MACHTANSPRÜCHE

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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© 2004 by Thorsten Oberbossel

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P R O L O G

Nach ihrer außergewöhnlichen Rückkehr im zur Frau umgewandelten Körper von Bartemius Crouch Junior gründet die alte Hexenmeisterin Anthelia die Schwesternschaft der schwarzen Spinne, deren Ziel es ist, die Führung aller Menschen, magisch und magieunfähig, den Hexen zurückzubringen. Das Hauptquartier der Schwesternschaft ist eine alte Plantagenbesitzervilla im US-Bundessstaat Mississippi in der Nähe der Kleinstadt Dropout.

Ben Calder, ein Bewohner Dropouts, belauscht das Rückkehrritual der Hexen, wird von diesen gefangengenommen und durch verschiedene Zauber zu Anthelias Verbindungsperson in die nichtmagische Welt gemacht. Er muß bald darauf einen Bandenkrieg miterleben, der seine Heimatstadt zerstört. Als er auch in seiner vorübergehenden Unterbringung ernsthafte Probleme bekommt, holt Anthelia ihn zu sich und hält ihn solange versteckt, bis sie seinen Körper in den des beim Reitunfall verunglückten Senatorensohnes Cecil Wellington umwandelt und ihn an dessen Stelle zurückschickt.

Neben der in der Zaubererwelt schwehlenden Bedrohung durch den dunklen Lord Voldemort sorgt sich Anthelia wegen einer alten Kreatur, einer Tochter des Abgrundes, deren Macht lebensgefährlich ist. Diese schlägt den mit unweckbarer Magie angereicherten Chemiker Richard Andrews in ihren Bann und macht ihn von sich abhängig. Das geht sogar so weit, daß Richard zum eiskalten Massenmörder wird und sich vor allen Polizeibehörden der Staaten verstecken muß.

Im Kampf gegen Voldemort und die dunkle Kreatur erzielt Anthelia einige Erfolge, muß jedoch auch Rückschläge hinnehmen. Sie weiß, daß sie bald aus ihrer Deckung treten und sich gleichgesinnten Hexenschwestern offenbaren muß. Doch wann dieser Zeitpunkt gekommen ist liegt bei ihr.

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Wie kleine, kalte Sonnen beschienen Neonlampen die verrufene Straße im Vergnügungsviertel von Phoenix, Arizona. Der Mann, der gerade von der mit Nachtschwärmern vollgestopften Straße hier eingebogen war, wirkte gelassen und unbekümmert. Er trug einen feinen dunklen Anzug und hatte seine blonde Halbglatze unter einem schicken Hut verborgen. Lässig schritt er die Straße entlang, in der sehr spärlich gekleidete Damen in hohen Stiefeln wie auf einem großen Präsentierteller standen. Der Mann wußte, wie einfach er eine dieser Nachtfrauen für sich begeistern konnte, obwohl er auch wußte, daß in den letzten Wochen sämtliche Polizisten der USA sein Bild auswendig gelernt hatten. Doch ihn kümmerte es nicht. Irgendwie, so hatte er gelernt, konnte er sich durch bestimmte Konzentrationsübungen unauffällig zwischen den Menschen bewegen. Hatte er anfangs noch mit dem Gedanken gespielt, sein Leben zu beenden, fühlte er sich von Mal zu mal immer besser bei dem, was von ihm verlangt wurde.

"Hi, Süßer! Wie sieht es aus? Möchtest du 'ne Unvergessliche Stunde erleben?" Sprach eine der Frauen auf der Straße den Mann an. Dieser besah sich die Dame der Nacht, eine wasserstoffblondierte, grell überschminkte Person irgendwo zwischen Schulmädchen und Hausfrau. Er glotzte ihre weiblichen Formen an, wiegte den Kopf und schüttelte ihn. Diese Frau war ihm zu schmächtig. Er wollte was starkes, ihm körperlich gleichwertiges auftun. So ging er weiter, während ein brutal aussehender Mann im geschmacklosen Neureichenanzug vom gegenüberliegenden Ende der Straße herbeikam, wie ein König auf Truppeninspektion daherschreitend. Dem Mann im dunklen Anzug machte der andere Typ nichts aus, der mal hier mal da bei einem der Straßenmädchen verhielt und kurze Sätze mit ihm wechselte. Er ging weiter, bis er bei einer stämmigen, etwa 1,80 Meter großen Frau mit prallen Rundungen und braunem Haar verhielt, die ihn auffordernd anblickte. Er ließ seine Muskeln spielen, straffte sich zur vollen Größe, um einen gesunden Körper zur Schau zu stellen und erwiderte den Blick.

"Hi, Honey! Wie wär's mit mir?" Fragte die hochgewachsene Prostituierte. Der Mann nickte und lächelte vorfreudig.

"Du bist die einzige, die hier was hermacht", erwiderte er in bestem Oxfordenglisch. "Wieviel?"

"Kommt drauf an wie du's willst", erwiderte die Straßendirne. Der Mann handelte mit ihr was aus, wobei er versuchte, sie zum Verkehr ohne Verhütungsmittel zu überreden. Doch die Frau meinte nur lächelnd:

"Kleiner, ich will nix böses abkriegen und du bestimmt auch nichts böses von mir haben." Das verstand der Mann und nickte.

"Hi, Jill, was gefunden wie ich sehe", mischte sich der gefährlich wirkende Mann vom anderen Straßenende ein, der gerade auf der Höhe der braunhaarigen Prostituierten angekommen war. Sie nickte und flüsterte ihm was zu. Der Kerl grinste feist und setzte seinen Gang die Straße lang fort. Zusammen mit ihrem Freier suchte Jill eine der sündigen Absteigen auf, die die Straßenseiten säumten. Nach Zahlung des ausgehandelten Preises kamen Jill und der Fremde schnell zur Sache. Jill spielte alle in jahrelanger Ausübung erworbenen Tricks und Stärken aus. Doch dabei war ihr, als bestiege sie einen Berg im Himalaya. Sie war in guter Form, und der Kunde, der sich mit ihr in einem qualvoll quietschenden Bett verlustierte wog nicht zu viel. Dennoch wurde sie immer erschöpfter, fing bald an, die Welt um sich herum immer verschwommener zu sehen. In steigender Ekstase blickte sie das Gesicht ihres Freiers an, der durch das Liebesspiel kaum in Schweiß geraten wollte. Sie sah seine Augen, die immer glänzender wurden, glänzend wie Gold in braunem Stein, immer heller. Sie fühlte, wie ihr immer heißer wurde, bis ihr mit mörderischer Gewalt alle Kraft aus dem Körper gesogen wurde. Sie meinte, der zahlungskräftige Kunde selbst würde sie regelrecht aussaugen, wie ein Hochleistungsmotor eine Batterie auslaugt. Sie bekam Angst. Irgendwas stimmte da nicht. Doch als sie anfing, sich zu wehren, war es bereits zu spät. Sie konnte noch nicht einmal mehr schreien, weil ihr die Luft wegblieb. Wie in einen Schacht aus Höllenfeuer fühlte sich Jill hinabstürzen, in einen Abgrund mörderischer Hitze, bis sie einen letzten, schmerzhaften Stöhnlaut ausstieß und das Bewußtsein verlor.

Als Jills Freier von ihr abließ regte sie sich nicht mehr. Er dagegen fühlte sich wie ein Faß voller Brause, prall und prickelnd mit Lebenskraft aufgeladen. Sein Gesicht war jungenhaft rosa geworden, und sein Körper wirkte sportlicher als vorhin. Er zog sich an und verließ leise den Ort der käuflichen Vergnügung. Was mit der Straßendirne passieren würde war ihm gleich. Er hatte das schon so häufig getan, daß es ihm gleichgültig war, wann sie gefunden wurde. Als er wieder auf die verruchte Straße zurückkehrte war der verwegen wirkende Kerl auf dem Rückweg zum anderen Straßenende. Er sah Jills Freier aus dem düsteren Hauseingang treten, wandte sich um und wartete, bis dieser ins Licht der wenigen Straßenlaternen zurückkehrte. Dann schien ihn ein Stromschlag zu durchzucken. Er eilte auf den Fremden zu, der gerade wieder seinen Hut aufsetzte und starrte ihn genau an.

"Scheiße, du bist doch dieser Bastard aus Detroit, der Max umgenietet hat!" Rief er und zog einen Schlagring aus seinem Jacket.

"Sie verwechseln mich mit wem", sagte Jills letzter Freier und ging einfach weiter. Er ahnte, daß ihn der Gangster hier von hinten angreifen würde, wartete ganz cool, bis er wohl ausholte, duckte sich seitlich weg und machte eine schnelle wende. Zischend sauste der wuchtig geführte Schlagring knapp an seinem rechten Ohr vorbei. Der Schwung des Angreifers und der Anlauf des den Kopf voran auf ihn zurennenden ergaben zusammen eine so heftige Wucht, daß der Angreifer den Kopf mit der Wucht einer Bleikugel in den Unterleib bekam, keuchte und hinschlug. Jills letzter Kunde holte mit dem rechten Bein aus und wollte den am Boden liegenden treten. Doch dieser katapultierte sich mit seinen muskelüberladenen Armen hoch und ging zum neuen Angriff über. Er holte aus und versuchte, dem Fremden den Schlagring mit größter Wucht über den Kopf zu ziehen. Doch der Mann wich dem Schlag aus, bekam den Waffenarm des Angreifers zu fassen und drehte ihn wie beiläufig so heftig nach hinten, daß es knackte. Dann holte er mit einer freien Hand aus und verpaßte dem Kerl einen hammerharten Schlag in den Nacken, sodaß die oberen Halswirbel brachen. Wie ein schlaffer Sack fiel der Kerl um. Jills letzter Kunde blickte sich um und sah fünf der Straßenmädchen fortlaufen. Vom anderen Straßenende jagte ein großer Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern heran. Vom Scheinwerferlicht geblendet stand der Besucher dieser Straße für eine Sekunde still. Als aus dem Wagen zwei Gorillas herausschnellten blickte er diese gelassen an, tauchte blitzschnell nach dem Schlagring, holte aus und schleuderte ihn gegen den vordersten der beiden. Krachend traf der Stahlring die Stirn des Gorillas, während sein Kamerad ein Messer mit langer Klinge zog.

"Lass fallen!" Rief Jills letzter Freier mit einer merkwürdig entrückten aber auch kraftvollen Stimme und starrte den Angreifer an. Dieser schien gegen eine Betonwand zu prallen, so heftig blieb er stehen. Dann schien etwas in ihm zu rotieren wie ein aus dem Gleichgewicht geratener Kreisel. Er zitterte, führte das Messer halbherzig nach vorne, zog es wieder zurück und ließ es fallen. Er strauchelte, konnte sich gerade so noch auf den Beinen halten und stolperte zu seinem Auto zurück. Gleichzeitig schienen die Umrisse des nächtlichen Besuchers zu verschwimmen, wurden durchsichtig und konturlos. Dann war er plötzlich nicht mehr da.

Wie aus einem hypnotischen Bann erwacht starrte der zweite Gorilla erst auf seinen Kameraden, der vom geworfenen Schlagring betäubt am Boden lag und seinem Boss, Charlie, dem Zuchtmeister, der mit verdrehtem Kopf am Boden lag.

"Verdammt, was geht denn hier ab?" Fragte sich der Schläger. Charlie hatte den Notpieper seiner Armbanduhr gedrückt. Normalerweise brauchte der doch keine Hilfe, wenn er mit aufdringlichen Typen fertig werden mußte. Doch als sein Hilfstrupp ankam, war Charlie bereits tot und nun war dieser Typ im feinen Zwirn wie ausgeblendet verschwunden. Das war doch nicht normal. Doch als ihn von hinten zwei stahlharte Hände packten, ihm unbarmherzig die Luft- und Blutzufuhr abwürgten bis ein schwarzer Vorhang vor seine Augen herabsauste, vergaß er alle beunruhigenden Gedanken. Für immer!

Richard Andrews freute sich. Dieses Freudenmädchen hatte seine eigene Kraft auf das dreifache steigern können. Doch er wußte auch, daß er bald zu seiner Loretta zurückkehren mußte, um ihr ihren Anteil davon abzugeben. Diese Frau, mächtiger als die verhaßten Magier, die seinen Sohn von ihm fortgeholt hatten, hatte mit ihm einen Pakt geschlossen. Sie wollte leben und ihn dafür arbeiten lassen. Dafür durfte er von Zeit zu Zeit seine wildesten Wünsche wahrmachen oder Dinge beschaffen, die er immer schon haben wollte.

"Ich bin hier fertig", dachte er. Als habe er ein Zauberwort gedacht, verschwand die Umgebung um ihn herum, besser er verschwand aus der Straße.

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Der goldgerahmte Wandkalender über Vergil Costas Schreibtisch zeigte das Blatt für den April. Vergil Costa saß vor dem Computer und wickelte über eine doppelt gesicherte Netzwerkverbindung wichtige Geschäftsbriefe ab. Der Finanzchef des Konsortiums blickte sorgenvoll auf den Bildschirm, wo die Einkommensstatistik des vergangenen Monats aufgelistet war. Er war es gewohnt, daß einige Kunden seiner Firma säumig wurden, wenn ihnen Ärger ins Haus stand. Doch seit genau einem Monat waren die Einkünfte aus der Sparte "Leibliches Vergnügen" bedenklich rückläufig. Costa hatte es noch im Ohr, wie der Vertreter für gewisse Dienstleistungen ihm erzählte, daß nach dem Amoklauf eines angeblichen Wissenschaftlers in Detroit, der mehrere Tage lang die Medien erschüttert hatte, einige Kunden entweder ihre Einkünfte verloren oder endgültig aus der Kartei verschwanden und zwar im ganzen Land.

"Wie der das auch macht, dieser Andrews bringt die besten Pferdchen zur Strecke", hatte sein Kollege Fairbanks gesagt. Ja, und gestern nacht war in Phoenix wieder ein "Pferd" verendet, zusammen mit seinem Eigentümer, Charles Downing, genannt "Der Zuchtmeister". Damit war nicht nur ein weiterer Abonent des Konsortiums endgültig weggefallen, sondern die Angst würde sich weiter ausbreiten. Viele Mädchen fürchteten sich vor diesem Andrews, besser demjenigen, der laut Polizeimeldungen seine Rolle gespielt hatte. Tja, und die Bilanzen näherten sich unangenehm dem roten Bereich.

Das Telefon trällerte. Costa nahm den Hörer, drückte die Taste für den zwischen Telefon und Leitung hängenden Zerhacker und meldete sich nach einigen Sekunden, als ein Piepton meldete, daß er nun unabhörbar sprechen konnte.

"Was sagen die Zahlen, Verge?" Fragte eine wohlvertraute Baritonstimme, die Stimme vom obersten Boss, Simon Parker.

"Schlechtes Wetter, Sir. Gestern ist wieder ein Gestüt abgebrannt, in Phoenix. Unser geschätzter Kunde Mr. D. ist dabei umgekommen. Jetzt sinken die Rennsportaktien schon wieder."

"Wieder der selbe Kerl, Verge?" Wollte Parker wissen.

"Einer von Charlies Stallburschen hat's unserem Außendienstmitarbeiter so erzählt. Ich kann Ihnen die letzten Wochen mal zusammenstellen."

"Nicht nötig, Verge. Ich kann mir die Zahlen selbst aus unserem Netz ziehen, sofern du die nicht frisiert hast."

"Bin ich lebensmüde?" Fragte Vergil erschrocken. Sein Chef lachte amüsiert.

"Auch das hätte ich schon gewußt, bevor ich dich angerufen habe. Was ich will: Du und die anderen aus der Führungsgruppe werdet in einem Tag bei mir in Nassau anlanden und euch mit mir über die Zukunft unserer Firma unterhalten. Ich kläre noch einiges mit unseren Großkunden ab, bevor ich selbst da ankomme. Hol dir von Bowman & Richley Papiere, die dich als ihren Unterhändler ausweisen. Auf den kleineren Inseln sind ja vor kurzem einige Objekte von denen zum Kauf angeboten worden."

"Geht in Ordnung, Sir", sagte Costa und verabschiedete sich von seinem Chef.

"Wenn's brennt dann richtig", dachte der Finanzchef des Konsortiums. Dann telefonierte er mit der Immobilienfirma Bowman & Richley, ließ sich einen seriösen Auftrag zuschanzen und klärte bei einer Atlantikfluglinie ein Ticket nach Nassau auf den Bahamas auf den Namen Victor Scott. Diesen Namen verwendete er immer dann, wenn er für B. & R. arbeitete.

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Cecil Wellington stieg mit feuchten Händen und klopfendem Herzen aus dem Golf mit getönten Fenstern und Panzerplatten in den vier Türen. Das pompöse Haus der Carlottis strahlte süditalienische Anmut aus, als er durch die von Rhododendronpflanzen gesäumte Einfahrt trat. Hinter ihm schwang ein Tor zu. Er kannte das von zu Hause. Als Sohn eines Senators wohnte er gut abgeschirmt. Doch daß die Familie seiner neuen Freundin Laura Carlotti ebenso abgesichert lebte irritierte ihn etwas. Andererseits hatte er selbst mit ansehen müssen, wie jemand versucht hatte, Laura und ihren Bruder Paolo zu überfallen. Hätten seine, Cecils Schutzengel, nicht eingegriffen, wären sie sicher auch entführt oder getötet worden. Doch so waren sie davongekommen, ohne zu wissen, was am Weihnachtstag passiert war.

"Ciao, ragazzo!" Grüßte Paolo Carlotti den Besucher, der im schlichten Konfektionsanzug angetreten war. Cecil grüßte lächelnd zurück und ließ sich von dem schlanken, dunkelhaarigen jungen Mann in sein Elternhaus führen.

Laura wartete zusammen mit ihrem anderen Bruder Adelmo in der im altrömischen Stil ausgeschmückten Empfangshalle zwischen zwei Marmorsäulen.

"Ciao, Cecil!" Grüßte die Signorina mit dem nachtschwarzen Schopf ihren Gast und umarmte ihn flüchtig, wie es in ihrem Herkunftsland üblich war. Dann führte sie Cecil Wellington in den Salon, wo ein würdiger Herr, ungefähr so alt wie Cecils Vater, in einem bequemen Ledersessel thronte. Neben ihm saß ein zweiter Mann im geschäftsmäßigen Anzug und klappte gerade eine Krokodillederaktentasche zu. Er stand auf, sah Laura und Adelmo Carlotti an, nickte dem Gast aus Harrisburg zu und verließ den Salon durch eine kleine Tür neben einer pompösen Standuhr, die mit lautem Ticktack die Sekunden des Tages abhakte.

"Willkommen in der Villa Fortuna, Signore Uellingtonn", begrüßte der Herr im Sessel den Gast. Dieser wartete, bis Laura ihm ihren Vater Andrea Carlotti vorgestellt hatte. Er erwiderte den Gruß und bedankte sich für die Einladung, wußte er doch, wie schwer es dem würdigen Herren gefallen war, einen Nichtkatholiken ins Haus zu lassen, der noch dazu gut mit seiner Tochter auskam.

Laura fragte ihren Vater was auf Italienisch. Er antwortete kurz angebunden, bevor er sich wieder der englischen Sprache bediente, die er akzentfrei benutzen konnte, wie seine Tochter. Cecil erstaunte das. Denn Paolo Carlotti ließ beim Sprechen doch noch den eingewanderten Italiener raushängen. Aber das konnte Selbstdarstellung sein und mußte nicht auf Unbildung beruhen. Jedenfalls kam sich Cecil überwacht vor. Die männlichen Familienmitglieder umzingelten ihn regelrecht, als wollten sie verhindern, daß er und Laura alleine zusammen waren. Cecil hatte gelernt, Situationen einfach hinzunehmen und nicht mehr zu klagen, wenn er eh nichts ändern konnte. So unterhielt er sich lange mit den Carlottis über sich, was ihm vor dem Unfall mit Silver Bullet so wichtig gewesen war, ob er nach seinem Wiedererwachen was anders machen wollte und was er sich für seine Zukunft vorstellte.

"Ich habe vor, in die Naturwissenschaft einzusteigen. Vielleicht gehe ich nach Berkeley oder Standford, wenn die Noten das hergeben. Ich will bloß kein von Daddy herbeigezogenes Stipendium haben, zumal der meint, mich in der Jurafakultät von Harvard unterbringen zu müssen, weil er ja selbst da studiert und seinen Doktor gemacht hat."

"Nun, manchmal müssen Söhne eigene Wege finden. Oft ist es aber eine Geste des Respekts, wenn sie das lernen, was ihre Väter tun, um sie eines Tages ehrenvoll vertreten oder beerben zu können", sagte Mr. Carlotti. Das war Cecil klar, daß er so eine Antwort kriegen würde, galt in manchen südländischen Familien der Vater als das Maß aller Dinge, dem die Söhne nachzueifern hatten. Deshalb sagte er nur:

"Ja, aber ein Bäumchen im Schatten eines großen Baumes wird nie so gut wachsen können wie der Baum über ihm."

"Bis der große Baum umfällt", warf Adelmo frech ein. Sein Vater räusperte sich, mußte dann aber grinsen.

Cecil erzählte weiter, was er sich nach dem Reitunfall vorstellte, was ihn interessierte und wieso er kein Politiker wie sein Vater werden wollte. Er mußte sich im Gegenzug anhören, wie hart Mr. Carlotti hatte arbeiten müssen, um sich die gute Existenz aufzubauen, die auch seine Familie gut über die Runden brachte, daß sein Sohn Adelmo Architektur studierte, um ihn eines Tages unabhängig von anderen Bauzeichnern zu machen und Paolo Kommunikationstechnik in Philadelphia studierte. Laura wußte wohl noch nicht, ob sie nach der Schule studieren würde oder ob sie nicht doch die klassische Hausfrauenrolle in einer Familie spielen würde. Lauras Vater grinste nur, weil er offenbar schon darauf ausging, seine Tochter gut zu verheiraten. Doch Laura selbst sah ihn leicht widerspenstig an und meinte, daß in diesem Land wohl jeder selbst zu bestimmen und zu erfahren habe, was richtig oder falsch für einen sei. Cecil wagte nicht, sich dazu zu äußern. Erstens gingen ihn andere Eltern-Kind-Beziehungen nichts an, wo er mit seinem Vater selbst genug um die Ohren hatte, und zweitens wurde er das Gefühl nicht los, als sei er nur eingeladen worden, um zu prüfen, ob er für Laura der richtige Umgang sei. Zumindest in dem Punkt fühlte er sich jedoch sicher, daß er noch nichts gesagt oder getan hatte, was die Carlottis gegen ihn aufbringen mochte. Als dann noch die Mutter der Familie eintrat und Knabbereien und Capuccino auftrug, sah er sie und Laura an. Mrs. Carlotti bediente das Bild der kleinen, rundlichen Mama, wie er es von seinen Eltern und Schulkameraden immer wieder vorgebetet bekommen hatte. Ihre schwarzen Locken zeigten bereits einen sachten Grauton, und ihre braunen Augen strahlten Wärme und Neugier aus, als sie ihn ansah.

"Darf ich vorstellen, meine Gattin Luisa", machte der Familienvater Gast und Gastgeberin miteinander bekannt.

"Zumindest keine Sophia, Gina oder Maria", dachte Cecil und begrüßte Mrs. Carlotti.

Nach dem Nachmittagskaffee setzten sie die Unterhaltung fort bis zum Abendessen. Cecil wurde gefragt, ob er an Gott glaube. Er bejahte das, allerdings mit der Einschränkung, daß er nur glaube, daß es einen Gott geben müsse, weil ja alles nicht einfach aus dem Nichts heraus entstanden sein konnte. In Wirklichkeit hatte er es nicht mit Religion. Sie war ihm eine Krücke für geistig unterbemittelte, die was brauchten, um alles zu rechtfertigen, was sie taten oder um sich mit Sachen abzufinden, die sie nicht ändern konnten. Das es echte Magie gab wollte er den Carlottis unter keinen Umständen auf die Nase binden. Er war zumindest froh, daß er nach drei Stunden intensiver Befragung doch einmal mit Laura allein in ihr geräumiges und überreich ausgeschmücktes Zimmer gehen durfte, ohne daß einer ihrer Brüder dabei sein mußte. Cecil fragte sie leise, ob das jedem Gast passierte, daß er erst diese lange Befragungsrunde durchstehen mußte. Laura flüsterte amüsiert grinsend:

"Nur wenn Papa Angst um mein Wohl hat, Cecil. Der wollte jetzt wissen, wer du bist und was dich so umtreibt. Offenbar hast du den Test überragend gut bestanden. Du hast ihm nicht nach dem Mund geredet, gescheite Antworten gegeben und dich nicht auf seine versteckten Andeutungen eingelassen, ohne daß es so rüberkam, daß du sie nicht verstanden hättest. Das du nicht den Papst verehrst war ihm ja schon lange bekannt. Insofern war deine Antwort auf die Frage nach deinem Glauben für ihn akzeptabel."

Cecil sah auf das mit einer geblümten Tagesdecke bezogene Bett, auf dem allerlei Stofftiere lagen. Laura sah sein belustigtes Gesicht und meinte:

"Das ist nur Schmuck, damit das Bett nicht so öde aussieht. Aus dem Alter, wo ich einen Teddybären zum besser einschlafen brauchte bin ich doch schon raus."

"Och wieso nicht? In meiner Klasse gibt's einen, der mit fünfzehn noch 'nen großen Stoffhund im Bett liegen hat, angeblich als Puffer zwischen sich und der kalten Außenwand, die sein Zimmer hat", antwortete Cecil. Dann ließ er sich von Laura diverse Musikstücke von CD vorspielen, bis Mrs. Carlotti die beiden Jugendlichen zum Abendessen rief.

Pappsatt nach dem viergängigen italienischen Menü, bei dem Spaghetti als Vorspeise gereicht worden waren, bedankte sich Cecil bei seinen Gastgebern, verabschiedete sich höflich von allen fünfen und verließ die Villa Fortuna. Draußen wartete der Chauffeur bereits mit dem VW-Golf auf ihn. Cecil zwengte sich mit übervollem Bauch auf die Rückbank und sagte, daß er nach Hause wolle.

Sein Vater fragte ihn noch lange über die Carlottis aus, machte zwischendurch jedoch gehässige Bemerkungen, daß Carlotti wohl mit der sogenannten ehrenwerten Gesellschaft Geschäfte mache oder wohl nur wissen wolle, ob ein Senatorensohn für seine einzige Tochter die richtige Partie sei. Cecil sagte dazu:

"Beim zweiten Punkt stimme ich dir zu. Die wollten wissen, was ich so draufhabe. Aber du wurdest nur dann erwähnt, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Zu dem ersten Punkt weiß ich nichts. Außerdem solltest du da besser ruhig sein. Weißt du denn, mit welchen Gangstern du in deinem Amt zu tun kriegst, wenn du mit irgendwelchen Lobbyisten redest? Geht doch schon los, wenn dir irgendwelche Waffenhändler in den Ohren liegen, man solle doch bloß die Freiheit der Selbstbewaffnung in Amerika nicht antasten. Wieviel Morde könnten die indirekt auf dem Gewissen haben?"

"Junge, ich habe dir schon oft genug gesagt, daß du mich gefälligst mit dem gebotenen Respekt anreden sollst", tadelte der Senator seinen Sohn, der jedoch nur frech grinste. "Immerhin stellst du deine Füße unter meinen Tisch, schläfst unter meinem Dach, ißt von meinen Tellern und lernst nur, weil ich viel Geld für deine Bildung ausgebe. Auch wärest du bestimmt nicht hier, wenn ich damals nicht die besten Ärzte engagiert hätte, dich am Leben zu halten."

"Wenn das jetzt ein Tiefschlag sein sollte hast du dir selbst in den Bauch gehauen, Daddy. Immerhin warst du doch dazu gezwungen, was zu tun, um mich am Leben zu erhalten. Dankbarkeit hat ihre Grenzen. Ich bin dir für vieles dankbar. Aber das heißt nicht, daß ich dir die Stiefel oder sonstwas lecken muß."

"Auf dein Zimmer! Der Ausflug nach Malibu ist gestrichen!" Schnaubte der Senator. Cecil nickte und schritt mit trotzigem Gesicht aus dem großen Wohnzimmer. Hatte sein Vater wirklich gemeint, ihn damit bestrafen zu können, daß er ihm den Strandurlaub in Malibu, Kalifornien strich? Was bildete sich dieser Politikfuzzi ein? Cecil hätte den mit einem einzigen Satz aus allen Wolken hauen können, daß er ihn nämlich nicht als Vater akzeptierte, ihn gar für einen machtlosen Schreihals hielt, nicht mehr als ein hungriges Baby. Doch er wußte, daß er diesen Mann nicht zu heftig mit der Nase drauf stoßen sollte, daß er, Cecil, vor einem halben Jahr noch Ben Calder geheißen hatte und der echte Cecil Wellington wohl nicht mehr lebte, ja unter den Augen der achso teuren Ärzte aus dem Krankenhaus entführt worden war, um ihn an seine Stelle zu setzen. Er legte eine Madonna-CD auf und surfte im Internet, bis er müde genug war, um sich hinzulegen.

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Lady Ursina Underwood, eine würdige Hexe mit graubraunem Haar und großen blauen Augen, ärgerte sich sehr. Seit Monaten fehlte jede Spur von ihrer Mitschwester Lucretia Withers. Sie hatte Kontakte in alle Welt bemüht, so heimlich dies eben ging, um nach ihr suchen zu lassen. Ebenso suchte das britische Zaubereiministerium nach seiner Mitarbeiterin. Doch das war vergeblich. Lady ursina fragte sich, ob Lucretia vielleicht dem gemeinsamen Feind, Lord Voldemort, in die Fänge geraten war. Immerhin besaß Lucretia viel geheimes Wissen aus dem Ministerium und auch aus der Schwesternschaft, um für den Emporkömmling mehr als interessant zu werden. Doch wenn sie nicht wußte, wo dieser dunkle Zauberer sich verkrochen hatte, konnte sie das nicht nachprüfen.

Zum Verschwinden von Lucretia Withers kam noch die Kunde, daß eine gefährliche Kreatur nach jahrhundertelangem Schlaf erwacht und offenbar endgültig aus England verschwunden war. Die Tochter des dunklen Feuers ging nun wieder um, und alle Zauberer und Hexen sollten sich vor ihr in Acht nehmen. Von guten Freunden in den Staaten erfuhr sie im März, daß ein Muggel Namens Richard Andrews zu einem Massenmörder geworden war und offenbar Straßenmädchen und Bordellhuren mit einer Art von Gift umbrachte, das von den Muggeln nicht aufgespürt werden konnte. Außerdem erfuhr sie über einen Kontakt ins amerikanische Zaubereiministerium, daß der dortige Chef, Minister Pole, irgendeine Geheimsache daraus gemacht hatte. Sie zählte eins und eins zusammen und vermutete, daß die aufgewachte Kreatur damit zu tun hatte und dieser Andrews ihr unterworfener Gehilfe war. Natürlich kannte Lady Ursina die Geschichten und Berichte über die neun Töchter des Abgrunds und konnte sich ausrechnen, was dieses Wesen mit Richard Andrews getrieben hatte, um ihn für sich morden zu lassen. Als sie dann in den Osterferien ihre Nichte Proserpina und deren Tochter Lea bei sich zu Gast hatte, unterhielt sie sich über die Vorkommnisse in der Zaubererwelt. Sie fragte Lea, was sie in Muggelkunde so lernte, weil sie dieses neben Pflege magischer Geschöpfe und alte Runen als neues Fach belegte.

"Och, wir haben's da im Moment vom elektrischen Strom. Für mich ja ein alter Hut, weil Dad mir das ja schon mit vier erklärt hat, wie gefährlich der ist. Meine anderen Klassenkameraden meinen sogar, ich hätte besser Arithmantik oder Wahrsagen nehmen sollen, weil sie Muggel eh für zu blöd hhalten."

"Du bist die einzige, die aus Slytherin in diesem Fach sitzt?"

"Seit dem Chuck Redwood tot ist ja. Der wollte da ja auch rein. Na ja, die anderen meinen, wir hätten damit eh nichts zu schaffen. Leute wie Malfoy, Parkinson und Bullstrode meinen sogar, ich würde ja eh bald keinen Unterricht mehr nötig haben. Sie machen sich über Harry Potter lustig, weil der nicht für voll genommen wird. Aber sie wissen genau, daß der Emporkömmling wieder da ist. Irgendwann fliegen die damit auf", erwiderte Lea Drake mit breitem Grinsen und strich sich ihre kastanienbraunen Haare zurecht, die sie derzeit offen trug.

"Ich weiß, Malfoy und Genossen müssen ja wieder dienen, nachdem sie Jahre lang allen vorgemacht haben, sie hätten nichts mit ihm zu tun gehabt. Wie kommst du denn mit dieser Umbridge zurecht, seitdem Dumbledore sich strategisch abgesetzt hat?" Wollte Lady Ursina wissen.

"Ach, die meint, ich wäre doch ein sehr nettes Mädchen, weil ich in ihrer Inquisitionstruppe drin bin. Malfoy und einige andere glauben ihr das langsam. Die Frau ist doch sowas von dumm. Wenn ich das sage und zeige, was sie hören will, dann kann ich die locker um den Finger wickeln", grinste Lea. "Ich muß nur aufpassen, daß nichts rumkommt, von dem ich was weiß und nichts sage."

"Was da wäre?" Wollte ihre Großtante wissen und sah sie sehr genau an.

"Das 'n Paar aus meiner Jahrgangsstufe sich wie Potter und die Weasleys zu kleinen Trainingsstunden für die Abwehrzauber treffen. Dabei hat die Umbridge eine Höllenangst, Leute wie dieser irische Komiker Malone oder diese supergebildete Gloria Porter könnten ihr in die Suppe spucken. Seitdem Julius Andrews, dieser Muggelstämmige, der wegen überragender Zaubergaben ja in den ersten zwei Jahren so stark aufgetrumpft hat in Beauxbatons ist meint Umbridge, er würde von da gegen sie arbeiten. Offenbar kennt die Leute von da und weiß, daß die nicht glauben, daß der Emporkömmling nicht zurückgekommen ist. Seitdem Dumbledore den Abflug gemacht hat sollen wir gerade die Leute beobachten, die mit diesem Burschen gut befreundet sind. Deshalb hat sie auch Olivia Watermelon, die Schwester einer Klassenkameradin von Gloria und Kevin, in die Truppe geholt. Aber bis jetzt ist nichts aufgeflogen."

"Andrews? Natürlich, Julius Andrews. Ich hörte ja davon, daß er wohl ein Ruster-Simonowsky sein soll. Das heißt, der hat irgendwie weit zurückliegende magische Wurzeln in beiden Erblinien. Warum ist der eigentlich nach Beauxbatons gekommen?" Fragte Lady Ursina neugierig.

"Öhm, ich habe Gloria mal gefragt. Die hat nur gemeint, das beträfe mich nicht und müßte mich daher nicht interessieren. Ravenclaw halt!"

"Ach, aber mit diesem Burschen kamst du doch klar", meinte Proserpina. "Immerhin hast du mir erzählt, der hätte sich häufig mit dir unterhalten, der sei gut in Kräuterkunde und in Zaubertränken sogar so gut wie du, obwohl Snape ihm das nicht anrechnen wollte.

"Ja, aber er ist ja Muggelstämmig. Der hat sich doch aus den Regeln unserer Welt nix großes gemacht, hat den Emporkömmling sogar immer beim Namen genannt, ohne zu zittern und auch mit den Hausrivalitäten nicht so große Probleme gekriegt, von diesem Großmaul Malfoy abgesehen, der jeden Muggelstämmigen dumm anquatscht. Mit dem kamen Chuck und ich gut zurecht. Aber die Porter ist eingebildet, die Watermelon hat zu viel Angst vor denen aus Slytherin, die mit dem Emporkömmling halten und Malone ist seit die Umbridge in Hogwarts ist sehr zurückhaltend geworden. Mit mir hat der auch nie gesprochen."

"Ein Ruster-Simonowsky", dachte Ursina. "Das bedeutet, daß seine Eltern schlummernde, unweckbare Zauberkräfte haben. Dann ist klar, daß diese Kreatur sich diesen armseligen Muggel gebannt hat." Laut sagte sie dann noch: "Könnte es sein, daß dieser Junge, Julius Andrews, gute Beziehungen zu wichtigen Leuten aus Frankreich hat, eventuell direkt mit wem dort bekannt ist? Hast du davon was mitbekommen, Lea?"

"Was interessiert dich das, Großtante Ursina?" Fragte Lea. Der Strenge Blick der Lady gemahnte sie, gehorsam zu antworten. "Öhm, ja, er ist wohl mit der Familie einer Schülerin von da gut bekannt, die beim Trimagischen in Hogwarts war. Die hat ihn ja zum Ball eingeladen, hat Draco Dummschwätzer ja immer wieder herumposaunt. Jeanne Disolle oder wie die hieß. Dracos Namensgedächtnis ist sowieso schon ziemlich dürftig, und wenn er noch Spottnamen erfindet absolut unbrauchbar. Kann sein, daß die ihn abgeworben haben. Die Umbridge sagte mal in einer Besprechung der I-Truppe, daß wir vor allem auf Eulenpost aus dem Ausland achten sollten. Wieso interessiert dich das, Großtante?"

"Weil vielleicht der Vater des Jungen in den Staaten als gefährlicher Massenmörder gejagt wird. Ich wollte wissen, ob das was mit seinem Jungen zu tun haben könnte", sagte Lady Ursina. Leas Mutter nickte.

"Ich habe dir doch von dieser Nachricht aus Detroit erzählt, Kind, wo sie erst meinten, ein Chemiker aus London hätte erst seine Arbeitgeber und dann noch mehrere Polizisten umgebracht. Der hieß Richard Andrews. Heißt der Vater von Julius nicht so?"

"Stimmt, Mum. Der war ja irgendwann mal wohl in Hogwarts, sagt Snape. Das war für den doch ein gefundenes Fressen, den runterzuputzen. Der heißt tatsächlich Richard mit Vornamen", sagte Lea.

"Meinst du, Tante Ursina, daß dieser Muggel mit leuten des Emporkömmlings zusammengerasselt ist?" Wollte Proserpina wissen. Lady Ursina schüttelte den Kopf. Dann schickte sie einen konzentrierten Gedanken an ihre Nichte:

"Wir besprechen das übermorgen bei mir, wenn Lea wieder in Hogwarts ist." Laut sagte sie noch, daß es wohl kein Zufall sein konnte, daß der Vater eines Hogwarts-Schülers, der wohl überragend gute Zauberkräfte hätte, derartig aus dem Tritt geraten sei.

Das gespräch drehte sich dann weiter um Leas Klassenkameraden und Hagrids Unterrichtsweise.

"Den wird Madame Umbridge wohl bald auch rausekeln, wo sie doch eine Aversion gegen Mischwesen hat", stellte Ursina trocken fest. Proserpina und Lea nickten zustimmend.

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Einige Tage später traf sich Lady Ursina mit Angehörigen der schweigsamen Schwestern, nicht nur jenen aus der sogenannten Nachtfraktion. Dabei holte sie Erkundigungen über Richard Andrews ein und erfuhr, daß er wirklich der Vater eines muggelstämmigen Zauberers war, ja auch,daß der Junge wohl wegen Unstimmigkeiten seiner Eltern mit der Mutter nach Frankreich umgezogen sei, wo er dann halt in Beauxbatons weiterlernen würde. Eine der Mitschwestern meinte sogar, daß er dort bestimmt besser lernen würde, wo Fudges Gehilfin Umbridge aus Hogwarts ein Gefängnis gemacht habe, in dem alle dumm gehalten würden.

Als sich Ursina noch mit ihren Mitschwestern von der Nachtfraktion traf, stellte sie zunächst klar, daß man wieder an die Bibliothek in Lucretia Withers' Haus herankommen müsse, um weiter gegen Voldemort arbeiten zu können. Doch da Lucretia keine weiblichen Anverwandten hatte, die noch dazu Hexen und Mitschwestern waren, würde die Bibliothek wohl für lange Zeit unbegehbar bleiben. Niemand der einberufenen Schwestern konnte sagen, was mit Lucretia passiert war. Lady Ursina hörte sich die verschiedenen Vermutungen an, was in Amerika passierte. Dann preschte sie mit einer als Frage verkleideten Vermutung vor.

"Könnte es sein, daß unsere Mitschwester Lucretia in diesem dunklen Feuer umkam, das im Februar am Haus dieser Lobelia Wagner gewütet hat? Wenn ja, dann könnte es vielleicht sein, daß sie mit der Schwester des dunklen Feuers aneinandergeriet?" Betretenes Schweigen war die Antwort. Ursina sah ihre Mitschwestern eine nach der Anderen an. Jede überlegte wohl, ob an dieser Vermutung was wahres dran sein mochte. Bei Dana Moore vermeinte sie, ein gewisses Schuldgefühl zu verspüren. Doch als sie versuchte, ihr auf dem Wege der Legilimentik auf den Zahn zu fühlen, fand sie keine Erinnerungen vor, die ein solches Schuldgefühl auslösen konnten.

"Warum so schuldvoll, Schwester Dana?" Fragte Lady Ursina frei heraus.

"Weil ich nicht wußte, daß Lucky mehr über dieses Wesen herausgefunden hat, Mylady. Ich war eigentlich immer gut mit ihr ausgekommen, daß sie mir viel erzählt hat. Aber was du sagst könnte stimmen. Vielleicht hat sie mit Lobelia Wagner zusammengearbeitet. Oder war sie keine von uns?"

"Wie kommst du darauf?" Fragte Lady Ursina lauernd. Sie wartete einige Sekunden und antwortete dann ruhig: "Doch, sie und diese Charity Joyce waren Mitschwestern in Nordamerika. Ich habe vor zwei Tagen eine Expresseule von meiner ehrwürdigen Kollegin dort erhalten, die unsere Sache dort beaufsichtigt. Offenbar haben unsere Mitschwestern sich eingebildet, auf ganz eigene Faust dem Treiben der Abgrundstochter ein Ende zu machen. Das ist ihnen nicht bekommen. Jetzt frage ich mich und euch, wieso die meinten, das alleine durchziehen zu müssen?"

"Lobelia war eine Muggelstämmige", meinte Proserpina Drake. "Die hat wohl ermittelt, daß die Kreatur sich mit Richard Andrews zusammengetan hat."

"Ohne uns das irgendwie weiterzumelden? Das finde ich sehr illoyal", knurrte Ursina gefährlich. "Oder könnte es vielleicht sein, daß sie schon längst nicht mehr für unsere Sache eintraten und wem anderem zuarbeiteten?"

"Interessante Vermutung, Mylady", sagte Dana Moore. "Das kann ja dann nur er gewesen sein, der sie abgeworben hat."

"Niemals", stieß eine andere Mitschwester aus. Auch Proserpina Drake schüttelte den Kopf. Daß ausgerechnet Lucretia Withers sich dem Emporkömmling anschloß war schier undenkbar, und diese Lobelia Wagner war als reine Muggelstämmige für diesen doch Abschaum, ein Schlammblut.

"In den Staaten gibt es doch noch andere dunkle Orden. Vielleicht hat Lobelia sich mit einem von denen zusammengetan und Lucretia da mit reingezogen", vermutete Dana Moore. Ursina sah sie sehr genau an. Doch offenbar schien Dana das nur zu vermuten, nicht genau zu wissen.

"Schwestern, wir haben es doch mitbekommen, daß sowohl die Schwarzberg-Brüder, wie auch Smothers, Nitts und Cobbley sich schon vor Weihnachten gegenseitig ausgelöscht haben. Also für wen haben Lucretia und Lobelia dann gearbeitet wenn nicht für uns oder für sich selbst?"

"Dann wohl eher für sich selbst", meinte Proserpina Drake, die sich gut überlegt hatte, was sie sagen wollte. Die anderen nickten zustimmend, außer Lady Ursina. Denn in ihrem Gehirn hatte sich die Idee, die drei Schwestern hätten für wen anderen gearbeitet, so festgesaugt wie ein fast verdursteter Blutegel an einem Wasserschwein. Sie sagte nur:

"Solange nichts anderes ruchbar wird muß ich das wohl annehmen. Nun, wir müssen uns damit abfinden, daß wir fortan nicht mehr in die Withers-Bibliothek hineinkönnen. Kennt jemand von euch was vergleichbares?"

"Nur noch die Bibliotheken in Hogwarts, dem Zaubereiministerium und der von Angus McFusty. Aber an die kommen wir ohne aufzufallen nicht ran", sagte Proserpina.

"An die von Hogwarts schon", wies Lady Ursina ihre Nichte darauf hin, welchen Kontakt sie beide in Hogwarts hatten. Proserpina nickte bejahend.

"Das wird aber dann gefährlich für meine Tochter. Ich möchte nicht, daß sie vorzeitig aus der Schule verwiesen wird."

"Ich auch nicht, Schwester Proserpina. Ich auch nicht", beruhigte sie Lady Ursina.

Nachdem die Nachtfraktionärinnen sich von ihrer Sprecherin verabschiedet hatten zog sich Ursina Underwood in ihr Boudoir zurück. Auch wenn die Bibliothek von Lucretia Withers wesentlich umfangreicher war, hütete sie hier in einem Geheimgelas doch noch genug Bücher, um sich Antworten zu den Fragen zu suchen, die sie in den letzten Stunden umgetrieben hatten. Mochte es sein, daß es jemanden gab, der oder die wußte, wer zu den schweigsamen Schwestern gehörte, gar die Nachtfraktionärinnen kannte? Konnte die Kreatur des dunklen Feuers mit bewährter Zauberei gestoppt werden? Stand das Verhalten dieses Richard Andrews in einem Zusammenhang mit dessen Sohn?

Doch die Bücher konnten ihr auf diese Fragen keine Antworten geben. So legte sie sich mit dem Folianten "Düstere Epochen der Zaubererwelt" zu Bett und las einige Zeit darin, bis sie in einen unruhigen Schlaf hinüberglitt. Sie träumte dabei von Dairon vom Düsterwald, den Erben Klingsors und Sardonia vom Bitterwald und ihrer Schwester Nigrastra und ihrer Nichte Anthelia, die einst die Nachtfraktion in England angeführt hatte. Wie als wäre sie selbst dabei erlebte sie den Abend vor der Hochzeit des Barons Hector McFursons mit und erinnerte sich an jene Tragödie, wie dessen Braut Clytemnestra von ihm getötet aber nicht entmachtet wurde. Als sie aufwachte fiel ihr ein, wie sie vor 17 Jahren durch eine Mitschwester in der Geisterbehörde erfahren hatte, daß der Geist dieser Hexe Clytemnestra wieder aufgetaucht war. Doch offenbar konnte er in Hogwarts, wo ihr sie hintergehender Bräutigam sich verborgen hatte gebannt werden. Konnte es sein, daß sie abermals entkommen war und nun versuchte, die Macht über die Lebendigen zurückzugewinnen? Doch das hätte sich schnell in der Zaubererwelt herumgesprochen. Außerdem ... Sie stand auf und ging wieder in ihr privates Zimmer. Vorsichtig zog sie einen weinroten Samtvorhang vor einem großen Wandgemälde bei Seite. Doch in dem Gemälde war zur Zeit nichts anderes als ein gemütliches Kaminzimmer. Sie wollte gerade ihren Zauberstab ziehen, um die gemalte Person mit dem Reinitimaginus-Zauber herbeizuholen, als eine in Rot gekleidete Hexe mit langem, schwarzem Har und graublauen Augen in den Vordergrund trat. Sie lächelte aus dem goldgerahmten Gemälde heraus.

"So, hast du dich mal wieder an mich erinnert, Ursina?" Fragte die gemalte Hexe belustigt.

"Ja, Medea, ich habe mich erinnert. Warst du es nicht, die damals vermeldet hat, die mächtige Clytemnestra sei aus dem alten Kerker entkommen?"

"Ja, das habe ich. Sie war auf Rainbowlawn und suchte ihren wortbrüchigen Bräutigam. Sie hat ihn auch gefunden. Allerdings wurde sie mit Hilfe afrikanischer Ritualmagie in einem Seelenkessel gebannt. Ich habe die Szene noch sehr genau vor mir, als sei es erst gestern gewesen."

"Oh, Medea, dies glaube ich dir gerne. Weißt du denn, was danach mit ihr passiert ist?"

"Nun, Ursina, dieser Plinius Porter, der damals die Beschwörung durchgeführt hat, hat den Seelenkessel an Dumbledore und Semiramis Bitterling weitergereicht und ist mit seinen Kameraden, zu denen auch James Potter und die Jungfer Aurora Dawn gehörten, in die zugewiesenen Schlafsäle zurückgekehrt. Leider unterhalte ich keine Verbindungen in die Mysteriumsabteilung. Ich mutmaße, Clytemnestras nachlebendiges Selbst wurde dort entweder aus der Welt gestoßen oder befindet sich immer noch in magischem Gewahrsam."

"Wenn sie abermals entwischt wäre wüßtest du davon, Medea?" Fragte Ursina höchst interessiert.

"Sie wäre wohl stante pede wieder in Hogwarts erschienen, um zu vollenden, was ihr mißglückte. Außerdem schwor sie tödliche Rache, als die wackeren Schüler sie bannten. Alle von denen sind heute in guter Anstellung oder von öffentlicher Bedeutung, wie die Jungfer Dawn, welche mich einst beleidigte oder Plinius Porter, der für die Kobolde neue Fundstätten ausforscht. Wäre einer von ihnen durch böses Ungemach ums Leben gekommen, wüßte ich davon."

"Nun, so gute Beziehungen unterhalte ich ja auch, wie du weißt. Also wird nicht sie diejenige sein, die gegen mich arbeiten könnte. Ich will es nicht wahrhaben, daß drei Mitschwestern sich einer gefährlichen Kreatur entgegenstellten, ohne mich oder Deianira zu informieren."

"Du meinst die Tochter des dunklen Feuers, die wohl wieder aufgewacht ist und nun in den Staaten Nordamerikas umgeht, ja einen willigen Sklaven fand, der für sie auf Beute ausgeht?"

"Genau, Medea. Ich erfuhr einiges, was mich veranlasst zu glauben, daß diese Kreatur wohl aus England entkommen ist. Sie treibt sich wohl nun in den Staaten herum. Eine meiner Mitschwestern, Lucretia Withers, ist verschwunden, seitdem das Haus einer amerikanischen Schwester im dunklen Feuer verbrannt ist. Ich vermute, sie hat gegen die Kreatur gekämpft und verloren."

"Und?" fragte Medea.

"Ich werde den Verdacht nicht los, daß Lucretia mir untreu wurde und sich einer anderen Hexe zuwandte. Denn von den Zauberern in Amerika kommt wohl niemand in Frage, zumal die meisten davon entweder tot oder dem Emporkömmling Riddle zugetan sind."

"Du vermutest, eine deiner Schwestern hätte sich selbständig gemacht? Nun, warum nicht Lucretia?"

"Weil ich sie zu gut kenne, Medea. Sie war immer schon eher eine, die sich unterordnete. Sie wäre nicht von selbst auf die Idee gekommen, eigene Wege zu gehen, gar mir abspenstig zu werden. Könntest du dir vorstellen, daß dort in den Staaten jemand wirkt, der oder die einen stärkeren Eindruck auf Lucretia gemacht hat als ich?"

"Frage doch Deianira!" Schlug Medea vor.

"Werde ich wohl machen müssen", erwiderte Ursina. Dann fragte sie noch:

"Was ist dir über einen Schüler namens Julius Andrews bekannt?"

"Einiges", gab Medea wichtig dreinschauend zurück.

"Was denn so?" Hakte Ursina leicht verstimmt nach.

"Nun, er kam vor bald drei Jahren nach Hogwarts, in jenem Jahr, wo das Ministerium zur Jagd auf Sirius Black geblasen hat, welcher dann ja schließlich auf den Gründen von Hogwarts gestellt werden aber irgendwie entfliehen konnte. Dieser Junge ist ein sehr begabter Zauberer, wohl einer von dem Schlage, den unfähige Elternpaare ausbrüten, deren Blutlinien mit der großen Gabe angereichert waren, aber keinen Keim der Magie austreiben wollten. Er hat mich einmal auch aus einem Gemälde gebannt, weil dieser Bauernlümmel Bruce sich nicht an seinem Platze einstellen wollte wo ich ihn erwartete. Soviel ich vernahm, kehrte er nach dem zweiten Jahr nicht mehr nach Hogwarts zurück. Ich erfuhr, er sei nun in Beauxbatons und lerne dort unter der strengen Aufsicht von Blanche Faucon, welche wohl gut mit seiner Mutter bekannt sei über ihre eigene Tochter Catherine. Außerdem, so wurde mir kundgetan, sei er Mitglied in einer von Lehrern und Schülern begründeten Geheimgruppe, die zum Ziele habe, die Umtriebe in Hogwarts zu verfolgen und mit Schülern dort in Verbindung zu bleiben, wider die Weisungen jener einfältigen aber hinterhältigen Hexe, welche als willfährige Dienerin des jetzigen Zaubereiministers dort amtiert. Ich bekam einmal mit, wie sich die Schwestern Betty und Jenna, die aus dem männlichen Zweig des hollingsworth'schen Stammbaums entsprossen, über ihn unterhielten, als sie auf dem Wege zu ihrem Hause waren. Ich erfuhr dabei nur, daß er offenbar gehalten sei, den Glauben an die Wiederkehr jenes Emporkömmlings zu verbreiten oder jene, die wie er daran glauben, zu befragen, was sie zu tun gedenken. Nun, mehr kann ich derweil nicht vermelden."

"Das ist auch schon mehr als mir meine natürlichen Mitschwestern zutragen konnten oder wollten, Medea. Danke dir für diese Auskunft. Mir schwant, wir werden unterwandert. Da ich jedoch bei keiner meiner Mitschwestern Spuren von Heimlichkeiten ausforschen konnte, vermag ich nicht, irgendeine von ihnen gezielt zu verdächtigen. Doch möchte ich nicht nachlassen, dieser Vermutung nachzugehen. Noch einmal vielen Dank für deine Auskunft, Medea!"

"Es war mir wie oft eine Ehre, der lebenden Walterin unserer Sache zu Diensten zu sein", erwiderte Medea lächelnd. Dann zog sie sich aus dem Gemälde zurück. Ursina schloß den Vorhang vor dem goldgerahmten Bild wieder. Also war jemand in der Welt, der, besser die Schwestern ihres Ordens abgeworben hatte, gegen die Tochter des dunklen Feuers zu kämpfen. Waren dies die drei einzigen Schwestern gewesen? Es wäre wohl vermessen zu denken, wer auch immer dahintersteckte hätte nur eine einzige gefragt und gewonnen. Ursina fühlte die Wut in sich hochkochen. Wer wagte es, gegen sie zu intrigieren? Jene Mitschwestern von der sogenannten ruhigen Seite der schweigsamen Schwestern würden es nie wagen, sie heimlich zu unterwandern. Eher würden sie sie zu einer offenen Auseinandersetzung fordern, wenn sie ihrer überdrüssig wären. Also kam nur jemand in Frage, die einerseits eine Hexe war und andererseits mächtig genug war, arglose Mitschwestern abzuwerben, aber nicht mächtig genug war, sich offen zu zeigen. Nun, wolte sie so tun, als sei ihr das egal? Oder wollte sie Gewißheit? Ihr Ruf und ihre Stellung zwangen sie dazu, sich Gewißheit zu verschaffen. Sie mußte nur überlegen, wie.

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Die Schokoladenostereier und -hasen waren schon seit Tagen nicht mehr in den Regalen. Der kitschige Osterschmuck war ebenfalls schon wieder in den Lagerkisten eingemottet. Das alltägliche Schau- und kauflustige Gewimmel erfüllte das pompöse Kaufhaus mit geschäftigem Treiben. Stimmengewirr, Rascheln von Kleidung, Klappern von Schuhen auf PVC-Boden, metallisches Klirren und Plastikgeklapper dann, wenn an den großen Kleiderständern die ausgehangene Ware verschoben wurde, sowie das Rattern und Piepen der Registrierkassen machten die Musik zu diesem Getummel.

Er hatte sich unsichtbar gemacht. Das war eine Kleinigkeit für ihn, besonders dann, wenn er sich nur unter Neddelwocks bewegte. "Neddelwock", das Wort wurde eher hilflos als gezielt mit "Nixkönner" übersetzt, wußte er. Das bezeichnete alle großen Leute, die keinen Funken Zauberkraft im Leib hatten. Die großen Leute, die Zauberkraft hatten, nannten solche Leute Muggel, was auch nicht viel schmeichelhafter war. Für ihn, Picklock, war es völlig unwichtig, wie die Leute mit Zauberkraft zu den Neddelwocks sagten. Für ihn war nur wichtig, daß er zwischen diesen Leuten keine Probleme hatte, sich schöne Sachen zu holen, manchmal auch teures Zeug. So lief er jetzt gerade aus der Oberbekleidungsabteilung von Selfridges Kaufhaus hinüber zu den Sportbekleidungen. Das letzte Mal, wo er sich hier herumgetrieben hatte, hatte er ein Paar Turnschuhe mitgehen lassen, die gerade mal lang und schmal genug waren, damit seine Füße hineinpaßten. Sicher, seine Artgenossen mochten das nicht, wenn sich einer von ihnen mit Neddelwock-Kleidern anzog. Doch ihm, Picklock, war das um so wichtiger.

"Mummy, das Skateboard da!" Rief ein wohl fünf Jahre alter Knirbs, der Picklock wohl schon bis zum stoppeligen Kinn reichte. Der Kleine flitzte los, um das Brett mit den Rollen genauer anzusehen. Picklock wich rasch aus. Sicher, er hatte seine Sichtbarkeit gut unter dem nichtgreifbaren Schutz der Verhüllung verborgen. Doch diese Verhüllung hielt nur so lange, wie niemand ihn länger als eine Sekunde berührte. Ja, selbst ein kurzer Anstoß würde einen der Neddelwocks hier schon unangenehm auffallen. Das mußte also nicht sein, dachte Picklock, bevor er selbst nachsah, was so toll an diesem Rollbrett war. Mißmutig erkannte er, daß es aus reinem Kunststoff war. Außer der Federung, mit der die Radachsen am Brett befestigt waren, war nichts metallisches oder sonstwie aus dem Schoß der Erde verbaut worden. Kunststoff, dieses Zeug, das mal reines Naturöl und anderes aus der Erde stammendes war und von diesen Neddelwock-Pfuschern in diese elenden Materialien umgebraut worden war, war eines der zwei Sachen, die ihm widerstanden, zumindest seiner Kraft, Dinge aus der Ferne zu bewegen. Picklock spähte über den Neddelwockjungen hinweg und beschloß, dieses Rollbrett nicht haben zu müssen. Denn sonst hätte er hinschleichen und es mit seinen feingliederigen Händen anfassen müssen. So zog er unentdeckt weiter, bewunderte die neuen Fahrräder, wo auch schon mehr Kunststoff verbaut war als früher, hob eine Metallhantel mit seiner Fernbewegungsgabe hoch und ließ sie vorsichtig wieder in ihrem Regal landen und überlegte, ob er einen dieser Sportanzüge mitnehmen sollte, der für Neddelwocks unter acht Jahren für deren Schulunterricht empfohlen wurde. Seine Spitzen Ohren vernahmen im Geklapper und Geklimper der Kauflustigen die bauchboxenden Bässe eines Techno-Stückes. An und für sich mochte er Musik. Sie gehörte für Seine Art zu den Grundbedürfnissen wie Luft zum atmen, Wasser zum Trinken, Gemüse zum Essen und lockerer Erdboden oder ehrlicher Stein unter den Füßen. Doch mit Techno und dem Zeug, was die Neddelwocks Rockmusik nannten, konnte und wollte er genauso wenig anfangen wie die anderen Leute seiner Art. Doch wo diese Musik gespielt wurde liefen immer welche rum, die schöne Spielsachen dabeihatten, wie diese Trillerfernsprechdinger, die immer kleiner wurden oder diese Zeigerlosuhren, die Zahlen in kleinen Fenstern zeigten. Manchmal hatte er sich im Vorbeigehen mal so'n Ding mitgenommen, ohne das der Neddelwock das mitbekommen hatte. Vielleicht holte er sich heute noch einmal so'n Ding.

Die Musik war zu laut für seine empfindlichen Ohren. Deshalb nahm er zwei Wattestückchen aus seiner blattgrünen Jacke und propfte diese in die Gehörgänge. Er hörte dann immer noch gut genug, um Leute in seiner Nähe zu verstehen.

Das sanfte Prickeln der mit Strom betriebenen Geräte kitzelte ihn erfrischend. Er strich unsichtbar an kleinen und großen Stereoanlagen, CD-Spielern und dem dazu passenden Musikmaterial vorbei. Ein tragbares Abspielgerät, ein Diskman, rief ihm für das gemeine Volk unhörbar zu: "Hi, Picklock, ich kann mit Batterien! Nimm mich mit!"

Picklock sah sich prüfend um, öffnete dann seine Umhängetasche, die er gerade soeben noch in seine Unsichtbarkeitsaura eingeschlossen hatte und versenkte mit einer schnellen Bewegung den Pappkarton mit dem Diskman darin. Die Tasche war behext, daß sie mehr als das zehnfache ihrer äußeren Abmessungen schlucken konnte. So konnte Picklock noch vier CDS mit schottischen Liedern und irischen Tänzen einsacken, die für das Gerät benötigten Batterien im Dreidutzend dazutun und sich sogar noch einen Satz Außenlautsprecher abzweigen, ohne daß einer der Neddelwocks das mitbekam. Er schlich an einem Spiegel vorbei. Seine Fähigkeit, durch jedes Glas und Metall dünner als seine Barthaare zu sehen ließ den Spiegel wie ein frisch geputztes Fenster wirken. So sah er dieses gläserne Fernsehauge, von dem es im Kaufhaus mehrere gab. Die Neddelwocks paßten schön auf ihre Sachen auf!

In der Bücherabteilung, die Picklock nach einer Fahrt mit diesen brummenden Laufstufentreppen erreichte, stand ein Mann mit einem Schäferhund zusammen mit einer Verkäuferin. Picklock erkannte, daß der Mann blind sein mußte, denn er bewegte die leblos wirkenden Augen nicht und schien auch nur zu wissen, wo die Verkäuferin stand, wenn sie direkt mit ihm sprach. Picklock pflückte sich die Watte aus den Ohren und lauschte. Der Mann sagte, er sei Volkskundler und suche Bücher über Kobolde und Elfen. Die Verkäuferin nickte ihm zu und sagte:

"Haben wir da, Sir. Benötigen Sie eine bestimmte Schriftgröße, um sie sich vorlesen zu lassen?"

"Der übliche Druck reicht, Madam. Mein Scanner kann bis auf die winzigsten Buchstaben alles sehr fehlerfrei erfassen und über den Rechner übersetzen lassen."

"Kein Problem. Da sind gerade vier neue Werke rausgekommen im Bereich Fabelwesen und Phantasiefiguren. Warten Sie bitte hier."

"Kein Problem", erwiderte der Blinde. "Ronnie, Platz!" Der Schäferhund legte sich auf den Bauch.

"Phantasiefiguren?" Knurrte Picklock innerlich. "Kobolde sind doch keine blöden Phantasiefiguren, und diese unterwürfigen Elfen doch schon gar nicht. Das werde ich euch gleich zeigen."

Als die Verkäuferin mit vier dicken Büchern aus einem Abzweig der Abteilung zurückkehrte, schlich Picklock an die beiden Neddelwocks und den großen Führhund heran. Ronnie hob seine spitze Schnauze und spitzte seine großen Ohren. Verdammt, der witterte ihn, Picklock! Jetzt fing dieser Stubenwolf auch noch leise zu knurren an! Das paßte dem unsichtbaren Kerlchen überhaupt nicht. Doch er trat an den Mann, der Koboldbücher haben wollte, obwohl er die wohl nicht selbst lesen konnte heran und griff behutsam nach dem untersten Buch. Die Verkäuferin wunderte sich, wieso sie die Bücher nicht gut festhalten konnte. Denn sie fielen ihr wie zufällig hin. Als sie sich danach bückte, streckte sich Picklock vor, um eines davon zu ergattern. "Wuff!!" Ronnies ungehaltenes Gebell stach Picklock in die Ohren. Er zuckte zur seite und prallte gegen den Bauch des Blinden. Dieser zuckte reflexartig mit der Hand nach vorne und bekam Picklocks linke Schulter zu fassen.

"Oh, kleiner, renn mich nicht um!" Lachte er, wobei er Picklock sachte schüttelte.

"Horlnuck!" Zischte Picklock als er fühlte, wie seine schöne Unsichtbarkeitsaura von ihm abfiel, weil er zu lange direkten Körperkontakt mit einem Lebewesen hatte. Die Verkäuferin sah ihn, glotzte total verstört und stieß einen lauten Schreckensschrei aus.

"Wo kommt der denn her?!" Kreischte sie hemmungslos. Picklock feuerte einen zornigen Blick aus seinen kohlschwarzen Augen ab, schnappte sich mit seiner Fernlenkkraft alle vier Bücher, ließ diese wie von selbst in seiner Tasche verschwinden und spurtete los. Ronnie, der Blindenhund, sprang auf, kläffte böse hinter ihm her. Einen Moment lang meinte Picklock, das Tier würde ihm nachjagen. Doch das Ledergeschirr, in dem er steckte, hing an einer Leine, die der Blinde wohl noch in einer Hand hielt. Pech für Ronnie.

"Ein Ladendieb!" Zeterte die Verkäuferin. Der Blinde fragte leicht verdutzt, was passiert sei. Doch darauf konnte Picklock nicht länger achten.

Einer der hier herumlaufenden Sachenwächter rannte auf den kleinwüchsig wirkenden Mann mit dunkler Haut, Schmalen Füßen und spitzen Ohren zu.

"Heh, stehenbleiben!!" Blaffte der Neddelwock und sprang Picklock von der Seite an.

"Nix gibt das", schnarrte Picklock. Doch da bekamen ihn zwei starke Hände am Schlawittchen und zerrten ihn zurück. Picklock fluchte unüberhörbar: "Horlnuck!" Dann biss er diesem dreisten Sachenwächter kräftig mit seinen spitzen Zähnen in den Arm.

"Auua! Aas!" Stieß der Mann zwischen Schmerz- und Wutgeheul aus, als er den sichergeglaubten Ladendieb loslassen mußte, der ihm als Zugabe noch seine rechte Faust in den Magen drosch und dann wie von der Bogensehne geschnellt davonwetzte, sich wieselflink zwischen Menschen und Waren durchschlängelte und auf sich einladend aufgleitende Türen zurannte.

"Harry, Pete! Der Kerl will in den Aufzug! Schnappt den! Der Bursche hat mir in den Arm gebissen!" Brüllte der Neddelwock, als Picklock gerade durch die Türöffnung schnellte.

Die Kammer in der der diebische Kobold nun stand war groß und leer. Auf dem Boden lag ein abgelaufener Kunstfaserteppich, und an der Decke flackerte brummend eine dieser Leuchtröhren. Picklock war froh, daß die Federung der Knöpfe noch aus Metall war. So konnte er sie zusammendrücken. Er wollte so tief wie möglich runter. Er ärgerte sich nur, daß die Kabine aus Kunststoff und geschmiedeten Eisenplatten bestand. Zwar gingen die Türen schnell zu, bevor die Neddelwocks hier hineinkamen, doch jetzt mußte er mit diesem versenkbaren Raum nach unten. Er konnte nicht einfach durch den Boden verschwinden oder gar durch eine der Wände wie durch eine Klapptür, die Art, wie Kobolde sich rasch fortbewegen konnten. Plastik und Schmiedeeisen waren die wirksamsten Barrieren für Wesen seiner Art. Dafür mußte man diese Neddelwocks eigentlich hassen. Doch andererseits konnten sie so interessante und seltsame Sachen machen, und das fand Picklock wieder sympathisch.

Was er machen konnte und unbedingt mußte, das war seine Unsichtbarkeitsaura wieder aus sich herausströmen und ihn einhüllen zu lassen. Dazu brauchte er nur drei Sekunden. Die hatte er, weil diese Kaufhausaufzüge nicht sonderlich schnell fuhren. So passierte es, als die Fahrstuhlkabine einen Stock tiefer anhielt und die Türen aufglitten, daß die beiden alarmierten Kaufhausdetektive niemanden in der Kabine sehen konnten. Einer nahm eines dieser rechteckigen Kästchen mit ausziehbarer Metallstange und sprach hinein.

"Neh, Will, der Typ ist hier nicht drin. Der Aufzug ist leer wie mein Bankkonto."

"Der muß da drin sein", quäkte es blechern aus dem Kästchen. "Wir haben alle gesehen, daß der da reingehopst ist. Schweinehund elender!"

"Eh, nicht die professionelle Distanz verlieren!" Lachte der mit dem Sprechkästchen. Dann glitten die Türen wieder zu. Picklock hörte noch, wie es aus dem Kästchen klang, daß jemand von ihm gebissen worden sei. Dann sank die Kabine weiter nach unten. Auch bei den nächsten Stockwerken linste einer dieser Sachenwächter hinein, sah nichts und ließ den Aufzug weiterfahren. Es konnte ja auch keiner aus einem Aufzug verschwinden, der gerade fünf Sekunden unterwegs war. Das wäre ja Zauberei. Davon hatten die Neddelwocks ja keinen Dunst.

In der Tiefgarage kam der Aufzug schließlich zum Endhalt. Picklock stahl sich aus der Kabine, jetzt wieder sicher eingehüllt in der Unsichtbarkeit. So konnten ihn die gläsernen Fernsehaugen nicht ausmachen, als er zwischen den verschiedenen Autos hindurchschlich. Autos waren nicht unbedingt aus Schmiedeeisen. Aber selbst das Bodenblech ließ ihn nicht durchschlüpfen, wenn er ohne eine Tür benutzen zu wollen daraus verschwinden wollte. Im Zweifelsfall konnte er aber durch die Fenster. Doch warum sollte er ein Auto nehmen? Er blickte konzentriert auf den Boden, hob seinen linken Fuß, machte eine schnelle kreisbewegung über dem Boden, stampfte dann kräftig auf, hob den rechten Fuß, stampfte ebenfalls damit auf und versank schwupps im Beton, als sei dieser zu Rauch geworden.

Schön tief unter dem Fundament des Kaufhauses sauste Picklock nun so schnell ein Laut sich durch Gestein bewegen konnte dahin, purzelte einmal in eine Abwasserröhre hinein, mußte sich rasch an der moderigen Wand festklammern, um das Mauerwerk für ihn durchlässig zu konzentrieren und raste weiter durch die Stadt, bis er mit dumpfem Schmerz in allen Körperfasern gegen ein dickes Plastikrohr prallte, das unter der Wucht zerbrach. Er selbst, halbstofflich und daher nicht zu brechen, wurde von dem Rückprall nach oben geworfen und schoss wie ein schallschneller Sektkorken aus dem Straßenpflaster eines Stadtteils westlich von London. Der Schwung hob ihn mindestens zehn Meter an, bevor er zurückfiel. Er wirkte schnell einen intuitiven Fallbremszauber, damit er nicht zu hart aufschlug. Doch dabei fiel seine Unsichtbarkeitsaura wieder von ihm ab.

"Sie hatte wirklich recht", lachte eine Frau erfreut, die irgendwie hinter Picklock stehen mußte. Der Kobold wirbelte herum, versuchte, sich schnell wieder im Boden einsinken zu lassen. Doch da flog ein großer Plastiksack über ihn. Er strampelte, doch gegen die zwei Plastikschnüre, mit denen er im Sack fest eingeschlungen wurde, konnte er sich schon nicht mehr wehren. Er fühlte, wie ihn jemand anhob. Er brüllte durch die blaue Plastikfolie wie ein gepeinigtes Baby.

"Gibst du wohl Ruhe, Picklock, du alter Klaubold!" Zischte eine Frauenstimme. Es war dieselbe, die er gerade eben schon gehört hatte.

"Heh, ihr Haufen Horlnuck! Nehmt mir diesn blöden Sack wieder vom Leib!"

"Ich geb dir gleich noch Drachenmist!" Schnaubte die Frau und boxte Picklock durch den nun fest verschnürten Sack in die Seite.

"Du mußt ihm ein Luftloch machen, Schwester Lyra! Sonst erstickt der uns noch, bevor wir bei ihrer Ladyschaft sind", zischte eine zweite Frauenstimme. Sofort fühlte Picklock, wie vor seinem Kopf eine kleine, kreisrunde Öffnung in die Plastikfolie geschnitten wurde und spürte die frische, wenngleich nicht unbedingt saubere Stadtluft wieder in seine Nasenflügel einströmen.

"Rauslassen, ihr blöden Neddelwocks!" Schrie Picklock.

"Schweigst du wohl! Silencio!"

Picklock fühlte, wie etwas von außen in seinen Hals hineinfuhr und sich darin ausbreitete. Er versuchte erneut zu schreien. Doch es kam kein Laut mehr aus seiner Kehle. Das waren also keine Neddelwocks, erkannte Picklock. Das waren große Leute, Hexen, wie sie sich nannten. Dann bekam er mit, wie durch die schnüre, die ihn im Sack festhielten lange Stangen oder Stiele geschoben wurden, wie jemand daran ruckelte und er dann auf das Kommando "Eins, zwei, drei, los!" hochgerissen und durch die Luft davongetragen wurde. Durch die dünne blaue Folie sah er wie durch dicken Nebel, wie schemenhafte Bewegungen unter ihm immer undeutlicher verschwammen. Er wurde durch die Luft davongetragen. Doch die Hexen konnten ihn doch nicht einfach aus der Neddelwockstadt rausfliegen. Dann kriegten die doch Ärger, wußte der gefangene Kobold.

"Also, wir hätten mehr von diesen Harvey-Besen ordern sollen. Für sowas sind die echt gut, Schwester Kyla", lachte die Frau, die offenbar Koboldisch konnte, weil sie sein Schimpfwort von eben richtig übersetzt hatte.

"Was machen wir, wenn die Muggelpolizisten nach einem schreienden Kind suchen?" Fragte die, die Kyla hieß.

"Wenn kein Kind vermißt wird, werden die auch keins suchen", erwiderte die Hexe, die so hieß wie ein altes Saiteninstrument. Dann lachten die beiden, während sie Picklock und seine Beute davontrugen.

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Nassau, die Hauptstadt der Bahamas, war dafür berühmt-berüchtigt, daß sie mehr Briefkästen als Einwohner enthalten sollte. Tatsächlich gab es auf diesen Inseln mehrere Dutzend heimliche Firmen, die nicht gerade gesetzlich erlaubte Geschäfte tätigten, Banken, die vor Steuerfahndung und Polizei verstecktes Geld hüteten oder diskret an einen anderen Ort weiterleiteten oder windige Grundstücksmaklerbüros, die Häuser und Ländereien verkauften, deren Besitzer nicht offen mit ihren ebenso lichtscheuen Kunden handeln konnten. Hier landete Vergil Costa mit einigen Dutzend anderer Passagiere und nahm sich ein Taxi zum Hotel Royal, wo er auf den Namen Victor Scott bereits ein Zimmer gebucht hatte. Dort eingetroffen duschte er, untersuchte mit einem Funkspürgerät das Zimmer auf Wanzen und prüfte sogar das Telefon. Dann schloß er den als Diktiergerät getarnten Zerhacker zwischen Telefonsteckdose und Fernsprechapparat, nahm den Hörer ab und rief per Direktwahl bei Simon Parker an. Der Zerhacker verschlüsselte die beiden Stimmen unabhörbar, während Costa sich über den neuesten Stand der Dinge unterhielt. Seit dem letzten Mord an einer Straßendirne in Phoenix waren noch zwei Callgirls von Doros Heimservice in Denver Colorado zu Tode gekommen, keine 48 Stunden nach der Sache in Phoenix. Doro hatte darauf hin Versicherungsschaden vom Konsortium eingefordert, um ausstehende Transaktionen finanzieren zu können. Das hatte in die Bilanz der Firma ein weiteres Loch von fünfhundert Riesen gerissen. So konnte das nicht weitergehen! Sicher, Ansprüche über mehr als 200.000 Dollar wurden grundsätzlich von der Aufklärungsabteilung geprüft. Doch bei Doro, so wie den anderen Betroffenen war echt kein Betrug nachzuweisen gewesen. Denn der beste Beweis waren die Polizeiberichte, die treue Außendienstmitarbeiter an geeigneter Stelle sichten konnten.

"Wir treffen uns in einer Stunde in meinem Büro. Die Leute aus der Aufklärung, dem Incasso, der Kommunikation und der Aquise sind dann auch da. Nachher springen uns noch die besten Neukunden ab. Ich habe ja schon mit dem Ristorante und der Kaviarfabrik ziemlich aufreibende Verhandlungen geführt. Außer den ehrenwerten Herren von der Sushibar-Vereinigung glauben die nämlich, wir sollten uns da raushalten und deren Außendienstmitarbeitern die Sache Andrews überlassen."

"Ach, und was meinen die Wiesenbauern? Fühlen die sich auch schon bedroht?" Wollte Costa wissen.

"Neh, die sehen das locker. Bisher hat dieser Kerl ja nur im Pferdehandel Unruhe gestiftet", lachte Parker. "Vielleicht müssen wir aber die allgemeinen Prämien hochfahren, um die Einbußen zu kompensieren, falls unsere Wäscherei nichts reineres hergibt. Aber das kannst du dann morgen klären, wenn wir ausgemacht haben, wie unser Geschäftsjahr noch zu retten ist."

"Wir sind immer noch gut im Futter, Boss", tröstete Costa seinen Boss.

"Besser ist immer besser als gut", wies Parker seinen Finanzchef zurecht. Dieser nickte, obwohl das am Telefon nichts brachte. Dann verabschiedete er sich bis zum verabredeten Termin und legte auf. Schnell stöpselte er den Zerhacker wieder aus. Es konnte durchaus sein, daß er rasch abreisen mußte. Wäsche konnte er entbehren. Doch den kleinen getarnten Stimmenverschlüsseler durfte er nicht in falsche Hände fallen lassen.

Ein Audi 200 stand ihm als Mietwagen zur Verfügung, als er eine Stunde später das Hotel Royal verließ und wieder einmal über den unsinnigen Linksverkehr schimpfend die Straßen Nassaus zu einem gediegenen Backsteinbau abfuhr. Durch ein hochklappbares Metalltor fuhr er den Wagen in die geräumige Garage innerhalb des Bauwerks hinein, als er sich mit einem kurzen und einem langen Hupsignal angemeldet hatte.

Im Gebäude trafen sich die führenden Mitarbeiter des Konsortiums in einem mit Tropenholzmöbeln und Orientteppichen eingerichteten Büro. Hinter einem breiten, mit nachtschwarzem Glanzlack verschönerten Mahagonischreibtisch saß, hochgewachsen, dunkelblond und goldrandbebrillt Simon Parker in seinen Armani-anzug, für den er bei Freund und Feind berühmt war. Costa grüßte mit dem schuldigen Respekt erst den obersten Boss und dann die Kollegen aus den anderen Ressorts, wie Douglas Sherman, den Leiter der Kommunikationsabteilung und Ausstatter für Verschlüsselungs- und Entschlüsselungsgeräten, sowie Gregory Petrov, den Leiter der Incassoabteilung, die bei säumigen Zahlern Geld eintrieb.

Nachdem sich alle höflich begrüßt und an den zehn Meter langen Konferenztisch mit Lederbezug zurückgezogen hatten, legten Vergil und seine Kollegen ihre Berichte zur Lage vor. Ira Strong, der Chef der Aufklärungsabteilung, hatte einige unerlaubt beschaffte Kopien der Polizeiberichte besorgt und vorgelegt.

"Die alten Staubsaugervertreter haben sich sofort drangehängt wie die Blutegel, Boss. Hoovers Verein jagt diesen Typen selbst. Feststeht für die Stadtsheriffs nur, daß das nicht der echte Richard Andrews sein soll. Die gehen davon aus, irgendwer hätte den schon im Oktober vom Brett genommen und durch eine plastisch umgemodelte Kopie ersetzt. Was meine Kontakte in die Polizeizentralen der Städte angeht, so gehen die davon aus, daß der echte Andrews noch irgendwo gefangengehalten wird, weil die dessen persönlichen Sachen wissen wollten. Ob das so noch immer gilt, weiß ich nicht."

"Spätestens nach der Sache mit den Degenhards sollte der echte Andrews wertlos geworden sein. Wundere mich nur, daß die seine Leiche noch nicht gefunden haben", sagte Parker böswillig lächelnd.

"Vielleicht wollen die noch was mit dem anfangen, wozu die einen voll ausgebildeten Wissenschaftler brauchen. Kann sein, daß der Verschnitt von dem nur so tun mußte als ob. Ich habe aber schon meine Antennen ausgefahren, um zu gucken, ob da wer aus unserer Nachbarschaft mit der Sache zu tun hat", sagte Strong.

"Das meinen die Ristorante-Betreiber auch", warf Parker verächtlich ein. "Seitdem eines von ihren besten Pferdchen im Ohio treibend gefunden wurde, haben die Vendetta ausgerufen. Ich konnte mit den obersten von denen gerade noch so ein Stillhalteabkommen treffen. Aber wenn der wieder eine von deren Stuten abschlachtet lassen die ihre eigenen Leute auf den los."

"Sie sagten, unsere Kunden von der Sushibar-Vereinigung stimmen uns zu, wir sollten das erst klären?" Fragte Albert Finch von der Abteilung für dringende Angelegenheiten."

"Die sagen, daß wir schließlich dafür bezahlt werden, ihnen Ärger vom Hals zu halten und es eine Sache der Ehre sei, daß wir amerikanische Probleme mit amerikanischer Einsatzfreude bereinigen. Hat deine Abteilung gerade was dringendes zu regeln?" Wollte Parker von Finch wissen.

"Ich habe gerade vier Leute in Texas unterwegs, um die Sache mit dem Ölbaron zu klären, der meinte, unsere Kundschaft in Dallas hintergehen zu müssen. Ansonsten sind drei Leute gerade im Urlaub auf Waikiki und Mantis macht gerade ein Trainingscamp für Sicherheitspersonal in New Mexico mit, kann aber sofort umdisponieren."

"Oh, die gute Mantis hat Training nötig?" Lästerte Sherman. "Vielleicht braucht die das ja, falls wir sie für Andrews brauchen. Der hat doch bisher mindestens dreißig Cops und vier Stammkunden und zwölf derer besten Pferde über den Jordan geschickt. Schon stattlich für einen angeblichen Spion."

"Du hast die Chefetage der Degenhards vergessen. Oder zählst du anders?" wandte Finch ein. Sherman schüttelte den Kopf. Finch war gefährlich genug, ihn nicht zu ärgern. Früher war er selbst in Sachen dringender Angelegenheiten tätig gewesen, bevor seine Reflexe abgebaut hatten und er drohte, zu bekannt für seinen Beruf zu werden. Doch zwischendurch, so streute Parker immer wieder gerne ein, meldeten sich die alten Reflexe zurück, und Finch könnte dann meinen, jemand sei wie eine Kakerlake und könne mal eben zertreten oder totgesprüht werden.

"Also, wie gehen wir jetzt vor? Sollen wir den Typen gezielt suchen oder warten, bis er sich selbst wieder meldet?" Wollte Parker wissen. Young, Doktor der Psychologie, Leiter der Abteilung für Kundenneuerwerbung und -betreuung fragte:

"Wir haben uns bisher nur gefragt, wie dieser Kerl vorgeht, wo er sich bisher herumgetrieben hat und wen er getötet hat. Wir haben bisher nicht geklärt, warum er das tut und vor allem, wie er heute in Chicago und morgen bereits in San Francisco auftauchen kann, wo die vom FBI, ich meine den Staubsaugervertretern, ihn doch an allen relevanten Verkehrszentren erwarten, Bahnhöfe, Flug- und Seehäfen kontrollieren und sämtliche Taxifahrer sein Bild kennen. Wie kommt es, daß er immer welche findet, die er umbringen kann und eben wozu ist das nützlich?"

"Herr Doktor, Sie würden diese Fragen nicht stellen, wenn Sie nicht schon passende Antworten zurechtgebastelt hätten. Also bitte!" Verlangte Parker von Young.

"Sagen wir es so, ich habe nur Hypothesen zur Hand, Boss. Eine davon lautet, daß dieser Mann einer Terroristenorganisation angehört, die nicht die üblichen Bürger heimsucht, sondern potente Kapitalanleger und deren Kapital, zwecks Verunsicherung und Schwächung des Marktes. Oder er ist Jünger einer Sekte, die was gegen bezahlten Lustgewinn hat und alle, die damit zu tun haben auslöschen oder zumindest davon abbringen will. In jedem der beiden Fälle ist er nicht allein. Er kann auf eine Infrastruktur zurückgreifen, die unserer nicht nachsteht und auf private Verkehrsmittel zugreifen, wenn er schnell den Standort wechseln will. Die Methode, wie er seine Opfer umbringt, ist außer der, wie er die Degenhards ermordet hat völlig neuartig. Das heißt, ihm steht entweder ein selbsterworbenes biochemisches Wissen zur Verfügung oder in seiner Organisation arbeiten entsprechende Fachleute. Wir sollten vielleicht unsere eigenen Fachleute auf die Tötungsarten ansetzen."

"Doktor Young, meine Abteilung macht seit gut vier Wochen nichts anderes", warf der Leiter der Aufklärungsabteilung ein. Auch Finch von der Abteilung für dringende Angelegenheiten nickte heftig.

"Was meinst du, wie neidisch meine Leute und ich sind, daß da wer ein Gift hat, mit dem er Leute umbringen kann, ohne äußere Verletzungen zu verursachen", sagte Finch noch. "Mantis hat sogar schon verlangt, wir sollten sie mal machen lassen, ihre handzahmen Toxikologen einzuspannen. Aber im Moment sollen wir ja noch ruhig bleiben."

"Dieser Mann hatte vor dem Auffinden der Mädchen sexuellen Verkehr mit ihnen. Es wäre nicht das erste Mal, daß der Sexual- und der nach außen gerichtete Todestrieb zusammenspielen", mußte Young noch eine sachkundige Einschätzung anbringen.

"Ja klar, der treibt es so heftig, daß die ihm dabei wegbleiben und nicht mehr aufwachen. Dann müßte der ja ein echter Superknaller sein", spottete Strong. "Geht sowas, Finch?"

"Es gibt hundert Arten, wen beim Sex auszuknipsen, Strong. Wenn ich dir nur fünf davon nenne, trittst du morgen sofort in ein Kloster mit lebenslänglichem Keuschheitsgelübde ein", erwiderte Finch überlegen lächelnd.

"Nur das bei keiner der Mädels irgendeine dieser hundert Arten nachgewiesen werden konnte", wandte Strong gelassen ein. "Die von der Stadtpolizei und besonders unsere Staubsaugervertreter sind doch nicht hinterm Mond was das angeht."

"Geschenkt", mußte Finch zubilligen.

"Leute, offenbar hat unser Seelendoktor uns in eine Sackgasse getrieben. Weil wir nicht wissen, wieso und warum er das macht, sollten wir uns darauf beschränken, ihn davon abzuhalten, ein nächstes Gastspiel zu geben", lenkte Parker die Diskussion mit bewährter Autorität in für ihn überschaubare Bahnen zurück. Gerade wollte er noch etwas dazu sagen, als das rubinrote Telefon auf seinem Schreibtisch schön antiquiert elektrisch läutete. Parker machte eine zum Schweigen gemahnende Geste, stand auf und ging an den Apparat, an dem noch ein Außenlautsprecher angeschlossen war. Er meldete sich mit "Parker Leben und Wohlstand!" Dann lauschte er kurz. Er nickte, hörte dem Anrufer zu, sagte noch etwas unverbindlich klingendes und legte wieder auf.

"Also, wir bleiben dabei, daß wir klären wollen, wo dieser Kerl jetzt ist, und was er genau damit bezweckt", stellte Parker fest. Seine Mitarbeiter nickten zustimmend. Die Konferenz war damit beendet, und die honorigen Abteilungsleiter von "Parker, Leben und Wohlstand kehrten in ihre Hotels zurück.

Young dachte während eines langen Bades darüber nach, was er tun konnte, um den Saboteur, wie Costa ihn einmal genannt hatte, zu erwischen. Sicher, für die Schmutzarbeit war Finch zuständig. Aber er sollte schon genug Hintergrundinformationen zusammentragen, um die nötige Arbeit so diskret wie möglich abzuwickeln. Als er fertig gebadet hatte, legte er seinen Geschäftsanzug säuberlich in den kleinen Koffer zurück. Dabei fiel eine kleine schwarze Muschel aus der Jackettinnentasche. Er hob sie auf. Das war ein Souvenir aus Malibu, wo eine Schwägerin von ihm einen Esoterikladen betrieb. Sie hatte ihm diese Muschel als Glücksbringer geschenkt, den er zu wichtigen Besprechungen mitnehmen sollte, um Erfolg zu haben. Er legte das kleine Schmuckstück in ein Seitenfach des Koffers und schloß diesen, bevor er sich schlafen legte.

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Picklock strampelte noch eine Weile, bis er es endlich aufgab. Die beiden Hexen trugen ihn zu einem Haus mit großem Garten darum herum. Picklock schloss die Augen. So wurden seine Ohren zwanzigmal schärfer als Menschenohren und konnten ihm ein Echobild der Umgebung liefern wie bei einer Fledermaus. Mit großem Unbehagen erkannte er an den Mustern des Widerhalls, daß er offenbar zu Lady Ursina Underwood entführt wurde. Von der hieß es, daß sie sehr mächtig war und auch mächtige Freunde hatte.

Im Haus führten die beiden Hexen Kyla und Lyra ihren Gefangenen zu einer Tür. Picklock spürte schon das reine Schmiedeeisen auf ihn einwirken, bevor er in eine kleine Metallkammer hineingestoßen wurde. Der Plastiksack wurde ihm grob vom Kopf gerissen, bevor eine schwere Tür zugeschlagen wurde. Er saß in einer rundum geschmiedeten Kammer fest, unfähig daraus zu flüchten.

"Heh, rauslassen!" Schrie der Kobold. Denn nun, nachdem er in dieser Kammer war, hatte er endlich diesen verflixten Schweigezauber bildlich runterschlucken können. Ein kleines Bullauge in der Tür wurde geöffnet, und er konnte Lady Ursina erkennen.

"Was fällt dir ein, in meinem Haus so laut herumzuschreien, Kobold. Glaubst du nicht, daß ich meine Gründe habe, dich hier einzusperren?"

"Horlnuck!" Fluchte Picklock. Lady Ursina verzog keine Miene.

"Achso, ich vergaß, daß du zu jenen Kobolden gehörst, die sofort schimpfen, wenn etwas nicht so läuft wie sie es haben wollen", sagte sie kühl.

"Sie sind diese Lady Ursina, die sich in alles einmischt, was nicht gesund für sie ist. Lassen Sie mich sofort hier heraus und geben mir meine zwanzig unzen Gold Schadensersatz!"

"Soviel bist du nicht wert", lachte eine andere Hexe, diese Lyra. Jetzt konnte Picklock sie richtig sehen, eine zierliche Hexe mit fuchsrotem Haar und großen braunen Augen.

"Ich bin viel mehr wert, du gemeines Stück. Ihr habt mich bei der Ausübung eines wichtigen Auftrags einfach entführt."

"Was für einen Auftrag, Picklock?" Fragte die Hexenlady.

"Wieso denken Sie, ich sei dieser Picklock. Ich bin Wetsock, Bote für Gringotts und muß dringend nach Dublin. Das wird teuer die Damen, mehr als zwanzig Unzen Feingold."

"Och och! Ein Bote namens Wetsock arbeitet nicht für Gringotts London, sondern Gringotts Paris und ist zur Zeit in Algerien unterwegs. Du bist Picklock, der von seinen Artgenossen aus dem Dienst für Gringotts verstoßen wurde, weil er kostbares Gold für Muggelartefakte hergegeben hat", sagte die Hexenlady. "Du siehst, ich erkundige mich sehr gründlich über jeden, den ich zu mir - sagen wir mal höflich - einlade, Picklock Loluck Habbbarzak."

Picklock meinte, ihn habe ein Schlag mit einer schweren Keule voll in den Magen und am Kopf getroffen. Wie unter Krämpfen schüttelte er sich und staarte Lady Ursina an. Wie konnte die die beiden lebenswichtigen Namen kennen, die nur die Kobolde kennen durften, die ihn aufgezogen hatten oder die Altvorderen seines Geburtsortes waren. Denn bei der Geburt eines Kobolds wurde diesem neben einem allgemein gebräuchlichen Rufnamen noch der Name eines Gesteins und der eines Metalls seiner Umgebung verliehen. Stein und Metall wurde er dann noch geweiht, damit die heilige Beziehung zur großen Mutter Erde seine Kräfte stärken und erhalten konnte. Die Namen wurden in einen Weihestein eingraviert, der verhinderte, daß man seine beiden zusätzlichen Namen aus ihm herausfoltern konnte. Denn wer diese Namen kannte, konnte den damit benannten Kobold für alle Zeiten in seinen Dienst zwingen. Deshalb galt Namensverrat bei den Kobolden als schlimmstes Verbrechen, auf das der Tod durch Ertränken in flüssigem Gold stand. Also würde kein Kobold die lebenswichtigen Namen eines Artgenossen verraten, schon gar keinem der großen Leute mit Zauberkräften, bestimmt nicht seit dem letzten mißglückten Befreiungskampf.

"Wie gesagt, ich weiß alles wichtige von dir, Picklock Loluck Habbarzak", sagte die Lady nach einigen Sekunden und genoss es wohl, wie sich der Gefangene wie unter starken Schmerzen krümmte und wand. "Also kommen wir zur Sache!" ....

Als Picklock dreimal mit seinen Weihenamen angerufen und zur unbedingten Treue der Hexenlady Ursina gegenüber verpflichtet worden war hatte er den Auftrag bekommen, nach Amerika zu reisen, um dort in den Abteilungen des Zaubereiministeriums nachzuforschen, was über den Tod einer Hexe namens Lucretia Withers zu ermitteln war. Erst dann war er von Lyra und Kyla nach London zurückgebracht und freigelassen worden.

"Ich weiß nicht, was er mit diesen Muggelsachen anfangen kann", sagte Lyra Harper, eine ausgewiesene Koboldexpertin. "aber den hier brauchen wir jetzt nicht mehr." Sie zog einen grünlich funkelnden Stein aus ihrer Tasche. Es war der Weihestein Picklocks, den sie unter Aufbietung großer Gefahren aus der Halle der Erdmutter tief in einem alten Höhlensystem im schottischen Hochland gestohlen hatte. Bis jetzt war der Diebstahl wohl nicht aufgeflogen, weil die Hexen der Nachtfraktion die Kobolde mit wichtigerem Zeug wie Gold und Silber aus Afrika abgelenkt hatten. Doch nun mußte der Stein wieder zurück. Immerhin hatten sie damit Picklock finden können. Denn der Stein leuchtete und summte, wenn sein Kobold in der Nähe war.

"Okay, Schwester Lyra. Ich leiere das mit Mockridge und den anderen Abteilungen an, damit die Kobolde alle beschäftigt sind. Am besten setze ich in die Welt, daß Ludo Bagman in Südspanien aufgetaucht ist und dort einen großen Schatz verstecken will. Das wird die Kobolde hinter ihm herjagen lassen."

"Gut", lachte Lyra. Dann flogen sie auf ihren Harvey-Besen, Gastgeschenken der amerikanischen Mitschwestern, zurück nach Underwood Mansion.

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Will Tompson, Etagenchef der Kaufhausdetektive, presste ein Papiertaschentuch auf die blutige Bisswunde, die wie Feuer brannte. Dieser quirlige Pygmäe oder welchem Volksstamm der Kerl auch immer angehörte, hatte ihm ziemlich tief ins Fleisch gebissen. Das der dann auch noch aus dem Aufzug verschwunden war, ohne daß es seine Kollegen mitbekommen hatten, ärgerte ihn sichtlich.

"Heh, Will, mit der Wunde mußt du zum Arzt", bemerkte Harry Ford, sein Kollege, als er abgehetzt von der vergeblichen Verfolgungsjagd zurückkehrte.

"Weiß ich selbst, Harry", knurrte Will Tompson. Jetzt fing die Wunde auch noch an zu pochen und überlagerte den dumpfen Schmerz in seiner Magengrube.

"Was war das eigentlich für einer?" Fragte Harry. "So'n Typ habe ich bisher noch nicht gesehen. Sah aus wie eine Mischung zwischen einem Araber und Mr. Spock", sagte Harry.

"Spock? Dann ist der wohl wieder hochgebeamt worden, was? Neh, das war ein verkleideter Lilliputaner. Aber der hat einen Kiefer wie der weiße Hai."

"Der Arm ist aber noch dran", lachte Harry seinen leidenden Kollegen an. Er begleitete ihn zunächst zu einem der Sanitäter, während er gleichzeitig per Notfallpieper die Polizei anfunkte, sie möge herkommen.

"Was hat der eigentlich mitgehen lassen?" Fragte Ford.

"Müssen wir Sandy fragen. Die hat den ja gesehen", knurrte Will.

"Hups, welches Raubtier hat Sie denn da angeknabbert?" Fragte der diensthabende Sanitäter, während er die Bissverletzung mit Jodsalbe einrieb, was den brennenden Schmerz noch einmal verstärkte, um sie dann mit einem Sterilen Verband vorsorglich zu bedecken.

"So'n dunkelhäutiger Kerl, wie so'n Buschneger", knurrte Will. Der Sanitäter, selbst Sohn einer indischen Familie, runzelte die Stirn, nickte dann aber verstehend.

"Sie sollten sich freinehmen und einen Arzt aufsuchen. Könnte sein, daß die Verletzung genäht werden muß. Außerdem brauchen Sie Antibiotika. Der Kerl hat Ihnen bestimmt einige Bakterien ins Blut getrieben."

"Am besten noch Tollwut, AIDS oder die Pest", schnaubte Will, bevor ihm klar wurde, was er da gerade gesagt hatte. Er erbleichte. Hoffentlich hatte dieser kleine Kerl keine ansteckende Krankheit auf ihn übertragen! "Ich gehe sofort zum Arzt", sagte er schnell und meldete sich bei seinem Vorgesetzten ab.

Die Aussagen der Zeugen, der Verkäuferin, des Kunden mit dem Führhund und der unverletzt gebliebenen Detektive gaben dem Beamten von Scotland Yard Rätsel auf. Vor allem daß dieser Ladendieb zunächst von keinem bemerkt worden war, bis er Mr. Copperfield, den Blinden angerempelt hatte, machte die Beamten stutzig. Inspektor Morton, der den Vorfall untersuchte, notierte sich alle Angaben sorgfältig. Als er dann noch ein Bild des Flüchtigen auf einer Videocasette sah, stutzte er.

"Interessant. Diese Hände, Füße und Ohren sind schon seltsam, wie diese grüne Jacke mit den Goldknöpfen und die rote Pluderhose. Könnte ein Kind sein. Bart und Ohren könnten künstlich sein."

"Ja, wir haben aber nur das Bild, wie er in den Aufzug springt. Im Aufzug selbst ist keine Kamera", erklärte der Leiter der Detektive. "Sollten wir vielleicht überlegen, auch da welche einzubauen."

"Klar, der große Bruder sieht dir zu", gab der Inspektor verächtlich zur Antwort. Einerseits konnte ein gewisses Maß an Überwachung nicht schaden. Andererseits gehörte er zu den wenigen Polizeibeamten, die in der zunehmenden Kameraüberwachung einen Kahlschlag in der Privatsphäre sahen. Zu viel des guten war immer schlecht, war seine Ansicht.

"Ja, aber mit einer Kamera im Lift hätten wir den überwachen können", wandte der Leiter der Kaufhausdetektive ein. Inspektor Morton schüttelte den Kopf.

"Dann verraten Sie mir bitte, wieso Ihre Kameras diesen kleinen Mann nur ein einziges Mal aufnehmen konnten! Der mußte doch unweigerlich an sechs Kameras vorbei, bevor er in die Buchabteilung reinkam. Konnte er sich etwa drunter durchducken? Das war ja wohl nicht möglich, weil Ihre Videokameras weit genug oben angebracht sind, um bis auf eine höhe von zwanzig Zoll genug einzufangen. Außerdem will die Verkäuferin Ms. Sandra Petrowsky den Ladendieb erst gesehen haben, als er Mr. Copperfield anrempelte. Dessen Hund hat wohl vorher schon geknurrt, hat er ausgesagt. Also wieso hat der Hund den Dieb gewittert und keiner den sehen können?"

"Was fragen Sie mich. Vielleicht war der Typ so geschickt, sich gebeugt zwischen den Waren durchzuschleichen wie ein Dschungelkämpfer. Jedenfalls hat er vier Bücher mitgehen lassen, wissen wir", sagte der Chef der Detektive.

"Wie teuer waren die?" Wollte Morton wissen und schrieb sich den Preis auf. "Okay, das reicht für eine weitere Ermittlung, da die Grenze für Geringfügigen Sachschaden überschritten ist und obendrein noch jemand verletzt wurde."

Das Telefon im Büro der Detektivabteilung läutete. Als Mortons Gesprächspartner wieder auflegte stand totale Verwirrung in seinem Gesicht.

"Der hat mindestens noch einen tragbaren CD-Spieler, zehn Päckchen Batterien und einige Musik-CDs mitgehen lassen, ohne daß wir das mitbekommen haben. Mein Kollege aus der Musik- und Computerabteilung hat's gerade gemeldet."

"Könnte es nicht ein weiterer Ladendieb gewesen sein?" Wollte Morton wissen.

"Das ist unmöglich, weil wir sofort nach dem Vorfall die Ein- und Ausgänge besetzt haben."

"Im Klartext heißt das, der Dieb ist noch im Haus", stellte Morton unbestreitbar fest. Dann ließ er weitere beamte in Zivil anrücken, die den Detektiven bei der Suche helfen sollten.

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"Was für ein Vorfall?" Fragte Amos Diggory, Mitarbeiter in der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe, als er von der Abteilung für magische Strafverfolgung erfuhr, daß in einem großen Warenhaus etwas sehr ungewöhnliches passiert war.

"Unser Verbindungszauberer bei Scotland Yard, dieser Polizeitruppe, hat das gerade übermittelt. Er konnte sich für einige Minuten absetzen und uns einen Lagebericht geben. Demnach muß ein ertappter Ladendieb bei seiner Flucht irgendwie verschwunden sein", sagte Horatio Quinn, Diggorys Gesprächspartner.

"Und warum sollen wir uns dafür interessieren. War es ein Zauberer?" Wollte Diggory wissen. Doch dann durchzuckte es ihn wie ein Stromstoß. "Nein, doch kein Kobold, oder? Beim Barte von Merlin, nicht schon wieder dieser Picklock."

"Öhm, der Beschreibung nach war es ein Kobold. Er hatte einen dunklen Spitzbart, eine grüne Jacke mit Goldknöpfen und rote Pluderhosen - und trug Muggelturnschuhe. Interessant, das mir das jetzt erst auffällt."

"Galoppierende Gorgonen!" Fluchte Diggory. Schnell warf er eine Prise Flohpulver in das kleine Feuer in Quinns Büro und rief hinein: "Cuthbert Mockridge, kommen Sie bitte ins Büro von Quinn!" Einige Sekunden später wirbelte etwas im Feuer und der Zauberer aus dem Koboldverbindungsbüro tauchte im Kamin auf.

"Ich hab's schon gehört, Amos. Unser kleiner Klaubold Picklock hat sich mal wieder an Muggelzeug vergriffen. Dork von der Sharadak, dem Arm der Steinernen Sieben, hat sich schon bei mir eingefunden und das mitgeteilt, daß ihnen dieser Kobold im Muggellondon entwischt ist. Seine kleptomanischen Eskapaden gehen den Kobolden langsam sehr auf die Nerven."

"Dann stimmt das also", knurrte Diggory. Quinn eilte zu einem Schrank, in dem kleine Papierflieger wie wilde Hornissen herumwuselten, fing einen davon ein, schrieb auf einen Zettel "Ladendieb ist ein aktenkundiger Kobold. Alle beteiligten Muggel sofort Gedächtnismodifizieren."

Als das Memo mit großer Eile aus dem Büro verschwunden war seufzte Quinn, daß es schwierig sein würde, alle Muggel noch zu erwischen, die den Kobold gesehen hatten. Zudem hatte Scotland Yard die einzigen Videoaufnahmen von ihm schon eingezogen.

"Diese Fernsehaugen der Muggel werden langsam lästig", knurrte Mockridge. "Heute weiß man doch nie, wann man nicht von so einem Ding angesehen wird. Das war früher wesentlich einfacher, muggeltaugliche Korrekturen zu machen. Wenn heute einer appariert, könnte das in einer Minute schon von tausend Muggeln gesehen worden sein. Ich fürchte, unsere Geheimhaltung wird immer unhaltbarer."

"Gemach, Cuthbert. Wir kennen das schon und haben das schon dutzendfach hingebogen", beruhigte ihn Quinn. "Im Zweifelsfall fingieren wir eben ein Fluchtmanöver, bei dem es den Anschein hatte, als sei der Dieb im Aufzug verschwunden, tatsächlich aber im gebückten Lauf die starren Treppen hinunter geflüchtet. Die Hochstapler der Muggel, die sich als Zauberer bezeichnen, haben da so ein schönes Motto: "Die Hand ist schneller als das Auge." Damit meinen sie, daß sie durch geschickte Ablenkungsmanöver den Blick von arglosen Zuschauern auf unwesentliche Dinge lenken und dann unbeobachtet und sehr rasch irgendwas manipulieren können, das dann wie echte Zauberei aussehen soll."

"Langweilig", gähnte Diggory überdeutlich. Er sah Mockridge an und meinte noch: "Wenn Horatios Leute das mit den Muggeln erledigen, kümmern wir uns um die Kobolde. Ich fürchte nur, diese Sicherheitskobolde werden uns nicht reinreden lassen."

"Da kannst du von ausgehen, Amos", seufzte Cuthbert Mockridge.

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Anthelia, die Führerin des Spinnenordens, bekam am frühen Morgen Ortszeit von Sheila Morgan, einer englischen Mitschwester, die Meldung von einem umtriebigen Kobold, der in einem Muggelkaufhaus lange Finger gemacht hatte.

"Dieser Picklock", wußte Anthelia. "Was ficht mich an, welche diebischen Zauberwesen es in England gibt?"

"Öhm, in diesem Fall schon, höchste Schwester, weil er von Lyra und Kyla aufgegriffen und zu ihrer Ladyschaft Ursina gebracht wurde. Offenbar trachtet sie danach, diesen Kobold für sich einzuspannen. Ich hörte mal in einem Nebensatz, daß Lyra etwas in die Hände bekommen hat, was einen bestimmten Kobold wie unter den Imperius zwingen kann, aber lebenslänglich vorhält."

"Die Weihe- und Lebenssteine wird sie wohl gemeint haben", erwiderte Anthelia ruhig. Sie kannte sich schon aus eigenstem Interesse mit den Stärken und Schwächen von Zauberwesen aus und wußte davon, daß jedem Kobold bei seiner Taufe ein magischer Stein zugeordnet wurde, in dem das Geheimnis seiner zwei erdgebundenen Namen eingelagert wurde, wie es der Divitiae-Mentis-Zauber mit bestimmten Erinnerungen und Gefühlsauslösern tat.

"Ach, an der Legende mit den Weihesteinen ist was dran? Das kann aber nicht klappen, weil ja die Kobolde diese Steine bestimmt scharf bewachen", meinte Sheila. Dann mußte sie grinsen. "Lyra beherrscht einige gute Zauber, um selbst argwöhnische Zauberwesen zu überlisten. Dann kann es vielleicht gehen. Jedenfalls denke ich, wenn ich darf, daß dieser Picklock bald zu uns, also Lady Ursinas Gruppe gehört, als niederer Handlanger."

"Soll sie mit ihm glücklich werden", murmelte Anthelia. Doch dann straffte sie sich. "Ein Kobold, der keine Skrupel kennt, die Habseligkeiten von Unfähigen zu räubern könnte für deine frühere Gebieterin ein lohnender Lakei und Unterhändler sein, Schwester Sheila. Danke, daß du mir diese Kunde brachtest!"

"Ich muß mich beeilen, wieder nach Dover zu kommen. Lady Ursina will morgen mit uns über die Nachfolge von Lucretia Withers sprechen. Sie ist sehr ungehalten, daß sie nicht in die alte Bibliothek von ihr reinkann."

"Ja, das war ein herber Verlust, auch für mich", pflichtete Anthelia verärgert bei. "Das wäre nicht nötig gewesen, wenn die Schwestern Lobelia und Charity nicht im Feuer des Übereifers vorangestürmt wären. Ihre Stellung bei Lady Ursina hätte uns noch sehr gute Dienste erweisen können."

"Wir wissen von einer Hexe, die wohl die Bibliothek öffnen kann. Die ist aber keine von uns", sagte Sheila leise. Ein lauter Pfeifton klang von oben her. Sheila zuckte zusammen. Dann hörte sie Pandora Stratons Stimme rufen:

"Nicht so schnell wedeln. Dann klappt's schon, Dido!"

"Huch, was geht denn da vor?" Fragte Sheila neugierig. Anthelia sah sie warnend an.

"Es gibt Dinge, die dich betreffen, sowie solche, die dich nicht betreffen, Schwester Sheila. Die Ereignisse dort oben gehören zur zweiten Sorte. Nun kehre rasch zurück, auf daß kein Hauch des Verdachtes auf dich fallen möge! Mir ist nicht danach, weitere Getreue zu verlieren."

"Wie du befiehlst, höchste Schwester", gab Sheila unterwürfig zurück, verbeugte sich kurz und disapparierte, um in sechs großen Sprüngen nach Dover in England zurückzukehren.

"So, hat sich die ehrwürdige Lady Ursina einen diebischen Kobold ausgedungen. Mag es angehen, daß dies für mich doch wertvollere Kunde ist als sich im Augenblick erschließt."

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Will Tompson kam mit einem dicken Verband aus der Praxis seines Hausarztes. Er hatte eine Reihe von Spritzen ins Hinterteil und den angebissenen Arm bekommen, gegen Wundstarrkrampf, einige andre Krankheiten und ein hochdosiertes Antibiotikum, das er als Kapseln noch zwei Wochen lang einzunehmen hatte. Sein Arzt hatte einen Abstrich von der Wunde genommen und gemeint, daß der Sanitäter nicht zu viel Jod hätte auftragen sollen, da dadurch so gut wie keine Bakterien zur Analyse verblieben waren. Tompson hatte den Kopf geschüttelt und gesagt, daß er froh und dankbar war, daß der Sanitäter so gründlich desinfiziert hatte. Nun war er auf dem Weg nach Hause. Auf Anraten des Arztes durfte er die nächsten Stunden kein Auto fahren. So mußte er mit einem Taxi nach Hause fahren, denn für die nächsten drei Tage war er krank geschrieben worden. Er ging nur bei seinem Vorgesetzten vorbei, gab die Krankmeldung ab, holte sich in der Apotheke um die Ecke die verschriebenen Kapseln und suchte sich eines der weltberühmten schwarzen Taxis. Als er ein freies Taxi fand, fühlte er ein merkwürdiges Kribbeln von dem Wagen ausgehen, als fließe ein sehr schwacher elektrischer Strom von diesem auf ihn über. Er faßte den Türgriff an und meinte, etwas heftig prickelndes würde ihm wie tausend Ameisen durch die Finger bis hinauf zur Schulter krabbeln. Dennoch stieg er ein und gab sein Fahrziel an.

Unterwegs wurde das merkwürdige Gefühl, irgendwie unter Strom gesetzt zu werden immer stärker. Jetzt wurde es ihm aber langsam mulmig, zumal er ein leises Summen hörte, das das Brummen des Motors schwach aber erkennbar überlagerte. Es wurde langsam immer lauter, je weiter das Taxi fuhr.

"Soll ich zum Arzt zurück? Das ist doch nicht normal", dachte Tompson. Doch da stoppte der Taxifahrer auch schon vor der klotzigen Mietskaserne, in der seine kleine Junggesellenwohnung lag.

"Det macht dann zwee Pfund und neune, der Herr", sagte der Taxifahrer fordernd. Tompson griff sich an den Reißverschluß seiner Jacke und meinte, etwas steche ihm mit einer glühenden Nadel in die Finger. Er zuckte zusammen und konnte gerade soeben einen Aufschrei unterdrücken. Er griff erneut an den Reißverschluß. Wieder stach ihn etwas in die Finger, als packe er in einen mit Brennesselsaft getränkten Kaktus. Er hatte alle Mühe, den Reflex zu unterdrücken, den Reißverschluß wieder loszulassen. Er zog dran, griff in seine schwer zugängliche Innentasche und fischte die Brieftasche heraus. Als er deren Metallreißverschluß berührte, piekste es ihm wieder in die Finger. Das war doch nicht normal.

"Heh Mister, Wennse nich zahlen woll'n ruf ick die Polente! Klar?"

"Ich will zahlen", knurrte Tompson und riss todesmutig den Reißverschluß auf. er fischte nach einer fünf-Pfund-Note und warf sie dem Fahrer hin. "Geben Sie mir auf drei Pfund raus, weil es etwas länger gedauert hat", sagte er um seine Fassung ringend. Der Taxifahrer öffnete das Metallkästchen, in dem er das Geld aufbewahrte und holte zwei Pfund in Kleingeld heraus. Tompson hielt die Hand hin und meinte, glühende Eisen würden ihm die Haut verbrennen. Er schrie nun hemmungslos auf und riss den Arm zurück. Dabei flog das Wechselgeld im hohen Bogen durch den Wagen.

"Irjendwat hamse wohl, wa?" Bemerkte der Taxifahrer sehr verstört dreinschauend.

"behalten Sie alles. Stimmt so", stieß der Warenhausdetektiv aus und öffnete die tür. Er hechtete aus dem Wagen und stieß die Tür mit dem Knie zu. Dabei fühlte er ein wildes Prickeln durch die Hose in sein Bein überspringen. Er warf sich schnell herum und rannte zum Hauseingang. Wieder kam ihm ein irritierendes, diesmal mit einem hohen Summton verbundenes Kribbeln von der Haustür mit Stahlrahmen entgegen. Er fischte nach seinem Schlüsselbund ... "Auua!" Klang sein Schmerzensschrei über die Straße. Klirrend fiel ihm das Schlüsselbund zu Boden. Er fühlte eine Angst, die sich wie ein lästiger Schatten über seinen Verstand legte und immer deutlicher wurde. Er Bückte sich und wollte erneut die Schlüssel ergreifen. Doch wieder meinte er, in siedendes Öl hineinzugreifen. Er riss die Hand vor sein Gesicht. Er konnte keine Brandwunden sehen. Doch er hatte den Schmerz doch gefühlt.

Die Haustür ging auf, und eine gedrungen wirkende Frau im roten Mantel kam heraus. Sie erkannte den Detektiv, einen ihrer Nachbarn und fragte ihn, was los sei. Er deutete auf seine Schlüssel. Sie guckte verdutzt, bückte sich schwerfällig und hob das Schlüsselbund auf wie es ganz normal war.

"Konnten Sie sich nicht bücken? Oh, jetzt sehe ich's. Sie sind verletzt. Können Sie den Arm nicht bewegen?"

"Ja, das geht nicht. Ich hab's probiert, die Tür aufzuschließen. Doch der Schmerz war zu heftig", sagte Tompson, der sich freute, daß die Nachbarin ihm eine so gute Ausrede ermöglichte. Sie nickte und führte ihn zu seiner Wohnung. Sie schloß für ihn auf, steckte den Schlüssel auf der anderen Seite ins Loch und verabschiedete sich. Tompson bedankte sich und versprach, sich dafür erkenntlich zu zeigen.

Er drückte die Tür mit dem Ellenbogen zu, als er vom Metallgriff wieder ein warnendes, jetzt sehr heftiges Kribbeln fühlte, ohne es zu berühren.

"Das ist doch nicht normal. Das kann doch nicht normal sein", sagte Tompson sich. Er verspürte nun von allem, was in der Wohnung aus Metall war ein immer stärkeres Kribbeln ausgehen, begleitet von einem Summton, je tiefer je größer der Metallkörper war. Bald hörte er einen unheimlichen Chor von Summtönen, der langsam und unaufhaltsam lauter und lauter wurde, wie auch das Kribbeln zunahm. Gleichzeitig fühlte er eine Hitze, als stehe er in einem Heißluftbackofen, der langsam immer heißer wurde.

"Das kann doch nicht sein!" Rief er. Er konnte nichts anfassen, ohne sich wie auf glühendes Eisen oder direkt in loderndes Feuer hineinzugreifen zu fühlen. Ja, das Prickeln wurde zu einem leichten Ziepen, dann zu einem immer heftigeren rasseln und Krabbeln und Brennen wie eine Armee von kampflustigen Ameisen, die ihn aus allen Säuredrüsen befeuerte. Er stürzte zum Telefon, von dem auch ein verräterisches Summen ausging und wollte den Hörer mit dem Mut der Verzweiflung packen. Da bohrte sich etwas wie glühende Klingen in seine Hand, das er nicht sah. Auch das Telefon bestand zu einem Teil aus Metall, fiel es ihm ein. Irgendwie reagierte er sehr überheftig allergisch auf Metall, war einer der nun seltenen klaren Gedanken. Er fühlte, wie das um ihn klingende Summen und Sirren, die immer heißere Luft und das Toben der unsichtbaren Ameisenarmee auf seiner Haut ihn in den Wahnsinn zu treiben begann. Die ansteigende Angst gaukelte ihm vor, Feuerteufel über die Türklinken huschen zu sehen, rote Glut um sich herum zu erkennen und von abertausend glühenden Pfeilen getroffen zu werden. Sein Atem ging immer schneller und keuchend. Sein Herz raste wie der Beat der Techno-Musik, die er an seinem Arbeitsplatz dauernd ertragen mußte. Auch unter seinen Füßen begann nun ein Prickeln und krabbeln. Er sprang von einem Bein aufs Andre, tobte wie ein im Käfig herumgescheuchter Vogel mit den Armen flatternd durch seine Wohnung, ohne einen Punkt zu finden, an dem er zur Ruhe kam. Er rief laut um Hilfe, schrie vor Panik und immer heftigeren Schmerzen.

In dem Tosen, das nun seine Ohren erfüllte, klang ein schwacher Knall. Er glaubte schon, das sei eine weitere Steigerung der mörderischen Dinge, die auf ihn einstürmten, als ein Mann in einem Umhang vor ihm stand, den er durch die wild flimmernde Luft wie eine Nebelgestalt sah. Er holte mit seiner Hand aus und wollte ihn packen, da krachte ein roter Blitz über ihn herein. Danach war alles vorbei.

"Muggel reagieren ja fünfmal so heftig auf die Koboldfieberkeime", knurrte der Mann, der in Tompsons Wohnung aufgetaucht war, als er einen schlanken Holzstab zurücksteckte. Er hatte den wie tobsüchtig um sich schlagenden Mann mit einem Schockzauber belegen müssen. Angst und Schmerzen hatten den Muggel rasend gemacht.

"Ich muß sie wohl mitnehmen", sagte er. Dann griff er den Arm des Betäubten und verschwand mit lautem Knall.

Schnell alarmierte Unfallumkehrzauberer postierten sich im Haus und modifizierten die Gedächtnisse der Muggel, die die lauten Schreie und das Poltern gehört hatten. Es konnte gerade rechtzeitig verhindert werden, daß Polizei und Notarzt alarmiert wurden.

Hippocrates Smethwyck, Heiler im St.-Mungo-Krankenhaus für magische Verletzungen und Krankheiten wurde über das Kontaktarmband an seinem rechten Arm darauf aufmerksam gemacht, daß er gebraucht wurde. Er verließ sein Büro und eilte in die Notaufnahme, wo seine Kollegin Cyclina Ashford bereits mit einem Zauberer vom Trupp zur Umkehrung verunglückter Zauberei an einem Bett stand und sich unterhielt.

"Was liegt an?" Fragte Smethwyck.

"Ein Muggel, der von einem Kobold gebissen wurde, der mit dem Koboldfieberkeim infiziert war", stellte Cyclina fest. "Erwin hat ihn gerade noch finden können, bevor er in seinem Anfall seine ganze Wohnung zertrümmert hat. Ich mußte ihm einen Herzerholungszauber verpassen, weil der Schocker ihn fast getötet hätte."

"'tschuldigung, Madame Ashford. Aber wenn ich den Schocker nicht benutzt hätte wäre der mir an die Gurgel gegangen und hätte mich wohl mit übermenschlicher Kraft erwürgt", verteidigte sich der Zauberer, der den Muggel abgeliefert hatte.

"Schon wieder ein Muggel hier. Gut, ich lasse ihn in meine Abteilung bringen, nachdem ich ihm den Anzug ausgezogen habe. Wann wurde er von diesem Kobold gebissen?"

"Das muß vor einer Stunde gewesen sein", sagte Erwin. "die Sache mit dem Kobold wird bereits untersucht. Der Mann ist ein Hausdetektiv, der in einem großen Laden der Muggel aufpaßt, daß nichts gestohlen wird. Der Kobold wurde wohl dabei ertappt, wie er etwas mitgehen lassen wollte und biss diesen Mann hier, weil der ihn wohl zu fassen bekommen hat."

"Eine Stunde?!" Rief Smethwyck entrüstet. "Ihr von der Unfallumkehr habt den eine Stunde lang rumlaufen lassen, damit sich die Keime richtig ausbreiten konnten? Könner seid ihr, Spitzenkönner!"

"Heiler Smethwyck, diesen Ton bin ich nicht gewöhnt, von keinem!" Blaffte Erwin ruppig zurück. "Der Mann hat sich schnell abgesetzt, wohl einen Arzt aufgesucht und ist erst später nach Hause gekommen. Wir mußten aufpassen, daß wir selbst nicht gesehen wurden, bis der Mann in seine Wohnung ging. Ich hätte den ja gerne vor der Tür abgepaßt. Aber eine Nachbarin kam heraus und geleitete ihn zur Tür. Als er drin war, mußte ich warten, bis die Nachbarin weit genug fort war. Da war er aber auch schon im Fieberwahn, das können Sie gleich so in den Aufnahmebericht schreiben oder warten, bis mein Chef Ihrem Chef eine Kopie meines offiziellen Berichtes mit einer schnellen Eule schickt oder einen Boten entsendet."

"Trotzdem ist das unverantwortlich, daß ihr diesen Muggel solange mit dieser Bissverletzung habt herumlaufen lassen. Er war bei einem Arzt. Dann muß ich wohl erst dieses Keimtötungszeug aus ihm herausextrahieren, daß diese Unfähigen in ihre Patienten reinspritzen. Sonst kann jede Behandlung danebenschlagen. Gut gemacht habt ihr das. Ich bin froh, daß ich gerade keine größeren Fälle zu betreuen habe. Ich hoffe, die eine Stunde wird nicht in einer stationären Behandlung von einer Woche ausarten. Muggel aufzunehmen ist ja nur unter sehr klaren Einschränkungen angezeigt."

"Die Gründe sind ja wohl mehr als zutreffend, oder?" Entgegnete Erwin ungehalten.

"Nun, behandelt werden muß er. Also ..." Smethwyck rief seine Assistenzheiler und ließ den immer noch unter Schockzauber stehenden Muggel in ein Zimmer ohne Metallklinke an Türen und Fenstern verlegen. Er nahm den Ausweis des Detektivs und schrieb den Namen und das Alter auf die Krankentafel am Fußende des Bettes. Dann schrieb er das Wort "Muggel" dick unterstrichen darunter. Damit war für seine Assistenzheiler klar, daß dieser Mann nach Möglichkeit nicht aus dem Zimmer entwischen durfte und erst entlassen würde, wenn die Unfallumkehrtruppe sein Gedächtnis modifiziert hatte. Anschließend ließ er den Verband um den Arm aufreißen, untersuchte die Bisswunde, schnupperte Jod und grinste.

"Zumindest haben sie das rausgekriegt, diese Dilletanten. Er ritzte eine Ader an, um etwas Blut aufzufangen, verschloss die Schnittwunde nach einer Minute wieder und ging mit der genommenen Blutprobe in sein alchemistisches Labor, um zu prüfen, mit welchen keimtötenden Mitteln der Patient behandelt worden war. Nach einer Stunde hatte er die Zusammensetzung ermittelt und setzte drei Zaubertränke an, um die Lösungen nach und nach aus dem Patienten herauszuspülen. Das würde mindestens einen Tag dauern, wobei der Patient aus dem Schock gelöst werden mußte. Erst nach Entfernung aller Muggelmedikamente aus dem Blut konnte Smethwyck das Koboldfieber austreiben. Da es bei Muggeln fünfmal heftiger wirkte als bei Hexen und Zauberern, die keine natürliche Abwehr dagegen besaßen, mußte er die Stunde, die der Keim im Körper des Patienten gewirkt hatte mal fünf nehmen und die Zeit wiederum mit 16 malnehmen, was eine erfolgversprechende Behandlungszeit von 80 Stunden ergab, also dreieinviertel Tage.

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Vier tage nach dem Zwischenfall im Kaufhaus schlenderte Picklock durch eine Stadt namens Washington. Lady Ursina hatte ihn solange in ihrem Haus festgehalten, bis die aufgescheuchten Kobolde einstweilen Ruhe gaben. Da Picklock die englischen Erzstraßen unter der Erde nicht benutzen durfte, ohne seine Artgenossen auf sich aufmerksam zu machen, hatte sie ihn zusammen mit Lyra Harper, dieser Koboldkennerin, mit dem magischen Schnellsegler über den Ozean geschickt. Er hatte in einer Holzkiste mit schmiedeeisernen Beschlägen und winzigen Luftlöchern ausharren müssen, bis er von Lyra und einer amerikanischen Mitschwester von Bord getragen und in ein abgelegenes Haus westlich von Port New Hope gebracht wurde. Picklock hatte durch einen Schweigezauber keine Chance, jemanden um Hilfe zu rufen. Zudem wirkte der Zwang seiner laut ausgerufenen Namen auf ihn. Er fühlte Schmerzen, wenn er daran dachte, die Lady Ursina zu hintergehen. Sie hatte ihm vor der Abreise eingeschärft:

"Meine Schwester Lyra wird dich nun in die neue Welt bringen, wo du in einer Stadt namens Washington eine Mitschwester namens Iphigenie Fowler aufsuchst und dir mit ihr zusammen Unterlagen holst, die du mir wieder mitbringen sollst, Picklock Loluck Habbarzak. Du wirst allen Schwestern bedingungslos gehorchen, die meinen Namen erwähnen!"

Er haßte es, daß er nun unter direktem Befehl dieser Hexe stand. Kobolde wie er hielten nichts von diesen großen Leuten, die sich herausnahmen, die Herrscher der Welt zu sein.

Iphigenie Fowler begrüßte ihre englische Bundesschwester höflich. sie war vor zehn Jahren ausgewandert, um eine Außenstelle der schweigsamen Schwestern im allgemeinen und der Nachtfraktion im besonderen zu begründen, weil Lady Ursina ihren in Amerika aufgewachsenen Bundesschwestern, sofern sie die überhaupt kannte, nicht so recht traute. Sie sah den Kobold an, der leicht verknirscht zu ihr aufblickte.

"Du bist also Picklock, der Klaubold, den ihre Ladyschaft Ursina Underwood mir geschickt hat, um die Akten über den Tod von Lucky Withers herauszuholen?" Picklock machte ein angewidertes Gesicht. Sie hatte ihn schon in ihrer Gewalt.

"Ja, Madame", fauchte er wie ein gereizter Kater. Dann folgte er den zwei Nachtfraktionärinnen in das Haus.

Bei englischem Tee und Gebäck besprachen sie, wie sie in das Zaubereiministerium eindringen und die gewünschten Unterlagen stehlen wollten. Dazu waren drei Tage angesetzt. Der Erste Tag galt der Erkundung, wer wofür zuständig war. Der zweite Tag diente der heimlichen Erkundung der Korridore und Aufzüge, sowie der Alarmzauber. Am dritten Tag schließlich wollten Iphigenie und Lyra ein Ablenkungsmanöver in der Muggelstadt durchführen, um möglichst viele Sicherheitszauberer auf den Plan zu rufen. In der Zeit sollte Picklock im Schutz seiner Unsichtbarkeit und Ausnutzung der Durchgängigkeit der Steine in der Wand in die Abteilung eindringen, in der geheime Akten deponiert waren, um die Akten über Lobelia Wagner, Charity Joyce und eventuell Lucretia Withers zu beschaffen. Wenn er nicht trödelte konnte er in der Hälfte der Zeit hinein und heraus, die das Ablenkungsmanöver dauerte.

"Also von jetzt an drei Tage. Phase eins startet morgen", legte Iphigenie fest. Ihre Bundesschwester nickte eifrig, der Kobold sehr widerwillig.

In einem Baum vor Iphigenies Haus hockte eine Krähe zwischen den jungen Blättern einer Ulme gut verborgen. Sie beobachtete das Haus so eifrig, als warte sie darauf, daß jemand ihr ein Fenster öffnete und sie sich an den Nahrungsvorräten sattfressen konnte. Sie gab keinen Laut von sich. Selbst als eine große Elster in ihren Baum hineinflog und ihr drohend den Schnabel entgegenreckte, zuckte sie mit keiner Feder. Der schwarz-weiße Rabenvogel starrte seine entfernte Verwandte an, ruckte vor und zurück. Dann flog er wild ratschend auf und raste mit wilden Flügelschlägen davon. Die Krähe nickte wie ein Mensch und beobachtete das Haus weiter. Sie war hier, weil die Spinnenschwester Sheila Morgan ihre Höchste Schwester darauf hingewiesen hatte, daß Lyra Harper, die Koboldexpertin, mit dem fliegenden Holländer in die Staaten zum unortbaren Zaubererhafen Port New Hope reisen würde. Über einige Umwege konnte Anthelia herausfinden, daß Lyra wohl zu Iphigenie Fowler gehen würde, einer Mitarbeiterin im Zaubereiministerium. Die Fäden der Spinne reichten bereits weit genug in die Untersektionen des magischen Personenverkehrs hinein, daß Anthelia keine Probleme hatte, die Passagier- und Ladeliste des magischen Schnellseglers zu bekommen, ohne Verdacht zu erregen. So wußte sie nicht nur, daß Lyra tatsächlich an Bord gegangen war, sondern auch, daß sie eine mit eisernen Beschlägen verstärkte Holzkiste im Gepäck hatte. Anthelia hatte nur gelächelt. Sie wußte, was das hieß. Als sie in ihrem angeborenen Körper die Führung der Nachtfraktionärinnen innehatte war es ihr gelungen, fünf Kobolde von den im Untergrund verbliebenen Aufständischen von 1612 zu gewinnen, für sie einige Arbeiten zu erledigen. Offenkundig hatte Lady Ursina diese brauchbare Taktik wiederentdeckt. Das wertete Anthelia als wortloses Kompliment für ihre Taten.

Picklock kam einige Zeit nach seiner Ankunft mit Lyra Harper aus dem Haus. Er war sichtbar und trug eine steingraue Hose und eine erdbraune Weste. Vorher, so hatte die Krähe im Baum es genau sehen können, hatte er noch seine rot-grüne Kleidung getragen. Doch offenbar wollten seine Bändiger nicht, daß er zu leicht auffiel. Als Iphigenie alleine aus dem Haus trat und die Blumen des Vorgartens goss, flog die große Krähe aus ihrem Versteck und segelte punktgenau auf das Beet zu, aus dem bunte Frühlingsblumen ihre Köpfe reckten. Sie fing den Abwärtsschwung mit einigen Flügelschlägen ab, landete zwischen den Blumen und fing an, die Blütenkelche abzupicken.

"Eh, frecher Vogel, was soll das?!" Rief Iphigenie und machte wegscheuchende Armbewegungen. Doch die Krähe köpfte eine Blume, dann noch eine. Iphigenie lief auf das Beet zu und griff nach ihrem Zauberstab. Da blähte sich der schwarze Vogel auf, wuchs in die Höhe. Seine Federn verschwanden unter einem weißen Baumwollstoff. Im Blumenbeet stand eine Frau im Kapuzenumhang, die plötzlich einen silbriggrauen Zauberstab auf Iphigenie richtete.

"Imperio!" Rief Anthelia, die Frau im weißen Umhang. Iphigenie konnte sich nicht wehren, als ihre Gedanken von einer glückseligen Woge fortgespült wurden und ein tief in ihr erschallender Befehl sie veranlaßte, der fremden Hexe die Tür zu öffnen und sie einzulassen. Eine halbe Stunde später kam Anthelia wieder aus dem Haus, zufrieden grinsend. Sie schlug die Kapuze wieder über ihr Gesicht, löschte alle Spuren von sich im Blumenbeet und verwandelte sich in die große Krähe, die dann mit weiten Flügelschlägen aufstieg und in Sonnenuntergangsrichtung davonflog.

__________

Die nächsten Tage waren für Picklock anstrengend. Er mußte Pläne und Gesichter auswendig lernen. Das Ministerium für Magie war wie viele Bauwerke der Zaubererwelt mit Zeitversetztgängen, Scheinkorridoren und versteckten, im Gebäude umherwandernden Geheimräumen ausgestattet. Die zwei Tage, um die Wege auswendig zu lernen und einen möglichst schnellen Ein- und Ausweg zu erlernen, wurden vollständig ausgenutzt. Lyra Harper nahm zwischenzeitlich Kontakt mit einigen Zauberern auf, die für einige hundert Galleonen oder Edelsteine manchen Unsinn mitmachten. Wie in England auch gab es in den vereinigten Staaten Gauner und Schnorrer unter den Zauberern, die nicht im eigentlichen Sinne der dunklen Seite angehörten, jedoch auch nicht sonderlich auf die geltenden Gesetze achteten. So kam Lyra am Abend des zweiten Tages nach billigem Fusel und Rauch wie von verbranntem Stroh stinkend in Iphigenies Haus zurück. Ihr fuchsrotes Haar war leicht zerzaust, und sie war nicht gerade bei bester Laune.

"Wo warst du denn, Schwester?" Fragte Iphigenie besorgt.

"auf dem Blutmondplatzin New York Queens, da wo die Ostküstenzauberer ihre Läden und Kneipen haben. Als Hexe bist du hier manchmal sehr aufgeschmissen unter den Banditen, die es hier gibt. So'n Taschendieb hat versucht, mir meinen Geldbeutel aus dem Umhang zu holen. Gut daß ich den mit Diebstahlschutzzaubern gesichert habe. Darauf war der nicht sonderlich gut zu sprechen. Es kostete mich einiges an gutem Zureden und zwei halbkarätige Rubine, bevor ich unversehrt in den grünen Kelch konnte, die wohl heruntergekommenste Spilunke, die ich jemals betreten habe. Da habe ich den letzten fehlenden Mitstreiter gefunden, Baron Bombus von Neuengland, wie er sich nennt, weil seine Vorfahren angeblich aristokratisches Blut in den Adern hatten. Ohne den wäre unser Plan nicht durchführbar, hat ihre Ladyschaft gesagt. Kurz und knapp, Schwester Iphigenie, ich habe ihm zwei Kreditbriefe im Gesamtwert von zweitausend Galleonen ausgestellt. Ich denke, der wird sich das Geld morgen schon in Gringotts New York zukommen lassen. Da die Kobolde für Überseeanweisungen zehn Prozent verlangen, werden aus unserem Verlies wohl zweitausendzweihundert Galleonen fehlen, wenn ich wieder nach Hause komme. Das könnte ihre Ladyschaft ein wenig verstimmen."

"Zweitausend Galleonen für diesen selbsternannten Herrn von Neuengland? Du hast ihm nicht gedroht, daß du ihn an seinen Konkurrenten verpfeifst? Wie seltenschwach bist du?" Schimpfte Iphigenie.

"Nicht so, Schwester", wies Lyra ihre Gastgeberin zurecht. "Lady Ursina hat mir eingeschärft, nur mit gutem Willen und nach möglichkeit angemessener Bezahlung aufzutreten und nicht zu drohen. Sie macht sich gewisse Sorgen, nachdem hier so viele Dunkelzauberer sich gegenseitig umgebracht haben." Das Lady Ursina nicht wollte, daß Lyra als ihre Bundesschwester auffallen konnte und daß es in den Staaten wohl noch eine Konkurrenz gab wollte sie nicht laut aussprechen.

"Gut, dann werden wir unsere Tribute wohl nächstes Jahr verdoppeln müssen, wie ich das sehe. Aber du hattest zumindest Erfolg", erwiderte Iphigenie.

"Ja, hatte ich. Unser Vorhaben in New York, Washington und Boston wird morgen wie gewünscht umgesetzt. Ich denke, Pole kann nur eine Stallwache von zehn Mann im Sicherheitsbereich belassen. Für unseren kleinen Freund dürfte das also kein Problem sein, an die Akten zu kommen."

"Das hoffe ich sehr, Schwester Lyra, weil ich nämlich keine Lust habe, den Schwestern hier oder Lady Ursina zu erklären, wofür wir mal eben zweitausendzweihundert Galleonen zum Kamin hinausgejagt haben."

"Ihre Ladyschaft wollte haben, daß wir Erfolg haben. Wenn das gelingt, war's das wert", wandte Lyra Harper ein. Dann warf sie ihre verqualmte Kleidung in einen Waschkessel und nahm noch ein Bad, um sich vom Mief der Spilunke sauberzuwaschen.

Am Nächsten Morgen zogen die beiden Hexen mit ihrem koboldischen Gehilfen aus, um den Plan durchzuführen.

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Anthelia hatte einige amerikanische Bundesschwestern darauf gebracht, sich in den einschlägigen Löchern gesetzloser Zauberer und Hexen umzuhören, ob da eine Hexe mit fuchsrotem Schopf irgendwas wollte. Sie selbst war nach New York gereist, wo sie in der verqualmten Holzhütte mit dem Namen "Zum grünen Kelch" mit einer verhutzelten Hexe sprach, die hier die Gäste bediente. In einer dunklen Ecke hatte diese ihr verraten, daß der baron von Neuengland wohl Besuch bekommen würde. Anthelia nickte und steckte ihr zwanzig Galleonen in die speckige, mit Fusel und Fettflecken besudelte Schürze. Dann zog sie sich durch eine Klappe in der Rückwand aus dem heruntergekommenen Lokal zurück und wartete darauf, daß Lyra Harper ankam. mit dem Exosensozauber fühlte sie sich in die Wahrnehmung von Robin Hardy ein, einem vierschrötigen Zauberer, der für den Baron von Neuengland die Grobarbeit erledigte, aber auch die einzelnen Banden überwachte, die dem Baron Wissen und Beute einbrachten. So konnte sie das Gespräch belauschen, daß Lyra mit dem kleinen dicken Zauberer im schwarzen Frack und weißblauem Hemd führte. Sie erfuhr, daß geplant war, am nächsten Tag an für Muggel zugänglichen Plätzen magische Wettererscheinungen aufzurufen, als Schabernack. Das Zaubereiministerium sollte am Morgen eine anonyme Warnung bekommen, daß das getan werden sollte, falls der Minister nicht zehntausend Galleonen an die Gilde der Goldstaubsammler zahlte, des Barons einträglichste Geldbeschaffertruppe. Im Zweifelsfall würde der Baron selbst vorgeben, geldgierige Zauberer hätten das angeleiert. Lyra plante mit ihm durch, wie er sich und seine wichtigsten Kumpanen aus der Angelegenheit herauswinden konnte und übergab dem feist grinsenden Zauberer zwei Pergamente mit Blattgoldsiegeln.

"Nun, das werden wir sehen, wie gut ihr seid", dachte Anthelia, als sie durch Hardys Augen gesehen hatte, wie Lyra die Kaschemme verließ und wohl wieder zum Haus von Iphigenie Fowler zurückkehrte. Sie beendete die Exosenso-Verbindung und stahl sich unbemerkt vom Blutmondplatz fort, der am Abend nur spährlich ausgeleuchtet wurde. In sicherer Entfernung disapparierte sie.

So schnell es sich machen ließ erzählte sie Pandora und Patricia Straton von dem Vorhaben der Nachtfraktionärinnen. Dann zog sie sich in ihre Privatgemächer zurück, denn es war schon kurz nach zehn Uhr, und sie mußte ihren Schlafrhythmus einhalten.

Am nächsten Morgen gab es eine kurze Lagebesprechung mit den amerikanischen Spinnenschwestern. Anthelia hatte vor, den Einbruch ins Ministerium zu vereiteln und den Nachtfraktionärinnen eine schmerzhafte Niederlage zuzufügen. Ihr Ziel war, zu vermitteln, daß Lady Ursina in Amerika nichts zu schalten oder zu walten hatte. Hierzu beschloss sie drei dinge:

"Zum einen, liebe Schwestern, gilt es, den hiesig tätigen Mitgliedern der sogenannten Nachtfraktion zukommen zu lassen, daß Lady Ursina aus England meint, sich hier völlig scham- und sorglos betätigen zu können. Zum zweiten gilt es, die Bande des Barons von Neuengland der Lächerlichkeit preiszugeben, vielleicht einige Mitglieder in den Kerkern des Zaubereiministeriums verschwinden zu lassen. Drittens liegt euch ja wohl wie mir einiges daran, nicht ruchbar werden zu lassen, was den Tod unserer Mitschwestern Lobelia und Charity betrifft. Dazu kommt noch, daß ich den von ihr ausgedungenen Handlanger ihrem Zugriff entwinde. Das wird sie lehren, auf meinem Boden ihren Willen durchzusetzen."

"Das wird schon so gehen, wie du es uns vorgeschlagen hast, höchste Schwester", sagte Romina Hamton. Patricia Straton fügte hinzu:

"Ich kümmere mich um die Vereitelung der Randale in New York und anderswo, höchste Schwester."

"Ja, und ich sorge dafür, daß dieser Picklock nicht weit kommt", sagte eine Hexe namens Donata, die im Zaubereiministerium arbeitete. Anthelia nickte allen zu, und bald waren alle einberufenen Mitschwestern unterwegs, um den Gegenplan umzusetzen.

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Minister Pole zuckte die Achseln, als sein Untersekretär Barney Davenport am Morgen des 26. Aprils mit einem Pergamentblatt hereinkam. Auf dem Platt war ein goldenes Siegel, eine Hand über einer Schale.

"Unsere Freunde von der Goldstaubbande haben mal wieder was vor, Herr Minister. Offenbar haben die Geldsorgen."

"Ach, die wollen uns mal wieder erpressen", grinste der Minister. "Wieviele von denen haben wir beim letzten Mal erwischt, als sie drohten, die Muggelgoldreserven in diesem Fort Knox zu stehlen?"

"Zehn haben wir sofort und dreißig im Laufe von drei Tagen erwischt. Pech nur, daß sie offenbar gute Freunde im Untersuchungsgefängnis hatten. Deshalb konnten zwanzig wieder entkommen. Die anderen sitzen wohl noch in Dommcastle", sagte Davenport.

"Was drohen die uns hier an? Sandstürme, Schneestürme, Tornados und unverdrängbaren Nebel, letzteren in New York? Welche Wetterzauberer kennen wir im allgemeinen und Goldstaubsammler im Besonderen?" Fragte der Minister, der sich völlig sorglos gab.

"Hmm, muß ich das Archiv und die Strafverfolgung dransetzen, Sir", gab Davenport zurück.

"Dann tun Sie das! Hier steht, wenn wir bis heute Mittag keine zehntausend Galleonen in fünfzig kleinen Kisten im Südpark von Cludy Canyon deponieren, würden sie uns diese ganzen Wetter einbrocken und die Muggel mit der Nase draufstoßen, daß es uns gibt. Die wissen ja noch nicht einmal, wieviele Galleonen sie dafür verlangen könnten."

"Sieht mir nach einer Art Ruhegeldforderung aus. Sie wissen ja, daß Verbrecherorganisationen der Muggel ..."

"Die Mafia und ihre Derivate aus anderen Teilen der Muggelwelt sind mir durchaus geläufig, Davenport", schnitt Pole seinem Untersekretär das Wort ab, der abbittend zurückblickte und dann den erteilten Auftrag ausführte.

"Sie werden langsam frech, diese Goldstaubsucher. Ich denke, ich setze die Inobskuratoren ein, um diesen Fliegenschwarm einzufangen."

Einige Minuten später ließ sich Donata Archstone melden, eine unauffällig wirkende Hexe mit graubraunem Haar. Der Minister ließ sie eintreten. Die Hexe blickte zu ihm auf. Selbst im sitzen war der baumlange Zaubereiminister um einen ganzen Kopf größer als sie.

"Was möchten Sie, Madame Archstone?" Fragte er ruhig.

"Herr Minister, ich habe hier eine Mitteilung, daß sich einige der Meldezauber durch den Publikumsverkehr in den Wandelgängen und öffentlich zugänglichen Ämtern abgeschwächt haben. Es könnte passieren, daß uns unerwünschte Gäste im Schutz von Tarnumhängen oder Unsichtbarkeitszaubern heimsuchen können, sobald ein Meldezauber in einem belanglosen bereich ausgelöst wurde. Sie wissen, daß wir von der Haussicherheit schon oft Eingaben gemacht haben, wir sollten das Meldezaubersystem von Doomcastle nachempfinden."

"Was darauf hinausliefe, daß unser Ministerium, das als Bollwerk der amerikanischen Zaubererwelt gilt, für unsere magischen Mitbürger zur Festung oder zum Gefängnis wird, Madame Archstone", wandte der Minister ein. "Wir pflegen eine große Transparenz, zumindest in den für alle gültigen Bereichen. Reichen die Sicherheitstrolle an den Eingängen und die verborgenen Räume für geheime Unterlagen oder Gerätschaften nicht mehr aus?"

"Herr Minister, es geht erst um die Koordination der Spür- und Meldezauber, um unerwünschte Eindringlinge zu erfassen und möglichst rasch zu erwischen. Sie selbst sagten doch vor drei Monaten, daß wir uns auf die Zeit vorbereiten sollten, daß der Magier aus England, dieser - dieser - der Unnennbare, tatsächlich einmal wiederkommt und seinen Machthunger über die britischen Hoheitsgrenzen hinweg ausdehnt", wandte Donata Archstone ein.

"Nun, mein Amtskollege Fudge hat ja nun erklärt, die Gerüchte um diesen heimtückischen Magier seien doch eher eine gegen ihn gerichtete Propaganda von Professor Dumbledore. Das dieser seine Schutzbefohlenen zu unerlaubtem Fluchtraining angestiftet hat und sich der Verhaftung entzog, bestätige das, hat mir Minister Fudge vor kurzem noch per Übersee-Expresseule zukommen lassen. Ich stimme Ihnen jedoch zu, daß wir zumindest unsere Überwachung auf gutem Niveau halten sollten. Was schlagen Sie vor?"

"Mein Chef bittet darum, Sie zu fragen, ob wir heute für drei Stunden den Publikumsverkehr unterbinden, um die vorhandenen Spürzauber zu überprüfen. Hier ist seine schriftliche Bitte", sagte die Hexe und gab dem Zaubereiminister einen Pergamentumschlag. Pole nahm ihn mit einem Kopfnicken entgegen und las sich das Formular im Inneren des Umschlages gründlich durch, in dem alle Punkte behandelt wurden, die eine vorübergehende Abschottung des Ministeriums begründeten und rechtfertigten. Der Minister nickte einige Male, zog dann eine Adlerfeder aus einem goldenen Halter, tunkte sie in die türkisfarbene Zaubertinte ein, mit der ministerielle Anweisungen oder Genehmigungen ausgefertigt wurden und kreuzte die Punkte im Formular an. Er unterschrieb mit "Gelesen und Genehmigt" und schrieb seinen Namen, Jasper Lincoln Laurentius Pole in der üblichen schwungvoll geschnörkelten Handschrift darunter. Er wartete, bis die Tinte trocken genug war, griff dann einen der Glaszylinder, die in einem silbernen Ständer über seinem Schreibtisch hingen, steckte Pergamentzettel und Umschlag hinein, drehte den Schraubverschluß des Zylinders fest zu, öffnete eine unauffällige Klappe in der mattschwarzen Eichenholzvertäfelung rechts neben dem Schreibtisch und schob den Zylinder in das gerade groß genug eingebohrte Loch. Dann näherte er seine Lippen der Innenseite der Klappe und sprach: "Haussicherheit, Büro Spade!" Er schloß die Klappe. Ein lautes Zischen, und dann war Ruhe. Der Postzylinder war im ministerialen Rohrpostverteiler unterwegs und würde keine vier Sekunden Später mit lautem Fauchen und einem zweifachen Klopfgeräusch beim Empfänger ankommen.

"Warum haben Sie die Rohrpost bemüht, Sir?" Fragte die Hexe.

"Offizielle Dinge sollten den offiziellen Weg gehen, Madame Archstone. Natürlich hätte ich Sie selbst mit der Genehmigung des Antrags zurückschicken können. Aber meine Vorvorvorgängerin Greengrass hat vor achtzig Jahren mal zu sehr auf einen Boten vertraut, der nichts besseres zu tun hatte als ministerielle Schreiben zu kopieren und für viel Geld zu verkaufen, wer immer was damit anfangen wollte. Es muß nicht unbedingt jeder wissen, für wann die Spürzauberinspektion angesetzt ist", sagte der Minister. Donata Archstone nickte verstimmt aber doch verstehend. Sie fragte noch, ob sie was ausrichten sollte. Der Minister meinte:

"Da Sie von Ihrem Vorgesetzten selbst hergeschickt wurden geht er wohl davon aus, daß ich Sie mit einer Antwort oder Anweisung betrauen soll. Gut, teilen Sie ihren Mitarbeitern bitte mit, ich würde mich bei Beginn der zwischen Spade und mir vereinbarten Prüfung selbst in die zu kontrollierenden Bereiche begeben und ihm bei der Inspektion beobachtend zur Seite stehen!"

"Sehr wohl, Herr Minister", sagte Donata Archstone und verließ das Büro des obersten Zauberers der vereinigten Staaten.

Draußen vor der Tür grinste sie in sich hinein. Sicher, ihr Vorgesetzter hatte diesen Antrag auf Überprüfung eingereicht. Doch das hatte er nur getan, weil Donata ihm seit einigen Wochen mit dem Imperius-Fluch geheime Verhaltensrichtlinien eingepflanzt hatte und ihm heute Morgen in seinem Büro eine weitere Anweisung ins Hirn gesetzt hatte, die Sicherheitsmaßnahmen zu prüfen und dazu die Notfallalarm- und Sperrzauber zu aktivieren, die während des gewöhnlichen Publikumsverkehrs zu unnötigen Anspannungen geführt hätten. Sie selbst hatte dazu noch eine besondere Aufgabe. Sie wollte einen bestimmten Eindringling persönlich fassen, der an diesem Tag das Ministerium heimsuchen sollte.

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Sheila Morgan befand sich mit Dana Moore zusammen in der Nähe der großen unterirdischen Halle, in der die Kobolde der britischen Inseln ihre Machtzentrale besaßen. Sheila hatte Dana erzählt, daß ihre Kollegin Kyla Palmer heute noch hier herkommen und durch einen bereits einmal aufgerufenen Nebel der Verwirrung alle Wachkobolde außer Gefecht setzen wollte. Da Lyra Harper in den Staaten war, und ihre nun eigentliche Anführerin Anthelia festgestellt hatte, daß ein bestimmter Gegenstand nicht in ihrem Besitz war, mußte ihre Partnerin Kyla diesen haben. Daß sie heute hier eindringen wollte, lag wohl daran, daß Lady Ursina wollte, daß er heimlich wieder zurückgelegt wurde, um unnötiges Aufsehen zu vermeiden.

Es dauerte einen halben Tag, bis Kyla Palmer mit ihrem Harvey-Besen angeflogen kam. Sie war solange unsichtbar, bis sie abstieg. Da Dana sich in eine kleine Fliege verwandelt hatte, die unauffällig im Kelch einer Wiesenblume hockte, nahm die hochgewachsene Hexe mit der nachtschwarzen Lockenfrisur sie nicht wahr. Sie schlich sich mit einem bauchigen Kessel zu einem Baumstumpf, unter dem der Eingang zu den Hallen der Kobolde lag und kniete sich hin. Da traf sie ein rot-blau flackernder Lichtkegel voll von vorne. Der Kessel selbst erstrahlte in goldenem Glanz. Daneben schien sich in Kylas blauem Kleid eine goldene Sonne zu entzünden, so meinte es Dana zumindest. Zwar konnte sie mit ihren Facettenaugen nicht so gut in die Ferne blicken, doch sie erkannte, daß Kyla wohl einen sehr mächtigen Zaubergegenstand mithatte.

"Gib das her, Kyla!" Herrschte sie Sheila sehr bedrohlich an, als sie hinter einem Baum hervorsprang, den Zauberstab auf Kyla deutend. Diese sah ihre Mitschwester sehr ungläubig an. Diese Ablenkung nutzte Dana Moore, um aus dem Versteck zu fliegen, bis auf zwei Meter zu ihr hinzuschwirren und sich unbemerkt von ihr zurückzuverwandeln.

"Schwester Sheila? Was machst du denn hier?" Fragte Kyla Palmer irritiert.

"Das abholen, was du mitgebracht hast. Ihre Ladyschaft traut dir nicht. Sie will den Weihestein doch selbst behalten, hat sie mir vor einer Stunde zumentiloquiert", sagte Sheila.

"Wundert mich, denn vor einer Viertelstunde habe ich von ihr persönlich noch zu hören bekommen, den Stein möglichst heute zurückzubringen, da die Kobolde in den nächsten Tagen sehr argwöhnisch sein werden", erwiderte Kyla nun etwas gefaßter.

"Dann hat sie dich in Sicherheit wiegen wollen. Denn sie traut dir nicht", sagte Sheila.

"Mädchen, was willst du mit dem Stein?" Fragte Kyla und griff nach ihrem Zauberstab. Sheila war zwar auf einen gewissen Widerstand gefaßt, aber nicht auf einen Fluch: "Stupor!" Rief Kyla, als sie den Stab in der Hand hielt.

"Enervate!" Rief Sheila, wobei sie den Zauberstab auf sich selbst richtete. Doch der rot-blaue Lichtschein kam noch aus diesem Stab, der schlagartig in einer Wolke roter Funken zersprühte, während der Zauberstab Feuer fing. Gleichzeitig traf sie der rote Schockblitz Kylas in den Bauch. Der Brennende Stab entfiel Sheilas schlaffer Hand, als sie der Länge nach auf den feuchten Waldboden hinschlug.

Kyla lachte. "Du hättest erst den Zauberfinder beenden sollen, Mädchen. Mir den Stein wegnehmen wollen."

"Dana Moore pfiff kurz. Mit ausgestrecktem Zauberstab wirbelte Kyla herum. Dana hatte ihren eigenen Zauberstab schon in der Hand und rief: "Expelliarmus!" Sofort flog Kylas Zauberstab von einem scharlachroten Lichtblitz aus der Hand geprällt davon.

"Verdammt, ihr beiden habt mich in einen Hinterhalt gelockt. Was wird das, Dana?!" Rief Kyla sehr erboßt.

"Das Lady Ursina den Stein wiederhaben will", sagte Dana Moore.

"Das glaubt ihr doch selbst nicht!" Rief Kyla und warf sich auf ihren Zauberstab. Dana setzte nach, wollte ihr den Stab entreißen, als ein Tritt Kylas sie am Bein traf und aus dem Gleichgewicht brachte. Dana konnte den Fall in eine Rolle verwandeln, wobei sie den Zauberstab fallen lassen mußte. Kyla hatte ihren eigenen Stab in der Hand und wirbelte herum.

"So, Dana, liebe Schwester! Sag mir sofort, was das ganze hier soll, bevor die Kobolde aufmerksam werden und dich einfangen!"

"Den Stein brauchen wir zurück", sagte Dana, die den drohend auf sie deutenden Zauberstab fixierte.

"Wer ist wir?" Wollte Kyla wissen. Dana spürte, daß sie diese Frage nicht beantworten durfte. Tat sie dies, so würde sie unverzüglich in einer magischen Zerstörungskraft verglühen.

"Die Lady Ursina", log Dana.

"Lüge!" Spie Kyla ihr entgegen. "Ihre Ladyschaft hat mich selbst vor einer Viertelstunde angewiesen, den Stein zurückzulegen. Also, warum wollt ihr den haben?"

"Vergiss es!" Rief Dana, die fühlte, wie die Bedrohung sie versuchte, zu antworten und die Angst vor der Folge des Verrats ihren Hals umklammerte.

"Dann werde ich es wohl aus dir rausholen müssen. Crucio!"

Dana hatte nicht vor, auf einen Fluch zu warten. Während Kyla noch gesprochen hatte, hatte sie ihre inneren Kräfte geweckt, die ihr erlaubten, sich ohne Zauberstab in die kleine Fliege zu verwandeln. Als das Zauberwort erklang, hatte sie bereits ihre Gestalt verändert und war wie davonkatapultiert an Kyla vorbeigesurrt.

"Verflucht!" Rief Kyla, als ihr Cruciatus-Fluch mit lautem Krach einen Krater in den Waldboden schlug. Dann wirbelte sie herum, suchte die kleine Fliege. Doch diese konnte sich nun überall in den Blättern der Bäume oder den Blütenkelchen verstecken. Nirgendwo sah Kyla das Insekt, in das Dana sich verwandelt hatte. Sie hechtete auf Danas am Boden liegenden Zauberstab zu und wollte ihn aufheben. Da traf sie ein schwerer Körper von oben und drückte sie mit Wucht zu Boden. Zwei Frauenhände fanden den Hals der Nachtfraktionsschwester und drückten ihr die Blutzufuhr ab. Kyla strampelte noch einige Sekunden, dann senkte sich erst ein roter und dann ein schwarzer Vorhang vor ihre Augen. Dana ließ die bewußtlos gewürgte Hexe los, zog ihren Zauberstab unter ihr fort und drehte sie rasch um. Irgendwo schien eine Sirene zu heulen.

"Verdammt, die Zaubermelder der Kobolde", fiel es Dana ein, was Lyra ihr über diesen Ort erzählt hatte. Kobolde hatten Meldezauber für jede Form der Magie um den oberirdischen Bereich ihrer Halle gelegt. Daß dieser Schutz jetzt erst wirkte, wunderte Dana. Doch sie arbeitete rasch. Sie durchsuchte Kyla nach einem Gegenstand, den sie in einer Innentasche des Kleides fand, ein Futteral mit einem zwei Zoll durchmessenden, eiförmigen Kieselstein. Sie hörte bereits ein Scharren. Die Kobolde konnten nicht wie üblich aus der Erde auftauchen. Sie mußten den Baumstumpf drehen, um eine Luke zu öffnen, wußte Dana von einer Informationsstunde von Lyra Harper. Sie hatte wohl nur noch eine halbe Minute Zeit. Sie nahm den Stein, weckte mit dem Enervate-Zauber Sheila und steckte den Stein in ihr Mieder.

"Was ist mit Kyla. Ist sie tot?" Fragte Sheila besorgt.

"Noch nicht", sagte Dana kalt.

"Dana, das muß nicht sein. Wir werden ihr Gedächtnis ..."

"Keine Zeit mehr", zischte Dana. "Avada Kedavra!" Rief sie mit auf Kyla zeigendem Zauberstab. Laut sirrend und gleißend grün flog der tödliche Fluch zu Kyla Palmer hinüber und traf sie am rechten Oberschenkel. Wo immer er traf, er wirkte in jedem Fall unabwendbar und endgültig, wußte Dana. Unvermittelt wimmerte es von unten wie ein Schwarm ängstlicher Eulen.

"Jetzt sind alle Zauber aktiv", sagte Dana. "Komm, Sheila!"

Sheila Morgan starrte auf Kylas Körper. Sie konnte nicht fassen, daß Dana eine ihrer Mitschwestern so einfach getötet hatte.

"Sheila!" Rief Dana. Doch Sheila stand apathisch auf Kyla starrend da. Da flog der Baumstumpf bei Seite. Dana entschied, den Auftrag der Kameradschaft vorzuziehen und disapparierte. Sheila Morgan erkannte die aus der Luke quellenden Kobolde in blutroten Uniformen mit Kupferverzierungen. Das löste sie aus ihrer Starre. Doch als sie selbst disapparieren wollte, traf sie etwas wie ein Erdklumpen im Gesicht, zerfloss zu einer halbflüssigen Masse, die ihren Körper umhüllte, vollständig einschloss und sich in einer Sekunde zu einer unnachgiebigen Haut aus Ton verfestigte.

"Bringt sie runter zum Befrager", sagte der Führer des Alarmtrupps der Sharadak in der für die meisten Menschenohren unerkennbaren Sprache der Kobolde. Vier Untertruppler der Sharadak, der Koboldsicherheitstruppen ergriffen die in den magischen Ton eingebackene Hexe. Jeder ohne Stab zu vollbringende Zauber wurde vom Schlamm der Schwächung sofort abgefangen, so auch jeder Versuch, sich durch Disapparieren abzusetzen. Sheila Morgan konnte keinen Finger rühren, während sie in die Tiefe herabgelassen wurde. in einem vergitterten Wagen, der wie ein Käfig auf Eisenbahnschienen wirkte, sausten zwei Kobolde mit ihr tief hinunter in die heiligen Hallen.

Befrager Crackneck erfuhr von dem Auslöser des Böser-Zauber-Alarms, nachdem es bereits mehrere geringere Meldungen über in der Nähe der Herrscherhallen gewirkten Magie gab. Als dann seine Truppen eine Hexe im Schlammmantel der Schwächung anbrachten grinste er feist. Konnte es sein, daß dieser Fudge es wieder probierte, einen Boten zu schicken, der ihnen nahelegte, die Zauberer wieder stärker an Gringotts zu beteiligen. Crackneck hatte Anweisungen vom obersten Rat der Kobolde und von Dork, seinem obersten Vorgesetzten, keine Hexen und Zauberer unbewacht in den Hallen herumlaufen zu lassen. Mit diesem Mockridge unterhielten sie sich in den Besprechungsräumen von Gringotts oder dem Eberkopf in Hogsmeade im Hinterzimmer. Doch hier hatte kein Zauberer und erst recht keine Hexe herumzulaufen. Kobolde waren überzeugte Patriarchen, die einem Mann alles und einer Frau gerade die Luft zum Atmen, etwas zu essen und die Wohnhöhle zugestanden.

"Hexe, wer bist du und was willst du hier?" Fragte Crackneck bösartig klingend in der Sprache der großen Leute.

"Ich wollte euch was wiedergeben, was ihr vermißt", quängelte es hohl aus dem inneren der harten Umhüllung, die gerade mal Luft hindurchließ.

"Wer bist du?" Wiederholte Crackneck.

"Sheila Morgan", kam die Antwort von der Gefangenen. "Lass mich hier raus! Dann sage ich dir alles."

"Zum einen sprichst du mich hier in unserem Reich nicht so herablassend an! Ich bin Barak Crackneck, für dich Herr Oberbefrager Barak Crackneck, Hexenweib. Zum anderen Verstehe ich dich auch so ganz gut. Also erzähl schon!"

"Nein", kam Sheilas trotzige Antwort.

"Schön, wäre ja auch zu langweilig gewesen", knurrte Crackneck in seiner Muttersprache und griff in seine Uniform. Er zog einen silbrigen Handschuh heraus, den er sich über die rechte Hand streifte. Sofort fing der Stoff des Handschuhs blau zu leuchten an.

"Willst du mir wirklich nicht erzählen, was ich wissen möchte?" Fragte Crackneck. Sheila rief nur, daß sie erst freigelassen werden wolle. Der Kobold streckte die Hand im Handschuh durch die Gitterstäbe des Wagens und berührte die kreideweiß glitzernde Tonschicht um Sheilas Körper. Schlagartig glühte es grellrot an der berührten Stelle. Ein lauter Schmerzensschrei hallte klirrend von den Steinwänden der kleinen Verhörhöhle wider.

"Na, immer noch stur, Hexenweib?" Lachte Crackneck in bösartiger Verzückung. Er nahm die behandschuhte Rechte zurück. Auf der magischen Umhüllung war ein langsam dunkel werdender Handabdruck zu sehen.

"Du sadistischer Gnom!" Kreischte Sheila. "Du wirst von mir nichts hören, bevor du mich aus diesem Zeug rausgelassen hast!"

"Runde zwei", kicherte der Kobold und drückte der Hexe den Handschuh an einer anderen Stelle auf den Körper. Wieder glühte es rot auf, wieder schrie Sheila vor rasenden Schmerzen. Die im Raum stehenden Sharadaktrupppler hielten sich die Ohren zu.

"Soll ich dich damit mal ganz lieb streicheln, Hexenweib?" Fragte der Befrager scheinheilig. Er wußte, was diese Hexe fühlte, wenn er sie mit dem Handschuh berührte. Ein Schmerz wie von zehn Brandeisen und eine Folge durch den Körper rasender Stöße traf jeden, der mit einem solchen Handschuh angefaßt wurde. Natürlich wußten die großen Leute davon nichts und würden das auch nicht mitkriegen. Denn dann würden die ihren bösen Zauber benutzen, der noch schlimmer als der Handschuh der harten Pein war.

"Nein, nein!" Rief Sheila unter Tränen. Der Kobold konnte sich vorstellen, daß sie in der magischen Umhüllung in Schweiß und Tränen schwimmen mußte. Diese Vorstellung zeichnete ein bösartiges Grinsen in sein Gesicht.

"Ich höre", erwiderte Crackneck. Doch dann klingelte etwas über ihm. Eine blecherne Stimme rief in seiner Sprache:

"Warnung, böser Zauber! Warnung, Böser Zauber in Bereitschaft!"

"Befragung abbrechen!" Rief Crackneck. Nun war er es, der sich unwohl fühlte. Denn diese Warnung des Wachhorns war unmißverständlich. Diese Hexe durchdrang ein böser Zauber, der ausbrach, wenn sie in Gefahr geriet oder was tat, was sie nicht tun sollte. Er hatte Geschichten davon gehört, daß echt böse Zauberer ihre Handlanger damit auffüllten, um sie am Verrat zu hindern.

"Wir lassen dich frei!" Rief der Befrager zitternd. Denn er dachte an eine Feuerkugel, die explodieren und selbst vom Schlamm der Schwächung nicht zurückgehalten würde. In einigen der von seinem Lehrmeister erzählten Geschichten passierte nämlich genau sowas, wenn ein Zauberer gegen etwas handelte, was sein Herr und Meister ihm aufgetragen hatte. Die Warnglocke und das blechernde Getön der Warnstimme ebbten ab. Crackneck beruhigte sich wieder.

"Bringt sie raus hier. Das ist mir das nicht wert, was sie weiß", herrschte er in der Koboldsprache seine Leute an. Die fackelten nicht lange und brachten den Gitterwagen dazu, mit überhöhtem Tempo nach oben zurückzufahren.

"Was immer das sollte, wir haben Ärger", sprach der Befrager in das Ende einer Tonröhre, die den Befragungsraum mit dem Kämmerchen seines Vorgesetzten verband. Dorks Stimme erwiderte:

"Dann stimmt es doch, daß böse Zauberer und Hexen uns wieder bedrohen. Dieser Fudge irrt sich. Der böse Zauberlord ist wieder da. Wir müssen die Sicherheit unserer Hallen schützen. Ich spreche sofort mit dem Rat."

Sheila Morgan wurde aus den Hallen der Kobolde hinausgeschafft, und einige hundert Meter von dem Baumstumpf entfernt auf den Boden geworfen. Einer der Sharadaktruppler berührte mit einem spitzen Stein die magische Umhüllung, die sich wie eine Bananenschale abpellte, ganz von allein und wieder zu einer schlammigen Kugel wurde. Die Kobolde eilten zurück zu der Luke unter dem Baumstumpf und verschwanden darin. Sheila stand nun wortwörtlich allein im Wald. Sie dachte an die Schmerzen, die ihr die Kobolde bereitet hatten. Dann erkannte sie, daß die kleinen Zauberwesen wohl gerade so noch erkannt hatten, in welcher Gefahr sie schwebten. Denn sie war bereit gewesen, sich und Anthelia zu verraten, lieber ihr Leben zu opfern. Sie lief zurück zu Kylas Körper, der immer noch frei dalag. Sie klaubte den Zauberstab der getöteten Mitschwester auf.

"Hallo, Sheila!" Schnarrte eine wütende, allzu vertraute Stimme. "Lass den Stab wieder fallen, sofort!" Kam ein scharfer Befehl. Sheila gehorchte. Sie wußte, daß Lady Ursina sehr unerbittlich sein konnte. Die Führerin der Nachtfraktion und vier Mitschwestern umzingelten sie, fesselten sie mit magischen Stricken und disapparierten mit ihr und der Leiche.

Einige Minuten später, in einem Verlies von Underwood Mansion, fragte die Hexenlady Sheila aus, was zwischen ihr und Kyla gelaufen war, warum sie eigentlich in der Nähe der Koboldstadt war.

"Mylady, dies darf ich euch nicht sagen", wimmerte Sheila. "Zwingt mich nicht dazu! Es würde ... Ich darf nichts sagen."

"Sagt wer?" Fragte Lady Ursina.

"Ich darf nicht", sagte Sheila.

"Du bist die Schwester meines Ordens und mir unterstellt, Sheila Morgan. Du wirst mir jetzt sofort sagen, was ich wissen will. Oder muß ich wirklich andere Mittel bemühen?" Fragte Lady Ursina gefährlich.

"Das wird euch nichts nützen", sagte Sheila zitternd. Ursina spürte, daß die Mitschwester Todesangst hatte, nicht vor ihr. Das war das merkwürdige daran. Sie sah Sheila in die Augen und wendete den Legillimens-Zauber an. Sie konnte die Erinnerungen der letzten Stunde herauslesen. Doch da war irgendwas, das sich ihr sofort entwand wie ein flüchtiger Schatten. Sie konnte nur mitbekommen, daß Kyla Palmer in einem Moment vor ihr stand und im nächsten tot vor ihr lag, wie sie von den Kobolden gefangengenommen und verhört wurde und sah auch den goldenen Widerschein des Weihesteins von Picklock im Licht des Zauberfinders wiederscheinen. Doch was war da noch? Sie fühlte plötzlich eine Mauer aufkommen, erst wie Nebel, dann unvermittelt massiv wie meterdicker Granit. Ihr Tasten und Schöpfen wurde jäh zurückgeprällt.

"Divitiae Mentis", dachte Lady Ursina. Jemand hatte Sheila mit einem mächtigen Zauber zum Verbergen von Geheimnissen versehen. Sie wußte, daß sie das nicht getan hatte. Also mußte wahrhaftig jemand anderes ihre Mitschwester auf seine oder ihre Seite gezogen haben. Sie stieß noch einmal in die tieferen Schichten von Sheilas Geist vor und rannte in eine Bilder- und Geräuschflut, die ihr den Verstand zu nehmen drohte. Sie brach ihr mentales Verhör ab und fragte erneut:

"Wer hat dich gegen Kyla geschickt. Ich hab's gesehen, daß sie erst gelebt hat und jetzt tot ist. Du hast sie getötet. Wieso?"

"Ich darf es nicht sagen!" Rief Sheila.

"Dann müssen wir doch die harten Mittel benutzen", knurrte Lady Ursina. Sie wollte gerade den Cruciatus-Fluch anbringen, da tauchte Dana Moore im Kellerverlies auf.

"Mylady, Schwester Lyra ist schon zurück. Sie sagt, es sei wichtig."

"Wo kommst du gerade her, Schwester Dana?" Fragte Lady Ursina.

"Ich komme aus London. Schwester Lyra apparierte im Ministerium und kam sofort zu mir."

"Gut, ich komme. Schwester Radona, führe das Verhör fort! Irgendwer hat unsere Mitschwester gegen uns ausgerichtet. Ich will wissen, wer das war!"

"Wie ihr befehlt, Mylady", sagte die blonde Hexe mit stechendem Blick, die Lady Ursina zur Seite stand, da sie viele Verhörmethoden kannte, die fast ohne Zauberei auskamen. Lady Ursina verließ mit Dana Moore den Kellerraum. Die schwere Stahltür schloß sich laut und erbarmungslos. Das Verlies war ein dauerhafter Klankerker, gemacht für geheime Besprechungen und peinliche Befragungen, von denen niemand etwas mitbekommen sollte. Über die Steintreppen, durch die unscheinbare Kiefernholztür verließen die beiden Nachtfraktionärinnen den Keller und begaben sich in den Salon, wo eine sichtlich verängstigte lyra Harper auf einem der Holzstühle ohne Kissen hockte. Dies taten solche Schwestern, die einen Fehler eingestehen mußten.

"Was ist geschehen, Schwester Lyra?" Fragte Lady Ursina. Sie stellte sich vor, daß in diesem Moment Sheila Morgan unter dem Cruciatus-Fluch schrie und wimmerte. Doch es war mucksmäuschenstill.

"Vieles. Vor allem, Picklock ist uns abhandengekommen, Mylady Ursina", stieß Lyra hastig hervor, als fürchte sie, jedes verzögerte Wort würde ihr im Hals steckenbleiben.

"Bitte was?!" Rief Lady Ursina. So begann Lyra zu erzählen.

__________

Picklock war alles andere als begeistert. Doch der Befehl, verbunden mit seinen erdgebundenen Namen, war unabwendbar. Er schlich, eingehüllt in seiner Unsichtbarkeit durch dieses quirlige, nach verbranntem Gummi und merkwürdigem Qualm stinkende Washington. Diese Horlnucks von Hexen hatten ihm verboten, den schnellen Weg durch das Erdreich zu nehmen, weil die Kobolde hier bessere Erdreichbenutzungsmelder kannten als die in England. Das konnte er sich zwar nicht so vorstellen. Aber der Befehl wog schwer und mußte ausgeführt werden.

"viele Neddelwocks", dachte der Kobold, als er sich zwischen den Menschen auf den Gehsteigen hindurchwurstelte. Zwischendurch kribbelte es ihm in den Fingern oder unter dem dunklen Haarschopf, sich eine der goldenen Uhren oder einladend prallen Brieftaschen zu holen. Doch die Befehle dieser Iphigenie waren ihm ins Hirn eingebrannt. Er sollte ins Ministerium, durch die gelernten Gänge und Räume, um das Archiv zu plündern. Unterwegs sollte er nicht in die Erde einsinken oder anderen Leuten etwas wegnehmen. So mußte er auf seinen Spaß verzichten.

Endlich war er aus der Stadt heraus, hinauf auf dem Berg, in dem das nordamerikanische Zaubereiministerium lag und benutzte die Durchlässigkeit der Erde, um in die äußeren Gänge einzudringen. Diese Lyra und Iphigenie hatten ihm gesagt, wo er auf verdächtige Bodenplatten achten mußte, die mit Meldezaubern behaftet waren oder wie nahe er einer Wand kommen durfte, um nicht einen anderen Spürzauber auszulösen. So schlängelte, schlich, hopste und hüpfte er durch die Gänge, paßte auf, wenn ein Gang sich einfach anderswo hindrehte und fand durch das bewegliche Labyrinth der Korridore in die Ankunftshalle, in der Dutzende von Kaminen mal orangerot, mal smaragdgrün brannten. Im Moment war niemand hier, der oder die hier arbeitete. Antragssteller, Hexen und Zauberer, die sich beschweren oder nach etwas erkundigen wollten, tauchten aus den Kaminen auf oder verschwanden in grünen Feuerwänden darin. Keiner kam einfach aus der dünnen Luft oder krachte laut ins Nichts. Da ertönte eine kühle weibliche Stimme, die aus den Wänden und der Decke zu kommen schien:

"Sehr geehrte Besucher des Zaubereiministeriums! Auf Grund einer ministeriellen Anweisung möchten wir Sie bitten, die Räumlichkeiten des Zaubereiministeriums für eine Zeit von drei Stunden zu verlassen. Danke!"

Die Nachricht wurde dreimal wiederholt. Murrend kehrten Hexen und Zauberer um, die gerade angekommen waren oder verschwanden ploppend und knallend im Nichts.

"Oh, das Ablenkungsmanöver geht schon los", dachte Picklock bei sich. Er schaffte es gerade noch, in einen der Aufzüge einzusteigen, die nach oben fuhren, stockwerk für Stockwerk, bis er auf der Etage ankam, wo die Dokumentenräume zu finden waren. Er sah einige amtlich dreinschauende Zauberer und zwei gestresst wirkende Hexen, wie sie ihre Kundschaft aus den Büros schickten. Er überlegte, ob er sich an eine Wand lehnen konnte. Doch das mochte einen Spürzauber auslösen. So schlüpfte er rasch zwischen den davongehenden Hexen und Zauberern hindurch und peilte eine kleine Tür an, hinter der der für die Öffentlichkeit unzugängliche Trakt mit den Archiven lag. Er wußte, daß er nur alle zwei Minuten durch die Tür in den richtigen Gang eintreten konnte, So lauschte er mit geschlossenen Augen an der Tür und hörte wie eine Fledermaus, wie sich ein großer sternförmiger Raum leise knirschend drehte, bis es für Menschenohren unhörbar klickte und tickte. Jetzt konnte er rein. Er öffnete die Tür und trat in den grünen Gang dahinter ein. Hier hieß es jetzt noch mehr aufpassen, weil es hier Spürzauber gab, die wie Schnüre in unterschiedlichen Höhen über dem Boden verliefen. Er nahm ein Ding, das wie ein vergrößerungsglas aussah aus seiner Tasche. Es war ein Zauberfinderglas. In ihm war die Kraft konzentriert, die Zauberer als rot-blaues Licht aus ihren Stäben schickten wenn sie sehen wollten, ob etwas vor ihnen bezaubert war. Er hielt das Stück Zauberglas vor seine Augen und schlich weiter. Durch goldene Lichtpunkte oder Querbalken zeigte ihm das Aufspürglas, wo er einem Spürzauber ausweichen mußte und wo er unbedenklich weiterschleichen konnte. Die Tür zum Archivraum glänzte durch das Zauberfinderglas leicht golden. Also lag auch auf ihr ein Zauber. Doch genau hier hinein mußte er. Hier wurden die Lebensläufe auf fragwürdige Arten verstorbener Hexen und Zauberer aufbewahrt. Er berührte die Türklinke. Sie war kalt wie Metall eben war. Er drückte sie langsam hinunter und schloß die Augen. Er hörte nichts hinter der Tür. Sie war jedoch zu, und zwar so zu, das sie keinen Millimeter nachgab.

"Zwölf innere Riegel, versperrt durch sechs Schlösser", hatte Iphigenie ihm erklärt und dann nur gestaunt, mit welchem Geschick der Kobold innerhalb von fünf Minuten sechs vergleichbare Übungsschlösser mit seinen bezauberten Dietrichen aufbekommen hatte. Er holte aus seiner rauminhaltsvergrößerten Umhängetasche ein Dietrichetui, entnahm ihm einige schlanke Türöffnungsinstrumente und betrachtete die Schlösser. Es waren keine mechanischen Fallen eingebaut worden. Wenn dann würde Magie ihn abzuwehren versuchen. Er hantierte am ersten Schloß und bekam es auf. Leise schnarrend sprangen zwei der zwölf Sperren zurück. Das zweite Schloß tat sich da schon schwerer, weil es ein Eigenleben besaß und den in es eindringenden Dietrich herausdrückte oder festzuklemmen versuchte. Picklock wußte, daß ihm das zum Verhängnis werden konnte, wenn an dem Schloß ein unhörbarer Alarmzauber dranhing. Er sah noch einmal durch das Glas und erkannte ein Pulsieren im Schloß. Zwischen dem Pulsieren schaffte er es, den richtigen Dietrich hineinzustecken und gekonnt zu bewegen. Dann klickte es, und das Schloß war entsperrt. Er sah, wie das Licht in ihm langsam heller wurde und hantierte schnell an den nächsten vier Schlössern, die nicht magisch behandelt waren. Doch als er die Tür endlich entsperrt hatte, sprang das bezauberte Schloß wieder zu.

"Horlnuck!" Zischte Picklock so leise wie möglich. Das Schloß war ein Wiederschließer. Offenbar konnte nur der auf es geprägte Schlüssel lange genug öffnen. Er fummelte an dem Schloß herum, bis der Dietrich funkensprühend zerbrach.

"Horlnuck!" Entschlüpfte es ihm nun ungeniert laut. Gleichzeitig erkannte er, was ihm da zum Verhängnis geworden war. Er hatte in einer Überhast einen Dietrich benutzt, der sich nicht von selbst anderen Schlössern anschmiegen konnte, sondern mehr Kraft auf den Mechanismus übertrug. Doch Picklocks Erkenntnis kam zu spät.

"Achtung! Einbruchsversuch in Zimmer null null sieben!!" Plärrte jene weibliche Stimme, diesmal jedoch nicht kühl und distanziert, sondern aufgeregt.

"Jetzt muß ich mit Gewalt rein", dachte der Kobold, trat neben die Tür an die Wand und legte seine rechte Hand so auf, daß sein Mittelfinger über dem Zeigefinger gekreuzt war. Die Wand ruckelte, schwang wie eine zweiflügelige Klapptür nach innen und ließ den Kobold eintreten. Als er im Raum war, tanzten dutzende von goldenen Lichtern vor ihm, als er durch das Zauberfinderglas guckte. Doch das eigentlich verhängnisvolle waren die schlagartig im Boden versinkenden Schränke und Kommoden, die nahtlos im Boden verschwanden. Der Kobold spürte das Prickeln geschmiedeten Eisens unter seinen Füßen. Schwere Platten waren unter dem Raum verborgen. Er sah sich um. Doch innerhalb einer Sekunde waren sämtliche Möbel versenkt worden. Um ihn herum lag eine völlig leere Halle.

"Ich muß wieder zurück", dachte der Kobold verärgert. Denn sein Plan, ins Archiv einzudringen war nun endgültig gescheitert. Er hieb die rechte Hand gegen die Wand. Doch da knallte es und warf ihn wie mit der flachen Hand eines Riesens geschupst zurück in den Raum. Daß er genau in eines der herumflitzenden Lichter hineinstolperte bekam der diebische Kobold erst mit, als sein Zauberfinder in der Hand kurz aufblitzte.

"Eine Falle!" Knurrte der Kobold in seiner Heimatsprache. Da flog auch schon die Tür auf.

"Wer immer da ist, sichtbar werden und stehen bleiben!" Rief eine sehr entschlossene Männerstimme. Vier Zauberer standen mit gezückten Zauberstäben in der Türöffnung. Doch Picklock hatte keine Lust, sich von denen hier fangen zu lassen. Er duckte sich und spurtete los, genau zwischen den Beinen des größten der Zauberer hindurch, wobei er ihn unangenehm den Kopf in den Unterleib rammte. ER durchbrach das Spalier der Sicherheitszauberer und wetzte los. Daß er gerade wieder einen Aufspürzauber kitzelte, hörte er sofort, als ein lautes Glockengeläut einsetzte und die allgegenwärtige Frauenstimme "Eindringling in Dokumententrakt!" Rief.

"Ich bin doch ein Racklunk", dachte der Kobold auf sich selbst wütend. Racklunke waren die Staubkörner unter einem Schuh und die heftigste Kritik an der Intelligenz.

"Discuvobscuro!" Rief jemand hinter ihm. Er schnellte zur seite, bevor ihn der Zauber treffen konnte. Das wäre ja noch das oberdümmste, wenn er, gerade so noch unsichtbar geblieben, von irgendeinem Zauber getroffen wurde. Er rannte weiter, bis er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. Ein im Boden eingearbeiteter Schwebezauber hatte ihn erwischt. Jetzt hing er in der Luft. Er, ein Erdwesen, hatte nicht zu fliegen! Das war fies! Er mußte sich wieder entschweben. Er rief den Namen der Mutter Erde in seiner Heimatsprache. Das wirkte. Er wurde auf den Boden zurückgezogen und rannte weiter. Als er vor und hinter sich fremde Zauberer hörte und sah, machte er schnell den Bodeneinsinkzauber und verschwand durch den soliden Marmor, rutschte durch die darunterliegende Decke und fiel in den Raum unter ihm, wo er schnell den Fallbremszauber wirkte. Doch dabei verlor er seine Unsichtbarkeit. Sofort schrillten weitere Warnungen los, daß ein unbefugter Kobold im Gebäude war. Was hatte Lyra gesagt? "Die Meldezauber sind nicht so dicht gestaffelt." Doch für Picklock war es dicht genug. Jetzt brauchte er auch nicht mehr darauf zu achten, ob er einem Spürzauber ausweichen konnte oder nicht. Er ließ sich erneut durch den Boden sinken und in den darunterliegenden Raum fallen. Es krachte um ihn herum. Die Zauberer kamen einfach aus dem Nichts. Das war ja richtig unfair!

"Bleib doch endlich stehen, Kobold!" Rief einer. Doch Picklock blieb nicht stehen. Er versank wieder im Boden, wartete jedoch nicht, bis er unten auf dem Boden ankam, sondern hielt sich unhaltbar für die Steinböden, bis er mit lautem Pong auf einer Eisenplatte aufschlug, ungefähr vier Stockwerke weiter unten. Der Aufprall schüttelte ihn heftig durch. Dann erkannte er, daß er endgültig in der Falle saß. Denn sofort wuchsen um ihn herum Wände aus Kunststoff auf. Plastik? Was fiel den Zauberern ein, dieses Neddelwockzeug zu benutzen und nicht das eigene Zauberplastik aus magisch verknüpften Pflanzenfasern?

"Da habe ich dich endlich, Picklock! Nett das du deine Koboldtricks benutzt hast, um meinen Erdelementarattraktor einzusetzen", lachte eine Hexe. Jetzt merkte Picklock auch, daß er nicht senkrecht durch die verschiedenen Böden geflutscht war, sondern in einem bestimmten Winkel weiter abgelenkt worden war. Denn sein angeborener Erdstandortssin verriet ihm jetzt erst, daß er mindestens fünfzehn Meter nordöstlich umgelenkt worden war. Er versuchte, über die Plastikwand hinwegzuspringen, genau in einen aufgehaltenen Plastiksack, wieder einen dieser großen blauen Säcke, in denen die Neddelwocks ihren Abfall vor die Tür warfen.

"Horlnuck!" Fluchte er, als er wie schon einmal in starke Schnüre eingeschlungen wurde.

"Angenehm. Archstone!" Lachte die Hexe, die ihn in den Müllsack eingeschnürt hatte. Dann hörte er wie die Plastikwände wieder versanken. Er fühlte einen eisernen Griff im Genick und dort, wo er selten genug drauf saß. Seine Hose wurde so stramm gezogen, daß er schon um seine zukünftigen Nachkommen bangte.

"Schön, daß du uns nicht hast warten lassen", lachte die Hexe. Dann stürzte eine Flut von wahnsinnigen Eindrücken auf ihn ein. Er meinte schon, verrückt zu werden, als dieser Sturm von Farben, Geräuschen, Lageänderungen und Gerüchen verstummte.

"ah, wie ich erspähe hast du jenen koboldischen Unrat ergattern können", sagte eine andere Hexenstimme.

"Gerade soeben noch, weil die gerade die Apparitionsmauern hochziehen wollten, als klar wurde, daß wir es mit einem Kobold zu tun haben. Ich muß sofort wieder weg", sagte die Hexe, die ihn gefangen hatte und verschwand wohl mit diesem lästigen Knall.

"Schwester Patricia und Schwester Borelia, lagert diesen diebischen Wicht wie besprochen ein, damit ich mich mit ihm befasse, wenn ich seiner Unterwerfung sicher sein kann."

"Wie du befiehlst, höchste Schwester", sagten zwei andere Hexen. Picklock schrie wie wild. Er hörte Schritte eines kleinen Wesens eine Treppe herabrennen und eine weibliche Kinderstimme rufen: "Was ist da unten?"

"Wir haben nur einen kriminellen Kobold gefangen, Dido", sagte eine der beiden Hexen belustigt. "Die höchste Schwester will von dem wissen, was er so tut und soll."

"Einen Gangsterkobold? Kann ich den sehen, Schwester Patricia? Bitte!" Flehte das junge Mädchen.

"Wenn die höchste Schwester dir das erlaubt. Sonst nicht", sagte die Hexe, die mit "Schwester Patricia" angesprochen worden war. Dann fühlte Picklock, wie er an einem Haken festgemacht wurde, ein Loch vor seinem Mund in die Plastikfolie geschnitten wurde und ihm ein luftdurchlässiger Knebel kunstgerecht zwischen die Zähne geschoben wurde.

Er schmeckte Feuerwhiskeytropfen. Er erinnerte sich, daß dieser Schnaps auf Kobolde sehr heftig betäubend wirkte. Leprechans konnten saufen wie Zwerge, ohne sich um ihre Besinnung zu trinken. Doch Feuerwhiskey war für Kobolde ein pures Narkosemittel. So brauchte es nur die wenigen Tropfen in dem Knebel, um Picklock von einem Moment zum nächsten außer Gefecht zu setzen.

__________

Cecil Wellington arbeitete an seinem Computer. Er wollte für die Schule einen Bericht über Washington D.C. zusammenstellen, weil er im Mai dort hinfahren würde, einschließlich einem Besuch im weißen Haus und dem Kongress. Er war gerade dabei, die Statistik der Bevölkerungsentwicklung aus dem Internet herunterzuladen, als es leise neben ihm Ploppte. Er wandte sich um, weil er ahnte, was das zu bedeuten hatte. Eine Frau im weißen Kapuzenumhang stand hinter ihm. Sie hatte dunkelbraunes Haar, das ihr bis zur Taille reichte und grüne Augen.

"Ach, Miss Patty, ist wieder was, wo Ihre höchste Schwester es mir nicht direkt ins Hirn pflanzen kann?" Fragte er leise und gehässig. Die Hexe verzog kurz das Gesicht, gebot ihm dann, still zu bleiben und wirkte einen Zauber, der ein ockergelbes Licht an Wänden, Decke und Boden aufleuchten ließ wie eine hauchdünne Innenverkleidung. Dann sagte sie:

"Zum einen, junger Mann, darf noch nicht einmal ich meine Tochter Patty nennen, ohne zu riskieren, von ihr in wer weiß was verwandelt zu werden. Zum zweiten bin ich nicht Ms. Patricia, sondern Mrs. Pandora Straton, Patricias Mutter. Drittens bin ich hier, um dich auf eine kurze Reise durch Amerika mitzunehmen, um für uns diverse Muggelpolizisten anzurufen, ohne aufzufallen. Viertens hast du uns immer noch Respekt zu erweisen, egal, wer dich besucht."

"Pandora? Wußte doch, daß diese Patricia aus einer Unglücksbüchse rausgelassen wurde."

"Der Spruch ist alt, junger Mann", sagte Pandora Straton leicht verärgert dreinschauend. "Jetzt machst du dieses Ding da aus und kommst zu mir!"

"Ich kann um Hilfe rufen", sagte Cecil, der irgendwie das Gefühl hatte, Anthelia würde ihn im Moment nicht überwachen.

"Tu dir keinen Zwang an!" Lachte Pandora sehr laut. Da begriff er, daß diese ockergelbe Lichtauskleidung wohl ein Schallschlucker war, ein Zauber, der alle lauten Geräusche blockierte. Er nickte resignierend und fuhr alle Programme herunter, um den Computer dann auszuschalten.

"Wenn Sie meine Hausarbeit für die Geschichtsklasse vermasseln und ich Ärger mit meinen Lehrern und meinen Eltern kriege, ist mir scheißegal, was Anthelia mit mir anstellt. Dann erzähl ich denen alles!" Warf Cecil eine hilflose Drohung in den Raum.

"Die höchste Schwester würde sich nicht die Mühe machen, dich dann zu züchtigen. Das würden deine Muggelartgenossen für sie erledigen."

"Oh, klar", erwiderte Cecil. Er dachte wieder daran, daß er dann wohl in eine Nervenheilanstalt eingewiesen würde. Was es hieß, jemanden mit Psychomitteln zu traktieren, wußte er noch zu gut, als er noch Benny Calder heißen und einen eigenen Körper haben durfte. Denn nach dem Feuer in Dropout waren er und die Bewohner der Kleinstadt lange von Psychologen, Psychiatern und Pfarrern bequatscht, mit Medikamenten und Hilfsprogrammen vollgestopft worden.

"So, und jetzt komm schön zu mir, nimm meine Hand und schließ die Augen", sagte Pandora ganz ruhig.

"Ach, warum schrumpfen Sie mich nicht ein, wie dieses Weib, das Ihre Tochter sein soll?"

"Weil das eher ihr Stil ist und ich mit eingeschrumpften Leuten nicht so gerne verreise. Wenn die mir kaputtgedrückt werden, wäre das eine ekelige Sauerei", lachte Pandora. Konnte es sein, daß diese Hexe einen merkwürdigen Humor hatte?

"In Ordnung, ich gehe mit Ihnen", sagte Cecil. Pandora versiegelte noch die Tür, damit niemand so einfach hereinplatzen und den Klangkerker auflösen konnte. Dann nahm sie Cecil bei der Hand, der die Augen zumachte. Mit einem scharfen Knall verschwanden sie.

Cecils Arbeit war diesmal nicht sonderlich aufregend. Er mußte in einigen Ostküstenstädten lediglich von öffentlichen Telefonzellen aus die Polizei anrufen, daß merkwürdige Typen in diesen oder jenen Seitenstraßen herumlungerten. Pandora las ihm die Namen der Straßen von einem Zettel vor, bevor er die 911 wählte und die Meldung durchgab. Er fragte sich zwar, ob man nicht seine Stimme wieder erkennen würde, wenn die Polizeizentralen die Anrufe auf Band nahmen. Doch Pandora verriet ihm, als sie Im Keller eines Bürogebäudes apparierten:

"Ich habe von einer muggelstämmigen Mitschwester und meiner Tochter gelernt, wie man die Stimmen, die in ein Telefon hineinsprechen, so verfälscht, daß sie beim anderen Ende niemals gleich herauskommen. Mag sein, daß du bei dem einen wie meine Tochter geklungen hast, bei einem anderen wie mein Großvater oder meine Verwandlungslehrerin. Wir sind nicht dumm", sagte Pandora ganz leise. "Du hast uns sehr viel beigebracht. Mehr als dir im Moment klar ist."

"Was machen wir jetzt hier?" Fragte Cecil.

"Wir müssen noch einen Anruf machen, damit auch hier in New York die Polizei einen bestimmten Plan vereiteln kann. Was für ein Plan das ist und warum wir den nicht funktionieren lassen wollen betrifft dich nicht."

"Hat irgendwer euch aufgescheucht? Ich meine, haben Sie Ärger mit jemandem?" Wollte Cecil neugierig wissen.

"Indirekt. Aber wie gesagt betrifft es dich nicht", sagte Pandora Straton.

Als Cecil seinen letzten Anruf getätigt hatte brachte ihn die Hexe auf direktem Weg zurück nach Harrisburg in sein Zimmer. Die ockergelbe Innenverkleidung war noch da. Pandora nickte und gab Cecil zwei 20-Dollar-Scheine in die Hand.

"Seit wann denn sowas?" Fragte Cecil Wellington.

"Weil wir sonst nichts wüßten, um dich zu belohnen", sagte Patricia Stratons Mutter und entriegelte die Tür wieder. Dann nickte sie Cecil zu und meinte:

"Am Besten freundest du dich damit an, mit uns gut auszukommen. Wir wollen dir nicht weh tun. Aber wir lassen uns bestimmt nicht auf der Nase herumtanzen. Bis irgendwann wieder", sagte sie noch und verschwand mit leisem Ploplaut. Cecil erstaunte das, daß diese Hexe doch mehr Ruhe und Gelassenheit als Anthelia oder diese Patricia ausstrahlte. Er wußte, daß er in dieser Schwesternschaft die Rolle eines nützlichen Idioten hatte, einem Roboter näher als einem Sklaven. Doch diese Pandora hatte ihn freundlich behandelt, nicht böse angefunkelt oder gar mit einer Strafe gedroht. Aber dieser Zauber, der das Zimmer von innen her total auskleidete, würde der verschwinden? Er näherte seine Finger der Türklinke, die wie die Tür unter diesem hauchzarten Schimmer lag. Er faßte die Klinke an und stellte fest, daß ihm nichts passierte. Er drückte die Klinke hinunter und zog die Tür einen winzigen Spalt auf. Da verschwand der ockergelbe Schimmer wie abgeschaltet.

__________

Anthelia hatte ihre Strategie zweigleisig angelegt. Um die Handlanger des Barons von Neuengland zu vereiteln hatte sie anonyme Eulen zum Ministerium geschickt, daß der Baron seine Leute an bestimmten Stellen der Städte New York, Boston und anderswo verteilt hatte. Dann hatte Pandora Straton für sie mit Cecil Wellington eine kleine Rundreise durch die betroffenen Städte gemacht und die Ordnungskräfte der Muggel informiert. Sie genoss die Vorstellung, daß sich Unfähige und Zauberer gegenseitig um die gesetzlosen Zauberer reißen würden. Sie wußte, daß die Leute des Barons niemanden töten würden. denn mit getrenntem Leib und Seele in Doomcastle zu landen wollte wohl niemand wirklich riskieren. So verfolgte sie durch die Augen und Ohren von Polizisten, wie einige Zauberer in New York aufgestöbert wurden, die gerade noch so disapparieren konnten, während die Strafverfolgungszauberer, die nicht im Ministerium tätig waren, die übrigen Zauberer festnahmen und die Vorrichtungen für Unwetterzauber beschlagnahmten. So war das von Lyra und Iphigenie geplante Ablenkungsmanöver im großen Stil schon vier Minuten vor dem angesetzten Beginn verpufft. Die von ihr unter dem Imperius dazu gezwungene Iphigenie hatte sich nach Lyras Absetzen mit Picklock nach Denver, Colorado versetzt, wo sie angeblich wichtige Unterlagen für Anthelia zusammentragen sollte. Tatsächlich hatte die oberste Hexe des Spinnenordens sie nur aus Lyras Reichweite haben wollen. Denn als die Nachtfraktionärin nach dem geplatzten Ablenkungsmanöver in das Haus bei Port New Hope zurückkehrte, war sie sichtlich wütend. Als dann der gefangene Kobold nicht wieder auftauchte, steigerte sich ihre Wut zur Unbändigkeit. Sie war drauf und dran, alles zu zerfluchen, was Iphigenie lieb und teuer war. Doch wenn diese nicht da war.

Ein weiterer Zug in Anthelias Fernschach gegen Lady Ursina war, daß sie verbreiten ließ, Iphigenie Fowler habe ungebetenen Besuch bekommen, sodaß Lyra nicht all zu lange warten konnte. Als fünf Zauberer aus Port New Hope das Grundstück betraten, mußte sie schleunigst disapparieren, ohne Picklock und ohne eine Erklärung für das Versagen von allem, was sie erreichen wollte.

Als Iphigenie Fowler schließlich mit einem Berg voller in merkwürdiger Schrift geschriebenen Pergamente ihr Haus betrat, wurde sie von einem der Sicherheitszauberer befragt, ob sie irgendwem erzählt habe, daß sie am Nachmittag für mehrere Stunden fort mußte. Sie sagte das, was Anthelia ihr als Antwort auf genau diese Frage in den Kopf gesetzt hatte:

"Ich habe das einer englischen Freundin geschrieben, daß ich heute nicht für sie Zeit habe. Kann sein, daß sie das verschwitzt hat oder die Eule nicht schnell genug bei ihr ankam."

"Gut, wir hörten nämlich, jemand sei auf Ihrem Grundstück. Als wir ankamen, hörten wir noch den Knall eines Disapparitionsmanövers. Mehr ist nicht", sagte der Sicherheitszauberer und zog mit seinen Kollegen von Dannen.

"Diese verdammte Lyra. Was ist mit diesem Picklock? Lyra hat doch gesagt, ihre Ladyschaft habe den mit seinen Namen unter Gehorsamszwang gestellt", dachte Iphigenie wütend. Dann fiel ihr ein, was sie noch zu tun hatte. Sie stieg auf den Dachboden, nahm einen großen Umschlag, tat die mit bunten Symbolen beschriebenen Pergamente hinein und schickte sie mit einer Eule an "Hexeninstitut Salem". Danach saß sie für einige Minuten im Wohnzimmer und überlegte, wieso Lyra nicht hier war? Hatte dieser Kobold nicht gespurt und mußte deshalb zurückgebracht werden? Sie überlegte, was sie nun machen sollte. Dann erst wurde ihr bewußt, daß sie unter einem Fluch gestanden hatte. Sie hatte aus einem geheimen Versteck Pergamente mit Geheimschrift entwendet und nun einfach fortgeschickt. Was hatte sie getan? Oder war sie nur in Denver gewesen, weil man Lyra und Picklock ...? Sie wurde kreidebleich. Das war eindeutig. Die Sache war komplett verraten worden. Sie, Iphigenie Fowler, mußte Angst haben, bestraft zu werden. Ja, das mit den Sicherheitszauberern gab nun einen Sinn. Jemand hatte dafür gesorgt, daß Lyra verschwinden mußte. Aber dann würde sie doch irgendwann wiederkommen, um zu berichten, was geschehen war.

"Wer war diese Hexe, die mir mit dem Imperius diesen Auftrag aufgeladen hat?" Fragte sie sich nun bangend. sie fühlte, daß von dieser Antwort lebenswichtiges abhing.

__________

Dana Moore traf mit dem Lebensstein des Kobolds Picklock in der Daggers-Villa ein. Patricia Straton gebot ihr, leise zu sein, weil Romina Hamton gerade mit Dido Zauberkunstübungen machte, um das Mädchen von dem Kobold abzulenken, den sie nun betäubt im Weinkeller hatten.

"Hier ist er", dachte Dana Moore. Sie wußte, daß Patricia gedachte Worte hören konnte. Sie gab ihr den grünlich leuchtenden Stein und disapparierte, um in Lady Ursinas Nähe zu sein.

Dieser Schritt erwies sich als außerordentlicher Glücksfall. Denn als Dana Moore nach fünf anstrengenden Apparitionen über die Antillen, die Azoren, die Kanaren und Belgien hinweg in der Nähe von Underwood Mansion ankam, apparierte auch Lyra Harper. Sie erschien hinter Dana, die so tat, als sei sie zu Fuß auf dem Weg zur Lady, mit der sie sich für diesen Nachmittag verabredet hatte. Sie meldete Lyras Heimkehr und das sie wohl sehr geknickt aussah. Lady Ursina unterbrach ein laufendes Verhör. Dana lief es kalt den Rücken hinunter, als sie erkannte, daß es Sheila Morgan war. Warum sollte sie verhört werden? Wußte Lady Ursina schon, daß sie mit Kyla Palmers Tod zu tun hatte? Sie durfte nicht offen daran denken. Der Geistesschutz Anthelias würde sie vor unfreiwilligem Verrat schützen.

Lyra erzählte den beiden Mitschwestern, was sie erlebt hatte und das der Baron noch einmal eintausend Galleonen haben wollte, um seine Leute zu entschädigen, die beinahe von Muggelpolizisten verhaftet worden wären.

"Das kkann doch kein Zufall sein", knurrte die Lady. "Und was war mit dem Kobold?"

"Wir haben uns wohl einen sehr ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht. Denn in dem Moment, wo Picklock ins Ministerium hineinging, wurde Gebäudeweit aller Publikumsverkehr untersagt. Außerdem bekam ich mit, daß eine Prüfung aller Spür- und Meldezauber auf Invasionsmodus durchgeführt wurde. Ich konnte nicht im Ministerium bleiben, weil ja alle Besucher hinausgeschickt wurden. Ich wartete also an der verabredeten Stelle auf Picklock. Doch er kam nicht. Ich bekam einen Boten des Ministeriums zu fassen, der mit seinem Besen zur Zentrale der Koboldsicherheit fliegen wollte und konnte durch Imperius erzwingen, daß er mir das von der Meldezauberinspektion erzählte. Ich verpaßte ihm eine Fünf-Minuten-Gedächtnislücke. Dann kehrte ich zu Schwester Iphigenies Haus zurück. Doch die war nicht da. Stattdessen rückten Sicherheitszauberer aus Port New Hope an. Ich konnte gerade noch disapparieren, bevor mich einer von denen zu sehen bekommen konnte. Das ist bestimmt kein Zufall gewesen, wie das alles zusammenlief."

"Also, was den Baron angeht, so hole ich mir über unsere Mitschwestern die zweitausend Galleonen zurück, die der gekriegt hat. So ein Stümper, Zauberer so offen herumlaufen zu lassen, daß Muggelpolizisten sie sehen können. Aber in allen anderen Fällen stimme ich dir zu, Schwester Lyra. Denn deine gute Freundin, Schwester Kyla, ist getötet worden. Wir vermuten, daß Schwester Sheila was davon weiß. Außerdem sollte Kyla den Weihestein Picklocks zurückbringen. Doch der Stein ist verschwunden. Weder Sheila noch Kyla hatte ihn bei sich. Ich ergründete, daß Sheila Kyla noch kurz vor ihrem Tod lebend gesehen hat. Doch da ist eine Mauer, die mich abwehrt. Das alles läßt sich mit drei Wörtern zusammenfassen: Wir wurden verraten!"

Als habe die Hexenlady damit ein Zauberwort ausgerufen, erstarrten Dana und Lyra sichtlich betroffen. Gleichzeitig gab es einen mörderischen Schlag gegen den Fußboden, und das ganze Landhaus bebte für zwei Sekunden nach. Dann war es vorbei. Lady Ursina erschrak sehr heftig. Dana Moore erbleichte, und Lyra zitterte wie Espenlaub.

"Verflucht!" Rief Ursina. Sie blickte auf den Boden, in dem haarfeine Risse zu erkennen waren. Sie sprang auf und stürmte aus dem Salon hinaus. Dana schlug die Augen nieder. Ihr war klar, was passiert war. Doch sie durfte es nicht sagen. Denn sonst würde sie die nächste sein.

Lady Ursina hetzte die Kellertreppe hinunter. Dicker Ruß klebte an den Wänden, je weiter sie hinuntereilte. Dann sah sie die ausgebeulte Stahltür, zwischen der und der Wand immer noch Rauch faserte. Die Tür selbst glühte dunkelrot. Irgendwas hatte sie erschüttert und so stark erhitzt, daß sie wie Gummi verformt worden war. Sie hörte das leise Prasseln und Krachen von der Decke herabrieselnder Steinbrocken und roch den beißenden Gestank total verbrannten Fleisches. Sie kannte diesen Geruch zu gut. Einmal hatte sie in Wales mit einigen Mitschwestern das Nest eines walisischen Grünlings ausheben wollen. Doch das Muttertier war zu früh aus den Schlafzaubern erwacht und hatte drei ihrer Begleiterinnen mit einem einzigen Feuerstrahl voll erwischt. Dieses Bild der plötzlich zerplatzenden und zu schwarzer Asche zerfallenden Körper verfolgte sie zeitweilig in ihren schlimmsten Alpträumen. Dieser Gestank hier brachte diese Schreckensbilder sofort in ihr Bewußtsein zurück.

Sie zertrümmerte mit drei Reducto-Flüchen die ausgebeulte Tür und blickte in das dahinterliegende Verlies. Es war pechschwarz mit feiner Asche ausgekleidet. Nichts deutete auf Möbel oder Menschen hin. Alles war innerhalb eines Augenblicks verbrannt. Da begriff sie, daß wer auch immer Sheila Morgan umgedreht hatte, eine tödliche Sicherung eingearbeitet hatte, daß niemand ergründete, wer Sheila nun befehligte. Sie vergeudete keinen Moment mit Trauer für ihre Assistenzhexe, die sicher mit im Inferno der plötzlichen Vernichtung gestorben war. Sie eilte die Treppe wieder hinauf und schrillte ihre zwei Hauselfen Bizzy und Toby an, die Kellerräume von der Decke bis zum Boden zu säubern. Um die unbrauchbare Tür und den zerstörten Klangkerker würde sie sich später kümmern müssen.

"Wer immer uns entgegenarbeitet", begann sie wütend, "hat eine höchst effektive Methode benutzt, alle Mitwisser davon abzuhalten, Verrat am Verräter zu begehen. Jeder, der dieses Wissen hervorpressen will, tötet den gefährlichen Mitwisser und sich selbst. Ich habe von diesem Fluch gehört und gedacht, seit Anthelia hätte den niemand mehr anwenden können. Sie hat vor etlichen Jahrhunderten unsere Sororität hier geführt, angeblich auch, um die Machtambitionen der französischen Matriarchin Sardonia zu kanalisieren. Doch offenbar hat jemand diesen mächtigen Zauber von irgendwoher erlernt und nun benutzt."

"Der Emporkömmling?" Entfuhr es Lyra erschrocken.

"Nein, der würde das nicht tun, weil er davon lebt, daß man weiß, wie gemein er ist und wen er mit Leichtigkeit kontrollieren kann. Es muß jemand sein, der oder die sich mit alten Flüchen sehr gut auskennt, mehr zu befürchten hat als der Emporkömmling und keine Skrupel kennt, die für ihn oder sie arbeitenden Getreuen lieber sterben als sie zu Verrätern werden zu lassen. Da ist eine andere Macht, die nicht von diesem Emporkömmling ausgeht. Er selbst unterhält seit dem Krieg der Bruderschaften in Amerika dort keine nennenswerten Kontakte mehr, falls er nicht endlich aus seinem Versteck kommen und sie eigenhändig knüpfen will. - Natürlich!"

"Was meint Ihr?" Wollte Dana wissen.

"Es kann nur eine neue Hexengilde sein, die uns infiltrieren will. Sie hat die Schlacht der Bruderschaften entfacht. Sie hat dem Emporkömmling den Boden in den Staaten entzogen, solange er sich nicht offen zeigt und hat damit ein für sich selbst günstiges Vakuum geschaffen. Schwestern, wir sind nicht mehr alleine! Unsere Welt hat einen Machtfaktor mehr." Neben dem, was sie sagte dachte die Lady noch, daß Sheila bestimmt nicht die einzige abgeworbene Bundesschwester war, die ihre Organisation unterwandert hatte. Mochte es angehen, daß diese Hexengilde bereits mehrere ihrer Mitschwestern verdingen konnte? Wieviele Spioninnen dieser neuen Gruppe gingen nun unerkennbar bei ihr ein und aus? Diese Gedanken weckten in der Lady, die jahrelang unumschränkt die Nachtfraktion angeführt hatte, ein sehr unangenehmes Gefühl, von allen Seiten beobachtet und bedroht zu werden. Sie durfte aber nicht in Verfolgungsängsten erstarren! Sie mußte die Initiative behalten! Sie wartete einige Sekunden, bis sie sicher war, daß ihre Eröffnung tief genug in das Bewußtsein der beiden Hexen eingetaucht war. Dann sagte sie mit fester Stimme:

"Ich weiß, daß niemand mich freiwillig hintergeht. Ich denke, daß diese Gilde einen Zwang auf alle ausübt, die ihr beitreten sollen. Da ich nicht weiß, wer von uns bereits geködert und unterjocht wurde, kann ich nicht hingehen, um die schlechten Erbsen aus dem Topf zu sortieren. Ich befinde mich also in derselben mißlichen Lage, die das Zaubereiministerium nach dem Machtverlust des Emporkömmlings betraf. Wenn es das Ziel dieser Hexengilde ist, meine Macht zu untergraben, ja mich selbst zu vernichten, so werde ich dem nicht wehrlos entgegenbangen. Ich werde alle verfügbaren Schwestern zusammenrufen und Ihnen über die Lage auskunft geben. Egal ob Sheila die einzige Abtrünnige war oder nicht, jene Macht soll wissen, daß ich weiß, daß es sie gibt und dieses Wissen anwenden werde, wennn ich nicht erfahre, was diese Gruppe will, wer sie führt und wohin ihr Weg führt. Ich werde gleich alle Mitschwestern kontaktieren und sehen, wer es wagt, zu diesem Treffen zu kommen, wenn bekannt ist, daß die Heimlichkeiten vorbei sind. Ich sehe es mir nicht an, daß treue Mitschwestern wie Lucretia Withers, Kyla Palmer oder auch Sheila Morgan sterben, ohne das ich irgendeinen Sinn darin erkennen kann."

"Mylady, wer immer diese Gilde führt will sicher haben, daß sie weiterhin geheimbleibt. Ist es nicht doch etwas bedenklich, sie durch öffentliche Stellungnahmen herauszufordern oder sich der Lächerlichkeit preiszugeben, wenn keine solche Gilde von Hexen existiert?" Fragte Dana Moore. Ursina blieb ruhig als sie sagte:

"Das Risiko ist höher, wenn ich untätig abwarte, bis mir jemand sagt, daß meine Zeit endgültig vorbei ist. Ich denke doch, daß es auch für diese Gilde nicht uninteressant wäre, mit mir im Guten auszukommen. Immerhin müssen wir damit rechnen, daß der Emporkömmling Riddle bald genug Selbstsicherheit besitzt, um wieder ungehemmt zu wüten. Wer auch immer in unseren Reihen schon eine Agentin dieser Macht ist, kann das ihrer neuen Führung ruhig mitteilen. Ob ich aus einem Hinterhalt heraus getötet werde, ohne zu wissen warum oder einen bekannten Feind mehr habe oder einen neuen Verbündeten finde, kommt auf dasselbe heraus."

"Ihr habt recht, Mylady", sagte Dana anerkennend. Lyra erbleichte. Mochte es sein, daß Lady Ursina sie für eine Spionin hielt? Konnte es sein, daß Iphigenie eine Spionin war und der Auftrag deshalb scheiterte?

"Mylady, das wird böses Blut und Mißtrauen geben. Wollt Ihr wirklich diese Vermutung allen mitteilen?" Wollte Lyra noch wissen.

"Es bleibt dabei. Ich lasse mich nicht wie einen Gnom aus meinem eigenen Garten werfen", stellte Lady Ursina klar. Lyra und Dana nickten. Dann wurden sie entlassen, um bis zum treffen zu tun, wonach ihnen der Sinn stand.

"Ich werde bald wissen, woran ich bin. Entweder bin ich dann tot oder um eine wichtige Erkenntnis reicher", dachte Lady Ursina, als sie sich in ihre Privaträume zurückzog. Sie rief einige Meldezauber auf, die ihr Haus überwachen sollten. Denn sollte bereits Lyra oder Dana eine solche Agentin dieser bisher nur vermuteten neuen Gilde sein, könnte ihr tatsächlich ein jähes Ende drohen.

Doch die Nacht verging ohne Vorkommnisse. Auch der folgende Tag verstrich bis zum Treffen aller erreichbaren Schwestern der Nachtfraktion. Hierbei galt es auch, nicht die gemäßigten, doch eher ihrem Gewissen unterworfenen Mitschwestern aus der schweigsamen Schwesternschaft zu beunruhigen. In kurzen und eindringlichen Sätzen berichtete Lady Ursina, was in den letzten Tagen passiert war und auch, daß ein sichergeglaubter Gehilfe abhanden kam.

"Jedem Kobold wird bei der Geburt ein kleiner Stein zugewiesen, der untrennbar mit seinen magischen Eigenschaften verbunden wird und die zwei geheimen Namen schützt, mit denen er dem Element Erde geweiht wird, aus dem er seine Magie empfängt und das für diese Magie am empfänglichsten ist, ähnlich der Urschwimmerzeremonie der Wassermenschen. Wir können davon ausgehen, daß dieser Stein nun wie der abwegige Kobold in den Händen jener Geheimgesellschaft ist, was bedeutet, daß dieser Kobold nicht nur gegen uns eingesetzt werden kann, sondern ein brauchbarer Handlanger für niedrige und gefährliche Dienste sein wird."

"Eure Ladyschaft sagten, daß es sich bei dieser vermuteten Geheimgesellschaft um Hexen handelt, die nicht mit den moralischen Hemmungen der gesetzestreuen Zauberer oder der Menschlichkeit über Notwendigkeit stellenden Gilden belastet sind. Wie sicher seid Ihr euch dabei? Wenn ich mir diese Frage erlauben darf", wandte sich Proserpina Drake an die von allen anerkannte Anführerin.

"Sehr sicher, Schwester Proserpina", sagte Lady Ursina überzeugt. "Die bisherigen Ereignisse, auch jene, die wir bislang nicht berücksichtigen wollten, weil es nicht in unserem Wirkungsbereich lag, sprechen dafür, es mit einer Gilde von Hexen zu tun zu haben, die sich womöglich hinter einer aufstrebenden Matriarchin scharen, die ihnen verspricht, über unsere Zielsetzungen hinaus und noch schneller voranzuschreiten. Ich weiß genau, daß es einige von euch drängt, die Zauberer und die Muggel wieder zur Besinnung zu bringen, vor allem die Muggel, die sich und uns langsam aber sicher mit ihren Apparaturen und Vehikeln vergiften und in großen Massen töten. Da der Keim dieser neuen Schwesternschaft in den Staaten zu suchen sein dürfte, weil sowohl wir als auch unser Erzfeind, der Emporkömmling, der sich hochstaplerisch "der dunkle Lord Voldemort" nennt, ein Aufkeimen einer neuen Macht nicht hingenommen hätten, wird auch dort die Basis zu finden sein. Ich sage euch das, weil ich weiß, daß bestimmt eine unter euch schon Augen und Ohren dieser neuen Schwesternschaft darstellt. Ich will hier niemanden ungerechtfertigten Nachstellungen ausliefern oder zu solchen anstiften. Was ich will ist dies: Es kann nicht angehen, daß zwei Hexensororitäten gegeneinander arbeiten, wenn sie im Kern dieselben Ziele verfolgen. Daher erwarte ich von denen, die sich bereits dieser neuen Gilde anvertraut haben, daß sie ihre Mitschwestern auf den ihnen bekannten Wegen unterrichten, daß ich, Lady Ursina Underwood, ein Treffen auf höchster Ebene mit der neuen Matriarchin erbitte. Ich habe euch deshalb alle herbestellt, um diese Botschaft so schnell wie möglich zu verbreiten und jeder, die meint, mir zu dienen sei mittlerweile belanglos, die Möglichkeit einzuräumen, gewaltlos aus der Angelegenheit herauszukommen. Denn ich sage noch etwas: Wenn das nicht aufhört, daß Hexen, die mir zur Seite Stehen sterben, warum auch immer, werde ich keine Hemmungen haben, jede von euch darauf hin prüfen zu lassen, wie ihr es mit dem Treueid der Sororitas Silenciosa und unserer weitergehenden Verschwörung haltet. Nach und nach werde ich die Agentinnen dieser Macht ausfindig machen und wenn es sein muß vernichten. Das kann und wird der neuen Macht nicht behagen. Falls sie jetzt, wenn sie von diesem Treffen was erfährt, meinen Tod beschließt, so sei sie gewarnt, daß ich Vorkehrungen getroffen habe, die mich posthum zur erfolgreichen Vergeltung führen. Also, wer immer dieser Organisation angehört, die kann sich mir nicht offenbaren. Dies weiß ich wohl. Aber sie kann sich und mir helfen, einen unnötigen Krieg zu vermeiden.

Ich danke euch, meine Schwestern!"

Ein Murmeln kam auf. Lady Ursina blickte jede genau an. Sie wußte zwar jetzt, daß mögliche Spioninnen gezielten Geheimhaltungszaubern unterworfen waren. Doch mochten ihre Gefühle ihre Gesichter zum Verrat veranlassen. Doch keine war aufgeregter als die andere oder zeigte Regungen, ertappt zu sein. Ursina sah Dana Moore mit Proserpina Drake sprechen und verfolgte mit den Augen die gestenreiche Unterhaltung zwischen Lyra Harper und einigen anderen Hexen. Schlußendlich sagte sie, um die Stimmung zu entschärfen:

"Ich sehe den Tod von Lucretia Withers als ungewollten Zwischenfall an, da ihr Zugang zu unserem niedergeschriebenen Wissen für die andere Gruppe genauso wertvoll ist. Aber den Tod von Kyla Palmer möchte ich bei Gelegenheit aufgeklärt wissen. Denn bei allen Zielen unserer Sache ist die Gewalt vor allem gegen Schwestern das letzte anzuwendende Mittel, nachdem alle anderen Mittel erfolglos ausgeschöpft wurden. Im Moment gehe ich davon aus, daß die verstorbene Sheila Morgan den Tod von Kyla herbeigeführt hat. Ich hoffe nur, daß ich mich nicht doch getäuscht habe und eine Schwesternmörderin in dieser Versammlung beherberge."

Alle sahen sich gegenseitig an. Doch niemand fühlte sich schuldig. Auch das hatte Ursina nicht erwarten können. Denn wer immer nun schon zu den Agentinnen der fremden Gilde gehörte mußte in den Zeiten, wo sie sie nicht traf, trainieren, weil hinlänglich bekannt war, daß sie eine gute Menschenkennerin und Legilimentorin war. Sie dachte an die besonderen Künste und Gaben jeder einzelnen. Lyra Harper war Koboldexpertin. Die tote Kyla Palmer war eine exzellente Fluchbrecherin gewesen. Proserpina war eine Großmeisterin der Alchemie und mit einem Muggel verheiratet, dessen Welt sie wohl gut studierte und hatte eine Tochter in Hogwarts, an einer günstigen Stelle, um die Anverwandten der Todesser zu beobachten. Dana Moore war wie Selma Verdi eine Animaga. Dana konnte sich in eine Fliege verwandeln. Selma hingegen hatte sich als Tiergestalt eine weiße Wölfin ausgebildet. Dann waren da überragende Zauberkünstler, Verwandlungskünstler, Heilerinnen und Aurorinnen, alle wichtig, alle im Umfeld der Schwesternschaft mit Zusatzbildung auf schwirige Zeiten vorbereitet. Gleichzeitig waren sie ein gefundenes Fressen für Infiltratoren, die es schafften, einzelne oder ganze Gruppen auf ihre Seite zu ziehen.

Als die Vollversammlung der Nachtfraktionärinnen vorüber war, dachte Ursina daran, wie einfach es einer neuen Schwesternschaft gelungen wäre, ihre Konkurrenz mit einem Schlag auszulöschen. Eine der umgedrehten Mitschwestern hätte nur aufzustehen und zu erzählen brauchen, daß Lady Ursina recht hatte und wer die neue Gruppe war. Der Vernichtungsfluch hätte sie und alle Zuhörerinnen sofort zu Asche verbrennen müssen. Ein wenig mußte sie im Nachhinein frösteln, wenn sie überlegte, wie einfach sie sich einer solchen neuen Macht ausgeliefert hatte. Sicher, sie konnte jetzt auf einer Todesliste ganz oben stehen. Doch nach ihr würden andere kommen und sie rächen. Außerdem stimmte es, daß sie einige Vorkehrungen in Abwesenheit der Schwestern getroffen hatte, von denen diese nichts wußten. Doch nun hatte sie in das Nest gestochen und die Wespen aufgescheucht, die darin summten. Vielleicht würde sie gestochen. Vielleicht legten die aufgescheuchten Wespen auch die Königin frei.

__________

Anthelia hielt Picklock den grünlichen Stein entgegen, der immer intensiver leuchtete und ein mittelhohes Summen von sich gab, wie eine sacht angestrichene Cellosaite.

"Nein, das ist gemein", quängelte der gefangene Kobold, der in festen Eisenketten an eine Wand des Kellers geschmiedet worden war. Außer Anthelia und Patricia war noch Pandora im geheimen Raum, den nur eine ausgebildete Apparatorin betreten konnte.

"Du weißt was das ist, Kobold? Dein Herz. Deine Seele. Alles eingefaßt in diesem kleinen Brocken Felsgestein", sagte Anthelia sehr kühl.

"Bitte, was willst du von mir?" Fragte der Kobold mit angstgeweiteten Augen, weil der Stein in Anthelias Hand immer dann am stärksten leuchtete und summte, wenn er sich ihm näherte.

"Ich will, daß du mein bester Freund und treuester Gehilfe bist, Picklock", sagte Anthelia, jetzt mit der Betonung eines Kindes sprechend.

"Ich weiß doch nicht mal, wer du bist!" Schrie der Kobold, dem der Anblick seines Weihesteines sichtlich zusetzte.

"Ich bin Anthelia, Tochter der Nigrastra, sowie die Nichte der großen Matriarchin Sardonia vom Bitterwald. Vielleicht hast du schon von mir gehört."

"Nein, habe ich nicht", viepte Picklock. "Was immer du willst, gib mir den Stein wieder! Bitte!!!"

"Nein, diesen Stein werde ich als Unterpfand einbehalten, Kobold. Deine Rasse ist so vergesslich, was geleistete Treueschwüre angeht. Ich selbst bekam noch die Nachwirkungen eures lächerlichen Aufstandes mit, mit dem ihr meintet, nur weil ihr über die magischen Kräfte der Erde verfügt, uns Hexen und Zauberern abtrünnig werden zu müssen. Ich weiß auch,daß es in England und Frankreich noch viele Nachfahren der dabei gefallenen Kobolde gibt, die nichts sehnlicher wollen als einen, der sie von uns erlöst. Ich weiß auch, daß jener, der sich Voldemort nennt, allzu gerne verspricht, dieser Erlöser, der Heiland der Kobolde, zu sein. Doch ihr wißt ja auch, daß er eher der Satan der Koboldwelt sein wird. Also bleibt ihr schön ruhig und vollbringet, was euch Hexen und Zauberer anschaffen. Aber du, Picklock, bist ein Rebell, ein unbändiger. Ich wäre zu dumm, wenn ich dich freigeben und dir deinen Weihestein überlassen würde. Du würdest dich damit auch deinen Artgenossen entziehen und deine chaotischen Umtriebe ungehemmter ausleben. Eine meiner Mitschwestern hat mir erzählt, was sie in deiner magischen Beutetasche vorfand. Noch ist es zu früh, die durch sogenannte Wissenschaft und Beharrung auf die Lehre kalter Zahlenlogik versteifte Menschheit der Zauberunfähigen über ihren Irrtum, die Magische Welt existiere nicht, aufzuklären und sie nur deshalb nichts von ihr wissen, weil sie selbst mit ihrer Physik keinen Zugang dazu bekommen können. Wann die Zeit reif ist, bestimmen wir, nicht räuberische Kobolde wie du oder größenwahnsinnige Emporkömmlinge wie Voldemort", sagte Anthelia. Picklock zuckte jedesmal zusammen, wenn der Name Voldemort fiel. Denn auch unter den Kobolden galt dieser Name als Inbegriff der Todesangst.

"Ich verspreche dir, dich nicht zu ärgern, große Anthelia. Aber bitte, gib den Stein zurück oder gib ihn meinen Leuten! Bitte!" Flehte der Kobold. Nur Anthelia und Patricia erkannten, daß er heuchelte. Denn ihm lag nichts daran, sich dieser Hexe da auszuliefern. Doch der Stein war wirklich das Bindeglied zwischen ihm und der Kraft der Mutter Erde, die Nabelschnur, die ihn immer noch mit der großen Mutter alles lebenden und Toten verband.

"Ich behalte den Stein und verwahre ihn wohl, daß du mit deinen Diebeskünsten ihn nicht erlangen kannst. Immerhin ist er ja gefeit gegen natürliche Fernbewegungsgaben, konnte ich da selbst ergründen", sagte Anthelia. Das stimmte. Der Stein widerstand der Telekinese, ja auch den genau ausgerichteten Bewegungszaubern, die über einen Zauberstab vermittelt wurden.

"Den Stein, oder ich schreie euch hier allen die Ohren von den Köpfen!!!" Schrillte Picklock.

"Wird er wohl schweigen, Picklock Loluck Habbarzak!" Stieß Anthelia erzürnt aus. Sofort schwieg der Kobold. Stattdessen krümmte er sich zusammen, als habe er einen harten Schlag in den Magen bekommen und wand sich wie unter Peitschenhieben. Patricia grinste überlegen. Ebenso Pandora Straton. Anthelia nickte. Denn sie konnte die winzige Schrift im Weihestein lesen und entziffern. Scribblor, die Schrift des Koboldischen, war ihr bereits in ihrem ersten Leben beigebracht worden und über das Wissen Sarah Redwoods noch verstärkt worden.

"Das darf nicht sein!" Heulte Picklock. Denn nun kannten noch mehrere Hexen seinen Namen. Diese Schande war zu viel. Er war ein Sklave von Wesen, die seinesgleichen gerne aus allem heraushielten, was Macht einbrachte. Sie als Gringottskunden zu haben war das höchste, was sie ihnen gerade so zugestanden.

"Nun höre, Picklock! In wenigen Tagen wird es eine Zusammenkunft von Ordnungshütern in diesem großen Land geben, die ergründen soll, was ein Mann, der von ihnen wegen vielfacher Mordtaten gejagt wird, zu seinen Taten treibt und wie man seiner habhaft werden kann. Ich begehre die gesammelten Schriften und anderen Träger von Wissen aus dieser Versammlung. Du wirst mein Begehren befriedigen."

"Der Stein! Was willst du noch mit dem Stein?" Quängelte der gefangene Kobold.

"Wie gesagt, er wird mein Unterpfand sein. Ich spreche einen Fluch auf ihn, das er vergehen soll, wenn du Hand an mich zu legen trachtest, Kobold. Also vertreibe den Gedanken, ihn mir räuberisch und meuchlings zu entwinden!" Sie hielt ihren Zauberstab an den Stein und sprach eine Reihe fremder Worte. Picklock schien jedes Wort in seinem Körper widerhallen zu fühlen. Er vibrierte unter dem Klang der Zauberworte, bis der Stein kurz gelb aufleuchtete und dann wieder grün erstrahlte. Picklock fühlte, daß diese Anthelia ihn nicht belogen hatte. Wo immer sie den Stein nun hintun würde, er würde zerfallen, wenn er versuchte, ihn sich zurückzuholen. Wenn das geschah, würde er schlagartig alle Zaubergaben verlieren, ja er würde jede Minute ein Jahrzehnt älter, bis er selbst in einem letzten langen Schmerzanfall zu Staub zerfiel. So blieb ihm nichts anderes, als dieser Hexe, die seinen vollständigen Namen kannte, Treue zu schwören. Sicher, Lady Ursina hatte ihn auch schon unter seine Gewalt gezwungen. Doch wer seinen Weihestein besaß, hielt sein ganzes Leben in Händen. Er wurde unter Nennung seines vollständigen Namens angewiesen, sich in einer Höhle in der Nähe einer Stadt namens Miami zu verbergen, bis Anthelia ihn in seinen Gedanken rufen würde. Ihm war erlaubt, ab und an in die Siedlung der Muggel zu gehen, durfte jedoch nicht stehlen, wenn Anthelia ihm dies nicht ausdrücklich befahl. So wurde er erneut in einen Plastiksack gesteckt und im schnellen Sprung an den zugewiesenen Ort gebracht.

Einen Tag später erfuhr Anthelia, daß Lady Ursina sehr laut vermutete, daß es eine ihr Konkurrenz machende Schwesternschaft gab.

"Ach, und sie hat euch alle zusammengerufen, um jeder die Gelegenheit zu geben, mich zu informieren, die mit mir ist?" Fragte Anthelia amüsiert. Dana dachte, daß die höchste Schwester doch eigentlich entrüstet und alarmiert sein sollte. Doch dem war ganz und gar nicht so.

"Sie wollte, daß diese Gruppe, die sie vermutet, informiert wird, daß sie nicht mehr will, daß ihre Mitschwestern sterben. Was mit Sheila und Kyla passiert ist hat ihr wohl diese Idee eingegeben."

"Nun, Schwester Dana, ich wäre auch maßlos enttäuscht gewesen, wäre es einer Sprecherin des großen Schwesternbundes verborgen geblieben, daß es eine neue Macht gibt. Ich selbst wäre nicht so halsbrecherisch vorgeprescht. Ich hätte gezielte Falschinformationen ausgestreut und gesehen, auf welchen Boden sie gefallen wären. Nun, offenkundig rührt sie der Tod unserer und auch ihrer Mitschwestern arg und drückt sie das Ungemach, dem Emporkömmling nicht gewachsen zu sein, wenn in den eigenen Reihen feindliche Agentinnen umgehen. So werde ich ihr eine Antwort zukommen lassen, bevor sie darangeht, weitere unserer neuen Schwestern zum Tode zu zwingen und dabei selbst stirbt. Denn mir wäre es sehr unangenehm, eine solch couragierte und intelligente Schwester ohne vitalen Grund zu verlieren."

"Du willst ihr bestätigen, daß es dich gibt, Höchste Schwester?" Wunderte sich Dana.

"Soll ich ausharren, bis du oder andere neue Getreuen von den eigenen Mitschwestern verfemt und gemeuchelt werdet, nur um der Angst vor dem Ungewissen willen? Dies ist die Art, wie der Emporkömmling waltet. Will ich mich von vorne herein von ihm abgrenzen, so muß ich wägen, wie weit ich Geheimnis und Offenheit pflegen muß. Werde ich mich der Lady Ursina gegenüber offenbaren, wie ich mich Sarah Redwood gegenüber offenbarte, hoffe ich, daß sie etwas bedächtiger mit dieser Kunde umgeht als Sarah Redwood."

"Nun, ich habe dir das erzählt. Wahrscheinlich wirst du noch von anderen Mitschwestern informiert. Was du damit anfängst liegt bei dir", billigte Dana ihrer höchsten Schwester zu. Diese nickte.

__________

Lady Ursina Rosalynn von Underwood,

Wie mich über verschlungene Pfade die Kunde erreichte, riefet Ihr in die Welt, ob da jemand sei, die wie Ihr gesinnt und eine Gemeinschaft von Schwestern führet, welche ausgeht, der Hexenheit zu ihrem angestammten Recht zu verhelfen, überdachte ich lange und ausgewogen, ob es an der Zeit sei, mich bereits zu dieser Stunde zu offenbaren. Ich erkannte, daß es wenig Sinn mache, einen Keim der Angst in die Reihen mir nicht feindlich gesinnter Schwestern zu pflanzen und habe beschlossen, euch und eine von euch festgelegte Zahl von Getreuen auf der Spitze eines ruhenden Vulkanes zu treffen. Stellt euch zur Mitternacht des achtundzwanzigsten Aprils auf der Gipfelhöhe des Pico del Teide auf der großen Insel Tenerifa ein! Ich werde euch dort zu allen Fragen, die euch umtreiben, erschöpfende Antworten geben. Danach wird sich fügen, wie Ihr mit dieser Kunde weiterleben mögt. Es sei euch von meiner Seite garantiert, daß euch kein Arg widerfahre und ihr, sofern ihr nicht meint, Gewalt wider mich zu wenden, als freie Hexe zu den Euren zurückkehren werdet.

Hoch erfreut, euch von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten zu dürfen verbleibe ich

Hochachtungsvoll

Lady Ursina grinste überlegen. Sie hatte recht behalten, und in ihrer Schwesternschaft gab es mindestens eine Spionin. Sie hatte sich Mühe gegeben, die Wege der meisten Schwestern zu verfolgen, um möglicherweise verdächtige Bewegungen herauszubekommen. Doch diese Suche nach Verdächtigen war erfolglos verlaufen. Denn vor den heimischen Herden mußte sie, so wollte es der Kodex, jede Verfolgung beenden, solange sie keinen gezielten Verdacht hegte. Sie nickte nur, blickte auf das Zeichen unter dem Brief, eine Spinne im Netz und schrieb zurück:

An die Unbekannte, die großen Mut besitzt, sich mir zu offenbaren,

Ich stimme dem von Euch vorgeschlagenen Ort und der Zeit zu und werde mit zwei Getreuen zur Stelle sein.

Das euch nicht daran liegt, mich zu ermorden ersehe ich aus dem Umstand, daß ich diesen Brief erhalten und beantworten konnte. Ich pflege nicht jeden zu ermorden, der oder die mir nicht nach dem Munde redet. So liegt es bei euch, ob Eure Garantie etwas wert ist.

Ich harre Eurer Offenbarung!

Lady Ursina Rosalynn of Underwood

Sie schickte den Waldkauz, der ihr die Botschaft überbracht hatte mit den Worten "Zurück wo du herkommst" an den Absender zurück. Eulen waren doch sehr diskrete Briefboten. In vielen Fällen brauchten sie keine Anschrift oder einen Namen. So konnten sie Briefe überbringen, ohne das der Adressat den Absender kannte.

"Nun, ich werde Dana und Selina mitnehmen", dachte sie.

__________

Der Himmel über Tenerifa war sternenklar. Die Nacht vom 28. auf den 29. April war kühl aber trocken. Die mächtigen Hänge des Teide, dem Höchsten Berg der Kanaren und damit auch Spaniens, zeichneten ein wuchtiges Schattenbild gegen den Horizont. An den kahlen Hängen des 3717 Meter über dem Meeresspiegel aufragenden Vulkankegels gab es genug Wege, um gemütlich hinaufzusteigen. Auf dem Gipfel selbst hockte Anthelia in der Gestalt einer großen Krähe und wartete auf die Ankunft der Lady Ursina. Weiter unten, an der Bergstation der Seilbahn, hatte sich Patricia Straton einquartiert, und Romina Hamton hielt sich im Schatten eines wuchtigen Felsens versteckt. Als dann die Mitternachtsstunde anbrach, tauchten drei Lichtpunkte an der östlichen Flanke des Teide auf, krochen eilig nach oben. Anthelia erkannte, daß die drei Nachtfraktionärinnen wohl in kurzen Sprüngen apparierten. Offenbar argwöhnte Lady Ursina eine Falle. Sie erkannte bald, daß die drei Hexen offenbar auf einen Angriff gefaßt waren. Es dauerte etwas, bis sie in die nähe des Gipfels kamen. Anthelia verwandelte sich in ihre übliche Gestalt zurück. Das Rosarot ihres Umhangs wirkte in der Nacht stumpfgrau. Sie richtete den silbriggrauen Zauberstab auf einen Ring aus fünf Fackeln und murmelte "Incendio!" Zischend flammten die Fackeln auf und warfen ein orangerotes Flackerlicht auf die Hexe. Nun wirkte ihr Umhang rötlich wie in Stoff gewebtes Feuer. Dann trafen Lady Ursina und ihre Begleiterinnen Dana Moore und eine dunkelhaarige Hexe im wohl grünen Umhang ein. Anthelia grüßte mit der freien Hand und steckte den Zauberstab fort. Sie wartete, bis die drei Hexen in den Lichtkreis der Fackeln eintraten und sprach dann ruhig:

"Ich bedanke mich, daß Ihr einer friedlichen Zusammenkunft mehr Wert zubilligt als der gewaltsamen Befehdung. Ich bin jene, die ihr treffen wollt. So harre ich nun Eurer Fragen."

"Die dringlichste Frage, die ich habe lautet ja wohl: Wer seid Ihr?" Erwiderte Lady Ursina. Anthelia nickte und klappte die Kapuze ihres Umhangs zurück. Im Schein der Fackeln flammte ihr Haar wie eine Mähne aus Feuer. Sie trat noch näher in den Fackelschein, sodaß Ursina ihr Gesicht deutlich vom Nachtdunkeln abgegrenzt sah. Sie stutzte. Dann trafen sich die Blicke der beiden Hexen. Ursina fühlte eine mächtige Gedankenstärke und versuchte, einen legilimentischen Einblick zu bekommen. Doch eine unvermittelte Mauer warf ihren Zauber zurück. Sie fühlte, wie die andere beinahe ungehemmt in ihren Geist einschlüpfte und wich den tastenden Gedanken aus so gut es ging. Sie achtete peinlich genau darauf, keine verräterischen Erinnerungen aufsteigen zu lassen. Zehn bange Sekunden umklammerten die beiden mentalmagisch begabten Hexen ihre Bewußtseine. Doch Ursina kam keinen Funken tief in die Schichten des fremden Bewußtseins. Anthelia lächelte.

"Ich erkenne, Ihr seid gut gewappnet. Ich erkenne jedoch auch, daß euch mein Aussehen verwirrt. So muß ich Euch einen weiteren Grund zur Verwirrung darbieten. Ich bin Anthelia, Tochter der Nigrastra, welche da war die Schwester von Sardonia, der großen Matriarchin im französischen Lande."

"Anthelia? Das ist unmöglich. Du lügst", verlor die Lady jede höfliche Umgangsform. Doch Anthelia lächelte nur.

"Wenn ich lügen würde wäre Eure Mitschwester Sheila sicher noch am Leben. Spräche ich unwahr, so könntet Ihr dies aus meinem Geiste lesen. Wäre mein Name eine Hochstapelei, so gelänge mir dieses nicht." Ein schwerer Felsbrocken links neben Anthelia erhob sich schwerelos und flog mehrere Kreise, ohne das die Fremde ihren Zauberstab benutzte. Dann sprach sie in einer Sprache, die Ursina eigentlich hätte kennen müssen, der Sprache der alten Druiden. Doch Ursina kannte diese Sprache nur unvollständig. Ihre Begleiterin Selina hingegen nickte.

"Das war eindeutig die Sprache der Druiden, Mylady. Aber wenn diese wirklich Anthelia sein soll, dann ist doch die Frage, wie sie ihren erwiesenen tod überlebt hat."

"Seht mich an! Mehr müßt ihr nicht tun, um zu erkennen, wie dies gelang", erwiderte Anthelia.

"Das ist das Gesicht von Bartemius Crouch dem jüngeren. Doch mir ist keine Schwester von ihm bekannt. Und der junge Mann selbst starb in Askaban, wo er eine lebenslängliche Haft verbüßte, weil er zusammen mit der Dirne Lestrange und ihrer inzestuösen Verwandtschaft zwei Auroren in den Wahnsinn gefoltert hat", sagte die Lady. Dann überlegte sie fieberhaft. Anthelia, so verhießen es die alten Schriften, die bis vor Lucretias Tod noch zugänglich gewesen waren, hatte das Wesen der Seele erforscht und magische Riten studiert, die das innere Wesen eines zauberkundigen Wesens bergen und für eine spätere Zeit aufbewahren konnten. Der Emporkömmling Voldemort hingegen trachtete nach der körperlichen Unsterblichkeit und hatte seinen Leib dadurch verunstaltet, daß er sich Experimenten unterzog, die ihm ein schier unverwüstliches Leben bringen sollten. Konnte es also doch sein, daß hier vor ihr Anthelia stand?

"Bartemius Crouch, der Jüngere, starb nicht in den Mauern Askabans. Seine Eltern befreiten ihn aus übergroßer Verbundenheit. Seine Mutter nahm seinen Platz ein. Durch den Trunk der Wandlung, den ihr heute als Vielsafttrank kennt, tauschten sie die äußeren Hüllen und die Rollen. Er verließ die Kerkerfestung in Gestalt seiner Mutter, die in seinem Körper verstarb und begraben wurde. Vom eigenen Vater geknechtet unter dem Fluch Imperius verbrachte er viele Jahre, bis der wiedergekehrte Dunkelmagier, der sich Lord Voldemort nennt, ihn befreite und als seinen Spion nach Hogwarts entsandte. Ihm ging es darum, des Knabens Harry Potter habhaft zu werden, weil dessen Widerstand gegen den tödlichen Fluch ihm immer noch arg zusetzte. Der Knabe entrann der tödlichen Falle und gelangte zurück in die Obhut von Hogwarts. Hier wurde Crouch entlarvt und von einer Kreatur der Dunkelheit seiner Seele beraubt. Meine treuen Schwestern des Anfangs bekamen Gewalt über diesen Körper, wandelten ihn zu der für mich genehmen Gestalt und brachten meine Seele in diesen ein. Das was Ihr nun seht, ist das Zwischenziel einer langen Reise, die nun weitergeht. Ich bin Anthelia."

"Das ist wirklich das Gesicht von Barty Crouch Junior. Wer käme darauf, seinen Körper vorzutäuschen und dann noch in Frauengestalt?" Fragte Dana Moore.

"Es wäre wohl zu viel der Dramatik, wenn jemand mir eine Schwester von Bartemius Crouch vorspieln wollte. Das wäre doch völlig unnötig", erkannte Lady Ursina.

"So ist es", sprach Anthelia. "Dieser Leib bot sich mir an, weil euer Minister für Zauberei verheimlichen wollte, daß es einem gefährlichen Unhold gelang, Askaban zu entweichen. Seine Erinnerung, die nach dem Verlust der Seele eingefroren in seinen Gehirnwindungen begraben war, ist nun ein überschaubarer Teil meiner Erinnerungen. Natürlich weiß ich auch das, was ich vor dem Abstreifen meiner ersten Hülle erlernte und vollbrachte. Der Übergang zwischen den Körpern war schmerzloser als meine Geburt. So fragt weiter, was ihr wissen möchtet!"

Lady Ursina fragte Anthelia zu detaillierten Dingen aus dem ersten und in einigen Geschichtsbüchern verzeichneten Leben von Sardonias Nichte. Im Verlauf des Gespräches kam Ursina zur unumstößlichen Überzeugung, daß sie wirklich Anthelia vor sich hatte. Die Gaben, die Kenntnisse, alles stimmte. Als Anthelia sich sogar ohne Zauberstab in eine Krähe und wieder zurückverwandelte, war Ursina sich sicher, nicht mit einer wirrsinnigen Nachahmungstäterin zu sprechen. Denn Anthelia strahlte eine beinahe körperlich fühlbare Machtaura aus, die Ursina beeindruckte. Jede Bewegung der Hexe, jeder Blick und jedes Wort verhießen Machtbewußtsein und Machtstreben. Dann kam Ursina auf die toten Hexen und die Bruderschaften in den USA.

"Es kann nicht angehen, daß ein zerstörungssüchtiger Zauberer, der wohl mehr Haß auf sich als auf die Welt hat, ohne Recht ihm nachfolgende Magier in den Staaten der neuen welt wähnen kann. Ihr habt es schon richtig ergründet, daß mein Werk ihren Untergang brachte. Doch es ist nur der Anfang."

"Der Anfang von was, Anthelia?" Wollte Ursina wissen.

"Der Anfang, den Weg zum erlauchten Ziel wieder zu beschreiten. Es galt zu meiner ersten Daseinszeit und gilt mehr denn je, der Hexenheit den Platz der Herrschenden Schicht zu erstreiten und zu festigen. Die Unfähigen, die Ihr heute Muggel nennt blasen tödlichen Brodem in die Atemluft, gießen giftige Elixiere in das Wasser und zerstören die fruchtbaren Böden, um einem Wahn von Schein und Besitz zu dienen. Ich weiß dies, da ich auch Kundschafter in der Welt der zur Magie unfähigen unterhalte. Genauso haltet es doch auch Ihr, Lady Ursina."

"Es ist das heere Ziel der Schweigsamen Schwestern, die Rückkehr der Hexen an die Spitze der Macht zu ermöglichen. Doch der Weg ist eine Frage, über die sich gut streiten läßt. Die einen mögen einen längeren, dafür ebenen Weg, während wir einen schnelleren Weg auch durch Dornen suchen. Welchen Weg geht ihr, Lady Anthelia?"

"Mein Weg ist jener, der alle Hindernisse überwindet und egal ob steinig oder überwuchert geradlinig auf dieses Ziel zuführt. Ich möchte jedoch, da ich erkannt habe, daß ein Leben nicht reichen mag, jetzt die Grundlagen schaffen, das Fundament der waahren Herrschaft zu legen, damit unsere lebenden Schwestern bereits in die Verantwortung hineinwachsen können, diesen Planeten zu hüten."

"Und dazu laßt ihr zu, daß Schwestern sich untereinander töten?" Fauchte Lady Ursina.

"Was würdet Ihr tun, wenn Ihr eure Macht auf dem Fundament eines unbedingt zu wahrenden Geheimnisses errichtet hättet?" Erwiderte Anthelia sehr ruhig.

"Das rechtfertigt keinen Schwesternmord", zischte Lady Ursina.

"Darf ich euch daran erinnern, daß Ihr es wart, die Sheila Morgan habt töten lassen? Außerdem ist euch ein Leben auch nur solange etwas wert, wie es Euer Dasein nicht gefährdet", gab Anthelia kühl zurück. Lady Ursina erkannte, daß sie auf dieser Ebene nicht weiterstreiten konnte, wollte sie nicht zur Gewalt greifen.

"Wie wollt Ihr das anstellen, die Muggel von ihren Maschinen und Ansichten abzubringen? Folter und Mord? Angst und Schrecken?"

"Angst kann den Verstand für das neue verschließen oder öffnen. Es hängt davon ab, wer Angst als Zuchtmittel nutzt. Ich habe keine Bedenken, erklärte Feinde meinr Sache zu töten und habe auch, wie Ihr wißt, Maßnahmen getroffen, um den Verrat durch meine Mitschwestern zu verhindern. Es ist bedauerlich, wenn eine meiner Schwestern stirbt. Doch wenn der Sache damit Bestand und Fortschritt beschieden ist, kann ein Tod in Kauf genommen werden. Folter ist wie die Angst ein Zuchtmittel, wenngleich Freude immer gefügiger macht als Angst vor dem Schmerz. Wenn es mir gelingt, den Unfähigen die Freude an einer Natur ohne ihre Gerätschaften zu vermitteln, ihnen zu erweisen, das wir ihnen und der Welt eine Zukunft in Ordnung und Geborgenheit zu bieten haben, werden wir ohne größere Bluttaten auskommen. Doch wir müssen das Ziel immer höher setzen als die Abneigung vor dem Leid anderer."

"So, Ihr sprecht davon, endlich die Herrschaft der Hexen auf Erden zu errichten. Doch einen Plan dafür habt Ihr noch nicht", meinte Lady Ursina.

"Nun, Ihr verlangt einen mit Tageszeiten und Ortsangaben erfüllten Plan. Ihr wißt doch selbst, daß so etwas nicht durchzuhalten ist. Ein Ziel ist wichtig. Aber um ein Ziel zu erreichen, das schier unerreichbar fort ist, muß der Weg jeden Tag einer Prüfung unterzogen werden. Mein Plan bis zur nächsten Abzweigung des Weges lautet, sicherzustellen, daß der Emporkömmling nicht Hand auf die ganze Welt legt und damit jede Möglichkeit vereitelt, sie unter unserer Führung friedlich fortzuführen. Außerdem hat sich in den letzten Monaten eine weitere Gefahr offenbart, der ich vordringlich Einhalt gebieten muß. Ihr wißt es sicherlich schon, daß in den vereinigten Staaten eine erwachte Tochter der Lahilliota umgeht und sich einen ihr hörigen Mann hält, der für sie fremdes Leben zehrt."

"Ja, ich hörte davon und sehe das auch mit großer Sorge. Allerdings gibt es bereits zwei wache Töchter des Abgrunds, die sich unauffällig unter den Menschen bewegen. Ich selbst weiß nur von einer, die im spanischen Raum umgeht. Doch wenn sie nicht gereizt werden, bleiben sie unauffällig."

"Dies mag für jene gelten, die immer wach umherschreiten konnten. Doch jene, die Tochtert des dunklen Feuers, ist ungeduldig und unersättlich. Sie verlacht die Unauffälligkeit, weil sie Nahrung braucht und einen willenlosen Gefolgsmann führt. Ich habe Kunde, daß es bald zu erheblichen Störungen der Ordnung in der Welt der Unfähigen kommen wird, weil dieses Wesen seinen Hunger nach Leben nicht verbergen mag. Hinzu kommt die Bedrohung durch den Emporkömmling und der Arg der Hexen und Zauberer, die wider sogenannte Unmenschlichkeiten kämpfen und uns als natürliches Ärgernis ansehen. ich offenbarte mich euch jetzt schon, weil ich einen festen Boden unter den Füßen mein eigen nenne und nicht will, daß Eure Angst vor mir euch in eine selbstzerstörerische Unordnung treibt. Ich bin zumindest erfreut, daß Ihr mich als die anerkennt, die ich bin", sagte Anthelia noch.

"Ich bin hergekommn, um die Hexe zu treffen, die meine Mitschwestern ködert und tötet, wenn sie ihr zu gefährlich werden. Ich habe ein gewisses Mißtrauen Euch gegenüber und werde davon nicht zurücktreten. Ich sehe jedoch auch ein, daß ich nicht an mehr als einer Front zur Zeit kämpfen kann. So frage ich Euch, wie weit habt Ihr euch schon in meine Schwesternschaft eingeschlichen? Muß ich damit rechnen, daß meine Vorrangstellung bedroht ist? Also, was wollt Ihr?" Preschte Lady Ursina vor.

"Das ich in Ruhe meine Werke tun kann. Ich zwinge niemanden, mir zu folgen. Ich verlange nur, daß diese Entscheidung nicht belibig verworfen werden kann. So werde ich Euch nicht sagen, wer von euren Schwestern schon zu meiner Schwesternschaft zählt. Ich kann Euch lediglich garantieren, daß diese Schwestern euch nicht nach der Existenz trachten. Sollte der Zeitpunkt jedoch bevorstehen, daß alle Hexen der Welt eine laute Stimme benötigen, dann werde ich an Euch und die anderen großen Damen herantreten und sie einladen, mir zu folgen oder nur eine von vielen unentschlossenen Schwestern zu sein."

"Also geht es Euch doch um meine Macht?" Knurrte Lady Ursina.

"Es geht mir um die Macht jeder Hexe, um die gemeinsam in eine große Waagschale geworfene Stärke der weiblichen Zauberkundigen. Ich sagte jedoch, daß es dann, wenn es Zeit ist, eine laute Stimme zu finden, an mir ist, diese Stimme zu sein. Denn ich bin die Erbin Sardonias, die damals fast am Ziel war und nur an jenen Kreaturen scheiterte, die Ihr Dementoren heißt. Ihr Vermächtnis ist mir Verpflichtung. Es ging zu viel Zeit ins Land. Das Werk muß unverzüglich vorangetrieben werden. Ihr könnt Euch damit anfreunden oder in der gewählten Weise feindlich sein. Doch ich habe keine Schwierigkeiten, erklärte Feinde zu beseitigen. So könnt ihr nun für Euch entscheiden, wie ihr zu mir steht. Ich komme ohne Euren Zuspruch zurecht, wie Ihr bereits erfahren durftet. Aber kommt Ihr ohne Meinen Zuspruch aus?"

"Ich könnte euch töten", sagte Lady Ursina und fischte nach dem Zauberstab. Anthelia blieb ruhig. Ja sie machte nicht einmal eine Handbewegung zu ihrem Zauberstab.

"Wüßtet ihr, daß nicht auch ich Maßnahmen traf, meinen Tod zu überdauern oder ihn als Zündfunken für ein Feuer der Vergeltung zu erleiden, das euch fressen wird? Ich bin mir sicher, da Ihr sehr klug seid und nicht den gewaltsamen Konflikt mit mir sucht. Ihr wißt, weil ich Anthelia bin, stehen mir magische Mittel zu Gebote, die Ihr nicht beherrscht. Wollt Ihr also wirklich die Entscheidung in einem Duell suchen?"

"Lady Anthelia. Ich bin in Großbritannien die Sprecherin der Nachtfraktion. Mir folgen sie. Wenn ich beschließe, daß Ihr mir im Weg steht, kann Euch niemand davor bewahren, von mir getötet zu werden und eure Spioninnen in meinen Reihen werden mich wieder als alleinige Führerin anerkennen. So gebe ich euch einen Rat, den euch wohl jede Sprecherin unserer Sororität geben wird: Bleibt mit Euren Schwestern aus unseren Domänen fort! Lasst davon ab, uns zu unterwandern! Gelingt euch das, so werde ich Euch in Ruhe lassen."

Anthelia lachte.

"Ich hätte Euch in Eurer Vorstellung, da sei jemand fremdes belassen, wenn ich meiner Sache nicht absolut sicher wäre. Wie gesagt, wer mir folgen will ist herzlich eingeladen." Sie zeigte auf Dana und Selina, die verlegen zurückwichen. "Doch diese Entscheidung gilt dann für das Leben. Daran könnt und werdet ihr nichts ändern, Mylady."

"Seht Ihr das so? ich denke, ich kann meinen Mitschwestern unter Androhung von Strafe verbieten, mit Euch zu paktieren. Aber andererseits würde ich mich in einen Krieg stürzen, der noch vermeidbar ist. Ich fürchte sogar, der Emporkömmling Voldemort wird bald offen ans Licht treten und seine alten Pläne aufgreifen. Ich biete euch also einen Pakt, um unser beider Gesichter zu wahren und um des Wohles der Schwesternschaft wegen: Solange ihr Eure Werke in den anderen Teilen der Welt treibt, solange werde ich Euch weder verraten noch bekämpfen. Wollt ihr mich jedoch mit Gewalt entmachten, werden wir sehen, wer von uns beiden die Stärkere ist."

"Ich erkenne diesen Anspruch an, solange keine Gründe mich zwingen, in Eurem Land tätig zu werden. Solange erwarte ich von Euch, mir ohne Worte zur Seite zu stehen. Ihr könnt Eure Führungsstellung behalten, da ich weiß, daß Ihr besonnen seid. Also?"

"Ich stehe zu dem, was ich sagte", erwiderte Lady Ursina. "Ich lasse euch in Ruhe, solange Ihr nicht gezielt gegen mich arbeitet wie bei der Sache mit Lucretia Withers oder mit dem Kobold. Übrigens, was habt Ihr mit dem vor?"

"Das was Ihr auch mit ihm vorhattet, Mylady. Ich werde ihn als meine Hand in der Welt der Unfähigen einsetzen. Euer Vorhaben hat ja bedauerlicherweise erwiesen, daß er zu Aktionen in der Welt der Zauberer nicht viel taugt. Aber seid unbesorgt! Ich werde ihn nicht gegen Euch einsetzen."

"Nun, dann hätten wir alles einstweilen zu klärende geklärt. Wie gesagt, verzichtet in Zukunt bitte darauf, meine Mitschwestern für Eure Pläne zu verheizen. Ich werde zunächst den anderen Sprecherinnen gegenüber Stillschweigen bewahren, weil ich davon ausgehe, daß Ihr euch diesen auch irgendwann offenbaren müßt. Damit wäre dieses Treffen wohl beendet."

"Wenn Ihr dies so seht, stimme ich Euch zu", bestätigte Anthelia nickend. Sie sah zu, wie Lady Ursina und ihre Mitschwestern disapparierten, um irgendwo östlich zu übernachten. Für Anthelia, die froh war, zumindest keine weitere Hexenlady töten zu müssen, waren es noch zwei Stunden, bis sie sich wieder hinlegen mußte. Sie setzte mit drei Appariersprüngen über den Atlantik hinweg. Patricia Straton löschte die Fackeln und verschwand ebenfalls. Romina Hamton nahm aus ihrer Tasche ein Satellitentelefon, baute es auf und wählte eine Nummer in Australien. Mit einer anderen Bundesschwester, die wie sie von Muggeln abstammte, unterhielt sie sich wie zwei alte Freundinnen, die lange nichts mehr voneinander gehört hatten. Dabei streute sie ein, daß Anthelia sich Lady Ursina gezeigt und ihren Machtanspruch bekundet hatte. So würden die in Australien angeworbenen Spinnenschwestern darauf gefaßt sein, daß auch Lady Nimoe, die dortige Sprecherin der Nachtfraktion, in einer noch nicht bestimmbaren Zeit mit Anthelia direkt sprechen würde. Sie legte auf und disapparierte, gerade als ein Militärhubschrauber über den Nationalpark Tenerifas hinwegbrummte. Funkantennen im Gebirge hatten die Signale aufgefangen. Doch weil Romina wie ihre Gesprächspartnerin ein Zerhackerprogramm benutzt hatten, waren die Stimmen und der Inhalt des Gesprächs nicht zu enträtseln. Hinzu kam noch, daß der Hubschrauber auf dem höchsten Berg Spaniens keine Spur von irgendjemandem fand. So tat der Kommandant der Funkpeilstation die aufgefangenen Signale als Streustrahlung auf Grund elektrischer Wolken in der Ionosphäre ab. Denn er glaubte weder an UFOs noch an Hexen oder Zauberer.

__________

"War das wirklich eine so gute Idee, höchste Schwester?" Fragte Patricia Straton Anthelia, als sie in der alten Daggers-Villa zusammentrafen.

"Sie wird mich nicht verraten. Denn während sie sprach, stand sie genau auf dem von mir vergrabenen Eidesstein. Mit einem Anticipius-Zauber wurde er ausgelöst, ohne eine Schwurformel zu benötigen, wenn sich jemand auf ihn stellt. Sie wird merken, daß sie sich an ihre Worte halten muß. Ich wußte schon, was ich tat."

"Eidesstein? Dann liegt der noch dort?" Wollte Patricia Straton wissen.

"Dort liegt er gut. Denn der Zauber kann nur einmal selbstätig aufgerufen werden. Unter den Vulkanfelsen ist er ein Stein von vielen. Aber du hast recht. Ich werde ihn morgen Nacht bergen, um ihn sicher zu verwahren. Doch heute muß er bleiben, wo er ist. Es kann nämlich sein, daß Lady Ursina den Teide beobachten läßt. Das muß ich erst enthüllen, wenn ich mich ihm wieder nähern will. Aber Schwester Dana ist sehr selbstbeherrscht. Mit keiner Miene zeigte sie, daß Sie bereits eine von uns ist."

"Aus lauter Angst, höchste Schwester. Nur aus Angst. Insofern stimmt es wohl, was Lady Ursina eingeworfen hat", wagte Patricia Straton einen Einwurf.

"Ich sagte richtig, daß Angst den Verstand vor neuem verschließen oder ihn für neues öffnen kann. Damit habe ich sie nicht verworfen, sondern nur in angemessene Grenzen gezwungen. So ist das, Schwester Patricia."

ENDE

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