PULVERFAß PURPURHAUS

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

E-Mail: hpfan@thorsten-oberbossel.de
http://www.thorsten-oberbossel.de

Copyright © 2005 by Thorsten Oberbossel

__________

Vorige Story

P R O L O G

Anthelia, eine Nichte der einst übermächtigen dunklen Hexe Sardonia, hat es geschafft, den Tod ihres eigenen Körpers zu überdauern und etwas mehr als zweihundert Jahre später, im 20. Jahrhundert, im zur Frau umgewandelten, entseelten Körper von Bartemius Crouch wiederzukehren. Sie hat den Orden der Spinne gegründet, sich altes Wissen einer früheren Hexenlady angeeignet und sich in den Jungen Benny Calder, der später als Cecil Wellington weiterlebt, einen Gehilfen und Kundschafter in der nichtmagischen Welt geschaffen. Eigentlich könnte sie nun, da sie dem in Europa wiedergekehrten Schwarzmagier Lord Voldemort den Boden in den vereinigten Staaten entzogen hat, ihre eigenen Ziele weiter verfolgen. Doch eine uralte Kreatur der Dunkelheit ist von einem ahnungslosen, der Magie unfähigen Mann aus langem Schlaf geweckt worden und treibt nun zusammen mit diesem Mann, dem Chemiker Richard Andrews, sein Unwesen auf dem nordamerikanischen Kontinent. Anthelias Versuche, dieses Wesen zu besiegen enden mit Verlusten an Mitkämpferinnen. Richard Andrews, vollkommen dieser Kreatur hörig, begeht eine Unzahl grausamer Morde, um sich abzusetzen und wird von seiner neuen Herrin, der Tochter des Abgrunds, dazu angehalten, ihr die Lebenskraft junger Frauen zu besorgen, die er durch den Liebesakt in sich aufnimmt und ebenso wieder an seine neue Meisterin abgeben kann. Polizei und Zaubereiministerium rätseln, wie es zu diesem unliebsamen Vorfall kommen konnte. Der Zaubereiminister der USA vertuscht die Wahrheit um Richard Andrews. Angeblich sei es nicht der früher so wohlsituierte Chemiker, sondern ein von skrupellosen Verbrechern engagierter Doppelgänger. Doch wird die Wahrheit sich so einfach unter der Decke halten lassen?

__________

Die Deckung hinter dem blauen Container schien ausgezeichnet gewählt zu sein. Doch irgendwie hatten ihre Gegner es verstanden, sie dort aufzustöbern. Vier bullige Gestalten, trainiert um mit roher Gewalt zu kämpfen und zu töten, fielen über die zierliche Frau mit den zur Zeit dunkelbraunen Haaren her, die dem Hieb mit einer Machete gerade noch entgehen konnte, bevor einer der Grobschrötigen Kerle sie direkt ansprang. Sie federte zur Seite, wobei sie in einer einzigen schnellen Bewegung ein nagelfeilenartiges Ding hochriss und es dem sie direkt angreifenden Mann voll in den Unterleib rammte. Sofort mußte sie vor einem weiteren Hieb mit der Machete abtauchen. Der Schlag mit dem gefährlichen Hiebmesser zischte knapp an ihrem linken Ohr vorbei, schnitt ihr bestimmt herausragende Haarspitzen ab und klirrte gegen den Container. Von der Klinge der Hiebwaffe spritzten Metallsplitter davon. Dann führte sie wieder ihre Stichwaffe. Diesmal erwischte sie den Machetenkämpfer am Waffenarm und ritzte seine dunkelgrüne Jacke auf. Sie drehte das Handgelenk so, daß sie ihr Stoßwerkzeug genau in den muskelüberladenen Arm trieb. Dabei brach die dünne Klinge jedoch ab. Doch das war ihr egal. Denn der Machetenkämpfer zuckte zusammen, taumelte und fiel hinten über. Die angegriffene Frau wirbelte herum, um in den schwarzen Schlund eines MP-Laufes zu blicken.

"Und Tschüs!" Sagte der dritte Muskelmann und zog den Abzug. Doch die Frau ließ sich blitzartig zur Seite fallen, sodaß die ihr geltende Garbe sirrend an ihr vorbeifegte. Die Frau stand voll unter Adrenalin, daß ihre Muskeln und Nerven zu Höchstleistungen anregte. Sie zögerte nicht lange und schleuderte dem MP-Schützen eine Ladung Dreck ins Gesicht. Dieser ballerte sinnlos über sie hinweg, traf den Container und überstand die davon zurückprallenden Querschläger nur, weil der Schusswinkel zu weit war und die abprallenden Geschosse den physikalischen Reflektionsgesetzen folgend in einem ebenso weiten Winkel davonstoben. Im Nächsten Moment riss sich die bedrängte Frau eine kleine Pistole aus ihrer dunkelblauen Jacke und drückte ab. Ein winziger Pfeil flog heraus und traf den Mann mit der MP ins Bein. Es zuckte zusammen, glitt aus, und der Mann stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden. Der vierte Angreifer trat der Bedrängten ihre Pistole aus der Hand. Doch das brachte ihm nichts. Denn dieselbe Hand schoss blitzartig vor und krachte mit tödlicher Wucht gegen den Kehlkopf des Mannes. Sie hörte es Knirschen und sah, wie ihr Gegner die Augen verdrehte und röchelnd nach Luft schnappte. Mit einem weiteren Hieb beendete sie das Leben des Angreifers.

In viel geübter Weise zwang sie sich, ihren Atem und ihren Pulsschlag schnell zu beruhigen, als sie sah, daß sie alle vier Gegner erledigt hatte. Die Übung war vorbei. Sie hatte ihre körperliche und geistige Stärke erfolgreich eingesetzt. Dies waren die letzten Gegner, die sie während des einmonatigen Trainings überwunden hatte. Die Frau, die so aussah, als hätte sie unmöglich gegen vier bewaffnete Männer bestehen können, blickte auf ihre Uhr mit dem entspiegelten Glas. Jetzt war es genau sieben Uhr Morgens am zweiten Mai. Der östliche Horizont war bereits hell genug, um alle Einzelheiten des Kampfes überblicken zu können. Drei Männer hatte sie mit ihren unverfänglichen Giftwaffen ausgeschaltet, Nervengiftextrakten aus sehr tödlichen Meerestieren, tödlicher als zehn Bisse einer Kobra. Der vierte war ihrer waffenlosen Kampfkunst unterlegen. Das ganze hatte nur eine halbe Minute gedauert. Die Jäger, die meinten, für jemanden eine unliebsame Person erlegen zu können, waren selbst zur Jagdbeute geworden. Die Frau griff in ihre Jacke und holte ein Mobiltelefon heraus. Sie wählte eine bestimmte Nummer und sagte:

"Hier Mantis. Habe überlebt. Schickt wen zum Müllwegbringen her!" Dann steckte sie ihr Mobiltelefon zurück in die Jacke. Sie umschlang die vergiftete Nagelfeile mit einem Lederlappen, steckte sie gut weg. Die entfallene Giftpfeilpistole sicherte sie und steckte sie in ihre Jacke zurück. Schließlich ging sie völlig unbeeindruckt von den vier Leichen davon.

Das alte Fabrikgelände, auf dem die Frau sich den Kampf geliefert hatte, war als Trainingsplatz mehr als ausgezeichnet. Denn überall konnten sich Gegner verstecken oder sie selbst Deckung vor Leuten mit Schußwaffen nehmen. Die Frau, die sich Mantis nannte, hatte jedoch jeden Angriff überstanden, teils waffenlos, teils mit ihren Spezialwaffen. Ihr Boss, Albert Finch, würde zufrieden sein. Wahrscheinlich würde sie bald einen wirklich gefährlichen Job zugeschustert bekommen, den sie nur erledigen konnte, wenn sie alle Sinne und ihr ganzes Können optimal einsetzte.

__________

Die Fackeln und Kerzen waren gelöscht, und Anthelia, die wiedergekehrte Hexenmatriarchin aus dem siebzehnten Jahrhundert, schickte ihre Gäste nach Hause. Sie hatte mit zwanzig Bundesschwestern die Walpurgisnacht gefeiert, den unter festlandseuropäischen Hexen heiligen Abend zwischen dem dreißigsten April und dem ersten Mai. Eigentlich, so wußte Anthelia, gehörten auch Zauberer zu dieser Feier. Doch ihre Organisation sollte noch geheim bleiben, zugänglich nur für Hexen, die ihre Ansicht von einer verdienten Vorherrschaft aller Hexen auf Erden teilten und sie als Anführerin anerkannten.

Als sie sich endlich zur Ruhe begab, um acht Stunden Schlaf zu finden, dachte sie noch einmal daran, daß sie sich vor einigen Tagen der mächtigen Hexe Lady Ursina Underwood offenbart hatte, da diese meinte, in ihre Angelegenheiten hineinzufuhrwerken. Sie wußte, daß sie bald alle Schwestern der sogenannten Nachtfraktion der Sororitas Silenciosa darüber in Kenntnis setzen mußte, daß sie, Anthelia, wahrhaftig von den Toten auferstanden war. Über diesen Gedanken schlief sie ein, um der Magie eines lebenswichtigen Gegenstandes die Kraft zu geben, sie weiterhin vor vielen Arten der Gewalt zu beschützen.

Patricia Straton, eine der Hexen aus dem von Anthelia gegründeten Spinnenorden, saß mit Delila Pokes, einer Mitschwester aus Australien, in einem verlassenen Blockhaus in der Prärie Nebrascas und unterhielt sich mit dieser über Anthelias Pläne und die Gefahren, die bereits aufgetreten waren und noch nicht beseitigt werden konnten.

"Der Emporkömmling hält sich noch versteckt. Wahrscheinlich will er abwarten, ob er den Jungen Harry Potter ohne Risiko aus Hogwarts herauslocken kann. Vielleicht probiert er aber noch einige seiner faulen Tricks aus, um an die Information zu kommen", meinte Delila Pokes und strich sich eine goldblonde Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Patricia Straton nickte. Sie unterhielt gute Kontakte nach England. Selbst nachdem Anthelias Orden den dortigen Nachtfraktionärinnen bekannt war, funktionierten die Verbindungen noch ausgezeichnet. So wußte sie, daß das dortige Zaubereiministerium immer noch nach Dumbledore, Sirius Black und den im Januar aus Askaban geflüchteten Todessern fahndete, aber mit keinem Wort darüber sprach, daß der von den meisten Zauberern nicht beim Namen genannte Hexer Voldemort seine Finger im Spiel haben könnte. Auf Dumbledore, so wußte Patricia, würden sie aufpassen müssen. Denn dieser hatte seinerzeit eine schlagkräftige Truppe gegen den dunklen Lord formiert und hatte diese bestimmt schon längst wieder zusammengerufen. Jetzt, wo der alte, für Patricia viel zu idealistische Zauberer nicht mehr in Hogwarts war, mußten alle Gegner von ihm damit rechnen, daß er irgendwo auftauchte, um gegen sie zu kämpfen. Was Patricia noch merkwürdig vorkam war der Umstand, daß Dumbledore angeblich eine Truppe seiner Schüler unter der Führung des in vielen Teilen der Zaubererwelt verehrten Harry Potter Angriffs- und Abwehrzauber hatte trainieren lassen, entgegen den ausdrücklichen Anweisungen des Zaubereiministers und seiner unerbittlichen Handlangerin Dolores Umbridge.

"Wir haben lange nichts mehr von Hallitti gehört", meinte Delila. Natürlich kannte sie wie alle Spinnenschwestern die Bedrohung durch die wiedererwachte Tochter des dunklen Feuers.

"Sie wird wohl bald wieder von sich hören lassen", raunte Patricia Straton. "Sie ist unersättlich geworden. Den Gesetzen der Vernunft nach müßte sie ihren Abhängigen sehr behutsam führen. Doch sie jagt ihn auf einen Beutezug nach dem anderen. Außerdem weiß die höchste Schwester, daß die Taten dieses verfluchten Richard Andrews gefährliche Muggel verärgert hat, die ihn bestimmt genauso jagen wie die Polizeitruppen. Hallitti wird entweder bald ihren Abhängigen aufgeben oder etwas anstellen, daß ihr mit einem Schlag mehr Macht gibt als sie über ihn ausübt. Die höchste Schwester erzählte da vor kurzem sowas."

"Ja, ich erinnere mich. Lady Nimoe, die australische Führerin der Nachtfraktion, hat sich auch schon schlau gelesen. Es könnte sein, daß Hallitti gezielt eine Menge Lebensenergie sammeln will, um etwas heraufzubeschwören. Wir sollten darauf gefaßt sein, daß die Tochter des dunklen Feuers bald noch gefährlicher wird."

"Danke, die Kraft die sie jetzt schon hat reicht mir völlig aus, um genug Angst vor der zu haben", erwiderte Patricia Straton.

"Die anderen beiden Töchter des Abgrundes. Wissen wir genau, wo sie ihre Ruheplätze haben?" Wollte Delila wissen.

"Natürlich. Aber das bringt nichts, weil die Ruhestätten magisch versperrt sind. Die höchste Schwester erwähnte einmal, daß es nur gelänge, eine dieser Kreaturen zu vernichten, wenn sie in deren Schlafhöhle vordringen und ihren Lebenskrug zerstören könne. Allerdings sei gerade das selbstmörderisch", sagte Patricia Straton.

"Ich weiß, weil der Lebenskrug alle darin geborgene Lebensenergie sofort freisetzt, allerdings als vernichtende Kraft. Das ist ein Dilemma."

"Die höchste Schwester will keine Kamikaze-Aktion, sagte sie einmal. Wenn wir es schaffen, den Krug ohne Gefahr für uns selbst zu vernichten, dann erst machen wir das. Aber dazu müssen wir in die Schlafhöhle der dunklen Kreatur eindringen können."

"Du hast recht, Patricia. Du hast vollkommen recht. - Eine andere Frage: Dieser Richard Andrews ist ein Träger unweckbarer Zauberkräfte. Sein Sohn Julius ist ein vollwertiger Zauberer. Ich habe mal meine Verbindungen spielen lassen und erfahren, daß er mit Aurora Dawn bekannt ist. Könnte dieser Junge uns nicht nützen?"

"Die höchste Schwester hat das schon eingeräumt", bestätigte Patricia. "Allerdings kommen wir im Moment nicht an den Jungen heran, weil er entweder in Beauxbatons ist oder bei einer Abwehrexpertin gegen schwarze Magie lebt, die ihr Haus im Sanctuafugium-Zauber birgt. Abgesehen davon kommt es im Moment eher darauf an, Hallittis Abhängigen zu stellen, ihn zu ihr zu verfolgen und dann zu versuchen, den Lebenskrug der Abgrundstochter zu vernichten."

"Dazu muß er wohl erst wieder irgendwo auftauchen", sagte Delila Pokes.

__________

Picklock, ein umtriebiger, als Langfinger bekannter Kobold, ärgerte sich wieder einmal. Diese Anthelia hatte seinen Weihestein und damit alle Macht über ihn. Wo er früher unbehelligt in der Welt der Neddelwocks, die von den Zauberern Muggel genannt wurden, herumstromern konnte, durfte er nur noch durch die Straßen der Muggelsiedlungen, um bestimmte Aufträge für diese Hexe zu erledigen. Oft hatte er schon mit dem Gedanken gespielt, sich seinen Leuten zu stellen und lieber von diesen in flüssigem Gold ertränkt zu werden als für diese Anthelia zu arbeiten wie ein blöder Hauself. Jetzt hatte er den Auftrag, in der Riesenstadt New York einen gewissen Mr. Petrocelli aufzusuchen, von dem Anthelia meinte, wichtige Informationen zu kriegen. Anthelia wollte den Mann ausspionieren. Dafür eignete er sich als Kobold besonders gut, weil seiner Rasse die Fähigkeit zur Unsichtbarkeit angeboren war und er auch durch feste Wände gehen konnte wie ein Gespenst, solange die Wände nicht aus geschmiedetem Eisen oder Kunststoff bestanden.

Es stank wie die Pest. Diese Neddelwocks bliesen mit ohrenzerbröselndem Getöse Giftwolken aus ihren selbstfahrenden Wagen aus, die die Luft hier beinahe Undurchsichtig machten. Meterhohe rote Neonbuchstaben an den Wänden der himmelhohen Wohn- und Arbeitstürme warben für Versicherungen, Banken, Anwaltskanzleien und vieles mehr. Picklock, der im Schutze seiner körperangeschmiegten Unsichtbarkeitsaura durch die Straßen ging, mußte sich arg anstrengen, nicht loszuhusten, als ein meterlanger Lastwagen mit laut knatterndem Dieselmotor links von ihm auf dem schwarzen Asphalt dahinzog und seine Abgaswolken wie eine bläuliche Schleppe hinter sich herzog. Der Kobold konnte eine Gruppe von halbstarken Neddelwocks erkennen, die in schwarzen Lederkleidern an einer Hauswand lungerten und dümmlich grinsten, als sei die Welt um sie herum ein einziger lustiger Tummelplatz. Einer der Burschen hatte eine Videokamera, einen jener kleinen Kästen mit einem Auge darin, der das, was dieses Auge einfing in sich festhalten konnte. Picklock hatte sich schon oft überlegt, ob er nicht sowas praktisches haben wollte, als er den Burschen beobachtete, wie er mit der Kamera eine Gruppe junger Mädchen aufnahm.

"Hey, joh, Mädels! Wie wär's mit 'nem vollgenialen Muntermacher?" Fragte ein anderer Bursche, ein pickelgesichtiger Junge mit struweligem blonden Haar und einer Fahrradkette als Halsschmuck.

Keines der Mädchen antwortete. Sie gingen nur etwas schneller. Der Blonde, offenbar nicht daran gewöhnt, keine Antwort zu kriegen, stand auf und ging den fünf Mädchen hinterher.

Der Bursche mit der Kamera blickte ihm nach, legte sein kostbares Videogerät neben seinen Freund und eilte seinem Kumpan nach. Picklock grinste. Die Kamera rief ihn, er könne sie jetzt mitnehmen. Natürlich hörte das außer ihm keiner hier. Er schlich auf die verbliebenen Jugendlichen zu, die zusahen, wie die fünf Mädchen ihre Schritte beschleunigten.

"Lauft los, dann macht's echt Spaß", meinte einer der Jungen.

Picklock stand nun vor der Kamera, die ausgeschaltet auf einer Tasche lag. Ein kurzer Griff, und er hielt sie in der Hand. Ein schneller Schwung beförderte sie in seine Umhängetasche, die mehr aufnehmen konnte als sie von außen erkennen ließ. Der Bursche starrte auf die plötzlich hochsteigende und dann einfach verschwindende Kamera. Er glotzte so blöd wie ein Neddelwock eben glotzt, wenn direkt neben oder vor ihm gezaubert wird, rang um Fassung und tastete nach der Tasche, auf der die Kamera gelegen hatte.

"Eh, Scheiße! Was Is'n mit Dans Kamera passiert?" Fragte er, wohl auch nicht wissend, wen eigentlich.

"Die hat jetzt ein neues Zuhause", trällerte Picklock und lief ganz leise davon. Der Junge, der das mit angesehen hatte, wie die Kamera seines Freundes einfach verschwunden war, sprang auf und rief seinen beiden Kameraden nach, sie sollten zurückkommen. Doch diese schienen gerade im Jagdrausch zu sein. Denn sie bogen gerade in eine Querstraße ein und verschwanden in der Deckung des grauen Häuserblocks. Dann passierte noch was merkwürdiges, was auch Picklock erstaunen ließ.

Von irgendwo her strich weißer Nebel über den Bürgersteig. Die Jugendlichen nahmen ihn nicht zur Kenntnis, bis der Dunststreifen sich verdichtete und eine überragend schöne Frau mit blasser Haut und feuerrotem Haar sich herausschälte. Einer der Burschen sah sie und schien förmlich elektrisiert zu werden, während Picklock das unbestimmte Gefühl spürte, von dieser Frau gehe etwas gefährliches aus. Das mußte wohl so sein, denn Frauen, die aus Nebel kamen waren meistens Hexen oder schlimmere Geschöpfe, vor denen selbst ein frecher Kobold wie Picklock schnellstens die Flucht ergreifen sollte. Das tat er dann auch, indem er rasch mit den Füßen aufstampfte und blitzartig im Boden versank.

Er tauchte einige Kilometer weiter fort wieder auf, zumindest kehrte er an die Erdoberfläche zurück. Er blieb aber weiterhin unsichtbar. Jetzt, wo er rasch davongeeilt war, erkannte er, daß dieses Wesen vielleicht mitbekommen hatte, daß etwas in ihrer Nähe Magie gebraucht hatte. Er hoffte nur, daß er nicht verfolgt wurde. Er ging zu jener Adresse, wo er diesen Petrocelli finden würde, ein Haus in einem grünen Park in einem Nobelviertel von Manhattan. Er schloß seine Augen, um sein Gehör auf das zwanzigfache zu steigern. In dem Haus waren sieben Männer. Sie unterhielten sich in einer schnellen temperamentvollen Sprache. Dann sagte einer auf Englisch:

"Was sagt unser großer Schutzengel? Wir sollen uns nicht aufregen? Ja, glaubt der denn, wir dürften das einfach so hinnehmen, wie unsere besten Kunden umgebracht werden?"

"Natürlich müssen wir zeigen, daß wir uns nichts gefallen lassen, Luigi. Aber ich habe mit den Capi der anderen Familien gesprochen. Wir wollen erst rauskriegen, für wen dieser Bastard arbeitet. Also, Mr. Young, richten Sie Ihrem Chef aus, wir halten still, bis das Maß voll ist. Wenn das aber passiert, dann werden wir schonungslos Vergeltung üben", sagte eine Männerstimme, die einem altgedienten Anführer gehören mußte. Picklock schlüpfte durch die dicke Mauer in das Haus und näherte sich dem Konferenzzimmer, wo er die Stimmen geortet hatte.

"Don Ricardo, ich danke Ihnen, daß Sie unsere Wünsche respektieren. Natürlich wissen wir, wie prekär die Lage für Sie ist. Immerhin möchten wir ja ein gutes Verhältnis zu unseren Geschäftskunden erhalten, wie Sie ja auch ein stabiles Verhältnis zu Ihren Kunden pflegen möchten. Ich kann Ihnen jedoch zusichern, daß wir uns bereits mit dem Fall befassen und garantiert alle Probleme aus der Welt schaffen werden", sagte der Mann, der Mr. Young genannt wurde. Picklock schaffte es kurz durch den Marmorboden zu schlüpfen und keine Sekunde später im Konferenzzimmer herauszukommen. Er beobachtete die sieben Männer, von denen vier eher Leibwächter waren, weil sie still an den Wänden lehnten und ihre Hände an ausgebeulten Jackentaschen ruhten. Picklock überlegte, ob er nicht mal die Kamera ausprobieren sollte. Klein genug war sie ja, um nicht über seine Unsichtbarkeitsaura hinauszureichen, wenn er sie so nahe es Ging am Körper trug.

Er holte ganz leise die Videokamera heraus, betastete sie und entdeckte die kleinen Tasten, mit denen man sie wohl bedienen konnte. Doch irgendwie war er wohl zu laut geworden. Denn einer der an der Wand lehnenden Männer blickte in seine Richtung und ließ seine Hand in die Tasche gleiten. Picklock blieb starr und stumm stehen. Das war zu gefährlich, jetzt mit einer Kamera herumzumachen.

Der Mann, dessen Stimme wohl dem Mann namens Don Ricardo gehörte, sprach mit dem Leibwächter. Dieser machte abbittende Gesten und stand wieder ruhig da. Dabei sprachen beide so laut, daß Picklock es wagte, die Kamera einzuschalten. Zum Glück war in diesem Raum ein Computer in Betrieb, dessen Kühlgebläse das leise Summen des Kameramotors überlagerte. Sehr behutsam nahm Picklock die Gesellschaft der sieben Männer auf und belauschte sie weiter.

"Wir haben lange nichts mehr von diesem Kerl gehört. Kann sein, daß sie ihn außer Landes geschafft haben", meinte der Mann, der Luigi genannt worden war. Don Ricardo, der leicht untersetzte ältere Herr mit dem mausgrauen Haarkranz, sagte auf Englisch:

"Das glaube ich nicht. Wir haben alle Flug- und Seehäfen im Griff. Der kann unmöglich das Land verlassen, es sei denn über den Rio Grande nach Mexiko."

"Nichts für ungut, Don Ricardo. Aber er konnte unerkannt durch verschiedene Staaten reisen", entgegnete Luigi.

"Jetzt nicht mehr. Die anderen Familien haben ihre Leute bei den Flug- und Schiffahrtslinien, in den Bahnhofs- und Flughafencafés und an den Dockanlagen angespitzt, ihn sofort zu melden, wenn er irgendwo auftaucht. Dann kriegen wir auch raus, wer ihn deckt und führt."

"Haben wir schon raus, wo der echte Andrews ist?" Wollte Luigi wissen.

"Irgendwie glaube ich unseren alten Bekannten vom FBI nicht, Luigi. Die erzählen wohl nur, es sei ein Doppelgänger, weil die nicht zugeben wollen, wie gut man die ausgetrickst hat. Ich denke, das ist der echte Richard Andrews. Ich habe mich mit einem Vetter in London verständigt, der mal nachprüfen soll, was der Mensch so alles gemacht hat, bevor er hier in New York war."

"Wozu soll das gut sein?" Fragte Luigi und ärgerte sich, weil die Antwort ja auf der Hand lag. Man wollte und mußte die Schwächen dieses Mannes herausfinden. Doch Young schüttelte den Kopf.

"Bevor Sie sich oder gute Bekannte unnötig in Schwierigkeiten bringen, Don Ricardo: Mein Vorgesetzter bietet Ihnen, sofern Sie mit ihm das erwähnte Stillhalteabkommen treffen, ein bereits lückenloses Dossier von Richard Andrews an. Am besten kommen sie in vierzehn Tagen zu uns nach Nassau, um die Einzelheiten zu klären!"

"Wie Sie meinen, Mr. Young", sagte Don Ricardo mit leicht verkniffenem Gesichtsausdruck. Young verließ den Konferenzraum. Picklock blieb dort und belauschte die sechs Männer weiter. Obwohl er die Sprache nicht verstand, dachte er, daß die Kamera es ja aufzeichnen würde. Sollte diese Anthelia sich doch damit herumschlagen.

__________

Vier Streifenwagen jagten durch die Straßen von Manhattan, weil jemand über Handy um Hilfe gerufen hatte. Fünf Mädchen, Touristinnen aus Virginia, wurden von heruntergekommen aber gefährlich aussehenden Straßenjungen verfolgt. Die zwei nächsten Reviere hatten sofort je zwei Einsatzwagen losgeschickt, um die Sache zu klären. Denn es war hier in der Gegend schon zu häufig vorgekommen, daß Touristen von Straßenbanden überfallen und ausgeraubt worden waren. Frauen und Mädchen waren sogar brutal Vergewaltigt worden.

"Das ist die Gegend, Lieutenant", sagte der junge Sergeant, der zusammen mit Lieutenant Douglas Remmington in einem der Streifenwagen saß.

"Hoffentlich kriegen wir die Burschen noch, ohne daß die was schlimmes angestellt haben", meinte Remmington. Da kam über Funk die Meldung, das der Streifenwagen 162 die fünf jungen Frauen gefunden hatte. Zwei Burschen, die sie gejagt hatten, seien beim Anrücken der Stadtpolizei sofort davongelaufen. Man habe sie aber gleich wohl.

"Hier Wagen neununddreißig, haben flüchtige Jugendlichen soeben ausgemacht. Wir greifen zu wenn möglich."

"Roger, Wagen neununddreißig", kam eine Bestätigung von der Einsatzzentrale. "Sehen Sie sich jedoch vor Schußwaffen vor!"

"ist verstanden", kam die Antwort von Wagen 39.

"Heh, sehen Sie dort, die Frau da!" Meinte der Sergeant zu Remmington. Dieser blickte sich um. Doch da war keine Frau. Höchstens vom Wind zusammengeblasener weißer Dunst.

"Was für eine Frau soll denn da gewesen sein, Sergeant Willes?" Fragte Remmington nach.

"Habe ich mich wohl getäuscht, Sir. Ich dachte erst, eine weißgekleidete Frau mit roten Haaren zu sehen. Kann aber auch dieser Nebelstreifen gewesen sein. - Aber dahinten liegt ein Mensch."

"Ranfahren und anhalten!" Befahl Remmington. Sofort zog der Streifenwagen auf die Straßenseite hinüber, wo ein regloser junger Mann in nicht mehr als einem Unterhemd lag. Um ihn herum lag eine schwarz glitzernde Lederkluft wie die eines Motoradfahrers.

"Was ist denn hier passiert?" Fragte Remmington, während das laute Wimmern der Sirene abschwoll und nur noch das rotierende Licht auf dem Dach eingeschaltet blieb.

"Geben Sie mir Deckung!" Befahl Remmington und öffnete die Tür. Sein Fahrer zog die Dienstwaffe, eine 38er Smith & Wesson, wie sie zur Standardbewaffnung der Stadtpolizei gehörte und beobachtete, wie der Lieutenant nach allen Seiten Umschau haltend auf den reglosen Burschen zuging. Da stolperte ein zweiter Jugendlicher, auch im schwarzen Lederzeug, von rechts heran. Remmington hob seine eigene Waffe und forderte den Jungen sehr barsch auf, die Hände hochzunehmen. Zitternd blieb der Junge stehen und glotzte auf den jungen Burschen auf dem Bürgersteig, der in einer merkwürdig unterwürfigen Haltung dalag und sich nicht mehr regte. Sergeant Willes schlüpfte aus dem Wagen und übernahm es, den Jugendlichen in Schach zu halten, der jedoch nicht daran dachte, irgendwas böses zu tun. Es sah eher so aus, als wolle er sofort weglaufen. So kam es dem Sergeanten vor. Remmington untersuchte derweil den reglosen, fast nackten Jugendlichen. Dann meinte er:

"Willes, das gibt's nicht. Wir haben hier wieder so'n Fall wie damals mit Dampsey. Der Junge ist tot, ist aber unverletzt. Der guckt so, als hätte er nicht glauben können, was er da gesehen hat."

"Die Höllenbraut!" Stammelte der Junge, den Willes in Schach hielt.

"Die was?" Fragte der Sergeant schroff.

"Daa war so'ne Frau, die kam aus einem Nebel raus. Die hat uns angelächelt und uns aus goldenen Glitzeraugen angeglubscht. Dann konnte ich mich nicht mehr bewegen, Sir. Die hat sich dann Jock gekrallt, hat so getan, als wolle sie mit ihm pennen. Jock hat geglotzt wie'n Auto mit großen Scheinwerfern. Die Braut hat den einfach ausgezogen, ihr weißes Puppenkleid hochgeschlagen und sich einfach über Jock hergemacht. Ich habe gedacht, ich spinne. Aber ich konnte mich nicht rühren. Jock hat das echt genossen, bis er immer schlapper wurde. Diese Frau ist dann auf mich zugekommen. Sie hat mich angesehen und dann gemeint, ich sei vergiftet und würde ihr nicht viel geben. Dann ist die einfach davongegangen. Jock lag die ganze Zeit auf dem Boden. Ich konnte erst nicht weg. Irgendwann konnte ich loslaufen. Ich dachte, die bringt mich auch noch um. Dann hörte ich das Getröte von den anderen Wagen und wollte machen, daß ich in die andere Richtung komme. Tja, und jetzt hamse mich."

"Dann tritt mal ans Auto ran! Du kennst das Spiel bestimmt", sagte Remmington. Während der Junge breitbeinig, die Hände auf dem Dach von Willes durchsucht wurde, quäkte es aus dem Funk, daß man die beiden flüchtigen Jugendlichen hatte festnehmen können. Sie hätten nur Messer und einige selbstgemixte Drogenpillen dabeigehabt. Ähnliches fand Willes auch bei dem Jungen, der auf die Frage nach seinem Namen sagte, daß er Johnny McGrath heiße, was durch bei ihm gefundene Ausweispapiere bestätigt wurde.

"Ihr gehört also zu den Black Soldiers, dieser Gang, die in der Gegend herumstreunt?" Wollte Remmington wissen als er ein eintätowiertes Bandenzeichen am rechten Arm des gestellten Jugendlichen entdeckte.

"Öhm, ja", gab der Junge zu. Er war sehr kleinlaut und kooperativ. Irgendwie kam das Remmington merkwürdig vor. Sicherheitshalber fesselte er Johnnys Hände mit den Handschellen auf dem Rücken und verfrachtete ihn auf den Rücksitz. Er nahm das Mikrofon des Funkgerätes, um die Zentrale anzufunken, daß sie einen toten jugendlichen gefunden hatten und einen verstörten Kumpan von diesem auf die Wache mitbringen würden, als von rechts ein dunkler Ball auf den Wagen zuflog. Remmington erstarrte. Der Ball flammte wie aus Feuer, aus nachtschwarzem Feuer. Dann krachte das unheimliche Geschoss in den Streifenwagen und zerplatzte in einen hungrigen Wirbel aus pechschwarzen Flammen, die unbezähmbar und unerbittlich das Metall des Wagens fraßen, um dann die beiden Polizisten und ihren Gefangenen zu verschlingen. Das ganze dauerte keine zwei Sekunden. Keiner der drei Männer hatte auch nur den Hauch einer Chance.

Unsichtbar für Menschenaugen stand Hallitti am Straßenrand. Sie ärgerte sich ein wenig, daß sie den unter Rauschgift stehenden Knaben nicht gleich getötet hatte, wenn sie schon nichts von seiner Lebenskraft einverleiben wollte. So mußte sie zwei Polizisten und ihr Auto mit dem dunklen Feuer vernichten, dem sie ihren Beinamen verdankte, das gerade in sich aufgenommene Leben in der dunklen Magie entladen, die das nachtschwarze Höllenfeuer zündete und auf ein Ziel warf.

"Bedauerliche Nachlässigkeit", dachte das dämonisch schöne Geschöpf. "Die unbändige, unberührte Kraft hat mir gut getan. Muß ich mir einen anderen suchen."

Von dem Polizeiauto konnten sie nicht einmal mehr Reste finden, und außer einer herumliegenden Lederkluft war auch nichts von Jock zurückgeblieben. Denn Hallitti hatte die Leiche des von ihr ausgezehrten Teenagers in den Wirbel dunkler Flammen geworfen, worauf der Körper in Sekunden zu Asche zerfiel.

Die Suche nach Remmington und Willes hielt die new Yorker Stadtpolizei über Tage in Atem. Da war der Mord an einem Straßenräuber, der in der South Bronx sein Unwesen getrieben hatte einer von vielen leider zu vertrauten Vorfällen, selbst wenn äußerlich keine Verletzungen nachgewiesen werden konnten.

__________

Die Gruppe für die Aufspürung von Magie in Muggelsiedlungen verzeichnete am dritten Mai um neun Uhr abends eine kurze heftige Freisetzung düsterer Kräfte. Als sie mit einem Stoßtrupp Bereitschaftszauberer an dem ermittelten Ort eintrafen, konnten sie lediglich noch einen kleinen Haufen Rost entdecken. Als wäre etwas aus Eisen innerhalb von wenigen Sekunden komplett zu rotem Staub zerfallen, als hätte der Rost von tausend Jahren in einer einzigen Sekunde alles feste Metall zerfressen. Einer der Zauberer nahm rasch eine Probe davon in einen gleichwarm bleibenden Behälter und disapparierte mit seinen Kollegen, weil sonst nichts und Niemand in der Gegend war, was für irgendwelche Zauberei verantwortlich war. Als die Beobachtungen und Berichte dann über den Dienstweg beim Leiter der Strafverfolgungsabteilung landeten, schaltete sich Minister Pole höchst selbst ein und verhängte eine absolute Informationssperre zu diesem Vorfall. Als der Minister dann am Abend in seiner Sommerresidenz in Florida vor dem brennenden Kamin saß, fragte er sich, ob er nicht doch mehrere Mitarbeiter über die Gefahr aufklären sollte, die seit einigen Monaten Muggel- und Zaubererwelt bedrohte. Der Haufen Rost bewies, daß jemand die Macht des dunklen Feuers auf einen Metallkörper geworfen hatte. Neben allem magischen und allen Lebensformen fand das dunkle Feuer in allen Metallen außer Gold und Platin so leichte Nahrung, wie ein gewöhnlicher Brand in Stroh und Holzspänen. Doch was war das für ein Metallding?

Etwas später erfuhr er, daß zwei New Yorker Polizisten vermißt würden. Mochte es angehen, daß die Kreatur diese beiden Polizisten mit ihrem Auto zerstört hatte, weil sie sie aufgestöbert hatten? Dann hieß das, daß diese Kreatur wahrhaft skrupellos darin war, keine Zeugen zu hinterlassen.

Er nahm eine Prise Flohpulver, warf es in den Kamin, worauf die Flammen zu einer tosenden, smaragdgrünen Feuerwand aufloderten, steckte seinen Kopf hinein und rief:

"Institut Laveau, Davidson!"

Sein Kopf schien ihm vom Hals gerissen und mit unbändiger Wucht durch die Gegend gewirbelt zu werden. Dann, als Ruhe einkehrte, atmete Minister Pole auf. Sein Kopf saß nun im Kamin von Elysius Davidson, dem Leiter des Laveau-Institutes zur Abwehr dunkler Kräfte im Sumpfland von New Orleans.

"Ah, Herr Minister", grüßte Elysius Davidson den ranghöchsten Zauberer der USA.

"Sie ist wieder selbst in Erscheinung getreten, Elysius. Die Tochter des dunklen Feuers hat sich in New York männliche Opfer gesucht. Zumindest vermuten wir das, weil zwei Polizisten ihr dabei in die Quere kamen, die spurlos verschwanden. Wir haben reinen Rost gefunden, der wahrscheinlich von einem dieser Muggelautos stammt. Es ist wohl sicher, daß dieser Wagen durch dunkles Feuer zerstört wurde. Ich fürchte, die Kreatur wird langsam unersättlich."

"Ja, Minister Pole. Wir haben das auch mitbekommen, daß an der Ostküste eine dunkle Kraftentladung freigesetzt worden ist. Das wird sie wohl gewesen sein. Allerdings muß sie, um ihre mächtigsten Zauberkräfte wirken zu können, in sich aufgenommene Lebenskraft opfern. Das bedeutet, sie wird wohl bald neue Opfer suchen, wenn sie nicht gleich ihren Sklaven losschickt."

"Sie meinen diesen Richard Andrews?" Vergewisserte sich Minister Pole.

"Natürlich, Sir. Ich denke, die Kreatur ist deshalb selbst auf Beute ausgegangen, weil ihr Abhängiger doch etwas zu sehr gesucht wurde. Von ihr weiß man in der Muggelwelt ja nichts. Oder?"

"Nicht, daß ich es wüßte, Elysius. Das soll auch so bleiben. Unsere ganze Geheimhaltung ist keinen Knut mehr wert, wenn herauskommt, daß es die angeblichen Märchenmonster und in vielen Religionen erwähnten Dämonen tatsächlich gibt."

"Apropos Geheimhaltung. Jane Porter hat mich wiederholt gebeten, zumindest den Andrews' zu erzählen, was mit Richard Andrews los ist. Sie wissen, dieser arme Mann hat einen Zauberer zum Sohn ..."

"Sagen Sie Madame Porter bitte auch zum wiederholten Mal, daß ich gesagt habe, niemand außer mir, ihr, Ihnen und dem engagierten Zachary Marchand, der für uns die Lage in der Muggelwelt überwacht, sollen darüber in Kenntnis gesetzt werden. Es brächte rein gar nichts, wenn der nichtmagischen Mutter oder ihrem Sohn diese grausame Wahrheit offenbart wird. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, ist der Junge in Beauxbatons und damit so sicher wie ein Junge sein kann, während die Mutter bei Madame Brickston im Haus lebt, die aus Schutzbedürfnis vor uns vertrauten Feinden einen Sanctuafugium-Zauber um ihr Heim gelegt hat. Warum also die beiden unnötig verunsichern?"

"Jane meint, und ich gebe das nur so weiter, wie sie's gesagt hat, daß der Junge Julius ein Recht darauf hat, zu wissen, was mit seinem Vater geschieht. Immerhin habe sie ihm versprochen, auf ihn aufzupassen."

"Ich weiß zwar nicht, wieso um einen Zauberschüler aus einer Muggelfamilie ein derartiger Affentanz gemacht werden soll", erwiderte Pole. "Aber wenn ich sagte, daß nur wir vier von der Rückkehr dieser dunklen Kreatur wissen sollen, dann meine ich das so und nicht anders, ohne Ausnahmen und Sonderregeln."

"Ich werde es Jane sagen, wenn sie aus Ecuador zurück ist."

"Was tut sie denn dort?" Wollte Pole wissen.

"Wir haben einen Schwarzmagier verfolgt, der zu einer Bruderschaft gehört, die in Zentralamerika ihr Unwesen treibt. Sie nennen sich Hermanos de Montezuma und wollen das alte Reich der Azteken wieder beleben, allerdings nur auf der ebene der damaligen Priester und Magier."

"Dann hoffe ich, daß Madame Porter wohlbehalten zurückkehrt", sagte Pole. "Wundere mich nur, daß mein Kollege aus der südamerikanischen Zaubererunion sich noch nicht bei mir gemeldet hat."

"Weil wir diesen Dunkelmagier hier in New Orleans fanden. Sie wissen ja, daß wir vom L.I. manchmal Nachrichten bekommen, deren Quellen dem Ministerium unzugänglich sind."

"Ach, der Geist der alten Voodoo-Königin hat sich wieder gemeldet. Gut, Sie haben Ihre Angelegenheiten zu klären. Ich habe Ihnen nur gesagt, was ich weiß und daß wir die einzigen bleiben müssen, die davon wissen."

"Ich habe es verstanden, Minister Pole", bestätigte Mr. Davidson. Poles Kopf verschwand aus dem Kamin.

Elysius Davidson schritt auf und ab. Sollte er dem Minister nicht doch verraten, was er herausgefunden hatte? Es war nötig, ja lebenswichtig, daß der Junge Julius Andrews erfuhr, was hier geschah. Doch er, Elysius Davidson, hatte bei Eintritt in das Laveau-Institut einen Eid schwören müssen, niemals gegen eindeutige Befehle des amtierenden Zaubereiministers zu verstoßen. Das war den jeweiligen Ministern deshalb wichtig, weil im Institut die Creme dela Creme der nordamerikanischen Experten für und gegen die dunklen Künste vereinigt waren. Auch Jane Porter, die sehr umgängliche, ja humorvolle Mitarbeiterin, hatte diesen Eid ablegen müssen. Doch was konnte Davidson machen? Er durfte niemanden informieren, selbst wenn ihm dutzende Leute einfielen, die das wissen mußten, wie Professor Dumbledore, der ihm vor kurzem eine Eule geschickt hatte, daß er wohlauf sei und wohl bald aus seiner Deckung kommen könne, wie Ernestine Wright, die es in der Kunde um die Verdrängung dunkler Kräfte weit gebracht hätte, wenn sie nicht aus reiner Sentimentalität den freien Posten des Schulleiters von Thornttails angenommen hätte. Er kannte noch Semiramis Bitterling, die mal Lehrerin in Hogwarts gewesen war und nach der von Dumbledore angeregten Einstellung von Severus Snape in die Forschungsgruppe für dunkle Zauberwesen gegangen war. Dann war da noch Professeur Blanche Faucon, die ebenfalls eher aus sentimentalen als aus zwingenden Gründen lieber in Beauxbatons Unterricht erteilte als ihrer eigentlichen Berufung nachzukommen, die dunklen Künste zu bekämpfen. Alle diese Hexen und Zauberer hätte Davidson sofort unterrichtet, wenn der eindeutige Geheimhaltungsbefehl des Ministers nicht wäre. Er dachte sich zwar, daß es in anderen Ländern vielleicht auffallen würde, wenn in den Staaten merkwürdige Dinge vorfielen. Doch wußte Davidson besser als mancher andere, daß unter Minister Pole ein wohlorganisiertes Netz von Vertuschungsspezialisten eingerichtet worden war, das von Eingeweihten wie Davidson als Tagtraumbrigade bezeichnet wurde, weil sie vordringlich Erscheinungsformen der Magie in der Muggelwelt wie Halluzinationen oder Tagträume aussehen ließen.

Davidson setzte sich in seinen hochlehnigen schwarzen Ledersessel. Da drang eine perlweiße Hand durch die Wand, gefolgt von einem Arm und einem Körper. Jetzt konnte Davidson die Erscheinung erkennen. Es war der wachende Geist von Marie Laveau, der einst so berühmt-berüchtigten Voodoo-Königin im Umkreis von New Orleans.

"Der oberste von euch hat dir gesagt, du sollst weiter schweigen?" Fragte die durchsichtige Frauengestalt, deren langes dunkles Haar vom hindurchschimmernden Feuer leicht blau glühte.

"Ja, er hat mich dazu verdonnert, weiterhin nichts zu sagen, Madame Laveau", sagte Davidson.

"Die Magie des bösen Wesens ist übermächtig. Sie wird jeden töten, der mit ihr in Berührung kommt, wie das Gift der Schlange. Alleine werdet ihr nichts gegen dieses Wesen bewirken können."

"Das ist mir bekannt", sagte Davidson, der sich höllisch zusammenreißen mußte, nicht respektlos zu erscheinen oder zu klingen.

"Nun, dann werdet ihr euch anderen anvertrauen müssen, die diesen Zauber besser kennen und auch jene, die nicht direkt davon berührt werden", erwiderte Maries Geist.

"Die Befehle sind bindend, Madame Laveau. Wir dürfen nicht dagegen verstoßen. Ein magischer Eid zwingt uns, sie nicht zu mißachten."

"Dies ist mir wohl bekannt", sprach der Geist mit warmer, eher mütterlicher Stimme. "Doch es behagt mir nicht, hier auf dieser Welt zu wachen und zu erleben, wie die Geister des Bösen die Unwissenheit der Lebenden ausnutzen, um sich Macht und Nahrung zu beschaffen. Doch auch ich darf nicht von mir aus einschreiten. Doch sollte sich eine Gelegenheit ergeben, werde ich euch wie zuvor mit meinem Wissen und meinen Gaben unterstützen. Habe noch einen angenehmen Abend, Elysius!" Sprach's und entwich durch die Wand.

"Welche Gelegenheit?" Fragte sich der Chef des Laveau-Institutes. Dann nahm er sein Buch über antike Religionen wieder zur Hand, in dem er gelesen hatte, als Minister Pole ihn kontaktfeuerte.

__________

Picklock blieb zwei Stunden in jenem Konferenzraum, dann kehrte er zu Anthelia zurück, die ihm durch einen Zauber gegen den Weihestein deutlich zeigte, daß er gefälligst zu ihr zurückkehren solle. Als er dann mit gesenktem Kopf vor ihr stand, sah sie ihn durchdringend an.

"Habe ich dir nicht eindeutig befohlen, keine Dinge aus der Welt der Magielosen mitgehen zu lassen?! Was ritt dich, mir derartig ungehorsam zu werden, Picklock Loluck Haberzak?" Herrschte sie den Kobold an, der jedes Wort wie einen Schwerthieb durch sich hindurchgehen fühlte.

"Ich brauchte das Teil, M-m-meisterin A-anthelia", stammelte der Kobold und holte die Kamera hervor. Anthelia nickte unvermittelt.

"Es war zwar nicht nötig, ein derartiges Artefakt zu bemühen, noch dazu ein gestohlenes. Doch der Eigentümer wird dafür wohl keine Verwendung mehr haben. Denn die Frau, die du aus dem Nebel kommend erblicktest, hat unter jenen Knaben, denen du dieses Bildsammlungsartefakt stahlst, ihre Form von Nahrung gesucht und wohl auch gefunden. Denn mir kam zu Ohren, daß die Ordnungshüter der Unfähigen zwei der ihren vermissen und wohl nimmer finden werden."

Picklock sah Anthelia sehr bedröppelt an. Konnte sie in sein Gehirn hineinsehen, weil sie wußte, was er gesehen hatte? Sicher konnte sie das. Denn sie war sich ihrer Sache zu sicher, um gut geraten zu haben.

"Nun, so werden wir im Hause einer guten Mitschwester erblicken und erlauschen, was du mit diesem Bildsammelauge und dem daran befestigten Lautfänger erheischen konntest, Picklock. Einstweilen entlasse ich dich zu freiem Tun, sofern du nicht wieder gegen meine eindeutige Anweisung handelst, Dinge der Unfähigen nicht mitgehen zu lassen." Picklock verbeugte sich wie ein serviler Hauself und ging davon. Er ärgerte sich, dieser Hexe auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Doch die Gesetze seiner Art zwangen ihn, dem zu dienen oder zu gehorchen, der seine geweihten Namen auszusprechen vermochte und obendrein noch den Weihestein in seinem Besitz hatte.

Anthelia apparierte bei Romina Hamton, einer muggelstämmigen Mitschwester. Diese schloss die von Picklock stiebitzte Kamera an ihren eigenen Fernseher und Videorekorder an, legte eine Casette in den großen Rekorder und drückte auf Aufnahme. Dann fuhr sie die 2-Stunden-Aufnahme ab, die Picklock mehr oder weniger ruhig gemacht hatte. Anthelia, die des italienischen, das da gesprochen wurde mehr als mächtig war, grinste überlegen, als sie heraushörte, daß die Familien der ehrenwerten Gesellschaft nordamerikas bereits nach Richard Andrews suchten. Dann hörte sie etwas heraus, das ihr eine verärgerte Grimasse ins Gesicht trieb. Diese Unfähigen hatten doch tatsächlich vor, Richard Andrews sofort zu töten, wenn er wieder einem Straßenmädchen durch Hallittis Magie das Leben entreißen würde. Als die Aufnahme komplett durchgelaufen war meinte Anthelia:

"In vierzehn Tagen, also am achtzehnten des Monats Mai, werden sich dieser Ricardo Petrocelli mit dem Bandenchef dieses Lobhudlers Young und einigen anderen Beutelschneidern treffen. Gut zu wissen, wann und wo dies geschieht. Ich werde dieser Zusammenkunft beiwohnen. Dies verschafft mir die Möglichkeit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Ich erheische Zutritt zu den Netzen der verbrecherischen Bruderschaften der Unfähigen, und ich kann diesen Einfältigen Unfähigen verdeutlichen, daß ihre Macht nicht annähernd reicht, Hallitti und ihren Abhängigen zu erlegen."

Romina Hamton fragte, was sie mit der Aufnahme machen solle. Das Gespräch auf dem Band war zu brisant, es hier zu behalten. Anthelia nahm die Casette an sich.

"In unserem Hauptquartier ist diese Sache sicher aufgehoben." Sie verabschiedete sich von Romina und disapparierte.

Zurück in der alten Daggers-Villa ließ Anthelia sich sacht in die Wahrnehmungswelt von Cecil Wellington hinübergleiten. Der Junge, der früher einmal Benny Calder geheißen hatte saß gerade mit einigen Schulkameraden über Hausaufgaben. Am zwanzigsten Mai würden sie mit ihrer Klasse einen Tagesausflug nach Washington, der Hauptstadt dieses Staatenbundes, machen. An und für sich auch eine sehr ergiebige Quelle für wichtige Kenntnisse, meinte Anthelia. Der Junge hatte sich gut mit seiner neuen Daseinsform und dem Leben das er nun führte abgefunden. Sicher, zwischendurch verwünschte er in Gedanken die böse Hexe, die ihn aus dem gewohnten Leben gerissen hatte. Doch er mußte auch erkennen, daß Anthelias Eingreifen ihm eine völlig neue Chance gab, mehr aus seinem Leben zu machen.

"In den Nachrichten kam nichts von der Sache in New York", erkannte Anthelia, als der von ihr ohne dessen Wissen überwachte Junge die 9-Uhr-Nachrichten ansah. "Kann es angehen, daß sich Halitti nun wieder alleine auf Jagd nach menschlicher Lebenskraft begeben hat?"

Jedenfalls geschah in den nächsten Tagen nichts was für Anthelia oder die ordentliche Zaubererwelt wichtig gewesen wäre. Doch das war nur die Ruhe, die Ruhe vor dem Sturm.

__________

In der christlich geprägten Welt schrieb man den 10. Mai 1996. Der Vorfall mit den verschwundenen Polizisten war bereits ans FBI weitergegeben worden. Die Quartiere der vereinigten Staaten suchten nach den verschollenen Polizisten Remmington und Willes. Doch davon bekam die Welt vor den Fernsehern und Computerbildschirmen, an den Radios und über den Zeitungen nichts mit. Doch dann passierte etwas, daß schlagartig die Wellen der vergangenen zwei Monate neu aufwerfen und himmelhoch schlagen lassen sollte.

Loretta hatte Richard nach einer Woche in ihrer kuppelartigen Schlafhöhle wieder geweckt, ihm erlaubt, sich was zu essen zu beschaffen und dann in Mississippi ein Bordell komplett "einzuverleiben". Irgendwie, so wußte Richard, war sie nun scharf nach der Lebenskraft junger Mädchen geworden und er war wie sie darauf aus, Menschen durch Sex bis zum Tode auszulaugen. Dabei flossen immer die Lebensenergien in ihn über. Einen Teil davon mußte er an Loretta zurückgeben. Doch er fühlte sich dabei richtig gut und vor allem nie mehr so erschöpft, wie die Male, wo sie ihm noch nichts von ihrer dunklen Natur erzählt hatte, in einer anderen Zeit, wo er noch ein geregeltes Arbeitsleben gehabt hatte. Dieses raubtierhafte Verlangen nach lebenskraft hatte in ihm immer weiter zugenommen, sodaß er sich immer freute, wenn Loretta ihn in die weite Welt zurückschickte. Sie vergewisserte sich noch einmal, das ihr Parfüm der Unaufmerksamkeit, daß sie ihm vor jedem Einsatz auf Wangen und Brust träufelte, richtig dosiert war. Es war nicht jenes Richard so anregende Parfüm, daß ihn für sie so empfänglich machte, sondern ein merkwürdiger Duft wie Frühlingsluft über einer Wiese, den er jedoch nie länger als eine Sekunde riechen konnte, bevor er meinte, überhaupt keinen Duftstoff am Körper zu tragen. Loretta hatte ihm erzählt, daß dieses Parfüm alle, die ihn ansahen, davon abhielt, sich nähere Gedanken über ihn zu machen. Nur wenn er selbst aufgeregt war oder Leute unter einer großen Anspannung standen wirkte dieses Teufelszeug nicht. Immerhin hatte er so schon mehrere Dutzend willige Frauen um alles gebracht, was sie zu bieten hatten. Das würde sich auch nicht ändern.

Er gab Loretta einen Abschiedskuß und fühlte, wie von dem Medaillon, das sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, ein wohliger Schauer durch seinen Körper ging. Er schloß die Augen und meinte, für eine Sekunde zu schweben. Dann ließ der Schauer nach. Er blickte sich um.

Die Sonne schien wie blankgeputztes Weißgold vom fast wolkenlosen Frühlingshimmel. Richard hörte verschiedene Vögel zwitschern, trällern und rufen. Er stand am Rand einer kleinen Stadt, deren Häuser wie Spielzeug vor ihm aufgestellt lagen. Ja, Spielzeug, mit dem er, Richard, seine Freude haben sollte. Er ging los, um in dieser Stadt erst was zu essen, sich umzusehen und dann "Das Purpurhaus" aufzusuchen, in dem er Nahrung der anderen Art zu sich nehmen würde.

Lorettas Parfüm der Unaufmerksamkeit tat seine überragende Wirkung. Niemand erkannte ihn auf den Straßen. Ja, er konnte sich sogar ein Taxi nehmen, um zum besten Restaurant der Stadt zu fahren, wo er für zweihundert Dollar ein opulentes Menü verspeiste. In seinem guten Anzug fiel er zwischen den Wohlhabenden und Geschäftsleuten nicht weiter auf. Das einzige, was ihn von den anderen abhog war der Umstand, daß er alleine an seinem Tisch saß. Doch auch dies schien hier im Moment niemanden zu stören.

Einen Tisch weiter saßen vier Männer in Konfektionsanzügen und sprachen Spanisch miteinander. Richard, der diese Sprache nicht konnte, verstand nichts von dem, worum es ging. Doch an den Mienen der Männer und den verstohlenen Blicken, die sie durch das Lokal schweifen ließen merkte er, daß es ihnen wichtig war und sie möglichst nicht belauscht werden wollten. Doch was gingen ihn die vier Männer an. Seine Tätigkeit richtete sich auf Frauen. Zumindest dafür konnte er Loretta dankbar sein, daß sie ihn nicht zu für ihn widerlichen Sachen veranlaßte. Doch wenn sie die Lebenskraft von einem Mann haben wollte, würde sie sich die dann selbst holen. Niemand wußte das besser als er selbst.

Nach dem Mittagessen sah er sich die Stadt an. Er überlegte sich, ob er in die nur zwanzig Kilometer entfernte Hauptstadt Jackson fahren sollte, verdrängte dies jedoch, weil er pünktlich zur Abenddämmerung wieder in dieser Stadt sein mußte. Denn für das, was er zu tun hatte, würde er eine ganze Nacht brauchen, die so jung wie möglich anfangen sollte.

Richard schlenderte durch die Gassen, die den Charme der amerikanischen Südstaaten verströmten und Häuser aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg präsentierten. Eines davon besichtigte er. Die Besitzer hatten sich berufsbedingt nach Texas abgesetzt und das Haus mit einigen angekauften Antiquitäten als Museum der Konföderation den Touristen aus allen Teilen der Welt zur Schau angeboten. Richard ging zusammen mit einigen Japanern, Deutschen und sogar Schotten durch das altehrwürdige Haus und hörte sich an, was der grauhaarige Verwalter und Reisegruppenführer erzählte. So konnte er eine volle Stunde zubringen. Richtig aufregend daran war nur, daß er aufpassen mußte, nicht von einer Foto- oder Videokamera eingefangen zu werden. Zwar durfte in den Räumen des Gardener-Hauses nicht mit Blitzlicht fotografiert werden, doch die modernen Videokameras konnten schon gut mit wenig Licht auskommen. Das Parfüm Lorettas wirkte nur bei direkter Sicht und Wahrnehmmung. Ein Tourist, der später den Videofilm ansah, würde den Mann mit der blonden Halbglatze problemlos als Richard Andrews oder dessen angeblichen Doppelgänger wiedererkennen.

Nach der Ladung geistiger Genüsse steuerte Richard das Purpurhaus an, einen etwas abseits der südlichen Stadtgrenze gelegenen Backsteinbau, der früher selbst einem Plantagenbesitzer gehört hatte und nach dem Bürgerkrieg einen zweifelhaften Ruf erwarb, weil die Töchter der im Krieg gefallenen hier ihre Körper anboten, um die vaterlosen Familien über die Runden zu bringen. doch die Geschichte des Purpurhauses interessierte Richard eh nicht. Ihm war nur wichtig, daß dort dreißig leichte Mädchen zwischen fünfzehn und fünfundvierzig ihre Kunden betreuten, je nach Wunsch und Geldbeutel. Richard hatte sich seit seiner Flucht aus Detroit angewöhnt, die Geldbeträge der von ihm ausgesaugten Dirnen einzustecken, um später andere Damen der Nacht ködern zu können. Seine Scheckkarte würde ihn sofort verraten, wenn er damit Geld abholen wollte. Deshalb hatte er sie tunlichst bei Loretta gelassen.

"Schönen guten Abend, der Herr", begrüßte Richard eine Frau, bei der wohl bereits die Schönheitschirurgen und ein ehrgeiziger Friseur die Spuren des Alters vertuschen mußte. Ihr von viel Wasserstoffperoxyd blond gefärbtes Haar war zu einer wilden Löwenmähne bis zu den nackten Schultern herabwallend gestriegelt. Das, was sie vor dem Brustkorb darbot, war auch schon mehr als ihr Mutter Natur in ihrem Wachstum zugedacht hatte, meinte Richard, als er die Verwalterin des Purpurhauses ansah, die in einem engen roten Glitzerträgerkleid an der Rezeption saß.

"Schönen guten Abend die Dame. Mir steht der Sinn nach - nennen wir es mal Ausgiebigkeit", sagte Lorettas williger Gefolgsmann und legte zwei Hundert-Dollar-Noten auf die Theke, wobei er so überlegen schaute, daß die Bordellchefin den Eindruck bekommen mußte, da sei noch mehr zu holen.

"Wer hat uns denn empfohlen, Sir. Ich kann mich nicht erinnern, Sie bereits in unserer guten Stube begrüßt zu haben", erwiderte die Wasserstoffblondine.

"Hmm, ich habe den Tip von einem gewissen Charlie aus Phoenix, Arizona", sagte Richard. Die Frau hinter dem Tresen zuckte kurz zusammen. Dann lächelte sie.

"Dann sind Sie jetzt erst hergekommen?" Fragte sie lässig klingend.

"Das ist schon ein halbes Jahr her", sagte Richard amüsiert lächelnd. Die Bordellchefin nickte verstehend. Dann fragte sie, ob ihm Charlie schon wen empfohlen habe. Er schüttelte den Kopf. Dann wurde er gefragt, welcher Typ Frau ihm am meisten liege, und er sagte, daß es ihm nicht um das Aussehen, sondern um die Darbietung ginge, was die Frau an der Theke sichtlich vergnügte. Sie nahm die beiden Geldscheine an sich und legte sie in die große Kasse, die auf Richard eher den Eindruck eines Panzerschranks machte.

"Nun, wollen Sie Pas-de-Deux oder Party buchen?" Fragte sie verschmitzt. Richard überlegte kurz, dann meinte er ruhig:

"Party mit unlimitierter Besucherzahl, sofern ich der Boss bin."

"Hmm, Sie haben es wohl sehr nötig, wie?" Gab die Frau mit einer verruchten Tonlage zurück. Er nickte. Das entsprach ja auch der reinen Wahrheit.

"Nun, es haben sich vier Stammkunden angemeldet. Ich muß also vier Mädchen freihhalten. Das sind die hier." Sie holte ein Fotoalbum unter der Theke hervor, blätterte es auf und deutete mit ihrem langen, korallenrot lackierten Zeigefingernagel auf vier schön zurechtgemachte Frauen mit blondem Har und üppiger Oberweite. Richard nickte und wählte sich "für's erste" zehn Mädchen verschiedener Haut- und haarfarbe aus, von Zierlichen Japanerinnen bis zu vollschlanken Großstädterinnen der Staaten, sogar eine Indianerin war dabei, die "Aufgehende Sonne" gerufen wurde. Richard grinste, weil er an das alte Lied vom "Haus der aufgehenden Sonne" denken mußte, daß er als Jugendlicher rauf- und runtergehört hatte, bis er seine Liebe zum Jazz entdeckte.

"Wer kann der hat", sagte die Rezeptionistin und bestimmt auch Mutter des Hauses. "Aber für die Party müssen Sie zwanzig Benjamin Franklins mehr hinblättern."

"Nie war dieser Präsident so begehrt", flachste Richard und legte zwanzig weitere Hunderter auf die Theke, die rasch in der robusten Kasse verschwanden. Immer noch lächelte Richard das Lächeln dessen, dem Geld lockersaß und der damit gerne prahlte. dann rief die Hausmutter bei den zehn bestellten Mädchen in den Zimmern an und teilte ihnen mit, daß sie zu einer Party eingeladen waren.

Richard spielte den großen Spender und lud erst einmal alle zu Sekt und Wein ein. Er selbst bevorzugte puren Orangensaft, weil er mit Alkohol haushalten müsse, sagte er. Dann ging er es an, zunächst mit drei der Frauen zusammenzukommen. Er mußte behutsam sein, nicht sofort die lebenskraftzehrende Magie freizulassen, die Loretta ihm übertragen hatte. Doch nach und nach wurden die drei Frauen immer müder, sodaß Richard im fliegenden Wechsel die weiteren Mädchen forderte, die ihn mit ihrem Können bei Laune hielten. Dann kam die Reihe an die Indianerin, deren schwarzes Haar auf Hochglanz frisiert war und deren bronzefarbene Haut verführerisch glänzte, als sie sich Richard näherte. Das Medaillon Lorettas lag auf einem Fenstersims hinter den schweren Vorhängen. Benebelt vom schweren Parfüm, das in den Räumen des Purpurhauses versprüht worden war, sah Richard, wie die Tochter amerikanischer Ureinwohner auf das Fenster blickte und leicht erschrekcte, als sie das glitzernde Medaillon hinter dem Vorhang hervorlugen sah. Sie schien für einen Moment starr wie eine Salzsäule zu sein, dann lächelte sie verführerisch. Als Richard sich ihr näherte, um auch ihre Liebkosungen zu genießen, schrak sie zurück und rief ein Wort, daß er nicht kannte. Augenblicklich fühlte er, daß mit ihm und ihr irgendwas nicht so lief wie sonst. Hatte sie ihn erkannt? Doch die anderen Mädchen hatten sich von ihm nehmen lassen, ohne ihn zu erkennen. Wirkte das magische Parfüm in diesem Brodem verruchter Dunstschwaden nicht mehr?

"Was hast du, Aufgehende Sonne?" Fragte er harmlos klingend.

"Bleib weg von mir, Gefangener des bösen Geistes!" Zischte sie und machte indianische Gesten, die er nicht verstand. Dabei sang sie irgendwas, das er nicht verstand, daß aber in ihn eindrang wie ein Betäubungsmittel. Sie sah, wie er stehenblieb, dann griff sie sich ihre Oberkleidung, die sie als brave Squaw kostümierte, zog sich an, wobei sie ihren Singsang weiter erklingen ließ. Richard fühlte, wie er dieses Mädchen immer uninteressanter fand, als sei auch sie mit einem Parfüm der Unaufmerksamkeit benetzt worden. Doch was hatte sie ihm an den Kopf geworfen? "Gefangener des bösen Geistes."

"Geht von ihm weg!" Rief Aufgehende Sonne. "Er ist ein Gefangener. Ein böser Geist atmet durch ihn und trinkt euer Leben!"

"Sunny, das ist doch unsinn", lachte Chloe, eine rundliche Frau, die dem Maler Rubens sicherlich als treffliches Modell gedient hätte.

"Halt's Maul!" Knurrte Richard, dem schwante, daß diese Indianerin ihn durchschaut hatte. Er mußte sie hier und jetzt umbringen. Doch dann würde er die restlichen Mädchen nicht mehr ohne Probleme nehmen können. In diesem Dilemma gefangen bekam er nicht mit, wie Aufgehende Sonne aus dem großen Spielzimmer stürmte und laut rufend davonlief. Richard wollte ihr schon nach, als Chloe sich ihm anbot. Lorettas und sein Hunger nach Lebenskraft siegte über den Trieb, die gefährliche Mitwisserin zu jagen. Ob dies ein Fehler war konnte Richard nicht sagen, denn Chloes Körper schmiegte sich an seinen. Sie wickelte ihn mit ihren Gliedmaßen ein und bugsierte sich so geschickt, daß er keine Sekunde später mit ihr vereinigt war. Zwar hatte er ein Kondom angezogen, wie es seit der weltweiten Verbreitung gefährlicher Krankheiten angeraten war, doch er hatte schon häufig genug erreicht, daß er ohne diese schützende Vorrichtung mit seinen Opfern zusammenfinden konnte. Doch Chloes Umarmung und die Bewegungen ihres Leibes zwangen ihn, einstweilen in ihrem Rhythmus zu bleiben, ihre teuer erkaufte Hingabe so zu genießen wie ein X-beliebiger Kunde. Er versuchte sie zu küssen. Doch sie schaffte es, seinem Mund auszuweichen. Er wußte, daß viele Prostituierte es strickt abwiesen, von ihren Freiern geküßt zu werden. Immerhin konnten ja auch auf diesem Weg ansteckende Krankheiten übertragen werden. Vielleicht wollten sie sich aber auch einen Rest von intimer Eigenständigkeit erhalten, wenn sie den Rest ihres Körpers schon verkauften. Doch irgendwie schaffte es Richard, seine Lippen mit ihren zu vereinigen und sog. Dadurch entzog er Chloe auf einen Schlag eine Menge Lebenskraft, sodaß sie schlagartig nachließ. Er konnte mit einer oft geübten Bewegung das für ihn lästige Verhütungsmittel abstreifen und die direkte Vereinigung finden. Dadurch floss von Chloe ständig neue Lebensenergie auf ihn über. Sie wurde immer müder. Er brach den Körperkontakt ab, bevor es bei ihm zum äußersten kam. präparierte sich neu und nahm die nächste gewerbliche Bettgenossin.

Als er alle soweit erschöpft hatte, daß sie nicht mehr klar denken konnten holte er sich von einer nach der anderen alle restliche Lebensenergie. Als er bei Chloe angelangt war, flog die Tür auf, und die Hausmutter stand mit einer schußbereiten Beretta im Türrahmen.

"Fertig, Mr. Andrews!" Rief sie gefährlich. Richard schrak zusammen. Da er gerade so mit Chloe zusammenlag, daß er nicht einfach aufspringen konnte, konnte er nur verdutzt in den Lauf der Pistole blicken.

"Nein, ich bin noch nicht fertig", sagte er überaus gelassen klingend.

"Sie sind Richard Andrews. Ich habe das Video von Ihrem Eintreten gesehen. Gehen Sie von Chloe weg!"

"Geht nicht", sagte Richard. "Sie hängt im Moment so an mir. Ich kann sie leider nicht von mir wegrollen."

"Weg von dem Mädchen, oder ich blase dir das Hirn raus!" Rief die Wasserstoffblondine, jetzt alles andere als zugänglich. Richard sah Chloe an. Ihr Blick wurde bereits glasig. Sie ließ sich widerstandslos von ihm fortbugsieren. Er sprang auf, pur wie die Natur ihn geschaffen hatte und blickte lässig auf die Pistole und dann in die wild entschlossenen Augen der Bordellchefin. Diese sah verdutzt die neun auf dem Boden, dem runden Bett und dem Sofa verteilten Mädchen, die keinen Mucks mehr taten. Diesen Moment nutzte Richard aus, schnellte wie eine zubeißende Schlange vor und packte mit einer Hand die Pistole, mit der anderen den Hals der Blondine. Krachend brach das Handgelenk der Frau, und die Waffe entfiel ihr. Röchelnd kämpfte sie um Atemluft und Blutzufuhr. Doch Richard ließ ihr keine Chance mehr. Mit beiden Händen pakcte er sie so, daß er ihr mit einer schnellen Bewegung den Kopf um mehr als neunzig Grad nach links drehte. Die oberen Halswirbel hielten das nicht aus und brachen mit einem häßlichen, endgültigen Knacklaut. Wie ein langweilig gewordenes Stofftier wurde die Betreiberin des Purpurhauses zurückgestoßen, als Richard sicher war, daß sie nie wieder eine Waffe auf ihn richten würde. Dann erkannte er seine Lage. Man hatte ihn erkannt. Was er schon im Gardener-Haus befürchtet hatte war hier eingetreten. Eine Videoaufnahme von ihm, die nach seinem Eintritt noch einmal angeschaut wurde, hatte ihn entlarvt. Vielleicht hatte auch dieses Indianermädchen gepetzt, woher die auch immer gewußt hatte, was mit ihm los war. Sicher war nur, daß er neun Freudenmädchen auf die übliche Art vom Markt genommen hatte und er noch zehn weitere Mädchen aufsuchen konnte. Die Kraft, mit der er die Chefin innerhalb von Sekunden umgebracht hatte, imponierte ihm. Er nahm seine Kleidung, zog erst das Medaillon an, das außer bei geschlechtlichen Sachen immer um seinem Hals liegen mußte und verließ ruhig das große Partyzimmer. Er hörte die eindeutigen Geräusche arbeitender Damen und ihrer Kundschaft und schlich hinunter zum Tresen. Er sah das Fotoalbum aufgeschlagen liegen und fand unter der Theke eine Schublade. Er zog sie sacht auf, nahm ein Kassenbuch oder ähnliches heraus und blätterte darin. Er fand einen Eintrag "Party für blonden Engländer, $2000 (mehr in Aussicht)" und "Die Señores Gonsales, Miguez, Alameda und Diego wie angekündigt eingetroffen, Pam, Jacky, Gina und Peggy wie üblich." Er konnte noch auf einem Register sehen, welche Damen gerade frei waren. Die Randale im Partyraum hatten die wohl nicht gehört oder sie waren fort. Er beschloß, sie aufzusuchen. Er lief die Treppen hinauf und suchte die Zimmer auf. Tatsächlich war von den freien Damen keine mehr da, und es machte den Eindruck, daß sie sehr schnell für längere Zeit verreist waren.

"Mist!" Fluchte Richard. Dann schlich er hinunter. Diese vier Señores hatten noch zu tun. Sollte er sie mal eben unterbrechen? Er ging zurück in den Partyraum und durchsuchte die tote Chefin nach wichtigen Dingen wie Schlüsseln oder anderem. Er nahm einen Satz Schlüssel, die Beretta und ein Notizbuch an sich. Dann ging er zurück zur Rezeption. Er suchte nach dem Videorekorder, mit dem er wohl aufgenommen worden war. Die Kamera konnte gut hinter einem der Spiegel oder gut getarnt in einem der Bilder mit Motiven griechisch-römischer Vergnüglichkeiten versteckt sein. Die war ihm auch egal. Doch er fand den Rekorder nicht. Er probierte die Schlüssel aus, um den Panzerschrank zu öffnen. Er vertraute darauf, daß Loretta ihn sofort zurückholen konnte, wenn ihn jemand überrashte. So ließ er sich Zeit, bis er den richtigen Schlüssel ins Schloß steckte und die Kasse aufsperrte. Wie ein Geldsammelautomat ließ er die zerknitterten Geldscheine in seinem Anzug verschwinden. Er zählte gar nicht erst. Dann fand er den winzigen Videorekorder, an dem ein Winzbildschirm angeschlossen war. Das Kabel verschwand in der massiven Stahlwand des Kassenschranks und würde wohl irgendwoher Strom und Bildsignale aufnehmen. Richard spulte die kleine Casette zurück und legte das winzige Wiedergabeokular ans rechte Auge. und sah die fünf Kunden, die in den letzten anderthalb Stunden hier eingekehrt waren, sich selbst und vier lateinamerikanisch wirkende Gestalten, die er sofort erkannte. Das waren genau die vier, die er beim Mittagessen im Restaurant gesehen hatte! Die Welt war eben doch klein, erkannte Richard lächelnd. Er konnte noch sehen, wie die Indianerin wild gestikulierend vor der Theke gestanden hatte, bevor sie sehr schnell davonrannte. Sie war entkommen. Er hätte sie doch besser gleich ...

"Buenisima, Chicaaaa!" Rief einer der vier Freier auf der Höhe seiner Leidenschaft.

"Der ist also durch", dachte Richard und beschloss, seine Jagd fortzusetzen. Er nahm die Videocasette aus dem Rekorder und brach ihr Gehäuse mit übermenschlicher Kraft auf. ER zog einfach an dem dünnen Magnetband und zerfledderte es wie Altpapier zwischen seinen Fingern. Er ließ die Schnipsel in den Kassenschrank zurückfallen und warf das zerbrochene Casettengehäuse zurück. Dann versperrte er den Schrank sorgfältig. Er ging an die Eingangstür, sah, daß sie mit einem Fallgitter versperrt werden konnte, ließ dieses hinunter und schloß die Tür mit dem Sicherheitsschloß. Den Auffahrmechanismus für das Gitter versperrte er auch mit dem dazugehörigen Schlüssel. Schnell huschte er durch die Flure des Erdgeschosses und versperrte auch die eiserne Hintertür und den Zugang zur hauseigenen Garage. Dann fiel ihm noch ein Schlüssel auf, den er bis jetzt nicht benutzt hatte. Zu welchem Raum mochte der passen?

Der zweite Latino oder Mexikaner fand seine für viel Geld verlangte Wonne. Richard grinste nur. So laut mußte das bei ihm nie laufen, um ihm Spaß zu bereiten. Aber zumindest konnte er gleich noch ein Mädchen haben. Während er das dachte fand er den Raum mit dem letzten noch unprobierten Schlüsselloch, einen Schrank unter der Treppe nach oben. Zumindest sah es von außen wie ein Schrank aus. Doch drinnen war eine Plattform wie ein Speiseaufzug in einem feudalen Stadthaus. Richard fand einen Zugschalter, zupfte an ihm und löste den Motor aus, der ihn mit der Plattform nach unten trug. Im Keller des Bordells war eine Lagerhalle für allerlei Kisten und Säcke. Richard erkannte sofort, daß hier nicht nur freie Liebe verkauft wurde, sondern auch Diebesgut und Schmuggelware umgeschlagen wurde. Eine Art großer Benzinkanister erregte seine Aufmerksamkeit. Der sah so aus, als sei er gerade erst hier abgestellt worden. Er war mit einer festen Plombe versiegelt und trug irgendwelche Schriftzeichen, die er nicht lesen konnte.

"Gib dich nicht mit sowas ab, Richard! Hol dir die anderen noch!" Wisperte eine Stimme in seinen Gedanken. Sein "Gutes Gewissen" hatte zu ihm gesprochen. Manchmal tat Loretta das, wenn sie wollte, daß er nicht unaufmerksam wurde. Er nickte ohne einen sichtbaren Gesprächspartner vor sich zu haben und verließ mit der Aufzugsplattform den Kellerraum. Gerade oben im Erdgeschoss angelangt traf er zwei der vier Señores aus südlich der USA, die sehr verstört vor der versperrten und vergitterten Eingangspforte herumtigerten. Einer von denen sah Richard und fragte ihn was auf Spanisch. Richard blieb gelassen und fragte zurück:

"Wie bitte, Sir?!"

"Hombre, wo Mamaputas?" Wollte der größere der beiden Männer wissen.

"Welche Mama?" Fragte Richard und ließ seine rechte Hand in den Anzug gleiten, wo er den kalten Griff der Beretta ertastete.

"Trini, es el hombre mataputas!" Zischte der größere der beiden. Der zweite zuckte mit der rechten zu einer häßlichen Ausbeulung im geschniegelten Anzug. Doch was immer er ziehen wollte, Richard hatte seine Waffe schon und feuerte sie durch den Stoff seiner Anzugtasche ab. Laut knallte es, und der Latino kippte röchelnd hinten über. Der größere Kerl warf sich zu Boden und versuchte, wohl auch eine Waffe zu ziehen. Richard zog die noch leicht rauchende Beretta frei, konnte aber nicht genau zielen.

"Compañneros, me ayuden!" Rief der am Boden liegende. Richard feuerte einen Schuß ab, der knapp über den Fremden hinweg durch das Holz der Rezeption schlug.

"Que pasa, Fredo?" Kam es von oben herunter. Richard sprang rückwärts zur Treppe und die ersten Stufen hoch. Der am Boden liegende riss eine Waffe hoch. Richard drückte rasch ab. Eine Kugel fand ihr Ziel. Fredo, wie der zweite wohl hieß, war auch nicht mehr zu sprechen. Richard wirbelte nun herum und hetzte die Treppe hoch. Da kamen beide noch anwesenden Freier mit halb hochgezogenen Hosen durch die Zimmertüren. Richard sah es als Zeitverschwendung, sich mit ihnen zu unterhalten. Er feuerte innerhalb einer Sekunde zwei Schüsse ab, bevor einer der beiden was unternehmen konnte. Zielgenau hatten die Bleigeschosse ihren Weg ins Herz jedes Mannes gefunden. Die beiden Señores stürzten wie gefällte Bäume auf dem Flokatiteppich des Korridors. Vier gerade mit ihrer Kleidung beschäftigte Frauen traten aus den Zimmern. Sie sahen die Toten und dann Richard.

"Nicht schießen, Mr.!" Flehte eine dunkelhäutige Frau mit blond gefärbter Naturkrause. Richard lächelte überlegen wie ein Mann, der weiß, daß er nicht mehr aufzuhalten ist. Er zielte mit der Beretta auf jedes der Freudenmädchen. Dann befahl er:

"Jede in ihr Zimmer. Schlüssel her!"

Eine von den vieren meinte, als Heldin zu sterben sei besser als als feige Frau weiterzuleben und sprang Richard an, als dieser gerade ihre Kollegin mit der Waffe bedrohte. Er steppte zur Seite, ließ die Frau ins Leere springen und versetzte ihr mit dem Ellenbogen einen brutalen Stoß in den Rücken, daß sie kopfüber die Treppe hinunterpolterte.

"Wer anderen eine Grube gräbt, Mädels ... Laßt euch das eine Warnung sein!" Blaffte Richard. Dann trieb er die drei verbliebenen Bordellmädchen in ihre Zimmer, nahm die Schlüssel und sperrte sie ein. Die Fenster waren vergittert, wußte er von seinem Besuch im Partyraum. Offenbar wollte man keine säumigen Freier oder desertierende Damen hier haben. Richard dachte daran, daß in diesen Zimmern die Leibsklaven des früheren Besitzers gefangengehalten worden sein mußten. Vertrauen war eben nicht so gut wie ständige Kontrolle.

"Richard, die auf dem Boden unten!" Flüsterte es in seinem Gehirn. Er sprang hinunter. Sie lebte noch. Schnell riss er ihr die Kleidung vom Leib und fiel wie ein hungriger Wolf über sie her. Nach nur zwei Minuten hatte er alle verbliebene Lebensenergie aus ihr herausgesogen. Er zog sich wieder an, sprang in den ersten Stock hinauf und sperrte das erste Zimmer auf.

Er sah die Sprühdose, die sich ihm entgegenrichtete zu spät. Zischend traf ihn eine Ladung Pfeffer voll ins Gesicht. Nase, Mund und Augen schienen in Flammen zu stehen. Laut schrie Richard auf und taumelte zurück. Das Mädchen sprang ihn an, warf ihn mit einem Judowurf auf den Rücken und holte mit ihrem linken Fuß aus. Richard im Schock des Angriffs erstarrt fühlte den Tritt gegen sein Kinn und sah einen Schwarm explodierender Sterne. Doch sofort sah er wieder klar. Nicht einmal seine Augen brannten noch. Er fuhr auf. Das Freudenmädchen, wohl in der Annahme, den gefährlichen Mann überwältigt zu haben, wich zurück. Doch Richard bekkam sie zu fassen, schupste sie in das in dunklen Rottönen gehaltene Zimmer und warf sie wie eine Stoffpuppe auf das breite Bett. Dann warf er die Tür zu und schloß von innen ab. Er warf den Schlüssel in eine Ecke, bevor er wie ein zuschlagender Adler auf die sich gerade wieder aufsetzende Frau niederstieß, sie brutal an den Armen packte und ihr mit den Zähnen die Kleider vom Leib riss. Keine Minute später war auch er völlig nackt und holte sich auch von diesem Mädchen, was er sich holen wollte.

__________

Die Stadtpolizei von Muddy Banks, einer verschlafenen Stadt in der Nähe von Jackson, Mississippi erhielt kurz nach zehn Uhr abends einen höchst alarmierenden Anruf.

"Hier Margo aus dem Purpurhaus. Dieser Verrückte aus Detroit ist hier, Andrews!" Rief eine höchst erregte Frauenstimme. Sergeant Pine, der den Anruf entgegengenommen hatte, schrak zusammen. War dieser Kerl wirklich jetzt schon hier?

"Margo, wir kommen so schnell wie möglich. Versuchen Sie nichts! Lassen Sie ihn falls nötig abziehen!"

"Er bringt meine Mädchen um. Eine von denen meinte, er sei vom bösen Geist besessen. Ich kann doch nicht zusehen wie der ..."

"Margo, lassen sie den Mann in Ruhe. Der ist zu gefährlich!" Rief Pine erneut. Doch da klickte es im Hörer.

"Verdammte Kiste! Leute, Alarmstufe Rot! Ausrücken zum Purpurhaus! Dieser Irre Hurenkiller ist da!"

"Was?!" Brüllten vier Cops gleichzeitig.

"Ruf die Sondertruppe und am besten auch das FBI, Pine! Der Typ ist heftig gefährlich."

"Der hat unsere Kollegen in Detroit allegemacht!" Rief Willis, ein vierschrötiger Sergeant. Captain Fullerton, der Revierleiter, stürzte aus seinem Büro und rief:

"Keine Husarenritte, Leute! Sondertruppe anrufen! FBI in Jackson alarmieren! Dann in die Westen und die Panzerwagen! Keine überhasteten Aktionen!"

"Natürlich nicht!" Rief Pine und wählte bereits die Nummer der Sondereinsatztruppe.

__________

Moses Greenthal langweilte nichts mehr als das abtippen von Routineprotokollen. Das was er gerade für das elektronische Archiv zurechtschrieb bezog sich auf einen Bankräuber, der in Georgia, Oklahoma, Alabama und Louisiana an die siebzig Filialen der amerikanischen Gold- und Silberreservebank überfallen und um Geld und Edelmetall im Wert von vier Millionen Dollar erleichtert hatte. Der Räuber war am Flughafen von Jackson erkannt und von Greenthal und dessen Partnerin Maria Montes verhaftet worden. Das Geld und Gold hatte er in einem Schließfach am Hauptbahnhof deponiert, wo er es wohl holen wollte, wenn genug Gras über die Sache gewachsen war. Diesen ganzen leidigen Bericht mußte er nun in den Computer tippen. Da klingelte das Telefon. Moses drückte schnell die Tastenkombination CTRL-s, um das bisher geschriebene zwischenzuspeichern. Dann nahm er den Hörer ab und lauschte kurz. Sein Gemütszustand schaltete innerhalb einer Millisekunde von langweilig genervt auf höchste Alarmstufe um.

"Wir rücken sofort aus. Wo liegt dieses Bordell?"

"Südlich von unserer Stadtgrenze. Die Sondereinsatztruppe ist schon alarmiert", kam eine Antwort zurück.

"Verdammt, wielange wird das dauern, bis die vor Ort sind?"

"Ungefähr eine halbe Stunde", bekam er Antwort.

"Gut, dann setzen wir unsere Sondereinsatzgruppe auch in Marsch", sagte Moses Greenthal und legte nach weiteren kurzen Sätzen den Hörer auf. Er ließ den Computer links liegen, hastete aus seinem Büro hinüber zu dem seiner Partnerin Maria, die gerade mit jemandem telefonierte.

"... Nein, Mrs. Porter, bei uns ist der noch nicht .. Mein Kollege", sagte sie noch und legte schnell auf.

"Maria, es brennt! Dieser Hurenmörder aus Detroit ist jetzt auch in Mississippi angekommen und macht wohl einen großen Rundumschlag in einem Bordell namens Purpurhaus. Die Sondereinsatztruppe von denen ist schon unterwegs. Wir fahren besser auch hin."

"Dios mio!" Sagte Maria Montes. Dann fiel ihr ein, was sie gerade eben noch von ihrer Gesprächspartnerin gehört hatte:

"Hüten Sie sich vor diesem Mann. Ich darf Ihnen nicht alles sagen, nur soviel, der Mann ist gefährlich, auch für uns!"

"Mo, mit dem wurden über zwanzig Stadtpolizisten nicht fertig. Es heißt, der arbeitet nicht allein", sagte Maria Montes.

"Trotzdem müssen wir den kriegen", beharrte Moses darauf, daß Eile geboten war.

"Dann in die Westen am besten", sagte Maria, bevor ihr klarwurde, welchen witzigen Spruch sie da gerade angebracht hatte.

"In fünf Minuten im Wagen. Wir fahren eh in der dritten Reihe."

"Si, colega!" Bestätigte Maria. Wenn sie so heftig erregt war wie jetzt, verfiel sie immer wieder in ihre Muttersprache, obwohl sie schon lange genug in den vereinigten Staaten zu Hause war. Sie prüfte ihre Dienstwaffe, eine Smith & Wesson 38 und die Reservepatronen, ihr Handy und das FBI-spezielle Sprechfunkgerät. Dann holte sie sich aus dem Magazin für Sondereinsätze eine Garnitur schußsicherer Unterkleidung, zog sich im Damenklo rasch um und stand keine viereinhalb Minuten später vor dem gemeinsamen Dienstwagen. Moses kam gerade leicht steif wirkend um die Ecke. auch für ihn war die kugelsichere Kleidung unbequem und schränkte die Bewegungsfreiheit ein. Wenn sie jedoch das Leben ihres Trägers schützte war das ein hinnehmbarer Zustand. Sie stiegen in den Wagen ein und fuhren mit hoher Geschwindigkeit los. Maria pflanzte das mit einer Haftvorrichtung versehene Warnlicht auf das Dach, während Moses das Martinshorn einschaltete. Dann ging es mit mehr als 100 Meilen in der Stunde nach Muddy Banks, einer sonst sehr unbedeutenden Kleinstadt.

Als die FBI-Agenten zusammen mit ihren schwer gepanzerten Sondereinsatztruppen vor dem Purpurhaus anhielten, rief eine Frau gerade um Hilfe. Doch der Hilferuf wurde von einem Schmerzensschrei überlagert.

"Das ist nicht war. Der Murkst die ganz gelassen ab", sprach ein Stadtpolizist mit den Rangabzeichen eines Sergeanten. Auf dem Schild am Uniformbrustteil stand "Wilson Pine.

"Der ist wahnsinnig, Leute. Dem ist das völlig egal, ob man ihn jagt oder nicht. Vielleicht gibt ihm das sogar noch zusätzlichen Schwung", sagte ein anderer Polizist, während drei wie eine Mischung aus Astronaut und Ritter vermummte Elitepolizisten mit Brechstangen und Trennschleifer das mannshohe Gitter vor der Tür mit der weinroten Fenstergardine bearbeiteten.

"Das Haus ist für ihn gerade eine Festung. Bis wir drinnen sind hat der die Frau getötet", unkte Moses.

"Wer immer dieses Gitter geschmiedet hat hat ein Jahrhundertwerk abgeliefert, zum Teufel noch eins!" Knurrte der eine der vermummten Polizisten. Durch das geschlossene Helmvisier klang seine Stimme wie aus einem geschlossenen Sarg, unheimlich hohl und bedrohlich.

"Da, die Frau am Fenster!" Rief ein anderer Polizist. Schlagartig schwenkten mehrere Maschinenpistolen auf das Fenster ein. Die Frau streckte ihren Arm durch das Gitter und ließ einen im Licht der aufgefahrenen Scheinwerfer glitzernden Gegenstand fallen. Dann zog sie etwas oder jemand mit Brachialgewalt zurück.

"Das war keine Waffe", erkannten alle, die sahen, was passierte. Einer der Polizisten in voller Kampfausrüstung lief im Feuerschutz seiner Kollegen auf das Fenster zu, während von drinnen margerschütternde Schreie klangen.

"Hat einer 'ne Flüstertüte?" Fragte Pine. Einer der Sondereinsatztruppler deutete auf den Einsatzwagen. Dort war eine Lautsprecheranlage montiert. maria rannte unaufgefordert geduckt drauf zu und sprang hinein. Sie fand den Schalter für die Rufanlage und sprach:

"Mr. Andrews, oder wie immer Sie heißen! Bitte tun Sie dem Mädchen nichts. Wir möchten mit Ihnen verhandeln. Unnötige Gewalt bringt niemanden weiter!"

"Maria, was soll das?" Rief Moses Greenthal. Er rannte herüber, gerade als durch das Fenster ein Schuß peitschte. Knatternd antworteten vier MPs gleichzeitig. Doch wer immer aus dem Haus heraus geschossen hatte war offenbar schon wieder in Deckung. Außer Löchern in der purpurnen Backsteinwand hatte das Feuer der Polizisten nichts eingebracht.

"Die wollen Spezialisten sein?" Fragte Moses, als er beim Lautsprecherwagen ankam. "Ballern sofort los, wenn einer drinnen zu laut furzt."

"Der hat doch geschossen, weil der Kollege dieses Ding aufheben wollte", meinte Maria.

"Weiß ich. Der hat mir ja auch hinten in den Anzug reingefeuert", sagte Moses. Dann nahm er das Mikrofon und rief Richard Andrews selbst an.

"Sie haben nur eine Chance, wenn Sie alle lebenden Geiseln am Leben lassen und mit uns unterhandeln. Das Haus ist umstellt. Sie sind im Moment eingesperrt. Jemanden zu töten bringt nichts ein."

"Mir schon!" Kam eine verächtliche Stimme aus dem Haus. Dann ertönte der letzte Aufschrei einer Frau, und danach ein wüster Fluch.

"Mein Medaillon! Du Dreckstück hast mir mein Medaillon ...! Das darf nicht sein!"

"Was meint er?" Fragte Moses.

"Ich vermute, das Ding, was die Frau gerade aus dem Fenster geworfen hat", meinte Maria. Dann krachten weitere Schüsse aus dem Haus. Diesmal meinte einer der Beamten, ein klares Ziel zu haben und pustete aus seiner schweren MP eine Zwanzigergarbe zurück.

"Das Haus kann jetzt abgerissen werden", feixte Pine trocken, der sich ebenfalls zum Lautsprecherwagen begeben hatte. Er informierte Maria und Moses, daß er den Anruf erhalten habe.

"Was für ein Medaillon meint er?" Fragte Moses Greenthal. Maria Montes schien irgendwie mit den Gedanken weit fort zu sein. Sie sah nur zu dem Haus, wo gerade zwei Stäbe aus dem Türgitter gelöst wurden.

"Die werden sprengen müssen", vermutete Moses. Tatsächlich legte ein Sondereinsatzbeamter eine kleine Haftladung an. wies mit einer eindeutigen Geste alle an, von der Tür zurückzutreten und sprang zurück. Keine vier Sekunden später ging die Ladung los. Die Tür zerfetzte, und noch im aufgewühlten Staub und Qualm stürmten zwei Polizisten das Haus. Dann kamen noch zwei Sonderagenten des FBI, die für Erstürmungen von Banken mit Geiselnehmern ausgebildet waren und drangen in das Haus ein.

"Der Spuk ist gleich vorbei. Der kann sich nicht so lange verstecken. Die werden jetzt alle Räume durchsuchen", sagte Greenthal. "Der hätte längst über alle Berge sein können. Warum hat der hier auf uns gewartet?"

"Vielleicht mußte er alle Frauen hier töten?" Vermutete Sergeant Pine. maria Montes schien diese Mitteilung aus der Geistesabwesenheit zu lösen.

"Das muß er wohl immer", sagte sie. "Er kann nicht anders."

"Ach, hast du schon ein Profil von dem?" Fragte Moses spitzfindig.

"Genau dasselbe, das du auch schon gelesen hast, was Ruben Martinez uns gefaxt hat. Offenbar ist er in einer Art Zwangsvorstellung gefangen, daß er erst alle Zeugen beseitigen muß, die ihm unmittelbar gefährlich werden.

"Vor allem wissen wir nicht, wie er sie umbringt", sagte Moses Greenthal. Maria Montes schien da nicht gleicher Meinung zu sein.

"Wir wissen aber, wie er es nicht macht", sagte sie. Was sie nun wirklich dachte wollte sie nicht laut aussprechen, selbst wenn ihr Partner ihr das anstandslos abgekauft hätte.

"Mein Sohn Olli hat mal ein Buch gelesen, wo ein Mann einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Es hieß darin, daß er nie sterben müsse, wenn er ihm jede Woche eine Seele opfere. Dazu hat er einen Stein bekommen, der das ausgewählte opfer förmlich leersaugt."

"Um Gottes Willen", schrak Maria zusammen. "Das darf nicht sein."

"Sie glauben doch nicht etwa an schwarze Magie? lachte Pine. "Das habe ich nur erzählt, weil Sachen wie die mit diesem Andrews zu solchen dummen Geschichten führen."

"Hier, sehen Sie sich das mal bitte an!" Sagte ein Polizist in voller Straßenkampfausrüstung, klappte erst sein Helmvisier hoch und hielt Maria und Moses ein flaches, rundes Glitzerding an einer Kette entgegen. "Scheint so'ne Art Talisman zu sein.

Maria Montes schien unvermittelt einen Schmerzhaften Stich in der Brust zu spüren. Jedenfalls griff sie sich reflexartig an ihre linke Brust, besser etwas darunter. Moses besah sich das Medaillon, betrachtete die Inschrift und murmelte etwas, bis er einen Heidenschreck bekam und laut ein jüdisches Gebet ausrief.

"Um Ihrer Seele Willen weg damit!" Rief Maria Montes. Der Polizist mit dem Medaillon zuckte verstört die Achseln und streckte das kleine Schmuckstück weiter vor. Dabei war es ihm, als würden Funken davon zu der FBI-Agentin überspringen, kleine dunkelviolette Funken. Ja, täuschten ihn seine Augen? Von Maria Montes Körper knisterten vier goldene Funken zurück, bis er das Medaillon wieder zurückzog.

"Um ihrer Seele Willen werfen Sie es fort, Mann!" Rief Maria Montes unbändig. Moses Greenthal nickte wild. Er sang seine Gebetsformeln. Dann sprang er vor, packte den Arm des Kollegen, entriss ihm das Medaillon und schleuderte es mit aller Wucht, die sein trainierter Arm hergab in hohem Bogen davon.

"Der Brautschmuck der Töchter Liliths", stöhnte Moses Greenthal. "Dieser Mann da drinnen ist ein Gefangener der Dunkelheit."

"Bitte was?" Gab Pine verdutzt zurück. Dann zuckte es in seinem Gesicht.

"Die Madame Margo hat gesagt, eine ihrer Mädchen hat behauptet, Andrews sei von einem bösen Geist besessen. Das ist doch wohl nicht wahr. Ich bin wohl in einem abgedrehten Horrorfilm gelandet, "Poltergeist V" oder "Der Fluch des Dämons Teil II" oder was."

"Schön wäre es, Sergeant Pine", sagte Maria Montes. Moses sah sie nun verdutzt an. Dann sagte er:

"Dieses Medaillon ist die Hochzeitsgabe, wenn eine der Töchter der Nachtfrau Lilith, die bei den Babyloniern auch Lahilliota genannt wurde, einen Auserwählten unter den Sterblichen findet und ihn zu einem der Ihren macht. In ihm sind die Zauber der dunklen Bindung und Beherrschung eingeschrieben. Ich Mischuggerer Junge habe diese Formeln auch noch halb hergesagt. Ich habe es gespürt, wie eine starke Gier, es umzuhängen in mir aufkam. Gerade noch rechtzeitig habe ich es weggeworfen, und das sollte auch keinr mehr anfassen."

"Gier, sowas wie Lust auf Sex?" Fragte der Polizist, der das Medallion angeschleppt hatte. Moses nickte.

"Scheiße, das hätte mich ja fast auch erwischt", sagte er nun kreidebleich und rannte sofort davon, um seine Kollegen davon abzuhalten, das Medaillon anzufassen. Er rief, daß es eine Bombe sei, die jeden Moment losgehen könne, eine Selbstmordwaffe.

"Leute, das kann nicht euer Ernst sein", sagte Pine ungläubig. "Sie wollen mir doch nicht erzählen, Sie beide arbeiten in der Abteilung X oder was?"

"Wissen wir es, ob nicht eine solche Abteilung existiert", meinte Moses. "Ich weiß nur, daß ich mich nicht geirrt habe. Das Medaillon des Bösen existiert, und du, Maria hast das auch gespürt."

"Ich spürte nicht diese Gier oder was immer, sondern eine Art Elektrischen Schlag, der mir durch den Leib ging. Da war mir klar, daß das Ding verflucht ist", sagte Maria Montes.

Einer der Polizisten schien plötzlich wie an unsichtbaren Fäden gezogen zu werden. Er schritt langsam auf das Medaillon zu. Dann ging er mit schnellen Schritten, bückte sich und hob es auf. Er wirbelte herum und warf es in die Dunkelheit. Maria konnte eine Gestalt in weißer Kleidung erkennen, die in der Wurfbahn stand. Da fuhr etwas großes, abscheuliches aus dem Himmel herab. Es sah aus wie ein Gorilla mit Eidechsenschuppen und lederartigen Fledermausflügeln, wie eine Kreuzung aus einem Flugsaurier und einem Menschenaffen. Der Polizist, der das Medaillon gerade noch der Gestalt in Weiß zugeworfen hatte, sprang zurück. Die Gestalt in Weiß riss einen länglichen Gegenstand in die Luft und rief etwas, das Moses mit einem weiteren Schrecken erkannte: "Avada Kedavra!"

Ein gleißender Blitz aus grünem Licht sirrte der herabstoßenden Gestalt entgegen, traf sie voll und hüllte sie in eine Wolke phosphoreszierender Funken. Ein absolut nichtmenschliches Brüllen war die Antwort. Aus dem Haus erklangen zeitgleich Schüsse.

"Las Brujas malas", stöhnte Maria Montes. Das Medaillon lag nun auf dem Boden. Die Gestalt in weißer Kleidung tauchte danach, um es zu ergreifen, da stürzte sich das geflügelte Ungetüm auf sie und grub seine Klauen in ihren Rücken. Keine Sekunde später färbte sich die weiße Kleidung rot von Blut, während die Hexe erst in die Luft gerissen und dann mit ungehemmter Wucht auf den Boden zurückgeworfen wurde. Dann stieg das Flugungeheuer wieder auf. Die Gestalt in weißer Kleidung lag am Boden. Einer der Polizisten hastete auf das Medaillon zu, bückte sich und griff es.

"Der soll das liegen lassen, bevor die Tochter der Nachtfrau ...", rief Moses und stürzte aus dem Wagen. maria Montes wollte ihm noch nachrufen, er solle doch im Wagen bleiben. Doch Moses rannte schon los. Da krachte eine MP-Salve aus dem Haus und warf Moses vorne über. Wer hatte da geschossen?

Anthelia, die höchste Schwester des Spinnenordens, hatte vor ihrer üblichen Schlafenszeit angeordnet, alle Informationen aus der Muggelwelt noch einmal genau zu überprüfen, ob man nicht doch herausfinden konnte, wo dieser Richard Andrews war. Da sie selbst einen nicht so häufig unterbrechbaren Schlafrhythmus einhalten mußte, um sich die Magie des lebenserhaltenen Gürtels Dairons zu bewahren, übertrug sie Pandora Straton die Aufsicht über die von ihr eingerichtete Nachtwache, die aus einigen Schwestern des Spinnenordens bestand. Als dann um zehn nach zehn abends die halbindianische Hexe Wanda Waxingmoon ins Hauptquartier, die alte Daggers-Villa kam, saß Pandora gerade mit Patricia Straton und dem zwölfjährigen Hexenmädchen Dido Pane bei einer Partie Kobol.

"Schwestern, ist die höchste Schwester noch auf?" Keuchte sie, als wenn sie nicht appariert, sondern gelaufen wäre.

"Sie schläft schon", sagte Dido. "Die schläft immer so um die Zeit."

"Der Abhängige ist in einem Bordell in Mississippi aufgetaucht. Meine Mutter hat mir das gerade mentiloquiert. Meine Halbschwester Sunny, die vor fünf Jahren von zu Hause abgehauen und wohl auf der schiefen Bahn gelandet ist, hat ihr einen Hilferuf geschickt. Sie kann ja selbst nicht aktiv zaubern. Aber einige Rituale kann sie anwenden und verborgene Magie erkennen, wie meine Mutter", sagte Wanda, die neben dem Spinnenorden auch dem Orden der schweigsamen Schwestern angehörte.

"Was meint sie?" Wolte Dido wissen. Patricia Straton sagte nur:

"In einer halben Minute bist du in deinem Zimmer und bleibst da oder landest im Puppenhaus meiner Cousine!" Dido wagte nicht, dagegen aufzubegehren. Sie sprang auf und rannte wie von Hunden gehetzt in das Dachgeschosszimmer, daß Anthelia ihr zugewiesen hatte.

"Dann kriegen wir den Abhängigen", sagte Pandora Straton sehr erregt. "Wo ist dieses Freudenhaus?"

"Ich kann euch hinbringen", sagte Wanda. "Mutter hat mir das Bild und die Lage als Wachtraumbild zugeschickt. Sollen wir?"

"Ist er alleine dort?" Wollte Pandora wissen.

"Sunny soll wohl hinbekommen haben, daß die Muggelpolizei anrückt. Dieser Andrews wird wohl nicht warten, bis die kommt."

"Wenn er den Auftrag hat, sämtliche Dirnen des Sündenpfuhls auszuzehren schon", sagte Pandora. Dann meinte sie noch: "Wir müssen aber auf Abstand bleiben. Wir dürfen nur beobachten, bis wir eine sichere Gelegenheit kriegen, den Kerl zu erwischen. Also los, Wanda. Wir lassen uns von dir führen!" Sie faßten einander bei den Händen und schlossen die Augen. Dann krachte es überlaut, und die drei Hexen waren verschwunden.

Wenige Augenblicke später krachte es keinen Kilometer von einem purpurfarbenen Backsteinhaus wieder. Die drei Hexen ließen sich los und liefen auf das nun düster wirkende Lasterhaus zu. Patricia sagte schnell:

"Tatsächlich, er ist dort drinnen und im Vollrausch der Gier. Er hat gerade die dritte von noch vier lebenden Huren angefallen und ist mit ihr beschäftigt. Da muß ich mich ja schon abschotten, so heftig böse ist seine Gier."

"Was fühlst du mit deinen Sinnen einer Medizinfrauentochter?" Fragte Pandora Wanda. Diese erstarrte in Angst.

"Ihr von der toten Magie könnt manchmal froh sein, für vieles blind und taub zu sein. Ich höre die Geister der getöteten. Sie wehren sich unter Schmerzen im Körper des Mannes, der sie in sich aufgenommen hat. Doch sie brennen dahin wie dünne Zweige im Lagerfeuer. Sie werden nicht in die erhabene Nachwelt eingehen. Ich fühle, wie auch das innere Selbst der dritten Frau dem Körper entzogen wird. Im Rausch der Körperwonne wirkt die dunkle Macht. Das ist schrecklich", sagte sie zu tiefst angewidert.

"Dabei ist dein Vater doch auch einer von der toten Sorte der Magie, wie ihr Animisten uns gerne nennt", lachte Patricia, bevor sie wieder todernst wurde. "Die vierte von denen kommt nicht aus dem Zimmer. Die Türen sind mit dicken Eichenbohlen verstärkt. Das ist da auch so ein Sklavenhalterhaus, wie unser Hauptquartier."

"Ich sehe mir das mal aus der Nähe an", sagte Pandora und verschwand mit leisem Plop. Sofort nahm Patricia eine starre Haltung ein und murmelte die Zauberwörter für den Exosenso-Zauber, der ihr gestattete, ohne bemerkt zu werden in die reine Sinneswahrnehmung eines ihr bezeichneten oder gut bekannten Lebewesens einzutauchen. Sie schloß die Augen und verfolgte mit, wie ihre Mutter sich das Haus von außen ansah, dabei stets in Deckung bleibend. Als sie dann nach einer Minute wieder zurückkehrte, zog sich Patricia aus der Wahrnehmungswelt ihrer Mutter zurück.

"In dem Haus liegen mindestens sechzehn tote Menschen, davon vier Männer. Das konnte ich genau wittern", sagte Pandora. Patricia nickte. Denn auch sie hatte alles mitbekommen, was Pandora Straton bei ihrem Pirschgang um das Haus mitbekommen konnte.

"Die dritte Frau hat gerade ihren Körper verlassen und ist mit ihrem reinen Geist und Lebensstrom in den Gefangenen der dunklen Macht gezogen worden", sagte Wanda Waxingmoon. Patricias angeborene Telepathie bestätigte das, was Wandas antrainiertes spirituelles Bewußtsein ihr schon gezeigt hatte.

"Jetzt wird er die vierte auch noch entseelen", sagte sie. "Sollen wir ihn stoppen, Mutter und Schwester?"

"Du weißt, daß die höchste Schwester ihn lebend haben will, weil sie den Schlafplatz von Hallitti sucht. Wir dürfen ihn nicht töten."

"Nur wenn er mich umbringen will", sagte Patricia. "Er hat nämlich eine Handfeuerwaffe."

Lautes Gewimmer und Geheul kam von hinten. Patricia warnte: "Achtung, die Muggelpolizei rückt an. Wir verstecken uns besser." Ihre Mutter nickte, womit dieser Vorschlag zum Befehl wurde.

Als die drei Hexen sich in die Büsche geshlagen hatten, brausten mehrere Wagen mit wild rotierenden Rotlichtern vorbei und verteilten sich auf der breiten Parkfläche vor dem Bordell. Der einzige Wagen, der bis dahin dort gestanden hatte war ein dunkler Cadillac. Sie beobachteten mit ihren körperlichen und übernatürlichen Sinnen, wie die Sondereinsatzkräfte das Haus schnell umzingelten und ihre Schnellfeuerwaffen bereithielten. Dann kamen noch einige Wagen an. Da die Hexen mehr als hundert Meter entfernt waren, konnten sie nur erkennen, daß es wohl Beobachter waren, die den bevorstehenden Angriff auf das Haus überwachen sollten. Da sagte Patricia:

"Merkwürdig. Ich kann aus einem Auto einen denkenden Mann erfassen, der jedoch davon überzeugt ist, mit einer Frau zusammenzusein. Aber ich kann von dieser Frau nichts mitbekommen."

"Da ist ein helles Licht mit diesem Auto gekommen. Es ist der Hauch des großen Geistes. Ihn magst du nicht durchspüren können, ebenso wenig wie ich", sagte Wanda.

"Eine Hexe, die sich gegen außersinnliche Wahrnehmungen und Fernbeobachtungszauber abgeschirmt hat?" Fragte Pandora Straton.

"Natürlich hat Poles Ministerium jemanden mitgeschickt, die sehen soll, was passiert. Wahrscheinlich ist es ein starker Illusionszauber und diese Hexe blockt mich gut ab", pflichtete Patricia bei.

Dann hörten sie eine Frauenstimme durch Lautsprecher weit widerhallen. Sie bekamen mit, wie Die dirne, die Richard Andrews als letzte überwältigen wollte, etwas aus dem Fenster warf. Wanda meinte, dies sei ein Totem des bösen Geistes. Einer der Polizisten brachte dieses Ding wohl zum Lautsprecherwagen. Wanda meinte:

"Der Böse Geist des Totems kämpft gegen das Licht. Das Licht drängt ihn zurück."

"Der eine vom FBI kennt sich aus, er liest die Inschrift. Oha, jetzt hat er tierische Angst", kommentierte Patricia Straton, was sie auf ihrem Weg übersinnlicher Wahrnehmung mitbekam. Sie fragte sich, wer bitte diese Maria sein sollte. Denn irgendwie schien ihr Bild zu verschwimmen, wenn sie versuchte es in den Gedanken des FBI-Agenten zu erkennen. Sie ärgerte sich, daß sie eher gedachte Worte und Gefühle verspürte und nicht die Bilder sehen konnte. Sie wollte gerade versuchen, den Exosenso-Zauber auf den FBI-Agenten anzuwenden, da flog das Medaillon wohl weit weg.

"Wanda, hol das Medaillon! Ich lass dir einen Polizisten danach suchen", sagte Pandora und disapparierte. Wanda verschwand auch auf die für geübte Hexen und Zauberer schnellste Weise.

"Verdammt, wieso kann ich nicht mitkriegen, wer diese Maria ist. Sie muß eine Kollegin von diesem Moses Greenthal sein. Aber irgendwas verbirgt sie vor mir." Sie fühlte, wie ihre Mutter den Imperius-Fluch auf einen Polizisten legte und verfolgte, wie dieser trotz einer hahnebüchenen Warnung vor dem explodierenden Medaillon hinging, sich bückte, es aufhob und der gerade vor ihm aufgetauchten Wanda zuwarf. Doch diese schrak zurück. Patricia schrak ebenfalls zusammen. Denn sie hatte das Wesen nicht vorher wahrgenommen. Als geflügeltes Ungeheuer, wie es sie, ihre Mutter, Lucky Withers, Dana Moore und die höchste Schwester schon einmal angegriffen hatte, stürzte sich Hallitti selbst von oben herab und griff Wanda an, die meinte, den Todesfluch anbringen zu können. Zwar wurde die Bestie davon zurückgeworfen und für einige Sekunden geschwächt, doch als Wanda schnell das Medaillon aufheben wollte, wurde sie von der Kreatur aus der Luft gepackt, grausam verletzt und hochgerissen, wie das Kaninchen vom Adler. Wanda starb sofort an schwersten Verletzungen von Lunge und Rückenmarg. Der harte Aufprall, mit dem ihr Leib wieder auf dem Boden landete, wurde von ihr nicht mehr gespürt. Der Polizist, der das Medaillon geworfen hatte, bückte sich und hob das Teufelsding auf. Da griff ihn Hallitti auch an und zerfleischte ihn trotz seiner schweren Schutzausrüstung mit unbändiger Wut. Keine fünf Sekunden später hielt sie das Medaillon in einer ihrer schuppigen Klauen.

"Patricia, sofort zurückziehen!" kam eine gedankliche Anweisung ihrer Mutter. Patricia wartete, bis sie die Gedanken Pandora Stratons nicht mehr spürte und disapparierte gleichfalls, keine Sekunde zu früh.

__________

Maria Montes sah, wie Moses Greenthal sich zusammen mit dem Polizisten auf das Medaillon stürzte. Da griff ihn das schuppige Scheusal von hinten an. Maria starrte mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen auf das Horrorspektakel keine zwanzig Meter von ihr entfernt. Das Monster zerfetzte die kugelsichere Ausrüstung, die sogar die neueren Stahlmantelgeschosse schlucken konnte wie Seidenpapier und hatte daher keine Mühe, den Träger der Rüstung wie ein Raubvogel seine Beute zu töten. Moses stimmte wohl ein Schutzgebet an, als das Ungetüm, das Medaillon in der einen Pranke, losflog, irgendwo hin.

"Sofort alle von hier weg!" Rief Moses den Polizisten und FBI-Sondertruppen zu, die von den unbegreiflichen Geschehnissen regelrecht versteinert worden waren. Maria Montes sprang aus dem Lautsprecherwagen, auf einen der Panzerwagen zulaufend. Moses tat es ihr gleich. In der Ferne hörten sie das wütende Gebrüll eines Wesens, das ganz sicher nicht von dieser Welt stammte.

"Heilige Maria, Mutter Gottes. Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes! Amen!" Betete Maria Montes zu ihrer himmlischen Namensgeberin, während sie auf den Panzerwagen zuhastete. Gleichzeitig peitschten MP-Salven wie dornige Geißeln auf ihren von der Schutzweste bedeckten Körper ein. Sie schaffte es soeben noch, sich hinter den Panzerwagen zu werfen, von dem nun weitere Salven pfeifend und wimmernd abprallten.

"Macht doch endlich alle, daß ihr da wegkommt. Ihr kriegt den armen Mann sowieso nicht lebendig!" Rief Moses, während von drinnen weiter geschossen wurde. Dann stürmte der gesuchte wild um sich schießend aus dem Gebäude. Maria sah einen vor unbändigem Wahn verzerrt dreinschauenden Menschen, der mit übermenschlicher Geschwindigkeit, fast wie einer dieser bionischen Krieger aus den Comics ihres Neffen, auf den Cadillac zurannte und dabei immer noch um sich schoss. Zwar konnten die Kugeln die gerüsteten Polizisten nicht töten. Doch die Wucht warf sie zur Seite. Sie feuerten. Da verschwand Andrews. Im selben Moment zuckte es unter Maria Montes linker Brust.

"Mo, der ist hinter uns!" Rief sie. Moses Greenthal warf sich mit seiner MP herum und feuerte. da flog etwas aus dem Himmel auf sie beide zu. Maria fühlte, wie es wie starker pulsierender Strom durch ihren Körper zuckte. Sie wußte nicht ob sie sich das einbildete oder es tatsächlich passierte. Denn es wirbelten goldene und blaue Funken um ihren Körper, während die geflügelte Grausamkeit auf Moses Greenthal herabstieß. Als wenn die Carbonverstärkten Fasern des kugelsicheren Anzugs nicht mehr als welkes Laub waren, ratschte es nur einmal laut. Dann ertönte ein über die Maßen entsetzlicher Schrei von Moses, der innerhalb einer Sekunde in ein Röcheln überging, das dann zu einem endgültigen Schweigen abebbte.

"Heilige Maria, Mutter Gottes! Bitte für uns Sünder ...." Begann Maria wieder zu beten. Dann fiel ihr jene Formel ein, die sie bereits einmal vor höllischen Kreaturen gerettet hatte. Um ihren Körper herum tobte mittlerweile eine leuchtende Wolke aus goldenem und blauem Licht, das immer heller wurde.

"Maria, mater dei! In Calamitate expecto Patronam meam!" Rief Maria Montes. Als eine schuppige Pranke auf sie zuschnellte und laut zischend im tosenden Licht um sie herum steckenblieb. Da schoss von Maria Montes fort eine silberne Wolke, prallte gegen das geflügelte Ungetüm, trieb es zurück. Doch es verschwand nicht, als zwischen ihm und Maria eine Frauengestalt aus silbernem Licht Gestalt bekam. Doch schien das Auftauchen dieses Lichtwesens die Höllenkreatur von einem weiteren Angriff abzuhalten. Sie wich zurück, glotzte mit seinen katzenartigen Augen auf die Erscheinung und hob dann ab. Die Erscheinung stieg ebenfalls auf, blieb jedoch nur eine Sekunde in der Luft. Dann flog sie als silberner Lichtball zu Maria Montes zurück, verschwand unterhalb ihrer linken Brust. Keine Sekunde später breitete sich eine goldene Aura um Maria aus, die das bisherige Lichtgewitter an Helligkeit und Beständigkeit um ein vielfaches überragte. Da kam das Monster von oben, schlug mit den Pranken nach der FBI-Agentin. Doch jeder Prankenhieb wurde laut knisternd und krachend von der goldenen Lichtumhüllung zurückgeprällt, wieder und wieder. Jeden Hieb verspürte Maria wie einen Stromschlag. Daneben war ihr, als würde unter ihrer schußsicheren Weste ein Stück Eis immer wieder entstehen und zerschmelzen. Nach vier vergeblichen Attacken ließ die geflügelte Bestie von Maria ab, zog sich etwas zurück, riss das Maul auf, breitete die schuppigen Arme aus und schleuderte wie aus sich selbst kommend einen pechschwarzen Flammenball, der laut fauchend auf die FBI-Agentin zuraste. Die goldene Aura um sie herum wurde zu einem breiten Trichter, in den die Feuerkugel hineinschlug und explodierte. Maria glaubte, in einen Schauer aus eiskaltem Wasser ertrinken zu müssen. Sie drohte, das Bewußtsein zu verlieren. Dann hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf:

"Aus Liebe geboren.
Der Liebe und dem Heil verschworen.
Wenn aus Liebe gegeben
erhältst du Schutz und Leben."

Dann war es vorbei. Der Angriff der höllischen Bestie war verebbt. Maria Montes sah sich um. Das geflügelte Unwesen taumelte nun auf seinen zwei Beinen gehend dahin. Offenbar hatte es eine Menge Kraft in seine Angriffe gesteckt. Maria fühlte, wie etwas schützendes sie durchpulste. Um sie herum flutete wieder die goldene Aura, nur auf die Hälfte ihrer Helligkeit abgedunkelt. Dann sprang das Monster auf die Polizisten zu, die das Schauspiel immer noch wie in einen Bann geschlagen verfolgten. Nur einer schien die Situation nun verdaut zu haben. Er griff nach seinem Funkgerät und wollte gerade eine Meldung durchgeben, als das Biest mit Flügeln sich in weißen Nebel auflöste. Aus dem Nebel entstand eine wunderschöne Frau mit langen Haaren, die im Licht der noch brennenden Scheinwerfer flammenrot schimmerten. Das mußte sie sein, jene Tochter der Lilith, von der Moses gesprochen hatte.

Die Frau aus einer anderen Welt begann, ein süß klingendes Lied zu singen, erst leise, dann immer lauter. Die Polizisten schienen aus ihrer Starre aufzuwachen. Sie lauschten dem überirdisch schönen Lied, während sie ihre Schutzrüstungen ablegten. Maria Montes wollte sie warnen, nicht die Schutzanzüge abzuwerfen. Doch in ihrem Kopf kämpften zwei fremde Gedankenströme um die Vorherrschaft über ihr menschliches Bewußtsein.

Da war zum einen die Botschaft in dem Lied: "Sei beruhigt, du bist in sicherer Umgebung." Gegen die ein mehrstimmiger Chor aus Männern und Frauen ansang: "Bleibe ruhig doch wachsam! Bleibe ruhig doch wachsam!" Gefangen zwischen diesen in sie eindringenden Botschaften konnte Maria nichts mehr aus eigenem Willen tun. Sie hockte hinter dem gepanzerten Wagen, während sämtliche Polizisten ihre Schutzrüstungen ablegten, ja ihre Waffen hinwarfen, als sei hier an diesem Ort nichts irgendwie gefährliches. Die Stimme der Kreatur wirkte wie das beruhigende Wiegenlied der liebenden Mutter, die jeder und jede hier kennengelernt hatte. Wäre da nicht dieser Geisterchor in Marias Kopf gewesen, so hätte sie gemeint, ihre Mutter und ihre Großmutter würden sie in einen ruhigen Schlaf singen wollen. Dann änderte sich die gesungene Botschaft der bösen Kreatur:

"Geht ins Haus und bleibet dort. Denn ganz sicher ist dieser Ort."

"Bleibe ruhig doch wachsam!" Drang der Chor sphärischer Stimmen noch drängender in Marias Geist ein. Sie fühlte das Pulsieren unter ihrer Brust, als würde dort ein zweites, äußeres Herz schlagen, durch das sie warme Ströme einer sagenhaften Kraft in ihren Organismus gepumpt bekam. Die Sonderpolizisten gingen wie lebende Leichen in das Purpurhaus hinein. Die Kreatur sang weiter auf sie ein. Dann sah sie Richard Andrews herbeikommen. Dieser klaubte die Waffen und Schutzwesten auf und trug sie nach und nach hinter den Polizisten her. Als er nichts mehr draußen liegen hatte, hörte die Höllentochter auf zu singen. Sie holte aus einem der Panzerwagen weiteren Sprengstoff, reicherte ihn mit Benzin aus einem der anderen Fahrzeuge an und warf die so gemischte Ladung durch das gesprengte Eingangsgitter. Dann legte sie eine Benzinspur zu dem Haus. Maria hockte derweil immer noch erstarrt hinter dem einen Panzerwagen und wunderte sich, warum Richard Andrews oder diese Höllenfrau sie nicht sahen, wo sie öfter in ihre Richtung blickten. Richard Andrews entzündete ein Streichholz, trat mit der unheimlichen Frau weit zurück und warf das Streichholz in die langsam versickernde Benzinspur. Flämmchen züngelten auf, breiteten sich aus und liefen mit hoher Geschwindigkeit auf das Haus zu. In diesem Moment griff das schöne Ungeheuer die rechte Hand von Richard Andrews und verschwand mit ihm. Im selben Augenblick erlosch der goldene Schein um Marias Körper, und der sie zur Ruhe auffordende Chor der Geisterstimmen verklang. Sie begriff. Dieses Monster wollte das Haus mit einer gewaltigen Sprengladung und Feuer zerstören, wo noch lebende Menschen darin waren. Sie rief laut:

"Kommt da raus, schnell! Kommt doch raus da!"

Die Benzinspur brannte nun bis zu der Sprengladung weiter. Doch niemand hörte Marias Ruf. Sie sprang auf und wollte das Feuer löschen, bevor es die Ladung ...

Mit einem großen Satz sprang eine Flammengarbe aus der Benzinlache um die Sprengladung auf das tödliche Paket über. Maria warf sich hinter einen der Wagen zu Boden und riss den Mund weit auf. Keinen Sekundenbruchteil später gab es einen mörderisch lauten Knall, gefolgt von einem häßlichen Bersten und prasseln. Eine Druckwelle fegte vom Haus weg auf alle Fahrzeuge zu, wirbelte Staub und Dreck auf und trieb eine Wolke ausFunken vor sich her, die auf leicht brennbaren Oberflächen zu kleinen Feuern aufkeimten. Maria Montes hörte ein lautes Klingeln in beiden Ohren, das alle anderen Geräusche überlagerte. Die Hauptwucht des Knalls hatte sie, wie sie es früher in Chemie und später in der FBI-Ausbildung gelernt hatte, durch den weit geöffneten Mund direkt wieder aus ihrem Hals-Nasen-Ohren-Bereich abgelassen. Doch das Ohrenklingeln mochte nun für alle Zeiten bleiben. Sie mußte sofort in ein Krankenhaus. Dann fiel ihr ein, daß Moses und mehrere andere Polizisten tot auf dem Boden lagen. Sie weinte bitterlich.

Währenddessen brannte es im Haus lichterloh. Viel Benzin war vor dem Entflammen mit der Sprengladung im Haus verteilt worden, die Benzingase hatten sich entzündet und einen großen Feuerball freigesetzt, der alles brennbare sofort erfaßte.

Durch das Knalltrauma beinahe taub konnte Maria die Hilferufe der eingeschlossenen Männer nicht mehr hören. Ein hoher Piepton füllte ihre Ohren aus. Sie hörte nicht einmal die Anrufe aus ihrem Funkgerät. Sie lag weinend auf dem Boden. Der Schock betäubte ihren klaren Verstand.

Nun brannte das Haus aus allen Öffnungen des Erdgeschosses. Das Knallen und Ploppen um sie herum konnte Maria nicht hören.

"Verdammt, können wir das noch löschen!" Rief ein Mann in dunklem Umhang.

"Sind da noch lebende Menschen drin?" Fragte ein anderer. Ein dritter schien das nachzuprüfen. Er verschwand, nachdem er sich mit einem Zauber gegen Flammenschaden und mit einer Kopfblase gegen Rauchvergiftung geschützt hatte. Nach einer Minute kam er zurück.

"Keiner wird das überleben. Die Verbrennungen sind schon zu schwer. Bis Muggel die aus dem Haus geborgen haben, sind sie tot. Kuckt euch das hier an", sagte er und deutete auf die zerfleischten Leiber der Polizisten, die der Höllenkreatur zum Opfergefallen waren.

"Das ist wieder was für Patch", sagte ein anderer der insgesamt fünfzehn Zauberer.

"Los, abtransportieren! Die Muggel dürfen die nicht finden. Nachher glauben die noch an einen Riesenbären oder einen viermal so großen Adler."

Sieben Zauberer transportierten die getöteten Polizisten ab. Ein anderer sah Maria Montes auf dem Boden liegen und eilte zu ihr. Er sprach die wimmernde in einer Art Starrkrampf gefangene Frau an. Sie gab keine Antwort.

"Die lebt noch!" Rief er. "Sie hat hinter einem dieser gepanzerten Fahrzeuge gelegen. Sie steht wohl unter Schock."

"Hat sie ein Telefon in der Nähe, dann rufen wir den Muggelnotdienst."

"Das sind Einsatzfahrzeuge. Die haben bestimmt diese Funkedinger mit", sagte der, der Maria gefunden hatte. Wieder ploppte es. Ein Mann in Muggelkleidung mit blondem, von seinem flachen Kopf bürstenartig abstehendem Haar, trat zu den Zauberern.

"Was ist genau passiert?" Wollte er wissen.

"Wissen wir nicht. Offenbar wurden hier welche von einem Monster getötet. Andere sind bei lebendigem Leib in diesem Haus da verbrannt. Wir wollten schon die Heiler rufen. Aber unser Truppführer meint ja, wir dürften denen nicht helfen, weil das den Muggeln auffällt."

"Mann, geht da rein und helft denen doch!" Rief der Neuankömmling. Dann sah er Maria Montes am Boden liegen.

"Maria, Muchachita! Hörst du mich?" Fragte er laut.

"Sie kennen die Frau?" Fragte der Mann, der kurz im brennenden Haus gewesen war.

"Die ist eine Muggelkollegin von mir, Codius", gab der Mann in gewöhnlicher Kleidung Auskunft.

"Sie steht wohl unter Schock. Es sieht alles so aus, als habe es eine gewaltige Explosion gegeben. die büsche hier brennen auch schon."

"Oh, dann hat sie sicher einen Gehörschaden abbekommen. Ich bringe sie zu einem Heiler. Wahrscheinlich hat sie mitbekommen,was hier passiert ist. Wir dürfen das nicht den Muggeln überlassen", sagte er.

"Das darfst du nicht, Zach", wies der Zauberer namens Codius den blondhaarigen an.

"Unter Berufung auf Notfallsondervorschrift sieben und Aufklärungsrichtlinie drei a darf, ja muß ich sicherstellen, daß eine Zeugin eines schweren magischen Vorkommnisses befragt und vor den Nachstellungen der Muggelbehörden geschützt wird. Dein Onkel hat diese Vorschriften selbst wieder in Kraft gesetzt, nachdem beinahe der Drachenangriff vor zehn Jahren unsere Geheimhaltung gefährdete, weil zehn überlebende Muggel von ihren Polizisten befragt werden konnten, bevor unsere Eingreiftruppe da war." Er griff Maria bei einer Hand und verschwand mit ihr zusammen.

"Ich dachte, wir hätten es hier mit dunklem Feuer zu tun, weil unsere Alarmzauber so heftig ansprangen. Aber das war wohl eine Fehlmeldung", sagte Codius Pole, der Neffe von Zaubereiminister Jasper Pole.

"Vielleicht hat Zach recht, und diese Frau hat alles mitbekommen. Dann sollten wir sie erst befragen, bevor was für die Muggel zurechtgelegt werden muß", sagte ein anderer.

"Gut, dann machen wir uns besser aus dem Staub. Wenn nichts außergewöhnliches mehr zu finden ist, dann werden die Muggel von einem Brandanschlag ausgehen", sagte Codius Pole. Dann verschwanden sie alle.

Maria Montes erwachte nach zwei Stunden aus einem merkwürdigen Schlaf. Sie lag in einem Bett, unversehrt. Ihr kugelsicherer Anzug lag auf einem Tisch nebenan. Ihre Ohren klingelten nicht mehr. Wo war sie?

"Hallo, hört mich wer!" Rief sie und erschrak, wie laut ihre Stimme von den Wänden widerhallte.

Zwei Frauen und zwei Männer traten ein. Eine Frau erkannte sie als Jane Porter, eine echte Hexe, und einen der Männer erkannte sie als ihren FBI-Kollegen Zachary Marchand aus New Orleans. Die zweite Frau war hochgewachsen und dunkelhaarig, trug eine Silberrandbrille und war in einer grünen Tracht gekleidet, die wie ein Chirurgenkittel wirkte. Der zweite Mann war ein baumlanger Mensch in marineblauem Umhang mit silbernen Zierknöpfen, der ebenfalls eine silbergeränderte Brille trug, deren Gläser jedoch ziemlich dick waren. Sein dunkelblonder Schopf war ordentlich gescheitelt.

"Schön, daß du wieder da bist. Heilerin Verdant hat schon gesagt, daß es dir bald besser geht. Sie hat dir Ohrenheiltropfen gegeben, nachdem sie deine Trommelfellanrisse behoben hat. Im Moment könntest du wahrscheinlich eine Stecknadel in fünfzig Metern Entfernung fallen hören", drang die Stimme Marchands zischend an ihre Ohren. Sie war sich sicher, daß er flüsterte. Doch seine Stimme fauchte wie ein Dampfventil. Die Frau im grünen Kittel gab Maria zwei Wattepfropfen. Sie nahm sie entgegen und steckte sie schnell in die Ohren. Zachary sprach nun mit betonter Stimme, doch trotz Watte laut genug, als stünde er neben ihrem Kopf. "Das gibt sich aber in zwei Tagen wieder, wenn der Körper die überschüssige Behandlung ausgeglichen hat. Auf jeden Fall hast du das Knalltrauma besser weggesteckt als erwartet. Gegen den Schockzustand hast du einen Beruhigungstrank erhalten. Sicher, daß Mo tot ist und viele andere Kollegen auch, ist schlimm. Wir möchten von dir noch hören, was so passiert ist, da du die einzige Überlebende bist."

"Ach, bin ich das?" Fragte Maria Montes. Dann fiel ihr auf, daß ihr silbernes Kreuz nicht mehr um ihren Hals hing.

"Wo ist das Kruzifix?" Fragte sie.

"Ihren Talisman und Lebensretter haben wir sicher aufbewahrt, damit er nicht gestohlen werden kann", sagte die Frau, die als Heilerin Verdant vorgestellt worden war. Marchand übernahm es, die drei anderen vorzustellen. Dabei erfuhr Maria, daß der baumlange Zauberer Jasper Pole hieß und der Minister für Zauberei in den vereinigten Staaten war, also der höchste Zauberer nordamerikas. Warum minister und nicht Präsident, erfuhr sie, als Pole ihr erklärte, daß man mit den jeweiligen Regierungen der nichtmagischen Welt in einer streng geheimen Weise zusammenarbeitete. Dadurch sei alles magische eine von einem Minister oder einer Ministerin zu regelnde Aufgabe. Dann sprach Jane Porter noch mit Maria Montes.

"Wir haben befürchtet, daß es zu einem solchen Zwischenfall kommen wird. Die Spuren, die gefunden wurden, weisen auf eine sehr geheime Sache hin, in die nur mein Chef, sowie der Zaubereiminister, dein Kollege Zachary und ich direkt eingeweiht wurden. Heilerin Verdant unterliegt wie Ihre Ärzte auch einer Schweigepflicht und kann sogar zum strengsten Stillschweigen verpflichtet werden. Wir möchten nun von Ihnen erfahren, was genau sie mitbekommen haben."

Maria erzählte es den zwei Hexen und Zauberern so detailgenau wie es ging. Sie konnte sich an wirklich jede Kleinigkeit erinnern. Zach Marchand schrieb sich die Einzelheiten auf. Als sie dann noch erwähnte, was sie über Richard Andrews, beziehungsweise diesen Doppelgänger mitbekommen hatte, erschrak Heilerin Verdant.

"Minister Pole, wenn ein solches Wesen mit seinem Sklaven wieder aktiv ist und das in den Staaten, müssen Sie zumindest die Versammlung der Heiler und Strafverfolger informieren."

"Wenn es an der Zeit ist, Tilia", schnitt ihr Zaubereiminister Pole das Wort ab. "Wir wollen keine Panik verursachen. Zu gegebener Zeit werde ich die Zaubererwelt informieren und auch probate Schutzmaßnahmen empfehlen. Vorerst sieht es so aus, daß diese Kreatur sich in der Muggelwelt ihre Opfer sucht und ihren Abhängigen ausschickt, einschlägige Orte und Menschen heimzusuchen. Denn Ihr ermordeter Kollege und Sie haben richtig erfaßt, daß der Mann, der bislang als Richard Andrews auftrat, nicht fliehen durfte, bevor er nicht seinen Auftrag ausgeführt hat."

"Sie wollen mir nicht einreden, daß dieser Mann nicht der echte Richard Andrews ist", sagte Maria Montes. "Denn spätestens nach dem Auftauchen dieser Unheilskreatur ist ja wohl klar, daß er nicht ein Doppelgänger ist, der von einer geheimnisvollen Organisation geschickt wurde."

"Kein Kommentar", sagte Pole. Maria lächelte. Doch als sie Zacharys Zauberstab auf sie deuten sah, verging ihr das lächeln.

"Obleviate", sagte er rasch.

Als Maria Montes im Krankenhaus von Muddy Banks aufwachte war es einen Tag später. Sie erinnerte sich daran, daß sie mit einigen dutzend Sondereinsatzleuten und ihrem Kollegen Moses Greenthal zu diesem Bordell bei Muddy Banks gefahren war. Dort war es zum Sturm auf das Haus gekommen. Moses Greenthal war dabei von einer Handgranate aus dem Haus heraus getroffen und getötet worden. Maria hatte die Anweisung bekommen, im Wagen zu warten und gemachte Beobachtungen zu melden. Da habe sie die Besinnung verloren. Sie war wohl von einem Betäubungsgas erwischt worden. Nur der Umstand, daß sie im Panzerwagen gesessen hatte, hatte sie davor bewahrt, mit den anderen betäubten ins Haus verschleppt und dort mit einer Sprengladung und Brennstoff getötet zu werden. Als sie nach einer Reihe von Untersuchungen wieder entlassen wurde, bekam sie aus einem Safe des Krankenhauses ihre Ausweispapiere und die Kette mit ihrem silbernen Kreuz.

Von tiefer Trauer ergriffen kehrte sie nach Jackson zurück, wo sie sich mit ihrem Chef unterhielt. Als sie noch einmal in Moses Greenthals Büro ging, lief dort immer noch der Computer. Auf dem Bildschirm standen die Zeilen:

"So gelang uns am 8. Mai 1996 im Terminal 1 des Flughafens der Zugriff. Bei dem Straftäter wurden Papiere gefunden, die auf ein Schließfach am Hauptbahnhof in Jackson hinwiesen. Da selbst konnte ein Großteil der geraubten Barschaft sichergestellt werden ..."

Maria beendete die Textverarbeitung. Sie fragte sich, warum niemand den Computer längst ausgeschaltet hatte. Sie schickte die Datei über das FBI-eigene Netzwerk zum Archiv mit dem Vermerk, daß Spezialagent Moses Greenthal diesen Bericht nicht mehr abschließen konnte, weil er in Erfüllung eines Auftrags gestorben war. Dann fuhr sie den Rechner herunter. Stille trat ein, als das Kühlgebläse des Computers nicht mehr lief. Maria saß auf dem Stuhl, auf dem ihr langjähriger Partner gesessen hatte. Sie erinnerte sich an die vielen gefährlichen Einsätze, vor allem an den, wo sie zu einem Krankenhaus gerufen worden war, weil dort der gliederlose Körper eines Mannes aufbewahrt wurde, der jedoch auch ohne Kopf und Gliedmaßen lebendig war. Sie wußte, daß man ihm damals das Gedächtnis verändert hatte, weil niemand aus der nichtmagischen Welt wissen sollte, daß es dunkle Mächte gab. Moses hatte sich gerade mit diesen Sachen sehr gut ausgekannt. Das er jetzt bei einem Kampf gegen eine Verbrecherbande gestorben war, machte sie sehr traurig. Sie beide hatten nie über ihre Religionen gesprochen, woran sie glaubten und wie sie mit Leben und Tod umgingen. War das ein Fehler? Sie wußte es nicht.

__________

Anthelia ärgerte sich maßlos, als sie erfuhr, daß es ihren Schwestern nicht gelungen war, den Abhängigen Halittis zu fangen. Sie fuhr Pandora Straton an, was ihr eingefallen sei, mit so wenigen Mitschwestern vorzurücken. Pandora erwiederte eingeschüchtert, daß sie nicht darauf gefaßt sein konnten, daß die Polizei so schnell anrückte und sie daher nicht vorrücken konnten, ohne aufzufallen. Stutzig machte die Führerin der Spinnenschwestern, was Patricia Straton über ihre eigenen Wahrnehmungen und die der nun toten Wanda Waxingmoon berichtete. Da sollte eine FBI-Agentin gewesen sein, die weder sichtbar noch mit telepathischen Sinnen erkennbar war? Anthelia vermutete zwar auch, daß es eine getarnte Hexe sein mußte, die für die Nichtmagier arbeitete. Doch ihr waren nur zwei Zauber bekannt, die einen Menschen so rigoros gegen feindliche Erkennung abschotteten: Der Sanctuafugium-Zauber umgab einen Ort mit einer Magie, die ihr als schützenswerte Personen vorgegebene Leute gegen dunkle Mächte und böses Tun absicherten. Dann gab es noch den Curattentius-Zauber, der auf kleine Gegenstände gelegt werden konnte und Träger dieser Artefakte vor geringen dunklen Kräften beschützte oder einem anderen Zauberkundigen zeigte, daß der Schützling in großer Gefahr sei. Doch was Wanda und Patricia berichtet hatten, konnte damit nicht erklärt werden.

"Was ist jener Frau widerfahren, sofern es wahrhaftig eine Frau war?" Wollte Anthelia wissen. Pandora und Patricia Straton mußten einräumen, dies nicht zu wissen. Sie vermuteten, daß die Gewalt des geflügelten Ungeheuers auch ihr zum Verhängnis geworden war.

"Nun, ich denke, wir werden bald nähere Kunde erlangen", sagte Anthelia mit verkniffener Miene. "Sicher wird das Haus der körperlichen Freuden einem jener Schurkenbünde gehören, die dieses Land mit verruchtem Treiben durchziehen."

"Und dann, Höchste Schwester?" Fragte Patricia Straton unterwürfig dreinschauend.

"Dann werden wir jene Unholde überwachen, um zu ergründen, ob sie Jagd auf Richard Andrews machen."

"Wir können versuchen, uns über die FBI-eigenen Datenbänke zu informieren", schlug Pandora vor.

"Diesen Schritt werde ich im Geiste bewahren, bis er gefahrlos getan werden kann", sagte Anthelia. Sie dachte wohl auch daran, Lobelia Wagner oder den mit ihr verbundenen Jungen aus der Muggelwelt dazu zu bringen, diese Nachrichten zu beschaffen.

__________

Simon Parker, der Chef des Konsortiums, der heimlichen Rückendeckung großer Verbrecherorganisationen, welche jedoch auch legale Unternehmungen betrieb, kippte gerade ein Glas Leitungswasser nach dem anderen in sich hinein. Höllisches Sodbrennen peinigte seinen Magen und seine Speiseröhre, als habe er Schwefelsäure getrunken. Langsam verflog der Brand in Hals und Bauch, und der Chef des Konsortiums dachte daran, sich hinzulegen. Hier in seinem Penthouse auf dem Dach des dreißigstöckigen Hotels in Las Vegas, fühlte er sich soweit ruhig und sicher. Die Fenster waren doppelt verglast und gegen Kugeln und Einbruchsversuche gesichert. Video- und Bewegungsüberwachung garantierte, daß niemand unbeobachtet auf eine der beiden Türen zukommen konnte. Vier Sicherheitsleute, in der Vorstellung sensationsgieriger Fans von Kriminalgeschichten Gorillas genannt, sorgten für Ruhe und Sicherheit ihres Geldgebers.

Parker hatte gerade seinen italienischen Maßanzug sorgfältig zusammengelegt und über den Ohrensessel in seinem Schlafzimmer gelegt, als die drei Telefonschellen klangen, die strategisch im Haus verteilt waren. Seine Nummer war nur denen bekannt, die sein Vertrauen genossen. Er griff zum Hörer des Telefons am Nachttisch, nahm ihn ab und unterbrach damit alle anderen Telefone im Haus. Er fragte:

"Wie spät ist es hier?"

"In fünf Minuten zehn Uhr", kam eine Antwort. Parker nickte. Die 1000-Dollar-Armbanduhr an seinem linken Handgelenk zeigte ihm fünf Minuten vor zwölf. Es war also ein sehr wichtiger Anruf, denn je weiter die vom Anrufer auf die Frage angegebene Uhrzeit von der wirklichen abwich, desto dringender war es.

Parker schaltete seinen Zerhacker ein, der seine Stimme und die des Anrufers unabhörbar verschlüsselte. Er wartete, bis aus dem Hörer ein kurzer Brummton kam und sprach dann weiter:

"Was ist passiert, Ira?"

"Große Scheiße, Boss", schnaubte die Stimme aus dem Hörer, die dem Leiter für Aufklärung, Ira Strong, gehörte. "Eine ganze Sondereinheit Stadtreinigung und sogar von den Staubsaugervertretern ist von unserem alten Freund und seinen Gönnern zusammen mit Collins Geschäft in Mississippi eingeäschert worden. Ich kriegte eben die Meldung rein."

"Collin Masterson? Verdammt!" Fluchte Parker. Masterson war ein Schützling ehrenwerter Leute aus Palermo, die im Jargon des Konsortiums oft als Ristorantebesitzer bezeichnet wurden. Er hatte im Schutz seiner Gönner ein Sex-Imperium in den Südstaaten aufgezogen und unterhielt gute Beziehungen zu Drogenschmugglern aus Mittel- und Südamerika. Sein Hauptgeschäft war ein Bordell, das als Purpurhaus ein alteingesessener Betrieb im ältesten Gewerbe der Welt war.

"Das können Sie laut sagen, Boss. Masterson hat sogar schon einen Anruf einer Mitarbeiterin bekommen, so'ner Indianerin namens Agatha Risingsun. Als er mit seinem Heli anflog, war das Haus schon niedergebrannt. Panzerwagen der Stadtreinigung aus Jackson und Muddy Banks standen herrenlos da herum. Und der Ärger kommt noch dicker, Boss", sagte Strong. "Rodrigo Lorcas vier Starverkäufer sind wohl bei dieser Schweinerei mit über den Jordan gegangen."

"Lorca? Der ist der heftigste von den Wiesenbauern im Süden", gab Parker ungehalten zurück. "Allerdings hat er auch einen Vertrag mit uns. Ich rufe unseren Psycho-Doc an und lass den sofort Feuerwehr spielen, bevor Lorca zum Rachefeldzug bläst. Danke für die Warnung, Ira."

"Soll ich dran bleiben?"

"An der Sache oder am Telefon?" Wollte Parker wissen.

"An der Sache, Boss", legte sich Strong fest.

"Auf jeden Fall, Ira. Ich will wissen, was unsere Staubsaugervertreter wissen und dagegen machen wollen. Ich fürchte nur, daß wir jetzt in die Gegenoffensive gehen müssen. Hast du denn nichts rausbekommen, für wen oder was dieser Drecksack arbeitet?"

"Auch wenn Sie mich durchs Telefon erschießen, Boss, null, nada, nix. Wer immer hinter dem steht, wir kriegen nichts von denen zu fassen. Irgendwer zieht da etwas ganz abgedrehtes auf."

"Wenn das die Konkurrenz ist, müssen wir doch was davon mitkriegen. So dicht kann doch keiner halten, daß weder die Sheriffs noch wir es mitkriegen", grummelte Parker. "Die müssen Transportwege klarmachen, Leute von A nach B und zurückschicken und Material beschaffen. Das kann doch nicht sein, daß wir davon überhaupt nichts mitkriegen, Ira."

"Sagen wir's so: Bis jetzt haben wir keinen Zipfel von denen zu fassen bekommen. Aber wenn, dann hängt der Rest daran. Wir dürfen dann nur nicht zu straff ziehen."

"Bevor Lorca und die Ristorante-Betreiber ihre eigenen Leute losschicken sollten wir wissen, wo der Typ herkommt und wo er verschwindet und unsere eigenen Leute hinschicken, um den Staub nicht zu heftig aufwirbeln zu lassen."

"Meine Rede, Boss. Finch könnte dann genau planen."

"Ich will morgen mehr wissen, Ira. Spritz dir meinetwegen Kaffee intravenös, aber bleib da jetzt genau dran!"

"Zu Befehl, Boss", bestätigte Strong. Dann verabschiedete er sich von Parker und legte den Hörer auf.

Simon Parkers Kopf wirkte von außen wie eine Wachsplastik, weil sein Gesicht sich nicht bewegte und er jede unkontrollierte Kopfbewegung unterdrückte. Doch im inneren des Kopfes rasten sich mit Überschall jagende Gedanken umher. Der große Knall war nun passiert. Wenn sowohl die Mafia als auch die Organisation von Rodrigo Lorca wütend wurden, konnte er die Wogen kaum noch glätten. Die Existenz seiner eigenen Firma stand auf des Messers Schneide. Denn Lorca und die Sizilianer würden ihm Versagen vorwerfen, alle in sein Unternehmen investierten Gelder zurückfordern und eventuell seinen Betrieb feindlich übernehmen, wenn er auch nur eine schwache Stelle preisgab. Dem mußte er jetzt rasch entgegenwirken. Er rief Albert Finch, seinen Mann für dringende Angelegenheiten und Doktor Young, seinen Kundenbetreuungsexperten an, um ihnen die schlechten Nachrichten so rasch wie möglich weiterzumelden.

"Mantis und Orca sind einsatzbereit. Mantis ist zwar noch in Chicago, kann aber abgerufen werden, Boss. Soll ich beide drauf ansetzen?" Wollte Finch wissen. Parker nickte, bevor ihm einfiel, daß er ja nur telefonierte und nicht in eine Kamera sah.

"Schick nur Mantis los. Orca soll sich mit denen von den Ristorante-Betreibern kurzschließen, weil er die besseren Kontakte zu denen hat."

"Alles klar, Boss", sagte Finch und verabschiedete sich.

Dr. Young, aprobierter Psychologe und Mann für die Anwerbung und Beratung der Kunden von Parkers Firma war nicht über seinen sicheren Anschluß zu erreichen. So mußte Parker die Handy-Nummer wählen und warten, bis Young an den Apparat ging.

Dr. Young saß gerade in einer Bar in San Francisco und unterhielt sich mit einer unauffällig wirkenden Frau, der Vermittlerin eines alten Kunden, der nur mit Parker direkt sprach und sonst nur diese Mitarbeiterin vorschickte. Als sein Handy klingelte, sah er kurz auf die Anzeige, wer ihn da anrief. Er kannte die Nummer nicht. Doch wer seine Nummer kannte war wichtig. Er entschuldigte sich bei seiner Gesprächspartnerin und nahm das Gespräch an. Er erfuhr in kurzen, nur für ihn verständlichen Sätzen, daß es großen Ärger geben würde. Er nickte und sagte so belanglos wie möglich:

"Ich werde Rücksprache mit den Leuten nehmen. Danke für den Anruf!"

"Ist was wichtiges?" Fragte die Frau, mit der Young sich getroffen hatte.

"Och, das Los des Experten. Wenn wer Probleme hat, klingelt er mich an, Ms. Sutherland. Ich hoffe, wir konnten die Angelegenheit klären, weswegen Sie mich herbaten."

"Ich werde es meinem Vorgesetzten erklären und Ihnen seine Entscheidung mitteilen, sofern mein Chef nicht mit Ihrem Chef direkt konferiert", sagte die Unterhändlerin.

"Kein Problem. meine Festnetz- und Mobilnummern haben Sie. Ihr Chef kennt ja das Vorzimmer von meinem. Einen angenehmen Abend noch", wünschte der Psychologe und stand auf. Großzügig zahlte er die Zeche der Dame und seine eigene, bevor er aus der schummerig erleuchteten Bar hinausging und seinen Ford Sedan ansteuerte, der zwei Blocks weiter weg in einer dunklen Einfahrt abgestellt war.

Ms. Sutherland wartete, bis der stets sehr korrekt auftretende Unterhändler Parkers das Lokal verließ. Dann stand sie auf und schritt zu den Rhythmen des langsamen Blues' der gerade aus den unsichtbaren Lautsprechern in den Schankraum rieselte aus der Bar hinaus. Sie ging einige Straßen entlang, wobei sie aufmerksam lauschte, ob hinter ihr jemand herging. Dann drückte sie sich in einen unbeleuchteten Hauseingang und nahm aus ihrer Kunstlederhandtasche einen Lippenstift. Sie drehte am Schraubverschluß, bis sie es leise darin knistern hörte und flüsterte:

"Tanzmaus an Wanderratte, Käse gegessen, allerdings kleines Loch gefunden. Stopfen falls möglich!"

"Wanderratte hier", wisperte es beinahe unhörbar aus dem Lippenstift. "Habe verstanden."

Die Frau, die Young als Sutherland bekannt war, betrat eine der Hauptstraßen und hielt ein Taxi an, das sie in die Nähe des Golden-Gate-Parks brachte, wo ihr Zweiraumappartment in einem grimmig grauen Klotz von fünf Stockwerken Höhe lag. Dort holte sie erneut ihren flüsternden Lippenstift heraus, hantierte daran herum und ging ruhig und zielsicher durch alle Ecken. Es vibrierte nicht. Hier in diesen Räumen waren also keine Wanzen. Sie nahm den Telefonhörer, wählte eine bestimmte Nummer und hörte eine Anrufbeantworteransage. Sie tippte eine Tastenkombination, worauf das Gerät am anderen Ende der Leitung auf Abfrage-Modus umsprang. Sie hörte sich die vier Nachrichten an, die eingegangen waren, nickte nach der dritten und verzog das Gesicht nach der vierten. Dann löschte sie die eingegangenen Nachrichten wieder und zog sich eine Motorradkluft an, in der sie, auf der Hut vor gerade aus dem Haus spähenden Nachbarn, die Mietskaserne verließ und ein BMW-Motorrad mit großem Hubraum ansteuerte, das mit zwei Ketten an der Hauswand befestigt war. Sie löste die Ketten und saß auf der Maschine auf. Keinen Moment später erwachte der kraftvolle Motor zum Leben, und die Maschine setzte sich mit einem leichten Sprung nach vorne in Bewegung.

Die Fahrt ging hinaus aus dem Großraum San Francisco. Die Frau kannte den Weg im Schlaf. Das war auch gut so, denn die Straßen, auf denen sie mit ihrem allwegetauglichen Zweirad dahinknatterte, wurden spärlich bis gar nicht von Straßenlaternen beschienen. Irgendwann, so nach einer Stunde fahrt bei durchschnittlich 150 Stundenkilometern, erreichte sie ein heruntergekommen wirkendes Gehöft. Sie schaltete die Zündung aus und ließ die Maschine ohne Motorkraft bis vor das verwittert wirkende Eingangstor eines Schuppens rollen. Sie prüfte, ob sie alles dabei hatte, was sie so brauchte und ging durch das Tor.

Innen war von dem verfallenen Gemäuer nichts mehr zu sehen. Eine hochmoderne Kommunikationszentrale mit Bildschirmen, Lautsprechern, Telefonen und Faxapparaten hieß Ms. Sutherland willkommen. Eifrige Mitarbeiter saßen an den verschiedenen Tastaturen, Telefonen und Videobildschirmen. Ein Mann in einem mitternachtsblauen Anzug mit Krawatte trat durch eine elektronisch gesteuerte Stahltür in den großen Raum. Er sah die Frau, die sich bereits suchend umsah und winkte ihr. Wortlos gingen beide zurück, durch die Tür und ließen sie hinter sich zufahren. Durch ein Treppenhaus ging es nach unten in einen geräumigen Keller, wo sie ein Büro aufsuchten. Kaum war die Tür geschlossen, begann es in Türen und Wänden leise zu summen.

"Sie haben es mitbekommen, daß in Muddy Banks ein Zwischenlager von Lorca abgebrannt ist?" Fragte der Mann im Anzug.

"Ich habe die Nachricht vorhin gehört. Ist es wirklich dieser Hurenmörder gewesen, den alle suchen, vom FBI bis zur Unterwelt?"

"Es hat den Anschein, wenngleich ich nicht weiß, wieso der ein ganzes Bordell restlos abfackeln soll. Gut, Polizeikräfte haben wohl versucht, den Laden zu stürmen. Aber dabei sind sie wohl in eine Falle gegangen", sagte der Mann im Anzug, Captain malcolm Wishbone von der US-amerikanischen Drogenbehörde DEA. Die Frau, die Young als Ms. Sutherland bekannt war meinte dazu nur:

"Hat das jetzt was mit Lorca zu tun oder nur mit dieser Aktion, möglichst viele Prostituierte einzuschüchtern, damit sie nicht mehr anschaffen gehen?"

"Vielleicht beides, vielleicht aber auch nichts von beidem", sagte Captain Wishbone. Dann legte er Ms. Sutherland eine vorläufige Rekonstruktion der Ereignisse vor.

"Also es steht fest, daß dieser mann, der sich als Richard Andrews ausgegeben hat in diesem Freudenhaus erkannt wurde. Die Empfangschefin hat es der Stadtpolizei gemeldet, die wiederum unsere eifrigen Geheimniskrämer vom FBI hinzugezogen haben. Sicher steht auch fest, daß bis um zehn Uhr Mississippi-Ortszeit Funkverbindung zu den alarmierten Einsatzkräften bestand. Dann riss die Kommunikation komplett ab. Anfragen blieben unbeantwortet, weder über Funk, noch über Mobiltelefon. Der Stand der bis dahin gemeldeten Dinge war, daß man die vergitterte Eingangstür freigebrochen und einen Stoßtrupp hineingeschickt hatte. Dann irgendwann kam kein Funkspruch mehr durch. Kollegen, die eine Stunde nach Abreißen der Kommunikation am Einsatzort eintrafen, fanden nur noch das bis auf die Grundmauern abgebrannte Bordell, in diesem selbst die Leichen aller am Einsatz beteiligten Cops und G-Men und womöglich zehn tote Freudenmädchen. Es ist also sicher, daß dieser Massenmörder in diesem Etablisement war. Ob er den Brand und den Tod der Sonderbeamten verschuldet hat ist unbekannt. Wir wurden gnädigerweise von Spezialagent Rastelli informiert, als klar war, daß in dem Laden auch ein Kokainlager betrieben wurde und wohl einige Spuren zu unserem guten alten Bekannten Rodrigo Lorca führen. Ich kriege gleich noch die Querverweise zu dem Laden, diesem Purpurhaus, auf meinen Tisch. Wenn Sie möchten, können Sie sich das ansehen. Immerhin hat die Chefetage Ihnen ja Sondervollmachten für die Unterhandlung mit Leuten wie diesem Parker gegeben. Was sollte eigentlich die Meldung, da wäre ein Loch?"

"Ich habe bei meiner Unterhaltung mit diesem Dr. Young subtile Fragen gestellt, ob Parkers Konsortium sicher sei. Young hat was von doppelter Absicherung erzählt, daß es Alarmdrähte und Rückmelder gäbe, die in bestimmten Positionen säßen. Da ich nicht zu deutlich wissen wollte, was er damit meinte, muß ich im Moment davon ausgehen, daß Parkers Organisation Spione in den Ermittlungsbehörden unterhält, also vielleicht auch bei uns."

"Wäre nicht die dümmste Annahme. Jemand der mit der halben Unterwelt der Staaten jongliert muß sich derartig rückversichern, auch zu Werbezwecken, daß er die guten Kontakte hat, um lichtscheuen Leuten freie Bahn zu verschaffen", sagte Maldolm Wishbone. "Insofern war die Meldung schon korrekt. Außer Ihnen, Captain Flannigan und mir weiß ja keiner, daß Sie mit den Syndikaten verhandeln. Das haben Sie ja damals auch zur Bedingung gemacht, Gladdys."

"Da bleibe ich auch bei. Immerhin haben wir so einige große Transfers vereitelt, ohne daß den Drogenkartellen bewußt wurde, daß sie verraten wurden", sagte Ms. Sutherland.

"Gut, daß sie uns sofort berichtet haben. Ich gehe davon aus, daß wir nun, wo die Damen und Herren vom Bundesbüro so gnädig waren, uns mit in ihr Boot zu nehmen, mit Leuten wie Rastelli und Gibson zusammenarbeiten werden. Lassen Sie sich am besten nie bei derartigen Unterredungen sehen! Daß Sie auf unserer Lohnliste stehen müssen die vom FBI nicht wissen, für den Fall, daß diese wirklich ein Maulwurfproblem haben."

"Wir sollten auch annehmen, daß in unserem Garten schon Maulwürfe buddeln", sagte Ms. Sutherland.

"Denke ich die ganze Zeit dran. Da müssen wir eben das Buschtrommelprinzip bemühen. Wir trommeln leise was raus und horchen, ob was davon anderswo weitergetrommelt wird. Aber das müssen Sie dann auch nicht näher wissen", sagte Wishbone. Ms. Sutherland nickte UND verabschiedete SICH VON IHREM Kontaktmann in der Drogenbehörde, nicht ohne ihm den flüsternden Lippenstift zu geben, der nicht nur Funkgerät, sondern Wanzensucher oder Minirekorder war. Damit konnten Aufnahmen von zwei Stunden gemacht werden, ohne einen verräterischen Sender mitzuführen. Wishbone nahm den Lippenstift, gab seiner Mitarbeiterin einen anderen dafür und entließ sie.

Diesmal fuhr die Frau, die sich bei Dr. Young als Sutherland ausgegeben hatte, mit ihrem Motorrad nach San Rafael, wo sie in einem schäbig wirkenden Haus ein Zimmer unter dem Nahmen Cynthia Warner angemietet hatte. Sie zog ihre Kluft aus und legte sich in Unterzeug ins quietschende Bett. Morgen würde sie näheres erfahren.

__________

Rodrigo Lorca kochte vor Wut. Seine vier besten Leute waren in diesem völlig bedeutungslosen Kaff Muddy Banks verreckt. Sicher, sie sollten die gelagerte Ware inspizieren, ob Masterson sich nicht vielleicht mehr davon abzweigte als mit ihm vereinbart war. Doch dann war die ganze Ware vernichtet worden. Kokain in einem Gesamtwert von zehn Millionen Dollar einfach vernichtet. Als er auf seiner Hacienda hundert Kilometer westlich von Lima die Nachrichten gesehen hatte, war ihm die Luft weggeblieben, als man über den Brand eines Bordells in Mississippi berichtete. Dabei bissen sich die Nachrichtenleute nicht an dem Brand an sich fest, sondern daran, daß zwei Polizeitruppen mit Mann und Maus dabei umgekommen waren. Er hatte sofort versucht, seine vier Vertrauten per Mobiltelefon zu erreichen. Doch die Anschlüsse wurden als unerreichbar angesagt. Zwei Stunden nach den Nachrichten ging bei ihm der Anruf eines langjährigen Geschäftspartners ein: Simon Parker.

"Ich wollte nicht, daß Sie es erst aus den Nachrichten erfahren, Señor Lorca", begann Parker. Er sprach Spanisch mit amerikanischem Akzent. Aber immerhin ehrte er Lorca, daß er dessen Sprache benutzte und nicht wie viele Amerikaner darauf pochten, man habe mit ihnen Englisch zu sprechen. Das hatte für Rodrigo auch einen Beigeschmack von Abbitte.

"Misterr Parkerr", setzte Lorca an, "könnte es vielleicht sein, daß Sie diesen Dirnenmörder falsch eingeschätzt haben und nun, wo ein ganz großer Schaden entstanden ist, zu Kreuze kriechen müssen?"

"Ich sehe es eher so, daß ich Ihnen nahelegen möchte, nicht gleich in unnötige Aktionen reinzuschliddern, Señor Lorca. Niemand weiß offiziell was davon, daß Sie in diesem Haus mit Genehmigung von Mr. Masterson und seinen guten Freunden aus Übersee das Zwischenlager für sie unterhielt. Meine Kontakte melden mir lediglich, daß das FBI vermutet, daß Masterson mit Herren wie Ihnen geschäftliche Beziehungen pflegte. Solange Sie sich ruhig verhalten, kann ich die Wogen noch glätten, ohne daß Sie oder ihr Unternehmen ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Wenn Sie aber nun auf Ihr vertraglich festgeschriebenes Recht auf eigenständige Reaktionen pochen, riskieren Sie nicht nur einen großen Presserummel, sondern eventuell Verluste auf dem Betäubungsmittelmarkt hier bei uns. Viele hier ansessige Kunden von mir achten Ihre Position, weil sie wissen, daß sie unerschütterlich ist. Wenn Sie jedoch jetzt einen Krieg gegen wen auch immer vom Zaun brechen, werden die Aasgeier aufmerksam und holen sich leicht gewähnte Beute."

"Sie möchten mir mit diesen diplomatischen Floskeln zu verstehen geben, Misterr Parkerr, daß ich bloß nichts tun darf, um diesen Schweinehund und seine Leute zu kriegen. Nein, Señor. Ich kann und darf mir das nicht gefallen lassen. Ihre Drogenbehörde weiß doch, daß ich auf Ihrem Markt tätig bin. Ebenso wissen das die Freunde von Masterson. Wollen Sie denen etwa auch einreden, sie sollten sich schön ruhig verhalten?"

"Sagen wir es so, ich werde denen wie Ihnen anbieten, daß meine Gesellschaft sich der Sache annimmt. Immerhin sind wir schon seit Monaten hinter diesem Kerl her", sagte Parker völlig unbeeindruckt klingend. Lorca wußte, daß Parker sein Imperium nicht aus Unbeherrschtheit und Berechenbarkeit heraus gegründet hatte. ER wäre niemals auf die Idee gekommen, sich in Parkers Konsortium einzukaufen, wenn er nicht sicher sein konnte, daß er dabei nichts verlieren würde. Doch jetzt hatte er was verloren. Zehn Millionen Dollar waren in Rauch aufgegangen. Da fiel ihm was ein.

"Nun, da Sie wissen, daß ich in diesem Sündenhaus raffiniertes Kokain im Wert von zwanzig Millionen Dollar aufbewahrt habe, und Sie damals für sich warben, daß Sie alle Verluste versichern, sofern Geschäftsleute wie ich in Ihre Kapitalgesellschaft investieren, wird es Ihnen nicht schwer fallen, mir den Verlust in voller Höhe zu ersetzen. Dafür werde ich mir Ihren Vorschlag lange genug durch den Kopf gehen lassen."

"Zwanzig Millionen?" Kam Parkers Stimme zurück. Lorca grinste. Jetzt hatte er diesen aalglatten Geldjongleur am Kragen. "Ich habe gerade mit Mr. Masterson gesprochen, weil er berechtigte Angst hat, Ihr Vertrauen verspielt zu haben. Der sagte mir, daß in seinem Lager, also in Ihrem Ausweichlager, im Verhältnis eins zu fünf gestrecktes Kokain in einem Gesamtwert von zehn Millionen Dollar lagerte. Meine Aufklärungsabteilung ist auf Draht, Señor."

Die Wutröte schoss Lorca wieder ins Gesicht. Woher wußte Masterson von der Panscherei mit dem Stoff und wieviel es genau gewesen war?

"Ich habe Masterson erzählt, es sei kein purer Stoff, damit er nicht habgierig wird, wenn er seinen Anteil abzweigt", versuchte Lorca zu pokern. Doch Parker beherrschte dieses Spiel immer noch besser als Lorca.

"Deshalb hat er es ja nachgeprüft, allein um seine Stammkundschaft nicht mit wirkungslosem Zeug zu beleidigen. Eins zu fünf war das Verhältnis. Der Gesamte Lagerbestand belief sich demnach auf zehn Millionen Dollar. Sollten Sie nun meinen, in Peru sei ein Dollar zwei wert, so achten Sie bitte bei der Einreise in die USA darauf, das doppelte von dem mitzunehmen, was sie hier ausgeben möchten!" Parker schien zu grinsen. Dann sagte er noch: "Ich bin so großzügig und gewähre Ihnen zu ihrem reinen Verlust noch einen Kulanzzuschlag von zehn Prozent, also insgesamt elf Millionen Dollar. Wenn Sie dafür lange, sagen wir mal drei Wochen, über meinen Vorschlag nachdenken, ist uns beiden geholfen."

"Nein, Misterr Parkerr! Drei Wochen sind mir zu lang. Nachher erzählt mir wer, Kollegen aus anderen Firmen hätten meine Marktanteile billig erworben, weil ich mir diese Frechheit habe bieten lassen und meine örtlichen Mitarbeiter nichts dagegen machen wollten, da ich offenbar nicht hart genug durchgreifen kann. Zwei Wochen, wenn Sie mir fünfzehn Millionen Dollar Schadensersatz bezahlen."

"Gut, ich wollte Ihnen lediglich helfen, Ihre Integrität zu bewahren. Sie bekommen die zehn Millionen, da Sie ja offenbar kein Entgegenkommen zeigen möchten und dürfen sich für das Geld einen medienwirksamen Krieg leisten. Dann kommen Sie aber bitte nicht zu mir, weil Sie nicht wissen, gegen wen oder was sie eigentlich antreten müssen. Wenn ich Ihnen den Schaden ersetze, kann ich von meinem Vertragskündigungsrecht gebrauch machen, demnach ich bei vollständiger Rückerstattung verlorener Summen ein zu hohes Risiko in einer fortgeführten Beziehung sehen muß. Denn wenn Sie losschlagen, dann werden Ihre Konkurrenten sich freuen, Ihre Infrastruktur nicht nur auszukundschaften, sondern auch zu zerschlagen. Denn immerhin müßten Sie Fachleute und Material in unsere Union hinüberleiten, was nicht unauffällig sein wird. Ich biete Ihnen an, das Risiko einer Entdeckung selber zu tragen, gewähre Ihnen zehn Prozent Kulanzzuschlag auf den von Ihnen erlittenen Verlust, und sie können sich ruhig zurücklehnen und neue Ware ankaufen, anstatt Menschen und Sachen auf riskante Wege zu schicken. Hinzu kommt auch, daß die Signori, welche mit Mr. Masterson verbündet sind, nicht hinnehmen werden, wenn sich ein ausländisches Unternehmen in ihre Angelegenheiten einmischt. Immerhin wären Sie in den Staaten völlig ahnungslos, während meine Firma eine Infrastruktur und die nötigen Beziehungen pflegt, um so diskret wie möglich an die Sache heranzugehen."

"Elf Millionen ist eine merkwürdige Zahl. Machen wir zwölf daraus und betrachten den Handel als gültig", sagte Lorca.

"Als Sie damals meine Dienste in Anspruch zu nehmen entschieden taten Sie dies mit der festen Überzeugung, nicht mit einem Pferdehändler ins Geschäft zu kommen, Señor. Warum halten Sie mich jetzt für einen Pferdehändler?" Wieder klang aus der Frage keine Erregung, keine wie auch immer geachtete Gefühlsschwingung mit. Lorca verzog das Gesicht.

"Also gut. Elf Millionen und zwei Wochen Zeit. Präsentieren Sie mir danach nichts erfreuliches, machen Sie sich darauf gefaßt, daß ich Sie am Spieß braten werde, Misterr Parkerr!"

"Mit welcher Soße wünschen Sie mich dann zu genießen?" Fragte Parker völlig unbeeindruckt von der Drohung zurück.

"In einem Tag habe ich das Geld auf meinem Konto in Zürich. In zwei Wochen habe ich den Kopf von diesem Schweinehund auf meinem Tisch, oder werde mir Ihren Kopf an die Wand nageln, Misterr Parkerr!" Zischte Lorca.

"Wie Sie möchten, Señor Lorca", erwiderte Parker völlig ruhig und trennte die Verbindung über abhörsichere Mobilleitung.

"Ramon, Miguel!" Rief er durch das Haupthaus seiner abgeschiedenen Niederlassung. Zwei elegant gekleidete Männer mit südländischer Haut- und Haarfarbe betraten das Sprechzimmer ihres Chefs.

"Wir haben Probleme in den Staaten. Morgen kriege ich von diesem Gringo Parker elf Millionen Dollar auf das Konto. Wahrscheinlich wird er es wieder über zehn verschiedene Überweisungen aus aller Welt laufen lassen. Wenn Ortíz meldet, daß das Geld da ist, trommelt die Panher zusammen! ES wird Zeit, daß wir unsere Interessen in den Staaten selbst wahrnehmen", gab Lorca Anweisungen an seine Leute aus. Er dachte nämlich nicht daran, sich darauf zu verlassen, daß dieser Parker seine Sache richtig machte. Er mußte nur warten, bis das Geld auf seinem schweizer Konto war. Dann würde er mit seiner gefürchteten Einsatztruppe in die Staaten reisen und diesen Mistkerl, diesen Mataputas, jagen, bis er ihn und alle, die an ihm dranhingen, tot und grillfertig vor sich liegen hatte.

__________

Parker wußte in dem Moment, wo er den Hörer auflegte, daß Lorca nicht daran dachte, stillzuhalten. Ein ähnlich dummes Gefühl hatte er ja schon bei Vertretern einer Firma gehabt, die mit der Cosa Nostra in Beziehung stand. Er pokerte, und er hatte nicht einmal einen Dreierzwilling auf der Hand. War es das, was diesen Massenmörder, diesen Andrews oder wie immer er hieß, antrieb, ihn oder seine Firma zu schwächen? Jetzt, wo wirklich mehr als nur Strohfeuer aufgelodert war, stand es für ihn fest, daß jemand es gezielt auf ihn absah. Denn alle Morde schädigten Kunden, die bei ihm eine Verdienstausfallversicherung abgeschlossen hatten. Jetzt, wo Lorca wohl nicht länger als bis zum Eintreffen des Geldes warten würde, war nicht anzunehmen, daß die anderen Interessengruppen still dasaßen und hofften, es würde sich schon alles zu ihren Gunsten ändern. Er hatte es mit einem wütenden Kampfstier aus Mittelamerika und mit einer mißgestimmten Krake aus vielen Ländern zu tun. So oder so. Er bekam die Hauptwucht des befürchteten Ansturms ab. Es sei denn, er könnte es so drehen, daß beide Seiten glaubten, der jeweils andere wollte ihnen ans Leder. Das Blutvergießen ließ sich so oder so nicht vermeiden, weil Lorca sicher auf alles losgehen würde, was Konkurrenz war. Aber wie konnte er dieses Kreuzfeuer umgehen und vielleicht sogar als strahlender Sieger aus der ganzen Schlacht hervorgehen? Am Achtzehnten Mai, von heute an in sieben Tagen, würde er sich mit Don Ricardo und einigen anderen Geschäftspartnern treffen, um über die Angelegenheit Andrews zu sprechen. Doch nun, wo die Sache aus dem Ruder gelaufen war, könnte dieses Treffen sein Leben kosten. Doch er hatte keine andere Wahl. Sein Imperium war auf Vertrauen, Unerschütterbarkeit und Skrupellosigkeit aufgebaut worden. Er, der damals als kleiner Buchhalter keine Lust mehr gehabt hatte, Dollarmillionen nur zu verwalten, sondern damit zu arbeiten, ohne sich von anderen reinreden zu lassen. Doch jetzt stand er nicht außerhalb, sondern innerhalb des Höllenkreises, und die von ihm gerufenen Geister schlichen mit gierigen Blicken um ihn herum, warteten darauf, daß seine Angst ihn schwächte, damit sie ihn packen und zerreißen konnten.

__________

Cecil Wellington, früher als Benjamin Calder nur einer von Millionen amerikanischer Jungen, verbrachte seine freizeit häufig vor dem Computer, um irgendwo im Internet nach allem möglichen zu suchen, was seinen Hobbies entsprach. Zwischendurch nahm er das nagelneue Rennrad aus der kleinen Garage, in der der Wagen seiner Mutter Henriette stand und strampelte einige Kilometer ab, immer in Begleitung eines der vier Leibwächter. Denn all zu oft konnte es ja passieren, daß Kinder reicher oder wichtiger Eltern entführt wurden, um die Eltern um Geld oder Gefälligkeiten zu erpressen. Deshalb war Charles, der heute für ihn arbeitende Leibwächter auch bewaffnet.

Cecil strampelte nicht allzu angestrengt in die Pedale und fuhr eine Durchschnittsgeschwindigkeit von dreißig Meilen in der Stunde heraus. Als er gerade einen zweihundert Meter hohen Hügel hinaufradelte, fiel ihm ein, er könne im Internet ja mal nach Magieexperten, Okkultisten forschen. Vielleicht konnten die ihm verraten, was er anstellen konnte, um mit Anthelia besser fertig zu werden. Er überlegte, ob Anthelia überhaupt irgendwelchen Gesetzen der Magie, weiß oder schwarz, folgte oder tatsächlich ihre eigene Herrin war. Er kannte es an und für sich nur so, daß Leute, die sich der Zauberei verschrieben hatten, einen Herren hatten, für die bösen Zauberer war es ein Dämon, schlimmstenfalls der Teufel selbst, für die guten Zauberer war es Gott oder ein ihm untergeordnetes Lichtwesen, da es hieß, Magie käme von den überirdischen Gewalten, die die Welt in gutes und böses einteilten.

Als Cecil wieder im Haus seiner Eltern war, geduscht und seine Alltagskleidung angezogen hatte, klemmte er sich sofort hinter die Computertastatur. Ihn wunderte es nicht einmal, daß Anthelia, die bestimmt merkte, wenn er was gegen sie ausheckte, nicht dazwischenfunkte, als er das Internet nach Experten für Zauberei, Teufelsanbetung und Voodoo abgraste. So verging eine ganze Stunde, in der er die diversen Suchmaschinen des Internets heftig rotieren ließ. Ihm ging es darum, möglichst hier in den Staaten erreichbare Spezialisten zu finden. Er speicherte alle Daten in einem dafür angelegten Ordner auf der Festplatte. Ein Eintrag schien ihm besonders interessant, den von Professor Amanda Lessing, einer aus Köln herübergewechselten Historikerin und Theologin mit besonderen Schwerpunkten christlich-jüdische Dämonologie und Quellen abergläubischer Vorstellungen und Rituale. Ein Bild war auch dabei, das eine Frau Mitte fünfzig mit schon leicht angegrautem dunkelblondem Haar und einer Brille gegen Kurzsichtigkeit zeigte. Dann gab er deren Namen zusammen mit Stichwörtern wie "Weibliche Dämonen", "Succubus" und "Versklavung" ein, ohne sich zu fragen, was das jetzt mit seiner eigenen Situation zu schaffen haben sollte. Tatsächlich kamen dutzende von Veröffentlichungen und Vorlesungsthemen im Zusammenhang mit dieser Professorin über den Bildschirm. Er speicherte die Daten in einem gesonderten Ordner ab und schloß die Internetverbindung. Als er das Modem gerade auflegen lassen wollte, fiel ihm noch ein, er müsse nachsehen, ob er E-Mails bekommen habe. Tatsächlich hatten vier seiner Schulkameraden Post geschickt, Anfragen, ob er am Wochenende in die Stadt dürfe und wie er mit dem neuen Sportlehrer klarkäme. Laura Carlotti hatte ihm gemailt, daß sie gerade in ihrem Wissenschaftsprojekt das Wachstum von Cocktailtomatensträuchern behandele und wohl bis Schuljahresende damit beschäftigt sei. Cecil grinste kurz, wenn er sich Laura vorstellte, die andauernd an irgendwelchen kleinen Sträuchern herumschnippelte oder mit einer Gießkanne in der Hand und einem Messbecher in der anderen Hand die exakte Wassermenge festlegte, die sie ihren Versuchspflanzen zuführte. Irgendwie schien er in dieser Vorstellung so gefangen zu sein, daß er nicht merkte, wie seine Finger mit der Computermaus hantierten und Klick für Klick eine E-Mail an eine im elektronischen Adressbuch verzeichnete Romina Hamton fertigstellte, der er alle gesammelten Daten zu Professor Lessing anhängte und sie abschickte. Er schrieb Laura, was er sich gerade vorgestellt hatte und schickte die E-Mails los. Es dauerte wohl seine Zeit. Cecil bemerkte es nicht, weil er irgendwie müde wurde und dahindöste, bis der Rechner meldete, er habe alle Postsendungen abgesetzt. Dann fiel ihm ein, daß es wohl nichts bringen würde, sich mit einem der Okkultismusexperten zu unterhalten, weil Anthelia ihn sofort dabei erwischen und dann wohl grausam bestrafen würde. Hastig löschte er alle Daten, die er gesammelt hatte und fuhr den Rechner herunter.

Kaum war der Computer ausgeschaltet, klopfte es an die Tür. Cecil schrak zusammen. War das Anthelia?

"Ja, Bitte!"

"Junger Sir, Ihre frau Mutter läßt anfragen, ob Sie heute noch etwas zu Abend zu essen gedenken, es sei jetzt schon ziemlich spät", erklang die dienstbeflissene Stimme von Butler Jefferson. Cecil erschrak erneut, warf einen Blick auf seinen Digitalwecker und war schlagartig wieder hellwach. Der Wecker zeigte 21:22:33.

"Ja, Jefferson, ich komme runter", sagte Cecil schnell und verließ sein Zimmer, um noch etwas zu Abend zu essen. Seine Mutter, die der Senator Reginald Wellington in Frankreich kennengelernt und nach der Hochzeit mit herübergeholt hatte, fragte ihn sehr mißmutig, ob er sich nicht mehr an feste Zeiten gebunden fühle, wo doch bis auf wenige Ausnahmen sieben Uhr Abends als Zeit für das Abendessen festgelegt sei. Cecil mußte grinsen.

"Was dem einen sein Dallas ist dem anderen sein Internet, Mum. Ich mußte für die Fahrt nach Washington noch einiges zusammenrecherchieren und mit ein paar Leuten darüber E-Mails austauschen. Außerdem habe ich Laura Carlotti für ihre Wissenschaftsarbeit ein paar Seiten über Cocktailtomaten rausgesucht. Das hat eben gedauert."

"Du weißt genau, Cherie, daß wir deine Internetzugriffe bezahlen müssen. Was hat dich also drei Stunden lang so beschäftigt?" Fragte Mrs. Wellington argwöhnisch. Cecil zählte ihr zig Seiten auf, die er angesehen hätte. Woher er die Seiten alle kannte, wußte er selber nicht. Als seine Mutter irgendwann nickte und meinte, sie habe es kapiert, hörte Cecil auf. Er konnte in Ruhe zu Ende essen, während seine Mutter im Wohnzimmer fernsah.

Als er um viertel nach Zehn wieder in seinem Zimmer saß, fragte er sich, ob er nicht etwas unvorsichtig gewesen war, seiner Mutter die ganzen Internetseiten aufzuzählen. Sein Vater könnte nachhaken und fragen, wieso sein Sohn, der früher gerade nur soviel für Geschichte schwärmte, daß er wußte, daß man die amerikanische Flagge nicht über Nacht draußen lassen durfte plötzlich ein Bedürfnis nach Recherche hatte. Doch er wußte auch, daß sein Vater nie selbst nur mit Computern arbeitete, weil es in dieser Zeit für einen wichtigen Politiker Sinn machte. Als er dann merkte, wie müde er schon wieder war, ging er schlafen.

__________

Romina Hamton staunte nicht schlecht, als sie am späten Abend in ihrer neuen Wohnung den Computer anfuhr und bei der Suche nach elektronischen Mitteilungen eine ziemlich große Postsendung von Cecil Wellington vorfand. Sie wartete geduldig, bis die Nachricht über die Telefonleitung auf ihren Rechner überspielt war und prüfte nach, was der von Anthelia geführte Muggeljunge denn so umfangreiches schicken mußte. Denn daß die höchste Schwester ihn dazu angehalten hatte, war ihr sonnenklar. Sie holte die in der Postsendung enthaltenen Dateien in ein für sie sinn machendes Verzeichnis herüber und besah sich, was Cecil da für sie zusammengestellt hatte. Sie betrachtete die Bilder und las die kurzen Texte. Dann schaltete sie ihren Drucker ein und lies alles wichtige auf Papier bringen. Nachdem sie das letzte Blatt aus dem Drucker geholt hatte, nahm sie den kleinen Papierstapel, fuhr ihren Rechner herunter und schaltete ihn ordentlich aus. Kaum da dies geschehen war Disapparierte sie. Im Keller der Daggers-Villa tauchte sie wieder auf, wo Pandora Straton über einem dicken Buch saß, das sich mit alten Ritualzaubern befaßte.

"Ich denke, die höchste Schwester hat dem Muggeljungen, der ihr dient befohlen, mir dies hier zu schicken", sagte Romina und legte den Stapel Computerausdrucke vor Pandora Straton auf den Marmortisch, auf dem, so hatte Romina sich erzählen lassen, Anthelias jetziger Körper ihre Seele empfangen hatte.

"Ich habe es gehört. Die höchste Schwester mußte sehr behutsam vorgehen, damit der Junge nicht aus Angst, er könne gegen ihren Willen handeln vorging, ohne zu merken, daß er für sie arbeitet", sagte Pandora Straton und nahm das oberste Blatt vom Stapel.

"Nun sieh mal an, die Muggel erforschen also immer noch magische Kreaturen", sagte sie. "Diese Frau hier ist wohl eine Expertin für alte Vorstellungen über Zauberwesen und ihre Abwehr. Ich kann mir denken, was die höchste Schwester damit vorhat."

"Will sie Muggel, die glauben, es hätte mal solche Wesen gegeben ausschalten?" Fragte Romina.

"Nein, überhaupt nicht. Mir ist so, als wolle sie sich diese Expertin hier für ihre Zwecke dienstbar machen." Sie betrachtete das Bild von Professor Lessing, sah den weiteren Stapel durch und meinte dann: "Wi ich's mir gedacht habe. Diese Frau hat sich mit den Überlieferungen über sogenannte Succubi und Incubi, sowie mit Vampirismus und Lykanthropie befaßt. Höchst interessante Sachen, die unser junger Freund da zusammengetragen hat. Aber warum du das nicht auch hättest finden können frage ich mich jetzt."

"Weil ich mich mit dem Internet nur sehr spärlich auskenne. Dieser Junge, Cecil heißt er wohl, ist damit groß geworden. Was ich drüber weiß konnte ich ja erst nach Thorntails richtig lernen", sagte Romina.

"Wie dem auch sei, Schwester Romina, mir ist völlig klar, was die höchste Schwester damit will", gab Pandora überlegen lächelnd zur Antwort. "Sie schläft gerade, und keiner kommt an sie ran, weil sie ihr Zimmer mit einem Geisterbann und einer Apparitionsmauer versperrt hält. Aber vielleicht kann Patricia was damit anfangen." Sie verfiel in eine konzentrierte Starre, die eine halbe Minute vorhielt. Dann krachte es, und Patricia Straton, gekleidet in Jeans und Pullover wie ein Durchschnittsmuggel, stand im Keller und griff ohne weiteres Wort nach dem Papierstapel.

"Ja, mit dem Material läßt sich genial arbeiten. Die höchste Schwester hat schon gute Ideen, muß ich sagen."

"Welche Idee soll das sein?" Fragte Romina, der das irgendwie lästig wurde, daß alle hier wußten, wozu dieses Zeug benutzt werden sollte und sie nicht.

"Stell dir doch einmal vor, Schwester Romina, die höchste Schwester will mit Leuten Kontakt aufnehmen, um den Abhängigen Hallittis zu fangen, darf aber nicht jedem auf die Nase binden, daß sie selbst eine Hexe ist. Wie kann sie das tun?" Stellte Patricia eine Frage. Romina, die es nicht vertrug, von einer jüngeren Hexe belehrt oder wie vorgeführt behandelt zu werden knurrte:

"Wir sind hier nicht in Thorny. Also wenn du schon die Antwort hast, verrate sie mir bitte, Schwester Patricia! Mir ist nicht nach Frage-und-Antwort-Spielen."

"Also gut, Schwester Romina. Da du deinen elektronischen Nachrichtenempfänger benutzt hast, um uns diese Sachen hier zu bringen", wobei Patricia auf den Papierstapel wies, "verrate ich es dir", sagte sie. "Ich gehe stark davon aus, daß die höchste Schwester mit den Verbrechern in der Muggelwelt reden will, die dieses Freudenhaus betrieben haben, um sie davon abzubringen, Richard Andrews zu jagen, weil es ja nichts bringen wird. Sie kann ja nicht als Anthelia, die wiedergekehrte Nichte Sardonias auftreten, wohl auch nicht rauslassen, daß sie eine echte Hexe ist. Also muß sie diesen Leuten was bieten, was sie nachprüfen und glauben können. Wenn sie jetzt also einen echten Experten der Muggelwelt für magische Erscheinungsformen erwähnen oder beibringen kann, der denen erklärt, warum Andrews so schnell und unauffällig den Standort wechseln kann und wieso den bisher niemand zu fassen kriegt, ja alle dabei starben, die es versucht haben, könnte sie diesen Gangstern versichern, daß es besser ist, sich rauszuhalten. Ich denke, die höchste Schwester will diesen Andrews alleine fangen und nicht von irgendwelchen Muggeln gestört werden."

"Dafür dürfte es zu spät sein, Schwester Patricia. In den Nachrichten ist im Moment von nichts anderem die Rede als von diesem Bordell und das es wohl auch als Rauschgiftlager gedient hat", erwiderte Romina Hamton. "Die Spurensicherung hat Rückstände von verbranntem Kokain im Keller gefunden. Das dürfte die Leute, die das Teufelszeug da gebunkert haben sehr mächtig ärgern."

"Eben, und deshalb muß die höchste Schwester so schnell wie möglich dazwischengehen und dem Spuk ein Ende machen, bevor Andrews womöglich doch noch von solchen Gaunern getötet wird, sofern das überhaupt möglich ist", sagte Patricia Straton.

"Ja, aber dann müßte die höchste Schwester dieses Material ja so schnell wie möglich lesen", wandte Romina ein. "Dann sollten wir sie wecken."

"Das können wir nicht", sagte Pandora. "Ich habe es mal probiert, so nach elf Uhr abends. Sie hat nicht auf mein Klopfen oder rufen geantwortet, und als ich versuchte, die Tür aufzuzaubern hätte es mich fast in der Luft zerrissen, so heftig wehrte etwas meine Türöffnungszauber ab. Die höchste Schwester beherrscht mächtige Bannzauber, die selbst mich ziemlich dumm dastehen lassen", räumte Patricias Mutter noch ein, die ja als Expertin für Zaubereigeschichte und die Abwehr dunkler Künste galt.

"Wann wird die höchste Schwester wieder aufstehen?" Fragte Romina.

"Meistens um sechs", sagte Pandora Straton, "je nachdem, wann sie in ihr Zimmer geht. Wenn sie wie heute wohl schon um zehn ins Bett ging, wird sie wohl vor sechs Uhr morgens nicht mehr herauskommen, warum das auch immer so ist."

"Dann lasse ich das Zeug hier. Ich muß auch ins Bett", sagte Romina, winkte den beiden Hexen und disapparierte mit einem kurzen, lauten Plopp.

"Schon interessant das hier", meinte Pandora. "Wäre mir nie eingefallen, nach Muggeln zu suchen, die sich mit Zauberwesen befassen, weil die entweder nur Gerüchte kennen oder längst überholte und von ihnen selbst nicht nachprüfbare Geschichten verwalten."

"Mutter und Schwester, ich denke, die höchste Schwester will sich diese Frau hier dienstbar machen, um sie für das Gespräch mit denen zu verwenden, die hinter dem Rauschgiftlager stehen."

"Wenn es nicht schon zu spät ist", meinte Pandora Straton.

__________

Am Abend des zwölften Mais meldeten Lorcas Buchhalter, das Geld für das verbrannte Kokain und der Kulanzbonus seien auf dem Nummernkonto der Organisation eingetroffen. Wie vermutet worden war hatte Parker es von diversen Unternehmen und Privatkonten über verschiedene Zwischenstellen überweisen lassen. Das war für den Chef des Drogenschmugglerrings das Signal, seine gefürchteten Vollstrecker, die mächtigen Panther, in Marsch zu setzen. Er stimmte sich mit guten Freunden in den Staaten ab, die ihm Waffen und Fahrzeuge besorgen sollten. Er ärgerte sich ein wenig, daß sein alter Freund Serpiente nicht mehr lebte. Irgendwer hatte ihn mit seinem Hauptquartier zusammen niedergebrannt. Auch bedauerte er es, mit Green Skull und seiner roten Klapperschlangenbande nicht mehr reden zu können. Doch diese war im letzten Sommer in einem Bandenkrieg mit den War Dragons vollständig ausradiert worden. So hatte er neue Verbindungen aufbauen müssen, die noch sehr wackelig waren, weil er nicht wußte, wie schnell etwas ging und ob nicht irgendwo doch ein Spitzel der amerikanischen Polizeibehörden saß. Doch es eilte. Er wollte morgen, symbolträchtiger gings nicht, seine Leute gegen von ihm für den Ausfall seiner Leute verantwortlichen Organisationen losschicken, und zwar so gezielt wie möglich.

__________

Sie hatte nie danach gefragt, warum sie diesen oder jene ausschalten sollte. Sie bekam den Auftrag und die Daten über Ziel und Bezahlung und erledigte ihren Job. So fuhr sie seit zehn Jahren exzellent, seitdem sie, weil die US-Marines sie wegen fortgesetzter Undiszipliniertheit ausgemustert hatten und sie ein lukratives Betätigungsfeld für die dort erworbenen Fähigkeiten gesucht hatte. Da sie noch dazu eine qualifizierte Chemikerin war, hatte sie über dunkle Schleichwege erfahren, daß eine Firma mit dem Namen "Urgent Express Delivery" nach besonders gut ausgebildeten Leuten suchte, die sportlich topfit und vom Wissen her gut beschlagen waren. Sie hatte mehrere hundert heimliche und offizielle Tests überstanden, bis sie tatsächlich in die Abteilung für dringende Maßnahmen berufen wurde. Als sie schließlich wußte, daß ihr Job Mord war, hatte sie erst überlegt, ob sie es überhaupt brachte. Doch als sie den ersten Fall erledigt hatte, wobei ihre Adrenalinsucht sich deutlich offenbart hatte, war sie sicher, dieser Job war genau das, was sie brauchte.

Die Frau, die in ihrer Firma unter dem Codenamen Mantis, die Fangheuschrecke geführt wurde, stand gerade vor ihrem Hotelzimmer in der Chicagoer Nordstadt und schob die Schlüsselkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz und wartete, bis das elektronische Türschloß leise summend und klickend aufsprang. Als sie im Zimmer war, schaltete sie das Radio ein, drehte es auf mittlere Lautstärke und suchte sich einen Rockmusiksender. Dann griff sie in ihre Manteltasche, zog ein Mobiltelefon und wählte die Nummer ihrer Mailbox. Sie hatte zwei Nachrichten:

"Hallo, Ms. Gardener, hier Dawson. Wenn Sie erreichbar sind, melden Sie sich bitte bei mir", sagte eine Männerstimme. Die zweite Nachricht lautete:

"Hallo, Ms. Gardener, hier Springwood, das Meeting findet morgen um 15.00 Uhr statt. Bei Rückfragen bin ich zwischen 10 und 11 Uhr im Büro zu erreichen."

Oh, offenbar was neues", dachte die Frau, die als Spezialistin für dringende Angelegenheiten und endgültige Lösungen arbeitete. Sie wählte eine Nummer aus dem Kopf, weil es zu riskant wäre, sie in einem Speicher zu haben.

"Hallo, Mr. Dawson, hier Ms. Gardener. Ich konnte ihr Paket heute zustellen und bekam folgende Antwort für Sie: "Bestellen Sie meinem Freund Dawson bitte meine besten Grüße", sagte Mantis. Dawson oder wie er auch immer hieß erwiderte:

"Ach, das ist ja nett von ihm. Bleiben Sie noch lange in Chicago?"

"Nein. Ich werde wohl morgen früh wieder abreisen", sagte die Berufsmörderin.

"In Ordnung", erwiderte die Stimme Dawsons und trennte die Verbindung. Mantis legte auf und nickte. Sie hatte der Stelle, die auf Meldungen von ihr wartete mitgeteilt, daß sie den Bankier Scott erfolgreich und ohne verdächtige Spuren zu hinterlassen getötet hatte. Herzinfarkt nach zu viel Kaffee würde die Diagnose lauten, falls niemand gezielt nach Spuren des Giftes suchte, daß sie in sein Kaffeepulver praktiziert hatte. Sie dachte schon an den nächsten Auftrag, der ihr in der zweiten Nachricht mitgeteilt worden war. Mit der Uhrzeit für ein Geschäftstreffen wurde ausgedrückt, wie dringend eine Sache war und die Erreichbarkeitszeiten mußten um genau zehn Stunden addiert werden. So mußte Mantis zwischen 20.00 und 21.00 Uhr eine bestimmte Nummer in Barstow, Kalifornien anwählen. Sie stellte fest, wie spät es in Chicago sein mußte, um diesen Anruf zu machen und erkannte, daß sie noch drei Stunden Zeit hatte. Duschen, Essen und noch etwas fernsehen, bevor sie sich ein öffentliches Telefon mindestens drei Blocks weiter weg suchen mußte, um ihrem Auftraggeber, der immer nur Mr. Springwood genannt wurde, zu melden, daß sie den Auftrag annehmen konnte.

Zur festgesetzten Uhrzeit verließ Mantis ihr Hotel und suchte sich mehr nach Zufall denn gezielt eine Straße aus, wo eine öffentliche Telefonzelle stand. Sie steckte ihre Telefonkarte in den entsprechenden Schlitz und sah, daß sie noch ein Guthaben von 5 Dollar hatte. Sie wählte die Nummer, unter der sie Mr. Springwood erreichen konnte und sagte:

"Hallo, Mr. Springwood. Ich komme problemlos zu der Besprechung. Allerdings weiß ich nicht, wie früh ich von hier wegkomme."

"Am Flughafen liegt ein Ticket für sie bereit. Sie fliegen morgen früh um sechs Uhr Ihrer Ortszeit ab. Schaffen Sie das?"

"problemlos", erwiderte Mantis alias Ms. Gardener oder wie immer sie sich sonst noch zu nennen pflegte. Der Mann am anderen Ende der Leitung bedankte sich und legte auf. Mantis legte ebenfalls auf, entnahm ihre Telefonkarte und steckte sie sorgfältig fort. Dann holte sie eine kleine Sprühdose aus ihrer Handtasche und besprühte den Telefonhörer, die Tastatur und den Kartenschlitz mit einer durchsichtigen Lösung, wobei sie darauf achtete, nicht zu viel aufzutragen, um die Elektronik nicht zu beschädigen. So löschte sie ihre Fingerabdrücke vom Telefon.

Wieder in ihrem Hotel schlief sie so lange, bis ihr Reisewecker läutete und sie sich zum Verlassen des Hotels bereitmachte. Sie steckte sich jene feinen Folien auf die Fingerkuppen, die ihre wahren Fingerabdrücke verfälschten. Denn seit ihrer zeit bei den Marines waren ihre Fingerabdrücke gespeichert, und aus Gründen der Empfindlichkeit hatte sie eine operative Veränderung ihrer Fingerkuppen abgelehnt. So würde niemand, der das Gästebuch, die Schlüsselkarte oder den Türknauf untersuchte ihre echten Fingerspuren zuordnen können. Mit der Speziallösung sprühte sie das Zimmer soweit aus, wie es von fleißigen Zimmermädchen nicht geputzt werden würde und verließ das Hotel, nachdem sie ordentlich ausgecheckt hatte. Der Nachtportier wünschte Ms. Gardener noch eine gute Reise und sah der gerade dunkelhaarigen Frau mit den graublauen Augen nach, wie sie ein Taxi bestieg und zum Flughafen abfuhr.

Der Inlandsflug, der erst nach New York ging, war für die Berufsmörderin eine langweilige angelegenheit. Keine Turbulenzen, die ihren Adrenalinbedarf hätten befriedigen können, keine besonderen Passagiere, die sie hätte beobachten können.

In New York lag bereits ein Ticket auf den Namen Frida Gardener für sie bereit, das für eine Maschine nach Nassau, Bahamas galt. Mantis lächelte. Wenn sie ins Zentrum der Organisation fliegen sollte, dann war es wirklich dringend. Denn wenn sie eingesetzt wurde, war sie meistens hier mit einem Taxi zu einer Adresse in der Nähe gefahren, hatte dort auf einen Wagen ihrer Firma gewartet und war zum Besprechungsbüro gebracht worden. Sie prüfte ihre unauffälligen Habseligkeiten wie ihren Lippenstift, ihr Handy, ihre Halskette und ihre Armbanduhr. Die anderen Dinge, die sie so benutzte, waren in harmlose Einzelteile zerlegt in ihrem kleinen Koffer, weil meistens aus Plastik schwer von Durchleuchtungsapparaten zu erfassen.

Nach einem Flug über den Atlantik bis zu den Bahamas, vertrieb sich Mantis die Zeit mit Gedankenexperimenten, wieviele Gegner sie maximal bekämpfen konnte, ohne selbst zu sterben. Irgendwann kam sie bei wohl zwanzig Mann mit Maschinenpistolen an. Sie erinnerte sich, daß dieser Massenmörder, der im März von sich reden gemacht hatte, zwanzig Cops erledigt hatte. Sie dachte daran, daß sie mit ihrem Auftraggeber und einigen Kollegen, von denen sie ebenfalls nur die Codenamen kannte, über diesen Mann gesprochen hatte. Sie faszinierte es, wie ein Mann ohne die typischen Spuren zu hinterlassen Frauen wohl nachdem er Sex mit ihnen hatte töten konnte. Sie kannte einige Toxikologen, die sie allzu gerne auf den Fall ansetzen würde. Doch ihr Auftraggeber hatte ihr das nicht erlaubt, um nicht unnötig aufzufallen.

In Nassau sah sie einen drahtigen jungen Mann, der ein Pappschild "Frida Gardener" hochhielt. Sie erkannte den Burschen. Es war der Chauffeur von ihrem direkten Vorgesetzten, der sie auch nur mit diesem Namen kannte. Offenbar war es für die Organisation dringlicher gewesen, sie herzuholen als sicherzustellen, daß sie aus den USA auf die Bahamas mit einem anderen Reisepass einreiste.

Ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln brachte der Fahrer seine wichtige Passagierin zu jenem Backsteinhaus, über dessen dunkler Eingangstür das silberne Schild "Parker Wohlstand & Leben" prangte. Hier war Mantis richtig. Der wagen fuhr in eine Garage hinein, von der aus sie durch eine Zwischentür direkt ins Haus hinüberwechseln konnte. Zwei bullige Männer und eine sehr aufgeweckt wirkende Frau vom Bau einer russischen Leichtathletin durchsuchten die Besucherin. Diese grinste innerlich. Erstens könnte sie selbst diese Kollegen von sich auf mehr als zehn Arten töten, ohne eine Waffe zu benutzen, zweitens hatte sie nicht vor, eine so sprudelnde Einnahmequelle und einen solch anregenden Job zu riskieren, weil jemand etwas böses bei ihr finden mochte. Sie überstand die Durchsuchung und wurde ins Chefzimmer gebeten, wo ihr direkter Vorgesetzter Albert Finch zusammen mit einem untersetzten Italoamerikaner mit schwarzer Schmalzlocke und Schnauzbart sowie einem hochgewachsenen Angloamerikaner mit blondem Haar und Goldrandbrille saß. Ihr trainiertes Gedächtnis für Details nahm die leicht geöffnete rechte obere Schublade des schwarzen Glanzlackschreibtischs genauso zur Kenntnis wie den halb hinter einem Aktenordner verborgenen Diaprojektor. Den untersetzten Mann kannte sie auch. Sie hatte mit ihm schon einige Male zusammen gearbeitet. Sein Codename war Orca, der Schwertwal, das wohl erfolgreichste räuberische Meeressäugetier. Orca zeichnete sich durch einen besonders hohen Intelligenzquotienten und Vielsprachlichkeit aus. Er schätzte die Tötung aus der Ferne, durch Bomben, Gaszuleitungen oder Giftpfeilen. Der wichtigste Mann hier war der Mann mit der Goldrandbrille, Simon Parker persönlich, der in seinem dunklen Armani-Anzug legendäre Berühmtheit unter den organisierten Schattengesellschaften Amerikas genoss.

"Hi, Mantis. Schön, daß du sofort rüberkommen konntest", begrüßte Finch seine Topkillerin, nachdem Parker ihm zugenickt hatte. Diese grüßte zurück und erwies dem obersten Chef den nötigen Respekt, indem sie ihn höflich mit "Vielen Dank, Sir, daß Sie meine Dienste erbeten haben" begrüßte.

"Dringende Angelegenheiten fordern bestmögliche Erledigung", sagte Parker.

"Wie war der Flug?" Wollte Finch wissen.

"Langweilig wie immer", erwiderte Mantis mit der entsprechenden Betonung. Dann durfte sie sich hinsetzen.

Parker stellte den Projektor an, ließ per Tastendruck die Fenster vollständig verdunkeln, ohne Jalousien oder Vorhänge davorzuziehen und ließ von der Decke eine breite Leinwand herabsinken, die leise surrend bis zum Boden abgelassen wurde, bis sie mit ihren zwei Dreifüßen sicher auf dem Boden stand. Ein leises Schnarren spannte sie gerade so straff, daß sie nicht nach oben gehoben wurde oder Falten zurückbehielt. Dann projizierte Parker die Bilder, die er für seine Erklärung benötigte.

Er zeigte Bilder von Richard Andrews, die seine Leute aus dem Internet hatten, konnte sogar einige Fotos seiner Familie projizieren. Er wollte gerade ausführen, warum Richard Andrews angeblich nach Amerika gekommen sei, als der Meldesummer auf dem Schreibtisch Laut gab. Parker unterbrach die Vorführung und fragte bei der Hauswache an, was los sei. Als er erfuhr, daß Dr. Young ihn zu sprechen wünsche, nickte er kurz und gab Anweisung, ihn vorzulassen. Dann ließ er die Dias wieder zum ersten Bild zurücklaufen.

Als der Psychologe, angetan mit einem durchschnittlichen Konfektionsanzug mit taubenblauer Fliege eintrat, sagte Parker:

"Sie sind etwas spät, Doc. Geht Ihre Uhr nach?"

"Nein, meine Uhr läuft korrekt, wie es sich für eine Funkuhr gehört, Sir. Jedoch hatte ich auf dem Weg vom Flughafen hier her einen Verkehrsstau."

"Kann passieren", knurrte Parker. Dann wies er mit einer raschen Geste auf einen freien Stuhl. Young setzte sich folgsam. Zusammen mit den drei Leuten für dringende Angelegenheiten verfolgte der Psychologe nun die Vorführung und erläuterung.

Parker zeigte Bilder von Richard Andrews und seiner Familie, erklärte, daß er sich aus irgendwelchen nicht näher bekannten Gründen vor neun Monaten von seiner Frau hatte scheiden lassen, wobei er einen sehr merkwürdigen Unterhaltsanspruchsvertrag unterschrieben hatte, der auf Betreiben der Aufklärungsabteilung von Kontakten beim FBI aus London besorgt werden konnte. Demnach habe er den in der Zugewinngemeinschaft mit seiner Frau von dieser miterworbenen Anteil am bisherigen Wohnhaus von ihr gekauft, um einen Grundstock für die weitere Schulausbildung des gemeinsamen Sohnes Julius zu finanzieren, ohne regelmäßige Zahlungen in der Zukunft leisten zu müssen. Seine Frau lebe nun in Paris und der Junge ginge irgendwo in Frankreich auf ein Internat, von dem Parker Bilder und Daten nachliefern konnte. Young fragte sich, wieso man nicht gleich einen Computer mit der gerade so in Fahrt kommenden Präsentationssoftware bemüht hatte. Doch er wußte auch, daß Parker zu heftig an alten Dingen hing. Mit den faszinierenden Dingen des Internets hatten gefälligst andere zu arbeiten, solange er seine Vorträge auf die altmodische Art halten konnte.

"Wir wissen, daß Sonderagent Martinez vom FBI Detroit", worauf Martinez' Diaabbild auf der Leinwand erstrahlte, "versucht hat, den Jungen zu kontaktieren, warum auch immer. Es gelang ihm nicht, zumal dessen Mutter wohl verboten hat, den Burschen zu behelligen. Offenbar hat sich dieses Internat gegen direkte Anrufe abgeschottet. Es gibt nur eine Zentralstelle in Paris, die angerufen werden konnte, die aber keinen Kontakt von nicht eingetragenen Personen durchlassen wollen oder dürfen. Jedenfalls konzentriert sich die Ermittlungsarbeit nun darauf, den Weg von Richard Andrews in den Staaten zu rekonstruieren. Und da haben unsere Antennen fleißig auffgefangen. So wissen nicht nur die alten Staubsaugervertreter, daß Richard Andrews im Oktober in New York für eine Partnerfirma seiner früheren Arbeitgeber an einem Projekt über Metallplastikverbindungen gearbeitet hat, sondern daß er in der Zeit wohl auch mit einer rothaarigen Frau zusammentraf, mit der er sich häufiger traf." Ein sogenanntes Phantombild einer Frau mit feuerroten Haaren und heller Haut wurde an die Leinwand geworfen. Angeblich sei sie Archäologin und heiße Loretta Irene Hamilton. Doch das stimmt nicht, wie nicht nur wir mittlerweile wissen. Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß die ausgelöschten Degenharts diesen Schwindel auch aufgedeckt haben." Parker berichtete weiter, wie Andrews oft in ein bestimmtes Haus in New York ging, das aber total verfallen und unmöbliert war, daß eine Prostituierte namens Jacqueline ihren Zuhälter Alfred Bollmann tot aufgefunden hatte, einige Tage nachdem sie selbst dieser rothaarigen Frau begegnet war und daß Andrews einmal ein ganzes Wochenende in diesem Haus zugebracht hatte.

"Es ist wohl möglich, daß er dort gegen seinen Doppelgänger ausgetauscht wurde. Diese Frau diente wohl als Köder, den gerade in einer partnerschaftlichen Leere steckenden Mann zu bezirzen", vermutete Young. Auch Mantis schien das zu denken, weil sie unumwunden nickte.

"Davon dürfen wir wohl auch ohne Psychologie-Graduierung ausgehen", meinte Finch, der zwar auch etwas von Seelenkunde verstand, aber dieses Fach nur sehr abschätzig behandelte, als Werkzeug, um seinen Job zu machen, wie ein Koch seinen Löffel oder die Putzfrau ihren Wischmop.

"Will sagen, wir müssen mehr über diese Frau herausfinden, um das ganze aufzudecken", meinte Orca. Parker nickte.

"Es steht wohl fest, daß Richard Andrews gezielt manipuliert wurde, um diesen Ratten, die uns die ganze Tour vermasseln wollen, sein Wissen zur Verfügung zu stellen, um jenen Austauschclown einzuschleusen. Allerdings hat dieser wohl keine Probleme damit gehabt, mit dieser Frau munter drauflos zu kopulieren, ohne Angst vor Entdeckung. Zumindest haben wir das von der Hausverwaltung, wo Andrews - wir müssen ihn einfach so weiternennen - die Wohnung von Degenharts bewohnt hat. Auch hat es wohl mehrere beobachtete Treffen zwischen dieser Frau und Andrews in Kalifornien gegeben. Merkwürdigerweise haben wir von der Dame kein klares Videobild bekommen", sagte Parker.

"Das heißt, wir haben nur diese Phantombilder?" Wollte Mantis wissen. Parker nickte. Dann führte er noch aus, wie es am 15. März zu jenem Amoklauf gekommen war und das davor bereits die erste Prostituierte ermordet worden sei. Offenbar hatte der falsche Andrews bereits angefangen, seine gezielten Attacken gegen die käufliche Liebe zu reiten. Mantis schlug vor, alle gerichtsmedizinischen Gutachten abzugleichen, welche Gemeinsamkeiten die getöteten Straßenmädchen aufgewiesen hatten. Orca meinte dazu:

"Das habe ich mit meinen Wasserträgern schon gemacht, Mantis. Das ist nix, kein Gift, kein überdurchschnittlich hoher Anteil an Stoffwechselverbindungen und so weiter. Das einzige, was herumkam war, daß alle Körperzellen und die im Körper enthaltenen Bakterien wohl zum selben Zeitpunkt ihren Geist aufgegeben haben. Kennst du ein Gift, das so heftig schnell wirkt?"

"Du etwa?" Erwiderte Mantis lächelnd. Auch wenn ihnen dieser falsche Andrews sehr kräftig in die Suppe spuckte mußten die beiden Berufsmörder anerkennen, daß seine Methode genial war und sie es allzu gerne wußten, wie er das machte.

"Leute, Disziplin!" Rückte Parker die Aufmerksamkeit wieder ins rechte Licht und beendete seinen Diavortrag mit den Worten: "So haben wir zwei Anhaltspunkte: Diese Frau, die sich nicht auf Video aufnehmen ließ und das Haus in New York, wo der Austausch sicher passiert ist. Da die sogenannten guten Jungs vom FBI bereits nach der Frau suchen, habe ich schon wen in das verfallene Haus geschickt. Viel ist nicht dabei herumgekommen, außer das da wohl ein Kellerraum war, der aber verschüttet ist. Wird also bereits vor Monaten aufgegeben worden sein. Allerdings hat kein Nachbar von den wenigen die es da gibt eine Sprengstoffexplosion gehört. Einige meinten sogar, das Haus stand schon seit fünf Jahren leer. Soviel also auch dazu."

"Wenn die Frau in Kalifornien aufgetaucht ist, dann gibt es da wohl auch ein Quartier", vermutete Young. "Wie kam sie nach New York?"

"Tja, wissen wir immer noch nicht. Die Leute von der Aufklärung haben alle privaten und handelsüblichen Flüge, Schiffs- oder Bootsbewegungen und Autofahrten geprüft. In einigen Fällen sieht es so aus, daß dieser Schweinehund sich als Frachtgut getarnt hat, um unbemerkt zwischen den Bundesstaaten wechseln zu können. Aber wer ihm die Tarnung verschafft hat und vor allem, wie er sich schnell wieder unsichtbar machen kann, wissen wir immer noch nicht. Selbes gilt für diese Frau", sagte Parker.

"Wir haben also hier die Spitze eines Eisberges", stellte Orca mit verhaltenem Lächeln fest. "Wir sehen gerade diese beiden Figuren, aber nicht, was sie umtreibt."

"Ich denke eher an das Platon'sche Höhlengleichnis", wandte Young ein. Außer Orca schien keiner was mit dem Begriff anfangen zu können. Deshalb führte er aus: "Der alte Grieche hat damals die Frage aufgeworfen, wie ein Mensch, der in einer Höhle mit dem Rücken zum Eingang sitzt die Welt versteht, wenn er nur die Schatten und Lichter von den Vorgängen außerhalb der Höhle an der Wand sehen kann. So ähnlich geht es uns doch. Was wir mitkriegen ist eigentlich nur eine zweidimensionale Reflektion, ähnlich wie das Diabild." Er deutete auf das letztgezeigte Bild, die Frontansicht des Purpurhauses in Muddy Banks, Mississippi. Jetzt verstanden seine Kollegen.

"Nicht schlecht, Herr Specht", mußte Parker eingestehen. "Wenn wir also nichts anderes sehen als eine Lichterschau an einer weißen Höhlenwand, woher wollen wir dann wissen, was draußen wirklich passiert, was echt ist und nur ein Schattenspiel? Wir müssen uns zum Höhlenausgang umdrehen, hinausgehen und die echte Welt direkt ansehen. Aber wo liegt dieser Höhlenausgang?"

"Wir müssen rufen, ob jemand uns sagt, wo der Ausgang ist", meinte Orca, der wohl verstanden hatte, was sein Chef wollte. "In unserem Fall heißt das, wir müssen die Ratte dazu bringen, aus dem Loch zu kommen und genau dahin, wo wir sie kriegen können."

"Sie haben Recht, Mr. Orca", lobte Simon Parker. "Wir wissen nie, wo dieser Kerl und seine rothaarige Gespielin herkommen, wo sie hinwollen und dann wieder verschwinden. Also müssen wir eine Falle stellen, die einen verlockenden Köder enthält und ..."

Das rubinrote Telefon des Chefs läutete schön antiquiert elektrisch. Er unterbrach sich und die Besprechung und griff nach dem klobig wirkenden Hörer.

"Parker hier", meldete er sich. Er stutzte, nickte und schaltete dann den angeschlossenen Verstärker ein. Es knackte, dann kam blechern unterlegt eine aufgeregte Stimme aus dem schwarzen Lautsprecher:

"Die haben sich in Houston, Santa Fe und New Orleans in die Staaten reingemogelt. Ich habe das g'rade von zwei Seiten reinbekommen, die absolut verlässlich sind. Außerdem hat's schon geknallt. Vier von diesen schwarzen Guerrilleros haben das Lager von Big D. angegriffen und ratzfatz runtergebrannt. Ich fürchte, der macht demnächst noch Ärger."

"Danke für die prompte Meldung, Strong. Ich schicke unseren Doc sofort hinterher, um mit Big D. wieder klar zu kommen", sagte Parker völlig emotionslos.

"Oh, Mist! Gerade läuft hier die Eilmeldung ein, daß es in New Orleans zu einem Zusammenstoß zwischen den Leuten von Lorca und Hubert Laroche gekommen ist. Offenbar haut dieser Peruaner jetzt auf alles, was in seiner Branche mitmischt", sagte die Lautsprecherstimme, die Young und Finch trotz Verzerrung als die von Ira Strong erkannten, dem Leiter der Aufklärungsabteilung.

"Ohoho", stöhnte Finch. Laroche war der ungekrönte König der louisianischen Unterwelt. Was in New Orleans auch nur ein wenig außerhalb der Legalität ablief, lieferte ihm zu. Finch hatte einige gute Leute an Laroches ebenbürtige Problembeseitigungsabteilung verloren, einige durch Silber, andere durch Blei.

"Wenn er noch Don Vincenzos Umschlagshaus in Arizona ausradiert, haben wir einen handfesten Bandenkrieg", erwiderte Simon Parker.

"Wir sollten die Familien informieren, daß die nicht sofort zurückballern."

"Ich dachte, Sie hätten Lorca überreden können", warf Strong ein.

"Da hast du dich getäuscht, Ira. Ich wußte gleich, daß der Kerl Ärger macht, wenn er sein Geld hat."

"Nichts für Ungut, aber warum haben Sie ihm dann welches gegeben?" Fragte Strong leicht unvorsichtig.

"Weil es sein vertragliches Recht ist und ich unsere Firma nicht wegen schlechter Propaganda aufs Spiel setzen wollte", knurrte Parker, nun sichtlich gereizt.

"Tolle Philosophie", mußte Strong dazu loswerden.

"Das diskutieren wir bei nächster Gelegenheit aus", sagte Parker, und seine Worte trugen eine Drohung in sich.

"Auf jeden Fall qualmt die Kacke jetzt mächtig, Boss. Soll ich mich weiter auf Lorca einnorden oder weiter nach diesem Hurenkiller suchen?"

"Lorca wird sich wohl sehr lautstark betätigen. Den wirst du nicht überhören können. Wahrscheinlich werden seine dummdreisten Angriffe auch bald im Fernsehen laufen. Gib mir nur dann Bescheid, wenn weitere unserer Kunden von ihm belästigt werden! Ansonsten richte deine Antennen weiter auf diese rothaarige Frau aus, deren Phantombild wir uns gerade angesehen haben!"

"Geht klar, Boss", bestätigte Strong den Befehl und verabschiedete sich höflich.

"Doc, du mußt nach New Orleans. Laroche ist wichtiger als Big D.. Mit dem muß ich selber reden!" Sagte Parker zu Young. Dann wandte er sich an Orca. "Sie reden mit Vincenzo und den anderen, die im Süden Filialen unterhalten! Sie sind für diesen Auftrag von allen anderen Verpflichtungen freigestellt."

"Aber die Angelegenheit Andrews?" Hakte der untersetzte Auftragsmörder nach.

"Klären wir auch", sagte Parker eindringlich. Dann entließ er die beiden Mitarbeiter. Young zog seine Jacke an, denn abends wurde es ja doch noch ziemlich kühl, selbst auf den Bahamas. Dabei rutschte eine schwarze Muschel aus der Außentasche und fiel lautlos auf den dicken Teppich im Besprechungszimmer. Keiner bemerkte es. Dann verließen Young und Orca das Zimmer und verschlossen die schalldichte Tür von außen. Nun waren noch Finch und Mantis im Raum.

"Wir hatten es eben von einer Rattenfalle, weil wir das Loch nicht finden können", griff Parker den letzten Stand der Besprechung von eben wieder auf. Mantis und Finch nickten. Sie unterhielten sich über Methoden, einem Feind, dessen Gewohnheiten man nicht kannte, näher auf die Schliche zu kommen und möglicherweise dessen Schwächen auszunutzen, wie es die Zielfahnder der Polizeibehörden taten. Mantis vermutete, daß der falsche Andrews wohl sexuell abhängig von dieser Frau war, weil sie in Detroit wohl ziemlich hemmungslos miteinander intim waren. Vielleicht konnte man damit was anfangen. Sie vermutete, daß der gesuchte Feind wohl auch zwischen seinen Einsätzen zu ihr hin mußte, obwohl er eigentlich ja auf seine Kosten kam. Finch meinte, daß solle Strong abgleichen, ob es ein Raster gebe, das die Tatorte durch Linien mit einem bestimmten Ort verknüpfen konnte. Merkwürdig erschien den dreien die Sache mit der Unerkanntheit zu sein. Denn der Mann, der das Aussehen dieses englischen Wissenschaftlers hatte, war bis auf die Sache mit dem Purpurhaus nicht früh genug erkannt worden. Das war der Punkt. Er konnte sich so tarnen, daß nur ein Videobild von ihm, das man genau ansah, ihn entlarven konnte. Also galt es, in alle Zimmer von leichten Mädchen und an allen Straßen, wo sie sich anboten, Videokameras mit direktem Zugang zu einem Vergleichscomputer zu installieren. Das war teuer und zeitaufwendig, und viele Kunden Parkers würden eine derartige Überwachung nicht erlauben, um deren Kundschaft nicht zu vergraulen, da ja bis auf Las Vegas die gewerbliche Prostitution in allen Staaten und Städten strafbar war. Las Vegas, das war das Stichwort. Die Glitzerstadt in Nevada, errichtet zum Zweck der hemmungslosen und kostspieligen Vergnügungen, war ein genialer Köder für diesen Burschen. Parker wußte, wen man in dieser Stadt anhauen mußte, um die Falle zu stellen. Mantis, von der Grundidee begeistert, bot an, die Geschäftskunden Parkers darauf hinzuweisen, bis auf weiteres alle Straßendirnen und Bordellmädchen von ihren Verpflichtungen zu entbinden. Parker räumte ein, daß wohl einige von denen von Drogen abhängig seien oder Schulden abbezahlen müßten. Doch dann sagte er zu, den Leuten eine Art Darlehen für die nächsten zwei Wochen zu geben, in welcher Form auch immer. Viele von den betreffenden Leuten würden sowieso die vorhandenen Arbeitskräfte verlieren, falls man diesem Andrews nicht beikommen konnte. So wurde ein Plan ausgearbeitet, der den unheimlichen Gegner aus seinem Versteck gezielt in einen kontrollierbaren Bereich locken konnte.

Als Mantis und Finch dann abgestimmt hatten, wieviele weibliche Mitglieder der Problemlösungsabteilung dafür zusammengeholt werden konnten, verabschiedete Parker seine beiden verbliebenen Gesprächspartner.

Als er allein im schalldichten und gegen jede Art von Spionagegerätschaft abgeschirmten Besprechungsraum saß, dachte er darüber nach, ob er das Treffen am 18. Mai nicht besser doch stornieren sollte und sich besser selbst in sein Penthouse nach Las Vegas zurückziehen sollte, in die Nähe des ausgemachten Schauplatzes. Er räumte den Diaprojektor fort und zog die Schublade weit genug auf, um das leise surrende Tonbandgerät auszuschalten, daß die ganze anderthalbstündige Sitzung aufgezeichnet hatte. Kaum hatte er dies erledigt, läutete wieder das rubinrote Telefon. Er nahm den Hörer ab und hörte es im Verstärker knacken. Der Lautsprecher war noch an.

"Ja", meldete er sich.

"Hier Zentrale", kam es aus Hörer und Lautsprecher. "In unserer Aushängeabteilung hat gerade wer angerufen, von dem wir bisher nichts gehört haben", sagte die Stimme weiter.

_________

Professor Amanda Lessing war ungehalten, als sie am Nachmittag dieses Tages mit ihrem froschgrünen VW Käfer, den sie liebevoll Friedolin nannte, vom Campus der Universität Philadelphia zurück zu ihrem gediegenen Appartmenthaus fuhr. Es hatte während ihrer Vorlesung zur Herkunft und Bedeutung religiöser Symbole in der größtenteils analphabetischen Gesellschaft des frühen Mittelalters einen Tumult gegeben, weil ein vorwitziger Student gefragt hatte, ob eine Guillotine das oberste Heilssymbol geworden wäre, hätte Jesus Christus nicht in Jerusalem, sondern im Paris der französischen Revolution sein Leben gegeben. Sie hatte darauf steif geantwortet, daß dies ja wohl eine rein akademische Frage sei, da es ohne den Opfertod des Heilands weiterhin das römische Weltreich gegeben hätte und daher die französische Revolution wohl ausgefallen wäre. Außerdem seien gerade die Qualen am Kreuz, sowie die Auferstehung Christi das wesentliche Kernstück der christlichen Theologie. Bei einer Guillotine hätte es die Leiden nicht geben können, und Jesus hätte nicht alle Sünden der Menschheit auf sich nehmen können. Darauf hin warf ein zweiter Witzbold ein, daß eben die Kreuzigung sehr viel länger dauerte als in der Bibel beschrieben stehe, und Christus somit nicht auferstehen mußte, weil er nicht so früh gestorben sein konnte. Ein anderer warf in den Raum, daß ja sogesehen die gesamte christliche Auferstehungs- und Erlösungsbotschaft eine einzige Lüge sein müsse, was der zweite Student mit "Das habe ich so nicht gesagt", beantwortete. Dann war der Tumult perfekt, weil jene, die der christlichen Lehre skeptisch gegenüberstanden sich mit denen aus erzkonservativ geprägten Kreisen ein lautes Wortgefecht und schließlich ein Handgemenge lieferten, worauf die universitätseigenen Ordner einschreiten und den Hörsaal räumen mußten. Vor nur drei friedlichen Zuhörern, darunter eine Frau mit dunkelbraunem Haar und grünen Augen mit leichtem Graustich, hatte Professor Lessing ihre Vorlesung fortsetzen können. Zum schluß wurde sie gefragt, ob sie selbst an körperlich greifbare Dämonen und Engel glaube. Sie hatte darauf erwidert:

"Das Böse und das Gute streiten sich um unsere unsterblichen Seelen. Das heißt auch, daß wir die Mächte Gottes und Satans nur mit der Seele wahrnehmen können. Physisch gestaltete Boten des Himmels und der Hölle, wie sie Dichter wie Dante in ihren Werken besingen oder Maler wie Michelangelo oder DaVinci abbildeten dienten, wie es der Titel meiner Vorlesung besagt, zur Untermauerung der wörtlich tradierten Glaubensvorstellungen, da die Vorstellung himmlischer Mächte und höllischer Heerscharen ohne sichtbare Formen zu abstrakt ist. Wir dürfen uns von Gott kein Bild machen. So befiehlt er es im zweiten Gebot. Hingegen existieren Dutzende von Abbildungen der Dämonen und des Satans. Sie verkörpern das fleischliche, weil das Fleischliche der Schwachpunkt des Menschen ist, an dem die bösen Mächte ansetzen, um ans Ziel zu gelangen. Der Auftritt des Erzengels Gabriel sowohl bei Zacharias und bei Maria, der Mutter Gottes ist auch eher ein Traumbild, das den eigentlichen Gedanken darstellt, daß hier etwas außergewöhnliches passiert. Eine Frau bekommt im hohen Alter noch ein Kind. Die andere wird jungfräulich schwanger. Das war für die damalige Welt gleichermaßen sensationell. Außerdem haben ja viele Figuren der christlichen Dämonologie früher als heidnische Gottheiten um Anbetung gebuhlt oder die Menschen zur Anbetung gezwungen. Insofern mußte das Christentum trotz der Erkenntnis, daß es keine geflügelten Engel oder gehörnte Teufel gibt Zugeständnisse an das Verständnis der zu gewinnenen Anhängerschaft machen. Ich hoffe, ich habe Ihre Frage erschöpfend beantwortet."

"Sie halten also nicht an Ihrer eigenen These fest, daß dämonische Kreaturen, wie sie in der Bibel oder darauf aufbauenden Texten beschrieben wurden auf überlieferte Berichtet zurückgehen, Berichte von Werwölfen, Buhldämonen und Vampiren, Wiedergängern und Drachen?"

"Da Sie offenbar meinen, eine Diskrepanz zwischen meinen Schriften und meiner Vorlesung entdeckt zu haben, möchte ich Ihnen gerne aus dem Dilemma heraushelfen. Die Berichte von Vampiren und Werwölfen gehen tatsächlich auf altgermanische und osteuropäische Glaubensvorstellungen zurück, wonach Menschen, die sich tierhaft benehmen, rohes Fleisch essen, Blut trinken oder nachts umherstreunen auch in tierhafte Wesen verwandeln müssen. Der vom kanonischen Glauben abgedriftete Aberglaube hat diesen Kreaturen in manchen Teilen der Welt reale Existenz zuerkannt und daher Berichte über ihr Auftreten wie reale Ereignisse weitergegeben. Dasselbe gilt für die Succubi und Incubi. Sie dienten der Rechttfertigung für die Sündhaftigkeit fleischlicher Gelüste, wenn ein Mann von einer solchen Erscheinung im Schlaf heimgesucht wurde oder ein Mädchen am Ende der Pubertät wüste Träume von heißblütigen Liebhabern hatte. Mehr war da nicht und ist aus heutiger Sicht auch nicht mehr zu ergänzen. Sie können dies in meinem Buch "Gesellschaft und Dämonie" nachlesen. Aber ich werde nicht in der Semesterendprüfung darauf eingehen, aus Gründen der Fairness Ihren Mitstudenten gegenüber, die es heute vorzogen, die Kreuzzüge und den dreißigjährigen Krieg im zeitlich und räumlich gerafften Verhältnis nachzuempfinden."

Die drei verbliebenen Studenten hatten darüber amüsiert gelacht und sich dann verabschiedet.

Nach einer elend langen Kriecherei durch den Innenstadtverkehr von Philadelphia erreichte der treue Friedolin, der mit seinen 27 Jahren immer noch lief und lief und lief wie eine Eins, das von gepflegten Hecken und Rasenstücken umgebene Haus. Professor Lessing holte aus ihrer Handtasche eine Fernbedienung, drückte zwei Tasten darauf und ließ das Stahltor zur dreigeschossigen Tiefgarage hochgleiten. Als sie ihren Wagen auf dem angemieteten Stellplatz abgestellt hatte, atmete Amanda Lessing tief durch. Sie hatte wieder einen Tag überstanden, wo sie sich fragte, wozu sie eigentlich dieses Fach lehrte, wo es doch nichts simpleres gab, um Streit und Krawall zu erzeugen, als ein religiöser Meinungsunterschied. Jedenfalls würde sie sich bei den nächsten Vorlesungen sehr davor hüten, auf provokante Zwischenrufe einzugehen. Sicher, das schwor sie sich nach solchen Tagen immer wieder. Aber vielleicht, sofern Gott ihr die nötige Stärke gab, würde sie es auch umsetzen.

Mit einem der zwei Aufzüge, für dessen Ruf hier unten sie einen Schlüssel benötigte, fuhr sie hinauf in den sechsten Stock. Sie würde die konventionelle Arbeitsbekleidung ablegen, eine Dusche nehmen, sich eine schicke Abendgarderobe aussuchen und dann ins Theater gehen, wo Goethes "Faust I" von deutschstämmigen Schauspielern aufgeführt wurde, ein kultureller Glanzpunkt in der Stadt.

Sie sperrte das Sicherheitsschloss an ihrer Tür auf und öffnete sie vorsichtig. Eigentlich mußte sie nicht auf ungebetene Gäste achten, weil im Mietpreis eine Alarmanlage für die Wohnungstür und ein unregelmäßig patrouillierender Wachtrupp die Zugänge überwachten. Doch sie wußte, daß sie in der Welt Feinde hatte, keine Dämonen, wie man wegen ihrer Fachkenntnis vermutet hätte, sondern Menschen, die ihre Ansichten von überirdischen Existenzen als Beleidigung ihres Glaubens ansahen. Doch die Tür ging auf wie immer. Nichts war anders als am Morgen, wo sie von hier aufgebrochen war. Sie betrat ihre geräumige Wohnung und ging in das Schlafzimmer, wo sie ihre Berufskleidung auf einen breiten Lehnstuhl legte und sich aus dem Schrank frisches Unterzeug holte. Dann ging sie völlig nackt ins Badezimmer, wo sie die halbdurchsichtige Schiebetür der Duschkabine öffnete. Da glaubte sie, sie träfe ein Schlag. Im Duschbecken erschien ein Paar schmaler nackter Füße, aus dem zwei Beine nach oben schnellten, die sich zu einem Becken, einer Taillie, ja zu einer ganzen Frau in einem von Amandas Nachthemden zusammenfügten. Prof. Lessing verzweifelte an ihren Sinnen. Dann schaltete ihr Verstand. "Einbrecherin!"

Die Unbekannte hatte einen merkwürdigen silbernen Umhang über dem linken Arm und zwei Metallringe um den anderen Arm hängen. In der rechten Hand lag ein silbriggrauer Stab, der wie eine stufenlose Radioantenne aussah.

"Schön, daß Sie unverhüllt erschienen sind, Amanda", sagte die Fremde, die strohblondes Haar besaß und die rechtmäßige Bewohnerin dieser Mietwohnung hocherfreut und überlegen anstrahlte. Diese wußte vor Scham und Überrumpelung nicht, was sie tun sollte. Da traf sie von vorne etwas, daß ihren Körper schlagartig erstarren ließ. Sie konnte noch nicht einmal einen Laut von sich geben. Die Fremde legte den silbernen Umhang neben sich auf den Rand des Duschbeckens und tippte mit dem Stab an einen der lose um ihren rechten Arm baumelnden Ringe. Leise klickend öffnete sich dieser. Die Eindringlingin nahm den offenen Ring, streckte die linke Hand damit nach Amandas Hals aus und legte ihr den Ring an. Sie drückte dagegen, und der Ring schloss sich gerade eng genug, um der Expertin für mittelalterliche Dämonenvorstellungen nicht Luft und Blutstrom abzuwürgen. Dann nahm die Fremde den zweiten Ring, öffnete auch diesen durch Antippen mit dem Stab und legte ihn sich selber um.

Amanda Lessing ahnte, daß hier Mächte wirkten, die sie zwar nicht kategorisch ausschließen durfte, aber durch wissenschaftliche Errungenschaften der Jetztzeit immer als allerletzte mögliche Erklärungsform ansehen mußte. Doch um noch etwas dagegen tun zu können war es zu spät. Ein goldener Lichtbogen flammte leise sirrend zwischen den geschlossenen Ringen auf, wand sich zunächst zu einer Spirale um beide Frauen herum, um dann zu körperangepaßten Auren aus rotgoldenem Licht zu verschmelzen. Amanda glaubte, von kochendem Öl umflossen zu werden, das sie regelrecht verkochte. Doch bevor sie schreien konnte, verlor sie das Bewußtsein. Für die Fremde in der Duschkabine vollzog sich ein ähnliches Martyrium. Allerdings glaubte diese, in einen Strudel aus eiskaltem Wasser hinabzustürzen. Sie geriet gefährlich nahe an den Rand des Atemstillstands, bevor die Wirkung aufhörte. Die goldenen Lichterscheinungen verschwanden übergangslos. Nur in den geschlossenen Ringen pulsierte es schwach wie das Herz eines kleinen Vogels. Das heftigste an dieser Zauberei war jedoch, daß Amanda Lessing und die Fremde ihre Körper vertauscht hatten. Eine nackte, relativ junge Frau mit strohblonden Haaren, stand immer noch bewegungsgebannt und nun auch nicht mehr daraus zu lösen, solange der zweite Ring geschlossen war. Die Fremde in der Dusche sah nun haargenau wie Professor Lessing aus, etwas klein, mit angegrauter blonder Frisur. Offenbar waren alle körperlichen Eigenschaften Amandas auf die Fremde übergegangen, weil sie mit ihren neuen Augen umherblickte, als könne sie sich nicht auf weit entfernte Dinge einstellen.

"Dairon hatte recht. Wer sich diesen Ringen der Umtauschung ausliefert muß einen starken Willen sein eigen nennen", dachte die ungebetene Besucherin Amandas, bevor sie mit Hilfe ihres Zauberstabes und ihrer angeborenen Gabe der Telekinese den Körper der von ihr überwältigten und um ihren Körper gebrachten ins Schlafzimmer bugsierte, wo sie ihr das Nachthemd anzog und sie ins Bett verfrachtete, wo sie solange liegen würde, bis man ihr den Halsring abnehmen würde. Die nun im Körper von Prof. Lessing steckende Anthelia zog sich aus dem biederen Sortiment von Freizeitkostümen ein himmelblaues Kleid über das frische Unterzeug, daß Amanda für sich selbst bereitgelegt hatte. Darunter hatte sie immer noch den Gürtel der zwei Dutzend Leben und ihr Seelenmedaillon, ihre wichtigsten Hilfsmittel im Kampf um die neue Vormachtstellung. Sie horchte in sich hinein. Ja, auch da hatte Dairon richtig vorhergewarnt. Denn sie konnte sich an Dinge erinnern, die Professor Lessing erlebt hatte, allerdings nur jene, die ohne gefühlsmäßige Anbindung im Gedächtnis enthalten waren. Antehlia nickte. Das war die unangenehme Nebenwirkung des Ringes. Trug sie ihn länger als zwei volle Tage, würde sie Schwierigkeiten bekommen, ihre eigenen Erinnerungen von denen Amandas zu trennen, ja könnte sogar in diesen Erinnerungen verlorengehen, nach und nach zu einer vollständigen Kopie Professor Lessings werden, mit einer traumgleichen Erinnerung an sich, Anthelia. Also mußte sie jetzt alles in die Wege leiten, weswegen sie diesen Körpertauschzauber überhaupt angestellt hatte.

"Schwester Patricia. Ich habe es geschafft. Ich komme gleich runter. Warte mit deinem Gefährt an der ausgemachten Stelle!" Dachte sie, wobei sie sich das Gesicht von Patricia Straton vorstellte. Mehr Erinnerungen Amandas flossen in Anthelia über, bisher nur sachliche Dinge, die sie wohl gut brauchte. Doch die Zeit lief nun. Sicher, Amanda würde keine Erinnerungen von Anthelia empfangen, weil sie den Ring zuerst angelegt bekommen hatte. Doch die Nebenwirkung war schon heikel genug, um sie nicht länger als unbedingt nötig auszuhalten.

Anthelia nahm sämtliche Schlüssel Amandas, die Bücher, machte vorsorglich eine Kopie von Reisepass und Ausweis, legte deren Originale zurück in das Schubfach der Kommode, wie auch den Führerschein, da Anthelia alles mögliche konnte außer Auto fahren. Sie faltete den Tarnumhang so zusammen, daß sie ihn unter der leichten Jacke verbergen konnte, die sie sich von ihrer Körperspenderin ausborgte. Dann verließ sie völlig unangefochten die Wohnung. Sie schloss die Tür wieder zu und ging, wobei sie einer gerade auf Streife befindlichen Zweiergruppe neutral gekleideter Wachleute einen guten Abend wünschte zu den Aufzügen. Sie fuhr muggelmäßig ins Erdgeschoss, verließ das Haus und ging eine Straße entlang, bis sie an der nächsten Ecke den weißen Maserati von Patricia Straton fand. Sie stieg ein und prüfte, ob ihre hier deponierten Kleidungsstücke noch ordentlich zusammengefaltet waren.

"Was ist mit der echten Frau?" Wollte Patricia Straton wissen.

"Sie wird schlafen, bis ich sie wieder wecke und ihrem Gedächtnis die korrekten Erinnerungen eintrichtern kann, Schwester Patricia. An und für sich wollte die sogenannte Sachkundige der Dämonenwelt heute noch in ein Theater. Aber wenn ich das richtig mitbekommen habe, muß man sich nicht bei jemandem abmelden, wenn man daselbst nicht dem Genuss beiwohnen kann. Also kommen wir zu den Dingen, weshalb wir uns diese Umstände machen!" ...

Patricia Straton lenkte ihren Wagen zunächst mit eigenen Händen. Doch als sie die Autobahnauffahrt erreicht und sich in den fließenden Verkehr eingefädelt hatten, tätschelte sie die Lenkradnarbe und flüsterte etwas. Dann ließ sie einfach los, während der Maserati mit den vorgeschriebenen 55 Meilen in der Stunde dahinglitt und sich weder ausbremsen noch von hinten anschieben ließ.

Von irgendwo unterwegs holte Patricia ihr Mobiltelefon heraus und wählte eine bestimmte Nummer. Sie lauschte, nickte und meinte:

"Wir haben es geschafft. Im Moment können wir die Gespräche dieses sauberen Mr. Parker anstandslos mithören. Daniellas Geschenk an ihren Muggelneffen hat sich echt glänzend bewährt. Moment, jetzt ist dieser Muggel nur noch mit zwei Leuten zusammen, die dringende Sachen für ihn erledigen sollen, wohl Auftragsmörder. Es geht tatsächlich um unseren gesuchten Abhängigen."

"Kannst du diesen Schurken von hier aus anrufen und ihn von seinen Unterhandlungen abhalten?" Fragte Anthelia.

"Ich müßte in einem Büro anrufen, das zu seiner rechtschaffenden Fassade gehört. Was soll ich sagen, Höchste Schwester?"

"Lass mich mit diesen Leuten unterhandeln. Mich dünkt, sie werden danach trachten, den Wortwechsel mit einer dieser Tonaufzeichnungsapparaturen zur späteren Wiederholung festzuhalten", sagte Anthelia und wartete, bis Patricia die Nummer einer öffentlich bekannten Firma im Parker-Imperium der Dienstleistungsbetriebe angewählt hatte. Anthelia, die zur Zeit Amanda Lessing war, nahm das Funktelefon und wartete, bis sich wer meldete. Von Cecil Wellington wußte sie, daß es reichte, gewöhnlich laut in ein Fernsprechgerät hineinzusprechen. So stellte sie sich ganz ruhig vor und erwähnte, sie würde gerne mit Mr. Simon Parker persönlich sprechen, um ihm zu erläutern, weshalb es nicht gelungen sei, den Massenmörder mit dem Aussehen Richard Andrews' zu fassen, ja, es sogar für alle, die es versuchten tödlich verlaufen mußte.

__________

Zachary Marchand, Sonderagent des FBI, hatte schwere Gewissensbisse. Er hatte Maria Montes verraten. Er hatte ihr damals gesagt, ihr würde von der Zaubererwelt her nichts mehr zustoßen. Nun, nachdem sie ihm und Minister Pole erzählt hatte, daß sie genau gesehen hatte, wie ein geflügeltes Ungeheuer die Einsatzkräfte um das Purpurhaus in Muddy Banks niedergemetzelt hatte, hatte er dem Befehl von Pole gehorchend ihr Gedächtnis umkrempeln müssen. Denn trotz des Statusses, den sie als Muggel mit rein sensorischen Zauberkräften besaß, durfte sie nichts von Hallitti wissen oder, daß es sich bei dem staatenweit gejagten Mann um den richtigen Richard Andrews handelte. Er hatte mit Jane Porter darüber gesprochen, als er wieder in seinem Haus in New Orleans war. Sie meinte, es sei schon unverantwortlich, dieses Geheimnis auf so wenige Leute zu beschränken, zumal sie Julius Andrews, den magisch begabten Sohn von Richard, persönlich kenne und finde, er solle es früh genug erfahren und nicht, wenn andere es verfälscht aus halbinformierten Quellen erführen und ihm weitertratschten. Doch im Moment konnte er nichts anderes machen. Auch er war durch einen magisch unterlegten Eid an die Weisungen Poles gebunden. Zumindest kauften Presse und Polizeibehörden die Geschichte von dem Gasanschlag und der so möglichen Massentötung so vieler Kollegen ab.

Jetzt jedoch mußte er an andere Sachen denken. Der Vorfall um das Purpurhaus hatte einen offenbar sehr reizbaren Bandenchef in Rage versetzt. Zumindest erklärte das, wieso Zach Marchand und einige Kollegen in Schutzwesten und Helmen in zweihundert Metern Abstand um ein altes Wohnhaus herum lagen und ab und an von Maschinengewehrsalven bestrichen wurden. Jetzt gerade war es eine Minute seit dem letzten Feuerschlag her. Marchand überlegte schon, ob er mit fünf Mann weiter vorrücken sollte, als die nächste Garbe MG-Kugeln von fernem Rattern unterlegt über ihn hinwegpfiff. Aus einer Stellung heraus gab einer seiner Scharfschützenkollegen Gegenfeuer. Wo mochten sich die verdammten Kerle aufhalten?

"Sieben acht fünf, seid ihr noch da?" Kam eine Rundfrage. Marchand griff zu seinem Spezialfunkgerät und meldete, daß er noch auf seinem Posten sei und den Angriff ohne weiteres überstanden hatte.

"Unsere Infrarotsoldaten haben sechs Leute da drinnen ausgemacht. Der Einsatzleiter sagt, die sollen wir lebend da rausholen."

"Dürfte sich schwierig gestalten", kam von woanders ein Kommentar. Dann brach das Bleiinferno über die FBI-Gruppe herein.

Die sechs Leute da drinnen feuerten wohl beidhändig aus einer befestigten Stellung heraus. Denn in alle vier Himmelsrichtungen hagelten Bleikugeln und peitschten als Querschläger immer noch tödlich um die angerückte Truppe.

"Wer hat da was von sechs Mann gesagt?" Knurrte einer der Scharfschützen und ließ zur Antwort sein eigenes MG vor dem Haus hin- und herschwenken, ohne unterbrechung schießend. Offenbar nützte das was. Denn zwischendurch brach das feindliche Feuer ab. Einer der Infrarotspäher meldete, daß wohl zwei beim Gegenfeuer verletzt oder getötet worden seien. Dafür würden die übrigen vier nun versuchen, den Belagerungsring zu durchbrechen und ...

Eine dumpfe Explosion links von Zachs Stellung, verbunden mit einer kurzen Erderschütterung und einer großen Staubwolke verrieten dem Sonderagenten, daß die Gegner mit Handgranaten oder anderen Sprengkörpern hantierten. Keine Sekunde später kam die aufgeregte Meldung:

"Leute, die haben echte Minenwerfer. die haben unsere Position nordöstlich erwischt."

"Neu besetzen!" Kommandierte der Einsatzleiter, der sicher und weit genug vor in seinem Wagen saß und die Video- und Infrarottruppen dirigierte. Da krachte es wider, und es segelte sirrend ein flaches Ding über Zach hinweg, der schon versucht war, in eine verborgene Innentasche seiner Jacke zu langen, um seinen Zauberstab zu ziehen. Doch hier war er wie jeder Muggel unter Muggeln. Er durfte nicht in deren Anwesenheit zaubern. So versuchte er, die Flugbahn der Mine auszuknobeln. Doch die Scharfschützen waren da wohl schneller in sowas. Denn es erfolgte eine rasendschnelle Bleiwolke, die auf alles einhämmerte was in ihre Flugbahn geriet.

"also, langsam bin ich wirklich für ein strenges Waffenverbot", dachte Marchand, während er überlegte, wer die restlichen vier im Haus seien. Dann kam auch noch ein Hubschrauber. Allerdings war es keiner vom FBI, sondern ein Zivilhelikopter, der schnell und punktgenau über dem Haus herabstieß. Die FBI-Leute wollten schon das Feuer darauf eröffnen, als aus dutzenden Maschinenpistolen und -gewehren vom Haus her die ultimative Geschosslavine heranfegte, gnadenlos alles niederwalzend, was den eigenen Kopf höher als am Boden hinhielt.

"Das gibt's doch nicht!" Fluchte einer von Marchands Kollegen über Funk.

"Rundruf an alle! Melden wer noch da ist!" Befahl der Einsatzleiter. Hätte Marchand nicht Ohrstecker getragen hätte er diesen Anruf wohl vor lauter Knattern und Schwirren und dem Schrappen der rotierenden Luftschraube komplett überhört. So drückte er die Sprechtaste und meldete, daß er noch da und unverletzt sei. Er dankte den Entwicklern seiner Sicherheitsausrüstung, das die zwanzig Kugeln, die ihn bereits getroffen hatten, nicht mehr als kleine Beulen und blaue Flecken hinterlassen hatten. Doch er wollte nicht das Schicksal herausfordern. So sah er durch das Gewimmel umherschwirrender Kugeln, wie die noch im Haus gewesenen vier Mann in den Helikopter stiegen und sich unter dem Feuerschutz vollautomatisch draufhaltender Schnellfeuerwaffen fortbringen ließen, wie die unschuldige Seele von den himmlischen Boten.

"Wenn der Feuerzauber hier um ist sofortiger Rückzug!" Befahl der Einsatzleiter aus seinem sicheren Kommandofahrzeug. Marchand verstand. Die hatten diese Waffen wohl schon vorher eingebaut, um diese Flucht abzusichern. Höchstwahrscheinlich hatten sie auch ... Die schlagartig einsetzende Feuerpause riss Marchand aus seinen Gedanken und trieb ihn an, aufzuspringen und im gebückten Lauf vom Haus wegzukommen, so schnell er laufen konnte.

"Weg da Leute! Die haben ganz sicher ...!" Rums! Eine gewaltige Explosion warf jeden aus dem Lauf heraus um. Staub und Trümmerstücke wurden wie von einer Sturmböe über alles und jeden geblasen, der oder das sich im Umkreis von zweihundert Metern aufhielt.

"Da hatte der alte tatsächlich recht. Soll bloß keiner sagen, wir seien Feiglinge", dachte Marchand. Er rappelte sich wieder auf und sah sich um. Von dem belagerten Haus waren nur noch qualmende Stützfeiler geblieben.

"Irgendwer hat da ziemlich tief gepennt", knurrte der Kollege über funk, der vorhin schon mehrfach geflucht hatte.

"Wird sich herausstellen", sagte der Einsatzleiter. "Alle zurück zu den Wagen! Wir müssen klären, wer das war und warum das hier passiert ist. Wir haben die Kennung des Helikopters. Die entwischen uns nicht."

Marchand ging rasch zu einem gepanzerten Wagen, der von Dreck und Splittern völlig eingedeckt war. Er widerstand der Versuchung, seinen gut versteckten Zauberstab zu zücken und den Dreck mit einem einzigen Ratzeputz-Zauber wegzufegen. So strich er mit der dickbehandschuhten Rechten die Schlacke vom Dach, von den Scheiben und den Türen. Dann rieb er sich den aufgesammelten Dreck von den Handschuhen und stieg in den Wagen, wo er gleich den Helm absetzte und mit seinem Kollegen, der hier ausgehalten hatte über den Vorfall sprach.

"Das waren schwarze Guerrilleros, also Lorcas Bande", sagte Sonderagent Myron Giles.

"Bist du dir da sicher, Myron?" Fragte Marchand.

"In dem Fall sage ich sogar todsicher", bekräftigte Giles und forderte per drahtloser Computerverbindung aus dem FBI-eigenen Netzwerk Bilder von Rodrigo Lorca und seinen gefürchteten Truppen an, Leuten in schwarzen Kampfanzügen mit Masken, wie sie der reitende Rächer Zorro wohl getragen haben mochte. Dann ließ er sich die Videobilder aus dem Einsatzwagen zuspielen, die eben solche schwarz vermummten Typen zeigte, die auf dem Brustteil einen Panther im Sprung aufgestickt trugen.

"Du siehst, Zach, daß diese Burschen da auch von diesen "Panteras Poderosas" stammen. Dieser Lorca hat eine ähnliche Privatarmee aufgezogen wie diese Rattlesnake-Bande um G. W. Saunders."

"Ja, und was ihm das gebracht hat wissen wir", seufzte Marchand. Immerhin hatte er als Sonderagent an der Jagd auf die Bande teilgenommen und auch erfahren, wie sie in einem mörderischen Bandenkrieg mit den War Dragons mit Stumpf und Stiel ausradiert worden war, weil der Gegner mehr Zeit und Mittel in einen großen Hinterhalt investiert hatte als sich alleine auf eine offene Schlacht zu verlassen. Dann fragte Marchand noch, ob man wisse, wo diese Privatguerrilleros genau herkamen und überlegte, an welchen Grenzpunkten sie in die Staaten eingesickert sein konnten. Jedenfalls waren diese Kämpfer gut ausgerüstet. Das hieß, sie hatten jemanden mit viel Geld im Rücken.

__________

Der Helikopter mit den Panteras Poderosas, die das Lager von Laroche überfallen hatten eilte im 200-Stundenkilometer-Tempo keine zwanzig Meter über das Sumpfland von Bayoo dahin. Die Männer an Bord freuten sich, den ersten Schlag gegen den vermeintlichen Hauptfeind erfolgreich gelandet zu haben.

"Die vom FBI haben uns ja doch lange aufgehalten", sagte einer der vier überlebenden.

"Dafür hat dieser Franzose zwölf Leute Weniger", lachte ein anderer Kämpfer.

"Wo müssen wir als nächstes runter?" Wollte der Pilot wissen.

"Nördlich von New Orleans. Da hat der Typ eine alte Fabrik, die er zum Waffenlager umgebaut hat. Am besten machen wir den aus der Luft und vom Boden her fertig."

"Wieviele Compañeros sind noch mit rübergekommen?" Wollte ein anderer schwarzer Kämpfer wissen.

"In der Gegend fünfzig. Señor Lorca hat ja drauf gewartet."

"Dann hol die alle her! Der Franzose wird sich das nicht bieten lassen, daß wir sein kleines Holzhaus mit dem Labor vom Feld gefegt haben", meinte der Pilot.

__________

Monsieur Hubert Laroche, stolz auf seine uralten louisianischen Wurzeln, war maßlos wütend. Vor nicht einmal einer Stunde hatte einer seiner Leute im Geheimlabor im Sumpfland SOS gefunkt, daß zehn Mann in Schwarz mit Schnellfeuerwaffen angegriffen hatten. Dann war die Verbindung abgerissen. Er hatte überlegt, seine Leute hinzuschicken. Doch irgendein Hirnamputierter hatte das FBI eingeschaltet. Mochte es sein, daß er einen Maulwurf im eigenen Garten hatte? Zumindest wollte er wissen, was passiert war. So forderte er seinen Piloten auf, den Hubschrauber auf dem Dach seiner altehrwürdigen Luxusresidenz anzulassen, rief bei einem guten Freund an und erfuhr, daß wohl die Lorca-Bande aus Peru, eine von ihm als nicht interessant eingeschätzte Konkurrenzorganisation den Golf von Mexiko überquert hatte und nun wohl auf seinem eigenen Hof randalierte. Er erinnerte sich, daß ein von Lorca abgeworbener Kurier mal getönt hatte, dieser Peruaner würde mit einem Amerikaner namens Parker zusammenarbeiten, von dem er auch aus anderen Quellen gehört hatte. Parker war aalglatt, ein sogenannter Versicherungsunternehmer, der offenbar gut im Geschäft war, auf schnellen Gewinn angelegte Firmen in jeder Hinsicht abzusichern. Laroche hatte es seit seinem Aufstieg zum König von Bayoo nicht nötig gehabt, sich mehr Rückendeckung zu kaufen als er selber aufbauen konnte. Mochte es also angehen, daß dieser Lorca frech wurde? Dann fiel ihm die Sache mit dem niedergebrannten Bordell in Mississippi ein. Ja, meinte dieser Lorca denn, er, Laroche, hätte das gemacht? Wozu denn. Er brauchte keinen unnötigen Bandenkrieg. Doch jetzt war dieser Lorca zu weit gegangen.

"Der Hubschrauber ist klar, Monsieur", meldete der Pilot über Haustelefon. Laroche bestätigte die Nachricht und stieg zum Dach seiner erhabenen Villa auf, das er durch mehrere Stahlträger hatte verstärken lassen, um seinem großen Helikopter sicheren Stand zu gewährleisten.

Die blau-weiß-rote Maschine hob ab, nachdem der Pilot sich ordentlich bei der Flugsicherung eingemeldet hatte. Als Flugziel war der Norden von New Orleans angegeben worden.

Als Laroche über seinen Privatfunk erfuhr, daß ein unbekannter dunkelblauer Hubschrauber im Anflug auf sein Hauptlager für Handfeuerwaffen war, war ihm klar, was los war. Man wollte ihn tatsächlich ärgern, nicht nur das, sondern auch absolut lächerlich machen.

"Alle Hubschrauber mit Waffen in die Luft, vier davon zum Hauptlager. Außerdem sollen die Leute da die Selbstschussanlagen und die Starkstromautomaten einschalten und jedes nicht gesicherte Loch mit dem eigenen Leben schützen!" Befahl er und setzte damit die Vergeltungsaktion in Gang.

Als sie sich dem Lager näherten, brannte der feindliche Hubschrauber bereits. Laroche hatte seine Maschinen mit heimlich abgezweigten Militärwaffen zu zerstörerischen Stahllibellen ausrüsten lassen. Offenbar war das den Angreifern nicht so recht klar gewesen. Jedenfalls konnten zwei weitere feindliche Hubschrauber von den vieren, die wie wütende Hornissen um das Lager surrten innerhalb einer Minute vom Himmel geholt werden. Die anrückenden Bodentruppen, alles schwarze Kämpfer, fielen unter den Bord-MGs der Maschinen wie gemähtes Gras. Die Gegenschläge mit den MGs und MPs der Panteras, die Laroche auf wohl dreißig Mann schätzte, holten im Gegenzug einen der gepanzerten Hubschrauber herunter. Aber das brachte ihnen kein Glück. Die Maschine fiel brennend auf die Straße etwa vierhundert Meter vor der alten Fabrik und explodierte. Der Feuerball erleuchtete erst weißgelb dann orangerot einen Umkreis von einem Kilometer, genug Licht für die Schützen, ohne Scheinwerferunterstützung ihre Bodenziele zu finden. Brand- und Sprenggeschosse setzten das blutige Gemetzel fort. Zwei gepanzerte Wagen, die wohl auch mit diesen Lumpenhunden besetzt waren, hielten dem massiven Beschuss nur eine Minute stand, bis die Leute von Laroche es leid waren und von den Panzerfäusten gebrauch machten, die sie einer Armeelieferung abgeluchst hatten. Drei Treffer genügten, und die Wagen waren genauso erledigt wie deren Insassen. Zwar wollte wohl noch einer herauskommen, geriet dabei aber genau in die Geschossbahn einer gewöhnlichen MG-Salve vom Lager her und brauchte sich um sein nächstes Gehalt keine Gedanken mehr zu machen.

"Cretins!" Fluchte Laroche. Wie viele Menschen verfiel auch der König der louisianischen Unterwelt bei starken Gefühlsausbrüchen gerne in seine Muttersprache, wenngleich er bereits auf amerikanischem Boden gezeugt und hier auch geboren worden war und die edle Sprache seiner Vorfahren nur gelernt hatte, weil seine Eltern beide dem heimlichen Adel alteingesessener und wohlbegüteter Pionierfamilien angehörten.

"Monsieur, wir sollten höher gehen", schlug der Pilot vor, als von unten Mündungsfeuer aufblitzte. Laroche nickte. Wie von der Bogensehne geschnellt machte der Hubschrauber einen mächtigen Satz nach oben, sodaß Laroche glaubte, sein Herz würde nun im Dickdarm stecken. Doch es war das rettende Manöver gewesen. Denn ein unliebsames Pong gegen die rechte Landekufe verriet, daß die da unten es auf diesen Hubschrauber abgesehen hatten.

"Achtung, da hat wer 'ne Stinger-Rakete losgelassen!" Rief jemand über den Privatfunk. Tatsächlich konnte Laroche einen Feuerschweif rechts voraus erkennen, der genau auf seinen Hubschrauber zujagte. Doch gegen diese Gemeinheiten hatte er was und zwar wirksames. Vier Leuchtkugelartige Feuerwerkskörper flogen von der rechten Landekufe fort und glühten hellgelb auf, als die Boden-Luft-Rakete gerade ihr Ziel aufs Korn genommen hatte. Das auf Wärmeausstrahlung losgehende Geschoss ruckte nach rechts und flog im Hui in eine der Leuchtkugeln hinein, was den Raketenangriff scheitern ließ.

"Wo kam das her?" Wollte Laroche wissen, dessen dunkle Augenbrauen sich so stark verengten, daß ein dicker Wulst über der Nasenwurzel entstand.

"Ist gleich Geschichte, Monsieur", meinte der Pilot und deutete auf einen Punkt auf dem Boden. Dort explodierte gerade ein weißer Feuerball, blendete Laroche fast und fiel sofort wieder in sich zusammen.

"Wer hat noch nicht? Wer will noch mal?" Lachte Laroches Pilot.

"Das kommt davon", gab Laroche sehr zufrieden zur Antwort. Zwar war sein Hubschrauber nur gegen anfliegende Raketen gesichert und hatte keine eigenen Waffen. Aber seine Leute konnten dafür um so härter zurückschlagen. Nach fünf weiteren Minuten war die ungleiche Schlacht vorbei. Denn die angreifenden Panteras hatten sich nach anfänglichen Sturmversuchen auseinandertreiben lassen. Offenbar wollten sie sich absetzen, um sich besser vorzubereiten. Doch Laroche erlaubte es ihnen nicht. Drei weitere Hubschrauber der insgesamt zehn im Umkreis von zehn Kilometern stationierten Geheimflotte treiben die gepanzerten Wagen und Einzelläufer wie aufgescheuchtes Vieh zusammen und machten ihnen gnadenlos den Garaus.

"Finit", kommentierte Laroche und ließ seine fliegenden Mordkommandos wieder davonziehen.

"Wahrscheinlich haben wir gleich hier Luftsicherung, Polizei und FBI. Unser Lager können wir vergessen", sagte der Hubschrauberpilot.

"Ganz im Gegenteil", meinte Laroche. "Jetzt gehen wir alle schön nach Hause. Die Waffen im Lager werden jetzt gerade wieder eingezogen und so versteckt, daß kein Polizist die findet. Denken Sie ich hätte es verteidigen lassen, wenn ich es so oder so verlieren mußte?" Wollte Laroche wissen.

"Ich dachte nur ..."

"Das habe ich schon längst bevor ich dieses Lager eingerichtet habe", sagte Hubert Laroche. "Ich muß ja immer darauf gefaßt sein, daß mir wer meinen Erfolg neidet. Deshalb habe ich diverse Schutzvorkehrungen getroffen. Mehr sage ich dazu nicht."

"Entschuldigung, Monsieur", erwiderte der Pilot.

"Angenommen", sagte Laroche kurz angebunden und gab dann den Befehl, zum Mirage-Hotel, seinem offiziellen und nach außen hin legalen Firmensitz zu fliegen. Der Pilot meldete, daß es wohl an der Fabrik für Dosennahrung, als die das Lager getarnt war, einen merkwürdigen Zwischenfall gegeben habe. Da hätten sich wohl irgendwelche Leute bekämpft. So konnte der Überfall der Panteras Poderosas noch als völlig unerwartet abgetan werden. Die anderen Hubschrauber Laroches blieben schön unter der Mindesthöhe für Radarerfassung und kehrten zu ihren geheimen Stützpunkten zurück. Der offizielle Helikopter des angeblichen Konservenfabrikanten und Hotelbetreibers konnte mit offizieller Genehmigung über New Orleans dahinfliegen.

Laroche wunderte und störte es nicht, daß er in seinem Büro im Mirage Besuch vom FBI bekam. Natürlich gingen die davon aus, er sei ein skrupelloser Krimineller, eine art Mafiapate oder was immer sie ihm gerne anhängen würden. Ein flachköpfiger Agent mit blondem Stoppelhaar war zusammen mit einem Kollegen im Vorzimmer aufgetaucht und hatte um ein Gespräch gebeten. Laroche präsentierte sich so wie einer, der bei was wichtigem unterbrochen wurde aber nichts zu verbergen hat.

"Guten Tag, Mr. Laroche", begrüßte der blondhaarige FBI-Mensch Laroche, der in seinem Lagerfeldanzug und dem schwarzen Schnurrbart überdeutlich seine Verbundenheit mit Frankreich zeigte. "Ich bin FBI-Sonderagent Marchand und der Herr hier neben mir ist Sonderagent Giles. Wir möchten gerne etwas zu den Immobilien wissen, die sie im Sumpfgebiet und nördlich von hier besitzen."

"Bitte", erwiderte Laroche und hörte sich an, was die Bundesbeamten wissen wollten. Sie verhehlten nicht, daß sie davon ausgingen, daß Laroche sich mit irgendwem verkracht habe und Hotelbetrieb und Konserven wohl kaum Anlaß zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit automatischen Waffen und Artillerie boten. Laroche erzählte etwas von paramilitärischen Gruppen, mit denen er im letzten Halbjahr wohl aneinandergeraten war, als er einige Objekte in der fraglichen Gegend aufgekauft hatte, um eine Autostraße zu seinem Hotel Bayoo Bellevu bauen zu lassen, daß in diesem Sommer fertiggestellt werden sollte. Er konnte sogar Drohbriefe und Anzeigen, die er bei der Stadtpolizei gemacht hatte präsentieren, ein Alarmplan, den er extra für diese Fälle schon vor einem Jahr umgesetzt hatte.

"Hmm, ja diese Sachen sind uns bekannt. Allerdings konnten die Ermittlungen der städtischen Kollegen über die Gruppierungen, die Ihnen angeblich die Drohungen geschickt hat nichts herausfinden. Deshalb ging man von einem kleinen Erpressungsfall aus, der mangels weiterer Vorkommnisse nicht weiter verfolgt wurde", sagte Marchand. Laroche hatte den unbestimmten Eindruck, als fühle sich der Bundesagent ihm irgendwie überlegen, nicht weil er ihm was anhängen könne, sondern in anderer Hinsicht. Giles dagegen schien in dieser Vernehmung die Rolle des bösen Bullen zu spielen. Denn er raunzte Laroche an:

"Ist es nicht eher so, daß Sie diese Drohungen fingiert haben, um in aller Ruhe unliebsame Konkurrenten umbringen zu können, wenn die Ihre privaten Geschäfte behindern?"

"Welche privaten Geschäfte meinen Sie, Monsieur Giles?" Fragte Laroche zurück.

"Sie wissen, daß wir wissen, daß Sie nicht der elegante francophile Herr sind, der Gästen und Bürgern Nahrung und Unterkunft gibt. Sie haben Ihre Objekte gerade so hoch verschuldet, daß Sie keine Grundstücksssteuern zahlen müssen, aber jederzeit alles entschulden könnten, weil die Geschäfte zumindest nach den Unterlagen der Finanzbehörde genug Jahresplus einbringen, um das vierfache des Gesamtkreditvolumens abzuzahlen."

"Oh, mit welchem Recht spionieren Sie meine Einkünfte aus? Habe ich eben nicht gehört, daß Sie mir irgendwas vorwerfen? Sollte das nicht der Fall sein haben Sie keine Handhabe, meine Einkünfte und Ausgaben zu prüfen", sagte Laroche ruhig. Dieser Giles mochte zwar viel wissen, aber auch nur das, was die Behörden wissen mußten, um seine Fassade nicht an allen Stellen abzuklopfen, ob da doch mehr weiße Pappe als solider ehrlicher Stein war.

"Nun, immerhin betreiben Sie mehrere Bars in der Bourbon-Straße und eben das Mirage und das Napoleon. Hinzu kommt die Schnell-und-einfach-Konservenfabrik im Norden. Ich denke nicht, daß Sie da immer nur Freunde hatten oder haben", sagte Marchand ruhig.

"Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Messieurs. Welcher Vorwurf rechtfertigt, daß Sie meine Umsätze auskundschaften und mir Vorhaltungen machen, wie ich meine Liegenschaften finanziere?" Sagte Laroche ganz ruhig.

"Die Vorwürfe kennen Sie doch. Ihre Staranwälte haben es doch schon damit zu tun bekommen, daß wir und andere Polizeibehörden Hinweise darauf haben, daß Sie, Mr. Laroche, im internationalen Drogen- und Menschenhandel aktiv sind, ja sogar an einigen Waffenschiebungen mittelbar beteiligt waren. Seit dem Ausfall von Emilio Martinez haben Sie einige lukrative Gebiete seines alten Reviers erworben und ausgebaut", sagte Giles. Marchand schüttelte den Kopf.

"Das ist doch alles schon geklärt, und Ihre Anwälte haben uns deutlich beweisen können, daß wir einem Mißverständnis aufgesessen waren", sagte der flachköpfige Agent.

"Sie sagen es, Monsieur. Gut, daß sie es gesagt haben, weil Sie und ihr hartnäckig auf angebliche Machenschaften von mir herumhackender Kollege eine Verleumdungsklage zu erwarten hätten. Meine Geschäfte sind gegenRufschädigung außerordentlich empfindlich. Er wäre ein sehr hoher Verlust, den ich Ihrer Behörde dann in Rechnung stellen müßte", sagte Laroche drohend. Doch diese Drohung klang nicht wie von einem in die Enge getriebenen Mann, sondern von einem, der es leid war, sich gegen haltlose Vorwürfe verteidigen zu müssen, nur weil jemand sein Grundstück im norden angegriffen hatte. Das Laborgebäude im Süden stand zwar unter seiner Kontrolle, gehörte aber offiziell einem in Charleston wohnenden Autohändler, der im Jahr oft herüberkam, um die Stille des Sumpflands zu genießen und sich dem Nervenkitzel touristisch aufgemotzter Voodoo-Festivals hinzugeben, die in dieser Gegend gefeiert wurden. So sagte er nach einem halbstündigen Verhör:

"Ich weiß nicht, welche von den drei Gruppen es war, die sich über meine Projekte erzürnt haben, Messieurs. Aber Sie können mir gewiß nicht unterstellen, ich hätte es nötig, mich mit Gewaltverbrechern auf irgendeine Auseinandersetzung einzulassen. Dazu habe ich weder die Motivation, noch die Machtmittel. Wenn mir jemand übles androht, wende ich mich sofort an die Polizei, wie es mein Bürgerrecht ist. Jetzt wollen Sie mir vorwerfen, ich hätte mich mit irgendeiner Organisation auf Grund illegaler Machenschaften überworfen. Ich fürchte, ich werde das meinen Anwälten vorlegen müssen, bevor Sie oder sonst jemand mit Übereifer die Medien zu haltlosen Anschuldigungen animiert, die erst mich und dann jeden, der an einer solchen Campagne beteiligt ist Unsummen an Geld kosten dürfte. Messieurs, ich habe Ihnen sehr höflich über dreißig Minuten meiner Zeit gewidmet. Außer von Ihnen begangene Eingriffe in meine Privatsphäre und Fragen, die ich nicht beantworten konnte, ist dabei nichts brauchbares herausgekommen. Ich muß Sie leider nun ersuchen, mein Büro wieder zu verlassen", sagte Laroche ruhig und wies den Beamten die Tür. Marchand stand auf, bedankte sich für die erübrigte Zeit und machte seinem Partner Zeichen, mit ihm hinauszugehen. Dieser meinte zum Abschluß noch:

"Seien Sie zumindest zuversichtlich, daß wir nun besser auf Ihre wertvollen Liegenschaften achten werden, Mr. Laroche."

"Mercie beaucoup, Monsieur!" Antwortete Hubert Laroche darauf nur lächelnd und sah zu, wie sich die Bürotür hinter den beiden Beamten schloss. Dann schaltete er sein Telefon wieder frei, das er während des Verhörs auf "besetzt" gestellt hatte. Er mochte es nicht, in einer polizeilichen Befragung von einem Telefonanruf abgelenkt zu werden. Er könnte sich sonst an einer Stelle versprechen oder etwas wichtiges überhören, worauf er souverän reagieren mußte. Jetzt klingelte der Apparat, und Laroche nahm den Hörer ab.

"Oui", sagte er.

"Chef, ein Dr. Abel Young hat schon mehrfach angerufen und angefragt, ob er mit Ihnen über ein gewisses Problem mit schwarzgekleideten Leuten sprechen könne. Er arbeite für einen gewissen Simon Parker von Leben & Wohlstand. Er hat seine Mobilrufnummer hinterlassen und sogar eine E-Mail-Adresse."

"Parker. Warum nicht?" Dachte Laroche. "Geben Sie mir die Rufnummer!" Verlangte er von seinem Telefonisten vom Dienst. Als er die gewünschte Nummer hatte legte er auf, wählte sich über eine Internetverbindung ins Mobilfunkverzeichnis der USA ein und prüfte die Nummer. Sie gehörte einer Marcy Adler in Visconsin. Deren Überprüfung in einem nicht so öffentlich zugänglichen Netz ergab, daß sie gerade erst vierzehn Jahre alt war. Er schmunzelte. Mit von anderen gestohlenen Handies zu telefonieren, wenn man nicht gerade blütenweiße Geschäfte machen wollte war auch ihm vertraut. So wählte er die Nummer und hörte eine Männerstimme am anderen Ende. Er unterhielt sich kurz mit Young, warf ihm vor, sein Auftraggeber Parker habe ja wohl den Einfluß auf seine Geschäftspartner verloren und stellte schon einmal Schadensersatzforderungen in Aussicht, sofern er nicht von sich aus diesen Lorca auf dessen Gebiet erledigen würde, was er natürlich nicht vorhatte, weil Lorca bestimmt mächtiger als Laroche war und jeder Jäger im Revier eines Anderen zum Gejagten wurde.

"Gut, über den Schadensersatz kann verhandelt werden, zumal Mr. Parker mir in dieser Hinsicht Kart Bläänch, oh, Carte Blanche erteilt hat, sofern Sie ihm im direkten Gespräch zusichern, auf Ihr Recht auf Vergeltung zu verzichten und uns die Klärung dieses Amoklaufes überlassen."

"Monsieur, unabhängig davon, daß ich es bisher nicht nötig hatte, mich mit Ihrem Chef zu arrangieren, worauf ich nicht ohne Recht stolz bin, kann ich meine Interessen nicht aus den Händen geben, da ich keine Garantie habe, daß dieses Vertrauen gerechtfertigt ist. Sie sehen mich sehr verärgert, Docteur Young. Ihr Chef hätte sich ruhig schon früher mit mir über diese Art von Zwischenfall verständigen können. Jetzt, wo das Kind im Brunnen liegt, werde ich ihn nicht zuschütten, sondern fluten lassen. Unabhängig davon werde ich entweder von diesem Hitzkopf Lorca oder von Ihrem Chef jeden Cent einfordern, den mich dieses barbarische Getue kostet, und ich kann Ihnen schon sagen, daß es bereits jetzt mehr als eine Milliarde Cent sind. Ich habe qualifiziertes Personal verloren, mehrere wichtige Ausrüstungsgüter, darunter einen Helikopter. Eine detailgenaue Auflistung geht Ihnen über die E-Mail-Adresse zu, die Sie mir hinterlassen haben. Da werde ich wohl erleben, wie blanche Ihre Carte ist, Monsieur. Au Revoir."

"Au Revoir, Monsieur", erwiderte Young sehr ruhig. Laroche legte wieder auf und organisierte seine persönliche Feuerwehrabteilung, den angerichteten Schaden zu beheben und möglichst gut unter den Teppich zu kehren.

__________

"Wer soll das sein, diese Professor Lessing?" Fragte Simon Parker. Als er hörte, sie sei eine Historikerin und Okkultismusexpertin, die in Philadelphia vergleichende Theologie lehre, lachte er impulsiv. Dann meinte er:

"So, und was will sie?"

"Sie meint, sie wisse, daß unsere Versicherungsgesellschaft Feuer- Hausrats- und Berufsunfähigkeitsversicherungen für das Purpurhaus von Muddy Banks trügen. Deshalb, weil sie offenbar von irgendwem gehört hat, wir hätten einen privaten Schadensermittlungsdienst, sei sie verpflichtet, uns zu warnen, daß wir es mit etwas zu tun hätten, dem wir nicht gewachsen sind. Möchten Sie sie sprechen, Sir?"

"Hmm, lassen Sie Rick von der Schaufensterabteilung mit ihr reden, aber mich mithören. Wundere mich,daß sie auf uns gekommen ist. Wußte nichts von einer Medieninformation über unser Geschäftsverhältnis. Also, Rick drangehen lassen, mitschneiden und vor allem, na Sie wissen schon!"

"Zurückverfolgen, Boss. Geht klar!" Bestätigte der Mann in der Aushängeabteilung von Parker Leben & Wohlstand. Es tutete einige Male im Hörer und Lautsprecher. Parker schaltete den Verstärker aus, um bloß keinen verräterischen Nachhall zu erzeugen und lauschte, wie Rick Crauford, seine weiße Geschäftsweste, wie er ihn gerne nannte, das Gespräch mit einer so um die fünfzig klingenden Frau begann.

"Ja, hier Simon Parker von Parker Leben & Wohlstand", meldete sich Rick, wobei er seiner Stimme einen etwas tieferen Klang vermittelte, um etwas reifer zu wirken als er mit seinen fünfundzwanzig Jahren war.

"Hier spricht Professor Dr. Amanda Lessing", sagte die Frauenstimme, der Parker einen leichten deutschen Akzent anhören konnte. Vielleicht suggerierte ihm das auch nur der Name. "Ich bin Inhaberin des Lehrstuhls für Medievistik und vergleichende Theologie an der Universität zu Philadelphia und habe mich in dieser Eigenschaft mit den Damen befaßt, die bei der Ausübung gewerblicher Unzucht ermordet wurden."

"Na und?" Hakte Rick nach, und Parker ärgerte sich leise, weil Rick es noch nicht raushatte, jemanden mehr als zwei Sätze sprechen zu lassen. Noch dazu "na und?"

"Nun, offenkundig haben es die Ordnungskräfte mit einem fanatischen Serienmörder zu schaffen, ähnlich diesem Jack The Ripper im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Allerdings sind die Umstände der Morde völlig anders als bei erwähntem Gewaltverbrecher. Es konnte bisher nicht geklärt werden, wie die vom Wege abgekommenen Frauen und Mädchen den Tod fanden, woher der Mörder kam und wohin er sich nach seinen Taten zurückzog. Es ist davon die Rede, daß der Doppelgänger eines britischen Wissenschaftlers für die Verbrechen verantwortlich sei. Wahrscheinlich mußte die Polizei derartiges in die Welt setzen, um ihre eigene Unwissenheit zu überspielen, um das Vertrauen bei der Bevölkerung nicht zu verspielen."

"Na und?" Wiederholte Rick. Offenbar schien er die anbefohlene Rolle noch nicht richtig durchdacht zu haben.

"Nun, da ich Dinge ermitteln konnte, die die Polizei grundsätzlich nicht untersucht und auch davon Kenntnis erwarb, daß der jüngste Massenmord in einem Sündenpfuhl in Mississippi Ihr vitales Interesse erregt, wende ich mich an Sie."

"Wovon sprechen Sie genau?" Brachte Rick zur Abwechslung mal eine andere Frage an.

"Davon, daß jemand, der dazu gezwungen wird, leichte Mädchen zu töten umgeht, der in der Lage ist, jeden Angriff auf seine Person zurückzuschlagen. Sie wissen sicher wie ich aus den Nachrichten von den toten Polizisten, die beim Versuch, ihn zu verhaften ihr Leben verloren. Sollten Sie, wenn die Informationen stimmen, die ich über Ihre Gesellschaft erhielt, einen umfangreichen Schadensermittlungsdienst besitzen, dem sie die Fahndung nach diesem armen Menschen anweisen, dann werden alle dabei den Tod finden, die diesem Mann zu nahe kommen."

"Was? Hören Sie mal, Ma'am! Sie behaupten hier, wir hätten ein Bordell versichert, was eine Ungeheuerlichkeit ist. Sind Sie sich klar, daß Sie hier gerade eine Verleumdung begehen, für die wir Sie belangen können?!" Erboste sich Rick, diesmal ganz im Sinne Parkers, allerdings die gesetzte Betonung vernachlässigend.

"Ich hege kein Interesse daran, mich mit Ihnen gerichtlich auseinanderzusetzen, wer auch immer Sie wirklich sind, Sir. Ich stelle lediglich fest, daß ich Informationen über Art und Ursprung dieser Vorfälle habe, die von fundamentaler Wichtigkeit für Ihren Arbeitgeber mr. Parker sind. Daß er sich nicht selbst mit mir bespricht muß ich ihm wohl nachsehen, da seine zeit wohl sehr kostbar ist und er im Moment wohl sehr viel mit mißgestimmten Kunden verhandeln muß. Gut, wie er meint. Meine Zeit ist auch kostbar. Insofern werde ich wohl doch mit den Behörden In Kontakt treten müssen, von denen ich weiß, daß sie ein elementares Interesse daran haben, die Hintergründe dieser Sache aufzuklären. Leben Sie wohl, Sir!"

"Halt, Moment, bitte", sagte Rick. Parker ärgerte sich. Wieso ließ dieser Rick sie nichteinfach im Regen stehen. Womit wollte sie ihn erpressen, damit daß er ein Bordell versichert hatte? Das war noch dichter als wasserdicht abgesichert, daß keine Behörde, weder Steuer-, noch Umwelt- noch Polizeibehörde, vom Betrugsdezernat bis hin zur Sittenkriminalität was über ihn rauskriegen konnte. Es tutete wieder, der Aushängeabteilungsmensch war wieder dran.

"Rick ist ein Idiot", knurrte Parker. "Der hätte die rauswerfen müssen. Die Frau hat doch nichts in der Hand über uns!" Regte sich Simon Parker auf. Der Mann in der Aushängeabteilung seiner Firma meinte kurz:

"Was soll ich jetzt machen?"

"Geben Sie mir erst Rick und dann werfen Sie die Frau aus der Leitung!"

"Jawohl, Boss", sagte der mann von der Telefonzentrale. Simon sagte nur einen kurzen Satz zu Rick:

"Rick, wir sprechen uns nachher noch, und jetzt sagst du dieser Frau, mein Anwalt würde sich bald bei ihr melden! Mehr nicht."

"Ja, Boss", sagte Rick Crauford kleinlaut. Simon hörte diesen kurzen Wortwechsel mit. Doch die Dame mittleren Alters meinte nur:

"Ich fürchte keinen Anwalt. Er ist doch nur ein Mensch. Wie Sie meinen."

Einige Minuten später erkundigte sich Parker bei seinem Telefonisten nach den Ergebnissen der Rückverfolgung. Er erfuhr, daß der Anruf von einem Mobiltelefon stammte, das erst vor einem Tag in Philadelphia gekauft worden war. Allerdings bräuche man noch, den genauen Standort herauszukriegen, da es offenbar beim Senden sehr schnell vorangekommen sei. Parker schien darüber verblüfft zu sein. Er legte wieder auf und rief Strong an, er solle alles über eine Professor Lessing rausfinden. Das dauerte erst einmal keine dreißig Sekunden, weil Strong im Gegensatz zu Parker, der keinen Computer in seinem Büro haben wollte, einen solchen Wunderkasten sein Eigen nannte und damit mal eben ins Internet ging und die gefragten Suchbegriffe eingab. Als sich herausstellte, daß es diese Amanda Lessing gab und Strong ein Bild an das im Haus bei der Postsammelstelle stehende Faxgerät schickte meinte er zu Parker:

"Die Frau ist nach diesen Daten hier total harmlos. Ich grabe jetzt noch bei Polizei und Geheimdiensten nach, um zu gucken, ob die nicht zu harmlos ist. Wann möchten sie die Ergebnisse?"

"Gestern", erwiderte Parker. Strong verstand. War ja auch eine zu blöde Frage.

Simon Parker hatte gerade wieder aufgelegt und wollte sich mit den nun von Lorca angegriffenen Konkurrenten befassen, als sein rubinrotes Telefon wieder schrillte. Er nahm den Hörer ab und meldete sich. Fast hätte er einen Schrecken bekommen als er die vorhin gehörte Frauenstimme wiedererkannte.

"Ich habe also die richtige Durchwahlnummer erwischt, Mr. Parker. - Legen Sie um Ihr Leben willen nicht auf! Es geht mir nicht darum, Sie zu erpressen oder Ihnen die Behörden auf den Hals zu hetzen. Es geht mir viel mehr darum, hunderte von Leben zu schützen. Bei der Polizei oder dem FBI kann ich dies nicht bewirken, weil sie zum einen ihre Pflichten haben und zum anderen für meinen Argumentationsgang unerreichbar sind", sagte die Frau, die sich Amanda Lessing nannte.

"Woher haben Sie meine Telefonnummer?" Fragte Simon Parker und drückte schnell eine Taste, um das Gespräch mitzuschneiden.

"Nennen wir es mal göttliche Eingebung, Mr. Parker. Ich wollte den ordentlichen Dienstweg beschreiten, weil ich eine höfliche Frau bin. Allerdings haben Sie versucht, mich durch einen jungen Spunt abzuspeisen, der im Punkte Gesprächsführung wohl noch einiges zu lernen hat. Ich hoffe, Sie sind erfahrener in diesen Dingen."

"Ich weiß nicht, wovon Sie reden", sagte Parker. Er wollte der Frau nicht auf die Nase binden, daß er ja mitgehört hatte. Sie erzählte ihm dann, daß sie alte Schriften studiert habe, nach denen es in der Mystik des Vatikans als gesichert galt, daß es vor Jahrhunderten schon solche Fälle gab. Damals habe ein von seiner Frau verschmähter Mann darum gebeten, seine Begierden mögen gestillt werden. Da er dies von Gott verweigert bekam holte er sich einen Jünger Satans, der ihm Kontakt zu seinem Herrn und Meister verschaffte. Parker wollte schon dazwischengehen und sagen, daß er keine Lust auf Gruselmärchen habe, als die Frau etwas sehr elektrisierendes sagte:

"Satan schickte eine seiner Töchter, eine Frau mit feuerrotem Haar und weißer Haut, unbeschreiblich anmutig. Sie bot sich dem Mann an. Er konnte nicht widerstehen und teilte mit ihr das Ruhelager. Doch er wurde dadurch schwächer und willenlos. Als er merkte, daß ihn die Kreatur in ihrer Gewalt hielt, versuchte er, sich Gott wieder anzunähern. doch die Kirchen blieben ihm verschlossen. Schmerzen warfen ihn zurück, wenn er die Häuser des Herren zu betreten versuchte. Er gehörte bereits der Höllentochter. Diese suchte ihn in seinen Träumen und auch auf offener Straße heim. Er fühlte, wie es ihn immer mehr auszehrte, bis er sich an einer Dirne verging, die für wenige Kupfermünzen ihren Leib feilbot. Da merkte er, daß die böse Gabe, durch die körperliche Wonne Leben zu stehlen, auch ihm eigen war. Er erlangte dadurch eigene Kräfte zurück. Doch genau dies war der Fluch der Höllentochter. Sie trieb ihn dazu, erst für sich und dann für sie Lebenskraft zu rauben, gab ihm dafür aber ihren Schutz, nicht von Widersachern gefangen oder getötet zu werden. Der Überlieferung nach ist dieser unglückliche Mann eines Nachts beim Liebesspiel mit einer Pfarrerstochter, die er mit den höllischen Gaben verführen konnte, von deren Vater mit geweihten Sprüchen und einer Waffe aus einer alten Welt getötet worden. Die Höllentochter versuchte, den Tod ihres Sklaven zu rächen und wurde gebannt, auf abgelegenem Orte zu ruhen, solange niemand sie dort störe, der ein Nachfahre aus der Blutlinie ihres Dieners sei. Was der Pfarrer nicht wußte: Die ordentlich angetraute Frau des vom Wege abgekommenen trug bei ihrer Flucht aus seinem Haus ein Kind von ihm unter dem Herzen. Dieses Kind, ein Sohn, wurde die Verlängerung der verfluchten Blutlinie, bis dieser Richard Andrews, von dem ich erst gestern herausfinden konnte, daß er der vorletzte Nachkomme dieses Unglückseligen ist, den Ort der Verbannung betrat und die Peinigerin seines Urahnen erweckte, die ihn dann wie diesen zuvor in ihren magischen Bann zog und ihn genauso zur Jagd auf unzüchtige Frauenzimmer abgerichtet hat. - Ich weiß, sowas wie Magie oder die Vorstellung von Dämonen und der Höllle liegen Ihnen, einem modernen Menschen sehr sehr fern. Ich muß Ihnen jedoch leider mitteilen, daß Sie, genau wie die meisten anderen Menschen, den Illusionen der Wissenschaften, alles irgendwann erklären zu können, zu leicht aufsaßen und damit für jede Form des überirdischen unempfänglich oder auch zur leichten Beute geworden sind. Wahrscheinlich halten Sie mich jetzt auch für verrückt, wenn ich Ihnen sage, daß es Geheimgesellschaften mit eindeutiger Unterstützung des Vatikans gibt, die das Vermächtnis der alten Zeiten bewahren. Dann gibt es noch solche, wo alte Rituale des Lichts aber auch der Dunkelheit erlernt und gepflegt werden. Ich habe alle relevanten Unterlagen über die Vorkommnisse bei mir, aber werde sie Ihnen gerne aushändigen, um das Leben Ihrer Leute zu schützen."

Parker wollte gerade sagen, daß er in jeder Buchhandlung bessere Märchenbücher fände. Allerdings interessierte es ihn, woher die Frau seine Nummer kannte und woher sie wußte, das er mit dem Purpurhaus zu tun hatte, ja auch, daß er gerade ungehaltene Kunden zu beruhigen hatte. Das waren interne Informationen, und die Frau legte dem noch nach:

"Ich hörte, ein Mitglied Ihrer Aufklärungsabteilung namens Strong sei bereits dabei, die genaue Herkunft von Richard Andrews, dem echten Richard Andrews zu klären und würde in diesem Zusammenhang auch nach einer rothaarigen Frau suchen. Woher ich das weiß behalte ich für mich, sofern Sie meinen bisherigen Worten den üblichen Unglauben geschenkt haben. Es wäre unsinnig, Ihre Zeit dann noch weiter zu vergeuden."

"Wo sind sie gerade?" Fragte Simon Parker.

"Zur Zeit halte ich mich in einem Hotel in New York auf. Ich werde morgen in Philadelphia zurückerwartet. Aber jetzt bin ich hier, um den ersten Kontakt zu rekonstruieren, den dieses Wesen in aller Öffentlichkeit begonnen hat. Mag sein, daß ich sehr schnell von hier fort. Sie können mich ruhig anrufen. Meine Nummer habe ich Ihrem freundlichen Telefonportier bereits hinterlassen." Sprach's und legte einfach auf.

"Scheiße!" Fluchte Simon Parker. Diese Frau wußte mehr als zu viel. An und für sich müßte er sie sofort erledigen lassen. Andererseits wollte er vorher hören, was an ihrer Dämonenstory dran war. Vielleicht wollte sie auch nur einen dicken Batzen Geld haben, damit sie schwieg. Er rief beim Aushang an und erfuhr, daß das Gespräch aus der 35. Straße West in New York gekommen war. Dort in der Nähe sei ein Kongresshotel für Wissenschaftler. Die Nachfrage ergab, daß dort gerade kein Kongress stattfand und auch keine Prof. Lessing abgestiegen sei. Das wurmte Parker. New York war zu groß und voll, um da jemanden gezielt zu finden. Hinzu kam, das der erste Anruf auf einer Autobahn zwischen Philadelphia und New York gekommen war, allerdings gerade zwanzig Meilen vom Stadtkern Phillys entfernt.

"Wie will die in weniger als zehn Minuten von Philly nach N.Y. gekommen sein?" Fragte Parker. "Außerdem hat sie mich ja dann voll belogen. Prüft das noch mal nach!" Doch die Prüfung hielt der Gegenprüfung stand. Es war schlicht so, daß dasselbe Handy benutzt worden war und es tatsächlich einmal hinter Philadelphia und beim zweiten Mal in Manhattan wieder benutzt worden war. Dies und all das an und für sich für Außenstehende verbotene Wissen veranlassten Parker, die Frau einzuladen, ihn auf den Bahamas zu besuchen. Er ließ ein Ticket für sie am John-F.-Kennedy-Flughafen hinterlegen, rief sie noch einmal an und teilte ihr das mit. Sie bedankte sich ahnungslos.

__________

"Er will dich sicher töten, höchste Schwester", meinte Patricia Straton, nachdem Anthelia in der Gestalt von Amanda Lessing die Einladung nach Nassau angenommen hatte.

"Soll er versuchen. Dann muß ich ihn töten. Es geht mir darum, daß er seine Leute zurückholt, um den Abhängigen nicht in seinem Versteck festzuhalten, solange wir nicht wissen, wo das ist. Also werde ich es erst im Guten versuchen. Vielleicht brauchen wir ihn ja noch, diesen Beschützer ehrbarer Schurken. Seine Verbindungen mögen mir bald von großem Nutzen sein."

Anthelia ließ sich von Patricia unsichtbar zum großen Flughafen bringen, wo sie eine halbe Stunde später eincheckte und eine Stunde später mit einer kleinen Düsenmaschine den ersten Muggelflug ihres Lebens antrat. Sie verabscheute diese stählernen Scheinvögel, die nur durch viel Lärm und stinkendem Brodem die Kraft bekamen, zu fliegen. Doch sie war geübt in der Verstellung. Mit ihrem jungen Sitznachbarn, der gerade ein Buch über einen bösen Zauberer las, führte sie eine für diesen spannende Unterhaltung über die alten Vorstellungen von magischen Wesen bis hin zu Hexenverfolgung, wo sie aufpassen mußte, daß sie sich nicht in Wut oder Verachtung hineintreiben ließ. Als der junge Mann dann sagte, die Priester hätten den Teufel und die bösen Hexen nur erfunden, um den Leuten damals Angst zu machen, damit sie ihnen zu Essen gaben und das sei heute eben Sache der Fernsehstars, die auch für viel unechtes Gerede viel Geld bekämen, mußte Anthelia lächeln. Prof. Lessing hätte das wohl nicht amüsiert. Sie sagte aber:

"Der Unterschied besteht darin, daß Priester immer davon sprechen, daß es wichtig ist, an Gott zu glauben. Diese Fernsehleute gaukeln ihren Anhängern vor, Götter zu sein." Das brachte den Mann zum lauten Lachen. Der behäbige Fluggast eine Reihe dahinter schrak deshalb aus seinem Schlaf hoch und maulte, ob man nicht doch etwas leiser sein könne.

In Nassau ließ Anthelia ihre telepathischen Sinne umherwandern, wer ihr gutes oder böses wollte. Tatsächlich tauchte ein anderer junger Mann auf, sehr drahtig, der ein Schild "Prof. Amanda Lessing" hochhielt. Sie sah ihn genau in die blauen Augen und schöpfte dabei aus den äußeren Schichten seines Geistes, was er vorhatte. Er sollte sie zu Simon Parker bringen, unversehrt. Sie steuerte also auf ihn zu, stellte sich vor und gab dem Jungen die große Tasche, in der ihre, also Professor Lessings, bücher verstaut waren.

Die Fahrt zum Backsteinbau der heimlichen Zentrale des Parker-Konsortiums verlief für den Fahrer belanglos, obwohl er neben seiner Chauffeursausbildung auch einen persönlichen Kurs in waffenloser Tötung von Menschen von Albert Finch erhalten hatte. Doch Diese Frau sollte er lebend hinbringen, wie Stunden zuvor seine Kollegin Mantis. Er fragte die Professorin nur allgemeine Sachen ab, wie den Wetterzustand in New York oder ob sie das erste Mal auf den Bahamas sei, und wie sie den Flug überstanden habe. Anthelia beantwortete diese Fragen ganz ruhig und forschte den Fahrer legilimentisch aus, was ihr noch mehr Einblick in den Geist eines Menschen ermöglichte als die reine Wahrnehmung der an der Geistesoberfläche und etwas darunter schwingenden Gedanken. So erfuhr sie, das Clarkson ein Waisenkind war und erst als er zehn Jahre alt war von einer Pflegefamilie aufgenommen worden war, wie er erst in einer Jugendbande straffällig geworden war, bis er dann nach diversen Ausflügen durch die Strafgesetze und Gefängnisse eine angeblich unbescholtene Anstellung gefunden hatte. Seine Vorliebe für Autos und seine Reaktionsgeschwindigkeit hatten ihm den Leibchauffeursposten bei Parker eingetragen. Dann erfuhr sie noch, daß er sie wohl heute nicht mehr irgendwo hinfahren sollte. Anthelia konnte sich denken, wieso. Sie zwang sich, nicht zu lächeln.

Am Backsteinhaus sollte sie durchsucht werden. Gut gedacht aber von Anthelia vorausgesehen. Als der Chauffeur sie bat, vorzutreten, damit zwei Frauen vom Sicherheitspersonal sie auf verbotene Dinge absuchen konnten, meinte sie nur:

"Ich habe bestimmt nichts böses mit" und konzentrierte sich auf das Verbindungskabel der Videokamera im Vorraum zum eigentlichen Haus. Leise Knisternd fiel das Fernsehauge aus. Dann hatte sie ganz ruhig ihren Zauberstab hervorgeholt und sang die Zeilen einer magischen Einschläferungsformel, die sofort wirkte, sobald jede der Frauen einmal auf den vor ihnen schwingenden Zauberstab blickte. Es war ein harmloser Trance-Zauber, der von selbst verfliegen würde, wußte sie. Doch nun mußte sie noch die Erinnerung der beiden korrigieren, was ihr nicht sonderlich schwer fiel. Dann nahm sie telekinetisch die am Körper versteckte Fernbedienung für die Tür, ließ das OK-Signal an die Hausüberwachung abstrahlen und dann den Türcode. Die Hausüberwachung schaltete die Tür frei, der Türcode öffnete sie. Anthelia steckte ihren Zauberstab wieder fort und ging seelenruhig hinüber, wo ein etwas gedrungen wirkender Mann auf sie wartete. Die Tür fiel wieder zu. Der Trance-Zauber würde in einer halben Minute verfliegen, weil Anthelia ihn nicht so lange gesungen hatte. Das würde den beiden Frauen reichen, um nicht argwöhnisch zu werden. Sie merkte jedoch, daß nun alle hier im Haus darauf lauerten, sie zu töten. Das erinnerte sie an ihr erstes Leben, wo sie in einen Hinterhalt von Lady Sycorax geraten war, die vor ihr die Nachtfraktion der Schweigsamen Schwestern Britanniens geführt hatte und die Nichte und Statthalterin Sardonias aus dem Weg schaffen wollte. Anthelia hatte damals gegen ausgebildete und skrupellose Hexen gekämpft, noch ohne den Gürtel, ohne das Medaillon und nur mit dem Zauberstab, den ihre Mutter aus einer Eiche geschnitten und mit dem Haar eines Einhornschweifs versehen hatte und nicht jenen, den sie nun mitführte. Es hatte zwar am Anfang schlecht für sie ausgesehen, doch dann hatte sie einen uralten Fluch ausgerufen, von dem ihre Tante Sardonia erzählte, er sei nur zu schaffen, wenn der Tod kurz bevorstehe und würde nur die treffen, die ihr Unheil wollen. Es hatte gewirkt, und Sycorax' Getreue verendeten qualvoll wie ihre Herrin, die Anthelia noch mit dem Todesfluch zu erledigen versuchte, doch bevor sie das zweite Wort zu sprechen schaffte wie verdorrtes Gras verbrannte. Tja, und da sollte sie sich vor gesetzlosen Unfähigen fürchten?

"Willkommen in meiner bescheidenen Filiale", grüßte Simon Parker die Besucherin. "Ich hoffe, sie hatten einen guten Flug."

"Langweilig wie immer", sagte Anthelia, obwohl sie den Flug eher als widersinnig empfunden hatte, wenngleich diesen jungen Unfähigen bei Laune zu halten schon amüsant war.

Parker Stutzte. Diesen Satz hatte er im gleichen Zusammenhang schon gehört, mochten es schon etliche Stunden her sein. Er bot ihr einen Platz an. Anthelia alias Professor Lessing setzte sich etwas schwerfällig hin. Sie sah sich ruhig um. Dieser Raum war ein Gepränge von Macht und Wohlstand, wie es früher schon von Herrschern zur Schau gestellt wurde, die meinten, andere müßten es mit allen Sinnen erfahren, wie groß und wichtig sie seien. Hier war es nicht anders, vom überlangen Konferenztisch, über dessen Oberseite glänzendes Wildleder gespannt war, der schwarze Schreibtisch des Geschäftsinhabers mit dem rubinroten Telefon, das wesentlich klobiger wirkte als jene, die sie von Cecil Wellington oder Romina Hamton kannte. Teppiche, wohl echte Kunstwerke aus dem Orient, bedeckten Boden und Wände und Vergoldungen an Fenster- und Türgriffen gaukelten ein Übermaß an Geld vor. Die Fensterbänke waren aus Marmor, ebenso wie der Kamin in der Ecke, in dem aber wohl selten ein echtes Feuer brannte, so blank und glatt wie er war. Sie verscheuchte die Idee, den Zauberstab zu nehmen und mal eben ein munteres Feuer in diesen Kamin zu beschwören. Sie wollte nach Möglichkeit ohne jede Zauberei auskommen, allein um sich nicht auf das Schaustellungsniveau dieses von der eigenen Vergangenheit angewiderten Mannes vor ihr herabzulassen. Er dachte, sie sei die Maus in der Falle. Sie dachte nur daran, diesen Mann von ihren Angelegenheiten fernzuhalten.

"So und jetzt erzählen Sie mir und einigen Gästen noch einmal diese merkwürdige Geschichte, weswegen ich Sie herbitten sollte", sagte Parker höflich und dachte daran, wie beschränkt dieses Weib da aussah und wohl auch war, daß sie sich ausgerechnet ihm ausliefern mußte.

"Dann holen Sie bitte Ihre Gäste", sagte Anthelia ganz ruhig.

Während Parker seinen Leuten befahl, einen gewissen Orca und eine gewisse Mantis herbeizurufen, blickte Anthelia durch Lessings Brille auf den Teppich. Ein kleiner dunkler Fleck störte das afghanische Knüpfmuster. Da lag eine kleine, auf dem Teppich fast unscheinbare schwarze Muschelschale. Wie mit Fingerspitzen ließ Anthelia ihre angeborene Telekinesekraft daran entlanggleiten, sie sacht greifen und vorsichtig anheben. Behutsam aber schnell wanderte die Muschelschale über den Boden, während sie mit den Händen die große Tasche öffnete und mehrere Bücher so ausbreitete, daß Parker nicht sehen konnte, daß die schwarze Muschel ihren Standort wechselte. Als das harmlose Stück Schale so unter dem Mahagoniaktenschrank verschwunden war, daß niemand es sah, der nicht wußte, daß es dort lag, gab Anthelia es frei. Als dann die beiden Berufsmörder Parkers hereinkamen, zusammen mit einem Mann namens Ira Strong, den Parker kurzerhand per Privatjet herübergeholt hatte, erzählte Anthelia die Geschichte und belegte sie mit einigen Auszügen aus einem alten Buch in lateinischer Schrift und den Auszügen aus dem Buch "Gesellschaft und Dämonie". Zwar stand da nichts von jener rothaarigen Höllentochter. Doch Anthelia hatte ihren Trumpf noch nicht ausgespielt.

"Sieht eher aus wie Gestammel, wieso Leute damals an Dämonen zu glauben hatten", meinte die Frau namens Mantis. Anthelia nickte zwar, förderte dann aber ein verwittert wirkendes Pergament aus ihrer Handtasche. Es zeigte genau die Frau mit den roten Haaren, der porzellanweißen Haut und den überragend schönen Körperformen, von dem Parkers Organisation ein nicht unähnliches Phantombild besaß. Mantis, Orca, Strong und Parker blickten auf das Bild. Da bewegte es die goldbraunen Augen, schien jeden genau anzusehen. Sie staunten. Doch von Magie wollte niemand reden. Es war einfach nur eindeutig.

"Wie alt soll ihr Schatz nun sein, und was müßten wir Ihnen dafür geben?" Fragte Parker, während Strong den sachte herumblickenden Augen folgte.

"Nun, es ist achthundert Jahre alt. Ich habe es bereits verschiedenen Altersbestimmungsmethoden unterziehen lassen, die dem Material keinen sichtbaren Schaden zufügen. In der Theologie müssen wir heute genauso scharf aufpassen wie in den Naturwissenschaften, um nicht Betrügern und falschen Predigern aufgesessen zu sein", sagte Anthelia. Dann schnappte sich Mantis das Pergamentblatt und starrte der aufgemalten Frau in die Augen. Sie wollte wissen, ob die Bewegungen eine optische Täuschung waren. Doch als sich die goldenen Augen weiterbewegten, wußte sie nicht weiter.

"Es ist kein Rhythmus darin zu erkennen. Das Ding bleibt auf jeden Fall bei uns", sagte Parker und zog Mantis das Pergament aus der Hand, während Orca das Kreuzzeichen machte.

"Eh, Dicker, du glaubst doch nicht echt an schwarze Magie", meinte Mantis verächtlich zu Orca. Dieser lief rot an. "Die Lady will uns hier eine Show vorführen, damit ihre Auftraggeber vor uns Ruhe haben. Ist das nicht so?"

"Ich hätte eine aprobierte Chemikerin für intelligenter gehalten als derartig plumpe Fragen zu stellen", sagte Anthelia ruhig. "Der Auftraggeber, den ich habe, ist Gott, der Herr, Ihr Schöpfer und Vater, junge Miss." Das war eine anstrengende Sache für Anthelia, sich auf jenen Glauben zu berufen, der sie und viele andere damals in die Abgeschiedenheit von der restlichen Menschheit getrieben hatte, bevor noch die Wissenschaften kamen, die die Zauberei gänzlich abstritten.

"Achso, und im vollen Gottvertrauen sind Sie einfach zu uns gekommen und haben uns diese Geschichte erzählt", spottete Strong.

"Nun, es heißt: Wen das Schicksal verderben will ... Den Rest kennen Sie sicherlich, die Dame und die Herren. Ich habe Ihnen alles erzählt, von dem ich mit sicherheit weiß, daß es eingetreten ist und wollte lediglich, weil ich eben davon hörte, Sie seien fundamental daran interessiert, den Verlust an weiteren Leben verhindern."

"Gut, soviel zu Ihrer göttlichen Mission. Kommen wir zu Ihren göttlichen Eingebungen", sagte Parker, diesmal kalt und gefährlich wie ein zuschlagendes Samuraischwert. "Woher wissen Sie soviel von uns, was wir so machen, wie meine ganz interne Nummer lautet und was Ms. Mantis früher gemacht haben soll?"

"Welche Frage zuerst?" Konterte Anthelia völlig ruhig, als wäre ihr nicht schon längst klar, daß man sie hier nicht mehr lebend fortlassen wollte.

"Die Telefonnummer", sagte Parker und fischte unter seinem Schreibtisch eine Pistole hervor, die er auf Anthelias Kopf richtete. "Eins. Zwei ...."

Jetzt schien es bei der gottesfürchtigen Professorin angekommen zu sein. Sie erbleichte schlagartig und begann leicht zu zittern. Dann verriet sie den Namen der Person, die die Telefonnummer an sie weitergegeben hatte: "Dr. Abel Young. Wir hatten uns mal in einem Kongress für die verschiedenen Betrachtungen der Seele getroffen. Irgendwie hat er wohl zuviel getrunken. Auf jeden Fall wollte er haben, daß ich ihn mal anrief. Da hat er mir den Zettel mit der Telefonnummer mitgegeben. Als ich dann Später rausbekam, daß sie nicht zu ihm gehörte, ahnte ich nicht, wie wichtig sie war."

"Sie wollen doch nicht etwa erzählen, das Sie einen Zettel gekriegt haben, wo mein Name draufstand, aber sie glaubten, es sei die Nummer von irgendeinem anderen, einem Dr. Young", sagte Parker, der sich schwer beherrschte, seine wilden Gedanken nicht in seinen Gesichtszügen herumfuhrwerken zu lassen. Doch Anthelia genoss es. Sie genoss ihr Schauspiel und den Umstand, daß sie bereits dabei war, die achso sichere Basis gehörig zu erschüttern. Wenn es ihr nicht gelang, die Leute da von Richard Andrews abzubringen, so mußte sie eben Unruhe in den Bienenstock bringen. Orca nahm die Handtasche und durchstöberte sie. Auch damit hatte anthelia gerechnet. Die Tasche war ein Vielraumbehälter, der nur durch bestimmte Handgriffe einen von drei Innenräumen offen zugänglich machte. Da fand der untersetzte Ex-Mafioso aus Boston einen sehr abgegriffenen Zettel, auf dem die direkte Durchwahl für Simon Parker stand. Die Handschrift konnte von Young stammen, mußte sie aber nicht. Anthelia hatte, als sie von den Unternehmungen des Konsortiums gehört hatte, ihre Mitschwester, die ihn kannte, veranlasst, ihm per Imperius-Fluch diese Niederschrift abzuverlangen und ihn dann per Gedächtniszauber vergessen zu lassen, daß er diese Nummer weitergegeben hatte. Anthelia hatte noch genug Kopien davon.

Sie mußte nun weitererzählen, wie sie im Rahmen ihrer Lehrtätigkeit mehr von Parkers Versicherungsfirma gehört hatte, weil es wohl zu Rangeleien am Campus gekommen sei. Das konnte zwar so nicht belegt werden wie die Nummer auf dem Zettel, reichte aber aus, als Anthelia noch weitere Namen nannte, die bei der Belauschung von Treffen zwischen Young und dem Konsortium oder seinen Kunden gefallen waren. Es stellte sich auf jeden Fall heraus, daß die Frau, diese Amanda Lessing, zuviel wußte. Als Parker seine Pistole wieder herunternahm fühlte sich die Professorin sichtlich erleichterter. Offensichtlich kapierte sie es nicht, daß sie sich gerade zum Tode verurteilt hatte.

"Clarkson fährt Sie jetzt wieder zum Flughafen. Ich warne Sie eindringlich. Wenn Sie gegenüber der Polizei oder sonstigen Behörden etwas von dem, was Sie uns gerade erzählt haben wiederholen, werden wir sie sofort von allen unnötigen Zwängen erlösen, zum Beispiel dem Mitteilungszwang", drohte Parker. Dann ließ er Anthelia von zwei Leibwächtern hinausführen. Sie ging widerstandslos mit. Wie auch immer man sie töten wollte, Gift, tödliche Gase, Stichwaffen oder Geschosse, es würde ihr nichts Anhaben. Zwar mußte sie in den nächsten zwei Stunden unbedingt einen sicheren Ort zum Schlafen aufsuchen, doch diese zwei Stunden nach Mitternacht, die letzte Grenze, wo sie einmal in Monaten vom üblichen Schlafrhythmus abweichen durfte, wenn sie wochenlang nicht körperlich angegriffen wurde, würden ihr reichen.

Ruhig ging sie mit allen ihren Büchern, bis auf das Pergament, das tatsächlich aus einem uralten Zauberbuch stammte, das Lucky Withers für Anthelia abgezweigt hatte, bevor sie von jener Kreatur getötet worden war, blieb bei Parker. Anthelia machte sich darum keine so großen Gedanken wie um die Tatsache, daß sie wohl bald etwas weniger behutsam mit diesem machtverwöhnten Muggel sprechen mußte.

Sie ging erst davon aus, man würde sie noch hier im Haus angreifen. Doch offenbar wollte Parker keine Leiche hier haben. Clarkson, der von Parker informiert wurde, daß er die Passagierin ans Meer bringen sollte, schien darüber amüsiert zu sein. Also wollte man sie ertränken. ging auch nicht, erkannte Anthelia belustigt. Nun, sie würde sich schnell zu helfen wissen. wie verspielt zupfte sie sich eines der graublonden Haare aus. Es wurde bald Zeit, daß sie ihren gewohnten Körper wiederbekam. Dieser Bartemius Crouch, beziehungsweise seine nun weibliche Körperform, gefiel ihr zu gut, um sie andauernd verbergen zu müssen.

Clarkson fuhr mit ihr erst vom Haus durch die mittlerweile tiefe Nacht. Angeblich sollte sie im Flughafenhotel übernachten, bis der erste Flug nach Philadelphia ging. Das waren ja noch einige Stunden hin. Doch als er dann von der Hauptstraße abbog und rasendschnell auf den Strand zufuhr, fand Anthelia, daß sie es nicht ausprobieren mußte, ob der Gürtel sie schützte. Sie hatte eine bessere Idee. Sie ließ ihren Zauberstab wie von Geisterhand in ihre Rechte springen. Clarkson sah verblüfft in den Rückspiegel. Doch zu einer Reaktion fand er keine Zeit mehr.

"Imperio!" Sagte Anthelia laut. Dann wartete sie, bis sie mit voller Wucht jeden freien Willen des Fahrers hinweggefegt hatte. Schließlich befahl sie ihm:

"Fahr noch schneller, bis du ins Meer fällst! Bleibe in deinem Fuhrwerk und stirb!" Diese beiden Befehle wiederholte sie nun dreimal hintereinander. Dann disapparierte sie einfach.

Clarkson beschleunigte weiter und raste auf die Böschung zu, an deren Fuß die bereits pechschwarzen Wellen des Atlantiks leckten. Noch einmal heulte der Motor des Rovers auf, als der Wagen den Boden unter den Rädern verlor und in einem hohen Bogen dreißig Meter weit flog, bevor er mit lautem Klatscher auf die tintige Wasseroberfläche krachte, um sofort darin zu versinken. In feinen scharfen Strahlen schoss gurgelnd und gluckernd das Wasser des Ozeans in den Fahrgastraum, flutete diesen. Clarkson, dessen Geist von der Wucht des Imperius-Fluches überrumpelt war, erkannte den hereinbrechenden Tod, fühlte das kalte Nass um seinem Körper, bis es alle Luft aus dem Innenraum verdrängt hatte. Dann öffnete er den Mund und sog wie nebenbei einen großen Schluck Wasser in die Lungenflügel. Das passierte noch einmal. Dann umfing ihn die Besinnungslosigkeit und erlöste ihn von allen Sorgen und Pflichten.

Anthelia derweil apparierte ein Dutzend Meter zu weit von der Daggers-Villa. Sie ärgerte sich, daß sie sich nicht genauer ausgerichtet hatte. Aus Fahrzeugen mit hoher Eigengeschwindigkeit zu disapparieren war selbst für geübte Apparatoren wie sie immer ein waghalsiger Sprung über einen großen Abgrund, und sie war froh, doch noch die andere Seite erreicht zu haben. Doch sie hatte es geschafft. Sie war dem Henker entkommen, ohne daß man Spuren von ihrer Tat finden würde. Eine weitere Apparition brachte sie zu Professor Lessing ins Schlafzimmer, wo sie kurz Medaillon und Gürtel ablegte und die persönlichen Dinge Amandas, von den kopierten Ausweispapieren abgesehen, wieder fortpackte. Dann zog sie Amanda Lessings Kleidung aus und legte sie säuberlich über einen Stuhl. Danach nahm sie erst ihren, dann Amandas Halsring ab. Die schlagartige Rückverwandlung machte sie glauben, sie würde in einem Feuerstrahl stehen. Doch bevor sie dem Schmerz nachgeben und schreien mußte, war es vorbei. Anthelia legte Gürtel und Medaillon wieder an.

Professor Lessing rührte sich. Doch Anthelia war darauf gefaßt und hielt sie telekinetisch in ihrem Bett. Dann bewirkte sie einige Gedächtniszauber, die das Erlebnis mit ihr vergessen machten und ihr vorgaben, sie habe wegen starker Kopfschmerzen den ganzen Abend im Bett gelegen. Anschließend verschwand die Hexe mit ihrem Tarnumhang und landete nun ordentlich in der Daggers-Villa, wo sie rasch in ihr Zimmer ging und es wie üblich verschloss, bevor sie sich dem benötigten Schlaf hingab.

__________

Am nächsten Morgen trieb ein blauer Rover in der nähe eines Fischerdorfes an die Felsen. Die Polizei fand die Leiche des Chauffeurs von Simon Parker und teilte ihm mit, daß sein Chauffeur wohl selbstmord begangen hatte. Dieser, außer sich, ließ nachforschen, was mit Professor Lessing war und erfuhr, daß sie an diesem Morgen ordentlich ihre Arbeit an der Universität von Philadelphia angetreten hatte. Wie sie von Nassau ohne Flugzeug so schnell dorthin gekommen war, ließ ihn stutzen. Dann fiel es ihm ein. Diese Frau bei ihm war nur eine Doppelgängerin. Also stimmte die ganze Geschichte hinten und vorne nicht. Er instruierte seine Leute, daß niemand außer den bekannten Besuchern in dem Quartier in Nassau gewesen sei und schickte das Pergament an ein Institut, um es prüfen zu lassen. Doch irgendwie mußte es wohl Feuer gefangen haben, weil es kurz nach dem Eintreffen zu Asche verbrannte. Parker schluckte den Ärger darüber hinunter, daß jemand es geschafft hatte, ihn so schnell hintereinander auszutricksen. Irgendwo mußte die falsche Amanda sich noch herumtreiben. So ließ er seine Leibwache nach ihr suchen. Erfolglos.

__________

In den Tagen zwischen dem 14. und 17. Mai schlugen sich Lorcas Guerrilleros und die verschiedenen Banden seiner Konkurrenten in teilweise blutigen Gefechten. Simon Parker hatte es lediglich geschafft, die alteingesessenen Familien zu überzeugen, nicht in die Streitigkeiten hineinzurennen, wo es eigentlich nur darum gehen sollte, den Urheber des ganzen, diesen Richard Andrews zu erledigen. Er glaubte zwar nicht an die böse Macht, von der die angebliche Professor Lessing erzählt hatte. Auch das Pergament, das sie ihm vorgeführt hatte, schien eher ein genialer Kunstgriff der Malerei zu sein als etwas magisches. Doch eines ließ ihn nicht los: Die Frau auf der Pergamentseite sah wirklich so aus, wie das Phantombild der Zeugen aus New York und Kalifornien. Klugerweise entschied er sich, das Treffen mit Don Ricardo Petrocelli erst stattfinden zu lassen, wenn er die Angelegenheit Andrews geregelt hatte. Immerhin schaffte er es, seinen Plan umzusetzen. Bis auf New Orleans, wo sich der stolze Laroche nicht in seine Geschäfte reinreden lassen wollte, konnten vorübergehend alle Betriebe der käuflichen Liebe zumachen, was den betroffenen Frauen und Mädchen sichtlich entgegenkam. Parker schüttete zusammen mit der Cosa Nostra, die sich auf andere Weise das Geld wiederzuholen wußte, Beträge in zigfacher Millionenhöhe aus, um den Verdienstausfall so gering wie möglich zu halten. Er war froh, daß die Heißsporne Greenskull und Tsunamisan vom Markt verschwunden waren. Denn mit diesen rein auf Stärke ausgerichteten Leuten hatte er nie einen gemeinsamen Ansatzpunkt gefunden. Langsam bahnte es sich an, daß in der Glitzerstadt Las Vegas die Entscheidung fallen würde.

__________

Antehlia war genauso froh wie Prof. Lessing, wieder den angestammten Körper zu haben. Sie war froh, daß die mit der Verbundenheit übergeflossenen Erinnerungen, die sie fast zur Überzeugung brachten, etwas böses zu tun, nach und nach wieder verschwanden. Leute wie die vom Vatikan maßten sich an, das Monopol für Machterhalt und -gebrauch zu besitzen. Doch was wahre Macht bedeutete hatten diese Unfähigen nie so recht verstanden. Ein nötiger Gedächtniszauber vereitelte, daß Professor Lessing sich an den unfreiwilligen Tag in einem anderen Körper erinnern konnte. Das größere Problem für Anthelia war Parkers Sturheit, seine gedungenen Mörder ausschwärmen zu lassen, um den Abhängigen Hallittis zu stellen. Sie wußte, wo sie ihn hinlocken wollten, und sie wußte auch, daß wer immer sich dem gebannten Mann entgegenstellte nicht überleben würde.

__________

Las Vegas, Nevada. 19. Mai 1996

Mantis hatte sich den Stadtplan immer wieder durchgelesen. Sie wußte nicht, ob es heute passieren würde oder erst in einem Monat. Sicher war, daß es hier passieren sollte. Zwar hatte ein gewisser Hubert Laroche in New Orleans nichts von der bislang einzigartigen Absprache gehalten, den offenbar hinter käuflichen Damen herjagenden Irren an einen bestimmten Ort zu locken und ihn unauffällig zu beseitigen. Doch Parker hatte durch eine geniale Hintertür dafür gesorgt, daß es ihm nichts bringen würde. Lorca, der meinte, sich mit allen gleichzeitig verscherzen zu können, hatte gestern erst alle seine Guerrilleros in einer aufreibenden Schlacht verloren. Seine Macht war so gut wie gebrochen. Denn nun, wo er die meisten Leute außer Landes hatte, waren nicht nur seine Material- und Personaltransportwege, sondern auch einige Kontakte aufgeflogen. Sicher, Parker und Strong hatten da ein wenig dran gedreht, daß deren handzahme Spitzel bei der Polizei zufällig einen guten Riecher hatten. Jedenfalls hatte Parker dieses blutige Schachspiel rasch wieder beenden können. Doch der Funke, der dieses Pulverfaß gezündet hatte, mußte noch verschwinden. Denn eines war auch klar: Klappte die Eliminierung dieses Irren nicht, würde das Konsortium zusammenbrechen. Denn dann würde jeder für sich handeln und keine Versicherung und Unterstützung mehr benötigen, die eigentlich nur Geld kostete aber nichts reparieren konnte. Somit hing Simon Parkers Leben auch von ihr ab. Das amüsierte Mantis königlich.

Der Abend hatte es schwer, die belebten Prachtboulevards der Vergnügungsstadt in der Wüste Nevadas zu verdunkeln. Legionen von Neonleuchten, Straßenlaternen, blinkenden und gleißenden Schaufenstern und die Scheinwerfer abertausender von Autos fluteten Straßen und Häuserwände mit Unmengen Kunstlicht. Der Lärm der Touristen und Geschäftsleute, das Gewusel auf den Bürgersteigen und der Smog aus tausenden von Auspufftöpfen setzte den restlichen Sinnen zu. Mantis hörte an jeder Straßenecke Musik, schräg oder wohlklingend, dezent oder aufdringlich, bekam die unterschiedlichsten Gerüche von Restaurants, Hotels und Burgerbuden in die Nase. Ein schwarzer Rolls Royce surrte an ihr vorbei. Drei Leute saßen im Fond und schinen die Verwaltung der gesamten Welt zu diskutieren. An einer Straßenecke produzierte sich eine spärlich gekleidete Dame. Hier waren sie willkommen. Hier durften sie anschaffen. mantis dachte beim Anblick der überschminkten und etwas zu hell blondierten Frauenperson daran, daß sie für diesen Andrews oder seinen Doppelgänger nur Jagdbeute waren, und zwar zum töten. Sie mußte immer wieder an die Sprüche dieser Religionsprofessorin denken, die vor einigen Tagen bei Parker war. Angeblich sei Andrews der Nachfahre aus einer verfluchten Familie, aus der sich einst ein Mann dem Teufel angeboten haben sollte und von diesem mit seiner Tochter verkuppelt worden war. Unfug sowas! Aber was erwartet man von Kirchenleuten? Wenn etwas passiert, was die Wissenschaften nicht deuten können bringen sie die hohen oder finsteren Mächte zurück ins Spiel. Sie wußte auch nicht, wie Andrews seine Opfer umbrachte. Genau das bedauerte sie am Meisten. Sie legte sich seit zwei Tagen jeden Abend auf die Lauer, um wie es ihr Codename unterstellte, auf die ahnungslos vorbeikriechende Beute zu lauern, um dann sofort und ohne zu zögern zuzuschlagen. Es ging nicht mehr darum, für wen Andrews oder wie immer arbeitete, sondern nur noch, daß er nie wieder arbeiten würde. Sie mußten dieses Exempel statuieren.

mantis fühlte sich in ihrer Aufmachung nicht sonderlich würdig. Auch sie trug einen knappen Minirock aus rotem Tuch und hautenge Oberbekleidung, zumal sie sich durch Einlagen ihre Brüste künstlich größer gestaltet hatte als sie es selbst noch schön fand. Auch sie hatte ihr Haar umgefärbt, allerdings nicht blond, sondern tizianrot. Es verstand sich, daß sie kein augenfälliges Waffenarsenal mitführen konnte. So hatte sie einige Drahtschlingen so versteckt, daß sie aus jeder Lage mit jeder Hand eine erreichen und anbringen könnte. Zudem hatte sie einen besonders gemeinen Trick auf Lager. Unter ihren Fingernägeln klebte eine wachsartige Substanz, die bei direktem Kontakt mit Blut ein hochwirksames Nervengift freisetzte. Jeder ihrer Finger konnte so zwei Menschen töten, wenn sie es so sah. Diesen Trick hatte sie vor Jahren von einer venezuelanischen Kollegin abgekupfert und ausgebaut. Orca, ihr männlicher Kollege, hatte sich hier mit einigen guten Geschäftsfreunden Parkers getroffen, um die heutzutage allgegenwärtige Videoüberwachung anzuzapfen.

"Eh, Mädel, das ist mein Revier!" Blaffte ein Straßenmädchen mantis an, das gerade aus einer etwas dunkleren Hoteleinfahrt herauskam.

"Wegerecht werde ich wohl haben, was?" Fragte Mantis zurück und ging weiter. Wenn sie eine Professionelle als Ihresgleichen ansah, konnte die Tarnung nicht besser sein. Natürlich hatte sie nicht vor, mit diesem Andrews oder sonst wem herumzumachen. Dazu war sie dann doch zu stolz auf die Eigenmacht über ihren Körper. Sie schlenderte herum und suchte ihre Basis, das Nest der Gottesanbeterin, um den Mistkäfer zu fangen, der das ganze kleine Universum durcheinandergescheucht hatte.

__________

Hallitti wollte es wissen. War es möglich, daß man sie bewußt um ihre zustehende Nahrung bringen wollte? Sie war selbst durch verschiedene Staaten gereist, hatte kleinste Städte und Metropolen besucht. Doch irgendwer hatte es für eine geniale Idee gehalten, die käufliche Liebe in diesem Land abzuschaffen, und zwar so, wie es eine Polizei nie geschafft hätte. Sie hatte schon überlegt, ob sie ihren Abhängigen Richard nun auf sogenannte anständige Frauen und Mädchen loslassen mußte. Es würde nicht viel ändern, weil er eh schon gejagt wurde. Doch wenn sie nicht wußten, wo er herkam.

Am Siebzehnten Tag des letzten Frühlingsmonats hatte sie durch einen Besuch in einem Fernsehgeschäft die Nachrichten mitbekommen. Die Kämpfe nach der Sache mit diesem Purpurhaus waren wohl noch im vollen Gang, wenngleich man davon nichts genaues wußte, wenn es nicht gerade in unmittelbarer Stadtnähe passierte. Dabei hatte sie auch erfahren, daß es eine Stadt irgendwo in der Wüste gab, wo alles erlaubt war, auch der Handel Geld gegen Sex. Sie hatte daraufhin beschlossen, ihren Abhängigen in diese Stadt zu schicken. Mochte es sein, daß man ihn dort schon erwartete. Ihr war es gleich. Das junge Leben, von dem Richard ihr so viel hatte mitbringen können, prickelte in ihrem Körper. Sie wollte möglichst viel davon einverleiben. Denn sie hatte ein Ziel. Endlich würde es möglich sein, genug Kraft zu sammeln, ihre schlafenden Schwestern zu wecken, damit sie auch wieder frei und ungehemmt durchs Leben gehen konnten. Dieser Gedanke trieb sie voran. Der Gedanke, ihre zum Schlaf verurteilten Schwestern zu befreien und die Gier nach jungem Leben, daß Richard ihr darbrachte. Als sie dann so am Abend neben dem von ihr in einen vier-Tage-Schlaf gesäuselten Richard auf der weichen Strohmatte lag, bedeckt nur von einer Daunendecke und dem Licht ihres Lebenskruges, fühlte sie die geistige Nähe ihrer Schwester Itoluhila, der Tochter des schwarzen Wassers.

"Hallitti, meine unersättliche Schwester. Hast du jetzt genug Verheerung in die Welt der Kurzlebigen gebracht?" Grüßte die telepathische Stimme ihrer Schwester. Hallitti konzentrierte sich und erwiderte auf unhörbare Weise:

"Oh, Itoluhila, was ficht es dich an, daß ich genieße, was mir Epochen versagt war? Ich bin froh, das mein Unterworfener so treu zu mir steht und folgsam herbeischafft, was mir richtig gut tut."

"Du hast es zu weit getrieben, Schwester. Selbst hier in meinem Revier jenseits des atlantischen Meeres habe ich davon hören müssen, daß du ganze Armeen der Kurzlebigen gegeneinander aufgehetzt hast. Weißt du denn nicht mehr, was wir uns damals, wo wir die letzte endlich beruhigen konnten geschworen haben? Wir gehen unserer Natur nach, achten dabei jedoch auf Heimlichkeit. Du jedoch gehst an Kurzlebige im wachen Zustand heran, sodaß sie dich erkennen können. Dann hast du deinen Unterworfenen all zu oft ausgesandt, dir die Essenz ihr Fleisch verkaufender Mädchen zu bringen. Ich verstehe, daß es dich anregt und mit Glück erfüllt. Doch die Welt ist offener geworden. sowas wird schnell allen bekannt. Irgendwann wird man auch bei den magieverleugnenden Kurzlebigen darauf stoßen, es mit einer Kraft außerhalb ihrer Natur zu tun zu haben."

"Du hast gut reden, Schwester. Du warst nicht Jahrhunderte in deinem Lebenskrug, unfähig zu erwachen, immer zwischen Sein und Nichtsein festzusitzen, ein Teil der gefangenen Träume und Kräfte zu sein, in denen du selbst schwimmst. Jetzt bin ich frei und werde die Kraft sammeln, die nötig ist, um uns alle wieder zu erwecken, abgesehen von der letzten natürlich. Denn sie ist wahrlich zu übermütig."

"Du bist im Moment nicht viel besser, Hallitti", flüsterte die geistige Stimme ihrer Schwester. "Ich bewohne diese Stadt schon sehr lange, habe die Abfolgen der Kurzlebigen angesehen und bedauert. Ja, auch ich gönne mir neben der nötigen Nahrung auch etwas schönes und ausfüllendes. Aber ich halte mich an das Gebot der Heimlichkeit. Unersättlichkeit treibt in die Vernichtung."

"Du fürchtest die Vernichtung? Wir können doch nicht vernichtet werden. Das Erbe unserer Mutter, die für uns alle ihr Leben gab, macht uns unsterblich. Und wenn der eine Körper wirklich vernichtet wird, empfängt eine von uns die Seele und gibt ihr neue Gestalt."

"Schwester, ich trachte nicht danach, vernichtet zu werden, um dann von Ilithula oder dir neu herumgetragen und unter Schmerzen wiedergeboren zu werden. Ebenso möchte ich nicht, daß du oder eine andere von uns sich der Vernichtung aussetzt. Ich habe die Mütter der Kurzlebigen gesehen, wie sie Mütter wurden und wie unerbittlich ihr Leben verlief. Solltest du es wagen, dich vernichten zu lassen, und ich sei diejenige, die deiner Seele neue Gestalt gibt, sei dir gewiss, ich werde es dich sehr deutlich spüren lassen, wie sehr ich dich gewarnt habe."

"Das wird wohl nicht passieren, Itoluhila. Was den Unterworfenen angeht, so ist er mein und ich werde mit ihm tun, wonach mir ist. Vergiss nicht, ich bin älter als du."

"Selten kommt Weisheit durch Altern. Außerdem hast du selbst gesagt, daß dir einige Jahrhunderte fehlen, die ich in der wachen Welt verbrachte. Du magst über diesen mann viel gelernt haben, aber alles kannst du nicht so schnell verstehen."

"Ich verstehe genug, Itoluhila. Denn die Welt hat sich nicht geändert. Die Kurzlebigen streben immer noch nach den selben Dingen: Macht, weltlicher Besitz, Anerkennung, Befriedigung ihrer Gelüste und den Anspruch, die Herrschaft über andere Kurzlebige auszuüben und dafür bedingungslos zu töten oder töten zu lassen. Gerade das, was dich jetzt mit mir denken läßt ist doch das beste Beispiel dafür."

"Ich habe Freundschaften schließen können, ohne gleich daran zu denken, einem Mann sein Leben aus dem Leib zu wringen oder auch einer Frau. Für dich sind diese Kurzlebigen nur Futter oder Feinde. Dir fehlen die Jahrhunderte, um sie auch anders zu sehen."

"So sei mir nicht neidisch, daß ich mir hole, was ich will, weil du ja alle Zeit hattest, soviel zu bekommen wie ich in einigen Monden hatte. Lass mich nun allein!"

"Ich habe dich gebeten, deinen Hunger langsamer zu stillen, Schwester. Zwingen kann ich dich nicht dazu. Aber sei immer darüber im klaren, daß ich dich gewarnt habe." Itoluhilas geistige Nähe verflog, und Hallitti lächelte. Sie würde machen, was sie wollte. Solange Richard ihr jeden Dienst erwies, sollte er ihr dienen.

So hatte sie ihn am 19. mai losgeschickt, direkt nach Las Vegas versetzt, wo er ihr weitere zehn Leben besorgen sollte. Allerdings mußte er sich nicht nur auf käufliche Damen beschränken. Dort sollte es auch angeblich Frauen geben, die ihrerseits Geld für die Erfüllung heimlicher Sehnsüchte bezahlen würden. Warum sollte er das nicht auch können?

__________

"mantis, hier Habicht. Käfer mit Schmetterling bei 8 a und 20 w in roter Laube!" Wisperte es in Mantis rechtem Ohrring, einer wie aus einer Agentenserie entliehene Idee des Kommunikationsexperten des Konsortiums. Sie nickte, tippte kurz zweimal den Stein des Ringes an. Der winzige Piezokristall im Stein wurde dadurch angeregt, dem ständigen Senderimpuls aus dem Ohrring zwei verstärkte Amplituden zuzusetzen. Damit wußte der Kollege im Videoüberwachungsstand, daß sie verstanden hatte. Sie lief nun los, um sich ein Taxi zu nehmen. Ein Fahrer meinte, er hätte es im Moment nicht so nötig. Als Mantis mit zwei Hunderten winkte, änderte er seine Meinung und brachte die auffällig gekleidete Frau zu den durchgegebenen Koordinaten, etwa zehn Blocks entfernt. Als sie dort ankam, überließ sie dem Taxifahrer die beiden Hunderter und schaute sich um. Sie sah ein kleines aber nicht schmuddeliges Hotel in einer tiefen Einfahrt. Sie wußte jetzt, das der Mann, den sie jagten in diesem Hotel war. Sie wußte auch, daß er wohl einige Zeit darin bleiben würde. Sie konnte sich auch denken, daß die Frau, die er ergattert hatte nur noch die Füße voran herauskommen würde. Doch sie war keine Samariterin. Für sie zählte nur die Erledigung des Auftrags. Hier konnte sie besser warten als dort, wo sie selbst Falle und Köder geboten hätte.

Es verging eine halbe Stunde. Mantis hatte derweil um einen Wagen gebeten, um möglichst den gesuchten verfolgen oder gleich einkassieren zu können. Doch auch das Konsortium konnte keinen wagen herbeizaubern.

Als der Gesuchte herauskam, wirkte er beschwingt und voller Energie. Er schritt wie mit Flügeln an den Beinen aus.

"Der lädt sich dabei echt mit Energie auf", staunte Mantis. Irgendwie scheint er sich dabei wirklich aufzuladen. Die Vollstreckerin des Konsortiums ging ihm im gebührenden Abstand hinterher und meldete durch schnelle Klopfer an ihren Ohrring, daß das Ziel nun vor ihr war. An und für sich wäre das jetzt ideal, ihn aus sicherer Distanz zu erschießen, erkannte sie. Doch da drohte er, in einer dichten Menschenmenge zu verschwinden. Ein Motorad Parkers hielt neben ihr. Sie wechselte mit dem Fahrer einige Worte, saß hinter ihm auf und ließ sich mal eben durch eine Seitenstraße, ein Stück Parallelstraße durch die nächste Querstraße wieder zurück auf die Straße fahren. Es war ein Risiko. Aber wer eine Ratte fangen wollte mußte vor ihr sein oder dicht hinter ihr, wußte sie. Sie sah sich um, hörte, daß das Ziel tatsächlich gerade hinter ihr herankam und postierte sich wie hier alle Tage arbeitend in der Nähe eines Bareingangs. Sie wußte, sie hatte höchstens zwei Minuten, bevor sie hier auffallen mußte und man sie entweder anderswo hinschicken oder wegen Revierkonkurrenz anpöbeln würde. Doch die Minuten reichten. Sie sah Andrews näherkommen. Ihr vielgeliebtes Adrenalin pulsierte bereits prickelnd in den Adern und wärmte ihre Muskeln. Das Herz begann, schneller zu schlagen. Hier traf sich nun jemand mit seinem Tod. Sie war sich sicher, daß es nicht sie sein würde.

"Heh, Reisender. zeit für 'ne heiße Pause?" Fragte Mantis mit verrucht klingender Stimme. Richard wandte sich ihr zu, sah sie an. Sie präsentierte sich besonders aufreizend. Er sah ihr in die Augen und schien sie röntgen zu wollen. Mantis' Gefahreninstinkt klopfte Alarm und erhöhte den Adrenalinschub.

"Für wieviel Pause wieviel Geld, Mademoiselle?" Fragte Richard leise.

"mach ein Angebot!" Forderte Mantis und schlug die Augen auf.

Sie wurden sich rasch handelseinig. Mantis schien es körperlich zu fühlen, wie rasch die Gier nach Sex in diesem Mann hochkochte. Hatte er die andere Frau tatsächlich sofort getötet, wenn überhaupt? Dann mochte es sein, daß er nicht das bekommen hatte, was man so bei käuflichen Damen sucht.

Mit einem Taxi, hinter dessen Steuer einer vom Konsortium saß, der von dem Motorradfahrer in die Nähe geleitet wurde, ging es zu Mantis' angemietetem Zimmer, das sie für zwei Wochen benutzen wollte. Das Geld dafür war offenbar umsonst bezahlt worden.

Mantis wußte, sie durfte nicht zulassen, daß der Mann sie in eine wehrlose Haltung zwang. Er war es. Das stand fest. Deshalb galt jetzt, möglichst schnell zuzuschlagen, um den Kampf zu entscheiden.

"Tolles Zimmer hast du hier", meinte Richard Andrews. Dann verlangte er, die Frau solle sich ausziehen. Sie folgte dieser Aufforderung sehr widerwillig. Er lachte und meinte:

"Noch nicht lange im Geschäft, oder?"

"Das sieht nur so aus, Kleiner", erwiderte Mantis. Sie sah die Augen des Mannes, den sie gleich töten würde. Es hieß zwar, nie zu lange in die Augen des Ziels zu sehen, um nicht doch unter Hemmungen zu leiden. Aber Mantis hatte schon dutzende von Leuten getötet, denen sie vor und während des Sterbevorgangs in die Augen gesehen hatte. Das war kein Problem für sie. Richard Andrews schlüpfte aus seiner Kleidung. Mantis hatte jetzt noch den Rock mit den darin versteckten Drahtschlingen an, als Andrews auch schon auf sie zusprang. Doch sie war auf den Angriff eingestellt und stieß Richard ansatzlos die spitzen Fingernägel ihrer linken Hand in die Wange. Das wachsartige Blutgift hatte nun schon ein Opfer gefunden und mußte nur noch darin aufgehen. Andrews warf sich mit großer Gewandtheit und Brutalität auf Mantis. Doch diese war Nahkämpferin und wußte, daß sie um ihr Leben zu kämpfen hatte. Sie sah Richards Augen funkeln, während er anfing, unregelmäßig zu atmen. Mindestens drei tödliche Dosen des Giftes griffen nun seinen Organismus von innen her an.

"Verdammt, was hast du ..."

"Fahr zur Hölle, falscher Andrews!" Lachte Mantis.

"Du Dreckstück hast mich ..." Richard griff an seinen Hals. Das Gift lähmte nun sein Gesicht. Gleich würde er elendiglich verrecken. Mantis zog ihm wie eine Katze auch alle Fingernägel der rechten Hand über den Hals. Das würde reichen. Richard Andrews sackte zusammen und versuchte krampfhaft, an ein Medaillon zu gelangen, das er noch auf der Brust trug. Mantis wußte nicht wieso, aber ihr war klar, daß dieses Schmuckstück weg mußte. Mit präziser Gewandtheit grabschte sie danach, bevor Richards Finger es umschließen konnten. Sie zerrte es mit der Kette vom Hals. Dabei sah sie, wie es glühte und pulsierte. Das kapierte sie jetzt nicht. Richard bäumte sich auf. Sie riss das Medaillon von ihm und warf es in eine Ecke. Eigentlich müßte das Gift ihn längst getötet haben. Jetzt war es zwanzig Sekunden her, daß sie ihn mit den vergifteten Fingernägeln geritzt hatte. Doch Richard Andrews wollte nicht sterben. Stattdessen versuchte er, seine Mörderin mit einem Schlag zu überwältigen. Sie Griff in ihren Rock und zückte eine der Drahtschlingen. Als Richard mit schwachen Bewegungen auf sie losging, wollte sie ihn damit einfangen. Warum wirkte das Gift nicht so wie es sollte? Außer Reichweite pulsierte das merkwürdige Medaillon. Richard zeigte nun doch die Erscheinungen, die das tückische Gift bei einem Menschen hervorrief. Noch mal zog Mantis ihre Fingernägel durch die Haut Richards. Das sollte ihm die restlichen Dosen des Teufelszeugs ...

"Nicht mit mir!" Brach es aus Richard heraus, der auf das Medaillon starrte, aus dem gerade ein gleißender Strahl zu ihm herüberschlug, der ihn förmlich auflud, von allen Giftstoffen freizuspülen schien. Mantis, von dieser Wendung nun doch überrascht, reagierte eine Zehntelsekunde zu spät. Der mann, den sie töten sollte, warf sich mit nie geahnter Kraft auf sie. Sie versuchte, sich mit schnellen Kniestößen und Rollbewegungen freizumachen. Da stürmte ein Trupp von zwei Männern das Zimmer. Sie hatten Pistolen dabei und feuerten auf Richard. Mantis, die gerade fühlte, wie der unheimliche Mensch, den sie auftragsgemäß zur Strecke bringen wollte, eine körperliche Vereinigung mit ihr zu erzwingen versuchte. Das fehlte ihr noch, sich von diesem Mutanten vergewaltigen zu lassen.

Pistolenkugeln trafen Richard voll in den Brustkorb und traten in Blutfontänen auf der anderen Seite wieder aus. Das sollte ihn an und für sich töten. Mantis kam frei, versuchte, ihm die Drahtschlinge umzulegen, als noch ein Treffer Andrews in den Rücken traf.

"Das war es dann wohl!" Lachte ein untersetzter Mann. Es war Orca. Er feuerte noch zwei Geschosse in den Leib von Richard Andrews.

"Explosivgeschosse. Die überlebt keiner."

In dem Moment erstrahlte das Medaillon am Boden, und ein weißer Nebelstreifen trat heraus.

"Macht das ding Kaputt!" Befahl Orca, dem klar wurde, was hier vorging. Diese Lessing hatte recht. Ja, sie hatte verdammt noch einmal recht gehabt. Der Kollege Orcas brachte eine Maschinenpistole in Anschlag und feuerte auf das Medaillon, Brand- und Sprenggeschosse. Krachend splitterte das magische Schmuckstück und versprühte blaue Blitze, während die Nebelwolke sich zu einer schuppigen Abscheulichkeit von gut zwei Metern Größe verfestigte. Blutrot mit lederartigen Flügeln, eine Mischung aus Gorilla und Reptil, stand es im Raum, während die blauen Blitze aus dem in mherere Stücke zersprengten Medaillons es aufzuladen schienen. Dann brach das von Brand- und Sprenggeschossen ramponierte Stück Boden ein. Feuer schlug hoch.

"Raus hier!" Rief Mantis. Doch die beiden Kollegen hielten gerade auf das geflügelte Ungetüm und jagten alles auf seinen Leib, was sie verschießen konnten. Doch die Geschosse prallten ab, explodierten krachend und heftige Stöße verursachend oder schlugen mit glühenden Spiralarmen als verirrte Leuchtspurgeschosse umher. Mantis sprang mit einem Satz zum abgelegten Elastikhemd. Dann sah sie, wie die ganze Wohnung in Flammen stand. Sie rannte hinaus, während das Monster über Richard Andrews gebeugt stand, wohl nicht wissend, ob es ihn jetzt zerreißen oder dem Feuer überlassen sollte. die Killerin blieb noch einmal stehen. Was sie sah, konnte sie nicht glauben. Das geflügelte wesen schien rotes Leuchtgas auf Richard Andrews niedersinken zu lassen. Dann packte es ihn und verschwand mit ihm.

"Das glaube ich jetzt echt nicht", dachte sie, während sie machte, daß sie hinauskam. Denn nun stand der ganze Wohnraum in Flammen. Sie rannten hinaus und schafften es gerade noch so, ins freie zu gelangen. Da sah Mantis, daß die Kleidung des Maschinenpistolenschützen brannte. Durch die Erscheinung der roten Bestie schien er nicht gemerkt zu haben, wie die Glutbahn eines Querschlägers ihn gestreift hatte. Das heiße Leuchtspurgeschos hatte seinen Synthetikanzug wie eine Fackel entzündet. Mantis hatte einmal einen Menschen bei lebendigem Leibe verbrennen gesehen und gehört wie er in Todesqualen geschrien hatte. Nun wiederholte sich das grauenhafte Spektakel erneut. Sie war härter im Geben als im Nehmen. Deshalb lief sie sofort davon, während Orca versuchte, den sich nun am Boden wälzenden Kollegen mit seiner Wolljacke von den Flammen zu befreien. Dabei bemerkte er nicht, wie hinter ihm jene rote Höllenkreatur aus dem Nichts heraus entstand. Erst als er zwei mit je fünf rasiermesserscharfen Klauen besetzte Pranken um Hals und Brustkorb fühlte, wurde ihm klar, daß er jetzt die Welt der Lebenden ohne Absolution verlassen würde. Das Monster würde ihn nicht nur töten, sondern seine Seele dem Höllenfürsten Lucifer übergeben ... Schlaff sank Orca im nun lichterloh brennenden Hauseingang hin. Ihm war Hallittis Gnade sicher, die Verbrennung seines Körpers nicht mehr miterleben zu müssen. Der zweite männliche Mordbube, der auf sie zu schießen gewagt hatte, schrie immer noch in höchsten Todesqualen. Hallitti überlegte. Sie wollte wissen, wer diese Leute waren. Denn es waren keine Polizisten. Und es waren keine Zauberer und Hexen gewesen. Sie wollte es wissen. Sie sah die auf der Haut des Mannes tanzenden Flammen an und schien ihnen etwas zu befehlen. Da waren sie auf einmal verschwunden. Denn als Tochter des dunklen Feuers waren ihr alle kleinen nichtmagischen Feuerquellen unterworfen. Sie trat nun unsichtbar zu dem Mann hin, der immer noch schrie, hob ihn mit ihren Pranken sacht genug auf und flog mit ihm auf, um über dem brennenden Haus anzuhalten. Sie sah in die von Schmerz und Entsetzen flackernden Augen und schaffte es, durch die Flut von Schmerz und Todesangst hindurchzudringen. Sie erfuhr nicht fiel, weil der Mann gerade das Bewußtsein verlor. Doch es reichte ihr.

Vor dem Haus hatten sich nun sehr viele schaulustige versammelt. Sie ließ den Mann einfach in das große Feuer zurückfallen und flog unsichtbar davon.

Mantis wußte, daß sie einen hohen Preis bezahlt hatten. Sicher, dieser Andrews oder wie er immer hieß war nun tot. Aber zwei Kollegen waren mit ihm gegangen. Und da war dieses rote Monsterwesen, das aus einer anderen Welt stammen mußte. Also stimmten die Geschichten doch. Dann war sie in größter Gefahr. Das Monster würde nicht zulassen, daß sie von ihm erzählte. Sie mußte schnell in eine Kirche oder eine andere heilige Zuflucht, einen Tempel, eine Synagoge oder eine Moschee. Hier in Las Vegas standen hunderte von Hochzeitskapellen herum. Aber diese dienten eher dem Lebensglück für bares Geld als der demütigen Anbetung einer höheren Macht. Sie rannte noch. Ja, sie rannte, weil der Teufel hinter ihr her war. Unterwegs klopfte sie dauernd gegen den Ohrring. Hoffentlich fand man sie eher, bevor das Monster ...

"Hallo, Sie haben was verloren!" Rief eine sehr warme, über die Maßen raumfüllende Altstimme Mantis nach. Sie stutzte. Dann rannte sie weiter. Sie wollte nicht stehenbleiben. Doch unvermittelt rannte sie auf einen weißen Nebelstreifen zu, der sich blitzartig in eine unnachahmlich schöne Frau mit bis auf den Rücken herabwallenden feuerroten Haaren verwandelte, die Mantis aus goldglänzenden Augen ansah, jenen Augen, die das Bild auf dem alten Pergament gezeigt hatte. Sie prallte mit der Fremden zusammen, die sie übergangslos in eine stahlklammergleiche Umarmung schloss und einfach mit ihr im Nichts verschwand.

__________

Pandora Straton, die in Las Vegas mit drei Mitschwestern auf der Hut war, ob Richard Andrews auftauchen würde, ärgerte sich, als herauskam, daß er wohl in eine Falle gelockt worden sein mußte. Als sie bei dem brennenden Haus wie zufällig vorbeikommende Passanten entlanggingen, konnte Patricia Straton, die ebenfalls zu der Gruppe gehörte, einiges auffschnappen. als sie jedoch versuchten, die einzig entkommene zu finden, stellten sie fest, daß sie wohl nicht all zu weit gekommen sein konnte. Denn einen Straßenblock weiter weg fanden sie einen roten Minirock, in dessen kleinen Taschen noch einige Drahtschlingen steckten.

"Das war es dann wohl", sagte Pandora. "Machen wir, daß wir wegkommen."

Sie disapparierten unverzüglich. Anthelia würde nicht sehr erfreut darüber sein. Aber diese Gangster waren in dieser Stadt einfach schneller an ihm dran gewesen. Die Frage war nun, ob Richard Andrews getötet worden war oder entkommen konnte.

__________

Die Frau, die sich Mantis hatte nennen lassen, war nun selbst wie das Insekt von der Gottesanbeterin gepackt worden. Doch gefressen wurde sie nicht. Noch nicht.

"Ich habe dich hergeholt, weil ich noch wissen will, für wen du meintest, mich um mein Eigentum prällen zu müssen", sagte die rothaarige Schönheit. Mantis schwieg. Doch es war ohnehin nicht nötig, irgendwas zu sagen. Denn die goldäugige Schönheit sog ihr durch reinen Blickkontakt alles von ihr erwünschte Wissen aus dem Gedächtnis. Dann sagte sie:

"Ich schätze starke und intelligente Frauen. Deshalb gewähre ich dir eine Ehre, die Ehre, mir dein Leben zu überreichen, ganz direkt."

"Lass mich in Ruhe!" Rief Mantis. Doch da fühlte sie schon, wie ihr Widerstand dahinschmolz. Sie ging, nun völlig unbekleidet, auf einen zwei Meter hohen golden strahlenden Krug mit zwei Henkeln zu und zog sich am Rand hoch. Kopfüber fiel sie in die orangerote Substanz darin und verging in einer Flut von Wärme und Verschwimmen aller Gedanken. Hallitti fühlte, wie die Kraft des direkten Opfers in sie einströmte. Sie fühlte die auflodernde Wallung, die ein direktes Opfer in ihr auslöste. Doch sie brauchte diese Kraft sehr dringend. Denn der gerade noch glimmende Lebensfunke in Richard mußte neu entfacht werden. Sie warf sich auf den schwer verletzten und presste ihren Mund auf seinen. In einer ekstatischen Entladung von Freude und Schmerz blies sie ihm mit einem lauten Schrei eine rötliche Substanz ein. Richards Körper erstrahlte in einer rötlichen Glut, während Hallitti die Wellen der herrlichen Entladungen in ihn hinüberblies, bis die Wunden anfingen, sich zu schließen. Sie spuckte ihm auf die wunden stellen, sang unter stoßweiser Atmung einige Zauberformeln her, wobei sie die Verletzungen mit den Fingern bestrich. Dann entrang sich Richards bis vor Sekunden noch geschundenem Brustkorb ein Stöhnen.

"Du gehörst mir und bleibst bei mir", hauchte Hallitti. "Nur ich sage dir, wann du mich verlassen sollst. Nur ich werde es bestimmen, wann du nicht mehr gebraucht wirst. Diese geldgierigen Kerle werden es mir büßen. Ich hole sie mir alle gleich heute nacht noch. Schlaf nun, Diener meines Leibes und meiner Seele! Schlafe tief und ungestört!" Mit diesen Worten schien Richard endgültig zu sterben. Doch in Wirklichkeit glitt er in einen scheintodartigen Schlummer, aus dem nur Hallitti ihn erwecken konnte, wenn sie dies wollte.

__________

Simon Parker erhielt zwar die Meldung, daß der Auftrag wohl geklappt hatte, weil man Videobilder von der Hinrichtung von Andrews hatte. Es graute ihn aber, als er sah, daß der Mann sich gegen Mantis Spezialgift so gut auf den Beinen halten konnte, bis ihn mehrere Geschosse endgültig getötet hatten. Dann flimmerte das Bild merkwürdig. Als es sich wieder stabilisierte, brannte bereits die Wohnung. Dann zerplatzte das Kameraobjektiv und ließ eine Minisupernova aus grellbunten Blitzen über den Bildschirm leuchten. Dann war das Bild endgültig weg.

"Schickt das sofort an alle Kunden. Der Bastard ist tot!" Befahl Parker und dachte nur noch daran, daß das unselige Kapitel Richard Andrews oder seines Doppelgängers oder wie auch immer nun erledigt war. Das seine drei Vollstrecker sich nicht mehr meldeten, störte ihn nicht sonderlich. Sicher hatten sie rasch untertauchen müssen. Spätestens morgen würden sie sich wieder melden. Die Videoaufzeichnung durch den präparierten Schlafzimmerspiegel reichte ihm, um zu wissen, wer gewonnen hatte. Mit dieser Gewissheit legte er sich ins Bett.

In der Nacht wanderte er durch ein Maisfeld, wie er es als Teenager gerne getan hatte. Dabei sah er Lucy, seine erste große Liebe, ein Mädchen mit tiefschwarzem Haar und haselnußbraunen Augen. Er träumte davon, wie er sie in den Heuschober von Bauer Peacock einlud, wie sie erst geschmust und dann gekuschelt hatten, bis sie beide über einen schönen langen Vorlauf in die erste körperliche Liebeswonne fanden. Doch als Parker meinte, das wäre schon sehr echt, verwandelte sich die haselnußäugige Lucy in eine unheimlich reizvolle Frau mit weißer Haut und rotem Haar. Er erschrak erst. Doch als die goldenen Augen der Erscheinung seinen Blick einfingen wurde ihm so leidenschaftlich zu Mute, daß es ihm völlig egal war, wer es war. So verging er in der allerletzten Glut körperlicher Ekstase, die darin gipfelte, daß er meinte, in einen Schacht aus Feuer hinabzustürzen. Er meinte sich noch um Hilfe rufen zu hören. Doch der Sturz in die Hölle, seine eigene Hölle, war nicht mehr zu stoppen. Für einen Moment meinte er, wieder aufzuwachen. Doch dann fiel totale Schwärze und Stille über ihn und löschte alles aus, was er war.

Als am nächsten Morgen die Leibwächter den kalten und steifen Körper ihres Chefs fanden, erschraken sie. Wie war das möglich gewesen, daß Parker einfach sterben konnte? Dann beschlossen sie, es wie einen Unfall erscheinen zu lassen. Denn sie wußten, daß sie keinen Job mehr finden mochten, wenn sie ihren Chef einfach hatten sterben lassen.

einsamer und vor allem schneller endete das Leben jenes Mannes, der Habicht genannt worden war. Er stand mitten in der Nacht auf, ging auf den Balkon seiner Wohnung im achten Stock und ließ sich einfach über die Brüstung fallen. Sie stellten später fest, daß wohl eine Dosis Rauschgift in seinem Körper für seinen Todessturz verantwortlich war. Tatsächlich hatte etwas versucht, ihn zu einer innigen Liebe zu verführen, doch dann gesagt, er solle aufstehen und die Straße nach links, dann nach rechts und den Berg hinuntergehen, um in die nächste Stadt zu gelangen. Doch dieses Geheimnis nahm er mit ins Grab.

Es sprach sich bald herum, daß Parker von einer Geschäftsreise nicht mehr zurückgekehrt war. Das Konsortium zerbröckelte. Strong, Sherman und Finch regelten, wer wie abgefunden wurde. Für Finch war dies die letzte Amtshandlung. Denn einen Tag später kollidierte er mit einem Lastwagen auf der Autobahn und verstarb noch am Unfallort.

__________

Anthelia befürchtete schon, die unbescholtene Professor Lessing würde auch ein Opfer der rachsüchtigen Kreatur werden. Doch anderthalb Wochen nach dem Brand in Las Vegas und der Todesserie um die Führung des Konsortiums besuchte Patricia Straton die Hochschullehrerin noch einmal in einer Vorlesung. Sie wirkte gelöst und überaus einsatzbereit. Sie hatte nur einen Brief erhalten, indem drinstand, daß jemand ihretwegen gerne eine Arbeit über menschliche Bedürfnisse und religiöse Auslegungen schreiben wollte, um ihre Archäologiekenntnisse zu erweitern. Gezeichnet war dieser Brief von einer gewissen Loretta Irene Hamilton, die Lessing noch ein schönes, langes Schaffen gewünscht hatte. Als Patricia nach der Vorlesung mit Anthelia darüber sprach meinte diese:

"Meine Gedächtniszauber sind stark genug gewesen, auch ihre Gaben zu umgehen, weil ich eine Gedächtnisverpflanzung bewirkt habe, nicht einfach eine Veränderung."

"Ja, aber woher weiß dann diese Kreatur ..."

"Von Parker und den anderen, die sie heimgesucht hat. Sie hat geprüft und befunden, daß nicht die echte Professor Lessing ihr nachgestellt hat. Das reicht ihr wohl, um sie gnädigerweise am Leben zu lassen", sagte Anthelia.

"Ja, und was ist mit Andrews?" Wollte Patricia wissen.?"

"Falls er noch lebt, wird sie ihn nicht mehr so offen herumschicken können. Das Medaillon ist zerstört, das zeigten die Splitter am Brandort. Gut, daß die Polizeiakten für uns kein großes Problem sind. Falls er tot ist, haben wir obsiegt und versagt gleichermaßen. Denn dann müßte sie in ihren magischen Langzeitschlaf zurückkehren, da sie es nicht geschafft hat, sich vorher einen anderen Mann Untertan zu machen. Das kann heute schon geschehen sein oder erst morgen geschehen. Falls sie in einer Woche wieder auftaucht, lebt Andrews noch."

Doch die Woche verstrich, ohne das etwas passierte. Auch im Laveau-Institut machte man sich Gedanken, wie man das zu deuten hatte. Schließlich wurde verfügt, daß Richard Andrews von einem Geheimkommando aus der Geiselhaft befreit werden und an einem hermetisch abgeschotteten Ort versteckt gehalten werden müsse, weil seine Entführer noch flüchtig seien. Doch ob das half, wagten Elysius Davidson und Jane Porter zu bezweifeln.

ENDE

Nächste Story Verzeichnis aller Stories | Zur Harry-Potter-Seite | Zu meinen Hobbies | Zurück zur Startseite

Seit ihrem Start am 1. Februar 2005 besuchten 8140 Internetnutzer diese Seite.