DIE SCHWARZE SPINNE

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Die im umgewandelten Körper von Bartemius Crouch wiedergekehrte Hexenlady Anthelia kann sich nur kurz über ihre großen Triumphe freuen. Zwar hat sie es geschafft, ihrer Wiedergeburt als Daianira Hemlocks Tochter zu entrinnen und die Rivalin dafür selbst zu einem hilflosen Säugling werden zu lassen. Auch hat sie die ihrer eigenen Kontrolle entglittene Entomanthropenkönigin Valery Saunders vernichten können. Doch neues Ungemach droht bereits. Da ist zum einen der Geist des schwarzmagischen Voodoomeisters Ruben Coal, der im Körper seines Nachfahren Gordon Stillwell eine neue fleischliche Hülle fand und nun danach trachtet, alle Weißen Nordamerikas mit der Hilfe lebender Leichen zu vernichten. Zum anderen versucht in Europa der durch den Genuß radioaktiv verseuchten Blutes entartete Vampirfürst Wladimir Volakin, ein Reich von sonnenlichtresistenten Vampiren zu errichten. Anthelia erkennt die Gefahr des als blauen Blutfürsten bezeichneten Vampirs und trachtet genauso nach dessen Vernichtung wie verschiedene Zaubereiministerien. Daß sich Volakin eine Todfeindin gemacht hat, als seine Artgenossen in das Revier der wachen Abgrundstochter Itoluhila eindrangen weiß keiner. Diese trifft auf den Bruder des von ihrer Schwester Hallitti versklavten Richard Andrews. Da Claude Andrews ebenso empfänglich wie begehrt für eine Tochter des Abgrundes ist, schafft sie es fast spielend leicht, ihn zu einem ihrer Abhängigen zu machen. Danach greift sie Volakin an, nicht wissend, daß ein mit besonderen Bleirüstungen gegen die unsichtbare Strahlung geschütztes Kommando des russischen Zaubereiministeriums bereits auf diesen angesetzt ist. So treffen die russischen Zauberer, Itoluhila und Anthelia, die über ihre russischen Hexenschwestern Volakins Aufenthaltsort erfuhr, über einer Atommülldeponie in Sibirien auf den blauen Blutfürsten. Itoluhila verbraucht ihre Kräfte des dunklen Wassers und steht fast vor der Niederlage, als Anthelia mit der Schlingflut, einem finsteren Wasserelementarzauber, eine mörderische Flutwelle über den blauen Vampir hereinbrechen läßt. Volakin haucht seine entartete Existenz aus. Dabei setzt er doch alle in ihm verbliebene Radioaktivität frei. Schlimmer noch. Die Schlingflut bricht die Decke über dem Atommüll-Endlager auf und beschädigt die dort gelagerten Fässer. Deshalb bekommt Anthelia eine überstarke Dosis der Strahlung ab. Trotz einer Bleirüstung und ihrem Gürtel wird ihr Körper unrettbar verstrahlt. So bangt sie nun um ihr zweites Leben. Welche Möglichkeiten bleiben ihr noch?

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Die Macht überkam sie unangekündigt. Sie hatte kaum den Inhalt des Kruges in sich hineingestürzt und sich über das sanfte Prickeln der ansonsten geschmacksfreien, kristallklaren Flüssigkeit gewundert, als deren Wirkung auch schon über ihren Geist und Körper hereingebrochen war. Der große Mann im dunkelblauen Gewand der Nächtigen starrte sie mit einem feisten Grinsen an. Seine silbergrauen Augen strahlten unendlichen Triumph aus. Doch als sie fühlte, wie etwas überstarkes in ihr erwachte und sich mit einer unbändigen Macht Bahn brach, verschwanden alle Eindrücke um sie herum in einem Gewitter aus weißen Blitzen und huschenden, tiefschwarzen Schatten. Sie fühlte, wie ihr Leib nicht mehr da war, meinte, in einem gewaltigen Strudel aus heißem Wasser zu kreisen. Dann, mit einem Schlag, kehrte ihre Empfindung zurück. Doch es war nicht mehr so, wie sie es vorher gespürt hatte. Irgendwas war anders, fremdartig, aber doch auch sehr vertraut, beängstigend, aber auch bestärkend. Sie fühlte ihren Körper, spürte ihre Glieder nahe beim Kopf, der mit der Brust eins geworden war. Sie dachte gerade noch einen Tausendsteltag daran, wieso sie das fühlte, bevor ihre Gedanken von dem Bild um sie herum überlagert wurden. Es wirkte so in Einzelteile aufgelöst, als habe jemand ein engmaschiges Netz vor ihre Augen gespannt. Er, vor dem alle in Altaxarroi solche Angst hatten, stand vor ihr und starrte nun selbst im Bann einer ihm unvertrauten Furcht auf das, was sie wohl gerade geworden war. Sein schwarzblauer Vollbart bebte. Ja, überhaupt erzitterte der achso große Meister der Dunkelheit, der zu den zehn Herrschern des erhabenen Reiches gehörte. Er starrte ihr in die Augen, die er wohl erst genau erkennen mußte. Sie spürte, daß sie nicht mehr auf zwei beinen stand. Überhaupt hatten sich ihre Glieder vervielfacht. Sie fühlte merkwürdige Anhängsel aus ihrem Kopf ragen. Um ihren Mund herum fühlte sie fremdartige Dinger, die sie auf- und zuklappen konnte. Da, wo früher die Stirn war, vermeinte sie, Ausstülpungen zu sppüren, die ihrem Willen unterworfen waren und ihr einen sehr anregenden Geruch ohne Nase vermittelten. Einen Geruch, der ihr unverzüglich großen Hunger einflößte. Er ging von ihm vor ihr aus. Sie fühlte das Verlangen, ihn anzuspringen. Sie lief nach vorne gegen eine unsichtbare Wand der Kraft, die er gerade noch rechtzeitig vor ihr errichtet hatte. Ihr hinterer Körper, den sie wie ein überschweres Gesäß empfand, reckte sich nach oben, damit sie auf allen nun acht Beinen voranschnellen konnte. Doch die Wand war zu stark.

"Dies war zu viel", fühlte sie ihn sagen. Denn Ohren im eigentlichen Sinne hatte sie nicht mehr. Die Schwingungen des Schalls drangen über ihre neuen Kopfanhängsel und ihre behaarten Beine in ihr Bewußtsein vor. "Zwanzig waren eindeutig zu viel!" Rief er noch, bevor er den Mantel der Finsternis aus seinem Kraftausrichter herausschleuderte, der sie umschließen sollte. Doch mit einer ihr unbegreiflichen Wendigkeit entwischte sie der pechschwarzen Nebelwolke, die aus der rot aufflammenden Kristallpyramide herausflog. Dann brach die unsichtbare Wand vor ihr zusammen. Denn die beiden Formen der Kraft hoben einander auf. Sie stürmte vorwärts und vergaß ihre bisherige Existenz ...

Die Ereignisse, die sie mit mehr oder weniger wachem Bewußtsein mitbekommen hatte, waren nun schon mehrere Tage her. Sie dachte erst daran, was ihr passiert war, als sie es schaffte, ihr früheres Ich stärker werden und seinen angeborenen Körper zurückgewinnen zu lassen. Sie dachte daran, daß er, Iaxathan, vor dem alle Angst und Haß empfanden, sie von seinen geflügelten Blutsaugern hatte entführen lassen, als sie gerade auf dem Weg nach Gandolaran war, um ihren Bruder im Haus der Winde zu besuchen. Als König der Lüfte gehörte Ailanorar zu den zehn Herrschenden des erhabenen Reiches. Doch Iaxathan, der angeblich so unanfechtbare Herrscher der Finsternis, hatte diese Ordnung niederschmettern und ein Reich der Finsternis errichten wollen. Er hatte Krieg geführt und seine aus dunkler Kraft und geraubtem Leben erschaffenen Geschöpfe auf das begüterte und unbegüterte Volk gehetzt. Yanxothar, der König aller Feuer und ihr Bruder Ailanorar hatten ihm mit ihrem Wissen und Können schwere Rückschläge beigebracht. Doch Iaxathan hatte immer wieder die Saat von Angst und Zerstörung legen wollen und den Krieg um die Macht in Gang gehalten. Dann hatte er sie entführen lassen, weil er wollte, daß sie ihren Bruder, der auch einige Male ihr Geliebter gewesen war, aus dem Weg räumte. Denn dessen Luftgeschöpfe, vor allem die grauen Riesenvögel, die die Macht der Himmelslichter in sich bündeln und in gleißenden Blitzen auf ihre Gegner schleudern konnten, hatten Iaxathans Untergebenen erhebliche Niederlagen beigebracht. Sie, Naaneavargia, die seit ihrer Geburt alles im hohen Maß verschlang und genoß, sollte seine Vergeltungswaffe werden. Er hatte sie in den Schattenberg Orisambran entführt, seine finstere Festung, umgeben von Wällen zerstörender Kraft und verderblicher Strömungen. Sicher, als sie ihn sah war das für sie eine sehr angenehme Überraschung. Denn häßlich und anwidernd sah er nicht aus, als er Tage nach ihrer Verschleppung das erste Mal zu ihr gekommen war und sich ganz ruhig mit ihr unterhalten hatte. Irgendwann überkam sie der Wunsch, mit einem Manne die Leibesnähe zu finden. Doch außer Iaxathan war keiner ihrer Artgenossen in dieser dunklen, nur von einzelnen blauen Lichtern erhellten Feste gewesen. Erst einmal hatte sie sich dagegen gesträubt, ihn an sich heranzulassen. Doch als ihr Begehren immer größer, und seine Freundlichkeiten unverachtbar wurden, hatte sie mit ihm das Lager geteilt. Daraus wurden regelmäßige Treffen. Er bedauerte, daß Ailanorar nicht auf sein Friedensangebot einging und damit die Spaltung des Reiches weiterhin vorantrieb. Er versuchte ihr zu erklären, daß alles aus der Finsternis stamme und dorthin zurückkehren müsse, um wahren Frieden zu finden. Die Trennung in Licht und Dunkelheit sei ein Irrtum der Schöpfungsmacht gewesen, den sie nur mit der Hilfe mächtiger Verfüger der Kraft beheben könne. Sie hatte diese Worte einfach hingenommen, ohne sie auf sich wirken zu lassen. Wichtig war ihr nur der Leib dieses Mannes, der, wenn er seine mitternachtsblaue Gewandung ablegte, kräftig und makellos im warmen braungelben Ton glänzte. Nur wie er sie immer wieder zum Höhepunkt der Lust trieb war für sie entscheidend. Sie hatte ihn angeschmachtet, ihm gesagt, wie gerne sie bei ihm sei und es genoß, wenn sie beide leiblich vereinigt waren. Sie hatte ihm jedoch bisher nicht zugestimmt, daß ihr Bruder entmachtet werden müsse. Ihre Unersättlichkeit war weitergewachsen. Iaxathan kam gar nicht mehr dazu, ihr seine Wünsche im Bezug auf das erhabene Reich zu unterbreiten, weil sie ihn, sobald er sich in ihrem geräumigen Verlies befand, die Leibesnähe abrang. Doch Iaxathan schien das zu genießen, sie bei sich zu haben. Denn eines Tages hatte er ihr angeboten, wie er die Unsterblichkeit und unerschöpflichkeit zu erwerben. Er habe es gewagt, das Auge der Ewigkeit zu besuchen und ihm einige Tränen abzuringen. Damit war gemeint, daß er eines der mächtigsten Gegenstände der Kraft dazu benutzt hatte, die Lösung des ewigen Lebens freizugeben. Doch die hohen Hüter der Kraft warnten immer wieder davor, diese als Tränen der Ewigkeit bezeichnete Flüssigkeit zu trinken, da die in ihr gebannten Kräfte unberechenbar seien. Sie schenkten zwar Unerschöpflichkeit und auch einen unsterblichen Körper, verwirrten dabei jedoch den Geist und verformten die Seele. Wer von den Tränen der Ewigkeit kostete, würde nie wieder wie früher sein können. Die Vorstellung, es dann noch heftiger mit Iaxathan tun zu können hatte jedoch alle ihr bekannten Warnungen vergessengemacht. Sie hatte ihm versprochen, den Streit zwischen Iaxathan und ihrem Bruder zu beenden, wenn sie selbst unsterblich, ewig jung und unerschöpfbar würde. So hatte er ihr jene Flüssigkeit beschafft, deren Zusammensetzung nur die größten Meister der Kraft kannten, zu denen sie nicht gehörte. Eigentlich wollte er ihr nur drei Tropfen davon in einen Kristallbecher füllen. Doch sie hatte ihm den Krug aus der Hand genommen und den Inhalt hinuntergestürzt, sicher war sicher. Was dann passierte hatte keiner der beiden erwartet oder gewollt. Doch nun, wo sie nach der ersten Woge der neuen Kraft ihr früheres Selbst wiedergefunden hatte, empfand sie ihr neues Dasein als nicht so schlimm. Sie erinnerte sich, daß eine der schlimmsten Wirkungen sein sollte, daß jemand sich durch die Tränen der Ewigkeit in jenes Tier verwandele, dessen Eigenschaften der Trinker vorher schon in sich verspürt und auch nach außen gezeigt habe. Sie hatte nicht gewußt, daß sie im inneren ihrer Seele eine Spinne war und hätte wohl auch nicht gedacht, daß sie trotz der Verwandlung ihre Größe als Altaxarroia behalten konnte. Das mußte die Übermacht der Tränen der Ewigkeit gewesen sein. Jedenfalls war sie, nach dem sie ihre neue Daseinsform mit Leib und Seele begrüßt hatte, allen Versuchen Iaxathans entronnen, sie zu vernichten. Ja, sie selbst hatte dazu beigetragen, ihn zu vernichten, zumindest seinen Körper. Denn sie hatte noch gefühlt, wie er aus Verachtung seines Schicksals sein inneres Selbst aus seinem gerade sterbenden Körper herausgelöst und an einen fernen Ort geschleudert hatte, wo es sicherlich in einem von ihm geschaffenen Behältnis der Kraft sicher aufgefangen und verwahrt wurde. Der schwarze Stein, mit dem er seine blutsaugenden Mischwesen lenken konnte, war dabei jedoch verlorengegangen.

Ein weiterer Nachteil der neuen Daseinsform war, daß sie bei jedem starken Gefühl wieder zur Spinne wurde und deren Jagd- und Freßgelüste empfand. So war das mehr als einen Mondwechsel gegangen. Immer wieder hatte sie versucht, als Frau zu ihrem Bruder zu kommen. Doch immer dann, wenn sie zur Spinne wurde, verlor sie alle Kleidung und auch den Kraftausrichter. Hinzu kam, daß Iaxathans Gehilfen Unmengen von Tausendsonnenfeuer entfacht hatten, das den Meeresgrund um den heiligen Erdteil aufgerissen und berghohe Fluten aufgeworfen hatte. Die Kundigen der Erde, zu denen sie selbst gehörte, verhießen den baldigen Untergang des Landes, da das in den Meeresboden stürzende Wasser im Feuer der Erdkugel zu Dampf wurde und weitere Sprengungen der Landkruste auslöste. Außerdem wurde sie von den Schergen ihres Bruders gejagt, der erfahren hatte, was ihr widerfahren war. Töten konnte sie niemand mehr. Denn sobald sie den Tod nahen fühlte, wurde sie zur Spinne, und die mächtigen Worte des Todes zerstoben an ihr. Immer wieder wurde sie für einige Tage zur Frau und stillte ihren Hunger nach Leibesnähe. Manchmal floß ihr geschlechtliches Bedürfnis mit dem unbändigen Hunger der Spinne ineinander, so daß es passierte, daß sie unbegüterte Männer erst mit dem Unterleib und dann mit dem Spinnenmaul einverleibte. Dann hatte sie einer der grauen Luftkämpfer ihres Bruders erwischt und schneller als ein Laut davongetragen, hin nach Gooraiondroi Wayangumitar, der großen Insel mit glutheißem Herzen, wie dieser kleine Erdteil von den Erkundern und Erbauern der mächtigen Straßen genannt worden war, als sie dorthin einen Weg erbaut hatten. Der Wolkenhüter hatte sie vor dem hohen, roten Felsenberg abgesetzt, den Ailanorar zu seiner Festung Pangarnorantir Glenartis ausgebaut hatte. Zwar hatte Iaxathans Untergebener Skyllian mit seinen Schlangenkriegern versucht, die Festung einzunehmen. Doch sie waren dabei mit den Herren der Wolkenhüter aneinandergeraten und waren in jenem Berg eingemauert worden, wo sie in den Schlaf der ewigen Verharrung gefallen waren. Und hier wollte Ailanorar sie nun haben, weit ab vom dem Untergang geweihten heiligen Erdteil Altaxarroi. Tatsächlich erschien ihr Bruder in seinem luftigen, roten Gewand mit den blauen Flügeln und Wolkenmustern eines Meisters der Lüfte und mit der Krone aus in Silber gefaßten Großvogelfedern. Sie fühlte, wie sie ihm am Liebsten ihren unverhüllten Leib dargeboten hätte, wie schon einige Male zuvor, wo er nicht wußte, welcher Trägerin der Kraft er sich anvertrauen sollte. Doch er winkte ab, weil er wohl wußte, wie unbeherrscht sie nun sein konnte. "Ich habe für dich fünf Gefährten in meiner Festung untergebracht und einen Raum geschaffen, den du mit dem Atem der Lust auskleiden kannst, wenn sie dir nicht zu Willen sein wollen", sagte er und blickte sie mit seinen Augen an, die die Farbe grüner Eedelsteine besaßen wie die ihren. "Ich möchte nicht, daß Yanxothar oder dein Herr selbst befindet, dich zu töten, nachdem, was der Verruchte und verstoßene dir angetan hat, Schwester."

"Ach, in dem du mich von unserer Heimat fortreißt und hier, im Lande ungelenker Geisteranbeter, die meinen, die Kraft sei nichts anderes als eine Horde unsichtbarer Wesen in Steinen und Pflanzen, mit nur fünf vielleicht grundabscheulichen Männern alleinzulassen?" Hatte sie gefragt. "Was willst du wirklich von mir, Bruder?"

"Ich möchte, daß du mir hilfst, mein Erbe zu schützen. Die Anhänger des Verruchten wollen immer noch unser Reich erobern, auch wenn es bereits dem Untergang entgegentaumelt. Unser Werk darf nicht verlorengehen. Auch wenn du durch die Tränen der Ewigkeit nicht mehr ganz die Herrin deiner Selbst sein kannst, liebe ich dich zu sehr, um dich töten zu lassen. Ich habe meine Stimme in dieser Festung versteckt und fünfzig mir ergebene Getreue zu unsichtbaren Wächtern gemacht. Doch nur eine, die körperlich sein kann, vermag, andere Eindringlinge abzuhalten. Ich habe dir die fünf unbegüterten zugewiesen, damit du dich nicht in Langeweile verzehrst", war Ailanorars Antwort gewesen.

"Ich soll deine Stimme bewachen? Brauchst du sie denn nicht mehr? Oder hat dieses Lichtweib befunden, daß du nun ganz allein ihm gehörst, nachdem du ihm mehrere kleine Schreier in den Schoß gelegt hast?"

"Immer noch eifersüchtig, Schwester?" Hatte Ailanorar dann noch gefragt. Sie hatte dafür nur ein verächtliches Lächeln übrig. "Aber du hast im Grunde recht. Ich habe meine Macht über die unauffindbare Himmelsfestung unerschütterlich gemacht und kann nun mein Meisterwerk in einer sicheren Verwahrung belassen, auf daß es die Nachläufer Iaxathans nicht finden. Ich kann außer dir niemanden vertrauen, da die Bande des Blutes die einzig wahre Garantie sind, daß mein Werk nicht in falsche Hände fällt, wenn mein körperliches Ende kommt."

"Dann trinke auch von den Tränen der Ewigkeit, Bruder und werde unsterblich", hatte sie ihm dann vorgeschlagen. Doch er hatte sich höchst angewidert geschüttelt und heftigst diesen Vorschlag abgelehnt. "Wir leben durch die Kraft schon mehr als vierhundert Sonnen lang. Dies reicht aus, um auf der Erdenkugel großes zu schaffen oder unsagbare Zerstörung anzurichten. Ich werde mich nicht dazu erniedrigen, ein Ewiges Leben zum Preis meiner Geistesfreiheit anzunehmen, wie du es auf die Einflüsterungen dieses von Dunkelheit überfüllten Machttrunkenen getan hast. Oder fühlst du dich so wohl, eine mörderische Webspinne zu sein, ein Schrecken für alle, die friedlich leben wollen?"

"Es hätte auch schlimmer für mich sein können", hatte Naaneavargia darauf nur geantwortet. "Wahrscheinlich hast du nur Angst, du könntest als schleimiger Wurm enden, wenn du mehr als genug von den Tränen der Ewigkeit trinkst. Was machst du, wenn ich dein Angebot nicht wahrnehme, mein Geliebter und Bruder?"

"Dann muß ich wohl das tun, was mir alle anderen immer wieder raten, dich töten lassen."

"Ich bin nicht mehr zu töten. Feuer und Erz können mir nicht mehr schaden, und die Worte des Todes zerplatzen an meiner neuen Körperform."

"Meine Wolkenhüter haben ihre Sonnenblitze noch nicht an dir versucht, werte Schwester. Nein, denk nicht einmal daran, mich anzugreifen. Sie warten über uns und werden unvermittelt niederstoßen, um dich zu vernichten, wenn du dich mir näherst", war Ailanorars Antwort gewesen. Er hatte dabei mit seinem Kraftausrichter zum hellblauen Himmelsgewölbe hinaufgedeutet, wo Naaneavargia zwanzig im Kreis fliegende Punkte ausmachen konnte. Ja, er hatte sich wohl wirklich gut abgesichert, ihr mächtiger Bruder. Dann verlangte sie, die fünf zu sehen, die er ihr als Gespielen geben wollte und fragte ihn auch, wovon sie sich ernähren solle, solange sie ihre neue Gestalt nicht annehmen dürfe. Er gab vier Vogelmenschen mit schwarzem Gefieder ein Zeichen, worauf sie fünf sehr kraftvoll wirkende Altaxarroin herbeiführten, die offenbar sehr verstört waren. Naaneavargia blickte sie mit hungrigen Blicken an. Ja, mit denen konnte sie schon eine lange Zeit gut zurechtkommen. Sie fragte dann nach deren Namen und überlegte, ob sie wirklich lieber Riesenvogelfutter sein wollte. Denn ihr wurde klar, daß Ailanorar seine Wolkenhüter sicher dazu bringen mochte, sie in der Luft zu zerreißen. Dann fiel ihr jedoch ein, was er ihr früher immer wieder erzählt hatte, Ihre Verwandtschaft schützte sie vor diesen gefiderten Kämpfern. Denn Ailanorar hatte alles, was mit ihm blutsverwandt war zu unantastbaren Leuten erklärt, also auch sie, seine Schwester. Das hielt sie ihm nun mit einem überlegenen Grinsen entgegen.

"Es trifft zu, daß du solange geschützt bist, solange ich ihnen nicht einen bestimmten Befehl erteile, der dich zu ihren Feinden erklärt. Zwinge mich nicht dazu, diesen Befehl zu erteilen und dich zu verstoßen, Naaneavargia!"

"Du würdest mich nicht töten. Denn dann hättest du es tun sollen, als dein Riesenvogel mich aufgepickt und fortgetragen hat. Auch wenn du mein neues Sein fürchtest begehrst du mich immer noch", säuselte sie und deutete auf ihre weiblichen Merkmale.

"Du hast jetzt die Wahl, Schwester", hatte Ailanorar mit einem gewissen Unbehagen geantwortet. "Hilf mir, mein Erbe zu schützen oder durchschreite das Tor in die Nachwelt!"

"Eigentlich müßte ich es auf einen Versuch anlegen, ob deine Riesenschreihälse mir wirklich was tun können, liebster Bruder. Aber andererseits hast du die fünf herrlichen Burschen da für mich ausgesucht. War bestimmt nicht leicht, deren Lebensspenderinnen die Aussicht auf nette kleine Kindeskinder auszutreiben, wie. Aber ohne den Atem der Lust kann ich die wohl kaum länger als einen Viertelmond behalten. Willst du die mit mir zusammen in deiner roten Festung einschließen oder was?" Die fünf erwähnten sahen Naaneavargia an, die sie weiterhin mit einer unverkennbaren Begierde im Blick behielt. Sie standen offenbar unter der Macht der Fügsamkeit, der sich die mit der Kraft unbegüterten Menschen nicht entziehen konnten und die die Träger der Kraft nie auf Ihresgleichen anwenden durften, was die Mitternachtsanbeter jedoch nie davon abgehalten hatte, diese Macht gegen andere zu versuchen.

"Ich habe die nötigen Zutaten bereits herbringen lassen. Davon kannst du mehr als tausend Sonnen zehren, weil sie in Kristallen der Haltbarkeit versiegelt sind. Sie werden damit mich und unser in den Tod sinkendes, heiliges und erhabenes Reich lange überdauern", hatte Ailanorar mit gewisser Wehmut geantwortet. Naaneavargia hatte früher zwar gedacht, auch ohne jenes nach Entkorken verdunstendes Gebräu auskommen zu können, weil sie auch so schon anziehend aussah und wußte, wie sie einem Mann gefallen konnte, daß er ihr gab, was sie wollte. Doch sie erkannte, daß die fünf bald die Fessel der Fügsamkeit abschütteln mochten. Nicht diesentags, nicht kommenden Mond. Aber mehr als eine Zehnersonne hielt die Macht nicht vor, wenn sie nicht immer wieder aufgefrischt wurde. sie würde mehr als tausend Zehnersonnen bestehen, länger als die fünf da leben mochten. Die sahen noch knabenhaft jung aus, wohl gerade zwanzig oder dreißig Sonnen alt. Aber in womöglich vier Hundertsonnen waren sie verwelkt und entfleischt. Was dann? Andererseits schrie der mit den Tränen der Ewigkeit geschluckte Drang nach eigenem Leben in ihr, daß sie es nicht darauf ankommen lassen durfte, von ihrem Bruder verstoßen und zum Fraß seiner grauen Riesenvögel zu werden, egal ob als Spinne oder als Altaxarroia. So fragte sie, wo die Stimme Ailanorars denn aufbewahrt würde und woher sie und die fünf ihr geschenkten Lustknaben Essen und Trinken bekämen.

"Die Geisteranbeter hier werden uns, ihren großen Göttern, regelmäßig Opfer bringen, niedere Tiere und essbare Pflanzen und sie meinen unsichtbaren Wächtern überlassen, die sie zu euch hineinbringen. Die armen kleinen Wesen halten uns ja schon für die wiedergekehrten Götter ihrer Schöpfungszeiten, seitdem ich vor einer Hundertsonne diese Festung angefangen habe, die sehr günstig im Bezug zu den Kräften von Wind und Erde liegt." Er deutete auf den roten Steinberg, der eigentlich gar nichts von einer Festung an sich hatte. ein mächtiger Sandsteinfelsen, der gewiss schon vor zehn Muttersonnen entstanden sein mochte. Als Muttersonne bezeichneten die Kundigen der Erde, die ihre Kräfte und ihre Bewegungen erkundeten den Zeitraum, den zwanzigtausend Tausendersonnen ausfüllten. Das mochte für die große Mutter Erde wie ein Sonnenwechsel sein. Für die selbst sehr viele Hundertersonnen überdauernden Altaxarroin war das jedoch ein unvorstellbar langer Zeitraum. Womöglich hatte der rote Berg noch die Erstzeitdrachen gesehen, deren versteinerte Knochen in tiefen Schichten Altaxarrois begraben waren und nach den Zeitlotungen der Erdkundigen mindestens seit drei Muttersonnen dort ruhten.

"Gut, ich nehme dein Angebot an, großer Bruder", hatte sie dann zugestimmt. "Ich passe auf deine kleine, silberne Flöte auf. Aber nur, wenn du mir zusagst, daß diesen fünfen, die du für mich beschafft hast, immer wieder neue folgen, damit ich auf keine Art verhungern muß und mich nicht langweile."

"Ich verspreche es, sowar die Sonne den großen Berg in der Mitte unseres Reiches mit ihrem Licht erfüllt", hatte Ailanorar dann noch zugesagt. Naaneavargia argwöhnte zwar, daß er nicht so sehr an sein Wort gebunden sein mochte, wie der Schwur es verlangte. Denn die Ewigkeit von Sonne und Erde galt als unerschütterlich und daher alles umschließendes, dem sich niemand entwinden konnte.

Das innere des Berges war mit den Sonnengläsern ausgefüllt, Kristallen, die das Licht des Feuergestirns sammeln und wiedergeben konnten, ähnlich wie sie es in verdichteter Form in den Sonnenkeulen taten, die jeder Träger der Kraft gegen die Geschöpfe der unbeherrschten Kräfte oder künstlich erschaffene Ungeheuer führen konnte. Ein ovaler Steinraum im Bauch des Berges war ihr als Liebesraum genehm. Dort würde sie immer wieder die Behälter aus bewahrendem Glas öffnen, um etwas von der darin gehaltenen Flüssigkeit ausdünsten zu lassen, um den ihr zugedachten Gespielen den Atem der Lust einzuhauchen, dem sich kein geschlechtlich fähiger Altaxarroi oder unterentwickelter Fremdländer entziehen konnte. Sie fühlte aber auch, daß Ailanorar in die Wände und den Boden schlummernde Kräfte eingelagert hatte. Doch sie vertraute seiner Ausführung, daß es nur Schutzmächte waren, die die Festung vor Skyllians Geschöpfen und anderen Trägern der Dunkelheit bewahrten. Tatsächlich lieferten die kleinen, nachtschwarzen Geisteranbeter ihr und den fünf Knaben immer wieder genug zu essen. Ailanorar zeigte sich nicht mehr, seitdem sie in seiner roten Festung verblieben war. Allerdings überkam sie nach nur wenigen Tagen die neue Gestalt, und ihr fiel einer der ihr untergebenen Jünglinge zum Opfer. Da waren es nur noch vier. Erst einen Tag später gelang ihr die Rückverwandlung. Doch diese hielt nur vier Tage vor, in denen sie zwischen Leibesnähe und Versuchen, ohne Kraftausrichter zu wirken verbrachte. Immerhin fand sie heraus, daß sie die ihr trotz ihrer Erdkraftnähe bekannten Wasser- und Luftkräfte aufrufen konnte. Dann verschwand der Jüngling, der das Unglück hatte, in ihrem Liebeszimmer zu sein, als sie wieder zur Spinne wurde in ihrem Magen. Doch das machte ihr seltsamerweise nichts aus. Im Gegenteil. Sie fertigte in den Tagen, in denen sie Frau war Malereien an, die die unbändige Macht der Lust und des Hungers zeigten, wie sie als Spinne und als Frau in dieser kleinen Zuflucht des erhabenen Reiches herrschte. Ihr war es egal, daß ihr Bruder seine Gedankensendungen unterließ, mit denen er ihr von den Dingen außerhalb der Festung kündete. mehrere Tage, womöglich einen ganzen Mond lang hielt sie sich mit den verbleibenden Jünglingen schadlos. Dann jedoch vertilgte sie den letzten von ihnen und erkannte, daß sie ihrer neuen Natur viel zu bereitwillig nachgegeben hatte. Denn nun war sie alleine. Sie erkannte, daß sie den Berg verlassen mußte, wollte sie nicht dem Irrsinn verfallen, in diesem Höhlensystem alleine zu sein. Sie rief nach ihrem Bruder. Doch dieser gab durch keinen Ferngedanken zu verstehen, daß er sie hörte. Dann fühlte sie, wie aus dem Boden und den Wänden eine immer größere Müdigkeit auf sie einströmte. Sie wollte noch zum Ausgang laufen, um trotz der unsichtbaren Wächter den Berg zu verlassen, da überwältigte sie die Schläfrigkeit vollends. Der letzte klare Gedanke, den sie hatte war, daß ihr Bruder sie ausgetrickst und mit dem Schlaf der schnellen Sonnen gefesselt hatte, an und für sich eine Macht der Erde. Doch wenn er mit ihrem eigentlichen Herren, dem König der irdischen Tiefen und Kräfte, einen Bund geschlossen hatte, um sie aus dem Weg zu schaffen ... Da versank ihr Wachbewußtsein im Strudel des von der Kraft hereingespülten Schlafes.

Sie erwachte erst wieder, als sie fühlte, wie ihr Bruder ohne Körper in diese Festung hineinwehte und sein inneres Selbst in jener silbernen Flöte verdichtete, deren große und mächtige Ausstrahlung ihr als Wegweiser gedient hatte, wenn sie die ihr zugeführten Lustknaben gesucht hatte, die sich vor ihr zu verstecken versucht hatten. Sie hörte ihren Bruder denken, daß er nun eins mit seiner Stimme geworden sei, in der er bereits bei ihrer Schöpfung ein Teil seines Selbst eingewirkt hatte und sie, seine geliebte Schwester, fortan ihn und seine Stimme bewachen würde, wenn jemand versuche, sie zu erobern. Sie schickte ihm daraufhin zu, daß er sie betrogen habe. Er antwortete darauf:

"Ich habe dich errettet, vor dir und den dunklen Mächten der Tränen, geliebte Schwester. Nur hier und nur so kannst du sicher sein, nicht endgültig dein inneres Selbst zu vergessen. Denn während niemand außer dir hier ist wirst du schlafen. Und wer meine Stimme aus diesem Berg entführt wird dich in ewigen Schlaf versenken. Also hüte sie gut! Wer es schaft, zu dir vorzudringen soll dir gehören, auf welche Weise du ihn oder sie benutzen willst. Aber lasse niemanden mit meiner Stimme und mir davonziehen! Du würdest unweigerlich für alle Zeit dem ewigen Schlafe unterworfen sein."

"Und wenn ich deine nette Festung verlassen will, Bruder?" fragte sie trotzig.

"Die unsichtbaren Wächter, die durch jene Narren, die zu dir und mir vorzudringen versuchen und scheitern verstärkt werden, haben meine Anweisung, dich nicht mehr hinauszulassen."

"Also bin ich deine Gefangene", dachte Naaneavargia ihrem nun in seiner mächtigen Flöte wohnendem Bruder zu.

"Die Zeit wird verfliegen, und du wirst immer wieder wen begrüßen dürfen, an dem du deine Gelüste und Begierden stillen kannst, Schwester. Welchem Gefangenen ist sowas schon vergönnt?"

"Du hast mich hereingelegt, großer Bruder", erwiderte die Unersättliche. "Mir bleibt wohl nichts anderes, als dich bei mir zu behalten, damit immer wieder wer kommt, der meine trübe Zeit hier mit seinem Leben bereichert. Aber glaube nicht, daß ich nicht die erste Gelegenheit nutzen werde, deinen windigen Wächtern da draußen zu entschlüpfen."

"Sie werden den Eingang bewachen, solange ich hier bin. Und wenn ich dir und ihnen entzogen werde, wirst du sofort in tiefen Schlaf fallen und ewig darin ruhen, unweckbar für die Ewigkeit, deren Gefangene du selbst wurdest, als du ihre Tränen kostetest."

"Du hättest mich töten sollen", schickte sie einen verärgerten Gedanken an ihren Bruder.

"Das hätte ich nicht tun dürfen. Denn auf unserer Sippschaft liegt eine Verwünschung. Wer gewaltsam den Körper verliert, wird eins mit der großen Kraft der Luft und zu einem Wesen wie die Wächter dort draußen, eben nur hundertmal stärker. Das wußte ich schon immer, als ich Meister der Winde wurde. Jeder andere wußte es, daß er weder dich noch mich töten durfte, auch Iaxathan wußte es. Er hat es dir nur nicht gesagt, weil er nicht wollte, daß du dir selbst den Tod gibst, um mächtiger zu werden als er. Denn den Sturmgeist kann niemand mehr einfangen und halten. So blieb ich auch unbeschadet, bis mein Körper von selbst dahinging und ich mich aus ihm befreien und in meiner mächtigen Stimme Halt finden konnte, in der ich überdauern kann, bis die Sonne verglüht ist und die Winde erstorben sind."

"Wir wissen nicht, ob der Vater des Feuers, der in der Sonne wohnt nicht vorher die Leibesnähe mit unserer Mutter Erde suchen und sie dabei fressen wird", erwiderte Naaneavargia, die die unterschiedlichsten Geschichten über das irgendwann in mehr als hundert Muttersonnen anstehende Ende der Erdkugel kannte. Entweder erkaltete diese, wenn das Himmelsfeuer erlosch oder stürzte in dieses, wenn es wie bei einem Reisigholzstück noch einmal für eine Winzigkeit aufloderte. jedenfalls mochten ihr Bruder und sie das noch erleben, ahnte sie. Dann dachte sie ihrem Bruder zu, daß er sich ja selbst zum Gefangenen gemacht hatte. Doch er erwiderte, daß er nur dann erwachen würde, wenn es jemandem gelänge, ihn zu berühren und er somit wie sie vom Lauf der Zeit und damit jeder Langeweile verschont bliebe. Dann fragte sie ihn, warum dann überhaupt jemand seine Stimme suchen solle, wenn das Wissen um seine Lieder eh im Schlund des Vergessens verschwinden würde.

"Ich habe denen, in denen ich die Kraft des Windes fühlen konnte, meine Lieder beigebracht, auch denen, die nicht an die große Kraft sondern viele tausend Einzelseelen glauben und Geisterwesen anbeten. Skyllian hat hundert Krieger von sich in jenen Schlaf gebannt, in dem du auch überdauerst. Es mag sein, daß eines Tages jemand kommt, der die durch die Kraft gegebene Sprache der Schlangen beherrscht und sie wiedererweckt. Dann dürfte man sich meiner wieder erinnern und meine Stimme suchen. Doch ich will nicht von irgendwem wie eine Trophäe erbeutet werden. Meine Wolkenhüter sollen diese Plage selbst erkennen und ausrotten, ohne durch meine Stimme gerufen zu werden. Doch die Beschwörungen und Rituale, die ich in meine Stimme wirkte zwingen sie und damit auch mich, mich dem zu unterwerfen, der mir beim direkten Kontakt des inneren Selbst zu widerstehen und zu entrinnen vermag. Denn ich kann und darf nicht ausschließen, daß ein würdiger Erbe unserer Kraft befinden kann, mich zu seiner Macht zu machen."

"Dann soll ich diesen Würdigen aufhalten, bevor du armer kleiner Flötenspieler von ihm benutzt wirst?" Schickte sie eine höchst verächtliche Gedankenfrage an ihren Bruder ab. Dieser bejahte es mit deutlichem Mißfallen. Dann befahl er auf unhörbarem Wege, sie solle weiterschlafen. Das war das Zeichen für die in den Wänden wohnende Kraft, sie erneut in tiefen, die Zeiten überdauernden Schlaf zu stürzen.

Sie verlor jedes Gefühl für die verrinnenden Zeiten. Mochten es Sonnen, Zehner-, Hunderter- oder Tausendersonnen sein, die zwischen ihren Wachzeiten verrannen. Immer wieder weckte sie ein Eindringling auf, der mit oder ohne einen Kraftausrichter in die Gänge und Verliese der roten Festung vorzudringen vermochte, die die unterentwickelten Schwarzmenschen Uluru nannten. Dabei handelte es sich immer um armselige Geschöpfe, die mit von der Kraft getränkten Waffen oder durch Teilverwandlungen mit Flügeln versehen gegen sie vorgingen. Die meisten von denen wurden ihr Futter. Sie genoß es immer wieder, wenn sie die Eindringlinge erst in ihren Netzen fing, dann mit ihren vergifteten Zangen biß und dann mit ausgewürgtem Verdauungssaft bespuckte, der ihr Fleisch trinkbar machte. Manchmal versuchten es auch weibliche Nachfahren des erhabenen Volkes, an ihr vorbeizukommen. Niemand hatte wirklich damit gerechnet, sie hier anzutreffen. Denn jeder erschrak, als sie sich ihnen offenbarte. Frauen griff sie gleich als Spinne an. Die konnten ihren hunger nach geschlechtlicher Befriedigung ja doch nicht so gut stillen wie die Männer, die sie immer wieder für sich empfänglich machte, wenn diese sich nicht von ihren Netzen hatten fesseln lassen. Einmal kam sie fast zu spät. Da hatte ein tolldreister Verwender der Kraft einen lähmenden Nebel ausgestreut, der sie um die Besinnung gebracht hatte und hatte es wahrlich geschafft, ihren Bruder aus seinem Versteck zu holen. Sie hatte den Eindringling als Spinne überfallen und so gierig verschlungen, daß dabei auch die Flöte Ailanorars in ihrem Magen gelandet war. Die darauf folgenden Zehnteltage waren eine reine Qual. Nicht nur, daß das unzerstörbare Klangkunstwerkzeug ihr arges Bauchgrimmen bereitet hatte und schmerzhaft in ihrem Gedärm dahingeschoben wurde. Nein, ihr Bruder beschwerte und beklagte sich fortdauernd, daß er es entwürdigend fand, auf diese Weise von seiner Schwester einverleibt worden zu sein und er wohl nie wieder davon loskommen konnte, von ihr gefressen und ausgeschieden worden zu sein. Als sie dann unter großen Schmerzen die von keiner Magensäure oder Darmflüssigkeit zersetzbare Flöte aus ihrer hinteren Leibesöffnung getrieben hatte, war sie sogleich an ihren Aufbewahrungsort zurückgekehrt, blitzsauber und unbeschmutzt, wie sie noch sehen konnte. Einen Moment hatte sie gedacht, sie sei eine Gebärende, die ihr erstes Kind ans Licht der Welt brachte. Doch das triumphale Geschrei ihres Bruders war nicht wie das erschreckte Geplärr eines Säuglings gewesen. Wohl kaum einen Hundertsteltag später hatten sie die Fesseln des Schlafes der schnellen Jahre wieder unauflöslich eingeschnürt.

Zwei weitere Eindringlinge fanden den Weg in die rote Festung. Doch sie vermochten nicht, die Stimme Ailanorars zu berühren. Dann kam einer, der ihr noch sehr jung erschien, ein Knabe von gerade etwas mehr als einem Dutzend Sonnen Alter. Doch sie fühlte sogleich, daß dieser Jüngling schon schwere Erinnerungen in sich trug, aber auch ein sehr starker Träger der Kraft war. noch etwas war an diesem Jüngling anders. Er stand in ständiger Verbindung mit jemandem, deren geistige Anwesenheit ihr, Naaneavargia, sehr vertraut war, besaß aber auch die Verbindung mit einer Gefährtin, die weit von ihm entfernt wachte. Sie hatte versucht, ihn anzugreifen, um ihn zu töten. Da rief er die Macht der Todeswehr aus, die ihren Angriff beendete und sie für einige Momente handlungsunfähig machte. Als sie wieder Herrin ihrer Gedanken wurde erkannte sie, daß dieser Jüngling sich weitaus besser vorbereitet hatte als die anderen, ja sogar einen Lehrmeister des Lichtes aus dem erhabenen Reich gefunden hatte. Sie kannte das gläserne Konzil der alten Meister und schloß daraus, daß dieser Jüngling diesen alten Meistern selbst begegnet war und von ihnen gelernt hatte. Sie konnte es nicht verhindern, daß er ihr eine Kraft der urwüchsigen Todesangst entgegenschleuderte, die ihn wie einen Mantel umschloß. Einen Moment glaubte sie, eine riesenhafte grüne Schlange zu sehen, von der sie bis dahin nie etwas gehört hatte. Doch etwas an dieser Erscheinung verhieß ihr, die ewig leben konnte, den gnadenlosen Tod und unanfechtbare Überlegenheit. Davon gelähmt mußte sie mit ansehen, wie der Knabe ihre Netze mit der Kraft zerriß. Erst als er weit genug von ihr fort war und sie ihre lähmende Todesangst niederringen konnte, gelang es ihr, dem Jüngling zu folgen. Doch dieser hatte bereits einen haltbaren Wall zwischen dem Einstiegsschacht und dem inneren Gefüge der Gänge errichtet, den sie auch in ihrer erhabenen Gestalt nicht durchbrechen konnte. Sie bekam es mit, wie dieser Bursche mit seiner weit fort befindlichen Gefährtin frohlockte, sie ausgetrickst zu haben, bevor er den Raum erreichte, in dem ihr Bruder verwahrt wurde. Als er diesen herausforderte, fiel jede Sperre in sich zusammen, die von einem anderem als ihm errichtet worden war. Sie konnte nun wieder in die Gänge und Räume vordringen und sprühte schnell den Atem der Lust in ihrem Liebeszimmer aus, von dem tatsächlich noch ein winziger Hauch wahrzunehmen gewesen war. Als Frau war sie gegen die Macht, die eine Spinne abschreckte gefeit, erkannte sie. Doch zunächst galt es, den Knaben auf die eine oder andere Weise festzuhalten, damit er ihren Bruder nicht mit nach draußen bringen konnte. Als sie dann fühlte, wie er mit Hilfe seiner weitentfernten Gefährtin freikam und die mächtige Flöte der Winde mit nach draußen tragen wollte, präsentierte sie sich ihm in ihrer angeborenen Gestalt. Sie hatte erfahren, daß er nun über sie unterrichtet worden war. Er widerstand ihr. Seine Gefährtin, die über ein sacht klopfendes Schmuckstück voller Kraft mit ihm in Verbindung stand, wagte ihm einzureden, er würde sich an ihr verschwenden, wo sie doch eh keine Kinder von ihm haben wolle. Darauf hatte sie ihm angeboten, eines mit ihm zu haben, und wenn sie beide seiner überdrüssig seien davon zu essen. Das war offenbar ein Fehler, erkannte sie, als er diesen Vorschlag verwarf und seine Gedanken so gut er konnte vor ihr verhüllte. Es war wohl auch ein Fehler, ihm zu verraten, wieso sie überhaupt so lange ohne Nahrung hatte überleben können. Denn da kam der doch auf die Idee, eine ihr nur vom Hörensagen bekannte Form der Kraft zu wecken, die alles üble umzuwenden vermochte. Wer immer ihm diese Macht gewährt hatte wußte wohl, wie stark er war. Jedenfalls konnte sie es nicht verhindern, daß der Schlaf der Schnellen Jahre sie unvermittelt überwältigte. Doch dann erwachte sie wieder. Der Jüngling hatte ihre neuen Netze zerrissen und war bereits mit ihrem Bruder entkommen. Doch sie schlief nicht weiter. Die Wirkung war umgekehrt worden. Sie würde nun nur noch wach sein, solange niemand außer ihr in diesen Gängen war. Dieses und der Drang, den ihr überlegenen Bengel zu verfolgen und womöglich noch davon abzuhalten, die Stimme Ailanorars zu benutzen, trieben sie zum Ausgang. Fast hätten sie die unsichtbaren Wächter nicht hinausgelassen. Doch ein Tausendersonnenzufall wollte es, daß ein mit der Kraft gut gesegneter Ureinwohner meinte, zu ihr hinauffliegen zu wollen und dabei mit den unsichtbaren Wächtern aneinandergeriet. So gelang ihr die Flucht. Der armselige Ureinwohner versuchte dann noch, sie mit seinem Geist zu übernehmen, als er Stürme gegen sie aufgerufen hatte. Doch als sie sich in einen weichen Schutz eingewoben hatte und den Angriff gerade abzuwehren versuchte, prallte sie auf den Boden und verlor für einige Zeit die Besinnung. Als sie dann wieder zu sich kam fühlte sie, wie die unsichtbaren Wächter ihr Dasein aushauchten. Mächtige Stürme umtobten den roten Berg, und der Jüngling war mit Ailanorars Stimme verschwunden. Hatte sie jene alte Gegenwart nicht gespürt, als er hinausgeflogen war? Ja, es war Darxandria gewesen, die für einen Moment als großes, geflügeltes Wesen vor ihrem geistigen Auge erschienen war. Hatte die alte Königin des Lichtes es vermocht, in einem anderen Geschöpf wiederverkörpert zu werden. Jetzt verstand sie auch, wie es dem Jüngling, dessen Namen sie erfaßt hatte, gelingen konnte, Ailanorars Stimme an sich zu bringen. Ja, sie erkannte auch, daß er erlernt hatte, die Straßen des erhabenen, wohl schon vom überwiegenden Teil der Menschen vergessenen Reiches zu benutzen. Nur so konnte sie sich erklären, daß sie ihren Bruder so weit fort von sich erspürte und fast körperlich mitbekam, wie seine ganze Kraft geweckt wurde. Sie fühlte es, wie er in den Himmel hinaufgerissen wurde und ganz sicher in seiner fliegenden Burg ankam, die von seinen Vogelmenschen und den Wolkenhütern bewohnt wurde. Von da an spürte sie nur noch, wie diese Burg jeden Zehnteltag mit großem Sprung die Stellung am Himmel veränderte. Ailanorars Stimme blieb in ihr. Sie war sich sicher, daß dieser Jüngling Julius Erdengrund dort verblieben war, weil er dort und nur dort sicher vor jedem Verfolger sein mochte. Denn sie konnte sich nicht vorstellen, daß er von dort ohne die Stimme Ailanorars fortgehen würde. Die Flöte war Macht. Wenn er die Himmelsburg damit zu sich hinbefehligt hatte, so würde er auch andere Lieder darauf spielen können. Jedenfalls war Ailanorar ihm unterworfen. Denn sonst hätte sie außer seiner geistigen Gegenwart auch seine Gedanken empfangen können.

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Elvira Vierbein hatte sich schon lange daran gewöhnt, diese hauchdünne aber wirkungsvolle zweithaut zu tragen und jede vierte Nacht ihr Kopfhaar abzurasieren, um es nicht unter der sie völlig einschließenden Folie aufbauschen zu lassen. Für sie war die ihrer natürlichen Hautfarbe angepaßte Schutzfolie überlebenswichtig, wenn sie nicht nur nachts herumlaufen wollte. Ihre eigene Erfindung, um Sonnen- und Lichtallergikern ein Leben unter freiem Himmel zu ermöglichen, ohne sich im heißesten Sommer dick einmummeln zu müssen, war nun zur Lebensversicherung geworden. Denn seitdem sie eben wegen dieser Folie, die das auftreffende Sonnenlicht auf ein Sechshundertstel seiner Stärke herunterfilterte, von ihr, Lady Nyx, zu ihrer Blutstochter gemacht worden war, konnte sie nur noch in dieser Schutzummantelung herumlaufen. Ihr abgetrenntes Haar war zu einer Perücke verarbeitet worden und auf einer Kappe aus Solexfolie aufgetragen worden, so daß sie auf dem Kopf einen quadrierten Schutzfaktor von 36000 besaß, also faktisch keinen Funken Sonnenlicht mehr auf die Schädeldecke bekam. Auch ihre Unterkleidung war entsprechend. So konnte die moderne Vampirin am hellichten Tag herumlaufen und Nyx' Aufträge ausführen. Mit der Blutmutter und Herrin trat sie immer wieder in geistigen Kontakt, wurde von dieser zwischenzeitlich sogar regelrecht besetzt. Als sie dann erfuhr, daß der große Feind Volakin sein verdientes Ende gefunden haben mußte und Nyx wieder frei war, hatte sich Elvira sehr gefreut.

Nun stand sie vor ihr, die schöne Vampirlady. Sie trug ein himbeerfarbenes Rüschenkleid und auf dem Kopf einen altmodisch wirkenden Damenhut, der jedoch seinen Nutzen besaß, daß in ihm ebenfalls die von Elvira und ihrem Mann Arnold entwickelte Solexfolie verarbeitet war.

"Wie viele Brüder und Schwestern könnt ihr jetzt mit der Schutzhaut ausstatten, Elvira?" Fragte Nyx.

"Wir sind jetzt bei hundert fertigen Folien für Europäer und zwanzig für Afrikaner. Wenn du ein paar Chinesen zu meinen Geschwistern machen möchtest müssen wir den asiatischen Farbton nachmixen."

"Hundert Europäer? Wie viele fertige Folien könnt ihr in vierundzwanzig Stunden herstellen?" Wollte Nyx wissen.

"Zehn Stück", sagte die neue Vampirin.

"Für Erwachsene?" Fragte die Vampirlady.

"Ja, für Erwachsene. Wenn du Menschenkinder zu Nachtkindern machen möchtest könnten wir zwanzig bis dreißig herstellen. Die wachsen aber nicht mit denen mit, was irgendwann aufwändiger ist als die Erwachsenenfolien."

"Wir haben uns doch schon unterhalten, daß wir Kinder der Nacht nur ein Zehntel so schnell altern wie die Menschen. Ein zehnjähriger Junge, der von mir im Reigen der Nachtkinder begrüßt wird, braucht also hundert Jahre, um zum Erwachsenen zu werden", erwiderte Nyx. "Also lass von unseren Getreuen zehn Kinderfolien für Europäer auflegen! Nur zehn."

"Welchem Zweck soll das dienen, kleine Kinder zu unseren Artgenossen zu machen?" Fragte Elvira. Doch dann verwünschte sie die Einfalt ihrer Frage. Nyx lächelte.

"Kinder hält man für Harmlos. Wenn wir die richtigen finden kommen wir leichter an das heran, was die Technikanbeter Schaltstellen der Macht nennen, über deren Kinder. Also lasse zehn Folien auflegen! Ich verspreche dir, daß du eines der damit zu schützenden Kinder als deinen Sohn oder deine Tochter haben darfst."

"Ich würde lieber selbst eines tragen und zur Welt bringen", grummelte Elvira. Ihr Wunsch nach einem Kind mit Arnold war trotz der Umwandlung nie ganz erloschen. Doch sie war intelligent und wußte um die neuen Möglichkeiten, die sie nun hatte. Verzögerte Alterung, mehr als dreifache Körperkraft und Ausdauer. Daß sie nur in Teichen baden konnte und ohne die Solexfolie von den kleinsten Flecken Sonnenlicht schmerzhaft verbrannt wurde nahm sie als vernachlässigbare Einschränkungen in Kauf. Sie lächelte, wobei ihre schneeweißen Fangzähne aufblitzten. Vielleicht war es auch eine Möglichkeit, einem jungen Vampir in die Welt hineinzuhelfen.

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Ein Schluck Aufpäppeltrank und Bluterneuerungstrank mochten für die Erbin Sardonias erst einmal genügen, um die kommenden Auswirkungen hinauszuzögern und/oder zu mildern. Doch sie wußte, daß die auf sie einwirkende Strahlung ihren Körper langsam zu Grunde richten würde. Ihr Erbgut dürfte bereits unrettbar geschädigt sein. Womöglich hatte Dairons Gürtel, weil er eben diese Art des Todes nicht abwehren konnte, eine noch höhere Empfindlichkeit für diese magielose Form verheerender Verseuchung bewirkt. Anthelia glaubte das, weil sie wußte, daß Menschen es sonst nicht spürten, von dieser Strahlung getroffen zu werden. Erst wenn die davon ausgelösten Schäden Überhand zu nehmen begannen, mochte jemand erkennen, was ihm da widerfahren war. Doch sie, Anthelia, hatte den Ansturm der tödlichen Strahlen körperlich gespürt. Noch immer sah sie die gleißenden Lichtentladungen vor ihren Augen, die wohl auf eine Überreizung ihrer Nerven zurückzuführen waren. Trotz der besonderen Bleirüstung, die hundertmal mehr Strahlung abfangen konnte als unbehandeltes Blei, war zu viel von den schädlichen Strahlen zu ihr durchgedrungen. Der magielose Fluch wirkte nun auf jene, die durch eine Kombination von Flüchen und Gegenflüchen ein zweites, unnatürlich erworbenes Leben führte. Noch einmal trank Anthelia einen Trank, der die Auswirkung von Fleisch und Blut schädigenden Giftstoffen aufheben konnte. Doch wenn sie wirklich Heil finden wollte, mußte sie entweder in ein magisches Hospital, das sich auf die Behandlung dieser Verseuchung verstand oder die in einem solchen Heilzentrum durchgeführte Therapie selbst vornehmen. Das hieß jedoch, daß sie nicht nur die Zutaten und fertigen Tränke in ihren Besitz bringen mußte, sondern auch genauestens über die Verabreichungszeiten und andere heilmagische Methoden Kenntnis erlangen mußte. Ginge sie in ein magisches Krankenhaus würde sie sich unmittelbar der von ihr bekämpften magischen Überwachung ausliefern. Man würde sie vielleicht behandeln, aber nur zum Preis, sie dann für alle Zeiten zu entmachten. Das Medaillon und der Gürtel Dairons würden ihr abgenommen und für sie unerreichbar verstaut, wenn nicht sogar vernichtet. Doch wenn sie an die Tränke und Behandlungsabläufe heranwollte, mußte sie mindestens einen der kundigen Heiler ausforschen oder für ihre Zwecke einspannen, was genauso riskant war wie die Kur selbst. Wie lange würde sie noch leben, wenn sie keine heilmagische Behandlung erbat? Sie hatte keine Ahnung, wie viel Strahlung sie genau abbekommen hatte und kannte auch keine Vergleichsangaben, wie viel Lebenszeit bei wie viel Strahlung zu erwarten war. Was sie über diese magielose Art der lautlosen Verseuchung wußte hatte sie von Leda, die es Daianira erzählt hatte, als Anthelia gerade von dieser getragen wurde. Durch Daianiras Leib und das sie damals umgebende Fruchtwasser hatte sie es nur schwer verstehen können, was Leda ihrer Cousine mitgeteilt hatte. Der Gedanke an die Zeit mit Daianira, die durch sie, Anthelia, nun selbst eine Wiedergeburt hatte überstehen müssen, ließ sie sich fragen, ob es nicht doch besser gewesen wäre, sich auf Gedeih und Verderb, Gnade und Ungnade ihrer mütterlichen Obhut zu überlassen. Doch sie dachte auch daran, daß Daianira versucht hatte, sie mit dem Sanctuamater-Zauber vor der geplanten Wiedergeburt zu prägen, sich nicht gegen sie und ihre Interessen aufzulehnen. Womöglich hätte Daianira ihr nach der Wiedergeburt mit dem Lacta-Deditionis-Zauber verhexte Milch zu trinken gegeben, mit der sie sie wie unter einem langsam aber tief und nachhaltig eindringenden Unterwerfungszauber fügsam gehalten hätte. Denn gegen den Lacta-Deditionis-Zauber hätte sich Anthelia nicht mehr wehren können wie gegen Sanctuamater. Also hatte sie schon richtig entschieden, ihre Wiedergeburt als Daianiras Tochter zu verhindern. Doch nun würde sie den Preis für ihre raffinierte List bezahlen. Sie würde keine lange Freude mehr an Barty Crouches zur Frau umgewandeltem Körper haben. Im Gegenteil, die letzten Tage seines Bestehens würden für sie eine einzige Agonie sein. Die Katholiken hielten seit nun bald zweitausend Jahren ihre Gläubigen mit Schreckensvisionen von der ewigen Verdammnis im Zaum, von einer Hölle, in der grausame Strafen und unsägliche Leiden die dorthin verbannten Seelen erwarteten. Auch und gerade solche Menschen, die sich der sogenannten schwarzen Magie ergaben, landeten in diesem Reich, behaupteten die Kirchenfürsten. Anthelia hatte nie an diese ewige Verdammnis geglaubt. Sonst wäre sie nie das geworden, was sie nun war, ja hätte wohl kaum Dairons Hinterlassenschaften an sich genommen, die durch die gewaltsame Tötung von Feinden und unschuldigen Opfern entstehen konnten. Mit einem zynischen Lächeln dachte sie an Riddle. Der hatte ganz sicher auch nie an diese ominöse Hölle nach dem Tod geglaubt, sondern nur an die Macht über Leben und Tod. Wenn es gegen ihrer Beider Verständnis doch eine solche Hölle gab, würde sie diesen irrsinnigen Schlagetot dort wohl wiedersehen, sofern dort keine Geschlechtertrennung herrschte, um womöglich noch das letzte Vergnügen, die Beziehung zwischen den Geschlechtern, zu unterbinden. Doch was sie nun mit sicherheit wußte war, daß die Qualen der Hölle ihr in den nächsten Tagen, Wochen oder Monaten bevorstanden. Einen Vorgeschmack hatte sie ja erhalten, als sie Volakin und seine verseuchte Brut ausgerottet und dabei ohne es zu wollen dieses Lager mit verseuchter Asche zum Einsturz gebracht hatte. Es gab für sie nur noch zwei Möglichkeiten, dieser selbst heraufbeschworenen Höllenpein zu entgehen. Sie mußte entweder die Behandlung gegen diese Strahlenseuche über sich ergehen lassen oder freiwillig den Weg gehen, den Daianira ihr durch das Duell mit ihr ungewollt aufgenötigt hatte, nur diesmal konsequent bis zum Ende, welches dann ein neuer Anfang sein würde.

"Wenn ich nicht in den Besitz der notwendigen Mixturen und Verfahren gelange, wem kann ich mich anvertrauen?" Diese Frage klang nun in Anthelias Bewußtsein auf. Sie überdachte, welche Vorbereitungen dafür getroffen werden mußten. Iterapartio, wie Tracy Summerhill ihn an ihrem Neffen Lucas Wishbone erfolgreich ausgeführt hatte, kam für sie nicht in Frage, da hier gegenseitiges Vertrauen und Hingabe erforderlich waren. Blieb also nur die Methode, mit der sie fast Thalia Hemlock geheißen hätte. Sie mußte in einen magisch nach außen abgeschotteten Kreis und dort gegen einen von einer anderen aufgebauten schwarzen Spiegel den Infanticorpore-Fluch schleudern und hoffen, daß dieser fünfmal so stark auf sie zurückfiel. Dadurch würde die andere, weil ihre in magische Energie aufgelöste Hülle nicht aus der Begrenzung entweichen konnte, ihre neue Mutter werden, aber dabei um die körperlich erreichten Jahre verjüngt. Damit würde sich anthelia zwar auch auf Gedeih und Verderb ausliefern. Doch ihr wäre es lieber, wenn eine ihr getreue Schwester sie dann als ihre Tochter ans Licht der Welt zurückbringen durfte. Sie hatte einige Bundesschwestern, die unbedingt zu ihr standen. Andere standen nur zu ihr, weil sie sich von den anderen Institutionen der Zaubererwelt verlassen oder gar verraten fühlten. Andere hatten sich ihr nur angeschlossen, weil sie endlich die Muggelwelt in die notwendigen Schranken verweisen wollten. Sie hatte jedoch auch gelernt, daß ihr nicht so viele auch nur eine Träne nachgeweint hatten, als es erst hieß, sie habe das Duell verloren und sei dabei für immer aus der Welt verschwunden. Noch immer dachte sie an Wanda Stabbins und die anderen australischen Mitschwestern, die gemeint hatten, sich von ihr lossagen zu können. Sie dachte an Marga Eisenhut, die bedenkenlos mit Daianira kooperiert hatte, als es so aussah, daß sie, Anthelia, ihre Macht eh nicht mehr wiedergewinnen konnte. Die einzigen, die ihr unverbrüchlich treu geblieben waren, waren die Muggelstämmige Tyche Lennox und Patricia Straton, von der sie jedoch wußte, daß sie nicht mehr in jedem Punkt Anthelias Meinung war. Ja, auch Donata Archstone hatte sich nie von ihr losgesagt und war im Moment als Führerin der entschlossenen Schwestern nordamerikas und wiedereingesetzte Strafverfolgungsleiterin eine ideale Helferin. Anthelia dachte an die Auswahlmöglichkeiten. Donata würde zwangsläufig um knapp fünfunddreißig Jahre verjüngt und damit knapp zwanzig Jahre alt. Das müßte sie allen irgendwie begründen, wie auch die dann bald nicht mehr zu verbergenden anderen Umstände. Tyche und Patricia waren einfach zu jung für diese Art von aufopfernder Hilfeleistung, zumal Patricia als Trägerin des Sonnenmedaillons der Inkas womöglich Probleme mit Anthelias Wiederempfängnis bekommen hätte, weil das Sonnenmedaillon das Seelenmedaillon bekämpfte und damit auch alles, was mit diesem in Verbindung stand. Aber Patricia kam mit ihren gerade vierundzwanzig Jahren eh nicht in Frage. Blieben nur Hexen wie Marga Eisenhut, die bereits über vierzig Jahre zählte und durch den überstarken Infanticorpore wohl zum halbwüchsigen Mädchen würde. Louisette Richelieu war ebenfalls zu jung. Als gerade sechsjährige zur Mutter zu werden konnte sich Anthelia bei ihr auch nicht vorstellen. Vera Barkow war gerade fünfzig Jahre alt. Sie würde eine passable junge Mutter abgeben. Doch Anthelia traute der russischen Mitschwester nicht so recht über den Weg. Die würde ihre neue Rangstellung ausnutzen und sich die dann als ihre Tochter zurückkehrende ebenso unterwerfen wie Daianira es getan hätte. Izanami Kanisaga, die ihr zu diesem nun todgeweihten Körper verholfen hatte, hatte in ihrer Heimat einen zu öffentlichen Beruf und hätte Schwierigkeiten, ihre frühere Anführerin heimlich zurück auf die Welt zu bringen. Antehlia verwünschte diesen Tom Riddle einmal mehr, daß er Pandora Straton getötet hatte. Ihr hätte sie sich sofort nach der Rückkehr aus Rußland anvertraut und sich als Patricias jüngere Schwester neu großziehen lassen. Denn Pandora hatte ihr, Anthelia, über mehrere Jahre treu gedient und ihr überhaupt zu einem neuen, körperlichen Leben verholfen. Doch sie lebte nun einmal nicht mehr. Sollte ihr Tod einen Wert haben, dann nur, wenn Anthelia es schaffte, in irgendeiner Form ihr jetziges Leben zu erhalten oder zumindest nicht Jahrhunderte warten zu müssen, bis wieder eine kam, die bereit war, ihr vorerst ihren Körper zu borgen, bis ein passender Wirtskörper bereit war, Anthelias Seele aufzunehmen und ihr als neue Hülle zu dienen. Ja, wegen Pandora Straton und allen, die ihretwegen schon gestorben waren mußte sie ihr Leben erhalten.

Wieder mußte sie an Itoluhilas Angebot denken. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken daran, auf welche Weise dieses Geschöpf sie am Leben halten würde und daß sie dieser Kreatur noch dazu helfen müsse, nicht ausgelöscht zu werden, wie es ihrer gierigen Schwester Hallitti widerfahren war. nein! Sie würde sich nicht dazu erniedrigen, geraubte Lebenskraft aus Itoluhilas Schoß eingeflößt zu bekommen. Diese Kreaturen gehörten genauso ausgelöscht wie dieser blaue Vampirfürst Volakin und Nyx. Als sie an die Vampirin dachte, die den Mitternachtsdiamanten aus ferner Vergangenheit an sich gebracht hatte, überkam sie eine neuerliche Wut. Dieses blutsaugende Weib mochte vielleicht wieder frei sein, weil Volakin tot und vernichtet war. Doch wenn sie, Anthelia, nicht mehr lange leben würde, um sie daran zu hindern, ein Reich der Vampire auf Erden zu gründen, mochte dieses Geschöpf noch triumphieren. Was hatte sie durch Daianiras Bauchdecke und Fruchtwasser mitbekommen? Nyx hatte etwas erbeutet, das Vampire vor den für sie zerstörerischen Sonnenstrahlen schützte. Damit konnten ihre Abkömmlinge und unterworfenen auch bei Tage ihr Unwesen treiben wie der blaue Vampir Volakin. Das mußte sie eindämmen, Nyx erledigen und den Mitternachtsdiamanten am besten für andere Vampire unerreichbar machen. Doch das konnte sie nicht, wenn die unsichtbare Strahlung ihren grausamen Tribut verlangte.

Ihr kam noch ein dritter Weg in den Sinn. Wenn sie ihren Körper nicht behalten konnte, so mußte sie zumindest dafür sorgen, daß ihr Seelenmedaillon an eine ihr treue Mitschwester ging und sie, Anthelia, vor dem endgültigen Siechtum ihr inneres Selbst aus Bartemius' Crouches Hülle lösen. Kehrte sie in das Medaillon zurück vermochte sie, damit auch Einfluß auf den oder diejenige zu gewinnen, der oder die es sich umhängte. Dabei fiel ihr ein Name ein: Dido Pane. Warum nicht den Körper jener jungen Hexe als vorübergehende Ausführungshilfe nutzen, die sie damals überhaupt erschaffen hatte, als sie den sich Riddle anbiedernden Lohangio Nitts erledigt hatte. Doch keine halbe Minute nach dieser erst so rettenden Idee erkannte sie, daß es keine gute Idee war. Denn Dido Pane würde als junges Mädchen wohl kaum den Anfeindungen gegenübertreten können, die Anthelias Gruppe zu erdulden hatte. Abgesehen davon, daß jeder, der ihr das Medaillon wegzunehmen schaffte, Anthelias Plan ruinierte, sofern es der dann darin weiterbestehenden nicht unverzüglich gelang, die Rückgabe an Dido Pane zu erzwingen. Das noch junge Mädchen war also auch nicht gerade geeignet, Anthelias Interessenverwalterin zu werden. So würde nur Tyche Lennox bleiben, von der die entschlossenen jedoch wußten, wem sie diente. Nun, eigenständig zu handeln war und blieb immer noch das wesentliche Ziel, erkannte die Nichte Sardonias. Also mußte sie zwei Pläne umsetzen, eine Möglichkeit finden, die Behandlun gegen die Strahlen zu erreichen, ohne sich Heilern und Ministerialzauberern ausliefern zu müssen und eine würdige Hexe über fünfzig Jahren aus ihrer Schwesternschaft ausfindig machen, die ohne eigene Ambitionen bereit war, Anthelia als ihre Tochter wiederzugebären, falls Plan A nicht zum Erfolg führte. "Eine Interessante Benennung", dachte Anthelia. "Plan A wie Auskurieren, Plan B wie Brutmutter."

Anthelia machte sich noch Träumguttee, um die Nacht ohne Angstträume zu überstehen. Denn um diese beiden Pläne auszuarbeiten und auf den Weg zu bringen wollte sie ausgeschlafen und erholt sein. Während sie den Tee zubereitete klopfte eine Eule an das Fenster der ohne Elektrosachen bestückten Küche. Anthelia öffnete dem Postvogel. Es war ein Brief von ihrer australischen Bundesschwester Kathleen Thornhill, die im engeren Kreis der Nimoe Fungrove wertvolle Kundschafterdienste leistete. Anthelia hatte mit ihr vereinbart, den Blutsiegelzauber zu benutzen, um Nachrichten nur für sie lesbar zu machen. So ignorierte sie den belanglosen Brief an Dido Pane, der im Stil eines jungen Mädchens verfaßt war und drehte das Pergament auf die Rückseite, wo sie einige Blutstropfen aus ihrem linken Zeigefinger auftrug. Daraufhin errötete das Pergament für einige Sekunden, bis es wieder seine übliche blaßgelbe Färbung annahm. Doch wo vorher unbeschriebenes Pergament gewesen war, konnte Anthelia nun in blutroter Schrift lesen:

Sehr geehrte höchste Schwester,

Ihr habt ja nach eurer schmerzlosen Wiedergeburt erfahren müssen, daß wir in Australien gerade mit einer Kreatur zu tun haben, über deren Herkunft wir nichts genaues wissen, außer, daß sie wohl aus der Gegend des Eyers Rock, den die Aborigines Uluru nennen, freigekommen sein muß. Es handelt sich dabei um ein Wesen, das früher wohl mal eine Hexe wie du und ich gewesen sein mag, aber durch etwas, was uns nicht recht bekannt ist, zu einer inversen Animaga in der Gestalt einer menschengroßen schwarzen Spinne wurde. Nachforschungen ergaben, daß sich die Ureinwohner schon seit Jahrtausenden erzählt haben, daß in ihrem heiligen Berg das Erbe eines mächtigen Gottes oder Königs der Lüfte aufbewahrt worden sei, das durch vor der Höhle wachenden Windgeistern, einem wirksamen Sperrzauber und einer gefährlichen Wächterin vor dem Zugriff unwürdiger Leute geschützt sei. Das mit den Windgeistern stimmte wohl, wie Erfahrungen mit tückischen Windböen auf einer Seite des Felsenberges hinlänglich belegen. Es mögen sogenannte Aeromorphe sein, niedere Helfer aus magisch belebter Luft. Nun, die kennst du sicher besser als Lady Nimoe oder ich. Aber wenn diese Windgeister wirklich vor einer Höhle wachen, die kein Mensch erreichen konnte, ohne sein Leben zu verlieren, dann muß das auch mit der Wächterin stimmen. Sie wurde in den Geschichten der Stammeszauberer als gefräßige Spinne bezeichnet, die früher selbst die Schwester des Windgottes oder Königs gewesen sein soll, nachdem dort selbst Eidechsenmenschen gegen Vogelmenschen um den Berg gekämpft haben. Jetzt meinen wir alle zu wissen, daß es keine echten Götter gibt und auch keine absolute Unsterblichkeit. Außer dem Emporkömmling und dir wüßte ich jetzt auch niemanden, der es geschafft hätte, einen Tod zu überdauern und wiederverkörpert zurückzukehren. Aber drei Dinge lassen Lady Nimoe und uns andere daran denken, daß diese Legenden wahr sind. Zum einen gab es ja diese Schlangenkrieger in Europa, die durch diese Riesenvögel vernichtet wurden. Zum zweiten erwies sich die Behauptung der Abos, im Eyers Rock habe diese Wächterin gewohnt ja auch als wahr. Denn sie wurde ja seit kurz vor Weihnachten 97 immer wieder aufgespürt. Zum dritten ist diese Spinne im Stande, auch als anziehendes junges Mädchen aufzutreten, aber nur für kurze Zeit in dieser Erscheinungsform zu verbleiben, weshalb ich ja von einer Inversen Animaga gesprochen habe. Darüber hinaus ist dieses Wesen gegen alle gegen es angewandten Zauber gefeit, sobald es als menschengroße Spinne herumläuft. Selbst Avada Kedavra kann ihm nichts anhaben. Versuche, es mit dem Imperius-Fluch zu beeinflussen scheiterten daran, daß dieses Geschöpf eine anderen Menschen überragende Willenskraft besitzt. Cruciatus prallt von ihm ebenso ab wie Avada Kedavra. Die Hoffnung, sie in Frauengestalt leichter bezwingen zu können scheiterte immer daran, daß dieses Wesen sich immer dann in eine Spinne verwandelte, wenn es unmittelbar bedroht war. Genaueres wissen wir im Moment auch nicht. Wir können nur mutmaßen, daß dieses Geschöpf wahrhaftig unsterblich ist und wir nicht wissen, wie ihm beizukommen ist. Es treibt sich immer wieder im Buschland herum, wo es Wochenlang ungestört Wild frißt oder überfällt die weitläufigen Schaf- und Rinderfarmen, die die Größe kleinerer europäischer und amerikanischer Staaten erreichen können. Sie nutzt die dünne Besiedlung aus, um herumzulaufen. Das ist aber auch schon alles, was wir bisher wissen, da das Ministerium Rockridge sehr zurückhaltend mit Veröffentlichungen ist und wir bedauerlicherweise keine Schwester in den wichtigen Abteilungen und Rängen wissen, uns mit mehr Informationen zu versorgen.

Da wir davon ausgehen müssen, daß sich dieses Wesen auch noch irgendwelcher Zauber bedienen kann, weil es mal eben in Perth und dann wieder in der Nähe von Darwin aufkreuzt, sieht Lady Nimoe es als akute Bedrohung unserer Sicherheit an und verlangt deshalb von uns ständige Wachsamkeit. Zwei unserer Mitschwestern kamen bei dem Versuch um, dieses Wesen zu jagen. Lady Nimoe hat immer wieder erwähnt, daß du wohl wissen könntest, wie einem unverwüstlichen Wesen beizukommen ist, wo du diese Hallitti erledigt hast, die als eine der wenigen Unsterblichen Wesen überhaupt gilt. Doch ihr Stolz verbietet es ihr, dich zu fragen. Sie geht wohl davon aus, daß eine von uns mit dir in Verbindung steht. Doch du hast sicherlich genug mit anderen Dingen zu tun und solltest ihr nicht auch noch bestätigen, daß es jemanden gibt, die dir von unserer Situation erzählen kann.

Für den Fall, daß du doch Zeit und Interesse hast, dich um dieses ungewöhnliche Geschöpf zu kümmern, schicke mir bitte eine Antwort oder schlage einen Treffpunkt vor, an dem wir unbeobachtet darüber sprechen können!

In der großen Hoffnung, dich nicht mit für dich gerade unpassendem oder gar uninteressantem Zeug belästigt zu haben verbleibe ich

hochachtungsvoll

Kathleen Thornhill

"Eine unsterbliche, die aus dem alten Reich stammt", dachte Anthelia. "Eine Überlebende aus Atlantis. Die damaligen Magier hatten göttergleiche Macht und konnten Dinge bewirken, die wir wohl wieder vergessen haben oder erst langsam wiederentdecken." Anthelias Miene hellte sich auf. Warum war sie diesem Vorfall nicht schon früher nachgegangen? Wanda und die anderen hatten ihr doch erzählt, daß Nimoe sich mit einer Riesenspinne herumschlug, die quer über den fünften Kontinent herumstrolchte. Dem hätte sie, Anthelia, die selbst schon einiges außergewöhnliche erlebt und bewirkt hatte, schon längst auf den Grund gehen müssen. Eine unverzeihliche Unterlassungssünde, dachte sie. Andererseits hatte sie ja vor der diesjährigen Walpurgisnacht und danach wegen ihrer eigenen, außer Kontrolle geratenen Züchtung Valery Saunders und dann wegen Wishbones My-Trupplern und am Ende wegen dieses unsäglichen Blutsaugers Volakin keine rechte Zeit und Ruhe gehabt, der Riesenspinne auf die Beißscheren zu fühlen. Sie mußte grinsen, wenn sie dachte, daß es ausgerechnet eine schwarze Spinne sein sollte, die dort auf dem südlichen Kontinent ihr Unwesen trieb. Denn die schwarze Spinne in silbernem Netz war ja das Zeichen ihrer Schwesternschaft. Das geheimnisvolle, lauernde Tier, das über ein weitläufiges Netz von Getreuen und ahnungslosen Helfershelfern die ganze Welt umspannt hielt. Dann dachte sie wieder daran, daß diese angebliche Überlebende des alten Reiches vielleicht ihre Unsterblichkeit mit einem hohen Preis bezahlt hatte, nämlich nicht mehr als einige Tage oder Wochen in ihrer angeborenen Gestalt herumlaufen zu können. War sie ihren tierischen Trieben ausgeliefert, wenn sie eine Spinne war? Dann war sie wie ein Werwolf. Oder konnte sie ihre magisch-tierische Gestalt willentlich lenken wie und wohin sie wollte? Dann war sie mit den indischen Wertigern vergleichbar, die ja auch irgendwie Überbleibsel aus Atlantis sein mochten. Sie dachte an das, was Itoluhila ihr in ihrer überlegenen Pose offenbart hatte. Sie und ihre Schwestern seien nur deshalb unverwüstlich und wohl auch unsterblich, weil ihre Mutter Lahilliota etwas benutzt hatte, was sie aus einem "Auge der Ewigkeit" geschöpft hatte. Mochte es sein, daß die Bewohner von Atlantis dieses mächtige Artefakt schon kannten oder gar das Elixier benutzten? Elixier? Da fiel ihr gleich der Stein der Weisen ein, der angeblich wahrhaftig hergestellt worden war und ein Jahr lang in Hogwarts versteckt gewesen sein sollte. Der Traum der Alchemisten, nicht versiegenden Reichtum und ewiges Leben zu erlangen, ebenso wie der Traum vieler Anhänger der dunklen Künste, mochte er im alten Reich erfüllt worden sein? Dann mußte es jedoch vergessen worden sein, wie dieses Elixier hergestellt werden konnte. Fast vergessen, dachte anthelia und bekam einen höchst hoffnungsvollen Gesichtsausdruck. "Vielleicht war es keine Nebenwirkung, die diese Hexe zu erdulden hatte, sondern ein gewollter Effekt, den sie ausnutzen konnte, um gegen magische Angriffe gepanzert zu sein. Zumindest aber mochte diese Kreatur wissen, wie diese scheinbare Unsterblichkeit zu erlangen war. Unsterblichkeit hieß Schutz vor Giften und Krankheiten und womöglich auch gegen alle anderen Arten des Todes. Itoluhila nährte sich von der Lebenskraft anderer Menschen wie Menschen sich vom Fleisch niederer Tiere und von Pflanzen ernährten. Gab es vielleicht noch eine Alternative zum Lebensraub, die mächtiger war als die Zauber der Succubi? Das mußte sie unbedingt herausfinden. Womöglich gab es dann sogar einen vierten Ausweg aus der ihrer harrenden Hölle des Strahlentodes. So schrieb sie mit eigenem Blut zurück:

Verehrte Schwester Kathleen,

Zunächst die Beruhigung, daß du mich mit deiner schriftlichen Benachrichtigung weder gelangweilt noch belästigt hast. Im Gegenteil empfinde ich nach der Lektüre deiner Zeilen übergroßes Interesse, den Umtrieben dieser schwarzen Spinne, die auch mal als Frau und Hexe herumlaufen können soll, ganz und gar auf den Grund zu gehen. Zwar geht es mir nach einem wichtigen Kampf gegen einen uns alle bedrohenden Feind im Moment nicht so gut, daß ich großartige körperliche Anstrengungen auf mich nehmen kann. Doch ich brenne darauf, dieses Wesen zu erforschen, nach Möglichkeit lebendig zu überwältigen und falls es wirklich kein reines Tierwesen ist, über seine Abstammung und sein Dasein auszuforschen. Da ich natürlich davon ausgehen muß, daß das Zaubereiministerium deines Heimatlandes ebenso danach trachtet, näheres zu erfahren, ja womöglich schon mehr darüber weiß als wir und Lady Nimoe, bleibt mir nur die Reise zu euch, um wichtige Mitarbeiter des Ministeriums zu befragen.

Meine Erforschung der Abgrundstöchter erbrachte, daß deren Urmutter eine Methode benutzt hat, die zum Preis immer wieder geraubter Lebenskraft eine Unsterblichkeit ermöglicht, die nahezu absolut ist. Allerdings spielt hierbei ein Behältnis eine Rolle, von dessen genauer Existenz und Funktion mir bisher nichts näheres bekannt ist. Sollte es sich bei der Kreatur, die mal Spinne und mal Hexe sein kann wahrhaftig um eine Überlebende von Atlantis handeln, und zwar eine, die auf jenem Erdteil in grauer Vorzeit geboren wurde, so ist es für mich unbedingt wichtig, näheres über sie zu erfahren. Ich werde in den nächsten zwei Wochen noch mit etwas anderem zu tun haben, was meine Abreise verzögert. Aber ich schlage vor, daß wir uns am zwanzigsten September in der Sonnenstrahlstraße von Sydney, Australien treffen. Als Zeit schlage ich elf Uhr Abends gültige Ortszeit vor. Ich werde zusehen, daß uns niemand beim Treffen beobachtet. Besser ist es, wenn wir unverzüglich an einen dir genehmen Ort überwechseln, wenn der Kontakt hergestellt ist. Ich hoffe bis dahin die nötige Erholung erhalten und alle Auswirkungen meines letzten kampfes restlos abgeschüttelt zu haben. Falls nicht, so wird die Erforschung dieser Kreatur dringender sein als sowieso schon. Näheres dann, wenn wir zusammentreffen.

In dankbarkeit grüße ich dich

Anthelia vom Bitterwald

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Eine einsame weiße Wachskerze stand in einem kleinen Metallhalter. Dieser stand auf seinen vier Füßen in der Mitte eines dreibeinigen dunklen Holztisches. Im Schein der Kerze waren die vier hochlehnigen Stühle gerade so zu erkennen. Auf den Stühlen saßen vier Frauen, echte Hexen. Sie trugen dunkle Kapuzenumhänge und wirkten angespannt. Eine von ihnen, eine besonders hagere, hochgewachsene Erscheinung, blickte mit ihren dunkelblauen Augen genau in die weißgelbe Kerzenflamme. Alle lauschten in die sie umgebende Stille. Doch der karge Kellerraum im verlassenen Landhaus der Watersides blieb still. Außer ihnen vieren wußte keiner, nicht einmal die Führerin der entschlossenen Schwestern Nordamerikas, daß dieser Keller existierte. "Es wird bald Zeit, das uns aufgeladene Verhängnis wieder loszuwerden, Schwestern", sprach die Hagere mit einer leisen, unheilvollen Stimme.

"Wie meinst du das, Schwester Hyneria?" Fragte eine der anderen drei Hexen, eine kleine, untersetzte Gestalt mit langem Haar, das sie gerade so noch unter der Kapuze ihres Umhangs verschwinden lassen konnte.

"Du weißt genauso wie ihr anderen zwei auch, wie ich das meine", fauchte die Hagere verdrossen. "Es wird Zeit, daß wir eine neue Anführerin kriegen. Donata ist nur Ausführerin, eine Marionette der Wiederkehrerin, die es nicht für nötig hielt, sich als Tochter Daianiras wiedergebären zu lassen. Wir müssen Donata loswerden, bevor sie von Anthelia noch mehr erfährt, um deren Nachfolge antreten zu können."

"Wieso nachfolge?" Fragte die zweite Hexe, eine kleine, zierliche Person mit dunkelblauer Brille auf der Nase.

"Habt ihr denn nicht mitbekommen, was passiert ist?" Knurrte die hagere Hexe. "Dieser blaue Blutsauger Volakin, der durch eine magielose Todesstrahlung verdorben wurde, ist von einer Hexe in bleierner Rüstung in einer dunklen Flutwelle niedergeworfen und damit vernichtet worden. Dabei muß sie einen großteil der noch in diesem Mutanten verborgenen Strahlung abbekommen haben, zumal der Kampf auf dem Dach eines unterirdischen Lagers voller diese Strahlung verströmende Asche stattfand. Da es garantiert keine von uns war, die dort war, kann es nur die Wiederkehrerin gewesen sein. Ihr traue ich zu, alle vier düsteren Elementarflüche zu beherrschen, den Düsterwind, das Dämonsfeuer, die Schlingflut und den Giergrund. sicher, Daianira beherrscht Dämonsfeuer und Düsterwind auch, wie wir wohl noch von der leidigen Sache vor fünfzehn Jahren wissen, wo die Schwarzbergs meinten, uns mit einem Drachengolem heimsuchen zu können. Aber Anthelia hat sich das Erbe ihrer finsteren Tante gesichert. Sie hat deren alte Zauber erlernt. Wollen wir warten, bis sie sich zu schwach fühlt, um ihren Weg alleine voranzutreiben und Donata alles beigebracht hat, auch wie Monster wie diese Valery Saunders gemacht werden? Nein, Schwestern. Wir müssen bald die Laus aus unserem Pelz schütteln, die uns die um ihre aus der Welt verschwundene Cousine trauernde Leda Greensporn und eine von ihr angestachelte Mehrheit uns eingebrockt haben", erwiderte die hagere Hexe mit aller Entschiedenheit.

"Ja, aber diese anderen Hexen denken, daß Donata uns Anthelia vom Hals hält, solange wir nichts mehr machen, was ihr in die Quere kommt. Offenbar hatte Daianira mit den anderen Stuhlmeisterinnen der entschlossenen Schwesternschaft ein Abkommen getroffen, an das sich Daianira nicht mehr gebunden fühlte, als die Entomanthropen aufgetaucht sind", bemerkte die erste Hexe dazu. "Wenn du Donata jetzt herausforderst und womöglich im Duell besiegst, könnte Anthelia finden, uns alle aus Rachsucht umzubringen. Oder denkst du ernsthaft, daß sie sich an die Regeln unserer Schwesternschaft gebunden fühlt?"

"Eben dies muß ich wohl ausschließen", knurrte Hyneria. "Aber wir dürfen nicht zulassen, daß Donata womöglich ihre Nachfolgerin wird und uns auf Anthelias Weg weiterführt. Morgaine hat es ja schon versucht, Sardonias alte Ziele umzusetzen. Es war gut, daß Daianira sie damals aufgehalten hat. Wenn wir Donata weitermachen lassen war das alles wertlos. Aber ich verstehe eure Sorgen, Schwestern. Natürlich muß ich davon ausgehen, daß Anthelia sich sofort an uns allen rächen wird, wenn wir ihre Schoßhündin numbringen, und sei es im ordentlichen Machtergreifungsduell. Darum werde ich Donata erst in drei Wochen herausfordern, wenn wir wissen, woran wir bei Anthelia sind."

"Was macht dich so sicher, daß Anthelia durch den Kampf gegen Volakin geschwächt wurde und vielleicht ihre Macht und damit auch ihr Leben verliert?" Fragte nun die dritte Hexe.

"Ihr wißt, daß meine Nichte Heilerin ist. Sie erfuhr alles über die Gefahr dieser magielosen Strahlung, die von den Muggeln Radioaktivität genannt wird und von diesen in besonderen Brennöfen erzeugt wird, aus denen sie ihren Elektrostrom in großen Mengen gewinnen können, weil sie die in der Materie selbst verborgenen Kräfte der Elemente herausbrechen. Wer ohne Behandlung gegen diese Strahlung bleibt erleidet einen sehr schweren, ja höllischen Tod. Hierbei gilt, je höher die hingenommene Strahlungsmenge, desto kürzer die verbleibende Lebenszeit. Wenn Anthelia nicht gegen dieses Phänomen gefeit ist und wahrlich eine übermäßige Menge davon abbekommen hat, so wird ihr neuer Wirtskörper nicht mehr lange leben. Sie wird handeln, um ihr Leben zu bewahren oder zumindest zu erleichtern, bis sie eine würdige Nachfolgerin bestimmt und eingewiesen hat", erwähnte Hyneria. "Wir dürfen davon ausgehen, daß es Donata sein wird, da sie als ranghohe Ministeriumsmitarbeiterin sehr viel wert ist. Nicht nur wir haben sie als Laus im Pelz, sondern auch der ehrenwerte Mr. Cartridge, der meint, sein Versagen gegen Nyx sei bereits von allen vergessen worden, daß er der Wiederwahl im Dezember gelassen entgegensehen kann."

"Hättest du gegen Nyx eine Chance gehabt, Schwester?" Fragte die erste der drei anderen Hexen sehr herausfordernd. Hyneria verzog ihr Gesicht und atmete tief ein und aus.

"Wenn du mich so frech fragst, Schwester Winnifred, so muß ich wohl zugeben, daß ich gegen dieses Ungetüm wohl im Moment kein Mittel kenne, um es in Zaum zu halten oder vom Erdboden verschwinden zu lassen. Doch ein Zaubereiminister hätte mehr Macht als ich in die Waagschale werfen können, um diese Blutsaugerin aus der Welt zu stoßen. Aber darum geht es im Moment nicht. Wir müssen uns Anthelias Einfluß entwinden und alle ihre heimlichen Gefolgsleute aus unserer Schwesternschaft verbannen."

"So möchtest du erst wissen, ob Anthelia dieser Strahlung zum Opfer gefallen ist und dann Donata herausfordern?" Fragte die zweite Hexe.

"Du hast mich verstanden, Schwester Etna. Wenn wir wissen, ob Anthelia kurz vor dem Tod steht können wir uns vor ihrer Rache sicher wähnen und müssen zudem dafür sorgen, daß Donata keine zusätzlichen Kenntnisse erhält, die sie noch mächtiger machen. Ich hoffe darauf, daß Anthelia ihr erst das Erbe ihrer Tante überläßt, wenn sie selbst zu schwach ist oder bereits im Sterben liegt. Darin besteht unsere einzige Chance, uns von ihrem Einfluß freizumachen. Da ich nach Daianira die mächtigste der Entschlossenen bin, muß ich es wagen, Donata herauszufordern, weil die Wahrscheinlichkeit, daß ich das Duell gewinnen kann, größer ist als bei euch, Winnifred, Etna und Lavinia."

"Wahrscheinlichkeit, Schwester Hyneria. Das heißt, es gibt auch eine Gegenwahrscheinlichkeit, daß Donata dich im Duell besiegt. Was ist dann?" Wollte die dritte Hexe wissen, die Lavinia genannt wurde.

"Das wird nur geschehen, wenn Donata bereits die legitime Nachfolgerin Anthelias ist", knurrte Hyneria. Und das wird die erst sein, wenn Anthelia stirbt."

"Wissen wir denn, wann sie stirbt oder ob sie überhaupt schwerkrank ist?" Wollte die erste Hexe, Winnifred, von ihrer heimlichen Anführerin wissen. Hyneria erkannte, daß sie keine willenlos ihr nachlaufenden Hexen um sich geschart hatte. So sagte sie mit einer gewissen Mißgestimmtheit im Tonfall: "Wenn du meinst, daß niemand ihre Leiche zu sehen bekommt stimme ich dir zu, Winnifred. Aber wir dürfen davon ausgehen, daß ihre Anhängerinnen sichtlich verstört sein dürften, wenn sie nicht wissen, an wen sie sich halten können. - Ich muß es einfach riskieren, wenn wir alle eine Chance haben wollen, uns vom Gängelband dieser Wiederkehrerin zu lösen, die es irgendwie geschafft hat, sich aus Daianiras Schoß herauszulösen und gleich darauf als Erwachsene dort weitermachen zu können, wo das Duell sie unterbrochen hat."

"Gut, Schwester Hyneria. Dann fordere Donata heraus", sagte die zweite Hexe, die Etna mit Vornamen hieß.

"Und ihr werdet da sein, wenn ich zum Duell antrete?" Fragte Hyneria.

"Natürlich. Wenn ein Duell angesetzt ist müssen doch alle entschlossenen Schwestern kommen um zu sehen, wer es gewinnt", bekräftigte Lavinia. Die beiden anderen nickten. Hyneria atmete auf. Dann bestätigte sie, daß sie Donata in drei Wochen die offizielle Herausforderung zukommen lassen wollte, falls sich erwies, das Anthelia der Strahlung nicht gewachsen sei und bald sterben müsse.

"Anthelia hat gute Freundinnen außerhalb der Schwesternschaft", wußte Etna noch einzuwerfen. "Was wird mit denen, falls du gewinnst und Anthelia stirbt?"

"Das soll nicht unser Problem sein, Schwester Etna. Wenn du auf dieses junge Ding Tyche Lennox anspielst, so hat Daianira sie einmal gefunden. Sie war nur ein wenig stur um Daianiras Angebot anzunehmen. Sollte ich gewinnen werde ich dieses junge Ding erneut einbestellen und ultimativ fragen. Will sie dann immer noch keine von uns werden, kann ich sie unwiederbringlich verschwinden lassen, ohne den Zorn der restlichen Schwesternschaft, diese zögerlichen also eingeschlossen, auf mich zu ziehen. Das haben wir doch erlebt, wie schnell Anthelias sogenanntes Spinnennetz zerrissen werden kann, wenn die große, gefürchtete Führerin nicht mehr darin hocken kann. So wird es auch wieder sein, wenn sie ihr zweites, von jemand anderem gestohlenes Leben endgültig verliert", gab Hyneria mit einer an Überheblichkeit grenzenden Selbstsicherheit zu bedenken. Ein zustimmendes Nicken war die Antwort der drei anderen.

"Dann warten wir bis zum dreiundzwanzigsten September, bis du die Herausforderung übermittelst", meinte Lavinia. Hyneria nickte bestätigend. "Sollte sie bis dahin nicht allen bewiesen haben, daß sie immer noch ihre alte Stärke behalten hat, werde ich Donata herausfordern. Sollte es sich jedoch zeigen, daß Anthelia auch dieser fremdartigen Strahlung widerstehen kann, so ist es keine Feigheit, uns noch zurückzuhalten und darauf zu hoffen, daß Donata einen entscheidenden Fehler macht." Die anderen nickten. Damit war es beschlossen, daß Donata Archstone womöglich bald zu einem Entscheidungskampf anzutreten hatte, der auf Leben und Tod geführt wurde. Denn die Besiegte mußte sterben, um der Siegerin alle Macht zufließen zu lassen. Es sei denn, die bisherige Führerin starb außerhalb der Versammlungshöhle, wie es Daianira ereilt hatte, als sie hinter der Entomanthropenkönigin hergejagt hatte. Hyneria dachte nur daran, wie merkwürdig es war, daß wenige tage danach Leda Greensporn an die Öffentlichkeit gegangen und ihre Schwangerschaft von einem unerwähnten Muggel verkündet hatte. Ebenso merkwürdig war, daß Anthelia kurze Zeit später diese Entomanthropenkönigin vernichtet hatte, eine erwachsene Anthelia. Wäre Daianira wie weithin verbreitet auf der Jagd nach diesem Ungeheuer gestorben, so hätte sie die damals noch in ihrem Leib steckende Anthelia mit in den Tod reißen müssen. So konnte es nur so gelaufen sein, daß irgendwas oder irgendwer die Rollen von Mutter und Kind vertauscht hatte und Anthelia vor ihrem Kampf gegen ihre eigene Schöpfung die zur Ungeborenen gewordene Daianira in den Bauch ihrer Cousine Leda übertragen hatte. Heilerinnen konnten das machen, ungeborene Kinder anderer Hexen in sich aufnehmen, wußte Hyneria. Doch außer ihr war bisher niemand in der Schwesternschaft darauf gekommen, daß die achso unverhofft geborene Lysithea Greensporn in Wirklichkeit die angeblich verstorbene Daianira Hemlock war. Dies galt es ebenfalls zu bedenken, wenn sie, Hyneria Swordgrinder, Tochter der Megara Swordgrinder, das Duell gegen Donata gewonnen haben würde.

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Dieser Ureinwohner hatte sicher seine Leute über Gedankenbotschaften gewarnt, daß sie, die große, schwarze Spinne, freigekommen war. Denn einige von denen versuchten, sie mit Fernrufen und weit fliegenden Verwünschungen zu berühren und zu fesseln. Naaneavargia versuchte, ob sie als Frau besser zurechtkam. Dabei fiel ihr auf, daß sie noch keinen eigenen Kraftausrichter besaß. Denn damit war es ihr möglich, den zeitlosen Weg zu gehen und diesen Erdteil zu verlassen, falls man sie hier nicht in Ruhe ließ. Da sie immer wieder auf die geistige Ausstrahlung ihres weit über ihr im Himmel treibenden Bruders lauschte, ohne Gedanken von ihm zu verstehen, wußte sie, daß sie den Jüngling, der ihr unbeabsichtigt die lange ersehnte Freiheit wiedergegeben hatte, so nicht erreichen konnte. Womöglich hatte der Knabe sich nach der Flucht aus der roten Festung dazu verlocken lassen, als flügelloser König dieser Ailanorar hörigen Flügelwesen umsorgen zu lassen. Hatte er seine ebenfalls noch junge und wohl schon sehr heißblütige Gefährtin nachgeholt? Falls nicht, könnte sie vielleicht versuchen, über diese an ihn heranzukommen, ihn zu bewegen, mit ihrem Bruder aus dem Himmel herabzusteigen und sie dann als seine vorübergehende Gefährtin anzunehmen. Dann dachte sie daran, daß sie sich nicht zu sehr auf ihn festlegen sollte. Sicher, er hatte sie schön ausgetrickst und ihren Bruder davongetragen. Doch anders als Ailanorar es geplant hatte war sie danach nicht in einen ewig währenden Schlaf gefallen, sondern aus der roten Festung entkommen. Sie war frei. Sie konnte gehen, wohin sie wollte, sein und tun was sie wollte. Wenn der Jüngling mit seinem Übelwender auch nicht vorhatte, sie freizubekommen, so änderte es nichts daran, daß sie ihm die neue Freiheit zu verdanken hatte. Sicher würde sie ihm als Frau jeden Wunsch erfüllen, den ein Mann nur haben konnte. Doch sie wußte, wenn sie ihre Spinnengelüste zurückdrängen konnte auch, daß sie ihn nicht lange würde halten können. Die erste gefühlsmäßige Wallung, die nichts mit ihrer Lust auf Leibesnähe zu tun hatte, würde sie wieder zur Spinne werden lassen. Dann würde er ihr entweder entfliehen oder von ihr gefressen. So oder so konnte sie ihre Dankbarkeit nicht wirklich äußern.

Es mochten schon einige Tage vergangen sein, als Naaneavargia auf die ersten Nutzer der Kraft traf, die diese über aus Holz und Tierfasern bestehenden Kraftausrichtern sofort und zielgenau ausüben konnten. Diese mit einer ungesund wirkenden hellrosa Haut umhüllten Männer und Frauen jagten sie, wenn sie eine Spinne war. Zwar konnten sie ihr keinen schnellen Tod bringen, obwohl sie es mit neueren Worten des Todes versuchten. Doch sie hatten es bald heraus, ihr die Annäherung an Siedlungen unbegüteter Menschen zu verleiden, wenn sie zu früh erkannt wurde. Wie wollte sie denn so weiterleben, wenn ihr diese Leute, die ihre Kraft Zauberei und Magie nannten sie andauernd belästigten? Ihr kam jedoch zu gute, daß der Inselerdteil mit dem glutheißen Herzen so dünn besiedelt war und Zonen üppigen Tier- und Pflanzenreiches bot, daß sie sich immer wieder verstecken und von wilden oder zum Fleisch- und Milchertrag gezüchteten Tieren essen konnte.

So begann für Naaneavargia ein über Mondwechsel dauerndes Katz-und-Maus-Spiel. Einmal schaffte sie es dabei, eine Trägerin der Kraft zu überwältigen, ohne sie gleich zu töten. Es gelang ihr, sich in ihre angeborene Gestalt zurückzuverwandeln und ihr den Kraftausrichter abzunehmen. Damit schaffte sie es, den zeitlosen Weg zu gehen und mehrere hundert Tausendschritt von ihrem gegenwärtigen Standort aus aufzutauchen. Hier machte sie sich mit der Kraft der Verwandlung ein Gewand, wie es die überwältigte Begüterte getragen hatte und verblieb mehr als drei Tage lang als Frau. Sie schaffte es sogar, einen jungen Mann davon zu begeistern, mit ihr die körperliche Vereinigung zu suchen und erfuhr auf Grund ihrer Fähigkeit, Gedanken zu erfassen und zu verstehen, in welcher Zeit sie gelandet war. Sie nannten die Sonnenwechsel nun Jahre und zählten bereits das eintausendneunhundertsiebenundneunzigste nach der Geburt eines Glaubensstifters namens Jesus Crhistus. Von der erhabenen Kraft, die die modernen Menschen Magie nannten wußte der junge Bursche nichts und glaubte auch nicht daran, daß es sowas wirklich mal gegeben haben mochte oder immer noch gab. Immerhin waren die modernen Männer trotz ihrer ungesund hellen Haut noch brauchbare Liebhaber, wenn man sie richtig anleitete. Als Naaneavargia jedoch merkte, daß sie den Jungen trotz der Kraft der Fügsamkeit und ihrer Reize nicht mehr lange würde halten können, weil der Drang, ihrer Spinnengestalt Platzzumachen immer größer wurde, schaffte sie es gerade so noch, Jim, ihrem Privatunterhalter, einen Gedächtniszauber aufzuerlegen, daß er die Begegnung mit der schönen, goldhäutigen Fremden mit den grünen Augen und den schwarzen Haaren nur geträumt hatte. Dann schaffte sie es noch, den Kurzen Weg in ein dichtes Urwaldgebiet zu beschreiten, bevor der Tribut der Tränen der Ewigkeit fällig wurde, und ihre innere Tiergestalt nach außen drängte. Dabei mußte sie feststellen, daß ihre Kleidung und erbeuteten Habseligkeiten nicht mitverwandelt wurden, sondern am Ort zurückblieben. Doch sie konnte wiederkommen und sich zumindest den Holzstab holen, der als Nachfolge der pyramidenartigen Kraftausrichter sehr gut geeignet war.

Sie blieb einige Tage in der Spinnengestalt, bis sie von tastenden Strömen der Kraft erfaßt und immer mehr bedrängt wurde. diese Geisteranbeter hatten sie doch wahrlich hier aufgestöbert und wagten es, ihre Verwünschungen und Lähmsprüche auf sie zu schleudern. Sie würde bald einen von diesen kleinen schwarzen Kerlen fangen und dann mal herausfinden, was die in dieser Zeit alles konnten.

Tatsächlich trieben ihr einen Tag später durchsichtige Nachleben dieser Ureinwohner entgegen. Das Vorkommen von mit der Kraft begüterter Menschen, die ihr körperliches Dasein als unstoffliche Wesen überdauerten war auch schon im erhabenen Reich bekannt gewesen. Und sie hatte von diesem Rückständigen Yati Wullayata erfahren, wie mächtig diese Geisteranbeter werden konnten, wenn man sie ließ.

"Untier aus der Finsternis. Vergehe!" Riefen ihr die nichtfleischlichen Geschöpfe entgegen. Sie fühlte, wie etwas gegen sie anbrandete, als die fünf Nachleben sie einkreisten und sich an den durchsichtigen Händen hielten. Kälte umwehte sie, je schneller die fünf Nachtoten um sie herumschwirrten und dabei ihre Verwünschung riefen und sangen. Die Unersättliche war sich ganz sicher, daß dieser urwüchsige Tanz genug übernatürliche Kraft entfesselte, um einen gewöhnlichen Menschen zu töten. Doch die Tränen der Ewigkeit trotzten dieser altbackenen Singerei. Ihr Spinnenleib prellte die unsichtbaren Stöße und Schläge locker zurück. Naaneavargia dachte sogar eigene Abwehrformeln, die sie auch ohne Kraftausrichter benutzen konnte. Damit schuf sie aus sich heraus eine nichtstoffliche Kugel, die flimmernd um sie herum immer größer wurde. Es war die Macht des Seelenwalls, der sie vom Zugriff aus ihren Leibern entfahrener Seelen oder solcher Nachtodgeschöpfe bewahrte. Knisternd berührte die magische Blase die fünf sie umtanzenden Beschwörer und wirkte auf diese verheerend. Sie wurden von der unsichtbaren Macht davongeschleudert, wobei sie grell aufleuchteten und schrill schrien. Naaneavargia konnte sehen, wie es einem der sie umringenden nicht mehr gelang, seinen fleisch- und knochenlosen Leib zusammenzuhalten. Unter wilden Blitzen zersprühte seine Erscheinung. Womöglich würde sein inneres Selbst nun ungelenkt irgendwo hintreiben, vielleicht in die Nachwelt, in die die meisten sterbenden übergingen, vielleicht aber auch vollständig vernichtet werden und die Kraft seines Daseins an die Welt zurückgeben. Sie hörte noch einen Ruf, dem ein gewaltiger Schlag auf ihren Körper folgte. Doch auch dieser Angriff blieb erfolglos. Die vier knapp an der völligen Zerstörung entlangfliegenden Wesen schwirrten in den Urwald zurück. Die unsichtbare Gewalt, die sie ausgeübt hatten verebbte. Naaneavargia fühlte, wie ihre Schutzblase zersprühte und sie am Rande der Ohnmacht nur noch ihren niederen Trieben folgen konnte, die sie auf ihr tierisches Dasein herabstuften. Erst einen Viertelmond später gelang es ihr, ihre tierische Natur zurückzudrängen und dabei wieder Menschengestalt anzunehmen. Das sie dabei körperlich unberührt aussah kannte sie schon. Männer die meinten, ihr deshalb was beibringen oder eine neue Spielart des Lebens zeigen zu können hatten schon lernen dürfen, wer hier wirklich die größere Erfahrung hatte.

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Donata Archstone war mit ihrer neuen Rolle nicht so zufrieden, wie man eigentlich hätte vermuten dürfen. Sicher, sie stand den entschlossenen Schwestern vor und leitete ganz offiziell die Strafverfolgungsabteilung des Zaubereiministeriums. Doch bei den einen genoß sie nur gerade so viel Rückhalt, damit es nicht erneut zu einem Krach mit Anthelias Schwesternschaft kam, zu der Donata ja auch gehörte. Was das Zaubereiministerium auf der anderen Seite anging, so mußte sie davon ausgehen, daß Cartridge wieder mal nicht lange im Amt bleiben würde. Denn seine Hauptfeindin Nyx war noch in der Welt, und was die Wiederkehrerin angerichtet hatte wog auch noch schwer. Denn über neunzig Prozent der nordamerikanischen Zaubererwelt gingen davon aus, daß Anthelia Lucas Wishbone ermordet hatte. Zwar wußten sämtliche in Sororitäten organisierten Hexen, daß es ziemlich widersinnig war, gerade jenen Zaubereiminister umzubringen, der mit lautem Getöse gegen Hexen in hohen Rangstellungen zu Felde gezogen war. Denn sein Tod konnte als Opfertod gewertet werden, der bestätigte, daß seine Idee richtig war. Doch wie sollte das ein Großteil aller amerikanischen Hexen und Zauberer glauben, wenn Anthelia hinging und entschieden abstritt, Wishbone ermordet zu haben. Daß Wishbone einen hinterlistigen Trick angewendet hatte, um erstens der Ungnade zu entgehen, die ihm wegen seiner Versäumnisse und unhaltbaren Versprechungen drohte und zweitens eben die Feindschaft gegen Anthelias Schwesternschaft anzuheizen, würde ja keiner mehr glauben, zumal es ja einen Toten gegeben hatte, der Wishbone ähnlich gesehen hatte, um als er beerdigt zu werden. Donata wußte jedoch, daß der echte Lucas Wishbone nicht wirklich tot war. Im Gegenteil. Wenn stimmte, was Anthelia ihr gesagt hatte, so würde er im Juni des kommenden Jahres wiedergeboren, zwar nicht als Lucas Wishbone. Aber immerhin würde er vielleicht sein gesamtes Wissen bewahren und irgendwann, in einigen Jahren oder so, wieder anwenden können. Jedenfalls galten ranghohe Hexen wie Donata im Zaubereiministerium nicht als besonders gut gelitten. Die, die Donata wieder um ein oder zwei Sprossen auf der Karriereleiter nach unten gestoßen hatte, würden nur darauf lauern, ihr etwas anhängen zu können. Die entschlossenen Schwestern würden sie nur solange akzeptieren, solange sie nicht offen den bedingungslosen Anschluß an die Schwesternschaft der schwarzen Spinne einforderte. Ja, und nun kam noch etwas ihre Zukunftsaussichten eintrübendes hinzu. Anthelia war durch die Vernichtung Volakins angeschlagen. Womöglich würde Volakins unausgesprochener Vergeltungsfluch, der dazu noch ganz ohne schwarzmagische Kraft wirkte, ihrem zweiten, so trickreich erhaltenen Leben ein Ende setzen. Was dann? Donata war kein Wickelhexlein mehr, daß sie nicht wußte, daß mit Anthelias körperlichem Tod die Rückendeckung fehlte, um sich gegen die dann aufbegehrenden Mitglieder der entschlossenen Schwestern durchzusetzen. Sie erkannte mit einer unverdrängbaren Gewißheit, daß ihr Schicksal mit dem Anthelias zusammengeschmiedet war. Starb Anthelia, würde der kleinste Fehler ihrerseits tödlich ausgehen.

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Der Kalender zeigte den siebten September, als der Heiler im Praktikum Nicholas Kortney im Lesesaal der hauseigenen Bibliothek des Honestus-Powell-Krankenhauses über seinen Aufzeichnungen saß. Der alte Willows, in dessen Zaubertrankunfall-Abteilung er gerade tätig war, hatte seinen Angestellten und den HIPs aufgetragen, sich umfassend mit der Behandlung von Verstrahlungen zu befassen. Seitdem der Kollege Preston eine halbe Weltreise gemacht hatte, um vor der von Muggeln erzeugten Verseuchungsart zu warnen und die einzig brauchbaren Heilverfahren zu vermitteln, lief die Zaubertrankabteilung des HPK auf hochtouren. Zaubertränke waren nie so sein Fach gewesen. Wie er es dennoch geschafft hatte, die drei Ausbildungsjahre zu überstehen und als Heiler im Praktikum antreten zu dürfen wußte außer Nicholas Kortney keiner so recht. Da die Heiler in den USA in großen Gruppen ausgebildet wurden fiel es nicht auf, wenn jemand zwischendurch mit kleinen Dosen von Gedächtnistränken wichtige Rezepturen auswendig lernte. Kortney war schlachsig und besaß kaffeebraune Haut, weil seine Mutter eine afroamerikanische Hexe und sein Vater der Nachfahre einer Plantagenbesitzerfamilie aus Southcarolina war. Das seine Mutter Medizinfrauenblut und damit Magie in den Adern hatte war seinem Vater nicht aufgegangen, bis Nicholas den Brief von Thorntails erhalten hatte. Eigentlich wollte Nicholas zur US-Kriegsmarine und dort Pilot werden. Doch weil ihm Zauberkunst und Abwehr dunkler Kräfte so gut lagen hatte er sich auf den Irrsinn eingelassen, magischer Heiler zu werden, also das Erbe seiner afrikanischen Vorfahren anzustreben.

"Dosis pro Kilogramm und Zeit", las Kortney gerade eine Zeile aus Prestons hiergelassenen Stichpunkten. "Da muß man ja Computer benutzen, um da die richtigen Mengen für eine Wiederherstellung geschädigten Gewebes auszurechnen", dachte er, während er die tabellarische Darstellung las, die beschrieb, wie schwer jemand betroffen war und wie viel Lebenszeit er gemäß erhobener Statistiken zu erwarten hatte. Wie konnte der Kollege aus England mit solchen Zahlenmengen jonglieren? Eine Möglichkeit war ja die vollständige Blut- und Knochenerneuerung, wie sie Herbregis und Dawn in Australien erfolgreich angewendet hatten und an sich selbst hatten ausführen lassen. Doch diese Methode barg immer das Risiko, daß das vollkommen entknöcherte Gewebe zusammenbrach oder die Beatmung nicht funktionierte, solange keine neuen Rippenknochen nachgewachsen waren. Da war diese Radiopurifikationslösung und die anschließenden Heilzauber schon besser. Aber Tim Preston hatte offenbar darauf bestanden, gemäß der Bestrahlungsdosis bestimmte Mengen zu nehmen und nicht eine für alle Dosierungen einheitliche Menge festzulegen. Deshalb wurde der Trank nicht nur in kleineren Trinkgefäßen verabreicht, sondern auch mal im Verhältnis eins zu zehn oder eins zu fünfzig mit wasser verdünnt. Preston beschrieb es so, daß die Körperschädigungen nach und nach behoben werden mußten und der Trank auf einen vollständig gesunden Menschen unangenehm wirke, weil er zu Muskel- und Fettwachstum führte, wenn kein geschädigtes Gewebe vorhanden war.

"Nick, der Boss hat Pam gerade aus dem Labor in die Schlangengiftmolkerei rübergeschickt. Kommst du bitte zum Umrühren", mentiloquierte ihm Philipp Westerfield, ein ein Jahr älterer Kollege, der bereits fest in Willows' Abteilung angestellt war. Kortney schickte ihm zurück, daß er kommen würde. er stand auf und räumte seine Aufzeichnungen zusammen. Dann begab er sich in das große Zaubertranklabor, wo seine Kollegin Pamela Clearmoon gerade an einem Trank zur Wiederherstellung zerstörter Nervenbahnen braute. Die anderen Kollegen waren mit anderen Heiltränken zu Gange. Kortney prüfte den momentanen Zustand des angesetzten Gebräus und rührte weiter in der vorgeschriebenen Weise um.

Alarmgeheul drang aus unsichtbarer Quelle, und die im Krankenhaus verankerte magische Durchsagestimme tönte: "Achtung, unerwünschter Eindringling. Alle Mitarbeiter bleiben an ihren Arbeitsplätzen, bis der Eindringling gestellt oder vertrieben ist! Apparieren und Disapparieren ist derzeit unterbunden. Bitte bewahren Sie Ruhe!"

"Verdammt, dieses Sardonia-Flittchen", schnaubte Westerfield, der gerade mit seinem Nachbrauen des Feuerschutztrankes Nummer eins beschäftigt war. Kortney erinnerte sich sofort daran, daß die Abteilungschefs des Honestus-Powell-Krankenhauses nach dem kurzen Auftritt der sogenannten Erbin Sardonias vor zwei Monaten umfangreiche Sicherheitszauber eingerichtet hatten. Nun, nachdem herum war, daß es sich um eine angebliche Wiedergeburt oder selbsternannte Wiedererscheinung von Sardonias Nichte Anthelia handelte, waren auf diesen Namen geprägte Zauber in Stellung gebracht worden, die jeden Ankömmling ohne dessen Wissen nach dem Namen fragten. Außerdem war das Aussehen der Sardonianerin bekannt und konnte in auf Bilder geprägten Meldezaubern verwendet werden.

"Warum sollte die sich hertrauen?" Fragte Kortney. "Wenn sie Bücher oder Zutaten haben will hat die einen ganzen Stall von Nachläuferinnen an der Hand", sagte Kortney. Westerffield nickte.

"Andererseits könnte die finden, bestimmte Sachen selbst zu holen oder auszuforschen", sagte Philipp dann auch gleich.

Der Alarm dauerte keine Minute. Dann kam die Entwarnungsdurchsage: "Der unerwünschte Eindringling hat das Gebäude verlassen."

"Was ist eigentlich, wenn sie selbst unsere Hilfe braucht?" Fragte Kortney, der die zehn Heilerdirektiven gründlich gelernt hatte. "Wenn sie krank ist müssen wir ihr doch auch helfen, oder?"

"Nur wenn sie offen um Hilfe bittet und sich dem Ministerium ausliefert. Wenn sie was klauen will nicht", erwiderte Westerfield. Kortney nickte. Würde sich die Sardonianerin wirklich dem Ministerium ausliefern, wenn sie heilmagische Behandlung nötig hatte? Er hatte da sowas gelesen, daß Anthelia ihrerzeit selbst eine ausgebildete Heilerin gewesen war. Falls die wirklich wie dieser Voldemort in England zurückkehren konnte war es ihr doch sicher möglich, die meisten Sachen selbst zu behandeln. Zutaten bekam sie ja doch auch in jeder magischen Apotheke. Es sei denn, sie erkrankte an etwas, was ihr damals nicht bekannt war.

"Hast du nicht auch von dem Kollegen Preston gehört, daß dieser blaue Vampir, dem wir jetzt diesen Extrakurs in dieser Atomofenstrahlung zu verdanken haben, von einer fliegenden Hexe erledigt worden sei?" Fragte Kortney Westerfield.

"Ach, diese Vermutung, das Sardonia-Flittchen hätte diesen Mutanten mit einer dunklen Flutwelle weggespült?" Wollte Westerfield es genauer wissen. Nick Kortney nickte.

"Dann hat die vielleicht was von dessen Radioaktivstrahlung abbekommen. Verstehe, weil du gerade für Willows die Dosieranleitungen nachvollziehst kommst du darauf, die könnte deshalb hier reinappariert sein, um sich auf den neuesten Stand zu bringen, wie man das behandelt", grinste Westerfield. "Dann hat sie jetzt gelernt, daß hier nichts für sie zu holen ist."

"Hoffen wir das mal", erwiderte Kortney. Er glaubte nicht, daß wenn es dieser Hexe um eine Therapie gegen Strahlenschäden ginge, sie sich so leicht von einem Eindringlingsmeldezauber abhalten ließ.

Da ihm der Trank seiner Kollegin alle weitere Aufmerksamkeit abverlangte vergaß er den Alarm und die deshalb angestellten Vermutungen rasch wieder. Am Abend konnten die nicht im Krankenhaus untergebrachten Heiler per Flohpulver in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren. So reiste Nicholas Kortney zunächst nach New York, weil er dort in einem Muggelhaus ohne Kamin wohnte und er erst seinen eigenen Anschluß bekommen würde, wenn er die Vollaprobation hatte. Er disapparierte aus dem Gasthaus für durchreisende Hexen und Zauberer und landete direkt in seiner Drei-Zimmer-Wohnung. Sofort fiel ihm auf, daß jemand im Wohnzimmer sein mußte, weil die kleine Stehlampe brannte. Er wollte gerade disapparieren, um Alarm zu geben, als ihn eine Woge unbändiger Glückseligkeit überwältigte. Er wußte, was dies zu bedeuten hatte und kämpfte dagegen an. Doch trotz vieler Übungen in der Bekämpfung des Imperius-Fluches schaffte er es nicht, dem nun in seinem Kopf erklingenden Befehl einer warmen Altstimme zu widerstehen: "Komm ins Wohnzimmer und setz dich zu mir!" Der Befehl wurde dreimal wiederholt. Schon beim zweiten Mal betrat Kortney das gemütliche Wohnzimmer, in dem neben einem hohen Bücherregal und einer Ledersitzgruppe auch ein Couchtisch und ein großer Fernseher, sowie eine kräftige Stereoanlage seine Abstammung aus der Muggelwelt bekundeten. Das was nicht in dieses Wohnzimmer gehörte war die Frau mit dem strohblonden Haar, die in einem rosaroten Umhang auf der breiten, braunen Ledercouch saß und einen silbergrauen Zauberstab auf Nicholas Kortney richtete. Selbst unter dem ihn bannenden Imperius erkannte er glasklar, wen er da vor sich hatte. Die Beschreibung der Sardonianerin war schließlich durch die Zeitungen gegangen. Er nahm ihr gegenüber Platz, wie ihr in seinen Kopf gepflanzte Befehl es verlangte.

"So, du bist also Nicholas Kortney, Heiler im Praktikum, Halbmuggelstämmiger und gerade dafür zuständig, die Heilverfahren gegen diese vermaledeite Radiointoxikation zu erlernen. Gib mir deine Aufzeichnungen!"

"Ich habe sie nicht hier", sagte Kortney und versuchte, sich dem Befehl zu widersetzen, sitzenzubleiben. Die ungebetene Besucherin lächelte kalt.

"Versuch mich nicht noch einmal zu beschwindeln, oder deinen Kollegen wird nichts von dir verbleiben, was ihrer Kunst bedarf", schnarrte sie und murmelte "Imperio!" Erneut spülte eine Woge aus unendlicher Sorglosigkeit und Glückseligkeit die Gedanken Kortneys fort. Nun erhielt er den Befehl, seine Aufzeichnungen herauszugeben. Er stand auf und holte seine Tasche, der er seine Aufzeichnungen entnahm. Dann mußte er auf den Befehl, alles zu sagen, was er wußte erklären, wie das mit dem Eindringlingszauber im Krankenhaus war. Darauf konnte er nur sagen, daß er nicht in die genaue Methode eingeweiht war, wie die verschiedenen Zauber eingerichtet worden waren. Er wußte nur, daß es insgesamt fünf verschiedene waren, die ineinander verflochten waren, so daß die Schwächung des einen sofort die Andern zur Alarmmeldung anregte. Und alle fünf zu beseitigen würde wiederum wohl noch einen Alarmzauber aufrufen, der nicht im ganzen Haus zu hören war. Das war schon alles, was der Direktor des Krankenhauses ihm und den anderen gesagt hatte. Die Erbin Sardonias nickte, kopierte die Aufzeichnungen des jungen Heilers und reichte sie ihm zurück.

"Du hast noch einmal Glück gehabt, daß du so ein empfängliches Medium für Imperius bist, Jüngling", sagte sie und zielte mit dem Zauberstab auf Kortney: "Obleviate!"

Als Kortney wieder klar denken konnte ärgerte er sich, daß ihm seine ganzen Aufzeichnungen hingefallen waren und er sie mühevoll wieder zusammenklauben mußte. Das erklärte die zwanzig Minuten, die seit seiner Ankunft verstrichen waren.

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Das Katz-und-Maus-Spiel machte der Spinnenfrau Naaneavargia manchmal richtig Spaß, wenn sie einzelne Träger der Kraft, die sich Zauberer nannten, überwältigen konnte, bevor diese sie mit ihren Sprüchen erreichten. Doch oftmals geriet sie an solche, die ihr jenen Bann entgegenschleuderten, mit dem ihr der Jüngling Julius Erdengrund gewaltige Furcht eingejagt hatte. Dies taten sie vor allem dann, wenn sie mal wieder darauf aus war, in eine menschliche Siedlung einzudringen. Mittlerweile war der Winter über den südlichen Erdteil hereingebrochen, und sie fand nicht immer genug Waldland, um sich zu verstecken. Außerdem stellte sie fest, daß ihr die geringeren Temperaturen etwas unverträglich waren. Sie bewohnte als Spinne eben nur einen wechselwarmen Körper. Daran änderte sich nur etwas, wenn es ihr gelang, als Menschenfrau aufzutreten. Als einer der Zauberer, die sie jagte von ihrer Umwandlung überrascht wurde und nicht schnell genug verschwinden konnte, bannte sie ihn mit einer Geste der Kraft, mit der unbegüterte Menschen für einen vollen Tag und mit der Kraft begüterte Menschen zumindest einen hundertsteltag gelähmt werden konnten, ohne Kraftausrichter jedoch nur für einen Tausendsteltag. Das reichte der freigekommenen Schwester Ailanorars jedoch, um dem Zauberer seinen Stab aus der Hand zu pflücken und mit ihm zusammen in eine Höhle zu wechseln, die sie von ihren ersten Besuchen auf diesem Erdteil noch in Erinnerung behalten hatte und die all die Tausendersonnen überstanden hatte. Hier war es zwar ein wenig kühler als draußen. Doch noch würde sie als Spinne nicht einfrieren. So gab sie sich dem Wunsch hin, das mächtige Tierwesen zu sein, das die Tränen der Ewigkeit aus ihr gemacht hatten. Es war anstrengend, den sofort nach der Verwandlung aufkommenden Hunger zu unterdrücken. Sie wollte von diesem Menschen was wissen, weil der sie mit dieser Furchtverwünschung angegriffen hatte, die sie erst loswerden konnte, als sie zur Frau wurde. Sie dachte daran, den Mann für später aufzubewahren und damit den Hunger zu unterdrücken. Sie warf aus ihren Spinnwarzen einen klebrigen Faden aus, der dem noch immer gebannten Zauberer die Füße einschnürte, und umlief den Gefangenen in schnellen Runden, wobei sie ihn mehr und mehr in ein festes, weißes, unzerreißbares Gewebe einwickelte. Erst als gerade so noch Kopf und Hals frei waren, verflog die magische Lähmung. Da sie nur den Körper und nicht das Bewußtsein betroffen hatte wußte der Zauberer, was ihm da widerfuhr. Die Spinne hatte ein Opfer gefangen und würde es nicht mehr lebend entkommen lassen. Clark Stabbins, Mitarbeiter im Ausschuß zur beseitigung gefährlicher Geschöpfe des australischen Zaubereiministeriums, wußte zu gut, wie Spinnen ihre Beute erst in einen Kokon einspannen und sie dann, wenn sie Hunger hatten, mit ihren giftigen Beißwerkzeugen zulangten. Er fragte sich, wie hungrig dieses Wesen sein mochte, das unheimlicher nicht sein konnte. Denn eine Spinne, die auch Frau sein konnte, war bisher nicht vorgekommen. Er wußte auch, daß es keinen Sinn hatte, um Gnade zu betteln. Zwar hatte dieses Spinnenmonster bisher nur wenige Menschen überfallen, weil es im Busch und auf den meilenweiten Schaf- und Rinderfarmen genug Tiere zu erbeuten gab. Doch die Menschen, die getötet worden waren waren allesamt zu leeren Hüllen geworden, weil die Spinne ihnen Fleisch und Blut ausgesaugt hatte. Doch im Moment schien die Spinne keinen Hunger zu haben. Sie ließ den gefangenen an einem dicken Spinnfaden an der Höhlendecke hängen und trippelte einige Schritte zurück, bevor sie sich in eine nackte, goldhäutige Frau verwandelte.

"Du siehst kräftig aus und hast bestimmt auch viel gelernt", sprach die Unheimliche. "Nein, lass es besser, deine Gedanken vor mir zu verschließen. Sonst bleibt mir von dir eben nur das Fleisch übrig. Mach dich also nicht wertlos!" Die Stimme der Unheimlichen klang anregend tief und rein wie eine Bronzeglocke. Clark Stabbins vergaß das okklumentieren. "So ist es besser. Du kannst mir mehr geben als nur deinen Körper. Und ich kann dir dafür vielleicht mehr geben als nur das Leben", sagte sie dann noch.

"Was willst du noch von mir, du Ungeheuer? Woher kannst du eigentlich Englisch, wo es heißt, daß du vom alten Kontinent Atlantis stammst?"

"Interessante Fragen, Jungchen", sagte die nackte Frau und lächelte. Clark wußte, daß dieses Weib da vor ihm wohl schon viele Männer mit ihrem Körper hatte verlocken können. Er sah in ihr jedoch nur das achtbeinige Untier, das ihn gerade in diesen Kokon eingesponnen hatte. "Sagen wir es so, da wo ich lange Zeit gewohnt habe, wirkte eine Kraft, die ihr Magie nennt, die mir ermöglichte, jeden zu verstehen und seine Sprache zu beherrschen, der mich dort aufsuchte. Es war ein Geschenk meines hinterhältigen Bruders, der wollte, daß ich mein ganzes Leben dort bleiben solle. Deshalb kann ich eure Sprache. Das mein Heimatland von euch Atlantis genannt wird habe ich auch schon erfahren und daß es wohl vor mehr als zehntausend Jahren unterging leider auch. Und was ich von dir will: Nun als Frau, die gerade vor dir steht, kann ich mir einige hübsche Sachen vorstellen, die du mir geben könntest. Aber wenn du mich nur als Spinne siehst, ist es wohl nur dein Fleisch und Blut, das mich interessieren könnte. Aber im Moment bin ich eben keine Spinne. Doch du weißt einiges über die Leute, die hinter mir her sind. Was hat man euch über mich erzählt?wie wichtig ist es deinen Herren, mich zu fangen oder zu töten?"

"Dann wirst du mich umbringen müssen, du Untier", schnarrte Clark Stabbins verächtlich und bemühte sich wieder darum, seine Gedanken zu verschließen. Doch diesmal drang die Unheimliche mit legilimentischer Macht in seinen Kopf ein, wie er sie bisher noch nie erfahren hatte. Er sah Bilder, hörte Wörter und Geräusche und versank in einem Strom aus Erinnerungen, der nur von den in seinem Ggeist aufklingenden Fragen der Spinnenfrau umgeleitet wurde. "Wer ist dein Herr? Wie arbeitet eure Gruppe? Wer gebietet über welche Aufgaben? Seit wann wißt ihr von meiner Anwesenheit? Wieso ist Julius Latierre wieder auf der Erdkugel? Wo genau ist er jetzt?" Clark konnte nichts dagegen tun, als die Spinnenfrau ihre legilimentischen Kräfte in seinen Erinnerungen herumwühlen ließ. Am Rande der Ohnmacht bekam er mit, wie sein penetrierter Geist die erfragten Antworten gab, ehe er sie zurückhalten konnte. Er sah den jungen Zauberer, den er selbst nur von einem Zeitungsfoto kannte. Er hatte selbst nur von seinem Chef aus der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe davon gehört, daß ein paar Angehörige der Aborigines vom Geist Yati Wullayatas gewarnt worden waren, der die alten, für Legenden gehaltenen Geschichten noch kannte. Er dachte an Frankreich und den Namen Beauxbatons, wenngleich er nicht wußte, wo genau das lag und daß dort vor nun etwa zwei Monaten die große Schlangenkriegerinvasion zurückgeschlagen worden war. Er sah die grauen Riesenvögel, die ein französischer Reporter photographiert und die Bilder an seine Zeitung geschickt hatte. Nach dem Vernichtungsschlag der Riesenvögel waren Bilder von den Schlangenkriegern und den Riesenvögeln um die ganze Welt gegangen. Dann ließ die Unheimliche von ihm ab. Er fand in die Gegenwart zurück. Mit brummendem Schädel erkannte er, daß er soeben eine Menge preisgegeben hatte. Die Unheimliche stand vor ihm und lächelte. Ihr schien der magische Angriff auf seinen Geist nichts ausgemacht zu haben.

"Er hat also tatsächlich auf die Macht Ailanorars verzichtet", dachte Naaneavargia, als sie alle erbeuteten Erinnerungen in ordentliche Zusammenhänge gebracht hatte. "Lohnt es sich, ihn auf dem anderen Erdteil zu suchen? Vielleicht nur, wenn sie sich an seiner Gefährtin rächen wollte, daß sie ihm geholfen hatte, ihr zu widerstehen, nachdem sie ihm schon geholfen hatte, ihren Bruder zu überlisten, der nun wohl für alle Zeiten in seiner eigenen fliegenden Burg gefangen bleiben würde. Sie jedoch war frei und ungebunden. War sie das wirklich? Die Daseinsform, der sie nun unterworfen war, machte es schwierig, ihre überragenden Geisteskräfte und Kenntnisse auszuspielen. Die heutigen Menschen ohne die Kraft hatten die Natur der Blitze gezähmt und sie damit zum Ersatz der fehlenden Zauberkraft erhoben. Sie hatten die Macht des Wasserdampfes erlangt und davon ausgehend aus einer schwarzen Brühe, die aus Muttersonnenalten Überresten von Tieren und Pflanzen bestand, wirksame Flüssigkeiten gemacht, die in Fahrzeugen hundertmal mehr Antriebskraft als ein Mensch oder Nutztier entfachen konnte. Ja, diese Menschen hatten sogar erkannt, wie sie ohne die die Erdenschwere überwindende Kraft vom Boden abheben und schneller als ein Laut fliegen konnten. Jim, den sie für einige Tage gefügig gehalten hatte, hatte ihr sogar erzählt, daß Menschen ohne Zauberkraft den Mond erreicht und betreten hatten, etwas, das selbst die großen Meister ihres Reiches für schwer bis unmöglich erachtet hatten. Sie konnten mit der gezähmten Kraft der Blitze sogar Wörter und Bilder ohne Zauberkraft um die ganze Erdkugel und weit hinaus in den Weltenraum schicken und eine Unmenge Wissen in kleinen Apparaten, die sie Rechner nannten, einlagern und innerhalb eines Lidschlages durchforschen, wie es nur das gläserne Konzil vermochte. Und neben diesen der Kraft entwachsenen Menschen gab es noch Träger der Kraft, die gerade erst wieder anfingen, die uralte Größe Altaxarrois zu erlangen. Es würde vielleicht nicht mehr lange dauern, bis beide Entwicklungsströme einander aufrieben. Die Träger der Kraft hatten vereinbart, im geheimen zu leben, weil die Angst vor der Kraft die Unbegüterten zu Verfolgung und Mord getrieben hatte und der Preis für die neue Macht und Beweglichkeit eine immer kränkrer werdende Umwelt war. Somit hätte sie eine große Aufgabe, wenn sie es schaffen könnte, sich ihrer inneren Tiergestalt zu entledigen. Sie könnte beide Lebenswelten vereinen und das große Erbe ihrer Zeit zu neuer Blüte bringen. Doch eben dies verhinderte ihre innere Tiergestalt, und eben diese drängte schon wieder nach außen, weil sie wütend war. Sie dachte daran, welchen Wert ihr Leben noch besaß, wo sie es nicht verhindern konnte, daß Ailanorars Stimme aus der roten Festung entführt wurde. Sollte sie sich selbst töten? Da überkam sie ihre neue, überwiegende Daseinsform. Denn wenn sie an den nahen Tod dachte, griff der Selbsterhaltungstrieb, der ihrem inneren Wesen eigen war und stülpte es von innen nach außen.

Clark Stabbins sah mit Todesangst, wie aus der gerade noch vor ihm posierenden Verführerin das mörderische Monstrum wurde. Innerlich schloß er mit seinem Leben ab. Da sprang ihm das Untier auch schon entgegen. Er schloß die Augen und den Mund. Als die tödlichen Beißscheren in sein Fleisch drangen schrie er zwar auf, wußte aber, daß er so oder so damit hätte rechnen müssen. Als gewisse Gnade empfand er es, wie schnell das in ihn hineingespritzte Gift seine Glieder lähmte und ihm damit innerhalb einer Minute alle Schmerzen und dann auch die Besinnung raubte. Wie der ihn festhaltende Kokon von den Beißwerkzeugen der Spinne aufgerissen wurde und sie ihren Verdauungssaft über seinen Körper ergoß bekam er schon nicht mehr mit.

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Der Blick in den Spiegel erschütterte Anthelia zwar. Doch was sie sah war leider nicht ganz unerwartet. Die ersten Haare fielen ihr schon aus. Und sie wußte, daß es noch schlimmer kommen würde. Vier Tage war es nun schon her, daß sie versucht hatte, in das Honestus-Powell-Krankenhaus einzudringen. Diese Alarmzauber waren gut. Sie hatten sie selbst dann noch aufgespürt, als sie als Krähe durch den Einflugschacht für Posteulen hineingeflogen war. Da sie nicht mehr disapparieren konnte hatte sie sich zunächst unvollendeter Dinge zurückgezogen, indem sie schnell wieder ihre Animagus-Gestalt angenommen und die Flucht durch den Schacht angetreten hatte, bevor ein Pulk Sicherheitszauberer sie in der Eulerei stellen konnte. Da das Krankenhaus mit einem Exosenso-Sperrkreis umschlossen worden war, war es ihr nicht einmal gelungen, Verbindung mit einem dort tätigen Heiler aufzunehmen. Aber ihr Gedankenspürsinn funktionierte noch. So hatte sie einige Dutzend Meter außerhalb des Sperrgebietes erlauschen können, wer im Krankenhaus für die Umsetzung Prestons Therapien war und sich diesen jungen Heiler Kortney herausgepickt, der eine Wohnung im New York der Muggel bewohnte. Dort hatte sie ihn kurz verhört und seine Aufzeichnungen kopiert. Doch die brachten ihr nichts ein. Denn die Zutaten bekam nur ein aprobierter Heiler innerhalb des Hauses. Die Apotheken der magischen Welt hatten Anweisungen, jeden Kauf von bestimmten Zutaten zu notieren oder zu verweigern. Offenbar hatte Zaubereiminister Cartridge schnell reagiert, als herumgegangen war, wer Volakin letztendlich aus der Welt geschafft hatte. So dankte man es ihr, daß sie ihr Leben eingesetzt hatte, dachte Anthelia verärgert. Versuche, anderswo an die entsprechenden Zutaten zu gelangen waren daran gescheitert, daß Apotheken im südamerikanischen Raum und auch in Kanada die betreffenden Zutaten nicht führten. Eine Nachforschung in den europäischen Ländern hatte ergeben, daß auch die dortigen Zaubereiapotheken die Anweisung hatten, die gewünschten Zutaten zu verweigern, sofern es kein aprobierter Heiler war, der danach verlangte. Sie hätte diesen Kortney mit ihren zwei Ringen des Körpertausches behandeln sollen, dachte sie. Doch dann fiel ihr ein, daß die Alarmzauber nicht nur auf das Aussehen abzielten, sondern auch auf ihre geistige Identität, womöglich auch auf ihre Artefakte. Eileithyia Greensporn hatte zu denen gehört, die die Sicherheitszauber eingerichtet hatten. Leda hatte ihrer Großmutter ganz bestimmt erzählt, daß Anthelia diesen Gürtel und das Medaillon Dairons besaß. Wußte sie, wie gründlich Daianiras Cousine und jetzige zweite Mutter die beiden Artefakte studiert hatte, wo ihre eigenen Sinne noch nicht weit genug ausgebildet waren? Offenbar wußte Anthelia so vieles nicht, was ihr jetzt zum Verhängnis wurde. Wollte sie die Therapie gegen Verstrahlung oder zumindest diesen Radiopurifikationstrank, so mußte sie an die Leute heran, die da herankamen. Nebenbei arbeitete sie eine Liste der möglichen Hexen ab, die sie im schlimmsten Fall um die Gunst bitten wollte, sie als Tochter wiederzugebären. Doch egal, wen sie in Aussicht hatte, fand sich immer wieder ein Grund, diese oder jene Hexe nicht mit dieser großen Ehre zu betrauen.

"Zumindest kann ich den Verlauf dieser heimtückischen Seuche hinauszögern", dachte Anthelia, als sie eine kleine Dosis Haarwuchselixier einnahm, um die kahle Stelle auf ihrem Kopf verschwinden zu lassen. Doch als ausgebildete Heilerin wußte sie, daß es auf lange Sicht ein sinnloser und kostspieliger Kampf war, wenn man die Krankheit nicht an der Wurzel, sondern nur an den sichtbaren Auswirkungen packte. Sie hatte noch fünf Tage Zeit, um die Zutaten und genauen Anleitungen für die Heilbehandlung zu erlangen. Womöglich aber konnte sie erst in Australien wirklich auf Rettung hoffen.

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Naaneavargia hatte Monde damit zugebracht, vor den rachsüchtigen Zauberern und Hexen in Deckung zu gehen. Zwar gelang es ihr immer wieder, Menschen oder Tiere zu erbeuten. Doch die neumodischen Träger der Kraft hatten sich auf ihre ganz eigenen Lebensschwingungen eingestellt und kamen ihr immer wieder in die Quere, wenn sie sich einer menschlichen Ansiedlung näherte. Langsam trat der südliche Erdteil in die Zeit ein, die sie Frühling nannten und wo die Pflanzen neue Blüten und Blätter bekamen, sofern sie nicht im Hitzegürtel in der Nähe der halbierenden Grenzlinie lagen. Sie hatte sich häufig mit Zauberern und Hexen angelegt, die ihr diese schrill heulenden grünen Blitze auf den Leib jagten, in denen die Kraft des schnellen Todes steckte. Doch immer wieder war sie entwischt, weil nie mehr als fünf auf einmal gegen sie angekämpft hatten.

Um sich zu ernähren jagte sie jene mit dickem Fell bekleideten Vierbeiner, die mit blökenden Mäh- und Möhlauten einander zuriefen und von offenbar gezähmten Wölfen zusammengehalten wurden, wenn sie nicht von hohen Zäunen gefangengehalten wurden. In einigen Zäunen floß eine seltsame Kraft, die nicht mit der erhabenen Kraft des großen Himmelsberges und ihrer Träger verwandt war. Sie äußerte sich in einem leisen Summen und lud die Luft mit einer merkwürdigen Spannung auf, wenn Naaneavargia sich ihr näherte. Als sie einen dieser Zäune mit dem vordersten rechten Bein berührte, durchzuckte sie ein heftiger Stoß, der ihr einen Moment große Hitze in den Leib trieb. Doch die Tränen der Ewigkeit bewahrten sie vor schlimmeren. Sie berührte erneut den Zaun und erhielt einen neuen Schlag. Sie erkannte, daß die Wucht dieser Kraft nicht ausreichen würde, einen ungeschützten Menschen zu töten. Es ging denen, die sie in diesen Zaun gebannt hatten wohl nur darum, die davon umgebenen Nutztiere am Ausbruch zu hindern. Denn für diese war eine Berührung mit der summenden Kraft bestimmt höchst unangenehm. Dann erkannte sie, daß es nicht um die eingesperrten Blöktiere ging, die auch in einer ähnlichen Form schon im erhabenen Reich bekannt waren, sondern um wolfsartige Tiere, die wohl früher einmal gezähmte Nutztiere waren und nun wieder zur wilden, räuberischen Lebensweise zurückgefunden hatten.

Es mochte in jenem Mond sein, den die heutigen, blaßhäutigen Menschen mit dem Namen September bezeichnet hatten, da konnte sie eine Gruppe dieser Raubtiere aufspüren, die von ihren Grundtrieben gewarnt vor ihr auszureißen versuchten. Die waren wirklich schnell, mußte sie feststellen. Doch sie besaß eine übermenschliche Ausdauer und schaffte es nach einer über einen Viertel Zehnteltag dauernden Hetzjagd, den schwächsten davon zu überwältigen. Sie probierte sein Fleisch und stellte fest, daß sie doch lieber wieder die Pflanzenfressenden Tiere als Nahrung zu sich nehmen würde. Dann fiel ihr auf, daß etwas brummendes über ihr am Himmel war. Die Entfernung war für sie als Spinne zu groß, um scharf zu sehen, was es war. Doch Gedanken wehten zu ihr hinunter, schwach zu verstehen aber eindeutig verängstigter Art. Das waren diese unbegüterten Menschen, die es gewagt und erreicht hatten, ohne die Kraft zu fliegen, metallene Vögel gebaut hatten und damit ähnlich wie die Wolkenhüter um die ganze Erde fliegen zu können. Sie hatte einige male das merkwürdige Fauchen und Säuseln wahrgenommen und als Frau sogar einen dieser Metallvögel am Himmel gesehen, der weiße Dampfspuren hinter sich auslegte wie sie ihre Spinnfäden auswerfen konnte. Einmal war ihr dabei der gedanke gekommen, sich solch einen Metallvogel zu nehmen und damit auf einen anderen Erdteil zu fliegen. Doch dann war ihr alter Stolz durchgebrochen. Sie war eine Trägerin der Kraft, eine Kundige der Erde und Schwester eines Königs der Lüfte. Sie würde sich niemals einem solchen Gerät ausliefern, das flüssiges Zeug verbrennen mußte, bei dem giftige Gase freigesetzt wurden. Und abgesehen von den sie andauernd belästigenden Trägern der Kraft empfand sie dieses weite, dünn besiedelte Land als neue Heimat. Irgendwann würde sie sicher herausbekommen, wie sie ungestört von diesen überängstigten Leuten leben konnte. Die sollten doch froh sein, daß sie bisher mehr Tiere als Menschen erjagt hatte und die Menschen es doch nicht anders gewollt hatten, wenn sie sich mit ihr anlegten. Da war dieses brummende Fluggerät über ihr doch recht bedeutungslos. Auch wenn die da oben ihr zugesehen haben mochten konnten sie sie nicht aufhalten. Zwar hatte dieser Clark Stabbins, den sie aus einem unbändigen Wut- und Hungeranfall heraus vertilgt hatte, ihr von Verbindungen zwischen den begüterten und unbegüterten Menschen erzählt. Doch die meisten Unbegüterten hielten die Kraft für bloße Dichtung. So lief sie ruhig weiter, als sie herausgefunden hatte, daß die Jagd auf die verwilderten Raubtiere nichts eingebracht hatte, wo genug gehörnte Pflanzenfresser in den umzäunten Reichen lebten.

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Das Haus der Prestons lag ruhig da. Der Heiler hatte es mit seiner Familie vor einigen Monaten erst wieder bezogen, um weiterhin in seiner alten Heimat praktizieren zu können. Seine Kinder spielten im Garten. Der Sommer hatte für seinen Abschied noch mal den schönsten Himmel und eine kräftig scheinende Sonne aufgeboten. Vivian Preston saß auf der Terrasse und beobachtete das Spiel ihrer Kinder. Sie war heilfroh, daß sie alle das düstere Jahr Voldemorts und seiner Todesser überlebt hatten. Nur Dank der frühzeitigen Warnung Aurora Dawns und der ungeplanten aber doch nötigen Reise nach Südafrika hatten ihr Mann und sie es vermieden, in den Sog der Anti-Muggelstämmigen-Aktionen zu geraten.

"Jessie, nicht so wild!" Rief sie ihrer kleinen Tochter zu, die gerade mit einem Spielzeugbesen um ihren älteren Bruder Alfred herumflog. Es würde noch eine Stunde dauern, bis ihr Mann aus dem St.-Mungo wiederkam. Er hatte sie eindringlich gebeten, mit den Kindern nicht über die Grundstücksgrenze zu gehen. Auf die Frage, was er denn zu befürchten habe hatte er nur gesagt, daß seine Kenntnis über Strahlenkrankheiten sie alle zu begehrten Zielen für unerwünschte Zeitgenossen machte. Sie hatte darauf geantwortet, daß er als Heiler doch allen helfen müsse. Daraufhin hatte er entgegnet, daß er zwar helfen müsse, aber nur denen, die sich ganz ohne Hintergedanken und mit der gebotenen Demut an ihn wandten. Sie dachte an Kriminalgeschichten der Muggelwelt, wo flüchtige Verbrecher Ärzte in ihren Privathäusern heimgesucht hatten, um Schuß- oder Stichwunden behandeln zu lassen, ohne die Polizei davon in Kenntnis zu setzen. Sie verstand also, warum ihr Mann besorgt war. Denn sie hatte von einer Kollegin aus dem Zaubereiministerium erfahren, wie der blaue Vampir Volakin letztendlich gestoppt werden konnte und daß dabei auch jene Hexe einbezogen sein mochte, die in den vereinigten Staaten wegen Mordes am dortigen Zaubereiminister gesucht wurde.

Jessie, bleib hier!" Rief Vivian Preston ihrer Tochter zu, die gerade ihren gerade einen halben Meter über dem Boden fliegenden Besen zur Grundstücksgrenze lenkte. Vivian sprang auf. Der Spielzeugbesen war nicht schnell genug, um ihr davonzufliegen. Doch wenn sie sich nicht beeilte würde der gleich über das Tomatenbeet hinwegstreichen und damit die Grundstücksgrenze überqueren. Womöglich hatte ihr Mann dort einige Schutzzauber aufgespannt, die wie eine unsichtbare Käseglocke dunkle Kräfte oder Wesen abfangen konnten. Sie lief hinter ihrer gerade drei Jahre alten Tochter her und scheute sich nicht, in das Tomatenbeet hineinzutreten. Gerade hatte sie Jessies Besenschweif zu fassen bekommen, da erzitterte die Luft. Es sah für einen Moment so aus, als ob die Umgegend in einem dunkelblauen Licht erschien. Vivian Preston konnte sehen, wie hinter dem Tomatenbeet eine große Krähe wild flatternd auf dem Boden landete. Sie bemerkte, daß der Vogel einige Federn verlor, als er landete. Der Rabenvogel blieb einige Sekunden lang auf dem Boden sitzen, bevor er wieder aufflog, wobei weitere Federn abfielen. Warum hatte die Luft so gezittert? Hatte ein Zauber auf die offenbar in den Mausern befindliche Krähe reagiert? Dann mochte es eine schwarzmagische Kreatur oder eine von einem Dunkelmagier ferngelenkte Krähe sein, die die Prestons ausspionieren sollte. Jedenfalls suchte der Vogel das Weite und schien dabei leicht angeschlagen zu sein.

"Okay, ins Haus!" Rief Vivian ihren Kindern zu und würgte jeden Widerspruch mit "Keine Widerrede" ab. Sie wußte nicht, ob es der einzige Versuch bleiben würde, bis zu ihnen vorzudringen. Vielleicht war es nur das, was Muggel einen Versuchsballon nannten, etwas um zu testen, ob das Haus geschützt war. Nun, das wußten die jetzt sicher. Die Frage war nur, ob sie sich dadurch abhalten ließen.

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Es kostete viel Kraft, ihre Tiergestalt anzunehmen. Offenbar wirkte sich die Verseuchung schon so stark auf ihren Körper aus, daß dieser dem Verwandlungszauber nicht mehr so leicht folgte wie sonst. Auch merkte Anthelia, daß auch in der Gestalt einer Krähe die ersten Verfallserscheinungen auftraten. Federn gingen ihr aus, so daß sie sich davor in Acht nahm, zu schnell zu fliegen. Denn als nackte Krähe war es mit dem Fliegen nicht mehr so weit her.

Sie war auf das Haus der Prestons zugeflogen und fühlte schon, daß ihr gerade unsichtbares Seelenmedaillon sich weigerte, voranzukommen. Da krachte sie auch schon gegen eine magische Absperrung, die sie mit Wucht zurückschleuderte. Sie hatte diesen Zauber nicht für so kompakt und unvorhersehbar gehalten. Andere Schutzzauber waren schon außerhalb der von ihnen umfriedeten Flächen wahrnehmbar. Dieser nicht. Mit großer Wut im Bauch und ziemlich angeschlagen von der magischen Abweisung hatte sie erst einmal landen müssen. Sie konnte den Drang, sich zurückzuverwandeln gerade so noch unterdrücken. Sie sah die Frau des Heilers noch, wie sie ihre Kinder ins Haus zurückbefahl. Hören konnte sie es nicht. Offenbar schirmte der Schutzwall ihre Worte ab. Anthelia horchte mit ihrem Gedankenspürsinn und erfuhr, daß das Haus selbst einen Raum barg, der bereits mit verdichteten Schutzzaubern belegt war. Dorthin würden sie sich zurückziehen, falls ein Überfall stattfand. Anthelias Versuch, die Familie des Strahlenexperten in ihre Gewalt zu bringen könnte fehlschlagen. Ihr blieb nur der schnelle Rückzug und ein massiver Angriff mit ihr getreuen Hexenschwestern, bevor Timothy Preston aus dem Hospital zurückkehrte, das, wie sie leidvoll erfahren hatte, auch schon mit einer auf sie abzielenden Abwehr versehen war. Zwei der Heiler hatten sie gesehen, wie sie in ihrer menschlichen Erscheinungsform dort einzudringen versucht hatte. Ihr war nur der Rückzug durch die scheinbare Schaufensterscheibe und die sofortige Disapparition geblieben. Daß sie dabei vier ihrer Kopfhaare verloren hatte wußte sie nicht.

Eine Viertelstunde später flogen zwanzig Besen auf das Haus der Prestons zu. Anthelia führte das Kommando an. Sie war sich sicher, es nicht mit Sanctuafugium zu tun zu haben. Denn diesen vermochte sie bereits aus großer Entfernung zu spüren. Die Hexen griffen mit verschiedenen Brechungszaubern zugleich an. Doch der Schutzwall um das Haus steckte die magischen Angriffe weg. Selbst Sardonias Worte der Niederwerfung verfehlten das gewünschte Ziel, einen Schutzzauber zu zerstören. Die Prestons zogen sich unverzüglich in ihren Schutzraum zurück, weit genug weg, um nicht von einem Imperius-Fluch berührt zu werden. Dieser mußte auf Sicht gewirkt werden. Selbst Anthelias Gedankenspürsinn half ihr nicht, ihn auf die Familienmutter zu legen, um sie zum Herauskommen zu zwingen.

Der Sturmangriff dauerte gerade eine Minute, als hundert andere Besen aus allen Richtungen heransausten. Ministeriumszauberer hatten wohl mitbekommen, was sich abspielte. Anthelia konnte sich nun erinnern, daß Vivian an ein Bild gedacht hatte, das im Wohnzimmer hing und offenbar mit dem Raum von Kingsley Shacklebolt in Verbindung stand.

"Rückzug!" Rief Anthelia ihren vermummten Mitschwestern zu, bevor die Ministeriumszauberer nahe Genug waren. Ihnen blieb nur der Durchbruch. Die in weiß gekleideten Hexen hüllten sich in rosarote Energieblasen ein, die fast alle Angriffszauber zurückprellten. Nur der Todesfluch konnte ihnen jetzt noch gefährlich werden. Doch Shacklebolt hatte die Anweisung ausgegeben, ihn nicht mehr anzuwenden und eine mögliche Todesgefahr durch alle anderen Zauber zu beseitigen. So konnten Anthelias Hexen der Umzingelung zwar entrinnen, gerieten jedoch in eine magische Luftschlacht, weil die Ministeriumsleute die Hexen auf jeden Fall gefangennehmen wollten. Anthelia hatte in dieser Lage nichts zu verlieren. Gnadenlos hielt sie mit dem Todesfluch auf alle die, die meinten, eine ihrer Mitschwestern bedrängen zu müssen. Dadurch holte sie vier Zauberer aus dem Aurorenkorps vom Himmel, die dachten, nach dem dunklen Jahr Voldemorts etwas mehr Ruhe und Frieden genießen zu können. Als sie ihre Verfolger weit genug abgehängt hatten, befahl Anthelia eine schnelle Landung und jeder, an einen für sie vertrauten Ort zu disapparieren. Als sie landeten, griffen die Ministeriumszauberer noch einmal an. Anthelia focht mit Flüchen gegen die herniederstoßenden Zauberer, bis ihre Mitschwestern sicher verschwunden waren. Ein bulliger Zauberer versuchte, Anthelias Schutzblase mit einem Feuerball zu sprengen, da ereilte ihn der sofortige Tod durch den grünen Blitz aus ihrem Zauberstab. Als der Zauberer fiel warf sich Anthelia herum und verschwand im Nichts. Sie erfuhr eine Stunde später, daß Tim Preston den Aufenthaltsort seiner Familie durch Fidelius-Zauber geschützt hatte. Denn als Anthelia das Haus noch einmal suchte, war es verschwunden.

Ein Überfallversuch im St.-Mungo-Krankenhaus schlug ebenfalls fehl. Anthelia hatte zwar erreicht, in Timothy Prestons Nähe zu kommen. Doch dieser konnte sich mit einem Portschlüssel absetzen, und Anthelia verdankte es nur Sardonias Lied der Lähmung, daß sie größtenteils unangefochten den Weg nach draußen fand und disapparieren konnte. Die einzigen Flüche, die man ihr auf den Hals jagen konnte prallten an Sardonias Mantel ab, der seiner neuen Trägerin Schutz vor fast allen Flucharten verschaffte.

"Ich komme nicht an ihn ran", knurrte Anthelia, als sie bei ihrer englischen Bundesschwester Gwenda Holloway Zuflucht gefunden hatte.

"Dann bleibt dir vielleicht doch nur, dich zu stellen und um Gnade zu bitten", erwiderte Gwenda sehr verängstigt. Anthelia sah nicht mehr so jugendlich aus wie vor drei Monaten noch. Auf dem Kopf sah sie kahle Stellen, und ihre Haut wirkte bleicher als sonst.

"Ich werde mich nicht lebenslänglich in Askaban, Tourresulatant oder gar Doomcastle einsperren lassen, nur um diese vermaledeite Vergiftung loszuwerden", wutschnaubbte Anthelia. Gwenda fürchtete schon, daß die höchste Schwester ihren Zauberstab zücken und sie für ihre Anmaßung bestrafen würde. Doch die oberste der Spinnenschwestern beließ es nur bei einem zur Vorsicht gemahnenden Blick.

"Vielleicht sollten wir das Ministerium damit erpressen, in der Muggelwelt Chaos anzurichten, wenn Tim Preston dir nicht hilft", sagte Gwenda.

"Der Gedanke kam mir durchaus. Aber ich werde nicht zu derartig rohen Mitteln greifen wie der armselige Waisenknabe. Noch hege ich die Hoffnung, in einem anderen Land an die genaue Rezeptur und Therapieanweisung zu kommen. Ich werde morgen dorthin aufbrechen."

"Wohin wirst du aufbrechen?" Fragte Gwenda.

"Dies soll dich nicht kümmern, Schwester Gwenda. Nur so viel, ich habe noch einiges in Aussicht und werde mich nicht irgendeinem Zaubereiministerium ausliefern."

"Wenn du wirklich mit dieser Seuche behaftet bist, die sie Radioaktivität nennen, höchste Schwester, dann wirst du ohne Heilerhilfe nicht davon loskommen und alle anderen mit ins Verderben reißen."

"Keine Sorge, Schwester Gwenda. Die Vergiftung betraf nur mich. Ich trage keine heimtückisch strahlenden Fragmente an oder in mir herum. Denn ich hatte eine Schutzrüstung an, die jedoch nicht ausreichte, um den Ansturm jener unsichtbaren Strahlung abzuwehren. Gehab dich wohl, Schwester Gwenda. Ich werde mich bei euch melden, wenn ich weiß, daß ich diesen magielosen Fluch von mir abschütteln konnte. Wann das sein wird weiß ich noch nicht. Aber bedenke, solange ihr keinen Leichnam von mir findet oder glaubhaft davon erfahrt, daß einer gefunden wurde, gilt unser Bündnis."

"Vielleicht solltest du es noch mal so machen wie damals mit Lad..., ähm Daianira Hemlock", entgegnete Gwenda vorwitzig. Anthelia sah sie sehr kritisch an und meinte dann:

"Um dies mit dir zu vollziehen bist du eindeutig zu jung. Also verwerfe diese Idee wieder! Au Revoir!" Mit diesem in ihrer Muttersprache geäußerten Abschiedsgruß disapparierte Anthelia aus Gwendas Haus.

"Gut, warten wir auf deine Leiche, Anthelia", dachte Gwenda. Sie wußte, ehe nicht eindeutig klar war, daß Anthelia tot war, konnte sie nicht zu den anderen entschlossenen Schwestern zurückkehren. Denn Anthelias Treuefluch würde sie umbringen, wenn sie sich von ihr lossagte. Das brachte sie in ständige Gefahr, wenn sie mit Lady Ursina oder deren Nichte Proserpina zusammen war, die zwar ahnten, daß Gwenda einer anderen die Treue hielt, es aber nie wagen würden, es von ihr bestätigt zu bekommen. Denn wie der Treuefluch Anthelias wirkte wußten die entschlossenen Schwestern Großbritanniens zu gut.

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Jason Booth war Buschpilot und arbeitete für den Fliegenden-Doktor-Dienst. Sein Revier war das Buschland westlich von Melbourne. Sein Job war hart und auch gefährlich. Denn immer wieder mußte er auf haarsträubenden Pisten landen oder gar auf unbearbeitetem, von Überschwemmung oder Sandstürmen verwüstetem Boden aufsetzen. Dr. Bryan Carrigan, mit dem er meistens unterwegs zu den verstreut lebenden Farmern flog, wenn die gesundheitliche Anliegen hatten, paffte gerade wieder an einer Zigarre und vernebelte die Sicht auf die Instrumente der zweimotorigen Cessna. Booth, der selbst Zigarettenraucher und leidenschaftlicher Biertrinker war, war der letzte, dem Arzt das Rauchen verbieten zu wollen. Doch als die Qualmwolken aus der Zigarre ihm gerade mal wieder den Kompaß vernebelten rief er nach hinten:

"Doc, ist vielleicht besser, wenn Sie den kubanischen Sargnagel nicht gerade dann rauchen, wenn ich gerade den Kurs prüfe. Hier in der Gegend ist es mit den Landmarken ziemlich essig."

"Ich dachte schon, du wolltest mir das Rauchen ausreden wie die Kollegin Grisham, Jason", erwiderte Doc Carrigan mit angerauhter Stimme. "Ich dachte, du könntest die Station vom alten Fender schon sehen."

"Ist noch knapp 'ne Viertelstunde dahin, Doc. Möchte nur wissen, was der wieder hat."

"Seine Tochter kriegt bald was kleines. Ich soll checken, ob sie besser in die Stadt in die Klinik geflogen wird, bevor sie nicht mehr transportiert werden kann. Ansonsten soll die alte Maggy Smith bei der Hebamme sein."

"Wie alt ist die kleine?" Fragte Booth.

"Zu alt für dich jungen Hüpfer. Dreißig Jahre", erwiderte Carrigan und blies eine neue Qualmwolke aus.

"Huch, schon fast vor Toresschluß", scherzte der Pilot und warf einen Blick hinaus, um jene Eukalyptusgruppe zu suchen, die ihm zeigte, wohin er sich wenden sollte. Die große Schafstation, die bald so groß wie die britische Hauptinsel war, verfügte über mehrere eingezäunte Bereiche, in denen die Schafe nachts untergebracht waren. Die ganze Anlage wurde von kilometerlangem Stacheldraht abgegrenzt. Die inneren Anlagen standen sogar unter Strom, um all zu aufdringliche Dingos abzuhalten.

"Ach, da sind die glorreichen sieben", sagte Booth, als er die sieben hoch aufragenden Eukalyptusbäume in Zwei-Uhr-Richtung entdeckt hatte.

"Dann müßte der Außenzaun gleich auftauchen", meinte Carrigan. "Ruf dann mal über den Zivilkanal an, ob Fender schon die Landebahn klar hat.!"

"Der wird wohl in seinem Landhaus warten. Dahin ist's noch eine halbe Stunde, Doc", informierte der Pilot den Arzt über etwas, was dieser doch schon längst wußte. Dann sah der Pilot etwas, das ihm in seinen dreißig Berufsjahren noch nie untergekommen war.

"Doc, ich glaube ich sollte mich mal von deinem Kollegen Paulsen untersuchen lassen. Da unten ist 'ne Meute Dingos und die rennen wie der Teufel vor etwas weg ... das kann nicht angehen. Bryan, guck mal raus und sag mir was du da siehst!"

"Moment", erwiderte der Arzt und löschte vorsorglich die bis auf ein Viertel ausgerauchte Zigarre. Dann warf er einen Blick zum Steuerbordfenster hinaus, peilte über die Tragfläche und den wirbelnden Schemen des rechten Propellers hinweg nach unten. Da sah er die sieben Wildhunde, die so manchem Schafzüchter Australiens ins Kontor schlagen konnten. Tatsächlich rannten die Raubtiere davon, als wenn sie keine Jäger sondern Gejagte wären. Ja, und da sah er auch, vor was sie so sehr auf der Flucht waren. Er zwinkerte und blickte dann noch einmal genau hin. "Jason, mal ein paar hundert Fuß tiefer!" Befahl er. Da sie gerade in knapp dreitausend Fuß oder auch tausend Metern Höhe flogen machte ein Absinken keine Probleme. Der Pilot senkte die Nase der zweimotorigen Maschine und steuerte das Flugzeug um knapp fünfhundert Fuß abwärts. Dabei zog er eine elegante Rechtskurve, um in die Laufrichtung der Dingos einzuschwenken. Bryan Carrigan blickte noch einmal auf die dahinjagende Meute und sah es nun noch deutlicher. Er griff unter den Sitz neben sich, wo eine festgeschnallte Kameratasche war. Bryan Carrigan war leidenschaftlicher Amateurfotograf, der die Einsatzflüge gerne benutzte, um besondere Landschaftsmerkmale mit dem Teleobjektiv einzufangen. Wenn sie nachts unterwegs waren konnte er sogar Tierfotos mit einer Infrarotkamera machen, die er auf entsprechenden Hobbymessen gerne vorstellte. Manche davon verkaufte er sogar, um davon den Fliegenden-Doktor-Dienst mitzufinanzieren. Denn er war Idealist und arbeitete nicht des reinen Gehaltes wegen als fliegender Arzt. Jetzt zog er seine Kamera aus der Tasche und fragte den Piloten, ob er dieses absolut fremdartige Geschöpf da unten immer noch sah.

"Sowas kann's doch nicht wirklich geben, Bryan. 'ne Riesenspinne wie bei Tarantula."

"Im Verhältnis zu den von ihr verfolgten Dingos ist sie nicht wesentlich größer als sechs Fuß. Aber für eine echte Spinne wäre das auch schon übergroß", sagte der Arzt. Er dachte an Horrorvisionen von mutierten Tieren, die durch radioaktive Strahlung, künstliche Substanzen oder verwerfliche Genversuche entstanden. Doch als Arzt mußte er diese Vorstellungen für blanke Fiktion halten. Selbst wenn es immer wieder Leute gab, die warnten, daß der Uranabbau solche Mutanten hervorbringen konnte und er Mutation durch Strahlung nicht grundsätzlich abstreiten durfte, konnte er sich nicht vorstellen, daß ein Gliederfüßer größer als fünfzig Zentimeter werden konnte. Allein die Atmung der Insekten verbot es, daß sie so groß wie Schafe oder schweine werden konnten. Dafür war zu wenig Sauerstoff in der Atmosphäre, um die Tracheen großer Insekten mit genug davon anzufüllen. Die 21 Prozent Luftsauerstoff konnten nur von Lungenatmern ausgeschöpft werden. Somit war die Größe von Insekten und Spinnen deutlich begrenzt. Früher, Anno Saurier, konnten solche Monsterspinnen herumlaufen, weil die da üppige Urwaldflora genug Sauerstoff freisetzte. Doch er sah trotz aller Bedenken genau so ein monströses Spinnentier hinter sieben Dingos herlaufen, die mit der Umstellung von Jäger auf Beute offenbar sehr schwer zu kämpfen hatten. Das mußte er unbedingt knipsen. Denn sowas glaubte ihm später kein Mensch, auch wenn Jason dieses Untier da unten auch sah.

Es kostete ein wenig Zeit, um die Kamera schußbereit zu machen. Dann endlich konnte er die Riesenspinne durch sein Teleobjektiv erfassen und drückte den Auslöser. Klickend sprang der Verschluß vor dem lichtempfindlichen Film weg. Da es noch hell genug war kam die Kamera mit einer sehr kurzen Belichtungszeit aus. Schnarrend wurde der Film transportiert, als das Bild im Kasten war. Noch einmal drückte Carrigan den Auslöser. Noch ein Bild der jagenden Monsterspinne wurde auf Film gebannt. Dann erreichte das Untier den langsamsten Dingo. Totaler Rollentausch, dachte Carrigan, als er die Kamera auf Serie umschaltete und den Auslöser gedrückt hielt. Klick für Klick fing die Kamera nun die Szene ein, wie die Spinne den Dingo überwältigte und ihm ihre mörderischen Beißscheren in den Leib trieb. Zu hören war in dieser Höhe natürlich nichts. Doch an den Kopf- und Maulbewegungen des Wildhundes konnte Carrigan erkennen, wie sehr das Tier litt und seine Todesqualen hinausschrie, während der Rest seiner Meute weiterrannte. Sie dachten nicht einmal daran, dem überfallenen Artgenossen beizustehen. Offenbar erkannten die Räuber, daß ihnen hier wer weit überlegen war. Carrigan hatte während des Studiums natürlich einiges über Spinnen gelernt. Wer in Australien praktizieren wollte mußte diese Tiere kennen. Denn hier gab es Arten, deren Gift für Menschen tödlich war. So wußte er, wie eine Spinne ihre Beute fraß. Doch es jetzt um einen Faktor hundert oder mehr vergrößert zu sehen und keine Fliege, sondern einen Dingo als Beute zu sehen war nichts für ein zartes Gemüt. Carrigan sah, wie das Fell des Dingos in der ausgewürgten Magensäure der Spinne zerfiel, wie sich die ätzende Brühe mit dem Blut vermischte und dennoch nicht in ihrer zersetzenden Wirkung nachließ. Er sah, wie das Monster den niedergestreckten und nun vom Gift entweder gelähmten oder vielleicht doch schon getöteten Wildhund regelrecht aussaugte, wenn dessen Fleisch zu einem halbflüssigen Brei zerlaufen war. Dann war der Film voll. Bryan Carrigan nahm die Kamera von seinem Gesicht weg. Nun sah er das Drama aus großem Abstand. Leise surrend rollte die Automatik den vollständig mit Bildern belichteten Film auswechselbereit auf.

""Ruf die Polizei oder besser gleich die Armee, Jason! Wie viel Treibstoff hast du noch?"

"Vier Stunden ohne Gegenwind, Bryan", meinte der Pilot verstört.

"Okay, dann bleiben wir jetzt über diesem Biest und verfolgen es. Es darf nicht in die Nähe von Menschen kommen, die keine Panzerfäuste oder Flammenwerfer mithaben", stellte der Doktor klar. Der Pilot verstand und klappte das Mikrofon seines Sprechbestecks vor den Mund. Doch als er auf der Ruffrequenz für die australische Luftraumüberwachung seine Meldung durchgegeben hatte, glaubte ihm das natürlich keiner. Bryan Carrigan nahm das Mikrofon und bestätigte die Sichtung einer menschengroßen schwarzen Spinne und auch, daß er Fotos davon geschossen hatte.

"Doc Carrigan, Spinnen, die Dingos fressen können gibt's nur auf dem Jupiter", bekam der Arzt dann über den zugeschalteten Lautsprecher zu hören.

"Okay, dann erklären Sie mir bitte mal, wie wir mit unserem Flugzeug diese Riesenstrecke in so kurzer Zeit geflogen sind und aus der Entfernung noch glasklare Funkverbindung halten können, junger Mann!" Stieß der Arzt aus. "Ich habe die Spinne genauso gesichtet wie mein Pilot, Captain Booth. Ich habe auch gestochen scharfe Fotos davon. Nach meiner unmaßgeblichen Meinung als Mediziner handelt es sich nicht um eine mutierte Art der einheimischen Arten. Ich werde die Bilder einem Zoologen zur genauen Bestimmung übergeben. Aber jetzt ist erst mal wichtig, daß das Tier daran gehindert wird, Menschen anzugreifen."

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"jetzt ist das Biest bei Melbourne gesichtet worden", stöhnte Lawrence Bowman, der seit nunmehr acht Monaten als Sonderbeauftragter des australischen Zaubereiministeriums auf der Suche nach einer unheimlichen schwarzen Riesenspinne war. Er erinnerte sich noch zu gut daran, wie sie die Überreste von Clark Stabbins in einer Höhle in der Wildnis bei Alice Springs gefunden hatten. Er hinterließ eine Frau und zwei Kinder, die sofort nach Stabbins Verschwinden in ein mit Schutzzaubern umspanntes Haus verlegt worden waren. Und jetzt jagte diese Spinne in der Nähe von Melbourne. Zwischendurch hatte die also immer wieder ihre Gestalt wechseln und arglose Zauberer und Hexen um deren Zauberstäbe erleichtern können. Doch ein winziger Trost verblieb den Ministeriumszauberern: Offenbar konnte die Spinnenfrau aus Atlantis die geraubten Zauberstäbe nur solange behalten, wie sie als Frau herumlief. Doch dabei bot sie einiges auf. So hatte sie im Juli einen Trupp aus fünf Zauberern für eine halbe Stunde aktionsunfähig gemacht. Sie konnte ihre Lebensaura verdunkeln, solange sie Frau war und setzte sich immer weit genug ab, wenn sie wußte, daß man sie jagte. Erst dann, wenn wieder einmal eine große Spinne gesichtet worden war, ging es mit der Jagd weiter. Doch als Riesenspinne widerstand sie allem, was nur kurzfristig wirkte und ließ sich auch vom Todesfluch nicht beeindrucken. Welche Macht hatte dieses Frauenzimmer erworben, um derartig gut geschützt zu sein? Dann war diese aus England zugereiste Heilerin Dawn auf die Idee verfallen, das Ungetüm irgendwo hinzulocken, um es mit ständig neu auffrischenden Schlafzaubern zu bannnen. Können vor lachen, hatte Bowman da gedacht. Doch andererseits hatte er keinen besseren Vorshlag auf Lager. So hatte er erarbeitet, wie es gelingen konnte, mit einer Truppe aus mindestens zwanzig Zauberern und Hexen das Monster mit Schlafzaubern zu betäuben, bis es eine Möglichkeit gab, es dauerhaft wegzusperren, da sein Ursprungsort, der Eyers Rock, sich nach Verlassen dieses Ungeheuers selbst verschlossen hatte.

"Wo sind diese fliegenden Knochensäger jetzt?" Fragte Bowman Benjamin Greypowder, seinen Verbindungsmann zum Muggelkontaktbüro durch Kontaktfeuer.

"Moment, unser Funkhorcher bekommt die genauen Koordinaten gerade herein. A ja, hier genau", sagte dieser und wedelte mit einem Zettel, auf dem die Längen- und Breitengrade verzeichnet waren. "Schon eine gute Erfindung, dieses GPS."

"Das lass meinen Sohn nicht hören, Ben. Der ärgert sich, daß die ganzen künstlichen Monde der Muggel ihm die direkte Sicht auf schwache Sterne oder die Planeten durchkreuzen", erwiderte Bowman. Irgendwann hatte man ihm in Ruhe erklärt, was das Globale Positionsbestimmungssystem war und daß es eigentlich für US-amerikanische Kriegsschiffe und -flugzeuge gedacht gewesen war, um noch besser ihre ausgewählten Feinde angreifen zu können, bestenfalls mit unbemannten Fluggeräten, die mit Hilfe dieses Standortbestimmungssystems in ein Zielgebiet gesteuert werden konnten. Er lehnte es grundwweg ab, alles, was zum Krieg erfunden worden war, als Segen für die Menschheit anzuerkennen. Dennoch mußte er hier und heute zumindest einräumen, daß die genaue Standortbestimmung der Riesenspinne ein schnelles Eingreifen der Abwehrzauberer möglich machte. So merkte er sich die Positionsangaben und zog den Kopf aus dem Kamin zurück.

"Alarmtrupp schwarze Spinne unverzüglich bereitmachen!" Rief er in einen Trichter, der durch Schallverpflanzungszauber mit zehn Mehrlingen von sich verbunden war. Dann bellte er noch die genauen Koordinaten in diesen Trichter und bekam zehn Klarmeldungen zur Antwort. Dann suchte er auf einer Karte selbst das bezeichnete Gebiet und flohpulverte in die Sternfunkelgasse in Canberra, die beschaulicher war als die Sonnenstrahlstraße von Sydney, aber für Ministerialbedienstete alles bot, was sie zum Privatleben so brauchten.

"Nachricht an das MVB, wenn die Muggels da oben irgendwo landen sofort Gedächtnismodifizieren", befahl Bowman mit Blick auf das über ihnen wie eine stählerne Fliege brummende Flugzeug, das den fliegenden Ärzten gehörte, die ohne Magie ein ähnlich passables Eingreifen bei Erkrankungen möglich machten wie es bei den magischen Heilern üblich war.

Zwanzig Zauberer waren in der mobilen Eingreiftruppe vereinigt. Alle waren sie da. Bowman ließ ausschwärmen und nach den magischen Schwingungen der Riesenspinne suchen. Dieses Biest hatte nicht mitbekommen, wie es vor einem Monat entsprechend erfaßt worden war.

"In Nordostrichtung ist es!" Rief Calahan, ein fuchshaariger zauberkunstexperte, der aber auch für die Jagd auf marodierende Zaubertiere gut geeignet war. Sofort rückten sie alle auf fliegenden Besen aus und scherten sich nicht um die Muggel im Flugzeug. Dafür war Herbert Wavecrest zuständig, der nach Vorgaben der zeitweilig hier tätigen June Priestley einen Unfunk-Kristall gebaut hatte. Der kegelförmige Gegenstand vermochte ähnlich wie der Unfeuerstein, bestimmte Vorgänge im Umkreis zu unterbinden, in diesem Fall gleichmäßig schwingende elektromagnetische Wellen. Wavecrest flog mit seinem Besen hinter der zweimotorigen Cessna her und hielt den Zauberstab an den Kristallkegel. Damit würde nun im Umkreis von zwei Meilen um den Kristall jede Funksendung in unverständliches elektrisches Geprassel zerlegt, egal, auf welcher Wellenlänge des unsichtbaren Radiobandes sie gesendet wurde. Wavecrest konnte locker mit der Propellermaschine mithalten, weil sein Willy-Willy 7 knapp siebenhundert Stundenkilometer erreichen konnte. Das Muggelverbindungsbüro würde bereits Leute in die Funkstationen schicken, die die Männer im Flugzeug alarmiert hatten. Weitere Funksendungen würden nicht mehr durchkommen. So entging Wavecrest der größten Blamage des australischen Zaubereiministeriums.

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Naaneavargia hatte nicht damit gerechnet, daß sie so früh aufgespürt wurde. Hatten diese Leute da oben im eisernen Vogel tatsächlich Verbindung zu den Trägern der Kraft oder hatten diese lediglich gelauscht, was die da oben ihrer Verbindungsstelle am Boden zu erzählen wußten? Egal! Im Moment zählte nur, daß gerade mehr als zehn Zauberer in ihrer Nähe erschienen waren und sofort auf sie losgingen. Sie flogen auf jenen hölzernen Stangen mit sich gabelnden Enden, die sie Besen nannten. Damit waren sie ihr an Geschwindigkeit und Beweglichkeit überlegen. Woher sie wußten, wo genau sie war wußte Naaneavargia nicht. Denn sie hatte versäumt, sich über den neuesten Stand der Jagd auf sie auf dem Laufenden zu halten. So konnte sie erst einmal nichts dagegen tun, als sie von den fliegenden Zauberern eingekreist wurde, die sofort mit neuartigen Schlafbannen auf sie einwirkten. Sie fühlte, daß sie dieser geballten Kraft nicht lange widerstehen konnte. Zwar verstand sie sich auf eine wirksame Schutzkraft, konnte diese aber nur aufrufen, wenn sie als Menschenfrau herumlief. Sie merkte bereits, wie die gebündelten und immer wieder nachgewirkten Schlafströme auf sie einwirkten, ihre Beweglichkeit lähmten und ihre Gedanken immer träger werden ließen. Wenn die das noch länger durchhielten war sie in einem Tausendsteltag kampfunfähig. Sie hatte nur noch eine Möglichkeit. Sie mußte so tun, als sei sie bereits erledigt. Sie ließ sich fallen, wobei sie bewußt alle acht Beine nach oben streckte. Aus dieser Lage konnte sie nur bei vollem Bewußtsein wieder herauskommen. Tatsächlich ließ die Hauptmacht der Angriffe nach. Vier Zauberer stürmten vorwärts und richteten ihre Stäbe auf die schwarze Spinne. Da begann diese sich zu verwandeln. Es dauerte keine zwei Herzschläge, da lag auf dem Boden eine Frau mit goldbrauner Haut und schwarzem Haar in einer unanständig einladenden Pose. Die vier Zauberer erstarrten im Lauf. Das nutzte die Schwester Ailanorars aus, um ihren Trumpf auszuspielen, die Kunst, feste Körper aus der Ferne zu bewegen. Mit einem gezielten Gedanken pflückte sie dem vordersten den Zauberstab aus der Hand und ließ ihn wie einen Speer zu sich hinfliegen. Das ging so schnell, daß die Angreifer total überrascht waren. Hatte ihnen der Jüngling Julius Erdengrund also nicht verraten, daß sie das konnte? Jedenfalls bekam sie den Stab richtig zu fassen und deutete schnell auf ihre Körpermitte: "La'anaigandri Maha-miri Golawani yanaviri", stieß sie aus. In ihrer Ursprungssprache hieß dies "Freude soll mein fleischlich Leben, euch nun zur Begierde geben!" Sie wußte nicht, daß ein ähnlicher Zauber Jahrtausende später von den alten Römern Auraveneris-Fluch genannt werden würde. Sie hoffte nur, daß er seine Wirkung in dieser Zeit nicht verloren hatte. Unvermittelt glühte eine violette Aura um die nackte Naaneavargia auf, die sich scheinbar aus ihrem Schoß heraus bildete und während die Spinnenfrau weitersprach die Umgebung erfaßte. Die vier Zauberer, die gerade an vorderster Front standen, bekamen erst glückselige Gesichter, um dann mit einem immer größeren Begehren nach der unbekleideten Schönheit, die alles andere überstrahlte, was sie je gesehen hatten, auf sie zuzugehen. Wer Naaneavargia nun ansah verfiel dem Zauber auf der Stelle. Die bisher noch versuchten den Schlafbann auf sie zu legen erstarrten und verfielen dann der Wirkung der sich weiter ausdehnenden Zauberkraft. Naaneavargia sah mit innerer Genugtuung, wie die Truppe um sie herum immer dichter zusammendrängte. Dabei sprach sie die Worte weiter aus, die sie gerade zum Objekt der größten Begierde machte, dem niemand ein Leid zufügen durfte und jeder für sich alleine besitzen wollte. Naaneavargia sprach die Worte weiter, bis sie erkannte, daß sie die sie bedrängenden gerade wie Wachs in der Kerzenflamme zum schmelzen gebracht hatte. Doch ihre Gegenwehr war damit noch nicht beendet. Denn sie fügte in die weitergesprochene Beschwörung noch Worte ein, die jeden, der sie begehrte eifersüchtig und Angriffslustig machte. So kam es dann, daß die wie Motten vom licht angezogenen Zauberer unvermittelt aufeinander losgingen, mit Fäusten und mit Tritten, aber auch mit Zauberkraft. Innerhalb weniger Sekunden tobte um Naaneavargia herum eine wüste Keilerei, weil jeder die Konkurrenz aus dem Feld schlagen wollte. Die Unersättliche genoß es innerlich, wie sich die Dummköpfe gegenseitig niederfluchten, einander bewußtlos schlugen und übereinander herfielen, um sich das alleinige Recht an der überragenden Schönheit und Quelle aller Freuden zu ergattern. Erst als die Spinnenfrau sicher sein konnte, daß keiner mehr gegen sie kämpfte und sie freie Bahn hatte, wirkte sie mit einem einzigen Wort den Gegenzauber: "Katarrash", was "Weiche Täuschung" hieß. Wer jetzt noch bei Bewußtsein oder unversehrt war verspürte eine unsagbar niederschmetternde Enttäuschung, weil der Quell der grenzenlosen Freuden so schlagartig versiegt war. Diesen Moment der Überrumpelung nutzte die Altaxarroia aus um mit dem erbeuteten Zauberstab den kurzen Weg zu öffnen, um sich an die Ostküste des großen Inselerdteils zu versetzen.

Es dauerte eine Minute, bis alle noch wachen Zauberer erfaßten, wie heftig sich die Spinnenfrau ihrer entledigt hatte. Sieben Kollegen mußten mit Fluchschäden in die Sana-Novodies-Klinik eingewiesen werden. Die anderen waren nur zu Tode beschämt, derartig leicht verladen worden zu sein. Auch Bowman, der in der violett umflimmerten Frau die größte sexuelle Verheißung seines Lebens gesehen und zwei Kollegen mit Verunstaltungsflüchen aus dem Feld geschlagen hatte, empfand eine ihm bis dahin unbekannte Schmach, derartig leicht ausgeschaltet worden zu sein. Sie alle hatten geglaubt, sie hätten die Spinne niedergeworfen. Dabei hatte diese sie alle genarrt und die doppelte Überraschung der Verwandlung und der telekinetischen Erbeutung eines Zauberstabs genutzt und genug Zeit herausgeholt, ihren uralten und doch so übermächtigen Zauber zu wirken, der sie alle zu liebestollen Schlägern gemacht hatte. Wie sollte er diese Blamage vermerken? Ihm war hier und heute vorgeführt worden, daß dieses Weib Zauberer wie Schneeflocken auf einer heißen Herdplatte dahinschmelzen lassen konnte, wenn sie wollte. Die Anzahl war unerheblich, wenn jeder sie ansehen mußte. So würde nichts anderes übrigbleiben, als gemischte Kampftruppen auszuschicken, falls Hexen unter dem Einfluß dieses Zaubers nicht ebenfalls ausrasteten und aufeinander eindroschen oder ihre männlichen Kollegen mit Gewalt daran hindern wollten, sich der Spinnenfrau zu nähern, die einmal mehr gezeigt hatte, welch mächtiges Erbe sie in sich trug. Der einzige Erfolg an diesem Tag war der, daß die Funkmeldung über eine schwarze Riesenspinne widerrufen wurde und aus der Spinne ein neuartiges Geländefahrzeug wurde, das die Dingos gejagt hatte. Die Fotos des Zigarrenrauchers Carrigan verschwanden ebenso im Nichts wie alle Tonbandaufzeichnungen aus dem Cockpit der Cessna. Die australische Zaubererwelt war um Haaresbreite ihrer Enthüllung entgangen. Doch die schwarze Spinne existierte weiter. Wie mächtig sie werden konnte gab zu denken. Doch an dem Vorhaben wurde nichts geändert, sie entweder in dauerhaften Tiefschlaf zu versenken oder zu töten. Der nächste Angriff sollte mit Eis und Feuer vorgetragen werden. Denn die gegen jede Magie immunen Wertiger konnten damit besiegt werden. Womöglich halfen diese Mittel auch gegen die schwarze Spinne, von der nur bekannt war, daß sie aus dem Eyers Rock entkommen war.

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"Entweder ergründe ich das Geheimnis der Spinne oder finde auf dem südlichen Erdteil ein Schlupfloch, um die nötige Therapie zu erhalten. Ansonsten muß ich mich wohl damit abfinden, die Wiederempfängnisprozedur mit Schwester Donata oder Schwester Gundulla zu vollziehen, sofern ich Tyche nicht das Medaillon überlasse und den Gürtel sicher verstecke, bis ich einen neuen Leib mein eigen nennen kann", dachte Anthelia, als sie wieder in ihrem Hauptquartier war. Dido schlief schon, und Anthelia mußte noch den Schlaf nachholen, um zumindest gegen alle anderen Formen des Todes gewappnet zu sein. Morgen wollte sie ihr Blut austauschen. Die Vorbereitungen waren schon angelaufen. Mehr war ihr im Moment nicht möglich.

Als dann der andere Tag kam stellte Anthelia mit großer Bestürzung fest, daß sie sich nicht mehr als drei Teelöffel Blut entnehmen konnte, bevor ihr Gürtel der zwei Dutzend Leben mit einem warmen Energiestoß durch ihren Körper ihre Wunden schloß. Warum verweigerte ihr der Gürtel eine so wichtige Heilbehandlung? Da fiel ihr ein, daß der Gürtel alle Arten von Erstechen und Erschießen und Gefressenwerdens abwehrte und damit auch jeden Versuch, ihr mehr Fleisch und Blut zu entreißen. Damit konnte sie den vollständigen Blutaustausch vergessen, solange sie den Gürtel trug. Sie versuchte, ihn abzulegen. Doch dabei erlebte sie die nächste Enttäuschung. Der Gürtel saß wie in ihr Fleisch eingewachsen fest und ließ sich nicht mehr lösen. Ihre Bemühungen, ihn abzustreifen versagten. Offenbar wirkte der Zauber des Gürtels zu sehr gegen den in ihr ablaufenden Verfall an, als daß er seine Trägerin verlassen wollte. Anthelia fluchte und schimpfte, war den Tränen nah und dachte schon daran, den Gürtel durch Dämonsfeuer zu zerstören, auch wenn sie selbst dabei sterben mochte. Dann erkannte sie, was geschah. Der Gürtel hatte ihren Zustand als Vergiftung erkannt und wirkte dem entgegen. Doch mit jedem Tag, den sie überlebte, wirkte die Vergiftung stärker, weil es eben keine tierische oder pflanzliche Vergiftung war. Sie erkannte, daß es von vorne herein sinnlos gewesen wäre, sich der Therapie Tim Prestons zu unterziehen. Sie hätte den Gürtel nicht ablegen können. Und dieser kämpfte einen verzweifelten Kampf gegen ein Gift, auf dessen Herkunft und Wirkungsweise er nicht abgestimmt worden war. Jetzt wußte sie auch, wieso sie nicht mehr so gut in ihre Zweitgestalt schlüpfen konnte. Der Gürtel entzog ihr bei seinem Kampf gegen die Verseuchung zu schnell Ausdauer. Das wiederum, so erkannte Anthelia mit der gnadenlosen Fachkompetenz einer Heilerin, würde jedoch den Zerfallsprozess immer weiter beschleunigen. Der Gürtel der zwei Dutzend Leben würde sie am Ende umbringen, sofern sie sich nicht bald dazu bereitfand, eine ihrer Mitschwestern zu bitten, sie wiederzuempfangen. Denn dabei würde sich der Gürtel zwangsläufig von ihr lösen, wie er es am fünfzehnten November 1997 hatte tun müssen. Sie dachte daran, daß Plan A wie Auskurieren gescheitert war. Würde sie nicht bald erfahren, was es mit der schwarzen Spinne auf sich hatte konnte sie nur noch Plan B wie Brutmutter oder Baby retten. Oder sie rettete ihre Seele in das Medaillon und ließ Bartemius Crouches wertlos gewordene Hülle ohne Empfindung dahinwelken und absterben, während ihr Geist auf eine neue Chance hoffte, solange Tyche Lennox das Medaillon trug.

Durst! Der Durst wurde langsam lästig. Jeden Tag mußte sie zwei Gallonen Wasser trinken. Ihre Körpertemperatur war bereits erhöht. Bald würden die Schmerzen kommen und die roten blasen auf der Haut. Mit der Bluterneuerung hatte sie gehofft, den Prozess hinauszuzögern. Doch nun ging ihr auf, daß sie das nächste Halloween nicht mehr in diesem Körper erleben würde. Wenn Daianira, die jetzt Lysithea hieß das gewußt hätte, dann hätte sie bei ihrer Wiedergeburt wohl lauthals gelacht.

"Im Land der Beuteltiere entscheidet sich also mein Schicksal. Wäre vielleicht doch interessant geworden, jene Prophezeiung zu hören, die die alte Edwine Bleuchamp bei meiner bisher einzigen Geburt meiner Tante verkündet hat", dachte Anthelia. Dann fiel ihr ein, daß sie, wenn sie das Medaillon an Tyche Lennox aushändigen wollte, die darin gefangene Seele von Justin Spikes freisetzen mußte. Das hatte sie bisher noch nie getan, weil sie nicht wußte, ob die so aus den Fesseln der Einkerkerung entlassene Seele nicht als rachsüchttiger Geist in der Welt verbleiben würde. Das fehlte ihr noch, ein Gespenst mit dem Wissen und der Feindschaft der My-Truppe Wishbones. Aber sie mußte ihn loswerden, sonst war ihr der Weg dorthin versperrt.

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Er schwebte vor seinem Nachfolger, dem Stammeszauberer, Medizinmann oder wie immer die Weißen Maru Larujalla auch immer nannten. Der kleine Mann mit der nachtschwarzen Haut verbeugte sich vor dem erhabenen Geist des großen Vorgängers Yati und dachte in Demut an die wichtigen Lehrstunden, die er von diesem erhalten hatte. "Du darfst uns weiterlehren, großer Lehrmeister?" Fragte Maru. Der als silberfarbener, vom hinter ihm stehenden Mond durchleuchtete Geist Yati Wullayatas machte die für seinen Stamm als Bejahung bekannte Geste und sprach mit wie aus fernen Sphären heranschwebender Stimme:

"Das von schwarzem Gift zur ruhelosen Jagd getriebene Weib ist nicht in seine Höhle zurückgetrieben worden. Uluru hat das Tor zu den Hallen der Traumzeit verschlossen. Wenn wir den Weißen nicht helfen, die ihren Zauber nicht aus den Wünschen und Kräften der Ahnen schöpfen, wird uns die entfesselte Schwester des großen Herrn der Winde bald unsere Söhne und Töchter rauben. Denn das Land unserer Ahnen und das der anderen Stämme birgt zu viele Möglichkeiten, sich vor den Weißen zu verbergen. Rufe alle, die die Gaben haben, die Magie der Ahnen und der Seelen in den Bäumen und Steinen zu erbitten am heiligen Berg Uluru zusammen und lasse sie hören, wie wir unsere Kräfte nutzen können, um die unersättliche Spinne zu finden!"

"Sie hat die fünf Brüder besiegt. Einer von ihnen mußte in die Welt der Ahnen eingehen, obwohl er in unserer Welt bleiben wollte, um üble Zauber und Wesen zu bekämpfen", erinnerte Maru Laruyalla den erhabenen Geist seines Lehrmeisters daran, was passiert war. Yati bestätigte es. "Ihre Magie entstammt der Traumzeit. Sie lernte, ihr übles wollende Seelen zu verstoßen oder zu verschlingen, wie sie es auch mit mir versuchte, als ich ihre Flucht verhindern wollte", seufzte der gewesene Magier der Anangus.

"So werden wir die Kraft unserer Spürsinne weiter verdichten, in den Seelen der Tiere und Pflanzen nach ihrer Lebensgegenwart forschen, um sie nicht entkommen zu lassen", sagte Maru entschlossen.

"Holt alle die zum heiligen Berg Uluru, wo ihre Flucht begann, die die Macht der Magie nutzen können. Lasst uns den großen Zauber der Suche tanzen und singen!" Befahl Yati Wullayata. Maru verbeugte sich erneut und bekundete, diesen Befehl aus der Geisterwelt auszuführen.

Die fliegenden Gedanken, eine von den Ureinwohnern seit Jahrtausenden gebrauchte Form der Fernverständigung, jagten unsichtbar, unhörbar und unaufhaltsam über den Erdteil mit dem roten Herzen hinweg und erreichten ihre Empfänger. Ein Großmeister der alten Magie konnte damit tausende von Kilometern überwinden, ja sogar mehrere Empfänger auf einmal erreichen, was die fliegenden Gedanken dem Mentiloquismus überlegen machten. Hinzu konnten damit nicht nur Worte, sondern auch Bilder, Gefühle und Richtungen weitergegeben werden. So knüpfte sich von den weißen Siedlern Australiens unbemerkt ein magisches Nachrichtennetz, das sonst bei bevorstehenden Stürmen und Waldbränden verwendet wurde, um Stammesangehörige oder Nachbarstämme frühzeitig zu warnen oder zu Hilfe rufen zu können. So brauchten die australischen Ureinwohner keine Funkgeräte wie die auf ihre technische Überlegenheit schwörenden Weißen. In einem Tag waren die mächtigen Zauberer des ganzen Erdteils informiert. Da die meisten nicht die Kunst des Apparierens beherrschten, würde es jedoch Dauern, bis sie am von Yati vorgeschlagenen Platz eintrafen. Außerdem galt es, nicht genau dann am roten Berg Uluru zusammenzutreffen, wenn die nichts ahnenden Besucher aus aller Welt dort herumliefen, ja sogar auf ihn hinaufstiegen, ohne seine Erhabenheit wirklich anzuerkennen. An diesem alten Sandsteinberg hatte es schließlich begonnen. Maru fühlte, als er am Nachmittag des Tages, den die Weißen siebzehnten September nannten, den Berg umrundete, wie die dort Jahrelang wirkende Kraft immer mehr einschlief. Offenbar hatte sie nur dazu gedient, das Erbe des großen Windkönigs und dessen verzauberte Schwester zu hüten. Wußte der zauberstarke Weiße, der es gewagt hatte, in den heiligen Berg hineinzufliegen, was er da angerichtet hatte? Yatis erhabener Geist hatte Maru beteuert, daß der weiße Junge keine andere Wahl gehabt habe und Yati mit einem großen Zauberer aus einem fernen kalten Land vereinbart hatte, ihm zu helfen, um grausame Dämonen aus dunklen Kräften der Erde besiegen zu können.

Maru sah die letzten Besucher, die den sicheren Pfad vom Uluru herabstiegen. Innerlich glühte das Feuer der Wut, daß diese weißen Eindringlinge, die weder Achtung noch Verwendung für die Ahnen dieses Landes besaßen, diesen heiligen Berg bekrabbelten wie Käfer ein totes Känguruh. Doch auch wenn er ein Meister der Flammen und der Winde war durfte er seine Macht nicht wie er wollte ausspielen. Denn keiner wußte, warum die Ahnen und die großen Geister der Traumzeit es zugelassen hatten, daß die Weißen ihr Land erobern konnten, erst ihre Gefangenen hier abgeladen hatten und dann meinten, diesen großen Erdteil nach ihren Vorstellungen umgestalten zu müssen, ohne die in den Steinen und Pflanzen wohnenden Geister zu fragen, ob sie das überhaupt durften.

Maru blickte auf jene von den Weißen aus Steinen zusammengebauten Wohnhöhlen, wo die saßen, die meinten, bestimmen zu dürfen, wer wann den Uluru ersteigen durfte. Er öffnete seinen Geist für die Strömungen, die vom roten Sandsteinberg ausgingen. War es damit vielleicht möglich, die gefährliche Zauberin, die dunkles Gift aus längst vergangener Zeit dazu verdammte, auf ewiger Jagd zu sein, zurück an diesen Platz zu holen? Wenn es gelänge, sie wieder dort einzusperren, wo sie in tiefen Schlaf fallen mochte, waren sie wieder sicher. Doch die magischen Kräfte des Uluru schliefen ein. Maru Laruyalla fürchtete, daß dann der große Berg in sich zusammenstürzen würde, was er als Ende der Welt ansehen mochte. Er fragte sich, ob der große Meister Yati das wirklich vorausgesehen hatte und ob er das wirklich so haben wollte, nur um Erddämonen in einem fernen Land der Weißen besiegen zu können? Doch Yati hatte immer wieder betont, daß diese Dämonen auch zu ihnen kommen könnten, wenn sie lernten, die Meere zu überwinden, ohne ihre düsteren Kräfte zu verlieren. Denn es seien Brüder und Schwestern jener Krieger gewesen, die vor vielen Jahrtausenden hier am Uluru gegen Wesen aus dem Himmel gekämpft hatten, als jene Wege der Traumzeit von ihren Erbauern noch häufiger begangen wurden. Es war die Frage nach dem größeren Übel, die Yati dazu bewogen hatte, dem zaubermächtigen Weißen zu helfen, der mit seiner Lehrmeisterin und einer mächtigen Königin des Lichtes herkam, um das Erbe des Windkönigs an sich zu bringen, um dessen noch lebende Diener aus dem hohen Himmel zu rufen. Er hatte von einem Weißen, der die erhabenen Künste der großen Zauberer dieses Landes erlernen wollte gehört, daß der Junge tatsächlich die dunklen Geschöpfe besiegt hatte.

Das große Himmelslicht versank, dessen Kraft Maru ehrfurchtsvoll anbetete und für die er besonders empfänglich war. Die Besucher, von denen einige ebenso dunkle Haut wie er besaßen, aber Kinder der magielosen Welt waren, hatten den Uluru verlassen. Maru suchte den Platz aus, wo der große Zauber gesungen und getanzt werden konnte. Sie würden die ganze Nacht dafür aufwenden, um alle Teile des Landes damit zu überziehen. Dann konnte die Spinne ihnen nicht mehr entwischen, wenngleich sie nicht wußten, wie sie sie besiegen konnten.

Es gab viele Zauberkundige, die sich in ihr Seelentier verwandeln konnten. Davon konnten einige zu fliegenden Tieren wie Flughunden, Kakadus oder Cockaburras werden. Andere mußten, um die weiten Reisen antreten zu können, ihr Fleisch mit mächtiger Zauberkraft durchtränken, so daß sie fliegen konnten. Andere, die nur den Kräften der Erde verbunden waren riefen ihre Macht, um schneller als jedes Landtier zu laufen und tagelang zu laufen, ohne Hunger, Durst und Müdigkeit zu fühlen. Doch derartig mächtige Zauber forderten ihren Preis. Wer den Zauber des endlosen Laufens zu wirken verstand, verlor jeden Tag, den er ihn wirkte zwei Tage Lebenszeit. Hinzu kam, daß sie dann, wenn sie ihn einen Tag lang nicht mehr gebraucht hatten, in einen todesnahen Schlaf verfielen, der von ihren Stammesangehörigen beschützt werden mußte, um den Ahnen zu sagen, daß der Zauberer nur schlief und nicht tot war und zu ihnen gehen würde. So oder so gab es mehrere Wege, um den heiligen Berg zu erreichen. Nur wenige vermochten es, eine magische Abkürzung zu nehmen und in einem Augenblick über mehrere Meilen hinwegzureisen. Es waren jene, die neugierig waren, die Magie der weißen Menschen zu erlernen und deren Kunst des schnellen Ortswechsels dabei kennengelernt hatten. Diese waren auch die ersten, die eintrafen. Als Hilfsmittel, um den schnellen Weg zu benutzen, trugen sie mit mehreren Zaubern geweihte Eukalyptusrohre mit sich, in denen Splitter von Knochen magischer Tiere steckten. Maru sah, wie immer mehr Magier und auch einige Magierinnen eintrafen. Frauen, denen die Gabe der Magie angeboren war, galten als große Heilerinnen, vermochten aber auch, die Kräfte des Mondes zu rufen und alles wandelbare wie Wasser, Wind und Feuer zu beschwören.

Als die zweitausend wahren Zauberer und Zauberinnen der Ureinwohner versammelt waren erschien Yatis Geist. Er konnte so schnell wie ein Gedanke an seinen früheren Wirkungsplatz reisen. Er begrüßte die versammelten Zauberer und Zauberinnen, zu denen sich nun auch andere Geister dahingegangener Magier gesellten. Die lebenden und die Toten würden nun den großen Zauber der Suche tanzen und singen. Maru ließ einen großen Haufen aus Holz zusammenschichten, den er mit einer wie beifällig aussehenden Geste ohne Zauberstab in Brand setzte. Er war der Vortänzer. Er und Yati würden die bei Tanz und Gesang geweckten Zauberkräfte lenken und über alles im Land ausbreiten.

Klackernde Holzstöcke gaben den Rhythmus vor. Dutzende Didgeridoos brummten und brausten, während die versammelten Stammeszauberer Gesänge anstimmten, die zwar in ihren jeweiligen Dialekten klangen, aber doch das gleiche Ziel hatten, ein magisches Netz auszulegen, das nach einem bestimmten Wesen oder einer bestimmten Gestalt suchen sollte. Der Zauber war anstrengend und wurde nie von weniger als zwanzig erfahrenen Stammeszauberern ausgeführt. Maru wußte nicht, wie viele Zauberer ihn jemals zusammen ausgeführt hatten. Er konnte nur hoffen, daß Yatis Geist von den anderen Ahnen erfahren hatte, daß es nicht gefährlich war, ihn mit allen Stammeszauberern zugleich zu erwecken. Ein Weißer, der die Zeremonie beobachtet hätte, hätte sicher geahnt, daß hier die Magie der Ureinwohner praktiziert wurde, falls er nicht an was banales wie eine Geburtstagsfeier oder eine Sportveranstaltung gedacht hätte. Die Gesänge der Zauberer, das Brummseln und Wummern der Didgeridoos und rhythmische Klackern der Schlaghölzer hätte jeden Touristen erfreut. Denn das waren die bei den meisten Touristen bekannten Eigenschaften der Musik der Ureinwohner. Hier und jetzt mehr als tausend wilder und wilder tanzender und immer ekstatischer singender Eingeborene zu sehen hätte jeden japanischen Touristen wünschen lassen, zwanzig Foto- und Videokameras gleichzeitig bedienen zu können. Freunde der Weltmusik hätten hier große Ohren bekommen und wohl auch gerne das scheinbar durcheinanderklingende und doch dem großen Rhythmus unterworfene Singen der Ureinwohner auf Tonband oder Minidisks gebannt, um damit richtig groß rauszukommen. Womöglich wäre den der australischen Magie unkundigen Zuschauern jedoch nach einer Stunde auch aufgefallen, wie sich die Luft veränderte. Sie vibrierte und wechselte andauernd zwischen warm und kalt. Gesang und Tanz gaben der sich ausbreitenden Magie Stärke, Richtung und Rhythmus. Maru Laruyalla konzentrierte sich, durch ihn flossen die ungeheuren Kräfte, die von den anderen angerufen und geweckt wurden. Ein ungeübter Zauberer wäre kaum im Stande gewesen, diese Unmenge an Magie zu überstehen, geschweige denn auf ein bestimmtes Ziel auszurichten. Doch Maru war nicht alleine. Yatis Geist nahm ebenfalls einen Großteil der freigesetzten Zauberkraft auf und richtete sie auf das Ziel aus, eine große schwarze Spinne. Die mächtige Magie der zweitausend Tänzerinnen und Tänzer umfloß und durchdrang auch den heiligen Berg Uluru und wechselwirkte mit den darin ruhenden Kräften. Dadurch wurde der zauber noch stärker. Uluru diente nun als das, was bei den weißen Zauberern als Zauberstab benutzt und von den Magielosen Antenne genannt wurde. Er nahm die ihm zufließenden Zauberkräfte auf und strahlte sie mit der eigenen in ihm bewahrten Magie nach oben und zu den Seiten ab. Die entfaltete Kraft würde sich immer mehr über das Land legen, jedes Tier und jede Pflanze durchtränken und in allem was lebte eine Schwingung einlagern, die auf das gesuchte Wesen, die schwarze Spinne, reagierte. Was vor monaten von einzelnen Stämmen versucht wurde bündelte sich nun in einer gemeinsamen Kraftanstrengung.

Maru fühlte, wie die ihn durchflutenden Kräfte an seiner Ausdauer zerrten, wie sein Körper kribbelte und vibrierte, weil die ihn ihn hineinschießenden Zauberkräfte jede Zelle und jedes Nervenende erschütterten. Gab er die in ihn einströmenden Energien nicht unmittelbar an die Umwelt zurück, konnten sie ihn zerstören, wußte er. Sein Geist glitt mehr und mehr in einen Zustand, der nicht mehr wach und doch nicht schlafend war. Er wurde eins mit den Geistern der Tanzenden und denen der Ahnen, die ihre alte Kraft hergaben, um den Suchzauber zu wirken. Die Zeit wurde unbedeutend. Der Zauber mußte solange getanzt und gesungen werden, bis alle erschöpft waren und der Vortänzer, also Maru, keine äußeren Kräfte mehr zugeführt bekam. An der Ausdauer des Vortänzers hing es, ob der Zauber wie gewünscht in Kraft trat. Fiel er vorher komplett ausgelaugt um, bestand die Gefahr, daß die auf ihn gerichteten Ströme sich in einer gewaltigen Entladung der Elemente freimachten oder der Vortänzer vollständig vernichtet wurde. Ob sein Geist danach zu den Ahnen ging wußte niemand. Es mochte sein, daß dieser ebenso völlig zerstreut wurde und damit die Kraft seines Lebens unnütz über das ganze Land verteilt wurde. Doch Maru hatte sich immer in guter Form gehalten und kannte genug Mittel, seinem Körper mehr abzuverlangen als jeder Durchschnittsmensch.

Schillernde Lichter stiegen vom Uluru auf, änderten die Farbe der über allen stehenden Sterne, tauchten den Mond mal in grünliches, mal in rötliches Licht und verzerrten den Blick auf das Kreuz des Südens. Stunden vergingen. Nach und nach erlahmten die ersten Tänzerinnen und Tänzer, verklangen mehr und mehr Stimmen. Dann, gerade noch vor der Zeit, wo die Cockaburras die Himmelsleute zum Entzünden des Tageslichtes wecken würden, sanken die letzten Tänzer mit Maru zusammen. Uluru glühte nun von innen heraus in einem blutroten Farbton. Er sandte die letzten ihm zugeflossenen Kraftströme durch eigene Magie verändert in den Himmel hinauf. Womöglich mochten einige Besucher an diesem Tag fühlen, daß der große Berg eine mächtige Kraft ausatmete. Doch die meisten Besucher hatten eh keine Empfindung für Magie. Die Zauberer der in Australien noch traditionell lebenden Stämme versanken in einen tiefen Schlaf. Ihre Stammesangehörigen hatten sicher gespürt, daß ein mächtiger Zauber ausgesandt worden war. Wenn die Magier wieder wach wurden, würden sie zu ihren Stammesangehörigen zurückkehren und ihnen mitteilen, was sie warum getan hatten.

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Tyche Lennox saß gerade mit Donata Archstone in ihrem Haus und unterhielt sich mit ihr über den Sinn oder Unsinn, doch noch zu den schweigsamen Schwestern zu kommen. "Ich könnte die höchste Schwester bitten, dich zumindest bei Lady Roberta vorstellen zu dürfen. Bedenke, daß bisher außer uns Entschlossenen keiner und keine weiß, daß du für die höchste Schwester arbeitest."

"Ich habe damals, wo die höchste Schwester sich mit Daianira duelliert hat beschlossen, keiner der beiden Seiten beizutreten, Schwester Donata. Ich bin froh, daß ich meinen Ministeriumsjob wiederbekommen habe, obwohl das schon sehr knapp war, was die da mit mir vorhatten."

"Ja, weil ich den schwehlenden Verdacht, du könntest Ministeriumseigentum unterschlagen haben ausgeräumt habe und denen eine nachträglich korrigierte Liste über die Kristalle präsentieren konnte, die angeblich von Wishbones My-ll-Männern gefälscht wurde, um dich locker rauszuschmeißen."

"Hast du das auch gelesen, was diese Tracy Summerhill in den Westwind hat setzen lassen?" Fragte Tyche Lennox.

"Du meinst, daß sie ihren eigenen Großneffen austrägt, Tyche? Ja, hat mich sehr amüsiert. Aber Lino hat ja bestätigt, daß unter Madam Summerhills Herzen ein zweites, kleineres schlägt." Die beiden Hexen grinsten mädchenhaft. Dann meinte Tyche:

"Dann brütet da eine Hexe etwas von diesem Intriganten und Verfolgungswahnsinnigen aus. Das kann ja noch was geben. Aber woher weiß sie so genau, daß es ein Junge wird?"

"Sie hat behauptet, es geträumt zu haben, daß ihr Neffe ihr aus dem Totenreich zugewunken hat und darum gebeten hat, gut auf seinen Sohn aufzupassen. Sowas kommt ja immer gut in Linos Zeitung."

"Und wenn es doch eine Tochter wird, Donata? Nachher stellt sie die eurer Schwesternschaft noch vor."

"Dann müßte sie erst einmal selbst eine von uns werden", erwiderte Donata. Auch wenn Tyche keine der Nachtfraktion war kannte sie Dank Daianira doch einige von denen mittlerweile. Und daß Donata dieser Hexengruppe angehörte wußte sie von Anthelia. Da läutete es an der Tür.

"Magische oder Zugglocken klingen immer noch schöner", grummelte Donata leise, weil ihr das elektronische Gedudel der Türklingel mißfiel. Tyche tat diese Bemerkung mit einem Schulterzucken ab und verließ den zum Dauerklangkerker veränderten Vorratsraum. Als sie wieder zurückkehrte war sie in Begleitung Anthelias, die merklich erschöpft aussah und sehr kurzes Haar auf dem Kopf trug.

"Ah, Schwester Donata", grüßte sie Donata Archstone. "Ich freue mich, dich auch hier zu treffen", sagte Anthelia mit einem gequälten Lächeln. "Dann kannst du sicherstellen, daß niemand Tyche Lennox in den nächsten Wochen vermißt."

"Wieso das, höchste Schwester?" Wollte Donata unumwunden wissen.

"Weil ich beschlossen habe, daß unsere Schwester Tyche mich auf eine Auslandsreise mit ungewisser Dauer begleitet", entgegnete Anthelia.

"Ich hörte, daß es dir auch in England und Frankreich nicht gelang, die Zutaten für die Heilung von dieser Radiostrahlung zu erlangen", sagte Donata. "Du hast haushohe Wellen in der globalen Zaubererwelt geschlagen."

"Wie weit sind diese Wellen gewandert, Schwester Donata?" Fragte Anthelia sichtlich gereizt.

"Überall dorthin, wo jemand sitzt, der oder die dir helfen könnte. Sie haben ein Foto von dir, wie du versucht hast, Tim Preston aus dem St.Mungo-Hospital zu entführen. Jetzt sind alle mit dem Problem der Radiointoxikation vertrauten Hexen und Zauberer gewarnt, auch die Heilerinnen Herbregis, Trylief und Dawn. Letztere hat ihr Haus mit noch mehr Schutzzaubern umgeben als damals, wo ihre Tante June mit ihrer Familie bei ihr unterkam. Ihre Familie in England wohnt ja schon längst in einem geschützten Haus."

"Wenn du mir damit sagen möchtest, daß es keinen Sinn hätte, nach Australien zu reisen, Schwester Donata, so danke ich dir für diesen Hinweis, daß ich meine Zeit dort nicht verschwenden möge. Aber ich habe noch einen Grund, diesen Erdteil aufzusuchen und hoffe dabei, nur mit mir treu ergebenen Mitschwestern in Berührung zu kommen, sofern ich nicht jemanden aufhalten muß, der oder die davorsteht, jemanden ganz wichtigen meinem Zugriff zu entziehen, der sich bisher nicht in die Obhut der Zaubereiministerin zu verfügen geruht."

"Die Heiler passen alle auf. Du müßtest schon Aurora Dawns Patienten bedrohen, um sie dazu zu zwingen, sich dir auszulifern. Sie hat wohl auch einen Frühwarner um, damit sie dich rechtzeitig aufspürt", sagte Donata. Tyche fügte dem noch hinzu:

"Sie wissen alle, daß du angeschlagen bist und nun händeringend um dein Leben kämpfst. In den Muggelnachrichten habe ich einen Zauberer gesehen, der beim FBI arbeitet. Der hat dein Phantombild, also eine nach Zeugenaussagen erstellte Abbildung von dir, in die Kamera gehalten und verkündet, daß du zu einer Terroristengruppe gehörst, die mit ungesichertem Plutonium hantiert hat und dich alle Ärzte, die sich mit der Behandlung von Strahlenkrankheiten auskennen sofort der Polizei melden sollen."

"Dieser Agent hieß nicht zufälligerweise Zachary Marchand?" Fragte Anthelia sehr entrüstet.

"Zufällig wohl nicht, sondern von seinen Eltern beabsichtigt", erwiderte Tyche verschüchtert und erwähnte, daß sie ein Video von diesen Meldungen habe.

"Muß ich nicht sehen", schnarrte Anthelia. "Außerdem hege ich nicht die Absicht, mich von magielosen Knochensägern und Aderlassern befingern und befuhrwerken zu lassen. Noch habe ich nicht alle meine Pläne abgeschrieben."

"Wenn du in Australien nicht das findest, was dir hilft, was dann, Höchste Schwester?" Fragte Donata Archstone, die sich im Vergleich zu Tyche etwas mehr herauszunehmen traute.

"Dann, werte Schwester, werde ich dich vielleicht bitten, meine Mutter zu werden und unter anderem Namen an anderem Ort auf meine Wiedergeburt und neue Kindheit hinzuwirken", brachte Anthelia etwas heraus, mit dem Donata nicht gerechnet zu haben schien. Tyche sah Anthelia an. Diese bemerkte darauf knochentrocken: "Du bist mir dafür zu jung, schwester Tyche."

"Iterapartio funktioniert nur im gegenseitigen Vertrauen und wenn du einem zerstörenden Fluch unterworfen bist und ... Aber natürlich, höchste Schwester. Jetzt wo wir wissen, daß es noch einen zweiten Weg gibt ... Aber warum dann ich? Es würde doch auffallen, wenn ich die Entschlossenen verlassen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde. Abgesehen davon, daß ich nicht wüßte, ob die mich nicht doch finden würden. Außerdem weiß ich nicht, ob ich dir eine bessere Mutter sein könnte als es Daianira geworden wäre."

"Ich habe ja nun einige Erfahrung in der bewußten Empfindung des ungeborenseins, Schwester Donata. Abgesehen davon würdest du nicht danach trachten, mich zu einer willigen Erfüllungsgehilfin zu machen, wie Daianira es vorhatte und deshalb auf meine List hereinfiel, weil sie dachte, ich sei ihr bereits untertan", entgegnete Anthelia mit einem schadenfrohen Grinsen.

"Ich hoffe doch, daß wir auf diese einschneidende Maßnahme verzichten können", sagte Donata. Anthelia erfaßte, daß ihr die Vorstellung sichtlich unangenehm war, alles stehen und liegen zu lassen und als ledige Mutter in ein neues Leben zu gehen. Sie konnte es ihr nicht einmal verübeln. Andererseits erfaßte sie auch, daß Donata einer solchen Anweisung Anthelias dennoch folgen würde, wenn sie sie erhielt. Offenbar gefiel ihr ihre derzeitige Rangstellung bei den Entschlossenen nicht mehr so gut. Daianira hatte schließlich eine schwere Erbschaft hinterlassen, und die Aasgeier waren noch nicht müde, wußte Anthelia. Der kleinste Fehler Donatas, und es würde jemand aufstehen, um sie aus dem Weg zu schaffen. Auch deshalb mußte die Reise nach Australien ein Erfolg werden. Denn solange die Entschlossenen davon ausgehen mußten, daß Anthelia noch in der Welt war, genoß Donata einen gewissen Schutz. Zumindest dachte Anthelia das.

"Und warum soll ich mit dir nach Australien, höchste Schwester?"

"Dies werde ich dir erst kundtun, wenn das Ereignis eintritt, für dessen Erfolg ich dich mitzunehmen wünsche, Schwester Tyche", schmetterte Anthelia die Frage ab.

"Besser als hier immer wieder darauf zu warten, ob das Ministerium nicht doch meint, mich wegsperren zu können", sagte Tyche Lennox und ließ sich sagen, wann und wo sie mit ihrem Gepäck mit Anthelia abreisen sollte: "Morgen um zwölf Uhr Ostküstenzeit in unserem Hauptquartier."

Als Anthelia wieder gegangen war seufzte Donata Archstone: "Sie hängt an ihrem Leben, Tyche. Doch wenn sie da im Land unten drunter keinen Erfolg hat könnte es ihr einfallen, daß du ihre Erbschaft antrittst."

"Wieso ich und nicht du?" Fragte Tyche.

"Weil man es von mir eher erwarten und entsprechend wider mich vorgehen würde, falls man von Anthelia eine Leiche findet, Tyche. Du hast dieses Medaillon gesehen, das Daianira an sich nahm, als sie meinte, Anthelia ganz und für immer aus der Welt gestoßen zu haben?" Tyche nickte. "Die höchste Schwester hat es sich wiedergeholt oder schon bekommen, als sie es schaffte, aus Daianiras Bauch herauszuspringen. Womöglich wird sie es dir überlassen, falls ihre Bemühungen scheitern. Du bist uns Entschlossenen bekannt. Aber du kennst auch die Muggelwelt. Du könntest besser untertauchen als ich. Dich vermißt so schnell keiner mehr." Tyche nickte. Ihre Eltern hatte sie schon seit Monaten nicht mehr angerufen. Seitdem sie in der Zaubererwelt tätig war und noch dazu so einen geheimen Job hatte, hatten diese sich immer weiter von ihr losgesagt. Was sollten und was durften sie auch von einer Tochter erzählen, die nichts von ihrem Leben erzählen durfte? Mit diesen Gedanken machte sich Tyche Lennox bereit, unter Umständen Zeugin von Anthelias endgültigem Ende oder einem neuen Anfang ihrer Pläne zu werden.

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Naaneavargia fühlte es, wie unsichtbare Stränge um sie herum waren. Irgendwas war passiert, daß sie irritierte. Mochte es sein, daß Jemand eine gewaltige Menge der Kraft entfacht hatte, die sie mit ihren für Magie empfänglichen Sinnen wahrnahm? Als sie es schaffte, für einige Stunden eine Frau zu sein, empfand sie diese unsichtbaren Kraftlinien nicht. Also wirkten sie nur auf sie ein, wenn sie als Spinne herumlief. In Frauengestalt zu mehr als triebhaftem Handeln fähig überlegte sie, ob dieser mächtige Zauber ihr galt oder etwas anderes bedeutete. Konnte es sein, daß dieses Zaubereiministerium, von dem sie erfahren hatte, eine Möglichkeit entdeckt hatte, sie zu finden? Sie kannte Aufspürzauber aus ihrer Heimat und wußte, daß diese verknüpft werden konnten. Doch wer vermochte, ein ganzes Land damit zu überziehen? Dabei fiel ihr ein, was Clark Stabbins ihr gegen seinen Willen offenbart hatte. Jener dunkle Magier, der sich Lord Voldemort nannte, hatte sein ganzes Reich mit einem Aufspürzauber überzogen, der die Nennung seines Namens verriet und jeden Schutzzauber zusammenbrechen ließ. Außerdem hatte sie auch erfahren, daß er wohl ein mächtiges Ritual der Dunkelheit ausgeführt hatte, bei dem er mehrere Menschenleben geopfert hatte, um jeden nicht in seinem Land geborenen Träger der Kraft umgehend zu töten. Eine solch mächtige Verwünschung hatte selbst Iaxathan bisher nicht vollbracht. Doch vielleicht war er nur zu früh besiegt worden. Naaneavargia strich sich bei dem Gedanken, Zeugin seiner Niederlage gewesen zu sein über den Bauch. Doch was sollte sie wegen der unsichtbaren Kraftlinien tun? Wenn damit nach ihr gesucht wurde, mußte sie wissen, ob sie über den ganzen Erdteil ausgespannt waren wie eines ihrer Spinnennetze, bei dem die sachteste Berührung verriet, wo lohnende Beute in die Falle gegangen war. Dann kam ihr ein verwegener Gedanke. Hatten die schwarzhäutigen Geisteranbeter nicht immer versucht, sie zu erspüren? Immer wieder hatten sie unsichtbare Kraftstrahlen ausgesandt. Waren die vielleicht in der Lage, ein solches Aufspürnetz auszulegen, um sie, die Spinne, einzufangen? Sie brauchte unbedingt wieder einen Kraftausrichter, um den Standort zu wechseln. Und wie es sich gerade ergab, ploppten zwölf weiße Träger der Kraft gerade aus dem Nichts heraus um sie herum. Sie sah auch Frauen mit Zauberstäben. Schnell vollführte sie eine magische Geste gegen die ihr nächste und warf sich zu Boden. Über sie hinweg schossen mehrere rote Blitze und verpufften ziellos. Naaneavargia erfaßte die Gedanken eines gewissen Melchior Vineyard, der den Trupp hierhergeführt hatte. Fesselstricke flogen aus den Zauberstäben auf die am Boden entlangrobbende Altaxarroia zu. Einige von denen erreichten sie und fingen an, sie einzuschnüren. Sie versuchte, einen der Zauberstäbe zu ergattern. Doch diese verfluchten Jäger hatten gelernt und sich mit Schilden gegen Fernbewegungskräfte umschlossen. Naaneavargia fühlte, wie sie immer fester eingewickelt wurde. Hatten sie sie? Nein! So leicht war sie nicht zu fangen. Sie konnte sich zwar nicht beliebig verwandeln, weil die Tränen der Ewigkeit nur ihren angeborenen Körper und die Tiergestalt zuließen, doch konnte sie mit ihren Händen noch Magie wirken, solange sie Frau war. Sie verdrängte die Furcht, bereits besiegt zu sein, die sie unweigerlich zur Spinne hätte werden lassen. Sie hatte sich auch aus den Fesselseilen dieses mächtigen Jünglings Julius herausgewunden. Sie brauchte die Seile nur in die Finger zu nehmen und "Madra varagan" zu denken, "Freiheit der Erde", die jede stoffliche Fessel auflöste. So geschah es, daß sie sich fast vollständig gefesselt am Boden wand und dann die zwei magischen Worte dachte. Durch ihren Körper jagte ein warmer Kraftstoß. Mit lautem Ratschen barsten die sie bindenden Stricke. Sie nutzte die Überraschung aus und schnellte aus der Bauchlage gegen jenen Zauberer, den sie mit der Geste der Erstarrung gebannt hatte und pflückte ihm den Stab aus der Hand. Da rief einer "Avada Kedavra", die neuen Worte des schnellen Todes. Naaneavargia schaffte es gerade noch, auf den kurzen Weg zu springen, bevor der grüne Blitz sie treffen konnte. Statt dessen erwischte der Todeszauber den, dessen Zauberstab sie an sich genommen hatte. die Einsatztruppe erstarrte, während die Gegnerin bereits disappariert war. Melchior Vineyard, der beste Kenner der Aborigine-Magie, der gleichzeitig auch Heiler in der Sana-Novodies-Klinik war, konnte dem Getroffenen nicht mehr helfen. Avada Kedavra war schnell und endgültig. Der Zauberer, der wohl darauf gebaut hatte, die übermächtige Gegnerin damit ein für allemal erledigen zu können, war bleicher als ein Vampir. Er hatte einen Kollegen getötet, weil er den Zauberstab nicht schnell genug nach oben gerissen und den Fluch unschädlich in die Wolken gejagt hatte.

"Chrys, du konntest nicht wissen, wie schnell die disapparieren kann, sobald sie einen Zauberstab in den Fingern hat", sagte Melchior zu Chrysostomos Treemane, dem unglücklichen Auroren. "Will wird das sicher verstehen."

"Dieses Weib ist schneller als eine verdammte Sabberhexe", bemerkte Bowman, der gehofft hatte, diesmal besser auf dieses uralte Monsterweib vorbereitet gewesen zu sein.

"Wie kann die sich ohne Zauberstab aus fünf Incarceruszaubern zugleich befreien?" Wollte Tina McMillan wissen, eine ausgewiesene Zauberkunstexpertin.

"Gehen wir davon aus, daß dieses Frauenzimmer so schon mehr Magie im kleinen Finger hat als jeder moderne Zauberer, könnte daß, was sie immer wieder zur Riesenspinne macht besonders starke Kräfte in ihr angereichert haben", erwiderte Melchior Vineyard. "Sicher kennt sie etwas ähnliches wie Renihilis oder Descarcerus, um Zauber mit materiellen Komponenten ohne Zauberstab abzuwehren. Zumindest müssen wir das ab heute als gegeben ansehen."

"Die hätte noch eine Sekunde stehenbleiben sollen. Dann wäre sie jetzt erledigt", meinte Bowman, der den schockierten Chrys Treemane ansah.

"genau deshalb ist die ja auch sofort disappariert, als sie Wills Zauberstab in den Fingern hatte", meinte Tina verbittert dazu.

"Mel, sagen Sie Mr. Laruyallabitte, daß das Spürnetz funktioniert, wir aber noch rauskriegen müssen, wie wir dieses Biest innerhalb einer Sekunde kampfunfähig machen können", wies Bowman den Heiler an, der quasi als Verbindungszauberer zu den Stammeszauberern der Ureinwohner fungierte.

"Wollten Sie nicht mit Feuerzaubern auf die Spinne eindreschen?" Fragte Collin Redstone, der ebenfalls zu den Auroren des australischen Zaubereiministeriums gehörte.

"Hier, im Busch. Besser nicht", knurrte Bowman. "Aber wenn wir die wiederfinden kriegt die alles Eis von Nord- und Südpol übergebraten. Wollen doch mal sehen, wie ihr das bekommt."

"Jedenfalls sollten wir es langsam wissen, daß wir mindestens zwanzig Schritte von der wegbleiben, wenn wir sie aufgestöbert haben", sah sich Melchior Vineyard zu einer Bemerkung berufen. Bowman grummelte und starrte ihn verdrossen an. Doch mehr passierte nicht. Der unglücklich in einen ihm nicht geltenden Todesfluch geratene Zauberer und der, der den Fluch ausgerufen hatte wurden zunächst in die Sana-Novodies-Klinik gebracht.

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Zaubereiminister Cartridge saß angespannt in seinem eigentlich so bequemen Sessel. Gerade hatte er von dem Leiter des Honestus-Powell-Krankenhauses erfahren, das die wegen des Mordes an Wishbone gesuchte Hexenlady versucht hatte, in die magische Heilstätte einzudringen. Die dort praktizierenden Heiler hatten mehrere Spür- und Schutzzauber aufgerufen, um sie sofort zu stellen, wenn sie es wagte, dort aufzutauchen. Auch im Ministerium waren solche Vorkehrungen getroffen worden. Denn nun, wo man das Bild und den Namen der Feindin kannte, war es möglich, sie als absolut unerwünschte Person zu bestimmen und gegen sie anzugehen. Auf den Vorschlag seines Außendienstmitarbeiters Norman Windslow hin hatten die Inobskuratoren des Zaubereiministeriums versucht, Fernflüche auf Anthelia zu legen. Doch diese hatte sie Wortwendend wieder auf ihre Urheber zurückgeschleudert. Norman Windslow war dabei innerhalb von einer Minute bei lebendigem Leibe ausgetrocknet. Cartridge hatte mehrere Nächte nicht schlafen können, weil er den unter lautem Keuchen und Stöhnen immer dünner und faltiger werdenden Zauberer vor Augen hatte, wie er förmlich zum Skelett abmagerte und dann mit einem lauten Zischen zu einem Häufchen Staub zusammenfiel, dem jedes Tröpfchen Wasser fehlte. Von da an hatte Cartridge den Generalbefehl ausgegeben, die Wiederkehrerin nur in magischen Fallen zu fangen oder auf Sicht kampfunfähig zu machen. "Aber bloß nicht mit dem Todesfluch angreifen! Es steht zu befürchten, daß sie diesen mit einem uns unbekannten Schildzauber auf den Ausrufer zurückprellen und diesen damit töten kann", hatte er allen sicherheitsrelevanten Zauberern und Hexen mitgeteilt. Und jetzt war sie in das HPK eingedrungen. Was wollte sie dort?

Er schickte eine Rohrpost zu Donata Archstone. Diese befand sich noch im Ministerium. Keine Minute später klopfte sie an die Tür des Ministers.

"Ah, Donata. Bitte bringen Sie in Erfahrung, warum die Erbin Sardonias in das Honestus-Powell-Krankenhaus eindrang und ob sie dort erreichte, was sie erreichen wollte!"

"Hmm, dann müßte ich wissen, welche Pläne sie hat, Herr Minister", erwiderte Donata Archstone darauf. Milton Cartridge nickte bestätigend und fügte seinem Auftrag an, daß sie sich vordringlich mit den Heilern unterhalten möge, die dort zu tun hatten, wo die Sardonianerin sich gezeigt hatte. Womöglich konnten sie daraus folgern, welchem Zweck ihr Besuch gegolten hatte."

"In Ordnung, Herr Minister. Ich kümmere mich persönlich darum", bestätigte Donata Archstone und verließ das Büro des Zaubereiministers, ihrem direkten Vorgesetzten.

"Sir, mit verlaub, Die Archstone drauf anzusetzen, was die Sardonianerin in dem Krankenhaus zu suchen hatte war vielleicht keine so gute Idee", meinte Clyde McKay, Cartridges Leiter des inneren Sicherheitstrupps, als dieser nach Donata Archstone das Büro betrat und sich von Cartridge informieren ließ, daß die Strafverfolgungsabteilung nach der Wiederkehrerin suchte.

"Sie meinen, Ms. Archstone könnte nicht alles herausfinden, was uns wichtig ist, Clyde?" Fragte der Zaubereiminister den rotschopfigen Zauberer, der stolz darauf war, dem uralten Clan der McKays aus dem schottischen Hochland anzugehören, den Erzrivalen der McFustys.

"Ich meine, Boss, daß nicht so ganz sicher ist, ob Donata nicht doch mit dieser Sabberhexe paktiert hat, als Wishbone die vorübergehend rausgeworfen hat. Ich meine, das war doch ein genialer Grund, sich an wen neues zu halten."

"Sie meinen, mein verstorbener Vorgänger hätte sie regelrecht in die Arme dieser Mörderin getrieben, Clyde? Unschuldig bis zum Beweis der Schuld, Clyde. Wir machen nicht da weiter, wo Wishbone und seine Geheimtruppe aufgehört haben, Clyde. Merken Sie sich dies gefälligst!"

"Nichts für ungut, Herr Minister. Aber mein Job ist es nun mal, den Drachen fauchen zu hören, bevor er nahe genug zum Feuerspucken herankommt", begründete McKay sein Mißtrauen.

"Tja, aber dann müssen sie das Fauchen auch einem Drachen zuordnen und keinem überhitzten Druckkessel, Clyde", wehrte Cartridge diese Begründung ab. "Verfolgungswahn bringt uns nicht weiter. Im Gegenteil, er spaltet uns und macht uns damit handlungsunfähig und wertlos. Wollen Sie die alteuropäischen Verhältnisse wiederhaben, wo jeder Zauberer jedem anderen mißtraute und sein eigenes Territorium absteckte?"

"Ich wollte lediglich einwenden, daß es nicht so ganz unbesehen bleibt, daß Donata Archstone lange nicht für uns gearbeitet hat und dadurch viel Zeit hatte, sich wen anderen zu suchen, Sir."

"Clyde, ich kann Ihnen offenbar nicht begreiflich machen, daß es der falsche Weg war, den Wishbone eingeschlagen hat. Ich kann Ihnen jedoch befehlen, Ihre Ansichten über mögliche Seitenwechsel oder Versuchungen für sich zu behalten, falls Sie Wert darauf legen, im Zaubereiministerium weiterzuarbeiten", warf der Minister seine Vorrangstellung in die Waagschale. "Also hüten Sie Ihre Zunge, Clyde. Solange Ms. Archstone nichts tut, was sie in den Verdacht rückt, mit einer uns feindlich gesinnten Gruppe zu paktieren, genießt sie weiterhin mein Vertrauen. Merken Sie sich das bitte!" Clyde McKay nickte. "Und verfallen Sie auch nicht darauf, Ms. Archstone auf eigene Faust nachzuspionieren. Sollte mir derartiges zu Ohren kommen kriegen Sie Ihr restliches Leben lang frei. Haben wir uns verstanden?"

"Sie waren ja deutlich genug, Sir", knurrte McKay. "Hoffen Sie nur, daß Sie nicht irgendwann einen Grund haben, Ihre Haltung zu bereuen, Sir." Der Minister gab darauf keine Antwort. Clyde McKay verließ das Büro des Ministers. Cartridge verfiel sofort in eine nachdenkliche Haltung. Falls McKay nicht nur vom Verfolgungswahn geritten wurde und da irgendwas war, daß Donata Archstone belasten konnte, sollte er als Minister das nicht einfach so abstreiten. Er hatte es damals im Kampf gegen Nyx erlebt und auch über die Zeitungen mitbekommen, wie sein Nachfolger und Vorgänger in einer Person seine hochfliegenden Sicherheitsvorhaben in den Sand gesetzt hatte, beziehungsweise zugeben mußte, daß ihm die Wiederkehrerin nach Belieben auf der Nase herumtanzen konnte. Doch wie sollte er sich absichern, daß wenn es um Donata herum zu heftigen Erschütterungen kam, nicht von den herabfallenden Trümmern erschlagen wurde? Im Grunde konnte er Donata nur etwas anhängen, wenn sie so dumm war, sich bei irgendwas dubiosem ertappen zu lassen. Und Dummheit war etwas, daß er ihr bisher nicht unterstellen konnte.

In einer halben Stunde würde er den heutigen Arbeitstag für beendet ansehen und in die Privaträume des Ministeriums gehen. Seine Frau wollte heute abend mit ihm in die Arion-Goldstring-Halle gehen, wo das kalifornische Klarinettenquintett ein zweistündiges Konzert geben würde. Zwar war das nicht so sein Musikgeschmack, nur Klarinetten zu hören. Doch seiner Frau hatte es während der Schwangerschaft mit ihrem Sohn gefallen, diese ruhigen und sanften Töne zu hören. Womöglich ging sie davon aus, bereits ihr zweites Kind unter dem Herzen zu tragen. Daß sie beide darauf hinarbeiteten war ihm ja schon längst klar. Andererseits ...

Es klopfte wieder an die Tür. Er rief: "Herein!" Dieser Aufforderung folgte Donata Archstone nur zu gerne. Denn sie sprang fast durch die Tür hindurch und warf sie ungestüm zu, konnte sie gerade noch abfangen und gesittet leise schließen. "Sie sucht offenbar nach Material und Kenntnissen, um eine Entstrahlungstherapie nach Herbregis, Dawn und Preston durchzuführen, Sir", lautete die knappe aber alles wichtige enthaltende Meldung Donata Archstones. "Offenbar hatten Arcadis Leute recht, und sie muß beim Kampf gegen Volakin eine übermäßige Menge dieser Strahlung abbekommen haben, genauso wie Arcadis Truppe."

"Nur, daß Arcadis Truppe unverzüglich in heilmagische Obhut überstellt wurde", erwiderte der Minister. "Okay, Donata. Ich erbitte einen vollständigen mündlichen und später auch schriftlichen Bericht über Hergang und Ausgang dieser Angelegenheit!"

"Nun, es bestätigt sich, daß die Erbin Sardonias in einer anderen Erscheinungsform versucht hat, durch einen der Luftschächte in das Krankenhaus einzudringen", begann Donata und vervollständigte ihren Bericht. Der Minister wollte schon ansetzen, die sofortige Absicherung der betreffenden Zauberer und Hexen anzuordnen, als Donata erwiderte, daß die Heiler dies schon in die Wege geleitet hätten. Wie genau sie das getan hätten hatten sie ihr jedoch nicht verraten wollen. Der Minister fragte, warum nicht. "Sie berufen sich auf nur ihnen bekannte und nur der Heilerzunft gehörige Zauber, Sir", erwiderte Donata Archstone darauf. Der Minister nickte. Er konnte nun nicht hingehen und die Heiler zwingen, ihr Wissen preiszugeben. Wishbone hätte da keine Skrupel gehabt. Als Donata ihm noch einmal beschrieb, wie die Zeugen die Sardonianerin gesehen hatten meinte er: "Sie wird also darauf ausgehen, sich die nötigen Materialien und eventuell einen der damit vertrauten Heiler zu verschaffen. Vielleicht sollten wir ihr die Chance einräumen, zumindest einiges Material zu erbeuten, das wir jedoch mit Verfolgungszaubern präparieren. Dann kann sie uns in ihr Versteck führen."

"Das dürfen Sie getrost vergessen, Herr Minister. Denn ihr Versteck dürfte gegen Aufspürzauber abgesichert sein. Abgesehen davon wird sie bei einem unangefochtenen Zugang sofort eine Falle wittern, nachdem man sie nun aus dem HPK vertrieben hat."

"Auf einen Versuch möchte ich es dennoch ankommen lassen, Donata", sagte der Minister. "Man soll uns schließlich nicht nachsagen, wir hätten alles unterlassen, was zur Ergreifung der Mörderin hätte führen können."

"Sie sind sich sicher, daß die Sardonianerin Ihren Vorgänger ermordet hat? Ich meine, es wäre doch völlig kontraproduktiv für sie, genau den Mann umzubringen, der so entschieden gegen Hexen vorgegangen ist. Damit würde sie doch verraten, daß es ihr durchaus zugesetzt hat."

"Das verstehe ich, Donata. Aber ich muß auch davon ausgehen, daß mein seliger Vorgänger womöglich dicht davorstand, sie oder ihre Anhängerinnen dingfest zu machen. Dies hätte ihm einen ungleich größeren Erfolg verschafft und seine sehr fragwürdigen Handlungen im Nachhinein vollends gerechtfertigt."

"Dann hätte sie womöglich die umgebracht, die ihr fast an den Besenschweif gezogen hätten", widersprach Donata Archstone. "Doch wenn Sie der magischen Öffentlichkeit gegenüber klarstellen müssen, ob die Erbin Sardonias Ex-Minister Wishbone ermordet hat oder nicht, so verstehe ich, daß Sie sie festnehmen lassen wollen", ging Donata halbherzig auf Cartridges Argumentation ein. Dann fragte sie, ob sie die Heiler anweisen sollte, daß sie die nötigen Materialien mit Aufspürzaubern belegen sollten. Der Minister bejahte es. Donata bestätigte die Anweisung und verließ das Büro. Als sie fort war ergriff der Minister mehrere Pergamentbögen und schrieb kurze aber eindringliche Briefe an jene Zaubereiministerkollegen, die Experten für die Behandlung von Strahlenschäden in ihren Ländern wußten. Shacklebolt, Grandchapeau, Güldenberg, Arcadi, Bao und Rockridge. Der einzigen Zaubereiministerin schrieb er zudem noch: "Sorgen Sie bitte dafür, daß die Erfinderinnen der Heilbehandlung ständigen Personenschutz erhalten, womöglich auch gegen deren Willen! Wir dürfen nicht ausschließen, daß das Problem mit der international agierenden Widersacherin sich unter Umständen von selbst löst, sollte diese sich nicht bereitfinden, ihre offensichtliche Erkrankung ganz offiziell von Heilmagiern kurieren zu lassen." Als er alle Eulen per Flohpulver auf die Reise geschickt hatte beschloß er, Feierabend zu machen. Doch da fauchte eine Rohrpost aus Donatas Abteilung in sein Auffangfach. Er las, daß die Heiler es ablehnten, Vorräte bereits gebrauter Heiltränke in Behältern zu lagern, die mit Aufspürzaubern versehen waren, da nicht ganz auszuschließen sei, daß die Tränke dadurch verfälscht wurden und sie eben nicht nur für die Festnahme der Sardonianerinnen brauten, sondern für andre Patienten, die womöglich auch an den Folgen dieser Radioaktivität litten, da es in den USA und in Kanada genug Muggelwerkstätten und Elektrostromfabrikationseinrichtungen gäbe, die mit dem diese Strahlung aussendenden Material hantierten. Diese Entscheidung sei unumstößlich und könne auch durch keinen ministeriellen Sonderbefehl aufgehoben werden.

Mit einer Mischung aus Wut und Enttäuschung schrieb er dem Sprecher der panamerikanischen Heilzunft einen Brief auf Englisch und Spanisch, daß er sich doch mehr Entgegenkommen bei der Bekämpfung der ihnen allen drohenden Gefahr versprach. Dann beendete er seinen Arbeitstag. Seiner Frau gegenüber ließ er nicht heraus, was ihm an diesem Tag durch den Kopf gegangen war. Sie fragte ihn auch nicht. Seitdem er die My-Truppe aufgelöst und ihre Anführer nach Doomcastle geschickt hatte, überließ sie ihn am Tag seinem Amt. Doch wenn er Feierabend machte wollte sie eben auch nichts mehr davon wissen. Zumindest im Moment nicht.

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Zachary Marchand konnte nicht länger bei den Ross bleiben. Er mußte irgendwas unternehmen. Sich andauernd zu verstecken schadete nicht nur seinem Job beim FBI, sondern auch seinem Selbstwertgefühl. Er war doch angetreten, die dunklen Kreaturen zurückzuschlagen, nicht, um vor ihnen Reißaus zu nehmen. So war er in sein Haus zurückgekehrt. Sicher, sein computer war Schrott, und sein Arbeitszimmer war gleichsam unbenutzbar geworden. Doch er gab nicht auf. Nyx mochte nach Volakins Vernichtung wieder frei sein oder auch nicht. Bisher hatte er nichts davon gehört, daß sie selbst wieder zugeschlagen hätte. Dennoch mußte er sein Haus gegen sie absichern. Die üblichen Schutzzauber hatten wohl versagt, weil die Vampirin, die zugleich eine mächtige Hexe war, die üblichen Feindeswehrzauber durchbrochen hatte. Doch von den Ross hatte er in seinem vorübergehenden Exil einige weiterführende Vampirabwehrzauber erlernt, um solche Blutsauger, deren Menschennamen er kannte, in einem Umkreis von hundert Metern um sein Haus abzuwehren. Allerdings mußte er dazu etwas Eigenblut vergießen, um die mehrfachen Bannkreise gegen Nyx zu aktivieren. Recherchen der Liga und des Laveau-Institutes hatten ja erbracht, daß die Vampirin vor mehr als zweihundert Jahren als Griselda Hollingsworth geboren worden war, einer Familie, die bis heute in England existierte und auch im Zusammenhang mit der Zeit Anthelias traurige Berühmtheit erreicht hatte.

"Nyx kann ich damit vielleicht auf Abstand halten", dachte Marchand. "Aber dieser Zombiemacher Stillwell könnte mir noch mehr zusetzen als die Vampirnutte." Ihm, der schon einiges grauenhafte erlebt hatte, graute es vor dem Gedanken an den Voodoomeister, der einer Voraussage Marie Laveaus nach der wiedergekehrte Sohn des Voodoogottes Baron Samedi sein sollte. Er hatte es nicht vergessen, wie er und seine nichtmagische Kollegin Sam Brownlow fast von dem arglosen Privatluftkutscher Stillwells umgebracht worden waren. Hätte man ihm vom LI aus nicht wertvolle Abwehramulette gegen schwarzmagischen Voodoozauber mitgegeben, wäre er sicher schon Mitglied im Harfenorchester des großen alten, der die Welt auf seiner Handfläche hatte entstehen lassen. Er wußte, daß man im Gegensatz zur mehr oder weniger intelligenten Gruselliteratur der Muggelwelt Voodoo nicht mit christlichen Gegenständen bekämpfen konnte. Ebensowenig konnte man einen Vampir mit einem silbernen Kreuz in die Flucht schlagen, es sei denn, es wäre mit echter weißmagischer Kraft aufgeladen wie das seiner verstorbenen Kollegin Maria Montes. Doch die Haltbarkeit von Voodooamuletten war begrenzt. Vor allem, wenn sie sich im Kampf gegen bösartige Voodoozauberer zu bewähren hatten. Ein Mondzyklus war die Zeit, die er bei der Übergabe der Schutzartefakte erhalten hatte. Einen Mondumlauf an Lebenszeit, bevor Stillwell alias Samedis Sohn ihn mit seinen Angriffen wieder erreichen konnte. Im Moment mochte der Zombiemacher und Totentänzer wohl darauf hinarbeiten, ein paar neue Zombies herzustellen. Zwar bekam er von diesen Aktivitäten nichts mit, weil dieser Kerl schlau genug gewesen war, sich nach Südamerika abzusetzen, wo es leider schon zu häufig vorkam, daß Menschen spurlos verschwanden, sei es in den Elendsvierteln der überquellenden Großstädte oder der grünen Hölle des tropischen Regenwaldes. In einem solchen Jagdrevier konnte ein Leichenhexer wie Stillwell sicher reiche Beute machen, ohne daß irgendwer, Muggel- oder Zaubererwelt, ihm auch nur im Ansatz draufkamen. Rebellionen in Kolumbien und Nicaragua, die Terroristen vom "Leuchtenden Pfad" und ähnliche Gewaltaktionen verschärften die Lage dort unten noch mehr und erleichterten es Stillwell und anderen Finsterlingen, ihr eigenes Spiel zu treiben. Auch deshalb tat er sich und dem Rest der Welt keinen Gefallen, sich weiterhin im Haus der Eheleute Ross zu verkriechen, wo er merkte, daß die beiden ihn zwar gerne bei sich hatten, aber doch auch gerne ihre Privatsphäre genossen. So war es ihm einmal passiert, daß er mal nicht in das Wohnzimmer hineinkonnte, jedoch keinen Laut daraus hörte, bis John mit hochzufridener Miene aber irgendwie auch ziemlich abgekämpft aussehend die Tür von innen aufgeschlossen und geöffnet hatte. Seine Frau Alexis war gerade dabei, eine breite Dece von der breiten Couch zu nehmen, die sichtlich zerwühlt aussah, ebenso wie das rotblonde Haar seiner Gastgeberin. Zachary hatte so getan, als habe er das nicht mitbekommen, und John hatte auch kein Wort darüber verloren. Doch Zach Marchand war dadurch klar geworden, daß seine Gastgeber ihr Haus lieber wieder ganz für sich haben wollten, womöglich auch deshalb, um wen anderen einziehen zu lassen, irgendwann in einigen Monaten oder Jahren.

"Ad finitum Circus clausus. Per sanguinem meum te teneo in Absentia, Griselda Hollingswortha!" Murmelte Zachary, als er einmal um sein Haus herumgegangen und dabei in den vorgeschribenen Abständen etwas von seinem Blut gelassen und mit seinem Zauberstab bestimmte Zeichen geschrieben hatte. Vor allem dort, wo die Sonne ihren Tageslauf vollführte, galt es, die mit Blut verstärkten Zeichen besonders gut zu zeichnen und die sie aktivierenden Zauber zu sprechen. Ganz im Norden hatte er einen Zauberspruch gemurmelt, daß dieser Kreis sein Blut und die Kraft der Sonne sein Blut dort bewahre, wo es floß. als er nun diesen letzten Zauber gesprochen hatte, als er kurz vor dem östlichen Zeichen die Linie aus seinem Blut vollendet hatte, zischte es laut. Goldene Funken sprühten nach oben, wurden zu einem blutroten Vorhang, der von außen jedoch völlig unsichtbar sein würde, wie Alexis ihm versichert hatte. Dann schnellten goldene und rote Lichtstrahlen nach oben und vereinigten sich mit dem Licht der gerade sinkenden Sonne. Zach Marchand fühlte, wie ihm schwindelig wurde. Gleichzeitig meinte er, daß immer heißeres Wasser durch seinen Leib gepumpt würde. Er fühlte einen Drang, ins Haus und ins Zentrum des Kreises zu gehen. Er wußte, daß er dies tun mußte, um den Zauber vollständig in Kraft zu setzen. Er eilte ins Haus und suchte den Mittelpunkt des Kreises auf. Da fühlte er, wie ihn etwas vom Boden anhob. Er sah, wie von allen Seiten rote und goldene Blitze auf ihn einschlugen. Er meinte, von innen her aufgeheizt zu werden. Fast dachte er, gleich von innen her zu kochen und vom Dampfdruck wie ein überfüllter Luftballon zu platzen. Doch da ließ das Blitzgewitter nach, und er sank auf den Boden zurück. Die in ihm angestaute Hitze ebbte ab. Ja, er meinte, in ein Becken mit kaltem Wasser gestürzt zu sein. Keuchend kam er auf die Knie auf. Er fühlte sich wie ein Ertrinkender, der noch einmal die rettende Atemluft einsaugen durfte. Dann war auch diese Belastung vorbei. Er wußte, daß er den Zauber geschafft hatte. Hier, in seinem Haus, würde Griselda Hollingsworth ihn nicht mehr so einfach erwischen können. Sicher, sie trug diesen vermaledeiten Mitternachtsdiamanten bei sich, der ihr hundertfache Stärke gab. Aber die Ross' hatten ihm versichert, daß ein gewöhnlicher Vampir bereits bei der Annäherung an den Bannkreis ähnliche Schmerzen erleiden würde wie im Sonnenlicht und bei der versuchten Überschreitung qualvoll verenden mußte, wenn er nicht innerhalb einer Sekunde den Sprung zurück aus dem kreis schaffte. Dieser Bannkreis erzeugte eine magische Säule von zweihundert Metern Höhe, in die der mit menschlichem Namen erwähnte Vampir nicht vorstoßen konnte. Würde Nyx alias Griselda Hollingsworth das Eindringen in den Kreis überstehen? Konnte sie ihm widerstehen? Oder vermochte sie es, diesen Zauber zu brechen? Letzteres wollte Zach Marchand nicht annehmen. Aber zumindest würde er ihr zeigen, daß er sie nicht so einfach an sich heranließ. Doch das galt nur für dieses Haus. Wenn er aus dem Versteck heraus war mußte er ja auch wieder an seine alte Arbeitsstätte, dem FBI in New Orleans. Wenn er da nicht bald wieder auftauchte mochten die finden, er sei nicht mehr Dienstfähig oder habe sich von jemanden abwerben lassen, der CIA, der DEA oder der Cosa Nostra. Dem mußte er schnellstmöglich vorbeugen. Doch zuerst mußte er was essen. Hoffentlich ging seine Tiefkühltruhe noch und die darin eingelagerten Steaks waren noch genießbar. Jetzt, wo er knapp zwanzig Milliliter seines Blutes für den Zauberkreis abgelassen hatte, wäre ihm ein saftiges Hüftsteak gerade recht.

Er betrat den Keller und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß noch Strom vorhanden war. Im Flackerlicht der summenden Neonröhren betrat er den Vorratsraum und trat an die Tiefkühltruhe heran, die wie aufs Stichwort anrumpelte und mit leisem Brummen das Kühlgas umwälzte, um in ihrem weißen Bauch polare Temperaturen zu erhalten. Doch auf der Tiefkühltruhe sah er etwas, daß da nicht hingehörte und ihm dennoch keine Angst machte. Rittlings auf dem Truhendeckel hockte, die silberweißen Beine angezogen, eine vollkommen unbekleidete Frau. Das hätte dem Junggesellen sicher schon behagt, wenn die unangemeldete Besucherin nicht zwei Merkmale besessen hätte, die ihn von jedem erotischen Gedanken abbrachten. Zum einen schien das Licht der Neonleuchten durch sie hindurch, als bestehe sie aus Wasserdampf. Zum anderen kannte er die Dame und wußte, daß sie seit hundertsiebzehn Jahren tot war. Es war die als Geist in der Welt verbliebene Erscheinung der berühmten Voodoomeisterin Marie Laveau.

"Ich grüße dich, Zachary Marchand", sagte die Gespensterfrau auf der Tiefkühltruhe. Zachary Marchand stand ruhig da und erwiderte den Gruß. Dann fragte er: "Ich sehe, daß meine übrigen Schutzzauber keine Geister aussperren können. Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches. Woher wußten Sie, daß ich heute nach Hause kommen würde?" Die auf der Truhe thronende Voodookönigin lächelte überlegen und straffte sich. ihr dunkelgraues, langes Haar wehte im Schein der Leuchtstoffröhre wie eine Rauchfahne.

"Du entsinnst dich, daß ich das Morgen sehen kann, Zachary. So wußte ich, wann ich dein Haus betreten mußte, um dich zu sprechen. Außerdem weiß ich, daß du nicht zurückgekommen wärest, wenn dir nicht danach wäre, gegen den wiedererstandenen Bokor, der sich Samedis Sohn zu nennen wagt, anzukämpfen. Doch die Blutkönigin ist auch noch deine Feindin, wenngleich sie und das in ihrem Schoße ruhende Dunkel gerade weit von diesem Land entfernt sind. Um sie abzuwehren hast du gerade einen kraftzehrenden Zauber ausgeführt, der recht beachtlich ist. Doch gegen jenen, der sich wagt, Samedis Sohn zu heißen, wird dieser Zauber nicht schützen."

"Das weiß ich leider. Können Sie mir helfen, die von Ihren lebenden Mitarbeitern hergestellten Artefakte länger wirken zu lassen?" Fragte Marchand und holte die Amulette gegen Fernflüche, lebende Tote und Erkennungszauber hervor. Die Geisterfrau schüttelte ihren durchsichtigen Kopf. "Ich kann die Kraft, die in diesen Amuletten steckt nicht beliebig lange erhalten, weil sie bereits gegen die Magie des Wiedererstandenen bestehen mußte. Außerdem vermag ich als auf der Erde verbliebener Geist nur noch solche Zauber, die den Geist und die unruhigen Geister der Toten berühren können. Doch wo du fragst fällt es mir leicht, dir eine Botschaft und ein Angebot zu übermitteln", sagte die feinstoffliche Voodookönigin. "Die Botschaft lautet: Und jener, der aufwuchs, das Böse der Gewalt und das Böse der Magie zu bekämpfen ist ausersehen, den Wiedererstandenen zu locken, auf daß er sich der großen Schlacht stellen möge. Allerdings mußt du dafür an einem Ort sein, an dem der vollkommene Friede regiert und kein böser Zauber Einlaß erhält. Um diesen Ort betreten zu dürfen mußt du in die Geheimnisse derer eingeweiht werden, die ihre Wirkungsstätte nach mir benannt haben."

"Das ist wohl kein Problem, wo ich jetzt genug Leute im LI kenne", erwiderte Marchand. Doch die gespenstische Besucherin schüttelte den Kopf und entgegnete:

"Nur solche, die bei ihnen arbeiten erhalten Zugang zu allen Geheimnissen und Stützpunkten, Zachary. Du kannst dort nicht hin, solange du für dieses wankelmütige Zaubereiministerium arbeitest."

"So, kann ich nicht?" Fragte Marchand. "Soll das heißen, ich soll meinen Job bei Cartridge kündigen und bei Mr. Davidson anfragen, ob er einen muggelstämmigen Zauberer, der offiziell bei der Bundesermittlungsbehörde schafft, anstellt?"

"Einfach ausgedrückt und völlig zutreffend, Zachary. Du mußt, wenn du der Rache des Wiedererstandenen begegnen möchtest, vollkommen in die Arbeit derer eingebunden sein, die gegen alle bösartigen Zauber dieser Welt ankämpfen."

"Ich glaube nicht, daß das Zaubereiministerium mich so einfach freigibt", schränkte Marchand ein. "Denen ist meine Arbeit als Feuermelder beim FBI zu wichtig, als daß sie mich zu Elysius Davidson und den anderen gehen lassen, die immer wieder klarstellen, daß sie nicht für das Ministerium arbeiten."

"Und dennoch wirst du keine andere Wahl haben, zumal du in der Behörde namens FBI auch für Elysius und die anderen überragend wertvoll sein kannst. Denn es steht ein großes Ereignis bevor, daß aus der längst verschütteten Vorzeit in unsere Zeit hineinragt. Wie genau sich dies vollzieht konnte ich nicht sehen, weil dabei eine Menge Zauberkraft freiwurde und die Zeit erschüttert. Ich weiß nur, daß es nicht aufzuhalten ist, weil es zu weit von hier entfernt passieren wird."

"Was genau wissen Sie dann?" Fragte Zach Marchand.

"Das die aufbricht, die vom unsichtbaren Feuer aus unsteter Erde verbrannt wurde, um Heilung zu suchen. Doch sie wird das Heil nicht finden, daß sie anstrebt. Doch etwas anderes wird ihr widerfahren, daß aus ihrer Verzweiflung und ihrer Gier geboren sein wird. Das einzige, was ich sehen konnte, war eine schwarze Spinne im Sturm aus Licht und Feuer. "

"So, und weil das passiert ist es besser, wenn ich beim Ministerium kündige?" Fragte Marchand. Die Besucherin nickte. Dann fügte sie an, daß es auch um den Kampf gegen Stillwell ginge. Zach Marchand bedachte das alles. Dann wollte er wissen, ob sie ihm seine Zukunft zeigen könne. Das ginge jedoch nur in ihrem Grabhaus, erwiderte sie darauf. Doch dann wisse er, daß es für ihn keinen anderen Weg gebe, als für alle die zu arbeiten, die einmal von ihr berührt worden waren. Zach Marchand erkannte, daß er keine Leistung ohne Gegenleistung erhielt. Er wußte von Jane Porter, daß die Mitarbeiter des LIs nicht unbedingt von sich aus dort angefangen hatten, aber es am Ende für die einzig richtige Betätigung angesehen hatten. So stimmte er zu.

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Naaneavargia schaffte es, vier Tage lang eine Frau zu bleiben und konnte mit dem erbeuteten Zauberstab sogar mehrmals die Gegend wechseln. Als sie fühlte, daß sie wieder zur Spinne werden würde schaffte sie es gerade so, noch in einen dichten Urwald zu wechseln, bevor ihre innere Tiergestalt sie übermannte und wieder jenen merkwürdigen Kraftlinien ausgesetzt war. Als Frau konnte sie die nach außen strahlende Energie ihrer Lebenskraft verhüllen. Doch jetzt konnten sie sie wieder aufspüren. Diese Zauberkraft war also offenbar wirklich über das ganze Land ausgespannt worden. Sie sah einen hohen Eukalyptusbaum und sprang an den Stamm. In windeseile turnte sie den Stamm hinauf und verschwand raschelnd im Blattwerk, wobei sie einige Koalas aufscheuchte, die in wilder Panik ihr Heil in der Flucht suchten. Die Tiere erkannten mit ihrem Spürsinn für Gefahr, daß sie die riesige Spinne nicht beißen oder kratzen konnten. Wie lange mochte es dauern, bis man sie wieder aufspürte? Die Antwort erfolgte innerhalb eines Tausendsteltages. Offenbar mußte jemand, der das Spürnetz ausgelegt hatte erst weitergeben, daß es sie erfaßt hatte. Jedenfalls erschienen die Zauberer nun im üppigen Eukalyptuswald. sie schaffte es, ein paar ungeschützte Gedanken zu hören und erkannte mit Schrecken, daß man ihr nun mit Eiseskälte zu Leibe rücken würde. In ihrer Spinnengestalt war sie dem sicher hilflos ausgeliefert. Nur mit der unbändigen Angst, die sie gerade empfand, konnte sie sich nicht in eine Frau verwandeln. Ihre einzige Gelegenheit, dem zu entgehen war die Flucht durch die Baumwipfel. Außerdem wußten die da unten noch nicht, wo sie war. Doch das war nur eine Frage weniger Augenblicke. So stieß sie einen Fangfaden aus, der sich an den Stamm klebte und wählte den nächsten Baum aus. Sie hatte bereits Übung darin, sich in den Wipfeln der großen Pflanzen zu bewegen und startete unverzüglich durch, als um sie herum ein grüner Schimmer aufleuchtete, der ihr verriet, daß man sie aufgespürt hatte.

"Das Biest wird immer raffinierter", knurrte jemand, der seinen Geist gut abschottete. "Angriff wie abgesprochen!" Erklang sein Befehl. Doch als die ersten Strahlen aus eiskalter Luft und aus den Zauberstäben fliegende Schneebälle losflogen war die Spinne bereits im nächsten Baum, klebte einen weiteren Fangfaden an den Stamm und setzte in den Baum links von ihr über. In den nächsten konnte sie ohne Absicherung springen, weil der nur eine ihrer Längen entfernt war. Sie sprang und krabbelte so schnell sie konnte, während die Zauberer unten versuchten, sie mit Gefrierzaubern und Kugeln aus eiskaltem wasser zu treffen. Dann taten die noch nicht genau auf sie zielenden Zauberer was, womit sie nicht gerechnet hatte. Sie bildeten einen Kreis und deuteten in den Himmel: "Evocamus Grandinem!" Riefen sie. Naaneavargia fühlte, daß damit eine Beeinflussung des Wetters einherging. Es wurde schlagartig kühler. Die Zauberer riefen ihren Spruch weiter. Über den Bäumen ballten sich bleigraue und dann schwarze Wolken, die herumwirbelten. Dann fielen die ersten Eisstücke aus dem Himmel herunter. Man wollte sie also mit einem heraufbeschworenen Hagelsturm schwächen. Diese Kerle da unten wurden immer einfallsreicher. Doch die Spinne hatte nicht vor, sich in einem Eissturm erledigen zu lassen. Zwar würden die langsam immer größer werdenden Hagelkörner sie hier oben leicht treffen. Doch gegen Eis gab es was sehr wirksames. Bevor der eisige Niederschlag es ganz unmöglich machen würde, wollte die Spinne ihren Gegenschlag ausführen. Sie rannte den Stammhinunter, der durch die dagegenschlagenden Hagelkörner immer glatter wurde. Sie fühlte, wie die nun schon hühnereigroßen Eistropfen ihre Beweglichkeit immer mehr schwächten. Sie erkannte, daß sie nur noch einen Tausendstel Tag hatte, um der Lähmung durch die Kälte zu entrinnen. Sie ließ sich die letzten vier Meter fallen, rollte mit eingezogenen Beinen und Fühlern einige Meter weiter und blieb liegen. Die Zauberer hatten sie nicht mehr gesehen, als der Hagelsturm hereingebrochen war, der immer noch von diesen schwächlichen Stabschwingern angefacht wurde. Wußten die denn nicht, daß Wetterbeeinflussungen dazu neigten, ab einer gewissen Stärke außer Beherrschung zu geraten? Nun, an diesem Tag war nicht die Zeit, um es ihnen zu sagen. Naaneavargia fühlte die auf sie niederprasselnden Hagelkörner als immer größeres Gewicht. Die Eiseskälte schaffte es noch nicht, die schwülheiße Luft des Eukalyptuswaldes zu verdrängen. Die Luft war noch trocken genug, um den Gegenstoß zu führen. Doch dazu mußte Naaneavargia wieder zur Frau werden. Mühevoll konzentrierte sie sich darauf, die Gestalt zu wechseln. Erst nach ihr unendlich langer Zeit schaffte sie es. Da sie nun eine weiche Haut hatte spürte sie das hammerharte Auftreffen der Hagelkörner noch stärker. Doch sie biß die Zähne zusammen, ging in die Hocke und bot dem Eis weniger Angriffsfläche. Sie fand, was sie suchte, ein paar vom Wind abgebrochene trockene Blätter und Zweige. Da hörte sie die sie jagenden Zauberer näherkommen. Sie hielt ihre Hände über den kleinen Haufen Trockenblätter und dachte die Anrufung des Feuers, etwas, daß begüterte Bewohner Altaxarrois schon als Kinder mit bloßen Händen hinbekommen konnten. Zwischen ihren Händen schlugen erst einzelne und dann immer mehr Funken über. Sie fühlte das Kribbeln in den Fingern, als die Kraft dazwischen immer stärker aufgeladen wurde. Dann fauchte es, und der kleine Blätterhaufen stand in hellen Flammen. sofort kehrte sie in ihre Tiergestalt zurück. Denn Feuer und giftiger Qualm konnten ihr nichts anhaben. Der kleine Brand fand weitere Nahrung, obwohl weitere Hagelkörner aufschlugen und zerbarsten. dann fraß das kleine Feuer an einem Eukalyptusstamm. Die ölhaltige Pflanze würde dem Feuer, wenn es nicht sofort wieder ausging, eine lohnende Nahrungsquelle sein. Es dauerte einige Momente, in denen Naaneavargia fühlte, wie der Eissturm sie immer träger machte. Wer sie jetzt fesseln würde konnte sie wegtragen. Da wehte ihr die Hitze eines nun entfesselten Brandes entgegen. Der Stamm des Eukalyptusbaumes loderte auf. Tiere flüchteten eh schon vor dem Hagel und nun auch vor dem Feuer, das wegen seiner magischen Natur stärker war als jedes mit bloßen Händen aus Steinen und Holz geschlagene Feuer. Um Naaneavargia herum begann alles zu brennen, was auf dem Boden lag. So geriet sie mitten in die Flammen, die ihre vom Eissturm gelähmten Glieder schnell wieder auftauten. Die Spinne vernahm die unsicheren Gedanken ihrer Verfolger. Man hatte sie nun gesehen. Aber man sah auch das immer wütender lodernde Feuer, das gegen den Hagelsturm ankämpfte. Es mochte sein, daß es schnell wieder ausging. Aber im Moment wuchs es erst einmal an. Naaneavargia kam auf ihre acht langen Beine und rannte los, mitten hinein in das Feuer, das nun um sie herumzüngelte, ihr jedoch nichts antat. Der Eissturm wütete zwar noch. Doch die vom Boden aufsteigende Hitze schmolz die Hagelkörner. Zwar zischte es, wenn das Wasser ins Feuer geriet. Doch das Öl aus den Bäumen wog diese Schwächung wieder auf. Da barst der erste Baum in wildem Flammenwirbel. Naaneavargia hörte Rufe, mit denen die anderen den von ihr gelegten Brand löschen wollten. Da gerade ein anderer Wetterzauber wirkte, mußten sie diesen erst einmal abschwächen, falls sie einen großen Regen machen wollten, was auch nur dann ging, wenn noch genug Wasser in der Luft war oder genug unter der Erde, um es als Regen niedergehen zu lassen. Das war in diesem trockenen Land nicht überall möglich. Naaneavargia gönnte sich die Dreistigkeit und dachte Bowman eine Botschaft zu, der mal wieder mit in der Einsatztruppe war.

"Wer mir mit Eisss kommt erntet dasss Feuer. Merk dir dasss!"

Sie rannte weiter. Die um sie aufzüngelnden Flammen und das Prasseln im Feuer zerbrechender Zweige und Blätter machten ihr nichts aus. Im Schutz des von ihr entfachten Brandes entkam sie trotz der immer noch spürbaren Kraftlinien. Doch ihr fiel auf, daß diese Linien zitterten und zerflossen. Wirkte das Feuer also gegen sie an? Darüber konnte sie im Moment nicht nachdenken. Ihr war wichtig, weiterzukommen.

Als sie wohl einen Zehnteltag gelaufen war und dabei mit dem Feuer mitgelaufen war, gelangte sie an einen Fluß. Auf der anderen Seite standen Eukalyptusbäume. von denen fühlte sie wider einige der Kraftlinien. Da wußte sie, daß es mit den Pflanzen zu tun hatte. Sie ließ sich ins Wasser fallen und hörte es zischen. Offenbar mußte ihr ganzer Körper kochendheiß geworden sein. Sie ließ sich mit der Strömung treiben, bis sie einen Felsvorsprung fand, an dem sie keine Kraftlinien fühlte. Als sie sicher war, erst einmal unbehelligt zu sein verwandelte sie sich wieder in die goldhäutige Magierin. Allerdings hatte sie mal wieder keinen Zauberstab bei sich behalten können. Sie dachte über die Spürzauber nach. Offenbar hatten die heutigen Kraftträger Pflanzen als Aufspürhilfen benutzt. Brannten diese ab, zerfiel deren Teil des Netzes. Also galt es, weit genug von den Pflanzen entfernt zu sein. Doch ohne Kraftausrichter war das schwer möglich. Außerdem sollte sie wohl darüber nachdenken, ob es in diesem Land noch sicher für sie war. Jedesmal, wenn sie als Spinne irgendwo auftauchte wurde sie gleich aufgespürt. Wenn sie das nicht abstellen konnte galt es, den Erdteil zu wechseln. Sie wußte, daß beim roten Felsenberg der Zugang zu den erhabenen Straßen lag. Sonst hätte dieser Jüngling Julius sie wohl kaum so rasch erreichen und sich dann wieder absetzen können. Aber ohne einen Lotsenstein konnte sie diese Straßen nicht nutzen. Sie fragte sich, ob Julius mit einem solchen Gegenstand ausgestattet war oder die für ihn uralten Straßen auch anders benutzt hatte, wenn er schon Hilfe von Darxandria bekommen hatte. Vielleicht sollte sie doch auf die unmagischen Fluggeräte der weißen Menschen zurückgreifen. Dann versuchte sie etwas, was sie lange nicht mehr ausprobiert hatte. Sie konzentrierte sich und sang leise die ehrwürdigen Worte der Loslösung. Ohne Kraftausrichter war es schwierig, sich aus dem Halt der alles anziehenden Schwerkraft zu lösen. Doch sie war eine Großmeisterin, und in ihr wirkten die Tränen der Ewigkeit. Es dauerte jedoch einige Zeit, bis sie es schaffte, genug von der übernatürlichen Kraft in sich zu bündeln, um aus den Fesseln der Schwerkraft freizukommen. Langsam und dann immer schneller stieg sie aufwärts, gewann sogar ein Gefühl für die Richtung, in der sie fliegen wollte und schwebte über die Wipfel hinaus. Sie schaffte es, die alten Kenntnisse vollkommen wachzurufen und begann, über das unverbrannte Waldgebiet hinwegzufliegen. Sie fühlte nichts von den sie suchenden Kraftlinien. Womöglich konnten diese eben nur die Spinnengestalt erfassen. Sie wußte, daß sie dank der Tränen der Ewigkeit eine vielfach höhere Ausdauer besaß. Doch irgendwann würde sie essen müssen. Wo das war mußte sie noch herausfinden. Sie schaffte es, in der Luft zu schwimmen wie ein Fisch im Wasser und dabei so viel Fahrt zu machen wie ein moderner Flugbesen. Sie mußte jedoch die altehrwürdigen Worte immer wieder neu denken, um die in ihr wirksame Schwerkraftumkehrung zu erhalten. So ging es also auch, freute sich Naaneavargia, als sie wie eine goldhäutige Superfrau ohne Umhang über Australien dahinflog.

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Anthelia saß auf ihrem Harvey-Besen und folgte Kathleen Thornhill, einer schlanken, braungebrannten Hexe mit feuerrotem Haar und dunkelblauen Augen, die auf ihrem Willy-Willy 6 gerade über das Buschland dahinflog. Hinter Anthelia hockte Tyche Lennox auf dem Besen und hielt sich gut an der höchsten Schwester fest. Tyches Furcht, daß Anthelias Verseuchung auch auf sie übergehen würde hatte sich nicht bestätigt. Denn ein handelsüblicher Geigerzähler, den Tyche in Canberra gekauft hatte, hatte bei der Untersuchung von Anthelias Körper zwar eine geringfügige Erhöhung, aber keine bedenkliche Menge radioaktiver Strahlung gezeigt. Offenbar litt Anthelia unter den Sekundärwirkungen der bereits hochgradig ionisierten Körperzellen. Was sonst passierte war die Folge der Überdosis, die sich die höchste Schwester in Sibierien eingehandelt hatte. Kathleen führte die beiden Bundesschwestern zu einem Platz, an dem vor zwei Tagen die letzte Sichtung der Riesenspinne gemeldet worden war. Sie sahen niedergebrannte Eukalyptusbäume und Aschereste. "Die meinten schlau zu sein und dachten, die mit Eiszaubern und einem gemeinschaftlich beschworenen Hagelschauer besiegen zu können", sagte Kathleen leise. "Lady Nimoe hat Jake Prowler vom Ministerium zu Fassen bekommen und verhört, weil sie es nicht mehr hinnehmen will, daß dieses Geschöpf sein Unwesen treibt. Sie hat ihn erst nach drei Stunden wieder laufen lassen."

"Oh, dann wissen wir jetzt mehr über dieses Ungeheuer?" Fragte Anthelia schnippisch.

"Lady Nimoe weiß es. Aber die weiß auch, daß du durch die Sache mit Volakin sehr angeschlagen bist und wird das auskosten, dir alles vorzuenthalten."

"Und wenn ich sie überrede, mir alles zu verraten?" Fragte Anthelia.

"Das würde ich besser nicht tun, höchste Schwester. Denn bisher weiß nur ich davon, daß du bei uns im Land bist. Es war gut von Schwester Donata, daß sie dich vorgewarnt hat. Die wichtigsten Heiler, die mit dieser Strahlensache bescheid wissen werden nicht nur von stationären Schutzzaubern, sondern auch von Ministeriumszauberern beschützt, die im diskreten Abstand aufpassen, daß sie nicht überfallen werden."

"Prowler heißt dieser Amtsträger?" Fragte Anthelia. Kathleen bestätigte das. "Jake Prowler, Büro für magische Schädlingsbekämpfung, Stellvertreter von Larry Bowman in der Sonderkommission "Schwarze Spinne"."

"Ach, die wurde jetzt erst gegründet?" Fragte Anthelia schnippisch, weil eine derartige Sondertruppe ja schon wegen ihres Hexenbundes hätte gegründet werden können.

"Das wir uns so nennen haben die ja noch nicht ganz raus", meinte Kathleen.

"Hat die werte Nimoe diesen Burschen zumindest mit einem Gedächtniszauber belegt, daß er nicht verkünden konnte, ihr Gast gewesen zu sein?" Fragte Anthelia.

"Natürlich", erwiderte Kathleen. Darauf erwiederte Anthelia, daß das sehr entgegenkommend von der linkshändig hexenden Dame sei. Dann betrachtete sie die Spur der Verwüstung und fragte, was mit dem heraufbeschworenen Hagelsturm geschehen sei.

"Genau das was passiert, wenn man einen Wetterzauber solcher Stärke unter freiem Himmel entfacht. Er geriet aus der Begrenzung und wanderte einige Dutzend Kilometer weiter durch den Busch, bis er sich vollständig abgeschwächt hat", grummelte Kathleen. Anthelia nickte. Wetterzauber, noch dazu von mehreren zugleich angefacht, konnten leicht zu unberechenbaren Gewalten ausarten. Nur solche, die nichts zu verlieren glaubten, würden einen derart heftigen Zauber aufrufen.

"Was weißt du bereits über das, was Lady Nimoe ergründet hat, Schwester Kathleen?" Forschte Anthelia nach.

"Nur, daß dieses Biest zu einer schönen, goldhäutigen Frau werden kann, die mal mit und mal ohne Zauberstab Zaubern kann. Den kleinen Buschbrand, mit dem sie den Hagelsturm gekontert hat, muß sie wohl ohne jedes magische Hilfsmittel ausgelöst haben. Auch hörte ich, daß sie wohl einen flächendeckenden Beeinflussungszauber könne. Näheres wollte uns Lady Nimoe nicht mitteilen."

Ein Windstoß kam auf und fegte durch Anthelias absichtlich kurzgeschorenes Haar. Dabei wehte er ganze Büschel heraus, die Tyche ins Gesicht flogen. Sie mußte niesen. Anthelia entschuldigte sich für dieses Vorkommnis. Dann sagte sie an, daß sie diesen Prowler selbst ausforschen wolle. Allerdings hatte sie nicht vor, ihn selbst anzugehen, sondern dessen Vorgesetzten Lawrence Bowman, weil sie erstens davon ausging, daß dieser das meiste wußte, was mit der schwarzen Spinne zu tun hatte und zweitens nicht ausschloß, daß Nimoe Fungrove ihr und jedem anderem, der sich für ihre Aktivitäten interessierte eine Falle gestellt haben mochte. Doch das erwähnte sie Kathleen gegenüber nicht. Manchmal war es besser, die eigenen Pläne für sich zu behalten, wenn es möglich war, sie alleine umzusetzen.

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Lawrence Bowman ärgerte sich maßlos, daß die Aktion mit dem Eissturm nicht nur keinen Erfolg gezeigt hatte, sondern auch, daß dieses unverwüstliche Ungeheuer mit einem veritablen Buschfeuer dagegengehalten hatte. Er hatte sie noch wegrennen sehen können, durch die um sie auflodernden Flammen, unter den herabrieselnden Funken aus den Eukalyptusbäumen hindurch. Das heiße Element konnte ihr offenbar nicht das geringste anhaben. Die Eisattacke hatte sie dagegen wohl eher geschwächt. Dann hatte sich der Leiter der Sonderkommission "Schwarze Spinne" auch noch eine Standpauke der Zaubereiministerin anhören müssen, daß der von seinen Wetterzauberern heraufbeschworene Hagelsturm aus den Fugen geraten und noch vierzig Kilometer weitergezogen war, wobei sein eisiger Niederschlag mehrere Bäume zerstört hatte. Den rest hatte das Feuer besorgt, bis ministerielle Löschtrupps der australischen Feuerwehr heimlich unter die Arme greifen und mit Unfeuersteinen die Brände eindämmen konnten. "Beim nächsten Auftauchen unbedingt Unfeuersteine mitnehmen", trug der Spinnenjäger in sein Notizbuch ein. Aber was konnte dieses Monsterweib noch aus dem Kessel zaubern? Der Angriff mit dem superstarken Betörungszauber und der damit ebenso entfachten Eifersuchtswelle machte hundert Veelas und fünfzig Auraveneris-Flüche lächerlich. Doch dagegen half etwas, das sonst nur zum schnellen Auswendiglernen umfangreicher Texte und Anleitungen diente, die Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit. Sollten sie dieses Biest beim nächsten Mal einkreisen, würde es mit seinen Verführungsflüchen keinen Boden mehr gewinnen. Denn der Trank unterdrückte jede Art von Gefühl, wenn er das Gedächtnis um ein vielfaches verstärkte.

"Sir, Großheilerin Morehead möchte sie sprechen", meldete sein zugeteilter Sekretär Tulius Onedin, als Bowman gerade zur Mittagspause in die noble Cafeteria des Ministeriums gehen wollte. Tulius Onedin hatte gerade vor zwei Jahren Redrock beendet und stand als Innendienstzauberer der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe noch am Anfang seiner Karriere. Er wirkte auf Bowman wie ein kecker Knabe von gerade fünfzehn Jahren. Das hatte ihm wohl bisher kein Glück bei den ledigen Hexen eingebracht, vermutete Bowman, der nur deshalb Junggeselle geblieben war, weil er sich seit seinem Auszug aus dem Elternhaus von keinem Hexenweib mehr in seine Lebensführung reinpfuschen lassen wollte.

"Ist sie überprüft worden, Tulius?" Fragte Bowman den jungen Zauberer mit der hellblonden Kurzhaarfrisur. "Natürlich, Sir. Sie wartet im Vorzimmer, war nicht so besonders begeistert, von unseren Sicherheitshexen gefilzt zu werden. Becky Portland hat's wohl auch übertrieben. Aber dazu steht mir ja keine Meinung zu, Sir."

"Okay, schicken Sie sie bitte rein!"

Eine untersetzte, schwarzgelockte Hexe im veilchenblauen Reiseumhang betrat Bowmans Büro. Auf ihrer Nase ritt eine silberne Brille, durch deren Gläser stahlblaue Augen vorwurfsvoll auf den Inhaber dieses Arbeitszimmers blickten. Tulius zog sich diskret zurück und schloß die Tür von außen.

"Ich wünsche einen schönen Tag, Madam Morehead", grüßte Lawrence Bowman. Die Besucherin sah ihn weiter vorwurfsvoll an und erwiderte:

"Den haben Sie und ihre Sicherheitshexen mir leider schon verdorben, Mr. Bowman. Ich mußte mich vollends entkleiden und mir dann noch gefallen lassen, wie eine übereifrige junge Dame meinte, mir sämtliche Leibesöffnungen mit einer Seriositätssonde mit Dunkelkraftanhaftvorrichtung durchpflügen zu müssen."

"Nun, die besagte Kollegin hat den höchstministeriellenAuftrag, nach geschmuggelten spreng- oder Giftgasvorrichtungen zu suchen. Ich wurde auch schon einmal von einer solchen Suchvorrichtung gepiesackt, weil ich einige magische Artefakte mitführe, die auf bestimmte Lebensschwingungen kalibriert sind", verteidigte Bowman die gründliche Durchsuchung."

"Ich könnte Ihnen Hinweise geben, wie ein potentieller Attentäter oder eine Attentäterin Gifte und andere Schadmittel in Ihr Ministerium schmuggeln kann, ohne daß die Sonden sie aufspüren. Aber dann brächte ich Sie um Ihren Schlaf", knurrte Laura Morehead. Dann kam sie auf den Punkt: "Ich erfuhr, daß einer Ihrer Leute verlangt hat, unmittelbar im Zaubertranklabor der Sana-Novodies-Klinik an Tränken zu arbeiten, mit denen diese Riesenspinne ausgerottet werden kann. Da die Leiterin der Klinik gerade selbst genug um die Ohren hat und Sie bei der Gelegenheit auch noch verlangt haben, daß alle Heiler Ihrer Kommission zugeteilt werden sollten, sehe ich mich herausgefordert, um nicht zu sagen provoziert."

"Inwiefern? Heiler haben doch, soweit mir dies bekannt ist, den unmittelbaren Auftrag, Menschenleben zu schützen. Da können sie auch für Sondereinsätze herangezogen werden."

"Dann sollten Sie und meinetwegen auch die werte Latona Rockridge Ihr Wissen unbedingt um eine wesentliche Rechtsgrundlage ergänzen, daß wir Heilerinnen und Heiler nicht dem Zaubereiministerium, sondern allen Menschen gegenüber verpflichtet sind und daher von keiner ministeriellen Behörde gebeten oder angewiesen werden können, uns an Vorhaben des Ministeriums zu beteiligen und/oder unsere Aufgaben ministeriellen Anforderungen zu unterwerfen."

"Solange keine Notfallsituation vorliegt und die Heilzunft nicht auf ministerielle Unterstützung angewiesen ist", konterte Bowman. "Aber die Anwesenheit dieser weiblichen Kreatur, die zwischen einer monströsen und noch dazu bisher unbezwingbaren Spinnengestalt und einer uns offenbar ebenbürtigen Hexe wechseln kann, ist eine Notfallsituation, da sie jederzeit unschuldige Menschen überfallen und wie Futter verschlingen kann. Darüber hinaus erfahren Ihre Kolleginnen Bethesda Herbregis, Jill Trylief und Aurora Dawn gerade ministeriellen Personenschutz, weil zu befürchten steht, daß die selbsternannte Erbin Sardonias bei ihrer Vernichtungsaktion gegen diesen blauen Vampir Volakin eine tödliche Menge dieser Radiointoxikation abbekommen hat und bereits in Amerika und Europa versucht hat, an Heiler oder Heilmittel heranzukommen, um die Auswirkungen dieser Verseuchung behandeln zu können, ohne sich dabei in die Obhut der Heilzunft begeben zu wollen."

"Damit wir es klarstellen, Sir, die ehrenwerte Kollegin Herbregis hat selbst Sicherungsmaßnahmen für die Sana-Novodies-Klinik und ihre Familienangehörigen getroffen, und die junge Kollegin Aurora Dawn hat nicht ausdrücklich um den Personenschutz gebeten, sondern ihn nur deshalb akzeptiert, weil sie weiß, daß diese verdorbene Hexe sich an sie halten könnte. Ihr Haus ist jedoch gesichert und ihre Familie lebt in England unter dem Schutz von Minister Shacklebolt."

"Also genießt sie ministeriellen Schutz und sollte daher wie alle anderen Heiler auch bereit sein, sich für die Durchführung ministerieller Maßnahmen zur Verfügung zu halten", erwiderte Bowman. "Und was die Arbeit meiner Zaubertrankexperten angeht, so hat Madam Herbregis es ja bisher verweigert, hochwirksame Mittel wie Drachengallengas oder Gefrierwasser von ihren Leuten brauen zu lassen. Unsere Kapazitäten reichen nicht so weit wie Ihre."

"Ich stimme der guten Bethesda Herbregis vollkommen zu und unterstütze jeden von ihr erhobenen Widerspruch gegen das Brauen hochwirksamer Schadgebräue unter dem Dach der Sana-Novodies-Klinik. Bei der Erstellung von Drachengallengas kann es zu tödlichen Unfällen kommen, abgesehen vom Umstand, daß das Endprodukt selbst nur einem Zweck dient, der Vernichtung von Lebewesen. Und derartiges wird nicht unter dem Dach irgendeiner magischen Heilstätte hergestellt, damit wir uns ganz klar verstehen, Mr. Bowman."

"Nun, ich habe an Ihre Vernunft appelliert. Falls Sie Ihre Braukapazitäten nicht zur Verfügung stellen wollen muß die Ministerin Ihnen da wohl eine Notfallanweisung gemäß Notstandsverordnung Klausel 2 erteilen", kündigte Bowman an. Doch Laura Morehead tat dies mit einem verächtlichen Kopfschütteln ab und erwiderte:

"Diese Drohung voraussehend habe ich bereits einen mehrseitigen Brief an die Ministerin geschickt, in dem Großheilerin Direktorin Herbregis und ich klar zum Ausdruck bringen, welchen Rufschaden die Heilzunft erleidden wird, wenn irgendwo herauskommt, daß im wichtigsten Zentrum der australischen Medimagie tödliche Substanzen hergestellt werden. Unsere Direktiven verbieten die gezielte Herstellung und Verbreitung menschenlebengefährdender Mittel. Abgesehen davon besteht die Gefahr, daß bei der Herstellung bereits tödliche Produkte entstehen. Den Begriff "Clamp'sche Kommotion" haben Sie hoffentlich schon mal gehört oder gelesen. In unseren Laboratorien werden keine ausdrücklich tödlichen Mittel hergestellt. Und um Ihre aufgepflanzte Überlegenheit endgültig zu stutzen, Mr. Bowman, ich komme gerade von der Ministerin und habe es schriftlich von ihr, daß keine Heilerin und kein Heiler an der Herstellung solcher Mittel beteiligt wird und in keinem Zaubertranklabor, das von mindestens einem Mitglied der magischen Heilzunft betrieben wird, derartige Mittel von nicht zur Heilzunft gehörigen Personen hergestellt, gelagert oder eingesetzt werden dürfen." Damit übergab sie Bowman ein Pergament, das das Siegel der Ministerin und ihre Unterschrift trug. Er las es und seufzte. Dann fragte er verdrossen, was sie dann noch bei und von ihm wolle. "Es geht mir nur darum, Ihnen klarzumachen, daß Ihr Übereifer mir und meinen Kollegen langsam lästig fällt und Sie gütigst jeden Anspruch auf Einbeziehung unserer Zunftmitglieder vergessen möchten. Ansonsten bin ich tatsächlich mit meinem Anliegen durch."

"Ich denke, die Ministerin wird wegen der Notfallverordnung noch einmal auf Sie zukommen müssen, sollte sich herausstellen, daß wegen Ihrer beharrlichen Verweigerung Menschenleben vernichtet wurden."

"Soweit ich es von Heilerin Dawn weiß vermag dieses Spinnenwesen auch als magisch begabte Frau also Hexe unter Sonne und Mond zu wandeln. Damit ist sie ein von den Heilerdirektiven als unantastbares Wesen geschützt und gilt entweder als Animaga, die in Tiergestalt getötet als ermordet gilt oder wie eine Lykanthropin als erkrankte Person Anspruch auf therapeutische Versorgung erheben kann."

"Mit dieser Einstellung wären die Schlangenkreaturen des britischen Massenmörders Voldemort heute noch unter uns", feuerte Bowman eine sehr verächtlich klingende Bemerkung ab. Madam Morehead steckte diese Vorhaltung jedoch ohne Augenzwinkern weg und entgegnete:

"Es mag Ihnen wie Heuchelei erscheinen, aber ich habe nur gesagt, daß wir Heiler nichts dazu beitragen dürfen, sie zu töten. Ob Sie sich an eine derartige Ethik gebunden fühlen müssen oder im Zweifel das Leben einer Person gegen das von tausenden abzuwägen verpflichtet sind habe ich nicht erwähnt. Da Ihre Zeit ebenso kostbar wie die meine ist möchte ich mich jetzt empfehlen."

"Meinetwegen hätten Sie nicht bei mir vorsprechen und damit Ihre Zeit vertun müssen", knurrte Bowman. "Sie finden hinaus?" Fragte er noch am Rande der Unverschämtheit. Die Besucherin nickte heftig und verließ das Büro.

Damit war für Bowman der Tag noch mehr verdorben, weil eine seiner Hoffnungen darauf beruht hatte, die Heiler wegen des Personenschutzes für die Strahlengiftexperten zu Gegenleistungen heranziehen zu können. Er würde der Ministerin dringend nahelegen, daß die Auroren und Tierwesenexperten mehr Braulabore zur Verfügung gestellt bekommen sollten und bei den Angeboten für Schulabgänger auch für lukrative Anstellungen als ministerieller Zaubertrankbrauer mit Gefahrenzulage und üppiger Lebensversicherung geworben werden möge.

Da die schwarze Spinne oder ihr attraktives Alter-Ego sich heute nicht mehr aufspüren ließ beschloß Bowman, mit seinen zwei zugeteilten Hauselfen einen Ausflug nach Tasmanien zu machen. Bisher hatte sich dieses Monster nur auf dem australischen Festland gezeigt, obwohl es immer wieder Zauberer oder Hexen überfallen und mit deren Zauberstäben mehrere Apparitionen durchgeführt hatte. So ließ er sich von seinen beiden Dienern, die gleichzeitig Leibwächter sein sollten, zu südküste Australiens bringen, wo er vor fünfzehn Jahren eine kleine Segelyacht in einer stillen Bucht angelegt hatte. Das Meer gab ihm die Beruhigung, die er jetzt brauchte. Die blaue Yacht mit dem Namen "Himmelspfeil" wippte einladend auf den sachten Wellenkämmen, die ihren Weg in die schmale Felsenbucht fanden. Die beiden Elfen gingen sofort daran, das Boot nach versteckten Vorrichtungen oder nicht dort hingehörenden Behälter abzusuchen. Erst als sie nichts fanden und auch keinen Fluch auslösten ging Bowman mit Aufspürzaubern daran. Dabei fiel ihm ein unappetitlicher bräunlicher Fleck auf den Decksplanken auf. Möwenkot, dachte er und wies Blinky, einen seiner Begleitelfen an, die unerwünschte Hinterlassenschaft zu beseitigen. Da seine Aufspürzauber nichts verdächtiges ans Licht brachten ging er an Bord und legte ab. Die Elfen setzten die Segel, die wahlweise mit Windfangzaubern oder ohne verwendet werden konnten. Da alle drei zu sehr auf das Segelboot fixiert gewesen waren, bemerkten sie nicht, was über ihren Köpfen passierte.

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Donata wußte, daß Anthelia schwerkrank war. Sie hatte sie nun einigemale im Hauptquartier gesehen. Anthelia brauchte Haarwuchsmixturen und Schmerzmittel. Die Strahlung fraß an ihrer Gesundheit, jeden Tag ein bißchen mehr. Selbst der für unbesiegbar angesehene Gürtel um Anthelias Hüften konnte diesen Vorgang nicht stoppen. Offenbar wußten es auch diejenigen, die nicht zu Anthelias Schwesternschaft gehörten. Denn anderthalb Wochen nachdem Anthelia Donata verkündet hatte, daß sie eine längere Reise antreten müsse, flatterte ein Uhu durch Donatas Küchenfenster und legte ihr einen Brief hin.

Ich grüße Euch, Lady Donata!

Zumindest muß ich euch noch eine geraume Weile so anreden, obwohl, wie Ihr euch sicher denken könnt, die Vorstellung, daß ihr nicht unbedingt unserer erhabenen Schwesternschaft alleine treu seid, mich sichtlich verstimmt. Ich weiß, daß Ihr von denen, die euch wählten, für eine Friedensbewahrerin gehalten werdet. Doch was für ein Friede ist das, der uns dazu verdammt, am Gängelband einer gernegroßen Nachläuferin Sardonias gehalten zu werden? Ich weiß nicht wie sie es geschafft hat, die Ehre abzustreifen, Lady Daianiras Tochter zu werden, wo es doch heißt, daß Lady Daianira bei der Suche nach Anthelias Geschöpf zu Tode kam. Ich will es auch nicht wissen, weil das ja hieße, daß ich mich dieser Wiederkehrerin so anbiedern muß wie Ihr euch angebiedert habt und all die, die sich nicht offenbaren können. Ich weiß mich aber mit einer immer größeren Zahl von Mitschwestern einig, daß dieser Zustand nicht vorhalten darf. Da ich nicht von euch erwarten kann, daß ihr dieser Wiederkehrerin abschwört bleibt mir nur die traurige Wahl, Euch zum offenen Zweikampf vor allen entschlossenen Schwestern herauszufordern. Solltet ihr der Ehre unserer Schwesternschaft wegen die einzig richtige Entscheidung treffen und diese Herausforderung annehmen, so biete ich euch an, am elften Oktober in der Versammlungshöhle gegeneinander anzutreten. Solltet ihr die Herausforderung jedoch ablehnen, so verwirkt ihr damit Euren Anspruch, weiterhin die Führerin unserer erhabenen Schwesternschaft zu sein.

So teilt uns allen mit, ob Ihr die Herausforderung annehmt und mit dem Termin des Entscheidungskampfes einverstanden seid!

Bis dahin verbleibe ich

Mit freundlichen Grüßen

Hyneria Swordgrinder

"Haben Etna und deine anderen Spione rausbekommen, daß Anthelia angeschlagen ist, du hinterhältiges Biest", dachte Donata. Sie sah die hagere Hyneria in einem blauen Umhang vor sich, das schwarze Haar bis auf die Schultern fallend, eine ehemalige Glanzspielerin der Bayoo Bugbears. Das war aber schon vierzig Jahre Her. Sie dachte daran, daß Hyneria immer im Hintergrund agierte und heimliche Experimente mit Zauberkunst und Flüchen anstellte. Fast hätte die einmal Daianira Hemlock herausgefordert. Doch die ehemalige Anführerin, deren Nachfolge sie selbst gerade innehatte, hatte die lauernde Hyneria gut auf Abstand halten können. Tja, und jetzt war sie, Donata Archstone, Strafverfolgungsleiterin im Zaubereiministerium, im Fokus dieser Hexe. Sie wußte genau, daß sie die Herausforderung nicht ablehnen konnte. Sie wußte auch, daß sie sich sehr vorsehen mußte, um das Duell nicht zu verlieren.

Sie erschien im Hauptquartier des Spinnenordens und mentiloquierte Patricia Straton an, so schnell wie möglich zu ihr zu kommen. Als Patricia wenige Minuten später eintraf und gefragt wurde, was sie solange aufgehalten habe, erwiderte die junge Hexe:

"Ich kann nicht so einfach von da weg, wo ich jetzt wohne, Schwester Donata. Meine Hauswirtin saß gerade mit mir am Frühstückstisch. Sie muß nicht wissen, daß ich von dir gerufen wurde. Was liegt an?"

"Ich wurde von Hyneria Swordgrinder zum Zweikampf um die Führerschaft herausgefordert", war Donatas knappe Antwort. Patricia holte zwischen zusammengebissenen Zähnen Luft und sagte dann: "Die Hungerleiderin? Die hat wohl ein paar fiese Tricks drauf. Warum die dich erst jetzt rausfordert wundert mich aber."

"Weil du die höchste Schwester lange nicht mehr angesehen hast, Patricia. Sie leidet immer mehr unter den Auswirkungen dieser vermaledeiten Strahlung. Offenbar meint sie noch, einen letzten Hoffnungsschimmer zu sehen, weil sie mit Tyche nach Australien abgereist ist. Jedenfalls dürften wir in den nächsten Tagen nichts von ihr hören. Und dieses Biest Hyneria weiß, daß die höchste Schwester krank ist. Ihre Auftritte in den magischen Krankenhäusern dieser Welt haben es ihr überdeutlich verraten. Offenbar hat sie schon eine Sanduhr vor dem inneren Auge, in der die restliche Lebenszeit der höchsten Schwester verrinnt. Da ist es natürlich einfach, mich, die sie offen für eine Erfüllungsgehilfin hält, herauszufordern und keine Vergeltungsaktion der höchsten Schwester zu fürchten."

"So ein feiges Aas", kommentierte Patricia diese Herausforderung.

"Mag sein, aber ich muß mich dieser Herausforderung stellen."

"Und was ist, wenn du verlierst, Schwester Donata. Anthelia hat ja auch ihr Duell verloren."

"Dann bist du mit Tyche alleine in den Staaten. Denn du darfst davon ausgehen, daß Hyneria trotz des Verbotes, Schwestern umzubringen, irgendwas in die Wege leitet, um alle die nicht von Anthelia ablassen zu töten, wie es Daianira mit den Anhängerinnen von Thalia getan hat."

"Dann sieh zu, daß du das Duell gewinnst, Schwester Donata", grummelte Patricia, die mit dem Gedanken nicht sonderlich warm wurde, neben Tyche Lennox die einzige Anhängerin Anthelias zu sein. Und wenn Anthelia starb? Patricia dachte wieder daran, ob das wirklich so tragisch sei. Zumindest hätte sie dann die Aussicht auf Frieden, jetzt, wo Daianira bei Leda Greensporn in der Wiege lag und Hyneria nicht wußte, daß die Tochter von Pandora Straton noch lebte. Sollte sie dann Anthelias Weg fortsetzen? Es käme darauf an, wie dieser aussehen sollte. So hieß es erst einmal abwarten.

Als Donata wieder in ihrem Haus war schickte sie einen Antwortbrief mit der Bestätigung der Herausforderung und dem Satz, daß sie diese Herausforderung annehme an Hynerias Adresse zurück. Von da an begann ein unhörbares Zählwerk, die Tage bis zum elften Oktober herunterzuzählen, ein Zählwerk, daß nur Hyneria Swordgrinder und Donata Archstone kannten.

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"Bleibt bloß nicht zu lange draußen", hörte die kleine Justine noch die Stimme ihrer Mutter. Sie rief mit ihrer glockenhellen Stimme noch, daß sie um sechs wieder da sein würde. Das fünfjährige Mädchen brauchte nur die Straße entlangzulaufen, um zum Haus von Maries Maman und Papa zu kommen. Die Häuser sahen alle so aus, als blickten sie sie mit großen eckigen Glotzaugen an. Das Mädchen verschwand hinter den sie überragenden Autos, die am Gehsteigrand geparkt waren. Unheimlich fand die kleine Justine es immer, wenn einer der großen Laster auf der Straße entlangbrummte. Das war wie ein hungriger Drache, der laut dröhnend auf seinen vier riesigen Rädern an ihr vorbeiglitt und aus seinen gewaltigen Auspuffrohren stinkenden Qualm spuckte.

"Ach, da bist du ja", sagte die freundliche Frau im Vorgarten des gelben Hauses, in dem Justines ein jahr ältere Freundin Marie wohnte. "Marie macht noch ihre ersten Hausaufgaben zu ende, Os malen. Aber sie geht gleich mit dir auf den Spielplatz."

"Maman sagt, ich hätte auch schon dieses Jahr in die Schule gekonnt. Doch Docteur Leiden meint, ich soll noch'n Jahr in den Kindergarten", grummelte Justine.

"Sei froh. Marie mosert schon, weil ihr die Schule nach zwei Wochen schon nicht mehr geschmeckt hat. Großwerden ist eben anstrengend", lachte die Frau im Garten, Maries Mutter. Sie beendete das Blumengießen und winkte Justine hinter sich her.

"Marie, Justine ist da!" Rief Maries Mutter.

"Hab's gleich, Maman!" Kam die Antwort. Dann stürmte die blonde Marie Jospin auch schon aus ihrem Zimmer heraus und freute sich, die ein ein halbes Jahr jüngere Freundin zu treffen. "Ich guck mirt das gleich noch an, ob du das so vorzeigen kannst, Marie", verhieß ihre Mutter nichts gutes. Doch Marie grummelte: "Ist alles so, wie Madame Sebastian das will."

"Das guck ich mir besser selbst an. Aber ihr könnt auf den Spielplatz. Das Wetter ist noch zu schön, um im Haus zu hocken", sagte Madame Jospin, die Justine immer Tante Eugenie nennen durfte.

Die beiden kleinen Mädchen vergnügten sich über eine Stunde auf dem Spielplatz. Zwar gerieten sie mal mit drei achtjährigen Jungs aneinander, die meinten, für das Benutzen der Wippen und Schaukeln Geld abverlangen zu können. Doch der Vater eines vierjährigen Jungen, der noch zu klein für die größeren Spielgeräte war, war dazwischengegangen und hatte die drei sehr laut zusammengestaucht und deren Mütter hergewunken, um denen zu sagen, was für Raubritter die sich da herangezogen hatten. Dann waren die drei größeren mitgenommen worden, und die anderen Kinder konnten unbehelligt klettern, schaukeln oder durch die an Ketten aufgehängten Autoreifen springen. Auf einem zum umzäunten Spielplatz gehörenden Bolzplatz spielten acht Jungs aus der vierten Klasse Fußball.

Leicht verdreckt und sichtlich erschöpft traten die beiden Freundinnen Justine und Marie den Heimweg an. Bis zu Maries Eltern war es nur ein Lauf von fünf Minuten. Sie waren guter Dinge. Denn in der Gegend kannte jeder jeden, und keinem Kind war hier was passiert. Das es vor zwei Jahren einmal Grund zur Sorge gegeben hatte wußten die beiden Mädchen nicht. Zwar hatten ihre Eltern sie damals immer zum Spielplatz begleitet, damit ihnen nichts passierte. Doch heute war das kein Ding mehr.

"Sei froh, daß du erst nächstes Jahr in die Schule kommst", sagte Marie. "Die ist nicht so toll wie die einem immer sagen. Du kannst da nicht rumlaufen und mußt immer pünktlich sein. Und die sind da auch ziemlich schnell am schimpfen, wenn du nicht richtig angezogen bist oder Struwelhaare hast. Unsere Lehrerin war am Anfang zwar ganz nett. Aber jetzt ist die wie 'ne Hexe ohne Besen."

"Ja, aber du kannst dafür schon ein bißchen lesen", widersprach Justine. "Ich will das auch können."

"Tja, wenn es nur darum geht", grummelte Marie. Dann blieben ihr die Worte im Hals stecken. Denn am Gehsteigrand hielt ein großes blaues Auto an. Die Fenster sahen so aus wie Spiegel und waren unheimlich dunkel. Die beiden Mädchen blieben stehen, weil die beiden Türen auf der Rechten Seite aufflogen und ihnen den Weg versperrten. Sie wollten gerade nach rechts weg und schnell weglaufen. Denn sie hatten beide oft genug zu hören bekommen, daß man bloß nicht zu nah an fremde Leute in Autos herangehen durfte. Doch da sprangen schon zwei Frauen aus dem Wagen. Die eine hatte ein ganz langes Kleid an und war ziemlich groß. Die andere besaß schwarzes Haar und hatte hellblaue Augen. Die beiden Mädchen hüpften einen Moment unschlüssig auf der Stelle. Da fing die mit den hellblauen Augen zu singen an. Ihre Stimme klang sehr schön, und es war irgendwas ganz besonderes, ihr zuzuhören. Die beiden Mädchen erstarrten und entspannten sich dann. Während die Frau sang, meinten sie, wie schön es doch sei, in das Auto einzusteigen. So kletterten die beiden scheinbar arglos auf die Rückbank des großen Autos. Die Sängerin hörte zu singen auf und sprang in den Wagen zurück, wobei sie die noch ganz vom Gesang betäubte Marie gegen ihre Freundin drängte. Sie zog die Tür zu, die leise ins Schloß fiel und sagte dem Fahrer, zum Treffpunkt zu fahren, während die beiden Mädchen vom Blick der nun auf dem rechten Vordersitz hockenden Frau förmlich eingeschläfert wurden.

"Geht so leicht, die einzufangen", lachte der Fahrer. "Werden das unsere Töchter, Lady Nyx?"

"Wenn Austère nicht eure Tochter werden will dann die beiden", erwiderte die Beifahrerin.

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Sergeant Pontier hatte mühe, die in ihren Tränen zu ertrinken drohende Frau zu beruhigen. Denn er wollte wissen, wo genau ihre Tochter Justine gewesen war und was sie anhatte. Gedanken an Kinderschänder drohten, seinen klaren Verstand zu blockieren. Hatte so ein Verbrecher die kleinen Mädchen entführt, wie die Dutroux-Bande? Ging der Alptraum also weiter, auch wenn der große Boss und einige seiner Leute im Gefängnis saßen?

"Ich hätte sie nicht alleine gehen lassen sollen", weinte Madame Durant. "Ich wußte doch, wie gefährlich das sein kann. Aber der Spielplatz wird doch überwacht, und in der Gegend ist nie was passiert."

"Beruhigen Sie sich bitte, Madame Durant", versuchte es Pontier noch einmal. "Noch können wir nicht ausschließen, daß Ihre Tochter noch zurückkommt."

"Sie ist jetzt seit sieben Stunden weg. Wo soll sie denn sein?" Schniefte Madame Durant. Ihr Mann war noch auf seiner Geschäftsreise und würde erst morgen zurückkommen. Sie hatte ihn noch nicht anzurufen gewagt, weil er in Tokio war und das Geschäft sehr wichtig war. Doch wenn die Polizei nach Justine und Marie suchte, mußte sie ihn wohl anrufen.

"Hat's alles schon gegeben, gerade bei Schulkindern, daß sie nicht zum Abendessen zurückkamen, weil sie sich mit Freunden den Frust von der Seele geredet haben", versuchte Pontier, die verstörte Mutter zu beruhigen. Doch das gelang ihm auch deshalb nicht, weil er das ja selbst nicht glaubte. So dauerte es mehr als zehn Minuten, bis er die nötigen Angaben hatte. Eine Suchmeldung an alle europäischen Polizeistationen ging heraus. Denn die Dutroux-Affäre hatte gelehrt, wie wichtig die internationale Polizeiarbeit war, vor allem, wenn es um vermißte Kinder ging. Pontier malte sich sogar aus, daß irgendwann möglicherweise pornographische Bilder im Internet auftauchen mochten, wo die kleinen, aus ihrer unschuldigen Welt gerissenen Mädchen zu den abartigsten Handlungen gezwungen wurden und dabei von geldgierigen Verbrechern für krankhaft veranlagte Konsumenten abgelichtet worden sein mochten. Doch diese Horrorvision wollte er Madame Durant besser nicht bieten. Die war schon erschüttert genug.

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Unbemerkt von der magischen Welt fand in den nächsten Tagen eine Suchaktion statt. Die ersten Oktobertage grüßten zwar mit goldenem Sonnenschein, und in den Wäldern malte der Herbst die Bäume golden bis rotbraun an. Doch für diese Herrlichkeit hatten sie im noblen Vorort von Brüssel keinen Sinn mehr. Die hier lebenden Familien mit Kindern zwischen zwei und neunzehn Jahren trauerten mit den Durants und Jospins. Zwar waren in den sieben Tagen seit dem Verschwinden der beiden keine Spuren von ihnen gefunden worden. Doch die meisten nahmen das schlimmste an. Dann erhielt die Familie Durant eine merkwürdige Postsendung.

Es war bereits dunkel, und Émile Durant hatte mittlerweile den dritten Privatdetektiv auf die Suche nach seiner Tochter geschickt, da kratzte etwas am Fenster des großen Wohnzimmers. Der vom Verschwinden seiner Tochter tiefbestürzte Juniorpartner eines großen Möbelexportunternehmens blickte auf die leicht verdreckte Scheibe. Seitdem Justine verschwunden war hatte seine Frau ihre häuslichen Pflichten vergessen. Er sah ein huschendes Etwas, das immer wieder an die Fensterscheibe klatschte und dabei leicht quietschende Geräusche machte. Er verzog sein Gesicht. Was war das denn? Er eilte ans Fenster, schob die Extrarigel zurück, die vor Einbrechern schützen sollten und riß das Fenster mit dem Sicherheitsglas weit auf. Da huschte eine Fledermaus herein, die wild flatternd zum Tisch hinüberflog und dort etwas aus ihrem Maul herausfallen ließ. Monsieur Durant erschrak so sehr, daß er sich nicht bewegen konnte. Das fliegende Säugetier wendete mit klatschenden Schlägen seiner Flughäute und wischte am Kopf des bangenden Familienvaters vorbei zurück nach draußen, wo es steil nach oben zog und mit dem dunklen Himmel verschmolz. Émile Durant löste sich erst aus seiner Schreckensstarre, als ein kalter Windstoß durch das immer noch offenstehende Panoramafenster hereinfegte und das Etwas auf dem Wohnzimmertisch raschelnd aufflog und über die Tischkante segelte. Schnell drückte er das Fenster wieder zu und tauchte nach dem auf dem Teppich liegenden Etwas. Es war ein Stück Papier, das wohl vorhin noch gefaltet gewesen war und jetzt angeknittert ausgebreitet dalag.

"'ne Fledermaus hat das gebracht", dachte Émile Durant. Dann überlegte er, ob er das Papierstück anfassen durfte. Dann würde er seine Fingerabdrücke drauf hinterlassen. Er entschied, die weichen Lederhandschuhe überzustreifen, die er im Winter benutzte. Da läutete das Telefon. Er erschrak erneut. Doch dann ging er an den Apparat.

"Monsieur Durant, Jospin hier. Uns ist gerade was merkwürdiges passiert. Wir haben Post von einer Fledermaus bekommen", meldete sich ein sichtlich verstörter Mann. "Ich hoffe, Sie halten uns nicht für übergeschnappt ..."

"Fledermaus? Sie auch? Verdammt, wir auch!" Erwiderte Durant. Dann fragte er, was auf dem Zettel stand.

"Wir haben Ihre Tochter bei uns. Es geht ihr gut. Wir werden ihr nichts tun und wir wollen auch kein Geld von Ihnen", erwiderte der Anrufer. "Wir wollen nur, daß Sie diesen Brief an die untenstehende Nummer telefaxen und darum bitten, daß sich Madame Austère Tourrecandide mit ihrer Schwester in Verbindung setzt, schreiben die noch."

Durant vergaß die Handschuhe und nahm den Zettel vom Boden. Es stand genau das darauf, was Jospin ihm gerade durchgesagt hatte. Ja, da war auch eine Faxnummer unten aufgeführt. Doch bevor er der Aufforderung nachkommen wollte, wollte er den Zettel der Polizei übergeben. Er sagte Jospin auch, daß er seinen Zettel von der Kripo untersuchen lassen sollte.

"Ja, aber das dauert. Ich faxe den Zettel erst an die angegebene Nummer", erwiderte Jospin. Durant grummelte. Doch er verstand, daß es Maries Vater darum ging, seine Tochter wohl doch bald in die Arme schließen zu können. Und wo Marie war, da war auch seine kleine Justine. So stimmte er dem zu. Er faxte auch seinen Zettel an die angegebene Nummer, die er bis dahin noch nie im Leben gewählt hatte. Damit trat die bisher als reine Angelegenheit der Magielosen abgehandelte Kindesentführung ins Licht der magischen Welt.

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"ja, das stimmt, über die Entführung spricht ganz Belgien", sagte Madame Grandchapeau, als sie von der Adresse, an die Muggel Briefe für die Zaubererwelt faxen konnten die beiden Nachrichten erhalten hatte. Sie hatte inzwischen im Internet nachgeforscht. Ihr Mann, der amtierende Zaubereiminister, lies sich die Berichte auf dem Bildschirm zeigen.

"Die Sangazons?" Fragte Armand Grandchapeau.

"Warum auch immer die sich an Muggelkindern vergreifen", meinte Nathalie Grandchapeau. "Ich kann nur vermuten, daß diese Nyx dahintersteckt, die sich damals mit Volakin überworfen hat."

"Ja, und jetzt, wo die Wiederkehrerin ihn ausgelöscht hat wieder freie Bahn hat", meinte der Zaubereiminister. "Soll ich die belgischen Kollegen drauf ansetzen, Nathalie?"

"Du fragst mich? Du bist der Zaubereiminister. Aber als Mutter und Großmutter würde ich nicht zögern, die Kollegen in Brüssel darauf anzusprechen. Sie sollen die Zettel sicherstellen und mit dem Scriptorvista-Zauber prüfen. Laut den Facsimiles sind die Originale handgeschrieben."

"Vampire schreiben häufig mit ihrem eigenen Blut", erinnerte sich der Zaubereiminister Frankreichs. Doch das war hier auszuschließen, weil Vampirblut heller war als das von normalen Menschen. So gab er seiner Frau den Auftrag, den belgischen Kollegen vom Muggelverbindungsbüro anzuschreiben. Auch wenn ihm konservative Zauberer schon Heuler geschickt hatten, weil er es wagte, die Verständigungsmittel der Muggel zu benutzen, empfand er die Erfindung der elektronischen Post als sehr hervorragend, um schneller als mit Blitzboten mit anderen Zaubererweltinstitutionen zu verkehren, sofern diese auch Elektrorechner hatten, die an dieses weltweite Internet-Verbindungsnetz angeschlossen waren. So wurden nun auch die belgischen Zaubereibehörden in die Entführung von Justine und Marie eingeschaltet. Allerdings wurden die Zaubererweltzeitungen einstweilen außen vorgelassen. Die Liga zur Abwehr dunkler Künste wurde informiert. Damit erreichte die Nachricht der beiden Fledermäuse nun auch diejenige, für die sie bestimmt war.

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Professeur Tourrecandide saß wieder bei Hera Matine in Millemerveilles. Der Wandkalender mit den sich bewegenden Zauberbildern zeigte den elften Oktober. "Ich fühle sie nicht mehr. Seit einem Tag habe ich keine Scheinempfindungen mehr an den Brüsten."

"Ich glaube nicht, daß meine werte Kollegin ihre asexuell empfangene Tochter so früh abgestillt hat, Austère. Vielleicht ist der letzte Rest von sympathetischer Verbindung erloschen. Sie müssen ja bedenken, daß sie und die Wiedergeborene sich ja Tag für Tag weiter voneinander fortentwickeln."

"Ich fürchte, Hera, so einfach ist es nicht. Ich habe noch einmal alles über die Insel der hölzernen Wächterinnen nachgelesen. Etwas, was ich hätte tun müssen, bevor ich mich dorthin begab", grummelte die um etwas mehr als fünfzig Jahre wiederverjüngte ZAG-Prüferin. "Die Druidinnen, die sich dort mit mächtigen Bäumen verschmolzen haben, sind in ihrer Zeit als gewöhnliche Menschen dafür bekannt gewesen, nötige Lektionen sehr einprägsam und vor allem nachhaltig zu erteilen. So wird von einem Fall berichtet, wo ein König die Tochter einer Druidin hat entführen lassen und sie vergewaltigt hat. Die Druidin fand ihre Tochter über Blutsverwandtschaftszauber wieder und holte sie in ihren Wald zurück. Dem König aber hängte sie einen sehr einprägsamen Fluch an. Er mußte die körperlichen Gefühle seiner weiblichen Untertanen mitfühlen, also nicht nur Liebesakte, sondern auch Menstruationen, Umstandsbeschwerden und Geburtswehen. Manche der damaligen Untertanen waren zu ihren Frauen nicht gerade zimperlich, und damals bekam eine Familie jedes Jahr zuwachs. Der König geriet über diese Flut ihm fremder Empfindungen in geistige Umnachtung und mußte abdanken. Ich fürchte, etwas ähnliches dürfte mir widerfahren sein. Diese Wächterinnen wollten, daß ich die Konsequenzen meiner Einmischung im wahrsten Sinne voll und ganz zu ende trage. Wie auch immer dieser Zauber wirkt, der mich den Körperkontakt mit dieser hinterhältigen Hexe empfinden läßt, ich kann nicht länger als eine Stunde in einem magisch abgeschotteten Bereich bleiben, ohne den Drang zu verspüren, die Schutzzone wieder zu verlassen. Es besteht also eine Verbindung, Hera."

"Ich habe ja schon längst aufgehört, dies anzuzweifeln, Austère", schnarrte Hera Matine. "Aber es kann durchaus möglich sein, daß dieser Zauber auch nur eine gewisse Zeit vorhält. Raum und Zeit haben auch in der Magie eine gewisse Gültigkeit. Die Entfernung zu der von Ihnen nicht behaltenen Daianira und die Dauer der Trennung könnten den Zauber immer mehr abschwächen. Insofern würde ich mir im Moment keine Sorgen machen."

"Vielleicht hat diese Wiederkehrerin dieses zum Baby zurückverjüngte Hexenweib auch schon wieder getötet", vermutete Austère Tourrecandide. Doch dann fiel ihr ein, daß die Wiederkehrerin im Moment selbst unauffindbar war und daß die Liga darüber debattierte, ob sie überhaupt noch am Leben war. Auch Hera hatte derartige Diskussionen mitbekommen, sowohl seitens der Heiler, die über die Auswirkungen der Radiointoxikation sprachen, als auch von ihren heimlichen Mitschwestern, die mit ausländischen Schwestern Kontakt hielten, um näheres über den Verbleib und Zustand der Wiederkehrerin zu erfahren.

"Vielleicht befindet sich die Kollegin Greensporn auch auf einer Reise und hat ihre Tochter einer Amme überlassen oder Milchvorräte ausgelagert", vermutete Hera Matine noch etwas, was für das Ausbleiben der scheinbaren Berührungen sprechen mochte.

"Vielleicht hätten wir es ihr doch mitteilen sollen", raunte Austère Tourrecandide.

"Wir waren uns einig, daß es besser ist, wenn Leda und ihre Tochter Lysithea es nicht wissen, daß von der Transgestation doch etwas zurückgeblieben ist. Wer weiß, ob sie dann nicht irgendwann die nicht mit unseren Mitteln nachzuweisende Verbindung ausgenutzt hätten." Austére Tourrecandide nickte zustimmend.

"Gut, ich komme dann übermorgen wieder zu Ihnen. Sollten die Pseudostillempfindungen bis dahin weiter ausgeblieben sein, schreibe ich meiner Kollegin Eileithyia Greensporn eine Anfrage, ob es ihrer Enkeltochter und ihrer Urenkelin weiterhin gut geht", sagte Hera Matine. Die ehemalige Fachlehrerin nickte zustimmend. Damit konnte man herausfinden, was mit diesem Wechselbalg passierte.

Wieder zurück in ihrem eigenen Haus fand sie mehrere Briefe und eine Nachricht auf dünnem Papier, wie es aus diesen elektrischen Fernkopiergeräten herauskam. Sie erstarrte einen Moment. Dann lief sie wutrot an. "Ich hätte dich Biest bei unserer letzten Begegnung mit meinen Sonnenquarzeichenbolzen erledigen sollen", schnaubte sie. Dann erkannte sie, welche Brisanz die Briefe und die Nachricht besaßen. Da waren zwei Muggelkinder auf dem Nachhauseweg verschleppt worden, die nicht ganz unwichtige Eltern hatten. Die entführte Justine besaß einen Vater, der als Juniorpartner einer Möbelvertriebsfirma bei Anderlecht viel im Ausland unterwegs war. Wenn er ein Vampir wäre, der mit dieser verflixten Sonnenschutzfolie gegen die sonst verheerenden Sonnenstrahlen abgeschottet war, konnte er den Keim des Vampirismus an wichtigen Stellen legen, ohne daß Nyx und ihre Artgenossen selbst suchen und zuschlagen mußten. Die kleine Marie besaß einen Onkel in der Kommission der europäischen Union. Für internationale Operationen war dies ein genialer Ausgangsort. Wieso waren sie nicht darauf gekommen, daß Nyx und ihre Vampire Einfluß auf die Muggelwelt erringen mochten? Sie hatten wohl gedacht, weil der Psychopath Voldemort die Muggel nicht so subtil unterwandern wollte, sondern mit Terrorakten und brutaler Gewalt dreingeschlagen hatte, gelte das auch für Nyx und ihre Blutsauger. Doch durch die Schutzfolien besaßen Vampire nun eine wesentlich größere Bewegungsfreiheit. Sie konnten sich wie Werwölfe am Tag unter die Menschen mischen und sich ihre Opfer suchen, wenngleich Vampire am Tag schwächer waren als in der Nacht.

"Sie packen uns alle da, wo wir am schwächsten sind, bei der Fürsorge für unsere Kinder", dachte Professeur Tourrecandide und dachte einige Sekunden daran, was gewesen wäre, wenn sie Daianira nicht an ihre Base Leda übergeben hätte, sondern sie heute als ihre eigene Tochter neu aufziehen möge. Doch dann gewann der Gedanke an ihre frühere Schwester Lucille wieder die Vorherrschaft in ihrem Bewußtsein.

"Du willst mich sehen, Schwester. Du sollst mich sehen. Doch es wird deine letzte Stunde sein." Betrübt aber dennoch entschlossen dachte sie daran, daß sie nun doch die bisher von sich geschobene Entscheidung über den Fortbestand ihrer ehemaligen Schwester herbeiführen mußte.

Sie schickte eine Eule an die Adresse, an der ihre Schwester Briefe entgegennehmen mochte und weihte die Kollegen von der Liga ein. Auch dem Zaubereiministerium verriet sie, was sie vorhatte. Allerdings sollte die magische Presse zunächst unbenachrichtigt bleiben. Denn wenn das herumging mochte Nyx ohne es zu wollen ein Chaos und eine neue Welle des Verfolgungswahns auslösen. Danach stand ihr seit Didier und Pétain nicht mehr der Sinn. Sie sortierte ihre private Waffensammlung und legte sich darauf fest, die drei sich selbst nachspannenden Armbrüste und die hundert gerade vorrätigen Eichenbolzen mit Sonnenquarzspitze an ihre Kollegen auszuhändigen. Sie selbst würde den Zauberstab und einen Satz magischer Ohrenschützer, die bis zu ihrem Einsatz wie harmlose Ohrringe getragen wurden, sowie eine wie eine aus gold bestehende Stachelkugel aussehende Sonnenlichtkugel mitnehmen. Wollte sie vorher noch etwas mit Knoblauch essen oder Knoblauchblüten umhängen? Nein, dann würden die beiden Sangazons die Mädchen sofort umbringen, wenn sie sie rochen. Doch es mußte nun eine Entscheidung her.

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Nun, wo sie wußte, daß sie den Zauberern immer wieder entkommen konnte, genoß Naaneavargia ihr Dasein. Zwar wurde sie immer wieder aufgespürt, wenn sie als Spinne unterwegs war. Doch sie hatte sich darauf eingestellt und sogar herausbekommen, wie sie die Suchzauber umgehen konnte. Sie brauchte nur mit einem erbeuteten Zauberstab einen Verwitterungsfluch auf die sie umstehenden Pflanzen zu schleudern, wenn sie in einem Waldgebiet ankam. Dann zerfiel das Netzwerk in ihrer Umgebung. Sie hatte sich darauf spezialisiert, immer wider Zauberstäbe zu erbeuten, in denen sie sich absichtlich zur Jagd anbot und dann in die Luft stieg, bis einige Zauberer ankamen, sich als Spinne fallenzulassen und dabei mindestens einem den Zauberstab abzujagen und damit davonzulaufen.

Einmal wollte sie einem jungen Zauberer in sein Haus folgen, um vielleicht einige wichtige Zutaten für machtvolle Tränke zu finden. Da prallte sie mit Urgewalt gegen eine unsichtbare Mauer, deren Vorhandensein sie vorher nicht gespürt hatte. Sie mußte zusehen, wie der junge Zauberer in seinem Haus verschwand. Weder als Frau noch als Spinne kam sie hinein. Es mußte also eine übermächtige Kraft umspannen, die den Gefilden des Lichts und des Lebens entstammte, in denen die Tränen der Ewigkeit nicht erwünscht waren. So blieb ihr nur der Rückzug.

Als sie einmal auf einer der zahlreichen Schafweiden ihren Spinnenhunger gestillt hatte, wurde sie von einem Hüter dieser Tiere aufgestöbert, der versuchte, sie mit kleinen Geschossen aus einem Schußapparat mit langem Rohr und laut krachenden Absprengvorrichtungen zu töten. Doch die Geschosse prallten sirrend an ihr ab. Der Tierhüter sah noch sehr jung aus, wenngleich er vom hier herrschenden Wetter tiefbraun eingefärbt war. Das brachte Naaneavargia darauf, auch ihren anderen Hunger stillen zu können.

Als der nächste Morgen kam, war Buck Fawley, der für den Schafzüchterbaron Wilkins auf ungefähr zehntausend Schafe aufpassen mußte, sichtlich erschöpft. Erst hatte er eine schwarze Riesenspinne gesehen, die gegen Gewehrkugeln immun war. Dann hatte sich diese überragend anziehende Frau gezeigt, die scheinbar hilflos auf der Weide herumgelaufen war. diese hatte vorgegeben, den Weg verloren zu haben und dabei mit merkwürdigen Worten und Handbewegungen etwas angestellt, was ihm absolut unbegreiflich war. so konnte er sich nur deshalb erklären, daß er alles danach geschehene nicht geträumt hatte, weil ihm alle beweglichen Körperteile weh taten und er sich nackt in seiner Schäferhütte wiedergefunden hatte. Er rief seinen Boss an und erzählte ihm die harsträubende Geschichte von der Spinne und der überirdischen Frau, die wie eine Sexgöttin alle seine innersten Bedürfnisse erkannt und befriedigt hatte. Sein Boss rief daraufhin die fliegenden Ärzte, die Buck Fawley vorsorglich zu einer gründlichen Untersuchung in die nächste Nervenklinik bringen sollten.

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Sie kreiste in zweitausend Metern Höhe über der Bucht. Es war schon ein gewisser Erfolg für Anthelia, daß sie jemanden außerhalb von Nimoes Gruppe kannte, die ihr etwas mehr über Bowman hatte sagen können. So hatte sie erfahren, daß er eine eigene Segelyacht namens "Himmelspfeil" erworben hatte und ein kleines Strandhaus auf Tasmanien sein eigen nannte. Ein kurzer Besuch in der Nähe des Hauses hatte ihr gezeigt, daß es mit wirksamen Schutzbannen umfriedet war. Hier würde sie Bowman also nicht zu fassen bekommen. Blieb nur das Boot. Da sie testen wollte, ob sie sich ungefährdet nähern konnte flog sie es als Krähe an. Wegen des vielen Wassers, daß sie gegen den immer stärker peinigenden Durst trank, konnte sie nicht an sich halten und schied etwas davon in Form harmlos wirkenden Vogelkots aus. Das Boot war frei von Schutzzaubern, da es mit Komfortzaubern wie Innertralisatus und Windumlenkung bezaubert war, um Besatzung und Fahrgäste nicht unter zu starkem Seegang leiden zu lassen. Außerdem steckte in den Segeln eine Windansaugmagie, die es dem Boot ermöglichte, zusätzlichen Wind auf die blauen Segel zu bekommen, um mindestens vierfache Normalgeschwindigkeit zu erreichen. Als sie am vierundzwanzigsten September als Hexe auf der Lauer über dem Boot lag, bekam sie mit, wie Bowman mit zwei Hauselfen eintraf. Anthelia, die unsichtbar auf ihrem Harvey-Besen über dem Boot kreiste, lächelte siegessicher. Sie lehnte sich an den festgezurrten Transportkorb, in dem sie zwei sehr wichtige Sachen verstaut hatte. Da war zum einen ein kleiner, tropfenförmiger Kristallkörper, der mit einer Flüssigkeit gefüllt war, die beim Kontakt mit der Luft ein geruchloses, sofort betäubendes Gasgemisch erzeugte. Zum anderen hatte sie die beiden goldenen Halsringe dabei, die wie das Medaillon und der Gürtel aus Dairons Nachlaß stammten. Damit konnte sie ohne Vielsaft-Trank in den Körper eines anderen Menschen schlüpfen und dabei auch dessen gesamte Erinnerungen in sich aufnehmen. Davon wußte Nimoe natürlich nichts. Sie hatte mit Legilimentik gearbeitet und gegen den Willen Prowlers ankämpfen müssen. Mit den beiden Ringen war das nicht nötig. Sie brauchte nur einige Minuten zu warten, um genug von Bowman zu erfahren, wenn sie ihn überwältigen konnte. Das Problem war nur, daß er bei Bewußtsein sein mußte, wenn sie den Körpertausch vornahm. Hinzukam, daß sie nicht all zu lange seine Gestalt annehmen durfte, weil die Gefahr bestand, daß die fremden Erinnerungen ihre eigene Persönlichkeit beeinflußten. Sie erinnerte sich noch gut, wie sie gegen die Moralvorstellungen und Ansichten der Theologin Amanda Lessing hatte ankämpfen müssen, als sie in deren Erscheinung bei diesem raffgierigen Dummkopf Simon Parker vor Hallitti gewarnt und tauben Ohren gepredigt hatte. Hier hoffte sie nur, eine knappe halbe Stunde zu benötigen, um alles wichtige zu erfahren.

Sie beobachtete, wie das Boot mit den dreien ablegte und auf das offene Meer hinausglitt. Sie folgte der Yacht in sicherer Höhe. Erst weit genug draußen würde sie die winzige Gasbombe abwerfen und mit ihrer telekinetischen Kraft dafür sorgen, daß diese auch im Boot ankam. Sie nahm sich einige Minuten Zeit. Sie fühlte zwar, wie die ersten dumpfen Schmerzen des nächsten Stadiums ihrer Strahlenkrankheit aufklangen. Doch sie ging davon aus, daß sie noch mindestens einen Tag ohne Schmerzmittel auskommen konnte. Leichtes Ziepen auf der Haut verriet auch, daß die ersten Geschwüre aufkeimten. Wie lange hatte sie noch?

Als sie weit genug vom Festland fort waren schlug sie zu. Sie ließ sich so lautlos fallen wie es ging und warf die Bombe noch außerhalb des Homenum-Revelius-Radiusses ab. Sie lenkte sie mit Hilfe ihres Zauberstabes und ließ sie direkt vor dem am Ruder stehenden Bowman aufschlagen. Es klirrte nicht, sondern knackte, als der winzige Behälter zerbarst. Sofort breitete sich eine magisch auf mehr als achtzig Grad gehaltene Dampfwolke aus, die innerhalb von nur zwei Sekunden das Boot mit einem im Dunkeln unsichtbaren Brodem ausfüllte. Anthelia sank noch tiefer und bekam mit, wie Bowman um seine Besinnung kämpfte. Sie selbst hatte eine Kopfblase gezaubert. Bowman kam nicht mehr dazu. Die alchemistische Attacke erwischte ihn mit voller Wucht. Anthelia fühlte, wie ihm das Bewußtsein förmlich entrissen wurde. Auch die beiden Elfen, dazu da um böswillige Zeitgenossen abzuwehren oder ihren Herren schnell durch mögliche Apparitionswälle in Sicherheit zu bringen, verfielen der Wirkung des Betäubungsgases. Anthelia wartete eine Minute, bis sie sicher sein konnte. Dann landete sie im Boot. Sie belegte die beiden Elfen mit dem Schockzauber und holte aus ihrem Transportkorb eine Phiole mit dem Gegenmittel und die beiden Ringe heraus. Dann schnürte sie Bowman in magische Seile ein und flößte ihm das Aufweckelixier ein. als ihre telepathischen Sinne ihr meldeten, daß er wieder zur Besinnung kam, legte sie die Ringe an. Erst schloß sie einen Ring um seinen Hals und dann um ihren.

Diesmal war es ihr, als zerspränge sie regelrecht. Um sie herum schienen alle Feuer aus der Erde auszubrechen, und sie hätte geschrien, wenn ihr Körper da nicht gerade in einem zwischenstofflichen Zustand gewesen wäre. Als sie wieder klar denken konnte, tat ihr alles weh und auch Bowman zuckte unter heftigen Qualen zusammen und schrie laut auf. Normalerweise blieb der, der den Ring zuerst um den Hals gelegt bekam, aktionsunfähig. Doch die Schmerzen, die der Verwandelte erfuhr waren wohl stärker als der magische Niederhalt. Bei Anthelia klangen die ersten Schmerzen nun wieder ab. Sie dachte sofort an die schwarze Spinne und fühlte, wie ihr trotz der Agonie ihres Gefangenen dessen Erinnerungen daran zuflossen. Offenbar wirkte sich die Schädigung von Anthelias Körper übler aus, als sie gedacht hatte. Bowman, der gerade Anthelias Erscheinung und Stimme besaß, schrie wie ein lebendes Spanferkel am Spieß. Anthelia mußte ihre Ohren durch den Echodomus-Zauber gegen das Geschrei verschließen. Sie spürte Hitzewellen, die in sie einströmten. Die Verwandlung war alles andere als stabil, wußte sie. Wenn sie zu lange wartete, konnten sie und Bowman womöglich unrettbar verunstaltet werden oder gar sterben. So konzentrierte sie sich auf die wichtigen Fragen: "Seit wann wissen wir von dieser Spinne? Woher und von wem wissen wir das? Wer ist diese Spinne? Was haben wir alles schon gegen sie unternommen? Was können wir noch unternehmen?" Sie hörte, sah und fühlte, was Bowman über dieses Ungeheuer wußte. Dabei mußte sie trotz der immer stärker wirkenden Hitze- und Kältewallungen grinsen. Offenbar hatte jemand vor Weihnachten auf einer Latierre-Kuh einen Ausflug zum Eyers Rock gemacht. Muggelsatelliten hatten das Tier erfaßt. Darauf hatten zwei Personen gesessen, die sich bei extremer Bildvergrößerung als eine schwarzhaarige Frau und ein blondhaariger Jüngling offenbart hatten. Das hatte nimoe offenbar noch nicht erfahren, weil dieser Prowler nicht alles wissen durfte. Jedenfalls wurde das Auftauchen der Spinne unmittelbar mit dem Auftauchen und Verschwinden dieser weißen Riesenkuh in Verbindung gebracht. Ein brandheißer Schauer explodierte in Anthelias Hals und raste ihren Rücken hinunter. Sie mußte sich erst wieder fangen. Dann durchdrang sie die ihr zufließenden Erinnerungen weiter. Was genau im Eyers Rock geschehen war hatte niemand im Ministerium richtig mitbekommen. Wer die beiden Kuhreiter waren war trotz der Vergrößerung nicht festzustellen gewesen, weil die immer grobere Bildzusammensetzung die Gesichter verfälscht hatte. Es galt jedoch als gesichert, daß die Latierre-Kuh nicht auf eigenen Flügeln den australischen Kontinent verlassen hatte. Dann erfuhr Anthelia noch, daß ein Ureinwohner namens Yati Wullayata im Kampf gegen die Riesenspinne sein Leben verloren hatte. Die Ureinwohner berichteten von einem Erbe des Windkönigs, mit dem die Lüfte befehligt werden konnten und daß dieser Luftkönig seine Schwester als Wächterin eingesetzt habe, die durch einen mächtigen Zauber dazu verurteilt war, als Riesenspinne zu leben. Sie erfuhr noch, daß dieses Ungeheuer als Frau immer wieder die Nähe starker Männer gesucht hatte, offenbar, um ihre geschlechtlichen Bedürfnisse zu befriedigen und als Spinne wahrlich alles an Kampfzaubern abwetterte, was die Ministerialzauberer kannten. Sie erfuhr auch, daß die Ureinwohner einen mächtigen Flächenzauber gewirkt hatten, der mit Hilfe der Pflanzen und Tiere die besondere Beschaffenheit der Riesenspinne aufspürte und an die Stammeszauberer weitermeldete, die über einen Heiler namens Melchior Vineyard Kontakt mit dem Ministerium hielten. Sie fühlte einen Schauer wie Eiswasser, daß von ihrem Hals ihren ganzen Körper hinunterstürzte und für einige Sekunden ihre Glieder betäubte. Sie holte sich schnell noch die wichtigen Pläne und Vorhaben aus Bowmans ihr einfließender Erinnerung heraus. Dann kehrte sie sehr schnell die Körpertauschmagie der Ringe um.

Sie fühlte sich wie in einen wilden Strudel geworfen und meinte, ihre Glieder würden ihr vom Leib weggerissen. Keuchend erwachte sie auf dem Rücken liegend an Deck der Yacht. Bowman hing nicht mehr in seinen Fesseln und brauchte offenbar noch Zeit, um sich von der grrenzenlosen Pein zu erholen. Anthelia erkannte, daß sie nur wenige Sekunden hatte, um Bowman zu überwältigen, wenn er sie nicht wehrlos erwischen sollte. Sie fühlte sich zwar hundeelend und meinte, eine Ameisenarmee würde über ihre Haut hinwegrennen. Doch sie mußte handeln, bevor Bowman seine Besinnung wiederfand, sofern die minutenlangen Qualen ihn nicht unrettbar um den Verstand gebracht hatten. Falls das so war, mußte sich Anthelia damit abfinden, daß er nie wieder seinen Beruf ausübte und jemand Fragen stellen mochte. Überhaupt, sollte sie wirklich sein Gedächtnis verändern, wie sie es geplant hatte? Sie hörte ihn schreien: "Ich verbrenne! Feuer, ich verbrenne! Hilfe!! Hiiiilfe diese Hitze! Aaarg!" Seine Gedanken brachten sie bald selbst um den klaren Verstand. Er glaubte immer noch, in einer Gluthölle zu sein, in einem Kessel mit brennendem Wachs oder Öl zu sitzen. Da ging ihr auf, wie knapp sie selbst an einer Zerstörung ihres Geistes entlanggeschrammt war, wohl nur, weil sie die konkreten Fragen mit den darauf antwortenden Erinnerungen schnell und gründlich abgehandelt hatte. Eine Minute länger, und der Mann hätte sie mit seinem aus unerträglichem Schmerz geborenem Wahnsinn angesteckt. So empfand sie weder Reue noch Widerwillen, als sie mit ihrem Zauberstab auf den immer lauter schreienden Mann zielte und die beiden letzten Worte rief, die dieser jemals hören sollte. "Avada Kedavra!" Der grüne Blitz blendete sie fast, so mächtig zerschnitt er die sie umgebende Dunkelheit. Bowmans umnachteter Geist fand seinen Frieden in der Gnade des sofortigen Todes. Doch Anthelia fühlte auch, daß die Verwandlung nicht ohne Folgen bleiben würde. Die bereits verspürten Schmerzen kamen nun in starken Wellen über sie. Auf ihrer Haut schien ein sengendes Etwas entlangzugleiten, auf und ab. Sie hob die linke Hand und erkannte im Licht ihres Zauberstabes winzige rote Punkte auf der bleichen, nun sehr trocken wirkenden Haut. Die roten Geschwüre sahen auf den ersten Blick wie Masern oder Röteln aus. Doch Anthelia hatte diese beiden Krankheiten in ihrem ersten Leben durchgestanden und wußte, daß es nicht bei etwas Fieber und einer gereizten Haut bleiben würde. Die winzig wirkenden Hautveränderungen würden wachsen und mit jedem Millimeter Ausdehnung mehr und mehr Schmerzen bringen. Es würde sein wie bei aufquellenden Pestbeulen. Sie würden wachsen und platzen. Sie würde viele viele blutende Wunden bekommen, und trotzdem noch nicht sterben. Womöglich konnte ihr Gürtel zumindest die Blutungen rasch versiegeln. Doch was innerhalb ihres Körpers ablief würde er nicht aufhalten. Im Gegenteil. Sie wußte nun, daß er ihr nötige Kraft absaugte, um den ihm unbekannten Prozeß zu bekämpfen. Sie strich sich durch das absichtlich kurzgeschnittene Haar und erkannte, daß sie besser neben einem mächtigen Schmerzmittel auch eine große Dosis Haarwuchsmittel einnehmen mußte, wollte sie nicht in den nächsten Tagen jedes Haupthaar verlieren und als rotgeflecktes, haarloses Ungeheuer in die letzten Tage oder Wochen ihres zweiten Lebens eintreten. Irgendwann würde das Schmerzmittel unzureichend sein. Dann kam genau die Hölle auf Erden, die sie Lawrence Bowman unbeabsichtigt zugedacht hatte, nur weil dieser etwas wußte, was sie für eine der letzten Rettungsmöglichkeiten hielt.

Was sollte sie mit den Hauselfen machen? Wenn sie diese unbehandelt ließ, würden sie von jener Gasladung und einem danach tot aufgefundenen Bowman berichten. Sie auch noch zu töten würde Fragen nach sich ziehen, wenn man das treibende Boot fand. Sie brauchte nur zwei Sekunden. Dann hatte sie die Idee. Sie tötete die Hauselfen und verwandelte sie und den Zauberer zu kleinen Steinen, die sie über Bord warf. Dann hob sie ab und jagte einen blaugrünen Feuerball auf das Boot. Sie startete durch und flog unsichtbar und so schnell sie konnte davon. Unterwegs fühlte sie die immer alarmierenderen Schmerzen, die ihren Körper durchfluteten. Sie griff in den Transportkorb und holte den starken Schmerzlinderungstrank heraus, der bei entsprechender Dosierung selbst den Cruciatus-Fluch neutralisieren konnte, allerdings zum Preis, daß die Bewegungsfähigkeit auf die Hälfte des üblichen abgesenkt wurde. Diese hohe Dosis war noch nicht nötig. Noch nicht!

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Sie hatte sich daran gewöhnt und empfand es sogar als angenehm, die Tochter Ledas zu sein. Diese wickelte sie meistens in die etwas teureren, aber dafür sehr angenehmen Reisewindeln, so daß sie immer eine Woche Ruhe hatte und ihre Ausscheidungen vom bezauberten Stoff unspürbar aufgezehrt wurden. Leda hatte sie einmal scherzhaft gefragt, ob sie für zwei trinken wolle um schneller groß zu werden. Doch weil sie dieses verflixte rosarote Band um den linken Arm trug, daß sie hinderte, Gedankenbotschaften zu versenden oder aufzunehmen, konnte sie ihr nicht antworten. Ihr zahnloser Mund war im Moment gerade für kehlige oder glucksende Lautäußerungen gut, wenn sie nicht, um die Anwesenden davon zu überzeugen, ein gesunder Säugling zu sein, lautstark nach Milch oder Zuwendung schrie. Immer wieder träumte sie von früher, als sie schon mal groß war, ja fast selbst ein Baby zur Welt gebracht hatte. Hätte sie diesen Trick der Wiederkehrerin nicht durchschauen müssen, als sie Tourrecandide auf der Insel der hölzernen Wächterinnen traf? Doch dafür war es jetzt zu spät. Sie würde wohl noch vier Monate an Ledas nährenden Brüsten saugen und womöglich mit einem Jahr die Windelzeit beenden und laufen. Womöglich konnte sie dann, wenn ihr die Milchzähne gewachsen waren, auch schon wieder normal sprechen, solange Leda nicht befand, ihr auch einen Sprechbann aufzuhalsen, damit sie nicht meinte, mit den erwachsenen Schwestern über die Politik der Entschlossenen fachsimpeln zu müssen. Sie bewunderte Larissa Swann, wie perfekt sie sich auf ihre zweite Kindheit eingestellt hatte, daß niemand außenstehendes vermuten konnte, daß sie kein gewöhnliches Kleinkind war. Allerdings war der größte Vorteil auch der größte Nachteil in ihrem wiederverjüngten Leben. Sie wurde nicht in die Angelegenheiten der "Großen" einbezogen. Das änderte sich erst, als sie, ihrer heimlichen Zählung nach einen Tag vor ihrem dritten Monatstag, in der bequemen, sanft schaukelnden Wiege bei ihrer neuen Urgroßmutter Eileithyia ruhte und mit ihren geschärften Babyohren mithörte, was die beiden ihr neues Leben bestimmenden Hexen gerade besprachen.

"So, dann will diese kreative Hexe Hyneria, die meinte, auch zu eurem Club gehören zu müssen, Donata herausfordern", sagte die altehrwürdige Heilerin und Hebamme. "Was denkst du passiert, wenn sie diese martialische Auswahl für sich entscheidet?"

"Ich denke, sie weiß, daß Anthelia durch Radiointoxikation tödlich erkrankt ist und will sicherstellen, daß Donata nicht deren Erbin wird, Oma Thyia", erwiderte die, aus deren Schoß die in der Wiege lauschende entschlüpft war. "Ich fürchte nur, wenn Donata von Anthelia Sardonias uns nur gerüchteweise bekannte Zauber erlernt hat und Hyneria besiegt, wird sie eine Säuberung in den Reihen der Entschlossenen durchführen, um keine weitere Konkurrenz aufkommen zu lassen. Das gleiche gilt dann auch für Hyneria. So oder so steht die Schwesternschaft vor einer üblen Zerreißprobe, um nicht zu sagen, vor einer Dezimation."

"Ich konnte, wollte und will nicht verstehen, warum du, eine aprobierte Heilerin, dich von Daianira hast verlocken lassen, dieser gewaltbezogenen Bande beizutreten, Leda", grummelte Eileithyia Greensporn.

"Du weißt es aber, Oma Thyia. Du und Lady Roberta setzt auf reine Überzeugung, daß wir Hexen schon deshalb die Führung in der magischen Welt erreichen können, weil es alle einsehen müssen, daß wir besser über das Leben und das Miteinander bescheid wüßten. Aber die restliche Welt denkt nicht so. Die Zauberer denken an ihre eigenen Errungenschaften, womöglich auch an ihre Möglichkeiten, Macht zu erringen, und die Muggel haben nach den Hexenverfolgungen doch vergessen, daß es echte Hexen gibt, um die Verbrechen an den unschuldigen Frauen auch nicht weiter rechtfertigen zu können, daß man ja womöglich doch einige echte Hexen dabei erwischt haben könnte. Wie sollen wir, wenn wir in der internationalen Geheimhaltung leben, über haupt einen wie gut auch immer gemeinten Führungsanspruch anmelden, wenn wir nicht dafür sorgen, daß unser Geschlecht besser geeignet ist."

"Verstehe, sich wie von ihren Trieben übersteuerte Zauberer zu beharken ist auch wesentlich überzeugender als Wissen und Beredsamkeit", erwiderte Eileithyia. Dann sagte sie noch: "Und selbst das ist einigen noch zu wenig. Sonst würden sie nicht dieser Wiederkehrerin nachlaufen, der du deine Tochter verdankst."

"Ich erkenne, daß du als Heilerin Probleme damit hast, bestimmte Dinge mit mehr Nachdruck anzugehen, weil dabei immer ein Mensch beeinträchtigt wird. Ich stimme dir auch zu, daß Anthelias Weg der falsche ist und auch Daianiras Vorgehen falsch war. Doch wenn nicht jemand wie ich bei den Entschlossenen ist würden die sich gänzlich von der gesamten Schwesternschaft lösen und ihre eigenen Ideen umsetzen."

"Ach! Deshalb meinst du, schweigend zustimmen zu müssen, wenn sich Hexen gegenseitig umbringen. Denn darauf wird dieses Duell ja hinauslaufen, oder?"

"Als Daianira gegen Anthelia kämpfte hatten Lady Roberta und du nicht solche Skrupel, werte Großmutter", konterte Leda.

"Da ging es auch darum, eine ernsthafte Gefahr auszuräumen. Womöglich hätte Lady Roberta sich ebenfalls zu einem Duell auf Leben und Tod mit der Wiederkehrerin gestellt. Doch Daianira verfügte über die nötige Rücksichtslosigkeit."

"Danke schön, Oma Thyia", dachte die Kleine in der Wiege.

"Und jetzt ist etwas ähnliches gegeben, Oma Thyia. Entweder übernimmt Donata von der Wiederkehrerin alles, was diese in die Wege leiten wollte und stellt die Entschlossenen vor die Wahl, zu folgen oder zu sterben, oder Hyneria gewinnt und stellt ähnliche Bedingungen mit umgekehrten Vorzeichen."

"Dann frage ich dich jetzt ganz einfach, auf welcher Seite du stehst, meine Enkeltochter. Immerhin hast du Donata empfohlen, obwohl ihr alle mitbekommen habt, daß sie für Anthelia eintritt."

"Genau deshalb, wegen einer friedlichen Koexistenz mit Anthelias Gruppe. Wir können uns nicht leisten, kundige Hexen in einem heimlichen Hexenkrieg zu verlieren, von dem Zauberer wie Wishbone oder Gleichgesinnte profitieren können. Andererseits verachte ich Anthelias Vorgehen und wäre sehr froh gewesen, wenn Daianira sie als ihre Tochter geboren hätte."

"Rat mal wer noch", dachte Ledas ohne männliche Berührung empfangenes Kind.

"Das würdest du auch Hyneria so mitteilen, sollte sie diesen Zweikampf überleben?" Fragte Eileithyia.

"Genau so, Oma Thyia."

"Und wenn sie dir befiehlt, ihr abtrünnig werdende Mitschwestern zu züchtigen oder zu töten?" Fragte die hundertsechzehnjährige Großheilerin.

"Würde ich es unter Berufung der Heilerdirektiven ablehnen", erwiderte Leda.

"Was sie dann als Verrat ansehen und dich eliminieren würde, meine Enkeltochter", schnarrte Eileithyia.

"Die Gefahr bestand bei Daianira auch und besteht auch bei Donata. Allerdings wußte Daianira und weiß Donata es, daß ich nicht gegen die Heilergesetze verstoßen werde."

"Und eine Heilerin bei den Ungeduldigen zu haben ist ja auch sehr praktisch, als es sich mit dieser zu verscherzen", kam Eileithyias bissige Bemerkung. Darauf wußte Leda nun keine kluge Antwort mehr. So sagte die altehrwürdige Heilhexe: "Sag mir jetzt nur noch, wo du deine Tochter lassen möchtest, solange dieses Duell stattfindet und was mit ihr geschehen soll, wenn du die von dir befürchtete Säuberungsaktion nicht überstehen solltest!"

"Falls du Zeit hast möchte ich sie bei dir lassen, Oma Thyia. Schwester Eva ist ja ihre Patin. Sollte mir nach dem Duell etwas passieren, was mich daran hindert, weiterhin Lysitheas Mutter zu bleiben, so mögest du für ihre Belange verantwortlich sein."

"Ich habe gehofft, daß du das sagst", erwiderte Eileithyia. "Am Besten läßt du sie dann gleich bei mir. Pflegeutensilien habe ich ja in Hülle und Fülle zur Verfügung. Nur das Füttern müssen wir noch abstimmen."

"Sie meint wohl, wenn sie doppelt so viel trinkt, doppelt so schnell aufzuwachsen", hörte Lysithea Ledas belustigte Antwort. "Aber ich werde genug auslagern, damit sie die nächsten vier Tage übersteht. Dann ist auch eine neue Windel fällig."

"Die Reisewindeln sind ein wenig teuer, meine Enkeltochter. Du verwöhnst die Kleine zu sehr. Bei mir wird sie wohl zusehen müssen, rechtzeitig Laut zu geben, wenn sie neu gewickelt werden muß."

"Du meinst, ich verwöhne mich, Oma Thyia. Denn es spart mir eine Menge Zeit, sie nicht alle vier stunden baden und wickeln zu müssen", erwiderte Leda. Dann sagte sie: "Dann werde ich den Nutrilactus-Trank nehmen und mich für einige Zeit zurückziehen."

"Mach das!" Hörte Lysithea ihre Urgroßmutter. Dann fühlte sie, wie ihr frühkindliches Schlafbedürfnis sein Recht einforderte und überließ sich wieder den Träumen von damals, als sie groß war. Doch sie träumte nicht von Daianira Hemlock, sondern von der kurzen Zeit im warmen Mutterschoß der Austère Tourrecandide, bis ihre damalige Base sie übernahm und damit zu ihrer Mutter wurde.

__________

Bowmans Boot mit seiner Besatzung wurde nicht mehr gefunden. Die australische Zaubererzeitung Stern des Südens stellte Mutmaßungen an, ob jemand den wichtigen Zauberer vorsätzlich hatte verschwinden lassen. Einige Tage dauerte die Suche im Landesinneren und im Küstengebiet. Doch sie blieb aussichtslos. Wichtiger erschien Anthelia, daß Prowler Bowmans Nachfolger geworden war und nun noch verbissener nach der schwarzen Spinne suchte. Einigemale wurde die Spinnenfrau aufgespürt. Doch sie entwischte immer wieder. Und auch das so hochgelobte Aufspürnetz der Ureinwohner erwies sich als leicht zu durchdringen, weil sie es raushatte, die Pflanzen ihrer Umgebung mit Verrottungszaubern zu beharken, womit diese Aufspürhilfen abstarben und die Verbindungslinien zerstört wurden.

"Willst du nicht doch mit Lady Nimoe sprechen, höchste Schwester. Vielleicht kann sie dir helfen, die Behandlung gegen diese Krankheit zu bekommen", meinte Tyche Lennox am Morgen des zehnten Oktobers.

"Ich habe Kathleen und die anderen angewiesen, ihr nicht zu verraten, daß ich in Australien bin", grummelte die höchste Spinnenschwester und hustete leicht. "Ich will dieses Spinnenweib erwischen, ohne daß Nimoe mir dazwischenkommt. Die Mittel halten noch bis zum vierzehnten vor. Haben wir dieses Wesen bis dahin nicht gestellt, kommt dein Einsatz. Vorher will ich jedoch noch etwas erledigen, was ich aus der Wachsamkeit heraus bisher nicht ausführen konnte."

"Kann ich dir dabei helfen, höchste Schwester?" Erkundigte sich Tyche Lennox. Anthelia schüttelte heftig den Kopf. dabei glitten ihr Büschel des absichtlich kurzgehaltenen Haares vom Kopf. Sie nahm die rauminhaltsvergrößerte Feldflasche, in der sie hundert Liter Wasser aufbewahren konnte und sog gierig daran wie ein kurz vor dem Verdursten stehender Vampir an der Halsschlagader eines Opfers.

Anthelia sah nun alles andere als erhaben oder kraftstrotzend aus. Die roten Blasen verunzierten ihr Gesicht. Jeden Tag mußte sie ihre Haare nachwachsen lassen. Und die ihr zusetzenden Schmerzen zwangen sie dazu, immer höhere Dosen des hochpotenten Analgetikums zu trinken. Wenn dieses Mittel aufgebraucht war und nicht nachgebraut werden konnte würde Anthelia die volle Wucht der Schmerzen erfahren. Entweder würde sie davon in den Wahnsinn getrieben oder vorher schon die Gnade des Todes erleben, dachte Tyche, die sich an Dokumentationen über die Opfer von Strahlenlecks erinnerte. Sie dankte ihren Eltern, sie nicht in der Nähe von Tschernobyl oder Three Mile Island aufgezogen zu haben. Anthelia bot ein Bild des Jammers und des Grauens. Ohne magische Tinkturen und Tränke wäre sie wahrscheinlich schon längst entstellt oder tot. Da wo an ihrem Körper die roten Blasen aufgequollen und zerplatzt waren hatte der ihr wie angewachsen anliegende Gürtel sofortige Wundschließungen bewirkt, als habe sie eine tückische Krankheit oder schwere Verbrennung hingenommen. Die roten Geschwüre wuchsen aber immer weiter und vermehrten sich von Tag zu tag. Irgendwann würde dieses mächtige Artefakt aus dunkler Vergangenheit Anthelias Haut nicht mehr heilen können. Spätestens dann war es wohl vorbei.

"Das tat gut", bekundete Anthelia, als sie ihren Durst gestillt hatte und schnell noch einen der Kekse hinterheraß, die für mehr als einen Tag jeden Nahrungsbedarf stillten. "Verbleibe hier in unserem Zelt, bis ich wiederkomme oder rufe mich auf gedanklichem Weg, wenn sich etwas tut!" Befahl Anthelia. Ohne eine Bestätigung abzuwarten disapparierte sie mit lautem Knall. Tyche hatte es bewundert, wie leise ihre Anführerin sonst den Standort wechseln konnte. Mochte das auch eine Folge der Strahlenverseuchung sein?

Anthelia apparierte auf einer weitläufigen Weide. Im Umkreis von hundert Meilen mochte kein Mensch zu finden sein. Sie hatte sich lange Zeit gelassen, um diesen so nötigen Schritt zu tun. Doch je weniger sie von den magischen Heilmitteln besaß, desto klarer wurde ihr, daß sie das Medaillon bald für ihre eigene Seele freimachen mußte. Doch im Moment hielt es noch Justin Spikes Seele gefangen, dessen Wissen sie wohl nicht mehr benutzen mußte. Ihr war ein Zauber Sardonias eingefallen, mit dem sie einmal den Geist eines Magiers unschädlich gemacht hatte, der eine Gruppe lebender Nachkommen gegen sie aussenden wollte. So und nicht anders mußte sie Justin Spikes aus dem Medaillon befördern.

Ein lautes Muhen zeigte Anthelia, daß das Ziel ihrer kurzen Reise nicht mehr weit war. Sie blickte sich um. Da standen fünf langfellige Kühe und ein muskelbepackter Stier mit gefährlich langen Hörnern keine fünfhundert Meter entfernt. Der Stier hatte sie gerade als möglichen Störenfried ausgemacht. Anthelia grinste, obwohl ihr die im Gesicht quellenden Blasen ein unangenehmes Spannen bei jeder Regung vermittelten. Schmerzen fühlte sie im Moment nicht, weil sie das magische Analgetikum im Blut hatte. Bisher hatte ihr Gürtel noch nicht darauf reagiert, es als Gift abzubauen. Darüber war sie froh. Außerdem konnte er nur unmagische Gifte beseitigen, worüber sie sehr froh war, weil sie wohl sonst überhaupt keinen Körperbeeinflussungstrank mehr hätte nehmen können.

Der Stier muhte und trottete noch verhalten langsam auf Anthelia zu. Diese bückte sich und hob einen kleinen Erdbrocken auf, den sie vor sich in die Luft warf. Was jetzt kam zeichnete sie als Meisterin der Verwandlung aus. Denn aus einem Fingerhut voll Erde ließ sie in nur einer Sekunde einen großen, schwarzen Stier entstehen, der auf seine vier paarigen Hufe kam und seine Muskeln spielen ließ. Damit war die Provokation perfekt. Sie trat einige Schritte zurück, während der Leitstier der kleinen Herde seinen vermeintlichen Revierrivalen erkannte und seine großen Nüstern erbebten. Der herbeigezauberte Bulle erfaßte mit der in ihm erwachenden Natur eines Stieres den Konkurrenten und sah fünf Kühe, die wohl bald von ihm beglückt werden mochten. Da senkte der Revierinhaber den Kopf und rannte los. Es fehlten wohl nur noch dreihundert Meter. Mit lautem Gebrüll ging auch der herbeigezauberte Stier zum Angriff über. Anthelia sah, wie die beiden Bullen aufeinander losgaloppierten. Sie wartete drei sekunden, bis die beiden gehörnten Rivalen knapp fünfzig Meter voneinander entfernt waren. Dann hob sie mit dem Reverso-Mutatus-Zauber die Verwandlung auf. Ein Erdbrocken flog durch die Luft, während der Leitstier voll ins leere stieß und zu Boden stürzte. Anthelia warf schnell ein magisches Netz über ihn und lief mit leicht steifen Beinbewegungen auf das überlistete Tier zu. Die Kühe schienen den Eingriff in ihr Leben noch nicht recht zur Kenntnis genommen zu haben. Sie lagen wiederkäuend auf der Weide herum und überließen das Feld dem Stier. Dieser kämpfte bereits gegen die magischen Maschen an, kam jedoch nicht daraus frei. Natürlich hätte Anthelia es einfacher machen und den Stier schlichtweg mit dem Schockzauber betäuben können. Doch von ihrer Tante Sardonia wußte sie, daß sie das ausgewählte Tier bei Bewußtsein halten mußte. Anthelia lief auf den Stier zu und zog dabei das Medaillon frei. Der Blutrubin in der Mitte des aus fünf verschiedenen Metallstücken bestehenden Kleinods glühte im Licht der Frühlingssonne. Dann war sie bei dem gefangenen Bullen und drückte ihm das Medaillon zwischen die gekrümmten, spitzen Hörner an den Schädel. Sie hielt ihren Zauberstab über das gefangene Prachtexemplar einer Rinderzucht und sang altdruidische Beschwörungsformeln, die im Ungefähr sowas wie "Nimm an, was dir gegeben und behalte es für's Leben" hieß. Diese Beschwörung mußte sie zwanzigmal singen, bis der Stier seinen Kampf gegen das Netz aufgab und willenlos, aber nicht bewußtlos dalag. Anthelia tippte nun das Medaillon an und sprach jene Worte, mit denen sie Justin Spikes Seele darin eingefangen hatte, in umgekehrter Richtung, wobei sie seinen Namen dreimal wiederholte. Dabei sah sie, wie weißer Dunst aus dem Medaillon quoll und hörte einen wie aus großer Ferne klingenden Aufschrei Spikes. Dabei fühlte sie selbst, wie etwas aus ihrem Körper herausgezerrt wurde. Denn durch das Medallon hatte sie ja eine Verbindung zu Spikes Seele hergestellt. Doch sie achtete nicht darauf, sah es sogar als die gewünschte Reaktion an und vollendete ihren Zauber mit "Dieser Leib er sei nun dein! Sollst ihm lebenslang verbunden sein!" Für eine Sekunde konnte sie Spikes geisterhaft durchsichtiges Gesicht sehen, das aus dem Medaillon quoll und dann unvermittelt im Schädel des Stieres verschwand wie von einem Schwamm eingesaugt. Sie hörte noch einen erschreckten Aufschrei, als der restliche Körper aus dem Medaillon herauswehte und im Leib des gefangenen Stieres verschwand, der wie unter heftigen Schlägen zuckte und aufschrie. Da kühlte sich das Medaillon schlagartig ab. Anthelia mußte es loslassen. Es löste sich vom Schädel des Stieres und fiel gegen ihren Brustkorb. Der Stier indes wand sich und schnaufte. Anthelia konnte sehen, wie in den großen, braunen Augen des Bullen eine Veränderung eintrat. Für eine Sekunde sahen sie so aus wie die Augen des ehemaligen Leiters der My-Truppe Wishbones. Dann veränderten sie sich wieder zu den Augen eines Stieres. Doch etwas blieb anders. Sie sahen nicht mehr nur wütend auf Anthelia, sondern sichtlich verwirrt, ja verängstigt. Anthelia hörte mit ihrem Gedankenspürsinn hinaus und erkannte, was gerade passierte. Spikes entlassene Seele war ohne Umweg in den dafür vorbehandelten Körper eines Tieres eingekehrt und breitete sich darin aus. Womöglich würde Spikes die geistige Oberhand über den Stier gewinnen. Es mochte jedoch auch passieren, daß dessen tierische Triebe den lange Zeit versklavten Geist des Zauberers durchdrangen und ihn der Natur seines neuen Körpers unterwarfen. Anthelia wußte nicht, ob Spikes in diesem Zustand mentiloquieren konnte. Doch eins wußte sie mit Sicherheit. Sie hatte ihn ohne weitere Bedrohung für sich aus ihrem Medaillon ausgetrieben.

"Verdammt, was... Muuuuh!" Empfing sie Spikes' Gedanken. "Was passiert mit Muuuuuuh-ir?"

"Freu dich, Justin. Ich habe dir einen neuen, starken Körper und gleich fünf Gefährtinnen geschenkt, nachdem du mir geholfen hast, deinen übereifrigen Herrn und Gebieter aus der Welt zu schaffen!" Rief Anthelia, die ihren Erfolg nicht verhehlen wollte. "Genieße dein Leben. Du brauchst dich nicht mehr mit so netten Leuten wie mir oder Nyx herumzuzanken."

"Was ist muuuh-ir passiert? ... Ich Wmuhuhuhu-ill wissen ..."

"Sei froh, daß ich dir ein männliches Exemplar zugewiesen habe. Andererseits sehe ich auch nicht ein, warum du die Vorzüge eines weiblichen Wesens genießen solltest. Eine recht geruhsame Zeit wünsche ich dir!" Rief Anthelia und ließ das magische Netz verschwinden. Der Stier kam auf die Beine. Doch die nun in ihm gebannte Seele eines Menschen störte einen geordneten Bewegungsablauf. Das gab Anthelia genug Zeit, unangefochten zu disapparieren.

Als sie wieder bei Tyche Lennox im Zelt war, empfing sie Kathleens Gedankenruf: "Die Spinne ist in der Falle. zwanzig Meilen nordöstlich vom Stadtrand Melbourne. Fünf von uns helfen ihr mit Avatar!"

"Verdammt guter Einfall", rief Anthelia, als habe sie gerade die Idee des Jahrhunderts bekommen. "Tyche, wir müssen nach Melbourne. Heute erwischen wir die Spinne, und dann werde ich endlich wissen, ob ich weiterleben kann."

Tyche sah die auflodernde Hoffnung in Anthelias Augen. Die höchste Schwester hatte ihr nur Bruchstücke dessen erzählt, was sie von Bowman erfahren hatte. Doch eines wußte Tyche. Anthelia hoffte, daß die Spinnenfrau das Geheimnis eines unsterblichen, unverwüstlichen Körpers kannte. Einen winzigen Moment dachte sie daran, ob es wirklich so gut war, wenn Anthelia dieses Wissen erlangen konnte. Doch dann fiel ihr ein, daß nur Anthelia sie vor den Nachstellungen der Nachtfraktionärinnen schützen konnte. Starb diese, verlor auch Donata ihren Schutz. So warf sie die Zweifel von sich und ergriff Anthelias Hand. Doch diese zögerte noch einen Moment. Sie holte mit "Accio Beobachtungsausrüstung!" eine große Tasche zu sich und warf sie sich über die Schulter. Dann mentiloquierte sie Kathleen an, sie solle die anderen treuen Schwestern rufen, die nicht in der Einsatzgruppe Nimoes waren. Erst dann disapparierte sie mit Tyche. Die Jagd nach dem letzten Mittel, Anthelias Leben zu retten, war eröffnet.

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"So frage ich dich, Hyneria Swordgrinder, ob du deine Herausforderung wiederholen willst", sprach Donata Archstone. Die hagere Hexe Hyneria Swordgrinder straffte sich und bestätigte mit einem lauten "Ja, ich will um deine Macht kämpfen." Sie wurde dann noch gefragt, welchen Wunsch sie habe, falls sie verlöre. "Daß du Anthelia abschwörst und unsere erhabene Schwesternschaft vor ihrem Zugriff bewahrst, Lady Donata." Viele der in dieser Höhle versammelten Hexen sogen laut Luft ein. Doch Donata hatte mit einem derartigen Wunsch gerechnet.

"Nun denn. Ich wünsche mir von dir, daß du, wenn du gewinnst, niemanden tötest, der dir nicht behagt, sondern sie alle am leben läßt", sagte Donata. Nun mußte Hyneria Luft holen. Doch sie sagte laut, daß sie diesen Wunsch erfüllen würde. Dann wurde der Kreis der Begrenzung mit zwölf Hexen gezogen und aktiviert. Die beiden Duellantinnen betraten den kreis. Es war gerade etwas weniger als elf Monate her, wo das letzte Duell um die Führerschaft der entschlossenen Schwestern stattgefunden hatte. Die beiden Hexen im Kreis verbeugten sich. Eine der außenstehenden zählte bis drei. Dann ging es los.

Schon von der ersten Sekunde an war klar, daß beide auf ein schnelles Ende ausgingen. Der Todesfluch durfte nicht als erster Zauber gebracht werden, so lauteten die Regeln. Beide wußten es und griffen mit Verunstaltungsflüchen an. Laut pfeifend, fauchend, peitschend und prasselnd zuckten die Zauber hin und her. Laut hallend zerstoben die fehlgehenden Flüche an der unsichtbaren Begrenzung. Keine konnte umständlich ausholende Formeln rufen. Kurze, meistens aus einem Wort bestehende Zaubersprüche waren angebracht. Die meisten davon wurden jedoch nur gedacht, so daß die Zuschauerinnen nur die Resultate sehen konnten. Die Zauber flogen gegeneinander. Es knallte, krachte, zischte und Knisterte, wenn Fluch auf Gegenfluch, Angriffs- auf Schildzauber traf. Manchmal ploingte es, wenn es einer Duellantin gelang, für wenige Sekunden hinter einem silbernen Schild zu verschwinden. Doch meistens beharkten sich die beiden mit schnellen Zaubern. Donata versuchte wohl auch, Feuerlassos und Flammengeißeln zu bringen, während Hyneria mit Sonnenspeeren, Geschwürzaubern und Klammerflüchen gegenhielt. Sie rief einmal den Entwaffnungszauber Expelliarmus auf. Doch dieser wurde von der sich schnell windenden Donata ausgetanzt. Mit lautem Kloing fing die Begrenzung ihn auf. Auch Donata versuchte den Entwaffnungszauber ungesagt. Doch er wirkte nicht stark genug. Hyneria konnte ihren Zauberstab festhalten. Weitere Schläge und Gegenschläge flirrten und wetterleuchteten im Duellkreis. Einmal stand Donata in einem goldenen Funkenwirbel. Dann schlugen Flammen aus Hynerias Körper. Doch alles das hielt nur wenige Sekundenbruchteile vor. Hyneria stand jedoch nun halbnackt da, da der Ignicorpus-Zauber, der Menschen von innen her brennen ließ, von ihr mit einem Corpocalmus-Zauber abgeblockt worden war, der verheerende Körperschädigungszauber direkt nach außen oder um einen herum ablenkte. Es sah nicht so aus, als wenn der einen oder anderen Duellantin die Puste ausging. Da stieß Hyneria ihren Zauberstab in die Richtung der Gegnerin und schickte einen ungesagten Sonnenspeerzauber los. Diesen mußte Donata mit einem Armasolis-Zauber kontern und konnte deshalb nicht auf die nächste Attacke reagieren, selbst wenn sie diese vorhergesehen hätte. "Manus Malevolens", glaubte Leda zu hören. Da flog aus Hynerias Zauberstab ein blutroter Lichtball heraus, der im freien Flug zu einer kopfgroßen Hand aus purem Zauberlicht auswuchs, die mit einem schnellen Zuschnappen der Finger Donatas Zauberstab erwischte. Mit einem raschen Wink ihres eigenen Zauberstabes brachte Hyneria die magische Hand dazu, in ihre Richtung zurückzufliegen, wobei die fünf Finger aus blutrotem Licht den Zauberstab Donatas zerbrachen. Nicht nur die gerade entwaffnete Duellantin erbleichte. Auch Peggy Swann, Leda und vielen anderen wich das Blut aus dem Gesicht.

"Den hätte Daianira mal kennen sollen", frohlockte die noch bewaffnete Hyneria. "Dann wäre uns allen viel Übel erspart geblieben. Freu dich, daß du beweisen durftest, wie gut meine Erfindung funktioniert. Ich hätte die böse Hand auf deine Kehle loslassen können. Aber ich wollte dir noch einmal in die Augen sehen, bevor du deine Niederlage eingestehst, Marionette Anthelias", fauchte Hyneria nun.

"Gut, bring es zu Ende, Hyneria. Mögest du bei der Führung unserer erhabenen Schwesternschaft mit Ehrfurcht in den Annalen erwähnt werden."

"Wie großzügig, Donata", schnarrte Hyneria. "Nun sage es schon!"

"Ja, ich erkläre mich für überwunden und dich zur Siegerin, Lady Hyneria", schnaubte Donata. Was ihr durch den Kopf ging wollten viele wissen. Doch niemand konnte es erkennen. Donata dachte an ihre Zeit bei Anthelia, an die Kämpfe für das Ministerium und für die höchste Schwester, an Daianiras Hinterhalt mit dem Schmelzfeuer, wie sie Anthelia zum Duell geführt hatte und lange gedacht hatte, sie nie wieder so zu sehen, wie sie war. Und jetzt stand sie da, wartete auf die letzten zwei Worte, die sie jemals würde hören dürfen. Denn Hyneria würde ihr sicher keinen Infanticorpore-Fluch aufhalsen. Sie dachte an Tyche, Patricia und die ganzen Schwestern im Ausland, die nun bangen mußten, ob Anthelia sich wieder erholen konnte oder hofften, daß sie diesmal endgültig ..." Avada Kedavra!" Das laute Sirren und der blendend helle grüne Blitz, der direkt auf sie zuraste, stoppten ihre letzten Gedanken und löschten alles in ihr aus, was sie zur lebenden Person gemacht hatte. Als sie fiel war sie bereits tot. Auf ihrem bleichen Gesicht stand eine gewisse Enttäuschung, daß sie es nicht geschafft hatte, Anthelias Werk weiterzuführen.

"Somit erkläre ich mich kraft unserer erhabenen Regeln zu eurer neuen Anführerin, Schwestern. Die Marionette ist zerstört, die Fäden durchgeschnitten und die stützende Stange durchbrochen. Ich werde ihren letzten Wunsch respektieren und euch alle am Leben erhalten", sagte die triumphierende Siegerin. Die Euphorie, dieses doch sehr harte Duell doch noch gewonnen zu haben, stieg in ihr hoch. Doch noch hatte sie etwas wichtiges zu erledigen. "Das hatte ich doch sowieso vor." Sie verließ den Kreis, dessen Begrenzung daraufhin mit lautem Fauchen verging. Dann hob sie den Zauberstab, mit dem sie gerade Donatas Leben ausgelöscht hatte. Sie griff in ihre linke Umhangtasche und holte eine Kristallkugel heraus, die sie mit raschem Schwung zur über zehn Meter hohen Höhlendecke hinaufschleuderte. Klirrend barst der Kristallglobus und gab eine im ersten Moment giftgrüne Wolke frei, die sich rasend schnell in der Höhle ausdehnte und nicht verdünnt wurde. Eine Hexe im Publikum versuchte, sie mit einem Dunstzerstreuer zu vernichten. Doch sie blieb stabil und legte sich wie ein immer schwererer Mantel auf die Anwesenden. Sie schien dort, wo sie auf lebendes Fleisch traf, zu immer dickerem Eis zu werden. Und noch etwas merkwürdiges geschah. Bei einigen Hexen floß das Eis schon nach einer Sekunde wieder ab und wurde von der grünen Wolke aufgesaugt. Bei anderen wuchs die Schicht immer mehr an, wobei sie jedoch die Körperkonturen der Betroffenen beibehielt, so daß innerhalb von einer halben Minute mehr als sechs Meter hohe Statuen wie aus poliertem Smaragd in der Höhle standen. Als die so erschaffenen Standbilder aufragten zerfloß die grüne Wolke, verteilte sich nur noch um die erstarrten Hexen und wurde von der kristallartigen Panzerung aufgesaugt wie Wasser von einem Schwamm. Als der Zauberdunst restlos verflogen war, blickten sich die davon unbetroffenen Hexen verängstigt um. Es hatte ein Viertel der Anwesenden getroffen. Sie alle waren also von der grünen Wolke zu unerwünschten Personen erkoren worden.

"Du hast sie doch getötet", schnarrte Kelly Pigford, die wie Leda Heilerin war und von ihrer Mutter Fenna zu den entschlossenen Schwestern gebracht worden war.

"Der Verräterfrost hat sie nur konserviert, eben in einem Zeitkristall eingefroren, der ihre Körperabläufe derartig verlangsamt, daß sie in hundert Jahren nur einen Atemzug benötigen", erwiderte Hyneria kalt. "und ich habe noch einige der kristallinen Agentien, um diesen wirksamen Zauber freizulassen, den ich auf verschiedene Faktoren ausrichten kann, Verrat, Todfeindschaft, Unfähigkeit oder Unzuverlässigkeit. Widerspruch kann in mehrere dieser Kategorien fallen. Also hütet euch davor, mich, eure neue Anführerin, zu kritisieren oder anzufeinden!"

"Sollen die zehn Eingeschlossenen hier stehenbleiben?" Fragte Etna Windslow, die bereits Jahre zuvor zu Hynerias Befürworterinnen geworden war.

"Nein, ich werde es so hinstellen, daß die Wiederkehrerin ihre eigenen Anhängerinnen bestraft hat und diese an einen Ort verbringen, an dem sie viele sehen können. Immerhin konnte dieses Weib ja ihr brummendes Ungeziefer auf diese Weise einschließen."

"Und wenn die Wiederkehrerin sie findet und befreien kann?" fragte Lavinia, eine andere Vertraute Hynerias.

"Sie kann sie nicht befreien. Denn dieser Zauber ist von mir erdacht und von meinen Eigenschaften erfüllt und kann somit nur von mir gelöst werden. So, und jetzt gebiete ich, daß alle die, die keine Kinder unter drei Jahren zu versorgen haben, sofort die ehrwürdige Versammlungshöhle verlassen und allen die nicht hier versammelt waren gegenüber über den Ausgang dieser Auseinandersetzung stillschweigen. Bekomme ich heraus, daß eine von euch es irgendwem weitererzählt, steht sie bald auch als mahnendes Standbild im Verräterfrost!"

Die Anwesenden nickten eingeschüchtert und disapparierten. Als Peggy auch verschwinden wollte umtoste sie ein Wirbel aus Blitzen.

"Meine Befehle sind eindeutig, Schwester Peggy. Alle, die keine Kinder unter drei Jahren zu versorgen haben heißt, daß alle, die solche Kinder haben hierzubleiben haben", schnarrte Hyneria. Peggy und Leda sahen sich an. Ihnen schwante, warum ausgerechnet sie beiden noch hierzubleiben hatten.

"Habt ihr gedacht, ich wäre so einfältig, nicht zu bemerken, wie ihr zwei wie die Jungfrauen zu euren Kindern gekommen seid?" Fragte Hyneria. "Euch ist wohl klar, daß ich, um weiteres Ungemach von unserer Schwesternschaft abzuhalten, sicherstellen muß, daß eure sogenannten Töchter nicht in wenigen Jahren Unmut und Verdruß in unsere Reihen bringen. Daher werdet ihr sie mir übergeben."

"Stellt euch das nicht so einfach vor, Lady Hyneria! Unsere Kinder sind der Öffentlichkeit bekannt", sagte Peggy Swann kampfeslustig. Leda stimmte zu. Denn für ihre Tochter Lysithea galt dies besonders.

"Das ist richtig. Und deshalb werdet ihr zwei vorgeben, mit euren Kindern ausgewandert zu sein, ohne die Presse darüber zu informieren, wohin. Im Grunde könnt ihr sofort mit unbekanntem Ziel abreisen. Niemand wird euch groß suchen, und eure Kinder schon gar nicht."

"Ihr glaubt, daß ich Euch meine Tochter überlasse, die ich getragen, geboren und ganz alleine über das erste Jahr gebracht habe?" Fragte Peggy. "Das könnt Ihr getrost vergessen."

"Willst du mir widersprechen und die unrühmliche Versammlung dort bereichern?" packte Hyneria eine ernste Drohung in eine Frage.

"Das kannst du vergessen, Hyneria", schnarrte Peggy, riß den Zauberstab hoch und vollführte eine schnelle Drehung, wobei sie "Protectio Matrium!" Rief. Ein weißes Licht erglühte um sie herum, und mit lautem Knall verschwand sie im Nichts. Hyneria schrie vor Wut. Den Schutz der Mütter hatte sie vergessen. Er überlagerte alle Befehlsdurchsetzungszauber in dieser Höhle. Leda wollte gerade auf dieselbe Weise entkommen, da erwischte sie Hynerias Schockzauber. "Du entwischst mir nicht, Leda", schnarrte Hyneria. Doch Leda konnte es schon nicht mehr vernehmen.

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Peggy handelte blitzschnell. Sie apparierte in ihrem Haus, mentiloquierte Larissa an, die ganz lieb in ihrem Spielzimmer ein Buch betrachtete, in dem hundertmal mehr Buchstaben als Bilder enthalten waren. Larissa schickte zurück, daß sie damit gerechnet hatte und in Peggys Abwesenheit so leise sie konnte eine rauminhaltsvergrößerte Reisetasche gepackt hatte. Peggy rief mit erhobenem Zauberstab auf der Wendeltreppe stehend: "Totum Securum in Absentia!" Da trippelte ihre kleine Tochter, die vor ihrer Empfängnis Peggys leibliche Mutter gewesen war, die Treppe herab. Sie hielt einen ziemlich lange benutzten Zauberstab in der rechten, mit dem sie eine rote Reisetasche hinter sich herwinkte. Als das kleine Mädchen neben seiner jetzigen Mutter stand, und diese die rote Tasche zu fassen bekam, drehten sich beide auf der Stelle und disapparierten. Keine Sekunde darauf schlugen alle offenen Fenster und Türen zu. Schränke, Regale und Kommoden wurden von einer unsichtbaren, stahlharten Substanz überzogen, die allen Gewaltformen trotzte. Auch die Fenster und Türen würden von dieser unsichtbaren Versiegelung überzogen. Das Pfannkuchenhaus in Viento del Sol war nun völlig einbruchssicher. Denn auch der Kamin wurde unpassierbar, und das Apparieren gelang eh nur über ihre Lebensäußerungen abgestimmten Leuten und ihren unmittelbaren Blutsverwandten. Peggy und Larissa waren verschwunden.

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Das man schon den zehnten Oktober schrieb wußte und interessierte die Altaxarroia Naaneavargia nicht. Sie hatte sich während des ganzen Frühlingsmonats immer wieder ihren Spaß mit den Zauberern gemacht, indem sie absichtlich irgendwem auffiel, um dann heimlich davonzuschleichen. Sie hatte Angriffsversuche der Ureinwohner abschmettern müssen, bei denen einige von ihr getötet worden waren. Als sie erfuhr, daß es in einer Stadt namens Melbourne in Sonnenuntergangsrichtung des Erdteils jemanden geben sollte, der oder die mehr über die Tränen der Ewigkeit wußte, ahnte sie keinen Moment, daß man ihr eine Falle gestellt hatte. Doch diesmal waren es nicht die ihr schon so vertrauten Ministeriumszauberer, sondern eine Gruppe von Hexen, die es endlich leid waren, sie als Bedrohung hinnehmen zu müssen.

als sie sich in Frauengestalt dem Haus näherte, in dem jene Aufzeichnungen verwahrt werden sollten, fühlte sie, wie fünf Trägerinnen der Kraft um sie herum erschienen. Da sie gerade keinen Zauberstab hatte wollte sie sich einen von denen holen. Da rief eine, die ihren Zauberstab mit der linken Hand führte die Worte des schnellen Todes. Schlagartig wurde Naaneavargia zur Spinne. So gelang es ihr, den ihr entgegenfliegenden Todesfluch abzuprellen, der unschädlich zu grünen Funken zerstob. Doch offenbar hatten die fünf genau das erreichen wollen. Denn nun rief die Anführerin dieser Truppe Worte, die sie noch nicht kannte. Da brach etwas aus dem Zauberstab hervor, das Naaneavargia sehr vertraut war, nur, das das achtbeinige Ungetüm aus dunkelviolettem, fast schwarzem Licht bestand. Ansonsten war die heraufbeschworene Spinne genauso groß wie Naaneavargia und bestimmt auch so schnell und gefährlich. Da rannte das heraufbeschworene Ungetüm auch schon gegen das schwarze Ungeheuer an, das Naaneavargia mal wieder war. Die beiden Spinnenwesen prallten aufeinander. Naaneavargia spürte Ströme einer starken Kraft, als das gegnerische Geschöpf mit ihr rang. Da erinnerte sie sich, von gerufenen Erfüllern gehört zu haben, die die Großmeister des Lichtes, der Elemente und der Dunkelheit mit anderen zusammen erschaffen konnten. Sie bestanden nur aus verstofflichter Zauberkraft und konnten nur von gleichartigen Gegnern aufgehalten und vernichtet werden. Also hatte sie es mit einem solchen Erfüller zu tun. Womöglich hatten die fünf Hexen, die gerade eine magische Umgrenzung zogen, diesen Erfüller auf sie angesetzt. Doch das würde denen nicht viel Freude machen, dachte Naaneavargia, als sie gerade im sechzehnbeinigen Wirrwarr mit der Gegnerin am Boden herumrollte. Das andere Wesen war ihr körperkraftmäßig ebenbürtig oder gar überlegen. Naaneavargia kämpfte wie noch nie in ihrem Leben. Die fünf Hexen trieben ihre Schöpfung sogar noch an. Der Kampf konnte ewig dauern. Doch dieses Geschöpf war von der Kraft seiner Beschwörerinnen abhängig. In einem fast schon aussichtslosen Augenblick, als die beschworene Erscheinung ihre Beißwerkzeuge in Naaneavargias Augen schlagen wollte, fiel der Schwester Ailanorars ein, daß sie es mit ausgelagerter Gedankenkraft zu tun hatte. Wenn sie sich konzentrierte konnte sie sich das zu Nutze machen. Sie wich dem Beißangriff aus, um selbst ihre giftigen Scheren in den kribbelnden Leib der violetten Spinne zu schlagen. Dabei dachte sie Worte, die für ihre Zunft eigentlich verboten waren, die Worte der Entseelung. Sie wünschte sich, das Leben aus ihrer Gegnerin herauszusaugen, um es ihrem einzuverleiben. Iaxathan hatte es wohl versucht, als sie zum ersten Mal als Riesenspinne erschienen war. Doch sie war ihm zu schnell gewesen. Auch hier überwog ihre trotz der Tiernatur nicht ganz erloschene Auffassungsgabe und Geisteskraft. Sie fühlte, wie sie die Ströme der Kraft, aus denen sich ihre Gegnerin zusammensetzte, einatmen und wie warmes Wasser in ihren Körper einströmen lassen konnte. Damit saugte sie dem magischen Erfüller mehr und Mehr von dessen Kraft ab, als sauge sie vorverdautes Fleisch aus einem Beutetier. Mit jeder Bewegung und jedem Gedanken an das Verlangen, das andere Leben in sich aufzusaugen wurde die andere Spinne nicht nur schwächer, sondern auch kleiner und kleiner. Die fünf Hexen standen um sie herum und erstarrten, während die Anführerin sichtlich ins Wanken geriet. Naaneavargia, von den Tränen der Ewigkeit gestärkt, saugte dem Erfüller immer mehr von dessen Eigenleben ab, bis das scheinbar unbezwingbare Geschöpf mit einem leisen Zischen in Naaneavargias Spinnenmaul verschwand, und die schwarze Spinne alleine dastand. Da stürzte die Hexe, die ihren Zauberstab in der Linken Hand hielt. Ihre Gefährtinnen eilten ihr zu Hilfe. Naaneavargia wollte die Gunst des Augenblicks nutzen um mindestens drei Zauberstäbe zu ergattern. Sie warf sich nach vorne und prallte gegen eine unsichtbare Umgrenzung. Man hatte sie also eingepfercht, als sie gerade mit dem Erfüller kämpfen mußte. Und die Absperrung hielt. vielleicht konnte sie von der einverleibten Kraft was dagegensetzen. Sie konzentrierte sich und prallte mit ganzer Wucht gegen die Absperrung. Um sie herum blitzte es violett auf. Dann brach der Widerstand. Die fünf Hexen verschwanden genau in diesem Augenblick über den kurzen Weg. Naaneavargia konnte noch sehen, wie deren Anführerin bewußtlos in den Armen ihrer Gefährtinnen hing. Offenbar hatte sie ihr einen Großteil Körperkraft und Ausdauer entrissen, als sie den Erfüller erledigt hatte. Naaneavargia frohlockte. Zwar hatte sie keinen Zauberstab erbeuten können. Doch diese vorwitzigen Hexen besiegt zu haben genoß sie mit kindlicher freude. Deshalb konnte sie sich vorerst auch nicht in eine Frau zurückverwandeln. Das ärgerte sie, weil es ihr wieder zeigte, wie eingeschränkt sie doch lebte. Liebendgerne hätte sie jetzt in ihrer Angeborenen Gestalt ausgerufen, daß sie auch so nicht zu besiegen war. Doch wer hatte sie angegriffen? Eigentlich müßte ihr das jetzt bekannt sein, wo sie die ausgelagerte Gedankenkraft der Gegnerin in sich aufgenommen hatte. Doch ihr fiel es nicht ein, nicht in dieser Körperform. So verflog ihre Freude über den Sieg und machte Wut Platz. Warum konnte sie sich nicht nach belieben verwandeln, in was sie gerade wollte? Sie rannte los, um sich abzureagieren. Dabei entging ihr, wie von oben eine ungeheure Erscheinung auf sie niederstieß.

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"Lady Nimoes Avatar schrumpft", sagte Kathleen erstaunt. Sie alle hatten gesehen, wie der dunkelviolette Gegner der schwarzen Spinne gebissen worden war. Normalerweise machten Gift und scharfe Gegenstände einem magischen Avatar überhaupt nichts aus. Warum schrumpfte der Avatar Nimoes dann?

"Er wird schwächer. Offenbar wirkt ihm eine unbändige Magie entgegen. Aber die nützt dieser Kreatur nichts gegen einen aus der Kraft von zehn Hexen vereinten Vogel der Mitternacht, der aus Dunkelheit und Kälte besteht", freute sich Anthelia. Dann sah sie, wie der Spinnenavatar von der Spinne aus Fleisch und Blut regelrecht leergesaugt und verschlungen wurde. Da dachte sie das Kommando an ihren Avatar: "Stoße nieder und verschlinge die Spinne! Stoße nieder und verschlinge die Spinne!!"

"Sie haben sie in der magischen Umgrenzung", bemerkte Tyche, als die schwarze Spinne gegen eine unsichtbare Barriere anrannte. Doch da flog ein violetter Blitz aus dem Kopfbruststück des achtbeinigen Geschöpfes, und es rannte davon. Doch da stürzte bereits ein unheimliches Wesen aus großer Höhe auf sie herab. Tyche sah noch, wie Lady Nimoe, die beim Erlöschen ihres Avatars ohnmächtig geworden war, von ihren Helferinnen per Disapparition fortgebracht wurde. So bekamen diese nicht mehr mit, wie eine gigantische Gestalt wie eine Mischung aus Adler und Gewitterwolke vom Himmel herabstürzte und nicht mit den hausgroßen Fängen, sondern mit dem mehr als zehn Meter langen Schnabel nach unten stieß, wo die schwarze Spinne schneller als ein Mensch laufen konnte voranlief. Doch sie war zu langsam. Dann sahen sie alle, wie der Vogel die Spinne aufpickte, in die Höhe riß, kurz losließ und dann mit einer schnellen Bewegung in seinem Schnabel verschwinden ließ. Sie hatten Anthelias Gedankenbefehl an ihren Avatar nicht gehört. Doch eine Kopfbewegung des Riesenvogels zeigte, daß er die Beute hinuntergeschluckt haben mußte. Allen stand für einen Moment das Herz still. Sie dachten daran, wie mächtig so ein Avatar war und daß jemand keine Chance hatte, der von dieser Kreatur verschlungen wurde. Wie mochte es im Bauch der Bestie sein? Gab es dort Verdauungssäfte, die einen qualvoll zersetzten? Oder herrschte dort nur Dunkelheit.

"Er hat sie", triumphierte Anthelia. Sie wartete einige Sekunden. Als der Avatar keine Anstalten machte, schwächer oder gar kleiner zu werden gab sie mit ganzer inbrunst den entscheidenden Befehl: "Kehre in meinen Stab zurück und übergib mir ihr Wissen!"

Die Kraft der Mitternachtshand, einem der übelsten aber auch kraftzehrendsten Zauber der schwarzen Magie, ermöglichte es ihrem Anwender, den Körper eines Feindes zu zerstören und dessen Geist gefangenzuhalten, bis sie in den Stab des oder der sie aufrufenden Zauberkundigen zurückbefohlen wurde. Passierte dies übertrug sich alles Wissen des gefangenen Geistes auf den Zauberkundigen.

"Ob das so gut ist?" Fragte Kathleen leise Wanda, die erbleicht war. Was, wenn Anthelia wirklich alles über dieses Spinnenmonster erfuhr? Da rauschte auch schon der Mitternachtsvogel heran. Noch im Sturzflug auf den ihm erwartungsvoll entgegengestreckten Zauberstab zu, verlor er an Größe. Dann traf sein Kopf auf das Stabende, ohne Anthelia zu erschüttern.

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Unvermittelt sah Naaneavargia den riesenhaften Schatten über sich, der innerhalb eines Augenblicks den Himmel über ihr verdeckte. Da erkannte sie, daß sie noch nicht außer Gefahr war. Doch da war es schon zu spät. Mit einer selbst ihr unfaßbaren Kraft wurde sie von etwas eiskaltem gepackt und hochgerissen. Für einen winzigen Moment konnte sie über sich den hausgroßen Kopf eines völlig schwarzen Vogels erkennen. Sie fühlte, daß es noch ein Erfüller sein mußte, aber einer, der aus dunkler Zauberkraft gemacht war und offenbar aus der Lebenskraft von mehr als zehn anderen bestand. Todesangst überkam sie. An ihr fand genau das statt, was tagtäglich in der unmagischen Natur geschah. Ein großer Vogel hatte eine für ihn winzige Spinne vom Boden aufgepickt. Dann ließ der eiskalte Griff einen winzigen Moment nach. Doch die Kälte hatte Naaneavargia schon zu sehr gelähmt, um noch irgendwas zu versuchen. Sie fühlte die Todesangst. Dieses Ungetüm würde ihr das Leben entreißen. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte nicht einfach so sterben. Da umfaßte sie der vollkommen dunkle Schnabel des Riesenvogels vollständig. Unbeschreibliche Kälte durchflutete die unersättliche Schwester Ailanorars. Ihre Gedanken wurden immer schwächer. Sie fühlte ihren Körper nicht mehr. Sie bekam nicht mehr mit, daß der Vogel aus dunkler Zauberkraft sie wie beiläufig hinunterschluckte und sie in seinem eisigen Bauch landete, wo die Temperatur in die Nähe des absoluten Nullpunktes reichen mochte. Ihr Körper konnte der Kälte nicht widerstehen. Hitze und Feuer machten ihr nichts aus. Aber diese Kälte war ihr Verhängnis.

Für die schwarze Spinne mochte es nur ein Blinzeln gedauert haben, als der Riesenvogel sie aufgepickt und verschlungen hatte. Jedenfalls empfand sie erst wieder was, als die undurchdringliche Finsternis und unabwendbare Kälte sich in einer gewaltigen Lichtentladung auflösten. Sie fand sich unvermittelt in mitten eines goldenen Strudels, der wie flüssiges Sonnenlicht auf sie wirkte. Sie schrie, jedoch nur in Gedanken. War das der Tod. Äußerte er sich bei denen, die von den Tränen der Ewigkeit getrunken hatten so? Dann fühlte sie, wie etwas zu tiefst verunsichertes und erschrockenes auf sie zuflog. Sie hörte Gedanken, die Gedanken eines weiblichen Wesens.

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Es dauerte keine Sekunde, bis der Vogel zu einer undurchdringlich schwarzen Kugel verdichtet wurde, die vom Zauberstab aufgesaugt wurde. Die Hexen blickten auf das Geschehen, während Anthelia in vollkommen konzentrierter Haltung dastand. Die roten Blasen in ihrem Gesicht wurden auseinandergezerrt. Einige platzten auf. Blut überströmte das Gesicht der höchsten Schwester. Das strohblonde Har wurde wieder lichter, weil ein mächtiger Windstoß hineinfuhr. Es war ein Bild des Schreckens und des Elends, das sich den anwesenden Hexen unauslöschlich ins Gedächtnis einbrannte. Auf dem silbergrauen Zauberstab steckte die schwarze Kugel aus materialisierter Zauberkraft, die rasant zusammenschrumpfte, bis sie mit einem leisen Plopp vollständig im Zauberstab Anthelias verschwand. Für eine Sekunde stand die Führerin des Spinnenordens mit triumphierendem Gesicht da. Dann passierte es.

Der Körper der höchsten Schwester quoll lautlos auf. Kein Schrei entrang sich der Kehle Anthelias, die von einem Moment zum anderen zu einer nachtschwarzen Wolke wurde, aus der nun elmsfeuerartige rote, blaue und gelbe Blitze herausfuhren. Tyche und die anderen sprangen in panischer Angst zurück, während die Wolke sich weiter ausdehnte und ihre Blitze in alle Richtungen schleuderte. Als das Wolkengebilde wohl fünf Meter durchmessen mochte, kam der Ausbreitungsprozeß zum Stillstand. Für knapp vier Sekunden ritt das unförmige Etwas, das vor wenigen Momenten noch Anthelia gewesen war, auf den erdwärts zischenden Entladungen. Dann stürzte es in sich zusammen, wobei weitere, diesmal grellere Entladungen herausschossen, die mit lautem Prasseln und Knacken verhießen, welch gefährliche Energie sie trugen. Die anwesenden Hexen hatten sich zu Boden fallen lassen, so daß die freigesetzten Kräfte über sie hinwegschlugen. Dann formte sich aus der Wolke eine erst schemenhafte und dann scharf umrissene Gestalt. Es war die schwarze Spinne. Tyche, die aus ihrer liegenden Haltung zugesehen hatte, bekam einen großen Schreck. Anthelia war nun die schwarze Spinne. Hieß das, daß diese noch mächtiger gewesen war als der Mitternachtsvogel? Dann passierte wieder was unerwartetes. Die Spinne explodierte in einem laut prasselnden und fauchenden Wirbel aus goldenen, blauen und silbernen Lichtern, dehnte sich wieder an die fünf Meter aus und fiel dann mit lautem Wuff in sich zusammen, bis nur ein gerade menschengroßes Gebilde aus wirbelnden Lichtern bestand, der sich zu einer rasend rotierenden Säule zusammenzog, die mit einem Schlag erlosch und etwas ganz anderes freigab.

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Anthelia genoß die Kraft, die in sie zurückstürzte. Sie war sich sicher, die Siegerin zu sein. Nur einen winzigen Moment dachte sie daran, daß sie vielleicht zu spät dran war, um das ihr gleich verfügbare Wissen aus dem alten Reich ... Da fühlte sie, wie in ihr etwas unbändiges erwachte, sich mit einer Urgewalt ausdehnte und sie regelrecht zerriß. Sonnen, Blitze, alle Feuer der Erde schienen um Anthelia herumzutoben. Dann wurde es ein großer gleißender Strudel wie aus verflüssigtem Sonnenlicht. Anthelia trieb in diesem Inferno, schrie sogar und fühlte, wie sie auf eine Gedankenquelle zuraste, die sich ähnlich schlecht fühlte wie sie selbst. Wut und Angst strahlten von dieser Daseinsform aus. Dann erkannte sie sie.

"Ich bin Naaneavargia, Schwester des Ailanorar aus Altaxarroi", hörte sie eine Botschaft. Sie fragte zurück, ob sie eine Überlebende aus Atlantis sei. Dann prallten beide Gedankenmuster aufeinander, durchdrangen sich und verwoben sich ineinander. Anthelia erfuhr in rasender Abfolge Erinnerungen aus einem ihr fremden Leben, ein Mädchen, daß goldene Haut und langes, schwarzes Haar besessen hatte, immer wieder in lustvollen Bewegungen mit starken Männern, dann vor einem hochgewachsenen Mann mit schwarzblauem Haar und Bart, dessen Namen sie hörte: "Iaxathan, der Schattenfürst" Sie erfuhr, wie sie durch etwas, daß als Tränen der Ewigkeit bezeichnet wurde, zu jener schwarzen Spinne wurde und von ihrem eigenen Bruder in den roten Felsenberg eingesperrt wurde. Dann erkannte Anthelia, wie das unersättliche Mädchen und sie immer mehr zu einer einzigen Persönlichkeit wurden. Sie wollte es noch nicht ganz begreifen, als die wilde Wirbelei im Lichtstrudel abrupt endete und sie für einige Sekunden einen Körper empfand, der ihr so fremd und doch vertraut war. Sie war gerade eine große Spinne. Dann entlud sich noch einmal eine gewaltige Kraft aus ihrem inneren. Als diese sich ausgetobt hatte, stand Anthelia auf zwei Füßen da, fühlte zwei Arme und empfand einen Kopf auf einem Hals. Das Licht um sie herum verschwand, und sie erkannte, daß sie, Anthelia-Naaneavargia, nun in menschlicher Gestalt zur Ruhe gekommen war. Sie erkannte mit dem Wissen beider, daß ihre Körper sich genauso vereint hatten wie ihre Seelen. Sie waren eins. Sie waren frei.

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"Was widerfährt mir?" Verstand sie eine Frage. "Nein, das gerät zum Unheil!" Klang ein Ausruf der Bestürzung. Dann war es Naaneavargia, als pralle sie mit jemandem zusammen.

Als wenn zwei Wassertropfen mit hoher Geschwindigkeit zusammenstießen, durchdrang die andere sie. Sie sah Bilder aus einem anderen Leben und erkannte, daß sie gerade Kontakt mit einer mächtigen, wenn auch gerade sehr schwer angeschlagenen Hexe hatte, die es geschafft hatte, den ersten Tod zu überstehen und ein zweites Leben in einem anderen Körper zu beginnen, ja fast selbst noch einmal neu geboren wurde und dann gegen einen entarteten Blutsauger gekämpft und von diesem eine tödliche Menge eines unsichtbaren Todesfeuers abbekommen hatte, das sie fast gänzlich zerstört hatte.

"Du bist eine von den alten Magierinnen aus Atlantis", hörte sie die Gedanken derer, mit der sie mehr und mehr zusammenwuchs. Sie sah Bilder aus ihrem eigenen Leben und jene aus dem Leben jener, die "Gegen die Sonne" genannt worden war. Sie versuchte sich gegen das zu wehren, was ihr geschah, doch es war zwecklos. Die Gedanken der anderen und ihre griffen ineinander. Erinnerungen verschmolzen. Sie sah Julius Latierre, der damals noch Andrews hieß, vor einer überragend schönen Frau mit roten Haaren, dann noch einmal in einer Festung in Mitten eines Saales voller gläserner Behälter, um dann erst einen gleißenden weißen Blitz und dann Dunkelheit um sich zu sehen, in der ein großes Herz wummerte, bevor sie aus einem goldenen licht heraus auf einer kleinen Steininsel in einem Gewässer erschien und eine schwarzhaarige Frau mit von baldiger Mutterschaft gerundetem Unterleib sah. Einen Moment erkannte sie auch jene Geschöpfe, die sie kannte, die Schlangenkrieger und die Wolkenhüter. Sie hörte Namen, sah Orte und empfand Freude und Angst Anthelias, so wie diese sicher auch ihre Angst empfand. Sie amüsierte sich, daß diese Träumerin eine Welt der Hexen aufbauen wollte und ihrer Gruppe den Namen "Die Schwarze Spinne" gegeben hatte. Dann vollendete sich das, was Naaneavargia schon beim Zusammenprall befürchtet hatte. Aus zwei getrennten Seelen wurde eine einzige. Der Angriff Anthelias, bei dem sie eigentlich nur das Wissen um die Unverwüstlichkeit Naaneavargias erbeuten wollte, schlug auf beide gleichstark zurück und zwang sie dazu, zu einer einzigen Daseinsform zu werden. Das waren die letzten eigenständigen Gedanken Naaneavargias, bevor ein greller Schmerz ihren Körper durchzuckte und sie für einige Momente wieder in der Spinnengestalt dastand, doch sichtlich geschwächt war. Dann zerstob ihr Körper in heftigen Hitze- und Kältewallungen, bevor sich auch körperlich vollzog, was ihre beiden Persönlichkeiten schon erfahren hatten.

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Vor Tyche und den anderen stand eine Frau, die sie vorher noch nie gesehen hatten. Sie besaß langes, dunkelblondes Haar, große, blaugrüne runde Augen und eine helle Haut mit einem leicht gelben Farbton, der das gleißende Licht der Sonne eins zu eins widerspiegelte. Sie besaß einen hochgewachsenen, schlanken Körper, der jedoch unverkennbar weiblich war. Eine fast aus dem rosaroten Umhang herausquellende Oberweite, ein breites, den Umhang unten aufspannendes Becken und lange Beine, die in Anthelias Schuhen endeten, die jedoch ein wenig zu breit für die schmalen Füße sein mochten. Zierliche, lange Hände mit biegsamen Fingern glitten gerade forschend am Körper entlang, in dessen Mitte es bläulich aufleuchtete. Aus dem difusen Licht wurden zuckende Flammen, die mit lautem Fauchen waagerecht zum Erdboden ausschlugen und dabei nicht nur blau, sondern auch golden zuckten. Tyche konnte sehen, wie etwas unter dem Umhang hervorplatzte und entlang dieser Feuerzungen auseinandergerissen wurde. Sie traute ihren Augen und Ohren nicht, als sie aus den glühenden Bruchstücken laute Schreie hörte und geisterhafte Gestalten sah, die brannten, um Luft rangen, gerade ihren Kopf verloren oder von gierigen Mäulern angebissen wurden. Sie sah drei gleißendgrüne Bruchstücke, die mit einem Gemisch aus Sirren und Schreien davonspritzten, um mitten im Flug mit lauten Knällen zu zerbersten. Dann zersprühten auch die Feuerzungen. Anthelias Umhang und Kleidung war restlos verbrannt. Doch ihr, die sie nun nackt und vollkommen makellos vor ihren Mitschwestern stand, hatte das finale Feuerwerk nichts anhaben können. Tyche sah nun noch mal hin, als sich die ihr bisher so unbekannte drehte. In der rechten Hand hielt sie den silbergrauen Zauberstab, und vor ihren Brüsten hing, aus der Mitte heraus hell strahlend, das Medaillon, dem Anthelia ihre Rückkehr in die Welt der Lebenden verdankt hatte. Es glühte immer heller auf. Die Unbekannte, oder doch nicht so unbekannte erkannte wohl, was passierte und schlang die Kette über ihren Kopf. Dann warf sie das nun weißglühende Schmuckstück weit von sich. Als es aufschlug fraß es laut zischend ein Loch in den Boden und versank darin. Das Zischen hörte jedoch nicht auf. Es dauerte an. Dann schlug mit einem Donnerschlag eine mehrere Dutzend Meter hohe Stichflamme aus dem Boden heraus. Sie stand mindestens zehn Sekunden lang kerzengerade nach oben. Tyche hörte einen lauten Schmerzensschrei, den Schrei eines Mannes und sah über der Flammenspitze für einen Moment das lange, von einer wilden Mähne umwehte Gesicht eines alten Mannes, der mit schmerzverzerrter Miene auf die anderen herabblickte, bis die Flamme taumelte und innerhalb von einer Sekunde zusammenbrach. Dicker, schwarzer Rauch wölkte aus dem badewannengroßen Krater, dessen Ränder und Wände gelb glühten und wie flüssiges Glas zusammenflossen.

"Ich bin frei!" Rief die Frau, die nur noch den Zauberstab Anthelias besaß. "Ich bin Ffrei!"

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Nur kurz währte die Angst, die beide vor dem Verlust ihrer Eigenständigkeit empfanden. Dann überwog eine unbeschreibliche Euphorie die nun vereinte Persönlichkeit. Denn was Naaneavargias Teil anging, so erkannte dieser, daß sie gerade mit einer zweiten Menschenseele zusammengefügt worden und dadurch wieder mehr Mensch als Tier geworden war. Was Anthelias Anteil anging, so erkannte dieser, daß der dem Tode geweihte Körper durch die körperliche Fusion mit dem unverwüstlichen Leib Naaneavargias nicht nur von der Vergiftung gereinigt, sondern vor folgenden Verseuchungen aller Art abgehärtet worden war. Sicher waren die Tränen der Ewigkeit geschwächt worden, doch wenn drei reichten, um unverwüstlich zu machen und Naaneavargia damals zwanzig davon eingenommen hatte, mochte ihre Kraft noch ausreichen, sie auch gegen Gifte, Krankheiten und Verbrennungen zu bewahren. Wozu brauchte sie dann noch den Gürtel der zwei Dutzend Leben? Sie jubelte, schrie ihre Euphorie in voller Gedankenstärke hinaus und bemerkte nicht, wie sich ihre Euphorie durch ihren Zauberstab in den Himmel ausdehnte und weit weit in die Welt hallte. Dann fühlte sie, wie etwas sich in wilden Zuckungen um ihre Taille wandt und empfand auch einen Widerwillen, der ihr von etwas in den Kopf strömte, daß sie vor ihrem Brustkorb hängen hatte. Da war immer noch das Medaillon Dairons. Doch warum kämpfte es gegen sie an. Auch etwas anderes kämpfte gegen ihre neue Natur an. Es war der Gürtel. Seine Magie geriet mit der der Tränen der Ewigkeit in einen unaufhaltsamen Widerstreit. Sie rieben immer stärker gegeneinander, schaukelten sich auf. Dann entlud sich die aufgestaute Kraft und sprengte den Gürtel von Anthelia-Naaneavargias Leib ab. Dabei umtoste sie ein magisches Feuer, daß ihr jedoch nur wie eine sanfte Brise vorkam. Doch ihre komplette Kleidung verbrannte im goldenen und blauen Feuer. Da schrie eine wütende Gedankenstimme in Anthelias Kopf: "Du elende, ungetreue Verräterin und Frevlerin. Mein Werk zu verachten und zu zerstören. Sei des Todes!"

"Dairon", dachte Anthelia-Naaneavargia amüsiert, bevor ihr klar wurde, daß der alte Druide sein mächtiges Medaillon mit einer unbändigen Magie angefüllt hatte und womöglich ein Teil seiner eigenen Seele dort eingelagert hatte, bereit dem zu dienen oder Kraft zu geben, der sich ihm als würdig erwies. Das war sie, die aus zwei mächtigen Hexen zu einer noch mächtigeren zusammengefügt worden war wohl nicht mehr. Sie fühlte, wie das Medaillon immer stärkere Ströme auf sie übertrug, womöglich um sie zu vernichten wie mit dem Decompositus-Fluch. Doch auch hier hielten die Tränen der Ewigkeit dagegen. Die ihr geltende Zerstörungskraft schlug auf ihre Quelle selbst zurück, so daß das unzerstörbare Medaillon immer stärker glühte. Die neue Hexe erkannte, daß das Medaillon die Kräfte der Sterne entfesseln mochte und wußte, daß sie es nicht länger tragen durfte. Sie riß es vom Körper weg und schleuderte es fort. Als es dann in einer letzten, furiosen Flammensäule sein über tausendjähriges Dasein aushauchte und sie Dairons wütende Fratze über der Flammensäule sah, wußte sie, daß ihr wohl nur noch die Ringe des Körpertausches, Der Kristall der Enthüllung und der Zauberstab des dunklen Wächters aus Japan verblieben waren. Dann kehrte diese unbändige Glückseligkeit zurück. Sie hatte alles überstanden. Sie hatte einen dauerhaften, menschlichen Körper zurückgewonnen, der dazu frei von aller Verstrahlung und immun gegen Gift, Krankheiten und andere Todesformen sein mochte. Sie rief nun mit körperlicher Stimme ihren Jubel hinaus. Sie störte es nicht, daß sie eine etwas tiefere, aber nichts desto trotz glockenreine Stimme bekommen hatte. Doch dann erkannte sie, daß da noch neun Hexen waren und bedachte, daß die Vernichtung des Medaillons auch sie befreit haben mochte. Denn den Treuefluch hatte sie mit dem Medaillon ausgeführt, um ihn wesentlich zu verstärken. Er konnte nun von ihnen abgefallen sein, wie auch von allen anderen wie Donata, Louisette, Marga und allen anderen. Sie war zwar nun frei, aber vielleicht ohne sichere Unterstützung, Frei und dafür auch allein. Nein! Das wollte und würde sie nicht zulassen. Deshalb wandte sie sich so nackt wie sie gerade war an Anthelias frühere Gefolgschaft.

"Die Kräfte, die in meinem Medaillon steckten, habe ich ausgesaugt, was seinem Schöpfer mißfiel und er es deshalb zerstörte. Hätte ich nicht den größten Teil davon einverleibt, so hättet ihr das von ihm ausgehende Inferno nicht überlebt." Die anderen sahen sie vom Boden her an. "Ihr könnt euch wieder erheben. Dairons stoffliche Hinterlassenschaften haben sich mir verweigert und versucht, mich zu zerstören. Doch dabei fielen sie selbst ihrer eigenen Vernichtungskraft zum Opfer. Nichts als verwehte Erinnerung ist von ihnen geblieben. Doch ich konnte Dairons Macht des Medaillons in mich aufsaugen und so das feste Band erhalten, daß zwischen uns besteht, Schwestern."

"So, wer bist du denn?" Fragte Wanda Stabbins ängstlich.

"Nennt mich Anthelia. Denn ich bin weiterhin Trägerin ihres Willens und Wissens. Ich heiße Anthelia." keinen Moment hatte Naaneavargias Sein aufbegehrt, denn ihm war klargeworden, daß sie nur dann weiterbestehen konnte, wenn sie die Gehilfen ihrer Befreierin um sich geschart hielt. Das ging am Besten durch einen vertrauten, geachteten und auch gefürchteten Namen. Jetzt erfaßte die neue Anthelia auch die Gedanken der anderen wieder, Die veränderung und die Euphorie der beidseitigen Bereicherung hatten ihre Sinne überlagert. Doch nun stellte sie fest, daß sie nicht nur wiederkamen, sondern zudem verstärkt worden waren. Denn Naaneavargia war selbst Gedankenspürerin, die zudem noch Bilder aus weit entfernten Köpfen empfangen und Gefühle anderer erkennen und im Bedarfsfall auch beeinflussen konnte. Sie wußte ohne nachzudenken, daß sie wohl auch ihre telekinetische Gabe behalten hatte, die Naaneavargia in gewissem Ausmaß als Menschenfrau besessen hatte. Und dann, als endgültigen Abschluß der geistigen Verschmelzung, erkannte die neue Hexenlady, daß sie ihren Fortbestand und ihre Handlungsfreiheit zu beiden Teilen einem bestimmten Zauber zu verdanken hatte, "Wende alles Übel", hieß er und verkehrte Flüche und dunkle Lähmungen in das Gegenteil oder in etwas gutartiges. Anthelia war durch diesen Zauber aus Daianiras Leib entkommen, Naaneavargia war durch ihn zwar einige Minuten lang gelähmt worden, dann jedoch endgültig aus der Gefangenschaft ihres eigenen Bruders entkommen. Die unermeßliche Dankbarkeit, die nun beide als eine empfanden, besaß ein Ziel. Das Ziel besaß einen Namen: Julius Latierre. Sie dachte daran, daß Tourrecandide ihm und wohl auch anderen den Zauber ... Nein, er hatte ihn von den Gläsernen in Khalakatan erlernt. Er hatte ihn aus übertriebener Gutmenschlichkeit weitervermittelt und damit ohne es zu wollen Daianiras Entmachtung ermöglicht. Denn Julius stand unter dem Schutz der letzten Lichtkönigin Darxandria.

"Was würdest du tun, wenn wir dich nicht akzeptieren?" Fragte Marisa Carfax aus den Reihen der australischen Mitschwestern. "Ich bin mir nicht sicher, daß du noch unsere Anführerin sein darfst." Da richtete sie den Stab auf die nackte Hexenlady. "Avada Kedavra!" Rief sie. Doch während sie das rief, durchzuckte die Hexenlady ein mächtiger Wunsch, dem Fluch zu entgehen, indem sie zur Tiergestalt wurde. Als die letzte Silbe der unverzeihlichen Zauberformel aus Marisas Mund herausbrach, fiel die blaßgolden getönte Hexe auf alle Viere, wurde pechschwarz und bekam in einem Lidschlag vier weitere Laufglieder. Da kam auch schon der grüne Blitz angesirrt, hüllte sie ein und zerstob zu grünen Funken. An der Stelle der Hexenlady hockte eine zwei Meter große Spinne auf dem Boden. Sie wirkte einen Moment wie tot. Dann bewegte sie ihre Beine und schritt einige Zentimeter nach vorne. "Netter Verssuchchch!" Zischte es in Marisas Kopf. "Aber Nutzzzzzlosssss!" Doch da fiel der Spinne ein, daß Marisa eigentlich schon beim Versuch hätte sterben müssen. Doch weil sie noch lebte mußte den anderen aufgehen, daß der sie bindende Fluch nicht mehr vorhanden war. Deshalb wunderte sie es nicht, daß nun auch die meisten anderen Australierinnen ihre Zauberstäbe schwangen und Todesflüche riefen. Nur Kathleen stand mit gesenktem Zauberstab da. Tyche warf sich in Deckung, als eine Kaskade grüner Blitze auf die Spinne zufegte, die zwei davon mühelos abprellte und den anderen auswich. Doch nun brachen in der bis dahin überragend menschlich denkenden Kreatur die Abwehrinstinkte durch. Wer behauptete immer, daß Spinnen feige vor ihren Feinden davonliefen? Das galt wohl nur für die winzigen, unmagischen Hausspinnen. Bei magischen Spinnen und solchen mit menschlichem Verstand traf es zumindest nicht zu. Denn die schwarze Spinne schoß auf ihren Beinen voran und rannte auf die acht Hexen zu. Die suchten das Heil in der Flucht und disapparierten. Die Spinne erkannte, daß ihr neues Ich keine Minute mehr geheim bleiben würde, wenn sie nicht wieder zur Frau wurde. Tatsächlich schaffte sie innerhalb einer Sekunde die Rückverwandlung. Sie hatte mitbekommen, daß alle in ihre eigenen Häuser zurückgekehrt waren. Sie hatte wohl nur Sekunden, um Mentiloquismus-Botschaften zu verhindern. Sie fühlte, wie sie wieder menschliche Form bekam und wollte schon Tyche um ihren Zauberstab angehen, als sie hocherfreut feststellte, daß sie diesmal ihren Zauberstab behalten hatte. Denn bei Animagi, die von sich aus Tiergestalt annahmen, blieben die mitgeführten Gegenstände bei den Zauberkundigen in einer nichtstofflichen, ungreifbaren Form. Anthelia hob ihren silbergrauen Zauberstab und disapparierte. Marisa war ihr erstes Ziel. Sie erschien in der Nähe ihres Hauses. Sie mußte ein Exempel Statuieren. Da hörte sie mit ihren Sinnen auch schon, daß die geflüchtete Hexe nach Lady Nimoe rief und gerade "Anthelia in Australien" dachte. Da flog aus dem Zauberstab der Hexenlady ein blaugrüner Feuerball heraus und schlug genau dort ein, wo Marisas Wohnzimmer lag. Der zerplatzende Flammenball hüllte alles in eine zwölf Meter durchmessende Feuerwolke ein, die so heiß brannte, daß nichts widerstehen konnte. Marisa schaffte es nicht mehr, ihre Nachricht vollständig abzusetzen.

Anthelia wechselte in Windeseile zu den anderen Fluchtorten über. Die meisten waren noch zu sehr geschockt, als eine Nachricht abzusetzen. Denn Mentiloquieren verlangte starke Nerven und Konzentration. So war es für sie ein leichtes. Auch die meisten anderen Wohnstätten mit magischen Feuerbällen auszuradieren. Die einzige, die sie verschonte war Kathleen. Dieser mentiloquierte sie, daß sie ihr dankbar sei, daß sie sie auf die Spur der Spinne gebracht habe und sie wisse, daß sie sie nicht an Nimoe verraten würde, weil sie nicht zu denen gehört habe, die den Todesfluch geschleudert hatten. Als sie dann zu Tyche zurückkehrte, die zitternd an dem Punkt stand, wo die Vereinigung zwischen den mächtigen Hexen stattgefunden hatte, erfaßte die Hexenlady sofort, daß Gefahr im Anflug war. Zauberer waren wohl von jemandem alarmiert worden, der den Mitternachtsvogel gesehen hatte. Sie fühlte die Gedanken der anderen. Tyche deutete nach oben, wo Besen heranschwirrten. Anthelia ergriff ihre Hand und disapparierte mit einer Leichtigkeit, die sie selbst in Erstaunen versetzte. "Der Kurze Weg", so hatten die Magier des alten Reiches diese Kunst genannt.

"Okay, wir haben nur wenige Minuten, um abzureisen. Nimoe mag vielleicht noch besinnungslos gewesen sein und die Warnung nicht erhalten haben. Aber verlassen möchte ich mich nicht darauf."

"Bist du nun Anthelia oder diese Spinnenfrau?" Wollte Tyche wissen.

"Ich bin beide, und doch was ganz anderes, weil ich beider Wissen und Fähigkeiten in mir vereine. Aber ich werde in dieser Zeit, die das alte Reich nur noch als Phantasiegebilde aus grauer Vorzeit betrachtet, als die weiterleben, als die ich in dieses Land kam, Anthelia", sagte sie mit ihrer nun tiefen, sanft betonenden Stimme. Tyche nickte. Dann packten sie alles zusammen und flogen auf dem Harvey-Besen zur Ostküste Australiens, wo sie die aus San Francisco entwendete und mit Vortriebszaubern verbesserte Segelyacht erreichten, die unter einem Tarnzauber zwei Kilometer vom Land entfernt ankerte. Für sie begann nun die Rückreise nach Amerika, die wohl sieben Tage dauern würde. Denn Anthelia hatte aus Furcht vor der Schwächung ihres Körpers darauf verzichtet, größere Strecken zu apparieren, und Flohpulver oder den fliegenden Holländer hätte sie nicht benutzen dürfen. Sie ahnte ja nicht, was während ihrer mehrwöchigen Abwesenheit in den Staaten geschah. Sie war zufrieden, ja überglücklich, in einem erwachsenen Körper weiterleben zu können, einem besseren als den, den sie bisher gehabt hatte.

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Eileithyia fürchtete schon, daß Leda den Ausgang des Duells nicht überlebt hatte. Denn sie wartete schon mehr als zehn Stunden auf ein Lebenszeichen ihrer Enkelin. Lysithea hatte gerade wieder nach frischen Windeln geschrien und dabei ein sehr verdrossenes Gesicht gezogen. "Du wirst lernen, wie wichtig es ist, daß andere dir beistehen, Kleines", hatte sie ihr deshalb noch gesagt, bevor sie sie gebadet und frisch gewickelt hatte. Mit grummeligen Lauten hatte sich das Leda sehr ähnelnde kleine Mädchen in seine Wiege zurückbetten lassen und es hingenommen, daß die silberhaarige Hexe ihr ein Schlaflied vorsang, während sie das kleine Schlafmöbel sachte schaukelte, bis Lysithea die Augen geschlossen hatte. Würde sie das nun das ganze Leben Lysitheas lang weitermachen, sie als Kind behandeln, bis sie noch mal mit Thorntails fertig war? Die Frage beschäftigte Eileithyia, die trotz ihrer bald einhundertsiebzehn Lebensjahre noch rege und gesund genug war, ein Kind aufzuzihen, wenngleich sie davon absah, es auch zu stillen.

Jetzt waren es schon fünfzehn Stunden, die Leda nichts von sich hatte hören lassen. Eileithyia versuchte, ihre Enkelin anzumentiloquieren. Doch sie erhielt keinen Kontakt. War Leda tot oder nur in einem gegen Melo abgesicherten Raum?

Die sechzehnte Stunde verstrich. Lysithea mußte wieder neu gewickelt werden. Zumindest verstand Eileithyia, warum Leda sich um diesen Arbeitsaufwand herummogeln wollte. Doch sie war eisern. Lysithea sollte die Säuglingszeit mit allen Vor- und Nachteilen durchleben. Als sie die Kleine wieder sauber und zufrieden bekommen hatte, dachte Eileithyia, daß sie die Kleine wohl ab morgen mit in das HPK mitnehmen mußte und dort ihren Ammen überlassen würde, sofern sie keine Zeit für sie hatte. Da läutete es an der Tür. Eileithyia ging hin und öffnete. Leda stand draußen und sah sichtlich erschöpft aus.

"Ich fürchtete schon, du seist nicht mehr am Leben", begrüßte ihre Großmutter sie und führte sie ins Haus.

"Ich darf dir nicht erzählen, was passiert ist, Oma Eileithyia", sagte Leda Greensporn sichtlich verunsichert. "Nur so viel, ich muß für einige Tage untertauchen, bis klar ist, ob ich mit Lysithea weiterhin hier in den Staaten leben kann."

"Du wirst mir hier und jetzt erzählen, was passiert ist, Leda Greensporn", schnarrte Eileithyia.

"Tut mir Leid, Oma Eileithyia, aber das würde dich und mich gefährden, und dann würde Lysithea ohne liebenden Verwandten aufwachsen."

"Auch nicht, vor wem du dich verstecken mußt?" Fragte die altgediente Heilhexe. Ihre Enkelin und Berufskollegin schüttelte den Kopf.

"Glaube mir, Oma Eileithyia, daß es besser ist, wenn du mir das Kind wiedergibst und mich ohne weitere Fragen verschwinden läßt. Was du nicht weißt, kann niemand dir entreißen."

"ja, aber mich dabei um den Verstand oder ums Leben bringen", versetzte Eileithyia. Darauf erwiderte Leda:

"Nur wenn jemand herauskriegt, daß du von mir was erfahren hast. Je schneller ich mit Lysithea verschwunden bin, desto weniger fällt es auf, daß ich bei dir war. Also, wo ist das Baby?"

"Da wo es hingehört. Es liegt in der Wiege. Ich habe sie vorhin noch mal gewindelt. Irgendwie mag sie es nicht, naß zu sein. Dann schreit sie richtig wütend. Die hat die Stimme einer Sängerin oder einer großen Anführerin", erwiderte Eileithyia belustigt.

"Ich dachte, sie trüge noch die Reisewindeln, die ich ihr umgelegt habe", wunderte sich Leda sehr stark.

"Mädchen, wenn die Kleine nicht richtig lernt, was ein Baby so erleben kann wird sie von ihrer Kindheit nicht viel zu berichten haben, wenn sie mal ihre Memoiren schreibt", lachte Eileithyia. "Denn an die Zeit in deinem Bauch kann sie sich ja nicht erinnern."

"Zumindest nicht bewußt", grummelte Leda darüber. "Also nehme ich sie besser jetzt mit. "Aber die Reisewindel soll noch drei Tage halten. Ich kann sie also noch verwenden, oder?"

"Ich habe sie entsorgt. Ich lasse doch keine angenutzten Reisewindeln rumliegen, Leda. Das kannst du von einer auf Geburtshilfe und Säuglingspflege abonierten Heilerin nicht erwarten."

"Auch gut. Ich habe noch genug Wickelzeug bei mir", knurrte Leda und bat darum, daß Eileithyia ihr das Kind brachte. Die altehrwürdige Heilerin fragte sie darauf, warum sie sie nicht begleitete und das Kind selbst aus der Wiege holte. Darauf erhielt sie die Antwort, daß sie in der Zeit den Portschlüssel einrichten wollte, um die Staaten zu verlassen.

"Mädchen, du bist eine Heilerin. Du kannst nicht einfach abhauen und deine Verpflichtungen versäumen", sagte Eileithyia sehr energisch. "Du mußt zumindest dem Zunftsprecher verraten, daß du fort mußt und wo du zu erreichen bist. Abgesehen davon mußt du dir von ihm freigeben lassen, damit die anderen Heiler deine Aufgaben übernehmen können. Das wurde dir aber alles bei der Vereidigung und im HIP-Jahr beigebracht."

"Damit der Zunftsprecher es aus Versehen weitergibt, wo man mich und Lysithea auffinden kann, wenn jemand meint, sie und mich umbringen zu müssen?" Fragte Leda sehr verärgert zurück.

"Du hast Pflichten, Mädchen, nicht nur als Mutter, sondern auch als Heilerin. Deine Mutterschaftspause endete am neunten Oktober." Leda nickte verdrossen. Dann stieß sie aus: "Dennoch werde ich jetzt mit Lysithea abreisen. Hol sie mir also bitte herunter!" Eileithyia nickte schwerfällig. Sie konnte ihrer Enkelin das Kind ja nicht verweigern. So ging sie in Richtung Treppe und stieg hinauf. Dabei versuchte sie, Leda anzumentiloquieren. Doch wieder bekam sie keinen Kontakt, obwohl sie sie jetzt eindeutig in ihrem Haus gesehen hatte. Doch anstatt verunsichert zu sein nickte sie, als sie sicher sein konnte, daß die Hexe im Flur sie nicht mehr sah.

"Unsere Okklumentiklehrer sind eben doch besser als deine hinterhältigkeiten, wer immer du auch bist", dachte sie verdrossen und betrat ihr Schlafzimmer, in dem auch die Wiege stand. Sie schloß die Tür und baute einen provisorischen Klankerker auf. Sie hatte nur eine Minute, bevor die da unten Argwöhnen mochte, daß etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Sie nahm Lysitheas Schnuller, der an einer Holzkette hing und zupfte sich ein Kopfhaar aus, das sie auf den Schnuller klebte und dann einen bestimmten Zauber ausführte, den sie zur absoluten Absicherung laut hersagte. Als sie das gewünschte Resultat erzielt hatte hängte sie dem Baby die Kette wieder um und steckte der von ihrem Zauber erwachten den Schnuller in den Mund. "Sieh zu, daß du ihn nur ausspuckst, wenn du hunger hast, kleines", sagte sie, weil Lysithea verdrossen grummelte. Dann hob die Heilerin das Baby aus der Wiege und trug es mit der Routine einer Säuglingspflegerin zurück nach unten, wo Leda gerade einen grünen Kamm in die Hand nahm.

"In einer Minute tritt das hier in Kraft. Hättest du nicht ein wenig schneller laufen können, Oma Eileithyia?" Herrschte sie die Wartende an. Die Angesprochene warf ihr einen sehr tadelnden Blick zu.

"Bist selbst nicht mehr die jüngste und solltest wissen, daß die Beine ab einem bestimmten Alter nicht mehr so wollen wie vor fünfzig Jahren noch. Oder sollte ich mit der Kleinen auf der Treppe ausrutschen und hinschlagen?"

"Natürlich nicht. Ich wollte nur nicht zu lange warten", sagte Leda und übernahm den Säugling, den sie etwas ungeschickt anfaßte, aber dann richtig hielt. Dann bedankte sie sich bei Eileithyia für das Behüten ihres Kindes und sagte noch, daß sie sie anschreiben würde, wenn sie wisse, daß es wieder sicher sei.

"Klär das umgehend mit Zunftsprecher Esteban ab, was dich in die Ferne treibt. Sonst kannst du dich nur noch um dein eigenes Kind kümmern und könntest zum größten Verdruß noch eine Menge Entschädigung an die Zunft abführen, weil du gegen ihre Regeln verstoßen hast." Leda sah Eileithyia nur verdrossen an und erwiderte, daß sie dem Zunftsprecher Esteban schreiben würde, sobald sie wisse, ob sie noch für die Heilerzunft verfügbar sei. Dann hielt sie Kind und Kamm fest umklammert. Lysithea grummelte. Doch sie hielt den rosaroten Schnuller mit ihren Lippen fest umschlossen, als sei er ihr einziger Halt in der Welt. Für normale Babys kam das irgendwie auch hin, dachte Eileithyia, als der Kamm blau aufglühte und eine Lichtspirale um Mutter und Kind legte. Beide verschwanden im blauen Licht des Portschlüssels.

"Eine halbe Stunde Vorsprung, hinterhältiges Biest", dachte Eileithyia, bevor sie einige kurze Gedankenbotschaften ausschickte.

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Sie mußte wirklich sehr von ihrer Überlegenheit überzeugt sein, die werte Voixdelalune, dachte Professeur Tourrecandide, als sie am Abend des zwölften Oktobers in einem verlassenen Waldstück bei Lyon auf das große Haus zumarschierte. Hinter sich hörte sie die fünfzig Kollegen von der Liga. Albert Renard, ein ehemaliger Schulkamerad von ihr, der im Dezember den hundertzwanzigsten Geburtstag begehen würde, hielt mit ihren wiederverjüngten Beinen gut mit. Er trug eine der drei magischen Armbrüste, auf der bereits ein Eichenbolzen mit Sonnenquartzspitze auflag. Die Bolzenspitzen waren mit einem vierfachen Segen der Sonne belegt worden. Wehe dem Vampir, der ein solches Geschoß zu spüren bekam.

"Guillaume prüft mal die Umgebung", sagte Albert. Seine haselnußbraunen Augen wirkten in dieser umgebung ohne freien Himmel düster wie Höhleneingänge. Guillaume Beauville hielt bereits einen Satz verschiedener Spürgeräte hoch. Er las sie ab und lauschte auf das Klicken und Rasseln. Dann pingelte etwas leise aber hektisch. "Ein Apparationswall voraus. Der beginnt knapp fünfzig Meter von hier und scheint das Haus bis zweihundert Metern Entfernung abzuriegeln."

"Dann hat diese überstarke Vampirhexe das Haus präpariert", erwiderte Tourrecandide verdrossen. "Gut, daß wir Besen mithaben."

"Ja, aber wenn wir damit anfliegen brauchen wir trotzdem zu lange. Die beiden können die Kinder in dem Moment umbringen oder ihnen ihren verdammten Keim ins Blut pflanzen", grummelte Albert.

"Gut, dann muß ich erst einmal alleine gehen, wie es gefordert wurde", sagte die Lehrerin. "Hoffentlich haben sie keine Mentiloquismussperren aufgebaut. Falls doch, schieße ich vor dem Haus den Unsichtbaren Ruf ab. Empfangt ihr den, kommt ihr in zwei Minuten nach. Mehr wäre wohl zu riskant!"

"Das ist dein Feldzug, Austère. Du bist die Chefin", sagte Albert mit belustigtem Unterton. Tatsächlich gab es in der Liga keinen wirklichen Anführer, sondern einen Rat mit zehn gleichrangigen Mitgliedern. Stand ein außerministerieller Eingriff an, übernahm der Experte mit den entsprechenden Sonderkenntnissen die Führung, ob es gegen einen Werwolf oder mörderische Pflanzenwesen ging. Für Vampire und die Sangazons im besonderen bot sich Tourrecandide förmlich an. Zwar hätten sie gerne auch Phoebus Delamontagne dabeigehabt. Doch der war als neuer Beauxbatons-Lehrer genauso schwer abkömmlich wie dessen Vorgesetzte Blanche Faucon.

"Dann gehe ich mal los", sagte Austère Tourrecandide mit einer gewissen Trübsal. Heute entschied sich ihr und Lucilles Schicksal. Würde sie zur Scharfrichterin an ihrer Schwester werden oder nur zur besseren Kammerjägerin, die gefährliches Ungeziefer ausrottete?

Mit entzündetem Zauberstablicht, die linke Hand an der unter ihrem Umhang verborgenen Sonnenlichtkugel, schritt die Lehrerin voran. Sie blickte sich um, suchte Fallstricke, getarnte Gruben oder Schlingen, starrte in die dunklen Baumwipfel hinauf und leuchtete immer wieder hinauf. Ihr Zauberstablicht war auf maximale Helligkeit verstärkt. Da sah sie sie. Sie hingen in den Bäumen, obwohl sie eigentlich schon längst herumfliegen mochten. Fledermäuse. Nicht zu Gruppen, aber doch genug in den Bäumen, um von einer großen Anzahl zu sprechen. Tourrecandide war klar, was das hieß. Das Haus wurde überwacht. Vampire hatten eine besondere Beziehung zu Fledermäusen. Die meisten von ihnen konnten sich nach einiger Eingewöhnungsphase erst langsam und später immer schneller in menschengroße Fledermäuse verwandeln. Auch Ratten konnten von den Vampiren als Kundschafter genutzt werden. Soweit stimmte das, was auch die Muggel über Vampire behaupteten.

"Haus von Fledermäusen umgeben. Kundschaften Gegend aus!" Mentiloquierte sie an Albert und atmete auf, den starken Nachhall in ihrem Kopf zu vernehmen. Denn das hieß, daß ihre Botschaft den Empfänger erreichte. Sie ging weiter und stand bald vor der etwas zu pompösen Eingangspforte. Kein wunder, daß die Besitzer diesen alten Kasten nicht loswurden, dachte die Lehrerin und gab noch eine Gedankennachricht an Albert Renard durch. "Keine mechanischen Fallen, keine Zauberbanne!" Der Nachhall verriet, daß sie auch hier noch ungehindert kommunizieren konnte. Dann erreichte sie die Tür. Sie zauberte sich helle, aber hitzelose Flammen auf die linke Handfläche, um den Zauberstab freizumachen, um auf versteckte Fangzauber an der Tür zu prüfen. Wenn Nyx das Haus schon mit einem Wall umfriedete, dann mochte sie auch Erstarrungsflüche oder Lähmzauber eingewirkt haben. Doch nichts dergleichen fand sie vor. "Lucille, ich bin da!" Rief sie so laut sie konnte. Doch die Vampirin mochte schon längst wissen, daß ihre frühere Schwester Austère vor dem Haus stand. Die Fledermäuse mochten es auf die für Menschenohren unhörbare Weise weitergemeldet haben.

"Komm rein, Austère! Die Tür ist offen!" Sang die Vampirin Voixdelalune. Auf diese Entfernung wirkte ihre magische Stimme noch nicht auf die Lehrerin. Das konnte ihr Halsband gegen schwache Flüche locker ausfiltern. Sie ließ die Tür magisch aufspringen und überstieg die hohe Türschwelle. Dunkelheit nahm sie auf. Der Geruch von altem Holz und verrottenden Stoffen wehte sie an. Sie reckte die Hand mit den magischen Flammen hoch und schwenkte sie ein wenig. Der helle Schein des hitzelosen Feuers brachte wurmstichige Möbel zum Vorschein. Die Wände waren grau und an einigen Stellen von weißem und grünem Schimmel überzogen. Das Haus war schließlich über zwanzig Jahre lang nicht mehr gewartet worden. Eigentlich ein schönes Wohnhaus für Nachtgeschöpfe wie ihre Schwester. Hatte sie hier schon immer gehaust?

"Wenn du durch den Gang bist nach Rechts in die Küche. Aber mach dieses grelle Flammenzeug aus, Austère!" Dieser Befehl kam von einem Mann. Das war zweifellos dieser Éclipsian. Woher wußte der, daß sie die hitzelosen Flammen auf der Hand trug? Sie blickte sich um und erkannte hinter einem uralten Eichenschrank den Kopf einer Fledermaus. Natürlich!

"Im Gegensatz zu euch lichtscheuem Gesindel muß ich Licht im Dunkeln haben", erwiderte die Lehrerin barsch.

"Dann mach nur deinen Zauberstab an. Aber halte deine Hände schön ruhig, wenn du zu uns kommst. Die beiden Mädchen rufen schon danach, unsere Töchter zu werden", erwiderte Éclipsian.

"Ich höre sie nicht rufen", erwiderte Austère Tourrecandide verächtlich. Doch sie erkannte, daß die Drohung unbedingt ernstzunehmen war. So ließ sie das Feuer auf der Handfläche mit leisem Knistern zusammenfallen und dachte "Lumos Amplifico!" Denn sie wollte zumindest einen weitreichenden Lichtstrahl zur Verfügung haben. Mit schnellen Schwenkbewegungen, bei denen sie den Rhythmus immer wieder abänderte, suchte sie sich ihren Weg durch die Dunkelheit. Nichts und niemand vertrat ihr den Weg. Als sie in die Küche eintrat, öffneten sich die mannshohen Schranktüren im Flur. Da die Scharniere vorsorglich eingeölt worden waren bekam die Lehrerin davon nichts mit.

In der Küche kam ihr eine Frau entgegen, die äußerlich Professeur Tourrecandide ähnelte.

"Wie schön, daß du gekommen bist, Austère!" Begrüßte sie die Besucherin. Sie wollte schon zu einer Umarmung ansetzen. Doch Austère Tourrecandide hielt ihr den Zauberstab entgegen und leuchtete ihr ganz gezielt in die Augen. Die Vampirin schrak zurück. Zwar konnte ihr das Zauberlicht nichts antun. Doch es war zu grell, um mehr als eine Sekunde lang hineinzublicken. "Du bist sowas von gemein", hörte die frühere Lehrerin die Vampirin schnauben.

"Denkst du, ich lasse mich von dir fangen wie ein Käfer von der Gottesanbeterin, Lucille?" Fragte Professeur Tourrecandide.

"Ich will mit dir Frieden haben, Schwester und dir ein gutgemeintes Angebot machen, auch Éclipsian."

"Gutgemeint? Das ist in den meisten Fällen das Gegenteil von gut", schnaubte Tourrecandide. "Mir geht es um die körperliche Unversehrtheit der beiden kleinen Mädchen. Die und ihre Eltern haben euch nichts getan und sind für euch auch ganz unwichtig", sprach Tourrecandide weiter.

"Stimmt, sie sind sehr brav. Sie haben nicht einen Augenblick lang gequängelt oder getobt. Du wirst sie aber erst zu sehen bekommen, wenn du dir angehört hast, was wir dir anbieten", erwiderte die Vampirin.

"Zeitverschwendung. Ich weiß doch, daß es dich und deinen blutgierigen Gefährten danach gelüstet, mich als eines eurer Kinder zu haben. Verstehe ich sogar, denn dann könnte deine neue Chefin, die amerikanische Vampirlady Nyx, mich genauso unter Kontrolle bringen wie sie dich kontrolliert. Oder willst du immer noch behaupten, die Entführung der beiden sei ganz allein auf deinem Drachenmist gewachsen, Lucille?"

"Wie kommst du darauf, daß Nyx mir Befehle gibt, Austère?" Fragte Voixdelalune, die früher einmal Lucille Gaspard geheißen hatte.

"Hältst du mich echt für derartig naiv, daß ich nicht mitbekommen habe, daß jemand dieses Haus mit einem Apparitionswall umgeben hat? Kein Zauberer arbeitet freiwillig mit Vampiren, ohne den eigenen Vorteil zu bedenken. Das sollte gerade dir bekannt sein, wo der Psychopath Tom Riddle es doch versucht hat, den Mitternachtsdiamanten zu erbeuten." Bei der Erwähnung des Mitternachtsdiamanten zuckte Voixdelalune zusammen. "Deshalb denke ich, daß diese Nyx, die ihn sich ergattert hat, das Haus hier für Apparatoren unerreichbar gemacht hat. Wäre ja auch zu einfach, die Kinder von einer schnellen Eingreiftruppe herausholen zu lassen, nicht wahr?"

"An deiner Stelle würde ich nicht so abfällig über uns reden", schnarrte Éclipsian. "Denn wir sind es langsam leid, immer wie niederes Ungeziefer angesehen zu werden, bestenfalls als arme, kranke Kreaturen." der Gefährte der Vampirin kam durch eine niedrige Tür, die wohl in die Speisekammer der Küche führte. Austère Tourrecandide hörte ein leises Rascheln in der vollkommen dunklen Kammer.

"Ihr benehmt euch aber wie niederes Ungeziefer", hielt die Fluchabwehrexpertin dem Vampir entgegen.

"Wir reichen dir die Hände, Austère. Meine Frau und ich würden es begrüßen, wenn du unsere Tochter würdest. Dann würdest du die großen Segnungen unseres Lebens erhalten und erkennen, daß wir weder Schaben noch Geisteskranke sind", sagte der Vampir verdrossen und zeigte dabei seine gefährlichen Eckzähne.

"Ich denke, die beiden Mädchen sind in dem Loch, aus dem du gerade gekrochen bist, Éclipsian. Ich werde sie mir jetzt genauer ansehen und dann meine endgültige Meinung über euer Angebot bekanntgeben", sagte die Lehrerin und leuchtete dem Vampir voll in die Augen, daß er zurückschrak. Sie ging weiter. Da erklang eine sanfte Frauenstimme mit angelsächsischem Akzent hinter Tourrecandide:

"Du wirst die Kinder sehen, überhebliche Austère und dann die Tochter meiner beiden Freunde. Das ist beschlossen und wird auch so eintreten."

"Du hast aber gut französisch gelernt, Nyx", erwiderte Austère Tourrecandide, die nur einen winzigen Augenblick erstarrt war. "Aber deine Sklavin zu werden liegt mir nicht im Sinn."

"Wer spricht von Sklavin. Du wirst eine Streiterin für die längst fällige Erhebung der Nachtkinder, das Recht unserer Art, dasselbe Leben führen zu dürfen wie die Menschen", sagte die zweite Vampirin.

"Nun, ich fürchte, daraus wird nichts!" Rief die Fluchabwehrexpertin und ließ ihre linke Hand in den Umhang fahren. "Ich hole jetzt die Kinder da raus und bringe sie nach Hause", sagte sie. Dann riß sie die goldene Stachelkugel heraus und hielt schnell den erleuchteten Zauberstab daran. Das reichte schon. Denn ein leuchtender Zauberstab weckte bereits das in der Kugel konservierte Sonnenlicht. Die Kugel schnellte nach oben an die Decke und erstrahlte gleißend hell. Die beiden Vampireheleute schrien laut auf.

"Tenebrae Maxima!" Kreischte die zweite Vampirin, die nun im Schein des freigesetzten Sonnenlichtes dastand, umflossen von einem schwarzen Hauch, den Zauberstab nach oben gereckt. Schlagartig wurde es fast vollkommen finster. Tourrecandides Zauberstab hörte zu leuchten auf. Nur von der Decke glühte es mattrot.

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Das war eindeutig nicht ihre Mutter, erkannte die im Babykörper steckende Daianira. Denn als die, die sich so anhörte und aussah sie anlegte ging sie ziemlich stümperhaft vor. Zwar kam beim Saugen was aus der prallen Brust heraus. Doch das Zeug schmeckte wiederlich und sprudelte, als die Kleine es hinunterwürgte. Dann meinte sie noch, zu hören, daß dieses Weib da sagte: "Ich freue mich sehr, wenn du alles tust, was dir Hyneria Swordgrinder sagt. Ich wünsche mir sehr, daß du mit ihr immer gut auskommst und ihr alle Wünsche erfüllst."

"Vielsaft-Trank", dachte das Baby, bevor es ein heftiger Würganfall schüttelte und es das, was es als Milch zu trinken bekommen hatte im hohen Bogen wieder ausspuckte. Ein wilder Hustenanfall schüttelte das Kind und die Frau, die ihm die Brust gegeben hatte. Dabei sahen beide das weißlich-grüne Zeug, das sich über den blanken Brustkorb verteilte. Ein wütendes Schnauben war die Reaktion der größeren Hexe.

"Stimmt also doch, daß das Zeug die Milch verdirbt", schnarrte sie. "Aber das bringt dir auch nichts, du Wechselbalg. Entweder wirst du mir aus der Hand fressen oder deinen nächsten Lebensmonat nicht mehr vollmachen."

"Verdammter Meloblocker", dachte das Baby, als es den Brechanfall überstanden hatte. Wie gerne hätte es jetzt herausgefunden, mit wem es gerade zu tun hatte. der zum Säugling gewordenen Hexenlady war nur klar, daß sie es mit der Duellgewinnerin zu tun hatte. Hatte die wohl Ledas Haare geklaut und damit Vielsaft-Trank angesetzt. Dabei wußte die offenbar nicht mehr, daß eine damit imitierte Amme oder Kindsmutter keine genießbare Milch ausbildete, weil darin ein unwirksamer Anteil des Trankes vermischt war. Vielleicht hätte ihr die echte Leda das sagen sollen, bevor dieses Biest meinte, sich dem Ausdauer zehrenden Lacta-Deditionis-Zauber zu unterziehen, mit dem sie wohl meinte, sie, Lysithea Greensporn, unterwerfen zu können. So blieb der Täuscherin nur, das in ihre Gewalt gelangte Baby in den Tragekorb zurückzuwerfen.

"Ich weiß, daß du wohl noch nicht reden kannst, weil dir die Zunge noch zu schwerfällig im Mund liegt. Und ich kann dich auch nicht anmentiloquieren. Mal sehen!" Sie griff Lysithea an den Hals, wo die Kette mit dem Schnuller hing und zog sie herunter. Lysithea quängelte wie ein wirkliches Baby. Doch die andere gab nichts darauf. Sie betrachtete die Kette und streifte sie dem Kind wieder über den runden Kopf und stopfte ihr etwas unsanft den Schnuller zwischen die zahnlosen Kiefer. Lysithea saugte das Nuckelteil fest an und machte ein zufriedenes Gesicht. "Du spielst deine Rolle wirklich exzellent, Mädchen", hörte sie Ledas Stimme, die aber nicht angeboren war. Dann wurden ihre Arme und Beine untersucht. Am linken Arm trug sie ja das rosarote Band. Da hörte sie ein lautes Lachen. "Natürlich, ein Meloblocker. Damit kann man dich schön stumm und unempfänglich halten, damit du nicht meinst, mit vollen Windeln einen Angriff auf die Wiederkehrerin befehligen zu können. Ich mach dir das mal eben ab. Hier heraus kannst du eh nicht mentiloquieren." Mit einigen Zauberstabstupsern löste sich das flauschigweiche Armband. Lysithea fühlte, wie ein leichter Druck von ihrem Kopf wich. Dann hörte sie Hynerias Gedankenstimme im Kopf: "So, jetzt weißt du auch, wer ich bin, Daianira. Habt ihr euch schön ausgedacht, die Wiederkehrerin und du."

"Was haben wir uns ausgedacht?" Schickte die nun frei mentiloquierende Lysithea zurück.

"Daß du nach eurem Rollentausch aus deiner Cousine herausgedrückt wirst, um in unserer Welt zu bleiben", sagte die falsche Leda.

"Wo ist meine Mutter, die du so schamlos nachmachst?" Fragte das Baby auf gedanklichem Weg und fühlte, wie ihm der Kopf heiß wurde.

"Die steckt in meiner Vorratskiste mit einem Nährschlauch im Mund und einer ähnlichen Windel am Körper wie du sie anhast. Dachte eigentlich, daß ich als sie deine neue Mutter werden und dich locker an meine Kandarre hängen kann. Aber wie es jetzt aussieht muß ich mir was anderes ausdenken."

"Dir bleiben nur zwei Möglichkeiten, da du kleine Hyäne mich nie unter den Imperius kriegen kannst: Tiefschlaf oder Tod."

"Du hältst dich also für so stark, daß du selbst als Wickelkind noch meinst, mir überlegen zu sein?"

"Immer, Hyänia!" gedankenantwortete das Baby.

"Und wenn Donata gewonnen und dich zu sich geholt hätte?" Fragte Hyneria verdrossen.

"Wäre es das gleiche wie bei dir", erwiderte Lysithea.

"Nun, eigentlich hätte ich gleich die nächste Dosis trinken müssen. Aber so wie es aussieht bringt es das ja nicht. Aber du hast recht. Ich fang jetzt nicht an, den Imperius anzuwenden, weil ich weiß, daß du den sehr gut abwehren kannst. Der sanftere Zauber funktioniert nicht, sofern ich Leda nicht dazu bewegen kann, ihn in meinem Namen auszuführen."

"Kannst du vergessen, weil er von selbst einem Zwang unterworfenen Hexen nicht angewendet werden kann. Lies Potentia Matrium mal wieder richtig durch, solange wir dich lassen!"

"Solange ihr mich laßt?" Fragte Hyneria mit Ledas Stimme. Lysithea hörte ihr an, daß sie den Lachanfall nur schwer unterdrückte.

"Ja, denkst du, der Raub von Kindern von Mitschwestern bliebe ungestraft? Für alle anderen bin ich Ledas Kind, ordentlich in ihrem Schoß herangewachsen und am neunten Juli 1998 in ihrem Haus geboren worden. Wenn die dir dahinterkommen wird die Schwesternschaft dich ausstoßen. Dann war es das mit Lady Hyneria."

"Sie werden mir nicht draufkommen, weil ich als Leda Greensporn mit meiner Tochter Lysithea weiter in der Öffentlichkeit auftreten werde. etna!" Aus einem für das Baby nicht einsehbaren Winkel des nicht zu überblickenden Raumes trat eine untersetzte Hexe mit langem Haar. Die Hexe ging an den Tragekorb und griff in das haselnußbraune Haar des Säuglings. Mit der anderen Hand führte sie eine Schere, die mit metallischem Klimpern die Haare abtrennte.

"Reicht es aus?" Fragte Hyneria die Helferin, als Lysitheas Kopf restlos enthaart war.

"Für zweihundert Stunden, Lady Hyneria", erwiderte Etna.

"Gut, wir setzen den Trank in zwei Stunden an, wenn wir wissen, ob wir die Kleine noch bei uns haben oder nicht", sagte Hyneria.

"Oh, soll dann eine deiner Schatten in meine Windeln steigen und das trinken, was du für Milch gehalten hast?" Gedankenfragte Lysithea.

"Die Deformationen deines Schädels in Ledas Geburtskanal haben deinem Verstand also nicht geschadet", knurrte Hyneria. Darauf erhielt sie die Antwort, daß es ja der dehnbare Geburtskanal einer herzensguten Heilerin war und nicht der, der der Engstirnigkeit einer intriganten Hexe entsprach.

"Du erlebst nicht mal mehr den nächsten Tag", schnarrte Hyneria.

"Wenn du mich aktiv tötest ist dir der Ausschluß ohne Erinnerung gewiß, Hyänia", bemerkte Lysithea für Etna unhörbar.

"Hyneria, du Wechselbalg. Das ist ja bei dir noch nicht mal eine Beleidigung. Aber ich muß dich nicht aktiv töten. Die Vorrichtung habe nicht ich erfunden und gebaut, sondern jemand anderes. Schon vom Zeitfresserkasten gehört?"

"Wurde von Morgaine erfunden, um aufmüpfige junge Hexen zu steinalten Hutzelweibern blitzaltern zu lassen", gedankenantwortete Lysithea.

"Genau das Ding. Morgaine war so freundlich, mir die Konstruktionspläne zu überlassen. Ich muß dich also nicht töten. Aber wenn du da wieder raussteigst wird diese naive Heiloma Eileithyia dich für ihre eigene Mutter halten. Dann magst du deinem natürlichen Lebensende entgegensiechen."

"Selbst als zweihundertjährige bin ich dir immer noch überlegen, Hyneria", errwiderte Lysithea. Doch ihr war nicht mehr so wohl zu Mute. Vom Säugling zur Greisin in weniger als vier Minuten war keine verlockende Zukunftsaussicht.

"Nun denn. Gerade ist es viertel vor vier Ortszeit. Um Vier uhr bist du mindestens zweihundert Jahre älter. Das Ding stellt sich so ein, daß es genau noch eine Woche Lebenszeit übrig läßt. Genug Zeit, um dich als warnendes Beispiel für alle aufmüpfigen Schwestern zu präsentieren."

"Die Stunde ist gleich um, Lady Hyneria. Habt ihr von Ledas Haar genug für Euren Plan?" Fragte Etna.

"Für die zweihundert Stunden, die du von dieser kleinen Stinkerin da erbeutet hast auf jeden Fall. Es widert mich zwar an, wie eine Kuh mit prallem Euter rumzulaufen, aber um Ledas und Lysitheas Ausstieg aus der Zaubererwelt zu inszenieren auf jeden Fall nötig."

"Um das hinzukriegen mußt du meine Mutter aber am Leben halten", schickte Lysithea zurück.

"Keine Bange, sie wird erst dann in den Kasten gesteckt, wenn ich alles von ihr gelernt habe, um ihren geordneten Abgang hinter mich zu bringen", sagte Hyneria und griff dann nach dem Korb. Lysithea wurde angehoben und zu einem Tisch hinübergetragen. Daneben stand eine mannshohe Glassäule, aus der ein Schlauchherauslugte. Hinter dem gewölbten Glas konnte das Baby für einen Moment seine bis auf eine Windel Nackte Mutter erkennen. Doch was auf dem Tisch stand war viel unheimlicher. Es war ein silberner, rechteckiger Kasten mit einem gläsernen Deckel, ein Sargähnliches Behältnis, das nicht für einen friedlich entschlafenen, sondern für einen gewaltsam zu alternden gedacht war.

"Diesen Stinkfetzen und das Nuckelding brauchst du jetzt nicht mehr", schnarrte Hyneria, als sie Lysithea die Schnullerkette, den Strampelanzug und die Windeln fortriß. "Och, die eine halbe Minute hättest du warten sollen", gedankensprach Lysithea und ließ ungeniert unter sich und traf die verwandelte Hyneria voll an Brust und Armen. Sie stieß ein heftiges "Iii, pfui Schneckenschleim!" aus. Sie legte die ebenfalls besudelte Lysithea auf den Tisch neben den Kasten, wo Etna sie mit dem Sauberzauber Ratzeputz beharkte, während Hyneria per Schnellumkleidezauber die uringetränkten Sachen wechselte. Dann packte sie den nackten Säugling und wuchtete ihn in den Kasten. Lysithea wehrte sich nicht. Sie hätte zum einen keine Chance gehabt. Zum Anderen wollte sie Hyneria nicht noch mehr Triumphgefühle bieten. Sie landete auf dem kalten Boden des silbernen Unterteils. Dann schloß sich der gläserne Deckel.

"Hast du noch einen Gruß für deine liebe Momma, bevor du sie um mehr als hundert Jahre überholst?" Fragte Hynerias Gedankenstimme in die Stille dieses unheimlichen Hohlkörpers hinein.

"Sage ihr bitte, ihre Milch hätte besser geschmeckt als deine, und ich würde meine alten Knochen noch zum Tanz auf deinem Grab schwingen", schickte Lysithea zurück. Da hörte sie ein Wummern und fühlte, wie die Unterlage erzitterte. Sie meinte, ein Flimmern zu sehen und vermutete schon, daß es die einsetzende Magie des Zeitfressers war. Doch dumpf hörte sie Hyneria und Etna aufschreien. Dann erklang Hynerias Stimme voller Haß und Entschlossenheit:

"Devorato Iuventutem! Devorato annos ad ultimo!"

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Der aufgerufene Zauber packte die babykleine Lysithea und hob sie auf. Um sie herum begann es zu schwirren und zu summen. Wände und Deckel des Kastens schimmerten in einem kalten, blauen Licht. Sie sah, wie das sie umgebende Behältnis langsam immer enger um sie zusammenschrumpfte. Sie fühlte, wie etwas sie straffte und ihr dann mit Urgewallt irgendwas durch Unter- und Oberkiefer brach. Sie schrie auf. Doch außerhalb des Zeitfresserkastens hörte es wohl keiner. Sie fühlte nach einer ihr nicht bekannten Zeit, wie ihr die Zähne von etwas grobem aus dem Mund gepreßt wurden und in die Blase hineinfielen. Sie meinte, etwas grabe in ihren Kiefern um und fühlte, wie die zweiten Zähne ihre Plätze einnahmen. Dann überkam sie ein schmerzhafter Krampf im Unterleib, und sie fühlte es heiß zwischen ihren Beinen herausströmen. Sie konnte sich nun bewegen, allerdings hing sie in diesem blauen Lichtgebilde fest. Sie konnte sich abtasten und erkannte, wie ihr neue Brüste wuchsen. Der rasante Alterungsprozeß schritt voran. Sie fürchtete erst, an über hundert Regelblutungen pro Sekunde zu sterben. Doch offenbar stellte sich der Zeitfresserzauber darauf ein und ließ sie die unfruchtbaren Tage schlicht überspringen. Sie ahnte, daß sie in wenigen Minuten älter war als vor dem Duell mit Anthelia. Sie konnte nun um sich greifen und die Wände des sargähnlichen Etwas ertasten. Doch es prickelte wie wild über ihre Haut rennende Ameisen. Wann würde der Zauber sie freigeben? Da fühlte sie einen gewissen Druck im Körper, der sich sanft pulsierend aufschaukelte. Dann ruckelte der infernalische Kasten sachte aber merklich. Sie hörte ein Wummern, das immer unangenehmer wurde. Dann war ihr, als drücke etwas immer stärker gegen sie. Sie meinte, Ströme aus kaltem und heißem Wasser fluteten durch ihren Leib. Fühlte sich das wirklich so an, rasant zu altern? Das Licht um sie herum erzitterte, als hämmere etwas von innen gegen den blauen Hohlquader. Dann zuckten erste weiße Schlieren hindurch, die immer zahlreicher wurden. Das Dröhnen stieg in der Tonhöhe an. Das blaue Licht wurde von einem immer helleren Licht verdrängt. Und dann meinte Lysithea, von einer Flut aus goldenem Licht gepackt zu werden und fühlte sich auf einmal wieder ganz leicht und frei. Sie sah sich einen Moment über einer steinernen Insel neben einem einzelnen Stein, der wie ein uralter Altar aussah. Die Insel lag in einem Teich, der wiederum von einem dichten Wald umstanden wurde. Auf die Insel führten zwei Brücken. Von der anderen Seite sah sie eine ebenfalls leuchtende Erscheinung heranfligen, die zusammen mit den Bäumen und der Insel zu einem grellen goldenen Leuchten wurde. Übergangslos fand sie sich auf einer weichen, federnden Unterlage liegend wieder. Als sie die Augen öffnete, stellte sie fest, daß sie im Schlafzimmer Leda Greensporns war und auf dem Bett der Cousine und zweiten Mutter gelandet war.

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Tourrecandide rechnete mit einem Angriff aus dem Dunkeln. Dieser kam auch. Doch anders als sie zunächst erwartet hatte. Voixdelalune begann zu singen. Doch darauf waren die magischen Ohrringe abgestimmt, die die Lehrerin trug. Sofort lösten sie sich, um keinen Lidschlag später als gerade nicht sichtbar sonnengelbe Ohrenschützer mit absoluter Schallschluckeigenschaft über ihre Hörmuscheln zu gleiten und sich dort anzudrücken. Damit verklang der in die Lehrerin einwirkende Strom der Magie, mit der Voixdelalune sie überwältigen wollte. "Heliotelum!" Rief Tourrecandide mit nach hinten zuckendem zauberstab. Sie sah eine hellrot glühenden Lichtspeer auf die gerade nicht sichtbare Nyx zurasen und wohl auch ein Ziel findend. Dann teilte sie den Sonnenlichtspeerzauber nach vorne aus und trieb die beiden Vampire zum Rückzug. Denn trotz der Finsternis, die jedes unmagische Licht auslöschte und jedes magische Leuchten auf ein hundertstel schwächte, wirkten die beiden Sonnenspeere. Die Lehrerin klappte etwas unter ihrem Kopftuch herunter, zwei mit Nachtsichtzaubern belegte Linsen, die wie ein Zwicker vor ihren Augen landeten. Sie stürmte hinter den Vampiren her. Nyx setzte ihr nach. Doch ein weiterer Sonnenlichtspeer bremste ihren Verfolgungsdrang. Ja, die beiden rannten in die Speisekammer, wo ihre Geiseln waren. Genau da wollte sie die beiden auch haben. Nyx war einen Moment lang ungefährlich, weil sie ihren Finsterniszauber aufrechterhalten mußte und dazu nicht aus dem davon betroffenen Raum oder Raumgebiet durfte. Tourrecandide stürzte hinter den beiden Vampiren in die Speisekammer. Zwar machten die beiden Anstalten, sie anzuspringen. Aber wiederholt gezauberte Lichtspeere direkt auf ihre Gesichter gerichtet warfen sie zurück.

Der Raum war klein und karg eingerichtet. Die Wände bestanden aus Granit. Früher mochte das sogar mal ein begehbarer Backofen gewesen sein, dachte Tourrecandide. Doch das Hauptaugenmerk galt den beiden Strohsäcken, auf denen die zwei kleinen Mädchen saßen. Sie steckten noch in den Kleidern, in denen sie laut Muggelweltpolizei verschwunden waren. Die mit den Locken war Justine. Die mit dem glatten Haar Marie. Doch im Moment konnte Tourrecandide nichts anderes tun, als den Zugang sichern. Zunächst schob sie die Nachtsichtgläser zurück unter ihr Kopftuch. "Murus Solis!!" Rief sie dann mit nach hinten deutendem Zauberstab. Voixdelalune versuchte zwar, sie anzuspringen. Doch da stand bereits eine Wand aus grellem, gelben Licht. Denn innerhalb dieses Raumes wirkte der Finsterniszauber nicht mehr richtig. Die beiden Vampire erschraken und schrien sicher auch.

"Nyx auch hier! Zugriff sofort!" Mentiloquierte die Fluchabwehrexpertin, als sie sah, daß die beiden Vampire vom Glanz der Lichtmauer sichtlich mitgenommen und handlungsunfähig gehalten wurden. Wenn Nyx jetzt ihren Verfinsterungszauber zurücknahm würde auch das gleißende Licht der Sonnenkugel weiterwirken. Für die Vampire war das eine sehr ausweglose Sache. "Per Solem benedico!" Rief die Lehrerin und deutete auf die kleine blonde Marie, die nun laut wimmerte, weil der Bann der Blutsauger durch das helle Licht abfiel. Um das Mädchen entstand ein goldener Schimmer, der förmlich in ihrem Körper verschwand. Damit war sie für die gewöhnlichen Blutsauger für einen vollen Tag unantastbar. So wiederholte sie den Sonnensegen bei Justine. Die Kinder waren nun erst einmal vor der Berührung der Sangazons sicher. Doch noch hatte sie die beiden nicht erlledigt.

Mit den Ohrenschützern auf den Ohren konnte sie nicht hören, was die beiden Vampire einander sagten. Das Sprechen strengte sie jedoch an. Die Lehrerin wollte gerade zum finalen Angriff auf die beiden übergehen, als der hinter ihr errichtete Sonnenlichtwall erzitterte und zu zersprühen begann. Sie wagte es nicht, die beiden Vampire aus den Augen zu lassen. Doch die Gewalt, mit der der Wall erschüttert wurde erschreckte sie. Dann brach er völlig zusammen. Sie mußte nun damit rechnen, daß Nyx sie anfallen und womöglich umbringen würde. So wirbelte sie herum, und rief: "Catashari!"

Nyx stand da und wollte gerade losspringen. Da umfing sie ein helles, silberweißes Licht, das sie wie ein Mantel von Kopf bis Fuß einhüllte. Das war normalerweise nicht die übliche Erscheinungsform, dachte Tourrecandide. Noch außergewöhnlicher erschien ihr, daß das Licht auf Höhe von Nyx' Becken wild flackerte und waberte. Sie achtete nicht auf ihre Schwester. Das war ein Fehler. Auf einmal riß ihr jemand die Ohrenschützer vom Kopf. Sie fuhr herum und wollte Lucille mit einem Zauber angreifen, als ihr Éclipsian mit brutaler Entschlossenheit den Zauberstab aus der Hand trat. "Nehmt sie endlich. Sie ist zu gefährlich!" Hörte sie die Stimme von Nyx. Sie sah noch, wie ihre Schwester Lucille die beiden für Austère überlebenswichtigen Gegenstände hielt, bevor sie laut und glockenrein zu singen begann. Diesmal wirkten die magischen Töne ungefiltert auf die Fluchexpertin ein. Bereits fünf Töne später war ihre Willenskraft derartig geschwächt, daß sie es sich gefallen ließ, daß Éclipsian sie in seine Arme nahm und sein bleiches Gesicht ihrem Hals näherte. Das magische Halsband, daß niedere Bezauberungen filterte, ruckte und zerfiel unvermittelt im Ansturm der beeinflussenden Magie. Nyx stand entspannt da. Ihr galt der Gesang nicht und hemmte sie daher auch nicht.

Éclipsian grummelte unter dem Klang von Voixdelalunes Gesang: "Bist zwar ein ganz schön dickköpfiges Mädchen. Aber das wird dich zu einer unserer stärksten Töchter überhaupt machen." Dann näherte er seine tödlichen Eckzähne ihrer pulsierenden Halsschlagader.

Die Fluchabwehrexpertin sah, wie ihr Leben dahinschwand, ohne sich dagegen wehren zu können. Da explodierte um sie herum die Welt in einem goldenen Licht. Sie meinte einen Moment, alles um sie herum würde mit rasender Geschwindigkeit anwachsen und damit für sie unübersehbar werden. Dann fühlte sie, wie sie in diesem Licht schwebte. Die Vampire und ihre Geiseln waren verschwunden. Sie war das Zentrum einer Welt aus purem Licht. Es dauerte eine Sekunde. Dann schälten sich aus dem Licht Schatten heraus, die zu dunklen Formen wurden, die sie an Bäume denken ließen. Dann meinte sie, über dem Monolithen der Insel der hölzernen Wächterinnen zu schweben und hörte einen Chor aus Frauenstimmen:

"Da ihr die Sühne habt beendet, sei euer beider Los nun umgewendet!"

Dann überstrahlte das Licht die Erscheinungen und riß sie fort, überlagerte ihr ganzes Empfinden und stürzte sie in eine vollkommene Dunkelheit.

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Sie waren zu fünft auf der Jagd nach dem Schnuller, den Eileithyia Greensporn mit einem Localisatus-Inanimatus-Zauber belegt hatte. Roberta Sevenrock, die Gesamtsprecherin der nordamerikanischen Sororitas Silenciosa, Eileithyia Greensporn selbst, so wie die beiden Pigfords, Mutter Fenna, Tochter Kelly, die den Entschlossenen angehörten und Astrid Boulder, eine zierliche, goldblonde Hexe, die in ihrem unverfänglichen Leben für die Besenwerkstatt Bronco als Zureiterin arbeitete. Sie hatten die Ausrichtung bestimmt und waren schließlich in Nordkalifornien gelandet. Hier, in den westlichen Ausläufern einer Bergkette, sollte laut Lady Robertas Kenntnissen auch Hynerias Sommerhaus liegen. Dann hatten sie durch nochmaliges aufrufen des Ortungszaubers den Standort einkreisen können. Sie flogen auf Besen, um mögliche Apparierabwehrzauber schneller umgehen zu können und näherten sich einem steinernen Haus, daß vor über hundert Jahren gebaut worden sein mußte. Sie waren ihm gerade auf fünfhundert Meter nahegekommen, als Roberta, die neben Eileithyia an der Spitze flog, zum Bremsen aufforderte. "Ein Wall gegen alle magischen Gegenstände!" Rief sie. Die anderen landeten rasch. Dann begannen die drei ältesten Hexen, die diesen Wall kannten, ihn mit drei simultan aufgerufenen, verschiedenen Zaubern zu traktieren, daß der Boden erzitterte und es zu flimmern begann. Erst nach einer Minute wirkte das Haus, als ziehe es sich in die Länge und schnelle wieder zusammen wie ein überdehntes Gummiband.

"Der Weg ist frei, wir ..." Setzte Roberta an, als von innerhalb des Hauses ein höchst unheimliches Geräusch erklang. Es klang so, als kratzten zehn Kontrabaßspieler inbrünstig über die Saiten Ihrer Instrumente, um einen möglichst tiefen, rauhen Akord zu spielen. Durch die Fenster konnten die Hexen einen Moment lang ein weißes Licht erkennen, das zu goldrotem Widerschein abdunkelte, der wie hinter dem Fenster hektisch umherhuschende Irrlichter wirkte. Dann knallte es tief und hohl, als sei der Korken aus einer mindestens zehn Meter großen Sektflasche herausgesprungen. Die irrlichter wurden zu goldenen Funken, die im Hui durch die geschlossenen Fenster schwirrten und in Himmel und Boden fuhren. Erst als kein Ton und keinerlei Licht zu erkennen war, trauten sich die fünf Hexen wieder näher an das Haus heran. Dabei hörten sie aus der Ferne erschrockene Schreie, die Eileithyia unmittelbar an ihre Arbeitsstätte denken ließen.

"Die hat mehrere Babys im Haus", schnarrte die altehrwürdige Heilerin und übernahm die Führung. Die letzten hundert Meter waren auf den Besen in wenigen Sekunden zurückgelegt. Roberta legte es gar nicht auf eine Konfrontation mit einer magisch verriegelten Tür an und jagte vier mächtige Reducto-Flüche so platziert in die Wand, daß sie ein großes Stück Mauerwerk herausstanzten, das polternd nach innen wegsackte und mit lautem Schlag Stein auf Stein zu Boden krachte.

"Mit Euch sollte aber keiner Ärger haben wollen", staunte Astrid, die wohl noch sehr neu bei den Schweigsamen war. Lady Roberta nahm dieses Kompliment hin und schleuderte einen Breitbandfluchzerstreuer aus, der jedoch ohne Wechselwirkung im Haus verschwand. "Keine bösartigen Sperren", bestätigte die Sprecherin der nordamerikanischen Schwesternschaft. So rückten sie vor. Eileithyia wirkte dabei von den ängstlichen Schreien aus dem Hausinneren wie magnetisch angezogen. Ohne der Sprecherin ihre Führungsrolle zu überlassen stürmte sie voraus, wobei sie ihrerseits ein paar Fluchzerstreuer in den Flur schickte, von denen einer an einer Eisentür, die offenbar zu den Kellerräumen führte, in grünlichem Licht aufleuchtete.

"Ah, der Fremdlingspeiniger", knurrte die Heilerin. Roberta nickte, während Eileithyia einen abschließenden Gegenzauber wirkte, da der Zerstreuer den schwarzmagischen Abwehrzauber nur schwächte, aber nicht gänzlich aufhob. Krachend schlug ein dunkelgrüner Blitz aus der Tür in die Decke und wohl durch diese hindurch, ohne sie jedoch zu beschädigen. Roberta wirkte einen ungesagten Alohomora-Zauber. Laut rasselnd entsperrten sich mehrere Riegel, und die Tür sprang auf. Wieder stürmte Eileithyia voran, wobei sie kurz mit einem Fluchzerstreuer den Weg vor sich bestreute. Doch diesmal gab es keine Wechselwirkungen. So ging es im Licht von vier Zauberstäben hinunter. Da Eileithyia ihrem anerzogenen und auch als Lebenssinn anerkanntem Drang zum Schutz von hilflosen Kindern folgte, führte sie nun die Gruppe und ließ immer wieder Fluchzerstreuer über den zu bewältigenden Weg fahren. Doch bis sie an eine Tür aus Eisen kamen hinderte sie nichts. Hier wirkte kein Fluch. Aber Alohomora griff auch nicht. Die Tür war mit gesonderten Schließzaubern gesichert. Auch Reducto kam nicht gegen das Hindernis an. "Ferrifortissimum-Zauber", erkannte Lady Roberta verächtlich. "Eisen auf das hundertfache seiner Haltbarkeit potenziert."

"Ist unter uns noch ein Keller?" Fragte Astrid Boulder. Fenna Pigford hielt den Zauberstab vor sich, löschte erst das Zauberlicht und murmelte dann "Indicato Cavernas!" Ein dunkelrotes Licht glomm an ihrem Zauberstabende und tastete wie ein wandernder Fleck aus Lava über den Boden. Bis zur Tür änderte sich daran nichts. "Kein Hohlraum unter dem Boden", sagte Fenna.

"Dann graben wir uns eben einen", griff Roberta die Antwort auf und hielt den Zauberstab so, daß er auf den Boden direkt vor der Eisentür zielte. "Deffodio Maxima!" Rief sie. Laut krachend sprengte eine unsichtbare Gewalt ein Loch in den Boden, in das laut prasselnd zerstoßenes Gestein nachrieselte, daß jedoch bei weiteren Zaubern dieser Art verschwand, bis der Boden unter der Tür mehr als einen Meter tief ausgehöhlt war. Da nun alle anderen dem Beispiel folgten, schufen die Hexen innerhalb einer Minute einen deckenlosen Durchgang unter der Tür hindurch, als hätten mehrere Felsenwühler ihren Freßrausch an diesem Kellerboden ausgelebt. Die fünf schweigsamen Schwestern schlüpften tief geduckt unter der immer noch verschlossenen Eisentür durch und zwengtten sich nacheinander im dahinterliegenden Kellerraum wieder nach oben.

Der Raum war unbeschädigt. Zumindest konnten weder Brand- noch Sprengspuren an den Wänden, der Decke und dem Boden gesehen werden. Allerdings gab es etwas, daß eindeutig arg in Mitleidenschaft gezogen war. Es ließ sich zumindest erkennen, daß es mal ein Steintisch gewesen war. Doch er war unter der Einwirkung einer wahren Höllenglut zerschmolzen und zu mehreren Splittern mit glasartigen Flächen geworden. Auf dem Tisch mochte ein großer Metallgegenstand gestanden haben. Doch davon waren nur noch zerschmolzene Reste übrig. Neben dem Tisch stand eine mannshohe Säule aus Glas, in der sich etwas rosiges auf dem Boden wälzte. Dann sahen sie auch zwei Kleiderbündel, in denen es merklich zappelte und wimmerte. Eileithyia stürzte auf die Säule zu und ließ ihren Zauberstabarm von ganz oben bis ganz unten herabsausen. Krachend klaffte ein breiter Spalt auf, der sich verbreiterte und die Säule sichtlich verformte. Die Heilerin zielte auf das rosige Bündel auf dem Boden und rief: "Infantimotus!" Als sei unter dem kleinen Wesen in der sich knirschend verformenden Säule ein unsichtbares Kissen gelegt worden hob der Körper ab, stieg dann sanft nach oben und wurde von Eileithyias Zauberstabgesten nach draußen getragen. Kelly sah dem zu und nickte. Babys und Kleinkinder magisch zu transportieren verlangte Feingefühl und Behutsamkeit. Dafür war der Infantimotus-Zauber von der, die ihn gerade ausführte erfunden worden.

"Das könnte die kleine Lys sein", sagte die Heilerin mit blick auf den haselnußfarbenen Flaum auf dem runden Kopf des sich in sein Schicksal ergebenden Kindes. Dann hielt sie inne, horchte und sah dann die vier Mitschwestern an. "O nein, es ist Leda, meine Enkelin."

"Infanticorpore?" Fragte Roberta und deutete auf die beiden Kleiderbündel, um die sich Fenna Pigford gerade kümmerte.

"Nein, kein Infanticorpore", erwiderte Eileithyia. "Fenna, hast du ein Cogison für kleine Lebewesen mit?"

"Wie du mir aufgetragen hast, Eileithyia", sagte Fenna Pigford und griff zu ihrer Heilertasche, aus der sie ein dünnes Halsband mit rosarotem Kugelanhängsel wie ein Blasebalg hervorholte. Eileithyia ließ derweil das Baby, daß sie als ihre Enkelin identifiziert hatte zu sich heranschweben und ließ es in der Luft anhalten. Roberta deutete auf die verkohlten Reste eines geflochtenen Gegenstandes, die zwischen den Metallbrocken auf dem Boden lagen. In einer Ecke lagen achtlos hingeworfene Säuglingskleider und auch der Schnuller, der sie alle hergelotst hatte. Eileithyia legte dem nackten, von dem Bergezauber sicher in der Luft gehaltenen Säugling das Halsband um und schloß es. Ein Zauberstabstupser reichte, um es in Betrieb zu setzen. Sofort erklang aus dem blasebalgähnlichem Anhängsel eine quäkige Stimme:

"Hyneria und Etna haben Lysithea hergeschafft und ausgeforscht und dann in Morgaines Zeitfresserkiste gesteckt. Ich mußte zusehen, wie die Kiste meine Kleine innerhalb einer Minute älter als mich gemacht hat. Doch dann gab es eine mir unklare Wechselwirkung. erst ein goldenes Licht in der Kiste, das dann zu weißer Glut wurde, die herausschoß und zu dicken Strahlen wurde, die sich um uns gelegt haben. Wir wurden in Lichtspiralen einngeschnürt. Wir schrumpften ein. Wilde Panik überkam mich. Ich konnte nicht anders als schreien. Offenbar Verkehrung der Zeitfraßzauber zu Zeitumkehrzauber, die aber nur Lebewesen in Reichweite trafen."

"Diesen Apparat habe ich geächtet", schnarrte Roberta Sevenrock und funkelte die Überreste mit ihren hinter dicken Brillengläsern liegenden grauen Augen an. "Wie kam Hyneria dazu, ihn neu zu bauen?"

"Das müssen wir wohl sie fragen", erwiderte Eileithyia und deutete auf eines der Babys in Fennas Armen, das sich gerade mit energischen Arm- und Beinbewegungen gegen die es bergende Umarmung stemmte.

"Machen wir gleich", sagte die Sprecherin der nordamerikanischen Gruppe der Schweigsamen und bewies einmal mehr, wie meisterhaft sie in den verschiedenen Zweigen der Magie bewandert war. Sie holte mit einem einzigen ungesagten Zauber drei weiße Wiegen aus dem Nichts und stattete diese mit einem weiteren Zauber mit weichen Einlagen und Decken aus. Fenna nahm diese Materialisationsübung als Anweisung auf, die beiden von ihr gerade getragenen Babys dort hineinzubetten. Eileithyia legte ihre Enkelin in die dritte Wiege. Leda teilte über das Cogison noch mit, daß Lysithea erst im Licht in der Kiste verschwand, bevor dieses explosionsartig ausbrach und die Zeitumkehrspiralen formte. Da von ihr nichts mehr zu sehen war nahmen die fünf Hexen an, daß sie entweder im Licht vergangen oder zu weniger als einer befruchteten Eizelle zurückverjüngt worden und damit invers gestorben war, wie es Eileithyia nannte.

"Also was ähnliches wie der Fall Silverbolt vor vierzehn Jahren", vermutete Fenna Pigford. Eileithyia und Kelly nickten. Die beiden anderen Säuglinge in den Wiegen grummelten verärgert und zogen wütende Grimassen. Da Leda nichts mehr zu sagen hatte, nam Eileithyia ihr das Cogison ab und legte es dem Baby um, daß von der Haarfarbe her Hyneria Swordgrinders Tochter oder Enkeltochter hätte sein können. Roberta stellte sich vor die Wiege und fragte sehr bedrohlich klingend:

"Was hat dich dazu getrieben, eine Mitschwester zu entführen, ihr Aussehen zu übernehmen und dann noch ihr Kind zu rauben, um es in dieser verwerflichen Apparatur unnatürlich vergreisen zu lassen?"

"Sie war nicht ihr Kind, sondern ein Wechselbalg", quäkte das Cogison, während Hynerias Augen trotzig in Lady Robertas Augen starrten. "Aber das wißt ihr doch bereits. Sie war mal Daianira Hemlock und hat mit der Wiederkehrerin die Rollen getauscht. Warum die sie dann an ihre überfürsorgliche Base abtrat liegt wohl daran, daß die Sardonianerin mit dickem Bauch keine Weltherrschaftsintrigen mehr spinnen konnte. Ich wollte sie nur alt genug werden lassen, um ihr zu einem ihrem Entwicklungsstand würdigem Leben zu verhelfen."

"Lüg nicht", schnarrte Roberta, die die kleine Person in der Wiege wie ein widerwärtiges Insekt ansah. "Dir ging es wohl nur darum, eine potentielle Rivalin auszuschalten. Da hätte ein Gedächtnislöschzauber doch voll und ganz genügt. Aber du wolltest sie leiden sehen und die Hexe, die sie über mehr als zwei Monate in sich getragen und unter großen Schmerzen und Anstrengungen in die Welt hineingeboren hat. Was für Daianiras Kind damals galt galt und gilt auch für alle Kinder von Mitschwestern. Sie sind und bleiben unantastbar. Für diese unverzeihliche Mißachtung dieser ehernen Regeln ist dir der Ausstoß aus der erhabenen Sororitas Silenciosa gewiß", sagte Roberta. "Ich will von dir nur noch wissen, woher du die Kenntnisse über Morgaines verwerfliche Apparatur hast und ob es davon noch Aufzeichnungen gibt."

"Frage die Wiederkehrerin. Womöglich hat eine der Schwestern, die ihr zuarbeiten sie ja heimlich kopiert und ihr zugespielt", quäkte das Cogison. Es konnte zwar keine gefühlsmäßige Betonung imitieren. Doch das verächtliche Grinsen des weiblichen säuglings und dessen vertonte Gedanken troffen vor grenzenloser Verachtung.

"Ich frage lieber die Schwestern aus deinem unmittelbaren Bekanntenkreis", schnaubte Roberta. "Außerdem haben wir jetzt alle Zeit der Welt, dein Haus gründlich zu durchsuchen, während Eileithyia eine Amme für dich bestimmt, die dich neu großzieht, auf daß du ein besseres, deine Mitmenschen mehr achtendes Leben beginnst. Obleviate Totalus!" Sie hielt ihren Zauberstab auf Hynerias Kopf gerichtet und konzentrierte sich einige Sekunden. Danach erklang ein erschreckter Schrei wie von einem verängstigten Säugling. Aus dem Cogison klang nur noch ein wildes Rauschen und Fauchen. Denn im Moment befanden sich keine Erinnerungen mehr im runden Kopf Hynerias.

Die andere wiederverjüngte Hexe wurde befragt und gab freiwillig auskunft, wo die Treffen der Hyneria-Gruppe stattgefunden hatten, woher diese die Unterlagen und Materialien für den Zeitfresserkasten hatte und daß Hyneria sich nicht drum scherte, ob Ledas Kind mitarbeitete oder nicht, weil Hyneria eine große Furcht und daraus erwachsenen Haß gegenüber Daianira entwickelt hatte. Sie endgültig loszuwerden war ihr wohl ein großes Bedürfnis.

"Dir ist klar, Etna, daß ich dich und die beiden anderen auch wegen des Bruchs der Unantastbarkeitsregeln ausstoßen muß", sagte Roberta. "Sei froh, daß du wenigstens die Chance erhältst, ein neues Leben zu beginnen. Obleviate Totalus!"

Nachdem Roberta auch die zweite Verschwörerin ihrer gesamten Erinnerungen beraubt und sie damit dem körperlichen Zustand angepaßt hatte, durchsuchten die fünf Hexen das Haus. Leda war in Lysitheas Sachen gesteckt worden und trug das Cogison. Sie würde einstweilen in der Obhut ihrer Großmutter bleiben, bis die Schwestern eine glaubhafte Aussage konstruiert hatten, warum Mutter und Kind, sowie Hyneria und Etna verschwunden waren.

Einen Tag später erfuhr Peggy Swann, die eine Kopie von Medeas Portrait mitgenommen hatte, daß Hyneria sich in ihrer eigenen Mausefalle gefangen hatte und nicht mehr zurückkommen würde. So konnte sie mit Larissa wieder nach Viento del Sol zurückkehren. Hynerias Haus wurde von Robertas Mitschwestern gründlich ausgeräumt. Dann wurde es von Roberta Sevenrock mit magischem Feuer restlos niedergebrannt. So würde man Hynerias und Etnas Verschwinden als Folge eines alchemistischen Unfalls hinstellen können. Was aus Lysithea alias Daianira geworden war bekamen sie erst Tage später heraus.

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Nyx fühlte den magischen Kampf in ihrem Körper. Sie hörte die Wächterseele des Mitternachtsdiamanten schreien, als sie von jenem Licht umklammert wurde, das die Hexe da gegen sie geschleuddert hatte. Der Mitternachtsdiamant wand und wälzte sich unter dem fremden Zauber, daß es ihr große Schmerzen bereitete. Endlich ließ der Lichtzauber nach. Sie deutete auf Tourrecandide und trieb ihre Artgenossen an, sie endlich zu einer der ihren zu machen. Dann erkannte sie, wie die Sangazons versuchten, die herbeigelockte zu überwältigen. Doch als Éclipsian gerade den verheerenden Biß ansetzen wollte, erstrahlte die Gefangene in einem goldenen Licht, daß zwar nicht so peinigte wie die Sonnenlichtzauber, aber doch so hell war, daß die beiden Sangazons davor zurückscheuten. Es dauerte nur eine Sekunde, da erlosch es wieder. Raschelnd entfiel dem Vampir der Umhang der Fluchabwehrexpertin, der zusammen mit dem Unterzeug auf die leeren Schuhe niedersackte. Die drei Vampire erstarrten. Das hatten sie alle nicht erwartet. Da hörten sie ein vielstimmiges rufen von Fledermäusen und das vielstimmige Rufen von Menschen, die "Reducto Maxima von den Seiten und von oben her riefen. Die Außenwände erzitterten.

"Nehmt die Kinder und fliegt mit ihnen weg!" Rief Nyx. Doch die beiden Vampire scheuten davor zurück. Nyx trat vor und wollte die Kinder ergreifen, als sie fühlte, daß sie von einer starken Schutzaura umschlossen wurden. Der Mitternachtsdiamant hielt dagegen. Gleich konnte sie die Kinder ...

Laut sirrend schoß etwas von der Küche her heran und prallte in Nyx' Rücken auf. Sie fühlte einen heftigen Hitzeschauer und kniff von einem gleißenden Blitz geblendet die Augen zu. Da schwirrte noch ein Geschoß heran und traf sie am Rücken. Sie fühlte, wie ihr einverleibtes Kleinod wild hüpfte und sie schreien machte. Warum fiel dieses schwarze Ei nicht einfach aus ihr heraus? Sie warf sich herum und sah drei Zauberer, die gerade im Durchgang zwischen Küche und Vorratskammer auftauchten. Einer zielte mit einer Armbrust auf Voixdelalune, die gerade den Mund zum Singen öffnen wollte. Ein Armbrustbolzen schwirrte auf die Vampirin zu und traf zielsicher ihre Brust auf Höhe des Herzens. Sie zuckte röchelnd zusammen. Dann passierte etwas, womit Nyx nicht gerechnet hatte. Die Vampirin schrie noch einmal laut auf, um dann in einem gleißenden, goldenen Licht zu explodieren. Eine nach verkohltem Fleisch stinkende Aschen- und Rußwolke erfüllte die kleine Kammer. Nyx wollte gerade den ersten Armbrustschützen anspringen, als dieser bereits einen neuen Bolzen aufgelegt und auf sie abgeschossen hatte. Sie hörte das Schwirren des Geschosses und fühlte es unter ihrer linken Brust aufschlagen, wobei es selbst in jenem grellen Licht explodierte, das Voixdelalune vernichtet hatte. Doch sie konnte es nicht vernichten. Denn der Mitternachtsdiamant fing den Zauber ab, wenngleich sie meinte, er würde ihr dabei die Gedärme wegsprengen. Warum hatte sie ihn auch genau da hingesteckt, wo es am meisten weh tun konnte? Der zweite Schütze hielt gerade auf Éclipsian, der es ausnutzen wollte, daß Nyx den Sonnensegen ausgelöscht hatte. Doch da bohrte sich auch schon der Bolzen in den Rücken des Blutsaugers. Wie seine Gefährtin zerplatzte er in einem grellen Licht in einer Wolke aus Ruß und Asche. Marie Jospin, die der Vampir noch an sich zu reißen getrachtet hatte, schrie schrill auf. Nyx wollte nun auf die beiden Mädchen zuspringen, um sie als Schutzschild zu mißbrauchen, als genau zwischen ihr und diesen eine neue Sonnenlichtmauer emporschnellte und sie zurückprellte. Zwar würde sie die Wand wieder einreißen können. Doch da bog sie sich und wurde zu einer gleißenden Säule, in die sie vollständig eingeschlossen wurde. Die schwarze Aura des Mitternachtsdiamanten wirkte dem entgegen, während zwei unbewaffnete Zauberer auf die Kinder zielten und diese mit einer gut abgestimmten Unverfrorenheit in kleine Taschentücher verwandelten, die sie zu sich hinfliegen ließen. Der pechschwarze Dunst des Mitternachtsdiamanten fraß die Sonnenlichtsäule auf. Das finstere Kleinod vibrierte dabei jedoch so unangenehm im Schoß der Vampirlady, daß sie nur laut aufstöhnen und sich nicht bewegen konnte.

"Na, ist auch für dein schwarzes Ei im Nest ein wenig zu viel, Nyx", spottete der erste Armbrustschütze, während die beiden Zauberer, die die Kinder verwandelt hatten, mit diesen zur Tür hinausstürmten.

"Du wirst noch vor mir liegen und darum betteln, lieber mein Sohn als nur mein Abendessen zu werden", keuchte die gerade gepeinigte Vampirhexe. Sie versuchte, den Zauberstab hochzureißen, um den Peinigern den Folterfluch überzubraten, als ihr zwei Armbrustbolzen zugleich entgegenschwirrten. Da erfaßte sie wieder jene Starre, die sie damals empfunden hatte, als Volakin sie fast zu Asche verbrannt hatte. Im selbben Moment, als die beiden Bolzen im grellen Licht auf ihrem Körper zerbarsten, stand Nyx als vollkommen schwarze Steinfigur da. Der dritte Bolzen zerplatzte ebenso auf ihr, wie die fünf ihr zugedachten Sonnenlichtspeere.

"Okay, das verfluchte Steinchen hat sie mit sich verschmolzen", rief ein Zauberer mit haselnußbraunen Augen, der wegen seines silberweißen Haarkranzes schon mehr als neunzig Jahre zählen mochte. "Alle raus aus dem Kämmerchen!" Befahl er dann noch.

"Und die Sachen von Austère?"

"Accio Wäsche!" Rief der alte Zauberer, während seine Kollegen die schwarze Statue mit bezauberten Armbrustbolzen und Sonnenlichtspeeren eindeckten. Tourrecandides Zauberstab flog ebenfalls zu jenem alten Zauberer hin, bevor dieser allen mit einem energischen Handzeichen bedeutete, die Kammer zu verlassen.

"Du hast dich in deiner eigenen Falle gefangen, Nyx. Das und die Befreiung der Kinder können wir als Erfolg mitnehmen." Er sprang zurück und feuerte noch einen Sonnenspeer ab. Denn ihm war klar, daß der Zauber des Mitternachtsdiamanten nur vorhielt, solange etwas seine Trägerin gefährdete. "Saxicresco Maxima!" Riefen drei Zauberer, der Alte mit den Haselnußaugen eingeschlossen. Weitere Zauberer stimmten in den Ruf ein. Zauberstäbe deuteten auf die Tür, die schlagartig immer kleiner wurde. Nein, sie wuchs zusammen. Das Gestein, aus dem der Raum bestand, vermehrte sich und füllte den Durchgang aus. Doch nicht nur die Tür wuchs zu, sondern auch die Wände und der Boden begannen, den Raum zu füllen. Die Zauberer wollten sie lebendig in dieses Gestein einschließen. Da es mehr als sieben auf einmal waren, schafften sie es sogar, den sonst so harten Granit dazu zu bewegen, den freien Raum aufzufüllen. Nyx konnte nichts dagegen tun. Sie war immer noch erstarrt. Sie dachte jedoch daran, daß der Mitternachtsdiamant sie freigeben müsse. Doch ihre Bitten erreichten nicht das Ziel. Die Speisekammer wurde innen immer enger. Die Decke, der Boden und die Wände rückten aufeinander zu. Dann schloß sich das Gestein um den erstarrten Körper der Vampirin, drückte dagegen. Doch die mit dem Mitternachtsdiamanten verschmolzene Vampirin hielt dem Druck stand. Schließlich hörte der unheimliche Einschließungsprozeß auf. Sie war nun scheinbar unlösbar im Granit der kleinen Kammer verbacken und mochte von nun an Jahrmillionen in dieser Falle überdauern.

"Das hast du mir nun eingebrockt", dachte Nyx dem Mitternachtsdiamanten zu. Doch die darin eingelagerte Wächterseele erwiderte:

"Warte eine Weile. Dann wirst du dieses Gefängnis wieder verlassen."

Die Vampirin wollte ihre Dienerschaft informieren, daß man sie festgesetzt hatte. Doch da fühlte sie, wie starke Kräfte aus ihrem Inneren gegen die Versteinerung ankämpften. Knarrend und knirschend, dann krachend und Prasselnd zerfiel der Granit. Die durch Magie erzeugte Füllung des Raumes zerbröckelte mehr und mehr, bis die Decke zusammenbrach und Nyx über sich das Sternenlicht durch die Wolken sehen konnte, das für Menschenaugen verhült blieb. Mit lautem Getöse fiel die Kammer um sie herum auseinander. Der Himmel war nun frei. Da fühlte sie auch, wie ihr Schauer durch den Körper schossen, die die Erstarrung abschüttelten. "Entfliege diesem Ort!" Erklang der Befehl der Wächterseele im Mitternachtsdiamanten. Nyx gehorchte. Innerhalb von nur zwei Sekunden vollzog sich die Transformation zur menschengroßen Fledermaus. Sie stieß sich ab und flog mit immer sichereren Flügelschlägen in den Himmel hinauf. Sie achtete nicht auf die zehn Zauberer, die als Wache zurückgeblieben waren und nun meldeten, daß die Vampirkönigin ihrem Gefängnis entronnen war. Ihr war nur wichtig, daß sie diese Schlacht verloren hatte und die Zaubererwelt nun gewarnt war. Sie mußte sich etwas neues ausdenken. Doch vorerst galt es, genug Solexfolien herzustellen und die Zaubererwelt nicht dahinterkommen zu lassen, wo diese hergestellt wurden.

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Der Spiegel im Badezimmer verriet der unerwartet aus dem goldenen Licht, ja überhaupt aus dem Zeitfressersarg geschleuderten, daß sie den Körper einer gerade zwanzigjährigen Frau besaß. Wieso sie noch so jung aussah und vor allem, wie sie über diese große Entfernung in Ledas Haus zurückgeschleudert worden war blieb ihr vorerst ein Rätsel. Sie dachte an die letzte ihr wie eine Sekunde erscheinende Zeitspanne, in der sie auf der Insel der hölzernen Wächterinnen gewesen war und dort eine aus sich selbst golden leuchtende Erscheinung von Austère Tourrecandide gesehen hatte. War sie überhaupt hier? Sie kniff sich noch einmal in den linken Arm und fühlte den Schmerz. So akzeptierte sie ihre neue Wirklichkeit. Sie stand also nackt vor Ledas Badezimmerspiegel und sah jünger aus als damals, wo Anthelia in sie eingefahren war. Anthelia, eingefahren? Dieses hinterlistige Weib hatte sie auf der Insel der hölzernen Wächterinnen gründlich ausgetrickst und ... Vielleicht hatte sie dieses Ereignis noch einmal gesehen, weil es mit dem, was ihr jetzt passiert war zu tun hatte. Vielleicht war etwas von diesem Zauber in ihr zurückgeblieben, mit dem Tourrecandide sie damals getroffen hatte beziehungsweise eine magische Entladung auslöste, die dazu führte, daß sie als Tochter ihrer Cousine wiedergeboren wurde. Das mochte angehen. Denn dann hätte dieser Zauber sich gegen die Blitzalterung gestemmt und diese womöglich bis zu einem bestimmten Punkt wieder zurückgedreht. Doch warum sie jetzt hier im Haus ihrer Blutsverwandten und zweiten Mutter gelandet war wußte sie nicht. Sollte sie nach Leda mentiloquieren, daß sie nicht mehr in Hynerias Gewalt war oder ihre Großmutter Eileithyia anmentiloquieren, daß sie durch etwas ihr unbegreifliches im Körper einer mitte zwanzig Jahre alten Frau in ihr Mutterhaus zurückgekehrt worden war? Nein! Ihr ging gerade auf, daß die beiden dann nichts besseres zu tun hatten, als sie irgendwie wieder in Windeln und Wiege zurückzuschrumpfen. jetzt, wo sie ihre starken Beine und den leicht zu bewegenden Kopf fühlte, ja selbst alle Merkmale einer ausgewachsenen Frau im Frühling ihres Lebens fühlte, empfand sie keinen weiteren Bedarf, die Erfahrungswelt eines Säuglings weiterzustudieren. Sie wollte jetzt so bleiben wie sie gerade war, höchstens auf natürlichem Weg altern. Davor hatte sie keine Angst. Denn daß sie auch mit knapp siebzig Jahren noch gut in körperlich-geistiger Verfassung und auf der Höhe ihrer Zauberkräfte war wußte sie ja längst. Es galt nur, diese wohl fünfzig Jahre ohne gewaltsamen Tod zu überstehen.

Daß sie nackt war kam ihr weniger bedrückend vor wie der Umstand, daß in diesem Haushalt kein Ersatzzauberstab lag. Leda hatte ihren, Daianiras Zauberstab, nicht in dieses Haus gebracht. Er lag noch in Daianiras verstecktem Haus mit Garten. Um dorthin zu kommen mußte sie fliegen oder apparieren. Apparieren ohne Zauberstab war ziemlich schwierig. Doch im Haus lagerte noch ein Bronco Centennial. Kleidung war auch vorhanden. So stand ihr entschluß fest, ihr durch Fidelius geschütztes Haus anzusteuern und sich dort einige Zeit zu verbergen. Von dort aus konnte sie ihren Geist auf die Reise schicken. Ja, diese Gabe konnte sie jetzt wieder einsetzen, wo sie kein Baby mehr war. Beschwingt von der Freude, wieder groß und eigenständig zu sein, kleidete sich die Blitzgealterte mit zum Fliegen geeigneter Kleidung aus den Beständen ihrer Base und Mutter ein und ritt auf dem schnellen Flugbesen davon, wobei sie darauf achtete, von den Nachbarn nicht gesehen zu werden.

Sie brauchte knapp einen Tag, um in die Nähe ihres versteckten Hauses zu kommen, weil sie auch einige Umwege fliegen mußte. Dann jedoch war sie dort, wo sie sich wirklich mächtig fühlte. Ihr besonderer Garten war auch noch so wie immer. Das bestätigte mal wieder die These, daß in andere Lebewesen verwandelte Menschen nicht von der Macht oder dem Leben des Verwandelnden abhängig waren, wie die Muggelmärchen es immer behaupteten, wo "der böse Zauberer" oder "die böse Hexe" nur getötet werden mußte, um eine unfreiwillige Verwandlung umzukehren. Jedenfalls ließ der auf ihren Handabdruck eingestellte Türöffnungszauber sie unangefochten passieren. Sie erreichte ihr Arbeitszimmer und fand dort ihren nach dem Duell zurückgelegten Zauberstab. Denn mit Anthelias silbergrauem Stab konnte sie bis zur unfreiwilligen Reise in die Welt der Ungeborenen erheblich besser zaubern, was ja an der in ihr ruhenden Wiederkehrerin und auch ihrem vermaledeitem Medaillon lag, dem sie in letzter Konsequenz auch ihre Schmach auf der Insel außerhalb des üblichen Zeitablaufes verdankte. Schmach?! So wie sie jetzt hier stand, mit ihrem Zauberstab in der Hand, mit dem sie schnell in eigene Kleidungsstücke schlüpfte, die sie vor dem Duell mit Anthelia hatte tragen können, war das keine Schmach mehr, sondern ein verspäteter Sieg. Sie war wieder frei. Doch was nützte die Freiheit ohne Wissen? Was nützte es, einen erwachsenen Körper und einen beweglichen Geist zu haben, wenn sie sich nicht anderen anvertrauen konnte? Also galt es, zunächst Wissen zu erwerben. Darin war sie eine unbestrittene Meisterin. Denn Dank der asiatischen Zauberfertigkeit, ihren Geist aus dem Körper zu lösen und unsichtbar und zeitlos umherreisen zu lassen, vermochte sie an allen nicht durch Fidelius-Zauber geschützten Orten Menschen zu beobachten und zu belauschen. Die allermeisten bekamen davon nichts mit. Nur gewisse Feindesabwehrzauber vermochten, sie teilweise sichtbar und angreifbar zu machen. Doch derartiges würde ihr jetzt nicht widerfahren. Wenn sie es noch konnte, würde sie bald wissen, was am Haus von Hyneria passiert war, ob ihre Cousine noch lebte und so weiter. So begann sie ihre heimliche Erkundung der Welt, ohne zu wissen, daß sie bald wieder auf diese besondere Kunst verzichten mußte.

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Das Boot landete am Abend des achtzehnten Oktobers in einer geschützten Bucht von Kalifornien. In der Zwischenzeit hatte die zur neuen Anthelia fusionierte Gemeinschaftspersönlichkeit ihre neuen Fähigkeiten erkundet. Dabei hatte sie feststellen müssen, daß sie zwar einen makellosen und wohl auch unverwüstlichen Körper erhalten hatte, jedoch nicht mehr alles machen konnte, was als Anthelia möglich war. Das fing mit partiellen Selbstverwandlungen an. Diese verpufften wirkungslos. Auch vollständige Selbstverwandlungen zerstoben in bunten, aber sonst völlig wirkungslosen Blitzen um ihren Körper. Die Körpertauschringe ließen sich erst gar nicht mehr anlegen, ohne gleich aufzuglühen. Da Anthelia sie nicht wie die anderen Sachen verlieren wollte ließ sie deshalb weitere Versuche damit bleiben. Das einzige, was ihr noch gelang war der Wechsel in eine Tiergestalt. Jedoch konnte sie sich nicht mehr in die große Krähe verwandeln, sondern wurde zur zwei Meter großen, schwarzen Spinne. Etwas anderes ging nicht mehr. Tyche, die versuchte, sie mit Verwandlungszaubern zu belegen, stellte fest, daß das nicht klappte. Zauberflüche wie Beinklammer und Schocker hielten nur wenige Sekunden vor. Das war für Anthelia zwar sehr praktisch. Doch sie wußte, daß sie auch ihr nützende Körperbezauberungen nicht mehr dauerhaft ausführen konnte. auf ihren eindeutigen Befehl hin versuchte Tyche, ihr den Todesfluch aufzuhalsen, als sie eine schwarze Spinne war. Doch dieser zerstob am Panzer des achtbeinigen Ungetüms zu grünen Funken. Tyche hatte schon befürchtet, der Fluch fiele auf sie zurück wie Voldemorts Todesfluch, als er Harry Potter umbringen wollte. Dann stellte die neue Hexenlady fest, daß sie offenbar auch keine Zaubertränke mehr vertrug. Wachhaltetränke entluden sich in unangenehmen Blähungen und Rülpsattacken. Der Vielsaftt-Trank wanderte im Hohen Bogen auf dem Umgekehrten Weg nach draußen, kaum, daß sie ihn geschluckt hatte, und Felix felicis entlud sich in sie peinigenden goldenen Funken, die aus ihrem Körper heraussprühten, ihr aber außer starken Schmerzen keinen körperlichen Schaden zufügten.

"Halten wir fest, daß die Zeit der magischen Flexibilität vorbei ist", stellte die neue Anthelia fest. "Ich kann mich nicht verwandeln und nicht beliebig lange wachhalten, auch wenn ich weiß, daß ich ausdauernder bin als gewöhnliche Menschen und sehr sehr wenig Schlaf benötige. Gifte können mir nichts anhaben. Flüche wirken nicht mit voller Stärke, auch dann schon, wenn ich als Frau unterwegs bin. Dennoch bin ich sehr froh, in jeder Hinsicht frei und unbeschwert davongekommen zu sein. Zunächst will ich die Lage in den Staaten erkunden, bevor ich euch alle zu einer Vollversammlung rufe." Tyche nickte. "Gleich werden wir sehen, wie gut ich noch apparieren, den kurzen Weg gehen kann", sagte Anthelia-Naaneavargia und vertäute das Boot. Dann sah sie Tyche an und fügte mit einem merkwürdigen Raunen hinzu: "Ich freue mich aber schon drauf, rauszufinden, was mit meinem Körper noch alles geht. Du kannst mir dabei leider nicht so helfen wie ein paar stramme Burschen." Sie sah dabei mit einem hungrigen Blick auf den Strand, als könne sie dort etwas entdecken, das sie hier und jetzt sehr gerne zu sich nehmen wollte. Tyche fühlte einen merkwürdigen Schauer über ihren Rücken hinabjagen, als sie die veränderte Hexenlady so sah und reden hörte. So dachte sie lieber an das boot. Sie würde es morgen dem Besitzer heimlich zurückerstatten. Dann nahmen sie alle Habseligkeiten aus dem Boot heraus. Die neue Anthelia nahm Tyches Hand. Es war so leicht, als habe sie nie etwas anderes getan. Das Apparieren gelang noch.

"Ich rufe euch dann alle zusammen, wenn ich ungefähr weiß, was sich in den letzten Wochen getan hat", gab Anthelia Tyche mit. Diese nickte und disapparierte. Anthelia dachte an Donata und versuchte, sie anzumentiloquieren. Doch sie erhielt keinen Kontakt. Ihre neuen Geisteskräfte waren um einiges stärker als ihre Früheren, obwohl sich ihrer beiden Kräfte auf einen gemeinsamen Durchschnitt reeduziert haben mochten. Also konnte Donata entweder gefangen oder tot sein. Ein gewisser Ärger machte sich in ihr breit, wenn sie sich vorstellte, daß jemand die wertvolle Mitschwester während ihrer Abwesenheit getötet haben mochte. Falls das so war, würde der oder diejenige dafür teuer bezahlen. Die Hexenlady wußte ja nicht, daß dies schon längst geschehen war. Doch andere Bedürfnisse drängten sich in ihr Bewußtsein. Es war etwas, daß sie früher höchst selten empfunden und noch seltener ausgelebt hatte. Doch hier und jetzt fühlte sie, daß sie bald Abhilfe schaffen mußte, wollte sie nicht unter dem immer wilder werdenden Verlangen den Verstand verlieren. Sie hoffte nur, daß ihr neuer Körper alles das konnte, was sie früher schon sehr gut damit hatte anstellen können, als sie ausschließlich Naaneavargia gewesen war. Das, was Anthelia in ihr war, versuchte, dieses auflodernde Verlangen zu unterdrücken. Doch was von ihr Naaneavargia war wischte jeden inneren Vorbehalt hinfort. Sie war eine freie Tochter der Begüterten ihres Volkes und durfte sich nehmen, wen und was sie wollte. Denn niemand konnte ihr, einer Nachfahrin der großen Sippen, in dieser Zeit Rechenschaft abverlangen.

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Das Verschwinden Professeur Tourrecandides schlug hohe Wellen in der Zaubererwelt. Zwar schaffte der Zaubereiminister Frankreichs es, den Miroir Magique davon zu überzeugen, vorerst keinen genauen Bericht über den Vorfall vom zwölften Oktober zu bringen. Doch Gilbert Latierres Ein-Mann-Zeitung Temps de Liberté kam mit einer fast detailgetreuen Darstellung des Falles heraus. Grandchapeau ärgerte sich. Wer hatte denn da nicht dichtgehalten? Das konnte nur jemand aus der Liga gegen die dunklen Künste gewesen sein. Am liebsten würde er Gilbert Latierre zu sich zitieren und ihm einschärfen, nicht mit derlei Sachen an die Öffentlichkeit zu gehen. Doch dann erkannte er, daß dies nur noch mehr Öl ins Feuer gießen würde. Zwar entstand um sein Ministerium wieder der Ruch, wichtige Sachen zu vertuschen. Doch solange Latierres Zeitung keine Namen und keine genauen Abläufe nannte, konnte er das auch als Geschwätz eines sensationssüchtigen Zeitgenossens hinstehen lassen.

"Madame Brickston, Ihnen wurde erzählt, was mit Professeur Tourrecandide passiert ist?" Fragte der Zaubereiminister am Morgen des vierzehnten Oktobers, als er Catherine Brickston in ihrem Dauerklangkerker-Arbeitszimmer in der Rue de Liberation 13 besuchte. Die Expertin für Zaubereigeschichte und Fachkundige für die Abwehr von Flüchen nickte heftig und baute sofort vor: "Ja, mir ist über den Hergang alles berichtet worden, wie er den Beobachtern vor dem Haus der Vampire ersichtlich war. Aber ich habe nicht mit Gilbert Latierre darüber gesprochen. Er hat zwar angefragt, ob ich dazu Stellung nehmen wollte. Aber ich habe ihm erzählt, daß ich nicht mit Professeur Tourrecandide zusammen war und daher nicht mitbekommen konnte, was ihr passiert sei."

"Ich dachte, wegen ... ähm ...", rang sich Grandchapeau eine Erwiderung ab. Die saphirblauen Augen von Madame Faucons Tochter blickten ihn aufrichtig, aber auch leicht verärgert an. Dann beendete er seine holprige Entgegnung mit den Worten: "Nun, weil Sie ja nun in gewisser Weise mit den Latierres häufiger verkehren und eine sagen wir mal familiäre Beziehung zu ihnen pflegen."

"Wenn Sie meinen, weil Julius Mildrid geheiratet hat wäre ich mit den Latierres verschwägert oder so? Da unterliegen Sie wohl einem Irrtum. Ich komme zwar wunderbar mit Julius' Schwiegermutter und seiner Großmutter mütterlicherseits aus, habe jedoch nach Ihrer Rückkehr ins Ministerium und dem Ende des Massenmörders Voldemort keinen Grund, der Temps jede kleinste Einzelheit aus der Liga gegen dunkle Künste aufzutischen. Abgesehen davon war ich wie erwähnt nicht bei dieser Sache dabei und kann daher überhaupt nicht sagen, was Professeur Tourrecandide passiert ist. Das dürfen Sie mir glauben."

"Ich lege es auch nicht auf eine Konfrontation mit der Liga an, wo sie dem Land so gute Dienste tut. Mir geht es nur darum, eine neuerliche Unsicherheit zu vermeiden", beteuerte der Zaubereiminister. Catherine Brickston nickte. Damit war für sie beide dieser Teil der Unterredung beendet. Sie sprachen dann noch über die Erbin Sardonias, ob diese noch lebe oder bereits eine Nachfolgerin bestimmt habe oder Sardonias Erbe nun doch und endgültig gescheitert war. Allerdings konnten beide keine klare Antwort darauf finden. Denn sie wußten beide nicht im Ansatz, was weit von ihnen entfernt geschehen war.

ENDE

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