VOGEL UND WURM

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Lange hat die Hexenmatriarchin Anthelia, die auf wundersame Weise ihren ersten körperlichen Tod überstanden hat, im Hintergrund arbeiten können, um ihre Schwesternschaft der Spinne zu formieren, die auf Vorherrschaft ausgehende Hexen aller Welt vereinigen will. In dem Teenager Benny Calder fand sie einen Kundschafter in der nichtmagischen Welt, auch wenn der Junge bald sein früheres Leben aufgeben mußte und nun als Senatorensohn Cecil Wellington weiterlebt.

Was der so mächtigen Hexenlady Anthelia Sorgen bereitet ist Hallitti, die Tochter des dunklen Feuers, eine durch dunkle Rituale erschaffene, schier unsterbliche Kreatur, die sehr häufig in Gestalt einer unwiderstehlichen Frau auftritt. Diese hat sich den Wissenschaftler Richard Andrews unterworfen, ihn zu ihrem Werkzeug gemacht. Richard wird zu einem wahnsinnig anmutenden Mörder, der in Hallittis Auftrag die Lebenskraft junger Frauen raubt und dabei nicht vor brutalen Morden zurückschreckt. Verbrecherorganisationen, denen sein Tun in die Quere kommt, schicken ihre Killer aus, ihn zu töten. In Las Vegas kommt es zur heftigen Auseinandersetzung, bei der Richard anscheinend stirbt.

Um die Muggel- wie die Zaubererwelt darüber zu täuschen, daß ein übermenschliches dunkles Wesen Amerika heimsucht verfügt der US-amerikanische Zaubereiminister Pole eine strenge Geheimhaltung. Um den Anschein eines gewöhnlichen Verbrechens zu wahren läßt er einen wandlungsfähigen Mitarbeiter, seinen Patensohn Ronin Monkhouse, in Richard andrews' Rolle schlüpfen.

Zwischen die Fronten Anthelias und Hallittis geriet auch die FBI-Agentin Maria Montes, die durch einen mächtigen Zaubergegenstand und ihre Gabe, auch ohne eigene Zauberkräfte magische Dinge wahrnehmen zu können der düsteren Kreatur entkommen konnte, aber dabei Anthelias Schwesternschaft auffiel.

Anthelia hat sich der britischen Anführerin der sogenannten Nachtfraktion der schweigsamen Schwestern offenbart, um mit dieser zusammenzuarbeiten. doch sie macht deutlich, welchen Führungsanspruch sie hegt.

Voldemort versucht, aus seiner Deckung heraus ein Vermächtnis Slytherins zu wecken, um die Kontrolle über die Zaubergemälde der Welt zu bekommen. Dieses Vorhaben scheitert. Er will nun endlich wissen, was vor seinem erzwungenen Machtverlust geweissagt wurde. Außerdem erhält er Hilfe aus dem Orient. Der Kenner uralter dunkler Kräfte, Ismael Alcara, bietet ihm an, eine Armee von Golems zu schaffen, die Voldemort bei seinem Kampf unterstützen soll. Der Zeitpunkt rückt nahe, an dem der selbsternannte dunkle Lord aus seinem Versteck hervortreten will.

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Sie sah auf ihn. Er schlief ruhig und so tief wie jemand schlafen konnte, der noch als lebendig gelten mochte. Doch irgendwas war nicht wie es sein sollte. Wieder mußte Hallitti, die Tochter des dunklen Feuers, breitbeinig über ihm stehen und eine rotglühende, halbgasförmige Substanz aus sich ausströmen lassen, um den lauernden Tod auf Abstand zu halten. Ihr Abhängiger, ihr unterworfener Erfüllungsgehilfe, lebte nicht mehr so wie früher. Hallitti erkannte, daß sie ihm nur in allerletzter Sekunde das Leben gerettet hatte. Doch die Waffen, mit denen er angegriffen worden war, hatten so heftig gewütet, daß davon zwanzig normale Menschen hätten sterben müssen. Allein das tückische Gift, daß eine Auftragsmörderin ihm verabreicht hatte, hätte so viele Menschen töten können. Hallitti haßte diese Leute, die ihr derartig in die Quere gekommen waren. Doch was sollte es? Sie hatte sich die Leben derer einverleibt, die ihn umbringen wollten. Aber offenbar reichte es nur, ihn in einem tiefen, komaähnlichen Schlafzustand zu halten. Einmal hatte sie ihn geweckt. Da war sein Körper mit tausendfachem Tempo gealtert. Er war an diesem einen Tag, den sie ihn hatte wach sein lassen um zehn Jahre gealtert und würde weiter altern, wenn er ohne ihre Gaben früher geraubter Lebenskraft weiterexistieren mußte. Sie verwünschte diesen Umstand, daß sie nun all die Leben in ihren Sklaven zurückfließen lassen mußte, die er ihr verschafft hatte. Irgendwann würde ihr übermannsgroßer Lebenskrug nicht mehr die nötige Essenz enthalten, und dann würde sie entweder wie dieser Mann da unter ihr in einen tiefen Schlaf verfallen, der sie wieder hunderte von Jahren gefangenhalten mochte oder gar ihren eigenen Körper verlieren, sterben und als schier hilflose Geistform weiterbestehen müssen, bis eine ihrer wachen Schwestern so gnädig war, sie zu finden und sie in sich aufzunehmen, um sie so jungfräulich zu empfangen wie sie alle von ihrer großmächtigen Mutter Lahilliota empfangen worden waren. Doch das wollte sie nicht. Sie wollte weiterleben. Brachte sie diesen für sie so gut wie wertlos gewordenen Mann um, mußte sie innerhalb von einem Tag in der Nähe ihrer neuen Schlafhöhle einen Abhängigen finden. Danach würde sie ebenfalls in den magischen Winterschlaf zurückfallen. Ließ sie ihn am Leben, würde sie alle gesammelte Lebensenergie nach und nach an ihn abgeben und sich damit selbst erschöpfen. Beides versprach Ungemach. Doch es gab noch eine Möglichkeit, das drohende Ende zu verhindern. Sie wußte, daß ihre Schwester, die Tochter des schwarzen Windes, bereits auf diese Methode zurückgegriffen hatte, um sich vor der Vernichtung durch diese Sardonia zu schützen. Ja, diese Methode mußte sie nun anwenden.

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Das Haus wirkte unscheinbar in Mitten der stumpfgrauen, betagten Einfamilienhäuser. Der Garten verriet, daß niemand mehr an ihm interessiert war, und die Fenster waren von einem dicken Staubfilm überzogen. Hier sollte er sich also verstecken, Ricardo Fontenera, einer der aussichtsreichen Nachrücker in der Hierarchie der amerikanischen Mafia.

FBI-Scharfschütze Wesley Stern kauerte hinter dem rostigen Müllcontainer und peilte durch das Infrarotzielfernrohr. Seit genau einer Viertelstunde stand er auf dem Posten, bereit, den Zugriff seiner Kollegen abzusichern, die Massimo Fontenera hier und heute dingfest machen wollten. Stern dachte daran, daß dieser Mafioso einen Hang zur taktischen Untertreibung hatte. Keine protzige Limousine stand in der kleinen Garage, sondern nur ein Ford Sedan, der nur durch ein paar Stahlplatten in Türen und Seitenblech und kugelsichere Scheiben von seinen Fließbandgeschwistern abstach. Stern konnte noch nicht einmal Leibwächter im verwilderten Garten sehen. Das paßte ihm irgendwie nicht. Er bevorzugte klare Ziele, Feinde, die er anvisieren und erledigen konnte, wenn er den Befehl dazu erhielt.

"Posten siebzehn, alles klar?" Flüsterte ihm eine Stimme aus dem winzigen Ohrhörer im rechten Ohr zu. Stern drückte die in seinem Jackett verborgene Sprechtaste und antwortete über die verschlüsselte Verbindung:

Posten siebzehn meldet alles klar. Kein Ziel."

"Danke! Weiterbeobachten!" Kam eine Antwort durch den Ohrstecker zurück. Stern prüfte noch einmal, daß sein Präzisionsgewehr geladen und entsichert war und maß Windrichtung und -geschwindigkeit, um die auf diese Entfernung zu erwartende Geschoßablenkung zu berechnen.

"Posten vier hier! Es tut sich was!" Wisperte eine andere Stimme im Ohrhörer. Stern senkte seine Waffe und blickte sich um. Zwei Kleinlastwagen knatterten über den staubigen Asphalt heran und rollten in die Einfahrt. Das waren nicht die Leute vom Sonderkommando.

"Eh, das sind Petrocellis Leute", kam eine aufgeregte Stimme über Funk.

Petrocelli? Der Pate aus New York? Was taten seine Leute hier in Detroit? Diese Fragen gingen Stern durch den Kopf. Solte es ein Treffen geben, bei dem abgesteckt wurde, wer was wo zu sagen hatte? Das erschien Stern als die logischste Antwort. Als es aber dann sehr schnell sehr hektisch und gefährlich wurde, vergaß er fast, weshalb er hier war.

Aus den Kleinlastern sprangen vermummte Leute mit Helmen und schweren Westen heraus, die mit Maschinengewehren und durchschlagsstarken Pistolen bewaffnet waren. Sie stürmten zur Tür und klingelten.

"Das sieht nicht nach einem Freundschaftsbesuch aus", vermutete Posten vier, ein Kollege mit einem Richtmikrofon und einer Videokamera mit Teleobjektiv.

"Ich fordere Verstärkung an", kam die Stimme des Befehlshabers sehr erzürnt zurück. Dann krachte es auch schon.

Wie wehrlos Fontenera ausgesehen hatte, es mußte wieder eine brillante Täuschung gewesen sein. Denn als zwei der Leute aus dem Lastwagen die Tür aufzubrechen versuchten, explodierte diese in einem gleißenden Feuerball und fegte die Männer davor weg wie der Herbstwind gefallenes Laub. Dann schnarrte eine stählerne Jalousie herab, die die freigesprengte Türöffnung wieder vershloss. Im gleichen Moment peitschten Schüsse von drinnen nach draußen. Stern konnte jetzt erst die winzigen Schießscharten sehen, die knapp unter den brüchig wirkenden Fenstersimsen verliefen. Es entspann sich ein gnadenloses Feuergefecht. Stern, selbst in kugelsicherer Ausrüstung, mußte seine ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um nicht wie ein überängstlicher Armeerekrut flach auf den Bauch zu fallen. Querschläger krachten gegen den Container oder schlugen Löcher in die Metallverkleidung. Der penetrante Geruch erhitzten Abfalls wehte Stern wie ein Gruß der Verderblichkeit entgegen. Wieder peitschte ein Irrläufer auf ihn zu und sirrte keine zehn Zentimeter an seinem rechten Ohr vorbei. Die Leute aus den Lastwagen warfen eiförmige Dinger gegen Fenster und Jalousie, die nach wenigen Sekunden mit dumpfen Knällen explodierten und große Löcher in die Fassade und die Türfüllung rissen. Drei Männer stürmten im Feuerschutz ihrer Kumpane in das Haus. Stern glaubte seinen Augen nicht mehr zu trauen. Als die Männer durch die gesprengten Öffnungen schlüpften schossen blaue Flammen aus ihren Körpern. Laut schreiend, nur vom Knattern und Sirren der MP-Garben noch übertönt, verbrannten die Eindringlinge.

"Das glaube ich jetzt nicht", bemerkte Posten vier. "Was geht da drinnen vor?"

"Ruhe!" Schnarrte der Befehlshaber. Stern konnte ihm anhören, daß er sehr angespannt war. Innerhalb von dreißig Sekunden lebte von den Angreifern keiner mehr. Alle waren auf diese erschreckende Weise vernichtet worden, und dann passierte was noch unglaublicheres. Die Risse und Sprenglöcher in der Fassade wuchsen wieder zu, als habe sich das poröse Mauerwerk in eine butterweiche Substanz verwandelt, die von einem unsichtbaren Riesen zurechtgeknetet wurde. So schlossen sich alle gewaltsam gerissenen Wunden in der Hauswand. Dann war es auch schon vorbei.

"Das gibt es nicht. Das ist Hexerei oder Alien-Tech!" Rief ein anderer Scharfschütze total außer sich über Funk.

"Ruhe! Alle Posten sofort zurückziehen. Aktion abbrechen!" Schnarrte die Stimme des Befehlshabers über Funk. Doch dafür war es bereits zu spät.

Stern fühlte, wie eine elektrische Spannung in der Luft aufkam, die von einer Sekunde zur anderen zu einer brennenden, an allen Muskel- und Nervensträngen reißenden Energiewelle wurde. Stern schrie lauthals, als vor seinen Augen Lichtgewitter tobten und ein schriller Laut ihm brutal in die Ohren stach. Dann stürtzte er in ein schwarzes, lautloses Nichts. Sein Körper sackte nach vorne um. Die Hand am Abzug zuckte noch einmal und löste einen Schuß aus, einen letzten Gruß im Leben Sterns. Die Kugel prallte gegen die Mauer und zerbarst wirkungslos. Von Sekunde zu sekunde schrumpften alle im Umkreis von hundert Metern aufgestellten Posten ein, als würde etwas sie in einer höllischen Glut austrocknen. Bald schon war alles Wasser aus ihren Körpern verschwunden. Die Waffen und Ausrüstungsstücke glühten erst rot, dann gelb und schließlich weiß und zerschmolzen dabei. Dann war es vorbei. Im Umkreis von hundert Metern war kein Mensch, in dem ein Funke Feindseligkeit gegen Massimo Fontenera geglommen hatte.

Im Haus selbst erhob sich Massimo Fontenera, ein leicht untersetzter Mann in den Dreißigern, dessen kurzgeschnittenes, pechschwarzes Haar bereits deutliche Geheimratsecken aufwies, aus einem mit blutroter Tinte gezeichneten Kreis. Er grinste, als er durch seine besondere Goldrandbrille sah, die ihm die Nähe von Feinden aller Art verriet. Sein Fluch der Feindesschmelze hatte nicht nur die letzten Leute Petrocellis getötet, sondern auch die schon seit Nachmittag um sein Haus postierten Bundesagenten, die ihm wohl heute das Handwerk legen wollten. Lächerlich, ihm, dem Angehörigen einer uralten Zaubererfamilie, die auf Sizilien beheimatet gewesen war, das Handwerk legen zu wollen. Fontenera grinste überlegen. Petrocelli hatte ihn umbringen wollen. Sollte er diesem New Yorker Gernegroß ein nettes Dankeschön zukommen lassen? Besser war es. Denn wenn er es endlich schaffen wollte, ein mächtiger Mann in der Cosa Nostra zu werden, ohne mehr Magie als nötig einsetzen zu müssen, mußte er sich Respekt verschaffen. Petrocelli hatte ihn angegriffen. Der hielt ihn also für gefährlich. Gut, sollte der doch lernen, wie gefährlich Massimo Fontenera wirklich werden konnte, wenn man ihm derartig dummkam.

Der Zauberer im schicken Brioni-Anzug ging in seinem Haus herum und begutachtete es. Sein Zauber der Selbstreparatur hatte tadellos gegriffen, und nun, wo es keine Zeugen für den Zwischenfall mehr gab, würde auch weiterhin keiner argwöhnen, hier wohne ein gefährlicher Verbrecher.

Ein leiser Glockenton forderte Fonteneras Aufmerksamkeit. Jemand hatte seinen Kopf in den Backsteinkamin gesteckt, in dem immer ein kleines Feuer brannte. Fontenera drehte sich um und ging in seine kleine Bibliothek, die durch ein Wort so umgruppiert werden konnte, daß sie einem schnöden Durchschnittswohnzimmer entsprach. Im Kamin hockte der Kopf eines Mannes, etwa um die vierzig, mit dichtem, kastanienbraunem Haar.

"Hallo, Massimo! Wir haben gerade mitbekommen, daß du Ärger hattest. Alles in Ordnung?" Fragte der Kopf im Kamin.

"Alles erledigt, Ian. Ein paar Handlanger eines neidischen Konkurrenten aus New York und ein paar von dieser Bundespolizei wollten mich vom Markt nehmen. Mich!" Beide lachten.

"Er hat sich gemeldet. Er will was über einen Lapis Matris Terrae wissen, von dem es irgendwo heißt, er sei vor langen Zeiten am Westrand des Weltmeeres versenkt worden", sagte Ian Crusher, ein Gesinnungsbruder Fonteneras.

"Schön, daß er sich auch an uns erinnert", stieß Fontenera verächtlich aus. Doch in seiner Stimme schwang auch eine gewisse Angst mit. Mit ihm, dem dunklen Lord, sollte man sich nicht anlegen. Er hatte gehört, daß die übermächtigen Schwarzbergs, sowie Lohangio Nitts und auch Mortitius Cobley wohl im Streit um seine Gunst gestorben waren, sich gegenseitig ausgerottet hatten. Wie dumm waren die doch gewesen! Neben Crusher und ihm waren aber noch einige Einzelkämpfer in den Staaten unterwegs, die auf den richtigen Zeitpunkt warteten, die Muggelwelt zu unterjochen. Als sich der dunkle Lord bei ihm, Fontenera, gemeldet hatte, hatte er sich ohne großes Zögern bereiterklärt, ihm zu helfen, das entstandene Vakuum auf dem nordamerikanischen Kontinent zu füllen. Jener, der selbst von Fontenera nicht beim Namen genannt wurde, wollte bald persönlich herkommen und mit allen sprechen, die seine Sache unterstützten. Offenbar war dem großen Meister der dunklen Kräfte daran gelegen, in der neuen Welt ein festes Standbein zu finden.

"Wann möchte er uns treffen?" Fragte Fontenera. Cruschers Kopf im Kamin sagte:

"Er schreibt mir, daß er in England noch was erledigen muß. Ende Juni will er dann rüberkommen. Bis dahin sollen wir ihm alles wissenswerte über diesen Erdmutterstein liefern. Setz dich also am besten an deinen Rechner und suche in deinem Internet!"

"Seit wann gibst du mir Befehle, Ian? Hat er dir irgendwas mitgeteilt, daß dich dazu berechtigt, mir was zu befehlen?" Wollte Fontenera wissen. Cruschers Kopf im Kamin ruckte kurz hin und her.

"Ich meinte das nur, weil du doch diese Nachrichtenverbindungen hast", sagte Ian kleinlaut.

"Schon gut. Ich mache es. Aber das ist nicht mein Internet, Ian. Es gehört allen und doch keinem einzelnen."

"Danke Massimo. Ich Hoffe, wir jagen da nicht einem Phantom nach."

"Das hoffe ich auch. Jetzt, wo dieser Petrocelli mir seine Aufwartung machen mußte, werde ich aufpassen müssen, daß meine Verbindungen erhalten bleiben, bevor dieser Muggel sie unterbricht. Ich habe zu lange gearbeitet, mir die richtigen Leute zu sichern."

"Verstehe. Du wolltest so unauffällig wie möglich vorgehen", grinste Ian.

"Genau", stieß Fontenera zurück. Dann verschwand der Kopf aus dem Kamin. Fontenera ging sofort in die eigens dafür errichtete, klimatisierte Stahlkammer, die elektromagnetische Störungen von außen abhielt und gab die Suchanfrage ein. Wie er jedoch erwartet hatte wollte ihm das sonst so informationsüberladene Internet nichts darüber verraten, was es mit dem Stein auf sich hatte. So mußte er seine bei Seite geschafften Zauberbücher zu Rate ziehen, bis er eine Textstelle fand, die ihn zu einer neuen Suchanfrage anregte. Danach hieß es, daß es knapp über dem linken unteren Eckpunkt des angeblich so mysteriösen Bermuda-Dreiecks ein altes Stollensystem geben sollte, in das noch kein Taucher tiefer als zum Eingang vorgedrungen sei. Einer der Leute, die diese Information ins Internet gestellt hatten schrieb sogar mit scherzhaften Emotikons versehen, daß dieser Höhlenkomplex bestimmt verflucht sei und von Wassersportlern und Profis seit fünfzehn Jahren nicht mehr betaucht worden war. Leider fehlten die ganz genauen Koordinaten dieses Höhlenkomplexes.

"Das wird ihn nicht gerade freuen. Unter Wasser eine verfluchte Höhle zu entfluchen ist kein Pappenstiel", dachte Fontenera. Doch sie hatten ja noch Zeit bis zum Ende des Monats. Sie würden schon etwas finden. Er überlegte sich etwas schönes für Ricardo Petrocelli, ihn ein für alle Mal loszuwerden, ohne daß irgendwer ihm dafür auf die Spur kam. Er grinste teuflisch, als er eine Porzellanvase auf seinem Sekretär sah. Sie wirkte chinesisch und konnte bestimmt so umgestaltet werden, daß sie wie aus einer alten Kaiserdynastie zu stammen wirkte. Petrocelli war leidenschaftlicher Sammler fernöstlicher Kunstgegenstände. Die Spatzen pfiffen es von allen Dächern zwischen Ost- und Westküste, daß in sieben von zehn Fällen, wo es auf Auktionen um wertvolles Chinaporzellan oder indische Folklorekunst ging, Petrocelli einen Strohmann an der Hand hatte, ihm den gewünschten Gegenstand zu sichern.

"Verreck an diesem netten Väschen!" Fluchte Fontenera, wobei er sich seiner Muttersprache aus dem sizilianischen Bergdorf bediente, das im Schatten des Ätna ein sehr unauffälliges Dasein führte.

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Alberto, Petrocellis oberster Hausdiner, oder auch Majodomus, wie es bei feinen Leuten hieß, blickte auf einen der acht Bildschirme, die Bilder von sechzehn Außenkameras auffingen, bei Nacht sogar Wärmebilder aufnehmen konnten. Gerade rollte ein weißer Maserati vor das Tor zum Petrocelli-Anwesen in einem der begüterten Viertel von Manhattan.

"Nettes Auto. Kaufe ich mir von der nächsten Treueprämie", grinste Alberto, als er eine Frau aussteigen sah, die in einen taubenblauen Kapuzenmantel gehüllt war, und das im anbrechenden Sommer.

"Wer ist denn das?" Fragte Antimo Rosselini, der Sicherheitschef Petrocellis.

"Werden wir wohl gleich wissen", sagte Alberto, der hier im Haus immer nur Signore Alberto gerufen wurde.

Die Fremde aus dem Maserati trat an das Tor und schien es auf Sprengfallen oder Kameras zu prüfen. Schnell schaltete Rosselini das Bild vom Tor auf den großen Monitor. Die fremde mit der bleichen Haut und den Sommersprossen im Gesicht lächelte in die Kamera. Sie wußte wohl, wo diese hinter der halbdurchsichtigen Verblendung unter der Sprechanlage angebracht war, erkannte Alberto. dann zwitscherte die konservierte Stimme einer Nachtigall über das Lautsprechersystem im Haus. Das war die Türklingel. Rosselini nickte Alberto zu und schaltete die Gegensprechanlage ein. Er fragte auf englisch, wer da sei. Die fremde Frau sprach in fließendem römischen Italienisch, wobei sie energische Gesten mit Händen und Füßen ausführte.

"Ich habe etwas mit Ihrem Dienstherren, Don Ricardo Petrocelli zu besprechen. Mein Name ist Antonia Andreotti, Donna Antonia Andreotti."

"Das glaube ich jetzt nicht", sagte Rosselini, als er die Sprechanlage kurz abschaltete. "Tanino, check mal ab, ob was dran ist, daß die Andreotti-Familie nicht ganz der Vendetta mit den Palestrinas unterlegen war!"

"Klar, Signore Rosselini", antwortete ein anderer Sicherheitsbediensteter Petrocellis und ließ seine Finger über eine Computertastatur klackern.

"Hmm, angeblich soll die Frau von Don Sebastiano bei dem letzten Schlag der Palestrinas entkommen sein, heißt es hier. Aber wenn's wirklich die Andreotti-Witwe ist, dann ist die sehr lebensmüde."

"Werden wir klären", sagte Rosselini und stellte die Sprechverbindung mit der Frau vor dem Tor wieder her.

"Ich muß Mr. Petrocelli fragen, ob er mit Ihnen verabredet ist, Ma'am", sagte er in fließendem New-York-Dialekt. Die Frau vor der Tür nickte zwar, sah aber sehr ungehalten in das halbverborgene Kameraobjektiv.

"Don Ricardo, vor dem Tor steht eine Frau, die behauptet, die Witwe von Andreotti zu sein. Die sieht ziemlich jung aus und hat sich gut eingemummelt."

"Lass Sie rein und lass sie von Giovanna durchchecken!" Kam die klare Anweisung über das Haustelefon zurück. Rosselini nickte und bestätigte den Befehl. Dann rief er Giovanna, die Leibwächterin von Ricardo Petrocellis Mutter herunter und öffnete das Tor, als seine Leute bereitstanden.

In der Empfangshalle mußte sich die Besucherin den Mantel und das blaue Kleid ausziehen. Ihre Krokodilledertasche wurde durch einen Durchleuchtungsapparat gezogen, während die bullige Giovanna, die einmal eine berühmte Bodybuilderin gewesen war, die Besucherin abtastete, was diese angewidert über sich ergehen ließ. Als Giovanna verlangte, die Fremde solle ihre Unterkleider ablegen und sich noch gründlicher absuchen lassen, sagte die Fremde:

"Ihr Eifer in Ehren, Signorina Pazzo, aber an und in meinen Schoß lasse ich nur Dinge, die dafür bestimmt sind und verstecke bestimmt nichts für Ihren Herrn gefährliches, sofern er den lange Entbehrung ertragenden Leib einer noch jungen Witwe nicht selbst als Gefahr ansieht."

"Keine Widerrede!" Befahl Giovanna. Doch Als sie mit Gewalt am seidigen Unterzeug der Besucherin zerren wollte, blickte die ihr sehr tief in die Augen und murmelte etwas, daß Giovanna nicht so recht deuten mochte. Gleichzeitig rutschten ihre Hände kraftlos von der zu untersuchenden ab. Eine Sekunde später fand sie, daß es wohl übertrieben sei, diese Frau so gründlich zu durchsuchen. Sie durfte sich wieder ordentlich anziehen.

"Don Ricardo wartet schon auf Sie", sagte die Leibwächterin und streifte ihre Chirurgenhandschuhe ab, mit denen sie die Leibesvisitation hatte vornehmen wollen. Die Frau, die sich Antonia Andreotti nannte, folgte ihr. Die Besucherin, die schwarzes, lockiges Haar besaß, blickte der kleiderschrankartigen Frau hinterher, bevor sie ihr nachging.

In seinem mit Tropenhölzern in allen Verarbeitungsarten eingerichteten Sprechzimmer thronte Don Ricardo Petrocelli in seinem schwarzen Sessel. Der massive Schreibtisch war auf seinen ausklappbaren Rollen an die Wand gerückt worden und stand nun parallel zu den Armlehnen des geräumigen Sessels.

Buon Giorno, Signora Andreotti", begrüßte Petrocelli seine Besucherin auf Italienisch. Diese erwiderte den Gruß mit einer Geste des Respekts, aber unverkennbar als Gleiche unter Gleichen auftretend. Sie nahm den ihr angebotenen weißen Sessel an, dessen Bequemlichkeit seinem schwarzen Bruder nicht nachstand. Sie ordnete ihr Kleid und blickte den Don erwartungsvoll an. Dieser überlegte, was er von dieser Frau halten sollte. Er erinnerte sich an die Geschichte von der Blutfehde zwischen den Andreottis und Palestrinas, die beide Familien ausgelöscht hatte. Die weiblichen Mitglieder waren bei Unfällen umgekommen, die ihren Männern, Brüdern oder Söhnen gegolten hatten. Das Antonia, die ihm nie zuvor als Bild zu Gesicht gekommene Frau aus einer begüterten römischen Familie das überlebt hatte, als das Andreotti-Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, wollte dem Don nicht in den Kopf. Was er nicht wußte war, daß seine Gedanken und Erinnerungen nicht nur ihm allein erkennbar waren.

"Sie fragen sich sicherlich, ob ich die bin, die ich zu sein erklärt habe, Don Ricardo", sagte die Besucherin mit einer warmen Altstimme. "Es stimmt, daß unser Haus bei Catania von diesen Barbaren aus dem Palestrina-Clan niedergebrannt worden ist. Doch ich selbst war auf eine weise Vorausahnung meines seligen Mannes auf einem Bauernhof eines Pächters von ihm untergebracht und konnte so diesen feigen Anschlag überstehen. Ich kann und will es bis heute nicht verstehen, was Sie und Ihre ansonsten respektablen Vorfahren und Freunde an mörderischen Blutfehden finden. Aber deshalb bin ich nicht hier."

"So, Sie sind also die Donna Antonia. Beweisen Sie mir das!" Versetzte Petrocelli barsch und stellte der Besucherin fragen, die sie nur beantworten konnte, wenn sie wirklich Don Sebastianos Frau war. Ricardo Petrocelli hatte alles wissenswerte über diese Familie gesammelt, da er entweder mit ihr eine geschäftliche Beziehung knüpfen wollte oder wissen mußte, wo sie zu treffen war, wenn er ihre Unternehmungen feindlich übernehmen wollte. Die Besucherin antwortete unverzüglich und so wie er es von der echten Witwe hätte erwarten müssen. Sie entging seinen Fangfragen, ob ihr Sohn Marcello mit in dem Auto gesessen hatte, indem Sebastianos Bruder gestorben war, weil die Andreottis keine eigenen Kinder bekommen hatten.

"In Ordnung, Signora", sagte Petrocelli läutselig lächelnd. "Nachdem wir sie nun also körperlich und geistig abgeklopft haben, möchte ich jetzt endlich wissen, was Sie zu mir führt. Catania ist weit weg von New York."

"Rom auch", sagte die Besucherin. "Nennen Sie mich bitte Donna Antonia. Ich denke, diese Anrede steht mir immer noch zu."

"Wie Sie meinen, Donna Antonia", erwiderte Petrocelli feist grinsend. "Dann erzählen Sie mir bitte, was Sie zu mir geführt hat!"

Die Besucherin erzählte Don Ricardo Petrocelli von Streitigkeiten, die sie noch mitbekommen hatte, wo ihre Familie noch gelebt hatte. Dabei habe der Name Fontenera eine entscheidende Rolle gespielt, eine uralte Familie, die schon im 16. Jahrhundert eine gewisse Bedeutung gehabt hatte und mit den Adeligen aus Venedig, Florenz und Rom gute bis sehr gute Beziehungen gepflegt habe. Was sie nun zu Petrocelli geführt habe beschrieb die Frau, die sich Donna Antonia Andreotti nannte mit zwei abschließenden Sätzen::

"Ich weiß, daß die Fonteneras Sie und alle anderen Capi auf amerikanischem Boden vor die Wahl stellen werden, sich ihnen zu unterwerfen oder in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Ich erfuhr, daß sie mit diesem Mann, der in den letzten Monaten mehrere junge Frauen getötet hat, gute Beziehungen hatten

"So viel ich hörte ist dieser Kerl tot", knurrte Don Ricardo. Ihn ärgerte es immer noch, daß er sich von diesem Parker hatte beschwatzen lassen, diesem die Angelegenheit zu überlassen. Es war ja kein Kunststück, einen Haufen Berufsmörder auf ihn zu hetzen und ihn in Stücke zerreißen zu lassen. Dabei war aber überhaupt nichts herausgekommen, für wen dieser Kerl gearbeitet hatte, dessen angeblicher Name die englische Version von Don Ricardos Namen war. Auch wußte jetzt niemand, ob er der einzige Störenfried war oder ob da nicht noch einige mehr unterwegs waren, die das einträgliche Geschäft mit der Prostitution empfindlich verderben wollten. Doch wo die Andreotti-Witwe das erwähnte, daß Fontenera damit zu schaffen haben sollte fiel dem Don ein, daß dieser sich eher im Handel mit toten Dingen betätigte und somit nicht im mindesten in Schwierigkeiten geraten war. Außerdem behaupteten einige respektable Mitglieder seiner ehrenwerten Gesellschaft, die Fonteneras hätten immer schon mit il Diavolo, dem Höllenfürsten selbst, einen Pakt geschlossen und von dem schwarze Magie erlernt. Doch Petrocelli war schon so amerikanisiert, daß er diesen Gerüchten nur ein Lachen abgewinnen konnte. In Städten wie Las Vegas traten Dutzende von Artisten auf, die den Leuten für viel Geld alle unmöglichen Dinge vorführten. Dennoch kam er nicht umhin, dem Bericht dieser Frau, die ganz kühl und entschlossen vor ihm saß, mehr Glauben zu schenken als allen bisherigen Vermutungen. Er fragte sie also aus, woher sie das wußte, und ob es geklärt sei, wie dieser irre Massenmörder von einem Ort zu einem weit entfernteren Ort gelangen konnte, manchmal innerhalb eines Tages von einer Küste zur anderen.

"Die Fonteneras unterhalten eine kleine Flugzeugflotte, vom antiken Doppeldecker bis zum Learjet. Die sind mächtig, Don Ricardo. Soviel mir bekannt ist, unterhalten sie auch ein Labor für Gift- und Krankheitsforschung mit einem Haufen an der goldenen Leine geführter Wissenschaftler."

"Wo ist dieses Labor?" Fragte Ricardo, der prüfen wollte, ob diese Frau ihm da nicht doch eine sehr gut durchdachte Geschichte auftischte. Würde sie jetzt mit einem Ort herausrücken, wußte er, daß sie ihm doch nur einen Bären aufbinden wollte.

"Wenn ich dies wüßte würde ich nicht zu Ihnen kommen", erwiederte Donna Antonia kalt. "Glauben Sie, ich würde mir die Gelegenheit entgehen lassen, dieses Labor zu übernehmen? Nein, Don Ricardo."

"Nun gut. Sie wollen mich also vor den Fonteneras warnen. Soviel ich weiß, hat der hiesige Capo dieser Familie keine weiteren Verwandten hier. Das ist nicht gerade ungefärhlich für ihn, sich derartig groß ins Zeug zu legen. Aber Sie brauchen sich da keine Sorgen zu machen. Ich werde mit ihm fertig."

"Glauben Sie das wirklich?" Fragte die Besucherin. "Ich wäre da nicht so sicher. Wenn Sie ihm den Krieg erklären, könnten Sie den verlieren."

"Unfug", lachte Don Ricardo. Er wollte der Frau da nicht auf die Nase binden, daß er das Kapitel Fontenera schon für beendet hielt. Seine Leute waren gerade zu ihm unterwegs und würden ihn abservieren, wegen Sachen, die schon einige Monate her waren. Er würde das dicke Buch dieser alten Familienchronik heute noch zuschlagen und in den keller alter Geschichten einstellen. Da klingelte das elfenbeinfarbene Telefon auf dem zur Seite gerückten Schreibtisch. Don Ricardo entschuldigte sich und nahm den schnurlosen Apparat mit in eine kleine, hinter einer Holztäfelung verborgenen Kabine, die schalldicht abschloß. Die Besucherin saß ruhig da und konzentrierte sich. Sie hatte Mühe das Gefühl der Überlegenheit zu unterdrücken. Denn in diesem Moment erhielt Don Ricardo die bedauerliche Mitteilung, daß alle seine Mordbuben ums Leben gekommen sein mußten, weil man keinen mehr erreichen könne. Als Ricardo Petrocelli wieder aus der kleinen Kabine heraustrat, sah er kalkweiß und niedergeschlagen auf seine Besucherin. Diese fragte unverbindlich, ob er schlechte Nachrichten erhalten habe. Er sah sie entschlossen an und meinte, daß es wohl zu einem tragischen Verlust in der alten Heimat gekommen sei und er Nachlassobliegenheiten regeln müsse. Dann fragte er die Besucherin noch einmal, was Sie nun bei und von ihm wolle. Sie sagte:

"Ich finde, wir sollten uns mit dem Fontenera-Problem nicht alleine lassen." Don Ricardo zuckte kurz mit den Schultern. Was sollte die letzte Überlebende einer hingerafften Familie ihm schon an Hilfe bieten? "Ich habe die alten Kontakte aufgefrischt und könnte Ihnen helfen, die Transaktionen Fonteneras zu unterbinden, wenn Sie dafür die Leute bereitstellen, die ich leider nicht mehr habe."

"Sie wissen, daß in unseren Kreisen das Wort einer Frau nicht groß zählt, Donna Antonia. Was Sie an Informationen zu haben meinen werde ich mit meinen Kontakten schneller herausbekommen, auch alleine. Ich hoffe, Sie betrachten Ihren Besuch nicht als Zeitverschwendung", sagte der Don. Die Besucherin faßte es so auf, daß er ihren Besuch als Verschwendung seiner zeit ansah und erkannte, daß sie besser jetzt gehen sollte. Höflich verabschiedete sie sich von Don Ricardo und wurde von der muskelüberladenen Giovanna aus dem Haus geführt. Von mehreren Fernsehaugen beobachtet durchschritt sie das Tor, wo der weiße Maserati geparkt war.

"Ist der Satellitenpeiler dran?" Fragte Don Ricardo seinen Sicherheitschef.

"War nicht einfach, den anzubringen, weil wir nicht wußten, wer noch alles im Wagen saß. Die Fenster sind verspiegelt."

"Hauptsache, ihr kleiner Freund konnte sich gut anpirschen", grinste Ricardo. Sein Sicherheitschef hatte einen dressierten Raben, der Dinge beschaffen oder unbemerkt anbringen konnte. Damit hatte er schon manchen Gegner ausgehebelt. Der mit einer besonderen Haftvorrichtung versehene Peilsender klebte nun unter dem rechten Kotflügel.

"Die Frau hat eine sehr überzeugende Show geliefert", sagte Ricardo. Alles paßt. Ich will wissen, wo sie wohnt, für den Fall, daß ich doch noch einmal mit ihr reden will."

"Kein Problem", sagte Rosselini grinsend.

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"Die haben uns einen dieser Fernpeiler angeklebt. Der Oberleibwächter von denen hat einen Zirkusraben geschickt, der erst im Baum landete und dann verschwunden war. Ich bekam aber mit, daß er sich an unser Auto angeschlichen hat", sagte die Fahrerin des Maseratis, eine Frau mit langen, dunkelbraunen Haaren und grünen Augen, die bei direkter Beleuchtung ein graues Glitzern zeigten.

"Ich wußte das", sagte die Frau, die sich eben noch Antonia Andreotti genannt hatte. "Unser Freund wurde gerade darüber informiert, daß seine gedungenen Henker abhandenkamen. Ich fürchte, Fontenera ist wirklich einer der Magier, die meine Tante schon gekannt hat."

"Was machen wir mit diesem Peilding, höchste Schwester?" Fragte die Fahrerin.

"Ich trenne uns davon, wenn wir genügend Geschwindigkeit gewonnen haben. Erst dann machst du uns und das Gefährt unsichtbar und fliegst uns zu meinem Haus zurück."

"Wie du es möchtest, höchste Schwester", willigte die Frau am Steuer ein und bugsierte den Wagen durch die Blechlawine von Manhattan. Es dauerte eine ganze Stunde, bis sie die Autobahnauffahrt richtung westen erreichte und schneller als die erlaubten 55 Meilen in der Stunde dahinjagte, bald mit 90, bald mit 100 Meilen über die graue Betonpiste preschte.

"Schnell genug für dich, höchste Schwester?" Fragte die Fahrerin amüsiert, weil sie gerade zwei andere Sportwagen sprichwörtlich stehen ließ.

"Das genügt, Schwester Patricia", erwiderte die Beifahrerin überlegen lächelnd und konzentrierte sich. Es Ploppte unvernehmlich am rechten Kotflügel, und das vierteldollargroße Peilgerät schwirrte davon, genau unter den mannshohen linken Vorderreifen eines Sattelschleppers.

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Ui, der Wagen macht schon was her", meinte Rosselini, als seine Satellitengestützte Überwachungsanlage anzeigte, daß der angepeilte Maserati gerade mit mehr als 100 Meilen über die Autobahn fegte. "Nachher wird die noch von unseren Freunden und Helfern abgefangen." Dann flackerte der kleine grüne Punkt auf einer eingeblendeten Karte des Staates New York und erlosch. Unten rechts wurde der rote Schriftzug KONTAKT VERLOREN eingeblendet.

"Merda!" Fluchte Rosselini. Don Ricardo, der mitverfolgen wollte, wo der Wagen hinfuhr schnaubte was von Stümperei und daß man das mit dem Vogel wohl mitbekommen habe. Dann sagte er:

"Vergessen wir dieses Weib! Wir haben wichtigeres zu tun."

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Martha Andrews hatte den Anruf auf Band genommen, wie ihr Exmann sie gebeten hatte. Sie hörte das etwa fünf Minuten lange Gespräch immer wieder an, versuchte, sich die Sache anders auszumalen als sie war. Doch es mußte wohl stimmen. Richard, ihr Ex-Ehemann, hatte sich bei ihr Gemeldet und ihr erzählt, was ihm passiert war. Sie hatte ihn gefragt, was die Gangster von ihm gewollt hatten und ihm erzählt, was sein Doppelgänger getan hatte. Er hatte gesagt:

"anscheinend wollten sie einen Chemiker in dieser Firma unterbringen, der sich mit leichten Hartkunststoffen gut auskannte. Ich hatte halt das Pech, gerade in New York zu sein. Das sind ziemlich heftige Leute, Martha."

Er erzählte ihr noch, daß er wohl lange Zeit in einem abgelegenen Haus gefangengehalten worden war. Er riefe jetzt vom FBI her an, weil er darum gebeten habe, ihr und Julius noch zu bestellen, daß er nichts mit dem zu tun gehabt hatte, was wohl in den letzten Monaten gelaufen war. Sie fragte ihn noch darüber, was sie Julius erzählen solle, da er das bisher nicht mitbekommen habe.

"Hat er in dieser rückständigen Schule nichts mitbekommen? Dann liegt's bei dir, was du ihm sagen willst oder nicht. Ich werde jetzt wohl, ob ich will oder nicht, nichts mehr mit ihm zu tun haben. Die vom FBI werden mich anderswo unterbringen, mit anderem Namen und Hintergrund. Ich wollte dir nur sagen, daß ich nicht wahnsinnig oder mordlustig geworden bin, Martha. Ich könnte nie jemanden töten, weißt du doch."

"Sicher weiß ich das, Richard", hatte Martha gesagt. "Aber ich habe zuerst doch gedacht, jemand hätte dich ... manipuliert." Sie wollte nicht erwähnen, daß sie mal mit dem Gedanken gespielt hatte, Richard sei verhext worden. Sie hatte schließlich gerade erst mit Catherine Brickston darüber gesprochen, daß Schüler, die in einem Verteidigungskurs gegen dunkle Zauberei waren, die Wirkung eines heimtückischen Fluches erfahren sollten, der den freien Willen ausschaltete und daß Professeur Faucon gefragt hatte, ob sie Julius auch diesen Proben unterziehen durfte. Als Catherine ihr erklärt hatte, was dieser Imperius-Fluch anrichten konnte, hatte sie tatsächlich gedacht, ihr Exmann sei damit zu diesen ganzen Mordtaten getrieben worden. Doch die Logik tröstete sie. Welchem Zauberer oder welcher Hexe wäre damit gedient gewesen, einen Chemiker zum Massenmörder zu machen, wenn man dafür einen Berufsgangster nehmen konnte? Wenn er oder sie von einem dieser Todesser bedroht wurde, warum fanden diese Taten dann in den vereinigten Staaten statt? Also war es kein gezielter Angriff auf die Andrews, der ohnehin dann auch nur gegen diese geführt worden wäre.

"Wie gesagt durfte ich dir diese Sachen noch erzählen. Mehr darf ich nicht erzählen, um dich nicht unnötig in Gefahr zu bringen. In dem Fall ist es besser, wenn du das nicht weißt, Martha", hatte er ihr noch gesagt. Sie hatte genickt und ihm alles gute gewünscht. Mit keinem Wort hatten sie Julius' Zaubereiausbildung erwähnt. Das mußten die vom FBI wirklich nicht wissen.

"Ja, und was sagen wir Julius nun, Martha?" Fragte Catherine, als Martha ihr von diesem Gespräch erzählte. "Ich meine, vielleicht wissen es die Schüler in Beauxbatons auch schon, was der angebliche Richard Andrews angestellt hat?"

"Glaubst du das? Dann hätte deine Mutter dir nicht nur diesen Fragebogen für diesen Imperius-Fluch zugeschickt", sagte Martha Andrews. Catherine nickte und meinte:

"Sicher, in den französischen Zeitungen war dieser Polizistenmord nicht drin, und was danach passiert war auch nicht. Ich habe aber schon gedacht, es sei da was magisches passiert, Martha. Es gibt ja nicht nur Imperius als Geistesmanipulationszauber."

"Du machst mir Angst, Catherine. Was gibt es denn sonst noch?"

"Hmm, Zaubertränke oder magische Kreaturen, die jemanden unterwerfen können. Aber wenn sowas passiert wäre, dann hätten wir davon erfahren. Maman und ich haben gute Kontakte in die amerikanische Zaubererwelt."

"Was sollen wir Julius nun sagen?" Fragte Martha.

"Du kannst ihm die ganze Geschichte erzählen, wenn die Prüfungen um sind oder er wieder hier ist", sagte Catherine. Das gehört in deinen Zuständigkeitsbereich."

"Ja, aber Julius kann ihn nicht mehr erreichen. Ich fürchte, er würde sich die Schuld geben, daß er überhaupt von uns weggezogen ist. Nein, mir gefällt das nicht, Catherine. Wenn du sagst, es hatte nichts mit irgendwelchen Zaubern zu tun, dann reicht es völlig, wenn ich ihm erzähle, daß wir seit Ende Mai keinen Kontakt mehr zu ihm haben und er keine neue Kontaktadresse hinterlassen hat."

"Wie gesagt, alles unmagische ist deine Zuständigkeit, Martha. Wenn du das möchtest, daß er nichts von dieser schlimmen Sache erfährt, muß ich das respektieren, wenngleich ich dir sagen muß, daß meine Mutter das nicht so sähe und ihm die ganze nackte Wahrheit vorlegen würde. Aber wenn sie auch nichts davon mitbekommen hat, kannst du Julius sagen, was du ihm sagen willst, von dem du meinst, er könne dies wissen, ohne seelischen Schaden zu nehmen."

"In Ordnung, Catherine. Dann möchte ich, daß er nur weiß, daß wir seit Ende Mai keinen Kontakt mehr zu Richard haben. Ich möchte nicht, daß er sich schuldig fühlt oder denkt, alles hinwerfen zu müssen. Nachdem was deine Mutter erzählt hat, hat er sich ja in Beauxbatons sehr gut rangehalten und soll wohl härtere Prüfungen absolvieren. Sowas könnte ihn da ziemlich belasten, und das will ich nicht."

"Ich denke auch, Jane Porter hätte uns informiert, wenn mit Richard irgendwas magisches passiert wäre", sagte Catherine noch einmal. Martha dachte zwar, daß das Thema jetzt abgehandelt wäre. Aber vielleicht, so fiel ihr ein, mußte Catherine das sagen, um sich selbst zu vergewissern, daß nichts übernatürliches passiert war. Denn das wäre dann ihre Zuständigkeit gewesen.

So einigten sich die beiden Frauen darauf, die einfache und dennoch heftige Aussage beizubehalten, man habe seit Ende Mai keinen Kontakt mehr mit Richard Andrews gehabt. Das erzählte Catherine auch Joe, der erst merkwürdig dreinschaute und dann meinte:

"Wenn der Junge so hinterm Mond gehalten werden soll, Catherine, dann ist das allein Marthas und dein Bier. Wenn er mich nicht gezielt fragt, ich weiß ja eh nichts außer dem, was in den Fernsehnachrichten war. Aber schon heftig, was da gelaufen ist. Wer konnte damit rechnen?"

"Niemand", sagte Martha darauf nur. Joe nickte. Dann sagte er noch:

"Also, Mädels, das ist euer Ding, was ihr dem Jungen erzählt. Ich habe da eh nichts zu melden. Also haltet ihn schön dumm, weil er ja sonst aus der Spur laufen könnte!"

"Joe, dein Sarkasmus ist wohl nicht gerade angebracht", erboßte sich Martha. "Mir ist wichtig, daß Julius ein seinen Lebensbedürfnissen entgegenkommendes Umfeld hat. Einen Vater, der angeblich Leute umgebracht hat, will wohl niemand haben. Wenn er es bisher nicht von irgendwem gehört hat, muß er es jetzt auch nicht mehr wissen."

"Ich wiederhole mich, daß ihr das ihm stecken oder vorenthalten könnt. Ich sage nichts, solange er mich nicht gezielt nach bestimmten Einzelheiten befragt. Basta!"

"In Ordnung Joe. Danke!" Sagte Catherine Brickston. Ihr war die Sache zwar nicht so ganz geheuer, aber sie wollte und mußte Martha zeigen, daß sie sie als Haupterziehungsberechtigte respektierte, solange es "reine Muggelsachen" waren. Zwar dachte sie abends im Bett immer wieder daran, zumindest ihrer Mutter was zu schreiben. Doch die würde sich erkundigen, was passiert sei, Julius dann gerade mitten aus den Prüfungen holen und ihm erzählen, oder sie würde es lassen, damit der Junge, den sie unbedingt in Beauxbatons hatte haben wollen, dort nicht unangenehm auffiel. Was Professeur Faucon nicht wußte, machte diese auch nicht heiß.

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Die Nacht vom fünfzehnten zum sechzehnten Juni war kühl und regenfrei. Die Jeffersons schliefen bei halb geöffnetem Schlafzimmerfenster. Ihr Töchterchen Lana lag in ihrem Gitterbettchen und atmete ruhig. Mary Jefferson wachte aus einem Alptraum von sie jagenden Rockern auf knatternden Motorrädern auf. Keuchend und mit pochendem Herzen starrte sie an die Decke. Irgendwie fühlte sie etwas unheimliches, nicht greifbares in diesem durchschnittlich eingerichteten Schlafzimmer, wie ein giftiges Gas, das Atemzug für Atemzug in sie eindrang und ihren Körper schwächte und ihr Angst einflößte. Sie kannte dieses Gefühl des Belauertwerdens. Schon als kleines Mädchen hatte sie Angst vor Monstern unter dem Bett und dem schwarzen Mann im Schrank gehabt. Dunkelheit war für sie eine Quelle unbändiger Angst. Doch ihr Mann schätzte es nicht, ihretwegen das Licht brennen zu lassen, obwohl er ihr Trauma kannte, daß sie, gerade vierzehn Jahre alt, ereilt hatte, als eine Bande von Motorradrowdies sie auf dem Nachhauseweg überfallen, verschleppt und vergewaltigt hatte. Deshalb war sie seit Jahren schon in psychotherapeutischer Behandlung und hatte einige Methoden verinnerlicht, sich zu beruhigen, wenn dieses schreckliche Erlebnis sie in ihren Träumen heimsuchte. Sie dachte an eine beruhigende Melodie, die sie als ihre Seelenmusik entdeckt hatte und versuchte, die Töne so laut wie möglich zu stellen, um sie wie mit den Ohren zu hören. Sie blickte zum Fenster hinaus, dankbar für jeden Lichtreflex eines vorbeihuschenden Autos und ein Stückchen orangen Laternenscheins. Eine weiße Nebelwolke wehte am Fenster vorüber, wurde wohl vom in das Zimmer einströmenden Kaltlufthauch ergriffen und hineingezogen. Mary sah, wie sich der Nebelstreifen vor dem Bett in der Luft bewegte und innerhalb von einer Sekunde zu einer festen Gestalt verdichtete, einer Frau im weißen Kleid mit feuerrotem Haar. Mary wußte nicht, ob sie wachte oder träumte. Ihre Seelenmusik verstummte im Geist und überließ sie einer unbändigen Angst. Diese Frau stand im Zimmer, aus dem Nichts heraus. Das war nicht normal. Das war schrecklich unnormal. Mary wollte gerade den Mund öffnen und ihren schlafenden mann wecken, da blickte sie die unheimliche Besucherin aus goldenen Augen sehr konzentriert an. Mary verging schlagartig jede Angst. Ja, sie meinte, in einen berauschenden, glückseligen Zustand zu fallen, in dem es keine Ängste und Sorgen mehr gab. Dann übermannte sie der Schlaf, warm und wohltuend.

"Lana!" Rief Dean Jefferson panisch. Mary Jefferson schrak aus dem Schlaf auf. "Lana wach auf, Kleines!" Rief Ihr Mann. Sie setzte sich kerzengerade im Bett auf und sah, wie ihr Mann das kleine Bündel Decken auseinanderrollte und den schlaffen, leicht blau angelaufenen Körper ihrer Tochter Lana freilegte.

"Mary, die Kleine. Sie ist so still und blau", zeterte Dean. Mary sprang aus dem Bett und war mit einem Schritt beim Kinderbett. Sie faßte ihrer Tochter an den großen, runden Kopf. Er war kalt. Sie fühlte die Fontanelle des gerade zwei Monate alten Säuglings und spürte nicht den pulsierenden Takt des kleinen Herzens darin schlagen. Unmittelbares Grauen packte sie mit eiskalten Fangarmen am Körper und lähmte sie. Sie konnte keinen Laut ausstoßen, so trocken war ihre Kehle. Dafür schossen ihr Fluten warmer, salziger Tränen aus den Augen über die Wangen.

"Mary, Lana ist tot!" Schrie Dean. "Sie ist tot!"

Der Notarzt, der wenige Minuten später eintraf, mußte diese Feststellung bestätigen. Offenbar war Lana am plötzlichen Kindstodsyndrom gestorben, ohne einen Laut getan zu haben. Äußerlich war sie unverletzt. Der Arzt bestand zwar darauf, eine Obduktion vornehmen lassen zu müssen, um mögliches Fremdverschulden oder Gifteinwirkung ausschließen zu können, doch die Jeffersons wußten nicht, ob sie das machen sollten. Dean sprach, weil seine Frau vom Schock der Nachricht total apathisch auf dem Bett lag und erklärte dem herbeigerufenen Notarzt, daß es in seiner Familie schon Fälle des plötzlichen Kindstodes gegeben hatte. Der Arzt fragte ihn schulmeisterisch:

"Und dann haben Sie die Kleine ohne ein Überwachungsgerät in diesem Bett schlafen lassen? Sie wissen doch sicherlich von Ihrem Kinderarzt, daß es heutzutage kleine Geräte gibt, die die Atmung und den Herzschlag eines Kindes überwachen und bei Anomalien Alarm geben."

"Unsere Kleine war gesund. Dr. Martinsen hat gesagt, daß ein solches Gerät nicht ganz billig sei. Wir haben keine Krankenversicherung, die sowas bezahlt."

"Besser wäre es gewesen", knurrte der Notarzt, jede professionelle Distanz vergessend. Er haßte es, wenn er nur noch den Tod eines Menschen bestätigen konnte, vor allem dann, wenn es ein Kind war. Doch man konnte die Eltern nicht dazu zwingen, ihre Kinder rundum überwacht zu halten, und wenn sie doch so gesund wirkten, warum dann teure Medizintechnik bemühen?

"Wie gesagt würde ich gerne eine Autopsie durchführen lassen, um Fremdeinwirkungen auszuschließen. Außerdem gäbe sie uns die Daten, das Kindstodsyndrom weiter zu erforschen und ..."

"Kommt nicht in Frage!" Schnaubte Dean Jefferson. "Lana ist tot. Das ist schlimm genug. Ich werde nicht zulassen, daß sie noch für medizinische Versuche zerschnippelt wird, nur weil Sie dieses hinterhältige Syndrom nicht behandeln können, bevor es auftritt."

"Wenn Sie ein Überwachungsgerät benutzt hätten, wäre Ihre Tochter noch am Leben!" Bellte der Notarzt wie ein wütender Kettenhund.

"Die kleine war gesund und hat auch genug frische Luft bekommen. Wir halten die Fenster im Schlafzimmer gerade so weit offen, um frische Luft einlassen zu können und ..."

"Da geht es schon los. Haben Sie nicht gelernt, daß die Luft nachts nicht frisch ist, weil die Pflanzen nachts genauso Kohlendioxyd ausströmen wie Tiere? Könnte gut sein, daß Ihre Tochter an der Überdosis CO2 gestorben ist, die von draußen eingeströmt ist. Ich kann Sie nicht zwingen, solange ich keine Anzeichen für äußere Einwirkungen sehen kann. Aber ich möchte Sie bitten, der Autopsie zuzustimmen."

"Kommt nicht in Frage", wiederholte Dean. "Ich werde Lana morgen von einem Bestattungsunternehmen abholen und für die Beerdigung vorbereiten lassen. An ihr wird kein neugieriger Student oder Professor herumdoktern."

"Sollten Sie diese Frage nicht mit Ihrer Frau erörtern, wenn sie wieder bei sich ist?" fragte der Notarzt und blickte auf Mary Jefferson.

"Um sie noch mehr zu verängstigen? Nein, Lana wird in dieser Woche noch beerdigt. Wenn Sie mir keinen Mord unterstellen wollen, Herr Doktor, dann bleibt es bei meinem Nein", beharrte Dean auf seinem Entschluß. Der gerufene Notarzt untersuchte das Baby noch einmal und schüttelte den Kopf. Für Gewalt oder Gift fand er kein einziges Anzeichen. Alles wirkte eindeutig so, daß das Kind, daß der Aussage des Vaters nach achtmal am Tag gestillt wurde, friedlich eingeschlafen war. Er konnte diesem Mann keinen Mordversuch unterstellen, wenn er keine dafür typischen anzeichen fand. So mußte er den Totenschein ausfertigen und die Kopien für die Eltern, den Bestattungsunternehmer und weitere Behörden, sowie den Kinderarzt in Auftrag geben. Denn Lana Jefferson war vor ungefähr einer Stunde gestorben, um ein Uhr nachts. Was Dr. Mayweather nicht ahnte, er sollte noch zu vier weiteren Fällen von Kindstod im umkreis von sechs Kilometern gerufen werden. Zweihundert Kilometer weiter weg sollten sogar fünf Säuglinge an diesem Syndrom sterben, einige davon erst in zwei Stunden von jetzt an.

Prof. Dr. Shana McDowell, Leiterin der Säuglingsstation im St.-Francis-Krankenhaus in Los Angeles, erfuhr einen Tag später von einem massiven Auftreten des plötzlichen Kindstodes im Umkreis von dreihundert Kilometern, das statistische Jahresmittel dieses tragischen Vorkommnisses war im Ballungsraum Los Angeles um ganze sechshundert Prozent gestiegen. McDowell erschrak über diese Häufung und schlug vor, auch gegen den Willen der betroffenen Eltern Autopsien zu veranlassen, um jeden äußeren Einfluß, jedes mögliche Virus oder Umweltgift aufzuspüren, daß für diese erschreckend hohe Zahl verantwortlich war. In einigen Fällen, wo Überwachungsgeräte benutzt worden waren, hatten diese nicht einmal Alarm gegeben. Das beunruhigte die habilitierte Kinderheilkundespezialistin, die an der medizinischen Fakultät von Stanford und Los Angeles Gastvorlesungen über eben dieses Thema hielt.

"Zum Teufel mit diesen religiösen Fundamentalisten!" Knurrte sie einmal, als sie hörte, daß viele Eltern die Verweigerung einer Autopsie mit Gründen aus der Bibel, dem Hinduismus oder dem Koran anführten. Zeugen Jehovas beriefen sich auf die gottgewollte Unantastbarkeit des Körpers, Hindus sprachen vom Karma und der Hoffnung auf die Wiedergeburt in besserer Form und Muslime trauten den christlichen Ärzten eh nicht und hielten an ihren Bräuchen fest, einen verstorbenen Angehörigen innerhalb eines Tages beerdigen zu müssen. Die wenigen Eltern, die einer Untersuchung zustimmten waren solche, die lediglich alle Gründe für Nachlässigkeit oder gar Kindesmord ausschließen wollten, weil ihre Verwandten ihnen das unterstellten.

"Neun Fälle allein im Einzugsbereich Los Angeles", murmelte die Stationsleiterin, die jede Chefarztstelle oder Daueranstellung an einer noch so renommierten Hochschule kategorisch zurückgewiesen hatte, um möglichst nur für ihre ganz kleinen und kleineren Patienten da zu sein. Sie war gerade mit Stationsschwester Goldman unterwegs zur allnachmittäglichen Visite. "So viele auf einen Schlag."

"Das muß ein Virus sein oder vergiftete Babynahrung, Dr. McDowell", sagte Schwester Goldman.

"Ich vermute ein Virus. Die gestorbenen Kinder wurden in zwei von drei Fällen noch gestillt. Es wird wohl noch geklärt, welche Zusatznahrung verwendet wurde, allein um zu klären, ob Handhabe gegen eine Herstellerfirma besteht. Sie wissen ja, daß ein Gerücht schon reicht, um eine Firma zu ruinieren, wenn Millionenklagen auch nur ansatzweise möglich sind. Aber was mich daran beunruhigt ist diese Zeitnähe. Diese Kinder starben in derselben Nacht zwischen ein und vier Uhr morgens. Sie waren alle nicht älter als drei Monate."

"Das ist erschreckend", pflichtete Schwester Goldman ihrer Stationsleiterin bei. Sie betraten einen Schlafsaal, in dem zehn Neugeborene in ihren stählernen Gitterbettchen lagen. Eines fing zu schreien an und löste damit einen Chor hungrig schreiender Babys aus. Hier lernten die Kinder die wichtigste Lektion im Leben: Wer was wollte, mußte lauter schreien als alle anderen.

"Bringen Sie die kleine Josephine Miller und den Jungen Manuel Vargas zu ihren Müttern!" Gab Dr. McDowell eine Anweisung an die wachhabende Krankenschwester weiter, die gerade prüfte, welches der Kinder frische Windeln brauchte und welches Hunger hatte. Schwester Goldman fiel auf, daß sämtliche Bettchen mit Atmungs- und Herztonüberwachungsgeräten bestückt waren. Offenbar wollte Professor McDowell keine Unterlassungssünden begehen.

"Alles in Ordnung, wie Sie hören können, Professor McDowell", sagte die wachhabende Krankenschwester lächelnd und deutete auf die betten mit plärrenden Babys.

"Das soll auch so bleiben", sagte die Stationsleiterin und verließ den Schlafsaal wieder. Sie beendete die Runde wie üblich bei ihren fünfjährigen Krebspatienten, deren Heilungschancen sehr gering waren. Die durch Chemotherapie um jedes Kopfhaar gebrachten Patienten blickten sie mal flehend mal sehr beruhigt an. Ein Mädchen sagte ihr, sie habe geträumt, wie zwei Engel sie abgeholt und in den Himmel getragen hätten und daß sie das wirklich glaubte, daß sie dort sehr gut aufgehoben sein würde. professor McDowell, die religiösen Ansichten sehr skeptisch gegenüber war, schluckte eine abfällige Bemerkung hinunter, daß sich das Kind in Märchenwelten verlor und dachte daran, daß Hoffnung auf etwas besseres mehr Heilkraft hatte als alle Produkte der Pharmaindustrie zusammen, und sei es, daß dieses Kind im Tod mehr Hoffnung sah als im Überleben.

Wieder in ihrem Büro fand sie ein Fax aus Denver, Colorado vor, wo ein Kollege sie über dort aufgetretene Kindstodhäufungen informierte und anfragte, ob sie ähnliches registriert hatte. Da beschloss sie, sich im Internet und den daran angekoppelten Medizinzentren umzusehen. So erfuhr sie, daß innerhalb von zwölf Stunden in vier Bundesstaaten eine weit überdurchschnittliche Anhäufung plötzlicher Kindstode stattgefunden hatte. In einigen Fällen seien die Kinder sogar mehrere Meter von ihren Betten entfernt aufgefunden worden. Zwei Aupairmädchen waren von der Polizei festgenommen worden, weil sie in den Verdacht geraten waren, die Kinder versehentlich oder absichtlich getötet zu haben. Alles in allem eine Flut erschreckender Meldungen.

"Wundere mich, daß die Presse da noch nicht hinterher ist", grummelte Professor McDowell. Doch offenbar wurden die Vorfälle zu unspektakulär behandelt. Kein Nachrichtenmedium war bisher darauf gekommen, die ganzen Fälle auf eine Ursache zurückzuführen. Doch das würde sich bald ändern, wußte die Kinderärztin. Jeder Knirbs konnte heute schon im Internet herumsuchen und alles mögliche herausfinden. Geheimnisse waren in diesen Zeiten Mangelware.

Doch die Presse reagierte nicht. Da die meisten Fälle als bedauerliche Normalität empfunden wurden, sprang niemand darauf an. So recherchierte die Kinderheilkundeprofessorin auf eigene Faust weiter, als sie ihren langen Arbeitstag beendete und in ihrer geräumigen Wohnung in Beverly Hills die nach Krankenhaus riechenden Kleider gegen Jeans und T-Shirt eingetauscht hatte. Sie schrieb sich auf ihrem Rechner die Orte der meisten Vorfälle auf und fügte diese in eine Tabelle ein, in der sie die Zeiten der Meldungen und der festgestellten Todeszeiten festhielt. Als sie alle verfügbaren Ergebnisse zusammen hatte, rief sie ein graphisches Darstellungsprogramm auf, daß die von ihr erfaßten Orts- und Zeitangaben in ein Diagramm umrechnete, das sie sich in dreifacher Ausfertigung ausdrucken ließ. Dabei konnte sie auf einem Blick sehen, daß es eine Art Wellenbewegung gegeben hatte. Die ersten gemeldeten Vorfälle fanden in Südkalifornien statt, pflanzten sich nach Los Angeles fort und berührten Ortschaften der angrenzenden Bundesstaaten. Doch dann sprangen die Angaben über mehrere tausend Kilometer umher, mal nach norden, mal nach osten. Als sie diese Darstellung sah, fragte sie sich, ob da nicht irgendetwas von außen diese Vorfälle steuerte. Ihr fielen abstruse Ideen von Außerirdischen, Geheimversuchen bishin zu Dämonenglauben ein. Sie erinnerte sich unvermittelt an eine Mutter, die ihr stolz erzählt hatte, daß sie ihrer Tochter ein Amulett mit den Namen dreier höherer Engel um den Hals gehängt hatte, damit sie nicht von der Dämonenbuhle Lilith heimgesucht werden würde, die die Kinder ihrer Nachfolgerin Eva haßte und daher gerne tötete.

"Nachher fange ich noch an, an Vampire zu glauben", schnaubte Professor McDowell. "Das alles muß wissenschaftlich erklärt werden. Womöglich ist es doch ein Umweltfaktor, den wir bisher nicht einkalkuliert haben. Man sollte diese Eltern alle zwingen, einer Autopsie zuzustimmen."

Sie wollte sich gerade hinlegen, um einige Stunden Schlaf zu tanken, als ihr Pieper Laut gab. Man verlangte nach ihr. Sie nahm das Telefon und rief im Krankenhaus an.

"Professor, kommen Sie bitte schnell. Der kleine Manuel Vargas ist tot. Er ist gestorben, als seine Mutter ihn zum letzten Mal vor dem schlafengehen stillen wollte", sagte ihr Stellvertreter, Dr. Johnson, mit sehr aufgeregter stimme.

"Verdammt!" Entfuhr es Shana McDowell. "Ich komme sofort. Diesmal machen wir die Autopsie, allein schon, um jeden Vorwurf gegen uns abzuschmettern!" Legte sie fest.

"Mrs. Vargas ist ganz außer sich. Mein Spanisch ist nicht so gut. Aber habe immer was von wegen "Mein sohn ist umgebracht worden" und "Vampira" rausgehört."

"Nein, nicht doch, Johnson", stöhnte McDowell. "Die wird uns doch nicht erzählen wollen, ein Vampir habe dden Jungen getötet. Ich bin in einer halben Stunde da."

Als die Stationsleiterin etwas übermüdet aber von der Aufregung mit ausreichend Adrenalin angereichert ihre Arbeitsstätte betrat hatte man der Mutter des jüngsten Todesopfers ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht. Professor McDowell veranlasste die Autopsie, noch bevor der Anruf von Señor Vargas eintraf, daß er seine Frau und seinen Sohn abholen wolle. Da der Vater gerade erst einen Monat zuvor als einer der wenigen legalen Einwanderer aus Mexiko ins Land gekommen war und die englische Sprache noch nicht gut genug beherrschte, mußte sich die Kinderärztin abquälen, ihr in Stanford gelerntes Spanisch so gut es ging zu beanspruchen. Als Manuels Mutter aus dem Dämmerzustand des Beruhigungsmittels erwachte ließ sich Professor McDowell erzählen, was passiert war. Tatsächlich behauptete die unglückliche Mutter, sie habe ihren Sohn gerade die Brust geben wollen, als ein weißer Nebelstreifen aus der Lüftung gequollen sei, der sich in eine rothaarige, bleichgesichtige Frau verwandelt habe. Das Wesen hatte versucht, Juanita Vargas mit goldenen Augen zu fixieren. Doch diese habe nur geschrien. Die fremde Gestalt habe dann einfach das Kind gegriffen, ihm den Mund auf den Mund gelegt und es leidenschaftlich, ja gierig geküßt. Juanita Vargas hatte versucht, ihren Sohn aus den Händen der Gestalt zu entreißen. Doch diese hatte sie mit einer einfachen Handbewegung aufs bett gedrückt und erst nach einer Minute freigegeben. Da lag Manuel Vargas schon völlig leblos auf dem Bett. Das Wesen habe sich dann in den weißen Nebel aufgelöst und sei verschwunden wie es gekommen war. Juanita Vargas habe das wohl nur deshalb im Bewußtsein behalten, weil sie dem Blick der goldenen Augen ausgewichen war.

"Die hat ihren Sohn selbst umgebracht", vermutete Johnson. Die hat mitgekriegt, daß wir im Moment mit diesen Fällen zu tun haben und hat den Bengel abgemurkst, um ein Maul weniger stopfen zu müssen."

"Johnson, ich verbitte mir solche Bemerkungen, hier und überhaupt!" Rief Professor McDowell ihren Mitarbeiter zur Ordnung.

"Ja, aber was soll es denn sonst sein. Sie wissen wie ich, daß es keine Vampire gibt, die wie ihr großer Anführer Dracula als Nebelwolke irgendwo hineinwehen und dann lebenden Menschen das Blut aussaugen. Außerdem hat der Junge keine entsprechenden Bißverletzungen am Hals oder sonstwo."

"Ich glaube auch nicht an Gespenster und Dämonen, Dr. Johnson. Aber gleich Mord zu unterstellen, ohne die entsprechenden Beweise zu haben, ist sehr unprofessionell", sagte die Stationsleiterin kategorisch. "Wir führen die Autopsie durch, basta!"

"Natürlich, Professor McDowell", willigte Johnson unterwürfig ein.

Als die Ärzte auf dem Weg zur Pathologie waren, ertönte der Feueralarm. Irgendwo hatte ein Rauchmelder angesprochen und das Alarmsystem ausgelöst.

"Achtung, Achtung!" Erscholl eine Lautsprecherdurchsage. "Im Bereich der Kinderstation ist Feuer ausgebrochen. Alles Fachpersonal und alle Patienten, die selbständig laufen können werden gebeten, sich zu den Notausgängen zu begeben. Die für die Betreuung von Patienten ohne selbständiges Fortbewegungsvermögen mögen die patienten nach Alarmplan E-12 evakuieren."

"Ich bin für die Betreuung zuständig", sagte Johnson. Professor McDowell sagte, daß sie helfen würde.

In der Station waberte dichter Qualm, der nach verbrennendem Isoliermaterial stank. Wie in unzähligen Übungen in Fleisch und Blut übernommen ggingen die Schwestern und Ärzte so niedrig wie möglich durch die Korridore, die sich mit Kindern und Wochenbettpatientinnen füllten.

"Sie müssen die Evakuierung kommandieren", zischte Schwester Goldman Professor McDowell zu, die gerade in den Saal für Neugeborene hineinwollte.

"Sie brauchen alle Hände", sagte die Stationsleiterin. Doch dann sah sie es ein. Sie eilte so niedrig wie möglich durch die Korridore zurück und gab hustend und prustend die Kommandos entsprechend dem Alarmplan E-12. Rauchschwaden wölkten weiß und stinkend umher, reizten Lungen und Augen, drohten, alles und jeden zu ersticken. Wo genau der Brandherd lag wußte keiner. Doch alles sprach für einen Kurzschluß in einem der Klimaschächte. Die Rauchwolken wurden immer dichter. Einmal vermeinte die Stationsleiterin, wohl schon im Taumel einer Rauchvergiftung, zwei goldene Punkte im weißen Brodem zu sehen. Sie hatte Mühe, die aufkommende Panik in sich und allen anderen niederzuhalten. Sie dirigierte alle Leute aus der Station, Schwestern mit großen Betten, auf denen Kinder lagen, Mütter, die schrien und weinten und eine Unzahl quängelnder Kinder zu den Notausgängen, deren Markierungen hell und den Rauch durchdringend leuchteten. Sie hoffte, alle aus dem Gebäude hinauszubekommen. Denn mittlerweile gab es im gesamten Krankenhaus Alarm. Sie wollte gerade hinter Schwester Goldman herlaufen, die gerade mit je einem kleinen Mädchen an jeder Hand aus einem Trakt kam, als sie diese goldenen Punkte im Nebel wieder auftauchen sah, sie fixierte und dann Feuer und Panik vergaß. Eine weißgekleidete Gestalt war vor ihr erschienen und hielt sie mit ihrem Blick gebannt. Dann dachte Professor McDowell an die gesammelten Daten und ihre Vermutungen. Schließlich versank sie in einer merkwürdigen Trance, verließ die Station ganz langsam und trat an die Treppe heran, um sich dann ohne weiteres hinunterzustürzen, über das Geländer hinweg in die Tiefe, vier Stockwerke abwärts, wo sie mit lautem Knall auf dem Boden aufschlug und sich alle Knochen im Leib brach und alle Sinne für alle Zeiten verlor.

Die Evakuierung der Station und des Krankenhauses lief so schnell es die Fluchtwege zuließen. Der Rauch wurde immer dicker und es drohte eine Durchzündung, die das Krankenhaus in einen lodernden Feuerball einhüllen konnte. Mehrere Leute schafften es nicht, der Qualmhölle zu entrinnen und erstickten qualvoll auf dem Weg in die Freiheit. Patienten, die an intensivmedizinische Apparate angeschlossen waren, mußten mit Notfallakkus ausgestattet und durch die dafür vorgesehenen Notfallkorridore evakuiert werden. Das Professor McDowell in die Tiefe gestürzt war, bekam vorerst niemand mit. Jeder hatte mit sich oder ihm oder ihr anvertrauten Menschen zu tun.

Jemand, der weder Patient noch Pflegeperson war, wandelte zunächst in rauchartigem Zustand durch die verqualmten Korridore, unbeeindruckt vom Jaulen der Sirenen und der wilden Flucht der Menschen. Das Wesen waberte mit einer Rauchwolke in das Büro von McDowell hinein. Dort materialisierte es sich zu einer unbeschreiblich schönen Frau im weißen Kleid und langem rotem Haar. Mit einer kreisförmigen Handbewegung vor dem Mund schaffte es die Fremde, den Rauch in mindestens zwei Schritt Entfernung von sich fernzuhalten. Sie schaltete McDowells Computer ein, gab das aus ihren letzten Erinnerungen gestohlene Passwort ein, löschte alle Krankenakten der letzten zwölf Stunden und verschwand übergangslos, nachdem sie den Rechner heruntergefahren hatte. Im fast selben Moment tauchte sie in Professor McDowells Privatwohnung auf, schlich sich an den dortigen Computer und löschte auch hier alle gespeicherten Unterlagen zu den Kindstodfällen. Danach war sie einfach fort.

Keine fünf Minuten später brach offenes Feuer im St. Francis aus und griff rasch um sich. Die Feuerwehr kämpfte die ganze Nacht gegen die Flammen an, mußte Explosionen überstehen und vor einstürzenden Gebäudeteilen fliehen. Am nächsten Morgen war es in allen Nachrichten, daß ein Großfeuer auf Grund einer defekten Klimaanlage die beinahe vollständige Zerstörung des Krankenhauses verursacht hatte. Von den Ärzten waren sieben gestorben, als sie die Patienten hatten retten wollen. Professor McDowells Überreste konnten erst einen Tag später gefunden werden. Wieso sie vier Stockwerke unter ihrer Station zerschmettert auf dem Boden lag, konnte sich keiner der Brandsachverständigen und hinzugezogenen Polizeibeamten erklären. Daß die in langen Nachrufen als sehr engagierte Kinderärztin gelobte Spezialistin sterben mußte, weil sie einem schrecklichen Geheimnis auf der Spur gewesen war, bekam keiner mit.

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"Nun ist es amtlich, Jane", seufzte Mr. Davidson, Jane Porters Vorgesetzter, als er sich mit der liebenswürdigen Hexe am Abend des fünfzehnten Juni in seinem Büro traf. "Wir haben die Trümmer aus Las Vegas untersucht und einige verkohlte Leichenreste gefunden. Patch hat sie untersucht und versucht, die Originalform zu rekonstruieren. Weil er dabei nichts herausfand, hat er eines der relativ unversehrten Knochenfragmente in einen Vielsafttrank eingerührt und getrunken. Er hat sich in Richard Andrews verwandelt. Das ist eindeutig belegt, Jane. Somit müssen wir konstatieren, daß dieser arme Mann tatsächlich getötet wurde."

"Elysius, ich fühle mich sehr traurig deswegen", gestand Jane ein. "Ich würde das am liebsten Mrs. Andrews und Madame Brickston, ja auch dem Jungen Julius erzählen, wissen Sie ja. Aber dieser Monkhouse, den Minister Pole den Muggeln als Andrews präsentiert hat, hat ja schon mit Martha Andrews telefoniert. Soll ich ihnen da jetzt erzählen, daß das eine Täuschung war? Manchmal hasse ich meinen Beruf", schnaubte jane Porter. Wirklich hatte sie daran gedacht, den Andrews' von Hallitti und der Sklaverei zu berichten, in der Richard Andrews gefangen gewesen war. Doch nun, wo dessen Tod bestätigt war, aber nicht verkündet werden durfte, konnte sie unmöglich hingehen und das erzählen. Sie wußte, sie würde entweder auf Unglauben stoßen oder gefragt werden, ob dieser Vorfall damit zu tun hatte, daß Richard andrews nichts mit der Zaubereiausbildung seines Sohnes zu schaffen haben wollte. Sie wußte von ihrer Korrespondenzpartnerin Professeur Faucon, daß der Junge sich gerade so richtig in Beauxbatons eingelebt und die ihm auferlegten Prüfungen gut bis sehr gut bestanden hatte. Wollte sie da dazwischenfuhrwerken und ihm erzählen, sein Vater sei gestorben? Sie wußte von Julius, daß dieser nichts von seinem Vater gehört hatte, seitdem er ihn von den Brickstons aus angerufen hatte. Also hatte Martha auch nichts erzählt. Sie selbst hatte immer behauptet, Mr. Richard Andrews sei umgezogen und für sie derzeit nicht zu erreichen, da es keine Handhabe gab, ihr etwas über ihn zu erzählen. Das stimmte zum Teil und war zum anderen Teil eine Notlüge. Notlüge? Auch in der Notlüge steckte immer eine Lüge, wußte Jane Porter und ärgerte sich, daß sie nicht genug Rückgrat bewiesen und dem Jungen bereits nach Ostern alles erzählt hatte. Doch bis dahin war sie davon überzeugt, Richard Andrews ohne Aufsehen finden und befreien zu können. Julius hätte dann davon nichts wissen müssen. Doch nun? Richard Andrews war tot. Sie hatte Fotos von Patch gesehen, wie er in Richard Andrews Gestalt eine Stunde herumgelaufen war. Patch war vereidigter Zauberpathologe, der Leichen auf alle magischen Todesursachen hin überprüfte. Richard Andrews war also doch von diesen Killern getötet worden. Das paßte auch mit Meldungen aus Kalifornien und anderen Staaten zusammen, wo es zu einer Vielzahl plötzlicher Kindstode gekommen sein sollte. Ärgerlich erinnerte sie sich daran, was für dunkle Gelüste eine Tochter des Abgrundes entwickeln konnte, wollte sie nicht auf erwachsene Männer und Frauen zurückgreifen. Offenbar jagte diese Kreatur nun nach dem gerade erst begonnenen Leben von Menschen.

"Wenn diese Vorfälle weiter grassieren müssen wir eingreifen, Jane. Das habe ich Pole schon mitgeteilt, daß wir dann nicht mehr auf die Geheimhaltungsklausel eingehen können", sagte Davidson. "Das Problem ist nur, wo finden wir dieses Geschöpf, wenn es sich unter hundert Millionen Menschen seine Beute aussuchen kann, ja möglicherweise auch den ganzen Planeten heimsucht?"

"wir müssen davon ausgehen, daß die Kreatur im Westen der vereinigten Staaten zu finden ist. Doch der Westen ist weitläufig und entweder mit großen Metropolen oder unberührten Landstrichen übersäht. Sie kann sich im Stadtdschungel verkriechen oder in Wüsten oder Gebirgsregionen verborgen halten. Bisher hat sie ihren neuen Unterschlupf hervorragend getarnt."

"Auf jeden Fall wissen wir, daß sie noch nicht in den Winterschlaf zurückgefallen ist. Offenbar kämpft sie um genug Kraft, sich frei von nötigen Abhängigen zu halten wie ihre beiden anderen Schwestern es wohl tun, von denen wir nur wissen, daß sie nicht schlafen", sagte Davidson.

"Sie muß keinen Abhängigen haben, wenn sie nicht wieder einschlafen will, Elysius", sagte Jane kategorisch. "Sie kann beliebig unter ihr zugänglichen Menschen wählen und sie wie im Traum heimsuchen. Daß sie sich nun auch an Säuglingen vergreift ist wohl eher eine Handlung, um möglichst viel unberührtes Leben zu sammeln. Ich vermute, sie geht auf etwas ganz anderes aus. Aber wenn Pole uns nicht gestattet, offen Jagd auf dieses Geschöpf zu machen, sind uns die Hände gebunden", sagte Jane verärgert. Gegen Vampire konnten sie kämpfen, selbst wenn diese sich entweder sehr zurückhielten oder in Zirkeln etwas irrsinnig handelnder Muggel verkehrten, die meinten, Vampire zu sein. Aber die Tochter des dunklen Feuers schlug zu und verschwand, ohne verfolgbare Spuren zu hinterlassen.

"Pole meint, wir sollten einen Tag warten, ob dieser Massenkindsmord weitergeht. Falls ja, wird er eine Sonderverfügung zur begrenzten Hilfeleistung für alle jungen Muggelfamilien erlassen."

"Ja, und in der Zeit sterben weitere unschuldige Kinder, und deren Eltern leiden tausend Höllenqualen", schnaubte Jane Porter über die Tatenlosigkeit des Ministers. "Wenn zumindest Knoblauch was helfen würde würde ich rumfahren und jeder jungen Familie welchen umsonst geben. Aber diese Geschöpfe reagieren nicht darauf."

"Was ist mit dieser Polizeibeamtin, die Sie mal erwähnt haben? Wissen Sie schon näheres über ihren Hintergrund?"

"Nicht mehr als ich Ihnen bereits erzählt habe, Elysius", sagte Jane Porter.

"Immerhin hat es der Minister für richtig befunden, ihr Gedächtnis zu verändern", merkte Davidson an. Jane Porter sah ihn mißmutig an.

"Die Geheimnistuerei von Minister Pole könnte uns noch in arge Schwierigkeiten bringen, Elysius. Das wissen Sie genauso wie ich. Besser wäre es gewesen, diese Frau nicht um die Erinnerungen zu bringen. Sie hätte neben Spezialagent Marchand in der Muggelwelt weiterbeobachten können, was passiert ist", sagte Jane.

"Der Minister hatte seinen Grund, diese Frau gedächtnismodifizieren zu lassen", stellte Davidson unumstößlich klar. "Es ist schon schlimm genug, daß die Muggel überhaupt in diese Sache reingeraten sind. Na ja, wenn diese Kreatur keine Ruhe gibt, werden wir bald wissen, ob wir sie offen jagen sollen oder nicht."

"Man merkt, daß Sie selbst weder Kinder noch Enkel haben, Elysius. Können Sie da einfach drüber hinwegsehen, daß junge Familien ihre Kinder verlieren, weil diese Ausgeburt des Größenwahns deren Lebenskraft aufsaugt wie ein ordinärer Vampir."

"Jane, ich teile Ihren Unmut in dieser Sache. Aber ich kann da nichts gegen tun, und gerade das ärgert mich mehr als alles andere", blaffte Davidson mit errötetem Gesicht zurück. "Wir sind nur fünfzig Leute im Institut. Wieviele junge Elternpaare wollen Sie dauerhaft bewachen? Wir würden alle anderen wichtigen Aufgaben brachliegen lassen müssen, und die sind nicht minder wichtig. Oder haben Sie vergessen, wie wir vor drei Wochen diesen Muggeljungen aus der Abhängigkeit zu einer Sabberhexe befreien mußten, die ihn entführt hat? Sicher ist jedes Leben gleich wichtig. Aber wir müssen uns auf die Dinge konzentrieren, die wir verhindern können. Wir können nicht überall gleichzeitig sein. Minister Pole meint ja, wir hätten keine Etataufstockung nötig, seitdem sein Goldhüter Dime festgestellt hat, daß das Ministerium am Rande des Ruins entlangbalanciert. Unser Institut soll sich aus privaten Mitteln erhalten, so Dime. Da können wir weder neue Leute anstellen, noch magische Tinte zur Einrichtung provisorischer Bannzauber entbehren, wenn wir nicht wissen, wo die Bestie sich herumtreibt. Die Angelegenheit Andrews war doch schon schwierig genug."

"Ja, Angelegenheit", schnarrte Jane Porter, die jetzt alles andere als liebenswürdig und gutmütig dreinschaute. "Verbrecher haben ihn umgebracht, weil er deren dunkle Machenschaften durchkreuzt hat. Ich weiß zwar, daß Sie als Moralhüter die Prostitution als üble Sache ablehnen, aber diese jungen Frauen waren genauso Menschen wie alle anderen, die sogenannte anständige Berufe ausüben. Wollen Sie sich weiterhin darauf verlassen, daß böswillige Muggel unseren Job erledigen, Elysius?"

Davidson schoss von seinem bequemen Stuhl hoch. Seine Augenbrauen hatten sich so verengt, daß eine hervorstechende Wölbung über seiner Nasenwurzel entstanden war. Die Stirnadern pulsierten dick und bläulich unter der Haut. "Bestimmt nicht!" Brüllte Davidson und ballte die rechte Hand zur Faust. "Ich lasse mir derartiges nicht unterstellen, Jane!"

Jane Porter stand ebenfalls auf. Auch ihr rundliches Gesicht war tiefrot angelaufen. Beide Laveau-Mitarbeiter standen sich wie zum Kampf bereit gegenüber. Es fehlte nicht viel und einer von beiden hätte den Zauberstab hervorgeholt und einen Fluch auf den anderen losgelassen. Janes graublondes Haar stand bedrohlich zu Berge.

"Dann unternehmen Sie gefälligst was, Elysius!" Keifte Jane. "Sorgen Sie dafür, daß Minister Pole seine Vogel-Strauß-Haltung endlich aufgibt und die Liga um Hilfe bittet. Ich weiß, er meint, sich mehrere Zacken aus der Krone brechen zu können, wenn er Monsieur Chevallier, Nathanael Lauterbach oder Albus Dumbledore um Hilfe bittet. Ich hätte keine Probleme, mit Professeur Faucon und ihrer Mentorin Tourrecandide zu konferieren, wenn diese verdammte Geheimnistuerei aufhört!"

"Dumbledore? Der wird wie ein gemeiner Verbrecher gejagt. Glauben Sie im Ernst, er könne uns helfen?" Polterte Davidson.

"Ich weiß, er ist kein Verbrecher. Sie wissen das auch. Es wäre doch hirnverbrannt, Schüler für etwas auszubilden, wo es genug erwachsene Zauberer gibt, die ihm helfen können, wenn er sie darum bittet. Er hat das nicht getan, was Minister Fudge ihm vorgeworfen hat. Das Geständnis diente nur dazu, seine Schüler zu schützen, ein höchst nobler Akt für einen Schuldirektor."

Wie gesagt, Jane, wir sind darauf angewiesen, uns mit Minister Pole nicht zu überwerfen. Also mäßigen Sie sich wieder!" Versetzte Davidson. Ein leichtes Zittern durchlief seinen gestrafften Körper. Tief durchatmend ließ er sich wieder auf seinen Stuhl niedersinken. Jane stand noch eine Sekunde in ihrer kampfbereiten Haltung da, seufzte dann und setzte sich gleichfalls.

"Wenn Sie meinen, der Minister übernehme jede Verantwortung für die getöteten Säuglinge, dann kann ich Ihnen und ihm nicht weiterhelfen. Ich hoffe nur, daß wir nicht schon morgen bitter bereuen, wie tatenlos wir geblieben sind. Wenn Sie nichts weiteres von mir zu hören wünschen, werde ich jetzt nach Hause gehen", sagte Jane Porter mit unverhohlenem Zorn in der Stimme. Davidson nickte ihr zu, sie könne gehen. So ging sie und reiste zunächst mit einem der unsichtbaren Besen in die dafür vorgesehene Lagerhalle und disapparierte dann, um direkt im Weißrosenweg in New Orleans vor dem betrunkenen Drachen zu erscheinen, wo sie sich noch zwei Sherry genehmigte, um ihre innere Ruhe wiederzufinden. So heftig wie eben hatte sie sich schon lange nicht mehr entrüstet. Sie hatte eine unbändige Wut auf Pole und dessen Heimlichtuerei. Sicher hätte sie mit ihrer Bekannten Blanche Faucon oder deren ehemaliger Lehrerin Austère Tourrecandide, ja auch mit Nirvana Purplecloud die Sache bereden und eine für alle brauchbare Lösung finden können.

Den nächsten Tag mied sie Davidson, blieb mit ihrer anvertrauten Auszubildenden Beryl Corner in den Übungsräumen, wo sie mit der jungen Hexe heftige Duellübungen durchführte. Gegen vier Uhr nachmittags war Beryl derartig ausgelaugt, daß Jane sie mit einem mitfühlenden Lächeln entließ. Da sie keine festen Bürozeiten einzuhalten brauchte kehrte sie in ihr Haus zurück. Sie dachte daran, daß ihre Enkelin Gloria ihr gestern abend spät, für Gloria in aller Frühe, von Hagrids Vertreibung berichtet hatte. Jane wußte, daß Fudges Erfüllungsgehilfen Umbridge nun absolut freie Bahn hatte, Hogwarts grundweg umzukrempeln, selbst wenn Gloria ihr erzählt hatte, daß die meisten Lehrer durch eine art passiven Widerstand die Gefolgschaft versagten.

Jane tippte einen Kessel mit frischem Wasser an, um sich einen Tee zu bereiten. Da vibrierte einer der beiden Zweiwegspiegel. Es war der, über den sie Kontakt zu Gloria hielt. Vorsichtig nahm sie den Spiegel aus ihrer karierten Schürzentasche und hielt ihn vors Gesicht. Gloria sah sie aus ihren graugrünen Augen sehr aufgeregt an.

"Oma, es ist passiert. Er ist wieder aufgetaucht. Er war im Ministerium", flüsterte Gloria hektisch und berichtete, was sie davon mitbekommen hatte, weil sie Julius Andrews gerade erzählen wollte, was in Hogwarts passiert war.

"Er wollte dann Professeur Faucon informieren. Die gemalte Ausgabe von Aurora Dawn wird wohl in Australien herumgehen", sagte Gloria ruhig.

"Ist in Ordnung, Honey. Jetzt ist es also amtlich. Jetzt kann Fudge nicht mehr leugnen, daß Voldemort wieder aufgetaucht ist", sagte Mrs. Porter ruhig. In Gedanken fügte sie hinzu, daß mindestens einer von den ignoranten Ministern seine Haltung aufgeben mußte. Sie bedankte sich bei Gloria für die Nachricht und gab ihr die Hoffnung mit, sie könne noch gut schlafen. Sie hatte gerade den Spiegel mit dem Sonnensymbol fortgesteckt, als ein ziemlich heftiges Zittern aus ihrer rechten Schürzentasche zu spüren war. Das war der zweite Zweiwegspiegel, jener, der sie mit Julius Andrews in Beauxbatons verband. Doch so heftig hatte Julius sie noch nie zu rufen versucht. Außerdem hatte Gloria ihr erzählt, daß Julius sie gebeten hatte, sie zu benachrichtigen. Was wollte er also von ihr? Sie nahm den Spiegel aus der rechten Schürzentasche und hörte noch ihren Namen von einer sehr energischen Frauenstimme rufen. Sie blickte in den kleinen Spiegel. Vom silbernen Rahmen umfaßt blickte ihr das Gesicht einer ungefähr gleichalterigen Hexe mit saphirblauen Augen und schwarzem Haar entgegen.

"Na endlich!" Fauchte die Hexe im Spiegel. Jane Porter verzog kurz das Gesicht und zwang sich, nicht verdutzt oder verlegen auszusehen. Sie atmete durch und fragte ganz ruhig:

"Hallo, Bläänch! Hat dir der Junge den Spiegel gegeben, damit du mit mir sprechen kannst?"

"Er hätte ihn mir schon geben sollen, als er ihn von dir bekommen hat, Jane", schnaubte die Hexe im Spiegel. "Du weißt genau, daß solcherlei Kontakte von der Schulleitung und uns Saalvorstehern genehmigt werden müssen", sagte sie. Sie bediente sich der englischen Sprache, die sie in der geheimen Zauberfakultät von Oxford intensiv gelernt hatte. "Mir kam es zu Ohren, daß er diesen Spiegel hat und bestimmt auch noch einen, um mit deiner Enkeltochter zu reden. Ich ließ es ihm durchgehen, da ich weiß, daß er mich umgehend über wichtige Ereignisse unterrichten würde, was er ja auch gerade getan hat. Zur Sache, Jane! Dir ist bekannt, daß der Psychopath aus seiner Deckung getreten ist?"

"Ja, Glo hat mich gerade drüber informiert", sagte Jane ganz gefaßt. Ihre Kollegin Blanche Faucon war ja nicht dumm, und bestimmt hatte einer der gemalten Charaktere in Beauxbatons geplaudert. Damit hätte sie rechnen müssen. Aber es gab schlimmeres als eine verratene Kontaktmöglichkeit.

"Was wird Minister Pole unternehmen, wenn er davon erfährt?" Fragte Professeur Faucon aus dem Spiegel heraus.

"Wahrscheinlich erst einmal nichts, weil die Angelegenheit weit fort passiert ist und im Moment keine bekannten Sympathisanten dieses machthungrigen Zauberers mehr am Leben sind. Wahrscheinlich hast du ja davon gehört, daß hier in den Staaten mehrere dunkle Bruderschaften nahezu restlos ausgelöscht wurden."

"Ja, ich erfuhr es von dir und anderen", sagte Blanche Faucon sehr verbittert. Dann sprach sie noch davon, daß sie dem Jungen keine Strafen aufbürden würde. Jane Porter bat ihre Kollegin darum, das Julius einen neuen Spiegel von ihr bekommen möge. Blanche Faucon rümpfte die Nase und meinte dann:

"Jane, ich weiß, dir liegt viel an dem Jungen. Mir auch, weil Catherine ihn mir überantwortet hat und ich finde, daß er meine geistig-moralische Zuwendung sehr vernünftig und dankbar entgegnet. Du kannst also ein neues Spiegelpaar anfertigen und dem Jungen an seinem Geburtstag einen Spiegel zukommen lassen. Aber vermeide es tunlichst, erneut an mir vorbeizukonspirieren! Ich könnte sehr ungehalten reagieren."

"Nehme ich gerne zur Kenntnis, Bläänch", sagte Jane Porter ruhig. Die Hexe im Spiegel rümpfte wieder die Nase. Jane wußte, daß sie die Art, wie sie Professeur Faucons Vornamen aussprach nicht mochte, es aber bei ihr gerade so noch duldete, weil es in den Staaten eben die übliche Sprechweise war. Doch Jane wußte auch, daß sie sehr haarscharf am Rande der Toleranz entlangwandelte. Das wurde ihr deutlich als ihre Gesprächspartnerin sagte:

"Ich gehe davon aus, daß du mich über alles, was bei euch passiert, und sei es noch so unbedeutend, umgehend informierst, Jane. Ich hörte da von einer Sache, daß mehrere Säuglinge eines abrupten Todes starben. Meine hochrespektable Mentorin teilte es mir gestern mit."

"Unser Institut forscht bereits nach, ob es schwarzmagische Ursachen hat. Die Muggel verpesten ihre Umwelt und sich selbst derartig, daß wir leider nicht ausschließen können, daß es ein Giftstoff ist, der über die Muttermilch an die betroffenen Kinder weitergegeben wird. Ich informiere dich natürlich, jetzt wo du den Spiegel hast, sofort, wenn ich etwas näheres weiß", sagte Jane Porter und ärgerte sich, ihre Fachkollegin derartig dreist hinters Licht zu führen. Denn natürlich wußte sie, was passierte und warum und noch viel mehr, was Professeur Faucon sicherlich interessierte.

"Ich verlasse mich darauf, Jane. Ich will dich nicht länger aufhalten. Ich wollte dir lediglich verdeutlichen, daß deine Art, mir anvertraute Schüler deartig zur Heimlichtuerei anzustiften, nicht behagt und ich nur beide Augen zudrücke, weil es du bist, die das getan hat, ich weiß, warum du es getan hast und auch weiß, daß er loyal zu Beauxbatons und zu mir steht und wie gerade geschehen umgehend unterrichtet. Einen angenehmen Abend noch, Jane."

Als Blanche Faucons Gesicht aus dem Spiegelglas verschwunden war legte Jane das magische Artefakt zurück in ihre Schürzentasche. Eine Minute später vibrierte der mit Gloria verbundene Spiegel wieder. Sie nahm ihn und grinste, als Gloria ihr erzählte, Julius habe ihr gerade gesteckt, seiner Hauslehrerin den Spiegel gegeben zu haben.

"Die gute Bläänch hat bereits mit mir geschimpft, Glo", lachte Jane Porter. "Außerdem freut sie sich, nun billig eine Methode zu haben, mit der sie direkt zu mir sprechen kann. Sie war wohl ein wenig enttäuscht, daß ich Julius und nicht ihr den einen Spiegel geschenkt habe. Gut, jetzt hat sie ihn. Geh am besten jetzt schlafen, Honey!"

"Mach ich, Oma", sagte Gloria und verschwand aus dem Spiegel.

Jane Porter vertat keine weitere Zeit und informierte Davidson und Minister Pole über das Auftauchen Voldemorts und was sie darüber gehört hatte. Ihr Gespräch mit Professeur Faucon und die Tatsache, daß diese nun einen Zweiwegspiegel von ihr hatte verschwieg sie dabei.

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Das Weinen und Schreien Dutzender von Babys klang Hallitti im Geiste. Die von ihr geraubten Seelen wehrten sich noch gegen die vollständige Auflösung. Aber die Tochter des Abgrunds lächelte nur. Sie hatte sich die unberührten Seelen dieser Kinder genommen und würde sie in nicht einer Stunde vollständig verdaut haben, falls sie die damit aufgesogene Lebenskraft nicht auf jemanden anderen übertrug oder sie gleich in ihren Lebenskrug umfüllte. Genau das mußte sie nun tun. Hochkonzentriert hockte sie sich nackt und breitbeinig über dem golden erstrahlenden Riesenkrug und atmete heftig durch. Sie fühlte, wie es warm und prickelnd aus ihrem Leib herausströmte, als orangerote Substanz, nicht flüssig nicht gasförmig, in den halbvollen Krug floß, wo sich der bereits vorhandene Vorrat dieser Substanz in wellenförmigen Bewegungen auf- und niedersenkte. Die qualvollen Schreie erstarben nach und nach. Nur noch wenige unberührte Seelen klagten ihr Leid. Dies brauchte Hallitti. Sie schwang sich von ihrem Lebenskrug herab, ging zu ihrem Strohlager, wo ihr Höriger in tiefem Schlaf lag. Seine Haut war bereits von ersten Altersfalten durchzogen, und sein ohnehin schütteres Kopfhaar war noch lichter geworden. Wollte sie ihn halten, um sich in Ruhe und ohne weitere Vergeudung gesammelter Lebensenergie wach halten, mußte sie diesen Mann nun im Bad der frischen Leben halten, damit er einstweilen ruhig weiterschlafen konnte und dann, wenn er aufwachen sollte, nicht sofort um weitere Jahre zu altern. Sie nahm ihn, trug ihn federleicht zu ihrem Lebenskrug und weckte ihn durch ein Zauberwort auf. Er öffnete die Augen und sah sie an.

"Loretta, was hast du mit mir vor?" Fragte er ängstlich.

"Ich will haben, daß du weiterlebst, Richard. Ich werde dich jetzt in einem Bad aus reiner Lebenskraft von den letzten Spuren dieser vielen Tode freispülen", flüsterte Hallitti zärtlich. Dann hob sie den Mann über den Rand des Kruges und senkte ihn soweit in die orangerote Substanz ein, bis er gerade noch mit dem Kopf herauslugte. Sie hielt seine Arme nach oben gestreckt und gab unter heftigen Stöhnlauten und dem wie unter Anstrengung ausgestoßenen Zauberformeln noch mehr von der orangeroten Substanz aus ihrem Körper ab, hüllte seinen Kopf damit ein. Er schien in diesem orangeroten Etwas zu schwitzen. Dann sagte sie ihm:

"Trinke es in dich hinein, Richard! Es wird dir sehr gut bekommen."

Gierig wie ein hungriger Säugling sog Richard Andrews die orangerote Essenz in sich hinein, fühlte, wie sie ihn von innen und außen wärmte, von außen wie warmer Sommerwind streichelnd, von innen wie ein großer Schluck Glühwein berauschend. Eine Viertelstunde lang hielt Hallitti ihren Hörigen in diesem Bad aus gestohlener Lebensenergie. Sie durfte ihn nicht loslassen, weil sie sonst seine eigene Lebenskraft mit einem sie in heftige Wallung versetzenden Rausch übertragen bekäme. Als sie sich aller unberührten Seelenenergie entledigt hatte, zog sie Richard aus dem unheimlichen Bad und legte ihn wieder auf das Strohlager. Er konnte nun schlafen, ohne täglich von ihr neue Lebenskraft empfangen zu müssen. Sie selbst konnte nun wieder neue Energien sammeln, bis sie wußte, ob sie ihn noch länger behalten wollte oder ihn doch noch restlos einverleiben würde. Sie stieg in den Krug und überließ sich der darin enthaltenen Essenz, sie trinkend und atmend wie ein Ungeborenes im Fruchtwasser des Mutterleibs. Sie schöpfte neue Kräfte, bereit, weiterzuleben. Sie verfiel in einen leichten Dämmerzustand, aus dem sie jedoch jederzeit erwachen konnte, wenn sie es wollte.

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"Herr, ist euch nicht wohl?" Fragte Bellatrix Lestrange besorgt, als ihr Herr und Meister Voldemort in einer merkwürdig geistesabwesenden Haltung erstarrte. Voldemort zuckte zusammen und öffnete seine scharlachroten Augen. Etwas verärgert blickte er seine Dienerin an und schnarrte mit einer Stimme kalt und scharf wie eine Kreissäge:

"Bella, ich muß mich konzentrieren. Will ich diesen Bengel davon überzeugen, daß ich seinen achso geliebten Paten in meiner Gewalt habe, muß ich selbst es so empfinden, als hätte ich ihn. Geh jetzt mit den anderen, und beziehe deinen Posten!"

Bellatrix Lestrange sah ihren Gebieter mit ihren dunkel umränderten Augen sehr abbittend an, strich sich verlegen durch das füllige, dunkle Haar und verbeugte sich unterwürfigst. "Ja, Herr. Ich gehe schon. Ihr kommt, wenn er uns erreicht hat?"

"Wenn ihr ihm die Prophezeiung abnehmt werde ich da sein", zischte Voldemort mit unbändiger Gehässigkeit in der Stimme. Bellatrix verbeugte sich erneut und verließ das Riddle-Haus.

Zusammen mit ihren Kumpanen verstreute sie einen großen Topf Schlängelbuschsamen im Zaubereiministerium und lauerte nun in der Mysteriumsabteilung, gut versteckt hinter einem der hohen Regale mit rauchgefüllten Glaskugeln, die eingelagerte Prophetien enthielten, an die nur gelangte, für den sie galten. Dies war eben das Problem, daß ihr Herr und Meister heute noch lösen wollte. Sie amüsierte sich bei dem Gedanken, daß dieser achso gutmütige Bengel Harry Potter nun eine Vision nach der Anderen haben würde, Sirius Black, ihr nichtsnutziger, undankbarer Cousin, sei von ihm, Lord Voldemort gefangengenommen worden und würde hier in der Mysteriumsabteilung gefoltert. Sie zweifelte keine Sekunde, daß der Plan des dunklen Lords aufgehen würde.

Stunden vergingen, bis sie Stimmen von Halbwüchsigen hörte. Lucius Malfoy, der in seiner Todesser-Vermummung neben ihr hockte, zischte ihr zu:

"Er ist nicht allein. Diese Schlammblüterin Granger ist dabei und dieser Weasley-Bastard. Die anderen kenne ich nicht."

"Dann warten wir, bis er die Prophezeiung genommen hat", flüsterte Bellatrix Lestrange. In ihrem Körper wallte eine von ihr nur im Liebesspiel mit ihrem Mann gefühlte Wonne auf, endlich dem dunklen Lord die längst fällige Beute zuzuführen, sich ihm als seiner würdig zu beweisen. Einen Moment, als die Glückseligkeit sie fast übermannte, durchstieß ein Gedanke wie ein vergifteter Pfeil ihren Verstand: Diese gemeine Hexe, die wiedergekehrte Anthelia, die sie vor Monaten so grausam gefoltert hatte, sie konnte ihrem Meister noch gefährlich werden. Dann hörte sie die Stimmen der Jungen und Mädchen, davon eine eines ziemlich verschüchterten Burschen. Als sie dessen Namen hörte, Neville, überflog ihr Gesicht ein Ausdruck tiefster Verachtung. Das war der Bengel von Frank und Alice, die sie zusammen mit Rodolphus und Rabastan und dem jungen Barty Crouch in den Wahnsinn gefoltert hatte. Da bohrte sich wieder ein düsterer Gedanke in ihr Hirn. Bartemius Crouches Körper war nun der von Anthelia, und sie durfte es keinem verraten, wenn sie nicht augenblicklich mehrere Jahrhunderte altern und sterben wollte.

Sie warteten, bis Harry Potter die begehrte Glaskugel aus dem Regal geholt hatte. Dann trat Lucius Malfoy vor und verlangte von Harry, ihm die Prophezeiung zu geben. Bellatrix fühlte den Triumph. Dieser dürre Bengel hatte ihnen die Prophezeiung verschafft. Sie verhöhnte ihn, verspottete ihn, während Malfoy versuchte, ihm die Prophezeiung abzunehmen. Doch dann entspann sich eine wüstere Zauberschlacht. Harrys Schulkameraden hielten sich die Todesser mit einer unerträglich heftigen Geübtheit vom Leib. Prophezeiungen zersprangen in Glas und verwehendem Rauch. Dann tauchten auch noch Anhänger Dumbledores auf, darunter Bellatrix Cousin Sirius. Mit diesem lieferte sie sich schließlich ein wildes Duell, bis er durch den dunklen Schleier unter einem Torbogen stürzte und verschwand. Sie fühlte, wie etwas wie ein hilfloses Wischen über ihren Rücken strich und erkannte, daß Potter versucht hatte, ihr den Cruciatus-Fluch überzubraten. Sie lachte ihn aus und schulmeisterte ihn, er müsse die Wirkung schon wollen, um einen solchen Fluch zu wirken. Ihre Versuche, ihm die Prophezeiung aus den Händen zu zaubern scheiterten. ja, sie entfiel ihm. Sie merkte es nicht und versuchte, sie durch den Aufrufezauber zu ergattern. Dann war der Meister aufgetaucht, hatte Harry zu töten versucht. Dumbledore war dann auch noch erschienen. Ihre Kameraden blieben zurück, als ihr Herr und Meister mit ihr floh. Sie wußte, sie hatten die Prophezeiung endgültig verloren.

"Herr, wir haben es doch versucht, sie zu bekommen", wimmerte Bellatrix. Hatte sie Harry vorhin mit einer spöttisch auf Baby verstellten Stimme verhöhnt, wirkte sie nun, wo sie mit Voldemort in dessen Zuflucht war selbst wie ein Kleinkind, daß eine unbändige Angst vor Prügeln hat.

"Bella, ihr wart zu langsam, zu selbstsicher", schnaubte Voldemort und hob seinen Zauberstab. "Ihr nichtsnutzigen Stümper habt alles verdorben. Dieser Fudge hat mich gesehen. Dumbledores Bann der Angriffslust hätte mich fast niedergeworfen. Dieser verfluchte Phönix hat meinen Todesfluch geschluckt. Er kann daran nicht sterben und wird wiederkommen. Und dieser Potter hat mich, Lord Voldemort, aus seiner Seele vertrieben. Diese Macht, diese verdammte Macht hat mich verstoßen, und ich konnte ihn nicht halten. Das alles nur, weil ihr zu selbstsicher wart. Ihr wurdet nicht einmal mit schwachen Kindern fertig!" Schrie der schwarze Hexer wie ein wütender Raubvogel. "Ihr habt mir die Chance genommen, endgültig mein Schicksal zu besiegen, meine Bestimmung zu erfahren und sie mir Untertan zu machen. Crucio!"

Was Bellatrix Lestrange befürchtet hatte trat nun ein. Minutenlange Höllenqualen unter dem Folterfluch ließen sie schreien und sich winden, bis sie meinte, ihre Stimmbänder zerschrien zu haben. Schluchzend fiel sie vor Voldemort auf den kalten Boden. Er lachte. Er lachte erleichtert und überlegen. Dann meinte er:

"'tschuldigung, Bella, meine Schöne. Ich wußte nicht wohin mit meiner gerechten Wut. Natürlich solltest nicht du darunter leiden, was die anderen vermurkst haben. Sicher, du hast es nicht geschafft, mir die Prophezeiung zu holen. Doch du wirst eine weitere Gelegenheit bekommen, mir deinen unerschütterlichen Gehorsam zu beweisen. Zunächst gilt, daß ich die Dementoren aus Askaban rufe, um mir nun, wo jeder es glauben muß, daß ich wieder da bin, als getreue Armee des Schreckens zur Seite zu stehen."

"Herr, bitte seid mir wieder gnädig", flehte Bellatrix. Sie erinnerte sich noch zu gut, wie Anthelia sie gefoltert hatte. Sie hörte noch, wie sie ihr die Sätze vorbetete, mit denen sie einst die Folterung von Alice Longbottom angeheizt hatte. Sie wußte auch, daß Antehlia sie nur deshalb am Leben gelassen hatte, weil sie darauf ausging, sie in ihre Reihen hinüberzuholen. Doch sie wollte es nicht. Sie war Lord Voldemorts getreue Todesserin, eine von wenigen Hexen in den Reihen dieser schlagkräftigen Truppe dunkler Magier. Diese Vorrangstellung wollte sie nicht vergeben, auch wenn die Angst vor Anthelias Macht sie immer und immer wieder heimsuchte.

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Anthelia, die sich nach dem Besuch bei Don Ricardo Petrocelli das Haar wieder strohblond gefärbt hatte, erfuhr von Ardentia Truelane, daß es sehr viele Fälle plötzlich verstorbener Kinder in den westlichen Staaten Nordamerikas gegeben hatte. Ihr war sofort klar, wer dahintersteckte und warum es passierte.

"Er lebt noch", sagte sie zu Ardentia. "Der Abhängige Hallittis lebt noch. Doch sie mußte ihm und sich gerade erwachte Lebenskraft verschaffen, um ihm nicht andauernd ihre gesammelte Lebensessenz zu verabreichen", sagte die Führerin des Spinnenordens. "Er wird also von ihr versteckt gehalten. Die Verbrecher, die ihn töten wollten, haben wohl mehr todbringende Gewalt ausgeübt als sie verdrängen konnte. Mich deucht, daß die Kreatur demnächst selbst auf neue Beute ausgehen wird. Halte also bitte Augen und Ohren offen, Schwester Ardentia!"

"Natürlich, höchste Schwester. Ich werde dir sofort, wenn ich eine Gelegenheit dazu finde, alles mitteilen, was im Laveau-Institut darüber bekannt wird", sagte Ardentia.

"Sehr schön, Schwester Ardentia", sagte Anthelia zufrieden und entließ die Mitschwester.

"Höchste Schwester, Fontenera ist gerade aus seinem Haus getreten und besteigt das Auto", traf eine Gedankenbotschaft bei ihr ein. Eine ihrer Bundesschwestern hatte Posten außerhalb des Fontenera-Hauses bezogen und beobachtete den Clanchef, der auch ein gefährlicher Zauberkünstler war. Anthelia nickte und disapparierte aus der Daggers-Villa, um neben der Getreuen zu erscheinen. Sofort ließ sie ihren telepathischen Spürsinn über den silbergrauen Ford gleiten, bis sie Fonteneras Fahrer erfaßte, der daran dachte, zu einem Postamt zu fahren, um ein Paket für Petrocelli abzugeben. Fontenera zu belauschen barg die Gefahr in sich, daß er das merkte. Deshalb beließ es Anthelia dabei, die Adresse des Postamtes zu erlauschen und disapparierte dann wieder.

Fontenera hatte die Vase für Petrocelli mit einem heimtückischen Fluch belegt, der den verhaßten Muggelkonkurrenten ein für allemal ausradieren würde und dies im wörtlichen Sinne. Um nicht selbst zu einem Opfer dieses Fluches zu werden oder Unbeteiligte Überbringer des Paketes zu gefährden hatte er die Vase mit präparierten Handschuhen angefasst und in mit Zauberkraftverhüllendes Seidenpapier eingewickelt, um die Vase dann zwischen Styroporchips und Stoffresten bruchsicher einzupacken. Nun konnte jeder das Paket anfassen und befördern, bis es an seinem Bestimmungsort ankam. Er selbst wollte zu einem geheimen Treffen mit Ian Crusher, um mit ihm über die Erkenntnisse zu jenem mysteriösen Stein zu sprechen, der die magischen Kräfte seines Besitzers um das zehnfache anhob. An und für sich, dachte Massimo Fontenera, könnte er diesen uralten Zauberstein selbst gut gebrauchen. Doch er hatte auch gelesen, daß diesem Stein eine mächtige Wächterseele innewohnte, die jeden, der ihn bergen wollte, unter ihren Willen zwingen oder einen von ihr als unwürdig befundenen töten konnte. Fontenera kannte sich mit beseelten Objekten gut genug aus, um zu wissen, daß man mit derlei Artefakten nicht leichtfertig umspringen konnte. Er hatte zu viel vor, um sich vor Gier nach einem angeblich so mächtigen Ding um alles bringen zu lassen, womöglich noch um sein Leben. Wenn der dunkle Lord es wagte, diesen Stein zu bergen, sollte der sich damit herumschlagen, denn für Fontenera konnte dieser Zauberer nicht mehr gefährlicher werden als ohnehin schon.

Er sah zu, wie sein Fahrer das Paket für Petrocelli beim Postamt abgab. Es würde am nächsten Tag per Eilexpress von einem Gefolgsmann Petrocellis abgeschickt bei diesem eintreffen. Die Sammelleidenschaft Petrocellis würde dem bald zum Verhängnis werden.

"Wo soll ich jetzt hinfahren, Capo?" Fragte Luca, der Fahrer Fonteneras.

"Bring mich zum Lagerhaus! Du weißt schon", sagte Fontenera.

"Si, Capo!" Sagte Luca und startete den Motor.

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Anthelia war in ihrer Tiergestalt, einer großen Krähe, schon zehn Minuten vor dem Eintreffen des Fords beim Postamt angekommen und saß nun unauffällig in einer weit ausladenden Baumkrone. Sie beobachtete, wie der Fahrer das Paket zustellte und zum Wagen zurückkehrte. Sie erfuhr auf telepathischem Wege, daß er zu einem Lagerhaus fahren sollte und beschloß, eine Mithörmuschel dort unterzubringen, nachdem sie deligiert hatte, wer sich um das Paket kümmern sollte. Zusammen mit Pandora Straton spähte sie das Lagerhaus aus, fand keinen Funken Magie an und in ihm und legte die schwarze Mithörmuschel unter einen losen Stein, wobei sie Dutzende Kellerasseln aufscheuchte.

"Er kommt schon", zischte Anthelia. "Weg hier!" Sie disapparierte. Pandora Straton folgte ihr eine Sekunde später.

Anthelia erfuhr, daß das Paket an Ricardo Petrocelli gehen sollte und entschied, den Adressaten zu überwachen. Pandora Straton übernahm diese Aufgabe.

"Ich bin mir sicher, daß der Schurke seinen Widersacher mit etwas heimtückischem für den Angriff auf seinen Wohnsitz bedenken will", sagte Anthelia zu Romina Hamton, Patricia Straton und der aus Italien hinzugezogenen Bundesschwester Luisella Cardinale.

"Haben wir außer der Mithörmuschel noch etwas dort, um auch zu sehen, was vorgeht?" Fragte Patricia Straton.

"Nein, haben wir nicht", sagte Anthelia. "Es besteht die Möglichkeit, daß Fontenera sich dort mit einem andren Zauberer trifft. Ich wollte vermeiden, daß zu viel Magie im Spiel ist."

Die weiße Mithörmuschel, das genaue Gegenstück zu der schwarzen im Lagerhaus, lag in einem bauchigen Kessel. So klang nun alles was an und im Lagerhaus passierte metallisch zu ihnen.

"Sieh an, der nette Ian Crusher wagt sich aus seiner Höhle", grinste Patricia Straton, als sie die Stimme eines Mannes hörte. Zusammen erlauschten sie, daß die beiden Magier sich über einen mächtigen Stein, den Stein der großen Erdmutter, unterhielten. Angeblich solle dieser Stein irgendwo vor der Südostküste Floridas im Meer verborgen liegen. Anthelia fielen Überlieferungen ein, die schon zu Zeiten Sardonias bekannt gewesen waren. Als die beiden Zauberer sich zu einem Treffen in drei Tagen von nun an, also am 18. Juni, in der Sumpfhütte von Pompeius Roots verabredet hatten, hörte Anthelia Sirenengeheul und quietschende Reifen.

"Was geht da vor?" Fragte sie entrüstet.

"Das ist die Muggelpolizei. Offenbar hat man diesen Fontenera seit dem gescheiterten Zugriff beobachtet", sagte Patricia Straton sicher.

"Die werden ihn nicht fangen", wußte Anthelia. Da stürmten bereits mehrere Männer in das Lagerhaus.

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Spezialagent Blackpool wollte es nicht glauben, als seine Männer sich nicht mehr gemeldet hatten. Er schickte Spähtrupps los, die sondieren sollten, was bei Fonteneras Anwesen passiert war. Als diese zurückkamen und berichteten, daß die FBI-Leute wohl alle verschwunden waren, ließ er das Haus weiterbeobachten, diesmal aus sicherer Entfernung. Als die Zielperson dann mit ihrem Allerweltsauto losfuhr, wurde beschlossen, ihn fernab seiner sicheren Zuflucht zu fassen. Blackpool dirigierte seine Leute, den Ford Fonteneras zu verfolgen. So bekam er mit, daß es erst zu einem Postamt ging und dann zu einem halb verfallenen Lagerhaus. Dort forderten die Bundespolizisten Verstärkung durch Sonderkommandos an. Sie wollten diesmal nicht zu lange warten.

Als zwanzig Wagen von allen Seiten anrückten und eine Hundertschaft in das Gebäude eindrang, hatte Fontenera gerade mit seinem Bekannten Crusher über das ungefähre Versteck des Steins der großen Erdmutter gesprochen.

"Verdammt, das kann doch nicht wahr sein!" brüllte Crusher und disapparierte. Fontenera überlegte nicht lange und verschwand ebenfalls. Die Polizisten und FBI-Agenten liefen ins Leere.

"Das gibt es nicht. Der ist doch vorhin hier reingelaufen!" Rief einer der Bundesagenten.

"Wir haben aus allen Richtungen zugeschlagen. Er konnte unmöglich durch einen Seitengang raus", warf ein anderer FBI-Mann ein.

"Dann bleibt nur ein unterirdischer Fluchtweg. Wir hätten uns doch vorher die Pläne für dieses Lagerhaus geben lassen sollen."

"Haben wir doch. Hier gibt es einen Keller, aber ohne Ausgang nach draußen", sagte ein dritter Ordnungshüter und deutete auf eine verrostete Tür, klein und schmal.

"Dann ist der da drin. Okay, wie er will der große Capo. Hier kommt er nicht mehr raus."

Ein Sprengmeister kam herbei, um die Tür auf angebrachte Minen oder Bewegungszünder zu untersuchen. Vorsichtig wurde sie geöffnet. Die Polizisten rechneten damit, von einer Salve aus mindestens einem Maschinengewehr empfangen zu werden. Doch als sie sich endlich in den dunklen Keller trauten, fanden sie außer von Ratten zerfressenen, mit grünem Schimmel überwucherten Säcken und morschen Kisten nichts vor, was ihren Einsatz mit Erfolg gekrönt hätte.

"Das kann doch nicht sein", schimpfte Blackpool, der als Einsatzleiter wieder weit genug von der Gefahr saß. "Der war da drin und konnte in keine Richtung entwischen. Das Lagerhaus wird Stein für Stein durchsucht."

Eine fünf Stunden andauernde Tast- und Klopfaktion durch das Lagerhaus brachte lediglich einen losen Stein zu Tage, unter dem ein merkwürdiger Holzgegenstand gefunden wurde, der wie eine schwarze Muschel aussah. Blackpool veranlaßte, daß dieses Ding kriminaltechnisch untersucht werden sollte. Dann rief er seinen direkten Vorgesetzten an und gestand ihm die zweite Pleite innerhalb von zwei Tagen ein.

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Sie waren sehr erleichtert, endlich von ihm direkt zu hören. Seit Monaten wußten sie, daß er irgendwo verborgen war, sich gut versteckte, um seine Pläne durchzuführen. Dann, einen Tag nach seinem Auftauchen im Magieministerium, schickte er ihnen seine Botschaft: "Macht euch frei und trefft mich am schwarzen Moor!"

Lange Jahre hatten sie gern und ausgiebig die schönen und glücklichen Erinnerungen von hunderten gefangener Hexen und Zauberer aufgesogen, hatten dem Zaubereiministerium die braven Gefolgsleute vorgespielt, ja waren auch sehr folgsam, wo sie doch immer frische Nahrung bekamen. Doch nun, wo der Meister wieder aufgetaucht war, gab es keinen Grund mehr, in Askaban zu bleiben. Wie unheimliche Schatten in finsterer Nacht trafen sich hundert Dementoren in einem Hinterhof der Festung und tuschelten in ihrer halbstimmlichen, halbgedanklichen Sprache miteinander. Durch die Gitterstäbe seiner Zellentür konnte ein zerknirschter und deprimierter Lucius Malfoy beobachten, wie die unheimlichen, Kälte und Dunkelheit verströmenden Kreaturen, sich beratschlagten. Dann erscholl ein unheimlicher Chor, der Körper und Seele jedes Gefangenen durchbrauste:

"Großer Meister, wir kommen zu dir!" Keine Minute darauf huschten die mehrere Meter großen, nach fauligem Fleisch stinkenden Geschöpfe in dunklen Kapuzenumhängen ohne jedes Schrittgeräusch durch die Korridore und Verliese. Ein Ministeriumszauberer, der gerade die Unterbringung der neuen Gefangenen ausgekundschaftet hatte, schrak schreiend zusammen, als die Wächter der Festung an ihm vorbeistürmten, ihn völlig ignorierten und sich entfernten. Der Ministeriumszauberer rannte los, raus aus der Festung, bevor man vor ihm noch die Tür zuschlagen konnte. Malfoy, von dem gerade die dumpfe, düstere Verzweiflung wich, in die die Dementoren ihn gestürzt hatten, mußte unversehens lachen, schrill und irrsinnig. Die Dementoren waren davongelaufen, ließen Askaban im Stich, um dem dunklen Lord zu helfen. Diese Dummköpfe vom Ministerium hatten echt geglaubt, Dementoren als ihre treuen Diener halten zu können. Malfoy lachte, lachte und lachte. Zwar hatte er keinen Zauberstab mehr. Doch er würde schon einen Weg finden, der felsigen Festung zu entfliehen, jetzt, wo bis auf fünf Dementoren niemand mehr da war, ihn zu bewachen.

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Aurora Dawn saß in ihrer Küche und frühstückte. Es war sieben Uhr morgens, und im Stern des Südens, der australischen Zaubererzeitung, hatte etwas von einer Versteigerung gestanden, bei der die im alten Haus der Schadelakes gefundenen Wertsachen ohne Bezauberung verkauft werden sollten. Das Ministerium hatte, weil es keine lebenden Verwandten des auf merkwürdige Weise um ihr Leben gebrachten Geschwisterpaares auffinden konnte, alles zum Eigentum der Zaubererwelt erklärt. Sicher hatte es viele Protestbriefe gegeben, daß Ministerin Rockridge und ihr Schatzmeister Glitters die altehrwürdigen Familienbesitztümer Shadelakes vereinnahmt hatte. Einige hatten gedroht, daß würde sich rächen, weil das Erbe Shadelakes nicht in unwürdige Hände fallen dürfe. Andere hatten protestiert, daß die Anhäufung der beschlagnahmten Güter viele unschuldige Leben gekostet habe und das Ministerium sich mitschuldig machte, wenn es diese Sachen veräußerte. Wieder andere wollten die silbernen Kelche, orientalischen Teppiche und Einhornfelle in einem Museum besichtigen, zusammen mit anderen Zeugnissen der australischen Zaubererweltgeschichte von den Artefakten der Aborigines bis zu den Erzeugnissen moderner Zauberkunst. Doch Glitters hatte sich durchgesetzt, die Sachen zu versteigern. Der Erlös sollte Abzüglich der Kosten für Lagerung und Durchführung der Sana-Novodies-Klinik für alle Arten magischer Heilkunst zukommen, offenbar eine Beruhigung des schlechten Gewissens, mit Schätzen zu handeln, an denen das Blut unschuldiger Zauberer und Hexen klebte.

"Die haben echt Sorgen", dachte Aurora Dawn. Die gerade dreißig Jahre alte Heilerin und Zauberpflanzenexpertin konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie sie zusammen mit Berufskollegen zum Landhaus der Shadelake-Geschwister gekommen war und dort nur einen pulsierenden, gallertartigen Klumpen gefunden hatte, zu dem die beiden Geschwister untrennbar verschmolzen worden waren. Bis heute wußte sie nicht, wer das getan hatte und warum es passiert war. Sicher, die Shadelakes hatten sich so viele Feinde angelacht, daß an jeder Ecke und hinter jedem Baum einer gewartet haben mußte. Aurora fragte sich, ob ihre ehrbare Ausbilderin und Mentorin in der magischen Heilkunst, Direktorin Bethesda Herbregis, den Erlös aus dieser Versteigerung annehmen würde. Doch sie hatte bisher nicht dagegen protestiert.

"Hallo, wer zu Hause?!" Rief eine Stimme, die haargenau wie ihre klang. Aurora rief zurück:

"Bin da! Ich komme sofort!"

Ihr gemaltes Selbst stand aufgeregt in seinem Gemälde und sah ihr Original mit einer Mischung aus Angst und Entschlossenheit an.

"Der Unnennbare ist im Ministerium aufgetaucht und hat sich dort mit einigen Hogwarts-Schülern, die von Harry Potter angeführt wurden, eine wilde Schlacht geliefert. Offenbar wollte Du-weißt-schon-wer in der Mysteriumsabteilung etwas stehlen, aber ich erfuhr nichts genaueres. Ich komme gerade von Julius. Der sprach gerade mit Gloria Porter."

"Was weißt du sicher?" Fragte die natürliche Aurora Dawn.

"Ich erfuhr nur was davon, daß Todesser, Askaban-Ausbrecher wie Rookwood, Mulciber und Lestrange, zusammen mit Leuten wie Lucius Malfoy im Ministerium waren, um dort was zu steheln. Harry Potter muß sie dort aufgestöbert haben, woher er auch immer wußte, was dort geschah."

"Der Unnennbare wird ihn hingelockt haben. Wahrscheinlich suchte er was in der Mysteriumsabteilung, wo nur jemand unschuldiges drankam, und daß Harry Potter wohl doch durch den gescheiterten Fluch mit ihm verbunden ist, hatte ich dir ja nach meinem Gespräch mit Madame Herbregis erzählt."

"Dann ist Harry in eine Falle gelaufen?" Fragte die gemalte Aurora Dawn etwas verunsichert und nickte sich selbst zur Antwort zu.

"Dann ist es also passiert, was Dumbledore und andere immer befürchtet haben. Wie hat eure nette Schulleiterin das aufgenommen?"

"Sie ist seit dem Nachmittag unserer Zeit verschwunden, zusammen mit Harry, Hermine, Ron, Neville und Ginny aus Gryffindor und unserer leicht weltentrückten Luna Lovegood."

"Hmm, dann ging das da schon los", sagte die natürliche Aurora. "Ist Dumbledore schon wieder in Hogwarts?"

"Bis jetzt habe ich ihn nicht gesehen. Er wird wohl bald wiederkommen."

"A ja", sagte Aurora Dawn. "Danke für die schnelle Warnung! Ich werde das sofort weiterleiten."

"Ist gut, ich gehe dann noch zu Mum", sagte die gemalte Aurora Dawn und verschwand.

"Dann hat er sich also aus seinem Versteck gewagt. Das heißt, das Morden und Zerstören geht wieder los", seufzte Aurora Dawn. Eine eiskalte Flut schrecklicher Erinnerungen stürmte auf sie ein, die Überfälle auf die Winkelgasse in London, die sie miterleben mußte, der Versuch der Todesser, Gleis 9 3/4 zu überrennen, wie sie die Ermordung ihres Onkels Dustin hatte ansehen müssen und wie sie kurz vor Beginn des fünften Schuljahres geglaubt hatte, ihr Schulkamerad Roy Fielding sei von den Todessern umgebracht worden. Sie sah den finsteren Turm in Hogsmeade hochwachsen, die schreckliche Gestalt des Unnennbaren in magischer Fernbildvergrößerung. Sie hörte und fühlte die tiefen, unheilvollen Töne, die von diesem Turm ausgegangen waren und spürte die unheimliche Kraft der Dementoren, die auf seinen Ruf hin aufmarschiert waren. Sie dachte an alle, die mit ihr die Schule angefangen hatten und sie nicht wie sie beenden konnten, weil Leute des dunklen Lords sie einfach so ermordet hatten.

Sie wußte schon seit fast einem Jahr, daß er wieder körperliche Gestalt gewonnen hatte. Doch jetzt, wo es auch in den ignoranten Köpfen der englischen Ministerialbeamten ankommen mußte, jetzt, wo er sich offen gezeigt hatte, überfluteten sie diese Erinnerungen. Sie dachte an alle, die damals schon von ihm bedroht waren und jetzt womöglich wieder auf seiner Todesliste stehen mochten. Tja, und dann sah sie dieses schreiende Baby vor sich in seinem blauen Seidenstrampelanzug, unschuldig und um sein eigenes Leben wimmernd. Hatte man diesem Draco Malfoy je erzählt, daß er nur deshalb noch am Leben war, weil sie, Aurora Dawn, einem unschuldigen Jungen das Leben retten wollte. Diese Bellatrix Lestrange war damals auch in der Nähe des Jungen gewesen, hilflos und ohnmächtig. Diese Hexe terrorisierte nun also an der Seite des Unnennbaren die Zaubererwelt und dieser Draco Malfoy war ganz der Vater zu einem Nachläufer und Handlanger dieses Dunkelmagiers geworden, hatte in dessen Auftrag die verfluchten Bilder Slytherins geborgen und zu neuem Leben erweckt. Ihr ehemaliger Freund Bernhard Hawkins hatte vielleicht doch recht gehabt, daß man diesen Bengel nicht hätte retten dürfen. Doch es war nun einmal passiert, und im Nachhinein war Aurora immer noch froh, daß sie diesen kleinen Knirbs gerettet hatte.

Aurora Dawn überlegte, ob sie gleich zu Ministerin Rockridge oder erst zu Heather Springs oder der Schulleitung von Redrock gehen sollte. Klar war nur, daß sie die wichtigsten Stellen Australiens informieren mußte. Sie wollte gerade in ihren roten Ausgehumhang schlüpfen, als ihr Heilerarmband zitterte. Sie fühlte, daß die Steine für die nordöstliche Ausrichtung besonders stark zitterten. Jemand hatte den Notrufzauber in den Himmel geschossen.

"Accio Ausrüstung!" Rief Aurora mit auf ihr Sprechzimmer weisenden Zauberstab. Sirrend schoss die große weiße Tasche mit der roten Äskulapschlange herbei und hängte sich von selbst um Auroras Schulter. Dann knallte es, und die Heilerin war fort, um keinen Augenblick darauf mitten in einem Vorort einer Stadt knapp zweihundert Kilometer entfernt zu erscheinen.

Es ploppte noch zweimal. eine weitere Heilerin, die kugelrunde Gwendoline Mayflower und der bärtige Gordon Woodlark apparierten mit ihren Tragetaschen.

"Hups, die junge Ms. Dawn war ja ganz schnell hier", scherzte Woodlark. Dann wandten sie sich der Hexe zu, die gerade einen Halbwüchsigen hielt, der sehr weltentrückt aussah aber sehr glücklich wirkte.

"Hallo, Phiona. Was liegt an?" Fragte Gordon Woodlark.

"Ich habe diesen Muggeljungen vor einer halben Stunde mit einer dieser Grünfratzen gesehen, wie sie mit ihm ihren Trieb ausgelebt hat. Er ist ein reinblütiger Muggel. Wenn der von diesem Biest abhängig geworden ist ...", sagte die Hexe, die ihren Zauberstab noch in der Hand hielt.

"Jetzt trauen sich diese Sabberhexen schon an Stadtmuggel heran", knurrte Gordon. Gwendoline sagte zu Phiona:

"Haben Sie das genau beobachtet?"

"Natürlich habe ich das beobachtet, Ms. Mayflower. Denken Sie, ich würde die Strafgebühr für die mutwillige Benutzung des Notrufzaubers bezahlen wollen?"

"Ms. Dawn, hatten Sie nicht eine Abhandlung über die Auswirkungen und Behandlungen der Sabberhexenadiktion bei adoleszenten geschrieben?" Fragte Gordon Woodlark. Aurora nickte heftig und sah den Jungen an, der sich gerade losreißen und weglaufen wollte.

"Mann, Alte, lass mich gefälligst weg hier!" Schimpfte er.

"Können Sie das erledigen?" Fragte Gwendoline Mayflower Aurora. Diese nickte. Das war für die zwanzig Jahre ältere Heilerin das Signal, ohne weiteres zu disapparieren. Gordon verabschiedete sich, nachdem Aurora ihn gebeten hatte, ihren Patienten in der Sano anzumelden. Dann besah sie sich den Jungen, der sie anglotzte wie eine lästige Fliege auf dem Butterbrot.

"Wo hast du die grüne Frau getroffen, Junge?" Erkundigte sich Aurora. Der Junge grinste nur und meinte, daß habe sie nicht zu kümmern, weil die nicht auf Mädels stehe.

"Ich stehe auch nicht auf grünhäutige Frauen, die nur schweben können und so gelbe Augen haben, Junge. Wie heißt du eigentlich?"

Tom Mason", sagte der Junge. Aurora hörte den britischen Akzent heraus. Deshalb fragte sie, ob er auf Urlaub sei. Er grinste dümmlich und meinte, daß könne sie doch hören. Sie stellte sich mit Namen vor, obwohl sie wußte, daß der Junge bei erfolgreicher Behandlung eine anschließende Gedächtnismodifikation zu erwarten hatte. Der Junge wollte aber keine weiteren Fragen beantworten, drehte sich blitzschnell aus dem etwas lockereren Halt von Phiona Peabody und lief dann mit federnden und weit ausgreifenden Schritten davon.

"Die ist noch in der Nähe. Sie hat ihn offenbar noch unter Fernbeobachtung", sagte Aurora und warf sich herum, den Umstand verfluchend, ihren Besen nicht mitgenommen zu haben. Sie schickte dem Jungen den Schockzauber nach, verfehlte ihn knapp und rannte los, um ihn noch aufzuhalten, bevor er wieder in eine von mehr Muggeln bevölkerte Straße hineingeriet. Sie wußte es aus eigenen Erlebnissen, wie tiefgreifend der Zauber einer läufigen Sabberhexe auf halbwüchsige Jungen wirkte. Doch daß sich dieses Geschöpf schon nichtmagische Jungen aussuchte sprach für eine ziemlich heftige Not dieser Kreatur. Gewöhnlicherweise stellten sie magisch begabten Jungen nach.

"Impedimenta!" Rief Aurora. Der Lähmfluch traf und ließ den Jungen auf der Stelle stehen, doch nur für eine Sekunde. Dann lief er leicht wackelig weiter und gewann erneut an Geschwindigkeit. Aurora sah keine andere Chance, ihn zu erwischen, bevor die Muggel ihn bemerken mußten und schnitt dem Jungen mit einer Kurzstreckenapparition den Weg ab. Doch er flog förmlich zur Seite, hob dabei ab wie ein Känguruh und segelte schräg links der Heilerin vorbei. Dann konnte Aurora die blattgrüne Kreatur sehen, die mit ausgebreiteten Gliedmaßen von oben herabstieß. sie kannte dieses Bild zu gut. Sie hatte es im fünften Jahr in Hogwarts mitbekommen, wie ihr Schulkamerad Roy Fielding auf diese Weise verschleppt worden war. Diesmal wollte sie es nicht soweit kommen lassen.

"Flammapilum!" Rief sie mit nach oben deutendem Zauberstab. Fauchend schoss ein blauer Feuerspeer aus dem Zauberstab und raste auf die herabstoßende Sabberhexe zu, die kreischend vor dem Feuergeschoss auswich, das mit dumpfem Knall keinen halben Meter vor ihr in einer Wolke aus wirbelnden Funken zersprang. Tom Mason knallte derweil auf den Boden. Aurora ließ Seile und einen Knebel aus dem Zauberstab schnellen und fesselte den Jungen.

"Er gehört schon mir, Bleichhäutige. Lass ihn los!" Schnatterte die Sabberhexe wie eine wütende Ente. Doch Aurora zog aus ihrer Tasche einen kleinen Beutel und streute feingemörsertes Steinsalz auf den Körper des Jungen und in einem Kreis um ihn herum. Wimmernd und grüngelben Speichel aus ihrem Mund verlierend schwirrte die grünhäutige Kreatur davon, raus aus der Stadt.

"Mittlerweile weiß ich wie schnell ihr seid", knurrte sie. "Der hier gehört keiner von euch, auch wenn er meint, nichts erregenderes zu finden.

Phiona begleitete Aurora, die den Jungen mit einem Schlafnebelfläschchen betäubt hatte, per Apparition ins pompöse Foyer der Sana-Novodies-Klinik, wo man sich des Jungen annahm.

"Kind, das war gut, daß du zu erreichen warst", sagte Madame Herbregis, die Direktorin der Klinik, eine selbstbewußt aussehende Hexe mit schulterlangem, silberblondem Haar.

"Ich werde es wohl den Ungezieferbekämpfern mitteilen müssen, daß die Muggelsiedlungen nicht mehr so ungefährdet sind wie früher."

"Ich weiß, Kind, dir hängt dieses Ereignis von vor vierzehn Jahren noch nach", sagte Direktorin Herbregis sanft. Aurora nickte schwerfällig. Dann fragte sie, wie sie als Einsatzheilerin die Sache den Muggeln gegenüber vertreten sollte.

"Bei dem Jungen sind englische Papiere gefunden worden. Er ist mit einer Schülergruppe aus London hier, um die Kolonisationsgeschichte zu studieren. Soviel ich ersehen konnte, ist er in einer Jugendherberge untergebracht. Wenn wir diese Vereinnahmungsgifte nicht innerhalb von einem Tag aus ihm rausspülen können wird es kitzelig", sagte die Leiterin der Sana-Novodies-Klinik. Aurora nickte erneut. Wie wollte man den Muggeln das Verschwinden dieses Jungen verkaufen, ohne Aufsehen zu erregen?

Im Büro von Madame Herbregis besprachen die ältere und die noch junge Heilhexe das weitere Vorgehen. Dann rückte Aurora damit heraus, daß ihr Bild-Ich die endgültige Wiederkehr des Unnennbaren gemeldet hatte. Bethesda Herbregis wiegte den Kopf und blickte durch die runden, silbergerahmten Brillengläser ihre einstige Lehrheilerin an.

"Kind, wir wußten immer, daß wenn er seinen alten Körper wiedererlangt oder Besitz von einem neuen Körper erringt da weitermachen wird, wo ihn der Anschlag auf die Potters unterbrochen hat. Es ist gut, daß wir wissen, daß er nun aus seiner Deckung getreten ist. Aber wir müssen auch davon ausgehen, daß er das nur getan hat, weil er sich entweder stark genug fühlt, um seinen Terror fortzusetzen oder derartig verzweifelt ist, weil er etwas wichtiges nicht bekommen konnte, dafür dann aber in jedem Fall grausam dreinschlagen wird. Du hast mir von diesem Jungen erzählt, der eines deiner Portraits hat?"

"Ja, Madame Herbregis. Julius Andrews heißt er. Seine Eltern sind zwar faktisch Muggel, entstammen aber beide der Eauvive-Linie", sagte Aurora Dawn bereitwillig.

"Ich hörte es, daß er ein Ruster-Simonowsky-Zauberer sei. Nun, Leute wie dieser junge Bursche dürften diesem Irrwitzigen ohne Zweifel sehr zu wider sein. Es ist also wichtig, alle zu informieren, die unser Vertrauen haben. Sicher, durch den barbarischen Anschlag auf die Shadelakes sind Sympathisanten dieses Verbrechers faktisch ausgelöscht worden. Aber wer weiß schon, wohin er sich wenden will?"

"Vielleicht weiß das noch nicht einmal er selbst", knurrte Aurora. Dann bedankte sie sich bei Madame Herbregis für die prompte Behandlung des Jungen und verließ zu Fuß das Hauptgebäude, um im Heilervoyer zu disapparieren, wie es die Vorschrift gestattete.

Aurora nutzte die Gunst, gerade unterwegs zu sein und stattete Heather Springs einen Besuch ab, bei dem sie ihre gute Bekannte über den Stand in England informierte. Dann apparierte sie in die Ankunftshalle des australischen Zaubereiministeriums, von wo aus sie nach einer kurzen Sicherheitsüberprüfung in das Büro von Ministerin Rockridge vorgelassen wurde, der sie in knappen Sätzen die Lage schilderte.

"Es war schon gut, daß Sie mehrere Exemplare Ihres Portraits haben anfertigen lassen, Aurora", sagte Latona Rockridge. "zumindest erspart uns das eine bange Warterei und eröffnet uns die Gelegenheit, uns auf eventuelle Sympathiebekundungen durch heimliche Anhänger dieses Unholdes vorzubereiten. Vielleicht ist mein Kollege Fudge nun doch etwas umgänglicher, was internationale Schutzmaßnahmen angeht, wie der Amerikaner Pole und der französische Kollege Grandchapeau vorgeschlagen haben. Danke noch mal für die prompte Mitteilung, Aurora!"

"Nichts zu danken, Ministerin Rockridge", sagte Aurora und verabschiedete sich.

Als Aurora Dawn jeder und jedem der oder die von Voldemorts Rückkehr wissen mußte die schlimme Nachricht überbracht hatte, kehrte sie erschöpft in ihr Haus zurück und machte sich ein reichhaltiges Mittagessen. Sie dachte daran, daß in Europa nun dunkle Nacht war und viele nicht schlafen konnten, die es mitbekommen hatten und noch mehr die nächste Zeit nicht mehr schlafen würden, wenn die von Fudge so rigoros für unmöglich durchgesetzte Nachricht über die Rückkehr des Unnennbaren in die Zeitung kam.

__________

Anthelia lächelte nur kalt, als sie am Morgen des siebzehnten Juni im Kristallherold las, daß der britische Bösewicht, der dort nur im absoluten Zwangsfall beim Namen genannt wurde, wieder aufgetaucht war. Sie berief ihren inneren Kreis der Spinnenschwestern ein. Als die löwenmähnige Delila Pokes, die zierliche Japanerin Izanami Kanisaga, Mutter und Tochter Straton und die muggelstämmige Romina Hamton im Weinkeller der alten Daggers-Villa eingetroffen waren, und auch noch die von Anthelia einbestellte Dana Moore es geschafft hatte, sich unbemerkt aus England abzusetzen und zu ihr zu stoßen, sprach sie zu ihren Getreuen.

"Schwestern unter dem Banner der Spinne, nun ist es tatsächlich geschehen, daß dieser Emporkömmling, der sich Lord Voldemort genannt hat, aus dem Schutze der Verborgenheit hervorgetreten ist und eigenständig in die Geschicke der Zaubererwelt eingegriffen hat. Wir dürfen also ab sofort damit rechnen, daß er und seine Nachläufer ihr blutrünstiges Treiben wieder aufnehmen und Angst und sinnlosen Tod über die magische Menschheit bringen werden. Wir, liebe Schwestern, sind angetreten, ihm und allen die sind wie er die Stirn zu bieten, Macht durch Zerstörung und Tod nicht gewähren zu lassen und seine Machenschaften zu verderben, wo immer wir sie verderben können. Wir wissen schon seit vielen Monaten, daß er Helfer in anderen Landen wirbt oder auf einstige Bundesgenossen zurückgreifen möchte. Wir, liebe Mitschwestern, haben ihm in diesen Landen der neuen Welt die mächtigsten Verbündeten genommen, indem wir diese wider einander kämpfen ließen und ihm damit eine brauchbare Streitmacht vereitelt haben. Doch wir wissen auch, daß er neue Gefolgschaft in den Kreaturen der Düsternis und Verzweiflung gefunden hat, die darauf lauerten, ihm dienstbar zu werden. Wir wissen auch, daß ein ihm im Geiste wohlgesinnter Magus aus dem Morgenland ihm seine Gefolgschaft angedient hat und ihm in wenigen Wochen eine Streitmacht künstlicher Krieger zuführen will. Soviel ich von euch und allen, die mit uns sind erheischen konnte, ging der Emporkömmling auf eine in Gedächtnisrauch gebannte und in einer gläsernen Umhüllung geborgene Weissagung aus, die sein Schicksal mit dem eines Knaben namens Harry Potter verbindet. Welchen Inhalts diese Weissagung ist, konnten wir nicht ergründen. Ich mutmaße jedoch, daß der Mordanschlag auf den Knaben und seine Familie vor fünfzehn Jahren dem Ziel galt, die Weissagung unerfüllbar zu machen. Da ihm dieses jedoch mißlang, gierte er wohl nach der eingelagerten Weissagung, um eine mögliche Berichtigung seines Tuns zu ergründen. Diese und andere Weissagungen sind jedoch, so wurde mir kundgetan, unwiederbringlich verlorengegangen, sodaß der Emporkömmling nun bar jeder Kenntnis handeln muß, welche Zukunft ihm und dem Knaben einst geweissagt wurde. Er wird daher verstört sein wie ein Gaul im Unwetter. Doch gleich einem Gaul, der in der blanken Furcht unbändig und stark ist, wird dieser irrsinnige Zauberkünstler gefährlich und mächtig um sich schlagen, auf daß ihm kein neues Ungemach widerfahre. Zu wissen, was ihn umtreibt, wo er herkommt und welche Kräfte er bereits entfesselt hat, ist mein vordringliches Begehren. Schwester Dana, du konntest im Kreise deiner früheren Bundesschwestern einiges erfahren, weiß ich. Lasse uns nun an diesem deinem Wissen teilhaben!"

Dana Moore ließ den Blick Anthelias einige Sekunden auf sich ruhen. Dann erhob sie sich, blickte alle nacheinander an, verbeugte sich andeutungsweise vor Anthelia und sprach:

"Höchste Schwester, liebe Mitschwestern, was ich weiß ist nicht viel. Unsere leider zu früh gestorbene Schwester Lucretia hätte möglicherweise noch erschöpfender erzählen können, was diesen sogenannten dunklen Lord betrifft. Aber wie du es sagst, höchste Schwester, weiß ich doch einiges mehr als die durchschnittlichen Hexen und Zauberer.

Der Zauberer, der sich heute Lord Voldemort nennt, wurde wohl als Sohn einer Hexe und eines Muggels geboren. Lady Ursina hat herausbekommen können, daß er unter dem Namen Tom Vorlost Riddle in Hogwarts, der britischen Zauberschule, eine vorbildliche Schullaufbahn absolviert hat. Da sein Vater die Zauberei verachtete und seine Mutter bereits vor der Geburt verstieß, seine Mutter unter dieser Schande nicht auf die Hilfe magischer Heiler zurückgreifen wollte, brachte sie den Jungen an einem uns unbekannten Ort zur Welt, wo sie am für die Muggel damals sehr schwer beherrschbaren Kindbettfieber starb. Der Junge wuchs in einem Waisenhaus auf, wo es ihm wohl arg erging. Möglicherweise resultiert daraus sein immenser Haß auf die Muggel und alle mischblütigen Hexen und Zauberer. Lady Ursina schließt Selbsthaß als stärksten Antrieb seiner Taten nicht aus. Was er nach Hogwarts getrieben hat ist uns nur gerüchteweise bekannt. Es wird behauptet, er habe sich den finsteren Quellen des Lebens gewidmet, der Erforschung magisch erreichbarer Unsterblichkeit und Dauerhaftigkeit. Dabei muß er sich mehreren körperlichen Umwandlungen unterworfen haben, die ihn zu einer fahlgesichtigen, rotäugigen Kreatur verändert haben, die jedoch eine hohe Toleranz gegen viele Formen der Gewalt ausgebildet hat. Die Tatsache, daß er den Rückprall des eigenen Todesfluches Avada Kedavra als essentielle Daseinsform überstand, zeigt, daß er offenbar einen Teilerfolg bei seiner Suche nach Unsterblichkeit erringen konnte. Sein Körper verschwand jedoch bei diesem historischen Fehlschlag, der den Jungen Harry Potter so berühmt machte. Wir wissen, daß er wie andere mächtige Magier vor ihm die Fertigkeit des Seelenwanderns erlernt hat und in Körper eindringen kann, deren Inhaber durch leichte Zugänglichkeit für Gier und Machttrieb gute Empfänger sind. Vermutlich kann er auch in niedere Lebewesen eindringen und sie für gewisse Zeit in Besitz nehmen, wie es den Dämonen alter Zeiten nachgesagt wird." Dana machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr. "Ohne Körper war er sehr stark geschwächt. Lady Ursinas Kundschafter konnten ergründen, daß er über eine Dekade in den Wäldern Albaniens umherirrte. Offenbar wartete er auf Getreue, die ihn finden und zurückbringen konnten. Nun, jemand hat es wohl tatsächlich getan, denn er konnte während des trimagischen Turniers Harry Potter in seine Gewalt bringen und wohl mit etwas aus dessen Körper die eigene körperliche Rückkehr schaffen. Jetzt ist er wieder im Vollbesitz seiner magischen Fähigkeiten und wird diese nutzen. Wie du sagtest, höchste Schwester, wollte er sich zunächst wohl verstecken, um zu erfahren, was die ihn und den Jungen Harry Potter betreffende Prophezeiung verkündete. Da er das jedoch nicht herausfinden konnte, wird er nun, wo alle es endlich glauben können, daß er wieder da ist, auf alles anlegen, was ihm mehr Macht bringt als er früher schon hatte."

Patricia Straton hob die Hand. Anthelia nickte ihr zu.

"Er hat ja schon versucht, sich das Erbe von Sarah Redwood zu sichern, die ja vor einigen Jahrzehnten eine mächtige Hexe war, die wohl auch nach dem Weg zur Unsterblichkeit gesucht hat. Ich hörte, er habe bereits vor fünf Jahren den Stein der Weisen gesucht, der von Nicholas Flammel erschaffen wurde."

"Ja, das stimmt, Schwester Patricia", sagte Dana. "Lady Ursina hat uns das auch so erzählt. Das war der einzige wirklich gangbare Weg zur Unsterblichkeit, der bisher gefunden wurde. Dann war das mit der Kammer des Schreckens, wo ein von ihm teilbeseeltes Tagebuch eine unschuldige Schülerin zu seinem Werkzeug machte. Das zeigt, wie weit er schon damals in den dunklen Künsten gebildet war."

"Ja, das muß ich wohl anerkennen", bemerkte Anthelia. Dann sagte sie noch: "Trotzdem ist er für mich ein Störenfried, ein Wurm, der es nötig hatte, in einem dunklen Loch zu liegen und jetzt erst herauskommt, weil er nicht warten konnte, daß ihm andere zutrugen, was ihn erstarken läßt. Überhaupt, wir müssen unsere Augen darauf richten, welche mächtigen Artefakte es gibt, die seine Macht verstärken könnten." Sie dachte dabei an die Gegenstände, die sie aus Dairons Besitz an sich gebracht hatte. Dann fiel ihr noch was ein, was sowohl im Buch des Dunkelmagiers Pacidenyus stand und auch in den Erinnerungen Sarah Redwoods enthalten war, die sie sich angeeignet hatte. Es sollte da Gegenstände aus einer Zeit geben, aus der Berichte zwischen Tatsachen und Legenden überliefert waren. Das alte Reich, wie die gebildete Zaubererwelt es schon zu Sardonias Zeiten genannt hatte, war einst eine hochentwickelte Zivilisation, in der die Magie die Grundlage des alltäglichen Lebens war. Alle halbwegs zauberkundigen Menschen hatten sich auf einem damals noch existierenden Kontinent zu einem mächtigen Volk vereinigt und Jahrhunderte lang friedlich zusammengelebt, bis ein großer Krieg zwischen Anhängern des Lebens und denen der Macht ohne Rücksicht auf das Leben anderer eine Katastrophe beschwor, die die Gewalten der Natur entfesselte und den Kontinent der Magier in den Tiefen des Meeres versinken ließ. Nur wenige hatten dieses Inferno überlebt und legten in anderen Ländern die Keimzellen für neue Reiche, in denen sie selbst zu den Göttereltern rechneten und deren Nachfahren magisch und unmagisch waren. Aus dieser legendären Kultur, die von Ägyptern und Griechen Atlantis genannt wurde, sollten noch einige mächtige Artefakte erhalten sein, die über den gesamten Erdball verstreut in Verstecken ruhten, zu denen nur zauberkundige Wesen hinfinden und dort eindringen können sollten. Einer dieser sagenhaften Gegenstände sollte ein magischer Stein sein, der alle elementaren Eigenschaften der Erde bündelte, aber auch die zauberische Begabung seines Besitzers verzehnfachen sollte. Pacidenyus nannte ihn "Stein der großen Erdmutter". Anthelia wußte, daß die Zauberer um Massimo Fontenera diesen Stein suchten und offenbar genauer ergründet hatten, wo er lag.

"Höchste Schwester, weißt du, auf was es dieser Emporkömmling demnächst abgesehen hat?" Fragte Patricia Straton.

"Man wird ihm den Stein der großen Erdmutter anbieten, sofern er wirklich existieren soll", sagte Anthelia ruhig. "Wir haben ja erlauschen können, wie sich Zauberer darüber unterhielten, diesen Stein zu suchen und dem fehlgeleiteten Magus feilzubieten, auf daß er, wenn er ihn gewinnen kann, seine eigene Macht potenzieren kann. Wir müssen also verhindern, daß diese Zauberer Erfolg haben, und das heißt, wir müssen uns morgen bereitmachen, sie zu stellen und in unsere Gewalt zu bringen oder wenn es nicht anders geht, für immer von ihrem Tun abzuhalten." Daß Anthelia nun selbst auf diesen sagenhaften Stein ausging wollte sie ihren Mitschwestern noch nicht verraten. Erst wollte sie noch einmal im Buch von Pacidenyus nachlesen, was dieser vor mehr als zwei Jahrhunderten schon darüber herausfinden konnte.

"Fontenera ist gefährlich, höchste Schwester. Er kann sein Haus mit einem Vernichtungsbann umschließen, wie wir wohl wissen", warf Patricia Straton ein. Ihre Mutter Pandora nickte und fügte dem hinzu:

"Allerdings nur, weil er es lange genug bezaubern konnte und Feindesblut für die wirksame Errichtung sammeln konnte. Außerhalb dieses Schutzbereiches muß er auf seine eigenen Zauberkräfte und Fertigkeiten zurückgreifen. Unterschätzen sollten wir ihn nicht. Aber wir können ihn gemeinsam überwältigen."

"Er wird sich morgen mit seinen neuen Verbündeten treffen um die Ankunft des Emporkömmlings zu besprechen und vielleicht das Versteck des Steines der großen Erdmutter zu finden. Wir wissen, wo sie sich treffen wollen, und wir wissen, wann sie sich treffen wollen. Zunächst einmal werden wir sie aus sicherer Ferne belauschen und dann, wenn wir wissen, was sie wissen, ihrer Habhaft zu werden trachten. Dies ist unser erstes Ziel." Anthelia hob beschwörend die Arme und breitete sie aus, um die Wichtigkeit ihres Vorhabens zu unterstreichen. Dann fragte sie noch, wer von den Gründungsschwestern bereit war, ihr zu helfen. Neben Patricia Straton erklärte sich noch Delila Pokes bereit, ihr zu helfen. Dana Moore wollte zwar auch mitmachen, doch Anthelia lehnte es ab, weil Dana an diesem Tag einem Treffen der schweigsamen Schwestern beiwohnen sollte, das auch wegen des dunklen Lords einberufen worden war. Ihr Fernbleiben würde unnötigen Verdacht wecken, zumal Lady Ursina ja wußte, daß es eine andere Hexengruppe gab und Anthelia bereits getroffen hatte. Dann sprach Anthelia noch einmal die Tochter des dunklen Feuers an, die nicht wie erwartet in einen neuen Winterschlaf verfallen sei. Sie erläuterte, daß der von dieser unterworfene Muggel Richard Andrews noch am Leben sein müsse und die Kreatur bestimmt auch nach dem alten Stein suchen würde, da dieser ja schon zu der Zeit erwähnt worden war, als sie auf magische Weise empfangen und geboren wurde.

"Wir müssen davon ausgehen, daß die Kreatur danach sucht, falls dieser Stein wirklich existiert. Folglich wird sie uns genauso gefährlich werden wie sie dem Emporkömmling gefährlich werden mag, dessen Machtanspruch sie ja bereits zurückgewiesen hat. Wir müssen also aufpassen, daß sie uns nicht in die Quere kommt. Solange wir nicht wissen, wo sie sich verborgen hält, können wir nur die Augen und Ohren offenhalten und wachsam bleiben. Dabei gilt, jede winzige Gegebenheit kann als Warnung oder Hinweis auf ihr Treiben dienen. Teilt es also allen Bundesschwestern auf dem schnellsten Weg in unserem Netz mit!"

"Natürlich, höchste Schwester", stimmten alle zu. Dann sagte Delila Pokes noch:

"Die Nachricht von der Rückkehr dieses Voldemort, oder sollen wir ihn jetzt Tom Riddle nennen, ist bereits in Australien herum. Offenbar hat da jemand eine schnelle Verbindung nach Europa und die Nachricht sofort weitergereicht. Lady Nimoe, die wie wir jemanden im australischen Zaubereiministerium sitzen hat, hat mir das heute morgen schon mitgeteilt, daß Ministerin Rockridge informiert wurde."

"Von wem?" Fragte Anthelia.

"Es handelt sich um die Heilerin Aurora Dawn, die selbst in England aufgewachsen ist und nach der Schulzeit in Hogwarts in Australien ihre Ausbildung zur Heilerin durchlaufen hat. Sie hat sich gemäß der weltweiten Heilerzunftordnung einen freigewordenen Platz zuweisen lassen und sich als niedergelassene Heilhexe etabliert. Wahrscheinlich nutzt sie eigene Expressverbindungen, wenn nicht sogar gemalte Charaktere als Nachrichtenbeschaffer."

"Gut, Schwester Delila! Das nehme ich zur Kenntnis. Ich werde mit dir noch einmal gesondert beraten, wie wir die Schwestern um diese Lady Nimoe für uns verdingen können, sofern ich mich nicht selbst offenbaren will. Von dieser Aurora Dawn bekam ich auch Kunde, daß sie wohl mit jenem Jungen in Kontakt steht, dessen Abbild zur Vernichtung der Galerie des Grauens führte." Anthelia lächelte tiefgründig. Offenbar vermutete oder wußte sie mehr als ihre Mitschwestern, konnte es aber in ihrem Geist wohl verschließen. "Der Junge ist der Sohn des Abhängigen Hallittis, ein vollwertiger, ja überragender Zauberer, dessen Potential über jedem Durchschnitt liegt. Halte also auch deine Sinne auf diese Aurora Dawn gerichtet, was sie sonst noch so offenbart!"

"Dann müßte ich mich in ihrer Nähe aufhalten", sagte Delila. "Das dürfte auffallen."

"Nein, im Moment ist es ausreichend, ihre offiziellen Kontakte zu überwachen. Sollte mir daran gelegen sein, mehr von ihr zu erheischen, werde ich dir dies kundtun", sagte Anthelia ruhig. Was sie wirklich dachte und wollte bekam keine hier im Raum mit, auch nicht Patricia Straton, die die seltene Begabung des Gedankenhörens besaß. Doch Anthelia war eine hervorragende Okklumentorin, hatte sogar wichtige Geheimnisse durch den Divitiae-Mentis-Zauber unauffindbar in ihrem Geist verborgen.

"Wie du es wünschst, höchste Schwester", sagte Delila.

"Also, die mit mir dem Treffen der Zauberer morgen beiwohnen werden, treffen mich morgen früh in der Empfangshalle dieses Hauses an, genau um Schlag sieben!" Beendete Anthelia die Sitzung mit der Einbestellung aller Schwestern, die ihr direkt helfen wollten. Die Hexen nickten und disapparierten, nachdem sie sich artig von ihrer Anführerin verabschiedet hatten.

__________

Anthelia hatte vor dem Treffen Luisella Cardinale vor dem Haus Petrocellis in Stellung gehen lassen. Sie sollte abwarten, wann das Paket eintraf. Wenn es kam, sollte sie es dem Postbeamten abjagen und Anthelia überbringen.

Luisella hatte eines dieser praktischen Langziehohren dabei, um die Gespräche im Haus des Capo zu belauschen. Sie saß unter einem Tarnumhang hinter einem sorgfältig gestutztem Philodendron und ließ das fleischfarbene Stück Zauberschnur wie einen mehrere Dutzend Meter langer Regenwurm über die Wiese kriechen, bis es unter der Hintertür hindurch war. Die Kameras mit einem Erfassungsbereich von 180 Grad überwachten zwar die Umgebung des Hauses ohne toten Winkel, doch durch Tarnumhänge konnten sie nicht dringen.

Um die Mittagsstunde rollte ein Wagen der hiesigen Paketzustellungsfirma vor dem Tor zum Anwesen an. Luisella hörte, wie Don Ricardo gerade mit einem anderen Mann, einem Angloamerikaner, ein lautstarkes Telefongespräch führte. Sie richtete den Zauberstab auf den Wagen und murmelte: "Imperio!" Dabei dachte sie konzentriert daran, daß der Fahrer weiterfahren und sich einige Häuserblocks weiter einfinden sollte. Erst nach zwanzig Sekunden reagierte der Postfahrer und ließ den Motor wieder an, gerade als eine blecherne Sprechanlagenstimme fragen wollte, was er hier zu schaffen hätte.

Petrocelli wurde von seinem Sicherheitschef Rosselini durch heftige Winkbewegungen informiert, daß wohl etwas merkwürdiges vorging. Er sagte noch ins Telefon:

"Das ist mir jetzt nicht so wichtig, Mr. Holloway. Seitdem unser gemeinsamer Freund Parker sich nicht mehr gemeldet hat disponiere ich grundsätzlich neu. Andere Pflichten rufen mich, Sir. Areviderci!"

"Don Ricardo, ein Postwagen hat kurz vor dem Haupttor gehalten und ist dann einfach weitergefahren. Der Fahrer ist nicht ausgestiegen. Unser Rufen kam zu spät", sagte Rosselini.

"Ein Postwagen? Auffälliger geht's wohl nicht", lachte Petrocelli. "Könnte ein Versehen gewesen sein oder ein Schabernack von einem unserer Konkurrenten, um zu testen, wann wir auf fremde Autos reagieren. Würde mich nicht sonderlich wundern, wenn unser Amico Fontenera eine Autobombe vor meinem Haus parkt. Am besten gibst du die Anweisung aus, daß zwei Leute in Schutzwesten sofort rausgehen, wenn ein Auto länger als fünf Sekunden vor dem Haus parkt. Ich möchte nicht riskieren, daß Don Massimo uns eine Höllenmaschine zustellt."

"Geht klar, Capo", sagte Rosselini und lief eilfertig in seine Sicherheitszentrale, um die neue Anweisung weiterzugeben.

Wie befohlen parkte der unter dem Bann des Imperius-Fluches stehende Fahrer des Postwagens dort, wo er nicht so gut von den anderen beobachtet werden konnte. Luisella apparierte mit leisem Plopp hinter dem Wagen und öffnete ihn mit dem Alohomora-Zauber. Rasch hatte sie das Paket gefunden, die Hecktür wieder geschlossen und den Tarnumhang abgestreift. Der Fahrer verließ seinen Wagen und wurde von Luisella mit einem Gedächtniszauber belegt, daß er das Paket zugestellt habe und nun weiterfahren könne. Dann verschwand sie, bevor der Mann wieder klar denken konnte, sich in seinen Wagen zurücksetzte und weiterfuhr.

Im Hauptquartier der Spinnenschwestern wartete Luisella darauf, daß Anthelia sie im pompösen Salon begrüßte. Sie nahm das Paket und versuchte, es mit ihrer angeborenen Telekinese zu bewegen. Es mißlang ihr.

"Aha, etwas, daß jede magische Fernbewegung vereitelt", sagte sie. Dann ließ sie den Zauberfinder über das Paket streichen, jenen rot-blauen Lichtkegel, der magische Kräftefelder oder bezauberte Gegenstände aufleuchten ließ. Tatsächlich aber klaffte ein Loch unter dem Lichtkegel.

"Soso, er hat was auch immer mit einer Zauberkraftwehr umhüllt. Offenkundig will er nicht haben, daß sein Präsent zu früh ausgelöst wird", sagte Anthelia.

Das dünne Hexenkind Dido Pane, das die jüngste Mitschwester des Spinnenordens war, kam herunter und besah sich, was Anthelia tat. Anthelia öffnete das Paket, weil sie nun davon ausging, daß es keine Sprengfalle der Muggel war. Sie fand eine in Kunststoffplättchen und Stoffresten eingebettete, von einer Seidenhülle ummantelte Vase vor. Weil sie davon ausging, daß die Vase wohl mit einem Fluch belegt war, legte sie ein angezündetes Stückchen Holz an die Umhüllung und wartete, bis diese unter heftiger Rauchentwicklung zerfiel.

"Ui, eine Chinavase", sagte Dido. "Meine Eltern hatten sowas auch. Darf ich die mal ..."

"Wirst du wohl deine Finger bei dir behalten, Jungfer!" Rief Anthelia, als Dido mit ihren knochigen Fingern nach der freigelegten Vase langen wollte. Dido schrak zurück.

"Die Vase ist ganz gewiß verflucht, und mich dünkt, es ist Decompositus."

"Hau, der Zersetzungsfluch?" Stieß Dido aus und wurde kreidebleich im Gesicht.

"Eben jener", schnaubte Anthelia. Sie beschwor aus dem Nichts einen Tonkrug herauf, ließ diesen mit Wasser aus dem Zauberstab vollaufen und tippte ihn an, worauf er heftig zu dampfen begann. Der Dampf wölkte umher, konnte jedoch nicht an die Vase heran und umfloss sie in einem Umkreis doppelt so breit wie der Vasenfuß. Anthelia nickte und sprach mehrere Zauberformeln. Es knisterte kurz, dann strich die Dampfwolke auch an der Vase entlang, vermischte sich mit dem Ruß der Seidenumhüllung zu einer pechschwarzen, schmierigen Schicht.

"Der Fluch ist gebrochen", sagte Anthelia. Zum Beweis ließ sie kurz die Vase aufsteigen, einen aus einem Stoffstück erschaffenen Käfer darüber laufen und faßte die Vase dann selber an, ohne daß ihr dabei was geschah.

"Fontenera muß diesen Petrocelli wohl sehr fürchten oder hassen, daß er ihm solch hinterhältiges Zauberwerk überbringen läßt", grinste Anthelia überlegen. "Ich bin gespannt auf die Reaktion, wenn dieser Fontenera erfährt, daß sein heimtückisches Treiben mißlang."

Sie holte neues Seidenpapier aus dem Nichts, packte die Vase ein, zauberte eine ausreichend große Pappschachtel und bettete das Geschenk in die Kunststoffplättchen und verbliebenen Stoffreste. Luisella schrieb dann noch eine Grußkarte auf Italienisch und heftete sie dem Paket an. Dann bekam sie den Auftrag, auf einem Muggelfahrrad zu Petrocellis Anwesen zu fahren und ihm das Paket zuzustellen. Dies tat sie dann auch, nachdem sie sich erst wieder daran gewöhnen mußte, auf einem unbezauberten Zweirad das Gleichgewicht zu halten. In der Nähe des herrschaftlichen Hauses apparierte sie mit dem Fahrrad, fuhr los und traf keine zehn Minuten später vor dem Tor ein, wo sie sofort zur Sprechanlage ging und sich als Kurierfahrerin meldete, die ein Paket von einem Mr. Fontenera überbringen sollte. Zwei Leibwächter Petrocellis kamen durch das Tor, nahmen das Paket ab, gaben Luisella ein Trinkgeld von einem halben Dollar und verschwanden innerhalb von dreißig Sekunden wieder hinter dem Tor. Luisella Cardinale fuhr davon, verließ den Erfassungsbereich der Kameras und disapparierte in dem Moment, wo sie sich sicher war, daß kein Muggel sie dabei beobachten konnte.

"Ach, der große Don Massimo Fontenera hat mir ein Paket geschickt. Habt ihr es durchleuchten lassen?" Fragte Petrocelli fünf Minuten später.

"Klar, Capo. Keine Bombe, kein Gasbehälter und wohl auch kein Giftstoff. Ich habe schon gedacht, tödliche Spinnen oder Bienen darin zu finden. Aber das Paket ist in jeder Hinsicht sauber", sagte Rosselini.

"Und wie ist es mit Viren oder Bazillen?" Fragte Petrocelli.

"Wir haben den Inhalt, eine altchinesisch aussehende Vase, gerade in einem Desinfektionsbad. Das Füllmaterial wurde sofort verbrannt. biowaffen hauen ja doch eher auf den zurück, der sie anwendet", sagte der Sicherheitschef.

"Bliebe also nur Strahlung. Aber so lebensmüde ist Fontenera wohl nicht", sagte Don Ricardo Petrocelli amüsiert grinsend. Als er dann die vollständig desinfizierte Vase vor sich stehen hatte und sie vorsichtig betastete, grinste er. Dann las er den von einer schwungvollen Frauenhand verfaßten Text auf der Grußkarte:

"Sehr geehrter Don Ricardo, da ich weiß, daß Sie derartige Kunstobjekte zu schätzen wissen, habe ich mir erlaubt, Ihnen diese Vase als Zeichen meines guten Willens zu überlassen und hoffe, daß wir unsere Unstimmigkeiten in Kürze werden beilegen können."

"Er hielt es wohl nicht für nötig, selbst zu unterschreiben", sagte Petrocelli gehässig. "na ja, sollte ich ihn mal anrufen und mich höflich bedanken." Genau das tat er dann auch.

__________

"Das kann doch nicht angehen", knurrte Massimo Fontenera, als er den Telefonhörer wieder auflegte. "Der Kerl lebt noch. Wie kommt er darauf, ich hätte ihm die Vase geschickt? Das kann nicht angehen."

Wie ein Tiger im Käfig in seinem Arbeitszimmer hin- und herlaufend überlegte der Zauberer, der in der Cosa Nostra mitmischte, woran es gescheitert war. Er hatte den Decompositus-Fluch selbst mit einem Regenwurm ausprobiert, den er aus seinem Garten geholt und auf die Vase hatte zukriechen lassen. Der Regenwurm war augenblicklich zu Staub zerfallen, kaum daß er die Vase berührt hatte. Außerdem hatte er keinen Hinweis auf sich in dem Paket versteckt. Ja, und dann sollte noch ein Kurierdienst, nicht die übliche Postzustellungsfirma dieses Präsent überbracht haben. Das bedeutete, jemand hatte das Paket abgefangen, den Inhalt entflucht und dann mit einer auf ihn deutenden Grußkarte dem gewünschten Empfänger überbracht. Das ließ ihn erschaudern. Wer aus der Zaubererwelt wußte von dem Streit mit Petrocelli? Wem aus der Zaubererwelt war daran gelegen, Petrocelli am Leben zu lassen? Fontenera erkannte, daß sich da jemand eingemischt hatte, von dem er bis dahin nichts mitbekommen hatte. Das sollte wohl eine Warnung sein, denn das Paket hätte ja nicht zugestellt werden müssen, wenn es jemand frühzeitig abgefangen und entzaubert hatte. Er dachte daran, daß er morgen mit seinen Bekannten Ian Crusher und anderen in der Hütte von Pompeius Roots in den Everglades zusammenkommen würde. Hatte einer von denen die tödliche Sendung abgefangen? Das mußte er klären, bevor er mit denen irgendwas wichtigeres besprach und sich möglicherweise auslieferte.

__________

Die Hütte war dunkel und sah nicht gerade einladend aus. Doch wer, der nichts finsteres im Sinne hatte, würde sich auch den Weg durch die feuchtwarmen Sumpfgebiete der Everglades zutrauen, um diese alte Blockhütte zu besuchen. Alligatoren und Schlangen, Wasservögel und Stechmücken waren die einzigen Nachbarn dieses Gebäudes, daß vor sechzig Jahren von Pompeius Roots errichtet worden war, damit er hier, weit ab von der immer zudringlicher werdenden Muggelzivilisation, seine magischen Versuche anstellen konnte. Pompeius Roots war hager und besaß struppiges, braunes Haar und trug einen Kinnbart gleicher Farbe. Seine dunkelbraunen Augen blickten listig wie die eines Fuchses in die Gegend. Trotz seines Alters von achtzig Jahren brauchte er noch keine Brille, und darauf war er stolz. Er gehörte zu jenen Zauberern, die die Schlangensprache Parsel sprechen konnten. Somit war seine reptilische Nachbarschaft ab und an für einen kurzen Plausch gut. In den von der hektischen, Gifte und Ruß in die Luft blasenden Muggelwelt unberührten Sumpfgebieten geschah nichts, wovon Roots nicht rasch erfuhr. Denn neben den Schlangen konnte er Dank eines Zaubertrankes auch die Sprache bestimmter Insekten verstehen und sprechen. Manche, die ihn mal mit einer Stechmücke hatten sprechen hören würden ihn für wahnsinnig halten. Doch die Zeugen, die das mitbekamen, bekamen seltenst die Chance, es irgendwem zu berichten.

Roots hielt sich für einen Erben der Druiden, die vor über zweitausend Jahren sein Ursprungsland Britannien bevölkert hatten. Von direkter Magie hielt er nur dann was, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Ihm lagen die Zaubertränke mehr als das Zauberstabgefuchtel. Auch mochte er nicht sonderlich gerne fliegen oder apparieren. So traf man ihn so gut wie gar nicht in der übrigen Zaubererwelt an.

"Deine Besssucher sssssind daa!" Zischte eine Wasserschlange, als Roots gerade neue Pflanzen für seine Zaubertränke sammelte. Er nickte und eilte in seinen Sumpfstiefeln nach Hause, die ihn unsinkbar und ohne Spuren zu hinterlassen durch die tückische Landschaft schreiten ließen. Als der alte Roots bei seiner Hütte ankam, saßen bereits vier Männer davor. Den dunkelhaarigen, in einen italienischen Maßanzug gehüllten Fontenera kannte er schon von verschiedenen Treffen, wo dieser sich hochpotente Zaubertränke besorgt hatte und dem Sumpfhexer Organe und andere Körperteile getöteter Feinde überließ. Dann war da noch dieser quirlig aussehende Bonzo Prank, der irgendwo in der Gegend von Viento del Sol wohnte und als Flugbesenbauer sein Geld verdiente. Die Woodworm-Zwillinge Alan und Acerinus hatte er bisher noch nie getroffen, erkannte sie aber an ihrer Ähnlichkeit und den weizenblonden Haarschöpfen.

"Ihr seid ein wenig zu früh hier", knurrte Roots, der den Umgang mit zu vielen Menschen auf einmal scheute und deshalb nicht leiden mochte, sie schon jetzt zu treffen.

"Sagen wir es so, Pompeius, wenn wir später gekommen wären wären wir dir immer noch zu früh gewesen", sagte Bonzo Prank gehässig. Das mochte stimmen, paßte dem Sumpfhexer aber nicht. Die Eulen der vier Einzelgänger, die sich hier nolens volens zusammenfanden, waren ja erst vorgestern eingetroffen. Damals wußte noch niemand, daß der englische Erzdunkelmagier Voldemort sich aus der sicheren Deckung wagen würde und nun alle Welt ihn und seine Leute jagte oder vor ihm flüchtete.

"Bonzo, du vergisst immer gerne, mit wem du gerade redest", fauchte Roots. "Daß ich euch Halunken überhaupt hier in meiner ruhigen Zuflucht dulde verlangt nach Respekt. Also reize mich nicht zu Sachen, die dir nicht gefallen dürften! Klar?"

"Kommen wir zur Sache, Amici!" Verlangte Fontenera. Roots sah ihn etwas irritiert an. Er sagte ihm:

"Du magst für deine Familie und deren Anhängsel der Befehlshaber sein, Massimo. Aber hier in den Sümpfen sag nur ich, wo es langgeht. Daran hast auch du dich zu halten, Amico mio."

"Ich wollte dir und uns lediglich unnötiges Geplapper ersparen, Pompeius", sagte Fontenera und strich sich beklommen über sein Jackett, das an einigen Stellen leicht ausgebeult war. Er hatte nicht nur den Zauberstab, sondern auch eine halbautomatische Pistole mitgenommen. Umwelt färbte eben doch ab.

"Wollen wir hier draußen hocken oder dürfen wir reingehen?" Fragte Alan Woodworm. Roots sah den Mann, der nur zwanzig Jahre alt war verächtlich an, weil der so frech sprach. Dann sagte er:

"Tretet eure Schuhe auf der Fußmatte sauber. Ihr habt keine Sumpfstiefel an wie ich, und den ganzen Dreck rauszufegen habe ich keine Lust."

"Sehr freundlich", grinste Acerinus Woodworm verächtlich. Die anderen beiden schwiegen.

In der Hütte machte Pompeius Roots für alle Tee und ließ sie auf den Hockern aus zersägten Baumstämmen sitzen. Dann hörte er sich an, was die Bande bei ihm zu besprechen hatte und sprach mit den vieren über das, was er von dem Stein der großen Erdmutter gehört oder gelesen hatte. Es stellte sich heraus, daß Alan Woodworm, der als Angestellter im Büro für magische Ausbildung und Studien arbeitete, etwas mehr über die Unterwasserhöhlen wußte, die den Stein beherbergen sollten.

"Wer da rein will, muß in sehr tiefes Wasser tauchen können. Die Kopfblasenmagie wirkt nur bis hundert Metern Tiefe, dann wird's eng. Es geht also nur mit diesem Glibbertang, diesem Dianthuskraut. Dann heißt es in "Artefakte alter zeitalter, daß diese Höhle wohl einmal eine magische Festung gewesen sein soll. Angeblich soll sie nur von Zauberern und Hexen betreten werden können, die irgendwelche alten Worte und Bilder kennen. Welche Worte und Bilder das sind weiß ich bis jetzt nicht. Vielleicht kann man diese Höhlen auch entfluchen."

"Diese Unterwasserhöhlen beherbergen gefräßige Riesenschnecken, fleischfressende Tangpflanzen und Biester, die aus Haien und Kalmaren zusammengekreuzt worden sein sollen", sagte Acerinus, der in der Tierwesenbehörde Amerikas arbeitete. "Ich bekam das mit, weil jemand ein solches Monster gezüchtet hat und sich dabei auf uralte Schriften berufen haben wollte. Der Typ sitzt jetzt in Doomcastle."

"Und die Schriften?" Fragte Roots.

"Hmm, die liegen im Wissenskerker. Da kommt nur ran, wer sich durch Zaubertränke und besondere Mentalschlüssel gegen die gestaffelten Zauberfallen behauptet und die schweren, mit Decompositus und anderen Flüchen beladenen Türen aufmachen kann", sagte Acerinus. Der Wissenskerker war ein Superhochsicherheitsverlies in Gringotts New York, wo als gemeingefährlich eingestufte Bücher und Dokumente untergebracht wurden, die deshalb nicht vernichtet wurden, weil man sie später vielleicht noch einmal brauchte, um gemeingefährliches Zauberwerk zu beseitigen.

"Will sagen, wir müssen in den Wissenskerker, diese Schriften rausholen, studieren, verstehen und die Höhlen finden, um dann an allen Hindernissen und Monstern vorbei zu diesem Stein zu kommen, und das alles in höchstens zwei Stunden, weil das die größte Zeitspanne ist, die der Körper mit Dianthuskraut aushält. Also alles total lockerleicht", spottete Alan Woodworm. Roots ärgerte sich, daß er seinen Zauberstab nie griffbereit hatte, um diesen Burschen da ein wenig zu züchtigen. Er sagte nur:

"Wann sagtest du, Massimo, wann unser englischer Ehrengast kommen wollte?"

"Mir hat er was vom vierundzwanzigsten erzählt, Pompeius", erwiderte Massimo Fontenera.

Ein kaum hörbares Sirren verriet, daß eine Stechmücke durch eines der Fenster hereinschwirrte. Sie flog zielstrebig auf Roots zu und machte Anstalten, ihm ihren Rüssel ins rechte Ohr zu bohren. Alan sah das blutgierige Insekt und wollte schon danach schlagen. Doch Roots wehrte seine Hand ab und blickte ihn warnend an. Dann schien er auf irgendwas zu lauschen. Dann spannte sich sein Gesicht an. Seine Augen rückten eng zusammen.

"Leute, wir werden ausspioniert", warf er unvermittelt hin.

__________

Anthelia und Patricia saßen etwa fünfzig Meter von der Hütte entfernt auf einem Felsbrocken. Sie hatten sich durch Zauberkraft unsichtbar gemacht und mit Hilfe des Exosenso-Zaubers in die Wahrnehmungswelt der Zwillingsbrüder eingeschlichen, ohne daß diese davon etwas merkten. So horchten und beobachteten sie eine Zeit lang die Plauderei. Zwischendurch wehrte Delila Pokes, die die in Exosenso-Trance verfallenen Hexen behütete, alles mögliche Getier ab, darunter eine Schlange und einen Haufen Mücken. Doch gerade das war das Verhängnis. Als Anthelia und Patricia gerade hörten, wo ungefähr die Höhle sein sollte, erzählte Roots, daß sie ausspioniert wurden.

"Verdammt, dieses Insekt hat uns verraten", schnaubte Anthelia, nachdem sie blitzschnell die Exosenso-Verbindung gelöst hatte. Patricia, die es wohl auch begriffen hatte, daß jede weitere Beobachtung sinnlos war, sprang auf. Zwar konnte sie keiner sehen, doch die fliegenden Insekten mochten sie gerochen haben. Das war das ganze.

"Roots kann das Elixier brauen, mit bestimmten niederen Lebewesen zu kommunizieren", ärgerte sich Patricia. "Ich hörte davon. Aber jetzt müssen wir handeln, höchste Schwester."

"Allerdings", schnaubte Anthelia, die nicht daran gedacht hatte, daß es Zauber gab, die allgegenwärtigen Insekten dieser Gegend als Gegenspione einzusetzen. Diese Nachlässigkeit machte sie nun wütend.

"Wir müssen sie fangen, bevor sie flüchten. Zieht die Mauer hoch!"

Schnell hatten Anthelia und Patricia Straton den fünf weiteren Schwestern die in fünfhundert Metern Umkreis standen durch Gedankenbotschaften die Anweisung gegeben, sich genau um die Hütte herum aufzustellen und einen Antidisapparierfluch zu wirken, um die fünf Zauberer dort drinnen an der schnellen Flucht zu hindern. doch kaum hatten sie angefangen, diesen gemeinsamen Fluch zu sprechen, stürmten die fünf Zauberer aus der Hütte. Offenbar hatte Roots von seinen kleinen Spionen erfahren, wo die unerwünschten Beobachter waren. Die Woodworms sprachen einen gemeinschaftlichen Zauber, der einen magischen Lichtwirbel erschuf, der wild und farbig auf die unerwünschten Beobachter zuraste. Roots trank rasch aus einem Becher und winkte jemandem, den man aus dieser Entfernung nicht sehen konnte. Dann passierte es.

Von Sekunde zu sekunde verdichtete sich eine Wolke aus hunderten von Mücken um Roots, umhüllte ihn wie ein schwirrender, schwärmender Mantel vom Hals bis zu den Zehen. Das allein war nicht das besonders unangenehme. Doch als sich einzelne Tiere aus der Wolke lösten und innerhalb von zehn Sekunden zu männerkopfgroßen Riesenmücken anwuchsen, wurde es gefährlich.

"Dieser vermaledeite Panscher!" Brüllte eine Mitschwester Anthelias, als zwei der aufgeblähten Kerbtiere auf sie zuschwirrten und dabei ein bedrohliches Summen von sich gaben wie angriffslustige Modellflugzeuge der Muggelwelt. Die Luftstreitmacht von Pompeius Roots wurde von Sekunde zu Sekunde zahlreicher. Eine der Spinnenschwestern konnte die sie angreifenden Monstermücken nicht rechtzeitig zurückschlagen und wurde in den Hals und den Bauch gestochen. Unter Röcheln und schmerzhaften Zuckungen fiel sie um, konnte die brummenden Biester nicht mehr von sich abhalten und wurde innerhalb einer Minute restlos ausgesaugt. Anthelia wußte, daß sie die Flucht der fünf nicht verhindern konnten und besser selbst so rasch wie möglich verschwinden mußten. Sie schleuderte Feuerstrahlen und Flammenbälle gegen das Insektengeschwader. Andere taten es ihr gleich. Dann ertönten noch die Ausrufe des tödlichen Fluches. Gleißend grüne Blitze sirrten durch die gegend. Einer traf die Spinnenschwester rechts neben Patricia. Diese hatte derweil beschlossen, dem Sumpfhexer mit gleicher Münze heimzuleuchten. Sie hatte eine Spinne mit dem Aufrufezauber hergeholt und innerhalb von Sekunden zu einem Ungetüm von der Größe eines Gartenhäuschens aufgeblasen. Mit dem Imperius-Fluch jagte sie das beschworene Ungeheuer auf die Monstermücken. Anthelia, die gerade an die Flucht dachte, zerstreute gerade den wilden Wirbel mit einem Gebilde aus grünem Licht, das wie ein gieriger Schlund auf den Wirbel zuschnellte und ihn einsog, um dann mit lautem Knall zu zerplatzen. Offenbar war den fünf Zauberern daran gelegen, die ungebetenen Gäste zu fangen und zu verhören. Denn sie dachten nicht an Flucht, sondern versuchten, den Imperius-Fluch und Schocker auf die noch kampffähigen Hexen zu schleudern. Antehlia sah die Armada der Riesenmücken immer mehr anwachsen, denn im Körper von Pompeius Roots pulsierte der Schwelltrank, der nur wirkte, wenn das damit angereicherte Blut herausgesogen wurde. Anthelia wußte sich unter dieser überhandnehmenden Macht keinen anderen Ausweg mehr.

"Bollidius!" Rief sie, gerade als sieben blutgierige Bestien auf sie zurasten. Der Blau-grüne Feuer ball aus dem Zauberstab zischte knapp an den Ungetümen vorbei und krachte mit dumpfem Knall gegen die Hütte. Sofort umtoste eine rotgoldene Flammenwolke das Holzhaus. Die Spitzen der Feuerzungen leckten an Pompeius Roots und ließen ihn wie eine Fackel aufflammen. Die vier anderen Zauberer disapparierten unverzüglich. Anthelia holte mit dem Zauberstab aus, als der dolchartige Rüssel einer Riesenmücke sie am Hals traf. Sie fühlte, wie sie schlagartig schwächer wurde, während um sie herum weitere Feuerstöße und Mondlichthämmer die Monster zurückprellten. Mit einer letzten schon an Verzweiflung heranreichenden Anstrengung richtete Anthelia den Zauberstab gegen sich selbst und dachte konzentriert:

"Infrunita!" Ihr Körper wurde mit einem mal giftgrün, soweit man durch den weißen Umhang was davon sehen konnte. Ein Gestank wie von faulen Eiern strömte aus Anthelias Poren aus. Dann fiel die Riesenmücke von ihr ab, krachte zu boden und fiel innerhalb einer Sekunde zu einem Haufen aus aufgeweichtem Chitin zusammen, der nicht einmal mehr zuckte. Als hätten die anderen Mücken verstanden, daß ihre Artgenossin gerade getötet worden war, schwirrten sie rasant davon, geradewegs in das hastig gewebte Netz dreier von Patricia gezauberten Riesenspinnen.

"Höchste Schwester, was ist mit dir?!" Rief Delila, die sich in eine Aura aus roten und grünen Funken eingehüllt hatte, um anfliegende Mücken zurückzutreiben.

"Mir wird es gleich wieder gut gehen", schnarrte eine unheimlich tiefe, glucksende Stimme aus Anthelias verwandeltem Körper.

Patricia sah, wie der Schwarm entstandener Riesenmücken vor dem lodernden Feuer aus der Hütte floh, während ihr Beschwörer gerade zu einem Haufen schwarzer Asche zerfiel, der vom heißen Atem des Feuers wie Sand im Wüstenwind zerstreut wurde.

Die letzte noch kampflustige Mücke fluchte Patricia mit dem Mondlichthammer genau in die Flammenwand um die nun schon zu kohlschwarzen Trümmern zerfallene Hütte, wo das magisch aufgeblähte Insekt mit lautem Knall zerplatzte. Dann war es vorbei.

Anthelias verwandelter, üblen Gestank verbreitender Körper stand ruhig atmend da, den Zauberstab in einer wie vermodert wirkenden Hand haltend. Dann, unter einem merkwürdigen Laut, der erst tief und blubbernd und dann nach oben und schrill ertönte, verwandelte sich Anthelia unter schmerzhaften Zuckungen in ihre eigentliche Gestalt zurück. Als leide sie höllische Schmerzen oder läge gerade in heftigen Geburtswehen stieß sie spitze Schreie aus und hächelte wild. Dann war die Umwandlung vollendet. Der penetrante Gestank nach faulen Eiern verwehte im Wind und ließ nur den nicht gerade angenehmeren Gestank nach verrottenden Wasserpflanzen und feuchtem Morast zurück.

"Moment, ich muß erst meinen Hals wieder heilen", schickte Anthelia eine Gedankenbotschaft an Delila, die auf sie zusprang und dabei ihre Funkenwolke zerstreute. Mit dem zauberstab vor der angebohrten Kehle stand Anthelia einige Sekunden starr da, während sich ein pulsierender Blutstrom über ihren weißen Umhang ergoss. Dann heilte die Wunde zu. Anthelia keuchte unter dem Blutverlust, doch stand aufrecht und willensstark da.

"Es ist jetzt alles wieder im Lot", sagte die Führerin der Spinnenschwestern. "Ich reinige mein Blut von den Resten dieses widerlichen Speichels, bevor ich zu sehr geschwächt werde." Sie nahm das unter dem blutgetränkten Umhang baumelnde runde Medaillon, das aus fünf verschiedenen Metallen zusammengesetzt war und hielt sich den augenförmigen Rubin in dessen Zentrum an den Körper. Dabei murmelte sie einige Zauberworte, worauf hin der Rubin zu leuchten begann und den gesamten Körper erstrahlen ließ. Eine halbe Minute stand Anthelia da, durchdrungen von orangerotem Licht, bis sie das Medaillon fortnahm und wie das blühende Leben selbst aussah. Dann hob sie den Zauberstab erneut, machte eine rasche Drehbewegung und stand in einem völlig sauberen rosaroten Umhang.

"Heh, du beherrscht diesen zauber ja noch besser als ich", bewunderte Patricia Straton ihre Anführerin.

"Will ich wohl meinen, Schwester Patricia", lachte Anthelia mädchenhaft. "Immerhin mußte ich mich manchmal viermal am Tag umkleiden und war es bald leid, andauernd in eine Kleiderkammer zu gehen oder eine Tasche mit den entsprechenden Gewändern mitzuschleppen.

"Zwei von uns mußten dran glauben, Höchste Schwester. Sie haben die Abwehr dieser Ungeheuer nicht richtig hinbekommen", sagte Delila Pokes und deutete auf zwei Frauenleichen, die wie leere Ledersäcke wirkten, so ausgetrocknet waren sie vom allzuraschen Blutverlust.

"Immerhin haben die anderen den genialen Gegenangriff dieses Sumpfdruiden überlebt", sagte Anthelia kalt. Ob sie mitfühlte was die toten Mitschwestern anging, wußten Patricia Straton und Delila Pokes nicht. Vielleicht war Anthelia auch so eiskalt, daß sie nichts dabei fühlte, wenn welche aus ihren Reihen starben. Doch das würde die höchste Schwester nicht verraten, wußten beide Hexen aus der Gründungsgruppe des Spinnenordens.

"Was war das für ein Zauber, den du auf dich selbst angewendet hast?" Fragte Patricia Straton.

"Ein Zauber, der dich selbst für blutdurstige oder dein Fleisch begehrende Bestien ungenießbar macht, solange du die Kraft aufbringst, das Gefühl der Zersetzung deines Körpers zu verdrängen. Schaffst du es nicht, zerfällst du bei lebendigem Leib in eine verfaulte, moderige Masse vergifteten Fleisches. Kostet ein dich angreifendes Tier von deinem Fleisch oder Blut, während dieser Zauber dich durchdringt, wird es augenblicklich von giftiger Säure durchdrungen und verendet, wie ihr es habt sehen dürfen. Wie gesagt ist dieser Zauber eine letzte Notmaßnahme, um das Gefressenwerden zu verhindern und bedarf großer Geistesanstrengung, sobald er in Kraft tritt."

"Ja, aber deine Stimme? Was war damit?" Fragte Patricia.

"Eine Nebenwirkung. Nicht nur sichtbar, riech- oder fühlbar widerst du an, sondern auch hörbar. Aber zu sprechen während du den Zauber wirken läßt ist gefährlich, eben weil die Konzentration verlorengehen kann. Wie dem auch sei, wir haben zwar einiges erfahren, aber nicht das wichtigste. Außerdem sind uns vier dieser Bande entwischt und könnten ihm eine Warnung zukommen lassen, daß hierorts ihm feindlich gestimmte Hexen wohnen. Vor allem diesen Massimo Fontenera hätte ich zu gerne in die Hände bekommen, da mir deucht, er halte die Fäden dieser Bande in Händen."

"Wo er wohnt wissen wir ja", sagte Patricia Straton. "Das Problem ist nur, daß er seinen Feindesbann wirken wird, wenn wir ihn dort aufsuchen."

"Dann werden wir ihn eben dazu treiben, seine sichere Heimstatt zu verlassen, ihm vorgeben, seine Bruderschaft von Schurken und Beutelschneidern kehre ihm den Rücken oder führe Mordpläne wider ihn im Schilde. Wir haben noch genau sechs Tage Frist, bis jener Emporkömmling da selbst ankommen wird. Bündeln wir unsere Kräfte darauf, die seiner harrenden Magier zu überwältigen, wenn nicht auf einem Haufen dann einzeln."

"Gut, höchste Schwester", sagte Delila Pokes. "Ich werde dir dabei helfen."

"Ich dir auch", sagte Patricia rasch. Im Moment wußte sie nicht, ob sie Anthelia immer noch uneingeschränkt folgen wollte oder nicht. Doch jedes Zögern würde sie in heftige Schwierigkeiten bringen.

"Verschwinden wir!" Rief Anthelia. Da rasten zwei der drei Riesenspinnen auf die Hexen zu. Denn Patricias Imperius-Fluch galt den Riesenmücken. Die waren jedoch schon fort. Womöglich würden sie wiederkommen, wenn das Feuer niedergebrannt war. Doch ob sie überhaupt in dieser Größe blieben war fraglich. Die Spinnenschwestern, die das magische Scharmützel mit den fünf versammelten Einzelzauberern überstanden hatten, disapparierten. Die Spinnen fraßen die blutleeren Leiber der im Kampf gestorbenen.

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Massimo Fontenera zitterte, als er in seiner sicheren Zuflucht apparierte. Das war ihm zu schnell gegangen, die weißen Gestalten, Roots Schwellmückenzauberei und die ganzen Flüche. Roots hatte verlangt, mindestens eine von denen festzunehmen. Doch das war nicht gelungen, und die Riesenmücken hatten nicht so gewirkt, als würden sie Freundes- von Feindesblut unterscheiden können. Jedenfalls waren sie ausspioniert worden. Das hieß, jemand war ihnen bereits auf der Spur gewesen, was ihn wiederum an die Sache mit der Vase für Petrocelli denken ließ. Doch es gab jetzt wichtigeres zu tun. Er mußte Voldemort schreiben, was sie besprochen hatten und daß noch wer anderes hinter dem Stein herjagen würde. Anders konnte er es sich nicht erklären, daß diese weißen Gestalten, wohl überwiegend Hexen, ihnen so hartnäckig nachgestellt hatten. Waren das vielleicht jene Nachtfraktionärinnen, die schon immer gegen ihn, den dunklen Lord, aufbegehrt hatten? Es konnte nicht anders sein. Ja, und diese verfluchten Schwestern hatten auch seinen todsicheren Anschlag auf Ricardo Petrocelli vereitelt und ihm diesen Muggelkonkurrenten erhalten. Doch der war jetzt wirklich das kleinere Übel von allen.

Der Capo des Fontenera-Clans schrieb rasch einen Brief an "den großmächtigen Lord Voldemort" und disapparierte, um einige hundert Meter entfernt, in einem kleinen Schuppen eine von fünf Eulen damit loszuschicken. Sein geheimes Arbeitszimmer war schalldicht, sodaß er von dort aus unbemerkt disapparieren oder dort apparieren konnte. Doch wenn er Eulen verschicken wollte war es besser, daß weit genug von seinem Haus entfernt zu tun, wo die Späher des FBI ihn nicht vermuten würden.

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Alan und Acerinus Woodworm standen außer Atem vor einem halb verfallenen Haus. Sie waren hierher gekommen, weil sie sich hier mit einigen anderen Zauberern treffen wollten, die nicht zu dem Treffen mit Pompeius Roots kommen wollten. Sie sprachen darüber, was geschehen war und was sie davon zu halten hatten.

"Irgendwer hat uns schon länger nachgeschnüffelt. Wahrscheinlich haben sie diesen Mafia-Burschen Fontenera beobachtet, weil der ja auch zu auffällig herummacht", beschwerte sich Alan. Acerinus nickte seinem Bruder zu und entgegnete:

"Jetzt hängt es an uns, diese Höhlen zu finden, bevor der dunkle Lord hier aufkreuzt. Wenn wir dem nix bieten, bringt der uns um."

"Hörst du wohl damit auf! Ich habe einen tierischen Bammel, wenn ich dran denke, daß wir uns diesem Irren anschließen sollen und der dafür bekannt ist, alle totzufluchen, die ihn schräg ansehen. Wer kam eigentlich auf diese hirnamputierte Idee?"

"Brüderchen, wenn ich mich recht entsinne hast du mir diesen Brief gezeigt, von diesem McNair oder wie der Kerl heißt, der in England böse Monster köpft. Ich wollte dem nicht antworten, daß wir uns sehr gerne mit dem dunklen Lord zusammentun würden. Wenn's nach mir gegangen wäre hätten wir diesen Brief sofort verbrannt. Oder denkst du, ich will so enden wie die Schwarzbergs oder in mehrere Einzelteile zerflucht werden wie die Leute von denen?"

"Verstehe ich, Rinie. Aber wenn ich nicht geschrieben hätte, daß wir mit diesem Typen zusammenkommen wollen, hätte dieser Henker unsere Köpfe abhauen dürfen. Mit dem dunklen Lord ist nicht zu spaßen, und ein Nein nimmt der gar nicht hin. Der kennt unsere Geschichte, weiß, daß wir nicht sonderlich gut mit den Muggelschutzparagraphen stehen und kann uns sogar damit hinhängen, wenn er sich die Pfoten nicht schmutzig machen will. Ich will nicht nach Doomcastle."

"Ja, und ich will nicht von einem heftigen Fluch zerbröselt werden. Sollen wir dem dunklen Lord schreiben, was passiert ist?" Wollte Acerinus wissen. Sein Bruder schüttelte den Kopf.

"Ich bin nicht lebensmüde und erzähl dem das noch. Nachher kommt der auf die Idee, wir hätten ihn schon verpfiffen. Nein, ich schreibe dem kein Wort", stellte Alan klar. Dann trafen vier vermummte Gestalten ein, die sich mit dem Losungswort "Fliegenpilz" zu erkennen gaben.

Als die Woodworm-Brüder in das Haus ihrer Eltern bei Cloudy Canyon zurückkehrten, fühlten sie sich endlich sicher.

"Mom, Dad, wir sind zu Hause!" Rief Alan Woodworm. Doch es kam keine Antwort.

"Hey, Mom und Dad! Wir sind zu Hause! Was gibt's zu essen?!" Rief Acerinus. So lief das schon seit dem sie sprechen konnten und von der Zeit in Thorntails abgesehen jeden Abend.

"Eh, wo sind die?" Fragte Alan Woodworm.

"Hoffentlich ist zumindest was zu essen da. Ich schiebe schon Kohldampf."

"Die werden wohl im Jauchzenden Jarvey sein", meinte Alan.

"Denke ich auch", sagte Acerinus und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.

Auf der bequemen Wildledercouch saß eine junge Frau mit dunkelbraunem Haar, das ihr seidig und fließend den Rücken herabreichte. Sie blickte die beiden mit ihren dunkelgrünen Augen an, die einen leichten Graustich aufwiesen.

"Ach neh, Patty Straton ist hier", lachte Alan. "Wer hat dich'nn reingelassen?"

"Eure Mom war so frei, bevor sie mit eurem Dad in diese Jarvey-Bude gegangen ist", sagte Patricia Straton ganz ruhig. Die beiden Jungen da kapierten es nie, wann sie auf der Hut sein sollten.

"Und was willste hier?" Wollte Acerinus wissen.

"Einen guten Rat wollte ich euch geben. Mit diesem Voldemort solltet ihr euch nicht anfreunden oder gar verbünden. Das würde euch nicht gut bekommen."

Alan pfiff durch die Zähne und grinste verschlagen. "Ach, dann bist du eine von denen, die heute nachmittag ..."

"Eh, hältst du wohl das Maul!" Zischte Acerinus. Alan sah seinen Bruder überlegen an und meinte:

"Die kann uns doch nix. Die sitzt doch da ganz alleine, und wir sind zwei."

"Nicht mehr lange, wenn ihr diesem Irren nachlaufen wollt. Junge, ich meine es gut mit euch, weil ich euch von Thorny her als welche kenne, die nie so recht in der Spur waren. Ihr seid zu jung zum sterben."

"Du auch, Patty", lachte Acerinus und zog seinen Zauberstab. "Soll ich dich jetzt mal ein bißchen totfluchen?" Fragte er herausfordernd. "Wäre kein Ding, Baby."

"Du hast gerade zwei dumme Sachen zu mir gesagt, die ich keinem durchgehen lasse", sagte Patricia Straton kalt lächelnd. Acerinushob den zauberstab an, um was zu sagen, als ihm der Arm von einer unsichtbaren Macht niedergehauen wurde. Klappernd landete sein Zauberstab auf den Bodendielen. Alan wollte seinen Zauberstab herausholen, doch da erwischte ihn irgendwas unsichtbares von vorne und warf ihn einfach um. Im Fallen sah er die große Krähe, die auf der fünfflammigen Deckenlampe thronte.

"Mist, was geht denn hier ab?" Rief Alan und versuchte, mit gezücktem Zauberstab wieder hochzukommen. Da erwischte ihn der Schockzauber Patricias. Acerinus, der gerade nach seinem entfallenen Zauberstab fischte, wurde von einer unsichtbaren, nichtgreifbaren Hand am rechten Arm gepackt und wie in einen Schraubstock eingezwängt festgehalten.

"Stupor!" Rief Patricia Straton und schickte den zweiten Woodworm-Jungen ins Reich der Träume.

Die Krähe schwang sich von der Deckenlampe und landete mit flatternden Flügeln neben Patricia. Es vergingen nur Sekunden, da verwandelte sich der schwarze Vogel in eine Frau in rosarotem Umhang.

"Du hattest recht, Schwester Patricia. Die beiden sind einfältig. Daß die meinten, einer dunklen Gilde beitreten zu können erstaunt mich. Ich denke nicht, daß der Emporkömmling sie länger als nötig in seinen Reihen geduldet hätte. Bringen wir sie in unser Haus, um sie zu verhören!"

"Wie du befiehlst, höchste Schwester", sagte Patricia Straton. Sie schrumpfte die beiden Zauberer auf Handgröße ein und disapparierte mit ihnen zusammen.

In der Daggers-Villa schuf Anthelia einen Klangkerker im Weinkeller und rückvergrößerte die beiden wieder. Dann forschte sie einen nach dem anderen legilimentisch aus, bis sie wußte, wie die beiden darauf gebracht worden waren, sich mit dem sogenannten dunklen Lord einzulassen. Als sie alles wußte, was sie wissen wollte, fragte sie Patricia Straton:

"Sollen wir sie leben lassen oder was? Immerhin könnten sie uns noch nützlich sein."

"Wenn wir sie verschwinden ließen fiele es auf. Ich bin dafür, wir modifizieren ihre Gedächtnisse, daß sie denken, das Treffen mit dem Emporkömmling habe bereits stattgefunden und er habe sie nicht in seine Reihen aufnehmen wollen. Das könnte reichen", sagte Patricia Straton. Anthelia nickte. Die beiden waren wirklich noch zu jung zum sterben. So nahm sich die höchste Schwester des Spinnenordens für jeden eine halbe Stunde zeit, um die entsprechenden Erinnerungen zu erstellen, die den beiden vorgaukelten, sie hätten sich schon bei der Hütte mit ihm getroffen und er habe sie für zu unausgegohren angesehen. Die Bilder und Eindrücke mußten so stark sein wie es nur ging. Als die beiden jungen Zauberer schließlich wieder in ihrem Elternhaus aufwachten, fühlten sie sich enttäuscht, aber auch erleichtert, daß der dunkle Lord sie nach eingehender Prüfung nicht zu seinen Leuten machen wollte, sie aber auch nicht als unliebsame Mitwisser getötet, sondern ihnen lediglich einen Fluch der Verschwiegenheit aufgehalst hatte. Deshalb sprachen sie auch kein weiteres Wort darüber.

Mit den anderen Zauberern, die dem dunklen Lord ihre Gefolgschaft anbieten wollten verfuhren Anthelia und ihre Spinnenschwestern weniger gnädig. Am neunzehnten Juni verunglückte Bonzo Prank bei einem Probeflug, weil der von ihm reparierte Bronco Centennial unvermittelt durchging und ihn erst hundert Meter hochtrug und ihn dann so wuchtig abwarf, daß er vergaß, zu disapparieren. Zwei Tage darauf flog Ian Crusher mit einem Kessel voller Zaubertrank in die Luft, weil irgendwer vorhin etwas Nitroglyzerin hineingerührt hatte, das bei der Erhitzung reagierte.

Massimo Fontenera bekam von diesen Zwischenfällen nichts mit, da er in den Tagen nach dem Zwischenfall bei der Sumpfhütte mit seinen eigenen Leuten mehr als genug zu tun hatte. Einmal lieferte sich einer seiner Jungs eine Schießerei mit einer Straßenbande, ohne daß es nötig gewesen wäre. Ein anderes Mal wurden illegale Waren, die er nach Atlanta, Georgia schmuggeln lassen wollte, unterwegs "verloren" und landeten über einen zweitägigen Umweg bei einem rivalisierenden Clan in Chicago. Als er die verantwortlichen Männer zur Rede stellen wollte, waren die nicht auffindbar, sodaß er eine Suchaktion nach ihnen einleitete.

"Das geht nicht mit rechten Dingen zu", schnaubte er, als er erfuhr, daß jemand ein von ihm in Schutzgeldzwang gehaltenes Restaurant in Brand gesteckt hatte, ohne daß er dazu den Befehl erteilt hatte.

"Irgendwer will mich bei den anderen Clans unfähig erscheinen lassen. Das sind bestimmt diese vermaledeiten Leute, die uns an der Hütte ausspioniert haben. Weil sie an mich nicht rankommen, greifen sie die Muggel ab, die für mich schaffen. Wenn ich denen das noch länger durchgehen lasse verliere ich alles, was ich über Jahre aufgebaut habe." Er versuchte, alle ihm noch treuen Gefolgsleute per Telefon, Festnetz und mobil, zusammenzutrommeln und in sein bescheidenes Haus zu locken. Dabei erfuhr er, daß eine Ladung Falschgeld, die er in einer kleinen Bank bei New York einschmuggeln wollte, bei der Polizei gelandet war und ihm das FBI und die auch für die Währungssicherheit zuständige Leibwache des amerikanischen Präsidenten auf der Spur war.

"Irgendwer hat mich gründlich ausgekundschaftet", sagte er sich. "Wenn ich jetzt Schwäche zeige, bin ich alle Macht los. Wenn ich jetzt mit Magie dreinschlage, kommt mir dieser Pole und seine Strafverfolgungstruppe in die Quere."

Als am 23. Juni durchsickerte, Petrocelli habe sich neue Verbündete gesucht, mit denen er seine alte Vormachtstellung zurückgewinnen würde, konnte Fontenera nicht mehr länger stillhalten. Er befahl, die Villa des New Yorker Konkurrenten anzugreifen.

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"Das ist jetzt schon der dritte in zwei Tagen, Sir", sagte Arco Swift, der Leiter der Abteilung für magische Strafverfolgung zu Minister Jasper Pole.

"Wovon sprechen Sie, Arco?" Fragte Pole irritiert. Swift errötete und räusperte sich verlegen.

"In den letzten Tagen sind drei Zauberer bei Unfällen ums Leben gekommen, die von meiner Sondierungsgruppe beobachtet wurden, weil sie früher im Verdacht standen, mit diesem britischen Dunkelmagier zu paktieren, Sir, Sie-wissen-schon-wen."

"Das Sie als oberster Strafverfolgungszauberer der USA den Namen Voldemort nicht aussprechen wollen erstaunt mich doch, Arco. Aber sei's drum. Was ist da genau passiert, wovon sie denken, es sei für mich von Bedeutung?"

"Nun, begonnen hat es mit Bonzo Prank, dem Besenbauer in Viento del Sol. Angeblich habe er den Flugzauber eines Centennials nicht richtig ausbalanciert. Dann flog Ian Crusher, einem versierten Braumeister ein Kessel Zaubertrank so heftig um die Ohren, daß er von den Splittern durchbohrt und getötet wurde, und vor wenigen Minuten fand man Tobias Mugget, der von einem silbernen Breitschwert an die Wand seiner Zauberschmiede genagelt worden war. Wir haben versucht, Handspuren zu sichern. Doch es gibt keine außer denen des Opfers."

"Achso, Arco. Dann frage ich noch einmal, was daran für mich von Bedeutung sein soll?" Gab Pole leicht entrüstet zurück.

"Diese drei Zauberer haben vor fünfzehn Jahren an konspirativen Treffen teilgenommen, bei denen aus heutiger Sicht erwiesene Todesser teilgenommen haben. Dieser Lucius Malfoy, der angeblich unter dem Imperius-Fluch gestanden haben soll hatte damals vermeintliche Handelsbeziehungen mit diesen Leuten knüpfen wollen. Meine Inobskuratoren haben recherchiert und ermittelt, daß diese Leute sich gemäß unserer Sozialbewertungsskala in einigen Punkten gegen die gültigen Gesetze aufgelehnt haben. Sie haben keine offenen Gesetzesverstöße begangen, was aber nichts heißen will."

"Arco, wenn man Sie so hört müßten wir alle in einem Polizeistaat leben. Hatte ich Ihnen nicht bei meinem Amtsantritt die Anweisung gegeben, ihre sogenannte Sondierungsgruppe aufzulösen? Jetzt sehen wir, was wir davon haben. Sie sind paranoid, nur weil innerhalb von zwei Tagen drei Zauberer bei Unfällen gestorben sind."

"Sir, bei allem Respekt, die Aufrechterhaltung meiner Truppe wird uns demnächst viel Ärger ersparen. Bedenken Sie, daß wir die Schwarzbergs schon sehr gut observiert haben."

"So gut, daß ich von meinem russischen Kollegen Arcadi einen Brief bekam, was wir in der Angelegenheit regelmäßiger Nachttreffen unter einer magischen Sonnenlichtkugel unternehmen würden, weil die auf den Kunstmondspionagebildern der russischen Streitkräfte aufgetaucht sind", knurrte der Minister. "Dann wollten Sie mir vor vier Monaten verkaufen, Pandora Straton sei wohl zur dunklen Seite konvertiert. Lächerliche Anschuldigung. Insofern, wo viel spioniert wird kommt auch viel dummes Zeug zusammen."

"Sir, noch einmal bei allem Respekt, Pandora Straton ist noch nicht völlig von jedem Verdacht entlastet", erwiderte Swift. Pole hieb auf seinen Schreibtisch.

"Unschuldig bis zum Beweiß der Schuld, Swift! Das fangen wir jetzt nicht an, nur weil dieser Wahnsinnige in England aus seinem Loch gekrochen ist! Verdammt noch mal. Wenn Sie nicht etwas mäßiger mit ihren Kundschaftern und den von diesen erlangten Informationen umgehen, werde ich Ihnen gerne die nötige Ruhepause gönnen, die Sie offenbar nötig haben."

"Minister, das muß ich mir verbitten", schrie Swift zurück. Das muß ich mir entschieden verbitten. Ich habe schon unter ihrer Vorvorgängerin Greengrass meine Arbeit sehr sorgfältig gemacht und nie übereilt auf irgendwas geschlossen, nur weil es sich anbot. Ich stelle nur fest, daß diese Unfälle diesen Zauberern, die alle Meister des Faches waren, so nicht hätten passieren dürfen. Irgendwer hat daran manipuliert, und zwar so, daß es bei oberflächlicher Betrachtung nicht auffällt. Dann stellt sich doch die Frage, wer das war und warum er beziehungsweise sie es getan hatte beziehungsweise haben? Diese Frage wird doch wohl erlaubt sein, Herr Minister."

"Und wer war's und warum hat er was getan?" Fragte der Zaubereiminister.

"Wir vermuten die Nachtfraktion der schweigsamen Schwestern. Allerdings wissen wir nicht, wen wir dazuzählen dürfen - außer Pandora Straton und Patricia McDuffy."

"Nicht schon wieder. Im November haben wir doch schon diese Pleite erlebt, weil eine magosensorische Muggelfrau, eine Bundespolizeiagentin, ein Gespräch zwischen drei Hexen belauscht haben will, die sich mit Schwestern angesprochen haben. Der zuständige Leiter der Strafverfolgungsabteilung hat alle Hexen mit dem Vornamen Patricia verhören lassen, darunter auch Patricia McDuffy und Pandora Stratons Tochter. Ergebnis: Null, nihil, nada, nichts! Wir müssen höllisch aufpassen, nicht irgendwelchen Geistern unserer eigenen Angst nachzujagen, Arco. Denn dann wären wir echten Bedrohungen wehrlos ausgeliefert."

"Herr Minister, tut mir Leid, daß ich Sie mit dieser angeblich so hahnebüchenen Analyse meiner Abteilung behelligt habe. Offenbar machen Sie sich Sorgen um diese Kindstode, die in den letzten Tagen auftraten. Da fehlt uns auch noch jede Spur, obwohl wir als gesichert annehmen können, daß es nicht die muggeltypischen Umweltschädigungen sind, die dieses gehäufte Säuglingssterben ausgelöst haben."

"Das war wohl eine Krankheit. Die Muggel können ja auch innerhalb eines Tages in alle Länder der Welt reisen und natürlich von dort fremde Erreger einschleppen", sagte der Minister ruhig. Dann sagte er noch:

"Arco, Sie dürfen gerne wiederkommen, wenn jemand im Namen der dunklen Macht ein Fenster einwirft oder wenn jemand von uns grundlos auf alles einflucht, was ihm in den Weg gerät. Aber hüten Sie sich vor abstrusen Mutmaßungen! Ihr Ruf könnte darunter leiden, und, bevor Sie es sagen, auch meiner und der des ganzen Ministeriums. Ich habe nicht die geringste Lust, im Kristallherold oder der Stimme des Westwinds lesen zu müssen, daß wir im Zaubereiministerium schon so verängstigt sind, daß wir Ungeheuer sehen, wo keine sind. Bedenken Sie das bitte immer wieder, bevor Sie mir oder sonst jemandem aus unserer Behörde Vermutungen präsentieren!"

Wie Sie meinen, Herr Minister", grummelte Swift mit verbissener Miene. Dann verabschiedete er sich höflich und zog sich aus dem Büro des Ministers zurück.

"Um ein Haar hätte der noch angefangen, die Sache mit diesem Muggel Andrews irgendwie zu erwähnen", dachte Pole. Denn was mit Richard Andrews passiert war war sein streng gehütetes Geheimnis. Sicher wäre es einfach gewesen, diesen übermotivierten Swift hinter der Kreatur herjagen zu lassen. Doch das wäre nicht ohne Einmischung von außen über die Bühne gegangen. Sicher, die Kindstode vor einigen Tagen hatten ihn alarmiert, daß die Bestie, die mal als unwiderstehliche Frau und mal als raubtierhaftes Ungeheuer auftreten konnte, immer noch unterwegs war. Doch von Richard Andrews hatte niemand mehr was gehört oder gesehen.

Arco Swift indes war wütend. Sicher, der Minister mochte keinen Zusammenhang zwischen den Todesfällen erkennen, weil er die ganzen Fakten nicht kennen konnte. Aber daß er, Arco Swift, derartig angebrüllt und zusammengestaucht wurde, ärgerte ihn. Er ging mit stampfenden Schritten durch einen Korridor, der zur Cafeteria für höhere Ministerialbeamte führte, als ihm Donata archstone entgegenkam, die gerade ihre Frühstückspause beendet hatte. Sie fragte ihn, was ihm denn so die Ernte verhagelt habe. Er meinte, daß er sich wohl zu heftig mit etwas beschäftigt habe und jetzt erst erkannt habe, welche Zeitverschwendung das gewesen war. Donata blickte ihn mitfühlend an und meinte, daß er besser warme Milch mit Honig trinken solle, um die Nerven wieder zu beruhigen. Swift grummelte zwar was. Doch was genau er meinte, wußte nur er.

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"Donna Antonia ist wieder da, Capo", meldete Rosselini seinem Chef. Dieser nickte und sagte ihm, man möge die Andreotti-Witwe zu ihm vorlassen. Man solle nur ihre Kleidung durchsuchen

Ricardo Petrocelli warf einen Blick auf den großen Wandkalender, der für jeden Monat ein Wahrzeichen Italiens zeigte. Für den Juni war es das Colosseum. Er überlegte, wielange er sich mit der Andreotti-Witwe befassen konnte, bevor seine Ressortchefs ihn beanspruchten. Bei geschäftlichen Transaktionen wollte er diese Frau, die eine ihm unheimliche, in sich ruhende Macht ausstrahlte, nicht im Haus haben.

"Einen wunderschönen guten Morgen, Don Ricardo!" Wünschte die schwarzhaarige Frau, die heute in einem himmelblauen Kleid daherkam.

"Gleichfalls einen guten Morgen, Donna Antonia", erwiderte Ricardo Petrocelli den Gruß und bot der Besucherin einen Platz an. IN seinem Kopf wuselten die Gedanken umher. Sie hatte seinen Sender loswerden können. Die Nummer mit dem dressierten Raben konnte er wohl vergessen. Aber vielleicht konnte er ihr einen neuen Satellitenpeiler unterjubeln. Denn diese Frau tauchte ihm zu unvorhersehbar auf.

"Ich denke, es ist was wichtiges, daß Sie zu mir führt", kam der Clan-Chef gleich auf den Punkt. Die Besucherin nickte.

"Ich fürchte, unser gemeinsamer Widersacher Fontenera fühlt sich von Ihnen etwas übervorteilt, um nicht zu sagen, benachteiligt. Ich erhielt die Nachricht, daß er versucht hat, gute Mitarbeiter von Ihnen nachhaltig an ihrer Arbeit zu hindern. Stimmt das?"

"Sie werden von mir diesbezüglich nichts zu hören kriegen, was meine Firmenpolitik und mein Familienleben betrifft, Donna Antonia. Weil sonst müßte ich ja darauf bestehen, Sie zu fragen, woher Sie kommen, was Sie nun in den Staaten unternehmen und welcher Händler Ihnen diesen bezaubernden Maserati veräußert hat." Er lächelte charmant. Das wirkte in 99 von 100 Fällen auf jede Frau die er traf. Auch bei der Andreotti-Witwe erzielte er diese Wirkung, weil sie angenehm berührt zurückblickte und leise sagte:

"Ihre Diskretion macht Ihre Stärke aus, Don Ricardo. Nur dürfen wir nicht vergessen, daß Don Massimo Fontenera von feindlichen Übernahmen lebt. Der Tod fast aller Mitglieder meiner Familie kommt ihm sehr zu Pass. Dann will er noch weiter an der amerikanischen Ostküste expandieren, ob durch freundliche oder feindliche Übernahme. Sie wissen, daß ich weiß, daß Sie wissen, daß ich recht habe. Was ich bei und von Ihnen möchte, Don Ricardo, ist eine Garantie, daß ich nach dem Ende dieser zwischen Ihrer Familie und dem Fontenera-Clan eine angemessene Entschädigung erhalte, gewissermaßen als Witwenrente. Die will ich nicht von Ihnen, um jedes Mißverständnis sofort zu entkräften. Ich möchte nur anbieten, daß die verbliebenen Mitarbeiter meines seligen Gatten Ihnen zur Verfügung stehen, sofern wir gut miteinander auskommen."

"Nun, darüber ließe sich durchaus verhandeln, Donna Antonia. Allerdings pflege ich Garantien und Zugeständnisse nur gegenüber sehr nahestehenden Leuten zu machen. Es käme also auf die Verhandlungsbasis an", sagte Ricardo Petrocelli und blickte seiner Besucherin tief in die Augen. Im Geiste sah er sich mit ihr in seinem heimelig eingerichteten Schlafzimmer, sie im hauchdünnen Seidennachthemd, das verhüllte, ohne zu verstecken. Die schwarzhaarige Dame mit den Sommersprossen und der noblen Blässe lächelte warm zurück, und Ricardo mußte erkennen, daß sie die Kunst der wortlosen Umgarnung auch beherrschte.

"Sprechen Sie von Familienzusammenführung, Don Ricardo. Dann möchte ich Sie daran erinnern, daß bei meiner letzten Familienzusammenführung mehr versprochen wurde als später gehalten wurde. Diesen Fehler möchte ich nach Möglichkeit nicht wiederholen. Wenn ich eine rein geschäftliche Beziehung anstrebe, möchte ich persönliche Anbahnungen auf die rein geschäftsmäßigen Details beschränken."

Ricardo Petrocelli dachte daran, daß jede Dame sowas sagte, wenn sie eigentlich allzugerne ihre gute Erziehung vergessen wollte. Doch Antonia Andreotti lächelte nun kalt und unnahbar, was das Oberhaupt der Petrocelli-Familie frösteln ließ. Offenkundig hatte sein sizilianischer Charme noch nicht die entscheidende Wirkung erzielt.

"Nun, eine wie auch immer geartete Familienzusammenführung wäre wohl noch zu früh. Ich pflege in solchen Dingen gerne mehr über die Menschen zu wissen, die darin einbezogen sind. Aber sprechen wir noch einmal über Fontenera! Wieso kommen sie darauf, daß er mir übles wollen könnte? Es wäre in seiner Situation sehr töricht, eine offene Auseinandersetzung zu suchen. Immerhin genieße ich in New York und anderswo die Gunst mächtiger Freunde." Er meinte den stellvertretenden Bauamtsleiter von New York sowie einen Staatsanwalt des Bundesstaates New Jersey, der ihn schon oft vor juristischen Treibminen gewarnt hatte.

"Nun, er auch. Dazu kommt noch, daß er sich für unbesiegbar hält, weil Ihnen an einem Tag mehrere Mitarbeiter abhanden kamen", preschte die Besucherin unverdrossen vor. Ricardo fühlte diese Worte wie einen Faustschlag in die Magengrube. Woher wußte die, was seinen Leuten passiert war? Das mußte er jetzt klären.

"Kann es sein, daß Sie davon ausgehen, mich irgendwie aus dem Tritt bringen zu wollen, weil sie mir vorhalten, ich hätte unzuverlässige Mitarbeiter?"

"Nein, das habe ich nicht behauptet. Ich behaupte, sie hatten bis vor einer halben Woche sehr zuverlässige und loyale Mitarbeiter. Nur die sind in Erfüllung ihrer Loyalität verschwunden, Don Ricardo. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß Sie wohl Männer ausschickten, Don Massimo einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Offenbar empfand er das aber als Einladung, Ihre Firma in eine für Verhandlungen besser geeignete Lage zu versetzen. Sie merken, meine Kontakte funktionieren, und daß ich dieses brisante Wissen nicht vor Ihnen verberge, was klüger wäre, zeigt Ihnen, daß ich auf ehrliches Miteinander setze. Allerdings muß ich nicht mit Ihnen verhandeln, um meine Entschädigung zu bekommen. Einige andere Signori aus der etwas entfernteren Verwandtschaft haben mir bereits signalisiert, ich könne zu ihnen gehen, wenn ich mich einsam fühle. Daß ich zuerst zu Ihnen kam liegt einzig daran, daß wir beide denselben Gegner besitzen und ich hoffte, unsere Gemeinsamkeit würde uns beide stark machen. Nun, der Versuch war es wert."

"Moment, bevor Sie hier einfach so, ohne weiteres Wort wieder hinausschlendern, Donna Antonia, was sagenIhre guten Kontakte denn noch so über unseren - wie nannten Sie ihn? - gemeinsamen Widersacher?" Ricardo Petrocelli verstand die Welt nicht mehr, daß eine ihm bis vor wenigen Tagen total unbekannte Frau soviel von ihm wußte. Er brannte darauf, die Besucherin etwas länger in seinem Haus zu halten und für den Fall, daß sie nicht mit ihrem Wissen herausrücken wollte, etwas weniger charmant aufzutreten. Er hob an, etwas zu sagen, als ein schnarrender Summton durch das Haus dröhnte, aufhörte und nach drei Sekunden wieder erklang.

"Wehe Ihnen, Sie haben das veranlaßt!" Fauchte Ricardo. Das war der Sicherheitsalarm, wenn jemand eine offene Attacke gegen ihn wagen sollte.

"Dann säße ich mit Ihnen auf einem Präsentierteller, Don Ricardo", schnaubte die Besucherin, in deren Gesicht eine gewisse Angespanntheit stand.

"Rosselini, was gibt's?" Fragte er über Gegensprechanlage.

"Fünf Trucks mit verschiedenen Logos. Wir haben die alle durch den Computer laufen lassen. Es sind Strohfirmen der Fonteneras."

"Gut, alles bereithalten!" Bellte der Don ins Mikrofon der Sprechanlage.

Ein Knopfdruck zitierte Giovanna Pazzo herbei, die muskelüberfrachtete Leibwächterin.

"Führen Sie Donna Antonia in den kleinen Sicherheitsraum!"

"Okay, Capo", sagte giovanna. Unvermittelt hatte sie die Besucherin an der Schulter gepackt und bugsierte sie aus dem Sprechzimmer.

"Capo, das sind tatsächlich Fonteneras ..." Rief der Sicherheitschef. Dann knatterte es, und ein Hagel von MG-Geschossen trommelte an die kugelsicheren Fensterscheiben.

"Wie idiotisch sind die, daß die mich derartig offen angreifen?" Schnaubte Ricardo und griff sein Mobiltelefon. Er würde im Handumdrehen die passende Antwort geben.

"Capo, die berennen das Haus!" Rief Rosselini. Dann rumste es ohrenbetäubend und an den Wänden rüttelnd. Ricardo Petrocelli verstand. Sie wollten es wissen, hier und jetzt. An und für sich hatte er geglaubt, Fontenera hätte ihm die Blumenvase geschickt, um ihm Frieden anzubieten. Doch das war wohl eine Hinhaltetaktik, um sich von Petrocellis erster Attacke zu erholen. Sogesehen war es nur die Erwiderung dessen, was die mysteriöse Besucherin als Höflichkeitsbesuch bezeichnet hatte. Er trat an eine Wandtäfelung heran, klappte ein Pannel zur Seite, legte seine Hand auf eine kreisrunde rote Fläche und wartete, bis der lasergestützte Handabdruckerkenner seine Funktion erfüllt hatte. Als ein mehrfaches Klicken und ein lautes Surren ihm verriet, daß die versteckte Panzertür zu seinem Privatbunker mit eigener Sauerstoffversorgung, Notstromaggregat und Satellitentelefon aufglitt, dachte er kurz daran, mindestens noch Alberto mit in den Sicherheitsraum zu holen. Doch da krachte es bereits gefährlich nahe im Haus. Sie hatten die Abwehr bereits durchbrochen.

Schnell sprang der Don in den quaderförmigen, fünf mal vier mal zwei Meter großen Raum hinein und trat auf eine Unebenheit im Boden, die die mehrere Zentimeter dicke Stahltür wieder zufahren ließ. Kaum rasteten die inneren Verriegelungen wieder ein, flammte eine fünfstrahlige Deckenlampe auf und flutete den fensterlosen Raum mit angenehm hellem Licht. Leise säuselnd sprang die von der Außenluft unabhängige Klimaanlage mit Luftauffrischungskomponente an. Ricardo hatte vor dem Schließen der Tür noch die Nummer gewählt, die in einer Eisdiele in der Bronx ein Telefon zum klingeln brachte. Wenn das klingelte und der Gefolgsmann Ricardos auf das Display zur Anzeige der Rufnummer blickte und die Handynummer seines Chefs las, rollte die Unterstützungsaktion an.

"Mich kriegt ihr nicht, ihr Schweinehunde", knurrte Ricardo, während das Rattern von MPs und das Wummern von Sprengkörpern eine düstere Musik von Tod und Verderben spielten. Seine Leibwächter waren gut bewaffnet. sie konnten Gasangriffe überstehen und Gegner mit Schnellfeuerwaffen zurücktreiben. Doch gegen eine Übermacht, die noch dazu mit Panzerfäusten hantierte, würden auch sie nicht bestehen, erkannte der Mafioso und fragte sich, ob er da nicht den falschen schlafenden Hund geweckt hatte. War es das, was die Andreotti-Witwe ihm durch einen Blumenstrauß hatte sagen wollen, daß er ohne gute Freunde nicht mehr lange leben würde? Falls ja, dann wollte er jetzt erst recht wissen, woher sie das wußte.

Ein lauter Knall ertönte. Erschrocken fuhr Ricardo zusammen und wirbelte herum. Mitten im Raum stand, in einen schwarzen Maßanzug gehüllt, mit einer dunkelblauen Seidenkrawatte verziert, Don Massimo Fontenera und grinste ihn feist an. In der rechten Hand hielt er einen zerbrechlich scheinenden Holzstab.

"Mir war klar, daß du Ratte dich in dein bombensicheres Loch zurückziehst, wenn die Luft etwas bleihaltiger wird als es in dieser Muggelstadt ohnehin schon der Fall ist, Ricky Petrocelli. Aber deine Gemeinheiten kann und werde ich mir nicht mehr bieten lassen. Du verstehst, daß ein Ehrenmann wie ich seinen Stolz hat."

"Wie bist du hier reingekommen, Fontenera?" Fragte Ricardo mit ungläubiger Miene.

"Hast du den Knall nicht gehört. Ihr Nixkönner nennt das Luftverdrängung. Das passiert, wenn etwas oder jemand einfach so mitten in einem Raum auftaucht. So habe ich das gemacht."

"Du redest vom Beamen oder Teleportieren? Jetzt willst du mir noch einreden, du kämst von einem anderen Stern oder was", gab Ricardo barsch von sich. Die blanke Angst, die ihn ergriffen hatte, durfte ihn nicht vollends überwältigen.

"Ich bin auch nur ein Erdling. Aber im Gegensatz zu dir hat mir die Natur ein paar nette Extras mitgegeben, die ich erkennen, richtig trainieren und dann immer wieder üben mußte, um sie so effektiv wie möglich anwenden zu können. Wie effektiv das geht, zeige ich dir jetzt sofort, Ricky."

Don Ricardo ließ seine Hand in die Seitentasche fahren und innerhalb einer Zehntelsekunde mit einer 32er Automatik wieder auftauchen. Fontenera zuckte zwar mit den Achseln, lächelte dann aber wieder. Als Ricardo die Waffe in Anschlag brachte, murmelte er eher gelangweilt als bestimmt:

"Expelliarmus!"

Ein roter Blitz aus dem Holzstab sirrte auf Don Ricardo zu und prellte ihm mit Wucht die Waffe aus der rechten Hand. Krachend schlug die Pistole auf dem Stahlboden auf. Dabei überhörten beide Männer das Ploppen von der hinteren linken Ecke her.

"Wie du merkst, habe ich dir gerade die Kanone weggezaubert, du Schmeißfliege. Und jetzt mach ich dich eiskalt tot, und keiner wird's begreifen, wie du in deinem bombensicheren Raum ...."

"Crucio!" Kam eine gefährlich schrillende Frauenstimme aus der linken hinteren Ecke. Ricardo konnte niemanden dort sehen. Was er sah und hörte war Don Massimo Fontenera, der erst schreckensbleich zusammenfuhr und dann laut schreiend unter unerträglichen Schmerzen um sich schlagend, zuckend und sich windend zu Boden ging, wo er noch weiter unter der Folter unsichtbarer Kräfte litt. Ricardo wußte nicht, was hier passierte. Doch der Instinkt des eiskalten Berufsverbrechers ließ ihn erkennen, daß er nun die Situation umdrehen konnte. Er tauchte nach seiner Pistole, hob sie an. Da hörten die Schreie Massimo Fonteneras auf. Er keuchte und stöhnte unter den Nachwirkungen dessen, was ihn so heftig gequält hatte.

"Lass die Waffe fallen, Ricardo Petrocelli! Ich will nicht, daß du ihn tötest", sagte die kalte Frauenstimme, die er jetzt als die merkwürdig entschlossen und gefährlich betonte Stimme Antonia Andreottis erkannte. Doch er sah sie nicht. Sie stand hörbar im Raum. Doch er sah sie nicht. Er zielte auf Fonteneras Kopf, der immer noch unter Nachwirkungen ruckte.

Eine brutale Kraft packte Ricardos Waffenarm, hebelte ihn schmerzhaft nach außen und drehte ihn dabei so, daß er den Halt um den Pistolengriff verlor.

"Habe ich dir nicht gesagt, die Waffe fallen zu lassen?" Kam eine sehr bedrohliche Bemerkung dazu aus der Ecke.

"Zur Hölle mit dir!" Schrie Fontenera und wirbelte herum. doch wie Ricardo wurde auch ihm der Arm mit dem Stab unerbittlich umgedreht. Dann knallte ein violetter Blitz durch die Luft, hüllte Massimo Fontenera ein und ließ ihn verschwinden. Ricardo glaubte, seinen Verstand verloren zu haben. Denn an der Stelle, wo eben noch der irgendwie zu ihm vorgedrungene Feind gestanden hatte, hockte nun eine ängstlich piepsende Maus, die augenblicklich den Boden unter den winzigen Pfoten verlor und schrill quiekend in die linke, hintere Ecke sauste, wo sie verschwand, wenngleich ihr panisches Quieken immer noch zu hören war.

"Wenn die Maus nicht aus dem Loch kommt, Massimo, dann muß eben die Katze, die es leid ist, davor zu hocken, den Käse und Speck anderswo hinbringen, bis die Maus zu ihr kommt", fauchte die unsichtbare Fremde, die Ricardo als Antonia Andreotti zu erkennen glaubte. Dann krachte es wieder laut, aber diesmal so, als würde ein Schwall Luft in einen Unterdruckbehälter zurückstürzen. Ricardo starrte auf die Stelle, wo dieser Knall zu hören war. Auf dem Boden lagen seine Pistole und der Holzstab seines Feindes. Das war eindeutig übernatürlicher Spuk gewesen, schwarze Magie, Teufelswerk. Er keuchte und legte seine Hand auf das wild wummernde Herz. Das konnte unmöglich mit rechten Dingen zugehen, was hier passiert war. Fontenera war in wirklichkeit ein Hexenmeister, und diese unsichtbare Frau war eine ihm feindlich gesinnte Hexe, die ihn hier, wo er meinte, der einzig überlegene zu sein, kalt erwischt, erst gefoltert, dann mausifiziert und ins Nichts entführt hatte. Apropos Maus, hatte er das eben richtig gehört, daß diese Hexe Fontenera aus seinem Loch locken wollte, um ihn zu fangen wie die Katze die Maus? Das überstieg seinen Verstand. Sicher, wie die meisten Jungen seiner Heimat hatte er von einem Priester gelernt, daß es den Teufel in der Hölle gab, der alle holte, die böse waren, und daß dieser Teufel Leute, die mit ihm einen Handel machten, in der Kunst der Zauberei unterrichtete oder ihnen einfach magische Fähigkeiten gab, damit sie andere Menschen unterdrücken konnten. Er war der Speck in der magischen Mausefalle gewesen, die Massimo Fontenera fangen sollte. Offenbar hatte diese Hexe es eingefädelt, daß der Schwarzkünstler, der schon als üblicher Mafioso grausam genug aufgetreten war, ihn für irgendwas verantwortlich machte, daß seinem weltlichen Machtapparat Sand ins Getriebe kippte. Tja, so war das wohl. Jetzt verstand er auch, wieso seine eigenen Leute so übergangslos verschwunden waren. Der Hexenmeister hatte sie alle weggezaubert oder totgehext, ihnen einen verderbenden Fluch übergebraten, auf den sie unmöglich gefaßt sein konnten.

Ricardo griff zum Satellitentelefon. Er wollte seinen Leibwächter fragen, was draußen gerade passierte. Da fiel ihm ein, daß er sich von hier aus auf die Kameras der Außenüberwachung schalten konnte. So legte er den Telefonhörer wieder auf die Gabel, trat an einen unscheinbaren Wandabschnitt und ließ diesen per Fingerabdruckerkennungsschloß zur Seite fahren, um acht kleine Bildschirme freizulegen. Er kippte einen Hebel um, worauf das kleine Notstromaggregat mit einer höheren Tourenzahl zu summen begann und schaltete die Monitore ein. Sofort erkannte er, daß sein Haus regelrecht sturmreif bombardiert wurde. Zwar verteidigten sich die Leibwächter noch verbissen mit MGs und durchschlagskräftigen Pistolen. Doch gegen dreißig Mann mit schweren MGs und Handgranaten, ja sogar Flammenwerfern, waren sie auf verlorenem Posten. Blitzend verabschiedete sich ein Bild nach dem anderen. die Kameras gaben ihre Geister auf und ließen Ricardo förmlich im Dunkeln stehen. Er schaltete die nun blinden Bildschirme wieder aus und fuhr das Stromaggregat auf die übliche Leistung zurück um Treibstoff zu sparen. Hier konnte er mindestens noch zwei tage aushalten. Lebensmittel und neun Liter Wasser garantierten, daß er keine Probleme bekommen würde. Eine chemische Toilette in einer Art Besenschrank würde ihn vor peinlichen Notfällen bewahren. Doch er war nun allein. Es war abzusehen, daß die angefunkte Verstärkung zu spät kommen würde. Wahrscheinlich würde man ihm zu allem Überfluß noch das Haus über dem Kopf anzünden, und er würde in diesem Stahlkasten hocken und merken, wie es draußen immer wärmer würde, bis er in seinem eigenen Backofen durchbacken würde. Die Vorstellung trieb ihm den kalten Schweiß aus den Poren. Doch hinauszugehen und sich denen da draußen auszuliefern wagte er dann auch nicht. Es krachte wieder, und diesmal stand Antonia Andreotti sichtbar im engen Raum.

"Meine Verbündeten werden dir helfen, diese Brut da draußen zu erledigen. Aber ich kann nicht zulassen, daß du weißt, was hier geschehen ist", sagte sie und deutete auf Ricardo. Er fühlte etwas gegen seine Stirn schlagen, hindurchdringen und in seinem Kopf explodieren.

Als er wieder klar denken konnte, wußte er nur, daß er sich in seinem Privatbunker versteckt hatte, weil Fontenera ihn angegriffen hatte. Mehr fiel ihm nicht ein. Als dann nach etwa zehn Minuten kein Kampfeslärm mehr zu hören war, traute er sich und öffnete die schwere Stahltür. Sein Haus war abrissreif. Die Fenster mit kugelsicheren Scheiben hingen halb ausgerissen in den Stahlrahmen, von denen die aufgebrachten Holzverschalungen zersplittert auf dem Boden lagen. Es stank nach Benzin, Schießpulver und Blut, und mehrere Leute von ihm waren in letzter Erfüllung ihrer Pflicht gestorben. Doch auch die Angreifer hatten schwere Verluste erlitten. Von den Trucks, die sie hergebracht hatten, stand nur noch ein einziger. Die anderen waren zu unförmigen Metallklumpen zerschmolzen, als hätte jemand sie in mehrere tausende Grad heiße Öfen geworfen und dann wieder herausgezogen. Er hörte die Polizeisirenen und das Wummern von Hubschrauberrotoren. Die Schlacht mitten in New York hatte alles aufgescheucht, was Polizei, Rettungsdienste und Nachrichtenagenturen aufbbieten konnten. Ihm wurde klar, daß er hier nicht länger angebracht war. Er eilte durch verqualmte Korridore zu einer Nottreppe abwärts, die hinter einer getarnten Tür lag. Die Tür schloss sich hinter ihm von selbst und würde keinen mehr durchlassen, weil er nicht die einmaligen Daumen und Zeigefingermerkmale Ricardo Petrocellis besaß. Innerlich dankte er Parker, der ihm diese netten Sichehreitssysteme verschafft hatte, ohne daß die Baubehörde irgendwas davon mitbekommen hatte. Er eilte die Wendeltreppe hinunter, durch eine weitere auf ihn geprägte Stahltür und betrat die Kanalisation, wo er am Rand des stinkenden Stroms unter New York ein aufgeblasenes Schlauchboot unter einer Plane Fand, es zu Abwasser Ließ, mit einem gewissen Widerwillen hineinsprang und den elektrischen Außenbordmotor anließ, der leise surrend den Propeller in der braunen Brühe herumwirbeln ließ. Mit Ekel auf dem Gesicht sah Ricardo wie klebriger Schaum auf dem unappetitlichen Naß aufquoll. Er griff unter die Sitzbank und zog das Sauerstoffgerät mit Maske zu sich. Dankbar sog er die technisch einwandfrei saubere Luft in die Lungen ein, während er das Boot in der Mitte des Abwasserstromes dahinsteuerte, ein roter Scheinwerfer wie ein feuriges Auge in der Dunkelheit vorausblickend.

Graue, struppige Geschöpfe huschten wie ruhelose Geister vorbei, Ratten, die allgegenwärtigen Untermieter der Zivilisation. Blasen blubberten aus dem Strom verbrauchten Wassers und all dessen, was es abgeführt hatte. Er hoffte daß die Isolierung des Motors wirklich so gut war, daß nicht doch ein überspringender Funke eine Gasexplosion auslösen mochte. Er lenkte sein Boot mehr als eine stunde lang nach einem vorgezeichneten Plan, der in einer Klarsichthülle unter dem Steuerhebel angeklebt war. Schließlich erreichte er den Ausstieg, von dem aus er in die zivilisierte Welt zurückkehren würde.

Als er das Boot mit schwung auf den verschmierten Rand des Kanals geworfen hatte, blickte er auf seine 1000-Dollar-Uhr und entschied, daß er noch fünf Stunden aushalten mußte. Der Sauerstoffvoorrat reichte noch für sechs Stunden. So würde er nicht an den tückischen Faulgasen hier unten ersticken müssen. Wenn er mußte, etwas mehr fiel in dieser Brühe eh nicht auf. Gegen die Ratten hatte er seine Pistole. Doch die kleinen Nager waren schlau. Sie wußten, daß der Zweibeiner mit dem Metallgesicht, der so komische Atemgeräusche machte, erst dann genießbar war, wenn er sich nicht mehr bewegte. Ansonsten hatte der ja nichts essbares mit, und das Gummizeug, aus dem das schmale Boot bestand, schmeckte einer Ratte bestimmt nicht so gut, wie verfaulende Essensreste oder anderer organischer Unrat. So wartete der aus dem eigenen Machtzentrum verjagte Don, bis die von ihm angesetzten fünf Stunden vorbei waren. Dann verließ er sein Fluchtboot, erklomm noch mit Sauerstoffgerät und -maske den Ausstieg, stemmte den Deckel hoch, schwang sich hinaus und stand an der stumpfgrauen Rückwand eines Hauses. Er suchte und fand die schon leicht angerostete Feuerleiter, kletterte hinauf und klopfte zweimal kurz und dreimal lang an einen Fensterladen. Es klickte, der Laden schwang langsam zur Seite, und ein Mann im dunklen Pullover streckte seinen schwarzen Bubikopf heraus.

"Don Ricardo, Sie haben's geschafft. Wir hörten das mit Ihrem Haus. Die Fonteneras waren das", zischte er. Dann half er dem nach Kanalisation stinkenden Mann ins Haus, wo dieser sich gründlich duschte und in bereitgelegte Ersatzkleidung schlüpfen konnte, inklusive Schuhe und Krawatte. Er hatte es geschafft, er war dem verhaßten Feind entkommen, ohne zu wissen, was mit diesem geschehen war.

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Anthelia erkannte die Gefahr sofort, als sie mordlüsterne Gedanken wahrnahm. Als dann der Angriff erfolgte war sie von dieser Muskelmaid Giovanna erst in einen kleinen Raum mit Stahlwänden geführt und eingeschlossen worden. Doch sie hatte erkannt, daß sie problemlos disapparieren konnte. Zunächst machte sie sich unsichtbar. Dann wartete sie ab. Als sie telepathisch erfuhr, daß Ricardo in seinem Privatschutzraum Besuch von Fontenera bekommen hatte, lächelte Anthelia triumphierend. Die Maus war ihr in die Falle gegangen. Unsichtbar war sie dann Appariert, hatte Fontenera erst mit dem Cruciatus-Fluch gefoltert und ihn dann als Maus fortgebracht, in die Daggers-Villa, wo sie ihn in einen kleinen Stahlkäfig setzte und dann zu Petrocelli zurückkehrte, um sein Gedächtnis zu modifizieren. Zwanzig ihrer Bundesschwestern waren ihr gefolgt und hatten die Angreifer mit Feuerbällen und dem Imperius-Fluch zurückgeschlagen. Als dann das Großaufgebot der Polizei anrückte, war der Kampf schon längst vorbei.

Im Schutze eines Klangkerkers verhörte Anthelia Fontenera unter dem Einfluß des Veritaserums und fragte ihn über alles aus, was das Treffen mit dem dunklen Lord anging. Dann verwandelte sie Fontenera wieder in eine Maus und setzte ihn in einem verlassenen Bauernhaus aus. Alles weitere war nicht mehr ihr Problem.

Als es fast zehn Uhr abends am 23. Juni war, empfand sie den Tag als vollen Erfolg. Doch sie wußte, morgen würde sich ihr Schicksal entscheiden. Morgen würde sie ihm zum ersten Mal entgegentreten. Es bestand die Möglichkeit, daß er sie tötete, wenngleich ihr Gürtel der zwei Dutzend Leben das sehr schwer machte. Es bestand auch die Möglichkeit, daß er sie unter den Imperius-Fluch zwingen konnte. Doch andererseits wollte und konnte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Lord Voldemort von diesem Kontinent zu vertreiben und ihm zu zeigen, daß er nicht der einzige Kundige der dunklen Künste war. Sie legte sich hin und fiel in den tiefen Schlaf, den ihr Gürtel von ihr verlangte, um seine eigenen Kräfte zu erneuern.

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Die Niederlage schmerzte. Er hatte es wieder nicht geschafft, Harry Potter zu töten. Dieser verfluchte Halbblüter hatte ihn daran gehindert, hinter das Geheimnis der Prophezeiung zu kommen. Potter war ihm zwar in seiner übergutmütigen Art in die Falle gelaufen, doch hatte er diese Falle überstanden, mit seinen achso überedlen Freunden seine treuen Todesser in echte Schwierigkeiten gebracht und die Prophezeiung zerstört, die sein Schicksal, seine Unbesiegbarkeit bedeutete. Bellatrix Lestrange war wieder bei den Malfoys, beziehungsweise Narcissa Malfoy. Dieser sonst so aalglatte Lucius hatte sich von ein paar unausgegorenen Pimpfen überwältigen lassen und hockte nun in Askaban. Sicher, die Dementoren hatte er gleich am Tag darauf aufgefordert, ihm nachzufolgen, und einen Tag später hatte er über fünfhundert dieser Kreaturen an der Nordküste Britanniens vorgefunden. Sie würden ihm nun folgen, von denen abgesehen, die schon damals von ihm fortgingen, weil sie meinten, als treue Wächter in Askaban mehr Macht über Menschen zu bekommen.

Eine fette, graue Ratte kletterte etwas behäbig zum Fenster im Kaminzimmer des Riddle-Hauses hinaus. Voldemort überlegte schon, ob er Wurmschwanz zurückrufen sollte, um ihn aus lauter Langeweile und zum Abbau seiner Frustration quälen sollte. Doch das würde nicht lange vorhalten und nichts daran ändern, daß Potter und sein Beschützer Dumbledore ihn, den großen Lord Voldemort, dessen Name für die meisten unaussprechbar war, um die Früchte seines Erfolges betrogen hatten. Jetzt, wo auch noch dieser Sirius Black durch den Schleier des Todestores gestürzt war, hatte er nicht einmal mehr eine Möglichkeit, Harry zu suggerieren, er habe seinen Paten in der Gewalt. Andererseits konnte selbst Dumbledore nicht überall sein. Die treuen Todesser würden über die Zaubererwelt herfallen wie die Heuschrecken über das grüne Grasland. Sie würden alle Hexen und Zauberer, die mehr als vierzehn Jahre in der dummen Ansicht gelebt hatten, er könne nie wieder zurückkehren, in eine sehr angstvolle Haltung stürzen, die es ihm ermöglichte, sie zu befehligen, ihnen durch Verlockungen und Drohungen alles abzuverlangen was er nur wollte. Falls die Angst alleine nicht ausreichte, würde er den Imperius-Fluch benutzen. Damit hatte er schon durchschlagende Erfolge erzielt.

Er freute sich zumindest, daß er in den nordamerikanischen Staaten doch noch einige Verehrer antreffen konnte, nachdem er vor bald acht Monaten in den Bruderkrieg zwischen den Schwarzbergs und Lohangio Nitts hineingeraten war. Diesmal würde er es nicht zulassen, daß sich ihm gleichgesinnte Zauberer gegenseitig zerfleischten, nur um seine Gunst zu erlangen. Davon hatte er nichts.

Die Tage vergingen. Er hatte von einem Massimo Fontenera einen Brief erhalten, daß jemand ihn und seine Freunde bei der Sumpfhütte eines einsiedlenden Zauberers namens Pompeius Roots belauscht und dann mit guten Angriffs- und Abwehrzaubern zum Rückzug gezwungen hatte. Voldemort schnaubte vor Wut, als er den Namen Roots las. Das erinnerte ihn an diesen Nero Roots, der ihn, Lord Voldemort, um das Erbe von Sarah Redwood gebracht hatte. Wo war dieser Kerl abgeblieben? Mochte es sein, daß er sich bei diesem Pompeius Roots verkrochen hatte? Dann sollte er sich diese Hütte einmal ansehen, wenn er dort unterwegs war.

Am Tag vor der großen Reise sammelte er noch einmal alle treuen Todesser um sich. Snape konnte nicht kommen, denn in Hogwarts waren noch keine Ferien, und Dumbledore sollte schließlich keinen Verdacht schöpfen, hatten Voldemort und Snape ausgemacht. Er faßte noch einmal zusammen, was er nun vorhatte und endete damit, daß er seine Amerika-Reise ankündigte.

"In der allgemeinen Panik, die die Dummköpfe vom Tagespropheten derzeit verbreiten ist völlig unerheblich, wo genau ich bin, da ich für die eben doch überall zugleich bin." Er lachte sein häßliches, haushoch überlegenes Lachen. Die versammelten Todesser, die nicht in Askaban gelandet waren, stimmten mit ein. Dann sagte Voldemort:

"Wer wird mich begleiten, als Ehrengeleit für Lord Voldemort?" Bellatrix und Rodolphus Lestrange hoben die Hände, ebenso Guy Pike und etliche mehr. Der dunkle Lord lächelte allen zu, was bei seinem Gesicht eher abschreckend als aufmunternd wirkte. Dann suchte er sich mit geschlossenen Augen zwei Todesser aus, Nimrot Speckles und Sinon Cliever. Die beiden Todesser wirkten wie auf halber Höhe abgehackte Bäume, Walzenförmig mit knorrigen Armen und Beinen. Cliever besaß einen langen, beinahe eierförmigen Kopf, während Speckles einen breiten Schädel mit vorgewölbter Stirn besaß, die durch die kaum über die Lippen hinwegragende breite Boxernase noch stärker betont wurde.

"Also gut, wir treffen uns morgen an der Küste, auf der Höhe des Faustkeilfelsens. Sammelt eure Kräfte! Denn wir werden apparieren. Vier Zwischenpunkte werden wir ansteuern, um nicht in einem Akt von hier nach Amerika hinübersetzen zu müssen. Also schlaft früh und gut!"

Am nächsten Tag fanden sich die beiden ausgesuchten Todesser an jenem schwarzen Felsen ein, der wie der Faustkeil eines riesigen Steinzeitmenschen beschaffen war. voldemort gab das Zeichen, und mit einem lauten Knall verschwanden der Meister und seine beiden Diener der Dunkelheit von den britischen Inseln.

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Es gab Tage, wo Willy Russell seinen Job liebte, und welche, an denen er ihn in die tiefste Hölle verwünschte. Das kam ganz auf seine Tagesform, seine Stimmung und natürlich die Kundschaft an. Für seinen delikaten Beruf hatte er sich den Künstlernamen François Dupont zugelegt und pflegte bei der Arbeit einen blitzsauberen französischen Akzent, für den er seinen konservativen Eltern immer noch den meisten Dank zollte. Der ständig in guten Kraftsportzentren zu findende Gigolo mochte es, wenn ihm die Frauen, die er von sich aus schön fand, anerkennend über den straffen Bauch streichelten und seine stahlharten Arme und Beine umfaßten. Die Frauen die nicht so sein Typ waren mußten dafür bei Bedarf noch einen Hunderter mehr hinblättern, damit er sie doch schön fand. Bei einigen wenigen hätte er am liebsten selbst was hingeblättert, um sie noch eine Stunde länger mit seiner leidenschaftlichen Kunst unterhalten zu können. Doch wie so oft im Alltag sind die wirklich schönen Momente selten gesät, so auch bei Willy alias François.

Der Mittzwanziger, der von Geburt an aschblondes Haar besessen hatte, rieb sich die Tönung für nachtschwarzes Haar in den Schopf und prüfte den Sitz seines dunklen Designeranzuges, für den er mehrere tausend Dollar hingeblättert hatte. Dann stieg er in seinen Mustang und fuhr zu der Adresse, wo er die heutige Verabredung treffen sollte.

Manchmal schien es ihm, hatten auch Frauen merkwürdige Wünsche. Denn der Ort, wo er sich treffen sollte, war ein stillgelegter Freizeitpark. Er wußte, daß manche Kundinnen in fahrenden Zügen und auf schaukelnden Booten so richtig in Fahrt kamen. Karussells waren da schon etwas seltener, wenn auch nichts völlig fremdes. So wunderte er sich nicht, daß Lilly, wie sie sich ihm gegenüber am Telefon vorgestellt hatte, in einer hautengen Kombination aus weißer Hose und himmelblauer Bluse am Einstieg zu einer Achterbahn wartete. Er kannte die Schaltanlagen und wußte, wie man eines oder alle Fahrgeschäfte wieder zum laufen bringen konnte. Als von seinen Eltern zum Elektrikerberuf geprügelter war alles was mit Strom lief kein Ding für ihn. Er hatte in seiner nun schon vier Jahre währenden Berufserfahrung herausgefunden, daß es kein technisches Ding gab, daß nur annähernd so kompliziert war wie das Seelenleben einer Frau, die davon überzeugt war, nur zu bekommen was sie wollte, wenn sie dafür zahlte.

"Vor der Kaserne vor dem großen Tor", sang François Dupont.

"Stand eine Laterne und steht sie noch davor", vervollständigte die wartende Frau den Text jenes Schlagers aus dem zweiten Weltkrieg, von dem es hieß, daß dann, wenn er im Radio gespielt wurde, an allen Fronten die Waffen geschwiegen haben sollen.

"Tja ja", sagte der junge Mann für gewisse Stunden, nun seinen eingeschliffenen französischen Akzent benutzend. "Du bist also Lilly."

"Exactement", erwiderte die Fremde, ohne daß ihr französisches Wort einen englischen Akzent aufwies. Der Spezialist für spezielle Bedürfnisse hakte diesen Tag bereits als einen Supertag ab. Denn alles an dieser Erscheinung lag am obersten Ende jeder Bewertungsskala, die er für sich entwickelt hatte. Die Bewegungen der Kundin, ihre Figur, das lange, flammenrote Haar, die braunen Augen, die alles versprachen und alles verlangten. Mit einer spielerisch wirkenden Drehung spreizte sie das rechte Bein etwas ab, und stand für eine Sekunde in einem angedeuteten Spagat vor ihm. Willys innere Motoren schnurrten wie geölt. Diese Frau legte keinen Wert auf lange Plaudereien. Doch irgendwie zwickte ihn der Gedanke in die aufkochende Leidenschaft, daß sie womöglich unter anderen Vorzeichen gebucht hatte. Nachher sollte er ihr was zahlen und nicht sie ihm. Doch das war schon die Sünde Wert, dachte er und verwickelte die unwiderstehlich schöne Frau in eine standardmäßige Unterhaltung, wie es ihr so ginge, wie sie auf ihn gekommen sei und ob er bei ihr auf etwas achten sollte. Sie sagte scherzhaft, er sollte die Pille nehmen. Darüber mußte er lachen. Sicher, was die Absicherung anging war er natürlich komplett vorbereitet. Er fragte sich in Gedanken, wie dieses zauberwesen da auf einen wie ihn angewiesen sein mußte. Als habe dieses Wunderwerk der Weiblichkeit seine Gedanken gelesen sagte sie:

"Manche Männer meinen, wenn sie mit mir zusammen sind, sie müßten mit Gewalt Höchstleistungen bringen und verzetteln sich in ihren Gefühlen so sehr, daß sie zu nervös werden oder zu irritiert und ich nicht immer lust habe, denen solange gut zuzureden, bis sie sich einfach fallen und der Natur den richtigen Lauf lassen. Andere wollen gar nichts mit mir anfangen, weil sie meinen, ich sei irgendein Filmstar oder so'n Modepüppchen."

"Traumfrauensyndrom", dachte Willy und fühlte die wohlige Wärme, die dieser Paradekörper neben ihm verströmte. In seine Nasenflügel stieg ein herrlich benebelndes Parfüm. Er konnte nicht umhin, seine Nase im roten seidigen Haar der Verabredung zu versenken und diesen anregenden Duft förmlich zu trinken wie ein kurz vor dem Verdursten stehender Wüstenwanderer in der Oase. Sie merkte das und umarmte ihn sacht. Er fragte sich, ob er diese Lady der Begierde da wirklich um die paar hundert Dollar bitten sollte, bitten durfte. Hier war er doch schon bezahlt, wenn sie ihn ansah, wenn er ihren geschmeidigen, wohlgeformten Leib an seinem hart antrainierten Luxuskörper reiben fühlte. Doch irgendwie mußte er seine berufliche Distanz wiederfinden. Er durfte sich nicht zu sehr in dieser herrlichen Stimmung verlieren, wenn er nicht bei anderen frustriert sein wollte, die nicht diese alles überragenden Eigenschaften hatten. Dabei hatten sie sich noch nicht einmal geeinigt, was sie hier eigentlich tun wollten.

"Ich mag Riesenräder", sagte die überirdische Schönheit. "Mich bringt das richtig gut auf Touren, wenn es immer nach oben und wieder runter geht und wir uns dabei noch drehen können."

"Geht klar, Mademoiselle", brummte Willy seiner Verabredung ins Ohr. Sie schlenderten zu dem etwa fünfzehn Meter hohen Riesenrad, das eine verkleinerte Ausgabe des weltberühmten Riesenrades im Wiener Prater sein sollte. Der nur nebenberuflich als Elektriker tätige Spezialist suchte und fand den Schaltkasten, prüfte, ob überhaupt noch strom floß und fuhr die Attraktion an. Lichter flammten auf und die Gondeln fuhren langsam, ganz langsam an. Er mußte ja rausspringen und das ganze ausschalten können. Immerhin waren die Gondeln so groß, daß sechs Fahrgäste darin Platz gefunden hatten. Beide schwangen sich in die sacht nach oben drehende Gondel und begannen, sich mit ihren Händen näher kennenzulernen. Irgendwann hatten sie sich soweit, daß sie in der immer auf- und abwärtsfahrenden Gondel so nahe wie es ging kamen. Willy hatte alle entsprechenden Vorkehrungen getroffen, daß weder ihm noch ihr irgendein Ungemach passieren mochte. Er hatte jedoch vergessen, Vorkasse zu machen. Die Unbekannte, die ihn für drei Stunden gebucht hatte, hatte seinen Verstand fast vollkommen vernebelt. Eine Stunde später, er merkte, daß er immer noch in guter Kondition war, fühlte er, wie die überragende Schönheit mit einer sanften Handbewegung auch das letzte Hindernis beseitigte, daß zwischen der allernächsten Nähe zwischen ihm und ihr gestanden hatte. Er nahm es einfach hin, als sie mit ihm zusammenfand und er fühlte, wie ein wohliges Feuer durch sie in ihn übersprang, seinen bereits ziemlich berauschten Geist flutete und ihn in eine schwebende, wie in die Sonne hineinsteigende Stimmung versenkte. Die unübertreffliche Schönheit schien mit ihm zu fliegen, höher und höher, nicht zum Mond, wie in einem anderen Schlager besungen, sondern in die gleißende Glut der Sonne. Dann fühlte er, wie seine Sinne nachließen, wie nur noch dieses Feuer in ihm glühte und er in einen Taumel geriet, der ihm zeigte, daß der herrliche Flug gleich vorbei sein würde. Dann hörte er sie sprechen, nicht mit den Ohren, sondern im Geiste:

"Du gibst mir sehr viel, William Russell. Doch leider kann ich dich nicht behalten. Deshalb gib mir, was du mir geben kannst!"

Das war für ihn wie eine ultimative Aufforderung, sich noch mehr in die leidenschaftliche Bewegungsübung zu werfen. Doch er merkte, daß der Flug zur Sonne nun zu einem Sturz in dieselbe wurde. Ein alarmierender Gedanke versuchte, ihn zurückzuhalten, er würde sich verausgaben und sterben. Doch er konnte nicht mehr zurück. Er gab alles, stürzte im wilden Rhytmus der körperlichen Zweisamkeit in die Glut der Sonne und verglühte darin. Dann folgte tiefe Schwärze. Für einen winzigen Augenblick meinte er, sich in einem anderen Körper zu befinden. Doch dann erlosch auch diser letzte Eindruck, den William Russell alias François Dupont in seinem jungen, verruchten Leben empfand. Er hatte sich tatsächlich völlig an die unirdische Gespielin verausgabt, sich ihr mit allem, was seinen Leib und seine Seele ausmachte überlassen und wurde von ihr unverzüglich aufgesogen wie Wasser von einer durstigen Pflanze.

"Herrlich, und er hat sich mir wirklich ganz von selbst dargebracht", schwelgte die unbekleidete Schönheit, deren Augen gerade den Glanz reinen Goldes angenommen hatten. Dann nahm sie die Kleidung des leblosen Mannes, zog ihn ordentlich anund warf die völlig entseelte Hülle aus der gerade am oberen Scheitelpunkt angelangten Gondel. Was er an nötigen Utensilien verwendet hatte, nahm sie in die Hand und verschwand ohne Geräusch im Nichs wie ein verfliegender Traum.

Als die Polizei nach einer weiteren Stunde nachsah, wer da den Strom im Vergnügungspark anzapfte, fanden sie Willy Russell mit zerschmetterten Knochen in seinem Blut. Die bei ihm gefundenen Ausweispapiere verrieten, wer er mal gewesen war. Für seine Eltern war es ein Schock, als sie die Nachricht von dem spontanen Selbstmord erhielten. Sie machten sich vorwürfe, ob sie das nicht hätten bemerken müssen. Sie konnten ja nicht wissen, daß ihr Sohn das Beste in seinem Leben kurz vor und während seines Todes erlebt hatte. Sie hätten es auch nicht geglaubt, wenn ihnen jemand das erklärt hätte.

Weil Alle von einem Selbstmord ausgingen, wurde bei der pflichtgemäßen Autopsie nur die Art und Zahl der Verletzungen geprüft. Keiner der Mediziner mutmaßte, daß diese Verletzungen nach Todeseintritt verursacht worden waren. So erfuhr niemand in der Welt von Zauberern und Muggeln, daß die Tochter des dunklen Feuers ihre Jagdmethoden umgestellt hatte.

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Jane Porter wachte auf. Irgendwas hatte sie eiskalt berührt, wie ein Lappen, der mit Eismeerwasser getränkt worden war. Sie keuchte vor Schreck und Kälte. Ihr Mann Livius schnurrte rhythmisch neben ihr. Sie blickte sich um. Was war es, das sie so abrupt aus dem wohlverdienten Schlaf gerissen hatte?

"Jane", flüsterte eine Frauenstimme aus dem Nichts. "Komme bitte in den Wohnraum. Ich möchte dir was kundtun."

"Marie", flüsterte Jane. "Warum kommst du hierher zu mir?"

"Weil du die einzige bist, die er kennt und die ich kenne", flüsterte die Gespensterstimme. Jane Porter stand auf. Daß die wachende Seele Marie Laveaus sie mitten in der Nacht in ihrem Haus in New Orleans auf- oder heimsuchte war für sie total neu. Sie schlüpfte in ihren geblümten Morgenrock und die Warmwollpantoffeln und schlich in den Salon. Dort zog sie die Tür zu und entzündete mit dem Zauberstab, den sie von ihrem Nachttisch genommen hatte zwei Kerzen im Tischleuchter. Dann wartete sie, bis aus dem Nichts heraus die silbrigweiße, durchsichtige Gestalt einer Frau mit langen, dunklen Haaren erschien.

"Schön, daß ich dir sichtbar erscheinen kann, Jane", sagte die gespenstische Frau, die einen halben Meter über dem weichen Teppichboden schwebte.

"Moment, ich möchte einen Klangkerker schaffen", sagte Jane. Das weibliche Gespenst nickte ihr zu. Sie vollführte den Klangkerkerzauber, und als alle Wände, der Boden und die Decke mit einem ockergelben Schimmer überzogen waren, sagte die als Geist in dieser Welt verbliebene Voodoo-Meisterin:

"Ich habe die gepeinigte Seele klagen gehört, die der Geist der Gier gefangen hält, um von ihr zu kosten oder sie zum Werkzeug seiner Gier zu machen. Dabei erfuhr ich, daß jener, der gefangen wurde einen Sohn hat, in dem die Kraft der Loas wirkt. Ich befragte die Knochen, hielt Zwiesprache mit den großen Geistern und erfuhr, daß den Sohn des Gepeinigten einst die Mächte von Licht und Schatten umwerben werden. Sie werden an ihm zerren und ihn zu zerreißen drohen, wird er nicht geleitet auf den dünnen Pfad der Ruhe, der jedoch verschlungen verläuft zwischen den Schicksalspfaden der anderen. Ich habe das Fenster zum Morgen geschaut wie so oft vorher. Doch jener, dessen Vater der Knecht des gierigen Geistes wurde, muß meine Stimme und Worte vernehmen, damit er den Pfad der Ruhe nicht verfehlt. Die Gaben in ihm sind zu groß, als daß er sich den um ihn kämpfenden Geistern unwissend überlassen darf. Jane, du mußt ihn zu mir holen. Du weißt, ich kann nicht weiter fort von meinem ruhenden Leib als eine Stunde Fußmarsch. Mein eigenes Gebet, das ich vor meinem fleischlichen Ende sprach, bindet mich an meine Grabstätte. Zumindest haben die großen Geister mir diese Gnade erwiesen, euch so weiterhin mit meinem Wissen und meinen Gaben zu helfen wider die Dämonen und jenen, die ihrer ebenbürtig zu sein trachten.

"Ich kenne dein Dilemma, Marie. Aber kann den Jungen nicht herholen, nur damit du ihm weissagst. Er würde angst bekommen oder sehr abweisend reagieren. Er glaubt nicht an dein Fenster zum Morgen, durch das man das sieht, was wird", sagte Jane.

"Nun, auch ein Ungläubiger, der meint, jeden Augenblick sein Schicksal neu zu schmieden und mit jedem Schritt einen neuen Weg zu betreten darf nicht den streitenden Gewalten überlassen werden. Du weißt, daß ich dir und allen, die in eurem Bündnis vereinigt sind stets richtige Dinge vorausgesagt habe."

Jane überlegte. Ja, Marie Laveau hatte im letzten Jahr, kurz vor dem Ende des trimagischen Turniers ihr und Davidson prophezeit, daß der von Dunkelheit getriebene, den Liebe zum körperlosen Dasein verdammte, durch den letzten Feind in die Welt zurückkehren würde. Im Nachhinein hatte das ja auch gestimmt, ohne daß Harry Potter das gewußt hatte. An und für sich wollte Jane Dumbledore anschreiben und ihn warnen, doch ohne nähere Hilfe hätte er nicht mehr tun können als Harry vom Turnier abzuhalten. Oft hatten sie es schon erlebt, daß Maries Weissagungen ignoriert wurden und es besser war, sich darauf einzustellen, zu handeln, wenn sie sich tatsächlich bewahrheiteten.

"Ich kann den Jungen nicht herholen, nur um ihn zu dir zu führen, Marie. Ich weiß nicht, was du ihm sagen willst und du es mir sagen darfst. Ich weiß nur, daß ich Julius Andrews nicht so einfach zu dir bringen kann, ohne ihn zu beeinflussen."

"Dann hol ihn her, weil du möchtest, daß er dich und die deinen kennenlernt. Ich weiß, er wollte schon einmal zu dir kommen", sagte Marie Laveaus Geist.

"Ja ich weiß. Doch Bläänch hat es ja anders gewollt."

"Jener, die nach der Farbe des Schnees benannt wurde, darfst du nicht sagen, was ich dir sagte. Wenn du gewiß sein möchtest, daß der Junge ohne Arg und Voreingenommenheit zu mir gelangen soll, dann biete ihm das Geschenk deiner Gastfreundschaft an! Nur bringe ihn zu mir, bevor die Zeit des hungrigen Löwen verweht, weil danach die Schlacht der Geister beginnt und jeder Rat zu spät kommt!"

Jane erkannte die Besorgnis und Angespanntheit in dem astralen Gesicht Marie Laveaus. Ihr war es also sehr ernst, daß Julius Andrews zu ihr geführt wurde. Sie selbst konnte nicht zu ihm, weil sie bei ihrem körperlichen Ende selbst die Grenzen gezogen hatte, in denen sie sich bewegen konnte. Jane hatte immer versucht, hinter die Gesetze der Nachlebensformen zu kommen, weil es ihr auch sehr wichtig war, warum einer zum Geist wurde und ein anderer nicht, und warum die einen Geister beliebig durch die Welt wandern konnten, während andere auf einen Ort, meistens den eines wichtigen Lebensabschnittes oder eben ihres Todes beschränkt waren. Es gab von Lebenden gemachte Regeln, wann, wo und wie ein Geist auftreten durfte. Doch die wirklich bindenden Gesetze schufen sich die Gewesenen selbst, wußte sie. Das was fromme Muggel Schutzengel nannten, waren nicht selten die liebenden Angehörigen, die sicherstellen wollten, daß ihre Nachfahren oder jüngeren Anverwandten vor großen Gefahren behütet wurden. Doch sie kannte gerade drei Fälle weltweit, wo solche Schutzgeister dokumentiert waren.

"Ich werde ihn zu mir einladen, Marie. Ich werde mich hüten, ihm vorher von dir zu erzählen oder eine Andeutung zu machen. Der arme Junge hat, ohne daß er es weiß, schon genug Verluste erlitten als daß ich ihn zu früh aufregen möchte."

"Gut, Jane, gut. Bringe ihn zu mir, bevor die Sonne das Reich des hungrigen Löwen verläßt!"

"Wenn du mit dem Löwen den Abschnitt im Tierkreis meinst, dann habe ich keine andere Wahl, weil Ende August für den Jungen die Schule wieder losgeht und ich nicht darauf ausbin, daß Bläänch mich in einen Abfalleimer verwandelt", grinste Jane Porter. Dann sagte sie ernsthaft: "Ich werde es schaffen, den Jungen ohne Argwohn und Voreingenommenheit in deine Nähe zu holen, ihn bei mir wohnen zu lassen. Wenn es mir gelingt, wann soll ich ihn zu dir führen?"

"Am besten, wenn er aus der Neugier des wissbegierigen Kindes erfahren will, was an den Geschichten stimmt, daß ihr mit mir sprechen und mich um Rat fragen könnt Die Neugier und Begeisterungsfähigkeit der Jugend ist etwas herrliches. Als Mutter und Großmutter durfte ich dieses große Geschenk der mächtigen Geister oft genug empfangen. Ich vertraue deinen Fähigkeiten als Mutter und Großmutter, diese jugendlichen Gaben zum Wohl des Jungen Julius zu nutzen, Jane."

"Gut, wenn du mir nicht sagen darfst, was du für den Jungen gesehen hast und es noch früh genug ist, ihm das zu vermitteln, werde ich deine Bitte erfüllen. Darfst du es mir wirklich nicht sagen?"

"Jeder der etwas erfährt und es weitergibt, würzt es mit seinen Eindrücken davon oder wendet es so, daß es seiner Vorstellung frommt. Das ist die Schwäche der menschlichen Seele, deiner wie meiner. Deshalb muß der Junge Julius Andrews zu mir, um direkt durch mich zu hören, was ihm bevorsteht."

"Wie du meinst, Marie. Ich muß darauf vertrauen, daß du ihm nichts böses antun willst. Immerhin hast du meinen Enkeln Melanie und Myrna ja auch schon geholfen."

"Der Junge ist stark und hat ein mühsames Leben vor sich, dessen Verlauf uns alle berühren kann oder an uns vorbeistreicht, je danach, wie er die Zeichen des Schicksals versteht und danach lebt", orakelte Marie laveau. Jane grinste in sich hinein. Das galt doch für jeden, daß dessen Leben für die ganze Welt wichtig war oder nur für ihn oder sie und die unmittelbar mit ihm oder ihr zusammenlebenden. Sie nickte dem Geist der großen Voodoo-Meisterin zu, öffnete die Tür und löschte damit den Klangkerker. Marie Laveau nickte ihr dankbar zu, stieg auf halbe Höhe des Raumes auf und schlüpfte lautlos durch die Außenwand.

"Jane, da mußt du aber sehr gut schauspielern", dachte die liebenswürdige Hexe. Dann dachte sie noch daran, dem Jungen ein Findmich zu besorgen, für den Fall, daß er gerne die Gegend erkunden wollte. Doch nein, das war der Stil von "Bläänch", nicht ihrer. Eine Oma, die ihre Enkel magisch anleinte, gab zu, daß sie sich selbst nicht viel zutraute. Aber das durfte sie ihrer Fachkollegin nicht so sagen, und Professeur Faucon hatte damals ja eine offizielle Aufgabe zu erledigen, daß sie Julius mit einem Findmich ausgestattet hatte. Insofern war es ja doch eine große Verantwortung. Zumindest wußte sie, daß der Junge den Juli wohl gut verplant war und daß er wohl erst im August, wenn die Sonne gerade richtig im Sternbild des Löwen stand, irgendwo anders hinfahren konnte. Sie überlegte sich, ob sie ihm erzählen sollte, daß sein Vater tot war und wer ihn getötet hatte. Doch wenn seine Mutter ihm die von Pole aufgebaute Geschichte erzählte wäre das fatal. Deshalb verwarf sie diesen Gedanken wieder. Sie kehrte zurück ins Schlafzimmer, wo Livius immer noch selig schnurrend schlief. Sie schlüpfte unter die mittlerweile erkaltete Decke und überließ sich wieder dem Schlaf.

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Anthelia wachte auf. Sie fühlte sich herrlich frisch und voller Lebenskraft. Daß sie heute diesem Emporkömmling voldemort begegnen würde, störte sie auch nicht weiter. Sie kannte Zauber aus alten Zeiten, die dem Waisenknaben, wie sie ihn nun auch nannte, vielleicht nicht bekannt waren, auch wenn der erpicht war, alle Zauber zu lernen, die ihn groß, stark und unbesiegbar machen konnten. Anthelia erinnerte sich an einen Satz ihrer Tante Sardonia nach einer heftigen Übungsstunde in der Legilimentik.

"Der Geist eines Gegners steht immer auf den schwächsten Füßen und klammert sich an, wo er kann. Du mußt ihm immer die Beine wegziehen, die inneren Ängste und Gelüste erforschen können, um ihn aus der Balance zu werfen." Dann hatte sie sich in einen jungen Burschen verwandelt, dessen Bild in Anthelias Gedanken herumgegeistert war und hatte ihr angeboten, mit ihr ihre wildesten Träume auszuleben. Anthelia wäre der Verlockung fast erlegen. Dann hatte sich Sardonia in eine schmale Holzkiste verwandelt und Antehlia in sich eingeschlossen. Anthelia hatte Panik bekommen. Das Eingesperrt sein, das in einen sehr engen Raum eingezwengt sein, das fürchtete sie wohl schon von Kindesbeinen an. Sardonia hatte sie einmal ihre eigenen Erinnerungen aufrufen lassen. Dabei war ihr klargeworden, daß ihre Mutter Nigrastra während der Schwangerschaft mit ihr immer sehr enge Kleidung getragen hatte, ja und während der Geburt war sie mit den Füßen zuerst zur Welt gekommen und hatte nahe am Erstickungstod bald zwwei Tage halb im Mutterleib verbracht. Darauf, so ihre ehrenvolle Tante, sei ihre große Angst wohl zurückzuführen. Außerdem war diese schmerzhafte Steißgeburt der Beweggrund, sie Anthelia zu nennen, weil sie während der gefahrvollen Reise ins Leben ihr Hinterteil der Sonne entgegengestreckt haben soll. Deshalb waren die Schlösseröffnungszauber und ihre Telekinese das erste, was sie wirklich gut beherrscht hatte. Und als sie dann noch apparieren lernte, perfektionierte sie diese Fertigkeit, daß sie eine der wenigen neben ihrer Tante war, die in einem einzigen Akt zwischen den Kontinenten wechseln konnte. Doch manchmal, wenn sie an ihr erstes Leben zurückdachte, überkam sie doch noch diese unbezwingbare Angst, wenn sie in einen winzigen Raum hineinging. Doch sie hatte gelernt, diese Angst zu unterdrücken und vor allem, sie hatte diese innerste Angst mit dem Divitiae-Mentis-Zauber im Geiste verschlossen, daß selbst ein Legilimentor nicht dahinterkommen würde. Da sie obendrein auch die Okklumentik beherrschte, stand ihrem Kampf mit dem Emporkömmling nichts im Weg.

"Sollen wir nicht doch mitkommen?" Fragte patricia Straton, die mit ihrer Mutter in der Daggers-Villa übernachtet hatte.

"Er wird wohl nicht alleine kommen. Also kommt ruhig mit. Außerdem könnt ihr mir, wo ihr schon da seid, bei etwas wichtigem helfen", sagte Anthelia. Die beiden Hexenschwestern nickten ihrer Anführerin zu und gingen ihr zur Hand, was sehr anstrengend aber dennoch überragend erfolgreich war. Dann brachen sie auf, um sich einem von Selbstmitleid und Selbsthaß verdorbenen Zauberer zu stellen, der meinte, die ganze Welt aus den Angeln brechen zu müssen. Dido Pane blieb derweil bei Izanami Kanisaga, die ihr fernöstliche Zauber vorführte, mit denen der Geist die Grenzen des Körpers verändern konnte. Einmal verfiel die japanische Hexe in eine Art trance und wurde bretthart. Wie aus einem Tonkrug erklang dann ihre Stimme:

"Schlag mich mit der Eisenstange, Mädchen! Mir kann das nichts anhaben." Dido probierte es aus und verbog die Stange dabei.

"Selbst ein Katana, das Langschwert eines Samurai, kann mir nichts anhaben. Es würde zerspringen, wenn es mit voller Wucht gegen meinen Körper geführt wird", sagte Izanami und kehrte in ihre gewohnte Form zurück.

Antehlia derweil apparierte vor der Sumpfhütte, besser dem, was Feuer und Wind von ihr übriggelassen hatten. Im wesentlichen war es nur ein schwarzer Rußfleck mit einem kleinen Aschehügel. Eine Klapperschlange lugte aus dem breitblätterigem Gestrüpp am Rand einer Schlammpfütze.

"Warmblütige! Platz da oder ich beiß dich!" Zischte das Reptil und ließ die Rassel am Schwanzende wild erzittern.

"Du kannst mich beißen, Rasselnatter. Aber sterben werde ich davon nicht", fauchte und zischte Anthelia zurück. Durch Sarah Redwoods einverleibte Fähigkeiten konnte sie nun auch die Schlangensprache. Romina hatte ihr mal erzählt, daß Schlangen doch eigentlich taub seien. Anthelia meinte nur dazu, daß die Muggel eben nicht die richtigen Töne fänden, die die Schlangen hören könnten, ja hören wollten.

"Du sprichst wie ich", fauchte die Klapperschlange irgendwie erstaunt klingend.

"Ich spreche deine Sprache", sagte Anthelia. Da fiel ihr was ein. Von Voldemort hieß es, er könne diese Sprache auch. Wollte sie nicht, daß er von anderen hier herumkrauchenden Schlangen gewarnt wurde, mußte sie die Tiere vorher einschüchtern und vertreiben. Sie wirkte den Sonorus-Zauber und parselte über mehrere Quadratkilometer hinweg:

"Da kommt ein großes gefräßiges Tier, das wir nicht beißen können. Hilfe. Weg hier! Weg hier!" Diese eindringlichen Sätze gab Anthelia immer wieder von sich. Ringsherum wuselte es in den Büschen und Erdaufwerfungen. Die Schlangen flüchteten. Anthelias magischer Warnruf hatte sie alle erreicht. Sie murmelte: "Quietus" und sah die beiden Mitschwestern an.

"Wenn dieser Fontenera ihm geschrieben hat, daß er ihn hier treffen will, dann wird er wohl herkommen. Am besten machen wir uns unsichtbar", sagte Patricia Straton. Ihre Mutter nickte. Sie zogen sich gut hundert Meter zurück und waren auf einmal nicht mehr zu sehen.

"nun denn, Waisenknabe! Trau dich her und lerne deine Grenzen kennen!" Dachte Anthelia, die sich lässig auf einen Felsen hockte und die Beine übereinanderschlug. Der silbriggraue Zauberstab des dunklen Wächters lugte keinen Zoll aus ihrem Umhang. Das Seelenmedaillon Dairons ruhte unter ihrem rosaroten Umhang. Sie hatte die Kapuze über ihr strohblondes Haar gezogen und die Sommersprossen mit brauner Schminke übermalt. Sie wollte dem Emporkömmling nicht in der ersten Sekunde verraten, welchen Körper sie bewohnte. Das wollte sie sich für einen Zeitpunkt aufheben, wo er angeschlagen oder unschlüssig sein mochte. Sie pfiff den Marsch der Getreuen Sardonias, die Hymne einer großen Epoche, die bald wiederkehren sollte, mit ihr als der Matriarchin aller Hexen.

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Die magischen Ortswechsel waren nicht so einfach. Einmal vertat sich Sinon Cliever und wäre um ein Haar im schäumenden Atlantik gelandet, dessen haushohe Wellen sich über hundert Meter tief an schroffen, messerscharfen Felsen brachen.

"Idiot", fauchte Voldemort. "Beinahe hätte die See dein fauliges Fleisch gefressen. Kannst du nicht mehr genau zielen, wo du hinwillst?"

"Doch, Herr. Doch die Strecke ist weit, Herr", keuchte Cliever.

"Wenn du dich noch mal vertust ist sie gleich für dich zu Ende, ein für alle Mal", schnaubte der dunkle Lord. Warum hatte er sich einen solchen Dilletanten im Apparieren mitgenommen? Hoffentlich war der in anderen Zaubern besser drauf!

Der vierte Sprung über mehrere tausend Kilometer trug die drei englischen Zauberer zur Südküste Floridas. Der dunkle Lord kramte ein Naviskop der Firma Prazap aus seinem schwarzen Umhang und befragte es, wie weit und in welcher Richtung sie noch reisen mußten. Dann gab er die Richtung vor und wartete, bis sich die beiden Todesser auf ihn eingestimmt hatten, um ohne Körperberührung zu folgen, wohin es auch ging. Dann disapparierten sie noch einmal, ein letztes Mal.

Was hatte er erwartet? Dieser Fontenera hatte ihm doch geschrieben, daß diese Hütte verbrannt war. Also mußte dieser häßliche Rußfleck mit dem Aschenhügel das sein, was von der Blockhütte zurückgeblieben war. Voldemort sog den Duft der Sumpflandschaft in seine schlitzartigen Nasenlöcher ein. Seine scharlachroten Augen loderten vor Aufregung. Wo war dieser Fontenera? War überhaupt wer hier.

"Ist hier jemand außer mir?!" Rief der mächtigste schwarze Magier der Gegenwart mit kalter, schriller Stimme über den von Froschgequake, Vogellauten und ab und an glucksendem Wasser vorgetragenen Klang des Sumpfes. Irgendwo zischte es. War das eine Schlange? Konnte er die fragen, ob hier jemand auf ihn wartete. Doch als er sich umblickte, gewahrte er gerade noch die kurze, flache Schnauze eines Alligators. Das war leider nicht ganz die Art Kriechtier, mit der er reden konnte. Es wäre so gewesen, als würde ein Indianer in ein persisches Gebirgsdorf kommen und versuchen, mit den Einheimischen zu sprechen, dachte Voldemort. Dann hörte er etwas. Er fuhr herum und sah eine Frau mit braungetönter Haut. Sie saß auf einem runden Felsen, der mit grünem Moos bewachsen war und hatte ihre Beine locker übereinandergeschlagen. Ihre Hände ruhten auf ihren Oberschenkeln, und ihren Kopf bedeckte die Kapuze des rosaroten Umhangs, den sie trug.

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Anthelia hörte sie kommen. Erst krachten die Knälle apparierender Zauberer oder Hexen. Dann stapften die drei erwarteten, wenn auch nicht unbedingt erwünschten Besucher der Staaten zum Aschenhaufen hin. Sie sah den fahlgesichtigen, rotäugigen Zauberer mit der hageren Gestalt, die durch den schwarzen Umhang noch verstärkt wurde. Er blickte sich um, sah sie aber noch nicht, weil er den Aschenhaufen absuchte. Dann hörte sie ihn rufen: "Ist da jemand außer mir?"

"Die zwei, die du mitgebracht hast sind bei dir, Waisenknabe. Und wenn du dich umwendest, wirst du mich erblicken", dachte Anthelia. Sie überkam eine gewisse Anspannung. Doch sie atmete tief durch und erwartete den Blickkontakt, den ersten Blickkontakt zwischen ihr und dem Emporkömmling.

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"Heh, Frau, wer bist du und was willst du hier?" Schnarrte Voldemort die ruhig dasitzende Frau an. Diese schien über sein Aussehen und seine Stimme nicht im mindesten erschüttert zu sein. Wußte die da etwa nicht, wer er war?

"Weib, ich will wissen, wer du bist und was du hier treibst. Das fragt nicht irgendwer, sondern Lord Voldemort", schnarrte er langsam und bedrohlich, beinahe zischend.

"Lord wer?" Fragte die Fremde mit einer mittelhohen Altstimme, die jedoch irgendwie den Tonfall eines kleinen Mädchens besaß.

"Du willst mich foppen, Weib. Ich bin Lord Voldemort, der größte Zauberer aller Zeiten. Mein Arm reicht überall hin, mein Blick bringt Furcht und mein Wort den Tod."

"Ui, deine Wörter töten? Hmm, warum lebe ich dann noch?" Fragte die Fremde und hielt sich für einen wie erschrocken wirkenden Sekundenbruchteil die Ohren zu, bevor sie wohl erkannte, daß nicht jedes Wort von ihm töten würde. ER sah sie an, konzentriert. Doch irgendwie schien sein Blick in einen unendlich tiefen Abgrund zu bohren, nicht die mindeste Gefühlsregung zu ertasten.

"Weib, du spielst mit mir. Aber ich mag es nicht, wenn jemand meint, mich, Lord Voldemort zum Narren halten zu wollen!" Rief der dunkle Hexenmeister. Seine beiden tonnenförmigen Todesser standen daneben und gafften die Fremde an, die völlig ruhig und offenbar ohne Angst vor einem Angriff dahockte.

"Ja, das hast du schon gesagt, daß du der große Lord Voldemort bist. Schade, ich wartete eigentlich auf wen anderen", sagte die Frau im Rrosa Umhang.

"Auf wen denn?" Fauchte Voldemort verärgert.

"So'n Mann im Italienischen Anzug. Fonoterra oder wie der hieß, son'n ausländischer Name halt. Ach ja, Fontenera hieß der. Der wollte heute hier herkommen. Kennst du den?"

"Spiel mir nicht das Dummchen vor, Weib. Du weißt wer ich bin und wer Fontenera ist. Außerdem wollte der bestimmt nicht alleine herkommen. Wer bist du? Ich frage dich nicht noch einmal?"

"Ich? Ich bin die Lia. Ich habe den Mann, Fontenera vor'n paar Tagen getroffen in so'ner Stadt mit ganz hohen Häusern. Der hat mir erzählt, der wollte heute herkommen und sich das da noch mal ansehen", sagte die Frau, deren Einfaltstour dem dunklen Lord zusehens Zorn und Angriffslust ins Gesicht trieb. Wie konnte sie es wagen, ihn derartig beiläufig anzusehen und anzusprechen? Nun gut, gleich würde er wissen, wer sie war. Er hob seinen Zauberstab. Doch vorher versuchte er es noch mal mit einem neuen Vorstoß in den Geist der Frau.

"Legilimens!" Rief er, um die ohnehin schon stark ausgeprägte Fertigkeit noch einmal zu verstärken. Er sah der Frau im rosa Umhang unbarmherzig in die Augen. Da war es ihm, als rase er in einen nachtschwarzen, immer weiter ausladenden Schlund hinein. Dann prallte er auf etwas grelles, lautes und wurde so heftig zurückgestoßen, daß selbst sein Körper zurücksprang. Er fühlte, wie die Wucht des Rückpralls in ihn einzudringen versuchte und riss sich sofort los, weil ihm gerade der kahle Flur des Weisenhauses in Erinnerung kam, in dem er viele trostlose und widerwärtige Jahre zugebracht hatte. Da hatte er die Bestätigung. Die Fremde da war eine Hexe, und sie war nicht so dumm, wie sie tat und auch nicht so machtlos. Die Gewißheit, hier eine womöglich harte wenn auch nicht unbesiegbare Gegnerin, womöglich die hiesige Lady dieser Nachtfraktionärinnen vor sich zu haben, ließ ihn erschaudern aber auch triumphieren. Man hatte ihm eine zaubermächtige Widersacherin geschickt, kein dummes Kind im Leib einer Frau.

"Wer bist du. Soll ich dich Lady nennen? Lady der Hexenhuren?!" Schrillte Voldemort. Doch das Gesicht der gerade erfolglos legilimentierten Hexe blieb ruhig und entspannt.

"Ich bin weder Lady noch Hure. Ebensowenig bist du ein Lord oder ein allmächtiger Zauberer", sagte sie, immer noch mit der kindlichen Tonlage sprechend. "Ich zwinge niemandem meinen Willen auf und biete mich keinem feil. Oder suchst du sowas?"

"Ich werde dich lehren, so mit mir zu reden, Dirne! Crucio!"

Unvermittelt, ohne das er einen Zauberstab oder dergleichen gesehen hatte, hüpfte der große Felsen aus der Erde, sodaß der Fluch krachend dagegenschlug und etwas Gestein absplitterte. Schmatzend sank der Felsen wieder im Boden ein.

"Cruci...!" Rief der dunkle Lord. Da packte ihn eine unsichtbare Gewalt am Zauberstabarm. Sofort brach er den Fluch ab und konzentrierte sich. Telekinese hatte auch er gelernt. Das würde dieses Weib sofort merken. Er konzentrierte sich und schaffte es, die körperlose Hand um seinen Arm abzuschütteln. Doch dafür zog sie ihm ohne Vorwarnung am Umhang und riß ihn um, sodaß er auf dem Hinterteil landete. Das war zu viel. Er riss den nun wieder frei beweglichen Zauberstab hoch und rief:

"Imperio!" Mit einem Lauten Knall verschwand die Fremde, bevor er die letzte Silbe des Zauberwortes ausgesprochen hatte.

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Anthelia genoß es. Dieser Wahnsinnige da vor ihr war es gewohnt, dort wo er sich zeigte oder seine Stimme erklingen ließ alle und jeden einzuschüchtern, ihnen schon mit seinem selbstgewählten Namen Angst einzujagen. Sie spielte ihm weiterhin das dumme Frauchen vor, bis er offenbar genug Wut in sich angesammelt hatte. Er griff sie erst mental an. Sie ließ ihn tief in ihren Geist hinein, jedoch alle ihre Gedanken zur Seite wirbelnd. Dann stieß sie ihrerseits zurück. Voldemorts eigene Macht und ihr Gegenstoß gaben ihr einen kurzen Blick in die gefühlsmäßigen Schichten seiner Erinnerungen preis. Sie sah das Weisenhaus und hörte die Stimme eines sehr strengen Aufsehers schimpfen. Dann hatte der Gegner sich freigemacht und seinerseits den Geist verborgen. Als er dann mit dem Cruciatus-Fluch angriff, ließ sie den Felsen, den sie bereits vorher mit einer schlafenden Bewegungsmagie angereichert hatte, in die Höhe schnellen und fühlte den auf tote Materie prallenden Fluch unter ihrem eigenen Gesäß erzittern. Schnell ließ sie den Felsen zurückfallen und ergriff mit ihren Geistesfingern den Zauberstabarm. Doch Voldemort hielt dagegen. Ja, er war telekinetisch gut geübt. Sie gönnte sich den Schabernack, ihn mal eben auf den Hosenboden fallen zu lassen, auch wenn er keine Hose trug. Als er dann den Zauberstab wieder hochriss, disapparierte Anthelia, egal, was er ihr zufügen wollte. Sie tauchte keinen Lidschlag später etwa zehn Meter hinter dem tonnenförmigen Todesser mit dem Eierkopf auf. Voldemort mußte sie erst suchen. In der Zeit schickte sie den Dunst der Trübsal aus, einen Nebel, der beim Einatmen tiefe Traurigkeit auslöste.

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Auf einmal meinte Voldemort, etwas ganz trauriges sei ihm gerade widerfahren. Beinahe fing er zu weinen an, weil er an seine Mutter dachte, die bei seiner Geburt gestorben war. Dann erkannte er den Angriff. Der Dunst der Trübsal war ein flächendeckender halbmaterieller Fluch, der bei meisterhafter Übung mehrere Dutzend Menschen in tiefe Traurigkeit stürzen konnte. Sofort riss er den Stab vor den Kopf und rief:

"Finis Incantatem!" sofort meinte er, ein erfrischender Wind würde ihm das Gesicht tränenfrei blasen und seine Traurigkeit verwehen. Er fuhr herum und entdeckte die Hexe, die nun hinter einem silbernen Schild Deckung gesucht hatte.

"Sollen wir dir helfen, Herr?" Fragte Cliever, der gerade einen Tränenstrom über die Wangen fließen hatte.

"Frage mich das nicht noch einmal!" Schnaubte Voldemort. Er hatte keine Hilfe nötig. Diese Hexe da würde gleich auf dem Bauch auf dem schlammigen Boden vor ihm liegen und um Gnade winseln. Da nützte ihr auch der magische Schild nichts. Er richtete seinen Zauberstab auf den Schild und rief:

"Aggregato Flammasolitelum!" Laut sirrend schoss ein gleißend heller Lichtspeer mit flammender Spitze aus dem zauberstab. Voldemort fühlte, wie die Wucht des Zaubers ihm die Kraft aus dem Arm zu ziehen schien. Sein Körper wurde etwas schlaffer. Krachend barst der Speer auf dem Schild, der in vielen Blitzen auseinandersprang.

"Imperio!" Rief Voldemort. Bevor er diese Frau tötete, wollte er wissen, wer sie war und was sie hier tat.

Doch wieder war sie verschwunden, offenbar unter dem Lichtblitzgewitter des zerspringenden Zauberschildes.

"Duellier dich gefälligst mit mir wie es sich gehört!" Schrie Voldemort und wirbelte herum. Er mußte dieses Weib mit einem Antidisapparierfluch bannen, um sie dann genüßlich mit Flüchen belegen zu können.

"Du hältst dich ja selbst nicht an die Regeln, Waisenknabe!" Trällerte die Stimme der Gegnerin von weit entfernt. Der dunkle Lord fackelte nicht lange und schickte einen Fangfluch aus, sie zu sich zu holen. Das klappte auch. Doch nur zu dem Preis, daß zwischen ihm und ihr unvermittelt eine Feuermauer hochschoss und auf ihn zustürzte. Sie hatte es also auch raus, eine Elementarzauberei in einen herbeiziehenden Zauber einfließen zu lassen. Er ließ den Zauberstab sinken, worauf die Feuerlohe knisternd zerstob. Dann traf ihn ein regenbogenfarbiger Lichtstrahl. Sofort wirkte er den Inconturbatio-Zauber, um nicht die Besinnung zu verlieren und dann womöglich in einer stahlharten Kapsel wieder aufzuwachen. Diese Kombination war typisch für mächtige Hexen.

"Dieser Trick ist alt, Lia oder wie du heißt!" Frohlockte Voldemort.

"Ja, stimmt", sagte die Gegnerin mit einer Spur Enttäuschung in der Stimme. "Ich dachte nur, den kennst du schon gar nicht mehr."

"Dann pass jetzt auf, Luder, welche Mächte ich rufen kann!" Schrie Voldemort, der immer noch keine Angst bei der Fremden erkennen konnte. "Manus Medianoctis!" Rief er. Dabei hielt er den Zauberstab kurz nach Norden. Als wäre im Himmel ein tiefschwarzes Loch entstanden, färbte sich ein Bereich des blauen Himmels pechschwarz. Deutlich konnten alle helle Sterne durch diese Schwärze schimmern sehen, als das Loch wuchs und sich von kreisrund über oval zu einer langen, stark wirkenden Hand auswuchs, die fünf baumstammdicke Finger ausstreckte und mit lautem Geheul auf die Gegnerin zustürzte. Cliever staunte. Diesen Zauber kannte er noch nicht. Was konnte man damit machen?

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Anthelia fühlte, wie die Angriffe Voldemorts sie schwächten. Auch das ständige Disapparieren kostete Kraft. Hinzu kam, daß sie die wirklich mächtigen Flüche nicht anwenden konnte, weil sie ihren Geist vor dem Emporkömmling verschlossen halten mußte. Als der Waisenknabe dann tatsächlich die dunkle Macht der Hand aus materieller Mitternacht beschwor, wnakte ihre Selbstsicherheit. Das der Kerl diesen Zauber konnte und vollendet rufen konnte, jagte ihr doch einen Gutteil Respekt ein.

Heulend stürzte die düstere Riesenhand auf sie zu. Wenn sie Anthelia zu fassen bekam, würde sie ihren Körper verlieren, weil dieser in einer Kombination aus Vereisung und Zerquetschen sterben würde, sofern der Gürtel der Zwei Dutzend Leben sie nicht davor bewahren konnte. Doch ihr Geist blieb davon unbeeinträchtigt. Er würde in der dunklen Hand gefangen sein und konnte, wenn Voldemort den Beuteruf der Mitternachtshand beherrschte durch den Zauberstab in ihn selbst überfließen, wo alle Erinnerungen zu seinen Erinnerungen wurden, die Seele jedoch restlos verging.

"Nun gut", dachte sie, während die schwarze Riesenhand nur noch fünf Meter von ihr entfernt war und sie die Eiseskälte aus den Tiefen des Weltraums zu fühlen vermeinte.

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Voldemort triumphierte. Er hatte tatsächlich einen Funken Angst in den Augen diser Hexe gesehen. Seltsam bekannt kamen ihm diese Augen vor, gerade jetzt, wo er etwas Angst in ihnen gesehen hatte. Gleich würden diese Augen aber nichts mehr sehen, und die beschworene Riesenhand würde den aus dem Körper gepressten Geist der Fremden halten, bis er sie auflöste oder in seinen eigenen Zauberstab einsog. Doch das, so wußte er, konnte ihm selbst zum Verderben werden, wenn er die magische Balance verlor und die gewaltsam hineingezogene Magie aus ihm herausbrach und ihn tötete. Er sah, wie die zum zupacken bereiten Finger nur noch einen Meter entfernt waren, als aus dem Zauberstab der Fremden ein Strahl aus dunklen Flammen stieß. Dunkles Feuer? Jetzt war er es, der eine gewisse Angst verspürte. Hatte dieses Weib es geschafft, einen der zerstörerischsten Elementarzauber aller Zeiten zu entfachen?

Die pechschwarze Flammengarbe traf die gleichfalls schwarze Riesenhand, verschmolz mit ihr. Doch weil beide Magien verwandt waren, durchdrangen sie sich wie zwei Wassertropfen, lösten einander auf und formten eine hausgroße Blase aus dunkler Kraft, die zitternd über der Hexe stehen blieb. Dann rief sie: "Perruptus!"

Wie ein gigantischer luftballon zerplatzte die lichtschluckende Sphäre. Es krachte wie im inneren einer hundert Meter großen Pauke, und eine übermächtige Druckwelle fegte alles und jeden hinfort, der oder die im Umkreis von zwanzig Metern von der detonierenden Zauberkraft war. Das überstanden auch Voldemort und seine Gegnerin nicht unbeschadet. Sie wurden wie welkes Laub weggeblasen, durch die Luft gewirbelt und dann hundert Meter voneinander entfernt zu Boden geschleudert. Voldemort hatte Glück, daß er in einem Tümpel landete. Aufgescheuchte Frösche hüpften wild quakend davon. Merkwürdigerweise konnte Voldemort noch etwas hören, wo er gerade noch dachte, es würde ihm die Ohren vom Kopf reißen.

Der dunkle Lord stand pitschnaß auf und stolperte benommen auf festen Boden zurück.

Die Hexe, die gerade ihn, seine Todesser und sich derartig brutal auseinandergetrieben hatte, war wohl in einem Baumwipfel gelandet und hing fest. Das war ihr Ende. Wer sie wirklich gewesen war, Mit einem Feuerball würde der Baum und alles auf ihm in Sekunden verbrennen. Er hob den irrsinnigerweise unversehrten Zauberstab und rief: "Bollidius!"

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Das dunkle Feuer, Hallittis Waffe und auch Sardonia und ihren Verwandten gut bekannt, war die einzige Magie, die den Zauber Voldemorts aufhalten konnte. Denn weil beide Zauber dieselbe dunkle Macht verströmten, würden sie sich gegenseitig aufheben und zu einer Blase mit angestauter Kraft verwandeln. Dann hatte Anthelia diese Blase platzen lassen und die eingesperrte Kraft über sich und alles um sie herum hereinbrechen lassen. Sie flog durch die Luft und landete benommen im Wipfel eines Baumes. Dann hörte sie den Zauber für den Feuerball. Für den Zauberstab war es zu spät. Die Flammenkugel würde schneller bei ihr sein. Sie konzentrierte sich und verwandelte sich in bisher nicht erprobter Geschwindigkeit in eine große Krähe, die steil nach oben stieg und mit kraftvollen Flügelschlägen entkam, bevor der Feuerball fauchend in den Baum krachte, der darauf in einem dicken Mantel lodernder Flammen eingehüllt war. Krachend, knarzend und Knisternd zerfiel der Baum innerhalb von wenigen Sekunden zu Asche und verkohltem Holz. Antehlia fühlte noch die sengende Glut an ihrem Bürzel und vermeinte, ihre Schwanzfedern würden schwehlen. Kurz entschlossen stürzte sie sich in einen Tümpel, der nicht so morastig war. Als der riesige flache Körper eines Alligators auf sie zutrieb, erkannte Anthelia, daß sie sich gerade auf den Speisezettel dieser Panzerechse gesetzt hatte. Völlig naß flatterte sie im Wasser dahin. Die Schnauze des Aligators klappte auf, die unbarmherzig scharfen Zähne des Königs der Sümpfe verkündeten den Tod.

"Wenn ich mich schon fressen lassen muß, dann nur von einem Drachen", dachte Anthelia. Da durchzuckte sie die Lösung. Noch einmal dachte sie den Infrunitus-Zauber. Das war einer der wenigen Zauber, den sie ohne greifbaren Zauberstab wirken konnte.

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"Guten Appetit, Sir Alligator!" Frohlockte Voldemort, als er über das Erstaunen hinwegwar, daß seine Gegnerin eine Animaga war und ihre Kunst sehr gut beherrschte. Doch offenbar war sie nicht ganz so gut entkommen, weil ihre Schwanzfedern qualmten und immer heller glühten. Der tolldreiste Sturz in einen Tümpel löschte zwar das Feuer, rief aber eben einen hungrigen Alligator auf den Plan. Voldemort lachte lauthals. Als Krähe zum Mittagessen eines Sumpfalligators gereicht zu werden, welch ehrenvolles Ende für eine achso machtgläubige Hexenlady.

Doch was war das? Der Alligator schrak zurück. Blasen stiegen aus dem Wasser auf und ein eklig grünes Federding trieb auf das Ufer zu. Dann erreichte es dieses, rutschte darauf und blieb für eine Sekunde ligen. Dann verwandelte es sich in die große Krähe zurück, aus der, wieder in weniger als zwei Sekunden seine bislang hartnäckigste Duellgegnerin erwuchs. Doch sie strauchelte. Die schnellen Zauber hintereinander zehrten an ihr. Er wußte zwar, daß auch er durch die Beschwörungen und die Körperkräfte, die auf ihn eingewirkt hatten mehr Kraft verbraucht hatte als bei anderen Duellen, wie dem gegen Bones oder James Potter oder auch vor gerade einer Woche bestandenen Duell mit Dumbledore. Aber diese Hexe da, die bei ihrer Rückverwandlung wieder trockene Kleidung trug, würde vor ihm einbrechen und dann hatte er sie. Ja, dann hatte er sie endlich am Boden!

"Ich gebe dir eine gnädige Gelegenheit, dich mir zu ergeben und meine Macht endlich anzuerkennen!" Rief Voldemort siegessicher. Seine Todesser rappelten sich gerade vom Boden auf. Sie fischten nach ihren Zauberstäben.

"Die gehört nur mir, ihr hirnlosen Cretins!" Schrie er, als Cliever gerade auf die Hexe im rosaroten Umhang zielte, der bei der Rückverwandlung die Kapuze nicht mehr über dem Haar lag. Voldemort zuckte zusammen, strohblondes Haar, und dann die Augen vorhin. Nein, das war unmöglich. Er mußte sich täuschen. Die Anstrengung gaukelte ihm was vor, was unmöglich passen konnte.

"Wenn du schon französische Herabwürdigungen gebrauchst, Waisenknabe, dann sprich sie bitte auch korrekt aus!" Rief die Hexe mit magisch verstärkter Stimme. Cliever wollte schon wieder mit dem Zauberstab auf die Gegnerin zielen, da passierte was merkwürdiges mit ihm. Unvermittelt schrumpften die Arme, die Beine und der Kopf zusammen, verschwanden im Körper, der etwas breiter wurde, dabei den Umhang in sich aufnahm und dann wasserblau und bauchig stehenblieb, als große, dicke Regentonne.

"Das war nicht die", durchschoss den dunklen Lord der einzige passende Gedanke. Er blickte sich um. Wo war der Zauberer, der diesen Verwandlungszauber am lebenden Objekt beherrschte. Doch er sah niemanden. Also war er oder bestimmt eine Sie unsichtbar für das gewöhnliche Auge. Aber das nützte wem immer nichts. Er murmelte: "Vivideo!" Gleich würde er es wissen, wo die heimtückische Helferin dieser Dirne im rosaroten Umhang lauerte.

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Anthelia sah, wie Voldemorts Diener mit dem Eierkopf den Zauberstab gegen sie richtete. Den würde sie mit einem Schocker lähmen und sich nicht weiter mit ihm abgeben. Da rief Voldemort ihm zu, sie ja ihm zu überlassen. Sie fühlte sich verpflichtet, obwohl sie schon mehr als hundert Jahre insgesamt auf englischem Boden gelebt hatte, den Waisenknaben auf die Feinheiten ihrer Muttersprache hinzuweisen. Wieder versuchte dieser walzen- oder tonnenförmige Zauberer mit dem Eierkopf, sie anzugreifen, als ein flirrendes violettes Licht von rechts seinen Bauch traf. Er schrak zusammen, während seine Gliedmaßen in den Körper zurückschrumpften und dieser dann etwas breiter und bauchiger zu einer blauen Regentonne aus blankpoliertem Gußeisen wurde. Anthelia wußte, wer solchen Schabernack zu treiben pflegte, wenn man sie ließ. Allerdings würde der Emporkömmling jetzt nach weiteren Getreuen von ihr suchen und auch finden, unsichtbar oder nicht. Tatsächlich beschwor der finstere Zauberer den Lebensquellenfinder herauf und ließ den grünlich flackernden Lichtstrahl seines Zauberstabes umherwandern. Dunkelgrün und stetig erstrahlten die Lebensauren der Pflanzen, hellgrün und pulsierend die der Tiere, ob über oder unter Wasser. Es würde nicht mehr lange dauern ...

"Heh, Waisenknabe. Wir sind noch nicht fertig!" Rief Anthelia, die immer noch den Sonorus-Zauber benutzte.

"Nenn mich nicht Waisenknabe, Dirne! Ich bin Lord Voldemort!" schrillte die kalte Stimme des Angerufenen.

Anthelia zog sich die Kapuze wieder über das Haar. Ob dem Emporkömmling bereits ein Licht aufgegangen war? Immerhin war er ja nicht dumm.

Es knackte laut aus dem Zauberstab Voldemorts oder Tom Riddles. Laut pfeifend sprühten bunte Blitze umher. Voldemort argelte unüberhörbar wütend. Er hatte vergessen, den Lebensquellzauber zu beenden, bevor er einen neuen Zauber aufrufen wollte. Offenbar zehrte das Duell im Sumpf auch seine Kräfte aus. Anthelia wußte jedoch, daß ein heftiger Treffer, egal womit, ihr rasch alle übrigen Kräfte rauben konnte. Dann war sie erledigt, wenn sie nicht ...

__________

"Vitricorpus!" Schrie Voldemort der Hexe entgegen. Eine Serie vieler wirkungsloser, nur schön bunter und schrill heulender Lichtblitze sprühte nach allen Seiten aus dem Zauberstab. Wütend stampfte Voldemort auf und versenkte seinen rechten Fuß in der schlammigen Erde. Schnaubend zog er ihn wieder frei. Grünliche Modererde klebte klumpig klitschnaß an Sohle und Seiten seines rechten Schuhs.

"Sie ist angezählt, wie die Muggelboxer das nennen", dachte Voldemort. Wollte er sie noch mal legilimentieren? Er versuchte es und prallte wieder gegen eine Mauer, nachdem er erst in einen düsteren Leerraum vorgestoßen war.

"Aber jetzt kriege ich dich, Nachtfraktionshure", schnaubte er. "Imperio!" Rief er. Das konnte sie unmöglich abwehren.

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Antehlia fühlte, wie ihre Erinnerungen erneut angegriffen wurden und prellte den Angriff zurück, beließ es jedoch nur bei der Abwehr ohne Gegenangriff. Dann traf sie eine Woge unendlicher Erleichterung. Alle Gedanken, Sorgen und Ängste wurden hinweggespült und hinterließen eine wohltuende Leere in ihrem Kopf. Dann hörte sie die Stimme in ihrem Geist:

"Dreh dich um und komm zu mir! Komm zu mir!"

"Wie preisen wir, die deine Töchter sind,
o Mutter dich, Sardonia", klang es weit weit in ihrem Geist. Die befehlende Stimme drang noch einmal zu ihr durch. "Komm zu mir! Sofort!" Dann pulsierte etwas unter Anthelias Umhang, sie sah, wie eine Frau mit rotbraunem Haar, Sarah Redwood, aus einem Strudel aus Licht entsteigen wollte. Dann erscholl der Kinderchor, den sie mit anderen Hexenmädchen zu Ehren ihrer Tante gegründet hatte, überdeutlich in ihrem Kopf. Die Vision Sarah Redwoods verblaßte. Anthelia konnte jedoch noch sehen, wie Sarah in den Strudel zurückgezogen wurde und darin verschwand.

"Das wirst du mir büßen, mir den Imperius zu verpassen", schnaubte Anthelia, als sie wieder klar denken konnte. Sie warf sich zur Seite und konnte sich gerade noch so auf ihren Armen und Beinen halten. Dann hob sie ihren Zauberstab:

"Crucio!" Rief sie. Sollte dieser Wurm doch mal die eigene Medizin kosten.

__________

Voldemort glaubte erst, endlich Erfolg zu haben. Doch dann plärrte so ein schieftöniger Kinderchor los, und der konnte eine Frau sehen, die versuchte, aus einem Strudel aus goldenem, blauen, silbernen und weißen Lichtern zu entsteigen. Er erkannte diese Frau. Das war Sarah Redwood. Dann krakehlte dieser Kinderchor auf französisch dieses zaubererfeindliche Sardonia-Huldigungslied, und er verlor die Gewalt über die Gegnerin.

"Was ist die für eine?" Fragte er sich. Dann sah er den auf ihn zustoßenden Zauberstab und hörte ein Wort, daß er lieber nur von sich hörte oder von Todessern, die für ihn andere Menschen quälten. Da traf ihn auch schon die volle Bandbreite unerträglicher Schmerzen. In Qual und unbändiger Demütigung schrie Voldemort auf. Wie glühende Klingen zerfetzte es seine Haut, walgte es mit stacheligen Nudelhölzern durch seine Eingeweide, schlug gnadenlos von innen gegen seinen Kopf und brannte es ihm in Lungen und Mund. Doch die Folter dauerte nur vier Sekunden. Vier Sekunden zu viel zwar, aber doch nur vier Sekunden. Diese Schmach wollte er dieser Ausgeburt der Frechheiten nicht schuldig bleiben. Noch einmal versuchte er, den Cruciatus-Fluch auf seine Gegnerin anzuwenden. Doch diese, offenbar daran gewöhnt, wich dem Fluch erneut aus. Er überlegte, ob er seinen zweiten Diener losschicken und sie festnehmen lassen sollte. Dann dachte er, es sei seine Sache, nur seine Sache, dieses aufgezwungene Duell, daß schon all zu lange dauerte, siegreich zu beenden. Selbst wenn Spekcles niemandem erzählen würde, daß er gegen eine Hexe ein so langes Duell kämpfte, es zu verlieren oder unentschieden abzubrechen kam nicht in Frage! Er konnte es mit zwei Worten beenden. Einfacher ging es nicht. Aber er wollte es wissen, wer diese Lia war, wieso er bei dem Imperius-Fluch Sarah Redwoods Gestalt gesehen hatte und was dieser Kinderchor sollte. Also mußte er sie besiegen, ohne sie zu töten. Sollte er noch einmal die Mitternachtshand rufen? Das würde ihm die Kraft entziehen, die er bräuchte, um das Gebilde aus dunkler Energie in seinen Zauberstab einzusaugen und kontrolliert zu vertilgen und damit den gefangenen Geist seiner Widersacherin. Direkte Flüche würden da wohl besser wirken. So schoss er den Schocker, den Lähmfluch, den Bewegungsbann, die Klammerflüche und Körperverunstaltungsflüche auf sie ab. Doch entweder parierte sie mit entsprechenden Gegenflüchen oder errichtete wirksame Breitbandschildzauber. Als er die violette Flamme wirkte, ließ die Hexe im rosaroten Umhang ihren Zauberstab kreisen und fegte mit einer dunkelblauen Wolke die Flamme fort, die zischend zersprühte. Beide wankten nun. Die Hexe versuchte noch einmal den verwirrenden Regenbogenstrahl. Doch wieder parierte Voldemort. Dann griff sie telekinetisch an, schupste ihn brutal oder zog ihm einfach ein Bein weg. Doch sie strauchelte. Ein Entwaffnungsfluch würde sie endgültig niederwerfen.

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Anthelia war schnell und stark. Voldemorts direkte Flüche waren ihr gut vertraut und konnten rasch zurückgeworfen werden. Zwischendurch ließ sie ihre telekinetischen Kräfte spielen und brachte den Gegner damit immer zum Stolpern oder hinfallen. Dann griff er mit dem Entwaffnungszauber an. Sie fühlte, wie ihr der Zauberstab aus der Hand flog. Ein Gedankenbefehl brachte ihn ihr jedoch wieder zurück. Doch sie lag am Boden und konnte im Moment nicht ausweichen. Der Waisenknabe triumphierte. Jetzt stand er vor ihr, hob seinen Fuß, um ihn ihr auf den Bauch zu setzen. Doch er zögerte. Ein dämonisches Lächeln erschien auf Voldemorts schlangenartigem Gesicht. Er trat zurück.

"Ich gebe dir noch mal, weil es mich so gut ausgelastet hat, eine Gelegenheit, mir den Namen zu verraten. Lia stimmt ja wohl nicht oder?"

"Nicht ganz, Waisenknabe", zischte Anthelia. Noch hatte sie einen Zaubertrumpf, den sie bisher gut zurückgehalten hatte. War jetzt der Zeitpunkt, ihn auszuspielen?

"Wer bist du, Weib?"

"Wie sagte es ein kampflustiger Krieger in einem Kinofilm? Dein schlimmster Alptraum", spie Anthelia Voldemort entgegen. Dieser lachte.

"Höchste Schwester, sollen wir dir helfen? Ich könnte den Infanticorpore auf ihn anwenden", flüsterte es in Anthelias Geist. Sie konzentrierte sich und dachte an das Gesicht Patricia Stratons. Dabei ließ sie die Worte:

"nein, lass ihn. Infanticorpore wird ihm nichts anhaben, wo sein Körper erneuert wurde und er ohnehin nicht mehr seinen angeborenen Leib bewohnt."

"Nun, willst du mir erzählen, wer du bist? Oder soll ich dir noch einmal den Imperius-Fluch aufhalsen?"

"Er wird dir wieder entgleiten, Waisenknabe. Du hast es doch gemerkt, daß du nicht nur gegen mich gekämpft hast, oder?"

"Dann sei es dies", schnaubte Voldemort. Anthelia fühlte, daß der böse Hexer sich auf etwas starkes konzentrierte und ahnte, was er wollte. Ja, da war auch schon ein stechender Schmerz in ihrem Kopf, das Gefühl, von einem mörderischen Schatten umklammert zu werden, der in sie einzudringen versuchte. Sie dachte an Worte der Liebe, die ihre Mutter ihr immer wieder zugeflüstert hatte. Dabei fühlte sie auch, wie das Seelenmedaillon unter dem Umhang pulsierte und unvermittelt einen flirrenden Lichtdom über sie stülpte. Dann hörte sie einen Schreckensschrei in ihrem Geist, immer wieder laut und leise werdend. Dann schoss etwas silbrigweißes aus ihrer Brust heraus, raste hin und her, bis es mit lautem Knall durch die Lichtkuppel brach und in den Körper Voldemorts einschlug, der im selben Moment einen tierhaften Schmerzensschrei ausstieß.

__________

Diese Hexe war zäh. Sie gab einfach nicht auf. Mochte es sein, daß sie die Torin nicht nur gespielt hatte? Wußte sie nicht, wann es vorbei war? Der dunkle Lord überlegte, was er noch tun konnte, um das Geheimnis dieser Hexe zu ergründen. Sie Beherrschte die dunklen Künste. Genau das war wohl ihre Schwachstelle. Er konzentrierte sich und richtete seine Gedanken auf den Körper seiner Gegnerin. Ja. Er fühlte, wie er in die fremde Hülle einschlüpfte und die Seele, eine sehr starke Seele, immer mehr einschnürte. Gleich würde er sie ..

"Ich liebe dich auch, Maman", erscholl eine Kinderstimme und eine Wärme, die Voldemort nicht begriff, warf ihn zurück. Dann noch sowas. Gefühle, die er nicht kannte, Aufopferung, Hingabe, alles was er im tiefsten inneren verachtete, wollte ihn durchdringen. Dann passierte das unheimliche. Er fühlte, wie er den Halt verlor, auf eine andere willige Seele zuraste, dabei gegen eine magische Barriere prallte, zurück zu dieser Hexe, von der jedoch wie von einem Magneten angezogen zu der anderen Seele, wieder hin und her, immer stärker. Voldemorts Geistform schrie vor Schmerzen. Er war in eine Falle geraten, mit der er nicht hatte rechnen können. In diesem Körper wohnten zwei Seelen, beide stark, beide durchdrungen von der Skrupellosigkeit aber auch von jener verhaßten Kraft, für andre dasein zu wollen, zu helfen, Stärke in der Schwäche zu empfinden. Das Gezerre dauerte an, bis er vom Schwung der letzten Pendelbewegung fortgeschleudert und mit einem beinahe die Sinne beraubenden Schmerz in allen Fasern seines eigenen Körpers durch die eigenen Augen sah und durch die eigenen Ohren hörte.

"Zwei Seelen", stöhnte er, nun selbst fast am Ende seiner Kräfte. "Zwei Seelen wohnen in dir. Deshalb kann mein Imperius dich nicht richtig packen. aber der Fluch kann es."

Spekcles, der breitschädelige Todesser, der bis dahin wie befohlen untätig herumgestanden hatte, ja noch nicht einmal mit dem Vivideo-Zauber nach dem versteckten Feind gesucht hatte, trat neben seinen wankenden Herrn und Meister, der gerade den Zauberstab hob. die Hexe stand auf, ebenfalls schwankend. Doch sie wollte dieses Duell genauso im Stehen beenden wie er, Lord Voldemort. Er schüttelte Speckles knorrigen Arm ab, richtete den Stab auf seine Gegnerin. Jetzt war es Zeit für die zwei Worte, die ihn endgültig zum Sieger machen würden.

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"Wenn der zweite Walzenzauberer auf die Idee kommt, den Vivideo zu machen, Mutter und Schwester, dann kriegt Dad noch eine Regentonne für den Garten", mentiloquierte Patricia Straton ihrer etwa zwölf Meter entfernt stehenden Mutter. Diese schickte zurück:

"Patricia, dein Schabernack mit Verwandlungen wirft dich eines Tages noch in eine Zelle von Doomcastle."

"Es wäre Notwehr, Mutter und Schwester", schickte Patricia ihre unhörbare Antwort. Dann sahen sie, wie Voldemort ziemlich knapp am Schachmatt den Zauberstab auf Anthelia richtete und den tödlichen Fluch ausrief. Würde er wieder zurückschlagen, wie bei Sarah Redwood?

Sirrend schoss der grüne Todesblitz auf Anthelia zu, die ruhig, wenn auch erschöpft dastand und das Unheil hinnahm. Der Blitz federte vor ihrem Körper. Sie fühlte, wie etwas in ihrem Gürtel erzitterte. Der Fluch peitschte wild heulend zurück, aber nicht im direkten Winkel. Der Todesblitz verfehlte Voldemort um einen halben Schritt und berührte seinen stummen Mitarbeiter am linken Arm. Schlapp fiel der Todesser hinten über, stürzte, kullerte den Hang zu einem Tümpel hinunter und klatschte ins trübe Wasser hinein. Patricia Straton konnte sehen, wie etwas großes, flaches auf den leblosen Todesser zutrieb. Dann gab es einen Ruck, und der Diener Voldemorts verschwand unter Wasser. Für den Alligator, der für einen Moment die kurze Schnauze aus dem Wasser streckte, würde Hunger an diesem Tag kein Thema mehr sein.

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"Nein!" Rief Voldemort, der in dem Moment, wo der Fluch von seiner Gegnerin zurückfederte, eine Flut von sich wiederholenden Bildern sah, die alle von einem gleißenden grünen Lichtblitz zerhackt wurden, schneller und schneller.

"Nicht Harry!" Schrie eine Frauenstimme. "Nicht Harry!" Wie auf einem rasanten Karussell zogen die Bilder der flehenden Frau und ihre Rufe vorbei. Dann war es vorbei. Voldemort konnte wieder klar erkennen, was um ihn herum passierte. Gerade sah er Speckles, der schlaff wie ein leerer Kartoffelsack einen Abhang hinunterkullerte und in einem Tümpel landete. Als er den Schatten unter Wasser sah, wußte er, er war allein. Doch wie konnte er dieses Weib töten? Der Todesfluch hatte nicht gewirkt. Aber er hatte auch ihn nicht getötet. Dafür hatte er diese verwünschten Bilder von den letzten Sekunden Lily Potters immer wieder gesehen. Das hatte er nicht erwartet. Die Hexe in Rosarot stand immer noch vor ihm. Ihre Knie zitterten. Er hatte nicht üble Lust, sie mit bloßen Händen zu erwürgen. Doch wollte dieses Duell als siegreicher Zauberer beenden, selbst wenn es durch das Versagen des Todesfluches nicht mehr so einfach gehen würde, wie er es vor fünf Sekunden noch geglaubt hatte. Doch eine Waffe hatte er noch, die er nutzen konnte. Er ging davon aus, daß diese Hexe da keine Zeit mehr haben würde, sich gegen seinen größten Zauber zu wehren. Dieser würde sie töten, endgültig. Er hob seinen Zauberstab und rief einige Worte. Sein Zauberstab erwärmte sich. Magie, die er vor Monaten in einem langwierigen Prozess gebündelt und eingelagert hatte, entfaltete sich nun, sog aus der Umgebung weitere Kraft auf und entströmte dem Zauberstab als schlauchartiges Gebilde aus grünem Zauberfeuer, das wuchs und wuchs und dann vorne sieben männerkopf große Schädel austrieb, während der restliche Leib der einer gigantischen Schlange war, deren Schwanzende gerade vom Zauberstab freikam. Das ganze hatte gerade drei Sekunden gedauert.

"Greife diese Hexe an und sauge ihr alles Leben aus!" Befahl Voldemort in Parsel, der Sprache der Schlangen.

Er sah die Gegnerin an, die mit weit geöffneten Augen auf das Ungetüm blickte, das gerade ausholte, um mit den Köpfen zuzuschnappen. Sie riss ihren silbriggrauen Zauberstab hoch - konnte es wirklich sein, daß Einhornblut den Lack dieses Stabes bildete? - und stieß einen Schrei aus wie ein großer Raubvogel.

"Was du auch immer jetzt machen wolltest, dummes Mädchen, wird dir nicht mehr glücken!" Rief Voldemort im Taumel aus Triumph und Erschöpfung. doch da schoss vom Himmel her etwas riesiges, lichtschluckendes mit lautem Getöse herunter, genau auf die siebenköpfige Schlange zu. Der Triumphschrei erstarb in Voldemorts Kehle, als er pechschwarze Klauen und einen meterlangen, scharfen Schnabel sah. Dann gab es ein Geräusch, als würde ein riesiges Stück Pergament von den Fäusten eines Riesen Zerrissen.

__________

Anthelia hörte den Singsang und wußte, was Voldemort noch aufbieten wollte. Er hatte seinen Avatar, wahrscheinlich die Hydra des Höllenfeuers, die Slytherin schon beschworen hatte, in seinem Zauberstab bereitgehalten. Jetzt mußte auch sie ihren letzten Trumpf ausspielen. Sie riss den Stab des dunklen Wächters hoch und stieß den Ruf des großen Vogels aus. Sie hatte den Mitternachtsvogel bereits am Morgen mit Patricia und Pandora erweckt, erst in ihrem Zauberstab verstaut und ihn dann hier in der Nähe freigelassen, auf daß er sofort kommen würde. Ja, und da stieß er auch schon herab, gerade als die feurigen Köpfe der Hydra auf sie zustießen. Die gigantischen Fänge packten das Monstrum aus Zauberfeuer und rissen es hoch, dabei zerfetzte der Schnabel den Leib der flammenden Bestie. Sie fühlte, wie eine mächtige Kraft in sie einfloss. In dem Moment, wo ihr dunkler Avatar, der Mitternachtsvogel, den Avatar des Emporkömmlings zerstörte, fraß er dessen Kraft und die Kraft seines Meisters in sich hinein und gab ihr davon, was überschüssig war. Ja, es wurde mehr. Es wurde herrlich viel. Während der Vogel die Hydra in der Luft verschlang, strömte deren Energie zu ihr, regte sie warm und glückselig an. Sie fühlte sich so wie auf dem Weg zur höchsten Wonne der Liebeslust, stöhnte und jauchzte überschwenglich beglückt und empfing Voldemorts Energie, die er auf die Hydra übertragen hatte. Im Gegenzug litt Voldemort unter einer Welle von Schmerzen, Wellen von Verzweiflung und Entkräftung. Dann errötete Anthelia unvermittelt und schrie ihre allerhöchste Befriedigung in die Sumpflandschaft. Gleichzeitig waren alle Körperkräfte in sie zurückgekehrt. Noch etwas benommen von der heftigen Woge von Kraft und Glückseligkeit sah sie auf dem am Boden liegenden Voldemort, der nicht einmal die Kraft hatte, seinen Zauberstab festzuhalten. Er wimmerte wie ein geschlagenes Kind. Sein Trumpfass war zum Joker geworden, doch zum Vorteil für sie, Anthelia. Der Vogel schwebte immer noch über der Szene.

"Dein giftgrüner Wurm ist tot, Waisenknabe. So ist der Lauf der Dinge. Wenn ein Wurm sein Loch verläßt, fängt ihn ein Vogel und trägt ihn zum Nest. Du bist geschlagen, der, der du die ganze Welt mit deinem Hass auf andersartige zerstören wolltest. Wegen drei Dingen lasse ich dir die Gnade, lebend davonzukommen. Zum einen hast du mir ein sehr ansprechendes und forderndes Duell geliefert. Zum zweiten habe ich durch deinen Avatar nach langer Zeit endlich einmal wieder eine solch herrliche Wonne erfahren, ohne dafür den Körper eines Mannes mit meinem vereinigen zu lassen. Dafür danke ich dir. Doch der größte Dank, den ich dir hier und jetzt sagen möchte, gilt deinem Treiben, einen eigenen Körper zu gewinnen, womit du mir geholfen hast, einen neuen Körper zu erlangen."

Triumphierend stand sie vor dem vor Entkräftung zitternden und wimmernden Voldemort, dessen achso furchteinflößende Augen voller Tränen waren. Er konnte also wirklich noch weinen. Das machte ihn irgendwie immer noch menschlich. Oder lag das an Harry Potters Blut, das seinen Leib zurückgebracht hatte? Anthelia schlug die Kapuze zurück und legte das Strohblonde Har frei. Dann richtete sie den Zauberstab auf ihr Gesicht und sagte:

"Repurificato Faciem!" Wie von unsichtbaren Schwämmen und Pinseln bearbeitet verschwand die braune Schminke aus dem Gesicht der Hexe und legte eine bleiche, sommersprossige Haut frei. Voldemort starrte in das Gesicht. Er zuckte zurück.

"Ja, das war einmal dein achso treuer Todesser, der für dich Askaban und die Knechtschaft unter dem Imperius-Fluch seines Vaters überdauerte, um dir zu helfen, Harry Potter zu fangen. Sein Leib ist nun mein, nachdem ich ihn meinen angeborenen Bedürfnissen gemäß habe wandeln lassen. Vielen Dank, daß dieser Bartemius Crouch deinetwegen seinen Körper für mich hergab. Deshalb gewähre ich dir die Rückkehr auf deine kleine Insel, die mir auch einst mal gehört hat. Im Moment will ich sie nicht zurück. Noch nicht. Aber sei gewarnt, Waisenknabe! Sie gehört nicht dir. Mach sie nicht kaputt und lass den Menschen einen Teil ihres Friedens. Macht zu erringen ist eine heere Zielsetzung. Die Macht der Zerstörung allein ist ziellos. Ich erweise dir die Gnade, obwohl du dieses Duell verloren hast, lebend davonzuziehen."

"Gnade, du falsche Schlange hast mir immer noch nicht erzählt, wer du bist", schniefte Voldemort in einem Anflug auflodernder Wut.

"Sicher habe ich das, und du hast es auch hören können, als du mich mit deinen Angriff auf meinen freien Willen zu unterjochen trachtetest. Aber wenn du es nicht begreifen willst, nützt es dir auch nichts, wenn ich es dir noch einmal auf die Nase binde. Ich sehe, du kannst unmöglich aus eigener Kraft nach Hause zurückkehren. Ich werde dich auf deine Insel bringen."

"Nein, das wirst du nicht", fauchte Voldemort. "Ein Duell zu verlieren und das noch zu überleben, wird niemand von mir erfahren. Ich kann alleine verschwinden. Du Hexe, Lia", schnaubte Voldemort. Er nahm seinen Zauberstab. Anthelia dachte schon, er könnte noch einen Fluch gegen sie ausstoßen und hielt ihren Zauberstab hoch, um sich zu wehren. Doch Voldemort flackerte, wurde halbdurchsichtig, kehrte noch einmal zurück und verschwand dann mit einem scharfen Knall.

"Du hättest ihn töten sollen, Höchste Schwester", sagte Pandora Straton, die als erste bei ihrer Anführerin eintraf.

"Ich fürchte, ihn zu töten hätte auch den getroffen, der ihm gegen seinen Willen Blut zur Neuschöpfung seines Körpers lassen mußte. Solange ich nicht weiß, welche Verbindung nun zwischen diesem doch irgendwie bedauernswerten Waisenknaben und dem Jungen Harry Potter besteht, will ich nicht ein unschuldiges Leben vernichten, nur um einen Übeltäter zu richten. Sicher wird er sich erholen. Ganz gewiss habe ich seinen Hass auf seine Gegner nicht gemildert. Aber ich habe ihm bewiesen, daß man stärker ist, wenn man einen geschlagenen Gegner in Gnade das Feld verlassen läßt. Diese Lektion kannte er noch nicht. Und ich bin doch stolz, daß ich sie ihm habe erteilen dürfen."

"Der Typ ist ein Psycho, höchste Schwester. Der kann nicht in unseren Bahnen denken. Der wurde getrietzt, herumgeschupst, für dumm gehalten und gehaßt. Was soll der jetzt aus deiner Lektion lernen, höchste Schwester?" Fragte Patricia.

"Wie gesagt, daß er nicht stärker als ich ist, solange er nicht fähig ist, einen Verlierer am Leben zu lassen. Vielleicht hält er mich auch jetzt für dumm, mag sein. Doch er wird jetzt jeden Tag an mich denken müssen. Bei jedem Kampf gegen unschuldige Leute werde ich in seinem Kopf sein, ihm flüstern, was ich an ihm getan habe. Das wird ihn hemmen und vielleicht, natürlich nur vielleicht, die Lust an der andauernden Ermordung und Zerstörung vergellen. Wer es sich leisten kann, einen tödlichen Gegner ziehen zu lassen, wenn dieser besiegt ist, beweist mehr Stärke als jeder, der gleich auf den Tod des Feindes ausgeht. Das wird mich allerdings nicht hindern, meine eigenen Ziele zu verfolgen. Aber ich muß immer bedenken, daß die Tötung eines anderen Menschen nicht die klügste aller Lösungen ist. Ich habe den Jungen, der jetzt Cecil heißt, nicht getötet, obwohl er meine Wiederkehr belauscht hat. Ich wollte diesen Richard Andrews nicht töten, wäre ich seiner Habhaft geworden. Und daß ich Lady Ursina nicht getötet habe erscheint mir auch immer noch als klügere Lösung, und ich bin mir sicher, ihr erscheint das auch so."

"Dann bleibt für uns hier nichts mehr zu tun?" Fragte Patricia Straton.

"Sind diese von dir gezauberten Riesenspinnen noch irgendwo?" Fragte Anthelia.

"Offenbar ist eine im Sumpf versunken. Ich habe kurz nach unserer Ankunft einen Alligator ein behaartes Bein fressen sehen können", sagte Patricia. Anthelia winkte ihrem dunklen Avatar.

"Spähe nach magisch veränderten Spinnen und beseitige sie!" Befahl sie. Der riesige Vogel, der wie eine Kreuzung aus Adler und Gewitterwolke wirkte, schwang sich laut rauschend in die Luft zurück und jagte davon. Eine Viertelstunde später kehrte er zurück, noch ein behaartes Spinnenbein im Schnabel, das er aber in den Tümpel fallen ließ, wo immer noch jener Alligator lauerte, der eigentlich Anthelia fressen wollte.

"Die Spinnen hätten die Natur gestört, die hier friedlich existiert im alten Kreis von fressen und gefressen werden", sagte Anthelia ruhig. Dann hielt sie den Zauberstab hoch und sang eine Zauberformel. Der Vogel ließ sich federleicht auf dem Zauberstab nieder und schien von diesem aufgespiest zu werden. Er schrumpfte zusammen und wurde dann in den Zauberstab eingesogen. Anthelias Wangen erglühten für einen Moment. Dann war sie wieder ganz normal. Sie gab Pandora die rechte Hand. Wie ein belebender Strom floss eine wohltuende Kraft in die ältere Hexenschwester zurück. Dann gab sie Patricia die Hand. Auch sie empfing einen belebenden Kraftstrom.

"Ich möchte nicht zu persönlich werden, höchste Schwester. Aber ich wußte nicht, das die Einverleibung eines gegnerischen Avatars ... ähm, daß einem dabei - Öhm, so ganz toll wohl wird", sagte Patricia errötend.

"Das war auch mir neu. Mag sein, daß dies passierte, weil bei der Einverleibung nur die guten Energien in den Empfänger der Kräfte strömen oder weil dieser sogenannte dunkle Lord einen genauso jungfräulichen Körper sein eigen nennt wie es meiner ist. Über die Energien, die zwischen Körper und Seele wechselwirken, wird schon seit der Zeit meiner Mutter und meiner respektablen Tante geforscht. Lahilliota kannte wohl das Geheimnis und hat es in ihre Töchter hineingeboren. Doch leider wirkt es in unserer Welt wie ein Schwarm Heuschrecken oder blutgieriger Blutegel. Man sollte froh sein, davon nicht berührt zu werden", sagte die höchste Schwester.

"So, junge Miss, den von dir zu unserer neuen Regentonne umgeschulten Todesser nimmst du selbst auf den Nachhauseweg mit", bestimmte Pandora Straton. Anthelia sah die blaue Tonne an.

"Auch eine Art, jemanden zu einer nützlichen Aufgabe zu verhelfen." Sie klopfte an die Tonne. Ein sattes metallisches Klong-klong erklang. "Du spielst sehr gerne mit Verwandlungen herum, Schwester Patricia. Hast du nie daran gedacht, diese Leidenschaft in den Dienst schulischer Unterweisungen zu stellen?"

"Als Lehrerin in Thorntails? Gedacht schon, aber dann doch wieder vergessen, höchste Schwester. Mir ist nicht danach, irgendwelchen übereifrigen oder unfähigen das richtige Maß beizubringen."

"Übereifrig, Tochter und Schwester? Mußt du gerade sagen. Und jetzt nimm deinen Neuerwerb und komm!"

Patricia faßte die Tonne, die ihr bis knapp unter die Brüste reichte und disapparierte mit leicht blechernem Pong. Pandora wünschte Anthelia noch einen guten Heimweg und disaparierte auch. Anthelia stand noch einige Minuten herum und genoß die Stille der Everglades, die Gesänge und Geräusche einer seit Jahrmillionen wirkenden Natur. Wieso wollten die Muggel unbedingt alles anstellen, wozu Zauberkraft die einzig brauchbare Grundlage war? Eines Tages, hoffentlich nicht zu spät für diese einmalige Landschaft, würde sie ihnen eine Lehrerin sein, sich mit dem zu begnügen, was sie konnten, was ja nicht wenig war und die Dinge, die über ihre natürlichen Gegebenheiten hinausgingen, den Hexen und auch den Zauberern zu überlassen. Doch vorerst mußte sie weiterhin im Verborgenen handeln, weil die nichtmagische Menschheit ihre Wohltäterin nicht als solche willkommenheißen wollte. Vielleicht gelang es ihr mit Leuten wie Benny, der jetzt Cecil hieß, Romina Hamton und vielleicht, ja vielleicht auch mit dem Jungen, der den Plan des bedauernswerten Waisenknaben zunichte gemacht hatte, über die magischen Bilder die Herrschaft über die wirkliche Welt zu erlangen. Doch der war in Beauxbatons. Sicher konnte sie dort hinreisen, aber zu welchem Zweck, wollte sie nicht auffallen. Wäre doch mal schön gewesen, die altehrwürdige Maman Beauxbatons noch einmal zu sehen. Doch die Welt war groß, und dieser Junge, Julius Andrews, mochte ihr bestimmt anderswo begegnen.

Mit einem stummen Gruß an die Tier- und Pflanzenwelt der Everglades disapparierte sie mit dem letzten unnatürlichen Laut, den man hier für geraume Zeit hören sollte.

ENDE

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