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In Großbritaannien übernimmt der von allen gefürchtete Schwarzmagier Voldemort die Kontrolle über das Zaubereiministerium. Der unter dem Imperius-Fluch seines Getreuen Yaxley stehende Pius Thicknesse führt alle Anweisungen aus, die die Todesser ihm abverlangen. Eine von der nicht unter diesem Fluch stehenden Dolores Umbridge gegründete und geleitete Kommission verfolgt Hexen und Zauberer ohne magische Eltern, unterstellt diesen Diebstahl von Zauberkraft und verurteilt sie zur Haft in Askaban, sofern sie es nicht rechtzeitig schaffen, das Land zu verlassen oder unterzutauchen, wie der Muggelstämmige Tim Abrahams, der seiner Festnahme durch Umbridge knapp entgeht und bei der Familie seiner heimlichen Verehrerin Galatea Barley unterkommt. Er hilft der in Frankreich ebenfalls vor Nachstellungen untergetauchten Martha Andrews, einen Fluchthilfedienst für Muggelstämmige aufzuziehen. Derweil beobachtet die halbmuggelstämmige Schülerin Lea Drake mit Hilfe eines Unsichtbarkeitstrankes die Vorkommnisse in Hogwarts. Sie hilft ihrem nach Beauxbatons gewechselten Schulkameraden Julius, von dem sie nicht weiß, daß er einen neuen Nachnamen trägt, seine von Umbridge bedrohten Schulfreunde herauszuschmuggeln und berichtet per Gedankenübermittlung von den brutalen Maßnahmen von Snape, der zu Voldemorts Getreuen gezählt wird und den einfältig wie gewalttätigen Carrow-Geschwistern.
Voldemort indes hat die alten Schlangenkrieger erweckt, die er als unbesiegbare Armee in die Welt schicken will. Doch diesen Wesen, die solange unbezwingbar sind, solange sie mit der festen Erde Berührung haben, wirft seine gefährlichste Gegnerin Anthelia die Entomanthropen ihrer mächtigen Tante Sardonia entgegen. Um den sich wie Vampire und Werwölfe ausbreitenden Schlangenkriegern ebenbürtig zu bleiben züchtet die wiedergekehrte Nichte Sardonias die Insektenmenschen nach. Dabei verscherzt sie es sich jedoch nicht nur mit dem Zaubereiministerium der vereinigten Staaten, sondern auch mit ihrer Rivalin um die Macht der Hexen, Lady Daianira Hemlock. Diese versucht, Anthelias Getreue einzuschüchtern oder umzubringen, bis Anthelia darauf eingeht, sich mit ihr zu duellieren. Dabei kommt es zu einer folgenreichen Verquickung. Daianira beschwört einen vorher konservierten schwarzen Spiegel, als Anthelia versucht, ihr den Körperverjüngungsfluch InfantiCorpore aufzuerlegen. Anthelia reagiert zu spät auf den vor ihr entstehenden Spiegelzauber und wird vom fünffach stärker auf sie zurückprallenden Fluch getroffen. Dadurch wird sie zur Ungeborenen, die sich wegen der magischen Abgrenzung des Duellfeldes nur in Daianiras Körper einfinden kann. Diese wird um die körperlichen Jahre verjüngt, die Anthelias zweiter Körper erreicht hat und erfährt schnell, daß sie ungewollt schwanger wurde. Nach der anfänglichen Abneigung will sie Anthelia als ihre Tochter Tahlia wiedergebären. Doch eine von Anthelias erschaffenen Entomanthropenköniginnen, die aus einer Mörderbiene und der Straßenkriminellen Valery Saunders zusammengekreuzt wurde, entzieht sich jeder Kontrolle und findet heraus, daß sie selbst Zauberkräfte in sich bündeln kann, wenn sie magisch begabte Menschen lebendig verschlingt und deren Lebens- und Zauberkraft damit in ihrem eigenen Körper speichert. Dadurch zu schnellen Ortswechseln fähig terrorisiert sie die beiden amerikanischen Teilkontinente. Daianira, die über Anthelias Seelenmedaillon Kontakt zu Anthelias Bewußtsein erhalten konnte, schafft es nicht, Valery zu vernichten. Doch sie erreicht es, daß Anthelias noch fügsame Entomanthropen die Schlangenmenschenausbreitung niederhalten, bis unverhofft graue Riesenvögel auftauchen, die die Echsenwesen restlos ausrotten. Nun darauf ausgehend, nur noch mit Valery Saunders fertig werden zu müssen geht sie auf einen Hinweis Anthelias ein, auf einer verborgenen Insel ein Artefakt Sardonias zu finden, mit dem die Entomanthropen noch besser unterworfen werden können. Was sie nicht weiß ist, daß Anthelia ihre körperliche Wiedergeburt verhindern will und Daianira in eine eigentlich tödliche Falle treiben möchte. Denn mit Hilfe der untergetauchten Schwestern Patricia Straton und Tyche Lennox alarmiert Anthelia auch die Liga gegen dunkle Künste. Diese entsendet Austère Tourrecandide. Diese geht zwar von einer Falle aus, weil sie nicht recht an einen angeblich alle Hexen unterwerfenden Kelch Sardonias glaubt, trifft jedoch fast zeitgleich mit Daianira auf der geheimnisvollen Insel ein, auf der der Ablauf der Zeit verzögert ist, so daß die Bewegung der Gestirne um ein vielfaches schneller zu verlaufen scheint. Daianira setzt zum Todesfluch an, wie Anthelia es heimlich erhofft hat. Doch Tourrecandide unterbindet ihren Tötungsangriff und wirkt einen Zauber, der Flüche umkehrt. Weil sie nicht wußte, was Daianira und Anthelia miteinander verbindet kehrt sie die Rollen von Mutter und Kind um. Doch da Daianiras Körper ursprünglich mehr Jahre lebte als der zweite Körper Anthelias, landet die selbst zur Ungeborenen verjüngte Daianira im Schoß Austères, die dadurch knapp siebzig Jahre jünger wird. Anthelia ist wieder frei und verläßt die Insel, deren in Bäume verwandelte Wächterinnen sie nicht bestrafen können. Fast zeitgleich findet in Hogwarts die entscheidende Schlacht zwischen Todessern und deren erbitterten Gegnern statt, bei der Voldemort alias Tom Riddle einen scheinbar machtvollen Zauberstab benutzen will, dessen Anerkennung er jedoch nicht besitzt. Deshalb wird sein eigener Todesfluch, mit dem er Harry Potter töten will, auf den dunklen Lord selbst zurückgeworfen. Die Herrschaft der Todesser endet am zweiten Mai 1998 bei Sonnenaufgang. Doch die Mächte der Dunkelheit sind damit nicht komplett aus der Welt verschwunden. Von den meisten unbemerkt entzündet sich ein Krieg zwischen Vampiren, wobei die den Mitternachtsdiamanten tragende Nyx gegen den durch eine geheimnisvolle Körperveränderung zum blau leuchtenden Blutfürsten Verwandelten Volakin ankämpft. Nyx verliert in der direkten Auseinandersetzung ihre Bewegungsfreiheit und erstarrt zu einer Statue, die aus dem Gestein des Mitternachtsdiamanten selbst zu bestehen scheint. Sie erlernt jedoch, ihre Sinne und Gedanken in die von ihr erschaffenen Vampirzöglinge zu übertragen, die durch eine von Magielosen erfundene Schutzfolie gegen die sonst tödlichen Sonnenstrahlen immun werden können. Außerdem existiert Valery Saunders noch, und Anthelias altes Netzwerk ist durch ihr mehrere Monate dauerndes Verschwinden beinahe zerrissen.
Die Stadt lag im dichten Dschungel des Amazonasgebietes. Sie bestand aus groben Steinbauten, die mit steinhart werdendem Wachs zusammengekittet und gegen den immer wieder wie aus ganzen Seen herabstürzenden Regen geschützt waren. Ein Turm wie von menschengroßen Termiten war das Hauptgebäude dieser versteckten Ansiedlung. Anders als in modernen Städten lärmten hier keine Autos, Straßenbahnen oder Menschenmassen. Statt dessen brummte und summte, knisterte und schabte es in den Gebäuden und tief in den schlammigen Grund gegrabenen Höhlen. Unter dem Turm quiekte es immer wieder laut. Hier wurden die Neugeborenen der Stadt betreut. Es war keine Stadt von Menschen. Wer das Pech hatte, sie zu erblicken und der Neugier erlag, sich ihr zu nähern, lernte schnell und endgültig, daß hier Kreaturen wohnten, die keine Menschen mehr waren. Es waren Geschöpfe, die einst ein dunkler Zauber in die Welt gebracht hatte und die ihrer Königin und Mutter ergeben waren. Ab und an surrte eine dieser Kreaturen, eine Erscheinung wie eine riesenhafte Honigbiene mit menschlichem Kopf, über die Gebäude der Stadt hinweg. Dann noch eine. Die von allen verehrte und ihnen gebietende Königin tauchte nur ab und an auf, wenn sie genug neue Eier gelegt hatte, die die von ihr erwählten Ammen in die Höhle der Neugeborenen brachten. Sie beaufsichtigte nur, ob die Häuser für die neuen Mitbewohner bereits fertig waren. Bautrupps schafften Stein und Erdreich herbei, fällten hier und da einen der majestätischen Urwaldriesen und verbauten das dabei gewonnene Holz mit dem Wachs, das sie aus ihrem eigenen Speichel erzeugen konnten wie ihre winzigen Vorlagen, die halbafrikanisch-europäischen Honigbienen. Der Hofstaat der mehr als fünf Meter großen Königin bestand aus den in ihren Kindern wiedergeborenen Persönlichkeiten von ihr lebendig verschlungener Menschen mit und ohne Zauberkräfte. Der Hofstaat leitete und ordnete die Bauarbeiten, wies den aus den madenähnlich entstandenen Geschwistern ihre regensicheren Wohnbauten zu und regelten die Nahrungsbeschaffung. Die Königin, Valery I., hatte strickt befohlen, nur noch wilde Tiere aus dem Dschungel oder auf den weiten Weiden fast unbeaufsichtigt grasende Rinder und Schafe zu erbeuten. Denn Valery wußte, daß man sie nicht vergessen hatte. Die Zauberer Amerikas suchten immer noch einen Weg, sie zu vernichten. Nur wenn sie in aller Heimlichkeit ein Volk aus Kriegern großziehen konnte, dem keine magische Streitmacht mehr gewachsen war, konnte sie ihre neue Art über die zivilisierte Welt ausbreiten und ihren Plan vollenden, jene zu töten, die ihrer umwandelnden Freßlust entkommen war, diese Daianira Hemlock.
"Welchen Tag haben wir heute?" Fragte Valery mit ihrer unheimlichen Baßstimme. Der Insektenmensch mit dem Kopf eines Halbwüchsigen, der früher ein harmloser Zeitungsjunge gewesen war, deutete mit dem vorderen rechten Arm auf den vergrößerten Wandkalender und sagte, daß nun der achte Juni sei.
"Ich brauche noch mindestens zwanzig gutgenährte Menschen, um schneller Eier zu legen. Im Juli, wenn im Norden Hochsommer ist, will ich hunderttausend von euch um mich haben, um diesen Hokuspokussern endlich das Licht auszublasen. Sag Lolita, ich bringe sie heute Nacht mit Marisa und Milton in die Nähe von Sao Paulo, damit die mir da noch welche von den reichen Schnöseln rausholen, die meinen, sich vor den von ihnen verarschten Straßenleuten verstecken zu können. Wenn ich mir die eingeworfen habe, kann ich fünfhundert Eier am Tag rausdrücken. Das sind dann dreitausendfünfhundert neue Babys in der Woche. Wenn der Juli dann um ist, sind wir wohl bei knapp hunderttausend."
"Ich sag's der Lolita, Mutter und Königin", sagte der Entomanthrop und ließ seine zwei Flügelpaare anschwingen, bis er laut surrend davonflog.
"Bald habe ich dich auch in meiner Babybude, Daianira, und dich auch, Wishbone. Bin mal gespannt, wie du dich fühlst, wenn du mein Baby werden darfst", dachte Valery. Sie wußte zwar, daß nur die Masse ihrer Nachkommen den Sieg bedeuten konnte, glaubte jedoch nicht ernsthaft daran, daß irgendwer ihr wirklich gefährlich werden konnte. Diese Daianira hatte ihr zwar einmal mit verderblich verfluchten Metallscheiben ordentliche Bauchschmerzen zugefügt und dreißig ungelegte Eier verfaulen und aus ihr rausfallen lassen. Doch jetzt, wo sie mehr als fünfzig dieser magischen Gauner und Schlampen durch ihren Verdauungstrakt und in Form von Nachkommen aus sich herausgeschoben hatte, wähnte sie sich absolut unangreifbar, für welchen Vernichtungszauber auch immer. Eigentlich sollte sie die raffinierte wie skrupellose Lolita Henares dazu bringen, ihre früheren Compañeras anzuschleppen, um die ganze Bande der Zorras als ihre Töchter begrüßen zu können. Doch sie wußte, daß es im Moment ratsam war, lieber erst die Zahl der Kinder an sich in die Höhe zu treiben. Aussuchen, wen sie als ihre Nachkommen haben wollte, konnte sie sich dann später.
Anthelia genoß ihre wiedererlangte Freiheit. Zwar hatten ihre bisherigen Nachforschungen nicht enthüllt, womit Austère Tourrecandide Daianira und sie bezaubert hatte. Doch sie wußte, daß es nicht lange dauern würde, bis eine ihrer Mitschwestern die Spur fand, die zur Quelle dieser zauber führte. Doch es galt, behutsam vorzugehen. Sicher hatte Tourrecandide nach dem Treffen mit Leda und der Abtretung Daianiras Alarm geschlagen. Man wußte also, daß sie, Anthelia, jetzt wieder aktionsfähig war. Man würde sie suchen. Nachdem sie diese unliebsame Auszeit in Daianiras Schoß zugebracht hatte, waren ihre bisherigen Verbindungen abgerissen. Viele ihrer Mitschwestern hatten sich in der Annahme, Anthelia sei vernichtet oder zumindest entmachtet ihren früheren Anführerinnen angeschlossen. Es würde nicht einfach, ohne Einschüchterung oder gar Gewaltmaßnahmen an den losen Fäden aus ihrem Netz der Spinne zu ziehen. Zwar würden die ihr so entglittenen immer noch vom Fluch der Verratsunterdrückung daran gehindert, über ihre höchste Schwester zu reden. Doch es war nicht mal eben damit getan, einen allgemeinen Aufruf zu machen, daß sie nun glücklich in die Welt zurückgekehrt war. Sie mußte also jede einzelne aufsuchen, um ihr zu berichten, was geschehen war. Immerhin half ihr ein Artikel in führenden Illustrierten der magischen Welt, sowie den renommierten Zaubererzeitungen Amerikas und Europas, ihre Geschichte zu bestätigen. Sie sah die Ausgabe des Westwindes immer noch vor sich, eine strahlende, von einer bis dahin unerwähnten Schwangerschaft gerundete Leda Greensporn, die Anthelia bis dahin nur durch Daianiras Augen hatte sehen können. Ja, sie wirkte überglücklich. Das in ihrem gerundeten Leib ruhende Menschenkindbewegte sich sachte, als wolle es seiner Mutter jede Unannehmlichkeit ersparen. Anthelia dachte mit einer Mischung aus Schadenfreude und Überlegenheit daran, daß beinahe sie zum Thema einer solchen Meldung geworden wäre. Daianira wollte am zehnten Mai alle Welt wissen lassen, daß sie Mutter würde. Jetzt würde sie wohl im Juli als Tochter dieser Heilerin zur Welt kommen, sich wohl schon damit angefreundet haben, ihrer eigenen Base zu entkriechen. Anthelia freute sich, daß sie wieder frei atmen, feste Nahrung essen und ihre Fähigkeiten nutzen konnte, als sei sie niemals fortgewesen.
Am fünfzehnten Mai hatte sie Patricia Straton aufgesucht. Diese hatte ihr zwar ihre Gedanken vorenthalten. Doch Anthelia hatte ihr schon ansehen können, daß sie zwischen zwei Gefühlen schwankte. Es mußte ähnlich sein wie damals, als Anthelia und sie für zwölf Stunden Meerfrauen gewesen waren, um den Stein der großen Erdmutter zu suchen. Damals mußte Patricia Straton davon ausgehen, Anthelia nie wieder zu sehen. Das mochte ihr eine gewisse Erleichterung gewesen sein, vielleicht aber auch eine gewisse Beklemmung bereitet haben. Womöglich hatte sie nach dem Duell im letzten November darauf gehofft, unbehelligt von Daianira und Anthelia weiterleben zu können. Und jetzt war sie, Anthelia, wieder aufgetaucht. Patricia hatte den Dank der höchsten Schwester entgegengenommen. Denn nur durch Patricias und Tyches Weitermeldung an die sogenannten anständigen Hexen und Zauberer war Tourrecandide auf die Insel der hölzernen Wächterinnen gekommen und hatte sich mit Daianira duellieren wollen. Was Patricia anging, so fühlte sich Anthelia jedoch etwas beklommen, weil die Tochter Pandoras dieses Sonnenmedaillon trug, das sie wie einen hundsordinären Vampir auf Abstand hielt. Dieses Medaillon verlieh Patricia eine höhere Macht Anthelia gegenüber. Nur die Loyalität zu ihrer Mutter Pandora und die Abneigung gegen Daianira hatten sie wohl dazu bewogen, der Wiedergekehrten weiterhin treu zu bleiben. Die Nichte Sardonias hatte es auch mit einer gewissen Freude genossen, daß Patricia sich über den Ausgang des Zusammentreffens auf der Insel amüsierte. Sie hatte es bedauert, daß Tourrecandide nicht mit Daianira im leib abgerückt war. Das wäre für diese überhebliche, sich mehr Macht bewußten Hexenlady sicherlich eine schlimmere Strafe gewesen, als den eigenen Todesfluch abzubekommen oder nun als Kind ihrer loyalen Cousine neu aufwachsen zu dürfen.
Nach Patricia Straton hatte Anthelia Tyche Lennox und Donata Archstone besucht. Donata war auf Leda Greensporns Fürsprache hin als Nachfolgerin der angeblich bei der Jagd auf die unbeherrschbare Brutkönigin Valery verunglückten Daianira bestätigt worden. Anthelia wurde das Gefühl nicht los, daß Leda die Veränderung der Lage innerlich genoß. Vielleicht, so überlegte die höchste Hexe des gerade brachliegenden Spinnenordens, hatte sie Daianira damit doch das schwerere Los aufgebürdet, als sie bei Tourrecandide zu belassen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, was sie von den Diskussionen zwischen Daianira und Leda mitbekommen hatte. Leda war nicht schwach und kleinlaut, sondern entschlossen und willensstark. Daß sie Daianira nachgefolgt war lag gewiß nicht an der Verwandtschaft, sondern am Ziel. Mochte es sein, daß Leda sich nun für eine heimliche Drahtzieherin hielt, eine, die nicht offen nach Führung verlangte, sondern die Macht des sowohl dienstbaren als auch unverzichtbaren Geistes auskostete, wie es mancher Zaubereiministersekretär und so mancher Ministerialbeamte tat, der Minister kommen und wieder gehen sah und eigentlich die wahre Macht in Händen hielt. Sollte Leda befinden, in Anthelias Geschäfte hineinzufuhrwerken, so würde die Nichte Sardonias ihr früh genug zeigen, daß sie sich nicht von einer zurückhaltenden Hexe täuschen ließ. Doch sie hatte Donata als Nachfolgerin ausrufen lassen, obwohl oder gerade weil sie wußte, daß Donata zu Anthelias ersten und treuesten Mitschwestern zählte. Koexistenz oder Kalkül, was genau Leda wollte konnte Anthelia nicht erkennen. Sie dachte daran, daß ihre respektable Tante Leda sicher mit Argwwohn betrachtet hätte. Es wäre der mächtigen Sardonia sicher daran gelegen gewesen, eine so erfahrene Heilerin in unmittelbarer Nähe zu haben, auch und vor allem, um jede gegen sie abzielende Handlung früh genug zu erkennen. "Laß deine Freunde dir nahe sein und deine Feinde noch viel näher!" Anthelia bedachte diesen aus China stammenden Ausspruch, der eine fundamentale Weißheit des Herrschens ausdrückte. Womöglich handelte Leda danach, indem sie Donata als Nachfolgerin ihrer für tot erklärten Cousine angelobt hatte. Oder es ging ihr wirklich um eine Koexistenz zwischen den bestehenden Schwesternschaften. Jetzt, wo der Emporkömmling, der es gewagt hatte, sich für den größten Zauberer der Gegenwart zu halten, über die Entschlossenheit eines Jünglings und die Unberechenbarkeit eines mysteriösen Zauberstabs in den Schlund des Vergessens gestürzt war, galt es, das heere Ziel, die mütterliche Vorherrschaft der Hexen über alle Menschen, behutsam und unaufhaltsam zu verwirklichen. Wenn Leda das auch wollte, dann war sie für Anthelia im Moment harmlos, ob mit oder ohne Daianira als ihre Tochter. Wie würde sie Daianira nennen? Anthelia sollte das wohl wissen, um sicherzustellen, nicht erneut von dieser Konkurrentin belästigt zu werden. Sicher mochte es einige Monate oder Jahre dauern, bis Daianira anfing, sich über ihr Leben Gedanken zu machen. Es konnte zumindest passieren, daß sie vor der Wiedergeburt vieles vergaß, was sie vor dem Ausflug auf die Insel gewußt und ausgeführt hatte. Immerhin hatten sie und Leda ja darauf gehofft, daß Anthelia im Dämmerschlaf des Ungeborenseins vieles vergessen würde. Da Daianira kein Seelenmedaillon besaß, um vorübergehend die Sinne anderer wahrzunehmen, würde sie nun noch mindestens zehn Wochen dahindämmern, vielleicht sogar darauf hoffen, nicht in diese Welt zurückgedrückt zu werden.
"Valery Saunders", dachte Anthelia, als sie ihre Unterlagen prüfte, die sie zu der unkontrollierbaren Brutkönigin angelegt hatte. "Du meinst, dir könne nichts und niemand mehr beikommen. Aber ich habe dich erschaffen. Und ich werde dich aus dieser Welt tilgen. Ich brauche nur genug Rückendeckung, um mir deine Abkömmlinge lange genug vom Hals zu halten." Sie blickte auf eine Notiz, die sie drei Tage nach ihrer schmerzlosen Wiedergeburt angelegt hatte.
Erinnerung an den siebenten Juni MDCIX
Meine ehrwürdige Tante Sardonia erkennt, daß sie nicht nur einen Entomolithen herstellen kann, sondern jederzeit einen neuenmachen kann. Sie hat dabei herausgefunden, daß sie die Kraft des Entomolithen bündeln konnte, um ihr ungeraten erschienene Entomanthropen zu töten. Allerdings mußte sie dafür zwei Drittel ihrer Tagesausdauer aufgeben und riskierte die vollständige Vernichtung des Beherrschungssteins. Als sie einen zweiten Stein erschuf und versuchte, mit einer darin eingeschlossenen Ameise aus grauer Vorzeit eine Bienen-Brutkönigin zu lenken, mußte sie feststellen, daß diese unbeherrschbar blieb. Erst als Sardonia den Entomolithen mit etwas von ihrem eigenen Blut und dem eines frisch erlegten Einhorns vermengte und diesen dann mit einem zerstörerischen Fluch zur Vernichtung brachte, konnte sie die ungeratene Königin erledigen. Allerdings wollte sie dieses Wissen nur der preisgeben, die in unverbrüchlicher, ehrlicher Verbundenheit an ihre Ziele glaubte. Deshalb wäre es Daianira nie gelungen, diese Erinnerung zu sichten, die durch eine Schutzrune im Denkarium nur für Getreue abrufbar war. Da ich davon ausgehen muß, daß Valery durch das einverleibte Magiepotential hundertmal widerstandsfähiger ist als eine beherrschbare Brutkönigin, werde ich wohl nicht umhinkommen, jenen Entomolithen restlos zu vernichten, sobald ich nahe genug an Valery herankomme. Keine übliche Elementarmacht kann dies bewirken. Ich brauche mindestens einen Monat, bei dem ich Eigenblut, bestenfalls das meiner Regelblutung, mit dem Blut eines Einhorns zusammenrühre und den Stein ohne die Blutmischung zu berühren darin ruhen lasse, bis ein weiterer Monat vergangen ist. Somit fürchte ich, daß es schon nach Daianiras Wiedergeburt sein wird, bis ich Valery Saunders aus dieser Welt stoßen kann. Nur ich kann dies tun, weil meine Kraft ihre Entstehung herbeiführte und nur mein Blut diese Kraft tragen kann. Hoffen wir, daß dieses Monstrum wirklich dadurch zu vernichten ist. Ansonsten gebe ich den Entomolithen aus der Hand, mit dem ich die anderen Brutköniginnen lenken kann. Es empfiehlt sich, bei meinen Besuchen der europäischen Schwestern sicherzustellen, daß die dort noch ausharrenden Brutköniginnen im tiefen Schlaf liegen oder von mir zur Selbsttötung getrieben werden, um nach Vernichtung des Steins Ruhe vor ihnen zu haben. Denn sie könnten dann wie Valery frei denken und ihre Nachfolgerinnen werden, womit ich den Drachen mit dem Basilisken austreiben würde. Doch das Werk muß getan werden. Oder mein Weg zur Herrschaft der Hexen wird auf unbestimmte Zeit von dieser Fehlzüchtung bedroht sein.
"Höchste Schwester, ich bitte dich, mich zu empfangen", hörte Anthelia Donata Archstones Gedankenstimme in ihrem Kopf. Sie schmunzelte, weil sie einen winzigen Moment daran dachte, daß das Wort "Empfangen" so vielfältig gebraucht werden konnte. Dann schickte sie zurück, daß sie im vertrauten Besprechungsraum der Schwesternschaft auf sie warte.
Als Donata Archstone nach einer Minute dort apparierte trug diese die blaue Kleidung einer Landessprecherin der entschlossenen Schwestern. "Ich war heute bei Lady Roberta, höchste Schwester. Sie hat mir Glück und eine bessere Selbstbeherrschung als Daianira gewünscht. Sie meinte auch, daß ich darüber nachdenken solle, ob es wirklich im Sinne aller Hexen sei, den Weg Sardonias nachzugehen. Ich vermute, sie weiß, wem ich verbunden bin", sagte Donata Archstone, die vor Wishbones Amtsantritt lange Zeit in der Sicherheitsabteilung des Zaubereiministeriums der vereinigten Staaten gearbeitet hatte. Deshalb war sie für Daianira und später für Anthelia zu einer wichtigen Informationsquelle und Helferin vor Ort geworden. Anthelia würde diesen Zustand all zu gerne wiederherstellen. Vielleicht sorgte Valery Saunders dafür, daß Wishbone bei der nordamerikanischen zauberergemeinschaft in Ungnade fiel.
"War Leda Greensporn auch bei dieser werten Roberta Sevenrock, Schwester Donata?"
"Nein, die habe ich da nicht gesehen. Die wird wohl damit zu tun haben, ihren angewachsenen Leib zu schonen, wenn sie schon meint, mit über sechzig Jahren Mutter werden zu wollen. Aber ich habe ihre Ansprache schon genossen, als sie vor den Entschlossenen stand, wo sie noch nicht schwanger war."
"Wie schätzt du sie ein, Schwester Donata? Sucht sie die gedeihliche Koexistenz oder den heimlichen Umsturz, wenn sie erfolgreich niedergekommen ist?" Forschte Anthelia nach.
"Sie ist und bleibt eine Heilerin, höchste Schwester. Sie wird alle Wege, die Leben erhalten denen vorziehen, die Leben gefährden. Sonst hätte sie wohl nicht so freimütig vorgeschlagen, daß ich Lady Daianira nachfolge. Es gibt noch genug Schwestern, die noch nicht zu dir kommen möchten, die Daianiras Nachfolge angetreten hätten, wenn keine Mehrheit für mich eingetreten wäre. Kann nur passieren, daß mich die eine oder andere davon demnächst zum offenen Duell fordert, um ohne Wahl die Nachfolge antreten zu können."
"Dann solltest du darauf verzichten, Infanticorpore anzuwenden, solange du nicht weißt, ob die Gegnerin noch einen schwarzen Spiegel beschwören kann oder den Fluch besser gleich in die Begrenzung entweichen lassen", grummelte Anthelia. Die Vorstellung, daß der bei den entschlossenen Schwestern mögliche Kampf um die Nachfolge Donata vernichten oder handlungsunfähig machen mochte gefiel ihr nicht. Allerdings hatte sie mit Sycorax Montague damals nicht anders verfahren, wenngleich sie diese nicht vor allen ihren Schwestern erledigt hatte.
"Ich kann mich beherrschen, entweder die intrigante Hyneria Swordgrinder oder die Giftmischerin Selma Bittercorn in ein Wickelkind zu verwandeln oder mich in deren Bauch reinzutreiben. Die beiden hängen noch der verschwundenen Thalia Clover nach, haben sich damals nur besser zurückgehalten, als Daianira die Schwesternschaft von ihren schlimmsten Widersacherinnen gesäubert hat." Anthelia verzog etwas das Gesicht. Thalia, so hätte sie bald geheißen. Außerdem kannte sie ungefähr die Geschichte, was mit Thalia Clover passiert war. Die hatte sich damals von der Frau des in Ungnade gefallenen Zaubereiministers Pole verführen lassen, die Führung in der Schwesternschaft an sich zu reißen. Beide, sowohl Thalia als auch Mabel Pole, waren danach bestraft worden. Thalia war spurlos verschwunden. Womöglich lebte sie in verwandelter Form irgendwo bei Daianira. Mabel Pole war von einem progressiven Fluch in eine goldene Frau verwandelt worden. Daianira hatte schon Stil, mußte Anthelia anerkennen. Laut sagte sie zu Donata.
"Nun, es gibt genug, die dir bereits vor dem Duell die Nachfolge gegönnt haben und viele, die Ledas beeindruckende Ansprache wohl gehört haben, von der du mir berichtet hast. Sie werden sich Daianiras Andenken verpflichtet fühlen, dich als ihre Nachfolgerin zu respektieren. Und sollte deine Rangstellung gefährdet werden und eine gewaltsame Lösung unausweichlich sein, könnte ich - sofern du mich darum bitten möchtest - deine Sorgen aus der Welt schaffen. Dafür sind Schwestern schließlich da."
"ich habe keine Angst, Hyneria oder Selma entgegenzutreten, höchste Schwester. Keine von den beiden reicht an Daianiras Geschick und Stärke heran. Ich wollte dich nur darüber informieren, daß meine neue Rangstellung nicht auf Einstimmigkeit beruht."
"Schön formuliert", entgegnete Anthelia amüsiert lächelnd. "Nun, du hast nun die höchst verantwortungsvolle Aufgabe, die Meinungen in der Schwesternschaft zu ergründen und zu einer gleichförmigen, auf ein Ziel ausgerichteten Bewegung zu bündeln. In dieser Eigenschaft muß ich demnächst wieder reisen, um unsere Mitschwestern in Spanien, Deutschland, Großbritannien und Frankreich zu belehren, daß ich nicht aus der Welt war und meine Arbeit fortsetzen werde. Sie sind mir verschworen und werden nicht umhinkommen, mir wieder zu folgen, genau wie du mir folgst oder Schwester Patricia, die bestimmt gehofft hat, irgendwann wieder zu den sogenannten Entschlossenen zurückkehren zu können, wenn weder Daianira noch ich auf dieser Erde verweilt hätten."
"Du wirst in Australien Probleme kriegen, höchste Schwester. Lady Nimoes Getreue sind nach dem Verschwinden Delilas und dem Auftauchen einer nicht ganz beschriebenen Gefahr nicht gewillt, sich von Nordhalbkugelleuten dreinreden zu lassen."
"Dann solltest du für mich die Reise zum Kontinent mit dem roten Herzen antreten, Lady Donata, um mit der diplomatischen Kraft deiner neuen Rangstellung darauf hinzuwirken, daß die Ära des Emporkömmlings eines glasklar bewiesen hat: Abschnürung der einzelnen Völker verdirbt diese, wie die Beschneidung von Wurzeln einen Baum verderben. Didier in Frankreich hat seinem Volk großen Schaden zugefügt, weil er meinte, sein Land von der Außenwelt abriegeln zu müssen und alle ihm widersprechenden Stimmen verstummen lassen zu müssen. Wishbone führt mit seiner Angst vor ausländischen Hexen und Zauberern und vor Hexen unserer Schwesternschaft sein Volk ebenfalls ins Verderben, falls die unbeherrschbare Brutkönigin die Menschen nicht dazu treibt, seine Abdankung zu erzwingen. - Schon einmal darüber nachgedacht, dich um das höchste Amt der Zaubererwelt Nordamerikas zu bemühen?"
"Ich denke, höchste Schwester, es wäre zu viel des guten, wenn ich mich als Zaubereiministerkandidatin ins Gespräch und damit in den Brennpunkt öffentlichen Interesses brächte. Sicher würde ich nicht glattweg ablehnen, wenn mich jemand vorschlüge. Aber zum einen dürfte Lady Roberta ihre Verbindungen spielen lassen, mich als Zaubereiministerin zu verhindern. Zum anderen würden Wishbones Verdächtigungen dadurch neu genährt, wenn ich mich selbst ins Gespräch brächte. Du erinnerst dich sicher noch, wie Davenport fast auf die Idee gekommen wäre, uns Hexen von öffentlichen Ämtern auszuschließen. Keiner weiß, welche der vielen hundert Hexen Mitglied in deiner und/oder meiner Schwesternschaft sind. Die meisten von denen genießen einen ausgezeichneten Leumund und hohes Ansehen. Zumindest war das vor Wishbone so."
"Es ist zumindest vorstellbar, daß nach ihm das Bedürfnis groß ist, zu beweisen, daß wir Hexen nicht alle die Welt zerstören wollen", erwiderte Anthelia mit einem eiskalten Lächeln. Donata Archstone nickte. Dann sagte sie:
"Ein weiteres Problem, daß mir als möglicher Zaubereiministerin begegnen wird, ist die um ein Jahr verschobene Quidditchweltmeisterschaft. Sie sollte ursprünglich diesen Sommer in Millemerveilles stattfinden. Durch die Ereignisse in Europa wurde die Veranstaltung nun auf das letzte Jahr vor dem Millenniumswechsel verlegt. Traditionell reisen die amtierenden Zaubereiministerinnen und -minister zu den Spielen ihrer Mannschaften an, auch wenn es vielleicht das letzte Spiel ist, daß die Mannschaften bestreiten. Da ich bereits für Daianira und auch für dich Dinge getan habe, die durchaus als dunkle Taten ausgelegt werden könnten, könnte mir der Schutz Sardonias vor übelgesinnten Hexen und Zauberern den Zutritt verwehren, und ich wäre in sehr großer Erklärungsnot."
"Du weißt, daß ich das alles weiß", schnaubte Anthelia, die bei der Erwähnung ihres Geburtsortes sehr verärgert dreingeschaut hatte. "Ich fürchte, dieses Argument ist unbestreitbar gültig. Selbst mir würde es nicht gelingen, nach Millemerveilles vorzudringen, obwohl ich die Vorkehrungen meiner Tante kenne. Aber diese Weltverbesserer dort mußten sie erweitern, so daß ich derzeit nicht weiß, wie ich dort eindringen kann. Nun gut, dann muß natürlich jemand Zaubereiminister oder Zaubereiministerin werden, der oder die bisher keinen Funken dunkler Zauberkraft wider seine Mitmenschen ausgespien hat. Du erfüllst die von der über Nacht Mutterfreuden erwartenden Leda angediente Aufgabe und führst die mir noch nicht zugetanen Hexen. Sorge bitte dafür, daß diese nicht finden, wider mich vorzugehen. Erkläre ihnen falls nötig, daß selbst Daianira letztendlich scheiterte, auch wenn sie mehrere Monate davon ausging, mich beherrschen zu können und aus einem Anflug von Überlegenheit darauf ausging, meine zweite, körperliche Mutter werden zu können. Wir wissen beide, warum Daianira nicht mehr da ist, wo sie vorher war. Will jemand mir ungemach bereiten, weil ich wieder da bin, so erinnere bitte daran, daß ich keiner Hexe ans Leben gehe, wenn sie mich nicht dazu zwingt."
"Beryl Corner mußtest du auch nicht töten", wagte Donata, etwas anzusprechen, von dem sie wußte, daß Anthelia das ganz sicher übel aufstoßen würde.
"Ich wollte sie nicht töten. Aber sie war dabei, Ardentia zu verraten und damit unsere Verbindung in dieses Laveau-Institut zu zerstören", raunzte Anthelia verständlicherweise verärgert. "Hätte ich damals gewußt, daß diese überaus gewitzte wie fröhliche Großmutter Jane Porter bereits Verdacht geschöpft hatte, würde dieses junge Ding Beryl Corner heute noch leben. Aber ich wußte es damals nicht. Und im Zweifelsfall, jetzt wo ich weiß, wie es geht, könnte ich mir auch vorstellen, einer Rivalin die Gnade einer Wiedergeburt aus meinem Schoße zukommen zu lassen. Da ihr alle erfahren habt, daß Daianira mich trug, und da ihr alle wohl wißt, wen Leda so unverhofft erwarten darf, sollte das eine ausreichende Abschreckung sein. Es sei denn, jemand fühle sich geehrt, meine Tochter werden zu dürfen."
"Das war ein Jahrhundertzufall", sagte Donata etwas verlegen. "Die meisten werden jetzt darauf achten, außerhalb einer magischen Begrenzung zu duellieren oder einen Gegner erst bewußtlos zu machen, bevor sie Infanticorpore auf ihn oder sie sprechen. Was mich angeht, so bin ich daran interessiert, die Errungenschaften meines bisherigen Lebens zu erhalten und auszubauen und nicht neu anzufangen wie Daianira, wie immer Leda sie nach der Geburt auch nennen wird."
"Es könnte möglich sein, daß Daianira mentiloquiert, wenn sie sicher ist, jemanden zu erreichen. Geh also besser auf nichts ein, was dich oder sonst eine von uns in eine ähnlich riskante Lage treibt, wie Daianira sie in Kauf nahm!" Wies Anthelia Donata darauf hin, sich nicht wie Daianira in eine Falle treiben zu lassen. Donata nickte bestätigend.
"Die Schwestern wollen wissen, wie diese Valery erledigt werden kann. Cloudy Canyon ist zum Mahnmal geworden."
"Teile ihnen mit, daß nur wer sie schuf, sie auch wieder vernichten kann, und daß ich daran arbeite, sie wieder aus der Welt zu schleudern. Bis dahin sollt ihr sie mit Vereisungszaubern belegen, um ihre Beweglichkeit zu schwächen, wenn sie erneut angreift. Cecil Wellington dachte einmal an flüssigen Stickstoff. Daianira drohte den Wertigern, die wegen der Schlangenmenschen nach Europa kamen ein Bad in flüssiger Luft an. Es gibt genug Tiefgefrierzauber, die in vervielfältigender Kombination ähnliche Substanzen erzeugen können. Allerdings werdet ihr sie damit nur lähmen, aber nicht töten. Sie würde in einen Erstarrungsschlaf fallen und wiedererwachen, wenn sich jemand an ihr zu schaffen macht."
"Erstarrung wäre doch schon einmal was", wandte Donata ein. Anthelia nickte. Dazu mußte man sie jedoch wohl lange genug an einem Ort halten. Da Valery selbst durch Antiapparitionswälle brechen konnte war das schwierig. Doch Donata wußte das sicher. Anthelia wollte ihr auch nur etwas mitgeben, womit die aufgebrachten und verunsicherten Hexen ihrer Schwesternschaft beschäftigt werden konnten.
"Wann kannst du Valery unschädlich machen, höchste Schwester?" Wollte Donata wissen.
"Ich werde es euch allen mitteilen, wenn mir die Mittel zur Verfügung stehen, über die meine ehrwürdige Tante eine nur für ihr unbedingt treue Nachfolgerinnen vererbte Erinnerung hinterlassen hat. Doch spätestens im August werde ich diesem Übel beizukommen trachten. Valery Saunders wird die Wiederkehr ihres Entstehungstages nicht mehr erleben."
"Und falls du bei dem Versuch stirbst, höchste Schwester?"
"So stirbt mit mir Sardonias Traum und damit alles, wofür die zögerlichen und die entschlossenen Schwestern eintreten. Doch auch die Menschheit wird nicht lange überleben. Valery wird sie nur noch in Fleischlieferanten oder Arbeitssklaven einteilen. Daß sie sich in den letzten Monaten so ruhig verhält führe ich darauf zurück, daß sie die verlustreichen Überfälle gelehrt haben, möglichst viele Nachkommen zu erbrüten, um ihre Pläne ins Werk zu setzen. Nur sie weiß, wann die von ihr gewünschte Zahl erreicht sein wird. Ich lasse die mir noch verbundenen Brutköniginnen gleichfalls Nachkommen erbrüten, um ihr im entscheidenden Moment genug ebenbürtige Widerstreiter entgegenzuschicken. Wo diese erbrütet werden halte ich geheim, um Aktionisten wie Wishbone oder Hexen vom Schlage Daianiras daran zu hindern, diese Gegenstreitmacht zu vernichten, bevor sie Fühlung mit Valerys Volk nehmen konnte." Donata nickte. Dann fragte sie noch:
"Leda hat gefragt, ob du wüßtest, wer das Sonnenmedaillon des Inti hat. Sie hat mir die Frage mentiloquiert, wohl auf der Hut, die in ihr ruhende Daianira nicht auf Ideen zu bringen, wenn diese nach der Geburt noch alle Erinnerungen behalten sollte."
"Und du hast es ihr mitgeteilt?" Fragte Anthelia schnippisch. Daß Patricia Straton noch lebte wußten nur Anthelia, Tyche Lennox und Donata Archstone.
"Natürlich habe ich es nicht verraten, weil ich das eh nicht kann. Offenbar legt die gute Leda Wert darauf, über den Verbleib des Medaillons unterrichtet zu sein. Vielleicht hält sie es für ein legitimes Erbstück Daianiras."
"Ich denke eher, sie legt es darauf an, mich damit auf Abstand zu halten. Daianira hat ihr ja erzählt, daß sie mich damit einmal niedergerungen hat", grummelte Anthelia. "Zumindest muß ich davon ausgehen, daß Daianira es ihrer Hausheilerin und ausgewählten Hebamme verraten hat, auch wenn ich es nicht mit eigenen Ohren gehört haben mag."
"Verstehe", erwiderte Donata Archstone. "Aber ich denke nicht, daß Patricia das Medaillon wieder hergeben wird."
"Es wirkt bei ihr stärker, Schwester Donata. Daraus folgere ich zweierlei: Es hat ein gewisses Eigenleben und erregt sich immer besonders, wenn es die Aura meines Medaillons berührt. Zweitens hat es in Patricia Straton eine junge Besitzerin gefunden. Es mag sein, daß die Magier, die es schufen, darauf wertlegten, daß eine Hexe, die es trägt, gesunden Nachkommen das Leben schenken kann. Sicher, Daianira hätte mir bestimmt auch problemlos neues Leben schenken können. Doch zum einen geriet sie nicht durch das Beilager mit einem Mann in andere Umstände, und zum anderen wurde sie durch meine Wiederverjüngung gleichermaßen verjüngt."
"Du meinst, daß das Medaillon sich in gewisserweise entschieden hat, lieber bei Patricia zu bleiben?" Fragte Donata nach.
"Das mutmaße ich. Ich kenne Gegenstände, die bezwungen werden wollen wie jene, die mir nun zu Diensten sind. Es gibt aber auch welche die von ihren Schöpfern geprägt wurden, bestimmte Besitzer zu erwählen und ihnen allein und keinem anderem zu dienen. Die meisten Zauberstäbe suchen sich ihre Besitzer aus. Das hätte dieser närrische Waisenknabe bedenken sollen, als er sich ausgerechnet mit dem Wanderlustigen Stab des Todes einließ."
"Vielleicht spreche ich noch einmal mit Patricia, als legitime Nachfolgerin Daianiras, um sie einzuladen, zu uns zurückzukehren, natürlich nur, damit sie wieder eingesetzt werden kann."
"Damit sollten wir warten, bis Leda Greensporn niederkam und das kleine Mädchen, dessen Ankunft sie nun harrt, in fürsorglicher Obhut einer Amme belassen kann, wenn es wichtiges zu besprechen gilt. Sollte ihr dabei auch der Sinn nach einer Unterredung mit mir stehen, so bin ich einer solchen nicht abgeneigt." Donata nickte bestätigend. Sie faßte das als Anweisung auf, die nicht nur für Leda Greensporn zu gelten hatte. Dann verabschiedete sie sich von der nun zum zweiten Mal wiedergekehrten und disapparierte aus dem Weinkeller der Daggers-Villa.
"Es gibt noch viel zusammenzuflicken, was auseinandergerissen ist", dachte Anthelia. Sie wußte genau, daß die Freude über ihre wiedererlangte Freiheit nur dann Bestand haben würde, wenn es ihr gelang, die alten oder neue Getreue um sich zu scharen, um das weltweite Informations- und Aktionsnetz zu nutzen. Die beinahe sechs Monate zwischen November und Mai hatten sie zeitlich zurückgeworfen. Zwar war sie körperlich noch jung für eine Hexe. Aber sie wußte von Cecil und Virginia, wie schnell die Unfähigen, die Magielosen, die Muggel, die ganze Welt um sie herum verwüsten und entvölkern konnten. Jeder Tag Verzögerung konnte der eine Tag zu viel sein. Doch andererseits durfte sie nicht übereilt vorpreschen. Wenn die ungewöhnliche Zwangspause in Daianiras Obhut eines lehrte, dann, daß übereiltes, auffälliges Handeln zu herben Rückschlägen führen würde. Auch hier mochte der sich selbst überschätzende Waisenknabe Tom Riddle als mahnendes Beispiel dienen. Hätte er sich ausgiebig mit der Natur des von ihm erworbenen Zauberstabes befaßt und die Macht erkannt, die ihn damals zurückgeschlagen hatte und die er durch den Blutraub an Harry Potter erst recht herausforderte, so wäre er sicher nicht so schmachvoll vor hunderten von Getreuen wie erbitterten Gegnern gestürzt und hätte einen gerade einmal zum jungen Mann gereiften Zauberer zu unsterblichem Ruhm und weltweiter Dankesschuld der anderen ihm gegen über verholfen. Hatte sie ihm nicht vorhergesagt, daß sein Tun ihn selbst innerhalb von einem bis zwei Jahren den Garaus machen würde? Er hätte auf sie hören sollen. Es lag nun an ihr, die von ihr begangenen Fehler, für die sie ihrer Meinung nach teuer genug bezahlt hatte, zu korrigieren und dann, ohne die Hilfe weiterer unberechenbarer Ungeheuer Sardonias Traum zu leben und die Vorherrschaft der Hexen auf der Welt zu errichten, nicht aus Angst vor Strafen, wie Sardonia sie zu erlangen versucht hatte, sondern aus der Überzeugung, die einzig vernünftige Daseinsform anzunehmen. Doch sie wußte, daß ihr immer wieder wer in den Weg treten würde, der oder die sie davon abzuhalten versuchen mochte. Die Vampirin Nyx hätte das sicherlich versucht. Dann gab es da diesen unberechenbaren blauen Blutfürsten, vor dem sie wohl auch ihr Gürtel der zwei Dutzend Leben nicht schützen mochte. Außerdem gab es noch zwei wache Abgrundstöchter, die den Tod ihrer Schwester Hallitti rächen wollten, wenngleich Itoluhila ihr gegenüber angedeutet hatte, daß Hallitti sich das ja selbst eingebrockt hatte. Noch ein Beispiel für übereiltes, unbändiges Vorgehen, dachte Anthelia. Zwei Jahre war das bald her. Außerdem mochten die Wertiger nach dem Rauswurf aus Europa neuen Mut fassen und befinden, sich für die Demütigung zu rächen. Ihnen war die Trophäe verweigert worden, den Kopf des Waisenknaben zu ihrer Königin und Clanmutter zu bringen, um den Tod ihres Gefährten und die Vernichtung ihres alten Heiligtums als gesühnt anzuerkennen. Außerdem war da noch etwas, was ihr im Überschwang der Euphorie zunächst nicht so recht bewußt geworden war. Es gab einen Zauber, mit dem man Flüche in ihr Gegenteil verwandeln konnte. Woher hatte diese Tourrecandide den Zauber? Und wer kannte und konnte diesen noch. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie die Quelle dieses mächtigen Zaubers unbedingt verschließen mußte. Dann ging ihr auf, daß sie es wohl nicht konnte. Denn die Worte, die sie gehört hatte, mochten älter sein als die Pyramiden in Ägypten. Es konnte die Sprache der Atlanter gewesen sein. Dann mochte an den alten Überlieferungen mehr Wahrheit sein, als viele magische Zeitgenossen es zubilligten. Abgesehen davon mochte dieser Zauber nur dauerhaft wirkende Flüche umkehren. Auf einen Schlag wirkende Flüche wie den Todesfluch konnte dieser Zauber wohl nicht aufheben. Dann kam ihr noch ein Gedanke, der ihr ein amüsiertes Lächeln auf das helle, sommersprossige Gesicht zauberte: Es wäre höchst anständig, sich bei dem, der Turrecandide den zauber beigebracht hatte, zu bedanken und falls möglich zu revanchieren, auch wenn der- oder diejenige keinesfalls beabsichtigt hatte, ihr, Anthelia, der Wiederkehrerin, die Freiheit zurückzubringen, die ihre eigene Überheblichkeit ihr mehr als fünf Monate lang genommen hatte
Sehr geehrte Madame Brickston,
ich verstehe einerseits, daß Sie nach wie vor verärgert sind, daß Professeur Tourrecandide und ich nicht daran dachten, Sie um Ihre kompetente Meinung zu bitten, was Lage und Besonderheiten der Insel der hölzernen Wächterinnen anging. Andererseits frage ich mit dem Respekt einer Kameradin der Liga wider die dunklen Künste, sowie mit der besorgten Betroffenheit einer liebenden Mutter, die die Unstimmigkeiten zwischen sich und ihrer Tochter beheben möchte, wann und auf welche Weise Sie bereit sind, die zwischen uns entstandene Konfliktsituation gütlich zu beenden. Ich habe bereits mehrfach auf verschiedene Weise bekundet, daß ich am Ausgang der heimlichen Mission Professeur Tourrecandides eine gewisse Mitschuld trage. Doch es bringt doch nichts, einen umgestürzten Kessel zu beklagen, wenn dessen Inhalt unwiederbringlich verschüttet ist. Ich bitte Sie inständig, sowohl Ihre emotionalen wie argumentativen Vorhaltungen und Einwände zu überdenken und mir und Professeur Tourrecandide zu helfen, mit der Lage zurechtzukommen. Jeder unnötige Disput, so habe ich selbst im letzten Jahr lernen müssen, stärkt nur die, deren Ziel Zwietracht und Mißtrauen sind. Immerhin vermochte ich trotz der von mir für hart erarbeiteten Privilegien und Bedenken, über meinen Schatten zu springen und den Frieden mit Madame Ursuline Latierre zu suchen. Da Sie sowohl als meine Tochter meine Erbanlagen in sich tragen, als auch von mir sowohl als Mutter wie als Lehrerin zum Gebrauch von Vernunft und Verstand erzogen wurden, hege ich die sehr große Hoffnung, daß der zwischen uns entbrannte Zwist demnächst ohne Gebietsabtretung der einen oder der anderen beigelegt werden wird.
Hochachtungsvoll
Prof. Blanche Faucon
Catherine Brickston lochte den Brief ihrer Mutter und heftete ihn in eine Mappe, in der sie die bisher entstandene Korrespondenz im Bezug auf Tourrecandides Ausflug auf die Insel der hölzernen Wächterinnen aufbewahrte. Zwar fragte sie sich immer, ob sie wirklich anders gehandelt hätte, wenn sie davon erfahren hätte, daß dort angeblich eine Hinterlassenschaft Sardonias war. Doch das mit der Eigengefährdung bei angewandten Zaubern gegen andere Menschen hätte sie der Mentorin ihrer Mutter sicherlich mitgegeben. Womöglich hätte sich Daianira dann selbst gerichtet, wenn sie den Todesfluch versucht hätte. Damit wäre dann wohl auch das Kapitel von Sardonias Erbin geschlossen worden. Doch nun war diese Hexe, die sie alle genarrt hatte wieder frei und mächtig, und Daianira mochte, wenn sie die körperlich-geistige Veränderung ohne Gedächtnisverlust überstehen mochte, auf Rache an denen ausgehen, die sie um ihre Macht und Lebensjahre gebracht hatten. Sie sah noch das Bild Leda Greensporns vor sich, wie sie in dem Boot vor der Insel den Transgestatio-Zauber gewirkt hatte. Sie dachte an das Bild der Heilerin in der Monde des Sorcières. Sie war selbst vor einem Jahr Mutter geworden und wußte, wie unbändig sich jemand über Kindersegen freuen konnte. Doch was Leda Greensporn auf sich genommen hatte war etwas anderes. Es mochte sein, daß Leda zu den gemäßigten Schwestern der Sororitas Silenciosa gehörte. Falls ja, so mochte sie in der Wiedergeburt Daianiras unter anderem Namen eine Chance sehen, die durchaus beachtlichen Anlagen dieser Hexe zu besserem Handeln zu formen. Gehörte sie jedoch den Nachtfraktionärinnen an, so konnte sie durch die erlangte Mutterschaft über Daianira eigene Machtansprüche geltend machen oder im Sinne Daianiras weiterhandeln, vor und nach einer erfolgreichen Niederkunft. Einen Moment lang mußte sie daran denken, wie das sein mochte, von einem ungeborenen herumkommandiert zu werden, einem Säugling zu gehorchen oder vor einem Kleinkind auf die Knie zu fallen, nicht um mit ihm zu spielen, sondern um sich ihm zu unterwerfen. Andererseits hatte diese Leda Greensporn, die Madame Matine als doch sehr gewissenhaft beschrieben hatte, sehr überlegen gelächelt. Das kam bestimmt nicht daher, daß sie Daianira einen großen Dienst erwiesen hatte, sondern daher, daß sie Daianiras Tun wohl zu überwachen und in die von ihr gewünschten Bahnen zu lenken meinte. Womöglich hatten sie sich mit Leda Greensporn einen anderen, nicht leicht zu berechnenden Machtfaktor herangezüchtet. Und genau diese überlegungen hielten Catherine davon ab, sich so schnell damit abzufinden, daß der verschüttete Trank nicht mehr in den Kessel zurückgefüllt werden konnte. Professeur Tourrecandide war von den Vorkommnissen traumatisiert. Ihre eigene Mutter hatte erst einmal ihre Alterskompetenz und Loyalität zu ihrer früheren Lehrerin hervorgekehrt. Auch war damit zu rechnen, daß Anthelia - so hatte sie sich zumindest Professeur Tourrecandide zu erkennen gegeben - nachforschte, was für ein Zauber ihr aus Daianiras Mutterschoß herausgeholfen hatte und ob dieser Zauber ihr nicht nur Freiheit, sondern womöglich auch die Entmachtung bescheren konnte. Das wiederum rückte Julius Latierre wieder ins Fadenkreuz dieser Sardonianerin,den sie wie einen Adoptivsohn oder Neffen von einem ungeborenen Geschwister ansah. Sie dachte daran, wer diesen Zauber und die drei anderen von Julius erlernt hatte. Er selbst konnte ihn nur freiwillig weitergeben. Ebenso konnten die, die ihn gelernt hatten, ihn nicht gegen ihren Willen preisgeben. Zumindest das beruhigte Catherine Brickston. Doch es könnte der Wiederkehrerin in Barty Crouches Contrarigenisiertem Körper einfallen, ihn deshalb noch einmal zu behelligen, sein Umfeld zu bedrohen, wie es diese Dolores Umbridge getan hatte. Und wenn nicht die Wiederkehrerin, dann mochte Daianira, wenn sie wahrhaftig glücklich wiedergeboren wurde, irgendwann darauf verfallen, ihm nachzustellen, falls sie ergründete, daß jemand Zauber aus dem alten Reich erlernt hatte. Zunächst einmal, so vermutete Catherine, würden beide Hexen sich dann an Austère Tourrecandide halten. Catherine Brickston mußte davon ausgehen, daß Austère Tourrecandide sich dessen bewußt war.
"Maman, Julius hat wegen Geri zurückgeschrieben", trällerte Babette und klopfte an die Tür des Arbeitszimmers. Seitdem Didier entmachtet und die Schlangenmenschen erledigt waren, Pendelten Mutter und Töchter Brickston zwischen Millemerveilles und Paris. Joe hatte sich nach den Monaten in Millemerveilles nicht davon abbringen lassen, in Paris zu bleiben, während Martha Andrews von mehreren gut meinenden Hexen dazu angehalten wurde, in Millemerveilles zu bleiben.
"Das habe ich dir doch erzählt, daß er erst die ZAG-Prüfungen hinter sich haben wollte, Ma Chere", sagte Catherine, als sie die Arbeitszimmertür geöffnet hatte, um den dauerhaften Klangkerker zu unterbrechen.
"Er schreibt, daß es schlimmeres gibt als Geris Ausstieg und daß Opa James mir bestimmt erzählen würde, wie das mit diesen Beatles damals lief", sagte Babette und schwenkte den Brief aus Beauxbatons. Im Grunde schon schön von Julius, daß er Babettes Sorgen wegen einer Sängerin ernstgenommen hatte. Vor allem schätzte sie es auch hoch ein, daß wieder Briefe zwischen Beauxbatons und dem Rest der Welt verschickt werden konnten. Manche Dinge vermißte man eben doch sehr schmerzvoll, wenn man sie erst einmal nicht mehr hatte.
"Wenn du möchtest kannst du Opa James gerne anrufen, Babette. Joe sitzt eh wieder hinter seinem Computer und freut sich, daß er nun unbefristet damit arbeiten kann."
"Darf ich echt?" Fragte Babette. Leises Quängeln aus dem zweiten Kinderzimmer verhieß Catherine, daß ihre jüngste Tochter wieder naß sein mußte.
"Du kannst auch Claudines Windeln wechseln, wenn dir das lieber ist, Babette", wandte Catherine deshalb ein. Natürlich zog Babette den Anruf bei ihrem Muggel-Großvater in Birmingham vor, auch wenn sie sich von Denise Dusoleil hatte begeistern lassen, ein kleines Schwesterchen zu versorgen. Catherine lächelte hinter ihrer erstgeborenen Tochter her. Wie schön einfach manche Dinge doch sein konnten, wenn sie mit Mund und Augen eines Kindes erfaßt und erwähnt wurden. Catherine las Julius' Brief über Geri Halliwell und nickte. Sie ging in Babettes Zimmer und legte den Brief auf den Schreibtisch. Dann führte sie im Partyraum eine längere Kontaktfeuerunterhaltung mit ihrer Tante Madeleine.
"Ich kapiere es, daß du wegen dieser Sache mit der Insel noch sauer auf deine Mutter bist. Und ich kenne meine kleine Schwester zu gut, daß ich das schon sehr beachtlich finde, daß sie dir Frieden ohne Gebietsabtretung in Aussicht stellt. Daran siehst du, daß ihr das auch sehr in die Knochen gefahren ist, was ihre geschätzte Mentorin da erlebt hat. Ich hätte diese Daianira nicht abgetreten sondern persönlich ausgeliefert, wenn sie groß genug dafür geworden wäre."
"Du wärest, ohne jetzt gehässig zu sein, zur Fünfjährigen zurückverjüngt worden, Tante Madeleine", sagte Catherine.
"Da hat's in Peru oder Chile doch mal einen Fall gegeben, wo eine Fünfjährige einen Sohn zur Welt brachte, und das ganz ohne Magie", sagte Tante Madeleine. "Aber du hast recht. Wegen dieser Daianira noch mal nach Beaux, möglicherweise noch von der eigenen Schwester im Unterricht runtergeputzt, weil ich der schon zu viel kann und die anderen nicht blöd aussehen lassen soll ... Dann lieber mit Martha Zauberkunst und Eigenschutzzauber üben. Ich kriege die bestimmt auch vor Schuljahresende auf einen Besen zum Quidditchtraining."
"Nachdem du sie dazu genötigt hast, bei Walpurgis fünf Runden zu fliegen um zu zeigen, daß sie eine Hexe ist traue ich dir das auch zu. Würdest die gute wohl gerne als deine Tochter adoptieren, wie?"
"Hätte ich schon gemacht, Catherine. Aber ich muß wohl davon ausgehen, daß die gute Antoinette Eauvive da ältere Ansprüche anmeldet. Immerhin hat Martha sie ja mit einem Körperteil am Tor zum Leben berührt."
"Dachte ich's mir doch, daß du dem nicht abgeneigt wärest. Dann wäre Julius der Sohn einer Cousine von mir und ich könnte rein verwandtschaftlich noch mal mit Hipp über eine Aufteilung der Fürsorge bis zur Volljährigkeit verhandeln."
"Bei Hipp hättest du eine Chance. Wenn Julius aber statt ihrer Tochter Millie ihre Schwester Béatrice in die Mondburg begleitet hätte sähe das schlecht aus, weil die gute Line ihn dann nicht mehr ausgelassen hätte, bis der der fürsorglichen Béatrice den ersten Enkel untern Umhang geschoben hätte."
"Ich stelle fest, du hättest noch guten Anklang als Beauxbatons-Schulmädchen", griff Catherine die Bemerkung ihrer Tante von vorhin auf.
"Deine Mutter ist manchmal zu steif und auf ihre Richtlinien und die Wirkung nach außen bedacht, Catherine. Hat sie von deiner Oma Estelle. Ich habe ja Glück gehabt und deines Großvaters Gelassenheit und Fröhlichkeit abbekommen."
"Ja, und Babette ist deine Enkelin, nicht deine Großnichte", führte Catherine einen Scherz an, den ihre Tante einmal losgelassen hatte, als sie und ihre jüngere Schwester Blanche zu Besuch bei den Brickstons gewesen waren und Babette ohne Zauberei die Tapete im Flur mit Wasserfarben umgeändert hatte.
""Ja, ich erinnere mich noch an das verbissene Gesicht deiner werten Mutter, als ich sagte, daß meine Enkelin eben Geschmack für zeitgenössische Aktionskunst habe. Sieben Jahre ist das schon wieder her."
"Wer weiß. Vielleicht stellt sich doch raus, daß du mich eigentlich geboren hast, weil Mutter zu beschäftigt mit der Liga war, um eine Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit einbeziehen zu können", entschlüpfte Catherine eine Bemerkung, die sie im nächsten Moment lieber wieder verschluckt hätte. Ihre Tante grinste einen Moment und sagte dann:
"Nein, Catherine, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du bist ordentlich in meiner kleinen Schwester eingezogen, brav herangewachsen, etwas unsanft für euch beide ausgezogen und hast dich von ihr anständig satthalten lassen, auch wenn ich dich zwischendurch mal anlegen durfte, weil die gute Blanche dich nicht überall mitnehmen konnte, nachdem du eigenständig atmen konntest."
"Geschadet hat's mir nicht, genausowenig wie Babette oder Claudine", sagte Catherine Brickston nun etwas ernster. "Babette hat übrigens auch Post aus Beauxbatons bekommen. Sie hat dir sicher die Sache mit dieser rothaarigen Sängerin erzählt, die dieser Mädchengruppe angehört hat."
"Ingwergewürz?" Fragte Tante Madeleine. Catherine nickte und erzählte ihr, was Julius darüber geschrieben hatte.
"Der hat jetzt andere Sorgen. Wie ich das sehe wird er wohl spätestens bei der Quidditch-WM an eine eigene Familie denken müssen. Außerdem haben Blanche und andere ihn immer sehr gut beansprucht. Du hättest ruhig öfter intervenieren dürfen, um zu klären, daß er trotz seiner Fähigkeiten immer noch Anspruch auf eine unbeschwerte Kindheit hat. Bei mir hätte sich Blanche nicht rausgenommen, dem Jungen schon in der vierten Sachen aus der Sechsten einzubläuen."
"Weil sie ja auch deine kleine Schwester ist und ich nur ihre Tochter bin", schnarrte Catherine. Madeleine L'eauvite sah sie besänftigend an und erwiderte:
"Du hast schon alles soweit richtig gemacht. Womöglich hätte der Junge eh mit Sachen experimentiert, die die größeren schon konnten. Dann war es schon besser, ihm das ordentlich und unter Hinweis auf mögliche Grenzen beizubringen. Was wirklich wichtig ist lernt er eh mit und von Mildrid."
"Hoffentlich hört Maman das nicht, sonst könnte sie befinden, daß du kein guter Umgang für Julius bist", erwiderte Catherine Brickston.
"Dann solte ich mir das mit der Adoption von Martha doch noch mal überlegen. Als Julius' de Jure Großmutter hätte ich dann immer noch Mitspracherechte." Catherine mußte mal wieder einsehen, daß sie im verbalen Schlagabtausch mit ihrer Tante nicht gut mithalten konnte. Wollte sie sich mit ihr streiten, drehte diese es immer so, daß der Grund des Streites nicht so wichtig war. Wollte sie einen Witz machen, konnte ihre Tante das mindestens dreimal so gut. Sie verstand Babette, warum sie ihre lustige Großtante lieber besuchte als ihre gestrenge Großmutter. Sie war zumindest froh, das leidige Thema mit der Insel der hölzernen Wächterinnen mit ihrer Tante besprochen zu haben, auch wenn ihre Mutter eigentlich darauf bestanden hatte, daß es außerhalb der Liga und dem Ministerium niemand erführe.
"Noch was zu der Meinungsverschiedenheit zwischen dir und Blanche, Catherine. Geh jetzt nicht sofort auf ihren Wunsch nach Frieden ein! Sie schreibt das, weil ihr die Argumente ausgehen. Wenn du jetzt nachgibst lernt sie nichts aus ihrem Versäumnis!" Gab Tante Madeleine ihr noch mit.
"Langsam habe ich aber keine Argumente mehr, um mich der Logik einer friedlichen Beilegung zu widersetzen", sagte Catherine.
"Nein nein, Catherine, auch deine Mutter muß lernen, daß du in gewissen Dingen mehr weißt als sie und daß es besser ist, davon Gebrauch zu machen als auf die eigene Lebenserfahrung und Fachkompetenz zu pochen. Und wenn dir die Argumente ausgehen, so führe bitte an, daß die Situation durch dieses Versäumnis ungleich schwerer für ihren Schüler geworden ist, weil zwei Hexen ihm nachlaufen könnten. Die eine könnte sich bedanken wollen, weil er ihr indirekt rausgeholfen hat. Die andre könnte ihm üble Streiche spielen wollen, weil er sie für mindestens ein Jahr oder gar siebzehn Jahre außer Gefecht gesetzt hat. Ihr müßt ihm das irgendwie erklären."
"Besser nicht, Tante Madeleine. Er hat diese Zauber gelernt, um Leben zu schützen. Wenn er erfährt, daß damit eine womöglich brandgefährliche Hexe ihre alte Stärke zurückbekommen hat, könnte er dazu neigen, ihm zugegangene Sachen besser für sich zu behalten, weil er nie wissen kann, wann und wie sich das neue Wissen auswirkt. Wir erklären ihm höchstens, daß die Zauber nicht immer nur schlechtes in gutes umändern, damit er bei ihrem Gebrauch darauf achtet, die Folgen zu bedenken."
"Gut, ich habe ja nicht die Fürsorge. Klär das aber bitte mit Hippolyte, bevor die es über die verschlungenen und dunklen Wege ihrer Familie erfährt!"
"Ich habe den Brief schon an sie abgeschickt. Könnte sein, daß ich heute noch die Antwort kriege", sagte Catherine.
"Gut, dann solltest du deinen klugen Kopf wieder auf deinen eigenen Hals zurückholen. Martha könnte gleich vom Treffen mit den Lehrern zurückkommen und dann voll auf deinen Schädel treten."
"Wenn ich bedenke, wie sie die Flohpulverei verabscheut", erwiderte Catherine.
"Eben genau deshalb bestehen Geneviève und ich darauf, daß sie von der Schule aus den Kamin nimmt. Die Alternative wäre der Besen oder Seit-an-Seit-Apparition. Und nachdem ich sie mal wie ein kleines Schulmädchen abgeholt habe und mit ihr ein paar lustige Manöver ausgeflogen habe ..." Tante Madeleine grinste breit. Catherines Kopf im Kamin ruckelte vor und zurück. Babette hatte ihr das haarklein erzählt. Sie verabschiedete sich dann von ihrer Tante und zog den Kopf aus dem Kamin ihres Elternhauses in Millemerveilles zurück. Babette sprach noch mit ihrem Großvater James. Joe hatte bisher keinen Anlaß gehabt, sie aufzufordern, das Gespräch zu beenden. Offenbar ließ er ihr das lange Auslandsgespräch durchgehen, weil er das so lange vermißt hatte.
Sie konnte nicht sagen, ob sie gerade schlief oder wach war. Nur wenn sie Bilder und Geräusche eines Lebens wahrnahm, das vor der rasend schnell vorbeigeflogenen Walpurgisnacht stattgefunden hatte, wußte sie, daß sie träumte. Das erschreckende daran war, daß die Kraft dieser Bilder schwand, die damit verbundenen Erinnerungen also immer weiter verblaßten. Für sie zählte im Moment nur die Geborgenheit, in die sie sich erst widerwillig und dann notgedrungen ergeben hatte. Zwischendurch jedoch drangen über die Geräuschkulisse von Pochen, Rauschen, Schnauben, Gluckern und Rumpeln Stimmen dumpf an ihre gerade mit körperwarmem Wasser gefüllten Ohren. Sie erkannte Donata Archstones Stimme und entsann sich, daß sie sie nicht in Gedanken rufen konnte. Sie hörte dumpf wie durch eine Wand die Stimme ihrer heilkundigen Großmutter, die sie irgendwann - wann genau wußte sie nicht - Urgroßmutter nennen würde. Sie fühlte mal sanfte und mal ausladende Bewegungen. Und immer wieder sprach sie zu ihr, die sie früher als ihres Onkels Tochter gekannt hatte und die ihr eigentlich hatte helfen sollen, jemanden anderen neu in die Welt zu setzen. Diese Jemand hatte sie ausgetrickst. Das fiel ihr immer wieder ein. Doch dann verschwamm der Gedanke an Vergeltung im Rhythmus des wummernden Herzens, unter dem sie einem neuen Leben entgegenwuchs, einem Leben, das anders verlaufen würde als das, welches sie vorher geführt hatte. Das einzige, was von dem früheren Leben in das neue hinübergerettet würde, war ihr Geschlecht.
"Ich merk's, daß du gerade wach bist, Lys", drang dumpf aber von allen Seiten die Stimme ihrer Trägerin zu ihr. "Oma Thyia sagt, uns ginge es gut. Bald darfst du raus."
Jene, die gerade Lys genannt wurde, fragte sich jedoch, ob sie wirklich zurück auf die Welt wollte. Warum machte ihre Trägerin nicht was, um sie zu behalten. Dann wäre es doch möglich, von hier aus weiterzumachen wie bisher. Dann fiel ihr jedoch ein, wie lächerlich das sein würde, immer von einer mehr als sechzig Jahre alten Hexe abhängig zu sein, immer eingeschlossen und verborgen, nur mit den Gedanken hinausspazierend. Jene, die irgendwann mal Lysithea heißen würde, hatte schon überlegt, ihren Geist aus dem warm und weich umschlossenen Körper zu lösen und die Welt dort draußen zu durchwandern, vielleicht die irgendwann erlernte Möglichkeit zu nutzen, andere Menschen zu lenken. Doch der einzige Versuch, den sie unternommen hatte war an drei Dingen gescheitert. Zum einen hätte sie hierfür eine entspannte, ausgestreckte Körperhaltung einnehmen müssen. Das war in der engen Behausung von Ledas Leib nicht möglich. Zweitens hätte sie eine besondere Atemtechnik benutzen müssen, um ihren Körper auf die Trennung von seinem Geist einzustimmen. Sie fühlte nicht den mindesten Drang, einzuatmen. Ihre Lungenflügel waren noch zusammengefaltet, und jemand anderes sog den für sie wichtigen Sauerstoff aus der Luft ein. Drittens verlangsamte sich bei der Übung, ihren Geist freizusetzen jede Körperregung, also auch der Herzschlag. Der bisher einzige Versuch mißlang, weil die, in deren Unterleib sie nun zwischen Schutz und Gefangenschaft festhing, eine ausgebildete Heilerin war und sofort registrierte, daß das ihr anvertraute Leben nicht mehr den üblichen Rhythmus aufwies. Die frustrierende Erkenntnis, bis zur irgendwann anstehenden Wiedergeburt zur Untätigkeit verdammt zu sein war dem schicksalergebenem Gefühl des Abwartens und der Hingabe an die vollendete Geborgenheit gewichen, die sie in ihrem irgendwann neu beginnendem Leben nie wieder erreichen würde. Eine winzige Möglichkeit bestand für sie, mit ihrer Trägerin und zukünftigen Mutter zu kommunizieren. Sie konnte noch Gedanken an sie übermitteln, auch wenn diese einen bezauberten Gürtel trug, der das Gedankensprechen erschwerte, so daß sie nicht weiter als einen Meter von ihrem Kopf entfernte Personen erreichen mochte.
"Ich kann nicht behaupten, daß ich schlafe", dachte sie an ihre Trägerin zurück. "Hat Oma Thyia jetzt endlich raus, wann wir beide uns ansehen können?"
"Oma Thyia und ich haben beschlossen, dir das nicht zu sagen, um dich nicht zu enttäuschen, wenn es früher passiert oder später", bekam sie die klar verständliche Antwort direkt unter ihre gerade weiche, formbare Schädeldecke gepflanzt. "Ich finde es schön, wie unbeschwert du es uns beiden machst. Unnötige Aufregung, Angst oder Vorfreude würde das wohl kaputtmachen."
"Als wenn ich nicht mitkriege, wenn du Angst hast", schickte die, die irgendwann als Lysitea auf die Welt geworfen würde zurück. "Aber vielleicht kannst du mir zumindest sagen, was dieses Weib gerade macht, dem Donata eigentlich nachläuft, Mom."
"Sie hat Sardonias Erinnerungen durchgeforstet, sagt Lady Donata. Dabei soll ihr aufgegangen sein, wie alle erschaffenen Entomanthropen vernichtet werden können, die außer Kontrolle geraten sind. Das muß aber noch unter den anderen großen Schwestern und uns beiden bleiben."
"Das sagt diese gemeine Kanallie doch nur, um euch kleinzuhalten", schickte Ledas Leibesfrucht eine verärgerte Gedankenantwort zurück.
"Tante Daianira hat's doch zweimal probiert, die böse Valery Saunders umzubringen", kam Ledas amüsierte Antwort zurück. "So blöd es jetzt auch ist, wir müssen hoffen, daß Anthelia bei Tante Daianira erkannt hat, wie dumm das war, dieses Monster zu machen und es selbst so schnell wie möglich loswerden will."
"Sie mochte Tante Daianira nicht. Sonst wäre sie bei ihr geblieben und hätte nicht versucht, sie sich selbst umbringen zu lassen", schickte Lysithea zurück. Ein Geräusch, das wie dumpfes Lachen klang dröhnte um sie herum.
"Tante Daianira hätte auf mich hören und Anthelias kleines Schmuckstück weit weit weg tun und sie ganz in Ruhe weiterwachsen lassen sollen. Und Tante Daianira hätte nicht auf diese komische Insel mit den zu schnell rumgehenden Tagen fliegen sollen, wo jeder Kampfzauber nach hinten losgeht. Aber Tante Daianira wollte ja nicht auf mich hören. Ich hoffe mal, daß du nicht ihre Sturheit abbekommen hast, Lys."
Wieder diese Bemerkung, dachte sich Lysithea. Klar, dasß Leda die ihr immer wieder zwischen die ungeborenen Ohren setzte, wenn sie davon anfing, daß Anthelia nicht zu trauen war. Lysithea verzichtete darauf, ihre leichte Verärgerung über diese Zurechtweisung zu bekunden. Sie hätte ja nicht noch mal davon anfangen müssen. Doch eines wollte sie noch wissen, wo sie gerade hellwach war und ihre Gedanken nicht von den Körpergeräuschen Ledas überlagert wurden.
"War Wishbone auch bei der Feier zu "Tante Daianiras" Beerdigung?"
"Der hat sich in einem geheimen Haus eingeschlossen und verkehrt im Moment nur über Hauselfen als Kuriere mit den anderen Ministerialbeamten. Er hat erwähnt, daß er nun lange genug zugelassen habe, daß diese Valery einfach so Leute fängt wie eine Katze die Mäuse. Wo genau er ist will er nicht rauslassen. Einige vermuten sogar, er sei gar nicht in einem Haus, sondern einem fliegenden Luftschiff, so wie der Präsident der Muggel, wenn seine Leute ihm sagen, daß das Land angegriffen wird. Die Elfen verraten das natürlich nicht. Er hat natürlich Angst, daß Valery einen von den Beamten zu ihrem Baby werden läßt und dann alles weiß, was der weiß."
"Tja, der Onkel Zaubereiminister hat wohl eher Angst vor allen, die jetzt böse auf den sind, weil der denen was erzählt hat, denen könnte nix passieren", verfiel Lysithea in eine einem Kind von fünf bis zehn Jahren geläufige Ausdrucksweise. Leda gab nur ein gedankliches "Mmmhmm", an sie zurück.
"Lino hat es auch schon im Westwind stehen, daß der Onkel Zaubereiminister eigentlich eher Angst vor den anderen hat. Ich denke, das war gut, daß Lady Roberta und Oma Thyia die zu uns geholt haben. Sonst könnte die ja behaupten, du wärest nicht erlaubt und ich sollte dich vor irgendeinem Muggelkrankenhaus oder Nonnenkloster hinlegen und vorher mit einem Gedächtniszauber behandeln, daß du nichts von Tante Daianira oder Anthelia weißt." Ledas werdende Tochter erkannte die unterschwellige Drohung. Sie würde wohl das brave, hilflose Baby spielen müssen, wenn sie die Tortur der Geburt überstand. Vielleicht war diese Pein auch so groß, daß sie auch so alles vergaß, was sie bis jetzt erlebt hatte und alles neu lernen und werden mußte. Ansonsten könnte Leda einfallen, ihr wirklich alle Erinnerungen zu nehmen, sie ihr zu entreißen, auszulagern und sie hilflos und schutzbedürftig machen. Etwas rumpelte und gurgelte lautstark. Leda merkte das wohl auch und setzte sich in Bewegung.
"Die Gedankenplauderei macht dich und mich ganz schön hungrig, Kleines. Ist wohl besser, wenn du noch ein wenig schläfst, während ich uns beiden was warmes gönne", mentiloquierte Leda. Mit ihrer körperlichen Stimme sagte sie dann noch: "Ui, gluckert das. Ist das Essen von vorhin schon wieder durch. Dann wollen wir mal."
Lysithea schickte keine Antwort. Sie gab sich dem wohligen Gefühl hin, gut aufgehoben zu sein. Tatsächlich fand sie in den Schlaf zurück, aus dem sie vorhin erwacht war, nur um ein paar Minuten bei vollem Bewußtsein mit ihrer künftigen Mutter Gedanken auszutauschen.
Lucas Wishbone, der amtierende Zaubereiminister, wußte genau, daß er sich erst wieder blicken lassen durfte, wenn er das Problem Valery Saunders aus der Welt geschafft hatte. Zwar konnten ihm im Ministerium keine bösartigen Zauber treffen. Doch dort war er zu leicht auffindbar, sowohl für seine immer zahlreicher werdenden Kritiker, als auch für dieses Monstrum, das mehr als einmal bewiesen hatte, daß Antiapparitionszauber kein Hindernis bedeuteten. Er rechnete minütlich mit Horrormeldungen, daß dieses unersättliche Biest nun auch über Thorntails hergefallen sei, was dann gleichbedeutend mit einem lauten Ruf nach seinem Rücktritt einhergehen mußte. Im Moment saß er im grünen Salon seines fliegenden Kommandostandes. Das war schon ein praktisches Ding, was er da vor zehn Jahren gedreht hatte, ein kleineres Luftschiff zu bestellen und es auf Hawaii in einer Höhle zu verstecken, die durch Beruhigungsrunen für Erde und Feuer vor den vulkanischen Aktivitäten der Umgebung sicher genug gehalten werden konnte. Jetzt befuhr das durch höhere Flugzauber angetriebene Luftfahrzeug den Raum über dem Pazifik. Außer seiner schwarz-goldenen Hauskatze Reny befanden sich nur noch sieben ministeriumseigene Hauselfen und zwei aus dem Landhaus seiner Großeltern an Bord der knapp fünfundzwanzig Meter langen, mit Desillusionierungszaubern imprägnierten Himmelswurst. Wishbone konnte die magische Kursüberwachung mit leichten Zauberstabstupsern auf eine neue Richtung und Reisehöhe einstellen. Ja, die Muggel hatten damals wohl eine feine Idee gehabt, ihren Präsidenten eine Flugmaschine zu geben, mit der dieser beweglich und größtenteils unangreifbar seine Amtsgeschäfte ausüben konnte. Zwar mutmaßte diese Klatschhexe Linda Knowles mit ihren viel zu empfindlichen Ohren, daß er diesen Muggeltrick übernommen hatte, um unauffindbar und beweglich zu bleiben. Doch solange sie keine Beweise hatte. Denn als er damals dieses kleine Luftschiff erworben hatte, hatte er unter dem Namen seines Großvaters firmiert, der mittlerweile seit fünf Jahren in Frieden ruhte. Keiner wußte, ob das kleine Luftgefährt noch existierte oder nicht.
"Wir sind wieder auf Seite eins im Herold", maunzte die schwarz-goldene Katze, die die neueste Ausgabe der im Osten der Staaten beliebten Zaubererzeitung betrachtete. "Minister auf Urlaub? Scheut der Vorreiter für Sicherheit in der Zaubererwelt die Aussprache mit den magischen Mitbürgern? Was ist dran, daß er der Vater von Heilerin Greensporns spätem Kind sein könnte?"
"Wollen die mir jetzt alles in die Schuhe schieben", schnaubte der Minister und ballte die Faust. Doch Renys warnendes Fauchen hielt ihn ab, auf den fest am Boden verankerten Holztisch zu hauen. "Diese alte Trulla hat wohl mit Muggelsamen rumgemurkst und sich selbst damit dick gemacht. Nur weil ich gerade nicht von Valery Saunders aufgefunden werden will heißt das nicht, daß ich diese Heuchlerin, die so übermäßig grinst geschwängert habe."
"Würde ich dir auch nicht raten", schnurrte Reny. "Außerdem weiß ich doch, wo du in den letzten acht Monaten gesteckt hast. Die vom Herold hängen sich da nur dran auf, weil das ein wirklich komischer Zufall ist, daß die ihren Bauch in die Kameras vom Westwind und dem Herold gehalten hat, als wir beide beschlossen haben, besser eine längere Reise anzutreten, um das Unternehmen Angelköder vorzubereiten. Je weniger wissen, wie es ablaufen soll und wo du gerade bist, desto sicherer fangen wir uns dieses Monster, bevor es davon erfährt."
"Wir haben beschlossen", stieß Wishbone verächtlich aus. Der Minister wußte, wie lächerlich das für die Öffentlichkeit sein würde, wenn er dieser gegenüber zugab, daß er sich bei allen aktuellen Vorhaben mit seiner geliebten, fast überall bei ihm seienden Katze Reny beriet. Allerdings wäre die Wahrheit noch verwerflicher, als ein Minister, der seine Katze um Rat fragte oder ungebetenen Rat und Vorschläge über sich ergehen lassen mußte. Er fragte sich eigentlich immer, warum dieses weibliche Wesen da auf seinem Schoß hier, im geheimen Luftschiff, nicht ihre wahre Gestalt annahm, solange sie in einem der Salons war. In den beiden Bade- und Schlafzimmern hatte sie keine Probleme damit, in menschlicher Gestalt aufzutreten. Die Elfen verrieten doch eh nichts, weil sie ihrem Meister bedingungslos gehorsam waren und er ihnen den Basisbefehl erteilt hatte, niemandem gegenüber zu verraten, wo und mit wem er seine Zeit verbrachte.
"Wer hat diesen Schmutz überhaupt in den Herold reingeschmiert?" Wollte der Minister wissen und griff nach der Zeitung. "Klar, Willow Sweetwater natürlich, Langohr Linos ebenbürtige Konkurrentin im Osten. Die hat aber kein Interview mit der ihren Prinzipien untreu gewordenen Heilerin geführt, oder?"
"Ich kann zwar aus drei Metern Entfernung im Dunkeln lesen, aber nicht durch vier Blätter übereinander", maunzte Reny. Lucas Wishbone las den Aufmacher, der sich auf Seite eins nur mit seiner permanenten Unauffindbarkeit befaßte, jedoch schon anklingen ließ, daß er womöglich vor den Verpflichtungen eines unehelichen Vaters Reißaus genommen haben könnte. Wie er verächtlich vermutet hatte konnte Sweetwater nur mit haltlosen Gerüchten aufwarten.
"Ich weiß was die will, Reny. Die will haben, daß ich vor der appariere oder die zu einem Exklusivinterview abholen lasse, damit die einen Riesenknüller landet. Reine Provokation. Ich kitzle den Drachen solange bis er faucht oder Feuer speit. In beiden Fällen wird der Drache aufmerksam. Aber ich werde nicht auf dieses Manöver eingehen. "Angelköder" wird in drei Tagen anlaufen. Dann werde ich rauskriegen, wie ich diese Bestie an einen bestimmten Ort locken kann, um ihr den letzten Schlag zu versetzen."
"Dir ist klar, wie riskant das war, den Sprengstoff in der Muggelwelt einzukaufen, Lucas. Andererseits hättest du noch mehr Aufsehen erregt, wenn du die Ministeriumseigenen Leute darauf angesetzt hättest", schnurrte Reny.
"Abgesehen von den ganzen Bürokraten, die mir da hätten dreinreden wollen, von wegen Rücksprache mit der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe, der Vereinigung graduierter Zaubertrankbrauer und dem Verein zur Würdigung der Verdienste unserer magischen Mitgeschöpfe, der ganz sicher lautstark protestiert hätte. Das wäre für die Kobolde auch was geworden, wo Dime und ich das mit dem Papiergeld jetzt klarhaben."
"Ich denke, das solltest du doch wieder vergessen, Honey. Nachdem der Größenwahnsinnige aus England nicht mehr da ist, sollten wir die Kobolde nicht so hintergehen, wie du das vorhast."
"Ich hintergehe die nicht, Reny, ich suche nur Alternativen. Die Muggel haben seit mehreren hundert Jahren gute Erfahrungen mit Banknoten und bargeldlosem Handel. Da ist nicht einzusehen, warum wir Zauberer diese doch einmal gute Idee nicht auch für uns umsetzen könnten."
"Weil gerade die Traditionalisten dir Feuer unterm Hintern machen werden, wenn du dich auf Muggelerrungenschaften berufst. Jetzt, wo dieser Massenmörder erledigt ist, sollten wir die Abschottung aufgeben."
"Haben wir doch", sagte Wishbone locker. "Ich habe dem neuen britischen Zaubereiminister gratuliert und ihm eine Verbesserung unserer Beziehungen in Aussicht gestellt, ebenso dem französischen, spanischen und deutschen Zaubereiminister. Ich werde am fünfzehnten Juli bei der internationalen Konferenz in Potsdam dabei sein und die Lage nach dem Sturz des Größenwahnsinnigen besprechen. Aber bis dahin muß ich diese Pestbeule Valery Saunders ausgelöscht haben, und wenn es geht, auch die, die sie uns eingebrockt hat."
"Erstes hoffe ich für uns alle, und letzteres könnte schwer werden. Du hast durch deine Ablehnung von Hexen in ministeriellen Anstellungen einen guten Boden für eine Gegenbewegung der Hexen geschaffen. Aber das wolltest du ja nie recht wahrhaben."
"Die Gefahr ist größer, wenn ich denen erlaube, uns auszuforschen, Reny", schnarrte Wishbone. Da apparierte einer der Hauselfen. Er bewunderte diese sklavisch ergebenen Geschöpfe, daß sie überall dort apparieren konnten, wo Zauberer und Hexen nicht mal eben auftauchen konnten, seien es abgesicherte Gebäude oder sich bewegende Fahrzeuge.
"Meister Lucas hat Post von Professor Wright bekommen. Hier bitte!" Der Minister winkte kurz ab und zog schnell ein paar silbrig beschichtete Handschuhe über. Zwar hielt sich die Schulleiterin von Thorntails für zu aufrichtig, um Flüche in Briefe einzuwirken. Aber vielleicht hatte sie einen auf ihn bezogenen Aufspürzauber bemüht, um zu klären, warum er nicht im Ministerium war und wo genau er jetzt gerade war. Immerhin hatte er ihr einen an einen Heuler grenzenden Brief geschickt, sie solle den Familienangehörigen der aus Großbritannien in ihre Akademie geschmuggelten Minderjährigen klarmachen, daß mit Ende des Schuljahres die Duldung vorbei sei und die vier illegal eingewanderten dann entweder in ihre nun freie Heimat zurückzukehren oder sich einem Gerichtsverfahren zu stellen hatten. Er drohte auch damit, die hier geborenen Verwandten zu belangen, wenn die vier nicht mit ihren miteingereisten Eltern das Land verließen. Wright hatte sich in ihrer typisch schulmeisterischen Art dagegen verwahrt, die vier betreffenden Schüler von den ZAG-Prüfungen auszuschließen. Sie hätte die doch einfach nur eine Klasse niedriger einstufen müssen, um sich und dem Ministerium Ärger zu ersparen. Was wollte sie also jetzt? Er öffnete den smaragdgrünen Umschlag mit dem darauf geprägtem Drachen mit dem fünfzackigen, eingerollten Schwanz und las:
Verehrter Herr Zaubereiminister,
in Beantwortung Ihres sehr emotionalen Anschreibens vom zwanzigsten Juni 1998 bitte ich zunächst einmal um Ihre Verzeihung, daß ich jetzt erst Zeit und Muße fand, angemessen und unmißverständlich darauf zu antworten, da die diesjährigen ZAG-Prüfungen wegen der Stärke des zu prüfenden Jahrgangs doch einen gehörigen Aufwand erforderten. Damit Sie jedoch nicht meinen, ich lasse es an der gehörigen Achtung Ihnen gegenüber fehlen oder erginge mich in schuldbewußter Verschwiegenheit, erfolgt nun meine Antwort auf oben erwähntes Schreiben Ihrerseits.
Sie gingen davon aus, es sei Ihre Verpflichtung, sicherzustellen, daß die meiner Obhut anvertrauten Hogwarts-Schüler Hollingsworth, Betty, Hollingsworth, Jenna, Malone, Kevin und Porter, Gloria nicht von einer ungesetzlichen Einreise in die vereinigten Staaten profitieren mögen, da Sie zum Zeitpunkt und wegen der Art ihrer Einreise nicht sicher ausschließen konnten, daß sie entweder wahrhaftige Verbrecher der britischen Zaubererwelt seien oder zum Zwecke einer wie auch immer gearteten Unterwanderung unserer freien Nation ins Land geschmuggelt wurden, um ihren Eltern die Möglichkeit zu geben, sich uns gegenüber in feindlichen Aktivitäten zu ergehen. Ich habe Ihnen damals geschrieben, als die Abteilung für magische Ausbildung und Studien von der Aufnahme der vier benannten Schülerinnen und Schüler erfuhr, daß ich von keiner böswilligen Absicht ausgehen könne und die Flucht der vier und ihrer Eltern auf ein unmenschliches Ansinnen des damals vorherrschenden Regimes in Großbritannien zurückzuführen sei. Ich ging davon aus, daß wir uns einig waren, den vieren eine so unbeschwerte Zeit wie möglich in der Thorntails-Akademie zu gewähren und vertraute darauf, mir die Kompetenz zuzubilligen, die Schüler gemäß ihrer bisherigen Leistungen und Begabungen korrekt unterrichten zu lassen, ihre bestehenden Begabungen zu fordern und neue Begabungen zu fördern. Die Art, wie Sie mir vorzuschreiben trachteten, ich habe die vier nicht in der ZAG-Stufe weiterbilden und prüfen zu lassen ist ein unzulässiger Eingriff in die Angelegenheiten von Thorntails. Offenbar stieg Ihnen die Schließung der Broomswood-Akademie zu Kopf, und Sie erwägen nun, ein gleichgeschaltetes Ausbildungssystem zu errichten, das nur Ihre Vorstellungen von richtig und falsch zu befolgen hat. Das weise ich genauso entschieden zurück wie die Art, wie Sie mir vorzuschreiben trachteten, die vier erwähnten Schüler von den ZAG-Prüfungen auszuschließen. Den Schülern, Ihnen und dem Kollegium von Thorntails ist bekannt, daß Sie auf das Gesetz verwiesen haben, dem nach die Einbürgerung der vier nicht im Rahmen der vorgeschriebenen Verfahrensweise erfolgte und somit nicht stattfand. Dies heißt jedoch weder, daß die Einbürgerung nicht nachträglich ordentlich vollzogen werden kann, noch daß die drei Schülerinnen und der Schüler ihre Zeit mit bereits längst verinnerlichtem Lehrstoff vertun sollten. Wir hatten ja bereits vereinbart, daß eine in den Ferien stattfindende Aussprache zwischen Ihnen, mir und unseren Amtskollegen in Großbritannien die endgültige Klärung bringen möge, ob bestandene ZAG-Prüfungen anerkannt würden oder nicht. Mit ihrem bar jeder Sachlichkeit geäußertem Ansinnen wollen Sie diese Entscheidung jedoch jetzt schon erzwingen. Ich muß mich sehr wundern, wie wenig diplomatisches Geschick und Fingerspitzengefühl Sie haben walten lassen. Denn weder Sie noch ich konnten damit rechnen, daß die Bedrohung aus Großbritannien sich so schnell verflüchtigen würde. Sie hätten entweder die Rückführung der vier zugereisten Familien erzwungen und damit deren Tod in Kauf genommen oder die vier zur langfristigen Freiheitsstrafe verurteilen lassen, entweder hier oder in Großbritannien. Ich habe es Ihnen mehrfach angeboten, zu uns zu kommen und die vier betreffenden Schüler zu befragen, wie und warum sie zu uns kamen. Sie wollten diese Gelegenheit untergeordneten Stellen überlassen. Diese ließen jedoch anklingen, die vier Schüler aus Thorntails herauszubitten, um sie abseits von den übrigen Mitschülern befragen zu können. Eine derartig plumpe Vorgehensweise war sicherlich unter Ihrem Geistesniveau und wurde von mir zurecht abgelehnt, da in diesem Moment die Möglichkeit bestanden hätte, die Schülerinnen und den Schüler nicht mehr nach Thorntails zurückkehren zu lassen, sie entweder bei uns oder nach erfolgter Rückführung nach Großbritannien inhaftieren zu lassen. Jetzt, wo das Schuljahr zu Ende geht, drängen Sie erneut darauf, die vier möglichst rasch aus unserem Land auszuweisen. Sie nennen das natürlich freiwillige Heimkehr nach Beendigung der Bedrohungslage. Ich habe trotz meines doch schon gesegneten Alters immer noch ein gutes Gedächtnis und nicht vergessen, daß die vier erwähnten Jugendlichen nur bis zum Ende des Schuljahres bei uns verbleiben sollten, um dann ihren Status zu klären. Ich ging eigentlich auch davon aus, daß Sie drängendere und dringendere Angelegenheiten zu bewältigen haben, als drei angeblich illegal eingereiste Familien zu belangen. Ich verweise nur darauf, daß nach dem grauenhaften Überfall auf Cloudy Canyon klar wurde, daß sämtliche Einrichtungen der Zaubererwelt angegriffen werden können. Sie wagten es, mir mit dem erpresserischen Ansinnen zu begegnen, die Sicherheit von Thorntails nur dann garantieren zu können, wenn über die Führung dieser Lehranstalt und die in ihr verbleibenden Schüler verhandelt würde. Ich sehe es ein, daß es Ihrem männlichen Stolz widerstrebt, vier Jugendliche ohne ministerielle Aufforderung und Erlaubnis in unserem Land wohnen zu haben, die es geschafft haben, nicht nur der Verfolgung durch das Todesserregime zu entrinnen, sondern über alle von Ihnen in beispielloser Unvernunft und an Feigheit grenzenden Furcht vor der restlichen Zaubererwelt errichteten Absperrungen hinweg einzureisen. Natürlich hat es Ihnen nicht behagt, zugeben zu müssen, daß die Abschottung nicht so lückenlos sei, wie Sie es gerne hätten. Aber deshalb jeden Anstand zu vergessen und mit teilweise unflätigen Beschimpfungen zu reagieren wie ein Halbwüchsiger, kann ich nicht unbefangen hinnehmen.
Wenn das Schuljahr zu Ende ist - und ich hoffe, bis dahin keinen Übergriff der Entomanthropenkönigin erleben zu müssen - werden die drei Familien in ihre alte Heimat zurückkehren, wo sie hoffentlich nicht doch noch wegen der illegalen Ausreise belangt werden. Ich korrespondiere derweil schon mit meiner Kollegin Professor McGonagall, die ihrerseits mit dem neuen Zaubereiminister Shacklebolt in Kontakt steht, ob den vieren irgendwelche gerichtlichen Verfolgungen drohen. Eigentlich sollten Sie Ihren neuen Amtskollegen in Großbritannien anschreiben, um dies von ihm selbst zu erfahren, inwieweit die Angelegenheit ministerielle Aufmerksamkeit benötigt oder zwischen den Schulen selbst geregelt werden kann. Im besten Fall dürfen Sie Dank von Minister Shacklebolt erwarten, daß Sie unrechtmäßig verfolgten Bürgern Großbritanniens Asyl gewährten. Schlimmstenfalls könnten die Thorntails anvertrauten Schüler von Ihnen zu Schadensersatzzahlungen herangezogen werden. Das ist jedoch nur der von meiner seite aus schlimmste anzunehmende Fall.
Ich sehe vom Rest Ihrer emotionalen Ausführungen ab, weil ich erkenne, daß Sie mit den angefallenen Bedrohungen sehr schwer beschäftigt sind und daher natürlich nicht immer die gebotene Sachlichkeit an den Tag legen können. Ich bitte mir jedoch dringendst aus, daß jede Fortsetzung unserer Korrespondenz einen zu einem Ihrem und meinem Amt angemessenen Tonfall zurückfindet. Widrigenfalls muß ich die bisher nicht öffentlich gemachten Schreiben Ihrer- und meinerseits zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion machen, wie Madam Pabblenut dies im Bezug auf Broomswood getan hat. Ich hoffe, Sie sehen dies nicht als unmittelbare Drohung meinerseits, sondern als vermeidbare Folge unnötiger Ausfälligkeiten.
Ich verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Prof. Ernestine Wright
"Hast du was anderes erwartet, Honey? Du hast versucht, sie von ihrem Posten zu entfernen, wolltest einen deiner alten Kameraden dort einsetzen, nur damit die Sicherheitszauberer auf die Schüler aufpassen. Didier hat das in Beauxbatons auch versucht und ist gescheitert", maunzte die schwarz-goldene Katze, die mitgelesen hatte. Wishbone schluckte die Verärgerung über diesen Brief hinunter. In vier Tagen war das Schuljahr um. Fuhren die vier Jugendlichen und ihre eingereisten Eltern nicht unverzüglich nach Großbritannien und Irland zurück, konnte er sie und ihre hier eingebürgerten Verwandten festnehmen lassen. Der Brief Wrights war doch nur ein Ausdruck von Hilflosigkeit, weil sie das genau wußte. Allerdings könnte sie dadurch, daß die vier die Prüfungen absolvieren durften, darauf bestehen, daß die nachträgliche Einbürgerung diskutiert wurde, um die vier weiterhin in Thorntails zu beschulen, sollten die ZAGs in Großbritannien nicht anerkannt werden oder Hogwarts nach der großen Schlacht für längere Zeit seine Pforten verschlossen halten. Wishbone wußte, daß dieser Kingsley Shacklebolt einer von Dumbledores Leuten gewesen sein mußte, weil er maßgeblich im Widerstand mitgearbeitet hatte. Der würde vier ehemalige Schüler Dumbledores nicht vor Gericht stellen, weil sie angeblich vor dem Massenmörder flüchten mußten. Dann sollten die gefälligst dahin zurückkehren, wo sie hergekommen waren. Allerdings wurmte ihn wirklich, daß er bis heute nicht hatte herausbekommen können, wie die vier genau eingereist waren. Doch das konnte er immer noch, wenn er Valery Saunders und/oder ihre Schöpferin besiegt hatte. Denn nur der Erfolg auf der ganzen Linie würde sein arg ramponiertes Ansehen retten und seinen Ruf als Verfechter der Sicherheit wiederherstellen.
"Bucky!" Rief der Minister in die leere Luft hinein. Keine zwei Sekunden später apparierte ein älterer Hauself, der ein einteiliges, wie ein Kopfkissenbezug aussehendes Kleidungsstück mit dem Wappen des Ministeriums trug. Das dienstbare Zauberwesen verbeugte sich so tief, daß seine mohrrübenartige Nase den Boden des grünen Salons berührte. "Hast du die Gürtel mit dem C4-Sprengstoff und die Zünder?"
"Ja, Herr Zaubereiminister", quiekte der Hauself.
"Gut, dann sollen die anderen sich bereitmachen, auf mein Zeichen an einen bestimmten Ort zu reisen!"
"Ja, Herr Zaubereiminister."
Wishbone würde einen Tag vor der Aktion Angelköder ins Ministerium zurückkehren und verkünden, daß das gesamte Zaubereiministerium an einen Ort umsiedeln würde, den nur Ministerialbeamte kannten. Da er wußte, daß die Brutkönigin bereits vier oder fünf seiner früheren Mitarbeiter in Ihresgleichen umgewandelt hatte würde sie sich den Köder wohl nicht entgehen lassen. Natürlich würde Wishbone nicht umziehen. Aber die Brutkönigin würde angreifen, um sich die dicken Happen zu holen. Sie war sich doch ihrer Überlegenheit zu sicher. Sie hatte bisher wohl nur nicht das Zaubereiministerium selbst angegriffen, weil sie nicht sicher sein konnte, dort wirklich jeden zu erwischen, der im Lande wichtig war. Wenn er dann noch über geheime Kanäle verbreiten ließ, daß er die Wiederkehrerin festgenommen hatte, um aus ihr das Geheimnis der Entomanthropenerzeugung herauszuholen, mußte sie zwangsläufig davon ausgehen, daß ihre Abkömmlinge kein Problem mehr sein würden. Da mußte sie drauf reagieren. Sonst war es nicht möglich, sie an einen bestimmten Ort zu locken, um ihr von außen und von Innen zuzusetzen. Mit Magie war ihr nicht beizukommen. Blieben also nur Kampfmittel der Muggelwelt. Die Idee, Giftgas zu verwenden, hatte er verworfen, weil sie disapparieren konnte, bevor das Gas seine volle Wirkung tat. Geschosse, das wußte er auch schon, prallten von ihr ab. Südamerikanische Soldaten hatten auf sie geschossen, als sie sich in der Nähe eines Armeestützpunktes gezeigt hatte. Blieben also nur Sprengstoffexplosionen, wobei es natürlich ideal war, wenn die Sprengladungen in ihren Körper eingeschmuggelt werden konnten. Selbstverständlich würde sie eine Vorhut entsenden, um das Gebiet zu kontrollieren. Aber diese Vorhut durfte nicht zu lange herumsuchen, weil wer immer dort war ja dann gewarnt wäre. Vielleicht würde sie in ihrer Machttrunkenheit sofort zuschlagen, ohne das Gelände vorher zu prüfen. Darauf spekulierte zumindest der gerade unauffindbar bleibende Minister.
Der Laden war dunkel. Das paßte irgendwie, fand Anthelia. Unangenehme Laute drangen aus den verschlossenen Räumen hinter dem von wenigen kleinen Kerzen ausgeleuchteten Verkaufsraum. Regale voller Töpfe, Phiolen und Kästchen, abgegriffener alter Bücher und bauchigen Flaschen verdeckten die Wände des Fachwerkhauses. Üble Gerüche wehten der Wiederkehrerin um die Nase. In großen Gläsern konnte sie Augen, Gallen und Gedärme von Tieren erkennen. Deren Krallen, Zähne und Knochen lagerten sicher in den Kästen. Sie sah auf die breite, von Holzwürmern ausgehöhlte Theke, hinter der der Besitzer dieses fragwürdigen Geschäftes stand. Hier, in einem verborgenen Winkel des Schwarzwaldes, hatte Guntram Schleichfuß seinen Laden für ungewöhnliche Utensilien eingerichtet. Der Besitzer war klein und dünn, besaß aber einen großen runden Kopf mit rotbraunem Haar und einem dünnen Schnurrbart. Dazu kamen zwei listig dreinschauende, braune augen, die Anthelia daran denken machten, mit einem zum Menschen gewordenen Fuchs zu unterhandeln. Anthelia selbst hatte ihre Haarfarbe durch simple Teilverwandlung dunkelrot gefärbt und hatte sich mit rosiger Schminke die bleiche Gesichtshaut und die Sommersprossen übermalt. Sie trug einen abgewetzt wirkenden, tiefblauen Umhang mit vielen Taschen, von denen jedoch schon welche aus den Nähten geplatzt und einige löcherig waren. Unter ihrem Linken Arm trug sie eine alte Handtasche, schwarz wie die Nacht. Ihre sonst so warme Altstimme hatte sie mit einigen Übungen mit dem Stimmwandelzauber Varivox zu einer verräuchert klingenden Tonlage umgemodelt. Sie wollte nicht als die erkannt werden, die in den Kreisen der Schleichfußens - die sich scherzhaft auch Schleichfüße nannten - als die Wiederkehrerin bekannt sein mochte.
"Ah, eine Besucherin. kann ich Ihnen helfen", fragte der Ladenbesitzer in bestem Hochdeutsch. Anthelia erwiderte in akzentfreiem Deutsch, daß sie schöne Grüße von Siegbert Engerlinger auszurichten habe und er ihn empfohlen habe, weil das, was sie suche, nicht in den üblichen Läden zu haben sei. Sie wurde daraufhin gefragt, was sie suche, und sie erwiderte: "Einhornblut, vier Liter." Schleichfuß glotzte sie daraufhin verdutzt an.
"Das ist nicht leicht, so viel zu beschaffen. Darf ich fragen, wozu Sie es benötigen, gnä' Frau?"
"Der Verwendungszweck ist meine eigene Angelegenheit. Können Sie mir die erfragte Menge liefern oder nicht?" Zischte Anthelia ungehalten klingend. Schleichfuß blickte sich kurz um, als suche er nach einem Lauscher, der hinter den dunkelroten, mottenzerfressenen Vorhängen stecken mochte und sagte dann: "Güldenbergs Leute sind ziemlich auf der Hut, gnä' Frau. Seitdem Sie-wissen-sicher-wer bei den Engländern geherrscht hat wurden in allen Zaubertierreservaten die Wildhüter verdreifacht, um die Erbeutung von solchen Ingredentien zu erschweren. Ich selbst mußte zweimal meinen Laden leerräumen, knapp vor einer Durchsuchung der Ministeriumsabteilungen. Dabei sah ich mich gezwungen, meine Vorräte an Einhornblut außerhalb von Deutschland zu lagern. Es sind aber keine vier Liter, sondern nur ein halber."
"Das wundert mich jetzt aber", entgegnete Anthelia. "Siegbert hat behauptet, Sie hätten ein ganzes Faß davon versteckt, weil er mit Ihnen einmal sieben Einhornstuten erlegt und deren Blut abgezapft hat." Schleichfuß verkrampfte seine Gesichtszüge. Anthelia erfaßte, daß der Ladenbesitzer vorhatte, seinen Schulkameraden Siegbert demnächst heimzusuchen, um ihn gehörig auszuschimpfen, was dem einfiel, heruntergekommenen Hexen von der Einhornjagd zu erzählen. Dabei hatte diese Hexe das mit den sieben Stuten gerade erst aus den Gedanken Schleichfußes herausgehört, als sie die Menge des verlangten Blutes erwähnt hatte. Der Kerl da vor ihr konnte wohl keine Okklumentik oder rechnete nicht damit, daß seine Gedanken erfaßt werden konnten.
"Nun, Jägerlatein, gnä' Frau. Sie kennen das sicher, daß wir Burschen gerne mit den Erfolgen unserer Jagden stark übertreiben", versuchte Guntram Schleichfuß das ganze als blanke Übertreibung auszugeben. "Einhörner sind nicht so einfach zu kriegen, schon gar nicht von Jungs, weil das doch eher Mädchentiere sind."
"Weshalb Sie bei Ihren Jagden unortbare Fallen aufgestellt haben, hinter denen sie kleine Mädchen aus abgelegenen Dörfern hingesetzt haben, denen sie erzählten, sie könnten in diesem oder jenem Wald echte Einhörner sehen. Siegbert verträgt den Met nicht mehr", erwiderte Anthelia und lieferte gleich nach, warum sie das alles wußte, was sie wußte.
"Dann soll der das Zeug nicht mehr anrühren", hörte sie Schleichfuß denken. Für ihre Ohren vernehmbar sagte er: "Nun, gut, es sind zwei Liter, weil wir eine Einhornstute erwischen konnten. Aber wir konnten keine kleinen Mädchen mehr nehmen, weil die Spaßbremsen vom Ministerium die Schulen überwachen und die Muggels in den letzten Jaahren so empfindlich reagieren, wenn ihre Kinder für ein paar Stunden verschwinden. Liegt daran, daß in deren Bildauffangkisten immer was von Leuten erzählt wird, die sich an so kleinen Bälgern vergehen und die danach umbringen. Da ist das nicht mehr so leicht, Einhornköder zu kriegen. Also zwei Liter ist alles, was ich Ihnen anbieten kann. Allerdings kostet der Liter tausend Galleonen. Einhornblut ist für spezielle Zauber sehr begehrt."
"Ich weiß", sagte Anthelia kalt. Der da ihr gegenüber dachte daran, daß die zerlumpt wirkende Hexe nicht mal einen Achtelliter bezahlen konnte.
"Tja, dann muß ich wohl zu Mütterchen Weidenstock hingehen. Die kriegt immer vier Liter zusammen und kommt mit einem von denen dafür aus", sagte Anthelia und warf ihre Handtasche vor ihren Bauch, um mit beiden Händen hineinzulangen. Etwas schwerfällig zog sie die Hände wieder heraus und hielt ein großes, birnenförmiges Ding in den Händen, das im kümmerlichen Licht dunkelblau aussah. Schleichfuß starrte auf das Etwas und bekam immer größere Augen.
"Das gibt es nicht. Das kann nicht echt sein", stieß er aus. Anthelia zwang sich, nicht amüsiert loszugrinsen. Tja, eine Bundesschwester im schwedischen Drachenreservatzwischen Kopparberg und Arjeplog zu haben zahlte sich eben doch aus.
"Wie gesagt, Mütterchen Weidenstock nimmt für vier Liter eines davon. Und ja, das ist echt", entgegnete Anthelia mit verhaltenem Lächeln.
"Eines für vier Liter?" Entfuhr es Schleichfuß. "Ich denke, für jeden Liter eines ist der angemessene Preis, wenn dieses Ding da wirklich ein Ei eines schwedischen Kurzschnäuzlers ist, was ich dann natürlich erst einmal prüfen möchte."
"Wie Sie meinen, Herr Schleichfuß. Dann muß ich eben Ihre Konkurrentin in Ginstermoor aufsuchen und ..."
"Moment", unterbrach Schleichfuß sie erregt. Er dachte, daß er mit einem echten Kurzschnäuzlerei eine Quelle für geniale Zauberzutaten an die Hand bekäme. Ein dubioser Freund von ihm wollte schon lange einen Drachen haben. Und die Kurzschnäuzler waren wegen ihres sehr heißen Feueratems sehr gefärhlich, aber auch sehr potente Zauberzutatenspender. Anthelia dachte daran, wie sie ihm den Handel dieser Eier noch schmackhafter machen konnte. Sie hatte vier Stück, weil sie davon ausging, daß Schleichfuß für einen Liter eines haben wollte. Aber sie mußte ihm das nicht auf die Nase binden.
"Da Sie angemerkt haben, daß es eine männliche Art sei, mit Jagd- oder Fangerfolgen zu prahlen, vertue ich meine Zeit nicht damit, Ihnen zu erklären, welchem glücklichen Umstand ich es verdanke, einige Eier aus verschiedenen Gelegen zu haben. Sie könnten eine Zucht aufmachen, wenn Sie zwei Eier für vier Liter Einhornblut eintauschen. Wie Sie als Tierwesenkenner sicher wissen entscheiden zwei zusammengepferchte Drachen gleichen Geschlechts in einem kurzen Kampf, wer Weibchen und wer Männchen wird. meistens bleibt oder wird das kleinere Exemplar dann zum Männchen. Außerdem können Sie durch die Brutfeuertemperatur das Geschlecht vorbestimmen. Wenn Sie mir vier Liter zum Preis für zwei Eier lassen, bin ich bereit, mit Ihnen den Handel abzuschließen und kann mir den Flug nach Ginstermoor sparen."
"Sie glauben doch nicht, ich wüßte nicht, wie viel Einhornblut wert ist", erwiderte Schleichfuß und dachte, daß er für zwei Eier locker zehn Liter davon aus dem geheimen Faß zapfen würde. "Runde Preise, gnä' Frau, vier für vier. Soweit ich weiß ist die Tochter von Mütterchen Weidenstock gerade dabei, eine Übernahme des Verkaufs von exotischen Tierprodukten durchzuziehen, weil sie meint, daß ihre Mutter langsam wunderlich wird. Mit hundertvierundsechzig kann sowas ja auch leicht passieren."
"gut, dann mache ich den Handel mit Fräulein Hildegard Weidenstock, falls sie ihre Mutter ernsthaft zur Aufgabe des Geschäftes ermuntern kann. Die würde mir für ein Ei fünf Liter geben und für zwei Eier zur Grundlage einer Zuchtlinie womöglich fünfzehn. Immerhin ist sie das doch, die die Einhörner anlockt und deshalb auf den Spaß am Leben verzichtet hat."
"Niemals, fünfzehn niemals", entfuhr es Schleichfuß. Er hörte schon den Knall des geplatzten Geschäftes. Diese heruntergekommen wirkende Hexe da hatte doch mehr Ahnung vom Tauschwert zwischen illegalen Tierprodukten, als er ihr unterstellt hatte. Allerdings konnte das Ei in ihren Händen auch gefälscht sein. Wäre nicht das erste Mal, daß jemand verbotene Eier nachmachte.
"Was hielt Sie dann davon ab, direkt nach Ginstermoor zu reisen?" Fragte Schleichfuß mit verhaltener Stimme. Anthelia sah ihn frei heraus an und sagte:
"Da gibt es so komische Hexen, die meinen, die Welt erobern zu können. Sie haben sicher davon gehört, daß es eine gibt, die meint, die Erbin einer sehr mächtigen Hexe zu sein und daher Anspruch auf die Führung in der Hexenheit erhebt. Ich hörte sowas, daß Mütterchen Weidenstock der auch Sachen verkauft. Und ich wollte erst zu einem gehen, der nicht mit dieser Dame handel treibt."
"Von der habe ich gehört. Die hat sehr fiese Insektenwesen gemacht und angeblich einen echten Succubus vernichtet. Wußte nicht, daß die alte Weidenstock sich mit der einläßt", grummelte Schleichfuß und dachte mit Schrecken daran, was er über diese Erbin Sardonias gehört hatte. Wenn die vor ihm auftauchen würde, könnte es ihm an den Kragen gehen, wo sein Urahn damals die in Deutschland herumlaufende Anhängerin dieser Sardonia mit Zauberkraft gefesselt, vergewaltigt und getötet hatte. Sollte die Erbin das herauskriegen, könnte sie meinen, sich an ihm rächen zu müssen. Laut sagte er: "Ich finde, Sie haben sich richtig entschieden. Ich gebe Ihnen zehn Liter für zwei Eier, wenn Sie bei Auslieferung zahlen können."
"Zehn Liter? Ich wußte doch, daß Sie den Wert eines Tauschgutes richtig einschätzen können", erwiderte Anthelia. "Wenn Sie wollen dürfen Sie die Eier vorher auf Echtheit überprüfen. Ich möchte Sie jedoch darauf hinweisen, daß ich mich nicht über's Ohr hauen lassen werde. Sollten Sie mich hintergehen oder mir den Gegenwert vorenthalten wollen, kann Ihr Bruder Ihre Knochen über den ganzen Schwarzwald verteilt suchen." Schleichfuß konnte ein verächtliches Grinsen nicht zurückhalten.
"Zum einen, wenn Sie echte Ware liefern kriegen Sie auch echtes Einhornblut, für was Sie das immer benutzen. Zum anderen dürften Sie jede Form von Grobheit, wenn Sie dazu fähig sein sollten, nicht all zu lange überleben. Ich habe neben dem einen Bruder noch sieben Vettern, die Sie finden werden."
"Dazu müßten Sie erst einmal wissen, wen sie suchen müßten. Gehen Sie davon aus, meinen Namen nicht zu erfahren, werter Herr", erwiderte Anthelia ruhig. In Gedanken fügte sie hinzu, daß Schleichfußes Verwandte dann genug mit dem Schutz ihres eigenen Lebens zu tun hätten, wenn sie erführen, wer da ihren Bruder beehrt und von diesem so viel interessantes erfahren hatte. Laut genug sagte sie zu, in einer halben Stunde wieder da zu sein und zwei Kurzschnäuzlereier mitzubringen. Dann verließ sie den Laden. Sie verspürte die Gier dieses Zauberers, noch mehr dieser Dracheneier zu kriegen. Denn so wie Anthelia es ihm hingehalten hatte war er sich sicher, das das eine zumindest echt gewesen war.
So war Anthelia gut beraten, in der Nähe des Ladens zu bleiben und durch Verdunkelung ihrer Lebenskraftaura und der Verwandlung in eine Krähe ihre Anwesenheit zu verhüllen. Schleichfuß hantierte in seinem Vorratskeller, wo er neben Einhorn- auch Drachen-, Riesen-, Zwergen und Menschenblut von unberührten Mädchen und Jungen aufbewahrte. Die in den Käfigen gefangenen Umkreuzungen heimischer Frosch- und Vogelarten, die mit diversen Tränken zu magischen Abarten gemacht worden waren, gaben ihre für anthelia fremden Laute wieder. Schleichfuß benutzte seinen Kamin zum Kontaktfeuern. Anthelia bekam mit, daß er seinen Kopf zu einem Wotan Steinbeißer schickte, der in der Nähe von Magdeburg lebte. Sie nutzte die teilweise Abwesenheit des Ladenbesitzers, um einen Zauber auszuführen, der ihr im Falle eines ihr geltenden Angriffs erlaubte, unsichtbar zu werden. Sie hatte es gerade noch geschafft, diesen Zauber aus Sardonias Erbschaft zu vollenden, als Schleichfuß seinen Kopf wieder zurückzog. Er machte sich offenbar nicht die Mühe, seine Gedanken zu verbergen. Denn Anthelia konnte problemlos hören, wie sie in einen Hinterhalt gelockt und dann mit Veritaserum zur Preisgabe ihres Namens und ihrer Quellen für Dracheneier gebracht werden sollte. Dieser Wotan Steinbeißer war ein unregistrierter Werwolf und hatte mit Fenrir Greyback gekungelt, der bei der Schlacht von Hogwarts niedergeworfen und anschließend mit einem Armbrustbolzen aus Mondsteinsilber erschossen worden war. Anthelia nahm wieder ihre Tiergestalt an und flog kurz durch die Bäume der Umgebung, erlaubte sich sogar die Dreistigkeit, mit einem langen Kraa-Laut auf sich aufmerksam zu machen. Sie hätte gegrinst, wenn ihr Vogelkopf das hergegeben hätte. Durch den Kamin fielen drei fremde Zauberer in den Geheimkeller Schleichfußes. Die würden gleich was erleben, von dem sie, sollte sie so gnädig sein, sie überleben zu lassen, ihr ganzes restliches Leben berichten mochten. Doch ihr war wichtig, das Einhornblut zu erwerben. Sie hätte es gerne unauffällig und diskret gegen Dracheneier eingetauscht. Aber dieser Schleichfuß war zu gierig.
Anthelia verbarg, daß sie wußte, daß drei Leute im Keller lauerten, die sie mit Fangzaubern überwältigen und dann entführen sollten. Sie sprach freundlich mit Schleichfuß, der sehr erfreut war, vier Liter Einhornblut zusammenbekommen zu haben.
"Ich möchte das gute Nass nicht hier heraufschaffen, gnä' Frau. Außerdem habe ich in meinem Keller die nötigen Instrumente, ein Drachenei ohne ihm zu schaden auf seine Echtheit prüfen zu können. Ihnen steht es frei, das Einhornblut auf seine Echtheit zu prüfen."
"Verstehe, Diskretion", sagte Anthelia mit ihrer gegenwärtigen Stimme. Scheinbar arglos folgte sie Schleichfuß durch eine Tür in ein von blakenden Fackeln beleuchtetes Treppenhaus hinunter in den Keller. Dort stand eine große, bauchige Flasche mit versiegeltem Korken und einigen Meßbechern. Daneben standen eine Waage und ein kleiner Tisch mit diversen Instrumenten, die wie Spiegel und Stimmgabeln aussahen. Die drei lauernden Kumpane Schleichfußes hatten sich mit Tarnzaubern verhüllt und lungerten zu alle dem noch am dunklen Ende der Halle, die als Lagerraum gedacht war. Anthelia wurde gebeten, die zwei ausgemachten dracheneier auf den Tisch zu legen. Während Schleichfuß die Beschaffenheit der Eier prüfte, konnte die Kundin das Einhornblut auf seine Echtheit prüfen, wie auch immer sie das machen wollte. Er nahm die Stimmgabel aus Gold und schlug sie am Tischrand an. Dann stellte er sie mit dem großen runden Resonanzkörper auf das Ei. Ein sauberer Dreiklang erscholl, zu dem das Ei in einer himmelblauen Farbe erglühte. Anthelia nahm die bauchige Flasche, in die wohl zehn Liter per Rauminhaltsvergrößerungszauber einzufüllen waren und tippte sie mit dem Zauberstab an: "Fons Sanguinis revelio", dachte sie. Der Blutquellenzauber gehörte zum Standard der magischen Heilzunft. Über der Flasche leuchtete sofort das geisterhaft durchsichtige Bild eines Einhorns auf, während ein anklagender Wieherlaut wie aus weiter Ferne heranschwebte. Schleichfuß ließ fast den Spiegel fallen, mit dem er wie durch ein Fenster in das Innere des Eis auf dem Tisch blicken konnte. Er starrte auf die magische Projektion des Einhorns, das sich nun in fünf, sechs und sieben Ebenbilder aufspaltete, die alle diesen klagenden Wieherlaut von sich gaben. Auch Anthelia beeindruckte es, wie heftig ihr Bluttestzauber mit Einhornblut wechselwirkte. Denn Lautäußerungen und mehrfache Abbilder der Blutquelle waren ihr bisher nie untergekommen. Allerdings mochte das an der Beschaffenheit ihres Zauberstabs liegen, dessen Holz mit Einhornblut imprägniert war. Sie zog den Zauberstab wieder zurück, worauf die anklagend wiehernden Einhornabbilder verschwanden.
"Echter geht es wohl nicht", sagte Anthelia sehr zufrieden. Schleichfuß blickte sie bewundernd an. Dann machte er sich schnell daran, das erste Ei mit dem Spiegel zu prüfen, sah den grünlichen Dottersack und das schaumige Eiweiß darin und prüfte schnell noch das andere Ei. Die Lauernden in der Ecke entwickelten schon eine gewisse Unruhe, erkannte Anthelia. Womöglich würden sie sich auf sie stürzen, wenn Schleichfuß die Echtheit der Eier bestätigt hatte. Wie gut, daß sie ihren Zauberstab noch in der Hand hielt.
"Das kann ich von den Eiern auch sagen, daß sie echter nicht sein können", sagte Schleichfuß. Tatsächlich war das das Stichwort. Anthelia fühlte fast körperlich, wie die getarnten Zauberer auf ihren Schallschluckenden Schuhsohlen aus ihrer Deckung huschten und auf sie zuliefen. "Deshalb möchte ich Sie nun doch fragen, wo Sie diese Eier herbekommen haben", sagte Schleichfuß, wohl um die winzigsten Geräusche seiner Mitverschwörer zu überdecken. Anthelia indes dachte bereits den Zauber für den großen Schild. Im gleichen Moment, wo zwischen ihr und der hinteren Kellerwand ein silberner Schemen erschien, der zu einem über einen Meter großen Schild wurde, schossen rote Zauberblitze auf sie zu. Da erst fiel Schleichfuß auf, daß der Zauberstab der Fremden so silbergrau schimmerte wie das Einhornblut in der Flasche.Anthelia vernahm fast mit den Ohren, wie Schleichfuß erschrak. Einen silbergrauen Zauberstab hatte doch nur ... Mit lautem Dreifachpong zerbarsten die Anthelia zugedachten Zauber am großen Schild. die drei Angreifer rannten nun auf sie zu. Sie konnte in der Luft flimmernde Schemen erkennen. Da griff der von ihr vorbereitete Unsichtbarkeitszauber. Sie sprang zur Seite, Während ein dreifacher Mondlichthammer auf den Schild krachte und diesen zersprengte. Da reagierte Anthelia mit ihrer telekinetischen Begabung, die sie im Bedarfsfall auch durch ihren Zauberstab verstärken konnte. Sie zielte nur kurz und warf jeden der Angreifer mit solcher Wucht zurück, daß jeder krachend gegen die hintere Wand flog. Der heftige Schmerz des Aufpralls brach den Tarnungszauber. Schleichfuß wirbelte herum, nach dem eigenen Zauberstab langend. Da erwischte ihn Anthelias ungesagter Erstarrungszauber. Die drei an die Wand geworfenen kamen keuchend auf die Beine und griffen wieder an. Doch Anthelia konterte die ihr geltenden Flüche, saugte drei weitere Mondlichthämmer mit Novalunux auf und katapultierte die drei Gierhälse noch einmal gegen die Wand, ohne sichtbare Zauber auf sie zu werfen. Wotan Steinbeißer erwies sich als geborener Werwolf. Das merkte Anthelia daran, daß Schmerz und Wut bei ihm sofort zur Metamorphose führten. Wenn er voll verwandelt war, war er ungemein gefährlicher als als Mensch. Sie mußte ihn wohl erledigen. Schleichfuß sah, wie die vermeintlich armselige Kundin sich von einer Sekunde zur anderen unsichtbar gemacht hatte und dann mal eben innerhalb von nur zehn Sekunden mit seinen kampfstarken Kameraden aufräumte. Er bekam mit, wie Wotan zum Wolf wurde. Dann hörte er die Stimme der Unsichtbaren "Avada Kedavra!" rufen. Er sah, wie sein gefürchteter Kumpan Wotan halb Mensch halb Wolf von jenem gleißend grünen Blitz zu Boden gestreckt wurde und hörte noch ein kurzes Jaulen.
"Ihr bleibt jetzt alle da wo ihr seid", sagte die Fremde und wurde wieder sichtbar. "Malleus Lunae!" Rief sie. Mit einem lauten Krachen fegte ein silberner Lichtfächer durch den Keller und betäubte die Spießgesellen Schleichfußes. Nun wandte sich Anthelia an den Mann unter ihrem Erstarrungszauber.
"Ich habe mit einer Schurkerei gerechnet, wie du unschwer erkennen konntest", sagte sie. Dann richtete sie den Zauberstab auf ihre Kehle und murmelte "Naturavox!" Danach sprach sie mit ihrer üblichen Stimme weiter. "Deshalb konnte ich schlecht so vor dich hintreten, wie ich es bei Unterhandlungen mit ehrenhaften Leuten tun kann." Mit einer kurzen Bewegung über ihren Kopf färbte sie das Haar strohblond um. Dann winkte sie den Fackeln zu. Darauf wurden alle Fackeln sonnenhell. Ihre Flammen zischten laut und weit ausgreifend im Raum. Jetzt konnte Schleichfuß die Besucherin erkennen. Ihr Gesicht war noch hellrosa und ihre Kleidung ausgefranst. Aber das Haar, die Gesichtszüge und die Stimme, ja vor allem der Zauberstab wiesen sie als die aus, vor der er sich eigentlich hatte hüten wollen.
"Ich wollte mit dir einen gerechten Handel machen, Guntram Schleichfuß, Nachfahre von Hanno Schleichfuß. Aber du hast es vorgezogen, mehr zu verlangen, als dir zustand. Ich habe dich gewarnt, daß jeder Versuch, mich zu hintergehen eine qualvolle Strafe nach sich zieht. Das hätte dir zu denken geben sollen. Aber du hast dich von deiner Gier verleiten lassen und damit das Leben deiner Freunde und das deine verwirkt. Wotan mußte schon sterben, weil seine Werwut mir ein Gräuel ist. Die beiden anderen werde ich genauso schnell niederstrecken wie ihn, weil ich gnädig bin. Aber mit dir werde ich mir einiges an Zeit nehmen. Du wolltest mich aushorchen, woher ich meine Dracheneier habe? Nun, du wirst mir verraten, mit wem du so alles Handel treibst. Die nette Hildegard Weidenstock und ihre nicht so wunderliche Mutter haben sich nämlich bereiterklärt, mir zu folgen, wenn ich deine Quellen und Vertriebswege ergründe. Ich stellte in Aussicht, daß ich erst sehen möchte, ob du nicht doch ein fairer Geschäftspartner bist. Da du dein Schicksal herausgefordert hast, werden sich Mutter und Tochter Weidenstock sicher sehr freuen, mehr zu erfahren." Anthelia zielte auf die beiden anderen Kumpane, als ihr der gefangene Schleichfuß durch einen Gedanken verriet, daß er noch was in der Hinterhand hatte. Er dachte "Feindesabwehr voll!" Anthelia legte es nicht darauf an, gegen einen stationären Verteidigungsfluch anzukämpfen. Sie disapparierte sofort. Da tobte ein Sturm aus silberblauen Flammen durch den Keller, das Treppenhaus und den Laden hinaus. Die Flammen verbrannten jedoch nichts. Sie wirkten nur auf feindliche Lebewesen, deren Angriffslust und Mordgier zur intensiven Hitze wurde, in der der Feind verbrannte. Anthelia hatte bei ihrer Flucht einen Abstand von zweihundert Metern gewählt. Mit einer gewissen Bewunderung aber auch Verbitterung sah sie, wie die silberblauen Flammen immer weiter ausgriffen und sie fast erreichten. Sie nahm noch einmal fünfzig Meter Abstand und sah, wie das ganze Haus mit dem Laden in diesen Flammen eingehüllt war. Sie kannte diese Art von Feuer nicht. Sie merkte nur, daß das Haus nicht darunter litt. Sie wendete den Apportierzauber an, wobei sie sich auf die bauchige Flasche mit dem Blut konzentrierte. Sie erschien. Also war ihr eigentliches Ziel doch noch erreicht. Sie prüfte, ob die Flasche außer mit dem verfluchenden Einhornblut noch andere Flüche barg. Da die vier Gierhälse wohl davon ausgegangen waren, sie zu überwältigen, hatten sie die Flasche mit keiner weiteren Zauberfalle versehen.
"Imposantes Feuerchen", dachte Anthelia. Sie fragte sich, wie neu dieser Zauber sein mußte, wenn sie ihn nicht erkannte. Sie ging näher an die immer noch lautlos und hitzelos brennenden Flammen heran. Da fühlte sie, wie es auf ihrer Haut brannte wie sehr intensive Sonnenstrahlung. Sie schritt einen Schritt weiter und sprang dann zurück, weil ein plötzliches Sengen auf ihrer Haut ihr dazu riet, nicht noch näher heranzugehen. Also wirkten diese Flammen auf ihre Anwesenheit, auf sie als Feindin. Sie konzentrierte sich auf Schleichfuß, der triumphierend im Feuersturm stand und daran dachte, wie die Feindin entweder zu Asche zerfiel oder nicht mehr ins Haus hineinkommen konnte, ohne in einer Sekunde zu verglühen. Das Feindesfeuer war von seinem Entdecker nicht klar als Fluch oder Schutzzauber eingestuft worden. Es konnte nur dort wirken, wo mindestens ein Liter Drachenblut mit einem halben Liter Alraunensaft und geriebenem Sonnenquarz verrührt und als Wand- oder Außenfarbe verwendet wurde. Das war die siebte Verwendung von Drachenblut, die Albus Dumbledore enthüllt hatte. Das Feuer brannte eine Stunde nach seinem Auslösen, fiel dann zusammen, um sofort wieder aufzulodern, wenn ein Feind in den Wirkungsbereich des Zaubers eindrang. Mit Elementa Recalmata war diese Art Feuer nicht zu löschen und mit den üblichen brandlöschzaubern auch nicht, weil diese auf materialverbrauchende Feuer wirkten.
"Da hat der selige Zaubermeister doch was sehr hübsches erfunden, das fast wie der Flammendom meiner ehrwürdigen Tante wirkt", dachte Anthelia. "Wollen wir doch mal sehen, ob Dumbledores Feindesfeuer oder Sardonias Flammendom einander ergänzen oder aufheben." Sie apportierte ihren Flugbesen, den sie in weiser Voraussicht einen halben Kilometer vom Laden entfernt versteckt hatte. Auf diesem flog sie so hoch, daß die silberblauen Flammen sie nicht erreichten und nahm Kurs auf das Haus. Dabei sah sie, wie das unter ihr wütende Zauberfeuer zu einem Kegel wurde, der immer höher wuchs, um sie doch noch einzuholen. Sie stieg in weiten Spiralen noch etwas nach oben. Als sie sicher sein konnte, daß die Flammen sie nicht mehr einholen würden, beschwor sie um sich die Feuersphäre Sardonias, was ihr zwar einiges an Kraft kostete, aber doch gelang. Dann sank sie behutsam weiter nach unten, bereit, sofort wieder aufzusteigen, wenn sie eine zunehmende Hitze an den Füßen spürte. Ihre Feuersphäre wirkte nur nach außen glühendheiß. sie hörte es unter sich zischen und prasseln, als die beiden Zauberfeuer einander berührten. Sie sah grüne und purpurne Flammen durch ihre Sphäre züngeln und fühlte unmittelbar, wie von unten starke Hitze nach ihr griff. Sardonias Feursphäre konnte das andere Feuer nicht von ihr abhalten. Sofort stieg sie wieder nach oben. So kam sie an Schleichfuß nicht mehr heran. Sie hob die Feuersphäre um sich herum auf und betrachtete den ihr entgegengereckten Flammenkegel. Sie horchte auf Schleichfußes Gedanken. Dieser hoffte, daß er Erstarrungszauber bald von ihm abfallen würde. Spätestens dann, wenn das Zauberfeuer erlosch, wollte er wieder frei sein. Anthelia erfaßte auch, daß Guntram Schleichfußes Freunde wieder erwachten. Wahrscheinlich würden sie ihren Erstarrungszauber von ihm nehmen. Dann würde er flüchten und allen erzählen, daß er die Erbin Sardonias entweder in die Flucht geschlagen oder vernichtet hatte. Diese Schmach wollte sie sich nicht bieten lassen. Deshalb dachte sie noch einmal daran, wie dieses Feuer gezündet wurde. Es brannte, solange eine Farbe aus Drachenblut, Sonnenquarz und anderen Zutaten auf den Wänden war. Also mußten die Wände einstürzen. Sie lächelte. Es hieß zwar, daß Wasser Feuer löschte. Aber es konnte auch mal die Erde sein, die ein Feuer erstickte. Sie landete weit genug fort von dem silberblauen Feuer. Dann konzentrierte sie sich und wendete den Erdbebenzauber an, den sie aus den Erinnerungen ihrer Tante geschöpft und seit ihrer unverhofften Wiedergeburt an für Erdbeben bekannten Orten der Welt fleißig geübt hatte. Das würde sie zwar Kraft kosten, aber doch wirken. Sie beschwor die inneren Kräfte der Erde herauf, während die im Keller erwachten Zauberer mitten im ihnen nicht schadendem Feuer standen. Nach zwei Durchgängen der Zauberformeln fühlte sie, wie der Boden reagierte. Sie fand einen Rhythmus, in dem die Schwingungen ihrer Magie mit denen der Erde zusammenfielen und sich gegenseitig verstärkten. Dann stieg sie auf ihrem Besen einige Meter auf, um das von ihr erzeugte Beben nicht selbst zu verspüren. Sie sang weiter ihre Beschwörungsformel und verstärkte damit die Gewalt der Erdstöße. Sie konzentrierte sich so sehr auf ihren Zauber, daß sie die Panik nicht bemerkte, die in den Freunden Schleichfußes anstieg, weil sie meinten, in einem künstlich erzeugten Vulkanausbruch zu stehen. Denn ihren Freund konnten sie im tosenden Feuersturm nicht erkennen. Dann erreichten die Erdstöße jene Schwingungszahl, bei der das Fundament des Hauses nachschwang. Das Fachwerk begann sich zu verziehen. Das Dach bog sich unter den Erdstößen. Dann riß eine der Wände auf. Das Haus verzog sich und bekam weitere Risse im Balkenwerk. Dann krachte es, und die ganze Konstruktion fiel in sich zusammen. Mit einem lauten Prasseln fielen die magischen Flammen in sich zusammen. Aus dem Dach stoben gleißende, silberne und blaue Blitze in den Himmel. Dann lag das Haus in Trümmern da. Anthelia ließ das von ihr erzeugte Beben abklingen und fühlte, wie sehr sie das ausgezehrt hatte. Dann griff sie in ihre Handtasche und holte eine kleine Phiole mit Wachhaltetrank heraus, der ihr neue Kräfte gab. Sie konnte sich nun auch wieder auf den Keller konzentrieren, wo einige Regale umgekippt waren. Die im Haus gehaltenen Tiere mochten unter dem Einsturz ihr Leben gelassen haben. Das kümmerte Anthelia nicht. Ihr Ziel war die Vergeltung. Unvermittelt apparierte sie in der Halle, in der gerade ein Staubregen niederging. Die beiden erwachten Kumpane Schleichfußes erkannten die Feindin und griffen mit ihren Zauberstäben an. Doch Anthelia parierte die beiden Flüche mit einem Schildzauber. Dann warf sie die beiden an die Wand und heftete sie dort mit Murattractus an.
"War eine sehr einprägsame Lektion, Freundchen. Aber Wer immer dieses Feindesfeuer machen will sollte ein Steinhaus dafür benutzen. Das fällt nicht bei der kleinsten Erderschütterung um."
Guntram Schleichfuß versuchte, noch einmal eine Feindesabwehr aufzurufen. Doch Anthelia vereitelte ihm das mit einem Schockzauber.
Eine Minute später trafen Ministeriumszauberer ein, die die Ursache des ungewöhnlichen Erdbebens nachprüfen wollten. Sie fanden nur ein zusammengebrochenes Haus, einen verwüsteten Keller und drei tote Zauberer vor. Eine Stunde später wurden sie alarmiert, weil in einem Waldstück bei Freiburg ein abgetrennter Männerarm gefunden wurde, der sich noch bewegte. Eine weitere Stunde später hatten zauberer in ganz Deutschland den zweiten Arm und beide Beine gefunden. Zaubereiminister Güldenberg rief zur Suche nach der Person auf, die offenbar einen alten Körperzergliederungszauber benutzte. Wo der Rumpf und der Kopf abgeblieben waren, wußte nur eine, und die behielt es wohl weißlich für sich."Ich ging davon aus, du hättest das Duell gegen Daianira verloren, höchste Schwester", sagte Marga Eisenhut. "Sie behaupete, du müßtest als ihr Kind wiedergeboren werden", fügte sie verunsichert hinzu. Ihre unangekündigte Besucherin grinste breit und ließ einen der Stühle telekinetisch zu sich hinfliegen.
"Deshalb hast du wohl auch gemeint, dich mit ihr einlassen und dir damit eine scheinbar nützliche Unterstützerin im Kampf um die Vorherrschaft bei euch in Deutschland sichern zu können, wie?" Fragte Anthelia sehr bedrohlich klingend. "Ich konnte mithören, wie du dich mit Daianira unterhalten hast. Achso, du hast mir damit sehr geholfen, mich aus ihr herauszustrampeln, ohne ihre schleimige Scham durchkriechen zu müssen, Schwester Marga. Vielen Dank dafür."
"Wie ist dir das überhaupt passiert, in ... sie ... reinzukommen?"
"Ein dummer Zufall, daß sie meinte, mir einen schwarzen Spiegel entgegenhalten zu müssen, als ich gerade Infanticorpore auf sie sprechen wollte", schnaubte Anthelia. "War schon ungemütlich, in dieser überheblichen Person zu stecken und damit rechnen zu müssen, als ihr Wickelkind neu anzufangen. Aber jetzt bin ich froh und munter und im Vollbesitz meiner körperlichen und magischen Fähigkeiten. Ich bin unterwegs, um die, die mir Treue gelobt haben, wissen zu lassen, daß ihr Eid noch gültig ist. Also erzähle mir, was bei euch geschehen ist. Alles konnte oder wollte meine zeitweilige Ernährerin mir ja nicht preisgeben."
"Dann ist Daianira jetzt das ungeborene Kind Leda Greensporns?" Fragte Marga Eisenhut. Anthelia war es leid, die eigentlich so wichtige Verbündete herumstammeln zu lassen. Das schlechte Gewissen stand Marga ins Gesicht geschrieben. Natürlich hatten sie alle damit gerechnet, daß Daianira das Duell unumkehrbar gewonnen hatte. Erst im März hatte sie von ihr persönlich erfahren, wie das überhaupt passiert war. Und jetzt stand Anthelia persönlich wieder vor ihr. Sie wußte, daß das ihren Tod bedeuten konnte.
"Ich stehe gerade vor dir, Schwester Marga", knurrte die Wiederkehrerin und setzte sich. "Besser, ich sitze dir gerade gegenüber. Also berichtet mir, wie es einer treuen Mitschwester ansteht, was in der zeit meines pränatalen Exils hier geschehen ist, während in Großbritannien der reinblütige Pöbel des Waisenknabens gewütet hat und in Frankreich ein überängstlicher Machtgieriger seine magischen Mitmenschen tyrannisiert hat!"
"Güldenberg konnte die Dementoren zurückschlagen und erfuhr auch bald, daß die Entomanthropen, die Daianira wohl übernommen hat, die Schlangenmenschen töten konnten. Er rüstete mehrere Abteilungen mit Asgardschwänen aus und sorgte so dafür, daß die Echsenwesen früh genug ergriffen wurden, bevor sie arglose Leute anfielen."
"Verstehe", Schwester Marga", sagte Anthelia ruhig. "Sie haben meine Entdeckung ausgenutzt. Ist diesem Herrn Güldenberg klar, von wem er diese rettende Idee hat?"
"Natürlich ist ihm das klar. Aber ich fürchte, er wird sich nicht bei dir bedanken. Wir wissen auch, daß du eine unbeherrschbare Brutkönigin erschaffen hast, die Amerika heimsucht. Keiner wird dir glauben, daß du die nicht so einfach auf andere loslassen wolltest", sprudelte es aus Marga hervor. Wenn das ihre letzten Worte gewesen sein mochten, dann sollte es eben so sein.
"Deshalb ärgert es mich besonders, daß ich wertvolle Wochen im Leib dieser amerikanischen Furie eingesperrt war. Denn ich habe nun heraus, wie ich diese Plage von uns allen fortnehmen kann. Das mit dem Zaubererdorf in den Staaten hätte nicht passieren müssen, wenn ich nicht zu selbstsicher und dieses Biest Daianira nicht so hinterhältig gewesen wäre. Wie erwähnt wollte ich dir und anderen Schwestern nur meine Aufwartung machen, damit ihr wißt, wem ihr eigentlich verbunden seid. Ich bin, nachdem Daianira den Preis für ihre Überheblichkeit bezahlt hat, bereit, das Bündnis der Schwestern zu erneuern, sowohl das mit euch, als auch mit den Sprecherinnen der sogenannten Entschlossenen."
"Sie werden dich hassen und jagen, höchste Schwester", sagte Marga Eisenhut. "Ich war bei vielen Beratungen dabei. Sie lehnen es ab, dir nachzufolgen, weil du Sardonias alte Ungeheuer wiedererschaffen hast. Und sie werden mich jagen, wenn sie wissen, daß ich mit dir gesprochen habe."
"So, was hätten die werten Damen denn statt einer schlagkräftigen Armee fliegender Zauberkreaturen aufgeboten, um die Schlangenbestien des Waisenknaben zu bekämpfen?" Fragte Anthelia von oben herab.
"Sie hätten wohl versucht, andere Mittel zu bauen, wie dieser Dusoleil in Millemerveilles das getan hat. Ich weiß nicht, ob du davon gehört hast, daß er einen Muggel-Flugapparat nachgebaut und vervielfältigt hat, um die Schlangenwesen zu jagen."
"Meine Trägerin gewährte mir Zugang zu ihren Augen und Ohren, um mich daran Teilhaben zu lassen, was über Millemerveilles geschah", erwiderte Anthelia kühl. "Das war kurz vor dem Angriff der grauen Riesenvögel. Was weiß dein Zaubereiministerium über diese?"
"Das sie wohl wie die Schlangenkrieger in grauer Vorzeit entstanden sein mögen und als Stoff der Sagen der australischen wie indischen Urbevölkerung gedient haben mögen", entgegnete Marga Eisenhut. Anthelia nickte. Dann sagte die Wiedergekehrte:
"Morgen abend werde ich zu dir und den anderen Schwestern sprechen. Wir treffen uns in der Höhle der weisen Irmengard. Fehlt eine, oder wagt es eine, meine Anwesenheit zu verraten, fällt sie dem Fluch der Treue anheim, mit dem ich meinen Bund mit euch geschmiedet habe. Sage es den andren! Ich werde derweil die mir einst ergebenen Schwestern in anderen Ländern besuchen. Morgen abend um zehn Uhr, Schwester Marga."
"Ich werde da sein, höchste Schwester", sagte Marga Eisenhut. anthelia nickte und stand wieder auf. Sie ging zur Tür und öffnete sie. Marga Eisenhut überlegte einen Moment. Sie griff nach ihrem Zauberstab, um Anthelia von hinten .. Diese wirbelte herum, ihren silbergrauen Stab in der Hand. "Expelliarmus!" Scholl das Zauberwort. Margas Stab flog von einem scharlachroten Blitz getroffen aus der Hand der Hintergeherin.
"Sei froh, daß ich dich noch brauche, Schwester Marga!" Schnarrte Anthelia, die ihren Zauberstab auf Marga Eisenhut gerichtet hielt. "Sei froh, daß ich nicht wie der Emporkömmling Riddle bin, der jeden Angriff auf sich gleich mit dem Tode bestraft hat! Aber ich werte deinen hinterhältigen Versuch, mich zu meucheln als Eingeständnis, daß du mich genauso haßt wie alle andren, die meinen, ich hätte die Entomanthropen nicht nachzüchten dürfen. Wagst du es noch einmal, mich offen oder aus der Ferne anzugreifen, wirst du nicht die Gnade des schnellen Todes durch den Treuefluch erleben, sondern den babylonischen Körperzergliederungszauber spüren. Frage Ursina und andere deiner früheren Bundesschwestern, was das bedeutet! Ich empfehle mich." Die Tür sprang wie von unsichtbarer Hand bewegt auf. Anthelia durchschritt sie mit auf Marga deutendem Zauberstab. Dann fiel die Tür wieder zu, und Marga konnte nur ein leises Plopp hören, als Anthelia vor dem Haus der deutschen Hexe disapparierte.
Anders als Marga empfing Louisette Anthelia mit ehrlicher Erleichterung und Freude und berichtete der ursprünglich in Frankreich geborenen Hexenlady, was sich in den letzten Monaten zugetragen hatte. Einiges hatte Anthelia ja mitbekommen können, wenn Daianira mit ihr bei Louisette gewesen war. Diese hatte Daianira nie erzählt, daß sie auch Anthelias Gefolgshexe gewesen war. Das mochte daran liegen, daß sie, die Muggelstämmige, reinblütigen Hexen der Neuzeit mißtraute und nur deshalb eine entschlossene Schwester geworden war, weil die verstorbene Anführerin Argonie Villefort sie nicht davon überzeugt hätte, im Kreise mächtiger Mitschwestern die Unanehmlichkeiten der Muggel- und der Zaubererwelt ausräumen zu können. Das war dann auch der Grund, warum sie für Anthelias Abwerbung empfänglich gewesen war. Anthelia verhieß das Ende der Umwelt verpestenden Technologie und die Abkehr von der Unterwürfigkeit gegenüber den Zauberern.
"Ich erfuhr es, wie du entkommen konntest. Die zögerlichen hatten es davon, daß Tourrecandide Daianira aus Versehen in sich aufnahm und dich dafür wieder freisetzte. Aber es gibt unter den reinblütigen Hexen welche, die dich wegen der Entomanthropen verachten. Es wird schwer sein, sie davon zu überzeugen, daß du nur geholfen hast, die Schlangenbestien zu bekämpfen."
"So, woher wissen die Zögerlichen vom Ablauf der kurzen magischen Auseinandersetzung, an deren Ende ich freikommen konnte?" Fragte Anthelia.
"Eine von ihnen hat es erfahren." Sie erwähnte den Namen der Quelle. Anthelia verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Doch ihr war klar, daß diese Hexe niemals zu ihren Mitschwestern gehören würde, wo sie in direkter Ahnenlinie von denen abstammte, die unter Sardonias strenger Führung ungehorsam wurden und von der großen Königin gezüchtigt werden mußten. "Dann hätte sie Daianira selbst zu sich nehmen können", sagte Anthelia. "Aber Leda hat sie dann doch aufgenommen. Sie ist auch wesentlich umgänglicher, wenngleich ich ihre Entschlossenheit und ihren eigenen Willen nicht unterschätzen sollte."
"Seitdem der Emporkömmling über seine eigene Habsucht gestolpert ist suchen sie jetzt nach dir. Denn die meisten wußten ja nicht, daß Daianira dich fast wiedergeboren hätte."
"Ich weiß. Ich habe meinen Steckbrief in den amerikanischen Zaubererstraßen gesehen. Diese Kindsköpfe gehen davon aus, ich würde ohne mein äußeres zu verändern mitten unter ihnen lustwandeln. Aber wenn ich das Übel erledigt habe, dessen Urheberin ich leider wurde, so werden diese Bewahrer einer falschen Ordnung erkennen, wie närrisch es gewesen wäre, mich zu fangen oder zu töten. Doch wo du mir so frei verraten hast, woher du weißt, wie ich ohne Umweg über Geburt und Kindheit in die Welt zurückkehren konnte verrate mir bitte auch, ob du weißt, woher Tourrecandide jene Zauber kennt, mit denen sie Daianira überwand und mich befreite. Ich vermute einen Fluchumkehrzauber, der seine Wurzeln im untergegangenen Reich haben mag. Weißt du was darüber?"
"Die zögerlichen behalten das für sich. Aber es wird gemunkelt, daß Delamontagne, als er Gegenminister wurde, mit einem auserwähltem Kreis von Getreuen diesen Zauber erlernt haben soll, um damit Didiers Friedenslager zu stürmen. Tourrecandide gehörte wohl zu diesem Kreis der Auserwählten wie jene Zögerliche, die Tourrecandide betreute, bis Leda ihr Daianira abnehmen konnte."
"Womöglich weiß die das. Ich kann sie leider nicht fragen, wenn sie in Millemerveilles ist. Aber diesen Delamontagne könnte ich aufsuchen."
"Er ist auch so schon sehr mächtig, höchste Schwester. Und wenn er diese Zauber kennt ist er dir überlegen."
"Früher hätte ich dich für diese Unverschämtheit gezüchtigt, Schwester Louisette", schnarrte Anthelia. "Doch zwei Umstände lassen mich deinen Vorwitz verzeihen. Der eine ist, daß ich selbst gelernt habe, daß ich mich nicht zu sehr auf meine Macht verlassen darf, wenn ich die der anderen nicht einschätzen kann. Der andere Grund ist der, daß ich es quasi am eigenen Leibe erfahren habe, wie schnell und mächtig diese Zauber wirken können." Insgeheim dachte Anthelia daran, daß nicht viel gefehlt hätte, und der Fluchverkehrer hätte das Seelenmedaillon berührt. Da dieses ein Behälter voller Flüche war, wollte sie es besser nicht darauf anlegen, es durch diesen Zauber wertlos oder gar für sie gefährlich werden zu lassen. Auch die Konfrontation mit dem Sonnenmedaillon hatte ihr überdeutlich gezeigt, daß es durchaus Mittel gab, ihre Macht zu kontern oder gar zu brechen. Hätten sie jemanden ohne Kenntnis dieser ihr unbekannten Zauber auf die Insel geschickt, wäre Anthelia entweder in den nächsten Tagen Daianiras Tochter geworden oder hätte sich im Augenblick von Daianiras Tod in das Medaillon Dairons flüchten müssen, nicht wissend, ob es je von der Insel heruntergebracht worden wäre. Insofern schuldete sie dem, der Tourrecandide die alten Zauber beigebracht oder anderweitig zugänglich gemacht hatte sehr großen Dank.
"Tu mirr, wenn ich schon nicht erfahren kann, woher dieser Zauber genau bekannt wurde, einen Gefallen und bring in Umlauf, daß ich in der Schuld dessen stehe, der ihn Tourrecandide, Delamontagne und der fürsorglichen Zögerlichen beigebracht hat. Wer es auch sei, welche scheinbar so gutmenschlichen Beweggründe er oder sie auch immer hat, sollte meine Dankbarkeit nicht leichtfertig zurückweisen. Es könnte sein, daß er oder sie eines Tages darauf angewiesen ist. Gib dies bitte behutsam aber unmißverständlich weiter!"
"Das werde ich tun, höchste Schwester. Aber was machst du, wenn der oder die dir nach dem Leben trachten will?"
"Wer diese Art von Zauber einem tödlichen Fluch vorzieht will nicht töten oder kann es nicht. Ich meide auch den tödlichen Streich, wenn es Alternativen gibt. Das war ja mein Unglück, daß ich Daianira nicht sofort töten wollte", schnaubte Anthelia. Dann bedankte sie sich bei Louisette für die Informationen und verließ das Haus in Paris, ohne gesehen oder aufgehalten zu werden.
Sie empfand es zwar noch immer als unangenehm, ein gurkenförmiges Ei nach dem anderen auszutreiben. Aber die innere Befriedigung, ein eigenes Volk zur unbesiegbaren Größe aufzuziehen ließ sie die Stunden und Schmerzen vergessen, die die reine Legearbeit mit sich brachte. Im Moment gab sich Valery I. ganz den reinen Aufgaben einer Insektenkönigin hin: Das Volk vergrößern. Sie war die einzige, die fruchtbar war und noch genug Eier in ihrem Hinterleib hatte, die zu vollwertigen Söhnen und Töchtern heranreifen würden. Sie hatte es nun auf sechshundert Eier pro Tag gebracht, weil ihre Futtersammler nicht mehr in die Städte der technisch zivilisierten Leute reisten, sondern abgelegene Indiodörfer entvölkerten, die bis dahin kein Weißer betreten hatte und deren Völker dann auch keiner vermissen mochte. Bald würden die kleinen, versteckten Urwaldstämme in ihrem großen Volk aufgehen, Seite an Seite mit den von ihr einverleibten und wiedergeborenen Hexen und Zauberern kämpfen, um ihrem Reich die gebührende Ausdehnung zu geben. In ihren Machtphantasien plante sie bereits die Einteilung der Menschheit. Die einen würden für sie arbeiten. Die anderen würden ihr zur Unterhaltung dienen. Die dritten würden dazu angehalten, aus ihren Reihen Opfer für sie zu wählen, wie es die uralten Götter der Azteken und Mayas getan haben mochten. Das würde einen Heidenspaß machen, denen zuzusehen, wie sie unter sich regeln mußten, wer als eines ihrer Kinder wiederkommen durfte oder wen sie erst umbrachte, um ihn oder sie als Grundlage für weitere Eier zu verspachteln. Außerdem fragte sie sich, ob von den Männchen ihres Volkes nicht einige noch fruchtbar waren, um ihr, wenn ihr Vorrat an befruchteten Eiern erschöpft war, neue zwei Millionen Babys zu machen.
"Mutter und Königin, einer unserer Boten hat erfahren, daß die das Zaubereiministerium zumachen müssen, weil du ja überall reinkämst", sagte einer der Söhne, der vor der Begegnung mit Valery noch ein Mitarbeiter des Zaubereiministeriums gewesen war. Valery hatte zehntausend ihrer Kinder wie eine Relaiskette in den Wäldern und an der Küste versteckt, die weitestgehend selbständig jagen sollten, aber sehr rasch Neuigkeiten aus den verschiedenen Staaten übermitteln konnten. Valery warf die letzten fünf Eier des heutigen Geleges ihren Ammentöchtern zu und erhob sich schwerfällig von ihrem gepolsterten Platz.
"Welches Ministerium genau?" Fragte sie.
"Die vereinigten Staaten, Mutter und Königin", sagte der Bote. "Es hat zwar zwei Tage gedauert, bis die Meldung zu uns durchkam, aber jetzt haben wir sie. Offenbar will Wishbone mit allen seinen Leuten in den blauen Turm. Das ist ein Berg in Alaska. Dort hofft er wohl, daß du ihn nicht angreifen kannst."
"Alaska? Vielleicht hätte ich diesen Wicht schon vor drei Monaten einwerfen sollen", brummte Valery. "Aber die haben fiese Fallen in ihrem Ministerium, die eiskalten Nebel machen können und sowas. Aber ich kriege den irgendwann."
"Dann wäre das wohl doch günstig, wenn du ihn dir holst, wo er mit den anderen übermorgen umziehen möchte. Das alte Gebäude bleibt erhalten und nach außen hin immer noch Sitz des Ministeriums."
"Das wird ganz sicher eine Falle sein, Königin und Mutter", wandte die Insektenfrau ein, die früher Lolita Alejandra Henares geheißen hatte und eine schlaue wie skrupellose Bandenchefin gewesen war. Valery bestätigte, daß sie auch an eine Falle glaubte. Zumindest ging sie davon aus, daß der Minister selbst nicht an diesem Ort sein würde.
"Die wissen, daß einige von euch dieses Zaubereiministerium kennen und mir deshalb sagen können, wo die sich hinverkrümeln können. Die denken wohl auch, ich bekäme das auf die eine oder andere Weise raus. Also legen die es darauf an, daß ich mir zumindest ansehe, wo die hin wollen. Dann könnte ich die eigentlich einen Dummen angehen lassen und so tun, als hätte ich das nicht mitbekommen, was ihr mir erzählt habt."
"Vielleicht wollen Sie ja unterhandeln", erwiderte Lolita verächtlich.
"Nein, das wollen die wohl nicht", erwiderte Valery. "Womöglich wollen die sehen, wie gut meine Quellen sind. Insofern könnte ich auch mal wieder eines von den Zaubererdörfern besuchen und sehen, was mir dabei so zufällt."
"Ich denke, das ist genau das, was dieser Wishbone will", sagte die frühere Straßenbanditin dazu. "Die haben das mit uns auch mal versucht, uns weißzumachen, in einem Laden gäb's viel Geld zu holen. Ich habe den vorher von jemandem checken lassen und dabei rausgekriegt, daß der Besitzer mit den Cops zusammenhing."
Ein weiterer Bote schwirrte herein. "Sie haben die, die uns alle gemacht hat", sagte er. "Ich bekam das von dem aus dem Norden, der es über alle Zwischenwachen von der in Florida hat. In den Everglades hat man die erwischt, als die wohl gerade einen Zauber mit Alligatoren machen wollte. Die soll in einer Stunde im grauen Haus vorgeführt werden, wo der Minister sie selbst verhören will."
"Das graue Haus?" Fragte Valery.
"Eigentlich ein Felsen in den Rocky Mountains, Königin und Mutter. Dort wurden vor zehn Jahren geheime Räume eingerichtet, wo besonders gefährliche Zaubergegenstände versteckt werden sollen und an Zaubern geforscht werden soll, die so mächtig sind, daß damit alles im Umkreis zerstört werden kann. Das mit dem grauen Haus weiß nicht jeder", sagte der Entomanthrop, der früher Peter Grinder geheißen und sich Valery in der Annahme ausgeliefert hatte, er könne damit seine Familie retten.
"Das könnte also stimmen?" Fragte Valery.
"Die kriegen aus der raus, wie sie dich und damit uns so hinbekommen hat. Womöglich können die dann was machen, um uns doch noch zu kontrollieren. Wishbone könnte mit uns eine sehr wirksame Streitmacht aufbauen."
"Soso, könnte er das?" Entgegnete Valery Saunders. "Du zeigst mir, wo dieses graue Haus ist", wandte sie sich an Grinder, der jetzt wie viele hier eine ständig wechselnde Mitgliedsnummer besaß.
"In den nördlichen Rocky Mountains", sagte der, der früher mal Peter Grinder gewesen war.
"Ist die da jetzt schon oder kommt die da noch hin?" Fragte Valery. Die Aussicht, diese Hexe zu erwischen, die sie zu dem gemacht hatte, was sie war und das womöglich wieder umkehren könnte, ließ sie bei dieser Meldung nicht an eine Falle denken."Wenn Sie sie überwältigt haben wird sie jetzt da sein", sagte der Entomanthrop, der früher Grinder gewesen war. So beschloß Valery, noch einmal einhundert Eier abzulegen und das graue Haus aufzusuchen.
Es war dunkel in dem Zimmer. Der Kalender an der Wand verhieß, daß sie heute den fünfundzwanzigsten Juni schrieben. Hera Matine hatte die Nachricht vor einer halben Stunde erhalten, daß sie ihre Großtante Zoé Beaumot aufsuchen möge. Die mittlerweile 153 Jahre alte Hexe, die in den ersten Jahren des ausklingenden Jahrhunderts mehr als dreißig Jahre den Titel Reine des Sorcières geführt hatte, war in den letzten zehn Jahren körperlich sehr schwach geworden. Ihre Zauberkräfte hatten jedoch nicht darunter gelitten. Auch verfügte sie über einen klaren Verstand. Doch als Hera Matine nun in den abgedunkelten Raum eintrat, erschrak sie. Ein Jahr war es her, daß sie ihre Großtante das letzte Mal gesehen hatte. Wie hatte diese sich in dieser kurzen Zeit verändert! Auf dem mit vielen Kissen und Decken ausgepolstertem Bett lag eine dünne, beinahe skelettartige Frau mit schneeweißem Haar und zerfurchtem Gesicht, das an eine ausgetrocknete Melone denken machte. Auf der runzeligen Stupsnase der Hexe ritt eine silberne Brille mit dicken Gläsern, die an die Augen eines Ochsenfrosches denken ließen. Als Hera Matine den Schreck der ersten Ansicht überwunden hatte, winkte die auf dem Bett liegende ihr mit ihren zweigdünnen Fingern zu.
"Du brauchst dich nicht zu bemühen, mich zu untersuchen, Hera", grüßte die auf dem Bett liegende mit einer Stimme, die so dünn war wie sie selbst. "Ich habe es euch allen nicht erzählt, und schon gar nicht dir, Hera. Aber seit fünf Monaten leide ich an der Hellenwein-Physiatropie. Ich habe einen Heiler konsultiert, um zu fragen, ob da was gegen getan werden kann. Er sagte, ich könne das nicht mehr aufhalten, weil es schon im entscheidenden Stadium sei. Du kennst diese Alterskrankheit?"
"Sie tritt bei zwei von zehntausend Hexen und drei von zehntausend Zauberern zwischen einhundertvierzig und einhundertachtzig Lebensjahren auf, deren Stammbaum um mindestens zehn Generationen zurück ausschließlich reinblütige Hexen und Zauberer enthält und bewirkt eine Abnahme der Körpersubstanz, weil diese durch ein Ungleichgewicht zwischen eigener Magie und Stoffwechsel in Magie verwandelt wird", antwortete Hera Matine wie ein Automat, bevor ihr mit der ganzen Wucht ihres Wissens bewußt wurde, was ihre Großtante damit sagen wollte. Hellenweins Körperschwund war nur dann heilbar, wenn der Patient ein Jahr lang keine Zaubereien ausführte, bis er oder sie eine Balance im Stoffwechsel erreicht hatte, die den Einsatz eigener Magie wieder gestattete. Wurden die Anzeichen wie Gewichtsabnahme und Größenschrumpfung ohne Krümmung der Wirbelsäule und der Beine nicht früh genug gedeutet, überschritt der Verlauf einen Punkt, wo das ruhende Zauberkraftpotential alleine den Körperschwund vorantrieb. Fatalerweise zehrte die Krankheit je mehr Körpermasse auf, je mächtiger ausgeführte Zauber waren.
"Wieso hast du mich nicht längst kontaktiert, ehrwürdige Tante?" Fragte Hera Matine tadelnd.
"Um mir von dir sagen zu lassen, ich müßte ein Jahr lang magieabstinent leben, bei der Lage, die wir in den letzten Jahren hatten? Ich mußte da sein, durfte nicht einfach so in die Delourdesklinik, wo der Emporkömmling wieder erstarkte und es so aussah, als wenn Sardonia selbst wiedergekehrt sei. Mittlerweile wissen wir ja, daß es ihre Nichte ist. Das macht die Sache jedochnicht angenehmer", sprach Zoé Beaumot mit leiser Stimme. Wie konnte ich da die von Urielle übernommene Verantwortung abgeben? Es hätte ja immerhin sein können, daß mir oblag, den Emporkömmling oder die Wiederkehrerin zu stellen und im Duell zu siegen oder beim Versuch zu sterben. So habe ich lieber in Kauf genommen, daß mich der Körperschwund unrettbar vergehen läßt, solange mein Geist und meine Magie noch stark genug waren."
"Du hättest andere einweihen und deine hohe Verantwortung einer würdigen Nachfolgerin übertragen können. Und jetzt ist es wohl schon zu spät dafür", erwiderte Hera Matine. Die bereits mit viel Elend, Tod aber auch Freude und Leben konfrontierte Heilerin erkannte, daß das mächtige Potential ihrer Tante ihren Körper wohl in wenigen Wochen klein und knöchern machen würde. Am Ende würden die Verdauungsorgane und die Lungen zu schwach sein. Dann würde mit einem schlag alle Körpersubstanz in einer physisch nicht erfaßbaren Zauberkraftentladung verbraucht. Ihre Tante würde sich auflösen, bevor sie den letzten Atemzug tun konnte. Auch wenn diese Krankheit nur wenige befiel und auch nicht viele das entsprechende Alter erreichten, war sie die gefürchtetste, körperlich-magische Alterserkrankung, fast so schlimm wie geistiger Verfall oder der Verlust der magischen Balance, der dann nur noch zu einer Unterbringung in einer besonders gesicherten Abteilung der Delourdesklinik zwang. Bisher hatte Hera keinen Patienten getroffen, der mit dieser Krankheit zu ringen hatte. Und die meisten, von denen sie gehört hatte konnten noch rechtzeitig therapiert werden, um mindestens noch zehn gute Lebensjahre herauszuholen. Ihre Großtante hatte einer Verpflichtung wegen, von der längst nicht jeder wußte, ihre Gesundheit geopfert und wartete nun auf das unausweichliche Ende. Hera würde dann nur dabeistehen und zusehen können wie ein sogenannter Heilkundiger der Muggel, der Krebs im Endstadium diagnostiziert und jede Heilungschance verpaßt hatte.
"Wer ist dein behandelnder Heiler, ehrwürdige Großtante?" Fragte Hera Matine.
"Bonfils", sagte Zoé Beaumot mit leiser Stimme. Hera Matine nickte. Der war der kompetenteste auf dem Gebiet der körperlich-magischen Wechselwirkungen. Aber warum Zoé nicht zu ihr gekommen war? Als habe ihre dahinschwindende Großtante ihre Frage aus dem Bewußtsein geschöpft sagte sie:
"Ich wollte keine Unruhe in unsere Reihen bringen, wo Geschlossenheit das Gebot war. Didier durfte keinen Verdacht hegen, wer zu uns gehört, und du wärest zu emotional an die Sache herangegangen und hättest versucht, mich in die einjährige Magieabstinenz zu treiben. Jetzt ist es dafür zu spät. meine eigene Zauberkraft wird meinen Körper nun jeden Tag ein wenig mehr auflösen, wenn ich sie gewähren lasse."
"Vielleicht ist es noch nicht zu spät, ehrwürdige Großtante", drang Hera Matine in ihre krank daniederliegende Verwandte ein, die für sie mehr als nur eine Verwandte gewesen war.
"Miß mein Ruhepotential und wiege meinen Körper, Hera! Bonfils gibt mir noch einen Monat höchstens. Aber dann wird nichts mehr da sein, was anständig beigesetzt werden kann. Und ich erbitte eine anständige Beisetzung im Garten der Gemeinschaft, wie es die gute Urielle erfahren durfte und die anderen vor ihr und du irgendwann auch." Hera Matine stutzte. Das konnte ihre Großtante nicht ernst meinen. Der Garten der Gemeinschaft war ein verschwiegener, unortbarer Friedhof in der Bretagne in der Nähe eines der großen Steine aus der Vorzeit. Dort durften nur die großen Führerinnen begraben oder deren Urnen in Gedenkschreinen eingemauert werden.
"Ich habe es Urielle und dir vor zwanzig Jahren schon gesagt, daß ich mich nicht dazu berufen fühle, den Ring der ersten Schwester zu tragen, ehrwürdige Großtante. Ihr habt gesagt, daß meine Aufgaben erhaben genug und wichtig genug seien, um mir diese hohe Verantwortung nicht auch noch aufzubürden."
"Ist das deine Art, dich vor wichtigen Aufgaben zu drücken?" Erwiderte Zoé Beaumot amüsiert grinsend. "Was sagst du deinen ungeborenen Patienten, wenn die finden, lieber im warmen Mutterschoß bleiben zu wollen, obwohl sie langsam zu groß dafür sind?"
"Das es draußen interessanter ist und sie mehr Bewegungsfreiheit haben und sie sonst nicht mitbekommen können, wie lieb sie gehabt werden", erwiderte Hera Matine. "Und bisher hat noch keine Hexe und kein Zauberer, dessen Ankunft in der Welt ich ermöglichen durfte zu lange gewartet. Aber was du mir da anträgst ist mehr als die Frage, ob ich ein Leben in Geborgenheit und Sorglosigkeit gegen eine interessantere Welt eintauschen kann. Ich lebe nicht sorglos und habe meine Aufgaben, kenne die Freude genauso wie den Schmerz und mache es mir nicht einfach. Was du all die Jahre für uns getan und erreicht hast verlangt nicht nur Durchsetzungsvermögen, sondern politisches Geschick. Und das habe ich nicht."
"Selbst wenn ich einem Zaubereiminister gesagt hätte, welche Aufgaben ich übernommen habe, hätte trotzdem keiner nur das getan, was ich für richtig hielt. Du möchtest in der Geborgenheit der sicheren Aufgaben bleiben, in Millemerveilles für die kleinen und großen Patienten mit den kleinen und großen Problemen sein. So sage ich dir jetzt, daß du deine Arbeit weitermachen darfst, aber daß die Welt da draußen viel interessanter ist und du dich endlich deinen gewachsenen Fähigkeiten entsinnen und dich freier bewegen können sollst." Zoé deutete mit dem dünnen Arm einmal durch das Zimmer, um zu zeigen, daß sie wirklich alles um sie herum meinte. Hera Matine sah ihre Großtante an. Irgendwie schon befremdlich. Eine alte Frau schrumpfte innerhalb von wenigen Monaten zu einem Nichts, genauso wie sie vor hundertdreiundfünfzig Jahren aus einem Nichts entstanden, zunächst in wenigen Monaten zu einem lebensfähigen Kind und dann zu einer beachtlichen Hexe gewachsen war. Nur wenige hatten erfahren, wie groß und wertvoll Zoé Beaumot gewesen war. Hera sah in Gedanken ihre eigene Mädchenzeit, hörte den Streit ihrer Mutter, die auf keinen Fall wollte, daß ihre Tochter "diese Flausen" übernahm, mit denen sie ihre Großtante bedachte. Doch als sie mit der Heilerausbildung fertig geworden war und selbst schon Mutter eines Sohnes war, hatte sie sich doch darauf eingelassen, von ihrer Großtante bei der damaligen Sprecherin Urielle Laporte als neue Mitschwester vorgestellt zu werden. Fünfzig Jahre war das jetzt her. Ihre Großtante galt da schon als Nachfolgerin Urielles, die mit stolzen 178 Jahren friedlich eingeschlafen war. Das war vor dreißig Jahren gewesen. Zoé Beaumot hatte den unsichtbaren Ring gefunden, den Ring der ersten Schwester und ihn unabnehmbar an ihren Finger bekommen und damit den Schutz der Gemeinschaft übernommen. Doch dieser Schutz half nicht gegen die Verfallserscheinungen des Alters. Unsterblichkeit konnte er nicht gewähren, und außer den Nuages und Villeforts, die heimlich oder offen Sardonias Vermächtnis hochhielten, wollte auch niemand wirklich ewig leben.
"Ich habe es bereits den anderen geschrieben, daß du wohl Rosmertas Ring tragen wirst. Du bist zu groß für den sozialen Uterus von Millemerveilles, als daß du darin verwelken darfst. Ich weiß, daß du dort ruhige Jahre erlebt hast und vielen neuen Hexen und Zauberern auf die Welt geholfen hast. Jetzt helfe ich dir auf die Welt, meine kleine Hera."
"Es ist nicht die Angst vor der Welt, die mich meine Arbeit lieben und schätzen läßt, Großtante Zoé. Es ist die Erkenntnis, daß ich zu sehr auf das Wohl jedes einzelnen schaue, als es dem Wohl aller unterzuordnen."
"Du redest wie Grandchapeaus Vorgänger. Der hat doch glatt behauptet, unsere erhabene, altehrwürdige Schwesternschaft sei ein Bündnis von skrupellosen Hexen, weil Sardonia aus unseren Reihen entstammte. Ja, das was die Männer meistens für sich in Anspruch nehmen, nämlich logisch zu denken, gebietet, daß das allgemeine Wohl immer über dem des Individuums zu stehen habe. Aber nur wenn jeder einzelne sich sicher und geachtet fühlen kann, kann es auch die Allgemeinheit sein. Ich habe einmal dieses Buch für kleine und große Jungen gelesen, das von den erst drei und dann vier rauflustigen Gardesoldaten von Louis XIII. Die hatten ein weises Motto: Einer für alle und alle für einen. Damit wird nicht nur die Kameradschaft in der Gruppe geehrt, sondern auch das Bestreben geehrt, durch das konstruktive Wohlergehen des einzelnen ein gedeihliches Wohl aller zu schaffen. Dadurch, daß du einem Kind auf die Welt hilfst oder einen Kranken heilst erzeugst du das Wohl eines einzelnen. Doch das Kind, ordentlich behütet und in der Achtung seiner Mitmenschen erzogen, wird durch sein Wohlergehen auch dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Sicher kannst du nicht wissen, ob der nächste kleine Schreihals einmal ein würdiger und geehrter Zauberer oder einer wie der Emporkömmling sein wird oder ob die nächste ans Licht der Welt gelangte Hexe eine ehrwürdige Hüterin der Weisheit oder eine machtsüchtige Eroberin sein wird. Trotzdem wendest du Zeit, Kraft und Geduld auf, um jedem dieser Kinder ins Leben zu helfen, auch wenn es dir das nicht sofort dankt und dich wütend anschreit oder verängstigt losweint. Ich habe dich seit deiner Einfügung in unsere Schwesternschaft gut beobachtet, auch wenn du das meistens nicht mitbekommen hast. Ich finde, du bist für die Größe, die du erreicht hast unterfordert. Und ich sage dir ja auch nicht, daß du deine Arbeit niederlegen sollst, nur um den Ring Rosmertas zu tragen, dich mit Argonies Nachfolgerin der Ungeduldigen herumzuschlagen, die sicher bald mit ihren Anhängerinnen der Wiederkehrerin vor die Füße fallen wird. Es geht einfach darum, daß jemand da sein muß, die die Mutter einer großen Gemeinschaft ist, ohne die vieles schon längst vernichtet worden wäre. außerdem wurde dir etwas zu Teil, was mich neidisch machen könnte, wüßte ich nicht, daß du es dir verdient hast. Dir sind die vier großen Zauber Darxandrias vermittelt worden." Hera Matine zuckte mit den Achseln. Sie hatte zwar einigen anderen verlauten lassen, daß sie mächtige Schutzzauber erlernt hatte, aber nicht von wem. "Jetzt guck mich nicht so an, als dürfte ich das nicht wissen!" Tadelte Zoé Beaumot. "Wie erwähnt habe ich dich gut beobachtet. Du hast die vier mächtigsten gutartigen Zauber des alten Reiches erlernt. Du bist die einzige von uns, die sie anwenden kann. Denn weitergeben kann sie nur der junge Ruster-Simonowsky-Zauberer, den du zum Pflegehelfer ausgebildet hast."
"Wer außer dir weiß das noch, ehrwürdige Großtante?"
"Daß nur der junge Zauberer diese Zauber lehren kann wissen nur Sophia Whitesand und ich, weil wir anders als die anderen Schwestern an die Existenz der alten Kultur glauben und die Sprache erlernt haben, die sonst nur die Kinder Ashtarias können, von denen du einem bei der Geburt einer Erbin beigestanden hast und dieser Erbin ebenfalls schon die Freuden an einer Tochter ermöglicht hast."
"Du erwähntest Argonies Nachfolgerin. Ich fürchtete schon, sie könnte es wissen und der Wiederkehrerin mitteilen. Diese scheint wegen der Ruster-Simonowsky-Begabung sowieso schon Ambitionen auf den Jungen zu besitzen."
"Und genau deshalb wirst du den Ring Rosmertas finden, nehmen und tragen, meine Kleine", brachte Zoé Beaumot unvermittelt mit lauter Stimme heraus. "Du wirst seine Hüterin sein, auch wenn er nicht immer in Frankreich leben wird. Du hast ihm mit deiner Unerbittlichkeit und Geduld die Achtung des Lebens gelehrt, ihn als einen der wenigen am Wunder der Geburt teilhabenden Zauberer ausgebildet und zum ungesagten Dank von ihm die vier großen Zauber der letzten Königin des Lichtes gelernt, einer Vorfahrin Ashtarias. Unabhängig davon, ob du die Ehre oder Pflicht haben wirst, seinen Kindern auf die Welt zu helfen oder nicht, bist du für ihn verantwortlich. Ich will nicht behaupten, er sei der wichtigste Mensch der Welt. Im Grunde ist das jeder und doch wieder keiner. Doch er ist einer der wenigen, die auf dem schmalen Grat zwischen Dunkelheit und Licht balancieren müssen, ohne genug Spielraum zu haben. Seine Kräfte sind Versuchung und Verpflichtung zugleich. Nur wer ihm hilft, der Versuchung zu widerstehen und ihm hilft, in der Verpflichtung eine Aufmunterung zu erkennen, kann ihm helfen, in der Welt und nicht gegen sie zu leben."
"Sophia Whitesand hat sich und einige andere aus ihrer Familie offenbart, als er bei ihr war. Unser Grundsatz lautet, die Geschicke in der Welt zu beobachten und behutsam zu lenken, ohne uns als mehr zu äußern, als wir von Herkunft und Ausbildung her sind."
"Sophia Whitesand hat sich ihm offenbart, weil er ihr das Leben gerettet hat, weil er eine Mission zu erfüllen hatte, bei der er durchaus sein eigenes Leben riskiert hat. Wenn du Rosmertas Ring trägst hast du die selbe Freiheit wie sie, dich wem immer zu offenbaren oder zu verheimlichen."
"Ich kann besser auf den Jungen achten, wenn ich alle, die ihm helfen davon überzeuge, daß er in Millemerveilles lebt, wo ich als Heilerin und Hebamme arbeite."
"Ich sagte aufpassen, nicht einsperren, Hera. Für manchen ist das ein und dasselbe. Aber wer wie wir beide schon mehr als ein halbes Jahrhundert auf der Welt ist und eigene Kinder ins Leben verabschiedet hat weiß, daß das Loslassen und aus der Ferne beobachten auch eine Form des Behütens und Leitens ist. Dir sollte doch klar sein, geliebte Großnichte und Mitschwester, daß dieser junge Zauberer mit dem Erwerb der vier Zauber und was noch alles aus der von ihm gefundenen Quelle entspringen mag eine Verpflichtung übernommen hat, die ihn nicht dauernd an einem Ort festhalten kann. Du kannst nicht andauernd um ihn herum sein. Du wirst gute Kontakte brauchen, die Augen, Ohren, Münder und Hände für dich sind. Du bist die einzige unserer Gemeinschaft, die die vier Zauber von ihm gelernt hat und daher die einzige, die diese Aufgabe übernehmen kann."
"Wenn Sophia Whitesand sich ihm anvertraut hat würde sie das wohl übernehmen."
"So? Warum ist er dann nicht in England geblieben. Warum hat seine Mutter befunden, lieber hierher nach Frankreich zu siedeln als in die Staaten, noch weiter fort von dem Emporkömmling, aber schon wieder nahe an der Wiederkehrerin, die dort wohl ihre unnatürliche Wiedergeburt gefeiert hat? Er lebt hier. Er wurde von den Töchtern des Mondes gesegnet. Er wird hier seine Heimat haben, sein Haus, in dem bald schon eine Wiege stehen wird, wie ich die junge Madame Latierre einschätze. Sei es, daß ihn und Millemerveilles ein inniges Band verknüpft und er bei dir im Ort wohnen und vielleicht auch arbeiten wird. Aber er hat Verpflichtungen übernommen, deren Art und Ausmaße er vielleicht gerade mal erahnt, aber noch nicht kennt. Deine Kollegin Eauvive hat seine Mutter zum Schutz vor der Verdrängung aus Millemerveilles mit Zauberkraft angereichert und ihr damit in eine andere Welt geholfen, in der sie eigentlich auch nicht recht leben wollte, es aber jetzt wohl tut, auch wenn du mir davon nicht alles geschrieben hast. Auch wenn du Vorhersagen nicht für zutreffend hältst, so sind doch schon so viele Koinzidenzen eingetreten, um noch weiter verleugnen zu können, daß der Junge und seine Mutter mit diesem Land und mit unserer magischen Gemeinschaft verbunden sind, auch wenn sie es vorher nicht geglaubt hätten."
"Du meinst, daß wir die Pflicht haben, sicherzustellen, daß er hier nicht verdirbt oder anderen schadet? Das mit den Zaubern war wohl eine Belohnung dafür, daß er die Gefahr auf sich nahm, ein Mittel gegen die Schlangenkrieger zu finden."
"Du weißt es schon längst, Hera. Aber du willst es mir und vor allem dir ausreden: Julius Latierre hat deine Bestimmung besiegelt, auch wenn er nichts in der Richtung unternommen hat und wohl nicht einmal weiß, daß du zu unserer Gemeinschaft gehörst."
"Ich fürchte, ehrwürdige Großtante, du klammerst dich an eine Wunschvorstellung, an etwas, was dir hilft, die Angst zu vertreiben, die du vor dem letzten Abschied hast", entgegnete Hera Matine verdrossen. Sie hielt nichts von Schicksal und Vorherbestimmung. Wenn sie einer werdenden Mutter damit käme, daß es Schicksal sei, wenn sie Zwillinge bekäme oder ihr Kind tot geboren würde, würde sie nur ihre eigene Unfähigkeit oder ihr Unbehagen vor der Situation bekunden.
"Es wird einen einfachen Weg geben, dich zu überzeugen, daß du meine Nachfolgerin wirst, Hera Matine: Heute Nacht werde ich zum letzten mal einschlafen. Ich habe beschlossen, nicht zum reinen Nichts zurückzuschrumpfen. Ich habe das alte Ritual des freien Übergangs vollzogen. Es hat mich um sieben Kilo leichter werden lassen. Aber dafür werde ich nun friedlich entschlafen. Du kannst es nicht mehr verhindern, es sei denn, du willst mir Infanticorpore aufhalsen. Aber der könnte dazu führen, daß der mich auf einen Schlag auflöst und ich als Geist in dieser Welt gefangen bleibe. Wenn ich entschlafen bin, wird der Ring, den ich bis zum letzten Augenblick trage, an seinen Aufbewahrungsort zurückkehren. In einem Monat muß die Gemeinschaft die Probe bestehen, die in anderen Ländern nicht mehr gilt. Alle über fünfzig Lebensjahre müssen Rosmertas Halle des Lebens betreten. Du kannst dich nicht davor drücken. Dort entspringt die Quelle der verkündung. Jede von euch wird ihre den Zauberstab führende Hand darin baden. Trifft der unsichtbare Ring, der in der Quelle schwimmt, seine Wahl, so gleitet er an den Finger der Erwählten und wird für eine Stunde allen sichtbar. Wagt es die Auserwählte, ihn abzustreifen und in die Quelle zurückzuwerfen, vergißt sie alles, was sie als einberufene Schwester erlebt, getan und gelernt hat. Ich denke nicht, daß dir das die Verweigerung wert ist."
"Es heißt, die Vorgängerin kann den Ring auf drei Kandidatinnen vorprägen, wenn sie welche hat. Wer sind die beiden anderen?"
"Es heißt, ich kann auf höchstens drei Kandidaten vorprägen, muß es aber nicht tun", erwiderte Zoé Beaumot.
"Du hast dich offenbar festgelegt", seufzte Hera Matine. Ein bestätigendes Lächeln überflog die ausgemergelten Züge der Todgeweihten.
"Du bist fertig ausgewachsen, hast dir viel Zeit gelassen. Aber dafür bist du jetzt kräftig genug: Kind komm ans Licht und atme das Leben ein!"
"Das hat Heilerin Vendredi zu mir gesagt, als ich geboren wurde", erkannte Hera Matine. Woher wußte ihre Großtante das auch noch?"
"Es hat damals gestimmt und stimmt jetzt immer noch. Urielles Schwester hatte schon recht", entgegnete Zoé Beaumot. Dann streckte sie ihren dürren Arm nach dem Nachttisch aus und pflückte einen altgedienten Zauberstab von der Platte. Hera wollte schon hinzuspringen, um ihn ihr wegzunehmen. Doch hinter den dicken Brillengläsern Zoés glühten zwei wild entschlossene, graue Augen. Dann zeichnete die Sterbenskranke einen Stuhl in die Luft. Hera meinte, ihre Großtante dabei um eine Winzigkeit kleiner werden zu sehen. Als der hohe Lehnstuhl stand gab Zoé ihrer Großnichte den Zauberstab. "Setz dich auf den Stuhl und warte, bis ich gegangen bin. Das ist die letzte Bitte, die ich an dich habe. Wenn ich gegangen sein werde hole Heiler Bonfils, damit er mich untersucht, um jede von außen verübte Tötung auszuschließen. Wenn das erledigt ist, zerbrich meinen Stab, damit die anderen erfahren, daß eine andere an meine Stelle treten soll. Ich habe dich immer geliebt, Hera und werde auch drüben an dich denken."
Hera Matine fühlte die Tränen aufsteigen. Sie wollte ihre Heilkunst anwenden, das Ritual und die Krankheit niederringen. Sie war Heilerin, verdammt noch mal! Das konnte doch nicht sein, daß sie einfach so zusehen sollte. Andererseits wußte sie, daß sie jetzt nichts mehr machen konnte. Das Ritual mochte sie vielleicht zurückdrängen. Aber die Krankheit war schon zu weit fortgeschritten. Das Ritual des freien Übergangs, ein euphemistischer Begriff für magischen Selbstmord. Da hätte sie doch gleich den Todesfluch gegen sich richten können, dachte Hera. dann hätte Zoé Beaumot sich wohl restlos aufgelöst, fiel es ihr ein. So hatte sie nur einige Kilogramm Körpermasse eingebüßt, würde aber noch einen mit Ehren bestattungsfähigen Leichnam hinterlassen. Ob sie nicht doch Infanticorpore versuchen sollte? Nein! Diese Krankheit war tückisch. Nachher führte sie zur unwiederbringlichen Auflösung ihrer geliebten Großtante.
Um die Trauer niederzuhalten fragte sie ihre Großtante: "Was hättest du getan, wenn ich Professeur Tourrecandide überredet hätte, Daianiras zurückverjüngten Körper in mich aufzunehmen?"
"Ich hätte sie dir dann klammheimlich auch weggenommen und selbst zu ende ausgebrütet, um der netten Dame einen anständigen Wiedereinstieg ins Leben zu geben, auch wenn ich bei ihrer Geburt quasi um sie herum verschwunden wäre. Aber bei deiner Kollegin ist sie besser aufgehoben. Diese und ihre ehrwürdige Großmutter werden schon dafür sorgen, daß Daianira ein anständiges kleines Hexenmädchen wird. Erzähl mir lieber von Chloé Dusoleil! War sie schwer? Mußtest du ihr einen Klaps versetzen, um sie zum Schreien zu bringen? Was sagt Jeanne zu ihrer neuen Schwester?"
Hera berichtete von Chloé Dusoleils Geburt in der Nacht, als anderswo ein schrecklicher Alptraum zu Ende ging. Danach sollte sie von Martha Andrews erzählen, wie sie als Hexe zurechtkam. Hera erzählte auch das. Währenddessen fielen Zoé die Augen zu, und sie atmete langsamer und flacher. Hera wollte aufspringen. Doch der Stuhl hielt sie fest. Da entrang sich Zoés Mund ein langer, pfeifender Ton. Doch gleichzeitig formte sich ein Lächeln auf dem verwelkt wirkendem Gesicht. Dann lag die alte Hexe still da und regte weder Brust noch Glieder. Hera konnte aufstehen und die Verstorbene zudecken. Sie sah dabei einen Moment lang einen goldenen Ring, auf dem in leuchtenden Runen stand: "Mutter der Mütter, Schwester unter schwestern, dir verbunden bis zum Tode." Die Runen leuchteten immer Heller auf, bis der Ring in einem Lichtblitz verschwand. Ein ganz leises Piff war die Bestätigung dafür, daß er sich restlos aufgelöst hatte, um anderswo zu erscheinen um zu warten, bis diejenige ihre Zauberstabhand in ein Wasserbecken tunkte, um zu hoffen oder zu bangen, daß er ihr auf den Finger rutschte und dann bis zu ihrem Tod dort blieb, wann, wo und wie immer dieser eintreten würde.
"Requiescas in Pace!" wünschte Hera Matine ihrer toten Großtante. Dann verließ sie das Sterbezimmer und holte ihren Kollegen Bonfils. Dieser unterhielt sich lange mit ihr und prüfte dann den Zauberstab und den Leichnam.
"Freier Übergang, können längst nicht alle ausführen", sagte Heiler Bonfils.
"Ich wüßte nicht, ob ich ihn lernen will", sagte Hera Matine.
"Ist wie bei der Geburt. Der Tod ist nichts erschreckendes für den, der ihn findet. Nur der Weg zu ihm ist erschreckend."
"Wenn du mir damit sagen möchtest, daß wir beide die beiden Enden des Lebens ehren müssen, du auf deine, ich auf meine Weise, dann muß ich dir wohl zustimmen."
"Ich habe die letzten zwei Zauber des Stabes registriert, ein Stuhl und das Ritual. Möchtest du den Stab behalten, Hera?"
"Nein, meine Tante bat darum, ihn fortzugeben. Sie wollte nicht damit begraben werden."
"Wo bestattet ihr sie?" Fragte der Heiler.
"Auf einem kleinen Friedhof unserer Ahnen", log Hera. "Aber ich werde eine Trauerfeier veranlassen, um ihren Freunden die Gelegenheit zu geben, sich von ihr zu verabschieden." Ihr Kollege nickte und füllte die entsprechenden Pergamente aus, wobei er als Todesursache Organermüdung auf Grund des Endstadiums der Hellenwein-Physiatropie zertifizierte. Wenn es genug Indikatoren für einen anderen Tod gab vermieden Heiler die Bezeichnungen Freitod, Selbstmord oder Selbstverschuldetes Ableben. Nur wenn der Tod ein gerichtliches Nachspiel nach sich ziehen mochte, mußten Heiler die Wahrheit sagen, um mögliche Mordverdächtige zu ent- oder belasten.
Hera Matine weinte erst hemmungslos, als sie in ihrem eigenen Haus war, daß zugleich auch ihre Praxis und Anlaufstelle war. Sie war froh, in den nächsten Tagen keiner Mutter bei der Geburt helfen zu müssen, auch wenn sie gerne mit Camille und Uranie Dusoleil daran arbeiten würde, ihre Kinder richtig zu versorgen und die überschüssigen Fettreserven abzutrainieren. Uranie machte ihr noch Sorgen, weil sie den kleinen Philemon immer noch nicht als ihr Kind akzeptieren wollte. Zwar stillte sie es. Aber nur, weil ihr Bruder und ihre Schwägerin sie dazu anhielten.
Hera bemühte fast alle für Europa zuständigen Eulen im Postamt, um die Freunde und Bekannten ihrer Großtante, ihre eigenen in die Welt gezogenen Kinder und die Verwandtschaft aus Millemerveilles einzuladen. Insgesamt kam sie auf knapp hundert Trauergäste. Am dreißigsten Juni Fand die Trauerfeier auf dem Friedhof von Millemerveilles statt. Anschließend beförderten fünf Hexen aus der verschwiegenen Gemeinschaft die Tote zum Garten der Gemeinschaft. Dort selbst führte Hera Matine die letzte verbliebene Anweisung der Toten aus und zerbrach deren Zauberstab über dem weißen Grabmal, daß die Schwesternschaft aus ihren Zauberstäben hatte entstehen lassen. Blaue, rote, grüne und gelbe Blitze flogen in allle Richtungen. Hera hörte in ihrem Kopf ein leises summen und die Wörter: "Vocate Matrem novam!"
Louisette Rechilieu hatte mittlerweile alle früheren Schwestern Anthelias aufgesucht und von ihr erzählt, als die, die bereits der verschwiegenen Schwesternschaft angehörten, einen magischen Ton in ihrem Kopf vernahmen und die althergebrachte Formel: "Vocate Matrem Novam!" hörten.
"Dann gilt es wohl, eine neue von den Zögerlichen oder eine der unseren zu bestimmen", sagte Louisette.
"Wirst du es der höchsten Schwester mitteilen?" Fragte eine der jüngeren Mitschwestern.
"Wenn wir wissen, wer die neue Mutter der Gemeinschaft wird. Immerhin muß es eine Mutter sein", erwiderte Louisette. Sie und die jüngeren, die weder Mann noch Kind hatten, schnitten mädchenhafte Grimassen. Bisher war es immer so gelaufen, daß eine auch körperliche Mutter zur Sprecherin der Gemeinschaft bestimmt wurde. Wen der Ring bestimmen und als seine Trägerin anzeigen würde wußte keiner. Doch die Hexen spekulierten, daß Zoé Beaumot wohl schon eine Kandidatin ins Auge gefaßt hatte. Einen Moment dachte Louisette daran, wie merkwürdig es war, wo sie Anthelia vor wenigen Tagen noch erzählt hatte, daß Hera Matine zu den französischen Schweigsamen gehörte. Mochte es Schicksal oder Zufall sein, wenn diese Hera Matine die neue Gemeinschaftssprecherin würde? Sie war nicht die älteste. Das war Solange Fontier mit neunzig Jahren, eine der Zögerlichen, Mutter von zwei Söhnen und keiner Tochter.
"Michael Whitesand aus der Whitesand-Line von Wales. Meine Mutter war Dorothy Whitesand geborene Woodcore, die vor siebzehn Jahren mit meinem Vater, Gratus Whitesand, im Sternenhaus in Frankreich starb, knapp zwei Monate nach meiner Geburt. meine Schwester Melissa ist zwei Jahre älter als ich. Wir wurden beide hier geboren, in ihrem Stammsitz, Mrs. Whitesand", zitierte Mike Leeland die wichtigsten Daten seines neuen Lebens. Melanie sah ihren Bruder merkwürdig an. Nur wegen ihm und weil er Prudence Whitesand geschwängert hatte mußten sie ihre alten Namen ändern. Ihre Mutter würde bald mit ihrem gemeinsamen Onkel Ryan zusammenziehen und einen anderen Nachnamen annehmen. Diese altehrwürdige Hexe Sophia hatte alles eingefädelt. Die beiden verlobten und bald Eltern werdenden Gäste aus Australien zogen als William und Kate Halligan nach Perth in Westaustralien, da Bill Huxley sich in Sydney vorerst nicht mehr blicken lassen sollte. Diese Whitesand-Lady, deren Nachnamen er nun führen durfte, imponierte Mike mit den ganzen Dokumenten, die sie beigebracht hatte. Seine neuen Eltern hatten wirklich existiert, waren aber, das verriet Madam Whitesand, kinderlos im Sternenhaus verstorben. Da jedoch schon damals ein Ortungsschutzzauber auf Whitesand Valley lag, konnten sie hier vorher locker zwei Kinder bekommen haben, die deshalb hier aufwuchsen und von ihren hier lebenden Verwandten ausgebildet wurden, weil die Gefahr bestand, daß Voldemort - jetzt durften sie seinen Namen zumindest schreiben - sie sonst gejagt hätte. Zwar sah die Regelung vor, daß zauberkundige Kinder mit elf Jahren für Hogwarts angemeldet wurden, was aber durch die Verschleierung der Geburten durchaus umgangen werden konnte. Allerdings würden die beiden ehemaligen Leeland-Geschwister nicht drum herum kommen, in den nächsten Jahren die ZAGs zu machen, um nicht zwischen den beiden Welten festzustecken, ohne in der einen oder der anderen richtig leben zu können. Doch Sophia Whitesand stellte klar, daß sie nicht zulassen würde, daß Mel und Mike diese Prüfungen verfehlten.
Die Powders hatten bereits neue Namen und sogar eine grüne Karte, die Arbeitserlaubnis für die vereinigten Staaten, wie auch immer die alte Hexe die herbeigezaubert hatte. jetzt konnte die neue Familie in den Staaten weiterleben, wo Garry wohl wieder als Laserphysiker anfangen konnte. Der einzige, der noch keine neue Identität hatte war Rodney Underhill. Der schlief schon bald elf Monate in einem geheimen Gästezimmer im tiefsten Zauberschlaf, der alle Körperfunktionen so extrem verlangsamte, daß er nicht einmal auf die Toilette mußte. Sophia Whitesand überlegte, wie sie ihn unterbringen konnte. Der ehemalige Geheimagent galt genauso für tot wie alle anderen sogenannten und ehemaligen Muggel, die bei der Party im Sterling-Haus gewesen waren.
"Dir ist klar, Michael Whitesand, mein entfernter Cousin, daß wir beide noch vor der zwanzigsten Woche einen Zeremonienmagier aufsuchen sollten, damit unser Baby nicht unehelich geboren wird", legte Prudence noch mal fest, daß Mike ihr jetzt nicht mehr vom Haken rutschen würde. Ihre Eltern hatten darauf bestanden, keine ledige Mutter als Tochter zu haben. Mike hatte ja schon längst zugestimmt, bei Prudence und dem Baby zu bleiben.
Als alle ehemaligen Bewohner von Whitesand Valley am ersten Juli das verborgene Tal mit Portschlüsseln verlassen hatten, wandte sich Sophia Whitesand dem verbliebenen Gast zu. Sie weckte ihn auf und fragte ihn im Kreise ihrer magischen Verwandten:
"Sie haben jetzt viel Zeit gehabt, um sich gründlich auszuschlafen, Mr. Underhill. Da Sie offenbar nicht bereit waren, mit uns zu kooperieren, und sie in ihrer Behörde und dem Rest der Welt schon längst tot und begraben sind, biete ich Ihnen drei Möglichkeiten an."
"Welche sollen das sein? Tod, Verwandlung in einen Frosch oder Zuchthengst für heiße Hexen?"
"Sie sehen nicht schlecht aus. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie mir noch ein süßes Baby zum Tragen geben könnten, Sir", erwiderte Sophia Whitesand keck. Der ehemalige MI6-Agent starrte die alte Hexe mit der goldenen Halbmondbrille total perplex an. Offenbar fragte er sich, wie alt noch jung für ein Hexenbaby sein mochte. Doch dann merkte er, daß sie ihn wohl ausgetrickst hatte. "Nein, keine Anst. Wir werden Sie nicht als Deckhengst oder Rammler oder Drohne halten. Dafür verehren wir den Beischlaf und die Zeugung aus Liebe zu sehr. Aber Sie waren nicht so weit weg: Umbringen wollen wir Sie nicht. Dann wären Sie schon längst vermodert. Aber Sie können wählen zwischen Daseinsform in Tiergestalt, völligem Neubeginn ohne Erinnerung an Ihr früheres Leben oder neuer Identität in einem Land fern ab von hier, wobei Sie zu keiner Zeit nach Großbritannien oder zu ehemaligen Freunden und Kollegen zurückkehren dürfen."
"Wie wollen Sie das verhindern, daß ich denen erzähle, ich wäre auf einem Geheimeinsatz gewesen?" Fragte Rodney Underhill. "Abgesehen davon, was heißt neuer Lebensbeginn?"
"Wiege, Waage, Windeln, Mr. Underhill. Dabei können wir Ihnen entweder sämtliche Erinnerungen nehmen, und sie dürfen bei glücklichen Pflegeeltern neu aufwachsen, oder meine Enkelin wird ihre Amme und zieht sie bei vollem Erhalt Ihres Gedächtnisses neu groß und schickt sie mit sechs neuen Lebensjahren wieder zur Schule."
"Was, die da", sagte Rodney und glotzte auf Patience Moonriver. "Die würde mich doch dann nicht etwa ... Ähm", er deutete auf ihren Brustkorb und auf seinen Mund.
"Habe ich schon bei vielen mutterlosen Kindern gemacht", erwiderte Patience Moonriver.
"Ich meine, okay, kaufe ich Ihnen ab. Aber da krepiere ich lieber, als mich von einer Teufelsbraut anlegen und wickeln zu lassen."
"Dann wählen Sie sich ein Tier Ihrer Wahl oder den kompletten Neubeginn! So wie Sie jetzt sind und drauf sind kommen Sie hier nicht mehr weg", erwiderte Sophia Whitesand. Rodney machte Anstalten, auf die alte Hexe zuzuspringen. Doch diese wich aus und ließ ihn ins leere stoßen, ohne einen Funken Magie anzuwenden. "Eine langjährige Ballerina und Heilerin umwerfen wollen", grinste Sophia Whitesand mädchenhaft. Dann sagte sie: "Okay. Dann fangen Sie besser ganz von vorne an, ohne die Zuwendungen meiner Enkeltochter genießen zu dürfen." Sie zog den Zauberstab und murmelte einen kompletten Erinnerungslöschzauber, gegen den Rodney sich nicht wehren konte. Bevor sein Gehirn mit der schlagartigen Entleerung fertig werden konnte, traf Rodney auch schon das goldene Licht des Infanticorpore-Fluches. Nun, wo Gedächtnis und Körper auf dieselbe Stufe zurückgeführt worden waren, stieß Rodney einen langen Schrei aus. Patience sah den kleinen an und bot an, ihn in ein Krankenhaus außerhalb von England zu bringen. Ihre Großmutter genehmigte das und stellte einen entsprechenden Portschlüssel her.
"Lass ihn in Italien groß werden. Da sind so unbeirrbare Mannsbilder gerne gesehen."
"Dann kann ich den gleich vor dem Vatikan bei den Nonnen abliefern", erwiderte Patience. Doch als sie den totalverjüngten Ex-Mitbewohner aufhob und den Portschlüssel berührte, tauchte sie in der Nähe von Florenz auf, wo sie nach kurzer Suche ein öffentliches Krankenhaus fand, vor dem sie den in grobe Decken gehüllten Säugling ablegte und rasch verschwand, bevor das kleine Wesen, das vergessen hatte, wer und was es früher war, laut losschrie. Patience Moonriver wußte nicht, daß sie Rodney Underhill damit ein ähnliches Schicksal zugedacht hatte, das seinen Schulfreund Richard Andrews vor fast zwei Jahren getroffen hatte.
"Schön, du liegst richtig herum", hörte sie laut und dumpf die Stimme Ledas um sich herum. Tatsächlich hatte sie sich nach langem Schlaf irgendwie so gefunden, als hinge ihr Kopf sacht nach unten. Offenbar würde es nun nur noch wenige Wochen oder Tage dauern, bis sie diesen Ort für immer verlassen mußte. Wollte sie das wirklich? Irgendwie überkam sie bei der Vorstellung, wie schmerzhaft das werden würde und daß sie dabei vielleicht das eine oder andere vergessen mochte eine unbestimmte Furcht. Vielleicht sollte sie Leda bitten, irgendwas zu machen, um sie nicht aus sich heraustreiben zu müssen. Doch auf der anderen Seite war da dieses Verlangen, endlich wieder freizukommen, neue Beweglichkeit und Kraft zu schöpfen und irgendwann doch genug Stärke zu besitzen, um Vergeltung zu üben. Sie verzichtete auf das Mentiloquieren, auch wenn sie es konnte. Sie streckte nur ihre Hand aus und stieß an den warmen, weichen Widerstand. Leda schien zu grinsen. Zumindest fühlte die, die bald Lysithea heißen würde eine gewisse Erheiterung. Der Gedanke, hier bleiben zu wollen verwehte, als sie versuchte, sich anders zu legen und feststellte, daß sie sich fast nicht mehr bewegen konnte. Die vollständige Geborgenheit machte einem leichten Anflug von Hilflosigkeit Platz. Sie hatte sich selbst in diese Lage versetzt, weil sie nicht auf die gehört hatte, die sich noch weitere Monate um sie kümmern würde, ja womöglich Jahre lang um sie herumlaufen würde, wenn sie, die frühere Hexenlady Daianira, ihr erfolgreich entschlüpft war.
Leda indes genoss dieses Gefühl, ihre zukünftige Tochter Lysithea zu tragen. Sowas würde sie im Leben nicht mehr mitbekommen. Der Fortuna-Matris-Trank hielt ihr die größten Unannehmlichkeiten wie schwere Beine und unbegründete Angstattacken vom Hals. Sie fühlte nur Triumph und Vorfreude. Sicher, wenn sie damals Daianira überredet hätte, Anthelia an ihrer Stelle zu tragen, wäre diese jetzt nicht auf sie, Leda, angewiesen. Doch dann hätte sie diese trotz großen Machtverlustes noch sehr willensstarke Hexe zu kriegen gehabt. Gut, damit Daianira sich mit ihrer Rolle als Lysithea Greensporn abfand würde wohl noch einiges vergehen. Im Moment schien die in ihr ruhende wohl darüber zu grübeln, ob sie sicher verborgen oder eingesperrt, behütet oder hilflos war. Doch Leda freute sich auf ihre neue Rolle. Am neunten bis zwölften Juli mochte es soweit sein, hatte ihre Großmutter Eileithyia ausgerechnet. Hoffentlich dauerte das nicht genau drei Tage! Das war das einzige, was ihr etwas Angst machte. Doch sie würde dieses zum kleinen Mädchen zurückverjüngte Wesen zur Welt bringen und als ihre Tochter großziehen, auch wenn die in diesem Wesen verbliebene Persönlichkeit sich dagegen wehren mochte.
Leda blickte auf den Wandkalender. Bis zum neunten Juli waren es noch sechs Tage. Sollte sie es ihrer Tochter mitteilen? Immerhin hatte die sich ganz ohne fremde Hilfe in die richtige Lage gedreht. Leda hatte schon befürchtet, ihre Großmutter hätte die Kleine drehen müssen. Leda Greensporn prüfte noch einmal, ob sie alle Vorbereitungen getroffen hatte. Vor allem das kleine, unauffällige Armband, das wie aus rosarotem Plüsch aussah, würde sehr wichtig sein. Denn wenn die künftige Mutter der zurückverjüngten Daianira etwas aus den Ursachen ihrer unverhofften Mutterschaft gelernt hatte, dann daß ein bereits entwickelter Geist im Körper eines Ungeborenen durchaus mit irgendwem mentiloquieren konnte. Um keine Möglichkeiten für ihre Tochter zu bieten, gleich nach dem Kleinkindalter auf Rache ausgehen zu können, hatte sie jede Nachforschung unterlassen, wer Anthelias mentiloquistische Anweisungen oder Hilferufe entgegengenommen haben mochte. Mit Lysithea sollte ihr das nicht passieren.
Sie nannten es "das graue Haus", weil der klobige, etwa acht meter hohe, zwanzig Meter lange und zehn Meter breite Felsquader fast wie ein von der Natur selbst gebautes Haus mit unregelmäßig geformtem Dach aussah. Hier konnte das US-amerikanische Zaubereiministerium von der Öffentlichkeit unbemerkt Leute unterbringen, Schutzbedürftige oder besondere Gefangene. Hier hatte Wishbone die neue Zentrale der My-Truppe untergebracht, obwohl er davon ausgehen mußte, daß Peter Grinder, der sich für seine Familie als Austausch angeboten hatte und nie wieder zurückgekehrt war, alle Informationen über die geheime Sondereinsatztruppe Wishbones besessen hatte. Doch genau darauf zielte der Zaubereiminister nun ab. Wenn irgendwer mit diesen Monstern in Kontakt stand würde die Mutter der Bestien der Verlockung nicht lange widerstehen können, jene zu erwischen, die sie erschaffen hatte, auch wenn sie diese offenbar nicht hatte töten können. Der zweite Köder war die angebliche Zusammenkunft der Ministerialbeamten in Alaska. An beiden Orten hatte Wishbone Meldezauber einrichten lassen, die die Erscheinung der Brutkönigin oder ihrer Kinder mitteilten. Tauchte sie hier oder in Alaska auf, würde die Operation Angelköder in die alles entscheidende Phase eintreten.
Im grauen Haus waren zehn Zauberer der My-Truppe stationiert, die eine Hexe bewachten, die vor drei Jahren in eine Zelle von Doomcastle geschickt worden war, allerdings ohne die für Schwerverbrecher übliche Trennung zwischen Körper und Seele hinnehmen zu müssen. Ihr war angeboten worden, die letzten zehn Jahre ihrer wegen schwerem Eingriff in die Wirtschaftskreisläufe der Muggelwelt verbüßten Haftstrafe erlassen zu bekommen, wenn sie dem Ministerium half, eine gefährliche Gegnerin in die Falle zu locken. Wen genau, hatte man ihr jedoch nicht verraten. Für Wishbone war nur wichtig, daß eine Hexe im grauen Haus saß, so streng bewacht wie es bei einer gefährlichen Gefangenen nötig war, umgeben von Zauberbarrieren, Antiapparitionswällen und eben zehn ausgebildeten Kampfzauberspezialisten, die im Ernstfall ganz schnell jeder für sich mit einem Portschlüssel flüchten konnten.
Die Sonne ging unter und ließ den ausgehöhlten Felsenbau mit dem darunter angelegten Labyrinth von Kellern und Korridoren rot erglühen. Edwin Thornhill prüfte erneut mit seinem Fernglas die Umgebung. Unter seinem Tarnumhang war er für die meisten Augen unsichtbar. Würde wirklich passieren, was Wishbone aus sicherer Entfernung geplant und angeleiert hatte? Ein wenig angespannt, weil er an Peter Grinder und die dieser Höllenbiene bereits zum Opfer gefallenen Kameraden denken mußte, suchte er den Himmel ab. Ja, da war was! Er konnte das sich langsam nähernde Flugobjekt genau erkennen. Es kam aus dem Westen, wohl in der Annahme, durch die hinter ihm glühende Sonnenscheibe vor frühzeitiger Entdeckung sicher zu sein. Aber Wishbones Leute hatten Kontrastumkehrer auf ihren Fernrohren, die überhelles Licht in tiefste Dunkelheit verwandelten. So konnte Thornhill nun einen immer heller werdenden Punkt vor einer pechschwarzen Scheibe mit grauem Rand ausmachen, der zu einem harmlosen Insekt anwuchs. Doch Thornhill wußte es besser. Gleich würde dieses kleine Kerbtier zu einer gefährlichen Bestie mit Menschenkopf werden. Dann machte er noch drei dieser Geschöpfe aus, die am oberen Rand der Sonnenscheibe in sein Sichtfeld einflogen.
"Habt ihr euch so gedacht, aus der Sonne heraus angreifen zu können", dachte Thornhill. Er wußte, daß die Alarmzauber bei einer Annäherung auf einen Kilometer anschlagen würden. Er ging jedoch erst von Kundschaftern aus, die nicht losstürmen, sondern in sicher scheinender Entfernung die Umgebung überprüfen würden. Ja, da kamen sie auch schon näher, schwärmten aus und ließen ihre haarigen Fühler auspendeln, wohl um die winzigsten Gerüche aufnehmen zu können. Waren diese Geschöpfe vielleicht für magische Ausstrahlung empfänglich? Thornhill durfte das nicht ausschließen. Er beobachtete, wie die anfliegenden Insektenwesen immer größer und heller wurden. Solange sie vor der sinkenden Sonne blieben konnte Thornhill den Kontrastumkehrer nicht von seinem Fernglas nehmen. Es mochte noch eine halbe Stunde dauern, bis die Sonne unter dem Horizont verschwinden würde. Er sah die nun wie selbst leuchtenden Insektenwesen, die nun im Alarmbereich herumflogen. Mentiloquistisch meldete er die Sichtung und die Vermutung, es könne sich um Kundschafter handeln, an seinen Vorgesetzten weiter, der als einziger eine direkte magische Sprechverbindung zum Zaubereiminister hatte.
"Sie prüft den Köder. Weiter abwarten!" Kam der zu erwarten gewesene Befehl. Thornhill bestätigte die Anweisung.
Die Insektenwesen gingen unvermittelt in einen Sturzflug über und verschwanden zwischen den Felsen. Offenbar wollten sie zu Fuß anschleichen. Doch sie waren doch schon längst erkannt worden. Sich zu verstecken oder in einer trügerischen Deckung anzuschleichen war unmöglich. Das graue Haus konnte sogar auf unsichtbare Gegner reagieren. Dennoch wollte Thornhill seine Feinde sehen. Er konnte die steigende Anspannung, diesen Zwischenzustand zwischen Angriffsbereitschaft und Fluchtinstinkt, nur schwer niederhalten. Ihm wäre es lieber, er hätte den Auftrag bekommen, die vier Späher anzugreifen und zu erledigen. Da! Gerade sah er ein haariges Etwas zwischen zwei kokosnußförmigen Steinen herausschwingen und sofort wieder verschwinden. Das war näher als dreihundert Meter. Diese Biester waren offenbar auch am Boden sehr schnell zu Fuß. Thornhill dachte an die Goldpanzerameisen, die er im Unterricht einmal im Wüstenreservat gesehen hatte. Die einen Meter großen Insekten konnten bei Gefahr einem fliegenden Bronco Centennial locker davonlaufen. So gesehen konnten diese Monster dort draußen wohl auch sehr schnell rennen, wenn sie alle sechs Lauf- und Greifglieder einsetzten. Nun konnte er für einen winzigen Moment den braunhaarigen Kopf eines Mannes erkennen, aus dessen Oberkopf diese abscheulichen Antennengebilde herausragten, mit denen er seine Umgebung prüfte. Thornhill fischte nach seinem zauberstab. Zwar sollte er die Späher gewähren lassen. Doch wenn sie ihn angriffen wollte er nicht wehrlos dastehen. Er nahm einen raschen Rundblick über die Umgebung und erkannte, daß offenbar noch mehr dieser Geschöpfe anrückten. Hatten die aus Sonnenrichtung ihn zu sehr beschäftigt? Er verwünschte seine Einfalt. Natürlich wußten die von dieser selbsternannten Mutter eines neuen Volkes in ihre Reihen geschlungenen von den Kontrastumkehrern, die ein Anfliegen im Schutz des blendenden Sonnenlichtes vereitelten. Er Sah sich rasch um und schickte an seinen Vorgesetzten, daß weitere sieben Geschöpfe aufgetaucht seien. War das vielleicht doch schon der Angriff. Wo blieb dann aber die Brutkönigin? Wenn die nicht auftauchte würde die ganze Operation Angelköder zum Fehlschlag. Dann entdeckte er, daß die um ihm herumkriechenden Kreaturen sich wieder zurückzogen. Einige eilten zwischen den Felsen dahin und flogen erst auf, wenn sie sich weit genug weg wähnten. Die anderen prüften noch einmal die Umgebung, bevor sie sich zu Fuß zurückzogen. Das Vorhaben, an der Abflugrichtung die Herkunft zu erkennen mißlang, erkannte Thornhill. Denn die Wesen flogen in die unterschiedlichsten Richtung davon. Er wollte gerade melden, daß die Späher abrückten, als es passierte.
Mit einem dumpfen Knall wie von einer abgefeuerten Kanone tauchte sie über Thornhills Kopf auf und stieß mit wildem Getöse wie tausend herabstoßende Wespen auf einmal nieder. Er warf sich zu boden und berührte eine Tabaksdose. Schlagartig fühlte er, wie etwas ihn davonriß. Erst als er den Wirbel aus Farben sah und das bekannte Ziehen am Bauchnabel fühlte wußte er, daß er den Portschlüssel rechtzeitig ausgelöst hatte. Flucht war zwar eigentlich nicht seine Sache. Aber Wishbone hatte ihm und den Andren eindringlich befohlen, beim Auftauchen der Feindin unverzüglich zu verschwinden. Der Zaubereiminister wollte keinesfalls einen Eingeweihten an dieses Monstrum verlieren, zumindest nicht lebendig. Thornhill landete unsanft in einem Zelt, das knapp fünfhundert Kilometer weiter westlich stand. Hier war die Einsatzzentrale des Kommandos Angelköder. "Feindin greift an!" Meldete Thornhill seinem Vorgesetzten Justin Spikes.
"Ist gerade auch hier gemeldet worden, Thornhill", sagte Justin Spikes und deutete auf ein bauchiges Etwas, das wie ein großes, schwarzes Weinfaß mit aufgeschraubten Silberinstrumenten aussah.
"Hoffentlich greifen die stationären Abwehrzauber auch, damit die nicht merkt, daß keiner mehr da ist", sagte Thornhill.
"Dann müssen die alle erst einmal herkommen", grummelte Spikes. Tatsächlich purzelten nacheinander sieben Zauberer aus im Raum aufglühenden blauen Lichtspiralen heraus. "Bacon und Kortney lassen die Wehrzauber los", meldete einer der sieben. Spikes nickte. Aus einem Ding wie ein silberner Aschenbecher klang Wishbones Stimme:
"Alle raus aus dem Haus?"
"Bacon und Kortney fehlen, Sir", sprach Spikes in den silbernen Behälter.
"Gut, wenn nicht in einer Minute da muß ich sie für tot ansehen", erwiderte Wishbones Stimme. "Gegenschlag läuft an."
"Verstanden, Sir", sagte Spikes.
Chester Kortney und Waldon Bacon gehörten zu den Experten für die aufgebauten Abwehrzauber. Bacon war klein, untersetzt und dunkelhaarig, während Kortney ein kleiderschrankbreiter Hühne mit rostrotem Schopf war. Beide trugen sie die grauen Umhänge mit dem My-Symbol.
"Agite Incantatem!" Rief Kortney. "Repeelite Inimicos!" Rief Bacon. Beide zirkelten mit ihren Zauberstäben bestimmte Bereiche der Innenwand ab. Es knisterte und prasselte. Doch zu sehen war noch nichts. Von draußen hörten sie das unheilvolle Brummen der anfliegenden Bestie.
"Wir müssen weg!" Rief Bacon seinem Kollegen zu, während die vor Jahren schon eingewirkten Wehrzauber in Aktion traten. Jeder, der von den beiden als Feind bezeichnet wurde, konnte nun in magische Fallen hineingeraten, von konserviertem Feuer getroffen werden, Säbelschlagflüche abbekommen oder anderen Flüchen zum Opfer fallen. Die beiden Abwehrexperten griffen gerade nach vor ihnen liegenden Federhaltern, als mit einem weiteren dumpfem Knall die fünf Meter große Abscheulichkeit selbst in der Halle unter dem grauen Haus apparierte.
"So, ihr meint, ich würde mich von euren Flüchen fertigmachen lassen!" Rief das Unwesen mit dem dunkelblondem Haarschopf siegessicher. Da ergriff es bereits ein Rotationsfluch, der Gegner in immer raschere Eigendrehungen versetzen konnte. Doch die magische Attacke verpuffte bereits nach weniger als zwei Sekunden. Das war die Zeit, die Bacon und Kortney brauchten, um sich abzusetzen. Valery Saunders sah, wie die beiden verschwanden, bevor sie wieder Herrin ihrer eigenen Bewegungen wurde. Die Hexe war noch da. Doch sie war hinter festen Türen und Wänden eingeschlossen, in einer Zelle, die gerade einmal drei mal drei mal drei Meter groß war. Das bekam Valery I. zu spüren, als sie versuchte, in diesem Raum zu erscheinen und wegen der Enge der Zelle zurückgeworfen wurde. Dagegen half auch ihre Fähigkeit nichts, alle magischen Appariersperren zu überwinden. So blieb ihr nur die nackte Gewalt gegen die Wände und Türen. Wieder erfaßte sie etwas unsichtbares und zerrte einen Augenblick an ihr. Sie wußte nicht, daß es ein Mauernanhaftfluch war, der jeden anderen Gegner gegen eine der Wände warf und dort wie angebacken kleben ließ. Ihr mit fremder Magie durchdrungener Körper widerstand diesen Zaubern jedoch mühelos. Sie brach durch Wände, wobei ihr verschiedene Blitze und einmal weißblaues Feuer entgegenschlug. Sie konnte nicht atmen, weil sie sonst die glutheiße Luft in ihre Lungen bekommen hätte. Doch sie gab nicht auf. "Ich kriege dich, Anthelia", dachte Valery Saunders. Da sprangen ihr die Seitenwände entgegen wie die tödlichen Eisenbacken einer gigantischen Mausefalle. Valery stemmte sich gegen die unbarmherzige Kraft, mit der die Wände sie zerdrücken wollten. Sie keuchte, weil sie trotz ihrer übermenschlichen Kräfte zu unterliegen drohte. Im letzten Augenblick beschloß sie, zu disapparieren. Sie verschwand im allerletzten Augenblick, bevor die zusammenquetschenden Wände sie doch noch erledigt hätten. Sie landete auf dem Felsen, den sie das graue Haus nannten und fühlte es in ihren Füßen kribbeln. Sie sah, wie stark erhitzte Luft um sie herum nach oben waberte und den Staub zu tanzenden Spiralen verwirbelte. Offenbar hatte sie einen starken Erhitzungszauber ausgelöst, dem ihre magisch getränkte Panzerung wohl gerade so noch standhielt. Sie schwang ihre armlangen Fühler aus und witterte damit, wo die gefangene Hexe war. Da ploppte es, und drei kleine Geschöpfe mit riesigen Augen und Ohren sprangen sie an. Die Wesen trugen außer komischen Tüchern nur schwere Gürtel am Leib. Sie fühlte Zauberkräfte, die nach ihr griffen, wohl um sie festzuhalten. Doch sie konnte sich davon freimachen und lachte nur.
"Wer seid ihr denn?" Fragte sie höhnisch und laut. Die drei fremden Geschöpfe hielten sich die Ohren zu. Dann erschienen noch zwei von denen und sprangen auf sie drauf. Valery schüttelte sich nur leicht. Da flogen die beiden Angreifer von ihr herunter. Dafür versuchten die drei anderen, sich an ihren Antennen festzuklammern. Sie riß den Mund auf und rief, daß sie das lassen sollten, als das dritte Geschöpf ihr scheinbar lebensmüde in den Mund sprang. Da schmeckte Valery das Metall an den Gürteln und vermeinte, einen chemischen Geruch wahrzunehmen, den sie einmal gerochen hatte, als sie mit ihrer damaligen Bande eine rivalisierende Gruppe überfallen hatte, die sich mit hochwirksamem C4-Sprengstoff ausgerüstet hatten. C4? Valery erkannte, was diese Biester da wollten. Sie war echt verladen und in eine Falle getrieben worden. Wishbone hatte Kobolde oder andere Zauberwesen auf sie angesetzt. Sie fühlte, wie ihr der Angreifer, der wohl als eine Art Kamikazekobold in den Mund gesprungen war, versuchte, über ihre Zunge in die Luft- oder Speiseröhre zu kriechen. Sie erkannte, daß dieser Mistkerl von Zaubereiminister die einzige wirksame Methode zu finden gemeint hatte, um sie doch noch loszuwerden. Sie hatte wohl nur noch Sekunden, bevor diese kleinen Kerle da ihre Sprenggürtel zündeten um sie und sich in Stücke zu reißen. Sie schnappte nach dem, der ihr ganz bewußt in den Mund gesprungen war und durchtrennte einen seiner Arme. Für einen Moment mochte der Schmerz dieses kleine Wesen außer Gefecht setzen. Doch dieses schrie nur kurz auf, um dann noch entschlossener darum zu kämpfen, tiefer in Valerys Körper hineinzukriechen. Die beiden an ihren Fühlern hängenden hantierten derweil mit unsichtbaren Zauberkräften an ihren Gürteln. Valery setzte alles auf eine Karte und wirbelte den Kopf herum. Diese kleinen Biester waren doch zu schwach, sich an ihr festzuklammern. Sie flogen wild schreiend davon. Valery packte mit ihren Vorderarmen nach dem fremden Wesen, das ihr in den Mund gehüpft war und zerrte es hervor. Sie sah gerade noch, wie der Gürtel des Wesens zu glimmen begann. Sie schleuderte das Geschöpf von sich und disapparierte vom heißen Dach. Der dumpfe Knall ihrer Versetzung wurde von drei gewaltigen Detonationen beantwortet. Doch noch waren die Kamikazekobolde, wie Valery die neuen Angreifer nannte, nicht erledigt. Als Valery wieder innerhalb der Anlage apparierte stürzten sich die zwei, die sie oben abgeschüttelt hatte aus dem Nichts heraus auf sie. Für einen Moment fühlte sie etwas wie ein Ziepen in den Eingeweiden. Dann sah sie, wie einer dieser kleinen Kämpfer in einem bunt schillernden Kugelblitz aus zwei Metern Höhe herabfiel und laut schreiend landete. Auch er trug einen Gürtel, der wohl schon aktiviert war. Valery verschwand erneut. Da explodierten die beiden Angreifer und brachten damit einen Großteil des Hauses zum Einsturz.
Valery erschien nun frei in der Luft fliegend. Wieder meinte sie, ein Ziepen im Magen zu spüren, bevor sie einen weiteren aus einem bunten Lichtgewitter fallenden Angreifer sah, der laut schreiend in die Tiefe stürzte und tief unter ihr mit lautem Knall in einem Blitz auseinandergerissen wurde. Valery erkannte, was die Angreifer versuchten. Da diese kleinen Killerkobolde auch apparieren konnten hatten sie wohl gemeint, wenn sie gleich in ihr selbst auftauchten ihre Kamikazenummer so richtig über die Bühne bringen zu können. Doch offenbar wehrte ihr Bauch alles ab, was sie nicht von sich aus dort hineinließ. Doch immer noch war zu klären, ob die in diesem Haus gefangene Hexe die war, die sie suchte. So apparierte sie wieder in den Kellerräumen, um gleich von mehreren heransausenden Gesteinsbrocken getroffen zu werden, die aus den Wänden auf sie herausgeschossen wurden. Und keinen Moment später tauchte noch einmal so ein mit C4 bewaffneter Kamikazekobold auf und versuchte, sie anzuspringen, um sich an ihr festzuklammern. Mit einem Schlag ihres vorderen rechten Armes schmetterte sie das kleinwüchsige Wesen auf den Boden und disapparierte, bevor die Sprengladung des Angreifers losging. Mit einem weiteren Knall brach ein Teil des Korridors zusammen.
Diesmal apparierte Valery vor dem Bereich, in dem die Zelle lag. Sie klappte ihre Tastorgane nach hinten und preschte los, um ihren Vorderkörper wie einen Rammbock gegen die massiven Felsen zu werfen. Dabei fühlte sie etwas prickeln und sah, wie ihr gelb-schwarzer Panzer leise zischend dünner und bleicher wurde. Das kannte sie schon. Das war dieser Zersetzungszauber, mit dem diese Daianira Hemlock ihr schon beizukommen versucht hatte. Sie fühlte einen Druck im Hinterleib und stieß reflexartig mehrere nun unfruchtbare und verfaulte Eier aus, die einen Gestank von hunderten von Stinkbomben verbreiteten. Da sah Valery die Tür. Sie war aus blankem Holz. Sie stieß auf sie zu und krachte mit den Armen daagegen. wieder fühlte sie dieses Prickeln der Zersetzung. Doch die Tür zerbarst in einem blauen Lichtblitz, und gab einen schmalen Durchgang in die Zelle Preis. Sie konnte nun eine sehr füllig aussehende Frau sehen, die in einem roten Kreis aus mehreren magischen Zeichen hockte. Man hatte sie also nicht mit Gittern, sondern einem wohl tödlichen Zauberkreis festgehalten. Valery streckte schnell einen ihrer Fühler in den Gang und witterte damit, daß es nicht die Hexe war, die sie gesucht hatte. Außerdem nahm sie mit dem Schweißgeruch der bibbernden Gefangenen, die offenbar nicht wußte, was da um sie herum geschah den bereits erspürten Geruch von C4 auf. Dieser Mistkerl Wishbone hatte dieses Weib da mit C4 ausgestopft. Offenbar ging er davon aus, daß sie, sobald sie die einzige Hexe in diesem Irrenhaus gefunden hatte, diese gnadenlos hinunterschlingen würde wie jeden anderen ihr wichtigen Menschen vorher auch schon. Der Sprengstoff sollte wohl gezündet werden, wenn die einverleibte mit der Magensäure in Berührung kam.
"Verreck so da drin!" Rief Valery der Gefangenen zu, die unter der Lautstärke der wütenden Baßstimme zusammenzuckte. Da knallte es, und noch einer der Kamikazekobolde tauchte auf. Valery sah ihn an und stieß aus: "Netter Versuch, Killerzwerg. Aber so ging's nicht. Sag's deinem Boss! Das kostet euch mindestens zwanzig unfertige Hexen und Zauberer. Neh, lass das besser!" Das Zauberwesen blickte auf den Gürtel, den es am Leib trug. Valery erkannte, daß dieses Geschöpf nur den einen Auftrag hatte, sich und sie umzubringen. So blieb ihr nur der Rückzug ins Nichts. Keine zwei Sekunden später erschütterte eine weitere Detonation den Gang. Die Gefangene wurde von herabbrechenden Trümmern getroffen und erschlagen. Dadurch reagierte der auf ihren Herzschlag oder Säurekontakt abgestimmte Zünder und brachte die zwanzig Kilogramm C4 zur Explosion, die der Gefangenen mit einem Anhaftzauber wie eine zweite Haut angesetzt worden waren. Die Wucht der Explosion brachte die Zelle und drei angrenzende Zellen und Gänge zum Einsturz. Die so ausgelöste Zerstörung der Rückhaltezauber entlud noch einmal einen Feuersturm, der quer durch die Kelleranlage fegte. Doch das Drei-Sekunden-Inferno fand kein lebendes Ziel mehr vor.
Meldezauber teilten die gewaltigen Explosionen an Spikes Kommandostand mit. Auch der Tod der Gefangenen, die als Angelköder ausgeworfen worden war, wurde weitergemeldet.
"Wir können nicht sagen, ob sie wirklich vernichtet wurde", sagte Spikes. Aber wenn sie in diese Explosion reingeraten ist dürfte ihr das den Garaus gemacht haben, falls die Todeselfen es nicht geschafft haben, ihr die Eingeweide rauszusprengen."
"Das bleibt streng geheim", sagte Wishbone. "Wenn die Aktion gelungen ist werden wir vermelden, daß wir sie in eine Explosionsfalle gelockt haben. Die verwendung von Hauselfen als lebende und apparierfähige Sprengkörper kommt in den Dunkelschrank für nie zu veröffentlichende Akten!" Befahl der amtierende Zaubereiminister.
"Verstanden", erwiderte Spikes. Er kontrollierte noch einmal die faßartige Vorrichtung. Keine Bewegung im Umkreis der aufgebauten Meldezauber mehr. In einer Stunde würden sie nachsehen, was vom grauen Haus noch übrig war. Hoffentlich fanden sie dabei die Überreste der Brutkönigin und konnten so ihren Erfolg bestätigen.
"Ich schnapp dich bald, Wishbone", keuchte Valery, die gerade wieder in ihrer Stadt im Dschungel in ihrer Legekammer hockte und nun dabei war, die restlichen unfruchtbaren Eier loszuwerden, um dann ihr übliches Bevölkerungswachstumsvorhaben fortzusetzen. Noch einmal fühlte sie dieses Ziepen im Bauch. Doch keiner der Kamikazekobolde erschien in ihrer Nähe. Offenbar wurde der so weit zurückgeworfen, wie er beim Disapparieren von ihr entfernt gewesen war und hauchte womöglich in mehreren hundert Kilometern Entfernung sein armseliges Sklavendasein aus.
"Soll dieser Schweinehund erst einmal glauben, der hätte mich erledigt", dachte Valery Saunders. "Wie sagen die Klingonen: Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird. Und ich kriege dich und alle anderen Hexen und Zauberer eiskalt, wenn ich genug neue Kinder habe."
Anthelia hatte wie alle außer Wishbone und den Vertrauten seiner My-Truppe keine Ahnung vom vereitelten Vernichtungsschlag gegen Valery Saunders. Sie stand am Morgen des vierten Julis vor einem kleinen Haus im Norden Australiens. Der Winter auf dem Südkontinent blies ihr kalten Wind um die Ohren. Hier wollte sie sich mit Dara Flint treffen, einer früheren Anhängerin des Spinnenordens. Wochenlang hatte sie ihr Eulen geschickt, ihr gesagt, daß sie trotz aller anderslautender Gerüchte nicht tot und verschwunden sei und sich wieder um ihre Mitschwestern in aller Welt kümmern wollte. Doch die Eulen waren nicht zurückgekehrt. Anthelia erinnerte sich gut an ihr Treffen mit den deutschen Schwestern, die ihr zugehört hatten, aber diese unbezähmbare Abneigung geäußert hatten, sich ihr wieder anzuschließen. Ihr war damals nichts anderes übriggeblieben, als einen Folgsamkeitsfluch auszusprechen, der die Familien der ungehorsamen treffen sollte, wenn diese auf eine offene oder verdeckte Weise gegen sie vorgehen würden. Das hatte die früheren Bundesschwestern zumindest dazu bekniet, ihr nicht in den Rücken zu fallen. Sie setzte zwar auf Überzeugung. Aber bei Leuten wie Marga Eisenhut genügte das wohl nicht mehr. Danach war sie durch Frankreich gereist und hatte die dort lebenden Bundesschwestern um sich geschart. Diese hatten ihr vom Tod Zoé Beaumots berichtet und daß demnächst eine neue Gesamtsprecherin der heimlichen Schwesternschaft erwählt würde. Dort wie in Italien, Spanien, Portugal und auf den Inseln Korsika und Sardinien war es ihr ohne Gewaltandrohung oder ausgesprochene Flüche gelungen, die verstreuten Mitschwestern zurückzugewinnen. Und jetzt stand sie vor einem Haus zwanzig Kilometer von der australischen Nordküste entfernt und mußte wieder damit rechnen, auf Verehrung und Freude oder Enttäuschung und Abscheu zu stoßen.
Ihre besondere Wahrnehmung für fremde Gedanken verriet ihr, daß im Haus außer mehreren Ratten niemand war. Dara Flint hielt sich ein Dutzend magisch gezüchtete Ratten, die hervorragende Boten, Kundschafter und Artisten sein konnten, wenn sie richtig abgerichtet waren. Wenn hier noch ein Mensch war, hatte der sich wohl okklumentisch abgesichert. Anthelia mmußte es riskieren und hob ihren silbergrauen Zauberstab. "Homenum Revelio!" Dachte sie. Nur wenige konnten diesen Aufspürzauber ungesagt wirken, der ausschließlich menschliches Leben anzeigte. Tatsächlich erfaßte sie damit fünf Menschen in knapp hundert Metern Umkreis. Einer war im Haus. Die anderen in einem genauen Umkreis von neunzig Metern versammelt. Anthelia horchte mit ihren besonderen Sinnen. Die hatten sich alle gegen das Gedankenhören abgeschirmt? Da apparierte unmittelbar vor ihr eine spindeldürre Hexe mit maisblondem Haar und hellgrauen Augen. Das war Dara Flint.
"hast du dich also wirklich hergetraut", sagte die Hexe mit australischem Akzent. "Wir wollten schon wetten, daß du es aufgibst, wenn keine deiner geliehenen Eulen zu dir zurückkommt."
"Willst du damit sagen, daß du und die anderen sechs beschlossen habt, euch mir zu verweigern?" Fragte Anthelia verdrossen. "Hocken die alle hier in der Gegend und hören mit?"
"So verhält es sich, Anthelia. Wir wissen zwar noch nicht, wie dir das gelungen ist, doch noch das Duell mit Daianira zu überleben und erst so spät zurückzukommen. Aber wir haben beschlossen, uns von dir nicht mehr führen zu lassen."
"So, das habt ihr", erwiderte Anthelia und war darauf gefaßt, gleich aus dem Hinterhalt angegriffen zu werden. "Ihr wißt, daß ihr erst aus dem Treueeid freikommt, wenn ich tatsächlich tot bin. Hat euch das nicht gewundert, daß mein Verratsunterdrückungsfluch immer noch wirkte, obwohl ich doch angeblich verschwunden war?"
"Dein netter Fluch wirkt nicht mehr, Anthelia. Als du das Duell bestritten hast und wir alle hörten, daß du Daianiras Tochter werden wirst, konnte Lady Nimoe einen Weg finden, den Fluch aufzuheben. Das ging aber nur, wenn wir, die wir dir einmal gefolgt sind, freiwillig einen Großteil unseres Blutes opferten und uns das Blut ihr treuer Mitschwestern zuführen ließen, während sie einen Zauber sprach, der alle früheren Bindungen aufhob. Hast du wohl nicht mit gerechnet, daß das geht."
Anthelia mußte innerlich zugeben, daß sie nicht damit gerechnet hatte. Offenbar war durch die Totalverjüngung und die Gefangenschaft in Daianiras Schoß tatsächlich der Bann so schwach geworden, daß ein einfaches Bluterneuerungsritual ihn gänzlich aufheben konnte. Die Führerin der Spinnenschwestern kochte vor Wut. Doch nach außen wollte sie sich das nicht anmerken lassen. "Und ihr konntet dann alles verraten, was Nimoe wissen wollte?" Fragte sie Dara Flint.
"Alles", sagte Dara. Doch ihre Stimme zitterte ein wenig. Anthelia brauchte die Gedanken der Hexe da vor sich nicht zu lesen. ein winziges Zucken in Daras rechtem Auge und die winzige Unsicherheit ihrer Antwort verrieten ihr, daß Dara log. So bohrte sie noch nach: "Habt ihr ihr auch erzählt, wo unser Hauptquartier ist?"
"Das wolte sie zuerst wissen. Als wir ihr erzählt haben, daß du diese Villa in Amerika als Hauptquartier benutzt hast, beschloß sie, die anderen Schwestern darüber zu infoormieren, außer Daianiras Schwesternschaft, weil zu befürchten stand, daß Daianira deine Anhängerinnen in den Staaten um sich versammelt und du vielleicht unter dem Sanctuamater-Zauber mit ihr zusammenarbeiten und ihr dein Wissen preisgeben würdest, wenn du alt genug seist."
"Soso", erwiderte Anthelia lachend. "Dann wundert es mich doch ernsthaft, wieso Nimoe niemals versucht hat, sich meine ganzen Sachen aus der Villa zu holen, wieso niemand von euch gemeint hat, dort eindringen zu müssen, wo erst alle dachten, ich sei tot und dann, daß ich eh keine Macht mehr hätte. Aber in den Monaten, in denen ich Daianiras unfreiwillige Leibesfrucht war und nichts anderes tun konnte als ihrem ganzen Körper zuzuhören, ist keiner in die Villa eingedrungen. Denn alle meine Sachen waren noch da, als ich nach meiner längst überfälligen Befreiung dorthin zurückkehrte. Du kannst deinen okklumentischen Schutz ruhig aufgeben, Schwester Dara. Wenn du schon nicht anständig schwindeln kannst, mußt du deine Gedanken auch nicht vor mir verbergen. Ihr konntet die Lage des Hauptquartiers nicht verraten, solange die Geheimniswahrerin nicht wirklich tot war. Und ich denke auch nicht, daß ihr Nimoe alles erzählen konntet, weil sie sonst darauf ausgegangen wäre, die anderen Mitschwestern ebenfalls aus dem Bündnis mit mir zu lösen. Somit muß ich davon ausgehen, daß mein Treuefluch noch immer wirkt. Falls nicht, dann solltest du es dir genau überlegen, ob du dich gegen mich stellst und damit jede Möglichkeit verspielst, die ehrenvolle Führung der Hexen auf diesem Planeten mitzugestalten."
"Du bist keine von uns", sagte Dara. "Du hast uns erzählt, wir müßten uns versammeln, um die Muggel zu zwingen, ihre ganzen Maschinen aufzugeben und unter unserer Führung mit der Natur in Einklang zu leben. Und was hast du getan? Du hast diese widerlichen Entomanthropen aufgeweckt, sogar neue gezüchtet, die die vereinigten Staaten terrorisieren. Das ist ganz gegen die Ziele der erhabenen Schwesternschaft."
"Offenbar habt ihr hier in diesem abgelegenen Land nicht mitbekommen, was in Europa passiert ist und sich durchaus auch hier auf diesen kargen Erdteil hätte ausbreiten können", versetzte Anthelia. Dara verzog das Gesicht. "Ah, habt ihr es hier unten drunter doch mitbekommen, daß der Emporkömmling uralte Krieger wiedererweckt hat, um seine Vorstellungen von Macht durchzusetzen."
"Wir mußten es wohl feststellen", knurrte Dara. "Aber du hast nicht besser gehandelt als der Emporkömmling. Und am besten verschwindest du gleich von diesem - wie sagtest du? - kargem Erdteil und läßt uns hier in Ruhe. Wir haben beschlossen, uns nicht mehr mit dir einzulassen."
"Dann sollen die anderen, die du mit "Wir" einbeziehst mir das genauso ins Gesicht sagen wie du!" Bestand Anthelia darauf, Klarheit zu erhalten.
"Sie haben mich beauftragt, dir das zu sagen", erwiderte Dara.
"Und hocken im Umkreis von hundert Metern und hören mit, was hier gesagt wird", schnarrte die Führerin der Spinnenschwestern. "Offenbar trauen sie sich doch nicht, mich, eine wohl dem totalen Zerstörungswahn zugetane Hexe, zurechtzuweisen. Und wenn Nimoe wirklich von dir erfahren hat, was du über unseren Orden weißt, so wundert es mich, daß sie selbst nicht hier ist und mich zum Duell fordert, wie es Daianira getan hat." Das wirkte offenbar. Denn Dara wich einen halben Schritt vor Anthelia zurück. "Warum beweist du mir nicht, daß du es wert bist, ohne mich auszukommen und forderst mich zum Duell heraus? Warum überzog Nimoe nicht diesen Erdteil mit jenem Zauber, den der Emporkömmling über seine geraubte Domäne gespannt hat? Waren Nimoe so viele unbedeutende Menschenleben nicht wert, mich als ihre größte Feindin aus diesem Land fernzuhalten oder meinen sofortigen Tod herbeizuführen, als ihr klar wurde, daß ich nicht aus der Welt war und auch nicht als kleines, wimmerndes Wickelkind in diese zurückkehren würde? Wo ist also eure große Hoffnung auf eine von mir unabhängige Zukunft?"
"Sie hat wichtigeres zu tun. In unserem Land treibt sich eine Bestie herum, die in Gestalt einer Riesenspinne daherkommt, aber wohl früher eine mächtige Magierin gewesen sein soll. Sie hat sich dazu entschlossen, dem Zaubereiministerium zu helfen, diese Kreatur zu jagen. Deshalb ist sie nicht hier."
"Ich hörte sowas ähnliches, daß hier eine aus einem Felsen befreite Riesenspinne herumlaufen soll, die angeblich aus dem alten Reich stammt", sagte Anthelia unbeeindruckt. Sie hatte die Gerüchte gehört, daß es hier ein Wesen gäbe, das gerade vom Zaubereiministerium verzweifelt gesucht wurde. Sie mochte sich auch vorstellen, daß dieses Wesen die als Spinne lebende Verkörperung einer alten Magierin sein mochte. Aber wenn diese Magierin keine nach außen wirkbaren Zauberkräfte anwenden konnte, war sie nur ein besonders großes, zugegebenermaßen intelligentes Tier, dem man irgendwann beikommen würde. Wenn Nimoe Fungrove wirklich fand, sie, Anthelia, sei erledigt, so daß sie sich um dieses Ungeheuer kümmern konnte, war das eine Beleidigung.
"Die anderen mögen bitte vor mich hintreten und mir sagen, was du mir gerade ins Gesicht gesagt hast, Dara Flint!" Stieß Anthelia aus. "Ich werde dann prüfen, ob ihr wirklich aus meinen Diensten freigekommen seid."
"Wir sind freigekommen", erwiderte Dara Flint gereizt. "Du kannst und wirst uns nicht dazu zwingen, dir wieder zu folgen, wo du dieses Ungeheuer in den Staaten erschaffen hast, das unschuldige Hexen und Zauberer umbringt, um deren Zauberkraft in sich einzulagern."
"Dann muß ich davon ausgehen, daß ihr euch nicht so sicher fühlt, ohne mich auszukommen, wenn Nimoe nicht einmal herkommen konnte, um mit mir abzurechnen. Vielleicht hat sie Angst, ihr könne das gleiche passieren wie Daianira."
"Ich habe dir nichts mehr zu sagen, Anthelia. Verschwinde von hier! Oder wir lassen dich verschwinden, und zwar so, daß du nicht wieder zurückkehrst, egal in welcher Form."
"Das muß ich als Drohung werten, Schwester Dara", zischte Daianira und horchte auf ihr Seelenmedaillon. Es vibrierte und drängte in Daras Richtung. Also war sie noch von dem Treuefluch erfüllt, den Anthelia damit ausgeführt hatte. Die Oberste des Spinnenordens lächelte. Dara hätte sie fast verladen.
"Wenn du mich loswerden willst mußt du mich töten", knurrte Anthelia.
"Wie du meinst", sagte Dara und hob ihren Zauberstab. Sie sprach jedoch nicht den tödlichen Fluch aus, wie Anthelia gedacht hatte, sondern rief "Os Terram devorato!" Anthelia fühlte, wie unter ihr der Boden weich wurde. Doch da schossen gleißende, blauweiße Flammen aus Daras Körper. Sie fand noch nicht mal Zeit, einen Schrei auszustoßen. Mit einem lauten Fauchen zerfiel Daras Körper zu Asche, bevor sie den dafür nötigen Atem hätte holen können. Der Sog der Erde, der Anthelia verschwinden lassen sollte, ließ so schlagartig nach, wie er eingesetzt hatte. Anthelia konnte sich aus der Erdmulde lösen, die sich fast zum Schlund ausgewachsen hätte.
"ich wußte, daß der Fluch nicht ganz getilgt worden sein konnte", sagte Anthelia laut, darauf hoffend, daß die vier anderen, die mithörten, das auch mitbekamen. "Habt ihr gedacht, ein wenig Blut zu geben und euch von anderen Hexen Lebenssaft einflößen zu lassen würde den Fluch aufheben? Wenn Nimoe euch das erzählt hat, dann seid ihr schön hereingefallen. zeigt euch mir also!"
Anthelia wartete eine Minute. Dann rief sie erneut den Menschenaufspürzauber auf. Der verriet ihr nun, daß niemand mehr da war. Sie waren alle geflüchtet, als Dara mit ihrem aktiven Verrat gegen Anthelia ihr eigenes Leben verwirkt hatte. Die höchste Schwester des Spinnenordens ärgerte sich darüber. Denn jetzt mußte sie, so leid ihr das tat, die Untreuen bestrafen. Sie hob den Zauberstab und rief Dairons Strafgericht, einen Zauber, der in Verbindung mit seinem Treuefluch jede Eidbrüchige je nach Härte des Eidbruches peinigte oder wie Dara unverzüglich im schwarzmagischen Flammenwirbel vergehen ließ.
Wanda Stabbins, eine der früheren Anhängerinnen Anthelias, hatte mit ihrem Schallansaugrohr alles mitgehört. Angstschweiß schoß ihr aus den Poren. Sie sah nur noch ihr Heil in der Flucht. Beinahe hätte sie ihre okklumentische Balance verloren und Anthelia so wissen lassen, wo sie hinapparieren wollte. Doch es gelang ihr noch, sich abzusetzen, ohne einen verräterischen Gedanken zu äußern. Sie wußte, daß sie nicht zu Lady Nimoe laufen und von Anthelias Begehren erzählen konnte. Aber sie mußten wen finden, der oder die mit Anthelia fertig wurde, bevor diese noch einmal solche Kreaturen wie die Entomanthropen erschaffen würde. Sie apparierte in der Nähe des geheimen Schlupfwinkels, den ihre drei anderen ehemaligen Mitschwestern erwählt hatten, um vor Nimoes Nachstellungen sicher zu sein. Denn diese hatte ähnlich wie Daianira darauf bestanden, daß alle Entschlossenen sich ihr wieder anschlossen. Doch sie hatten nun genug von Hexen, die die Weltherrschaft erringen wollten.
"Kann sie uns hier finden?" fragte Wanda ihre ehemaligen Mitschwestern, als sie in jenem geheimen Haus saßen.
"Mein Fidelius-Zauber macht uns unauffindbar", erwiderte Gladys Moreville, eine Hexe Mitte fünfzig, die damals dafür eintreten wollte, Anthelia zur hiesigen Sprecherin der Entschlossenen zu machen und seit der Nachricht von den Entomanthropen eine erbitterte Widersacherin geworden war.
"Dann bleiben wir alle erst einmal hier. Diese Furie kann nicht den ganzen Kontinent absuchen. Ich dachte, das Blutopfer habe uns geholfen."
"Offenbar nicht", schnarrte Kimberly Corncracker, eine Hexe Mitte zwanzig, die als Halbmuggelstämmige nur bei Anthelia mitmachen wollte, um sich an den Shadelakers zu rächen, die sie in der Zeit in Redrock immer wieder drangsaliert hatten.
"Vielleicht war es doch nicht richtig, ihr so offen abzuschwören", sagte die vierte Abtrünnige. "Womöglich regeneriert sich dieser alte Fluch, wenn die, die ihn ausspricht mit der konfrontiert wird, die ihm widerstehen will."
"Dann war es auf jeden Fall richtig, ihr nicht zu sagen, daß wir nichts mehr mit ihr zu schaffen haben wollen", sagte Kimberly.
"Wir können sie nicht töten oder jemanden schicken, der das macht", sagte Wanda. "Wir können uns nur vor ihr verstecken."
"Für wie lange", wollte Gladys Moreville wissen.
"Bis wir eine Möglichkeit haben, den Fluch loszuwerden. Anthelia kam ja auch irgendwie aus Daianira frei", sagte Gladys. "Vielleicht können wir den Zauber wieder umdrehen."
"Daianira wurde für tot erklärt. Wenn sie unter einem anderem Namen wiedergeboren wird, verfliegt der Rest ihrer Macht. Wir kommen nicht in die Staaten hinein, ohne von den Yankees sofort erwischt zu werden und ..." Wanda meinte, etwas zu hören, ein Wort, das aus dem Nichts flüsterte. Auch die anderen schienen etwas ungewöhnliches bemerkt zu haben. Dann fühlte sie sich auf einmal so, als wolle etwas ihr die Luft abschnüren. Gleichzeitig war ihr, als renne eine ganze Ameisenarmee über ihren Körper und verspritze ihre Säure. Das Gefühl steigerte sich zu einer immer schlimmer werdenden Angst. Die brennenden Schmerzen wurden zu Stichen, die immer tiefer in ihr Fleisch hineinfuhren. In ihrem Kopf hörte sie nun Anthelias Stimme: "Büße und bereue! Büße und bereue!" Gladys Morvilles Körper, so sah es für Wanda aus, wurde von einer grünlichen Aura umflossen. Gleichzeitig erkannte Wanda im Gesicht der Kameradin rote Flecken, die immer größer und dunkler wurden. Es schien, als würde Gladys' Haut Blasen werfend verbrennen. Da schrie Gladys laut auf. Nun meinte Wanda, die herrische Stimme Anthelias auch im Raum selbst zu hören: "Büße und bereue!" Gladys schrie lauter und zuckte wild wie unter gewaltigen Schlägen. Kimberly zitterte wie vor Kälte. Wanda konnte den Drang zum schreien auch nicht mehr unterdrücken, so stark piesackten sie die Stiche in den Körper. Vor ihren Augen flimmerte die Luft. Dann sahen sie alle, wie Gladys von einem Moment zum anderen in hellen Flammen stand. Mit einem letzten Aufschrei verglühte die älteste von ihnen innerhalb von zwei Sekunden zu einem Haufen Asche. "Büße und bereue!!" Drang Anthelias Forderung nun von allen Seiten an Wandas Ohren und Geist. Kimberly zitterte immer wilder. Ihre Lippen liefen blau an, als stünde sie nackt in eiskaltem Wasser. Wanda fühlte, wie die Stiche immer schlimmer wurden. Sie meinte, von hunderten von Dolchen zerstochen und zerschnitten zu werden. Gleich würde sie wohl vor den andren in ihre einzelnen Teile zerfallen, dachte sie, während ihre Lungen keuchend Luft sogen, um sie in weiteren Schmerzensschreien wieder hinauszupressen. Wanda fühlte Tränen, die wie Säure brannten über ihr Gesicht strömen. Sie fiel auf die Knie und rief ins Nichts hinaus: "Ich bereue! Ich bereue es, Höchste Schwester!" Sie wußte, daß sie verloren hatte und wußte auch, daß Anthelia sie aus sicherer Entfernung strafen und töten konnte, so wie sie Gladys getötet hatte. Die beiden noch lebenden kämpften mit ihren ganz eigenen Peinigungen. Kimberly warf sich auf den Boden. Sie konnte sich schon fast nicht mehr rühren, so heftig laugte sie das aus, daß sie bei hier noch angenehmen Temperaturen erfrieren lassen wollte. Dann rief auch sie aus, daß sie bereute. Die letzte rief nur: "Fahr zur Hölle, Anthelia!" Da schoss um sie herum eine blutrote Feuersäule aus dem Boden, und mit einem letzten Aufschrei verschwand sie wie vom Boden verschluckt. Die Flammensäule fiel mit lautem Wuff in sich zusammen und hinterließ einen Krater mit rotglühendem Rand.
"Dann kehret zu mir zurück!" Hörten Sie nun Anthelias in den Raum hineindringende Stimme. Wanda und Kimberly fühlten, wie die Qualen nachließen. "Zeigt euch mir und gelobt mir neue Gefolgschaft!" Befahl Anthelias Stimme. Wanda und Kimberly gehorchten und apparierten dort, wo Anthelia mit Dara Flint zusammengetroffen war.
"Nur ihr?" Fragte die höchste Schwester. Wanda erzählte unter Tränen, was mit den beiden anderen passiert war.
"Jede hat die ihr am grausamsten erscheinende Qual erfahren", sagte Anthelia. "Doch nun seid ihr zu mir zurückgekehrt. Gelobt nun also, mir weiterhin zu folgen, wenn ihr nicht in den nächsten zwei Stunden erneut von meiner Strafe getroffen werden und dann unerbittlich bis zum Tode gepeinigt werden wollt!" Die beiden Hexen gelobten Anthelia ihre weitere Gefolgschaft. Was blieb ihnen auch anderes übrig, wo sie erfahren mußten, wie nachhaltig das Bündnis mit ihr besiegelt worden war? Dann verriet Anthelia ihnen, daß sie demnächst alle ihr abtrünnigen Entomanthropen genauso gnadenlos vernichten würde, wie sie die fast von ihr losgesagten australischen Mitschwestern getötet hätte.
Wishbone betrachtete die Verwüstung, die die Falle für Valery Saunders verursacht hatte. Von den ausgeschickten Hauselfen, die den unumkehrbaren Befehl hatten, sich mit der Entomanthropenkönigin in die Luft zu sprengen, bestenfalls direkt in ihren verfluchten Eingeweiden zu apparieren, war keiner zurückgekehrt. Seiner Rechnung nach hätte einer doch völlig ausgereicht. Doch als seine Leute ihm Spuren der Zerstörung zeigten und er mehrere weiträumig verstreute Überreste von Hauselfentüchern und den in tausende von Stücken zersprengten Helfer sah, dämmerte ihm, daß seine Aktion außer dem Tod von sieben Hauselfen und einer geldgierigen Hexe nichts eingebracht hatte. Denn nirgendwo fanden sich Reste der Brutkönigin. Nichts wies darauf hin, daß Valery Saunders' monströse Daseinsform bei dieser gnadenlosen Aktion vernichtet worden war. Das graue Haus war hochgradig renovierungsbedürftig, zumal die darin aufgerufenen Zauber durch die Zerstörungen außer Kontrolle geraten waren und sich restlos entladen hatten, wobei es zu zahllosen Folgeexplosionen und Verbrennungen gekommen war. Es war gut gewesen, nicht vor einer Stunde nach dem gemeldeten Tod der als Köder benutzten Hexe herzukommen. Sonst wären an diesem Tag wohl noch ein paar unschuldige Zauberer mehr gestorben.
"Das muß absolut geheim bleiben", sagte Wishbone zu Spikes. "Allein der Verlust der Hauselfen könnte uns großen Ärger einbringen. Wir müssen einfach behaupten, daß sie mir weiterhin zur Verfügung stehen. Das mit der Kriminellen, die gestorben ist erklären wir mit einer versuchten Flucht, bei der sie sich und zwei Wächter getötet hat. Aber wie das wirklich abgelaufen ist darf niemand wissen, Mr. Spikes."
"Wie können wir dieses Biest erledigen? Diese Brutkönigin weiß doch genau, was passiert ist."
"Sie wird sich totstellen und dann, wenn wir nicht mehr darauf gefaßt sind, zurückschlagen", seufzte Wishbone. Er hatte dieses Ungeheuer gründlich unterschätzt. Es würde sich einstweilen in seinem Versteck aufhalten, höchstwahrscheinlich noch hunderte von Nachkommen ausbrüten und dann einen hohen Blutzoll unter den Hexen und Zauberen einfordern. Er sah seine ganzen Mühen in Trümmern gehen, die nordamerikanische Zaubererwelt sicher zu machen. Die Wiederkehrerin lebte noch irgendwo und mochte vielleicht weitere Ungeheuer vom Schlage Valery Saunders' erschaffen. Daianira war beim Versuch, dieses Monstrum direkt zu erledigen gestorben, was er innerlich nicht gerade bedauerte, weil diese Hexe im Verdacht stand, einer ministeriumsfeindlichen Hexenschwesternschaft anzugehören. Hinzu kamen noch diverse diplomatische Bußgänge, nachdem der Unnennbare in Großbritannien erledigt war. Die amerikanischen Händler schrien bereits jetzt schon nach üppigem Schadensersatz für die Verdienstausfälle. Außerdem begehrten nun alle von ihm aus Sicherheitsgründen entlassenen Hexen auf und verlangten Verdienstausfallszahlungen oder eine Wiedereinstellung zu besseren Konditionen. Cartridge wäre unter dieser aufgetürmten Last sicher schon längst zurückgetreten, dachte Wishbone. Aber er würde sich noch nicht geschlagen geben. Er würde diese beiden weiblichen Monster jagen, diese Brutkönigin und jene, die sie auf die Welt losgelassen hatte.
"Ich fürchte, Honey, du wirst dich bei vielen Leuten entschuldigen müssen und dann um Hilfe gegen diese Monsterbiene bitten müssen", sagte seine Tante Tracy, als er mit ihr im unabhörbaren Schlafzimmer des kleinen Luftschiffs war.
"Toller Ratschlag, Tantchen", schnarrte Wishbone. "Ich müßte jetzt eigentlich eine Massenevakuierung der Zauberergemeinden veranlassen und unsere magischen Mitmenschen weit über die Welt verteilen, Thorntails und Dragonbreath bis auf weiteres schließen und eine Verpflichtung aller kampferfahrenen Zauberer des Landes verordnen, um diesem Übel beizukommen. Welche Folge hätte das? Unsere ganze Zivilisation würde zusammenbrechen."
"So sieht es aus, wenn du nicht so argumentierst, daß du verpflichtet bist, gegen jede Form der Bedrohung anzukämpfen. Andererseits stimmt es schon. Wenn du jetzt Viento del Sol und andere Zauberergemeinden evakuieren und die Schulen schließen läßt, könntest du auch gleich das Ministerium zumachen, weil dann jeder Zauberer und jede Hexe nur noch den eigenen Ansichten und Plänen folgt. Nein, du mußt diesen Vorfall verschweigen, so gemein es auch ist. Außer dieser Betrügerin, die versucht hat, durch Verwirrungs- und Gedächtniszauber aus der Muggelwelt gekaufte Aktien um ein vielfaches teurer zu machen, hat deine Aktion kein Todesopfer zu beklagen. Die paar Spinner, die das Leben eines Hauselfen dem eines zauberers gleichsetzen kannst du zur Not noch damit auf Abstand halten, daß diese Hauselfen für das Land und sie alle gearbeitet und in ehrenvoller Befolgung ihrer Dienste ihr Leben gegeben haben."
"Tante Tracy, ich kann nicht so tun, als wäre das nicht passiert. Wenn diese Monsterbiene getötet worden wäre, hätte ich es groß in die Zeitung bringen können. Jetzt, wo sie wohl noch lebt, müssen wir jeden Tag mit einem Rachefeldzug rechnen."
"Ach, und die ganze Zaubererwelt lahmzulegen und alles zu zerstören, was deine Vorgänger aufgebaut haben ist der bessere Weg?" Fragte Tracy Summerhill ihren Neffen und Liebhaber.
"Wenn dieses Monster jetzt zurückschlägt, ohne daß ich Schutzvorkehrungen getroffen habe ..."
"Kannst du das als unerwarteten Angriff hinstellen, da du nicht in jedem Land die Sachen überwachen konntest, Honey", unterbrach Tracy Summerhill den Zaubereiminister.
"Und wenn sie wieder einen Brief verschickt?" Fragte Wishbone.
"Kannst du die als durchgeknallt hinstellen und behaupten, sie habe einen Grund erfunden, um sich auszutoben. Verstärke die Schutzmannschaften in den magischen Dörfern! Siedele alle anderswo lebenden Hexen und Zauberer dorthin um! Dann hast du auch eine gewisse Kontrolle, wer was macht. Berufe dich darauf, daß nach dem Cloudy-Canyon-Massaker solche Maßnahmen erforderlich sind. Was die Zaubererschulen angeht, so bietet dir diese Ausnahmesituation die Möglichkeit, Einfluß auf den Schulbetrieb zu gewinnen. Fudge hat es in Großbritannien doch auch hingebogen, Einfluß auf Hogwarts zu kriegen."
"Ja, bis der Massenmörder Voldemort gezeigt hat, daß er doch wieder aufgetaucht ist und Fudges Kampagne gegen Dumbledore und Harry Potter nicht nur hinfällig wurde, sondern ihm sogar um die Ohren flog. Was du weißt wissen auch die Leiter von Thorntails und Dragonbreath. Sie würden damit argumentieren, daß die Schulen sich selbst gut verteidigen können. Auch wenn Wright weiß, daß diese Valery durch Apparitionswälle brechen kann, wird sie darauf beharren, ihre Eigenständigkeit zu behalten, so gern ich ihr da widersprechen möchte. Aber du hast insofern recht, daß ich ihr den Zauberstab auf die Brust setzen kann und verlangen kann, mindestens zwanzig Schutzzauberer in Thorntails stationieren zu dürfen, weil ich ansonsten nicht für die Sicherheit der Schüler garantieren könne und daher nur die Schließung als Alternative bliebe."
"Ernestine Wright ist mit den vieren, die sich unter deiner Nase bei uns eingeschlichen haben nach England, um deren weiteren Unterricht abzuklären, nicht wahr?"
"Wenn sie gescheit waren", sagte Wishbone. "Vielleicht sollte ich Ernestine Wright in Abwesenheit wegen versuchten Umsturzes anklagen, damit sie einstweilen nicht wiederkommt, ohne verhaftet zu werden."
"Na, welche subversiven Gedanken hast du denn jetzt, Geliebter?" Fragte Tracy Summerhill. "Du machst nur das, was gerade ausreicht, um die Sicherheit zu verbessern. Eine Anklage würde ich nur führen, wenn du auch Beweise hättest, daß Ernestine Wright irgendwas umstürzlerisches getan hätte. Immerhin hast du ja die Genehmigung ausgesprochen, daß die vier Schüler solange in Thorntails bleiben sollten, wie die Lage in ihrer Heimat gefährlich für sie ist. Alles andere wäre nicht nur unrechtmäßig, sondern würde dir beim kleinsten Fehler hundertfach heftiger um die Ohren fliegen als die ganzen aus der Muggelwelt eingeschmuggelten Sprengladungen."
"Das könnte man mir schon als Fehler anrechnen", sagte der Minister. Seine Tante nickte. Er dachte einen Moment darüber nach, daß er eigentlich jeden mit Gedächtniszaubern belegen müßte, der von der Aktion Angelköder gewußt hatte, bei seiner Tante angefangen über alle unmittelbar beteiligten der My-Truppe. Vielleicht sollte er das in den nächsten Stunden überdenken. Doch seine Tante sagte rasch:
"Wenn das mit den Sprengladungen nicht geklappt hat, dann frage in Frankreich an, was das mit diesen Drachen auf sich hatte, die gegen die Schlangenwesen gekämpft haben oder tritt mit dem oder denen in Verbindung, der oder die diese Riesenvögel herbeigerufen hat/haben!"
"Und wenn es andere Dunkelmagier sind, die diese Ungeheuer gelenkt haben?" Fragte Wishbone. "Das letzte, was ich mir noch zu Schulden kommen lassen will ist, mich mit Zaubererweltverbrechern einzulassen und mich von denen abhängig zu machen. Dann könnte ich ja gleich mit dieser Sardonianerin Kontakt aufnehmen."
"Ist dir vielleicht schon einmal der Gedanke gekommen, daß diese Hexe selbst mit ihrer Züchtung sehr unglücklich ist? Ich meine, sie hat mehrere Brutköniginnen erschaffen. Aber die eine ist ihr entglitten und eigenständig geworden. Eine Hexe, die es gewohnt ist, Macht zu besitzen und auszuüben, kann das nicht untätig hinnehmen."
"Warum hat sie dann noch nicht bei mir angefragt, ob wir uns gegenseitig helfen können?" Wollte der Zaubereiminister wissen.
"Weil du ihr nicht glauben würdest, daß sie dieses Geschöpf am liebsten wieder loswerden würde", vermutete Tracy Summerhill. Ihr Neffe schüttelte den Kopf. "Denkst du denn, die wollte eine Brutkönigin, die durch alle Wälle durchapparieren kann, gegen die stärksten Flüche immun ist und ihr ganz eigenes Leben durchzieht. Sie hat es doch damals versucht, als diese Valery zum ersten Mal aufgetaucht ist."
"Wir hätten sie damals verhaften sollen", sagte Wishbone. "Aber wir konnten es nicht", setzte er nach. "Die würde sich nicht auf zehn Meter an meine Leute herantrauen, um dieses Biest zu vernichten, falls die das wirklich je vorgehabt hätte."
Ich habe eine Idee, die dir helfen wird. Du behauptest in der Zeitung, daß die Sardonianerin dir das Angebot gemacht hätte, diese Brutkönigin zu vernichten, wenn du ihr dafür das Zaubereiministerium überläßt. Darauf konntest du natürlich nicht eingehen. Dann behauptest du noch, daß du vermutest, daß sie sowieso keine Möglichkeit hätte, diese Bestie zu vernichten und daß sie zu schwach sei, die von ihr gerufenen Drachen wieder loszuwerden. Gleichzeitig nimmst du Kontakt mit Grandchapeau in Frankreich auf und fragst den, woher die Drachen genau kamen, die gegen die Entomanthropen gekämpft haben. Wenn er dir die Kontakte dahin machen kann, bestellst du heimlich ein paar von diesen Drachen und ..."
"Punkt eins kann ich machen, Tracy. Punkt zwei, das mit den Drachen, hieße mich mit dubiosen Leuten einzulassen. Dann könnte ich wirklich hingehen und dieser Sardonianerin das Zaubereiministerium anbieten, nur damit sie diese Valery erledigt."
"Wie du meinst, Lucas", schnarrte Tracy Summerhill verdrossen. Dann merkte sie an, daß ihr Neffe einen harten Tag hinter sich gebracht habe und dringend schlafen müsse. Dieser dachte erst, sie wolle wieder eine Liebesnacht mit ihm verbringen. Doch als sie sich demonstrativ in jene schwarz-goldene Katze Reny verwandelte, die er in der Öffentlichkeit immer in seiner Nähe hatte, verstand er, daß sie wirklich nur wollte, daß er schlief.
Anthelia stand zehn Meter von Patricia Straton entfernt. Beide fühlten, daß ihre jeweiligen Schmuckstücke einander abstießen. Der Wandkalender zeigte, daß sie heute den siebten Juli schrieben. Anthelia hatte diesen Tag als ihren Widergeburtstag gefeiert, als Patricia und ihre Mutter sie mit drei anderen Hexen zusammen mit Barty Crouches umgewandeltem Körper vereinigt hatten.
"Am zwanzigsten Juli werde ich alle hiesigen und überseeischen Schwestern zu einer Vollversammlung in unser Hauptquartier bitten, Schwester Patricia. Du wirst hierbleiben und weiterhin für tot und begraben gelten. Ich werde dir mitteilen, was die anderen zu sagen hatten."
"Verstehe, höchste Schwester", erwiderte Patricia Straton. "Hast du die Zeitung schon gelesen. Wishbone behauptet, du hättest ihm angeboten, diese Entomanthropin zu vernichten, wenn er dir dafür das Zaubereiministerium überläßt. Stimmt das?"
"Absolut nicht, weil ich dann schon sein Ministerium hätte", knurrte Anthelia. "Er will mich so darstellen, daß ich entweder diese Bestie losgelassen hätte, um das Land zu terrorisieren oder mich so hinstellen, daß ich die Geister, die ich rief nicht wieder loswerden kann. Gut, mit der zweiten Anmutung hat er bedauerlicherweise bisher recht gehabt. Aber jetzt, wo ich wieder eigenständig handeln kann, werde ich dieses mißratene Monstrum aus der Welt schleudern. Bereits in den nächsten Tagen wird diese Valery Saunders Geschichte sein."
"Warum hast du es dann nicht schon von Daianira erledigen lassen?" Wollte Patricia Straton wissen.
"Sie kam nicht an die niedergelegten Einzelheiten meiner ehrwürdigen Tante. Diese hat damals schon erkannt, daß sie ihre Züchtungen aufgeben müsse und konnte einen Weg bahnen, um diese Wesen wieder loszuwerden."
"Diese Leda freut sich ganz offen, daß sie Daianira neu austragen durfte. Haben wir von der noch was zu befürchten?"
"Wie ich Leda Greensporn kennengelernt habe - auch wenn es meistens durch Daianiras immer dickere Bauchdecke zu hören war - hatte sie wohl auf eine solche Gelegenheit gewartet. Manchmal stritten beide laut genug, daß ich alles verstehen konnte. Meistens ging es um Vorgehensweisen in der Schwesternschaft. Wenn ich was weiß ist es das, daß Leda Greensporn mit Daianiras Vorgehensweise nicht einverstanden ist. Sie jetzt als ihre eigene Tochter wiederzugebären gibt ihr ein gewaltiges Machtpotential. Deshalb wollte Daianira mich ja selbst überhaupt behalten. Und wenn der Sanctuamater-Zauber bei mir gegriffen hätte ..."
"hätte sie mit ihrem und deinem Wissen die Hexenheit übernehmen können, höchste Schwester. Aber diese Entomanthropenkönigin wäret ihr damit nicht losgeworden", erinnerte Patricia Straton ihre Anführerin an dieses Dilemma.
"Ich habe da eine Idee, Schwester Patricia. Wenn meine Vorbereitungen abgeschlossen sind und ich ergründen kann, wo diese Valery und ihr Volk sich aufhalten, greife ich mit den mir noch gehorsamen Entomanthropen an. Der Minister kann ruhig Leute hinschicken, um zu beobachten, wie ich diese Ausgeburt erledige."
"Bist du dir sicher, daß du sie erledigen kannst, höchste Schwester?"
"Im Zweifelsfall muß ich wohl das ultimative Opfer bringen und dabei sterben, um sie zu töten. Aber es wird auch anders gehen." Damit erklärte sie Patricia, wie genau sie den entscheidenden Schlag führen wollte. Wichtig war zunächst erst einmal, das Versteck zu finden. Dann würden alle ihr noch zur Verfügung stehenden Entomanthropen per Versetzungskreis in die Nähe des geheimen Unterschlupfes verlegt. In den Wirren des dann entbrennenden Kampfes würde Anthelia den entscheidenden Schlag austeilen, mit dem sie Valery wie sie hoffte, unwiederbringlich aus der Welt schaffen konnte. Patricia Straton hoffte nur, daß dieses Vorhaben gelang. Denn sonst waren sie alle in der Hand dieser Abscheulichkeit.
Langsam wurde es ihr doch zu eng. Schon die kleinste Arm- oder Beinbewegung stieß auf Widerstand. Dennoch dachte sie, daß es wohl noch drei Wochen oder so gehen würde. Am Ort vor dem Leben war die Zeit nicht in Tag und Nacht eingeteilt. Immerhin hatte sie durch die Bewegungen Ledas, ihrer wartenden Mutter, eine ungefähre Rückmeldung über den Verlauf von Tagen und Nächten. Sie mentiloquierte ab und an mit ihr, um sich darin zu üben. Manchmal ließ ihre frühere Cousine das zu. Manchmal blockierte sie den Empfang übermittelter Gedanken, was sie, die irgendwann demnächst mal einen anderen Namen haben würde, daran merkte, daß der klare Nachhall ihrer Gedankenworte ausblieb. Wieso wollte die da, in deren immer engerem Schoß sie zwischen Werden und Sein festhing ihr nicht sagen, ob sie morgen oder erst in einem Monat rauskam? Wieder fragte sie sich, ob sie das überhaupt wollte. Sie erinnerte sich zu gut an die Erklärungen und Beschreibungen, die die da, deren Kind sie zu werden hatte, ihr gab, als Daianira noch dachte, Anthelias Mutter zu werden. Sie hatte doch schon bei jenem verhängnisvollen Zusammentreffen auf der Druidinneninsel verstanden, daß es für einen bereits entwickelten Verstand schlimmer als ein Kerker sein mochte. Dennoch überkam sie immer wieder dieses Bedürfnis, sich von allem loszusagen und ihre Zeit, so abwechslungslos sie verlaufen würde, in dieser innigsten Obhut zu verbringen, die ihre eigene Base ihr gab. Doch ihr Körper wuchs weiter, und ihr Verstand konnte mit dem schon fertigem Gehirn, das nur wieder an die Außenwelt gewöhnt werden mußte, vieles um sich herum einordnen. Wollte sie leda vielleicht vorschlagen, jeden Tag ein paar Tropfen Verjüngungstrank zu nehmen, um ihr Wachstum zu verlangsamen? Oder ging es auch, daß mit einem Alterungstrank die verbleibenden Wochen übersprungen werden konnten, damit diese lange Warterei und Untätigkeit endlich vorbei war?
"Mom, ich weiß nicht, ob ich nicht doch schon soweit bin", schickte Daianira an Leda eine Gedankenbotschaft.
"Wenn dein Körper meinem zeigt, das er fertig ist, kommst du zu uns raus. Vorher nicht", schickte Leda zurück. "Gefällt es dir nicht mehr?"
"Vor drei Wochen hätte ich mich gefreut, immer so bei dir zu bleiben. Dann würde ich nicht alles neu anfangen müssen und könnte dir helfen, mit dieser widerlichen Wiederkehrerin fertig zu werden."
"Gut, schön", erhielt sie von Leda zurück. "Aber der FMT hält nicht ewig vor, und wie sähe das aus, mehr als ein oder zwei Jahre mit dickem Bauch rumzulaufen. Hättest das wohl gerne bei Anthelia so gemacht, wie?"
"Ich wollte sie kriegen, um ihr einen anderen Weg zu zeigen als den ihrer verfluchten Tante", gedankenschnaubte Daianira.
"Sieh mal, da hast du deine Antwort, warum das gut so ist, daß du bald ans Licht darfst. Deine Wiege ist schon im Haus, und die halbe Verwandtschaft hat süße Babysachen geschickt. Aber bevor ich dich rauslasse noch die Frage, ob du lieber in einem Tragetuch oder einem Tragekörbchen herumgetragen werden willst?"
"Und ich dachte schon, du wolltest mich fragen, ob ich lieber die Brust oder die Flasche haben würde", schickte Daianira zurück.
"Die Frage stelle ich dir nicht. Wenn du mir erfolgreich entschlüpft bist, ernähre ich dich so natürlich das sich gehört. Du kriegst das schon hin, da ranzukommen. Also, Tragetuch oder Körbchen?"
"Wenn ich schon nicht entscheiden muß, wie du michtränkst und fütterst nehme ich das Tragetuch, das du mir für die undankbare Wiederkehrerin besorgt hast."
"in Ordnung", schickte Leda zurück. "Dann entspann dich und genieße es, Lysithea. Wenn es losgeht, gibt es keinen Weg mehr zurück."
"Das hat Anthelia sich auch sagen lassen müssen, und ich weiß es jetzt auch besser, daß es doch diesen Weg zurückgibt. Frag mal die kleine Larissa, wie gut das geht."
"Die ist mit ihrer Mom gerade in England, ihre Cousine Miriam besuchen", bekam Daianira Ledas Antwort.
"Warum wolltest du nicht die Sprecherin der Entschlossenen sein, Leda?" Sie bekam keine Antwort. So fragte die Ungeborene: "'tschuldigung, Mom! Warum machst du nicht, was Daianira vorher gemacht hat?"
"Weil ich das nicht wollte. Und jetzt schlaf und genieße die letzte Zeit, bis es soweit ist. Ich will von dir erst wieder was aus deinem eigenen Mund hören."
"Dann sage mir bitte noch, welcher Tag heute ist, Mom!"
"Der siebte Juli, Honey", bekam sie noch zur Antwort. Dann verschloß Leda ihren Geist wieder. Daianira verabschiedete sich schon einmal von ihrem früheren Dasein. Wenn schon der siebte Juli war, dann konnte es nur noch vier oder fünf Tage dauern, bis sie als Lysithea Greensporn aus dem schützenden Schoß ihrer Mutter entstieg.
Anthelia besah ihre Vorbereitungen. Sie hatte alles beisammen, was die Blutmischung und den Entomolithen betraf. Mit einem Mundschutz gegen giftige Dämpfe rührte sie in einem Kessel. Dabei sang sie immer die gleiche Litanei: "Ich strecke meine Waffen! Vergeh mit dem, was du erschaffen!" Als sie dann den großen Bernstein in das Gebräu legte, wiederholte sie diese Worte zehnmal. Dabei sah sie, wie der gelbe Stein immer mehr zu einem grünen Klumpen wurde. Doch als sie nach der Aktion den Stein mit einer silbernen Zange aus dem Kessel holte und den Stein der Sonne aussetzte, färbte der sich wieder gelb. Allerdings war die darin eingeschlossene Insektenleiche, ein Urweltkerbtier von beachtlicher Größe, nun fast nicht mehr zu erkennen. Anthelia wußte, daß sie mit diesem Stein nicht mehr lange würde weiterarbeiten können. Sie mußte jetzt zwei Sachen erledigen, den Schlupfwinkel Valerys finden, ohne selbst gefunden zu werden und dann alle in die Staaten transportierten Entomanthropen dorthin verlegen. Schaffte sie das vor dem Ende des Monats, konnte sie Valery direkt angreifen. Sie mußte nur eine ihrer Entomanthropen finden, die sicher als Kundschafter in den Staaten lauerten. Da las sie in der Zeitung, daß der Zaubereiminister angeblich von ihr angeboten bekommen hatte, die Brutkönigin zu vernichten, wenn er ihr dafür sein Ministeramt überließ. Natürlich hatte sich Lucas Wishbone dieser Erpressung nicht gebeugt und rief nun alle seine magischen Mitbürger zur erhöhten Wachsamkeit auf. Er kündigte Maßnahmen an, um sich besser vor künftigen Angriffen dieser "von einer herrschsüchtigen Furie" gezüchteten Plage zu schützen. Ein anderer Artikel behauptete, Sardonias Erbin habe die Kontrolle über diese eine Brutkönigin verloren und könne sie gar nicht vernichten, womit ihr Angebot von vorne herein wertlos gewesen sei. Anthelia grinste. Sie wollten sie provozieren, sie dazu treiben, wütend zurückzuschlagen oder sich aus Angst vor dem entfesselten Unmut der anderen aus den Staaten abzusetzen. Sollte sie denen vom Kristallherold und dem Westwind eine Gegendarstellung schicken, daß der Minister sie niemals aufgesucht hatte? Dann fiel ihr ein, daß der Minister offenbar mit einem großangelegten Vergeltungsschlag Valerys rechnete. Diese Brutkönigin hatte sich in den Monaten nach dem Cloudy-Canyon-Massaker doch stillverhalten. Anthelia argwöhnte, daß die von ihr erschaffene Feindin ihre Kräfte bündelte, was hieß, ihr Volk vermehrte. Womöglich war sie erst dann zu einem großen Schlag bereit, wenn sie genug Nachkommen hatte, um die vereinten Sicherheitstruppen der Zaubereiministerien ganz Amerikas zu überrennen. Diese Valery war nicht dumm. Sie hatte als Gossenkind gelebt und dadurch einen Sinn für die Zeiten gefunden, bei denen sie angreifen oder besser flüchten sollte. Im Moment versteckte sie sich wohl. Doch der Minister ging von einem unmittelbar bevorstehenden Angriff aus. Hatte er was getan, was Valery wütend gemacht hatte? Es mußte wohl so sein, dachte Anthelia. Der Minister hatte versucht, sie zu erledigen, ihr wohl sogar eine Falle gestellt, sie aber nicht darin gefangen oder getötet. Jetzt mußte er davon ausgehen, daß die unbeherrschbare Brutkönigin grausam zurückschlug. Vielleicht konnte Anthelia das ausnutzen. Sie hatte ja schon gute Erfahrungen mit dem Prinzip des Teilens und Herrschens. Vielleicht sollte sie darauf eingehen, dem Minister ihre Sicht in der Zeitung entgegenzustellen. Sie hatte eine bessere Idee. Sie würde die Zaubererweltpresse der Staaten einladen, ihrem Endkampf gegen Valery beizuwohnen. Gewann sie diesen, konnte sie den Minister auf die Knochen blamieren. Verlor sie, dann war es immerhin der Versuch wert gewesen, und sie würde wohl dann ihre Seele dem Medaillon Dairons anvertrauen, um den Tag zu erwarten, an dem jemand sie wieder mit einem genehmen Körper vertraute, falls die Welt bis dahin nicht von Valerys Nachkommen übernommen worden war. Doch diese Brutkönigin würde auch nicht ewig leben. Vielleicht hatte sie nur noch fünfzig, villeicht auch nur fünf Jahre Zeit, ihren Machtanspruch durchzusetzen. Anthelia war es lieber, es in nur noch fünf Tagen zu Ende zu bringen.
Phase eins ihres Feldzuges gegen Valery war das Auffinden und Markieren eines Entomanthropen Valerys. Hierzu nutzte sie das Prinzip: Dieb fängt Dieb und Hund findet anderen Hund. Zwar hatte ihr Daianira nicht verraten, wo genau sie die anderen zwei Brutköniginnen hingebracht hatte. Doch das brauchte sie nicht. Denn mit dem Entomolithen konnte sie sich auf die diesem nächste Brutkönigin ausrichten. Das hatte sie Daianira nicht verraten. Sie sprach die nötige Formel und disapparierte, um unvermittelt in einem ausgedienten Bergwerk zu landen. Dort fand sie in einer Halle, in der große Holzstöße brannten, deren Rauch durch schmale Abluftschächte entweichen konnte, eine der beiden Brutköniginnen und mehr als tausend schlafende Entomanthropen. Fünfzig Entomanthropen versorgten die Königin und die noch nicht zur Endgestalt entwickelten Geschwister mit Nahrung, hauptsächlich wilde Tiere und Rinder von umliegenden Weiden. Daianira hatte nicht den Fehler begangen, der Brutkönigin zu erlauben, Menschen zu erbeuten. Anthelia erinnerte sich dumpf an die für sie gerade so verständlichen Sätze die wie ferne Stimmen hinter einer Wand in ihr dunkles Exil eingedrungen waren. Sie gab der Königin den Befehl, ihr zwanzig ihrer Abkömmlinge zur Verfügung zu stellen. Damit wollte sie gleichartige Geschöpfe suchen. Als sie ihre Anweisung erteilt und die geforderte Menge Insektenmenschen erhalten hatte flog sie mit ihren neuen Gehilfen aus, um Witterung aufnehmen zu lassen.
Sie erwachte, weil etwas sie zusammendrückte und um sie herum ein Schmerzenslaut erklang. Sie hörte die Stimme ihrer baldigen Urgroßmutter sagen, daß es besser sei, wenn sie jetzt in den Entbindungsraum ginge. Also ging es los.
Wieder fühlte die Ungeborene, wie um sie herum etwas zusammenschrumpfte, sie dabei um einige Millimeter oder mehr nach unten trieb. Die Herzschläge Ledas gingen nun immer schneller. Das Keuchen der Lungen verriet, daß es für die Hexe, die sich das selbst so ausgesucht hatte, sehr anstrengend sein mochte. Die Ungeborene versuchte noch einmal zu mentiloquieren. Doch sie erhielt keinen Gedankenkontakt. Was hatte ihre Großmutter damals erzählt, als sie mit Anthelia ... Wieder eine Kontraktion, ein Aufstöhnen und noch mal. Daianira war also kurz davor, ihr früheres Leben endgültig zu verlieren, um durch einen viel zu engen Tunnel ans Licht der Welt zurückzukehren. Nein, sie wollte das nicht. Das war doch zu eng. Nein! Sie fühlte bei jeder Leda überkommenden Wehe, wie ihr kleines Reich zusammenbrach und sich wieder ausdehnte. Dann, mit einem unerträglichen Laut, riß etwas auf, und sie fühlte, wie sie schwerer wurde. "Das ging aber schnell", hörte sie Eileithyia Greensporn. "Der FMT beschleunigt offenbar Senkwehen und Blasensprung."
"Du hast gut Reden", hörte die gerade zwischen den Leben durchgeschobene die ächzen. Daianira fühlte, wie ihr Kopf immer mehr in eine viel zu enge Öffnung hineingeriet und dann bei jeder folgenden Kontraktion immer mehr zusammengequetscht wurde. Das würde sie nicht aushalten. Das würde sie nicht überleben! Sie stieß mit ihren Füßen nach vorne. Sie wollte nicht so elendig zerquetscht werden, nicht ersticken und als Totgeburt auf einen Abfallhaufen geworfen werden. Der Wunsch, wieder zurückzukriechen und lieber Ledas ganzes Leben lang von ihr herumgetragen zu werden, überkam sie nur einen Moment. Dann siegte der Wille, das ganze hinter sich zu bringen. Wieder wurde sie weitergetrieben. Jetzt gab es wirklich kein Zurück mehr. Sie stieß mit ihren Füßen an den Grund ihrer immer engeren Behausung. Um sie herum floß das bis dahin so schützende Wasser aus. Wenn das alles raus war würde sie feststecken bleiben. Sie fühlte einen Druck auf den Lungen. Doch zu den unerträglichen Schmerzen kam jetzt noch ein Hochgefühl, als sei sie gerade dabei, den schönsten Moment ihres Lebens zu erleben. Der schönste Moment? Dieses sie einquetschende warme Etwas, daß sie zuvor nicht durchquert hatte, erinnerte sie an das Stauchen beim Apparieren. Doch das ging nach einem kurzen Moment vorbei. Sie hörte ihr Herz mit dem Ledas um die Wette schlagen, hörte sie ihre Schmerzen hinausschreien und wollte selbst atmen. Doch der Drang war noch nicht groß genug. Dann fühlte sie, wie etwas ihr über den Kopf glitt. "Ja, sie kommt, Leda. Jetzt noch einmal richtig pressen!" hörte sie über das Rauschen ihres und Ledas Blut hinweg, bevor sie am Rande der Ohnmacht die ersten Funken Licht durch ihre Augen dringen fühlte. Sie stieß sich noch einmal voran und schaffte es damit, ihre Ohren durchzuschieben. "Ey, nicht so doll!" Klang Ledas Stimme nun durch die nun freien Ohren, die das überschüssige Wasser verloren, das noch in ihrem Gehörgang gewesen war. Die Geräusche wurden lauter. Sie hörte Ledas nächsten Aufschrei. Dann fühlte sie, wie ihr Kopf frei war und von einer riesenhaften Hand gestützt wurde. "Wunderbar, Leda. Noch mal!" Rief Eileithyias Stimme, die nun laut und schrill in den Ohren der fast wiedergeborenen klang. Jetzt kamen ihre Schultern frei. Dann fühlte sie, wie sie zu ersticken drohte. Doch ihrre Lungen waren noch nicht frei. Sie fürchtete schon, gleich das Bewußtsein zu verlieren. Da wurde sie von einem gewaltigen Stoß aus dem nun zu engen Gefäß hinausgetrieben, in dem sie diesem Moment entgegengetrieben war. Zwei Riesenhände faßten sie um Kopf und Schultern und zogen sachte und dann immer energischer an ihr. Ja, jetzt kamen ihre Beine frei. Das helle Licht stach in den Augen. Und unvermittelt überfiel sie die Kälte. Dann hing sie frei in der Luft, um dann auf einem viel zu harten Etwas zu landen. Huh, war das kalt hier. Sie konnte wie durch einen sehr dicken Nebel einen Schatten sehen, der über ihr herabglitt, fühlte etwas an ihrem Bauch hantieren. Ach, ja, das mußte sie ja noch überstehen. Der Druck in den Lungen wuchs. Sie wußte, sie war draußen an der Luft. Sie mußte Luft holen! Sie holte tief Luft. Dabei fühlte sie, wie etwas unangenehmes in ihrem Hals stach. Sie fühlte einen heftigen Schluckauf. Dann prustete sie und dann quängelte sie, während jemand ihr die letzte Verbindung zu Leda Greensporn vom Leib löste. "Na, lauter kannst du nicht?" Hörte sie die Stimme Eileithyias amüsiert und fühlte, wie sie hochgehoben wurde. "Muß ich dir erst was hinten draufgeben, Kleine Dame?" Fragte dieses altehrwürdige Frauenzimmer doch glatt. Gut, wenn sie meinte, so weh wie ihr der Kopf tat und so sehr sie schlotterte und weil sie wußte, daß sie jetzt unwiederbringlich eine Andere zu sein hatte: "Uääääääääääää!" Tatsächlich befreite sie dieser lange Schrei von dem Druck auf den Lungen. Also wiederholte sie ihn. Sie versuchte, mit ihrer Zunge Wörter zu formen. Doch ihre Zunge lag schwerfällig in ihrem zahnlosen Mund. Sie konnte nur schreien oder quängeln. Die, aus deren Schoß sie gerade hinausgetrieben worden war und die, die sie entgegengenommen hatte lachten. Okay, dann schrie sie halt noch einmal. Doch dann war es auch gut. Sie fühlte, wie sie mit dem Bauch auf einer weichen, warmen Unterlage landete, die sanft pulsierte. Sie hörte das vertraute Rumm-Bumm eines Herzens, Ledas Herz. Ja, und dann stieß sie sanft gegen große, weiche Widerstände.
"Da bist du jetzt also, Lysithea Greensporn. Ging doch schneller als befürchtet", hörte sie Leda sagen. Sie hätte gerne geantwortet. Doch ihre schwerfällige Zunge wollte nicht wie sie wollte, und zum Mentiloquieren waren die Kopfschmerzen noch zu groß. Abgesehen davon war sie bestimmt in diesem Raum, wo keine Gedankenübermittlung möglich war. Leda hatte ihr erzählt, daß sie eigentlich Anthelia dort zur Welt bringen sollte. Jetzt war sie in diesem Raum angekommen. Leda fragte sie, ob sie Hunger habe. Sie mußte das wohl versuchen, weil sie sonst verhungern würde. Vielleicht sollte sie in einen Hungerstreik treten, um diesen unbeholfenen Körper endgültig loszuwerden. Doch der in ihr aufkommende Hunger war zu stark. Es dauerte zwar eine Weile, aber es stellte sich heraus, daß sie doch die nötigen Saugreflexe besaß, um genug für den Anfang zu trinken. Dabei wurde sie vorsichtig abgetrocknet und dann gewickelt. Einmal hatte sie die Erinnerung an diese notwendige Prozedur in den Tiefen ihres früheren Lebens gesucht und nachempfunden. Jetzt durchlebte sie es erneut. Sollte sie mitzählen, wieviele Windeln sie füllen würde, bis sie auf eigenen Beinen laufen und ihre Bedürfnisse beherrschen konnte? Müdigkeit überkam sie. Die Anstrengung war doch zu viel gewesen.
Als sie wieder zu sich kam lag sie weich gebettet in einem leicht schaukelnden Etwas und dachte, sie hätte das alles geträumt. Doch als sie die Augen aufschlug und einen hell erleuchteten Nebel sah, in dem sich ein riesenhafter Schatten bewegte, wußte sie, sie träumte nicht.
"Guten Morgen, kleine Lys. Hast du deinen ersten Tag gut geschlafen?" Wurde sie gefragt. Sie versuchte zu mentiloquieren. Jetzt tat ihr der Kopf nicht mehr weh. Er war nur sehr schwer. Doch es gelang nicht. Irgendwas dröhnte dumpf, als sie ihre Gedanken auf die Botschaft: "Danke, Mom, und wie geht's dir?" gebündelt hatte. Doch es klappte nicht. Irgendwas stieß ihr ihre eigenen Gedanken, sobald sie sie hinausschicken wollte, in den Kopf zurück. Das tat fast so wie wie die Geburt selbst.
"Wie hast du geschlafen?" Wurde sie noch einmal gefragt. Doch es gelang nicht. Immer wieder dröhnte ihre Gedankenstimme in ihrem Kopf, auch wenn sie sich noch so sehr darauf konzentrierte, Leda anzumentiloquieren. "Okay, ich sehe, du würdest es mir gerne sagen. Aber laß es besser sein. Oma Thyia und ich haben nämlich beschlossen, daß du ganz ungestört von lästigen Gedankenbotschaften von außen und ohne die Versuchung, selbst welche hinauszuschicken aufwachsen möchtest. Deshalb trägst du ein Armband, das mit dir mitwächst und wasserabweisend ist. Es unterbindet jede nach außen gerichtete Geistesmagie und fängt dir zugedachte Botschaften ein. Ich bin immer in deiner Nähe, wenn du was brauchst oder willst. Du brauchst nur zu schreien."
Lysithea fühlte sich sauelend. Die letzte Hoffnung, doch noch ein einigermaßen würdiges Dasein zu führen und halt als Baby mit ihren Mitschwestern Kontakt halten zu können hatten sie ihr auch genommen. "Hast du wieder Hunger?" Wollte diese Hexe, ihre Mutter von ihr wissen. War das die blanke Heuchelei oder echte Fürsorge? Sie quängelte und ließ sich aus der Wiege heben, in der sie eigentlich Anthelia als ihre Tochter Thalia zur Ruhe betten wollte. Dieses verdammte Weib, diese Wiederkehrerin, hatte sie ausgetrickst und dazu verurteilt, ein hilfsbedürftiges Wickelkind zu sein und sich von dieser Hexe, ihrer ehemaligen Cousine, umsorgen zu lassen. Zwar nahm sie das Angebot an und stärkte ihren gerade einen Tag entbundenen Körper. Aber die Wut war doch da, nicht auf Leda, sondern auf Anthelia, die sie dieser Berufsmutter da ausgeliefert hatte. Obwohl, sie hatte die Wahl, lieber von dieser ihrer Selbstüberschätzung zum Opfer gefallenen Tourrecandide als kleine Tochter beschert zu werden. Offenbar hätte sie sich doch besser dazu durchgerungen, in der ehemaligen Beauxbatonslehrerin zu verbleiben, bis diese sie freigab. Leda kannte sie zu gut. Leda hatte gewußt, daß sie so bald wie möglich Kontakt mit anderen aufnehmen würde. Doch Leda konnte eines nicht wissen, daß Daianira früher ihren Geist vom Körper hatte trennen können. Wenn sie sich weit genug von ihrem Geburtstag erholt hatte, würde sie versuchen, ihrem hilflosen Körper zu entkommen, um einige Stunden umherzuwandeln, vielleicht Kontakt mit anderen aufzunehmen. Aber warum nicht erst einmal den arg- und harmlosen Säugling spielen. Sie konnte quasi an sich selbst lernen, wie das mal später sein mochte, wenn sie, wieder erwachsen, eigene Kinder haben würde. Denn ihr war klar, daß sie im früheren Leben doch eine Menge versäumt hatte. Das wußte sie von ihrer Zeit mit Anthelia und jetzt von der Zeit vor und nach ihrer Wiedergeburt. Vielleicht lohnte es sich doch, Ruhe zu bewahren und zu sehen, wie sich das neue Leben anließ.
Linda Knowles hatte die freudige Botschaft vernommen, daß Leda anstatt Daianira erfolgreich zur Mutter geworden war. Sie hatte gerade den Brief fertig, um die glückliche Mutter oder die mit ihr verwandte Hebamme um ein Interview zu bitten und ließ ihre Posteule zum Fenster hinaus. Sie wollte es gerade schließen, als eine große Krähe in hohem Tempo auf das Haus zuschwirrte und punktgenau durch das offene Fenster hineinflog. Linda Knowles erschrak erst und versuchte, den scheinbar aus Versehen bei ihr ins Wohnzimmer geratenen Wald- und Feldvogel hinauszuscheuchen. Da fiel das Fenster zu und wurde von unsichtbarer Hand verriegelt. Linda erschrak zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden. Der dritte Schreck folgte unvermittelt, als die Krähe, die auf dem Boden gelandet war, innerhalb weniger Sekunden wuchs und zu jener Hexe wurde, die sie im Januar für besiegt und für lange Zeit unfähig zu irgendwas gehalten hatte.
"Hallo, Schwester Linda", begrüßte Anthelia die Reporterhexe, die gerade um Hilfe rufen wollte. "Ich würde an deiner Stelle nicht um Hilfe schreien. Sonst müßte ich dich töten, und das wollen wir beide doch nicht."
"Sie sind ... du bist ...", stammelte Linda, die sonst nichts so leicht aus der Ruhe bringen konnte.
"Eine Animaga. Aber das bereden wir zwei hübschen gleich, wenn der Klangkerker steht", sagte Anthelia. "Ich bekomme mit, wenn du schreien oder meloen willst. Ich kann sehr schnell den Todesfluch wirken", sagte Anthelia. "Los, bau einen Klangkerker auf!" Linda Knowles nickte ergeben und erzeugte einen Klangkerker. Dann setzten sich die beiden Hexen einander gegenüber. Anthelia hielt ihren Zauberstab einsatzbereit in der Hand.
"Ich habe gehört, daß Sie wieder draußen und ausgewachsen sind. Aber ich habe gehofft, Sie ließen mich in Ruhe."
"Weil du mit den netten Damen Sevenrock und Greensporn ein Schutzabkommen getroffen hast. Das galt für Daianira, und aus der bin ich schon seit einigen Monaten raus." Linda verschloß ihren Geist. Das Training mit Roberta Sevenrock und Eileithyia Greensporn zahlte sich aus. Anthelia stemmte sich nur wenige Sekunden gegen den okklumentischen Schutz. "Es war schon die richtige Entscheidung, der erhabenen Schwesternschaft beizutreten", sagte Anthelia wohlwollend. "Mein Angebot gilt übrigens noch, daß du zu meinen Vertrauten gehören kannst, Schwester Linda."
"Dazu möchte ich mich besser nicht äußern, solange ich nicht weiß, ob es das einzige ist, was Sie zu mir geführt hat", erwiderte Linda. Sie hatte ihre alte Unerschütterlichkeit wiedergefunden. Anthelia hätte ihr bestimmt nicht gezeigt, daß sie eine Animaga war, wenn sie nicht etwas ganz bestimmtes damit beabsichtigte.
"Zum einen, was die werte Dame Sevenrock, deren Stimme mir selbst im warmen Kerker Daianiras gefallen hat mit dir abgestimmt hat können wir auch abstimmen. Es ist immer besser, im Besitz von viel Wissen sicher zu sein, daß jemand einen beschützt, wenn jemandem das zu viel wird, was du weißt. Zum zweiten, Schwester Linda, hat deine geschwätzige Zeitung im Einklang mit eurer Konkurrenz behauptet, ich habe mich an diesen Wishbone gewandt und ihm angeboten, dieses lästige Übel loszuwerden, daß euch hier auch schon heimgesucht hat. Woher wußtet ihr, daß ich ihm das in Aussicht stellen würde?"
"Er hat es uns gesagt, bei einer Pressekonferenz. Wir mußten uns von Hauselfen abholen und zurückbringen lassen, weil keiner wissen durfte, wo Wishbone sich aufhält."
"Aha, daher dieser beschauliche Überwachungszauber, den seine Handlanger auf dich gelegt haben, um zu ermitteln, ob ich dich besuche. - Hoffe mal besser nicht, daß Wishbone dich gleich mit seinen My-Männern aufsucht. Das würde dein schönes Haus nicht lange aushalten. Ich habe einen Unortbarkeitszauber auf mich gelegt. So mit eigenen Augen gesehen gefällt mir dein Haus wirklich zu gut, als es diesen Grobianen zum Opfer fallen zu lassen. Warum ich hier bin? Ich werde in vier bis fünf Tagen den entscheidenden Angriff gegen Valery Saunders führen. Ich lade euch von der Presse und den Zaubereiminister und einen Vertrauten seiner Wahl ein, mir dabei zuzusehen, sofern Wishbone nicht meint, mich bei der Gelegenheit festnehmen zu können. Versucht er das, wird Valery Saunders überleben und ihre Rache an ihm bekommen. Versucht er es nach ihrer hoffentlich erfolgreichen Vernichtung, stirbt jeder, der versucht, mich zu überwältigen. Er möchte sich in dem Zusammenhang mal mit seinem deutschen Kollegen Güldenberg unterhalten. Der hatte vor einiger Zeit wieder wen zusammenzupuzzlen, der meinte, mir einen Hinterhalt legen zu müssen." Linda verbarg ihren Schrecken. Daß Anthelia nun schlimmer wüten mochte als vor dem Duell mit Daianira war doch vorherzusehen gewesen. "Keine Sorge, es waren keine redlichen Ministerialzauberer, deren Verlust er beklagen müßte. Davon hat der Waisenknabe, der sich selbst aus der Geschichte geworfen hat, genug auf seinem Gewissen gehabt. also noch mal: Ich werde in den kommenden vier bis fünf Tagen den entscheidenden Schlag gegen Valery führen. Bis dahin verlautbart kein Wort in der Zeitung, weil wir davon ausgehen müssen, daß diese unbeherrschbare Kreatur Spione in der Zaubererwelt hat. Wir wollen ihr ja nicht die Überraschung verderben."
"Und ich soll Minister Wishbone schreiben, daß Sie das mir ganz freimütig gesagt haben?"
"Du bist ein sehr kluges Hexenmädchen", erwiderte Anthelia. "Das ist der Grund, warum wir beide auch keinen Krach miteinander haben müssen. Du schreibst dem Minister. Ich suche derweil den anderen auf, der mein sogenanntes Angebot in seine Zeitung gesetzt hat und richte ihm das gleiche aus. Kommt etwas davon in die eine oder andere Zeitung, kriegt ihr dann an Stelle des großen Knüllers eine Invasion von Entomanthropen, sowohl meinen als auch denen Valerys. Das dürfte Wishbone das Ministerium kosten, wenn es ihn überhaupt überlebt. Ach ja, noch was. Du weißt bestimmt, ob deine Mitschwester Leda mittlerweile niederkam?"
"Wollen Sie das Baby oder sie umbringen?" Fragte Linda und erkannte jetzt erst, daß sie sich verplappert hatte. Anthelia lächelte erfreut.
"Sie oder das Baby? Dann ist das Baby also auf der Welt, wenn ich sie ohne ihm was tun zu müssen töten wollte. Aber das will ich nicht, weder sie noch das Baby. Mir gefällt es, das dieses Baby lebt. Das ist die Dankbarkeit, die ich Daianira schuldete, weil sie mich nicht abgetrieben hat, als sie noch die Möglichkeit dazu hatte. Soll die Kleine - wie heißt sie eigentlich? - in der sicheren Umsorgung ihrer Mutter aufwachsen. Sollte sie irgendwann wieder frech werden, kann ich mich ja revanchieren."
"Es steht morgen früh in der Zeitung", sagte Linda. "Sie heißt Lysithea und kam vor neun Stunden zur Welt, am neunten Juli um sieben Uhr Westküstenzeit, oder zehn Uhr Ostküstenzeit."
"Dann werde ich der glücklichen Mutter eine Glückwunschkarte schicken, wenn ich wie jeder andere die freudige Botschaft gelesen habe. Besser Windeln statt Würmer."
"Wie meinen Sie das?" Fragte Linda Knowles überrascht.
"Tja, daß sie ja sonst durch einen eigenen Todesfluch gestorben wäre, wenn jemand sie nicht mit einem Umkerhzauber von mir befreit und sie sich dafür einverleibt hätte. Haben eure Schwestern das nicht berichtet bekommen?"
"Leda sagte nur, daß sie durch einen unerwarteten Umstand dazu gekommen sei, ihre eigene Cousine als ihre Tochter zur Welt bringen zu müssen und daß Sie bei dieser Sache zur Erwachsenen Hexe zurückverwandelt worden seien."
"Das reicht auch völlig aus", erwiderte Anthelia. Dann sagte sie noch: "Gut, bei dir war ich jetzt. Ähm, gönne deinem Kollegen vom Herold die selbe Überraschung, die ich dir bereitet habe. Sonst könnte sein Haus vielleicht abbrennen und er darin. Das willst du bestimmt nicht." Linda nickte. Diese Hexe strahlte eine Überlegenheit gepaart mit kindlichem Vergnügen aus, daß Linda nicht anders konnte als sie ziehen zu lassen. Anthelia öffnete telekinetisch das Fenster, verwandelte sich in die Krähen-Animaga und flog hinaus.
Linda überlegte, ob sie das verraten sollte, daß Anthelia eine große Krähe werden konnte. Für das Ministerium war diese Information womöglich entscheidend. Andererseits, so wichtig schien es Anthelia nicht zu sein, das zu verheimlichen, weil sie es ihr nicht hätte vorführen müssen. Dann sah sie einen Zettel, den die Wiedergekehrte auf dem Boden hatte liegen lassen. Sie hob ihn auf und las:
Wer das liest und verrät, daß ich eine große Krähe werden kann, und dies jemandem sagt, schreibt oder anderweitig mitteilt wird in dem Moment, wo er oder sie dies sagt selbst zu einer Krähe und es bleiben. Maledixi
In dem Moment, wo Linda diese Zeilen ganz durchgelesen hatte verging der Zettel in einem violetten Blitz, der ihren körper traf und durchbrauste. Linda fürchtete schon, diesem Fluch bereits zum Opfer gefallen zu sein. Doch als sie sich nach dem Schock wieder beruhigte fand sie sich in ihrer natürlichen Körperform vor. Doch ihr war klar, daß Anthelia wirklich alles bedacht hatte. Wollte sie nicht ihr restliches Leben als große Krähe zu Ende bringen mußte sie allen gegenüber verschweigen, daß Anthelia eine Animaga war, auch wenn sie damit dem Ministerium einen entscheidenden Hinweis vorenthielt.
Wishbone war außer sich vor Wut. Dieses Hexenweib Anthelia hatte zwar seinen Köder geschluckt, sich zu melden. Doch sie hatte seine Überwachungszauber genarrt. Jetzt stand er zwischen zwei Fronten. Jagte er sie, konnte er sie womöglich besiegen. Dann hatte er aber diese Valery immer noch gegen sich. Wenn er Anthelia nicht lebendig in die Finger bekam vertat er womöglich die einzige Chance, die ihm noch blieb, den bevorstehenden Rachefeldzug Valerys zu verhindern. Ließ er sie gewähren, und sie entkam ihm, mochte sie zwar die Brutkönigin vernichten, dafür aber wieder freie Bahn haben, um ihn und sein Ministerium lächerlich zu machen. Natürlich wußte er, was in Deutschland passiert war. Sein Verbindungszauberer in Berlin hatte es sofort geschickt, daß ein gewisser Guntram Schleichfuß vermißt wurde und womöglich ein lebendig zergliederter Körper, der weit verstreut im Lande gefunden wurde, der dieses Guntrams war. Allerdings wurde diesem Zauberer illegaler Handel mit Dracheneiern und ähnlichen Tierprodukten unterstellt, und im durch ein künstliches Erdbeben verwüsteten Keller wurden auch entsprechende Materialien wie Einhornblut gefunden. Jetzt bot diese Anthelia an, die Brutkönigin zu erledigen, die sie selbst geschaffen hatte. Sie mußte sehr arrogant sein, wenn sie die Presse und ihn dazu einlud, ihr zuzusehen. Womöglich wollte sie sich als Retterin präsentieren, wie sie es mit diesem Ruster-Simonowsky-Burschen getan hatte, der offenbar vor der Volljährigkeit verheiratet worden war. Sein Verbindungszauberer in London hatte gemeldet, daß der besagte Bursche übermorgen bei der Verhandlung gegen Dolores Umbridge anwesend sein würde. Das kümmerte Wishbone wenig. Ihn ärgerte es, dieser Furie das Feld zu überlassen, um diese Monsterbiene zu erledigen.
"Wirf ihr nach erfolgreichem Kampf einen Sack als Portschlüssel über, der sie direkt vor Doomcastle absetzt!" Schlug die schwarz-goldene Katze auf dem Sofa im Salon des Luftschiffes vor.
"Wenn das so einfach wäre, Reny", jammerte der Minister. "Die Dame beherrscht die zauberstablose Telekinese. Und ein Portschlüssel funktioniert nur, wenn sonst kein Zauber auf ihm liegt, also auch kein Contramotus."
"Dann laß sie von Spikes mit dem Todesfluch erledigen!" Schlug die Katze vor.
"Schön, daß du mir nicht auch vorschlägst, sie persönlich damit anzugehen", knurrte Wishbone.
"Du bringst den nicht", war die fauchende, tief in seine Seele einschlagende Antwort. "Dafür liebst du das Leben zu sehr. Du hattest Probleme, Grinders Leuten die Anwendung der Unverzeihlichen zu erlauben. Du würdest es nicht schaffen, auch wenn sie unsere größte Feindin ist."
"Vielleicht kann man sie verwandeln", überlegte der Minister. In dem Fach war er damals in Thorntails sehr gut gewesen, was ihm auch für die Ministerialkarriere geholfen hatte. Vielleicht bot sich aber auch eine andere Möglichkeit, die Hexe, die sich als wiedergekehrte Anthelia bezeichnete, endgültig zu entmachten. Der Fall Voldemort hatte es doch bewiesen, daß Machtsüchtige Kreaturen irgendwann über ihre eigenen Pläne stolperten und dann nicht mehr aufstanden.
Er berief die My-Truppe zu einer Konferenz an Bord seines Luftschiffes einund beratschlagte, wie sie vorgehen sollten. Spikes setzte sich mit der Empfehlung durch, die beiden gefährlichen Feindinnen gegeneinander kämpfen zu lassen und dann die wegzuputzen, die übrig blieb. Das mit der Sprengung müsse halt anders versucht werden. Zumindest aber bestünde die Möglichkeit, das Entomanthropennest zu zerstören.
Anthelia hatte bis zum zwölften Juli warten müssen, bis ihre ausgeschickten Suchentomanthropen Berührung mit Artgenossen aus einem anderen Volk vermeldet hatten. Anthelia suchte den Spion umgehend auf und schaffte es, ihn mit vier Entomanthropen zugleich am Boden zu halten. Es war ihr zu Wieder, doch sie schaffte es, eine legilimentische Verbindung mit dem Monstrum zu errichten. Dabei erfuhr sie, in welcher Richtung die geheimnisvolle Stadt von Valerys Volk lag und wie weit sie entfernt sein mochte. Dann verpaßte sie dem Spion einen Gedächtniszauber, daß der Minister einen wirksamen Zauber gegen Valery entdeckt hatte. Sie prägte dem Entomanthropen Bilder von explodierenden Kugeln ein, die ein grünes Zeug freisetzten, das der Luft in einem Kilometer Umkreis den nötigen Sauerstoff entzog. Ursprünglich sollte dieses Verfahren zur Großbrandbekämpfung verwendet werden. Doch das Ministerium hatte diese Idee verworfen, als herauskam, wie gefährlich der grüne Staub für Menschen werden konnte. Diese von Donata erwähnte Begebenheit von vor siebzehn Jahren nutzte sie nun aus, um Valery doch noch das Gruseln zu lehren, wo diese ihnen allen, ihr eingeschlossen, den Horror frei Haus bereitet hatte. Sie würde es dieser Brutkönigin nicht vergessen, daß sie Daianira und sie verschlungen und fast verdaut hatte. Jetzt war Zahltag. Sie markierte den Entomanthropen vorsorglich mit einem Zauber, der fünf Minuten nach Inkrafttreten auf das nächste artgleiche Lebewesen übersprang, das in weniger als fünfzig Metern Reichweite war. Denn so nahe mußten sich die Insektenwesen unter freiem Himmel einander nähern, um Botschaften auszutauschen. Als sie den Spion präpariert hatte ließ sie ihn fliegen und zog sich mit ihren Entomanthropen zurück. Sie wußte, daß es jetzt sehr schnell gehen mußte. Sie befahl allen Brutköniginnen, die unter ihrer Kontrolle standen, mit allen ihren flugfähigen Nachkommen auszuschwärmen und sich an einem Punkt zu treffen, den Anthelia vor drei Tagen als Ausgangskreis eines Verlegungszaubers markiert hatte. Sie selbst apparierte knapp fünfzig Kilometer in die Nähe des möglichen Zielgebietes und machte sich daran, den bereits feststehenden Ausgangskreis mit einem Zielkreis zu verbinden. Das würde einige Stunden dauern. Doch sie mußte davon ausgehen, daß die Boten auf eigenen Flügeln zu ihrer Mutter und Herrin zurückkehren mußten und nicht von dieser unterwegs abgeholt werden konnten. Passierte dies doch war ihr Plan bereits gescheitert, bevor sie zum eigentlichen Schlag ausgeholt hatte. Doch auch wenn Schnelligkeit das Gebot des Tages war, Hektik war fehl am Platze. Als sie nach sieben Stunden fertig war, atmete sie auf. Schnell holte sie die mit dem Markierungszauber abgestimmte Amerikakarte hervor, weil sie davon ausging, daß Valery sich immer noch auf dem zweiteiligen Kontinent aufhielt. Das Verhör des gefangenen Spions hatte es bestätigt, daß Valery sich im Amazonas-Dschungel versteckt hielt. Jetzt brauchte sie nur noch ihre Truppen in die Nähe zu verlegen. Achso, die Zuschauer sollten ja nicht fehlen. Einen Moment lang wurde ihr etwas wehmütig zu Mute. Wenn sie es schaffte, Valery zu vernichten, würden aber auch alle anderen Entomanthropen vergehen, die mit dem Entomolithen Sardonias erschaffen worden waren. Zumindest verlor sie die Möglichkeit, sie weiterhin zu beherrschen. Daher hatte sie jene, die sie damals geweckt hatte, in einer anderen Grotte in den Pyrenäen in jenen Tiefschlaf zurückversenkt, aus dem sie sie damals geweckt hatte. Töten konnte sie sie nicht alle auf einmal.
"Wie hat die rausgekriegt, wie ich direkt zu erreichen bin?" Fragte Wishbone, als ein Hauself ihm einen Zettel mit dem Symbol der Spinne brachte, auf dem eine willensstarke Frauenhand notiert hatte, daß er mit einem Begleiter seiner Wahl zuschauen könne. Er bestimmte Spikes, der einen schlummernden Meldezauber in seiner Armbanduhr trug, mit dem er mehrere My-Truppler auf Parsec-Besen zu Hilfe rufen konnte, wenn eine der beiden Seiten den Sieg davongetragen hatte.
"ich komme auch mit", bestand die Katze Reny an ihrer Teilnahme am Ausflug.
"Sie könnte dich durchschauen und damit argwöhnen, in eine Falle zu laufen", erwiderte Wishbone.
"Ich beherrsche Okklumentik", erwiderte Reny.
"Eben, wie sonst keine Katze", erwiderte der Minister. "Sie könnte Täuschungsspürzauber bei sich haben, die auf Animagi reagieren. Willst du dich und mich zugleich in Gefahr bringen."
"Entweder komme ich mit, Herr Zaubereiminister, oder du bleibst auch hier."
"Jetzt reicht's mir!" Stieß Wishbone aus und ließ seine Hand nach dem Zauberstab schnellen. Reny sprang jedoch sofort aus dem Weg, als er einen Schockzauber auf sie loslassen wollte. Sie war gewandt und reaktionsschnell. Er bekam sie nicht vor den Zauberstab, und mit breitstreuenden Flüchen wollte er ihr dann doch nicht kommen. Da sprang sie über ihn hinweg und landete auf dem Sofa. Wishbone fuhr herum und zielte, während sich die Katze Reny in die Hexe Tracy Summerhill verwandelte.
"Mir langt es auch, Luke", schnaubte die Frau auf dem Sofa, die gerade nichts ausßer einem Gürtel mit ihrem Zauberstab am Leibe trug. "Du machst es zu deiner ganz persönlichen Heldentat, diese Hexe zu besiegen, weil sie dich mit ihren Tricks und dieser Valery lächerlich gemacht hat. Doch ich will dich noch ein paar Jahre bei mir haben."
"Stupor!" Rief Wishbone. Doch was war das. Der Schockzauber prallte kurz vor Tracy Summerhills blankem Bauch ab und kam zu ihm zurück. Sie hatte einen ungesagten Schildzauber gewirkt, der auf die kurze Entfernung den Zauber auf seinen Absender zurückwarf. Das begriff Lucas Wishbone in der Hundertstelsekunde, als ihn sein Schocker am Brustkorb traf.
"Du bleibst schön bei mir, Honey", säuselte Tracy Summerhill und wandte sich an den Hauselfen. "Bring mir in einer Minute Collin Worthington und Justin Spikes her. Kein Wort über den Zaubereiminister."
"Der Elf verschwand gehorsam mit lautem Knall. Tracy Summerhill griff in den Haarschopf des bewußtlosen Ministers und rupfte mehrere Haarbüschel aus. "Du hast den verdammten Sturkopf von meinem Vater geerbt. Aber ich habe deiner Schwester versprochen, dich zu beschützen, solange du keine Frau hast, die unsere Linie verlängert. Und sei es, daß ich das sein muß, Honey. Du bleibst hier bei mir." Sie apportierte eine große Flasche und zwei Becher. Sie füllte aus der Flasche einen Becher voll und warf eines der gepflückten Haarbüschel hinein. Dann trank sie das grünlich-weiß umgeschlagene Gebräu. Noch fehlten vierzig Sekunden bis zur angesetzten Minute. Da kam die Wirkung auch schon über sie. Sie hatte es nur zweimal gemacht, sich in einen Mann zu verwandeln. Einmal aus Scherz, weil sie mal wissen wollte, wie sich männliche Geschlechtsteile empfanden und dann einmal, um für ihre Schwester auszuspionieren, ob ihr angestrebter Ehepartner wirklich für sie empfänglich war und er das nur einem ihm vertrauten Zauberer erzählen wollte. Immerhin war der, in den sich Tracy gerade unter gewissen Qualen verwandelte, das Ergebnis dieser Spionageaktion. Insofern war es legitim, ihn zu verkörpern. Jetzt fehlten noch zehn Sekunden zur befohlenen Minute. Sie tauschte blitzschnell mit dem Betäubten die Kleidung und verwandelte ihn in nur drei Sekunden in ein Sofakissen. Ja, auch sie hatte bei der guten Maya Unittamo in Verwandlung gut gelernt. Jetzt fehlten nur noch zwei Sekunden. "Vanesco solidus!" zischte sie und ließ damit den von ihr leergetrunkenen Becher verschwinden. In diesem Moment klopfte es an die Tür. Die Hauselfen waren doch sehr diskrete Wesen, daß sie einen bestellten Besucher nicht im Salon ablieferten, sondern vor der Tür. Sie öffnete die Tür und ließ die beiden My-Truppler herein. Mit der festen Stimme ihres Neffen gab sie nun das Kommando:
"Worthington, Sie sind mein Stellvertreter. Ich habe befunden, mich dieser Hexe oder Valery Saunders nicht persönlich auszuliefern. Hier ist Vielsaft-Trank und Haar von meinem Kopf! Sie trinken fünf Dosen, das hält fünf Stunden vor."
"Sir, das erscheint mir aber sehr ... ähm, ... befremdlich", erwiderte Worthington. Spikes, der bei ihm war nickte beipflichtend. Doch Wishbones Ebenbild bestand auf die Durchführung dieses Vorhabens. Spikes suchte derweil die Katze Reny, die sonst immer in diesem Raum herumsaß oder wie eine Königin auf einem der Beistelltische thronte.
"Sir, ich mach das", sagte Worthington. Womöglich dachte er jetzt, daß sein Boss ein Feigling sei, weil er einem relativ unbedeutendem Mitarbeiter aufzwang, als er zu gehen. Doch er hatte einen Eid geschworen, dem Ministerium und dem Minister treu zu dienen. Also schluckte er fünf Becher des Gebräus mit den Haaren des Ministers, bis so viel Vielsaft-Trank in ihm gluckerte, daß er die nächsten fünf Stunden jedem vormachen konnte, er sei Wishbone. "Immer schön okklumentieren, Worthington. Und sie auch, Spikes. Die Gegnerin ist eine überragende Legilimentorin, die einen winzigen Augenblick braucht, um Ihre geheimsten Gedanken zu erhaschen, wenn Sie sie frei schwingen lassen. Führen Sie den Auftrag so aus, wie wir ihn besprochen haben, Spikes!"
"Zu Befehl, Sir", bestätigte Spikes und tippte sich mit der rechten Hand an den grauen Zaubererhut. Dann brachte sie der Elf zum von Anthelia bezeichneten Einsatzort.
"Spätestens in fünf Stunden wissen wir, woran wir sind", dachte Tracy Summerhill. Sie unterdrückte das Verlangen, sich in eine Katze zu verwandeln. Womöglich mochte der Vielsaft-Trank das nicht, wenn jemand von sich aus den Körper veränderte. Dann mußte sie wohl die eine Stunde aushalten.
Linda Knowles erschrak, als sie mitten in das Gebrumm und Gesurre geriet, das um sie und über ihr ertönte. Sie hatte zwar schon Entomanthropen gesehen, aber nicht eine solche Menge. Ja, und da waren sogar zwei Scheusale von Brutköniginnen. Ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, wenn sie daran dachte, daß das früher arglose Muggelmädchen gewesen waren, die jetzt unter Anthelias Zauber standen und die Brutmütter dieser um sie herumfliegenden und krabbelnden Streitmacht waren. Und immer noch kamen welche angesurrt. Wo war die, die diesen Alptraum in die Welt gebracht hatte? Wo war Anthelia?
"Ach, die Kollegin Westwind ist auch da. Auch diesen blauen Schnuller gekriegt?" Fragte Keneth Walker vom Kristallherold, ein drahtiger Zauberer mit wuscheligen rotbraunen Haaren und smaragdgrünen Augen. Linda fragte, warum Willow Sweetwater nicht herbestellt worden sei. "Weil wir beide diesen Artikel über Wishbones nicht angenommenes Abkommen geschrieben haben." Linda nickte und präsentierte ihren Portschlüssel, einen giftgrünen Kamm. "Einen komischen Humor hat die Frau. Wenn sie nicht so brandgefährlich wäre könnte die in einer Komikertruppe auftreten", meinte walker. Da erschienen zwei Besen im freien Flug aus dem Nichts. Es waren Minister Wishbone und ein Sicherheitszauberer in grauem Umhang, jedoch ohne Symbol. Sie wurden sofort von Insektenmenschen umflogen, die sie zur Landung zwangen. Wishbone erbleichte dabei und der andere blickte nervös auf seine Armbanduhr. Es dauerte keine weitere Minute, da erschien noch ein fliegender Besen aus dem Nichts und landete. Auf ihm ritt eine Hexe in rosarotem Kapuzenumhang. Die Kapuze war jedoch zurückgeschlagen und zusammengefaltet. Linda Knowles meinte jedoch, daß dieser Umhang ein anderes Kleidungsstück verhüllte, so lang wie er war.
"Ah, alle da. Schön, daß Sie es einrichten konnten, werte Schwester der Hexenheit und werte Herren von der magischen Öffentlichkeit. Die Suche nach dem Nest Valery Saunders ist so gut wie beendet. Vier Kuriere von ihr wurden mittlerweile beauftragt, sie aufzusuchen. Ich weiß ungefähr, wo sie sich aufhält, muß das Gebiet jedoch genauer eingrenzen. Außerdem ist es in meinem Sinne, daß meine Streitmacht, die sich gerade um uns formiert, früh genug losfliegt, um im entscheidenden Moment einzutreffen"", verkündete Anthelia mit lauter, befehlsgewohnter Altstimme. Wishbone sah die Hexe an, die sich anschickte, nach Voldemort die neue Gefahr für die Zaubererwelt zu sein. Diese blickte den Minister genau an, nickte dann und sagte: "Ich werde Sie gleich alle am Ausgangspunkt für den Endanflug bringen, wenn die letzten zweitausend Streiter gelandet sind. Aha, da hinten kommen sie schon."
"Wie viele sind das insgesamt?" Erlaubte sich Linda eine neugierige Frage. Wishbone funkelte sie strafend an. Doch sie lächelte zuckersüß zurück.
"Nach meiner Zählung und Befragung der mir ergebenen Brutköniginnen sind es insgesamt dreiundzwanzigtausend Einzelwesen. Ich habe bereits zwanzigtausend an den Zielort verlegt", antwortete Anthelia. Wishbone und sein Begleiter blickten sich an. Dann fragte Walker vom Herold:
"Wir haben keine Besen mit. Ich werde bestimmt nicht auf einem dieser Biester reiten." Linda Knowles nickte beipflichtend.
"Huch, habe ich was vergessen?" Fragte Anthelia und winkte mit dem Zauberstab. Aus der Luft fiel ein Sack, in dem zwei Bronco Centennial steckten. Während Linda Knowles und ihr Kollege von der Konkurrenz die beiden Besen auspackten wollte Wishbone wissen, wie genau Anthelia Valery Saunders bekämpfen wollte. Anthelia schwieg sich jedoch dazu aus. Das war verständlich, weil ja sonst der Minister ihr das hätte abnehmen können. Statt einer Antwort verschwand sie einfach im Nichts. Wishbone sah seinen Begleiter an und wollte ihm gerade befehlen, hinter der Hexe herzuapparieren, als um sie alle herum eine bläuliche Lichtwand in den Himmel wuchs und der Boden zu beben begann. Linda fand es faszinierend, den berühmt-berüchtigten Verlegungszauber Sardonias zu erleben. Den hatte Anthelia auch gegen Bokanowski eingesetzt. Das hatte Linda von ihren neuen Mitschwestern erfahren. Dem Beben folgte ein blaues Licht aus dem Boden und dann, in einem einzigen Moment, jene totale Dunkelheit und stauchende Enge einer Apparition. Als sie dann alle zusammen, auch die über dreitausend Entomanthropen auf einer Lichtung mitten im ansonsten dichten Dschungel ankamen, erschauderten alle. Tatsächlich wimmelte es hier so von Entomanthropen. Sie klebten wie Fliegen an den Stämmen der Bäume, krabbelten in den über achtzig Meter hohen Wipfeln herum und hockten in mehreren Ringen zwischen den Bäumen. Linda war sich sicher, daß sie dieses Bild entsetzlicher Übermacht in ihre Träume verfolgen würde. Wer Angst vor Insekten hatte mußte bei diesem Anblick wahnsinnig werden. Allerdings stellte sich die Frage, ob sie noch irgendwem dieses Bild würde schildern können und ob dieser Anblick nicht bald durch einen noch grauenvolleren Anblick übertroffen würde. Ihr war klar, daß sich hier eine mörderische Streitmacht versammelt hatte, um einer anderen Streitmacht entgegenzufliegen. Anthelia war wie eine Königin, die ihre Armee zum Kampf zusammengetrommelt hatte. Linda hatte von Muggeln gehört, die als Reporter in Kriegsgebieten waren. Doch die konnten schlecht bei höchster Lebensgefahr disapparieren oder auf schnellen Besen davonfliegen. Was hier ablief war eine ultimative Kraftprobe, ein Entscheidungskampf wie die Schlacht in Hogwarts es gewesen war. Linda dankte den Schöpfern ihrer magischen Ohren, daß diese sich bei großem Lärm darauf einstellten und die Lärmquelle ausfilterten. Sonst hätte sie wohl bei dem Gebrumm, Gesurre und Gesumme sicher schon Gehör oder Verstand verloren. Anthelia hielt eine aus sich heraus glühende Landkarte hoch, die die beiden amerikanischen Teilkontinente zeigte. Ein grün blinkender Punkt wanderte gerade über dem dunkelgrün bezeichneten Gebiet des Amazonas-Urwaldes. Daneben sah Linda noch einen stehenden orangen Punkt, der laut Maßstab knapp zweihundert Kilometer weiter südlich war. "Der orange Punkt bezeichnet unseren Standort", sagte Anthelia, als ihre Streitmacht der Monster für einige Augenblicke mit dem Flügelschlagen aufhörte. "Wenn meine Informationen stimmen, wird in fünfzig Kilometern der Zielpunkt liegen. Wir rücken nun aus, um in der Nähe zu sein." Wishbone und sein Begleiter sahen sich wieder an. Linda mutmaßte, daß sie mentiloquierten. Dann sollten alle auf die Besen steigen. Der Schwarm der über zwanzigtausend Monster startete mit lautem Getöse durch. Linda dachte, daß auch Leute mit normalen Ohren in mindestens zehn Kilometern Umkreis diesen Lärm hören mußten. Außer den Insektenungeheuern sah sie auch kein anderes Tier in der Umgebung. Jedes Tier mit gesunden Instinkten hatte schon längst das Weite gesucht. Die Ausnahme waren wohl die winzigen Kollegen der geflügelten Streitmacht Anthelias, sofern diese nicht von der Herrin der Insektenmonster so verschreckt worden waren, daß sie ebenfalls schön weit von ihr fort blieben.
Statt über die Baumwipfel zu steigen vollführten die Entomanthropen gewagte aber auch geschickte Slalommanöver zwischen den ausladenden Ästen und mächtigen Stämmen der Urwaldriesen hindurch. Linda war sich sicher, daß die Monster alle mit mehr als fünfzig Stundenkilometern flogen. Sie hatte kein Bedürfnis, mitten in der Masse der fliegenden Ungetüme zu sein und ließ sich zurückfallen. Wishbone und sein Begleiter hingegen versuchten, so nahe wie möglich bei Anthelia zu bleiben, die wiederum von ihren Brutköniginnen flankiert wurde. Dann, nach ungefähr einer halben Stunde, deutete Anthelia in eine Richtung und winkte ihnen zu, ihr zu folgen. Sie zog einen großen, gelben Stein aus ihrem Umhang und schien sich auf diesen zu konzentrieren. Sie wich Wishbone aus, der wie zufällig in ihre Nähe geriet und sofort von zwei Entomanthropen eingekeilt wurde. Linda Knowles konnte dank ihrer filternden Zauberohren hören, wie sie ihm "Netter Versuch, Minister Wishbone", zurief. Dann beschleunigten sie das Tempo. Linda mußte höllisch aufpassen, nicht mit einem beindicken Ast zusammenzustoßen, von dem Schwärme in Panik davonschwirrender Vögel aufflogen. Dann hörte Linda es von weiter weg surren und brummen. Kamen da die Gegner, um sie vor dem Ziel abzufangen oder lag das Ziel genau voraus?
Valery I. hatte im Akord Eier gelegt, sich manchmal ganze Schweine in den Mund gestopft und hinuntergewürgt, um immer genug Nahrung zu bekommen. Sie hatte nun knapp siebzigtausend Nachkommen. Ihr Hofstaat war auf fünfhundert frühere Zauberer und Nicht-Zauberer angewachsen. Die Tage zählte sie im Moment nicht. Ihr lag daran, diesem Wicht von Zaubereiminister die Sache mit den Kamikazekobolden heimzuzahlen. Außerdem galt ihr wort noch, daß für jedes ihrer getöteten Kinder zwei Zaubererweltkinder sterben würden. Sogesehen würde nach ihrem Racheschlag kein magischer Mensch vom Ungeborenen bis zum Mummelgreis mehr übrig sein, um ihr was zu tun. Gut, dann kamen wohl die Leute von der Luftwaffe und der Marine, um ihr einzuheizen. Aber die konnten sich nicht mal eben irgendwo hinversetzen wie sie.
Bote aus den Staaten", meldete der Entomanthrop, der vor seiner Begegnung mit Valery Terry O'sullivan geheißen hatte. "Die wollen uns mit dem Grünstaub angreifen. Die wissen, wo wir sind."
"Häh! Grünstaub? Was soll das sein?" Keuchte Valery, als ihr noch ein paar Eier entrollten.
"Das Zeug ist tödlich. Es vergiftet die Luft so heftig, daß man sofort erstickt. Damit wollten sie früher große Feuer ausblasen. Aber dabei sind vier Leute gestorben, die nicht mehr rechtzeitig disapparieren konnten", erwiderte der Entomanthrop.
"Und woher wollen die wissen, wo wir sind?" Fragte Valery I. ihren Berichterstatter.
"Weil sie deine Apparitionen nachgemessen haben", sagte der Bote. "Offenbar haben die uns doch schon länger aufgespürt."
"Warum ist dieser Wicht von US-Zaubereiminister dann nicht schon längst hier bei uns angekommen?" Fragte Valery, der die Sache nicht gefiel. Kurz vor dem von ihr festgelegten Ziel sollte der Feind sie entdeckt haben?
"Wegen dem Grünstaub. Sie mußten ihn erst in der richtigen Menge herstellen", erhielt sie eine Antwort, die ihr logisch genug erschien. Dann jedoch kam ihr ein anderer Gedanke.
"Die Kuriere sind die üblichen Punkte angeflogen und haben dem Nächsten die Sache weitergereicht?" Fragte sie und erhielt ein Ja. "Dann könnte das auch eine Falle sein. Jemand wollte wissen, wo wir sind und hat es irgendwie geschafft ... Verdammt, sie muß einen der Sklaven gegen uns verwendet haben, um den Horcher in den Staaten zu kriegen. Alle fertig machen zum Ausschwärmen! Die Quieker alle in die feuerfesten Steinbunker! Ich komme gleich zu euch raus!" Schickte Valery eine Duftbotschaft mit höchster Alarmstärke aus. Sie war das, die ihr diese Falle gestellt hatte. Und sicher würde sie bald mit allen ihr noch gebliebenen Sklaven aufkreuzen und sie angreifen. Wie viele mochte sie haben? Sie wußte, daß sie alleine nicht gegen dieses Weib ankämpfen konnte. Sie brauchte alle ihre flug- und kampffähigen Nachkommen. Dann fiel ihr etwas ein: Sie würde, egal wer diesen Kampf gewinnen würde, ihre Rache kriegen. Sie würde dreißig ihrer Kinder in die Staaten bringen und dort auf Ziele der nichtmagischen Welt ansetzen. Das würde sowohl dem Zaubereiministerium dort als auch den Magielosen, zu denen sie mal selbst gehört hatte, gehörig einheizen. Sie befahl Lolita, Marisa, Milton und weitere brauchbare Kenner der magielosen Welt zu sich und befahl ihnen, sich auf ihrem Rücken festzuhalten. Dann disapparierte sie, um sie knapp hinter der Grenze zwischen Arizona und Mexiko im Gebiet der USA auszusetzen.
"Schwärmt aus und verteilt euch. Laßt euch bis übermorgen nicht blicken. Wenn ihr dann nichts von mir gehört habt, sucht Sprengstofflager und greift damit die großen Städte an! Ich muß jetzt zurück. Viel Glück!"
"Dir auch, Mutter und Königin!" wünschten Lolita und Milton. Zusammen mit Marisa flogen sie als Dreierpulk los und verschwanden über der Wüste. Valery I. konzentrierte sich und kehrte zeitlos in ihre Stadt zurück, wo bereits alles was Flügel hatte nach draußen eilte und aufstieg, um den anrückenden Feind zu empfangen.
Valery hatte damit gerechnet, mindestens eine Stunde warten zu müssen. Doch als sie schon wenige Minuten nach ihrer Rückkehr wütendes Gebrumm aus der Ferne hörte und mit ihren Tastorganen die Annäherung fremder Artgenossen witterte, wußte sie, daß die Falle gründlicher gestellt worden war, als einfach nur den Kurieren hinterherzufliegen. Es ging dieser Hexe, die sie gemacht hatte, nur darum, den genauen Zielort zu finden, wo sie ungefähr wußte, wo die Brutstätte lag. Offenbar hatte sie die Zeit genutzt, die die Kuriere brauchten, um ihr die Botschaft zu bringen, um ihre geflügelten Sklaven in die Nähe zu bringen. Mit Magie war das sicher möglich, mehrere tausend auf einmal zu versetzen. Ihr war klar, daß hier und jetzt die Entscheidung fiel, wer überlebte, Schöpferin oder Geschöpf. Valery war wütend. Sie wollte dieses Leben nicht, das sie jetzt hatte. Doch nun lebte sie so und fühlte sich wohl. Warum sahen die schwächlichen Menschen nicht ein, daß sie da war und auch ihre Ansprüche hatte? Sie würde es dieser Hexe jedoch zeigen, ob die diesen Grünstaub mitbrachte oder nicht. Sie flog auf und stieg über ihre sich formierenden Krieger hinweg. Ja, da sah sie sie zwischen den Bäumen heranschwirren, diese Sklaven. Ihre Wut stieg, als sie zwei Geschöpfe erkannte, die so groß wie sie selbst waren. Ja, diese Hexe hatte zwei Königinnen mit. Vielleicht hatte sie alle ihre Untertanen losgeschickt, weil ihr klar geworden war, daß sie es mit mindestens fünfzigtausend Kriegern zu tun haben würde. Dann ließ sie sich wieder zurückfallen, um im Schutz ihrer Krieger zu sein, wenn die feindliche Streitmacht heran war. Da kamen sie auch schon, die beiden Sklavenköniginnen.
"Stirb, Ungehorsame!" Riefen sie beide zugleich in der Duftsprache der Entomanthropen.
"Ich lasse mich von euch Marionetten bestimmt nicht plattmachen!" Schickte Valery zurück. "Das hier ist mein eigenes Reich, wo mir keiner reinzuquatschen hat. Haut lieber ab und macht euch von der frei, die euch und mich gemacht hat. Ihr seid stärker als die." Doch die beiden anfliegenden Brutköniginnen gingen zum Angriff über. Valery ließ sofort hundert von ihrer Garde zwischen die beiden und sich kommen. Hatten die denn gedacht, sie so einfach angreifen und abstechen zu können? Die beiden Brutköniginnen wurden ihrerseits von mehreren hundert Kriegern umschwirrt, und so entstand eine Luftschlacht zwischen einfachen Gardisten, die ihre jeweiligen Königinnen verteidigen und die Gegnerinnen töten sollten. Valery disapparierte, nach dem sie ihre Soldaten zum Angriff auf die Brutköniginnen losgeschickt hatte. Wenn die tot waren, würden die anderen Marionettenvölker womöglich die Flucht ergreifen. Das war eben so bei Bienenvölkern. Starb die Königin, war das Volk erledigt, Aber sie würden sie nicht erledigen. Sie erschien an einer anderen Stelle der Stadt. Ja, damit hätte diese Hexe doch rechnen müssen. Wo war die eigentlich. Oder hatte sie ihre Streitmacht dem Ministerium zugeschustert? Nein, ganz bestimmt nicht, wo sie, Valery, ihr doch ausgekommen war und ihr eigenes Ding durchzog. Wieder versuchten hunderte von Feinden, sie anzugreifen. Wieder wurde sie von mehreren hundert ihrer eigenen Nachkommen abgesichert. Sie suchte diese Hexe, die sie erschaffen und jetzt zur Feindin erklärt hatte. Vielleicht sollte sie die, wenn sie sie sah, unverzüglich in ihre Legekammer bringen, hinunterschlingen und hoffen, daß sie mit einem der nächsten Eier zu einer gehorsamen Tochter von ihr wurde. Dann würden auch ihre Sklaven aufgeben müssen. Sie witterte und fand zwei Hexen, die sich ihrer Stadt näherten, auf die bereits die ersten Toten wie Geschosse herabstürzten. Sie schmeckte den Geruch des Todes. Er war ihr zu vertraut, um ihn noch zu beachten. Dann erspürte sie, wer die war, die das alles hier angerichtet hatte. Sie brauste los, hinter sich zwei Hundertschaften Gardisten, um sie gegen die feindlichen Artgenossen abzuschirmen.
Sie sah noch triumphierend, wie eine der beiden feindlichen Königinnen von mehreren Stichen durchbohrt zu Boden stürzte und dabei in eines der primitiven Prunkbauten krachte, die sie für ihre "Hofbeamten" hatte bauen lassen. Doch das war jetzt nebensächlich. Da vorne war diese Schlampe, die sie als ihre Supersklavin hatte haben wollen und die jetzt angebrettert kam, um sie fertigzumachen. Aber wer hier wen plattmachte, das würde sich gleich ergeben. Dieser grüne Todesblitz konnte ihr nichts mehr. Die weißen stellen von diesem Zersetzungszauber waren auch wieder normal gefärbt. Feuerzauber machten ihr auch nichts aus. Also, was wollte die da noch machen, außer eine ähnliche Nummer wie die Kamikazekobolde. Hatte der Minister die eigentlich komplett verheizt oder wollte der die nicht mehr gegen sie losschicken? Egal! Jetzt wurde erst einmal die Sklaventreiberin da vorne vernascht und durfte froh sein, wenn sie nach den ganzen Beleidigungen Valerys Tochter sein durfte. Vielleicht konnte sie dann klären, wie neue freie Königinnen gemacht werden konnten, um die neue, überragende Lebensform über die ganze Welt zu verbreiten.
Sie witterte, ob die Angreiferin Sprengstoff bei sich hatte wie diese blöden Kobolde. Dann war sie nahe genug heran, um sie anzurufen.
Sie hatten sich alle so unauffällig sie konnten freigenommen. Nur dieser Tag, der zwölfte Juli, ging bei allen in Ordnung. Den ältesten von ihnen war klar, daß sich für eine von ihnen ab heute der Status und damit das Leben ändern würde. Sicher, sie konnten noch ihre Berufe ausüben. Aber was den nicht-öffentlichen Rest anging, so würde diejenige, die heute den Ring der Rosmerta aus dem Becken der Klarheit fischen würde, eine hohe Verantwortung tragen.
Die Höhle war weit und hoch wie ein vom Wasser in Jahrmillionen gebautes Gebetshaus. Tausende von frei schwebenden Kerzen erhellten die Halle der Schwesternschaft so stark, daß alle meinten, bei hellem Tageslicht hereinzuapparieren. Denn seit die Zeitlose Ortsversetzung bekannt und im Gebrauch war konnten die anerkannten Schwestern oder von ihnen Seit an Seit mitgenommenen Anwärterinnen nur auf diesem Weg in die Höhle eindringen. Keine von ihnen wußte, wer die ganzen Kerzen entzündet hatte. Vor Zoés Tod war es die Aufgabe der Sprecherin gewesen, die Höhle für die Vollversammlungen vorzubereiten.
Hera Matine sah die Altvorderen und die gerade erst frisch eingeschworenen, wie sie sich in der Höhle versammelten, deren Zentrum ein natürlich entstandener Brunnen war, aus dem ständig Grundwasser glasklar herauslief und in den Ritzen im Boden versickerte, wohl weiter unten an Tropfsteinen arbeitete, die wohl erst spätere Generationen zu sehen bekommen mochten. Die Heilerin und Hebamme aus Millemerveilles hatte zur feierlichen Versammlung ein hellblaues Kleid angezogen. Hier in Frankreich galt kein besonderer Bekleidungskodex, außer für die Sprecherin, die Mutter der Schwesternschaft. Keine sagte ein Wort. Auch mochte hier keine mit einer anderen mentiloquieren. Sie alle waren gespannt, wer heute den unsichtbaren Ring aufnehmen und bis zu ihrem Tod tragen würde. Hera hoffte zwar, daß ihre Großtante Zoé nicht rechtbehielt und sie den Ring an den Finger bekommen würde. Doch sie bangte ebenso, daß Cloto Villefort, die Großtante des kleinen Philemon Dusoleil, den Ring an den Finger bekommen könnte. Das sähe ihrer Großtante Zoé ähnlich, sie derartig zu bestrafen, weil sie sich weigerte, das Erbe anzutreten. Sollte doch die pummelige und silberhaarige Solange Fontier die neue Sprecherin werden. Damit würden beide Gruppen gut leben können. Hera kam nicht mit den Ungeduldigen klar, die meinten, Sardonias Erbe zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch zum großen Teil wiederbeleben zu müssen. Zoé hatte sich immer angehört, was die Ungeduldigen vorschlugen und sich viel Zeit genommen, das Für und Wider zu erörtern. Mit ihrer vorgefaßten Meinung würde Hera sicherlich keine gute Sprecherin sein. Doch dieser letzte Wille ihrer Tante hing über ihr wie eines dieser barbarischen Fallbeile der Muggelwelt. Wenn sie vom Ring erwählt wurde hatte sie Zoés Rang und Auftrag zu übernehmen. Wählte der Ring eine andere, eine würdigere als sie, könnte sie in ihren Träumen vom Geist ihrer Großtante verfolgt werden, der ihr sagte, daß sie sich im schützenden Schoß verkeilt habe, weil sie wohl Angst vor vollen Windeln habe. Befand sie sich mit ihrer Lebensweise und ihrem Wohnort in einer Art Mutterschoß? Die Schutzglocke, die eigentlich ein Überbleibsel finsterer Magie war, konnte schon als überdimensionale Fruchtblase bezeichnet werden, in der alle Kinder Millemerveilles sicher ruhen konnten. Hatte sie wirklich Angst vor vollen Windeln im Sinne von Konsequenzen aus ihren Handlungen, die ihr nicht gefielen? Das konnte sie mit Sicherheit ausschließen. Sie hatte die harte Heilerausbildung geschafft, hatte gegen den Rat der meisten Kollegen ihren Mann, einen Vagabunden und Abenteuerer geheiratet, selbst zwei Kinder geboren und dabei ihre Vorliebe für die Geburtshilfe entdeckt, weshalb sie neben ihrem Kollegen Delourdes die residente Heilerin und Hebamme Millemerveilles geworden war, was ihr sehr behagte, weil sie dort selbst geboren und aufgewachsen war. Sie kannte alle dort und hatte in den folgenden Jahren weitere Bekannte auf die Welt geholt. Und jetzt? Sie stand hier und wartete darauf, daß ein magischer Ring, von einem Zwerg geschmiedet und von einer Hexenmutter bezaubert, in diesem Brunnen herumschwamm und auf einen würdigen Hexenfinger lauerte. Ob die Finger der Hände, die nach ihm tasteten dünn oder dick waren war dem Ring gleich. Er paßte sich an, sobald er seinen Finger erwählt und sich leicht daraufgeschoben hatte. Dann würde der Ring für eine Stunde sichtbar sein, um dann für den Rest des Lebens derer, die er sich ausgesucht hatte, vollkommen unsichtbar zu bleiben. Hera dachte an die vielen, die ihn vorher schon getragen hatten. Rosmerta selbst, die erste Sprecherin, Serena Delourdes, die Gründerin und erste Heilerin von Beauxbatons, aber auch Sardonia, die dunkle Matriarchin. Also klebte an diesem Ring auch Blut. Das hatte Sardonias Nachfolgerinnen jedoch nicht abgehalten, ihn würdig aufzunehmen und zu tragen. Hera fragte sich eh, wie der Ring dem Vernichtungsfeuer entwischen konnte, in dem Sardonia selbst unter dem Ansturm von über hundert Dementoren ihre letzten Zauberkräfte aufgeboten und verloren hatte. Doch er war wieder dort gelandet, wo ihn jede Anwärterin finden mußte. Also unterschied der Ring nicht zwischen Tag und Nacht, Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Er bestimmte die ihn ehrende Trägerin. Und auch wenn Sardonia viel Leid und Unterdrückung über die Welt gebracht hatte, so hatte sie die Zaubererwelt über ein Jahrhundert daran gehindert, sich in kleinkarierten Scharmützeln zu ergehen. Es hatte die gegeben, die für sie eintraten und jene, die gegen sie standen. Klare Ordnung durch Unheil.
Liebe Schwestern", begann Solange Fontier mit ihrer trotz neunzig Jahren glockenreinen Stimme: "Als die heute älteste unter euch gebührt mir, diese würdige und feierliche Zeremonie zu eröffnen, in deren Verlauf wir das Erbe unserer Mütter und Vormütter ehren wollen, die uns in diesen erhabenen Kreis geführt haben. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir, die Hexen, die magischen Frauen, in der Tradition der alten Druidinnen und Weisen stehen, die ihre Kraft und Beharrlichkeit dem Wohl aller Menschen gewidmet haben, auch wenn sie dabei nicht nur auf das Mittel der Überzeugung, sondern den Zwang gesetzt haben. So sind wir es, die trotz aller Dominanz der Männer und Zauberer die Welt halten und erhalten, indem wir ihr neue Kinder geben und deren Kindern weise Ratgeberinnen sind. Doch wenn wir alle gleich sind, so brauchen wir eine starke und weise Fürsprecherin, eine Mutter, die uns alle lenkt und leitet. Leider ist, wie viele von Euch bezeugen mußten, unsere großartige Führerin Zoé Beaumot vor einigen Wochen in die Welt unserer Vormütter gerufen worden und hat uns gerüstet doch trauernd zurückgelassen. Es ist nun an uns, aus unserer Mitter eine würdige Nachfolgerin erwählen zu lassen. Da wir die ursprüngliche Gemeinschaft der schweigsamen Schwestern sind, sind wir die ersten und einzigen, die in der glücklichen Lage sind, bar unserer eigenen Interessen befinden zu lassen, wer von uns die würdigste ist. In anderen Ländern entscheiden Wahlen aus der Mitte heraus, die nicht immer glücklich verlaufen sind. Ich wollte euch jüngeren, die ihr das bisher noch nicht mitbekommen konntet nur erzählen, damit ihr versteht, was hier gleich passiert. Ich sehe auch meine Urgroßnichte Eloise, der ich vor zwei Jahren den Eintritt in diese Gemeinschaft erbeten habe. Und so wie ihr, die gerade erst eingetreten seid, sowie die, die fast solange dabei sind wie ich, mögt nun erfahren, daß in diesem Brunnen dort Zoés Vermächtnis auf uns wartet, der Ring der Rosmerta, der großen Gründungsmutter unserer Gemeinschaft. Die Regeln besagen, daß die unter uns, die bereits das fünfzigste Lebensjahr vollendet und mindestens einem Kind das Leben geschenkt haben, vor den Brunnen treten und die Zauberstabhand hineinstrecken. Sie werden eine ganze Minute lang die Hand im klaren Wasser baden. Will es die Weisheit Rosmertas, die in ihrem goldenen Ring verankert ist, daß die Fragende zur neuen Mutter wird, wird der Ring ihre Hand berühren und sich ihr aufsetzen, damit sie fortan in unser allem Namen handeln und sprechen möge. Wie genau die Reihenfolge verläuft wurde immer unterschiedlich gehandhabt. Ich weiß noch, wie Zoé erwählt wurde. Damals ging es nach Alter, von der Ältesten bis zur gerade fünfzig Jahre alten. Heute machen wir das mal umgekehrt. Sollte der Ring bei der ersten Runde keine erwählen, folgt eine zweite Runde. Spätestens dann weiß der Ring die Kräfte und Qualitäten zu vergleichen." Solange Fontier rief nun die jüngste der in Frage kommenden auf. Doch nach der geforderten Minute zog Sylvia Vendredi, die Enkelin von Heras eigener Hebamme, die linke, ihre Zauberstabhand, aus dem Becken mit dem plätschernden Wasser und trug keinen goldenen Ring. Sie zog sich ruhig zurück und überließ der nächsten von insgesamt zwanzig den Zutritt. Doch auch diese wurde nicht bestimmt. Vier weitere Hexen später war noch immer keine neue Sprecherin erwählt. Dann folgten noch zwei, bevor Hera Matine an das Becken treten mußte. Jetzt galt es. Würde es was nützen, die Annahme im Geist zu verweigern, bevor er sich ihr auf den Finger schieben konnte? Sie tauchte die rechte Hand, mit der sie auch zauberte, in das Becken. Komisch. Sie hatte das Wasser des Brunnens als eiskalt erwartet und nicht so warm, daß es ihre Hand nicht abkühlte. Sie wollte die Hand schon zurückziehen, als ihr einfiel, daß ein Abbruch der Befragung vor der einen Minute ebenfalls einer Verweigerung gleichkam und sie dafür ihr gesamtes wissen während der Zeit in der Schwesternschaft vergessen würde. Sie würde dann geistig zur jungen Heilerin zurückverjüngt, die gerade wußte, daß Augusteseinen ersten Geburtstag erlebt hatte. Nein, sie mußte die Hand im Wasser lassen. Wieso fühlte es sich nicht kalt an? Sie ließ ihre Hand ein wenig in der klaren Flüssigkeit umherschweifen. Da fühlte sie, wie etwas ihren rechten Ringfinger streifte und sich darum zusammenzog, um dann wieder leicht zu werden. Diese alte, körperschwindende Hexe hatte doch tatsächlich recht behalten, dachte Hera und wartete, bis die Minute verstrichen war. Sie zog die Hand aus dem Becken und erblickte den goldenen Ring mit den leuchtenden Runen, die sie beim Tode ihrer Großtante hatte verschwinden sehen können. Jetzt steckte dieses verfluchte Ding an ihrem Finger. Noch würde sie ihn abstreifen können. Aber dann kam die Strafe für Undank in Form erwähnten Erinnerungsverlustes. Die andren sahen sie an, die einen überrascht, andre so, als hätten sie das erwartet, wieder andere enttäuscht und einige sehr zufrieden. Das war also der Unterschied der Meinungen. Cloto Villefort, die nach Hera Matine drangekommen wäre, blickte verdrossen auf den goldenen Ring. Doch wer nun hinging, um ihn der auserwählten vom Finger zu zerren, bekam die Strafe ab, die der Verweigerin drohte. Also würde niemand ihr den Ring zu nehmen wagen, die schon mehr als drei Jahrzehnte in dieser Gemeinschaft war.
"Du nimmst deine Aufgaben an, Schwester Hera?" Fragte Solange Fontier, die im Moment der Ringpräsentation erleichtert gelächelt hatte. Hera Matine atmete durch. Dann sagte sie laut und vernehmlich:
"Auch wenn ich mich nicht für würdiger halte als dich, Schwester Solange, nehme ich die mir zugefallene Ehre und Verpflichtung an." Dann mußte sie eine Antrittsrede halten. Sie betonte, daß sie eine geduldige aber auch aufmerksame Sprecherin sein würde, daß sie im Sinne der Gemeinschaft ihre bisherigen Aufgaben und Verpflichtungen wahrnehmen und den Kindern Millemerveilles zu einem erfolgreichen Anfang ihres Lebens verhelfen würde. Sie bekräftigte, die Ziele der Gemeinschaft zu achten, streute dann jedoch ein, daß sie mit dem Ring auch die Aufgabe übernommen hatte, das an ihm klebende Blut aus Sardonias Zeit nicht zu mehren, was hieß, daß sie nicht wollte, daß Sardonias Erbe erneuert und noch schrecklicher als zuvor erweitert wurde. "Ich bin Heilerin. Mein oberster Auftrag, meine Lebensaufgabe ist der Erhalt der Gesundheit und des körperlich-seelischen Wohls jedes einzelnen. Mag sein, daß mir deshalb Rosmertas Ring zugeschwommen ist, weil unsere Gründungsmutter befindet, daß wir vor einer schweren wie bedrohlichen Entscheidung stehen, wem wir unsere Kraft und unsere Gedanken widmen. Ich werde nicht in die Meinungsfreiheit unserer Gemeinschaft eingreifen. Doch wenn sie zum Schaden unserer Mitglieder oder der Außenstehenden mißbraucht wird, muß ich einschreiten. Diejenigen, die sich überlegen, für was und für wen sie eintreten, möchten dies bitte bedenken. Meine ehrwürdige Großtante und Vorgängerin in dieser hohen Stellung ehrte das Gleichgewicht und die Geduld. Ich ehre das Wohl und die Entschlossenheit, dieses Wohl zu bewahren und zu mehren. Wer damit nicht einverstanden ist möge sich damit vertraut machen, daß Zeiten wie die Sardonias, deren Wirken in diesem Ring mitschwingt, nicht wieder in der ganzen Gewalt und Unterdrückung aufleben. Wessen Angebote ihr immer erhaltet, die Ziele einer lenkenden und liebenden Vorherrschaft der Hexen schneller zu erreichen, sollte sich darüber im Klaren sein, daß wir vom Rest der Gemeinschaft es nicht mehr dulden dürfen, wenn Gewalt diesen Weg pflastert und Unterdrückung ihn verbreitert. Viele Zauberer verachten Hexen und sehen sich in ihren patriarchischen Ansprüchen bestätigt, weil Hexen wie Sardonia und Anthelia den Ruf der strengen, aber auch liebevollen Mutter der Hexenheit beschmutzt hat. Denen, die wie ich das Wohl der einzelnen und das aller gleich hoch werten, danke ich jetzt schon für all die Zeit, die wir an unserem Traum bauen, den Irrweg männlicher Machtsucht und Besitzgier zu beenden und zu den Wurzeln unserer Gesellschaftsform zurückzufinden, die um die weise und liebende Mutter herum gegliedert war. Aber ich werde natürlich für jede hier da sein, wenn sie meinen Rat sucht. Vielen Dank, daß ihr alle hier seid."
"Dir ist klar, daß die Sardonianerin dich als potentielle Feindin sehen wird", sagte Solange Fontier, nachdem alle anderen Schwestern die Halle des Lebens verlassen hatten. Hera nickte. Dann zeigte sie ihren Ringfinger. Sie fühlte den Ring schon nicht mehr. Er war auch nicht mehr zu sehen. Doch wenn sie ihre linke Hand über den Finger der rechten gleiten ließ, fühlte sie die sehr feine Unebenheit, die sich knapp vor dem Übergang des Fingers in den Handballen schloß. Der Ring war nun untrennbar mit ihrem Leben verbunden. Einen Moment dachte sie daran, ob ihr jemand gewaltsam den Ring abnehmen würde. Dann fiel ihr ein, was einmal passiert war, als eine Gegnerin Sardonias ihr den Ring mit dem Finger von der Hand geschnitten hatte. Die Verräterin war zu Stein erstarrt, und der Ring war mit dem Finger an die Hand Sardonias zurückgesprungen und dort wieder angewachsen. Der Stein stand heute in den geheimen Katakomben von Millemerveilles als Mahnung für alle, die Sardonia damals um ihre Vorrangstellung bringen wollten. Nun diente er auch als Mahnung vor ungerechtfertigter Inbesitznahme und Anmaßung.
Hera Matine kehrte in ihr Haus in Millemerveilles zurück. Das sie ab heute eine andere war hatte hier niemand mitbekommen und würde es auch nicht, wenn sie so weitermachte wie bisher.
Anthelia sah sie auf sich zufliegen. Fünf Meter groß, wild und zum töten bereit, eigentlich so, wie sie sich eine Brutkönigin einer wirksamen Streitmacht gewünscht hatte. Doch was nützte einem Herrscher ein Feldherr, der seine eigenen Ziele verfolgte? Julius Caesar hatte die römische Republik erschüttert und zu Fall gebracht. Napoléon, als General der Revolution gestartet, hatte sein Reich immer weiter ausdehnen wollen und war schließlich an seinem eigenen Größenwahn gescheitert. Davon wußte sie nur, weil sie es in Geschichtsbüchern und in den Erinnerungen Benny Calders/Cecil Wellingtons nachgeforscht hatte. Und jetzt kam da ihre Schöpfung auf sie zu, die sich ihr entzogen hatte und jetzt darauf ausging, sie zu töten oder durch grausamen Wandlungsprozeß zu einer ihr gehorsamen Tochter werden zu lassen. Nein, dafür hatte sie sich nicht aus Daianiras Schoß geschummelt, um dieser unbeherrschbaren Kreatur da wiedergeboren zu werden.
Anthelia erzeugte um sich herum die rosarote Schutzblase, die die meisten magischen und nichtmagischen Gewalten zurückprellen konnte. Das einzige, was durchkam war der Todesfluch.
"Du brauchst dich nicht in deinen Energieschirm einschließen, du Schlampe. Ich knack den sowieso", dröhnte die unheilvolle Baßstimme Valery Saunders' durch die Luft, übertönte das wilde Gebrumm und Gesumm, die Kampfgeräusche und die Todesschreie der unrettbar getroffenen.
"Du warst ungehorsam. Du hättest nur dienstbare Aufgaben ausführen müssen, die zur Bewahrung der Welt dienen. Statt dessen bedrohst du die Menschen, die dich zu dem werden ließen, was du jetzt bist. So wollte ich dich nicht."
"Und ich wurde nicht gefragt, ob ich so sein wollte, wie du mich wolltest. Ich habe ein angenehmes Leben geführt, bevor du mich verwandelt hast. Und jetzt will ich das, was mir zusteht, das Recht der Stärkeren. Ihr Menschen seid alle schwächlich und klein. Ihr bildetet euch ein, niemals mehr natürliche Feinde zu kriegen. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du entweder wissen, was für eine gemeine Hexe du warst und mir helfen, deinesgleichen loszuwerden und die Welt so umzubauen, dasß für solche wie uns genug Platz drin ist, oder du wirst tot sein, tot und vergangen. Such's dir aus!"
"Ich habe mich schon entschieden. Deine Tochter zu werden ist für mich eine Entwürdigung. Und der Weg dazu ist Erniedrigung und Zerstörung. Ich bin jetzt hier, um meinen Fehler zu korrigieren."
"Du siehst das als Fehler an, mich gemacht zu haben, du Hexenhure? Dann krieg das mit, wie groß der Fehler war und krepier!" Rief Valery Saunders. Wishbones Begleiter feuerte den Todesfluch ab, der beinahe Anthelias Schutzsphäre getroffen hätte. Das hätte der Hexenlady wohl nicht viel ausgemacht, weil ihr Gürtel mindestens noch drei davon umlenken würde. Doch es störte sie, daß dieser Kerl Spikes meinte, die Sache klären zu können. Dabei wirkte der grüne Blitz nicht einmal. Valery lachte und schwirrte weiter auf Anthelia zu.
"Wenn wir Mädels was klären müssen sollen die Jungs sich raushalten", schnarrte sie Spikes an, der sich zurückzog. Linda Knowles hatte indes ebenfalls die rosarote Schutzblase erzeugt. Ihr Kollege vom Herold hielt sich für einen Reporter sehr weit vom Schauplatz auf, um nicht zwischen zupackende Greifhände oder zustechende Stachel zu geraten. Einer der gegnerischen Entomanthropen krachte gegen Anthelias Schutzblase und prallte mit sich verheddernden Flügeln zurück. Valery dirigierte ihre Garde so, daß sie nur gegnerische Artgenossen zurücktreiben sollte. Sie wollte also ein Duell in der Luft. Anthelia war das ganz recht. So konnte sie sich völlig auf die Entomanthropenkönigin konzentrieren. Diese griff frontal an. Sie rammte die Schutzblase mit ihrem Menschenkopf. Ihre Tastorgane hatte sie nach hinten umgeklappt. Sie prallte zurück und trudelte einige Meter nach unten. Anthelia sah, bevor sie sich wieder auf Valery konzentrieren mußte, wie Wishbones Begleiter sich mit Todesflüchen gegen ihn bestürmende Entomanthropen wehrte. Linda Knowles hatte es vorgezogen, etwas weiter oben zu warten. Einige Insektenmonster prallten zwar gegen ihre rosarote Schutzsphäre, durchschlugen sie jedoch nicht. Anthelia sah nun wieder Valery. Sie dachte daran, daß sie auf dieser vor Leuten des Zaubereiministeriums geflüchtet war. Und jetzt war sie hier, um sie und ihre Brut auszulöschen. Das mußte sie in den nächsten Minuten tun, bevor Valery ihre Angriffslust verlor und befand, daß der schnelle Rückzug sinnvoller war, wo ihre schöne Stadt dort unten entdeckt worden war.
"Du wirst mich nicht überleben", stieß Anthelia provokant aus. "Ich habe dich in diese Welt gebracht, und ich stoße dich wieder daraus hinaus!"
"Wie denn? Du hast ja außer deiner lächerlichen Energieblase nix dabei, um mir was zu können. Selbst diese Verbrennungsmünzen von deiner Kollegin in Viento del Sol haben mir nichts tun können."
"So, du Monstrum. Hast du gedacht, es gebe nichts, was dich verschwinden lassen kann. Das stimmt im Zusammenhang mit den Sachen, mit denen du nicht verbunden bist. Aber hier", erwiderte Anthelia und zeigte den Entomolithen. "Damit habe ich dich geschaffen. Und damit vernichte ich dich jetzt auch wieder."
"Dieser Klunker kann mir nichts mehr. Das hat die andere doch schon lernen müssen, der du den Stein da geliehen hast", brüllte Valery bedrohlich, während um sie herum weiter gestochen, gerissen und gerammt wurde. Anthelia lächelte matt und hob den Stein und ihren Zauberstab. Valery prallte immer wieder gegen die schützende Sphäre und federte zurück. Anthelia fühlte, daß diese Rammstöße nicht lange abgewehrt werden konnten. Da versuchte die Entomanthropenkönigin, ihren degenartigen Giftstachel mit den Widerhaken in die magische Blase zu bohren. Doch der Stachel bog sich. Valery fühlte den Gegendruck im Hinterleib. Gift tropfte von der rosaroten Blase nach unten. "Mach das noch mal und du vergehst ohne Stachel!" Rief Anthelia. Valery flog wieder Frontalangriffe. Genau das wollte Anthelia. Denn nun berührte sie den Stein mit dem Zauberstab und rief beinahe feierlich: "Ich strecke meine Waffen! Vergeh mit dem, was du erschaffen! Ich strecke meine Waffen! Vergeh mit dem, was du erschaffen!" Valery lachte und schnaubte, während sie weiter gegen die Energieblase anflog, die doch nun leicht eingedellt wurde. Anthelia überspielte die Anstrengung, die jeder Stoß ihr bereitete. Sie konzentrierte sich auf ihren Stein und den Zauber. Es mußte doch bald die Reaktion einsetzen. Doch sie mußte zehnmal die Formel wiederholen, bis die Reaktion einsetzte. Der Stein glühte hellgelb und dann violett auf. Valery lachte noch einmal. Dann warf Anthelia den Stein von sich, hinaus durch die nach außen durchlässige, magische Hülle. Der Entomolith zog beim hinausfallen eine Leuchtspur wie der Schweif eines Kometen. Dabei glühte er noch heller auf. Anthelia hielt ihn mit dem Zauberstab anvisiert und wiederholte ihre Beschwörung. Da schlugen aus dem Stein violette Blitze heraus. Valery hielt mitten in der Bewegung inne. Sie zitterte. Offenbar bekam sie trotz der einverleibten Magie die Wirkung zu spüren. Sie taumelte im Flug. Falls sie jetzt disapparierte, dachte Anthelia, könnte der geballte Vernichtungsschlag doch noch danebengehen. Doch Valery verschwand nicht. Sie sah die violetten Blitze aus dem nun wild in der Luft rotierenden Stein. Da trafen die ersten auf sie. Sie zuckte zusammen. Dann meinte Anthelia, ein Glühen zu sehen, das den Körper der Brutkönigin überzog. Rings um sie herum trafen die Blitze andere Entomanthropen, die schlagartig in violette Flammen eingehüllt wurden. Valery versuchte wohl, noch zu disapparieren, als eine ganze Garbe der violetten Blitze sie einhüllte. Sie riß den Mund auf und schrie ihre Angst, Wut und Schmerzen hinaus. Dabei fuhren ihr weitere violette Blitze hinein und brachten ihr inneres zum leuchten. Ihr schrei erstarb in einem Gurgeln. Dann sahen alle, die mit Anthelia hergekommen waren, wie aus dem Leib der Brutkönigin erst violette Flammen schlugen und dann noch blaue und gelbe Blitze, die weit und noch weiter flogen. Wenn sie auf Entomanthropen trafen, zerplatzten diese im violetten Feuer, das sich nun nicht nur vom Stein aus verbreitete. Anthelia erkannte, daß das von ihr ausgelöste Inferno nun alle erfassen würde, die dieser Brutkönigin entstammten. Valery Saunders war nun nur noch ein einziger großer Feuerwerkskörper, der violette, gelbe und blaue Flammen, Blitze und Lichtbögen versprühte. Anthelia meinte, irrsinnig zu werden, wenn sie zu lange in dieses finale Feuerwerk hineinblickte. Sie atmete tiefein und wieder aus. Sie hatte es doch geschafft. Beinahe hatte sie fürchten müssen, daß Valery mit der in ihr geballten Magie gegen diesen Vernichtungszauber immun sein mochte. Doch der Entomolith entzündete in seiner eigenen Vernichtung alles, was aus seiner Magie erschaffen worden war, ganz wie es Sardonia in ihrem Denkarium hinterlassen hatte. Anthelia sah um sich herum nur violettes Feuer, zwischen dem blaue und gelbe Lichtpfeile hindurchflogen. Was hatte sie da getan? Was hatte sie tun müssen? Sie wollte die Entomanthropen als Waffe gegen die Schlangenkrieger des Waisenknabens benutzen. Das hatte sie auch erreicht. Die Schlangenkrieger gab es nicht mehr. Doch ihr fiel jetzt auf, daß mit Valerys und der anderen Entomanthropen Vernichtung auch der Druck von den Wertigern genommen wurde. Sie könnten sich rächen wollen, ohne daß jemand oder etwas da war, um sie wirksam zurückzudrängen. Doch, so erkannte Anthelia, die ihre Augen schließen mußte, um nicht im wilden Feuer blind oder verrückt zu werden, daß die Wertiger das kleinere Übel im Vergleich zu Valery Saunders waren. Und sie konnte einen neuen Entomolithen und mit mehr Bedacht auch neue Brutköniginnen erschaffen. Zwar nicht sofort und wohl erst einmal nicht um jeden Preis. Aber sie konnte es tun.
Valery lachte, als ihr der gelbe Stein entgegengehalten wurde und diese Hexe in ihrer verfluchten Energieblase eine alberne Zauberformel sang. Doch dann hatte sie in sich Hitze gespürt, die immer stärker wurde. Ihre Flugbewegungen waren erlahmt. Dann hatte sie zusehen müssen, wie erst einige ihrer Kinder von violetten Blitzen wie Zunder angesteckt wurden, bis sie selbst die von außen und innen wirkenden Entladungen spürte. Das war, als hätte sie Knallfrösche verschluckt, die jetzt losgingen. Hatte diese Hexe da nur mit ihr gespielt, um noch welche von diesen Killerkobolden in sie reinapparieren zu lassen? Nein! Die Blitze versengten ihren Panzer. Sie fühlte sich an wie auf einer heißen Herdplatte. Das konnte nicht sein. Ihr begann alles weh zu tun. Sie meinte, bei lebendigem Leibe gekocht zu werden. Sie schrie. Dann fühlte sie, wie etwas mit glühendheißen Klingen aus ihr herausschlug. Der Schmerz wurde unerträglich, und sie erkannte, daß diese Hexenschlampe da nicht gelogen hatte. Der Stein, mit dem sie die anderen gesteuert hatte, war immer noch mit ihr, Valery verbunden gewesen. Und jetzt zerstörte der sich und nahm alles und jeden mit, was von ihm gemacht worden war. Valery fühlte die Blitze von draußen in ihren Mund schlagen, in ihren Gedärmen zu loderndem Feuer werden, bevor ihre Sinne schwanden. Sie schaffte es nicht einmal, sich auf einen fernen Ort zu konzentrieren um zu verschwinden. Ihr neues Leben raste in violett zerhackten Bildern an ihr vorbei, und ihr früheres Leben in den Straßen der Großstädte, den Sex mit Milton und mit anderen, ihre Schulmädchenzeit, die Prügeleien im Kindergarten mit den größeren Jungs. Ein letzter Schrei entrang sich ihrer Kehle. Er klang so wie der Schrei, den sie gleich nach ihrer Geburt ausgestoßen hatte. Sie sah noch einmal die fröhlichen Gesichter ihrer Eltern, bevor dunkelheit sie umfing und sie zwei Herzen schlagen hörte, ihre eigenen oder das ihrer Mutter und ihr kleines Kinderherz? Dann explodierte eine violette Sonne, direkt aus ihr heraus und zerstrahlte alles, was sie war ins ganze Universum. Ihr allerletzter Gedanke war, daß ihre Kinder sie rächen würden. Dann war es vorbei.
Linda Knowles mußte landen. Das Feuer um sie herum durchschlug zwar nicht die rosarote Blase, die sie nach Anthelias Vorbild aufgebaut hatte. Doch es störte ihr Sehvermögen. Sie durfte nicht weiterfliegen. Sie landete zwischen den Trümmern eines Steinbaus, wo wohl mal welche von diesen Monstern drin gehaust hatten. Sie hörte mit ihren Ohren das Prasseln und Knallen der um sie herum ausschwärmenden Blitze. Dann hörte sie das laute Quieken tief unter der Erde. Es klang wie kleine Ferkel oder besonders große Meerschweinchen und wurde immer ängstlicher. Dann ging das Quieken in schrille Schreie über. Todesschreie! Linda steckte sich die Finger in ihre Ohren. Doch dadurch hörte sie nur zu dem schrillen Spektakel unter ihr das Pochen des Blutes durch ihre Finger, das dem da unten stattfindenden Grauen sicher noch eine Spur Entsetzen beifügte. Warum war sie hier? Warum mußte sie sich das anhören? Das war unerträglich! Sie konnte ihre Ohren nicht so fest verschließen, um das nicht mehr zu hören. Ihre Ohren stellten sich von alleine auf die erfaßbaren Geräusche ein. Sie war sich sicher, daß das Schrillen bereits über der Tonlage klang, das nichtmagische Ohren noch wahrnehmen konnten. Sie wurde Zeugin einer Vernichtung, eines Massensterbens. Und ihr wurde mit finaler Gewißheit klar, daß das Quieken und Schrillen dort unten die Todesschreie von Babys war. Babys, die wie ihre Mutter Monster waren, aber hilflose, beschützenswerte wesen. Das konnte sie nicht länger aushalten. Sie dachte daran, zu disapparieren. Doch die Laute der Vernichtung der großen und der kleinen Ungeheuer störten ihre Zielausrichtung. Sie war gefangen im Konzert der kollektiven Katastrophe, dem Dröhnen der Vernichtung und dem Geschrei unschuldiger Geschöpfe, die wohl gerade erst zu leben angefangen hatten, um nun gnadenlos zu vergehen. Der Gedanke, daß aus den quiekenden Larven einmal solche Monster wie die um sie herum kämpfenden werden sollte, tröstete sie nicht über die Hölle hinweg, in die sie ihre magischen Ohren gerade hinabgezogen hatten. Sie schrie gegen den Lärm an. Sie fühlte, wie sie fast verrückt wurde. Kein anderer schien die Schreie der sterbenden Larven zu hören. Das war der Fluch ihrer magischen Ohren, die sie bisher so zielgenau und gewinnbringend eingesetzt hatte. Das Donnern und Prasseln der niederfahrenden Blitze war dagegen wie ein Trommelwirbel einer großartigen Zirkusattraktion. Sie wußte, daß sie das nicht mehr lange aushalten würde. Dann fiel ihr der Weg ein, wie sie ihre Ohren verschließen konnte. Sie richtete den Zauberstab gegen sich selbst.
Collin Worthington bibberte vor Angst. Ja, es war Angst, die den My-Truppler gepackt hielt. Als er Minister Wishbones Abbild wurde, wußte er schon, daß der echte Wishbone sich im klaren war, in welchen Horror er da hineingeraten könnte. Er hatte ihn also vorgeschickt, einen entbehrlichen kleinen Kampfzauberspezialisten. Der konnte ruhig draufgehen oder wahnsinnig werden. Er vergaß seine Okklumentik. Denn die um ihn herum niederstürzenden Monster, die brennenden Fackeln oder übergroßen Sternschnuppen gleichkamen, hinderten ihn daran, seine Gefühle zu beherrschen. Er sah nur, wie Anthelia selbst mit ihrem Besen landete und wie die Entomanthropenkönigin wie Butter in der Sonne in violettem Feuer zerschmolz. Ihre Abkömmlinge starben denselben Tod. Dann, mit einem lauten Prasseln, explodierte aus der glühenden Masse, die mal eine Entomanthropenkönigin gewesen war, ein Gewitter aus violetten und blauen Blitzen. Worthington spürte, wie von dieser Lichtstampede gewaltige Magie ausging, die sich in alle Richtungen des Raumes entlud. Natürlich! Dieses Monster hatte die Magie von mindestens zwanzig oder dreißig Hexen und Zauberern einverleibt. Diese brach nun ungerichtet aus. Er fürchtete schon, von Verwandlungseffekten, fluchartigen Beeinträchtigungen oder sonstigen Unannehmlichkeiten erwischt zu werden. Um sich herum sah er Bäume, die im Gewitter zu schrumpfen und dann wieder zu wachsen begannen. Steine verformten sich und begannen, auf glutroten Scheinfüßen davonzutrippeln, bis sie in bunten Funkenentladungen zerbarsten. Ein Großteil der Magieentladungen ging direkt in die Erde und fuhr in den Himmel empor. Dort mochten die freigesetzten Zauberkräfte hoffentlich unschädlich verpuffen. Er wollte sich nicht ausmalen, was passierte, wenn eine gebündelte Magieentladung ein Muggelflugzeug traf oder sogar auf dem Mond etwas auslöste, was die kosmische Balance zwischen ihm und der Erde durcheinanderbrachte. Diese Hexe Anthelia hatte zwar das Ziel erreicht, Valery zu vernichten. Doch damit mochte sie ein noch schlimmeres Inferno ... Ein Blitz schoß aus der Erde durch seine Füße und seinen Kopf hinaus. Er meinte, von siedendem Wasser zerkocht zu werden. Dann stand er so da, als sei nichts geschehen. Da fiel ihm auf, daß er sich verändert hatte. Er war nicht mehr Minister Wishbones Doppelgänger, sondern Collin Worthington. Eine aus der Erde zurückgeschlagene Magieentladung hatte die Kraft des Vielsaft-Trankes aufgehoben. Dann war auf einmal Ruhe. Worthington sah sich um. Spikes stand da, als sei er zu Stein erstarrt. Doch dann kehrten die Bewegungen in seinen Körper zurück. Die Sardonianerin stand, eingehüllt in eine blaue Aura da, die nun verwehte. Keneth vom Kristallherold hockte weit hinter ihnen und balancierte eine gigantische grüne Schreibfeder, die versuchte, sich seinem Griff zu entwinden und dann unter lautem Knistern ausbleichte und zerfiel. Doch wo war Linda Knowles. Da wo ihr Besen lagstand nur eine rot-blau gemusterte Holzschachtel. Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihm auf. Hatte Linda sich unter einer Entladung in diese Schachtel verwandelt? Aber warum waren Walker und Spikes nicht verändert worden oder die Sardonianerin, die gerade das Trümmerfeld überblickte. Von den Insektenwesen war nichts mehr übrig geblieben. Die Erde zitterte nun merklich.
"Alle hier weg, die ungerichtete Magie macht ein Erdbeben!" Rief Anthelia. Worthington rief zurück, daß Linda Knowles was passiert sein müsse. Doch die angebliche Nichte Sardonias hob nur ihren silbergrauen Zauberstab und richtete ihn auf die Schachtel, die zu ihr hinflog, ebenso wie der Besen der Reporterin.
"Ich bringe sie in die HPK. Sie ist durch Todesschreie verendender Larven Valerys traumatisiert."
"Das werden wir tun", sagte Spikes und deutete auf Worthington. Er erstarrte.
"nein, ich habe das Inferno ausgelöst und werde Ms. Knowles zur Behandlung bringen", bestand die Hexenlady darauf, Linda Knowles, die wirklich diese Schachtel sein sollte, zur Behandlung in die Honestus-Powell-Klinik zu bringen. Dann sagte sie: "Sie, Mr. Spikes, und Sie, Mr. Worthington, dürfen Ihrem Herrn Zaubereiminister bestellen, daß er etwas grandioses verpaßt hat und ich gerne verbreiten werde, daß er dabei keinen einzigen Fehler gemacht hat, weil er zum Tatzeitpunkt schön weit weg war."
"Woher wissen Sie meinen Namen? Ich habe sie nicht angesehen", sagte Worthington.
"Meine Kontakte sind vielfältig. Aber jetzt sollten wir endlich aufbrechen."
"Das werden wir. Aber Sie sind festgenommen", stieß Spikes aus. "Legen Sie Ihren Zauberstab hin und ergeben Sie sich!"
"Ihr zwei wollt mich festnehmen?" Fragte Anthelia verdutzt und hob ihren Zauberstab. Spikes feuerte einen Fluch auf die Hexe ab, der knisternd von ihr abfloß. "Knabe, gehe er besser nach Hause und überlege er sich, wie töricht er sich verhalten hat." Die Erde zitterte stärker. Einige der Bäume bogen sich bereits unter den Erdstößen.
"Sie ergeben sich also nicht. Dann eben so", knurrte Spikes und berührte mit dem Zauberstab seine Armbanduhr, die kurz blau aufleuchtete. Dann richtete er den Stab auf Anthelia, die ihren Stab in der Hand hielt. "Avada ...", rief Spikes noch. Da wurde ihm von einer unsichtbaren Faust der Stab aus der Hand gedroschen und segelte davon, gerade als ein weiterer Erdstoß den Boden erschütterte. Ein Riß klaffte auf, in den der Zauberstab genau hineinfiel und dann verschwand.
"Mich festnehmen wollen, wo ich euch Versagern gerade den Podex gerettet habe", schnaubte Anthelia. Worthington senkte seinen Zauberstab. Spikes befahl ihm, die Hexe zu töten. Diese zielte mit dem Zauberstab auf Spikes. Ein violetter Blitz traf den My-Truppler und machte ihn zu einem Holzeimer. "Paßt jetzt genau zu dir, Justin Spikes, aus Holz und innen hohl." Worthington kapierte es. Doch Spikes hatte seine Uhr ausgelöst. Die My-Truppe würde gleich ... da fiel ihm auf, daß er nicht okklumentiert hatte.
"Du disapparierst und richtest eurem Boss aus, was ich gerade gesagt und getan habe. Seinen hohlen Hilfshirnie kriegt er in natürlicher Gestalt zurück, wenn ich ihn zum Scheuern meiner Behausung verwendet habe. Damit ihr's lernt, dankbar zu sein."
"Nichts für ungut, Mylady, aber Sie haben diese Monster schließlich erschaffen. Die von Cludy Canyon werden Schadensersatz und eine Gefängnisstrafe fordern."
"Ich hätte diese Furie schon längst aufhalten können, wenn ich in den letzten Monaten nicht stark eingeschränkt gewesen wäre. Warum das so war bleibt meine Sache."
"Nur noch eine Frage!" Rief Keneth, der nicht nur wegen des langsam zunehmenden Erdbebens zitterte. "Werden Sie nach dieser Erfahrung neue Entomanthropen erzeugen, oder ist mit diesem Stein alles Wissen darüber vernichtet?"
"Das waren gerade zwei. sie arbeiten wohl noch nicht lange bei Ihrer Zeitung, wie. Dann suche ich mir eine aus. Nein, ich werde keine neuen Entomanthropen erzeugen. Sie wurden nur gebraucht, um eine Armee von Schlangenwesen zu bekämpfen. Diese Armee existiert nicht mehr. Das dürfen Sie so zitieren. Achso, und ich entschuldige mich bei allen Bewohnern von Cloudy Canyon, die durch Valery Saunders Angehörige und Sachwerte verloren haben. Aber es herrschte Krieg und jemand, der meinte, besser zu wissen, wie der sogenannte dunkle Lord bekämpft zu werden hatte, hielt es für klug, mich daran zu hindern, Valery Saunders früh genug auszulöschen. Daß ich es jetzt konnte hat die magische Welt nur meiner überlegten Handlungsweise zu verdanken, die mich aus einer langfristigen Zwangslage befreit hat. So, und hier bricht gleich alles zusammen. Ich empfehle mich!" Da schwirrten über ihnen allen Bronco Parsec-Besen heran. In diesem Moment disapparierte Anthelia mit dem verwandelten Spikes und der wohl auch verwandelten Linda Knowles. Den zu spät eintreffenden Helfern blieb nur, Worthington und Walker mitzunehmen.
Sie flogen gerade über die Prärie dahin, als es sie alle drei überkam, ein sengen und Brennen. Sie stürzten schreiend ab, konnten sich gerade noch abfangen, als blaue Blitze aus ihren Körpern herausschlugen und sie einhüllten. Lolita, Marisa und Milton schrien laut auf. Dann überkam sie eine merkwürdige Erleichterung. Sie lösten sich im blauen Licht auf. Dann knallte es laut, und drei nackte Leiber fielen auf den Boden. Gleichzeitig schwirrten drei höchst gereitzte Bienen um sie herumund stachen zu, wodurch sie ihr Leben aushauchten. Die drei aus dem Licht gefallenen lagen einige Minuten da, während die Einstiche der Giftstachel anschwollen. Dann regte sich die nun gerade schwarzhaarige Frau, die die ältere der beiden hier liegenden war. "Haua, Qué paso! Auua! o-o, que pesadilla fué?" Stöhnte sie. Dann sah sie, daß sie auf einer Wiese lag und fand einen sehr schmerzhaften Insektenstich. Dann erkannte sie, daß sie nicht alleine war. Neben ihr lagen Marisa und Milton, beide nackt. "Dann habe ich das echt nicht geträumt", schnarrte Lolita Henares nun auf Englisch. "Ey, ihr zwei aufwachen!"
""Was ist! Hauua! Was ist das denn da an meinem Arsch", knurrte Milton und faßte mit ungelenken Bewegungen an sein Hinterteil.
"Wir hatten wohl einen total irren Trip, wir drei. Ich weiß nicht ob wir alle drei dieselbe Droge eingespritzt haben und ob wir die selbe Mierda grande geträumt haben."
"Du Schlampe, du Hure. Du hast mich an mein Bett gefesselt, um dich an mir rattendoll zu rammeln", stieß Milton aus.
"Oja, das war noch die schöne Stelle in dem Film", entgegnete Lolita Henares. "Da können wir eigentlich gleich weitermachen, wenn ich weiß, ob ihr auch von einer Riesenbiene mit Valerys Kopf geträumt habt, die uns reingewürgt und dann als eigene Bälger wiedergeboren hat."
"Eine höchst interessante Geschichte", sprach sie eine Stimme an. Sie versuchten alle, aufzustehen. Doch irgendwie kamen sie mit ihren Gliedmaßen durcheinander. Da standen fünf Männer in langen Umhängen und mit dünnen Holzstäben in den Händen. Milton erkannte, daß der Alptraum offenbar noch weiterging. Da wurden sie von roten Blitzen getroffen und betäubt.
"Wenn das wirklich die sind, die in Cloudy Canyon aufgetaucht sind, dann wurden die zurückverwandelt?"
"Eher in ihre Ausgangswesen zerlegt. Hier hat eine halbafrikanische Biene ihren Hintern eingebüßt, wohl als sie einen von denen hier gestochen hat", sagte ein andrer der fünf Zauberer.
"Spikes hat um Hilfe gerufen. Nur brauchen die mit den Parsecs auch mehr als zehn Minuten, wenn die jede zweite Sekunde fünf Kilometer überspringen. Kommt, wir bringen die in die HPk!"
"Das machen wir", sagte der vierte Einsatzzauberer.
Anthelia pflanzte sich vor der Hexe in der Aufnahme auf und legte ihr die Schachtel auf den Tresen. Ohne Vorwarnung zuckte ihr silbergrauer Zauberstab vor und traf die Hexe von der Aufnahme mit einem Erstarrungszauber, so daß sie keine Bewegung machen oder um Hilfe rufen konnte. "Das ist Linda Knowles, Westwindreporterin. Hat sich durch Selbstverwandlung vorübergehend gehörlos gemacht, weil sie von schlimmen Geräuschen an den Rand des Wahnsinns getrieben wurde. Nach Rückverwandlung ist eine grundlegende psychomorphologische Rehabilitation indiziert. Ich empfehle mich, Schwester. Retardo Removete!" Ihr Zauberstab machte eine neuerliche Bewegung hin zu der Hexe. Dann verließ Anthelia seelenruhig das gerade nicht besuchte Foyer und disapparierte unangefochten vor der Tür. Erst nach einer halben Minute löste sich der Bewegungsbann, und die Rezeptionshexe trat auf ein im Boden verstecktes Alarmpedal. Die Türen wurden nun mit unaufbrechbaren Gittern verrammelt, Sicherheitszauberer eilten in das gerade apparitionssichere Foyer. Doch sie fanden nur einen Zettel auf dem Boden."
"Ich habe die mir entglittene Entomanthropenbrut und ihre Königin vernichtet. Melden Sie das ihrer Dienststelle!", las der Leiter der Klinikeigenen Sicherheit laut vor. Dann fügte er noch hinzu: "Ich habe Ms. Linda Knowles, die sich in eine einfache Schachtel verwandelt hat, bei Ihnen abgegeben. Behandeln Sie sie bitte! Es wäre schade, wenn sie meinetwegen ihre interessante Arbeit nicht mehr ausüben könnte. Herzliche Grüße, die Erbin Sardonias."
Linda Knowles wurde zurückverwandelt und sofort in die Abteilung für schwere Seelentraumata verlegt, wo eine Austauschheilerin namens Ireen Barnickle sich ihrer annahm. Der Alarm war zu spät losgegangen. So konnten die Einsatzkräfte nur noch die perplexe Empfangshexe vorfinden, die ihnen erzählt hatte, wie dreist die Blonde, die wohl die Sardonianerin war, die Wishbone so dringend suchte, die Holzschachtel auf den Tisch gestellt hatte.
"Die ist auf ihre Art zum küssen", knurrte einer der Sicherheitszauberer. "Kommt einfach an, knallt 'ne leere Schachtel auf den Tisch und behauptet, das sei Lino vom Westwind."
"Ähm, die Psymo meldet, daß die Schachtel wirklich Linda Knowles ist. Sie zeterte herum, das alle tot seien und alle um sie herum in violettem Feuer umgebracht würden. Die Kollegen wollen sie mindestens für drei Tage hierbehalten", sagte die Empfangshexe, nachdem ein Pergamentzettel aus einem Auswurfschacht gesprungen war.
Mitten in die Aufregung hinein kamen die Sicherheitszauberer mit den drei nackten Muggeln, zwei Frauen, augnscheinlich nach Schwestern oder Tante und Nichte und ein junger Mann. Sie wurden legilimentisch verhört, untersucht und eingekleidet. Nach fünf Stunden stand das ministerielle Urteil fest. Die drei durften sich nicht mehr daran erinnern, was sie in der Verwandlung als Kinder Valery Saunders' erlebt und angestellt hatten. Zachary Marchand, der die Nachricht von aufgetauchten Personen, die von Valery Saunders entführt worden waren erhalten hatte bestand darauf, Lolita Henares festzunehmen, da mehrere Haftbefehle gegen sie vorlegen und noch mehrere Ermittlungen gegen sie und eine von ihr geführte Mädchenbande anhängig waren. Doch da wurde dem FBI-Mann erklärt, daß die gesuchten seit zwei Monaten für tot erklärt waren. Marchand wandte ein, daß dies nicht das erste Mal sei, das verschollene oder untergetauchte Verbrecher für tot erklärt worden seien, und das im Fall von Versicherungsbetrug auch schon viele Tote unverhofft ins Leben zurückgekehrt seien. Das zog, und so fuhr er los, um Lolita Henares, ihre Nichte Marisa und Milton Fleet, abzuholen. Doch was mußte er hören, als er die Honestus-Powell-Klinik betrat: "Ich weiß nicht wie und warum, aber die drei konnten aus einem verschlossenen und Apparitionssicherem Zimmer disapparieren, ohne Zauberstab. Wahnsinn!"
"Dann lassen Sie sich besser gleich in Ihrer Psychomorphologieabteilung einweisen", schnarrte Marchand. "Ähm, wurden die vom Minister geforderten Gedächtnisveränderungen vorgenommen?"
"Wollten wir gerade machen, als die drei wie auf ein geheimes Zeichen verschwanden. Wie das geht weiß keiner. Höchst interessanter Fall."
"Restmagie, Sie Fachmann. In denenhat wohl noch was von der Magie gesteckt, die ihnen von Valery Saunders zugeführt wurde. Könnte sein, daß die jetzt nicht mehr disapparieren können. Aber dann müssen wir die trotzdem finden, bevor die total wahnsinnig werden oder die ganze Sache in die Muggelweltpresse bringen oder ins Internet stellen."
"Sie müssen wissen, was Sie sagen", sagte der Heiler. Dann bedauerte er noch einmal den Vorfall und wünschte Zach Marchand einen schönen Tag.
Wishbone wurde kurz nach Worthingtons und Spikes Meldung über die erfolgreiche Vernichtung Valery Saunders und aller beteiligten Entomanthropen und der erfolglosen Festnahme der Sardonianerin von seiner Tante, die solange seine Erscheinung mit Vielsaft-Trank beibehalten hatte, zurückverwandelt. Er war wieder einmal stinkwütend. Seine Tante hatte ihn überrumpelt, sein Vertrauen aufs schwerste mißbraucht und sich auch noch angemaßt, in seinem Namen Anweisungen zu erteilen. Das war zu viel. Das brachte den Kessel zum überkochen. Doch wie sollte er seine eigene Tante vor Gericht bringen, wo sie offiziell gar nicht im Ministerium oder dem geheimen Luftschiff war. Denn niemand hatte sie dort gesehen, außer den Hauselfen. Und die waren durch ihre magische Bindung an den amtierenden Zaubereiminister dazu verurteilt, alles, was in den seiner Privatsphäre dienenden Räumlichkeiten besprochen wurde oder geschah für sich zu behalten. Doch das mit dem zurückgeworfenen Schocker war zu viel. Dabei wußte er wegen der magischen Betäubung, die erst bei Umkehr der Verwandlung abklang, überhaupt nicht, daß sie ihn auch noch unerlaubterweise verwandelt hatte, noch dazu in einen toten Gegenstand, was in der Zaubereigesetzgebung ein schwerer Verstoß gegen die Bestimmungen außerschulischer Verwandlungsakte darstellte. Doch eben das wußte er nicht. Er wußte nur, daß Worthington mit einem weiteren Büschel seiner Haare als er, Lucas Wishbone, an Valerys Bekämpfung teilgenommen hatte. Er starrte seine Tante Tracy an, die mal wieder als harmlose und anhängliche Hauskatze Reny auftrat.
"Dir ist klar, werte Tante, daß ich mit dir fertig bin. Wenn ich ins Ministerium zurückkehre kehrst du in dein Haus zurück und kommst mir nicht mehr näher als zwei Kilometer. Ich bin mit dir fertig."
"So, du bist mit mir fertig. Hättest dich lieber von diesen Brummern umbringen lassen, wie oder hättest in deiner Hitzigkeit versucht, die Sardonianerin zu ergreifen oder zu töten, wie?" Fauchte die Katze. "Denk ja daran, daß ich das für dich getan habe, und niemand wird's erfahren, wenn du das schön für dich behältst. Oder wie willst du, der am besten geschützte Zauberer der Staaten erklären, daß jemand dich außer Gefecht setzen und in deinem Namen handeln kann. Überleg dir das ganz gut, Honey, ob du dem gewachsen bist, was da alles dranhängt!"
"So!" Bellte der Minister. "Du drohst mir indirekt, unsere bisherige Beziehung auffliegen zu lassen, was mich sicher aus meinem Amt kegeln dürfte. Dem werde ich dann hier und jetzt abhelfen." Er zückte den Zauberstab. "Obleviate", stieß er aus. Doch die Katze war schon aus ihrer Sofaecke, bevor der Gedächtniszauber richtig ausgerufen war. Reny flitzte wie ein schwarz-goldener Blitz an ihm vorbei und tauchte unter das breite Bett. Lucas warf sich zu Boden, zielte unter das breite Schlafzimmermöbel und versuchte der Katze erneut einen Zauber zu verpassen, diesmal einen Erstarrungszauber. Doch sie war schlicht zu schnell und kam ohnehin leichter unter dem Bett weg als er. So war sie an der Tür, bevor er sich unter dem Bett hervorgewälzt hatte, nahm ihre Hexengestalt an und rief: "Ausgang!" Ein leises Knistern erfolgte. Dann verschwand Tracy Summerhill mit lautem Knall im Nichts. Wishbone schaffte es nicht rechtzeitig, ihr einen Schocker aufzuhalsen. Der Zauber krachte in den Beistelltisch und warf ihn an der Aufschlagstelle angerußt um. Eine Vase und ein Buch schlugen auf den Boden. Dann knisterte es wieder, und der Apparierschutz war wieder in Kraft. "Ausgang!" Blaffte der Minister. Doch er hätte es wissen müssen, daß der Unterbrecher des Apparierschutzes erst nach einer halben Minute wieder aufgerufen werden konnte. So mußte er warten, bis die dreißig Sekunden um waren, bevor er noch einmal "Ausgang!" rief, das Knistern hörte und selbst disapparierte. Doch da, wo er ankommen wollte, warf ihn eine Appariermauer schmerzvoll zurück. Das haus, in dem er vor seiner Amtseinführung gewohnt hatte, wies ihn ab. Das merkte er erst, als er wieder im Schlafzimmer des Luftschiffes auftauchte und höllische Schmerzen verspürte.
"Honey, ich gebe dir eine Woche Zeit, dich zu beruhigen. Machst du irgendwas, was mir nicht gefällt, kriegt die Presse unser ganzes Liebesleben serviert. Wenn du kapiert hast, daß ich dir das Leben gerettet habe, bin ich bereit, mit dir zu reden. Solange bleibe ich dir vom Hals", hörte er die Stimme seiner Tante in seinem Kopf, wo eine ganze Armee von Zwergen gerade meinte, nach Gold und Edelsteinen hacken und hämmern zu müssen. Er schaffte es nicht, eine Antwort abzusenden. Es stimmte ja leider, daß er nicht gleich was gegen sie unternehmen konnte. "... was mir nicht gefällt ...". Diese Worte gingen ihm in den nächsten zehn Minuten durch den Kopf. Wenn er versuchte, sie loszuwerden, mit oder ohne Gewalt, würde ihr das nicht gefallen. Wenn er nicht mehr zu ihr zurückkehrte, würde ihr das nicht gefallen. In sein Haus kam er nicht zurück. Dieses Weib hatte den Apparierschutz, der ihn als Eigentümer durchzulassen hatte, umgekrämpelt. So blieb ihm im Zweifelsfall nur der direkte Anflug. Doch das würde auffallen. Doch klein beigeben und eingestehen, daß sie es doch nur gut gemeint habe und ihm ja doch geholfen hatte, nicht in die Schlacht hineinzugeraten, wollte er dann auch nicht. Wishbone wußte, daß er mit dem Rücken zur Wand stand. Die Brutkönigin war zwar erledigt. Aber die Sardonianerin lebte noch. Die Händler verlangten Schadensersatz für Verdienstausfälle wegen der Reise- und Handelsblockade. Die Kobolde hatten von irgendwem läuten hören, daß er versucht hatte, den Zauberern Papiergeld auszuhändigen, das nur vom Ministerium in Umlauf gebracht und wertmäßig überwacht werden sollte. Da würde ihm demnächst auch Ärger bevorstehen. Tja, und seine Tante, die zugleich seine bisherige Geliebte war, konnte ihn erpressen und sprang mit ihm und seinem Amt um, wie es ihr paßte. Vielleicht sollte er seine Waffen strecken, wie Spikes es von der Sardonianerin gehört hatte und das Ministerium jemandem überlassen, der - oder die - den Haufen Drachenmist zusammenkehrte, während er sich still und leise irgendwohin verkrümelte, wo seine Tante und der Rest der Zaubererwelt ihn nicht belästigen konnte. Doch das ging gegen seinen Stolz. Er war angetreten, alle Sicherheitsprobleme zu lösen. Trat er jetzt unverrichteter Dinge wieder ab, konnte er sich beim Rasieren nicht mehr im Spiegel ansehen. Das mußte anders gelöst werden. Er wartete, bis die fleißigen Bergarbeiter in seinem Schädel nicht mehr hämmerten und kehrte dann aus seiner geheimen, fliegenden Zentrale ins offizielle Ministeriumsgebäude zurück, wo er der versammelten Presse stolz verkündete, daß nun, wo die Entomanthropengefahr vorbei sei, eine neue Ära der internationalen Zusammenarbeit mit den anderen Zaubereiministerien beginnen und die potentielle Gefahr durch die Sardonianerin effektiv bekämpft werden würde. Er stellte den um ihre Verdienste geprellten Händlern bessere Außenhandelskonditionen und den Ankauf verschiedener Sachen, sowie Steuererleichterungen für das ganze nächste Jahr in Aussicht, verwarf die Idee, sich auf Muggelniveau herabzulassen und Papiergeld ohne Wertausgleich durch Gold und Silber in Umlauf zu bringen, da sein Finanzfachmann Dime errechnet hatte, daß die Zaubererwelt dadurch unsicherer würde und legte ein Programm für die Angehörigen der Opfer von Cloudy Canyon auf, falls sie anderswo siedeln wollten. Am Ende des Tages war er mit sich zufrieden. Die einzigen trüben Gedanken galten der Sardonianerin und seiner Tante, zwei Hexen, die ihm frech und hinterrücks auf der Nase herumtanzten. Vielleicht, so dachte er, konnte er es so drehen, daß beide einander beharkten und er dann die locker einsperren und als Lügnerin hinstellen konnte, die nach diesem Katzenkampf übrigbleiben würde.
Sie hörte wieder was. Sie war aus der schockartig an sich selbst vorgenommenen Verwandlung zurückgeholt worden. Linda Knowles hörte die hohen Todeslaute der sterbenden Larven, sah das um sie tobende Feuer. Doch durch dieses Vernichtungschaos hindurch konnte sie eine schlanke Hexe erkennen, die mit ihrem Zauberstab vor ihrem Gesicht herumhantierte. Sie hörte die Stimme der ihr fremden, die sie jetzt besser sah, weil die Schreckensbilder etwas aus ihrem Bewußtsein verdrängt wurden.
"Hören Sie mich, Ms. Knowles. Ich bin Ireen Barnickle, Austauschheilerin aus Australien. Man hat Sie zu uns in die Honestus-Powell-Klinik gebracht, weil es hieß, Sie hätten die Vernichtung tausender Entomanthropen mit ansehen müssen. Ich habe Sie mit einem Calmanxietas-Zauber behandelt, um Sie für einige Sekunden angstfrei zu halten. Bitte beantworten Sie mir einige Fragen, bevor ich Sie gründlicher auslote und herausfinden kann, was ich für Sie tun kann und wie wir beide das mögliche Trauma behandeln können!"
Linda fühlte sich im Moment ganz wach, empfand jedoch überhaupt kein Gefühl. Sie musterte die Heilerin mit dem fremdartigen Akzent. Aus Australien sollte die kommen? Austausch? Ja, davon hatte sie schon mal gehört, daß in der englischsprachigen Zaubererwelt solche Austauschprogramme stattfanden. Stimmt, Eileithyia Greensporn hatte ihr das geschildert, bevor sie sich entschlossen hatte, Linda bei dieser .. Halt! Die Heilerin könnte legilimentieren. So sagte sie mit einer überanstrengt klingenden, halbschläfrigen Stimme:
"Wenn ich nur was gesehen hätte wäre es nicht so schlimm gewesen, Heilerin Barnickle. Die Erbin Sardonias, Anthelia hat sie sich uns vorgestellt, wollte, daß ich dabei bin, wenn sie die apparierfähige Brutkönigin der Entomanthropen und ihre Brut vernichtet. Das hat die auch geschafft, wohl mit einem Stein, der als materieller Fokus dieser Geschöpfe fungierte. Ich weiß nicht, was Ihnen Ihre Kollegen schon über mich erzählt oder was Sie auch so über mich mitbekommen haben. Ich besitze seit einem Unfall mit Erumpentenhornflüssigkeit ein magisches Gehör, mit dem ich räumlich weit entfernte Sachen wie ganz nahe hören, bestimmte Geräusche aus einem Gewimmel herausfiltern und Töne weit über und knapp unter dem menschlichen Hörvermögen bewußt wahrnehmen kann. Damit konnte ich hören, wie tief unter uns die Larven der Brutkönigin starben. Das war das schrecklichste, was ich je zu hören bekam. Selbst als ich bei einer Schweineschlachtung dabei war, war das nur halb so gräßlich."
"Okay, um Ihrem Gedächtnis und Verstand nicht zu lange magische Hemmen anzulegen nur noch die Frage, warum Sie sich in eine bunte Holzschachtel verwandelt haben?" Sagte die Heilerin. Linda hörte ganz genau, wie eine Flotte-Schreibe-Feder mitschrieb, was besprochen wurde. So sagte sie schnell:
"Das war das erste, was mir einfiel, weil Verwandlungen in sonst unbelebte Gegenstände meine Hörfähigkeiten unterbrechen. Bin ich in der psychomorphologischen Abteilung?"
"Ja, sind Sie, Ms. Knowles", bestätigte Ireen Barnickle. "Ich werde jetzt den Zauber wieder lösen. Die traumatischen Bilder und Geräusche werden Sie dann wohl wieder zu überwältigen versuchen. Wehren Sie sich bitte nicht dagegen! Ich möchte ausloten, wie schwer Sie davon beeinträchtigt werden und was meine Kollegen und ich dagegen tun können." Linda fühlte im Moment keine Furcht. Das einzige, was sie unvermittelt verspürte war ein sie auf einer Liege festhaltender Fixierzauber, der ihren Körper unbeweglich machte. Dann merkte sie, wie die dumpfe Furcht, das Entsetzen oberhalb der menschlichen Hörfähigkeit, wie aus weiter Ferne zu ihr zurückgeflogen kam, sie umschwirrte und dann einhüllte. Sie hörte nicht, ob sie schrie, fühlte nicht, ob sie weinte und sah vor violetten Feuerbällen und blauen, gelben und violetten Blitzen nicht, was Ireen Barnickle tat. Wie lange der sie umschließende Irrsinn sie festhielt wußte sie nicht. Doch irgendwann übermannte sie eine wohltuende, geräuschlose Dunkelheit.
Ireen Barnickle hatte schon viele grausame Episoden in den Träumen und Erinnerungen von Patienten vorgefunden. Doch Linda Knowles unmittelbar zurückliegende Erfahrungen trieben auch ihr kalten Schweiß auf die Stirn. Sie mußte eine mentale Hilfstechnik anwenden, um nicht selbst in den Strudel der Geschehnisse hineingezogen zu werden. Linda schrie immer wieder: "Sie sterben alle! Sie sterben alle! Feuer, Blitze! Alle sterben!"
Nach gründlicher Seelenlotung und diversen Zaubern, die die Bewegungsrate von Gedanken ermessen ließen, belegte sie Linda mit einem provisorischen Schlafzauber, der nur der körperlichen Erholung diente und keine Träume zuließ. Dann schickte sie eine Rohrpost an den Abteilungsleiter der Psychomorphologie.
Patientin Linda Knowles ist durch akustische Überlastung mit Lauten verendender Entomanthropen im frühen Jugendstadium stark traumatisiert. Kein Ireversibler Schaden für die Persönlichkeit zum jetzigen Zeitpunkt erkennbar. Schlage Viavitae-Therapie nach Mesmer und Quellstein vor. Bitte um schnellstmögliche Rückmeldung!
Ireen Barnickle
Keine fünf Minuten später tauchte Großheiler Brian Lovejoy, der Abteilungsleiter der psychomorphologischen Abteilung, im Behandlungszimmer vier auf. Er war das krasse Gegenteil von Ireen Barnickle, klein, stummelbeinig und rund wie ein Quot, vom stattlichen Bauch über den fast nicht vorhandenen Hals bis zum Kopf mit dem silbergrauen Haarkranz.
"Nun, Ihre Chefin Bethesda Herbregis hat Sie uns ja wärmstens empfohlen, und wie Sie die Cloudy-Canyon-Krise bewältigt haben hat Sie sehr empfohlen. Doch bevor ich dieser doch nicht so berechenbaren Therapie zustimme möchte ich doch den Zustand der Patientin selbst ergründen", sagte Lovejoy mit einer von den vielen Lebensjahren leicht angekratzten Stimme. Ireen war sich fast sicher, daß dieser Zauberer bereits bei der Gründung dieser Klinik dabei gewesen war. Sie ließ ihn gewähren. Er weckte Linda aus dem Zauberschlaf und untersuchte sie erneut, wobei sie nun etwas weniger laut als vorher ihre schlimmsten Eindrücke von der erlebten Vernichtungsschlacht in das schalldichte Behandlungszimmer schrie. Nach drei Minuten stellte Lovejoy fest, daß seine junge Kollegin wohl die richtige Therapie vorgeschlagen hatte. Denn wenn sie Linda Knowles nicht in den ireversiblen Geisteskolaps - das bei den Psychomorphologen gängige Fachwort für Wahnsinn - abgleiten lassen wollten, mußten sie Linda gezielt durch ihr bisheriges Leben führen. Mesmer, Barnickles eigentlicher direkter Vorgesetzter, hatte mit der berühmten Heilerin Ludowika Quellstein eine Methode erarbeitet, dem Wahnsinn seine Beute noch aus dem gierigen Schlund zu reißen. Hierzu würde der Patient durch Tränke und Mentalzauber, Beobachtet von einem ausgewiesenen Spezialisten der Geistes- und Seelenheilzauberkunst, das ganze bisherige Leben innerhalb von wenigen Tagen neu durchleben, wobei es galt, an bestimmten Punkten die Erlebnisse zu hinterfragen und so gezielt auf die inneren Ankerpunkte für das Trauma zu stoßen. Wenn das betreffende Ereignis dann im Schnelldurchlauf erreicht wurde, galt es, den Patienten sicher durch die Situation zu bringen und Erinnerungsumformungsmaßnahmen zu treffen, die nicht in einer von außen induzierten Erinnerungsänderung beruhten, sondern vom Patienten und seinem Viavitae-Begleiter selbst erstellt werden mußten. Es galt, die echten Erinnerungen behalten zu können, sie jedoch nicht mehr als traumatisches Ereignis zu behalten, sondern als einprägsames, ja schlimmes, aber überstandenes Ereignis im Gedächtnis zu verankern.
Nachdem Linda Knowles wieder im tiefen Zauberschlaf lag sagte Lovejoy zu seiner Austauschkollegin: "Trauen Sie sich zu, die Viavitae-Begleitung zu übernehmen. Es ist schließlich empfohlen, daß eine gleichgeschlechtliche Begleitung angeboten wird."
"Ich fühle mich geehrt, daß Sie mich fragen, Sir. Ich bitte um die Erlaubnis, diese Therapie durchführen zu können! Ich habe Sie bereits siebenmal in der Sana-Novodies-Klinik erfolgreich durchgeführt."
"Sie wissen, daß Ihre tiefsten Erinnerungen und Gefühle mit denen der Patientin verschmelzen könnten", wies sie Lovejoy noch einmal auf das größte Risiko für den Heiler hin. Ireen nickte und bestätigte es auch laut für die mitprotokollierende Feder.
"Gut, dann beschaffen Sie die notwendigen Tränke und Hilfsmittel! Lassen Sie die Patientin in Einzelzimmer sieben transportieren und gewähren Sie ihr vor Beginn der Therapie noch vier Stunden traumlosen Zauberschlafes! Die Zeit sollte reichen, Sich auf die Therapie selbst einzurichten."
"Jawohl, Sir", sagte Ireen. Normalerweise duzten Heiler untereinander. Doch wenn es um mitzuschreibende Besprechungen ging, wurde doch die förmliche Anrede benutzt, falls es später zu gerichtlichen Überprüfungen außerhalb der Heilerzunft kam. Manche Bürokraten beäugten das in sich geschlossene Gruppenverhältnis der Heiler mit gewisser Skepsis. Zur Klärung der letzten ausstehenden Frage wollte Lovejoy noch wissen, wie lange die Patientin für den Durchgang benötigte. Ireen prüfte ihre Unterlagen über die Patientin, die auch über ihre magischen Ohren Auskunft gaben und sagte: "Wenn wir die empfohlene Geschwindigkeit einhalten, können wir Ms. Knowles in vierzehn Tagen hoffentlich als geheilt befinden. Ich würde dann noch eine noch einmal vierzehntägige Erholungszeit in der Rekonvaleszentenabteilung vorschlagen, sofern die Patientin dem zustimmt."
"Genehmigt", bestätigte Lovejoy für die mitschreibende Feder und verließ den Behandlungsraum. Ireen atmete tief ein und aus. Sie würde ab morgen Linda Knowles über mehrere, nur durch Essenspausen unterbrochene Zeitabschnitte durch ihr gesamtes Leben führen, vom Mutterschoß bis zur Einliferung nach dem Inferno, das sie fast in den Wahnsinn gestürzt hätte. Doch wenn sie, Ireen, die nötige Mindestdistanz behielt und gut achtgab, konnte die Reporterin danach mit den Erlebnissen unbeschwert weiterleben, ja sogar ihrer aufregenden Arbeit nachgehen.
Als Linda Knowles in ihr Krankenzimmer verlegt wurde, traf sich Ireen noch mit dem hiesigen Spezialisten für magische Prothesen und erkundigte sich über die sensorischen Eigenschaften der magischen Ohren und ob diese Geräusche anders erfahrbar machten. Als sie alle relevanten Beschreibungen und Erwähnungen notiert hatte, zog sie sich in ihr zugeteiltes Schlaf- und Arbeitszimmer zurück, um sich selbst auf die von ihr vorgeschlagene Therapie einzustimmen. Die Tränke, die einen traumartigen Bewußtseinszustand auslösten, die Zauber, mit denen die Begleiterin an den wiederholten Erinnerungen teilnehmen und gegebenenfalls darauf einwirken konnte, würden bei Beginn zur Verfügung stehen.
Die Versammlung fand in der großen Halle der Daggers-Villa statt. Außer Patricia Straton waren alle da, die vor Anthelias Auszeit seit November in der Schwesternschaft der Spinne Mitglied gewesen waren. Anthelia stellte sich vor sie alle hin und berichtete, was sie in den letzten Monaten erlebt, durchgestanden und dann erreicht hatte. Einige lachten, als sie erzählte, wie dumm Tourrecandide geschaut hatte, als sie mit dickem Bauch dahockte. Eine der französischen Mitschwestern erwähnte, daß Tourrecandide fast echte Wehen gefühlt habe und von Heilerin Matine in einen Zauberschlaf versenkt wurde, bis sie erfahren hatte, daß Lysithea Greensporn erfolgreich zur Welt gekommen sei. Danach sei bei Tourrecandide alles wieder in Ordnung gewesen.
"Oh, befand sich eine gewisse sympathetische Verbindung zu der kleinen in Professeur Tourrecandide?" Fragte Anthelia mit einer Mischung aus Schadenfreude und Faszination.
"Naja, es war auf jeden fall nicht einfach, der guten Tourrecandide zu verdeutlichen, daß sie wirklich kein Baby bekommen hat", berichtete Louisette Richelieu. Dann berichtete sie noch, was sich bei den Schweigsamen von Frankreich ergeben hatte. Anthelia nickte. Damit hatten sie ja echt gerechnet. Abschließend sagte Anthelia vor allem den Australischen Mitschwestern zugewandt:
"Und jetzt, wo ihr es wieder wißt, in welcher großartigen Gemeinschaft ihr Mitglied sein dürft, haltet die Augen und Ohren offen, was es mit dieser ominösen Riesenspinne auf sich hat. Sollte das Ministerium bei euch sie lebendig fangen, würde ich gerne mehr von ihr wissen."
"Natürlich, Höchste Schwester", entgegnete Wanda Stabbins. Damit endete die erste Vollversammlung des Spinnennordens Anthelias nach der Rückkehr der Wiederkehrerin. Der Neuanfang war gemacht. Anthelia würde nun wieder ihre ursprünglichen Ziele verfolgen, wissend, daß ihr im Moment mehr Verachtung als bewunderung aus der Zaubererwelt entgegenschlug. Das mit den Entomanthropen war wirklich ein Fehler gewesen. Aber immerhin war die lästige Rivalin Daianira Hemlock für lange Zeit aus dem Rennen, wenn keiner so dumm war, einen Alterungstrank und einen Zauberstab in Griffweite eines Säuglings zu legen.
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