DIE KRISTALLSUCHER

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Seit Jahrtausenden ist der Geist des dunklen Erzmagiers Iaxathan in einem von ihm selbst erschaffenen Spiegel gefangen. Nach der Vernichtung des Schlangenzepters Skyllians und der Versenkung des Mitternachtsdiamanten und dessen Inbesitznahme durch die aus ihrem Körper gerissene Vampirlady Lamia alias Lady Nyx alias Elvira Vierbein sinnt er auf eine Möglichkeit, ein neues Reich der dunklen Kräfte auf der Erde zu errichten, hinter dem alles was Sardonia, Grindelwald und Voldemort erschaffen haben verblassen mag. Hierzu will er einen neuen Ausführungsgehilfen einsetzen. Dieser muss jedoch zunächst etwas beschaffen, um den Kontakt zu Iaxathan herzustellen.

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Er klammerte sich ganz fest an den linken Arm von seinem Vater fest. Denn wenn er noch mal mehr als zwei Schritte von ihm wegging fühlte er das wieder, dieses ganz böse, das hier wohnte. Schlimm war auch, dass er es nicht sehen konnte. Er vertraute seinem Vater Ramiel, weil der ein ganz großer und starker Magier war und Sachen konnte, um böses wegzuzaubern. Einmal, so hatte sein Vater immer wieder gesagt, sollte auch er, Jophiel, ein großer, ganz guter Zauberer sein. Warum waren sie jetzt eigentlich hier, und warum durfte Jophiel überhaupt so lange wachbleiben? Er hatte das seinen Vater gefragt. Doch der hatte nur gesagt: "Manchmal ist es besser, auf eine Frage nicht zu antworten. Da muss man sehen, was passiert und lernen, wie es passiert. So wurde ich ein guter Zauberer." Der dunkle Vollbart Ramiels bebte, und um ihn herum glitzerte es, als hätte jemand etwas vom Blau aus dem Himmel genommen und ein bisschen davon um ihn und den kleinen Jophiel herum hingestreut wie feines Mehl. Ramiel hob das Ding an, dass er Fernglas nannte und mit dem ganz weite Sachen so groß gesehen werden konnten, als wenn die gleich vor einem stünden. Jophiel wusste, dass er seinem Vater dabei nicht dazwischenreden durfte. Dann hörte er die Stimme seines Vaters: "Die Mitte der Grausamkeit ist noch dreihundert Schritte weg. Aber der Stern merkt das schon. Also stimmt, was Hassan mir gesagt hat. Bleib auf jeden Fall bei mir. Ich muss jetzt einen Weg in den Boden machen, damit wir unter die ganzen Häuser gehen können!" Jophiel nickte und klammerte sich noch fester an den Arm seines Vaters.

Ramiel zog einen Zauberstab hervor, der halb so lang war wie sein eigener Arm. Er schwang ihn und zeigte dann vor sich auf den Boden. Dabei sang er leise aber ganz klar zu hören Wörter, die so schnell hintereinanderkamen, dass Jophiel sie nicht als Einzelwörter hören konnte. Außerdem waren sie in einer fremden Sprache, etwas, was er nicht verstehen konnte. Auf jeden Fall machte sein Vater damit, dass vor ihnen im Boden ein rotes Licht zu leuchten anfing, das ganz rund war. Es fing sich zu drehen an und ließ einfach was von dem Boden weggehen, als sei es eine Kerzenflamme, die eine Kerze von oben nach unten wegfraß. So wurde vor den beiden ein Loch geöffnet, das zu einem immer längeren Gang nach unten wurde. Ramiel und sein Sohn gingen langsam in das nach unten reichende Loch hinein. Das runde rote Licht blieb vor ihnen und ließ noch mehr vom Boden weggehen. Jophiel hatte erst angst, dass die in den Boden hineingezauberte Höhle zusammenfallen würde, wie die von ihm selbst immer wieder gebauten Höhlen aus alten Decken und Holzstöcken. Doch der immer längere Gang blieb ganz. Selbst der große Ramiel konnte ohne sich zu bücken darin herumlaufen. Ramiel hatte nur seinen Hut vom Kopf genommen. Immer weiter das Zauberlied singend, mit dem er den immer länger werdenden Gang in den Boden hineinbaute, ging Ramiel dem roten Zauberlicht nach. Doch das flirrende blaue Licht um seinen und Jophiels Körper wurde immer heller und flimmerte jetzt auch nicht mehr. Jophiels Vater machte das Gesicht, das er immer dann machte, wenn er ganz doll aufpassen musste, was er machen wollte. Der kleine Junge hielt sich zwar immer noch fest am Arm seines Vaters. Doch er passte selbst auf, dass er seinen Vater nicht störte.

Es ging noch tiefer und noch tiefer nach unten. Warum baute Vater diesen langen Gang? Er hatte immer wieder gehört, dass das Böse unter der Erde wohnte. Es mochte kein Licht und kam immer dann zu den Menschen hin, wenn es dunkle Nacht war. Jophiel hatte ein wenig Angst. Doch da war auch was, dass die Angst wieder weggehen ließ, etwas wie Ruhe, als sei er zu Hause und seine Mutter würde ihm sein Lieblingseinschlaflied vorsingen, das mit dem großen Mond, der auf die kleinen braven Kinder aufpasste. Als die beiden so viele Schritte gegangen waren, machte Jophiels Vater etwas, was den Gang nicht mehr nach unten, sondern nur nach vorne weitergehen ließ. So ging es noch einige Schritte weit. Dann ging das rote Licht auf einmal ganz aus. Jophiels Vater bekam einen Schrecken. Sein Zauberstab knisterte. Das blaue Licht um Jophiel und seinen Vater wurde mit einem Schlag so hell wie der Himmel an ganz klaren Sonnenscheintagen. Ja, es war so hell, dass etwas davon von den Wänden zurückleuchtete. Jophiel fand es richtig schön, wie rund der Gang war. Doch als er ganz nach vorne sah fühlte er sofort wieder etwas böses, als wäre da wer, der ihm was tun wollte, aber nicht zu sehen war. Doch er sah was. Besser, er sah, dass vor ihnen kein Leuchten war. Da vor ihnen war es ganz ganz dunkel wie in einer Nacht, wo nur dicke Wolken am Himmel waren und der Mond gerade neu werden musste. Jophiels Vater hob seinen Zauberstab und sang noch einmal das Zauberlied, mit dem das rote Licht den Boden wegbrennen konnte. Diesmal aber machte er keinen Gang nach vorne, sondern machte was von den Wänden und der Decke weg, bis Jophiel sehen konnte, dass das ganz dunkle da vor ihnen nicht einfach nur Dunkel war, sondern was großes, aber was, das irgendwie Umrisse hatte. Er dachte erst an eine ganz große Kugel. Doch dann konnte er Linien sehen, die das Ding hatte. Ramiel schaffte es nicht, das fremde Ding mit dem roten Licht wegzubrennen. Immer dann, wenn er das versuchte, ging das Licht knackend aus, und Jophiels Vater fiel fast der Zauberstab aus der Hand.

"Hassan und die Altkundigen hatten wirklich recht. Das Grauen hier hat sich zu was festem zusammengefunden", stöhnte Ramiel. "Diese verdammten Nazis haben mit ihren Gräueltaten wahrhaftig eine Frucht des Bösen wachsen lassen." Jophiel erzitterte. Wenn sein Vater so mit Angst oder Traurigkeit sprach, dann war es wirklich schlimm. "Nun, hoffentlich stimmt auch, was Hassan über diese verfestigte Grausamkeit gesagt hat. Bleib hier stehen, Jophiel!" Jophiel ließ seinen Vater los. Der ging nun ganz gerade auf das dunkle Ding zu. Jetzt war er nur noch zehn Schritte davon weg. Das blaue Licht wurde noch heller. Dann wurde das Licht auf einmal weißblau. Ramiel blieb stehen wie gegen eine Glaswand gelaufen. Er kam nicht mehr weiter. Er versuchte, noch einen Schritt weiterzugehen. Doch es ging einfach nicht. Erst als er einen Schritt nach hinten ging kam er von der Stelle weg. Das weißblaue Licht wurde wieder zum Sonnenscheintagshimmelblau. Jophiels Vater ging noch vier Schritte nach Hinten. Dann rannte er los. Doch als er genau zwei lange Schritte weit gerannt war blitzte es vor ihm grell auf. Er wurde heftig zurückgeworfen und landete auf dem Hinterteil. Jophiel hätte sonst über sowas dummes gelacht. Aber seit sein Vater von ihm weggegangen war merkte er, wie kalt es hier war und er merkte auch, dass da was war, das ganz böse war, etwas, das ihm weh tun oder ihn wegjagen wollte, auf jeden Fall was, das ihm ganz große Angst machte. Wenn sein starker Vater nicht dabei gewesen wäre, dann wäre Jophiel ganz sicher schon längst von hier weggelaufen.

"Nein, es ist zu stark. Der Stern und dieser böse Stein da vorne stoßen sich ab. Ich komme nicht näher heran!" stieß Ramiel aus. Dann griff er an seinen Hals und versuchte, die silberne Kette über den Kopf zu ziehen, an der ein schöner silberner Stern hing, von dem Jophiel gehört hatte, dass der seinem Vater beim Zaubern guter Sachen helfen konnte. Doch er konnte die Kette nicht über den Kopf Ziehen. Es war so, als wäre der Silberstern so schwer, dass er den nicht nach oben ziehen konnte. Jophiel starrte das dunkle Ding an, das überhaupt kein Licht zurückgab. Er dachte daran, was sein Vater gesagt hatte. Irgendwelche Leute, die Nazis geheißen hatten, hatten hier was gemacht, was etwas ganz böses gemacht hatte, wohl was gezaubert, was einen bösen Stein hier hingelegt hatte. Dieser böse Stein und Vaters Silberstern mochten sich nicht. Deshalb konnte Vater nicht an den Stein heran.

"Jophiel, mein geliebter Sohn, es tut mir leid, dass ich das jetzt von dir haben muss", fing sein Vater zu sprechen an. "Die Altkundigen aus der Gruppe der großen Zauberer, zu denen ich gehöre sagen, dass dieser Stein nur solange da ist, solange ihn keine unschuldige, unverdorbene Seele in ihrem angeborenen Körper berührt. Das heißt, dass der Stein da keinen Zauber durchlässt, ja nicht selbst weggezaubert werden kann. Weil ich den Stern von der Sonnenbotin bei mir habe kann ich nicht ganz an den Stein ran. Ich will auch nicht den ganz starken Zauber rufen, der alle gute Kraft aus dem Stern zu mir hinruft. Aber du kannst mir helfen. Geh zu dem Stein unnd fass ihn an! Ich weiß, der Stein ist ganz böse. Aber ich hoffe, die anderen haben recht, und er kann dir nichts tun, weil du noch keinem Menschen was böses getan hast."

"Der Stein macht Angst", wimmerte Jophiel. Seine dünne Stimme klang in dem gezauberten Gang noch unheimlicher, als der Kleine sich fühlte.

"Ja, das ist die Kraft, die mehr als eine Million umgebrachte Menschen in ihm zusammengebracht haben", sagte Ramiel. "Aber wir dürfen den Stein hier nicht lassen. Die bösen Zauberer aus der ganzen Welt könnten ihn haben wollen und damit noch bösere Sachen zaubern als so schon."

"Aber wenn der Stein mich frisst oder ganz einfach wegmacht?" wimmerte Jophiel.

"Ich bleibe hinter dir und halte meinen Stern bereit. Du bist mein Sohn und wirst irgendwann den Stern von mir bekommen, wenn unsere Vorväter mich zu sich rufen möchten. Deshalb wird er dir helfen, auch wenn er mich selbst nicht an den Stein hinlassen will."

"Aber ich kann den Stein nicht wegnehmen. Der ist doch viel zu groß", widersprach Jophiel. "Musst du auch nicht, mein Sohn. Es ist ganz in Ordnung, wenn du ihn anfasst. Wenn das stimmt, was ich gehört habe, dann geht der Stein dann von ganz alleine weg und bleibt weg", sagte Jophiels Vater. Doch der gerade erst fünf Jahre alte Junge hörte, dass sein Vater da nicht so ganz genau dran glaubte. So tapste er erst einige Schritte nach vorne, vorbei an seinen Vater. Jetzt waren da nur noch zwanzig von seinen Schritten zu gehen, um genau vor den Stein zu kommen. Jophiel zögerte. Er blickte nach hinten. Sein Vater stand nun rechts hinter ihm. Das blaue Licht lag um seinen Körper wie eine glühende Rauchwolke. Es war hell genug, um auch vom Boden zurückgegeben zu werden. Deshalb konnte Jophiel ganz genau sehen, wo der Stein lag. Er sah, dass der Stein nicht ganz genau auf dem Boden lag, sondern irgendwie wohl wie ein Gebüsch eine Handbreit vom Boden weg war. Das blaue Licht verschwand ganz glatt abgeschnitten im Dunkeln aber unter dem Stein. Jophiel ging vorsichtig weiter. Auch wenn sein Vater nicht hinter ihm hergehen konnte fühlte er auf einmal sowas wie Mut. Dieser Mut ging aber wieder weg, als er nur noch zwei Armlängen von den Umrissen des Steins weg war. Auf einmal fühlte Jophiel Eiseskälte wie damals, wo er in den Bergbach gefallen war und gemeint hatte, keine Luft mehr zu kriegen und seine Arme und Beine nicht mehr bewegen konnte. Dann merkte er noch, wie etwas vor ihm ihn wegjagen wollte, etwas böses, ganz gemeines. Das gefühl kannte er auch, weil er es bei den arabischen Kindern gemerkt hatte, die ihn und seine Eltern nicht mochten, weil die zu einem anderen Gott beteten und einfach da ihr Haus hingebaut hatten, wo früher die Großväter von den Kindern gewohnt hatten. "Lass dich nicht verjagen, mein Sohn. Hab keine Angst und zeige, dass du mein Sohn bist, ein starker Zauberer, der das Böse wegjagen oder zerschlagen kann!" hörte er die Stimme seines Vaters ganz laut und voller Entschlossenheit. Jophiel sah noch mal zurück. Sein Vater stand immer noch vom blauen Licht umleuchtet da, ganz gerade, den Zauberstab fest in der rechten Hand. Sein Vater konnte ihn sofort mit einem Zauber beschützen oder wegholen, wenn da was war, das ihm böses tun wollte. Jophiel fühlte wieder diesen Mut und auch Stolz. Er dachte daran, dass sein Vater und auch sein Großvater, den er selbst nicht mehr gesehen hatte, zu einer Familie starker Zauberer gehörte. Er wollte auch so stark sein. Ja, er musste diesen Stein hauen, damit der kaputtging. Denn sonst machte der wohl andere Leute böse oder machte, dass sie nicht da sein konnten, wo er war. Jophiel straffte sich. Sein kleiner Körper schien dabei um die Hälfte zu wachsen. Dann sprang er entschlossen vor. Seine Hände wurden zu Fäusten. "Nicht hauen, nur streicheln!" rief Ramiel noch. Jophiel riss die Hände zurück. Fast kam sein Gesicht an den Stein, der jetzt noch kälter war. Dann streckte er eine Hand aus und legte sie auf den Stein. "Ei!" sagte Jophiel mit zitternder Stimme. Da passierte das, was er sein Leben lang nie wieder vergessen sollte. Der Stein wackelte ganz wild. Es knirschte um ihn herum. Dann wurde der Stein immer heller und fing an zu bröckeln. Dann gab es einen dumpfen Schlag, und Jophiel wurde von einer grauen Rauch- oder Sandwolke eingehüllt. Gleichzeitig zuckten Blitze durch den Gang, die ihn trafen und machten, dass er sich nun ganz warm und ohne Angst fühlte. Der um ihn herumfliegende feine Sand leuchtete nun weißgrau und wurde wie von Wind von ihm weggeblasen. Das unheimlichste aber waren die Stimmen, die Jophiel hörte. Als wenn ganz ganz viele Menschen, Männer, Frauen und Kinder erst stöhnten, weil ihnen was weh tat, dann weinten und dann mit einem mal ganz laut riefen, als hätte ihnen jemand was ganz schönes gesagt, gegeben oder getan. Wie die Stimmen gekommen waren waren sie auch wieder weg. Jophiel fand sich nur in der grauen Sandwolke wieder, die wie von starkem Wind herumgeblasen wurde. Dann hörte er das immer lauter werdende Knacken, Knirschen und Krachen über sich und um sich herum. Da kam sein Vater, von dem aus die weißblauen Blitze zu ihm flogen angelaufen. "Die Höhle bricht zusammen. Weg hier!" rief Ramiel Bensalom ganz ängstlich und packte seinen Sohn am Kragen. Sofort wurden die Lichtblitze zu etwas wie einem Netz aus dünnen, weißblauen Fäden. Jetzt fielen die ersten Steine von oben herunter. Das Knirschen und Knacken wurde lauter. Jetzt prasselten noch mehr Steine von oben herunter. Jophiel schrie, weil er erkannte, dass die große Höhle jetzt um sie herum zusammenfallen und sie einschließen würde. Ein großer Stein knallte laut neben ihm auf den Boden. Dann war es Jophiel, als stecke er in einem ganz engen Rohr ohne Licht. Er bekam keine Luft mehr. Seine Augen und ohren taten ihm weh. Er meinte, dass ihm alles in den Kopf hineingedrückt werden würde. Dann war es auch schon wieder vorbei. Sie standen vor dem in den Boden hineingezauberten Eingang unter die Erde. Der Boden zitterte jedoch. Ramiel stieß den Zauberstab vor und rief einige Wörter aus, die Jophiel nicht verstehen konnte. Da verschwand der Gang. Ein kräftiger Stoß von unten, dann war es ganz still. In der Ferne sah Jophiel den langen mit stacheligem Zeug gebauten Zaun, an dem entlang immer wieder so an die fünf Längen seines Vaters hohe Türme standen. Ramiel ließ seinen Sohn los und riss sein Fernglas vor die Augen, um zu sehen, was weit weg passierte. Nach einigen Augenblicken ließ er das Fernglas wieder sinken und sagte: "Die Baracken und Todeshäuser stehen noch. Mein Auffüllzauber hat wohl auch die vom Stein des verdichteten Bösen gebildete Höhle verschlossen, ohne das von oben noch was nachrutschen kann. Wir haben es geschafft. Der Schoß von Hass und Unterdrückung mag zwar noch fruchtbar sein. Aber wir haben eine seiner Leibesfrüchte abgetötet." Was Jophiels Vater damit sagen wollte verstand der Fünfjährige erst Jahre Später. Für ihn zählte nur, dass er seinem Vater geholfen hatte, was ganz böses wegzuzaubern. So hatte er auch keine weitere Angst mehr, als sie noch in derselben Nacht an einer anderen Stelle, zu der sie über den ganz schnellen Weg des wo wegknallens und anderswo Seins hinkamen, ein ähnliches von Stacheldrahtzaun umgebenes Lager besuchten, einen viele hundert Schritte langen, tief nach unten reichenden Gang zauberten und am Ende noch einen solchen schwarzen Stein fanden, den Jophiel trotz der davon ausgehenden Kälte und Bedrohung streichelte und somit zum zerfallen brachte.

Fünfzehn Jahre später, als Jophiel die letzten Prüfungen der mächtigen Zauberer bestanden hatte, erinnerte er sich an dieses Abenteuer. Es war nach der christlichen Zeitrechnung im Jahre 1951 gewesen, dass er von seinem Vater zu unseligen Gefangenen- und Massenvernichtungslagern mitgenommen worden war. Der Versuch, an andere Orte zu reisen, wo möglicherweise jene schwarzen Körper wie zwölfflächige Würfel im Boden lagen wurde jedoch vereitelt. Denn die Zauberer aus Japan wollten von diesen Steinen des Bösen nichts hören. Für sie konnte es sowas nicht geben. Denn für sie gingen die Seelen der Verstorbenen entweder gleich ins Totenreich ein, wurden Bestandteil des Kreislaufes von immer neuen Wiedergeburten oder wurden durch unerfüllte Aufgaben dazu gezwungen, als nichtstoffliche Abbilder ihrer Selbst in der Welt der Lebenden zu bleiben. Auch Beteuerungen von Jophiels Vater, dass nicht die Seelen der Gestorbenen, sondern der zu ihrem Tod führende Vernichtungswille jene schwarzen Zwölfflächler entstehen ließ, wollten sie nicht glauben.

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Es war schon eine gespenstische Szene, die sich ihm und den neunundzwanzig anderen bot. Ein kaltes, blaues Licht fiel aus einer von der Decke herabhängenden Glaskugel auf die geheime Halle, die irgendwo auf dem europäischen Festland lag. Wo genau diese fensterlose Halle sich befand wusste er nicht. Doch für Calligula Scorpaenidus war es auch eigentlich egal. Er war froh, dass er Shacklebolts Kettenhunden entwischt war. Vor allem dieser vermaledeite Halbblutbengel Potter hätte ihn fast erwischt. Diese heuchlerische Schlampe Carol Ridges hatte ihn hingehängt, ihn, den Spross einer altehrwürdigen, reinblütigen Zaubererfamilie. Bald zwei Jahre hatte sie es mit ihm gut ausgehalten. Dann hatte sie den Fehler gemacht, sein geheimes Tagebuch zu lesen, auch wenn sie dafür eingewirkte Abwehrzauber hatte umgehen müssen. Deshalb wusste sie, dass er nicht nur bei der Schlacht von Hogwarts am Tod von Professor Septima Vector und drei fehlgeleiteten Sechstklässlern beteiligt war, sondern auch vorhatte, zusammen mit ebenfalls entkommenen Todessern einen Gegenschlag vorzubereiten, am besten Hogwarts in die Luft zu sprengen. Das hatte Carol wohl am meisten gestört, weil ihre kleine Schwester Thelma dort gerade erst ihr zweites Schuljahr verbrachte. Zumindest hatte er früh genug mitbekommen, dass das neue Aurorenkorps schon auf dem Weg war. Er war geflüchtet und hatte unter Verwendung von geheimen Eulenbriefen ehemalige Kampfgefährten seiner bei der Schlacht gefallenen beiden Onkels wiedergefunden. Sie hatten ihm von ihm erzählt, dem Wächter der Vergeltung, dem legitimen Erben des dunklen Lords, der allerdings erst noch etwas wichtiges finden musste, um das Erbe des dunklen Lords anzutreten. Heute, am 3. August 2001, sollte es endlich geschehen. Heute würden sie ihn treffen.

Wie es der Fürsprecher Calligulas angeraten hatte, trug der junge Zauberer eine weiße Vollmaske. Abgenommen war sie gerade so groß wie zwei Taschentücher und sah auch nur so aus. Doch wer sie sich auf den Kopf legte bekam unvermittelt ein abschreckendes Aussehen. Alle, die sie hier standen trugen dunkelgraue Umhänge und auf den Schultern weiße Schlangenköpfe, ähnlich dem, den der dunkle Lord selbst besessen hatte. Sie konnten diese unheimliche Maskerade auch nur lösen, wenn im Umkreis von hundert Metern kein Beobachter aufzufinden war. Das zumindest hatte Scorpaenidus erfahren. Und jetzt stand er mit neunundzwanzig anderen in diesem Raum, nachdem ihn ein alter Schürhaken, der ein Portschlüssel war, direkt hier abgesetzt hatte. Von hier an gab es kein zurück mehr.

Nebel wallte grünlich über dem Podest in der Mitte der Halle auf. Die dreißig maskierten Männer starrten in die grüne Wolke, aus der unvermittelt ein blauer Blitz herausschlug. Mit einem lauten Donnerschlag verglühte der Dunst und gab eine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt in einem langen, schwarzen Umhang mit einem blutroten V auf dem Brustteil frei. Auf den Schultern trug der so spektakulär erschienene einen grün leuchtenden Schlangenkopf, von dem giftgrüne Funken in den Raum sprühten. Dann erklang die Stimme des anderen. Calligula erkannte nicht, wer da sprach. Die Stimme klang gefühllos und tief. Er hörte jedoch, dass sie Englisch mit Akzent sprach, wenn er auch nicht wusste, welcher Akzent es war.

"Ich freue mich sehr", begann der so schlagartig in der Halle aufgetauchte, "dass ihr alle meiner Einladung gefolgt seid. Ihr habt alle die von mir erwarteten Anforderungen erfüllt und seid bereit, mit mir ein großes Vermächtnis zu erlangen." Hinter dem anderen schob sich ein lichtundurchlässiger Dunst aus dem Podest und formte sich zu einer menschlichen Erscheinungsform, nachtschwarz und eher eine reine Schattenfläche als ein gestaltliches Wesen. Zwei kalte blaue Lichter glommen dort, wo ein Mensch aus Fleisch und Blut seine Augen hatte. Calligula fühlte die Eiseskälte, die von der nun auf drei Meter Größe angewachsenen Erscheinung ausging. Er hatte noch nie einen höheren Nachtschatten zu sehen bekommen, wusste aber, dass diese dunklen Geisterwesen mindestens die Seelen von zehn Menschen in sich einverleiben mussten, um so groß zu werden. Der Mann mit dem grünen Schlangenkopf und den darin glimmenden blutroten Augen lachte, als der Nachtschatten hinter ihm erschienen war. "Mein treuer Diener und Leibwächter", sagte er. "Nur ich weiß seinen wahren Namen, und das wird auch so bleiben", fügte er hinzu. Dann deutete er auf die Runde der dreißig. "Von heute an werdet ihr mit mir einen neuen, kleinen aber schlagkräftigen Bund begründen, die Wächter der Vergeltung. Ich habe euch alle genau ausgesucht, Reinblüter, noch unverheiratet, aber schon kampferprobt. Vor allem die fünf wackeren Streiter von der Schlacht in Hogwarts begrüße ich sehr gerne. Vorstellen werde ich euch nicht, weil nur ich wissen darf, wer wer ist." Einer der fünf wollte was sagen. Doch seine Stimme klang verzerrt und irgendwie verstellt aus dem weißen Schlangenkopf. "Wir wollen nur Rache für den dunklen Lord", sagte der Calligula unbekannte Zauberer.

"Die werdet ihr auch bekommen, Nummer zehn", sagte der Mann mit dem V-Symbol. Dann lachte er. "Ihr merkt es, ich rede euch nicht mit Namen an. Ihr alle seid von mir mit der Nummer eures Ranges in meiner Gemeinschaft versehen worden. Es ist unter Todesandrohung verboten, sich anderen gegenüber mit wahrem Namen anzusprechen oder herauszufinden zu versuchen, wer eure Gefährten sind oder gar wer ich bin. Doch da ich weiß, dass Namen für den Zusammenhalt wichtig sind, so gestatte ich euch die Anrede Lord Vengor. Anders als dieser Halbblüter Riddle, der Slytherins Vermächtnis fast erfüllt hätte, werde ich mich aber nicht von der Sucht nach großem Gefolge verleiten lassen. Was ich vorhabe gelingt in einem überschaubaren Kreis am besten. Vor allem wo ihr aus allen Teilen Europas hier erschienen seid ist es mir wichtig, den Überblick zu behalten. Ihr dreißig werdet die ersten und hoffentlich einzigen sein, die ich um mich scharen wollte. Nur wenn einer von euch stirbt, ist es mir und nur mir erlaubt, einen Nachfolger zu bestimmen und in meine Reihen einzuschwören. Soviel erst einmal dazu." Er machte eine wirkungsvolle Sprechpause. Dann fuhr er fort: "Die Anwesenheit meines Wächterschattens beweißt euch, wie mächtig ich bereits bin. Doch ich gehe auf noch mehr Macht aus, die Macht, die Göttern alter Zeiten gleichkommt. Denn nur damit kann und werde ich diesen Planeten vom Unrat der Muggelideen leerfegen und die Magielosen endlich dazu machen, was sie seit Jahrhunderten schon längst hätten sein sollen: Niedere Sklaven, gerade einmal gut dafür, zu unserem Vergnügen zu leben und zu sterben. Doch sie werden nicht zu lange leben. Denn der Tag, an dem wir alle eins mit der großen Urkraft werden, rückt näher. Doch dafür benötige ich etwas, was ihr mir beschaffen sollt, genug vom gefrorenen Grauen, dem Unlichtkristall." Die versammelten sahen ihren neuen Anführer an. Einer der Anwesenden stieß aus: "Diese Substanz ist ein Mythos, erzählt von Schwachköpfen, die meinen, dass sich Gedanken und Gefühle von selbst in Materie verwandeln können."

"Es ist kein Märchen, Nummer acht. Und es sind auch keine Schwachköpfe, die davon berichtet haben. Der Umstand, dass dir solche Kristalle noch nie vor Augen kamen rührt schlicht daher, dass diese hochempfindliche Substanz sofort zerfällt, wenn sie von Menschen ohne Magie oder Menschen, die trotz magischer Begabung davon abgehalten wurden, den Tod herbeizuführen berührt wird. Deshalb habe ich auch nur ein wenig davon erbeutet, als ich an den Schauplätzen des letzten großen Krieges der Muggel gesucht habe. Leider stellte ich fest, dass dort, wo die Entfacher dieses Krieges große Lager zur Tötung ihnen missliebiger Zeitgenossen errichtet hatten, trotz der hohen Zahl getöteter Menschen kein solcher Kristall mehr zu finden war. Daher muss ich davon ausgehen, dass jemand bereits vor Zeiten seine unwillkommenen Hände an einen solchen Kristall gelegt und ihn zerstört hat. Die Morgenländer haben sicher auch noch Kenntnisse von altem Wissen und haben sicher wen geschickt, der da hingereist ist, wo viele Juden und Leute aus den fahrenden Völkern umgebracht wurden solche Kristalle entstanden sein mochten." Vengor griff mit der linken, grün behandschuhten Hand in seinen Umhang und zog etwas hervor. Er hielt die nach oben offene Hand ausgestreckt. Auf dem Drachenhauthandschuh waren drei tiefschwarze Punkte zu erkennen, winzige Krümel oder Körner. Alle Umstehenden traten näher und besahen sich die winzigen Bruchteile eines unbekannten Stoffes. "Das sind Unlichtkristalle, werte Wächter der Vergeltung. Ich habe sie aus dem Sand der Normandie gegraben, immer darauf gefasst, dass diese Magielosen mich dabei ertappen könnten. Leider entspricht ihre Menge nur einer Zwanzigstelunze. Will ich Erfolg haben, muss ich mindestens eine ganze Unze erbeuten. Doch das ist schwierig, weil nur dort, wo an einem Tag mindestens sieben mal sieben mal sieben Menschen auf gewaltsame Art zu Tode kommen, ein mindestens sonnenblumenkerngroßer Kristall entsteht. Er kann aber auch größer sein, wenn im fraglichen Zeitraum mehr als die Mindestzahl Menschen gewaltsam umkommen. Außerdem kann er weiterwachsen, wenn in der durch seine Entstehungsgröße festgelegten Umgebung von ihm weitere Menschen auf gewaltsame Art sterben. Ich könnte also hingehen und diese wenigen Kristalle hier weiterwachsen lassen, indem ich Menschen töte. Doch das würde zu früh auffallen. Daher werde ich euch nun aussenden, um nach Orten zu suchen, wo noch mehr von dieser so herrlich lichtundurchlässigen Substanz verborgen ist. Denkt dabei immer daran, dass die Kristalle im Zentrum einer Sphäre entstehen, die von der Zahl der ihn speisenden Leben bestimmt wird. Dass heißt, ihr müsst dort graben, wo das Zentrum des vielfachen Sterbens liegt. Doch hütet euch davor, die Kristalle von Leuten berühren zu lassen, die keinen Funken Zauberkraft im Leib haben oder bisher niemanden getötet haben und dies wohl auch nicht vorhaben! Denn dann zerfällt jeder Kristall sofort zu grauem Staub und verliert damit seine magischen Eigenschaften."

"Welche Eigenschaften?" wollte ein anderer Schlangenmaskenträger wissen und sprach Calligula aus der Seele.

"Mit diesem Kristall können die mächtigsten Zauber der dunklen Kräfte gebündelt und nachhaltig in Kraft gehalten werden. Wenn ich genug von dem Unlichtkristall mein eigen nenne, kann ich für euch und mich unzerstörbare Rüstungen erschaffen, die jede Form des Angriffs auf den Angreifer zurückwerfen, wie es der schwarze Spiegel vermag, eben nur, dass diese Rüstungen dauerhaft wirken und den Träger umkleiden und nicht auf einer festen Fläche wirken. Zudem besteht durch den Unlichtkristall die Möglichkeit, mit Gleichgesinnten einen Block vereinter Zauberkraft zu bilden, ja eine ständige Verbindung zu allen Verbündeten zugleich zu errichten und zu halten, egal, wer wo auf der Welt ist. Weitere Zauberkräfte dieser so faszinierenden Substanz werde ich hier und heute nicht preisgeben. Wichtig für euch alle ist nur, dass ich diesen Stoff suche und möglichst bald eine ganze Unze, besser viel mehr davon haben möchte."

"Und wenn wir gleich zu unseren Ministern laufen um dieses Treffen hier zu melden? Ich will schon gerne wissen, mit wem ich es zu tun habe", schnarrte ein anderer Maskenträger. Calligula konnte hören, dass der andere sehr entschlossen war.

"Ach ja, das habe ich vergessen euch zu sagen. Dreißig, tritt vor und entblöße deinen linken Arm!" Calligula fühlte den Blick Vengors. Eine innere Kraft trieb ihn, vorzutreten. Er war die Nummer dreißig, der Rangfolge nach also der unterste dieser neuen Bruderschaft. Er ging wie an unsichtbaren Fäden geführt auf Vengor zu und entblößte dabei seinen linken Arm. Da sah er es, ein blutrotes V, wie es auf halbem Weg zwischen Handgelenk und Ellenbogen gegen das geisterhafte Blau der Deckenlampe und das giftige Grün von Vengors Maske anglomm. "Ihr habt es nicht mehr im Kopf, weil ich euch allen einen Gedächtniszauber auferlegt habe. Aber wer von mir mit dem Zeichen von Blut und Vergeltung versehen wurde erhielt damit auch einen Schutz gegen unfreiwilligen Verrat und eine wirksame Unterdrückung freiwilligen Verrates. Wer in Gefangenschaft gerät und einen Tag nicht mehr aus freiem Willen den Standort wechseln kann, stirbt einen für Beobachter grauenvollen Tod als Warnung, sich nicht mit den Wächtern der Vergeltung anzulegen. Will jemand von euch von sich aus Verrat begehen, so nimmt er sich und jeden mit in den Tod, den er in mein Geheimnis einzuweihen wagt. Ich habe keine Lust, mich mit Halbheiten zu begnügen wie der dunkle Lord, der ja wohl auch nur ein Halbblut war."

"Will sagen, wenn ich gefangengenommen werde und einen Tag nicht mehr wegkomme sterbe ich?" stieß Calligula mit unverhohlenem Entsetzen aus. Vengor nickte wild. Dann deutete er auf seinen schattenhaften Begleiter. "Falls ich nicht befinde, dass er dort dein Leben und deine Seele in sich aufsaugen darf, Nummer dreißig", schnarrte Vengor. Die blauen Augenlichter des Nachtschattens erstrahlten unvermittelt eine Spur heller. Bildete Calligula es sich ein, oder hörte er von diesem Geisterwesen wirklich ein leises, überlegenes Lachen? "Verscherzt es euch also nicht mit mir oder ihm. Er hat immer Hunger auf Seelen, je verdorbener, desto mehr munden sie ihm. Dies nur, damit ihr wisst, dass wer zu den Wächtern der Vergeltung gehört, nur durch seinen Tod wieder austreten kann."

"Und ihr wollt uns nicht euer Gesicht zeigen?" fragte ein hünenhafter Maskenträger den Mann auf dem Podest.

"Nur dann, wenn ich beschließe, dass du nur noch eine Sekunde zu leben haben sollst, Nummer fünf", schnarrte Vengor. "Wünsche es dir also besser nicht mehr, mein wahres Gesicht zu sehen, ebenso nicht, die Gesichter deiner Mitstreiter zu sehen!" Nummer fünf ließ diese Antwort und diese Anweisung kalt. Offenbar hatte er mit einer Drohung gerechnet. Dann deutete Vengor noch einmal auf Calligula Scorpaenidus: "Du bist zwar der jüngste und unkundigste in diesem Kreis, sollst aber durchaus deine Chance bekommen, dich in meiner Gunst weiter nach oben zu arbeiten. Geh also los und finde Orte, wo die Kristalle gefrorener Gewalttode zu finden sind! Wenn du genug davon hast, berühre mein Zeichen, dass nur für dich und deine dir nicht mit Namen vorgestellten Brüder zu sehen sein wird, wenn ihr euch die Masken aufsetzt!"

"Wo soll ich anfangen?" fragte Calligula, dem die Aussicht, durch eine spektakuläre Aktion einige Plätze in der Rangordnung nach oben klettern zu können wohl sehr behagte.

"Das ist deine erste Bewährungsprobe, Nummer dreißig! Denke nach. Und ihr anderen tut dies auch! Ich will noch vor der nächsten Wintersonnenwende genug von der magischen Grundsubstanz, um uns bewaffnen zu können", erwiderte Vengor. Dann deutete er auf die Wände des Raumes. "Ihr nehmt jetzt alle wieder Abstand voneinander. Dann werde ich die an euch vergebenen Portschlüssel wirksam werden lassen, die euch zu eurem Startpunkt zurückversetzen. Dort könnt ihr die Masken abnehmen, wenn im Umkreis von hundert Metern niemand durch eigene Augen oder Hilfsmittel beobachtet, was ihr tut. Und jetzt bereitmachen zur Rückreise!" Calligula gehorchte. Als auch alle anderen der Anweisung folgten strahlte noch einmal ein blauer Blitz auf, der sich in dreißig wild rotierende Lichtspiralen verwandelte. Als diese Spiralen ebenso rasch verschwanden wie sie erschienen, waren die dreißig neuen Mitbrüder Vengors nicht mehr in dieser Halle.

"Der ganz junge will immer noch dein wahres Gesicht sehen, mein Freund", zischte der Nachtschatten. "Geh davon aus, dass er dann, wenn er wirklich genug von den Kristallen findet, versuchen wird, dich zu erpressen!"

"Hat der kleine miese Mitläufer sich nicht richtig abgeschottet?" feixte Vengor.

"Er hat es nicht gelernt, Meister", erwiderte der Nachtschatten. Beide lachten über diese Erkenntnis, dass jedes ordentlich spukende Gespenst vor Neid und Entsetzen zu weißem Nebel zerflossen wäre. Allerdings wusste Vengor nicht, dass nicht er der Herr des Nachtschattens war, sondern Iaxathan und dass der Nachtschatten sich als wahren Herren der Wächter der Rache empfand. Nur er hatte Vengor verraten können, wie das Zeichen von Blut und Treue eingeritzt und so verzaubert wurde, dass kein unerwünschter es erkennen würde, ähnlich dem dunklen Mal, dass Vengor vor zwanzig Jahren selbst von Voldemort erhalten hatte.

Die Kristallsucher waren nun auf ihrem Weg. Sie würden es nicht wagen, erfolglos zu sein.

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Zwanzig Schwestern bildeten einen Kreis um sie, die unbestrittene, unheimliche, mächtige Anführerin. Diese trug jenen rosaroten Umhang, der sie als Anführerin bezeichnete. Ihr dunkelblondes Haar umfloss ihren oberen Rücken. Sie war froh, dass es nach der gescheiterten Erbeutung eines Seelenschlingsteins so schnell nachgewachsen war. Sie hatte schon damit gerechnet, dass sie Jahre oder Jahrzehnte mit einer jungenhaften Kurzhaarfrisur würde leben müssen. Doch trotz der in ihr wirkenden Tränen der Ewigkeit wuchsen Haare und Nägel noch mit der bei Normalsterblichen üblichen Geschwindigkeit. Anthelia, die mit der Erdmagierin Naaneavargia eins gewordene Anführerin der Schwesternschaft der schwarzen Spinne, überblickte alle auf ihren Ruf herbeigeeilten Mitschwestern. Als sie Beth McGuire sah sagte sie mit ihrer tiefen Altstimme: "Schwester Beth, wenn du von der Zögerlichen Roberta Sevenrock zum Raport einbestellt wirst, teile ihr bitte noch einmal mit, dass ich nicht vorhabe, unbescholtenen Hexen und Zauberern etwas anzutun, solange sie meine Pläne nicht mit massiver Gewalt stören. Wir haben schlimmere Gegner zu fürchten, die wir nur gemeinsam bezwingen können, wenn überhaupt."

"Die Abgrundstöchter?" fragte Beth. Anthelia/Naaneavargia wiegte den Kopf und erwähnte, dass von denen ja nur noch eine wach sei und sich wohl auf ihr klar abgesichertes Jagdrevier beschränken würde, nachdem sie sicher mitbekommen habe, was ihren beiden in einem Körper zusammengezwungenen Schwestern passiert sei. Dann sagte sie: "Dieser Nachtschatten in Norwegen sorgt mich mehr. Erst hat er sich dort in den langen Nächten Opfer unter den Magielosen geholt. Dann hat er versucht, den norwegischen Zaubereiminister und seine Familie zu töten. Er konnte abgewehrt werden, wurde aber nicht vernichtet. Ich war schon versucht, Sigursson meine Hilfe anzubieten. Aber dann kam uns das mit Lorna Vane dazwischen." Sie lächelte. "Mit anderen Worten, wir dürften bei jedem Zaubereiminister der Welt auf taube Ohren stoßen."

"Ja, aber warum ist dieser eine Nachtschatten für uns noch gefährlicher, als diese Biester es eh sind?" wollte eine der erst vor wenigen Monaten befreiten Mitschwestern wissen. Anthelia sah sie an und sagte mit einer ernsten Betonung: "Er trägt das Erbe des dunklen Königs in sich. Dieser könnte, weil selbst nur ein Geist, Kontakt mit dem Nachtschatten aufnehmen und ihn zu seinem fleischlosen Sklaven machen und gezielt einsetzen, um sein Ziel zu verfolgen, wieder einen eigenen Körper zu erlangen. Der Umstand, dass der Nachtschatten seit zwei Monaten nicht mehr in Erscheinung getreten ist, gibt mir stark zu denken."

"Was für ein dunkler König?" wollte Beth McGuire nun wissen. Anthelia atmete tief durch. Dann erzählte sie den versammelten Schwestern die Geschichte Iaxathans, wie sie sie aus den Erinnerungen Naaneavargias herleiten konnte. Wie genau Iaxathan seinen lebenden Körper verloren hatte ließ sie jedoch aus. Das mussten ihre Mitschwestern nicht wissen, dass in ihrem Körper wohl ein gewisser Teil von Fleisch und Blut des alten Magiers gelöst war. Sie sagte jedoch: "Die Erdmagier und die, die sich der Kraft der Zerstörung zugewandt haben fanden unabhängig voneinander heraus, dass es eine Beziehung zwischen Magie, Geist und Materie gibt, die nicht durch gezielte Anrufung der Zauberkräfte wirkt, sondern durch massive Gewaltanwendung mit Todesfolge. Sie fanden heraus, dass dort, wo innerhalb kurzer Zeit mehr als dreihundertfünfzig denkfähige Wesen an einem Tag durch den Willen zum Töten anderer um ihr Leben gebracht wurden winzige Kristalle entstehen, die aus verdichtetem Vernichtungswillen bestehen. Sie schlucken jede Form von Wärme und Licht. Daher wurden sie von den Erdmagiern als Unlichtkristalle oder gefrorene Grausamkeit bezeichnet. Wurden sie von denkenden Wesen berührt, die entweder keinen Funken Magie in sich trugen oder noch kein denkfähiges Mitgeschöpf töteten, so zerfielen diese winzigen Kristalle zu Staub. Doch wenn einer der Anhänger dunkler Kräfte so einen Kristall fand, konnte dieser seine Zauberkräfte verstärken. Iaxathans schwarze Festung dürfte aus kleinen Mengen dieser Kristalle gebaut worden sein. Ebenso bin ich mir sicher, dass sein Überdauerungsartefakt aus Orichalk und Unlichtkristall zusammengefügt wurde. Wenn Iaxathan durch den entkommenen Nachtschatten wieder Kontakt zu sterblichen Magiern erhält, die dem Weg Riddles folgten und ihn sehr gerne rächen würden, könnte er diese Leute dazu bringen, nach Unlichtkristallen zu suchen. Wie erwähnt keimen sie dort auf, wo mindestens sieben mal sieben mal sieben denkende Wesen gewaltsam an einem Tag ihr Leben verloren. Je mehr Leben vernichtet wurden desto größer wachsen die Kristalle. Ja, sie können regelrecht gemästet werden, je mehr Menschen oder denkfähige Lebewesen in ihrer Nähe getötet werden."

"Will sagen, dieser Nachtschatten könnte jemanden dazu treiben, diese Kristalle künstlich herzustellen, indem er entsprechend viele Leute umbringt?" wollte Louisette Richelieu wissen, die froh war, dass die Apparierprüfungen französischer Zauberschüler nun für dieses Jahr beendet waren.

"Ja, wenn jemand weiß, dass es diese seltenen Konzentrate gewaltsamen Todes gibt. Es ist unbedingt erforderlich, dass dort, wo ein solcher Kristallkern entstehen soll, innerhalb einer Erddrehung so viele Menschen sterben, weil nur diese Zahl pro Zeit eine dauerhafte Verdichtung bewirkt. Ist ein solcher Kristallkern erst einmal entstanden und wird weder von Magielosen noch von das Töten von Mitgeschöpfen ablehnenden Menschen berührt, kann er wohl Jahrzehnte herumliegen oder durch in seiner unmittelbaren Umgebung getötete Wesen weitere Kraft erhalten, die sich dann in einem Wachstum des Kristalls äußert. Jetzt, wo ich weiß, dass mindestens ein Gehilfe Iaxathans existiert, muss ich auch davon ausgehen, dass dieser sich einen sterblichen Helfershelfer sucht und vielleicht schon gefunden hat. Dieser kann dann all die Dinge tun, die Iaxathan ihm zu tun lehrt und gestattet. Deshalb mache ich mir um die einzige noch wache Abgrundstochter weniger Sorgen. Wir sollten einem möglichen Kristallsucher zuvorkommen und alle in der Erde ruhenden Kristalle finden und zerstören. Wie erwähnt kann man sie leicht vernichten, wenn jemand unschuldiges oder ohne Funken eigener Magie sie mit bloßen Händen und damit mit seiner eigenen Lebenskraft berührt. Die Lichtanbeter des alten Reiches haben den Spruch geprägt, dass jedes Leben ein Keim der Hoffnung und Erneuerung ist. So ähnlich psalmodieren es diese Heuchler, die sich auf die Lehren von Jesus von Nazareth berufen doch auch jeden Weihnachts- und Ostertag. Bei den Unlichtkristallen trifft dies wahrhaftig zu. Totes oder zum töten entschlossenes kann ihnen nichts anhaben. Nur reines Leben."

"Dann braucht dieser von dir vermutete Helfershelfer nur eine Atombombe auf eine Stadt runterfallen zu lassen um so einen Kristall entstehen zu lassen?" fragte Romina Hamton. Anthelia/Naaneavargia, die als eine der wenigen in diesem Kellerraum wusste, was Romina meinte, nickte heftig. Dann blickte sie die japanische Mitschwester Izanami Kanisaga sehr erregt an. "Trifft es nicht zu, dass die Bewohner dieses achso freien Landes solche Vernichtungswaffen gegen dein Volk eingesetzt haben, um den Krieg um die Pazifikregion zu beenden?" fragte sie Izanami. Diese wiegte erst den Kopf. Dann schrak sie zusammen und rief nur "Hai", was auf Japanisch ein klares Ja bedeutete. Dann sprach Izanami auf Englisch weiter: "Ich weiß von meinen Kollegen, dass die Städte Hiroshima und Nagasaki vor sechsundfünfzig Jahren mit diesen Kernteilchenfeuerbomben zerstört und mit einem unsichtbaren Übel verseucht wurden, das Radioaktivität genannt wird. Dabei sollen mehr als zehntausend Menschen in derselben Sekunde getötet worden sein. Ähm, müssen die, die töten wollen, ihre Opfer sehen oder berühren können, um so einen Kristall zu machen, höchste Schwester?"

"Nein, der Wille zum Töten und der durch ihn erzwungene Tod vieler denkender und fühlender Wesen erschafft einen Unlichtkristall. Es muss auf jeden Fall der von Lebewesen gewollte Tod anderer Lebewesen sein, keine Naturgewalt wie ein Sturm oder Vulkanausbruch und keine Seuche wie die Pest oder Malaria", erwiderte Anthelia. Izanami erbleichte, was bei ihrer goldgelben Hautfarbe schon sehr auffällig war. Dann fragte sie, wo genau so ein Kristall entstehen würde. Die anziehend schöne Anführerin der Spinnenschwestern überlegte nur kurz. Dann sagte sie: "Im Zentrum einer unsichtbaren Kugelzone, die mindestens einhundert Meter durchmisst, aber durch die Anzahl der Todesopfer um so größer wird. Erst wenn das Massensterben nachlässt, wächst die Kugelzone nicht weiter, und der Kristall entsteht im Zentrum."

Dann kann einer dieser Todeskristalle tief unter der Erde entstehen, wenn diese Kugelzone mehr als einen Kilometer durchmisst?" wollte Izanami wissen.

"Sehr richtig, Schwester Izanami. Erst wenn eine Erddrehung vorüber ist, entsteht der Kristall aus der gebündelten Kraft an einem Ort beendeter Leben."

"Dann kann ein solcher Kristall unter jeder der beiden verheerten Städte tief im Boden stecken und bis heute da liegen. Wie kann ein solcher Kristall aufgespürt werden?" fragte Izanami. Anthelia/Naaneavargia dachte kurz nach. Dann erwähnte sie, dass ein Unlichtkristall von jedem mit einem Suchzauber gefunden werden konnte, der gezielt nach ihm suchte und dabei an die Zahl der mindestens gestorbenen Menschen oder Zauberwesen dachte.

"Dann bitte ich ergeben darum, dass ich diese Zusammenkunft verlassen darf, höchste Schwester. Denn jetzt, wo du uns diese so erschreckende Sache offenbart hast, halte ich es für meine Pflicht, den Sonnenwächtern meines Volkes zu erläutern, welche Gefahr unter den verseuchten Städten schlummern mag und dass es wichtig ist, sie zu beseitigen, bevor sie schrecklicher wird als die Vernichtung, die sie überhaupt erschaffen hat." Anthelia nickte ihrer japanischen Mitschwester zu und erlaubte ihr, in ihr Land zurückzukehren.

"Und wir sollten nach Orten suchen, wo noch solche Kristalle liegen könnten, Schwestern", sagte Anthelia. Louisette erwähnte, dass die Strände der Normandie sicher einige davon hergeben mochten, weil dort an einem Tag mehr als tausend Soldaten gestorben seien und wohl auch da, wo die Opfer der Bartholomeusnacht ihren Tod gefunden hatten vielleicht noch diese Kristalle liegen könnten. Anthelia erwähnte, dass die Unlichtkristalle sofort zerfielen, wenn ein arg- und magieloser Mensch sie berührte. Er oder sie würde es dann wohl nicht einmal merken, was er oder sie da ausgerichtet hatte.

"Dann wollen wir hoffen, dass dieser Nachtschatten seinen oder seine Helfershelfer nicht längst zu den großen Schlachtfeldern der Menschheitsgeschichte geschickt hat und dass auf diesen keine solchen Kristalle mehr sind, weil schon wer sie angefasst hat."

"Ja, das ist wohl zu hoffen", erwiderte Anthelia darauf. Dann erwähnte sie noch etwas, was ihr wichtig war.

"Die Möglichkeit, dass Iaxathan sich neue Helfer auf der Erde verschafft zwingt uns, dass wir mehr über das alte Wissen erfahren. Ich weiß zwar viel, aber vieles auch nur von Erwähnungen anderer alten Magierinnen und Magier. Da ich davon ausgehen muss, dass der junge Zauberer Julius Latierre Zugang zu einer Quelle dieses alten Wissens erlangt hat, diese jedoch wohlweislich vor seinen Mitmenschen verhüllt, sollten wir uns einen eigenen Weg zur Quelle des alten Wissens erschließen. Daher bitte ich euch, Augen und Ohren offenzuhalten und zu ergründen, ob irgendwo in der Welt etwas von kleinen, gerade faustgroßen Globen mit silbernen Gradnetzverzierungen bekannt wurde. Ein solches Artefakt könnte dem, der die wenigen Worte seiner Entfaltung kent den Weg zur Quelle des alten Wissens weisen. Dass ich jetzt erst davon spreche liegt einzig und allein daran, dass ich nicht wollte, dass unbefugte Zugang zu dieser Quelle erlangen. Ich habe es nur dem jungen Zauberer Julius Latierre gestattet, weil er mir Leben und Freiheit erhalten hat, was ohne dieses Wissen nicht gelungen wäre. Anderen jedoch kann und will ich dieses Wissen nur gewähren, wenn ich ihre Absichten einschätzen und für uns unschädlich erkennen kann." Sie ließ ihre Worte wirken. Dann erhob sich die deutsche Mitschwester Albertine Steinbeißer und fragte danach, wie die von Anthelia erwähnten Artefakte genau auszusehen hatten. Anthelia erzeugte daraufhin eine frei im Raum schwebende Projektion eines kugelförmigen Steins mit silbernen Linien, die an den Kreuzungspunkten geheimnisvolle Gravuren besaßen. Albertine erbleichte. Dann stieß sie aufgeregt aus: "Das also meinte meine Ururgroßmutter, als sie niederschrieb, dass meine Familie den Schlüssel zu uraltem Wissen erbeutet habe. Aber den dürfe nur eine Hexe berühren und benutzen, die wie sie selbst mindestens einen Sohn und eine Tochter empfangen und geboren habe." Den letzten Teil ihrer unerwarteten Offenbarung grummelte sie mit unüberhörbarem Missmut.

"Soso, haben deine Vorfahren einen solchen Stein erbeutet und mit schützenden Zaubern gegen die Inbesitznahme durch einen Zauberer abgesichert? muss diese Hexe deiner Blutlinie entstammen?"

"Wenn ich es richtig verstanden habe ja, weil meine Vorfahrin sicherstellen wollte, dass dieses Ding nicht von wem anderen geklaut und wie auch immer benutzt wird", knurrte Albertine. Die anderen Schwestern grinsten verhalten. Denn die meisten von ihnen wussten es oder hatten es von anderen gehört, dass Albertine Steinbeißer wohl niemals ein natürlich empfangenes Kind zur Welt bringen würde. Natürlich empfangen hieß ja, mit einem zeugungsfähigen Mann das Lager zu teilen. Jetzt warteten alle darauf, was Anthelia sagen würde.

"Ich weiß, dass dir die körperliche Nähe eines Mannes ein Graus ist, Schwester Albertine. Ich könnte dir jetzt unter magischem Druck befehlen, die Bedingung zu erfüllen, die deine Vorfahrin festgelegt hat. Doch bestenfalls müssten wir dann mindestens ein Dreivierteljahr warten, schlimmstenfalls Jahrzehnte, weil du nur Söhne oder nur Töchter gebären würdest. Daher werde ich dich nicht dazu drängen, diesen Weg zu beschreiten. Hast du noch Basen, die aus derselben Blutlinie entstammen?"

"Keine direkten Cousinen. Ob es Hexen aus der Blutlinie außer uns Steinbeißers in Deutschland und Österreich gibt weiß ich nicht. Meine Mutter war eine angeheiratete, also keine direkt aus der Blutlinie meiner Ururgroßmutter stammende Tochter", erwiderte Albertine. "Aber ich kann nach noch lebenden Nachfahren von ihr suchen. Das würde mir auch wesentlich angenehmer sein", sagte sie.

"Darum kann, will und muss ich dich bitten, Schwester Albertine", sagte Anthelia. Albertine sah noch einmal in die Runde. Die anderen dachten wohl, dass sie noch was zu dieser Sache sagen wolle. Doch Albertine hatte etwas ganz anderes auf dem Herzen:

"Muss das Töten unbedingt im einem Krieg stattfinden, höchste Schwester?" fragte sie. Anthelia schüttelte den Kopf. "Dann schlage ich vor, dass ich meine Kontakte in Deutschland, Österreich und Polen darauf hinweise, dass vielleicht doch was von Grindelwalds Treiben unter den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten versteckt sein kann. Immerhin wurden gerade im Lager Auschwitz-Birkenau über eine Million Menschen ermordet, die nicht ins Menschenbild der damaligen Betreiber gepasst haben."

"Die durchorganisierte Massentötung?" fragte Anthelia. Trotz ihrer Vorliebe für die magische Welt hatte sie gerade über die muggelstämmigen Mitschwestern sowie ihren früheren Kundschafter Benjamin Calder alias Cecil Wellington erfahren, dass es in Europa eine Bewegung gegeben hatte, die meinte, dass die hellhäutigen Menschen die Herrenrasse seien. Diese Ansicht hatte zum zweiten Weltkrieg und zur gezielten und großangelegten Ermordung andersdenkender und andersrassiger Menschen geführt. Auch gleichgeschlechtlich liebende Menschen waren dieser organisierten Vernichtungsaktion zum Opfer gefallen. Anthelia dachte daran, dass ihre Tante Sardonia damals gezielte Vergeltungsschläge gegen ihr missliebige Zauberer und Muggel geführt hatte. Aber auf sechs Millionen Opfer war sie am Ende doch nicht gekommen, obwohl sie ein volles Jahrhundert Macht ausgeübt hatte.

"Dann forsche du nach, ob es unter diesen Orten der gezielten Vernichtung solche Kristalle gibt, Schwester Albertine", befahl Anthelia. Albertine bestätigte den Erhalt dieser Anweisung. Alle sahen ihr an, dass ihr die Suche nach diesen dunklen Kristallen mehr behagte als die Vorstellung, sich von irgendeinen ihr nicht zusagenden Mann zwei Kinder aufladen zu lassen.

"Wenn ihr solche Kristalle findet, berührt sie nicht! Schafft jemanden dorthin, der oder die bisher niemandem geschadet hat und lasst diesen Menschen den Kristallkörper anfassen. Dem Herbeigeholten wird nichts zustoßen. Er oder sie wird nur die kristallisierte Grausamkeit zerstreuen", gab Anthelia ihren Mitschwestern noch auf. Dann verabschiedete sie die herbeigerufenen Schwestern bis auf Beth McGuire.

"Lady Roberta hat mir ausgerichtet, dass sie es zwar für eine lustige Idee gehalten hat, aus einem bissigen Kettenhund ein niedliches Wickelhexlein zu machen, möchte jedoch mit allem auch unter Feindinnen anstehenden Respekt darum bitten, dass du nicht mehr von dir aus irgendwelche provokanten Aktionen gegen das Zaubereiministerium durchführst!"

"Ist die kleine Lorna gut untergebracht?" fragte Anthelia amüsiert grinsend.

"Schwester Ava ist ihre Amme", erwiderte Beth. "Sie hat ihr sogar schon angedroht, sie vollständig zum unbedarften Wickelhexlein zu machen, wenn sie nicht das brave kleine Mädchen ist."

"Sollte mir genehm sein, wenn diesem übereifrigen Feuerteufel auch der Rest an eigener Erinnerung entnommen wird, damit eine neue, ihrer Natur zugetane Hexe aufwächst, die vielleicht eines Tages unsere Reihen vervollständigt."

"Dann hättest du ihr das Gedächtnis gleich nehmen können, als du bei Romina warst", wisperte Beth.

"Nein, es war schon wichtig, vor allem dem behutsamen Minister Cartridge klarzumachen, welchen Preis der Übereifer seiner Beamten einträgt", erwiderte Anthelia. Dann gab sie für Lady Roberta noch einen Gruß mit auf den Weg: "Wenn sie jemals wirklich auf eine vernunftgemäße Vorherrschaft der Hexen wert gelegt hat und dies immer noch tut, so möge sie darüber nachdenken, ob sie und ich weiterhin Feindinnen bleiben müssen. Da sie weiß, das Anthelia nur ein Teil von mir ist sollte sie darüber nachdenken, ob ein Bündnis zwischen ihr und mir der Welt nicht mehr gutes geben kann, als unsere dauernde Belauerung."

"Darauf wird sie nicht eingehen", sagte Beth McGuire.

"Weißt du das so sicher?" fragte Anthelia mit hintergründiger Betonung.

"Das mit den Entomanthropen hat dir viele Sympathien zerstört, und dass du auch als schwarze Spinne herumlaufen kannst macht den Leuten mehr Angst als sonst was", erwiderte Beth verhalten, weil sie nicht wusste, wie das bei ihrer Anführerin ankommen würde. Diese nickte jedoch nur und erwiderte darauf:

"Was meinst du, wie erschreckend das für mich ist, diese Tiergestalt in mir lauern zu fühlen und wie froh ich bin, dass die Verschmelzung mit Anthelia diese Natur beherrschbarer gemacht hat. Deshalb bin ich diesem jungen Zauberer auch so dankbar, der diesen alten Zauber gelernt hat, der bestehende Flüche aufhebt oder in ihr Gegenteil verwandelt." Beth McGuire nickte. Dann bat sie, ebenfalls gehen zu dürfen. Anthelia/Naaneavargia erlaubte ihr das. Dann dachte sie an Albertine. Was würde diese tun, wenn sie keine Hexen aus der Blutlinie ihrer Ururgroßmutter finden konnte? Sie fragte sich selbst, ob sie selbst bereit wäre, um eines Lotsensteins wegen zwei Kinder in die Welt zu setzen. Für sich selbst fand sie eine Antwort. Doch ob Albertine ebenso dachte wusste selbst die zum Hören fremder Gedanken fähige Führerin der Spinnenschwestern nicht. Ihr war im Moment nur wichtig, dass nach den Unlichtkristallen gesucht wurde. Sollten unter den Städten Hiroshima und Nagasaki oder jenen Massenvernichtungslagern der Kriegstreiber aus Deutschland wirklich welche ruhen, so war es eine Frage der Zeit, wer sie zuerst aufspüren und berühren würde. Izanami konnte einen solchen Kristall wohl anfassen, da sie für Anthelia bereits getötet hatte. Was würde sie mit einem solchen, wohl sehr großen Kristall anstellen, wenn sie ihn in den Händen hielt? Als Vertraute der Erde und Kennerin dunkler Zauber würde ihr so ein Kristall eine Menge Macht verleihen, noch mehr Macht als das Schwert Yanxothars oder die in ihr wirkenden Tränen der Ewigkeit. Dann fiel ihr jedoch ein, dass ein Unlichtkristall seinen Besitzer dazu trieb, für ihn zu töten. Eine dunkle Symbiose entstand, bei der der Kristall dem Besitzer mehr Macht über dunkle Zauber gab, andererseits aber immer wieder mit Leben gefüttert werden musste. Ähnlich wie ein Seelenschlingerstein konnte so ein Kristall für den, der ihn an sich nahm zum Fluch werden. Genau deshalb verehrten die Mitternachtsanhänger Iaxathans diese tückische Substanz ja auch so sehr. Als Anthelia allein wollte sie nie zur mordenden Furie werden. Als Naaneavargia allein lag ihr mehr an der Gesellschaft von Leben strotzender Männer. Nein, sie wollte so einen Kristall nicht für länger bei sich haben als unbedingt nötig war. Mit dieser für sich selbst getroffenen Entscheidung begab sie sich in eine große Stadt irgendwo auf der Erde, um sich einen Liebhaber für eine wilde Nacht zu verschaffen.

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Früher hatte er sich nie so recht für Muggelsachen interessiert. Muggel waren für ihn niederes Getier, das nur zufällig menschenähnlich aussah. Jetzt hockte Calligula Scorpaenidus in einer Bücherei dieser Magielosen. Der Gestank von Druckerfarbe und dem viel zu dünnen und zerfallsanfälligen Papier stach ihm in die Nase. Doch er musste sich sehr beherrschen, nicht zu niesen. Hier durfte er nicht auffallen. Er musste die Informationen finden, die ihm helfen sollten, die Unlichtkristalle zu finden. Es war zu einem Wettlauf der Wächter der Vergeltung geworden. Wer Lord Vengor auch nur einen größeren Kristall brachte würde höher in seiner Rangfolge aufsteigen. Scorpaenidus wollte nicht auf der untersten Stufe stehenbleiben. Dafür hatte er nicht die Anfeindungen in Hogwarts ertragen. Dafür hatte er nicht sein Leben für den dunklen Lord aufs Spiel gesetzt. Dafür hatte er nicht mitgeholfen, Lehrer und Mitschüler umzubringen.

"Hier finden Sie alles über die Atombombenabwürfe von 1945", sagte diese grauhaarige Muggelfrau in ihrer einfallslosen blauen Dienstkleidung, als sie vier dicke Bücher vor ihn auf die Ausgabetheke ablegte. Auf einem war ein Feuerball zu sehen, aus dessen oberer Hälfte eine pilzförmige Rauchwolke herauswuchs. "Außerdem beschreibt dieses Buch das gesamte Kernwaffenprogramm der letzten dreißig Jahre "Am Abgrund des Feuers" heißt es und deckt die Atombombenabwürfe, die in freier Luft gezündeten Testbomben und alle Zwischenfälle ab, die beinahe zum weltweiten Atomkrieg geführt hätten." Calligula Scorpaenidus betrachtete die dicken Bände. Weil Papier so dünn war ging er davon aus, dass jedes dieser Bücher mehr als fünfhundert Seiten enthielt. Er las die Inhaltsangaben. Vieles davon war für ihn unverständliches Muggelzeug. Doch er lächelte die Büchereifrau an und bedankte sich. Dann unterschrieb er die Ausleihbestätigung und zahlte die fällige Gebühr. Das dafür nötige Geld hatte Scorpaenidus einem feist und überfüttert wirkenden Muggel mit Hilfe des Imperius-Fluches und anschließendem Gedächtniszauber abgenommen.

Außerhalb der Bücherei suchte und fand Scorpaenidus eine uneinsehbare kleine Einfahrt. Dort disapparierte er, um der abgasgeschwängerten Stadtluft zu entgehen.

Im Schutz seines eigenen kleinen Verstecks trank er von dem vorsorglich zusammengebrauten Gedächtnisverstärkungstrank. Der war zwar nicht so mächtig wie Bicranius' Mixtur der mannigfachen Merkfähigkeit. Doch um die wesentlichen Sachen aus diesen vier Muggelwälzern auswendig zu lernen reichte er allemal. Calligula ging es um die über bewohnten Städten abgeworfenen Superbomben. Als er aber las, dass die beiden über Japan abgeworfenen Bomben im Verhältnis zu auf gewaltsam erzwungene Kernverschmelzung basierenden Bomben kleine Knallfrösche waren, fragte er sich schon, ob die Reinblüter die Muggel in ihrer Fähigkeit, Menschen umzubringen, nicht sträflich unterschätzt hatten. Zumindest gab es keine gezielte Vernichtungsaktion, die mit diesen Bomben ausgeführt worden war, nachdem die Welt vor Schreck und Bestürzung erkannt hatte, wie schrecklich die Bombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki gewirkt hatten. Er lernte die genauen Positionsangaben. Wenn stimmte, was Lord Vengor erwähnt hatte, dann würden die bei den Explosionen freigesetzten Vernichtungskräfte eine immaterielle Kugelzone von mindestens drei Meilen erzeugt haben, in deren Zentrum sich die freigesetzte Todesmacht zu einem schwarzen Kristall verfestigt hatte. Er würde also nicht nur in Gebiete reisen müssen, in denen bis heute eine gesundheitsgefährdende Strahlung wie ein schleichender Todesfluch lauerte, sondern auch tief unter die Erde vorstoßen müssen. Außerdem durfte er nicht auffallen. In wenigen Tagen begingen die noch in Hiroshima ausharrenden Bewohner und Nachkommen der Atombombenopfer den sechsundfünfzigsten Jahrestag dieses schlimmen Angriffes. Sicher würden da trotz der Strahlengefahr auch Touristen hingehen, die sich an den Orten großer Schlachten oder verheerender Katastrophen erheiterten. Aber um nicht aufzufallen wollte Calligula wie ein Einheimischer aussehen. Dazu brauchte er Vielsaft-Trank. Gut, dass er in weiser Voraussicht welchen gebraut hatte. Fehlte nur noch der Spender eines Körperfragmentes, um für eine Stunde pro Dosis dessen Gestalt anzunehmen. Zwölf Dosen hatte Calligula gerade vorrätig. Das hieß also, dass er nur zwölf Stunden in fremder Erscheinungsform zubringen konte. Er dachte jedoch, dass dies vollkommen ausreichte.

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Albertine Steinbeißer hatte sehr behutsam vorgehen müssen. Sie hatte überlegt, dass ein dunkler Kristall, wie ihre wahre Herrin ihn beschrieben hatte, sicher magische Streustrahlung oder gar Magieabsorbtion hervorrufen mochte. Unter dem Vorwand, zu überprüfen, ob zur Zeit des Nationalsozialismus vielleicht Anhänger Grindelwalds mit den braunen Machthabern gemeinsame Sache gemacht hatten und im Schatten deren eigener Gräueltaten auch mit dunkler Magie experimentiert hatten las sie sich durch die umfangreichen Archive des deutschen und polnischen Zaubereiministeriums. Als sie dabei auf eine Meldung von vor fünfzig Jahren stieß war sie zuerst höchst alarmiert. Demnach musste es in den Bereichen der beiden größten Vernichtungslager zu magischen Entladungen gekommen sein, die sich in Form von Erdelementarkräften ausgetobt hatten. Untersuchungen waren jedoch damals nicht durchgeführt worden, weil sowohl der Boden als auch die Gebäude keine sichtbaren Veränderungen aufwiesen. Albertine erinnerte sich, dass Anthelia mit einer alten Erdelementarmagierin verschmolzen war. Sicher würde sie sich dafür interessieren, was damals passiert war. So überbrachte sie eine Kopie der gefundenen Meldungen so heimlich sie konnte in die Daggers-Villa. Anthelia/Naaneavargia las die auf Polnisch, Russisch und Deutsch abgefassten Mitteilungen und verzog ihr Gesicht. "Ich glaube, diesem Bericht eine gute und eine schlechte Nachricht entnehmen zu dürfen", sagte Anthelia mit hörbarem Missmut. Albertine wollte natürlich erfahren, welche Nachrichten es waren. "Die gute Nachricht ist, dass die unter diesen Lagern gezüchteten Unlichtkristalle wohl schon zerstört sind, bevor sie einem Anhänger Grindelwalds oder Riddles in die Hände fallen konnten. Diese Kristalle waren sicherlich so groß, dass jemand aus ihnen ganze Legionen von magischen Gegenständen hätte fertigen können, wenn es zutrifft, dass sie vom Tod von mehr als einer Million Menschen gespeist wurden." Albertine nickte. "Daraus erfolgt zumindest für uns die schlechte Nachricht, dass es außer mir und dem neuen Knecht des alten Erzdunkelmagiers noch wen gab und womöglich noch gibt, der über die Gefahren und Schwächen eines Unlichtkristalles unterrichtet ist. Du bist sicher, nichts in euren Archiven gefunden zu haben, was auf die Existenz dieser Kristalle hinweist?"

"Ich habe erst von dir davon erfahren, höchste Schwester", beteuerte Albertine Steinbeißer. Die Führerin des Spinnenordens nickte. Dann sagte sie: "Wir müssen darauf gefasst sein, dass außer unserem dunkelmagischen Gegenspieler auch Leute nach den Kristallen suchen, die über die Magie des alten Reiches informiert sind und das nicht erst seitdem der junge Zauberer Julius Latierre die Quellen des alten Wissens gefunden hat. Ich argwöhne, dass jene, die sich die Kinder Ashtarias nennen, nicht nur mächtige Zaubergegenstände ihrer Vorfahrin bewahrt haben, sondern auch Wissen aus alter Zeit geerbt haben."

"Die Inder, Perser, Babylonier und Ägypter sind uns Europäern in der Magieforschung um mindestens drei Jahrtausende voraus, höchste Schwester. Kann sein, dass es noch viele Verstecke ganz alten Wissens gibt. Ich weiß zumindest, dass bei den Brüdern des blauen Morgensterns Zauberer dabei sind, die sich mit altägyptischer und asiatischer Magie sehr gut auskennen. Kann sein, dass diese Unlichtkristalle für die schon ein alter Hut sind."

"Davon müssen wir nach deinen Enthüllungen wohl ausgehen", seufzte Anthelia. Einerseits beruhigte es sie, dass dem künftigen Handlanger Iaxathans große Mengen dieser mysteriösen Materie entgangen waren. Andererseits hatte sie eine gewisse Ahnung davon bekommen, wie stark Ashtarias Kinder sein mochten, wo Julius Latierre eine ihrer wohl mächtigsten Anrufungsformeln gelernt und angewendet hatte. Sie konnte nur hoffen, dass der heimliche Wettlauf zwischen den zwei so verschiedenen Gegenspielern dazu führte, dass alle von tausendfachem Gewalttod verunreinigten Gebiete gereinigt wurden, ohne dass Iaxathans neuer Knecht genug Unlichtkristalle bekam, um im Sinne seines verbannten Herrn und Meisters handeln zu können. Sie gab Albertine noch eine Warnung mit auf den Weg: "Wenn du an einem Ort bist, wo vielleicht noch ein Unlichtkristall liegt, so hüte dich vor Leuten, die eine Aura der Abwehr oder Verdrängung ausstrahlen! Es könnten Kinder Ashtarias sein."

"Und was mache ich, wenn ich den Sucher von der dunklen Seite treffe?" wollte Albertine wissen.

"Wenn er noch nicht unter Iaxathans ganzem Schutz steht kannst du ihn wohl mit dem aramäischen Todesfluch auslöschen. Doch der neue Knecht wird nicht so töricht sein, sich vor Erhalt der ihm helfenden Macht erkennen zu lassen. Es kann jemand sein, der ganz harmlos ist, ja hohes Ansehen genießt. So gilt es erst, ihm Zugriff auf die Unlichtkristalle zu vereiteln. Dabei möchte ich aber nicht mit den Ashtarianern aneinandergeraten, solange kein Grund besteht, die offene Auseinandersetzung mit ihnen zu erzwingen." Albertine nickte. Dann kehrte sie so heimlich wie sie angereist war in ihr Heimatland zurück.

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Calligulas Unterhemd klebte schweißgetränkt an seinem Körper. Er merkte jetzt erst, auf welches haarsträubende Abenteuer er sich da eingelassen hatte, als er einen Londoner Spediteur mit Hilfe von hunderttausend multiplizierten Pfund dazu gebracht hatte, einen kleinen Container nach Tokio auf die Reise zu schicken. Calligula konnte keine unortbaren Portschlüssel zaubern wie sein neuer Herr und Meister Lord Vengor. Flohpulvern durfte er nicht, weil er dann registriert worden wäre. Mit dem rasant über die Weltmeere dahinsegelnden Passagierschiff fliegender Holländer nach Yokohama reisen durfte er auch nicht, weil am Start- und Zielhafen die Reiseaufsicht der Abteilungen für magischen Personenverkehr wachte. Blieb ihm also nur der Weg mit Muggelflugzeugen, wollte er noch vor dem Jahrestag des Atombombenabwurfes in Hiroshima eintreffen.

Er hatte einen kleinen Stahlcontainer von innen mit flüssigem Gold ausgekleidet. Als dieses erkaltet und gehärtet war hatte er Verbergezauber gegen Homenum-Revelius und Vivideo eingewirkt und eine mit Rauminhaltsvergrößerungszauber versehene Druckflasche hineingelegt, die randvoll mit frischer Luft aus den Wäldern seiner Heimat angefüllt war. Kurz bevor der von ihm dahingehend bestochene Transportunternehmer den Behälter abholen wollte, war Calligula hineingeklettert und hatte das Ding von innen mit einem Sperrzauber verschlossen. Danach hatte er gewartet, bis der kleine Container abgeholt worden war. Die Papiere hatte er zusammen mit dem Unternehmer gefälscht. Offiziell enthielt der Container eingefrorene Keimzellen von schottischen Rindern, die in japanischen Fleischfarmen nachgezüchtet werden sollten. Erst als Calligula sicher war, dass die von seinem Geld mitbezahlten freundlichen Beamten vom Zoll den Container durchgelassen hatten und er das Geräusch anlaufender Flugzeugmotoren hörte, schluckte er die Dosis des Körperverlangsamungstrankes, der ähnlich wie ein Verlangsamungszauber aber für einen genau festlegbaren Zeitraum und fünfmal so stark die Organfunktionen verzögerte, so dass jemand, der Calligula sehen mochte, einen Toten zu sehen glauben würde. Dadurch überbrückte er die mehrstündige Luftreise und den Transport auf dem Land. Erst als der vorbestimmte Zielort erreicht war ließ die Wirkung des Gebräus nach. Calligula fand zur üblichen Handlungs- und Wahrnehmungsgeschwindigkeit zurück. Da er von innerhalb des Containers keinen Homenum-Revelius-Zauber ausführen konnte, blieb ihm nur der Lupaures-Zauber, um sein Gehör zu vervielfachen. Da er zudem noch den Wechselzungentrank einnahm, um fremde Sprachen verstehen und selber sprechen zu können, gelang es ihm, von den hier tätigen Arbeitern zu erlauschen, wann wer Feierabend hatte. Er erfuhr, wie untergeben sie ihrem Chef waren, der aber auch nur ein kleiner Lagerverwalter war und noch wen anderes über sich hatte, dem er morgen noch Bericht zu erstatten hatte. Diesen Lagerverwalter wollte sich Calligula für seine Zwecke "ausborgen".

Kurz bevor die Lagerarbeiter ihren Arbeitstag beendeten horchte Calligula, ob er unbeobachtet der kleinen, mit Gold ausgekleideten Stahlkiste entsteigen konnte. Als er sicher war, dass niemand in seiner Nähe war, hob er den Versiegelungszauber auf, der den Behälter für Muggel und einfache Öffnungszauber unaufbrechbar gemacht hatte.

Hiro Osata, der Lagerverwalter, wollte seinem Vorsitzenden wohl eine lupenreine Aufstellung der gerade gehüteten Wahren vorlegen und machte dafür unbezahlte Überstunden. Während die ihm unterstellten Arbeiter bereits zu ihren Familien zurückfuhren saß er an der Tastatur seines Bürorechners und prüfte die Tabellen und Meldelisten, die in den beiden letzten Wochen erstellt worden waren. Er achtete nicht darauf, dass hinter ihm die Tür aufgemacht wurde. Er hätte sich sicher erschreckt, wenn er gesehen hätte, dass die Tür scheinbar von allein wieder zuging. Doch er war ganz und gar in seine Arbeit vertieft. "Schlaf gut, kleiner Muggel!" hörte er plötzlich die gehässig klingende Stimme eines fremden Mannes hinter sich. Er kam nicht mehr dazu, sich umzudrehen. Ein wuchtiger Schlag auf den Hinterkopf raubte ihm die Besinnung. Calligula Scorpaenidus grinste. Doch wegen seines gerade wirksamen Unsichtbarkeitszaubers bekam das niemand mit. Er schaffte den bewusstlosen Japaner in eine Ecke und zog ihm die gesamte Kleidung aus. Auf den noch laufenden Computer achtete er nicht. Diese Maschine war ihm zum einen zu kompliziert und zum anderen zu unwichtig, um sich damit herumzuschlagen. Wichtig war, dass er den Überwältigten alles wichtige abbgenommen hatte, um die nächsten zehn Stunden als dieser herumzulaufen. Um mehr ging es ihm nicht. Er rupfte Osata zehn Büschel aus dem dunklen Haar aus und legte diese in eine leere Phiole, die an der Außenseite zehn Teilstriche besaß. Dann flößte er dem Gefangenen den Trank der Todesnähe ein, der ihn für die nächsten zwölf Stunden in einen unaufweckbaren Schlaf versenkte, bei dem die Körperfunktionen so stark vermindert wurden, dass einfache Muggelärzte ihn für tot halten mochten. Calligula zog seine eigene Kleidung aus und verstaute sie in einer rauminhaltsvergrößerungsbezauberten Gürteltasche. Dann füllte er aus einer bauchigen Flasche zehn dosen eines schlammig aussehenden Gebräus in die Phiole um. Sofort schlug das Gebräu zu einer himbeerfarbenen, halbdurchsichtigen Flüssigkeit um. Scorpaenidus wunderte sich immer wieder, welche Farben Vielsaft-Trank annehmen konnte, je nach den Körperfragmenten des Menschen, in den er seinen Anwender verwandeln sollte. Mit Todesverachtung stürzte Calligula den Trank hinunter und wartete auf die unangenehmen Auswirkungen der Verwandlung. Als diese überstanden waren blickte er in das verspiegelte Fenster. Er sah das Gesicht eines Asiaten mittleren Alters mit fast nachtschwarzem Kurzhaar. Calligula bedachte die für Asiaten fehlende Körperbehaarung mit keinem Gedanken, sondern stieg schnell in die Kleidung des Gefangenen, dessen haargenaues Ebenbild er nun für zehn Stunden sein würde. Dann verließ er das Büro und schloss es von außen mit Osatas Schlüssel ab. Der Computer lief weiter. Das der Bildschirmschoner gerade in Aktion trat und dadurch ein stilles Zählwerk ansprang, das nach genau einer Stunde einem anderen Computer mitteilte, dass hier jemand offenbar bei der Arbeit eingeschlafen war, bekam Calligula nicht mehr mit. Ihm war es nur um den Körper des Mannes gegangen, nicht um seine Kenntnisse oder gar seine Verpflichtungen.

Aus einem kleinen Practicus-Rucksack zog Calligula einen Nimbus 2001 heraus, als er vor den Toren des Verwaltungsgebäudes stand. Auf dem Besen flog er nun los, um sein neues Ziel anzusteuern, die zur traurigen Berühmtheit gelangte Stadt Hiroshima.

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Der, der sich Lord Vengor nannte, überprüfte die von ihm mit dem Blut seiner Untergebenen und dem Blut von Knieseln und Occamysilber gefertigte Überwachungstafel, auf der er wie auf einer sich auf bestimmte Objekte einstellenden Karte sah, wo seine Leute gerade waren. Nummer fünf war gerade in Bosnien-Herzegowina unterwegs. Dort hatte es vor Jahren noch einen blutigen Abspaltungskrieg gegeben. Nur damals hatte Vengor noch keine Veranlassung, nach den Unlichtkristallen zu forschen. Da wusste er nämlich noch nichts von denen. Nummer sieben war unterwegs in Russland, um dort nach den Stätten zu suchen, wo vor bald siebzig Jahren tausende von Menschen hingerichtet worden waren, die dem damaligen Machthaber Stalin missfallen waren. Nummer dreißig, der Jungspund Calligula Scorpaenidus, hatte sich wahrhaftig von einem der lärmigen Muggelflugapparate nach Japan tragen lassen. Gut, dass er auf seinen treuen Schattendiener Ipsen gehört und die Übersichtskarte auf die ganze Welt ausgedehnt hatte. Leider konnte er damit nur in langwierigen magischen Ritualen abgestimmte Menschen beobachten. Wollte er wissen, wer und wo seine Feinde gerade waren, so hätte er diese erst aufsuchen und diesem Ritual unterziehen müssen. Er wusste nicht, dass eine Hexe namens Blanche Faucon den Dreh herausbekommen hatte, eine für Europa gültige Karte mit der Ortung von Freunden und Feinden auszustatten. Als Vengor nun sah, wie der kleine mit #30 beschriftete Punkt auf den mit "Hiroshima" beschrifteten Kreis einer Stadt zuglitt, grinste der Führer der Wächter der Vergeltung. Entweder würde dieser kleine Wicht die wohl tief im Boden steckenden Kristalle finden und zurückbringen oder beim Versuch sterben. Falls er nach England zurückkehrte, ohne einen der vermuteten Unlichtkristalle geborgen zu haben, so würde dieser halbe Junge von Ipsen verschlungen. Zwar hatte der Zauberer, der sich von seinen heimlichen Handlangern Lord Vengor nennen ließ beteuert, auf die Anwerbung von weiteren Getreuen verzichten zu wollen. Doch wenn er wirklich die Unlichtkristalle bekommen würde, wollte er nicht mit einem so unausgegorenen Wicht wie Scorpaenidus weitermachen. Holte der ihm die großen Kristalle, durfte er um zwei Stufen nach oben klettern aber dann schön in Vengors Nähe bleiben, immer bereit, niedere Dienste zu tun. Wenn nicht, dann nicht.

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Da unter ihm lag die Stadt Hiroshima, gezeichnet vom ersten Atombombenabwurf und dennoch eine bewohnte Stadt. Dasss hier immer noch der unsichtbare und unhörbare Strahlentod lauerte wollte Calligula im Moment nicht bedenken. Ihm ging es darum, sich an das durch die Recherchen in der Bibliothek ermittelten Zentrum der Atomexplosion zu begeben und durch einen Tiefenlotungszauber nach einer Quelle oder Bündelung dunkler Magie zu suchen. Wie das ging hatte ihm Amycus Carrow im Jahr der Todesserherrschaft beigebracht. "Wer es hinkriegt, eine schlafende Zauberkraft zu finden, die ihm helfen kann, der hat echt Vorteile vor anderen", hatte Professor Carrow gesagt. "Aber was zu finden reicht nicht. Ihr müsst es auch dazu bringen, für euch dazusein. Gerade in den machtvollen Künsten ist es verdammt schwierig, andere Zauber für sich einzuspannen, weil der ja von wem aufgerufen wurde, der natürlich keine Lust hat, dass wer anderes sich dran bedient", hatte der grobschlächtige Lehrer noch hinzugefügt. Natürlich war es nicht damit getan, den Kristall, wenn es den echt hier geben sollte, zu finden und auszugraben. Je nach Größe musste Calligula das Ding dann irgendwie von hier wegschaffen. Aber zuerst der Lotungszauber. Mit unheimlich klingenden Worten beschwor er einen unsichtbaren Strahl aus seinem Zauberstab, der in den Boden hineindrang und immer tiefer hinabreichte. Die Zahl der Widerholungen würde zeigen, in welcher Tiefe das gesuchte Zentrum dunkler Magie lag. Notfalls musste Scorpaenidus bis zum glühenden Erdkern loten, was Stunden dauerte, aber erst dann Gewissheit ergab, ob hier etwas versteckt lag. Nach zehn Wiederholungen des Lotungszaubers fühlte es Calligula, wie sein Zauberstab erzitterte und schlagartig eiskalt wurde. Im nächsten Moment stieß etwas den nach unten weisenden Zauberstabarm des jungen Schwarzmagiers so kraftvoll nach oben, dass er sich fast den Arm auskugelte. In dreitausend Metern Tiefe war der Lotungszauber auf ein diesen vielfach zurückwerfenden Widerstand geprallt. Ja, da unten war was. Aber wie kam er nun dorthin. Kobolde konnten mal eben im Boden verschwinden und sogar über mehr als eine Stunde ohne Luft holen zu müssen durch dickstes Felsgestein gleiten. Aber er war kein Kobold. Aber hier in Japan gab es Kobolde. Wenn er sich einen der Bergkobolde unterwarf, von denen er in Vorbereitung gelesen hatte, konnte der ihm vielleicht den Kristall beschaffen. Doch dann fiel ihm wieder ein, was Lord Vengor gesagt hatte. Nur jemand, der bereits gezeigt hatte, dass er mit seiner Zauberkraft auch töten konnte durfte den Kristall anfassen. Außerdem wusste Calligula nicht, ob so ein Bergkobold nicht in einer Art Symbiose mit dem Kristall eintreten konnte und diesen deshalb nicht mehr rausrücken würde, wenn er ihn einmal angefasst hatte. Nein, er musste selbst da runter. Dann fiel ihm ein, wie man einen uneinstürzbaren Stollen graben konnte. Die Minenarbeiter der Zaubererwelt konnten kilometerlange Vortriebe in härtestes Gestein treiben, ohne dass die Stollenwände hinter ihnen wieder zusammenstürzten. Wie ging dieser Zauber noch mal? Zauberkunst war eigentlich nicht so sein Fach gewesen, wohl auch, weil er den kleinen Professor Flitwick nie so richtig ernst genommen hatte, bis der bei der Schlacht von Hogwarts seine wahre Stärke ausgespielt hatte. Ihm fiel aber noch ein, wie der Stollengrabezauber ging. Es war die auf altgriechisch und Latein übersetzte Abwandlung eines morgenländischen Zaubers, mit dem schon die Sumerischen Magier unterirdische Labyrinthe und Minen erbaut hatten. Calligula saß wieder auf seinem Besen auf und flog weit genug zurück. Im Schutze der Nacht wollte er den Kristall erbeuten.

Das rote Licht war wie eine aus sich strahlende Kreisfläche. Es löste Erde und Gestein auf. Aus einem Kellerraum heraus, den Calligula gefunden hatte, trieb er mit diesem Zauberlicht einen immer längeren, steil nach unten weisenden Stollen in den Boden. Er hatte sich auf zwanzig Kilometer vom Explosionszentrum entfernt, um nicht zu steil nach unten graben zu müssen. Auf seinem Besen flog er mit doppelter Schrittgeschwindigkeit hinter dem magischen Tunnelgrabelicht her. Immer wieder musste er seine Kraft wachsingen, um sich Kilometer um Kilometer in die Tiefe auf das von ihm geortete Ding zuzuarbeiten, das seinen Lotungszauber für dunkle Quellen und Kraftanhäufungen zurückgeprellt hatte. Mehr als eine Stunde brauchte er, bis er den für mindestens ein Jahr uneinstürzbaren Stollen so weit vorgetrieben hatte, dass er sicher war, gleich auf das Ziel seiner Suche zu stoßen. Calligula fühlte die Anspannung. Gleich würde er wissen, ob an Lord Vengors Erwähnungen etwas dran war. Falls er wirklich einen Kristall aus verfestigtem Tötungswillen fand, konnte er damit an Macht gewinnen. Er wollte mindestens um zehn Stufen aufsteigen. Er wusste, dass er Lord Vengor nicht verraten durfte. Der würde ihn sofort töten. Aber hinhalten ging vielleicht, Bedingungen aushandeln, vielleicht sogar erfahren, wer sich unter der grünen Schlangenkopfmaske verbarg. Calligula hoffte, dass er nicht lange die Nummer dreißig in der kleinen aber geheimen Truppe sein würde. Er würde es allen zeigen, die ihn nicht für voll genommen hatten. Die erste, die er sich vornehmen würde, wenn er Lord Vengors Auftrag erledigt hatte, würde Carol Ridges sein. Würde er sie töten oder unter dem Imperius dazu zwingen, alle seine Gelüste zu befriedigen, ja vielleicht sogar zu seiner Zuchthexe machen, die seine Kinder kriegen sollte, um zumindest seine Blutlinie zu verlängern? Vielleicht würde er sie aber auch in eine stinkende Ziege verwandeln und auf einem Viehmarkt verhökern, damit jemand sie als Milchlieferantin oder zum Schlachten verwerten konnte. Doch zuerst musste er herausfinden, ob der heftige Rückpreller von vor nun fünf Stunden wirklich dieser Kristall war, der laut Lord Vengors Beschreibung ähnliche Kräfte haben sollte wie der Zauber des schwarzen Spiegels.

Es wurde auf einmal immer kälter, je weiter Calligula in die Tiefe vorstieß. Normalerweise hätte es hier unten viel wärmer sein müssen, weil er ja auf das glutheiße Erdinnere zuarbeitete. Doch jetzt meinte er, in einen Eiskeller vorzudringen. Dann erlosch der rote Leuchtkreis übergangslos. Calligula meinte, dass etwas seinen Zauberstab aus der Hand reißen wollte. Totale Finsternis umschloss ihn. "Lumos Maxima!" rief Calligula. Sofort erglühte an seiner Zauberstabspitze ein heller Lichtkegel. Er tastete damit die Wände ab und richtete das Zauberlicht dann nach vorne. Vor ihm war etwas in das noch unversehrte Gestein eingebettet, das den magischen Lichtstrahl regelrecht verschluckte. Es war so schwarz, wie es eine tief unter der Erde liegende Höhle sein musste. Calligula erkannte einen männerkopfgroßen Klumpen purer Dunkelheit, der jedoch eisige Kälte verbreitete. Calligula untersuchte den eingebackenen Klumpen so gut er konnte. Für ihn sah das Ding wie ein Körper mit zwölf Oberflächen aus, ein Duodekaeder. Aber wie konnte er diesen Körper aus dem Gestein lösen? Er wendete den Saxifrago-Zauber an, der jedes unbezauberte Mineral zu Staub zermahlen und restlos auflösen konnte. Ein grünlich flirrender Lichtkegel fraß sich um den gesuchten Körper herum immer tiefer ins Gestein hinein. Calligula musste gewaltig aufpassen, den schwarzen Zwölfflächler nicht mit dem Auflösungszauber zu treffen. Bestenfalls wurde der Zauber dann einfach beendet. Schlimmstenfalls bekam Calligula ihn mit Urgewalt um die Ohren geschlagen und würde sich damit vielleicht selbst aus der Welt blasen, auch wenn Saxifragus nur tote Mineralien betreffen sollte. Aber was wusste er schon, wie dieser Körper da ihn betreffende Zauber zurückwarf? Minuten vergingen, bis Calligula sicher war, dass er den schwarzen Fremdkörper aus dem Gestein herausgelöst hatte. Ja, da fiel er auf den Boden. Es klatschte. Calligulas Herz übersprang einen Schlag. Was wäre gewesen, wenn dieses Ding wie Glas zerbrochen wäre? Doch offenbar unterlag der Fremdkörper zwar der Erdschwerkraft, war aber ansonsten unzerstörbar, wie Lord Vengor gesagt hatte. Es durfte ihn nur keiner anfassen, der noch nie wen anderen umgebracht hatte. Calligula sah auf die Mulde, aus der er den Fremdkörper herausgebrochen hatte. Ja, das Ding war wirklich groß. Er zweifelte nicht mehr, dass er genau das gefunden hatte, was Lord Vengor von ihm und den anderen haben wollte. Ja, und von der Größe her konnte das Ding schon mehr als die eine Unze wiegen, die der Herr des seelenfressenden Nachtschattens zusammentragen wollte. Da musste er nicht mehr nach Nagasaki, wo die zweite Bombe abgeworfen worden war. Aber dann würde Lord Vengor ihn sicher wegen Halbherzigkeit bestrafen. Nein, den anderen Kristall musste er auch finden. Calligula ging nach vorne, um sich zu bücken. Die Kälte, die von dem Zwölfflächler ausstrahlte konnte für Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt für Quecksilber stehen, vielleicht sogar für die erbarmungslose Kälte zwischen den Sternen des Weltraums. Doch dann hätte Lord Vengor ihn wohl gewarnt, das Ding nicht ohne Handschuhe anzufassen. Er bückte sich noch tiefer und streckte die Hand aus ... und wurde von einer unsichtbaren Gewalt zurückgerissen. Für drei ganze Sekunden hing er hilflos in leerer Luft. Dann prallte er gute dreißig Meter von dem Kristall wieder auf den Boden auf. Er landete auf dem Rücken. Als er wieder hochkommen wollte, fiel etwas wie ein weißes Seidentischtuch auf ihn herab. Es legte sich erst weich auf ihn, um ihn dann mit übermenschlicher Kraft einzuwickeln. Er fürchtete schon, keine Luft mehr zu bekommen. Doch was immer ihn gerade wie in einen Kokon einwickelte war luftdurchlässig. Er versuchte, sich zu befreien. Doch das seidenartige Etwas war nun stahlhart, wenngleich es nicht wie Blei auf seinen Brustkorb drückte, sondern ihm nur Arme und Beine so fest an den Körper drückte, dass er sie nicht mehr bewegen konnte. Er stieß noch das Zauberwort "Diffindo" aus, weil er dachte, das Zeug von innen her aufreißen zu können. Doch das Zeug glühte nur in einem blauen Licht auf, um dann so unzerreißbar wie zuvor um ihn zu liegen.

"Du bist kein Japaner!" rief ein Mann auf Japanisch. "Wo kommst du wirklich her?!" Calligula konnte durch das ihn umschließende Gespinnst die Umrisse von drei Menschen sehen. Wieso hatte er Volltroll keinen absichernden Impersecutio-Zauber hinter sich aufgebaut?

"Ich gehöre zum Außendiensttrupp von Zaubereiminister Takahara und sollte nach Spuren einer magischen Kreatur suchen, die sich von Radioaktivstrahlung ernährt wie die blauen Vampire von Volakin", knurrte Calligula. Zumindest kannte er den Namen des vor einem Jahr ins Amt berufenen Zaubereiministers und Oberhofzauberers des japanischen Kaisers, der als einziger von der magischen Welt wissen durfte.

"Du lügst, du bist keiner von uns", blaffte ein anderer Mann mit für Asiaten sehr tiefer Stimme. "Der ehrenwerte Großmagier und Oberste des magischen Rates unseres erhabenen Kaiserreiches, Takaharasan, hätte niemals einen Außendienstmitarbeiter dazu befohlen, in Gestalt eines Unvertrauten auf die Suche nach einer Gefahr für unser erhabenes Reich zu gehen. Du bist ein Handlanger eines Verbrechers, der wohl danach gesucht hat, was du gerade ausgegraben hast. Es ist ein verwerfliches Erzeugnis böser Zauberkraft, womöglich sogar aus dieser selbst bestehend. Wir werden dich mitnehmen und im Raum der Wahrheit befragen, der noch jede Lüge vertilgt hat."

"Darf ich den bescheidenen Vorschlag machen, dass wir dazu erst einmal abwarten mögen, wer sich in der Gestalt dieses Unvertrauten hierherbegeben hat?" fragte eine Frau mit großer Zurückhaltung in der Stimme.

"Dies vorzuschlagen ist Ihnen gestattet, Flankenschützerin Kanisaga. Ich bin geneigt, zu bedenken, ob er meine Zustimmung finden mag", erwiderte der mit der tiefen Stimme. Calligula lachte laut.

"Dann müssten Sie zugeben, sich von einer Hexe vor Zeugen von Ihrer Meinung abbringen zu lassen. Wie verträgt sich das mit Ihrem Rang und Ihrer Würde?"

"Schweig, Unwürdiger!" schnarrte der erste der drei Fremden. Dann sagte der mit der tiefen Stimme zu der Hexe: "Womöglich können Sie mein Wohlwollen erwerben, wenn Sie beweisen, was sie behauptet haben, Flankenschützerin Kanisaga. Holen Sie meinen Sohn herbei!"

"Sehr wohl, ehrenwerter Truppführer!" bestätigte die Hexe den Befehl. Calligula verwünschte den Umstand, dass er das in seinen Arm gebrannte V-Symbol nicht berühren und Lord Vengor und dessen Schattendiener herbeirufen zu können. Doch am Ende wurden diese drei mit dem gefräßigen Nachtschatten fertig, weil sie zu den bei dunklen Magiern dieses Reiches gefürchteten Sonnenhütern gehörten. Sie konnten Sonnenlicht in einen großen Raum hineinrufen, um ihn auszuleuchten oder von lichtscheuen Kreaturen wie Vampiren und Nachtschatten freizuräumen. Er hörte ein leises Plopp. Jemand war ganz dezent disappariert. Eine halbe Minute später pknallte es vernehmlich. "Ehrenwerter Vater, du hast mich zu dir rufen lassen", erklang die Stimme eines wohl gerade zehn Jahre alten Jungen.

"Ja, Toshi, mein braver Sohn. Ich möchte, dass du dieses Ding da vorne aufhebst und mir gibst. Sei ohne Furcht, auch wenn es schwärzer als die Nacht ist und den Eishauch der Tengus verbreitet. Deine Unschuld wird dich vor seiner bösen Macht schützen", sagte der Mann mit der tiefen Stimme. Der Junge, Toshi, sah wohl gerade auf den eingesponnenen Calligula. "Ist es mir erlaubt, zu fragen, ob der, der in das Gewand der Gefangenschaft gehüllt ist, ein böser Zauberer ist?"

"Ich muss es annehmen, weil er das Ding dort vorne ausgegraben hat, um es zu nehmen oder für jemanden zu holen", erwiderte der Trupführer. "Doch du bist unbeladen von bösen Taten und Wünschen, mein Sohn. Dir wird dieses Ding nichts antun."

"Doch, es wird ihn fressen, weil es Kindersseelen zum wachsen braucht", stieß Calligula aus. "Und die von alten Jungfern frisst es auch ganz gerne", schnarrte er noch. "Außerdem habe ich es befreit. Ich brauche nur einen gedanklichen Hilferuf zu senden, damit es alles mir feindliche Leben hier vernichtet. Also macht dieses lächerliche Seidenzeug von mir ab und lasst mich und den Kristall unangefochten abrücken!"

"Er lügt", stieß der zweite Mann aus. "Sein Geist ist in heller Furcht, weil er versagt hat und nun wohl eine schreckliche Bestrafung fürchten muss."

"Schweinepriester", schnarrte Calligula. Wieso hatte er es nie hinbekommen, anständig zu okklumentieren? Offenbar konnte der Gehilfe des Truppführers mühelos aus ihm herausholen, was er dachte. Toshi lachte nun. "Stimmt, der böse Mann lügt, ehrenwerter Vater. Er hat Angst, weil du mir befohlen hast, dieses Ding anzufassen."

"So befolge bitte meinen Befehl, mein Sohn und nimm dieses böse Ding, auf dass es an deiner Unschuld und Reinheit zerbrechen möge!" drängte der Truppführer Toshi. Dieser ging an dem gefangenen Zauberer vorbei, ohne ihn weiter zu beachten. Calligula überlegte, was er noch tun konnte. Da hörte er Toshi kurz aufschreien. Gleichzeitig erklang ein Geräusch wie ausgeschütteter Sand. Durch das magische Gewebe sah er im Licht seines Zauberstabes eine graue Staubwolke, die auf ihn und die anderen zuwehte. Toshi hustete einmal. Doch dann war es auch schon vorbei. "Vater, das Ding ist in meiner Hand zerrieselt wie der feinste Meeressand im Wind!" piepste Toshi. Sein Vater schwieg eine Sekunde. "Nun, wo diese Erwähnung also wahr ist, Flankenschützerin Kanisaga, so bin ich nun geneigt, Ihren Vorschlag anzunehmen und den Gefangenen zunächst in eine gesicherte Zelle zu schaffen, bis er seine natürliche Gestalt zurückbekommen hat."

"Euch ist klar, ihr kleinen gelben Volltrolle, dass ihr mit der Aktion eben einen magischen Auslöser entfesselt habt, der das tief unter der Erde schlafende Felsenmonster weckt, das nur durch diesen Kristall im Bann gehalten werden konnte? Glückwunsch!"

"Wir werden diesem Schrecken mit dem gebotenen Mut und dem gebotenen Willen harren", sagte der Truppführer. Dann traf Calligula etwas, das wohl ein ungesagter Betäubungszauber sein musste.

Als Calligula wieder erwachte lag er in einem gläsernen Quader. Die Kleidung und der Zauberstab waren ihm abgenommen worden. Der Zauberstab würde verraten, wo er herkam, so viel war er sich sicher. Denn sicher konnten die Japaner in den europäischen Zaubereiministerien nachfragen, wem so ein Zauberstab gehörte. Seit der Schlacht von Hogwarts hatten Zauberstabmacher wie Ollivander und Charpentier ihre Verkaufsregister bereitgestellt, um flüchtige Todesser an ihren Zauberstäben zu identifizieren. Denn es war ja nun einmal so, dass eine Hexe oder ein Zauberer ungern den Zauberstab tauschte. Selbst Harry Potter hatte die Verlockung wohl abgeschüttelt, den Stab des Schicksals zu behalten und hatte damit nur seinen alten Zauberstab repariert, mit dem er wohl nun bei den verhassten Auroren Karriere machen wollte.

Als die Rückverwandlung einsetzte wusste Calligula endgültig, dass er gescheitert war. Das würde ihn so oder so das Leben kosten. Wie ein Tier im magischen Tierpark wurde er von gleich sieben japanischen Wichten in gelber Kleidung mit rotem Sonnensymbol auf dem Brustteil angestarrt. Als er nun gänzlich so in dieser gläsernen Zelle lag, wie ihn die Natur geschaffen hatte, stieß eine Hexe, die sich bisher zurückgehalten hatte aus, dass es Calligula Scorpaenidus sei, den sie anhand von Fahndungsbeschreibungen aus England wiedererkannte. Er erkannte ihre Stimme. Das war diese Flankenschützerin Kanisaga. Er wollte schon rufen, dass diese Hexe den Tag ihrer Geburt verfluchen würde. Doch er hatte etwas besseres im Sinn. Er griff sich mit der rechten Hand an den linken Arm und dachte konzentriert: "Erbitte Beistand!" Doch als er die Stelle berührte, an der das V-Symbol für uneingeweihte Augen unsichtbar eintätowiert war, durchzuckte ihn ein Schmerz wie ein ihn in zwei Teile spaltendes Schwert. Um ihn herum tanzten blutrote Funken, die laut knisternd an den gläsernen Wänden zersprühten. Doch das schlimmste kam jetzt erst. Es begann mit einem Gefühl, als halte ihm jemand eine lodernde Flamme an den Arm. Das Gefühl breitete sich immer mehr aus. Gleichzeitig überkam Calligula ein solch unbarmherziger Durst, dass er schon röcheln musste. Er fühlte, wie etwas ihm das Leben aus dem Körper heraussaugte. Als er auf seinen Arm blickte sah er das blutrote V, das Zeichen der Wächter der Vergeltung. Es loderte hell. Sein Arm wurde immer dunkler. Die Haut schrumpelte zusammen. Er fühlte, wie seine Hand nach dem wilden Brennen taub wurde. Ja, sein Arm trocknete regelrecht aus. Der Prozess pflanzte sich nun den ganzen linken Arm entlang fort. Er ahnte, was ihm widerfuhr. Sein Hilferuf hatte das V-Symbol enthüllt und damit verraten, dass er für Lord Vengor arbeitete. Das war gleichbedeutend mit freiwilligem Verrat des Lords, was gleichbedeutend mit der ihm angedrohten Bestrafung war. Sein Arm verdorrte wie im unsichtbaren Feuer. Die Finger zerbröckelten und rieselten als feiner Staub nach unten. So ähnlich vollzog sich der Decompositus-Fluch, erkannte Calligula, der vor Durst und Trockenheit nur noch husten und röcheln konnte. Der mörderische, wohl unumkehrbare Vorgang ergriff nun den restlichen linken Arm, brante sich in die linke Schulter und dehnte sich darauf über Calligulas ganze linke Körperhälfte aus. Das alles ging so langsam vor sich, dass die Zuschauer dachten, da noch was gegen tun zu können. Die Gefängniszelle wurde geöffnet. In dem Moment rieselte der allen Wassers beraubte Rest des linken Arms zu Boden, und die linke Körperhälfte Calligulas färbte sich dunkel. Zwei Zauberer versuchten, den Prozess wohl mit Körperfunktionsverlangsamung zu bremsen, um einen Gegenfluch auszusprechen. Doch was immer sie versuchten misslang. Wie konnten sie auch wissen, dass der Vernichtungsprozess eine unsichtbare Schildaura freisetzte, die den davon betroffenen vor wohl allen Gegenzaubern abschirmte. Einer der Sonnenhüter hielt einen goldenen Kelch hoch und rief etwas von der Gnade Amaterasus, der japanischen Sonnengöttin. Der Kelch erstrahlte. Aus ihm heraus fluteten helle Lichtstrahlen, die Calligulas Körper trafen und dann wie wild tanzende Lichter um ihn herumgelenkt wurden. Calligula dachte daran, was sein Großvater ihm gesagt hatte. "Magier können zu Geistern werden, wenn sie sich an etwas klammern, was sie in der Welt der Lebenden halten soll. Aber dann bleiben sie für immer auf der Erde und können nicht ins Totenland hinübergehen." Calligula dachte an Rache, wollte dafür weiterbestehen, diese japanischen Wichte da auszulöschen, wie er ausgelöscht wurde. Doch als sein ganzer Körper wie im unsichtbaren Feuer brannte und er schwarzen Qualm hustete erkannte er, dass er kein Geist werden würde. Geister mussten zumindest einen großen Teil ihrer Körper bei Todeseintritt zurücklassen, um als dessen durchsichtiges Abbild in der Welt zu bleiben. Doch sein Körper löste sich gerade auf. Von ihm würde nichts übrigbleiben, was als Vorlage einer Geisterexistenz dienen konnte. Angst und Wut waren die letzten Gefühle, die Calligula empfand. Dann verlor er das Bewusstsein. Der Wassermangel in seinem Körper hatte ihn erledigt. Der Vernichtungsprozess ging jedoch mit der ihm eigenen Geschwindigkeit weiter. Insgesamt fünf Minuten lang dauerte es, bis nur noch ein kleiner, dunkler Aschehaufen übrig war. Die Sonnenhüter starrten darauf. "Wie bei Vampiren im hellen Sonnenlicht", knurrte der Trupführer. Izanami Kanisaga bestätigte das. Ihr war klar, dass der ertappte Kristallsucher mit einem mächtigen Verratsvereitelungszauber belegt worden war, ähnlich wie die Führerin der schwarzen Spinne ihre Mitschwestern vor freiwilligem oder unfreiwilligem Verrat gesichert hatte. Ihr wurde gerade vor Augen geführt, was ihr selbst einmal widerfahren mochte, sofern der ihr aufgeprägte Verratsunterbindungszauber nicht durch die Verwandlung Anthelias in die vereinte Form von ihr und jener mächtigen Magierin aus dem alten Reich den Fluch gelöscht hatte.

"Ihnen ist sicherlich bewusst geworden, dass dieser nur einer war. Wie viele wie er in der Welt sind sollte uns sehr interessieren", sagte der Truppführer. Izanami Kanisaga schwieg dazu. Sie dachte daran, dass unter Nagasaki auch noch ein schwarzer Zwölfflächler liegen musste. Wie man darankam wussten sie jetzt. Hätte nicht die Schutzmannschaft, die ein Lagerhaus in Tokio wegen eines angeblich bei der Arbeit eingeschlafenen Lagerverwalters einen Container mit Goldauskleidung und den scheintoten Körper des zu überprüfenden Lagerverwalters gefunden, so wären die Sonnenhüter wohl nicht so schnell darauf gekommen, wen sie suchen mussten. Izanami Kanisaga wusste jetzt auf jeden Fall, dass der Bericht der höchsten Schwester in allen Einzelheiten stimmte.

Zusammen mit Toshi begleitete Izanami den Truppführer in die zweite von einem Atombombenabwurf verheerte Stadt. Mit dem Lotungszauber für im Boden verborgene Zaubergegenstände, die nicht dagegen abgeschirmt waren, fanden die beiden Sonnenhüter den zweiten Kristall. Ähnlich wie der langsam und qualvoll zu Staub zerfallene Gefangene gruben sie einen Stollen. Als sie einen kinderkopfgroßen Zwölfflächler freigelegt hatten, brauchte Toshi diesen nur mit einem Finger zu berühren, um ihn zu Staub zerfallen zu lassen. Damit waren die beiden größten Unlichtkristalle auf japanischem Gebiet zerstört. Izanami tarnte einen Vorschlag als Frage, indem sie wissen wollte, wo es noch alles große Schlachten gegeben hatte, bei denen viele tausend Menschen gestorben waren. Daraufhin reisten Sonnenhüter in Begleitung ihrer Kinder nach Okinawa und anderen Orten des Pazifikkrieges zwischen Japan, den USA und deren Verbündeten. Womöglich gab es auch Kristalle in China. Doch die Blöße, die chinesischen Zaubereihüter zu informieren und um eine Einreisegenehmigung zu bitten, wollten sich Japans Magier nicht geben.

Als dann am sechsten August die Gedenkstunde zum Abwurf der ersten Atombombe über bewohntem Gebiet begangen wurde, nutzte Izanami die Gelegenheit und reiste in die vereinigten Staaten. Sie musste ihre Erlebnisse weiterberichten.

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Da, wo vorher noch Calligulas Name gestanden hatte, loderte auf einmal ein blutrotes Flammensymbol auf, das zu einem grinsenden roten Totenkopf wurde. Der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte, starrte mit Verärgerung auf dieses Zeichen, das fünf Minuten lang bestehen blieb. Erst war Calligula aus einem ihm unbekannten Grund gegen alle magische Ortung abgeschirmt worden. Dann war sein Name wieder aufgeflammt, bevor das Vernichtungssymbol aufgeflammt war. Der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte, hieb mit der Faust auf die Armlehne seines schwarzen Drachenhautsessels. "Ich konnte sehen, dass du ihn fast erreicht hast, du unausgegorener Bengel. Dann sei es eben. Werde ich mir einen neuen Gefolgsmann suchen müssen."

"Herr, der Junge ist tot. Ich hätte ihn sehr gerne zu mir genommen", zischte der über Vengors Kopf an der Decke haftende Nachtschatten Ipsen.

"Das hätte ich mir auch gerne angesehen. Kann man nichts machen", knurrte Vengor. Dann prüfte er, ob seine anderen Gefolgsleute besser dran waren.

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"Wie, da auch nichts mehr?" schrie Lord Vengor, als am neunten August sein Gefolgsmann Nummer fünf aus Bosnien-Herzegowina zurückgekehrt war. Dieser hatte unter der Stadt Srebrenica nach dem Unlichtkristall gesucht. Doch an der Stelle, wo vor sechs Jahren und einem Monat achttausend Menschen unter den Augen von UN-Schutztrupplern Massakriert worden waren, fand sich nicht ein Krümelchen Unlichtkristall. "Das wird wohl wer gefunden haben, der sowas nicht anfassen darf, Lord Vengor", vermutete Nummer fünf. Der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte starrte seinen unter der weißen Schlangenkopfmaske verborgenen Gefolgsmann an und schnarrte: "Die Japaner haben Nummer dreißig erwischt und meinen Verratsunterdrückungszauber ausgelöst. Vielleicht ist noch was unter Hiroshima oder Nagasaki. Du fährst hin und suchst!"

"Und wenn ich auch erwischt werde?" wollte Nummer fünf wissen.

"Dann muss ich deinen Rang mit wem anderen besetzen", erwiderte Vengor eiskalt.

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Martine hatte eine Eule aus Fort-de-France auf Martinique geschickt, wo sie mit ihrem Mann Alon die Flitterwochen verbrachte. Julius las, dass sie bei Héméra Ventvit zu Gast waren und auch schon im Schutz von Duotectus-Anzügen den Mont Pélé erkundet hatten, einen gerade ruhenden Vulkan. Julius bemerkte dazu: "Ob die auch an den Regenbogentänzer-Trank herankommt, um mit mir gleichzuziehen?" Julius musste dazu nur grinsen. Er dachte daran, dass ab dem kommenden Montag wieder der Berufstrott auf ihn wartete.

Als er dann aus seinem Sommerurlaub ins Büro für humanoide Zauberwesen größer als Zwerge und Kobolde zurückkehrte musste er ein gequältes Stöhnen unterdrücken. Auf seinem Schreibtisch ragte ein Aktenberg von fast einem Meter Höhe auf.

"War doch einiges los", überspielte er die Enttäuschung, an diesem ersten Arbeitstag nicht ruhig in den Alltag zurückgleiten zu dürfen. Seine Vorgesetzte, Mademoiselle Ornelle Ventvit, bedachte diese Äußerung mit einem verwegenen Lächeln. "Das ist nur die Korrespondenz, die mit ausländischen Kollegen angefallen ist, Julius. Aber ganz oben liegt eine Anfrage, die bitte ich Sie, zuerst abzuarbeiten." Julius nickte. Er peilte den Stuhl an, auf dem er bisher immer am Schreibtisch zu sitzen gewohnt war. Da die Stühle in Mademoiselle Ventvits Büro durch einen magischen Scherzbold zum herumspuken verwünscht waren, musste er den Stuhl regelrecht anvisieren und einfangen. Diesmal versuchte der Stuhl, durch einen Sprung auf den gerade verwaisten Schreibtisch von Pygmalion Delacour, den zuschnappenden Händen von Julius zu entwischen. Dieser korrigierte seine Armhaltung jedoch noch so, dass er eines der Stuhlbeine mit der Hand zu fassen bekam. Als er den nun wild um sich strampelnden Stuhl sicher hielt, pflückte er ihn mit der anderen Hand an der Lehne vom Schreibtisch herunter. Der Stuhl zuckte und ruckte in seinen Händen und schaffte es fast, sich zu befreien. Julius pflanzte ihn ohne groß zu überlegen vor seinem Schreibtisch hin und warf sich mit dem Hinterteil auf die Sitzfläche. Erst da erstarb das magische Eigenleben des Bürostuhls und er verhielt sich wie ein unbehextes Möbelstück. Julius fand nun Zeit, auf den Schreibtisch seines dienstälteren Kollegen zu sehen. Es lagen im Moment keine Akten oder Schreibutensilien darauf. Somit hatte er dem Kollegen nicht die Ordnung verdorben.

"Ich glaube, das habe ich vermisst", tat Julius den Spuk des Schreibtischstuhls ab. Ornelle musste leise kichern. Dann deutete sie auf den Schreibtisch ihres gerade ein Jahr unterstellten Mitarbeiters.

Julius nahm die aktenmappe auf dem Gipfel des vor ihm aufragenden Berges herunter. Die Bezeichnung C2 und die Zahlenfolge dahinter bekundeten, dass die Akte ein vertraulicher Vorgang der Stufe 2 war und der im laufenden Jahrgang dreißigste Vorgang dieser Art war. Julius las, dass es eine Anfrage von Madame Apolline Delacour an Mademoiselle Ventvit war. Julius blickte zum gerade unbesetzten Schreibtisch hinüber. Wo war sein dienstälterer Kollege überhaupt?

"Pygmalion hat mich gebeten, Ihnen diesen Vorgang zuzuteilen, da es sich um eine Angelegenheit handelt, in die er persönlich verwickelt ist. Abgesehen davon bringen Sie die richtigen Voraussetzungen mit", sagte Ornelle Ventvit. Julius sah seine ungestellte Frage als beantwortet. Er studierte die Akte. Darin ging es um die Anfrage, ob die magielosen Eltern eines gewissen Pierre Marceau darüber informiert werden müssten, dass Pierre seit bald vier Jahren mit der jüngsten Tochter der Delacours befreundet war und es durchaus möglich war, dass beide nicht nur Schulfreunde und Klassenkameraden bleiben würden. Julius las einen von Apolline Delacour handgeschriebenen Brief, in dem sie zum einen sehr erfreut schrieb, dass ihre Tochter Gabrielle trotz aller Befürchtungen kein umtriebiges Mädchen geworden war, das ihre natürlichen Anlagen ausnutzte, um sich von einem Jungen zum anderen zu hangeln. Andererseits bekundete sie eine gewisse Besorgnis, dass es bei einer möglichen Eheanbahnung zwischen Gabrielle und Pierre Marceau unumgänglich sein würde, dessen Eltern, die keine eigenen magischen Fähigkeiten besaßen, über Gabrielles Herkunft und Erbanlagen zu unterrichten. Offenbar hatte Pygmalion seiner Frau die für ein amtliches Anschreiben nötigen Begriffe vorgesagt oder einen passenden Spickzettel gemacht. Denn die Schreibweise machte klar, dass die Delacours es höchstoffiziell meinten und nicht als einfache Frage sahen, ob Pierres Eltern über die Veela-Abstammung Gabrielles etwas wissen sollten oder durften. Die letzte von vier Pergamentseiten war von Ornelle Ventvit beschrieben worden. Sie erklärte darin zum einen, dass Pygmalion Delacour sich für befangen erklärt hatte, eine amtliche Klärung dieser Angelegenheit zu erwirken und das Julius sowohl den betreffenden Schüler sowie die kulturellen Rahmenbedingungen bei Unterhandlungen mit magielosen Eltern von Beauxbatons-Schülern kenne. Ganz zu unterst stand die Frage, ob Pierres Eltern bereits über seine freundschaftliche Beziehung zu Mademoiselle Gabrielle Delacour unterrichtet seien. Dies solle er im Rahmen der Vertraulichkeitsstufe C2 an diesem Montag Nachmittag mit den Eheleuten Delacour und Gabrielle im persönlichen Gespräch ermitteln. Außerdem möge er sich bis dahin die Rechtsgrundlagen beim Umgang teilmenschlicher, vollständig Zeugungs- beziehungsweise empfängnisfähiger Zauberwesen im Umgang mit Angehörigen der magielosen Menschheit nachlesen, um zu ermitteln, ob nach dem Gespräch mit den Delacours noch vor Schuljahresbeginn ein Gespräch mit den Marceaus angezeigt war. Julius las noch einmal die Akte. Dann holte er von den Büchern, die er in seinem Schreibtisch untergebracht hatte das Buch mit den amtlichen Regeln zum Umgang mit Menschen fortpflanzungsfähige Nachkommen ermöglichender Zauberwesen heraus. Er dachte daran, dass seine Frau eine Viertelzwergin war, auch wenn ihr das absolut nicht anzusehen war. Also waren diese Regeln auch schon bei ihm angewendet worden. Dann las er aber, dass die Regelung ausschließlich die Nachkommen eines reinrassigen Menschen und eines reinrassigen Zauberwesens betraf. Da sowohl Millie bereits die Nachfahrin eines Halbzwerges war und Gabrielle nicht die Tochter, sondern bereits die Enkeltochter einer reinrassigen Veela war, galten sie beide rein zaubererweltrechtlich als Menschen. Ausnahmen bildeten hierbei jedoch die anzumerkenden Befähigungen. So konnten Zwergenabkömmlinge außer verminderter Körpergröße auch erhöhte Körperkräfte und empfindlichere Sinne erwerben, während Gabrielle mit zunehmendem Alter immer mehr der von ihrer Großmutter Léto geerbten Veela-Kräfte entfaltete. In diesen Fällen ging es darum, dass bei möglichen Zusammenführungen mit reinrassig menschlichen Lebenspartnern unter Einbeziehung möglicher Nachkommenschaft die Eltern des reinrassigen Partners zu unterrichten waren, wenn feststand, dass es zu einer Lebenspartnerschaft, im besten Fall auch zur Eheschließung kommen würde. Sollte der oder die nur von menschlichen Eltern und Großeltern abstammende ein sogenannter Muggelstämmiger sein und die anzubahnende Lebenspartnerschaft vor Erreichen bis ein Jahr nach Erreichen der Volljährigkeit begründet werden, hatten die Eltern noch ein gewisses Einspruchsrecht. Dieses aber bezog sich nur darauf, dass es nicht zu einer vorzeitigen Eheschließung kommen durfte und dass der oder die von humanoiden Zauberwesen abstammende vom Leben innerhalb des Elternhauses des muggelstämmigen Paartners abgehalten werden durfte. Er legte das Buch hin und sah seine Vorgesetzte an: "Öhm, musste meine Mutter damals klar bekunden, dass sie meine Frau mit mir in ihrer Wohnung wohnen lassen wollte? Sie hat mir da nichts von gesagt."

"Da müssten Sie sich mit dem Kollegen aus dem Zwergenverbindungsbüro und dem für Familienstandsfragen zuständigen Kollegen unterhalten, da die Großmutter Ihrer Frau eine Zwergin und damit unterhalb der Jardinane-Linie ist", sagte Ornelle. "Aber Sie sehen schon, woran Sie sind. Die Marceaus könnten Einspruch gegen eine Fortführung der Beziehung einlegen, auch wenn Mademoiselle Delacour und Monsieur Marceau sich teilweise oder vollständig entblößt kennengelernt haben sollten, was ja sonst ein klarer Eheschließungsgrund ist."

"Will sagen, die Marceaus hätten da zumindest das Recht, ihrem Sohn die Heirat zu verbieten?" wollte Julius wissen.

"Das steht auch in dem Buch drin, Julius", verwies Ornelle auf den vor Julius liegenden Gesetzestext. So las ihr Mitarbeiter, dass der Einspruch gegen eine Ehe nur dann nichtig wurde, wenn eine teilweise von einem humanoiden Zauberwesen abstammende Hexe von einem rein muggelstämmigen Zauberer oder einem Mann ganz ohne magische Begabung ein Kind trüge. In dem Fall könne die betroffene zusammen mit ihren Fürsorgebeauftragten beschließen, ob der Erzeuger des Kindes oder der Kinder im Elternhaus der Kindsmutter unterzubringen war oder der Erzeuger, falls es ein magieloser Mann also Muggel war, nichts von der erfolgten Kindszeugung erfahren solle. Hierbei wurde auf einen Präzedenzfall verwiesen, wo ein bömischer Muggel von einer Riesin entführt und vergewaltigt worden war und von diesem Mann gleich zwei Kinder bekam. Dies sei im Jahre 1770 erfolgt. Da galt ja schon die internationale Geheimhaltung der Zauberei vor Muggeln. Die Verletzungen des jungen Mannes wurden somit so dargestellt, dass er beim Klettern in den Bergen gestürzt sei und nur mit knapper Not dem Tod entkommen sei. Von seinen zwei Söhnen erfuhr er nichts.

"Will sagen, wenn die Marceaus was gegen eine Ehe ihres Sohnes mit Gabrielle Delacour haben, können sie ihm das verbieten, solange er noch keine achtzehn Jahre alt ist?" fragte Julius. Seine Vorgesetzte nickte. "Und wenn sie beide vorher schon ein Kind auf den Weg bringen können die Delacours bestimmen, ob er damit was zu tun haben darf oder nicht, während seine Eltern ablehnen dürfen, dass Gabrielle bei ihnen im Haus wohnt."

"Nicht nur im Elternhaus, sondern im Umfeld der Eltern, womit auch ein von diesen besessenes Haus gemeint sein kann", erwähnte Ornelle. Julius nickte. Jetzt wusste er, woran er war, wenn er mit den Delacours sprechen sollte. Er notierte sich die Paragraphen, die er zitieren konnte. Dann ging er die zweite Akte an, die sich auf eine erneute Zusammenführung der Riesin Meglamora mit einem reinrassigen Artgenossen bezog. Denn Meglamoras Betreuerin und Nichte Olympe Maxime drückte eine große Besorgnis aus, dass Meglamora demnächst wieder in Fortpflanzungsstimmung kommen würde. Dabei könne sie ihren Sohn Ragnar verstoßen, um für neuen Nachwuchs frei zu sein. Zudem würde sie keine Rücksicht auf die körperliche Unterlegenheit eines ausgewählten Fortpflanzungspartners nehmen. Sie mit Rückhaltezaubern in dem ihr zugestandenen Gebiet festzuhalten könnte zu einem Wutausbruch gegen Ragnar und Olympe Maxime führen, bei dem der junge Riese sogar getötet werden könne. In dem Fall würden aber die Absprachen mit dem Ministerium greifen, denen nach Meglamora nur deshalb in Frankreich leben durfte, weil sie einen hilfsbedürftigen Sohn zu umsorgen hatte. Julius dachte an alle die, die all zu gerne gehabt hätten, dass die Riesin und ihr Kind getötet würden. Die hätten da sofort den Deckel draufgemacht und es dazu kommen lassen, dass die Riesin ihren Sohn umbrachte, um dann die Wohn- und somit Lebensberechtigung zu verlieren. Da er als Unterhändler des Ministeriums fest zugeteilt war musste er das wohl mit Mademoiselle Maxime klären. Das hatte aber noch einige Tage Zeit.

Weitere Akten drehten sich um das Auftauchen von grünen Waldfrauen in Parks der Muggelwelt, sowie die Ansiedlung einer gerade achtzig Jahre jungen Meiga in Waldgebieten bei Bayonne. Eigentlich lebten die Meigas im spanischen Galizien. Doch offenbar brauchte jede für sich so viel freie Natur als Lebensraum, dass die wenigen Abkömmlinge doch zur Auswanderung gedrängt wurden. Julius las den Brief einer spanischen Kollegin namens Luna Elena Fogonera Perez, die um eine Unterredung mit dem zuständigen Kollegen in Paris bat. Diese Unterredung konnte in Madrid oder Paris oder im Grenzgebiet zwischen Spanien und Frankreich stattfinden, sollte aber bis zum 31. Oktober Ergebnisse erzielt haben, da der Tag für Meigas quasi den Beginn des neuen Jahres bildete. So war das ja auch bei den Kelten, die diesen Tag Samhain genannt hatten. Er dachte an sein Referat über Halloween zurück, das er vor bald sechs Jahren im Zaubereigeschichtsunterricht gehalten hatte. Er las dann noch, dass er diese Akte ins Englische zu übersetzen hatte, um den Vorgang für die Zusammenkunft globaler Zauberwesenbeauftragter vorlegen zu können, die zwischen dem ersten und zwanzigsten Oktober in Tara, Irland, stattfinden würde. Julius ging sofort an die Übersetzung, wobei er auch die nötigen Rechtsgrundlagen für die Ansiedlung starker Zauberwesen aus anderen Ländern einbeziehen musste. Darüber wurde es Mittag. Ornelle gebot ihm mit gewissem Nachdruck, seine Mittagspause zu nehmen. "Den Rest können Sie gerne bis Ende der Woche fertigübersetzen, Julius. Essen und Trinken Sie reichlich, um für die Anstehende Besprechung mit den Delacours gestärkt zu sein!" sagte Ornelle noch. Julius bejahte dies und legte die bis jetzt geschaffte Übersetzung in eine Schreibtischschublade. Er wollte gerade in die Kantine, als durch die für Memos in die Wand gebaute Klappe einer der bunten Papierflieger hereinschwirrte und auf Ornelles Schreibtisch landete. Diese nahm das von dem Flieger transportierte Memo, was sich als weitergeleitete Eulenpost erwies und schloss es ein. "Kann bis nach dem Essen warten", entschied sie und begleitete ihren Mitarbeiter in die Kantine.

Beim Essen traf er Laurentine Hellersdorf wieder. Diese erzählte ihm, dass sie eine Beschwerde der Vigniers erhalten habe, ihr Sohn Louis würde gegen den ausdrücklichen Wunsch, ihn nicht mit "seinen mutierten Mitschülern" zu verkuppeln, zur "Verpaarung" mit einer gewissen Sylvie Rocher gezwungen. Dies, so die Vigniers, werde konsequenzen haben. "Die drohen ganz offen mit der Veröffentlichung aller von Beauxbatons erhaltenen Briefe und medienwirksamen Vorführung ihres magisch begabten Sohnes als Mutanten. Weil das ja klar gegen die Geheimhaltungsvereinbarung verstoßen würde, wäre es sicher der leichtere Weg, die angesetzte Eheschließung mit Sylvie Rocher zu verbieten. Außerdem hat eure Grundschuldirektrice meiner Vorgesetzten einen Antrag auf Freistellung aller mit muggelweltlichen Kenntnissen versehenen Mitarbeitern gestellt, da sie für das kommende Schuljahr personelle Engpässe befürchtet. Dumm nur, dass Madame Nathalie Grandchapeau gerade wegen einer anderen Sache in Französisch-Guayana unterwegs ist und ihre Tochter für sie die Stallwache hat. Deshalb wird alles wohl auf mich abgeladen, was gerade im Büro ansteht. Da kann die werte Madame Dumas wohl lange klopfen und an der Tür kratzen, um bei uns wen rauszuholen, der den Kindern bei euch Lesen und Schreiben und die Grundrechenarten beibringen kann. Könnte sein, dass die einen ähnlich lautenden Schrieb in alle anderen Abteilungen geschickt hat und deine Vorgesetzte den auch hat, wenn nicht sogar Monsieur Vendredi persönlich."

"Wo meine Mutter ihr endgültig von der Schippe gehüpft ist", grinste Julius. Doch ihm war klar, dass er da wohl noch einiges von zu hören bekommen würde. Am Ende konnte aber Minister Grandchapeau ein Machtwort sprechen, ob MitarbeiterInnen von ihm in den Grundschuldienst versetzt werden sollten oder nicht. Julius erwähnte noch, da Laurentine bis alles, was C3 war informiert werden durfte, was er am Nachmittag noch außendienstlich zu klären hatte.

"'ne ähnliche Sache also", stellte Laurentine fest. "Nur dass ihr damit zu tun habt, weil Gabrielle eine Veela zur Oma hat." Julius nickte. Er erwähnte auch, dass Pierre gesagt hatte, dass seine Eltern nicht wollten, dass er sich mit einer Hexe befreundete und er denen deshalb noch nichts von seiner Freundschaft mit Gabrielle erzählt hatte. Laurentine nickte. Ähnliches hatte sie von ihm auch zu hören bekommen, als sie ihn gefragt hatte, wo das seiner Meinung nach hinlaufen sollte. Beide wünschten sich dann die nötige Ruhe und den Überblick, um ihre jeweiligen Aufträge durchzuführen.

"Ich wusste nicht, dass Madame Geneviève Dumas Sie vor Ihrer Vereidigung befragt hat, ob Sie nicht lieber als junger Grundschullehrer für sie tätig sein wollten", lachte Ornelle Ventvit, als Julius eine Minute wieder im Büro war, um sich für die Reise zu den Delacours vorzubereiten. Er erwähnte, dass die Direktrice der Grundschule in Millemerveilles bisher darauf ausgegangen sei, seine Mutter als fest angestellte Lehrerin für Rechenkunst und Englisch zu gewinnen und jetzt wohl hoffe, er könne diese Aufgaben übernehmen.

"Na ja, dies ist ein klarer Antrag unter Berufung auf Gewährleistung der grundlegenden Ausbildung des magischen Nachwuchses, Julius. Den darf ich nicht so einfach ignorieren. Andererseits sind Sie gerade jetzt unentbehrlich, wenngleich ich Madame Dumas nicht darüber unterrichten darf, warum. Das werde ich wohl mit Monsieur Vendredi und Cicero Descartes erörtern müssen. Dies fällt für mich gerade sehr unpassend, da mein eigener Zeitplan bereits sehr dicht gedrängt ist. Aber ich werde mir die nötige Zeit nehmen, um zu klären, ob ich Sie für Madame Dumas freistellen kann oder nicht. Allerdings benötige ich, bevor Sie zu den Delacours gehen, eine klare Aussage von Ihnen, ob Sie von sich aus bereit sind, Madame Dumas' bei der Gewährleistung der schulischen Grundausbildung behilflich zu sein oder dies mit einer stichhaltigen Begründung zurückweisen können, die nicht die Ihnen auferlegten Geheimhaltungsverpflichtungen gefährdet."

"Ich kenne die Direktrice ja als meine Nachbarin und habe auch schon wegen dieses Anliegens mit ihnen privat gesprochen. Sie weiß eigentlich, dass mir daran gelegen ist, nicht nur für ein paar Schulkinder, sondern auch für die gesamte Zaubererwelt, die mich willkommen geheißen hat, zur Verfügung zu stehen. Eigentlich hat sie einen mehr als ausreichend großen und kompetenten Mitarbeiterstab zur Verfügung. Was sie von meiner Mutter und jetzt von mir oder anderen Muggelweltgeborenen will ist, dass wir unsere Grundschulkenntnisse weitergeben, weil ihr klargeworden ist, dass ihre Schüler mit guter Muggelweltvorbildung nicht mehr so isoliert sind, wenn sie mal Berufe mit Muggelweltberührung ergreifen wollen oder sich mit Leuten aus nichtmagischen Familien befreunden oder verheiraten möchten. Will sagen, sie hat Angst, ihre Schüler könnten von ihren muggelstämmigen Schulkameraden in Beauxbatons für rückständig gehalten werden."

"O, danke für diese wichtige Information, Monsieur Latierre", sagte Ornelle. "Dann verbleibt mir nur, Ihnen die nötige Sachlichkeit und Ruhe bei der nun anstehenden Besprechung mit der Familie Delacour zu wünschen."

"Danke, Mademoiselle Ventvit", erwiderte Julius ganz förmlich. Dann fuhr er zum Foyer hinunter, um von da aus ins Haus der Delacours zu flohpulvern. Es hieß Champ du Chante. Es lag dreißig Kilometer südlich von Avignon in Mitten der berühmten Lavendelfelder der Provence.

Als Julius aus dem Zielkamin herausgeklettert war sah er sich einen Moment um. Die schon plüschige, in hellen Farbtönen gehaltene Dekoration des großen Wohnzimmers, das den Kamin Beherbergte, verriet, dass die Hausherrin für die Einrichtung zuständig war. Bequeme Sofas umstanden einen kleinen Tisch. In einer der Ecken, die von zwei breiten und hohen Fenstern mit Tageslicht versorgt wurde, stand ein Esstisch mit zwanzig bequemen Stühlen, der im Moment nicht gedeckt war. Vor dem Couchtisch erwartete ihn sein untersetzter Arbeitskollege Pygmalion Delacour. Er hatte seinen schwarzen Spitzbart gestriegelt und trug einen faltenfreien hellblauen Umhang. Seine Frau Apolline war gerade nicht zu sehen. Am Klappern von Geschirr und Besteck konnte Julius jedoch hören, dass sie wohl gerade in der Küche zu tun hatte.

"Willkommen auf dem Sangesfeld, Monsieur Latierre. Meine Frau und ich freuen uns, dass Sie sich bereitgefunden haben, unser Anliegen so schnell Sie konnten zu bearbeiten", begrüßte Pygmalion seinen Arbeitskollegen ganz förmlich. Julius bedankte sich für die Begrüßung und erwähnte, dass er jetzt noch kein Protokoll mitnotierte. "Das weiß ich. Aber ich bin es nun einmal gewohnt, Beamte protokollgemäß anzusprechen. Gabrielle ist mit ihrer Schwester in Schottland unterwegs. Meine Frau und ich wollten zunächst nur mit Ihnen sprechen, welche rechtlichen Dinge es zu beachten gilt. Darüber hinaus möchte meine Frau gerne wissen, wie feste Freundschaften, aus denen Liebes- oder Eheverhältnisse werden können, in der magielosen Welt gewichtet werden. Ich hörte nämlich einmal, dass es in der magielosen Welt nicht mehr wirklich nötig ist, dass Paare nur als rechtlich einander angetraute Ehepaare zusammenleben dürfen und dass es in der französischen Politik der Muggelwelt sogar schon erörtert oder gar erwogen wird, eine offizielle Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare anzubieten."

"Stimmt, in Frankreich dürfen, wie in vielen anderen europäischen Ländern auch, unverheiratete Paare in derselben Wohnung wohnen, wenn beide Partner volljährig sind. Das mit der offiziellen Anerkennung homosexueller Paare weiß ich jetzt nicht. Da muss ich mich wohl erst einmal durch die neuen Rechtsgrundlagen oder Parlamentsentscheidungen der Muggelwelt durchlesen. Aber so oder so wäre das für Ihren konkreten Fall eh nicht von bedeutung", sagte Julius ruhig und fragte, wo er etwas zum Mitschreiben hinlegen konnte. Ihm wurde dafür ein freier Platz mit Schreibunterlage am Esstisch angeboten. Als Madame Delacour dann in einem saphirblauen Kleid aus der Küche kam und ein großes Tablett mit einer großen Kanne, einer kleinen Milchkanne und drei Kaffeegedecken vor sich herschweben ließ, strahlte sie Julius so erfreut an, dass dieser sofort seinen in Khalakatan gelernten Schutzzauber gegen äußere Geisteseinflüsse dachte, um ihrer Veela-Ausstrahlung zu widerstehen. Madame Delacour merkte das wohl und errötete ein wenig. Dann nickte sie anerkennend, weil Julius so schnell so entspannt aber unbetört wirkte und begrüßte ihn freundlich und nicht so förmlich wie ihr Mann. Als die drei dann vor vollen Kaffeetassen saßen fragte Madame Delacour, ob Julius einen erholsamen Urlaub verbracht habe. Er bejahte es und bedankte sich für ihr Interesse. Pygmalion sah seine Frau dafür so an, als habe sie was unanständiges gesagt oder gegen ein Verbot verstoßen. Dies lächelte sie jedoch einfach weg, weshalb er förmlich dahinschmolz. Julius war klar, warum Pygmalion darauf wertlegte, dass sein jüngerer Kollege die Sache bearbeitete.

Nach dem Austausch von Freundlichkeiten kamen sie auf den Grund der Zusammenkunft. Julius hörte sich an, dass Gabrielle ihrer Mutter erzählt hatte, dass sie gerne einmal zu Pierres Eltern reisen wollte, um diese außerhalb von Beauxbatons kennenzulernen, wo sie auf sein Drängen hin bisher keinen Kontakt mit ihnen gesucht hatte. "Meine Töchter haben sehr früh ihre eigenen Wege gesucht", sagte Apolline. "meine ältere Tochter Fleur legte dabei jedoch viel Wert auf einen Jungen, der ihr nicht nur im Punkte Aussehen, sondern auch Fertigkeiten entsprach. Wie Sie ja wissen fand sie in Beauxbatons niemanden, der ihren Maßstäben gerecht wurde." Ihr Mann ergänzte es mit den Worten: "Außerdem lag ihr sehr viel daran, dass der Junge, den sie als festen Freund haben wollte, nicht nur ihren Körper begehrte. Da ihr viele Jungen nicht klar zu verstehen gegeben haben, woran ihnen bei ihr mehr lag hatte sie keinen festen Freund. Ich hätte gerne wen an ihrer Seite gesehen, der sehr selbstbeherrscht und gut vorgebildet war, da mir klar wurde, dass er bei einer Ehe hinter Fleurs angeborenen Fähigkeiten verschwinden mochte. Mittlerweile kennen wir ja die Weasleys und empfinden sehr großen Respekt für diese Familie, in die Fleur eingeheiratet hat. Nun beginnt unsere Tochter Gabrielle, sich wohl nach einem festen Freund und möglichen Verlobten umzusehen. Als wir von ihr erfuhren, dass sie sich offenbar für einen muggelstämmigen Klassenkameraden erwärmt habe, entstand bei uns die Frage, ob wir dieser Verbindung zustimmen dürfen oder sie ihr unter Begründung auf zaubererweltrechtliche Beschränkungen sogar verbieten müssen, zumal wir von uns aus keine Einladung an den jungen Mann aussprechen dürfen, da dieser nicht innerhalb der magischen Gemeinschaft wohnt und daher keine magischen Reisemittel zur Verfügung hat, um mit seinen Eltern zu uns zu kommen oder dass meine Familie und ich ihn im Hause seiner Eltern besuchen können."

"Mein Mann möchte der Form halber unerwähnt lassen, dass Gabrielle schon sehr sehr früh damit anfing, sich einen festen Freund zu suchen und diesen wohl auch ebensofrüh gefunden hat", sagte Madame Delacour. "Allerdings tritt das Ministerium nicht wegen frühpubertärer Schwärmereien in Aktion, hat er mir erklärt", fügte sie hinzu. "Deshalb mussten wir Gewissheit haben, ob sich eine ernste Beziehung entwickelt und wie wir damit umzugehen haben."

"Rein amtlich kann ich dazu nur sagen, dass diese Frage erst dann rechtlich relevant wird, wenn Ihre Tochter vorzeitig ein Kind erwartet oder sich im Rahmen der traditionellen Hexenwerbung einen jungen Zauberer auf ihren Besen gerufen hat", erwiderte Julius. Dann pflückte er behutsam seine eifrig mitschreibende Schreibe-Feder vom Pergamentblatt und fügte sozusagen inoffiziell hinzu: "Aber ich habe das natürlich mitbekommen, dass Ihre Tochter und Pierre schon ganz kurz nach Beginn ihrer gemeinsamen Schulzeit aneinander interessiert waren. Rein inoffiziell kann ich sogar bestätigen, dass Gabrielle den Anfang gemacht hat, Pierre für sich zu begeistern und er wohl von ihr eine gewisse Rückmeldung hat, dass sie daran interessiert ist, dass er ihr fester Freund und möglicher Verlobter ist." Er setzte die Schreibe-Feder wieder auf das Pergament auf, ohne aus der gerade beschriebenen Zeile zu rutschen und sagte dann noch, dass er weder von Madame Faucon noch von Madame Rossignol oder Professeur Delamontagne irgendwas erfahren habe, was Grund zur Annahme biete, dass Gabrielle Delacour und Pierre Marceau nicht nur gute Schulfreunde bleiben wollten. "Deshalb", so setzte er mit gestraffter Körperhaltung an, muss ich sie nun ganz offiziell fragen, ob Sie Ihrer Tochter beistehen möchten, sollte sie sich dazu entschließen, Monsieur Marceaus Ehefrau zu werden, sei es, dass er Sie beide ganz offiziell um die Hand Ihrer Tochter bittet oder im Zuge der Hexenwerbung auf ihren Besen gehoben wird?"

"Das ist ein Problem, das wir haben, dass ich den betreffenden jungen Zauberer sehr gerne einmal sprechen möchte, ohne gleich Druck auf ihn auszuüben", sagte Pygmalion. Seine Frau fügte dem noch hinzu: "Nachdem unsere ältere Tochter sich einen britischen Zauberer zum Ehemann ausgesucht hat möchte ich schon früh genug wissen, wer da demnächst noch mit unserer Familie zusammengebracht werden könnte, zumal ich persönlich vom Lebenslauf meines Schwiegersohns zu Anfang nicht so begeistert war. Denn ein Fluchbrecher kann, soweit wie ich das mitbekommen habe, leicht zum Übermut und zur Selbstüberschätzung neigen, vor allem über seine Erfolge und sein Vermögen überhöht werden. Als er dann noch von einem größenwahnsinnigen Lykanthropen angefallen wurde dachte ich erst, meine Tochter würde sich einen werwütigen Zauberer einhandeln und unter Umständen Kinder mit angeborener Werwut bekommen. Aber mittlerweile haben wir mit unserer verschwägerten Verwandtschaft sehr gute beziehungen, und unser Schwiegersohn ist ja mittlerweile im Innendienst tätig und daher keiner größeren Gefahr mehr ausgesetzt. Bei Gabrielle fühle ich aber, dass ich mit ihrer Wahl große Probleme kriegen könnte, weil der Junge eben keine Zaubererwelteltern hat und ich viel zu gut weiß, wie schnell magielose Leute mich und meine Verwandten mütterlicherseits verachten und verdammen. Ich will bloß kein böses Blut zwischen mir und anderen haben."

"Vor allem nach der Sache mit einem gewissen Tänzer aus Russland könnte die Abneigung der Magielosen gegen Leute, die wie meine Frau und meine Töchter sind besonders groß werden. Ich denke auch an eine Sache, über die unsere Tochter Fleur erzählt hat, als sie am trimagischen Turnier in Hogwarts teilnahm und dabei mit dem Vater eines muggelstämmigen Jungen aneinandergeriet." Julius erinnerte sich und nickte. Gesten wurden von der Feder nicht mitgeschrieben, nur Wörter, Stimmlagen und Gesichtsausdrücke. Er erinnerte sich auch noch zu gut an besagten Vorfall. Deshalb fragte er noch einmal, ob sie von sich aus was gegen Gabrielles Auswahl hatten.

"Selbst wenn", erwiderte Pygmalion leicht frustriert, "könnten wir sie wohl nicht dazu zwingen, von ihrem Auserwählten abzulassen. Die einzige die dies könnte wäre meine Schwiegermutter, und die unterstützt unsere jüngere Tochter sogar in ihren Bemühungen." Julius nickte. Auch das hatte er schon mitbekommen. "Also bleibt uns nur zu hoffen, dass Gabrielle sich sehr gut überlegt, auf wen und auf was sie sich einlässt. Dabei muss ich wohl einräumen, dass unsere Tochter seit ihrer Einschulung in Beauxbatons längst nicht mehr über alles berichtet, was ihr dort geschieht und was sie dort bewegt. Selbst die Rücksprachen mit ihren Lehrern können wir unmöglich als vollständige Information werten. Wir wissen nur, dass sie es einmal gestattet hat, dass ihr dieser junge Zauberer unter die Bluse fassen durfte. Dabei seien sie erwischt und gemäß den Sittlichkeitsregeln von Beauxbatons bestraft worden. Mehr haben wir seitdem nicht erfahren und wissen daher nicht, ob Gabrielle und dieser junge Zauberer Marceau sich nicht womöglich schon unbekleidet angesehen haben oder gar bereits weiterführende Erkundungen ihrer beider Körper betreiben oder betrieben haben. Wenn ich ihr sage, dass sie immer statthaft bekleidet sein soll, wenn andere Jungen in Sichtweite sind, bekomme ich immer wieder dieselbe Antwort: "Ich zeig mich nur dem nackig, den ich auch nackig sehen will." Leider kann ich aus dieser Antwort sowohl alles als auch nichts ableiten."

"Wieso, das ist doch eine ganz klare Aussage", erwiderte Julius darauf. "Das heißt für mich, dass Gabrielle genau weiß, was sie darf und was sie nicht darf und welche Folgen welche Handlung hat und sie deshalb ganz genau vorausdenkt, für wen sie welche Folgen tragen möchte."

"Ja, aber bitte nicht im wahrsten Sinne des Wortes, bevor sie klar und offiziell verheiratet ist", erwiderte Pygmalion. "Sicher möchte ich mitreden können, wenn Gabrielle von Sachen aus der magielosen Welt spricht. Außerdem würde ich gerne mit Pierres Eltern sprechen, worauf sie sich gefasst machen müssen. eine veelastämmige Frau zu haben ist nicht nur ein Paradies." Apolline funkelte ihren Mann dafür zwar zornig an, musste aber nicken. Julius pflückte noch einmal die Feder vom beschriebenen Pergament und sagte mit bewusst erheitertem Gesicht:

"Glauben Sie mir bitte soweit ich das als Saalsprecher mitbekommen konnte, dass Ihre Tochter dem Jungen das schon längst klargemacht hat. Wenn er dann immer noch bei ihr bleiben will, dann wohl nicht nur, weil sie überragend anziehend aussieht." Madame Delacour strahlte ihn dafür an. Er musste noch einmal das Lied des inneren Friedens denken, um nicht in hilfloser Hingezogenheit zu ihr zu versinken. Offenbar imponierte ihr, wie er sich gegen ihre Ausstrahlung abschirmen konnte. Denn sie hielt ihre Kräfte nicht zurück. Das merkte er daran, dass Pygmalion sie sehr sehnsüchtig anschmachtete. Dann sagte sie: "Ich als Gabrielles Mutter will endlich wissen, wen sie da für sich haben will. Deshalb wollen wir ja wissen, ob es da rechtliche Bedenken oder Vorschriften gibt. Mein Mann sagte, das er mir das zwar auch sagen könne, dann aber als Befangen dasteht und wir deshalb einen nicht mit uns verwandten Kollegen damit beauftragen müssen, der zudem noch weiß, was in der Muggelwelt wichtig und richtig ist." Julius nickte zustimmend und erwähnte dann alles relevante, was er nachgelesen hatte. Als er erwähnte, dass Pierres Eltern gegen eine Hochzeit Einspruch erheben könnten, obwohl Pierre nach Zauberergesetzgebung volljährig sei, nickten die Delacours. Dann sagte Madame Delacour: "Muss ich das formell beantragen oder kann ich Sie auch so darum bitten, mir zu helfen, mit dem jungen Zauberer zu sprechen, um herauszufinden, wie wichtig die Beziehung zu unserer Tochter ist?"

"Wenn Sie mich hier und jetzt darum bitten und ich dieser Bitte entspreche steht es im Protokoll und kann daher als formell eingereichtes Ersuchen gewertet werden", erläuterte Julius. So sagte Madame Delacour deutlich und mit ernstem Blick, dass sie den Wunsch habe, in Begleitung eines Beamten aus der Zauberwesenbehörde mit Monsieur Pierre Marceau zu sprechen und darum bitte, mit diesem jungen Zauberer in der Muggelwelt Kontakt aufzunehmen. Julius bestätigte den Erhalt dieser Anfrage. Als sie ihn dann noch fragte, ob er ihr helfen könne machte er eine rhetorische Pause von drei Sekunden. Dann sagte er, dass er bereit sei, ihr zu assistieren, sofern dies von seiner Vorgesetzten gestattet und bestätigt würde. Damit war die Unterredung beendet. Er bedankte sich für den Kaffee und das Gebäck, das er genießen durfte. Dann kehrte er ins Ministerium und sein dortiges Büro zurück, um die Mitschrift der Unterredung zu überreichen.

"Verstehe ich, dass Monsieur Delacour das gerne vor Schuljahresbeginn klären möchte. Da er selbst in meiner Behörde Dienst tut muss da natürlich ein Kollege bei sein. Ich schlage vor, Sie erledigen zunächst die für das Ausland anfallende Korrespondenz und bitten Mademoiselle Maxime um eine Unterredung wegen ihrer Tante. Das neue Schuljahr beginnt ja erst am letzten Augustsonntag. Bis dahin bleibt Zeit, Madame Delacours Gesuch zu erfüllen. Allerdings benötige ich dann mindestens zwei Tage vor dem möglichen Zeitpunkt eine eindeutige Auskunft, ob Sie auf die ministeriellen Kraftfahrzeuge zurückgreifen oder öffentliche Verkehrsmittel der magielosen Welt benutzen möchten."

"Das kann ich Ihnen verbindlich zusichern, Mademoiselle Ventvit", erwiderte Julius.

Als er wieder im Apfelhaus war erzählte er seiner Frau, dass Geneviève Dumas nun versuchte, entweder Laurentine oder ihn für die Grundschule zu werben und zwar schon fast wie einer von der Fremdenlegion.

"Die Fremdenlegion kenne ich nicht, Monju. Aber wenn die da so ähnlich an ihre Leute gekommen sind wie Sardonia, die gesagt hat, dass alle Hexen ihre Schwestern seien und daher auch als ihre treuen Gefährtinnen aufzutreten hätten, dann hoffe ich mal, dass Sandrines Mutter da noch nicht drauf verfallen ist", erwiderte Millie. Aurore brauste gerade mit ihrem Kleinkindbesen um das Apfelhaus herum und rief immer wieder "Hui!" und "Juiii!"

"Und sonst ist nichts passiert, wovon du mir erzählen darfst?" wollte Millie wissen. Julius erwähnte das mit den Delacours. Vertraulichkeit verbot nicht, dass volljährige Familienangehörige was davon wussten. "Dann halte dir aber diesen inneren Friedenszauber gut warm, wenn du mit Fleurs und Gabrielles Maman in der Muggelwelt unterwegs bist, Monju!" sagte Millie. Julius versprach es.

Nachdem er mit seiner Tochter um die Wette geflogen war und mit ihr durch den Garten getobt war aß Julius mit seiner Familie vor dem Apfelhaus zu abend. Danach wurde die quängelnde kleine Hexe Aurore von ihrem Vater ins Bett gebracht. Er musste ihr dann noch die Geschichte von Purrley, dem purpurroten Knuddelmuff vorlesen, die sie von Brittany Brocklehurst zu ihrem ersten Geburtstag bekommen hatte. Als Aurore endlich schlief erbat er sich von seiner Frau zwanzig Minuten für die tägliche Auffrischung an Muggelweltdaten. Seine Mutter hatte eine E-Mail aus Denver in Colorado geschickt. Sie bat aber darum, das nicht den in der Nähe der Stadt wohnenden Ross' zu erzählen, da sie und ihr zweiter Mann Lucky ja beschlossen hatten, mehr in der Welt außerhalb der bekannten Bahnen zu urlauben. "ich maile dann aus Chicago, wenn ich da ein Internetcafé finde, in dem nicht zu viel Andrang ist", las Julius halblaut. Bis Ende September wollten die beiden durch die USA reisen. Kalifornien, Arizona und Texas hatten sie hinter sich. Jetzt wollten sie über Colorado und Illinois nach Osten weiter. Der Abschluss sollte dann eine Woche in Miami sein. Julius fragte sich, wie gut das Zaubereiministerium bezahlte, damit seine Mutter eine so ausgedehnte Reise durch die Staaten machen konnte, wenn sie dabei nur magielose Verkehrsmittel benutzen wollten.

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"Wir haben noch einen erwischt, höchste Schwester", sagte Izanami Kanisaga bei einem heimlichen Treffen am zwanzigsten August. Anthelia grinste überlegen. "Der hat es doch glatt gewagt, als Kranich über Nagasaki herumzufliegen. Hat seine eigene Lebensaura wohl mit einem Zauber angereichert, der auf die Ansammlung dunkler Kräfte reagiert. Und genau das war sein Fehler. Denn diese Aura hat in einem tiefblauen Schein geleuchtet, was für einen Kranich ein wenig zu auffällig war", fuhr Izanami fort. "Einer meiner Kollegen hat ihn dann auf fliegendem Besen verfolgt und gebannt. Wir haben ihn zunächst in einer gläsernen Zelle gehalten, wollten ihn durch den Zauber der gaukelnden Träume in die Wahrnehmung versetzen, weiterhin frei und erfolgreich zu sein. Allerdings hatte sein unsichtbares Brandzeichen was gegen diese Art Behandlung. Es erglühte und ließ den Gefangenen in fünf Minuten restlos vertrocknen und zu staubtrockener Asche werden."

"Klar, weil der von euch und den Chinesen so für unschlagbar gehaltene Zauber nur auf magisch unberührte und ungeschützte Menschen wirkt. Es verwundert mich doch wirklich, dass deine offiziellen Kollegen das nicht einen Moment lang bedacht haben", erwiderte Anthelia.

"Sie gingen davon aus, dass nur ein körperlicher Angriff auf ihn oder von ihm begangener Verrat den Vernichtungsfluch entfesseln", erwiderte Izanami.

"Du kannst nichts dafür, dass deine achso menschenfreundlichen Kollegen so unwissend sind. Dein Ehrenkodex verbietet es dir, sie auf ihre Unwissenheit hinzuweisen. Sollen die halt ihre Erfahrungen machen", schnarrte Anthelia. "Aber den zweiten Kristall bei euch habt ihr vernichtet?" Izanami nickte. "Dann gilt es noch, die Stätten der großen Schlachten zu reinigen, die von deinem Volk mit anderen Völkern geschlagen wurden."

"Ist schon erledigt, höchste Schwester. Die Ehre meiner Vorgesetzten erzwang es, nach Erkenntnis der Gefahr alle nun erkennbaren Horte dieser Bedrohung aufzusuchen und zu reinigen. In meinem erhabenen Heimatland findet niemand mehr diese Kristalle. Doch ich bin betrübt einräumen zu müssen, dass in China noch Lagerstätten dieser Kristalle zu finden sein werden, wo die großen Schlachten der Mongolen und Kolonialistenkriege liegen."

"Wissen wir zumindest, für wen diese törichten Sucher gesucht haben?" fragte Anthelia.

"Sie konnten und wollten uns den Namen nicht verraten. Das ihnen eingebrannte Zeichen stellt ein blutrotes V dar", erwiderte Izanami. Damit war für Anthelia alles klar. Iaxathans Knecht brauchte diese Kristalle. Wenn seine Handlanger versagten mussten sie sterben. Anthelia hatte bereits ihre eigenen Schwestern ausgeschickt, um in Nord- und Südamerika die Stätten massenhaften Todes abzusuchen. Mit Zaubereiminister Cartridge konnte sie nicht zusammenarbeiten. Nach dem Bruch der Übereinkunft war Anthelias Hexenschwesternschaft wieder zur heimlichen Fahndung ausgeschrieben. Hinzu kam, dass man gegen Anthelia selbst Anklage wegen Mordes an Elroy Patch und Patricia Straton erheben wollte. Denn diese Taten konnten ihr unzweifelhaft angelastet werden. Um sein in der Öffentlichkeit eingetrübtes Ansehen wieder aufzuhellen wollte Minister Cartridge zumindest nun Gewissheit schaffen, warum Anthelia den Ministeriumsmitarbeiter und eine ihrer früheren Mitschwestern umgebracht hatte. Dass Patricia Straton noch lebte durfte keiner im Ministerium wissen, selbst wenn Patricia durch das Bündnis mit den Sonnenkindern ganz und gar von ihr abgerückt worden war, wie auch der ehemalige Kundschafter Benjamin Calder alias Cecil Wellington.

"Vielleicht ist es mir möglich, bald auch unsere chinesischen Schwestern zur Zusammenarbeit mit mir bewegen zu können, um nach den Unlichtkristallen zu suchen", sagte Anthelia. "Doch im Moment fürchte ich, dass die Zeit nicht ausreicht." Izanami nickte. Dann durfte sie in ihre Heimat zurück, um keinen Verdacht zu erregen.

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Eine kurze Rücksprache mit Blanche Faucon hatte Julius darüber informiert, dass die Marceaus keineswegs überrascht würden, wenn die Delacours mit ihnen sprechen wollten. Die gerade mit der Vorbereitung auf das kommende Schuljahr befasste Leiterin von Beauxbatons hatte Julius in ihrem gemütlichen Haus in Millemerveilles über alles unterrichtet, was Sie und ihr Kollege Delamontagne den Marceaus an den Elternsprechtagen erzählt hatten. "Grundsätzlich sind die Eheleute Marceau nicht abweisend gegen die Befähigungen ihres Sohnes und die damit einhergehende Lernverpflichtung in Beauxbatons eingestellt. Der Kollege Delamontagne erfuhr jedoch, dass die Marceaus eher eine Partnerschaft ihres Sohnes mit einer magielosen Mitbürgerin wünschten, da Monsieur Marceaus Vater im französischen Staatsdienst angestellt sei und die Öffentlichkeit daher ab und an einen prüfenden Blick auf die Entwicklung seiner Familie werfe. Zumindest aber konnte der Kollege Delamontagne den Eltern Monsieur Marceaus beruhigend versichern, dass nach der pubertären Eskapade der beiden keine weiteren betrüblichen Verhaltensweisen ruchbar wurden, zumindest sofern er darüber in Kenntnis gesetzt wurde, wobei ich hoffe, dass dies auch den Tatsachen entspricht." Julius hatte nichts anderes erfahren. "Gut, wenn du die Delacours also mit den Marceaus zusammenbringen möchtest hast du nun genug Grundwissen, um das erwünschte Gespräch zu einem beiden Seiten genehmen Abschluss zu bringen." Julius bedankte sich für die Hintergrundinformation. Dann kehrte er in sein eigenes Haus zurück. Am nächsten Tag, dem 21. August, stand das Treffen der beiden Familien in Paris an.

Als Julius am nächsten Morgen ins Büro ging, um sich mit dem zugeteilten Fahrer und den Delacours zu treffen erfuhr er, dass Laurentine von Madame Rossignol darüber informiert worden war, dass Louis Vignier in der letzten Nacht abgereist sein musste und nun irgendwo im Bereich des indischen Ozeans unterwegs sei. Eigentlich hatte Laurentine mit den Vigniers über die ausgemachte Verlobung zwischen Louis und Sylvie sprechen wollen, erst einmal ohne die Rochers. Daraus wurde wohl so schnell nichts.

Zumindest hatten es die Marceaus nicht nötig, einfach so das Land zu verlassen. Als der Ministeriumswagen mit Julius, der ein weites blaues Kleid und einen strengen Zopf tragenden Apolline und den einen taubenblauen Anzug tragenden Pygmalion Delacour und Gabrielle vor einem kleinen Haus etwa einen Kilometer von den Champs Élysées entfernt anhielt, dachte Julius daran, dass er wohl das leichtere Los getroffen hatte. Das Haus war ein zweistöckiges Reihenhaus mit sehr gut gepflegtem Vorgarten. Ein Plattenweg führte zur hölzernen Haustür. Auf sein Klingeln erschien ein untersetzter Mann, der vom Gesicht her eindeutig Pierres Vater sein musste. Gabrielle, die ein wadenlanges Kleid aus himmelblauem Stoff trug lächelte ihn zuckersüß an. Monsieur Marceau bekam einen seligen Gesichtsausdruck. Madame Delacour warf ihrer Tochter einen tadelnden Blick zu und flüsterte ihr etwas ins Ohr, was der jungen Viertelveela offenbar nicht so gefiel.

Im Wohnzimmer der Marceaus trafen sie auch auf Pierres Mutter und ihn selbst. Pierre wirkte schuldbewusst, während seine Mutter angespannt auf Mutter und Tochter Delacour blickte. Julius wusste, dass weibliche Veela-Abkömmlinge wie ihre magischen Vorfahren auf alle weiblichen Menschen über zwölf anwidernd bis verärgernd wirkten, wenn sie ihre besonderen Kräfte ausspielten. Deshalb hielten sich die beiden Nachfahren Létos sehr strickt zurück. Von Blanche Faucon gut vorbereitet und mit den wichtigsten Rechtsgrundlagen im Kopf führte Julius ein sehr ruhiges, ja auch freundliches Gespräch mit den Marceaus. Er legte Wert darauf, dass auch die beiden Halbwüchsigen ihre Ansichten darlegten. Gabrielle fragte leicht verdrossen, warum das ganze amtlich gemacht werden müsse, wo sie und Pierre bisher nichts angestellt hätten, was von Beamten zu bearbeiten wäre. Julius erwiderte darauf, dass er da auch nicht für zuständig gewesen wäre, hätte sie nicht eine Veela zur Großmutter. Natürlich wollten die Marceaus nun wissen, was eine Veela war und ob das für ihren Sohn gutartig oder schädlich sein würde, mit einer Veela-Nachfahrin befreundet zu sein oder am Ende noch mehr verbunden zu sein. Julius erläuterte die Natur von Veelas und dass es wie bei den Menschen anständige wie zweifelhafte Einzelwesen gäbe und Léto zu den anständigen Veelas gehöre und wohl ihre Kinder und Enkel zum friedlichen und respektvollen Umgang mit ihren menschlichen Mitgeschöpfen anhielte. Gabrielle verzog bei dieser Erwähnung ihr Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. Julius grinste zurück und sagte: "Dafür kriege ich Geld, dass ich solche Sachen klar und deutlich erwähne, Mademoiselle." Als dann das Gespräch auf eine mögliche Vertiefung der bisherigen Schulfreundschaft, die schon als Jugendliebe gewertet werden dürfe, ging, sagte Monsieur Marceau:

"Nun, ich habe unserem Pierre geraten, sich nicht auf eine Hexe einzulassen, weil wir mitbekommen haben, dass längst nicht jeder in dieser Parallelwelt, aus der Sie stammen, mit uns magieunfähigen Mitmenschen anständig umspringt. Ich wollte und will nicht, dass mein Sohn als eine Art Frischfleisch für die schon ineinander verstrickten Erblinien eingehandelt wird, um die mögliche Inzucht von Familien zu verhindern. Deshalb ist mir danach, dass unser Sohn sich nach dem leider nötigen Lernen dieser Zaubersachen in der ganzen Welt umsehen kann, ohne schon vorher zu irgendwas gezwungen zu werden, was weder er noch wir für richtig halten." Madame Marceau nickte und fügte hinzu:

"Und nichts für ungut, Madame Delacour, ich habe es nicht vergessen, was in Pierres erstem Schuljahr los war und dass man ihn nicht über die Weihnachtstage zu uns zurückgelasssen hat und er beinahe von irgendwelchen Monsterschlangen umgebracht worden wäre. Wenn ich jetzt noch höre, dass Ihre Mutter kein Mensch ist, sondern sowas wie ein Fabelwesen, wobei ich hoffe, das sie kein Dämon ist, bin ich als Mutter natürlich um so mehr besorgt, dass Pierre erneut und diesmal ohne Schutz in ähnliche Sachen hineingezogen wird. Wir haben nichts gegen die Leute aus der Zaubererwelt, soweit sie uns als mitspracheberechtigte Mitmenschen anerkennen und nicht als minderbemitteltes Pack, das nichts zu sagen hat. Ich würde jedoch lieber sehen, dass unser Sohn eine Partnerin aus unserer Welt findet, mit der er ein friedliches Leben führern kann. Soweit ich weiß muss er ja diese Zaubersachen nicht sein Leben lang beibehalten. Das Lernen bezieht sich ja darauf, diese fremdartigen Fähigkeiten zu beherrschen, um damit nicht ganz ohne es zu wollen etwas anzurichten."

"Ähm, Ma und Pa, Ich wusste das, dass ihr was gegen Gabie und ihre Familie habt. Deshalb habe ich da nie was drüber gesagt", grummelte Pierre. "Wenn Faucon und Delamontagne nicht gemeint hätten, da was drüber abzulassen hätte ich auch kein Problem damit, bis nach Beaux zu warten, um zu peilen, ob das zwischen ihr und mir weitergeht oder nicht, ohne euch damit die Tage zu versauen."

"Ey, Pierre, was soll denn das jetzt?" fragte Gabrielle verbittert. Ihre Mutter machte nur "Schsch!" Dann deutete sie auf Julius. Dieser nahm es als Aufforderung, was dazu zu sagen:

"Das sagen Sie jetzt, wo Ihre Eltern dabei sind, Monsieur Pierre Marceau. Aber Sie kennen schließlich die Tradition, dass heiratswillige Hexen, die ihren Bräutigam bereits in Beauxbatons gefunden haben, durch die Hexenwerbung ergründen möchten, ob dieser auch bereit ist, sie zu heiraten, sofern der Auserwählte nicht von sich aus einen Heiratsantrag macht und/oder bei den Eltern der Auserwählten fragt, ob diese einer Heirat zustimmen. So frage ich Sie, was Sie tun werden, wenn Mademoiselle Delacour dieses ihr zustehende Recht auf Klarstellung nutzt und durch die Ihnen wohlbekannte Hexenwerbung prüft, ob Sie weiterhin und hochoffiziell mit ihr zusammenbleiben möchten oder nicht?"

"Voll bürokratisch", schnarrte Pierre. Julius wiederholte grinsend, dass er eben dafür bezahlt würde. Dann sagte Pierre: "Ich kann das mit Gabrielle vorher klären, ob wir diese Nummer mit dem Besen durchziehen oder uns erst nach Beaux klar werden, ob wir zwei so zusammenleben oder eben ganz spießig in Brautkleid und schwarzem Anzug mit Zylinder vor wen hintreten und uns trauen lassen. Wenn Gabie was an mir liegt hat die damit wohl keine Probs, nicht auf'm Besen über das Gelände rumzufliegen und zu rufen, dass ich mich von der vorne auf den Besen gabeln lasse. Aber die Lehrer in Beaux sind eben so verklemmt, nachdem Célines große Schwester und diese überdrehte Bernadette da ohne Erlaubnis was Kleines ausgebrütet haben. Die haben eben noch an den Klapperstorch oder diesen Regenbogenvogel geglaubt. So ist das Leben."

"Bitte was ist das mit den Besen und dieser so genannten Hexenwerbung?" wollte Pierres Vater natürlich jetzt wissen. Julius erklärte es ihm. "Das verbiete ich dir, Pierre. Solltest du dich mit dieser jungen Dame oder einer anderen von deinen Mitschülerinnen auf diesen Unfug einlassen legen deine Mutter und ich sofort Widerspruch ein, unabhängig davon, ob das in dieser maschinenlosen Parallelgesellschaft zum guten Ton gehört oder nicht."

"Pa, ich werde in zwei Jahren siebzehn und bin dann für die Zaubererwelt schon volljährig. Da geht dann nichts mehr mit Widerspruch, wenn ich das dann machen sollte. Aber wie gesagt kriege ich das mit Gabie klar, dass wir auch bis nach Beaux damit warten, ob wir zwei zusammenbleiben oder nicht", sagte Pierre. Gabrielle funkelte ihren Freund sehr verärgert an. Julius hätte sich nicht gewundert, gleich blaue Blitze aus den Augen der jungen Viertelveela schießen zu sehen. Madame Delacour sagte dann zuckersüß lächelnd:

"Wie Monsieur Latierre Ihnen gesagt hat möchten wir keinen Streit mit anderen Leuten haben. Ich kann verstehen, dass Sie beide große Angst haben, weil Ihr Junge mit Sachen zu tun bekommen kann, die Sie nicht einschätzen können. Aber so ähnlich ergeht es meinem Mann und mir auch mit Ihrer Welt. Wir durften bei der Herfahrt zu Ihrem Haus sehen, dass die Straßen mit diesen Autowagen überfüllt sind und wie viel stinkenden Qualm diese machen. Das macht uns auch Angst, dass Sie mit solchen Maschinen irgendwann alle Luft der Welt vergiften. Aber wir zwingen Sie nicht dazu, wieder mit anständigen Pferde- oder Eselswagen herumzufahren, weil wir eben verstehen, dass Sie genauso ein Recht auf ein bequemes Leben haben wie wir und eben elektrische oder mit flüssigem Brennzeug angetriebene Maschinen brauchen, wo wir Magie benutzen können."

"Wenn dieser Geheimhaltungskrempel nicht wäre hätte die Zaubererwelt kein Prob damit, CO2-freie Wagen zu machen oder so Flugzeuge ohne Düsenantrieb zu bauen", musste Pierre einwerfen. Julius fühlte sich als Kenner beider Welten berufen, die Geheimhaltung unter Berücksichtigung der Ablehnung der Magie aus der Muggelwelt zu rechtfertigen. Monsieur Marceau fühlte sich wegen der Kritik an den Autos wohl auf den großen Zeh getreten und schnarrte, dass die Straßen von Paris dann voller Pferdeäpfel und Eselsköteln liegen würden und jeder Mensch ein Recht habe, sich unnötige Arbeit vom Hals zu halten, wo er oder sie ja dafür schuften müsse, um ein kleines Auskommen zu haben. Julius wartete ab, was Madame Delacour dazu sagen würde. Doch Pygmalion übernahm die Antwort:

"Meine Frau wollte nur erwähnen, dass wir uns um Gabrielles Zukunft und Umgang ebenso sorgen wie Sie sich um die Zukunft und den Umgang Ihres Sohnes, Madame und Monsieur Marceau. Ihre Bemerkung über diese Autowagen sollte nur zeigen, dass es bei Ihnen ebensoviel beängstigendes gibt wie Sie beängstigendes in unserer Gesellschaft sehen und wir trotzdem nicht feindlich gegen Sie und Ihre Welt vorgehen, im Gegensatz zu Ihren Vorfahren, die jede Nutzung von Magie als todeswürdiges Verbrechen verfolgt und dabei sehr viele unschuldige Mitmenschen umgebracht haben. Deshalb haben wir unsere Geheimhaltung und unsere Selbstverpflichtung, nicht in die Entwicklung Ihrer Gesellschaftsform hineinzuwirken."

"Ach ja, aber meinen Sohn bezirzen, dass er sich als möglicher Erbgutspender für Ihre Verwandtschaft bereitstellt ist keine Einwirkung auf unsere Gesellschaft", stieß Madame Marceau aus. Julius bat durch Handheben ums Wort und sagte beschwichtigend, dass es eben nicht darum ginge, etwas gegen den Wunsch der jeweils anderen Seite zu tun. Allerdings, so fuhr er unter Gabrielles und Pierres verdrossenem Blick fort, gehöre sowohl bei den Menschen mit wie denen ohne Magie zum gesunden Selbstbewusstsein, dass Kinder selbstständig würden und damit auch das unantastbare Recht hätten, sich den Partner für ein Zusammenleben und eine Familiengründung auszusuchen, wenn es nicht anders ginge auch ohne elterlichen Segen, sobald die betreffenden volljährig und somit eigenverantwortlich seien. Das, so stellte er klar, sei die Grundlage eines respektablen Umgangs der beiden Gesellschaften miteinander und der Generationen untereinander. Das machte Eindruck. Pierre grinste. Gabrielle zwinkerte ihren Eltern zu und die Marceaus erstarrten einen Moment. Dann sagte Pierres Vater: "Ich sage jetzt ganz offiziell für den jungen Herren hier, der offenbar beide Lebensformen auswendig kennt: Ich bin bereit, dich bei deiner Entwicklung zu fördern, wenn ich erkennen und verstehen kann, dass diese für dich wirklich nützlich verläuft, Pierre. Des weiteren habe ich als Eigentümer dieses Hauses alles Recht, zu bestimmen, wen ich hier hereinlasse und wen nicht, ob jemand anderes als deine Ma und du hier mit mir leben dürft oder nicht. Wenn du nach der ganzen Zaubereischulzeit was findest, um dir selbst ein Dach über'm Kopf und was zu Essen zu sichern kannst du dir gerne eine Frau aussuchen, die mit dir da leben will. Wenn du dann meinst, du müsstest dich mit einer Hexe einlassen, wobei ich leider zugeben muss, dass du diese Frauen und Mädchen besser kennen lernst als ich, will ich aber offiziell haben, dass wir, deine Eltern, jederzeit das Recht haben, mit dir in brieflichen oder persönlichen Kontakt treten zu können und auch, wenn der Allmächtige es schon nicht verhüten will, ebenso Kontakt mit deinen Kindern haben dürfen."

"Ähm, Pa, dir ist klar, dass es rein gesetzlich kein Recht auf Kontakt zwischen Großeltern und Enkeln gibt", erwiderte Pierre von dieser Ansprache seines Vaters unbeeindruckt. Dieser verzog nur das Gesicht. Madame Delacour bekräftigte darauf, dass ihren Eltern, vor allem ihrer Mutter, wichtig sei, dass mit ihr durch Blut oder Heirat verwandte Angehörige einen uneingeschränkten Umgang miteinander hhaben sollten und sie das Gabrielle auch immer so erklärt habe und es von ihrer Seite her schon ein Recht der Großeltern auf Kontakt zu ihren Enkeln gäbe, auch wenn es dazu kein auf Pergament geschriebenes Gesetz gebe. Julius nickte und notierte sich diese und Monsieur Marceaus klare Feststellung. Dann sagte er: "Ich werde meiner direkten Vorgesetzten diese Mitschrift mit dem Vorschlag überreichen, sie bis zu einer offiziellen Verlobung oder Hochzeit von Mademoiselle Gabrielle Delacour und Monsieur Pierre Marceau aufzubewahren und erst dann mit der Abteilung für friedliches Zusammenleben von Menschen mit und ohne Magie und der Abteilung für magische Familien, Ausbildung und Studien festlegen, welche Umgangsregeln zwischen den Familien erstellt werden müssten oder wo man Vernunft und den Wunsch nach friedlichem Miteinander überlassen könne, dass es keine Auseinandersetzungen gebe. Vielen Dank!"

Die Marceaus ließen es sich schriftlich geben, dass die Zaubererwelt keine gezielten Maßnahmen unternahm, um ihren Sohn durch Verheiratung oder andere Möglichkeiten zu etwas zu zwingen, was seinen Eltern nicht gefiel. Julius musste dabei jedoch innerlich grinsen. Wenn ein Junge ein Mädchen fand und beide sich einig waren hatte das Ministerium in den allermeisten Fällen nichts dagegen zu sagen. Nur wenn die beiden sich verheiraten wollten oder schon das erste Kind auf den Weg gebracht hatten gab es bestimmte Regeln, wie das alles abzulaufen hatte. Zumindest bekamen die Marceaus ihre schriftliche Bestätigung. Dazu war Julius von Ornelle und auch Monsieur Lagrange von der Familienabteilung berechtigt worden. Danach konnten sie ganz friedlich miteinander sprechen. Da die Delacours sich ja schon einmal in der magielosen Welt umgesehen hatten waren die beiden ja auch nicht so unkundig. Julius schilderte sein Leben, wie er seine magischen und nicht-magischen Handlungen abgestimmt hatte. So vergingen noch anderthalb Stunden, bis Julius mit einer kleinen Silberglocke den Fahrdienst des Zaubereiministeriums informierte, dass er und die Delacours wieder abgeholt werden wollten. Zwanzig Minuten später fuhr er mit den Delacours davon.

Wieder in seinem Büro traf er nicht nur seine direkte Vorgesetzte, sondern auch Madame Rossignol, die Schulheilerin von Beauxbatons und Laurentine Hellersdorf. Er gab Ornelle nur seine Mitschriften. Dann sollte er mit Laurentine und der Heilerin in das Büro seiner früheren Schulkameradin gehen.

"Ich hoffe, das Gespräch mit den Marceaus hat zumindest stattgefunden", grummelte Laurentine. Julius nickte und sagte, dass er hoffe, alle unnötigen Streitigkeiten ausgeräumt zu haben. "Madame Rossignol hier ist ziemlich erbost, weil Louis offenbar ohne eine klare Vorankündigung mit seinen Eltern abgereist ist und die Nachbarn von ihnen gesagt haben, dass die drei bis Ende September fortzubleiben gedenken und Louis wohl in eine kanadische Schule gehen würde, da - und das hat Madame Rossignol sehr verärgert - Louis in seiner früheren Schule offenbar geistig und moralisch verwahrlost ist, was bishin zum Zwang gegangen sei, eine nackte Frau bei intimen Verrichtungen anzusehen. Ich habe so getan, dass ich die große Schwester einer von Louis' Mitschülerinnen sei und mich bei seinen Eltern erkundigen wolle, was an Gerüchten über ihn und "meine kleine Schwester" dran sei. Eine von den aufmerksamen Nachbarinnen hat mich dann gefragt, ob meine Eltern nicht auch empört seien, dass "unschuldige Jungen" nackte Frauen anzusehen hätten, die gerade was ganz privates taten. Ich meinte dazu nur, dass ich klären müsse, ob Louis mit "meiner Schwester" Sex hatte und sie deshalb vielleicht von ihm das Kind im Bauch hätte." Madame Rossignol räusperte sich. "Ich hätte jederzeit einen Gedächtniszauber anwenden dürfen, wenn die Nachbarn was über Louis' Schule wussten, was sie nicht hätten wissen dürfen, Madame Rossignol. Aber als Sie mir vor zwei Stunden geschrieben haben, dass Louis offenbar gerade auf dem indischen Ozean herumfährt, nachdem er wohl per Flugzeug nach Réunion gereist sei, wurde mir klar, dass an dieser Geschichte an die Nachbarn wohl was dran sein muss."

"Um das klarzustellen, Laurentine und Julius: Ich habe weder das Recht noch die Pflicht, Urlaubsreisen von Schülern der Akademie zu genehmigen oder zu verbieten, auch wenn ich natürlich bei einem mir anvertrauten Pflegehelfer schon Wert darauf lege, dass er sich nicht in vermeidbare Gefahren begibt. Aber wenn mein Überwachungsartefakt für Pflegehelferschlüssel sagt, dass da mal wer kurz vor Schuljahresende auf Muggelart ans andere Ende der Welt reist und nun irgendwo auf dem Meer herumkreuzt, wo der Schuljahresanfang kurz bevorsteht und Laurentine hier mir dann bei meinem persönlichen Eintreffen sagt, dass Louis womöglich von seinen Eltern bis September fortgebracht wurde und vielleicht an der Rückkehr nach Beauxbatons gehindert werden soll, werde ich ziemlich ungehalten. Ich hoffe doch sehr, dass du deine Vorgesetzte und den zuständigen Kollegen aus der Familienstands- und Ausbildungsbehörde informiert hast, Laurentine."

"Im Moment hat Madame Belle Grandchapeau den Vorsitz in dieser Behörde. Ihr und Monsieur Lagrange von der Ausbildungsabteilung habe ich bereits Mitteilung gemacht und darum gebeten, die weiteren Schritte abzustimmen", sagte Laurentine. Bei diesen Worten betrat Belle Grandchapeau Laurentines Büro. Sie grüßte erst Madame Rossignol und sah dann Julius an. Laurentine erwähnte, dass sie von Mademoiselle Ventvit die Erlaubnis bekommen habe, ihn bei dieser Angelegenheit hinzuzuziehen, weil er auch Englisch könne und ja auch gewisse Erfahrungen damit habe, wenn magielose Eltern ihr zauberschulpflichtiges Kind von der Fortsetzung seiner oder ihrer Schulausbildung abzuhalten versuchten. Belle musste abweichend von ihren amtlichen Verpflichtungen lächeln. Natürlich kannte sie Julius' Erfahrungen und nickte Laurentine zu. Dann bat sie um die schriftliche Bestätigung, dass Julius für diese Aufgabe von seiner Vorgesetzten zur Verfügung gestellt worden war. Laurentine übergab ihr ein entsprechendes Pergament. Dann sagte Belle: "In Ordnung, Mademoiselle Hellersdorf und Monsieur Latierre. Hiermit beauftrage ich Sie beide, in unsere Niederlassung nach Réunion zu reisen und von dort aus direkten Kontakt mit Monsieur Louis Vignier aufzunehmen und ihn auch gegen den Willen seiner Eltern nach Frankreich zurückzubringen. Wenn es nicht anders geht, Mademoiselle Hellersdorf und Monsieur Latierre, belegen Sie die Eltern des Schülers mit einem Gedächtniszauber, dass sie ohne ihren Sohn verreisten und dieser bei einem Schulfreund die Tage bis zum Beginn des neuen Schuljahres zubringe. Vordringlich bringen Sie den jungen Zauberer zu uns zurück. Wir haben die Familie Rivolis mit der einstweiligen Unterbringung und Fürsorge des jungen Zauberers beauftragt. Am 22. August wird eine Konferenz zwischen den Leitern der Büros für friedliche Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne Magie sowie für magische Familienfürsorge, Ausbildung und Studium unter Hinzuziehung der amtierenden Schulleiterin von Beauxbatons befinden, ob die Vigniers dauerhaft durch Gedächtniszauber dahin orientiert werden sollen, niemals einen Sohn auf die Welt gebracht zu haben. Ich werde mir von Ihrer direkten Vorgesetzten Mademoiselle Ventvit und Ihrem ranghöheren Vorgesetzten Monsieur Vendredi die Genehmigung geben Lassen, Sie an dieser Beratung teilnehmen zu lassen, Monsieur Latierre." Julius verzog das Gesicht. Belle schien offenkundig sehr wütend zu sein, dass sie eine derartig drastische Maßnahme anordnete. Laurentine erbleichte. Sowas hätte auch ihr passieren können, wo ihre Eltern vieles versucht hatten, sie aus Beauxbatons herauszuholen. Jetzt arbeitete sie auch noch für eine Behörde, die sich mit derartigen Vorfällen befassen musste, quasi auf der anderen Seite der Linie. Sie nickte jedoch."

"Hiermit bekunde ich offiziell meine Teilnahme an dieser Rückführungsaktion", sagte Madame Rossignol und gab Belle ein Pergament, das wie ein Formular aussah und wohl auch sowas darstellte. Denn Belle Grandchapeau konnte nach dem Lesen nur nicken.

Laurentine hatte von Belle die Passwörter für die Reisesphäre nach Réunion und zurück nach Paris erhalten. Julius hatte beschlossen, sich zunächst erst einmal zurückzuhalten. Als die drei im Ausgangskreis für das Reisesphärennetz standen sah Julius Madame Rossignol an. Die Heilerin bedachte ihn mit einem aufmunterndem Lächeln. Sie konnte sich denken, was in ihm vorging. Dasselbe Lächeln spendierte sie auch Laurentine. Dann sagte sie: "Mir liegt eine Menge daran, dass meine Pflegehelfer ein gutes Verhältnis zu ihren Angehörigen haben, damit diese ihnen den Rücken freihalten. Deshalb möchte ich gerne vor der angeordneten Gedächtnisbezauberung mit den Vigniers sprechen und ausloten, was zu dieser Flucht geführt hat und ob der dazu treibende Grund nicht ohne drastische Maßnahmen ausgeräumt werden kann." Laurentine blickte Madame Rossignol dankbar an. Julius nickte ihr erleichtert zu. So konnte Laurentine nun die sonnenuntergangsrote Lichtsphäre heraufbeschwören, in der sie schwerelos für mehr als dreißig Sekunden trieben, bis sie in einem wohl hellfarbigen Kreis herauskamen. Durch den Zeitunterschied war es hier bereits fast dunkel. Nur noch schwaches Dämmerlicht schimmerte am westlichen Horizont, wodurch die Farben bereits zu unterschiedlichen hellen Grautönen verblassten. Julius konnte der Versuchung nicht widerstehen, in den sichtbaren Sternenhimmel zu blicken. Eine lauhe Tropenabendluft trug exotische Pflanzendüfte und die Geräusche von Nachtinsekten zu ihnen hinüber. Um den Kreis herum standen acht große Lehmhäuser. An einem hing ein mit selbstleuchtenden Buchstaben beschriebenes Messingschild: "Überseereisebehörde Réunion, Frankreich."

Du meldest uns an, Laurentine und erwähnst, dass wir bei unserer Rückkehr die Reisesphäre nach Paris benutzen möchten", sagte Madame Rossignol. Laurentine nickte und ging in das Haus mit dem Schild.

"Schon ein ziemlich übles Gefühl, zu denen zu gehören, die das machen können, was man meinen Eltern immer wieder angedroht hat. Aber mit einem Erinnerungsauslöschungszauber wurde meinen Eltern nie gedroht."

"Damit wird auch nicht gedroht, Julius. Der wird einfach ausgeführt, wenn die, die meinen, es veranlassen zu müssen, ihn veranlassen. Womöglich haben irgendwelche Leute bei euch in London gutes Wetter für deine Eltern gemacht, dass denen sowas nicht passiert ist", sagte Madame Rossignol. Julius nickte. Was wäre dann alles nicht passiert, wenn Mrs. Priestley auf einen solchen drastischen Zauber bestanden hätte? Er wäre nicht nach Beauxbatons gegangen, hätte erst mit Claire und dann mit Mildrid eine Beziehung angefangen und natürlich auch keine Tochter namens Aurore auf den Weg gebracht. Womöglich wäre er sogar von Umbridge und den Todessern umgebracht worden oder wäre zusammen mit den Dawns und Priestleys nach Australien geflohen, um die Redrock-Akademie für australische Hexen und Zauberer zu besuchen. Die Schlangenkrieger hätten sich dann aber unangefochten vermehren können. Weil seine Mutter aber weiterhin wissen durfte, dass sie ihn geboren und aufgezogen hatte, war das alles nicht passiert. Das sagte er auch Madame Rossignol. "Genau deshalb liegt mir eine Menge daran, diese Maßnahme zu verhindern", sagte die Heilerin. "Ich kann sogar anbieten, dass Louis bis zum Schuljahresanfang in meine Obhut kommt. Ja, ich weiß, die Mesdames Grandchapeau haben was anderes beschlossen. Aber im Rahmen meiner Heilerinnenobliegenheiten kann ich mitbestimmen, wo ein als Pflegehelfer zugeteilter Schüler die Ferien verbringt, wenn nicht bei seinen leiblichen oder amtlich bestimmten Fürsorgebeauftragten. Das weiß die werte Madame Grandchapeau Junior auch ganz genau." Julius sah sehr erleichtert aus.

Laurentine kam mit einem Zauberer aus dem Gebäude, der nur prüfen wollte, ob wirklich Madame Rossignol und Julius Latierre mit angereist waren. Dann ging es auf drei Ganymed 10 vom Untertyp Marathon los, um die Vigniers zu finden.

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Der Zauberer, der sich seinen heimlichen Gefolgsleuten gegenüber Lord Vengor nannte, fühlte Wut und Furcht zugleich. Auch sein zweiter Abgesandter war in Japan ergriffen und dem Tod überlassen worden. Der sich für Iaxathans Partner haltende Magier erkannte, dass man offenbar doch nicht so unwissend war, wie er und sein pechschwarzer, Eiseskälte verströmender Schattendiener es gehofft hatten. Der durch die Vertilgung von mehr als zwanzig Menschenseelen zum mittleren Nachtschatten angewachsene Dunkelgeist des ehemaligen norwegischen Ministeriumszauberers funkelte mit seinen eisblauen Augen. "Es gab so viele Kriege und Schlachten, Meister. Von allen Schlachtfeldern können unsere Gegner nichts wissen."

"Warst du es nicht, der mir erzählt hat, dass es Zauberer und Hexen gibt, die das Wissen der alten Zeit benutzt haben? Warst du es nicht, der mich gewarnt hat, dass sie womöglich auch die Unlichtkristalle kennen, obwohl die eine Erdmagie und der andere widerliche Heils- und Abwehrzauber verwendet hat?" schnarrte Vengor. Er ärgerte sich, dass er wegen dieser Stümper öfter von seinem eigentlichen Arbeitsplatz fort musste. Irgendwann würde das doch irgendwem auffallen. Wenn er bis dahin nicht die nötige Menge Unlichtkristall hatte und somit endgültig zu Iaxathans gleichberechtigtem Partner werden konnte, würde die Organisation der Wächter der Vergeltung schneller in sich zusammenbrechen, ja ganz und gar aus der Welt geschafft, wie er gebraucht hatte, um die dreißig Vertrauten zusammenzuscharen. Am Ende würde nur Ipsens dunkle Schattenexistenz übrigbleiben. Er wusste, dass das dunkle Geisterwesen darauf lauerte, ihn in sich einzuverleiben und als Iaxathans einziger Diener dem größten aller Magier der dunklen Künste direkt zu dienen. Doch zum einen musste auch ein mittlerer Nachtschatten immer noch das Sonnenlicht und jeden magischen Ableger davon fürchten und konnte somit nicht uneingeschrenkt herumwandeln. Zum anderen gab es genug Hindernisse, die nur ein Zauberkundiger aus Fleisch und Blut beseitigen konnte. Sie waren also auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Die Geduld seines erhofften, selbst handlungsunfähig irgendwow lauernden Meisters war jedoch begrenzt. Wenn er bis zum Halloweentag nicht genug Dunkelkristalle besaß, um das Tor zu ihm zu öffnen, konnte der mit ihm in geistiger Verbindung stehende Nachtschatten sich gegen ihn wenden. Die Zeit lief gegen den, der sich Lord Vengor nannte. Versagten seine anderen Getreuen ebenfalls und wurde ihr und damit sein Treiben zu vielen Ministerialzauberern bekannt, würde sich Iaxathan jemanden anderen suchen, nicht heute, nicht in einem Jahr, aber garantiert wen anderen als ihn.

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Der braunhäutige Arzt sah auf das Behandlungsbett, um das herum diverse Apparate aufgebaut waren. Der darauf liegende atmete langsam durch ein Beatmungsrohr. ein unmenschlich metallisches Zischen und Schnauben erklang. Das Piepen eines angeschlossenen Herzmonitors vervollständigte diese unbehagliche Atmosphäre. Der Mann im weißen Kittel wandte sich einem Mann und seiner Frau zu, die in sterilen Kitteln steckten. "Sie sind absolut sicher, dass ich Ihren Sohn nicht aufwecken darf, bevor der September vorbei ist, Madame und Monsieur?"

"Auf keinen Fall. Unser Sohn ist in eine Selbstmördersekte hineingeraten. Wenn er aufwacht wird er sich an dem von deren Guru bestimmten Tag zu töten versuchen. Wenn wir ihn an Land versteckt hätten wären die Hescher dieser Bruderschaft hinter ihm her und würden uns und ihn töten, weil wir ihn ihnen entrissen haben", sagte der Mann. "Nur hier, auf hoher See, können wir sicher sein, dass ihn keiner wegholt."

"Wenn dieses silberne Armband nicht gewesen wäre, dass ich ihm nicht lösen konnte, müsste ich glauben, Sie wären die Entführer dieses Jungen", wiederholte der Arzt etwas, was er bereits bei Antritt dieser unheimlichen Kreuzfahrt auf dem kleinen Schiff gesagt hatte. Offiziell waren die Eheleute und der halbwüchsige Junge auf dem Intensivbehandlungsbett nicht an Bord. Das Schiff war offiziell ein Forschungskreuzer, der die Meeresströmungen zwischen indischem und pazifischem Ozean vermessen sollte. Keiner aus der Mannschaft hatte Zugang zu diesem fensterlosen Bereich des Schiffes. Etiennes seit vier Wochen gefasster Plan lief weiter. Er konnte nur hoffen, dass diese Leute, die meinten, seinen Sohn zum Samenspender einer sonst von Inzucht bedrohten Gruppe von Mutanten machen zu wollen, die Suche aufgaben, wenn der Aufwand zu groß wurde und deren so heilige Heimlichtuerei vor dem Großteil der Welt in Gefahr geriet, wenn sie zu sehr nachforschten. Die Sache mit den neuen Pässen und der Veränderung der Fingerabdrücke in Chile und die Weiterreise nach Kanada waren vor einem Tag von einem Mittelsmann bestätigt worden. Vignier hatte bewusst davon abgesehen, den Plan per E-Mail zu erörtern, da er wusste, dass in Paris ein Horchposten dieser Leute saß, der das Internet nach Anzeichen dieser Mutantenwelt und deren Angehöriger absuchte. Die einzige Sorge, die ihm keine wirkliche Ruhe gönnte war jenes ominöse Silberarmband, der Pflegehelferschlüssel. Es war nicht möglich gewesen, ihn für Louis gefahrlos zu lösen. Aber in Chile würden sie es mit Laserstrahlen versuchen und schaffen.

"Ich besorge dann einmal für Sie beide was zu essen. Die Stoffwechselprozesse bei Ihrem Sohn verlaufen in den gewünschten Bahnen", sagte der für viel Geld angeheuerte Internist." Etienne Vignier sah dem Weißkittel nach. Natürlich machte er sich erpressbar. Doch das auf einem Konto auf den Kaimaninseln gebunkerte Geld von Etiennes Großonkel reichte locker aus, dem Arzt keinen Grund zu liefern, wegen drohender Verarmung noch einmal bei ihm anzuklopfen. Das war ihm das Leben seines Sohnes wert.

"Du hast den Zauberstab von ihm weggeworfen?" wollte Vigniers Frau wissen.

"Im Warmwasserheizofen vom Haus dürfte der schon längst verbrannt sein. Ich mache mir nur Gedanken wegen dieses Pflegehelferdings. Louis hat behauptet, dass diese Strickhexe ihre damit markierten Hilfskräfte orten kann, zumindest in Frankreich."

"Wir hätten uns die Gesetze dieser Leute noch einmal durchlesen sollen, Etienne. Nachher steht da irgendwo, dass unser Sohn nicht zu dieser Hochzeit gezwungen werden darf, weil die Gesetze unserer Landesverfassung untergeordnet sind."

"Vergiss es, Dorine! Das ist eine weltweit organisierte Schattengesellschaft wie die Taliban in Afghanistan oder die ganzen Sekten. Die halten sich nur an ihre eigenen Gesetze. Wenn ich noch dran denke, dass unser Junge mit einer dieser Rüpelgören oder eben dieser pummeligen Hexentochter verkuppelt werden sollte wird mir noch anders. Allein schon wie wenig Respekt die vor der Privatsphäre haben. Na ja, hier unten im Bauch des Schiffes kommt auch kein Peilsignal raus, selbst wenn dieses Dings Funkwellen ausschicken würde."

"Ich unterstütze dich bei der ganzen Sache auch nur, weil mir diese Entwicklung unseres Sohnes missfällt, Etienne. Aber alles hat seine Grenzen. Also hoffe bitte, dass dein Plan aufgeht und wir nicht am Ende noch wegen fortgesetzter Misshandlung unseres Sohnes ins Gefängnis müssen", sagte Dorine Vignier.

"Dann müssten die sich ja als Zeugen vor Gericht vernehmen lassen, Dorine. Das trauen die sich nicht."

"Ja, aber sie könnten Leute bestechen oder verhexen, zu ihren Gunsten auszusagen. Am Ende machen die noch was mit unseren Nachbarn. Du hast doch gehört, was dieser Delamontagne gesagt hat, dass es böse Zauber gibt, die Menschen zu willfährigen Sklaven machen können."

"Ja, und genau deshalb ziehen wir diese Kiste jetzt durch, Dorine", sagte Etienne. "Wenn wir dieses Armband von ihm abkriegen und entsorgen können wir frei und unerkannt leben. Kanada ist nicht Frankreich, auch wenn es da auch wen geben soll, der mit diesen Mutanten zu tun hat."

"Erst einmal bis Ende September, Etienne", sagte Dorine und starrte auf ihren Sohn, der im künstlichen Koma lag. Allein das war schon eine große Überwindung gewesen.

Außerhalb des hermetisch abgeschirmten Verschlages patrouillierten zwei indische Seemänner an Deck. Es war die so genannte Hundswache zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens. Auf der Brücke döste der diensthabende Rudergänger. Der Kapitän schlief in seiner Kajüte, und die zwölf anderen Kameraden schnarchten oder grunzten in ihren Kojen. Einer der beiden Matrosen klappte sein Feuerzeug auf und drehte das Zündrad. Für einen kurzen Augenblick tauchte eine helle Flamme sein braunes Gesicht in flackerndes Licht. Dann glomm das Ende der starken Zigarette. Genüsslich sog der Seemann den Rauch in die Lungen. Sein Kamerad hielt inzwischen mit dem Fernglas Umschau. Die Zeiten, wo ein Mann im Mastkorb wachte waren längst vorbei. Dank moderner Radartechnik und Infrarot-Annäherungssensoren waren fremde Schiffe früh genug zu orten. Die Radarantenne drehte sich leise surrend an ihrer Mastspitze und schickte ihre unsichtbaren Strahlen in die Nacht hinaus. Die Sterne flackerten. Über dem Meer brodelte die Luft. Zwar war keine Wolke zu sehen. Doch irgendwie lag ein Wetterumschwung in der Luft. Spätestens beim Morgenrot würden die Seeleute wissen, ob Ihnen schlechtes Wetter drohte.

"Sadhu, das gibt's nicht!" zischte der gerade mit dem Fernglas umherspähende. Sein rauchender Kamerad pflückte die Zigarette aus dem Mund und grummelte, was es nicht geben könne? "Da oben sind drei Punkte, die ganz genau auf uns zufliegen. Bei Shiva, das sind fliegende Stangen, nein Besen mit Menschen drauf wie in den englischen Märchenbüchern."

"Gib mal her, du Suffbold", knurrte der beim Rauchen gestörte und pflückte seinem Kameraden das Fernglas aus den Händen. Doch als er in nordwestlicher Richtung ebenfalls drei fliegende Körper sah, die ganz nach fliegenden Besen mit darauf reitenden aussahen erschrak er so heftig, dass seine Zigarette aus der Hand fiel und auf den feuchten Planken zischend erlosch. "Gib dem Alten bescheid, wir kriegen Ärger!"

"Wenn das echte Hexen sind können uns nur Hanuman, Wishnu und Garuda helfen, falls Kali diese drei nicht gegen uns losgeschickt hat."

"Kalima hat es nicht nötig, unreines Hexenpack zu befehligen", knurrte der um sein Rauchvergnügen gebrachte Seemann und deutete auf die Kajüte. Sein Kollege ließ sich das Fernglas wiedergeben und lief los. Keine Minute später wurde Alarm gegeben.

Alle Seeleute waren an Deck, sowie Dr. Akino, der auf Réunion mit zwei großen Containern zugestiegene Meeresbiologe. Alle sahen nach oben in den Himmel. Doch außer einer immer dichteren Wolke sahen sie nichts. Die Wolke sank bis auf das Schiff hinunter und hüllte das Deck in dunkelgrauen Dunst ein, der alle eingeschalteten Lichter zu verschwommenen Leuchtschemen werden ließ. Von fliegenden Besen war zumindest nichts zu sehen. Der Kapitän, der mit einer Infrarotkamera mit Teleobjektiv den Himmel absuchte, schüttelte verwirrt den Kopf. Denn die Dunstwolke besaß eine eigene Temperatur. Ja, sie war wohl wärmer als ein menschlicher Körper. Deshalb war mit dieser Kamera nur ein waberndes rotes Leuchten zu erkennen. Auch die Geräusche wurden vom Nebel verschluckt. Der Kapitän rief auf Englisch, dass alle sich zum Brückenhaus zurückziehen sollten. Der tropenwarme Nebel, der immer dichter wurde, war dem Kapitän nicht geheuer. Er hatte schon Vulkanausbrüche beobachtet. Doch ein von oben herabsinkender, mehr als 36 Grad warmer Nebel, das war ihm noch nie begegnet. Dann fühlte er, wie etwas ihn wie mit einem unsichtbaren Sack umfing und unvermittelt bewegungslos machte. Er konnte noch nicht einmal etwas rufen.

Dr. Akino, der offiziell als Meeresbiologe den Planktonaustausch zwischen den beiden Ozeanen untersuchen sollte, in Wirklichkeit aber aprobierter Internist und Intensivmediziner war, erkannte den Nebel als das, was es war, als Tarnung für einen unheimlichen Angriff. Ja, dass die Inder was von europäischen Flughexen auf Besen gefaselt hatten fiel ihm wieder ein. Er wusste, dass es irgendwas mit ihm und seinen Auftraggebern und dem Jugendlichen auf dem Intensivgbett zu tun hatte. Am Ende hatten die drei noch alte Götter aus ihrer Heimat erzürnt, auch wenn sie glaubten, sie hätten nur den einen Gott. Er lief zur geheimen Zugangstür zurück, die er selbst blind fand. Er schloss die Tür wieder hinter sich, gerade als alle an Deck befindlichen Seeleute von einer unsichtbaren Kraft Handlungsunfähig gemacht wurden. Er lief die Treppen hinunter. Der warme Dunst folgte ihm nicht. Jetzt war er durch die Luftschleuse. Die konnte nur er oder sein Auftraggeber öffnen.

"Was ist los", knurrte ihn sein Auftraggeber an. "Irgendwas oder irgendwer greift uns an. Wir sind in eine brütendheiße Nebelwolke eingeschlossen worden. Die Wachen wollen Hexen auf fligenden Besen gesehen haben", sagte der Arzt. Etienne Vignier erbleichte und wankte. Seine Frau stieß einen kurzen Schreckenslaut aus. "Woher wissen die ..." stammelte Etienne Vignier. Doch dann befahl er dem Arzt, in seine eigene Kabine zu gehen. Der sagte, dass er besser erst den Jungen aus dem künstlichen Koma aufwecken sollte, um notfalls mit ihm und den anderen in eines der kleinen Motorboote zu flüchten. Doch Etienne Vignier lehnte es ab. Als der Arzt sich nochmals weigerte, in seine Kabine zu gehen erhielt er einen wuchtigen Kinnhaken, der ihn zwei Meter weit über die gummierten Planken schleuderte.

"Etienne, was soll das?" fragte Dorine Vignier.

"Dieses scheiß Armband hat die hergelotst. Aber lebend kriegen die uns nicht", sagte Etienne. Seine Frau wollte gerade protestieren und ihren Mann zur Vernunft bringen, als er ihr ebenfalls einen Kinnhaken versetzte. Er ließ sie liegen und hetzte in die geheime Innenkabine, wo sein Sohn auf dem Bett lag. Er wusste, wo er was drehen oder umstellen musste, um die Körperfunktionen seines Sohnes ganz auf null abzusenken. Außerdem hatte er für diesen Extremfall noch zwei Kapseln, eine für sich und eine für seine Frau, um dem Zugriff der Zaubererwelt zu entgehen. Er stellte sich hinter die instrumente, über die Nährlösung und Narkotika gesteuert wurden. Vielleicht würde es auch schon reichen, die Beatmungsanlage auszuschalten, um Louis ganz einfach ersticken zu lassen. Er griff gerade nach dem Regler für die Narkosemittel, um diesen auf größtmögliche Dosierung aufzudrehen, als ein lauter Knall ertönte. Dann erfolgte ein wütender Aufschrei: "Sofort aufhören!" Doch Etienne Vignier wollte nicht aufhören. Er warf den Regler herum. Ein Roter Blitz strahlte auf. Dann verlor er von einem auf den anderen Augenblick die Besinnung.

__________

Sie war froh, dass sie mit Laurentine und Julius zusammen unterwegs war. Ohne deren Einwand, dass das von ihnen gesuchte Schiff womöglich über Wärmebilderfassung verfügte, wäre Madame Florence Rossignol nicht darauf gekommen, ihren Nebelzauber mit dem Calidocorpus-Zauber zu koppeln, der den ausströmenden Dunst auf ihre eigene Körperwärme aufheizte. Eigentlich war der Calidocorpus-Zauber dazu gedacht, unterkühlte Patienten behutsam aufzuwärmen. Aber in Verbindung mit einem verlangsamten Nebelzauber wirkte er auch auf dichten Dunst, der sich aus dem in Hülle und Fülle verfügbaren Seewasser speisen konnte. Als die drei dann mit Hilfe des Hinderniserspürungszaubers das Schiff unter sich ertasten konnten und an Deck landeten, kontrollierte die Heilerin noch einmal das kleine Ortungsartefakt, das nun, wo sie in unmittelbarer Nähe des damit gesuchten Armbands waren, ohne seinen großen Bruder in Beauxbatons wirken konnte. Sie konnte damit zielgenau anpeilen, wo das Armband war, ja dass sein Träger entweder tief schlief oder gar in einer Art Tiefkoma lag. Mit einem Raumenthüllungszauber zum Aufspüren verborgener Hohlräume fand sie den Raum, in dem ihr Pflegehelfer lag. Als sie dort apparierte sah sie mit einem Blick, dass Louis' Vater dabei war, ihr unbekannte und womöglich auch lächerlich erscheinende Maschinen umzustellen, an denen Louis' regloser Körper hing. Sie dachte an die Berichte von Julius und seiner Mutter, was ihr in der Gefangenschaft eines amerikanischen Verbrechers angetan worden war und rief Monsieur Vignier zu, aufzuhören. Doch der dachte nicht daran. So blieb ihr nur der Schockzauber. Als sie an die Versorgungsvorrichtungen heranging hörte sie es eher als sie es sah, dass Louis' Körperfunktionen schwächer und langsamer wurden. "Meinen Pflegehelfer umbringen", stieß sie zornig aus. Dann löste sie mit schnellen Zauberstabbewegungen alle Infusionen und zog behutsam das Beatmungsrohr aus Louis' Luftröhre frei. Ein andauernder Piepton zeigte, dass der Herzschlagüberwachungsapparat keine Lebenszeichen mehr empfing und deshalb wohl den Tod des Überwachten signalisierte. Doch Louis war nicht tot. Madame Rossignol behob die durch die ihm zugeführten Fremdstoffe entstandenen Körperveränderungen mit Zaubern und dem AD 999, das auch magielose Betäubungsgifte unwirksam machte. Als Louis dann ziemlich benommen die Augen aufschlug war die erste Frage: "Verdammt, wo bin ich hier? Maman, Papa?!" Madame Rossignol sah ihren Schützling an und sagte ihm, dass er außer Gefahr sei. Er erinnerte sich nun daran, dass er mit seinen Eltern zu einer spontanen Reise ins Blaue aufgebrochen war. Er habe noch mitbekommen, wie er auf Réunion gelandet sei und mit seinen Eltern in ein Boot gestiegen war. Da habe ihm irgendwer eine Spritze in den Arm gerammt. Was danach passiert war wisse er nicht mehr.

"Eltern ist es nicht verboten, ihr eigenes Kind zusammen an einen anderen Ort zu bringen. Aber diese Methode ist kriminell. Abgesehen davon wollten sie dich bis Ende September wohl festhalten, damit du nicht zu uns nach Beauxbatons zurückkehren kannst."

"Ey, wenn wir hier auf einem Schiff sind, dann laufen hier noch Leute rum. Wenn die uns finden?" wandte Louis ein. Madame Rossignol beruhigte ihn, dass Julius und Laurentine sich der Besatzung annehmen würden.

Tatsächlich kam fünf Minuten nach Louis' Wiedererweckung Julius Latierre an die Luftschleuse und entriegelte diese mit einem simplen Alohomora-Zauber. Er erwähnte, dass die Besatzung erst gebannt und dann in Zauberschlaf versetzt worden war. Madame Rossignol fand auch den Arzt, der Louis' Komamaschine überwacht haben musste. Als sie ihn zu sich gebracht hatte verhörte Julius ihn. Doch ohne Legilimentie und Veritaserum erfuhren sie nichts, ob die Besatzung über die Anwesenheit der Vigniers informiert war. Das erzählte erst Madame Vignier, die von Laurentine verhört wurde und erst verstockt war, von einer wesentlich jüngeren Frau verhört zu werden. Allein die Androhung, ihr Louis für immer wegzunehmen wirkte. So war es möglich, die Besatzung durch dosierte Gedächtniszauber in den Glauben zu versetzen, durch eine vulkanische Dampfwolke gefahren zu sein. Dem Arzt verpasste die Heilerin die Erinnerung, dass er eben nur als privater Leibarzt der Eheleute Vignier mitgereist war. "Louis wird bis zum Schuljahresanfang bei mir wohnen, im Zweifelsfall in Beauxbatons", sagte die Heilerin zu den Vigniers. "Wenn noch ein winziger Funken Vernunft in Ihnen vorherrscht beenden Sie diese Reise am nächsten Hafen und kehren nach Frankreich zurück, bevor das Ministerium auf radikale Maßnahmen verfällt. Öhm, ihre Freitodphiolen habe ich übrigens beschlagnahmt. Als Heilerin darf ich nicht zulassen, dass jemand sich den vorzeitigen Tod gibt. Öhm, und was die geistig-moralische Verwahrlosung angeht, der Ihr Sohn bei uns anheimgefallen sein soll, werde ich beantragen, dass alle Nachbarn, denen Sie diese Unverschämtheit aufgetischt haben die Erinnerung daran verlieren. Das dürfte bis zu Ihrer Rückkehr erfolgt sein." Diese Bekanntmachung erzielte genau die von Madame Rossignol gewünschte Wirkung. Die Vigniers erbleichten wie Vampire. Dorine Vignier starrte mit vor entsetzen weit aufgerissenen Augen ihren Mann an, der schreckensstarr auf seinem Stuhl saß. Die Heilerin sagte deshalb nur: "Wäre es nach dem Ministerium gegangen, wüssten auch Sie nicht mehr, dass Sie einen Sohn haben. Nur mein Einspruch, dass ich als Leiterin der Pflegehelfertruppe auf ein gutes Verhältnis der Pflegehelfer zu ihren Angehörigen wertlege hat eine ähnliche Maßnahme bei Ihnen abgewendet. Erholen Sie sich noch gut! Wir sehen uns dann beim nächsten Elternsprechtag in Beauxbatons."

"Fahren Sie zur Hölle!" Schnaubte Etienne.

"Wollen Sie nicht wirklich, Monsieur. Denn so, wie Sie gegen Ihre Frau und Ihren Sohn gehandelt haben würden wir uns dort zwangsläufig wiederbegegnen, da es dort keine nach Geschlecht getrennten Aufenthaltsstätten gibt. Auf Wiedersehen!" Sprach's und disapparierte.

Madame Rossignol hatte Louis hinter sich auf den Besen beordert. Dann waren sie losgeflogen. Weit ab vom Schiff löste sich der Nebel auf. Dadurch fiel auch der magische Schlaf von den Seeleuten ab. Sie wussten jetzt von Madame und Monsieur Vignier, aber nichts von Louis.

"Wollten Sie echt meine Eltern blitzdingsen oder wie dieser Gedächtnisauslöscher heißt?" fragte Louis eingeschüchtert.

"Sagen wir mal so, Madame Belle Grandchapeau hat ihrer Mitarbeiterin aufgetragen, solch eine Maßnahme zu vollstrecken. Aber wir kriegen das auch anders hin, mein Junge."

"Schon fies, dass die mich mal eben ausgeknockt haben wie einen, der entführt wurde. Dann hätte mich so'n gekaufter Quacksalber wochenlang im künstlichen Koma gehalten?" wollte Louis wissen. Madame Rossignol räumte ein, über dieses Verfahren unzureichend informiert zu sein und dieses Versäumnis so schnell wie möglich beheben wollte. Sie rief Julius zu, ihr Unterlagen zu diesem medizinischen Vorgang und seine Rechtfertigung zuzuschicken. "Bis zum Schuljahresanfang will ich darüber alles wissen, auch wann dieses Verfahren erlaubt ist. Denn einen gewissen Nutzen kann ich darin schon erkennen."

"Geht in Ordnung, Madame Rossignol", erwiderte Julius.

Nachdem sie Louis nach Beauxbatons gebracht hatten, wo er in einem der früheren Elternschlafzimmer untergebracht wurde, erstatteten Julius und Laurentine bei ihren Vorgesetzten Bericht. Einen Tag später trat die einberufene Konferenz zusammen. Madame Rossignol sprach für die Vigniers und legte dar, zu welchen Untaten, ja Verbrechen Menschen fähig waren, die unter großer Angst litten. Es wurde beschlossen, den Vigniers nicht das Gedächtnis zu nehmen, allerdings Louis in die Obhut der Heilerin zu überstellen, bis er volljährig sei. Kontakt per Eulenpost und am Elternsprechtag wurde ihm und seinen Eltern gestattet. Was den Auslöser der ganzen leidigen Angelegenheit anging, so konnte Julius im Gespräch mit Sylvie Rocher erreichen, dass sie mit einer Heiratsaufforderung bis zum Ende von LouisSchulzeit warten möge. Das gefiel ihr zwar nicht sonderlich. Sie sah aber ein, dass sie beinahe Mitschuld daran geworden wäre, dass Louis Vignier von seinen eigenen Eltern ermordet worden war, nur um ihn endgültig von der Zaubererwelt fernzuhalten.

"Schon gruselig, im Nachhinein mitzukriegen, was mir und meinen Eltern erspart geblieben ist", sagte Julius nach dem Arbeitstag zu seiner Frau. Diese nickte und sagte: "Ohne den Pflegehelferstatus von Louis hätte Laurentine echt ein Riesenproblem gehabt, wenn sie Louis' Eltern echt auf Befehl von oben gedächtnisbezaubern sollte."

"Dann wäre ihr endgültig klargeworden, wie bescheuert sich das anfühlt, einen Befehl ausführen zu müssen, der gegen das eigene Gewissen geht."

"Aber dann hätte sie wohl bei deiner zeitweiligen Zwillingsschwester gekündigt, Chérie", grinste Millie. Julius überlegte kurz. Möglich wäre es wohl gewesen. Laurentine hätte bestimmt nicht gegen ihr Gewissen oder gegen ihre eigene Auffassung von Rechtund Unrecht weiterarbeiten wollen. Er brachte den Vergleich, dass jemand sich am Morgen noch im Spiegel ansehen können müsse. Millie nickte. "Das ist genau der Grund, warum ich nicht bei Grandchapeau und seinen Abteilungen reinwollte, Monju. Gut, ich sehe ein, dass du da mit dem, was du kannst und weißt besser untergebracht bist. Aber ich kann nur hoffen, dass dir niemand was abverlangt, was dich seelisch kaputtmacht."

"Wie gesagt, schon gruselig, wie heftig man da mit Leuten umspringt, die aus der Spur geraten sind", sagte Julius. Dabei wusste er genau, dass es wesentlich grausamere Sachen geben konnte, Dinge, gegen die eine Gedächtnisbezauberung eine Wohltat sein mochte. Er ahnte jedoch nicht, was sich in dieser Hinsicht zusammenbraute.

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Jophiel hatte gelernt, dass dieser Tag kommen musste. Er hatte jedoch gehofft, dass dieser erst in zwanzig Jahren kommen würde. Sein Vater hatte doch noch so gesund ausgesehen. Warum hatte der mächtige Heilsstern ihn nicht dagegen geschützt? Als er den gedanklichen Hilferuf erhalten hatte, hatte er schon nichts mehr tun können. Das Feuer des roten Drachens, der vor dem unterirdischen Kerker eines dunklen Magiers aus Jericho gewacht hatte, hatte von Jophiels Vater Ramiel gerade noch genug übrig gelassen, um eine Minute lang zu leben. Der auf Ramiels freigebrannter Brust liegende Heilsstern sah völlig unversehrt aus. Er schimmerte im blutroten Licht. Jophiel hörte die Gedankenstimme seines dem Tode geweihten Vaters. Sie übertönte die Kampfgeräusche der Kollegen, die den roten Drachen und die zwei noch verbliebenen Golems bekämpften, um in den Kerker des Dunkelmagiers eindringen zu können. Doch der rote Drache, eine Kreuzung aus chinesischem Feuerball und ungarischem Hornschwanz, wehrte sich. Jophiel war froh, dass er den Unfeuerstein mitgebracht hatte, den er vor zwanzig Jahren von einem englischen Zauberer geschenkt bekommen hatte. Der Heilsstern pulsierte im blutroten Licht. "Mein Sohn, mein Erbe! Ich wurde gerufen. Ich bedauere, dir noch nicht alles erzählt zu haben, was uns aufgetragen wurde", hörte Jophiel die geistige Stimme seines Vaters. "Aber du bist stark genug und kannst dich dem finsteren Stellen. Der schlafende und gefangene Schattenfürst will einen neuen Knecht auf unsere Welt bringen. Er will dazu die Kristalle der gefrorenen Mordtaten zusammentragen. Verhindere es. Wenn du den Stern unserer Vormutter an dich genommen hast, kannst du dich ihm stellen."

"Warum hat er dich nicht vor dem Drachenfeuer beschützt?" stieß Jophiel aus.

"Vor der Magie des Feuers konnte er das. Aber nicht vor der erhitzten Luft. Bedenke es immer, dass der Stern uns nur vor schädlichem Zauberwerk schützt, nicht vor der aus Menschen oder Tieren oder der alles überwiegenden Natur geborenen Gewalt. Aber nimm ihn jetzt zu dir! Ich höre den Ruf unseres Urvaters, ihres Sohnes, zu ihr hinzugehen. Nimm den Stern und sprich mit mir ein letztes Mal seine heilsame Anrufung!"

"Wenn ich den Rückverjüngungszauber mache wirst du wieder gesund, Vater", schlug Jophiel vor.

"Nein, mein Sohn. Meine Tage und Taten enden jetzt. Es ist an dir, mein Vermächtnis und das unserer Vorväter zu bewahren und zu ehren. Also los", gedankenforderte Ramiel. Jophiel unterdrückte die Tränen, die in seine Augen aufsteigen wollten. Er ergriff den gerade blutrot pulsierenden Stern. Da krachte es. In einem dunklen Flammenball verging der rote Drache. Jophiel erschrak. Das dunkle Feuer, ein unverzeihlicher Akt gegen das Gleichgewicht der Elemente. Er hörte seine beiden Mitbrüder aus den Reihen des blauen Morgensterns. "Sprich die heilsamen Worte, mein Sohn! Du musst leben, um den Schattenfürsten zu bekämpfen." Ramiel röchelte. Jophiel sah das nur noch zweihundert Meter entfernte dunkle Feuer. Seine Mitbrüder versuchten, eine Wand aus hellem Zauberfeuer aufzubauen. Doch es gelang ihnen nicht. Eine Verachtung triefende Stimme erklang wie aus allen Richtungen: "Ihr weltverbesserischen Narren, mir, dem Drachenhirten mit Zauberfeuer kommen zu wollen. Eure Tat ist meine Rache. Sterbt nun selbst so wie mein Drache!!" Mit diesen Worten des von den Morgensternbrüdern gehetzten Drachenhirten sprang das dunkle Feuer über zwanzig Schritte nach vorne und verschlang die es heraufbeschwörenden so schnell, dass sie nicht einmal mehr schreien konnten. Jophiel sah sich um. Der Nebel der Ortsverharrung waberte immer noch grünlich glimmend. Aus ihm heraus konnte niemand den zeitlosen Sprung tun, was im Westen apparieren genannt wurde. Er ließ aber jeden hieneinapparieren. Das begriff Jophiel jetzt. Er rief die mächtige Formel, mit dem die ganze Kraft des Erbstücks seines Vaters wachgerufen werden konnte.

"Alaishadui Siri,
Alaishaduan a sogaharan Iri.
U Alaishaduim Godiri,
san Arwoxaran Laishandan Miri!"

Kaum hatte Jophiel diese Worte einer uralten Sprache gerufen strahlte der bis dahin blutrot pulsierende Fünfzackstern in seiner Hand weißgolden auf. Im gleichen Augenblick zuckte sein tödlich verbrannter Vater noch einmal zusammen. Das weiße Licht explodierte förmlich aus dem Stern, schloss Jophiel und den Körper seines Vaters in eine sonnenfarbene Lichtkugel ein und hob ihn alleine auf. In diesem Moment hörte er noch einmal die Gedankenstimme seines Vaters: "Stelle dich gegen den Knecht des Schattenfürsten und hilf dem sechsten Sohn!" Jophiel nickte. Dann fühlte er, wie das dunkle Feuer auf ihn zusprang. Er fühlte, wie der Heilsstern immer größer wurde, Dann war ihm, als sauge ihn eine überstarke Kraft darin Ein. Er bekam nicht mit, wie er innerhalb eines Lidschlages auf Daumenlänge einschrumpfte. Er fühlte nicht, wie er und der Stern in einem gleißenden Lichtblitz verschwanden und im selben Augenblick die dunkle Feuerwalze durch den Gang rollte. Der grüne Nebel der Ortsverharrung und die mit dunkler Magie getränkten Wände fachten den unirdischen Brand noch mehr an. Ashtarias Heilsstern hatte den einzigen Weg gewählt, der flammenden Vernichtung zu entrinnen.

Jophiel fühlte sich für eine Weile warm und beschützt wie im Leib seiner Mutter. Dann erlosch das ihn umschließende Licht. Er spürte, wie er hinfiel. Da erlosch das magische Licht aus dem Fünfzackstern ganz. Jophiel hielt den von seinem nun toten Vater übergebenen Talisman in der Hand. Er erkannte, wo er gelandet war, im Schlafzimmer seiner Eltern. Seine Mutter erwachte und stieß einen Schreckenslaut aus. Doch Jophiel beruhigte sie. Er teilte ihr mit, dass Vater ihn mit dem Heilsstern zurückgeschickt hatte. Offenbar hatte die Kraft ihn genau dorthin befördert, wo sein Leben begonnen hatte. Seine Mutter hörte sich an, was Jophiel zu sagen hatte. Sie klagte nun über den zu frühen Tod ihres geliebten Mannes, dem sie Jophiel und seine drei brüder und zwei Schwestern geboren hatte. Doch dann erkannte sie, dass Ramiel genauso hatte sterben wollen, im Auge einer Bedrohung, in der Gewissheit, sie abgewendet zu haben. Doch Jophiels Weg als Träger des silbernen Sterns begann heute, und der gerade erst fünfundsechzig Jahre alte Zauberer wusste, dass es ein sehr gefährlicher Weg sein würde. Er war nur froh, dass er bereits drei Kinder hatte, davon den einen Sohn, mit dem irgendwann der lange Weg des Heilssterns fortgesetzt werden würde. Jophiel wusste nicht, ob dies nicht schon morgen bevorstand. Doch er hatte seinen Auftrag, sein Erbe, seine Verpflichtung. Er würde sie erfüllen.

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Julius traf Belle Grandchapeau zwei Tage nach der kurzen Reise in den indischen Ozean wieder. Sie wirkte sehr missmutig. "Mademoiselle Hellersdorf hat unserer gemeinsamen Vorgesetzten zum ersten September gekündigt und beruft sich auf das Rücktrittsrecht des Anwärters, dass ihm kurz vor Jahresfrist die sofortige Freistellung garantiert", sagte Belle, als sie mit Julius im Fahrstuhl stand.

"Ich dachte, ihr läge was an dieser Arbeit", sagte er verdutzt. Doch er ahnte, warum Laurentine diesen Beruf nicht mehr ausüben wollte. Die Aussicht, einem halbwüchsigen Kind die Eltern wegnehmen zu müssen, wenn es befohlen wurde, hatte ihre uralten Ängste wieder hochgespült, dass ihr in Beauxbatons fast genau das passiert wäre. Diese Ängste waren es wohl auch, was sie von sich aus von der Meinung ihrer Eltern hatte abrücken lassen und von sich aus die Schule vollständig abschließen ließ.

"Sie wollte vermitteln und beraten, helfen und fürsprechen, schreibt sie. Davon, Gedächtnishenkerin zu sein und gesunden Menschen auf Befehl hin ihre Erinnerungen und damit ihr erlebtes Leben zu entreißen lehnt sie ab, so ihre Worte."

"Drastisch", sagte Julius. "Aber was macht sie jetzt, wenn sie nicht bei Ihnen weiterarbeiten will?"

"Sie kennen die Regeln für Anwärter. Bei einer Kündigung aus eigenem Willen darf ein Anwärter sich für ein volles Jahr nicht mehr auf einen Posten im Zaubereiministerium bewerben. Wird danach einer Bewerbung stattgegeben, so hat der Neuvereidigte kein Recht, noch einmal vor Ende der Anwartszeit zu kündigen. Sie hätte um Versetzung bitten können", seufzte Belle.

"Hätten Sie Ihr diese ermöglicht?" fragte Julius frei heraus.

"Ich hätte ihr sicher einen anderen Dienstposten ermöglicht. Aber meine Chefin ist über diesen so plötzlichen Entschluss so verbittert, dass sie ihr diese Möglichkeit nicht einmal angeboten hat. Abgesehen davon hat Mademoiselle Hellersdorf bereits eine neue Anstellung in Aussicht. Dreimal dürfen Sie raten, wo und bei wem!"

"Öhm, in Millemerveilles?" fragte Julius. Belle nickte. "In der dortigen Grundschule für dort aufwachsende Zaubererweltkinder?" fragte Julius. Wieder erhielt er ein Nicken. "Bei Madame Geneviève Dumas?" stellte er die dritte Frage. "Ja, genau dort und genau bei ihr. Diese aufdringliche Dame hat offenbar Mademoiselle Hellersdorfs Gewissenskrise ausgenutzt und ihr offenbar privat vorgeschlagen, bei aufkommenden Gewissensnöten eine sinnvollere und unschädliche Betätigung zu finden."

"Dann bin ich vom Haken. Öhm, ich meine, ich hoffe, dass Mademoiselle Hellersdorf in dieser neuen Anstellung ihre berufliche Selbstbestätigung finden wird", sagte er. Belle Grandchapeau verzog erst das Gesicht und musste dann lächeln.

"Nur mit dem kleinen Unterschied, dass ich jetzt wieder die einzige Innendienstbetraute im BZFK bin. Mademoiselle Hellersdorf wird gleich noch ihre Entlassungspapiere empfangen und die Geheimhaltung unterschreiben, alle hier erfahrenen Vorgänge der Stufen S1 und höher für sich zu behalten. Ah, Sie haben Ihr Zielstockwerk erreicht", sagte sie. Die magische Frauenstimme vermeldete im gleichen Moment, dass sie das Geschoss für die Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe erreicht hatten. Julius nickte und wünschte seiner dienstälteren Kollegin noch einen erfolgreichen Arbeitstag.

"Und Sie haben keine Gewissensnot, weil Ihnen auferlegt wurde, die Erinnerungen der Eheleute Vignier zu verändern?" wollte Ornelle wissen, als Julius eine Kaffeepause mit ihr einlegen konnte. Er überlegte und sagte: "Ich habe lernen müssen, dass es Dinge gibt, die getan werden müssen, um größeren Schaden abzuwenden. Wegen mir ist diese Ilithula jetzt zum scheintoten Dasein verdammt", sagte er. Er hätte auch die Entstehung der Verschmelzung von Anthelia und Naaneavargia und das Herbeirufen der Wolkenhüter anführen können, bei dem tausend unschuldige Menschen sterben mussten, weil das grausame Gift der Schlangenmenschen in ihnen gewirkt hatte. Er fügte noch hinzu: "Ich hoffe nur, dass ich nicht eines Tages vor die Entscheidung gestellt werde, einen Menschen töten zu müssen."

"Das hoffen wir alle, die wir in dieser Abteilung und ihren Unterbüros arbeiten. Die Werwolffangbrigade steht jeden Vollmond vor dieser sehr belastenden Entscheidung. Die Schlangenmenschen, denen Sie damals beinahe selbst zum Opfer fielen, konnten auch nur durch den Tod erlöst werden. Wollen wir hoffen, dass Sie und ich nicht eines Tages mit eigener Hand oder durch einen erteilten Befehl den Tod eines oder mehrerer Mitmenschen herbeiführen müssen wie Harry Potter, der sich gegen den Unnennbaren stellen musste."

"Ich kenne so einige einfach gestrickte Dämonenjägergeschichten, wo die Helden sich immer damit trösteten, dass ein vom Bösen verwandelter Mensch, der zum Vampir, Werwolf oder sonst was für ein Ungeheuer wurde, eben kein Mensch mehr war. Damit habe ich mich auch damals über die Sache mit den Schlangenmenschen hinweggetröstet, als ich hörte, wie viele Menschen die mit ihrem Gift verseucht haben."

"Letzthin kann ich mich wohl bei Ihrer früheren Schulkameradin bedanken, dass Sie für Sie eingesprungen ist und mir damit eine schwere Gewissensentscheidung von den Schultern genommen hat."

"Sie meinen den Antrag von Madame Dumas?" fragte Julius.

"Genau den. Ich hätte so oder so mit großen Kopf- und Bauchschmerzen entscheiden müssen. Denn ich kann nicht von der Hand weisen, dass die Ausbildung unserer Kinder und Kindeskinder ein sehr wichtiges Gut ist und jeder, der große Kenntnisse besitzt, mitwirken kann, diese Ausbildung zu verbessern. Andererseits habe ich gerade durch dieses erste Jahr von Ihnen erkannt, wie wertvoll Sie in meiner Behörde sind und hätte nur auf Druck des Ministers auf Sie verzichtet. In diesem Sinne, beginnen wir den neuen Tag!" sagte Ornelle.

Am Ende des Arbeitstages, an dem Julius noch einmal bei Mademoiselle Maxime und Meglamora war, die ihn sehr begehrend angeguckt hatte, fand er seine Schwiegertante Béatrice im Apfelhaus. Millie interviewte gerade Geneviève Dumas und ihre überraschende Neuerwerbung.

"Vielleicht muss ich deiner Frau bald Besenflugverbot erteilen. So heftig wie meine ganz große Schwester lasse ich sie zumindest nicht auf ihrem Besen herumfliegen, wenn sie im fünften Monat ist", sagte Béatrice. Die kleine Aurore spielte derweil mit den beiden noch bei den Latierres verbliebenen Kindern von Goldschweif und Dusty.

"Wann wolltest du uns sagen, wen wir erwarten?" fragte Julius.

"Mein Zeitplan ist ein wenig enger geworden, weil ab dem dreizehnten September eine Zusammenkunft der residenten Heiler Frankreichs ansteht, wo Madame Eauvive ausloten will, wo neue Absolventen sich niederlassen können und welche der Niedergelassenen in die Delourdesklinik überwechseln möchten."

"Und, gehst du in die Klinik rein, Tante Trice?" fragte Julius.

"Nicht bei der Familie", lachte Béatrice. "Ich bin froh, dass mir die Niederlassung Château Tournesol erhaltenbleibt, zumal ich auch Antoinettes Stammsitz mitbetreuen kann, wenn sie selbst in der Klinik arbeitet. Zudem kann ich als familieneigene Hebamme der Latierres und Montferres noch die ganzen Kinder betreuen, die unter meiner Aufsicht geboren wurden. Insofern bleibe ich euch als Ansprechpartnerin erhalten, auch wenn eure residente Heilerin es sicher gerne hätte, dass ich in der Klinik auf einer festen Station anfange. Aber das sag ihr bloß nicht." Julius versprach es seiner Schwiegertante. ""Rorore, nicht auf den Schrank rauf!" rief Trice. Julius sah seine Schwiegertante verdutzt an. Dann kapierte er, dass seine Frau ihr wohl erklärt hatte, dass die kleine Aurore auf diesen Kosenamen eher hörte als auf Aurore Béatrice Latierre. Julius ging zu seiner Tochter hin und half ihr vom großen Wohnzimmerschrank weg, auf den sie schon halb geklettert war, um Copernicus nachzuklettern. Der junge Kniesel thronte nun wie ein König auf dem Schrank und blickte auf seine menschliche Spielgefährtin hinunter. "Dass du da locker rauf und wieder runterkommst ist klar, Copernicus. Aber Aurore hat noch nicht so feste Krallen und Knochen wie du", sagte er. Dann lud er Béatrice und Aurore ein, noch ein wenig im Garten herumzutoben. Béatrice freute sich genau wie ihre ein Jahr und drei Monate alte Großnichte, durch den Garten zu toben. Copernicus sprang immer wieder der einen oder der anderen auf die Schulter, wobei Aurore immer hinfiel. Doch sie flennte und quängelte deswegen nicht. Offenbar war es etwas anderes, von einem Knieselkater umgeworfen zu werden als beim Selberlaufen zu stolpern und hinzufallen, wunderte sich Julius.

Als Millie alleine wieder nach Hause kam sagte sie lächelnd: "Jedenfalls hat Laurentine dich vor einem langweiligen Alltag bewahrt, Julius. Sie wird weiter in Paris wohnenbleiben, auch wenn Geneviève ihr Sandrines altes Zimmer angeboten hat. Aber die hängt eben auch noch an diesen Computersachen, wie du, Julius."

"Ohne diese Computersachen wäre Laurentine nicht erst zu Madame Grandchapeau gegangen und deshalb in letzter Konsequenz jetzt bei Geneviève angestellt. Lehrer können ja wohnen wo sie wollen. Nur die Schüler sollten in der Nähe der besuchten Schule wohnen."

"Ups, genau den Spruch hat Laurentine mir in die Feder diktiert. Kannst es morgen ja nachlesen, wenn die neue Temps raus ist", sagte Millie.

"Dann werde ich mal zu den vier anderen Tobepüppchen hingehen. Bin froh, dass Adonis sich mittlerweile gut gegen die anderen drei durchsetzen kann, wo sie ihn früher immer untergebuttert haben", sagte Béatrice. Dann verabschiedete sie sich von ihren Verwandten und ging durch den Latierre-eigenen Verschwindeschrank ins Sonnenblumenschloss zurück.

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"Wenn wir nichts finden werden wir eben selbst einen großen Anschlag durchführen müssen", schnarrte Lord Vengor, als er am vierten September die verbliebenen Gefolgsleute in das geheime Versteck geholt hatte. Sein gruseliger Begleiter, der Nachtschatten, schwebte wie eine Vergrößerung von Vengors natürlichem Schatten hinter ihm und blickte die Versammelten mit seinen blauen Augen an. Nummer dreizehn, aufgestiegen durch den Tod des Kameraden, der nach Nagasaki gereist war, sah den grünen Schlangenkopf Vengors an und sagte: "Wo wir wissen, dass es diese Atombomben gibt brauchen wir doch nur eine zu klauen und mitten über einer großen Stadt wie London oder Paris loszulassen. Bummmm!! Dann müssen wir nur noch einen vollen Tag warten und können ernten.""

"Du volltroll", schnarrte Nummer drei, der von der Stimme her gut und gerne zwanzig Jahre älter als Nummer dreizehn war. "Diese Atomisierbomben machen dieses Radioaktivzeug. Da leiden die Leute in diesem Hiroshima noch heute drunter. Selbst wenn wir so'n Atomisierknallfrosch kriegen und rausfinden, wie der gezündet wird, ohne uns selbst damit zu verdampfen, könnten wir wohl erst Monate später dahin, wo der losgegangen ist. Wir bräuchten sowas wie das legendäre Horn des Drachenreiters oder dieses mythische Feuerschwert, was der dunkle Lord mal gehabt haben soll. Dann könnten wir einen Drachen mitten in ein vollbesetztes Turmhaus der Muggel reinfliegen lassen und die alle mal eben zerbrutzeln lassen."

"Drei, auch wenn die Idee an sich sehr verlockend ist kriegen wir aber keinen Drachen dazu, genau dahin zu fliegen, wo wir ihn haben wollen, zumal wir den erst einmal ins Zielgebiet lenken müssten", knurrte Vengor, dem der Gedanke an sich schon sehr gefiel, einen der so genannten Wolkenkratzer in den Großstädten der Muggel durch Drachenfeuer oder magische Explosionen zum Einsturz zu bringen. Nummer zwei brachte Erumpentflüssigkeit als Sprengstoff zur Sprache. Doch auch den lehnte Vengor ab. Zwar konnte damit ein großes Unheil angerichtet werden, bei dem tausende von Menschen den gewaltsamen Tod fanden. Doch dieses Mittel war tückisch und konnte viel zu früh explodieren und dabei auch den umbringen, der es einsetzen wollte. Nummer fünf schlug den Raub einer größeren Menge Dynamit oder anderen Sprengstoffs vor. "Ja toll, am besten irgendwo reinapparieren und in einem Zug so viel Sprengstoff wie du tragen kannst herausbringen, wie? Das wird nicht gelingen, und zwar deshalb, weil alle Zaubereiministerien der Welt nach Erfindung des Dynamits beschlossen haben, alle Fabriken, wo dieses Zeug hergestellt wird, sowie alle Lagerstätten mit Apparierfallen zu spicken, die weitermelden, wenn jemand da mal eben reinspringt und was rausholen will. Wer reinappariert kommt nicht mehr raus und kann warten, bis die Strafverfolgungstruppe ihn auf fliegenden Besen einsammeln kommt."

"Dann fangen wir uns eben Muggel, die wissen, wie dieses Zeug gemacht wird und imperisieren die, für uns so viel von dem Zeug zu machen, wie wir brauchen, um es in einem dieser Fußballstadien hochzujagen, wenn da gerade eins von diesen langweiligen Spielen läuft", schlug Nummer vier vor. Vengor sah ihn an und nickte wild. "Kennst du einen, den wir uns holen können, ohne unsere etwas kleiner gewordene Truppe zu verraten?" fragte Vengor.

"Nicht persönlich", musste Nummer vier zugeben. "Dann lern mindestens einen kennen, Nummer vier. Bis Mitte September will ich diesen Sprengstoffpanscher hier in diesem Versteck haben. Bis Anfang Oktober will ich eines dieser Fußballstadien in die Luft sprengen. Mindestens zweitausend Leute sollen dabei draufgehen. Dann habe ich endlich die Unze. Es sei denn, Nummer fünfundzwanzig traut sich bis dahin, zu den Chinesen reinzugehen und die alten Schlachtfelder von diesem Dschingis Kahn und den ganzen Kaiserdynastien abzuräumen."

"Das können wir leider vergessen, Lord Vengor. Die Japaner haben mit den Chinesen über die Koreaner einen Informationsaustausch abgewickelt, womit die Augen und Hände des Himmels jetzt auch nach genau solchen Orten suchen. Unsere Bemühungen in Hiroshima und Nagasaki sind offenbar doch richtig gedeutet worden."

"Das wagst du mir zu sagen", schnarrte Vengor. Er hob den Zauberstab. Doch dann ließ er ihn wieder sinken. "Gut, dann befehle ich eben, einen oder mehrere Sprengstoffmischer der Muggel einzufangen, ohne dass deren und unseren Gesetzeshütern auffällt, dass wir sie haben. Nummer acht, neun und zehn, ihr haltet euch zur Verfügung, deren Rollen zu übernehmen!" Die erwähnten nickten. "Nummer vier, du findest heraus, wer unsere Gäste sein werden. Keine Atomsprengstoffe, nur durch magielose Alchemie erregbare Explosionen! Ihr habt bis zum zwölften September Zeit. Wenn nicht, füttere ich meinen dienstbaren Schatten mit euch Versagerseelen!" Die beauftragten Handlanger zuckten zusammen und starrten auf den gierig mit den kalt blau leuchtenden Augen herabglotzenden Nachtschatten. Dann durften sie endlich mit den Portschlüsseln zurück an ihre Wohnorte.

"Hätte nicht gedacht, dass es in diesen Tagen so schwer sein soll, mal eben mehr als tausend Menschen umzubringen", schnarrte Vengor.

"Du wirst diese Ernte einbringen und dann das Tor zur Nimmertagshöhle aufstoßen, wo du ihn antreffen wirst", zischte der Nachtschatten. Vengor strahlte vor Vorfreude.

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"Tja, wer hat jetzt wen", frohlockte Brandon Rivers, als er auf dem Bildschirm seines Laptops die Meldung las, dass er sich über die geheime Ausspähplattform der NSA in Brüssel auf deren Fernmeldeüberwachungsroutinen aufgeschaltet hatte. Die Programmierer im geheimen Horchposten hatten zwar gemerkt, dass wer sich Zugriff auf ihren Datenknotenpunkt verschaffen wollte und hatten mit Rückverfolgungsroutinen und Trojaner-Viren versucht, den Spieß umzudrehen, waren dabei aber genau in Brandons aufgestellte Falle gegangen, die er mit Hilfe eines Rechners auf den Kaiman-Inseln gebaut hatte, auf dem bei bestimmten Zugangsroutinen Umpolungsviren freigesetzt wurden, die zum einen den Weg der Daten der Verfolger zurückverfolgten und zum zweiten dadurch ermittelten, wie jemand in den Verfolgerrechner eindringen konnte. Jetzt hatte Brandon ein Hintertürprogramm eingeschmuggelt, das auch bei Passwort- und Codeänderungen wirksam bleiben und von Arachnobot und Argos 20XX abgefragt werden konnte, ohne die rechtmäßigen Benutzer des Rechners darauf hinzuweisen.

"Ah, die sammeln Daten über arabischstämmige Leute in Europa, die vor einem oder zwei Jahren noch in den Staaten waren. Offenbar wollen die immer noch wissen, wo die Drahtzieher von den Botschaftsanschlägen in Afrika sitzen", sagte Brandon. "Ups, den hier haben die aber als Ignorierbar gekennzeichnet, auf höchste Anweisung", grummelte er und dachte sich seinen Teil. Höchste Anweisung konnte in dem Fall nur der Präsident erteilen. Offenbar lag dem was daran, dass die Reisedaten und Telefonverbindungsdaten seiner Freunde und solcher, die er gerne dazu zählen würde, nicht in irgendwelche Suchaktionen einbezogen wurden.

"Bist du jetzt fertig mit deinen Phantomspielen?" wollte Patricia Straton wissen, die Brandon zugesehen hatte. Er nickte. "Dann verwende deine Zeit für dieses Gerät bitte jetzt dafür, nach Leuten zu suchen, die vor allem alte Kriegsschauplätze besucht haben! Meine frühere Mitschwester hat was von Leuten geschrieben, die das Erbe alter Schlachten und großer Zerstörung suchen."

"Erinnere mich daran. Aber da war gerade dieses Problem, dass die NSA versucht hat, das in Europa wachende Auge von Argos 20XX zuzudrücken. Hätten die das geschafft ..." rechtfertigte Brandon seine Aktionen. "Hätten die auch alle anderen Augen von Argos 20XX zudrücken können, Brandon. Also mach bitte, ich würde gerne heute noch Namen erfahren."

"In zwei Stunden ist es dunkel", sagte Brandon. "Gut, der Rechner kann ja bis dahin die Anfrage weiterreichen. Aber unsere Anführerin will, dass bei Einbruch der Nacht der Generator ausgemacht wird. Dann hätte ich gerade noch für zwei Stunden Saft auf dem Rechner."

"Gut, dann gib meine Suchbegriffe ein und starte die Nachforschung!" befahl Patricia. Brandon dachte nur daran, dass sich die ehemalige Mitschwester Anthelias wohl langweilte, seitdem sie die Kiste mit dem fast auf die Erde zurückgekehrten Dämonenflittchen behoben hatten. So ließ er die Suchroutinen laufen. Danach prüfte er noch das umfangreiche Antivirenprogramm auf aktuelle Datenbanken, um nicht doch noch von einem Trojaner der amerikanischen Mithörspezialisten überrumpelt zu werden. Letzte Auffrischung: 11. September 2001, 00:00 Uhr Greenwichzeit", las Brandon. Hier, auf der kleinen Privatinsel der Sonnenkinder, war es schon acht Uhr abends. Wieder ein Tag mehr, der ohne wichtiges oder tragisches Ereignis verstrichen war, dachte Brandon. Wenn ihm seine Gefährtin Dawn nicht angeboten hätte, mit ihm heute auf Lauras kleinen Bruder hinzuarbeiten, hätte er sicher gedacht, dass dieser Tag wohl als langweiligster Tag in die Geschichte der Welt eingehen würde. Er konnte ja nicht ahnen, wie sehr er sich da irren sollte.

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"Ja, und morgen früh gehen wir schick ins Fenster zur Welt Frühstücken", sagte Martha Merryweather ihrem Sohn, als dieser nach einem langen Arbeitstag mal wieder mit seiner Mutter telefonieren konnte. Gerade waren sie und ihr zweiter Mann in New York. Dort wollten sie bis übermorgen, dem zwölften September, bleiben und dann mit dem Flieger runter nach Miami. Dort würden sie noch eine Woche dranhängen, vielleicht kurz noch nach New Orleans. Dann sollte es nach Santa Barbara zurückgehen. "Erholt euch ja gut. Jetzt wo deine Chefin nur eine computerfähige Mitarbeiterin hat hat sie dir sicher schon wieder eine Menge Zeug aufgeladen."

"Meine Programme laufen nun größtenteils automatisch. Hat sich Laurentine gut in ihren neuen Job eingearbeitet?"

"Dank deiner Unterlagen und der nötigen Bücher hat sie für die Klassen eins bis vier schon den kompletten Lehrplan klar, Mum. Ich habe sie mal gefragt, ob sie nicht lieber wieder in ein ruhiges Büro ins Ministerium zurück will. Da hat sie gesagt, dass sie nicht noch mal in so eine Lage wie mit den letzten Kunden reingeraten möchte. Immerhin hat Madame Rossignol jetzt alles rechtliche geklärt. Näheres dann auf dem schriftlichen Weg." Seine Mutter bestätigte es. Dann wünschte Sie Julius noch eine gute Nacht. In New York war es ja sechs Stunden früher, so dass sie noch einen ausgedehnten Stadtbummel machen konnte. "Lucky muss noch ein Jackett haben, sonst setzen die uns morgen nur an die Bar hin", sagte sie noch. "Die sind da so auf eine feste Kleiderordnung für Männer aboniert."

"Ob sich Lucky darüber freut?"

"Das frag ihn dann, wenn ich morgen Abend Eurer Zeit anrufe", sagte Julius' Mutter. Dann beendete sie die Verbindung. Julius las im Internet nach, was das für ein exklusives Restaurant war, dieses "Fenster zur Welt". Er pfiff durch die Zähne, als er las, dass seine Mutter im Welthandelszentrum frühstücken wollte. Von da aus war New York sicher besonders gut zu überblicken, dachte er. Er erzählte seiner Frau, was er mit seiner Mutter besprochen hatte.

"Tante Trice kommt morgen abend um sechs rüber, wenn du aus dem Ministerium zurück bist. Dann kriegst du mit, ob wir auf Taurus Albericus oder Chrysope Martha Hippolyte warten."

"Hauptsache ihr zwei steht das gesund durch und das Kleine kommt gesund auf die Welt und muss keine Angst haben, von Schweinepriestern wie Riddles selbsternannten Erben bedroht zu werden", sagte Julius erneut. Millie hatte den Mädchennamen Chrysope nun also doch als den herausragenden Namen genommen, wo sie davon ausgingen, dass das zweite Baby zwischen dem ersten und vierten Februar ankommen konnte wie eine von Millies Vorfahren, die diesen Namen getragen hatte. Wenn es doch ein Junge würde wollten sie den Namen Taurus verwenden, den sie schon beim ersten Kind ausgewählt hatten, wenn Taurus keine Aurore geworden wäre. Die zukünftige große Schwester des noch gut und fast unbemerkbar verpackten Erdenbürgers lag bereits seit zwei Stunden in ihrer Wiege. Bald würden sie wohl ein Kinderbettchen ins Zimmer stellen müssen, um dem fleißig wachsenden Hexenmädchen genug Platz zum Schlafen zu verschaffen.

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"Wir haben ihm offenbar die Suppe versalzen", frohlockte Beth McGuire, als sie am Abend des zehnten Septembers bei Anthelia saß. "Dafür fürchte ich, dass Cartridge einmal mehr die Kontrolle über seine Leute verliert. Seitdem du aus diesem Halbzwerg ein Pullerpüppchen gemacht hast juckt es viele in der Zauberstabhand, dich auch in was anderes zu verwandeln, vielleicht eine schwarzbunte Milchkuh oder eine weiße Legehenne."

"Das dürfen diese Draufgänger getrost vergessen, wo ich mich noch nicht einmal selbst in was anderes als die schwarze Spinne verwandeln kann", grinste Anthelia. Dann deutete sie auf einen Zettel. "Außerdem haben die Kristallsucher des mir noch unbekannten Knechtes nicht aufgegeben. Statt zu suchen wollen sie offenbar selber züchten. Gestern wurde ein Chemiker, also wer, der sich mit magieloser Alchemie abgibt, als Betrüger enttarnt. Seine Kollegen haben ihn bei der Leitung seiner Firma angezeigt, dass es nicht der ist, den sie kannten, auch wenn der so aussah und klang. Das war in Frankfurt. Da ich unsere Mitschwester Albertine darauf angesetzt habe, nach möglichen Feuerwerkern oder Bombenwerfern der fliegenden Streitkräfte zu suchen, die auffallen hat sie die Angelegenheit überprüft und siehe da, einen mit Vielsaft-Trank hantierenden Zauberer gefunden. Der hat natürlich versucht, zu fliehen, hat dabei sogar zwei Lichtwächter in die Wurzelmannklinik geflucht. Aber als sie ihn hatten und verhören wollten, ist der wie in unsichtbarem Feuer verbrannt. Was sagt uns das?" Beth nickte. So hatte die japanische Mitschwester Izanami auch das Ende der erwischten Kristallsucher von Hiroshima und Nagasaki beschrieben. "Was für ein Fachgebiet hatte dieser Mann?" wollte Beth wissen.

"Explosivstoffherstellung. Die wollen offenbar ihren eigenen Sprengstoffpanscher haben, wenn ihnen nicht auch noch einfällt, einen Giftgasanrührer für sich arbeiten zu lassen", knurrte Anthelia. "Können die so genau klären, wo so ein Kristall entsteht?" wollte Beth wissen.

"Wenn der Auftraggeber dieselben Kenntnisse besitzt wie ich - wovon ich leider ausgehen muss - kann er genau abwägen, wo und wie viele Menschen er töten will, um einen Tag später den Kristall zu finden. Je mehr Menschen er töten kann, desto größer wird der Kristall."

"Dann bräuchten die doch nur Atombomben zu stehlen und New York, Moskau oder Peking damit einzuäschern", meinte Beth dazu.

"Abgesehen davon, dass gerade die Länder, in denen diese Städte liegen dann von einem Angriff ausgehen und die Länder mit ähnlichen Waffen bekämpfen, die solche Waffen haben und ich im Moment noch davon ausgehe, dass unser Widersacher eine magische Weltzerstörungskampagne einleiten möchte, müssten die Kristallsucher sich der bei solchen Explosionen entstehenden Strahlung aussetzen. Aus eigenster Erfahrung weiß ich, dass dies keiner von denen wirklich will, wenn sie schon wussten, wie verheerend die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki waren."

"Auch wieder richtig. Aber dann laufen jetzt irgendwo mehrere falsche Sprengstoffmacher herum, und die richtigen bauen große Bomben für diesen Irrwitzigen. Wie kann man denen beikommen, wo die sofort sterben und vergehen?" Anthelia grinste. Der unbekannte Widersacher hatte ja genau das getan, was sie mit ihren Schwestern getan hatte, als sie noch Dairons dunkles Seelenmedaillon besessen hatte. Dann sagte sie: "Wir müssen seinen düsteren Begleiter, den Nachtschatten finden und zerstören. Über diesen erhält der Widersacher seine Kenntnisse."

"Und wie willst du diesen Nachtschatten erledigen, höchste Schwester?"

"Da es sich um ein von dunkler Magie erfülltes Geisterwesen handelt, werden wir ihn beschwören. Die Vorbereitungen dazu sind abgeschlossen."

"Beschwören. Das geht nur bei Geistern und Dibbukim, deren Namen als Lebendige jemand kennt und was von ihnen hat, was sie zu Lebzeiten besessen haben. Und das ist auch nicht ungefährlich, weil ein Dibbuk die Gelegenheit nutzt, um in den Körper des Beschwörers einzudringen und ein Nachtschatten, der nicht ordentlich eingepfercht wird, den Beschwörer sofort mit seiner nyktoplasmatischen Körpersubstanz gefriert und entseelt."

"Genau deshalb brauchte ich ja einen vollen Mondzyklus, um mich auf seine Beschwörung vorzubereiten, Schwester Beth", sagte Anthelia. "Übermorgen ist der Mondzyklus beendet. Dann rufe ich dieses stofflose Ungetüm an einen Ort, wo ich es zerstören kann. Mir geht es nicht mehr darum, zu erfahren, für wen es gearbeitet hat."

"Ich hoffe, das gelingt dir, höchste Schwester", sagte Beth. Dann bat sie darum, in ihr Haus zurückzukehren. Anthelia erlaubte es.

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Nummer vier war zufrieden, weil Lord Vengor höchstzufrieden war. Innerhalb von nur einer Woche hatten die Vergeltungswächter ein vergessen geglaubtes Bunkersystem unter den Bergen Montenegros zu einem geheimen Laboratorium mit sechs einzelnen Laborräumen ausgebaut. Durch den Megadamas-Zauber gehärtete Wände, Decken und Böden machten die Labore in jeder Hinsicht Bombensicher. Die Türen waren durch den Ferrifortissimus-Zauber hundertfach härter als unbezaubertes Eisen. Heimlich gestohlene Behälter und Instrumente für die Herstellung komplizierter Substanzen waren in aller Welt organisiert und hierhergeschafft worden. Das größte Problem hatten sechs kleine Computer aufgeworfen, die ohne große Bezauberung in die Bunkerräume geschafft werden mussten und das alles ohne Aufsehen zu erregen. Jetzt werkelten je zwei gefangene und unter dem Imperius-Fluch stehende Experten pro Labor an den steinernen Bänken und mischten ihre Sprengstoffe. Dabei benutzten sie auch mechanische Arme, die sie über Steuerhebel bedienen konnten, um die zunächst hochempfindlichen Mischungen hinter mehreren Zentimeter dicken Panzerglasscheiben mit anderen Stoffen zusammenzubringen, um sie transportfähig zu machen. Nun konnten nur die genau darauf abgestimmten Initialzünder die in den neuen Stoffen gebannten Zerstörungskräfte entfesseln. Nummer vier, der eigentlich Grimes Boreas Ripley hieß und seit nun schon drei Jahren auf der Flucht war, beobachtete die Gefangenen durch unzerbrechlich gezauberte Okulare, die den Blick ins Labor durch winzige Bullaugen ermöglichten. Reinhold Hasse, ein aus Frankfurt entführter Chemiker, stand zusammen mit seinem Schweizer Kollegen Viktor Steiner an einer Abmischvorrichtung und besprach die letzten Stufen einer weiteren Sprengstofferstellung. Nummer vier hatte erst vor einem Tag über Mithörmuscheln von Lord Vengor erfahren, dass Hasses Verschwinden enthüllt und sein Doppelgänger entlarvt worden war. Der Doppelgänger war zwar im verzögerten Ausdörrungsfluch vergangen, doch nun würden die selbsternannten Beschützer der friedlichen Koexistenz von Muggeln und Zauberern wissen, dass jemand Sprengstoffkundler der Muggel entführt hatte oder noch entführen wollte. Ripley ließ das kalt. Sie würden das Geheimlaboratorium unter den schwarzen Bergen nicht finden.

Nummer vier zog die silberne Taschenuhr hervor, die er zum siebzehnten Geburtstag bekommen hatte und die neben der Tagesstunde auch auf Zuruf Wochentag, Datum oder Geburtstag eines Bekannten verraten konnte. Ripley schlug sein Tagebuch auf, das er an seinen Herzschlag gekoppelt hatte. Starb er würde sich das Tagebuch sofort in einem grünen Zauberfeuer auflösen. Er las die Zeit ab: Neun Minuten vor elf Uhr osteuropäischer Zeit. Auf die Frage "Datum?" wisperte eine magische Männerstimme aus der Uhr: "Heute ist der elfte September des Jahres zweitausendundeins." So notierte Ripley, dass er an diesem Tag zur abgelesenen Stunde die ersten fertigen Bomben gesehen hatte, mit denen am nächsten Spieltag der größten europäischen Nationalligen zwanzig Stadien mit Spielern, Besuchern und Instandhaltern in die Luft gesprengt werden sollten. Das würde die europäischen Muggel bis ins Mark treffen, weil sie mit einem derartigen Anschlag nicht rechneten. Als er den Eintrag beendet hatte klappte er das Buch wieder zu und steckte auch die Uhr fort. Er hoffte, an diesem Tag noch eine weitere Bombe als fertig eintragen zu können. Lord Vengor wollte ihn erst um acht Uhr abends osteuropäischer Zeit über die beiden Sätze Mithörmuscheln anrufen. Mentiloquieren wollte der geheimnisvolle Anführer der Vergeltungswächter nicht. Ripley wusste auch warum. Beim Gedankensprechen wurde immer der geistige Widerhall der natürlichen Stimme übermittelt. Lord Vengor sprach bei den Treffen oder bei den Beratungen immer mit einer magisch verstellten Stimme, um seine wahre Identität zu verhüllen. Da ging eben kein Mentiloquismus.

"Der große Paukenschlag wird euch Muggels endgültig treffen, wenn wir schon keine Atombomben zünden dürfen", grummelte Ripley. Dann überlegte er, wo er sein Mittagessen herbekommen konnte. Die Chemiker hatten noch genug Sättigungskekse. Da sie alle die für inkontinente Hexen und Zauberer erfundenen Versionen der Reisewindeln trugen, mussten die auch eine volle Woche nicht auf eine Toilette. Nur schlafen mussten die zwischendurch, sechs Stunden täglich, und zwar alle fünfzehn Stunden, wodurch sich der übliche Tagesrhythmus jeden Tag um drei Stunden nach vorne verschob. Somit hatten die Entführten nur einen 21-Stunden-Tag.

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Albertine Steinbeißer wusste, wie riskant es war. Außerdem widerte es sie an, als Mann herumlaufen zu müssen. Doch um einer möglichen Nachbetrachtung durch eine der ministeriellen Rückschaubrillen zu entgehen musste sie ihren Körper ändern. Sie hatte sich hierfür den eines kampfsportgestählten Muggels aus Koblenz ausgewählt. Wenn die Angaben ihres bei den Lichtwächtern arbeitenden Alchemiexperten Bodo Kieselwurm stimmten, so bewahrten die Lichtwächter zwanzig Dosen unpräparierten Vielsaft-Tranks auf, den der Zauberer angerührt hatte, der im Körper des Chemikers Reinhold Hasse herumgelaufen war. Hasse war Experte für einen Sprengstoff gewesen, der angeblich zweieinhalbmal so stark sein sollte wie der Plastiksprengstoff C4. Ihr Kollege Bodo Kieselwurm hatte ihr unter Einwirkung eines von Anthelia gelernten Zaubers verraten, dass der Betrüger den Fehler gemacht hatte, zwischendurch wohl in seiner richtigen Gestalt im Haus des Chemikers gewohnt und sich da mit einem Kamm gekämmt zu haben. Tja, und in dem Kamm waren seine natürlichen Haare hängengeblieben. Eigentlich wollten die Lichtwächter nun ausprobieren, ob sie dadurch herausfinden konnten, wer sich Hasses Erscheinungsform angeeignet hatte. Doch Kieselwurm hatte eingewandt, dass der verheerende Fluch, dem der Betrüger zum Opfer gefallen war, auch in seinen Haaren verblieben sein mochte. Dann wären die erbeuteten Haare eine tödliche Falle für jeden, der oder die einen damit vermischten Vielsaft-Trank einnahm. Albertine hatte aber von ihrer höchsten Schwester den Auftrag, die Harproben sicherzustellen. Wie auch immer die höchste Schwester das anstellen wollte, ihr ging es darum, hinter Hasses Entführung zu kommen.

Die gesicherten Proben wurden nicht im Hauptquartier der Lichtwächter unter dem Drachenfels aufbewahrt, sondern in einem ehemaligen Luftschutzbunker bei Bonn, der von den Muggeln für ihre damalige Bundesregierung gebaut und nach dem Umzug der Politiker nach Berlin stillgelegt worden war. Tja, und jetzt diente der den Lichtwachen als Geheimlager. Albertine prüfte, ob Apparierfallen wie Locattractus- oder Erscheinungsbannzauber eingerichtet worden waren. Tatsächlich hatten die Lichtwächter einen Locattractus-Zauber in einer kleinen Kammer aufgerufen. Albertine blieb also nichts anderes übrig, als in Nebelform durch die Belüftungsröhren zu kriechen und im Zielbunker herauszutreten. Wenn hier ein Meldezauber wirkte hatte der sie jetzt schon angekündigt. Sie hörte zumindest keinen Alarm. So verfestigte sie sich wieder und steuerte das von Kieselwurm erwähnte Regal an. Da fühlte sie, wie etwas sich auf ihren Körper zu legen begann, erst sacht wie ein Lufthauch, dann leicht wie ein Seidentuch und dann immer enger. Albertine fühlte einen winzigen Moment eine gewisse Panik. Denn sie kannte diesen Zauber. Das war der Captaranea-Zauber, der ungebetene Eindringlinge oder fluchtgefährdete Verdächtige einschnürte. Jetzt umspann das unsichtbare Netz bereits ihren Unterleib. Sie wusste, dass sie das Netz nicht mit purer Muskelkraft zerreißen konnte, auch wenn Chris Kellerers Muskeln sehr gut ausgebildet waren. Da zischte es. Albertine fühlte, wie der um ihren Bauch geschlungene Seidenfaden, an dem eine große Perle befestigt war, einmal ruckelte. Die Perle erwärmte sich. Funken sprühten um Albertine herum. Dann war sie frei. Also stimmte doch, was Anthelia gesagt hatte. Sie hatte ihr diese Perlenschnur gegeben, um damit gegen bis zu drei Einfangzauber immun zu sein. Sofort lief sie zu dem Regal, in dem das kleine runde Gefäß mit den Haaren des Verdächtigen enthalten waren. Zur Sicherheit, keinen Fallenzauber auf sich zu ziehen griff sie mit der silbern behandschuhten linken in das Regal. Tatsächlich fühlte sie etwas, als wolle ihr jemand mit kraftvollen Kiefern die Finger durchbeißen. Doch nach nur einer Sekunde konnte sie ihre Hand frei bewegen und den gesuchten Behälter freiziehen. Da hörte sie das leise Wimmern. Das war ein Katzenjammerzauber. Wer immer im Bunker wachte würde jetzt gleich anrücken. Albertine setzte zu Recht auf die Apparierabsperrungen. So blieben ihr wohl noch fünf Sekunden. Sie zog ihren Zauberstab und vollführte eine schnelle Bewegung gegen sich. Da blitzte es violett auf, und dort, wo sie gerade noch gestanden hatte, lag ein gerade eine Stunde alter Fladen einer glücklich auf sonniger Alm grasenden Kuh. Albertine selber stand nun neben dem braun-weißen Rind, das aufgeregt muhte, weil in seiner unmittelbaren Umgebung Magie entfesselt worden war. Albertine belegte das Tier mit einem Beruhigungszauber. Dann disapparierte sie mit ihrem Fang.

Um halb sieben in der Frühe Ortszeit apparierte Albertine Steinbeißer in ihrem gerade ausgeborgten Körper in der Empfangshalle der Daggers-Villa. Anthelia wartete bereits auf sie. Sie betrachtete die deutsche Bundesschwester sehr interessiert, ja sogar mit gewisser Begierde in den blaugrünen Augen. Albertine hätte da nichts gegengehabt. Doch ihr war klar, dass Anthelia in ihr gerade einen dunkelhaarigen Mann Anfang zwanzig mit stahlblauen Augen und sportlicher Figur sah.

"Ist dir gelungen, was wir vereinbart haben, Schwester Albertine?" fragte Anthelia in akzentfreiem Deutsch. Albertine übergab ihr die kleine flache Dose. "Es ist nur eine von drei gesicherten Proben. Die wollten sicherstellen, dass bei einem möglichen Verrat nur eine davon verschwindet. Dieses Kalkül ging wohl auf", erwiderte Albertine mit Chris Kellerers Tenorstimme.

"Sieht viel versprechend aus, was du gerade darstellst", lobte Anthelia Albertines Erscheinungsform.

"Ich habe den Kerl nicht persönlich getroffen, sondern nur seine Wohnung durchsucht, vor drei Tagen schon. Da können die mit der Rückschaubrille nicht mehr sehen, wer das war", erwiderte Albertine. "Mir war nur wichtig, dass ich einen männlichen Körper mit guter Kondition erwische."

"Das hoffe ich doch mal", grinste Anthelia. "Wo war das?" fragte sie noch sehr interessiert. Albertine okklumentierte zwar einigermaßen, aber nicht gut genug für Anthelia. "Ah, das alte Römerlager Castra Confluentes. Da war ich schon seit über dreihundert Jahren nicht mehr."

"Ich weiß nicht, ob er das wert ist, höchste Schwester. Sportlich hat er zwar eine gute Ausdauer und Wendigkeit, aber da, wo es dir wohl drauf ankommt könnte er schwächeln."

"Ich habe bisher immer von einem Mann erhalten, was er mir zu geben im Stande war und wovon ich sehr glücklich werden konnte, Schwester Albertine. Danke für den Hinweis, wo ich demnächst einmal hinreisen könnte."

"Falls die Lichtwächter ihn nicht vor dir finden und nachprüfen wollen, wie ein geborener Muggel in ihr Geheimlager hinein- und vor allem wieder hinausgelangen konnte."

"Die werden sich schon denken, dass da wer seinen Körper ausgeborgt hat. Wie lange wirst du ihn noch haben?"

"Zehn Minuten, höchste Schwester", grummelte Albertine. Denn sie konnte sich denken, was Anthelia sich vorstellte. Diese nickte nur und sagte: "Hektik ist für eine, die so alt ist wie ich ein unerträgliches Getue. Aber sei es. Die Perle hat dich vor einem Einfangzauber geschützt?" Albertine berichtete ihr von ihrem Ausflug. Anthelia grinste. "Eine Schwester des Spinnenordens mit Captaranea fangen zu wollen ist ja auch wirklich ein Witz. Ich prüfe die erheischte Probe auf Rückstände eines dunklen Zaubers. Vielleicht gelingt mir, ihn zu ergründen und und einen ihm zuvorkommenden Abwehrzauber zu entwickeln."

"Da suchen die Lichtwachen und die japanischen Sonnenhüter auch nach", wusste Albertine.

"Ja, nur dass ihnen die uralten Zauber des alten Reiches nicht so bekannt sind wie Iaxathans Knecht und mir. Es sei denn, sie erbitten von dem, der mich zweimal befreit hat den Zauber zur Umkehr allen Übels. Doch mit dem werden sie wohl behutsam sein, wenn sie nicht wissen, wogegen sie ihn richten müssen."

"Darf ich der Prüfung beiwohnen, höchste Schwester?" fragte Albertine.

"Ich fürchte, ich muss dazu an einem Ort sein, in dem keine weitere Magie oder Lebensaura angwesend ist", sagte Anthelia. "Doch sei dir gewiss, dass ich dich nicht vergessen werde."

"Leere Worte", dachte Albertine und erschauerte, weil sie merkte, dass sie offenbar nicht gut genug okklumentiert hatte. Anthelia lachte nur und deutete zum Ausgang. Das war eindeutig. Wollte Albertine nicht als wertlose wenn auch schöne Männerleiche enden musste sie sich absetzen. Dies tat sie auch.

Anthelia indes apparierte mit den Haaren des Handlangers ihres unbekannten Gegners in eine von ihr ausgekundschaftete Höhle, in die man nur hineinapparieren konnte. Diese lag tief unter den Rocky Mountains, knapp fünfzig Kilometer von Denver entfernt. Dort hatte sie ein geheimes Labor eingerichtet, um verfluchte Gegenstände oder unbekannte Tränke zu analysieren. Selber trinken konnte sie nichts, und die meisten Flüche konnten ihr auch nichts anhaben. Sie unterzog eines der erbeuteten Haare einem Zauber, der ein nichtstoffliches Abbild des Originalkörpers hervorbringen würde. Den Zauber zu können würden ihr wohl viele einiges verzeihen, was sie ihr im Moment mal wieder zur Last legten. Sie stellte fest, dass es sich um einen hageren Mann mit grauem Schopf, grauem Vollbart und dunkelblauen Augen gehandelt hatte. Doch kaum war sein unbekleidet erscheinendes Abbild vollständig, krachte es, und die Erscheinung stürzte in einen blauen Strudel hinein. Anthelia roch sofort, dass die Luft sich verändert hatte. Statt in einer feuchten kühlen Höhle meinte sie jetzt in einer seit Jahren unberegneten Wüste zu stehen. "Tatsächlich ein Austrocknungsfluch, und was für ein starker", grinste Anthelia. Sie empfand nur wenig Durst. Die Tränen der Ewigkeit hatten sie vor den Ausläufern geschützt. Dann dachte sie, dass sie da aber schon einige Zauber in Verdacht hatte, darunter den Durst der Dunkelheit, einen kombinierten Erd- und Wasserzauber, der dem davon betroffenen Körper alles Wasser entzog und dieses tief unter die Erde versetzte. Wie schnell das ging hing von der Geschwindigkeit der gesprochenen Formeln und dem Auslöser ab. Anthelia testete nun die noch verbliebenen Haare auf diesen und andere ihr bekannte Flüche. Am Ende hatte sie gewissheit, dass es besagter Durst der Dunkelheit war. Dagegen halfen nur mit einem dreistufigen Gegenzauber präparierte Korallenstücke oder den Frieden der großen Mutter Erde, der auf Edelmetalle oder Edelsteine gelegt werden konnte und mindestens einen dieser Flüche unschädlich machen konnte. Also würde sie zusehen, einen solchen Abwehrgegenstand, vielleicht einen Armreifen, herzustellen, den sie einem Verdächtigen umlegen konnte. War aber noch zu prüfen, wie der Fluch ausgelöst wurde. Am Ende war das nur die primäre Vernichtungsart.

Als Anthelia nach mehr als einer Stunde mit ihren Experimenten fertig war apparierte sie in die Daggers-Villa zurück, wo eine sichtlich aufgeregte Romina Hamton auf sie wartete: "Höchste Schwester, ich fürchte, jemand hat sich da auf die vereinigten Staaten eingeschossen." Anthelia stutzte. Ihre erste Reaktion war ein langes "Waaas?" Romina bat sie, sie in ihr neues Versteck Mit Kabel- und Internetanschluss zu begleiten. Dort schaltete die Hexe aus der Muggelwelt den Fernseher ein. Das erste, was Anthelia sah, waren entsetzt nach oben starrende Menschen. Dann sah sie zwei in Flammen stehende Türme. Sie erinnerte sich an das, was Cecil Wellington ihr immer wieder mal bewusst und mal unbewusst über die Muggelwelt mitgeteilt hatte. Deshalb erkannte sie die beiden brennenden Türme sofort. "Wie ist das passiert, Schwester Romina?" wollte sie wissen, als sie lange genug in das sich abspielende Inferno hineingesehen hatte.

"Um vierzehn Minuten vor neun Ostküstenzeit ist ein großes Passagierflugzeug in den Nordturm des Welthandelszentrums eingeschlagen. Die Beobachter haben erst an einen Flugfehler mit tödlichem Ausgang geglaubt", sagte Romina. Dann deutete sie auf den brennenden Südturm. "Tja, und um kurz nach neun ist dann ein zweites Passagierflugzeug in den Südturm hineingerast. Das sieht ganz nach einem gezielten Anschlag im großen Stil aus, höchste Schwester." Als Romina das gesagt hatte, überkam sie eine Mischung aus Trauer und Wut. "Im Nordturm hat 'ne Cousine von mir gearbeitet", schluchzte sie. Anthelia saß da und starrte beinahe hilflos auf den flirrenden Fernsehschirm. Sie hatte in ihren bisherigen Leben und auch als eigenständige Naaneavargia viele Grausamkeiten miterlebt und auch selbst veranlasst. Aber auf sowas wäre sie nicht gekommen. Sie dachte daran, dass sie, wenn sie es gewollt hätte, so einen Anschlag schon längst hätte durchführen können, indem sie ein Pulk unter die Macht von Yanxothars Schwert gezwungener Drachen dort hineingelenkt hätte. Ja, sowas ähnliches hatte wer auch immer sich wohl auch gedacht. Romina war nach der pflichtgemäßen Meldung an ihre Anführerin in einen hemmungslosen Weinkrampf verfallen. Denn ihr war noch eingefallen, dass einige ihrer Grundschulfreunde, mit denen sie trotz Thorntails noch in Kontakt geblieben war, ebenfalls in den beiden Türmen gearbeitet hatten. Anthelia sah die Verheerung auf dem Bildschirm. Das alles fand weit weg von hier statt. Gefühlsmäßig verband sie nichts mit den betroffenen Gebäuden. Sie standen eher für eine hemmungslose Ausbeutung der Natur und Handel ohne Überlegung, was davon beeinträchtigt werden mochte. Doch soweit, diese Gebäude zu zerstören, wo Menschen darin waren, wäre sie nicht gegangen. Riddle hätte das wohl getan, wenn ihm das Schwert Yanxothars geblieben wäre, allein schon um die Muggel in Angst und Schrecken zu versetzen, um zu zeigen, dass er das konnte. Nun, das hatten jetzt andere getan. Sie fragte sich, ob dieser verheerende Angriff, der sicher viele Menschen töten würde, von magieunfähigen Fanatikern, Untergrundkriegern gegen die Regierung oder Zauberern und Hexen begangen worden war. Das warf für sie ganz erhebliche Fragen auf. Denn sollte jemand aus der magischen Welt diese Anschläge durchgeführt haben, dann ging sie das da auf dem Fernbildflimmerschirm eine ganze Menge an. Und wenn es nur Muggel waren, die an diesem Bauwerk oder seiner Funktion was auszusetzen hatten, ging es sie auch etwas an. Denn dann würde sich nichts geringeres als die gesamte bisherige Weltordnung ändern.

"Diese Flugmaschinen müssen direkt gesteuert werden, richtig?" fragte Anthelia, während sie ein weiteres Schauspiel des Grauens mitverfolgte, als in Panik geratene Menschen aus den brennenden Türmen sprangen.

"Das muss jemand gemacht haben, der sich selbst dabei umbringen wollte", sagte Romina. Dann erkannte sie, dass es auch eine andere Möglichkeit gab: "Oder jemand hat die Piloten unter den Imperius genommen." Anthelia erkannte mit gewissem Grimm, dass jemand bestimmtes ein sehr großes Interesse an einem Anschlag mit mehr als sieben mal sieben mal sieben Toten hatte. War es denn so abwegig, dass ihr bisher unbekannter Gegner diese Anschläge geplant und durchgeführt hatte und das mit dem Chemiker nur ein Ablenkungsmanöver war? Das musste sie klären, so schnell wie möglich.

__________

Der Tag war zu schön, um im Büro zu hocken, fand Julius. Doch er konnte sich nicht noch einmal Urlaub nehmen. Also verabschiedete er sich von seiner Frau und seiner Tochter und flohpulverte ins Zaubereiministerium.

"Der Minister hat um Ihr persönliches Erscheinen gebeten, Monsieur Latierre. Er hat den Grund dafür aber nicht genannt", begrüßte Ornelle Ventvit ihren Mitarbeiter. Julius nickte. Wenn der Minister ihn persönlich sprechen wollte dann wohl wegen irgendwas, das mit dem alten Erbe zu tun hatte. Das erzählte er aber Ornelle nicht. Er fragte, ob er gleich jetzt hingehen dürfe. Sie nickte ihm einwilligend zu.

Als Julius vor dem Büro des Zaubereiministers stand traf er seine Schwiegermutter Hippolyte, die leicht ungehalten aussah. "Och, hat er dich auch wegen was unaufschiebbarem herzitiert?" fragte sie ganz familiär. Julius überlegte eine Sekunde und schüttelte den Kopf. "Er hat nicht übermittelt, weshalb ich mich bei ihm einfinden soll."

"Was immer es ist, wenn er dich vorziehen kann komme ich vielleicht doch noch dazu, die leidige Sache mit diesem Herrn aus den Staaten zu Ende zu bringen." Julius wollte nicht fragen, welchen Herren sie weswegen sprechen musste. Da ging die Tür auf, und Zaubereiminister Grandchapeau blickte heraus. "Ah, Monsieur Latierre, Sie haben die nötige Zeit erhalten? Hippolyte, verzeihen Sie mir, Sie so überhastet zu mir zitiert zu haben, aber die Sache, wegen der Sie womöglich schon bald Besuch erhalten gelangte auch auf höchster Ebene zu mir. Ich wollte mich mit Ihnen darüber unterhalten, wie wir in dieser Sache vorgehen."

"In meinem Büro sitzt ein Mr. Arbolus Gildfork und hat bereits einige Pergamente auf meinen Tisch geworfen, die aussagen, dass wir unter Ausnutzung eines Abkommens mit Brasilien neuwertige Flugbesen in unseren Besitz bekommen hätten und seine Firma nun den feindlichen Informationsabfluss fürchtet."

"Öhm, was bitte?" fragte der Minister.

"Industriespionage, Herr Minister", wusste Julius die Antwort. Hippolyte nahm die Hand wieder runter, mit der sie Julius fast den Mund zugehalten hätte, weil er sich unaufgefordert eingemischt hatte. Dann schien ihr eine Erkenntnis zu kommen. "Ach, dann meint dieser verärgerte Yankee, dass wir die Fertigung seiner Parsec-Besen auskundschaften wollen? Dann hätte der das doch gleich so sagen sollen und sich nicht so umständlich ausdrücken sollen. Ja, Herr Minister, der Gentleman sitzt in meinem Büro und darf Monique sein Leid klagen. Möchten Sie diese Sache nun mit mir klären, damit ich weiß, was ich dem Besucher sagen darf oder nicht?"

"Gut, wo der Kessel schon umgekippt ist gebe ich Ihnen nur den Auftrag, diesen Gentleman darauf hinzuweisen, dass weder die Ganymed-Werke noch die Cyrano-Werke daran interessiert seien, die Geheimnisse der Bronco-Parsec-Besen zu ergründen. Minister Cartridge hat mich nur gefragt, ob wir darauf ausgingen, die internationalen Vereinbarungen mit den Staaten zu unterlaufen, da wir mit Brasilien ein Handelsabkommen hätten, wobei dieses die von Bronco erworbenen Besen als Gebrauchtbesen weiterverkaufen könnte, auch weit vor der Zwanzig-Jahre-Frist."

"War klar, dass es darum geht. Die Brasilianer haben bei Ganymed und Cyrano Besen bestellt, die billiger und zuverlässiger sind als die Rennbesen aus den Staaten. Von wegen Spionage. Darf ich dann wieder nach unten, oder benötigen Sie mich für die Abfassung einer Antwort an Minister Cartridge?"

"Nein, das bekomme ich selbst hin. Bitte kümmern Sie sich um Mr. Gildfork, Hippolyte!"

"Jawohl, Minister Grandchapeau", grummelte Hippolyte und wandte sich zum Gehen. Mit einem kurzen Wink verabschiedete sie sich von Julius. Der Minister winkte ihm, in sein Büro einzutreten.

"Das war jetzt irgendwie ungünstig, dass Madame Latierre zeitgleich mit Ihnen hier ankam. Nun gut, lässt sich nicht mehr umkehren. Bitte setzen Sie sich!" sagte der Minister. Julius nahm Platz. Dann erfuhr er, warum der Minister ihn zu sich gebeten hatte. In Deutschland und Japan waren insgesamt drei Zauberer festgenommen worden, die nach irgendwas gesucht hatten. In Deutschland hatte ein Zauberer die Rolle eines Fachmannes für Sprengstoffe übernommen, wohl, um dessen Entführung zu verschleiern. Ein mit Grandchapeau befreundeter Zauberer aus Japan hatte bei seinen Vorgesetzten erwirkt, die großen Zaubereiministerien Europas darüber zu informieren, was bei ihnen passiert war, weil es wohl eindeutig europäische Zauberer gewesen waren. Was genau die beiden Zauberer in Japan gesucht hatten hatte der Kontakt nach Tokio jedoch nicht verraten, nur dass die beiden an Orten mit trauriger Vergangenheit aufgegriffen worden waren. Julius hörte sich das an, vor allem, dass die drei Zauberer kurz nach ihrer Festnahme regelrecht ausgedörrt und zu feiner Asche zerfallen waren wie Vampire im Sonnenlicht. Das hatte zunächst den Verdacht genährt, es mit den Erben Nocturnias zu tun zu haben. Doch einer der Zauberer sei als Calligula Scorpaenidus erkannt worden, nachdem eine Vielsaft-Trank-Verwandlung abgeklungen wäre. Julius erinnerte sich. Dieser Widerling hatte ihn in seinen ersten Schuljahren in Hogwarts immer wieder dumm angesprochen, wie die meisten aus dem Slytherin-Saustall. Julius hörte sich das aber alles an, bevor er fragte, was er damit zu tun habe, wo er weder bei den Desumbrateuren noch im Büro für internationale Zusammenarbeit arbeite.

"Jemand aus Deutschland hat die Vermutung in den Raum geworfen, dass es sich um Handlanger eines aufstrebenden Schwarzmagiers handelt, der das von Tom Riddle hinterlassene Vakuum ausfüllen möchte."

"Ach, weil Anthelia nicht dazu bereit ist?" fragte Julius schnippisch. "Nun, vielleicht ist sie es nun doch wieder, zumal der Kollege Güldenberg und ich fürchten müssen, dass diese Hexe Verbündete in seinem und meinem Verwaltungsbereich kultiviert und vielleicht sogar in Japan. Aber der eigentliche Grund, warum ich Sie über diese übrigens unter S9 fallende Sache in Kenntnis setze ist die, dass ich mutmaße, dass da jemand nach Artefakten oder Kreaturen aus dem alten Reich suchen könnte und zudem noch einen uns unbekannten Zauber verwendet, um seine oder ihre Handlanger vor freiwilligem oder unfreiwilligem Verrat zu töten, womit auch eine unabwendbare Gefangenschaft gemeint sein könnte. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die mit einer uns unbekannten Magierin verschmolzene Wiederkehrerin deren Kenntnisse anwendet, um nun, wo wieder nach ihr gefahndet wird, wirksame Machtmittel gegen uns zu erringen."

Julius schüttelte behutsam den Kopf und verkleidete einen Widerspruch als Frage: "Meinen Sie damit, dass Anthelia jetzt davon abgerückt ist, nur Hexen für sich arbeiten zu lassen?"

"Zumindest um uns vorzugaukeln, nichts damit zu tun zu haben", erwähnte der Minister. Dann fragte er, ob Julius dort, wo er die alten Zauber gelernt habe, auch erfahren habe, ob es verzögert wirkende Verdorrungsflüche gebe.

"Nein, das haben mir die Quellen nicht verraten. Die einen wollten nicht, weil ich nicht auf deren Seite stand, und die anderen durften nicht, weil eine Regel dieser Gemeinschaft das ausdrücklich verbietet, das geteilte Wissen denen weiterzugeben, die nicht mit den Zielen der Wissensquellen einverstanden sind. Aber ich kann mir vorstellen, dass die Hexe, die sich weiterhin anthelia nennt, alte Flüche kennt oder an und für sich harmlose Zauber zu dunklen Verkehrungen machen kann. Ob sie aber jetzt von ihrer Haltung abgekommen ist, nur treue Hexenschwestern für sich arbeiten zu lassen weiß ich nicht. Im Moment denke ich doch, dass sie mit Hexen als Hilfskräften mehr anfangen will. Ich könnte mir aber zumindest bei diesem Zauberer Scorpaenidus vorstellen, dass der von ihr oder einer ihrer Schwestern betört wurde, einen ganz wichtigen Auftrag zu erledigen, um von wem auch immer eine große Belohnung zu kassieren. Was sagt denn Ihr Kollege Shacklebolt zu dieser Sache?"

"Für den steht Scorpaenidus seit einem Jahr auf einer Fahndungsliste, weil herauskam, dass er am gewaltsamen Tod der damaligen Arithmantiklehrerin Professor Septima Vector beteiligt war, als die Schlacht von Hogwarts stattfand."

"Verstehe", sagte Julius nach einigen Sekunden. "Der suchte also offenbar neuen Anschluss. So einer lässt sich dann schön schnell verheizen, also in höchst gefährliche Sachen reinschicken, bei denen er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit stirbt."

"Der Begriff Verheizen ist mir auch geläufig, Monsieur Latierre. Wenn ich eine Worterklärung benötige werde ich Sie umgehend darum bitten", maßregelte der Minister seinen Untergebenen, dass er keine unerbetene Belehrung nötig hatte. Der Ernst der Lage stand ihm ins Gesicht geschrieben. "Wenn ich wüsste, welche Orte mit trauriger Vergangenheit diese Zauberer besucht haben und was dies mit der wahrscheinlichen Verschleppung eines magielosen Sprengmittelkundlers zu tun hat wären wir schon weiter. Sie kennen also keinen solchen Fluch oder können mir einen Hinweis geben, wonach die beiden in Japan gesucht haben?"

"Orte mit trauriger Vergangenheit in Japan. Da fallen mir so auf anhieb nur die Städte Hiroshima und Nagasaki ein, über denen im zweiten Weltkrieg Atombomben abgeworfen wurden. Da habe ich Ihnen ja damals von erzählt." Der Minister nickte und stieß dann aus: "könnte es sein, dass an diesen Orten noch etwas magisches freigesetzt wurde, als diese immense Zerstörungskraft entfesselt wurde?"

"Will ich nicht grundweg ausschließen. Vielleicht brauchten die beiden Orte, wo viele Leute auf einen Schlag gestorben sind. Da könnte dann echt was dran sein, dass die wegen eines uralten Rituals aus dem alten Reich unterwegs waren. Dann ergebe das mit dem Sprengstoffchemiker auch einen Sinn. Wenn sie in Hiroshima und Nagasaki erwischt wurden bleibt ihnen wohl nur, selbst viele Menschen auf einmal umzubringen. Wenn die nicht an Atombomben rankommen geht sowas nur mit Giftgas oder Sprengstoff."

"Es geht also nicht um lange ausgedehnte Schlachten?" fragte der Minister, der Julius' Vermutung schon als halbe Erklärung wertete. Julius überlegte kurz. Dann sagte er, dass es im dunklen Voodoo ein Ritual gebe, durch die Ermordung möglichst vieler Menschen durch Unterworfene, ob Beeinflusste oder Zombies, den Boden für eine schwarzmagische Kraftaufladungsstätte zu bereiten, an der sich die wahrhaftigen Voodoo-Magier immer wieder regenerieren oder Geister aus dem Totenreich zurückholen konnten, um diese zu versklaven oder auszuhorchen. Dafür müssten die Menschen aber auf direktes Betreiben des davon profitierenden Magiers getötet werden. "Aber ich möchte das nicht ausschließen, dass allein der vieltausendfache Tod in sehr kurzer Zeit, am besten auf einen Schlag, auch für schwarzmagische Rituale herhält. Da ich mit dieser Ausrichtung der Zauberei nur sehr sehr bedingt was zu tun haben will kenne ich mich da nicht aus. Ich halte das mit dem alten Reich aber aufrecht, vor allem, weil ja dieser Nachtschatten entwischt ist, den Catherine Brickston und ich damals in der schlafenden Schlange getroffen haben."

"Moment, natürlich, der Schatten. Er war mit dieser Schlange verbunden, haben Sie beide protokolliert. Kann es sein, dass diese Geistererscheinung dabei Dinge erfahren hat, die für heute lebende Hexen und Zauberer der dunklen Seite höchst willkommen sind?" Julius nickte heftig. Immerhin war der Schatten ja dieser Schlange verbunden. Im Grunde wirkte in ihm die Magie des alten Reiches. Wenn Iaxathan dadurch Verbindung mit ihm aufnehmen konnte, von Geist zu Geist sozusagen, konnte der Nachtschatten eine Fundgrube für böswillige Hexen und Zauberer sein. Dann hatte er wohl eine Partnerschaft geschlossen, weil er vielleicht noch zu sehr geschwächt war, um wirklich große Sachen anzustellen. Das sagte Julius dem Minister.

"Genau das war es, was ich nicht zu hören gehofft habe, Monsieur Latierre. Also könnten, wohl gemerkt könnten wir damit rechnen, dass irgendwann ein mächtiger Widersacher auftaucht, der das von diesem Schattenwesen vermittelte Wissen gegen uns verwenden will. Dann kann ich Ihnen nur den guten Rat geben, das in dem gerade jetzt und nur jetzt bestehenden Personenkreis zu halten, dass Sie Zugang zu dieser alten Stadt des Wissens haben. Denn dieser Widersacher könnte versucht sein, seinen Hunger nach dunklem Wissen auf andere Weise zu stillen." Julius verstand. Er sagte, dass er den Zugang zu den alten Straßen nicht aus seinen Händen lassen würde und ihn bis zur nächsten Verwendung an einem sicheren Ort nur für ihn und seine Frau zugänglich hielt. Von Ailanorars Flöte sprach er nicht. Dass er die auch hatte wusste der Minister bisher nicht und musste es auch nicht wissen.

Grandchapeau bedankte sich bei Julius und erwähnte, dass er mit seinen Desumbrateuren einen Weg erörtern wollte, diesen einen Nachtschatten aufzuspüren. Da man diese Geistererscheinungen mit bestimmten Sachen locken konnte wäre es vielleicht möglich, ihn entweder einzusperren oder zu vernichten."

"Der Kollege aus Norwegen kennt sicher den, der der Schatten früher mal war", warf Julius ein. Grandchapeau nickte. Dann bat er Julius, weiterhin Stillschweigen zu bewahren. Als Begründung für das Gespräch sollte Julius ihm noch einmal schildern, wie er Kontakt zu den Kindern Ashtarias bekommen habe, da zu vermuten stehe, dass die eine noch wache Abgrundstochter sicher darauf ausgehe, ihre zwei Schwestern zu rächen.

"Oha, da rufen Sie aber einen verdammt großen Drachen, Herr Minister", sagte Julius dazu. Aber er sah ein, dass er eine plausible und zudem brisante Erklärung brauchte, warum er zum direkten Gespräch zitiert worden war. Dann kehrte er an seinen eigentlichen Arbeitsplatz zurück.

"Der russische Leiter des Zauberwesenbüros läd uns beide für den zweiten Oktober nach Moskau ein, wo wir, sofern Monsieur Vendredi und Minister Grandchapeau dies genehmigen, den Fall Diosan noch einmal darlegen sollen. Einige Leute da sind nämlich der Ansicht, Diosan und seine Mutter dauerhaft einzukerkern, wenn sie sie schon nicht töten dürfen", sagte Ornelle. Julius las den auf Englisch und Französisch abgefassten Brief aus Moskau. Julius dachte daran, wieder ein kleineres Übel angehen zu dürfen. Er verstand aber auch, dass die Russen wissen wollten, wie er das hinbekommen hatte, einen geistig verwirrten Halb-Veela zu besiegen, ohne ihn zu töten. Zwar hatten die einen ausführlichen Bericht erhalten, wollten aber nun, wo die Stimmung gegen Sarja und ihren Sohn immer schlechter wurde, eine Art Anleitung haben, wie sie Mutter und Sohn sicher einsperren konnten, ohne dass diese dabei starben. Denn dann wären alle Familienangehörigen von ihnen berechtigt, sich an den Familien derer zu rächen, die ihre Angehörigen umgebracht hatten.

Julius durfte sogar noch einen Brief aus Algerien lesen, wo ein Reservat für Riesen eingerichtet werden sollte. Man stehe bereits in Verhandlungen mit Russland und dem Iran, dort anzutreffende Riesen in dieses Reservat umzusiedeln. Dort könne dann auch Meglamora unterkommen. Als Julius las, dass die Algerier für jeden bei ihnen abgelieferten Riesen zzweihundert Galleonen im Monat haben wollten musste er lachen. So konnte man auch Riesengewinne machen, dachte er. Wer war denn da auf so eine pfiffige Idee gekommen, europäisches Gold einheimsen zu können? "Ich werde das übermorgen mit Mademoiselle Maxime besprechen, ob ihre Tante dort unterkommen soll. Oder lehnen wir dieses Angebot grundweg ab?"

"Die wollen wohl handeln. Aber die haben auch genug Platz", sagte Ornelle. "Aber in den Bergen des Urals sind die letzten Riesen auch noch gut aufgehoben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Minister Arcadis Schatzmeister dieses Angebot begrüßt."

"Dann kläre ich das, wenn Sie das gestatten, mit Mademoiselle Maxime und Meglamora, wenn ich am 13. September hinreise", sagte Julius. Seine Vorgesetzte nickte.

Während der Kaffeepause unterhielt sich Ornelle mit Julius und Pygmalion über die Familien. Julius erwähnte den Anruf seiner Mutter, dass sie heute in New York ganz hoch oben im Welthandelszentrum frühstücken wolle. Pygmalion Delacour wollte dann natürlich wissen, wie hoch die beiden höchsten Türme waren. Er sagte dann, dass er ja schon auf dem Eiffelturm gewesen sei. Das sei ihm schon zu hoch gewesen. "Und Ihre Mutter fliegt dann von Florida aus wieder nach Kalifornien?" wollte Ornelle wissen. Julius bestätigte das.

Nach der Kaffeepause arbeitete sich Julius durch die Korrespondenz mit europäischen Zauberwesenbeauftragten. Er durfte noch ein Schreiben an Ms. Highdale in London schicken, dass die neue Werwolfsucheinheit, die aus französischen Trägern der Lykanthropie bestand, am ersten Oktober offiziell ihre Arbeit aufnehmen würde. Die letzten Verwaltungsfragen seien geklärt. Die früheren Werwolfjäger würden jetzt zur Schädlingsbekämpfungsgruppe gehen. Durch die massenhafte Schweinezucht hatten die an den Zitzen von Muttersäuen saugenden Nogschwänze wesentlich bessere Lebensbedingungen erhalten, da man in eine Stallung mit über tausend Schweinen nicht mal eben einen weißen Bluthund hineinjagen durfte. Die Tiere würden durch das Gedränge schon gestresst genug sein und könnten bei der Jagd auf Nogschwänze zusammenbrechen. Julius schlug vor, weiße Zwergpudel oder Westhighland-Terrier zur Nogschwanzsuche abzurichten. Die Hunde müssten dann nicht gleich mit lautem Gekläff in die Ställe rein, sondern könnten zwischen den Schweinen nach saugenden Nogschwänzen suchen und die dann gezielt packen und durchschütteln und dann vom Betriebshof des Schweinezüchters schupsen.

"Öhm, Ich gebe das mal an unseren Kollegen von der Schädlingsbekämpfung weiter, damit es nicht so aussieht, als müsste ich meine Mitarbeiter abstellen, um deren Arbeit zu erledigen", sagte Ornelle.

Nach der Mittagspause las Julius einen Brief von Professor Hagrid aus Hogwarts, dass er mit einem rumänischen Kollegen eine Zusammenführung von Grawp mit einer jungen Riesin aus Rumänien verhandele, seitdem eine abgesicherte Wohnzone für Grawp im schottischen Hochland nun amtlich sei. Julius freute sich für Hagrid.

Es war genau halb vier am Nachmittag, als mehrere Memos zu den Ministeriumsmitarbeitern hineinflogen. Ornelle Ventvit, Pygmalion Delacour und Julius bekamen je eins. Dabei handelte es sich jedoch um Kopien des gleichen Rundschreibens, dass Madame Nathalie Grandchapeau verfasst hatte:

Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

Vor wenigen Minuten erfuhr meine für Kommunikationswege der magielosen Welt ausgebildete Mitarbeiterin Mme. Belle Grandchapeau, dass es in New York, USA, zwischen 14.46 Uhr und 15.03 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit zu zwei gravierenden und offenkundig beabsichtigten Zusammenstößen zwischen großen Passagierflugmaschinen und den beiden Türmen des Welthandelszentrums gekommen ist. Zunächst rammte eine Maschine den nördlichen Turm. Dieser Vorfall wurde von den Augenzeugen und Ermittlungsbehörden noch als tragischer Unglücksfall anerkannt. Doch als dann kurz nach 15.00 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit ein zweites Passagierflugzeug den südlichen Turm rammte und dabei explodierte, enthüllte sich, dass es sich dabei wohl um gezielte Anschläge auf die Menschen in diesen Gebäuden und ihre Arbeit dort handelte. Vor wenigen Minuten wurde dann noch über elektrisch betriebene Nachrichtenwege vermeldet, dass ein drittes Flugzeug das Hauptgebäude der Verwaltung der Streitkräfte der vereinigten Staaten, das Pentagon, getroffen hat. Die Systematik, mit denen diese ohne Rücksicht auf das Leben unschuldiger Menschen verübten Angriffe betrieben wurden, kann eine reine Angelegenheit der magielosen Welt sein. Allerdings dürfen wir uns nicht vor der Idee verschließen, dass hier böswillige Hexen und Zauberer einbezogen sind, deren Ziel es wie damals im englischen Brockdale ist, das nordamerikanische Zaubereiministerium zu bedrohen und dabei wortwörtlich über Leichen geht. Wie erwähnt muss das nicht so sein, da es in der Welt ohne Magie genug religiösen und weltanschaulichen Fanatismus gibt. Allerdings muss ich in meiner Eigenschaft als Beauftragte für die Koexistenz zwischen Menschen mit und ohne Magie darauf hinweisen, dass es auch mit magischen Interessen zu tun haben kann, insbesondere dann, wenn laufende Verhandlungen mit US-Zaubereibehörden durch derartige Vorkommnisse gefährdet sein könnten. Sollte sich herausstellen, dass die verhängnisvollen Anschläge tatsächlich ohne magische Einflussnahme verübt wurden, so möchte ich zumindest jenen unter Ihnen, die muggelstämmige Angehörige haben, die mir bekannt gewordenen Tatsachen übermitteln, damit Sie mit den ohne Magie lebenden Angehörigen, die womöglich zu tiefst erschüttert sein werden, in Ruhe und Besonnenheit umgehen können und jeden Anflug von Antizaubererwelt-Stimmung nach bestm Wissen und Gewissen verhüten können.

Ich hoffe, ich habe nicht jemanden von Ihnen in eine grundlose Furcht gestürzt. Daran lag und liegt mir nichts. Denen, die jetzt meinen, dass ich ihnen unwichtige Tatsachen mitgeteilt habe, da sie nicht mit der magielosen Welt zu tun haben kann ich nur mitteilen, dass Sie da einem Irrtum unterliegen. Denn gerade Vorfälle wie diese gereichen zur Frage, wer da warum seine Macht ausgespielt hat oder meinte, durch willkürliche Zerstörung Macht bewiesen zu haben. Mehr kann und möchte ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht dazu schreiben.

Ich hoffe, Sie haben noch einen unbeschwerten restlichen Arbeitstag.

Nathalie Grandchapeau, Büro für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie

Julius las den Brief. Er las ihn erst einmal nur so herunter. Doch als ihm bewusst wurde, was da mal eben ganz allgemein bekannt gegeben wurde, begannen seine Hände zu zittern. Sofort sah er seine Mutter mit Lucky Merryweather zusammen in einem Fahrstuhl nach oben fahren, Lucky im Jacket. Beide lachten. Dann kam auf einmal Feuer von oben. Er wusste, wie heftig Flugzeugtreibstoff brennen konnte. Wenn das überall reinlief war das eine Feuerfalle. Er dachte daran, dass seine Mutter vielleicht schon im Restaurant Fenster zur Welt gesessen haben mochte, als das erste Flugzeug in den Nordturm stürzte. Auf einmal überflutete ihn die große Angst und traurigkeit. Er sah seine Mutter in einem Flammenmeer. Er dachte nicht daran, dass sie ja apparieren konnte. Das hatte ihr nie so gelegen, und wenn sie genau da gewesen war, wo die Maschine ... Etwas heißes rann ihm über die rechte und über die linke Wange. Als es an seiner Nase vorbeigerollt war fing er es mit der Zunge auf. Es schmeckte salzig. Die erste Träne einer unmittelbar aufkommenden Flut von Tränen. Julius Latierre, der bisher schlimme Sachen überlebt hatte, hing hemmungslos weinend über seinem Schreibtisch. Die Tränenflut tränkte das gerade gelesene Rundschreiben. Er hörte nichts um sich herum, nicht mal das leise Schluchzen. Er dachte keinen Moment daran, dass Madame Grandchapeau irgendeinen Unsinn herumgeschickt haben mochte. Die Begründung war ja auch logisch. Sowas konnte durchaus von jemandem wie Anthelia oder einem Nachahmer Voldemorts angeleiert worden sein. Wenn Anthelia das war, um die amerikanische Handelswelt, für sie wohl der Inbegriff des muggelweltlichen Größenwahns, zu zerstören, und seine Mutter war dabei draufgegangen, würde er dieses Hexenweib jagen und ... Er schrak zusammen, weil etwas warmes, weiches auf seiner rechten Schulter landete und gleichzeitig ein großes, nach frischem Wiesenparfüm duftendes Taschentuch in sein Gesicht hineinglitt. Er wollte die Hand schon abschütteln, das Taschentuch von seinen Augen und seiner triefenden Nase wegreißen. Doch da erklang Ornelles Stimme leise und sanft:

"Ja, das muss dich sehr übel erwischt haben, mein Junge. Am besten gehst du nach Hause und versuchst, deine Mutter anzutelofonieren. Vielleicht ist sie noch nicht da gewesen." Er fühlte, wie ein warmer weicher Arm ihn am Oberkörper umfing und sachte an den Körper der Hexe zog, die eigentlich nur seine direkte Vorgesetzte war. Die Tränenflut ebbte schlagartig ab. Scham ließ sein nun nasses Gesicht erglühen. Wie hatte er sich so heftig gehen lassen können, wo er doch gelernt hatte, seine Gefühle niederzuhalten? Er nahm das ihm gereichte Taschentuch behutsam und wischte sich Nasenschleim und Tränen aus dem Gesicht. Er fühlte, dass er weiterweinen wollte. Doch im Moment war das wohl nicht gerade angebracht. Was sollte denn Monsieur Delacour denken?

"Ich weiß nicht, ob sie schon da war", seufzte Julius und schluckte neu aufkommende Tränen hinunter. "Das müsste ich klären", sagte er noch.

"Das darfst du tun, mein Junge. Ich bring dich runter zu den Kaminen. Kriegst du es hin, deinen Heimatkamin auszurufen?" Julius verzog das verheulte Gesicht und stieß aus, dass er das auswendig konnte. "Pygmalion, wenn Anfragen an Monsieur Latierre gerichtet werden an mich weiterleiten. Monsieur Latierre hat den restlichen Nachmittag frei. Monsieur Vendredi erhält gleich von mir die entsprechende Mitteilung."

"In Ordnung, Ornelle. Julius, ich hoffe, Ihrer Mutter ist nichts passiert", sagte Monsieur Delacour noch. Julius schaffte es trotz der ihn überflutenden Gefühle noch, sich höflich zu bedanken.

Mademoiselle Ventvit geleitete Julius im Aufzug zum Foyer. Unterwegs trafen sie Carmen Deleste, die seit dem ersten September in der Abteilung für internationale magische Zusammenarbeit Dienst tat. Sie erkannte, dass Julius wohl wegen dieser Schreckensmeldung persönlich betroffen war und fragte erst gar nicht, was los sei. Im Foyer fand Julius einen freien Kamin. Er riss sich zusammen, als Ornelle eine Prise Flohpulver in das Feuer geworfen hatte. Er trat in die smaragdgrüne Feuerwand und rief mit einem großen Aufgebot von Selbstbeherrschung: "Pomme de la Vie!" Er sah noch Ornelles mitfühlendes Gesicht, dann wurde er im Flammenwirbel davongerissen.

Als er am Zielkamin herauskam sah er zuerst seine Frau, die offenbar schon auf ihn wartete. Sie wirkte sehr betrübt, womöglich weil sie seine Gefühle unmittelbar miterlebt hatte. Die Herzanhängerverbindung machte dies möglich. Daneben sah er noch seine Schwiegertante Béatrice. Die beiden Verwandten halfen ihm aus dem Kamin. Da kam die kleine Aurore angestürzt und rief hocherfreut: "Papa!" Sie warf sich Julius in die Arme. Dieser fühlte Verärgerung aufsteigen. Er öffnete den Mund, um seine Tochter anzuherrschen, ihn jetzt bloß in Ruhe zu lassen. Doch da fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, dass Aurore am wenigsten für seine Stimmung konnte. So quälte er sich ein Lächeln ab. Doch das kleine Hexenmädchen sah wohl, dass er nicht so fröhlich war und sagte: "Papa aua?"

"Ja, Kleines, sowas, aber nichts zum Wegblasen", seufzte er. Doch dann musste er grinsen. Wie einfach man doch Sachen, die einen fertigmachen wollten, in nur einen Satz packen konnte, wenn ein kleines Kind ihm zuhörte. Er nahm Aurore kurz auf seine Arme und knuddelte sie. Wie gut tat das, ihren kleinen, warmen Körper an sich zu drücken, ein Bündel Leben, ein Teil von ihm selbst. Dann fühlte er wieder diese ohnmächtige Angst gepaart mit vorauseilender Trauer. Er musste wissen, ob seine Mutter noch am Leben war. Er sah Millie an und sagte: "Irgendwer hat in New York diese zwei Türme mit großen Flugzeugen angegriffen, wo Mum heute frühstücken wollte. Ich muss an die Geräte und rauskriegen, ob sie noch lebt." Er zog das von seinen Tränen getränkte Pergamentstück hervor und entschuldigte sich für die Unleserlichkeit. Millie sah ihn schreckensbleich an. Sie taumelte. Beatrice stützte sie sofort und sah Julius vorwurfsvoll an. Doch Millie erkannte wohl, dass ihre Tante und Hebamme jetzt schimpfen würde und kam ihr zuvor:

"Lass den jetzt in Ruhe, Tante Trice. Ich wollte es wissen, was ihn so heftig runtergezogen hat. Also quatsch ihn nicht voll, er soll mich nicht erschrecken!"

"Ähm, Madame Latierre ... Verstehe, ja, ich werde nichts sagen", musste Béatrice doch los werden. Dann nahm sie Julius Aurore aus den Armen. Die kleine fühlte jetzt, dass sie wohl erst einmal nicht mit ihrem Papa durch den Garten toben würde. Millie blieb bei ihr. Béatrice begleitete Julius in den Garten. Sie hatte das Pergament in der Hand. "Millie hat mich gerufen, dass irgendwas dich sehr plötzlich sehr heftig erschreckt hat. Sie meinte, du hättest jemanden betrauert. Da bin ich früher rüber als besprochen. Ich lese das hier durch und gebe es Millie, wenn ich sicher bin, dass sie deshalb nicht umkippt." Julius musste wider seine traurige Stimmung grinsen. "Und wenn ich umkippe?" fragte er.

"Dann bin ich immer noch früh genug bei dir", sagte seine Schwiegertante. Er sah sie an. Sie wirkte entschlossen und auch gutmütig, bereit, ihn aus jedem Schlamassel herauszuholen.

Julius betrat den Geräteschuppen, der wie ein überlebensgroßer Fliegenpilz aussah. Ein Symbol für Gift, aber auch für eine gewisse Schönheit, eine herausragende Ansicht in Mitten von grünen Pflanzen. Béatrice blieb solange bei ihm, bis er den Rechner und das Modem eingeschaltet hatte. Als er dann noch den Fernseher einschaltete und unmittelbar sah, wie ein Flugzeug mit voller Geschwindigkeit mit dumpfem Knall in den Südturm einschlug und dabei zu einer Flammen- und Trümmerwolke zerbarst, fühlte er, wie seine Beine nachgaben. Von etwas zu lesen und es zu sehen waren und blieben immer zwei grundverschiedene Dinge. Béatrice sah nun, wie auf einen Reporter umgeblendet wurde, der in sein Mikrofon sprach: "Wir stehen hier vor den brennenden Türmen des Welthandelszentrums und sind geschockt. Es bleibt unfassbar, dass diese Katastrophe ein gezielter Angriff sein soll. Wie viele Menschen sich zum Zeitpunkt der Einschläge in den Türmen aufhielten ist noch unbekannt. Wir müssen jedoch von bis zu 17000 Menschen ausgehen, darunter auch viele französische Mitbürger, die dort ihrer Arbeit nachgingen oder zu den Aussichtsräumen hinaufgefahren sind." Julius drückte die Stummtaste auf der Fernbedienung und schnitt dem Reporter damit das Wort ab. Jetzt wurden die beiden getroffenen Türme in Echtzeit gezeigt. Béatrice starrte nur einige Sekunden auf das höllische Schauspiel. Sie seufzte und fragte: "Wer macht sowas? Wir haben alle gedacht, nach dem Unnennbaren hätten wir endlich Frieden, und dann sowas."

"Mir ist übel. Aber ich will das jetzt wissen", sagte Julius mit belegter Stimme.

"Ich bringe die Kleine zu meiner Mutter rüber. Die freut sich, ihre erste Urenkelin betüddeln zu dürfen. Dann komme ich mit Millie zu dir rüber. Du bist nicht allein, Julius. Was immer du heute noch erfährst, du bist nicht allein."

Julius musste wieder Tränen schlucken. Béatrices Worte hatten ihn wieder in dieses tiefe Trauertal gestürzt. Dabei meinte sie es doch nur gut. Er wartete, bis sie in Richtung Apfelhaus zurückging. Dann schaltete er den Fernseher um. Doch wohin er auch schaltete, überall sah er die brennenden Häuser oder wie gerade das zweite Flugzeug einschlug. Und wo er erst einen Mann oder eine Frau auf dem Schirm sah, waren es in der nächsten Sekunde hunderte von verstört bis panisch umherhastender Menschen, die nach oben blickten, wo brennendes Kerosin aus zertrümmerten Fenstern hinabströmte, wo eingeschlossene Menschen um Hilfe riefen oder, wenn die Panik zu groß wurde, einfach in die Tiefe sprangen, auch aus über hundert Metern Höhe. Julius drückte den großen Hauptschalter am Fernseher. Knisternd löste sich das Bild des Schreckens in zusammenfallende Lichtfunken auf und hinterließ nur eine graue Mattscheibe, in der Julius sein verschwommenes Spiegelbild sehen konnte. Jetzt kam auch der Rechner mit seiner Startmelodie auf Touren. Das erste, was Julius tat, als sein Antivirenprogramm die übliche Auffrischung vollzogen hatte, er öffnete das E-Mail-Programm. Doch seine Mutter hatte nicht geschrieben. Kein Wort, dass sie vielleicht doch woanders hingehen wollte oder dass sie erst später frühstücken wollte. Eine E-Mail von Brittany traf mit dem üblichen Zweiton-Signal ein. Julius' amerikanische Bekannte hatte es wohl von ihrem Vater, der gerade das Frühstücksradio hörte. In Kalifornien war es ja auch erst sieben Uhr morgens, erkannte Julius. Mit so einer Schreckensnachricht aufzuwachen war bestimmt auch sehr widerwärtig, dachte er. Er las, dass Brittany am Vortag noch eine Mail von seiner Mutter erhalten habe, dass sie heute zum Welthandelszentrum wollte. Sie hoffte, dass sie nicht da war, als die beiden Flugmaschinen dort hineingekracht waren. Sie schrieb dann noch:

Was immer noch an üblen Meldungen rüberkommt, Julius, ich hoffe, das welcher geisteskranke Haufen das angerichtet hat nicht damit durchkommt. Ich hoffe, Onkel Lucky hat deine Mutter mit rausdisappariert, wenn die doch in dem Haus drin waren. Das ist die einzige Hoffnung, die ich im Moment habe. Auch wenn's total unfair denen gegenüber wäre, die nicht apparieren können hoffe ich, dass er da wieder rausgekommen ist, mit Tante Martha zusammen. Ich bleib jetzt auf jeden Fall hier im Internetcafé in San Rafael, wo du ja auch schon mal warst. Ich muss das jetzt wissen, wie das ausgeht. Texte mich bitte gleich an, wenn du was von Tante Martha hörst oder liest! Danke!

Ja, es wäre wirklich unfair den Magielosen gegenüber, aus einem brennenden Haus hinauszudisapparieren, dachte Julius. Würde seine Mutter genau deshalb darauf verzichten?

Außer Brittanys E-Mail fand er keine Nachricht, außer einer der üblichen Schundmeldungen, wie er sein Geschlechtsteil vergrößern konnte. Das war ja schon wieder so dumm und albern, dass er trotz der angespannten Lage lachen musste. Er markierte wie ein Automat die Adresse der Spam-Botschaft und fütterte damit sein Spam-Abfangprogramm. Zumindest hatte das den restlichen Werbemüll wohl von ihm ferngehalten.

Jetzt versuchte er, das Mobiltelefon seiner Mutter anzurufen. Doch das war gerade ausgeschaltet. Nur die Nachrichtenbox nahm das Gespräch an: "Hi, Mum, habe gerade mit ziemlichem Bammel erfahren, dass irgendwelche Sausäcke das WHZ mit Flugzeugen angegriffen haben. Ich weiß nicht, ob du da in diesem Restaurant bist. Wenn ja, mach dich da so schnell du es gelernt hast raus! Wenn du kannst und das hier hörst, ruf mich bitte bitte sofort an. Ich bin bei mir zu Hause und bleibe hier bis tief in die Nacht. Ruf mich bitte sofort an, wenn du noch kannst, Mum! Ich brauch dich doch noch! Deine Enkeltochter und das Kleine wollen auch noch ihre Oma sehen." Er legte auf, bevor ihn wieder ein Weinkrampf übermannte. Diesmal ließ er ihm freien Lauf. Er achtete nur darauf, nicht auf seine empfindlichen Geräte zu weinen. Da glitt ihm das Taschentuch von Ornelle in die Hand. Er hatte es eingesteckt. Dann würde er es ihr eben beim nächsten Mal wiedergeben, dachte er. Wie konnte er in dieser Lage sowas banales denken?

Jemand klopfte an die Tür. Er schaffte es, den Rest der neuen Tränenflut aus dem Gesicht zu wischen und "Komm rein!" zu rufen. Béatrice und Millie kamen herein. Millie trug jenen zusammenfaltbaren Umstandssessel unter dem linken Arm, den er ihr geschenkt hatte. Dann tauchten auch noch Jeanne und Camille Dusoleil auf. Julius hätte fast gerufen, dass er kein Zootier sei, dass begafft werden konnte, nur weil er mal voll am Boden war. Doch er schaffte es noch, die beiden Hexen so freundlich er konnte dazuzubitten. Aber dann war der Schuppen voll.

"Millie hat uns gerufen", sagte Camille. Julius nickte. Er musste an Claire denken. So betrübt wie jetzt war er damals auch gewesen. Dabei wusste er noch nicht einmal, ob seine Mutter überhaupt in der Nähe des Unglücksortes gewesen war. Millie deutete auf den Fernseher. Julius sagte: "Willst du nicht wirklich sehen, Millie. Ich konnte es auch nicht mehr aushalten. Ist auf allen Sendern, die ich hier kriegen kann."

"Da ist 'ne Nachricht auf deinem Rechner. Oh, von Britt. Weiß die auch schon davon oder ...?" fragte Millie. Dann schluckte sie rasch hinunter, was sie noch sagen wollte. Julius verstand es aber auch so und erwiderte: "Nein, die hat nicht gehört, dass Onkel Lucky gestorben ist. Die weiß genausoviel wie wir. Sie hat mich nur angetextet, weil ihre Mutter ihr gemelot hat, dass ihr Vater über diese Kiste was in den Nachrichten gehört hat. Mum hat ihr eine Mail geschrieben, dass sie heute mit Onkel Lucky frühstücken gehen wollte."

"Bruno passt auf die Kleinen auf. Ich werde gleich wieder zu ihm rüberapparieren", sagte Jeanne. "Ich wollte nur, dass du weißt, dass du hier nicht allein bist, egal was du heute oder morgen noch zu hören kriegst."

"Das habe ich ihm schon gesagt, Frau Apothekerin", erwiderte Béatrice darauf.

"Ja, nur du wohnst hier nicht, Fräulein Heilerin", knurrte Jeanne. Camille zischte beide an, sich nicht zu zanken. Béatrice steckte aber noch nicht auf und erwiderte: "Nur mit dem Unterschied, dass meine Familie mit ihm direkt verheiratet ist und wir alles Recht haben, ihm zu zeigen, dass wir für ihn da sind."

"Schon mal gehört, dass wir Dusoleils irgendwie mit euch verbandelt sind und er hier auch mit uns über die Eauvive-Linie verwandt ist?"

"Gleich hänge ich euch zwei Krawallhexen den Schweigezauber an", schnaubte Camille, die Julius in eine halbe Umarmung geschlossen hatte. Millie hatte ebenfalls einen Arm um ihn gelegt. Er fühlte ihren Körper, in dem neues Leben ruhte. Heute wollten sie doch hören, wer da demnächst zu ihnen dazukommen würde. Das war jetzt gerade so weit von Julius weg wie die Andromeda-Galaxis. Er dachte an viele unschuldige Menschen, die in den Flugzeugen gesessen hatten und wohl nur daran dachten, was sie an ihrem Flugziel unternehmen oder arbeiten wollten. Dann dachte er an die ganzen Leute, die in diesen hohen Türmen gearbeitet hatten. Wie viele von denen hatten sich noch retten können? An das Pentagon dachte er nicht. Irgendwie empfand er sogar, dass die US-Regierung es sich womöglich mit wem verscherzt hatte, der dann meinte, das Fünfeckgebäude als rechtmäßiges Angriffsziel anzufliegen wie ein Kamikazeflieger im zweiten Weltkrieg. Ja, diese Leute, die die Maschinen geflogen hatten mussten Fanatiker sein, wenn sie nicht wirklich von bösen Magiern ... Er dachte an das Gespräch vom Morgen. Minister Grandchapeau hatte sich über drei aufgegriffene Zauberer geäußert und er, Julius, hatte vermutet, dass jemand Orte, an denen auf einen Schlag viele Menschen umgekommen waren brauchte. Das wäre tatsächlich ein Motiv, dachte er. War seine Mutter gestorben, um einem Nachläufer Voldemorts, der durch Zufall an altaxarroisches Wissen gekommen war, noch mehr Terror und Zerstörung in die Welt bringen wollte? Warum hatte er diesen Nachtschatten nicht vernichten können? Am Ende brannten die Türme in Manhattan, weil er nicht stark genug gewesen war. Doch nein, das durfte er nicht denken. Was da passiert war hatte nicht er verbrochen, weder durch Absicht, noch durch Unfähigkeit.

"Die kleine bleibt heute nacht bei Oma Line im Château, Julius. Egal wie es ausgeht, ich bin bei dir und helfe dir, wie immer", sagte Millie.

"Ich wollte dich nicht runterziehen, Millie. Habe nicht mehr dran gedacht, dass ich den Herzanhänger umhabe."

"Da kannst du doch nichts für, was passiert ist. Denk das bloß nicht, Mon Cher!" flüsterte Millie. "Außerdem kann Tante Trice den Transgestatio-Zauber, sollte das mich komplett umhauen."

"Bring mich nicht auf Ideen, Mildrid Ursuline Latierre!" schnarrte Béatrice. "Hast du sie erreicht?" fragte sie dann Julius zugewandt und auf das Telefon deutend. Er schüttelte vorsichtig den Kopf, weil Millie gerade ihre Wange an seine schmiegen wollte.

"Muss nichts heißen, Julius. Diese Dinger können auch nicht überall arbeiten", sagte Jeanne dazu. Draußen Ploppte es leise. Jeanne und Béatrice huschten zur Tür und lehnten sich hinaus. "Wir sind hier, Laurentine. Aber Julius nicht gerade in bester Stimmung", sagte Jeanne. Laurentine Hellersdorf antwortete:

"Öhm, dann habt ihr das auch mitbekommen? Mist, seine Mutter ist doch in der Gegend, oder? Ich war gerade zu Hause und wollte mir was ansehen, da bekam ich das mit auf allen Sendern. Ich habe dabei an Julius' Mutter gedacht und wollte Millie schonend drauf vorbereiten, dass Julius noch einen Riesenschrecken kriegen könnte. Ist wohl schon passiert."

"Ich mach mich zu Bruno und den sechs kleinen", sagte Jeanne.

"Sechs? Ähm, du hast doch nur drei Babys von ihm bekommen", erwiderte Laurentine.

"Ja und von Julius zwei kleine Knieselmädchen und von meiner in Frieden ruhenden Großmutter ein Feuerrabenweibchen. Volles Haus."

"Dann grüß die anderen bitte!" sagte Laurentine. Jeanne nickte und verließ den Geräteschuppen. Als Laurentine sich nur kurz erkundigen wollte, ob Julius schon näheres wusste läutete das Telefon. Julius riss sich aus Millies und Camilles Armen frei und pflückte das schnurlose Gerät vom Tisch. Doch es war nicht seine Mutter, sondern Catherine Brickston. "Wir haben es gerade auf dem Fernseher. Musste den Apparat wieder ausschalten, weil ich nicht will, dass Claudine das sieht. Ich hoffe, deine Mutter ist da nicht reingeraten."

"Ich dachte, sie wollte mich gerade anrufen", sagte Julius so ruhig er konnte. Catherine entschuldigte sich, wenn sie ihn erschreckt haben sollte. Dann kam Joe an den Apparat: "Julius, ich hoffe, dass deine Mutter diesen zum Himmel schreienden Wahnsinn überlebt hat. Ich hoffe das sehr", sagte er.

"Ich hoffe das auch", sagte Julius. Dann verabschiedete er sich von ihm und Catherine.

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Der Mann, der sich Lord Vengor nannte, saß ohne seine Schreckensmaske in einem Straßencafé und genoss diesen schönen Spätsommertag. Seine Gehilfen hatten gemeldet, dass das Projekt Paukenschlag wie gewünscht anlief. In zwei Tagen, wenn nicht am nächsten Spieltag der englischen, deutschen und italienischen Fußballliga, würde er zwanzig Stadien in die Luft jagen und ... Warum wurden die Leute hier auf einmal so hibbelig? Der Zauberer, der gerade unter ihm verhassten Muggeln saß und ganz harmlos Kaffee trank, starrte den Muggeln nach, die aus dem Café herauskamen und wild durcheinanderschwatzten. Er lauschte. Drinnen drehte gerade wer den mit Fettflecken übersehten Fernseher lauter. Der selbsternannte Wächter der Vergeltung horchte. Doch er verstand nicht alles. Erst als er selbst in das Café eintrat und sah, was auf dem Flimmerbildschirm passierte und hörte, worum es ging, erfüllte ihn erst Unglauben, dann Hoffnung und dann die pure Freude. Dann empfand er noch Erheiterung. Irgendwer hatte mit diesen lauten, die Luft verpestenden Stahlvögeln das gemacht, wozu er gerne einen Pulk Drachen eingesetzt hätte. Er sah die aus den Türmen flüchtenden Menschen und dachte mit krampfhaft unterdrückter Freude, dass bestimmt nicht alle aus den Häusern hinausgelangen würden. Jetzt brauchte er nur noch einen vollen Tag zu warten und konnte ernten. Er hoffte nur, dass jene Hexe, die seinen Nachtschatten bekämpft hatte, nicht vor ihm nach dem Kristall suchen konnte, der da gerade genug Stoff bekam, um groß und schwer genug zu werden. Die Muggel waren doch alle miteinander krank. Jetzt brachten die sich auch noch ohne einen erklärten Krieg um die Ecke. Er zahlte schnell, um seine immer größer werdende Euphorie nicht offen ausbrechen zu lassen. Er musste so schnell er konnte in sein Versteck, seine Leute zusammentrommeln und beraten, wie sie mit diesem so unverhofften Glück umgehen konnten.

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Die Alarmsirenen schrillten laut. Über Lautsprecher ergingen Befehle. Major Collin Wilder hastete zu seinem Flugzeug, das in ständiger Startbereitschaft gehalten wurde. Vor einer Stunde waren zwei vollgetankte Passagierflugzeuge in das Welthandelszentrum eingeschlagen. Knapp eine halbe Stunde später hatte eine solche Maschine das Pentagon getroffen. Die Airforce, die Fliegerstaffeln der Navy und des Marine Corps mussten mit allen Maschinen hoch, um den Luftraum abzuriegeln. Amerika wurde unmittelbar angegriffen. Die trügerische Ruhe, die die meisten Landsleute genossen, war brutal beendet worden.

"Wir sollen jedes noch in der Luft befindliche Flugzeug zum allernächsten Flughafen eskortieren", gab der Major an seine Einsatzstaffel weiter. Er hatte gehofft, nach der Rückkehr aus dem Irak nie wieder in eine solche Situation zu geraten. Er fühlte die nackte Angst davor, den Befehl zu erhalten, eine vollbesetzte Passagiermaschine abzuschießen. Doch der Befehl war eindeutig, jedes nicht der Landeaufforderung folgende Flugzeug zur Landung zwingen oder abschießen. Jedes Zivilflugzeug konnte jetzt eine gelenkte Waffe sein.

Keine zehn Minuten nach dem Alarmstart hatte er das erste größere Flugobjekt auf dem Radar. Als er sich ihm näherte erkannte er den Kranich der deutschen Lufthansa. Er rief über den Zivilfunkkanal den Piloten. Dieser meldete sich und erwähnte, dass er bereits den Landebefehl erhalten habe und gleich hier auf dem kleinen Inlandsflughafen landen würde. Wilder aatmete auf, als er den Jumbojet der Lufthansa sicher über dem kleinen Flughafen niedersinken sah. Da hatte er auch schon das nächste mögliche Ziel auf dem Schirm. Er jagte mit seiner Staffel los, durchbrach die Schallmauer und raste dem anderen entgegen. Es war eine Learjet. Schon wieder eine Learjet, dachte der Major. Er hoffte, dass diese Privatmaschine jedoch anständig und in einem Stück auf den Boden zurückkehren durfte. Zwei von denen abzuschießen hatte ihm völlig gereicht.

"Wir haben Flugziel LAX. Was ist denn passiert, das auf einmal alle so verrückt spielen", schnarrte der Pilot, wohl der Eigner der Maschine, als Wilder Funkverbindung mit ihm hatte. "Darf ich nicht sagen. Ich habe nur den Befehl, alle in meinem Zuständigkeitsbereich fliegenden Maschinen zu den nächsten Flughäfen hinzuführen. Landen sie unverzüglich!"

"Ich lass mir von so einem Düsensheriff und seinen Debuties doch nicht den Flug verbieten, ey. Ich bin William Theobald Windsloe der dritte, sehr gut befreundet mit Ihrem obersten Boss, damit sie es wissen. Wenn Sie mir weiter dummkommen rufe ich den an und lasse Sie Windschutzscheiben putzen."

Collin Wilder kannte Kraftmeier. Allerdings hatte sich noch keiner so lebensmüde gezeigt, im Angesicht bewaffneter F16-Jagdmaschinen den großen Maxen zu machen. Doch dem Major fiel die passende Antwort ein:

"Ach ja, dann schlage ich armer Düsensheriff Ihnen Learjetjockey vor, meinen allerhöchsten Boss anzurufen, wenn sie den überhaupt jetzt erreichen. Der kann Ihnen sagen, was Sache ist, was ich nicht darf. Erzählen sie dem, wo Sie gerade sind, und dann wette ich meine schnittige Maschine mit voller Betankung gegen hundert Fässer kalifornischen Spitzenwein, dass der Ihnen rät, bloß ganz schnell runterzugehen, damit ich Sie nicht runterholen muss, Mr. Windsloe der dritte."

"Ach neh, legen Sie es voll drauf an. Aber gut, ich nehme die Wette an. Ihren Düsenbronco gegen hundert Fässer teuersten Nappa-Wein, dass Sie gleich einen Megaanpfiff kassieren und mit ihrem Feuervogel ins heimische Nest zurückschwirren dürfen." Wilder sagte noch "Top, die Wette gilt!" Sein Flügelmann rief ihn über die vereinbarte Gefechtsfrequenz an und meinte: "Wetten, der fällt gleich so vom Himmel, ohne dass Sie oder ich nur einen Schalter anrühren müssen, Major?"

"Mit Ihnen darf ich nicht wetten, weil das unter Offizieren verboten ist, Lieutenant", knurrte Wilder. Es vergingen nur fünf Minuten, da sackte der Learjet durch und strebte dem nächsten Flugplatz für Sportflugzeuge entgegen.

Die Fluglotsen und die Radaroffiziere an Bord der Überwachungsflugzeuge hatten alle Hände voll zu tun, die zur Landung befohlenen Maschinen schnell und sicher einzuweisen und den Flughäfen zuzuteilen. Erst als Collin Wilder über Funk die Meldung erhielt, dass alle Zivilmaschinen aus dem US-Luftraum verschwunden oder sicher gelandet waren konnte er aufatmen. Heute hatte er kein Flugzeug abschießen müssen. Doch er bangte, dass ab heute jeder Tag diese schwere Entscheidung von ihm fordern mochte. Denn ab heute wusste die ganze Welt, dass Zivilflugzeuge auch als Waffen eingesetzt werden konnten. Wilder erinnerte sich an seine Ausbildung. Da hatte er die Bücher von Tom Clancy verschlungen. Sicher, nicht alles war so perfekt, wie er es gerne malte, und so klar getrennt lagen Gut und Böse auch nicht auseinander, schon gar nicht bei den Geheimdiensten. Aber mit einem hatte der doch wohl doch recht behalten, man konnte mit einem Passagierflugzeug ein wichtiges Gebäude zerstören.

"Auf Warteposition zurückziehen. Keine Landung!" befahl der Kommandant des Fliegerhorstes, auf dem Wilder zur Zeit stationiert war.

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Julius schwankte zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Wut, weil seine Mutter noch immer nicht angerufen hatte, über nackte Furcht, dass er zu spät bei ihr angerufen hatte bishin zur blanken Hilflosigkeit. Seine Mutter war wohl doch umgekommen. Trotz ihrer von Antoinette Eauvive empfangenen Zauberkräfte war sie von diesem brutalen Anschlag überrascht worden. Camille, Béatrice und Millie saßen bei ihm. Florymont war kurz herübergekommen und hatte sich erkundigt, was los war. Er hatte sich schnell wieder verabschiedet. Laurentine war wieder nach Paris zurückgereist, um selbst in den Staaten anzurufen und sich zu erkundigen, ob es ihren Verwandten dort noch gut ging, jetzt wo sie ein eigenes Telefon zur Verfügung hatte.

Gegen sechs Uhr kam dann Ornelle Ventvit herüber. Da Millie alle drei Kamine gesperrt hatte war sie über das Gasthaus gekommen. Das hatte zur Folge, dass jetzt auch das halbe Dorf wusste, dass mit Julius' Mutter irgendwas passiert sein konnte. Deshalb tauchte auch Eleonore Delamontagne vor dem Geräteschuppen auf. Mittlerweile lief der Fernseher wieder. Julius hatte beschlossen, was auch immer noch kommen mochte so schnell wie möglich zu erfahren. So bekamen sie mit, wie erst der südliche und dann der nördliche Turm des Welthandelszentrums einstürzte. Wer noch immer in den Gebäuden war wurde nun unrettbar verschüttet oder in die Tiefe gerissen und erschlagen. Das einzige Glück im Unglück war, dass die angeschlagenen Türme nicht im ganzen zur Seite kippten und Nachbargebäude mit sich rissen, sondern wie übergroße Sandhaufen, in die Wind hineinfährt, zusammensackten. Dabei sprühten Funken, wallte Qualm auf. Hier und da blitzte es auch noch, wo reste von unbeschädigten Stromleitungen kurzschlossen. Polizei und Feuerwehr waren trotz der immer noch drohenden Gefahr im Einsatz. Das nach dem Anschlag gefährlichste für die Menschen in der Umgebung war die gewaltige Staubwolke, die von den zusammenbrechenden Türmen ausging. Die Vor-Ort-Berichterstatter mussten in Deckung gehen und ihre Gesichter Schützen, um nicht an dem giftigen Staub zu ersticken. Julius dachte dabei immer wieder daran, wer solch einen Schrecken auf die Bewohner von New York, ja auf die ganze Welt losgelassen hatte? Konnte das wirklich nur die Tat von fanatischen Verbrechern sein? Oder war es doch der Angriff eines dunklen Magiers, der durch tausendfachen Tod ein großes Ziel zu erreichen versuchte? Julius mentiloquierte mit Temmie. Auch die geflügelte Kuh hatte seinen Stimmungsabfall mitbekommen. Sie wäre gerne herübergekommen. Doch Orion, ihr Sohn war gerade in der Wachstumsphase, wo die ersten Flugversuche stattfanden. Sie sprach ihm über die große Entfernung nur Mut zu, nicht das Leben zu hassen, nur weil heute wieder einmal jemand gezeigt hatte, wie er oder sie das Leben verachten konnte, auch das eigene. Als dann noch der amerikanische Präsident im Fernsehen auftrat und vollmundig und kampfeslustig tönte, die Schuldigen für diesen Angriff zur Strecke zu bringen, egal wo sie sich versteckten, dachte Julius daran, wie das damals war, wo Voldemort die britischen Inseln übernommen hatte und Didier ebenso vollmundig zum Widerstand und Kampf gegen den bösen Feind aufgerufen hatte. Mit Schrecken erkannte er, dass er gerade ein Déja Vu erlebte. Wieder hatte jemand die Friedliche Welt bedroht. Wieder trat ein mächtiger Anführer auf und rief aus, diesem Terroristen die Stirn zu bieten. Wann würde es losgehen, dass die Bewohner der bisher so freien Welt einander misstrauten, ja sogar darum bettelten, vor dem bösen Feind beschützt zu werden? Mit dem Präsidenten, der da gerade amtierte war es sogar möglich, dass demnächst wieder ein von Amerika geführter Krieg ausbrach. All das hing davon ab, ob die Täter ermittelt werden konnten und ob es fanatische Einzeltäter gewesen waren oder es eine ganze Organisation gab, die diese Leute aufgehetzt und in ihren eigenen Tod geschickt hatte.

"Wir sehen hier etwas, womit wir in der Zaubererwelt nicht mehr konfrontiert werden wollten", sagte Eleonore Delamontagne. "Die Menschen ohne Magie haben die Mittel, noch grausamer zu wüten als der schlimmste dunkle Magier. Ich kann nur hoffen, dass die in den Staaten vernünftiger mit dieser Tragödie umgehen als wir von der französischen Zaubererwelt."

"Du hast den großen George W. doch gerade gehört. Der will Blutrache. Auge um Auge, Zahn um Zahn, wie es in der Bibel steht", schnarrte Julius. Er dachte nur daran, nur den oder die zu jagen, die unmittelbar damit zu tun hatten, wenn seine Mutter unter den Toten vom elften September sein sollte. Er hatte gerade dieses Ereignis mit dem Datum verbunden. Wer würde das noch alles tun?

"Ja, aber soweit ich weiß stehen diese Worte erstens im alten Testament und bedeuten zweitens, dass eine Untat nicht durch eine größere Untat gesühnt werden darf, sondern angerichteter Schaden nur durch eine angemessene Entschädigung ausgeglichen werden darf."

"Wie naiv sind Sie, Madame Delamontagne, dass Sie nicht erkennen, wie schnell eine solche Rachementalität die ganze Welt zerstören kann?" fragte Béatrice Latierre ziemlich erzürnt. "So wie ich diesen Präsidenten verstanden habe will der die Leute nicht unbedingt vor Gericht stellen, sondern jagen und zur Strecke bringen. Ein Jäger fragt das vor seiner Waffe stehende Wild nicht, ob es einen Verteidiger hat oder ob es sich mit lebenslänglicher Käfighaltung einverstanden erklärt, wenn es gesteht, im Wald herumgelaufen zu sein."

"Ich habe soeben gesagt, dass ich ernsthaft hoffe, dass die Menschen der vereinigten Staaten vernünftiger mit dieser Tragödie umgehen als wir, als uns dieser Fanatiker, dessen Namen niemand freiwillig nennt, bedroht hat."

"Der Typ hat sich Voldemort genannt", sagte Julius. "So, damit so viel dazu, dass den niemand freiwillig beim Namen nennt. Zum anderen gebe ich euch beiden recht, Béatrice und Eleonore, dass Rache immer Gegenrache heraufbeschwört und die Leute in den Staaten nicht gleich wieder einen bösen Feind haben wollen, auf den sie eindreschen und dessen angebliche Verbündete sie umbringen dürfen. Ich fürchte nur, dazu hätten die sich einen anderen Präsidenten wählen oder beim Wählen klarer festlegen sollen, dass sie den anderen Kandidaten haben wollten."

"Ich gehe davon aus, dass du hier nicht weg willst, Julius. Dann werde ich uns mal was zum Abendessen holen", sagte Millie. Béatrice bot ihr an, sie zu begleiten. Millie nahm das Angebot an. Camille rückte näher an Julius heran. "Wie damals, Julius. Wir sind weiter für dich da, genau wie du ja für uns da bist."

"Ich für euch?" fragte Julius. Camille lachte und verwies darauf, dass sie ja Denise und Chloé so oft schon hier im Apfelhaus gehabt hatten, dass Camille dadurch viele freie Stunden herausgeholt hatte. Julius lächelte. Er wollte gerade etwas sagen, da läutete das Telefon. Er nahm den Apparat und drückte auf Gesprächsannahme. Er hörte Autolärm und wild durcheinanderredende Menschen, die das quäkige New-York-Englisch sprachen. Dann hörte er eine sehr erleichtert klingende Stimme: "Julius, mein Sohn, uns gibt's noch." Beinahe hätte Julius den Apparat fallen lassen. Die ganze Angst, Trauer und Wut schlugen von einem zum anderen Moment in pure Euphorie um. Er schrie sein Glücksgefühl hinaus und drückte schnell die Taste für den Lautsprecher.

"Mir war klar, dass du Blut und Wasser schwitzen musstest, wenn dir das wer irgendwie erzählt, was hier gerade passiert. Aber ich konnte beim besten Willen nicht schneller an ein Festnetztelefon. Die Mobilleitungen sind alle verstopft. Wir kamen erst kurz vor halb zwölf unserer Zeit weg. Ich habe noch die Staubwolke gesehen, die von den Türmen herüberzog. Ich werde mich nie wieder über langsame Taxifahrer beschweren und ab heute zweimal im Jahr Geburtstag feiern."

"Ich habe echt die Vollpanik geschoben, dass ihr zwei im Fenster zur Welt seid. Ich habe die Leute im Fernsehen gesehen. Die sind aus dem Haus runtergesprungen, über hundert Meter tief runter", sprudelte es aus Julius heraus. "Wo wart ihr denn?"

"Wir wollten eigentlich zum Frühstücken. Aber da Lucky und ich nicht in die volle U-Bahn wollten haben wir uns ein Taxi gerufen. Aber der Fahrer kam fast eine halbe Stunde später als vereinbart. Dann hat der noch gemeint, uns Manhattan am Morgen zeigen zu müssen, wie irgendwelche Leute zu ihren Arbeitsplätzen hasten. Hat wohl wegen Luckys Jackett und meinem Kleid gedacht, wir wären superreiche Touristen, die viel zahlen können. Wir waren so knapp fünf Minuten vor dem Parkhaus vom WHZ, als die Zentrale durchgab, dass alle in der Gegend fahrenden Taxis bitte anhalten sollten, weil gerade ein Flugzeug in den Nordturm gestürzt sei. Wir kamen da von Süden. Ich konnte den Rauch sehen. Den zweiten Kamikazeflieger haben wir dann mit eigenen Augen gesehen. Als dann auch noch der Südturm brannte meinte der Taxifahrer, dass wir jetzt wohl nicht mehr zum Frühstücken wollten."

"Aber dann hättest du doch gleich anrufen können, dass dir nichts passiert ist. Meine virtuelle Anrufbox hätte den Anruf doch aufgezeichnet", tadelte Julius seine Mutter.

"Öhm, hatte ich erwähnt, dass alle Mobilnetze überlastet waren? Glaube ja. Jedenfalls kamen wir hier nicht mehr weg, weil die Umgegend abgesperrt wurde. Erst als die Einsatzkräfte vor Ort waren konnten wir zum Hotel zurück. Das hat auch noch einmal gedauert, weil wir uns durch einen Riesenstau schlängeln mussten. Ich habe dem Taxifahrer zweihundert Dollar gegeben und ihm zum zweiten Geburtstag gratuliert."

"Deine Mutter meinte, das wäre nicht viel Geld", hörte Julius Luckys Stimme im Hintergrund sagen. "Aber recht hat sie wohl. Wir haben nicht alles mitgenommen, was wir sonst so zu Hause dabei haben, wegen der Versuchung und so", sagte Lucky noch. Was er damit meinte leuchtete jedem ein. Millie apparierte in dem Moment vor der Tür, was im Telefon ein kurzes Zirpen erzeugte. Doch die Verbindung blieb erhalten. "Die Mutter deiner Enkeltochter ist gerade aus der Küche zu mir in den Schuppen gekommen!" rief Julius.

"An euch drei musste ich auch denken, während wir da saßen und nicht wussten, ob uns jetzt die ganze restliche Welt auf den Kopf fällt, obwohl wir noch weit genug davon weg waren", sagte Julius' Mutter.

"Sage ihr, sie soll dich und mich nicht noch mal so erschrecken, wenn ich gerade ein Enkelkind von ihr im Bauch habe!" rief Millie so frei und unbekümmert wie sie lebte.

"Chloe Palmer in VDS meinte, ich könnte vielleicht deinen Schwager im Leib tragen, Mildrid. Aber im Moment glaube ich nur, dass ich durch die Reise aus dem Rhythmus bin. Die meinte nur, ich sollte bloß nicht daran denken, ohne ihr bescheid zu geben in ein Mugg.., ähm, ganz gewhönliches Krankenhaus zu gehen, sollte ich wirklich noch was Kleines bekommen."

"Zumindest besteht die Möglichkeit dazu", sagte Julius. Sich ein Halbgeschwisterchen vorzustellen war ihm bisher schwer gefallen. Doch jetzt hätte er auch damit keine Probleme. Denn das ging jetzt nur, weil seine Mutter diesen Höllentag überlebt hatte. Sicher, in New York war dieser Horror noch lange nicht überstanden. Die Stadt war zu tiefst geschockt worden. Etwas, was sich bisher nur Aktionsfilmregisseure hatten ausmalen können, war zur grauenvollen Wirklichkeit geworden.

"Aber abgesehen von allem Glück im Unglück, das wir hatten, Julius. Ich fürchte, wir erleben heute den letzten Tag der freien Welt."

"Wie meinst du das, Mum?"

"Ich habe Bush im Radio gehört. Was der gesagt hat hat mir mehr Angst gemacht als die Katastrophenmeldungen vom WHZ, mein Sohn. Mag daran liegen, dass wir eine ähnliche Situation schon mal überstehen mussten, dass ich da ein gebranntes Kind bin. Aber ich halte meine Behauptung aufrecht: Heute ist der letzte Tag der wirklich freien Welt."

"Ich hoffe mal, dass du dich irrst, Mum. Ich hoffe auch, dass wir alle noch in einer freien Welt leben dürfen."

"Das hoffe ich auch. Aber meine Logik und mein Bauchgefühl sind sich einig, dass wir politisch und gesellschaftlich harten Zeiten entgegengehen."

"Die haben gesagt, dass alle Flüge gestrichen wurden, Mum. Dann müsst ihr noch in New York bleiben, denke ich."

"Womöglich, weil die jetzt wohl auch die Reisebuslinien einschränken, um nicht auf diesem Weg noch einen Anschlag erdulden zu müssen", sagte Martha Merryweather. "Aber hier im Hotel haben wir unsere ganzen Sachen. Vielleicht sind wir auch schneller wieder zu Hause."

"Okay, dann ruf mich an oder mail mir und auch Brittany, wenn du wieder in Babsiehausen bist."

"Lümmel", hörte Julius seine Mutter lachen. Dann sagte sie: "Ich komme im Moment wohl nicht an einen internetfähigen Rechner. Kannst du bitte allen Mailen, dass es mich noch gibt und ich mich möglichst bald bei ihnen melde?" Julius bestätigte das. Dann verabschiedete er sich von seiner Mutter. Im Hintergrund waren Polizeisirenen zu hören. Der Tag, an dem New York zum Stillstand gebracht worden war, ging noch weiter.

"Ich hätte gerne eine schriftliche Erläuterung dieser Aussage, was das Ende der freien Welt betrifft, Julius", sagte Eleonore Delamontagne. Millie meinte dazu, dass das doch klar sei. Wenn die in den Staaten ähnlich drauf waren würden sie nun alles und jeden überwachen, der nicht so sang und klang wie die Regierung es vorgab. Julius nickte heftig und setzte sich an den Computer. Jetzt konnte er das Satellitenmodem wieder laufen lassen und schickte eine Nachricht an Brittany. Anschließend rief er bei den Brickstons an und erwähnte, dass seine Mutter noch am Leben sei. Danach tippte er die kurze Erläuterung, was seine Mutter gemeint hatte. Diese druckte er aus. Dann gab er den Zettel Eleonore. Danach ließ er es sich gefallen, dass seine Schwiegertante und seine Frau ihn zum auf der Wiese gedeckten Tisch brachten. Dort aßen alle reichlich, Hausbewohner und Gäste. Aurore kam sogar noch mit Ursuline, Ferdinand und den sechs jüngsten Kindern herüber. Als Julius seine doch noch wiedergefundene Fröhlichkeit ausgelebt hatte meinte Ursuline: "Der Club der noch mal Mutter gewordenen Großmütter wird deine Mutter sicher sehr gerne aufnehmen, nicht wahr, Eleonore?"

"Sie sind die Vorsitzende, Madeleine ist Ihre Stellvertreterin", schnarrte Eleonore Delamontagne.

"Ja, aber du wohnst hier. Außerdem duzen wir Bundesschwestern uns", sagte Ursuline. Dann meinte sie noch, dass Martha sowohl Eleonore als auch sie zu tiefst betrübt hätte, wenn sie einen unabwendbaren Grund gefunden hätte, beim kommenden Schachturnier von Millemerveilles nicht mitzuspielen. Darüber mussten sie alle lachen.

Abends im Bett sagte Julius noch zu Millie: "Ich hoffe nur, dass das nicht wer war, der das dunkle Erbe von Altaxarroi ankurbeln will. Temmie hat zwar nichts magisches gespürt. Aber wir wissen ja auch, dass sie nur die stärksten Sachen fühlt."

"Du willst dich nicht mit der Vorstellung anfreunden, dass es total gehirnamputierte oder von irgendeiner falsch verstandenen Auffassung von Religion verseuchte Irre waren, Monju? Dabei kennst du die Muggel besser als alle hier im Umkreis. Na ja, immerhin wissen wir jetzt, das Chrysope Martha Felicité noch Hallo zu ihrer Oma aus Amerika sagen können darf." Julius knuddelte seine Frau. Dass sie noch einmal ein Mädchen erwarteten hatten die beiden von Béatrice kurz vor dem Abzug des Latierre-Aufgebotes bestätigt bekommen. Die Kleine hatte sich zweimal so gedreht, dass ihre winzige Geschlechtsöffnung deutlich zu sehen gewesen war.

"Héméras Tante wird sich freuen, dass du morgen wohl wieder gut mitarbeiten kannst", sagte Millie noch. Julius bejahte es. Doch der Gedanke, dass die Anschläge vom elften September 2001 auch in die magische Welt hineinwirkten, wenn sie nicht von bösen Zauberern und Hexen durchgeführt worden waren, wollte ihn nicht ganz loslassen. Zumindest hatte er nun die Gewissheit, was seine Vorahnung vom Jahresanfang anging, wo er dachte, dass noch etwas schlimmes passieren würde. Es war nicht das zweite Treffen mit den Abgrundstöchtern, sondern dieser wahnwitzige Massenmord in New York und am Pentagon.

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Anthelia stand am Rande einer Spirale, die sie mit dem Blut von Nachttieren und ihrem eigenen Lebenssaft gezogen hatte. Mittlerweile wusste sie, wen sie da beschwören wollte. Es war tiefe Nacht. Das musste sein, weil ein Nachtschatten, der stark genug war, zeitlos den Standort zu wechseln, instinktiv nur dort ankam, wo kein Sonnenlicht auf ihn traf.

Anthelia/Naaneavargia begann ihre Beschwörung. Es war nicht die altdruidische Litanei, die sie von Sardonia gelernt hatte, sondern eine Verbindung zweier Lieder aus Altaxarroi, Naaneavargias Heimat. Damit wurden die aus Dunkelheit und Angst geborenen Wesen mit und ohne Körper angelockt. Wenn sie jedoch an bestimmte Stellen nicht von einem Wesen, sondern von einem Lichtfänger sang, was mit einem Schatten identisch war, und dazu noch den über die zwölf Windungen umfassende Spirale verteilten Namen Gunnar Ipsen mit langgezogenen Silben sang, zielte die ganze Beschwörung nur auf einen ab. Sie musste den dunklen Geist bannen und vernichten, bevor dieser seinem Meister half, in den Trümmern der zerstörten Türme von New York nach dem Kristall zu suchen, der seit gestern, dem zwölften September, sicher vorhanden war.

Ihr Zauberlied klang weithin über das freie Land. Doch Ipsens Schattenform erschien nicht. Für mächtige Nachtschatten war es möglich, sich der Beschwörung eine Zeit lang zu widersetzen. Doch ewig ging das auch nicht. Anthelia sang weiter.

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"Ich will da aber jetzt hin. Du löschst die ganzen Schwelbrände aus, die noch in den Trümmern stecken", knurrte der Zauberer, der sich Lord Vengor nannte.

"Niemand will schneller einen intakten Unlichtkristall erbeuten als ich, Vengor. Aber An der Einsturzstelle wuselt mir noch zu viel Muggelvolk herum. Erst wenn auch die vom Zaubereiministerium sicher sind, dass dort keine Magie gewirkt wurde, dann kann ich dort hin. Denke an die Rückschaubrillen!"

"Ja, du hast recht, Gunnar", knurrte Vengor. "wir können uns das nicht leisten, von übereifrigen Weltverbesserern aus der Zaubererwelt beobachtet zu werden. wir müssen ..." Ipsens Schattenform erzitterte. Dann umtanzten schwarze Schlieren die konturscharfe Schwärze. Die blauen Augen des Geisterwesens sprühten grüne Funken, und ein gequältes Stöhnen erklang aus Ipsens Richtung. Vengor starrte seinen Schattendiener an. Ihm war klar, dass dieser gerade angegriffen wurde. Das waren sicher die Norweger. Aber gegen deren Zauber hatte er Ipsen doch immun gesprochen. "ES sind nicht meine Landsleute. Es ist diese Hexe, die den großen Wächter getötet ... Aaarg!" ächzte der Nachtschatten. "Sie zieht mich zu sich hin. Ich kann mich nicht mehr lange dagegen wehren."

"Sage mir, wo sie ist und ich töte sie für dich", schnarrte Vengor.

"Das darf ich nicht. Sie hat mich mit meinem wahren Namen und meinen alten Pantoffeln gebannt. Ich kann sie nicht töten oder töten lassen und .... Aaaarrrg!" Die Schattenform zerfloss, spaltete sich in zwei Hälften und fügte sich knisternd wieder zusammen.

"Du wirst nicht zu ihr hingehen. Ich bin dein wahrer Her. Bei diesen Kristallen habe ich dir den Seelentreueid abgetrotzt", schnarrte Vengor und hielt dem Schatten einen kleinen Ring hin, in dem er die winzigen Unlichtkristalle eingefasst hatte, die er bisher gefunden hatte. Doch der Schatten schrie nur auf. Dann schoss sein linker Arm hervor, wurde zu einem fadendünnen Auswuchs und umschlang Vengors Kopf. Der Wächter der Vergeltung fühlte etwas eiskaltes in seinen Kopf hineingleiten. Dann hörte er Ipsens Stimme in seinem Geist. "Ich überlasse dir seinen Auftrag, wie du zu ihm findest. Nimmertagshöhle, Fuß des Himalayagebirges Indien. Nur mit genug Kristall dort hingehen!!" Weitere Gedanken flossen in Vengors Geist ein. Dann knallte es wie eine Peitsche. Ipsens dünner Schattenarm verwehte. Ipsen selbst stürzte zu einer winzigen schwarzen Kugel zusammen, die mit hörbarem Plopp und Ipsens lautem Schrei im Nichts verschwand.

"Wer und wo immer du bist, Erdhexe, ich erwische und zerfluche dich!" brüllte Vengor. Ihm war klar, dass ihm gerade sein mächtigster Diener abhandengekommen war. Somit erkannte er auch nicht, dass nicht Ipsen der Diener gewesen war, sondern er. Und er hatte seinen Auftrag erhalten. Die Terroristen vom elften September hatten ihm das Tor zu Iaxathan wieder weit geöffnet. Er musste nur noch hindurchgehen.

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Ein lauter Schrei erklang aus unendlich weiter Ferne. Dann fauchte es über den Windungen der Spirale, und mitten dazwischen hing er, ein über drei Meter großer Schatten mit blauen Augen, die wütend und doch auch furchtsam auf die im Zentrum der Spirale tanzende Hexe herabblickten. Die in die Windungen geschriebenen Zeichen, die Ipsens vollen Namen ergaben leuchteten blutrot auf. Er sah die von ihm ausgelatschten, mit seinem Fußschweiß getränkten Pantoffeln zwischen der innersten Spiralwindung und der zweiten. "Komm ganz zu mir, Gunnar Ipsen, Schatten deines letzten Lebens!" Rief Anthelia dem herbeizitierten Geisterwesen zu.

""Ich kann dich nicht töten, solange die Spirale der Welten besteht, du niedere Dirne", zischte der Nachtschatten. "Aber mein Rächer wird dich finden und gnadenlos vernichten, wenn du mich zerstörst."

"O, wird er das. Also ein Zauber-er", spottete Anthelia. "Dann nenne mir im Namen von Alangaiai und Madrash seinen wahren Namen, Gunnar Ipsen, Schatten deines letzten Lebens!"

"Das kann ich nicht tun", entrang sich Ipsens feinstofflichem Mund eine schmerzvolle Antwort. "Er hat mich mit dem Eid der Seelentreue verpflichtet, sein Geheimnis zu wahren."

"Dein Pech, dann muss ich es wirklich darauf anlegen, dass er mich findet, statt dass ich ihn finde, Gunnar Ipsen. Obwohl, ich weiß ja jetzt, wo ich ihn garantiert finden werde. Er wird wohl ganz sicher bald nach New York reisen und sich wie ein Aasgeier durch die Trümmer der niedergeworfenen Türme wühlen, um einen Unlichtkristall zu erlangen, nicht wahr?" Der Schatten stieß ein schauerliches Stöhnen aus und zog sich in die Länge. Dabei glitt er immer tiefer. Die in die Länge gezogene Gestalt schien zu einer schwarzen Schlange zu werden, die sich deckungsgleich über die Spiralwindungen zu legen begann. Doch noch einmal begehrte Ipsen auf. Er zog sich zusammen und wurde zu einer schwarzen Kugel. Er raste auf Anthelia zu. Doch damit drang er nur tiefer in die ihn fesselnde Magie ein, bis er an der innersten Windung endgültig festklebte. "Was hast du ihm über Iaxathan erzählt, sprich, Gunnar Ipsen!"

"Das er der einzige wahre Meister ist und alle ihm folgen werden, mit oder gegen ihren Willen", keuchte der Schatten. "Er wird den Meister finden und mit ihm den Bund der letzten Gefolgschaft schließen, der alles in Alangaiais Schoß zurücktreibt, in das alles beendende Dunkel."

"Da will ich aber nicht hin. Dafür gefällt mir die Wärme und Lust des Lebens zu sehr", schnarrte Anthelia. "Hast du ihm verraten, wo er den König der ewigen Nacht finden kann, Gunnar Ipsen? Sprich die Wahrheit, Gunnar Ipsen!"

"Er weiß es und wird dort hingelangen. Du kannst ihn nicht aufhalten, niedere Magd toten Gesteins."

"Nun, das bleibt abzuwarten", stellte Anthelia sachlich fest. Denn wie es ausgehen würde, wenn dieser andere wirklich an Iaxathan herankam, wußte sie nicht. Doch was sie wusste war, dass sie diesen herbeigerufenen Schatten auflösen musste. Denn die von ihr gezogene Spirale drohte, sich langsam aufzulösen. Die magische Reibung zwischen ihr und dem gefangenen Schatten war doch größer, als Anthelia gehofft hatte. Der Schatten merkte auch, dass seine Namenszüge langsam wieder verblassten. Doch Anthelia gönnte ihm die Hoffnung auf eine Flucht nur fünf Sekunden. Sie griff in ihren rosaroten umhang und holte etwas hervor, dass im blutroten Schein der aktivierten Zauberzeichen wie schwaches Feuer glomm und doch die Lichter der leuchtenden Zeichen spiegelte. Der Schatten erkannte den Gegenstand. "Nein, du hast mich gerufen. Du darfst mich nicht vernichten, sonst wird die ewige Finsternis dich niemals in sich aufnehmen, und du wirst ewigen Hunger und Durst im Nichts der heimgekehrten Welt erleiden."

"Ich habe schon damals nicht an eure Phantasterei von der großen gnadenvollen Finsternis geglaubt, Gunnar Ipsen. Lass die Sonne Raus!" Mit dem letzten Ausruf warf Anthelia dem Schatten die stachelige Metallkugel zu. Diese flammte auf, drang in den Schatten ein. Dieser schrie laut, während goldene Blitze aus ihm hinauszuckten und dabei Bruchstücke von ihm mitrissen. Diese zerfaserten zu erst schwarzen und dann weißen Nebelfetzen. Das Licht aus der Kugel wurde immer heller. Der Nachtschatten schrie seine Agonie hinaus in die von freigesetztem, über den Tag gespeichertem Sonnenlicht. Er wurde immer kleiner. Er wankte, zuckte und wand sich unter den ihn treffenden Lichtstrahlen. Anthelia musste im Zentrum der Spirale stehenbleiben, um den Fesselzauber aufrechtzuhalten, mit dem der immer mehr an dunkler Substanz einbüßende Schatten an diesem Ort gehalten wurde. Erst als er nur noch so groß wie ein fünfjähriges Kind und aschgrau war wusste Anthelia, dass er nicht mehr lange bestehen bleiben würde. "Wo ist die Nimmertagshöhle Iaxathans?!" rief die Hexenlady dem verbleichenden Schatten zu.

"Das wirst du niemals erfahren", schrillte der einst so starke Nachtschatten mit schmerzgepeinigter Stimme, die seiner immer mehr schwindenden Größe entsprach. Dann entfuhr dem Wesen noch einmal ein lauter, schriller Schrei. Gleichzeitig zerfloss seine Gestalt zu erst grauem und dann weißem Dunst. Dann sprühten knisternde Funken aus der magischen Spirale heraus. Die Zeichen, mit denen Anthelia den Namen des zu bannenden Nachtschattens in die Spirale eingeschrieben hatte, flammten noch einmal hell auf. Dann ploppte es, und sie verpufften zu blutroten Funkenfontänen. Mit ihnen erstarb auch der letzte Schrei des Nachtschattens Gunnar Ipsen. Der Boden erzitterte einen Moment, als die fesselnde Magie sich darin entlud. Die Spirale verblasste im Licht der schwebenden Sonnenkugel. Anthelia/Naaneavargia badete sich noch eine halbe Minute im freigesetzten Licht aus der Sonnenkugel. Dann befahl sie "Holt die Sonne rein!" Die Kugel verdunkelte sich. Ihr licht wechselte vom weißgelb zu Orange, zu orangerot und verschwand dann. Dabei sank die wie eine vergoldete Kastanienhülle mit Stacheln gespickte Sonnenlichtkugel sanft zu Boden. Mit einem leisen Kling landete sie dort, wo Ipsens schattenhafte Nachtodform gewesen war. Anthelia holte die Sonnenkugel mit ihrer telekinetischen Kraft zu sich zurück. Ebenso ließ sie Ipsens ausgelatschte Hausschuhe zu sich hinfliegen. Kaum hielt sie die Kugel wieder in der linken Hand, drehte sie sich gewandt auf der Stelle und verschwand mit hoch aufgerecktem Zauberstab in leerer Luft. Das Hochplateau in der Sierra Madre südlich der Grenze zwischen den vereinigten Staaten und Mexiko versank in Dunkelheit und Stille.

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Er hatte es gefühlt, wie sein Diener starb. Er hatte ihn seinen letzten Schrei ausstoßen hören können, über Raum und Zeit hinweg. Gleichzeitig war der Ring, mit dem er ihn an sich zu binden gedacht hatte mit lautem Klirren zersprungen. Da wusste Vengor, dass sein stärkster Diener nicht mehr war. Doch er wollte jetzt nicht auf Rache ausgehen. Der Auftrag stand fest. Er musste die Nimmertagshöhle betreten und sich Iaxathan als neuer lebender Partner anbieten. Zumindest würde er gleich morgen zum Welthandelszentrum hinreisen, zumindest dem, was noch davon übrig war.

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ICH HÖRE EINEN LAUTEN SCHREI. DAS IST DER SCHREI EINES BEREITS VERSTORBENEN, DER IN DIESER WELT VERHAFTET GEBLIEBEN IST. JA, DAS IST DIESER SCHATTEN, MIT DEM JULIUS UND CATHERINE ES ZU TUN HATTEN. SEIN SCHREI VERFLIEGT. ER IST VERGANGEN. SICHER HAT SIE, NAANEAVARGIAS NEUE ERSCHEINUNGSFORM, IHN ZERSTÖRT. DOCH HAT SIE DAMIT DEN NEUEN KNECHT IAXATHANS AUFGEHALTEN?

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Die Stadt, die niemals schläft. So ließ sich New York sonst sehr gerne nennen. Doch seit drei Tagen war sie weder wach noch schlief. Sie war gefangen in einem Albtraum der Millionen. Jeder, der durch Manhattan fuhr sah die klaffende Wunde, die die Riesenstadt am Hudson-Fluss zugefügt bekommen hatte. Immer noch stiegen Rauchfäden in den Himmel auf. Immer noch wehte Staub über den gewaltigen Schuttbergen, zwischen denen verzogene und verdrehte Stahlträger herausstachen wie Gräten aus einem vertrockneten Fisch. Immer noch schwelten tief unter dem Schutt Brände, mühevoll jedes durch die Ritzen und Zwischenräume sickernde Sauerstoffmolekül aufzehrend. Jetzt war nacht. New York schlief niemals nachts. Doch die hier tätigen Feuerwehrleute und Polizisten waren müde. Hier noch wen lebend zu finden war aussichtslos geworden. So zogen sich die Beamten hinter die Sperre zurück. Kollegen übernahmen die Wache, um all jene abzuhalten, die meinten, diesen traurigen Überrest US-amerikanischer Bausubstanz besichtigen zu müssen wie eine alte Schlossruine. Gegen den Eindringling, der sich ihnen genau um halb eins Ortszeit näherte, waren sie aber nicht gewappnet.

Vengor hatte sich unsichtbar gemacht und in einen Unortbarkeitszauber gehüllt. Hier und jetzt wollte er wissen, ob sein Hoffen berechtigt gewesen war. Hier und heute würde er herausfinden, ob er die Operation Paukenschlag noch anlaufen lassen musste oder nicht. Behutsam schritt er zwischen den nach außen blickenden Polizisten hindurch und näherte sich dem Trümmerberg. Tod und Zerstörung stanken aus den gewaltigen Schuttbergen. Vengor hüllte seinen Kopf in eine schützende Kopfblase ein. Dann prüfte er mit dem Vivideo-Zauber, ob sich noch Leben unter den Trümmern regte. Erst zwanzig Minuten später hatte er Gewissheit, dass da nichts lebendiges mehr war, nicht einmal Kakerlaken. Jetzt lotete er mit dem Suchzauber. Da hörte er eine Stimme von oben:

"Kannst ruhig sichtbar werden, niederer Knecht. Dein Weg endet auch so hier!" Er warf den Kopf nach oben. Die Stimme war die einer Hexe gewesen, einer Hexe mit tiefer, tief in seine Eingeweide hineinschmeichelnden Stimme. Dann sah er sie, frei in der Luft fliegen. Gleichzeitig wurden auch die Polizisten auf die Unbekannte aufmerksam. Das wiederum konnte Vengor sich nicht bieten lassen. Er versuchte, die Unbekannte mit dem Todesfluch anzugreifen. Doch diese wurde noch während er rief zur schwarzen Spinne. Von deren Panzer prallte der gleißendgrüne Todesfluch ab. Vengor disapparierte, ehe die Spinne ihn erreichen konnte. Sofort kamen die Polizisten mit schweren Waffen und feuerten. Die Spinne flitzte auf den Trümmerberg hinauf. Ihr lag nichts daran, andere Menschen zu töten. Die Kugeln aus den Maschinenpistolen prallten ebenso unwirksam von Anthelias Spinnenkörper ab wie vorhin der Fluch des sehr gut okklumentierenden Zauberers, den Anthelia nur deshalb bemerkt hatte, weil er den Lebensquellenfinder gebraucht hatte. Sie vermochte jetzt jedoch nicht, sich in ihre Hexengestalt zurückzuverwandeln, weil sie von immer mehr Geschossen getroffen wurde. Zwar konnte sie auch in menschlicher Gestalt Metallgeschosse aller Art parieren. Doch wenn sie angegriffen wurde und war da gerade die schwarze Spinne, konnte sie sich nicht zurückverwandeln. Sie hätte dafür mindestens zwei Sekunden Pause gebraucht. Die Polizisten wussten offenbar nicht, was sie da vor sich hatten. Sie feuerten einfach weiter. Einer forderte über Funk Verstärkung mit schweren Waffen an und behauptete sogar, dass Handlanger der Terroristen zurückgekehrt waren, wohl um auf dem Schutt ihre Kriegsflagge zu hissen. Anthelia hatte die Fachsen dicke. Sie wendete den Freiflugzauber an und stieg immer weiter nach oben. Dann raste sie über die Polizisten davon. Als sie mehr als eine Meile von ihnen entfernt wieder gelandet war und sich zurückverwandelte erkannte sie, dass ihr unbekannter Gegner jetzt freie Bahn haben mochte. Sie machte sich selbst unsichtbar und flog noch einmal auf. Die Polizisten standen ratlos um die gewaltigen Schuttberge herum. Sie wussten nicht, womit sie es zu tun gehabt hatten. Anthelia wusste, dass gleich noch Leute vom Zaubereiministerium aufkreuzen würden. Ja, und da kamen sie auch schon. Die eine Gruppe apparierte. Die andere jagte wohl auf Besen heran. Anthelia erkannte, dass sie zu selbstsicher gewesen war. Sie hätte diese Zone mit einem Bannzauber gegen jeden ihrer Feinde umschließen müssen. Dann sah sie die giftgrüne Flammensäule direkt zwischen den beiden Trümmerhaufen hervorschießen. Auf der Flammensäule ritt eine geisterhafte Gestalt, durchsichtig und in eine grüne Aura gehüllt. Ein lautes, triumphales Lachen erscholl. Die Polizisten feuerten auf das Phantom, in dessen linker Hand deutlich ein zwölfflächiger Körper aus lichtschluckendem Material lag. "Ihr könnt mich nicht halten. Die Säule der nächtigen Seele trägt mich von euch fort. Bangt und bebt vor Lord Vengor, dem Wächter der Vergeltung!!" rief Vengor. In seiner linken Hand lag jenes Objekt, dass er durch das unfreiwillige Ablenkungsmanöver der Hexe tief im Schuttberg geortet hatte. Er hatte sich dann daumengroß geschrumpft und war dann direkt dorthin appariert. Als er den Kristall in seinen Händen hatte, konnte er die Flammensäule der nächtigen Seele beschwören, die ihn erst vergrößerte und dann aus dem Schuttgebirge hinausschleuderte, ohne dass feste Materie ihn hätte halten können. Solange Nacht war und er in Gefahr war trug ihn die Flammensäule und schützte ihn vor den abgefeuerten Kugeln, die übersprangen förmlich den von ihm eingenommenen Raum. Dann war er hoch genug. Er gebot der Säule, zu erlöschen. Zum Abschied streckte er noch drei Polizisten mit einem Todesfluch nieder. Anthelia, die dem Schauspiel genauso zusah wie die aufmarschierten Ministeriumszauberer, sah den fächerartigen, weiß-grünen Energiestrahl, der die im Weg stehenden Beamten nur berührte, um ihnen alle Lebenskraft zu rauben. Noch einmal lachte der Unbekannte, der sich Lord Vengor nannte. "Ihr seht, ihr Weltverbesserer und Muggel, dass ich nicht mehr zu halten bin." Zwei Zauberer aus dem Ministerium glaubten ihm das nicht. Sie griffen ihn mit dem Todesfluch an. Doch dieser wurde auf sie zurückgespiegelt. Sie fielen tot um. Dabei pulsierte der dunkle Kristall in Vengors Hand und schien um ein winziges größer zu werden. Er war ja jetzt schon so groß wie eine Walnuss. "Aus dem Weg, ihr Schwächlinge!" brüllte Vengor und rief noch einmal "Avada Kedavra!" Drei weitere Polizisten verloren augenblicklich ihr Leben. Dann disapparierte das Phantom vom Trümmerfeld. Übrig blieben zwanzig höchst verstörte Zauberer und an die eintausend zu tiefst schockierte Polizisten. Anthelia suchte ihr Heil im schnellen Rückzug. Sie hatte gesehen, was sie eigentlich nicht hatte sehen wollen. Doch sie musste zugeben, dass sie nun wusste, wie gefährlich jemand war, der sich ganz und gar auf einen Unlichtkristall verlassen konnte. Diese wichtige Erkenntnis galt es gut zu hüten und an ihre Getreuen weiterzugeben.

Die Ministeriumszauberer hatten alle Hände voll zu tun, die Polizisten mit Gedächtniszaubern von einer plötzlichen Gasverpuffung zu überzeugen, die aus einem Propantank irgendwo im Gebäudeschutt entstanden war. Als sie dann mit den Leichen ihrer im Kampf gefallenen Kollegen zurückkehrten stuften sie den Vorfall sofort als Verschlusssache S0 ein. Nur der Minister und die unmittelbar beteiligten Zauberer erfuhren, dass nicht die Spinnenhexe, sondern der erst unsichtbare und dann dämonisch aus dem Schuttberg hervorfauchende Zauberer der wahre Feind gewesen war. Sicher, was das für ein Kristall gewesen war und ob es nicht noch schlimmer gekommen wäre, wenn die schwarze Spinne ihn erbeutet hätte wussten die Zauberer nicht. Vielleicht wollten sie es auch nicht wissen.

Während die Zauberer in den Staaten den neuen Gegner zur Geheimsache machten, rief Anthelia ihre Schwestern zu sich und schilderte ihnen die neue Lage. "Schwestern, ich bin diesmal in sehr großer Sorge, dass uns ein Gegner erwachsen ist, der alle bisherigen in den Schatten stellt. Er kennt die dunklen Künste des alten Reiches. Er ist grausam genug, jeden Menschen zu töten, der ihm vor die Augen tritt, und er besitzt zumindest für's erste einen Unlichtkristall, der groß und schwer genug ist, um seine Macht zu vervielfachen. Ich mutmaße, dass er mit einem Todesfluch nicht nur drei, sondern fünf oder sechs auf einmal hätte töten können. - Ja, Schwester Albertine, du kannst ihn gerne ein tapferes Schneiderlein nennen, wenn er mit einem magischen Streich sieben Widersacher fällt." Albertine errötete heftig. Wieso konnte sie vor Anthelia nicht so gut okklumentieren wie vor allen anderen?

"Kann man ihm den Kristall wieder abnehmen, höchste Schwester?" wollte Beth McGuire wissen.

"Wenn du weißt, wer ihn hat und wo er ist, Schwester Beth", knurrte Anthelia. Dann sagte sie: "Und damit ist es noch nicht vorbei. Der von mir gebannte und zerstörte Nachtschatten hat verraten, dass sein Gefährte aus Fleisch und Blut die Nimmertagshöhle betreten wird. Dort hat sich Iaxathans Geist in seinem mächtigsten Artefakt versteckt. Wenn der Knecht ihn dort antrifft, wird er endgültig zum gehorsamen Sklaven. Wir können nicht in diese Höhle. Wer Iaxathans Artefakt erblickt, gibt seine Seele preis und wird mit seinen oder ihren dunkelsten Bedürfnissen unwiderruflich an ihn gefesselt. Das wollt ihr nicht wirklich."

"Wie stufen die Ministeriumszauberer den Anschlag vom elften September ein, höchste Schwester?" wollte Louisette Richelieu aus Frankreich wissen. Romina Hamton durfte dazu was sagen.

"Die Zauberer haben bis auf das kleine Rendezvous zwischen der höchsten Schwester und diesem Lord Vengor keinen Hinweis auf magische Beeinflussung der Piloten. Vielmehr wurden die Maschinen von Selbstmordkommandos entführt, die während des Fluges wohl zu Allah gebetet haben. Näheres erfahrt ihr wohl nur von den Geheimdiensten."

"Ich habe da eine gute Quelle beim BND. Die werde ich kultivieren", sagte Albertine Steinbeißer.

"Gut, so müssen wir bekennen, dass dieser Anschlag offenbar jedes auch das eigene Leben verachtender nicht nur die Welt der Magieunfähigen in ihren Grundfesten erschüttert hat, sondern auch einen neuen Schrecken der Zaubererwelt geboren hat, der sich aus reiner Machtgier vermisst, dem ewig gefangenen König der Finsternis zu dienen, etwas was weder Sardonia, noch ich in meinem ersten Leben, noch Grindelwald oder Tom Riddle sich getraut haben, weil wir alle wussten, dass wir dadurch unsere eigene Freiheit verlieren. Vielleicht ist es noch möglich, diesen Lord Vengor zu finden und von seinem Weg in den Abgrund abzuhalten. Doch die Zeit arbeitet gegen uns, Schwestern. Die Zukunft war noch nie so unberechenbar." Die anderen seufzten. So betrübt, ja resignierend hatten sie ihre Anführerin bisher noch nie erlebt. Doch das Glimmen in den blaugrünen Augen der höchsten Schwester verriet, dass sie nicht bereit war, einer magisch geführten Marionette die Welt zu überlassen. Also durften sie nicht aufgeben.

ENDE

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