DER BLAUE BLUTFÜRST

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Anthelia erfreut sich nach ihrer unverhofften zweiten Wiedergeburt als erwachsene Hexe ihrer Freiheit und arbeitet darauf hin, die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Nachdem sie die ihr widerstrebende Entomanthropenkönigin Valery Saunders vernichten und ihre Schwesternschaft wieder verstärken konnte, gilt es, sich gegen das von Lucas Wishbone geführte Zaubereiministerium zu behaupten. Wishbone gerät jedoch durch seine Mißerfolge immer mehr in Ungnade. Außerdem verscherzt er es sich mit seiner Tante und langjährigen Geliebten Tracy Summerhill. Er will diesen Zwist ausnutzen, um seine Tante gegen Anthelia auszuspielen und schickt seinen Mitarbeiter Shorewood in Vielsaft-Trank-Verwandlung los, um den Hexenschwestern um Anthelia vorzugaukeln, seine Tante würde gegen diese spionieren. Doch das Manöver wird von Tracy Summerhill vereitelt, die daraufhin erst recht wütend ist, und ihre langjährige Affäre öffentlich macht. Es ist zwar nicht eigentlich verboten, daß eine Tante ihren Neffen heiratet, sofern beide gesunde Nachkommen haben können, wird aber im modernen Zaubereiministerium nicht so gerne gesehen. Wishbone gerät dadurch noch mehr inUngnade. Als dann die Presse berichtet, er sei von drei Hexen Anthelias in eine Falle gelockt und ermordet worden, staunt Anthelia. Denn sie hat diesen Mord nicht befohlen, zumal dieser ihr nichts eingebracht hätte. Denn nun jagen alle nach der hinterhältigen Mörderin. Die von Wishbone gegründete Sondereinheit My versucht, sich im von Milton Cartridge übernommenen Ministerium zu einer Institution mit unbeschränkten Rechten zu erheben, scheitert aber daran, daß der Imperius-Fluch gegen Cartridge nicht lange vorhält. Im innenpolitischen Gezänk bekommen die US-Zauberer zu spät mit, daß ein vor Jahrhunderten lebender Totenbeschwörer es schafft, den Körper eines direkten Nachfahren zu übernehmen und sich nun an den Weißen rächen will, die ihn und seine Familie in Sklaverei gehalten haben. Allerdings kann das Marie-Laveau-Institut verhindern, daß Coal seine Pläne so schnell umsetzt. Der für das FBI tätige Muggelstämmige Zachary Marchand stellt den in seinem Nachfahren Gordon Stillwell wiederverkörperten Totenbeschwörer und kann ihn mit Hilfe von Voodoo-Schutzartefakten zurückschlagen. Coal alias Stillwell taucht daraufhin in Südamerika unter, wo er seine Streitmacht aus lebenden Toten vergrößern will. Doch er stellt neben Anthelia nicht die einzige Gefahr dar. In Europa setzt ein durch die Auswirkungen einer großen, von Menschen herbeigeführten Umweltkatastrophe entstandener Vampirfürst an, sich zum Herren aller Blutsauger und Menschen aufzuschwingen.

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Sie wußten, daß sie sterben würden. Als die wuchtige Kuppel des Reaktors mit Getöse in die Luft geflogen war und sich eine gewaltige Wolke hochverstrahlter Asche auszubreiten begann, waren sie im Dauereinsatz. Zwar hatte die Zentrale ihre Einsatzzeiten auf wenige Minuten eingeschränkt. Doch der Anblick des brennenden Trümmerhaufens, der vor wenigen Stunden noch ein kraftvoller Kernspaltungsreaktor war, war wie ein Blick in die Hölle, an die in diesem Land keiner offiziell glauben durfte, und die dennoch genau wie der ebenfalls verbotene Gott allgegenwärtiges Gedankengut war. Soltan Kasimirewitsch Suchanov war schon zwanzig Jahre Feuerwehrmann. Doch als er kurz nach halb zwei in dieser Nacht mit seinen Kameraden zum Einsatz gerufen wurde, wußte er, heute würde er seinem Tod begegnen. Er hatte in brennenden Häusern gestanden, mit nicht mehr ganz funktionsfähiger Schutzausrüstung Lecks in Gasleitungen geflickt, war in überflutete Keller gestiegen, um kleine Kinder vor dem aus geborstenen Rohren schießendem Wasser zu retten und hatte mindestens dreißig auf Bäume geflüchtete Katzen sicher auf den Boden zurückgeholt, wobei er manchmal auf sehr dünnen Zweigen oder nicht wirklich sicher verwurzelten Bäumen herumgeturnt war. Und jetzt stand Suchanov vor dem glühenden Berg, in dem ein wildes Graphitfeuer tobte und eine mörderische Wolke aus Asche über ihm hing. Die allgemeine Losung, Atomkraftwerke seien sicher, weil sie nötig waren und den Fortschritt des Sozialismus betonten, lag da vor ihm in Trümmern. Und er mußte zusehen, den Trümmerhaufen abzudecken, um eine weitere Ausbreitung verstrahlter Asche zu verhindern. Er wußte, daß er trotz seines Schutzanzuges und der Atemmaske mehr Radioaktivität abbekam, als gesund für ihn war. Doch er hatte seine Befehle, und er lebte für seinen Beruf, Menschen in Katastrophen zu retten. Seine Kollegen und er mußten eingreifen, um schlimmeres zu verhindern.

Die Hitze des immer noch tobenden Feuers, die Glut der miteinander verschmolzenen Brennstäbe, deren Oberfläche mit dem Luftsauerstoff eine tödliche Verbindung zu weit herumfliegenden Partikeln einging, ließ Soltan sichtlich schwitzen. Hunderte von Kollegen und mehrereDutzend ferngesteuerte Einsatzgeräte wuselten wie aufgescheuchte Ameisen um den Explosionsherd herum. Der flackernde rote Schein des Infernos schien von den drei anderen haushohen Kuppeln wieder, unter denen die anderen Kernbrennöfen ruhten. Die Landschaft war von der Explosionswucht schon ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Doch der eigentliche Schrecken stand der Region noch bevor. Der Feuerwehrmann wußte das. Er wußte, daß seine Familie, die in Kiew wohnte, ebenso von den Auswirkungen dieses Unglücks betroffen sein würde, ja womöglich die ganze Sowjetunion, ach was, die ganze Welt unter den Folgen dieses gigantischen Unfalls zu leiden haben würde. Kein wirklich guter Start für den neuen Hoffnungsträger des Vielvölkerreiches Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Wie würde er mit diesem Vorfall umgehen? Würde die Energieverwaltung den Vorfall verschweigen oder bekanntgeben? Mochte es nicht sein, daß er, Soltan, wie die anderen Einsatzkräfte dazu gezwungen wurde, alles was sie hier gesehen und getan hatten bis ans Lebensende zu verschweigen? Soltan war sich sicher, daß bereits Überwacher des unerbittlichen Geheimdienstes unterwegs waren, um zu klären, was davon wen zu interessieren hatte und ob der Unfall ein Unglück oder ein von den immer gerne als böse Feinde zitierten Imperialisten herbeigeführter Anschlag auf die Stabilität der Sowjetunion war.

"Genosse Suchanov, im Abschnitt drei mehr Wasser!" Hörte er den Befehl seines Zugführers. Soltan bestätigte den Befehl und rückte mit seinen drei Kollegen zum bezeichneten Abschnitt vor. Er hatte nur zehn Minuten. Dann durfte er wieder abziehen, um anderen Kollegen Platz zu machen. Der Boden zitterte. Das Erdreich um den zerstörten Reaktor war instabil geworden. Er mußte aufpassen. Gerade noch rechtzeitig sah er den von einer Folgeexplosion aus dem glühenden Trümmerberg herausgeschleuderten Graphitbrocken, der in der Luft zu einem lodernden Flammengebilde wurde, wie ein mehrere Meter großes Leuchtspurgeschoß. Soltan rief seinem Kollegen auf der linken Seite noch eine Warnung zu, weil der gerade die Hochdruckspritze auf das Feuer richtete. Da zischte der brennende Brocken wie eine gewaltige Sternschnuppe nieder und hüllte sie alle in Flammen ein. Die Schutzanzüge gegen Strahlung wurden von schweren Feuerschutzwesten überdeckt. Doch die Hitze war zu groß. Soltans links arbeitender Kollege Ilja Bakunin schrie auf, als der Glutbrocken auf ihm landete. Die direkte Berührung mit dem heiß brennenden Material war zu viel für die Schutzkombination. Abgesprengte Stücke des flammenden Fragmentes trafen auch Soltan und fraßen sich wie Schneidbrenner in seinen Schutzanzug. Er mußte sich zu boden werfen, um die Glut zu ersticken. Doch der nun einsetzende Schmerz war groß. Er schaffte es gerade so noch, die Flammen von sich abzuschütteln und sich wieder aufzurichten. Ilja glich einer nun menschenförmigen Fackel, die aus dem zerborstenen Trümmerstück herausloderte. Ihm war nicht mehr zu helfen. Der Hitzeschock hatte dem Kollegen sicher die Sinne geraubt. Soltan dachte daran, daß das Feuer nicht das gefährlichste war, was ihm hier passiert war. und die brennenden Trümmer spien unablässig verstrahlte Aschebröckchen aus, die als tödlicher Staub auf alles und jeden im Umkreis niedergingen. Sanitäter in Schutzkleidung stürmten heran und ergriffen ihn und seinen vom Trümmerstück verletzten Kollegen. Sie wurden auf feuerfeste Tragen gehoben und abtransportiert. Sofort rückten neue Einsatzkräfte nach, um den Trümmerberg mit Wasser und Schaum zu bekämpfen, damit andere Einsatzkräfte darangehen mochten, den geborstenen Reaktorblock zu versiegeln, wenn das überhaupt möglich war. Soltan kam in ein Krankenhaus in Kiew. Dort hatte man wohl noch nicht gehört, worum es genau ging. Also funktionierten die Informationsbeschränkungen noch sehr gut. Techniker aus dem Kraftwerk waren an anderen Orten untergebracht worden, wo sie bestimmt schon von Sicherheitsleuten verhört wurden.

"Genosse Suchanov, stimmt es, daß Tschernobyl explodiert ist?" Fragte eine Krankenschwester ihn ihm Flüsterton, als die Ärzte ihm Verbände um die leichten Verbrennungen angelegt hatten. Soltan konnte nur nicken. Ob das jetzt Verrat war oder nicht war ihm ganz gleichgültig. Sie alle waren mit wenig bis überhaupt keinem Schutz vor den tödlichen Strahlen eingesetzt worden. Er würde sterben, so oder so. Was wollte ihm da noch das KGB oder eine andere der gefürchteten Kontrollbehörden? Die Frage war nur, wie lange er leiden mußte. Er dachte an seine Frau Alissa und die beiden Söhne Roman und Juri. Womöglich würde er sie nicht wiedersehen. Mit dieser höchst betrüblichen Befürchtung schlief er ein. Seine Erschöpfung war zu groß, um ihn irgendeinen Traum erinnern zu lassen.

Soltan wurde zwei Tage nach seinem Unfall beim Kampf um das Feuer von Tschernobyl entlassen. Schwerwiegendere Fälle brauchten sein Bett und die Aufmerksamkeit der Ärzte und Krankenschwestern. Denen war der grausame Zwiespalt an den Gesichtern abzulesen, wenn sie mit den Feuerwehrmännern von Tschernobyl zu tun hatten. Sie näherten sich nur für wenige Sekunden, um die nötigen Behandlungen auszuführen. Dann zogen sie sich schnell wieder zurück. Soltan hatte es von einem im Nachbarbett liegenden Kollegen gehört, daß Abstand der beste Strahlenschutz überhaupt war. Und jetzt war er als weitgehend austherapiert entlassen worden. Austherapiert, nicht geheilt. Dieser feine Unterschied hatte sich Soltan Suchanov sofort in den Kopf eingebrannt. Er lebte auf Abruf. Der Gevatter Tod schliff schon an der Sense, um ihn ins Jenseits abzuberufen. Er konnte nur hoffen, daß die unterdrückten Kirchenleute recht hatten und es einen gnädigen Gott gab, auch wenn Karl Marx und Lenin dieses Wesen leugneten und es als Erfindung zur Ausübung von Macht propagiert hatten. Außerdem hatte er in die Hölle geblickt. Damit hatte er hoffentlich den Himmel verdient.

Soltan wollte nicht zu seiner Familie zurück, wo er den unsichtbaren Tod in sich trug. Wie viel verstrahlte Asche mochte er eingeatmet haben. Wie viel davon hatte sich in seinem Körper festgesetzt. Die Ärzte, die mit Geigerzählern über seinen Körper gegangen waren, hatten es verstanden, die davon erhaltenen Meßwerte tunlichst für sich zu behalten. Die Geräte hatten nicht einmal geknackt, wie er es von diesen Strahlenanzeigern sonst kannte. Wenn er seine Familie nicht mehr gefährden wollte als nötig, durfte er nicht in sein Haus zurück. Er rief seine Frau von einer Telefonzelle aus an und erzählte ihr, was passiert war. Wenn die Sicherheitsorgane mithörten mochten gleich ein paar Greifer von denen aufkreuzen und ihn auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen. "Alissa, sieh zu, daß du mit den Jungs möglichst weit von Tschernobyl wegfährst. Wir wissen nicht, wie weit das Zeug fliegt. Die Behörden wissen das noch nicht."

"Wie stellst du dir das vor?" Fragte seine Frau über die von Rauschen und Knistern durchsetzte Verbindung. "Ich kann nicht einfach wegfahren. Die Jungen müssen zur Schule und ich ins Büro. Wenn ich nicht im Büro erscheine wird Gosbodin Pavlov sich Sorgen machenund die Miliz zu mir schicken. Komm zu uns zurück! So schlimm kann es nicht sein. Sonst hätten die euch sicher nicht ohne Schutzkleidung da hingehen lassen."

"Du bist lustig, Alissa", schnaubte Soltan verächtlich. "Die hatten zu wenig Schutzkleidung und brauchten ganz schnell mehrere hundert von uns, um diesen Höllenberg abzulöschen, falls das überhaupt je gelingt. Ich habe sicher eine Menge von dem herumfliegenden Zeug abbekommen. Die Ärzte wollten mir das nur nicht sagen. Haben wohl Anweisungen gekriegt, nur die schwersten Verletzungen zu behandeln."

"Du darfst aber nach Hause, oder?"

"Das hat mir keiner direkt erlaubt", sagte Soltan. Da hörte er einen Wagen hinter der Telefonzelle anhalten. Er blickte durch die verkratzten und verstaubten Scheiben und konnte zwei uniformierte Männer sehen, die auf die Zelle zukamen. Ja, die Lauscher von KGB und Innenministerium waren sehr gut, dachte Suchanov. Sicher würden sie ihn gleich festnehmen und wegen Hochverrates anklagen. Dann gehörte er wohl zu den bedauerlichen Gästen im Lubianka-Gefängnis in Moskau, wo das KGB die sogenannten Feinde der Revolution folterte und verschwinden ließ. Aber welche Folter würde schlimmer sein als das, was die Strahlung mit ihm anstellen würde? Er sagte noch schnell: "Ich liebe dich, Alissa" und legte auf. Sie mußte nicht mitbekommen, wie er verhaftet wurde.

"Genosse Zugführer Suchanov, wir haben sie gesucht", sagte einer der uniformierten Männer. Dem Feuerwehr mann fiel auf, daß er sich mehr als vier Meter von ihm fernhielt. "Wir haben den Auftrag, Sie und fünf andere Genossen zur Nachbesprechung des Einsatzes abzuholen, dem Sie beiwohnten."

"Mein Name ist Suchanov, Gosbodin. Aber ich bin kein Zugführer."

"Ihr bisheriger Vorgesetzter starb gestern bei einer Verpuffung. Sie wurden als sein Nachfolger bestimmt", sagte der zweite Uniformträger. Sie waren von der ukrainischen Sektion des Innenministeriums. Suchanov nickte und folgte. Ob sie ihn wirklich befördert hatten, als Experten für den Einsatz befragen oder als potentiellen Verräter verhören wollten war ihm nun egal. Er mußte in einen Kastenwagen einsteigen, der zwei Straßenecken weiter geparkt war. Er erkannte, daß der Wagen dick gepanzert war, wie ein Sicherheitstransporter. Hier würde ihn keiner schreien hören, wenn jemand meinte, ihn zu foltern. Doch der alte Dieselwagen knatterte mit ihm zurück in die Nähe des Reaktors. Hier hatte man Baracken für die Einsatzkräfte aufgebaut. Offenbar war beschlossen worden, sie in der Nähe des Unglücksortes zu halten. Die Befragung dauerte drei Stunden. Dann erfuhr Soltan, daß er am nächsten Tag mit einem Zug Feuerwehrmänner zum immer noch glühenden Trümmerhaufen zurückkehren sollte, um das Einbetonieren des zerstörten Reaktors zu verfolgen. Die Führung hatte also beschlossen, den Unglücksblock von Tschernobyl dauerhaft einzuschließen, die Trümmer zu begraben und weitere Asche damit zurückzuhalten. Den Abend vorher sollten die neuen Zugmitglieder noch ausspannen. Viele sprachen dem Wodka zu, um sich Mut anzutrinken oder die bereits erlittenen Schmerzen und Ängste zu ertränken. Soltan war nie ein Freund des scheinheiligen Heilwassers gewesen. Er bevorzugte es, an der frischen Luft spazierenzugehen. Wie viel Strahlung mochte diese schon tragen? Es war ein Hohn, daß Menschen so leichtfertig mit Dingen hantierten, für die ihnen die Natur keinen Sinn verliehen hatte. Die Todesstrahlen pieksten nicht, stachen nicht wie ätzendes Gas in die Nase und erzeugten keinen warnenden Ton, wenn sie zu stark wurden. Erst wenn der Punkt erreicht war, wo die Körperzellen unrettbar zerstört waren, spürte ein davon betroffener ihre Macht.

Das neben jeder Tonart und Harmonie dröhnende Gröhlen der trinkenden Feuerwehrleute trieb Soltan von den Baracken fort. Er sah den hohen Zaun und hörte das leise Summen, das von ihm ausging. Sie hatten sie alle wie Weidevieh in einem elektrischen Zaun eingepfercht. Das ersparte ihnen die Wachen, wußte Soltan. Er dachte mit zynischem Grinsen daran, daß der Strom für den Zaun vielleicht noch von den unbeschädigt gebliebenen Reaktoren erzeugt wurde. Er traute es den hohen Herren in der Energieversorgungsbehörde zu, daß sie die drei übrigen Kernreaktoren wieder anfuhren, wenn sie wußten, daß diese noch unbeschädigt waren.

Einige bange Minuten stand Soltan vor dem summenden Zaun und fühlte die von ihm ausgehende Spannung. In den Drähten mußte mindestens eine Spannung von zehntausend Volt anliegen. Er konnte es sich einfach machen und ganz entschlossen an die blanken, tödlichen Drähte greifen und die gesamte Kraft durch sich hindurchjagen lassen. Dann hatte er es hinter sich, dachte er. Womöglich spielten auch einige andere Kollegen mit diesem Gedanken, wenn sie erst wieder von ihrem neuen Einsatz zurückkehrten. Sie alle waren Todgeweihte, nur noch am Leben, weil sie gebraucht wurden. Wenn er sich mal eben an den Elektrozaun lehnte würde er schneller sterben. Dann dachte er jedoch daran, daß Selbstmord eine Sünde war. Wollte er deshalb auf den Himmel verzichten, um die Leiden, die ganz sicher kommen würden, zu vermeiden? Nein, er durfte sein Leben nicht von sich aus beenden. Er mußte es ertragen, bis Gott oder seine eigene Körperschwäche es beendeten. So nickte er der gefährlichen Begrenzung zu und entfernte sich wieder von ihr. Er passierte weitere Baracken mit Feuerwehrleuten, die ihre Ängste mit Wodka löschten. Wenn die morgen alle einen dicken Kopf hatten würde der Einsatz schiefgehen, dachte Soltan. Da hörte er über sich ein merkwürdiges Geräusch, als würden große Wäschestücke im Wind flattern. Doch das Flattern klang zu rhythmisch, um durch den Wind allein zu kommen. Er blickte nach oben und sah eine Fledermaus, die gerade die gut sichtbaren Sterne verdeckte. Dann blickte der Kopf des geflügelten Säugetieres in seine Richtung. Soltan fragte sich, was das fliegende Nachtgeschöpf ausgerechnet in diese Gegend verschlagen hatte, als es auf ihn zustürzte wie ein niederstoßender Adler. Er erschrak, als er sah, wie das geflügelte Wesen im Fallen größer und größer wurde, bis es zu einem menschengroßen Ungetüm wurde. Das ganze dauerte nur drei Sekunden, in denen der Feuerwehrmann schreckensstarr dastand. Dann packten ihn dolchartige Krallen und rissen ihn vom Boden weg. Er schrie laut auf. Alte Schreckensgeschichten schossen ihm durch den Kopf. In seiner Kindheit und Jugend hatte er immer wieder von Vampiren und anderen geflügelten Dämonen gelesen. Doch hatte er sie nur für Erfindungen gehalten. Und jetzt hatte ihn ein solches Untier erwischt und riß ihn mit kraftvollen Flügelschlägen in den Himmel hinauf. Sein Schreien hatte zwar die wenigen Wächter alarmiert. Doch als sie sahen, wo er war, konnten sie ihm schon nicht mehr helfen. Soltan kämpfte mit Händen und Füßen gegen die ihn haltenden Hinterkrallen. Die Flughäute peitschten durch die Luft. Er versuchte, sie festzuhalten. Doch das Ungeheuer wand sich immer wieder aus seiner Schlagrichtung. Dann ging es im Sturzflug abwärts. Soltan hatte sich bereits blutende Wunden geholt. Der Gedanke, beim Aufschlag zu sterben hatte ihm einen Moment großer Erleichterung beschert. Dann sollte es eben so sein. Doch das geflügelte Geschöpf fing den Sturz auf und landete unsanft. Seine Beute zog sich keine weiteren Verletzungen zu. Soltan wollte sich schon davonmachen, als das Monstrum sich zu verändern begann. Wieder lähmte ihn der Schrecken über das unerwartete und unfaßbare. So konnte er nur zusehen, wie aus der Fledermaus ein schlanker mann mit hohlen Wangen wurde, dessen Gesicht im schwachen Schein der Sterne schimmerte, als sei es so weiß wie eine Kalkwand. Soltan sah die Augen des Unbekannten. Sie glühten leicht. Da überkam ihn eine Woge großer Hingabe. Er vergaß seinen Wunsch zu fliehen. Der Unbekannte näherte sich ihm arglos. Dann fiel er Soltan an. Der Feuerwehrmann erkannte, daß er gerade das Opfer eines leibhaftigen Vampires wurde. Doch zur Gegenwehr war es zu spät. Er fühlte die messerscharfen Fangzähne mit brutaler Gier in seinen Hals dringen. fühlte den Schmerz, als seine Halsschlagader aufriß und spürte den rhythmischen Sog der auf seinen Hals drückenden Lippen, bevor ihm das Bewußtsein schwand.

Wladimir Volakin hatte nach langer Reise endlich gefunden, was er gesucht hatte, einen Ort, wo mehrere Menschen waren. Doch viele von denen tranken Alkohol und waren daher für ihn ungenießbar. Einer jedoch hatte es gewagt, allein in der Dunkelheit herumzulaufen. Volakin hatte sich von dem vibrieren einer unsichtbaren Kraft im Zaun nicht abhalten lassen, den gut durchtrainierten Mann wie ein Greifvogel anzugreifen. Sein Blutdurst war zu hoch, um zu überlegen, wie viel er dem Mann aussaugen durfte, um ihn am Leben zu lassen. Er sog ihm innerhalb weniger Minuten alles bis zum letzten Blutstropfen aus dem Leib und ließ den damit getöteten einfach liegen. Doch etwas war merkwürdig. Das Blut, das er in der Gier des lange Durst leidenden Nachtgeschöpfes gesaugt hatte, brannte beim Trinken wie Säure und prickelte wie auf seiner Zunge tanzende Ameisen. Und als er endlich gesättigt war, meinte er, etwas in ihm würde in Aufruhr geraten. Er verstand nicht, was da mit ihm geschah. Hatte er einen Verfluchten leergesaugt? Er wußte, daß die Rotblüter des Zaubereiministeriums manchmal Menschen mit einem Fluch belegten, der ihr Blut zu einer tödlichen Substanz werden ließ. Doch er hatte keine Magie an diesem Mann gewittert. Da war nur die unangenehme Vibration, die aus dem Drahtzaun stammte und ein sachtes Prickeln in der Luft gewesen. Dieses Prickeln verstärkte sich nun in ihm selbst. Volakin fühlte, wie es zu einer Art Stechen und Brennen wurde. Er keuchte, während das von ihm getrunkene Blut in seinen eigenen Kreislauf überging und sich darin ausbreitete. Funken sprühten vereinzelt aus seiner Haut. Was war das, er brannte! Er fühlte auf einmal eine große Angst. Für jemanden, der über zweihundert Jahre dem Tod entgangen war, bedeutete der Gedanke, jetzt zu sterben mehr Qual als für die Kurzlebigen, die jeden Tag damit rechnen mußten, durch irgendwas umzukommen. Das Gefühl, immer stärker von innen her zu verbrennen brachte Volakin dazu, vor Angst und Schmerzen zu schreien. Gerade noch rechtzeitig spürte er, wie sich ihm mehrere Männer näherten. Sie durften ihn nicht finden. Er verwandelte sich unter sehr großen Anstrengungen in eine Fledermaus und flog auf. Doch das Gefühl, von immer heftigeren Glutwallungen erfüllt zu werden, ließen seinen Flug zu einem riskanten Schlingern werden. Immer mehr bläuliche Funken stoben aus dem Körper des Vampirs in die Nacht. Volakin wand sich im Fluge und stieß für Menschenohren unhörbare Schmerzensschreie aus. Nur der Trieb, sich nicht in seiner Ohnmacht von Menschen ergreifen zu lassen peitschte ihn voran, bis er erschöpft und ohne weitere Konzentration auf einem hohen Hügel landete. Die Qualen wurden nun unerträglich. Er schrie und wand sich, wälzte sich auf dem Boden, als könne er die blauen Funken aus seinem Körper ersticken. Seine Sinne schwanden ihm in einer Woge aus Brand und Schmerz. Er hatte einen Sohn der Sonne leergesaugt, schoß es ihm noch durch den Kopf. Die Sonnensöhne waren ein Bestandteil der unter Vampiren weitergereichten Legenden. Angeblich habe die Schöpfung sie als natürliche Feinde der Nachtkinder geboren, um die Kinder des Tages, die Rotblüter vor den Kindern der Nacht zu beschützen. Doch bis heute hatte Volakin nicht daran geglaubt, wirklich mal einem zu begegnen. doch was ihm da jetzt widerfuhr konnte nur so erklärt werden. Wieder durchfuhr ihn ein brennen. Er meinte, einen Feuerball in seinen Eingeweiden anschwellen zu fühlen und meinte, siedendes Wasser in den Adern zu haben. Die Woge des Schmerzes war zu groß, um sie bei Sinnen zu ertragen. Er fiel in einen feuerigen, dunklen Schacht der Bewußtlosigkeit.

Als Volakin wieder zu sich kam prickelte es noch in seinem Körper. Als er die Augen aufschlug stach ihm grelles Licht hinein. Das war die Sonne, dachte er, als er für einen winzigen Moment einen gleißenden Punkt am Himmel sah. Fast hätte ihn dieses Himmelslicht geblendet. Doch er fühlte nicht das Brennen und Stechen, das die Sonnenstrahlen auf Wesen wie ihm erzeugten. Er befühlte seinen Körper. Er war von einer pergamentartigen Haut überzogen. Tiefe, kraterähnliche Poren verunzierten seine Hände. Doch die Sonne tat ihm nichts. Er fühlte nur ein sachtes Prickeln und daß die Kräfte wiederkehrten, die er sonst nur nach einer ausgiebigen Blutmahlzeit wahrnahm. Die Sonne tat ihm nichts mehr? Er zählte mehrere Minuten ab. Doch das verhaßte Himmelsfeuer tat ihm nichts. Er stand im Licht der Sonne und lebte, ja fühlte davon neue Kräfte in sich aufsteigen. Das verstand er nicht. Er war doch ein Sohn der Nacht, abhängig von Mond und Menschenblut. Hatte etwas ihn verändert? Er dachte an sein gerade wenige Stunden zurückliegendes Erlebnis. Etwas in diesem Mann hatte etwas in ihm verändert. Dann fiel ihm auf, daß seine bleiche Haut leicht bläulich verfärbt war. Er dachte an die Funken, die aus ihm gesprüht waren. Sprühte er immer noch Funken? Er transformierte ohne Probleme zu einer Fledermaus und flog davon. Die Strahlen der Sonne taten ihm auch in diesem Zustand nichts. Doch als er in die Nähe eines Baches kam, fühlte er, wie ihm die frischen Kräfte schwanden. Die natürliche Kraft fließenden Wassers zehrte ihn aus, und das stärker als vorher eh schon. Volakin konnte gerade noch ausweichen, um nicht in den Bach zu stürzen. Wie konnte ihm dieses schmale Rinnsal da so heftig zusetzen? Er hatte schon breite Flüsse überflogen. Wenn er hoch genug war, konnte er die davon ausgehende Entkräftung aushalten. Offenbar hatte das, was ihn verändert hatte empfindlicher für die Kräfte fließenden Wassers gemacht. Er mußte herausfinden, was es war. So kehrte er am Abend zu jenem Platz zurück, von wo er den einzelnen Mann entführt hatte. Als er so leise es seine Art verstand in die Baracken eindrang und die nun nicht im Alkoholrausch schlafenden vorfand überkam ihn die Gier nach Blut. Irgendwas in diesen Männern lud ihn ein, zu trinken. Er sog sich voll und fühlte sich berauscht. Erst als er von alarmierten Wachen ertappt wurde und nur mit seinen übermenschlichen Kräften der Festnahme entrinnen konnte, fand er Zeit, sich über seine veränderte Natur klar zu werden. Er leuchtete im Dunkeln. Seine Haut schimmerte blau, war jedoch unansehnlich durchlöchert, als habe jemand tausende von Nadeln in ihn hineingetrieben. Doch die Euphorie, die ihn übermannte, als er erkannte, daß das Blut der hier wohnenden ihn noch mächtiger machte als vorhin, trieb ihn an, mehr über seine neue Macht herauszufinden. So kehrte er jede Nacht wieder und holte sich Opfer. Seine Haut leuchtete dadurch immer stärker. Außerdem konnte er mit der Menge Blut in sich sogar die Tage überstehen. Die Sonne blendete ihn nicht, wenn er nicht genau in sie hineinsah. Ja, und selbst offenes Feuer konnte ihm nichts tun. Er fand durch geraubte Aufzeichnungen im Kommandobau des Lagers heraus, daß er offenbar Männer mit einer ihm bis dahin unbekannten Vergiftung als Opfer ausgesucht hatte. Die Vergiftung nannte sich Radioaktivität und kam von einem besonderen Ofen, der dazu da war, elektrischen Strom zu erzeugen. Volakin suchte diesen Ort auf und erfuhr dort zu seiner größten Überraschung, wie wohltuend die Wirkung dieser unsichtbaren Kraft war, die von einem gigantischen, mehr und mehr unter Beton verschwindenden Trümmerhaufen ausging. Mit den Wochen, die vergingen, legte er sich auf Opfer fest, die lange genug mit dieser gefährlichen Kraft in Berührung gekommen waren. Er wurde regelrecht Süchtig danach. Ein halbes Jahr später, als er in Streit mit einem Revierkonkurrenten geriet, fand er heraus, daß sein eigenes Blut ein tödliches Gift für seine bisherigen Artgenossen war, daß er aber bis dahin von der Saat der Nachtkinder unberührte Menschen mit seinem Blut in kleinen Dosen in solche wie ihn verwandeln konnte. Aus dem einsamen, unbedeutenden Vampir Volakin wurde der blaue Blutfürst, der Schrecken seiner nachtgebundenen Artgenossen und der Menschen. Die einzigen Gefahren, die er zu fürchten gelernt hatte waren fließendes Wasser und bleierne Gegenstände, die bei Berührung seine neue Kraft aufsaugten. Doch wenn er an Orte reiste, wo das unsichtbare Feuer der Radioaktivität brannte, konnte er sich mit frischen Kräften aufladen. Er lernte, die in ihm konzentrierte Kraft der Strahlung in tödlichen Entladungen auf seine Gegner zu schleudern und wurde dabei so mächtig wie der mächtigste Zauberer. Selbst dieser Voldemort mußte lernen, daß Volakin unbesiegbar war. Allerdings war da noch diese kleine, liederliche Dirne Nyx, die es gewagt hatte, den von allen Nachtkindern geheiligten Mitternachtsdiamanten an sich zu bringen und diesen im schleimigen Schlund ihres Unterleibes zu versenken, wodurch sie ihn ständig bei sich hatte und hundertmal mächtiger als andere Nachtkinder wurde. Nur mit seiner Macht, tödliche Strahlen zu schleudern und mit der frischen Zufuhr radioaktiver Strahlung hatte er Nyx besiegt. Sie stand nun als schwarze Statue in seinem Lieblingsversteck. Der Mitternachtsdiamant war mit ihr verschmolzen, um sich vor ihm und anderen Mächtigen zu schützen. Doch dadurch war der Weg nun für ihn frei geworden, die Welt zu erobern. Allerdings vergaß er dabei, daß Vampire mächtige Feindinnen hatten, die es besser nicht zu reizen galt. So begann der Kampf um Volakins Vormachtstellung.

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Die Sonne glühte orangerot knapp über dem Horizont. Der sie umgebende Himmel schimmerte bereits blutrot. Dieser Anblick verstärkte das Verlangen in ihm noch mehr. Die Strahlen des gigantischen Glutballs am Himmel konnten ihm nichts anhaben, obwohl er ein Geschöpf war, das vom Blut anderer Wesen lebte. Üblicherweise scheuten die anderen Angehörigen seiner Art die kleinste Berührung mit dem Sonnenlicht. Doch ihm, Wasili Borzov, machte das Tageslicht nichts aus. Denn er war ein Sohn des blauen Blutfürsten Wladimir Volakin. An und für sich bevorzugte er es, am Tag auf Beute auszugehen, wenn der verräterische blaue Schimmer, der seinen Körper von innen erleuchten ließ, vom Sonnenschein überlagert wurde. Doch in der Zeit zwischen Tag und Nacht hatte er schon lohnende Beute gemacht. Um nicht zu sehr aufzufallen suchte er die Nähe von Obdachlosen und Straßenkindern, Dirnen und Stadtstreichern, denen er meistens alles Blut aus dem Leib sog. Anders als sein Herr und Meister konnte er auch von den Menschen trinken, die nicht mit dem Gift des unsichtbaren Feuers verseucht waren, daß die magielosen Menschen Radioaktivität nannten. Doch wenn er zwischendurch einen erwischen konnte, der derartiges Zeug im Körper trug, gewann er doch mehr Stärke als sonst. Doch heute jagte er nicht in der Nähe von Strahlenquellen, sondern in einem der verrufenen Viertel Sevillas.

Es war ihm nicht leicht gefallen, heimlich bis hier hin vorzudringen. Er hatte seine Kleidung austauschen müssen, um unauffällig zwischen den Rotblütlern herumlaufen zu können. Doch zu fein durfte er sich auch nicht kleiden. Dort, wo er gerade war, würde er damit unliebsame Aufmerksamkeit erregen. Mit Nase und Blick erforschte er seine Umgebung. In dieser Straße trieben sich an die dreißig Frauen herum, die für wenig Geld ihren Körper hergaben. Einige von denen hatten Rauschgift im Körper, wohl der Grund, warum sie sich fremden Menschen zur Triebabfuhr anboten. Andere sahen in diesem von der Öffentlichkeit verachteten und doch heimlich genutzten Dienst ein Abenteuer, das ihnen ein gewisses Auskommen bot, wenn sie den Widerwillen gegen lieblosen Sex und das Unbehagen, doch an einen geistesgestörten Freier zu geraten, einfach verdrängten und sich jede Stunde neue Begleiter mit in die angemiteten Zimmer nahmen. Borzov hatte schon in Madrid und Barcelona einfache Straßendirnen überfallen und die blutleer gesaugten Leichen zerstückelt und in der Kanalisation verschwinden lassen. Allen war der Geruch der Angst und des Unbehagens eigen gewesen, weil sie eigentlich für andere Leute anschafften, Männer, die die Ausbeute der Dirnen abkassierten und sie nicht selten durch primitive Gewalt einschüchterten und an der Leine hielten. Hier, in jener verrufenen Seitenstraße des Vergnügungsviertels von Sevilla, lag dieser Geruch von Unbehagen nicht in der Luft. Selbst die Angst vor unbeherrschbaren, teilweise wahnsinnig anmutenden Freiern schien hier nicht zu existieren. Das hätte den Sohn und Diener des blauen Blutfürsten eigentlich stutzig machen müssen. Doch im Moment war sein Blutdurst stärker als sein Verstand. So suchte er sich unter den hier anschaffenden Freudenmädchen eine große, dunkelhaarige Halbafrikanerin aus, deren knappe Bekleidung und wadenhohen Schnürstiefel genauso Uniform waren wie die übermäßig rot geschminkten Lippen und die künstlich erweiterten Pupillen. Borzov legte sich die Worte zurecht, mit denen er die Dirne ansprechen wollte. Das hier war Routine: Aussuchen, Annähern, zuschlagen. So ging er lässig wirkend auf die Halbafrikanerin zu und sprach sie so an, als wäre er nur am schnellen Beischlaf interessiert, handelte mit ihr den Preis aus und lächelte behutsam genug, daß das leichte Mädchen seine gefährlichen Eckzähne nicht sehen konnte. Asunción, wie sich dieses Frauenzimmer nannte, führte ihn in eines der verschwiegenen Häuser, in denen sie und ihre Kolleginnen ihre Sündenzimmer hatten. Borzov verdrängte den Gestank nach aufdringlichem, schwerem Parfüm, der ihm im Treppenhaus schon entgegenwehte und überhörte die Laute der Lust, die hier gegen Geld geboten wurde. Seine Befriedigung würde eine andere sein. Sollte er diese hier zu seiner Gefährtin machen? Der Fürst hatte ihm noch nicht geraten, neue Artgenossen zu machen. Erst wollte er wohl seine Macht in der Heimat festigen, bevor er sich mit den rotblütigen Jägern im Westen anlegen durfte. Doch Asunción erschien Borzov gut geeignet, dem blauen Blutfürsten neue Untertanen zu beschaffen. Einfältige, nur ihrem Geschlechtstrieb nachjachernde Männer würden zu Hauf in die Fänge einer solchen Mitschwester geraten.

Das Zimmer war abgedunkelt. Schwere, für Borzov trotz des fehlenden Lichts immer noch blutrot schimmernde Vorhänge, verhüllten die vergitterten Fenster. Eine mit rotem Schirm umkleidete Deckenleuchte hing in knapp zwei Metern Höhe, und über dem breiten, angejahrt wirkendem Bett, das wohl jede Stunde neu bezogen wurde, hing ein mannshoher Spiegel für alle die, die ihr Liebesspiel überwachen und entsprechend ändern wollten. Ansonsten war das Zimmer nur mit zwei Stühlen und einem Nachtschrank möbliert. Leise, südamerikanische Musik rieselte aus den mit Fellbespannten, engmaschigen Gehäusen an der Decke. Borzov hatte Watte in den Ohren, so daß er die für ihn zu lauten Rhythmen genauso angenehm und unaufdringlich empfand wie jeder Rotblütler. Asunción schloß die Tür des Lasterzimmers von innen und strahlte Borzov an, der sein Bild im Spiegel sah. Bei dieser Beleuchtung glühte das Blau seiner besonderen Abstammung verräterisch hell. Ja, selbst die auf Dunkelheit ungeprägten Augen der Dirne erkannten, daß der angeschleppte Freier etwas merkwürdiges an sich hatte. Ihr geübtes, anschmachtendes Lächeln machte einem Ausdruck der Verwunderung Platz. Borzov sah sie an und machte sich bereit, blitzschnell über sie herzufallen, ihr die Hand auf den Mund zu pressen, um ihr im nächsten Moment seine dolchartigen Fangzähne in die Halsschlagader zu graben. Die Prostituierte starte auf Borzov. Sie ließ das Licht ausgeschaltet und sah nur in das für sie schwach blau leuchtende Gesicht des von ihr auf etwa vierzig Jahre geschätzten Mannes, der nicht zu dick und nicht zu dünn, nicht zu groß und nicht zu klein erschien. Ihr Blick traf auf die Hände des Freiers. Auch sie glühten in einem höchst befremdlichen blauen Leuchten, als habe der Mann sich eine Leuchtfarbe oder ähnliches daraufgeschmiert. Das hatte sie draußen auf der Straße nicht gesehen. Da war ihr der Typ nur suchend und genauso gierig erschienen wie viele, die den schnellen Spaß im Bett suchten. Irgendwie, sie wußte nicht woher und warum, überfiel sie eine unbestimmbare Furcht, die in einer Sekunde an den Rand der Panik anwuchs. Der Mann da war nicht normal. Und jetzt entblößte er noch dazu zwei lange Eckzähne wie ein Vampir aus dem Horrorfilm. Der Typ war bestimmt durchgeknallt. Sie wußte nicht, wieso es ihr einfiel, sich einfach zur Seite zu werfen. Doch diese spontane Bewegung rettete ihr das Leben. Denn der von ihr hierher geführte Mann sprang vorwärts, um sie zu packen. Doch weil sie ansatzlos zur Seite gewichen war, stieß er mit großer Wucht in leere Luft und prallte gegen die Tür. Asunción wollte gerade um Hilfe rufen, als der blau leuchtende Vampir auch schon herumfuhr, um wieder auf sie loszugehen. Sie sprang zurück, stolperte jedoch über einen der vier Bettpfosten und kullerte über die breite Matratze. Keinen Moment später warf sich der Unheimliche über sie. Dabei fühlte sie jedoch ein starkes Brennen in ihrem rechten Oberschenkel. Der Fremde schien ebenfalls von etwas getroffen worden zu sein. Denn er zuckte zurück, als habe ihn ein Stromstoß durchfahren. Asunción rollte sich nach links weg und bekam gerade noch das Kopfende des Sündenlagers zu fassen, um nicht herunterzufallen. Der Vampir blieb eine Sekunde zu lange wo er war. Offenbar hatte was auch immer ihn da erwischt hatte einen gehörigen Eindruck hinterlassen. Als er dann beschloß, sich das Straßenmädchen doch noch zu greifen, geschah etwas, mit dem weder er noch sie gerechnet hatte.

Unvermittelt, völlig geräuschlos, erschien eine Frau im Zimmer, deren Schönheit so überragend war, daß sie jede andere Frau darum beneidet hätte. Nachtschwarzes Haar umwehte ihren Oberkörper. Ihr makelloses Gesicht mit den wasserblauen Augen war von einem weißbraunen Glanz wie Milchkaffee. Sie trug ein kurzes, wasserblaues Kleid, das farblich genau auf ihre Augen abgestimmt war. Asunción starrte in das Gesicht der plötzlich aufgetauchten und las Zorn und Entschlossenheit darin. Der Vampir schien im selben Moment einen merkwürdigen Kälteschauer zu erleiden. Er warf sich herum und setzte sich auf, um der Fremden, die ohne die Tür benutzt zu haben eingedrungen war, aus immer größer werdenden Augen entgegenzublicken.

"Habt ihr blauen Pestbeulen es also gewagt, euch auch in mein Revier zu verirren", schnarrte die Unbekannte, die Asunción jetzt als Loli, die Helferin des schwarzen Engels, wiedererkannte. Doch wie war die so schnell und wie gerufen aufgetaucht?

"Wer bist du denn?" Schnarrte der blaue Vampir. In seiner Stimme schwang ein unüberhörbares Unbehagen mit.

"Das schlimmste, was dir je passieren konnte, blauer Blutegel. Du stinkst nach Tod und verrottendem Fleisch und wagst es, eines meiner Mädchen anzumachen? Wer hat dir das erlaubt?"

"Wer bist du, verdammtes Weib. Du hast was ziemlich fieses an dir", schnarrte der Vampir eher aus Angst als aus Überlegenheit.

"Ich bin Loli, Dolores, wenn du das besser verstehst, blauer Pestvogel. Aber das zu wissen soll nur helfen, daß dein abartiger Herr, der meint, seine Seuche auf andere übertragen zu müssen, weiß, daß du und seine anderen Abkömmlinge hier nix verloren habt. Sage ihm das also, daß eine der Töchter Lahilliotas hier wohnt und aufpaßt, euch Geschmeiß nicht hier aufkeimen zu lassen!"

"Töchter Lahilliotas? Wer soll das sein?" Fragte der Vampir beklommen. Loli lachte erheitert. Dann packte sie mit ihrer schlanken Rechten an den Hals des blauen Vampirs. Dieser setzte zur Gegenwehr an. Doch die Fremde warf sich über ihn und bekam ihn mit der linken Hand am rechten Arm zu fassen, drückte diesen so, daß er den linken Arm blockierte und dem Vampir einen tierhaft klingenden Schmerzenslaut entlockte. Der Blutsauger versuchte sich nun mit Fußtritten freizumachen. Das Bett quietschte protestierend unter den wilden Bewegungen. Anderswo im Haus mochten die Kolleginnen Asuncións wohl denken, sie sei gerade bei der Arbeit. Tatsächlich aber lag sie unbeweglich da, wie gebannt, aber keinesfalls mehr voller Angst. Sie sah, wie die als rettender Engel aufgetauchte Loli mit dem blau leuchtenden Fremden kämpfte, ihn dabei scheinbar mühelos festhielt und dann mit einem fangschreckenartigen Griff bewegungsunfähig machte, um ihm mit einem Blick wie zum Schleudern von Todesblitzen geeignet in die Augen zu blicken. Der Blaue versuchte, sich aus der Umklammerung freizumachen, stieß wilde Schreie aus und warf seinen Kopf hin und her. Doch dann konnte ihm seine Überwinderin so tief in die Augen blicken, daß sie den Widerstandsgeist des Vampirs brach und wie er das Blut der Lebenden die Essenz seiner Erinnerungen aus seinem Geist sog. Bebend und zuckend lag der Blaue auf dem Bett, die blau gekleidete Frau auf ihm hockend. Dann ließ diese von ihm ab, sprang zurück. Der Vampir erwachte aus seiner Starre. Er verzog das Gesicht. Dann gewahrte er Asunción neben sich, deren Haut ein wenig dunkler getönt war wie die Lolis. Doch sein instinktives Verlangen, sie nun anzufallen wurde im Keim erstickt, als aus Lolis rechter Hand ein dünner, dolchartiger Gegenstand flog, der wuchtig in die Brust des Vampirs eindrang und wie ein heißes Messer durch Butter hineinglitt, bis er das Herz des Vampirs durchbohrte. Mit einem letzten, gurgelnden Laut hauchte Borzov sein verdorbenes Dasein aus. Und es war noch nicht zu Ende. Asunción erkannte nun, daß das Wurfgeschoß ein Eiszapfen gewesen war. Doch anstatt im restwarmen Körper des Getöteten zu zerschmelzen, wuchs der Eiszapfen in die Breite, vereiste sogar den Brustkorb, dann den Kopf, die Arme und den Unterkörper mit den Beinen, bis der durchbohrte Vampir zu einer bläulich schimmernden Eisskulptur wurde. Das blaue Leuchten erstarb, als die Eisschicht noch dicker wurde. Dann wurde aus dem getöteten Vampir ein pechschwarzer Klumpen aus Eis.

"Diese unsichtbare Seuche strahlt trotz meiner Kraft immer noch aus ihm", schnarrte Loli. Dann sah sie die Dirne an und fing ihren Blick ein. "Du hast mich nicht hier gesehen, und dieser da war nie bei dir!" Hörte sie eine tief in sie eindringende Anweisung, die in ihrem Verstand nachhallte und ein Gefühl von Benommenheit erzeugte. "Du hast weder mich noch ihn hier getroffen", hörte sie die Anweisung in ihrem Kopf selbst schallen. Dann verschwamm ihr Blick komplett. Als er sich wieder geklärt hatte lag sie alleine auf dem Bett. Hatte sie es beim letzten Freier so doll getrieben, daß sie sich hingelegt und einige Minuten verschlafen hatte? Wurde sie langsam zu alt für diesen Job? Sie stand auf und stellte fest, daß sie das Bett wohl noch frisch bezogen hatte. Außerdem trug sie ihre Arbeitskleidung noch. Das durfte nicht noch mal passieren, daß sie einschlief, wo gerade die Hauptgeschäftszeit war. Der schwarze Engel, ihr starker aber unsichtbarer Beschützer, würde ihr das nicht durchgehen lassen, wenn sie nachließ. Zwar behauptete seine Assistentin Loli, die zwischendurch selbst einen Freier abschleppte, daß er nur Mädchen wollte, die freiwillig anschafften und jederzeit aussteigen konnten, ohne sich freikaufen zu müssen. Aber so ganz traute sie dem Braten nicht. Egal! Jetzt mußte sie jedenfalls wieder raus auf die Straße und zusehen, noch wen für die nächste Stunde anzulachen.

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"Ihnen allen vielen Dank, auch wenn der Auftrag so nicht wie gewünscht ausgeführt werden konnte", sagte der französische Zaubereiminister, als er die Zauberer und Hexen in seinem hoch abgesicherten Büro zu den Ereignissen am fünfzehnten Juli befragt hatte. Er war froh, daß er über den Vorfall, der ein schwaches Erdbeben an der gesamten Mittelmeerküste ausgelöst hatte, absolutes Stillschweigen erreicht hatte. Er hatte Professeur Tourrecandide, die durch etwas, was ihm selbst sehr schleierhaft war, um Jahrzehnte jünger aussah, Phoebus Delamontagne, seinen zeitweiligen Stellvertreter und professeur Faucon noch einmal zu sich gebeten, um klarzustellen, daß offiziell nichts passiert war.

Alles hatte damit begonnen, daß Grandchapeau den Regenten der unsichtbaren Insel ein Ultimatum gestellt hatte. Sie sollten alle in seinem Land und anderswo versteckten Spione preisgeben und zurückbefehlen, falls sie nicht ihren gesamten Schutz verlieren wollten. Er wußte, daß die Elfenbeininsulaner beinahe ihr gesamtes Kontingent von Kampfdrachen verbraucht hatten, als sie die Entomanthropen und Schlangenkrieger gejagt hatten. Jene Hexe, von der er jetzt wußte, daß es Daianira Hemlock gewesen war, die zeitweilig Anthelias Interessen vertreten hatte, hatte die Drachen mit Decompositus-Flüchen erledigen können. Wollte Grandchapeau Übergriffe wie den von Pétain nicht noch einmal zulassen, mußte er die sich in ihrer Macht und Isolation sicher wähnenden Exilmagier dazu zwingen, ihre im Lande verstreuten, wohl noch unter Gedächtniszaubern über ihre Rolle unklaren Agenten zurückzurufen. Immer wieder dachte er daran, wie grauenhaft die Vorstellung war, ein unschuldiges Baby gegen einen mit Infanticorpore-Fluch verjüngten Spion auszutauschen, der den arglosen Kindseltern wie deren natürlicher Nachwuchs heranwuchs und sogar Schulen wie Beauxbatons besuchen konnte, ohne aufzufallen. Solche Leute, die Martha Andrews als Schläfer bezeichnet hatte, wollte er nicht weiter in seinem Land dulden. Pétain hatte versucht, mit Didier zusammen ein Angstregime zu etablieren und die französische Zauberergemeinschaft für eventuelle Forderungen seiner wahren Herren gefügig zu machen. Sowas durfte er nicht noch einmal zulassen. Allerdings hatte die sich als Achterrat von Ebonesia bezeichnende Clique das Ultimatum als lächerlich und wertlos abgelehnt und ihn, Grandchapeau, als vom Unrat magielosen Blutes besudelten Schwächling beschimpft. So war ihm nichts anderes übrig geblieben, als Phoebus Delamontagne und alle, die wie dieser alte Zauber aus Atlantis erlernt hatten, an den seit Jahrhunderten sicheren Ort zu schicken, an dem die Elfenbeininsel ortungssicher und unbetretbar im Mittelmeer lag. Mit den alten Fluchumkehrern war es dem Kommando gelungen, Löcher in die Schutzglocke der Insel zu sprengen, die den magischen Dom nach wenigen Minuten komplett aufgelöst hatten. Doch als die zusätzlich mitgeschickten Ministeriumszauberer landen wollten war die Insel in einem blauen Feuer verschwunden und hatte einen mächtigen, mehrere hundert Meter tiefen Strudel ins Meer gerissen. Einige zauberer mußten noch gegen die letzten Kampfdrachen angehen, die eine Landung verhindern sollten. Dann war der Strudel in sich zusammengefallen, und nur das Meer bedeckte die Stelle, an der vor wenigen Minuten eine trapezförmige Insel gelegen hatte. Die Insulaner hatten offenbar einen magischen Fluchtweg benutzt, sich und ihr Eiland vor dem Zugriff ihnen unwürdig erscheinender Zauberer zu retten. Wo genau die Insel jetzt sein mochte wußten nur deren Bewohner. Das Problem war damit nicht gelöst worden. Denn immer noch mochten als unschuldige Kinder getarnte Agenten der Ebonesier in der freien Zaubererwelt wohnen und auf den Tag warten, an dem sie sich an ihren Auftrag erinnerten. Es galt, das Ultimatum und das Verschwinden der Insel zu verbergen. Jene, die dabei waren, wurden angehalten, ihre Erinnerungen daran vollständig auszulagern. Denn Grandchapeau wollte den Glauben an die weitere Existenz und Bedrohung durch die Elfenbeininsel aufrechterhalten. Nur die Experten für die alten Flüche durften ihre Erinnerungen behalten. Die Erinnerungen wurden in einem geheimen Denkarium im Tresor des Ministers verstaut, ebenso wie die Berichte über das Vorgehen der Zauberer.

Tage nach dem Verschwinden der Elfenbeininsel erhielt Grandchapeau beunruhigende Nachrichten über blau leuchtende Vampire, die sich in Osteuropa gezeigt hatten. Er kannte die Berichte über den blauen Blutfürsten Volakin und wußte von Professeur Tourrecandide auch, was diesen Vampir und seine Kinder hervorgebracht hatte. Er dachte daran, daß auch in Frankreich viele Atomkraftwerke existierten, jene Brennöfen, in denen die Grundbausteine der Materie aufgespalten wurden, um große Mengen Kraft in Form von Hitze zu erhalten, mit der dann Dampfkessel zum Betrieb von Elektrostromerzeugern beheizt wurden. Als er am ersten August erfuhr, daß sein US-amerikanischer Kollege Wishbone von der Wiedergekehrten ermordet worden war, fragte er sich, wann diese Größenwahnsinnige ihm und seinem Land einen unerwünschten Besuch abstatten würde. So hatte er nun zwei Probleme am Hals, die blauen Vampire, die seine Jäger nicht so leicht besiegen konnten und die nun wirklich größenwahnsinnig agierende Nichte Sardonias. Denn daß es Anthelia war wußte er mittlerweile von Delamontagne und Tourrecandide.

Dann kam der dreizehnte August, der sein Interesse zunächst ganz auf den Kampf gegen den blauen Blutfürsten richten sollte.

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Manon Champverd hatte sich von ihrer strengen Großtante Oleande einige freie Wochen erbitten können. Die dreißig Jahre alte Herbologin wollte der ständigen Einsamkeit in Mitten von hunderten Alraunen entfliehen und war zu diesem Zweck nach Colmar im Älsass gereist, wo sie das Leben Moderner Muggel beobachten wollte, um zu erfahren, was diese heutzutage an Kleidung trugen und ob die in den letzten Jahren aufgekommenen Massenverständigungsmittel noch mehr Einfluß auf das allgemeine Leben gewonnen hatten. Um alles so hautnah wie möglich mitzubekommen verzichtete sie während ihres Urlaubs auf die Anwendung von Magie und verließ sich ganz auf die technischen Geräte der magielosen Welt. Sie wohnte in einem Hotel, fuhr mit der Eisenbahn in die benachbarten Städte, probierte sogar ein Internetcafé aus, um die neuen Nachrichtenverbreitungsmittel in Aktion zu erkunden und konsumierte das Angebot der Fernsehsender, die sie in ihrem Hotelzimmer zu sehen bekam. Zwar mißfiel ihr vieles, was dort als Unterhaltung angeboten wurde. Doch weil sie anders als ihre Großtante der Meinung war, die Muggel als zumindest zur Vernunft fähige Wesen anzuerkennen, mußte sie ja auch wissen, was diese aus reinem Vergnügen oder Wissensweitergabe so verbreiteten. Sie dachte an die Arbeiten von June Priestley, die mal eine Zeit in Australien hatte leben müssen, weil der Unnennbare sie und ihre Familie umbringen wollte. Diese hatte Bücher und Aufsätze über die Geräte der Muggelwelt geschrieben. Manon fand, daß es Zeit war, ein umfassendes Buch über die Alltagskultur der Muggel zu schreiben. Das durfte sie jedoch nicht zu laut sagen, wenn sie auf der Alraunenplantage ihrer Großtante arbeitete. Weil sie deren Bezahlung brauchte, um sich das aufwendige Leben mit Reisen und Ausflügen in die Muggelwelt leisten zu können, war sie noch zu sehr von Oleande Champverds Ansichten abhängig. Aber manon Champverd wußte, daß sie nicht ewig als Alraunenkinderschwester schuften würde.

Diesen Abend wollte Manon ins Kino. Sie interessierte sich sehr für Filme, in denen die Muggel ihre Wirklichkeit vernachlässigten und Geschichten aus einer von ihnen für rein erfunden gehaltenen Zaubererwelt, zukünftigen Zeiten oder Planeten außerhalb des Sonnensystems erzählten. Der Film, den sie heute sah beschrieb eine Welt nach einem weltweiten Krieg mit furchtbaren Vernichtungswaffen, die Atomraketen hießen. Wie genau diese Waffen wirkten wußte die Urlauberin aus der Zaubererwelt nicht. Doch die Vorstellung, daß ein Sprengkörper eine ganze Stadt in einem Krater verschwinden lassen konnte und zu allem Überfluß noch eine giftige Aschenwolke verbreitete, die über Jahre hinweg Menschen langsam verunstaltete oder tötete, erschien ihr als schlimmster träumbarer Alptraum. Ging es den Erfindern dieser Geschichte darum, die Menschen ihrer Zeit zu warnen, bloß nicht wirklich einen solchen Zerstörungskrieg anzufangen? Oder ging es nur um den Spaß am Grauenhaften, wie sie ihn in sogenannten Horrorfilmen am Rande des Erbrechens ausgehalten hatte, um wirklich alles zu wissen, was Muggel sich zur Unterhaltung ausdachten? Da sie zu den wenigen gehörte, die sich einen gezeigten Film immer bis zum letzten Ton und letzten Lichtflimmern ansahen, meinte sie zuerst, als letzte den großen Saal mit den hundert gepolsterten Sitzen zu verlassen. Doch als der Vorhang vor der Leinwand leise raschelnd herabglitt und das Saallicht aufflammte erkannte sie, daß sie nicht die lezte war. In einer Ecke der obersten Loge saß ein kleiner, dicker Mann mit dunklem Haar in einem mitternachtsblauen Anzug. Manon wunderte sich über den leicht bläulichen Farbton im Gesicht des Mannes, der fasziniert und gefällig grinsend auf die nun verhüllte Leinwand blickte, als habe diese ihm die größten Verheißungen seines Lebens gezeigt. Zwei Platzanweiser betraten den Saal um zu sehen, ob noch wer dort war und baten den Fremden leise, den Saal zu verlassen. Auch manon verließ den Vorführraum des kleinen, aber gut ausgestatteten Kinos. Im Vorraum des Saales kam sie dabei dem kleinen Mann im blauen Anzug näher. Immer noch meinte sie, das Gesicht des Fremden leicht blau schimmern zu sehen. Das konnte also nicht an den hellen Deckenscheinwerfern im Kinosaal gelegen haben.

"Sehr beeindruckend war das, nicht wahr. Die Welt wird vom Feuer aus den Atomen gereinigt und macht Platz für bessere Wesen, nicht wahr", nahm der Fremde Kontakt zu Manon Champverd auf. Diese fand jedoch nicht, daß der Film genau diese Botschaft verkündet hatte und widersprach: "Wenn sie einen von Menschen heraufbeschworenen Weltuntergang als Reinigung sehen müssen Sie von den Menschen ja nicht viel halten, Monsieur. Ich sehe in dem Film eine Warnung, daß die Menschen sich nicht gegenseitig umbringen dürfen, weil ihre Waffen immer tödlicher werden. Außer Schaben und anderem Ungeziefer wird das auch keine Lebensform überstehen."

"Glauben Sie nicht, daß die Erfindung dieser Kernwaffen genau dazu da ist, um die Welt von den wertlosen Menschen freizubrennen. Dann könnten endlich die über dem Menschen stehenden Geschöpfe zu ihrem Recht kommen."

"Nichts für ungut, Monsieur. Aber ich denke, der Film sollte warnen, genau diesen Krieg nicht zu führen. Er ist aus den achtziger Jahren, also wo die Menschen knapp vor einem solchen Krieg standen. Wir sollten froh sein, daß sie etwas vernünftiger geworden sind."

"Vernünftiger? Feige und verweichlicht", schnarrte der Fremde. "Solche Waffen bringen nichts ein, wenn keiner den mut hat, sie zu benutzen." Manon schluckte. Was redete dieser Mensch denn da? Der wollte doch nicht im Ernst einen Atomkrieg haben. Sie sagte nur, daß sie nicht dieser Ansicht sei und die Menschheit noch einmal von glück reden könne, wenn niemand solche Waffen einsetze. Dann wandte sie sich ab und ging davon. Doch sie fühlte, wie der Fremde ihr nachblickte. Was sollte das noch? Sollte der mit seinen Weltuntergangswünschen doch wen anderen behelligen. Erst als sie auf dem freien Platz vor dem Kino ankam fühlte sie sich einigermaßen sicher. Warum mußte sie auch in die Spätabendvorstellung gehen? Die Straßen waren beinahe leer. Hier und da lugten die leuchtenden Scheinwerferaugen fahrender Autos um die Ecke. Manon überlegte, ob sie sich einen unbeobachtbaren Ort suchen und gegen ihre eigenen Vorgaben gleich in ihr Hotelzimmer apparieren sollte. Dann merkte sie wieder, wie jemand sie ansah. Sie unterdrückte den Drang, den Zauberstab aus ihrer Handtasche zu fischen und wandte sich um. Ja, wirklich. Da stand dieser Mensch mit dem blauen Gesicht im Schatten des Eingangs. Was wollte der denn noch? Sie durfte jetzt keine Angst fühlen. Wer sich wie getriebene Beute verhielt, wurde zur Beute, hatte sie gelernt. Beute von wem oder was? Sie sah den Fremden mit aller ihr noch verbliebenen Entschlossenheit an. Sein Gesicht schien im dunkeln zu leuchten. Ein blau leuchtendes Gesicht? War das eine Art Schminke, ähnlich wie die Geisterleuchtcreme der magischen Gruselkosmetik? Der Fremde tastete sie mit seinen Blicken ab, als wollte er jeden Zentimeter der schlanken Hexe mit dem strohblonden Haarschopf mit den Händen berühren. Offenbar hatte dieser kleine, dicke Kerl nach dem fragwürdigen Vergnügen im Kino noch Lust auf etwas fleischlicheres, dachte Manon. Aber die Suppe würde sie ihm versalzen. Mit einem, der meinte, die Menschen hätten sich mit Atomraketen auszurotten wollte sie ganz bestimmt nichts anfangen. Sie hatte zwar mal vor, mit einem Muggel einen romantischen Abend und falls möglich auch eine leidenschaftliche Nacht zu verbringen, aber dieser Kerl da ... Der Blick seiner Augen fing den ihren ein. Manon fühlte, daß von diesem Blick eine merkwürdige Kraft ausging, die an ihrem Willen rüttelte. Das war kein normaler Mensch. Sie stemmte sich gegen diesen Blick und verschloß ihren Geist, wie sie es bei Professeur Faucon in mühevollen Unterrichtsstunden erlernt und bei ihrer gestrengen Großtante immer wieder geübt hatte. Sie riß sich aus dem Bann der sie fixierenden Augen los und sah den Fremden, der bereits auf sie zumarschierte, sich seiner Beute sicher. Manon stand einige Sekunden da. Gleich würde der Fremde nahe genug heran sein, um sie anzuspringen. Er blickte sie gierig an und lächelte. Dabei lugten zwei dolchartige weiße Eckzähne hervor. Manon begriff mit der Wucht eines sie treffenden Schlages.

"Du gefällst mir, Mädchen. Mein Herr und Meister wird dich mir zur Braut lassen, um sein Reich zu errichten", hörte Manon die Stimme des Fremden. Wieso lief hier gerade niemand anderes herum? Die Antwort auf diese Frage kam soeben aus dem Kino. Zwei Platzanweiser torkelten in die dämmerige Straßenbeleuchtung hinaus. Sie hielten sich Papierhandtücher vor die Hälse. Der Blutsauger hatte sie schon erwischt? Aber der hatte doch bis eben noch im Kino gesessen. Jetzt galt es, zu handeln. Manon wußte, daß Vampire stark und schnell waren. Dieses Monstrum da spielte mit ihr. Er hätte sie schon längst anfallen können. Doch er kam ganz ruhig auf sie zu. Sie nutzte diese Verzögerung aus und tunkte ihre rechte Hand in ihre kleine Handtasche. Sie riß den Kastanienholzzauberstab mit Einhornstutenhschweifhaar heraus und schwang ihn im halben Bogen nach rechts. "Murus Solis!" Rief sie. Sofort schnellte eine Wand aus gleißendem gelben Licht vor ihr hoch. Von ihrer Seite her war sie durchsichtig. Der Vampir erschrak zwar, sprang aber nicht zurück, wie seine Artgenossen es sonst tun mußten, wenn auf eine Fläche gebündeltes Sonnenlicht sie traf. Dann schnaubte er und lief auf die Wand zu. Doch sie war undurchlässig. Für Feinde mochte sie wie heißes, massives Metall sein, hatte Manon von Professeur Faucon gelernt. Jedenfalls mochte sich ein Angreifer dreimal überlegen, noch einmal dagegenzurennen.

"Das macht mir nichts!" Rief der Vampir und warf sich wieder gegen die Wand. Es erklang kein Laut. Doch die Wand aus Licht erzitterte und wankte. "Du hast dich mit dem falschen angelegt, Mädchen!" Schnarrte er. Manon sah, wie die Wand immer stärker wackelte und Risse bekam. Dieses Monster war stärker als in einer Wand verdichtetes Sonnenlicht? Ein normaler Blutsauger würde bei der Berührung mit der Wand gewiß die Kraft von Sonnenstrahlen auf der Haut fühlen. Heftigstenfalls würde ihn eine Berührung zu Asche verbrennen. Doch dieser Vampir da überlebte nicht nur jeden Anprall, sondern entzog der Wand ihre Haltbarkeit. "Gleich bin ich bei dir, meine schöne. Und dann feiern wir Hochzeit."

"Nicht ohne Ring", schnarrte Manon und zirkelte mit dem Zauberstab um sich herum, worauf ein meterhoher Feuerring um sie aufloderte. Ihr war es jetzt ganz egal, ob sie gegen die Geheimhaltungsstatuten verstieß und ob ein irgendwo liegender Spürstein ihre Lichtzauber weitermelden mochte oder aufgebrachte Muggel die Magie an ihre Ordnungshüter weitermelden würden. Es galt, diesen Vampir da zu stoppen. Dieser warf sich nun nach einem wuchtigen Anlauf gegen die Lichtmauer, die mit lautem Prasseln in hunderte von Blitzen zerfiel, die alle himmelwärts schossen. Dann war der Vampir am Feuerring und berührte dessen Rand. Dabei ging sein Anzug in Flammen auf, und der Vampir stöhnte. Doch die Feuerbegrenzung tat ihm nichts weiteres an. Er schob sich durch die knapp einen Meter dicke Flammenmauer durch. Manon wußte, daß er sie jetzt angreifen würde. ihr blieb nur noch die Apparition. Doch dann würde sich das Monstrum ein anderes Opfer suchen. Warum war der gegen Feuer- und Sonnenlichtzauber immun? Sie sah, wie der Vampir sich vor ihr hinstellte und sie triumphierend ansah. Er war sich seiner Sache wohl sehr sicher. Sie wußte, daß sie jetzt auch nicht mehr disapparieren konnte, ohne daß der Blutsauger sich noch an sie dranhängen würde. Da versuchte sie einen letzten Zauber: "Creato Fontanam!" Diesen Zauber hatte sie einmal auf der Plantage angewandt, um das unter der Erde gestaute Wasser als breite Wassersäule herausschießen zu lassen. Genau dort, wo der Vampir gerade ansetzte, sie anzugreifen, brach mit lautem Knall und Tosen ein zwölf Meter hoher und einen Meter breiter Wasserstrahl aus dem Asphalt hervor. Der Vampir fand sich unvermittelt auf der breiten Fontäne reitend und nach oben gehoben. Dabei schrie er gellend auf, als habe man ihm ein weißglühendes Brandeisen ins Gesicht oder in die Genitalien gerammt. Blaue Funken schossen aus dem Körper des Vampirs. Es ploppte und krachte um Manon herum. Doch sie sah nur den blauen Vampir, der nackt und schreiend immer weiter nach oben gehoben wurde, während das fließende Wasser der Fontäne ihn umspülte. Es war nicht so wie frei fließendes Wasser eines Flusses, wußte Manon. Aber es war eine sprudelnde Quelle, und die reichte wohl. Die beiden Platzanweiser taumelten, während der, der sie angefallen hatte, immer kraftloser auf der Fontäne hing, keuchte und nach Luft rang. Wolken blauer Funken stoben aus seinem Körper heraus und zerstreuten sich. Dann glomm er noch einmal in einem hellen, himmelblauen Licht auf, bevor er wie von einem Schlag getroffen zusammenzuckte und dann reglos im Strahl der magischen Fontäne trieb. Dann brach die Fontäne in sich zusammen. Offenbar war das Wasser, aus dem sie gespeist wurde erschöpft. Der reglose Vampir fiel zu boden, wobei er mit einem häßlichen Spritzgeräusch auseinanderplatzte und in einer Laache bläulich glimmender Flüssigkeit zerlief.

"Eigentlich müßten wir Sie jetzt festnehmen, Mademoiselle, wegen mutwilliger Beeinträchtigung der Bewässerung von Muggelsiedlungen und Bruch des internationalen Geheimhaltungsstatutes von 1792. Aber gegen dieses Geschöpf da konnten Sie wohl nicht anders vorgehen. War die Apparition nicht mehr möglich?" Manon erwähnte, daß sie erst zu spät erkannt habe, daß sie es mit einem Vampir zu tun hatte und ihn mit sonst unfehlbaren Sonnenlicht- und Feuerzaubern bekämpft habe. Der Ministeriumszauberer nickte und schickte seine Leute los, die beiden gerade enttkräftet am Boden liegenden Platzanweiser zu bergen, wobei die Muggel erst mit Eisenketten gefesselt und dann per Apparition forttransportiert wurden. Danach ging es nach paris in die Nähe des Zaubereiministeriums.

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Minister Grandchapeau erfuhr von dem plötzlichen Wasserleitungsversagen in Colmar und auch, daß wohl ein mächtiger Wasserbündelungszauber daran Schuld war. Als er dann per Blitzeule erfuhr, daß Madame Champverds Großnichte Manon Champverd den Fontänenzauber gewirkt hatte, um einen abartigen Vampir zu stoppen läuteten Armand Grandchapeaus innere Alarmglocken. Er befahl umgehend, die beiden Opfer des Vampirs sowie Manon Champverd in Sicherheitsverwahrung zu nehmen und forderte über eine Kontaktfeuerverbindung drei Heiler aus der Delourdesklinik an, die mit den Strahlenfindern nach Herbregis und Dawn ausgerüstet waren. Womöglich hatte dieser Abkömmling des blauen Blutfürsten Volakin bei seiner Vernichtung etwas von dieser gefährlichen Seuche freigesetzt. Er entsandte drei Experten für die Bekämpfung von Vampiren in die Delourdesklinik und schickte ein Schreiben an Professeur Tourrecandide, die er für eine Unterredung dabei haben wollte.

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"Es muß eine Verbindung bestehen", schnarrte Austère Tourrecandide, die gerade meinte, etwas würde ihr Kraft durch die linke Brustwarze aussaugen. Seitdem sie im Mai durch den verunglückten Fluchumkehrer die Wahl erhalten hatte, Daianiras neue Mutter zu werden und sie dann doch ihrer Cousine Leda anvertraut hatte, hatte sie weiterhin die Empfindungen einer schwangeren Frau empfunden, ja sogar Scheinwehen mit echter Muttermundausdehnung erlitten. Hera Matine, die Heilerin und Hebamme von Millemerveilles, betreute sie seit jenem Tag im Mai. Seit der von ihr körperlich mitempfundenen Geburt der wiederverjüngten Hexenlady besaß sie auch vergrößerte Brüste und einen fast unkontrollierbaren Milchausfluß. Und sie fühlte es körperlich, wenn die für wenige Minuten in ihr gewesene saugte. Das rief eindeutig nach einer verbliebenen Verbindung, auch wenn Hera und andere keine verbliebene Magie in ihr nachgewiesen hatten.

"ich kann keine Verbindung messen, Austère", erwiderte Madame Matine. "Aber ich kann auch nicht von der Hand weisen, daß Sie die körperlichen Anlagen einer stillenden Mutter aufweisen. Und die sympathetisch mitgefühlte Niederkunft war ja auch keine Einbildung." Hera vollführte einen Hebammenzauber zur Prüfung des Milchspiegels und erwähnte, daß tatsächlich ein erhöhter Milchfluß bestehe, als müsse sie gerade säugen. Zwar erhielt Professeur Tourrecandide den Retrolactustrank, um diesen Zustand zu beheben. Doch was immer in ihr verblieben war kam immer wieder hervor. "Ich wage es nicht, meine Kollegin in den Staaten nach ihren Stillzeiten zu fragen, um zu prüfen, ob diese Simultan mit ihren Empfindungen sind, Austère. Denn ich fürchte, daß sie daraus dieselben Schlüsse ziehen wird wie Sie und wir beide ja vermuten dürfen, daß Leda mit Daianiras Gesinnungsschwestern paktiert und das ausnutzen könnte. "

"Diese verdammten Wächterinnen wollten nicht, daß ich diese Kanallie ihrer Base überlasse. Sie zeigen mir damit, daß ich dieses hinterhältige Frauenzimmer als meine Tochter zu tragen und zu nähren auferlegt bekam", stöhnte Professeur Tourrecandide. Offenbar strengte es sie sehr an, diese Empfindungen zu haben.

"Ich will Ihnen da nicht widersprechen oder zustimmen, Austère. Ich kann Ihnen nur raten, sich so zu verhalten, als hätten Sie tatsächlich ein Kind geboren und müßten es versorgen. Also viel Trinken und genug Nahrung mit knochenbildender Wirkung zu sich nehmen, um keine wichtigen Körpersubstanzen zu verlieren!"

"Ich hätte nicht übel Lust, mir dieses Balg, daß Daianira nun ist, zurückzuholen. Dann könnte ich diese Anfälle zumindest zu einer Zeit stattfinden lassen, wenn ich es für richtig halte. Es ist schon unangenehm, alle drei bis vier Stunden darauf zu achten, meinen Brustkorb nicht zu besudeln und dieses Ziepen an den Brustwarzen zu überstehen."

"Es besteht eine Möglichkeit, diesen Zustand sinnvoll auszunutzen", sagte Hera. Madame Tourrecandide sah sie verbittert an.

"Ich weiß, mich in den Ammendienst aufzunehmen. Aber dann kann ich meine Arbeit für die Liga nicht mehr ausführen, wenn ich in der Delourdesklinik zur Verfügung stehe. Schon schlimm genug, wie eine ordinäre Kuh gemolken zu werden, wenn der Druck zu groß wird, weil ja kein echter Säugling davon trinkt."

"Sie wollten das so haben, daß die Öffentlichkeit nichts davon erfährt, was Ihnen widerfahren ist, Austère", erinnerte sie Hera Matine noch einmal daran, was sie ausgemacht hatten. Die ehemalige Lehrerin von Beauxbatons nickte entschlossen.

Eine Eule klopfte ans Fenster. Die gerade unter den Nachwirkungen ihres größten Fehlschlags leidende öffnete das Fenster des Dauerklangkerkerraums und nahm der Eule den Umschlag ab.

Sehr geehrte Professeur Tourrecandide,

In den späten Abendstunden des dreizehnten Augustes ereignete sich vor einem Lichtspieltheater der Muggelwelt in Colmar eine unangenehme Begegnung. Eine dort gerade Urlaub von der magischen Welt machende Hexe wurde beinahe zum Opfer eines jener abartigen Vampire, die durch die Blutzeugung des Ihnen all zu bekannten ukrainischen Vampires Wladimir Volakin entstanden. Sie sah sich genötigt, ihn mit dem Wasserfontänenzauber zu bekämpfen, der eine sehr durchschlagende Auswirkung nach sich zog. Da Ihnen besser als mir bekannt ist, daß magische Fontänen die Wirkung natürlicher Fließgewässer gleicher Wassermenge pro Sekunde nur zu einem Drittel nachempfinden, dürfte es Sie wie mich verwundern, daß der damit abgewehrte Vampir nicht nur sehr rasch alle Kräfte verlor, sondern sogar sprichwörtlich zerfloß. Ich gab sofort Anweisung, die an diesem Vorfall beteiligten umgehend in heilmagische Obhut zu verbringen und auf die Auswirkungen dieser Radioaktivitätsstrahlung zu prüfen, da zu befürchten ist, daß diese bei der gelungenen Vernichtung eines blauen Vampires freigesetzt wird. Außerdem steht zu befürchten, daß dieser Vampir nicht der einzige ist, den Volakin gegen uns in Marsch gesetzt hat. Schnelle Rundrufe über die Bilderwelt erbrachten die Meldungen, daß auch in Deutschland, Österreich und Spanien derartige Kreaturen gesichtet wurden. In Deutschland hat man sich darauf eingerichtet, diese Kreaturen mit Mondfriedensartefakten zu bekämpfen, da Feuer- und Sonnenzauber keine Wirkung zeigen. Falls der Fontänenzauber nicht nur bei einem Exemplar die Vernichtung herbeiführen kann, sollten wir erwägen, die als groben Unfug vermarkteten Fontänenphiolen aus dem Hause Forcas' formidable Verrücktheiten zu bestellen, um unsere Vampirjäger damit auszurüsten. Allerdings möchte ich hierfür noch die Ergebnisse der Heiler abwarten. Sollte sich nämlich erweisen, daß jeder vernichtete Vampir diese Strahlung ausstößt, besteht für den Bekämpfer akute Gesundheits- und wohl auch Lebensgefahr. Ich erbitte Ihre Meinung, welche Alternativen wir noch anwenden können, um eine Unterwanderung durch Volakins Brut dauerhaft zu verhindern.

Hochachtungsvolle Grüße

Zaubereiminister Armand Grandchapeau

"Der Minister will meine vampirkundliche Meinung zu diesen durch dieses Radiogift erzeugten Kreaturen Volakins haben. Womöglich muß ich sogar in den Feldeinsatz hinaus. Da kann, will und werde ich nicht die Stillmutter unterversorgter Säuglinge sein, Hera."

"Ich kann Ihnen, da Sie keine echten postnatalen Aufgaben zu erfüllen haben nur raten, daß Sie sich schonen müssen. Gefährliche Einsetze verbieten kann ich Ihnen nicht", schnarrte Hera Matine. "Aber ich empfehle Ihnen nach wie vor, Jene übermäßige Körpermerkmale kaschierende Kleidung und Stilleinlagen zu tragen, wenn sie länger als zehn Stunden im freien unterwegs sein wollen." Austère Tourrecandide nickte. Irgendwie mußte sie mit diesen Empfindungen leben. Die einzige Hoffnung war, daß die Wiedergeborene Daianira, die jetzt Lysithea Greensporn hieß, nicht ewig gesäugt werden mußte. Doch ob damit die nicht messbare Verbindung zu ihr abebben würde konnte sie nicht sagen.

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Volakin hörte die Hilferufe seines Sohnes und Dieners Borzov. Der blaue Blutfürst weilte gerade wieder in der Nähe des Betonsarkophages um den zerstörten Reaktorblock von Tschernobyl, dem für ihn heiligsten Ort der Welt. Borzov rief etwas von einer Übermächtigen, die eine dunkle Kraft ausstrahlte, er aber nicht wisse, was es war. Dann fiel der Name Lahilliota. Volakin zuckte zusammen, als er für einen winzigen Moment das Gesicht einer schönen Frau vor sich sah, die ihn mit wasserblauen Augen drohend anstarrte, bevor ein eiskalter Schauer Volakins Körper durchzuckte. "Halt deine blauen Auswürfe bei dir, verseuchter Blutegel!" Schrillte eine überaus wütende Frauenstimme in seinem Geist, bevor er fühlte, wie sein Diener unter der plötzlichen Kälte wie ein Feuer im Schneesturm erlosch. Borzov war tot, umgebracht von einer der Mißgeburten Lahilliotas. Auch wenn volakin sich anderen Vampiren überlegen fühlte, ja sogar die mit dem Mitternachtsdiamanten trächtige Nyx überwunden hatte, war er nicht so dumm, die Macht der wachen Töchter Lahilliotas zu unterschätzen. Und gerade war Borzov einer von denen zu nahe gekommen. Volakin erkannte mit unangenehmer Beklemmung, daß seine körperlich-seelische Verbindung zu seinen Dienern eine Möglichkeit geboten hatte, an ihn selbst heranzutreten. die Kreatur, die von anderen Abgrundstochter genannt wurde, hatte vielleicht über Borzov auch seinen Geist erforschen können, nicht nur, um ihm die Warnung vor erneuten Übergriffen zu übermitteln, sondern auch, um zu erfassen, wo er selbst gerade steckte. Sollte er es darauf anlegen, mit dieser Höllenbraut zu kämpfen? Oder sollte er schleunigst den Standort wechseln, um ihr aus dem Weg zu bleiben? Hier, bei der Ruine des zerstörten Atomofens und der drei verbliebenen Kernreaktoren, konnte er genug Kraft ansammeln, um dieses Flittchen einzuäschern, wie er es mit Nyx fast geschafft hätte, bevor der ihr einverleibte Stein befunden hatte, sie mit sich zu verschmelzen. Die Abgrundstochter würde nicht derartig davonkommen, wußte Volakin. Doch er wußte auch, daß sie das wußte, daß er wohl mehr drauf hatte als ein üblicher Vampir und sich entsprechend vorbereiten mochte. Also war der Rückzug wohl erst einmal die bessere Lösung. Er disapparierte, um genau im Zentrum eines gewaltigen Kraters zu erscheinen. Hier hatte vor Jahrzehnten die größte von Menschen gezündete Explosion stattgefunden, die den Boden über Jahrzehnte unfruchtbar mit der unsichtbares Feuer versprühenden Asche verschmutzt hatte. Hier konnte er sich weiter ausruhen und die Macht der magielosen Strahlung in sich bündeln. Wenn es wirklich zum entscheidenden Kampf kommen sollte, wollte er so stark sein wie er konnte.

Als er dann knapp vier Tage später einen Hilferuf seines Sohnes Ronald, den er aus einem französischen Handelsvertreter heraus gezeugt hatte hörte, dachte er erst wieder an diese Abgrundstochter. Doch es war nur das laute Schreien in fließendes Wasser geratener Kinder. Vier Stück hatte er in den letzten drei Jahren dadurch verloren, daß sie zu übermütig waren und sich in anschwellende Flüsse oder in einem Abwasserkanal verloren hatten. Als dann die Verbindung abriss dachte Volakin, daß er bald wieder hinausgehen mußte, wollte er einen neuen Diener südlich der Rheinquellen nach Frankreich einschmuggeln. Denn wenn er den Westen erobern wollte, mußte er den ihm trotzenden Strom, der von der Schweiz bis in die Niederlande floß umgehen und genug Kinder haben, die für ihn Boten und Feldherren in seinem Kampf waren. Hinzu kam noch, daß trotz der Gefangenschaft von Lady Nyx mehrere gewöhnliche Nachtkinder gegen seine Sprösslinge aufbegehrten. Das konnten die zwar mit offenem Feuer niederkämpfen. Doch die Frechheit, daß diese unvollkommenen Nachtkinder seine Vorherrschaft offen ablehnten mußte er bald durch strenges Durchgreifen austreiben. Dann dachte er wieder daran, daß er sich mit einer der wachen Abgrundstöchter angelegt hatte. Wollte er seine Macht festigen, mußte er sich zunächst aus ihrem Revier heraushalten, bis er genug Strahlung und Blut in sich hatte, um sie im direkten Zweikampf zu überwältigen.

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Wilson Hoskins war stolz, der legendären My-Truppe des im Kampf für die freie Zaubererwelt gefallenen Lucas Wishbone angehört zu haben. Eigentlich war beabsichtigt gewesen, daß diese Truppe als überministerielle Kampfeinheit mit Sonderrechten weiterbestand. Doch sein Vorgesetzter Spikes hatte es nicht geschafft, diesen Leinenhund Cartridge, der vor dieser Vampirin Nyx gekuscht hatte, mit dem Imperius-Fluch zu überreden. Jetzt saß Spikes im Gefängnis, und die My-Truppenangehörigen mußten auf der Hut sein, nicht als Mittäter angeklagt zu werden. Kein Wunder, daß in Hoskins' Geist zunächst laute Alarmglocken schrillten, als er einen Brief von Donata Archstone, der von Cartridge närrischerweise wieder eingesetzten Strafverfolgungsleiterin, erhielt. Sie schrieb ihm, daß sie eine Kommission zur Aufarbeitung der Ära Wishbone einrichten wolle. Minister Cartridge habe ihr den Auftrag erteilt, die Erfolge der vergangenen Monate gegen die Fehlschläge abzuwägen und daraus die nötigen Schlüsse für eine zukünftige Arbeit zu ziehen. Da diese Befragung jedoch geheim bleiben müsse, dürfe sie diese Befragung nicht im Ministerium durchführen. Sie lud ihn als einen der ersten Außendienstmitarbeiter in das dem Ministerium als Gästequartier dienende Landhaus in der Nähe von Miami, Florida ein. Hoskins las zwischen den Zeilen, daß Archstone offenbar den Auftrag hatte, Wishbones My-Truppe zu untersuchen und deren Mitglieder auf ihre Loyalität zu prüfen. Andererseits würde sie ihn alleine sprechen wollen. Daraus ergab sich eine interessante Möglichkeit, nämlich die achso selbstherrliche Hexe zu überwältigen, wenn das haus nicht durch magische Alarmvorrichtungen gesichert war. So fiel es ihm leicht, die Einladung anzunehmen.

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Fliegen war für ihn so alltäglich wie Autofahren. Der einzige Unterschied bestand für den erfolgreichen Geschäftsanwalt Claude Andrews darin, daß er nicht selbst steuern mußte. So verschlief er die Reise von London nach Sevilla in Südspanien einfach. Erst als die Kabinenchefin der Flugbegleiter erst auf Spanisch und dann im sehr gewöhnungsbedürftigen Notfallenglisch die Landung in wenigen Minuten ankündigte, wachte Claude Andrews auf. Er konnte sich nicht so recht an einen Traum erinnern. Dennoch dachte er an die letzte knapp am Streit entlanggeschrammte Unterhaltung mit seiner Frau Alison, die ihm vorgeworfen hatte, seine Urlaubszeit nicht mit ihr abgestimmt zu haben. Sie waren beide fast fünfundzwanzig Jahre verheiratet und benahmen sich wie ein uraltes Ehepaar. Richtig empfinden konnte er nichts mehr für sie, und sie ließ keine Gelegenheit aus, ihm zwischen den Zeilen zu unterstellen, ihre wertvollste Zeit mit ihm vertan zu haben. Nur der Gedanke an die zwei freien Wochen hatten ihn davon abgehalten, ihr vorzuhalten, daß Sie damals um ihn herumgestrichen war wie eine verschmuste und hungrige Katze, weil er damals schon Aussichten hatte, mit einem Lob im Examen die juristische Fakultät von Oxford zu verlassen. Außerdem hatte sie sich nicht zum braven Hausweibchen ernidrigt, das nur darauf wartete, daß ihr Mann und Geldbeschaffer von seinen harten Arbeitstagen heimkehrte. Also was sollte die ständig neu aufkommende Unterstellung, die gemeinsame Ehe sei für sie Zeitverschwendung gewesen? Warum dachte er jetzt an Alison? Er war gerade unterwegs in den Urlaub. Er würde mit seinem alten Studienkameraden Carlos Ramirez einige Tage in Sevilla zubringen, dann nach Granada weiterfahren und eine ganze Woche Sonne, Sand und Meer an der Costa del Sol genießen, weit weg von Alison. Weit weg? Da er als gefragter Anwalt ständig auf Zack sein mußte, einen sich anbahnenden Fall zu kriegen oder einen bereits sicheren Clienten zu betreuen, hatte er sein Mobiltelefon eingesteckt. Ihn ärgerte es auch, auf diese Weise an einer langen aber jederzeit einholbaren Leine zu laufen. Aber er hatte lange darum gekämpft, wichtig zu sein und durfte das nicht durch einen Moment der Unerreichbarkeit gefährden. Fluch und Segen der modernen Fernverständigungsmittel, dachte Claude, als die schwarzhaarige Flugbegleiterin zwischen den Sitzreihen durchging. Er war einer der wenigen Reisenden in der Geschäftsleuteklasse und froh, nicht die eng hintereinander angebrachten Sitze der ordinären Fluggäste nötig zu haben. Er wechselte mit der knapp dreißig Jahre wirkenden Bediensteten ein paar oberflächliche Sätze auf Spanisch, um in die Sprache zurückzufinden, die er vor vier Jahren das letzte Mal ausgiebig benutzt hatte, als er nach seinem Aufenthalt in den USA einige nette Wochen in Mexiko zugebracht hatte. Er mußte sich wohl erst wieder richtig einhören.

Die Maschine glitt stetig abwärts, bis Claude im Licht der sinkenden Sonne den breiten Fluß wie eine Straße aus Spiegelglas voraus blinken sah. Das war der Guadalquivir, der Fluß, von dem aus Kolumbus zu seiner Suche nach dem westwärtigen Seeweg nach Indien aufgebrochen war und der seither die Zollstraße für alle aus Amerika eintreffenden Frachter war. Er hatte diese Stadt bisher nie besucht. Wenn er mit Alison oder früher mit seinen Eltern und dem sechs Jahre jüngeren Bruder Richard in Spanien war, dann in Benidorm, Marbella oder einmal auf der Touristeninsel Mallorca. Carlos Ramirez hatte ihm immer von der Hauptstadt Andalusiens vorgeschwärmt, die wie die Insel Malta alle wichtigen Kulturen der Antike bis zur Neuzeit erlebt hatte, von den Griechen, die die Stadt vor über zweitausend Jahren gegründet hatten, über die Römer unter Julius Cäsar, die Araber, die ihr Reich des Propheten über ganz Südeuropa ausgebreitet hatten und dann die vereinigten Spanier, die hier den erwähnten Dreh- und Angelpunkt des Handels mit der neuen Welt unterhielten. Claude sah die ersten Türme. Ähnlich wie New York und doch nicht so pompös. Dafür aber uralt, steinerne, weithin sichtbare Geschichte. Diese Geschichte galt es zu erforschen und zu hoffen, daß niemand in der Zeit seine Mobilfunknummer wählen wollte. Laut Beschreibung eines Reiseführers, den er während der Wartezeit in der Nobelwartehalle für Geschäftsleute studiert hatte, konnte er den goldenen Turm mit seinem zwölfeckigen Grundriß sowie den weltberühmten Glockenturm Giralda neben der Kathedrale Maria de la Sede erkennen, bevor der Airbus die Nase senkte und in den Landeendanflug überwechselte. Knapp fünf Minuten später trafen die Räder des Fahrwerks den Beton der Landebahn und bliesen Wolken aus Qualm und Staub in die Luft. Die Düsen schrillten noch einmal laut auf, als sie mit vollem Gegenschub die hohe Fahrt der gelandeten Maschine auffingen. Dann bog die Passagiermaschine nach rechts auf das Rollfeld ab und folgte einem gelb-schwarzen Wagen, auf dem auf Englisch "Folge mir" zu lesen stand. Claude blickte noch einmal auf das Gewusel herumrollender Flugzeuge und erkannte, wie die Maschine auf einen Platz nahe am neuwertig aussehenden Gebäude zurollte. Währendessen rieselte aus den Kabinenlautsprechern die übliche Ansammlung von Sätzen, mit der die Kabinenbesatzung sich bei den Fluggästen bedankte und ihre Hoffnung ausdrückte, sie bald wieder an Bord einer ihrer Flüge begrüßen zu dürfen. Claude grummelte, daß er jetzt nicht daran erinnert werden wollte, in nur zwei Wochen von Malaga aus wieder mit dieser Linie abreisen zu müssen.

Durch einen ausgefahrenen Fluggasttunnel wechselte Claude von der Maschine in den Ankunftsbereich über. Er suchte das für seinen Flug zuständige Gepäckband und wartete, bis die auf das karussellartig laufende Band gesetzten Koffer in seiner Nähe vorbeizogen. Er mußte nur fünf Minuten warten, bis er seinen schwarzglänzenden Hartschalenkoffer sichtete. Da piepte sein Telefon in der kleinen Gürteltasche, in der er außer dem Telefon auch seine Kreditkarten, Flugscheine, Ausweis und Hausschlüssel verstaut hatte. Er wuchtete den auf dem Karussellband dahingleitenden Koffer herunter und klemmte ihn zwischen seine Beine, bevor er das Telefon freizog. Doch es war nur eine Kurzmitteilung der hiesigen Mobilfunkfirma, daß er nun in ihrem Netz angemeldet war. Er verstaute sein Telefon wieder sorgfältig und zog den rollbaren Koffer hinter sich her in Richtung der meterbreiten Glasfront, hinter der Männer, Frauen, Kinder und Hunde auf ankommende Freunde oder Verwandte warteten. Ja, und da sah er auch schon den hochgewachsenen, breitschultrigen Mann im hellen T-Shirt und der himmelblauen, halblangen Sommerhose. Der schwarzgelockte Bursche mit den smaragdgrünen Augen war damals der Traum der sittsamen Studentinnen gewesen, der Inbegriff des lateinischen Liebhabers. Und Carlos hatte diese Gunst nie ausgeschlagen, sehr zum Unmut einiger englischer Komillitonen, die sich um ihre Chancen betrogen sahen und auch einiger Elternpaare, die zurecht fürchteten, daß ihre wohlerzogenen Töchter mit diesem lockeren Vogel keine echte Lebensperspektive haben würden. Doch mit Claude, der trotz der strengen Erziehung zu Hause und in Eton die neue Freiheit fern vom elterlichen Herdfeuer lieben gelernt hatte, war Carlos Ramirez immer um die Häuser gezogen. Von ihm hatte Claude vieles über die spanische Lebensweise und die Umgangsformen mit dem weiblichen Geschlecht gelernt. Und jetzt trafen sie sich, mindestens sieben Jahre nach der letzten wirklichen Begegnung.

"Hola, Claudio!" Rief ihm Carlos Ramirez zu, als Claude im Strom der anderen Passagiere in den freien Ankunftsbereich überwechselte und eilte mit wedelnden Armen auf ihn zu. Dem fiel ein, daß das einzige, was er an Carlos nie so recht gemocht hatte, diese zu innigen Umarmungen waren. Warum mußten diese Südländer sich andauernd umklammern oder gar abschmatzen? Da hatten ihn die beiden kräftigen Arme des Studienfreundes auch schon umschlungen wie die Arme eines Kraken einen unachtsamen Fisch. Claude war zumindest froh, keine Frau zu sein, weil Carlos ihn dann sicher noch mit wilden Wangenküssen bedacht hätte. "Bienvenido en España, Claudio!" Rief Carlos ihm fast ins rechte Ohr. Claude erkannte, daß sein Studienkamerad wohl gleich spanische Konversation mit ihm machen wollte und bedankte sich für das Willkommen. In der hiesigen Landessprache fragte er dann noch, ob Carlos mit dem eigenen Auto gekommen sei.

"Wagen? Ich habe meine Moto draußen. Muß nur deine und meine Klamotten dafür aus dem Gepäckfach holen", sagte Carlos.

"Moto?" Wollte Claude wissen. "Meine Harley, Claudio. Bei dem Wetter fahre ich immer mit der Harley rum. Kann mich da besser zwischen den ganzen Wagen durchschlängeln." Claude verstand und deutete auf seinen Koffer. Carlos grinste feist. "Denkst du, ich hol dich mit einem Motorrad ab, wenn ich weiß, daß dein Frauchen dir einen halben Kleiderschrank einpackt?" Fragte Carlos nun wie ein Schuljunge klingend. "Mein Vetter hat ein Taxigeschäft hier. Den habe ich schon klargemacht, daß der uns zu deinem Hotel bringt. Dann machen wir die Stadt unsicher." Claude beschloß, sich nicht zu wundern. Familie war in Spanien wie in Italien der wichtigste Gesellschaftsfaktor. So nahm er das Angebot an.

Pedro Ramirez, Carlos jüngerer Vetter, brachte die beiden alten Studienkameraden in das von Claude Andrews ausgewählte Hotel am westlichen Ufer des Guadalquivir. Nachdem er die Anmeldung und die Übernahme des Zimmers hinter sich hatte, präsentierte ihm Carlos eine knallrote Lederkombination und einen elfenbeinfarbenen Sturzhelm aus Karbonfasern mit sehr dicker Innenpolsterung. "Integralhelm, Claudio. Hier schaltest du die Funkgegensprechanlage ein. Dann brauchen wir uns auf der Piste nicht die Lungen aus den Hälsen zu brüllen", erläuterte Carlos und zeigte dem Freund, wo die kleine Sende- und Empfangsanlage eingeschaltet werden konnte. "Aber heute fahren wir mit Pedro. Ich habe dem genug gegeben, um uns als Fahrer durch unsere großartige Heimatstadt zu fahren. Hoffentlich müssen wir dich nicht nachher hier wieder rauftragen."

"Ich habe dir gesagt, daß ich wohl nicht mehr so mithalten kann wie früher, Carlos", erinnerte Claude ihn daran, was er ihm vor seinem Urlaubsantritt erzählt hatte. Carlos grinste jedoch nur. "Genau wie du meintest, kein Spanisch mehr zu können, Claudio", entgegnete Carlos Ramirez. Dann winkte er seinem Studienfreund zu, ihm zu folgen.

"hast du hier auch Vettern bei der Polizei?"

"Leider nicht. Hätte mir einige tausend Peseten Strafe erspart", grummelte Carlos verärgert.

Pedro fuhr sie durch die Stadt, vorbei an den berühmten Plätzen und den bekanntesten Gebäuden. Dann bogen sie in ein Stadtviertel ab, daß Claude nicht sonderlich bieder vorkam. Immer wieder konnte er Frauen in sehr freizügiger Bekleidung erkennen, die sich wie Marktware am Straßenrand präsentierten. Claude sah seinen mit ihm im Fond des alten Mercedes sitzenden Studienkameraden an und fragte, ob er ihn unbedingt gleich in so ein Viertel führen mußte.

"Die Mädchen stören dich, Claudio? Immer noch Mamas guten Rat, dich nicht mit Frauen einzulassen, die nicht gleich heiraten wollen, wie?" Grinste Carlos. "Das einzige Problem mit denen ist, daß viele von denen nicht freiwillig hier sind, Claudio. Guck mal die da, die kommt bestimmt aus einem Slum bei Caracas oder Bogota und muß erst mal die Schulden abarbeiten, die die Fahrt ins gelobte Land angehäuft hat."

"Nichts für ungut, Carlos, aber du kennst meine Meinung über Prostituierte", erwiderte Claude Andrews. "Die verderben anständige Männer oder verleiten Leute dazu, ihretwegen Dummheiten zu machen. Dann sind die meistens von brutalen Verbrechern abhängig, denen die ihre Einnahmen überlassen müssen und hoffen, zumindest das nötigste davon für Essen und Unterkunft behalten zu dürfen."

"Ich Vergaß, daß du ja kein Student Lustig mehr bist, Claudio. Aber was diese Verbrecher angeht, von denen sich die Mädels da abhängig machen, so liegt das doch nur daran, daß unsere achso katholische Kirche mit dem Dreckschwein Franco einen Handel hatte, daß deren überholte Ansichten mit Gewalt durchgedrückt werden und ihr Angebot nicht ordentlich machen können wie eine Marktfrau oder ein Kellner im Restaurant. Sex nur nach der Hochzeit und dann nur, wenn dabei auch Kinder gemacht werden sollen, nicht wahr. Hast du mir damals schon häufig erzählt und es immer mal wieder vergessen, weiß ich. Oder hast du mit Sandra Whiteplain nur die tiefgehenden Einzelheiten des Arbeitsrechtes diskutiert. Klang aber komisch für eine reine Rechtsdiskussion, vor allem das Quietschen vom Sofa."

"War mir klar, daß du ... wie heißt das noch mal auf Spanisch, wenn ein Mann allen Frauen nachläuft und mit denen was anfangen will? ... Egal! Jedenfalls bin ich kein grüner Student mehr, der sich die Hörner abstoßen muß. Und das mit Sandy Whiteplain hielt auch nur ein Semester, weil mir klar wurde, daß außer dem, was du scheinheilig als Diskussion bezeichnet hast, nichts von der zu erwarten war. Die war auch nur hinter meinem zukünftigen Geld her. Die hätte sich auch gut mit diesen Spice Girls zusammentun können, so wie die ausgerichtet war."

"Ja, aber sie war deine erste, Claudio. Ohne die wüßtest du wohl heute noch nicht, wozu der liebe Gott die Frau gemacht hat. Apropos, das Wort ist "Mujeriego", Claudio", erwiderte Carlos. "Kannst aber auch Don Juan sagen. Ist zwar ein wenig antiquiert, geht aber immer noch."

"Wie erwähnt Carlos, ich bin von Sandy runtergekommen, ähm, losgekommen." Carlos ggrinste sehr lausbübisch. "Jedenfalls bin ich nicht so ein abenteuerlustiger Vogel geworden wie du."

"Piep piep piep", machte Carlos, während Pedro verhalten kicherte. Doch sagen tat er nichts. Als Taxifahrer galt diskrete Zurückhaltung sehr viel für ihn.

"Na ja, wenn du mit Alison das alles kriegst, was ich in den letzten Jahren mit fünfzehn Frauen hinbekommen habe soll dir das gegönnt sein", bemerkte Carlos mit gewisser Ironie in der Stimme. Claude stieß auf Englisch aus: "Klären wir das gleich, Carlos! Mein Liebesleben steht hier nicht zur Debatte, klar?"

"Wenn du eins hast, kein Problem", erwiderte Carlos ebenfalls auf Englisch. Claude verkniff sich eine Antwort. Wollte dieser Mensch da, dem er trotz aller moralischen Meinungsunterschiede freundschaftlich verbunden war ihn in eine Wortfalle locken wie ein Anwalt, der ein Geständnis oder eine den Mandanten peinliche Aussage entlocken wollte. Da mußte der aber früher aufstehen. Sein Problem dürfte nur sein, daß er zu der Zeit gerade erst ins Bett ging, wenn der sich nicht geändert hatte.

"Mit'm will'se nach Rodrigo?" Fragte Pedro im für Claude kaum noch verständlichen Regionaldialekt. Carlos grinste und nickte. Dann meinte er zu Claude:

"mein Vetter hat Angst, wir könnten dich verderben, wenn wir dir die Geheimtipps von Sevilla zeigen. Aber mit dem Ring am Finger kann dir nix passieren. Da verbrennen alle unanständigen Mädchen sofort, wenn sie dir die Hand reichen." Pedro lachte nun. Claude unterdrückte es, dem Fahrer zu raten, sich nicht weiter in die Unterhaltung einzumischen. Er sah Carlos an und meinte: "gut zu wissen, daß deine Unterhalterinnen mir dann den Urlaub gönnen, den ich mir verdient habe."

"Gucken wir mal, was so geht", meinte Carlos nur darauf. Dann verfiel er in eine für Claude ungewohnte innere Schweigsamkeit, als müsse er sehr stark über was nachdenken oder sich auf irgendwas konzentrieren. Der Zustand hielt jedoch nur vier Sekunden an. Dann sagte Carlos: "Ich habe gerade umgedacht. Rodrigo hat keine so guten Tapas. Wir fahren zu Rufina. Da gibt's neben guter Sangria und Sommerwein auch geniale Tapas oder was richtig großes, wenn du eher großen Hunger hast."

"Darüber mußtest du jetzt so lange nachdenken?" Wunderte sich Claude Andrews. Carlos nickte. "Ich will dir ja schließlich in der kurzen Zeit die besten Sachen bieten", sagte Claudes Studienkamerad. "Wenn ich schon improvisieren muß, weil du keine Begleiterinnen für einsame Stunden haben möchtest."

"Das meinst du nicht ernst", knurrte Claude. "Du wolltest mir eine von deinen freizügigen Bekannten anhängen?"

"Nöh, das nicht", erwiderte Carlos. Dann deutete er auf die Straße und sagte Pedro "Nach Rufina!" Claude fühlte, daß ein Streit in der Luft hing. Und genau sowas wollte er in den zwei Wochen, die ihm zur Verfügung standen nicht haben. So sagte er nur, daß er Carlos vertraute, ihn nicht in eine für ihn peinliche Situation geraten zu lassen. Carlos nickte.

Der Rest der Fahrt verlief mit Geplauder über die letzten Jahre, wobei das Liebesleben der beiden ausgelassen wurde. Als sie dann vor einem großen weißen Haus mit Garten hielten meinte Pedro. "Sag Rufi, die möchte mir bitte von den Bocarones 'n Teller rüberbringen lassen, falls du nicht möchtest, daß ich'm Wagen verhunger!"

"Dann schick ich dir besser den Schwertfisch in Knoblauch-Sahnesoße raus, damit du nicht vom Sitz fällst", erwiderte Carlos und winkte seinem Gast aus London. "Rufina kann auch Englisch, weil hier manchmal Yankees zum Essen kommen. Aber mit deinem Spanisch kriegst du hier auch was zu essen und zu trinken."

Claude wollte sich schon die Ohren zuhalten, als er in dem mit Gerüchen in Olivenöl gebratener Fleisch- und Fischgerichte und Tabakqualm geschwängerten Raum eintrat, wo dutzende von Männern und Frauen an zusammengestellten Tischen saßen und sich in einer an den Trommelfellen rüttelnden Lautstärke unterhielten. Claude dachte daran, daß er eigentlich Watte für die Ohren hätte einpacken sollen. Die Tische waren alle besetzt. Er sah Gruppen junger Männer zusammen, Mädchen zwischen neunzehn und neunundzwanzig, die wild gestikulierend und immer wieder kichernd miteinander schwatzten, in den Ecken an Tischen mit Kerzen auch Paare unterschiedlichen Alters. Er konnte kleine Teller mit verschiedenen Speisen oder große Teller mit richtigen Gerichten auf den Tischen und der mindestens zwanzig Meter langen, leicht gebogenen Theke sehen und befand, daß er wohl anständige Sachen zu essen bekommen würde. Carlos winkte einer fülligen Frau in ziemlich sauberer weißer Schürze, die hinter der Theke stand und mehrere Kellnerinnen und Kellner mit schnellen Handbewegungen dirigierte. Die Frau besaß hellblondes Haar. Claude dachte schon, daß es diese Rufina sein mochte. Doch hieß Rufino oder Rufina nicht rothaarig? Carlos stellte seinen Studienkameraden der Wirtin vor. Sie hieß tatsächlich Rufina und sogar Maria, wie millionen Spanierinnen. Dann meinte er, als sie den neuen Gästen an der Theke Plätze zugewiesen hatte: "Die ist nach einer der beiden Schutzheiligen von Sevilla benannt, Claudio. Vor zwei Jahren war die mal schwarzhaarig. Danach für einen Monat rothaarig und jetzt schon seit über anderthalb Jahren blond. Zieht die Männer hier an wie der Honig die Wespen. Aber die ist fest verbandelt, wenngleich ich deren Typen bisher nie gesehen habe." Er deutete auf Rufinas linke Hand, an der ein Verlobungsring steckte. Claude sah kurz auf seinen Ehering und nickte. Offenbar war das hier doch nicht so unwichtig, klarzustellen, was möglich oder unmöglich war.

Rufina servierte persönlich mehrere kleine Teller mit verschiedenen Fleisch-, Fisch- und Kartoffelgerichten. Dabei trank Claude seinen ersten Sangria. Carlos trank auch etwas, das er jedoch als "wie immer" bestellt hatte. Zwischendurch schickte die Wirtin einen Kellner mit einem großen Teller mit einem filettierten Schwertfisch in einer dicken Soße und eine große Plastikflasche mit Mineralwasser hinaus. Claude begann in seinem Anzug zu schwitzen und fragte sich, warum sie nicht draußen im Garten saßen. Er hätte sich im Hotel besser sommerlich umziehen sollen. Da würde nachher noch eine Dusche oder gar ein Bad fällig sein. Eigentlich dachte Claude, Carlos wollte mit ihm um die Häuser ziehen. Doch irgendwie schien er sich hier wohlzufühlen. Rufina bediente sie beide immer persönlich, als sei sie eine gute Bekannte oder eine entfernte Cousine von Carlos. Claude durfte mit der Wirtin einige Minuten Englisch sprechen und merkte, wie erholsam das für sein Gehirn war, nicht andauernd darüber nachdenken zu müssen, wie er was auf Spanisch sagen mußte. So verging die Zeit bis elf. Mehr Leute kamen herein, trafen sich mit denen, die schon da waren, aßen, tranken, rauchten und redeten. Claudes Ohren hatten sich nun an diesen Geräuschpegel gewöhnt. Als dann die breite Tür aufging und eine weitere Besucherin hereinkam verstummten alle wie abgeschaltet. Vor allem die Männer blickten die neue Besucherin sehr interessiert an. Sie bewegte sich sehr geschmeidig, nicht so übermäßig abgestimmt wie eine Ballerina, aber doch mit einer Anmut, die einer professionellen Tänzerin antrainiert war. Langes, nachtschwarzes Haar umwehte ihren Oberkörper bis fast zum Gesäß. Sie trug ein fließendes, wasserblaues Kurzkleid mit schmalen Trägern, das sehr gut zu ihren wasserblauen Augen paßte. Ihre Haut war hellbraun getönt wie Kaffee mit viel Milch. Sie war schlank, was die ausladenden Hüften und die üppige Oberweite nur noch betonte. Claude fühlte, wie ihm noch mehr Schweiß auf die Stirn trat als bisher schon. Schwindelgefühle überkamen ihn. War das die Wirkung der nun schon vier Gläser Sangria? Er sah die ihm unbekannte Frau an, als habe er nie zuvor eine Frau gesehen. Sie winkte Rufina zu, die zurückwinkte und dann auf Carlos deutete. Claude sah seinen Freund an, der ähnlich entrückt aussah wie die anderen Männer. Doch er lächelte, als habe ihm jemand einen unausgesprochenen Wunsch erfüllt. Erst als die Unbekannte mit einem Rundblick alle Gäste überstrichen hatte, kehrte erst leise und dann auf der vorhin üblichen Lautstärke das allgemeine Stimmengewirr zurück. Claude erkannte jedoch, daß die Mädchen, die alleine oder in eingeschlechtlichen Gruppen zusammensaßen sehr betrübt auf die Fremde schauten und über sie tuschelten, während die Mädchen und Frauen in männlicher Begleitung sehr argwöhnisch ihre Freunde oder Ehemänner ansahen und sie in schnelle, gestenreiche Unterhaltungen verwickelten. Claude meinte, die Luft um ihn würde elektrisch aufgeladen, als die neue Besucherin genau auf die Theke zusteuerte. Er konnte nicht sagen, wie alt sie war. Sie wirkte nicht wie ein Teenager, aber auch nicht so, als sei sie schon über vierzig. Dennoch strahlte sie in jedem Schritt, den sie tat Selbstsicherheit und Entschlossenheit aus, jedoch auch etwas wie eine Aufforderung, die Claude, der mit Worten sein Geld verdiente, weder auf Englisch noch auf Spanisch in Worte fassen konnte.

"Hallo, Loli, wie geht's!" Grüßte Rufina die Fremde. Diese erwiderte mit einer tiefen, sanften Stimme: "Habe endlich Zeit gefunden, was anständiges zu essen, Fina. Aber ich merke es, daß ich gerade keinen Platz bei dir finde. Draußen ist alles belegt und hier wohl auch."

"Hmm, Carlos, wenn du ein wenig nach links rutschst, kann Señorita Herrero sich rechts von dir hinsetzen, falls du das möchtest."

"Ich wäre krank, wenn ich das nicht möchte, Fina", schnurrte Carlos und rückte sehr schnell mit seinem Barhocker näher an Claude heran, so daß die Frau, die Loli genannt wurde, sich auf einen freien Hocker setzen konnte. Sie begrüßte Carlos, der sie offenbar kannte und bedankte sich bei diesem. Dieser stellte seinen Freund Claude Andrews vor und stellte die Fremde als Teresa Dolores Herrero vor. Als diese hörte, daß Claude aus London herübergekommen war, sprach sie ihn in astreinem Oxfordenglisch an, was Claude sehr erstaunte. Er fragte sie deshalb, ob sie auch dort studiert habe. Sie bestätigte das, daß sie dort Sozialwissenschaften und Geschichte studiert habe, während eine ihrer Schwestern sich doch für Cambridge entschieden habe. Claude hätte fast schon gefragt, wann genau sie die altehrwürdige Universität besucht hatte. Doch dann hätte er sie gleich nach ihrem Alter fragen können, und diese Unhöflichkeit wollte er nicht begehen. Zumindest aber war er Rufina und Carlos nicht böse, daß er jetzt weniger Platz an der Theke hatte. Denn mit der Besucherin konnte er sich nun über die Universität unterhalten. Carlos hielt sich merkwürdigerweise sehr zurück, ja tauschte mit Claude sogar den Platz, damit er näher bei ihr sitzen konnte. Allerdings fragte sich Claude, wie gut die überragend attraktive Frau mit Carlos bekannt war. Hatte diese wie alle anderen Frauen, die er so kennengelernt hatte mit ihm geschlafen, oder bildete sie die ruhmreiche Ausnahme? Etwas merkwürdig kam es ihm vor, daß Carlos sich ihr gegenüber so heftig zurückhielt, wo er am Abend immer wieder den jungen Frauen an den anderen Tischen abklopfende Blicke zugeworfen hatte. Als Claude ein weiteres Getränk bestellen wollte fragte ihn Rufina, ob er noch eine Sangria haben wollte. Dabei sah Claude in die wasserblauen Augen seiner neuen Gesprächspartnerin. Er meinte einen moment, darin wie in zwei Seen einzutauchen und fühlte ein herrliches, aber auch befremdliches Schwindelgefühl. Da beschloß er, besser für heute mit dem Alkohol aufzuhören und ließ sich einen Fruchtsaftcocktail mischen, den Teresa Dolores Herrero ebenfalls bestellte. Sie sprachen weiter über die Universität und über England und Spanien. Carlos streute ab und an kurze Sätze über Sevilla ein und daß Loli mehr von der Stadtgeschichte wisse als er. So ließ sich Claude Andrews die wichtigsten Passagen der langen Geschichte erzählen. Darüber verflog die Zeit. Erst als es zwei Uhr war, und die Ehepaare doch fanden, im eigenen Bett den Morgen zu erreichen, bemerkte Claude, wie müde und durchgeschwitzt er war. So verabredeten sie sich für elf Uhr morgens, um die Stadt zu besichtigen. Carlos bot an, Claude auf seinem Motorrad mitzunehmen. Doch Señorita Herrero sagte dazu:

"Deine Maschine ist sehr riskant. Wir nehmen besser meinen Wagen."

"Pedro kann uns morgen doch auch fahren", meinte Carlos. Doch die Gesprächspartnerin winkte ab. Sie wolle mit ihrem klimatisierten Wagen fahren statt mit einem Taxi. Das sei nicht so protzig. Carlos widersprach dem nicht. Claude dachte nur einen Moment daran, daß Carlos ihn sicher gerne auf seiner schweren Harley-Davidson durch die Stadt getragen hätte. wieso kuschte der so vor dieser Frau, wo der sonst Frauen gegenüber immer den entschlossenen, selbstbestimmten Macho mit Manieren raushängen ließ? Claude ging auf das Angebot ein, als er, nachdem Carlos die Zeche für sie alle drei bezahlt hatte, den geräumigen, seegrünen Renault gesehen hatte, mit dem die fast überirdisch aussehende Dame angekommen war.

"Ach, Loli war da. ein Wunder, daß ihr zwei so weggetreten ausseht", meinte Pedro, als Carlos den Namen der unerwartet aufgetauchten Bekannten erwähnte. "Pedro, nur keinen Neid."

"Hast du was mit ihr?" Fragte Claude mit einer eigentlich unangebrachten Verärgerung in der Stimme.

"Wieso, sah das so aus, Claudio?" Fragte Carlos ebenfalls leicht verstimmt klingend.

"Ich habe mich gewundert, daß du bei ihr so kleinlaut und brav geblieben bist. Entweder wolltest du es dir nicht mit ihr verscherzen oder hast dich schon mal mit ihr überworfen und dabei den kürzeren gezogen."

"Findest du, Claudio?"

"Guck mal, Carlos, der hat dich durchschaut", bemerkte Pedro von vorne. Carlos straffte sich so heftig, daß er dabei fast vom Rücksitz aufgesprungen wäre und stieß mit dem Kopf an die gepolsterte Dachunterseite.

"Du hast 'ne Frau und vier quängelige Bälger zu hause, für die du fährst. Und ich habe dir 'nen ganzen Abend genug bezahlt, wie sonst zwanzig Touristen abdrücken müssen, Pedro. Also halt dich bloß geschlossen."

"Also doch", erwiderte Claude im Rausch des Sangrias und der Erkenntnis, richtig vermutet zu haben. "Aber wie eine lockere Dame sah die nicht aus, auch wenn sie leicht als Konkurrentin dieser Geschöpfe auf den Straßen durchgegangen wäre."

"Du willst nix von dir erzählen, Claudio. Dann kriegst du auch nix von mir. So haben wir's abgemacht", beharrte Carlos auf der Vereinbarung, nichts über ihr jeweiliges Liebesleben auszutauschen. Claude nickte, während Pedro dümmlich kicherte. "Grins nicht so wie'n kleiner Schuljunge", knurrte Carlos. "Bring Claudio zu seinem Hotel zurück und mich dann nach Hause!"

"Geht klar, Jefe", erwiderte Pedro und trat auf das Gaspedal.

Als Claude Andrews eine halbe Stunde später unter der Dusche stand, wollte er über diesen Abend nachdenken. Doch er war zu müde und vom Alkohol schon zu berauscht, um klare Gedanken fassen zu können. So blieb ihm nur, sich hinzulegen und den leichten Rausch auszuschlafen, um am nächsten Morgen munter genug für eine kundige Stadtführung zu sein.

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Donata Archstone hatte das Haus sorgfältig ausgesucht. Es stand an einem abgelegenen Strand in der Nähe von Miami und konnte zwanzig Personen aufnehmen. Als Schutzzauber gab es nur den Feindeshutzauber und einen, der bei großer Todesangst eine Erstarrung des Angreifers auslöste. Anthelia, die gerade wieder als große Krähe über dem Haus herumflog und in alle Fenster hineinblickte, landete nach zwanzig Minuten Prüfungsflug bei Donata Archstone im Vorgarten. Sie verwandelte sich in die strohblonde Hexe mit den Sommersprossen zurück, als die sie vor drei Jahrenin die Welt zurückgekehrt war.

"Du bist dir sicher, daß dieser Hoskins noch Verbindungen mit Wishbone hatte, Schwester Donata?" Fragte sie. Donata Archstone bestätigte das.

"Außer Hoskins hat niemand eine Einladung zu dieser Befragung erhalten. Deshalb konnte ich auch ein Verhör mit Spikes ansetzen. Wenn Hoskins uns keine brauchbaren Informationen übergibt können wir ihn befragen."

"Das hoffe ich", erwiderte Anthelia. "Ich lasse es nicht länger als nötig auf mir sitzen, daß dieser Kerl die Behauptung in die Welt setzt, ich hätte ihn umggebracht. Wenn ich das gewollt hätte, wüßte es außer ihm und mir niemand", schnaubte Anthelia. Donata fragte sie deshalb rasch, was sie denn machen würde, wenn sie erführe, wer eigentlich hinter dieser Behauptung stehe.

"Nun, da Wishbone offiziell tot ist wäre es kein Verbrechen, ihn leibhaftig zu töten, Schwester Donata. Allerdings erschiene mir eine derartige Bestrafung zu einfach, nicht nachhaltig genug. Warten wir erst einmal ab, was Hoskins uns zu sagen hat, dann sehen wir weiter!"

"In Ordnung, Höchste Schwester. Also morgen, am sechsundzwanzigsten August."

"Genau, morgen", erwiderte Anthelia darauf.

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Früher hatte er sich nie so recht für Geschichte oder Architektur interessiert. Doch nachdem er Teresa Dolores Herrero kennengelernt hatte, war er ganz versessen darauf, von ihr in die weit zurückreichende Geschichte Sevillas eingeführt zu werden. Als er am Tag nach der Ankunft mit ihr in ihrem Renault durch die Stadt fuhr, erklärte sie ihm in lebendigen, astrein englischen Sätzen die verschiedenen Baustile und Plätze. Sie marschierten durch die engen, verwinkelten Gassen, die ein Relikt der arabischen Vorherrschaft waren und schlenderten über die Plaza de America und die Plaza de España. Als die Sonne fast im Zenit stand, und außer den Touristen niemand mehr freiwillig außerhalb der schattigen Gassen herumlaufen wollte, besuchten sie den arabischen Stadpalast mit seinen Gartenanlagen und Wasserspielen, die Claude als Vorgeschmack auf die weltberühmte Alhambra in Granada angepriesen wurde. Claude war froh, seinen immer haarloser werdenden Kopf unter einer weißen Schirmmütze verborgen zu haben. Denn die Sonnenstrahlen stachen fast wie heiße Nadeln auf ihn und alles andere hernieder. Nur seine schwarzhaarige Begleiterin, die zu diesem Ausflug eine weiße Bluse und einen halblangen hellen Rock trug, schien von dem gleißenden Tagesgestirn nicht beeinträchtigt zu werden.

"... konnte sich in dieser Stadt wie allen anderen von den Mauren beherrschten Städten ein gedeihliches Miteinander von Muslimen, Christen und Juden entfalten", beschloß sie den Besuch der aus der Araberzeit stammenden Gebäude. Claude erstaunte es, wie sie mal in die für Stadtführer typische Aufzählung von Daten und Begebenheiten verfiel, dann aber unvermittelt höchstlebendig ein Ereigniss schilderte, das mit dem gerade betrachteten Gebäude oder Baudenkmal und seiner Geschichte zu tun hatte. So war es auch, als sie beide, nachdem sie eine längere MittagsPause in einem von Sonnenschirmen abgesicherten Straßencafé hinter sich hatten und nun das größte sakrale Gebäude der Stadt, die Kathedrale María de la Sede, ansteuerten. Das fünfschiffige Gotteshaus war von 1401 bis 1519 auf den Fundamenten einer Moschee erbaut worden. Im Inneren der ausladenden Kirche war es angenehm kühl, auch ohne Klimaanlage. Claude sog jedes von Loli im hier angebrachten Flüsterton gesprochene Wort mit seinen Ohren auf und ertappte sich dabei, daß er diese erhabene Ruhe nutzte, ihr mit dem Kopf recht nahe zu kommen, fast schon zu nahe für einen wohlerzogenen englischen Gentleman und Ehemann. Diese Frau da war ein Phänomen. In keinem Moment wagte er, sie zu unterbrechen. Nur wenn sie ihn ansah und fragte, ob er alles verstanden habe und noch etwas mehr wissen wolle, flüsterte er ihr Fragen zu. Sie war ein Füllhorn an lebendiger Beschreibung. Sie erwähnte die Erbauer der Moschee, die ihren Gott und dessen Propheten mit einem großen Bauwerk verehren wollten, als sei sie persönlich dabei gewesen. Sie nannte die arabischen Namen, die für Claude früher wohl als der Grund zum Austausch von Visitenkarten gegolten hatten und jetzt so sicher in seinem Gedächtnis halt fanden wie die Namen bedeutender Juristen der zwei letzten Jahrhunderte.

"Die römisch-katholische Propaganda bezeichnet die Eroberung Spaniens und Südfrankreichs durch die arabischen Stämme gerne als große Schande, die sie ganz klar ausradieren mußte. Dabei haben die Araber damals kein Problem gehabt, alle auf ihrem Gott aufbauenden Glaubensrichtungen zu achten. Trotz der Kreuzzüge konnten die hier ganz vernünftig sein. Wenn die alle hier gewußt hätten, wie grausam die achso Liebe und Frieden predigenden Christen nach der Vertreibung der Araber gehaust haben wären wohl einige mit denen zurück nach Afrika oder der arabischen Halbinsel gefahren." Claude hörte aus diesen Worten eine tiefsitzende Verachtung der katholischen Kirche heraus. Dabei fiel ihm eine Aussage seines der linken Szene angehörenden Studienkameraden Gilbert Ford ein: "Kommunismus ist im Bezug zum wirklichen Sozialismus genauso abartig wie's die Katholische Kirche zur urchristlichen Lehre ist."

"Nichts für ungut, Señorita Herrero", wagte Claude nun doch eine Entgegnung mitten in den Informationsfluß seiner Begleiterin hinein. "Sind Sie nicht katholisch?"

"In einer Kirche, die eine Frau nur als überirdische Schutzheilige oder Dienerin sieht und alle anderen in ihre achso böse Hölle verdammt? Nein, Mr. Andrews, in so einer Vereinigung bin ich nicht", erwiderte Teresa Dolores Herrero und nutzte diese Erwähnung, um zu erläutern, wie viel einfache Bürger für niederen Lohn, manchmal nur im Rahmen von sogenannten Bußleistungen, beim Bau dieser großen Kirche mitgeholfen hatten. Sie sähe zwar schön und erhaben aus, sei aber mit Schweiß und Blut armer Menschen und solcher getränkt, die ihr schlechtes Gewissen durch eifrige Geldspenden beruhigen wollten. Claude erwähnte, daß sowas ja für jedes Gebetshaus gelten mußte, also auch für die Moschee, die hier früher mal gestanden hatte und von der nur noch der hohe Turm übrig war, der nach der Rückeroberung Spaniens zum großen Glockenturm umfunktioniert worden war. Seine Begleiterin nickte und meinte, daß das mit der Religion immer eine Frage von Macht und Einfluß war. Wenige Menschen konnten damit über ganze Menschenmassen herrschen, jeden, der anders war ausschließen oder als gemeinen Verbrecher aburteilen und umbringen. "Diese Idioten damals haben die Folter- und Henkersknechte der Inquisition machen lassen, was denen in den Kram paßte. Ich zeige Ihnen nachher gerne, wo die großen Scheiterhaufen entzündet wurden, auf denen angebliche Hexen und die Ketzer genannten Kritiker dieser römischen Machtelite zu Asche verbrannt wurden."

"Ich habe einige Semester Rechtsgeschichte im Bezug auf die Auswirkungen auf heutige Rechtsprechung studiert", sagte Claude Andrews. "Ich habe dabei auch lernen müssen, wie willkürlich und vorteilsbetont die Prozesse gegen Ketzer und angebliche Hexen und Zauberer waren und sich viele Kirchenfunktionäre an den Vermögen der Verbrannten bereichert haben. Aber das darf man in diesem Bau wohl nicht zu lange diskutieren, weil es sonst nicht mehr als besonders erhabenes Denkmal beachtet wird." Loli nickte.

Sie betrachteten noch die Grabmäler, zu deren Besitzern Teresa Dolores Herrero auch eine Menge beisteurn konnte. Vor allem, daß der berühmte genuesische Seefahrer Kolumbus hier begraben sein sollte, wo er ebenso auf einer Insel bei Amerika beerdigt sein sollte, brachte Claude zum leichten grinsen. Man mußte es einfach nur glauben, dachte er. Dann ging es in die Giralda, den Glockenturm, der früher der Turm des Mohezins von Sevilla war, auf den der Gebetsrufer zu den im Koran vorgeschriebenen Zeiten hinaufgestiegen war, um die Gläubigen lautstark an ihre Pflichten zu erinnern. Dabei hatten es die Baumeister von Abu Iussuf Iakub den Mohezinen bequem gemacht, als sie den Turm 1196 aufgebaut hatten. Es gab keine Treppen, sondern rechtwinklig versetzte Rampen, die breit genug waren, daß der Ausrufer der Moschee hoch zu Ross den Turm erklimmen konnte. Claudes kundige Führerin erwähnte auch hier nicht in allen Geschichtsbüchern oder Reiseführern stehende Einzelheiten, auch und vor allem aus dem Leben Iussuf Iakubs. Wieder hatte der Anwalt aus England den Eindruck, sie habe die erwähnten Ereignisse selbst erlebt oder Zeitzeugen befragt. Er dachte an seine Jugendzeit, wo er sich von seinem eher naturwissenschaftlich geprägten Bruder von der Vorliebe für Zukunftsdichtungen hatte begeistern lassen. Dabei hatte er auch den Roman "Die Zeitmaschine" gelesen. So wie Señorita Herrero gerade beschrieb, was die arabischen Herren von Sevilla so getan und erlebt hatten, hätte die glatt mit diesem fiktiven Fahrzeug in deren Jahrhundert reisen und alles hautnah miterleben können. Doch das ging natürlich nicht. Ebensowenig konnte ein Mensch über achthundert Jahre alt werden. Dennoch wurde Claude den Gedanken nicht los, daß seine Wegführerin und Geschichtserläuterin die ganzen Sachen nicht frei erfunden oder aus irgendwelchen verstaubten Büchern hatte. Die wäre als Schullehrerin sicher eine heißbegehrte Fachkraft, dachte er. Allerdings war sie dafür zu attraktiv, um halbstarken Jungen was über Geschichte erzählen zu können, wenn die nur auf ihre langen Beine und die ausgeprägten Rundungen stierten. Claude ertappte sich dabei, daß auch er immer wieder auf die weiblichen Merkmale seiner Begleiterin blickte und sein Blick sich immer wieder an ihrem Oberkörper festhakte oder sich im sachten Wehen ihrer schwarzen Haare verfing. Abwegiger Weise dachte er daran, wann er das letzte mal mit seiner Frau geschlafen hatte. Hier und jetzt paßte dieser Gedanke aber nicht hin, und er zwang sich krampfhaft, auf den Vortrag der kundigen Frau zu lauschen, der ihm als sehr wichtig vorkam.

Nachdem sie vom ehemaligen Minarett des Turmes aus einen Rundblick über die Stadt und den Fluß geworfen hatten, ging es die Rampen wieder hinunter und hinaus aus dem Turm. Das nächste Etappenziel war der goldene Turm, ein zwölfeckiger Bau, der ebenfalls zu den obersten Touristenzielen gehörte. So wunderte es den englischen Anwalt nicht, daß viele tausend Touristen aus allen Ländern sich um das Bauwerk drängten. Seine Begleiterin wußte auch über dieses Gebäude eine Menge von historischer Wichtigkeit aber auch interessanter Beiläufigkeit zu berichten. Auf die Frage, wie lange Claude hier in der Stadt bleiben wollte, antwortete dieser, daß er in drei Tagen von heute an weiter nach Granada reisen wolle, um die dortigen Sehenswürdigkeiten zu bestaunen. Seine Begleiterin lächelte so warm, daß Claude Andrews meinte, die sowieso schon brütendheiße Sonne habe noch einmal an Stärke zugelegt. Unvermittelt fühlte er eine Art Erregung, die er als seriöser Akademiker und Anwalt weit zurückdrängte. Den Namen dafür kannte er jedoch gut: Begehren. Ob seine Begleiterin merkte, daß er sie zwischendurch auf eine ihm nicht gebührende Weise ansah? Falls ja, so zeigte sie es nicht. Womöglich war sie sich ihrer Wirkung auch schon so bewußt, daß sie es eher für seltsam gehalten hätte, wenn ein Mann wie Claude Andrews sie mit Gleichgültigkeit betrachtet hätte. Der Anwalt erahnte, daß sie genau bestimmte, mit wem sie was anfing und mit wem nicht. doch er mußte seine eigene Selbstbeherrschung bewahren. Denn sonst war er nicht besser als Carlos, der leichtfertig mit jedem Frauenzimmer herummachte, wenn ihm danach war.

Als sie beide durch jenes Stadtviertel fuhren, das Claude schon gestern mißfallen war, blickte er auf die hier herumstehenden Straßendirnen in ihren provokanten Kostümen. Wie tief mußte ein Mann sinken, um sich mit soeiner einzulassen und dafür auch noch Geld zu bezahlen, für das er im besten Fall hart gearbeitet hatte? Dann fiel ihm auf, daß einige der leichten Mädchen dem seegrünen Renault nachblickten, als sei der ein ihnen wohlvertrautes Fahrzeug. Ihm als durch Gerichtsprozesse und Befragungen auf jede Kleinigkeit geprägtem Beobachter entging nicht, wie erleichtert die Dirnen dreinschauten, wenn der Wagen an ihren Wartepunkten vorbeiglitt. Andere wiederum zogen sich schnell einige Schritte weiter zurück, als fürchteten sie, daß gleich eine Horde liebestoller Barbaren heraussprang und jede ohne Bezahlung nahm, um sie danach zu erschlagen oder zu erwürgen. Sollte er seine Begleiterin fragen? Gerade rechtzeitig fiel ihm auf, daß das den Zauber dieses Tages, diese lange und höchstangenehme Durchquerung der andalusischen Hauptstadt, mit einem Schlag zerstören würde. Das wollte er nicht.

Es ging wieder zu Rufinas Bar und Restaurant, das um diese Tageszeit nur außen gut besucht war. Claude genoß die fast leere Gaststube und unterhielt sich mit seiner Begleiterin nach dem sehr kenntnisbringenden Ausflug über Oxford und die verschiedenen Studiengänge dort. Er erwähnte, daß er schon mit dem Gedanken gespielt hatte, nach seiner Doktorarbeit über die Auswirkungen der Abschaffung der Todesstrafe selbst als Lehrer dort zu unterrichten. Doch dann habe er das Angebot eines kinderlos gebliebenen Anwaltes erhalten, dessen Kanzlei zu übernehmen und damit die Chance erhalten, ohne langjährige Ochsentour durch andere Kanzleien Karriere zu machen. Er erinnerte sich noch an seinen ersten Zivilprozeß, den er gegen einen schon einige Jahre tätigen Anwalt namens Riverside geführt hatte. Das war für ihn ein nicht ganz gelungener Start gewesen. Daher hatte es ihn später auch ziemlich verstört, als seine Schwägerin ausgerechnet diesen Anwalt engagiert hatte, um sich von ihrem Mann, seinem Bruder Richard, scheiden zu lassen. Dem Grundsatz folgend, daß ein Anwalt sich besser nicht selbst vertreten solle, hatte er nach dem Tod seines Bruders darauf verzichtet, sich mit diesem Riverside anzulegen, der über großartige Verbindungen zu verfügen schien. Dann war dieser Typ im letzten Jahr tot in seiner Badewanne aufgefunden worden, angeblich Selbstmord. Es fehlte jedoch der dafür typische Abschiedsbrief, weshalb seine Angehörigen bis heute mit seiner Versicherung um die hohe Lebensversicherung stritten. Nein, er wollte doch nicht an seine Arbeit denken. Um einen drastischen Gedankenumschwung herbeizuführen sprach er dann darüber, daß er verheiratet sei, wobei er jedoch nicht das Eigenschaftswort glücklich gebrauchte, was ihn nicht weiter kümmerte. Teresa Dolores Herrero erwähnte, daß sie sich in diesem Land nicht als übereifrige Karrierefrau oder braves Hausweibchen einteilen lassen wwollte und daher freiberuflich tätig war. So verging die Zeit, bis Carlos mit einer hübschen Braunhaarigen mit dunkelbraunen Augen hereinkam.

"Habe ich mir schon gedacht, daß ihr zwei wieder hier landet", begrüßte Carlos seinen Studienkameraden auf Spanisch, bevor er Claude gegen dessen Willen innig umarmte. "Deshalb habe ich Carolina gefragt, ob sie mitkommt. Wir könnten heute abend zum Tanzen raus. Deine Anwaltsknochen müssen mal wieder anständig bewegt werden, wenn du schon nix vom Matratzensport hältst."

"Carlos, was gestern galt ist heute immer noch gültig", schnarrte Claude zurück und fühlte seine Ohren rot werden. Doch Carlos grinste nur lausbübisch und deutete auf Loli Herrero:

"Glaube ich nicht, daß du mit ihr nur über die ollen Bauwerke und Straßen hier geredet hast, Claudio."

"Für Glaubensfragen bin ich nicht zuständig", parierte Claude diese Bemerkung. Dann fragte Carlos ihn, ob er ihm eine Sangria oder ein anderes geistreiches Getränk bestellen dürfe. Claude sah dabei, wie verächtlich Señorita Herrero darauf die Bar anstarrte, weil gerade Rufina auftauchte. Dann meinte sie zu Carlos: "Du trinkst doch selbst seit Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr, seitdem du gemerkt hast, daß du dann nicht mehr so ausdauernd tanzen kannst, Carlos." Der angesprochene errötete. "Warum hast du deinem sehr disziplinierten Studienkameraden nicht gefragt, ob er die Fruchtsaftmischung probieren möchte, die du hier üblicherweise trinkst?" Carlos schien gerade vom Draufgänger und Lebemann zum kleinen, schüchternen Jungen zu schrumpfen. Er sah Claude nur an, dann die überragend anziehende Geschichtsexpertin und brachte gerade noch mit Stimme heraus, daß Claude ihn dann für einen Weichling angesehen hätte. Claude meinte dazu nur, daß er ihm, Carlos, ja schon am Telefon gesagt habe, daß er sich verändert habe und selbst nur noch in besonderen Fällen was alkoholisches trank, weil sein Arzt ihm wegen gewisser Warnzeichen seiner Leber zur Mäßigung aufgefordert hatte. Um zu beweisen, daß er Carlos nicht für einen Weichling oder Schlappschwanz hielt orderte er bei Rufina besagten Fruchtsaftcocktail. Irgendwie mußte das seine private Stadtführerin sehr glücklich machen. Denn sie strahlte ihn an. Galt für sie ein Mann nur dann als Mann, wenn er dem üblichen Getue um die Trinkfestigkeit widerstehen konnte? Doch Claude hatte ja eine medizinische Begründung vorgeschoben. Andere Männer würden ihn bestenfalls bemitleiden, schlimmstenfalls links liegen lassen. Aber was kümmerten ihn diese sich gegenseitig anstachelnden Möchtegernhelden und Saufkameraden heute noch. Er war aus diesem Alter und Umfeld heraus und sollte sich dessen glücklich preisen.

Die beiden Männer und Frauen verbrachten zwei Stunden bei Rufina. Carolina war genau das, was Carlos bevorzugte, auf ihr äußeres bedacht, nicht schüchtern und wohl leicht für noch so platte Sprüche zu begeistern, ein krasser Gegensatz zu der in sich ruhenden, aber nach außen Kraft und Entschlossenheit ausstrahlenden Loli Herrero, die die junge Carolina nur als wandelnde Dekoration ansah. Sie aßen und tranken, wobei Claude wie sein Studienkamerad keinen Tropfen Alkohol zu sich nahm. Nur Carolina trank den in Spanien bekannten Sommerwein, eine Mischung aus Rotwein und Zitronenlimonade und verfiel deshalb nach dem dritten Glas auch in einen leichten Rausch. Das hinderte sie aber nicht daran, anschließend mit Carlos ein paar wilde Tänze auf das Parkett einer Tanzhalle zu legen, in der gelernte und ungeübte Besucher sich in temperamentvollen Tänzen bewegten. Hier erfuhr Claude, wie viel Energie in dieser Frau steckte, die ihm an diesem Tag eine Probe ihres Wissens und ihrer Sprachfertigkeiten gegeben hatte. Es wirkte auf ihn so, als wolle sie prüfen, wieviel Kraft und Gewandtheit noch in ihm steckte. Er war fest entschlossen, sich so gut es ging zu präsentieren, auch wenn er nach dem dritten Tango und seinen ersten Übungen im Sevillana-Flamenco meinte, seine Beine würden immer schwerer und sein Herz sei eine Dampfmaschine. Carlos fegte mit seiner Abendbegleitung wild über den Tanzboden. Offenbar wollte er Claude zeigen, daß er trotz seiner Gewichtszunahme noch genug Feuer im Blut und geschmeidige Muskeln hatte. Der Abend verflog so schnell, daß Claude erst an die Rückkehr ins Hotel dachte, als es schon halb zwei war. Meistens lag er doch schon um zwölf Uhr im Bett, wenn er nicht gerade an einem Plädoyer arbeiten mußte. Was würde Alison sagen, wenn er ihr das erzählte. Da fiel ihm ein, daß er sein Mobiltelefon ja an diesem Tag ganz ausgeschaltet hatte. Was für eine Wohltat war es, nicht erreichbar gewesen zu sein.

Er war froh, keinen Alkohol getrunken zu haben, als Teresa Dolores Herrero ihn vor seinem Hotel absetzte und mit ihm ins Foyer ging. Denn jetzt merkte er die Erschöpfung, die die geistige und die körperliche Anstrengung bei ihm hervorgerufen hatten.

"Daa dich der arabische Palast am meisten interessiert hat können wir uns den morgen noch mal länger ansehen", hauchte Claudes Begleiterin ihm ins Ohr und achtete nicht auf den mürrischen Blick des Nachtportiers, der hinter seiner Rezeption saß und die beiden beobachtete. Sein Blick wurde noch verärgerter, als Loli ihren ausländischen Begleiter sehr herzlich umarmte und ihm auf jede Wange einen dicken Kuß gab, ohne daß der Engländer errötete. Ja, er schien sogar über diese Berührung sehr glücklich gewesen zu sein. Denn wie auf Wolken schwebend spazierte er auf den Fahrstuhl zu, um in seine Wohnetage hochzufahren. Dabei sah er zum ersten mal den Portier, der lauernd auf die Frau im hellen Kostüm blickte. Diese wandte sich jedoch gerade um und ging mit ausgreifenden Schritten auf die automatisch öffnende Glastür zu. Claude Andrews fragte sich, was den Empfangschef vom Dienst für eine Laus über die Leber gelaufen war. Dann schlossen sich die Fahrstuhltüren zwischen ihm und der Rezeption.

Wie ein Stein fiel er ins Bett, als er den Tag vom Körper geduscht hatte. Er dachte nicht einmal daran, seinen Mobilanschluß auf eingegangene Nachrichten zu prüfen. Er hatte zum ersten Mal seit Monaten einen Traum, in dem nicht irgendwelche Gerichtsleute oder seine Schwiegerverwandten vorkamen. Er träumte, er sei ein arabischer Herrscher im 12. Jahrhundert. Er residdierte im Palast und lustwandelte in den Gärten. Um ihn herum gab es Dienstboten aus afrikanischen und Europäischen Ländern. Blinde Musiker spielten für die vielen Haremsdamen auf, während die kastrierten Sklaven, die Eunuchen, Speisen und Getränke heranschafften. Er wollte mal wieder eine Frau für die Nacht auswählen und schritt die Reihe der züchtig verhüllten Frauen ab, bis er die fand, die er suchte, es war eine schlanke, nur an den wichtigen Stellen ausladend gerundete Frau mit nachtschwarzem Haar und milchkaffeebrauner Haut, deren blaue Augen ihn an tiefe seen erinnerten. Er wußte, daß sie eine sehr erfahrene Unterhalterin war. Zwar war er nicht mit ihr verheiratet, hatte sie aber als eine seiner Konkubinen hier untergebracht. Da zwei seiner jüngeren Frauen gerade Kinder von ihm trugen, war ihm wieder danach, sich von dieser Kundigen durch eine unvergeßliche Nacht tragen zu lassen. Sie hieß Laila, was das arabische Wort für Nacht war. Das bürgte doch schon für ihre große Gabe. Er verlor sich in immer leidenschaftlicheren Gefühlen und Ereignissen, so daß er mit der Liebesdienerin immer heftiger umsprang. Er nahm sie und ließ sich von ihr nehmen, bis alles um ihn herum in wildem Taumel kreiste und in einem flimmern verschwand und er meinte, in einem modernen Bett zu liegen, jedoch immer noch in wilder Vereinigung mit der orientalischen Bettgenossin. Dann entlud sich alle aufgestaute Lust aus seinem Körper, und er glitt in eine angenehme Besinnungslosigkeit hinüber.

"Das ist mir lange nicht mehr passiert", dachte Claude, als er, wohl stunden später, aufwachte und erkannte, wie heftig ihn der Traum erregt hatte. Allerdings war früher nach solchen Träumen neue Bettwäsche fällig gewesen. Diesmal nicht. Aber er wunderte sich nicht sonderlich darüber. Er dachte eher daran, daß er im Traum mit seiner gestrigen Stadtführerin in wilder Lust verkehrt hatte. Allein schon die Rückbesinnung auf diesen Traum rief die darin aufgekommenen Begierden und Erfüllungen wach. Das durfte er keinem erzählen, diesem Frauenhelden Carlos nicht und Teresa Dolores Herrero schon gar nicht. Er quälte sich aus dem Bett. Wieso kam es ihm vor, als habe er keinen Moment richtig geschlafen, obwohl er doch geträumt hatte? Das konnte nur an seinem verflixten Körper liegen, der gemeint hatte, sich im Traum zu holen, was sein Besitzer in der Wirklichkeit lange nicht mehr gefordert oder zugelassen hatte. Claude erschrak ein wenig, als ihm seine Augen aus tiefliegenden Höhlen aus dem Badezimmerspiegel entgegenblickten. Offenbar hatte er sich gestern übernommen. Die Hitze, das Aufnehmen vieler Informationen, der Tanzabend. Er war eben kein Student Lustig anfang zwanzig mehr. Zumindest hatte er keinen Kater von der Sangria. Aber diese Erschöpfung, als habe er die Sündennacht tatsächlich verlebt, ohne zu schlafen, ängstigte ihn ein wenig. Er durfte sich das nicht anmerken lassen. Er mußte sich zusammennehmen. In drei Stunden würde er sie wiedersehen.

Ihm gelang es, durch ein üppiges englisches Frühstück, das nur dadurch verfälscht wurde, daß er starken Kaffee statt Tee trank, seine Lebensgeister vollständig wiederzugewinnen. Als er sich mit Señorita Herrero traf, wirkte er so ausgeruht wie nach einem ausgiebigen Schlaf.

Der Besuch im Palast weckte jedoch Erinnerungen an sein nächtliches Rollenspiel, und er merkte, daß er in seiner Begleiterin immer wieder jene exzellente Geliebte sah. Das konnte nicht angehen. Als sie ihm dann noch ein vom Zahn der Zeit kahlgefressenes Zimmer zeigte, in dem außer einigen Wandornamenten nichts mehr zu sehen war, dachte Claude unwillkürlich daran, hier seine Leidenschaft ausgelebt zu haben. Dann erzählte die vom alter her nicht einzuordnende Spanierin auch noch, daß dieses eines der Schlafgemächer der früheren Herrscher gewesen sei und beschrieb ihm, wie diese durch den Harem geschritten seien, um sich eine Frau für die Nacht auszusuchen. Was war denn das für ein Zufall?

"Woher wissen Sie das, Señorita?" Fragte Claude Andrews.

"Wir hatten uns doch darauf geeinigt, uns bei den Vornamen zu nennen", erwiderte seine Begleiterin und fuhr fort: "Weil es den niedergeschriebenen und aufgezeichneten Beschreibungen nach nur hier gewesen sein kann. Natürlich waren hier früher mehrere Dekorationen, die die Stimmung und die Fähigkeiten der sich liebenden steigern sollten." Sie beschrieb die Dekorationen, die Claude unverzüglich bildhaft vor sein Geistiges Auge traten. Diese Sachen hatte er in seinem Traum gesehen. Unheimlich oder nur Zufall? Jedenfalls meinte nun auch er, er habe selbst in diesen Räumen gelebt und mit den Dienern und Frauen seine Zeit vertrieben.

Am Abend brachte Loli ihren ausländischen Begleiter zurück ins Hotel. Wieder saß der Nachtportier von gestern hinter seiner Empfangstheke und bediente gerade ein dunkelhäutiges Ehepaar, der Kleidung nach aus den Staaten. Dennoch entging Claude nach der ihm nun sehr angenehmen Abschiedsumarmung nicht, wie verdrossen der Empfangschef seine Begleiterin ansah. Diese sah das wohl auch. Doch sie ließ sich nicht anmerken, wie es auf sie wirkte. Also gab Claude Andrews auch nichts auf das grimmige Glotzen des Hotelangestellten und fuhr alleine hinauf. Er prüfte sein Mobiltelefon auf eingegangene Anrufe und las, daß seine Frau ihn zehnmal zu erreichen versucht hatte. Doch im Moment war ihm nicht danach, sich mit Alison darüber zu zanken, daß er außer nach seiner Ankunft kein Wort mit ihr gewechselt hatte. Er las drei Kurzmitteilungen von seinem jungen Stellvertreter, daß die Jenkins-Sache in Revision ginge und der erste Verhandlungstermin am ersten Oktober angesetzt sei. Sollte er sich jetzt darüber aufregen? Er schickte die Kurzmitteilung zurück, daß er nach seiner Reise eine vollständige Begründung für die Revision lesen wollte, aber eben erst nach der Urlaubsreise, sofern Jenkins nicht auf einen anderen Anwalt zugreifen wolle. Dann schaltete er das Telefon schnell wieder aus. Sein eigener Chef zu sein barg eben doch auch Nachteile, dachte er. Er wollte gerade seine Ausgehkleidung ablegen, als es an der Tür klopfte. Claude Andrews fragte wer da sei. Auf Englisch kam die Antwort, daß Señor Garcia, der diensthabende Nachtportier, ihn zu sprechen wünsche. Als jener dann hereingekommen war und auf Claude Andrews Aufforderung hin auf einem der Besucherstühle Platz genommen hatte, sagte der Portier:

"Ich weiß, muß diskret sein und nicht in Angelegenheiten von Gästen reinreden, Señor Andrews. Aber Ich möchte Sie fragen, woher Sie diese Frau kennen, die Sie gestern und heute zu uns hinbegleitet hat."

"Wie Sie erwähnten geht es Sie nichts an, werter Señor Garcia", schnaubte Claude Andrews in einer Mischung aus Verärgerung über die direkte Frage und eine gewisse Verunsicherung, die diese Frage in ihm auslöste. "Aber ich kann Ihnen versichern, daß diese Frau eine anständige Dame ist. Sonst würden Sie sie und mich wohl gerade in einer sehr intimen Situation stören, oder?"

"Deshalb ich frage, Señor. Denn sie war schon häufig hier mit anderen Gästen, manchmal in ganz kurzen Sachen", erwiderte Garcia. "Hat immer so ausgesehen, als wolle sie mit Gast ... Unzug treiben wie Straßenfrau, Hundefrau, Nutte."

"Prostituierte", korrigierte Claude den Portier. Er verabscheute es seit seiner Schulzeit, mit den übelsten Kraftausdrücken um sich zu werfen, und seine Erfahrungen mit jugendlichen Straftätern hatten ihn in dieser Haltung bestärkt, daß eine solche Sprache auf Rückständigkeit oder Unbildung zurückzuführen war. Dann wechselte er ins Spanische über, und sagte, daß er bis jetzt weder von ihr irgendwelche unmoralischen Dienste angeboten bekommen habe, noch von irgendwem darauf hingewiesen wurde, ein solches Angebot bei ihr platzieren zu können. Der Nachtportier beharrte jedoch darauf, daß er die Frau schon mit zwanzig anderen Männern hier gesehen hatte und sein Schwager sie sogar schon bei den anderen Frauen auf der Straße gesehen hatte. Claude Andrews stieß unwirsch und fast seine Spanischkenntnisse vergessend aus, daß er sich lange und sehr kultiviert mit ihr unterhalten habe und sie ganz bestimmt kein Straßenmädchen war und der Schwager des Portiers sich bestimmt geirrt hatte, da es ja viele vollbusige Frauen mit schwarzen Haaren gebe, die der gewerblichen Unzucht nachgingen. Dann vermutete er noch: "Könnte sein, daß die Dame eine Schwester oder Cousine hat, die derartig tätig ist. Ich habe sie nicht nach den Berufen ihrer Verwandten befragt und halte dies zu diesem Zeitpunkt auch nicht für angeraten."

"Wie erwähnt, Señor Andrews, habe ich selbst sie immer wieder gesehen. Und manche dieser Männer waren am nächsten Morgen so erschöpft, als hätten sie einen langen Lauf durch die Sierra Nevada hinter sich. Aber Sie haben recht, ich darf das eigentlich nicht wissen. Denke nur, weil Sie sehr wichtig sind und eine Frau haben, daß Sie daß wissen sollten."

"Ich habe Ihnen die Höflichkeit erwiesen, Ihren Einwand zu hören. Erweisen Sie mir nun bitte die Höflichkeit und verlassen Sie das Zimmer, damit ich schlafen kann. Danke!"

"Ja, Señor Andrews", erwiderte Garcia dienstbeflissen und verließ das große Einzelzimmer mit Bad.

"Das habe ich bisher nie erlebt, daß ein Portier sich derartig in fremder Leute Sachen einzumischen wagt", dachte Claude. Doch einige Punkte in Garcias Ausführungen machten ihn stutzig. Loli Herrero sollte bei den anderen Straßendirnen gewesen sein? Immerhin hatte er selbst beobachtet, wie diese käuflichen Frauenzimmer ihrem Wagen nachgesehen hatten, als wäre ihnen dieser vertraut. Doch das verwarf er schnell wieder. Eine berufsmäßige Prostituierte fuhr doch nicht im eigenen Auto zur Arbeit. Hier zählte doch Anonymität. Heimlich ankommen, unerkannt wieder abziehen. Ganz sicher besaßen die für käufliche Liebe angemieteten Häuser Hinterausgänge zu unverdächtigen Straßen, von denen aus die dort tätigen Frauen zu ihren verwerflichen Arbeitsplätzen überwechselten. Also war es lächerlicher Unfug. Er wollte nicht weiter daran denken.

Nach einem weiteren Traum davon, ein altarabischer Herrscher zu sein und mit dieser wie Loli aussehenden Konkubine das Lager geteilt zu haben fühlte er sich so erschöpft, daß er Mühe hatte, sich zum Frühstück aufzurappeln. Er fragte sich, was er diesmal angestellt hatte, um derartig ausgelaugt zu sein. Als er nach dem Frühstück die in Abwesenheit eingegangenen Anrufe und Kurznachrichten prüfte, stellte er fest, daß seine Frau ihn kein einziges Mal anzurufen versucht hatte. Die Kanzlei lief im Moment auch ohne ihn gut, da erst Ende September die nächsten Verhandlungen angesetzt waren. Er rief Carlos an und kam auf dessen Vorschlag zurück, eine Motorradrundfahrt zu machen. Carlos fragte ihn, ob er sich nicht noch einmal mit Loli verabredet habe. Er erwiderte, daß sie ihm gestern gesagt habe, erst einmal einen Tag zu entspannen, da das alles für ihn viel war und er ja nicht wegen ihr sondern Carlos nach Sevilla gekommen war. So zog er sich die von Carlos geliehene rote Motorradkombination an und wartete auf seinen Studienkameraden. Erst als er das kraftvolle Dröhnen der Harley auf dem Platz vor dem Hotel hörte, setzte er auch den Helm auf. Darin steckte eine zweiseitig arbeitende Funksprechanlage mit einer Reichweite von gerade zehn Metern. So brauchten sich die beiden Männer während der Fahrt nicht anzubrüllen. Claude erinnerte das an seinen ersten Flug mit einem Hubschrauber, den seine Eltern ihm und Richard geschenkt hatten.

Mit der schweren Harley-Davidson ging es durch Sevilla. der Fahrtwind kühlte die in dickes Leder gekleideten Männer, die ihre Jugendzeit wiederzugewinnen meinten, und aus dem Sattel der kraftvoll dröhnenden Maschine heraus hatte Claude einen unvergleichlichen Rundblick. Das amerikanische Kraftrad zog die Blicke junger Männer auf sich, die wohl davon träumten, selbst einmal auf einem solchen Feuerstuhl über die Piste zu knattern. Es ging auch hinaus in die Landschaft, die nun, wo der Hochsommer alles Grün aus den Pflanzen gesaugt hatte, nicht so berauschend war, fand Claude. Sie brausten durch Dörfer, in denen sie kurze Pausen machten, dröhnten über die Landstraßen ohne Gebührenpflicht und befuhren das Gebiet östlich des Guadalquivir. Claude durfte auch einmal selbst den Lenker in die Hände nehmen, eine Ehre, die Carlos nur wenigen gönnte. Allerdings blieb Claude zurückhaltend und holte nicht alles aus der kraftvollen Antriebsmaschine der Harley, was darin lauerte. Als überall die Zeit der Siesta anbrach ruhten sich die beiden Motorradjockeys in einer Musikbar aus, in der zu dieser Zeit mehrere andere Motorradfahrer unterschiedlichsten Alters verkehrten. Einige sahen verwegen aus wie Straßenrocker. Andere trugen unter ihren Schutzwesten bunte Hawaiihemden. Claude sah sogar einzelne Frauen, die auf japanischen oder amerikanischen Maschinen vorgefahren waren.

"Das Motoradfahren - ihr Engländer habt uns den Begriff Biking beschert - ist für mich wie ein Bad in einem See der Jung macht", sagte Carlos begeistert. Da sie beide gerade mit einem Kraftfahrzeug unterwegs waren tranken sie keinen Tropfen Alkohol, zumal die immer noch über allem liegende Hitze das übel bestraft hätte. Claude fragte seinen Freund nach einer längeren Unterhaltung über die alten Zeiten, woher er Loli kenne und wie es komme, daß er, der Frauen gegenüber immer so frei heraus und mutig auftrat, so zurückhaltend sein konnte. Carlos schien zu überlegen. Dann erzählte er, daß er sie bei Rufina getroffen habe, als er auf der Suche nach einer unverbindlichen Nacht bei dieser eingekehrt war. Manchmal säßen da junge Frauen, die Männer für gewisse Stunden suchten. Das seien aber keine Prostituierten, betonte Carlos ausdrücklich. Sicher habe er ein paar mal auch professionelle Freudenmädchen besucht, sei dazu aber immer in entsprechende Clubs gefahren. Claude erkannte, daß Carlos gerade die Abmachung vergaß, die sie beide hatten, nämlich nichts über ihr Liebesleben auszuplaudern. ER mußte jedoch einsehen, daß Carlos dann nur noch über den Beruf sprechen konnte. Er war der Juniorchef in der Versicherungsagentur seines Vaters und konnte sich daher ausschweifende Partys oder auf reinem Geschäft basierende Liebesabenteuer leisten. Claude, der vor zwei Tagen noch den großen Moralapostel rausgekehrt hatte, schwieg diesmal dazu. Denn ihn interessierte es, ob Loli vielleicht sexsüchtig war. Denn Carlos schilderte, daß sie es gleich in der ersten Nacht miteinander getrieben hatten. Allerdings sei Carlos, der nur eine unverbindliche nacht erleben wollte, danach immer wieder mit ihr zusammengekommen, weil sie nicht nur sehr begabt war, sondern ihm auch viel über die Geschichte der Stadt erzählen konnte. Claude fragte ihn, ob er es für möglich hielt, daß diese Frau mit fremden Männern in deren Hotelzimmer gehen würde oder sich sogar prostituiere. Carlos grinste und meinte, daß sie damit bestimmt eine Menge Geld machen würde, so gut wie sie sei. Claude fühlte nun doch eine gewisse Enttäuschung. Hatte der Portier am Ende doch recht?

"Falls sie wirklich dem horizontalen Gewerbe nachgeht, Carlos, sollten wir zwei uns sehr gründlich überlegen, ob wir weiterhin mit ihr Umgang pflegen dürfen. Ein nachtportier, der mich gestern und vorgestern mit ihr in der Lobby sah, argwöhnte, ich könnte in schlechter Gesellschaft sein. Und dein Ruf als erfolgreicher Frauenheld könnte durch den Umstand beschädigt werden, daß jemand rumerzählen könnte, du müßtest für den Geschlechtsverkehr Geld bezahlen. Dieser Verdacht muß ausgeräumt werden, bevor du oder ich in eine kompromittierende Lage geraten."

"Claudio, wenn du mit einer schönen Frau Spaß haben willst zahlst du so oder so was dafür, ob's ein Abendessen, ein teurer Ausflug oder Schmuck ist. Als Ehemann sorgst du für ein Dach über dem Kopf und einen rauchenden Schornstein und füllst deiner Frau die Kleiderschränke. Also höre bitte mit diesem brunzpuritanischen Getue auf!" Erwiderte Carlos sehr gereizt. "Du mußt alle Frauen mit Respekt behandeln, ob Lady oder Hure. Aber viele von denen erwarten von dir, daß du klar anzeigst oder ansagst, in welche Richtung das alles geht. Das ist die wesentliche Erfahrung, die ich gemacht habe und mit der ich bisher wunderbar fahren kann, auch wenn meine liebe Mama meint, ich sollte langsam mal sesshaft werden. Als künftiger Firmenchef gehöre sich ein anständiges Umfeld mit Weib und Kind. Apropos Kind, ist der Zug in der Richtung für deine Alison und dich jetzt schon abgefahren?"

"Wenn du es so ausdrückst", erwiderte Claude verärgert. "Aber wir kommen soweit auch ohne Kinder klar. Mein Bruder und meine Schwäger haben ja welche in die Welt gesetzt. Das kann auch reichen."

"Aber so zwischendurch habt ihr beide euch doch noch lieb oder?"

"Kein Kommentar", knurrte Claude. Carlos grinste feist und antwortete, daß er sich das hätte denken können. Claude war durch die Hitze wohl zu träge, um rechtzeitig zu erkennen, daß sein Freund ihm eine Falle stellte. Als er fragte, was Carlos sich hatte denken können meinte dieser, daß sein Studienkamerad wohl nach den Flitterwochen schon vergessen habe, wie schön wilder Sex sei. Weil Claude unvermittelt rot anlief nickte Carlos. Dann meinte er: "Habe ich mir gedacht, daß Alison keine richtige Frau, sondern nur ein weiblicher Karriere-Automat ist. Aber der brave Anwalt kann natürlich nicht rumziehen und sich Ausgleich suchen, weil ihm das anerzogene Gewissen dann Vorhaltungen macht."

"Immerhin habe ich eines", schnarrte Claude, dem diese Vorhaltung sichtlich zusetzte. Carlos lachte nur. Dann meinte er, daß er im Land mit den schönsten und wildesten Frauen bestimmt eine finden würde, die ihm helfen konnte, seinen Horizont zu erweitern. Claude entgegnete, daß er keine Flittchen und Huren nötig habe, um seinen Horizont zu erweitern. Dabei dachte er daran, wie stark Lolis Kenntnisse ihn beeindruckt und ihm viel Respekt abgewonnen hatten. Sollte das alles für nichts und wieder nichts gewesen sein, weil sie entweder professionell oder aus purem Vergnügen ihren Körper anbot? Konnte ein Mann, der mit Menschen zu tun hatte, sich wirklich so sehr täuschen lassen? Dann bestand er darauf, dieses ihm unerwünschte Thema zu beenden. Carlos ging darauf ein.

Auf dem Weg zurück in die Stadt leistete sich Carlos noch mal einen Umweg durch das Rotlichtviertel. Da Claude nicht von einer mit dreißig Stundenkilometern über die Straße donnernden Harley herunterspringen wollte, hatte er keine Wahl, als die aufgereihten Anbieterinnen käuflicher Vergnügungen anzusehen. Und da sah er sie. In schwarz glänzenden Stiefeln, rubinrotem Minirock und schulterfreiem, tief ausgeschnittenem weißem Oberteil stolzierte sie zwischen den anderen käuflichen Damen herum, wobei ihr schwarzes Haar verführerisch wehte und Claude ihre makellos schönen Beine beglotzte. Er konnte nicht erkennen, ob sie hier einen festen Standplatz hatte, weil Carlos gerade um die nächste Straßenecke bog. Er wies ihn über die Helmfunkanlage auf sie hin.

"Die stand da nicht, sondern lief rum. Kann sein, daß sie nur austesten wollte, ob die Mädels sie anspringen, weil die denken, sie sei eine Konkurrentin. Loli hat mir das mal erzählt, daß sie während ihres Studiums ausgetestet hatte, wie bestimmte Kleidung auf ihre Mitmenschen wirkt und wie bestimmte Kleidung erwünschte Reaktionen herbeiführt. Vielleicht wollte die einfach nur sehen, wie sich das anfühlt, für eine Hure gehalten zu werden."

"Das glaube ich nicht. Dafür sah sie mir zu sicher aus. Abgesehen davon hatte ich nicht den Eindruck, daß die anderen Frauen sie als Störung sahen, sondern sie akzeptierten. Dreh noch mal um!"

"Besser nicht, Claudio. Wenn wir umdrehen und du sie anquatschst könnte es für sie gefährlich werden. Oder du würdest ihr genau das antun, was du selbst nicht willst, sie in eine peinliche Lage bringen, weil sie auf dich eingehen oder rauslassen müßte, daß sie nur was vortäuscht."

"Das tut sie so oder so, und ich will jetzt wissen, was genau Wahrheit und was Täuschung ist", schnarrte Claude. Doch anstatt die Harley zu wenden ließ Carlos ihren Motor laut aufbrüllen und trieb sie mit sechzig Stundenkilometern durch das Viertel, bis sie bei Rufina ankamen.

"Ich lade dich zu einem guten Abendessen ein. Für elegante Restaurants sind wir zwei nicht vornehm genug angezogen. Aber Rufina kann das genial ausgleichen."

"Gib zu, daß dir das selbst peinlich ist, daß du womöglich mit einer Prostituierten verkehrt hast!" Blaffte Claude, bevor er den Helm absetzte.

"Wie gesagt, Claudio, ich denke nicht, daß sie echt für Geld da rumläuft. Und falls doch, dann habe ich für wenig Kohle 'ne Menge Spaß mit ihr gehabt. Das ist mir nicht peinlich."

So kam es, daß Claude und Carlos eine ganze Weile nicht miteinander sprachen. Claude fragte sich, ob der Ärger, dem er entflohen war, in anderer Form zu ihm hingefunden hatte. Rufina verwickelte ihn in eine Unterhaltung auf Englisch, wobei sie erzählte, daß sie einmal für vier Wochen in den Staaten gewesen war. Carlos hörte dem nur zu.

Als dann Teresa Dolores Herrero in einem hellblauen Sommerkleid den Gastraum betrat kämpften in Claude mehrere Gefühle um die Vorherrschaft. Unsicherheit, daß diese Frau da nicht das war, was er gedacht hatte. Enttäuschung, weil sie offenbar zu einer Gruppe von Leuten gehörte, mit denen er nur bei Gerichtsverhandlungen zu verkehren wünschte, dann aber die fast grenzenlose Bewunderung für ihre Geschichtskenntnisse und ihren kultivierten Umgangston und schließlich dieses lange verschüttete Gefühl des Begehrens, daß er bei den letzten Treffen mit ihr wiederentdeckt aber sorgsam verborgen hatte. Das konnte unmöglich sein. Carlos wurde beim Anblick von Loli wieder zum schüchternen Jungen. Kein Wort darüber, daß Claude sie auf der Straße gesehen hatte. Claude Andrews überlegte, ob er den Stier bei den Hörnern packen und sie auf ihren Auftritt bei den Straßenmädchen ansprechen sollte. Doch irgendwie veranlaßte ihn der aufmunternde Blick der unbestimmbaren Dame, sie nicht hier und jetzt damit zu konfrontieren. Wenn er sich am Ende doch geirrt hatte stand er vor Carlos und Rufina als dummer Wicht da, und das war die schlimmste Angst, die er empfand, sich selbst der Lächerlichkeit preiszugeben. Also tat er so, als habe er sie nicht gesehen. Jetzt, wo sie bei ihnen am Tisch saß konnte sie ja erkennen, daß er und Carlos die beiden auf dem Motorrad gewesen waren, falls sie wirklich in der provokanten Aufmachung herumgelaufen war. Und er wußte nicht wieso. Aber als er Loli in die Augen sah und von ihr hörte, daß sie morgen mit ihm gerne noch eine Burgruine aus der Römerzeit weiter draußen aufsuchen wollte, fiel ihm ein, wie sehr ihm das gefiel, wie sie Geschichte lebendig werden ließ. So stimmte er zu. Er mußte sich sicher getäuscht haben. Doch dann fragte er, ob Loli Schwestern oder Cousinen habe, mit denen man sie leicht verwechseln könne. Sie schmunzelte und erwiderte:

"Ich bin die dritte von insgesamt neun. Aber eine Schwester von mir ist vor zwei Jahren gestorben und die anderen wohnen nicht in Spanien. Warum?"

"Weil ich heute eine gesehen habe, die genauso aussah wie Sie, Señorita Herrero", erwiderte Claude. Weil Rufina mit ihnen Englisch gesprochen hatte war die ganze Unterhaltung in Claudes Muttersprache geführt worden.

"Ich weiß", sagte die blauäugige Schönheit darauf ganz unbekümmert. "Ich habe schon vermutet, daß ihr das wart, als die schwere Harley durch die Straße gefahren ist. Wolltest wohl deinem Freund was für eine schöne Nacht besorgen, Carlos."

"Nicht direkt", erwiderte Carlos verhalten. "Der meinte nur, du würdest dich da anbieten."

Loli lachte nun lauthals. "Klar, weil ich da rumlaufe und den Männern, die was suchen nicht gleich als Kundschafterin auffallen will. Abgesehen davon hast du selbst mit mir doch schon ein paar vergnügliche Stunden gehabt, ohne dich arm zu zahlen, oder?"

"Wie peinlich", knurrte Claude. Als Loli ihn fragend ansah und wissen wollte, was daran peinlich sei, wenn unverheiratete, ihre körperlichen Bedürfnisse beachtende Leute darüber sprachen wechselte er ins Spanische: "No me acuesto con Prostitutas." Loli und Carlos lachten schallend darüber. Dann erwiderte Loli zwischen zwei Lachattacken: "No soy Prostituta. Soy Proxeneta!" Das wiederum stürzte Carlos in einen solchen Lachanfall, daß ihm beinahe der Atem wegblieb. Claude fragte entrüstet zurück, was sie meine. Sie erwiderte dann auf Englisch:

"auf Englisch heißt so einer Lude oder Zuhälter." Dabei grinste sie so breit, daß Claude den Eindruck gewann, daß sie ihn gerade eben gründlich verschaukelt hatte. Also hatte er genau die Situation herbeigeführt, die er unbedingt vermeiden wollte. Er meinte, mit dem Stuhl im Boden zu versinken. Dann fing Lolis Blick den Seinen ein. Er fühlte, wie ihm daraus Zuversicht zufloß. Danach sagte er: "Ich hatte nicht vor, Sie zu beleidigen. Aber wissen möchte ich schon, was Sie da genau tun, wenn es nicht zu privat ist."

"Nicht hier", erwiderte Loli. "Das besprechen wir besser morgen in Ruhe. Ich weiß, daß dir das unangenehm ist, dir vorzustellen, daß eine Frau, die du verehrst, sich gegen schnödes Geld für jeden Mann verfügbar hält. Aber so lebe ich nicht. Hey, Carlos, ist gut jetzt!" Carlos, der die ganze Zeit über Lolis Bemerkung, sie sei keine Prostituierte, sondern Zuhälterin, hatte lachen müssen, fand in einem Augenblick die Ruhe wieder. Um das für Claude peinliche Thema abzuhaken unterhielten sie sich auf Spanisch weiter über Granada, wo Claude demnächst hinwollte. allerdings ging Claude nicht aus dem Kopf, wie doppeldeutig Lolis scheinbare Beruhigung war und wie stark ihr Einfluß auf Carlos war. Denn nachdem sie ihm das ungehemmte Lachen mit einem knappen Befehl abgewürgt hatte, hielt er sich wieder im Hintergrund. Rufina bediente die drei mit alkoholfreien Getränken. Sie waren gerade dabei, über die Alhambra zu fachsimpeln, als ein lautes Aufbrüllen draußen Carlos zusammenfahren ließ. "Ey, da klaut wer meine Harley!" Rief er und stürzte zur Tür. Tatsächlich war das Dröhnen eines kraftvollen Motorradantriebes deutlich zu hören. Doch die Maschine preschte schon davon.

"Ich Esel habe die Wegfahrsperre nicht reingemacht", schrie er wütend auf sich selbst und stürzte zurück in den Schankraum. Er zückte sein Mobiltelefon und wählte den Polizeinotruf, um den Diebstahl zu melden.

"Das ist in der Gegend aber noch nie passiert", schnarrte Rufina, während andere Gäste ebenfalls nach draußen stürmten, um zu sehen, ob ihre Autos oder Motorräder noch da waren.

"Ja, ist keine gute Werbung für die Gegend, wenn hier geklaut wird", meinte Loli sehr ernst. "Wer das gemacht hat lebt sehr gefährlich."

"Wieso, hält hier jemand die Hand über das Viertel?" Fragte Claude, der wußte, daß bestimmte italienische Stadtviertel von der Mafia beschützt wurden, um die dort einkaufenden oder essenden Touristen nicht zu Opfern von Kleinkriminellen wie Straßenräubern oder Taschendieben werden zu lassen. Das war zwar ein Armutszeugnis für die dortigen Polizeikräfte, wenn Verbrecher Verbrechen verhinderten, funktionierte jedoch, solange die Laden- und Restaurantbesitzer ihre Schutzgelder zahlten.

"Wir hatten es ja vorhin von der Prostitution hier. Die Leute, die an den Mädchen verdienen wollen nicht, daß deren Kunden Angst vor Räubern und Dieben haben müssen und kriegen sehr schnell raus, wer sich nicht an die Regeln hält. Carlos' Harley ist hier in der Gegend bekannt. Könnte sein, daß der Dieb nicht weit kommt."

"Das findest du gut?" Fragte Claude leicht entrüstet.

"Sagen wir es so, Claude. In der Gegend kannst du sicherer herumlaufen als über die Calle Sierpes."

"Ich bin Rechtsanwalt. Mir kann das nicht recht sein, wenn Kriminelle ein Viertel überwachen und gegen horrende Abgaben beschützen. Hat irgendwie den Ruch von Sizilien und Chicago."

"Gegenseitigkeit, Claude. Wenn alle Seiten damit leben können und niemand sich beschweren kann, ist das doch praktisch", erwiderte Loli. Als Claude sie entrüstet fragte, ob sie das wirklich gut fände, wenn Verbrecher Leute ausbeuteten, nur um ihnen eine fragwürdige Sicherheit zu bieten erhielt er zur Antwort, daß es in manchen Staaten der Erde doch genauso ablief, daß Diktatoren gegen unbedingte Volkstreue und brav bezahlte Steuern, mit denen sie in Saus und Braus leben konnten, eine hohe Sicherheit boten und die Leute da aus Angst vor Übergriffen auf diese Bedingungen eingingen. Sie nutzte diesen Einwand, um eine kurze Erläuterung der Diktatur in Spanien zu beschreiben. Dann kam Carlos zurück.

"So, die Bullen haben die Kennzeichen der Maschine. Das hier geklaut wird ist mir komplett unverständlich, wo in der Gegend dieser sogenannte schwarze Engel sein Revier hat, der Kriminelle mal eben aus der Welt verschwinden läßt."

"Wenn du ihre Hilfe beanspruchst solltest du die Ordnungshüter Polizisten nennen", knurrte Claude. "Und ich habe Señorita Herrero schon mein Mißfallen bekundet, daß in einem Rechtsstaat nicht zugelassen werden sollte, daß das organisierte Verbrechen den Schutz von Eigentum und Unversehrtheit garantiert, solange es überzogene Abgaben von den Geschäftsleuten eintreibt."

"Ey, mir ist gerade meine Harley vor diesem Laden geklaut worden, Claudio. Ich lasse mir von dir nicht sagen, wie ich zu reden habe. Ich bin nur ein Vierteljahr jünger als du und auf keinen Fall dein Sohn, denn der ist vor sechsundzwanzig Jahren im Abfall des St.--Grace-Krankenhauses gelandet", zischte Carlos. "Und weil das passiert ist bist du der allerletzte, der mir vorschreiben kann, wie ich über wen oder mit wem rede oder welches Leben ich führe, klar." Claude erbleichte. Carlos hatte ihm im Flüsterton gerade einen seelischen Tiefschlag mit nachhaltiger Wirkung versetzt. Woher wußte der das mit Sandy und der Abtreibung? Das wußten nur sie selbst, der Frauenarzt Johnson und er, Claude Andrews. Sollte er jetzt darauf eingehen und Carlos fragen, woher er das wußte. Er war froh, daß Loli es im Lärm der gerade wieder hereinkommenden Gäste nicht mitbekommen hatte. Er zuckte nur mit den Schultern und sagte:

"Das ist blühender Blödsinn, was du da erzählst, Carlos. Damit machst du dich nur lächerlich."

"Glaube ich nicht, Claudio. Aber ich kapiere es, daß das keiner mitbekommen soll, was du Sandy damals aufgezwungen hast. Dir sollte genügen, daß ich das weiß, mit Johnson, den zweitausend Pfund und daß Sandy deshalb von dir nix mehr wissen wollte und nicht, wie du immer gerne rumerzählst, du mit ihr schlußgemacht hast. Woher ich das alles weiß hat dich nicht zu kümmern, solange du weißt, daß ich es weiß. Also spiel dich mir gegenüber nicht mehr als Schulmeister im guten Benehmen auf!"

"Wenn du dich mit deinen fast fünfundvierzig immer noch wie ein halbausgegorener Schuljunge aufführrst kann jeder sich berufen fühlen, dich zu maßregeln", schnarrte Claude, der um keinen Preis der Welt zugeben wollte, wie heftig ihn Carlos' Enthüllung erschüttert hatte. Standhaftigkeit und eine gute Selbstbeherrschung waren für einen Rechtsanwalt ebenso wichtig wie die Kenntnis der Paragraphen und Präzedenzfälle. Einschüchterungen, Drohungen oder unverhoffte Wendungen mußte er sofort mit Entschlossenheit abhaken. Carlos beließ es erst einmal dabei. Offenbar wollte er warten, bis Claude ihn wieder zu maßregeln wagte. Claude war sich nicht sicher, ob sein Studienkamerad dann nicht vor großem Publikum über die leidige Angelegenheit reden würde.

Eine Viertelstunde später kam ein Paar Polizisten in den Schankraum und erkundigte sich nach Carlos Ramirez. Dieser gab dann den Diebstahl der Harley-Davidson zu Protokoll. Loli hatte sich derweil unauffällig wieder verdrückt. Selbst Claude vermißte sie im Moment nicht. Er sagte aus, daß er das Aufbrüllen eines Motorradmotors als den von Carlos Ramirez erkannt hatte, weil es vor dem Restaurant wohl keine andere Maschine dieses Typs gab. Da erhielt der Streifenführer einen Funkspruch von der Zentrale, daß ein ungesicherter Motorradfahrer mit einer amerikanischen Maschine Marke Harley-Davidson mit mehr als hundertfünfzig Stundenkilometern gegen einen Baum gefahren war. Mensch und Maschine waren nicht mehr zu retten.

"Mierda!" Fluchte Carlos außer sich, als der Polizist die Kennzeichen der Maschine erfragt hatte. Claude sah seinen Studienkameraden, der gerade am Rande eines schweren Wutanfalls entlangschrammte. Er wollte ihn nach Hause bringen, wenn die Polizisten das Protokoll abgeschlossen hatten. Doch Carlos war zu keiner vernünftigen Aussage mehr fähig. So forderte der Streifenführer ihn auf, morgen auf das Revier zu kommen und zu bestätigen, daß es wirklich seine Maschine war, mit der der Dieb tödlich verunglückt war. Mit einem Taxi brachte Claude seinen Studienkameraden nach Hause und zog seine Ausgehkleidung an, die er gegen die Motorradkluft getauscht hatte. Carlos schien zwischen Weinen und Wutgeschrei festzustecken. Claude fragte sich, ob ein totes Ding wirklich so viel Emotionen wert war. Dann fiel ihm ein, wie heftig er sich aufgeregt hatte, weil England bei der Fußball-Weltmeisterschaft im Elfmeterschießen ausgeschieden war. Er hatte also kein Recht, seinen Studienkameraden zu belehren. Als er dann anbot, bei seinem Freund zu bleiben, falls der wegen der Sache nicht schlafen wollte, sagte dieser: "Kannst du mir die Kiste heil wiederbringen?" Er verneinte. "Dann schlaf dich aus. Wenn du mit Loli morgen losziehst brauchst du einen wachen Kopf." Claude verließ daraufhin das Haus. Er vermeinte noch zu hören, wie Carlos mit jemandem telefonierte, wobei er andalusischen Dialekt und so schnell sprach, daß der Engländer kein Wort heraushören konnte. Er fuhr mit einem Taxi zum Hotel und ging schlafen.

Als er am nächsten Morgen frisch und munter aufwachte, konnte er sich an keinen Traum erinnern. Er traf sich mit Loli, wobei er die Unterhaltung von gestern tunlichst ausließ.

Als sie an der alten Römerburg eintrafen, der bis auf die dicken Außenwände und die Gebäudefundamente alles fehlte, erzählte ihm seine Begleiterin, wer hier vor eintausendneunhundert Jahren geherrscht hatte und daß der hiesige Statthalter sich gerne mit jungen Ibererinnen eingelassen habe, von denen ihm fünf Kinder gebaren. Sie erzählte das mit einer Leidenschaft, daß Claude unvermittelt meinte, selbst in der damals noch intakten Burg zu wohnen, umschwirrt von orientalischen Sklaven und iberischen Konkubinen. Lolis Beschreibung blendete die Wirklichkeit so gekonnt aus, daß er selbst bald dachte, dieser Statthalter zu sein. In einem improvisierten Rollenspiel gingen beide aufeinander ein. Er offenbarte ihr, wie sehr er sie begehrte. Dabei sprach er Latein, was er schon als Eton-Schüler mit solchem Enthusiasmus gelernt hatte, daß ihm das Lernen von Spanisch und Französisch leichter gefallen war als seinen Mitschülern. Das Loli die Hochsprache des Imperium Romanum genauso fließend sprach wie er erstaunte ihn nicht. Als Geschichtlerin hatte sie die achso tot bezeichnete Sprache sicher sehr gründlich erlernen müssen. Das Rollenspiel unter freiem Himmel, der für die beiden gerade von einem massiven Burgdach verstellt war, trieb in immer erotischerere Dialoge. Claude fühlte, wie er diese Frau begehrte. Er vergaß, daß er eine auf ihn wartende Frau in England besaß. Er war gerade Tulius Justinianus Gratus, Statthalter von Hispalis. Und sie hieß Liliana Tiberia Hispalensia. Sie fühlten die immer stärkere Hitze nicht mehr, so intensiv waren beide in ihrem Spiel versunken. Als dann Claude danach begehrte, seine Umworbene entblößt zu sehen, ließ diese ihre Hüllen fallen und präsentierte sich ihm in ihrer reinsten Daseinsform. Die Lust trieb ihn, sich ebenfalls zu entkleiden und sie in einem immer stärkeren Verlangen langsam und dann immer schneller zu nehmen. Dabei glitt ihm der goldene Ehering vom Finger und kullerte unbeachtet den Berg hinunter und verschwand in einem Erdspalt. Gleichzeitig begrub Claude den letzten Rest von anerzogenem Anstand in Lolis Schoß, dachte an sie als arabische Konkubine und als Kurtisane eines römischen Statthalters und fühlte sich glücklich, sie zu besitzen und von ihr besessen zu werden. Erst als er den Gipfel der Wonne erreichte erkannte er, daß er gerade etwas tat, was ihm nicht erlaubt war. Doch es machte ihm nichts aus, zumal er sich gerade nicht aus der innigsten Vereinigung mit seiner unverhofften Liebesgöttin lösen konnte. Sie hielt ihn fest und sicher bei sich, gab ihn erst frei, als sie selbst ihren Höhepunkt erreichte. Keuchend rollten beide über die mit Gras bewachsene Fläche, die in der Mitte des einstigen Burgplatzes lag. Da erwachte Claude ganz aus diesem wilden Zustand. Es war wie ein Rausch gewesen, in den er sich hatte hineinfallen lassen. Sie kam zu ihm gekrochen und kuschelte sich an ihn.

"Du brauchst dich dafür nicht zu schämen, daß wir zwei uns jetzt richtig kennengelernt haben, Claude", säuselte sie ihm auf Spanisch ins Ohr. "Ich wußte schon lange, daß du mich nötig hattest. Und hier sind so viele junge und ältere Paare auf den Geschmack gekommen. Muß eine Art Venuszauber sein, der hier wirkt. Du mußt dich nicht dafür schämen." Claude fühlte, wie ihre Worte ihm das schlechte Gewissen aus dem Kopf trieben, während er fühlte, daß er immer noch diese Frau da begehrte, die gerade mit ihm verbotene Liebe erlebt hatte. Jeder Rest von Wohlerzogenheit war verflogen. Für ihn gab es im Moment nur sie und ihn. Er wußte, daß sie ihn nicht zu sich gelassen hätte, wenn sie das nicht gewollt hätte. Was hatte sie erzählt. An diesem Ort könnte ein Zauber der altrömischen Liebesgöttin wirken? Er hatte nie an echte Magie geglaubt. Für ihn waren Zauberei und überirdische Erscheinungen pure Phantasterei. Offenbar hatte diese Frau da neben ... nein, über ihm, eine unglaubliche Begabung, im Gesicht oder den Gesten von Männern abzulesen, was sie begehrten. Doch da fühlte er, wie er mit ihr wieder eins wurde und sich mit ihr in wohligen Wippbewegungen auf die nächste Reise zum Gipfel der Glückseligkeit befand. Doch als dieser erklommen war, fühlte er, wie seine Sinne schwanden. Offenbar war sein Körper für diese Art von Sport zu alt oder nicht ausreichend trainiert gewesen. Als er wieder zu sich kam lag er bekleidet auf Lolis Rücksitz, während sie mit ihm zurück in die Stadt fuhr. Ihm war so, als könne er seine Arme und Beine nicht mehr bewegen, und er läge in einem sich drehenden Karussell. Was hatte er als Student Lustig gelernt. Wenn du morgens nach einer feuchtfröhlichen Nacht Karussell fährst, erst ein Bein aus dem Bett strecken und den Fuß aufsetzen, um den Kreislauf wieder zu ordnen. Doch er konnte seine Beine nicht bewegen.

"Loli, wo sind wir gerade?"

"Ich bringe dich in dein Hotel. Ich dachte erst, du würdest mir zwischen den Beinen wegbleiben. Aber du hältst besser durch als du dir wohl eingestanden hast."

"Sollte das wirklich so laufen?" Fragte Claude Andrews.

"Du wolltest das so und ich auch", säuselte Loli. "Auf jeden Fall kannst du von hier eine wunderbare Erinnerung mitnehmen."

"Ähm, wir hatten nichts dabei gehabt, um ... Ich meine, hoffentlich wirst du jetzt nicht schwanger. Ich meine, ich weiß nicht, wie ich das meiner Frau erklären soll. Die denkt bestimmt, ich wäre ein Hurenbock."

"Wenn ich eine gewöhnliche Hure wäre hätte sie sogar recht damit", erwiderte Loli leicht erheitert. Claude dachte nicht daran, daß sie das ganz anders meinen könnte, als er es gerade verstanden hatte. Er fühlte nur, wie seine Kräfte erst langsam wiederkamen. Als sie dann bei seinem Hotel ankamen konnte er wieder aufstehen. Ein innerer Drang trieb ihn, sich so gut es ging zusammenzureißen. Dann gab ihm Loli noch einen innigen Kuß. Dabei fühlte er, wie seine Erschöpfung von ihm abfiel. Gleichzeitig wußte er, daß er nun alles tun und sagen würde, was dieses überragende Geschöpf da von ihm verlangte. So war es kein Problem für ihn, auf ihr Angebot einzugehen, ihr kleines Ferienhaus in Granada zu beziehen, daß sie von ihrem Onkel als Übergangswohnsitz geerbt hatte, um sie dort wiederzutreffen.

Als er in sein Zimmer kam, stellte er fest, daß sein Ehering verlorengegangen war. Er fragte sich, ob er noch in Lolis Auto oder bei der Burgruine vom Finger gerutscht war. Er wählte Lolis Telefonnummer und fragte sie, ob sie seinen Ring gefunden habe. Sie erwähnte dann, daß er ihm wohl bei ihrem Besuch in der Burgruine vom Finger gefallen und weggerollt war. Er erwähnte, daß seine Frau sicher Probleme machen würde, wenn er ohne den Ring zurückkam. Darauf machte ihm die Überragende einen Vorschlag: "Ich spendiere dir in Granada einen neuen. Ich kenne da einen Goldschmied, der mir sicher Rabatt gibt. Du mußt ihm nur sagen, wie der Ring genau aussah." Claude ging darauf ein. Dann rief er kurz seine Frau an und gab mit ruhiger Stimme einen Kurzbericht ab, wobei er jedoch die Begegnung mit Teresa Dolores Herrero verschwieg. Seine Frau wunderte sich, daß er so zufrieden und unbekümmert sprach. Außerdem hatte sie eine Verabredung im Bridgeclub und konnte daher nicht länger sprechen. Claude telefonierte mit Carlos und fragte ihn, ob er sich vom Verlust des Motorrades erholt habe.

"Mir reicht es aus, daß der Schweinehund, der es geklaut hat, damit nicht umgehen konnte und gegen einen Baum gesemmelt ist. Wenn die Versicherung nicht mitkriegt, daß da 'ne Wegfahrsperre dran war, kriege ich schon in zwei Wochen 'ne brandneue."

"Ich bin dann ab morgen in Granada, Carlos. Danke für die netten Tage hier."

"Da bedankst du dich besser bei Loli", erwiderte Carlos erheitert. Konnte der sich denken, daß sie ihn, den übermoralischen, den Anständigen, doch noch herumgekriegt hatte? Immerhin hatte er mit ihr ja auch was gehabt. Die Vorstellung, mit einer Frau geschlafen zu haben, die jedem gehören konnte, piesaackte ihn einige Sekunden. Dann kam ihm die Erkenntnis, daß nicht sie Carlos oder ihm sondern Carlos und er ihr gehörten. Dabei empfand er weder Argwohn noch Widerwillen, sondern ein Gefühl der Geborgenheit.

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Hoskins ortete den Cave-Inimicum-Zauber, der vor eindringenden Feinden warnen sollte und den Inhibitus-hostilium-Zauber, der feindliche Aktionen unterdrücken konnte. Allerdings waren diese Zauber auf den oder die geprägt, die in diesem Haus wohnten oder nach langer Verlassenheit wieder einzogen. Auch der Muggelabwehrzauber stand knapp hundert Meter um das Haus herum, der die Magielosen erstens nicht sehen ließ, daß da ein Haus stand und zweitens auf wichtigere Dinge brachte, die sie ganz dringend anderswo hintrieben. Hoskins prüfte auf menschliche Lebewesen und fand nur eines in einer Kugelzone von einhundert Metern um sich herum. Also war Donata Archstone alleine hier. Das war gut. Denn dann konnte er zusehen, wie er sie überwältigte. Gegen den Inhibitus-HostiliumZauber kannte er einen wirksamen Zauber, den nur die Jäger schwarzer magier und Heiler lernten, um beim Angriff auf ein damit geschütztes Gebiet ihre Handlungsfreiheit behalten zu können. So tippte er sich mit dem Zauberstab an den Kopf und dann an die Brust, wobei er "Präservo Libertatem meam!" Murmelte, wobei er an sich selbst im schnellen Lauf oder auf fliegendem Besen dachte. Dann trat er in das Wirkungsfeld der Schutzzauber. kein Hausfriedenszauber schlug an, da dieser nur solange wirkte, wie jemand auch in dem Haus mehr als einen Tag wohnte. Er drückte den grünen Klingelknopf. Allerdings wurde damit keine elektrische Klingel, sondern ein Meldezauber ausgelöst, der eine mehrstimmige Glockentonfolge erklingen ließ. Dann erschien Donata Archstone, die einen dunkelgrünen Gebrauchsumhang trug und winkte Hoskins ohne Worte herein. Erst in einem sehr geräumigen Salon, als die Türen und Fenster zu waren und Donata einen Klangkerker errichtet hatte, sagte sie etwas.

"Es ist sehr gut, daß Sie kommen konnten, Mr. Hoskins. Die Notwendigkeit, genau zu klären, was nun, wo Minister Wishbone tot ist und Minister Cartridge sicherstellen muß, nicht von Verrätern umgeben zu sein, unternommen wird duldet keinen Aufschub. Ich wurde beauftragt, mit Ihnen und anderen Mitarbeitern aus der Strafverfolgungsabteilung zu sprechen, die für den dahingeschiedenen Minister Wishbone im Außendienst tätig waren. Wir müssen wissen, ob die außeneinsätze im Nachhinein gerechtfertigt waren und ob es angebracht ist, die Sondertruppe zu erhalten oder restlos aufzulösen. Deshalb möchte ich gerne von Ihnen wissen, was Sie in der My-Truppe zu tun hatten."

"Nichts für ungut, Madam Archstone. Aber ich wurde zur Geheimhaltung verpflichtet und darf nur dem Zaubereiminister gegenüber berichten. Sie schrieben was über eine Kommission, die Sie einrichten wollen. Ich halte das für unnötig und obendrein unverschämt, Madam Archstone. sie können nicht meinen Kollegen Spikes verdächtigen, den Minister mit Imperius beeinflußt zu haben und dann hingehen und mit uns anderen aushandeln, ob wir für Sie genauso treu weiterarbeiten wie für Minister Wishbone."

"Das ist genau der Punkt. Was treibt jemanden wie Justin Spikes dazu, gegen die bestehenden Gesetze und gegen den Amtseid zu verstoßen und einen amtierenden Zaubereiminister anzugreifen. Denn er hat ihn angegriffen. Minister Cartridge hat es selbst ausgesagt, daß Justin Spikes den Zauberstab auf ihn richtete und die Wirkung des Imperius-Fluches genau wiedergegeben. Also ist es schon wichtig, zu wissen, wer wo steht, Mr. Hoskins."

"Dann müßten Sie als erste vor diese Kommission und klarstellen, ob Sie tatsächlich nicht mit der Mörderin Wishbones oder mit anderen unerlaubten Gruppen zusammenarbeiten. Wenn Sie sicherstellen wollen, daß niemand illoyal gegenüber dem Zaubereiministerium handelt, dann müssen Sie und alle anderen Hexen zunächst eindeutig beweisen, daß Sie zu keiner Zeit gegen das Ministerium gearbeitet haben. Solange sie das nicht getan haben erkenne ich Sie nicht als mir gegenüber weisungsberechtigte Beamtin an", widersetzte sich Hoskins. Donata Archstone sah ihren Gast sehr verstimmt an und erwiderte:

"Wenn ich jemals für eine dem Ministerium schadende Institution gearbeitet hätte oder dies immer noch täte, so würde ich mir bestimmt nicht die Mühe machen, mit auf ihre Privilegien pochenden Außendienstmitarbeitern zu verhandeln, sondern hätte den Minister schon längst mit eben dem Imperius-Fluch unterworfen, den Ihr ehemaliger Vorgesetzter anzuwenden gewagt hat. Oder glauben Sie, die, die als angebliche Mörderin von Ex-Minister Wishbone verdächtigt wird, gäbe sich damit ab, eine Auffarbeitung seiner Regierungszeit abzuwarten, wenn sie bereits genug Möglichkeiten hätte, den neuen Minister in ihrem Sinne zu beeinflussen oder bei Bedarf auszuschalten?"

"Was heißt hier, angebliche Mörderin", biß Hoskins an einer Äußerung Donatas an, die diese ganz bewußt ausgeworfen hatte. "Der Minister ist von dieser Sardonianerin und ihren Nachläuferinnen getötet worden. Wir haben seine Leiche gesehen und bestattet."

"Haben Sie eben nicht, Mister!" Stieß Donata aus. Sie wußte, daß Hoskins sich deshalb gleich in die Enge gedrängt fühlen würde. Doch um sich noch da herauszumogeln war es zu spät. So mußte sie ihn genau da packen, wo er meinte, am stärksten zu sein, bei seiner Verbundenheit mit Wishbone. "Die Leiche wurde vor der Beisetzung untersucht und dabei wurde festgestellt, daß sie sich schneller zersetzt als sonst ein Toter. Das läßt laut forensischer Heilerexpertise nur den Schluß zu, daß die Leiche entweder als solche gefälscht wurde oder sie tatsächlich das Produkt einer Tötungshandlung ist, die jedoch an einem durch magische Hilfsmittel erzeugten Doppelgänger ausgeführt wurde. Na, was sagen Sie dazu?"

"Wenn dem so wäre, wüßte ich das", erwiderte Hoskins ruhig und grinste. "Immerhin kenne ich die forensischen Heiler."

"Ach, Sie meinen, man hätte Sie früh genug informiert, daß der Mord kein Mord, sondern ein großes Betrugsmanöver an der Öffentlichkeit ist", sagte Donata darauf sehr kühl. Hoskins grinste. Diese Hexe war doch seltendämlich, ihm mit derartigen Vorwürfen zu kommen, wo sie sich ihm förmlich ausgeliefert hatte. Mal sehen, was sie noch ausplauderte, dachte der My-Truppler. "Genau deshalb brauchen wir diese Kommission, damit klar ist, was wirklich passiert ist und wer dahintersteckt. nicht, daß ich die, die Sie als Sardonianerin bezeichnen entlasten möchte, sondern ich der Meinung bin, daß diese einen Köder geschluckt hat, der Wishbone zwei Vorteile verschaffte. Zum einen konnte er die Hexe dazu verleiten, aus ihrer Deckung zu kommen und ihn anzugreifen. Zum anderen bekam er dadurch die optimale Bestätigung für seinen Weg. Er mußte jedoch untertauchen, um auf den rechten Zeitpunkt zu warten, ins Ministerium zurückzukehren. Allerdings kann er nicht sicher sein, daß er dort noch willkommen ist, was er sich alles geleistet hat. So muß er zumindest einen Getreuen dort haben, der ihm Informationen zukommen läßt oder ihn warnt, daß er dort nicht mehr Fuß fassen kann. Diese Getreuen finden wir. Ob Sie einer davon sind wird sich bald erweisen."

"Sie sind doch sowas von seltendämlich", brachte Hoskins nun den Gedanken heraus, den er eben noch still gedacht hatte. "Sie werfen mir hier und ohne weitere Zeugen oder Hilfen vor, ich würde an einem Betrug mitwirken. Damit gewinnen Sie bestimmt nicht meine Kooperation."

"Ich denke doch, weil wir wissen, wer da statt des Ministers hat sterben müssen. Ihre Truppe hat den ganz entscheidenden Fehler begangen, die Shorewood-Geschwister bei Ms. Knowles anzugreifen. Diese haben sich nichts zu Schulden kommen lassen außer der Tatsache, daß sie nach ihrem Bruder suchen, der seit Wochen verschwunden ist. Sie nennen mich seltendämlich? Nun, Sie und Ihre Truppe haben sich ja dann erst recht sehr dumm angestellt, jemanden festnehmen zu wollen, nur weil der nach seinem Verwandten sucht, dabei noch in einen Hinterhalt der Gegnerin zu geraten und sich mal eben kampfunfähig zaubern lassen. Über Ihre Anfängertruppe lacht mittlerweile nicht nur diese Sardonianerin, sondern die ganze amerikanische Zaubererwelt. Und Sie wollen Wishbones beste Leute sein."

"Ich lasse mich nicht von Ihnen beleidigen, Madam Archstone. Sie werfen mit Behauptungen um sich und gucken, ob und wie die bei mir wirken. Aber dabei vergessen sie ganz bewußt, daß ohne uns von der My-Truppe das reine Chaos ausgebrochen wäre. Und Cartridge ist ein am Gängelband seiner Frau hängender Schwächling. Spikes und wir müssen weitermachen. Sie sind diejenige, die vor eine Kommission oder besser gleich vor Gericht gehört. Und ich werde Sie dort abliefern und dabei klären, daß Spikes von Ihnen unter den Imperius-Fluch gesetzt wurde, um Cartridge anzugreifen. Das würde dem Gamot auch verdeutlichen, wieso dieser Fluch zu schwach war. Aber recht haben Sie schon. Wir müssen weitermachen."

"Das ist sehr mutig, mir das an den Kopf zu werfen", stellte Donata mit einer Hoskins unbegreiflichen Abgebrühtheit fest. "Denken Sie wirklich, ich wäre so naiv, mich mit Ihnen hier alleine zu unterhalten und derartige Vorhaltungen zu machen, wo ich davon ausgehen muß, daß Sie und Ihre Kollegen immer noch Wishbones Getreue sind und hoffen, daß sie seine Politik fortführen können, bis er aus dem Zauberschlaf geweckt werden kann, in den er sich versetzt hat?"

"Zauberschlaf?" Fragte Hoskins. "Sie reden Unsinn."

"Stimmt, ich muß Ihnen da wohl noch mehr erzählen", sagte Donata. "Da ich merke, wie verbunden Sie Wishbone sind, muß ich davon ausgehen, daß Sie wissen, daß er tief und fest schläft. Spikes hat es unter Veritaserum verraten, daß Wishbone sich in Zauberschlaf versenken ließ, bevor sein Doppelgänger Shorewood zur allgemeinen Erschütterung den Tod fand. Er erwähnte jedoch, daß der Ort nicht ihm alleine und im ganzen bekannt sei, gerade um bei einem Verhör nicht alles auszuplaudern."

"Und Sie meinen, ich hätte das mitbekommen. Minister Wishbone ist tot, Madam Archstone."

"Nein, ist er nicht. Spikes verriet nämlich, daß er den Auftrag hatte, sicherzustellen, daß die My-Truppe weitergeführt und mit Sonderrechten ausgestattet würde. Was hätte die Sardonianerin davon, diese Truppe am Leben zu halten?"

"Chaos zu stiften. Und Ihre Verwirrungstaktik hat mich jetzt lange genug genervt. Ich erkläre Sie für Verhaftet", stieß Hoskins aus und hielt seinen Zauberstab in der Hand. Donata wirkte zunächst erschrocken. Doch dann zog auch sie ihren Zauberstab. Hoskins versuchte, den Schockzauber anzubringen. Doch Donata hatte einen unsichtbaren Schild aufgebaut, ehe der Schocker traf. Hoskins mußte einem Gegenstoß der Hexe ausweichen, der laut krachend an der Wand zerstob. Er konterte mit einem Mondlichthammer. Damit zertrümmerte er den unsichtbaren Schild. Donata wankte. "Petrificus totalus!" Rief er laut. Donata versuchte noch, ihm den Zauberstab entgegenzustrecken, da schlugen ihre Arme fest gegen ihren Körper, die Beine schnappten zusammen wie eine Zange, und ihr Mund schloß sich fest. Sie kippte um. Hoskins überlegte. Er mußte es hinbekommen, daß man diese Hexe für die Drahtzieherin hinter Spikes' Angriff hielt. Das ging nur per Gedächtniszauber. Also setzte er dazu an, einen zu wirken, als ihm ein von unsichtbarer Macht geschleuderter Kerzenleuchter mit brutaler Gewalt den Zauberstab aus der rechten Hand riß und im freien Flug zerbrach. Goldene und rote Funken stoben aus dem in der Mitte zerbrochenen Stab heraus. Hoskins erschrak. Wie konnte das angehen.

"Das reicht mir aus, um zu wissen, daß wir die ganze Zeit recht hatten", sprach eine warme Altstimme von der Tür her. Hoskins wandte sich um. Gerade enttarnte sich eine Hexe mit strohblondem Haar und hellem Gesicht, das von mehreren Dutzend Sommersprossen verziert wurde. Er kannte diese Hexe in ihrem rosaroten Umhang und wußte nun, daß er die ganze Zeit recht gehabt hatte.

"Ich hätte nicht alleine kommen dürfen", dachte Hoskins verärgert. Doch was hätte er sonst tun sollen? Aber wie war die Hexe so schnell zur Stelle. Im Umkreis von hundert Metern hatte er keinen Menschen außer Donata aufgespürt. War sie direkt appariert?

"Ich war per Mentiloquismus mit Donata verbunden", erwiderte die Feindin. Hoskins erkannte, daß sie seine Gedanken aufschnappte. Er mußte okklumentieren. Doch außerdem mußte er dieses Geschöpf da überwältigen. Er sprang vor, um sie mit bloßen Fäusten niederzuschlagen und verlor dabei den Boden unter den Füßen.

"Ich werde mir mit dir genug Zeit lassen, um zu erfahren, was du über die Verschwörung Wishbones gegen sein Ministerium weißt. Und zur bleibenden Kenntnis, du Wurm: Hätte ich nach Wishbones Tod getrachtet, so hätte niemand davon erfahren, nachdem dieser Feigling es vorzog, unauffindbar zu bleiben. Er wäre dann eben weiterhin unauffindbar geblieben, ohne das jemand mich oder sonst jemanden verdächtigt hätte. Das war euer dümmster Fehler, mich derartig herauszufordern. Und jetzt will ich wissen, wo dein schlafender Herr und Meister ist."

"Ich sage nichts und denke nichts", erwiderte Hoskins. Er war selbst der blutige Anfänger gewesen, der in eine simple Falle getappt war. Die Hexe da hatte Donata überwacht und darauf gehofft, daß Hoskins irgendwas sagen oder tun würde, um ihr Gelegenheit zu geben, ihn anzugreifen. Die Gelegenheit hatte er ihr geboten. Sie hielt ihn mit ausgestrecktem Zauberstab in der Luft. Er erinnerte sich, daß diese Hexe telekinetische Kräfte besaß und damit auch ohne Zauberstab Dinge aus der Ferne bewegen konnte. Er mußte seine Leute warnen, sie anmentiloquieren. Doch dazu mußte er seinen Geist öffnen. Ehe er sich entscheiden konnte, wie hoch das Risiko war, traf ihn ein Schockzauber am Brustkorb. Sie hatte ihn erwischt.

Als er wieder aufwachte lag er gefesselt auf einem Tisch. In seinem Kopf hämmerte und bohrrte es wie nach einer durchzechten Nacht. Die Sardonianerin stand an diesem Tisch und sah ihn an. "Du hast die Ehre, auf meinem Geburtstisch zu liegen, Wilson Hoskins. An diesem Ort erwarb ich vor drei Jahren diesen Körper und damit mein neues Leben. Ich habe mir die Freiheit genommen, bereits die Dinge aus deinem Gedächtnis zu holen, die nicht durch reine Gefühle getragen sind. Es war sehr aufschlußreich, wie die My-Truppe entstand. Du empfindest Kopfschmerzen. Die rühren daher, daß ich einige Gedächtnisschutzzauber durchbrechen mußte, deren Auflösung dich im Wachzustand sicher getötet hätten. Die Zauber sind nun fort, und nun werde ich mir die Kenntnisse verschaffen, die mit deinen Gefühlen zusammenhängen. Legilimens." Hoskins versuchte, seine Augen zu schließen. Da stellte er fest, daß irgendwas seine Lieder offenhielt. Das war keine Telekinese, sondern etwas stoffliches. Diese Hexe hatte etwas unsichtbares auf seine Augen gedrückt, um sie offenzuhalten. Er sah in die Augen der Gegnerin und durchraste einen Strudel aus Bildern. Er stemmte sich gegen die Flut der in ihm aufgewirbelten Erinnerungen, versuchte, seinen Geist freizumachen. Doch die Feindin war zu schnell und zu stark. Er fühlte, wie eine Erinnerungsverbindung eine weitere aufrief, konnte sich bald schon nicht mehr dagegen wehren. Er fühlte nur noch, wie er durch einen Raum von Bildern und Geräuschen, Worten und Gedanken getrieben wurde. Er dachte an Wishbone, der sich von ihm verabschiedet hatte. Doch über dessen Aufenthaltsort wußte er nichts. Das mochte dann nur Spikes wissen, der gerade im Gefängnis saß. Irgendwann brach die Feindin das legilimentische Verhör ab und sah ihn an.

"Du hast dich gut gewehrt. War nicht einfach, dir die letzten Kenntnisse zu entreißen. Spikes ist der einzige, der mehr über die Verschwörung weiß. Aber das Wissen von dir und dein Körper werden mir helfen, Spikes' Geheimnis zu enthüllen", sagte sie. Dann schockte sie Hoskins, um ihm gleich danach mehrere Haarbüschel auszureißen.

"Schwester Thelma kann ihn vertreten", bestimmte sie, als Donata sie fragte, wie sie vorgehen würden. Die Strafverfolgungshexe nickte bestätigend.

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Jean Lepont leitete ein sehr beliebtes Reisebusunternehmen in Genf, das von einfachen Fahrten von Sportvereinen und Betriebsausflüglern bis zu mehrwöchigen Auslandsreisen in rollenden Hotels alles anbot, wofür man mindestens zwanzig Sitzplätze benötigte. Für ihn fuhren zwölf Eindecker und zehn Doppeldecker. Er achtete darauf, daß bei Fahrten, die über mehr als einen Tag gingen, mindestens zwei ausgebildete Fahrer an Bord waren, die sich in den vorgeschriebenen Zeiten am Steuer ablösen konnten. Je nach Brieftasche der Kunden konnte er vom einfachen Touristenlaster bis zur luxuriösen Landkreuzfahrtskutsche alles anbieten. Da sein Name "Brücke" bedeutete, machte er damit in den französischsprachigen Ländern sehr einprägsame Werbung. "Die Brücke zur Welt". "Über die Brücke zu neuen Erlebnissen", waren nur zwei erfolgreiche Werbesprüche. So dachte er nichts böses, als er am vierundzwanzigsten August morgens einen Besucher empfing, der einen teuer wirkenden Geschäftsmannsanzug aus dunklem Samt trug. Vom Aussehen her mochte der mögliche Kunde aus einem der Balkanländer stammen. Lepont war schon seit Jahren dabei, die neuen Reiseziele im ehemaligen Jugoslawien zu erschließen und auch die ukrainische Schwarzmeerküste für seine Reisekunden zu erobern. So hoffte er auf einen potenten Kunden aus den ehemaligen Ostblockländern. Er wunderte sich nicht, daß der Mann slawisch gefärbtes Deutsch sprach.

"Herrr, Leppont. Mein Name ist Igor Carlov. Sie mir wurrrden empfollen für viele Rrreisendenn durch ganze Laand Frrrankreich. Ist waahrrr?"

"Da sind Sie bei mir richtig", erwiderte Lepont in astreinem Hochdeutsch. "Ich habe ein umfangreiches Angebot für Auslandsreisen. Aber setzen sie sich doch bitte!" Er deutete auf den bequemen Besucherstuhl ihm gegenüber. Carlov nahm Platz und erzählte in seiner fast radebrechenden Art, daß er aus Sofia stamme und gerne den bulgarischen Touristen Reisen in die vor acht Jahren noch unerreichbar scheinenden Kulturhauptstädte Westeuropas ermöglichen wolle. Da er jedoch den Bussen seiner Heimat mißtraute, was deren Haltbarkeit und Zuverlässigkeit anging, habe er sich entschlossen, sein Geld in eine Partnerschaft mit westeuropäischen Unternehmern zu stecken. Da er zunächst nur das Festland als neue Reiseziele erschließen wolle, habe er sich nach einem Reisebusunternehmen erkundigt, daß mehrere Länder befuhr, sogar Länder in Süd- und südostasien. Lepont nickte und bot Carlov etwas zu trinken an. Der Besucher wirkte einen Moment so, als müsse er ein starkes Drängen unterdrücken und lehnte dann höflich ab. so sprachen sie über das Busunternehmen und Carlovs Reisebüro, das auch Verbindungen mit Polen, Russland und der Ukraine unterhalte. Diese Ländernamen klangen für Lepont wie Zauberworte, die seine Ohren und seine Aufmerksamkeit schlagartig vergrößerten und die Sympathien für den Fremden auf das dreifache anhoben. Falls Carlov mit ihm ins Geschäft kam, konnte er in einem Quid-pro-Quo-Handel dessen Geschäftsverbindungen nutzen, um die neuen Reiseziele in sein Angebot aufnehmen zu können. Lepont gab bereitwillig Auskunft über seine Busflotte, legte die bisherigen Preise vor und bot Rabatte an, falls Carlov ihm im Gegenzug die für westliche Touristen interessant gewordenen Städte und Regionen erschließen könne. Lepont dachte bereits an eine weitere Bestellung von Reisebussen aus Deutschland, mit denen er das neue Angebot einlösen konnte. Carlov war jedoch wohl erst an einer Verbindung nach Westeuropa interessiert und ging zu Leponts Erstaunen auf dessen Ausgangsangebote ein, versuchte nicht einmal, eine Pauschale für mehrere Reisegruppen auf einmal zu erwirken. Lepont beobachtete den Besucher während der Unterhaltung. Er saß auf dem Stuhl und bewegte sich sehr wenig und schien über eine sehr große Selbstbeherrschung zu verfügen. Keine seiner Handbewegungen war unwillkürlich. Er hielt ständigen Blickkontakt mit Lepont, ohne ihn anzustarren und sprach sehr ruhig. Jean Lepont wollte diesen dicken Fisch nicht mehr vom Haken lassen. Ihm war danach, mit diesem Mann einen Vertrag zu machen, der jedoch auch die Möglichkeit, nach Russland oder die ukraine fahren zu können beinhaltete. Carlov hatte Belegverträge mit Hotels in Moskau, St. Petersburg, Kiew, und auf der Krim. Lepont hatte bisher immer wieder nur seine rollenden Hotels losschicken können. Doch es gab noch zu viele Touristen, die den Komfort eines nach oben offenen Bettes auf festem Boden mit dem Vorzug größerer Privatsphäre durch abschließbare Zimmertüren einer abenteuerlichen Übernachtung in einer Buskoje, die abschätzig als Sarg bezeichnet wurde jederzeit vorzogen. Carlov merkte das sicher, wie sein Gegenüber darauf brannte, neue Reiseziele zu erschließen und kam kurz vor einem aussichtsreichen Abschluß darauf, daß er die hälfte seiner Bettenbelegung in Hotels in Moskau und St. Petersburg für seine Fahrgäste freihalten würde, falls eine Fahrt nach Paris und Avignon der erwähnten Leistung entspreche. Lepont verstand, daß der Bulgare eine kostenlose Reise haben wollte. Als dieser dann auch betonte, daß er zunächst zwanzig gute Mitarbeiter auf diese Erkundungsreise schicken wollte, mußte Lepont überlegen, ob er auf diese Bedingung eingehen konnte. Doch die Verlockung, dafür demnächst Reisen in die alte Zarenstadt St. Petersburg und nach Moskau anbieten zu können, war übermächtig. Er stimmte zu. Zu seiner großen Überraschunghatte Carlov die erwähnten Mitarbeiter schon auf den Weg geschickt. Sie würden am Abend in Genf eintreffen. Lepont bot an, einen gerade freien Komfortbus mit Klimaanlage, Bordbar und Bordtoilette bereitmachen zu lassen, damit die neuen Geschäftspartner gleich am nächsten Tag aufbrechen könnten. Allerdings brauchte Lepont eine Namensliste, um die Fahrer anzuweisen, nur diese Leute an Bord zu lassen, um keine Trittbrettfahrer und blinden Passagiere mitzuschleppen. Die Namensliste war kein Problem. Carlov zauberte sie aus seiner dunkelbraunen Aktentasche, in der er noch andere Dokumente mitführte. Lepont notierte sich die Namen und erwähnte, daß er die an die Tragbaren Computer seiner Fahrer weiterschicken würde. Dann wählte er auf seinem Bürorechner ein Vertragsformular aus, das sowohl auf Deutsch, englisch und Französisch die Bedingungen für die nun sicher anstehende Partnerschaft enthielt. Carlov las die Paragraphen, die auch enthielten, daß er im Gegenzug bestehende Beziehungen zu Hotels und anderen gastronomischen Betrieben in Osteuropa zur Verfügung stellen mochte. Sie feilten noch an den genauen Bedingungen herum und setzten die zu erfüllende Gültigkeitsbedingung ein, daß Carlovs Mitarbeiter mit der Reise zufrieden waren. War dies nicht der Fall, sollte Carlov die Hälfte des üblichen Reisepreises nachzahlen und die Beziehung vergessen. Das würde den Bulgaren schon dazu bringen, seinen Mitarbeitern die richtigen Anweisungen zu geben, dachte Lepont. Doch dann dachte er daran, daß dieser auf diese Weise kostenlose Ausflüge von einem Busunternehmer zum anderen Fluglinienbetreiber aushandeln konnte. Denn Osteuropa war trotz oder gerade wegen der langjährigen Isoliertheit vom Westen ein aufstrebender Markt. Er dachte an Bewohner der ehemaligen DDR, die in Scharen nach Frankreich oder Spanien verreisten. Westeuropäer nutzten die im Verhältnis spottbilligen Angebote in Bulgarien, Ex-Jugoslawien und der nun gesamtdeutschen Ostseeküste aus. Das hier war eine Situation, die beiden Seiten nur Gewinne eintragen würde, fand Lepont. Carlov nickte mehrmals, verzog mal das Gesicht und nickte dann wieder. Nach knapp einer Stunde setzte er seine Unterschrift unter den deutschen Teil des mehrsprachigen Vertrages. Lepont unterschrieb den deutschen und französischen Abschnitt. Dann meinte Carlov:

"Habe laaange gerredde. Jetzt habe viel Durrst." Lepont nickte und wollte schon seinen kleinen Kühlschrank öffnen, um dem neuen Partner etwas anzubieten, als er dessen Gier in den Augen sah. Lepont dachte, daß der Besucher wohl schon lange auf etwas trinkbares verzichtet hatte. Hier, im klimatisierten Chefbüro, war es nur zwanzig Grad warm. Draußen war es gerade acht Grad wärmer. Dann sah er, wie der Besucher seine Anzugjacke abstreifte und darunter kein Hemd, und auch kein Unterhemd trug. Lepont erschrak fast über diese Selbstentblößung. Hinzukam, daß die nackte Haut des Besuchers in einem merkwürdigen Blauton schimmerte und sehr alt und zerfurcht aussah, ganz im Gegensatz zu seinem hellhäutigen, glattrasiertem Gesicht. "Muß ja nix auf Aanzug komen", lachte Carlov und entblößte dabei zwei dolchartige weiße Fangzähne. Lepont grinste. Das sollte wohl ein sehr übler Scherz sein. Dann fiel ihm auf, daß der Besucher einen entscheidenden Denkfehler begangen hatte. Die breiten Fenster des Büros wiesen nach Osten und Süden. So wurden sie beide in hellem Sonnenlicht gebadet. Insofern war der Gag mit den Vampirzähnen völlig wertlos, wo jeder wußte, daß diese Sagengestalten doch keine Sonne vertragen konnten. Lepont setzte schon an, dem Besucher zu diesem merkwürdigen Abschluß der Verhandlungen zu befragen, als dieser aus dem Sitzen heraus über den Schreibtisch flog und mit der gnadenlosen Geschwindigkeit einer Gottesanbeterin seine Arme um Leponts Oberkörper zuschnappen ließ. Der Busunternehmer kam schon nicht mehr dazu, um Hilfe zu rufen, als der gerade noch so vielversprechende Besucher mit ihm vom Schreibtischstuhl fiel und ihm mit brutaler Entschlossenheit die rasiermesserscharfen Eckzähne in den Hals schlug. Als er dem Busunternehmer fast einen Liter Blut ausgesaugt hatte, rizte sich der unheimliche Besucher mit seinen Zähnen eine Ader am Oberarm auf und ließ sein bleiches Blut in den Mund seines Opfers rieseln, bis dieses am Rande der Ohnmacht nur noch schlucken konnte. Mit einem intensiven Blick zwang Carlov Lepont, mehr von seinem Blut zu trinken, bis Lepont vom eigenen Blutverlust geschwächt die Besinnung verlor. Carlov trank noch etwas von Leponts Blut, bevor sich der die Sonne nicht fürchtende Vampir zurückzog. Die Einstiche am Hals des Busunternehmers bluteten noch einige Sekunden nach. Dann verfiel der Körper des Unternehmers in eine totenähnliche Starre. Doch er war nicht tot. in ihm lief nur ein dunkler Prozeß ab, an dessen Ende er, Jean Lepont, ein neues Leben und einen neuen Verwendungszweck erhalten sollte. Der Umstand, daß er hochverstrahltes Vampirblut hatte zu sich nehmen müssen, bewirkte zudem, daß er ebensowenig die Sonnenstrahlen fürchten mußte wie der, der ihn zu seinem Diener und neuem, wichtigen Gehilfen seines Herrn und Schöpfers gemacht hatte.

Der Unheimliche, der früher ein Atomwissenschaftler der Ukraine war, bis Volakin ihm die Ehre angedeihen ließ, nahezu unsterblich zu sein und keine Angst mehr vor dem Strahlentod haben zu müssen, verriegelte die Tür des Büros. Es mochte einige Zeit dauern, bis die erhabene Verwandlung vollendet war. Die Kinder des blauen Blutfürsten hatten die Erfahrung gemacht, daß im Sonnenlicht gezeugte Nachkommen schneller durch die teilweise schmerzvolle Umwandlung kamen als die in der Nacht erschaffenen Vampire. Carlov nutzte die Wartezeit aus, um mit einer automatengleichen Gefühllosigkeit alle Spuren seiner Rekrutierung zu verwischen. Volakin hatte von früheren Zauberern und Hexen Rezepte für Blutbindende Putzmittel erhalten. Der Vampir zog eine zwei Liter fassende Flasche mit kristallklarer Flüssigkeit aus seiner Aktentasche, entkorkte sie und tränkte einen Lappen damit. So schaffte er es, die Blutspuren von Tisch, Stuhl und Boden zu entfernen. Nur der Anzug des Unternehmers war damit nicht zu reinigen. Das konnte Volakins Werber jedoch egal sein, weil Lepont sicher mit möglichen Unfällen gerechnet hatte.

Das Telefon läutete. Carlov wußte, daß es verdächtig sein würde, wenn Lepont nicht an den Apparat ging. Er wußte jedoch auch, daß er das Gespräch nicht annehmen durfte, weil das einen ebensogroßen Verdacht erweckt hätte. So ließ er das Telefon klingeln.

Es klopfte an die Tür. Eine Frauenstimme fragte, ob noch alles in Ordnung sei, weil Monsieur Lepont nicht abgenommen habe. Carlov tat so, als spräche er noch mit Lepont und sprach auf Deutsch so, wie vorhin, als er seine Verbindungen erwähnt hatte. Die Sekretärin konnte Deutsch und hörte, daß der Besucher gerade über Bedingungen für einen Vertrag sprach. Sie wartete darauf, daß ihr Chef antwortete. Doch offenbar hatte der Besucher ihm viel anzubieten, so daß sie befand, sich wieder in ihr Arbeitszimmer zurückziehen und noch ausstehende Geschäftsbriefe fertigschreiben sollte.

Im Licht der Sonne veränderte sich Leponts Gesicht. Es wurde erst ganz bleich, um dann einen leichten Blaustich zu bekommen. Unter gequälten Lauten wand er sich, als ihm die beiden Vampirzähne aus dem Oberkiefer wuchsen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er aus der Verwandlungstrance erwachte, erkannte Carlov. Dann war es soweit. Lepont erkannte mit großem Schrecken, was ihm passiert war. Doch Carlov, dessen Blut in Leponts Adern wirkte, schaffte es durch simplen Blickkontakt und einer direkten Gedankenverbindung, ihn zu beruhigen und im Namen Volakins auf seine neue Aufgabe vorzubereiten, kostenlose Busreisen für Volakins Getreue anzubieten, wann immer diese das wollten. Carlov war am Ziel. Sein Herr würde ihn belohnen. Denn mit reisenden Tagvampiren, die in gewöhnlichen, aber schnellen Bussen fuhren, konnte wirklich niemand rechnen. Damit konnte er die Saat des blauen Blutfürsten rascher und weiträumiger verbreiten. Bevor die Nachtkinder und die Menschen es bemerkten, würden sie eine große Streitmacht bilden. Das einzige Problem war, daß zur Zeugung dieser besonderen Vampirkinder radioaktive Substanzen gebraucht wurden, um das Blut der Erzeuger gut genug anzureichern. Die Verbindung zwischen Magie und Kernspaltung tat dann ihr übriges.

Annette Rieslinger, Leponts Sekretärin, fragte, als ihr Chef sie nach drei Stunden wegen der noch abzuzeichnenden Briefe über die Sprechanlage anrief, ob der osteuropäische Herr ein zäher Verhandlungspartner war. Lepont, der gerade nur in seinem Hemd und einer Jogginghose hinter seinem Schreibtisch saß, sagte nur, daß er einen großen Streich gelandet hatte und er demnächst wohl allen Kirchen dieses Landes was spenden würde, weil wohl Gott selbst ihm diesen Kunden aus Bulgarien geschickt hatte. Annette Rieslinger fragte ihren Chef, was mit seinem Anzug passiert war. "Habe mich mit Tomatensaft aus der Minibar bekleckert, als ich Herrn Carlov eine Bloody Mary mixen wollte. Ich bringe den gleich selbst zur Reinigung." Er lächelte leicht. Die Sekretärin lächelte auch. Da erkannte sie die weißen Spitzen zwischen den leicht geöffneten Lippen ihres Chefs. Fast wäre sie darüber erschrocken. Doch dann dachte sie, daß sie Leponts Gebiß nie so richtig gesehen hatte und es wohl Stiftzähne sein mußten. Ihr Chef konte ja schlecht von eben auf jetzt zum Vampir geworden sein, nicht am hellichten Tag. So sagte sie nur, daß sie ihm die Briefe zur Unterschrift vorlegen könne und die Firma Weißenfeld & Co. für einen in drei Wochen angesetzten Betriebsausflug an die Cóte d'azur angefragt habe. Lepont nickte und sagte, daß er die Herren in Zürich zurückrufen würde, da er deren Durchwahl habe. Das reichte der Sekretärin aus, um zunächst alles in Ordnung zu finden. Lepont atmete auf, als seine gerade Mitte zwanzig alte Schreibkraft sein Büro verlassen hatte. Gut, daß er bei der Einrichtung des Büros auf einen separaten Hinterausgang bestanden hatte, durch den exklusive Geschäftspartner von Annette Rieslinger unbemerkt zu ihm kommen und wieder gehen konnten. Die merkwürdige Schminke, die er sich wie Sonnencreme ins Gesicht geschmiert hatte, hielt offenbar auch was sie versprach. Er hatte gelernt, daß echte Vampire nicht nur durch besondere Umstände die Sonne aushalten konnten, sondern auch, daß jeder echte Vampir trotz aller Legenden ein eigenes Spiegelbild und einen Schatten behielt. Im Gesicht und an den Händen sah er nun wie früher aus. Erst die Dunkelheit, so hatte sein Vampirvater ihm eingeschärft, würde die Andersartigkeit hervortreten lassen. Dann würde er bläulich leuchten. Er wußte auch, woher das kam. Carlov hatte es ihm auf telepathischem Wege erklärt. Das hieß für ihn, daß er demnächst wohl neues Personal suchen mußte. Denn Annette könnte auf kurz oder lang an der nun von ihm ausgehenden Strahlung sterben. Seine Fahrer, die morgen seine neuen Brüder und Schwestern nach Paris und Avignon fahren würden, setzten sich wesentlich höheren Dosen der Strahlung aus. Wenn niemand im Bus auf die Idee kam, sie auch zu Kindern des großen Volakin zu machen, würde er demnächst neue Fahrer suchen müssen. Carlov und ihm war auch klar, daß das Unternehmen so schnell und so gründlich es ging durchgeführt werden mußte. Denn er hatte auch gehört, daß es nicht nur echte Vampire und Werwölfe gab, sondern auch wirkliche Hexen und Zauberer, die sich in einer geheimen Parallelgesellschaft organisiert hatten und übermütige Kreaturen der Magie jagten und töteten. Volakin wollte diesem Mißverhältnis Einhalt gebieten. Und er, Jean Lepont, durfte ihm dabei entscheidend helfen.

Am Nächsten Morgen standen er und Carlov an der verabredeten Haltestelle und sahen zu, wie zwanzig Männer und Frauen in bequemer Reisekleidung den zweistöckigen Bus enterten. Der Fahrer, der zunächst pausieren durfte, prüfte die Namen anhand der Liste. Dann falteten sich zischend die Türen des Reisebusses zu. Der starke Dieselmotor sprang röhrend an. Dann tuckerte der Doppeldecker aus der Parkbucht. Lepont sah auf seine Uhr. Jetzt war es genau halb fünf am Morgen des sechsundzwanzigsten August. Er wandte sich an Carlov.

"Sehr pünktlich unsere Brüder und Schwestern, Igor. Aber wenn die beiden Fahrer nicht auch zu uns übergewechselt werden sollen überleben die diese Reise nicht lange."

"Sie werden zu unseren Brüdern, Jean", sagte Carlov. "Wir brrauchen sie ja noch."

Die roten Heckleuchten des Doppeldeckers wischten gerade um die Ecke. Sie wirkten wie ferne Signalleuchten, die eine unmißverständliche Warnung vermeldeten. Volakins Truppe war unterwegs und würde schon bald die Länder westlich des verhaßten Stromes erobern, noch bevor die ebenso verhaßten Zauberer davon erfuhren.

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Er hatte es geschafft, südlich der Rheinquellen die Alpen nach Frankreich zu überqueren. Doch sein Auftrag lautete, bis nach Spanien vorzustoßen. Sein Herr und Vater Wladimir Volakin wollte nicht darauf warten, bis das Unternehmen "Urlaubsreise" erfolgreich angelaufen war. Sein Meister wollte wissen, ob er es wagen konnte, auch in Spanien seine Artgenossen anzusiedeln. Borzov hatte versagt, wußte er. Dieser Stümper war irgendwem in die Falle gegangen. Das hatte Volakin ihm erzählt. Deshalb sollte er sich nach Sevilla begeben und dort mindestens vier neue Geschwister erschaffen, ohne dabei auf Straßenmädchen zurückzugreifen. Er nutzte seine Macht, um kostenlos auf Lastwagen mitzufahren, eine Fahrt mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV und in Spanien selbst mit dem AVE zu ergattern, bis er in der alten Seehandelsstadt am Guadalquivir eintraf. Er fühlte, wie der schiffbare Fluß ihm schon aus zweihundert Metern sichtlich zu schaffen machte. Daran änderte auch die starke Sonnenstrahlung nichts, die er wie ein trockener Schwamm in sich aufsog. Er sollte die Finger von den Straßendirnen lassen. Dabei hatten die doch genug Möglichkeiten, am Überdruck ihrer Männlichkeit leidenden Kunden den Willkommenskuß zu geben, um sie zu Volakins getreuen Kindern zu machen. Was hatten diese Dirnen an sich, daß Volakin Angst vor ihnen hatte? So dachte der blaue Vampir nicht daran, auf diese Beute zu verzichten. Damit beging er nicht nur einen groben Akt des Ungehorsams, sondern den letzten Fehler seines zweiten Lebens.

Als er die brünette Angelina in einer Seitenstraße des Rotlichtviertels ansprach und ihr mehrere große Geldscheine hinhielt, war diese sofort bereit, ihm ihren Körper für seine bedürfnisse zu überlassen. Dabei wußte die kleine Nutte doch nicht einmal, welche Bedürfnisse er wirklich hatte und daß sie bald nicht mehr für Geld, sondern zur Ehre des blauen Blutfürsten dazusein hatte.

Es war ein ziemlich sauberes Lasterzimmer, fand Grischa Rostov, als er mit Angelina alleine war. Diese fragte ihn noch, was genau er wollte. Er berührte sacht ihren warmen, weißen Hals mit den Fingern. Dabei war ihm, als durchzucke sie und ihn ein schwacher Stoß. Das konnte eine einfache elektrostatische Entladung sein, weil die Dirne wohl hautenge Untersachen an hatte. So achtete er nicht weiter darauf und ging daran, die Prostituierte mit seinem Blick zu unterwerfen. Und genau das war sein Verhängnis. Denn als er ihr tief in die Augen blickte, war ihm, als löse er damit eine Vorrichtung aus, die wild in seinem Kopf vibrierte. Angelina erschrak, als sie merkte, daß der Freier nicht so war wie die meisten anderen und bekam Angst. Das war der entscheidende Auslöser.

Als Rostov ansetzte, die Straßendirne zu beißen, fühlte er etwas eiskaltes um sich herum. Er sah, wie seine Hüften von einem schwarzen Dunst umweht wurden, der sich immer enger zusammenzog.

"Ihr verdammten, vergifteten Blutschlürfer habt offenbar nicht kapiert, was ich eurem kranken Anführer gesagt habe", schnarrte eine tiefe, aber höchst zornige Stimme, während Rostov sich von den Hüften abwärts in einem schwarzen Eisblock wiederfand. Aus dem Nichts heraus trat eine überragend schöne, schwarzhaarige Frau neben ihn und legte ihm ihre rechte Hand auf die Schultern. "Mit dir nehme ich mir jetzt viel Zeit, Bürschchen, bevor ich mich um wichtigere Dinge kümmern kann. Hast Pech, daß meine anderen Sachen gerade so schön angelaufen sind, daß ich einen Tag Zeit für dich habe. Ich will das nicht, daß meine Mädchen zu eurer verseuchten Bande gehören und für deinen frechen Herrn und Meister neue Leute anwerben."

"Verdammt, wer bist du?" Bibberte Rostov. Die Unbekannte verstärkte ihren Griff, und der Eispanzer kroch ihm bis über den Bauchnabel. Unfähig irgendwas zu sagen oder zu tun, hörte er, wie sie Angelina mit einer sehr befehlsgewohnten Stimme ansprach: "Vergiss diesen Kerl und was du an und mit ihm gesehen hast! Ich und er waren nicht hier. Gehe wieder hinaus und suche neue Kunden!" Dann packte ihn die Unbekannte mit beiden Händen und riß ihn in einen Strudel aus Blitzen und Schatten. Als er wieder etwas um sich herum sehen konnte befand er sich in einer Höhle.

"Wie gesagt, mit dir nehme ich mir jetzt genug Zeit, um mehr über eure Saubande herauszubekommen. Und um deine Frage zu beantworten, wer ich bin, du verseuchter Blutegel: Ich bin dein und deines Meisters schlimmster Alptraum."

__________

Justin Spikes war zornig. Er saß in einer vergitterten Zelle in Doom Castle. Doch sein Körper und seine Seele waren noch vereint. Er sah die gläsernen Zylinder um sich herum, in denen schwach atmende, bleichgesichtige Männer und Frauen an nabelschnurartigen Schläuchen hingen, um nicht zu verhungern. Das waren die entseelten Hüllen derer, die für mehrere Dutzend Jahre hier eingekerkert waren. Die feinstoffliche Essenz, ihr lebendiges Selbst, lagerte bestimmt in der Halle der Entkörperten in kristallkugelartigen Gefäßen, fähig die Umgebung mit nichtstofflichen Augen und Ohren wahrzunehmen, und doch unfähig waren, irgendwas anderes als gequälte Gedanken zu äußern, die von körperlich gebliebenen wie hohl klingende Hilferufe und Gnadenbitten verstanden wurden. Es war das schlimmste, was sich Zauberer und Hexen vorstellen konnten, ewige Zeiten in diesen Seelenkerkern zu vegetieren, nichts anderes mehr tun zu können als zu warten, ob nicht doch der Tod zu ihnen kam. Spikes war ein glühender Befürworter dieser grausamen Strafe. Denn Hinrichtungen zerstörten die Möglichkeit, aus den überführten Verbrechern noch wertvolle Informationen zu schöpfen. Außerdem glaubte er nicht an ein Leben nach dem Tod, wo eine ewige Hölle oder ein ewiges Paradies die Entleibten empfing. Und nun hockte er selbst in einer untersuchungszelle und wartete darauf, daß ein Schauprozeß des neuen Ministers ihn, den Streiter für die freie, ungefährdete Zaubererwelt, das Urteil fällte und ihn selbst zu einer in Leib und Seele aufgespaltenen, armseligen Existenz verdammte. Er hatte sich schon immer gefragt, ob die ausgelagerten Seelen untereinander in Kontakt treten konnten. Zumindest mochten sie in der Halle der Entkörperten einander wahrnehmen. würde er, wenn er selbst dort aufgenommen wurde, den Haß aller der zu spüren bekommen, die er vor Wishbones Politik hierher geschickt hatte? Sie würden ihn sicher erkennen und verachten. Doch noch war er nicht verurteilt. Noch herrschte sein Geist über seinen Körper. Es mußte doch einen Weg geben, Cartridge das Handwerk zu legen. Wieso hatte sein Imperius-Fluch nicht gehalten? Cartridge konnte doch unmöglich so willensstark sein. Dann hätte er sich dem Fluch doch gleich widersetzen und ihn abschütteln können und Spikes hätte sein Heil in der Flucht gesucht. Diese widerliche Sabberhexe Anthelia hatte ihm die Tour versaut, indem sie Cartridge ausgerechnet in dem Moment beschäftigte, als dieser die Unterschrift unter den magischen Vertrag setzen sollte, daß die My-Truppe über alle ministeriellen Regularien erhaben und unverzichtbar war. Es hätte dann nicht mehr lange gedauert, und er, Spikes, hätte Cartridges Amt übernommen und bis zu dem Tag hingearbeitet, an dem er seinen großen Gönner Lucas Wishbone hätte wecken können. Doch dazu mußte er erst diese Anthelia finden und töten. Sie galt jetzt als Wishbones Mörderin und konnte so auf Sicht getötet werden. Zumindest das würde wohl noch gelingen. Er mußte aus diesem Gefängnis heraus, einen Zauberstab ergattern und dann selbst Jagd auf die Verräterin machen. Dann galt es, seine hoffentlich untergetauchten Getreuen zu versammeln und diesen Störenfried Cartridge und dessen renitentes Weib Godiva aus dem Ministerium zu jagen. Sollte es nötig sein, ihr Mittäterschaft anzuhängen und ihn als von ihr unterjochten Gehilfen anzuprangern ... Genau das war es. Sie hatte ihn mit einem anderen Fluch gegen seinen Imperius-Fluch abgesichert oder den Imperius-Fluch aufgehoben. Womöglich mußte sie dazu einen noch stärkeren Imperius-Fluch auf ihren Mann legen, wobei er vielleicht wegen seiner Verbindung mit ihr besonders empfänglich dafür war. Wenn er das bewies, war er schon so gut wie Cartridges Nachfolger, und dieses in die Ministerwohnung eingezogene Paar würde hier in Doomcastle landen. Sie hatten einen Sohn, wußte Spikes. Der mußte dann wohl in eine ihm treue Pflegefamilie gegeben werden, um nicht zum unverhofften Racheengel aufzusteigen. Aber was dachte er da? Er hockte in Doomcastle und sah die entseelten Körper, die aus einer sehr fragwürdigen Gnade heraus am Leben gehalten wurden, bis sie irgendwann starben und die ihnen zugehörigen Seelen der leeren Luft übergeben werden konnten, sofern niemand so wahnsinnig war, seinen oder ihren Körper als Gasthülle anzubieten, was jedoch, so wußte er als erfahrener Jäger dunkler Magier und Hexen, den Wirtskörper innerhalb kurzer Zeit altern und sterben lassen würde. Denn wenn das Nervensystem zwei es steuernde Essenzen zugleich aushalten mußte, zehrte es den Körper doppelt bis dreimal so schnell aus. Der mittlerweile erledigte Irre namens Voldemort hatte das wohl gewußt und deshalb nicht an ein Leben als wandernde Seele, als echter Dämon auf Erden gedacht. Spikes wollte nicht als ewiger Gefangener enden. Sein Auftrag war zu wichtig, um ihn einfach so aburteilen zu dürfen. Er mußte hier raus und die Dinge wieder richtigstellen. Er mußte Wishbones Mission weiterführen und dann, wenn alles gut ging ...

Das metallische Krachen zurückspringender Riegel hieb in seine sich in Zorn und Verachtung kleidenden Gedankenströme hinein. Jemand öffnete die Tür zum Zellentrakt. Er fuhr herum und sah zwei Ministeriumszauberer. Sie trugen die langen, dunkelblauen Umhänge mit silbernen Symbolen, die zehnspeichige Wagenräder darstellten. Auf den Köpfen ritten schwarze Bowler, auf deren Scheitelpunkten je ein aufrecht stehendes Zehnspeichenrad aus Silber thronte. Das waren die Uniformen der Seelenwachen von Doomcastle. Hoffentlich hatte dieser Cartridge kein Urteil in Abwesenheit durchgepaukt, und sie waren gekommen, ihn aus seinem Körper zu reißen. Zu seinem Trotz kam eine unverkennbare Beklommenheit, die fast schon Angst war.

"Justin Spikes, Sie sollen noch einmal zu Ihrem Angriff auf Minister Cartridge vernommen werden", sagte einer der beiden Wächter. Spikes erkannte ihn jetzt. Dieser Blonde Bube war vor zehn Jahren noch der Stolz seines Schulfreundes Remo gewesen. Wieso war der nach Thorntails nicht in die Antiobskuratoren-Truppe eingetreten?

"Wer soll mich verhören, Buck, hoskins oder dieser Opportunist Wakefield?"

"Untersekretär der Strafverfolgungsbehörde Wilson Hoskins wird das Verhör übernehmen, wenn es Sie beruhigt, Mr. Spikes", sagte der, den Spikes mit Buck angesprochen hatte. Sein Kollege richtete den Zauberstab auf Spikes und belegte ihn mit einem Bewegungsbann. Dann tippte er alle fünf gesondert bezauberten Riegel an, die nur auf bestimmte gedachte Losungswörter aufsprangen und holte den bewegungsunfähigen Delinquenten aus der Zelle. Sie legten ihn auf eine Trage und bugsierten ihn in einen Raum, in dem eine mannshohe Kupfervase als einzige Dekoration stand. Spikes wurde von der Trage gewuchtet und an die Vase gelehnt. Dann traten die beiden Wächter an die ausladenden Henkel und hielten sich fest. "In einer halben Minute", sagte Buck zu Spikes. Dieser verstand, daß sie einen speziellen Portschlüssel benutzten, der mit den Sicherheitszaubern von Doomcastle verbunden war, so daß kein Alarm ausgelöst wurde. Als dann nach dreißig Sekunden jenes Spikes bekannte Gefühl des Fortgerissenwerdens überkam und er in einem farbigen Strudel dahingewirbelt wurde, dachte er daran, ob Hoskins ihn wirklich nur verhören oder unter den Imperius-Fluch nehmen wollte. Denn er mußte vermuten, daß er vielleicht bereits selbst unter diesem Fluch stand und für Cartridges Trupp arbeitete und deren Erfüllungsgehilfe im Ministerium war. Doch das durfte er ihn nicht fragen.

Als der Portschlüssel seine passagiere in einem steinernen Kerkerraum abgesetzt hatte, sah Spikes seinen früheren Mitarbeiter Wilson Hoskins auf einem Stuhl und einen Kettenstuhl ihm gegenüber. Er konnte sich nicht wehren, als er auf diesen Stuhl gesetzt wurde. Erst als starke Eisenketten sich mehrfach um seine Beine und seinen Oberkörper geschlungen und ineinander verhakt hatten, hob Buck den Bewegungsbann auf. "Wir melden den vorgeladenen Untersuchungshäftling Justin Vincent Spikes zur weiteren Vernehmung vorgeführt", verkündete der Spikes nicht namentlich bekannte Seelenwächter mit unerträglichem Diensteifer.

"Ich bedanke mich, meine Herren. Bitte warten Sie im Bereitschaftsraum auf Ihre Einbestellung zur Rückführung des Gefangenen nach Doomcastle", sagte Wilson Hoskins kühl. Die beiden Wächter tippten sich an die Bowler und verließen den Kerker durch eine für Spikes nicht zu überblickende Tür.

"Erst einmal guten Tag, Mr. Spikes", begrüßte Wilson Hoskins den Gefangenen. "Sie werden Verständnis dafür haben, daß ich Ihnen nicht die volle Bewegungsfreiheit gewähren kann, da Ihr Verhalten Sie bedauerlicherweise zu einem Gefahrenfaktor der Stufe drei macht. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß es in diesem Raum unmöglich ist, mentiloquistische Botschaften auszutauschen. Kommen wir zur Sache."

"Damit habe ich jetzt nicht gerechnet", schnarrte Spikes den früheren Kollegen an. Dann erkannte er, daß Hoskins sich auf Cartridges Seite geschlagen hatte und spie diesem entgegen: "Sie fühlen sich offenbar sehr groß, daß Sie sich bei Cartridge wieder einschleimen konnten und damit alles umstoßen dürfen, was Minister Wishbone für unbedingt erforderlich erachtet hat, wie? Sie wissen, daß Sie mich innerhalb eines Monats vor einem ordentlichen Zaubergamot oder dem Zwölferrat anzuklagen haben. Ich verlange einen ordentlichen Verteidiger, der bei diesem und anderen Verhören anwesend ist."

"Das haben Sie Jessica Warnes nicht zugestanden, Mister", sagte Wilson hoskins. "Sie haben in Wishbones Namen alle Hexen im Ministerium überprüft und Ms. Warnes der Kolaboration mit ministeriumsfeindlichen Gruppen bezichtigt. Sie versagten ihr das Recht auf Verteidigung mit der Begründung, daß ihre Taten ministeriumsinterne Geheimnisse berührten, ähnlich wie Swift die unter Ausschluß der Öffentlichkeit angesetzte Verhandlung gegen Jane Porter begründete. Da Sie es gewagt haben, einen amtierenden Minister mit dem Imperius-Fluch zu belegen und obendrein viele sicherheitsrelevanten Dinge aus dem Ministerium kennen, kann und werde ich dieselbe Begründung anführen, um Ihren Anspruch auf Verteidigung abzustreiten. Sie haben Hochverrat in Tateinheit mit der Benutzung eines der unverzeihlichen Flüche begangen, Mister. Sie können und dürfen sich daher nur selbst verteidigen und das nur, wenn geklärt ist, ob sie in aller Öffentlichkeit oder unter Ausschluß derselben vor Gericht gestellt werden. Das wiederum ist davon abhängig, was dieses Verhör an neuen Erkenntnissen erbringt."

"Sie wagen es, mir Verrat zu unterstellen, Sie Opportunist? Ich habe im vollsten Einvernehmen mit den notwendigen Maßnahmen gehandelt. Das Ministerium wird von einer Gruppe ausschließlich weiblicher Verschwörer bedroht, deren Ziel es ist, die Zaubererwelt der vereinigten Staaten zu unterjochen. Durch nichts ist bisher entkräftet worden, daß es im Ministerium bereits Spioninnen und Saboteurinnen aus dieser Gruppe gibt. Natürlich paßt es Ihnen in den Kram, mir die Verwendung eines unverzeihlichen Fluches vorzuwerfen."

"Es ist unstrittig, daß Sie diesen Fluch ausgeführt haben, Mr. Spikes", entgegnete Wilson hoskins. Wir haben die Aussage von Minister Cartridge und die Aussage von Anwesenden, die Sie bei der Ausführung des Zaubers beobachtet haben. Sie setzen offenbar noch zu viel Vertrauen in Ihre ehemaligen Kollegen von der mittlerweile rechtskräftig aufgelösten Sondereinheit My."

"sie meinen, jemand hat behauptet, ich hätte den Minister mit diesem Fluch belegt, weil der Minister das behauptet hat, um mich zu belasten", versuchte Spikes, die Anschuldigung zu entkräften. "Wer immer meint, mir diese Untat vorwerfen zu dürfen, lügt. Abgesehen davon müßten Sie mir ein Motiv nachweisen. Und das haben Sie bisher nicht."

"Das Motiv ist, daß Sie und Ihre noch loyalen Mitarbeiter und Helfershelfer die gewährten Privilegien, die Sie unter Minister Wishbone genießen durften, behalten möchten. Nicht nur das: Sie trachten auch danach, sich als die einzig wahren Beschützer der nordamerikanischen Zaubererwelt zu präsentieren. Das ist genauso anmaßend wie der Machtanspruch des britischen Massenmörders, der sich Lord Voldemort nannte."

"Oder wie die längst für absolut unmenschlich erkannte Anschauung, daß nur Hexen die ganze Menschheit führen sollten, nicht wahr", schnarrte Spikes. Er wußte, daß er damit ein gewisses Risiko einging. Doch er blieb ruhig und erwiederte, daß Verbrechen nicht durch Verbrechen geahndet werden durften, weil man dann ja gleich das Recht des Stärkeren als Gesellschaftsgrundlage festlegen könne. Dann sagte er noch:

"Ich habe genug Zeit. Im Zweifelsfall bin ich befugt, Sie unter Verwendung von Veritaserum zu verhören. Also sollten Sie besser kooperieren."

"Was Sie hier aufführen ist Siegerjustiz ohne rechtliche Objektivität, Mr. hoskins. Sie sind ein Opportunist sondergleichen. Das Sie sich nicht schämen. Ich werde in diesem billigen Theaterstück nicht den reuigen Sünder geben. Sie haben keinen echten Beweis, den der Zwölferrat oder der vollständige Gamot anerkennen kann. Somit haben Sie das Problem, Cartridges Vorbehalte gegen mich und die ihr Leben für das Wohl der Staaten riskierenden Zauberer zu begründen. Sie wollen mich als Sündenbock für Ihr Versagen diesen Verrätern und Unruhestiftern gegenüber präsentieren. insofern verschwenden wir zwei nur unsre Zeit hier. Ich werde nur vor dem Zwölferrat oder dem Gamot eine Aussage machen und das auch nur, wenn mir von den magisch vereidigten Richtern absolute Rechtstreue zugesichert wurde. ich werde mich hier nicht zu einem Instrument einer Vergeltungsmentalität machen lassen."

"Wie erwähnt, ich kann und ich werde die Informationen von Ihnen bekommen, die wir noch brauchen. Ihre Sturheit zahlt sich nicht aus, Mr. Spikes", erwiderte Wilson hoskins und langte hinter sich nach einer am Stuhl baumelnden Handtasche. Spikes dachte daran, daß die Menge Zaubertrank, die gegen das Veritaserum schützte, noch nicht ganz abgeklungen war. Diese Idioten waren genau eine Woche zu früh, um ihm damit zu drohen. Dann sah er verwundert, wie blaues Licht aufglühte. ER konnte seinen Kopf gerade so noch wenden, um zu sehen, daß die große Kupfervase verschwunden war. Der Portschlüssel hatte nicht gewartet?

"Oh, hätte ich den beiden Herren besser sagen sollen, daß sie den Schlüssel für einen längeren Aufenthalt einrichten sollten", knurrte Wilson hoskins. "Sei es. Ihre Kollegen in Doomcastle können Sie immer noch abholen. Zu Ihnen, Mr. Spikes."

Spikes schluckte freiwillig die ihm vorgehaltene Dosis und fühlte, wie etwas in ihm dagegen anging. Als ein kurzer Hitzeschauer durch seine Blutbahn flutete, wußte er, daß sein Schutz vor Verhören mit diesem Zeug noch hielt. Nur wenige kannten die Rezeptur gegen Veritaserum, und noch weniger erhielten Zugang zu fertigen Tränken. Hoffentlich wußte Wilson hoskins das nicht oder ging davon aus, diese Schutzmaßnahme sei bereits abgeklungen.

"Wer sind Sie?" Fragte Wilson hoskins, um zu hören, wie Spikes klang. Dieser sagte wahrheitsgemäß seinen Namen, wobei er in jener halbleiernden Art eines teilweise willenlosen Opfers des Veritaserums klang. Dann wurde er gefragt, ob er beabsichtigt habe, die My-Truppe gegen alle bestehenden Gesetze aufrecht zu halten. Er verneinte das auf die weltentrückt klingende Art. Er wurde gefragt, ob er den Minister mit dem Imperius-Fluch angegriffen habe. Er verneinte das so ruhig er klingen konnte. Er wurde wieder gefragt, ob er vorgehabt habe, die My-Truppe gegen den Beschluß des Ministers aufrecht zu halten. Dann wurde er nach Alwin Shorewood gefragt, wo dieser sei und was Spikes zuletzt von ihm mitbekommen habe. Wieso kam Wilson hoskins auf Alwin Shorewood? Das war doch der, der in der Körperform von Tracy Summerhill spionieren sollte und seit einigen Wochen zu einem Geheimkommando abgestellt worden war, daß im Ausland nach Anhängerinnen dieser Sardonianerin suchen sollte. Was sollte er Hoskins jetzt erzählen? Er dachte an die Legende, die Minister Wishbone ihm für den Fall mitgegeben hatte, daß Shorewood länger als ein Vierteljahr vermißt würde und erwähnte diese. Wilson hoskins schrieb sich das alles auf. Gut so. Dann wollte er noch wissen, ob er den gemeinsamen Kollegen Clyde Ashcroft beauftragt habe, für den Fall, daß die My-Truppe weitergeführt würde, prominente Hexen wie Daianira Hemlock oder Madam Pabblenut festzunehmen. Er dachte daran, daß Hoskins einer der wenigen war, die wußten, daß Wishbone nicht wirklich tot war, um im Falle seiner Rückkehr sofort in seinem Namen handeln zu können. Wieso kam er ihm nicht gleich damit? Dann erwähnte er, daß es von Wishbone keinen Befehl gegeben habe, Hexen zu verhaften, die nicht eindeutig straffällig oder hochverdächtig waren. Er wurde zu Valery Saunders und Peter Grinder, seinen früheren Vorgesetzten befragt und sagte entsprechend aus, daß er die Entomanthropenkönigin gerne selbst vernichtet hätte. Dann wurde er noch zu Interna der My-Truppe befragt, weil Wilson offenbar noch längst nicht alle Einzelheiten kannte. Hier mußte Spikes sich anstrengen, glaubhafte Aussagen zu machen. Dabei bemerkte er nicht, wie er jedesmal eine oder zwei Sekunden länger bis zur Antwort brauchte als für eine direkte, wahrheitsgemäße Aussage. Da er zu sehr darauf konzentriert war, Antworten zu geben, die den Zauberer da vor ihm zufriedenstellen mochten, ohne brisante Einzelheiten zu verraten, fiel ihm das nicht auf. So verging eine halbe Stunde. Wilson mußte damit rechnen, daß das Veritaserum bald nachlassen mußte. Spikes bereitete sich innerlich darauf vor, gleich wild zu protestieren und ihn zu beschimpfen, weil er ihm neben den für die Ermittlung relevanten Fragen noch Interna entlockt hatte, die das Ministerium absolut nichts angingen. Da fragte er ihn noch, ob er wisse, daß Wishbone nicht wirklich gestorben sei. Spikes erkannte, daß sein Gegenüber diese für das Mitschreiben relevante Frage bis zum Schluß aufbewahrt hatte. Er überlegte und sagte, daß er davon nichts wisse. Sein ehemaliger Mitarbeiter fragte ihn, ob er an seinem Verschwinden und scheinbaren Tod nicht beteiligt war. Er verneinte das. Dann fragte Hoskins: "sie sind also nicht beauftragt, in seiner Abwesenheit seine Politik fortzusetzen und Minister Cartridge zu diskreditieren?"

"Nein, bin ich nicht", erwiderte Spikes nach einer Sekunde. Dann sagte Wilson hoskins:

"Gut, das Verhör ist vorbei. Sie werden bis zu Ihrer Gerichtsverhandlung nach Doomcastle zurückgebracht." Er hob den Zauberstab und schickte einen Rufzauber aus, der die wartenden Seelenwächter herbeizitierte.

"Oh, die Vase ist weg", sagte Buck, als er außer dem Ministeriumsmitarbeiter und dessen Gefangenen nichts im Kerker vorfand.

"

"Fordern Sie einen anderen Portschlüssel an!" Befahl Wilson hoskins. "Solange bleibt der Gefangene hier."

"Wie Sie wünschen, Mr. hoskins", bestätigte der Spikes unbekannte Seelenwächter. Spikes sah Wilson hoskins verdrossen an. Damit verriet er, daß die Wirkung des Veritaserums offiziell abgeklungen war. "Sie haben mich doch mit Veritaserum verhört. also ist es doch Willkür, mich einzusperren, obwohl ich gerade gesagt habe, daß ich nichts verbrochen habe." Die Wirkung verfehlte nicht. Buck sah Spikes fragend an und scharrte mit den Füßen. Sein Kollege stierte abwechselnd Wilson hoskins und den Gefangenen an. Der ehemalige Mitarbeiter Spikes' wirkte verärgert und deutete auf seinen früheren Vorgesetzten: "Sie werden solange dort bleiben, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind", sagte er entschlossen.

"Er hat meine Aussagen aufgeschrieben, Leute. die wollen mich unschuldig in die Seelenhalle werfen!" Rief Spikes. Buck sah ihn an. Doch Wilson Hoskins klappte seine Aktentasche gerade zu. Jetzt konnte Spikes erkennen, daß es eine Practicus-Tasche war, bei Bedarf Diebstahlsicher. Was da drin war konnte weder per Aufrufe- noch per Apportationszauber herausgeholt werden.

"Ich werde ihre Aussagen noch überprüfen. Nur weil Sie so bereitwillig dem Veritaserum-Verhör zugestimmt haben muß ich noch nicht alles für wahrheitsgemäß ansehen. Ihnen ist vielleicht bekannt, daß die Muggel eine einfache Methode benutzen, um verräterische Gedanken zu ergründen, ohne Veritaserum oder Legilimentik benutzen zu können."

"Soso, diese unzuverlässige elektrische Methode, die bei Lügen ausschlägt?" Fragte Justin Spikes. "Warum haben Sie diese Methode dann nicht angewendet?"

"Ich meine die, durch Fragen und gezielte Begriffe und die Messung der Bedenkzeit zu ergründen, ob die Fragen oder Stichwörter unangenehme Gedankengänge auslösen oder zu einer neu konzipierten Aussage zwingen. Ein getarnter Chronograph hat die Zeiten zwischen meinen Fragen und Ihren Antworten aufgezeichnet. Den werde ich auch auswerten, um den Wahrheitsgehalt Ihrer Aussagen zu bestimmen. Solange kehren Sie in die Untersuchungszelle zurück."

"Ich sage es ja, Willkühr. Die wollen mich zum Sündenbock machen, Leute, und ihr spielt da offenbar mit. Der da ist ein Opportunist, der verschleiern will, daß er selbst Sachen angestellt hat, die ihm unter der neuen Führung übel aufstoßen können. Weil ich das weiß, meint er jetzt zu befinden, mich aus dem Weg zu räumen. Laßt euch von dem da nicht für dumm verkaufen!"

"Sie wagen es, mir zu unterstellen, verbotene Dinge getan zu haben, nach allem was wir bisher erlebt haben? Ich würde aber niemals den Imperius-Fluch anwenden. Und wenn Sie das trotz Ihrer Aussage eben doch getan haben sollten, muß ich die bisherige Zusammenarbeit vergessen", schnarrte Wilson Hoskins. Doch Buck hatte Spikes Vorwurf offenbar zur Kenntnis genommen und war verunsichert.

"Bitte übergeben Sie uns die Aufzeichnungen, damit wir sie von einem der Richter auswerten lassen, Sir", sagte Buck. Spikes grinste innerlich. "Vorher möchte ich keine Rückführung nach Doomcastle ausführen."

"Sie verweigern den Befehl?" Fragte Hoskins entrüstet. Buck nickte. Sein Kollege warf Buck einen kritischen Blick zu. Doch dieser blieb stur.

"Gut, dann bleibt er eben hier, bis ich von Madam Archstone eine offizielle Anklage gegen ihn beibringen oder seine Freilassung verordnen kann", knurrte der Strafverfolgungszauberer und stand auf.

"Die Aufzeichnungen", bestand Buck auf die Herausgabe der Verhöraufzeichnungen.

"Sie sind nicht berechtigt, mich um Herausgabe von Vernehmungsunterlagen zu ersuchen oder diese selbst zu lesen, Wächter Broadlief. Sie bewachen den Gefangenen, bis ich mit einer richterlichen Verfügung zurückkehre. Diese haben Sie dann zu befolgen. Abgesehen davon wird das Konsequenzen für Ihre weitere Dienstzeit haben." Er zog den Zauberstab. Buck hielt seinen in der Hand.

"Ich habe geschworen, nur zum Wohle der Zaubererwelt zu handeln, Sir. Wenn Sie diesen Mann da ohne echten Grund bei uns in Doomcastle lassen wollen ist das gegen das Wohl der Zaubererwelt. Außerdem könnten wir dann finden, daß Sie vielleicht für die Sardonianerin arbeiten."

"Jetzt aber ganz schnell aus dem Weg, junger Mann", schnarrte Wilson Hoskins und hob den Zauberstab an. Buck trat schnell vor, um ihm den Stab aus der Hand zu reißen. Hoskins trat schnell zurück und warf einen unsichtbaren Schild zwischen ihn und sich. Dann sah er, wie der andere Seelenwächter ebenfalls den zauberstab angehoben hatte. "Im Namen der freien Zaubererwelt!" Rief er und griff Hoskins an. Spikes verstand die Welt nicht mehr. Die Seelenwächter halfen ihm wirklich. Dabei war seine Ausflucht doch so dürftig gewesen. Er konnte sehen, wie die beiden sich mit seinem Ex-Kollegen duellierten, der erstaunlich geschickt in der Bekämpfung zweier Gegner war, zumal die beiden offenbar lange kein Duell mehr ausgefochten hatten. Ein Expelliarmus-Zauber von ihm prellte dem Spikes unbekannten Seelenwächter den Stab aus der Hand. Dieser flog nach oben, klapperte gegen die Decke und fiel sich drehend nach unten, genau auf Spikes gefesselten Arm zu. Spikes war hellwach. Das war eine unwiederbringliche Chance. Er wartete, bis der Stab in seine Rechte hand rollte. Dann packte er zu und rief "Relaschio!" Wilson Hoskins hatte inzwischen mit dem noch bewaffneten Gegner zu tun, der mit ihm einen schnellen Schlagabtausch führte. Die Ketten fielen von Spikes ab. Er sprang aus dem Kettenstuhl und rammte mit wilder Entschlossenheit den entwaffneten Wächter. Die große Stahltür war noch offen. Diese Idioten hatten sie nicht hinter sich geschlossen. Er hechtete hindurch. Knapp zischte ein Schocker Wilson Hoskinss an ihm vorbei. Dann hatte er mit dem verbliebenen Wächter zu tun, der versuchte, den Verhörleiter zu lähmen. Daß der Gefangene gerade die Flucht ergriffen hatte schien dem nicht so wichtig zu sein. Wilson schickte einen Mondlichthammer aus, der den Duellgegner von den Beinen riß und einen halben Meter in den Korridor hinausfegte. Doch Spikes war bereits um die nächste Biegung. Hoskins schockte Buck, der gerade versuchte, den Stab seines gerade kampfunfähigen Kollegen zu ergreifen. Dann spurtete er hinter Spikes her, wobei er einen Alarmzauber ausrief, der unvermittelt lautes Wimmern im Korridor auslöste. Gleichzeitig traten Bewegungsmeldezauber in Aktion, die jeden Weg in der Verhörabteilung überwachten. Spikes kannte diese Vorkehrungen und hüllte sich in einen Contranuntius-Zauber ein, der einfachere Bewegungserkenner überlagerte. Doch Wilson Hoskins hatte die Jagd aufgenommen. Vor ihm schossen Flammen aus dem Boden. Sperrzauber, die er auch gut kannte, würden eine Flucht zu Fuß vereiteln. Also blieb nur der Weg durch die Decke. Zunächst zielte er auf seine linke Hand und murmelte Pereummeabilis! Pereummeabilis! Pereummeabilis!" Dann trat er nahe an die Flammenmauer heran. Die war nicht mit einem Elementarberuhigungszauber zu kontern, wußte er. Denn die Flammen waren nur ein Sekundäreffekt der Sperre. Er griff an den Kragen seiner blau-grauen Gefängniskluft und riß ein Stück davon ab. Er warf den Fetzen vor sich in die Luft und vollführte einen raschen Zauber. Aus dem Stück Stoff entstand eine lange Leiter, die klappernd gegen die Wand fiel und dann stehenblieb. Spikes eilte mit einer Hand am Holm fast zwei Sprossen auf einmal nehmend nach oben. Dann berührte er mit dem Zauberstab die Decke und murmelte "Terralapisque permeabilis pro vivo!" Er stieß sich so kräftig ab wie er konnte. Er durchbrach die Decke wie eine Wolkenbank. Er riß die Knie bis fast an die Brust und flog einen ganzen Meter nach oben. Dann fiel er wieder hinunter. Der Zauber war hoffentlich ... Mit einem unangenehmen Ruck landete er auf festem Boden. Ja, der Zauber war schon wieder verflogen. Er lief weiter. Keine Sperre hielt ihn zurück. Sein Antimeldezauber hielt ihm die Bewegungsspürer wohl noch vom Hals. Er mußte aus der Antiapparierzone heraus, wollte er nicht gleich wieder eingefangen und nach der Erkenntnis Flucht gleich Geständnis ohne großes Federlesen durch den Gerichtsprozeß gepeitscht und dann entseelt werden. So lief er weiter, schaltete ihm bekannte Überwachungszauber aus und durchdrang Wände, weil die Türen sicher mit Erkennungs- und Weitermeldezaubern belegt waren. Doch als er fast im Foyer des Ministeriums war verweigerte ihm eine Wand die Passage. Sie war gegen den Gesteinsdurchdringungszauber abgesichert. "Reducto!" Rief Spikes, als er zwei Meter von der Wand zurückgetreten war. Sein Zauber krachte gegen die Wand ... und verpuffte spurlos. Er mußte also durch eine der Türen. Wenn er aus dem Gebäude heraus war konnte er disapparieren, wenn er keinen Portschlüssel machen wollte. Er lief auf die Tür zu. Diese verschloß sich rasselnd. Also wirkte der Erkennungszauber bereits auf seine Erscheinung. Vielleicht hätte er sich ein anderes Aussehen geben sollen. Doch das hätte einige Sekunden gedauert, die er nicht hatte. So blieb nur die allerbrutalste Gewalt. Er lief einige Schritte weiter zurück und richtete den Zauberstab auf die Tür. "Ignivivens Infernalium!" Rief er. Zwei kleine Flammen schossen aus seinem Zauberstab und flogen auf die Tür zu. Dabei berührten sie den Boden und richteten sich auf. Unvermittelt standen zwei orangerot flammende Drachen da, die laut prasselnd auf die Tür zutrabten. Spikes umgab sich schnell mit einer golden schimmernden Flammenaura, die selbst das zerstörerische Dämonsfeuer abhielt, das er gerade heraufbeschworen hatte. Er sah, wie die beiden Flammenungetüme gegen die Tür krachten und dabei das Holz anfraßen, aus dem sie bestand. Selbst Durolignum-Elixier würde den Dämonsfeuerkreaturen keinen Widerstand bieten. So zersplitterte die Tür in rußigen Trümmern, aus denen weitere Feuerwesen erblühten, die vorwärts stürmten, während eine Harpyie aus Flammen gerade auf Spikes zuflog und versuchte, ihm ihre Funken sprühenden Krallen in den Körper zu schlagen. Doch die goldene Flammenaura fing den Angriff zischend ab. Spikes rannte los, hinter den Dämonsfeuer-Ungeheuern her, die nun freie Bahn hatten. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt. Nun konnte er alles gewinnen oder alles Verlieren, am Ende sogar sein Leben. Er hörte laute Schreie aus dem Foyer. Sollte er Geiseln nehmen, um die Apparitionssperre aufheben zu lassen? Ach was! Das Dämonsfeuer würde eh alle angreifen oder vertreiben. Dann fiel ihm ein, daß das ein Notfall war, der die Apparitionsfreigabe für alle Abteilungen rechtfertigte. Warum war er nicht früher darauf gekommen, eine derartige Situation herbeizuführen? Tatsächlich klang wilder Alarm durch das Foyer, dessen Boden bereits lichterloh brannte und weitere Dämonsfeuer-Dämonen gebar. Dieser dunkle Elementarzauber konnte zu leicht außer Kontrolle geraten, erkannte Spikes mal wieder. Und tatsächlich breitete sich das aus lebendigem Feuer erschaffene Inferno rasend schnell aus. Selbst die sofort einsetzenden Löschzauber verpufften. Die Methode mit tiefgekühltem Kohlensäuregas durfte nur greifen, wenn kein lebendes Wesen im brennenden Bereich war. Dann hörte er das, was er erhofft hatte: "Alle nicht der inneren Sicherheit dienenden Mitarbeiter im Ministerium sofort disaparieren. Ausbruch von Dämonsfeuer im Foyer. Alle nicht zur inneren Sicherheit gehörenden Mitarbeiter sofort disapparieren!" Spikes lächelte und sah, wie die ersten, die gerade noch dem wütenden Flammensturm entflohen im Nichts verschwanden. Ein Zauberer, der gerade einer älteren Hexe helfen wollte, wurde von den feurigen Vernichtungskreaturen am Umhang erwischt, der sofort wie eine riesige Fackel aufloderte. Spikes erschauerte. Jetzt hatte er einen Mord auf dem Gewissen, den kein Minister rechtfertigen würde. Doch er mußte fliehen. Das größere Ganze mußte bewahrt werden, selbst wenn er als der Mann in die Geschichte einging, der es gewagt hatte, Dämonsfeuer im Ministerium zu beschwören und dieses damit der Vernichtung ausgeliefert hatte. Er disapparierte, um in der Nähe einer kleinen Hütte zu reapparieren. Hier hatte er mit seinem vor fünf Jahren gestorbenen Bruder Mike geheime dinge versteckt, Sachen, die ihre Eltern nicht finden durften. Hier hatte er auch seine erste Liebe erlebt. Die Hütte wirkte nur außen klein. Innen war sie ein richtiger Palast mit mehreren hundert hohen Zimmern. Darauf waren die beiden Spikes' stolz gewesen, den Rauminhaltsvergrößerungszauber in solcher Vollendung hinbekommen zu haben. An und für sich wußte niemand, daß es diese Hütte gab. Nur Mike und er hatten sie gebaut und ihren Standort für sich behalten. Hier würden sie ihn nicht finden. Er blickte sich rasch um, ob vielleicht ein Fünkchen Dämonsfeuer mit ihm gekommen war. Das hätte er dann wohl löschen müssen. Aber um ihn stand nur die goldene Flammenaura, die den Transit mitgemacht hatte. Er atmete durch. Er war in Sicherheit.

Die Hütte besaß keine wirkliche Tür. Er mußte ein bestimmtes Brett mit dem Zauberstab berühren und das geheime Passwort "Marmeladenmuffin" denken. Dann würde das Brett zu einer einen Meter hohen Luke und ihn einlassen. Da er nicht genau festgelegt hatte, auf welcher Seite der Hütte er auftauchen wollte, mußte er das Brett suchen. Die im Ministerium würden nun damit beschäftigt sein, das Dämonsfeuer zu löschen, was bei jeder weiteren Ausbreitung immer schwieriger wurde. Er rechnete damit, daß es alles brennbare im Ministerium verschlingen würde und erst, wenn außer hartem Granit nichts mehr übrig war, nach und nach in sich zusammenfallen würde.

"Ein sehr skrupelloser Ausbruch, alle Achtung!" Hörte er unvermittelt Donata Archstones Stimme von Rechts kommend. Er wirbelte herum und sah die Strafverfolgungshexe mit erhobenem Zauberstab. "Ich habe gehofft, daß Sie nicht so inhuman sind, Mr. Spikes. Ihre Flucht hat alle ausstehenden Fragen geklärt."

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François Dubois und Charles Reinier arbeiteten schon zehn Jahre für das Busunternehmen Lepont und hatten von lautstarken Schulklassen bis betagten Ausflüglern alle Sorten Fahrgäste befördert. Doch diese zwanzig Mann, die in ihrem klimatisierten Doppeldecker saßen, waren irgendwie unheimlich. sie hatten nur ihre Namen gesagt, damit die beiden Fahrer die Liste prüfen konnten und sich ohne weiteres Wort hingesetzt. So verbrachten sie den allergrößten Teil der Fahrt. François fühlte noch das Gewicht der großen Koffer, als hätten die Damen und Herren Blei oder Goldbarren darin untergebracht. Wenn er geahnt hätte, was er da tatsächlich transportierte, wäre er in heller Panik davongelaufen. Die Reisenden lächelten nicht und schliefen auch nicht. Irgendwie hatten die beiden Fahrer den Eindruck, sie würden von den Passagieren belauert wie das Kaninchen von einem kreisenden Adler. Am meisten irritierten die beiden die wachsartigen Gesichtszüge. Sie konnten nicht wissen, daß die Reisenden, ob Mann oder Frau mehrere Schichten Schminke aufgetragen hatten, um ihre ware Gesichtsfarbe zu verbergen. Doch wenn es Nacht würde, mußten sie zwangsläufig auffallen. Daher galt es, das ausgewählte Ziel noch bei Tage zu erreichen. Die beiden Fahrer wechselten nur die nötigsten Worte. So waren das Orgeln des PS-starken Dieselmotors im Heck des Busses und die Musik aus dem Bordradio das einzig hörbare. Laut Anweisung ihres Chefs sollten sie die kürzeste Strecke fahren. Es galt dabei, Staus nach Möglichkeit früh genug auszuweichen. Charles löste seinen Kollegen nach vier Stunden ab und gab die Ablösung in den elektronischen Fahrtenschreiber. Sie hatten die schweizerisch-französische Grenze bereits hinter sich und fuhren aus den Höhen der Alpen hinab in Richtung Paris. Als sie an Flüssen vorbeifuhren oder über Brücken fahren mußten, konnte François beobachten, wie die Fahrgäste sich an die Sitzlehnen krallten und hektisch umherblickten. Hatten die Angst vor Wasser. Außerdem wollte keiner von denen die im Reiseumfang enthaltene Bordbar ausprobieren. Womöglich hofften sie, ohne die Bordtoilette benutzen zu müssen anzukommen, dachte der erste Fahrer. Daß die Reisenden auf ganz andere Getränke ausgingen und eine tätige Toilettenspülung ihnen großes Ungemach bereitete ahnte er ebensowenig, wie daß er und sein Kollege Teil eines tödlichen Angriffs waren und sie selbst bereits dem Tode geweiht waren. Denn unter ihnen, im Laderaum des Busses, lagen vier mit ausgebrannten Brennelementen russischer Atomkraftwerke gefüllte Koffer, deren Hülle kein Problem für die davon ausgehende Strahlung war. Fahrer und Zweitfahrer wurden schon so lange mit dieser gefährlichen Strahlung bombardiert, daß sie so oder so innerhalb der nächsten Tage einen qualvollen Tod sterben mußten. Doch das würden die zwanzig Mitreisenden nicht zulassen. Für sie war die strahlende Fracht eine große Kraftquelle, die die Erschöpfung bei der Annäherung oder Überquerung von Fließgewässern ausglich und gleichzeitig die beiden Rotblütler da vorbereitete.

Die gelbliche Dunstglocke wölbte sich bereits kilometerweit voraus in den Himmel. Das war Paris. Die pulsierende Hauptstadt der französischen Republik, berühmt für hochwertige Bekleidung und von Romantikern gerne als Stadt der Liebe besucht. Hier wollten die Fahrgäste also hin. Die beiden Reisebusfahrer konnten es ihnen nicht verdenken.

"Sehr geehrte Fahrgäste, in knapp fünfzehn Minuten erreichen wir die Außenbezirke von Paris", sagte Charles über Mikrofon durch. "Unser erster großer Stop wird der Place de la Basttille sein, wo am vierzehnten Juli 1789 das Staatsgefängnis von aufgebrachten Bürgern gestürmt wurde."

"Da müssen wir nicht hin, Messieurs", sagte der vorderste Passagier, ein gewisser Waldemar Luganov. "Hier abfahren und in eine Nebenstraße rein und da anhalten!"

"Wie bitte. Monsieur Lepont hat gesagt, wir sollen Sie nach Paris hineinbringen und Sie zu Ihren Hotels fahren", widersprach Charles, der unvermittelt sehr nervös mit den Fingern auf dem Lederbezug des Lenkrads herumtrommelte. Was wurde das hier?

"Wir Reisende. Lepont hat gesagt, wir sagen, wo wir hin wollen", sprach Luganov mit starkem Akzent. Dabei lächelte er zum ersten Mal. François erstarrte. Das konnte doch nur ein sehr übler Scherz sein. Der Mann hatte Vampirzähne? Doch als er in den Rückspiegel und zur Frontscheibe hinaussah kam ihm dieser Vergleich absurd vor. Draußen schien noch die Sonne, und die Gesichter der Reisenden waren deutlich im Glas des Rückspiegels zu erkennen. Also nur ein Gebißfehler des Mannes oder ein ziemlich übler Scherz. Charles befolgte derweil die Anweisung. Denn Lepont hatte ihnen wirklich gesagt, die Fahrgäste dort herauszulassen, wo sie meinten, ihre Tour beginnen zu wollen, bevor sie in ihrem bereits gebuchten Hotel ankamen. So rumpelte der Reisebus über eine reparaturbedürftige Nebenstraße, bis Luganov anzuhalten befahl. Charles öffnete die drei Einstiege. Kaum das die Türen sich zischend gegen den Rahmen schoben, stürmten die ersten Fahrgäste wie von ihren Sitzen katapultiert aus dem Reisebus hinaus und in die Landschaft hinein. In nur zehn Sekunden waren achtzehn Passagiere von Bord und im schnellen Lauf unterwegs. Übrig blieben Luganov und seine Stellvertreterin Amalia Rugova. Als die Fahrer die beiden ansahen entblößten die beiden lange weiße Fangzähne und grinsten. "Wir bedanken uns, daß Sie uns geholfen haben, unbemerkt herzukommen. Damit Sie nicht sehr qualvoll sterben müssen, hat unser Herr und Gebieter uns erlaubt, Ihnen zum Dank die Gnade unserer Familie zu gewähren. bis unsere Brüder zurückkehren werden Sie beide Amalias und meine Kinder sein."

"'tschuldigung, Monsieur. Aber für eine Vampirstory wurden wir nicht engagiert. Ihr Chef hat offenbar einen Fimmel für Horrorfilme, wie?" Entgegnete François in einer Mischung aus Verärgerung und Unbehagen.

"So entsetzlich ist das nicht. Tut vielleicht in den ersten Minuten sehr weh, aber tut Geburt immer", erwiderte die angebliche Stellvertreterin von Luganov. Dann fixierte sie Charles, den größeren der beiden Fahrer, der immer noch hinter dem Lenkrad saß und sich auch fragte, was das sollte. Als er in die dunkelgrünen Augen der Frau mit den Vampirzähnen sah, vergaß er jeden Fluchtgedanken. Sein Wille schmolz wie Wachs in der Kerzenflamme. François hingegen begehrte auf, als Luganov ihn mit seinem bannenden Blick einzufangen versuchte. Er trat vor und wollte den Kerl beim Kragen packen, um ihn auszufragen, was die ganze Sache sollte. Doch der unheimliche Fahrgast packte ihn mit einer Hand und stieß ihn mit dem Kopf gegen die Frontscheibe. Fast wäre diese unter der Wucht des Anpralls gerissen. Doch der unheimliche Fahrgast kannte seine übermenschlichen Kräfte gut genug, um den Fahrer gerade ohnmächtig werden zu lassen. Er betätigte den Schalter für die Türen und ließ alle drei Einstiege zischend verschließen. Dann sah er, wie seine Gefährtin und Blutsschwester den gerade unter ihrem Zwang stehenden Zweitfahrer von seinem Sitz pflückte und ihn auf den Boden legte. Sie sah Waldemar fragend an und dachte ihm zu: "Ich zuerst?"

"Ja, fang mit ihm an und lass ihn bei dir trinken. Ich nehme mir seinen rechten Arm, um ihn als unseren gemeinsamen Sohn zu weihen."

Als François Dubois mit wild pochendem Schädel wieder zu sich kam sah er wie durch wirbelnden Nebel, wie die beiden Fahrgäste über einem leblosen Körper hockten. Es war sehr sonderbar, wie die Frau den Kopf seines Kollegen stützte, während dieser laut schmatzend an ihrer linken Brust saugte wie ein Baby. Der Typ, der ihn gegen die Windschutzscheibe geworfen hatte, hatte Cahrles' rechten Arm im Mund und sog ebenfalls laut schmatzend und schlürfend. François erschauerte. Das konnte doch nicht wirklich passieren. Die Frau drückte Cahrles' Kopf sanft zurück, um aus einer wild blutenden Halswunde zu trinken, bevor sie ihn wieder anlegte wie eine stillende Mutter ihren Säugling. Die waren doch wahnsinnig. Die brachten Charles um und ihn gleich auch noch. Er versuchte, sich aufzuraffen und fühlte, wie die Welt um ihn einen wilden Tanz aufführte. Doch dann kam er ganz zu sich und blickte sich um. Die Türen waren zu. Wenn er aufstand bemerkten ihn die beiden Irren, die sich an seinem Kollegen zu schaffen machten. Er mußte ihn retten. Ein Sprung zu diesem Kerl, um ihn von Charles wegzureißen. Doch als er ansetzte, loszuspringen, fing ihn der Blick der Vampirin ein, die gerade seinen Kollegen an der Brust hatte. Sie lächelte ihn warm an. Nur die beiden dolchartigen, blutverschmierten Fangzähne störten den Eindruck, eine fürsorgliche Mutter vor sich zu sehen, die einem die Angst vor Gewitter oder dem Arzt nehmen will. François versuchte, der irgendwie hypnotischen Kraft ihrer Augen auszuweichen. Doch es gelang ihm nicht. Wie hätte er auch wissen können, daß die im Laderaum freiwerdende Strahlung ihn für die Bannblicke dieser Vampirin so empfänglich machte wie das menschliche Auge für das Sonnenlicht. Er fühlte seinen letzten Widerstand schwinden und hörte in seinem Kopf die beruhigende Botschaft: "Du darfst gleich auch zu mir, wenn dein Bruder schläft." Der Fahrer des Reisebusunternehmers Lepont konnte sich nicht mehr bewegen. Er sah völlig tatenlos zu, wie Charles von den beiden Vampiren ausgesaugt wurde. Er verstand, warum die Vampirin ihm die Brust gab, weil sie die Brustwarzen angeritzt hatte, so daß Charles ihr Blut daraus saugen konnte. Dadurch fand eine Vermischung zwischen seinem und ihrem Blut statt. Auch als Cahrles aus einer angeritzten Ader im Arm Luganovs Blut trank, war dies ein Bestandteil der Zeremonie. Dann fiel Charles in einen todesähnlichen Zustand. Als die Reihe an ihn kam, wehrte er sich nicht einmal.

Während seiner Umwandlung begannen die beförderten Abkömmlinge Volakins, außerhalb des Busses die ersten neuen Artgenossen zu erschaffen.

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"Wo bist du?" Schnarrte Tracy Summerhill sehr verunsichert. Diese Stimme war in ihr Haus eingedrungen, durch die Luft.

"Ich erwarte dich außerhalb des Schutzes, Schwester Tracy", klang die warme, entschlossen klingende Altstimme. "Sonorus", dachte Tracy Summerhill. Dieses Hexenweib, daß ihren heißgeliebten Neffen Lucas auf dem Gewissen hatte, wagte sich nun zu ihr, wohl um sie auch noch zu töten. Sollte sie das Ministerium rufen, um sie festnehmen zu lassen. Durch die Schutzzauber war sie jedenfalls nicht durchgebrochen. Dann siegte in Tracy die Wut. Sie wollte dieser Mörderin persönlich gegenübertreten, wenn diese schon meinte, sie auch noch umbringen zu müssen. Vielleicht kam es zum Duell. Dann fiel ihr ein, daß dieses Weib noch davon ausgehen mußte, sie habe für ihren Neffen gegen sie spioniert. Dann würde genau das passieren, was Lucas sich vor seinem Tod erhofft hatte, daß eine der beiden auf der Strecke bleiben würde. Wollte sie ihm das wirklich posthum durchgehen lassen? Aber diese Mörderin stand da draußen. Tracy wirkte den Sonorus-Zauber und rief zurück, daß sie mit einer Mörderin nicht sprechen würde.

"Wenn du das Märchen glaubst, daß dein Neffe und seine Handlanger ins Werk setzten, um die ganze Zaubererwelt zu täuschen, dich und mich eingeschlossen, Schwester, so verharre im Schneckenhaus deiner Furcht und Vorurteile. Dann wirst du aber keine Möglichkeit erhalten, deinem Geliebten und Neffen das Leben zu retten. Denn er wagte es, mich als seine Mörderin auszugeben und damit meine Pläne zu stören. Das darf und werde ich ihm nicht durchgehen lassen. Bist du in einer Minute nicht bei der großen Eiche außerhalb der magischen Umfriedung, in deren Schutz du dich so sicher fühlst, wirst du nur noch aus der Zeitung erfahren, daß eine zweite Leiche deines Neffen aufgefunden wurde, und womöglich in einer zur Bestattung nicht mehr brauchbaren Form. Eine Minute, Schwester Tracy!"

"Ich bin nicht deine Schwester, nicht im Blut und auch nicht im Geiste", schnarrte Tracy, und der Stimmverstärker brüllte es hinaus in die Umgebung.

"Im Geschlecht bist du es, Tracy Summerhill, Tochter der malvina, Schwester der Amarantha. Nun hast du nur noch fünfzig Sekunden zur Verfügung!" Antwortete die Stimme der Mörderin. Oder war sie doch keine Mörderin? Tracy wollte diesen Humbug nicht glauben, daß die da draußen ihren Neffen nicht umgebracht hatte. Doch warum war ihr Neffe dann so offen und öffentlichkeitswirksam ermordet worden, wo diese Kreatur da draußen dafür berühmt war, im Verborgenen zu agieren. Sie hatte Zeugen hinterlassen. Das hatte sie schon damals verwundert. "Noch vierzig Sekunden, Schwester!" Wurde ihr die bleibende Bedenkzeit entgegengerufen.

"Kann ich den Todesfluch?" Fragte sich Tracy. Sie hatte einiges gelernt, was anständige Hexen nicht lernen sollten, weil sie von ihrer mutter einige alte Bücher geerbt hatte. Aber ob sie einen Mitmenschen mit zwei Worten töten konnte, auch wenn dieser Mitmensch brandgefährlich war und womöglich ihren Neffen ... Dann könnte sie es wohl. Sie ging zur Wohnungstür. Noch blieben ihr dreißig Sekunden. Um den Weg zur Grenze des Schutzbereiches schneller zu überwinden disapparierte sie außerhalb des Hauses. Sie apparierte jedoch nicht am Treffpunkt, um gleich in einen Fluch reinzurennen, sondern knapp zwanzig Meter davon entfernt, so daß sie die Eiche nun zwischen sich und dem Haus stehen hatte. Da stand sie, diese Mörderin. Sie trug jenen rosaroten Umhang, von dem ihr Luke erzählt hatte. Irgendwie wirkte dieser Umhang sehr aufgebauscht, als trüge sie noch etwas darunter. Sie blickte auf das Haus. Offenbar wartete sie darauf, daß Tracy von dort kommen würde. Tja, so leise apparieren konnte nicht jeder, dachte Tracy, als die Verbrecherin bei der Eiche mit einer eleganten Drehung im Nichts verschwand. Die Zeit war noch nicht ganz verstrichen, dachte Tracy, als neben ihr mit leisem Plopp etwas aus dem Nichts erschien. Sie schrak zusammen.

"Es ist immer klug, nicht sofort einen angebotenen Treffpunkt anzusteuern, Schwester", sagte die Sardonianerin erfreut lächelnd. "Und den Zauberstab solltest du besser senken. Kein Fluch den du kennst kann mich erreichen, auch nicht Avada Kedavra. Denkst du, ich würde mich einer auf Rache sinnenden Hexe so schutzlos ausliefern? Das ich dir nicht nach dem Leben trachte darfst du dem Umstand entnehmen, daß ich dich nicht sofort, als du an diesem Punkt erschienen bist mit einem Bewegungsbann und dann einem tödlichen Fluch attackiert habe. Du hättest nicht gerade so nahe bei mir erscheinen dürfen. Na, nicht doch." Tracy setzte an, der Hexe einen Ganzkörperklammerfluch aufzuerlegen. Die Sardonianerin machte eine diesen Zauber abweisende Schlenkerbewegung mit ihrem Zauberstab. Tracy verstand sofort, daß sie besser okklumentieren sollte. Denn wenn die Hexe da ihre Apparition nicht gehört hatte und auch wußte, daß sie mit dem Gedanken an Rache gespielt hatte, dann nur, weil sie Gedanken hören konnte. Also stammte sie wirklich aus Sardonias Blutlinie, besaß zumindest deren geistige Fähigkeiten. Tracy okklumentierte und feuerte einen Schockzauber auf die Fremde ab. Dieser zerplatzte einen Zentimeter vor dem Gesicht der Hexe in der Luft.

"Ich erwähnte es, daß ich wider derartige Anfechtungen gewappnet bin, Tracy Summerhill", lachte die, die Tracy für die Mörderin ihres Neffen hielt. Zumindest hatte sie sie diesmal nicht als ihre Schwester angesprochen. "Wir hätten uns schon an dem Tage treffen sollen, als dein Beischläfer und Sohn deiner Schwester befand, uns wiedereinander auszuspielen, Schwester. Oder hast du dich nicht wirklich gefragt, was dein Neffe im Schilde führte, als er verlautbaren ließ, dich wider meine Mitschwestern und mich einzusetzen, obwohl dies nicht der Wahrheit entsprach?"

"Mir war klar, daß er dich auf mich hetzen wollte", schnarrte Tracy Summerhill. "Aber ihm sollte da auch klar gewesen sein, daß ich vor dir und deiner Hexenbande sicher war. Also was soll dieses verlogene Getue, mein Neffe sei nicht tot und du hättest mit seiner Ermordung nichts zu schaffen?"

"Nicht mehr und nicht weniger, als daß er dich und auch mich an der Nase herumzuführen wagte. Er stellt mich als seine Mörderin dar, um trotz seiner erheblichen Mißerfolge und der ihm entgegengebrachten Ungnade sein Ziel zu erreichen, uns Hexen für alle Zeit aus öffentlichen Ämtern zu verdrängen. Kann dir dies recht sein, Tracy Summerhill?"

"Ich habe seine Leiche gesehen und sehe sie jede Nacht im Traum, du Hure", fauchte Tracy. Doch die Sardonianerin lachte nur.

"Genauso, wie es einen jungen Mann gab, der in deiner Gestalt ausgeschickt wurde, mich auszuspähen. Hätte ich ihn getötet, wärest du jetzt ein beerdigter Leichnam." Tracy erstarrte. Woher wußte diese Mörderin das mit Shorewood, der es gewagt hatte, mit Vielsaft-Trank in ihrem Körper herumzulaufen?

"Woher hast du das mit diesem dummen Jungen?" Fragte sie frei heraus.

"Von einem der Wasserträger deines Neffen, die auszogen, meine Schwestern und mich zu erlegen wie Jagdwild. Es gelang mir, ihm die Erinnerung an jene Machenschaft zu entwinden, die dich gegen mich auszuspielen trachtete. Und ich muß sehr stark annehmen, daß eben jener Alwin Shorewood nicht nur deinen Körper mit Vielsaft-Trank annahm, sondern auch den deines Neffen, um in seinem Namen den Tod zu empfangen. Dein Neffe denkt, er habe einen sauberen Abgang vollzogen und könne nun dort warten, wo er sich aufhält, wohl im tiefen Zauberschlafe vor Hunger und Durst bewahrt, bis der Tag anbricht, an dem er seine Rückkehr in die Welt der Lebenden vollführen darf. Bis dahin wirst du von ihm träumen, im traurigen wie im leidenschaftlichen, und ich werde ständig gejagt. Gut, niemand wird mir abnehmen, nicht für den Tod deines Neffen verantwortlich zu sein, sofern ich nicht jene beibringe, die so taten, als hätten sie in meinem Namen getötet."

"Hast du schon überlegt, daß deine achso eifrigen Mitschwestern meinen Neffen getötet haben, weil sie denken, du wolltest das so?" Fragte Tracy Summerhill.

"keinen Moment. Denn dies wäre ein Bruch der Treue, die ich ihnen auferlegte, mich in der Öfffentlichkeit derartig in Verruf zu bringen."

"Das ich nicht lache, du Biest. Dein Ruf ist dir doch nichts wert, wenn du meinst, unschuldige Leute erpressen, terrorisieren, foltern, dem Imperius-Fluch unterwerfen oder töten zu können, wenn sie dir im Weg stehen. Du bist in der Hinsicht nicht anders als dieser Psychopath Voldemort oder diese Schlange, deren Erbin zu sein du behauptest."

"Deine Wut gibt dir Übermut ein. Wenn ich wirklich so mordlüstern wäre wie dieser Selbstverstümmler Tom Riddle, der sich den Kampfnamen Voldemort verlieh, wärest du jetzt tot, und niemand würde etwas finden, was bestattet werden könnte. Aber ich bin nicht auf pure Zerstörung aus. Mir liegt daran, daß dein Neffe nicht mit seinem Betrug durchkommt. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, ihn zu finden und dann wahrhaftig hinzurichten, wenngleich ich ihm die Gnade des sofortigen Todes nicht erweisen wollte. Doch dann fiel mir ein, daß du deshalb nicht davon abkommst, ich sei Schuld am Tode deines Neffen. Und mir liegt daran, daß Hexen aller Welt erkennen, daß ich keine Todbringerin, sondern die Fackelträgerin einer besseren Ordnung bin, die aus den Fehlern ihrer Tante gelernt hat und die pure Gewalt eines Tom Riddle verachtet, wenn es genug Auswahlmöglichkeiten gibt."

"Sag das mal den Toten von Cloudy Canyon und denen, die immer noch jede Nacht von deiner Schreckensbrut träumen müssen!" Schnarrte Tracy.

"Deshalb war es ja auch ein leichtes für deinen Neffen, den bereits entzündeten Haß wider mich zu nähren", grummelte die Sardonianerin. Sie pausierte eine Sekunde, um zu hören, ob Tracy etwas dazu sagen würde. Diese hielt jedoch nur ihren Zauberstab halb erhoben. "Ich mußte mir bedingungslos folgende, ohne Antigravitationszauber flugfähige Helfer mit ausreichender Kraft herbeirufen, um die in der alten Welt wütenden Kreaturen aus der Vorzeit niederzukämpfen. Ich konnte nicht wissen, daß die Feinde dieser Kreaturen noch wach waren, um einzugreifen. Und was Valery Saunders anging, so trachtete ich nicht danach, ein eigensinniges, auf eigene Vorherrschaft ausgehendes Ungeheuer zu erwecken und habe sie am Ende selbst vernichtet, um sie uns vom Hals zu schaffen, etwas, was dein Neffe mit aller ihm gebotenen Macht nicht erreichte."

"So, und warum so spät, du Bestie?" Spie Tracy ihr entgegen.

"Ich war über mehrere Monate verhindert. Mehr muß dich nicht kümmern. Jemand meinte, mich für alle Zeiten aus dem Weg schaffen zu können und profitierte von einem Fehlschluß meinerseits. Doch ich bin wieder da und konnte dieses Ungetüm, daß ich aus Übereifer nicht mit sicheren Bestandteilen erschuf erst später vernichten."

"Bestandteile? Du sprichst von jungen Mädchen, die du in diese Monstren verwandelt hast als Bestandteile? Daran sieht man doch, daß du wahrlich nichts von Menschlichkeit hältst, du Heuchlerin. Dir sind wie dieser Sabberhexe Sardonia alle Mittel recht um ..." Da erwischte Tracy eine Woge unerträglicher Schmerzen. Sie wurde in die Luft gerissen und schrie in unbeschreiblicher Agonie. Sie meinte, jemand würde ihr die Eingeweide mit glühenden Zangen aus dem Leib reißen, ihre Brüste von innen mit kochendem Wasser aufpumpen und in jede Nerven- und Muskelfaser glühende Nadeln bohren. Doch so plötzlich wie die gnadenlose Qual über sie hereingebrochen war, verschwand diese auch wieder. Tracy fiel wimmernd und mit über das Gesicht strömenden Tränen zu Boden.

"Du hast den Cruciatus-Fluch noch nie erfahren müssen, nicht war, Schwester. Dann nimm ihn als nötige Unterweisung, meine ehrwürdige Tante und mich nie wieder so respektlos zu benennen!"

"Crucio!" Schrie Tracy mit auf die Hexe in Rosarot zustoßendemZauberstab. Doch es knisterte nur vernehmlich um die Gegnerin herum. Diese lachte nur.

"Ich sagte, daß mich nichts erreichen kann, was du wider mich zu werfen magst, Tracy. Aber deine Wut gefällt mir. Sie sagt mir, daß dir etwas daran liegt, aufzuklären, was mit deinem Neffen wirklich geschah. Wie bereits erwähnt kann ich ihn auch ohne dich finden und dann einen langsamen, sehr quallvollen Fluch über ihn sprechen, daß er sich wünscht, er hätte mich nie im Leben verärgert. Aber ich biete dir etwas an, daß du überdenken und dann entscheiden kannst. Ich biete dir sein Leben an, auf daß du es in bessere Bahnen lenken kannst, als seine Machtsucht es bisher geführt hat. Er denkt, er handele zum Wohl der Zaubererwelt, wenn er wider mich und meine Schwestern kämpft. Doch in Wirklichkeit strebt er nach Bestätigung, nach Erfolg und nach Herrschaft. Man hätte ihm das Amt des Zaubereiministers nicht geben dürfen und ihn lieber bei dir belassen."

"Du Heuchlerin", schnarrte Tracy, darauf gefaßt, gleich wieder die unsagbaren Qualen des Cruciatus-Fluches zu spüren. Doch Ihre unangenehme Gesprächspartnerin lächelte nur und entgegnete:

"Ich meine es, wie ich es sage. Mit Davenport hatte ich keinen Streit. Cartridge jagt mir nur nach, weil er nun davon ausgeht, ich würde mir mißfallende Amtsträger hinschlachten. Doch als er vor deinem Neffen Minister war half ich ihm sogar, die übermütige Vampirin Nyx zu vertreiben. Ich kann wunderbar mit eurem Gefüge koexistieren, weil ich weiß, daß ein abrupter Wechsel nur Angst und Chaos weckt. Was ich jedoch nicht zulasse und dem deshalb immer wieder entgegenwirken werde, ist eine mutwillige Zerstörung der magischen Welt und eine aus Vorurteilen und Abscheu genährte Verachtung aller Hexen, wie auch du eine bist. Und genau, weil ich keine auf Mord geprägte Hexe bin und weil ich habe lernen müssen, daß der Weg meiner Tante nicht in gerader Linie zum Ziel führen kann und ihre Werke nur die allerletzte Lösung sein dürfen, biete ich dir das Leben deines Neffen. Du hast genug Zeit, es dir zu überlegen. Wenn ich weiß, wo er ist, werde ich dir verkünden, daß ich ihn aufsuchen werde. Allerdings werde ich dir nicht mitteilen, wo er sich versteckt hält. Dann entscheide, ob du dich seiner mit aller mütterlichen Fürsorge annehmen möchtest oder ihn für immer verlieren möchtest. Sicher liebst du ihn als erwachsenen Mann, weil er dir wonnige Nächte bereitet hat. Doch rührt das nicht eher daher, daß du seine Mutter neidest, ihn getragen und geboren zu haben und er nach ihrem Tod in deinem Schoß den Halt fand, den seine Mutter ihm nicht länger als vierzig Wochen geben konnte? Ich biete dir sein ganzes Leben. Nimm es oder erfahre, daß seine Täuschung zur bitteren Wahrheit wurde. Ich gebe dir eine Woche zeit. Dann wirst du dich entscheiden müssen. Denn spätestens dann werde ich seinen Unterschlupf ausheben. Gehab dich bis dahin wohl, Schwester!" Tracy Summerhill riß den Zauberstab hoch, weil die Andere es tat. Doch als sie gerade einen Fluch auf sie schleudern wollte verschwand die Sardonianerin im Nichts. Tracy stand einen Moment da wie vom Donner gerührt. Hatte diese Hexe sie nun verwirren wollen? Aber warum? So wichtig war sie nach Lukes Tod oder zumindest dessen Verschwinden nicht mehr, um sie derartig zu verunsichern. Ja, es stimmte, daß sie dieser Hexe den Tod wünschte. Doch andererseits empfand sie auch einen gewissen Zweifel an den offiziellen Meldungen. Ja, es war möglich, jemanden durch Vielsaft-Trank als Minister auszugeben. Sie hatte ja genau das getan, um ihren Neffen zu beschützen, als er die Einladung erhalten hatte, bei der Vernichtung dieses Insektenmonsters und seiner Brut anwesend zu sein. Womöglich hatte sie ihren neffen auf den Geschmack gebracht, obwohl er ihre Entscheidung sehr mißbilligt und sie aus seiner Nähe verbannt hatte. Es stimmte auch, daß sie mit zu seiner Entmachtung beigetragen hatte, weil er sie als angebliche Spionin gegen diese Nachtfraktionsschwestern ausgegeben hatte. Auch da hatte er mit Vielsaft-Trank gearbeitet. Dann Shorewood. Diese Hexe hatte es kurz erwähnt, daß er es gewesen sein mochte, der in der Körperform ihres Neffen den Tod gefunden hatte, um eine bestattungsfähige Leiche zu hinterlassen. Das könnte er wirklich angezettelt haben, als er nur noch die Wahl hatte, sein Amt niederzulegen oder abgesetzt zu werden. Er mußte davon ausgehen, daß sie ihn wegen seiner Aktion nicht mehr bei sich aufnehmen würde. Außerdem, das fiel ihr jetzt ein, hätte dieses Hexenweib sich mit der nachweisbaren Ermordung ihres Neffen tatsächlich mehr zur Jagdbeute vergeltungshungriger Hexen und Zauberer gemacht. Damit hätte sie die umstrittene Politik ihres Neffens gerechtfertigt, Hexen pauschal zu verdächtigen. Sie hätte somit nie wieder eine Möglichkeit erhalten, ihr getreue Hexen in wichtigen Positionen unterzubringen. Also wäre es doch sehr dumm gewesen, Zeugen zu hinterlassen, wenn sie wirklich diesen Mord oder diesen scheinbaren Mord verübt hätte. Scheinbar? Einer war ermordet worden. Einer, der zum Zeitpunkt seines Todes wie ihr neffe Lucas ausgesehen hatte. Ihr fiel die Zeitungsmeldung über den Überfall auf Linda Knowles ein. Die Schwester und der Bruder von Alwin Shorewood waren in Linda Knowles Haus gewesen, als eine Gruppe dieser Sondereinheit My das Haus gestürmt hatte. Konnte das sein, weil die beiden ihren Bruder suchten und bei Linda Knowles offene Ohren für ihre Sorgen erhoffen konnten? Dann ergab es auch einen Sinn, daß Spikes versucht hatte, Minister Cartridge mit dem Imperius-Fluch zu belegen. Davon hatte sie auch nur deshalb erfahren, weil sie seit ihrer Zeit im Ministerium gute Kontakte in die Bilderwelt dort unterhielt. Womöglich hatte diese Truppe den Auftrag, sicherzustellen, daß niemand innerhalb des Ministeriums argwöhnte, ihr Neffe und langjähriger Liebhaber Lucas Wishbone sei nicht wie erwähnt ermordet worden. Und was hatte diese kaltblütige Hexe da noch gesagt? Sie sei bereits dabei, Lucas' Schlupfwinkel zu finden. Also mochte sie etwas wissen, was ihr angeblich weiterhalf. Eine Woche hatte sie Zeit. Lächerlich, wenn Lucas schon längst tot war. Doch wollte sie jetzt wirklich ausschließen, daß er noch lebte und sie alle getäuscht hatte, am meisten sie, seine Geliebte? Dann dachte sie daran, was dieses Weib ihr angeboten hatte. Sie konnte sein ganzes Leben haben und ihm die Fürsorge einer Mutter geben, um die sie ihre Schwester beneidet habe. Tracy war sich sicher, gut okklumentiert zu haben. Auch kamen aus ihrem Haus keine Gedanken heraus, die nicht auf einen blutsverwandten Empfänger gerichtet waren. Dennoch hatte diese Hexe sie durchschaut. Ihr lag daran, mit Lucas zusammen zu sein, ihn so nah es ging mit sich zusammenzubringen. War das wirklich die Liebe einer erwachsenen Frau für einen erwachsenen Mann, oder Ersatz für etwas, was ihr nicht mit ihm vergönnt gewesen war? Ja, eine Form von Liebe empfand sie für Lucas. Sie sah ihn dabei immer als Baby, als Schuljunge und dann als Erwachsenen. Sie träumte von ihm, seit er offiziell tot und begraben war. Meistens träumte sie von seinen ersten Lebensjahren und von Streitigkeiten, die sie mit seiner Mutter ausgefochten hatte. Dann loderten immer wieder leidenschaftliche Erinnerungen in ihr. Wie paßte das zusammen? Sie beschloß, in die Sicherheit ihres Hauses zurückzukehren. War es ein Federhandschuh, den die Sardonianerin ihr vor die Füße geworfen hatte, oder ein Ölzweig, den sie ihr anbot? So oder so, ihr Glaube an das, was vor nun bald einem Monat geschehen war war sehr heftig ins Wanken geraten.

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"Verdammt, Sie alte Sabberhexe. Wie haben Sie mich hier ...", schnarrte Spikes, als er Donata Archstone sah. Sein erbeuteter Zauberstab lag kampfbereit in der Hand. Bisher hatte er damit wunderbar zaubern können.

"Es war meine Idee, Ihnen und anderen Ignoranten, die Wishbones Arbeit als richtig und weiterzuführen ansahen bei ihrer Inhaftierung mit Localisatus-inanimatus bezauberte Gefängniskleidung zu geben. Denn wir mußten davon ausgehen, daß längst nicht alle Seelenwächter Minister Cartridge folgen würden. so konnten wir Sie überwachen. Eine Mithörmuschel verriet mir, die ich keine fünfzig Meter von der Verhörzelle entfernt saß, daß Sie den Einfluß des Veritaserums nur vorgespielt haben. Denn Sie haben für einen ständig sofort alles ausplaudernden zu lange überlegt, wie Sie antworten mußten. Ein sehr dummer Fehler, Mr. Spikes. Sie hätten uns ruhig reinen Wein einschenken und Ihre Strafe damit womöglich erheblich reduzieren können. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie morgen schon wegen erwiesener Täterschaft und wegen des Dämonsfeuer-Anschlages im Ministerium in Tateinheit mit allen daraus entstandenen Sach- und Personenschäden aburteilen zu lassen."

"Ach ja", schnarrte Spikes und zielte schnell. Er öffnete den Mund, um die zwei unverzeihlichen Zauberworte zu rufen, mit denen er diese Opportunistin und Verräterin aus dieser Welt stoßen würde. Da hörte er genau diese Worte von einer warmen, aber wild entschlossenen Altstimme von rechts klingen. Er fuhr herum und sah einen silbergrau glänzenden Zauberstab auf seinen Kopf zielen und erkannte einen Moment lang das hellhäutige, sommersprossige Gesicht der Wiederkehrerin. also hatte Donata doch für diese gearbeitet. Da explodirte vor seinen Augen ein gleißendgrünes Licht. Dann war ihm, als schwebe er in tiefster Finsternis. Doch da war etwas, das ihn hielt. Er sah verschwommen die Blockhütte. Dann meinte er, von unheimlichen Worten, bei denen immer wieder sein Name erklang, wie von dicken Fangarmen gepackt zu werden und gnadenlos auf ein hell leuchtendes Etwas zuzutreiben, das in seiner Richtung in der Leere hing. Es war wie ein riesiges, rotgolden rotierendes Feuerrad. Das war also der Tod, dachte Spikes. Gleich würde er wissen, ob es nicht doch einen Ort der Bestrafung gab.

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Donata sah, wie Spikes unter dem Todesfluch sein Leben aushauchte. Doch was Anthelia jetzt tat hatte sie bisher noch nie gesehen. Sie zog ihr magisches Medaillon hervor, sprach ein Wort, mit dem ihr Zauberstab aufleuchtete und sang eine mehrzeilige Zauberformel, aus der sie nur den Namen Justin Spikes heraushören konnte. Donata sah, wie Spikes' Körper aufglühte und darüber eine schemenhafte Erscheinung schwebte, Spikes' Geist. Dann umfingen ihn verschiedenfarbige Lichtstrahlen, die aus Anthelias Medaillon schossen und das Geistergebilde auf das nun rotgolden glühende Schmuckstück zuzogen. Was war das für ein Zauber? Sie wußte, daß Anthelias Medaillon eine mächtige Waffe war und vom dunklen Druiden Dairon erschaffen worden war. Doch welche Macht es barg wußte sie nicht wirklich. Zwar hatte sie vermutet, daß Anthelia darüber Daianira beeinflußt hatte, sich auf diese Insel zu begeben, wo diese zur Ungeborenen geworden war und Anthelia Daianiras Mutterschoß entschlüpft war. Doch was da jetzt mit Spikes Geist oder Seele geschah flößte ihr ein unangenehmes Unbehagen ein. Vor allem wenn sie sah und hörte, wie sich das gefangene Geisterwesen gegen den auf es wirkenden Zauber wehrte. Doch es entkam nicht. Es wurde in das Medaillon gezogen und verschwand darin. Anthelia zuckte zusammen, bekam einen leicht verklärten Ausdruck im Gesicht und kämpfte dann wohl mit einem anderen Zauber gegen was auch immer an. Doch dann stand sie ruhig da.

"Er wollte es nicht anders, Schwester Donata", sagte Anthelia. "Er hätte dich fast mit einem tödlichen Fluch angegriffen. Gut, daß ich meine Unterredung früh genug beenden und in deiner Nähe apparieren konnte, sonst hätte ich eine würdige Mitschwester verloren, und die sogenannten Entschlossenen hätten sich eine neue Führerin erwählen müssen."

"Hast du ihn in diesem Ding da ...", seufzte Donata und deutete auf das nun nicht mehr leuchtende Medaillon mit dem runden Rubin in der Mitte.

"Sein Wissen und seine Erfahrungen sind nun mein", sagte Anthelia. "Ich hätte ihn gerne leben gelassen,um ihn womöglich dazu zu bringen, Wishbone für uns zu wecken. Aber so habe ich nun auch alles, was dies betrifft, in meinem Besitz. Es ist wahrhaftig, daß dieser Bursche sich in einem Haus in mitten des weiten Graslandes im westlichen Landesinneren für unbestimmte Zeit zur Ruhe gebettet hat. Doch wecken kann ihn nur von einem seiner Getreuen zumentiloquierter Schlüsselsatz. Niemand anderes kann ihn erreichen. Auch Sanguivocatus, der Zauber, der eine Brücke zwischen Blutsverwandten schlägt, kann nicht wirken, da er nur wache Bewußtseine verbinden kann. Das haben die sich schon gut ausgedacht. Aber wer mich derartig herausfordert muß darauf gefaßt sein, daß ich mich bei ihm einstelle."

"Sie hätten den Ort mit Fidelius-Zauber verbergen können", sagte Donata. Anthelia nickte, warf dann aber ein, daß Fidelius einen Zauberschlaf schwächen konnte. Da niemand wußte, wie lange Wishbone schlafen müsse, verzichteten sie lieber darauf, den Fidelius-Zauber anzuwenden. "Nun denn. In einigen Tagen werde ich den Schlafplatz des scheinbar dahingemeuchelten aufsuchen, wenn ich einen ihm getreuen Verbündeten gewinnen konnte, Wishbone aufzuwecken", beendete Anthelia ihre Erläuterung. Dann beschlossen die beiden, den Tod von Spikes als letzte Maßnahme zur Verhinderung einer weiteren Katastrophe auszugeben. Donata bejahte es.

"Hoffentlich konnten alle aus dem Ministerium entkommen. Dämonsfeuer ist unberechenbar", sagte Donata.

"Nur für die, die zerstören wollen geeignet", schnarrte Anthelia.

"Und, was sagt sie?" Fragte Donata.

"Natürlich will sie nicht so leicht glauben, was ich ihr sagte. Sie wollte mich sogar foltern und töten. Aber ich habe dann doch mein Angebot unterbreitet. Ich weiß nur nicht, ob er darauf eingehen wird, wenn es soweit ist."

"Du meinst sie, höchste Schwester", meinte Donata, ihre Anführerin berichtigen zu müssen.

"Ich sagte er, Schwester Donata und meinte es auch genau so", erwiderte Anthelia überlegen lächelnd.

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Zaubereiminister Arcadi erfuhr, daß Volakin sich erneut in seinem Zuständigkeitsbereich herumtrieb. Seine Vampirjäger rückten aus, um den blauen Blutfürsten zu stellen. Doch von den fünfen, die loszogen, kehrte nur einer zurück. Die vier anderen waren zu Asche verbrannt oder zu neuen Dienern des Blutsaugers gemacht worden. Nun saß der mit seinem Strafverfolgungsbeauftragten Sergej Potemkin, seinem Zauberwesenexperten Gregori Crosnov und den Heilern Lara Bakunina und Timothy Preston zusammen in seinem Büro an einem sich gemäß der Personenzahl vergrößernden oder verkleinernden Konferenztisch.

"Wir müssen festhalten, daß wir diesem Ungeheuer mit herkömmlichen Vampirbekämpfungszaubern oder Waffen nicht beikommen konnten und selbst der Geruch von Knoblauch in diesem Unhold lediglich einen Reflex auslöst, Knoblauchblüten oder -zehen mit ihm eigenen Strahlenbündeln zu verbrennen. Das einzige, was ihm noch etwas anzuhaben scheint, ist fließendes Wasser. Und weil er das weiß, hält er sich bei seinen direkten Angriffen immer sehr von Bächen oder Flüssen fern", dozierte Arcadi. Dann holte er eine erbsengroße Kristallkugel aus seiner Umhangtasche und tippte sie mit dem Zauberstab an. Aus der Kugel drang ein weißer Lichtstrahl, der sich ausbreitete und dann ein über dem Tisch schwebendes, räumliches Abbild eines hageren Mannes mit zerschundener, blau leuchtender Haut zeigte. "Ein Erinnerungsbild von einem der ersten, die ihn sehen konnten und der die Begegnung überlebte, um drei Wochen später an dieser Strahlenseuche zu sterben", sagte Arcadi und zog den Zauberstab wieder fort, worauf das Abbild in die Aufbewahrungskugel zurückschnellte. Tim Preston, der zu dieser geheimen Unterredung eingeladen worden war und hierfür den Wechselzungentrank eingenommen hatte, bat um das Wort.

"Nach dem, wie dieser Vampir seine Opfer zu seinen Artgenossen macht muß ich wohl befinden, daß er verstrahltes Vampirblut ausgibt. Es ist höchstwarhscheinlich so stark mutagen, also Körperverändernd, daß die Verwandlung vom Menschen zum blau leuchtenden Vampir in wenigen Stunden abgeschlossen ist. Also ist das so ähnlich wie bei den Schlangenkriegern, die der selbsternannte dunkle Lord auf Europa losgelassen hat. Ich bestätige die Diagnose von Heilerin Bakunina, daß der Vampirfürst und seine Zöglinge von ständiger Strahlenzufuhr abhängig sind. Daher habe ich nach einem Trank geforscht, der Blut von strahlendem Material reinigt, ohne es vollkommen austauschen zu müssen, wie es die Kolleginnen Herbregis, Dawn und Trylief in der Sana-Novodies-Klinik in Australien 1986 angewendet haben. Das Problem ist nur, daß ich keine Probe von Vampirblut in der normalen Form habe, um den Trank in Vitro zu testen."

"Also ihn vor der Verabreichung in einem Probenglas reagieren zu lassen", übersetzte Heilerin Bakunina die Ausführung ihres britischen Kollegen, der als der Experte für Radiointoxikation und Spätfolgen berühmt geworden war, nachdem Bethesda Herbregis und ihre damalige Adeptin Aurora Dawn unfreiwillig auf diese Erkrankungsform gestoßen waren.

"Das Problem", ergriff nun der schwarz behaarte Crosnov das Wort: "Die blauen Vampire verglühen, wenn sie sterben und zerschmelzen dabei. Dabei müssen sie eine Menge dieser Strahlen ausstoßen. Anstatt ihr Blut von dem, was meine Großmutter Höllenhauch genannt hat zu reinigen, sollten wir Schutzmaßnahmen für die Vampirjäger und Tötungsmethoden aus sicherer Entfernung entwickeln." Preston nickte. Obwohl er noch sehr jung war galt er hier fast wie ein altgedienter Universitätsprofessor, was die Radioaktivität betraf.

"Entfernung ist der beste Strahlenschutz!" Wiederholte er etwas, was auch bei den Atomphysikern der magielosen Welt geläufig war. "Man müßte den Trank, wenn er wirkt, in hohlen Armbrustbolzen verschießen, deren Spitze bei einem Treffer abbricht. Dafür müßte ich aber noch herausfinden, wie ich den Trank pulverisieren kann, daß er wenig Raum einnimmt."

"Das ist das kleinste Problem. Mit dem Rauminhaltszauber kann ein hohler Armbrustbolzen ganze Kesselfüllungen aufnehmen", wandte Potemkin ein, ein Zauberer, dem wegen seiner Muggelvorfahren vor dreihundert Jahren Durmstrang verschlossen geblieben war und er deshalb im deutschen Zauber-Internat Greifennest gelernt hatte.

"Tja, hier haben wir die Diskrepanz zwischen Trankeffekt und Bezauberung von Materie zu bedenken", wandte Preston ein. Lara nickte bestätigend. "Wenn es kein reiner Wirkstoff wie Murtlap-Essenz oder Diptan ist, kann ein Trank seine Wirkung verlieren oder ein ihn umgebender und durchdringender Zauber kann von ihm verändert oder neutralisiert werden. Ich habe das noch nicht ausprobiert, wie mein Radiopurifikationstrank auf Rauminhaltsvergrößerungszauber reagiert. Bestenfalls schwächt sich seine Wirkung nur ab. Schlimmstenfalls kriegen wir einen heftigen Durchmischungseffekt."

"Das habe ich nicht mehr bedacht. Ich hatte Zaubertrankkunde nach den Zauberergraden abgewählt", grummelte Potemkin. Lara Bakunina erwähnte dann die Experimente mit federleicht bezaubertem Blei.

"Mittlerweile habe ich es raus, Blei um den Faktor hundert zu verstärken, was die Strahlungsabsorbtion angeht. Wenn die Menge groß genug ist, verträgt sie einen Federleichtzauber und kann zu Ganzkörperrüstungen ohne spürbare Belastung verarbeitet werden. Allerdings müßten wir für die Jagd auf die blauen Vampire mehrere solcher Ganzkörperrüstungen herstellen, also im industriellen Maßstab", erwiderte Preston. Arcadi sagte sofort zu, die Fertigung zu übernehmen. Preston erwiderte, daß auch die Thaumaturgen in Deutschland und England bereit seien, alle anderen Projekte zurückzustellen und diese Vollrüstungen herzustellen. Dann redeten sie noch über Maschinengewehre, jene tödlichen Dauerfeuerwaffen der Muggelwelt. Wenn es gelänge, Volakin und seinen Abkömmlingen mehrere Garben des Fortiplumbums, wie Preston es nannte, in die Leiber zu jagen, hätte das womöglich denselben Effekt wie der Radiopurifikationstrank.

"Dann kommen wir zu einem für uns nicht klar bestimmbaren Punkt. Volakin müßte an einem bestimmten Ort auftauchen, an dem wir ihn bekämpfen können. Jetzt wissen wir, daß er wohl von dem Strahlengift abhängig ist, also wohl gerne dort ist, wo diese Strahlung in großer Menge austritt. Falls dies ein Ort ist, an dem die sogenannten Atomkraftwerke laufen oder deren nicht weiter verwertbares Brennmaterial gelagert wird, gefährden wir womöglich eine ganze Region, wenn wir mit ballistischen Waffen der Muggelwelt gegenihn kämpfen", sagte Arcadi. "Wir können ihn nicht zwingen, an einem bestimmten Ort aufzutauchen, wo die Gefahr der Verseuchung kleingehalten werden kann."

"Tja, wie sagen die Muggel: Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muß der Prophet zum Berge kommen", erwiderte Preston. "Will sagen, wir müssen gut abgeschirmte Wachposten an den heißen Stellen hinsetzen, also da, wo die größte Strahlung gemessen wird. Außer dem verunglückten Reaktor von Tschernobyl, dem wir diesen Volakin zu verdanken haben, wären das alle weiteren Atomkraftwerke und Atommülllagerstätten."

"Ja, und da könnten wir ihn vielleicht mit Netzen aus ihrem Fortiplumbum einwickeln und per Apparition an einen Ort bringen, der ihm zum einen keine Kraftauffrischung durch Strahlung bietet und zum anderen keine Verseuchungsgefahr birgt, wenn dort größere Zerstörungskräfte wirken", sagte Potemkin. Preston wehrte jedoch ab, weil sein neues Blei nur in kompakter Form die gewünschte Wirkung zeige. Dünne Fäden in einem Netz würden es schwächen. Aber ansonsten fand er die Idee zumindest gut, Volakin fortzuschleppen. "Es dürfte auch einer der Captivitus-Säcke reichen, mit denen Pogrebins und Dreihörner eingefangen werden können", sagte Crosnov. "Wenn die Ausführenden genug Strahlenschutz haben reicht es aus, ihn weit genug von einem Strahlenherd wegzuschaffen und in einen Kampf zu verwickeln, daß er, sofern er das kann, nicht disapparieren kann." Damit war Tim Preston einverstanden. Somit wurde beschlossen, genug Radiopurifikationstrank für die Wachposten zu brauen und hundert Fortiplumbum-Rüstungen für die Jäger herzustellen. Diese sollten auch dahingehend getestet werden, ob ihre Kopfbedeckungen mit einem Kopfblasenzauber versehen werden konnten, so daß bis auf durch Bleiglaslinsen gebildete Gucklöcher keine Ritze für eindringendes radioaktives Material mehr da war. So arbeiteten Preston und Potemkin, der neben der Abwehr dunkler Kräfte auch viel von Thaumaturgie verstand, einen Fertigungsplan aus, nach dem die Rüstungen hergestellt werden sollten. Die Schlinge um den blauen Blutfürsten wurde gedreht. Wann und ob sie sich um seinem Hals zuzog konnten die Zauberer nicht auf den Tag genau festlegen.

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Anthelia hatte einen Brief von Vera Barkow erhalten, eine treue Mitschwester aus Rußland. Diese schrieb:

Sehr verehrte höchste Schwester,

sicherlich interessiert es dich, daß die Übergriffe jenes Vampirs, den sie alle den blauen Blutfürsten nennen, bei uns und auch in Westeuropa immer heftiger werden. Wir wissen langsam nicht mehr, wie wir ihn loswerden oder zumindest so stark schwächen können, daß er keine unkontrollierte Gefahr mehr ist. Da du Kontakte zu Abkömmlingen magieloser Eltern hast bitte ich dich, uns zu beraten, wie wir gegen diese Gefahr, die in der Muggelwelt entstand, vorgehen können. Denn viele Vampirjäger Arcadis sind bei dem Versuch, Volakin zu erledigen gestorben oder sterben nun am roten Tod. So haben wir das genannt, wenn einem erst die Haare ausfallen und dann immer größere rote Geschwüre auf der Haut entstehen. Wir bitten dich, uns zu helfen, wenn du einen Weg weißt.

Ehrerbietig grüßt dich

Vera Barkow

Anthelia zog die Stirn kraus. Was erwartete ihre Bundesschwester? Sollte sie jetzt zu ihr hin, um diesen verdorbenen Blutsauger zu jagen und zu töten? Sie erinnerte sich an die Diskussion, die Leda Greensporn und Daianira Hemlock geführt hatten. Demnach war Volakin durch das von Magielosen erbrütete Gift namens Radioaktivität verändert worden und verströmte die damit einhergehende Strahlung. Sie, Anthelia, wußte durch die Befreiung Cecils aus der Gewalt von Linus Price und den Aufenthalt in einem hochfliegenden Flugzeug, daß ihr Gürtel der zwei Dutzend Leben sie nicht gegen diese Bedrohung schützte. Dairon hatte diese Todesart nicht gekannt und auch nicht benutzen können, um den Gürtel damit zu stärken. Sie wußte nun, daß alle Menschen und auch alle ihr bekannten Ordinär- und Zaubertiere kein Sinnesorgan für diese verheerende Strahlung besaßen. Einmal mehr verwünschte sie die Muggel, daß diese ohne Bedenken mit Kräften und Materialien hantierten, über die sie nur unzureichende Kontrolle hatten und deren übermäßige Anhäufung nachhaltige Schäden verursachte. Doch was sollte sie im Bezug auf Vera Barkow unternehmen? Sie stand schließlich dafür ein, daß die ihr treuen Mitschwestern ihre Hilfe erhielten, wenn sie danach riefen. Außerdem durfte sie den anderen gegenüber nicht freimütig zugeben, gegen die unsichtbare und für alle anderen außer ihr nicht spürbare Gefahr keinen Schutz zu besitzen, wo sie gegen Bokanowskis Kreaturen und eine der Abgrundstöchter obsiegt hatte. Der Nimbus der Unausrottbarkeit bot ihr eine Menge Zulauf. Auch daß sie das Duell mit Daianira überstanden und dessen Folgen abgeschüttelt hatte und Daianira am Ende die Verliererin war, eilte ihr voraus. Von ihrer Tante Sardonia wußte sie, daß eine einzige Blöße die Rangstellung erschüttern konnte. Andererseits war sie nicht so hartnäckig auf ihre Rückkehr ausgegangen, um durch ein von ihr nicht beherrschbares Übel der Muggel aus der Welt zu verschwinden. Sie befragte die ihr nun zugefallene Erinnerung von Justin Spikes, dessen Seele sie in ihrem Medaillon gebannt und unterworfen hatte. Der My-Truppe war Volakins Natur bekannt. Doch außer aufwendiger Verfahren, Blut und Knochen völlig zu erneuern und verseuchte Magen-Darm-Inhalte einfach verschwinden zu lassen, kannte die Zaubererwelt noch kein wirksames Mittel, um sich vor der Strahlung zu schützen. Wie sollte sie sich nun entscheiden? Diese Frage wurde von einer gerade im Hauptquartier des Spinnenordens apparierenden Louisette Richelieu beantwortet.

"Höchste Schwester, wir haben eine Invasion der blauen Vampire in Frankreich. Minister Grandchapeau hat Probleme, die Bedrohung zu bekämpfen", meldete die französische Mitschwester.

"Eine Invasion? In Frankreich?" Erregte sich Anthelia. "Wie kam diese Brut über den Rhein, wo diese Kreaturen doch erheblich stärker von fließendem Wasser entkräftet werden als ihre nachtbehafteten Artgenossen?"

"Wie Hannibal nach Rom kam, über die Alpen", erwiderte Louisette leicht aufsässig. "Wir wissen noch nicht genau, wie sie so viele von sich auf einmal westlich des Rheins ins Land bringen konnten. Aber sie müssen südlich der Rheinquellen nach Westen gelangt sein, also über die Schweiz."

"Natürlich", knurrte Anthelia. Die Muggel besaßen Flugmaschinen, hatten Straßen für ihre Petroleum schluckenden Kraftwagen in die Natur gebaut und ebenso die auf Stahlschienen laufenden Wagenzüge der Eisenbahn, die durch in die Berge gebohrte Tunnel fuhren. Also brauchte Volakin sich nur einen dieser bequemen Wege auszusuchen, um oberhalb der Rheinquellen nach Westen vorzustoßen. Blaue Vampire in Frankreich, ihrem Geburtsland! Das durfte sie wirklich nicht zulassen. Außerdem konnte sie bei deren Bekämpfung lernen, wie das Ministerium von Grandchapeau mit dieser Strahlenseuche umging.

"Wo sind die Blutsauger zuletzt auffällig geworden, Schwester Louisette?"

"Südlich von Paris, höchste Schwester. Muggel haben zwanzig sogenannte Außerirdische beobachtet. Deren Verteidigungsministerium ermittelt und hat etwas gefunden, was die Annahme erhärtet, es mit Wesen aus einem fernen Sonnensystem zu tun zu haben."

"Diese Radioaktivitätsstrahlung", grummelte Anthelia. Louisette nickte. Dann erstattete sie einen kurzen, aber alles enthaltenden Bericht, wann und wo genau die ersten Sichtungen verzeichnet wurden, überfallene und umgewandelte Muggel und einen Einmarschversuch in ein Atomforschungszentrum der französischen Streitkräfte. Louisette erwähnte, daß die vier großen Atomkraftwerke an der Loire wohl sicher seien, weil der Fluß den Vampiren mehr Kraft entziehe als die Strahlung ihnen zurückgebe. Offenbar hatten die blauen Vampire jemanden in ihre Reihen aufgenommen, der oder die sich mit Quellen dieser Strahlung auskannte. Anthelia argwöhnte, daß diese verpesteten Blutsauger sicher auch die großen Strahlenöfen an der Loire überfallen würden.

"Sie brauchen nur Familienangehörige derer als Geiseln zu nehmen, die in diesen widernatürlichen Einrichtungen arbeiten und denen zu befehlen, die Atomöfen zu überhitzen, so daß sie explodieren und Unmengen von Strahlung freisetzen. Am besten nutzt du deine Kompetenz als Tochter magieloser Eltern und rätst eurem Minister, diese Anlagen ebenso zu überwachen, Sabotageakte im Keim zu ersticken, wenn eure Leute ein Mittel haben, sich gegen die tödliche Strahlung zu wappnen."

"Aus Deutschland kam vor einem Tag jemand herüber, der mit Rußland und einem Heiler aus England an Schutzrüstungen aus besonderem Blei arbeitet, das gegen die Strahlen abschirmt. Fortiplumbum soll das Blei heißen, das hundertmal stärker gegen die Strahlung isoliert als unbehandeltes Blei. Es kann jedoch nur in großen Mengen von anderen Zaubern wie dem Federleichtzauber erfüllt werden. Sie arbeiten nun daran, Rüstungen aus diesem Material herzustellen. Aber das kann noch Wochen Dauern. Bis dahin hofft Grandchapeau auf die Ausleihe von fünfhundert ABC-Schutzanzügen. Einige aus dem Muggelkontaktbüro haben das schon veranlaßt."

"Was bitte sind ABC-Schutzanzüge, Schwester Louisette?" Wollte Anthelia wissen.

"Das sind gegen die außenwelt vollständig isolierende Anzüge mit Helmen und Atemluftgeräten, die gegen atomare Strahlung, biologische Angriffe, also Krankheitskeime, die als Waffe eingesetzt werden und gasförmige Gifte, sogenannte chemische Waffen schützen. Die sind nicht billig, und wenn wir uns welche ausleihen wollen, dann nur, wenn die Muggelwelt davon nichts mitbekommen kann. Madame Nathalie Grandchapeau unterhandelt zusammen mit Martha Andrews mit einem Armeeoffizier und einem vom Zivilschutz."

"So, Martha Andrews, die Mutter des Ruster-Simonowsky-Zauberers", erwiderte Anthelia mit schwachem Lächeln. "Nun, sie wird wohl genug Kenntnisse über diesen Gefahrenherd besitzen. Wenn ich euch helfen soll, dann benötige ich einen solchen Anzug. Sieh zu, daß du zu denen gehörst, die einen erhalten dürfen!"

"Das habe ich schon vorausgesehen, weil ich dem Ministerium anbot, als Muggelstämmige an neuralgischen Punkten eingesetzt werden zu wollen, höchste Schwester." Anthelia lächelte. Louisette hatte bereits vorausgedacht. "Allerdings dürfen wir uns die Dinger nur ausleihen. Irgendwie muß das hingebogen werden, daß die Muggelwelt nichts von der unmittelbaren Bedrohung erfährt. Schon schlimm genug, daß die Massenmedien von der angeblichen Invasion der Außerirdischen berichten. Allerdings fehlen ihnen brauchbare Zeugen, weil unsere Vergissmichs unverzüglich ans Werk gehen und die betreffenden Gedächtnisse modifizieren. Doch gerade das heizt die Gerüchteküche weiter an, weil Gedächtnislücken charakteristisch für die Begegnung mit außerirdischen Wesen sind. Erst vorgestern, am 26. August, mußten mehrere Muggel gedächtnismodifiziert werden, weil sie eine alleinstehende Rechtsanwältin in einem weißen Licht haben verschwinden sehen. Es wurde als Feuersbrunst ausgegeben und die entsprechenden Spuren gelegt."

Anthelias Augen rückten gefährlich eng zusammen. Sehr bedrohlich fragte sie: "Könnte es angehen, daß dieser Vorfall auch sofort an mich hätte weitergemeldet werden müssen, Schwester Louisette?"

"Das erfuhr ich jetzt erst, weil ich in die Sofortmaßnahmengrupe Blauer Blutfürst einberufen wurde und die gängigen Muggelweltgerüchte mitbekam. Das mit der Frau, die eine kurze Weile lang verschwunden war kam nur zur Sprache, weil eben der Glaube an Wesen von fremden Planeten in der Muggelwelt mittlerweile populärer ist als der Glaube an Magie und Drachen. Wie genau die Frau verschwand und warum sie wieder auftauchte wurde uns nicht erzählt, da dies zur Geheimsache der Katastrophenumkehrabteilung gemacht wurde. Ich durfte nicht einmal den Namen dieser Frau erfahren."

"Gut, diesem Vorgang kann ich wohl im Moment keine Beachtung widmen. Besorge mindestens einen solchen ABC-Anzug und händige ihn mir aus. Dann kann ich euch helfen. Moment, traten diese Blutsauger einzeln auf oder in einer Gruppe?"

"Sie tauchten zeitgleich an knapp einen Kilometer entfernten Punkten auf, höchste Schwester. Dann sind die wohl als Gruppe irgendwie an den Angriffsort gebracht worden."

"Das darf wohl als sicher gelten. Also bleiben für den Transport ohne die eigenen Flugfähigkeiten nur Portschlüssel oder großräumige Passagiertransporter der Muggelwelt, also Eisenbahnzüge, diese Feuerdüsenflugmaschinen, Schiffe oder diese Omnibus genannten Eigenkraftfahrzeuge. Gibt es in der Muggelwelt nur staatliche Personentransporteinrichtungen?"

"Wie die Metro oder die pariser Stadtbusse. Nein, höchste Schwester. Es gibt auch privat geführte Unternehmen, die große Busse besitzen, um Urlauber oder Ausflügler über große Landstrecken zu befördern. - Ah, ich verstehe, worauf du hinausmöchtest."

"Womöglich erschließt es sich eurem Minister auch, daß diese Ungeheuer sich dieser Massentransportmittel bedienen, um in größeren Gruppen an ihre Zielorte befördert zu werden. Die Sonne vermag ihnen nichts mehr anzuhaben, so daß sie auch bei tage reisen können. Das einzige, das sie umgehen müssen sind breite Flüsse und Ströme."

"Was die Reiserouten bestimmt eingrenzt", führte Louisette den Gedanken weiter. "In Ordnung, höchste Schwester. Ich besorge mir einen ABC-Anzug und melde mich dann wieder."

"Ich habe hier noch eine sehr persönliche Angelegenheit zu erledigen. Wenn dies vollbracht ist stelle ich mich unverzüglich in deinem Haus ein, Schwester Louisette."

"Jawohl, höchste Schwester", erwiderte Louisette und verließ die Daggers-Villa wieder.

"Jetzt hast du eine Feindin mehr, Wladimir Volakin", dachte Anthelia. Der Überfall auf Frankreich war für sie wie eine Kriegserklärung. Doch zunächst wollte sie die Angelegenheit Lucas Wishbone erledigen. Der sollte nicht damit durchkommen, sie als seine Mörderin ausgegeben zu haben, um irgendwann mal wiederzukommen, beziehungsweise aus einem Geheimversteck heraus die Fäden der Zaubbererweltpolitik zu ziehen wie ein Puppenspieler, der dem Publikum verborgenbleiben will.

"Du weißt, wen ich fragen muß. Wie kann ich ihm ohne Verdacht zu erregen mitteilen, daß er Wishbone wecken soll?" Fragte Anthelia in Gedanken, wobei sie das Medaillon Dairons fest in ihren Händen hielt. Spikes' gefangene Seele hatte keine andere Möglichkeit, als wahrheitsgemäß zu antworten. Im Grunde war sie nur noch fähig, Anthelias Erinnerungen aufzufrischen. So erfuhr sie innerhalb einer Sekunde, daß drei treue Zauberer aus der My-Truppe, die nach Wishbones Verschwinden vorsorglich in weniger wichtigen Anstellungen untergekommen waren, dem schlafenden Minister den Aufwachsatz zumentiloquieren konnten. Nur drei und Spikes konnten dies tun. Der Satz lautete: "Die Verräterin ist tot." Anthelia verzog ihr Gesicht über diese anmaßende Parole, weil ihr klar war, daß sie die gemeinte Verräterin war. Sie selbst kannte zwar den Satz und konnte dank der eingekerkerten und versklavten Seele auch Spikes' Stimme nachahmen. Doch Wishbone hatte daran gedacht, daß man Spikes oder einen der anderen drei mit dem Imperius-Fluch dazu zwingen mochte, diese Botschaft abzusetzen. Daher mußte die Gedankenbotschaft frei von magischer Manipulation übermittelt werden. Blieb also nur, Rodrigo Castillo, Darrel Treetop oder Phineas Dewdrop davon zu überzeugen, daß die Verräterin wirklich tot war. Was sie auch mit ihrem Fang anstellen konnte war die täuschend echte Nachahmung von Spikes' Handschrift. Sie mußte halt nur einen Zauber gegen den Scriptorvisus-Zauber auf das Pergament legen. So setzte sie sich hin und schrieb an Castillo, der in der Spiele-und-Sport-Abteilung als Besenprüfer arbeitete:

Hallo Diggy,

wenn du das liest ist es mir gelungen, die Wurzel unseres Übels auszureißen. Du errinnerst dich doch noch sehr gut an die Sitzung mit dem Minister vor dessen unfreiwilliger Amtsabtretung. Er hat uns eingeschärft, nicht zu glauben, was demnächst über ihn erzählt wird. Er müsse wohl für eine gewisse Zeit aus der Öffentlichkeit verschwinden und daß wir zusehen sollten, unsere Truppe am Leben zu halten, wenn es sein muß auch mit unverzeihlichen Flüchen. Erst wenn diese Sardonianerin, die sich Anthelia genannt hat, ein für alle mal tot und begraben ist, sollten wir ihm eine bestimmte Botschaft zumentiloquieren, bis er dem, der das macht antworte.

Wie du vielleicht gehört hast mußte ich fliehen und habe dabei das halbe Ministerium im Dämonsfeuer verglühen lassen. Deshalb sind die jetzt hinter mir her. Aber es gelang mir, mit einem Schluck Vielsaft-Trank und einem Haar von Donata Archstone, deren Doppelgängerin zu werden. Der Verdacht, den wir hatten hat sich bestätigt. Sie arbeitete wirklich für diese hinterhältige und sehr überhebliche Furie Anthelia. Ich habe Kontakt mit den Nachtfraktionsschwestern bekommen, wie der Minister es mit seiner Tante versucht hat. Hatte nicht viel Zeit, weil die Menge Vielsaft-Trank gerade für vier Stunden ausreichte. Ich tat so, als habe ich eine sehr dringende Meldung für diese Anthelia, dürfe damit aber nicht in das Hauptquartier kommen, weil mein letztes Zusammentreffen mit uns, also der My-Truppe, mir einen heimtückischen Gegenstand in den Unterleib getrieben und dort verankert habe, der mit der Wucht von zwanzig Erumpenthörnern detoniere, sobald ich daran dächte, im Hauptquartier zu sein. Du weißt ja, daß wir ursprünglich die Brutkönigin der Sardonianerin damit erledigen wollten, wenn das mit den Hauselfen als wandelnde Bomben nicht geklappt hätte. Nun, als derartig aus dem Hauptquartier ausgeschlossene Mitschwester konnte ich die Wiederkehrerin nur irgendwo im freien treffen. Ich präparierte den Treffpunkt mit einem Collicrescentus-Fluch, der jeden außer dem Anwender am Boden festwachsen läßt, bis ein vom Anwender gesprochenes Losungswort oder der Tod des Gefangenen den Zauber beendet. Solcherart vorbereitet wartete ich auf die Sardonianerin. als sie kam und sofort am Boden festklebte stieß ich sie mit einem Fausthieb ganz zu boden, so das ihr ganzer körper am Boden festwuchs. So konnte ich ihr mühelos mit einem Ferrifortissimus-Schwert den verdammten Schädel abschlagen. Jetzt haben wir Ruhe vor der. Ich sehe zu, daß ich erst einmal im Ausland untertauche, bis Minister Wishbone mir das vereinbarte Signal gibt, daß die My-Truppe wieder eingesetzt ist.

Wenn du dich fragst, warum ich ihn nicht selbst wecke dann deshalb, weil ich bereits außerhalb der Reichweite des Zaubereiministeriums bin. Dieses Paket habe ich als unortbaren Portschlüssel bezaubert. Wenn du den Inhalt betrachtet und diesen Brief gelesen hast, steck alles wieder rein und warte zwanzig Minuten. Dann verschwindet das Paket wieder. Lass es besser allein zurückkehren! Denn wenn es ankommt wird es eine Sprengfalle auslösen, um es zu vernichten.

Weiteres soll dann Minister Wishbone befinden.

Viel Glück, Diggy!

Justin Spikes

Anthelia dachte daran, daß der Collicrescentus-Fluch tatsächlich eine heimtückische Falle ministerieller Zauberer war und nicht in Beauxbatons oder Thorntails gelehrt wurde. Allerdings funktionierte er nur dort, wo die zu fangende Person auf frische Erde traf. In Gebäuden oder auf gepflasterten oder mit diesem Erdölzeug namens Asphalt überzogenen Straßen gelang er nicht. Außerdem hörte er nicht nur beim Tod des Gefangenen auf, sondern auch bei dem des Anwenders oder wenn dieser flüchten mußte. Gut, das Anthelia das nun wußte. Da wäre sie doch fast einmal in eine tödliche Falle gelockt worden. Sie mußte unbedingt herausfinden, wie dieser Fluch zu kontern war, wollte sie nicht den Tod des Anwenders herbeiführen. Zumindest sollte sie sich mit ihr verdächtigen Leuten niemals in einem Wald oder auf einer Wiese treffen. Doch nun galt es, den Schwindel wasserdicht zu machen.

Es war eine Arbeit mehrerer Tage, weil die entsprechenden Tränke in der erforderlichen Menge gebraut werden mußten. Dann jedoch war Anthelia für den letztn Akt bereit.

Sie schnitt sich ihr blondes Haar bis auf wenige Millimeter ab und warf das entstandene Knäuel in ein großes Becken mit einer brodelnden Flüssigkeit. Unter Zauberworten und Zugaben weiterer Essenzen entstand ein unbekleidetes Ebenbild Anthelias, ein Simulacrum. Dieses diente jedoch nur einem Zweck: Anthelia betäubte das noch ohne eingeprägte Erinnerungen erschaffene Geschöpf und trennte ihn mit einem aus dem Nichts beschworenen Samuraischwert den Kopf ab. Diesen warf sie schnell in einen bereitgestellten Kessel mit einer Konservierungslösung, die den Verwesungsprozeß für mehr als hundert Jahre aufhalten konnte, falls der Gestorbene darauf bestanden hatte, seinen Angehörigen in einem gläsernen Sarg zur Ansicht und Anbetung bereitgestellt zu werden. Den enthaupteten Körper des Simulacrums verwandelte sie in einen Knochen, den sie mit einem Teleportationszauber weit ins Land hinausbeförderte, wo er keinen Verdacht erregen konnte. Den nun gegen den bei Simulacren schnell eintretenden Verwesungsprozeß gesicherten Kopf ihres Ebenbildes legte sie in eine kleine Holzkiste, an deren Innenseite sie den Brief mit Harz festklebte. Ein wenig unangenehm war ihr das schon, ihr eigenes, vom plötzlichen Tode bleiches Gesicht zu sehen. Doch wenn Castillo davon überzeugt sein sollte, die Verräterin sei tot, dann mußte sie diesen Akt ohne jede Gefühlsregung zum Abschluß bringen. Sie kannte Zauber, um einen Portschlüssel unaufspürbar zu machen. Spikes hatte ihr dieses Wissen vermittelt. Ebenso kannte sie das Haus von Rodrigo Castillo, in dem die Kiste erscheinen sollte. Zusätzlich legte sie ein kleines Glöckchen in die Kiste, das sie mit einem Localienum-Zauber belegt hatte. Dieser ließ einen klappernden, rasselnden oder klingelnden Gegenstand Lärm machen, wenn dieser einen festgelegten Kreis um den Ausgangsort verließ. Damit stellte sie sicher, daß Castillo die besondere Postsendung auch bemerkte. Sie hoffte nur, daß er allein war. Spikes' Wissen verriet ihr, das er meistens um elf Uhr in seinem Haus war. Justin Spikes hatte den Kollegen selbst aus seinem Freundeskreis heraus empfohlen, weil er ein hervorragender Besenflieger und Zauberkünstler war. Zum Abschluß des Manövers dachte sie intensiv an das Ziel und sah ein mit wuchtigen Eichenmöbeln ausgestattetes Arbeitszimmer vor dem geistigen Auge. Dieses innere Bild festhaltend murmelte sie "Fiat Portus occultus!" Als die Kiste blau aufleuchtete, dachte sie schnell Activatus per tempores zwanzig retro eintausendzweihundert." Sie hatte die gedachte Anweisung gerade noch vollendet, bevor das blaue Leuchten erlosch. In zwanzig Sekunden würde die Kiste an das beim Sprechen des Zaubers gedachte Ziel überwechseln, von wo oder wo immer auch sonst sie in eintausendzweihundert Sekunden, also zwanzig Minuten, wieder zurück an den Ausgangsort überwechseln würde. Sie trat zurück, um bloß keine Berührung mit dem Paket zu verursachen. Als dann eine blaue Leuchtspirale entstand und die Kiste verschlang, dachte Anthelia daran, daß der Empfänger vielleicht daran festhängen könnte, wenn sie wiederkam. So oder so mußte sie zusehen, daß sie überwachte, was Castillo tat. So apparierte sie in die Nähe des ihr durch Spikes bekanntem Haus und wurde zur Krähe, als welche sie über das Grundstück flog. Laut schrillend läutete die kleine Glocke in der Kiste. Dann vernahm sie Castillos Gedanken. In seinem Haus wähnte er sich sicher, weil ihn keiner mit der My-Truppe in Verbindung brachte. Denn seine Zugehörigkeit wurde noch vor Wishbones angeblichem Tod aus den geheimen Akten getilgt. Anthelia verfolgte mit großer Befriedigung, wie der Handlanger Wishbones die Kiste öffnete, die Glocke ergriff, aber nicht abstellen konnte, bis er darauf kam, daß der Localienum-Zauber sie in Gang hielt und den entsprechenden Gegenzauber wirkte. Er sah den in der Kiste liegenden Frauenkopf und erkannte ihn sofort. Anthelia fühlte fast mit eigenem Körper die Euphorie, die dem My-Truppler überkam. Dann fand und las er den Brief. Anthelia hörte jedes ihrer eigenen Worte in seinem Geist nachklingen. Er prüfte, ob er den Schreiber sichtbar machen konnte. Doch das mißlang. Er fragte sich zwar, warum dies nicht ging, erkannte jedoch die Handschrift und die Anrede an, die nur Spikes ihm gegenüber gebrauchen durfte. Auch die Geschichte von der Flucht und dem Untertauchen nahm er ohne weiteren Gedanken hin. Denn bisher war die Leiche Spikes' nicht aufgetaucht, und Donata Archstone hatte sich auf Anthelias Anraten öffentlich dazu erklärt, den Flüchtigen persönlich zu jagen, auch im Ausland. Dann bekam sie mit, wie Rodrigo Castillo seinen geist auf eine Mentiloquismus-Nachricht einstimmte. Er brauchte drei Ansätze. Doch dann schickte er "Die Verräterin ist tot! Die Verräterin ist tot!" mit Wishbones Stimme klingend in das Raum-Zeit-Gefüge hinaus. Das wiederholte er innerhalb von zwei Minuten. Dann kam nur für ihn und die Verbaltelepathin Anthelia vernehmbar die Antwort: "Danke, ich bin wach. Wie lange habe ich geschlafen?" Castillo schickte ihm die Zeit zurück. Anthelia wußte schon, wo sie Wishbone finden würde. Wenn sie die nächsten fünfzehn Minuten gut ausnutzte, konnte sie noch rechtzeitig in der Daggers-Villa ankommen, um die Rückkehr des Portschlüssels zu registrieren. Falls Castillo an diesem dranhing, würde sie ihn einem anderen Verwendungszweck zuweisen. Jetzt aber galt es.

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Es war offenbar die Spitze eines unübersichtlichen Eisberges, dieser eine blaue Vampir, der vor wenigen Tagen in Colmar aufgefallen war. Manon Champverd hatte sich auf dringendes Anraten ihrer Großtante Oleande in die Delourdesklinik begeben, wo ihr gesamtes Blut und ihre Knochen erneuert wurden. Prüfungen mit dem Dawn'schen Strahlungsprüfer hatten ergeben, daß die Vernichtung des blauen Vampires sie mit jener bis vor 12 Jahren der Zaubererwelt völlig unbekannten Vergiftung verunreinigt hatte. Doch nun waren gleich zwanzig blaue Vampire im Umkreis von nur zwanzig Quadratkilometern aufgetaucht. Und sie hatten sich bereits Opfer geholt. Als ihm seine Frau und Mitarbeiterin Nathalie vorschlug, sich Strahlenschutzkleidung der Muggel auszuborgen, hatte er sofort zugestimmt. Zusammen mit Martha Andrews war Nathalie in die Zentrale einer Zivilschutzbehörde gereist. Catherine Brickston hatte sich mit Professeur Tourrecandide bei Hera Matine getroffen, um zu beraten, wie man die so überfallartig aufgetauchten Vampire besiegen konnte, ohne sie umbringen zu müssen, weil deren Vernichtung zu viel Strahlung freisetzte. Jetzt saßen Catherine und die frühere nun schwarzhaarige Lehrerin von Beauxbatons im Büro des Ministers. Grandchapeau wunderte sich über den sehr weiten rosaroten Umhang, den Professeur Tourrecandide trug. Auch die Haarfarbe und das irgendwie nicht mehr so faltige Gesicht der Lehrerin, die er schon nicht mehr als Fachlehrerin erlebt hatte, waren seltsam. Sie sah um Jahrzehnte jünger aus. Das mußte mit dem Vorfall zusammenhängen, von dem er bis heute nichts näheres erfahren hatte. Sollte er sie jetzt dazu zwingen, ihm alles zu erzählen? Aber im Moment gab es wichtigeres.

"Und Sie wollen nicht mit Madame Sangazon sprechen, wie ihre Artgenossen uns helfen können. Immerhin ist Volakins Volk auch deren Feind."

"Ich kommuniziere nur schriftlich mit dieser Person", entgegnete Professeur Tourrecandide. Auch ihre Stimme wirkte jünger und kräftiger. Grandchapeau dachte, daß sie damit wohl keine Probleme mit den Schülern bekommen hatte. "Sie will nur dann mit uns zusammenarbeiten, wenn ich mich öffentlich bei ihr und ihrem sogenannten Ehegatten entschuldige, daß ich sie beide als unrettbar kranke Kreaturen bezeichnet habe. Dies ist zwar schon fast neunzig Jahre her. Aber diese Geschöpfe besitzen ein überragendes gedächtnis für derartige Vorhaltungen."

"Und Sie sind nicht bereit, sich zu entschuldigen?" Fragte Minister Grandchapeau.

"Ich bin bereit, ihr Dasein als gegeben und von ihr erwählt zu akzeptieren. Aber das ändert nicht meine Ansicht, daß Vampire keine natürlichen Lebensformen, sondern die Produkte einer ansteckenden Krankheit sind, ebenso wie Werwölfe oder Voldemorts Schlangenbestien." Grandchapeau zuckte mit den Wimpern, als er den bis vor wenigen Monaten noch so gefürchteten Namen hörte. Dann riß er sich zusammen. Dieser Mörder war tot und stellte keine Gefahr mehr da. Diese Vampire jedoch schon.

"Nun, Minister Grandchapeau, Volakins veränderte Abkömmlinge sind deshalb für sogenannte Normalvampire gefährlich, weil sie zum einen kein Problem mit der Sonne haben und das veränderte Vampirblut durch die Einwirkung von Strahlung pures Gift für andere Vampire ist. Volakin kann seine besondere Art Vampirismus nur auf Menschen übertragen, die den Genuß seines verseuchten Blutes lange genug überleben, um sich in seine Artgenossen zu verwandeln. Insofern habe ich mit Mademoiselle Maxime gesprochen, die wiederum Kontakt zu den Sangazons aufgenommen hat", erwiderte Catherine. "Ich traf mich mit ihnen vorgestern. Die beiden bestehen darauf, daß entweder Professeur Tourrecandide öffentlich ihr Dasein als besondere Naturform anerkennt oder sich persönlich bei ihnen entschuldigt. Sie hätten sich auch damit begnügt, eine meiner Töchter als eine ihrer Töchter anzunehmen. Das war, ist und bleibt selbstverständlich unannehmbar und ist an Frechheit und Überheblichkeit nicht zu überbieten." Die letzten Sätze stieß Catherine mit unüberhörbarer Verachtung aus.

"Könnte denen auch noch so passen, eine von Blanches Enkeltöchtern", knurrte Professeur Tourrecandide. "Gut, daß Babette in Beauxbatons und Claudine im Schutz des Sanctuafugium-Zaubers ist", fügte sie noch hinzu.

"Sie sollten diese Forderung jedoch als Drohung verstehen, Catherine", erwiderte der Minister sehr bestürzt.

"Ich habe schon Vampire im offenen Kampf oder durch die Anbringung für diese schädlicher Zauber unschädlich gemacht", sprach Catherine Brickston. "Der Beweiß, daß es sich dabei nicht mehr um Menschen handelt liegt darin begründet, daß die vier vorzeitlichen Zauber mir trotzdem gelingen. Also muß ich auch keine Skrupel haben, andere Vampire zu vernichten, vor allem, wenn sie sich an meinen Töchtern oder meinem Mann vergreifen wollen. Allerdings stehe ich den blauen Vampiren sehr hilflos gegenüber, wenn deren Vernichtung mich radioaktiv verstrahlt."

"Ich habe vor einer Stunde eine Eule von meinem russischen Amtskollegen Maximilian Arcadi erhalten. Er teilt mir darin mit, daß er zusammen mit seinen Leuten und dem britischen Heiler Timothy Preston nach Lösungen sucht, diese Pest auszurotten, ohne dadurch noch mehr tote Menschen zu verschulden."

"Ich weiß, Martha Andrews' Ausgabe von Viviane Eauvive hat das schon vermeldet. Prestons Kollegen gehen bereits daran, den von ihm entwickelten Reinigungstrank gegen radioaktive Verseuchung nachzuempfinden und auf Vorrat zu brauen, wenn bekannt ist, wie lange er haltbar und effektiv ist", sagte Catherine.

"Wir dürfen nicht davon ausgehen, daß wir ganze Wassertürme voll davon kriegen können", entgegnete der Minister, der Catherines Enthüllung nicht so begeistert aufgenommen hatte, weil er sich um sein Vorrecht des Ankündigenden beraubt fühlte. Doch das zu denken war albern und in dieser Lage völlig fehl am Platze. Doch das mit den besonderen Bleirüstungen konnte er noch anbringen. Da ertönte der Meldezauber, daß jemand im gesicherten Vorzimmer wartete. Der Minister sah die beiden kompetenten Hexen an und sagte: "Wir müssen auf jeden Fall herausfinden, wie diese vielen Volakin-Vampire auf einmal ins Land gelangen konnten. Das kann doch nur über Muggeltransportwege gehen."

"Da sie kaum mit einem Schiff über den Rein setzen konnten bleibt ihnen nur der Umweg über die schweizer Alpen, also Lausanne", sagte Catherine. "Madame Andrews vermutet, daß die Vampire eine Spedition oder ein Reisebusunternehmen eingespannt haben, entweder ohne deren Wissen, wen sie da transportieren, oder nach Sicherung der verantwortlichen Leute als ihre neuen Artgenossen. Die können schließlich bei Sonnenlicht draußen rumlaufen."

"Reisebusunternehmen?" Fragte Armand Grandchapeau, der sich mit Muggelverkehrsmitteln nicht auskannte. Catherine erklärte ihm, was damit gemeint war und das von der Friedensdemonstration bis zur mehrwöchigen Urlaubsreise Überlandreisebusse sehr praktische Fahrzeuge boten.

"Wenn sie sich auch noch übermäßig die Gesichter schminken wie meine ..., wie diese überhebliche Nachtgestalt Sangazon fallen sie am hellen Tag auch nicht weiter auf. Ihr blaues Leuchten kann nur bei einer Lichtstärke von weniger als zwei brennenden Kerzen erkannt werden", flocht Professeur Tourrecandide ein.

"Das notiere ich mir unverzüglich und setze Madame Grandchapeau darauf an."

"Ihre Mitarbeiterin Martha Andrews ist bereits dabei, Busunternehmer im Einzugsgebiet der südlichen Schweiz zu prüfen", wartete Catherine mit einer Neuigkeit auf, die dem Minister völlig neu war.

"Ich werde mich mal mit Madame Nathalie Grandchapeau über Koordination und Kompetenzen ... Lassen wir das. Wenn es früh genug angepackt wird und zum gewünschten Ziel führt ist es ja immer richtig", grummelte der Zaubereiminister. Dann verwies er auf den wieder wie ein leiser Gong klingenden Meldezauber und verabschiedete sich von den beiden Hexen. Als diese draußen waren trat Louisette Richelieu ein. Sie wirkte sehr eifrig.

"Herr Zaubereiminister, ich habe mir Gedanken über den Einreiseweg gemacht und Monsieur Vendredi von der Sonderkommission Blauer Blutfürst vorgeschlagen, mich dafür abzustellen. Die Vampire könnten sich Zugang zu sogenannten Busunternehmen verschafft haben, die Fahrgäste über weite Strecken auf dem Landweg befördern können."

"Ja, davon habe ich schon gehört", erwiderte der Zaubereiminister. Er war sich sicher, daß sein Dauerklangkerker, der zusätzlich noch um einen Gedankenschirmzauber gegen unerwünschtes Mentiloquieren und Legilimentieren ergänzt wurde stabil war. Dann erkannte er, daß Louisette wegen ihrer Abstammung ähnliche Schlüsse gezogen hatte wie Martha Andrews und Catherine Brickston. So sagte er:

"Das von Madame Grandchapeau geführte Muggelkontaktbüro verfolgt diese Möglichkeit bereits. Wofür genau haben Sie sich abstellen lassen?"

"Das die blauen Vampire womöglich auch die an der Loire gelegenen Atomkraftwerke angreifen könnten, obwohl der Fluß bisher für sie selbst ein unüberwindliches Hindernis darstellt. Die blauen Biester könnten Angehörige von in den Kraftwerken arbeitenden Leuten entführen und die Arbeiter dort erpressen, die Kraftwerke absichtlich zu überlasten, damit sie in die Luft gehen, um das ganze Land radioaktiv zu verseuchen. Auch müssen wir höllisch aufpassen, daß denen keine von den französischen Atombomben in die Finger kommen. Die sind doch von dieser Strahlung abhängig. Dann wäre das doch im wahrsten Sinne des Wortes ein gefundenes Fressen für diese abartigen Vampire."

"Dazu müßten die wissen, wo potentielle Strahlungsquellen lagern und wie diese mißbraucht werden können, um unser Land in eine sterbende Landschaft zu verwandeln", erwiderte der Minister. Doch dann verstand er. "Gut, ich genehmige den Einsatz von Unfallumkehrern in diesen Atomkraftwerken. Die sind ja nicht zu übersehen, sagt Madame Latierre. Aber wo die Atomsprengbomben lagern weiß ich nicht."

"Der für die Waffen und Soldaten zuständige Beamte ist der Verteidigungsminister der Muggel. Sie können doch Kontakt mit dem Ministerpräsidenten aufnehmen und ihn bitten, die Lage der Waffenlager herauszugeben. Ich weiß, klingt jetzt sehr naiv. Aber wenn Sie dem vermitteln, daß magische Terroristen rausgefunden haben, daß man das ganze Land mit einem Schlag umbringen kann, wenn diese Waffen in die falschen Hände kommen ... Ich biete mich zumindest an, zu den Wachposten zu stoßen, die die Anlagen überwachen."

"Gut, ich frage meine ...., ich meine Madame Grandchapeau, was ich dem Ministerpräsidenten auftischen muß, damit der mir das so abkauft, wie Sie denken, Mademoiselle Richelieu. Danke für diesen wichtigen Hinweis! Ich werde Sie dann über Monsieur Vendredi informieren lassen, wo genau Sie hingehen können. Natürlich bekommen Sie dann einen ABC-Anzug, wie ihn Madame Andrews für unbedingt nötig erachtet. Sie konferiert ja gerade mit einigen Leuten, die sowas haben.""

"Danke, Monsieur Leministre", erwiderte Louisette. Dann verließ sie das Büro des Zaubereiministers wieder.

Eine Stunde später erhielt Armand Grandchapeau die Meldung, daß ein blauer Vampir im Flughafen Orly aufgetaucht sei und dort ein geschütztes Lager für Strahlung aussendende Stoffe angegriffen hatte, die zur Behandlung von Krebserkrankungen benutzt werden sollten.

"Die werden so dreist wie die Schlangenbestien", dachte Grandchapeau. "Und können unter umständen schlimmer sein als diese." Er fragte sich, vor wem diese blauen Vampire sich zu fürchten hatten. Er konnte ja schlecht alle Menschen Frankreichs in Boote und Schiffe verladen und auf Rhone, Loire und Rhein verstecken, selbst wenn das die beste Lösung wäre. Denn das hieße zwangsläufig die Aufkündigung der Geheimhaltung der Zaubererwelt. Standen sie schon kurz davor, wo die Muggel schon an bösartige Wesen von fernen Sternen dachten? Dann ertönte der Vorzimmermelder. Martha Andrews kam herein, als der Minister die Tür entriegelt hatte.

"So, Monsieur leMinistre, das hier können Sie dem Verteidigungsminister auftischen, damit er Ihnen verrät, wo Frankreichs Atombomben sind. Ich konnte sogar mit Mr. Preston sprechen. Er ist gerade in der Delourdesklinik und erklärt den Zaubertrankexperten da seinen Blutreinigungstrank."

"Hat meine Frau sie dazu beauftragt, in die Klinik zu gehen?" Wunderte sich der Minister. Langsam nahm die Eigenständigkeit seiner Mitarbeiter lästige Dimensionen an. Das fehlte ihm noch, wenn die rechte Hand was tun wollte, was die linke schon längst erledigt hatte.

"Als anerkanntes Mitglied in der Eauvive-Familie verfüge ich über eine gemalte Ausgabe von Magistra Eauvive. Die hat mir das erzählt, daß Heiler Preston in der Klinik ist und mich gefragt, ob es mich interessiere, mit ihm über Strahlenschutz zu reden, weil ich ihn wohl besser verstehen könne als alle anderen da. Da habe ich dann die Suche nach möglichen Busunternehmern, die in den letzten Tagen irgendwie auffällig wurden, zurückgestellt. Der Rechner kann mit meinem Programm auch alleine suchenund die Ergebnisse abspeichern. So konnte ich in die Klinik."

"Hallo, Martha, für das Ohren-Vollreden bin ich wohl eher zuständig. Die Frage war, ob Madame Grandchapeau Ihnen diesen Ausflug genehmigt hat."

"Wir fangen hier keinen Kompetenzenstreit an und diskutieren jetzt auch nicht über Dienstwege und Befehlsketten, Monsieur Grandchapeau", erwiderte Martha unvermittelt streng klingend. "Der Begriff "Gefahr im Verzug" ist in der Zaubererwelt ebenso bekannt wie in der Muggelwelt. Und wie groß die Gefahr schon jetzt ist werden Sie wohl nicht abstreiten können."

"Dann erwarte ich Ihren schriftlichen Bericht über die Aussprache mit diesem Wunderheiler aus Ihrer Heimat. Dienstweg null, direkt an mich", schnaubte der Minister, der Marthas unerwartete Entschlossenheit und Argumentation nicht von der Hand weisen konnte. Martha Andrews nickte und verließ das Büro des Zaubereiministers.

__________

Das Haus war unscheinbar. Es war mit einem Muggelablenkzauber belegt, der diese glauben machte, es handele sich um eine eingestürzte Fabrikruine, die nicht mehr betreten werden konnte. Dort war er also, Lucas Wishbone. Er sprach gerade noch in Gedanken mit seinem Erwecker Rodrigo Castillo und ließ sich von dem die neuesten Sachen in kurzen Gedankenpaketen schicken. Castillo war im Mentiloquieren wohl nicht so ausdauernd, so daß zwischen zwei Botschaften immer knapp zwanzig Sekunden vergingen. Anthelia hob den Zauberstab. Mit ungesagten Aufspürzaubern prüfte sie, ob irgendwelche tückischen Fallen auf sie lauerten. Tatsächlich fand sie jene Zauberfalle, von der sie selbst im Brief an Castillo geschrieben hatte. Das Haus war von einer weitläufigen Wiese umgeben. Wer diese zu Fuß überquerte, riskierte, anzuwachsen. Wishbone hatte diesen Zauber offenbar vor seinem Schlaf bewirkt und offenbar mit einer Zeitverzögerung wirksam werden lassen. Die Fenster waren mit dem Decompositus-Fluch behaftet, der jedes organische Material, auch das lebender Wesen, innerhalb von Sekunden in Staub und Wasserdampf zerlegte. Die Türen enthielten Auslöser für dahinter eingerichtete Feuerbälle oder andere Zauber, die Anthelia mit ihrem Fluchfinder nicht auf Anhieb bestimmen konnte. Natürlich war das Haus weitestgehend Appariersicher. Der einzige, der dort wohl hinein und hinaus konnte war Lucas Wishbone oder ein Blutsverwandter. Anthelia prüfte das Dach. Auch hier wirkten Melde- und Abwehrzauber. Also war mit hineinfliegen auch nichts zu machen. Wer durch einen der vier Kamine eindrang löste einen Drachenfeuerflammenstoß aus, der alles im Schacht innerhalb einer Sekunde zu Asche verbrannte. Alles in allem eher ein schwarzmagisch gesichertes Haus als eines, in dem die üblichen Friedens- und Schildzauber wirkten. Das gab Anthelia zu denken. Wer war hier der oder die Böse? Dann fiel ihr ein, daß der Minister ja irgendwann mal die Fenster öffnen mußte. Decompositus unterschied nicht zwischen Freund und Feind, wenn er einmal aufgerufen war. Andererseits war er durch mit Antifluchzaubern getränkten Handschuhen locker zu überwinden, wenn man ihn erwartete. Ganz sicher waren die Türen und Fenster mit Clavunicus-Zaubern belegt, so daß nur bestimmte Schlüssel sie öffnen konnten. Doch Pinkenbach hatte in seiner Zusammenfassung magischer Gesetzmäßigkeiten bei der Bezauberung von Materie erwähnt, daß die Anzahl der möglichen Bezauberungen von der Art der Materie, der Anzahl und Reihenfolge der auf diese aufgebrachten Zauber und deren Stärke im Bezug zur Menge stand. Decompositus war so ein starker Fluch, das andere Zauber sicher nicht mehr so gut wirkten. Anthelia grinste breit. Sie prüfte mit einem unsichtbaren und ungesagten Zauber, ob die Fensterscheiben gegen Fernlenkzauber gesichert waren. Die Scheiben konnten unzerbrechlich sein. Sie konnte einen Stein gegen eines der großen Fenster krachen lassen und als Krähe hineinfliegen. Doch das erschien ihr zu einfach. Denn was passierte, wenn ein Fenster gewaltsam aufgebrochen wurde wußte sie nicht. Sie versuchte mit der durch den Zauberstab verstärkten Telekinese, das weit vom Minister entfernte Fenster zu öffnen. Es rührte sich nicht. Also lag doch noch ein Bewegungshemmzauber darauf, der nur die Bewegung durch körperlichen Kontakt erlaubte. Dann blieb ihr nur die Möglichkeit, den Minister aus dem Haus zu treiben, ohne daß dieser disapparieren konnte. Einen provisorischen Wall konnte sie in einer Minute unhörbar und weit genug fort vom Haus errichten. Im Grunde brauchte sie ja nur außerhalb der Wiese zu lauern, bis Wishbone herauskam.

Als sie den provisorischen Wall hochgezogen hatte richtete sie den Zauberstab auf das Dach. "Ignivivens Infernalium!" Zischte sie. Aus dem Zauberstab zischten zwei kleine, grüne Flammen, die dem Steigungswinkel des Stabes folgten, bis sie sich unter dem Dachfirst verfingen. "Lassen wir die Feuerteufel auf dich los", knurrte sie, als die beiden kleinen Flammen zwischen den Dachpfannen die Dachbalken berührten und augenblicklich zu zwei lodernden Greifen aus grünen und goldenen Flammen wurden. "Dein Wasserträger hat das Ministerium angezündet. Jetzt zünde ich dein Haus an", dachte Anthelia weiter. Noch hatte der ehemalige Zaubereiminister den mörderischen Angriff auf das Haus nicht bemerkt. Er war gerade dabei, eine weitere Gedankenbotschaft zu versenden. Doch als die ersten flammenden Trümmerstücke aus dem Dach fielen und das Dach ein einziges Gewusel aus purem Feuer bestehender Ungeheuer war, konnte sie die sich überstürzenden Gedanken wahrnehmen. Wishbone sah den Widerschein der Flammen. Er selbst war noch in dem Kellerraum, in dem sein Ruhelager stand. Er hörte nun Meldezauber, die "Alarm, Feuer!" Plärrten. Da knallte es im Haus. Alle Türen schlugen zu, um dem Feuer keinen Durchlaß zu bieten. Damit hatte Anthelia jetzt nicht gerechnet. Wishbone könnte in seinem Haus von den wütenden Feuerkreaturen getötet werden. Nein, das war ein zu leichter Tod und würde ihr die Möglichkeit entziehen, seine Tante zu ihm zu bringen. Wishbone versuchte, zu disapparieren und krachte gegen den Abwehrwall. Jetzt begriff er, daß seine Winterschlafhöhle gerade zur Mausefalle geworden war. Anthelia fürchtete einen Moment, er könne der Vernichtung durch das Dämonsfeuer nicht mehr ausweichen. Da benutzte Wishbone den Gesteinsdurchdringungszauber. Selbst wenn die Kellerwand ziemlich dick war, konnte er hindurch. Anthelia mußte davon ausgehen, daß Wishbone mit einem Feind außerhalb der Wiese rechnete. Sie belegte sich mit einem Tarnzauber und wandte noch rechtzeitig den Zauber Homenum Occulto an, der dem Menschenfinder für schwächere Zauberkundige solange unwirksam machte, solange sie sich nicht von der Stelle rührte. Da flimmerte schon die Luft um sie herum. Wishbone hatte also sondiert. Jetzt ging er davon aus, daß der Angreifer ihn im Haus gefangensetzen und verbrennen wollte. Er ahnte, ja erkannte auch schon, wem er diesen Angriff zu verdanken hatte. Sie hörte seine wütenden Gedanken. Als er dann erkannte, daß ihm da Dämonsfeuer auf das Haus geworfen worden war, durchsprang er die Außenwand, bevor ihn eine der Flammenkreaturen erwischen konnte. Er lief auf die Wiese hinaus und wirbelte seinen Zauberstab herum, um weitere Suchzauber auszuführen. Anthelias Medaillon drängte nach vorne. Offenbar hatte er ein paar Flüche losgelassen. Ja, und Anthelia fühlte, wie etwas von der Wiese her immer stärker gegen sie brandete. "Ventus Inimicorum", fiel es ihr ein, ein schwarzmagischer Luftelementarzauber, der den Haß der bedrängten Zauberer in Form wütender Windstöße und Miniaturwindhosen gegen die vermuteten Feinde richtete. Doch sie stand noch ruhig genug. Dann wurde der Sturm stärker und drohte, sie anzuheben. Der Tarnzauber würde brechen. So hielt sie den Zauberstab und wirkte selbst den Ventus-Inimicorum-Zauber. Das war die einzige wirksame Umkehrung. Zischend verpufften die beiden Zauber aneinander. Anthelia ließ die Tarnung fallen und tat einen Schritt auf die Wiese zu. Wishbone tänzelte darauf herum und rief: "Du hast uns alle an der Nase herumgeführt, du stinkender Auswurf aus dem Schoß einer Sabberhexe. Aber du kannst mich nicht töten. Dein Feuerchen mag das Haus fressen. Ich komme hier trotz deines Abwehrwalls weg. Siehst du das hier?" Er hielt einen zerfledderten Lappen hoch. "Ein Wort von mir reicht, und ich verschwinde an einen anderen Ort, von wo ich dich und deine Gefolgschaft ausrotten werde."

"Ich bin beeindruckt", rief Anthelia und blickte auf den Lappen. Da lösten sich Wishbones Finger von dem Putzlumpen, der einen Moment in der Luft schwebte und dann auf sie zuflatterte wie eine unförmige, graue Fledermaus. Dann knäuelte er sich zusammen und nahm Kurs auf Anthelias linke Hand.

Ein geheimer Portschlüssel kann keinen Antifernbewegungszauber mehr aufnehmen", sagte sie. "Du hättest besser das wort schon in deinem Rattenloch rufen sollen, um den Portschlüssel auszulösen. Dann hätte ich für warh das Nachsehen gehabt. Aber dann hätte alle Welt erfahren, daß Lucas Wishbone noch quicklebendig ist und sein Tod vorgetäuscht war. so kann ich der von dir in die Welt gesetzten Lüge doch noch den Garaus machen, indem ich dir den Garaus mache."

"Meinen Zauberstab kriegst du so nicht, du Biest", knurrte Wishbone. Dann glitzerten seine Augen. Anthelia brauchte seinen Gedanken nicht zu hören, um zu wissen, was er vorhatte. "Katzenmaul!" Klang Wishbones Stimme zu ihr. Da hatte sie den Putzlappen jedoch schon fallen lassen, der keine Zwanzigstelsekunde nach Ausruf des Wortes in einer blauen Leuchtspirale verschwand. Wishbone starrte sie an.

"Wolltest mich in deine Sicherheit und eine tödliche Falle für deine Feinde schicken, Luke Wishbone. Aber jetzt kriege ich dich doch."

"Dann komm oder ruf den tödlichen Fluch, bevor ich ihn rufe!" Rief Wishbone. Er hob den Zauberstab. Da riß ihm eine unsichtbare Gewalt beide beine nach hinten, daß er vorne überfiel. und aus Reflex den Zauberstab fallen ließ. Außerhalb der Hand seines Herren war der Zauberstab nicht mehr vor Anthelias Telekinese geschützt. So ließ sie ihn zu sich hinfliegen, während der ehemalige Zaubereiminister auf die Füße sprang. "Du biest. Ich bin noch nicht fertig mit dir." Er zog etwas aus seinem Umhang, das wie ein Metallrohr mit einem gekrümmten Griff und einem Bügel aussah. Anthelia erkannte es als Revolver der Muggel. Sie grinste. Da flogen ihr auch schon zwei und dann noch mal zwei Kugeln entgegen, die jedoch vor ihrem Brustkorb abgelenkt wurden. Sie fühlte, wie der Gürtel der zwei Dutzend Leben unter ihrer Kleidung ruckte.

"Verdammt, Mondsteinsilberkugeln mit Dracofrigidumzauber, die durchschlagen doch sonst jeden Drachenhautpanzer", knurrte der offiziell tote Zaubereiminister.

"Liegt daran, daß ich keinen Drachenhautpanzer trage, dessen Prellzauber damit überwunden werden kann. Und jetzt weg mit diesem Spielzeug", schnarrte Anthelia und prellte ihm telekinetisch die Feuerwaffe aus der Hand, daß sie im hohen Bogen zum Haus flog, wo gerade einige Dämonsfeuerkreaturen durch die lodernde Tür brachen. Dann krachte es mörderisch. Das Haus wurde eine einzige Stichflamme aus Purpur und Gold, die donnernd in den Himmel emporschoß und eine gewaltige Säule bildete, von der aus große Hitze ausging. Der Minister ahnte, was passiert war. Die im Haus gebündelten Flüche waren durch das Dämonsfeuer ungerichtet freigesetzt worden und hatten sich mit dem Flammenspuk zu einer unhaltbaren Elementarkraft verbunden, die jedoch auf den Wirkungsbereich des Hauses beschränkt blieb.

"Die Fackel deiner Vernichtung, Lucas Wishbone!" Rief Anthelia über das ohrenbetäubende Tosen der Flammensäule hinweg. Wishbone machte auf dem Absatz kehrt und rannte auf das Feuerungetüm zu. Anthelia ahnte, daß er lieber den Freitod suchte als sich von ihr foltern, umbringen oder in irgendwas ihm unangenehmes verwandeln zu lassen. Sie richtete den Zauberstab auf Wishbone und konzentrierte sich. Ihre eigenen Fernbewegungskräfte wurden durch den Stab gebündelt und verstärkt. Wishbone hatte den Außenrand der Flammensäule fast erreicht, als ihn etwas nach hinten zerrte, anhob und dann mit steigender Geschwindigkeit auf Anthelia zutrug. Diese fühlte, daß das ein ziemlicher Kraftakt war. Doch ihr Wille war groß genug, diesen Kerl da zu sich zu holen, von der verfluchten Wiese runter und so, daß sie ihn direkt vor sich hatte. Sollte sie ihn in etwas kleines, tragbares verwandeln? Ihr kam die Idee, Infanticorpore auf ihn zu legen. Doch dann käme seine werte Geliebte um das Vergnügen, ihn als eigenen Sohn zu spüren, wenn sie auf Anthelias Angebot eingehen wollte. Als er knapp einen Meter außerhalb derWiesenbegrenzung vor ihr auf den Boden schlug, stürzte die Feuersäule in sich zusammen und verschwand in einem glühenden Krater, in den nun qualmend und rußend Erde nachrutschte und ihn vergrößerte. Wishbone rief nach einer Duffy und einem Squeaky. Er hatte also noch nicht alle Trümpfe ausgespielt. Hauselfen konnten hier noch apparieren. Sie mußte Wishbone in ihrer Gewalt haben, bevor die beiden gerufenen ... Da krachte es auch schon, und zwei kleinwüchsige Wesen mit großen Ohren erschienen aus dem Nichts heraus. Einer deutete auf Wishbone und wunderte sich. "Meister Wishbone ist nicht tot?" Fragte der Elf. Das hätte er besser nicht tun sollen. "Avada Kedavra!" Schnarrte Anthelia. Ein grüner Lichtblitz erwischte den Hauselfen am linken Ohr. Das reichte aus. Der zweite Elf griff Anthelia mit seiner eigenen Telekinese an. Doch sie drückte die sie bedrängende Kraft mit Hilfe ihres Zauberstabes zurück, daß der Elf davon selbst hochgerissen und über die Wiese geschleudert wurde.

"Hast du dir so gedacht, Küchensklave", schrillte Anthelia, bevor sie erkannte, daß der Minister zu Fuß flüchten wollte. Mit einem Schocker erwischte sie ihn noch. Galt es also nur, den Elfen ... Knall! Das kleine Wesen apparierte direkt neben ihr und versuchte, sie zu packen. Offenbar sollte der Elf sie irgendwo hinbringen, wo Hexen und Zauberer nicht disapparieren konnten. Anthelia rief "Crucio!" Der Elf erstarrte und gab dann einen so lauten und hohen Schrei von sich, daß die Führerin der Spinnenschwestern schon meinte, ihre Ohren würden darunter zerbrechen. Der Elf schrie in der Todesqual des Cruciatus-Fluches. Anthelia konnte den bösen Zauber nicht länger als eine Sekunde aufrecht halten. Doch das reichte ihr, um den Elfen für einige Sekunden außer Gefecht zu setzen. Der zweite an diesem Ort gerufene Todesfluch traf den Hauselfen an der Nase, worauf er seinen bedingungslos dienstbaren Geist aufgab.

"Netter Versuch, hätte mit fünf von denen mehr bestimmt funktioniert und auch wieder wesentlich früher angewandt werden sollen", schnarrte Anthelia, bevor sie den ehemaligen Minister einschrumpfte, damit sie ihn aus dem provisorischen Wall tragen konnte. Sie hörte in der Ferne leises Schwirren. Besen! Schnell wurde Anthelia zur Krähe, ergriff den gerade streichholzgroßen Gegner mit dem Schnabel und flog über den Krater hinweg, der einen sehr starken Aufwind erzeugte, der gleich dahinter zu einem Sog wurde, der Anthelia fast wieder nach unten zog. Sie drehte bei und flog im Aufwind weit ausladende Spiralen höher und höher. Da konnte sie die anfliegenden Gegner erkennen. Fünf Zauberer in grauer Montur mit dem My-Symbol auf dem Brustteil. Anthelia wußte, daß sie in ihrer Tiergestalt keine Chance gegen Zauberflüche hatte. Ihre einzige Chance lag darin, nicht als flüchtende Kreatur erkannt zu werden. Außerdem war sie schon sehr hoch über dem Geschehen. Mit dem verkleinerten Lucas Wishbone im Schnabel konnte sie auch keinen Laut von sich geben. Sie stieg behutsam weiter nach oben und flog so ruhig sie konnte auf die Bäume zu, während die Besenreiter landeten und den Krater begutachteten. Sie glitt nun ohne Flügelschlag dahin und segelte weiter von den Besenreitern fort, die wohl gerade diskutierten, was passiert war. Anthelia dachte daran, wie viele Minuten oder Sekunden ihr noch blieben, bis der Portschlüssel in der Daggers-Villa ankam. Da konnte sie im Moment nicht drauf achten. Sie segelte so ruhig sie konnte auf den Boden zu. Da hörte sie aus der Ferne den Ruf: "Er muß noch leben. Suchen!" Anthelia zog die Flügel an und ließ sich zwanzig Meter fallen. Dann flatterte sie und bremste den Absturz. Dann landete sie etwas holperig. Doch sie verlor keine Zeit. Sie nahm menschliche Gestalt an. Da schwirrten die fünf Zauberer auf ihren Besen heran.

"Verdammte Bestie, hast uns ausgetrickst!" Der, der das rief, feuerte auch sogleich einen Schockzauber auf Anthelia ab. Doch dieser zerplatzte vor ihr in der Luft. Denn sie trug nun wieder den Mantel Sardonias, der solche Flüche locker abfing. Sie konterte den Angriff mit einem Mondlichthammer. Dann berührte sie den Ex-Minister mit dem Zauberstab. "Noch ein Angriff auf mich tötet ihn auf der Stelle", stieß sie aus, um dannn, als die fünf vor ihr erstarrten, ein unheimliches lied zu singen, das immer lauter wurde und die fünf merklich beeinträchtigte. Sie wankten, zuckten zusammen und stürzten dann. Unter immer wilderen Krämpfen und Röcheln wanden sie sich in immer größerer Todesqual. Sardonias Lied entzog ihnen immer mehr Kraft und wurde dabei immer stärker. Dann war es soweit. Die fünf Entsatzer, die Wishbone helfen wollten, waren tot. Anthelia hatte Wishbone durch die Berührung mit dem Zauberstab für die Dauer eines Liedes geschützt, weil sie ihn in ihrer Hand barg. Nun galt es für sie, zu verschwinden.

Wieder zurück in der Daggers-Villa fehlten nur noch Sekunden. Dann kam der Portschlüssel zurück. Niemand hing daran. In der Kiste steckte tatsächlich der Kopf von Anthelias Simulacrum. Offenbar war Castillo noch nicht aufgegangen, daß sein Herr keine Botschaften mehr entgegennehmen konnte, oder Anthelia hatte wirklich länger gebraucht, ihn zu überwältigen. Nun holte sie eine sehr große, klobige Sanduhr aus einem der geheimen Schränke. sie hatte diese Uhr nach Sardonias Erinnerungen angefertigt. Sie hätte nie gedacht, sie wirklich mal zu benutzen. Denn damit konnte man die Lebenszeit eines Menschen in wenigen Stunden verrinnen lassen. Dann jedoch würde sie sich zerstören. Sie prüfte, wie viele Lebensjahre auf diese Weise aus dem Körper eines Menschen gesaugt werden konnten und schätzte, daß es um die zweihundert Jahre waren. Das einzige was sie nun tun mußte, war dem Opfer den unteren Kolben auf den Bauch zu drücken, die Uhr mit dem Zauberstab zu berühren und "Fugi Tempus!" zu rufen. Aber wenn sie ihn verflucht hatte, mußte sie ihn anderswo hinbringen, damit seine Tante an ihn herankam, Warum nicht gleich vor ihrem Haus? Sie rückvergrößerte ihn, fesselte ihn und weckte ihn wieder auf. Natürlich wollte er wissen, wo er war und warum er noch lebte.

"Weil ich deiner Tante versprochen habe, dich ihr wiederzugeben. Aber die letzte Entscheidung liegt dann bei dir. Diese Sanduhr wird nun die dir verbleibenden Jahre deines Lebens in wenigen Stunden verstreichen machen. Meine Tante, die du und viele andere für abgrundtief zerstörerisch ansiehst, hat diese Bestrafung für einige sehr aufsässige Hexen und Zauberer entwickelt. Versuch es nicht erst, zu mentiloquieren. Ich erkenne das und unterbinde es." Wishbone glotzte auf das große Stundenglas, das Anthelia nun über ihm hielt.

"Du willst mich zu Tode verrotten lassen, du Mörderin?"

"Da du offiziell schon tot bist, wäre dies kein Mord mehr. Man kann nicht für dieselbe Tat zweimal angeklagt werden", erwiderte Anthelia. "Und ja, ich werde es genießen, dich aus der Welt verschwinden zu sehen. Du hast mich lange genug aufgehalten und neben meinen Schwestern auch andere, mit mir bisher nichts zu schaffen habende Hexen ausgegrenzt. Das werde ich nicht mehr dulden. Übrigens haben noch fünf deiner nibelungentreuen Helfer den Tod gefunden, als sie dir zu Hilfe kommen wollten. Und das soll mal die Elitetruppe des Zaubereiministeriums gewesen sein", spottete Anthelia.

"Wie hast du Castillo dazu gebracht, freiwillig deinen Tod zu vermelden?" Schnaubte der Ex-Minister. Anthelia holte die Kiste mit ihrem angeblich abgetrennten Kopf und zeigte ihn vor. Wishbone erblaßte. "Ein simples Simulacrum, entstanden um zu sterben, genau wie du."

"Ich habe noch gute Freunde. Die werden mich rächen, wenn sie erfahren, daß ich dir doch zum Opfer gefallen bin", fauchte Wishbone.

"Achso, und daß du offiziell tot warst hat denen keinen Anlaß gegeben, mich zu jagen, meinst du? Du hast schon genug in meine Pläne hineingefuhrwerkt, Lucas Wishbone. Du warst ja nicht mal so ehrlich, die Liebe zu deiner eigenen Tante einzugestehen. Hoffe darauf, daß ihre Liebe zu dir noch besteht oder schwinde dahin wie der Nebel im Sturmwind. Du hast behauptet, ich hätte dich getötet. Jetzt kann dies eintreten. Die einzige, die dir helfen kann, ist deiner Mutter Schwester."

"eine einzige Gedankenbotschaft von mir wird dich vernichten, Sabberhexe."

"Du denkst an die Schale des finalen Fluches, die Spikes für dich aufbewahrt hat und deren Existenz er selbst durch Divitiae-Mentis-Zauber verborgen hat?" Fragte Anthelia. "Das ist schon ein starkes Stück, mir die Ermordung junger Mädchen vorzuwerfen, wo deine Helfershelfer im letzten Winter je sieben unrechtmäßig eingewanderte Knaben und Mädchen zwischen sieben und vierzehn Lebensjahren in jenem Ritual getötet habt. Ihr seid so feige und eine Bande elendiglicher Heuchler, daß eine Schlange sich schämen würde, euch anzusehen." Wishbone erbleichte sichtlich. "Deiner heißgeliebten Tante hast du davon natürlich kein Wort erzählt, nicht wahr?" Wishbone keuchte. Er hatte keine Kraft, diese unglaubliche Enthüllung als pure Erfindung zu verlachen. "Wenn ich mit dir fertig bin, werde ich diese Schale holen und sie im Dämonsfeuer verbrennen, damit ihre Magie der vierzehn unschuldigen Opfer freigesetzt und die an die Schale gefesselten Seelen ihren Frieden finden mögen."

"Woher weißt du von der Schale?" Erschauerte Wishbone.

"Von Spikes selbst. Sein Wissen ist nun mein. Du trugst ihm auf, diese Schale zu bewahren und mit Hilfe seines Blutes und dem Namen des zu verwünschenden den Fluch auszulösen, wenn sicher war, daß ich oder dieser Idiot Tom Riddle nicht anders zu besiegen wären. Damit hättest du besser mal Valery Saunders vernichten sollen. Aber der Fluch hat einen kleinen Haken. Der, der ihn aufruft, verliert drei Viertel seiner Zauberkraft, bis der Fluch sich restlos erfüllt hat. Spikes wäre ein sehr armseliger Zauberer gewesen, wenn er den gegen wen auch immer benutzt hätte. Ich habe wie du siehst diese Schale nicht nötig, um einen Gegner zu vernichten." Mit Diesen Worten setzte sie ihm die Sanduhr auf den Bauch und berührte sie mit dem Zauberstab. Wishbone wollte sich herumwerfen, das Stundenglas abwerfen. Da hörte er schon die beiden Worte "Fugi Tempus!" Ein eiskalter Schauer durchzuckte Wishbone, und für einen Moment war ihm, als sauge sich das verfluchte Ding an ihm fest. Dann drehte Anthelia das Glas um, so daß der Sand zu Rieseln begann. Wishbone fühlte, wie ihn das schwächte. "Jedes Sandkorn steht für hundert Lebenstage, Lucas. In vier Stunden verlierst du zweihundert Lebensjahre. Das dürfte mehr sein, als du noch gehabt hast."

"Wenn dieses Ding zerstört wird ..." Schnarrte Wishbone.

"Stirbst du auf der Stelle. Das Glas ist nun mit deiner restlichen Lebenszeit voll, die beim Rieseln des Sandes im Nichts verschwindet. Und die behalte ich schön bei mir." Nach diesen Worten belegte sie Wishbone wieder mit dem Schockzauber und trug ihn per Apparition in die Nähe des Hauses, in dem seine Tante wohnte. Mit dem Stimmverstärkungszauber rief sie Tracy Summerhill. Es dauerte keine Minute, da erschien die gerufene. Als sie sah, daß Anthelia ihren Neffen und Liebhaber wirklich lebendig mitgebracht hatte, starrte sie die Spinnenführerin an. Diese sagte:

"Es ist der Echte. Überzeuge dich selbst und frage ihn, wie er sich entscheidet. Wenn er weiter den Weg der Rache gehen will, verschwindet er so oder so aus dieser Welt. Wenn du ihn aber wirklich liebst, Tracy Summerhill, dann bring ihn davon ab, mich weiter zu jagen. Ich habe schon genug Feinde, um nicht noch meine Zeit auf einen solchen Stümper und Ignoranten zu vergeuden. Apropos Zeit. Seine Lebenszeit verrinnt mit dem Sand in einem Stundenglas, das ich wohlweißlich in meiner Obhut behalte, bis er nicht mehr atmet. Gehab dich wohl, Tracy Summerhill."

"Was hast du mit ihm angestellt?" Fragte Wishbones Tante sichtlich erschüttert.

"Nur die notwendige Voraussetzung geschaffen. Enervate!" Wishbone erwachte. Als er seine Tante sah verzog er das Gesicht. Sie sagte darauf nur: "Die da behauptet, dir einen Schnellalterungsfluch aufgehalst zu haben. Ich prüfe das und ob du wirklich mein Neffe bist. Und du da..." Sie zielte auf Anthelia und versuchte, sie zu betäuben. Doch es mißlang. Lachend drehte sich Anthelia auf der Stelle und verschwand mit lautem Plopp im Nichts.

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"Du hältst viel aus", sagte Itoluhila, als sie dem gefangenen Vampir, der auf einer nach oben schrägen Planke gefesselt war, erneut die Ladung von fünf Wassereimern in einem breiten Strom über den Körper rinnen ließ. "Aber gleich habe ich den Standort deines verdorbenen Herrn und Erzeugers. Die Qualen, die du empfindest verspürt er und sendet sie zu dir zurück. Dadurch kann ich erfassen, wo er ist. Noch mal?"

"Du gemeines Biest, du schleimige Schlange wirst niemals mit ihm fertig. Fürst Volakin wird dich mit einem Wink zu Asche verbrennen, du Monstrum!"

"So, wird er das?" Fragte die überragend schöne Frauengestalt und lächelte den gefangenen Vampir an. "Deine unreine Ausstrahlung stört mich schon lange genug. Ich glaube, gleich hast du es hinter dir!" Sie ließ erneut einen schwall Wasser aus dem großen Faß über ihn fließen. Er schrie und stöhnte. Funken flogen aus seinem Leib. Die Tochter des schwarzen Wassers wußte, daß sie bald neue Lebenskraft aufnehmen mußte, weil die von diesem Geschöpf ausgehende Strahlung auch ihr zusetzte. Aber sie hielt durch. Dann fühlte sie deutlich, wo genau Volakin sich aufhielt. Sie kannte den Ort. Das war das explodierte Atomkraftwerk. Dort würde sie ihn also treffen. Doch halt. Er wechselte gerade den Standort. Ja, er gewann an Kraft und versuchte, seinem Diener etwas davon zu übersenden. Das durfte sie nicht zulassen. Sie prägte sich den Standort von ihm ein und ließ den Inhalt des ganzen Fasses über den Vampir laufen, der schlagartig zu eis erstarrte. "Hiermit zwinge ich dich, Volakin, Blauer Blutfürst, beim Leben deines Dieners, das nun in meiner Macht ist, stelle dich mir und beweise dein Anrecht zu existieren!"

"Du wagst es, mich derartig ... So komm in drei Tagen nach Westsibirien", hörte sie Volakins Stimme. Sie empfing auch den Ort. "Hiermit erzwinge ich dein Wort", rief sie noch und ließ den erstarrten Vampir mit einem einzigen Wink in tausend Scherben zerfallen.

"Dein Pech, daß du deinen Angehörigen zu viel von deinem Blut läßt", dachte Itoluhila. In drei Tagen sollte sie den Kampf bekommen. Sie verließ die Tropfsteinhöhle bei Valencia und kehrte in ihre Schlafhöhle zurück. Völlig unbekleidet badete sie eine Stunde in der orangeroten Substanz, die im Inneren eines golden leuchtenden Kruges wogte und strudelte. Dann war sie wieder mit mehreren Leben angefüllt, um nicht überhastig und übergierig nach Granada zurückzukehren, wo sie jemand bereits sehnsüchtig erwartete.

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Der hühnenhafte Vampir hing gefesselt in einer Höhle. Unter ihm gruben zwei Hexen gerade mit ihrem Zauberstab einen tiefen Graben. Vera Barkow und Ludmilla Borodina sahen den gegen seine verstärkten Ketten ankämpfenden Blutsauger an, der im Moment nur einen Vampirzahn besaß. Es war ihm bisher nicht gelungen, einen Riesen auszusaugen, um durch dessen magisches Blut genug Kraft zu erhalten, einen zweiten Vampirzahn nachwachsen zu lassen. Die Riesen hörten ihn immer zu früh und brachten ihn fast um. Und jetzt hatten ihn diese beiden Hexen da aufgestöbert. Was sollte der Graben?

"So, Einzahn", setzte Vera auf Russisch an. "Entweder kriegen wir jetzt mal die Informationen, wo dein neuer Herr, der blaue Blutfürst, sich so rumtreibt, oder du kannst dir aussuchen, ob das Wasser oder das Feuer dich erledigt."

"Nenn mich nicht Einzahn", schnaubte der Vampir. Er begriff es immer noch nicht, wie zwei Hexen ihn so leicht überwinden konnten.

"Du hast im Moment nur einen Zahn. Das Riesenmädchen, das du damit anknabbern wolltest, hat leider zwei große Brüder gehabt, nicht wahr? Und jetzt rück damit raus, wo Volakin ist. Er ist doch auch dein Feind."

"Er hat mich verflucht. Wenn ich verrate, wo er ist, sterbe ich."

"Wenn du nicht verrätst wo er ist, stirbst du auch. Verrätst du wo er ist, bleibt dir zumindest die Genugtuung der Rache."

"Ich sauge dich bis auf den letzten Blutstropfen aus", fauchte Einzahn. Doch die beiden Hexen lachten nur. Eine wandte sich zu einem gewaltigen Wasserhahn. "In dem Tank sind einhunderttausend Liter drin. Die können wir durch den Graben schön nach draußen abfließen lassen. Dich lassen wir dann mit den Füßen drin baden und sehen zu, wie es dir die Kraft aus dem Leib spült", drohte Vera.

"Oder ich lasse Brenngebräu in den Graben laufen. Brenngebräu senkt die Zündtemperatur jedes davon benetzten Materials, sobald es mehr als zwei Sekunden damit kontakt hat, auf ein zehntel der natürlichen Zündtemperatur ab. Das entfacht dann ein so heißes Feuer, daß selbst Gestein darin verbrennt, solange genug Brennstoff da ist. Die Kraft des Feuers wird dich auch ohne direkte Berührung aller Kräfte entledigen, dich sogar ausdörren. Ich brauche dir auch nur ein paar Tropfen davon auf deinen schmutzigen Umhang spritzen und habe dann eine vampirförmige Pechfackel. Feuer oder Wasser, Einzahn."

"In zwei Stunden geht die Sonne auf, Schwester. Da können wir ihn auch zum trocknen raushängen."

"Ihr verdammten Weiber. Er will zum Lager, wo unsichtbares Feuer aus Abfallfässern züngelt. Er hat zwei, wo er immer hingeht. Er nimmt das in Westsibirien. Da will er sich in drei Tagen mit jemandem treffen, der ihm lästig geworden ist."

"Stimmt, mit uns", erwiderte Vera und drehte ihren Han auf. Das Wasser gluckerte heraus und plätscherte dann in den Graben. Der Vampir fühlte bereits eine leichte Schwäche, und es wurde noch mehr Wasser. "Wo finden wir den Ort genau?" Fragte Ludmilla und warf dem kleinen, harmlos wirkenden Faß in ihrer Ecke einen aufmunternden Blick zu. Der Vampir beschrieb die genaue Umgebung. Die beiden Hexen nickten, als sie erkannten, daß er die Wahrheit sprach. Denn mit dem fließenden Wasser verging seine Macht, ihnen zu widerstehen. Sie drehten den Hahn voll auf, so daß das Wasser als breiter Bach hinausschoß. Der Vampir schrie auf, krümmte sich und wurde ohnmächtig.

"Verhungern Vampire?" Fragte Ludmilla.

"Wenn sie nicht zu lange am fließenden Wasser bleiben oder mit den üblichen Methoden erledigt werden verfallen sie in eine totengleiche Hungerstarre, bis sie frisches Menschenblut wittern. Erbeuten sie dieses nicht, kehren sie in die Starre zurück. Das kann Jahre gehen. Aber am Ende stirbt er dann doch vor Durst", erläuterte Vera. "Er wird also nicht gleich sterben. Vielleicht brauchen wir ihn noch mal, um den Weg zu den letzten Riesen zu finden. Er weiß, wo die wohnen. Arcadi will sie erlegen lassen, falls sie nicht erklären, nie wieder aus ihrem Reservat herauszukommen."

"Wirst du die höchste Schwester informieren, Vera?"

"Nach Arcadi. Wir haben noch drei Tage Zeit. Ich frage mich nur, wer außer uns diesem Volakin so gefährlich werden konnte. Nyx ist seine Gefangene."

"Vielleicht hat er die arabische Winddämonin an den Haaren gezogen oder sich mit ihrer Schwester, der Eisteufelin eine all zu hitzige Debatte geliefert. Hauptsache wir kommen früh genug hin, um ihn zu erledigen."

"Ja,aber die Rüstungen?" Fragte Ludmilla.

"Zwanzig sind fertig. Mehr werden dann wohl auch nicht gebraucht. Wenn wir den blauen Blutfürsten erledigen, fallen uns seine Kinder wie reife Früchte in den Schoß. Denn sie sind von ihm abhängig."

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Martha Andrews saß wieder vor ihrem Rechner. Catherine war bei ihr. Claudine war bei ihrer Großtante Madeleine. "Tante Madeleine gibt dir nur noch eine Woche. Dann heißt es Marsch zurück auf die Schulbank oder zurück in die Wiege", soll ich dir ausrichten", sagte Catherine.

"Die wagt es,mir ein Ultimatum zu stellen, wo die genau weiß, daß diese Atomvampir-Sache zu ernst ist, als mich damit zu befassen, neue Zaubersprüche zu lernen? Abgesehen davon hätten Antoinette oder die Latierres was dagegen, daß sie mir diesen Infanticorpore-Fluch auferlegt, von euren Zaubereigesetzen mal ganz zu schweigen."

"Unsere Zaubereigesetze, Martha", berichtigte Catherine ihre direkte Nachbarin. "Meine Tante macht viel Spaß. Aber ich fürchte, diesmal meint sie es bitterernst. Sie hat dich als die Tochter angenommen, die sie selbst nicht bekommen hat und zieht das jetzt mit dir durch, bis du alles kannst, was du außerhalb von Beauxbatons lernen kannst. Und sie könnte sich wegen der Einmaligkeit deiner magischen Erweckung darauf berufen, daß du mit diesen dir zugeflossenen Zauberkräften nur dann richtig umzugehen lernst, wenn du mit ihnen erneut aufwächst. Zumindest hat sie sowas angedeutet"

"Wie lustig, Catherine. Man merkt doch, daß Madeleine die Schwester deiner Mutter ist. Aber die hat ja nun zum Glück genug Verantwortung aufgeladen bekommen."

"Was sie nicht daran hindert, zu fragen, wie weit deine Ausbildung gediehen ist. Und Antoinette hat ja schließlich auch ein Interesse ... Huch, was wird das da auf dem Bildschirm?"

"Tja, während du mir die Drohung deiner spaßigen Hexentante überbracht hast hat mein Rechner ein Programm abgearbeitet, das ich auf zwei Vermutungen hin erstellt habe. Zum einen berechnet es mir alle Wege aus der Schweiz nach Paris, auf denen so wenige Fließgewässer wie möglich passiert und/oder überquert werden müssen. Zum anderen gehe ich von der Vermutung aus, daß die Vampire, weil sie nachts leuchten, während des Tageslichtes von ihrem Ausgangspunkt nach Paris fuhren. Somit erstellt mein Rechner gerade einen Datenabgleich, bei dem die kürzeste Route mit so wenig Fließgewässerannäherungen wie möglich bestimmt wird. Was du auf der Landkarte siehst sind Wahrscheinlichkeitsberechnungen. Tiefrot wäre eine Wahrscheinlichkeit über 90 Prozent. Wenn mir die Tante von Babettes neuer Klassenkameradin die Liste aller Busunternehmer zumailt kann ich die noch in das Programm integrieren, weil ich dann die ungefähren Startpunkte berechnen kann. Dann bekomme ich hoffentlich die Route mit einer Wahrscheinlichkeit über 99 % und damit auch das betreffende oder die betreffenden Busunternehmen."

"In Frankreich gibt es viele Brücken über Flüsse, Straßen, die in die Nähe größerer Ströme führen oder eben Wasserleitungen", erwiderte Catherine. Martha nickte. das akustische Zeichen für eingehende E-Mails ertönte. Doch es war eine Mail von Zachary Marchand, der schrieb, daß er mal wieder für einige Zeit bei den Ross' wohnte. Martha wollte erst ihren Job hier zu Ende bringen und wechselte wieder das Bildschirmfenster. Dann sah sie, daß alle Wege in gerade mal hellgelb bezeichnet waren. Als Grund dafür wurden mehr als vier Brückenüberquerungen angegeben. Dann schlug sich Martha vor den Kopf. "Wir haben etwas außer Acht gelassen", sagte sie. "Wenn die Vampire so überempfindlich auf fließendes Wasser reagieren, weil es ihnen Kraft wegnimmt, aber durch Blut oder radioaktive Strahlung neue Kraft bekommen, so könnten sie die Brückenüberquerung dadurch ausgleichen, daß sie hochradioaktives Material mitführen. Ich gebe das mal in die Parameterliste ein." Sie wählte in ihrem Programm den Unterpunkt "Pause und Nahrung" und wählte Pause 0 und Nahrung 100, also vollständige Regeneration. Dann ließ sie das Programm noch mal durchrechnen. Jetzt wurden zwei Wege tiefrot ausgewiesen. "Schickt da welche in Schutzanzügen hin, die prüfen, ob auf dem Weg mehr Strahlung gemessen werden kann als sonst!" Sagte Martha.

"Tja, dafür lohnt sich das Mentiloquieren", hörte sie Catherines Gedankenstimme. Es war ihr immer wieder unheimlich, wenn jemand so mit ihr kommunizierte. Dann deutete Catherine auf das Telefon und sagte nur "Nathalie". Martha verstand und rief Nathalie Grandchapeau an. Dort lief inzwischen auch die Liste der Busunternehmer auf, die zeitgleich an Martha weitergemailt wurde. So konnte die Computerexpertin, die als Erwachsene unverhofft zur Hexe geworden war, die Standorte der Unternehmen mit dem Routenberechnungsprogramm abgleichen lassen und erwischte von den zweien, die schon rot geleuchtet hatten eine, die rot blinkte. Das hieß, daß mit über neunundneunzig Prozent diese Route genommen worden war. Denn die andere Route wies keine Busunternehmen in der berechneten Startzone auf. "Okay, Nathalie, schickt da bitte mal wen mit Strahlenmessern hin, Geigerzähler oder Aurora Dawns Wünschelruten, ist egal. Wenn die Dinger da voll ausschlagen war das der Ausgangspunkt. Dann können die Schweizer sich den Busunternehmer Lepont vornehmen."

"Glaubst du, er ist noch ein Mensch, Martha?"

"Ich will mich nicht festlegen. Aber ich fürchte, der war der erste, den die zu ihren Artgenossen gemacht haben. Aber prüft das bitte genau. Ich jongliere hier schon heftig genug mit Wahrscheinlichkeiten."

"Auf jeden Fall vielen Dank! Schicke mir bitte einen Ausdruck von der berechneten Route zu!" Bat Nathalie. Martha bestätigte, wandelte die Darstellung in ein mit Zahlenwerten versehenes Bild um und hängte dieses an eine E-Mail an Nathalies Adresse.

"Sage deiner werten Tante, mit der Wiege wird das nichts. Ich denke nicht, daß Nathalie mich da lange alleine drin liegen ließe. Abgesehen habe ich endlich meine ganz genauen Geburtsdaten. Meine Mutter hatte sie in dem Medaillon, daß ich von ihr geerbt habe und sogar ein getrocknetes Stück von der Nabelschnur, an der ich dranhing."

"Grenzt schon an Zaubererweltkult, sowas aufzubewahren", erwiderte Catherine. Martha lachte nur.

"Wenn wir mit dieser Berechnung den Strom der Vampire stoppen können wird Tante Madeleine wohl noch mal zwei Stunden zugeben."

"Haha, Catherine", gab Martha darauf nur zurück.

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Er fühlte sich erschöpft, doch glücklich. Drei Tage waren wie im Traum vergangen. Drei Tage, in denen er ein und dieselbe Frau in verschiedenen Rollen erlebt hatte. Einen Tag, nachdem er ihr kleines, gut verstecktes Ferienhäuschen am Rande der Sierra Nevada bezogen hatte, war sie aus Sevilla eingetroffen und hatte ihm eine exklusive Stadtführung geboten. Dabei hatte sie ihm auch erklärt, daß sie ehrenamtlich als Straßenhelferin tätig war und sich um die Sorgen und Bedürfnisse der Prostituierten hier und in Sevilla kümmerte. Daß sie selbst dabei zwischendurch im Hurenkostüm auftrat gehörte zu ihrer Arbeit, um sich in die Lage der freiwillig und unfreiwillig dort anschaffenden Frauen zwischen achtzehn und über fünfzig zu versetzen. Zwar hatte Claude ihr einen Vortrag gehalten, wie viele Mädchen in diesem Gewerbe von Schwerkriminellen ausgebeutet und mißbraucht wurden. Doch sie hatte dem entgegnet, daß gerade ihre Arbeit dazu beitrüge, daß Frauen dort ohne Angst vor solchen Verbrechern arbeiten konnten und durch sie auch eine Möglichkeit fanden, auszusteigen, wenn ihnen diese Art von Arbeit zu anstrengend, lästig oder gefährlich wurde oder sie auf anerkanntes Familienleben ausgingen. Reiseführerin und Straßenarbeiterin am Tage und Liebesgöttin Loli in den Nächten, die Claude jeden Abend herbeisehnte, obwohl er wußte, wie stark sie ihn mitnahm. Einmal war sie für mehrere Stunden ausgeblieben und hatte ihn alleine durch die Stadt fahren lassen. Er hatte seine Frau Alison angerufen und behauptet, in den Bergen bekäme er kein vernünftiges Netz. Auf die Frage, in welchem Hotel er wohne bekam sie die Antwort, daß eine Studienkameradin von Carlos ihm das Ferienhaus ihrer Verwandten für wenig Geld überlassen hätte, weshalb er wohl mit mehr Geld aus dem Urlaub zurückkehren konnte als geplant und welchen Wunsch sie habe.

Am letzten Tag, bevor er mit seinem Mietwagen zur Costa del Sol weiterfahren wollte, besorgte Loli ihm eine perfekte Kopie des in der Römerfestung verlorengegangenen Eheringes. Bevor sie ihm diesen gab drehte sie ihn und schien ein merkwürdiges Lied dabei zu summen. Claude stand daneben, dachte nicht einmal daran, sie nach dem Sinn dieses ritualartigen Verhaltens zu fragen. Er wartete, bis sie ihm den Ring an den richtigen Finger steckte. Er schlüpfte locker darauf. "Fühlt sich an, als könnte er schnell abrutschen, Claude. Aber das täuscht", sagte Loli und berührte den Ring noch einmal mit ihren rechten Fingern. Claude meinte, ein kurzes Erwärmen des Schmuckstückes zu fühlen. Doch das war bestimmt nur eine Täuschung. Als er dann die beringte Hand kräftig schüttelte fühlte er, daß der Ring locker anlag und dennoch fest und sicher saß. "Der fällt nur noch vom Finger, wenn du ihn nicht mehr brauchst, Claude. Maximo ist ein exzellenter Goldschmied, der maßgeschneiderte Ringe und Ketten machen kann", sagte Loli. Dann kam die letzte und aufregendste Nacht. Claude dachte, nicht wirklich wach zu sein. Denn er wähnte sich immer in einer seine Leidenschaft anspornenden Umgebung, mal am Meer, zu dessen reranbrausenden Wogen sie ihren Rhythmus fanden. Dann unter sternenklarem Himmel auf einem großen Teppich mitten in der Wüste. Dann im nächtlichen Garten der Alhambra. Claudes Gedanken waren derartig von Lolis Liebeskünsten gefesselt, daß er keinen Moment darüber nachdachte, daß sie ihn auf eine ihm unvorstellbare Art beeinflussen mochte. Als er mit der neu beringten Hand ihren Schoß berührte und behutsam vordrang, meinte er, federleicht in einem wohlig warmen Etwas zu schweben und sein Herz und das der Geliebten wie laute Pauken schlagen zu hören. Wie von allen Seiten klang ihr Flüstern: "Damit gehörst du jetzt mir allein, Claude Andrews. Doch ich lasse dich dieser Alison, die dich Jahre lang vernachlässigt hat und sich die Möglichkeit nehmen ließ, deine Kinder zu gebären. Liebe sie, wie ich es dich lehrte und sei mit mir, wenn du mit ihr bist, ohne ihr von mir zu erzählen." Dann hörte er ihre Stimme ein wohliges, einlullendes Lied singen. Er fühlte, wie dieses bergende Etwas immer größer wurde, bis er meinte, im Zentrum eines warmen, schwerelosen Universums zu gleiten, bis ihn die Dunkelheit der Besinnungslosigkeit umschloß.

Als er wieder erwachte, saß seine Geliebte unbekleidet auf dem Bettrand. Er dachte, sich wie in alten Zeiten betrunken zu haben. Alle Glieder wogen schwer. Erst als sie ihm zärtlich über die Brust strich, kehrten seine Kräfte wie ein Strom warmen Wassers in seinen Körper zurück.

"War wohl doch ein wenig heftig mit uns beiden", sagte sie. "wolltest du nicht um sieben aufstehen?" Claude sah auf seinen Wecker. Es war bereits zehn, und helles Tageslicht drang durch die senkrechte Lücke zwischen den Vorhängen und bildete eine weiße Säule an der Wand.

"Gut, das ich mich noch nirgendwo fest angemeldet habe, weil ich mich nicht treiben lassen wollte", sagte er. Doch etwas schneller als sonst stand er auf und genoß das letzte Frühstück mit Loli. Diese bedankte sich noch einmal dafür, daß er ihr so viele schöne Tage gewidmet hatte. Er fragte, ob sie nun wieder zu Carlos gehen oder noch einen anderen Mann besuchen würde. Sie erwiderte darauf, daß das mit Carlos nur sporadisch war und er wisse, daß er sie nicht ständig um sich haben könne. Sie sei froh, daß sie ihm die aufgezwungenen Hemmungen hatte nehmen können, damit er sich auch seelisch von den Fesseln des Alltags freimachen konnte. Dann wünschte sie ihm noch eine erholsame Woche am andalusischen Mittelmerstrand.

Erst um drei Uhr fuhr Claude mit seinem gemieteten Kleinwagen los. Er war froh, daß eine Klimaanlage eingebaut war. als er auf die Sonnenküste Spaniens zusteuerte, kamen ihm doch Gedanken, ob das richtig gewesen war, sich auf die Affäre mit dieser ihm doch noch ziemlich unbekannten Frau einzulassen. Vor dem Urlaub hätte er jeden wegen Verleumdung verklagt, der ihm gesagt hätte, er würde im Urlaub seine Frau betrügen. Aber war das wirklich Betrug? Das, was ihn mit Loli verband war was völlig anderes als das, was er mit seiner Frau hatte. Irgendwie dachte er daran, daß seine Frau sich selbst hatte sterilisieren lassen, weil sie doch eher auf Karriere ausging als auf Familie. Sollte er ihr jetzt böse sein? Aber er wußte es ja nicht wirklich. Er dachte es nur. Er hoffte nur, daß Carlos nicht auf die Idee kam, ihn mit der Affäre mit Loli zu erpressen, wo er das woher auch immer wußte, was damals mit Sandy abgelaufen war. Dann erkannte er zu seiner Beruhigung, daß Carlos niemals etwas gegen Lolis Interessen tun würde. Und sie hatte ihm, Claude, deutlich gemacht, daß er jederzeit wieder zu ihr kommen konnte. Was hatte er, der mit den Jahren etwas runder gewordene, von vielen für verklemmt, rechthaberisch und humorlos gehaltene Anwalt ausgestrahlt, daß so ein Wesen wie Loli Herrero ihn an sich heranlassen wollte? Diese Frage, deren Antwort ihn erschüttert hätte, hätte er sie überhaupt geglaubt, beschäftigte ihn jedoch nur einige Sekunden. Dann dachte er an die kommende Woche. Er wußte, daß er wohl für die nächsten Jahre alle Liebesakte aufgebraucht hatte. War auch nicht so schlimm, wenn er jetzt nur noch am Strand liegen und ein wenig Sonnenbräune tanken wollte.

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Lucas Wishbone zählte die Stunden. Er hatte mit Grauen festgestellt, daß er innerhalb einer Stunde seine Tante altersmäßig soweit überholt hatte, daß er nun als ihr Vater durchgehen konnte. Sein Haar wurde immer lichter und grauer. Immer mehr weiße Strähnen fielen ihm von Kopf. Immer tiefere Falten bildeten sich auf seiner immer trockener werdenden Haut. Tracy hatte nun erfahren, was ihm passiert war und hatte durch intensives Legilimentieren erkannt, daß es wirklich ihr Neffe war. Diese Hexe, Anthelia, hatte ihrem Neffen einen qualvollen Tod zugedacht. Bald würden seine Augen nachlassen. Dann kamen wohl die Ohren, wenn nicht vorher schon der Verstand aussetzte. Sie kannte Alterungstränke und hatte Leute gekannt, die damit unvorsichtig waren und innerhalb von Sekunden achtzig Jahre übersprungen hatten. Was hatte Anthelia gesagt, sie habe die Voraussetzung geschaffen?

"Sie will mich leiden lassen, Tracy", sagte Wishbone. "Und ich kann nichts machen. Ich kann nicht ins Ministerium zurück und mich den Heilern anvertrauen, zumal ich fürchte, daß sie diesen progressiven Fluch nicht beheben können."

"Spikes und die anderen sind entweder tot oder verhaftet?" Fragte Tracy Summerhill.

"Dieses Hexenweib hat behauptet, ihm sein ganzes Wissen entrissen zu haben. Woher hätte die sonst gewußt, wo ich war und womit der Zauberschlaf aufgehoben werden konnte. Castillo, ich werde zu ihm gehen und mich von ihm ins Ausland bringen lassen. Vielleicht kann ich diesen Fluch durch Verjüngungstrank ausgleichen.""

"Und alles vergessen, was du erlebt hast? nein, Lucas. Ich werde nicht zulassen, daß du die letzten Stunden deines Lebens einer vagen Idee nachhängst. Du hast wohl nur noch zwei oder drei Stunden."

"Die Beine tun mir weh. Ich glaube, die Knochen wollen nicht mehr so recht. Wenn ich diese Sanduhr hätte, würde ich die umdrehen und diesem Fluch ein Ende machen."

"Weißt du, wo die Sardonianerin sie hat?"

"In ihrem Versteck. Aber wo das ist weiß ich nicht."

"Und es zu suchen würde zu lange dauern", sagte Tracy. Wishbone sah sie an. "Versetz mir den Todesfluch, wenn die nächste Stunde um ist oder gib mir den Zauberstab, damit ich es selbst mache!" Dann kann ich zumindest noch den Fluch der letzten Worte wirken, um sie anzugreifen."

"meinen Zauberstab, damit du dich umbringen kannst. Nein, Luke. Ich werde das nicht zulassen."

"So, was willst du dann machen, mir beim schnellen vergreisen zusehen oder?"

"Es gibt eine Möglichkeit, dich von dem Fluch zu befreien. Aber dazu mußt du mir vertrauen und wollen, daß ich deine Mutter werde", sagte Tracy Summerhill.

"Iterapartio? Das meinst du nicht ernst", seufzte Wishbone, der nun körperlich fühlte, wie ihm die Lebenszeit davonlief.

"Dann überalterst du eben innerhalb der nächsten Stunden", knurrte Tracy. Überlege es dir, ich bin dazu bereit und würde dir helfen, ein neues, hoffentlich friedlicheres Leben zu führen."

"Friedlicher? Mein einziger Gedanke ist, diese verdammte Sabberhexe Anthelia zu vernichten und alle, die ihr nachlaufen. Aber leider hat sie mir die letzte Möglichkeit dazu genommen."

"Welche wäre das?" Fragte Tracy argwöhnisch. Lucas erkannte, daß er nicht das mit dem finalen Fluch ausplaudern durfte und sagte deshalb: "Die geheime Weiterführung der My-Truppe. Sie hat Spikes sicher getötet und einige von denen auch. Ich kann nicht ins Ministerium zurück, weil sonst aller Unmut gegen sie verschwindet, weil ich nicht wirklich gestorben bin."

"Das hättest du dir wirklich besser überlegen müssen, ausgerechnet sie als deine Mörderin hinzustellen", schnarrte Tracy Summerhill und deutete dann auf ihren Unterleib. "Ich kann und will dich am Leben erhalten, dir neues Leben geben, wenn du es von mir annehmen und dich meiner Obhut anvertrauen willst, Honey. Aber entscheide es in den nächsten Minuten, bevor du womöglich keine klaren Gedanken mehr fassen oder dich konzentrieren kannst!"

"Mich dir anvertrauen, dein Sohn werden? Ist das nicht das, was dich auf meine verstorbene Mutter so eifersüchtig gemacht hat? Hat Anthelia mich deshalb nicht irgendwo in der Landschaft verrecken lassen, weil sie dies mit dir vereinbart hat?" Wollte der dem Schnellalterungsfluch unterworfene Zauberer wissen. Tracy nickte. Dann sagte sie:

"Sie weiß, daß wir zwei im Grunde noch immer füreinander da sind. Sie will dich aus dieser Welt haben, so oder so."

"Und was ist dein Teil des Handels?" Fragte Wishbone.

"Der besteht wohl darin, daß ich dich in den nächsten Jahren beaufsichtige und du keine Möglichkeit hast, ihr weiter nachzustellen."

"Zusehen, wie sie womöglich mächtiger wird und unbesiegbar ist?" Fragte Wishbone, dem mindestens noch ein ganzes Lebensjahr in dieser Zeit schwand. Dann dachte er nach. Er konnte ihr in dieser Lage nichts mehr anhaben. Wenn er jedoch neu zu leben anfing und mit drei schon genug Wissen und Zauberkraft besaß wie ein Erwachsener, würde dieses Weib in nicht einmal vier Jahren seine Rache zu spüren bekommen. Dafür lohnte es sich, diese große Hürde zu nehmen und sich auf Gedeih und Verderb der Gesundheit, Fürsorge und Entscheidungen seiner Tante anzuvertrauen. Er sah sie, wie sie ihn als Kleinkind hielt, wie sie ihn nach Thorntails verabschiedet hatte und fühlte den Nachklang vergangener Liebesnächte mit ihr. Es war eine große Ironie, daß sie beide sich nun so nahe kommen würden, wie er bisher nur seiner Mutter sein konnte. Ihm fielen die Gesetze ein, die die Anwendung dieses Zaubers beschränkten. Dann dachte er daran, daß er ja schon offiziell tot war. Zehn Minuten, in denen er fast zehn Jahre älter wurde, dachte er daran, wie es sein würde. Konnte er sich an alles erinnern, wenn er zurückkehrte, oder verschwand sein Wissen mit seinem Körper und kehrte nie wieder zurück. Er dachte so konzentriert daran, sich an Anthelia zu rächen, daß er hoffte, dieser Gedanke würde ihn auch in seinem neuen Leben begleiten und antreiben. Dann sagte er zu. Tracy hatte schon alles vorbereitet.

Sie hatte eine große Holzwanne mit blauer und gelber Zaubertinte berunt. Neuanfang, Liebe, Mutter, Kind und Leben verschnörkelten sich als Runen immer wieder um die Wanne. Tracy füllte sie mit klarem Wasser. "Aus dem Wasser entstehen wir. Wasser tragen wir in uns durch unser leben", sagte sie, während sie mit dem Zauberstab über die Wanne schwenkte. Dann gebot sie Lucas, sich wie sie zu entkleiden und sich mit dem Rücken an ihrem Bauch und Brustkorb anzulehnen. Dann wurde er gefragt, ob er, Lucas Wishbone, ihr Kind sein und sie als seine Mutter annehmen würde. Er sagte aufrichtig ja. Dann sang sie ihm eine Litanei vor, die er mal gelesen hatte, aber bis heute nie für wirklich wichtig gehalten hatte. Er stimmte Darin ein, wobei er dort, wo sie "Mutter", "Lebensspenderin" und "Beschützerin" Sang "Kind", "Nachkomme" und "Dankbarer" einflocht. Er fühlte ihren Zauberstab in seinem Bauchnabel, trat mit ihr in immer intensiveren, geistigen Kontakt. Dann meinte er, sein und ihr Leben in schneller Folge ineinander fließen zu sehen und fühlte, wie er schwerelos wurde. Es war, als schlüge das warme Wasser der Wanne über seinem Kopf zusammen. Er sang noch in Gedanken, während er meinte, zwei Herzen zu hören, wobei seines immer leiser wurde. Dann meinte er, in einer rundum abgeschlossenen Kugel aus purem Mondlicht zu schweben und dachte an alles, was er bisher erlebt hatte, in umgekehrter Reihenfolge. Dabei hörte er noch die letzten beschwörenden Worte seiner Tante, bevor sein allererster Schrei in seinem Bewußtsein erklang und tiefe Dunkelheit ihn umgab.

Tracy fühlte, wie ihrer beiden Körper immer stärker miteinander verbunden wurden, bis Lucas, der bald so wie ihr Großvater aussah, in einem weißen Licht erstrahlte und zu einer Kugel wurde, in der sie ein durchsichtiges Ebenbild von ihm sah. Ihr Zauberstab durchdrang die magische Kugel und berührte ihren Leib. Unvermittelt schrumpfte die Kugel zusammen und drang in ihren Körper ein. Sie fühlte Wärme und einen Moment großer Befriedigung. Dann überkam sie Schwindel. Das Wasser um sie herum brodelte wie ein kochender Kessel. Dann kehrte Tracys Gleichgewichtssinn zurück. Sie zog den bei der plötzlichen Umwandlung Lucas in ihren Leib gedrungenen Zauberstab frei und rührte ihn im Wasser um. Dabei fühlte sie, wie für einen Moment etwas in ihrem Inneren um sich tastete, um dann zu einem sanften Pulsieren zu werden, das immer schwächer wurde. Sie wußte, sie hatte es geschafft. Und sie dachte daran, daß sie wohl in einigen Monaten wissen würde, ob ihr Neffe, der nun nicht mehr da war, sein Wissen in das neue Leben mit hinübernahm. Dann dachte sie daran, endlich ihre Schwester zu überflügeln, die sich ihr gegenüber immer mit ihrer Mutterrolle aufgespielt hatte. Sie wollte und durfte nicht zulassen, daß der, den sie gerade auf eine hochmagische Weise empfangen hatte, sich an dieser Hexe rächen wollte. Im Grunde hatte er sie ja herausgefordert und sie hatte ihr die Möglichkeit gegeben, endlich richtig auf ihn aufpassen und ihn führen zu können. Nein, sie durfte ihn nicht zum Rächer werden lassen. Das was ihr bevorstand durfte nicht umsonst geschehen. Sie würde ihn von seinen Racheplänen abbringen und wußte auch schon genau wie. Doch dies war erst in ungefähr vierzig Wochen, im Mai oder Juni, fällig.

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Anthelia beobachtete die magische Sanduhr, die Wishbones Lebenszeit verrinnen ließ. Nur anderthalb Stunden nachdem sie ihn seiner Tante übergeben hatte, blitzte es im unteren Kolben auf. Der Sand wurde wie von einer Windhose nach oben gesogen. Die Uhr flimmerte merklich. Funken flogen von ihr weg. Anthelia warf einen unsichtbaren Schild zwischen sie und sich. Außerdem trug sie den Mantel Sardonias und Dairons Gürtel. Sie hörte ein leises Singen und sah, wie die Uhr immer heller erstrahlte. Sie schloß die Augenund zog die Kapuze des Mantels tief darüber. Dann gab es ein lautes, klirrendes Geräusch, das in ein Brausen und dann in eine Art umgekehrten Knall überging. Fünf Sekunden Stille wartete sie ab. Dann wagte sie ihre Augen wieder zu öffnen. Sardonias Sanduhr war zu einem unförmigen Klumpen aus geschmolzenem Glas und goldenem Sand geworden. Anthelia lächelte. Also hatte er sich doch auf ein neues Leben eingelassen. Bestimmt würde sie in einigen Monaten erfahren, daß Tracy Summerhill von ihrem Neffen ein Kind trug und welchen Namen sie diesem geben würde. Sie dachte nur daran, den kleinen Burschen umzubringen, sollte dieser alle Erinnerungen an sein letztes Leben behalten und auf Rache ausgehen. jetzt galt es, den blauen Blutfürsten zu stellen. Während sie Wishbones Verschwinden aus der Welt abgewartet hatte, war eine Blitzeule aus Rußland bei ihr eingetroffen. Vera Barkow wußte, wo der Mutant gestellt werden konnte. Auch Louisette Richelieu hatte sich gemeldet. Sie erwähnte, daß es gelungen sei, den Reiseweg der Vampire zurückzuverfolgen und ein Trupp schweizer Ministeriumszauberer in diesen ABC-Schutzanzügen die Niederlassung eines gewissen Jean Lepont gestürmt und ihn und seine Sekretärin getötet hatte. Nun wurde der Bus gesucht, der die Vampire transportiert hatte, während die französischen Ministeriumsbeamten die blauen Vampire in entlegene Gegenden verbrachten, um sie da aus sicherer Entfernung mit Eichenholzbolzen zu erlegen. Hundert Zauberer waren laut Louisette daran beteiligt.

"Schon eine sehr interessante Sache, daß man die diese vermaledeite Strahlung entsendenden Stoffe an einer klaren Strahlenspur aufspüren konnte. Doch Volakin wird nicht leicht zu erledigen sein, wenn er sich dort aufhält, wo ihm die Strahlung Kraft verleiht", dachte Anthelia.

Wenige Stunden später probierte sie eine schwerfällig aussehende Rüstung, die aus Stiefeln, geschlossenen Beinschienen, einem besonders gepanzerten Unterleibsschutz, einem Panzer für den Körper, Armstücke mit Gelenken und Gliederhandschuhen und einem verschließbaren Helm bestand. Wenn der Helm geschlossen war, trat ein Kopfblasenzauber in Kraft. Durch kristallklare Sichtluken im Helm konnte Anthelia alles sehen. Louisette fragte sie, ob sich die Rüstung schwer anfühle.

"Ich bedauere, Sardonias Mantel nicht darunter tragen zu können. Doch sie fühlt sich federleicht an", klang Anthelias Stimme durch Kopfblase und Visier wie aus einem vor Mund und Nase gehaltenen Kessel klingend.

"Morgen wird ihn eine Gruppe aus neunzehn Zauberern, angeführt von Arcadis Neffen Pjotter, an diesem Atommülllager angreifen. Willst du wirklich dorthin, höchste Schwester? Wir wissen nicht, wie die Strahlung dort wirkt."

"Ich werde nicht zulassen, wie dieses Monstrum mein Heimatland weiter bedroht. Wie viele seiner Abkömmlinge hat das Ministerium schon erlegt?"

"siebzehn. Einige scheinen gemerkt zu haben, daß sie gesucht werden. Aber wir haben die Unfallumkehrer mit üblichen Geigerzählern und Strahlenspürern nach Dawn und Herbregis ausgerüstet."

"Gut, dann werde ich mich morgen dort einstellen und zunächst aus sicherer Entfernung beobachten, ob die Zauberer dieses Geschöpf aus der Welt stoßen können."

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Itoluhila war stolz und glücklich. Sie hatte diesen Gefangenen seiner anerzogenen Verstocktheit und Überkorrektheit besser an sich binden können, als sie gehofft hatte. Als ihr Carlos Ramirez von seinem Studienfreund aus Oxford erzählt und dabei das Bild des Mannes vor seinem geistigen Auge gesehen hatte, hatte es die Tochter des schwarzen Wassers innerlich aufgewühlt. Das war doch etwa kein Bruder des von ihrer Schwester Hallitti unklug überbeanspruchten Mannes, der starke, aber unweckbare Zauberkräfte besessen hatte? sie hatte nachgeforscht und die Bestätigung erhalten. Es gab also noch einen Bruder. Und der kam ausgerechnet in ihr Jagdrevier. Sie hatte Carlos instruiert, ihn zu Rufina zu bringen, ihrer einzigen, weiblichen Abhängigen. Carlos gehörte ihr ja schon lange und tat alles, was sie wollte. Es war nicht schwer gewesen, die unterdrückten Gelüste in Claude Andrews zu erwecken, ihn in Traumbildern in andere Rollen schlüpfen zu lassen, um ihn in diesem Zustand immer wieder mit sich zu vereinen, bis er ihr nicht mehr entwischen konnte. Als sie dann in der alten Römerfestung herausgefunden hatte, daß sie ihn auch im Wachzustand beliebig beeinflussen und den bewußten Akt mit ihm vollziehen konnte, hatte sie die Bestätigung, daß er wahrlich unweckbare Zauberkräfte hatte. Daß ihm dabei sein Ehering, das Zeichen der lächerlichen Festlegung, abhandenkam war für sie ein weiterer Glücksfall. Rufina hatte sie auch einen Ring gegeben statt eines Medaillons. So konnte sie Claudes nicht mehr wirklich existierendes Gewissen endgültig zum schweigen bringen, in dem sie ihm eine Nachbildung des Ringes machte und durch ihre Machtrunen an der Innenseite und dann durch Besingen aktivierte. Als er sie damit an ihrem Geschlecht berührte und sogar damit in sie eindrang war die Verbindung unzerreißbar geworden. Den Fehler ihrer Schwester wollte sie nicht wiederholen. Er sollte nur über die wiederentflammte Leidenschaft für seine Zugesprochene neue Lebenskraft für sie schöpfen, sachte und in nicht zu häufigen Abständen. Sie hatte genug Abhängige um sich herum, um wach und stark zu bleiben. Doch nun galt es, eine Menge Lebenskraft einzusetzen, um ihren neuen Erzfeind zu erledigen, bevor dieser zu stark und zu frech werden konnte.

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Volakin wußte, daß er alleine nichts gegen die Abgrundstochter ausrichten konnte. Zwar wartete er über einem Brennelementelager, das den Kriegern der Russen gehörte. Doch würde die davon ausgehende Strahlung reichen? Er müßte es aufbrechen und die Fässer öffnen, wie er es in jenem Lager getan hatte, in dem die schwarze Statue von Nyx stand. Um dies nicht tun zu müssen hatte er fünf muskulöse Diener und fünf grazile Dienerinnen von sich herbeigerufen, die sich wie er mit Strahlung aufluden. Er wollte dieses Überweib aus der Vorzeit mit seiner geballten Macht zerstören.

Die Sonne erstrahlte vom Himmel. Von unten strahlte der atomare Abfall. Volakins älteste Dienerin Mascha flog als menschengroße Fledermaus Patrouille. Womöglich würde diese Eismagierin, die Männern wie Frauen durch ihre Geschlechtsorgane Leben aussog wie er mit dem Mund apparieren. Doch es konnte auch sein, daß sie ihre einverleibten Kräfte sparen und lieber zu Lande oder Luft herbeikommen wollte. Heute war der Tag der Entscheidung. Schaffte er dieses Weib, konnte ihn niemand mehr aufhalten. Er war zuversichtlich. Denn Nyx hatte die Kraft von hundert gewöhnlichen Nachtkindern in sich gebündelt und war trotzdem unterlegen. Zumindest dachte der blaue Blutfürst das. Er konnte ja nicht wissen, daß Nyx keine Gefangene geblieben war, sondern ihren Geist in die Körper ihrer Abkömmlinge versetzen konnte.

"Besen mit Leuten drauf!" Hörte er die Gedanken Maschas. Er dachte ihr zurück, wie viele und von wo her. Doch da schwirrten sie auch schon heran. Buran-Besen, die schnellsten Rennbesen Osteuropas. Er sah achtzehn grau glänzende Gestalten, die wie Zinnsoldaten wirkten und fühlte, daß sein Blick diese Gestalten nicht durchdringen konnte. Dieser graue Panzer verschlang seine Zauberkraft. Wie konnte das angehen, daß diese Leute jetzt hier waren? Egal. Sie hatten offenbar erfahren ... Einzahn, fiel es ihm ein. Sie mußten diesen einzähnigen Idioten gefangen und gefoltert haben, bis dessen Angst vor der folter größer war als die Angst vor seiner Rache. Er hätte diesem Wicht doch sein Blut oder das seiner Diener einflößen sollen. Doch jetzt war es zu spät. Er dachte an alle zugleich: "Verrat. Einzahn hat uns verraten! Zum Angriff auf die Besen und diese grauen Kerle darauf!"

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Pjotter Arcadi war sehr stolz, daß sein mächtiger Onkel, der russische Zaubereiminister, ihm diese heikle und tödlich gefährliche Mission anvertraut hatte. Endlich konnte er ihm beweisen, daß das Blut der Arcadi in seinen Adern strömte, wo es ihm nicht vergönnt war, Bokanowski zu vernichten. Er hielt sich hinter seinen in drei Sechsergruppen aufgeteilten Mitstreitern, die ausfächerten und dann einen Kreis bildeten, der immer enger wurde. Er hob das an einer festen Fortiplumbum-Kette hängende Fernglas vor sein rechtes Sichtfenster im ganz geschlossenen Schutzhelm. Da sah er den Förderkorb und den nicht mehr bewachten Eingang. Die Wachen waren alle tot, wohl von Volakins Kreaturen ermordet, um hier ungestört zu wüten. Pjotter dachte daran, daß sie aufpassen mußten, die unterirdischen Lagerstätten nicht zu zerstören. Hoffentlich kam der blaue Blutfürst nicht auf die Idee, in die tief unter ihnen liegenden Stollen zu flüchten. Sie hatten zwar Leuchtkristallsphären an ihren Helmen, die bei völliger Dunkelheit aufglühten. Aber in den Stollen und Höhlen zu kämpfen barg die Gefahr, daß die unterirdischen Gewölbe zusammenbrachen oder die Behälter mit dem tödlichen Abfall beschädigt wurden. Dann sah er sie. Sie waren splitternackt. bläulich-blasse Geschöpfe, die Dutzende Meter voneinander entfernt auf dem Boden hockten und gierig ein- und ausatmeten, als könnten sie mit der Luft Nahrung und Kraft aufnehmen. Und da stand auch er, als einziger mit einem langen, schwarzen Umhang bekleidet, das bläulich-bleiche Gesicht wie eine einzige Kraterlandschaft, Wladimir Volakin, der blaue Blutfürst. Dann Meldete einer über den Vocamicus-Zauber: "Vampirin als Fledermaus über uns!"

"Klar zum Angriff!" Rief Pjotter auf dieselbe Weise allen zu. Da setzte bei denen am Boden auch schon die Verwandlung ein.

"jeder einen Gegner. Der Rest gegen Volakin! Das ist der einzige, der was anhat", teilte Pjotter allen Mitstreitern mit. Er zählte die nun als Fledermäuse nach oben schnellenden Vampire und kam auf insgesamt zehn. Sie griffen die Besen an. Die Gegner versuchten, sie mit Eichenbolzen aus sich selbst wieder spannenden Armbrüsten zu treffen. Doch die Biester waren sehr wendig. Da erwischte ein Vampir seinen fliegenden Gegner am Besenende und rupfte dieses auseinander, daß das Fluggerät ins trudeln geriet und abstürzte. Jedoch waren die Attacken mit Krallen und Fangzähnen vergeblich, weil die Fortiplumbum-Rüstungen diese wirksam abwehrten. Pjotter und sieben weitere versuchten, Volakin einzukreisen. Doch dieser feuerte aus dem Nichts zwischen seinen Händen entstehende blaue Funkenstrahlen ab, die die Besen trafen und in Brand setzten. Über diese Waffe wußte Pjotter nichts und erschauerte. Die Männer sprangen von den brennenden Besen und wirkten Fallbremsezauber. Dabei umtobte sie ein Gewitter aus Blitzen, die aus Volakins Fingern schossen. Sollte das angehen, daß sie ihm mit acht mann unterlegen blieben? Pjotter wollte das nicht wahrhaben. Er riß seine Armbrust und den Köcher von der Schulter. Er wollte schwere Bleibolzen auf den Vampirfürsten abfeuern. Er bedauerte, daß der Blutreinigungstrank von Tim Preston mit Vampirblut nicht die gewünschte Wirkung erzielt hatte. Er legte an und drückte den Abzug. Die Schußwaffe ruckelte in seinen Händen. Der Bolzen zischte auf Volakin zu, der reflexartig die Hände vor sich hielt und einen laut prasselnden Lichtbogen erzeugte, in den das Bleigeschoß hineinraste und wie Wachs in der Kerzenflamme verdampfte. Pjotter konnte selbst durch Helm und Kopfblasenzauber das höhnische Triumphgelächter des blauen Blutfürsten hören, der nun auch die Bleigeschosse der anderen in seinen prasselnden Lichtbogen verdampfen ließ. Dann wirbelte er herum, und wurde unvermittelt von knackenden und prasselnden Blitzen umschwirrt, die von unten und oben zuckten. Dieser Volakin hatte sehr ausgefallene und für Pjotter ziemlich üble Tricks auf Lager. Bleibolzen um Bleibolzen barst in diesem Ring aus wirbelnden Entladungen. Acht Mann kamen nicht gegen einen mutierten Blutsauger an. Pjotter sah die Sonne über sich. Noch war es hier nicht so kalt. Doch daß die Strahlen des Tagesgestirns diesem Unhold Kraft einflößten mußte er wohl anerkennen. Ebenso mußte er erkennen, daß sein Onkel doch recht hatte, und es besser gewesen wäre, Volakin an einen Ort ohne diese Radioaktivstrahlung zu locken. Doch entsprechende Versuche waren fehlgeschlagen, und jetzt stand dieses Ungetüm da in einem Ring aus Blitzen und wehrte alle anfliegenden Geschosse ab. Pjotter versuchte es mit Avada Kedavra. Der Tödliche Fluch verfehlte den Vampirfürsten, der sich wütend umwandte und aus dem Blitzring einen Strahl formte, der auf Pjotter zuraste. Instinktiv ließ der russische Vampirjäger sich überfallen. Laut tosend fuhr der Strahl über ihn hinweg und traf einen Kameraden, an dem er prasselnd zerstob. Das Fortiplumbum war hundertmal stärker und beständiger als übliches Blei. Volakin versuchte erneut, den ihn vor Geschossen schützenden Schutzring zu errichten. Doch offenbar hatte er sich bei seinem Stoß gegen Pjotter gut verausgabt. Ein Bleigeschoß erwischte ihn am rechten Arm und ragte nun wie ein Stachel heraus. Volakin schien dies sehr unangenehm zu sein. Der Vampirfürst schnaubte, zerfloß zu nebel und verstofflichte sich wieder. Doch immer noch steckte der Bleibolzen in seinem Arm. Also stimmte es. Pjotter ärgerte sich wieder einmal. Er hatte bei der Einsatzbesprechung angeregt, daß statt der Bleibolzen aus Armbrüsten die bei den Muggeln so bewährten Kalaschnikow-Schnellfeuergewehre zum Einsatz kamen. Arcadi hatte seinen Neffen finster angesehen und gesagt, daß es brauchte, bis Zauberer damit umgehen konnten und es dem Zaubererstolz widerspreche, Waffen der Magielosen zu benutzen, wenn die magischen Waffen genausogut waren. Sein Onkel war nie recht einzuschätzen. Abgesehen von den Zulassungsbeschränkungen für Durmstrang hatte er nichts gegen Muggelstämmige. Aber gegen die Muggelwelt hatte er einiges, auch wenn er als Minister niemals soweit gehen würde wie Grindelwald oder Voldemort.

"Ihr könnt mich nicht vernichten!" Rief der blaue Blutfürst und riß sich den Bleibolzen aus dem Arm. Eine schimmernde Flüssigkeit, die mit Menschenblut nur den flüssigen Zustand gemein hatte, tropfte zu boden. "Ich kämpfe euch alle nieder." Pjotter wollte gerade einen neuen Bolzen auflegen, als ihn von hinten etwas rammte und zu boden warf. Er warf sich herum und sah eine klobige Fledermaus, die sich auf ihn zu hocken versuchte. "Mein Blut ist sicher, du Monstrum!" Rief Pjotter und versetzte dem Ungeheuer einen Faustschlag zwischen die Hinterbeine, daß es aufquiekend von ihm abließ. Pjotter setzte ihm einen Bleibolzen aus nächster Nähe in die Brust. Das Geschöpf schrie auf, krümmte sich und begann, Funken zu sprühen. Volakin brüllte wild über den Platz und feuerte einen weiteren Strahl auf Pjotter ab, der an seiner Rüstung zerstob. Dann warf er sich herum und schickte Blitze gegen seine anderen sieben Gegner, während der getroffene Vampir unter wildem Funkenregen zusammenschmolz wie ein Schneemann im Lagerfeuer. Pjotter wußte, daß dabei eine große Dosis jener tödlichen Strahlung freiwurde. Er hoffte nur, daß seine Rüstung wirklich neunzehn Zwanzigstel davon auffing und er nach der Mission mit dem neuen Radiopurifikationstrank geheilt werden konnte. auf jeden Fall gab es nun einen blauen Vampir weniger.

Pjotter wollte gerade einen neuen bolzen auflegen, als eine weitere Fledermaus von oben auf ihn stürzte und ihn mit Krallen und Zähnen angriff. Er versuchte, seinen Zauberstab zu ziehen. Doch dieses Biest hatte ihn im Nahkampf. Dann verwandelte sich das Ungeheuer innerhalb einer Sekunde in eine nackte Frau, deren Haut unappetitlich zerschunden aussah und trat Pjotter zwischen die Beine. Doch der Unterleibsschutz fing die Wucht des Trittes ab. Er beulte sich jedoch ein wenig ein, was ebenso unangenehm für Pjotter war. Darüber hinaus besaß die Vampirin übermenschliche Kräfte. Sie stieß Pjotter zu Boden und versuchte, mit ihren Händen die Rüstung auseinanderzureißen. Allerdings gelang ihr das nicht. Dutzende von Schließmechanismen hielten die Rüstungsteile zusammen. Außerdem vermeinte Pjotter, daß der Griff der Blutsaugerin geschwächt wurde, wenn sie die Rüstung länger hielt. Während dessenhörte Pjotter weitere Fledermäuse im Todeskampf schreien und das häßliche Prasseln, wenn sie in Funkenregen zerschmolzen.

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Volakin hatte diesen Trick lange nicht mehr verwendet. Nur einmal hatte er es probiert, einen stabilen Ring aus Entladungen um sich zu halten. Das kostete viel Kraft. Doch damit konnte er den Schwarm der Bleigeschosse abwehren. Blei, dieses Zeug schwächte ihn also. Diese Leute trugen bleierne Ritterrüstungen. Doch sie liefen und kämpften darin, als trügen sie kurze, hautenge Leinenhemden. Also hatte ein Zauberer diese Rüstungen leichter gemacht. Seine gezielten Strahlen, mit denen er die unsichtbare Macht bündeln konnte, die in ihm hineinströmte, prallten aber von den Rüstungen ab. Also waren sie auch hitzebeständiger als die Geschosse. Er sah, wie sein Sohn Igor von dem Anführer der Bande aus nächster Nähe mit einem Bleibolzen ins Herz getötet wurde und fühlte dessen Tod und Vergehen. "Meinen Sohn umbringen. Dann wirst du seinen Platz einnehmen", dachte Volakin. "Mascha, dein Gegner liegt am Boden. Überlasse den Juri. Greif dir diesen Burschen und reiß ihm die Rüstung runter, damit wir sein Blut trinken können!"

Mascha griff den Anführer an, warf ihn zu boden und zerrte an seiner Rüstung. Doch sie blieb fest verschlossen. Als Volakin das sah rief er sie zurück und feuerte einen Strahl auf den Boden um den Anführer ab. Gleichzeitig bündelte er dort alle austretende Strahlung zu einem Ring aus unsichtbarer Glut. Es klappte. Der bleierne Ritter versank im Boden. Volakin dachte, daß der nicht ersticken würde. Und falls doch, war Igor eben auch so gerächt. Er wartete, bis der Gegner tief genug versunken war und ließ den Boden dann wieder fest werden. "Für später, wenn deine Kumpane ..." Da flogen wieder Bolzen auf ihn zu. Er fing sie mit einem überheißen Lichtbogen zwischen den Händen ab wie mit einem Schild. Dann hatten seine Vampire ihre Gegner im Nahkampf. Die schafften es nicht einmal, ihre Zauberstäbe zu ziehen. Die Besen von denen waren bereits verglimmende Aschehaufen. Hatten die denn wirklich gedacht, einen Wladimir Volakin so einfach erledigen zu können? Er gab den Befehl, die Gegner zu entwaffnen, die Armbrüste, Stichmesser und Zauberstäbe zu entreißen. Denn vier seiner Vampire waren unter grünen Blitzen einfach wie mit Wasser gefüllte Ballons zerplatzt. Da kamen noch sieben weitere von Volakins Gehilfen, die im Atommülllager gewartet und Kraft getankt hatten. Bald würde diesen Burschen das behexte Blei nichts mehr nützen. Volakin würde herausbekommen, wie es zu zerstören war und dann seine getöteten Söhne und Töchter mit ihnen ersetzen. Seine Älteste Mascha fegte nun als Frau zwischen den Gegnern herum, duckte sich vor auf sie feuernden Armbrüsten und half ihren Brüdern und Schwestern, die Gegner nach und nach zu boden zu drücken. Volakin schmunzelte. Er ließ die niedergeworfenen wie den Anführer versinken. Nun waren nur noch zehn bewegliche Gegner unterwegs. Da kam unvermittelt schwarzer Nebel auf, der die Sonne verhüllte und alle Wärme entzog. Zwar waren die blauen Vampire immer noch kälteunempfindlich wie ihre gewöhnlichen Artgenossen, fühlten jedoch, wie die Sonnenstrahlung entzogen wurde. Dann konnte Volakin sehen, daß der Nebel sich um eine Kreatur verdichtete, die wie ein riesiger, schwarzer Rochen aussah und mit den langen Flossen wie mit Flügeln durch die Luft glitt. Ihre unvermittelte Ausstrahlung, die im ihn und die anderen umhüllenden Nebel widerschien, machte Volakin unmißverständlich klar, daß die eigentlich erwartete Gegnerin gekommen war.

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Anthelia hatte sich in der Bleirüstung einen Kilometer vom Schlachtfeld niedergelassen und ihren Geist sorgsam verschlossen. Mit einem starken Fernrohr, mit dem sie bis zu zwei Kilometer weit Dinge wie wenige Meter vor sich erkennen konnte, beobachtete sie den Kampf, der zunächst nach einer eindeutigen Überlegenheit der russischen Bleiritter aussah. Sie wußte von Vera Barkow, daß Arcadis Neffe Pjotter den Kommandotrupp anführte. Dieser gehörte zu den acht freien Leuten, die den Hauptgegner selbst angingen. Doch dieser wehrte sich mit Anthelia bestürzender Macht. Hier, weit genug fort, fühlte sie von der Strahlung nichts. Ihre Bleirüstung hielt sie von ihr fern. Doch sie ahnte, daß der Mutant diese Strahlung bündeln und in Form von Elektrizität und Hitzeentladungen auf Gegner richten konnte. Sie konnte sich nun vorstellen, daß selbst die mit dem Mitternachtsdiamanten herumlaufende Nyx nicht lange gegen diese Waffe bestanden hatte. als er dann auch alle ihn anfliegenden Armbrustbolzen in einem Ring aus elektrischen Entladungen zerstörte, imponierte ihr dieser Gegner ebenso, wie sie entschlossen war, ihn als größtmögliche Gefahr zu beseitigen. Dann sah sie, wie der Kampftrupp der blauen Vampire langsam die Oberhand gewann. Volakin war ein perfider Einfall gekommen, alle niedergeworfenen Gegner im Boden versinken zu lassen. Vielleicht ging er davon aus, daß sie dort ersticken mußten. Anthelia wußte, daß die Kopfblase nur fünf Stunden hielt. Ja, dann würden sie wirklich ersticken. Einen Moment dachte sie, daß dies wohl der bessere Ausgang für sie war, als die von ihnen getöteten Vampire zu ersetzen. Dann passierte es. Auf einmal entstand diese schwarze Wolke aus dem Nichts. Sie breitete sich blitzartig aus und hüllte Bleiritter und blaue Vampire ein. Anthelia vermochte schon nicht mehr, hindurchzusehen. Ein schwarzer Punkt fiel ihr auf. Als sie ihn mit dem Fernrohr in Nahbetrachtung anpeilte, erkannte sie, was beziehungsweise wer da in den Kampf eingegriffen hatte. Alle Gegner erstarrten. Anthelia konnte sehen, daß der Nebel an ihren Rüstungen zu einer hauchdünnen, schwarzen Eisschicht gefroren war. Als alle bis auf Volakin, der sich wieder in seinen elektrischen Abwehrring geflüchtet hatte, sowie die allen anderen hier übermächtige Gegnerin sich noch bewegen konnten, zog sich der Nebel um die geflügelte Kreatur zusammen, die landete und dann zu einer nackten, überragend schönen Frau wurde, die Anthelia schon einmal getroffen hatte. Dann sah sie, wie die beiden miteinander ein paar Worte wechselten und sich dann mit Blitzen und Eispfeilen beharkten. Das Feuer des Volakin verging im schwarzen Nebelkleid der Abgrundstochter. Ihre Eispfeile verglühten zu schwarzen Dampfstreifen im immer stärkeren Schutzring. Anthelia erkannte, wie wichtig es gewesen wäre, Volakin nicht an einem Ort zu stellen, der ihm ständig neue Kraft zuführte. Wäre Itoluhila in ihrer Höhle gewesen, so hätte sie aus ihrem Lebenskrug schöpfen können. Niemand wußte das besser, wie stark eine Abgrundstochter in ihrer Höhle sein konnte als Anthelia und ihre Schwestern. Damals konnten nur Patricia Stratons Idee und die wundersame Kenntnis des Jungen Julius Andrews die Entscheidung zu Gunsten der Schwestern erzwingen. Doch hier war Itoluhila in Volakins Gebiet, kämpfte gegen seine unerschöpflichen Kraftreserven an und wurde schwächer. Anthelia wußte, daß selbst diese Gegnerin bald besiegt war. Sie überlegte, wie sie noch in den Kampf eingreifen konnte, ohne sich zu lange der tödlichen Strahlung auszusetzen. Es blieb ihr nur die eine, sehr waghalsige Lösung, und die konnte die russischen Ritter in ihren Bleirüstungen mit ins Verderben reißen.

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"Es ist Zeit, daß du diese Welt verläßt, Wladimir Volakin!" Rief die nun als sehr schöne Frau vor dem blauen Blutfürsten stehende Gegnerin, die in einem verdichteten schwarzen Dunst sicher zu stehen glaubte. "Ich werde dich hier und jetzt in das Vergessen schicken. Deine Gehilfen sind in meinem Eis der Lähmung erstarrt. Ich werde sie töten, wenn du gefallen bist."

"Glaubst du, Mißgeburt einer Männer hassenden Stümperin, daß du lange gegen mich durchhältst. Außerhalb des eigenen Reviers wird der Jäger schnell zur Beute. Und du bist in meinem Revier, Abgrundstochter. Es war ein Fehler, mich dazu zu zwingen, dich zu treffen. Gleich verdorrst du wie das Gras in der Sonne", erwiderte Volakin, warf sich herum und stand in seinem Ring aus elektrischen Entladungen. Da schwirrten Eispfeile heran, schienen den Ring zu durchdringen, zerfaserten aber doch. Er schleuderte Entladungen gegen seine neue, scheinbar übermächtige Widersacherin. ihre Nebelwolke schluckte die Strahlen jedoch noch. Doch nach wenigen Minuten stand sie zitternd da. Sie hatte sich wohl fast verausgabt. Offenbar hatte sie gedacht, ihn mit ihrem schwarzen Eis den Garaus machen zu können. Doch seine aus der erhabenen Strahlung geformten Gegenstöße setzten nun ihr zu. Bald würde er den sie umhüllenden Schutznebel zerfetzt haben und sie dann genüßlich in seinen Strahlen braten. Wer war die da schon, wo er die hundertmal stärkere Nyx besiegen konnte? Dann bebte die Erde. Er fühlte, daß sich jemand in seiner Nähe eingestellt hatte, ein Zauberer oder eine Hexe. Er konnte es nicht sagen. Als er sich umwand sah er eine Gestalt in einer Bleirüstung, die auf einem Besen über ihn hinwegflog und dabei "Evoco Devorundam!" rief. Volakin kannte diesen Zauberspruch nicht. Denn sonst hätte er sein Heil in der Flucht gesucht. Als dann die erde zu beben begann und von süden her ein Volakin bekannter Sog immer stärker wurde, erstarrte er. Knisternd zersprühten die Blitze um ihn. Er konnte sie nicht mehr im Ring halten. Seine gegenwärtige Gegnerin sah ihn triumphierend an und präsentierte sich ihm mit vorgeschobenem Oberkörper und breitbeinig.

"Damit haben wir nicht rechnen können, oder?!" Rief sie. Da fühlte Volakin den Boden noch stärker wackeln. "Komm und spüle allles nieder, schwarzes Wasser", hörte er die Abgrundstochter beschwörend singen, als ein bedrohliches Tosen immer lauter wurde. Volakin fühlte, wie der kraftzehrende Sog die erfrischende Kraft der Strahlung überlagerte und nun übermächtig wurde. Er schaffte es noch, seinen Kopf zu drehen und das ihm geltende Verhängnis zu erkennen. Eine haushohe Wand aus brausendem, pechschwarzem Wasser wälzte sich mit rasender Geschwindigkeit auf das Lager zu. Jetzt war die Flutwelle nur noch hundert Meter, eine Sekunde später nur noch dreißig Meter entfernt. Volakin fühlte, wie ihm die Kräfte schwanden und er niederstürzte. Dann war die Wasserwalze über ihm. Das letzte was er mit seinen Ohren hörte, war der mörderische Knall, als die Luft über ihm weggeschlagen wurde. Dann drückte es ihn mit unbarmherziger Macht in den Boden hinein, der nachgab, weil das schwarze Wasser um ein vielfaches zerstörerischer war als natürliches Wasser. Doch das bekam der blaue Blutfürst schon nicht mehr mit. Er fühlte nur noch den Schmerz, als ihm die letzte Lebenskraft entrissen wurde. Dann passierte es. Die in ihm gebündelte Strahlung explodierte mit einer Wucht wie eine neu entzündete Sonne. Eine Fontäne aus Wasser schoß nach oben, trug glühende Brocken des soeben vernichteten Volakin mit sich und auch die Überreste der in die Flutwelle geratenen Vampire, die nicht so überstark waren wie ihr Erzeuger. Sie überlebten ihn keine zwei Sekunden.

Itoluhila trank gierig das sie umfließende und ihr nichts anhabende Wasser und sog damit neue Kraft in sich ein. sie wußte, wer diese zerstörerische Macht entfesselt hatte. Sie hatte die Stimme erkannt und für einen winzigen Moment auch die Entschlossenheit empfunden, die die auf dem Besen in über hundert Metern Höhe fliegende Hexe antrieb. Sie fühlte jedoch, wie die Vernichtung Volakins eine Menge tödlicher Kräfte freisetzte, die ihr gut zugesetzt hätten, wäre die über sie hinwegrollende Flutwelle nicht gewesen. Sie spülte alle verglühenden Vampire mit sich. Doch sie drang dabei auch in den Boden, stürzte in immer breiteren Wasserfällen in die Kavernen hinab, in denen wohl diese Atomfässer lagerten. Die Zerstörungskraft des schwarzen Wassers würde die Fässer zersetzen. Ja, da fühlte sie es auch schon, wie der unsichtbare Tod erwachte und mit immer stärkerer Macht ans Freie drängte. Sie wechselte schnell die Gestalt und schwamm als rochenartige Kreatur nach oben. Jetzt war die beschworene Flutwelle, die aus dem im Boden gebannten Eis Sibiriens geformt worden war, über sie und die anderen hinweg. Sie konnte noch drei bleierne Ritter erkennen, die gerade in eine aufgerissene Kaverne und in ein nun brennendes Fass hineinstürzten. Würden diese Rüstungen das aushalten. Sie sah, wie die Panzer immer röter wurden. Sicher konnten die die darin stäckten das nicht überleben. Sie flog nun mit ihren langen Flossen, die auch Flügel sein konnten. Sie sah gerade noch, wie die Wellenruferin auf ihrem Besen schlingerte und bedrohlich ins trudeln geriet. Itoluhila sah sich um und erkannte, daß außer den eingegrabenen Bleirittern alle anderen mit der Flutwelle davongerissen worden waren, womöglich vor ihrer direkten Vernichtung durch das lähmende Eis geschützt, das jetzt jedoch in der Wasserbeschwörung aufgegangen war. Immer größere Teile des Erdbodens stürzten zusammen. Wo Fässer von den Wasserfällen beschädigt worden waren, wurden sie unter riesigen Trümmerbrocken begraben. Itoluhila fühlte, wie ihr die tödliche Strahlung auch hier oben noch zu schaffen machte. Sie flog auf den Besen zu, dessen Reiterin in unerträglicher Agonie um die Kontrolle des Fluggerätes rang. Die Abgrundstochter beschloß, sich für die unerwartete Unterstützung zu bedanken und flog unter den Besen. Sie hob ihn an und trug ihn mit sich. Sie hörte Anthelia, die nun auf ihr zu liegen kam, hohl klingend schreien und stöhnen. Das waren keine Laute der Lust, sondern der größten Qual.

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Sie hatte es geschafft. Mit größter Anstrengung hatte sie die mörderische Flutwelle auf die blauen Vampire losgelassen. Sie hatte sogar gespürt, wie die Abgrundstochter mit ihrer von Geburt an vorhandenen Macht über alle Wasserzauber die Flut erheblich verstärkt und sich dann darin neue Kraft einverleibt hatte. Doch als Volakin wie glühende Lava zersprühte, war es Anthelia, als wollten tausend Wespen zugleich auf sie einstechen. Dann geschah das, was sie eigentlich um jeden preis vermeiden wollte. Der Boden war durch den Kampf und die Wasserbeschwörung brüchig geworden. Er gab nach und machte dem schwarzen Wasser den Weg in die Kavernen frei, wo es die dort lagernden Fässer mit strahlendem Inhalt aufriß und den Inhalt freispülte. Nun war es Anthelia, als stehe sie in hellen Flammen. Ihr Gürtel zog sich um ihren Leib zusammen, wand sich und zitterte. Ihre Hände brannten wie ihre Arme, Beine und alles andere. Sie meinte, wild über den Himmel jagende Sonnen zu sehen, die ihr gleißend in die Augen stachen und immer wieder von schwarzen Schatten abgelöst wurden, Schatten der Ohnmacht. Anthelia schrie auf, krümmte und wandte sich. Eine derartige Todesqual hatte sie unter dem Cruciatus-Fluch niemals erfahren, auch als Sardonia sie damit einmal gezüchtigt hatte. Sie wußte, daß sie jetzt endgültig verloren war. Ihr blieb wohl nur noch, ihre Seele in Dairons Medaillon auszulagern. Doch darin steckte Spikes' Seele. Dieser letzte Rückzug war ihr also auch versperrt. Auch wenn sie den Drang hatte, nach unten zu fliegen, steuerte sie nach oben. Sie mußte aus der für sie schmerzhaften Zone heraus. Dann fühlte sie, wie der Besen auf etwas zu liegen kam und fiel erschöpft nach vorne. Dann wurden die lodernden Flammen, die sie zu verbrennen schienen weniger. Der Gürtel zuckte nicht mehr. Sie hörte nun wilden Wind rauschen und sah nun wieder deutlicher. Als sie erkannte, worauf sie gerade am Rande der Ohnmacht lag, schloß sie mit ihrem Dasein ab. Die rochenartige Kreatur, die sie davontrug, würde sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen, sich doch noch für den Tod ihrer Schwester Hallitti zu rächen. Doch warum hatte sie sie dann nicht einfach vom Besen gestoßen und sie dem unsichtbaren Inferno überlassen? Womöglich wollte sie noch was von ihr wissen.

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Arcadi schrie auf, als ein auf seinem Tisch liegendes goldenes Horn einen langgezogenen, qualvollen Laut ausstieß. Das Horn des Blutes, eine von ihm gemachte Erfindung, verkündete den Tod eines Blutsverwandten. Der einzige, den Arcadi noch besaß, war sein Neffe Pjotter gewesen. Er war also gestorben. Der sonst jeder Situation überlegene, altehrwürdige Zauberer, der selbst hunderte von tödlichen Gefahren hatte trotzen müssen, fühlte die Tränen aufsteigen. Doch er mußte handeln, er mußte wissen was passiert war. So beherrscht er konnte trommelte er fünfzig Ministeriumszauberer zusammen und reiste an den Ort, der seinem Neffen zum Verhängnis geworden war. Was er dort vorfand alarmierte ihn auf's höchste. Das Lager war eingestürzt. Krater durchzogen die Landschaft, und die mitgeführten Strahlenspürer gaben ein höchst beunruhigendes Summen von sich und glühten wie kleine Sonnen.

"Sofortiger Rückzug!" Kommandierte der Zaubereiminister, der froh war, nicht gleich dort appariert zu sein und auf den Besen über zweihundert Meter hoch zu fliegen. Da sich ihre Aufmerksamkeit auf die Erdoberfläche richtete, bekamen sie nicht mit, wie mehrere Kilometer über ihnen eine unheimliche Kreatur mit einer bis vor wenigen Minuten tödlich gefährlichen Reiterin dahinglitt.

"Das Lager ist ruiniert. Das Gebiet dürfte nun eine absolute Sperrzone werden", sagte Arcadi, als sie alle im sicheren Abstand gelandet waren. "Ich kläre das mit den Leuten von der Unfallumkehr, daß die mit den Muggeln diesen Ort für Menschen verbieten. Was ist hier passiert?"

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Anthelia hatte keine Wahl, als sich von dem monströsen Geschöpf tragen zu lassen, bis es befand, sicher landen zu können. Als Anthelia beim Sinkflug keine Schmerzen mehr empfand wußte sie, daß sie weit genug von der tödlichen Strahlung entfernt waren. Zumindest weit genug, daß ihre Rüstung alles davon abfangen konnte. Als sie gelandet waren rutschte Anthelia vom schwarzen Schuppenrücken der Kreatur herunter, die unverzüglich wieder zur nackten Menschenfrau wurde.

"Offenbar macht dir dieses unsichtbare Feuer mehr zu schaffen als mir", sagte die schwarzhaarige Schönheit auf Französisch und zwinkerte Anthelia mit ihren wasserblauen Augen zu. "Ich habe dich da weggetragen, weil du mir, ohne es zu wollen, aus einer sehr peinlichen Lage herausgeholfen hast. Beinahe hätte mich dieser blau leuchtende Blutegel doch wirklich geschafft", fügte sie noch hinzu. "Nein, ich würde diese nicht so unpraktische Verkleidung noch anbehalten, Anthelia, Nichte der närrischen Sardonia."

"Warum hast du mich da rausgeholt?" Fragte Anthelia, die gerade ein wenig neue Kraft fühlte.

"Einmal, weil ich dir für diesen glorreichen Wasserzauber danken muß, der zum einen diese blaue Pest ausgewaschen und zum zweiten meine stark aufgebrauchten Kräfte wieder aufgefrischt hat." Sie schnüffelte. "Deine Lebensaura ist nicht mehr so stabil, Anthelia, und deine kleinen Spielzeuge vom alten Dairon, dessen Lebensschwingungen in dunkler Verkehrung ich wittern kann, können dir nicht helfen."

"Vielleicht würde ich mich auch daran ergötzen, dich langsam sterben zu sehen, Itoluhila", knurrte Anthelia.

"Ich weiß, du magst meine Schwestern und mich nicht, weil deine närrische Tante meinte, uns auslöschen zu müssen. Sie wollte es damals nicht begreifen, daß es von uns solche und solche gibt. Ich kann mit Menschen mit und ohne Magie wunderbar leben, ohne sie gleich umzubringen, wenn sie mich nicht dazu zwingen. Hallitti hat zu lang geschlafen und wollte alles nachholen, wozu Ilithula und ich Jahrhunderte Zeit hatten. Warum wir überhaupt noch wach sind liegt doch nur daran, daß wir begriffen haben, Menschen nicht gleich auf einen Schlag alles Leben auszusaugen. Du hast ein sehr sehr hohes Risiko auf dich genommen. Du mußtest da nicht hinkommen, um diesen Volakin zu bekämpfen. Vor allem, wo du sicher schon gewußt hast, was an diesem kranken Geschöpf so gefährlich war. Aber womöglich ist das derselbe Ehrgeiz, dem Hallitti ihre Entkörperung zu verdanken hat."

"Vernichtung meinst du wohl", grummelte Anthelia, die dieses Wortspiel langsam satt hatte. Sie fühlte, daß sie dringend in ihr Versteck mußte, mindestens einige Heiltränke schlucken und dann zusehen mußte, was die Strahlung ihr angetan hatte.

"Körperlich und magisch sicher. Aber ob sie auch mit ihrem Geist aus der Welt verschwunden ist weißt du nicht. Ich zwar auch nicht, weiß jedoch, daß meine ehrwürdige Mutter uns neun mit besonderen Zaubern geschützt hat, die uns nicht sterben lassen."

"Ach, könnt ihr das nicht. Hallitti konnte das wunderbar." Itoluhila lächelte sie herausfordernd an und antwortete:

"Nun, vielleicht können wir zwei uns da ganz in Ruhe drüber unterhalten. Da deine Lebensaura instabil geworden ist muß ich davon ausgehen, daß du vielleicht stirbst, wenn dir keiner hilft. Sicher, ihr Hexen und Zauberer könnt diese Strahlung neuerdings behandeln, weiß ich von meiner wachen Schwester im Orient. Aber ob die dir noch so schnell helfen können. Vielleicht hast du nur noch Stunden, vielleicht nur noch Tage. Ich weiß das nicht. Aber ich kann dir ein Angebot machen, daß du nicht so einfach zurückweisen solltest."

"Das du mich schneller umbringst oder in deinem Eispanzer meine Seele festfrierst oder was. Würde deiner vernichteten Schwester sicher sehr gefallen", klang es hohl aus Anthelias Helm.

"nein, ich meine das anders. Wenn ich Hallitti wirklich hätte rächen wollen, hätte ich dich damals schon erledigt, als es um diese Nyx ging, die den schwarzen Stein des Finsteren ergaunert hat", sagte die Abgrundstochter. Sie machte eine rhetorische Pause von fünf Sekunden. Dann sagte sie: "Ich möchte mit dir ein Bündnis schließen, Anthelia. Ich kann dir deine volle Lebenskraft und eine unüberwindliche Resistenz gegen dauerhaft wirksame Flächenflüche verleihen, wenn du im Gegenzug darauf verzichtest, mir und meinen Schwestern nachzustellen. Wir können dir und der Menschheit mehr bieten als unbeschreibliche Lust oder den Tod. Wir kennen die Geschichte, wir waren dabei, als meine ehrwürdige Mutter und ihre gestrenge und weltfremde Schwester auf der Welt waren, als die ersten großen Reiche nach dem versunkenen Kontinent erblühten. Ich kann dir von der von mir erworbenen Essenz des Lebens abgeben und dich so wie mich vor Giften, Krankheiten und dem Alter schützen. Ilithula, meine noch wache Schwester, hat diesen Dienst vor über fünfzig Jahren auch schon einer Hexe angeboten, und sie hat nicht abgelehnt, half es ihr doch auch, über Jahre einem vertückten Fluch zu widerstehen, der sie entweder handlungsunfähig machen oder töten sollte. Wenn du darauf eingehst, werden wir zwei sehr gute Freundinnen, und ich schütze dich sogar gegen mögliche Anfeindungen meiner wachen Schwester. Denn falls sie dich noch vor dem schleichenden Tod dieser Radiostrahlen zu fassen bekommt, wird sie Blutrache für unsere Schwester nehmen."

"Das willst du also. Ich soll mich unterwürfig vor dich hinknien ... und von dir erbeutete Lebenskraft in mich einsaugen, während ich dich gleichzeitig stimuliere. Vergiß das wieder, Itoluhila. Ich bin weder bereit, mich dir dadurch auszuliefern und von dir abhängig zu werden, noch bin ich eine Sapphistin", schlug Anthelia das Angebot aus. Itoluhila lachte schallend los. "Ist ja schön, daß wer noch diesen alten Begriff kennt. Dabei wissen die meisten nicht, daß die große Poetin nicht die körperliche, sondern schwesterliche Liebe geheiligt hat. Abgesehen davon würdest du es sehr angenehm finden, meine Gefährtin zu sein. Abgesehen von dem Wissen, was ich dir außer dem Leben bieten könnte, würden wir zwei die Welt von Kreaturen wie diesem Volakin reinhalten und könnten auch verhindern, daß irgendwann meine jüngste Schwester wieder aufwacht oder der Finstere aus dem selbsterwählten Kerker freikommt. Seine Krieger waren ja schon schlimm genug."

"Du meinst den, der die Schlangenmenschen gezüchtet hat", schnarrte Anthelia. Itoluhila nickte. "ich habe vor etlichen Monden, irgendwie im letzten Juli muß das gewesen sein, eine starke Schwingung gefühlt, die für einige Sekunden das magische Gefüge zum Klingen gebracht hat. Es war etwas von der Art, wie die Schwester meiner Mutter wirkte. Aber diese war es nicht. Womöglich ist ein Streiter oder eine Streiterin des Lebenslichtes auf diese Daseinsebene zurückgekehrt. Das kann der Finstere auch. meine ehrwürdige Mutter sprach von ihm als den Torwächter des Chaos, in das er alles wieder treiben will, weil er dachte, die Welt sei nur ein Unfall des Chaos. All das, was ich weiß und eben die Kraft, Flüchen und anderen Schädigungen zu widerstehen biete ich dir an, Anthelia. meine Mutter wußte, wo das Auge der Ewigkeit zu finden war, trank jedesmal, bevor sie eine von uns ohne Manneswirken in sich willkommenhieß eine Träne daraus und gab uns so ewige Unverwüstlichkeit. Unsere Kraft ist so groß, daß wir anderen davon mitgeben können."

"Indem ihr ahnungslosen Männern durch Wollust das Leben aussaugt", versetzte Anthelia. "Ich verzichte auf deine Gnade und sehe lieber meinen baldigen Tod nach mir greifen. Immerhin war mir vergönnt, eine deiner raffgierigen Schwestern und diesem Volakin das Lebenslicht auszublasen", knurrte Anthelia, zückte ihren Zauberstab und drehte sich auf der Stelle. Mit lautem Knall verschwand sie. Itoluhila grinste verächtlich.

"Du hängst zu sehr an deinem gestohlenen Leben, Anthelia, als daß du dich damit abfindest, qualvoll zu sterben. Wir werden bestimmt sehr gute Gefährtinnen werden", dachte sie. Dann bemerkte sie, wie in großer Entfernung mehrere Zauberer apparierten und verschwand lautlos im Nichts.

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Sie hörte den Schrei, der zu einem Gurgeln wurde. Dann war ihr, als schieße eine Woge aus heißem Wasser in ihre Arme und Beine. Etwas in ihrem Unterleib wand sich. Übergangslos konnte sie sich wieder bewegen. "Er ist jetzt ausgelöscht", klang eine triumphierende Gedankenstimme, die eines Mannes. "Geh nun wieder hinaus und setze deinen Weg fort!"

"Am besten lasse ich dich gleich hier", dachte sie und zerrte ihre Unterhose herunter. "Noch mal trickst du mich nicht so aus ..." Sie stöhnte auf, weil unvermittelt etwas sich an einer sehr schmerzvollen Stelle verkeilt hatte. "Ich bleibe bei dir. Ich bin schon zu groß, um mich von dir noch herausziehen zu lassen", erklang wieder die Gedankenstimme. "Wir sind zusammen und bleiben es, bis die Armee der Nacht die Völker des Tages niedergeworfen hat."

Der Schmerz und die brutale Erkenntnis, sich diesem Ding in ihrem Bauch ausgeliefert zu haben, setzten ihr zu. Doch sie fühlte auch, daß sie verlorene Zeit gutmachen mußte. Hier hatte sie nichts mehr zu suchen. Hier stank es nach diesem unsichtbaren Tod, den magielose Menschen Radioaktivität nannten. Sie bekleidete sich wieder ordentlich, zog ihren Zauberstab und disapparierte aus der Höhle.

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"toll, dann ist eine lange Strecke mit so viel Strahlung belastet", grummelte Martha Andrews, als sie von Nathalie erfuhr, daß die schweizer Zauberer Leponts Busunternehmen gestürmt hatten. Der Reisebus der blauen Vampire war auch gefunden worden. Wie hatte sich Belle Grandchapeau ausgedrückt: "So heiß wie die Sonnenoberfläche. Zum Glück hatte sie eine der gerade fünfundzwanzig Rüstungen getragen, denn sonst hätte sie sich bestimmt heftig verstrahlt. Die blauen Vampire waren auf einmal sehr apathisch geworden. Sie leisteten keinen Widerstand mehr, wenn man sie fand. Martha hatte eine E-Mail von einer Freundin Aurora Dawns aus Russland erhalten, daß Volakin getötet worden war. Überlebende der Schlacht hatten berichtet, daß eine Hexe auf einem Besen eine mörderische Flutwelle beschworen habe. Minister Arcadi habe sich freigenommen, um den Verlust seines Neffens ordentlich verarbeiten zu können. Martha dachte daran, wie viele Opfer dieser Mutant gefordert hatte und noch gefordert hätte. Lepont, dessen Sekretärin, seine beiden Fahrer, mindestens weitere zwanzig Menschen in Frankreich, über hundert in Russland und dem restlichen Osteuropa. Was galten da rein statistisch einzelne Leben, wenn dieses Übel endgültig ausgerottet war? Sie war froh, daß es ihr und ihrem Sohn in Beauxbatons gut ging. Er hatte ihr einen Brief geschrieben, was er über diese Bettpfannenstrafe erfahren hatte und daß Millie und er vorgeschlagen hatten, alle übermäßig straffälligen Schüler gleich mit der Abschiebung in jenes Exildorf zu bedrohen, das den für Martha viele Saiten anreißenden Namen Utopia trug.

Catherine kam herauf.

"Tante Madeleine hat dir das hier geschickt", sagte sie etwas verunsichert und gab Martha einen rosaroten Strampelanzug, eine Holzkette mit Schnuller und blütenweiße Windeln. "Entweder bist du in einer Stunde mit deinem Zauberstab bei ihr, oder darfst das alles anziehen, sagt sie. Sie sah dabei so aus wie meine Mutter, wenn sie eine hohe Strafe vollstrecken wollte."

"Sie sind ja auch Schwestern", grummelte Martha. Dann seufzte sie: "Ich werde mir nicht ansehen, wie mein Enkelkind noch mit mir zusammen in Beauxbatons eingeschult wird. Außerdem steht mir Babyrosa nicht, und mit Schnullern habe ich sehr befremdliche Erfahrungen. Ich werde mich dem Ultimatum also beugen."

"Sie meint es nur gut, Martha. Du mußt diese Kräfte in Form halten, weil niemand weiß, wie sie wirken, wenn sie vernachlässigt werden." Martha nickte. Diesem Argument konnte sie sich wirklich nicht entziehen.

ENDE

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