Die junge Hexe Aurora Dawn steht mitten im dritten und entscheidenden Jahr ihrer Ausbildung zur Medimagierin. Sie erwirbt im Umgang mit echten Patienten Erfahrung und übt die alten und neuen Kenntnisse in den Lernstunden. Ihre Mentorin, die Großheilerin Bethesda Herbregis, hält sie weiterhin sehr auf Trab. Mehr als einmal steht sie davor, an ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Doch diese Augenblicke werden immer wieder von Erfolgserlebnissen und klaren Erkenntnissen abgelöst, daß sie hier was sinnvolles lernt und später zu ihrem Beruf machen möchte.
Sie fühlte, wie sie auf den gigantischen Baum zugezogen wurde. Sie wehrte sich gegen dieses Gefühl, gegen die Bilder. Sie wußte, daß es nur die Erinnerung an das Ereignis war. Sie wollte diese Erinnerung nicht wahrnehmen. Sie drängte sie zurück. Da fiel sie vom Besen, mitten in einem Quidditchspiel. Auch diese Erinnerung wollte sie nicht wahrnehmen. Sie konzentrierte sich, keinen greifbaren Gedanken in ihr Bewußtsein aufsteigen zu lassen. Ihr silberblondes Gegenüber hielt sie mit den Augen fest, bohrte, stocherte und wühlte in ihrem Geist, um die schlimmsten Erlebnisse hervorzuzerren. Da erschien ihr noch der Kampf von Adamas Silverbolt gegen den von einem bösen Wesen besessenen Elroy Portsmouth. Im Nächsten Moment sah sie den Lehrer als Baby, wie er sie finster anstarrte, weil sie ihn so sah. Erst jetzt vermochte es Aurora Dawn, ihren Geist freizukriegen, regelrecht leerzuräumen, um bloß nicht von außen ausgeforscht zu werden.
"was hat dich heute so abgelenkt, daß ich so leichten Zugang zu deinen Erinnerungen bekommen konnte, Kind?" Fragte Bethesda Herbregis ihre Schülerin.
"Diese Luella Fairsky. Ich bin da wohl noch nicht ganz drüber weg, daß sie jetzt diese neue Daseinsform hat und noch will, daß wir ihr erstes neues Kind auf die Welt holen."
"Ja, das ist schon dreist von ihr, nachdem sie ihren Ehemann auf dieselbe Art unumkehrbar verwandelt hat, wie sie selbst verändert wurde und den wirklich zur Fortpflanzung anregen konnte. Und jetzt wird sie wohl in zwei Monaten das erste neue Jungwesen ihrer neuen Art zur Welt bringen. Dabei weiß sie genau, daß die Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe nach dem Prozeß im August ihren Status als Hexe und alle damit verbundenen Rechte und Pflichten aufgehoben und sie als intelligentes, semihumanoides Zauberwesen eingestuft hat. Damit ist sie formell und praktisch schuldunfähig, was die Entführung und ireversible Verwandlung ihres Mannes angeht, darf aber auch keine Hilfe von magischen Heilern beanspruchen. Aber die ist ein Dickkopf, wobei ich nicht weiß, ob das schon von ihrer rein menschlichen Existenz her kommt oder durch die Fusion mit diesem Mutterschaf. Auf jeden fall solltest du es endlich begraben, daß sie diese Daseinsform hat, weil wir damals den Vielsaft-Trank verabreicht haben. Sie will jetzt so leben und kann nicht daran gehindert werden. Es sei denn, irgendein skrupelloser Zeitgenosse befindet, daß sie wie ein ordinäres Schaf geschlachtet und gegessen werden kann. Aber intelligente Zauberwesen stehen auf der Liste zum Verzehr durch Menschen unerlaubter Lebewesen", sagte die Großheilerin. Aurora nickte.
"Ja, aber die wird wiederkommen, wenn die ersten Wehen einsetzen", erwiderte Aurora.
"Dann wird sie von einem Zaubertierexperten abgeholt. Gegen Fesselzauber kann sie auch mit ihrer Fluch- und Verwandlungsresistenz nichts ausrichten." Aurora Dawn nickte.
"War nur diese Sache vom April", sagte die Lernheilerin dann noch.
"Seit dem sind sieben Monate vergangen, Aurora. Ich hätte eher gedacht, daß diese Katastrophe in Osteuropa dich mehr betroffen gemacht hätte, die kurz nach unserem gefährlichen Einsatz in Resting Rock passiert ist."
"Tim Preston hat's mir ja geschrieben, daß das schon ziemlich heftig war, daß wir ausgerechnet kurz vor diesem Tschernobyl-Unfall mit Radiointoxikation zu tun bekamen. Das und unsere Anfrage haben den jetzt drauf gebracht, auch Heiler werden zu wollen. Problem nur, daß er nach den ZAGs keinen Zaubertrankunterrichtund keine Kräuterkunde mehr hat."
"Da sind die Bewerbungsbedingungen unerbittlich, das ist schon richtig. Er müßte die beiden Fächer nach der gesamten Schulzeit nachholen, wenn er die Aufnahmebedingungen erfüllen will. Aber ich dachte, er wollte eh in einen Beruf ohne die beiden Fachgebiete hinein."
"Dachte er wohl bis zum April auch", erwiderte Aurora Dawn. "Ich habe ihm ja über die Bild-Verbindung und einen Brief erzählt, daß das mit Kräuterkunde und Zaubertränken schon seinen Sinn hat und er da besser was aussuchen solle, wo er keine Kräuterkunde und keine Zaubertränke für braucht. Immerhin könnte er auch in die Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe reingehen. Aber er steht jetzt auf dem Standpunkt, die beiden Fächer nach den sieben Jahren Hogwarts nacharbeiten zu können. Er hat ja Professor Sprout dazu gebracht, ihn in der ZAG-Klasse noch mal mitlernen zu lassen, um am Ende der Schulzeit zumindest einen für die Heilerausbildung verwertbaren ZAG zu machen. Ich weiß nur nicht, ob er dann nach der Schule noch einen findet, der oder die ihm Kräuterkunde und Zaubertränke für die UTZ-Nachholprüfung unterrichten kann. Snape wird das ganz bestimmt nicht tun."
"Davon ist wohl auszugehen. Dann hat er sich wohl auf die Präsentationsregel berufen, die einem Schüler gestattet, die Zahl seiner ZAGs auch ein Jahr nach den Prüfungen zu verbessern. Wer hat ihm denn davon erzählt?"
"Professor Flitwick und Madam Pomfrey."
"Verstehe, die Kollegin in Hogwarts möchte halt noch mehr magische Heiler auf den Weg bringen", erkannte Meisterin Herbregis. "Allerdings darf sie ihm keinen Zaubertrankunterricht erteilen, sondern nur die Ersthelferausbildung geben. Aber wenn er die schafft könnte er unter Umständen einen niedergelassenen Heiler finden, der ihm zu gewissen Bedingungen den Unterricht in Zaubertränken erteilen kann, um vielleicht ein Halbes Jahr später außerhalb von Hogwarts eine Nachholprüfung für den nötigen UTZ abzulegen. Hat es alles schon gegeben. Quereinsteiger haben wir ja doch sehr häufig aufgenommen. Und bisher haben wir es nicht bereut, die, welche sich darauf eingelassen haben, auch auszubilden. Wie gesagt ist mein Sohn Lazarus ja auch nicht mit den nötigen UTZs aus Redrock herausgekommen. Falls es deinem Quidditchkameraden und unserem Dolmetscher in Sachen Atomkraft der Muggel ernst mit der Heilerausbildung ist, kann ich gerne zwischen ihm, dir und Tim ein Gespräch ermöglichen. Ich habe es hinbekommen, daß ich die Weihnachtstage meine gesamte große Familie um mich versammeln darf. Aber bevor ich da nichts konkretes vermelden darf möchtest du Tim das bitte nicht anbieten."
"Versteht sich, Meisterin Herbregis", erwiderte Aurora Dawn.
"Gut, dann sollten wir die Okklumentikübungen noch einmal wiederholen. Du kannst das schon sehr gut. Du brauchst nur die richtige emotionale Balance. Also los geht's!"
Aurora strengte sich an und ließ jeden verräterischen Gedanken sofort in einem Meer aus Bedeutungslosigkeit verschwinden, wenn er zu aufdringlich zu werden drohte. Zehn Minuten später verkündete ihre Mentorin: "Gut, das soll's für heute gewesen sein. Ich bin zuversichtlich, daß du die Halbjahresprüfung bestehen wirst."
Nach den Okklumentikübungen kehrte der praktische Lernalltag zurück. Aurora Dawn begleitete ihre Lehrmeisterin zu schwierigen Behandlungen, assistierte sogar einmal bei einer Organregeneration, weil einem Patienten beim Trinken eines fehlerhaften Feuerwiderstandstrankes der halbe Magen verbrannte.
"Sie haben die falsche Asche benutzt, um den Trank anzurühren", mahnte ihn Bethesda Herbregis. "Mit verbranntem Gras darf der Trank nicht angerührt werden. Was wäre die einzig richtige Beimischung, Aurora?" Aurora Dawn erwiderte unverzüglich:
"Bei dem von Mr. Westwood angerührtem Trank wäre ein Gemisch aus drei Teilen Buchenasche, zwei Teilen Eichenholzasche und vier Teilen Fichtenholzasche angeraten. Verbranntes Heu ist nur bei Brandwundenheilsalben für Verbrennungen ersten und zweiten Grades verwendbar."
"Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen", grummelte der Zauberer, dem gerade erst ein neuer Magen gewachsen war.
"Das war kein Spott, Mr. Westwood", erwiderte Bethesda Herbregis. "Ich habe meiner HIP-Kandidatin eine für ihre Ausbildung relevante Frage gestellt und die korrekte Antwort erhalten. Niemand von uns würde es wagen, einen Patienten zu verspotten."
"Sagen Sie, Madam. Aber wenn ich hier rauskomme werden meine Kollegen mich wohl blöd angrinsen, weil ich den Trank nicht hingekriegt habe", erwiderte der wohl an die vierzig Jahre alte Zauberer mit dem dunkelblonden Haar, über dessen Bauchdecke Madam Herbregis gerade einen Einblickspiegel führte, um zu beobachten, wie der magisch regenerierte Magen mit dem restlichen Verdauungstrakt verheilte.
"Darf ich fragen, ob Zaubertränke zu Ihren Abschlußfächern in Redrock gehörten, Mr. Westwood?" Brachte die Heilerin noch eine Frage an.
"Neh, war mir zu kompliziert für die UTZs", grummelte Westwood. "Ich habe mir ein kleines Buch über nützliche Schutztränke gekauft. Da stand nur was von Pflanzenasche drin, um den Feuerwiderstandstrank zu brauen."
"So so, welches Nachschlagewerk behauptet das?" Wollte die ausgebildete Heilerin wissen.
"Ein Schluck Schutz von Devine Mold und Grendel Shadelake."
"Oha", knurrte Madam Herbregis. "Dann haben Sie offenkundig den Stern des Südens vom zweiten Oktober 1984 nicht gelesen. Da steht drin, daß dieses Buch eine böswillige Täuschung ist, gedacht um Shadelake mißliebige Zeitgenossen zu vergiften oder unrettbar zu verderben. Das Buch wurde von der Abteilung für magischen Handel zur verbotenen Ware erklärt und alle Besitzer aufgefordert, ihre Exemplare an das Ministerium auszuliefern."
"Grendel Shadelake ist ein genialer Braumeister. Außerdem habe ich in Shadelake gewohnt. Also warum sollte ich da denken, daß dieses Buch eine Falle ist?" Schnaubte der behandelte Zauberer.
"Weil Shadelakes Bücher nicht so bezaubert sind, daß sie Bewohner seines Schulhauses verschonen, wenn er auf Verwirrung und mutwillige Körperverletzung ausgeht. Eine Devine Mold gibt es zudem nicht. Das Ministerium und wir von der Heilerzunft vermuten, daß es ein Pseudonym seiner Schwester Perdita ist, um durch zwei Namen die Seriosität dieses angeblichen Nachschlagewerkes vorzutäuschen. Am Besten schicken Sie Ihr Exemplar nach der Entlassung in zwei Tagen an die Abteilung für magische Handelsgüter oder gleich an die Strafverfolgungsabteilung. Weil ich bin jetzt gehalten, gemäß unserer Heilerdirektiven anzuzeigen, daß es noch Ausgaben dieses kriminellen Machwerkes gibt. Haben Sie daraus noch andere Tränke nachgebraut, die Sie bisher nicht verwendeten, Sir?"
"Einen Giftpflanzenentgiftungstrank. Ich bin ja für die Gemeinde von Dozing Dingo unterwegs, wenn die Buschfeuersaison losgeht. Deshalb wollte ich den Trank gegen Feuerschäden ja auch ausprobieren."
"An und für sich gehören Feuerwehrzauberer zur Kategorie potentieller Ersthelfer. Dann müßten Sie für den Beruf ein Zertifikat eines Heilers vorlegen, der Sie in magischer Erstversorgung ausgebildet hat. Wundere mich dann, von Ihnen in der Hinsicht noch nichts gehört oder gelesen zu haben, Sir", knallte Bethesda Herbregis dem Patienten noch hin. Aurora fragte sich, ob die Berichte über die Shadelakers nicht doch stark übertrieben waren, was ihre Intelligenz und Selbsterhaltung anging.
"Ich habe eben gesagt, daß ich in Shadelake gewohnt habe. Denken Sie da, daß einer Ihrer Kollegen mich da als Ersthelfer ausbilden würde?" Schnaubte Westwood.
"Aurora, werden Redrock-Absolventen, die dort im Haus Shadelake wohnten, zur Heilausbildung zugelassen und wenn nein, warum nicht?"
"Da eine meiner Jahrgangskameradinnen dort gewohnt hat und sich dieses Jahr der Abschlußprüfung stellen wird wüßte ich keinen Grund, der einen Shadelake-Bewohner anders bewerten oder gar nicht zur Ausbildung zulassen kann."
"Ja, du kommst doch vom Akzent her ganz sicher aus England, Mädchen", schnaubte der Patient. Aurora nickte und fügte dann ruhig klingend an:
"Stimmt, ich war dort in Hogwarts. Aber ich habe erfahren, daß einige Bewohner des Hauses Slytherin zu guten Heilern ausgebildet wurden, und Slytherin als Shadelakes Vorfahre gilt."
"Außerdem verbitte ich es mir, meine Schülerinnen mit der groben Anrede "Mädchen" anzusprechen, Sir, bei allem Respekt vor ihnen als Patienten. Wir dürfren als Heiler auch ein Gerütteltmaß an Respekt von Ihnen erwarten", tadelte Meisterin Herbregis den auf dem Behandlungstisch liegenden. Dann sagte sie: "Sie dürfen übrigens in ihr Zimmer zurückkehren. Wie Ihnen mein Kollege Pentagonaster Banard bei der Aufnahme erklärt hat." Der benannte Kollege, ein Heiler altersmäßig irgendwo zwischen dem Patienten und Bethesda Herbregis, nickte und bedankte sich bei Bethesda für die Assistenz. Diese zog sich dann mit Aurora Dawn nach dem höflichen Abschied zurück, um gleich in die Abteilung für Zaubertrankunfälle weitergeschickt zu werden.
"Noch einer, der oder die meint, die Zutaten von Zaubertränken per Würfel zusammenstellen zu müssen", grummelte Meisterin Herbregis. Aurora sagte dazu nichts.
In der Abteilung wartete Heiler Daniel Goldwater bereits auf das Gespann aus Mentorin und HIP-Kandidatin. Aurora sah zwei junge Frauen mit hellblonden Haaren, die völlig identische Gesichter und Körper besaßen. Doch die eine trug einen eleganten blauen Festumhang für Zauberer, der an Becken und Brustkorb deutlich unpassend saß, während die andere Hexe ein apfelgrünes Sommerkleid trug.
"An und für sich wollte ich die Kollegin Springwood und ihre Schülerin hier haben, aber die sind mit Mel Vineyard im Busch unterwegs, weil mal wieder wer einen echten Stammeszauberer beleidigt hat und Mel denen zeigen muß, wie sowas behoben werden kann", sagte Goldwater, ein Zauberer mit einem tizianroten Haarkranz, der als Zaubertrank- und Kräuterkundeexperte galt und Aurora nach der Jahresendprüfung im zweiten Jahr schon gefragt hatte, ob sie ihr HIP-Jahr nicht in seiner Abteilung machen wolle. Doch da hatte Meisterin Herbregis was gegen und auf eine Verfügung Madam Moreheads verwiesen, dernach der Direktor der Klinik die Heiler im Praktikum den Anforderungen zuteilte und nicht den ausgeprägten Lieblingsfächern.
"Na, nun sind wir da, Dan", sagte Bethesda Herbregis kühl und stellte sich dem Zwillingspaar vor.
"Guten Tag, die Damen, mein Name ist Bethesda Herbregis und dies ist meine Schülerin im dritten Jahr, Aurora Dawn. Welche Beschwerden haben sie?"
"Das ich verdammt noch mal keine Dame bin und meinen alten Körper wiederhaben will", knurrte die Blondine im Festumhang verärgert. "Ich wollte mit meiner Freundin hier nur einen netten Tanzabend verbringen, als ich diesen verdammten Vielsaft-Trank erwischt habe. Ihr Bruder wollte wohl mit mir auf eine tolle Zukunft anstoßen."
"Da sehe ich kein Problem. Der Trank läßt nach einer Stunde pro Viertelpinte nach. Wieviel haben Sie davon erwischt, Mister ...?"
"Achso, 'tschuldigung, Caine, William Randolph Caine der dritte."
"Nicole Vanessa Whitecloud", stellte sich die Hexe im grünen Kleid verlegen dreinschauend vor. "Mein Bruder ist ein Spaßvogel. Er hat wohl ein Haar von mir aus dem Kamm gezupft und damit Vielsaft-Trank angerührt und meinem Freund als Freundschaftstrunk angedreht. Ich habe gesehen, wie Bill aus einem kleinen Kelch getrunken hat, während mein Bruder Eugene aus einem anderen Kelch getrunken hat. Wußte gar nicht, daß eine Dosis mit meinen Haaren angerührter VielsaftTrank wie Roséwein aussieht."
"Ist jetzt total egal, Nick, weil ich endlich wieder meinen eigenen Körper haben will. Ich muß dringend Wasser abschlagen", knurrte der offenbar verwandelte Zauberer mürrisch.
"Und Sie schämen Sich, dazu eine Toilette für Damen aufzusuchen", vermutete Bethesda Herbregis, während Goldwater so gelassen dreinzuschauen versuchte wie es ging und Aurora arg darum kämpfen mußte, nicht schadenfroh zu grinsen.
"Nicht, wenn Sie mir ein Gegenmittel gegen diesen Trank geben und ich anständig ... Sie wissen schon was", knurrte William Caine.
"Wie groß war der Kelch noch mal?" Fragte Bethesda Herbregis. Nicole Whitecloud deutete auf einen der Anschauungskelche, mit denen Patienten die Menge des von ihnen geschluckten Trankes exakt bestimmen konnten. Es war ein kleiner Kelch, der die übliche Ein-Stunden-Dosis fassen würde. Daraus ergab sich die Frage, wann William Caine den Trank eingenommen hatte. "Vor drei Stunden, verdammt noch mal", fluchte der umgewandelte Zauberer.
"Dann war es richtig, zu uns zu kommen", sagte Heiler Goldwater. "Die Wirkung dauert zu lange an." Aurora Dawn sah ihre Mentorin an und mentiloquierte: "Die Beaufort-Adoption vielleicht."
"Könnte sein, Aurora", gedankenknurrte Bethesda Herbregis und fragte den Patienten hörbar, ob er mit dem Bruder seiner Freundin Streit habe oder der ihn als Partner seiner Schwester akzeptiert hätte.
"Bis zu heute abend hatte ich nicht den Eindruck, daß er mich ab könne. Ich habe ihm damals in Redrock ein Mädchen ausgespannt, weil der nur über seinen Büchern gehockt hat", grummelte Bill Caine und preßte die Beine zusammen. "Mann, machen Sie das wieder rückgängig!"
"Wenn es Sie arg drängt lassen Sie ihr überschüssiges Wasser neben an. Dan, stellst du ihm bitte was passendes hin?" Goldwater nickte und winkte der Frauengestalt im Zaubererumhang. Diese folgte mürrisch.
"Ihr Bruder mag ihn also nicht. Wäre es vorstellbar, daß er sich für die verdorbene Romanze rächen wollte und das so gründlich, daß keine heterosexuelle Hexe mehr was von ihm wissen wollen könnte?" Fragte Bethesda Herbregis.
"Er hält mir immer vor, daß Bill mich auch nur als kurzes Vergnügen sehen könnte wie Maura Davis, die Bill vor zehn Jahren zum Redrock-Abschlußball geführt hat. Aber daß er sich dabei gegen die bestehenden Gesetze vergeht hätte ich nicht gedacht. Aber wieso läßt der Trank dann nicht nach?"
"Aurora, wieso kann eine übliche Dosis Vielsaft-Trank länger wirken als ursprünglich gegeben?" gab Bethesda Herbregis die Frage weiter.
"Das geht bei korrekter Zubereitung nur, wenn bei der Abstimmung auf den zu erzielenden Körper nicht nur ein Haar des Originals sondern je ein Haar oder Nagelsplitter der Eltern des Originals mitverrührt werden, bei doppelter Zugabe von Fragmenten des Originals kann es zu einer Permanenten Wirkung kommen, weil der Trank in der üblichen Dosierung den Körper so verändert, daß der Eindruck entsteht, er sei so geboren und herangewachsen. Eine Hexenwitwe namens Donatella Beaufort hat auf diese Weise vor dreißig Jahren einen Jungzauberer zu einer permanenten Kopie ihres vor fünf Jahren gestorbenen Sohnes gemacht, weil sie noch Haarbüschel des Zauberers besaß, die sie ihm zu Lebzeiten entnommen hat, sowie abgetrennte Fingernägel ihres Mannes, bevor dieser gestorben ist. Sie wurde für diesen Mißbrauch zu zwanzig Jahren Askaban verurteilt. Der betroffene Zauberer konnte erst zurückverwandelt werden, nachdem eine Ausreichende Menge von seinem Originalzustand abgefallener Haare sowie seiner Eltern zusammengetragen wurde, um den Prozeß umzukehren. Dabei galt, die zeit über das übliche Wirkungsende quadriert ergab die Anzahl der Dosen."
"Zwanzig Jahre Askaban? Gut, daß wir in Australien nur das Fort Ballibong benutzen", erschrak Nicole Whitecloud. Dann überlegte sie. "Ähm, wenn mein Bruder genau das gemacht hat, dann müßte der doch wissen, was darauf steht, verdammt noch mal. Abgesehen davon, was passiert, wenn Bill nicht genug Haare für vier Dosen von sich und seinen Eltern zusammenkriegt?"
"Dann haben Sie eine Zwillingsschwester", entgegnete Meisterin Herbregis darauf sehr trocken. "Ob Ihre Mutter sich dafür bedanken wird möchte ich dann besser nicht vermuten. Außerdem dürften dann mindestens neun Dosen fällig sein. Nach einer weiteren Stunde sechzehn. Also sollten wir zügig ans sammeln gehen. Aurora, du fragst, wie groß unser Vorrat an Vielsaft-Trank ist und suchst Mr. und Mrs. Caine auf, um genug für fünfundzwanzig Dosen zusammenzukriegen, falls der Vielsaft-Trank-Vorrat das hergibt!" Aurora Dawn nickte und fragte Nicole Whitecloud, wo die Eltern ihres Freundes wohnten. Dann eilte sie in das Zaubertranklabor und fragte, wie viele Dosen Vielsaft-Trank fertig seien. Sie erfuhr, daß es im Moment dreißig Dosen waren. Das hieß, wenn sie innerhalb der nächsten vier Stunden nicht mit den Proben zurück war, würde Will Caine sich wohl mit dem Gedanken vertraut machen müssen, die Zwillingsschwester seiner Freundin zu bleiben und die Alltäglichkeiten einer Hexe zu akzeptieren. Doch sie war diesmal zuversichtlich, daß sie diesen Vorgang noch umkehren konnten. Sie apparierte in die Nähe von Darwin im Norden Australiens und erkannte wieder einmal mehr, wie wichtig es war, gezielt das Apparieren an nicht besuchten Orten erlernt zu haben. Die Caines waren sehr verstört, als Aurora mit Bethesda Herbregis Anliegen bei ihnen vorsprach. Doch Mrs. Caine fand die fünfzig Haare, die Aurora für eine ausreichende Menge hielt.
"Ich habe dem gleich gesagt, nicht mit der Schwester dieses hinterhältigen Bengels anzubandeln", schnaubte William Caine II. verächtlich. "Was passiert, wenn Sie mit Ihrer Theorie danebenliegen, junge Dame?"
"Da darf ich Sie beruhigen, Sir. Die Therapie wurde bereits erfolgreich angewandt und ist uns daher vertraut." Der muskulöse Zauberer mit dem strohblonden Schopf grummelte nur. Seine Frau fragte dann:
"Öhm, Ms. Dawn, wenn das nicht umgekehrt werden kann, gilt Williiam dann nicht mehr als unser Sohn? ich meine, sind wir dann noch seine Eltern?"
"Ich fürchte, da gilt dann die körperliche Urheberschaft, wie sie bei dem Intercorpores-Fluch greift. Mit anderen Worten, Ihr Sohn könnte dann von den Whiteclouds zu ihrer Tochter erklärt werden, wenn sie darauf bestehen. Ansonsten, falls die Umwandlung nicht gelingt, müßten seine ganzen Dokumente umgeschrieben werden, um ihm als Hexe ein Weiterleben mit den bisher errungenen Verdiensten zu ermöglichen."
"Das ist doch wohl nicht wahr, knurrte Mr. Caine. "Ich habe einen Sohn großgezogen und keine Tochter, verdammt noch mal. Dann verpassen Sie ihm den Contrarigenus-Fluch, damit er zumindest ein Mann bleiben kann!"
"Tut mir leid, aber wir Heiler dürfen keine derartigen Zauber auf einen Menschen anwenden. Das verbietet unser Heilerkodex", entgegnete Aurora Dawn so gefaßt sie konnte. "Aber falls Sie möchten, begleiten Sie mich in die Sana-Novodies-Klinik und besprechen das mit meiner Mentorin und Heiler Goldwater."
"Ich komme mit Ihnen", sagte Mrs. Caine.
"Ja, und ich geh gleich zu Ministerin Rockridge. Dieser Bastard soll gleich heute noch einfahren und lebenslang brummen", knurrte Mr. Caine. Aurora hielt es für klug, es ihm nicht auszureden. Mißbrauch von Zaubertränken wie Vielsaft-Trank, noch dazu in verstärktem Maß, war ein Verbrechen und gehörte bestraft. Also kehrte Aurora mit Mrs. Caine per Floh-Pulver in die Klinik zurück und informierte ihre Meisterin, daß sie fünfzig Haare von Bill Caine und je fünfundzwanzig Haare seiner Eltern ergattern konnte.
"Mum, mußtest du mitkommen und mich so sehen?" Knurrte Bill Caine, der sich mit dem Körper seiner Freundin wohl nicht sonderlich wohlfühlte. Seine Mutter sah ihn tadelnd an, während Goldwater sich von Direktor Springs eine Verabreichungsgenehmigung holte, da Vielsaft-Trank nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Direktors benutzt werden durfte. Bill wartete, bis der zuständige Heiler mit einem großen Kessel einer schlammartigen Flüssigkeit zurückkehrte und dann einen Meßbecher füllte, in den genau eine Pinte des Trankes hineinpaßte. Dann mischte er erst die sechzehn Haare des Patienten hinein und dann die zweiunddreißig Haare seiner Eltern. Erst schlug der Trank goldenbraun um, dann wurde er sonnengelb. Dann trank Bill Caine vorsichtig das Gemisch und hoffte, sich schnell zurückzuverwandeln. Doch erst als er den Becher restlos leergetrunken hatte, setzte eine Wirkung ein. Er verkrampfte sich, blickte schmerzverzerrt umher und schien zu zerfließn. Sein Gesicht, seine Haare, seine Figur, alles bekam immer männlichere Züge, bis ein Jüngling im Festumhang dastand, der ein zwanzig Jahre jüngeres Abbild seines Vaters mit den Augen seiner Mutter darstellte.
"O Mann, das Zeug ist ja heftig. Das brodelt ja immer noch in mir", knurrte der erfolgreich zurückverwandelte Zauberer. "Dafür kriegt dein Bruder nachher noch ein paar reingesemmelt, Nick."
"Ich denke mal, den haben die Beamten der Strafverfolgung schon abgeführt", wandte Meisterin Herbregis ein und beglückwünschte die Caines zur erfolgreichen Widerherstellung des angeborenen Körpers. Dann sagte sie noch: "Bei allem Verständnis für ihre Verärgerung, Mr. Caine Junior, sprechen Sie niemals irgendwelche Gewaltandrohungen in Gegenwart von Heilern aus. Denn wir sind laut erster Direktive unseres Kodexes verpflichtet, jeden Menschen mit magischen Kräften vor Schaden zu bewahren und eine Schädigung nicht durch Untätigkeit zuzulassen. Ich hätte Sie also anzeigen müssen, wo Sie die Prügeldrohung gegen Mr. Whitecloud ausgesprochen haben. Nur damit Sie erkennen, daß wir hier für jeden magischen Menschen zuständig sind. Und jetzt empfangen Sie von Heiler Goldwater noch die Entlassungsbestätigung! Einen angenehmen Tag noch!"
Die Caines und Ms. Whitecloud bedankten sich artig und verließen die Klinik, nachdem Heiler Goldwater Will Caine für vollständig geheilt bestätigt hatte.
Aurora dachte schon, der Arbeitstag wäre nun gelaufen. Doch eine halbe Stunde vor dem Abendessen wurde ihre Mentorin gerufen, weil in der Nähe der Klinik jemand den Magischen Notruf ausgesendet hatte. Als sie dort eintrafen, fanden sie nur einen nackten, scheinbar erst wenige Tage alten Jungen, der auf einem zerschlissenen, dunkelgrünen Umhang lag, rechts von ihm ein knorriger Eichenholzzauberstab. Daneben lag noch ein dunkelbrauner Spitzhut, aus dem ein paar zusammengerollte Pergamente herauslugten. Links von dem Umhang stieg Rauch aus einem noch glimmenden Aschehaufen, der so aussah, als habe hier jemand Pergament verbrannt.
"Keiner sonst hier", stellte Aurora nach einem schnellen Homenum-Revelius-Zauber fest. Ihre Mentorin nahm den Jungen, der glückselig lächelte vorsichtig hoch. "Kind, ich fürchte, da hat mal wieder ein alleinstehender Zauberer gemeint, sein tristes Dasein aufzugeben und sich per Infanticorpore zurückzuverjüngen. Hatte ich in meiner Ausbildung auch einmal. Es gibt Zauberer, die vertragen es nicht, alt zu werden. Das Szenario ist eindeutig. Die Pergamente im Hut sollen uns erzählen, wen wir da haben. Er hat den Notruf losgelassen, und sich in zehn Sekunden mit dem Fluch behext. Nur was die Asche da soll ist mir noch unklar."
"Dann sollen wir den ... Patienten ... jetzt in die Klinik bringen?" Fragte Aurora.
"Natürlich, Aurora, oder wolltest du vorschlagen, ihn vor die Tür eines Muggelwaisenhauses oder deren unzulänglicher Krankenhäuser auszusetzen?" Schnarrte Meisterin Herbregis. Dann fügte sie mit Blick auf den kleinen Jungen, den sie auf den Armen hielt hinzu: "Wäre eigentlich die gerechte Bestrafung für jemanden, der meint, das eigene Leben derartig manipulieren zu müssen. Aber wir wissen ja noch nicht, um wen es sich handelt und müssen ihn gemäß unserem Kodex versorgen. Also nimm bitte die Kleidung und alle sonstigen Sachen von hier mit. Ich appariere mit dem Patienten und bringe ihn zu Heilerin Honeydew auf die Säuglingsstation."
"In Ordnung, Meisterin Herbregis", erwiderte Aurora folgsam und klaubte die Kleidung, den Hut mit den Pergamenten und den Zauberstab auf. Ihre Mentorin disapparierte gerade. Sie stand einige Sekunden da und sah auf den langsam erkaltenden Aschenhaufen. Sie fragte sich, ob sie nicht irgendwann in hundert Jahren oder etwas mehr so einen drastischen Schritt vollziehen würde. Sie hatte den Fluch, dessen Abwehr und Umkehrung rauf und runter gelernt. Jetzt einen Patienten zu behandeln, der sich selbst damit belegt hatte erschien ihr befremdlich. Sie kehrte zurück in die für Heiler reservierte Ankunftshalle der Sana-Novodies-Klinik und begab sich zur Station für Babys und Kinder, die durch Unfälle mit elterlichen Zauberstäben oder magische Kinderkrankheiten hier aufgenommen wurden. Manche muggelstämmige Hexen gebaren ihre Kinder hier, weil sie das von ihren eigenen Eltern her nicht anders für sicher und richtig hielten und verbrachten ein paar Tage, in denen sie sich von der Geburt erholten und sich von den Heilerinnen bei der Säuglingspflege helfen und anleiten ließen. So begrüßte vielstimmiges Babygeschrei die angehende Heilerin, als sie durch die schallgedämpfte Tür war und die großen, verglasten Schlafsäle mit den je zehn Kinderbettchen passierte, bis sie im Büro der Stationsleiterin Amalthea Honeydew ankam, die gerade den herggebrachten Patienten auf einer gepolsterten Waage liegen hatte und ein sich selbst ausrichtendes Maßband Körperlänge und Kopfumfang ausmaß, was von Heilerin Honeydew abgelesen und einer Flotte-Schreibe-Feder diktiert wurde. Die Heilerin besaß seidenweiches, goldblondes Haar, daß sie auf Schulterhöhe mit einem rosaroten Haarband zusammengebunden hatte und blickte aus hellwachen, smaragdgrünen Augen freundlich auf die künftige Kollegin, die mit der geborgenen Habe des selbstverjüngten Zauberers hereinkam.
"Ah, Aurora. Deine Mentorin hat mir das gerade erzählt, daß wir hier mal wieder wen haben, der lieber als Baby in Windeln machen möchte als in Ehren zu ergrauen. Gemäß den Greenlief-Puddyfoot-Regeln für Neugeborene ist er ein wenig unterernährt mit dreitausend Gramm und neunzehn Zoll Körperlänge. Wenn der blitzsauber zugeheilte Bauchnabel nicht Infanticorpore indizieren würde müßte ich davon ausgehen, daß er noch nicht richtig ausgetragen war. Aber sei es drum. Wen haben wir denn jetzt eigentlich?" Aurora präsentierte die Pergamentrollen und den Zauberstab. Amalthea holte per Aufrufezauber eine Zauberstabwaage herbei und legte den Stab darauf. Nach wenigen Sekunden spuckte die silberne Meßvorrichtung einen Streifen Pergament mit den Daten des Stabes aus.
"Deutsche Eiche mit Einhornschweifkern, siebeneinhalb Zoll, stolze einhundertfünfundzwanzig Jahre im Gebrauch. Alle Achtung!" Las Heilerin Honeydew die Daten ab. "Also ist unser Patient mindestens einhundertsechsunddreißig Jahre alt, falls das der Zauberstab ist, mit dem er in Redrock eingeschult wurde. Wenn wir jetzt noch mehr über ihn herausfinden, könnten wir ihn vielleicht zurückverwandeln." Das auf der Waage liegende Baby grinste jedoch nur darüber. "Na, da würde ich nicht so spöttisch grinsen, werter Sir. Denn falls wir feststellen müssen, daß Sie nicht zurückverwandelt werden können und ich Sie einer Ziehmutter überantworten muß, werden Sie unter neuem Namen aufwachsen müssen. Unsere Gesetze hier haben das klar geregelt, daß ein durch Infanticorpore-Fluch selbst verwandelter magischer Mensch den Iterapartio-Regeln unterworfen ist. Will sagen, Ffalls Sie neu aufwachsen müssen, müssen Sie sich alles auch neu erringen, da sie offiziell für tot erklärt werden müssen und Ihre Angehörigen somit Ihren Besitz erben dürfen." Doch der kleine Mensch auf der Waage grinste weiter. Aurora gab der Stationsleiterin die zusammengerollten Pergamente. Sie breitete sie auf dem Schreibtisch aus und las laut, damit die Schreibe-Feder es auch ja mitnotierte: "Welcher Heiler mich und meine letzte irdische Habe findet mag wissen, daß ich, Henry Taller, mir eigenmagisch den Infanticorpore-Fluch beigebracht habe, weil ich in meinem bisherigen Leben keinen großen Sinn mehr sehe, mich jedoch mit dem Gedanken an einen nutzlosen Tod nicht anfreunden wollte. Um zu verhindern, daß Sie oder einer Ihrer Kollegen mich mit diesem Regerius-Zauber wieder zum Greis zurückverwandelt habe ich die von meiner Mutter aufbewahrten Geburtsdaten mitgenommen und an dem Ort verbrannt, an dem Sie mich finden werden. Den weiteren Pergamenten entnehmen Sie bitte meine Anweisungen, was mit meinem Haus und Goldvorrat in dieser Koboldbank zu passieren hat, damit ich dann, wenn ich aus dem Wickelalter rausgewachsen sein werde, ein neues Leben anfangen kann. Falls Sie darauf spekulieren, mich bei jüngeren Angehörigen unterzukriegen und denen mein abgestreiftes Fell zum Verteilen überlassen wollen, vergessen Sie es! Ich habe selbst keine Kinder gezeugt und wuchs als einziger Sohn meiner Eltern, einem Muggel und einer Hexe, in Großbritannien auf, wo ich in Hogwarts Zaubern gelernt habe. Allerdings hat mich der damalige Zaubererrat dazu verdonnert, hier in diesem Känguruhland die Interessen der britischen Zaubererwelt zu vertreten. Als Australien dann aus dem britischen Weltreich ausscherte, wurden alle Zauberer ohne es zu wünschen eingebürgert. Außerdem erwartete mich in der alten Heimat nichts und niemand mehr. Der letzte meiner alten Freunde starb vor genau fünf Jahren. Er hat sich immer mehr zum Kleinkind zurückentwickelt und immer mehr vergessen, was er so erlebt und getan hat. Dieses Schicksal wollte ich nicht erleiden. Ich beschloß also, wenn ich schon als sabbernder, in Windeln Machender Bursche weiterleben müsse, daß ich das dann mit Stil mache und mich dem Infanticorpore-Fluch unterwerfe. Wie erwähnt habe ich die genauen Zeitangaben über meine Geburt und meine Eltern vernichtet, damit Sie nicht rauskriegen können, wie alt ich genau bin. Da ich trotz der Körperumwandlung noch ein eigenständig denkender Zauberer bin, setze ich sehr stark voraus, daß die auf den folgenden Pergamentseiten erteilten Anweisungen vollständig ausgeführt werden.
Mit freundlichen Grüßen
"Nun, die Anweisungen können wir dann wohl der Abteilung für magisches Finanzwesen überlassen, damit die den Nachlaß verwalten kann", sagte Heilerin Honeydew leicht verdrossen. "Wie erwähnt gilt ein aus sich selbst angewendeter Infanticorpore-Fluch seit dem letzten dokumentierten Fall wie eine durch den Iterapartio-Zauber herbeigeführte Wiedergeburt. Damit ist Ihr gesamter materieller Besitz nun nicht mehr Ihr Besitz, und Ihren Namen werden Sie wohl auch ablegen müssen. Ich gönne Ihnen die ehre, sie höchstpersönlich in Windeln zu wickeln und solange zu versorgen, bis geklärt ist, welcher hauptberuflichen Amme sie als Zögling übergeben werden. Flüche sind kein legitimes Mittel, das eigene Leben beliebig zu ändern, weder gegen andere noch gegen sich selbst."
"Hast du gerade keine Ammen frei, Amalthea?" Fragte Bethesda Herbregis.
"Meine drei Kolleginnen haben genug mit den Mehrlingsgeburten zu tun, die sich in den letzten zwei Wochen hier ereignet haben, Bethesda. Da werde ich diesen Burschen hier selbst zur Brust nehmen, in jeder Hinsicht. Der wird, bevor er im Krabbelalter angekommen ist, gelernt haben, daß wir uns nicht beliebig herumschubsen lassen. Oder möchtest du deiner HIP-Kandidatin die Ehre zuweisen, diesen Knaben hier zu versorgen?"
Aurora sah ihre Meisterin sehr unsicher an. Doch diese erwiderte ruhig: "Ich werde die kostbare Zeit meiner Adeptin nicht damit belasten, ihr einen selbstsüchtigen Zauberer aufzuladen, für den Sie den Nutrilactus-Trank einnehmen und ihm rund um die uhr zur Verfügung stehen muß. Die Talente von Aurora Dawn sind zu vielfältig, um sie jetzt schon als Ammenhexe einzuspannen. Erst wenn sie durch das HIP-Jahr ist mag sie sich entscheiden, ob sie derartige Aufgaben übernehmen möchte, wobei ich ihr dann raten würde, anständig aus dem Mutterschoß ans Licht gelangte Säuglinge zu betreuen und nicht solche Zeitgenossen wie ihn da." Aurora atmete auf. Sicher, wenn ihre Lehrmeisterin jetzt gesagt hätte, sie habe den Nutrilactus-Trank zu schlucken, um von jetzt auf nachher als Stillmutter einzuspringen, hätte sie sich nicht dagegen auflehnen dürfen. Doch so war sie froh, diesen Zauberer dort auf der Waage nicht mit sich rumschleppen und die schmerzhaften Auswirkungen des Ammentrankes aushalten zu müssen. Ihre Lehrmeisterin blickte auf Amalthea Honeydew und dann auf Aurora Dawn und fragte diese dann: "Gesetzt den Fall, Amalthea geht darauf aus, den ehemaligen Henry Taller ein Jahr zu stillen, wie viel Nutrilactus-Trank müßte sie dafür einnehmen?" Heilerin Honeydew lächelte Aurora Dawn aufmunternd an, die nach einem Kurzen Blick auf die zukünftige Kollegen antwortete:
"Nach dem gewöhnlichen Brustumfang würde ich die Zubereitung von sechsunddreißigeinhalb Litern Nutrilactus-Trank anraten, gemäß der Greenlief-Puddyfoot-Regeln, die besagen, daß für jeden Tag der ausgewählten Stillzeit eine Dosis von fünfundzwanzigtausend Quadratmillilitern geteilt durch das Brustvolumen der Ammenhexe in Millilitern vorrätig sein soll, um eine empfohlene Menge Milch zu erzeugen." Die beiden ausgebildeten Heilerinnen nickten zustimmend, während der infanticorporisierte Patient das weiche, runde Babygesicht zu einer merkwürdigen Grimasse verzog. Aurora deutete es so, daß er sich entweder unwohl fühlte, weil sie über ihn sprachen oder sich jetzt erst darüber klar wurde, welchen Aufwand er den Heilerinnen hier bereitete.
"Ein Jahr werde ich den nicht anlegen. Das soll dann eine von denen tun, die das hauptberuflich ausüben", erwiderte Heilerin Honeydew. "Aber schon gut beobachtet, wie viel ich für das gefragte Jahr schlucken müßte. Aber ich würde da bei den GP-Werten dieses Burschens da eher siebenunddreißig Liter nehmen, um lieber mehr als zu wenig in den hineinzukriegen. Mich würde schon interessieren, ob der als erwachsener Zauberer schon so unzureichend ernährt aussah, daß sich das auf den Infanticorpore-Effekt auswirkte."
"Womöglich existiert von dem Patienten eine photographische Aufnahme", wandte Bethesda Herbregis ein. Dann fragte sie ihre Kollegin, ob ihre HIP-Kandidatin den selbstverhexten Zauberer wickeln könne, um zu demonstrieren, ob sie das jetzt richtig beherrsche. Amalthea Honeydew war damit einverstanden.
Aurora mußte ihren gewissen Widerwillen unterdrücken, als sie den Patienten badete, in gewöhnliche Windeln wickelte und in einen flauschigen, himmelblauen Strampelanzug steckte. Amalthea schlug sogar vor, ihm einen Schnuller in den Mund zu stecken. Doch Meisterin Herbregis befand, daß sei etwas zu viel des guten. Dann verließen die Mentorin und ihre Auszubildende den Säuglingstrakt wieder.
"Fehlte noch, daß Lernheilerinnen für solche Zeitgenossen ihre jungen Brüste darreichen müssen", knurrte Bethesda Herbregis. "Ich denke, das neue Leben, zu dem sich dieser Mr. Taller verurteilt hat, dürfte kein angenehmes für ihn werden." Aurora nickte. Bei der Erwähnung der Gesetze war ihr wieder eingefallen, was mit Adamas Silverbolt passiert war. Da sie nicht wußte, bei wem und unter welchem Namen er jetzt neu aufwuchs, fragte sie sich schon, ob sie eines Tages wieder von ihm hören würde. Aurora fragte die Heilerin, ob ein erwachsener überhaupt wie ein natürlicher Neugeborener trinken konnte, weil das ja mit der Zeit verlernt wurde.
"Das wird der wohl herausfinden, wie das geht. So wie ich unsere Kollegin Honeydew einschätze, wird sie ihn auf keine andere Weise ernähren. Wenn er nicht verhungern will muß er die verschütteten Reflexe neu konditionieren oder eine brauchbare Technik erlernen. Vor allem die Endprodukte loszuwerden dürfte ihm sehr unangenehm sein."
"Abgesehen davon, daß er sich ja erst einmal nicht richtig bewegen oder sehen kann", wandte Aurora ein und betete auf die darauf folgende Nachfrage ihrer Lehrmeisterin alle Sinnesleistungen eines Säuglings herunter, wie sie sie aus den Büchern und durch die Sitzungen in der Simulationskammer aus dem eigenen Erinnerungsschatz verinnerlicht hatte.
"Und wo wir jetzt bei Ernährungsfragen sind, Aurora, denke ich, daß du jetzt zu deinen Kameraden in euren Tagesraum gehen und dort genug essen möchtest. Ich habe noch bis zehn Uhr abends Bereitschaft. Sollte bis acht Uhr Alarm gegeben werden, werde ich das ohne deine Begleitung erledigen. Danach möchtest du mir zur Verfügung stehen, falls wir noch einmal ausrücken oder zu einem Notfall hier hinzugezogen werden." Aurora nickte. Das kannte sie ja schon aus dem zweiten Ausbildungsjahr.
Gemäß den Regeln, nur über die Fälle zu reden, ohne die Namen der Patienten zu erwähnen, sprach Aurora mit ihrer Kameradin Ireen Barnickle über die Erlebnisse des Tages. Auch Ireen hatte einiges erlebt.
"Einer hat mit einem angeknacksten Zauberstab den Garten umgraben wollen und sich dabei selbst eingebuddelt. Wenn der den Notrufzauber nicht noch hinbekommen hätte, wäre er wohl in der über ihm gestapelten Gartenerde erstickt. Der Zauberstab wurde zur Reparatur gebracht", sagte Ireen. "Und ich mußte einen halbwüchsigen Muggel retten, den eine Sabberhexe überfallen hat. Der Junge liegt jetzt bei uns in der Abteilung zur Entwöhnung von magischen Giften und zur mnemoplastischen Therapie. Da soll ich, wenn die vorgesehenen Ausbildungsaufgaben es zulassen bei assistieren, weil Meisterin Beanstock ja sagt, daß ich ein gutes Talent für psychomorphologische Behandlungsmittel hätte."
"Hat dieses Biest ihn denn schon zum Verkehr gezwungen?" Fragte Aurora mitfühlend.
"Die hat ihn im Fluge vernascht, ähm, mit ihm kopuliert, Aurora. War nicht einfach, die beiden zu trennen. Diese Kreaturen sind verdammt schnell, auch wenn sie mitten in der Fortpflanzung sind. Sah für mich aus wie eine Gottesanbeterin, wie sie den armen Muggeljungen mit Armen und Beinen umschlungen hielt und mit ihm durch die Luft segelte, während sie ihn mit ihrer langen Zunge bearbeitet hat. Ich dachte vorher, die müßten dazu einen ruhigen Ort auf festem Boden haben."
"Du mußt mir ja nicht verraten, wer es war, aber wie wurdet ihr informiert?"
"Eine Hexe hat die Triumphrufe der Sabberhexe gehört und gesehen, wie sie den Jungen verschleppt hat. Hätte die das nicht gemeldet, wäre der Muggel wohl auf Nimmerwiedersehen verschwunden."
"Wird diese Waldfrau jetzt getötet?" Fragte Aurora Dawn.
"Meine Mentorin meint, daß sollte mich nicht mehr interessieren, wenn ich noch ruhig schlafen und konzentriert weiterarbeiten möchte", erwiderte Ireen darauf. "Im Zweifelsfall gibt es von denen dann eine weniger, wenn die sich schon an Muggeljungen ranmachen."
"Gemäß der Regel, Gefahrenherde zu beseitigen", seufzte Aurora Dawn. Ireen nickte dazu nur.
Nach dem Abendessen begleitete Aurora ihre Mentorin noch durch diverse Stationen und machte auf Anweisung ihrer Lehrmeisterin Vorschläge zur Therapierung von Patienten. Auf diese Weise gewann sie mehr und mehr Übungen im Umgang mit den studierten Maßnahmen. Am Abend vervollständigte sie ihr Lerntagebuch und trug in ihr privates Tagebuch, daß sie Wendy nannte, ihre persönlichen Eindrücke ein. Sie schloß mit den Sätzen:
"Wendy, ich denke, ich selbst werde mich wohl nicht mit Infanticorpore verfluchen. Das kommt mir wie eine Strafe vor. Ich frage mich, was Professor Silverbolt jetzt macht. Wie fühlt sich jemand im Körper eines Zweijährigen? Bei wem kam er unter? Hat er sich bereits daran gewöhnt, unter neuem Namen groß zu werden? Das sind so Sachen, die mich gut davon abhalten, mir diesen Fluch aufladen zu lassen."
Die Wochen bis zu den Weihnachtstagen vergingen langsam, weil die anfallende Arbeit Aurora das Gefühl vermittelte, Monate zuzubringen. Mit der Okklumentik war sie nun fit genug, ihre eigene Lehrmeisterin aus ihrem Geist auszusperren. Doch würde das bei einem besser versierten Prüfer gelingen?
Neben der praktischen Zauberei und Zaubertrankbrauerei war die Grundausbildung Psychomorphologie noch dazugekommen, die jeden Samstag als Vorlesung und Seminar abgehalten wurde. Aurora mußte dabei nicht nur lernen, wie auf magische Weise das Gemüt und die seelische Verfassung eines Patienten ausgelotet werden konnte, sondern auch, welche Möglichkeiten es gab, durch Tränke, Gespräche oderGedächtnisveränderungszauber einzuwirken. Dieses Seminar sollte sie bis kurz vor die Abschlußprüfung belegen, auch wenn sie danach nicht ausdrücklich mit den erworbenen Kenntnissen weiterarbeiten mußte, falls sie sich nicht auf dieses Fachgebiet spezialisieren wollte. Sie mußte in der Simulationskammer immer wieder ihre glücklichsten und schrecklichsten Erinnerungen nachbetrachten, um sich damit auseinanderzusetzen. So kam es zuweilen vor, daß sie in ihren Träumen sich selbst als Kind traf und in hitzigen Diskussionen verstrickte, ob sie besser auf ihren Vater gehört hätte oder nicht. Als sie dann noch davon träumte, ihre eigene Mutter zu sein und sich in wilden Debatten mit ihrem ungeborenen Ich zu ergehen, befand sie, daß sie wohl nach der Zulassungsprüfung, sofern sie diese bestand, nicht weiter mit Psychomorphologie zu tun haben wollte, sondern sich dabei nur auf die Bereiche Konfliktbewältigung, Gedächtniszauber und Beruhigungstränke beschränken würde.
Wie froh war nicht nur Aurora Dawn, als sie in die sechs Sommerferienwochen um Weihnachten herum verabschiedet wurde. "Genieße das, Kind! Denn es werden die letzten längeren Ferien sein, die du erleben kannst", bemerkte Bethesda Herbregis, nachdem sie Aurora die üblichen vierundzwanzig Übungszettel in die Hand gedrückt hatte. Die HIP-Kandidatin fragte dann, ob sie mit Tim Preston über dessen Vorhaben, Heiler zu werden sprechen solle.
"Ich habe meinem Sohn Lazarus geschrieben. Da er wegen seiner Niederlassung und der eigenen Familie Weihnachten nicht aus Australien wegkommt fragt er, ob dein Schulkamerad am dritten Januar zu ihm nach Hidden Groves kommen möchte. Er wäre gerne bereit, die dafür anfallenden Reisekosten zu tragen, weil er wegen der Radiointoxikationsgeschichte schon dafür ist, daß ein Heiler ausgebildet wird, der von der Herkunft her schon gut damit vertraut ist. Allerdings weiß mein Sohn auch, daß Nachholprüfungen einen im Leben zurückwerfen können. Falls er nicht kann oder möchte, schicke bitte eine Expresseule an Lazarus Herbregis in Perth!"
"Danke, Meisterin Herbregis. Ich werde ihm vorschlagen, das irgendwie einzurichten. Allerdings könnte das von der Zeit her knapp werden, weil zwei Tage später die Rückkehr nach Hogwarts ansteht."
"Natürlich", erwiderte ihre Mentorin. "Bei deiner Mutter hängt eines deiner Portraitbilder, nicht wahr?"
"Ja, das stimmt", sagte Aurora Dawn.
"Dann bitte ich umm dein Vertrauen, in deiner Abwesenheit in dein Zimmer zu dürfen, um gegebenenfalls eine Terminkorrektur über die Verbindung abzusetzen." Aurora nickte. In die Zimmer der Adepten oder hier wohnenden Heilerinnen und Heiler kam außer dem auf dem Türschild ausgewiesenen Bewohner nur noch hinein, wer vor der Tür mit der Hand auf dem Knauf und von dem zutrittsberechtigten Bewohner bei der Hand gefaßt mündlich erfuhr, daß er einmal in der Woche in das Zimmer eintreten durfte. Als diese nötige Bestätigung erfolgt war flohpulverte sich Aurora zur Grenzstation und von da aus nach England, um von da aus direkt zum Haus ihrer Eltern weiterzureisen.
"Na, wieder sechs Wochen Urlaub, Aurora?" Fragte ihr Vater. Sie erwiderte, daß sie wohl einiges erledigen wolle, solange sie in der alten Heimat war. Vor allem wolle sie mit Tim Preston reden.
"Ms. Acer hat einen Brief geschrieben, daß Tim mit seinen Eltern in den Staaten unterwegs ist. Sein Vater hat immer noch mit Leuten zu tun, die wegen dieser Tschernobyl-Katastrophe aufgebracht sind. Die feiern Neujahr in New York."
"Oh, das wird aber dann schwierig. Meine Mentorin hat nämlich vorgeschlagen, daß er mit ihrem als Heiler spät eingestiegenen Sohn darüber redet, wie das gehen kann, daß er die für die Ausbildung nötigen Prüfungen nach Hogwarts noch ablegen kann und ob das wirklich so günstig wäre."
"Wir wissen nicht, wo Tim sein soll. Ms. Acer hat es uns nur erzählt, weil sie keine Eule um die halbe Welt schicken wollte. Ist erst einen Tag her, daß sie uns die Nachricht geschrieben hat", sagte Auroras Mutter. "Die ist ja jetzt bei ihren Eltern und damit ohne Flohnetz-Anschluß."
"Ach, das kriege ich so hin, Mum. Ich weiß ja, wie ein Telefon geht. Ich rufe die einfach bei ihren Eltern zu Hause an."
"Wenn du das möchtest, Aurora. "Aber am besten erst nach Weihnachten", sagte Hugo Dawn. "Muggel sind da genauso pingelig, was Familienfeiern angeht. Abgesehen davon käme das vielleicht nicht gerade gut, wenn du bei ihr hereinschneien möchtest, wo vielleicht Verwandtschaft im Haus übernachtet."
"Deshalb will ich ja mit ihr fernsprechtelefonieren, Dad", knurrte Aurora. "Bei der Gelegenheit kann ich der auch fröhliche Weihnachten wünschen, und das ist völlig in Ordnung so."
"Wenn du meinst, Kind", grummelte Mr. Dawn. "Ich werde übrigens am sechsundzwanzigsten Dezember in Toledo in Spanien sein, weil da die Posteulenzüchterkonferenz stattfindet. Ach ja, und ich habe mir die Freiheit genommen, Madam Pomfrey zu bitten, dir die Ausgaben des Heilerherolds der letzten Monate zuzuschicken, wenn du wieder in England bist. Könnte ja doch sein, daß du nach der Zulassungsprüfung wieder zu uns zurückkommen darfst." Seine Frau sah ihn jedoch abschätzig an und wandte ein:
"Hugo, du vergißt das immer wieder, daß Aurora sich der australischen Heilzunft verschrieben hat. Die kann sich nach der Ausbildung nicht einfach hier in Britannien einen Job suchen. Das haben uns diese Laura Morehead und Auroras Chef doch erklärt, als sie da waren."
"Hätte ja sein können, daß sie wegen der Commonwealth-Zugehörigkeit nicht da bleiben muß, wenn ihre Ausbildung vollendet ist", knurrte Hugo Dawn. Aurora wandte dann noch ein, daß sie nach der hoffentlich bestandenen Zulassungsprüfung ja dann noch das praktische Jahr in der Sano überstehen müsse. Abgesehen davon hat Mum es richtig behalten, daß ich mich schriftlich verpflichtet habe, in Australien zu praktizieren. Das habe ich damals gründlich überlegt, was das heißt, Dad. Aber ich möchte auch selbständig leben können, und so wie du dich gerade aufführst kann ich dafür nicht weit genug von dir wegwohnen." Ihr Vater funkelte sie mit jenen graugrünen Augen an, die sie selbst besaß und knurrte was unverständliches, wagte jedoch nicht, noch mehr in diesem brodelnden Kessel herumzurühren.
"Priscilla und Myles Boot sind bei den Woodlanes. Jetzt, wo der kleine Nathanael ins Laufalter kommt wollen sie ihm den ersten Weihnachtsbaum bieten", sagte Aurora. "Petula hat's mir über die Bildverbindung mitgeteilt", fügte sie noch hinzu.
"Vor allem werden sich Petulas Eltern freuen, ihren Enkelsohn zu betüddeln", wandte Hugo Dawn ein. Aurora überlegte, ob sie ihm darauf nicht eine passende Antwort geben sollte. Doch sie war mit der Einstellung in ihr Elternhaus gekommen, sich nicht unnötig zu streiten. Dafür antwortete ihre Mutter:
"Das hast du jetzt gerade nötig, wo du unserer einzigen Tochter vorschlagen wolltest, nach der Endprüfung hier wieder einzuziehen." Hugo Dawn knurrte erneut und wandte sich dann dem Ausgang des Wohnzimmers zu. Aurora verstand, daß er nun ins Bett wollte. Sie nahm deshalb noch rasch den Ortszeitanpassungstrank ein, um sich auf die hier geltende Abendstunde einzustimmen. Dann wünschte sie ihren Eltern eine gute Nacht und legte sich in das Bett in ihrem früheren Kinderzimmer. Dabei dachte sie daran, daß sie wohl doch wirklich aus diesem Haus herausgewachsen war. In der Ferne hörte sie junge Leute lachen. Das waren die Kinder von damals, mit denen sie in ihren ersten Lebensjahren noch spielen durfte, bis sie einem frechen Jungen dessen nach ihr geworfenen Schneeball zurückgelenkt hatte. Die waren also auch jetzt bei ihren Eltern und feierten dort Weihnachten. Morgen würde sie ihre Mutter fragen, ob sie was von den Muggelnachbarn mitbekommen habe. Es erschien ihr eine gute Erholung vom immer härter gewordenen Lernstreß.
"Wundert mich nicht, daß du fragst, Aurora. Die Mary, mit der du damals durch die Wiesen und Felder gelaufen bist, hat sich vor einem Monat mit einem aus Manchester verlobt. Und Chris, dem du damals seinen Schneeball magisch verändert zurückgeschickt hast studiert jetzt in Oxford. Zwischendurch rede ich noch mit den Nachbarn", sagte Regina Dawn, als Aurora sich am nächsten Morgen über die Anwohner informierte. "Tja, und Jenny Benson wird bald selbst Mummy, obwohl keiner außer ihr und dem dazu gehörenden Burschen weiß, von wem sie es kriegt. Ihre Eltern haben es mir erst gestanden, als ich Jenny mit sichtbarem Bäuchlein durch die nächste Siedlung habe gehen sehen. Ich fürchte, die wird sich schnell woanders was suchen, um dem ständigen Kreuzverhör zu entgehen, weil jeder jetzt wissen will, von wem das Baby ist."
"Jenny, die freche kleine, die mir mal die Haare verdreht hat?" Fragte Aurora Dawn. Da waren Jenny und sie gerade fünf. Doch Jenny war nicht viel größer als eine Dreijährige gewesen.
"Zumindest wissen wir, daß der Kindsvater nicht aus der alten Rasselbande stammt", erwiderte Auroras Mutter mädchenhaft grinsend. "Die fragen mich natürlich, was du so machst, seitdem du in dieser "privaten Mädchenschule im Ausland" warst. Ich habe da gesagt, daß du in Australien Heilkunde studierst. Ist ja nicht mal gelogen."
"Und die fragen dich nie, wieso ich nicht nach Cambridge, Oxford oder London gegangen bin?" Wollte Aurora wissen.
"Da habe ich erzählt, daß es ein Gaststipendium für die Schule gab und du dir bei der Gelegenheit die weite Welt ansehen wolltest, wo du sieben Jahre "eingepfercht" gelebt hast." Aurora grinste jetzt auch. Dann half sie ihrer Mutter bei den letzten Weihnachtsvorbereitungen. Hugo Dawn traf sich mit Eulenzüchtern, um die Auswahl magisch empfänglicher Eulen zur Nachzucht von Posteulen zu debattieren. Übermorgen wollte er schon im spanischen Toledo sein. Als Aurora mit ihrer Mutter die Neuigkeiten aus der Nachbarschaft ausgetauscht hatte, apparierte sie am Stadtrand von Devon und suchte eine jener Kabine auf, die wie rechtwinklig zusammengesteckte Glasscheiben mit roten Rahmen aussahen und die klobig wirkenden Fernsprechapparate beinhalteten, mit denen Leute mit anderen Leuten sprechen konnten. Auroras Mutter hatte ihr einen kleinen Lederbeutel mit Muggelmünzen und Papiergeld mitgegeben. Aurora beachtete die an ihr vorbeibrummenden Selbstfahrwagen nicht, die bläuliche Rauchfahnen aus ihren Hinterteilen ausbliesen. Sie betrat die Kabine und kramte einen kleinen Zettel hervor, den Vivian Acer ihr mit einem Eulenbrief zugeschickt hatte. "Das ist die Telefonnummer meiner Eltern, falls du zwischen den Jahren mal an ein Telefonhäuschen drankommst", stand darauf und dann eine Folge von Zahlen, die nach dem abnehmen des bananenförmigen Hör-und-Sprechteils und dem Einwerfen einiger Münzen auf den Tasten getippt werden sollten, wie Aurora es im Muggelkundeunterricht von ihren Mitschülern Roy und Bruster gelernt hatte, wo ihr alter Lehrer Goldbridge noch mit einem Drehscheibenfernsprechapparat die Funktion beschrieben hatte. So nahm sie das Ding, daß sie als Telefonhörer beschrieben bekommen hatte und lauschte kurz. Dann warf sie einige Münzen ein, worauf es klickte und dann ein rauher Dauerton aus dem für das Ohr gedachten runden Teil kam. Aurora tippte nun die auf dem Zettel stehenden Zahlen ein, wobei bei jeder ein zweiklangpiepton zu hören war. Als sie alle Zahlen eingetippt hatte klickte es im Hörer und der rauhe Ton klang wieder, aber langgezogen mit Pausen.
"Ja, Acer", kam die Stimme einer Frau aus dem Hörteil. Aurora rief laut hinein: "guten Tag, Mrs. Acer, Aurora Dawn hier! Ich war mit Vivian in der Schule! Ist sie da?!
"Ha ja, Moment, Ms. Dawn", erwiderte Vivians Mutter leicht gequält klingend und rief dann von Auroras Ohr weggklingend: "Vivian, deine frühere Schulkameradin Aurora Dawn am Telefon! Beeil dich bitte! Vielleicht ist die gerade noch in Australien!"
"Ich komme!" Hörte Aurora Vivians Stimme aus großer Entfernung. Es dauerte zehn Sekunden, da ruckelte und raschelte es im Hörteil und Vivians Stimme klang, als würde sie Aurora direkt ins rechte Ohr sprechen:
"Hi Aurora! bist du noch bei den Känguruhs?"
"Nein! Ich bin in Devon!" Brüllte Aurora zurück. Sie sah auf das Zählfenster und stellte fest, daß sie schon etwas mehr als fünfzig Muggelpence verbraucht hatte. Schnell warf sie noch ein paar Münzen nach.
"Hau, Aurora, in ein Telefon kannst du ganz normal reinsprechen, als wenn du mit wem zusammenstehst, wenn das jetzt nicht so überheblich rüberkommt." Aurora fühlte, wie sie errötete. Das war es noch, was sie von der Beschreibung eines Telefons nicht mehr wußte. Dann sagte sie mit normaler Lautstärke:
"'tschuldigung, Vivian, wollte dir kein Ohr abbrüllen. Ich wollte dir und deinen Eltern frohe Weihnachten wünschen und fragen, wie ich Tim Preston erreichen kann."
"O hast du genug Geld bei dir, weil das bestimmt teuer wird. Der ist mit seinen Eltern in New York. Sein Vater will da etwas Urlaub von den Antiatomkraftdemonstranten machen, die seit Tschernobyl an den Absperrungen von Gladfield Powers trommeln, damit der Laden abgeschaltet wird. Hmm, wir haben im Moment besuch von meinen Großeltern aus Hastings. Aber ich könnte zum Bahnhof Paddington fahren. Ist von uns aus mit der Röhre kein Thema. Kennst du den?"
"Könnte hinfinden, wenn du mir den beschreibst", erwiderte Aurora ruhig und ließ sich kurz die Umgebung und das Gebäude beschreiben. Dann sagte sie: "Okay, ich treffe dich dann dort auf der Damentoilette." Vivian bestätigte und sagte dann ruhig: "Geht in Ordnung, Aurora. Dann so in einer Stunde? - Kein Problem." Aurora verstand, daß das jetzt für ihre mitlauschenden Verwandten war. Dann wünschte sie Aurora noch bis dahin alles gute und legte auf. Aurora vertrieb sich die Zeit bis zum Termin noch in der Muggelstadt, begutachtete die Weihnachtsdekorationen in den Fenstern und warf einem "Hohoho" grüßenden Weihnachtsmann ein paar Münzen in die Blechdose. Sie gönnte sich den kurzen Ausflug in einen Spielzeugladen, wo sie die ohne Magie von selbst laufenden und klingenden Spielsachen bestaunte und sich bei der Verkäuferin nach Sachen für einjährige Jungen erkundigte, die ohne Batterien und giftige Stoffe verarbeitet waren. Als sie den Laden wieder verließ trug sie ein Geschenkpaket mit einem flauschigweich verarbeiteten blauen Stoffwesen mit einer weißen Mütze, daß ihr die Verkäuferin als Schlafschlumpf beschrieben hatte. Von diesen Wesen, die wie Wichtel mit Mützen aussahen, hatte sie noch nichts gehört. Aber Vivian konnte ihr da bestimmt mehr drüber erzählen.
Bevor sie zum Londoner Bahnhof Paddington apparierte, suchte sie sich einen abgeschirmten Ort, wo sie einen vollständigen Unsichtbarkeitszauber auf sich anwandte, der so lange vorhalten würde, bis sie einschlief oder ihn wieder von sich abfallen ließ. Dann verschwand sie leise und kam in der Nähe des Bahnhofsgebäudes heraus, wo sie fast von einem dieser Autowagen überfahren wurde, weil dessen Lenker sie ja nicht sehen konnte. Sie betrat die Damentoilette und stellte fest, daß sie wider alle Schreckensmeldungen über die Verhältnisse in öffentlichen Muggelbaderäumen doch relativ sauber gehalten wurde. Eine Muggelfrau in einer Schürze saß mit einem Sammelteller auf einem Hocker im Vorraum. Offenbar war die hier für die Reinigung zuständig und würde es wohl mitkriegen, wenn jemand aus dem Toilettentrakt herauskam, obwohl sie den oder die vorher nicht hineingehen sah. So mußte Aurora sich noch einmal zurückziehen und eine günstige Gelegenheit abpassen, wo keiner ihr beim Sichtbarwerden zusehen konnte. Als sie eine halbe Minute für sich hatte enttarnte sie sich und ging dann wieder in Richtung Toiletteneingang. Da traf sie auch schon auf Vivian.
"Bist du direkt vor dem Gebäude angekommen? War wohl ziemlich riskant", zischte Vivian der ehemaligen Mitschülerin zu.
"Deshalb wollte ich ja eine Toilettenkabine zum Auftauchen suchen. Aber die Muggelfrau im Eingang würde sonst komisch gucken, wenn da wer rauskommt, der nicht vorher an ihr vorbeigelaufen ist. Dann hätte ich auch gleich da ankommen können", wisperte Aurora. "Wir müssen dann wohl mit eurer Röhren-Untergrundbahn zurückfahren, weil du ja noch die Spur auf dir hast. Nachher verknacken sie dich noch wegen Apparition vor Muggeln", entgegnete Aurora. Vivian sah etwas enttäuscht drein. Offenbar hätte sie es gerne mal ausprobiert, mit einer Apparatorin zusammen den Standort zu wechseln.
"Ich kriege ab Februar ja den Kurs. Mein Vater glubscht zwar, weil er das immer noch nicht kapiert, daß wir das machen können, will aber die Zwölf Galleonen rausrücken, damit ich das lernen kann", erwiderte Vivian. "Ich lege für uns aus."
Mit der ziemlich gut besetzten U-Bahn, wo Aurora Muggel aus aller Herren Länder und allen Gesellschaftsschichten beobachten durfte, ging es in ein Wohnviertel am Südwestrand von London, wofür sie mit einmal Umsteigen eine halbe Stunde brauchten. Dabei sprachen sie über Tim, ob Vivian und er sich noch gut vertragen würden und über ihre Eltern, um bloß keine Zaubererweltthemen anzuschneiden.
"Ach, Jetzt sehe ich Sie mal in Natur", meinte Mr. Acer, als Aurora Dawn mit Vivian das Haus betrat.
"Vivian sagte was, sie wären gestern vom Land unten drunter herübergekommen. Ist das nicht auch für Sie 'ne ziemlich weite Strecke?"
"Für Weihnachten mache ich das gerne. Kann ja bis zum vierten Januar hierbleiben", sagte Aurora ruhig.
"Meine Eltern sind zu Besuch", flüsterte Mr. Acer. "Sonst würde ich Sie gerne wegen dieses Teleportationskurses fragen", raunte er noch. Aurora bot an, Vivian einen Brief zu schreiben, um die Fragen zu beantworten.
Mrs. Acer käbbelte sich mit ihrer Schwiegermutter in der Küche. Offenbar ging es darum, wer für die Weihnachtsvorbereitungen zuständig war. Sie hieß die kurze Unterbrechung willkommen, als Vivian ihre frühere Mitschülerin vorstellte. Vivians Großmutter, von der sie den Nachnamen hatte, bewunderte den Braunton von Auroras Haut und plauderte einige Takte mit ihr über Australien, wo sie mit ihrem Mann die Flitterwochen verbracht habe. "War damals eine aufregende Tour mit dem Schiff. Wir haben mehr als eine Woche gebraucht, und dabei Honkong und Singapur besichtigt. Wie lange dauert das heute mit dem Düsenflugzeug?"
"Hmm, so einen Tag", fiel Aurora rechtzeitig ein, was Tim ihr von den Muggelflugzeugen erzählt hatte. "Auch noch ziemlich lange", ergänzte sie, was eindeutig nicht gelogen war.
"Mum, du wolltest das mit dem Truthahn noch aus der Welt haben, bevor Marlon und Jessica kommen", wandte Vivians Mutter ein. Ihre Schwiegermutter nickte.
"Ich hörte von Vivian, daß Sie mit ihr in einer Handballmannschaft gespielt hätten und ihr bei den Biologiehausaufgaben gut geholfen haben, weshalb sie in diesem Internat ja eine sehr gute Zwischenprüfung machen konnte. Was machen Sie jetzt?"
"Ich habe ein Medizinstipendium in Sydney bekommen. Die hatten einen Platz frei und für mich war das genial, mal richtig von zu Hause wegzukommen", erwiderte Aurora Dawn.
"Oh, dann werden Sie also Ärztin", erwiderte Vivians Oma. "Hoffentlich sind Sie da nicht so überheblich, wenn Sie mit Rangniederem Personal zu tun haben."
"Ich hoffe mal nicht", erwiderte Aurora, die sich arg beherrschen mußte, nicht verärgert dreinzuschauen, als Ärztin bezeichnet zu werden.
"Meine Oma ist Oberschwester in einem Krankenhaus, mußt du wissen", erklärte Vivian, warum ihre Großmutter das von eben gesagt hatte.
"Ja, und meine voll aprobierten Kollegen kucken mich manchmal so an wie eine ordinäre Haushälterin oder Putzfrau. Nur Hebammen sind da noch niedriger in der Behandlung."
"Nun, Mum, dann darfst du jetzt unseren Truthahn verarzten", knurrte Vivians Mutter.
"Verarzten kommt für den wohl definitiv zu spät", warf Vivian frech ein. Ihre Oma funkelte sie dafür etwas vergrätzt an, während ihre Mutter lachte. Dann führte die athletisch aussehende Junghexe ihre frühere Schul- und Quidditchkameradin in ihr Zimmer, in dem sogar ein kleiner Fernsehapparat stand.
"Ich wollte zwar auch ein eigenes Telefon haben, aber meine Eltern meinen dann, ich würde den ganzen Tag nix anderes mehr machen", erwiderte Vivian und hantierte an einem Gerät, von dem links und rechts dünne, von einem schwarzen Zeug umwickelte Drähte zu kleinen Kästen mit Fellbezügen führten. Da erklang Musik und eine übermäßig muntere Männerstimme: "Und das war wieder ein brandaktueller Hit auf Radio eins, dem angesagtesten Sender im ganzen Königreich."
"Stör dich nicht an dem, der ist Meilen weit weg von uns und hört uns nicht", meinte Vivian, als Aurora erst auf die Lichter an dem für sie fremden Ding blickte. Dann kapierte sie, daß es ein Radiogerät der Muggel war. "Ich kann auch 'ne CD reintun", meinte Vivian, als der Radiosprecher weiter seine flotten Sprüche klopfte. Aurora sagte nur, daß ihr das Radio nichts ausmachte. Dann unterhielt sie sich leise mit Vivian über Tims Pläne.
"Hui, das wird aber eng. Der kommt genau dann einen Tag vor der Rückfahrt nach Hogwarts aus New York wieder und kann da nicht so einfach von seinen Eltern weg. Hat deine Lehrmeisterin keinen anderen Termin finden können? Ich meine, in Kräuterkunde macht der den ZAG noch mal, damit er den zumindest hat. Aber mit Snapes Fach ist es essig. Und das braucht der unbedingt?"
"Sagen wir's so, die bringen einem da schon die wirklich heftigen Sachen bei und setzen eine ganze Menge voraus, für die du die UTZs brauchst."
"Das habe ich dem auch erzählt, weil ich bei Snape ja weiterlerne. Ist und bleibt ein parteiischer Wicht. Die Buckley ist nur halb so gut wie ich und räumt trotzdem für ihre Räuberhöhle Punkte ab, während ich noch aufpassen muß, keine Punkte zu verjubeln. Aber ich mach das, weil ich mich möglichst frei für alle möglichen Sachen halten will. Tim wollte ja auch nicht das machen, was du machst. Aber als du ihn dann wegen dieser armen Leute in diesem Dorf Resting Rock gefragt hast, was der alles über Strahlung weiß - was ja echt eine Menge ist - hat er gemeint, die bräuchten bei euch Leute, die sich mit sowas auskennen. Tja, aber jetzt ist er in der siebten. Mit dem E in Snapes Fach kam der bei dem nicht rein, und ob der den Krempel nach der Schule aufholen kann ist mir nicht ganz klar."
"Dann werde ich wohl meiner Mentorin mitteilen müssen, daß das mit dem Termin nicht klappt und sie ihrem Sohn bitte ausrichtet, es wäre sehr nett gewesen und Tim sich bedankt hätte, aber mit seinen Eltern nun einmal weit ab von den üblichen Linien im Urlaub ist. Aber apparieren kann der doch schon", flüsterte Aurora.
"Aber sicher. Nur mitnehmen wollte der mich nie, dieser Kerl", knurrte Vivian. Na ja, im April werde ich siebzehn und kann da die Prüfung machen. Dann kann der mich mal mit seinen Einschränkungen."
"Dann ginge da vielleicht doch was, falls ich einen Punkt in den Staaten finde, von dem aus er und ich das internationale Flohnetz benutzen können, weil den Muggelgesetzen nach ist er ja noch nicht volljährig."
"Kennst du wen, der wen in den Staaten kennt?" Fragte Vivian.
"Dione Craft, ähm Porter, die Kosmetikerin. Deren Schwwägerin lebt in New Orleans. Müßte eigentlich gehen, Tim für drei Stunden oder so von seinen Eltern loszukriegen."
"Hmm, zeitverschiebung, Aurora. Wann soll dieses Geplauder denn über die Bühne gehen?" Wollte Vivian wissen.
"Am dritten Januar. Was die Uhrzeit angeht habe ich noch keine Ahnung."
"Hmm, New York liegt in einer Zeitzone fünf Stunden hinter unserer. Sydney sind wohl zwölf stunden, oder. wären dann also siebzehn Stunden Zeitunterschied", bemerkte Vivian. Aber ansonsten. Wenn dir wer sagen kann, wo Tim hinapparieren kann, um einen Flohnetzanschluß zu kriegen ..."
"Ich seh zu, den heute abend noch anzurufen", erwiderte Aurora. "Hast du diese Fernsprechzahlen denn von dem Gasthaus, wo er wohnt?"
"Das Hilton ist ein ziemlich großes Gasthaus", grinste Vivian. "Aber ich habe die Nummer. Würde dir aber dringend empfehlen, den erst nach zehn Uhr seiner Zeit anzurufen, was bei uns dann aber gerade drei in der Frühe ist. Da in eine öffentliche Telefonzelle reinzugehen ist für uns Mädels wohl nicht besonders empfehlenswert."
"Weshalb?" Fragte Aurora unwissend.
"Da laufen Typen rum, die Mädchen überfallen um die mit Gewalt zu nehmen. 'ner Cousine von mir wäre das fast mal passiert, als sie nach der Disco nicht mit dem Taxi nach Hause wollte, weil der Laden ja nicht weit von ihren Eltern weg war. Da hat die so'n Typ ziemlich fies angemacht und hätte die fast flachgelegt, wenn die kein Karate gekonnt hätte. Ansonsten wird's schwierig."
"Mit triebhaften Muggeln kämpfen hatte ich nicht vor", meinte Aurora Dawn verstimmt dazu. "Aber ich erkundige mich zumindest mal, wegen einem Flohnetzanschluß. Ob der von Amerika auoder England aus nach Hidden Groves reist ist dann eh egal."
"Weißt du was. Ich ruf den von hier aus an. Meine Großeltern können ruhig wissen, daß ich einen Freund habe, damit die merken, daß ich kein kleines Mädchen mehr bin."
"Das wäre sehr nett, Vivian. Ich sage dir dann, wann und wie er seine Eltern mal für drei Stunden alleine lassen kann." Vivian nickte. Aurora unterhielt sich mit ihr dann noch über das laufende Schuljahr und Auroras spektakulärste Fälle, wobei sie den Infanticorpore-Fall zumindest erwähnte, ohne Namen zu nennen.
"Als Baby noch mal neu anfangen? Danke, muß echt nicht sein. Meine Eltern und Oma Grace glauben ja eh noch, daß ich gerade erst aus den Windeln rausgewachsen bin. Das ich selbst schon Brüste habe und jeden Monat aufpassen muß, nicht schwanger zu werden fällt auch der Oberschwester nicht ein."
"Ist auch nicht das, womit ich mal aufhören oder anfangen will, Vivian", stimmte Aurora Dawn zu.
"Ja, und der Typ, der fast die Zwillingsschwester seiner Freundin geblieben wäre. Öhm, wußte gar nicht, daß dieser Trank das hergibt", flüsterte Vivian, während Radio eins weiter flotte Titel erklingen ließ.
"Geht auch wirklich nur in dieser Kombination, Vivian", erwiderte Aurora. "Aber pssst, mußt du Snape nicht aufs Brot schmieren, daß du das weißt."
"Den will ich auch nicht als meine Zwillingsschwester haben", knurrte Vivian leise. Dann redete sie mit Aurora über die verschiedenen Lebensweisen in Australien und England, bis Mrs. Acer anklopfte und fragte, ob Aurora noch zum Abendessen bleiben möge. Aurora mentiloquierte es ihrer Mutter und nahm die Einladung an. Während des Essens besprach sie mit Vivians Großmutter ihre Eindrücke von Australien, wobei sie sich da einiges aus den Fingern saugen mußte. Aber sie war mit Heather mal im Sydney der Muggel gewesen und konnte daher einige Sehenswürdigkeiten erwähnen, die die Acers auch kannten.
"Möchten Sie sich auf etwas spezialisieren, wenn Sie Ihren Doktor gemacht haben?" Fragte Vivians Großmutter. Aurora fand, daß das die Frage war, die sie selbst sich gerne einmal beantworten würde. Wollte sie in der Zaubertrankforschung weitermachen, oder wollte sie doch eine universelle Heilerin werden? Sie wich einer konkreten Antwort aus, indem sie sagte, daß das davon abhängig sei, was ihr bei den Prüfungen am besten gelänge und in welcher Kombination sie damit was anfangen konnte.
"Dann müssen Sie ja eh den Weg über das praktische Jahr machen", erwiderte Mrs. Acer. "Ich habe Mitarbeiterinnen, die es leid waren, als Krankenschwestern immer nur zweite Klasse zu sein und noch Medizin studiert haben. Die wurden dann aber niedergelassene Ärztinnen, viele davon für Frauen- oder Kinderheilkunde, weil Ärztinnen da angeblich mehr Feingefühl für hätten als Ärzte."
"Ich habe mir schon ein paar Geburten ansehen dürfen", sagte Aurora. "Aber nur für sowas will ich eigentlich nicht spezialisiert sein. Ich habe es da eher mit den Wirkstoffen."
"Dann könnten Sie doch in die Forschung rein. Die Giftmischer von der Pharma-Industrie arbeiten ja gerne mit Ärzten zusammen, um ihre Cocktails mit weniger Nebenwirkungen hinzukriegen. Besonders jetzt, wo diese Dreckwolke aus Rußland über den Kontinent weggezogen ist wird da demnächst wohl viel neues zu forschen sein", wandte Vivians Großvater ein.
"Das war die Ukraine", berichtigte Vivians Vater.
"Das gehört aber den Russen", beharrte sein Vater auf dem was er gesagt hatte. "Schon 'ne Riesenschweinerei, die die sich da geleistet haben."
"Nichts für ungut, Dad, aber als ich dir erzählt habe, daß der Vater von Vivis Freund leitender Ingenieur in Gladfield Powers ist hast du getönt, daß das die einzig sichere Energiequelle der Zukunft sei, wenn uns "die Mullas und Allah-Anbeter" doch mal den Ölhahn komplett zudrehen."
"Jungchen, das mußt du relativieren. Die AKWs von den Russen sind doch total kaputte Anlagen und ohne Sicherheitsinspektionen. Hauptsache die laufen und machen neben Strom noch genug Plutonium für deren Bomben. Wir in England und überhaupt im Westen haben bessere Sicherheitsmechanismen in unseren AKWs drin. Nur die Kommis werden den Teufel tun, uns zu bitten, ihnen welche davon zu verkaufen. Eher warten die darauf, daß ihnen noch so'ne Strahelnschleuder um die Ohren fliegt oder deren KGB ihnen die Unterlagen zusammenklaut, um selbst welche bauen zu können, wie sie's mit der Bombe und dem Computer ja auch gemacht haben."
"Mum, Dad, nichts für ungut. Aber ohne jetzt einen Streit vom Zaun zu brechen möchte ich doch darum bitten, daß wir die Politik doch besser bis nach Weihnachten außen vorlassen", sagte Vivians Mutter. Du wolltest wissen, ob Ms. Dawn in die Pharma-Forschung einsteigen würde, Mum. Wenn Vivian uns nicht beschwindelt hat könnte die dort wohl was werden." Vivian nickte. Aurora ergriff noch einmal das Wort.
"wie erwähnt möchte ich erst einmal die Zulassung schaffen und dann erst sehen, ob und wo ich mich dann spezialisiere. Vielleicht mache ich auch irgendwo 'ne Praxis auf."
"Moment mal, im Land unten drunter gibt's doch die fliegenden Ärzte. Vielleicht suchen die da eine, die sich traut, mit so'nem Buschpiloten über Land zu fliegen, um die Schafzüchter und Ureinwohner zu behandeln", sagte Mr. Acer mit einem jungenhaften Glanz in den Augen. "Da hätte ich damals auch was werden können. Aber nachdem die Nazis mich über Hamburg vom Himmel geschossen haben und mir dabei der Unterschenkel flötengegangen ist ist das nix mehr gewesen mit der Fliegerei." Aurora mußte kurz überlegen. Gab es diese fliegenden Ärzte wirklich oder beschwindelte der ältere Herr sie da? Jetzt durfte sie bloß keine falsche Antwort geben. Ihre frühere Hauskameradin erkannte das wohl auch und sprang ein:
"Ja, stimmt, der Service ist ja so vor fünfzig Jahren gegründet worden, weil die gemerkt haben, daß sie die Leute im Busch nur mit Flugzeugen schnell erreichen können, wenn sie nicht gleich auf deren Begräbnis ausgehen. Das wäre doch dann was für dich, Aurora. Wenn wer ruft, schnell hinfliegen, helfen und dann wieder zurück und dabei noch 'ne interessante Landschaft unter dir angucken."
"So direkt habe ich das nicht überlegt, weil ich da wie erwähnt erst mal zu Ende lernen will. Aber falls die eine Expertin für alle möglichen Notfallsachen haben wollen, könnte ich gucken, ob ich mich drauf spezialisieren kann", sagte Aurora nun gelassen und zwang sich, nicht innerlich zu grinsen, weil sie daran dachte, daß die Sana-Novodies-Klinik diesen Dienst für magische Menschen schon seit knapp einhundert Jahren betrieb. Aber schon eine Leistung, mit Flugmaschinen schnell einen abgelegenen Winkel im Busch anzusteuern, wo die Dinger doch so schwerfällig vom Boden wegkamen und bei der Landung lange Auslaufbahnen brauchten. Ihr war dann auch klar, daß die Muggel dort diese Zweiwegeradios haben mußten, um diese fliegenden Ärzte zu Hilfe zu rufen. Diese Geräte waren schon sehr praktisch, um Kontaktfeuer und Mentiloquismus zu ersetzen.
"Na, dann hoffe ich mal, daß Ihre Aprobation klappt, junge Frau, damit Sie rauskriegen, ob das was für sie ist", wünschte Vivians Großmutter Aurora Dawn. Dann drehte sich das Gespräch noch um Weihnachten, wie es früher gefeiert worden war und wie es heute ablief, was für Aurora ein interessantes Studienfeld war. Anschließend geleitete Vivian ihre Schulfreundin zum Bahnhof Paddington zurück.
"Meine Großeltern können zwar regelrechte Nervensägen sein, haben aber auch tolle Sachen erlebt und viel mitbekommen", sagte Vivian unterwegs in der U-Bahn. "Hast du ja mitgekriegt, daß mein Opa im zweiten Weltkrieg mit dabei war. Dafür kriegt der heute noch 'ne tolle Veteranenrente von der Luftwaffe, weil er halb Hamburg in Schutt und Asche gelegt hat. Aber damals hatte Frieden wohl keine echte Chance. Und Oma Grace ist nicht sonderlich auf Ärzte zu sprechen, weil die sie eben von oben herab behandeln. Da kannst du diesen Wunsch von ihr schon als echtes Kompliment nehmen. Wenn die wüßte, daß du das jetzt schon machst, in der Wildnis rumkurven und Leute da behandeln", kicherte sie dann noch. Dann wiederholte sie noch einmal, daß sie Tim anrufen würde, um ihm von dem Gesprächsangebot zu erzählen. Aurora bedankte sich für diesen höchstinteressanten Nachmittag und bot ihr an, zwischen den Jahren mal zu ihr rüberzukommen, um vielleicht auch ihre Großeltern mal kennenzulernen. Vivian freute sich schon darauf.
Zu Hause berichtete Aurora ihren Eltern, was sie erlebt hatte. Ihr Vater nickte, als er das mit den fliegenden Ärzten hörte.
"Hatte ich mich mal mit einem australischen Cockaburra-Züchter drüber, daß die Muggel ihre Funksprecher und Motorflugmaschinen jetzt dafür einsetzen können, Leuten nach Unfällen oder bei Krankheiten zu helfen." Aurora nickte.
"Ihr habt ja sowas nicht, Krankenschwestern", meinte Regina Dawn. Aurora schüttelte halbherzig den Kopf.
"Im Grunde sind wir Adepten sowas, nachdem, wie ich das von Vivians Großmutter rüberbekommen habe. Wir dürfen Sachen verabreichen, Leute überwachen und kleinere Behandlungen durchführen. Das ist im Grunde das, was die Krankenschwestern der Muggel machen, während die wirklichen Spezialisten die Anweisungen geben und die Aufgaben verteilen, um nur bei den wirklich dringenden Fällen anwesend zu sein." Ihre Mutter nickte dazu.
Um die Weihnachtsfeiertage herum besuchten die Dawns beide Großelternpaare Auroras und feierten bei Tante June und Onkel Anthony den zweiten Weihnachtstag. Auroras Spontankauf im Muggelladen erfreute sich dann am siebenundzwanzigsten Dezember einer gewissen Belustigung bei Priscilla und Myles Boot, wo auch die Fieldings anwesend waren.
"Schlümpfe, immer noch voll angesagt", meinte Roy Fielding. "Ich hatte mal alle hundert erwähnten Schlümpfe als Hartgummiexemplare. Aber ich fürchte, die sind nach Ericas und meinem Abgang aus der Muggelwelt unter viele bedürftige Jungs und Mädchen verteilt worden. Und wenn ich für Tommy so'n blauen Plüschkobold besorge, zerfleddert Sonni den ganz sicher, weil der dann eifersüchtig wird, daß wer sowas ihm vorziehen könnte."
"Hört mir bitte auf mit Knieseln, sonst muß ich gleich nieseln", knurrte Myles Boot und blickte besorgt zu Tom Fielding und seinem kleinen Sohn Nathanael hinüber, der die rehbraunen Augen seiner Mutter geerbt hatte. Alle lachten über das Wortspiel. Nur Aurora konnte das nicht sonderlich lustig finden. Immer noch wußte sie nicht, wo der von ihr auf die Welt geholte Knieselkater Krummbein abgeblieben war. Sich damit anzufreunden, daß er von Muggelwagen totgefahren worden sein könnte hatte sie bis heute nicht geschafft. Aber der Lern- und Arbeitsstreß brachten sie immer wieder von ihm ab, zumal sie ja wirklich tausende Meilen entfernt war.
Abends im Haus der Dawns erfuhr Aurora, daß Lazarus Herbregis es nun eingerichtet hatte, daß er am zweiten Januar mit Tim Preston sprechen konnte. Dione Porter hatte auch geschrieben und sie an ihre Schwiegermutter Jane verwiesen, die Aurora damals getroffen hatte, als Roy und Tim von den Sabberhexen verschleppt worden waren. So begab sie sich am 29. Dezember per Flohnetz in die vereinigten Staaten von Amerika und landete dort im Kamin des betrunkenen Drachens, wo sie nicht nur Jane Porter antraf, sondern auch die berühmte Verwandlungsgroßmeisterin Maya Unittamo, von der sie über Eunice Dirkson schon viel gehört hatte.
"Zweiter Januar? Wenn die erst zwei Tage später abreisen ging es gerade noch, wenn Ihr Schulkamerad ein Einzelzimmer in diesem Hilton-Hotel hat, können Sie dem sagen, daß er von diesem Zimmer aus in diesen Raum hineinapparieren kann. Wann soll das informative Gespräch stattfinden?" Wollte Jane Porter wissen.
"Gegen sechs Uhr abends der Neusüdwales-Zeit, zurückgerechnet auf Ihre Zeitzone hier also am ersten Januar um elf Uhr abends oder so."
"Dann klären Sie mit ihrem interessierten Hauskameraden, ob er um diese Zeit unbemerkt fort kann!" Empfahl Jane Porter. "Paßt auch gut, wweil Bachus und Phil den Laden hier noch bis Mitternacht auf haben. Wenn er in die Staaten zurückkehrt kann er dann bei mir aus dem Kamin klettern. Ich halte mich dann bis drei in der Früh bereit."
"Wie kann ich Ihnen das vergüten?" Fragte Aurora Dawn.
"Indem dieser junge Mann es hinbekommt, diese Nachholsachen zu lernen und auch zu Ihrer Zunft stößt. Nachdem was ich über diese Strahlungssachen gehört habe wurde mir richtig Mulmig, weil es dagegen keinen Schutzzauber gibt und ich als Laveau-Hexe nicht gewöhnt bin, gegen unsichtbare Zerstörungskräfte keinen Schutzzauber wirken zu können."
"Unsere Strahlungsentgiftung ist jetzt sehr sicher", sagte Aurora. "Wir haben die Methode den Europäern vermittelt. Meisterin Herbregis hat in den Sommerferien, die bei uns in Australien im Winter liegen, einen Vortrag darüber gehalten und die Rezepturen und Bauanleitungen für die Meßinstrumente weitergegeben. Die russischen und ukrainischen Heiler haben sich wohl sehr bedankt, daß sie was dagegen machen können. Nur sehr bedauerlich, daß unser Kodex es verbietet, den Muggeln zu helfen."
"Junge Dame, das bedauere ich auch andauernd, wenn ich mitkriege, wie die sich gegenseitig drangsalieren und Massakrieren", grummelte Jane Porter. "Aber dann können wir denen echt alles aus den Händen nehmen und die wie Kleinkinder am Gängelband führen. Das wäre denen mit guten Ideen gegenüber unfair und würde uns selbst unserer Eigenständigkeit berauben, wenn wir alles was wir machen für die mitplanen müßten."
"Na gut, Jane, du wirst aber zugeben, daß das schon sehr erschreckend ist, welche Katastrophen die Muggel heraufbeschwören können", wandte Maya Unittamo ein. "Aber in letzter Konsequenz sind die schon in der Lage, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln und würden uns zu sehr damit behelligen, ihnen alles mit Zauberei aus der Hand zu nehmen. Vielleicht kommen die von alleine davon runter, was diese Strahlungssachen angeht. Ich habe schon auf meinen Reisen große Fabriken für Elektrostrom gesehen, die mit ganz großen Windrädern betrieben werden oder wo versucht wird, Sonnenlicht zu bündeln und durch bestimmte Stoffe aus Licht Elektrostrom zu machen, wie auch immer sowas gehen soll. Da jetzt reinzufuhrwerken würde diesen Leuten unheimlich schaden. Du kennst das ja selbst, daß eigene Leistungen mehr bedeuten als vorgefertigte Sachen."
"Genau das meine ich doch, Maya", sagte Jane Porter. Dann beriet sie sich mit Aurora Dawn, wie sie Tim aus New York nach Hidden Groves transferieren konnten. Aurora kehrte nach zwei Stunden wieder nach England zurück.
"Übernimmt der Sohn deiner Mentorin auch deinen Ausflug nach New Orleans?" Fragte Hugo Dawn seine Tochter, als diese aus dem elterlichen Kamin herausgeklettert war.
"Komm, die paar Galleonen hatte ich noch übrig", knurrte Aurora Dawn. "Aber ich reiche die Frage gerne weiter, wie das mit Tim Preston sein soll", sagte sie dann noch. Ihr Vater sah ihr nur verwundert nach.
Vivian Acer telefonierte für Aurora Dawn mit Tim und gab ihm in gut verpackten Schlüsselsätzen die Lage des Betrunkenen Drachens durch. tim sagte zu, um elf Uhr abends aus seinem Einzelzimmer, daß er sich vorsorglich von seinen Eltern hatte spendieren lassen, zu verschwinden. So geschah es, daß Aurora am 31. dezember eine Express-Eule von Bethesda Herbregis erhielt, daß das Treffen wie geplant stattfinden möge und Aurora gerne dabei sein könne. Das nahm sie dankbar an, weil sie mitbekommen wollte, wie Tim die ausstehenden Fächer nach Hogwarts nachholen wollte.
So ergab es sich dann, daß Aurora Dawn, nachdem sie mit ihren Eltern den ersten Januar gefeiert hatte, bis drei Uhr Morgens aufblieb und dann über die Grenzstation direkt zur Ankunftshütte von Hidden Grove reiste. Dort erwartete sie bereits ein drahtiger zauberer mit silberblonder Igelfrisur, der zwar grüne Augen besaß, aber von den Gesichtszügen her Bethesda Herbregis ähnelte. Er trug einen himbeerfarbenen Umhang und trug die weiße Tasche mit der roten Äskulapschlange über der Schulter.
"Ah, Sie sind HIP-Kandidatin Aurora Dawn, die es bis jetzt überlebt hat, daß meine Mutter sie durch alle Irrgärten und über alle Hürden der Medimagieausbildung scheucht", begrüßte der Gast in der Hidden-Range-Hütte die junge Hexe. Aurora bestätigte das lächelnd.
"Hat das denn soweit geklappt, daß der junge Bursche, der bis vor zwei Jahren nicht davon ausging, unser Fach zu erlernen, zu uns stoßen kann?" Wollte der Zauberer noch wissen.
"Der müßte in knapp einer Stunde hier herauskommen, wenn alles geklappt hat", sagte Aurora Dawn dazu. Dann unterhielt sie sich mit Lazarus Herbregis, der nach seinen vier Ausbildungsjahren als niedergelassener Heiler in Melbourne arbeitete und sich für vier Tage mit zwei nähergelegenen Kollegen verständigt hatte, sein Territorium mit zu überwachen.
"Eine Kollegin ist in den Ammendienst gegangen, weil die es eher mit Psychomorphologie und Zaubertränken hat. Aber die kann auf jeden Fall die erstversorrgung machen, und wenn sie nicht die volle Behandlung machen möchte, kann sie den oder die Patienten ja immer noch zu Direktor Springs in die Sano überweisen."
"Davon habe ich schon was gehört. Aber ich denke, ich werde entweder in eine Fachabteilung reingehen oder mich wie Sie irgendwo niederlassen, falls es einen freien Platz dafür gibt", sagte Aurora Dawn.
"Sogesehen haben Sie ja keine andere Wahl, Ms. Dawn, weil Sie durch den Ausbildungsvertrag an die australische Heilerzunft gebunden sind", entgegnete Heiler Herbregis jungenhaft grinsend. Dann fauchte es im Kamin erneut und Tim Preston wirbelte aus smaragdgrünen Flammen heraus. Er begrüßte erst den Heiler Lazarus Herbregis, bei dem er sich für den freigehaltenen Termin bedankte und wandte sich dann an Aurora Dawn.
"Vivian meint, wenn ich das je klären könnte, ob ich nicht einem längst abgefahrenen Zug hinterherrenne oder den am nächsten Bahnhof noch einkriegen kann sollte ich zusehen, den Termin heute wahrzunehmen. Das du es offenbar bisher überlebt hast macht mich da zuversichtlich." Aurora grinste schalkhaft und erwiderte:
"Na ja, du wußtest es bei den ZAGs ja noch nicht, was du genau machen wolltest, sonst wäre das ja für dich jetzt wirklich eine heftige Entscheidung.
"Werden wir bald wissen", erwiderte Tim und fragte, ob er sich setzen dürfe, da an der nordamerikanischen Ostküste bald Mitternacht sei. Um sich wach genug zu halten orderte Heiler Herbregis bei der Bedienung starken Tee und Sandwiches. Dann erzählte er Aurora und Tim seinen Werdegang.
"Also, ich kam vor dreißig Jahren zur Welt und habe wie die meisten Leute hier meine Zaubereiausbildung in Redrock erhalten, wo ich im Haus Owlstreak wohnte, das soweit ich durch meine Kollegin und Mutter Großheilerin Herbregis von Aurora Dawn erfuhr, ähnliche Charaktermerkmale in sich vereinigt wie Ravenclaw in Hogwarts, wo Sie ja gegenwärtig auf Ihre Endprüfungen hinarbeiten, Mr. Preston. Ursprünglich wollte ich in die Zaubertierforschung reingehen. Da mir dabei aber andauernd Leute unterkamen, die Verletzungen hatten und oftmals nur gerettet werden konnten, weil sie schnell einen magischen Heiler zur Stelle rufen konnten und ich dabei gemerkt habe, daß ich wohl oder übel das Talent zur Heilmagie in mir trug, habe ich das für die Aufnahme in die Heilerausbildung nötige Fachwissen nacharbeiten müssen. Das ist jetzt acht Jahre her. Nach der Schule noch mal was grundlegendes lernen, um einen bestimmten Zauberergrad zu erzielen kann sehr frustrierend sein, sollten Sie wissen, Mr. Preston. Ich habe das auch nur deshalb gemacht, weil ich wußte, daß ich meines Lebens nicht mehr richtig froh werden würde, wenn meine Mutter meinetwegen dumm dasteht. Denn bei allem, was ich privat an ihr bemängeln könnte, beruflich ist und bleibt sie eine sehr patente Hexe, und Sie, Ms. Dawn, dürfen mit allem Fug und Recht froh und stolz sein, von ihr auf den Weg in die Heilerzunft geführt zu werden. Das sage ich jetzt nicht, weil diese Heilerin mich zur Welt gebracht hat, sondern weil ich in den vier Jahren meiner Ausbildung alle mir begegnendenHeiler miteinander vergleichen konnte und auch nachdem ich mich als niedergelassener Heiler verdingt habe, immer wieder mit Leuten zu tun hatte, die sich zu sehr auf ein Gebiet festlegen ließen. Ohne Ihnen jetzt auf die Zehen zu treten, Ms. Dawn, ich hörte auch, daß Sie wohl gerne ausschließlich Zaubertränke und Kräuterkunde betreiben würden, wenn Meisterin Herbregis nicht darauf bestünde, daß sie in allen übrigen Disziplinen nicht auch die bestmögliche Leistung erbringen." Aurora nickte schuldbewußt und beruhigte den künftigen Kollegen, daß sie sich dieser Beurteilung bewußt sei. Dann sprach Lazarus Herbregis weiter zu Tim Preston, der aufmerksam zuhörte:
"Es war wahrlich nicht einfach, als Späteinsteiger in die Ausbildung reinzugehen, und in meinem Fall dadurch erschwert, daß viele mich an Meisterin Herbregis gemessen haben, die mir zumindest den Gefallen tat, sich schön weit von mir fernzuhalten und auch nicht in den sechs Prüfungen dabei zu sein. Ich weiß aber heute, daß sie sich schon große Sorgen gemacht hat, ich könnte in ihrem großen Schatten verkümmern oder vor lauter Vergleichen mit ihr die eigenen Fähigkeiten falsch einschätzen. Dieses Problem werden Sie wohl nicht haben, hat meine Mutter erwähnt."
"Meine Eltern sind Muggel. Meine Mutter arbeitet als Reisebürokauffrau und mein Vater ist amtierender Chefingenieur eines Kernkraftwerkes. Und das bringt mich ja darauf, das auszutesten, ob ich in der Heilerzunft noch irgendwie aufgenommen werden könnte, nachdem Ihre Mutter und meine frühere Mitschülerin Aurora diese Sauerei, öhm, Unannehmlichkeiten in diesem abgelegenen Dorf Resting Rock erlebt haben. Da kam es mir ohne jede Überheblichkeit in den Sinn, daß die magische Welt mit Strahlung ja ziemlich wenig in Berührung kommt und daher so gut wie nichts davon wissen konnte. Dann ist kurz nach Auroras Rückmeldung in der Ukraine ein marodes Kernkraftwerk in die Luft geflogen und hat strahlende Asche über halb Europa verteilt. Mein Vater lebt seitdem wie auf einem Drahtseil, weil er schon weiß, wie gefährlich seine Arbeit ist, aber auch überzeugt ist, daß diese Energieform nicht von heute auf morgen abgeschafft werden kann und er als Experte weiterarbeiten muß, bis ihm vielleicht mal erlaubt wird, hinter sich das Licht aus und die Tür zuzumachen. Deshalb möchte ich gerne, wenn das nach den UTZs noch geht, in die Heilerausbildung rein, um zumindest in der magischen Welt zu helfen, damit klarzukommen."
"Dann frage ich Sie von einem volljährigen Zauberer zum anderen, wie Sie dieser von Muggeln für so nötig befundenen Krafterzeugungstechnik gegenüber eingestellt sind, unabhängig davon, daß Sie davon im Moment ernährt und ausgebildet werden?" Wandte sich Lazarus Herbregis an Tim Preston.
"Na ja, ich weiß schon, wie riskant diese Technik ist und könnte bestimmt wesentlich besser schlafen, wenn ich wüßte, daß das Geld für meine Ausbildung mit einem ungefährlicheren Job verdient würde. Immerhin könnte mein Vater eines Tages selbst einem Gau, also einem großen Unfall zum Opfer fallen. Die haben mir ja damals schon unterstellt, ich sei ein Mutant, also ein Wesen, bei dem durch irgendwas das Erbgut verändert wurde, weil ich diese Zaubergaben entwickelt habe. Ganz ausschließen kann ich das bis heute nicht, daß meine Magie von irgendwas im Erbgut kommt, das nur aktiv ist, weil mein Vater durch Strahlung verändertes Erbgut in mir hinterlassen hat." Aurora dachte daran, daß Meisterin Herbregis und sie ja mehr als einen Tag diesen Strahlen ausgesetzt waren. Sollte sie da besser gleich darauf verzichten, Kinder zu bekommen, wenn sie nicht wußte, ob ihr Erbgut durch die Strahlung verändert worden warr?
"Und Sie denken, eine gründliche Heilerausbildung könnte nicht nur uns mit Ihrem Wissen über diese Strahlungsseuche bereichern, sondern auch Ihnen helfen, diese Frage zu beantworten?" Hakte Lazarus Herbregis nach. Tim überlegte kurz. Die Antwort auf diese Frage mochte über seine Zukunft entscheiden, ob er wirklich dieser Überzeugung wegen Heiler werden wollte und ob das ausreichen mochte, ihn nach den nötigen Nachholstudien auszubilden. Dann straffte er sich und sagte:
"Ich hörte von Aurora, also Ms. Dawn, daß es mehr ist, eine Heilerausbildung zu machen, als nur zu sagen, da kann ich mich auf was spezialisieren. Ich hörte aber auch, daß es auf die Zielrichtung ankommt, der Welt was nützliches zu geben, anderen zu helfen und dabei etwas zu schaffen, um die Welt oder einen gewissen Teil davon lebenswerter zu machen. Und genau das hat mich dazu gebracht, mir irgendwie doch noch Zaubertränke anzutun, um den erforderlichen UTZ nachzuholen. Ich möchte helfen, daß Sachen wie Tschernobyl oder das, was Aurora und Ihre Mutter erlebt haben, zumindest die Zaubererwelt nicht kaputtmacht, weil ich weiß, daß die Welt meiner Eltern diese Gefahr heraufbeschworen hat. Es ist mir klar, daß ich meinen Eltern damit nicht helfen darf, wenn dergleichen mit denen passiert. Aber Leuten wie meiner Freundin Vivian oder meinen anderen Schulkameraden könnte ich dann helfen. Soweit ich weiß, hat Aurora Dawn ja auch aus dem Grund bei Ihnen in Australien angefangen, weil sie die Chance nutzen wollte, jetzt schon mit der Ausbildung fertig zu werden. Ich muß leider zugeben, daß ich was Zaubertränke angeht durch den Lehrer, den wir in Hogwarts haben, ziemlich davon abgekommen bin. Daß ich da zumindest noch ein E gebaut habe wundert mich heute noch. Liegt aber wohl auch daran, daß ich diesem parteiischen Typen zeigen wollte, daß ich nicht so leicht kleinzukriegen bin. Andererseits hat mich das nicht danach verlangt, seinen Unterricht in den Oberklassen weiter mitzumachen. Ich denke mal, daß ich bei Professor Bitterling besser dran gewesen wäre. Aber die hat sich ja jetzt ganz aus dem Schuldienst zurückgezogen."
"An und für sich darf die Person eines Lehrers nicht die Leistungen bestimmen sondern dessen Kompetenz", sagte Lazarus Herbregis. "Andererseits ist mir auch klar, daß Professor Dumbledore mit Severus Snape einen seher auf sein früheres Schulhaus bezogenen Zauberer mit diesem wichtigen Unterrichtsfach betraut hat und ich, ganz privat gesprochen, jeden verstehe, der da auf den Zaubertrank-UTZ verzichtet. Nur wenn Sie dann einen Beruf ergreifen wollen, bei dem eben dieser UTZ unumgängliche Aufnahmebedingung ist, haben Sie tatsächlich ein Problem. Aber ich darf Sie beruhigen, daß Sie in Großbritannien sicherlich einen Lehrmeister für Zaubertränke finden, der die Qualifikation hat, Sie zu einer UTZ-Nachholprüfung zu führen, die Sie dann mit mindestens akzeptabel bestehen können. Soweit ich orientiert bin gab eine Heilerin namens Benefica Newport vor fünf Jahren noch jemandem Zaubertranknachhilfe nach den offiziellen UTZs in Hogwarts." Aurora horchte auf. Benefica Newport? Das war doch die Hebamme, die sie damals auf die Welt geholt hatte. Das erwähnte sie dann auch Tim gegenüber. Heiler Herbregis stutzte einen Moment und strahlte dann.
"Da hätten Sie doch eine Möglichkeit, bei ihr anzuklopfen und nur mal aus Höflichkeit zu fragen, ob sie bereit sei, Ihnen die nötigen Nachholstunden zu geben."
"Zu welchen Bedingungen?" Fragte Tim Preston argwöhnisch. Auch Aurora Dawn fragte sich das.
"Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mr. Preston. Als ich meine Nachholstudien betrieb, wurde ich von dem Zaubertrankbraumeister für alle möglichen Sachen eingeteilt, die ein weniger charakterfester Zauberer als Arbeit für Hauselfen sehen würde. Und es gab diverse Freunde, die mich für einen Duckmäuser und Besenwischer gehalten haben, weil ich da all mein Selbstwertgefühl habe aufgeben müssen, um mich nicht fertigmachen zu lassen. Die Belohnung dafür war, daß ich heute sehr stolz bin, daß ich diesen Weg geschafft habe und das ich aufrecht meinen Freunden gegenübertreten kann, die immer noch nach dem Sinn ihres Lebens suchen. Allerdings sollte Ihnen klar sein, daß wenn Sie in die Heilerausbildung eintreten, jede geschlechtliche Betätigung bis nach der Ausbildung ausbleiben muß, sofern Sie vor dem Antritt der Ausbildung noch nicht verheiratet waren. Ich sage Ihnen das, weil ich eine gute Freundin, mit der ich durchaus mehr hätte verbinden können, deshalb verloren habe, weil ich mich an diese Heilerrichtlinien gehalten habe und sie das nicht verstehen wollte. Sie sprachen mehrmals von einer Freundin, jener, die Ms. Dawn geholfen hat, Sie zu erreichen, um dieses Treffen für sie möglich zu machen. Deshalb empfehle ich als derjenige, dessen Erfahrungen und Ansichten Sie hören möchten, Ihr Verhältnis zu ihr zu klären, ob es eine echte Partnerschaft oder nur eine Kameradschaftliche Verbindung ist und falls Sie es so sehen, Ihre Freundin das nicht vielleicht anders sieht. Denn noch was ist entscheidend. Wenn Sie einmal aprobierter Heiler sind, hat die Zunft das Recht, jede anstehende Partnerin zu prüfen, ob Sie dem neuen Status schaden oder nützen kann. Diese Ochsentour habe ich vor drei Jahren hinter mich bringen müssen, wobei die Hexe, die jetzt die Hexe an meiner Seite und Mutter meiner ersten Tochter ist, mehr daran zu knabbern hatte, daß die Zunft ihr ganzes bisheriges Leben ausgeforscht hat. Deshalb noch mal: Prüfen Sie am Besten noch vor der möglichen Ausbildung, ob Sie sich bereits jetzt auf eine Ehe einlassen möchten, oder doch besser abwarten, bis Sie mit der Ausbildung fertig sind!"
"Meine Freundin ist noch nicht volljährig, Sir. Das wäre ziemlich fies, sie unter Druck zu setzen. Außerdem könnte die dann meinen, ich wolle sie nur heiraten, um nicht als ewiger Junggeselle zu enden, wenn die Ausbildung tatsächlich möglich wird und ich diesen Richtlinien unterstehe", sagte Tim. Aurora mußte sich zwingen, nicht überlegen zu lächeln. Vivian hatte ihr im Vertrauen zwischen Hexen verraten, daß sie hoffte, daß Tim ihr einen Antrag machen würde. Davon sollte Tim jedoch nichts wissen.
"Wie gesagt, daß müssen Sie ganz alleine herausfinden. Ich kenne die junge Hexe ja nicht, mit der Sie derzeit ausgehen", erwiderte Lazarus Herbregis. Tim nickte. Dann fragte Bethesda Herbregis' Sohn Aurora Dawn: "Die Kollegin Newport hat Ihnen also auf die Welt geholfen. Schätzen Sie diese Heilerin so ein, daß Sie sich deswegen von Ihnen davon überzeugen ließe, Ihrem früheren Schulkameraden die nötige Nachholausbildung zu geben?"
"Ich habe Ms. Newport vor anderthalb Jahren wiedergetroffen, weil sie da den Nachwuchs einer Schulkameradin betreut hat, Sir", erwiderte Aurora. "Aber ich könnte nicht mit Sicherheit sagen, daß sie mir zu Liebe irgendwas machen würde. Ich bin nur das sechste von wohl jetzt mehr als zweihundert Kindern, die sie auf die Welt geholt hat. Aber sie weiß, daß ich Heilerin werden möchte. Ich kann zumindest einmal fragen, ob sie Leuten, die ich für geeignet befinde, Zaubertrank- oder sonstigen Nachholunterricht erteilen würde." Lazarus Herbregis zog die Stirn kraus und sah sie dann mit einem entschlossenen Ausdruck an, während er irgendwie jungenhaft lächelte.
"Da Sie beide hier sind, um sich von mir beraten zu lassen gestatten Sie mir bitte folgenden Vorschlag, Ms. Dawn: Warten Sie besser erst ab, bis Sie die Zulassungsprüfung hinter sich haben und fragen Sie sie dann als Kollegin, ob es sich richtig verhielte, daß sie damals Zaubertranknachholstunden gegeben habe und unter welchen Bedingungen sie dies immer noch oder noch einmal tun würde. Sie wird sicherlich darauf antworten. Wenn sie bereit ist, diese Stunden zu erteilen, wird sie Sie fragen, wen Sie ihr denn als Schüler anempfehlen möchten. Dann dürfen Sie Mr. Preston beschreiben und auch die gerade von ihm erwähnten Absichten einbringen. Da die Angelegenheit in Resting Rock im Heilerherold und im Modernen Medimagier publiziert wurde, wobei auch ihre Adaptation dieses Strahlenspürgerätes, wie die Muggel es entwickelt haben, beschrieben und mit Ihrem Namen in Zusammenhang gebracht wurde, wird sie mit einer zur Hoffnung berechtigenden Wahrscheinlichkeit Bedingungen für den Nachholunterricht vorlegen, die für Sie, Mr. Preston, durchaus annehmbar sein mögen. Ansonsten, falls sie keine Lust verspürt, irgendeinem Zaubertrank-Muffel Nachholstunden zu geben, wird ihre erste Antwort auf Ihre Frage, Ms. Dawn, ein klares Nein sein. Dann werden Sie, Mr. Preston, sich zwangsläufig nach einer anderen Fachkraft umsehen müssen."
"Und wenn ich die Prüfung nicht bestehen werde, Sir?" Fragte Aurora Dawn. Doch das entlockte dem silberblonden Heiler ein sehr amüsiertes Grinsen. Er atmete mehrmals tief durch, wohl um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Dann sagte er erheitert:
"Ms. Dawn, Sie dürfen im nächsten Halben Jahr mit allem rechnen, aber ganz bestimmt nicht damit, die Prüfung zu verfehlen, sofern Sie es nicht wagen, die Ausbildung von sich aus abzubrechen. Denn ich kenne Ihre Mentorin zu gut, als daß ich mir ernsthaft vorstellen könnte, daß diese Sie die Prüfungen auch nur unter den allgemeinen Erwartungen bestehen läßt, geschweige denn ihren eigenen hohen Erwartungen. Das nächste halbe Jahr wird das heftigste sein, daß Sie je erleben werden. Aber dann - das gebe ich Ihnen gerne schriftlich - werden Sie zu den Jahrgangsbesten gehören, die die Zulassungsprüfung bestehen und die Vereidigung als Heilerin erleben. Meisterin Herbregis hat noch nie jemanden durch die Zulassungsprüfungen rutschen lassen, egal wen, egal warum. Die hat mich in diese Welt gesetzt, obwohl ich ihrer Aussage nach versucht habe, mich dagegen zu wehren. Im Nachhinein bin ich sehr froh, nicht auf einen kleinen Lebensraum beschränkt zu sein und eigenständig den Standort wechseln und mich wie ich es möchte ernähren kann. Ein ähnliches Gefühl werden Sie erleben, Ms. Dawn. Es wird hart für Sie werden, aber Sie werden nicht durchfallen. Da ich weiß, daß Ihnen das viele gesagt haben kann ich mich problemlos dieser Meinung anschließen, daß Sie ein ungeheures Glück haben, Meisterin Bethesda Herbregis als Mentorin zu haben. Ich habe vor kurzem mit Ihrem Vorgänger Jeff Greenstam gesprochen. Der fühlt sich jetzt weniger gestresst bei seiner Arbeit als in den Jahren seiner Ausbildung. Bevor der Verdacht sich doch bestätigt, ich würde meine Mutter zu sehr loben, frage ich Sie, Mr. Preston, ob Sie vielleicht vor den UTZs noch eine Ausbildung zum magischen Ersthelfer absolvieren möchten. Unter Umständen empfiehlt Sie das dann auch für die Nachholstunden, wenn Sie als zertifizierter Ersthelfer im Register der Heiler gelistet sind. Ich erfuhr von Absolventen der Beauxbatons-Akademie, die erst eine Ersthelferprüfung bestanden haben und dann im schuleigenen Pflegehelferdienst arbeiten durften, daß die nicht nur was den Heilerberuf angeht, sondern auch für andere multidisziplinäre Berufe eher ausgewählt wurden als die, die diese Bürde nicht getragen haben. Fragen Sie Ihre Schulheilerin, ob sie bereit ist, Ihnen diese Grundausbildung zu erteilen. Falls nicht, aus welchem Grund auch immer, werfen Sie den Besen erst dann ins Feuer, wenn Sie in keinem Land der Welt jemanden finden, der oder die Ihnen Zaubertrank nachhilfe gibt!"
"Und Kräuterkunde", wandte Aurora ein, der Lazarus' entwaffnende Antwort nur für wenige Momente die Sprache verschlagen hatte. Tim nickte.
"Sie kamen von den Yankees rüber?" Fragte Lazarus Herbregis schelmisch grinsend. "Dann könnten Sie meine US-amerikanische Kollegin Tilia Verdant ffragen, ob Sie sie nicht nach Hogwarts betreut."
"Ich habe mit Madam Pomfrey, unserer Schulheilerin gesprochen. Sie meinte, ich könnte bei ihr die Ersthelferausbildung machen, wenn ich das mit meinen UTZ-Studien zusammenbringen könnte", sagte Tim. "Es wird wohl irgendwie gehen."
"Da hat sie nicht ganz unrecht, weil die anderen Fächer ebenso wichtig sind. Was nützt Ihnen eine Ersthelferausbildung, wenn Sie in Verwandlung oder die Abwehr dunkler Kräfte unter den erforderlichen Leistungen bleiben?" Wandte Heiler Herbregis ein. Aurora nickte. Wer wenn nicht sie wußte, wie wichtig es war, gut in Verwandlung, Zauberkunst und Fluchabwehr zu sein? Tim nickte bestätigend. Dann empfahl Aurora ihm, das mit der Ersthelferausbildung zu machen. Sie wolle, falls nötig, auch noch einmal Madam Poomfrey anschreiben. Lazarus Herbregis blieb dabei ruhig. Dann straffte sich Tim Preston und sagte sehr entschlossen:
"Es ist sehr gut, daß ich meinen Eltern für ein paar Minuten entwischt bin, Mr. Herbregis und Aurora. Ich habe mir das alles angehört und festgestellt, was ich zu klären habe und werde das jetzt alles klären, bevor das Jahr vorbei ist. An meinem Entschluß hat sich nichts geändert, sondern nur die Erwartung, wann ich das machen kann. Aber vielleicht ist das gar nicht mal so schlecht, daß ich das halbe Jahr und wohl noch ein Jahr Zeit habe. Das gibt mir die Möglichkeit, das ganz klar vorzubereiten, um später nicht sagen zu müssen, etwas überstürzt oder vergessen zu haben. Noch einmal vielen Dank Ihnen und dir, daß ich hier mit Ihnen und dir sprechen konnte."
"Sollten Sie in sagen wir mal fünf bis zehn Jahren im internationalen Register der magischen Heilkunst verzeichnet sein, war dieses Gespräch auch von meiner Seite her sehr wertvoll", sagte Lazarus Herbregis und shüttelte erst Tim und dann Aurora die Hand. Dann gab er Tim mehrere Galleonen, um die Auslagen für die spontane Anreise zu bezahlen. Doch Tim lehnte das Angebot ab. Wenn das gerade das wichtigste Gespräch vor den UTZs war, hatten sich die Ausgaben gelohnt, sagte er. Dann flohpulverte er sich zur Grenze. Aurora blickte erst in den Kamin hinein und dann den ausgebildeten Heiler an.
"Ohne jetzt zu indiskret zu fragen, Sir, wie lange dauerte Ihre Geburt denn, wenn Sie sie schon erwähnt haben?"
"Fünfundzwanzig Stunden und zwei Minuten. Meine Mutter hat mich, kaum das ich laufen konnte, dazu animiert, immer schneller zu sein. Sie meinte einmal, daß ich lernen müsse, zwanzig Zentimeter Wegstrecke in weniger als einem Tag zurückzulegen. Gut, das Ziel habe ich mehr als erreicht", erwiderte Lazarus Herbregis jungenhaft grinsend. Dann sagte er noch: "Und was ich über Ihre Prüfung gesagt habe halte ich aufrecht, Ms. Dawn. Im nächsten Jahr sehen wir uns vielleicht mal wieder, wenn Sie den himmelblauen HIP-Umhang tragen. Noch einen angenehmen Abend!" Er schüttelte Aurora Dawn die hand, warf der Bedienung lässig zwei Galleonen hinüber und disapparierte aus dieser Wurfbewegung heraus.
"Jetzt, wo Mr. Herbregis weg ist, Ms. Dawn, wollte ich mich noch einmal bedanken, daß sie meiner Nichte Selma und ihrer Mutter das Leben gerettet haben", sagte die Hexe, die bisher so verschwiegen bedient hatte. "Ich hoffe, Sie retten noch vielen Menschen das Leben oder holen Sie erfolgreich auf die Welt. Grüßen Sie bitte Ihre Eltern von Maggy Wollonger!" Aurora fühlte sich wie im Boden versinken. Doch dann straffte sie sich und bedankte sich für diese hohe Wertschätzung. Eine Minute später kehrte sie über die Grenzstationen in ihr Elternhaus zurück und berichtete von ihrem Ausflug in die neue Heimat. Ihre Mutter meinte dann:
"Der hat Tim förmlich in den Mund gelegt, Madam Pomfrey zu fragen, ob sie ihn zum Ersthelfer ausbildet und dann noch Vivian zu fragen, ob sie ihn heiraten würde, sobald sie volljährig ist. Offenbar hat er mit seinen Erfahrungen befunden, daß ein junger Zauberer sowas besser vor der Heilerausbildung klärt." Den letzten Satz seufzte sie eher. Aurora sah dies als indirektes Bedauern, daß sie selbst keinen Partner abbekommen hatte, bevor sie in die Heilerausbildung gegangen war. Doch sie schwieg. Die Worte von Liza Wollongers Tante Maggy hatten sie tief berührt. Da hatte sich jemand bei ihr bedankt, weil sie jemandem das Leben gerettet hatte. Das war es wohl wert, was Lazarus Herbregisvorausgesagt hatte. Und wenn sie daran dachte, noch achtzehn Übungszettel abarbeiten zu müssen, kündigte sich diese letzte, alles entscheidende Tortur wohl schon an. Doch sie würde diese restlichen Ferienwochen nicht nur büffeln und üben. Die letzten zwei Wochen würde sie eh bei Heather Springs zubringen, wie in den letzten zwei Jahren. Die würde schon darauf achten, daß ihre neue Freundin und zukünftige Kollegin ihres Großonkels nicht nur für die Ausbildung lebte. Mit dieser Gewißheit ging Aurora ins Bett, um den versäumten Schlaf zu nehmen. Ihre Mutter ließ sie bis in den Nachmittag schlafen. Es würde viel zu früh eintreten, daß ihre Tochter keine ruhige Minute mehr hatte. Mit gewissem Neid dachte sie daran zurück, daß sie selbst vor Jahren noch quirlige Hogwarts-Schüler um sich rumgehabt hatte und jetzt doch eher eine Haushexe war, deren einziges Kind nur für wenige Tage im Jahr zu Besuch kam, aber schon längst anderswo Wurzeln geschlagen hatte.
Nach der doch eher gewohnten Kälte und Trübheit im Winter empfand Aurora den australischen Sommer als sprichwörtlich atemberaubend. Als sie bei ihrer Bekannten Heather Springs aus dem Kamin kam, wurde sie von der hier vorherrschenden Temperatur von über vierzig Grad fast in die Knie gezwungen. Das erste, was sie tat, war den gut gefütterten, dunkelblauen Reiseumhang abzuwerfen. Heather grinste sie belustigt an.
"Ist das bei euch wieder so kalt, daß du hier fast im eigenen Saft kochst, Aurora?" Fragte sie.
"Ich habe gestern noch mit ein paar Nachbarn, mit denen ich die ersten sieben Jahre groß geworden bin, alte Zeiten gefeiert und Schneebälle geworfen. Da waren es klirrende fünf Grad unter dem Celsius-Nullpunkt", erwiderte Aurora Dawn.
"Dann ist ja echt gut, daß du zwei Wochen vor deinem letzten Halbjahr wieder hergekommen bist, Aurora. Sonst wärest du in der Sano glatt zusammengeklappt und hättest da mindestens eine Woche als Patientin liegen dürfen", antwortete Heather Springs und schüttelte ihr brünettes Haar aus. "Am besten ziehst du dir erstmal wieder Sommersachen an", sagte sie dann noch. Aurora nickte zustimmend.
Die letzten zwei Wochen vor dem letzten Halbjahr ihrer Ausbildung zur Heilerin vergingen mit Quidditch, Besuchen in der Sonnenstrahlstraße in Sydney, wo sie der schwarzhaarigen, ihren übermäßigen Reichtum vorzeigenden Perdita Shadelake schön weit aus dem Weg gingen, sowie einem Ausflug zum großen Riff, wo sie mit Hilfe von Dianthuskraut zwei Stunden die farbenprächtige Unterwasserwelt erforschten. Aurora ertappte sich dabei, bei den Korallen, Fischen und Stachelhäutern an ihre Verwertbarkeit in der magischen Heilkunst zu denken. Sie wußte nicht, ob schon wer diese Lebensformen auf ihre Tauglichkeit untersucht hatte. Dann erkannte sie, wie verwoben diese Welt hier unter dem Meer war und es womöglich zu schweren Schädigungen kommen könnte, wenn jemand aus irgendwelchen Gründen befand, eine bestimmte Koralle, Schnecke oder Seeigelart zur Zaubertrankherstellung abzuernten. So befand sie, diese vielleicht in sich nicht friedliche, aber funktionierende Gemeinschaft von Lebensformen besser in Ruhe zu lassen und genoß ausschließlich den Zauber, den der Anblick dieser unterseeischen Pracht bot.
"Für ein paar Stunden Urlaub von der Sonne", meinte Aurora, als sie und Heather, von den Wirkungen des Dianthuskrautes befreit, in jenem kleinen Segelboot saßen, daß Heathers Großonkel Vitus gehörte. Die Sonne brannte an diesem Tag aber auch wie selten vom strahlendblauen Himmel herab. Die beiden jungen Hexen rieben sich sorgfältig mit Sonnenkrauttinktur ein, um nicht von den unsichtbaren Strahlen des Tagesgestirns verbrannt zu werden. Heather hörte sich dabei noch einmal Auroras Erzählung vom Ausflug nach Resting Rock an. Daß Tim Preston deswegen jetzt darauf ausging, Heiler zu werden wußte Heather ja schon längst.
Viel zu schnell vergingen die letzten echten Ferientage. Aurora schaffte es trotz der von Heather verordneten Erholungspausen, alle Übungszettel für ihre Lehrmeisterin abzuarbeiten, lernte von Heathers Mutter sogar noch einen Trick, um zwei sich gut ergänzende Zauber mit einer richtungsdeutenden Zauberstabbewegung wirken zu können. Offenbar war Heathers Mutter in praktischer Zauberkunst ebenso gut geübt wie Auroras Großmutter Regan. Dann kam der Abend, an dem Aurora wieder in die Sana-Novodies-Klinik zurückkehren mußte. Sie bedankte sich bei den Springs für die beiden Ferienwochen und die damit verbundene Anpassung an den australischen Sommer und disapparierte von der Grundstücksgrenze aus vor den Eingang zum Wohnbereich der Lernheiler. Celeste Bernes, eine muggelstämmige Lernheilerin im ersten Jahr, kam auch gerade erst an. Sie begrüßte die HIP-Kandidatin Aurora Dawn mit der üblichen mischung aus Respekt und Kameradschaft. Wie Aurora war die schwarzgelockte Celeste eine herausragende Hexe, was die Herkunft und die Talente anging. Aurora sah in ihr das, was sie vor zwei Jahren noch in diesem erlauchten Kreis war und dachte daran, daß sie vieles von dem, was Kameradinnen wie Celeste jetzt erst lernten, besser noch einmal gründlich wiederholen sollte. Das war wie damals vor den ZAGs und zwei Jahre später bei den UTZs, wobei sie bei letzteren nicht fünf Jahre auf einmal überblicken mußte.
"Na, wieder zurück aus dem Eisland?" Fragte Tom McCloud die Jahrgangsstufenkameradin lässig wie immer. Aurora lächelte den bärengleichen Burschen an und erwiderte fast schon wie einem Ritual folgend:
"Ich muß ja zwischendurch dahin, damit ich noch weiß, was Schnee ist. Bin aber seit zwei Wochen schon wieder in diesem Backofen hier, um ab morgen wieder alle Anforderungen zu erfüllen." Tom lachte darüber. Aurora bot ihm an, im nächsten Dezember doch mal einen Ausflug nach England oder in eine schneesichere Bergregion zu machen, um Weihnachten mal als weißes Fest zu erleben.
"Da müßte ich jeden Tag Kältewiderstandstrank einschütten, um das toll finden zu können", erwiderte Tom übertrieben bibbernd.
"Tom, du bist doch groß genug, daß dein Herz nicht so schnell auskühlt", wandte Bert Woodman ein und zwinkerte seinem Freund und Kameraden jungenhaft zu. "Ist wie bei 'ner Teekanne. Je größer und voller die ist, desto länger bleibt der Tee heiß."
"Ich habe 'ne Gleichwärmekanne, da bleibt der Tee solange heiß, wie ich das will", erwiderte Tom.
"Tja, im Moment habe ich in meiner kalten Kürbissaft. Ist schon 'ne interessante Kiste, woher so'ne Kanne weiß, wann Sommer und Winter ist."
"Nicht doch diesen uralten Kalauer", quängelte Tom. "Den haben mir schon hunderte um die Ohren gehauen, spätestens als wir Aequicalorus im Zauberkunstunterricht hatten. Da hat doch so'n Muggelstämmiger gesagt, daß damit das Rätsel gelöst sei, woher so'ne Kanne die Jahreszeiten unterscheiden könne." Aurora grinste nur dazu und freute sich, die vertrauten Leute um sich zu haben. Sogar die sonst so überhebliche, ruppige Monica Riddley, die in den zweieinhalb Jahren durch Tränke und Sport mindestens dreißig Kilogramm Übergewicht abgespeckt hatte und jetzt sehr attraktiv aussah in ihrem grünen Lernheilerinnenumhang, gab ihr Anlaß zur Freude, daß sie an diesem Ort war und weiterlernen durfte. Ab morgen, so wußten es alle aus dem dritten und entscheidenden Jahr, würde für jede und jeden der große Endspurt ausgerufen, und für Aurora hieß das vor allem, bis über ihre bisherigen, bereits gut ausgedehnten Leistungsgrenzen hinaus gefordert zu werden. Sie hatte Lazarus Herbregis' Worte nicht vergessen. Seine Mutter hatte es bisher nie zugelassen, daß ein von ihr betreuter Lernheiler die Zulassungsprüfungen unter den Erwartungen beendet hatte. So genoß sie die wenigen Stunden relativer Ruhe vor dem Sturm, in den sie ab morgen hineingejagt würde, einem Sturm aus Wind, Feuer, Fluten und großen Hindernissen.
Aurora stemmte sich zuerst gegen den Versuch, in ihre Gedanken hineinzufuhrwerken. Der Psychomorphologielehrer Animus Mesmer persönlich nahm ihr die Okklumentik-Endprüfung ab. Und der verstand es offenbar meisterhaft, winzigste Gedankensplitter zu ergreifen, um an ihnen Ketten von Erinnerungen hervorzuholen. Zumindest erschien es Aurora so, als sie fast an Ereignisse dachte, die sie keinem Außenstehenden erzählen wollte. Doch dann hatte sie die antrainierte Technik im Griff, ihren Geist so leer wie es ging wirken zu lassen. Zwanzig Minuten später, nachdem beide, Legilimentor und Okklumentorin, sichtlich angestrengt aussahen, verkündete Mesmer:
"Am Anfang dachte ich, das wäre kein Akt, Ihnen die wertvollsten oder schlimmsten Erinnerungen abzuringen. Doch Sie haben eine sehr gute Technik gelernt, um sich nicht in ihre Erinnerungen hineinfuhrwerken zu lassen, Kandidatin Dawn. Gratulation! Sie haben die Anforderungen in der Okklumentik erfüllt und damit die verbindliche Halbjahresprüfung in dieser Kunst bestanden. Das Ergebnis wird in der Halbjahresendprüfung in meinem Fach einbezogen und mit der dort errungenen Punktzahl verrechnet. Aber noch zum Thema Okklumentik: Wieso dürfen legilimentisch erworbene Kenntnisse nicht zu Beweismitteln in einem magischen Gerichtsverfahren herangezogen werden?" Aurora brauchte keine halbe Sekunde, obwohl ihr Kopf von der Anstrengung brummte wie ein Nest voller Hummeln.
"Zwei wesentliche Gründe sprechen dagegen: Zum einen gilt die Persönlichkeit eines Menschen als sein wertvollstes Gut und darf nicht angetastet oder zum Schaden des betreffenden Menschen verändert, verfremdet oder unterdrückt werden. Zweitens besteht die Gefahr, daß die Aussage eines Legilimentoren eine subjektive Auslegung ist oder der überprüfte Angeklagte im Stande ist, seine Gefühle und Erinnerungen ganz zu verhüllen oder nur für ihn sprechende Gedankenverknüpfungen greifbar zu lassen. Daher gilt neben dem Schutz der Persönlichkeit auch, daß Beweismittel mit einem oder mehreren der fünf menschlichen Sinne erfaßt werden können und/oder durch wiederholbare Prüfungen auf magische Eigenschaften bestimmt werden können müssen. Daher sind Zeugenaussagen, die sich auf sinnliche Erfahrungen beziehen, sowie konkrete Gegenstände und Prüfungsergebnisse die einzigen zulässigen Beweismittel vor jedem magischen Gericht."
"Ausnahme?" Fragte Meisterin Herbregis.
"Die vorher von der Strafverfolgungs- oder Handelsabteilung nach Prüfung der Vorwürfe genehmigte Benutzung von Wahrheitselixieren im Zuge der Ermittlungen und/oder vor Gericht selbst, wenn durch die Unterlassung dieser Untersuchungsmethode eine Gefahr für die magische Allgemeinheit droht oder bereits eingetreten ist, gemäß dem Gesetz zur Verwendung von Wahrheitselixieren von 1829, wo der so befragte Angeklagte gegen die von ihm unter Einfluß von Veritaserum gemachten Aussagen protestierte, aber kein Recht erhielt, weil er Mitglied einer schwarzmagischen Verschwörung war, die die Unterwerfung der Zauberer- und Muggelwelt zum Ziel hatte. Folter, sowie ihre Androhung ound/oder Anwendung gegen Angehörige des Verdächtigen hingegen ist genau wie die Legilimentik ein unzulässiges Beweisbeschaffungsmittel. Beweise für die Schuld eines Angeklagten dürfen nicht mit strafbaren Methoden erbracht werden, so das Grundsatzurteil von 1829, sowie im Verfahren gegen Igor Karkaroff 1982."
"Das sitzt also auch bei Ihnen", erwiderte Mesmer darauf und wischte sich mit einem weißen Reinigungstuch über den kahlen Vorderkopf. Bethesda Herbregis nickte nur so, als sei das selbstverständlich, daß ihre HIP-Kandidatin auch die rechtlichen Zusammenhänge kannte.
Im Vergleich zur Okklumentikprüfung war der Mentiloquismusabschnitt der Prüfungen ein Spaziergang. Aurora konnte hintereinander zehn verschiedene Personen in unterschiedlicher Entfernung ansprechen und erhielt dafür die höchste Punktzahl. Die Prüfung in Umgebungsbezogener Zauberkunst schaffte sie mit einer fünffachen Simultanzauberei zur Begehbarmachung eines gefährlichen Einsatzortes mit 80 von 100 Punkten, weil sie mal wieder bei Goldfire, dem erwiesenen Experten für Zauberkunst geprüft wurde. Die praktische Zauberkunst an Patienten bestand sie mit 90 von 100 Punkten, wobei es nicht nur galt, die richtigen Zauber an echten Patienten auszuführen, sondern sich nebenbei noch Anweisungen und Folgeaufträge so wortgetreu wie möglich einzuprägen.
"Die jüngste Hexe, die in der Geschichte Mutter wurde?" Fragte Heilerin Honeydew, als Aurora die geburtshilflichen Verfahren wiedergegeben hatte.
"April Willows im Jahre 1560, als sie gerade zehn Jahre alt war. Ihr Kind, ein Sohn namens Vestus, erblickte am 20. Dezember das Licht der Welt. April Willows mußte nach der Niederkunft mit Nutrilactus-Trank versorgt werden, um ihren Sohn ausreichend stillen zu können. Das war auch der bislang einzige Fall, wo ein minderjähriges Mädchen vor Eintritt in die Zaubereiausbildung Mutter wurde."
"Die bisher älteste Hexe, die Mutter wurde?" Fragte Bethesda Herbregis.
"Sarah Redwood", erwiderte Aurora Dawn und beschrieb diese Hexe in wenigen Sätzen.
"Gut, damit es nicht nur um Heilerin Honeydews Fachgebiet geht noch die wichtigsten Zauber bei akuten Notfällen", wechselte Egon Lightfoot das Thema. Aurora erwähnte den Lentavita-Zauber zur Verlangsamung von Körperfunktionen, dessen Steigerung, den Conservacorpus-Zauber zur Erstarrung von Schwerverletzten oder knapp vor dem Tod stehenden Vergiftungsopfern, Ventervacuus zur Entleerung der Verdauungsorgane und den Spinastatus-Zauber zur Fixierung der Nackenwirbel vor einem Abtransport und noch mindestens zwanzig Zauber mehr, um Patienten vor ort oder für den Abtransport für längere Therapien vorzubereiten. Dann kam natürlich noch einmal die Leiterin der Mutter-und-Kind-Station auf eines ihrer Fachgebiete zu sprechen.
"Wenn eine werdende Mutter unheilbar erkrankt und ihr Kind mit ihr zusammen zu sterben droht, gibt es dann Möglichkeiten, das Kind zu retten, wenn es noch nicht lebensfähig ist?"
"Der Transgestations-Zauber von Renata Beaufils und Eugenia Demain von 1630, auch als Mutterwechselzauber bekannt, entstand aus einem Apparitionsunfall, bei dem die beiden heilkundigen Cousinen, von denen Renata Beaufils gerade im fünften Monat schwanger war, das ungeborene Kind ohne dessen Beeinträchtigung von einem in den anderen Leib wechselten, wo es einen weiteren Monat verblieb, bis die beiden einen Zauber entwickeln konnten, um den Tausch umzukehren. Das später auf natürliche Weise geborene Mädchen, Luise Beaufils, äußerte in ihrem einhundertfünfzehn Jahre langen Leben keine körperlich-seelischen Abweichungen von anderen Kindern, wurde jedoch keine Heilerin, sondern Tierwesenexpertin, als welche sie den von ihrer Mutter und derer sie zeitweilig tragenden Cousine erfundenen Zauber mehrmals anwendete, um Kreuzungsverfahren zu perfektionieren. Der Transgestationszauber wird nur aprobierten Heilerinnen beigebracht, die den Eid geschworen haben, nicht in das Leben von gesunden Menschen einzugreifen und nicht aus Eigennutz das eigene Leben magisch zu verändern."
"Welchem Eigennutz könnte dieser Zauber dienen?" Wollte Amalthea Honeydew noch wissen.
"Gemäß den Familienstandsgesetzen gilt die weibliche Person, die einen magisch Begabten Menschen länger als dreißig Wochen im Uterus getragen und/oder geboren hat als dessen Mutter, mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten. Transgestation könnte diese Rechte einer Hexe beschneiden und einer anderen ermöglichen, weshalb das Gesetz auch den pränatalen Kindesraub als Straftatbestand führt. Würden Sie jetzt ein Kind tragen und ich diesen Zauber anwenden, um es weiterzutragen und zur Welt zu bringen, würde ich Sie um die Mutterschaft bringen. Hinzu käme dann, daß ich alle Anrechte auf Unterhalt durch den Kindsvater geltend machen könnte, was bei vermögenden Vätern ein großer, materieller Zugewinn und damit sehr eigennützig wäre."
"Dann bringen wir das Thema auch korrekt zu Ende und fragen dann noch, was auf pränatalen Kindesraub steht und wie viele Hexen bereits deswegen verurteilt wurden", wandte Meisterin Herbregis ein.
"Wenn der pränatale Kindesraub bewiesen werden kann, also es beispielsweise Zeugen gibt, die den Leibesfruchtwechsel beobachten konnten oder das Kind bei der Geburt kein Merkmal der Gebärenden aufweist, kann ein Gericht je nach Länge der gesetzwidrig herbeigeführten Schwangerschaft fünf Jahre Gefängnis pro Schwangerschaftsmonat und die Entfernung aller inneren Geschlechtsorgane der betreffenden Hexe veranlassen, bevor oder nach dem sie die Haft verbüßt. Bisher wurde nur eine Hexe wegen erwiesenen pränatalen Kindesraubes angeklagt. Das war Selina Limehouse im Jahre 1840. Sie trug fünf Monate lang das Kind ihrer Schwägerin Vanessa aus, ohne das dieser gemäß der Beaufils-Demain-Regeln eine akute Gefahr gedroht hätte, um dem Kindsvater einen Großteil seines Vermögens abzuringen. Bevor der erwähnte Eingriff an ihr vorgenommen wurde beging sie Selbstmord mit Basiliskengift."
"Wenn dieser Zauber nur aprobierten Heilern und Heilerinnen beigebracht werden darf, Kandidatin Dawn, wieso wissen Sie dann davon?" Wollte Lightfoot wissen.
"Er wird in "Leib und Leben -Rechte und Möglichkeiten der magischen Heilzunft als eine der drei Ausnahmen erwähnt, wo Zauber nicht vor der Vereidigung unterrichtet werden dürfen." Bethesda sah Aurora sehr erwartungsvoll an. Lightfoot fragte dann natürlich nach den beiden anderen Ausnahmen. ""Permasomnius und Lentageria, Sir. Permasomnius wird auch als Reversibler Tod bezeichnet, weil ein Patient ähnlich dem Conservacorpus-Zauber in einen scheintodartigen Zustand versetzt wird, der jedoch endet, wenn ein bestimmtes Wort gesprochen wird oder die Umweltbedingungen sich für den Betreffenden Ändern, Hitze, Kälte, Umgebungsfeuchtigkeit, Licht in Dunkelheit. Anders als Cantasomnius, der auf Einzelwesen oder Gruppen wirkende Schlafzauber, verfällt der von Permasomnius beeinflußte nicht einfach in einen üblichen Schlaf, sondern in einen Zustand absoluter Todesnähe. Kein fühlbarer Pulsschlag. nur alle zwei Stunden ein Atemzug, was ermöglicht, das der Betroffene über längere Zeit an lebensfeindlichen Orten bbleiben kann, beispielsweise unter Wasser oder lebendig begraben. Nur zerstörerische Kräfte wie Feuer oder Säuren können demjenigen etwas anhaben. Lentageria verzögert den Alterungsprozeß auf ein zwanzigstel, ohne den Betreffenden insgesamt zu verlangsamen oder erstarren zu lassen. Der Zauber hält ein Jahr vor und muß dann erneuert werden. Zulässig ist er nur bei krankhaft beschleunigter Alterung. Während Permasonmius nicht nur Heilern, sondern auch anderen geübten Magiern zur Verfügung stehen kann, sind Lentageria und Transgestatio ausschließlich in der Literatur für vereidigte Heiler zu finden und von versierten Lehrern der magischen Heilzunft unterrichtbar. Heilern, die diese Zauber an unbefugte Hexen und Zauberer weitergeben, droht nicht nur der Ausschluß aus der magischen Heilzunft, sondern auch eine zwanzigjährige Haftstrafe. Der Person, die diese Zauber gelernt hat, widerfährt eine Gedächtnisveränderung, um die unrechtmäßig erlernten Zauber zu vergessen."
"Umfangreicher geht es nicht mehr", erwiderte Ligtfoot anerkennend. Vielen Dank, Ms. Dawn, wir möchten uns jetzt beraten."
"Das hat der guten Amalthea imponiert, daß du so gefühlsfrei über die ganzen Mutter-Kind-Zauber referiert hast. Transgestation läßt keine Hexe richtig kalt", lobte Bethesda Herbregis ihre aussichtsreiche Schülerin.
"Wer bringt mir den Zauber denn dann bei?" Fragte Aurora Dawn.
"Das wird dann eine gerade schwangere Kollegin tun, Aurora. Allerdings wird dir das nicht während des HIP-Jahres widerfahren, weil das sonst dazu führen könnte, daß die weiblichen HIPs das zeitweilig in sich heranwachsende Kind untereinander wechseln könnten. Dazu mußt du dann also erst deine Vollzulassung erwerben. Er gehört zumindest nicht zum Standard der Heiler. Ich habe es auch nur einmal ausprobiert. Mit wem und wie lange fällt unter die Schweigepflicht", sagte ihre Mentorin. Aurora dachte darüber nach, ob sie einen solchen Zauber überhaupt können sollte. Die Versuchung war ja schon ziemlich groß. Aber Aurora konnte sich denken, daß Meisterin Herbregis mit ihrer Mentorin Laura Morehead diesen Zauber eingeübt hatte. Doch das offen aussprechen, wo es eben nur eine Vermutung war, würde gegen viele Anstandsregeln verstoßen.
Am Ende der Halbjahresprüfungen wurden die nun offiziell HIP-Kandidaten heißenden Schülerinnen und Schüler darauf hingewiesen, daß sie in den nächsten Monaten die Eigenständigkeitsprüfungen im Rahmen der abschließenden Ausbildung erhalten würden, bis dann am Jahresende fünf unterschiedliche Behandlungen an echten Patienten und acht Theoriearbeiten über Erfolg oder Mißerfolg entscheiden würden.
"Hiermit beginnt nun der große Akt, sich für die Ausübung des ehrenvollen Berufes der magischen Heilkunst auszuzeichnen", sagte Laura Morehead, die Sprecherin der magischen Heiler Australiens, als sie alle fünf erfolgreich aus den zwischenprüfungen gekommenen Kandidaten für eine kurze Ansprache im Büro des Klinikdirektors begrüßte. "Einige von Ihnen und viele Ihrer Vorgänger haben dieses letzte Halbjahr gerne als Endspurt bezeichnet. Diese Bezeichnung ist jedoch unrichtig", setzte Laura Morehead an. "Es ist vielmehr die letzte Tür, durch die Sie hindurchgehen müssen, um ein Leben voller Wirken und Erfahrungen, Lernen und Leistungen zu beginnen. Unsere Kunst ist kein abgeschlossener Prozeß, sondern eine jeden Tag wiederkehrende Herausforderung an unseren Verstand, unser Herz und unsere Beziehung zu unseren Mitmenschen, ob magisch oder nicht. Als ich da stand, wo Sie jetzt stehen, Ladies and Gentlemen, verglich jener, der damals dort stand, wo ich jetzt stehe, dieses letzte halbe Jahr als die zweite Geburt und betonte, daß keine Geburt ohne Wehen möglich sei, die Freude über den glücklichen Ausgang jedoch alle Schmerzen überwiegen würde. Nun, jener Sprecher war männlich und konnte sich wohl mit der scheinbaren Gnade der bleibenden Unwissenheit so ausdrücken. Da ich jedoch drei gesunde Kinder auf die Welt brachte, darf ich diese Metapher gerne als zutreffenden Vergleich bemühen. Es wird Ihnen hier nichts geschenkt, weil die Prüfer nicht ihre Mentoren und in den meisten Fällen auch keine Freunde oder Verwandte sind. Aber wenn sie das alles durchstehen und erfolgreich beenden, werden Sie eine große Erhabenheit empfinden und auch Freude verspüren, etwas anstrengendes erfolgreich bewältigt zu haben und nun zu einem erlauchten Kreis magischer Menschen dazugehören zu dürfen. So gehen Sie nun hin und erringen Sie die letzten ausstehenden Auszeichnungen, damit ich Sie am einunddreißigsten August diesen Jahres als neue Mitglieder der magischen Heilzunft begrüßen darf!" Die fünf Kandidaten bedankten sich artig für die aufmunternde Ansprache und versprachen, ihr Bestes zu geben, um die Prüfungen zu schaffen.
"Also drei Bälger will ich echt nicht kriegen", tönte Monica Riddley, als die Kandidaten im Tagesraum zusammensaßen. "meine Mutter hat nach mir auch gesagt, daß sie sich von 'nem Mann nicht noch mal so auffüllen lassen will."
"Klar, als du draußen warst und sie sah, was sie da ausgebrütet hat", feixte Tom McCloud. Berthold Woodman grinste jedoch nur, während Ireen und Aurora die Gesichter verzogen, weil sie einen neuen Streit zwischen Monica und Tom fürchteten.
"Du kannst da ja überhaupt nicht mitreden, McCloud. Du würdest ja schon ohnmächtig umfallen, wenn dir so'n ungeborenes Kind in den Bauch tritt", knurrte Monica Riddley. Ihre Mentorin Brigid Springwood kam herüber. Sie hatte eine Nase für Ärger, wußten Aurora und die anderen auch schon. Monica erkannte, daß sie besser den Rückzug antreten sollte und machte auf dem Absatz kehrt.
"Das mußte jetzt auch echt nicht sein, Tom", maulte Ireen. "Dafür, daß Sprecherin Morehead uns alle, also auch Monica, zu HIP-Kandidaten erklärt hat, solltest du ihr gegenüber ein bißchen mehr Respekt zeigen."
"Die will es doch nicht anders, Ireen. Das war schon so, als die noch sechzig Pfund mehr gewogen hat. Wahrscheinlich ist ihre Shadelake-Arroganz in den Knochen drin, daß sie die immer noch hat. Nur weil die jetzt zierlicher und hübscher aussieht muß ich die noch lange nicht nett finden", erwiderte Tom. Aurora fragte, ob er grundsätzlich was gegen korpulente Hexen hätte, weil er Zierlichkeit mit Schönheit gleichsetze. Tom sah sie verwundert an und schien um Worte zu ringen. Berthold antwortete:
"Es gibt Hexen, die kommen mit einem Zweihundert-Pfund-Körper super gut an. Andere rollen und wabbeln viel. Hängt auch an der Einstellung der einzelnen Dame dran, wie die mit Übergewicht leben will und das rüberbringt. Und wenn die Mädels klapperdürr sind, ist das auch nicht mehr schön, abgesehen davon, daß deren Angst, zuzulegen die unausstehlich machen kann."
"Ey, hat die mit dir geredet?" Fragte Tom Berthold. Dieser erwiderte ganz lässig, daß er nur das gesagt hatte, was er auch gesagt hätte. Tom verzog zwar das Gesicht, sagte aber nichts weiter dazu. Ireen sah den bärengleichen Mitkandidaten verächtlich an. Aurora mußte an Melinda Bunton denken, der man ansah, daß sie nicht nur Süßkram herstellte, sondern auch gerne aß, die mit ihrer Leibesfülle jedoch keine Probleme hatte. Hingegen hatte sie von Vivian Acer gehört, daß Phiona Carpenter einmal von Madam Pomfrey zwangsernährt worden war, weil sie knapp am untersten Anschlag des gesunden gewogen hatte. Da Aurora wußte, daß Heilerinnen und Heiler einem keine Flüche aufhalsen durften, war ihr klar, daß Madam Pomfrey Phiona nicht den Fettsuchtzauber Adipositus aufhalsen durfte. Aber wenn Zwangsernährung angesagt war, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis die Schulheilerin eine psychomorphologische Therapie in St. Mungo anordnen würde. Womöglich würde sie dort eine kleine Dosis des Psychopolaris-Trankes verabreicht kriegen, um ihre krankhafte Angst vor Übergewicht so behutsam es ging umzukehren und zu einer gesunden Zuversicht, sich richtig gut zu ernähren zu verändern. Aurora war froh, noch keine Heilerin und keine Vertrauensschülerin mehr zu sein, um sich gezielt mit diesem Problem befassen zu müssen. Das war jetzt Vivians Sache.
"Heilmagiekandidatin Aurora Dawn" stand jetzt auf dem Türschild von Zimmer F-009 im Hexentrakt des Schülerdormitoriums. Tja, ab morgen begann dann also diese zweite Geburt, und sie hatte es in der Hand, ob es ihr oder ihrer Mentorin mehr weh tun würde oder ob am Ende doch herauskam, daß sie drei Jahre Lebenszeit in einen unerfüllbaren Traum gesteckt hatte. Da fiel ihr wieder ein, was Lazarus Herbregis gesagt hatte: "... Denn ich kenne Ihre Mentorin zu gut, als daß ich mir ernsthaft vorstellen könnte, daß diese Sie die Prüfungen auch nur unter den allgemeinen Erwartungen bestehen läßt, geschweige denn ihren eigenen hohen Erwartungen. Das nächste halbe Jahr wird das heftigste sein, daß Sie je erleben werden. Aber dann - das gebe ich Ihnen gerne schriftlich - werden Sie zu den Jahrgangsbesten gehören, die die Zulassungsprüfung bestehen und die Vereidigung als Heilerin erleben. Meisterin Herbregis hat noch nie jemanden durch die Zulassungsprüfungen rutschen lassen, egal wen, egal warum. Die hat mich in diese Welt gesetzt, obwohl ich ihrer Aussage nach versucht habe, mich dagegen zu wehren ..."
Die nächsten Wochen im Februar und März waren wirklich wie ein Lauf zwischen Drachen und Flüchen hindurch, fand Aurora. Jeden Morgen hieß es erst für sie, mit einem neuartigen Körperertüchtigungsmittel, Schwermacher genannt, zu laufen, zu springen, zu heben und zu klettern. Dabei sollte sie ihrer Mentorin wesentliche Lehrsätze und Therapieverfahren rezitieren, immer und immer wieder. Dann kam die Arbeit mit den Patienten, wobei Bethesda Herbregis nur neben ihr stand und sie fragte, was sie machen sollte und in ihrem üblichen Trott, Fragen aus sich bietenden Gelegenheiten heraus zu stellen, weitere Gedächtnisübungen anstellte. Ab Mittags waren außer den von der Klinikleitung angeordneten Einsätzen weiterführende Heilzauber angesetzt. Aurora verbrachte mehrere Nachmittage in einer Werkstatt, wo magische Prothesen angefertigt wurden. Dabei lernte sie, daß es zwar hervorragende künstliche Beine gab, die magisch mit dem Körper des Patienten verbunden werden konnten, daß er die so wie seine natürlichen Glieder bewegen konnte, ja sogar schneller und ausdauernder damit laufen konnte, es aber sehr schwer sei, bei einzelnen Amputationen ein derartiges Kunstglied anzupassen, weil der Körper sich dann nicht auf den Unterschied einstimmen wollte.
"Bei Drachenbissen oder magischen Verstümmelungen können keine Eigenorganregenerationen mehr angewendet werden", sagte Magicoprothesenspezialist Balthasar Towers. "Die Standardprothesen können die Maximalkraft eines natürlichen Gliedes oder Organs erfüllen. Für Leute, die im Dienst des Ministeriums Arme, Beine, Augen oder Ohren verloren haben, die nicht magisch neuwachsen können, werden jedoch Sonderanfertigungen mit übermenschlichem Potential hergestellt, sozusagen als ministerieller Schadensersatz und Motivation für Hexen und Zauberer, die im Dienst des Ministeriums gefährliche Aufgaben erfüllen. Allerdings, das ist leider noch nicht aus der Welt, können wir bisher keine magischen Prothesen anfertigen, die vom äußeren Erscheinungsbild oder vom Tastsinn her den natürlichen Körperteilen entsprechen. Das heißt, die ständige Konfrontation mit dem künstlichen Körperteil wird wie die Prothese selbst zum Bestandteil des Lebens des Patienten."
"Was machst du denn, wenn ein Patient nur ein halbes Bein verloren hat?" Fragte Aurora.
"Das gleiche, was beim Verlust einer Hand oder eines Fußes ansteht. Es wird ein dem Stumpf angepaßtes Vervollständigungsteil hergestellt. Wie gesagt, bei ganzen Beinen ist das dann jedoch schwierig. Soweit ich weiß läuft in deinem Geburtsland gerade ein Zauberer herum, der durch einen Gewebebrandfluch ein Auge verloren hat und bei einem anderen Zwischenfall von einem Säbelschlagfluch ein Bein verloren hat. Für das verlorene Auge hat er eine frei drehbare, nach jedem Tag herauszunehmende Prothese, die Weitblick, Nachtsicht, Objektdurchdringung und Magieüberwindung vereint und sich durch reine Gedankenkraft des Trägers auf Ziele und Sichtarten einstellen kann. Dafür muß der Patient jedoch mit einer Holzprothese herumlaufen, weil jeder Versuch, ihm doch ein magisches Bein anzupassen, zu einem ständigen Tanz im Kreis ausgeartet ist, weil das Gehirn die Balance zwischen natürlichem Bein und Prothese nicht finden konnte. Hingegen konnte einem ministeriellen Drachenjäger ein kompletter Satz Kunstarme angepaßt werden, die die Kraft ihrer lebenden Vorbilder um ein zigfaches übersteigen, eben weil dieser Zauberer seine Verstümmelung im Dienst des Ministeriums erfuhr und es zur Entschädigungspolitik jedes modernen Zaubereiministeriums gehört, den Ersatz besser als das Original zu machen."
"Von dem Fall mit dem Drachenjäger habe ich gehört", sagte Aurora. "Kann derjenige denn mit diesen silbernen Kunstarmen überhaupt noch zaubern, oder muß er dann unter Muggeln leben?"
"Oh, das wäre fatal, wenn jemand mit derartig augenfälligen Kunstkörperteilen unter Muggeln leben müßte", warf Towers ein. Dann sagte er: "Zaubern geht noch. Allerdings müssen der hauptsächlich für die Zauberstabführung benutzte Arm und der Zauberstab aufeinander abgestimmt werden, daß es keine Verfälschung des gewünschten Zaubers gibt. Im Fall des dir also bekannten Drachenjägers mußte ein neuer Zauberstab beschafft werden. Dann gehört da eine gewisse Übung zu, mit den künstlichen Armen Zauber auszuführen, genauso wie der Patient erst einmal wieder das Gefühl für bewegliche Körperteile erlernen muß, ist es mit dem Gefühl für Zaubersprüche. Deshalb wird ein Patient nach der Prothesenanpassung weiterhin von einem Heiler betreut und muß jeden Monat vorgegebene Kalibrierungszauber ausführen, um zu bewerten, ob er je wieder den gewohnten Standard erreichen kann."
"Das Gehirn kann aber noch nicht ersetzt werden", wandte Bethesda Herbregis ein. Warum nicht, Aurora?"
"Experimente an einem lebenden, gesunden Gehirn sind unzulässige Methoden gemäß des Kodex der magischen Heilzunft. Außerdem ist das Gehirn das mit abstand komplizierteste und ständig im Umwandlungsprozeß befindliche Organ. Eine magicomechanische Gehirnrekonstruktion würde bestenfalls nur ein Gehirn erzeugen, daß eine bestimmte Zustandsform besitzt und schlimmstenfalls zu unkontrollierten Veränderungen und Aktionen führt. Hinzu kommt noch, daß die allgemeinen Zaubereigesetze wie die der Heilerzunft verbieten, den menschlichen Geist aus dem Körper zu lösen und auf künstliche Objekte zu übertragen, weil dies den Tatbestand schwarzmagischer Manipulationen erfüllt und daher für Heiler absolut unzulässig ist."
"Ganz genau, Kandidatin Dawn", erwiderte Towers nickend. "Allerdings können wir eine Ganzkörperprothese erschaffen, die mit einem aus zerstörtem Körper gerettetem Gehirn versehen werden könnte. Warum machen wir das trotzdem nicht?" Wollte der Spezialist wissen.
"Wohl weil gemäß der Heilerdefinitionen ein lebender Mensch mehr ist als nur ein Organ und der Mensch daher ausschließlich zum Erhalt seiner angeborenen Fähigkeiten therapiert werden soll, soweit dies möglich ist", erwiderte Aurora Dawn. Bethesda Herbregis nickte bejahend.
"Daher, so bedauerlich es klingt, gilt ein Mensch bereits als tot, wenn bis auf das Gehirn alle Körperteile unrettbar und unwiederbringlich versagen. Umgekehrt gilt ein Mensch auch als tot, wenn die den Geist bedingenden Körperfunktionen unwiederbringlich ausfallen, also das Gehirn stirbt, während der Rest des Körpers noch durch äußere Einflüsse am Leben gehalten werden könnte. Soweit ich hörte, haben die bedauerlicherweise nicht so umfangreich heilenden Muggel dieses Problem als rechtliche Frage erkannt, wann sie einem Patienten lebenswichtige Organe entnehmen dürfen, weil sie keine Organregeneration beherrschen und sie noch keine Ersatzherzen, -lebern oder -nieren herstellen können, die der Patient an Stelle der zerstörten Organe in sich herumtragen könnte. Es gibt Leute, die die Muggelwelt beobachten und behaupten, die wären vielleicht in hundert Jahren fähig, Organe aus lebendem Gewebe nachzuzüchten oder durch ihren Eloktroniktrick bewegliche Gliedmaßen herzustellen, die mechanische Signale in körperliche Signale umwandeln und umgekehrt. Die haben schon einige Tricks gelernt, diese Knochensäger und Giftjongleure."
"Ich kenne so jemanden, die das behauptet, daß Muggel magische Sachen mit ihren technischen Sachen irgendwann mal ganz nachmachen könnten", erwiderte Aurora lächelnd. "Sie erwähnt da gerne das Fliegen und die Übermittlung von Wörtern und Bildern über große Entfernungen oder flammenloses Licht, das mit einem Fingerdruck entzündet und gelöscht werden kann. Ich hatte muggelstämmige Schulkameraden und konnte mich gerade um Weihnachten herum wieder davon überzeugen, wie viel die schon ohne Magie machen können."
"Ja, und was denen noch fehlt, was wir seit Jahrhunderten schon machen können", wandte Towers ein und führte ein strahlendblaues Auge vor, eine wild rotierende Kugel mit einer ständig auf- und zugehenden Pupille. "Bei den magischen Augen genügt es, mit einem menschlichen Kopf in Berührung gebracht zu werden, was komplizierte Anpassungen erübrigt, wenn die Augenhöhle frei von Geweberesten ist. Das heißt auch, daß du es als Objektiv auf ein Fernrohr setzen und damit mehr sehen kannst." Er legte das künstliche Auge in ein vorbereitetes Rohr mit Okular am Ende. Aurora probierte es aus und meinte, plötzlich durch die Wände zu sehen, aber dabei wild im Kreis zu wirbeln, bis sie es raushatte, einen bestimmten Punkt anzusehen und ihn scheinbar immer näher zu sich heranzuholen. Sie blickte sich so um und sah in die Behandlungsräume über ihr, um sich herum und unter ihr, las aus mindestens zwanzig Metern Entfernung das Deckblatt eines zugeklappten Buches und sah einer Patientin von Amalthea Honeydew in den von sieben Schwangerschaftsmonaten gerundeten Schoß, in dem sie den munter mit Armen und Beinen strampelnden Fötus eines Jungen erkennen konnte. Bethesda Herbregis entwand ihr das Fernrohr vorsichtig und wartete, bis das Auge, das durch das Okular geblickt hatte, sich an seine eingeschränkte Beweglichkeit und Sehweise gewöhnt hatte.
"Wer darf solche Kunstaugen ausgeben und zu welchem Zweck?" Fragte Bethesda diesmal Balthasar Towers.
"Diese Sonderanfertigung darf nur auf ministerielle Anfrage von einem Heiler dem vorgesehenen Patienten überreicht und zusammen mit den Gesetzen zur Verwendung transhumaner Kräfte und/oder Sinnesleistungen vermittelt werden, wie es gebraucht werden kann. Die Abgabe und Verwendung solcher Kunstaugen an Personen im Vollbesitz ihrer natürlichen Sehorgane ist im Zuge der Gesetze gegen die magische Störung der Privatsphäre strafbar. Magicoprothetiker wie ich müßten dann nicht nur den Ausschluß aus der Heilzunft hinnehmen, sondern verlören alle Rechte auf magische Heilbehandlung und Zugangsverbot zu Ämtern innerhalb der magischen Welt. will sagen, wenn mir dann was schwerwiegendes zustößt, müßte ich mich einem Muggelarzt überlassen, was gleichbedeutend wäre mit der Auslieferung an einen spanischen Inquisitor, der per Würfelwurf entscheidet, welche Foltermethode er beim nächsten Mal anwenden muß oder ob es reicht, für meine Heilung zu beten." Bethesda Herbregis räusperte sich etwas ungehalten, während Aurora nicht wußte, was sie zu diesem harschen Vergleich sagen sollte. Ihre Mentorin entgegnete nach fünf Sekunden betretenen Schweigens:
"Nun, du hast also gehört, daß der Kollege Towers allen Grund hat, kein magisches Auge an zwielichtige Zeitgenossen zu übergeben. Was er über die Muggelärzte sagt ist meines Erachtens nach stark überzogen und laviert am Rande der Diskriminierung der nichtmagischen Menschen. Wir dürfen diese zwar nicht behandeln, solange sie sich keine durch Flüche, magische Geschöpfe oder Zaubertränke bewirkten Schädigungen zugezogen haben. Das darf jedoch nicht dazu ausarten, daß wir deren Helfer bei körperlichen und seelischen Anliegen gleich wie die letzten Idioten anzusehen haben. Für natürliche Einschränkungen kann niemand etwas und darf daher auch nicht verächtlich oder unmenschlich behandelt werden. Ich wundere mich sehr, Balthasar, daß du dieses elementare Gebot der Heiler vergessen hast."
"O, du hast also keine Probleme, dich diesen Knochensägern und Giftjongleuren auszuliefern, Bethesda?" Fragte Towers und blinzelte die Heilerin aus seinen wolkengrauen Augen herausfordernd an.
"Sagen wir es so, ich lege es nicht darauf an, in eine entsprechende Situation zu geraten, Balthasar. Allerdings gilt die mit dem internationalen Geheimhaltungsstatus einhergehende Koexistenzverfügung, demnach Muggel als Menschen ohne Zauberkraft die gleichen Lebensrechte genießen wie magische Menschen. Sie sind eben Menschen wie wir, nur daß ihnen die Magie fehlt. Das merkst du dir besser auch noch einmal gut, Aurora, für den Fall, daß du irgendwann in zwei Jahren in einer Abteilung hier anfängst, die von Kollegen geführt wird, die die magische Heilkunst als Freibrief sehen, sich weit weit über die Muggelärzte erhaben zu fühlen. Da möchte ich noch darauf verweisen, daß auch unsere Heilkunst einmal als Reihe von Versuchen und Irrtümern begann und einiges, was dabei herumkam, nicht nur zum Heil, sondern auch zum Schaden anderer Menschen benutzt werden konnte. Auch wenn deine Prothesen hier sehr filigrane und äußerst praktische Hilfsmittel sind solltest du nicht vergessen, Balthasar, daß vor zweihundert Jahren die magische Prothesenherstellung noch in den Kinderschuhen steckte, während es schon genug flüche gab, um Menschen um Arme, Beine, Augen oder Ohren zu bringen. Zumindest war die Eigenorganerneuerung da schon brauchbar."
"Es trifft zwar zu, daß meine Meinung über die unzulänglichen Leute, die sich bei den Muggeln Heilkundler nennen dürfen, nicht gerade die beste ist, Kandidatin Dawn, aber ich respektiere immer noch, daß Muggel auch Menschen wie wir sind. Das hindert mich jedoch nicht, die gegenwärtigen Fakten zu vergleichen, Bethesda, und die sprechen in neun von zehn Fällen für die Überlegenheit der magischen Heilkunst. Und da kannst und wirst du nichts dran umdeuten."
"Sei besser froh, wenn meine Kandidatin von deinen Aus- und Vorführungen nur das übernimmt, was für eine humane Ausübung unseres Berufes unverzichtbar ist. Ich sähe mich sonst gezwungen, Direktor Springs zu fragen, ob du nicht ein Urlaubsjahr in der Muggelwelt verbringen solltest, wie es Laura Morehead mal dem Kollegen Lizard verordnet hat, als der meinte, Muggel seien noch unter Hauselfen anzusiedeln."
"Das besprechen wir sehr gerne, wenn deine Kandidatin anderswo zu tun hat und nicht in Gefahr schwebt, unzulässiges Gedankengut zu verinnerlichen", knurrte Towers, dem dieser unprofessionelle Streit mit Meisterin Herbregis genausowenig behagte wie dieser und ihrer Schülerin. So verblieben sie dann nur dabei, die einzelnen Funktionen der magischen Prothesen zu erörtern und die Anpassungszauber an Kaninchen und Ratten zu üben.
Nach jenem Disput in der Prothesenwerkstatt nahm Bethesda Herbregis Aurora bei Seite und sagte ihr leise:
"Sieh zu, daß du nach der Vollaprobation immer unter Leute kommst, Aurora. Towers ist wie Goldfire durch die ständige Spezialisierung und Festlegung auf einen beschränkten Arbeitsbereich etwas eigenbrödlerisch. Doch was er über die Muggelärzte sagte war schlicht unanständig. Sie können zwar längst noch nicht alles, was wir machen können, aber sie lernen wie wir aus Erfolgen und Irrtümern. Darin sind sie uns absolut gleichgestellt. Denn wie wir ja im April letzten Jahres an zwei Fällen erleben durften, müssen wir ständig mit Erfolgen und Fehlschlägen zurechtkommen, egal wie weit wir vor dem Ereignis ausgebildet waren. Wie bei uns auch hängt es bei den Muggelärzten davon ab, wie viel Wissen sie erwerben und mit welchen Verfahren sie es in Heilbehandlungen umsetzen können. Ich denke, da du Freunde aus der Muggelwelt hast, wirst du zumindest verstehen, daß die weder primitive Tiere noch Vollidioten sind und jeder, der was anderes behauptet, am Rande der Böswilligkeit entlangschrabbt oder schon selbst böses tut wie jener wahnhafte Massenmörder, den ein Jahrtausendzufall uns vom Hals geschafft hat. Wenn du, was ich ganz sicher annehme, das HIP-Jahr hinter dir hast und als voll ausgebildet akzeptiert sein wirst, wirst du immer wieder daran gemessen, wie menschlich du mit Patienten umgehst. Du kannst nicht ständige Dankbarkeit erwarten. Das haben wir ja schon häufig genug erlebt. Aber wenn du dich anderen gegenüber durchsetzungsstark aber einfühlsam verhältst, wirst du mehr Respekt erhalten, als wenn du dich nur darauf beschränkst, bestimmte Handlungsabläufe durchzuführen. Ansonsten ist Balthasar Towers ein überragender Spezialist für magische Prothesen. Nur wir, die wir die Organe von Patienten in den meisten Fällen nachwachsen lassen können, holen ihn nicht so häufig aus seiner Werkstatt." Dann mentiloquierte sie noch: "Es wird wohl auch mal Zeit für einen muggelstämmigen Heiler, der in dieser Werkstatt anfängt." Aurora verstand, daß das jetzt ausschließlich für sie allein gedacht war. Mit körperlicher Stimme sagte ihre Mentorin dann noch: "Es versteht sich von selbst, daß alles, was du mit diesem magicomechanischen Auge gesehen hast unter den Schutz der Privatsphäre fällt. Also mach darum kein Aufsehen, wenn du dich mit deinen Kameraden über den heutigen Tag unterhältst. Morgen werden wir ja wieder zu Towers gehen, um das erlernte weiter zu vertiefen. Es kann sein, daß du in der Prüfung kurativer Zauberkunst danach gefragt wirst oder auch nicht. Nimm besser alles mit, was Verfahrensweisen und Funktionen betrifft!"
"Aurora, Du hast ab jetzt nur zehn Sekunden, da reinzugehen, den Patienten zu finden und ihn zu uns zu bringen", sagte die silberblonde Hexe und blickte ihre zugeteilte Lernheilerin auffordernd an, bevor sie mit dem Zauberstab auf eine große Holzhütte deutete und "Incendio!" Rief. Mit lautem Wuff schlugen helle Flammen aus Dach und Wänden des Holzhauses, während mit lautem Klick eine Stopuhr ansprang. Aurora Dawn konzentrierte sich. nun, wo sie das tückische Hindernis vor sich sah, hantierte sie schnell mit ihrem Zauberstab, erzeugte eine den Kopf umschließende Blase aus Zauberkraft und legte eine flimmernde Aura um ihren Körper. Dann disapparierte sie. Die silberblonde Hexe sah auf die Zeiger der großen Stopuhr, die bei Ausruf des Zündzaubers angesprungen war. Von den zehn Sekunden waren gerade erst zwei vergangen. "Schneller als Jeff", dachte Bethesda Herbregis hocherfreut. Die vierte, fünfte und sechste sekunde vertickte. Dann erklang ein heller Glockenton, und die Uhr hielt bei sieben und drei Zehnteln an. Aurora hatte es also geschafft, mit dem Feuerschutzzauber und der magischen Luftblase gegen Rauchvergiftung geschützt in die brennende Hütte einzudringen und den Patienten, in diesem Fall den Zaubertrankexperten Goldwater, herauszuholen. Dieser hatte sich mit einem feuerfesten Umhang bekleidet und einen Trank gegen Hitzeschäden geschluckt. Die Hexe nickte anerkennend und schickte den Brandlöschzauber gegen die von ihr beschworenen Flammen aus. Eine Minute später lagen die verrußten Reste der absichtlich abgebrannten Hütte vor ihr. "Nummer fünfundzwanzig", dachte sie dabei. Sie nahm die Stopuhr und verschwand beinahe geräuschlos.
Aurora Dawn hatte damit gerechnet, daß diese Feuerrettungsübung nicht ohne war. Doch ihr Flammengefrierzauber sprang an, und ihre Kopfblase auch. Keine Sekunde später apparierte sie mitten in den Flammen. "Homenum revelio", dachte sie und wandte sich rasch in die Richtung, in der ihr Zauber menschliches Leben anzeigte. Sie warf einen brennenden Tisch per Zauberkraft zur seite, stürmte über die bereits wild qualmenden Bodendielen zu einer Nische, in der Goldwater eingehüllt in seinen Übungsumhang hockte. Die Hitze wurde doch ziemlich groß, erkannte Aurora Dawn. Doch sie verlor keine Zeit und fixierte den Nacken des Patienten, um ihn sich kurzer Hand über die Schulter zu werfen und so leise sie konnte zu disapparieren.
"Spinastato? Warst aber sehr vorsichtig", meinte Goldwater. Aurora löste ungesagt die Genickfixierung und sagte: "Tut mir leid für die hektische Abreise, Sir. Mein Name ist Aurora Dawn. Ich arbeite für die Sana-Novodies-Klinik und werde sie jetzt auf Brandschäden und Rauchvergiftungen untersuchen. Bitte bleiben Sie liegen!"
"Okay, sehe ich ein, daß diese Kommunikation auch sein muß", lachte Goldwater, während Aurora mit "Pulmospico" seine Lungen bestrich, um mögliche Rauchvergiftungen aufzuspüren. Das kitzelte den Zaubertrankexperten ein wenig. Doch er verkniff sich das Lachen. Er fragte sich viel mehr, wie schnell Aurora ihn gefunden und in die Klinik geschafft hatte. Da er beim Auflodern des Feuers schon zu zählen angefangen hatte vermutete er, daß sie unter acht Sekunden geblieben war, was schon recht beachtlich war.
Als Meisterin Herbregis in den Behandlungsraum der Klinik ankam, sah sie Aurora Dawn gerade, wie sie den aus den Flammen geretteten Patienten mit einem Cuticonditio-Zauber untersuchte, um die Haut auf Verbrennungen zu prüfen, nachdem sie keine schädlichen Rauchrückstände in seinen Lungen und seinem Blut hatte finden können. Doch auch die Haut wies eine makellose, golden leuchtende Erscheinung unter dem Zauber auf, war also nicht verletzt. Nun noch die Körpertemperatur mit einem Zauberstabstupser messen, ob Überhitzung vorlag. Nichts alarmierendes! Als das vorbei war erhob sich der Übungspatient wieder und lächelte die junge Hexe an.
"Gut, damit hast du heute die Brandrettungsprüfung bestanden, Aurora. Du hast innerhalb von sieben Sekunden und drei Zehntel ein Gebäude von dreißig quadratmetern betreten, den Patienten geortet und sicher in die Klinik hinübergebracht. Damit ist dieser Punkt nun endgültig abgeschlossen, um für die Endprüfung zur Wintersonnenwende mitte Juni zugelassen zu werden", sagte Auroras Mentorin wohlwollend lächelnd. Aurora sah dieses Lächeln nur dann, wenn sie wirklich was anerkennenswertes geleistet hatte. Doch sie war ein wenig stolz, es mehr als einmal in den bald vergangenen drei Lehrjahren zu sehen bekommen zu haben. Sie war auch froh, die sprichwörtliche Feuerprobe bestanden zu haben. Normalerweise wurde eine halbe Sekunde pro abzusuchendem Quadratmeter für die Brandrettungsqualifikation veranschlagt. Doch ihre Mentorin Bethesda Herbregis verlangte ihren Prüflingen immer etwas mehr ab als die Standardvorgaben. Das war Aurora so gewöhnt.
"Er hat keine Rauchvergiftungen oder Brandverletzungen davongetragen, Meisterin Herbregis", vermeldete Aurora Dawn pflichtbewußt.
"Das wäre auch ohne Brandschutzvorkehrungen in sieben Sekunden noch nicht möglich gewesen", lachte Goldwater. Doch Meisterin Herbregis räusperte sich vernehmlich und sagte:
"Machen Sie da besser keine Scherze drüber, Daniel. Ich habe schon Leute behandelt, die bei der kleinsten Berührung mit Feuer schwere Brandwunden abbekommen haben. Und wer nicht weiß, was im Rauch enthalten ist, kann auch in sieben Sekunden schwere Atemwegsschädigungen erleiden. Insofern kommt es auf jede Sekunde an. Und genau deshalb sind meine Vorgaben so strickt. Und bisher haben zweiundzwanzig der fünfundzwanzig von mir ausgebildeten Kandidaten diese Grenze eingehalten. Also könnte das auch ruhig zur Standardvorgabe erhoben werden."
"Die hat Laura Morehead ausgegeben, nachdem es sich erwiesen hat, daß im echten Brandfall zwanzig Sekunden schon zu lang sein können", erwiderte Daniel Goldwater.
"Eben das hat sie getan", erwiderte Bethesda Herbregis. Dann fragte sie noch einmal alle Feuerrettungsverfahrensweisen ab, wollte wissen, was bei einem Buschfeuer zu tun war und erhielt darauf die Antwort, daß Patientenleben für Heiler vor der Brandbekämpfung zu rangieren hatten. Also möglichst alle Menschen aus der Brandzone herausbringen, bevor ans Feuerlöschen gedacht werden durfte.
"Tja, Bethesda, wenn ich mal darf", setzte Daniel Goldwater an. "Kandidatin Dawn, was passiert, wenn in der vom Buschfeuer eingeschlossenen Zone auch Muggel herumlaufen?"
"In dem Fall gilt erst die Menschenrettung und dann die Abkunftsbestimmung", sagte Aurora. Bethesda Herbregis nickte zustimmend. "Wenn feststeht, daß Muggel unter den Geretteten sind, müssen sie gemäß den Heilervorschriften und dem Gesetz der internationalen Geheimhaltung gedächtnismodifiziert und an einen relativ ungefährlichen Ort in der Nähe des Brandes verbracht werden, wo dann die Rettungskräfte der Muggelwelt sich ihrer annehmen können", erwiderte Aurora Dawn.
"Gut, dann führe uns bitte diese Modifikation an Mr. Goldwater vor, Aurora", wandte Bethesda Herbregis ein. "Ich erkläre den für eine Minute zum Muggeldarsteller." Aurora wußte, daß sie wohl tun mußte, was ihre Lehrerin verlangte. Doch Goldwater sah seine Kollegin verdutzt an, bekam dann aber einen total weltentrückten Blick, als Aurora "Obleviate", murmelte. Zehn Sekunden später schrak er aus einer Art Traumzustand auf und blickte sich hektisch um.
"Hups, wie bin ich denn hier gelandet?" Sagte Goldwater. "Ich bin doch eben durch einen Buschbrand durchgelaufen, hmm, konnte ich noch apparieren. Überhaupt komisch, ein Buschfeuer im mai. Oder habt ihr beiden da gerade was mit mir angestellt, Bethesda und Aurora?" Aurora blickte ihn schuldbewußt an, während Bethesda nickte und sagte:
"Du warst so frei, meine Kandidatin zu fragen, was mit Muggeln passiert, die mit Zauberern und Hexen aus einem Buschfeuer geholt werden, weil ja nicht gefragt wird, ob wer magisch oder Muggel ist. Die Gedächtniszauber sitzen also sicher bei dir, Aurora. dann hast du jetzt nach der Wasserbergung vor dem großen Barrierenriff, der Rettung aus einem mit Giftdunst verseuchten Gebäude und die Rettung bei Dunkelheit, Nebel und Sandsturm auch die Brandrettung erfolgreich verinnerlicht. Dann fehlt am Ende des Monats nur noch die eigenständige Geburtshilfe, um die praktischen Zwischenprüfungen abzuschließen, bevor die Endprüfungen anstehen", faßte Bethesda Herbregis die erzielten Leistungen zusammen. Aurora nickte. Abgesehen davon hatte sie sich noch mit den gefährlichsten Zauberpflanzen angelegt, zehn langwierige Zaubertränke brauen müssen und in Wiederholungen im Umgebungssimulator alle Adern, Knochen, Muskeln und Nerven beim Namen nennen müssen, um die bisherigen Lerninhalte noch einmal aufzuwärmen. Die unzähligen Behandlungen an lebenden Patienten zählte sie bereits zum Alltagsgeschäft. Jetzt stand also nur noch die größtenteils eigenständig durchzuführende Geburtshilfe an. An dem überlebensgroßen Modell Donna hatte sie jeden Vorgang oft genug studiert und inklusive ihrer eigenen auch mehrere Geburten unter unterschiedlichen Bedingungen im Simulator nachvollzogen. Doch sie hatte auch gelernt, daß die Wirklichkeit immer ihre eigenen Wege ging. Außerdem mußte die zuständige Heilerin, die die werdende Hexenmutter betreute, genauso ihr Einverständnis erklären wie die werdende Mutter selbst. Sicher, Aurora würde nicht allein mit der Gebärenden sein. Amalthea Honeydew und die gestrenge Meisterin Herbregis würden im Hintergrund zusehen, ob Aurora diese erhabene Aufgabe bewältigen konnte.
"Mrs. Wallstone wird wohl zwischen dem sechsundzwanzigsten und neunundzwanzigsten Mai niederkommen", sagte Amalthea Honeydew. "Ich habe sie schon darauf angesprochen, ob du ihr bei der Entbindung hilfst. Ich habe dich schon angekündigt. Sie möchte bei sich zu Hause in Perth gebären. Hier ist ihre bisherige Anamnese. bitte suche sie gleich auf!" Aurora Dawn las sich durch, was auf den Zetteln stand, daß Mary Wallstone, eine Halbmuggelstämmige, bereits ein Kind zur Welt gebracht hatte und dabei von einer Hebamme namens Wilhelmina Whitecastle betreut worden war. Diese würde wohl auch bei der anstehenden Geburtshilfe im Hintergrund warten. Die Schwangerschaft sei bisher ohne Komplikationen verlaufen. Dann las sie noch, daß die Patientin 1936 geboren war, also schon einundfünfzig Jahre alt war. Selbst für eine Hexe war das ein Alter, wo eigentlich schon nicht mehr an Kindersegen gedacht wurde, obwohl es weitaus ältere junge Mütter gab.
"Interessanter Geburtstermin. Da werde ich einundzwanzig Jahre alt", erwähnte Aurora. Die beiden Heilerinnen nickten. Amalthea Honeydew wandte ein, daß sie sich davon bitte nicht verunsichern oder übermäßig aufregen lassen möge. Aurora versicherte, daß sie so ruhig es ging mit Mutter und Kind umgehen würde. Dann erhielt sie mit einem Zettel der Mutter-Kind-Stationsleiterin den Auftrag, die hoffnungsvolle Hexenmutter aufzusuchen. Aurora prüfte, ob sie ihre Tasche mit allem nötigen voll hatte. Sie hatte Maßband, Tinkturen, Zutaten für Keimfreilösungen, eine Flotte-Schreibe-Feder und das Besteck für pränatale Untersuchungen wie Mithörmuschel und Einblickspiegel. Sie verabschiedete sich höflich von ihrer Mentorin, die hier warten wollte, bis Aurora Dawn zurückkehrte.
Als die angehende Heilerin in ihrem grünen Umhang vor dem abgelegenen Farmhaus apparierte, sah sie einen Muggelwagen, der vor dem Haus stand. Das war aber jetzt nicht im Sinne der magischen Heilkunst, Muggel bei einer Hexengeburt zusehen zu lassen. Vielleicht stand dieses Fahrzeug da auch schon so lange, daß Mary Wallstone es wie Vorgartenschmuck ansah. Doch als Aurora sich dem Wagen näherte, bemerkte sie, daß die vordere Klappe, unter der wohl das Antriebsgerät verborgen war, wärmer als die Umgebung war. Sie wußte aus dem Unterricht in Hogwarts, daß diese Wagen zum Fahren kleine Explosionen in den Antrieben, den Motoren, erzeugten, bei denen auch Hitze abfiel. Also hieß das doch, daß dieses Gefährt hier noch nicht lange stehen konnte. Denn das Dach des Wagens fühlte sich so kühl an wie alle nicht erwärmten Metallgegenstände. Sie überlegte, ob sie unvollendeter Dinge abbrechen und zurückkehren sollte oder sich doch vorwagen mußte. Sie überlegte auch, ob sie Meisterin Herbregis anmentiloquieren sollte, daß vor dem Ziel ein Muggelwagen stand. Denn versprungen hatte sie sich nicht. Hätte sie gewußt, daß Mary Wallstone noch Kontakt mit ihrer Muggelverwandtschaft hatte, wäre sie schon gar nicht offen sichtbar appariert. Doch jetzt war sie hier. Jetzt zu mentiloquieren war eine Art Rückzugsanfrage. Und in ihr erwachte in diesem Moment der Kampfgeist, sich nicht unterkriegen zu lassen. Wenn Muggel im Haus waren, sofern es das richtige war, konnte sie denen ja immer noch ein anderes Gedächtnis verpassen. Sie betrat also den Kiesweg, der zwischen säuberlichen Blumenbeeten hindurch zum Haus führte. Aurora nahm die hier angepflanzten Blumen mit dem Blick der Kräuterkundigen zur Kenntnis und trat an die große Haustür heran. Statt eines Glockenzuges entdeckte sie jedoch runde Knöpfe links von der Tür und etwas, das wie ein Gitter aussah. Sowas hatten doch nur echte Muggel, wußte sie von Vivian Acers Haus. Sie las die Türschilder: "Clifford und Mary Wallstone", stand neben dem untersten Knopf. "Samantha und Howard Wallstone stand auf dem Schild neben dem oberen Knopf. Also wohnte hier ein Ehepaar Wallstone, bei dem es eine Mary gab. Aber das alles hier sah echt nach einem Muggelhaus aus. Wenn sie jetzt die Klingel drückte mußte sie sich mit wem auch immer dort drinnen auseinandersetzen. Hatten die beiden Heilerinnen sie vielleicht absichtlich hier hingeschickt, um zu testen, ob sie schnell wieder abrückte, wenn sie erkannte, daß sie ein Muggelhaus vor sich hatte? Zumindest aber wollte sie jetzt wissen, ob die hier wohnende Mary Wallstone ein Kind erwartete. Falls nicht, konnte sie immer noch behaupten, sich in der Hausnummer geirrt zu haben und den Rückzug aus der Muggelgegend antreten. von drinnen hörte sie ein Kinderlachen und die Stimme eines Mannes.
"Jason, nicht so laut. Mum braucht Ruhe. Sonst gibt das Ärger mit Madam Whitecastle." Die Namen Jason und Whitecastle kannte Aurora Dawn. Entschlossen drückte sie auf den unteren Klingelknopf. Ein raumfüllendes Ding-dong erklang im Inneren.
"Ach, das wird wohl die junge Dame sein, die uns angekündigt wurde", sagte die Männerstimme. Aurora hörte Kinderfüße schnell auf Teppich entlanglaufen. Dann rasselten mehrere Riegel zurück, und die Tür schwang nach innen. Im Rahmen stand nun ein hochgewachsener Mann mit mausgrauem Haar in einem zweiteiligen, mittelblauen Hausanzug.
"Entschuldigen Sie die Störung, Sir! Mein Name ist Aurora Dawn, ich möchte zu einer Mrs. Mary Wallstone. Ich hoffe, Ms. Whitecastle hat mich bereits angekündigt", stellte sich Aurora Dawn vor.
"Stimmt, Madam Whitecastle hat uns Ihre Ankunft angekündigt, Ms. oder Mrs. Dawn. Ich bin Cliff Wallstone, der hoffentlich bald noch glücklichere Vater. Kommen Sie bitte herein!" Aurora trat ein und sah, daß das Haus diese Elektroglühlampen der Muggel hatte. "Sie wundern sich wohl, daß wir nicht in einem Lebkuchenhaus wohnen, nicht wahr?" Fragte Mr. Wallstone. "War für mich auch erst gewöhnungsbedürftig, als meine Gattin mir erzählte, daß sie ... zaubern kann. Meine Eltern sind da nicht so sonderlich begeistert von. Aber wenn die ihre Enkel sehen wollen, mußten die sich damit abfinden", sprach Mr. Wallstone leise, während ein etwa elfjähriger Junge mit hellblonden Haaren zu Aurora aufblickte.
"Hi, ich bin Jason Wallstone", sagte der Junge. "Mum ist im Schlafzimmer. Die alte Whitecastle ist vor ein paar Minuten disapparatiert."
"Kommen Sie bitte schnell rein. Meine Eltern müssen nicht mitkriegen, daß wir noch 'ne Magierin oder Hexe im Haus haben", zischte Mr. Wallstone und zog die Besucherin sacht am Umhang in die Wohnung.
"Mum, diese Aura Dawn ist da, von der die alte es hatte!" Rief der Junge frech und eilte auf eine Zimmertür zu. Von dahinter kam die Antwort:
"Na, nenn Madam Whitecastle nicht immer Alte. Immerhin gibt's dich auch wegen ihr."
"Die ist 'ne alte Schreckschraube. Hexe ist ja für die keine Beleidigung", knurrte Jason. Aurora überhörte das Maulen des bereits geborenen Kindes. Der Junge würde wohl dieses oder nächstes Jahr nach Redrock kommen und da womöglich viele alte Hexen um sich rum haben. Sie lächelte und klopfte an die Tür, von wo die Frauenstimme gekommen war. Als sie hereingebeten wurde, sah sie eine goldblonde Frau mit sichtlich angeschwollenem Bauch und bereits sehr üppigen Brüsten in einem Nachthemd auf dem Bett liegen. Aurora fragte sich, ob das nur ein Kind war, daß da im Mutterleib heranwuchs. Doch sie bewahrte Fassung und stellte sich so vor, wie sie es bei den unzähligen Behandlungen in der Klinik gelernt hatte.
"Ach, Sie machen dieses Jahr ihr Praktikum und sollen einer Hexe bei der Geburt helfen?" Fragte Mrs. Wallstone.
"Meine Ausbilderinnen kommen auch noch, wenn es so weit ist", sagte Aurora Dawn und besah sich die werdende Mutter. "Das sieht sehr hoffnungsvoll aus, was Sie da herantragen, Madam. Darf ich mir das mal mit einem Einblickspiegel ansehen?" Fragte die angehende Heilerin. Mrs. Wallstone erlaubte es. Aurora holte die Mithörmuscheln und den Einblickspiegel aus ihrer Tasche und legte erst die weiße Mithörmuschel auf den gerundeten Unterleib. Als sie lauschte, ob es dem heranwachsenden Baby gut ging, verzog sie für einen winzigen Moment das Gesicht. Neben dem wummernden Herzschlag der Mutter, dem Blutrauschen und dem Gluckern im Verdauungstrakt klopften drei kleine Herzen mit hoher Geschwindigkeit im Schoß der Hexe. Das hatte Aurora nicht erwartet. Als sie dann mit dem Einblickspiegel erkannte, daß wirklich zwei Mädchen und ein Junge kurz vor der Ankunft standen gewann sie ihre freundliche Haltung und Fassung zurück. Was hatte sie auch anderes von Meisterin Herbregis erwartet. Wenn schon, denn schon.
"Da wollten Sie es aber wohl wissen, wie?" Fragte sie erheitert. "Darf ich fragen, ob Sie die drei ohne magische Hilfsmittel empfangen haben. Ich meine, haben Sie vielleicht Fortuna-Matris-Trank eingenommen?"
"Habe ich gemacht, weil Clifford und ich gerne noch ein zweites Kind haben wollten."
"Neh, klar, Mum. Ich allein reiche ja nicht", maulte Jason. "Und dann gleich drei Schreier", blaffte er dann noch.
"Jason, ich möchte mit deiner Mum ganz in Ruhe reden und noch ein paar Sachen bei ihr untersuchen, weil mir Madam Whitecastle in der Eile nicht alles erzählen konnte. Gehst du bitte mit deinem Vater in einen anderen Raum!"
"Jason, komm, die hat recht!" Knurrte Mr. Wallstone und zog seinen Sohn am Arm aus dem Schlafzimmer.
"Das wird für uns alle eine Riesenumstellung. Meine Schwiegereltern sind Muggel. Die glauben eh schon, daß ich Clifford irgendwie reingelegt habe, um ein Baby von ihm zu kriegen. Und jetzt kommen noch drei auf einmal."
"Ich denke mal, Ihre Hebamme hat Sie schon richtig ausgeschimpft, daß Sie nicht einfach den Fortuna-Matris-Trank schlucken dürfen, ohne Heilerüberwachung", sagte Aurora belustigt grinsen. "Da werden wir jetzt nicht weiter drauf rumreiten. Ich prüfe noch einmal nach, ob ihre Geschlechtsorgane die Belastung gut aushalten können und messe dann nach, ob Sie für drei Säuglinge genug Milch gebildet haben oder wir nach der Geburt noch mit Nutrilactus-Trank nachlegen müssen." Aurora untersuchte die werdende Mutter und prüfte mit einem Hebammenzauber den bereits bereitstehenden Milchvorrat. Sie sagte:
"Also nach meinem Wissen haben Sie für drei genug, um sie über die ersten drei Tage zu bringen. Ich werde anregen, daß Sie nach der Niederkunft den Nutrilactus-Trank einnehmen, um allen dreien genug abgeben zu können. Das kleine Mädchen muß sich übrigens noch drehen, sonnst will es noch mit den Füßen zuerst an die Luft."
"Hat Madam Whitecastle auch gesagt, daß die Kleine wohl noch umgedreht werden müßte. Können oder dürfen Sie sowas denn auch?"
"Können kann ich das. Und da Sie offenbar ihr Einverständnis erklärt haben, daß ich mit ihnen die letzten Tage bis zur Vollendung der Geburten arbeiten darf darf ich das auch. Sonst kann ich schnell meine Ausbilderin herrufen, falls Sie mir da nicht trauen möchten."
"Soll ja ein relativ einfacher Zauber sein", sagte Mrs. Wallstone.
"Bei einem Kind, Madam. Aber ich muß zusehen, daß sich die Nabelschnüre nicht verknoten. Aber ich kriege das hin. Bleiben Sie bitte jetzt so entspannt liegen wie es geht. Das wird einen Moment lang wohl etwas unangenehm werden." Sie legte noch einmal den Einblickspiegel auf und prüfte, ob sie das ungeborene Mädchen gefahrlos mit dem Kopf zum Becken der Mutter drehen konnte. Erst nach einer Minute konnte sie die künftige Tochter der Wallstones ohne Verheddern drehen, was der Mutter ein Stöhnen entrang. Dann prüfte Aurora noch einmal auf die Anzeichen, wann die Geburt als solche losgehen mochte und schrieb eine Besuchsbestätigung und die bereits durchgeführte Maßnahme auf. Diese ließ sie sich von Mrs. Wallstone unterschreiben und gab ihr zwei Kopien davon, eine für die Hebammenheilerin und eine für die eigenen Unterlagen. Danach verabschiedete sie sich und verließ direkt per Disapparition das Haus. Kaum war sie fort, verwandelte sich einer der beiden Nachtschränke in eine kleine, ältere Frau mit rehbraunen Haaren und blauen Augen.
"Die hat das locker weggesteckt, Mary. Meine Kollegin Bethesda meinte, wenn eine damit klarkommt ,dann die. Jetzt guck ich mir mal an, ob die kleine Diana sich beim herumgedreht werden nicht übergeben hat. Recht hat sie allemal gehabt, daß ich dich ausgeschimpft habe, weil du meintest, dir den FM-Trank anrühren lassen zu müssen.""
"Bevor du wieder damit anfängst, Mina, stell Cliffs Nachttisch bitte wieder an seinen Platz!" Knurrte Mary Wallstone.
Indes traf Aurora Dawn bei ihren Ausbilderinnen ein. Sie hatte beschlossen, gute Miene zum gemeinen Spiel zu machen und verkündete erfreut:
"Ich war bei den Wallstones. Die Drillinge liegen jetzt richtig herum. So wie es aussieht wird der erste davon übermorgen zur Welt kommen. Ich rechne mit einer Niederkunft von insgesamt drei Stunden. Aber das kann sich ja ändern. Hier ist mein Besuchsbericht von der Mutter unterschrieben, Meisterin Herbregis."
"Du bist mir nicht böse, daß wir was die Zahl der Ungeborenen angeht stark untertrieben haben?" Fragte die Lehrmeisterin.
"Ich habe bei und von ihnen gelernt, nie auf reine Erzählungen zu bauen, sondern immer selbst zu überprüfen, wenn es um Patienten geht. Die Hexe ist im neunten Monat Schwanger, trägt Drillinge und wird wohl am siebenundzwanzigsten Mai gebären. Insofern nichts, womit ich nicht klarkommen würde. Die Galaktoskopie zeigt an, daß nach der Geburt der Nutrilactus-Trank in kleineren Dosierungen nötig ist. Ich habe das hier alles notiert, Meisterin Herbregis. Das einzige, wo ich erst Probleme mit hatte ist das Muggelhaus. Aber wegen der bereits einmal erwähnten Schulkameraden aus der Muggelwelt kam ich doch noch damit zurecht."
"Ich werde wohl in den nächsten Stunden noch einen Bericht von Wilhelmina Whitecastle bekommen. Sie wollte sich ihre Patientin gerne noch einmal ansehen, bevor wir dir bei der Geburtshilfe zusehen dürfen", sagte Amalthea Honeydew. Bethesda Herbregis nickte. Aurora erwähnte zwar noch, daß die Hebamme wohl vorher schon dagewesen sei, nickte dann aber auch. Eine Vorher-nachher-Prüfung war besser als reines Vertrauen.
Als Aurora Dawn zu einem Patienten mit Langzungenverunstaltung ging, sagte Amalthea zu ihrer Kollegin: "Daß die das so locker wegsteckt, mal eben für eine Drillingsgeburt einzuspringen wundert mich jetzt. Ich hätte mich da sehr unwohl gefühlt und meine Mentorin erst einmal gefragt, ob das nicht etwas früh für mich wäre, sowas durchzuziehen."
"Kannst du mal Sehen, Ammy. Die weiß, daß sie bei mir immer mit dem heftigsten rechnen muß. Außerdem bekommt sie dabei gleich mit, was waghalsigen Hexen passiert, die sich mit FMT Kindersegen zusammenschlucken. Außerdem werden wir ja dann dabei sein, um im größten Notfall einspringen zu können." Amalthea nickte dazu nur.
Aurora war schon ziemlich aufgeregt, als am Nachmittag des siebenundzwanzigsten Mais eine schnelle Eule eintraf, daß bei Mrs. Wallstone die Wehen eingesetzt hatten. Mit ihren beiden Ausbilderinnen apparierte sie vor das Haus der Wallstones, wo ein älterer Herr gerade den Wagen bestieg und vergrätzt die drei Hexen anblickte.
"Ach, für jeden eine?" Fragte der Muggel leicht ungehalten.
"Wir gucken nur zu, Sir", sagte Bethesda Herbregis gelassen, während Aurora klingelte.
"Ach, da sind Sie schon. Bei Mary läuft schon Wasser raus", stieß Clifford Wallstone aufgeregt hervor. Aurora nickte ihm zu und trug den bereits keimfrei behandelten Rucksack in die Wohnung. Mary Wallstone wollte zwar liegen bleiben. Doch Aurora war da unerbittlich, während ihre beiden Ausbilderinnen sich im Hintergrund hielten und der Kindsvater und der Stammhalter zum Abwarten im Wohnzimmer verdonnert wurden, stellte Aurora schnell die bereits vor einem Tag angerührte Keimfreilösung in einer großen Schüssel auf und half Mary Wallstone auf den mitgebrachten Gebärstuhl. "Nur wer schläft oder stirbt darf sich hinlegen, hat mir die Hebamme erzählt, die mir damals auf die Welt geholfen hat", scherzte Aurora Dawn. "Das ist auch angenehmer für Sie, weil die Kinder dann von der Erdanziehung herausgezogen werden und nicht dagegen ankriechen müssen. Und da will der erste schon guten Tag sagen", sagte Aurora, während Mary Wallstone gerade die Pause zwischen zwei Wehen genoß. Dann kam die erste echte Preßwehe. Mit einem Ruck schob sich der runde Kopf des Kindes in den Geburtskanal. Aurora half mit einer Tinktur nach, den Geburtsweg schnell und dehnbar zu erweitern. Zehn Minuten später konnte sie bereits die noch geschlossenen Augen des ersten Babys sehen, das im Vergleich zu einzelnen Neuankömmlingen kleiner war. wohl auch deshalb dauerte es keine halbe Stunde, bis Aurora, die der werdenden Mutter immer Mut zuredete und ihr sagte, daß sie das schon richtig mache, den einen Jungen vollständig zu sehen bekam und ihn von der Blutversorgung seiner Mutter trennte. Wie sie es gelernt hatte hieb sie dem Neuankömmling kräftig aufs nackte, nasse Hinterteil, worauf diesem der erste Laut seines Lebens entschlüpfte.
"James Martin soll der heißen", stöhnte seine Mutter, bevor das zweite Kind unmißverständlich klarmachte, daß es jetzt auf die Welt wollte. Zehn Minuten später lärmte er mit seinem Drillingsbruder um die Wette. So blieb nur noch das Mädchen, daß es wohl nicht ganz so eilig hatte. Offenbar hatte seine Mutter sich bei den ersten Beiden ziemlich erschöpft. So dauerte es knapp zwei Stunden, bis wirklich alle drei Kinder auf der Welt waren, James Martin, Lionel Peter und Luna Aurora. Auch wenn die angehende Heilerin die Ehre höflich und bescheiden zurückwies, bestand Mary Wallstone darauf, den Namen ihrer Hebamme als zweiten Vornamen zu geben. Aurora bedankte sich höflich und sah zu, wie nach dem kleinen James Martin jetzt auch seine Geschwister die erste Milchmahlzeit einnahmen. Aurora sah auf die Uhr, es war jetzt genau eine Minute nach zwölf Uhr Mitternacht, seit einer Minute war sie selbst einundzwanzig Jahre auf der Welt. Als dann alle Strapazen überstanden und die drei Neuankömmlinge vermessen, gewogen und versorgt waren, lud Mr. Wallstone seine Eltern zur Besichtigung der neuen Kinder ein. Bei der Gelegenheit erschien, halt wie hingezaubert, die kleine, ältere Hexe mit dem rehbraunen Haar und gratulierte Aurora Dawn, nachdem sie sich als Wilhelmina Whitecastle vorgestellt hatte.
"Da muß ich ja Angst kriegen, daß mir da heute eine ziemlich gute Konkurrentin erwachsen ist", scherzte sie. "Ich gehe mal davon aus, daß das die letzte Hürde war, die die gute Beth Herbregis Ihnen auf dem Weg zur Zulassungsprüfung hingestellt hat."
"Solange sie nicht findet, ich müßte selbst drei Kinder zur Welt bringen war es das vor der Prüfung wohl", erwiderte Aurora ruhig. Sie konnte nicht verstehen, was Jason an dieser Hexe so auszusetzen hatte. Die schien das zu fühlen und sagte zu Aurora:
"Der Junge Jason hat mich wohl nicht gerade nett bedacht. Liegt daran, daß er glaubt, ich hätte die drei bei seiner Mutter in den Bauch gelegt, um ihn zu ärgern. Sein Vater muß ihm wohl noch die Geschichte vom Regenbogenvogel erzählen."
"Ich weiß nicht, ob ich das jeden Tag machen möchte", sagte Aurora. "Ich meine, es ist was erhabenes. Aber ich fühle mich genauso platt wie die glückliche Mutter."
"Immerhin die ersten drei Kinder, die Sie auf die Welt geholt haben. Ich durfte damals nur eins ins Leben hineinheben. Aber mittlerweile sind das auch zweihundertfünfzig. Und ja, es strengt manchmal genauso an, sie zu holen, wie sie zu kriegen. Alles gute für die Zukunft! Drei Grundsteine dafür liegen ja jetzt bereit."
"Danke, Madam Whitecastle", erwiderte Aurora brav.
"Mina. Unter Kollegen nennen wir uns ja doch alle beim Vornamen."
"Das wird ja dann erst ab dem ersten September so sein", sagte Aurora Dawn.
"Da ganz sicher", schaltete sich dann noch Bethesda Herbregis ein.
"Ich schicke deinem Prinzen noch eine Eule, daß deine Kandidatin ihm drei neue Kunden verschafft hat. Der ist immer noch Knarlig, weil er die drei nicht holen durfte. Aber die Tradition der magischen Heilkunst besagt, daß nur Hexen Hexen bei der Geburt assistieren dürfen und Zauberer bitte zu warten haben, bis die drei entwöhnt sind."
"Was machen die denn dann als letzte Vorabschlußprüfung?" Fragte Aurora.
"Einen eigenständigen Notfalleinsatz am echten Patienten. Der Mentor oder die Mentorin bleibt dabei im Hintergrund wie bei der Geburtshilfe auch und klärt erst nach erfolgreicher Behandlung, ob alles rrichtig abgelaufen ist", sagte Bethesda Herbregis. Dann sagte sie zu Mina Whitecastle:
"Laz wird es freuen, daß die nette junge Hexe, die sich nach Neujahr mit ihm unterhalten hat, drei neue Kunden für ihn geholt hat. Vielleicht hätte sie vor der Geburt erwähnen sollen, daß nach dir mein Sohn für sie zuständig ist. Vielleicht hätten sie sich da nicht so flott ans Licht getraut." Aurora dachte, ob sie sich verhört hatte. Die beiden Hexen scherzten? Das hatte sie von ihrer Mentorin bisher gar nicht kennengelernt.
"Deiner wollte sich ja vor mir verstecken, weil du dem gesagt hast, was für eine strenge Heilerin ich bin", sagte Mina Whitecastle. "Dann hat er erkannt, daß die, in der er sich versteckt hat, das größere Übel ist und befunden, vielleicht doch besser rauszukommen." Bethesda Herbregis sah Mina Whitecastle an und meinte dann lächelnd:
"Ist schade, daß ich mich bis heute nicht revanchieren durfte. Ich hätte zu gerne dein erstes Kind geholt."
"Das könnte sein, daß du diese Revanche auch nicht kriegst. Ich hole so viele Kinder auf die Welt, daß ich vergessen habe, daß ich selbst mal sowas anschieben könnte. Aber vielleicht gönnt uns Ms. Aurora Dawn ja irgendwann das Vergnügen, einen Nachkommen zu präsentieren." Aurora errötete leicht an den Ohren. Im Moment war von jemandem, der ihr diese Ehre erweisen würde, überhaupt nichts zu sehen.
Wilhelmina Whitecastle unterzeichnete das von Amalthea, Bethesda und Aurora unabhängig voneinander angefertigte Protokoll und wünschte den dreien eine gute Restnacht. Als Bethesda mit Aurora alleine in ihrem Büro saß, um mit ihr noch kurz über den aufregenden Abend zu reden, holte sie mit einem Zauberstabwink eine große Geburtstagstorte mit einundzwanzig schlanken, weißen Kerzen auf den Schreibtisch. "Was kann es schöneres geben, als an seinem eigenen Wiegentag neue Erdenbürger begrüßen zu dürfen. Alles gute zum Geburtstag, Aurora!" Mit dem letzten Wort ließ sie die Kerzen aufflammen. Aurora saß fertig von der gut unterdrückten Anstrengung und total Gerührt da, blickte eine Minute auf die herabbrennenden Kerzen. Dann bedankte sie sich sehr erfreut und holte tief Luft, um die einundzwanzig munteren Flammen auszublasen, wobei sie sich wünschte, alle anstehenden Sachen aushalten und bestehen zu können. Pffffft! Die Kerzen erloschen. Aurora durfte die Torte Mitnehmen, um sie morgen mit ihren Kameraden zu verputzen, wie sie es in den zwei Jahren vorher getan hatte. Nur da war die Torte von ihrer Oma Regan mit einer Express-Eule im Conservatempus-Paket geliefert worden. Die hier sah nicht so aus wie von ihrer Großmutter väterlicherseits.
"Ist echt fies, daß wir keine Plärrbälger aus lustigen Hexen rausziehen dürfen", maulte Tom McCloud. Berthold grinste und wandte ein, daß er das wohl nie dürfe, wenn er sich so ausdrückte. Monica Riddley hörte es und sah Aurora an.
"Ist das sehr eklig?" Fragte sie leicht beklommen.
"Wenn du daran denkst, daß du einer Mutter hilfst, ein Kind oder drei zu kriegen, geht das Gefühl schnell weg. Du mußt nur aufpassen, nicht nur zu funktionieren wie eine magicomechanische Marionette", sagte Aurora.
"Meine patientin wirft am ersten Juni. Die hat aber nur ein Kind in Bereitschaft", sagte Monica Riddley. Aurora fragte sich, was aus der sonst so überheblichen Shadelakerin geworden war. Oder war das einfach die Angst, auf den letzten Metern noch zu stolpern?
"Du kennst meine Mentorin. Die wollte mich eben mal wieder überraschen und dann gleich alles was ging abverlangen", sagte Aurora.
"Ich würde lieber wie die beiden Burschen da einen Noteinsatz machen als 'ner wegen Schwangerschaft verängstigten Trulla ein Kind unterm Umhang hervorzuholen. Ist irgendwie schon veraltert, die Heilerausbildung. Wenn die beiden da wüßten, wie heftig weh das einer Mutter tun kann, würden die wohl auch mehr Respekt vor uns Hexen haben und die nicht als nettes Beiwerk oder Vergnügen ansehen."
"Ey, quatschst du jetzt wieder irgendwelchen Matsch, Monica?" Fragte Tom. Aurora sah ihn jedoch so streng an, als wäre Meisterin Herbregis Geist mal eben in ihren Körper geschlüpft um ihn zu maßregeln. Davon völlig überrascht zog er sich zurück.
"Du hast dir ausgesucht, Heilerin zu werden, Monica, genau wie ich. Lass dich von Leuten nicht dumm reden. Aber ich stimme dir zu, daß Jungs das mal lernen sollten, wozu der Mädchenkörper ursprünglich gemacht ist, nicht als Spielzeug und nicht als pure Dekoration. Ich hoffe für dich, daß du einmal wen findest, mit dem du das erleben kannst. Vielleicht finde ich auch mal wen."
"Auch wenn wir wohl nie Freundinnen werden, weil du 'ne andere Meinung über Muggel und Muggelstämmige hast, sollten wir ja zumindest als Kolleginnen klarkommen, solange wir in der Sano sind", sagte Monica Riddley. Aurora pflichtete dem aufrichtig bei. Die Shadelakerin zog sich an ihren Einzelplatz zurück, während Ireen fragte, was die jetzt so umgekrempelt hatte.
"Das was die immer schon umtreibt, Ireen. Die Pure Angst vor Fehlschlägen", mentiloquierte Aurora Dawn ihrer zweiten Jahrgangskameradin.
Am Abend nach diesem wie üblich ablaufenden Tag vernichteten die fünf HIP-Kandidaten die Geburtstagstorte. Aurora bekam mehrere verspätet eintrudelnde Eulen von ihren Verwandten, noch eine Torte von ihrer Oma Regan, die sie aber für den nächsten Tag aufbewahren wollte und einen Brief von Tim und einen von Vivian. In der Privatheit ihres Zimmers las sie erst Vivians Brief:
Hallo Aurora!
Deine Mum hat mir angeboten, eine Express-Eule um die Welt zu schicken, um dir noch rechtzeitig zum Geburtstag gratulieren zu können. Wir sind jetzt alle im Prüfungsstreß. Bei dir geht das ja dann wohl auch im Juni los, hast du ja erzählt. Tim ist total aufgeregt, weil er ja jetzt die UTZs machen will. Sprout hat ihm gesagt, daß er den Kräuterkunde-ZAG wohl hinkriegt, den er nachholen will. Ansonsten hat Gryffindor den Quidditchpokal mal wieder gewonnen, obwohl wir die mit zweihundert zu hundertsechzig abgefertigt haben. Aber die Slytherins und Hufflepuffs sind gegen die voll untergegangen. Sei es. Nächstes Jahr werde ich vielleicht Kapitänin, dann holen wir den Pokal. Phiona soll in den Sommerferien zu einer Gastfamilie in Hamshire, um nicht wieder magersüchtig zu werden. Die war ja bis vor drei Wochen im St. Mungo. Könnte Probleme mit den Prüfungen haben. Aber ich habe der gesagt, daß sie echt einen besseren Beruf finden kann, als als Model, wo die sich echt tothungern oder mit Drogen kaputtmachen, um so schlank zu bleiben.
Ach ja, was ich unbedingt noch unterbringen muß: Tim hat mir endlich die Frage gestellt. Danke dafür, daß du und dieser Heiler Herbregis ihm geraten habt, klarzumachen, ob er allein durch die Ausbildung will oder nicht. Wenn bei mir die UTZs durch sind heiraten wir. Also nächstes Jahr im Sommer, was bei euch da unten ja Winter ist. Wenn du das darfst, halt dir da schon mal Termine frei. Näheres erst, wenn es sicher ist wann.
Noch mal alles gute zum Geburtstag! Bis dann
Vivian Acer
Tim schrieb:
Hallo Aurora!
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Einundzwanzig ist ja doch ein erhabenes Alter. Früher waren Muggel da erst volljährig.
Ich habe mich nach der kurzen Reise nach Australien lange mit mir beraten, ob ich das echt machen soll. Dann ist mir klargeworden, daß ich echt was in der Welt anschieben kann, wenn die mich machen lassen. Ich mach den Kräuterkunde-ZAG noch einmal mit. Ich bekam das hin, daß ich da keine andere Prüfung habe. Danach wird mich Madam Pomfrey durch die Ersthelferprüfung schicken. Dann habe ich das schon mal in der Tasche. Deine Hebamme Newport hat sich bei mir gemeldet. Die will mich im Sommer noch einmal interviewen, wie ernst mir das ist. Wenn ich dann dieses Ersthelferzertifikat habe will die mich als Assistent halten und mir dabei die wichtigsten UTZ-Tränke beibringen. Sollte ich damit den UTZ in Zaubertränken nachholen und den in Kräuterkunde auch noch, könnte ich nächstes Jahr nach den Sommerferien wohl schon bei St. Mungo reingehen. Vorher will ich aber wohl noch was anderes machen. Da ich davon ausgehe, daß Vivi es dir selbst schreibt, bleibt mir nur, dir zu sagen, daß du wenn möglich dann zu uns eingeladen wirst.
Bis dann denn!
Tim Preston
Aurora dachte einige Minuten lang über die beiden Briefe, die Geburtshilfe und die anstehende Zulassungsprüfung nach. Es war schon erhaben, was bewegen zu können. Sie hoffte nur, auch in Zukunft die richtigen Sachen zu bewegen. Dann schickte sie noch einen Gutenachtgruß an Petula Woodlane, die ihr ja ebenfalls zum Geburtstag gratuliert hatte und legte sich schlafen.
Wie vorausgesagt konnte Monica Riddley am ersten Juni einer Hexe bei der Geburt eines strammen Jungzauberers helfen und damit die letzte Zulassungsbedingung erfüllen. Somit würde nun jeder der fünf die vier Prüfungswochen mit einzelnen Erholungsphasen überstehen, die traditionell um den Tag der Wintersonnenwende herum abgeschlossen werden sollten.
Am ersten Montag im Juni erging an alle fünf HIP-Kandidaten der Aufruf, sich zur Ansprache der Sprecherin der australischen Heilerzunft im Büro des Direktors einzufinden. Aurora atmete tief durch. Jetzt galt es. Jetzt würde sich herausstellen, ob die ganze Schufterei der letzten sechs Monate, überhaupt der ganzen drei Jahre sich gelohnt hatte. Die Anforderungen an die Kandidaten sollten bei allen hoch sein, hatte sie von Älteren wie Jill Trylief erfahren, die jetzt in der Abteilung für das Aufspüren von Giftstoffen arbeitete. Vielleicht war es für Aurora gut, gleich von Anfang an so hoch gefordert worden zu sein. Vielleicht stellte sich aber auch heraus, daß sie viel zu heftig rangenommen worden war. Sie dachte an die Tagebucheinträge und an die heimlichen Tränen, die sie nach manchem Arbeitstag auf ihr Kopfkissen vergossen hatte, die Alpträume von sie jagenden Skeletten, die ihre Knochen aufgezählt haben wollten oder die Sache, wie sie als ihre eigene Mutter herumlief und sich von ihrem ungeborenen Ich anhören mußte, nicht zu viel Zwiebelkuchen in sich reinzustopfen, weil das erst zu voll machte und dann zu laut wurde. Das hatte sie wohl daher, weil sie in den vergangenen Jahren einige Male in ihre allerfrühesten Lebenstage zurückgeblickt hatte. Jetzt stand sie in dem grünen Umhang im Büro des Direktors der Klinik, der in einem Jahr in den Ruhestand gehen wollte. Ob ihre Mentorin Bethesda Herbregis seine Nachfolgerin würde stand noch aus. Doch vielleicht würde es nicht zuletzt an ihr, Aurora Dawn, hängen, ob ihre Mentorin diesen hohen Posten bekam oder nicht. Nein! Das sollte sie besser nicht denken. Sie machte hier nur eine Ausbildung durch. Sie entschied nicht über die Besetzung von Posten. Sie mußte sich auf ihre Sachen konzentrieren, und auf nichts anderes.
"Sehr geehrte Damen und Herren, auf diesen Tag haben Sie alle drei Jahre lang hingearbeitet", sagte Direktor Springs. "Heute und in den nächsten vier Wochen werden Sie mit fünf unterschiedlichen Behandlungen zu tun bekommen, die mehrere Tage beanspruchen. Keine Sorge, Ihre Mentoren werden Ihnen zur Verfügung stehen, wenn Sie fürchten, nicht zurechtzukommen. Zu diesen praktischen Fällen werden sie in acht theoretischen Abschnitten Abschlußprüfungen ablegen, wobei sie hier ihr Wissen über Grundlagen, Gesetze und Vorgänge unter Beweis stellen möchten. Meine Kollegen, die nicht Ihre Mentoren sind, werden sie auch für praktische Demonstrationen anfordern, um die Zauberkunst-, Verwandlungs- und Flucherkennungs- und -abwehrzauber zu testen. Die Prüfung gilt dann als bestanden, wenn Sie mit so wenig Hilfe wie möglich aber mit eindeutigen Erfolgen die Therapien durchführen und bei den Theorieblöcken pro Arbeit fünfundsiebzig von einhundert Bewertungspunkten erringen. Gehen Sie davon aus, daß Sie nicht nur in den hier erlernten oder vervollkommneten Zauberfertigkeiten und der Zaubertrankbraukunst examiniert werden, sondern auch in den für die magische Heilkunst so wichtigen Aspekten wie Überblick, Einfühlungsvermögen, Durchsetzungskraft, Überzeugungskraft und Improvisation. Ohne diese Charaktermerkmale taugt das ganze Wissen nichts, das Sie hier erworben haben. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen." Die fünf HIP-Kandidaten wagten es, zu lächeln. Dann sagte Vitus Springs: "Kommen wir also nun zur Verteilung der Aufgaben. Damit nicht alle fünf an einer Sache dran sind werde ich jeden Tag hereingekommene Fälle auf die Schwierigkeiten prüfen und per Los an Sie verteilen. Wer einen unbeschrifteten Umschlag von mir erhält verläßt bitte mit seinem Mentor oder ihrer Mentorin dieses Büro und nimmt im Büro des Mentors Kenntnis von der Aufgabe! Dabei spielt es keine Rolle, ob die Therapie in einer Stunde oder einer Woche abgeschlossen werden kann. Sobald ich von Ihren Mentoren die Meldung erhalte, daß Sie die Therapie erfolgreich beenden konnten oder sie auf Grund von Unwägbarkeiten abbrechen und einem Kollegen überlassen mußten, teile ich die nächste Aufgabe aus. Zur Bewertung der fünf Praxisprüfungen: Neben den erwähnten Charaktereigenschaften, die von ihren jeweiligen Auftragüberwachern bewertet werden, gilt es, daß der volle Erfolg einhundert Punkte einbringt, ein erfolgreicher Ansatz fünfzig und der vorzeitige Abbruch null Punkte. Wer in den fünf Praktischen fällen zweimal mit null Therapiebewertungspunkten abschließt darf sich entscheiden, ob er oder sie das Jahr noch einmal wiederholt oder die Ausbildung für vorzeitig beendet erklärt. In letzterem Fall ist dann zu klären, ob eine Teilrückerstattung der von der Heilerzunft aufgewandten Kosten von Ihnen zu zahlen ist oder nicht. Das ist davon abhängig, aus welchen Gründen Sie die Ausbildung nicht vervollständigen können oder möchten. Die Theoriearbeiten finden an den beiden letzten Werktagen der kommenden vier Wochen statt. Wie erwähnt müssen zum Bestehen der theoretischen Prüfung alle acht Arbeiten mindestens fünfundsiebzig Bewertungspunkte einbringen. Ausgehend von den bisherigen Rückmeldungen halte ich es zwar für unwahrscheinlich, aber immerhin möglich, daß Sie im Theorieteil unter den Anforderungen bleiben könnten. Hierbei gilt, wenn eine Arbeit unter den Anforderungen bleibt, kann sie in den letzten Julitagen noch nachgeholt werden. Bleiben zwei oder mehr Arbeiten darunter, gilt dasselbe wie für die praktischen Prüfungen, also die Wiederholung des gesamten dritten Jahres oder der Ausstieg aus der Ausbildung. Sie mögen zurecht sagen, daß es harte Bedingungen sind. Aber vergessen Sie bitte nicht, daß von Ihrer Befähigung Menschenleben abhängen können und wir daher sehr sicher sein wollen, daß Ihre Befähigungen genügen, um Sie als Medimagier oder magische Heiler in unseren Reihen begrüßen zu dürfen. Soviel zu den Bedingungen. Kommen wir also zum Auftakt! Kandidatin Barnickle, Ireen, bitte vortreten!" Ireen Barnickle trat sichtlich aufgeregt zum Direktor vor und erhielt von diesem einen Umschlag. "Dies soll Ihr erster Auftrag sein, Ms. Barnickle. Viel Glück!" Gemäß der Anleitung des Direktors verließen Ireen und ihre hochgewachsene, hagere Mentorin Ceres Beanstock das Büro. Aurora wußte natürlich, wer jetzt aufgerufen wurde.
"Kandidatin Dawn, Aurora, bitte vortreten!" Aurora fühlte jetzt, wie die Aufregung doch in ihr anstieg. Ab heute würde sie fast ohne Hilfe auskommen müssen, bis klar war, ob sie unbeaufsichtigt arbeiten konnte oder nicht. Sie nahm ihren blauen Umschlag ohne Beschriftung entgegen, der, wie sie jetzt sah, aus einer kleinen Truhe hervorgeholt wurde, in der ein pechschwarzes Nichts gähnte. Sie verließ mit Bethesda Herbregis das Büro des Direktors und zog sich in das Arbeitszimmer der Großheilerin zurück.
"So, fühlst du dich körperlich und geistig gesund genug, um die Prüfung jetzt anzutreten?" Fragte Bethesda Herbregis. Aurora zögerte eine Sekunde. Dann antwortete sie deutlich, daß sie sich wohlauf und frisch genug fühlte. Dies notierte die Mentorin in ihrem Notizbuch. Dann sagte sie noch: "Es versteht sich von selbst, daß du dein Lerntagebuch fortführst, solange du im praktischen Einsatz bist. Bei möglichen Zweifeln an deiner umfassenden Kenntnis kann es immer noch als Zusatzbestätigung herangezogen werden. Was Direktor Springs nämlich nicht erzählt hat ist, daß das Lerntagebuch eine Arbeit, die knapp unter der Mindestpunktzahl liegt, durch die dem Thema entsprechenden Einträge im Tagebuch um ein bis fünf Punkte aufwerten kann. Punktabzüge auf Grund des Tagebuches werden jedoch nicht errechnet. Aber so wie ich dein Tagebuch immer geprüft und dich zu Notizen darin angehalten habe würde es eh keine Abzüge bringen. Dann lies mir bitte laut und deutlich vor, was dein erster Prüfungseinsatz ist!"
Aurora öffnete den Umschlag und zog einen Pergamentzettel heraus. Sie hoffte nur, daß sie nicht noch einmal Geburtshilfe geben sollte. Dann las sie: "Sehr geehrte Kandidatin, sehr geehrter Kandidat, bitte übernehmen Sie die Wiederherstellung des natürlichen Aussehens von Mr. Clyde Sperlock auf der Station für Opfer von magischen Giftpflanzen. Näheres erfahren Sie von ihrem Einsatzüberwacher vor Ort, Heiler Xylophilius Blueberry. Viel Erfolg!"
"Könnte ein schönes Aufwärmprogramm für dich sein, Aurora. Dann mal los!" Trieb Meisterin Herbregis ihre Schülerin an.
Aurora kannte den kleinen, wie ein Ast mit Armen und Beinen aussehenden Xylophilius Blueberry von zwei Kräuterkundeprüfungen her. Der hatte sie ziemlich gut ausgefragt, um wirklich alles zu erfahren, was sie zu den drangenommenen Pflanzen wußte. Als sie in der Abteilung für die Opfer magischer Pflanzen eintrat hörte sie das Wimmern und Stöhnen gepeinigter Patienten, die in den Schlafräumen oder den Behandlungszimmern ihre Verletzungen oder Vergiftungen auskurierten. Sie suchte den Heiler Blueberry und gab ihm den Auftragszettel.
"Hui, da bin ich echt froh, daß du mir von Direktor Springs zugeteilt wurdest. Ich habe den Patienten gestern Abend hereinbekommen. Sieh ihn dir an und befinde, was getan werden muß und tue das dann auch! Ich werde nur überwachen. Wenn du Fragen hast wende dich an deine Mentorin! Falls du findest, keine geeignete Therapie zu finden, sage es mir mit den Worten: "Bitte übernehmen Sie!" Sobald du das sagst, ist dieser Auftrag für dich erledigt, allerdings ohne die Erfolgspunkte. Dann wollen wir mal."
Aurora fragte schon, wo Clyde Sperlock stecken mochte, als sie in ein Zimmer ohne Bett und Kleiderschrank eintrat. Sie sah einen großen Tontopf, in dem eine Pflanze mit weit ausladenden, dornigen Blättern stand. Oder war es keine Pflanze? Aurora vermeinte, in dem kugelförmigen grünen Etwas im Zentrum der Blätter ein Gesicht zu erkennen und hörte ein gequältes seufzen.
"Guten Morgen Mr. Sperlock. Meine junge Kollegin Aurora Dawn wird Ihren Fall nun betreuen. Ich bleibe aber in der Nähe", sagte Heiler Blueberry, während Bethesda Herbregis sich im Hintergrund hielt.
"Kein junges Gemüse", zischte eine aufgebrachte Stimme zwischen Mensch und Tier, und das merkwürdige Gewächs machte wegscheuchende Bewegungen mit den dornigen Blättern. Aurora überhörte die Bemerkung und übersah die Abwehrgeste, zumindest solange sie weit genug von den Dornen entfernt stand. Sie betrachtete das Etwas im Topf und befand, daß da zu wenig Wasser drin war. Sie füllte mit dem Zauberstab den Topf um ein paar Liter auf und sagte dann:
"Ich möchte Sie nicht ärgern, sondern heilen, Sir. Mein Name ist Aurora Dawn und ich möchte gerne einige Sachen von Ihnen wissen. Wie alt sind sie bitte?"
"Könnte dein Vater sein, junge Hüpferin", brummelte der grüne Klumpen im Zentrum der merkwürdigen Pflanze.
"Also über sechzig", entgegnete Aurora dreist. Denn ihr Vater war gerade erst über vierzig.
"So alt bin ich auch noch nicht, nur fünfundfünfzig, verdammt noch mal", schnarrte das unfreundliche Gewächs, daß Aurora als einen Patienten zu betrachten hatte. Blueberry grinste hinter vorgehaltener Hand, während Bethesda Herbregis etwas unsicher auf Aurora blickte. Doch diese fuhr fort:
"Danke für die Auskunft. Das hilft mir und damit auch Ihnen. Aus welcher Gegend kommen sie, Sir?"
"Hat der Knorrige Typ sich doch aufgeschrieben. Wenn der meint, dich machen zu lassen, soll der dir den Krempel zu lesen geben."
Aurora nahm ein Notizbuch aus dem Umhang, nicht das Lerntagebuch, sondern eines für Patientendaten und Therapievorschläge und notierte sich, daß ein Zauberer wohl mit einer phytomorphisierenden Zauberpflanze in Berührung gekommen sei, beschrieb das Aussehen und aggressive Verhalten und trug ein, daß der Patient fünfundfünfzig Jahre alt war. Dann sagte sie ganz entschlossen: "Sir, sowie ich das sehe haben wir beide nur zwei Möglichkeiten. Sie antworten bitte auf meine Fragen und lassen sich von mir helfen, weil ich die Anweisung und die moralische Pflicht habe, kranken oder durch magische Kräfte geschädigten Menschen zu helfen, oder Sie freunden sich damit an, in weniger als zwei Tagen gänzlich zu einer Pflanze umgewandelt zu werden und Ihr weiteres Dasein als exotische Topfpflanze zu verbringen, sofern das mit Ihnen in Berührung gekommene Veränderungsgift nicht auch von Ihnen übertragen werden kann und Sie daher weit abgeschieden von allen Menschen wortwörtlich vegetieren. Es sei denn, Sie legen Wert darauf, von mir für unzurechnungsfähig erklärt zu werden. Dann behandel ich Sie eben gegen Ihren Willen. Die Wahl haben Sie jetzt, Sir."
"Dagegen kannst du eh nix machen", schnarrte der Patient. "War im Hinterland unterwegs, wollte Koalas beobachten. Dabei bin ich mit dem Fuß in so'nem Schlingzeug hängengeblieben, das sich an meinem Fuß festgehakt hat. Ich habe es mit Herbarupto durchgehauen. Aber dann fingen meine Füße an, immer Schwerer zu werden. Und gestern abend ging das dann mit diesen drachenmistigen Blättern los, und in der Nacht wurde das schlimmer. Ich konnte gerade noch einen Notruf losschießen, da fiel mir der Zauberstab aus der Hand, und ich wurde immer mehr zu diesem Kaktusgemüse."
"Sehen Sie, damit habe ich von Ihnen genau die Informationen, die ich brauche, bis auf die Information, wo genau sie im Hinterland waren." Aurora notierte sich den ungefähren Standort. Dann sagte sie: "Wie gesagt, wenn ich Sie jetzt behandele können Sie wieder ein Mensch aus Fleisch und Blut werden. Was Sie da angefallen hat ist ein Nachtwandelstrunk. Der bringt über seine Dornen ein Veränderungsgift in den Körper eines magischen Menschen und hält ihn fest. Bleibt der Zauberer oder die Hexe an dem lebenden Strunk hängen, verwandelt sich der Mensch in der nächsten Nacht in einen Wächterkaktus, der in sich neue Samenkapseln heranreifen lassen kann. Werden diese ausgestoßen, erstarrt der Wächterkaktus und versteinert. Aber ich kann sie beruhigen. Den Prozeß kann ich umkehren, wenn ich von der Pflanze was habe, die ihnen aufgelauert hat. In ungefähr einer Viertelstunde bin ich wieder da, und dann sage ich Ihnen, wie wir Sie wieder hinkriegen."
"Das glaubst du doch selbst nicht, Mädchen!" Grummelte das Pflanzenwesen. Aurora Dawn überhörte das. Sie mußte nicht glauben, sondern wußte es. Zunächst einmal besorgte sie sich schwere Silberstifel, die bis zu ihren Oberschenkeln hinaufreichten, sowie feste Drachenhauthandschuhe und einen Schutzumhang mit Kapuze gegen Giftstacheln. Ebenso rüsteten sich Bethesda Herbregis und Xylophilius Blueberry aus. Dann apparierten sie ins Buschland, wobei Aurora die beiden Heiler Seit an Seit führte. Am Ort des Überfalls suchte Aurora mit Vivideo nach pflanzlichem Leben und erkannte etwas wie sich schlängelnde Ranken dicht am Boden zwischen dem dichten Gras. Sie setzte ihren rechten, silbergestiefelten Fuß vor und beobachtete, wie etwas wie eine dornige Peitschenschnur um ihren Knöchel schlug und Funkensprühend davon abglitt. Wieder und wieder, immer etwas höher peitschte sie der unheimliche Strunk. Erst als er auf Höhe von Auroras Knie war richtete sie den Zauberstab auf die Stelle, von wo aus die Angriffe erfolgten und rief: "Effodio!" Prasselnd flogen Brocken von Erde fort, als würde ein unsichtbarer Spaten im Eiltempo die Erde fortschaffen. Wieder schlug das Pflanzenwesen mit seinem Strunk nach Aurora Dawns gepanzertem Bein aus ... und rollte sich darum zusammen, zitterte und erstarrte, während eine Knolle mit hunderten feiner Wurzeln wie ein hundertarmiger Seestern um sich tastete, weil das schützende und nährende Erdreich fehlte.
"Wo kommen diese gefärhlichen Wildkräuter noch vor?" Fragte Xylophilius Blueberry.
"Außer hier unten drunter noch in den südlichen Subtropen Südamerikas. Die Pflanzen kennt die magische Herbologie seit 1670. Die erste erfolgreiche Wiederherstellung eines davon betroffenen Zauberers gelang am siebten Februar 1704, als herauskam, daß die Knolle in Verbindung mit Alraune und Eidechsenschwänzen die Rückverwandlung einleitet, wobei gilt, pro Stunde der Hinverwandlung ein Kelch mit dem Gegenmittel in die Erde, in die sich der angehende Wächterkaktus eingegraben hat.Bei der Gelegenheit, dort drüben stehen zwei bereits verwitternde Kakteen. Womöglich liegen hier sogar noch fünf oder sechs Nachtwandelstrünke auf der Lauer. Das kann das Ministerium übernehmen. Die Heilung unseres Patienten darf jetzt nicht mehr länger warten." Sie Apparierte mit der gefangenen Knolle an ihrem Bein zurück in die Klinik.
"Einstand nach Maß, würde ich mal sagen", grinste Brlueberry seine dienstältere Kollegin an.
"Da war sie seit ich sie unter meine Fittiche genommen habe gut drin. Das und Zaubertränke wird wohl ein Paradeflug für sie werden. Aber wir müssen die Therapie bis zum endgültigen Erfolg begleiten."
"Allein schon um mitzukriegen, wie sich der Patient für seine Grobheiten entschuldigt, Beth. Also zurück, bevor wir verpassen, wie deine Kandidatin die Gegenlösung anrührt!"
Zurück in der Klinik begleiteten die beiden fertigen Heiler die Kandidatin zunächst zum Gewächshaus, wo Aurora unter dem Schutz von Ohrenschützern eine erwachsene Alraune männlicher Prägung aus ihrem Topf herausgrub und mit einem silbernen Messer den Kopf abschnitt, um den restlichen Körper auspressen zu können.
Nach knapp zehn Minuten hatte sie in einem Zaubertranklabor die von ihrem Bein abgetrennte Knolle und den Saft der Alraune zu einer sirupdicken Flüssigkeit zusammengerührt und gab einen fein gemörserten Eidechsenschwanz hinzu. Nach einer Viertelstunde war die relativ einfache Mixtur fertig und mußte nur noch verdünnt und in eine große Flasche gefüllt werden. Als das passiert war maß Aurora einen halben Kelch ab und ging im Schutz ihrer Ausrüstung an die bald ganz umgewandelte Lebensform heran. Mit geübtem Schwung beförderte sie die erste Dosis in den Blumentopf.
"Hautsch, was für ein Dreckzeug haben Sie denn da ... Ahaharg", maulte das Pflanzenwesen. Aurora beschrieb ihm nun, was sie getan hatte und bat um Entschuldigung, wenn die Wirkung sehr unangenehm war. Nach einer weiteren Stunde bekam der befallene Patient die zweite Dosis. Nach einer weiteren Stunde die dritte. Die Blätter zogen sich immer weiter zurück, und wie in Holz oder Blattwerk eingeschweißt wurde ein hagerer Mann sichtbar, der mit den Füßen immer noch fest verwurzelt im Topf stand.
"Ich dachte, Alraune alleine genügt! Autsch!" Knurrte er, diesmal schon wesentlich menschlicher klingend.
"Das Problem ist nur, daß Alraunen progressive Verwandlungen nur umkehren, wenn sie im Verhältnis zur bereits abgelaufenen Verwandlungsdauer und der Essenz des Wandelstoffes zusammengebracht werden. Ich werde Ihnen nicht ersparen können, diese Mixtur nachher auch noch mit dem Mund zu Trinken, wenn Ihre Beine sich wieder zurückverwandelt haben, Sir."
"Wie schmeckt denn das Zeug?" Fragte Sperlock argwöhnisch, während die Wallungen der neuen Dosis langsam nachließen.
"Kann ich nicht sagen, weil diese Mixtur ohne entsprechende Zielanwendung giftig ist. Nur wenn ein Fluch oder eine magische Umwandlung im Körper enthalten sind, wird das Gift neutralisiert, um die Verwandlung umzukehren. Ansonsten würde der Trinker keine halbe Stunde überleben."
"Wie kriegen Sie dann raus, ob ich noch mit diesem Grünzeug verseucht bin?" Fragte Sperlock. Blueberry und Herbregis nickten. Die Frage hätten sie auch stellen können.
"Durch den Monstrato-Mutandum-Zauber, der körperverändernde Zauberkräfte nachweist. Zeigt er nichts an, darf ich Sie als geheilt betrachten. Ansonsten gilt, daß Sie solange kleinste Dosen von dem Trank einnehmen müssen, bis der Zauber nichts mehr anzeigt. Aber so weit sind wir noch nicht."
Erst nach zwei Weiteren Güssen mit dem Gemisch verschwanden die pflanzlichen Anteile völlig und gaben einen Mann mit nachtschwarzem Haar und blauen Augen frei, der im Moment völlig nackt war. "Noch nie sowas gesehen", meinte er und deutete auf seinen Körper.
"Wenn das so wäre hätten Sie es jetzt nicht mehr, weil ich es dann zur weiteren Erforschung in unser Labor für fremdartige Auswüchse gebracht hätte", konterte Aurora Dawn. Blueberry mußte sich beide Hände vor das Gesicht halten, um sein schadenfrohes Grinsen zu verdecken, während Meisterin Herbregis Aurora zumentiloquierte, daß das schon hart an der Grenze der Respektlosigkeit gewesen sei, jedoch die in dieser Situation gelungenste Antwort auf diese rüde Bemerkung sei. Sperlock blickte Aurora Dawn verdutzt an und wußte wohl nicht mehr, was er dazu sagen sollte. Sie gab ihm ein klinikeigenes Nachthemd und prüfte eine Stunde später auf Rückstände des Veränderungsprozesses. Weil da noch etwas war flößte sie ihm eine kleine Dosis von dem Trank ein. Er versuchte sich zwar zu wehren, wurde aber kurzerhand bewegungsgebannt. Erst nach fünf Minuten war von der umwandelnden Kraft nicht mehr viel im Körper des Patienten. Also bekam er gegen seinen Willen noch eine zweite Dosis in den Mund und so auch in sein Verdauungssystem. Danach verschwand die körperumwandelnde Kraft gänzlich. Aurora notierte die Zeit, die die Wiederherstellung gedauert hatte und stellte den Trank sicher fort. Dann löste sie den Bewegungsbann und wich einen Schritt zurück, weil der Zauberer erst Anstalten machte, auf sie loszugehen. Doch dann beherrschte er sich.
"Ein Sauzeug ist das. Hat wie Hundescheiße mit Bittermandeln geschmeckt. Aber immerhin bin ich jetzt wohl wieder klar."
"Nun, den Geschmacksvergleich kann ich zwar nicht nachvollziehen. Aber daß Sie in Ordnung sind ist eindeutig, Sir. Mein Kollege hier hat bereits die Unkrautabwehr des Ministeriums hingeschickt. Die werden die übrigen Knollen ausgraben. Die Strünke wachsen nämlich wieder nach. Vielleicht ist die Gegend dann sicher."
"Dann machen Sie mir jetzt die Entlassungspergamente fertig!"
"Da fehlt ein wichtiges Wort, Sir", beharrte Aurora auf Höflichkeit.
"Sofort", knurrte Sperlock. Blueberry räusperte sich und sagte nur:
"Meine junge Kollegin hat Sie wieder zu einem Menschen auf zwei beweglichen Beinen machen können, Sir. Ein wenig Dankbarkeit und Anerkennung sind durchaus kein Umstand, Sir."
"Die hat nur gemacht, was Sie und die andere Hexe da von der verlangt haben, damit die ihre Ausbildung weitermachen kann. Die tut nur ihren Job." Aurora hörte nicht so recht darauf. Solche Unverschämtheiten würde sie später wohl noch häufiger abwettern müssen.
"Ms. Dawn, sind Sie sich nun absolut sicher, daß dieser Patient genesen ist?" Erkundigte sich Heiler Blueberry. Aurora führte noch einmal den Monstrato-Mutandum-Zauber durch, der jedoch nichts mehr anzeigte. Dann bestätigte sie, daß der Patient geheilt und außer Gefahr sei. Hierauf erklärte auch Heiler Blueberry den Patienten für geheilt und schrieb ihm eine Entlassung aus. Da Sperrlock bei der beinahe Umwandlung seine Kleidung und den Zauberstab verloren hatte, bekam er von der Klinik einen Umhang und Laufschuhe und flohpulverte sich in sein Haus.
"Das wirst du in unserem Beruf noch sehr häufig erleben, daß Patienten aus lauter Angst, Schwäche zeigen zu müssen, unhöflich und beleidigend werden. Aber deine Androhung eben hat ihn gut eingeschüchtert", bemerkte Meisterin Herbregis. Aurora fragte, welche Androhung genau, weil sie sich an zwei erinnerte.
"Die Sache mit der völligen Umwandlung. Damit kriegen wir fast jeden Patienten, wenn wir ihm androhen, ihn einfach so weiterleiden zu lassen, obwohl wir das natürlich nicht tun dürfen. Auf jeden Fall hast du die ersten einhundert Praxispunkte sicher, plusminus denen, die Heiler Blueberry deinem Verhalten und deiner Beharrlichkeit zuerkennt. Damit ist dieser Tag für dich um, falls du nicht noch für die Theorie etwas wiederholen möchtest. Dafür stehe ich dir bis zum Ende der Ausbildung weiter zur Verfügung."
"Ist vielleicht besser, wenn ich noch einige Sachen aufwärme", sagte Aurora Dawn dazu.
Am Abend erfuhr sie, daß Ireen einen Fall in der ambulanten Psychomorphologie hatte, wo ein Patient mit dem Traumrufsyndrom eingeliefert worden war, dessen Magie im Schlaf unkontrolliert ausbrach und die intensivsten Träume in Bewegungs- und Illusionszauber umsetzte. Dagegen konnte nur Träumgut-Tee und eine Therapie helfen, die das Initialverhältnis der Magie vom Schlaf- auf den Wachzustand zurückverschob.
"Stelle ich mir unheimlich vor, wenn ich träume und alles um mich herum zerlegt oder verbrannt wird", stellte Tom Fest. "Stell dir vor, du träumst, jemand würde dich mit 'nem Messer aufschlitzen. Ich denke, das war es dann."
"Hat's schon gegeben", erwiderte Ireen. "Da mußte geklärt werden, ob es eine verschobene Magieauslöseschwelle vom Wach- zum Schlafzustand war, ein Fernfluch oder ein unsichtbarer Angreifer. Jedenfalls können Traumruf-Patienten nicht für die Schäden ihrer unkontrollierten Magieentfaltungen belangt werden. Ich hoffe, mein Patient ist übermorgen wieder auf normalverhältnisse eingestellt."
"Mesmer meint, daß Traumrufer dadurch entstehen, weil jemand Nächte durchgemacht und magische Rauschmittel eingenommen hat", sagte Berthold. Dann sprachen sie über ihre Fälle, die von Bissen einer bunten Spinne über verknotete Flüche bishin zu einer steckengebliebenen Verwandlung reichten. Aurora erwähnte ihren Fall, natürlich ohne Namen zu nennen und erhielt Beifall für ihre Antwort, als der nackte Zauberer meinte, sie habe noch keinen nackten Mann gesehen.
"Kriegen wir alle, die heute fertig wurden morgen schon den nächsten Fall?" Fragte Tom.
"Hallo, das hat uns Direktor Springs erzählt, daß er uns am Tag nach dem Ende einer Behandlung den nächsten Fall gibt, bis wir fünf zusammenhaben. Wenn du Glück hast bist du nächste Woche schon mit den fünfen durch und kannst dich auf die Theoriesachen konzentrieren", sagte Berthold Woodman.
"Wollen's hoffen", erwiderte Tom McCloud.
Aurora erhielt am nächsten Tag einen Fall, wo vier verschiedene Flüche auf jemanden gelegt worden waren, die sie auseinandersortieren und einen nach dem anderen aufheben mußte. Am Tag darauf hatte sie einen schweren Fall von Kreiselflugtrank-Überdosierung zu behandeln, was nicht an einem Tag abgehandelt werden konnte. Die zwei Patienten machten immer wieder Anstalten, von ihren Betten nach oben zu schweben, wären sie nicht an die betten gefesselt. So mußte Aurora ihren Überwacher auf Samstag vertrösten, weil am Donnerstag und Freitag die ersten beiden Arbeiten anstanden, Geschichte der magischen Heilkunst und Rechtsgrundlagen der magischen Heilkunst.
Am Wochenende setzte sie die Therapie weiter fort. Da die Überdosis bei den beiden nicht nur unkontrollierbare Schwebezauber verursacht hatte, sondern auch schwere Bewußtseinsstörungen, sollte Aurora die beiden noch eine Woche in der geschlossenen Abteilung versorgen. Stellte sich keine geistig-seelische Erholung ein, würden die beiden dann Dauergäste der Sano bleiben. Sie würde dann zumindest die Entgiftung und Körpererholung als Entgiftungserfolg anerkannt bekommen. Denn selbst wenn der Überwacher keinen Ansatz mehr für eine vollständige Heilung sah, durfte der Prüfling nicht deshalb weniger Punkte bekommen, nur weil er diesen Fall zugeschustert bekommen hatte. Anders sähe es aus, wenn der Überwacher noch genug Spielraum sah und der Prüfling nicht auf die wirklichen Verfahren kam.
Von den Arbeiten Dunkle Kräfte, Variationen, Auswirkungen und heilmagische Prävention und Abwehr, sowie Gesetze und Verfahrensweisen bei Verwandlungsvorfällen kehrte Aurora mit leicht brummendem Schädel zurück. Doch sie fühlte sich sicher genug, wenigstens die Mindestanforderung geschafft zu haben.
Zu Auroras großer Freude schlug die von ihr für möglich befundene Kombination aus Seelentrosttrank und Gedächtniszaubern an, und holte die zwei Kreiselflugtrank-Abenteurer, die zwei Jahre jünger als Aurora Dawn waren, aus der Verwirrung ihrer Gedanken zurück. Am Sonntag der zweiten Woche konnte sie vermelden, daß die Genesung vollständig verlaufen sei. Sie sagte den beiden Patienten dann noch:
"Das war aber ganz knapp am totalen Zusammenbruch entlang, Leute. Ich habe in der Geschlossenen schon Patienten gesehen, die wie Maschinen rumliefen, nicht richtig tot und auch nicht mehr lebendig, weil die diesen Trank geschluckt haben. Ich bin froh, daß es euch jetzt wieder gut geht. Kommt gut nach Hause und findet wieder ins Leben zurück!" Die beiden Jungen bedankten sich schuldbewußt und verließen die Klinik.
In der dritten Woche wurde Aurora ein Fall zugeteilt, der eigentlich sehr witzig anmuten mochte. Sie sollte einem Zauberer helfen, dessen Schwiegermutter ihn mit einem ziemlich gemeinen Fluch belegt hatte.
"Meine Frau kriegt in drei Wochen unser erstes Kind. Ich habe die einmal im Scherz als dickes Känguruh bezeichnet. Das hat meine Schwiegermutter mitgehört. Das bekam ich aber erst mit, als ich abends einen Schluck Wein trank und meine Schwiegermutter dann im Zimmer stand und ... Uoach, dieses Balg tritt wieder." Aurora fragte sich, wo da was sein mochte. Dann verstand sie. Der Patient sprach weiter und erklärte, daß seine Schwigermutter ihn damit verflucht hatte, daß er nun alles, was seine Frau an körperlichen Erfahrungen machte, am eigenen Leib spüren würde. Um zu verhindern, daß er sich einen Heiler suchte, um das wieder rückgängig zu machen hatten seine Frau und seine Schwiegermutter ihn in eine Antiapparierkammer eingeschlossen, nur mit einer Türklappe zur Essensversorgung. Da sollte er warten, bis seine Frau das Baby bekommen hatte. Er hatte jedoch den Muggeltrick der Haarnadel im Türschloß benutzt und sich befreit. Erst war er aus dem Haus geflüchtet und dann in die Sonnenstrahlstraße appariert, wo er sich per Flohpulver in die Klinik hatte versetzen lassen.
"Also, falls Ihnen wirklich nicht daran liegt, die Empfindungen ihrer Frau zu teilen, werde ich den Sympatheticus-Fluch jetzt aufheben, und zwar so, daß Ihre Frau nicht von einem Rückstoß getroffen wird. Sie tranken Wein?"
"Genau", erwiderte der Patient und hielt sich den Unterbauch, weil er meinte, etwas rumore darin.
"Aha, dadurch hat sie mit ein paar Blutstropfen Ihrer Frau den Fluch auf Sie lenken können. Aber den kann ich umkehren. Ich brauche dazu nur ein wenig von ihrem Blut, um einen Trank damit anzurühren, um die erste Stufe der Umkehrung zu schaffen. Danach kann ich einen Zauberspruch benutzen, um sie von der Verbindung zu trennen, ohne Ihre Frau zu gefährden", erläuterte Aurora und bekam die Erlaubnis, diese Therapie anzuwenden. Einen halben Tag später fühlte der bestrafte Ehemann nichts mehr von seinem ungeborenen Kind. "Die alte sucht mich jetzt bestimmt. An und für sich müßte ich die anzeigen", knurrte der Zauberer. Aurora nickte. Eigentlich gehörte dieser Fluch zu den schädlichen Zaubern der niederen Stufen. Doch viel sagen durfte sie dazu nicht. So entließ sie den Patienten in der Hoffnung, daß er nicht wieder verflucht würde.
"Manchen geschähe es recht, diese Strafe zu erleiden, Aurora. Aber wir dürfen keine Selbstjustiz dulden, wenn jemand unsere Hilfe sucht", mentiloquierte Bethesda Herbregis.
"Das ist wohl wahr", erwiderte Aurora Dawn unhörbar.
Als letzten der fünf offiziellen Fälle bekam sie einen kleinen Jungen, der einen singenden und die Farbe wechselnden Flauscheball hinuntergeschluckt hatte. So klang aus dem Bauch des Jungen ein fröhliches Kinderlied nach dem anderen. Hier mußte sie schnell machen, weil magisches Spielzeug nicht gerne im Verdauungstrakteines Menschen verging. Sie bewegungsbannte den Dreijährigen, dessen besorgte Eltern dabeistanden, und flößte ihm von jener Tinktur etwas ein, mit der sie einen Tag vor ihrem Geburtstag Mrs. Wallstone die Geburt ihrer Drillinge erleichtert hatte. Dann führte sie, wie sie es im zweiten Jahr von ihrer Meisterin gelernt hatte, eine magische Zange an einer hauchzarten Silberkette in den Bauchraum des Kindes ein und umschloß den immer noch munter trällernden Zauberball unter Benutzung des Einblickspiegels. Dann holte sie die Kette wieder einund zog den nun von der Erweiterungslotion blau gefärbten Ball heraus, der gerade: "O wie schmeckt das Glückcsbonbon, schluck mich und lauf froh davon trällerte.
"Oha, wenn Davy das gehört hat, ist klar, warum der diese Trällermurmel runtergeschluckt hat", seufzte sein Vater. "Das wird den Typen, der diese Dinger verkauft ganz schön was kosten", knurrte er noch. Aurora hob den Bewegungsbann wieder auf und sagte:
"Es ist vielleicht günstiger, ihm Sachen zu geben, die er nicht runterschlucken kann. Manche Kinder schlucken noch bis zum sechsten Lebensjahr Sachen, die ihnen nicht bekommen. Andere fangen dann erst wieder mit fünfzehn an, wobei die Sachen dann wesentlich gemeiner wirken als ein singender Ball. Noch einen schönen guten Tag."
"Wünschen wir Ihnen auch, Ms. Dawn und viel Erfolg beim Prüfungsabschluß", wünschte die Mutter des Jungen. Aurora bedankte sich artig und sah zu, wie die glücklichen Eltern mit ihrem nun heulenden Sohn per Flohpulver die Klinik verließen.
"Unverantwortlich ist sowas, kleine Spielsachen zu verkaufen, die Kinder zum Runterschlucken auffordern. Das soll die Abteilung für den Mißbrauch der Magie klären, ob da nicht jemand böswillig gehandelt hat", sagte Bethesda Herbregis. "Jedenfalls hast du die fünfhundert Praxis-Punkte sicher und dem Jungen da eben auch keine Angst aufkommen lassen. Daß er jetzt losgeweint hat liegt daran, daß er seinen Flauscheball nicht mehr wiederbekommen hat."
"Den hätten wir an und für sich einziehen müssen", knurrte Aurora Dawn.
"Keine Sorge, das Ministerium kümmert sich darum", erwiderte Meisterin Herbregis.
So konnte Aurora nun die restlichen zwei Wochen, die Arbeit über Zaubertränke und Wirkstoffe und Wirkstoffe aus magischen Pflanzen und Tieren, magische Nutz- und Schadpflanzen, sowie die Arbeiten über Theorien der Zauberkunst an Toten Dingen und lebenden Wesen mit klar beschriebenen Beispielen ruhiger angehen lassen. Sicher, ihre Mentorin ging nun mit ihr wieder auf Einsätze innerhalb und außerhalb der Klinik, um ihre praktischen Fähigkeiten zu üben. Doch im Vergleich zu den Wochen davor war es etwas erträglicher. Sie bekam sogar Briefe von den Wallstones, ihrer Vertrauenshebamme Mina Whitecastle, sowie aus England, wo Tim Preston sich sicher war, seine Prüfungen alle geschafft zu haben.
Dann, am Ende der vierten und letzten Prüfungswoche, versammelte Direktor Springs die fünf HIP-Kandidaten in seinem Büro.
"Sehr geehrte Kandidaten für die Zulassung zum Beruf des magischen Heilers, ich bin sehr zufrieden mit Ihnen, zumindest was die praktischen Arbeiten von Ihnen angeht. Keiner unter fünfhundert Praxispunkten. Bedauerlicherweise wird die Prüfungskommission für die schriftlichen Arbeiten erst am zehnten Juli vermelden, ob Sie auch alle die Mindestanforderungen für die theoretischen Arbeiten erfüllt haben. Erst dann kann ich Ihnen wohl gratulieren. Aber zumindest möchte ich hier noch einmal alle Praxiswertungen und Empfehlungen der Kollegen vorlesen, sofern niemand eine Verlesung unter Ausschluß der übrigen Kameraden wünscht." Die fünf HIP-Kandidaten sahen einander an, dann wieder den Direktor und schwiegen. "Gut, dann beginne ich mit Ireen Barnickle. Sie hat bei den fünf ihr zugeteilten Fällen mit großem Einfühlungsvermögen und Beharrlichkeit alle fünfhundert Erfolgspunkte plus einhundert Verhaltenspunkte errungen, also sechshundert Punkte." Ireen atmete sichtlich auf. "Wenn Sie das HIP-Jahr abgeschlossen haben bittet der Kollege Mesmer darum, daß Sie seiner Abteilung zugeteilt werden mögen, falls Sie eine Anstellung innerhalb der Klinik anstreben. Doch darüber wird wohl noch das HIP-Jahr Aufschluß geben, ob Sie einer bestimmten Abteilung zugeteilt werden sollten oder nicht." Ireen nickte. So sprach Direktor Springs weiter, wobei er Aurora Dawn und ihre Mentorin ansah:
"Kandidatin Aurora Dawn: Sie bewisen bei der Behandlung der sechs Patienten sowohl Geschick, Kenntnisse, ein gutes Appariergefühl und auch eine gut umgesetzte Kombination aus Beharrlichkeit, Improvisationsgabe, Ruhe, aber auch Durchsetzungsvermögen, gewürzt mit einem Schuß Frechheit, die jedoch nicht in Respektlosigkeit, sondern spontaner Konfliktumkehr ihren Ausdruck fand. Vor allem bei Ihrem Ersten Patienten mußten sie viel einstecken und teilten die heilkundlich gebotene Dosis an Gegenschlägen aus und ließen sich nicht aus der Ruhe bringen. Auch bei den anderen Fällen bewiesen Sie die nötige Ruhe und Einfühlung, versäumten jedoch nicht, die schuldhaft in Bedrängnis geratenen Patienten zu ermahnen, zukünftig nicht wieder diese Dummheiten zu begehen. Auch die Belehrung von Patienten gehört zu unserem Beruf, vor allem, wenn es darum geht, sie auf unnötige Fehler hinzuweisen. Bei dem letzten Patienten kombinierten Sie Geschick und ausgestrahlte Vertrauenswürdigkeit, als Sie einem kleinen Jungen halfen, ein verschlucktes, magisches Spielzeug wiederherauszuholen. Hier verzichteten Sie auf eine Bauchöffnung und verwendeten die Fremdkörperbergungsmethode, welche vor einhundert Jahren erfunden wurde, um einen Quidditchspieler von einem aus Versehen verschlungenen Schnatz zu erlösen, oder den Schnatz von dem Spieler, ganz wie Sie es sehen möchten. Meine Kollegen, die Ihre Einsätze überwacht haben sind sich noch uneins, ob Sie in der Abteilung für Unfälle mit magischen Pflanzen oder Zaubertränken fest angestellt werden solten. Andere Kollegen sind der Auffassung, daß Ihre Talente, mit Patienten umzugehen, nicht in einem Labor, einem Gewächshaus oder einer Werkstatt verkümmern dürfen und hoffen darauf, Sie als Bereitschaftsheilerin an ihrer Seite zu wissen, wenn Sie dasHIP-Jahr vollendet haben werden. Der Brief der Kollegin Whitecastle, der mich im Zuge der Etappenprüfung Geburtshilfe erreichte, beinhaltet sogar die Empfehlung, Ihnen eine Anstellung als niedergelassene Heilerin zu ermöglichen. In dem Zusammenhang wäre die Stelle in Resting Rock demnächst neu zu besetzen, da die Ex-Kollegin Creekstone sich zusammen mit ihrem Vetter für die Verschleppung der Behandlung und mehrfacher fahrlässiger Tötung verantworten mußte. Wie gesagt, Ihnen stehen bei uns jetzt einige Türen offen. Übrigens noch die nüchterne Zahl von siebenhundert Gesamtpunkten in der Praxis, um Ihre Statistik zu vervollständigen." Aurora atmete auf. Sie hatte diesen Teil jetzt hinter sich. Dann sah Springs Tom McCloud an und verlas dessen Verdienste.
"Kandidat McCloud schaffte die fünfhundert Praxispunkte und zeichnete sich durch eine große Beharrlichkeit, Geduld und Apparierbegabung aus. Allerdings ließ er im Punkte Einfühlungsvermögen einiges zu wünschen übrig und lavierte einmal wirklich hart an einer unverzeihlichen Respektlosigkeit entlang. Hätte er diese Eigenheiten nicht geäußert, wäre er sicher über sechshundert Punkte gekommen. So sind es bedauerlicherweise nur fünfhundertzwanzig. Mr. McCloud, ich vermeine, Sie alle eindringlich auf gutes Benehmen hingewisen zu haben. Den Empfehlungen nach sollten Sie nach dem HIP-Jahr eine Anstellung in der Abteilung für magische Tierwesen anstreben, sofern Sie sich durch diese Beurteilung nicht darauf besinnen, daß unser ehrenwerter Beruf im Wesentlichen über den Umgang mit unseren magischen Mitmenschen bestimmt wird." Tom wollte was einwenden. Doch Springs sah bereits Monica Riddley an. Tom blickte sie erwartungsvoll an. Aurora ahnte, daß er wohl dachte, daß die gleich noch mehr Tadel abkriegen würde.
"Kandidatin Monica Riddley zeichnete sich durch sehr profunde Kenntnisse und Übung aus und schloß die ihr zugeteilten Einsätze gründlich und erfolgreich ab. Allerdings wies sie im Umgang mit Patienten häufig fehlendes Einfühlungsvermögen auf, ging immer davon aus, daß die Patienten kein Widerspruchsrecht hätten, und erwies sich als teilweise sehr nervös, was von allen Überwachern und ihrer Mentorin als Ausdruck fehlender Selbstsicherheit gedeutet wird. Wie bereits bei Mr. McCloud muß ich hier wohl noch einmal anmerken, daß ein freundlicher Umgang mit den Patienten und eine vertrauenswürdige Ausstrahlung überaus wichtig sind. Und Selbstsicherheit muß ein Heiler eindeutig entwickeln. Denn wenn er oder sie sich nicht sicher ist, ob eine empfohlene Therapie richtig oder erfolgversprechend ist, darf er oder sie es von dem betreffenden Patienten erst recht nicht erwarten, daß er darauf vertraut. Doch sofern Sie, Ms. Riddley, die theoretischen Arbeiten erwartungsgemäß hinbekommen haben, haben Sie ja noch das HIP-Jahr, um an ihrer Ausstrahlung und Selbstsicherheit zu arbeiten. Ich setze sehr stark darauf, daß Sie auch durch eine gute Zusammenarbeit mit den Kollegen ein Gefühl für gutes Miteinander für sich entdecken werden." Monica Riddley verzog zwar das Gesicht, weil sie hier gerade als überängstliche Kratzbürste hingestellt wurde, sagte jedoch nichts.
"Kandidat Berthold Woodman zeigte ein umfangreiches Wissen und konnte die ihm zugeteilten Einsätze ebenfalls mit der maximalen Erfolgspunktzahl durchführen. Er zeichnet sich durch Beharrlichkeit, Ruhe und Sachlichkeit aus, läßt aber in einigen Fällen noch etwas Einfühlungsvermögen vermissen. Das bringt ihn auf sechshundertsiebzig Bewertungspunkte. Da seine erkannten Talente sehr umfangreich gelagert sind wagt es keiner der Kollegen, sich für eine bestimmte Fachrichtung bei ihm auszusprechen. Seinem Mentor nach eignet er sich gut zum Bereitschaftsheiler. Näheres, wie bei den anderen auch, wird der Abschluß des praktischen Jahres zeigen. Soviel zu Ihren praktischen Prüfungen, die Damen und Herren. Damit ist der lange Abschnitt Ihrer Ausbildung beendet. Jeder, der auch im theoretischen Abschnitt überzeugen konnte, wird dann am einunddreißigsten August zur feierlichen Vereidigung im Haus der Heilzunft erwartet. Betrachten Sie sich also nun als verdient beurlaubt und verbringen Sie erholsame Wochen mit Ihren Freunden und Verwandten. Halten Sie dabei aber bitte die gebotenen Anstandsregeln ein, die für aprobierte Heiler gelten! Vielen Dank für drei Jahre konstruktiver Mitarbeit und Lerneifer, Interesse und Durchhaltevermögen!" Die fünf nun sehr wahrscheinlichen Jungheiler bedankten sich bei dem Direktor ihrer Bildungseinrichtung und bedankten sich auch bei den Mentoren. Diese bestanden jedoch darauf, diesen Dank erst entgegenzunehmen, wenn die feierliche Vereidigung auch wirklich vollzogen war.
"Aurora, ich denke, du hast dir deinen Urlaub verdient", sagte Meisterin Herbregis. "Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß du eine Nachholarbeit schreiben mußt. Wir sehen uns dann wohl am einunddreißigsten August im Hause der Heilzunft wieder. Hast du einen Festumhang?"
"Einige", sagte Aurora Dawn.
"Dann such dir bitte den aus, der dir am erhabensten erscheint!" Wies Bethesda Herbregis ihre Schülerin an. War das vielleicht die letzte Anweisung, die sie von ihr entgegennehmen mußte?
"Ich denke, ich frage Heather, ob ich bis zum offiziellen Prüfungsergebnis bei ihr wohnen darf", sagte Aurora noch zu Tom und Ireen. "Sonst müßte die Eule ziemlich weit fliegen."
"Hast du dein Zimmer schon soweit leergeräumt, wo wir nach der Vereidigung im Schlaftrakt der Bereitschaftsheiler wohnen?" Fragte Ireen. Aurora überlegte kurz. Dann sagte sie, daß sie das machen würde, wenn sie die Antwort auf ihre Eule hätte, ob sie bei Heather Springs wohnen könne.
Am letzten Abend in ihrem Zimmer F-009, dessen Türschild sie als HIP-Kandidatin auswies, schrieb sie in ihr privates Tagebuch:
30. Juni 1987
Hallo Wendy. Ich denke, ich habe es geschafft. Siebenhundert Bewertungspunkte bekam ich in der praktischen Prüfung und Empfehlungen, besser nicht in einer einzigen Abteilung rumzuhängen. Jetzt sind die drei Jahre um, und ich weiß nicht, wo die geblieben sind. Ich habe so viel erlebt, neues gelernt oder ausprobiert. Direktor Springs behauptet, daß wir wohl auch die schriftliche Prüfung bestanden haben. Dann werde ich am letzten Augusttag vereidigt und mach das praktische Jahr hier. Ist das nicht toll? Ich räume morgen mein Zimmer hier leer und sehe zu, daß ich bis zum 10. Juli bei Heather bleibe, damit die Posteule mit den Prüfungsergebnissen nicht so weit fliegen muß. Dann werde ich erst zu meinen Eltern reisen und da bis zur Mitte August wohl bleiben, mit meinen Freunden feiern und hoffen, daß keinem was passiert ist.
Bis morgen!
Es hatte schon irgendwas wehmütiges an sich, als Aurora Dawn am nächsten Morgen ihre Habseligkeiten zusammenpackte, nicht nur um für die Ferien zu verreisen. Sie mußte alles einpacken, was das Zimmer F-009 zu ihrem Zimmer gemacht hatte. Ganz zum Schluß nahm sie das Wandbild ihres eigenen Portraits ab, daß ihre Oma Regan gemalt hatte. Dann verließ sie nach der Verabschiedungsrunde die Sana-Novodies-Klinik. Diese würde sie wohl ab dem ersten September wiedersehen. Aber dann würde sie als zugelassene Heilerin zurückkehren, nicht mehr als einfache Schülerin. Heather hatte am Morgen noch geeult, daß sie natürlich bereit sei, ihre neue Freundin bis zur offiziellen Verkündung der Prüfungsergebnisse bei sich zu beherbergen und ihre Eltern sich auch sehr freuen würden. So wechselte Aurora per Apparition zum Haus der Springs über, wo sie einige Kleidungsstücke aus ihrem Rucksack holte und in den Schrank hängte, der ihr sonst in den Weihnachtsferien zur Verfügung stand. Dann hängte sie das Bild noch einmal auf und bestellte darüber Petula und ihren Eltern, daß sie bis zu der Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse bei Heather Springs wohnen wollte.
Die nächsten zehn tage waren von weiteren Ausflügen quer über den fünften Kontinent bestimmt. Aurora besuchte mit Heather sogar das Sydney der Muggel und nahm an einer Hafenrundfahrt teil, weil Heather ein paar Papiergeldscheine der Muggel besaß. Die beiden jungen Hexen verstanden sich immer noch sehr gut, obwohl sie öfters zusammenhingen.
Am elften Juli apparierte Direktor Springs in einem fließenden, dunkelgrünen Festumhang mit einem gleichfarbenen Zaubererhut auf dem Kopf und bat um Einlaß. Heather mentiloquierte Aurora zu:
"Kuck mal, der bringt dir die Ergebnisse persönlich vorbei." Aurora schickte zurück, daß sie das hoffte und wechselte mit dem Schnellumkleidezauber in einen grasgrünen Festumhang. Dann folgte sie Heather im respektvollen Abstand und wartete darauf, daß diese ihren Großonkel begrüßte.
"Hallo, Heather, schön mal wieder bei euch aufzuschlagen. Und der Anlaß, warum ich das mache ist auch sehr schön. Ah, da ist sie ja auch schon", trällerte Vitus Springs. Er winkte Aurora Dawn zu sich hin und wartete, bis sie ihn höflich begrüßt hatte.
"Laura hat mir gerade alle Ergebnisse zugeschickt. Ich denke, das wird dich sehr freuen, daß niemand aus deiner Ausbildungsgruppe die Prüfung wiederholen oder die Ausbildung unvollendet abbrechen muß. Hier bitte schön!" Aurora bedankte sich für den dicken Umschlag, den Vitus Springs ihr überreichte. sie zog sich in das Haus zurück, um für sich die Ergebnisse zu lesen:
Ergebnisse der theoretischen Zulassungsprüfungen zum Amt des magischen Heilkundigen
Kandidatin Aurora Dawn
Geschichte der magischen Heilkunst: 90 von 100 Punkten
Gesetze der magischen Heilkunst: 80 von 100 Punkten
Dunkle kräfte, Ursachen, Variationen und die heilmagische Prävention und Umkehr: 100 von 100 Punkten
Verwandlung: Gesetze, Auswirkungen und Behandlung: 100 von 100 Punkten
Zaubertränke und magische Wirkstoffe: 100 von 100 Punkten
Magische Nutz- und Schadpflanzen: 100 von 100 Punkten
Zauberkunst an toten Dingen: 100 von 100 Punkten
Kurative Zauberkunst: 90 von 100 PunktenGeforderte Mindestpunktzahl: 600 von 800 Punkten
Erreichte Gesamtpunktzahl: 760 von 800 Punkten.
Arbeiten unter dem Erwartungsminimum: 0 von 8
Arbeiten über dem Erwartungsminimum: 8 von 8
Arbeiten mit maximaler Punktzahl: 5 von 8
Zuzüglich erworbene Punkte bei praktischen Prüfungen: 700 Punkte
Gesamtpunktezahl aller Prüfungsabschnitte: 1460 Punkte
Ergebnisrang der Kandidaten: Platz 1 von 5
Hiermit sind Sie nun berechtigt, am 31. August 1987, um sieben Uhr abends Ortszeit von Canberra im Hause der magischen Heilzunft die feierliche Zulassung als magische Heilerin zu empfangen und vor einer repräsentativen Menge der aktiven Kolleginnen und Kollegen den Eid der magischen Heilkunst zu schwören.Unser aller herzlichster Glückwunsch!
Laura morehead
Sprecherin der magischen Heilerzunft Australien
Vitus Springs, Direktor der Sana-Novodies-Klinik für magische Krankheiten und Verletzungen
Aurora las dann noch die Bewertungen, die ihr Vitus Springs schon am Abschlußtag vorgelesen hatte. Sie hatte mit Abstand die Bestwertung erreicht, also noch vor allen anderen. Hatte man es ihr nicht vorhergesagt, daß sie nicht nur die allgemeinen Erwartungen erfüllen würde? Dann fiel ihr ein, daß es jetzt eindeutig kein Zurück mehr gab. Ging es vorhin nur um eine Ausbildung, stand sie jetzt bei den australischen Heilern in der Pflicht, ihrer Zunft beizutreten und ihr alle Ehre zu machen. Das hatte sie ja gewußt, daß sie dann auf absehbare Zeit im Land unten drunter leben würde. Und mittlerweile sah sie dieses trockene Land, in dem jedoch auch exotische Lebensräume und Voolksstämme existierten, als ihre zweite Heimat an. Zwar hörte jeder aus ihrem Mund noch die Britin heraus. Doch mit dieser Auffälligkeit hatte sie schon einige Punkte sammeln können, unter anderem, als es darum gegangen war, die ungewollte Verschmelzung der Hexe Luella Fairsky mit einem Mutterschaf aufzuklären. Diese Mischform, die entstanden war, hatte sich erfolgreich fortgepflanzt. Am zweiten Februar hatte die Schafsfrau einr Tochter das Leben geschenkt. Eigentlich hatte die dazu in die Sano kommen wollen. Doch dort wartende Ministeriumszauberer hatten sie erwartet und an einen anderen Ort gebracht, wo sie von Tierwesenexperten betreut wurde. Sie dachte an Resting Rock, wo die Entseuchungsarbeiten wohl jetzt doch abgeschlossen waren. Dort strahlte nur noch die Sonne, und die bewohner würden bald in ihre Häuser zurückkehren, bis auf den Dorfältesten und seine Cousine, die Ex-Heilerin Mab Creekstone. Sie dachte an die Wallstones. Das war schon fies, wie Amalthea Honeydew und ihre Mentorin ihr eine Drillingsgeburt untergejubelt hatten. Aber so hatte sie schon drei Kinder gesund auf die Welt geholt. Das stand ja auch in den begleitenden Zeilen zu ihrem Prüfungsergebnis und empfahl sie damit auch als magische Hebamme. Doch irgendwie wäre ihr das wohl zu öde, ängstliche Hexenmütter vor und nach einer Geburt zu versorgen, wo diese Heilerzunft ein Riesengebiet von Möglichkeiten war. Vielleicht sollte sie sich nicht nur auf das Heilen festlegen, sondern ihrem eigentlichen Talent, der Kräuterkunde, ebenso eine gewisse Aufmerksamkeit schenken. Sie überlegte, ob es nach dem HIP-Jahr möglich war, mehrere Tage in der Welt herumzureisen und magische Kräuter zu studieren, zusammenzufassen und womöglich ein nicht ganz so dröges Buch darüber zu schreiben. Vielleicht konnte sie, wenn sie schon einmal in der alten Heimat war, zu Camille Dusoleil hinüber, um mit ihr darüber zu reden. Besser aber erst, wenn sie genau wußte, was sie nach dem HIP-Jahr machte. Falls sie doch in der Forschungsabteilung landete, hatte sie genug um die Ohren. Ließ sie sich als Bereitschaftsheilerin einstellen, war sie immer auf dem Sprung. Die einzige Möglichkeit, etwas ungebundener zu sein, war die Niederlassung. Doch dazu müßte die Zunft entweder ein neues Revier anlegen oder einen eingesessenen Heiler in den Ruhestand schicken. Da wollte sie dann besser abwarten.
Nachdem sie mit Heather und ihren Eltern, sowie Vitus Springs die Zulassung gefeiert hatte, reiste Aurora zwei Tage später mit Heather nach England, wo gerade der Sommer war. Sie traf dort ihre alten Schulkameradinnen Petula, Miriam, Dina und Eunice, beide mit ihren Ehemännern und Kindern, sowie Vivian Acer, die mit der Sonne um die Wette strahlte, weil Tim sie im nächsten Sommer heiraten wollte.
Am zwanzigsten Juli, Aurora saß gerade bei ihrer Mutter im Wohnzimmer, läutete es an der Tür. Regina Dawn ging aufmachen.
"Hallo, Mrs. Dawn, ich hörte, Aurora wäre jetzt bei Ihnen", sagte Tim Preston.
"Ja, die ist da", erwiderte Regina Dawn. Tim betrat das wohnzimmer.
"Madam Newport hat mich für den ersten August einbestellt. Sie hat mich als Ersthelferassistenten engagiert. Wohnen soll ich bei ihr. Wie findest du das?"
"Kann ich nicht beurteilen", sagte Aurora Dawn. "Ich habe diese Heilerin nur zweimal im Leben gesehen, und beim ersten Mal war ich gerade erst zur Welt gekommen."
"Die macht auf mich einen ziemlich strengen eindruck, wie eine Lehrerin und Großmutter. meine Eltern sind da nicht so sonderlich begeistert von, daß ich zu einer alleinstehenden Hexe aufs Land ziehen soll, um bei der in die Lehre zu gehen. Mum denkt an Unzucht, und Dad fürchtet, ich könnte mich jetzt endgültig von der magielosen Welt verabschieden. Dabei weiß er genau, daß ich das mache, um das Wissen aus der Muggelwelt in die Zaubererwelt herüberzuretten, wenn noch mal ein Tschernobyl passiert. Ich habe das immer im Fernsehen gesehen, wie krank die Leute da aussehen. Immer noch sterben da welche an der Strahlung. Ich habe da echt Probleme, ob ich nicht hoffen soll, daß mein Vater in ein Wasserkraftwerk rübergeht und Gladfield Powers die Schotten für immer dichtmacht. Aber das werde ich dem besser nicht erzählen, wo die ganzen Ökos dem eh schon auf der Bude hängen. Insofern vielleicht auch ein Grund, den Anker zu lichten und Segel für die große, weite Welt zu setzen, wie du das gemacht hast, Aurora."
"im Grunde habe ich einen neuen Ankerplatz gesucht, Tim. Wenn du die große, weite Welt sehen willst, werd besser kein Heiler! Weil dann bist du mindestens vier Jahre festgelegt", erwiderte Aurora Dawn.
"O ich Fürchte, jetzt ist es zu spät, um den Kurs zu ändern. Diese Benefica Newport hat verbindlich gefordert, mich am ersten August bei ihr einzustellen. Zurückziehen ginge jetzt nicht mehr, weil sie ihren Terminplan darauf ausrichte, daß ich die kleineren Sachen übernehmen könne. Hoffe nur, daß ich da nicht nur plärrende Babys zu pudern habe", erwiderte Tim. Mrs. Dawn, die ruhig zugehört hatte, wandte lächelnd ein:
"Das kenne ich von Madam Newport. Sie ist sehr engagiert, zieht alles durch was sie anfängt. Aber ich würde jetzt die Chance auch nutzen, Mr. Preston. Wenn Sie jetzt absagen, bekommen sie in der Richtung keine zweite mehr." Tim nickte darauf nur.
Sie sprachen dann noch über Vivian, die Hochzeitspläne und was in Australien so alles gelaufen war. Am Abend disapparierte Tim außerhalb der Grundstücksgrenzen um das alte Landhaus, das wohl schon zur Zeit der ersten Königin Elisabeth errichtet worden war.
Aurora verbrachte noch zwei Wochen in Millemerveilles und unterhielt sich mit Camille Dusoleil und der gestrengen Hera Matine, die sich verhalten freute, daß eine weitere Heilerin auf dieser Welt wandelte. Heather war derweil wieder in ihrer Heimat und bereitete noch eine Party für die zukünftige Heilerin vor. Diese Party stieg am zwanzigsten August, als Aurora sich wegen der Klimaanpassung wieder im Haus der Familie Springs einfand. Bis in den frühen Morgen hinein feierten Heathers Freunde und Freundinnen mit magischem Feuerwrk, gegrillten Steaks und selbstgemachter Eiscreme. Auch Ireen Barnickle war mit dabei. Sie hatte immerhin platz drei hinter Aurora und Berthold erreicht. Tom und Monica würden sich wohl im nächsten Jahr weit aus dem Weg gehen, wo Tom zehn Punkte hinter Monica rangiert hatte.
"Hätte mir das wer erzählt, daß ich die goldene Mitte in der Abschlußrangliste besetze, hätte ich dem oder der das nicht geglaubt", sagte Ireen. Dann fragte sie Aurora, was für einen Festumhang sie für die feierliche Vereidigung anziehen würde. Aurora führte ihr jenen Umhang vor, in dem sie die Prüfungsergebnisse am zehnten Juli entgegengenommen hatte. Ireen würde was hellblaues anziehen. Derartig von Belanglosigkeiten in Anspruch genommen verging der Abend unter dem Kreuz des Südens. Aurora mußte sich wieder daran gewöhnen, daß es hier im August schon um sieben Uhr dunkel wurde. Aber irgendwie kam sie mit den Jahreszeiten doch jetzt gut zurecht, fand sie. Nach drei Jahren sollte man das auch von ihr erwarten dürfen.
Aurora hatte das Zunfthaus der Heiler noch nie von außen gesehen. Es stand zwischen hohen Büschen versteckt zehn Kilometer vom Südrand der Reißbrettstadt Canberra entfernt, wo außer ein paar Hexen und Zauberern nichts mit der Magischen Welt in Verbindung stand. Das Zaubereiministerium Residierte in Sydney, ebenso eine der drei Gringotts-Filialen. Warum hatte sich die magische Heilzunft dann doch in die Nähe der Hauptstadt der australischen Muggel angesiedelt? Jedenfalls war es eher ein Schloß als ein Haus. Im Licht der rund herum entzündeten Gaslaternen glänzte es so weiß wie ein Bettlaken. Es besaß einen kleinen Turm und eine Kuppel, ebenso einen von Säulen gehaltenen Innenhof. Genau dort, im Schein viler tausend frei schwebender kerzen, versammelten sich über zweihundert Hexen und Zauberer. Die meisten waren Aurora unbekannt, als sie in ihrem grünen Festumhang im Schein der Kerzen neben Ireen Barnickle und Monica Riddley stand, die ein fließendes, himbeerfarbenes Seidenkleid trug, das ihre neue Figur elegant umspielte. Tom und Bert standen in schnieken blauen Festumhängen da und erwarteten sie, Laura Morehead.
In einem goldenen Umhang, einen blütenweißen Hexenhut auf den schwarzen Locken, trat die Sprecherin der australischen Heilerzunft aus einem kleinen Türchen im Nordteil des imposanten Gebäudes. Aurora sah, daß die fünf Mentoren und Direktor Springs ihr in respektvollem Abstand folgten. Die anwesenden Gäste klatschten Beifall. Aurora konnte jetzt auch Mina Whitecastle unter den Gästen erblicken. Die war echt hergekommen, um sie bei der Vereidigung zu sehen? Aurora war gespannt, wie lange diese eigentlich einfache Zeremonie dauern würde.
"Liebe Freunde, Kameraden und Kollegen", begrüßte Laura Morehead die wartende Menge mit Hilfe des Stimmverstärkerzaubers. "Jedes Jahr an diesem Tag, ist dem amtierenden Sprecher der magischen Heilzunft die große Ehre beschieden, jene in den ehrenvollen Bund aufzunehmen, der sich der verantwortlichen Handhabung der Magie und magischer Wirkstoffe zum Nutzen der magischen Mitmenschen verschrieben hat. Seitdem unsere Gemeinschaft auf diesem weiten Erdteil besteht, und seitdem sie von Großbritannien unabhängig lebt, verfolgt die Mehrheit aller Mitglieder der magischen Gemeinschaft Australiens das heere Ziel, die Geheimnisse und Kräfte der Zauberei friedlich zu erforschen und in Verantwortung für die Mitmenschen anzuwenden. Doch wie bereits unsere Vorfahren auf den britischen Inseln, brachten auch wir Australier eine Gruppe von Hexen und Zauberern ans Licht dieser Welt, die sich nicht nur dem Nutzen der Magie, sondern vor allem ihrer Heilsamen Wirkung verbunden fühlen. Die Magische Gemeinschaft weiß sich sicher, daß diese ehrenvolle Gruppe über ihre Gesundheit, ihr Wohl und ihren Fortbestand wacht. Und damit dies auch in Zukunft so bleibe, begründeten unsere Vorfahren unter der Führung der weitgereisten Hexe Sana Novodies ein Haus der Heilung, in dem die besten Heilmagier des Landes zusammenarbeiten und an neuen Mitteln gegen Krankheiten forschen. Und um die Zukunft der magischen Heilzunft zu sichern, beschlossen die Mitbegründer der heutigen Sana-Novodies-Klinik, Hexen und Zauberer im Gebrauch heilsamer Zauber und sinnvollem Gebrauch von Zaubertränken zu unterweisen, auf das unsere Zukunft weiter fortbestehe." Alle Anwesenden applaudierten kurz. Dann sprach Laura Morehead weiter. "Einst habe ich selbst als junge Hexe in den Mauern der Sana-Novodies-Klinik meine Lehrjahre absolviert. Danach verblieb ich an die dreißig Jahre dort. Doch mein Vorgänger Sprach mir zu, daß es eine große Ehre für mich sein könne, die Sprecherin aller magischen Heiler dieses Erdteils und Neuseelands zu sein. Natürlich ist es eine schwere Last, die sich der Sprecher auf die Schultern hebt und kann durch keine Magie erleichtert werden. Aber, meine lieben Freunde, Kameraden und Kollegen, diese Last trägt sich mit der Zeit leichter, wenn jedes Jahr auf's neue junge Hexen und Zauberer den Mut finden, ihr Leben unserer Zunft zu widmen, sich unseren Regeln zu fügen und die von uns erworbene Kunst zum Nutzen der magischen Menschheit einzusetzen. So darf ich den amtierenden Leiter der Sana-Novodies-Klinik fragen: haben sich Hexen und Zauberer getraut, die anstrengende Ausbildung auf sich zu nehmen?"
"Ja, drei Hexen und zwei Zauberer haben das gewagt", erwiderte Vitus Springs' Stimme ebenfalls magisch verstärkt, damit sie in jedem Winkel zu hören war.
"Und haben von diesen drei Hexen und zwei Zauberern welche die endgültige Prüfung bestanden, um in den erlauchten Kreis der Heilzunft aufgenommen zu werden?" Fragte Laura Morehead.
"Ja, Sprecherin Morehead, alle fünf Kandidaten haben diese Prüfung bestanden und warten nun darauf, hier vor allen Zeugen von dir in den Bund der Heiler aufgenommen zu werden", erwiderte Vitus Springs.
"Ja, ich sehe dort fünf junge magische Menschen", sagte Laura Morehead, als erkenne sie jetzt erst die fünf Schüler. "So frage ich euch fünf: Seid ihr nun bereit, einzeln vorzutreten und den erhabenen Eid zu schwören, der die Anwendung der Kunst und die Aufgaben eines magischen Heilers bestimmt?"
"Ja, das sind wir", antworteten die fünf ehemaligen Schüler.
"Kollege Vitus, so gib mir die Liste, damit ich jeden einzeln vor mich treten und den ehrenvollen Eid schwören lassen kann, hier vor allen Zeugen." Vitus Springs übergab ihr ein Stück Pergament. "So bitte ich dich, Ireen Barnickle, tritt bitte vor mich hin!" Ireen atmete tief durch und ging langsam zu Laura Morehead hinüber. Sie stellte sich vor die Sprecherin der Heilzunft. Dann legte sie die linke Hand knapp unter die Brust und hob den rechten Arm. Feierlich sprach sie die von allen angehenden Heilern auswendig gelernte Eidesformel und beendete sie mit den Worten: "Dies schwöre ich bei meinem Leben und Verstand."
Laura Morehead erwiderte darauf: "So heiße ich dich nun in unserer Mitte willkommen, Heilerin Ireen Barnickle!" Unter anerkennendem Applaus aller bezeugenden Heiler überreichte Laura Morehead der soeben vereidigten Heilerin ein goldgerahmtes Pergament. Dann trat Aurora Dawn vor, die sichtlich Nervös war. Sie legte ihre linke Hand auf ihr Herz und hob die rechte zum Schwur.
"Im Namen des Lebens, im Namen der schöpferischen Kräfte der Magie und im Namen des Miteinanders aller Menschen, gelobe ich vor diesen Zeugen, die die Kunst der magischen Heilung ausüben, daß ich, Aurora Dawn, Tochter des Hugo und der Regina Dawn, das mir anvertraute Wissen ausschließlich zum Heil und zum Wohle jedes magischen Menschen vom Zeitpunkt seiner Zeugung bis zum unvermeidlichen letzten Herzschlag bewahren, nutzen und mehren werde, jene, die mir dieses Wissen übergaben achten und ehren, jeden Schaden von ihnen fernhalten und ihnen durch alle meine Handlungen Dankbarkeit erweisen werde, die Gesetze und die zehn Gebote der magischen Heilkunst immer und überall achten und befolgen will, sowie jeden Menschen unabhängig von Rang, Alter, Geschlecht oder Abkunft zu betrachten, der sich meiner Kunst anvertrauen mag, die Erfahrung und den Rang jener, die bereits seit Jahren diese Kunst ausüben ehren möchte und mich jeder Aufgabe zu widmen, die mir im Rahmen der Gebote der Heilkunst gestellt wird und alles neue Wissen, das ich bei der Ausübung der magischen Heilkunst erwerbe, freimütig und ohne persönliche Anschauung an jeden weitergebe, wer auch immer diese Kunst erlernen mag oder sie bereits ausübt. Dies schwöre ich bei meinem Leben und Verstand."
"So heiße ich dich nun in unserer Mitte willkommen, Heilerin Aurora Dawn", begrüßte Laura Morehead die aus Britannien herübergekommene Hexe im Kreis der magischen Heilerinnen und Heiler. Aurora Dawn empfing begleitet vom Applaus der Zeugen die Urkunde, auf der ihr Name, die Lebensdaten, ja auch die Jahre in Hogwarts aufgeführt waren und trat wieder zurück in die Reihe der Mitschüler. Monica Riddley kam als Vorletzte an die Reihe. Doch auch wenn Aurora etwas anderes erwartet hatte, Monica zögerte nicht und schwor alle Punkte. Erst als alle fünf neuen Heiler vereidigt worden waren, applaudierten die Gäste lange und sehr begeistert. Aurora fühlte, wie mehrere Steine von ihrer Seele plumpsten. Doch da war ein bißchen Angst im Spiel. Würde sie die hohen Erwartungen jetzt auch alle erfüllen?
"So seid ihr nun Angehörige der Heilerzunft. So findet euch morgen Abend in unserer großen Stätte der Heilung und Gelehrsamkeit ein, auf daß ihr dort das neue Leben beginnen mögt!" Beendete Laura Morehead die Ansprache.
Viele Heiler gratulierten den fünfen persönlich. Aurora Dawn wurde von Mina Whitecastle beglückwünscht.
"Wenn du das HIP-Jahr hinter dir hast können wir beide ja noch mal über eine gemeinsame Zukunft sprechen", Bot sie der frisch vereidigten Heilerin an. Diese vertagte diese Entscheidung sehr höflich auf nächstes Jahr.
Als alle gratuliert hatten, die gratulieren wollten, löste sich die Menge auf. Alle Heiler gingen nun wieder ihrer Wege oder ihrer Arbeit nach. Aurora Dawn würde jetzt noch eine Nacht in Heathers Elternhaus schlafen und dann ihr neues Leben anfangen. Mit diesen Gedanken disapparierte sie aus dem Innenhof.
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