch herausfinden würde.

Die Kriminalpolizei vollzog den Weg nach, den Richard Andrews am Morgen genommen hatte und schickte sogar Beamte in die Wohnung des Gesuchten. Doch dort kam dieser nicht an. Der Inspektor wollte gerade seine Leute vom Firmengelände abziehen, als er per Handy erfuhr, daß die Wohnung des Gesuchten mit Mikrofonen und Kameras gespickt war. Daneben hatten sie vor dem Haus in Bay City Leute in einem Lieferwagen aufgestöbert, die sich als Mitarbeiter der Schlessinger-Detektei herausstellten. Was ging da vor?

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"Wie, der hat seinen Chef ermordet? Woher wißt ihr das?" Hörte Anthelia, die in Krähengestalt vor Schlessingers Bürofenster hockte.

"Irgendwie muß der ausgerastet sein, Chef. Der hat heimlich Giftspritzen in die Firma mitgenommen und innerhalb einer Minute seine Kollegin und die drei Firmeninhaber, sowie den Personalchef getötet. Der ist gefährlicher als wir uns zu träumen wagten, Chef", klang die Stimme von Meabh O'hara durch den Telefonhörer an Schlessingers Ohr, durch dieses in sein Gehirn, in das Anthelia durch den Exosenso-Zauber heimlich eingedrungen war und alles mitbekam, was Schlessingers Sinne wahrnahmen.

"Verdammt, dann brecht da alle Zelte ab! Die Polizei wird den bald suchen", erwiderte Schlessinger. Er trennte die Verbindung zu seiner Mitarbeiterin vor dem Degenhart-Gebäude und rief schnell seine Leute in Bay City an. Doch dort kam gerade die Polizei mit einem Großaufgebot an, und ein unbemerkter Rückzug war unmöglich. Außerdem waren ja noch alle elektronischen Spionageapparate installiert. Schlessinger fragte:

"Wie konnte der die Giftspritzen mitnehmen, ohne daß wir die auf den Monitoren gesehen haben? Die Kameras haben doch fast jeden Winkel aufnehmen können."

"Die einzige Erklärung ist, daß er die anderswo vollgemacht und in seiner Jacke oder der Aktentasche mitgenommen hat, Chef."

Natürlich stimmte Schlessinger seinem Mitarbeiter zu. Denn nur so waren die Giftinjektionen unbemerkt von den heimlichen Beobachtern ins Haus und wieder hinaustransportiert worden. Dann kam es für Schlessinger noch knüppeldick, als er drei Stunden später gefragt wurde, wie es anging, daß einer seiner Mitarbeiter, eben Clark Michelsen, den nun Flüchtigen am Tag zuvor mitgenommen hatte. Einige Zeugen hatten das beobachten und die Autonummer aufschreiben können. Der Detekteichef meinte nun, das Bild klar zu sehen, wie Andrews herausgefunden hatte, daß er beobachtet wurde und von wem. Wie immer er es angestellt hatte, er hatte Michelsen dazu gebracht, ihn irgendwo hinzufahren, bevor Michelsen gegen den Brückenfeiler gerast war.

"Langsam frage ich mich, ob dieser Andrews mit den Mächten der schwarzen Magie im Bunde ist", grummelte er unbedacht, ob das jemand hören mochte oder nicht. Anthelia konnte jedoch einen zweifelnden Unterton heraushören. Der nächste Schritt, den der Detekteichef tat, war für Anthelia klar vorherzusehen, seitdem die Verbindung zwischen Hallittis Abhängigem und der Schlessinger-Detektei offenbart worden war. Der Chef der Privatermittlungsfirma wählte die Handynummer, die Romina Hamton ihm gegeben hatte. Sie meldete sich sofort. anthelia zog sich blitzschnell aus Schlessingers Wahrnehmungswelt zurück und flog auf, um schnell zu ihrem Besen zu gelangen. Dort angekommen verwandelte sie sich zunächst in ihre gewohnte Gestalt zurück, griff den Besen und flog unsichtbar damit auf. Einige hundert Meter weiter fort landete sie auf einem Hinterhof und disapparierte mit lautem Knall. Die Polizei, die wenige Minuten später eintraf, um zu klären, ob da jemand geschossen hatte, konnte nichts finden und mußte wieder abrücken.

Unverzüglich apparierte Anthelia in der Nähe von Patricia Stratons Geheimlabor und flog den Rest mit dem Besen ab. Sie kam gerade noch an, als Romina sagte:

"Sie können mir glauben, Mr. Schlessinger, daß ich bei der Erteilung des Auftrages ausschließlich davon ausging, daß Andrews uns wohl ausspionieren wollte. - Nein, mein Onkel ist für Sie nicht zu sprechen. Er wird jede Kenntnis abstreiten, daß Sie für ihn tätig sind. So steht es im Vertrag drin. - Nein, ich habe Sie nicht täuschen wollen. Wenn Ihr Mitarbeiter gestorben ist, weil er nicht gut Auto fahren kann, dürfen Sie mir das nicht anlasten, oder glauben Sie, Andrews habe mit Ihrem Fahrer ... - Auf keinen Fall. Falls Sie mich oder meinen Onkel wider die Vertragsbedingungen in diese Angelegenheit hineinziehen bekommen Sie mehr Ärger als Sie bei der Vermont-Sache hätten kriegen müssen, von der Verweigerung der Honorarzahlung ganz abgesehen. - Ja, ist gut, Mr. Schlessinger. Sie ziehen Sich aus der Angelegenheit zurück und geben der Polizei die Unterlagen, von denen Sie sicher sind, daß sie akzeptiert werden. - Ebenfalls einen schönen Tag noch."

Patricia Straton ließ Anthelia ins Haus und berichtete ihr auf direktem Gedankenwege, was Romina gerade erfahren hatte. Anthelia nickte und teilte für außenstehende unhörbar mit, daß sie den Anruf bei Schlessinger noch mitbekommen hatte. Demnach sei der Chef von Richard Andrews vergiftet worden.

"Was meinst du, höchste Schwester, wieso er das getan hat? Ich meine, natürlich hat sie ihn dazu getrieben und hält ihn wohl immer noch unter ihrem Bann. Aber warum hat sie ihm den Mord befohlen?" Wollte Patricia wissen.

"Wahrscheinlich hat dieser Degenhart Verdacht geschöpft. Immerhin war der ja vorgestern bei ihm. Ich vermute, daß dieses Wesen in einer Art Gefahrenstimmung beschlossen hat, den Arbeitgeber ihres Abhängigen aus dem Wege zu schaffen. Daß er, der allen Unterlagen nach sehr rechtschaffend sein soll derartig die Gesetze übertritt beweist mir, daß er nun endgültig ihr Sklave ist. Wir müssen sogar davon ausgehen, daß sie ihm einige ihrer Eigenschaften übertragen hat, damit er ihr nicht mehr verlorengehen kann."

"Das Geschenk des Abgrunds, höchste Schwester? Schwester Pandora hat mir das mal erklärt, als wir uns über die Kräfte eines Succubus unterhalten haben."

"Meine respektable Tante Sardonia hat einige getroffen, die obgleich zur eigenen Magie unfähig Eigenschaften ihrer Herrin nutzen konnten. Darunter war die direkte Gedankenverbindung, sowie die Gabe, sich an der Lebenskraft geschlechtlich tätiger Zeitgenossen zu laben", sagte Anthelia dann noch.

"Wir haben jetzt wohl ein größeres Problem als vorher, höchste Schwester", wandte Patricia Straton vorsichtig sprechend ein. "Jetzt, wo dieser Mann ein flüchtiger Verbrecher ist, wird er an keinem festen Ort mehr bleiben können, wenn er nicht alles um sich herum irgendwie unterwerfen kann. Ihn wiederzufinden dürfte dann nicht ohne Aufsehen sein. Die Polizei wird ihn jetzt jagen. Wenn er die Staatsgrenze überschreitet und anderswo auch noch mordet oder irgendwas anderes anstellt, sucht ihn das FBI, diese bundesweite Polizei. Es dürfte dann sehr auffallen, wenn wir diesen Mann aufstöbern und fangen, was du ja berechtigterweise verboten hast."

"Du behältst recht, Schwester Patricia", bestätigte Anthelia und konnte ihre Verärgerung über diese Niederlage schwer unterdrücken. Romina erzählte dann noch, was sie mit Schlessinger besprochen hatte. Dann beschloss Anthelia, so bald wie möglich alle Schwestern des Spinnenordens über diese Wendung zu unterrichten und auch darauf zu achten, ob die Zaubererwelt darauf reagierte. Denn möglich war es, daß nach dem Tod Lobelias und Charitys, sowie dem dunklen Feuer in Lobelias Haus die Strafverfolgungstruppen auch noch Jagd auf Richard Andrews machten. Nur würden die wissen, was ihnen da eigentlich bevorstand?

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Desmond Schlessinger war aufgewühlt. Ärger, aber auch Angst tobten sich in seiner Seele aus. Der sonst so abgebrühte Detekteichef, der schon manchen Großverbrechern das Handwerk hatte legen können, der an jedem Finger zehn mögliche Feinde aufweisen konnte, die ihn bestimmt irgendwann mal heimsuchen mochten, fand sich in einer Situation, mit der er nie gerechnet hatte. Er war ursprünglich davon ausgegangen, daß Richard Andrews harmlos war, vielleicht nur ein kleiner Industriespion. Doch die Umstände, wie er einen seiner Männer dazu bekommen konnte, ihn vom Firmengelände Degenharts mitzunehmen und dann einige Zeit später einen tödlichen Unfall gebaut hatte, daß Andrews nun ein polizeilich gejagter Massenmörder war und wohl genau wußte, daß er beobachtet wurde, hatten den abgebrühten Privatermittler aus dem Konzept gebracht. Konnte es sein, daß Andrews nicht allein arbeitete. Mochte es sein, daß Andrews seinen Chef nur umgebracht hatte, weil dieser ihn mit dieser Frau beim Liebesspiel gestört hatte? Diese Frau! Wie konnte es gehen, daß seine Leute kein klares Bild von ihr aufnehmen konnten. Sie war weder auf den Videos noch auf den Fotos deutlich genug zu sehen gewesen, obwohl alles andere klar und deutlich zu erkennen war. Alles in allem war das ihm unheimlich. Ja, auch er hatte nach dieser Loretta Hamilton gesucht und sie in keiner Registratur entdecken können. Dies, so warnte ihn sein lange geschulter Gefahrenvorhersageinstinkt, war kein üblicher Kriminalfall. Er hatte der Polizei gestattet, ihn in seinen Räumen zu besuchen und die Aufzeichnungen von Richard Andrews zu beschlagnahmen. Allerdings mußte er noch eine glaubhafte und wasserdichte Geschichte hinbiegen, wer ihm den Auftrag gegeben hatte. Denn die Legende mit dem eifersüchtigen Ehemann war unter diesen Umständen nicht mehr zu gebrauchen. Er hatte auch nur noch eine halbe Stunde, bis er die Unterlagen herausgeben mußte. Denn trotz gewisser Extratouren pflegte er doch ein möglichst gutes Verhältnis zur Polizei.

Schlessinger eilte in die Abteilung für die elektronische Aufbereitung der Ermittlungsergebnisse. Als er dort ankam, waren seine Mitarbeiter schon dabei, die illegal gewonnenen Daten zu löschen, also alle mit den Wanzen aufgezeichneten Gespräche und Geräusche. Der Chef bestand jedoch darauf, eine Kopie auf CD zu machen, die dann in seinem Bankschließfach deponiert werden sollte. Möglicherweise konnte man später noch recherchieren, wie es genau zu dem Massenmord gekommen war.

"Sie haben doch damals angewiesen, daß bei Einbeziehung der Polizei nur die Sachen behalten werden dürfen, die wir auch legal bekommen haben", bemerkte einer der Computertechniker. Schlessinger zuckte die Achseln. Doch dann stimmte er zu. Natürlich wäre jede Information zu viel schädlich für sein Unternehmen, zumal man ja schon die Wanzen in der Wohnung gefunden hatte.

Als die letzte Tonaufzeichnung unwiederbringlich gelöscht war, hatte Schlessinger eine brauchbare Geschichte für die Polizei zusammengestellt, da er seine eigentlichen Auftraggeber nicht preisgeben wollte. Er ging mit allen Datenträgern in sein Büro zurück und wartete auf Inspektor Denvers. Dabei überlegte er, wie er sich am schnellsten aus der ganzen Sache herausziehen konnte oder ob er nicht auf eigene Rechnung weiterforschen sollte. Doch vorerst mußte er sich zurückhalten.

Als die Beamten des detroiter Polizeidepartments bei ihm fertig waren und er ihnen alle nötigen und glaubwürdigen Unterlagen mitgegeben hatte meldete sich sein Gefahrenvorhersageinstinkt noch heftiger. Irgendwie schien es, als habe er dadurch, daß er der Polizei die Fotos und Auftraggeberunterlagen abgeliefert hatte, sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Ja, eine unbestimmbare Angst vor einem nahen Ende legte sich immer schwerer auf seine Seele. Er dachte daran, dem Inspektor auch von der Unbekannten zu erzählen, von der er ja nun keine Unterlagen mehr besaß. Doch würde der ihm das im Nachhinein glauben? Er überlegte auch, ob er nicht alle Mitarbeiter davor warnen sollte, dieser Unbekannten zu begegnen. Jedes Mal fühlte er sich dabei merkwürdig in die Enge gedrängt. Er beschloß, alle an dem Fall Andrews arbeitenden Mitarbeiter anzuhalten, sich möglichst weit voneinander zu entfernen und einstweilen frei zu nehmen. Das beruhigte ihn nur wenig. Er versuchte, seine Mitarbeiter zu erreichen. Doch die Telefonverbindung war unterbrochen. Da läutete es in seinem Kopf Alarm. Wer immer nun sein Telefon lahmgelegt hatte plante einen Angriff auf ihn und seine Leute.

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Richard Andrews gewann mit jedem Kilometer von Degenharts Firma entfernt mehr und Mehr seiner Gefühle zurück. Was hatte er getan? Er hatte tatsächlich seinen neuen Chef, dessen beiden Söhne und seine Mitarbeiterin Nina Zager ermordet! Er hatte für Loretta ein Blutbad angerichtet! Das hätte er nie tun dürfen! Er überlegte schon, den gestohlenen Mercedes am Straßenrand hinzustellen und zu Fuß zur nächsten Brücke zu laufen. Dann fiel ihm ein, daß er ja noch die dritte Spritze hatte, die noch genug Gift enthielt, um für seine Taten zu büßen. Doch in dem Moment erkannte er, daß er nicht mehr allein im Auto saß. Irgendwer unsichtbares war hinter ihm. Er fuhr sofort rechts heran und wollte gerade anhalten, als sie zu ihm sprach.

"Rich, fahr weiter. Ich bin's nur."

"Lolo?" Entfuhr es Richard Andrews, dessen Verstand nun Purzelbäume schlug. Dann war diese Frau, die ihn mit ihrer glühenden Leidenschaft angesteckt hatte ...

"Nein, ich bin keine Hexe, Richie. Fahr weiter!" Erwiderte Loretta sichtlich verärgert klingend. Dann wurde sie auch sichtbar,

"Du hast mich benutzt. Ich habe für dich Leute umgebracht", erkannte Richard Andrews.

"Nicht für mich, Rich. Für dich hast du diesen eingebildeten Schnösel und seine Söhne vergiftet", lachte Loretta. "Nur für dich hast du das getan."

Richard erkannte, daß sie recht hatte. Er hatte das für sich getan, damit er mit Loretta zusammenbleiben konnte. Ja, und nun saß sie schon hinter ihm im Wagen. Sie mußte selbst eine Zauberkreatur sein. Er verabscheute Zauberkreaturen. Doch in diesem Moment war er froh, dieses Wesen da hinter sich sitzen zu sehen. Sie wußte wohl was er nun tun konnte, ja tun mußte.

"In deiner Wohnung liegen Lauschgeräte herum. Dort werden sie dich kriegen, wenn du jetzt zurückfährst. Ich weiß einen Ort, wo du dich verstecken kannst."

"Ich werde mich nicht verkriechen. Ich werde den letzten Ausweg nehmen", dachte Richard und wollte nach der Spritze greifen.

"Ich verbiete dir das. Du darfst nicht sterben, Richard", sprach Loretta, nun nicht mit der üblichen, warmen Stimme, sondern gefährlich leise und kalt klingend. Das reichte Richard aus, um jeden Gedanken an Selbstmord zu verdrängen, ja mit Feuereifer daran zu denken, sich nicht kriegen zu lassen. Sein Gewissen war eh schon nicht mehr da.

"Wir müssen noch etwas erledigen, bevor ich dich verstecken kann, Richard", sagte die wunderschöne Frau mit den langen roten Haaren. "Sei froh, daß du mich hast!"

"Ich denke nicht daran. Ich will nichts mehr von dir wissen", dachte er und wollte anhalten, um auszusteigen.

"Das tut jetzt nichts mehr zur Sache. Du gehörst mir", sagte Loretta Hamilton mit dieser bis dahin unvertrauten, kalten Betonung. Richard lachte. Dann fühlte er, wie ihm die Kraft schwand. Das war es also. Diese Kreatur da hinter ihm hatte ihn manipuliert. Deshalb konnte er keine Gefühle für die Ermordeten empfinden. Deshalb hatte er überhaupt diese Tat begangen.

"Gegen jedes Monster gibt es ein Mittel", sagte er trotzig. Dann fiel ihm etwas ein. Er griff unter sein Hemd und versuchte, das Medaillon zu lösen, daß Loretta ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Doch es entglitt seinen Fingern, die schlaff wurden, als sie es berührten.

"Ich sage doch, daß du mein bist, Richard. ich freue mich, einen so starken und ausdauernden Kurzlebigen mein eigen nennen zu dürfen. Du kannst das Medaillon nicht mehr lösen. Denn du bist mit ihm verbunden, wie es mit mir verbunden ist. Sei froh, daß ich dich nicht schon längst in den Staub gelegt habe!"

"Wer oder was bist du?" Fragte Richard Andrews.

"Ich bin Hallitti, Gebieterin des dunklen Feuers. Du hast mich vor sieben Monaten aus einem viel zu langen Schlaf geweckt, als du in die Nähe dieser alten Steinhäuser kamst, die sie über meiner Ruhestatt errichtet haben. Tja, und weil du in dieses Land gekommen bist, wo ich mich dir in aller Ruhe nähern konnte, konnte ich dir meine Dankbarkeit erweisen, die Dankbarkeit, dich zu mir zu holen, damit du mein Getreuer bist."

"Nein, das darf nicht sein", fiel es Richard ein. Dieses Wesen da konnte doch nicht doch ein solches dämonisches Geschöpf sein, das er auf seiner Flucht vor den Zauberern auf dem Gelände der Agrochemicals im Traum gesehen hatte.

"Genieße es, Richard. Nicht jeder, der meine Liebe erfährt kann sich danach rühmen, sie verdient zu haben."

"Liebe?! Wir hatten doch nur Sex", protestierte Richard, nun völlig frei von jeder Hemmung. Jetzt, wo ihm dieses Ding da auf dem Rücksitz eines gestohlenen Mercedes sowas vor den Kopf knallte, fiel ihm ein, daß sie nimals eine richtige seelische Beziehung gehabt hatten. Ja, und nun wurde ihm klar, warum er immer so ausgepumpt war, wenn er mit dieser Ausgeburt irgendeiner Hölle geschlafen hatte. Sie fraß seine Kraft, ließ sie von ihm selbst in sie hineintreiben. Er war nichts anderes als eine Futterquelle.

"Nicht eine Futterquelle, Richard. Du gibst dir und mir eine Menge mehr als Nahrung für mich. Wenn du nur eine Futterquelle wärest, wärest du schon so tot wie dieses Straßenmädchen, das du gestern abend gekauft und völlig ohne Leben zurückgelassen hast. Ja, du bist nun wie ich, solange ich dies will. Du gehörst mir!" Sagte Loretta / Hallitti oder wie sie sich sonst noch nannte.

"Ein Dämon. Eine Kreatur der schwarzen Magie bist du, eine Höllenhure, die alleinstehende Männer verführt und ins Verderben treibt", erboste sich Richard. Immer noch dachte er nicht daran, jemanden getötet zu haben. Ihm ging es nur um sich, um das, was er nun aus sich gemacht hatte.

"Ach, als Hure der Hölle hat mich seit dem elften Jahrhundert niemand mehr bezeichnet. Aber viele Jahrhunderte habe ich ja auch schlafen müssen. Du kennst die Magie, weil du einen Sohn hast, der sie spürt und rufen kann. Du selbst kannst das nicht. Aber du warst stark genug, mich endlich zu wecken, mich endlich wieder in diese Welt zu holen. Noch einmal meinen großen Dank dafür. Und jetzt rege dich wieder ab! Was wir beide miteinander haben ist doch schön. Du wolltest das doch auch", sagte die unheimliche Frau hinter Richard. Sie sprach wieder mit jener anregenden, tief in ihn eindringenden Stimme, die ihn immer dahinschmelzen ließ. Ja, und diese Wirkung traf ihn auch jetzt. Jede Verachtung, jede Abscheu, zerfloß in den Worten dieser Frau. Er fuhr ruhig weiter und dachte nicht mehr daran, was er nun war, ein Sklave, ein an eine mörderische Kreatur gebundenes Häuflein Mensch, verdorben, verstoßen und gejagt wie ein wildes Tier. Sie war ein Monster. Doch nun war er es auch. Ja, und er dachte an die schönen Stunden mit dieser Erscheinung der Lust und Kraft. Das waren die schönsten Wochen seines Lebens gewesen. Warum sollte er sich dafür schämen, sie genossen zu haben?

Er hörte, was Hallitti ihm sagte. Er erfuhr, daß jemand eine private Detektei auf ihn angesetzt hatte, weil jemand meinte, er sei ein Industriespion. Er mußte darüber lachen. Doch dann hörte er, daß er diesen Detektiv Schlessinger zu einem Treffpunkt bestellen sollte. Außerdem warnte sie ihn vor Polizeistreifen. Offenbar konnte sie Gedanken anderer Menschen erfassen oder die Zukunft voraussagen. So gelang es ihm, sich immer um die Polizeikontrollen und Straßensperren herumzumogeln, bis er in einem Wald bei Bay City angekommen war. Dort nahm er das Autotelefon. Er wußte, das es wohl abgehört werden würde. Doch genau das wollte seine neue Herrin haben.

"Mr. Schlessinger, hier Richard Andrews. ich weiß, daß Sie mich beschattet haben. meine Auftraggeber haben mir befohlen, auch Sie umzubringen. Aber ich möchte unterhandeln. Können Sie heute Nacht zum Hafen von Detroit Pier sieben kommen?"

"Wer sagt mir, daß Sie mir keine Falle stellen?" Fragte Schlessinger.

"Der Umstand, daß Sie noch leben, obwohl ich schon seit gestern weiß, daß Sie mir nachschnüffeln", sagte Richard bedrohlich klingend.

"Es gehört zu meinen Geschäftsprinzipien, nicht mit Gewaltverbrechern zu verhandeln", sagte Schlessinger mit einer schwer zu verbergenden Anspannung in der Stimme.

"Ihnen wird nichts anderes übrigbleiben, wenn Sie ihre Mitarbeiterin O'Hara nicht vor die Tür gelegt bekommen wollen", drohte Richard, der nun, wo er wußte, woran er war und sich damit abfand wie ein Gangster aus dem Fernsehen klang.

"Will sagen, ich soll mein Leben riskieren, um das Leben meiner Mitarbeiter zu schützen?"

"Das bringt die Verantwortung als Chef mit sich, Mr. Schlessinger. Oder haben Sie nie Indianer gespielt? Wenn doch haben Sie sicher gelernt, daß der Häuptling immer für das Wohl des Stammes leiden muß."

"Sie haben eine merkwürdige Auffassung von Autorität. Aber die Morde von Ihnen sprechen ja auch sehr deutlich", sagte Schlessinger.

"Wie dem auch sei, ich will haben, daß Sie mich heute nacht am Pier sieben im Hafen aufsuchen. Ich kann noch was für Sie herausschlagen. Aber das geht nur, wenn Sie mir auch alles erzählen, was die Polizei gegen mich in der Hand hat."

"Das mit den Morden war falsch, Doktor Andrews. Was haben Ihnen die fünf getan?" Versuchte es Schlessinger mit einem Appell an das Gewissen des Chemikers. Doch dieses, so wußte Hallitti, hatte er schon längst in ihrer Liebe vergehen lassen.

"Es war für mich gerade die richtige Sache, Schlessinger. Also, wenn Sie nicht zusagen oder heute Nacht nicht zu mir kommen wird man Miss Meabh O'Hara morgen früh in ihre Einzelteile zerlegt vor Ihrem Büro finden. Also?"

"In Ordnung", hörte Richard eine total verunsicherte Stimme aus dem Hörer. "Ich werde kommen, alleine. Dann werde ich hoffentlich erfahren, was dieser ganze Spuk soll."

"Keine Sorge, das werden Sie", sagte Richard und legte auf.

Schnell fuhren er und seine neue Herrin aus dem Wald heraus. Keine Minute zu früh. Denn schon näherte sich lautes Sirenengeheul heranpreschender Polizeiwagen. Er schaffte es noch, einen schmalen Feldweg zu finden und den Mercedes holpernd aber schnell aus der Reichweite der Polizisten zu bekommen.

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"Wir müssen sämtliche Mitarbeiter von Schlessinger unter Polizeischutz stellen", sagte Inspektor Denvers, als er von dem mitgehörten Telefonat erfuhr. "Dieser Andrews scheint nicht alleine zu arbeiten. Wir müssen klären, was er vorhat. Pier sieben ist in der Nacht ziemlich einsam. Das ist ideal für einen Mord. Schlessinger weiß zu viel. Außerdem dürften Ms. O'hara und die anderen auf ihn angesetzten Leute nicht überleben, wenn dieser Kerl da frei herumläuft. Was ist eigentlich mit seinem Aufenthalt hier in den Staaten? Wo genau kommt er her? Was macht er nun hier?"

"Die Daten haben wir gerade hereinbekommen, Inspektor", sagte ein Sergeant des Polizeidepartments.

"Dann her damit!" Befahl der Inspektor und studierte die Unterlagen, die man über Richard Andrews zusammengetragen hatte. Alles in allem kein Mann, der einmal einen Massenmord begehen würde oder für eine unbekannte Organisation arbeitete, die unter anderem den Tod von Clark Michelsen verschuldet hatte.

"Er hat sich im letzten Sommer von seiner Frau scheiden lassen. Offenbar gab es da irgendwelche Differenzen wegen des gemeinsamen Sohnes Julius", sagte der Sergeant. "Der Junge zog mit der Mutter nach Paris, Frankreich und besucht da jetzt ein anderes Internat."

"Hmm, ich hoffe, wir kriegen den heute Nacht noch. Vielleicht kann man das noch so hinbiegen, daß er im Affekt gemordet hat."

"Ich denke, das fällt doch weg, Sir. Affekt wäre das doch, wenn er Degenhart mit einem Kerzenleuchter im Büro erschlagen hätte oder ihn mit einem spitzen Gegenstand erstochen hätte, der gerade greifbar war. Aber das Gift, das Remmington noch rausfinden muß, kann ja wohl nicht zufällig da herumgelegen haben."

"Im Moment möchte ich nichts festlegen", sagte der Inspektor. "Ich möchte aber auch nicht einer alleinerziehnden Mutter sagen, daß der Vater ihres Sohnes plötzlich zum Massenmörder geworden ist."

"Wer will sowas schon erzählen müssen?" Wandte der Sergeant ein.

"Heute abend werden wir ihn fassen. Er muß ja zu diesem Pier hinkommen", sagte der Inspektor. Doch dann stutzte er. "Dieser Mann ist doch kein Idiot. Der sollte doch wissen, daß wir jetzt das Telefon in Degenharts Mercedes abhören. Dann verabredet er sich so auffällig mit diesem Schlessinger? Das stinkt nach Ablenkungsmanöver."

"Sie haben recht, Inspektor. Er ist doch nicht so dumm, daß er ein gestohlenes Autotelefon benutzt, um eine dubiose Verabredung zu trreffen. Was machen wir dann. Öhm, kennt Andrews Schlessinger?"

"Nein, soweit ich weiß haben sich die Beiden noch nicht gesehen. Aber woher hat er dann seine Telefonnummer? Woher weiß er, daß Schlessingers Detektivbüro ihn observiert?"

"Das wird er uns wohl verraten, wenn wir ihn kriegen", warf Sergeant Tanner ein. Inspektor Denvers nickte. Dann sagte er, um seine höhere Stellung zu bekräftigen:

"Sergeant, folgendes machen wir jetzt: Wir setzen zwei Observationsteams auf diesen Schlessinger an. Der weiß, wie man observiert, daher müssen wir besonders scharf aufpassen. Ein weiteres Team sondiert den Treffpunkt und bezieht frühzeitig Posten. Sollte der Flüchtige dort auftauchen, besteht vielleicht die Möglichkeit des frühen Zugriffs. Hinzu werden wir die Wohnung komplett durchsuchen, inklusive aller Aufzeichnungen. Ich selber werde mich nach diesen Leuten umsehen, für die Schlessinger gearbeitet hat. Ich habe da nämlich das dumpfe Gefühl, der wirft uns hier was hin, was wir fressen sollen, um nicht weiterzubohren. Sie kümmern sich bitte um die Vorgeschichte, wie Andrews von England in die Staaten kam, wieso er bei Degenhart angefangen hat und was er dort bis heute so zu tun hatte!"

"Verstanden, Sir", bestätigte der Sergeant und verließ das Büro des Inspektors, um dessen Anweisungen auszuführen.

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Schlessinger hatte nun die Bestätigung, daß seine Leute und er selbst in großer Gefahr schwebten. Hinzu kam noch, daß Inspektor Denvers alle Unterlagen über die vermeintlichen Auftraggeber für die Beobachtung dieses Dr. Andrews haben wollten. Natürlich würde Denvers dem nachgehen. Die Daten paßten zwar auf existierende Leute mit Akten, Ausweisen und Lebensläufen, aber sie wohnten weit verstreut in den Staaten und waren vielleicht nicht mehr unter den Adressen zu finden, die er von ihnen hatte. Doch bis der Polizist das alles nachgeforscht hatte, würde er Gewißheit über Andrews' Beweggründe haben oder selbst nicht mehr am Leben sein.

Er überlegte, was er alles erledigen mußte, um für einen schlimmen Fall gewappnet zu sein. Er prüfte seine Dienstwaffe, eine Browning Automatik, prüfte, welcher der kleinen Akkus am besten aufgeladen war, präparierte damit ein drahtloses Mikrofon, das eine Reichweite bis zwei Kilometer besaß und schloß eines der digitalen Tonaufzeichner an den Empfänger dieses Senders an. Von seinen Leuten erfuhr er, daß man die nicht in Gegenständen versteckten Wanzen und Kameras entfernt hatte. Die Polizei durchsuchte Andrews' Wohnung, sowie sein Büro bei Degenhart. Offenbar hatte ein sehr diensteifriger Richter die nötigen Befehle unterzeichnet.

"Alle die an der Andrews-Sache dranhängen begeben sich sofort unter Polizeischutz!" Gab er eine ihm schwer gefallene Anweisung aus. Er dachte sich, daß Andrews mit irgendwelchen Berufsverbrechern zusammenarbeitete. Als das notwendige erledigt war, fuhr er mit seinem Zweitwagen, einem mittelgrauen VW Käfer, zu einer Telefonzelle und rief von dort aus die Handynummer von Alexandra Glocester an. Sie meldete sich sofort wieder.

"Okay, ich habe mich jetzt von der Sache zurückgezogen, Ms. G. und melde mich ab. Wir haben uns nicht getroffen. Die Papiere sind an einem sicheren Ort. Ihr Verwandter möchte bald möglichst die zugesagte Summe überweisen. Sollte er das nicht innerhalb einer Woche tun, melde ich mich noch einmal bei Ihnen."

"Sie brauchen nicht zu versuchen, uns zu erpressen, Mr. Schlessinger. Wir zahlen die vereinbarte Summe", antwortete die Frau am anderen Ende. Dann verabschiedete sich der Detektiv und legte wieder auf. Als er in seinem Wagen saß dachte er darüber nach, daß der schwarze Peter nun bei ihm war. Denn diese Alexandra Glocester konnte leugnen, ihn zu kennen, ebenso wie ihr Onkel. Würde er wirklich die Papiere rausholen, um das Geld einzufordern, würde er sich der Erpressung schuldig machen, so wie die neureiche Auftraggeberin es gesagt hatte.

"Hätte ich mich doch besser nicht auf diesen nebulösen Fall eingelassen", dachte Desmond Schlessinger und fuhr los. Er wußte nicht, daß er aus sicherer Entfernung beobachtet wurde.

__________

Hallitti wußte, daß sie nichts mehr verlieren konnte. Der Mann, den sie sich Untertan gemacht hatte, konnte ihr nicht mehr entgehen. Er hatte für sie die störenden Mitwisser aus dem Weg geräumt, ohne jedes Mitgefühl. Sie hatte ihn ständig überwacht, ihn vorangetrieben. Er hatte nicht den Hauch von Widerstand geleistet, ihre sachten Einflüsterungen als eigene Gedanken verstanden und danach gehandelt. Im Wagen dieses Degenharts hatte er erkannt, was er getan hatte, konnte jedoch nichts dagegen tun. So konnte sich die Tochter des Abgrundes bedenkenlos offenbaren. Sie spürte zwar, wie sein Haß auf alles magische ihn ihr zu entwinden versuchte. Doch gerade dieser Haß öffnete ihr eine neue Tür in seinen Geist. Er haßte die Hexen und Zauberer, die seinen Sohn anders haben wollten als er und ihm deutlich gezeigt hatten, wie überlegen sie ihm waren. Diesen Haß konnte sie sich zu nutze machen, ihn für alle Zeiten an sich zu binden. Erst einmal genügte es ihr, daß er weiterhin tat, was sie wollte. So hatte er diesen Detektiv zu einem Treffpunkt bestellt, um angeblich mit ihm über das zu sprechen, was vorgefallen war. Ihr ging es darum, in das Büro dieses Mannes einzudringen, um alle Unterlagen zu beseitigen. Hierzu wollte sie möglichst wenig von ihren Zauberkräften nutzen. Denn sie wußte auch, daß die heutigen Kurzlebigen mit der Fähigkeit, die Kraft zu spüren und zu nutzen sie jagen würden. Doch sie wollte nicht wie ein gejagtes Tier herumlaufen. Sie wollte in Ruhe und Frieden ihr Leben führen. Sie wußte auch, daß dieser Mensch, Richard Andrews, nicht allzu lange weiterleben würde. Zwischendurch würde er sich von anderen Frauen holen, was er ihr von sich gab. Doch das würde ihn wohl nur zehn Jahre leben lassen. Doch seine unweckbare Kraft gab ihr selbst mehr Macht, ihre eigenen Kräfte auszuschöpfen. Die innere Stärke seiner Seele schenkte ihr eine Menge Ausdauer. Diesen Mann mußte sie erhalten. Sie wußte jedoch, daß man ihn nun jagte. Er mußte also verschwinden, vorübergehend untertauchen. Wenn sie die Spuren in der Detektei verwischt hatte, würde sie mit ihm diesen Landstrich verlassen, zunächst an ihren Schlafplatz flüchten.

Sie hatte Richard gesagt, daß er das Fahrzeug zurücklassen sollte. Er mußte zu Fuß durch den Wald und zurück zur Stadt. Allerdings durfte er nicht in die Stadt selbst hinein, weil man ihn dort suchen würde. Sie, die Schwester des dunklen Feuers, wollte diesen Schlessinger beobachten, um zu erfahren, was er nun tat, wo er derartig in die Enge getrieben wurde. Sie begab sich unsichtbar zu jenem Detektivbüro und beobachtete aus sicherer Entfernung, wie Schlessinger in die Stadt fuhr. Wie ein kaum sichtbarer Nebelstreifen folgte sie seinem Auto und bekam mit, wie er jemanden Anrief. Lautlos schlich sie sich an ihn heran. Sie fühlte, daß er auf einen Angriff gefaßt war. Sie konnte ihn jedoch nicht so sicher beeinflussen wie Richard. Denn nur wenn sie einen wachen Menschen ansehen konnte, direkten Blickkontakt besaß, bekam Sie Gewalt über dessen Geist. So blieb ihr erst einmal nur, ihm weiterzufolgen. Als er wieder davonfuhr, führte er sie ahnungslos zu einem Gebäude, in dem er seine geheimsten Treffen abhielt, wenn er sicher war, bedroht zu werden. Die Batterien von Bewegungsmeldern, Lichtschranken und Videokameras um das Gebäude herum störten die gefährliche, wie umwerfend schöne Hallitti nicht. Sie war in ihrer Nebelform von derlei Geräten nicht zu entdecken, davon abgesehen, daß die Fernblickaugen sie nur dann sehen konnten, wenn sie es wollte und ihre eigene Ausstrahlung niederhielt, damit die künstlichen Augen sie erkannten. Sie folgte dem Detekteichef in ihrer flüchtig wirkenden Erscheinungsform. Sie merkte, daß er sie spürte. Er mußte einen besonderen Sinn für Bedrohung haben. Doch er konnte sie nicht genau erkennen, wohl nur, daß er beobachtet wurde. Sie hörte, halb Stofflich halb Geistwesen, wie er mit einigen Leuten telefonierte. Sie wartete, bis der Mann den Hörer wieder auflegte und sich umdrehte. In diesem Moment nahm sie vor ihm ihre gewohnte Gestalt an und blickte ihm tief in die Augen. Er erstarrte, wollte seine Waffe ziehen. Doch da brach sein eigener Wille schon zusammen. Hilf- und wehrlos stand er vor der Tochter des Abgrundes, die in wenigen Momenten alles an Erinnerungen in sich aufsog, was sie über den Auftraggeber Schlessingers erfahren konnte. So erfuhr sie von der neureich wirkenden Nichte eines Elektronikbauteileherstellers in Kalifornien. Wieso wollte der Richard Andrews auskundschaften? Er hielt ihn für einen Spion? Wie lachhaft war das. Sie rief sich das Gesicht der Auftraggeberin ins Bewußtsein. Sie kannte diese Frau nicht. Doch ihr fiel ein, daß diese wohl mit viel Geld und Beziehungen ihre eigenen Angelegenheiten verfolgte. Richard kannte sie nicht. Denn ihr Gesicht war nicht in seinem Gedächtnis enthalten. Sie ließ Schlessinger stehen. Er würde sich erst in einer Minute aus dem Bann der mächtigen Zauberkreatur lösen und dann nichts mehr davon wissen.

Als sie unsichtbar zu Richard Andrews zurückkehrte, war dieser gerade in einer gefährlichen Lage. Vier Polizisten, schwer bewaffnet, hatten ihn umstellt. Offenbar war er irgendwem aufgefallen. Da fiel ihr ein, daß in dieser Zeit Bilder von gesuchten Missetätern über dieses vermaledeite Flimmerbildding namens Fernsehen verbreitet werden konnten. Tausende von Menschen konnten in wenigen Minuten sehen, wer gesucht wurde und hören, was ihm vorgeworfen wurde.

"Legen Sie die Hände ganz langsam hinter den Nacken! Keine hastigen Bewegungen!" Hörte sie einen der Polizisten rufen, während seine Kollegen mit entsicherten Maschinenpistolen auf Richard zielten. Was sollte sie nun tun? Wenn sie ihre angeborenen Kräfte einsetzte, würde das auffallen. Die Polizisten müßten dann sterben. Aber wenn sie ihre Kräfte nicht einsetzte, würde Richard gleich gefangen sein und eingesperrt. Dann würde man ihn verhören, und sie mußte zulassen, daß er redete, ja alles erzählte. Sie wollte ihn nicht verlieren. Also trat sie hinzu.

"Was ist denn hier, Officer?" Fragte sie und lächelte den ihr am nächsten stehenden Polizisten an. Der zweite rief:

"Die ist das, Tom. Die war mit ihm zusammen. Festnehmen!"

"Du möchtest mich gefangennehmen?" Fragte die Frau, die sich Loretta nannte und schenkte dem Polizisten ein warmes, ja aufforderndes Lächeln. Der Cop senkte für einen Moment die Waffe, während Richard, der dachte, nun frei davonlaufen zu können, zurücksprang und den Mann umwarf. Eine Salve aus einer Maschinenpistole ratterte los. Die zwanzig Kugeln verfehlten Richard ganz knapp. Loretta winkte einmal, und Richard lag flach auf dem Bauch. In ihren Körper waren mindestens zehn Kugeln eingeschlagen. Sie krümmte sich vor Schmerz und schnaubte vor Wut. Die Polizisten starrten sie an. Einer griff zu seinem Funkgerät. Da löste sich die umwerfend schöne Frau einfach in weißen Nebel auf. Klackernd fielen zehn MP-Kugeln wie Hagelkörner zu Boden. Der Polizist, der ihr genau gegenüberstand, kam nicht dazu, wen anzufunken. Denn unvermittelt flog die Nebelwolke auf ihn zu, verfestigte sich keinen Meter vor ihm zu einer abscheulichen Kreatur, die wie ein übergroßer Mensch mit roter Schuppenhaut und lederartigen Flügeln aussah. Eine Tatze wie die eines Löwen mit langen, scharfen Krallen, riss mit unglaublicher Geschwindigkeit und Präzision das Funkgerät fort und warf es in hohem Bogen davon. Wieder ratterten MP-Salven, diesmal gezielt gegen die monströse Erscheinung. Doch der Schuppenpanzer prällte die aus nächster Nähe abgefeuerten Kugeln auf ihre Schützen zurück. So fanden zwei Beamte den Tod im eigenen Kugelhagel. Der noch stehende Polizist wollte ebenfalls seine Waffe greifen, als mit einem Hieb der linken Pranke sein Kopf so heftig nach hinten geworfen wurde, das die oberen Halswirbel brachen. Blutige Schnittwunden zeichneten die Stirn des Getroffenen. Er stürzte um. Der Bruch war tödlich.

Der vierte Polizist hatte gerade sein Funkgerät und meldete:

"Achtung, wir haben Andrews und ..." kam aber nicht weiter, weil ein Hieb ihm das Sprechgerät fortprällte. Es flog mindestens zehn Meter weit und krachte gegen einen Baum. Richard Andrews fuhr auf, in der rechten Hand eine Pistole. Er zielte rasch auf den Kopf des Polizisten und drückte ab. Krachend fand die Kugel ihr Ziel. Der Vater zweier Kinder würde nie wieder nach Hause kommen. Wie seine drei Kollegen war er dem Zorn eines Wesens zum Opfer gefallen, an das er niemals hätte glauben mögen.

"Das ist gut, daß du noch gekommen bist, Loretta. Ich dachte schon, die haben mich gleich", sagte Richard, der sich den Dreck vom Anzug klopfte.

"Nimm dir eine dieser Mehrfachschußwaffen!" Befahl die Tochter des Abgrunds. Richard gehorchte. Er klaubte eine der entfallenen MPs auf und folgte Loretta zu einem Wagen, mit dem die Polizisten wohl gekommen waren. Sie hörten über Funk, wie nach ihnen gerufen wurde. Sie stiegen ein und fuhren los, richtung Süden.

__________

"Topnachricht des Tages: Englischer Wissenschaftler läuft Amok. Kunststoffchemiker wird zum mehrfachen Giftmörder", begann Walter Richley, der Sprecher der Kanal-5-Nachrichten um Punkt sieben Uhr. Cecil Wellington, der früher Benny Calder hieß, saß mit seiner Mutter, der Senatorenfrau Henriette Wellington vor dem Fernseher. "Heute morgen kam es im Zentralbürogebäude der international renommierten Autozuliefererfirma Degenhart-Autodesign zu einem grausamen Blutbad. Der vor wenigen Monaten neu ins Unternehmen eingetretene Chemiker Dr. Richard Andrews, welcher seit Oktober in den vereinigten Staaten lebt, hat aus uns bislang unbekannten Gründen seinen Chef, dessen Söhne, eine Kollegin von sich und den Leiter der Personalabteilung vergiftet. Niemand konnte oder wollte darüber auskunft geben, wie der als sehr arbeitssam bekannte Wissenschaftler, der früher sogar einen hohen Posten in einer Londoner Firma bekleidete, an das Gift kam und warum er es den besagten Mitarbeitern injizierte. Wir schalten zu Peggy Gray nach Detroit. Peggy, was gibt's neues?"

Das Bild des Sprechers verschwand wie die hinter ihm eingeblendeten Schlagzeilen. Eine attraktive Frau Mitte Dreißig mit wasserstoffblonder Dauerwelle sprach nun weiter.

"Guten Abend meine Damen und Herren. Ja, Walter, wir stehen hier vor dem Degenhart-Bürogebäude." Das Bild eines mittelhohen, weißen Gebäudes mit einer gepflegten Begrünung drum herum wurde eingeblendet, während die Reporterin weitersprach. "Hier hat sich heute Morgen eine unfaßbare Szene abgespielt. Ein erst seit November des letzten Jahres in dieser Firma angestellter Chemiker mit Spezialisierung auf Kunststoffherstellung hat heimlich mit tödlichem Gift gefüllte Spritzen, wie sie auch in der Behandlung von Diabetes verwendet werden, zu einer Besprechung mit seinem Chef mitgenommen und diesen, seine Söhne und zwei weitere Kollegen damit vergiftet. Der aus London, England stammende Doktor Richard Andrews galt bei seinen Kollegen als sehr arbeitssam, wenngleich er in den letzten Tagen auch sehr kränklich und reizbar wirkte. Die Polizei gab bekannt, daß Andrews sich mit dem Mercedes seines Chefs abgesetzt hat und derzeit landesweit gesucht wird." Bei diesem Satz wurde das Portrait eines Mannes zwischen Dreißig und vierzig mit hellblondem, schütterem Haar auf den Bildschirm gebracht. "Die Kriminalpolizei geht davon aus, den Flüchtigen innerhalb der nächsten Stunden zu fassen."

"Peggy, Moment bitte!" Meldete sich Richley, ohne daß sein Bild eingespielt wurde. "Wir kriegen hier gerade die Nachricht herein, daß der flüchtige Doktor Andrews wohl vier schwer bewaffnete Polizisten getötet hat, als diese ihn festnehmen wollten."

Wieder wurde Peggy Grays Bild eingeblendet. "Somit ist dieser Mann äußerst gefährlich und offenbar sehr gewandt. Wenn wir näheres erfahren, melden wir uns wieder."

Walters Bild im Studio kehrte auf den Fernsehbildschirm zurück. Der im dunkelblauen Anzug mit Fliege gekleidete Hauptsprecher wirkte gelassen, ja anscheinend unbetroffen von den Meldungen. Er sprach im Tonfall des langjährigen Nachrichtenprofis:

"Soviel zunächst aus Detroit. Sollten sich weitere Einzelheiten ergeben, rufen wir unsere Reporterin vor Ort noch einmal."

Die Schlagzeilen auf der Videowand hinter dem Sprecher wechselten. Nun ging es um einen Bankraub in der Innenstadt von Philadelphia. Cecil sah aufmerksam weiter zu. Er hatte den Auftrag von Anthelia, jeden Abend die Hauptnachrichtensendungen zu sehen. Sie wollte so weit es ging über das informiert werden, was an sogenannten freien Informationen verbreitet wurde. Die Sendung verlief weiter in dem Stil, daß erst die erschütternden Inlandsnachrichten kamen, bevor man sich mit einem eine Minute laufenden Kurznachrichtenblock mit Auslandsthemen befaßte, um dann nach einem Werbeblock zum Sport zu kommen, der von Ken Gardner moderiert wurde. Cecil interessierte sich immer noch sehr für Basketball und verfolgte, wie die Reaktionen auf die letzten Spiele der amerikanischen Nationalliga herüberkamen. Dann schalteten sie in ihr Wetterstudio, wo Paula Hammersmith das Wetter für die Nordstaaten der USA vorhersagte.

Dann kam der übliche Hinweisfilm auf das Abendprogramm. Die Serie "Dallas" wurde auf diesem Sender wiederholt. Seine Mutter sah sich dieses Zeug gerne an. Cecil hielt überhaupt nichts davon. Er stand auf und ging in sein Zimmer, wo er seinen Computer anwarf und eine E-Mail von einer Romina vorfand. Er dachte erst, es sei eine lästige Werbemitteilung, bis er den Betreff las: "Es geht um diesen Mord in Detroit." Er öffnete die Nachricht und las, daß er von "der höchsten Schwester" beauftragt wurde, über diese E-Mail-Adresse alle ihm verfügbaren Informationen zu der Sache in Detroit zu verschicken. Wieso kamen solche Anweisungen nicht über den telepathischen Weg?

"Damit du weißt, wen du anschreiben kannst, wenn du was wichtiges findest", kam Anthelias prompte Antwort in seinem Kopf an.

Bis zum Abendessen, das an diesem Wochentag eben wegen "Dallas" um eine Stunde nach hinten verlegt war, holte Cecil Wellington aus dem Internet alle greifbaren Fakten. Er fragte sich, wieso diese Romina, wohl eine mit Computern vertraute Hexe, das nicht alleine erledigen konnte. Doch die Antwort fiel ihm gleich ein. Er kannte sich im Internet besser aus als alle, die nur von Zeit zu Zeit damit arbeiteten. Deshalb wollte diese Anthelia haben, daß er nach Informationen suchte. Telepathisch bekam er noch den Auftrag, nach Hinweisen auf eine rothaarige Frau, die sich Loretta Irene Hamilton nannte, zu suchen. Er suchte, fand aber nichts zu diesem Namen.

"War auch nicht anders zu erwarten", sagte Anthelias telepathische Stimme.

"Was ist an dieser Frau so gefährliches, Ms. Anthelia?" Fragte Cecil in Gedanken.

"Das möchtest du nicht wissen, Knabe. Sie würde dich töten, wenn du sie nur einmal gesehen hättest. Bleibe der Sache auf der Spur und schicke uns, was du darüber findest!" Cecil nickte, obwohl ihn keiner dabei sehen konnte. Er löschte die Originalnachricht von Romina, nachdem er ihre Adresse in sein elektronisches E-Mail-Adressbuch aufgenommen hatte und beschäftigte sich bis zum Abendessen mit dem, was ihm sonst noch so einfiel.

Bereits zwei Stunden später hieß es in den Hauptnachrichten, daß der des Mordes an fünf Zivilisten und vier Polizisten höchst verdächtigte offenbar noch immer nicht gefunden wurde. Da nun jeder Polizist im Staate Michigan den Verbrecher jagte, kam dieser bestimmt nicht mehr lebend da raus. Cecil dachte daran, daß Polizistenmörder noch heftiger verfolgt wurden als übliche Mörder. Er fragte sich, was dem Mann passieren würde, wenn sie ihn kriegten. Würde er zum Tode verurteilt oder lebenslänglich eingesperrt? Wieso war Anthelia dieser Fall so wichtig. Ach ja, sie wollte ja auch was über diese rothaarige Frau wissen.

Senator Wellington kam nach Hause, als der Sprecher von Kanal 5 noch einmal nach Detroit hinüberrief.

"Es steht nun fest, Walter, daß der Mann seine Bluttaten vorher genau geprobt hat. Wie wir heute erfuhren kam es gestern abend in einer Absteige im Rotlichtviertel von Detroit zu einem Doppelmord. Dabei starb die Prostituierte Veronique Sweet und ihr Zuhälter, Max, auch der Rotlichtkaiser von Detroit genannt, offenbar durch Gift. Dies kam erst heute heraus, als das Fahndungsfoto des Mehrfachmörders durch die Medien ging und der Portier der Absteige sich beim Detoiter Tagesboten meldete und die Geschichte erzählte. Die Polizei untersuchte den Tatort. Doch es konnten keine Spuren mehr gesichert werden. Der Zeuge dieses Verbrechens mußte ins Zeugenschutzprogramm, da ihm von dortigen Unterweltgrößen der Tod angedroht wurde. Wir können also eindeutig feststellen, daß Andrews nicht aus Affekt, sondern von langer Hand geplant gemordet hat. Damit wird die Frage nach dem Motiv immer interessanter."

"Wie bitte? Ein Wissenschaftler aus England spielt Jack the Ripper?" Fragte der Senator. Cecil sah ihn an und meinte:

"Nein, Victor Viper, Dad. Das ist ein ganz fieser Giftmörder, der immer mit Pfeilen oder vergifteten Waffen tötet."

"In deinen Schundbüchern oder in der Realität?" Fragte Senator Wellington, der es nicht mochte, daß sein Sohn aktionslastige Geschichten verschlang wie andere Leute Kreuzworträtsel.

"Victor Viper ist der Hauptfeind von Captain Justice, dem Hüter der irdischen Ordnung", sagte Cecil herausfordernd klingend.

"Ach, und dieser Andrews meint, diesen Spinner aus irgendwelchen primitiven Comic-Büchern nachmachen zu müssen? Kannst du mal sehen, wozu dieser Unsinn führen kann."

"Ich habe nur gesagt, daß er nicht Jack the Ripper sondern Victor Viper ähnelt, weil er nicht Leute aufschlitzt, sondern vergiftet", stellte Cecil ganz cool fest. "mehr war nicht."

"Dann hat dieser Kriminelle sich also erst an seinesgleichen vergriffen um zu sehen, ob er es kann, um dann einen hochanständigen Unternehmer kaltblütig zu ermorden", schnaubte Senator Wellington.

"So sieht's aus, Dad", erwiderte Cecil schmunzelnd. Was er wirklich dachte wollte er seinem neuen Vater nicht auf die Nase binden. Denn er war sich sicher, daß dieser Andrews wie er selbst mit den Mächten der schwarzen Magie zusammengerasselt war, eher mit diesen zusammenarbeitete. Vielleicht hatte sein Boss das rausgekriegt und wollte ihn bei der Polizei verpfeifen. Diese Loretta konnte eine Hexe sein, vor der selbst Anthelia eine Heidenangst hatte. Dann könnte die ihm vielleicht helfen, von dieser loszukommen. Doch nein, nachher hing er an dieser anderen Hexe fest und würde wie dieser Andrews Leute niedermetzeln. Das was er in Dropout und später in Seattle miterlebt hatte, reichte ihm völlig. Er wollte nicht zum irren Mörder werden. Anthelia, so fies es auch für ihn lief, hatte ihm gesagt, daß sie ihn nicht für sich töten lassen wollte. Er sollte nur ihr Spion in der normalen Welt sein, so leben, wie er eigentlich leben wollte.

__________

Schlessinger hatte das mit den Polizisten gehört. Er hatte angst. Andrews hatte gegen vier Cops mit MPs gekämpft und alle erledigt. Keiner hatte ihn aufhalten können. Oder war er vielleicht nicht alleine gewesen? Sollte er nicht besser verschwinden und diesen Andrews der Polizei überlassen? Doch nein, er wollte ihn treffen. Allerdings wollte er sich nicht so überrumpeln lassen wie Andrews. Er hatte seine Waffe eingesteckt, zwei Peilsender mit Mikrofon und Standortmelder, sowie sein Handy, das er zusätzlich noch eingeschaltet hatte, um kurz vor dem Termin die Polizei anzuwählen. Sie sollte dann mithören, was er besprach.

Die Nacht war kühl. Er hatte sich mit seinem Erstwagen, einem BMW-Coupé, zum Hafen begeben und mit seinem Nachtglas die Gegend sondiert. Ihm fielen zwanzig Figuren in dunklen Nischen auf. Waren das nun Polizisten oder Mitglieder von Andrews' Bande? Er schaltete sein Autoradio ein, drehte die Skala zum Polizeifunkkanal und lauschte auf verdächtige Gespräche. Niemand band ihm oder anderen unbefugten Mithörern auf die Nase, daß hier gleich Richard Andrews auftauchen würde. Er zählte die letzten Minuten Sekunde für Sekunde herunter wie ein NASA-Raketentechniker. So kam die steigende Anspannung nicht so leicht hoch. Seit dem Nachmittag hatte er dieses Gefühl, heute noch ein sehr schreckliches Geheimnis zu erfahren.

Als es Mitternacht war, schlich er zum Pier sieben. Dabei wählte er die Durchwahl zu Inspektor Denvers. Er hoffte, daß der Anruf ihn erreichte. Doch er hörte nur das Besetztzeichen. Als er erneut wählen wollte, spürte er, daß von hinten jemand heranschlich. Schnell steckte er das Handy fort und hoffte, daß seine Leute auf Zack waren, die weit hinter ihm den Mikrofonsender abhörten. Sein Standort war markiert. Auf einer elektronischen Landkarte konnte man ihn hier und jetzt als grünen Punkt ausmachen. Er schnellte herum, die Hand an der Browning.

"Lassen Sie die stecken, ich habe schon eine Waffe!" Sagte Richard Andrews. In der Tat hatte er schon eine Waffe, eine langläufige Maschinenpistole, die er schußbereit in den Händen hielt. Der Lauf der Waffe blickte Desmond Schlessinger wie ein pechschwarzes Stielauge an.

"Sie sind Doktor Andrews? Schön, daß Sie kommen konnten", sagte Schlessinger ruhig. Sich aufzuregen war nun das schlechteste was er machen konnte. Außerdem standen irgendwo noch zwanzig Leute herum, die ihn vielleicht unterstützen wollten.

"Ich bin nur gekommen, um Sie zu fragen, für wen Sie mich beschattet haben? Außerdem will ich wissen, wo Sie die ganzen Unterlagen über mich haben. Also reden Sie!"

"Ich habe alle Unterlagen fortgeschafft", sagte der Detektiv ruhig. "Ob Sie mich auch noch umbringen oder nicht ist mir jetzt egal. Ich habe damals ein wichtiges Prinzip gefunden, nicht mit Außenstehenden über meine Aufträge zu reden. Diskretion ist alles", sagte Schlessinger. Er wirkte dabei ganz gelassen, als wäre Andrews kein gefährlicher Mörder und hätte keine Waffe auf ihn gerichtet.

"Ich kann Ihnen Kugeln in Arme, Beine oder wertvollere Teile schießen, Mister. Also reden Sie!"

"Ich weiß echt nicht, warum wir das hier besprechen müssen. Sie hätten zu mir kommen können", sagte Schlessinger ruhig. "Wenn Sie schon wußten, daß ich Sie observiert habe, hätten Sie mich ruhig besuchen können. Oder denken Sie, die Polizei würde Sie hier nicht suchen?"

"Sie spielen mit Ihrem Leben", schnaubte Andrews.

"Das weiß ich", versetzte Schlessinger, der irgendwie nichts daran fand, vielleicht in den nächsten Sekunden tot umzufallen. "Andererseits haben Sie mich herbestellt. Also habe ich was, was Sie haben wollen. Da Sie aber mit dieser Waffe auf mich zielen, tragen Sie das größere Risiko dabei. Wenn Sie mich jetzt umlegen kriegt die Polizei sie sicher bald, das kann ich Ihnen sagen."

"Von einem Intelligenten Mann erwarte ich auch, daß er sich vorbereitet. Halten Sie mich auch für intelligent?"

"Deshalb haben Sie mich zu dieser Stunde unter Androhung von Gewalt herbestellt und halten mir dieses Geschützt unter die Nase?" Entgegnete Schlessinger. Er spielte auf Zeit. Dann fragte er frei heraus: "Sie möchten mir nicht erzählen, warum Sie Ihren Chef ermordet haben?"

"Es war nötig", sagte Andrews kalt, ohne jedes Mitgefühl. "Er hat Dinge herausgefunden, die er meinte abstellen zu können. Sie haben mich doch belauscht. Dann wissen sie das doch, warum ich Degenhart getötet habe."

"Keine Frau der Welt ist es wert, für sie zu töten oder zu sterben, Mister. Das habe ich schon längst rausgekriegt. Also erzählen Sie mir nichts vom bösen Chef, der Sie wegen Ihrer verbotenen Liebschaft rauswerfen wollte."

"Sie haben doch keine Ahnung, wie wichtig das für mich ist", sagte Richard Andrews. Schlessinger preschte sehr tollkühn vor, in dem er fragte:

"Hat Sie Ihnen das beigebracht, solange durchzuhalten? Als ich gestern Morgen ein Foto von Ihnen sah sahen Sie richtig erschöpft aus."

"Das ging und geht Sie nichts an. Aber wem sage ich das? Sie machen ja Geld damit, in Sachen zu stochern, die Sie nichts angehen."

"Sie haben recht, daß mich Ihre Sachen nichts angehen. Aber wenn Sie meinen, Leute umbringen zu müssen, dann geht mich das genauso an wie jeden anständigen Bürger."

"Degenhart wäre noch am Leben, wenn er nicht sehr unverschämte Forderungen gestellt hätte", wandte Richard gehässig klingend ein. "Er kann froh sein, daß das Gift so schnell gewirkt hat."

"Sie haben das also geplant. Was glauben Sie, wie weit Sie jetzt noch kommen? Sie haben vier Cops umgelegt, Mister. Alle Cops von der Ost- bis zur Westküste warten nur noch drauf, Sie wegzupusten. Da wollen Sie mir erzählen, das wäre alles wegen dieser Frau, weil sie beide so gut miteinander können?"

"Wie gesagt, Sie haben keine Ahnung davon. So, genug geplaudert! Wo sind Ihre ganzen Unterlagen über mich und Loretta?"

"Da, wo Sie nicht drankommen", sagte Schlessinger ruhig. Andrews zog den Abzugshebel. Schlessinger war darauf gefaßt und ließ sich überfallen, bevor die MP mit lautem Rattern losging. Zeitgleich peitschten von anderswo her Schüsse heran. Richard Andrews warf sich zu boden. Doch einige Kugeln hatten ihn schon getroffen. Irgendwie jedoch wirkte er so, als könne er keine Schmerzen spüren. Er bewegte die Waffe und feuerte in die Dunkelheit. Offenbar war er bereit, sich hier und jetzt abknallen zu lassen, dachte Schlessinger. Er robbte schnell fort, eingedeckt von mehreren Salven. Als er sicher war, mindestens eine Sekunde unbemerkt zu sein, zog er seine eigene Waffe. Andrews wirbelte herum, wobei er die in den Händen ruckelnde MP wie einen Gartenschlauch beim Rasensprengen herumschwenkte. Schlessinger sah noch zwei Schatten, die auf ihn zusprangen. da verschwand Andrews auf einmal. Er war einfach nicht mehr da!

!"Das kann doch wohl nicht wahr sein", dachte der Detektiv, als ihm plötzlich die Erkenntnis kam, daß er doch richtig vermutet hatte. Andrews machte mit übernatürlichen Kräften gemeinsame Sache. Als ihm dieser Gedanke kam, traf ihn etwas an der Schulter und raubte ihm für alle Zeiten die Sinne.

Die Polizisten, die Andrews festnehmen wollten, konnten nicht so schnell zielen wie Andrews auswich. Es schien so als wüßte er kurz vor dem Feuer, wo die Kugeln hinfliegen würden. Er zielte dafür wesentlich besser. Innerhalb von einer halben Minute hatte der auf Abwege geratene Chemiker sieben weitere Polizisten auf dem Gewissen.

"Wieso trifft den keine Ladung voll?" Fragte Sergeant Stoner, als Richard Andrews, der nur leichte Streifschüsse an Armen und Beinen abbekommen hatte, in dem Moment verschwand, als er unrettbar im Kreuzfeuer stand. Die Kugeln schwirrten aneinander vorbei und trafen Kollegen der Schützen leicht bis tödlich. Ein Polizist kam bei diesem Angriff durch dieses Feuer ums Leben. Dann sah Stoner, wie Andrews knapp hinter dem Detekteichef auftauchte und ihn aus nächster Nähe eine Salve in Rücken und Hinterkopf feuerte. Die Schrecksekunde lähmte die Polizisten, sodaß sie erst feuerten, als Andrews wieder verschwunden war, als habe er sich in Luft aufgelöst.

"Der kann sich wegbeamen", dachte Stoner, als ihn von hinten eine MP-Garbe traf, die ihn mit den Kollegen links und Rechts für immer verstummen ließ.

Die Polizisten die noch standen ballerten nun drauf los. Sie überzogen den ganzen Pier mit einem Teppich aus fliegendem Blei. Doch als sie mal eine Feuerpause machten, war Andrews nicht im Schußfeld. Er tauchte hinter den Polizisten auf. So passierte es, daß ein Ordnungshüter von einem Kollegen angeschossen wurde, der auf den hinter ihm aufgetauchten Richard Andrews feuerte. Der Schütze, und der Angeschossene, hauchten keine vier Sekunden später ihr Leben aus. Andrews war wie ein böser Geist, der zuschlug und sofort wieder fort war. So geschah das höchst unwahrscheinliche, daß er innerhalb von zwei Minuten alle zwanzig auf ihn angesetzten Beamten getötet hatte. Als Verstärkung eintraf, waren nur die Leichen der Cops und des Chefs von Schlessinger & Co. an Pier sieben.

"Verdammt, alle tot", meldete einer der angerückten Beamten. "Das müssen mehrere gewesen sein. Das kann unmöglich der alleine gewesen sein."

"Hat Denvers nicht gesagt, daß sei ein Ablenkungsmanöver?"

"Tolles Ablenkungsmanöver", schnaubte der erste Polizist, der die Leichen der Kollegen einsammelte.

__________

Loretta, Hallitti oder wie sie sich sonst noch nannte, traf genau in dem Moment in Schlessingers Büro ein, als dieser sich am Hafen mit Richard traf. Richard sollte ihn mit fragen nach den Unterlagen hinhalten, ja selbst Andeutungen machen, weshalb er die Degenharts und seine Arbeitskollegen getötet hatte. Sie brauchte nur fünf Minuten. Als sie feststellte, daß alle sie und ihn betreffenden Unterlagen offenbar verschwunden waren, versetzte sie sich lautlos in das Gebäude, in dem Schlessinger den Nachmittag verbracht hatte. Hier waren die Unterlagen also. Sie durchstöberte kurz alles, dann packte sie die beiden Gasflaschen aus, die Richard gekauft hatte, baute sie auf und öffnete die Ventile. Zischend strömten Sauerstoff und Propan aus. Sie wußte, ein Funke würde reichen, das Gemisch zu entzünden. Der pure Sauerstoff würde den dabei ausbrechenden Brand heftig anfachen. Sicher, in den kleinen Druckflaschen waren nur fünfhundert Liter zusammengepresstes Gas, doch die mochten reichen, dieses Gebäude gründlich abzufackeln. Sie war sogar froh, nicht in Schlessingers Büro Feuer legen zu müssen. Denn das würde auffallen. Sie versetzte sich noch in den Tresor, der tief unter dem Haus lag und nahm die dünnen Papierbögen mit, auf denen die gefaxten Verträge waren. Sie kehrte in den oberen Bereich des Gebäudes zurück, wo inzwischen dicke Propangasschwaden umhertrieben. Sie legte das Handy von Richard auf den Boden und verschwand. Richard hatte am Abend noch dafür gesorgt, das an Stelle des Klingeltons Funken aus dem kleinen Telefon schlagen würden. So brauchte sie nur zu einer Telefonzelle in etwa einem Kilometer entfernung zu reisen und die Nummer des Handys wählen. Sie wartete. Erst kam ein Freizeichen. Dann erfolgte die automatische Ansage: "Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar." Drei Sekunden später hörte sie ein sehr lautes Bumm aus der Richtung in der das von Schlessinger genutzte Gebäude lag. Damit hatte sie ihr erstes Ziel erreicht. Doch da spürte sie, daß Richard in Gefahr war. Sie fühlte beinahe körperlich, wie Kugeln aus diesen Maschinenpistolen in seine Arme und Beine einschlugen. Sie versetzte sich auf magische Weise zum Pier Nummer sieben, wo sie Richard mit einem Teil ihrer Zauberkräfte anreicherte, sodaß er allen Kugeln ausweichen konnte oder nach Belieben verschwinden und anderswo auftauchen konnte. So schaffte sie es, daß er innerhalb weniger Minuten eine an sich haushoch überlegene Polizeitruppe bis zum letzten Mann niedermetzelte. Dann gab sie ihm noch den telepathischen Befehl, Schlessinger alles abzunehmen, was er bei sich trug. Sie selbst verschwand wieder und tauchte keine zwei Kilometer entfernt im getarnten Lieferwagen der Detektei auf. Unsichtbar fuhr sie einige Minuten lang mit. Dann ließ sie sich sehen, nur um den drei Mitarbeitern des nun toten Detektivs durch Blickkontakt den Willen zu nehmen. Einer löschte alle Aufzeichnungen. Der Zweite zerstörte die Empfangsgeräte. Der Dritte schließlich beschleunigte den Wagen, raste auf den Eriesee zu und fuhr voll hinein. In dem Moment, wo der Lieferwagen im wasser versank, verschwand Hallitti wieder. Nun waren wirklich alle Spuren beseitigt, die auf sie und Richard deuteten.

Sie holte ihren Unterworfenen vom Hafen weg und versetzte sich mit ihn zu ihrem Schlafplatz in Kalifornien, wo sie seine Wunden behandelte, in dem sie sie einfach einspeichelte. Dann legte sie ihm die Hand auf den Brustkorb und sang ihm ihre magische Melodie vor, mit der sie ihn gut beherrschte und über die sie ihm auch neue Kraft zuführen konnte, wenn sie das wollte. Tatsächlich bündelte das Medaillon um seinem Hals die Kräfte der dunklen Tochter und ließ alle Schußwunden restlos verheilen. Die Kugeln traten widerstandslos aus dem Körper aus. Fünf Minuten dauerte es, bis Richard wieder unverletzt war. Weil er es wollte und sie auch, gingen sie bald zur leidenschaftlicheren Zweisamkeit über. Die Tochter des Abgrundes fühlte, wie die Energie der jungen Straßendirne, die Richard gestern in sich aufgenommen hatte, ihr sehr wohltat. Richard verlor zwar diesen Kraftzusatz dadurch. Doch er hatte sich nun vollends diesem Geschöpf ausgeliefert, das ihn führte wie einen Bauern beim Schach.

Eine halbe Stunde später, früher als üblich, ließen die beiden unterschiedlichen Partner voneinander ab. Richard, am Rande der Bewußtlosigkeit, dachte daran, was nun geschehen würde.

"Wir bleiben einige Tage hier, Rich. Hier bist du absolut unangreifbar. Niemand wird dich jetzt noch finden. Dann werden wir wieder hinausgehen, um weiterzuleben", erwiderte das Wesen, das sich Loretta nannte und Richard im Bann einer dunklen verfälschung von Liebe gefangenhielt.

"Was ist das da?" Fragte er und deutete mit dem bleischweren Arm auf einen riesigen Krug, der aus sich selbst heraus golden leuchtete und die kuppelartige Höhle, in der sie sich befanden, in ein warmes, helles Licht tauchte.

"Das ist das Vermächtnis meiner Mutter, Richard. Es ist ein magischer Krug, der Leuchtet, wenn ich in der Nähe bin", sagte Hallitti. Mehr wollte sie nicht verraten. Richard war ihr zwar ausgeliefert. Aber alles mußte er doch nicht wissen.

"Hast du zu Essen hier?" Fragte er.

"Brauchst du nicht, Richard. Du schläfst jetzt erst einmal."

"Ja, Lolo", sagte Richard und fiel augenblicklich in einen unnatürlich tiefen Schlaf. Hallitti streichelte ihm die Stirn und flüsterte einige alte Zauberworte. Der Schlaf würde nun vier volle Tage vorhalten. Sie ordnete ihre abgelegte Kleidung, näherte sich dem Krug und ließ von Zauberhand den massiven Deckel herunterschweben. Dann zog sie sich außen über den zwei Meter über dem Boden liegenden Rand und schlüpfte in eine sonnenuntergangsorange Substanz, die weder stofflich noch reines Licht war. Diese fremdartige Substanz bestand aus hunderten von gesammelten Menschenleben, Fragmenten geopferter Seelen und in ihrem Schoß zurückgelassener Körperkraft normalsterblicher Männer. Sie badete sich im orangen Dunst, zerfloss dabei halb und ließ neue Lebenskraft in sich einströmen. Sie wußte, daß sie Richard ab und zu damit füttern mußte. Doch das Beisammensein in dieser Nacht hatte ihr Appetit gemacht, auch das Leben junger Frauen zu kosten, das er, Richard, für sie beschaffen würde. Jetzt, wo sie ihn in ihrer Höhle hatte, würde niemand mehr an sie herankommen. Denn sie selbst mußte nicht mehr eingreifen, wenn er in Gefahr geriet.

__________

"Polizistenschreck immer noch unauffindbar!" Sprang Anthelia eine Schlagzeile des Detroiter Tagesboten an, als sie einen Tag nach dem blutigen Zusammentreffen zwischen Richard Andrews und Schlessinger die Stadt aufsuchte, in der dies alles passiert war. Sie kaufte dem Kioskbesitzer eine Zeitung ab und ging ruhig weiter. Da weder Muggel noch Zauberer wußten, daß es sie gab und wie sie aussah, bewegte sie sich in der Industriestadt so frei wie jeder andere auch. Sie ärgerte sich nur, daß dieser Brodem aus Autoauspuffrohren und Kaminen die Luft so sehr verpestete, daß sie immer wieder versucht war, ihren Kopf in eine Frischluft spendende Blase aus Zauberkraft einzuschließen. Sie sah sich um, wo Richard Andrews gewütet hatte, am Degenhart-Gebäude. Anwälte hatten sich der Firma angenommen, um die Eigentumsfrage zu klären. Mehrere Banken, bei denen Degenhart Kredite laufen hatte, beanspruchten die Firma, die er als Sicherheit verpfändet hatte für sich allein. Doch dieses Geplänkel interessierte Anthelia nicht. Sie interessierte, was die Menschen hier noch darüber dachten. Ein kleiner Junge, wohl gerade sieben Jahre alt, lief an dem Haupttor vorbei, über dem ein großes Schild mit schwarzen Lettern verkündete:

"Wir betrauern unseren Chef, Mark Degenhart, so wie seine Söhne Roger und Gereth, so wie Elmo Mathews, unseren Personalchef und auch unsere Kollegin Nina Zager. Wir bitten unsre Freunde, Kunden und Gäste um Verständnis, daß wir bis auf weiteres unsere Tore geschlossen haben." Unter der Traueranzeige waren Unterschriften wohl aller Mitarbeiter nachzulesen. Der Junge trat neben Anthelia und sagte:

"Das ist voll fies. Der Möada is' noch draußen. Hat fünf Leute umgelegt."

"Du hast recht, Knabe. Es ist sehr grausam", antwortete Anthelia mit aufgesetzter Trübsal in Stimme und Gesicht. "Aber den kriegen die schon."

"Joh, Ma'am, muß weiter, bevor meine Mom denkt, der hätte mich auch gekricht", sagte der Junge und wetzte davon.

"Ich kriege dich, Hallitti, Hure der Dunkelheit. Ich kriege dich doch noch. Auch wenn du dich mit deinem Abhängigen verborgen hast. Du wirst wieder ans Licht kommen müssen, um weiterzuleben. Ich werde dich kriegen", schwor sich Anthelia. Sie hatte zwar keine Skrupel, den einen oder den anderen zu töten. Doch dieses Ungeheuer machte kein Aufheben um einige Dutzend Leute, nur um ans Ziel zu kommen. Anthelia wußte, daß Hallitti und ihre acht Schwestern die größte Bedrohung für ihre Pläne waren, die Welt der Magie und die der Unfähigen wieder unter der mütterlichen Führung der Hexen zu ordnen.

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Der Massenmord an den Polizisten schlug turmhohe Wellen in allen Nachrichtensendungen, Zeitungen und Magazinen. Von den Medien engagierte Experten für Psychologie, Kriminologie und Kriegsführung diskutierten die Wahrscheinlichen Hintergründe für diese Bluttaten und wie ein Mann alleine sie ausüben konnte. Die Explosion in einem Gebäude außerhalb der Stadt, die alles im Umkreis von dreihundert Metern dem Erdboden gleichgemacht hatte, war nur eine halbe Seite in der Tageszeitung wert, genauso wie das Verschwinden dreier Schlessinger-Detektive. Es schien, daß keiner auf die Idee kam, diese drei jedes für sich schrecklichen Ereignisse in einen Zusammenhang zu bringen. Doch Inspektor Denvers, der sich die wildesten Vorwürfe machte, nicht gut genug aufgepaßt zu haben, las aus diesen Vorfällen eine Verkettung von Ereignissen. Er ließ nachforschen, wem das Gebäude gehörte, daß mit einer verflucht simplen Propan-Sauerstoff-Gemisch-Vorrichtung gesprengt worden war. Auch das Verschwinden der Schlessinger-Detektive fügte er in dieses Bild ein. Andrews hatte alle die beseitigt, die ihm zu nahe gekommen waren. Was immer diesen früher so gutbürgerlich auftretenden Mann umgab, es war ihm Dutzende von Menschenleben wert. Wo war dieser Mann jetzt? Jeder Mensch, auch ein landesweit gesuchter Mörder, mußte mal etwas essen. In jeder Nachrichtensendung wurde sein Bild gezeigt. Jede Zeitung brachte sein Foto mit der roten Unterschrift "Der Polizistenschlächter aus Großbritannien", "Irrer Wissenschaftler" oder "Megamörder". Denvers hatte eine höchst aufreibende Diskussion mit seinem Vorgesetzten hinter sich. Dieser hatte ihm die Hölle heißgemacht, weil er nicht für ausreichende Schutzvorkehrungen gesorgt hatte. Denvers hatte den Befehl erhalten, den Fall abzugeben, und zwar an das FBI. Denvers hatte zugestimmt. Er wußte, daß Andrews eine Nummer zu groß für ihn war. Alleine die Tatsache, daß er nach dem "Pier-sieben-Schlachten", wie die Sensationspresse es bezeichnete, so spurlos verschwunden war, ließ den sonst so harten Inspektor an seinen Fähigkeiten zweifeln.

Am siebzehnten März traf er sich in der FBI-Niederlassung Detroit mit zwei Agenten. Einer war groß, wirkte wie ein stattlicher Baum, besaß nachtschwarzes Haar, einen südländisch wirkenden braunen Hautton und graue Augen. Der zweite war drahtig, mittelblond und trug eine ränderlose Brille.

"Hah, Inspektor Denvers! Freut mich", grüßte der größere der beiden mit Jovialer Direktheit. "Ich bin Spezialagent Ruben Martinez. Das hier ist Spezialagent Louis McGregor. Ihr Boss hat uns schon angerufen, daß Sie vorbeikommen."

"Spezialagent Martinez, ich hoffe, Sie kriegen den Kerl. Insgesamt fünfundzwanzig Kollegen hat er auf dem Gewissen. Dann kommt noch dieses Ding dazu, wo wir Woody Brenner noch einmal zu befragen wollen und die Sache mit den Leuten bei Degenhart. Sie haben die besseren Psychologen und Experten für Täterprofile. Ich hoffe, Sie kriegen raus, was den geritten hat, derartig auszuteilen."

"Inspektor, das kriegen wir schon", sagte Martinez mit einer schier unerschütterlichen Selbstsicherheit. Denvers nahm dies einstweilen so hin. Was sollten die Angehörigen der weltberühmten Superpolizei FBI auch anderes sagen. Sollte dieser Martinez, wohl der Nachfahre eines Mexikaners oder Latinos, zugeben, daß man diesen Andrews nicht kriegen mochte?

"So, dann geben Sie uns mal alles, was Sie bisher mit dem Herrn zu schaffen hatten! Wir haben schon einiges zusammengetragen.

Denvers öffnete seine Aktentasche und legte den Bundesagenten mehrere bedruckte Papierbögen, eine CD-ROM und einige Tonbandcasetten vor, die sie von Halligan, dem Hausverwalter in Bay City hatten, sowie den mitgeschnittenen Funksprüchen der Taxiunternehmer und der eigenen Polizeifunkgespräche hin. Martinez nahm die Aufzeichnungen an sich und gab sie an McGregor weiter. Dieser ging in die Abteilung für Archiv und Datenvergleich hinüber. Als er zurückkehrte, hatte der Stadtpolizeioffizier seinem Bundeskollegen schon alles erzählt.

"Und sie wissen nicht, wer diese Frau sein soll, mit der Andrews ziemlich ausgiebig verkehrt hat?" Fragte Martinez.

"Wir haben sie nicht mehr gefunden. Offenbar hat sie sich sofort versteckt, als Andrews Amok lief."

"Wenn es ein Amoklauf war, Inspektor", meinte McGregor. "Wenn das wirklich stimmt, daß er einen Abend vorher eine Prostituierte und ihren Zuhälter ermordet hat, denke ich eher an einen Mordplan."

"Woody Brenner, er heißt bürgerlich Alwood Brenner III., hat ja förmlich drauf gewartet, den Trhon im Milieu zu erben. Max hat ihn immer als Kronprinzen oder Premierminister gehalten. Vielleicht macht er das jetzt, wo Richard Andrews in Erscheinung getreten ist, daß der auch für den Tod seines großen Gönners verantwortlich ist, um die Erbschaft ohne Anfeindungen antreten zu können."

"Den haben wir schon im Raster. Wenn Ihr Chef mit unserem den bürokratischen Teil erledigt hat, nehmen wir uns den Burschen zur Brust. Den Portier, diesen John Peters, haben wir ja schon eben wegen Max und seinen Nachfolgern", sagte Martinez mit seiner raumfüllenden Baßstimme.

"Diese Frau, von der wir überhaupt kein klares Foto haben, muß Richard Andrews schon vor Monaten gekannt haben. Ich wollte an und für sich mit den britischen Kollegen sprechen, ob die sie kennen. Aber die Ereignisse haben sich ja so heftig überschlagen."

"Das machen wir dann", erklärte Martinez. "Haben Sie eigentlich die Familie von Richard Andrews kontaktiert?"

"Das wollte ich tun, Mr. Martinez", sagte Denvers betreten.

"Das machen wir. Ich hörte, daß Doktor Andrews vor sieben Monaten geschieden wurde und seine Frau jetzt in Frankreich lebt, nachdem sie wohl wegen zu hohem Stress ihre Anstellung in London aufgeben mußte. Vielleicht bringt uns das weiter."

"Dann machen Sie das!" Willigte Denvers ein. Er war froh, diesen schweren Anruf nicht machen zu müssen. Vielleicht aber war es nötig, daß Mrs. Andrews herüberkam, um den Kollegen vor Ort zu helfen. Aber das lag jetzt nicht mehr in seinen Händen. Er sprach noch über dieses und jenes in dem Fall Andrews, bevor er das FBI-Gebäude verließ und zu seinem Department zurückfuhr. Dort hatten sich Reporter verschiedener Medien versammelt und umlagerten die Pressesprecherin, Lena Mahony, um gierig neue Nachrichten aufzusaugen.

"Ah, Inspektor Denvers!" Rief einer der lauernden Nachrichtenleute. "Haben Sie den Kerl immer noch nicht?"

"Damen und Herren, ich habe keine Weisung, Ihnen irgendwas zu erzählen", sagte der Inspektor und ging weiter, an Sergeant Mahony vorbei, ohne ein Wort mehr als nötig zu wechseln. Er suchte seinen Chef auf und teilte ihm mit, daß nun alles beim FBI lag. Dieser rief Mahony auf ihrem Mobiltelefon an und meldete ihr, daß sie nun die Nachricht rausrücken konnte.

"Machen Sie sich darauf gefaßt, daß die Schlammschleudern in den nächsten Tagen keinen sauberen Fleck an Ihnen lassen werden, Denvers!" Sagte der Chef des Inspektors, mußte dabei jedoch zuversichtlich lächeln.

"Wäre nicht das erste Mal, Sir", erwiderte Denvers gelassen tuend.

__________

Romina wagte es, ihr Faxgerät von ihrem früheren Computerarbeitsplatz fortzuholen. Es hatte in der Zeit sechs weitere Mitteilungen ausgespuckt, die sie vorsichtig zusammenfaltete und verstaute, bevor sie den Faxapparat von seinen Anschlüssen löste und ohne die Stolperschnur zu berühren verschwand, die mit dem Behälter mit der Erumpenthornflüssigkeit verbunden war.

Sieben Tage verstrichen ereignislos. Anthelia hatte alle ihre Verbindungen bemüht, um möglichst rasch neue Nachrichten zu kriegen. Da die Angelegenheit Andrews nur in Detroit passiert war, war es den anderen Medien nach vier Tagen nicht mehr so wichtig, darüber zu berichten. Cecil Wellington schickte immer wieder Sachen dazu an Romina, die sie jedoch bald nicht mehr beachtete. Anthelia meinte nur:

"Die Kreatur hat sich versteckt. Sie kann nun Tage durchhalten. Doch irgendwann wird sie ihren Abhängigen wieder losschicken. Denn auch wenn sie ihn nun unter ihrem Zauber hält, muß er zwischendurch essen und trinken. Außerdem muß er was erleben. Denn sie kann nur neue Lebenskraft von ihm aufsaugen, wenn er auch neues erfahren konnte. Das ist ihre einzige Schwachstelle, von ihrem Lebenskrug abgesehen."

"Hmm, dann brauchen wir nur zu warten, wo er sich wieder blicken läßt?" Fragte Romina.

"So ist es", bestätigte die Führerin des Spinnenordens. Ihr Plan, möglichst ohne Magie Beobachter auf dieses Wesen anzusetzen, hatte sich für die Spinnenschwestern als Glücksfall erwiesen. Denn so würde die Kreatur nach irgendwelchen Normalsterblichen suchen, falls sie immer noch wissen wollte, wer ihr die Detektive auf den Hals gehetzt hatte.

"Was tun wir, solange diese Bestie sich nicht wieder meldet?" Fragte Patricia Straton, die fürchtete, die Tätigkeiten der Spinnenschwestern müßten eingestellt werden.

"Wir kümmern uns vor allem um unser Netzwerk. Jetzt, wo dieser Albus Dumbledore ausHogwarts geflüchtet ist, werden die Schergen des Emporkömmlings die Gunst der Stunde nutzen, um die Schule unter ihre Kontrolle zu kriegen oder zumindest so zu führen, daß sie für den Emporkömmling leichter zu übernehmen sein soll. Unser Kundschafter Pike gab mir vor einigen Tagen die Botschaft, daß Voldemort beabsichtigt, ein altes Geheimnis von Slytherin zu ergründen, um es sich nutzbar zu machen. Was für ein Geheimnis es sein soll, wissen wir noch nicht. Aber ich fürchte, wenn wir nicht rechtzeitig dahinterkommen könnte der Emporkömmling einen wichtigen Trumpf in die Hand bekommen", sagte Anthelia.

Der Computer gab Ton, das eine E-Mail eingetroffen war. Romina sah gleich, daß sie von Cecil Wellington stammte. Sie öffnete sie und las:

"Weiterer Mord an Straßenmädchen. Mehrere Dirnen in Chicagos Süden und in New York sind auf eine Merkwürdige Weise umgekommen. Die starben ohne erkennbare Ursache. Die Mediziner haben nur festgestellt, daß ihre Körperzellen irgendwie total ausgebrannt waren. Das ist wohl für euch wichtig."

Der Nachricht war noch ein Anhang beigefügt, in dem der entsprechende Zeitungsbericht aufgeführt war.

"Nun, er ist also unterwegs. Offenbar hat er die Weisung, durch fleischliche Vergnügungen Lebenskraft anderer Frauen zu stehlen. Mag sein, daß er damit weiterleben darf. Kann auch sein, daß er sie als Tribut an seine Herrin abführen muß", bemerkte Anthelia dazu. Sie lächelte. So mußten sie nie lange warten, bis Richard Andrews wieder auftauchte.

__________

Jane Porter erfuhr von Zachary Marchand, einem muggelstämmigen Zauberer, der als Agent des FBIs arbeitete, was in Detroit passiert war. Sie erschrak sichtlich. Selten konnte man bei dieser lebens- und schreckenserfahrenen Hexe blankes Entsetzen in den Augen sehen. Marchand, der sie in ihrem Haus am Weißrosenweg besuchte, wiegte den Kopf.

"Was ist, Jane. Kennen Sie diesen Mann, Richard Andrews?"

"Kennen im Sinne von gut kennen nicht, Zach. Aber ich habe ihn einige Male getroffen und gesprochen. Meine Enkelin Glo ging mit seinem Sohn Julius zwei Jahre nach Hogwarts, bevor der Junge wegen einer absolut unnötigen Dummheit seines Vaters nach Beauxbatons wechselte, weil seine Mutter zur Tochter einer Bekannten gezogen ist."

"Oh, dann kennen Sie den Jungen?" Fragte Marchand, der nun verstand, was Mrs. Porter so heftig berührte, daß sie entsetzt war.

"Ja, ich kenne ihn sehr gut. Er ist sehr aufgeweckt, neugierig aber auch sehr gut erzogen. Ich höre immer mal wieder von ihm. Meine Bekannte ist ja in Beauxbatons. Die schreibt mir zwischendurch. Dann kriege ich ja von Glo und ihm Nachrichten."

"Nun, es könnte sein, daß meine Muggelkollegen mit den Andrews' reden wollen, um rauszukriegen, was bei Richard Andrews passiert sein kann, daß er so geworden ist."

"Ich weiß nicht, ob das so gut ist, Zach", sagte Jane. "Ich kenne die Exfrau von Richard Andrews und ihren Sohn ziemlich gut. Ich fürchte, sie könnten denken, Schuld daran zu sein."

"Wieso?" Fragte Zachary Marchand.

"Weil sie sich mit ihm verkracht haben. Richard Andrews wollte nicht, daß sein Sohn Zauberei lernt. Es kam zum Streit mit seiner Frau, wobei eine sehr unschöne Sache passiert ist, auf die ich hier nicht eingehen möchte. Jedenfalls haben Mutter und Sohn dann das Land gewechselt. Für den Jungen war das auch besser so", sagte Jane Porter sehr betrübt. Sie wollte nicht wahrhaben, was sie dachte. Denn nun ergab alles ein Bild.

"Zach, wenn Sie es können, sehen Sie zu, daß Pole und Davidson alle Einzelheiten erfahren. Ich fürchte, das ist kein reiner Muggelfall."

"Verdammt, das habe ich auch schon überlegt. Ein Mann, der mal eben zwanzig Polizisten die mit MPs um sich schießen umbringen kann, ist kein normaler Muggel", sagte Marchand.

"Ich meine das anders, Zach. Die Ereignisse um Lobelia Wagner, sowie das dunkle Feuer in ihrem Haus, sowie das Verschwinden von Lucretia Withers, einer englischen Ministeriumshexe, ergeben jetzt alle einen Sinn. Ich werde noch einmal ins Institut fliegen und mit Davidson darüber sprechen."

"Was gibt einen Sinn?" Fragte Zachary Marchand, der nun von Jane Porters Angst angesteckt wurde.

"Ich hatte erst nur einen dummen Verdacht. Aber leider ist der jetzt alles andere als dumm. Manchmal hasse ich es, recht zu haben, Zach. Es könnte sein, daß Richard Andrews ohne es zu wollen eine alte Kreatur geweckt hat, die ihn verfolgt und unterjocht hat. Ich wollte das erst nicht groß einbringen. Doch ich muß nun erkennen, daß es besser gewesen wäre, dem ordentlich nachzugehen. Das schmeckt mir nicht. Aber ich fühle mich mitschuldig für die vielen Toten. Vor allem habe ich das Gefühl, genau dann versagt zu haben, wo ich gebraucht wurde. Hoffentlich ist es noch nicht allzu spät."

"Alte Kreatur? Was für eine alte Kreatur?" Hakte Marchand nach.

"Ein Wesen, an das selbst in der Zaubererwelt nur wenige glauben, weil die meisten davon seit Jahrhunderten in tiefem Schlaf liegen. Aber ich habe es eilig. Sie kehren zurück zu Ihrer Dienststelle und tragen die Sachen zusammen, die wir brauchen!" Sagte Jane mit nun wieder gewohnter Strenge in der Stimme. Zachary Marchand nickte und verließ das durch eine Apparitionsmauer geschützte Haus mit Flohpulver. Keine Minute später war Jane Porter im Besenhangar des Laveau-Institutes, wo sie einen der geparkten Harvey-5-Flugbesen nahm, deren Lack und Schweif so bezaubert waren, daß sie sich und alles in zwei Metern Umkreis unsichtbar machen konnten. Damit jagte Jane zum Institut, wo sie einen großen Ordner aus dem verschließbaren Schrank ihres Büros holte. Sie blätterte darin und fand was sie suchte, eine vor mehr als einem Monat zusammengefaßte Vermutung über den Tod von Lobelia Wagner und Charity Joyce, sowie das dunkle Feuer in Lobelias Haus. Damit ging sie zu Elysius Davidson, der bereits per Kontaktfeuer erfahren hatte, was Marchand gemeldet hatte. Jane legte ihrem Chef die niedergeschriebenen Gedanken von sich vor und ergänzte:

"Es ist nun mehr als wahrscheinlich, daß Richard, weil er keine aktiven Zauberkräfte hat, dieses Wesen geweckt hat."

Davidson runzelte die Stirn. Er las die Vermutungen noch einmal und verglich sie mit dem, was Marchand berichtet hatte. Dann meinte er:

"Nun, das mag sein, Jane. Aber wir möchten auch nicht ausschließen, daß wir es wirklich mit einem wahnsinnigen Muggel zu tun haben, der aus purer Verzweiflung zum Massenmörder wurde."

"In einigen Stunden wissen wir es wohl", konnte Jane dazu nur sagen.

Ardentia Truelane, eine Kollegin Janes, kam zu Davidson ins Büro und fragte, was man in der Angelegenheit mit einem in Texas herumspukenden Geist eines böswilligen Medizinmannes machen sollte. Davidson verwies darauf, daß die Geisterbehörde sich darum zu kümmern hätte. Doch Ardentia sagte dazu nur:

"Die haben uns das zugeschustert, weil die üblichen Maßnahmen nichts bringen, Elysius."

"Im Moment müssen wir erst was anderes klären, Ardentia. Ich spreche noch einmal mit Ihnen, wenn ich mir dazu was überlegt habe", verwies Davidson die Mitarbeiterin auf einen späteren Zeitpunkt.

Knapp eine Stunde später kam eine Expresseule direkt durch den Kamin. Davidson rief Jane Porter zu sich und gab ihr einen Brief zu lesen:

Sehr geehrter Mr. Davidson,

Die Angaben Ihrer Mitarbeiterin Porter und die beigebrachten Berichte von unserem Muggelweltkontaktmann Marchand veranlassen mich, Ihnen und Mrs. Porter folgendes mitzuteilen:

Nach der Prüfung der von Ihnen beigebrachten Unterlagen, sowie den Berichten über die Vorkommnisse in Detroit und Bay City, Michigan, haben mein Strafverfolgungsleiter und ich erkennen müssen, daß wir es wirklich mit jener alten Kreatur der Dunkelheit zu schaffen haben, die sich "Tochter des dunklen Feuers" nennt. Da diese Kreatur gemäß der Zauberweseneinstufung Klasse XXXXX entspricht, gilt es, ohne Panik in der Zaubererwelt zu schüren vorzugehen. Daher habe ich zwei Entscheidungen gefällt, die bis auf Widerruf durch mich oder einen Nachfolger von mir bestehen bindend sind, solange die Gefahr nicht beseitigt ist.

1. Über die Aktivitäten dieses Wesens auf dem Boden der vereinigten Staaten haben Sie allen Verwandten, Freunden, Bekannten und von mir nicht autorisierten Kollegen gegenüber absolutes Stillschweigen zu bewahren. Die Angelegenheit, die wir unter dem Aktentitel "Andrews-Dependenz" verzeichnen werden, unterliegt der Geheimhaltungsstufe 10.

2. werden Sie nach Erhalt dieses Briefes alle bereits niedergeschriebenen Notizen und / oder Schriftsätze per Boten dem Archiv S des Zaubereiministeriums zustellen. Ich verlange, daß diese Unterlagen niemandem mehr zugänglich gemacht werden. Desweiteren wird die Abteilung für Strafverfolgung ausschließlich mit Ihnen beiden den Fall verfolgen und Lösungen suchen, im günstigsten Fall einen Weg finden, dieses Wesen zu bannen oder zu vernichten.

Um die Verbindung zwischen Richard Andrews und der Zaubererwelt nicht ruchbar werden zu lassen, habe ich veranlaßt, daß alle dazu befähigten Abteilungen eine Legende in die Muggelwelt transportieren, die besagt, daß es sich bei diesem Mann nicht um Richard Andrews, sondern einen durch Muggelmedizin umgestalteten Verbrecher handelt, der die Rolle des eigentlichen Wissenschaftlers übernahm und für eine verbrecherische Gruppierung tätig gewesen war, bis seine Tarnung aufgedeckt wurde.

In der Gewißheit, daß Sie alle diese Anweisungen wortgetreu ausführen werden verbleibe ich

mit Freundlichen Grüßen
                      Jasper Pole, Zaubereiminister der vereinigten Staaten von Amerika

"Dann schicken Sie am besten gleich diese Unterlagen an das Archiv S!" Sagte Jane Porter und gab ihre Mappe mit den Notizen und Vermutungen an Davidson ab. Im gleichen Moment zerfiel Minister Poles Brief zu weißem Staub.

"Sie haben es gelesen, daß Sie niemandem darüber berichten dürfen?" Erkundigte sich Davidson noch einmal.

"Ja, ich habe es gelesen", knurrte Jane Porter verärgert. Denn das war die am schwersten zu befolgende Anweisung. Sie dachte schon daran, was sie Julius Andrews erzählen sollte, wenn der das rausbekam. Wie würde er das hinnehmen, sollte dieser Fall sich bis Europa herumsprechen? Dann fiel ihr ein, daß wenn durch die Nachrichten gehen würde, daß es nicht der echte Richard Andrews war, würde sie davon natürlich nichts wissen dürfen. Denn Angelegenheiten der Muggelwelt mußten sie nicht unmittelbar erreichen. So beruhigte sie sich etwas. Wenn das Zaubereiministerium ordentlich arbeitete, würde die entsprechende Legende mit allem Hintergrund so glaubhaft wie möglich erscheinen.

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Die Nachricht über den Massenmord an Polizisten flog mit Lichtgeschwindigkeit über den Atlantik und Pazifik. Über mehrere Satellitenrelais bekamen die Nachrichtenagenturen in Aller Welt Wind davon, daß ein offenbar wahnsinnig gewordener Engländer namens Richard Andrews brutal und schier unaufhaltsam Dutzende von Menschen ermordet hatte. Natürlich konnte das Mrs. Martha Andrews nicht verborgen bleiben. Als sie nach einem Besuch in der Rue de Camouflage mit Catherine Brickston in das gemeinsam bewohnte Haus zurückkehrte, erschrak sie beim Einschalten des Fernsehers. Reporter hatten Bilder von Richard ausgebuddelt und sprachen sehr aufgeregt davon, daß dieser Mann wegen vielfachen Mordes in Detroit gesucht würde. Martha Andrews, sonst eine kühle Logikerin, die ihre Gefühle wie mit einem Drehschalter abstumpfen konnte, taumelte kreidebleich. Catherine, die ebenso erschüttert darüber war, griff sie beim Arm und drückte sie schnell auf eines der bequemen Sofas, welche im magisch vergrößerten Wohnzimmer bereitstanden.

"Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!!" Rief Martha. Catherine schwieg. Ihr fehlten alle Worte. Sie starrte mit ihren Saphirblauen Augen auf den Fernsehschirm, hörte dem Reporter zu, der die Ereignisse in Detroit erwähnte. Das Bild eines Hafens flimmerte über die Mattscheibe. Dann wurde noch ein weißes Bürogebäude mit einem großen Tor gezeigt, an dem ein Schild hing. Die Kamera holte das Schild heran, sodaß für vier Sekunden zu lesen war, was draufstand. Dann sagte der Reporter noch:

"Der mutmaßliche Massenmörder ist flüchtig. Die Polizei will sich nicht näher zu den Umständen der Tat äußern."

"Hoffentlich kriegt das Joe nicht mit", dachte Catherine. Ihr Mann war gerade unten im Arbeitszimmer. Würde diese Meldung jetzt noch häufiger kommen? Doch sie war nach zwanzig Sekunden vorbei. Sollte sich an der Lage nichts ändern, würde sie morgen schon nicht mehr wichtig genug sein. Soweit kannte sie die Nachrichtenwelt der Muggel.

Martha lag große Tränen weinend auf dem Sofa. Sie schluchzte und wimmerte "Richard" und "Julius, O Julius". Catherine setzte sich auf den weichen Teppichboden neben sie und wartete, bis ihre Bekannte sich ein wenig beruhigte. Dann sagte sie:

"Wir kriegen raus, was passiert ist, Martha. Wir kriegen das raus. Ich hoffe, das alles ist eine schlimme Verwechslung."

"Nein, ist es nicht", heulte Martha wie ein kleines Mädchen. Die Nachricht, daß ihr Exmann, den sie trotz allem immer noch liebte, ein Mörder geworden sein sollte, hatte sie schockiert. Doch nach fünfzehn Minuten hemmungsloser Trauer und Hilflosigkeit kehrte ihr Verstand langsam wieder zurück. Wenn es wirklich ihr früherer Mann war, dann mußte etwas ihn heftig verändert haben. Wenn es nur ein Doppelgänger war, dann mußte ihr Exmann noch irgendwo sein. In jedem Fall mußte sie etwas überlegen, wie sie mit Joe oder jedem anderen darüber sprechen sollte.

"Ich habe noch Träum-gut-Tee. Davon gebe ich dir nachher was", sagte Catherine. Martha schüttelte den Kopf.

"Das hilft mir doch nichts, Catherine. Wenn Julius in die Ferien kommt, und die suchen Richard wirklich wegen dieser Sache", wimmerte sie, "bricht für den die Welt zusammen."

"In Beauxbatons kriegt er davon nichts mit, Martha. Aber wir müssen es ihm irgendwie sagen", meinte Catherine.

"Lass mir bitte Zeit, wie ich ihm das erklären kann, Catherine", sagte Martha Andrews. Ihre Bekannte nickte.

In der Nacht überlegte die Exfrau von Richard Andrews, was sie nun tun sollte. Offenbar hatte niemand von ihrer Verwandtschaft diese Nachrichtensendung mitbekommen oder glaubte nicht, daß er das war. Doch als sie am nächsten Morgen einen Anruf von ihrem Schwager Claude erhielt, wußte sie, daß er auch die Nachrichten bekommen hatte.

"Martha, die Amis spinnen. Das ist unmöglich Richard, den sie da suchen. Der sieht ihm nur ähnlich. Hörst du!" Sagte Claude.

"Ja, aber die Angaben stimmen doch", sagte Martha Andrews. "Außerdem ist er nicht in dieser Wohnung. Ich rufe da gleich noch einmal an."

"Er ist es einfach nicht", beharrte Claude auf seiner Feststellung.

"Ich kläre das", sagte Martha nur. Ihre Disziplin, sich nicht überschwenglichen Gefühlen hinzugeben, war zurückgekehrt.

"Gut, dann klär das!" Knurrte Claude. Dann meinte er noch: "Wenn der Junge dich anruft und fragt, was da gelaufen ist sage ihm, daß sein Vater sowas nicht macht, was immer die behaupten!"

"Claude, ich bin erwachsen genug, zu wissen, was ich dem Jungen zu sagen habe!" Stieß Martha Andrews eiskalt hervor und verabschiedete sich kurz angebunden von ihrem neunmalklugen, aber offenbar ignoranten Schwager. Sie wählte schnell die Nummer in Bay City, die ihr Exmann ihr hinterlassen hatte. Dort meldete sich eine basslastige Stimme mit:

"Hallo, bei Andrews!"

"Hier ist Martha Andrews. Kann ich mit meinem früheren Mann Richard sprechen?" Erwiderte Martha.

"Ach, Sie sind die Ex-Ehefrau von Mr. Andrews? Dann haben Sie wohl doch die Nachricht gekriegt, wie? Mein name ist Martinez. FBI-Spezialagent Ruben Martinez", erwiderte die Stimme.

"FBI? Dann ist doch was an diesen Vorwürfen dran?" Stieß Martha Andrews aufgeregt aus. Dann dachte sie daran, einem schlechten Scherz aufgesessen zu sein. Sie meinte: "Das kann jeder behaupten, von der Polizei zu sein. Ich werde mich mit Ihrem Büro verbinden lassen."

"Ist nicht das schlechteste, Ma'am, wenn Sie wirklich Mrs. Andrews sind. Rufen Sie bei meinem Kollegen McGregor in Detroit an. Wollen Sie die Nummer haben?"

"Ich lasse sie mir von der Auskunft geben", sagte Martha Andrews und legte kurz auf, um dann per Auslandsauskunft die allgemeine Rufnummer der FBI-Niederlassung in Detroit zu erfahren. Sie fragte, ohne ihren Namen zu nennen, ob dort ein Spezialagent Martinez arbeitete. Sie sagten ihr, daß dies richtig sei. Sie bedankte sich und hinterließ eine Nachricht für ihn. Als sie ihren Namen sagte, meinte der Mann in der Telefonzentrale:

"Moment! Andrews? Ich verbinde Sie mit Dr. Windslow von der Täterprofilabteilung. Die hat mich gebeten, falls Sie bei uns anrufen ..." Martha Andrews drückte die Gabel des Telefons und trennte damit die Verbindung. Sie wartete, bis sie ein Freizeichen bekam und rief dann die gespeicherte Nummer ihres Exmanns noch einmal auf. Sie unterhielt sich mit Spezialagent Martinez lange und breit über das, was sie aus den Nachrichten erfahren hatte. Dann meinte sie noch:

"Halten Sie mir ihre Psychologin vom Hals! Ich weiß nicht, was Richard in den letzten sieben Monaten getrieben hat. Was vorher gelaufen ist geht sie nichts an, klar!"

"Mrs. Andrews, nichts für ungut, aber ob das so richtig ist kann ich nicht sagen."

"Ich werde jede Aussage verweigern, wenn mich jemand anderes außer Ihnen befragen will, klar. Ich habe auch als Exfrau noch ein Zeugnisverweigerungsrecht. Zumindest meine ich, daß dies in Frankreich so ist."

"Wir respektieren das auch noch, Ma'am", beteuerte Martinez etwas ungehalten. "Gut. Wir werden Ihren Exmann sowieso bald haben. So gut verstecken kann er sich nicht."

"Und was passiert, wenn Sie ihn haben. Werden Sie ihn zum Tode verurteilen?"

"Das muß ein Gerichtsprozeß klären, Mrs. Andrews. Vorerst akzeptiere ich Ihre Haltung."

"Danke", stieß Martha Andrews nur aus und verabschiedete sich von dem FBI-Mann.

Nach diesem Telefonat mit dem ermittelnden Agenten der Bundespolizei der Staaten ging sie an Julius' Computer und lud von CD-ROM die Werkzeuge zur Erstellung eines Programmes. Dann durchforschte sie das Internet nach allem, was auf Richard Andrews' Wahnsinnstat hindeutete und erstellte ein Programm, das automatisch bei Systemstart geladen wurde und alles unterdrückte, was aus dem Internet mit bestimmten Stichwörtern wie "Richard Andrews", "Massenmord" und "wahnsinniger Wissenschaftler" herübergeholt werden konnte. Sie kannte die Ansetze, Programme zu entwickeln, Kindern unter einem Bestimmten Alter den Zugang zu bestimmten Seiten zu verwehren, ohne daß diese es bemerkten. Sie holte sich den Quelltext fast jeder verfügbaren Internetsuchmaschinenhauptseite und koppelte das Unterdrückungsprogramm so, daß es sich zwischen das Internetprogramm und den entfernten Rechner schob, ohne daß Julius es bemerkte. Nach drei Testläufen hatte sie das Programm so weit, daß es auf Suchanfragen nur belanglosen Text von Früher durchließ.

"Ich sollte mir das Programm patentieren lassen", dachte Martha, die im Moment sehr abgebrüht heranging. Jedenfalls wollte sie vermeiden, daß ihr Sohn Wind davon bekam, was mit seinem Vater passierte. Sie wußte, daß sie ihm das nicht zu lange verheimlichen durfte. Aber im Moment, wo er dieses schwere erste Jahr in Beauxbatons bewältigen mußte, wollte sie ihm nach Möglichkeit diesen Schock ersparen, den sie selbst erlitten hatte.

Abends sprach sie mit Catherine und Joe über den Fall. Babette, die quirlige Tochter der Brickstons, hatte von ihrer Mutter aufbekommen, ein Flötenstück zu üben, das sie ihr morgen fehlerfrei vorzuspielen hatte. So konnten sie hören, was Babette tat und im nach außen schalldichten Arbeitszimmer Catherines sprechen. Martha sagte:

"Ich habe mich dazu entschlossen, Julius' erst einmal nichts zu erzählen. Es ist ja nicht auszuschließen, daß es tatsächlich eine Verwechslung ist. Außerdem habe ich mit einem FBI-Agenten gesprochen, der die Sache verfolgt."

"Klar, der Junge könnte ja denken, sein Vater wäre jetzt total Banane", spottete Joe. Catherine sah ihn mit einem Blick an, der ihrer Mutter alle Ehre gemacht hätte.

"Martha, ich verstehe dich richtig, daß du nicht möchtest, daß Julius was davon erfährt, falls es wirklich sein Vater ist. Gut, in Beauxbatons wird er das wohl nicht mitbekommen, solange die Muggelstämmigen dort keine Briefe von ihren Eltern kriegen. Abgesehen davon ist die Nachricht ja so gehalten, daß nicht gesagt wurde, daß er eine Exfrau und einen Sohn hat. Dann fällt es wohl nicht sonderlich auf. Außerdem sind die ja heute in den Nachrichten wieder davon weg. Gut, von mir erfährt der Junge nichts. Am besten erzählen wir auch nichts meiner Mutter."

"Ja klar, die würde das ja tierisch amüsieren. Oder sie würde denken, Julius hätte selbst schon einen an der Klatsche", lachte Joe. Catherine zog ihren Zauberstab, deutete damit auf Joe und sagte nur: "Taceto!" Dann hörte sie zu, wie Martha ihr noch einmal klarmachte, daß sie vorerst nicht wollte, daß Julius etwas darüber erfuhr.

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Martinez befragte alle, die in New York oder Detroit mit Richard Andrews zu tun gehabt hatten. Die gesamte Bundespolizei war auf den flüchtigen Massenmörder angesetzt. Insbesondere die Stadtpolizisten brannten darauf, den Mörder ihrer Kollegen zu erwischen, auch wenn sie wußten, wie gefährlich er war. merkwürdige Mordfälle an Straßenmädchen in Chicago und New York forderten die Aufmerksamkeit der FBI-Leute. Irgendwer hatte eine Methode herausbekommen, Menschen regelrecht ausbrennen zu lassen. So hatten es die Pathologen zumindest genannt. In New York entsann sich jemand eines Falles, wo so etwas schon aufgetreten war. Danach hieß diese Todesart Dampsey-Exhaustion, weil sie bei dem auf ähnliche Weise gestorbenen Gewalttäter Dampsey erstmalig dokumentiert worden war. Als dann aber durch Computervergleich eine Beziehung zu Richard Andrews hergestellt werden konnte, geriet der Bundespolizeiapparat richtig ins rotieren. Denn nun waren sie sicher, daß Andrews auf irgendeine Art Menschen töten konnte, die nicht mit bekannten Methoden nachgewiesen werden konnte. Martinez fragte sich, ob er wirklich glaubte, daß er diesen Fall aufklären konnte. Denn irgendwie schaffte es Richard Andrews, zwischen dem fünfzehnten März und einer Woche vor den Ostertagen an weit abgelegenen Punkten der vereinigten Staaten gesichtet zu werden. Ja in einem Bordell in San Antonio, Texas, hatte man ihn sogar auf Video aufgenommen, als er kreidebleich und ausgemergelt hineinging und nach der üblichen Zeit frisch und kraftstrotzend wieder herauskam. Jessica Windslow, die Profilerin des FBI Detroit, schien völlig am Ende ihrer Kunst zu sein. Louis McGregor, Martinez' Partner scherzte einmal, daß Andrews wie ein Vampir sei, allerdings nicht Blut saugte sondern Körperenergie durch Sex.

"Jungchen, du hättest wirklich Horrorromane schreiben sollen. Sowas gibt's nur in abgedrehten Filmen und Büchern", tat Martinez diese Vermutung als albernes Geschwätz ab.

"Ach, dann hat der große Kenner von Absonderlichkeiten eine bessere Idee parat?" Fragte McGregor leicht verärgert.

"Make-Up, Louis. Der schminkt sich, wenn er rauskommt."

Als dann herausgefunden wurde, daß es wohl nicht der echte Richard Andrews war, weil bei einer neuerlichen Durchsuchung der Wohnung entsprechende Hinweise gefunden wurden, atmete Martinez etwas durch. Sie hatten es also nicht unmittelbar mit einem wahnsinnigen Wissenschaftler zu tun, sondern, so stellte sich im weiteren heraus, mit einem Angehörigen einer Verbrecherorganisation, der in die Rolle des britischen Wissenschaftlers geschlüpft war, um in angesehenen Unternehmen der Staaten arbeiten zu können, wohl zum Zweck der Industriespionage. Daß er nun flüchtig war, konnte nur bedeuten, daß seine Tarnung aufgeflogen war.

"Wie das auch ist, Ruben. Ich fürchte, wir müssen jetzt doch noch mal diese Exfrau von dem anrufen. Oder willst du erst warten, bis das in den europäischen Nachrichten rumgeht?"

"Nein, Louis", sagte Ruben und ließ sich die Telefonnummer von Martha Andrews in der Rue de Liberation in Paris, Frankreich geben.

Erwartungsgemäß war die Exfrau des Gesuchten etwas erleichtert, daß es nicht ihr Mann war, der da von allen amerikanischen Polizeibehörden gejagt wurde. Martinez sagte ihr das sofort, als er sie am frühen Morgen mitteleuropäischer Zeit anrief. Er mußte ihr lange erklären, was in den vergangenen Tagen passiert war, was sie bisher herausgefunden hatten und daß sie hofften, Richard Andrews noch lebend zu finden. Leise unterhielt sich Martha Andrews mit dem Agenten, der den Lautsprecher zugeschaltet hatte und alles auf Band nahm. Louis McGregor und Jessica Windslow hörten, wie wohl in einem Zimmer nebenan drei verschiedene Frauenstimmen und die eines wohl gerade am Stimmbruch entlangbalancierenden Jungen Französisch sprachen. Eine der Frauenstimmen klang irgendwie befehlsgewohnt, fand Jessica.

Offenbar um den Besuch nebenan nicht über den Inhalt des Telefonats was mitbekommen zu lassen streute Martha Andrews belanglose Sätze zwischen die Dinge, die sie von sich aus erzählen wollte. So dauerte es eine ganze Weile. Dabei hörten die drei Kriminalbeamten immer wieder von irgendwo her jenen europäischen Ohrwurm, der auch schon in den Staaten umging. Eine winzige Stimme trällerte einige Striche neben der Tonspur mit. Louis grinste, wenn er überlegte, daß Ruben die Sprache mit der Muttermilch eingesogen hatte, das kleine Mädchen jedoch keinen Dunst von der Sprache hatte. Irgendwann sagte Mrs. Andrews:

"Ich möchte nicht, daß meine Familie zu sehr damit behelligt wird, solange mein Sohn sich noch in seiner neuen Schule eingewöhnen muß. Die interessiert da nicht, was in Amerika passiert. Die haben da auch kein allgemein zugängliches Internet. Ich hoffe, ich habe mich richtig ausgedrückt."

"Ich verstehe. Sie möchten nicht, daß ich Ihren Sohn da mit reinziehe", sagte Martinez ruhig.

"Das stimmt, Sir", sagte Martha Andrews erleichtert klingend. Dann wurde die Interkontinentalverbindung wieder getrennt.

"Warum will sie nicht, daß wir uns mit ihrem Sohn unterhalten?" Fragte Jessica Windslow.

"Du willst Menschenkennerin sein, Jessica? Der Bursche ist in einem französischen Internat. Der ist das erste Jahr da und wird bestimmt heftig drangsaliert. Wenn dann noch irgendwie rumgeht, daß sein Vater ein Mörder ist ist der unten durch. Oder denkst du, Jungen im selben Schlafsaal fühlten sich dann wohl oder irgendein Mädchen würde sich auf ihn einlassen?"

"Ja, aber über Fernsehen, Radio und Internet kriegt er das eh mit", warf Jessica ein. "Da wäre es psychologisch sinnvoller, ihn kontrolliert und vorsichtig einzuweihen, bevor er es um drei oder vier Ecken aufs Toastbrot geschmiert kriegt."

"Noch ist das nicht nach Europa durchgesickert, Jessica. Die Gouverneure haben Anweisungen vom Innenminister, alle Polizeiberichte zu diesem Fall sehr vorsichtig zu behandeln. Die in Europa haben das nur mitbekommen, was am fünfzehnten März passiert ist."

"Ja, aber das Internet", wiederholte sich Jessica Windslow.

"Da steht auch drin, daß morgen die Welt untergeht und der Papst von einer dreiköpfigen Hexe vernascht wird", spottete Louis McGregor. "Außerdem haben die da keinen allgemeinen Internetzugang. Vielleicht sind die da eben noch klug genug, nicht jeden Pimpf in allen nur denklichen Rubriken rumstöbern zu lassen. Also hör auf! Wenn die Lady nicht möchte, daß ihr Sohn da mit reingezogen wird, müssen wir das solange akzeptieren, solange sich nichts ergibt, was uns dazu zwingt. Dann aber gilt, Amerikanisches gegen französisches Gesetzbuch. Wenn die da drüben nicht wollen, daß wir mit ihm reden, dürfen wir das auch nicht", wußte Martinez. "Außerdem kann ich die verstehen. Gerade Jungen nach der Scheidung haben einen heftigeren Draht zu ihrem Vater, gerade weil er nicht mehr andauernd da ist. Für den Jungen bräche eine Welt zusammen, wenn er das erzählt kriegt. Also lassen wir es, solange er davon nicht berührt wird!"

"Auf Ihre ganz persönliche Verantwortung, Spezialagent Ruben Martinez", spie Jessica Windslow dem Bundespolizisten entgegen.

ENDE

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