DIE REISEGRUPPE

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

E-Mail: hpfan@thorsten-oberbossel.de
http://www.thorsten-oberbossel.de

Copyright © 2014 by Thorsten Oberbossel

__________

P R O L O G

Der Sommer des Jahres 2001 wird zum Schicksalssommer für die Menschen mit und ohne Magie. der sich unter einer grünen Maske verbergende Dunkelmagier Lord Vengor plant mit Hilfe vom aus dem Leid von hundert gestorbenen Menschen verstofflichten Kristallen seine Macht zu stärken. Nur wenn er genug davon hat kann er mit Iaxathan, dem in einem geheimnisvollen schwarzen Spiegel gefangenen Geist eines uralten Erzdunkelmagiers, Kontakt aufnehmen. Vengors Partner, der mittlere Nachtschatten Gunnar Ipsen, will ihn mit Iaxathan, seinem wahren Meister, zusammenbringen. Doch die Hexenlady Anthelia/Naaneavargia zwingt den Nachtschatten dazu, bei ihr zu erscheinen. Sie vernichtet ihn mit konzentriertem Sonnenlicht. Vengor erfährt jedoch noch, wo er das Versteck des dunklen Spiegels von Iaxathan suchen muss. Die Behörden zur Verwaltung der magischen Vorgänge erfahren davon, als in Japan und anderswo gesuchte Zaubererweltverbrecher auftauchen, die jedoch durch einen abschreckenden Vernichtungsfluch am Verrat ihres Auftraggebers gehindert werden. Die Zaubereiminister und diversen außerministeriellen Organisationen sehen in Vengors Treiben die neue große Gefahr. Deshalb interessiert es sie nicht, dass zehn ältere Männer zu einer schicksalhaften Reise aufbrechen.

__________

1. April 2001, Hof Hühnergrund

Hallo Fulvia! Ich hoffe, dass du wirklich besser für dich behalten kannst, was ich deiner Vorgängerin Glinda anvertraut habe. Mein offizieller Name lautet Arianrhod Deardre Barley. Als ich vor einem halben Jahr auf eigenen Wunsch mittels magischer Verwandlung in den Körper eines neugeborenen Mädchens zurückversetzt wurde ging ich davon aus, meine Erinnerungen an das davor erlebte zu verlieren. Dem war jedoch nicht so. Seitens der mich als ihre Ziehtochter hegenden veritablen Hexe Ceridwen Barley wurde klargestellt, dass weder von ihr noch mit ihrer klaren Aufforderung von anderer Seite beabsichtigt sei, mein Gedächtnis auf die Grundausstattung neugeborener Kinder zu reduzieren, um von früherer Erfahrung unbelastet aufwachsen zu können. Offenbar hegt Ceridwen Barley ein sehr großes Interesse daran, zu ergründen, wie ein geistig ausgereifter Mensch eine zweite oder wievielte Kindheit auch immer erlebt. Da ich von ihr die klare Anweisung erhielt, mich dem körperlichen Entwicklungsstand gemäß zu benehmen, also nicht nach außen zu zeigen, dass ich bereits sprechen, lesen und schreiben kann, sah ich mich mit der Situation konfrontiert, ein langweiliges Leben ertragen zu müssen, das sich im Rhythmus von Fütterung, Schlaf und Beseitigung meiner Körperausscheidungen abspielt. Ceridwen Barley, die ich, wenn mir gemäß körperlichen Entwicklungsstand vorgeschriebene Sprecherlaubnis erteilt wird Mum oder Mum Ceridwen anzusprechen habe, empfand und empfindet keinerlei Hemmungen, mich wie eine natürlich empfangene, ausgetragene und von ihr selbst geborene Tochter zu behandeln, was meine Ernährung durch Laktation einschließt. Nach anfänglicher Anwiderung dieser Art der Nahrungsaufnahme für einen bereits ausgereiften Geist empfand ich mit den Wochen meines bisherigen Wiederwachstums doch Behagen an dieser sehr intimen Nahrungszufuhr. Die vorhin aber erwähnte Langeweile kam jedoch in dem Augenblick deutlich zum tragen, als meine Sinnesorgane sich weiterzuentwickeln vermochten und ich sehr gerne mehr als die mir zugewiesenen Räumlichkeiten gesehen hätte. Jeder Versuch, durch sprachliche Mitteilung meine Stimmung oder Bedürfnisse zu bekunden resultierte in einen magisch induzierten Schlaf, der mich unvermittelt übermannte und erst zwei Stunden später wiedererwachen ließ. Offenbar befand oder befindet sich in dem mir zugeteilten Strampelanzug eine Bezauberung, die jeden artikulierten Laut von mir mit Betäubung beantwortet. Nachdem ich auf diese Weise fünfmal gemaßregelt wurde fügte ich mich nolens volens in die mir auferlegte Rolle und bekundete Bedürfnisse wie Hunger oder die Belastung durch nicht mehr zu absorbierende Ausscheidungen durch das für Säuglinge typische Schreien. Brigid, die älteste Tochter meiner Ziehmutter und Amme, erkannte jedoch nach dem fünften Monat meines Wiederwachstums, dass meine geistige Gesundheit zu Schaden kommen würde, wenn ich nicht ein Ventil für meine unterdrückten Geistesbedürfnisse erhalten würde. Während Ceridwen Barley sich aushäusig betätigte gestattete mir Brigid, die aprobierte magische Heilkundige ist, in der mit beweglichen Fotografien illustrierten Zeitung namens Tagesprophet zu lesen. Des weiteren spielte und sang mir Brigid Lieder in französischer und spanischer Sprache vor. So konnte ich ohne offizielle Kenntnis meiner Amme und Ziehmutter Einzelheiten aus der Welt der magischen Menschen erwerben, in die ich nun hineinwachse. Durch ein sehr intimes Ritual, dem ich mich mit Ceridwen Barley unterzogen habe, steht zu über neunundneunzig Prozent fest, dass ich selbst nach außen einsetzbare Zauberkräfte ausbilden werde und nach Vollendung des elften Lebensjahres eine gesonderte Lehranstalt namens Hogwarts besuchen werde. Wie ich vorher in bereichen der fundamentalen Grundfertigkeiten beschult werde oder einfach vorausgesetzt wird, diese schon mitzubringen, erfahre ich wohl erst mit sechs neu erlebten Jahren. Wie ich bis dahin den von mir abverlangten Anschein frühkindlicher Entwicklung und Auffassungsgabe erfüllen kann muss ich wohl noch an lebenden Beispielen ergründen, will sagen, dass Brigid und Ceridwen mich wohl immer wieder mit natürlich aufwachsenden Jungen und Mädchen zusammenbringen, bis ich meine eigenen bewusst abrufbaren Kindheitserfahrungen benutzen kann, um die mir auferlegte Rolle spielen zu können. Brigid meinte, ich solle es nicht als Rolle, sondern als lebensnotwendigen Identitätswechsel akzeptieren. Nun, dem kann und darf ich nicht widersprechen, zumal das Schicksal, dem ich entrissen wurde, eine Rückkehr in mein vorheriges Leben gänzlich unmöglich gemacht hat. Deshalb sage ich auch nicht, wer ich vorher war. Nur soviel: Ich wurde durch magische Gewalt eines übereifrigen und skrupelosen Zauberers in eine Lage gebracht, aus der heraus ich von meinen Eltern getrennt wurde. Dass ich jetzt als Arianrhod Deardre Barley neu aufwachsen darf ist keine Selbstverständlichkeit und muss daher von mir mit dem gebotenen Respekt für alle behandelt werden, die um mein körperliches und geistiges Wohlergehen besorgt sind. Zwar konnte ich nicht begreifen, welchen Hinderungsgrund es seitens meiner Ziehmutter geben soll, in Abwesenheit nicht eingeweihter zumindest sprachlich am Geschehen um mich herum teilzunehmen. Doch die ständige Einschläferung hat mich gelehrt, nicht mehr gegen diese Weisung anzukämpfen. Insofern bin ich Brigid sehr dankbar, dass sie mir gestern eröffnet hat, ein Tagebuch zu führen. Hierfür präparierte sie einen Schnuller so, dass dieser auf meine konzentrierten worthaften Gedanken abgestimmt werden konnte und an eine in Brigids geheimem Schrank tätige Schreibfeder gekoppelt wurde. Nur sie und ich sollten Zugriff auf dich, Fulvia, erhalten. Nur wenn ich von mir aus gestatte, dass wer anderes als ich liest, was ich dir anvertraue, so Brigid, darfst du die von mir niedergeschriebenen Notizen preisgeben. Soviel für's erste von mir. Ich hoffe, du übst dich in Geduld. Denn ich werde nicht jeden Tag mit dir in Verbindung treten. Nur noch so viel: Ich fühle, dass wohl bald das Wachstum meiner neuen Milchzähne eintreten wird. Laut meiner leiblichen Mutter muss diese Phase meiner körperlichen Entwicklung höchst belastend für mich und meine leiblichen Eltern verstrichen sein. Ups, ich fürchte, ich habe die Aufnahmekapazität der mir umgebundenen Windel gerade restlos erschöpft. Ich nehme jetzt den Mentiskriptionsschnuller heraus, um um Abhilfe zu schreien. Bis zum nächsten mal, Fulvia!

P.s.: Ich hoffe, du gestattest mir, dass ich dich mit dem Namen der Amazone bedacht habe, die ich in meinem früheren Leben in der Rollenspielgruppe mit Malcolm, Lester und Julius gespielt habe. I wie eklig! ...

__________

7. Juli 2001, Hof Hühnergrund

Ich kann kaum klar denken. diese Pein bringt mich um. Ich hoffe, meine ersten Zähne kommen bald alle durch. Ich versuche es immer, nicht zu schreien. Ich versuche sogar, Yogameditationsformeln zu denken, auch die Selbstbeherrschungsformel, die mir Julius Andrews von seinem Karatelehrer erklärt hat. Doch irgendwann kann ich nicht mehr an mich halten. Ich muss den Schnuller wieder ausspucken. Die Schmerzen im Mund treiben mich noch in den Wahnsinn.

Bis irgendwann wieder, Fulvia.

__________

Der junge Pilot Bill Curby blickte auf seine Instrumente. Laut Einsatzplan war er genau auf Kurs. Seine Jagdmaschine vom Typ Spitfire flankierte einen Bomber, der seine zerstörerische Last über Köln abwerfen sollte. Doch noch bevor sie die Stadt am Rhein erreichten tauchten wendige Messerschmidts auf, die versuchten, die Bomber vom Himmel zu holen. Das war die Stunde der Jagdpiloten. Curby, der bei Kriegseintritt als Rekrut der Luftwaffe angefangen hatte und jetzt schon im Rang eines Lieutenants stand, riss seine Maschine aus der bisherigen Flugbahn und nahm einen der feindlichen Jäger aufs Korn, um ihn zum einen vom Bomber abzulenken und zum anderen abzuschießen. Bill Curby entsicherte das eingebaute Maschinengewehr und vollführte eine Vierteldrehung nach Steuerbord, um genau auf den auf drei Uhr anfliegenden Deutschen zuzufliegen. Dieser nahm die Kampfansage sofort an und gab schon Feuer, bevor die Spitfire in guter Schussposition stand. Curby versuchte, außerhalb der ihn anfliegenden Geschosse zu kommen, um dem Nazi-Piloten die passende Antwort zu geben. Der andere war jedoch darauf vorbereitet und passte Curbys Anflug genau ab. Kaum dass Bill Curby den erwünschten Anflugwinkel erreichte, zog der Deutsche seine Maschine nach oben und gab Feuer. Laut tackernd und prasselnd landete die Salve in den Tragflächen der Spitfire. Curby hatte zur selben Zeit auf den Auslöser seiner Bordwaffe gedrückt und feuerte sein halbes Magazin auf den Feind ab. Auch dieser wurde mit Kugeln eingedeckt. Ob die wendige Messerschmidt das aushielt wusste Curby nicht. Was er wusste war, dass seine Maschine bereits schwer angeschlagen spotzte und blubberte. Die Löcher in den Tragflächen und die Schäden an der Rudersteuerung taten ihr Übriges, die vorhin noch so gewandte Jagdmaschine in eine bleierne Ente zu verwandeln. Wieder schwirrten Kugeln aus der feindlichen Maschine heran. Mindestens drei durchschlugen laut klirrend die Frontscheibe der Spitfire. Curby fühlte es zweimal schmerzhaft in Schulter und Bauch einschlagen. Er unterdrückte einen Aufschrei und feuerte zurück. Die restliche Hälfte seines Magazins verpuffte jedoch in der Luft, weil der Feind selbst schon in einem Sturzflug steckte. Dann rülpste der Motor der Spitfire laut und endgültig, bevor er schwieg. Die kleine Jagdmaschine geriet ins trudeln und fiel immer schneller auf den Boden zu. Curby fühlte den Schmerz der beiden Treffer immer schlimmer werden. Er wusste, dass ein Bauchschuss genauso tödlich sein konnte wie ein Treffer ins Herz. Es dauerte nur länger, bis man starb, hatte Curbys Ausbilder erzählt. Woher der gerade erst zwanzig Jahre alte Lieutenant die Kraft nahm, sich aus dem Pilotensitz zu lösen, auszusteigen und die Reißleine seines Fallschirms zu ziehen wusste er nicht. Über sich hörte er das hornissenartige Gebrumm der sich immer noch bekämpfenden Maschinen und das hummelartige Brummen der auf Köln anfliegenden Bomber. Curby fühlte den Ruck, als der Fallschirm aufging. Er biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerzen aufzuschreien. Sein linker Arm wurde taub. Der Treffer in die Schulter hatte wohl wichtige Blutgefäße oder Nervenstränge erwischt.

Curby sah nach unten und erkannte den Rhein. Ein breites, im Mondlicht silbern glitzerndes Band, das sich seit Urzeiten durch diese Landschaft schlängelte. Wie viele Kriege hatte dieser Strom bereits mitbekommen? Komisch, dass Bill im Augenblick der Todesgefahr an sowas gerade komplett unwichtiges wie Geschichte dachte. Entweder würde er auf einer Uferseite aufkommen und musste sich dann abrollen. Mit dem Einschuss im Bauch und einem kaputten Arm sicher ziemlich schwierig. Oder er klatschte mitten in den Rhein rein. Ans Schwimmen im kalten Wasser war mit einem kaputtgeschossenen Arm auch nicht zu denken. Außerdem hätte Curby dafür auch die Pilotenmontur loswerden müssen, die sicher bleischwer voll Wasser laufen würde. Ersaufen oder am Boden zerschellen oder langsam an der Bauchwunde verrecken, waren das echt die drei einzigen Auswege, die er noch hatte? Er war doch viel zu jung zum sterben. Dann sah er ein brennendes Flugzeug vor sich niedersacken. Er konnte das Gesicht des Piloten im hellen Flammenschein sehen. Es war der Deutsche, mit dem er sich eine kurze und doch so blutige Schlacht geliefert hatte. Der war nicht mehr aus der Maschine rausgekommen. Vielleicht hatte Curbys eine Salve gereicht, ihn so schwwer zu verletzen. Am Ende hatten sich beide gegenseitig vom Himmel geschossen und würden entweder im Paradies für gefallene Krieger oder in der Hölle wieder zusammentreffen, dachte Curby. Dann sah er den Rhein, roch das von Öl und Chemikalien getränkte Wasser und hörte das leise Rauschen des Stroms. Darin zu schwimmen konnte er vergessen. Die pure Hilflosigkeit und Resignation lähmte den jungen Piloten so sehr, dass er überhaupt keine Steuerbewegungen machte, um vielleicht doch noch in Ufernähe herunterzukommen. Die letzten hundert Meter fiel der abgeschossene Fliegerleutnant ohne Sinn und Besinnung. Er fühlte es noch nicht einmal, wie er in das eiskalte Wasser eintauchte. Er wäre sicher vom Fallschirm und seiner Montur unter Wasser gezogen worden und ertrunken, wenn nicht gerade in dem Moment ein Patrouillenboot der deutschen Wehrmacht in der Nähe gewesen wäre. Die Feinde fischten den abgeschossenen Piloten auf. Da von Luftwaffenminister Göring die Order ergangen war, abgeschossene Piloten gefangenzunehmen und am Leben zu halten, um mehr über die Bombardierungspläne der Alliierten zu erfahren, wurde Curby an Bord des Patrouillenbootes erstversorgt und wegen der anstehenden Bombardierung Kölns in ein Lazarett der Luftwaffe bei Bonn gebracht. Die Kugel im Bauchbereich wurde entfernt und der Pilot weit genug von den inneren Verletzungen geheilt, dass er für anstehende Verhöre bereit war. Die Kugel in der linken Schulter konnte nicht so einfach entfernt werden. Curby war jedoch in Schockstarre verfallen. Selbst die besten Aufputschmittel der Militärärzte, die sonst jeden körperlich erschöpften Soldaten wieder auf die Beine bringen konnten, versagten.

"Der Bursche ist ja noch ganz grün", knurrte Oberstabsarzt Borsch, als er den verletzten Gefangenen begutachtete. Sein jüngerer Kollege meinte ganz abgebrüht dazu: "Die Tommys verheizen Ihre Jungs genauso wie wir."

"Sind Sie wahnsinnig, sowas zu sagen, wo ich das hören kann?" schnarrte Borsch seinen jüngeren Kollegen an. "Ich will das jetzt mal überhört haben. Aber passen Sie ja auf, solche Äußerungen nicht mehr auszusprechen. Das wird Ihnen sonst glatt als Defitismus ausgelegt, und Sie werden an die nächste Wand gestellt."

"Glauben Sie mir, Herr Oberstabsarzt, dass wir zwei noch sehr dringend gebraucht werden, wenn Tommys und Amis echt noch mit ihren Armeen anrücken", sagte Borschs jüngerer Mitarbeiter.

"Anstatt hier unpassende Schwarzmalerei zu betreiben kümmern Sie sich gefälligst um die Verfassung des Gefangenen", schnarrte Borsch. "Das ist ein Befehl", setzte er noch hinzu.

Curby erwachte erst drei Tage nach dem Abschuss aus der Schockstarre und wünschte sich bald, besser gestorben zu sein. Denn die Verhörspezialisten der Nazis kannten keine Rücksicht, um mehr über die bevorstehenden Luftschläge zu erfahren. Er wusste aber nichts über die Einsatzplanung der Alliierten. Auch die Folter mit Elektroschocks und die Verabreichung von neuartigen Wahrheitsdrogen holte nicht mehr aus ihm heraus, als das was er wusste. So wurde Curby körperlich wie seelisch schwer angeschlagen in ein Kriegsgefangenenlager östlich des Rheins verbracht, wo er immer wieder dem Hungertod nahe dahindarben musste, bis die siegreichen Amerikaner das Lager fanden und die Gefangenen befreiten. Erst in einem Feldlazarett der US-Armee wurde Curby gründlich gegen die Schussverletzungen behandelt. Zu seiner Erleichterung konnte er lernen, seinen angeschlagenen linken Arm zu mindest drei Viertel wieder zu gebrauchen und nach dem Krieg einen einfachen Bürojob anzunehmen. Immerhin bekam er Invalidenhilfe für Veteranen, sonst wäre er wohl endgültig verarmt und dann wohl irgendwo in einer Gosse von London verreckt. Er heiratete eine amerikanische Kriegerwitwe, deren Schwager den jungen Piloten mal mit in die Staaten gebracht hatte. Leider hatte der Bauchschuss die Geschlechtsorgane Curbys unrettbar unbrauchbar gemacht. So blieb seine insgesamt dreißig Jahre dauernde Ehe kinderlos. Als seine Frau Thelma dann bei einem ganz ordinären Autounfall mitten in New York starb, zog er wieder nach Newcastle zurück, wo er seine schwerkranken Eltern bis zu deren Tod pflegte.

Was Curby seit dem verhängnisvollen Luftkampf nicht losgeworden war, war die Angst in fliegenden Flugzeugen. Zwar hatte er es mit Beruhigungsmitteln immer wieder geschafft, diese Angst bei wirklich nötigen Flügen niederzuhalten. Doch wenn es sich vermeiden ließ, blieb er Flughäfen fern. Ehemalige Kameraden von ihm hatten nach dem Krieg als Zivilpiloten weiterfliegen können, ja hatten sogar bei Britisch Airways und anderen Fluggesellschaften hohe Posten erreichen können. Auch deshalb traute er sich nicht zu Veteranentreffen. Er schämte sich für sein Schicksal, dass er den Deutschen, dessen Namen er nie erfahren hatte, nicht zwei Sekunden früher beschossen hatte. Auch das Gewissen, einen anderen ganz jungen Menschen getötet zu haben wollte nicht von ihm weichen.

"Junge, du musst hier wieder raus", hörte er die Stimme seiner Tante Sally, die ihm bei der Pflege ihres Bruders geholfen hatte und seit dessen Tod als Haushaltshilfe ohne Bezahlung im Haus ihres Neffen weiterwohnen durfte.

"Du hast echt gut Reden, Tante Sally", schnaubte Bill Curby am dritten August 2001. Trotz der nun genau einhundertzwei Jahre, die seine Tante Sally vollendet hatte, war die alte Dame immer noch so kraftvoll und bestimmend wie zu Billys Kinderzeit, wo sie selbst acht jahre ältere Jungen mit lauter Stimme in die Flucht schlagen konnte, die Billy verprügeln wollten. Ohne sie, dachte Billy, hätte er sich sicher längst die Kugel gegeben oder sich von irgendwoher eine alte Spitfire besorgt, um den damals eigentlich klar feststehenden Tod doch noch wahrwerden zu lassen. Doch seine Tante wusste das und schaffte es immer wieder, ihn von solchen Ideen abzubringen. Auch jetzt hatte sie wieder was, um ihn aufzurütteln:

"Thelma wollte doch immer mal in die Türkei, nach Istanbul und Kappadokien, da wo die alten Byzantiner geherrscht haben. In der Times ist ein Preisausschreiben. Eine Reisefirma namens Club Oriental hat drei Plätze für eine vierwöchige Reise in die Türkei ausgelobt."

"Super, Tantchen. Und womöglich mit dem Flugzeug oder was?" knurrte Bill. "Sollen das die Jungspunde machen, die meinen, ihnen gehöre eh schon die ganze Welt."

"Neh, die wollen lebenserfahrene Reisende, verheiratet oder verwitwet, mein Junge. Offenbar wollen die eine neue Geschäftsidee testen, die auf ältere Kunden abzielt, wo wir ja alle immer älter werden." Sie grinste über ihr faltiges Gesicht. Bill Curby schüttelte den Kopf. Da sagte seine Tante: "Ich habe schon für dich mitgemacht. War nur ein Kreuzworträtsel zum Thema Türkei und die Geschichte der alten Griechen. Kein Ding für eine alte Kreuzworträtselhexe wie mich." Sie kicherte künstlich gehässig. Bill wollte schon zornentbrannt brüllen, dass seine Tante nicht in seinem Namen an irgendwelchen obskuren Preisrätseln teilzunehmen hatte, als sie noch sagte: "Ich sehe mir das nicht an, wie du noch vor mir in die letzte Kiste kriechst, Kleiner. Ich habe deiner Mutter bei deiner Geburt geholfen, weil die billige Karre deines Vaters ausgerechnet da wieder mal nicht auf Touren kommen wollte. Ich werde nicht bei deiner Beerdigung zugucken und mir dann noch von dem ganzen jungen Gemüse aus deiner alten Fligertruppe anhören, dass du an Langeweile krepiert bist. Wenn die dich nicht aus dem Lostopf fischen, dann suchen wir für dich was anderes, vielleicht was in Südfrankreich. Aber wenn die dich ziehen fliegst du dahin und kommst erst wieder, wenn die Reise ordentlich zu Ende ist."

"Und wenn ich nicht will, Tantchen? Fällst du dann tot um?" entgegnete Bill Curby.

"Das könnte dir so passen, wegen deiner von deinem Vater geerbten Sturheit zu sterben", schnarrte Tante Sally verbittert. "Sicher will ich nicht bei deiner Beerdigung zusehen. Aber bevor du bei meiner zusiehst will ich zumindest noch mit Queen Mum mithalten."

"Ui, und wenn ich da nicht in eines dieser übertechnisierten Touristenbomber reinkletter geht das nicht?" fragte Bill. Seine Tante funkelte ihn dafür sehr unheilvoll an. Er hatte es nie gelernt, sich gegen diesen Blick zu wappnen. Damit hatte sie seinen Vater und ihn immer wieder niederhalten können, eine echte Matriarchin. Dass sie gerne mit der Königinmutter altersmäßig gleichziehen wollte war verständlich, wo sie tatsächlich drei Jahunderte erlebt hatte. So sagte er, dass bei so vielen Kandidaten sicher niemand seinen Namen aus dem Lostopf ziehen würde. Seine Tante musste dem ungewollt zustimmen. Doch die Auslosung fand ja erst am zehnten August statt. Bill Curby beschloss, das Schicksal entscheiden zu lassen.

__________

Im Hörsaal war es kalt. Zumindest meinte der ehemalige Geschichtsprofessor Aleister McGrath das, weil er kurz zuvor noch durch brütendheiße Straßen geschwankt war. Wie hatte sich der an englisches Wetter gewöhnte ehemalige Universitätsprofessor für keltische und frühchristliche Geschichte dazu hinreißen lassen, ins sommerliche Philadelphia zu reisen. Wenn es wenigstens Miami gewesen wäre. Da hätte er mit anderen Ruheständlern die Sommerhitze am Strand abfeiern können. Der Grund für McGraths Hiersein betrat soeben das Vorleserpodium. Es war die noch praktizierende Kollegin Amanda Lessing, die ihre akademische Karriere in Köln am Rhein begonnen hatte und seit etlichen Jahren in Philadelphia Vorlesungen über das Mittelalter und jüdisch-christliche Theologie hielt, schwerpunktmäßig zu den Themen Dämonenglaube und Praktiken abergläubischer Menschen, die aus alten Anbetungs- und Abwehrzaubern entstanden waren und sich teilweise bis in die heutige Zeit erhalten hatten. Sie hatte zu einem Seminar ehemaliger und noch praktizierender Fachkollegen aus den Staaten und der europäischen Union eingeladen, das über zwei Wochen innerhalb der Semesterferien lief. Die mürrischen Hausmeister, denen McGrath auf seinem Weg in den Hörsaal begegnet war, standen dafür, dass längst nicht alle Universitätsmitarbeiter an solchen Extraveranstaltungen interessiert waren.

Professor Lessings heutige Vorlesung drehte sich um die Abwandlung einstmals heidnischer Rituale in angeblich satanistische Praktiken. Wo einstmals Götter der Fruchtbarkeit und des Lebens verehrt worden waren, sollten diese Rituale heute für Teufelsanbetung stehen. Außerdem beschrieb sie die wechselhafte Deutung der Symbole und Bilder, die sowohl im Bereich der christlichen Messen wie auch in der Hierarchie der jüdisch-christlichen Dämonenkunde vorhanden waren. McGrath dachte dabei daran, wie viele Menschen sich wieder der keltischen Götterwelt verbunden fühlten. Der Wicca-Kult war eine Ausprägung der neuen Vorliebe zu den alten Naturreligionen. Deren Anhänger gingen davon aus, wahrhaftig Magie bewirken zu können. Immerhin räumten McGraths Kollegen ein, dass der Glaube an magische Beeinflussung ausreichte, um sich entsprechend zu verhalten, dass als Heilszauber angepriesene Rituale echtes Heil bewirkten und als Flüche angedrohte Vorgehensweisen das ausgewählte Opfer so handeln ließen, dass ihm nur Unglück widerfuhr oder es im Glauben, bald sterben zu müssen, wahrhaftig starb. Ärzte nannten diese rein psychologische Auswirkung Placebo- und Nocebo-Effekt. Er fand es schade, dass sein Kollege Jonathan Stuard nicht mehr lebte, um hier mitzuhören. Doch er selbst hörte aus Lessings Vortrag heraus, dass die weitere Forschung eines Tages ergeben konnte, dass es im Altertum geheime Fertigkeiten gegeben haben mochte, die das Glaubensfundament für Kelten und Christen gebildet haben mochten.

"Auch wenn wir heute nicht mehr von einem gehörnten Teufel ausgehen müssen, sofern wir nicht gerade ein Kasperlestück für unsere jüngsten Mitbürger inszenieren wollen, mag die Vorstellung von einem alten gehörnten Götzen oder Dämon damals viele Menschen beeindruckt haben. Die Kelten beteten diese Kreatur als Fruchtbarkeitsgott an, was wohl auf die biologisch nachweisbare Vermehrungsfreude und Beständigkeit von Ziegen herrührt, während die Christen darin genau den bösen Widerpart des Allmächtigen sahen, der zur fleischlichen Lust verführende, der auch die Habgier der Menschen anfacht. Ob es mehr Frauen als Männer gibt, die sich dem Bösen hingeben ist fraglich, zumal wir ja gerade in diesem unserem technisierten Zeitalter immer mehr festzustellen gezwungen sind, dass Bequemlichkeit und Habsucht immer mehr Anhänger finden und die Versuchung, ohne große Leistung Unsummen Geldes zu erwerben, jede Mitverantwortung für die Menschen und die Umwelt beeinträchtigt. Womöglich würde jemand, der ein Bild des Bösen an sich zeichnen müsste heutzutage einen mit prallen Geldbeuteln beladenen dicken Mann im Nadelstreifenanzug zeichnen oder eine mit überteuerter Kleidung verhüllte Frau, die großspurig auf ihren Schmuck und ihre Makellosigkeit deutet. Ob das so genannte Böse nun männlich oder weiblich ist konnte bis heute nicht geklärt werden. Ich persönlich finde, dass es im gleichen Maße bei Männern wie bei Frauen sowohl Zustimmung wie vehemente Ablehnung vorfinden kann."

"Jacob Marley", warf ein weißhaariger Kollege aus Kalifornien ein. Die anderen Lachten. Die Vorleserin musste wohl erst überlegen, bevor sie lächelte und antwortete:

"Sie meinen den zum warnenden Geist gewordenen Expartner von Ebenezer Scrooge, Kollege Freeman?" Der erwähnte nickte bestätigend. "Wie erwähnt, er gilt in der Geschichte als Warner, nicht als Verführer. Dickens hat ihn bewusst als Vorboten der überfälligen Leuterung inszeniert, als mahnendes Beispiel, wie ein Mensch nicht leben darf, um den Ballast seiner Kaltherzigkeit und Gewinnsucht nicht über seinen Tod hinaus tragen zu müssen. Näheres dazu dürfen Sie gerne bei meinem Kollegen aus dem Fachbereich englischsprachige Literatur hören, sofern Sie finden, ihren verdienten Ruhestand durch ein Zweit- oder Drittstudium zu würzen, meine Damen und Herren." Die Anwesenden blickten erst die Vorleserin und dann ihre Sitznachbarn an und mussten dann lachen. McGrath überlegte wirklich, ob er nicht im Rahmen eines Seniorenstudiums sowas wie Literatur oder Medienwissenschaften studieren sollte. Im Kopf fühlte er sich noch frisch genug. Doch die immer wieder ausstrahlenden Schmerzen von verschiedenen Stellen seines Körpers verrieten ihm, dass er sich bei körperlichen Sachen nicht mehr so sehr fordern durfte.

Nach anderthalb Stunden mit Bildern unterlegter Vorlesung beschloss Professor Lessing ihren Vortrag damit, dass in den erwähnten schnelllebigen Zeiten mit durchstrukturierter Lebensführung und arbeitserleichternder Technologie wieder mehr Leute nach etwas suchten, was über dem allen stand und es dabei sowohl mehr Mitglieder von Kirchen gab, aber auch Anhänger von macht- und geldgierigen Sekten und okkultistischen Scharlatanen, die ihren Opfern weißzumachen trachteten, mit echter Magie zu arbeiten. Dabei blickte sie jedoch einmal etwas verunsichert ins Publikum, als wolle sie ihren eigenen Worten nicht so recht über den Weg trauen.

Als die Vorlesung vorbei war durften die angereisten Kollegen Fragen stellen. Danach trafen sie sich in der Mensa zu einem oppulenten Abendessen. Dabei sprachen sie über das Glaubensbild der alten Kelten und der frühen Christen. Professor Lessing hätte gerne noch mehr über McGraths Thesen zur Macht der Druiden und frühen Hexen erfahren. Doch dieser musste bedauernd ablehnen, da er keine Zeit mehr hatte. "Ich muss morgen schon wieder abreisen. Ich erfuhr, dass ich eine Reise in die Türkei gewonnen habe", sagte er.

"Oh, wo da genau?" wollte Amanda Lessing wissen. McGrath erzählte ihr von einem Preisausschreiben, das ein wohl noch junges Reiseunternehmen gestartet hatte. Drei Plätze aus England seien dabei zu gewinnen gewesen. Professor Lessing wünschte ihrem Kollegen eine erholsame Reise. Er bedankte sich für das Seminar und ihre guten Wünsche.

__________

Sie wollten es nicht mit einem elektronischen Zufallsgenerator machen. Seitdem das Gerücht aufgekommen war, dass Reiseveranstalter von ihnen zu Werbezwecken ausgelobte Reisen dahingehend manipulierten, die Kandidaten mit dem besten Einkommen oder besten Erscheinungsbild zu Gewinnern zu machen, hatte die für zertifizierte Glücksspiele zuständige Regierungsbehörde verfügt, dass die Ziehung der Gewinner von mindestens zwei firmenfremden Aufsichtspersonen durchgeführt werden musste. So saßen der Jurist Alverado und der Journalist Mondego Sánchez zusammen mit dem Sektionsleiter iberische Halbinsel und Nordafrika des Reiseunternehmers Club Oriental zusammen vor einer sich immer schneller drehenden Lostrommel, in der in winzige Umschläge gesteckte Zettel mit Namen und Adressen herumgewirbelt wurden. Ein kalter Luftstrom sorgte für zusetzliche Umschichtung der zu ziehenden Lose. Fünf Minuten lang ließen die Beamten dieses antiquiert scheinende Auslosungsgerät arbeiten. Dann sagte Alverado: "Rien ne va plus, Señores." Die Trommel kam langsam zur Ruhe. Dann zog Alverado den ersten der beiden umschläge. Der mitprotokollierende Notar sah den Juristen sehr aufmerksam an. Als dieser dann den ersten Namen verlas wurde er sofort mitgeschrieben. Der Vertreter der auslobenden Firma nickte und wiederholte den Namen des glücklichen Kandidaten. Wieder begann die Lostrommel zu rotieren, und der Luftstrom wirbelte die darin enthaltenen Umschläge durcheinander. Wieder fünf Minuten später zog Sánchez den zweiten Umschlag und entnahm diesem den Zettel mit dem Namen des zweiten aus Spanien kommenden Gewinners. Auch dieser Name wurde mitnotiert. Dann schlossen die drei Männer die Lostrommel. Ihr Inhalt sollte gleich in die Papiervernichtung überführt werden. Keiner von ihnen dachte daran, mehrere Kontrollziehungen zu machen, ob die Lose nicht doch mehr als die beiden Namen enthielten, die sie gerade gezogen hatten. Sie konnten es nicht, weil etwas in ihren Köpfen sie davon abbrachte, an solch einen Betrug zu denken. Alle drei gingen davon aus, die Namenszettel selbst in die Umschläge gesteckt und in die Lostrommel geworfen zu haben, obwohl keiner von den dreien vor dieser Auslosung in die Nähe der Trommel gekommen war. So stand nun ganz offiziell fest, wer an einer Türkeireise mit einer Woche Istanbul, einer Woche Hochgebirgslager und zwei Wochen Mittelmeer teilnehmen durfte.

__________

Er hatte schon längst nicht mehr damit gerechnet, doch noch gezogen zu werden. Als er das Kreuzworträtsel in "El Mundo" gefunden hatte hatte er es aus purer Langeweile gelöst und, weil er eh nicht gezogen werden würde, eingeschickt. Als Alfonso Hernán Colonades Domínguez am elften August den Umschlag aus dem Briefkasten zog erstarrte er einen Moment. Kam er doch noch mal ohne großen Geldaufwand hier raus? Konnte er mal vier Wochen Urlaub vom Leben nehmen, das seit dem Tod seiner Frau so triste geworden war? Er las, dass er zu den beiden glücklichen Gewinnern gehörte und bis wann er seine Zusage einzureichen hatte. Erst hatte er befürchtet, noch eine Stange Geld bezahlen zu müssen. Doch der Preis war gänzlich ohne Nachzahlungen. So bereitete er sich darauf vor, die Reise anzutreten, von der er hoffte, dass sie eine große Abwechslung bringen würde.

__________

Alverado empfand sich immer wie ein gerade fünfzehn Jahre alter Junge, der zum ersten Mal körperliche Liebe erlebte, wenn er mit seiner Kurtisane zusammen war. Teresa war eine Offenbarung, die fleischgewordene Liebesgöttin, wie sie die alten Römer nicht besser hätten beschreiben können. Bei ihr fühlte er sich nicht nur als sehr gut zahlender Kunde, sondern auch als jemand, der geachtet wurde. Auch wenn Teresa ihn nur wegen seines Ranges oder seines Einkommens bediente verstand sie es meisterhaft, sich dies nicht anmerken zu lassen. Ja, sie hielt ihn im Glauben, er sei ein Schüler, der von ihr die Vollendung der körperlichen Liebeskunst erlernen wollte. Zumindest konnte Alverado auf diese Weise eine körperlich-seelische Balance erhalten. Nur wissen durfte keiner, dass er mit hochbezahlten Prostituierten verkehrte. Dass er sich erpressbar machte wusste er. Vor allem wusste er, dass jene, die sich gerade mit sehr gekonnten Verrenkungen mit ihm vereinigte, einem der gefährlichsten Verbrecher half, den Sevilla in den letzten Jahren kennengelernt hatte. Allerdings wusste er auch, dass dieser Hochkriminelle ausschließlich gegen seinesgleichen vorging und mehr Unterstützer als Widersacher bei den Polizeibehörden rund um Sevilla besaß. Als er sichtlich erschöpft aber überglücklich neben Teresa lag sah er ihr tief in die wasserblauen Augen. "Mann, Teresa, noch eine wie dich, und ich würde in einer Woche zum Skelett abmagern", keuchte er. Dann fühlte er, wie seine Sinne schwanden. Er hörte nur noch das Lied, mit dem Teresa ihn wie einen Säugling in den Schlaf lullte. Vor seinen Augen wuchs Teresa an. Er sah ihre blanken Brüste so groß wie seinen eigenen Kopf und lehnte sich daran. Doch er begann nicht, daran zu saugen. Das Schlafbedürfnis war übermächtig. Er hörte es mehr im Kopf als bewusst, dass er seine Sache gut gemacht hatte und weiterhin ihr braver kleiner Junge war. Dann schlief er ein. Er wusste nicht, dass Teresa am nächsten Tag schon einen anderen Kunden zufriedenstellen würde, einen, den Alverado am Vortag getroffen hatte, ohne zu wissen, dass auch er auf Teresas ganz exklusiver Kundenliste stand.

__________

Mehmet Kerim, der Geschäftsführer vom Club Oriental, las die Liste der Gewinner des Preisausschreibens. Von zwölf ausgelobten Mitreisenden hatten zehn fest zugesagt, darunter ein englischer Hochschulprofessor im Ruhestand und ein deutscher Automechaniker, der seinen Jahresurlaub im September nehmen wollte. Mehmet nickte und gab die Liste an seine Sekretärin Sezen Gögsün zurück. "Sagen Sie unserem Sprachentalent bescheid, dass er die Gruppe betreuen kann! Ich hoffe nur, die Herren sind alle noch fit genug, um die ganze Reise durchzuhalten."

"Vielleicht sollten wir Doktor Sandal mitschicken, der für uns die Mittelmeerangebote betreut. Der kann neben Englisch auch Deutsch und Spanisch", sagte die Sekretärin.

"Hmm, nein besser nicht. Ich will nicht den Eindruck vermitteln, dass wir auf eine altersschwache Truppe gewartet haben. Das könnte das Wohlwollen unserer Gäste und die Bereitschaft, ihre Reiseerlebnisse in unserem Sinne weiterzugeben schmälern. Der Doktor kann am Mittelmeer bleiben. Falls welche von denen den zweiten Teil nicht mitmachen wollen, können die ja gleich dahin. Dann kann er sich für sie bereithalten", erwiderte Kerim. Seine Sekretärin bestätigte das und führte die Anweisung ihres Chefs aus. Es sollte für die Teilnehmer eine besondere Reise werden, hoffte Kerim.

__________

5. September 2001, Hof Hühnergrund

Hallo Fulvia! Ich bin was das Wachstum meiner neuen ersten Zähne angeht wohl aus der größten Pein heraus. Meine Ziehmutter hat jedoch bekundet, mich weiterhin zu stillen, auch wenn ich bereits im Stande sei, halbfeste Nahrung zu mir zu nehmen. Aber bis zu meinem ersten offiziellen Geburtstag könne und wolle sie mich auf direkte Weise ernähren. Die Erfindung von Reisewindeln erweist sich als sehr große Errungenschaft, auch wenn meine Amme und Ziehmutter der Meinung huldigt, ich müsse besseres Schreien üben. Um dieser Forderung gerecht zu werden habe ich die letzten Tage in einem Zimmer mit Brigids Nichte Kathleen verbracht, die am 18. März dieses Jahres ganz natürlich geboren wurde und somit von geistigem Ballast eines bereits erlebten Lebens unbeschwert aufwächst. Ihre leibliche Mutter, meine Zieh- und Milchschwester Galatea, hat es sich nicht nehmen lassen, mir von ihrer Milch abzugeben. Ich konnte mich diesem Angebot nicht verweigern, auch wenn Galatea zu den wenigen Personen gehört, die über meine wahre Natur orientiert sind. Sie sagte mir, während ich um korrekte und effiziente Nahrungsaufnahme bemüht war, dass es nicht verboten sei, wenn die ältere Schwester ein jüngeres Geschwisterkind stillen würde, wenn die eigene Mutter wegen anderer Dinge nicht verfügbar sei. was die mich offiziell umsorgende Ceridwen Barley betrifft, so wurde ich natürlich nicht über ihre Unternehmungen orientiert. Am Abend kehrte sie jedoch zurück und löste ihre gerade die natürliche Mutterschaft erlebende Tochter bei der Versorgung Kathleens und mir ab. Als ich im Zuge der notwendigen Hygienemaßnahmen gebadet wurde habe ich die Hypothese überprüft, ob der mein Sprachvermögen niederhaltene Schlafzauber auf den Strampelanzug aufgeprägt wurde. Die Annahme erwies sich als korrekt. Ich habe Ceridwen leise zugeflüstert, dass ich froh sei, dass sie es bisher mit mir aushielte. Sie meinte dann, dass sie dies wisse und ihrerseits großes Vergnügen empfinde, mich umsorgen zu dürfen. Auf meine behutsame Anfrage, wann mir das erste offizielle Wort gestattet werde wurde ich auf Kathleens nachvollziehbare Entwicklung verwiesen. Fange sie an, die ersten Silben zu brabbeln, dürfe ich wohl ohne Argwohn zu erregen einfache Wörter artikulieren. Könne sie ihre ersten klar formulierten Wörter aussprechen, sei auch mir die Benutzung eines infantilen Vokabulars gestattet. Wortwörtlich sagte Ceridwen "Am besten brabbelst du alles nach, was Kathie so von sich gibt. Du kannst ja ein paar Töne drüber oder drunter grummeln und brabbeln. Aber gleich kommst du wieder in den Strampler. Wenn du dein Abendessen nicht verschlafen willst sag jetzt besser nichts mehr." Immerhin wurde ich danach mit einer neuen Wochenwindel versehen, so dass ich die Unerträglichkeit, in den eigenen Ausscheidungen liegen zu müssen, erst in einer ganzen Woche wiederzuerwarten habe. Mein Versuch, das nach der Laktation drängende Aufstoßen gesittet zu überwinden und die nach außen drängende Luft aus dem Magen erst abzulassen, wenn ich alleine war vereitelte mir Ceridwen mit klopfen auf den Rücken, bis ich nicht mehr an mich halten konnte und lautstark aufstieß. "Erst in zehn Jahren musst du das damenhaft dezent hinbekommen können, kleines", hat sie dann mit einem unüberhörbaren Vergnügen kommentiert. Jetzt liege ich wieder in der Wiege. Dieses sanfte Schaukeln wirkt wahrhaftig Schlaffördernd. Ich muss den Schnuller ausspucken, bevor ich ihn gänzlich unbeabsichtigt hinunterschlucke. Gute Nacht, Fulvia!

__________

"Und die Maschine schafft die Strecke hin und zurück?" wollte der drahtige Mann in Pilotenuniform wissen. Sein Gesprächspartner im blauen, ölverschmierten Überwurf eines Mechanikers bejahte es wild. "Ich habe beide Tanks ganz vollgemacht, Mustafa. Mit der Ladung könnten Sie glatt bis Bagdad und wieder zurück."

"Ich will nicht nach Bagdad, sondern nur einmal über das Taurusgebirge, Harkan", grummelte der Pilot. "In fünf Stunden geht's los."

"Wie viele sind's diesmal?" wollte der Mechaniker wissen.

"Zehn Leute und der Reiseleiter", erwiderte Mustafa Yilmaz, der Pilot, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Ihm war nur wichtig, dass dieser Schrauber und Tankwart da die zweimotorige Propellermaschine gründlich gewartet und betankt hatte. Harkan wirkte sichtlich aufgeregt, als er hörte, wie viele Passagiere in der bereits dreißig Jahre alten Maschine mitfliegen sollten. Immerhin ging es ja nicht nur auf einen Rundflug, sondern auch zu einem wildromantischen Campingurlaub. Da mussten neben den Fluggästen auch Zelte und Ausrüstung transportiert werden. Als habe Mustafa die Gedanken des Mechanikers aufgefangen sagte er noch: "Die Zelte und die Kochausrüstung werden in drei Stunden eingeladen. In vier Stunden sind die Passagiere dran. Bis dahin möchte ich die Maschine im tadellosen Zustand haben, Harkan."

"Habe ich jemals Murks gemacht, großer Pilot?" knurrte Harkan Ösil, der Mechaniker.

"Wohl deshalb nicht, weil meine Kollegen und ich dir immer gut auf die Finger gesehen haben, Harkan", erwiderte Yilmaz. Harkan wollte nicht weiter darauf eingehen, wie abschätzig ihn die Piloten behandelten, die ihn nur als notwendiges Übel sahen, um sich nicht selbst die Finger schmutzig machen zu müssen, aber dann immer wieder was zu meckern fanden. "Die Maschine wird pünktlich fertig sein und ihre Pflicht erfüllen." Dabei lächelte er seltsam überlegen, als wolle er dem Piloten klarmachen, dass der doch nur deshalb den großen Eroberer der Lüfte spielen durfte, weil er, der am Boden festgenagelte Schrauberling, die Maschine in Form hielt. Yilmaz behielt sich vor, es dem Überwurfträger irgendwann noch einmal klar zu machen, dass ein Mechaniker kein Pilot war. Immerhin bedankte er sich bei Harkan Ösil für dessen Arbeit und hoffte, dies nicht zu früh getan zu haben.

Ösil nickte dem Piloten nach, als dieser die Hangarhalle verließ. Er prüfte noch einmal alles. Hoffentlich kam ihm keiner drauf, was er mit der bereits dreißig Jahre alten Maschine angestellt hatte! Doch die Belohnung seiner Extraarbeit war es wert. Er wusste zwar nicht, warum er die verschiedenen "Veränderungen" vornehmen musste, wollte es aber auch nicht wirklich wissen. So wie er alles hinbekommen hatte, würde keiner drauf kommen, was er angestellt hatte. Vor allem die Tankanzeige war wichtig. Er prüfte sie noch einmal und besah sich noch einmal den Füllstand der Treibstofftanks. Dann prüfte er noch einmal die Funkanlage. Ja, so ging es. Er dachte keinen Moment daran, dass er mit seiner Arbeit zwölf Menschenleben gefährdete. Er war daran gewöhnt, dass von seiner Arbeit Menschenleben abhingen, seitdem er Flugzeugmechaniker war. Doch dieser Fall verlangte nicht nur sein Können, sondern vor allem, dass er sich keinen Kopf um das Flugzeug und seine Passagiere machte. Statt dessen dachte er daran, dass er gleich nach der Abfertigung der Maschine zu ihr hinfahren würde, um sich seine Belohnung abzuholen, schön weit weg von Istanbul und dem Flugbetrieb.

Als die Lieferwagen mit den sechs 2-Personen-Zelten eintrafen beobachtete Harkan Ösil das Verladen und instruierte die Fahrer, wie sie das ganze Campingzeug so verteilen mussten, dass die Maschine gut ausbalanciert blieb. Dann kamen die Fluggäste. Harkan zog sich rechtzeitig zurück, nachdem er dem Hangarmeister eine schriftliche Bestätigung übergeben hatte, dass die zweimotorige Maschine für den Flug gewartet und betankt war. Die Fluggäste selbst wollte er nicht persönlich treffen. Er sah jedoch im Weggehen, dass es alles ältere Männer waren, mindestens sechzig Jahre alt, keine Frauen. Dagegen war er, Harkan Ösil, mit seinen vierzig Jahren ein regelrechtes Küken. Als er in seinem liebevoll gepflegten Fiat 500 in Richtung Osten saß fragte er sich keinen Moment, warum er das gemacht hatte, was er gemacht hatte. In seinem Kopf war nur noch die Begegnung auf dem Land und eine Nacht, wie sie kein Sultan im ganzen osmanischen Reich je erlebt hatte.

__________

Alfonso Hernán Colonades Dominguez hatte gedacht, als Madrilene an überfüllte, laute Städte gewöhnt zu sein. Doch die eine Woche in Istanbul hatte ihm ziemlich deutlich gemacht, dass er seit nun fünfzehn Jahren in einem sehr ruhigen Viertel der spanischen Hauptstadt weit ab vom Getöse des Stadtzentrums wohnte und es doch ein Unterschied war, ob jemand eine ganze Stadt in einer Woche durchstreifen sollte oder sich für ein beschauliches Leben im Ruhestand in einem einzigen Stadtviertel niedergelassen hatte. Neben Alfonso, der seit zehn Jahren im wohlverdienten Ruhestand lebte, hatte nur der aus London stammende Gentleman William Curby den Trubel wirklich gut verkraftet, den der Touristenbetrieb, die vielen Autos unterschiedlicher Generationen und Herkunftsländer, die Eselskarren und lärmigen Kinder boten. Curby war mit Themsewasser getauft und über dreißig Jahre lang Angestellter in London gewesen, in welcher Firma genau hatte er nicht verraten. Die Bewegungseinschränkung im linken Arm hatte sich Curby laut eigener Aussage im zweiten Weltkrieg eingehandelt. Wo und wie verriet der Engländer allerdings nicht. Dass Alfonso vor seinem Ruhestand die PS-starken Güterloks der spanischen Eisenbahngesellschaft RENFE gefahren hatte war etwas, was Colonades seinen neun Mitreisenden auch nicht unbedingt aufs Butterbrot schmieren wollte. Zehn Herren über sechzig, zwei aus Spanien, drei Briten, zwei Italiener, ein Deutscher und zwei Franzosen, hatten sich eine Woche istanbul um die Ohren gehauen und sollten nun zum zweiten von drei Reiseabschnitten starten. Der Club Oriental, ein gegen die anderen weltweit mitspielenden Reiseveranstalter vor allem auf dem Gebiet des ehemaligen osmanischen Reiches tätiger Veranstalter, hatte in einem europaweit gestarteten Preisausschreiben einen vierwöchigen Urlaub ausgelobt, der vor allem für lebenserfahrene Herren mit hohen Ansprüchen sein sollte. Colonades hatte bei dem Preisausschreiben nur mitgemacht, weil er aus dem eintönigen Witwerdasein ausbrechen wollte. Seit fünfzehn Jahren lebte er nur noch zwischen Dauerlaufstrecken im Retiro-Park, seinem Stammcafé schön weit außerhalb vom madrider Stadtzentrum und seinem 60-Quadratmeter-Appartment mit Balkon und Plasmafernseher. Sicher, er hätte ja öfter mit seinem einzigen Sohn sprechen oder zumindest Briefe austauschen können. Doch zum einen trieb sich sein Sohn seit dessen Schulzeit immer mit diesen Widernatürlichen herum, zu denen er wegen fragwürdig vererbter Kräfte dazugezählt wurde. Zum anderen benutzte Orfeo für handgeschriebene Briefe keine übliche Post, und Alfonso wollte bloß nicht ins Gerede kommen, dass bei ihm immer wieder echte Eulen ans Fenster klopften, um ihm Briefe zu bringen. Das und diese wiedernatürliche, ja gottlose Begabung, die Orfeo von seiner Mutter geerbt haben musste, deren Vorfahrin Carmela im Mittelalter mit knapper Notund dickem Umstandsbauch der Inquisition entwischt war, hatten Alfonso dazu getrieben, eine Woche nach der Beerdigung seiner Frau Luisa anzusagen, dass sein Sohn nun ganz alleine klarzukommen hatte, wenn der schon meinte, mit seinen abartigen Kräften leben zu müssen. Alfonso war umgezogen, ohne seinem missgebürtigen Sohn, wenn der überhaupt von ihm war, mitzuteilen, wohin er gezogen war. Immerhin respekttierte sein Sohn es, dass er nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Dass er jetzt in der Türkei war hatte er auch keinem auf die Nase gebunden. Selbst Pedro, sein Vetter, mit dem er zwischendurch telefonierte, wusste nichts davon.

"Mit dieser alten Kutsche sollen wir durch die Berge?" entrüstete sich Curby, als sie das zweimotorige Propellerflugzeug sahen, das wie ein Bote aus früheren Zeiten auf einem kleinen Warteplatz zwischen den Flugzeughallen auf dem Flughafen von Istanbul bereitstand. Die Maschine ähnelte einem stumpfgrauen Vogel mit starren Flügeln. Für nur zehn Mann plus den ständig in Brionisachen gekleideten Reiseleiter Kemal Özdemir erschien die Maschine eigentlich zu groß.

"Dieses Flugzeug, Señores, Signori, Gentlemen, ist unser ganzer Stolz", setzte der gerade erst dreißig Jahre alte Reiseleiter an, der sie in der letzten Woche durch Istanbul geführt hatte. "Dieses Flugzeug kann problemlos jeden Flugplatz anfliegen, ob auf Meereshöhe oder in dreitausend Metern Höhe. Die Maschine ist zuverlässig und wird ständig in bestmöglichem Zustand erhalten."

"Gut, dass wir nicht mit einem Düsenflugzeug zwischen den Bergen herumfauchen müssen ist durchaus einzusehen", wandte McGrath, ein emeritierter Geschichtsprofessor aus Edinburgh ein. "Allerdings wäre für das von Ihrer Reiseagentur erstellte Reiseprofil ein Helikopter sicherlich brauchbarer als ein altgedientes Propellerflugzeug."

"Der Club Oriental trägt sich schon mit dem Gedanken, mindestens zwei Hubschrauber anzuschaffen, wenn unser exklusives Gebirgscampingangebot den richtigen Zuspruch findet. Allerdings kann dieses Flugzeug dort nicht nur Fluggäste, sondern auch Ausrüstung und Nahrung in nötiger Menge befördern", erwiderte Kemal Özdemir im astreinen Englisch. Alfonso war froh, dass er sich in seinem Leben gut genug angestrengt hatte, die Sprache Shakespeares und Stevensons zu lernen.

"Wenn diese Maschine da unterwegs schlapp macht kriegt Ihre Firma mordsmäßig Ärger mit meinen Anwälten", warf Meißner ein, der auch schon in der verstrichenen Woche immer mal wieder mit Gerichtsprozessen gedroht hatte, wenn irgendwas passierte, was ihm die Reisefreuden vermieste. Deshalb ging Kemal wohl auch jetzt nicht auf diese Drohung ein und sagte nur, dass sie alle das Angebot bekommen hatten, jeder, der sich für das Hochgebirgscamping nicht fit genug fühlte, gleich von hier aus ans Mittelmeer zum clubeigenen Hotel mit Freizeitanlagen weiterreisen und dort die eine Woche zubringen könne, bis die anderen eintrudelten. Die Reisenden zuckten nur mit den Schultern. Keiner von ihnen wollte jetzt von diesem Abschnitt zurücktreten und sich nur an den Strand legen, wenn die anderen ihre körperlichen Grenzen austesten durften. Keiner von ihnen wollte als zu alt und zu gebrechlich rüberkommen, auch wenn nach Alfonsos Meinung vier der neun Mitreisenden besser gleich den Heimflug in ihre Herkunftsländer antreten sollten, bevor diese im Gebirge zusammenbrachen und verreckten. Doch keiner wollte hier und jetzt zurückziehen. So stiegen alle zehn und der Reiseleiter in die Propellermaschine ein. An Bord begrüßte sie ein drahtiger Mann in schmucker Uniform, der sich in akzentfreiem Englisch als Mustafa Yilmaz, der Pilot, vorstellte. Nachdem sich alle auf den sehr neuwertigen grünen Ledersitzen niedergelassen und angeschnallt hatten, holte Yilmaz beim Kontrollturm von Istanbul die Starterlaubnis ein. Colonades dachte daran, dass er selbst gerne Pilot geworden wäre. Doch seine Eltern hatten die dafür nötige Ausbildung nicht bezahlen können oder wollen. Klar, bei ihrem Beruf und mit drei Töchtern und einem Sohn konnten Alfonsos Eltern auch nicht so locker mit dem Geld umspringen.

Jeder an Bord der altgedienten Flugmaschine lauschte auf das Arbeitsgeräusch der beiden Motoren. Doch die liefen offenbar reibungslos. Vielleicht, so dachte Alfonso, wäre ein genausoalter Düsenflieger nicht so zuverlässig wie dieser fliegende Oldtimer. Zumindest hatten die Besitzer der Maschine moderne Elektronik verbaut.

Das Propellerflugzeug nahm Fahrt auf und preschte über eine wenig benutzte Startbahn. Nebenan fauchten und heulten mittlere und große Passagierjets in den Himmel hinauf. Endlich hatte das Flugzeug vom Club Oriental genug Auftrieb unter den Tragflächen, um sich vom Boden zu lösen. Die Maschine glitt leicht ruckelnd in die Luft. Erst als das Fahrwerk eingezogen wurde beruhigte sich die Maschine. Mustafa Yilmaz hielt das etwas klobig wirkende Steuerhorn fest in Händen. Über die aufgesetzten Kopfhörer bekam er die letzten Anweisungen über Funk, um nicht in die Luftverwirbelungen anderer Flugzeuge hineinzugeraten oder gar mit einer der modernen Passagiermaschinen zusammenzustoßen. Erst zwanzig Minuten nach dem Abheben schaltete Yilmaz den Autopiloten ein und entspannte sich. Dann sagte er durch, wie genau die Flugroute verlief und dass sie genug Treibstoff hatten, um das Taurusgebirge von seinen südwestlichen Ausläufern bis zur armenischen Grenze abzufliegen. Es war sogar geplant, drei große Schleifen über jenem legendären Berg zu fliegen, der in der Bibel Ararat genannt wurde. Alfonso Hernán Colonades Dominguez dachte an seine Grundschulzeit, wo er von Hermana Angelita über Gott und seine Schöpfung belehrt worden war. An die alte Nonne, die damals noch schnell mit Fingerschlägen oder anderen Strafen dabei war, hatte Alfonso immer wieder denken müssen, seitdem ihm und seiner geliebten und viel zu früh eingeschlafenen Luisa eröffnet worden war, dass ihr einziger Sohn diese widernatürlichen Sachen anstellen konnte und wo er sich mit ihr Stunden lang gestritten hatte, von wem er diese Teufelskräfte geerbt hatte. Jetzt fragte er sich, ob der Herr damals nicht doch einen Fehler gemacht hatte, als er Noah und seine Familie vor der Sintflut verschont hatte. Sicher war da auch schon ein Träger dieser vom Teufel in die Welt gesetzten Kräfte bei gewesen. Dann fiel ihm ein, dass man Gott nicht lästern durfte, und seine Entscheidungen als Fehler anzusehen war Gotteslästerung. Wer war er denn, die über ewige Zeiten hinwegreichende Weitsicht des Herren beurteilen zu dürfen? Sicher hatte dieser Flug in die Türkei auch einen höheren Zweck, und sei es der, dass ihn hier keiner dieser Unglücksvögel finden würde, die Orfeo und die anderen Missgeburten benutzten, um Briefe zu verschicken. Er musste daran denken, wie er vor fünfzehn Jahren, nachdem seine Luisa an den Folgen eines Schlaganfalls verstorben war, einen Tag nach der Beerdigung mit Orfeo gesprochen hatte.

"Orfeo, jetzt wo deine Mutter tot ist gibt es für dich keinen Grund mehr, in mein Haus zu kommen. Geh mit dieser Teufelsbraut, die du deine Ehefrau nennst und lebe dein widernatürliches Leben! Und sollte es doch noch passieren, dass ihr zwei weitere Satansbrütige in die Welt setzt, dann will ich nichts von denen wissen oder gar mit denen zu tun haben. Auch wenn ich weiß, dass du und diese Satanshure, die dich zum Leben mit diesen abartigen Kräften bekehrt hat mir einen Fluch aufhalsen könnt, so vertraue ich in die Allmacht des Herren, der mich davor beschützt. Also hol das, was du dein Eigentum nennst und verschwinde aus meinem Haus und meinem Leben!" hatte er damals gesagt, als endlich alle anderen Trauergäste fortgegangen waren.

"Ich habe euch beiden oft genug gezeigt, dass die Kräfte, die ich geerbt habe nicht von Satan sind, sondern nur ein anderer Ausdruck von Gottes Größe sind. Denn wäre ich ein Satanssohn, wie du es immer wieder behauptet hast, Vater, so hätte man mich nicht taufen können, ohne mir mit dem Weihwasser den Kopf zu verbrennen. Dann hätte ich auch wohl schlecht das heilige Kreuz berühren können, dass Mutter mir zur Firmung geschenkt hat, ja hätte niemals im Leben eine Kirche oder Kapelle betreten können, ohne Schmerzen zu erleiden. Also können meine Kräfte nur vom Herrn kommen und nicht vom Leibhaftigen."

"Das kann nur daran liegen, dass du ein halber Mensch bist, zur Hälfte ein Geschöpf des Herren und der Gehörnte wohl einen Trick kennt, seine Brut vor der Kraft des Herren zu schützen. Ich weiß nur, dass in der heiligen Schrift steht, dass die wahrhaft gottesfürchtigen sich von Zauberern und Hexen fernzuhalten haben, ja sie sogar zu vernichten haben, wo sie sie treffen."

"Was im Mittelalter genug unschuldiges Leben gekostet hat, Vater", hatte Orfeo da zu widersprechen gewagt. Dann hatte er gesagt: "Ich kann die von dieser heuchlerischen Ordensschwester in dich hineingeprügelten Gedanken nicht durch schlichte Worte aus dir heraustreiben, Vater. Deshalb erfülle ich Mutters Wunsch, dass du ein glückliches Leben haben sollst, als ihren letzten Wunsch und lasse dich dein ganz eigenes Leben leben. Als dein Sohn biete ich dir aber an, jederzeit mit dir zu sprechen, wenn du jemanden brauchst, mit dem du sprechen kannst."

"Ja, am jüngsten Tag, wenn wir zwei uns im Angesicht des Herren wiederfinden und du mit deinen Vorfahren in den Pfuhl geworfen wirst."

"Lebe wohl, Vater! Vielen Dank für alles, was du trotz deiner Verbitterung für mich getan hast!" hatte Orfeo darauf geantwortet.

Alfonso schrak aus dieser Rückbesinnung hoch, weil die Maschine unvermittelt in ein Luftloch hineinfiel. Für einen Sekundenbruchteil schwebte er mit seinem Hinterteil über dem grünen Ledersitz. Dann erst kehrte die gewohnte Eigenschwere zurück und drückte ihn fest auf die Sitzfläche.

"Wenn Sie das noch mal machen bringe ich durch, dass Ihnen die Lizenz entzogen wird!" blaffte Curby. Meißner fragte nur, ob was mit der Maschine sei.

"Luftlöcher kann ich leider nicht vorhersehen, die Herrschaften", rief Mustafa Yilmaz, der seelenruhig auf seinem Sitz saß.

"Man könnte ja meinen, Sie wären noch nie geflogen, Mr. Curby", erwiderte McGrath darauf.

"Nicht mit derartigen Apparaten", knurrte Curby. Die anderen verhielten sich ruhig, wohl auch, weil sie keine Lust hatten, diesen Vorfall größer aufzublasen als er war.

Alfonso genoss den Ausblick aus seinem Fenster. Die Maschine flog gerade über das Marmarameer hinweg einen großen Bogen zur Mittelmeerküste hin. Von hier oben sah das Meer wie ein Spiegel des Himmels aus, strahlend blau und weiß getupft. Er orientierte sich am Sonnenstand und der Uhrzeit und blickte nach Norden. Ja, da sah er schon die ersten Bergkämme, die über den Horizont hinausragten.

Es verging jedoch eine geraume Zeit, bis die Propellermaschine die Küstenlinie überflog und in die Berglandschaft des südwestlichen Taurusgebirges hieneinglitt. Jetzt übernahm Yilmaz wieder die Steuerung und änderte den Kurs der altgedienten Maschine. Beinahe meinte Alfonso, dass die linke Tragfläche an einer herausragenden Felsnase anstieß. Doch das war wohl nur eine Sinnestäuschung. Die Maschine wippte sanft wie ein auf dem Meer schwimmendes Boot. Hier in den Bergen waren die Luftströme unvorhersehbar, erinnerte sich Alfonso an die nur theoretisch gelernten Lektionen für angehende Piloten. Die Bergkämme und die Täler drückten die Luftmassen zusammen oder lenkten sie zu kleineren oder größeren Verwirbelungen. Als Alfonso das dachte fühlte er schon, wie die Maschine Schlagseite nach Links bekam. Doch nach nur einer Sekunde brachte der Pilot sie wieder in die richtige Fluglage zurück. Die beiden Motoren orgelten mit gleichmäßigem tiefen Ton, und die Propeller sahen aus wie silberne flirrende Scheiben. Einmal hüpfte die Maschine nach oben, um sofort danach in ein Luftloch zu sacken. Curby stieß wieder einen kurzen Schreckenslaut aus. Alfonso fragte sich, wie dieser Angsthase von London aus nach Istanbul gekommen war. Yilmaz zog die Maschine ein wenig höher, weil voraus ein zerklüfteter Berghang drohte. In knapp fünfzig Metern Abstand überquerten sie den Gipfel des Berges.

"Mussten Sie so knapp drüberbügeln?!" blaffte Curby den Piloten an.

"Meine Firma hat mich beauftragt, Sie alle so gut ich kann die Bergwelt erleben zu lassen. Sicher könnte ich noch um dreitausend Meter weiter aufsteigen und Ihnen von oben einen genialen Ausblick bieten. Aber mein Auftrag und die Zuteilung der Luftwege lassen das leider nicht zu", erwiderte der Pilot überlegen lächelnd, bevor er die Maschine passgenau zwischen zwei Berghänge hindurchmanövrierte. Alfonso bewunderte den Piloten, wie ruhig er diese gefährliche Route beflog. Normale Touristenkutscher hätten hier sicher schon Probleme bekommen oder wären am besten mehr als zehn Kilometer hoch über die Berge hinweggeflogen.

Obwohl hier gerade ein heftiger Wind wehte gönnte es Yilmaz sich und den Fluggästen, tief in ein langgezogenes Tal einzutauchen und knapp hundert Meter über Grund dahinzugleiten. Das Rütteln und Ruckeln der Maschine glich er mit erstaunlicher Gelassenheit aus. Die Maschine gehorchte seinen Hand- und Beinbewegungen ohne Verzögerung. Offenbar flog Yilmaz diese Strecke nicht zum ersten Mal. Dann hob er die Nase des Propellerflugzeugs an und ließ es um mindestens dreihundert Meter aufsteigen, um das wie eine Sackgasse endende Tal zu verlassen und über den daran angrenzenden Berghang hinwegzukommen.

"Dafür bin ich Pilot geworden, Gentlemen", verkündete Mustafa Yilmaz. "So zwischen den Bergen dahinzugleiten wie ein Adler, das ist der Grund, warum ich das Fliegen gelernt habe."

"Ach, und ich dachte, weil Piloten mehr verdienen als Busfahrer", warf Curby mit verächtlichem Tonfall ein.

"Weil es keinen Bus gibt, der so hoch in die Berge hinauffindet wie unser gutes Mädchen hier", ging Yilmaz auf diesen Einwand ein. Dann ließ er die Maschine wieder absinken, um sie auf halber Höhe eines anderen Berges dahingleiten zu lassen.

So flog die Maschine gut eine Stunde lang, bis erst der linke Motor und dann auch der rechte merkwürdig prustende und spotzende Geräusche von sich gab. Mustafa Yilmaz blickte sofort auf die Instrumente und vor allem auf die Tankanzeige. Die zeigte ihm, dass die beiden Tanks noch drei Viertel voll waren. Doch warum stotterten die Motoren. Er blickte auf den Öldruckanzeiger. Auch alles in Ordnung. Die beiden Motoren waren eigentlich gut genug geschmiert. Auch die Kühlung lief wohl weiter. Er gab Gas. Für einige Sekunden röhrten die beiden Triebwerke noch einmal kräftig los. Die Maschine gewann durch den zusätzlichen Vortrieb noch einmal zweihundert Meter Höhe. Dann ruckelten die beiden Motoren, blubberten und stotterten, um dann mit einem letzten Knattern ihren Dienst einzustellen. Sofort versuchte Yilmaz, die beiden Triebwerke wieder in Gang zu setzen. Doch es misslang. Dann sah er auf die Tankanzeige. Diese war soeben von ihrem beruhigenden Füllstand auf null abgesackt. Aber das konnte nicht stimmen. Die Tanks konnten unmöglich so plötzlich leergelaufen sein. Mustafa stülpte sich das Sprechbesteck über und drückte die Sendetaste am Steuerhorn. "Achtung, hier Flug Oriental null drei null! Mayday Mayday mayday! Tankversagen und Triebwerksausfall!" sprach er. Doch die grüne Lampe, dass der Sender seine Worte auch hinausschickte leuchtete nicht. Er ließ den Knopf los. Die Fluggäste hinter ihm geriten in verständliche Unruhe. Noch einmal drückte er die Sendetaste und meldete den Notfall. Doch er hörte nichts, nicht mal das atmosphärische Knistern und Rauschen, das sonst den Funk erfüllte. "Wenn Sie uns hier verarschen wollen wird's finster!" brüllte ihn dieser Engländer an, der offenbar Flugangst hatte und jetzt wohl dachte, er, Mustafa Yilmaz, wolle sich einen Scherz damit machen. Noch einmal versuchte er, einen der Motoren anzuwerfen. doch nicht das kleinste Geräusch erklang. Mittlerweile drehten sich die beiden Propeller wieder so langsam, dass ihre drei Blätter klar auseinanderzuhalten waren. Yilmaz versuchte es noch einmal mit dem Funk. Dann bekam er selbst einen Riesenschreck. Unvermittelt erloschen alle elektronischen Anzeigen. Nur die analogen Instrumente zeigten noch Fluggeschwindigkeit, Sinkrate und Richtung an. Alles was Strom brauchte war gerade ausgefallen. Was immer passiert war, das konnte kein Zufall sein. Yilmaz fühlte, wie der Ausfall der Servosysteme die Steuerung schwerfällig machte. Einige Sekunden lang konnte er nichts anderes tun, als das Steuerhorn fest in den Händen zu halten und zu hoffen, dass keine Turbulenz die Maschine aus der Bahn drückte. Dann erkannte er, dass sie wohl gerade noch genug Geschwindigkeit hatten, um ohne abzuschmieren zwischen die beiden vor ihm aufragenden Berge zu tauchen. Wenn er es schaffte, die Maschine in einen stabilen Gleitflug zu bekommen, konnte er in einem der felsigen Täler notlanden und hoffen, nicht gegen einen der zählebigen Nadelbäume zu krachen oder einen Felsvorsprung zu rammen.

"Machen Sie gefälligst die Motoren wieder an, Mann!" schrie ihm dieser Engländer von hinten zu. Mustafa war froh, dass er noch immer die Kopfhörer trug. Die filterten das Geschrei auf erträgliche Lautstärke runter.

"Die Treibstoffzufuhr ist ausgefallen. Motoren ausgefallen", stieß Yilmaz aus und schickte dem noch einen türkischen Kraftausdruck hinterher, den außer ihn nur Kemal Özdemir verstand, der selbst nicht wusste, wie er auf die neue Lage reagieren sollte.

"Mann, kriegen Sie den verdammten Vogel wieder zum laufen und fliegen Sie gefälligst anständig weiter!!" krakehlte Curby. Yilmaz sah nur auf die verbliebenen Instrumente, vor allem die Geschwindigkeits- und Steigratenanzeige. Er brauchte den passenden Flugwinkel. "Sofort das Ding wieder hochziehen, Versager!" brüllte ihn dieser Engländer an. Wieso klang die Stimme schon so nahe hinter ihm, wo der doch drei Reihen weiter hinter dem Pilotensitz gewesen war. Da klatschte es laut. Dem folgte ein dumpfer Schlag. Yilmaz wagte es, von den Instrumenten aufzusehen und erkannte, dass der alte Engländer auf dem Boden lag. Özdemir stand über ihm und besah sich offenbar das Gesicht des am boden liegenden. "Bring die Kiste runter, Mustafa, wie auch immer!" zischte Kemal seinem Kollegen und Landsmann in der gemeinsamen Muttersprache zu.

"Da liegt mir auch eine ganze Menge dran!" knurrte Yilmaz. Dann dachte er an ein Gebet, das in Not geratenen Allahs Beistand erflehen sollte. Doch wenn der Allmächtige beschlossen hatte, ihn und alle anderen hier heute sterben zu lassen? Nein, noch konnte er die Maschine steuern und wohl auch irgendwie landen. Aufgeben war bis heute ein Fremdwort für ihn gewesen und sollte es auch bleiben, wenn ihm sein eigenes Leben lieb war. Wenn er die da hinter sich sitzenden sah erkannte er, dass er selbst noch viel zu jung zum sterben war. Er war der Pilot. Das war doch gelacht, wenn er bei einem Flugzeugabsturz draufgehen sollte, solange er noch gesunde Augen und Kraft in den Armen hatte, um die schwerfällige Steuerung zu bedienen.

Ein Luftloch ließ die Maschine kurz absacken. Yilmaz nutzte diesen Fall jedoch, um durch geschickte Trimmung die Vorwärtsgeschwindigkeit zu steigern. Dadurch bekam das Flugzeug wieder mehr Auftrieb. Jetzt konnte er die antriebslose Maschine sogar in eine stabile Lage zwingen. Die Sinkrate verringerte sich, bis ein von einem der Berge fortgedrückter Windstoß die Steuerbordtragfläche erfasste und kräftig beutelte.

__________

Das Wiehern, Hufgetrampel auf einer Koppel und das rhythmische Schwingen von großen Flügeln begrüßte die junge Hexe im reißfesten grünen Umhang schon, bevor sie um die wie aus grauen Milchglassteinen errichtete Mauer herumging. Sie sah achtzehn rotbraune schlanke Pferde mit flammenroten Mähnen und Schweifen und dito gefiederten Flügeln. Hier war sie also richtig. Das war das Firefax-Gestüt in der Grafschaft Derbyshire. Hier sollte sie ihren ersten Auftrag erledigen, die Zuchtbücher mit den natürlich vorhandenen Aeton-Pferden vergleichen. Melissa Whitesand dachte an die Zeit zurück, wo sie gerade sieben Jahre alt war und da wie viele Mädchen auf der ganzen Welt ihre Liebe zu Pferden entdeckt hatte. Damals hatte sie zwischendurch auf Blizzard, einem weißen Pony reiten dürfen, dass im Verruf gestanden hatte, jeden abzuwerfen, der es von der falschen Seite bestieg. Doch gegen die pfeilschnell über die Koppel galoppierenden oder raketengleich in mehr als hundert Metern Höhe über ihrem Kopf dahinjagenden geflügelten Füchse war Blizzard wohl nur ein sachtes Schneeflöckchen gewesen. Melissa sah junge Männer in grüner Lederkleidung. Sie wusste, dass das Leder aus der Haut echter grüner Drachen gemacht worden war. Die Männer saßen auf den fliegenden Pferden. Sie erkannte vier Stuten, die offenbar wenige Wochen vor dem Fohlen standen und einen Hengst, der sie mit aufmerksamem Blick seiner bernsteingelben Augen unter Beobachtung hielt. Dann erkannte sie das Paar in grasgrüner Aufmachung. Die beiden sahen die Besucherin auch und winkten ihr zu.

"Ah, Sie sind die Amtsanwärterin aus der TWB", grüßte der Mann, offenbar ein Zauberer, als Mel auf normale Sprechweite herankam. "Whitesand, richtig?"

"Stimmt, Sir. Whitesand, Melissa Whitesand", stellte sich Mel korrekt vor.

"Ach, noch ein M-Name", grinste der Mann und zwinkerte der Frau zu, wohl seine Ehefrau. "Martin Trott, und das ist meine holde Gattin Maura. Uns gehört das hier alles. Willkommen auf dem Firefax-Hof." Melissa begrüßte auch Mrs. Trott. "Ich gehe mal davon aus, dass die Sie nicht aus dem sicheren Büro rausgelassen haben, ohne sich schon mal zu informieren, was wir hier so machen", sagte Mr. Trott. Mel nickte. Dann erwähnte sie, was sie über das Gestüt Firefaxwusste, dass es seinen Namen von einem preisgekrönten Flugrennpferd im Jahre 1740 erhalten hatte, welches als Vater von zwanzig unterschiedlich geschlechtlichen Renn- und Ausdauer-Aetons in die Zuchtgeschichte eingegangen war. Mrs. Trott deutete auf eine der trächtigen Stuten und erwähnte, dass dies Golden Shour sei, die derzeit jüngste Nachfahrin von Firefax. "In zwei Monaten dürfte sie die Linie verlängern. Wir wissen noch nicht, ob sie einen kleinen Hengst oder eine kleine Stute trägt", sagte Mrs. Trott.

"Ich erhielt den Auftrag, Ihren Bestand an bereits geborenen Tieren mit ihren und unseren Zuchtlisten zu vergleichen. Aber ich werde natürlich eintragen, welche Ihrer Stuten gerade tragend sind und wann mit den Fohlen gerechnet werden kann", erwiderte Melissa, die sich regelrecht an der geschmeidigen Gangart der hoffnungsvollen Stute festgeguckt hatte. Wenn die mit Fohlen in Vorplanung noch immer so grazil über die Koppel trabte war die wohl auch sonst sehr wendig. Wie sie flog konnte Mel nicht sehen.

Sie erfüllte ihren Auftrag und verglich die Zuchtbücher mit den vorhandenen Aeton-Pferden. Als Mr. Trott sie warnte, dem Hengst Scaredragon nicht zu nahe zu kommen war es eigentlich schon zu spät. Denn Scaredragon, wohl der stärkste und wildeste der hier gehaltenen Deckhengste, hatte Mel schon ins Visier genommen, weil sie sich auffällig nahe bei Golden Shour aufhielt. Offenbar war er für Golden Shours Fohlen verantwortlich. Mel wusste, dass sie dem Hengst nicht mehr weglaufen konnte und davondisapparieren wollte sie auch nicht. So stellte sie sich mit einer Hand am Zauberstab hin und sah den Hengst an, der auf sie zutrabte. Als er fast auf Beinlänge an sie heran war ließ sie eine gleißendhelle Mauer aus Licht zwischen ihm und sich hochschnellen. Laut wiehernd prallte der Hengst zurück. Seine feuerroten Flügel schwangen aus. Dann trottete Scaredragon einige Meter zurück. Mel behielt ihn vor der Zauberstabspitze, bereit, ihm einen Beruhigungszauber aufzuerlegen. Die Trotts sahen dem zu. Dann nickte Martin Trott beifällig.

"Oha, so schnell so einen gekonnten Rücktreibezauber zu bringen habe ich damals in Hogwarts nicht gelernt, junge Dame. Auf jeden Fall haben sie ihm gezeigt, dass sie sich nicht von ihm beeindrucken lassen. Aber außer Clint, meinem Bereiter, hat es noch keiner geschafft, sich auf ihn draufzusetzen und dahinzubringen, wohin er und nicht der Hengst wollte. Auf jeden Fall ist das Scaredragon."

"Soweit ich gelesen habe leihen Sie ihn auch an die fünf anderen Gestüte für Aeton-Pferde aus", bemerkte Melissa Whitesand. Mr. Trott nickte.

"Ja, Sandstorm, der in der letzten Saison das Rennen von den Orkneys bis nach Cornwall gewonnen hat ist von ihm", sagte Mr. Trott. Mel nickte. Das hatte sie auch schon gelesen.

Weil die Überprüfung von Zuchtbüchern und vorhandenen Tieren so reibungslos geklappt hatte hatte Mel noch eine halbe Stunde Zeit und ließ sich nicht lange bitten, auf einer der gerade nicht tragenden Stuten, Sunrise, ein paar Runden über das Gestüt und dessen gegen Muggel abgeschirmte Umgebung zu fliegen. Mel fühlte sich dabei wirklich wieder wie ein kleines Mädchen. Sie dachte an She-Ra, die Prinzessin der Macht, die in den Achtzigern als weibliches Gegenstück zum Comic-Helden He-Man entwickelt worden war. Die war auch immer auf einem fliegenden Pferd geritten. Als Mel dann später gelernt hatte, dass der Name dieser Superheldin eigentlich "Weiblicher ägyptischer Sonnengott" übersetzt werden musste, hatte sie gelacht. Insofern passte ein fuchsbraunes Flügelpferd namens Sunrise zu einer über den Himmel dahinziehenden Sonnengöttin, die an einem Tag die ganze Welt umrunden musste, um jedem Lebewesen Licht und Wärme zu bringen. Mrs. Trott, die auf der gerade kein Fohlen tragenden Stute Ruby Rose ritt, kam nicht mehr mit Mel mit, die mit ihrem Hüftgurt am Sattel gut gesichert ihrem Leihpferd einige verwegene Flugmanöver abverlangte. Als dann aber Mels silberne Weltzeituhr mit sprachgesteuerter Weckfunktion laut "Es wird Zeit. Dein nächster Auftrag wartet!" trällerte, musste Mel leider schon wieder landen. Jedenfalls strahlte sie die beiden Hofbesitzer an.

"Ist doch was anderes als ein Besen, nicht wahr", meinte Mrs. Trott, deren Strahlen Mel verriet, dass sie wohl auch ein geborenes Pferdemädchen war.

"Eindeutig", sagte Mel. Zwar kannte sie Besen und hatte auch schon Quidditch gespielt, empfand das Reiten auf einem lebenden Pferd aber trotzdem immer noch als wirkliches Reiten. Mel bedankte sich für die Vorführung der Tiere und verließ das Gestüt. Außerhalb der Ummauerung disapparierte sie. Mittlerweile hatte sie keine Angst mehr davor, auf diese Art den Standort zu wechseln.

"Sunrise durften Sie reiten. Und die hat sich von einer Hexe reiten lassen?" fragte Mels direkter Vorgesetzter, als sie ihm die Unterlagen vorlegte und von ihrem Besuch berichtete. Mel fragte, ob ihr Vorgesetzter das geflügelte Pferd kannte. Er nickte und erwiderte, dass er es eigentlich seiner Tochter zum Abschluss schenken wollte. Doch "Das Biest" hatte sich bei Hexen immer bockig und abweisend verhalten. Mel grummelte, dass Mr. Trott und dessen Frau ihr das ruhig mal hätten sagen können. "Die wollten wissen, ob dieses feurige Flügelmädel immer noch so bockig ist", erwiderte Melissas Vorgesetzter. "Das Sie sie reiten konnten dürfte die beiden sichtlich beruhigt haben, dass sie sie auch irgendwann an Hexen ausleihen oder verkaufen dürfen." Mel nickte dazu nur. Dann erklärte sie sich bereit, den nächsten Auftrag zu übernehmen.

"In der Menagerie in der Winkelgasse hat jemand einen äquatorialen Kaiserfrosch bestellt. Da diese Tiere erstens sehr groß und zweitens sehr gefräßig sind will ich, dass jemand offizielles die Übergabe dieses Tieres bezeugt. Heute Nachmittag erwarte ich dann Ihren Bericht." Melissa nickte. Sie sah auf die Wanduhr im Büro, die zugleich auch das Datum zeigte. Jetzt war es zwei Minuten vor halb zwölf am zehnten September des Jahres 2001. Sie hatte also noch einige Stunden zu tun.

__________

Alle an Bord schrien vor Schreck auf, als das antriebslos dahingleitende Flugzeug nach Backbord herumgeworfen wurde. Alfonso Colonades wollte schon anfangen, sein letztes Gebet zu sprechen und seinen Geist in die Hände seines Gottes zu befehlen. Da ruckte es, und die Maschine stieg wieder nach oben. Der Pilot da vorne musste Eis in den Adern und Nerven wie Stahlseile haben, dass er den drohenden Absturz mit dieser Unverfrorenheit abgewendet hatte. Jedenfalls gewann das Flugzeug nicht nur etwas mehr höhe, sondern durch geschicktes Austrimmen der Ruder auch etwas mehr Geschwindigkeit, was gleichbedeutend mit Auftrieb war. So konnte das alte Flugzeug wie ein übergroßer Flugdrachen zwischen den Bergen dahinsegeln. Ja, der Pilot fand sogar solche freien Stellen, wo der von der Sonne beschienene Boden genug Aufwind erzeugte, um das Absinken noch weiter hinauszuzögern. Warum der Pilot keinen Hilferuf mehr durchgab wusste Alfonso nicht. Er dachte nur daran, dass sie alle hier im Taurusgebirge stranden würden, womöglich gleich unrettbar abstürzten und starben. War es wirklich so gut, dass niemand von seinen Freunden und Verwandten wusste, wo er war? Er hatte noch nicht einmal eines dieser neumodischen und nervigen Mobiltelefone, um irgendwen noch einmal anzurufen und sich zu verabschieden.

Wieder ruckelte das Flugzeug. Es schlingerte durch die von den Berghängen verdrängte Luft. Dann kippte es einmal bedrohlich weit nach vorne, um im nächsten Moment wieder in waagerechte Fluglage zurückzuspringen. Um sie alle herum erhoben sich die Gipfel des Taurusgebirges. Zwischen ihnen schnitten tiefe Täler und Schluchten durch die Landschaft. Alfonso sah auf seine für ihn sehr neumodische Armbanduhr und stellte fest, dass sie schon seit drei Stunden unterwegs waren. Gleich war es halb drei am Nachmittag des zehnten Septembers. Entweder feierte er ab heute zweimal im Jahr Geburtstag oder wurde von seinen Verwandten an diesem oder den kommenden Tagen alljährlich betrauert. Doch wenn ihn keiner vermisste? Orfeo würde ihn vielleicht doch vermissen. Er war sich sicher, dass Luisas mit abartigen Kräften beladener Sohn sich trotz der Absprache mit ihm erkundigt hatte, wo er, den er für seinen leiblichen Vater hielt, jetzt wohnte. Diese Teufelskraftträger hatten Mittel, um jeden zu finden, den sie finden wollten, wenn der nicht mit einem Unauffindbarkeitszauber dagegenhielt. Das hatte er selbst doch erfahren müssen, als seine Frau und er beschlossen hatten, nicht auf diesen von einem Waldkauz gebrachten Brief zu reagieren und Orfeo nicht in diese Schule für Schwarzkünstler schicken wollte. Sie waren verreist, ja sogar nach Chile geflüchtet. Doch diese Abartigen hatten sie dort aufgespürt, und am Ende war Orfeo doch in diese widerwärtige Schule gegangen, deren Namen Alfonso nicht einmal in Gedanken aussprechen würde. Das war über dreißig Jahre her. Was mochten diese Leute heutzutage alles können? Am Ende konnten sie die, die sie suchten sogar zu sich hinzaubern, wenn sie ein Haar oder ein Stück Kleidung von ihnen hatten. War das jetzt eine Furcht oder eine stille Hoffnung, dass die das vielleicht konnten? Alfonso ertappte sich dabei, dass er sich gerade wünschte, selbst zaubern zu können, irgendwas zu machen, dass das Flugzeug sicher landete oder einfach so aus der nach unten gleitenden Maschine verschwinden und die anderen ihrem Schicksal überlassen. Dann schlug er sich vor die Stirn und schimpfte halblaut: "Weiche Satanas und wage es nie wieder, mir sowas einzuflüstern!" Er sprach zwar spanisch, doch Kemal Özdemir und Alfonsos Landsmann Rodrígues verstanden ihn. Als sich Alfonso noch bekreuzigte, um die böse Kraft, die ihn gerade versucht hatte enndgültig zu vertreiben, fragte Rodrígues ihn, warum er dachte, der Teufel habe ihn gerade versucht. "Ich dachte, wie praktisch es wäre, wenn ich oder sonst wer hier mit Magie das Flugzeug landen würde", flüsterte er seinem Landsmann zu. Dieser grinste und sagte: "Schön wäre das. Ich bin noch zu jung zum sterben." Alfonso sah ihn an. Der Landsmann hatte schneeweißes Haar, tiefe Falten im Gesicht und trug mindestens anderthalb Zentner Bauchfleisch vor sich her. Außerdem trug er eine altmodisch wirkende Brille mit dicken Gläsern. Und der alte Knacker hielt sich für zu jung zum sterben.

"In dem Tal da gehen wir runter!" rief Mustafa Yilmaz auf Englisch und steuerte die immer tiefer hinabsinkende Maschine entsprechend, dass sie zwischen bedrohlich emporragenden Berghängen dahinglitt und auf die felsige Sohle eines tiefen Tales hinabsank. Der in Schluchten und engen Tälern aufkommende Wind beutelte die langsam der Schwerkraft erliegende Maschine kräftig und drängte sie mal nach links und mal nach rechts auf einen der flankierenden Berghänge zu. Der Pilot kämpfte jedoch verbissen mit dem flüchtigen Element und gegen die immer stärker wirkende Schwerkraft. Dann geriet die Maschine in einen tückischen Luftwirbel und wurde mit einem Ruck um hundertachtzig Grad herumgerissen. Das kostete die antriebslose Maschine einen Großteil des verbliebenen Auftriebs. Yilmaz schaffte es gerade so noch, die Maschine in die sichere Fluglage zurückzudrehen. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Jetzt konnte er nur noch zusehen, in einem möglichst flachen Winkel zu bleiben. Ein Aufwind verschaffte der Maschine noch eine Gnadenfrist. Es fehlten noch fünfzig Meter bis zum Grund. "Brillen runter! Köpfe zwischen die Knie und Arme davor!" rief Yilmaz, der jetzt wo das unvermeidliche unmittelbar bevorstand darauf kam, Sicherheitsanweisungen für die Notlandung erteilen zu müssen. Dann fehlten nur noch zwanzig Meter bis zum Boden. Mustafa ließ das Fahrwerk ausfahren. Das hob den letzten Rest von Auftrieb auf. Die Maschine wurde zum niederfallenden Stück Metall. Als die Räder des Fahrwerks den Boden trafen krachte es laut. Die linke Tragfläche schrammte funkensprühend an einem Felsvorsprung entlang. Die Federung des Fahrwerks protestierte laut kreischend gegen das harte Aufsetzen. Dann knallte es, als die Räder am Boden gegen Erhebungen stießen. Die Achsen des Fahrwerks brachen weg wie abgeknickte Streichhölzer. Keine Zehntelsekunde später schlug der bloße Bauch der Propellermaschine auf den Boden. Laut kreischend und knirschend fräste das alte Flugzeug seinen Weg in den Boden. Funken flogen um die vom Himmel gefallene Maschine herum. Laut krachend prallten die Tragflächen gegen Hindernisse. Dann gab es noch mal einen heftigen Stoß, der alle Insassen mit Wucht in die umgelegten Sicherheitsgurte hineinwarf. Dann war Ruhe. Keine Bewegung war mehr zu spüren. Alfonsos Ohren vermittelten nur ein leises Nachklingen, weil die ihnen zugemuteten Geräusche so laut gewesen waren. Sein Gleichgewichtssinn erholte sich nur langsam. Dann hörte er das Knacken und Knirschen von strapaziertem Metall. Doch er roch weder ausgelaufenen Treibstoff, noch hörte er das unheilverheißende Knistern oder Prasseln eines Feuers an Bord. Wie auch immer er es geschafft hatte, Mustafa Yilmaz hatte sie alle zu Boden gebracht. Alfonso horchte in sich hinein, ob er Schmerzen empfand. Ja, in seinem Bauchraum war ein unangenehmer Druck. Das lag wohl an der Wucht, mit der er in den Sicherheitsgurt geschleudert worden war. Hoffentlich hatte er sich keine inneren Verletzungen eingefangen!

"Bitte alle Melden, die wach sind!" rief ein sichtlich um Fassung ringender Kemal Özdemir. Alfonso gab einen Laut der Erleichterung von sich. Dann meldete sich auch McGrath, dann auch alle anderen. Mustafa Yilmaz wand sich gerade aus dem Pilotensitz und prüfte nach, ob er sich verletzt hatte. Dann sagte er: "Gentlemen, als der für diesen Flug zuständige Kapitän bedauere ich, Sie erstens nicht am gewünschten Zielort und zweitens nicht mit der für Fluggäste zu erbringenden Sicherheit gelandet zu haben. Falls niemand sich heftig Verletzt hat, können wir aber zumindest sagen, dass wir es lebend geschafft haben."

"Curby hatte recht, diesem alten Eimer nicht zu trauen", knurrte der emeritierte Geschichtsprofessor McGrath. "Hat mindestens der Funk funktioniert?" Yilmaz erstarrte. Die Frage hatte er wohl befürchtet. Dann sagte er: "Ich gehe davon aus, dass die im Gebirge stationierten Streitkräfte meine Funkanrufe gehört haben und schon Rettungsmannschaften in Marsch gesetzt haben. Um diesen zu zeigen, wo wir sind werden wir gleich draußen ein Signalfeuer anzünden, damit der Rauch oder das Licht zeigen, wo wir sind. Außerdem haben wir eine Notausrüstung mit, zu der auch eine Signalpistole und sechs Leuchtgeschosse gehören. Ist jemand ernsthaft verletzt?" Die alten Männer stöhnten, weil ihnen die Bandscheiben und die Wirbelsäulen schmerzten. Meißner hatte sich bei der Bruchlandung eine Platzwunde an der Stirn eingehandelt. Diese wurde von Kemal Özdemir und Mustafa Yilmaz desinfiziert und wie mit einem Turban verbunden. Ansonsten hatte niemand sichtbare Verletzungen davongetragen. Alfonso fühlte nur, dass sein über siebzig Jahre arbeitendes Herz die Aufregung nicht so leicht wegstecken wollte. Trotz täglicher Laufübungen hatte er nicht verhindern können, dass seine treue Blutpumpe in die Jahre gekommen war. Jetzt waren sie auch noch mehr als tausend Meter über Meereshöhe. Beim Aufschlag hatte er es in den Ohren gespürt, wie der Kabinendruck abgefallen war. Der Rumpf wies mehrere gezackte Risse auf und am Boden sogar ein Loch genau zwischen den Sitzreihen. Feuer war jedoch keines ausgebrochen. Das sprach dafür, dass kein Tropfen Treibstoff mehr vorhanden gewesen war. Hatten die in Istanbul etwa mit dem Benzin geschludert? Aber dann hätte der Pilot doch merken müssen, dass sie nie im Leben so weit fliegen konnten. Kaum hatte Alfonso diesen Gedanken gedacht fragte McGrath:

"Mr. Yilmaz, wie kommt es, dass die Motoren ausfielen? Wieso rieche ich keinen Treibstoff? Könnte es sein, dass jemand aus Ihrer Firma beim Auftanken zu wenig eingefüllt hat? Falls ja, warum haben Sie das nicht auf der Tankuhr gesehen? Haben Sie Ihren Pilotenschein beim Pokern gewonnen oder was?"

"Zu den Fragen mit dem Sprit", setzte Yilmaz an: "Ich habe vor dem Abflug genau auf die Tankuhr gesehen und die stand auf "voll" für beide Tanks. Wieso wir trotzdem keinen Sprit mehr haben will ich selbst ganz gerne wissen. Was die Frage nach meinem Pilotenschein angeht, so könnte ich den nicht beim Pokern gewonnen haben und mir dann noch so eine dämliche Frage anhören, Sir. Denn wenn ich die Kiste nicht auch ohne Motor hätte halten können wären Sie und ich schon aus zweitausend Metern höhe wie ein Stein runtergeknallt. Dann könnten Sie mir so eine Frage gar nicht stellen, Sir."

"Das ist wohl logisch", pflichtete Meißner dem Piloten bei. Dann fragte er, wie genau es jetzt weitergehen würde. Kemal ergriff nun das Wort:

"Wenn unsere Ausrüstung noch zu gebrauchen ist haben wir sogar Glück, weil wir nicht unter freiem Himmel schlafen müssen und haben sogar genug zu essen für eine Woche dabei. Bis dahin dürften die Rettungseinheiten uns längst gefunden und in Sicherheit gebracht haben. Selbstverständlich wird der Club Oriental Sie alle für den erlittenen Schaden und die Unannehmlichkeiten unserer Notlage entschädigen."

"Was wohl das mindeste ist", grummelte Meißner. Dann erwachte Curby aus der Bewusstlosigkeit und sah Kemal an. "Du Kümmeltürke hast mir eine reingehauen", schnarrte er und deutete auf sein Kinn. "Grüß deinen Allah von mir, wenn du ihn gleich zu sehen kriegst!" Er sprang auf und wollte sich auf Kemal stürzen. Doch gleich sechs Hände packten zu und rissen ihn zurück. Alfonso sah dem ganzen nur zu. "Sie wollten unserem Piloten an den Kragen gehen. Das hätte uns alle umgebracht", rechtfertigte Kemal Özdemir die ruppige Art, wie er Curby ruhiggestellt hatte. Dann meinte McGrath: "Abgesehen davon dürfen wir alle unserem Herrgott danken, egal ob wir ihn himmlischer Vater oder Allah nennen, dass wir überhaupt alle noch bewegungsfähig sind."

"Dann sollten wir zusehen, aus der Kiste rauszukommen", knurrte Meißner und machte Anstalten, die durch die Bruchlandung verzogene Tür zu öffnen. Das ging aber nicht so leicht, wie er sich das vorgestellt hatte. Alfonso fragte sich derweilen, warum der Allmächtige sie überhaupt in diese Lage gebracht hatte. War das eine Prüfung? Wer wurde da warum geprüft? Ging es um den Piloten, der zeigen sollte, wozu er fähig war? Oder war dieser Unfall ein Test, ob die schon angejahrten Fluggäste noch genug Lust am Leben hatten, um sich aus dieser Lage herauszukämpfen. Curby hatte offenbar keine große Lust mehr am Leben gehabt, sonst hätte er wohl nicht versucht, den Piloten anzufallen.

Mit Bordwerkzeugen und der Kraft von vier Männern bekamen sie die Tür dann doch auf. Kalte Gebirgsluft wehte zu ihnen hinein. Das putschte sie alle auf, sofort aus der ramponierten Maschine hinauszuklettern. Alfonso konnte die Schleifspur sehen, die das Flugzeug in den Boden gezogen hatte. Weiter zurück sah er die Verstrebungen des weggeknickten Fahrwerks und sogar zwei der Räder.

Zu ihrer großen Erleichterung war die Ausrüstung in den wetter- und stoßfesten Kisten noch unversehrt. Die dreißig Liter Spiritus für die sechs Kocher waren in einem feuerfesten Metallkanister sicher untergebracht.

Murrend und nörgelnd bauten die Männer die sechs Zelte auf. Die Einteilung war schnell erledigt. Die Angehörigen aus einem Land teilten sich je ein Zelt. Eine Woche lang, so war es eh geplant, sollten die nun notgelandeten zusammen aushalten.

Mit ein wenig Spiritus und dem Holz einer Kiste, in der Gemüse- und Fleischkonserven gelagert waren, bekamen Mustafa Yilmaz und der italienische Mitreisende Bartoli ein helles Feuer hin. Mit etwas Maschinenöl aus dem Werkzeugkasten zauberten sie sogar eine dicke dunkle Rauchsäule. Diese stank zwar widerwärtig, mochte am Ende aber die Hilfstruppen herbeirufen, die sie aus diesem Tal herausholen sollten. Als es dunkel wurde, kramte Yilmaz die Leuchtpistole aus dem Notausrüstungskasten hervor, lud sie mit roter Signalmunition und zielte genau auf den zwischen den Bergmassiven hindurchlugenden Mond. Laut zischend zog das Geschoss eine weithin sichtbare Spur in den Nachthimmel. Auf dem Scheitelpunkt seines Fluges explodierte das Geschoss und erblühte zu einer hoch am Himmel stehenden Feuerblume. Diese blieb mindestens eine halbe Minute bestehen. Dann erlosch die Leuchtspur und die Feuerblume.

"Ich feuere in einer Stunde noch einmal", sagte Yilmaz. Dann überließ er es seinem Kollegen, die unfreiwillig hier campende Reisegruppe weiterzubetreuen. Er umschritt das Flugzeug. Was war mit der Tankanzeige passiert? Warum hatte dieser Schrauberling Ösil die Tanks nicht vollgemacht? Hatte der am Ende auch geglaubt, die Tanks wären voll, weil die Anzeige kaputt war? Dann hätte der das aber vorher schon checken müssen, ob alle Geräte und Anzeigen so arbeiteten wie sie sollten. Mustafa Yilmaz wurde das Gefühl nicht los, dass Ösil die Maschine sabotiert hatte. Er dachte da vor allem an die schlagartig ausgefallene Bordelektronik. Zwar hatte er den alten Männern aufgetischt, er habe wohl wen von den Militärs in den Bergen erreicht. Doch sicher war er da nicht, dass überhaupt ein Funke Funksignal aus der Antenne hinausgeflogen war. Außerdem gab es in der Gegend nicht nur reguläre Streitkräfte. Am Ende hatten sie mit ihrer Notlandung noch eine Bande kurdischer Bergbanditen oder gar Terroristen aufgescheucht. Dann konnten sie sich aber warm anziehen oder besser ihren Frieden mit Allah machen. Am Ende mochten sie noch den Allerhöchsten verfluchen, dass er sie nicht gleich bei der Landung zu sich gerufen hatte.

Als Mustafa noch ein Leuchtsignal in den Nachthimmel geschossen hatte versammelte sich die zwölfköpfige Männerrunde um das große Feuer und aß von den mitgebrachten Dörrfleischportionen und dem Fladenbrot. Gegen Mitternacht waren alle von der Aufregung und der Gebirgsluft so müde, dass die beiden jüngsten und gleichzeitig die hauptverantwortlichen für die Reise vorschlugen, die Gäste mögen in die Zelte gehen und sich in die warmen Schlafsäcke legen, um genug Schlaf für den kommenden Tag zu bekommen. Murrend wie kleine Kinder, die nicht ins Bett wollten, zogen sich die zehn älteren Männer in die Zelte zurück. Kemal und Mustafa saßen noch beim Feuer und flüsterten. Kemal musste Mustafa zustimmen, dass die Bruchlandung und der Ausfall der Elektronik kein Zufall waren. Sie wisperten sich zu, was Kemal von den Reisenden wusste. Niemand von ihnen war so wichtig, dass jemand es auf ihn abgesehen haben mochte. Abgesehen davon hatte Mustafa die Passagiere erst fünf Minuten vor dem Start kennengelernt. Harkan Ösil, der Mechaniker, den beide im Verdacht hatten, das Flugzeug kaputtrepariert zu haben, kannte überhaupt keinen von den zehn älteren Herrschaften. "Kein Millionär, der beerbt werden soll, kein Militärangehöriger, kein Feind irgendwelcher Terroristengruppen", zog Özdemir Bilanz. "Bleibt nur eins, jemand, der uns vom Club Oriental ans Bein pinkeln will und Ösil geschmiert hat."

"Wusste nicht, dass der Club schon so groß und stark ist, dass er anderen locker auf die Zehen treten kann", zzischte Mustafa Yilmaz.

"Was anderes bleibt doch nicht", grummelte Özdemir. Dann fragte er, wo sie überhaupt gelandet seien. Mustafa Yilmaz musste zugeben, keine exakte Position zu haben. Aber da er gelernt hatte, nach den Sternen zu navigieren und im Moment klare Sicht war, schätzte er, dass sie knapp dreißig Kilometer nördlich der syrischen Grenze runtergekommen waren.

"Oh, Scheißdreck, dann könnte es uns auch glatt passieren, dass unsere Regierung und die von Assat sich drum zanken, wer uns retten kommen darf."

"Wir sind noch in der Türkei. Da haben nur unsere Leute was zu melden", schnarrte Mustafa. Dann gähnte er. Wieso war er auf einmal so müde? Kemal Özdemir grinste und deutete auf das noch unbesetzte Zelt. "Streck dich hin, König der Lüfte. Du hast heute für drei geschafft, um einen Babysitter und seine zehn quängeligen Riesenbabys sicher auf die Erde zurückzubringen."

"Schreib dir das auf, damit die Chefetage mir das bei der nächsten Gehaltszahlung auch entsprechend anrechnet!" knurrte Yilmaz. Dann zog er sich in das Zelt zurück. Kemal dachte noch eine Zeit lang darüber nach, was der Grund für die offenkundige Sabotage war. War es Ösil und seinem Auftraggeber darauf angekommen, das Flugzeug und die Insassen abstürzen zu lassen? Falls ja, dann hatte dieser Sohn einer reudigen Hündin sein Ziel nur halb erreicht. Die Frage war jedoch, wie sie hier wieder herauskommen sollten? Er hatte gesehen, dass das Tal zzwar mehrere Kilometer lang war, aber von eng zusammenstehenden Felsen und Berghängen abgeschlossen wurde. Das erklärte auch den dauernden kalten Wind, der durch dieses Tal blies. Zu fuß oder mit Geländewagen waren die Abgestürzten wenigstens nicht zu erreichen. Und sie kamen hier auch nicht ohne Hilfe heraus. Gut, dass das den alten Männern noch nicht aufgegangen war. Doch morgen, wenn sie Zeit genug hatten, die Gegend zu erkunden, kam es heraus. Und wenn bis dahin immer noch kein Rettungskommando aufgetaucht war, dann würde er demnächst seinen ganzen Charme und das lange antrainierte Konfliktbewältigungsvermögen aufbieten müssen, um seine eigene Haut zu schützen. Am Ende kamen die anderen auch noch darauf, dass ihr Flugzeug sabotiert worden war. Dann würden die wildesten Spekulationen und Schuldzuweisungen losbrechen. Das konnte noch was geben.

Kemal legte noch einmal was von dem Holz aufs Feuer. Doch auch er fühlte eine gewisse Müdigkeit, die ihn wie ein immer schwererer Mantel einhüllte. Dieser Höhenunterschied ging auf die Kondition. Am Ende würden sie alle hier an der Höhenkrankheit verrecken, dachte Kemal. Vielleicht war der weiße Nebelstreifen, den er im schwachen flackernden Widerschein der Flammen sah, bereits eine Halluzination, hervorgerufen durch den Sauerstoffmangel in großer Höhe. Seine Augen brannten vor Überanstrengung. Was brachte es ihm, sich krampfhaft wach zu halten? Er blickte sich noch einmal um. Das was er für einen weißen Nebelstreifen gehalten hatte war weg. Also war es wirklich nur eine Einbildung, ein Trick seiner müden Augen gewesen. Sollte er das Feuer jetzt unbeaufsichtigt weiterbrennen lassen? Nein, besser war es, wenn er es löschte. Er las mehrere Steine auf und legte sie in die Glut, bis keine offene Flamme mehr zu sehen war. Dann wankte er mit bleischweren Gliedern in das ihm zustehende Zelt. Sein letzter Gedanke galt dem Tal, in dem sie gelandet waren. Irgendein kurdischer Bergbauer, den er vor drei Jahren mal getroffen hatte hatte was von einem Tal der schlafenden Dschinnenprinzessin erzählt. Doch das war sicher nur ein Märchen, wie es die mesopotamische Prinzessin Sheherasade nicht besser hätte erzählen können, um eine Nacht länger am Leben zu bleiben.

__________

Ceridwen genoss es. Sie verstand, was jemand wie Ursuline Latierre dabei empfand, ein junges Leben zu umsorgen. Auch wenn sie wusste, dass im Körper der kleinen Arianrhod, die durch ihr Vita-Mea-Ritual wie ihre Tochter Brigid aussah, der Geist der angehenden Hochschülerin Moira Stuard steckte, fühlte sie nicht weniger Fürsorglichkeit für sie wie für ihre Enkelkinder. Immerhin hatte sich Arianrhod mit ihrem neuen Leben abgefunden. "Und, benutzt sie das Tagebuch jeden Tag?" mentiloquierte Ceridwen ihre Tochter Brigid an.

"Ich kann es nicht lesen. Aber sie hat es wohl schon ein paar mal benutzt, Mum. Lass sie nicht merken, dass du und ich das abgesprochen haben", kam Brigids Gedankenantwort zurück.

"Ich werde mich hüten. Diesen kleinen Freiraum braucht sie, um nicht an ihrer Hilflosigkeit zu ersticken. Es reicht aus, wenn sie ihre körperliche Hilflosigkeit erträgt, und das kann sie gut", schickte Ceridwen zurück.

"Du musst ihr auch nicht auf die kleine Nase binden, dass wir ihr früheres Tagebuch haben, damit wir wissen, worauf wir bei ihrer Entwicklung achten müssen und worauf wir dezent eingehen können", gedankenantwortete Brigid, während ihre Milchschwester ihren Mittagsdurst stillte.

"Vor allem, dass sie mit sieben schon meinte, wie eine Akademikerin formulieren zu müssen. Gut, dass wir noch Zeit haben, ihr das ohne Gewalt und Zwang abzugewöhnen. Glinda war übrigens der Name einer Puppe, die einer guten Hexe aus einem Märchen nachempfunden war."

"Aus dem Zauberer von Oz, Mum. Solltest du eigentlich von Dad schon mal was von gehört haben."

"Wirst du jetzt frech, meine kleine?" gedankenfragte Ceridwen.

"Habe ich mit der Muttermilch eingesogen", kam eine wirklich freche Antwort zurück.

"Das berechtigt zur Hoffnung, dass deine kleine Milchschwester das dann auch tut und sich endgültig von ihrem gestelzten Hohe-Tochter-Gehabe freimacht", erwiderte Ceridwen für ohren unhörbar.

"Dann frohes laktieren, Mutter", schickte Brigid zurück.

"Das hast du aber nicht von mir eingesogen, Brigid."

"Weiß ich", schickte Brigid zurück. Damit endete das geistige Zwiegespräch. Ceridwen dachte für sich, dass es ein Glücksfall war, dass Arianrhod zusammen mit Kathleen aufwachsen durfte. So würde es hoffentlich keinem auffallen, wer sie früher mal war.

Als Arianrhod selig schlief kümmerte sich Ceridwen um ihre Aufgabe, den Lykonemesis-Trank fertigzustellen. Gegen Abend wollte sie den Trank zu Tessa Highdale und dem Kommando Remus Lupin bringen. Seitdem Semiramis Bitterling als Brauerin ausgefallen war - schlichte Bezeichnung für die Ungeheuerlichkeit, die daran Schuld war - war sie als freie Braumeisterin eingesprungen. Dass sie einige Pinten von dem erstellten Trank, den sie mit Hilfe ihres Expansionstrankes wesentlich schneller in großen Mengen hinbekam als andere, zu ihren guten Mitschwestern um Lady Sophia brachte, um außerministeriell ermittelte Werwölfe damit zu versorgen, um vom Ministerium unabhängig zu sein, wusste ihr Schwiegersohn nicht. Alles musste der nun wirklich nicht wissen.

"Mum, Gwen hat ja gesagt!" rief Fergus Barley durch das Haus. Sofort schrie seine kleine Nichte los, weil er sie aufgeweckt hatte. Eine halbe Minute danach fiel auch Arianrhod in das Geschrei ein. Ceridwen grinste. Letztes mal hatte das noch eine Minute gedauert, bis Arianrhod beschlossen hatte, mitzuschreien. Außerdem freute sie sich für ihren Sohn und ihr jüngstes Kind. Sie stand auf und ging erst zu Arianrhod. Sie machte "Schsch" und flüsterte: "Alles wieder gut. Dein größerer Bruder Fergy hat das nicht böse gemeint." Arianrhod verstummte sofort und verzog ihr kleines rundes Gesicht zu einem verhaltenen Lächeln. Ceridwen stupste die Wiege noch einmal vorsichtig an und summte ein walisisches Schlaflied. Arianrhod schloss ihre Augen und sah nun wieder ganz entspannt aus, als ob sie wieder tief und fest schlafe. Ceridwen verließ leise das Elternschlafzimmer.

"Mist, habe nicht mehr dran gedacht, dass die Kleinen gerade schlafen könnten", zischte Fergus mit hochroten Ohren.

"Wirst du dich dran gewöhnen müssen, wenn Gwendolyn Shana Morgan deinen Antrag angenommen hat. Hat ja auch lange genug gedauert", grinste Ceridwen und umarmte ihren jüngsten Sohn. "Mmm, Mum, ich brauch das aber nicht mehr zu trinken", stieß Fergus dumpf aus, weil sein gesicht fest an Ceridwens Brustkorb gedrückt wurde.

"Ich habe noch genug von dem Trank, um dich locker noch mal groß zu füttern. Aber ich denke, Gwen findet dich schon groß genug."

"Na ja, ihre Oma Gwen die ältere, hat da erst rumgenölt, dass sie ihre Enkelin lieber mit dem Enkelsohn ihrer Mitharpyie Glynnis verbandelt hätte, aber mich als deinen Ableger in die Blutlinie reinzukriegen sei auch was feines."

"Wo ist Dad?" fragte Fergus. Er besaß dieselben roten Haare, nur kürzer, wie sie seine Mutter und seine drei Schwestern besaßen. Nur die Augen waren die seines Vaters, worüber seine magielosen Großeltern zumindest sehr beruhigt waren.

"Dein Dad ist mal wieder im Internetcafé und holt sich seine Dosis Muggelweltnachrichten ab, Fergus. Also hat es geklappt. Gwens gleichnamige Oma hat zugestimmt. Wusste ich, dass Gwen das wichtig ist, was ihre so berühmte Oma findet. Wann heiratet ihr?"

"am zweiten Februar, Mum. Ich muss noch mit Gwen klären, wo genau, ob auf unserem Hof, in Hogsmeade oder bei den Morgans im Blaublütenhaus."

"Eigentlich müssten die Brauteltern das sagen, wer wo heiratet. Aber der älteste Weasley hat ja auch bei seinen Eltern geheiratet."

"Weil da alles gesichert zu sein schien. Ich habe dem seine Französin übrigens getroffen, als ich auf dem Rückweg im Tropfenden Kessel zwischengelandet bin. Ist immer noch wie 'ne echte Primadonna oder Diva. Und das dolle ist, dass die nach dem ersten Kind wieder gertenschlank wurde. Nur die Milchkugeln sind größer geblieben."

"Wenn sie die Kleine genausolange stillen muss, wie sie sie getragen hat kein Wunder", grinste Ceridwen. "Ich muss nachher noch mal zu Tessa hin. Passt du solange auf die Kleinen auf?"

"Windeln wechseln?" fragte Fergus mit unverkennbarem Widerwillen.

"Das ist nicht nötig. Kathy und Ari haben Reisewindeln. Nur hören, ob sie wachwerden und mich dann anmeloen, falls sie Hunger haben."

"Okay, geht klar, Mum", sagte Fergus.

Als Ceridwen gegen halb Sechs von ihrem Ausflug zu Tessa Highdale zurückkehrte wirkte sie sehr betrübt. Als sie Fergus dann erzählte, dass wohl irgendwelche mordlüsternnen Muggel in New York zwei hohe Türme mit Düsenflugmaschinen gerammt hatten erschrak Fergus. "Welche Türme, Mum?" "WHZ, also Welthandelszentrum, Fergy. Das waren wohl ganz wichtige Geschäftshäuser. Wer immer das gemacht hat wollte wohl die Amerikaner in Panik versetzen."

"Oha, vielleicht durch Imperius, Mum? Tim ist doch in den letzten Tagen so angespannt drauf. Aber der rückt ja mit nichts raus."

"Du meinst, das wäre zu erwarten gewesen. Dann hat aber irgendwer da bei uns oder in den Staaten nicht aufgepasst", sagte Ceridwen.

Als es sieben Uhr wurde befand Ceridwen, zum Internetcafé zu reisen und ihren Mann nach Hause zu holen. Auch Tim war noch nicht zu Hause. Ceridwen apparierte in die eine vorsorglich mit Tarnzauber belegte Kabine der Damentoilette des Internetcafés. Darrin saß mit allen anderen Besuchern im Gastraum und verfolgte die Bilder des Grauens auf dem Großbildfernseher. Gerade zeigten sie, wie einer der brennenden Hochhaustürme in sich zusammenstürzte.

"Darrin, hast du keinen Hunger?" begrüßte Ceridwen ihren Mann. Der schrak sichtlich zusammen und blickte sich hektisch um, ob jemand mitbekommen hatte, dass seine Frau gerade bei ihm stand. Zumindest trug sie Rock und Bluse, keinen Umhang.

"Ich glaube, heute kriege ich nichts mehr runter, Ceridwen", seufzte Darrin und deutete unter den Tisch, wo fünf durchtränkte Taschentücher auf dem Boden lagen. "Becky ist tot. Ich konnte das sehen, wie die aus dem Nordturm runtergesprungen ist, Ceridwen."

"Oh, habe ich nicht gewusst, dass sie dort ist, Darrin", sagte Ceridwen voller Anteilnahme. Ihre Schwägerin war die einzige gewesen, mit der sie sich von anfang an gut verstanden hatte.

"Gut, dass die anderen auf die Glotze gestiert haben. Da haben die das nicht mitbekommen, wie ich ein halbes Taschentuchpaket vollgeheult habe."

"Kannst du deine Eltern von hier anrufen?"

"Habe ich versucht. Ging keiner dran, und das Mobilfon war aus", jammerte Darrin. "Die wollen wohl gerade mit keinem reden."

"Dann schicken wir ihnen eben Post", sagte Ceridwen und nahm ihren Mann in eine halbe Umarmung. "Oder hoffst du, sie rufen dich auf dem Mobilsprechding an?"

"Ja, das hoffe ich. Die müssen doch wissen, dass mich das was angeht. War ja immerhin meine große Schwester", wimmerte Darrin und fing fast wieder zu weinen an.

"Und ihre erstgeborene, Darrin. Natürlich wissen die, dass du das wissen musst. Ich kläre das, dass wir sie morgen besuchen, mit den Kleinen", sagte Ceridwen. Und jetzt komm bitte mit nach Hause, damit du nicht verhungerst."

"Ich kriege jetzt wohl keinen Bissen runter", wimmerte Darrin Barley und kramte in seiner Jeans nach dem Paket Taschentücher.

"Leg's nicht drauf an, dass ich dich wie die beiden Kleinen füttern muss, Süßer", sagte Ceridwen. Darrin verstand. "Was hast du hier getrunken?"

"Nichts mit Alkohol. Aber das wäre jetzt ein Anlass."

"Wo ich dabeistehe? Soweit kommt's noch, Burschi", knurrte Ceridwen. Er wusste, dass sie es nicht mochte, wenn er hochprozentigen Alkohol trank. Seitdem sie als Arianrhods Stillmutter einsprang trank sie nicht einmal mehr von dem Honigwein, den sie aus Hogsmeade bezog und mit dem sie ihren Mann und Fergus einmal unter den Tisch getrunken hatte.

"Sehr wohl, Mylady, ich füge mich Eurem Begehren!" grummelte Darrin.

"Dann bleib mal eben in der Haltung, damit ich die Taschentücher da wegkriege. Gibt's hier keine Mülleimer?" Darrin sagte nichts. Er bildete einen Blickschutz gegen die anderen, während seine Frau mit einer schnellen Zauberstabbewegung die tränennassen Taschentücher in Luft auflöste. Er rief der Kellnerin zu, die wie alle anderen auf den Fernsehbildschirm starrte, um die von Menschen gemachte Katastrophe in New York zu verfolgen. Endlich kam sie. Er zahlte die Zeche. Die in grauweißer Schürze steckende Bedienung fragte Ceridwen, ob sie noch etwas trinken wolle. Die Gefragte schüttelte behutsam den Kopf und erwähnte, dass es für Sie Zeit sei, nach Hause zurückzufahren. Darrin stimmte ihr durch Nicken zu. Dann geleitete er sie hinaus zum Auto. Ceridwen fragte ihn, ob er in der Verfassung war, nach Hause zu fahren. Er wusste es nicht. Deshalb kam Plan B dran. Ceridwen hatte eine Sondervollmacht ihres Schwiegersohnes, bei besonderen Anlässen den Wagen mit einem Selbstfahrzauber durch die Stadt fahren zu lassen. Selber Autofahren konnte sie nicht. Was nötig war hatte Tim bei der Bezauberung einfließen lassen. So sah es für alle anderen so aus, dass Darrin den Wagen lenkte, bis sie den Hof Hühnergrund erreichten.

11. September 2001, Hof Hühnergrund

Hallo Fulvia. Eigentlich müsste ich schon längst schlafen. Aber während ich meine Abendration Ammenmilch zu mir nahm erfuhr ich, dass es in den vereinigten Staaten, genauer in New York und am Pentagon, einen großangelegten Terroranschlag gab. Die großen Zwillingstürme des Welthandelszentrums wurden mit vollgetankten Passagiermaschinen gerammt und in Brand gesteckt. Sie stürzten zwei Stunden später in sich zusammen. Wie viele Menschen dabei den Tod fanden weiß ich nicht. Mein Ziehvater ist auf jeden Fall sehr betroffen, weil seine Schwester bei diesem Anschlag ums Leben kam. Ich habe sehr große Angst. Denn die Tat deutet auf ein Suizidkommando hin, ähnlich den Kamikazes während des zweiten Weltkrieges. Ob es sich dabei um religiöse, kommunistische oder nationalsozialistische Fanatiker handelte wird wohl noch zu prüfen sein. Jedenfalls ist nun offensichtlich, dass die Sicherheit, in der meine leiblichen Eltern und ich lebten trügerisch war und es nun jederzeit zu Nachahmungsaktionen kommen kann. Nicht von der Hand zu weisen ist auch der Verdacht, dass bei diesem brutalen Verbrechen magische Mächte involviert gewesen sein könnten. Es soll Beeinflussungszauber geben, mit denen Menschen zu willenlosen Erfüllungsgehilfen gemacht werden können, hat mir meine Milchschwester Brigid einmal erzählt, als ich provokant erfragte, welche Methoden außer Gedächtnismanipulationen es in der Magischen Welt gebe. Zwar wird dieser Unterwerfungszauber gleichhoch bestraft wie magische Folter oder sofort zum Tode führende Flüche, was leider nichts daran ändere, dass skrupellose und von Machtsucht getriebene Subjekte ihn immer wieder verwendeten, um ihre Ziele zu erreichen. Das wird Mum Ceridwens Schwiegersohn wohl die nächsten Tage und Wochen beschäftigen, herauszufinden, ob Magie oder Fanatismus die Triebfeder für diese Massenmorde waren oder sind. Jetzt wünschte ich mir, ich sei wirklich nur ein unbedarfter Säugling. Doch auch als solcher würde ich wohl fühlen, dass mein Ziehvater gerade sehr viel Angst und Trauer empfindet. Doch ich muss an Joel denken, den wir in New York getroffen haben, als ich mit meinen Studienkameradinnen dort war. Dieser übte im Welthandelszentrum den Beruf eines Bankboten aus, um sein Betriebswirtschaftsstudium zu finanzieren und bei dieser Gelegenheit einen Praktikumsplatz zu erheischen. Ich, beziehungsweise mein früheres Ich, empfand ihn als sehr sympathisch und intelligent. Ob sich daraus auf emotioneller oder gar sexueller Ebene etwas ergeben hätte möchte ich besser nicht weiterdenken. Ich hege nur die Hoffnung, dass er zur rechten Zeit das Gebäude verlassen konnte und nicht auf der Liste der bestätigten Toten aufgeführt werden muss. Gut, ich bin jetzt ein kleiner, vom Wohlwollen und der seelischen und leiblichen Fürsorge anderer abhängiger Säugling. Doch diese Bluttat heute hat mich wieder daran erinnert, wie schön es war, eine junge erwachsene Frau zu sein. Dies möchte ich mir gerne notieren, um es später nachlesen zu können, wenn ich während meines Wiederwachstums in eine seelische Krise geraten sollte und an meiner Persönlichkeit und meinem Wert zu zweifeln wagen sollte. Ich spuck den Schnuller jetzt besser wieder aus, weil Mum Ceridwen schon so tadelnd zu mir runterguckt und ...Blllb!

"Du musst jetzt schlafen, Kleines. Mum und Dad sind bei dir. Hier passiert dir nichts böses", säuselte Ceridwen, als sie Arianrhods mintfarbenen Schnuller freigezogen hatte und ihn auf ihren Nachttisch legte. Arianrhod quängelte erst, schien was sagen zu wollen. Doch dann blieb sie ruhig und schloss die Augen. Ceridwen schaukelte sie behutsam, bis sie sicher war, dass "ihr Baby" fest schlief.

"Wenn ich so einfach in den Schlaf geschaukelt werden könnte", seufzte Darrin, wobei er leise genug blieb, um das kleine Mädchen, das angeblich von einer Nichte Ceridwens verstoßen worden war, nicht wieder aufzuwecken.

"Ich kann dir Träumguttee geben. Brigid hat sicher noch welchen in ihrer Heimapotheke."

"Vielleicht heute nicht das schlechteste", raunte Darrin tiefbetrübt. Ceridwen nickte ihm zu und huschte auf leisen Sohlen aus dem Schlafzimmer, um zwei Minuten später mit einer Tasse voll dampfendem Inhalt zurückzukehren. Darrin trank behutsam, während seine Frau ihn in einer halben Umarmung hielt. Er genoss die Wärme des Trankes und die Wärme und Weichheit ihres Körpers. Als er die Tasse bis auf den letzten Tropfen leergetrunken hatte hielt seine Frau ihn noch in der zärtlichen Umklammerung. "Wir alle sind bei dir, Darrin. Morgen ist ein anderer Tag."

"Ja, aber der erste ohne Becky", seufzte Darrin. Doch dann entspannte sich sein Gesicht. Der Träumguttee sorgte nicht nur dafür, traumtolerant zu schlafen, ohne einen Albtraum zu durchleiden, sondern verjagte auch die zu solchen Tträumen führenden Stimmungen, wenn die Müdigkeit groß genug war. So konnte Ceridwen abwarten, bis Darrin selig einschlief. Erst dann schlüpfte sie auf ihre Bettseite zurück und legte sich selbst zum Schlafen hin.

__________

Es war ein Schöner Tag. Er war überglücklich. Heute würde er Luisa Angelita Manero Garcia heiraten. Die Vorfreude auf die Hochzeit, vor allem die anstehende Hochzeitsnacht, ließ sein Blut prickeln. Immer wieder musste er sich den Schweiß von der Stirn tupfen. Er prüfte zum x-ten Mal seinen dunklen Anzug. Sein Freund Jorge feixte, dass der Anzug für Luisa nicht so wichtig war wie das was drinsteckte. "Pass gut auf, dass dir die Hose nicht zu eng wird, bevor Padre Gomez euch nicht zu Mann und Frau erklärt hat, Alfonso!"

"Du schließt von dir auf mich, Jorge", sagte er. "Wer hat damals denn nicht warten können und es sich beinahe mit Cristinas Vater verscherzt?"

"Alles um drei Ecken. Chrisis alter Herr ist froh über die zwei Enkelsöhne, die er sonst nie gehabt hätte, wenn der damals seine Drohung wahrgemacht hätte. Aber du könntest noch Krach mit Lus altem Herren kriegen, wenn der rauskriegt, warum du seine Kleine wirklich heiraten willst", zischte Jorge und sicherte in alle Richtungen, dass niemand das hörte, der es nicht hören sollte. Doch die Frauen schnatterten wie aufgescheuchte Gänse, die Männer ergingen sich in Erinnerungen an ihre eigenen Hochzeiten, und die Kinder taten so, als würde das ganze nur für sie gefeiert, und sie könnten tun und lassen was sie wollten. Dann war es endlich so weit. Padre Gomez hielt den üblichen Sermon über die Heiligkeit der Ehe und dass der Mensch nicht trennen dürfe, was Gott zusammengefügt habe. Jorge musste grinsen, was Alfonso nicht gefiel. Doch weil der Priester gerade seine wichtige Ansprache hielt und er den Würdenträger nicht unterbrechen durfte, verzichtete er auf einen Tadel. Dann durfte er endlich neben die strahlende Braut treten und vor Gott und allen Gästen beteuern, sie zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod sie scheiden würde. Sie versprach es auch. Dann war es endlich durch. Er durfte Luisa ganz offiziell küssen. Da sie beide streng katholisch waren hatten sie sich bis heute nicht mehr herausgenommen als kurze Umarmungen und flüchtige Küsse. Ab heute durften sie aber ganz nahe zusammenkommen.

Das ganze Dorf Santa Agata an der Grenze zu Andalusien feierte ein rauschendes Fest. Der süße Rotwein floss in Strömen, ganze Rinder und Schweine landeten auf den großen Grills. Die Frauen kümmerten sich um die Salate, die Männer betreuten das Fleisch. Flamencogruppen machten Musik und spielten auch zum Tanz auf. Einmal trat seine frisch angetraute Ehefrau vor die Festgemeinde und sang ein Lied, das durch das ganze Dorf zu hallen schien und alle, die es hören konnten, wie gebannt zuhören ließ. Alfonso meinte, aus jedem der in einer nichtspanischen Sprache gesungenen Wörter eine eindeutige Einladung an ihn zu hören, immer und ewig für ihn da zu sein, wenn er für sie da war. Als das Lied nach einer nicht zu fassenden Zeit verklang trat für eine lange Zeit andächtige Stille ein. Dann sagte Alfonsos Braut mit strahlendem Lächeln: "Warum steht ihr da herum? Das ist meine Hochzeit, keine Beerdigung." Die Festgäste lachten. Der alle in Andacht bannende Zauber des Liedes war fort. Nur Alfonso hörte es noch tief in sich und fühlte, wie es und Luisas Aussehen sein großes Verlangen in Gang hielt, wie ein hell und warm loderndes Feuer. Die Gäste setzten Tanz und Musik fort, aßen das gegrillte und tranken den Wein. Hier und jetzt schien die ganze Welt nur ein reines Freudenfest zu sein. Alfonso dachte daran, dass anderswo im Land wohl weniger Freude herrschte, weil längst nicht alle Menschen hier glücklich mit der eisernen Hand des Generalissimus waren. Doch heute wollte er nicht über Politik nachdenken. Dieser Tag und vor allem die Nacht gehörte ihm und Luisa. Wie sehr sie sich danach sehnte, endlich von ihm geliebt zu werden konnte er ihr deutlich ansehen, wenn sie immer wieder aus der Riege ihrer albern kichernden Brautjungfern zu ihm herüberblickte oder wenn sie beide beim Tanzen so eng zusammenstanden, dass allen hier klar werden musste, wie nahe sie sich sein wollten. Als der Mond sein silbernes Licht über den Festplatz vergoss fühlte er den Wunsch, endlich mit ihr allein zu sein, immer stärker in sich brennen. Er musste sich sehr anstrengen, sich nicht dieser immer wilder lodernden Begierde hinzugeben. Vor allem, wo Jorge ihm am Morgen noch vorgehalten hatte, ja nur auf der Hochzeit bestanden zu haben, um es endlich mit Luisa zu tun. Denn länger hätten sie beide ihr Verlangen füreinander nicht hinauszögern können, trotz streng katholischer Erziehung. Als dann um Mitternacht ein lauter Tusch von der Bühne verkündete, dass der Hochzeitstag endlich um war, wurden Braut und Bräutigam mit lautem Beifall in die Nacht verabschiedet.

Alfonso hätte Jorge und dessen Spießgesellen glatt erwürrgen können. Als sie in dem kleinen Haus ankamen, dass ihm sein verstorbener Großonkel vererbt hatte, mussten sie fünfzig Sandsäcke und mindestens hundert große Backsteine aus dem Schlafzimmer tragen. Das Brautbett wirkte wie ein Lagerplatz für Baumaterial. Ganz zu unterst lag ein Brief, in dem dem Paar geraten wurde, das Material zum Anbau für jedes neue Kinderzimmer zu verwenden, das von diesem Bett aus bevölkert werden sollte. Keuchend schafften sie den letzten Sandsack vor die Haustür und verriegelten Türen und Fenster so gut sie konnten. Immerhin hatte niemand gewagt, die Braut zu entführen. Dem oder denen hätte Alfonso wahrhaftig die Pest oder noch schlimmeres an den Hals gewünscht. Bereits von den Ausräumarbeiten gut erschöpft und durchgeschwitzt, stiegen Alfonso und Luisa aus ihren Sachen. Doch kaum dass die letzte Hülle fiel, verschwand auch die Mattheit. Mit dem letzten Kleidungsstück fiel auch die letzte Zurückhaltung von den beiden ab. Ohne große Worte sprangen sie auf das blütenweiß bezogene Bett. Was folgte war wild, laut, ja regelrecht tierhaft. Beide nahmen voneinander, was sie so lange hatten zurückstellen müssen. Die Leidenschaft stieg trotz der versiegenden Ausdauer. Alfonso fühlte, wie sein Herz immer wilder schlug. Er keuchte. Doch er ließ nicht nach. Das war die Nacht der Nächte, das große Ziel, für das er seine Freiheit geopfert hatte. Immer heftiger pochte sein Herz, drohte, ihm den Brustkorb zu zersprengen. Doch die Leidenschaft loderte immer noch. Immer wieder vereinigte er sich mit Luisa. Ihre Umarmungen drohten, ihm die Luft abzudrücken. Die wogenden Bewegungen ihrer beider Körper ließ sie wie auf stürmischer See hin und herrollen. Einmal versuchte Luisa, sich wie eine große, warme Decke über ihn zu legen. Doch er wollte sie führen, nicht von ihr geführt werden. Sie gehörte ihm. Sie wollte das doch so. Dann fühlte er die Schmerzen im linken Arm und das Pochen im Unterkiefer. Nein, das konnte nicht sein. Er war doch noch viel zu jung für sowas. Das durfte ihm doch nicht in dieser so wichtigen Nacht passieren. Selbst wenn es ein glücklicher Tod sein würde. Er wollte nicht hier und jetzt sterben. Die große Lust verrauchte so plötzlich, wie eiskalte Furcht sein Bewusstsein erfüllte. Er fühlte, wie ihm der Atem versagte. Er sah Luisas gerötetes Gesicht. In ihren Augen stand jedoch keine Leidenschaft mehr, sondern Verärgerung und auch ein wenig Furcht. Doch wieso waren ihre Augen so dunkel geworden. Überhaupt schien es, als ob ihr Gesicht sich im wilden Rausch der Liebe verändert hatte. Die Schmerzen wurden schier unerträglich, sein Atem versiegte beinahe. Da fühlte er, wie die, die vorher noch wie Luisa ausgesehen hatte, sich von ihm löste, sich so über ihn hinstellte, dass sein Gesicht unter ihrem Unterleib zu liegen kam. Wellen der Pein jagten mit dem lauten Pochen seines überstrapazierten Herzens durch seinen Körper. Da meinte er, etwas wie flüssiges, orangerotes Licht zu sehen. Er dachte, es mit einer letzten, dem nahen Tod zuzuschreibenden Täuschung zu tun zu haben, als sein Gesicht und sein Oberkörper in jenem orangeroten Licht gebadet wurden. Unvermittelt verschwand der wilde Schmerz. Er meinte, in warmem Wasser zu liegen. Doch wenn er atmete, erfüllte eine belebende Kraft seinen Körper. Von seinen nun wieder frei atmenden Lungen aus wogten wohlige Schauer aus Wärme und Kraft durch den eben noch bis zum äußersten gepeinigten Brustkorb, drangen in sein Blut ein und ließen ihn neu aufleben. Er hörte ein angestrengtes Keuchen. Doch außer der pulsierenden, orangeroten Lichtflut, die direkt von oben in ihn eindrang, konnte er nichts sehen. Wie lange dieser unbeschreibliche Vorgang dauerte wusste der spanische Witwer nicht. Doch irgendwann verdunkelte sich das fremdartige Licht. Mit ihm schwand auch jene rettende, anregende Kraft, die ihn kurz vor der Hochzeit mit Gevatterin Tod aufgefangen und in dieser Welt gehalten hatte. Er fiel übergangslos in einen tiefen, erholsamen Schlaf.

Als Alfonso wieder aufwachte fühlte er sich frisch und munter wie zuletzt vor dreißig Jahren. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen, bevor er auf seine Armbanduhr sah. Doch die schien kaputt zu sein. Denn er kannte keine Uhr, die 44:44:44 Uhr anzeigte. Laut seinem Neffen Tomás, von dem er diese Armbanduhr vor zwei Jahren bekommen hatte, stellte die sich mit Hilfe eines Kurzwellenfunksignals automatisch ein. Er musste nur die Zeitzone auswählen, in der er herumreiste. Er drückte zunächst auf den Knnopf für die Leuchtanzeige. Die Zahlen glommen nun auf. Doch dann verschwammen sie zu leuchtenden Vierecken und verschwanden. Gleichzeitig klangen hektisch aufeinanderfolgende Pieptöne auf. Dann war die Anzeige komplett leer. Noch einmal drückte er die Taste für die Leuchtanzeige. Jetzt glomm die gesamte Anzeigefläche in einem schwachen, warmen Licht auf, das blieb. Alfonso dachte daran, dass die Bruchlandung womöglich die überempfindliche Elektronik beschädigt hatte. Er drückte wieder den Knopf für die Beleuchtung und ließ die Anzeigefläche verdunkeln. Die Uhr war also kaputt. Neumodischer Kram, dachte er. Er hätte doch besser seine gute alte Zeigeruhr mit Federwerk behalten sollen.

Jetzt erst fiel ihm die Stille im Zelt auf. Eigentlich hätte sich sein Nachbar schon längst regen müssen. Alfonso lauschte. Hatte er nicht vor dem Einschlafen das laute Schnarchen seines Zeltgenossen und Landsmannes Enrico Rodrígues gehört und sich gefragt, ob er darüber überhaupt einschlafen mochte? Jetzt hörte er nicht einmal einen leisen Atemzug seines nur einen Meter weit von ihm entfernt liegenden Zeltgenossens. Die Stille irritierte ihn. Mit lautem Zipp zog er den Reißverschluss seines eigenen Schlafsacks bis zu seinen Knien auf. Er schälte sich aus der wasserdichten und gegen Auskühlung isolierten Schlafhülle und sah sich um. Sein Mitreisender, Landsmann und Zeltgenosse lag noch in seinem Schlafsack. Doch er schien nicht zu atmen. Alfonso beschlich eine ungute Vorahnung. Er schob sich an den Schlafsack heran und streckte seine Hand nach dem Gesicht des Mitreisenden aus. Keine Wärme strahlte davon aus. Er fühlte auch keinen Hauch von Atem über dem Mund des Landsmannes. Er öffnete eine der Klappen vor den Bullaugen, um ein wenig Tageslicht einzulassen. Das Gesicht von Enrico Rodrígues wirkte entspannt. Die Augen waren geschlossen. der ohne die künstlichen Zähne trostlos leere Mund stand weit offen. Die Zunge war dunkel. Alfonsos dunkle Vorahnung wuchs zur nagenden Furcht an. Das durfte nicht sein. Der Gewinner dieser beinahe zur Totalkatastrophe ausgearteten Reise klatschte dem Schlafsacknachbarn kräftig die flache Hand ins Gesicht. Es fühlte sich eiskalt und schlaff an. Es folgte keine Reaktion. Noch einmal klatschte Colonades dem anderen die flache Hand an die Wange. Wieder keine Reaktion. Außerdem verriet ihm die ungesunde Kälte der Haut, dass in diesem Körper schon lange keine Wärme mehr steckte. So ähnlich hatte auch seine geliebte Luisa an jenem unheilvollen Morgen neben ihm im Bett gelegen, als Gott sie von seiner Seite abberufen hatte. Die dunkle Vorahnung war nun eine grauenvolle Gewissheit. Enrico Rodrígues war tot. Alfonso schlug über dem Körper des noch nicht erstarrten das Kreuz und erbat mit hektischer Stimme den Segen Gottes und der heiligen Jungfrau Maria für den unbemerkt verschiedenen Landsmann. Danach öffnete er das Zelt und schlüpfte hinaus. Der Tag war bereits angebrochen. Die Sonne stand bereits klar und Rund über dem Horizont. Mit einem lauten Schrei alarmierte er die wohl noch in den Zelten friedlich schlafenden. Als erster tauchte Reiseleiter Kemal aus dem mit dem Piloten geteilten Zelt auf. Alfonso sprudelte heraus, dass Rodrígues tot sei. Reiseleiter Kemal sah ihn dafür mit einem höchst ungläubigen Blick an. Doch dann überflog Furcht die Gesichtszüge des einheimischen Reiseführers. Kemal drängte sich an Alfonso Colonades vorbei und tauchte in das Zelt der beiden spanischen Mitreisenden hinein. Knapp eine halbe Minute später schlüpfte er wieder heraus. Sein Gesicht war eine totenbleiche Maske der Hilflosigkeit. Da tauchte auch der Pilot des notgelandeten Flugzeugs auf und erkundigte sich in seiner Muttersprache bei Kemal, was passiert war. Der Pilot schlüpfte nun auch in das Zelt der beiden Spanier. Er hielt sich jedoch länger darin auf als sein Kollege Kemal. Dieser stand für einige Minuten ratlos da. Dann war es, als fiele alle Hilflosigkeit von ihm ab. Offenbar war nun seine antrainierte Professionalität zurückgekehrt. Er rief seinem Kollegen etwas zu. Aus dem Zelt erklang dessen Antwort, die die Reisenden jedoch nicht verstehen konnten. Erst als Kemal auf Englisch verkündete, dass Señor Rodrígues wohl in der Nacht entweder an Atemnot oder einem Herz- oder Gehirnschlag gestorben war, legte sich tiefste Betroffenheit auf die Gesichter und Gemüter der noch lebenden Touristen. Alfonso erntete fragende Blicke. Er wusste, dass die anderen jetzt von ihm wissen wollten, ob er das nicht hätte mitkriegen müssen, dass sein Zeltgenosse mit dem Tod gekämpft hatte. Er schüttelte betroffen den Kopf und beteuerte, wohl zu tief geschlafen zu haben, um es mitzubekommen. Auch wenn es die anderen nichts anging erwähnte er, dass er auch den Tod seiner Frau nicht mitbekommen hatte, obwohl er da direkt neben ihr im Bett gelegen hatte.

"Sie wollen Señor Colonades doch nicht vorwerfen, seinen Landsmann abkratzen gelassen zu haben", sprang der ehemalige Uni-Professor McGrath dem spanischen Mitreisenden bei. "Ein Onkel von mir ist vor zehn Jahren ganz plötzlich gestorben. Er hat nur einmal gezuckt, einen letzten keuchenden Atemzug getan und war dann tot. Wenn Señor Rodrígues nicht mal einen laut von sich gab, kann jemand, der gerade ganz tief schläft nicht davon aufwachen."

"War wohl zu viel Stress und Aufregung für den alten Torrero, wie", meinte Meißner verächtlich. "Hätte vielleicht doch besser gleich den Zubringer ans Meer nehmen sollen." Die anderen sahen ihren deutschen Mitreisenden vorwurfsvoll an. Dann ergriff Kemal Özdemir das Wort. Wie bisher sprach er Englisch, um von allen gleichermaßen verstanden zu werden:

"Es ist nicht das erste mal, dass ein Reisender, der innerhalb von einem Tag von Meereshöhe ins Hochgebirge wechselt, an den Auswirkungen einer ihm bis dahin selbst nicht bekannten Herzkrankheit leidet. Genau deshalb habe ich ja das Angebot gemacht, dass jeder von Ihnen, der unsicher ist, ob er diese Anstrengungen überstehen kann oder nicht, gleich in unser Clubhotel weiterreist. Señor Rodrígues wusste das. wenn er gewusst hatte, dass er womöglich Probleme mit dem Herzen oder der Atmung hat, hätte er von sich aus auf diesen Abschnitt der Reise verzichten müssen. Wenn er es nicht gewusst hat, so trifft niemanden hier eine Schuld."

"Weil der andere Señor wie ein Bär im tiefsten Winter schlafen kann", musste Meißner mit Blick auf Colonades noch einstreuen. Dieser bedachte den Deutschen mit einem sehr ungehaltenen Blick. Doch innerlich musste er Meißner rechtgeben. Er konnte trotz der gewissen Altersgebrechen immer noch verdammt tief schlafen, wenn er einmal schlief, vor allem nach einem langen Tag. Bartoli erkundigte sich leicht eingeschüchtert, was mit dem Toten geschehen sollte. mustafa Yilmaz blickte seinen Kollegen an. Nachdem beide Blicke ausgetauscht hatten verkündete Kemal, dass der Tote in seinem Schlafsack mit herumliegenden Steinen zugedeckt werden sollte. Wenn die Rettungstruppen kamen konnten sie den Toten mitnehmen und genau untersuchen. Da Colonades und die beiden Italiener die einzigen römisch-katholischen Mitreisenden waren wurde ihnen die traurige Pflicht auferlegt, eine improvisierte Beerdigungsfeier für den viel zu heimlich verstorbenen Mitreisenden abzuhalten und ihm Gottes Gnade und Frieden zu überantworten. Zumindest glaubte niemand, dass Colonades den Mitreisenden umgebracht hatte. Pilot Yilmaz war ausgebildeter Ersthelfer, ebenso Kemal Özdemir. Beide hatten einhellig festgestellt, dass Rodrígues ohne Fremdverschulden gestorben war. Vielleicht, so dachten wohl die einen oder anderen, wollten die beiden Club-Oriental-Angestellten aber auch nur so tun, als habe es an der Aufregung und dem Wechsel vom Meer ins Gebirge gelegen, dass ein ihnen anvertrauter Kunde nicht mehr lebte.

Das improvisierte Begräbnis fand knapp hundert Meter vom Flugzeugwrack entfernt statt. Colonades und die beiden Italiener beteten sowohl in ihrer Muttersprache wie auch auf Latein die nötigen Begräbnisworte herunter. Die anderen hatten in der Zeit aus den nutzlos gewordenen Streben der wracken Propellermaschine ein Kreuz zusammengenagelt und pflanzten dieses ganz oben auf den großen Steinhaufen auf, unter dem Rodrígues Leichnam nun vor Wind und Wetter sicher ruhen durfte, bis er von den sicher alarmierten Rettungsleuten geborgen und in seine Heimat überführt werden konnte. Keiner der Anwesenden wusste, dass Rodrígues nur deshalb gestorben war, um jemandem anderen das Leben zu retten, am wenigsten der, dessen Leben durch Rodrígues' Tod erhalten worden war.

__________

"Sie werden dir draufkommen, wenn das Flugzeug verschwindet. Sie werden nach dir suchen", säuselte sie, die Erfüllung seines Lebens. Harkan Ösil sah ihr in die wasserblauen Augen. Dieses Wunderweib, dieser Inbegriff aller Männerträume, hatte gerade mit ihm zwei Stunden wilden Sex erlebt. Dafür hatte es sich gelohnt, auf das Marmarameer hinauszufahren, wo sie eine große Yacht für ihn und sich alleine hatte. Seit gut einem Monat waren sie zusammen. Doch für ihn war das wie zwanzig Jahre vorgekommen. Er hatte für diese Frau alles tun wollen. Als sie ihm abverlangt hatte, das Flugzeug einer kleinen Reisegruppe zu sabotieren, hatte er keine Sekunde lang daran gedacht, dass er die zwölf Insassen damit umbringen konnte. Und jetzt war er wieder mit ihr zusammen. Gerade hatte sie ihm gesagt, dass man ihn suchen würde. Natürlich würde man ihn fragen, warum das Flugzeug verschwunden war. Auch wenn es dauern würde, bis es gefunden wurde, man würde ihn verdächtigen. Er fühlte, wie diese Erkenntnis ihm großes Unbehagen bereitete. Dabei ging es nicht um die zwölf Menschen, die er durch seinen Liebesdienst für Leila umgebracht hatte, sondern nur darum, dass sie ihn einsperren würden, wenn herauskam, dass die Tankanzeige umgebaut war, dass sie bis zum Ausfall der Motoren vollen Füllstand anzeigte oder dass die Elektronik durch eine Manipulation in dem Moment ausfiel, wenn beide Motoren keinen Treibstoff mehr hatten. Funk und Steuerung sollten dann unrettbar ausfallen. All das konnten Spezialisten der Polizei herausfinden, egal wie kaputt die Maschine am Ende sein würde. "Sicher suchen sie schon nach dir. Aber sie werden dich nicht finden, du bleibst bei mir", hörte er die Stimme seiner Geliebten, seiner Liebesgöttin, die all die Sachen verkörperte, die Allah und sein Prophet den tugendreinen Frauen verboten hatten. "Allah kann dir nicht mehr helfen. Er hat dich mir überlassen", hörrte er Leilas amüsierte Stimme.

"Mädchen, die werden mich überall finden."

"Nicht da", erwiderte sie und streichelte sich vom Hals abwärts bis hinunter zu ihrem verlockenden becken. "Komm noch mal zu mir und zwar richtig!" forderte sie ihn auf. Seine Angst verflog unmittelbar. Er wollte nichts lieber tun, als dieser Aufforderung zu folgen. Am Ende fühlte er jedoch, wie ihm die Kraft schwand. Es war, als sauge ein gieriger Vampir ihm Blut und Wärme aus dem Körper. Einen Moment lang meinte er Leilas Gedanken zu hören wie gesprochene Worte: "Ich muss doch sehr bitten, Harkan. Ich hab's nicht nötig, dein Blut zu trinken." Dann verschwamm um ihn alles. Er meinte, in einen tiefen Schacht hineinzustürzen.

"Entweder wird sie wach oder ich muss noch einmal suchen", dachte die Frau, die Ösil als Leila, die große Liebesgöttin gekannt hatte. Sie zog den restlos entseelten und entkräfteten Körper des ihr verfallenen in den Maschinenraum, wo sie ihn mit Kabeln an den Motorblock band. Dann zog sie an einem Seil. Damit löste sie den Zünder für die sechs Sprengladungen aus, die sie strategisch im Schiffskörper verstaut hatte. Jetzt blieben nur noch drei Sekunden Zeit. Diese Zeit war jedoch mehr als ausreichend. Denn bereits eine Sekunde nach Ziehen des Seils löste sich Leila einfach in Nichts auf. Als die sechs Ladungen hochgingen war das gerade stark genug, um sechs große Lecks in die Bordwand und den Kielbereich zu schlagen. Gurgelnd und brodelnd schoss das Meerwasser in den Bauch der kleinen Yacht und flutete diese. Das kleine Vergnügungsschiff sank wie ein Stein in die Tiefe. Womöglich würde irgendwann in hundert oder zweihundert Jahren jemand das Wrack finden. Bis dahin würde Harkans wertlos gewordener Leichnam entgültig von der See und ihren Bewohnern zersetzt worden sein. Niemand würde dann noch herausbekommen, warum und woran er gestorben war.

Fast im selben Augenblick, wo sie von der Yacht verschwand, erschien die unheimliche Frau mit den wasserblauen Augen in einer großen Höhle. Wie um sie feierlich zu begrüßen und in das rechte Licht zu setzen erstrahlte ein zwei Meter großer Krug im goldenen Licht. Hier war sie zu Hause. Auch wenn immer wieder wer meinte, sie jagen oder gar töten zu müssen hatte bisher niemand dieses kleine geschützte Reich gefunden, den sie nicht hier herbringen wollte. Sie lächelte. Auch wenn sie nicht wusste, ob ihr Vorhaben den gewünschten Erfolg gebracht hatte, so wusste sie zumindest, wie sie es anstellen konnte, einen geeigneten Mann zu finden und dorthin zu bringen, wo er sein sollte. Die einzige Schwierigkeit hatte darin bestanden, dass sie nicht persönlich an den Gesuchten herantreten und ihn durch ihren eigenen Einfluss an sein Bestimmungsziel lotsen durfte. Er musste von ihrer Macht gänzlich unberührt sein, sollte er das schaffen, was sie, Itoluhila, erreichen wollte.

Als sie Zeit fand, wieder auf ihre Umgebung zu lauschen, hörte sie es wieder, jenes ganz leise Knattern und Grummeln, als würde irgendwo ein gewaltiges Raubtier im tiefen Schlaf schnarchen und sein Magen würde das letzte große Fressen verdauen. Sie hatte es zum ersten Mal gehört, nachdem Ilithula und Hallitti von den Kindern Ashtarias in ewigen Schlaf getrieben worden waren. Ihr war klar, wer da diese nur geistig wahrnehmbaren Laute von sich gab. Das war ihre jüngste Schwester Erritahilia, die Tochter der verfliegenden Zeit, in der die letzte Lebenskraft der gemeinsamen Mutter aufgegangen war und die deshalb so mächtig geworden war, dass ihre acht älteren Schwestern sich dazu gezwungen sahen, sie von sich aus in den tiefen Überdauerungsschlaf zu treiben. Jetzt, wo nur sie, Itoluhila, wach war, mochte es sein, dass Erritahilia wiedererwachte. Passierte das, dann würde sie sich rächen wollen, an jedem und jeder, der oder die ihr diese Schmach angetan hatte. Deshalb hatte sie den Entschluss gefasst, eine der Schlafenden aufzuwecken, um wieder zu zweit zu wachen. Ob es gelingen würde war fraglich. Denn nur ein Mann mit ungeweckter Zauberkraft konnte das Erwachen herbeiführen.

__________

"Wusste nicht, dass euer Einschlafgetränk macht, dass ich davon träume, wieder ungeboren zu sein", sagte Darrin am nächsten Morgen. "Allerdings war ich da mit Becky zusammen. Die hat mir gesagt, dass es da, wo sie jetzt ist, noch schöner ist als da, wo wir gerade waren und ich nicht traurig sein sollte, sondern mich gut um die Eltern kümmern sollte."

"Das hast du ganz allein geträumt. Der Tee macht nur, dass du keine bösen Träume hast, Süßer", sagte Ceridwen. Darrin nickte. Dann fuhren er, seine Frau und Arianrhod zu seinen Eltern nach Newcastle. Die Barleys waren beide zu Hause. Ceridwen kondolierte mit ehrlicher Anteilnahme. Ihre Schwiegermutter, eine bereits über siebzig Jahre alte Frau mit hellgrauen Locken, knurrte sie jedoch an: "Das war bestimmt wer von Ihren gottverfluchten Artgenossen."

"Du hast mal du zu mir gesagt, Mum Laurie", sagte Ceridwen darauf. "Aber ich kann dir da leider nicht ganz widersprechen, solange wir nicht wissen, wer das war und warum. Wichtig ist, dass wir euch beistehen, egal, was deshalb noch nachkommt."

"Wir wollen keine geheuchelte Anteilnahme, sondern unsere Tochter. Wenn Sie die wieder lebendig machen können reden wir gerne noch mal drüber", schnarrte Laurie Barley. Ihr Mann Hank, ein mit den Jahren breit und rund gewachsener Mann mit silbergrauem Haarkranz, knurrte Darrin an, dass sie jetzt den Preis dafür zu zahlen hätten, dass er "Diese Hexe" geheiratet habe. Darrin, selbst von Trauer erfüllt, blaffte zurück: "Wir haben Becky nicht umgebracht, Dad. Und dass keiner von euch gestern ans Telefon gegangen ist hat mir große Angst gemacht. Ich dachte, ihr hättet euch was angetan oder wäret vor Schreck tot umgefallen. Also sei bitte friedlich zu meiner Frau."

"Deine Frau, die dich mit irgendwas bezirzt hat, damit du ihr vier Bälger machst, weil die ja von sich aus keine Kinder hinkriegen", sagte Hank Barley. "Der kleine Braten da ist aber nicht von dir, hoffe ich. Beim letzten mal vor drei Monaten war die da zumindest nicht trächtig."

"Dad, ist gut. Ich kapiere, dass du total wütend bist, weil Becky tot ist. Aber das bin ich verrr...ständlicherweise auch, Dad." Darrin hatte wohl ein Schimpfwort sagen wollen, rechtzeitig daran gedacht, dass seine Ziehtochter in Hörweite war.

"Du brauchst vor dem Wechselbalg da nicht auf wohlerzogen zu machen, Darrin. Seitdem du mit der da zusammen bist habe ich jeden Tag damit gerechnet, dass irgendwas schlimmes passiert. Ich habe nur nix gesagt, weil ich es nicht beschreien wollte", knurrte Hank. Seine Frau zeterte: "Ja, für jedes Hexenkind, das Satan in die Welt schickt muss ein unschuldiger Mensch sterben. Aber uns holt er nicht, euer großer Meister. Wir tragen unsere Kreuze und haben jedes Zimmer im Haus weihen lassen." Ceridwen grinste nun sichtlich verächtlich und übertrat die Türschwelle. Die Barleys folgten ihr. Sie betrat jedes Zimmer, wo an jeder Wand ein Kreuz und eine Segensspruchtafel mit lateinischen, englischen oder altgriechischen Lobpreisungen und Segenswünschen hing. Sie entsann sich, dass die Hexen früher beim Betreten eines Hauses immer gesagt hatten: "iste mansio benedicatur." Tatsächlich fand sie diesen Segensspruch neben einem Bild, das die biblische Gottesmutter mit dem neugeborenen Jesuskind darstellte. "Möge die Mutter Gottes über den Schlaf der ihrem Sohn vertrauenden wachen wie über das Wohl ihres Kindes!" las sie. Die Barleys standen da wie erstarrt. Offenbar rechneten sie mit etwas wie einen Blitzschlag von oben oder einer höllischen Feuersäule von unten. Weil weder das eine noch das andere geschah, ja Ceridwen sogar das hölzerne Kreuz mit den Insignien der vier mächtigsten Erzengel ohne Gefahr für Leib und Leben berührte und küsste, löste sich deren Erstarrtheit.

"Soweit ich gelernt habe gibt es nicht nur vier, sondern sieben Erzengel", sagte Ceridwen, als sie sich ihren Schwiegereltern wieder zuwandte. "Jedenfalls bin ich keine eurer Religion nach verdammungswürdige oder gar zu vernichtende Dienerin des Bösen. Ich kenne Hexen und Zauberer, die das glatt als Todesdrohung auffassen, wenn wer sie so bezeichnet. Ich kam mit Darrin her, um ihn mit euch zusammenzubringen. Wenn ihr mich nicht dabeihaben wollt gehe ich mit unserer Ziehtochter Arianrhod spazieren. Darrin kann ja dieses Tuthorn drücken, wenn er möchte, dass wir losfahren. Bis nachher."

12. September 2001, irgendwo bei New Castle

Hallo, Fulvia! Mir wurde die Gelegenheit gestattet, den Schnuller in den Mund zu nehmen. Wir halten uns derzeitig bei den Eltern meines offiziellen Ziehvaters auf. Diese hegen eine unbeugsame Antipathie gegen Ceridwen und andere Magiebefähigte. Das war wohl zu befürchten, nachdem was gestern passiert ist. Ich will jetzt auch nicht zu sehr ausschweifen, bevor sie mir wieder den Schnuller extrahiert, ohne mich formvollendet abzumelden. Ich werde gerade von ihr spazierengetragen. Dabei empfinde ich die Wunschvorstellung, dass sie mich auch in sich hätte tragen mögen. Doch auch so zeitigen ihre Bewegungen auf mich einen beruhigenden, Geborgenheit induzierenden Effekt. Oh, mein Magen äußert eindeutige Hungergeräusche. Womöglich sollte ich die Gelegenheit ergreifen, Nahrung aufzunehmen, bevor Ceridwen mich unter den Augen ihrer sie ablehnenden Schwiegermutter laktiert. Also dann, bis irgendwann wieder, Fulvia!

Wieder zurück im Haus Hühnergrund entschuldigte sich Darrin bei seiner Frau für die ungezügelte Verachtung und den Hass, den sie von ihren Schwiegereltern erfahren hatte.

"Sie durchleben gerade eine sehr schmerzvolle Lage, Darrin. Du hast es ja mitbekommen, was nach dem Sturz des Psychopathen Riddle bei uns los war. Viele Eltern, die ihre Kinder verloren haben, mussten danach in Behandlung oder haben sich von allem zurückgezogen, bis sie mit sich selbst wieder im Reinen waren. Es gibt für Eltern nichts furchtbareres, als das eigene Kind zu beerdigen. Ich bin froh, dass unsere Kinder diesen Wahnsinn unbeschadet überstanden haben und wir Tim helfen konnten, seinen Halt im Leben zu finden."

"Deine Gelassenheit hätte ich gerne. Aber ob das so gut war, meinen Eltern vorzuführen, dass ihre religiösen Schmuckstücke dir nichts tun weiß ich nicht."

"Ich fand es in dem Moment angebracht, Darrin. Dieser alte Aberglaube, der Anblick eines Kreuzes würde die bösen Wesen abschrecken, hat unter den Muggeln oft zu vielen Toten geführt, vor allem durch Vampire.

"Wenn die sich dann nicht totgelacht haben", erwiderte Darrin. "Auf jeden Fall danke, dass du mit mir dahingefahren bist. Aber das mit dem Wechselbalg hätte ich Mum und Dad fast um die Ohren gehauen. Die Kleine kann doch echt nichts dafür, dass deine Nichte sie nicht mehr haben wollte."

"Stimmt, da kann sie nichts für", sagte Ceridwen.

__________

Alfonso Hernán Colonades Dominguez staunte über sich selbst, wie fit er noch war. Auch die unangenehmen Signale seiner Jahrzehnte alten Kniegelenke blieben aus. Dass er in der vergangenen Nacht geträumt hatte, während seiner Hochzeitsnacht einen tödlichen Herzinfarkt erlitten zu haben hatte er schon längst ins Unterbewusstsein zurückgedrängt. Er war der einzige, der mit den verhältnismäßig jungen Männern Mustafa Yilmaz und Kemal Özdemir mithalten konnte. Eigentlich wollten die beiden Verantwortlichen die Gruppe in der Nähe halten. Doch als die ersten keuchend und verärgert schnaubend immer langsamer wurden, mussten sie sich entscheiden, ob sie nur an dem einen Ort bleiben sollten oder das ganze Tal durchwandern sollten, um für den unerwünschten Fall, dass sie in den nächsten Tagen keine Hilfe erhielten, einen möglichen Abstieg zu einer Ansiedlung suchen mussten oder, was vielleicht noch die Aussicht auf Rettung erhöhte, einen Weg auf ein Hochplateau fanden, von dem aus sie noch mehrere Leuchtraketen in den Himmel feuern konnten. Was das kleine mitgeführte Notfunkgerät anging, so hatte sich erwiesen, dass dessen Batterien leer waren. Offenbar hatte jemand bei der Wartung des Notfallgepäcks nicht aufgepasst. Was der Pilot wirklich dachte behielt er jedoch für sich. Denn er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum jemand seine Maschine und die Notausrüstung sabotiert haben sollte, auch wenn die ganzen Ausfälle schon sehr danach schrien, dass jemand sie bewusst herbeigeführt hatte.

Mit den beiden türkischen Reiseverantwortlichen erreichte Alfonso das östliche Talende. Es erwies sich als Sackgasse. Mehrere hundert Meter hohe Felswände schlossen das Tal ab. Zwar boten die massiven Wände viele Mulden, Spalten und Vorsprünge, die für geübte Freikletterer kein Hindernis gewesen wären. Doch für eine Gruppe überwiegend älterer Männer, von denen die meisten wohl keinen regelmäßigen Ausdauersport mehr trieben, waren diese Wände unbesteigbar. So kehrten sie zunächst zu ihrer Maschine zurück und folgten der von dieser gefrästen Furche in Westrichtung. Die anderen hatten sich in die Zelte zurückgezogen, denn ein kalter Fallwind durchwehte das Tal. Mit dem mitgeführten Fernglas peilte der Pilot der notgelandeten Maschine nach Westen. Kemal beobachtete Alfonso Colonades sehr sorgfältig, weil dieser es sich nicht hatte nehmen lassen, die beiden jüngeren Männer auch zum westlichen Talende zu begleiten und im Moment keine Spur von Ermüdung bot. Kemal sprach mit seinem Landsmann auf Türkisch. Dann sagte er Alfonso auf Spanisch: "Captain Yilmaz vermutet, dass wir gerade einmal ein Drittel des Tals durchlaufen haben. Das Westende könnte noch gut und gern zwanzig Kilometer von hier fort sein. Das schaffen wir mit den anderen nicht an einem Tag."

"Wäre ja wohl auch sinnlos, so weit vom Flugzeug fortzugehen", erwiderte Alfonso. Er empfand irgendwie keine große Sehnsucht, dieses Tal zu Fuß zu verlassen.

Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang trafen sie wieder bei den Mitreisenden ein. Die Stimmung war angespannt. Dafür hatten McGrath und Meißner gesorgt. Zum einen hatten sie die Vermutung ausgestreut, die beiden Angestellten vom Club Oriental wollten sich absetzen, um sich der Verantwortung zu entziehen. Zum anderen hatten die beiden Reisenden eins und eins zusammengezählt und den bösen Verdacht der Sabotage herumgereicht. Deshalb wurde vor allem der Pilot heftig kritisiert, ob er nicht vor dem Abflug die Maschine hätte prüfen müssen, und wieso der Treibstoff ausgerechnet auf der halben Strecke ausgegangen war, wo ein Blick in die geöffneten Tanks hätte zeigen müssen, wie viel Sprit an Bord war. Kemal Özdemir versuchte, die unangenehmen Fragen der von ihm Betreuten abzumildern, indem er darauf verwies, dass weder er noch Captain Yilmaz lebensmüde seien und einen Absturz hätten riskieren wollen und zum anderen alle Fragen nach dem Ausfall der Motoren und der Bordelektronik von einer Untersuchungskommission geklärt werden würden. Immerhin, so Özdemir, sei es ja gelungen, das Flugzeug in einem Stück zu landen. Außer den wenigen Allustreben, die für das Kreuz auf dem Steingrab von Rodrígues ausgebaut worden waren, sei die Maschine noch unverändert so, wie sie nach der Notlandung gewesen war. Meißner verwies jedoch darauf, dass sie bisher noch nichts von einer Rettungsmannschaft mitbekommen hätten und die leeren Batterien im Funkgerät wohl mindestens für unverzeihliche Schlamperei, wenn nicht sogar für Sabotage an der Notausrüstung stünden. "Wenn jemand unsere Notausrüstung hätte sabotieren wollen hätte er oder sie uns keine brauchbare Leuchtmunition gelassen", hielt der Pilot dagegen. "Wenn es dunkel wird klettere ich einige Meter in die Wand hinein und schieße noch eine Rakete ab."

"Was wohl blühender Blödsinn wäre, wenn Sie keinen Dunst haben, ob schon wer in der Nähe ist, der uns sucht", erwiderte Meißner. Dann schlug er vor, die Lichtmaschine des Flugzeugs auszubauen und mit den Pedalen im Cockpit ein Schwungrad anzutreiben, mit dem die Lichtmaschine in Gang gesetzt werden konnte, um das Notfunkgerät mit Strom zu versorgen. Der Pilot überlegte, ob sowas mit den mitgeführten Notfallwerkzeugen ginge. Um nicht noch mehr Unfrieden aufkommen zu lassen bot er an, morgen, wenn es heller Tag war, einen Versuch zu wagen. Da schaltete sich McGrath ein:

"Wenn die Elektronik sabotiert wurde dann garantiert auch der von den Motoren betriebene Stromgenerator. Abgesehen davon würden wir mit so einer Aktion Spuren zerstören, die zeigen, ob ein Pilotenfehler oder eine gezielte Beschädigung vorliegen. Vergessen Sie das also, Meißner!"

"Klären wir morgen", sagte Bartoli, der nicht wusste, welchen Vorschlag er jetzt gut oder weniger gut finden sollte. Curby, der kurz vor der Notlandung fast alle gefährdet hätte, starrte mit einer Mischung aus Wut und Verachtung auf die wracke Maschine.

Als die Männer um das aus Klaubholz geformte Lagerfeuer saßen schwiegen sie. Jeder hing seinen Gedanken nach. Die meisten dachten daran, hier zu sterben. Yilmaz verwünschte den Mechaniker, der seine Maschine vermurkst hatte in Scheitans tiefste Hölle, ohne zu wissen, dass Harkan Ösil tatsächlich schon tot war. Kemal fragte sich nur, warum noch keine Suchtruppen aufgetaucht waren. Man musste die unfreiwillige Landung doch auf dem Radar gehabt haben. Insgeheim hoffte er darauf, dass syrische Luftüberwacher die Maschine erfasst hatten und eigene Rettungstruppen losschickten, wenn von türkischer Seite nichts unterwegs war. Alfonso Colonades dachte daran, dass er gleich in ein Zelt gehen würde, in dem in der letzten Nacht ein Mann verstorben war. Eigentlich hätte er darauf bestehen müssen, einen anderen Schlafplatz zu bekommen, zur Not an Bord der havarierten Maschine. Doch irgendwas hielt ihn davon ab, um einen anderen Schlafplatz zu bitten. Er hatte ja nichts für Rodrígues' Tod gekonnt. Jetzt anderswo unterzukriechen käme doch irgendwie einem Schuldeingeständnis gleich. Er war auch der erste, der sich zur Nacht verabschiedete. Die anderen sahen ihm misstrauisch nach. Hatte der mit den beiden Türken irgendwas abgesprochen, wo sie drei so lange von den anderen getrennt gewesen waren? Dann überwog doch die Müdigkeit einen nach dem anderen. Am Ende saßen nur die beiden Angestellten vom Club Oriental um das noch schwach flackernde Feuer herum und flüsterten in ihrer Landessprache. Es ging darum, ob das Feuer nicht noch weiter in Gang gehalten werden musste, um überfliegenden Maschinen zu zeigen, wo die Notgelandeten waren. Außerdem meinte Yilmaz:

"Die hätten schon längst wen schicken müssen. Aber wenn uns genau da die große Scheiße passiert ist, wo die Berge jedes Radarsignal abgeblockt haben, denken die wohl alle noch, wir hätten unser angepeiltes Landeziel erreicht. Die werden dann erst stutzig, wenn wir keinen Tagesbericht an unsere Firma funken, abgesehen davon, dass diese verdammten Berghänge auch den Funk verfälschen können."

"Der Spanier ist mir heute sehr fit vorgekommen", zischte Kemal. "Dabei war der in Stanbul immer einer der ersten, der wegen irgendwelcher Beinbeschwerden langsamer machen musste."

"Neh is' klar, Kemal. Der hat den anderen Spanier umgebracht, um dessen Kraft einzusaugen. Am Ende ist dieser Colonades noch so eine Art Vampir oder was", spottete Yilmaz.

"Bist du des Scheitans, Mustafa!" fauchte Kemal und blickte sich um, ob jemand aus den Zelten vielleicht mitgehört hatte. "Am Ende sind wir noch alle verflucht. Mir ist nämlich eingefallen, woran mich das Tal erinnert." Mustafa wollte natürlich jetzt wissen, woran seinen Kollegen dieses Tal erinnerte. Kemal erzählte ihm im Flüsterton die Legende von einer bösen Dschinnenprinzessin, die junge Männer in eine Berghöhle gelockt haben soll, um sie entweder mit Leib und Seele zu verschlingen oder sie zu ihren willigen Sklaven zu machen, bis eine Truppe mächtiger Zauberer im Schutz des Allmächtigen die Dämonin besiegt und zu unaufweckbarem Schlaf in undurchdringlichem Felsgestein verbannt hatte.

"Lustig, dabei dachte ich, den Koran und die Märchen von Tausend und einer Nacht alle zu kennen", spottete Yilmaz. Kemal seufzte. Dann schrak er zusammen und deutete nach vorne. Im flackernden Widerschein des Feuers schwebte ein weißer Nebelstreifen. Kemal hatte für eine Sekunde das unangenehme Gefühl, dass aus dieser kleinen Wolke heraus jemand zu ihm hinsah, abschätzend, lauernd, hungrig. Mustafa bemerkte die Nebelwolke auch, die gerade mal so groß wie ein ausgewachsener Mensch sein mochte. Doch da löste sie sich in Nichts auf. Er lachte: "Das kommt von deinen Gruselgeschichten, Kemal. Siehst schon Geister oder was. Das war nur eine verirrte Dunstwolke, wie sie bei Einbruch der Dunkelheit häufig in den Bergen entstehen und genausoschnell wieder verschwinden kann."

"Natürlich", grummelte Kemal. "Vielleicht bin ich auch nur müde und habe schon Wachträume."

"Solange du deine schöne Dschinnenprinzessin nicht nackt vor dir bauchtanzen siehst macht das wohl nichts", flüsterte Mustafa Yilmaz. Kemal funkelte ihn dafür mit seinen dunkelbraunen Augen an. Dann knurrte er: "Dann mach du die erste Wache und weck mich, wenn du schlafen gehen willst!" Der Pilot schluckte eine harsche Erwiderung runter und nickte bestätigend. Im Grunde war Kemal der Chef dieser halbverunglückten Gebirgsexpedition. Mustafa dachte daran, dass sein Job mit der Notlandung der alten Propellermaschine getan war. Er blieb noch beim Feuer sitzen und dachte daran, wer ihn alles vermissen würde. Dann malte er sich aus, was er dem Pfuscher alles tun würde, der seine Maschine verhunzt hatte. Der konnte schon jetzt seine Knochen nummerieren.

__________

Colonades erwachte aus einem leidenschaftlichen Traum. Darin hatte er die Rolle eines Sultans im osmanischen Reich gespielt, der eine wilde Nacht mit einer seiner zwanzig Frauen durchlebt hatte. Es war eine rassige, bronzefarben getönte Frau mit schwarzbraunem Haar und nachtschwarzen Augen, die im Licht einer Öllampe wie vom Mond beschinene Seen geglitzert hatten. Erst hatte sie für ihn einen erregenden Bauchtanz vollführt, bei dem sie erst ihre Schleier und dann immer mehr von ihren Gewändern vom Körper gestreift hatte. Dann hatte sie, so bloß wie sie Allah hatte werden lassen, auf ihn zutanzend, ein in ihn eindringendes Lied gesungen, das ihm irgendwoher schon bekannt war. Er dachte daran, dass er es von ihr wohl schon einmal gehört hatte. Dann hatten sie einander mit Lippen und Händen liebkost, bis sie zum beglückenden Liebesspiel übergegangen waren. Der Traum war jedoch wieder in einen beinahen Herzinfarkt ausgeartet und hatte damit geendet, dass er für undenklich lange Zeit in orangerotes Licht getaucht wurde und dann in einem tiefen Schacht gestürzt war. Jetzt lag er hellwach in seinem Schlafsack und wunderte sich über seine Träume. Früher, wo seine alte Pumpe schon die ersten Warnzeichen von Überbelastung gezeigt hatte, hatte er manche Nacht nicht schlafen können, ohne auf den Takt seines Herzens zu lauschen, jede noch so geringe Schmerzempfindung für ein Alarmzeichen zu halten. Doch jetzt fühlte er sich frisch und jung wie vor mehr als dreißig Jahren. Allerdings waren keine Spuren eines wilden Traumes zurückgeblieben, wie er sie von seiner Zeit vor der Hochzeitsnacht mit Luisa kannte. Da hörte er das englische Wort Help für Hilfe durch die Zeltwand dringen. Er schrak zusammen. Doch dann dachte er daran, nicht sofort aufzuspringen. Wenn McGrath, der da gerufen hatte, wirklich Hilfe brauchte, sollten die beiden Türken das erledigen. Wer hatte ihm denn schon geholfen, als er fünf Jahre vor seiner Pensionierung dieses halbe Kind überfahren hatte, das völlig unerwartet von einer Brücke auf die Bahngleise gesprungen war und keine zwei Sekunden später unter die gewaltige E-Lok geraten war. Da war es auch nur darum gegangen, ihn schnellstmöglich wieder arbeitsfähig zu machen. Dass er anderthalb Jahre Beruhigungsmittel geschluckt hatte hatte seine Vorgesetzten nicht gestört.

"Der auch?" hörte Colonades nun die aufgebrachte Stimme von Meißner. "Verdammt, was für ein Scheißspiel treibt ihr hier mit uns?!" schrie der Deutsche dann noch. McGrath, der als ehemaliger Professor eher auf Ruhe und Übersicht getrimmt war, stimmte in das Gezeter mit ein: "Ja, die Frage ist berechtigt. Was vollzieht sich hier mit uns?" Jetzt befand Colonades, nachzusehen, was passiert war. Als er wie alle anderen aus dem Zelt geschlüpft war hörte er gerade noch Mustafa Yilmaz sagen: "Sieht genauso aus wie bei dem anderen." Dann sah er, wie Kemal und Mustafa einen Schlafsack aus einem Zelt trugen und erkannte das totenbleiche Gesicht von William Curby. Der Schlafsack schien so steif wie ein Bügelbrett zu sein, was Colonades darauf schließen ließ, dass Curbys Körper bereits in vollständiger Totenstarre verharrte. Alfonso Colonades empfand nach, was die jetzt noch sieben anderen Mitreisenden empfinden mussten. Meißner brachte es in seiner vor Wut und Ungehaltenheit auf den Punkt: "In meinem Land gab's vor der Einführung der politischen Korrektheit und Toleranz andersrassiger Menschen ein Kinderlied: "Zehn kleine Negerlein" hieß es. In jeder Strophe wurde es einer weniger. Kriegen wird das hier jetzt auch?"

"Wenn Sie mir und meinem Kollegen Yilmaz damit zu unterstellen wagen, dass wir darauf ausgehen, Sie alle nacheinander umzubringen, Herr Meißner, so möchte ich mir diese Unterstellung ganz stark verbitten", blaffte Kemal Özdemir. Angst und Verärgerung zeichneten sein Gesicht. Der sonst immer so schnieke gekleidete Reiseleiter, der alles und jeden mit einem Lächeln überblicken konnte, starrte selbst auf den unheimlichen Inhalt des Schlafsacks. Colonades trat behutsam zu den anderen hin. McGrath sagte dem Deutschen zugewandt: "Wir in England singen ein Lied über erst zehn grüne Flaschen, die an einer Wand hängen, bis keine mehr an der Wand hängt. Aber ich verstehe, was Sie umtreibt. Ich habe nichts davon wahrgenommen, dass Mr. Curby mit dem Tod gerungen und verloren hat."

"Jedenfalls werde ich nicht darauf warten, bis was auch immer mich abkratzen lässt", knirschte Meißner. Wenn Sie nicht in zwölf Stunden wen herschaffen, der uns aus diesem Höllental hier rausbringt marschiere ich alleine los, um nach unten zu kommen."

"Zwölf Stunden? Ich kann keinen Rettungshubschrauber herbeizaubern", zischte Yilmaz. Dann sagte er: "Bedenken Sie bitte alle, dass Sie nicht an die Hochgebirgsluft gewöhnt sind und womöglich deshalb Atembeschwerden beim Schlafen zu Luftmangel führen können." McGrath nickte und gab an, dass Curby immer so forsch geschnarcht habe, als habe er alle Urwälder der Erde absägen wollen. Meißner bemerkte dazu: "Und dann haben Sie verpennt, dass Curby nicht mehr weitergeschnarcht hat? Gestern haben Sie den Señor hier noch so angeglotzt, als habe der seinen Landsmann krepieren lassen." McGrath funkelte den deutschen Mitreisenden zornig an und stieß aus, dass er sich nicht erklären konnte, warum er gestern so schnell so tief eingeschlafen war. Er könne sich nur an einen Traum erinnern, über den er jedoch keine Angaben zu machen wünsche. Dabei sahen alle, wie die Verlegenheitsröte die Wangen des ehemaligen Geschichtsprofessors überzog. Colonades hatte in dem Moment das Gefühl einer unheimlichen Vorahnung. Doch Dieses Gefühl hielt nur wenige Sekunden vor. Dann dachte er nur daran, dass er sich unauffällig verhalten musste. Dass Curby tot war war nicht seine Schuld.

"Zwölf Stunden, Effendis. Ist dann noch kein Rettungstrupp hier such ich auf eigene Faust einen Weg nach unten."

"Ihnen sollte doch klar sein, dass Sie damit nicht nur riskieren, sich unrettbar zu verirren, sondern auch unauffindbar zu bleiben. Nur in der Gruppe besteht für jeden hier eine Chance, gerettet zu werden", sprach Kemal noch einmal auf den deutschen Mitreisenden ein.

"Besser als drauf zu warten, bis mich auch noch wer bei Nacht und Nebel abmurkst. Da falle ich lieber von einem Berg runter und klatsche in die Landschaft. Dann weiß ich aber zumindest, wofür ich draufgegangen bin", knurrte Meißner. Die anderen stimmten ihm darin nicht zu. Auch wenn der zweite Tote aus ihrer Mitte traurig und beängstigend war, so wussten sie doch, dass sie nur zusammen eine Chance hatten. Allerdings warf Curbys Tod die Pläne von Yilmaz und Özdemir über den Haufen, heute nach dem westlichen Talausgang zu suchen. Wenn überhaupt wer unterwegs war, um sie zu retten, ging das nur, wenn die Mannschaft das havarierte Flugzeug anpeilen konnte. Bartoli machte jedoch einen Vorschlag: "Wenn wir nicht heute von wem gefunden werden, dann sollten wir morgen sehen, aus dem Tal raus und so weit wie möglich bergab zu kommen. Mit den Leuchtraketen können wir doch auch unterwegs wen zu uns hinführen."

"Und wie ist es mit der Lichtmaschine?" fragte Meißner. "Vielleicht geht doch noch was mit einem Funkgerät. Wenn die eine AVACS der NATO auf dem Posten haben, kann die jedes noch so schwache elektrische Signal aufschnappen."

"Ja, aber dann können die nicht mehr rausfinden, was mit unserer Maschine passiert ist", sagte Colonades unerwartet ernst. Alle anderen sahen ihn an. "Ich meine ja nur", fügte er deshalb hinzu. Doch für den Piloten stand nun fest, dass sie den Versuch mit dem Stromgenerator wagen mussten.

In den nächsten Stunden arbeitete eine Gruppe daran, den Verstorbenen Curby mit Steinen zuzudecken und eine andere Gruppe versuchte, der notgelandeten Maschine den starken Dynamo zu entnehmen, der neben den schon als unbrauchbar erkannten Batterien Bordstrom liefern konnte, um die Scheinwerfer und einen Großteil der Bordelektrik zu versorgen. Dabei passierte es dann. Gerade als die handwerklich und technisch vorgebildeten Reisenden Meißner, Bartoli und Colonades den Generator aus dem Wrack herausheben wollten, erzitterte die Erde so heftig, dass die Männer die Maschine aus den Händen fallen ließen. Laut krachend schlug der Generator auf den Felsboden auf und zerbrach dabei in mehr als acht Teile. Vor allem die so wichtigen Spulen wurden dabei abgewickelt, so dass viele Meter Kupferdraht freigelegt wurden. Zumindest hatte sich keiner verletzt. Kemal und Mustafa sahen einander sehr verstört an. Ein kleiner Stein, von der unerwarteten Erderschütterung gelockert, kullerte von der nahen Bergwand herunter und hämmerte mit lautem metallischen Knall eine tiefe Delle in das Dach des Flugzeugs.

"Hier ereignen sich Erdbeben?" stieß McGrath aus, der gerade dabei war, sich an die anglikanischen Beerdigungspredigten zu erinnern.

"In dieser Gegend nicht so häufig. Aber bedenken Sie, dass das Taurusgebirge in Nachbarschaft zu schlafenden Vulkanen liegt. Insofern könnte eine vulkanische Regung diesen für uns so unpassend gekommenen Erdstoß ausgelöst haben", versuchte sich Kemal in einer Blitzvorlesung über die Geologie dieser Gegend.

"Der Generator ist auf jeden Fall erledigt", knurrte Meißner und deutete auf die in Stücke gegangene Maschine. "Dann steht mein Angebot weiter, dass ich in acht Stunden den Abstieg versuche."

"Nix für ungut, Monsieur Meißnäär. Aber in Ihrem Alter 'aben Sie pas Chances, ohne absüstürzen 'inabsüklettern", warrf der Franzose Clement Dunand ein. Die Notgelandeten hörten es und dachten sich ihren Teil dabei. Mustafa Yilmaz griff diese Debatte auf und sagte: "Dann bleibt uns nur, einen passenden Abstiegsweg zu finden. Ich hatte ursprünglich vor, mit dem Kollegen Kemal nach dem westlichen Talende zu suchen. Aber so wie ich das sehe sollte ich, da ich hier jetzt wohl nichts mehr ausrichten kann, alleine losgehen, um den Ausgang zu suchen. Es kann allerdings Tage dauern. In der Zeit können Sie alle hier gefunden und gerettet werden. Ich biete mein eigenes Leben an, um Sie alle zu retten. Das bin ich Ihnen als Pilot noch schuldig."

"Dann kann ich gleich mitkommen und den Abstieg machen", grummelte Meißner. Alfonso Colonades wusste nicht, was ihn da gerade ritt, aber er sagte völlig unerwartet: "So wie ich das sehe sind drei Mann immer besser als einer. Wenn einem was passiert können zwei Männer ihn immer noch rausziehen oder einer kann zurücklaufen, während der andere bei dem Verunglückten bleibt. Ich komme auch mit."

"Dann können wir gleich alle gehen", meinte Bartoli. Doch Meißner sah den rundlichen Italiener an und meinte: "Na klar, wo Sie schon beim Durchlaufen der Hagia Sophia geschnauft haben wie Emma, die Dampflok ... Ich kann zumindest noch geradeaus laufen, ohne nach fünfzig Metern umzufallen."

"Im Moment kann ich es keinem von Ihnen raten, meinen Kollegen zu begleiten, weil wie erwähnt nicht klar ist, wie weit der westliche Talausgang entfernt ist und ob es wirklich einen Ausgang gibt", sagte Kemal. Doch Meißner und Colonades waren nun wildentschlossen, den Piloten bei seiner Suche nach dem Ausgang zu begleiten. Bartoli schnaubte verärgert, weil er wusste, dass er keinen tagelangen Marsch überstehen würde. Dann sagte er: "Und was ist, wenn das, was uns in dieses Tal hineingezogen hat uns nicht mehr rauslassen will. Was ist, wenn es erst Ruhe gibt, wenn es einen nach dem anderen von uns umgebracht hat?"

"Wer soll es denn sein?" fragte McGrath verhalten grinsend. "Außer den beiden jungen Burschen hier hätte niemand ein Interesse daran, uns unauffindbar zu machen."

"Ich hoffe, Ihre Pension gestattet Ihnen einen sehr guten Rechtsanwalt, Herr Professor", knurrte Yilmaz. "Den werden Sie nämlich nötig haben, wenn wir hier alle rauskommen und ich Sie wegen Verleumdung und falscher Verdächtigung drankriegen werde."

"Dem sehe ich mit sehr großer Gelassenheit entgegen", erwiderte McGrath darauf. Colonades fühlte, dass hier gerade der Keim für einen heftigen Streit gelegt wurde. Den wollte er nicht haben. Deshalb trieb er Yilmaz an, möglichst bald aufzubrechen.

__________

Die drei Männer aus drei Ländern teilten sich ihre kostbare Atemluft gut ein. Schweigend marschierten sie mit leichtem Gepäck durch das abgelegene Gebirgstal. Mustafa Yilmaz hatte den kleinen Handkarren mitgenommen, auf dem bis zu fünf Zelte befördert werden konnten. Darauf lag das von Colonades bisher bewohnte Zelt fein säuberlich zusammengefaltet. Das Wetter meinte es sehr gut mit den drei Männern. Die Sonne strahlte hell und warm vom Himmel und leuchtete das Tal angenehm aus. Damit die Männer keinen Sonnenstich bekamen trugen sie leichte aber lichtundurchlässige Hüte auf den Köpfen. Stunden vergingen, während sie mit gleichbleibender Marschgeschwindigkeit von der Notlandestelle fortgingen. Colonades fragte sich nie, warum er da überhaupt mitgehen wollte, während der deutsche Mitreisende Meißner offenbar nur darauf aus war, von den anderen wegzukommen und vielleicht einen Weg bergab zu finden, um in die Zivilisation zurückzukehren.

Mittags rasteten sie im Schatten der südlichen Talwand. Meißner wollte ein Foto von dieser Gegend machen. Deshalb hatte er seine Digitalkamera mitgenommen. Doch als er versuchte, das erste Motiv aufzunehmen, stellte er fest, dass der Akku der Kamera entweder leer war oder die Kamera schlicht kaputt war. Meißner prüfte nach, ob er vielleicht etwas verkehrt eingestellt hatte. Dann holte er aus der kleinen Fototasche noch einen vor dem Flug vollgeladenen Reserveakku heraus und tauschte ihn mit dem aus der Kamera. Das Ergebnis blieb dasselbe. Die Kamera ging nicht. Meißner stieß einen deutschen Kraftausdruck aus, den auch Yilmaz und Colonades kannten. Dann packte er den nutzlosen Fotoapparat wieder fort. "Wo wir gelandet sind ging das verdammte ding noch", knurrte Meißner nun auf Englisch, weil er wollte, dass seine zwei Begleiter ihn verstanden. Colonades dachte an seine Armbanduhr, die genauso nutzlos geworden war wie Meißners Fotoapparat. War das ein Zufall, dass die beiden elektronischen Geräte nicht mehr arbeiten wollten? Wenn es kein Zufall war, wie war es dann passiert und warum?

"Ihr Apparat wird dadurch auch nicht mehr ganz, wenn Sie nichts essen, Herr Meißner", belehrte Yilmaz den Begleiter, weil dieser offenbar keinen Hunger hatte, obwohl sie ja alle drei über sechs Stunden lang gelaufen waren. Meißner grummelte nur was und aß etwas von den mitgenommenen Vorräten. Nach dem Essen ging es weiter. Trotz der starken Sonne war es den Männern nicht zu heiß, um weiterzumarschieren. Bis zum Sonnenuntergang waren sie noch immer nicht ans Talende gelangt. Yilmaz prüfte mit seinem Fernglas, ob er das Ende zumindest schon sehen konnte. Doch das Tal machte in wohl zwei Kilometern einen Knick nach südwesten. Wie weit es dahinter noch in das Gebirge hineinschnitt war nicht zu erkennen. "Bis zum Ende dieser Abbiegung möchte ich auf jeden Fall noch hin", legte Yilmaz die Marschroute für den rest des Tages fest. Die beiden Begleiter murrten nicht. Meißner war nun am Ende seiner Ausdauer und keuchte, während Colonades eine merkwürdige Gleichgültigkeit bot, aber ansonsten noch sehr ausgeruht wirkte, als habe er gerade die Hälfte seiner Tagesausdauer verbraucht.

Die Sonne tauchte schon hinter die Talwände, bevor sie richtig errötet war. Dass sie nun unterging war nur am blutigen Farbton des Himmels zu erkennen. Jetzt wirkte das Tal gruselig wie eine Straße durch die Hölle, dachte Yilmaz. Er konnte sich nun vorstellen, wieso die Märchenerzähler behaupteten, hier habe eine Männer mordende Dämonin gelebt. Dabei musste er wieder an Rodrígues und Curby denken. Es war schon richtig gruselig, dass in den beiden Nächten, die sie nun in diesem Tal waren, jeweils einer der Reisenden so unbemerkt gestorben war. Doch als Pilot glaubte er nicht an Geister aus den alten Sagen und Märchen. Auch wenn er die Existenz von Allah und seinem Gegenspieler Iblis oder dem Scheitan nicht abstritt, hatte er es nicht so mit Gespenstern und Dämonen. Die Fliegerei war seine eigentliche Religion. Er hoffte, sie nach dieser unliebsamen Reise weiterbetreiben zu dürfen, wenn er diesem Stümper oder Saboteur Ösil die gebührende Abreibung für diesen Streich verpasst haben würde.

"Da ist das Talende!" frohlockte Yilmaz, der die besten Augen der Dreiergruppe hatte. Die beiden älteren Reisenden versuchten, den Talausgang im Fernglas zu erkennen. Doch für die beiden war es schon zu dunkel. Yilmaz strengte sich an, die Einzelheiten des Ausgangs zu sehen, der von hier aus noch etwa drei Kilometer entfernt lag. Der Weg dahin war jedoch mit schweren Felsen und anderen Unebenheiten angefüllt, dass eine Nachtwanderung dorthin zu anstrengend gewesen wäre. So legten sich die drei in das mitgeführte Zelt. Den kleinen Handkarren, auf dem es lag, würden sie am nächsten Morgen hierlassen, um die unebene Strecke zu schaffen.

In der Nacht träumte Yilmaz von einem Flug über die amerikanische Prärie. Das war sein Lebenstraum, einmal in einer zweisitzigen Piper quer über den nordamerikanischen Kontinent zu gleiten. Andere Männer seines Alters träumten von einem Ritt auf einer Harley-Davidson. Er wollte das weite Land im wilden Westen wie ein Adler von oben erleben. Jetzt meinte er, diesen Wunschtraum zu erleben. Seine einmotorige, zweisitzige Maschine brummte in knapp fünfhundert Metern höhe über weites Grasland hinweg. Yilmaz wollte gerade um eintausend Meter weiter nach oben, um einen noch weiteren Rundblick zu erhalten, als er eine Ansammlung von hundert Zelten vor sich sah, die eine breite Piste flankierten. Ein unerklärlicher Drang trieb ihn, genau auf dieser Piste zu landen. Als er ausstieg wurde er von Indianern in einfacher Fellkleidung begrüßt. Da er mit einem der stählernen Vögel gekommen war, galt er für den abgeschieden lebenden Stamm als eine Art Gott oder zumindest Zauberer. Daher wunderte es ihn nicht, dass der Häuptling Starker Fels ihm die Hand seiner Tochter Dunkler Stern anbot. Die in einem Kleid aus Leder und bunten Federn steckende Indianerin war überragend schön mit ihren langen Beinen, dem geschwungenen Becken und der schmalen Taille, sowie dem verheißungsvoll gerundeten Oberkörper. Da der ihr eigentlich versprochene Sohn des Medizinmannes bei der Jagd auf einen Bären den frühen Tod gefunden hatte, sollte sie die Frau eines anderen den großen Geistern vertrauten Mannes werden. Offenbar waren alle Kriege und Unterdrückungsaktionen der Weißen hier nicht bekannt geworden, dachte Yilmaz einen Moment. Dann erlebte er die Hochzeitszeremonie und verbrachte mit Dunkler Stern eine leidenschaftliche Hochzeitsnacht. Als beide ihre höchste Lust hinausschrien erwachte Yilmaz. Doch was war das? Statt nun ganz allein in seinem Schlafsack zu liegen fühlte er, wie etwas oder jemand ihn immer noch in lustvoller Umklammerung hielt. Er fühlte einen warmen, weichen Frauenkörper an seinen Körper schmiegen und hörte das rhythmische Ächzen einer mit ihm zusammenliegenden Geliebten. Als Yilmaz über diese Enthüllung erschrecken wollte, drückte die Unbekannte ihm ihren Mund auf seinen und küsste ihn so leidenschaftlich, dass ein heftiger Wärmeschauer durch seinen Körper raste und ihn dann in eine wohlige Bewusstlosigkeit hinübergleiten ließ. Als er wieder aufwachte hielt er diesen merkwürdigen Liebesakt für das Anhängsel seines Traums von einem Flug zu den Indianern vom Stamme der Wolkensöhne, die ihn als ihren Luftgeist gefeiert und ihn mit der Tochter des Häuptlings zusammengebracht hatten. Als er auf seine rein mechanische Pilotenuhr blickte war es gerade halb fünf Ortszeit. Er Stand leise auf und prüfte, ob seine beiden Begleiter noch schliefen. Ja, die beiden Begleiter schliefen, waren nicht tot. Meißner grunzte rhythmisch. Colonades pfiff immer wieder durch die Nase. Wie konnte jemand mit derartigen Atemproblemen so gut schlafen? fragte sich der türkische Pilot. Doch dann überkam ihn der Drang, die Gelegenheit zu nutzen und das Talende alleine zu erreichen, bevor die beiden anderen aufwachten. Alleine kam er garantiert in weniger als einer Stunde hin und wieder zurück. Dabei würde er die bequemste Strecke herausfinden, um die beiden Pensionäre ohne große Belastung zum Talausgang zu führen.

Mustafa Yilmaz trank beim Laufen starken Kaffee aus seiner mitgeführten Thermosflasche. Das Gebräu lud ihn regelrecht mit Energie auf. Er umlief die unförmigen Felsbrocken und überstieg ohne Stolperer die Buckel und Bodenrisse. Er hatte irgendwie den Eindruck, dass dieser Weg überhaupt nicht anstrengend war. Wie ein hochtrainierter Langstreckenhindernisläufer eilte er dem erspähten Talausgang zu. Als er den gerade drei Meter durchmessenden durchgang erkannte, der auf einen nach unten führenden Bergpfad mündete, pfiff er hocherfreut durch die Zähne. Das Tal war keine Sackgasse. Sie konnten weiter nach unten steigen, wo die Luft besser zu atmen war. Allerdings würde der Marsch mindestens doppelt so lange dauern wie gestern, weil die anderen längst nicht so ausdauernd waren wie der Spanier und der Deutsche. Doch die Aussicht, aus dem Gebirge hinabsteigen zu können würde die verbliebenen Reisenden vorantreiben.

So leichtfüßig, wie er ans Talende gekommen war, kehrte der Pilot zum Zelt zurück. Er konnte nicht wissen, was an der Notlandestelle in dieser Nacht passiert war.

__________

Kemal Özdemir konnte nicht einschlafen. Der lauernde Vorwurf, er habe Rodrígues und Curby auf dem Gewissen, ließ ihn nicht die nötige Ruhe finden. Und jetzt, wo sein Kolege Mustafa Yilmaz auf die Suche nach dem westlichen Talausgang und einem möglichen Weg nach unten losmarschiert war, blieb er mit seinen Sorgen allein zurück. McGrath hielt sich erstaunlich ruhig, als es auf den Abend zuging. Die anderen bedachten Özdemir immer mit misstrauischen Blicken. Erst als sie alle zu müde waren, um sich noch auf den Beinen halten zu können, zogen sie sich in die Zelte zurück. Kemal hatte keinen plausiblen Einwand vorbringen können, dass die verbliebenen Reisenden sich zu dritt oder zu viert in den Zelten zusammentaten. Es war ja auch irgendwie verständlich, dass sie sich gegenseitig behüten wollten. So waren Bartoli, Dunand und McGrath in dasselbe Zelt gegangen, indem Bartoli bisher zusammen mit seinem Landsmann Massimo Marzani geschlafen hatte. Kemal sah auf das Zelt, in dem Curby in der letzten Nacht verstorben war. Es stand nun leer. Wenn die anderen jetzt so dicht zusammenliegen wollten, brauchte man es nicht herumstehen zu lassen. Einen Moment dachte Kemal daran, ob es nicht als Aufbewahrungsort für weitere Leichen herhalten mochte. Er erschrak über diesen Gedanken. Dieser Schrecken putschte ihn regelrecht auf. War es bisher nur das Unbehagen, das ihn nicht hatte müde werden lassen, war es nun echte Angst, dass in dieser Nacht wieder jemand von ihnen sterben würde. Was hatte Meißner gesagt? Wie im Lied von den zehn kleinen Negerlein, dass er selbst im Deutschunterricht in Istanbul kennengelernt hatte. Doch in diesem von der politischen Korrektheit geächteten Kinderlied kamen die Besungenen auf ganz unterschiedliche Weise ums Leben. Rodrígues und Curby waren jedoch auf dieselbe Art gestorben. Allerdings hatte er Curbys Gesicht nicht vergessen, das im Augenblick seines Todes eingefroren worden war. Curby hatte so selig geguckt, als erlebe er in den letzten Augenblicken seines Lebens noch etwas sehr schönes oder lustvolles. Konnte es sein, dass er schlicht an einem leidenschaftlichen Traum gestorben war, der sein altes Herz überanstrengt hatte? Er hatte schon davon gehört, dass herzkranke Menschen durch schreckliche Albträume umgekommen waren. Ging das auch bei erotischen Träumen. "ja, geht ganz gut", hörte er in seinem Kopf ein amüsiertes Wispern. Er erschrak erneut. Was war denn das jetzt gewesen? Kemal schnellte aus seiner sitzenden Haltung am schwach dahinglosenden Lagerfeuer hoch und wirbelte einmal ganz um seine Achse. Seine schreckgeweiteten Augen tasteten hektisch die Umgebung ab. Doch niemand war hier. Außerdem hatte er den Eindruck gehabt, die Stimme wäre in seinem Kopf erklungen. Dann blickte er auf das Zelt, das er in dieser Nacht wohl alleine bewohnen sollte. Er dachte daran, dass es wohl besser war, auch schlafen zu gehen. Er prüfte noch einmal, ob die Feuerstelle ordnungsgemäß abgesichert war, damit sich der Rest vom spärlichen Feuerholz ungefährlich aufbrauchen konnte. Dann ging er in sein Zelt. Er verschloss es von innen und setzte sich auf seinen Schlafsack. So bekam er nicht mit, wie ein weißer Nebelstreifen, der hinter dem Zelt über dem Boden geschwebt war, ganz und gar lautlos auf das von McGrath, Bartoli, Marzani und Dunand bewohnte Zelt zuglitt.

Kemal haderte im Schutz seines Zeltes mit der Lage. Wie gerne hätte er es jetzt gehabt, dass Mustafa Yilmaz bei ihm war. Offenbar, so dachte der vom Club Oriental angestellte Reiseleiter, war er doch nicht dafür geschaffen, eine Gruppe von Campern zu beaufsichtigen. Die Stille war ihm unheimlich. Einige der Reisenden schnarchten wohl. Doch hier konnte er es nicht hören, weil die Zelte im Abstand von zwanzig Metern voneinander entfernt aufgebaut worden waren, um zumindest eine gewisse Privatsphäre zu bewahren. Kemal wollte aber nicht in die Stille lauschen. Er holte seinen kleinen MP3-Abspieler aus dem Rucksack und steckte sich die Ohrhörer in die Gehörgänge. Leise erklang türkische Popmusik, wie sie auch die Touristen, die hier ihren Urlaub verbrachten gerne hörten, um die exotische Atmosphäre zu genießen. Die Musik übertönte die bleierne Stille. Kemal schaffte es, sich zu entspannen. Doch müde wurde er nicht. Er empfand es nur so, dass er keine Unruhe mehr fühlte und auch keine Veranlassung, das Zelt zu verlassen. So vergingen die Stunden. Das Abspielgerät lief auf Wiederholungsbetrieb weiter. Als die sechzig eingespeicherten Titel einmal durchgelaufen waren, fing es von vorne an. Erst als die winzige Anzeige verriet, dass der Akku nur noch zwanzig Prozent Ladung hatte, schaltete Kemal das Gerät aus. Die Stille überfiel ihn so unvermittelt, als habe er ganz vergessen, dass er mit nur noch sechs schlafenden Rentnern aus verschiedenen Ländern in einem Hochgebirgstal festsaß. Die Stille war regelrecht bedrohlich. Sie schürte in Kemal wieder jene Angst, die er vorhin noch gespürt hatte. Diese Angst wuchs an. Kemal hatte in diesem Moment das untrügliche Gefühl, ganz allein zu sein, der einzige Überlebende dieser verunglückten Gebirgstour. Er sprang von seinem Schlafsack hoch. Mit einem schnellen Schritt war er an der mit Reißverschluss gesicherten Zeltklappe. Ein hektischer Handgriff, und der Reißverschluss war bis unten hin offen. Kemal sprang förmlich in die nun sehr kalte Nacht hinaus. Ein Blick zum Himmel verriet ihm, dass das schöne Wetter vom Tag gerade Pause machte. Wolken verhüllten Mond und Sterne. Es war absolut dunkel. In der Feuerstelle glühte nicht einmal mehr ein einziger Aschekrümel. Kemal brauchte Sekunden, um die von seiner Angst geweiteten Augen an die herrschende Finsternis zu gewöhnen. Wie unheimliche Schattenrisse zeichneten sich die Umrisse der Zelte vom dunklen Hintergrund ab. Kemal lief zum Zelt der vier zusammenliegenden Reisenden hin. Als er es erreichte fingerte er nach dem Reißverschluss. Doch dieser war bereits zur Gänze aufgezogen. Kemal fiel fast auf die Knie, als er in das Zeltinnere hineintauchte. Er lauschte. Doch hier war nichts zu hören. Dennoch hatte er das Gefühl, nicht allein im Zelt zu sein. Der kalte Geruch von Männerschweiß und verbrauchter Atemluft hing wie ein Parfüm des Unheils in der Luft. Kemal zerrte die kleine Taschenlampe hervor, die er in seinem Gürtel stecken hatte. Als er sie anknipste brannte ein weißer Lichtkegel ein Loch in die Dunkelheit. Kemal musste erst die Augen zusammenkneifen. Dann sah er es. Im Schein der kleinen Lampe glänzte vor ihm das Gesicht von Bartoli, bleich und schlaff. Der Mund stand weit offen. Die Zunge hing dunkel verfärbt über die Lippen. Die Augen standen offen und starrten blicklos an die Zeltdecke. Kemal unterdrückte einen Schreckensschrei. Er ließ den Lichtkegel nach links und rechts huschen. Da erkante er, dass noch drei im Zelt lagen. Sie atmeten nicht mehr und starrten ohne jeden Ausdruck an die Decke. Kemal sprang vor und rüttelte an Bartolis halboffenem Schlafsack. Dann wollte er ihm die flache Hand ins Gesicht klatschen. Doch da griff ihn eine schmale Hand an den Arm und packte kraftvoll zu. Er blickte auf seinen gerade nach hinten zurückbuchsierten Arm. Im Widerschein der Taschenlampe meinte er nur den Ärmel seiner Allwetterjacke zu sehen. Doch das Gefühl, von einer Hand gehalten zu werden war keine Einbildung. Er versuchte, sich aus dem Griff der fremden Hand zu lösen. Doch das gelang ihm nicht. "Willst du dich wirklich freiwillig mit dem Gift der einsetzenden Verwesung besudeln?" fragte ihn eine flüsternde Stimme auf türkisch. Er ruckte mit dem Kopf nach rechts. Doch trotz des hellen Widerscheins der Taschenlampe konnte er nicht sehen, wer ihn da angesprochen hatte. Nicht einmal der Schatten eines anderen Menschen war zu sehen. Die Frage hatte ihm aber bestätigt, dass Bartoli tatsächlich tot war. Und wenn er tot war, dann waren es die anderen auch. Denn sonst hätte ja einer von denen Alarm geschlagen. Aber wer steckte hinter dieser stimme, die er nicht sehen konnte? Die Angst in ihm wurde zu einem lähmenden Entsetzen. Sein Herz pochte wild. Er ließ es zu, dass ihn das unsichtbare Wesen am Arm aus dem Zelt hinausführte wie einen kleinen Jungen und ihn schnurstracks zu dem immer noch offenen Zelt zurückbugsierte, in dem er die letzten Stunden wach aber unaufmerksam gesessen und Tarkan, Simarik und anderen Sängern und Sängerinnen zugehört hatte, als die grauenvolle Tragödie zu bemerken, die sich in dem Zelt der vier reisenden abgespielt hatte. "Du willst sie begraben?" hörte er die Frage der fremden Person. Jetzt wusste er es ganz sicher, dass es die Stimme einer Frau war, einer unsichtbaren Frau! Sofort dachte er an die in Schlaf gebannte Dämonin, die in dieser Gegend ihre Untaten begangen haben sollte. Aber das war doch nur eine Legende, ein Gruselmärchen, weiter nichts. Doch die ihn festhaltende Hand am Arm und die Frauenstimme aus dem Unsichtbaren bildete er sich doch nicht ein. Er griff nach seinem Arm und fühlte tatsächlich die ihn haltende Hand, schmal, warm und fest. Er versuchte, sich loszureißen. Der Drang, fortzulaufen überwog nun die durch das Entsetzen verursachte Geisteslähmung. "Du gehörst mir, Kemal. Finde dich damit ab!" klang nun die Stimme der Unheimlichen laut und deutlich in seinem Kopf. Sie sprach in seinem Kopf! Wahrscheinlich wusste sie seine Gedanken. "Allah wird mich vor dir schützen, Geschöpf des Scheitans!" versuchte sich Kemal in einem verzweifelten Widerstand.

"Das hat der Ururenkel eures Propheten auch mal geglaubt, dass er sich gegen mich auflehnen kann", hörte er die fremde Stimme nun mit den Ohren. Sie klang tief und verheißungsvoll. Doch er fühlte, dass hinter dieser Stimme eine lebensgefährliche Kreatur steckte. "Ja, und dessen Vetter hat gedacht, meine dem Wind zugetane schwester zu seiner Sklavin machen zu können, indem er ihr diese lächerlichen Bannsprüche in die Ohren gebrüllt hat, die auch mit eigener Magie keinen Wert gehabt haben. Da glaubst du, der du dich von deinem Allah schon so weit abgewandt hast, dass du nicht mal mehr die vorgeschriebenen Gebete verrichtest, du kämst gegen mich an? Ja, die Toten stören. Da ich dich für was wichtigeres brauche als für Eingrabearbeiten, muss und werde ich das eben machen. Du bleibst schön hier und wartest darauf, bis ich wiederkomme. Weglaufen lohnt nicht. Aus diesem Tal kommst du zu Fuß nicht raus, und um Hilfe rufen bringt hier nichts."

"In die tiefste Hölle mit dir!" schnarrte Kemal.

"Da war ich schon. Langweiliger Ort für eine Lebenshungrige wie mich", lachte die Unheimliche. Dann wurde sie zum ersten mal für Kemal sichtbar. Sie war schlank, besaß feste, ausladende Brüste und ein schmales Gesicht. Kemal wusste, wer die Dämonenprinzessin ansah verfiel ihr. So versuchte er, sich von ihr abzuwenden. Da packte sie ihn mit der freien Hand und riss ihn herum. "Die süße oder die bittere Weise, kleiner Fremdenführer!" zischte sie. "Ich würde die süße Weise bevorzugen, wenn du noch genug Jahre erleben möchtest."

"Zum Scheitan mit dir!" schrie Kemal und versuchte die Fremde zu schlagen. Er landete auch einen Treffer. Doch ebensogut hätte er auf einen prallgefüllten Gummiball eindreschen können. Die Wirkung war zumindest die gleiche.

"Du bist schön stark und ungebärdig. Das macht mir nur noch mehr Lust, dich für mich zu haben, kleiner Fremdenführer", lachte die andere. Kemal kniff die Augen zu. "Ich sichere dich mir erst einmal, um den, der den Metallvogel gelenkt hat, für mich bereitzulegen. Morgen gehört ihr drei mir allein." Kemal wollte noch einmal zuschlagen, als die Unheimliche ihren Griff lockerte, um im nächsten Moment mit beiden Armen seinen Körper zu umschlingen. Er meinte, in einen Wirbel aus Farben hineinzustürzen. Dann fand er sich in einem risigen Raum wieder, der von einem erst blutroten Schein erfüllt wurde. Doch als die Unheimliche ihn aus ihrer fangschreckenartigen Umklammerung freigab erstrahlte ein goldenes Licht, fast so hell wie der Sonnenschein. Jetzt konnte Kemal erkennen, dass es von einem bald zwei Meter hohen Gefäß herrührte, von dem zwei Henkel in die gewaltige Höhle hineinragten. Diese so plötzlich über ihn hereingebrochenen Veränderungen fesselten seine Aufmerksamkeit so sehr, dass er nicht mitbekam, wie die Unheimliche einfach im Nichts verschwand. Erst nach zwei Sekunden erkannte er, dass er alleine in dieser riesigen Höhle war. Der strahlende Krug glomm nur noch in einem schwachen, blutroten Licht. Kemal erkannte, dass er gerade in das Reich der eigentlich für nicht existierenden Dämonin entführt worden war. Hier war er ihr ausgeliefert. Er erinnerte sich an ihre letzten Worte. Sie hatte von dreien gesprochen, die ihr allein gehören sollten, einer war wohl Mustafa Yilmaz, den sie sich sichern wollte. Der zweite war er. Doch wer sollte der dritte sein, der das fragwürdige Glück hatte, weiterleben zu dürfen? Kemal dachte daran, dass Mustafa eine der Leuchtpistolen mitgenommen hatte. Feuer half doch gegen Dämonen, sofern es keine Feuerdschinnen oder der Scheitan persönlich waren. Dann erkannte er, dass diese Dämonin zu mächtig war, um sich von gewöhnlichem Feuer beeindrucken zu lassen. Sie war durch irgendwas wiedererwacht, nach all den Jahrhunderten, die sie beinahe aus der Erinnerung der Menschen getilgt hatten. Sowas passierte nicht mal eben so. Doch was brachte ihm diese Erkenntnis? Er war der Gefangene dieses Teufelsgeschöpfes und würde es bleiben oder sterben. Er wusste nun, dass nur dieses schöne Ungeheuer Rodrígues, Curby und alle anderen getötet hatte. Womöglich waren Meißner oder Colonades die letzten, die sterben sollten. Nur einer von denen, weil dieses Höllenweib drei ihr Unterworfene haben wollte, als Lustsklaven, Futter oder menschliche Handlanger. keine schönen Aussichten, dachte Kemal Özdemir.

__________

Mustafa Yilmaz starrte auf das Zeltinnere. Wo war Meißner? Colonades schlief noch wie ein Murmeltier. Sein Atem ging regelmäßig. Doch der Schlafsack des Deutschen war leer. Mustafa rüttelte Colonades wach und fragte ihn, ob er mitbekommen habe, wo Meißner abgeblieben war. Doch Alfonso hatte nicht mitbekommen, dass Meißner verschwunden war. Er hatte ja auch nicht mitbekommen, dass Mustafa Yilmaz schon einmal zum Talausgang gewandert war.

"In dieser Lage so tief schlafen zu können würde ich gerne können", grummelte Yilmaz. Dann suchte er nach Fußabdrücken des Verschwundenen. Doch der Boden war zu hart dafür. Der Wind hatte auch dafür gesorgt, dass keine staubigen Umrisse auf dem Boden zu sehen waren. So suchten die beiden zunächst in Richtung des Flugzeuges. Denn Meißner war ja nicht in Westrichtung gegangen. Nach fünf Minuten Fußmarsch fanden sie etwas, das am Vortag noch nicht da gewesen war. Auf dem Boden erhob sich ein dunkelgraues Steingebilde, das beim Näherkommen eindeutig wie eine Statue aussah, die Nachbildung eines auf dem Rücken liegenden Mannes. Körperhaltung und Geschlechtsteile sahen so aus, als sei der am Boden liegende im Augenblick der größten geschlechtlichen Erregung versteinert worden. Dazu passte auch das in ewiger Glückseligkeit gebannte Gesicht des Versteinerten. Alles in allem vermittelte die Statue den Eindruck eines in seiner größten Wonne dargestellten Mannes. Doch genau hier und mit dem Gesicht war die Botschaft für Mustafa ein einziges Bild des Schreckens. Denn das Gesicht war das Gesicht von Giesbert Meißner, dem vermissten Mitreisenden.

"Das gibt's nicht. Das kann es nicht geben", stieß Yilmaz aus und berührte die am boden liegende Statue. Colonades bekreuzigte sich. Er stieß spanische Gebetswörter aus. Auch er dachte daran, dass hier vor ihnen der zu Stein gewordene Mitreisende lag. Sowas konnte es nicht geben, zumindest nicht für Mustafa Yilmaz. Colonades hatte da überhaupt kein Problem, das zu akzeptieren, nicht nur weil böse Mächte wie der Teufel für ihn unbestreitbar existierten, sondern auch, weil er absolut sicher wusste, dass es schwarze und zum Teil auch weiße Magie gab. Jetzt hatte er es buchstäblich felsenfest vor sich, dass alle Ereignisse der letzten Tage mit bösem Zauberwerk zusammenhingen. Dann fielen ihm seine wilden Träume ein, die meistens damit endeten, dass er fast an einem Herzinfarkt gestorben war, wenn da nicht dieses orangerote Licht gewesen wäre, das quasi aus dem Unterleib seiner geträumten Ehefrau oder einer Sultanskonkubine herausgeflossen war. Er erschrak und erbleichte, als ihm bewusst wurde, dass er und alle anderen hier in den Einflussbereich einer höllischen Kreatur geraten sein mussten, an die die modernen Menschen mit und ohne Zauberkraft nicht glaubten. Er erkannte, dass er bereits verflucht war. Denn eine von den bösen Töchtern Liliths hatte ihn bereits heimgesucht. Nicht nur das, sie hatte ihn künstlich am Leben erhalten, während zwei andere Männer gestorben waren. Colonades griff unter sein Hemd. Dort hing noch das kleine goldene Kreuz, das er von seiner Großmutter zur Firmung geschenkt bekommen hatte. Warum hatte ihn das nicht vor dem Bösen beschützt? Die Antwort fiel ihm sofort ein: "Weil die Mächte der schwarzen Magie sich nicht an christliche Symbolik halten." Das zumindest hatte sein Sohn erwähnt, als sein Vater versucht hatte, die Saat der Magie damit aus ihm herauszutreiben. "Nur wer die Magie beherrscht kann sich gegen echte Dämonen wehren", hatte sein Sohn noch gesagt. Ja, er hatte es nicht geschafft, das Unheil abzuwehren.

"Was ist hier passiert, und wieso haben Sie Ihr bekenntnis zu Jesus von Nazareth hervorgeholt?" fragte Mustafa.

"Weil wir alle verflucht sind, Mr. Yilmaz. Wir sind alle verdammt."

"Das glaube ich langsam auch", stöhnte Yilmaz. Ihm fiel die Geschichte von der Dschinnenprinzessin wieder ein, die Kemal zum besten gegeben hatte. Er erwähnte sie und fügte sofort an, dass er selbst nicht an sowas geglaubt hatte.

"Das passt, Señor", stieß Colonades aus. "In diesem Tal haust ein Succubus, ein Körper und Seelen verschlingender Dämon."

"Lustig, von sowas habe ich schon gehört. Juden und Christen haben damit ihre feuchten Träume erklärt. Zum teil sagen auch die Imame, dass Scheitan sich in Frauengestalt an unschuldige Männer heranmacht, um sie dem Allmächtigen zu entreißen."

"Wir müssen hier weg, solange es hell ist und wir beide wach genug sind. Wir müssen aus dem Tal heraus. Vielleicht entgehen wir dieser Bestie dadurch", sagte Colonades. Er hätte jetzt viel dafür gegeben, seinen Sohn und die Leute aus diesem vermaledeiten Zaubereiministerium herbeirufen zu können.

"Wenn es wirklich so eine Hexenkreatur ist könnte die doch glatt hinter uns herfliegen oder mal eben da auftauchen, wo wir sind. Aber Sie haben recht. Wenn dieses Geschöpf die Sonne fürchten muss wie ein Vampir, haben wir vielleicht eine Chance. Zurück zum Flugzeug dauert einen Tag. Wenn wir dann wieder einschlafen holt uns das Monster."!"

"Es wird die anderen sicher schon getötet haben oder längst zu ihren Sklaven gemacht haben. Wir müssen fliehen, so feige es auch aussieht. Aber ich denke, Meißner wurde hier als Warnung abgelegt, dass wir nicht zu den anderen zurückgehen sollen."

"Wenngleich das schon heftig ist, dass der versteinert ist und nicht als normale Leiche daliegt."

"Das Ungeheuer wollte uns wohl zeigen, wie mächtig es ist. Doch ich hoffe immer noch darauf, dass der Gott Mohammeds und Vater meines Herren Jesu Christi uns beschützen wird", sagte Colonades.

"Ich habe noch die Leuchtpistole. Kann man Dämonen nicht mit Feuer vernichten?"

"Nicht, wenn die Bestie nur dann erscheint, wenn alle schlafen", sagte Colonades. "Hoffen Sie darauf, dass ihr Einflussgebiet nur auf dieses Tal beschränkt ist."

"Öhm, Sie sagten was von Töchtern dieser Llilith, die noch vor Eva entstanden sein soll. Dann könnte dieses Weib Schwestern haben, die ihm die Beute zutreiben?" fragte Yilmaz, dem ein sehr schrecklicher Verdacht gekommen war.

"Davon ist auszugehen. Ich hörte sogar, dass diese Höllenhuren über die ganze alte Welt verstreut existieren und von den Seelen der von ihnen verführten Männer leben." Mustafa Yilmaz erbleichte. Denn ihm war zu dem Verdacht, den er hatte, noch eine erschreckende Erkenntnis gekommen. Der Traum in dieser Nacht, die überragend schöne Indianerin, die ihn sogar noch unsichtbar geliebt hatte.

"Dann hat uns eine von denen hier runtergehen lassen, weil sie wollte, dass ihre Schwester aufwacht", seufzte Mustafa. "Also los, weg hier, bevor wir wieder zu müde sind!" Er dachte an Kemal Özdemir. vielleicht sollte er eine Rakete abschießen um ihn dazu zu bringen, auch eine Leuchtrakete abzufeuern. Colonades stimmte dem zu. Denn sicher wusste die Bestie, wo ihre auserwählten Opfer gerade waren. Sie konnten sich also nicht unnötig verraten.

Auf die abgefeuerte Leuchtrakete erfolgte jedoch keine Antwort. Jetzt waren nur noch drei Raketen übrig. Yilmaz hoffte darauf, dass sie bereits gesucht wurden. Doch wenn die Suchmannschaft in dieses Tal eindrang und hier übernachtete hatte dieses Vampirungeheuer noch mehr Futter. Es sei denn, es konnte nur die Seelen von bestimmten Leuten an sich reißen. Das herauszukriegen war nun wichtig. Deshalb mussten sie nun los.

Als Yilmaz und Colonades das westlich gelegene Talende erreicht hatten erwartete sie eine böse Überraschung. Statt des drei Meter breiten Durchgangs erhob sich vor ihnen eine turmhohe Felswand, die zu allem Überfluss noch glatt und fugenlos war wie aus Beton gegossen. Nein, sie war nicht ganz eben, erkannte Mustafa Yilmaz, der aus hundert Metern Abstand mit seinem Fernglas nach oben spähte. knapp vierzig Meter über ihren Köpfen waren Vorsprünge. Doch als er erkannte, dass diese Vorsprünge wie steinerne Menschenköpfe aussahen, und zwar sechs an der Zahl, fiel er beinahe in Ohnmacht. Er erkannte die sechs. Es waren sechs der verbliebenen Mitreisenden. Dann trat sie aus der Felswand heraus wie ein Gespenst, eingehüllt in ein langes, rubinrotes Gewand, langbeinig, schlank, mit verheißungsvollen Rundungen, dunkelbraunes, beinahe schwarzes Haar um Kopf und Oberkörper wehend. Die Haut war bronzefarben, die Augen so schwarz wie die Nacht. Eine schlanke Nase und ein zu überlegenem Lächeln verzogener Mund vervollständigten das ebenmäßige Gesicht der Unheimlichen. Sie winkte den beiden Männern zu und öfffnete ihre Arme.

"Ich habe auf euch gewartet, ihr zwei Süßen", sagte sie in akzentfreiem Englisch. Jetzt konnten die beiden auch die Kette erkennen, die die andere um den Hals trug, eine Kette aus glitzernden runden Steinen.

"Hebe dich hinfort und versink im Pfuhl der Hölle, Tochter des Leibhaftigen. Meine Seele befehle ich nur dem gütigen Schöpfer!" rief Colonades in letzter Verzweiflung.

"Dein achso gütiger Schöpfergott hat in seiner Großzügigkeit befunden, dass ich deine Seele haben darf. Sie gehört mir schon. Dein Körper gehört auch mir, Alfonso Colonades. Denn in ihm steckt ein Teil meiner Kraft. Sonst wärest du längst schon tot. Aber ich habe dich gefunden und will dich nicht mehr hergeben. Also vergiss deinen Gott, und du deinen auch, Mustafa Yilmaz. Auch du gehörst mir. Immerhin hast du mich ja schon geheiratet", lachte die andere und deutete auf Mustafa. Dieser dachte daran, dass es für ihn nur noch einen Ausweg geben mochte, auch wenn der Prophet dies verbot. Denn wem Allah das Leben geschenkt hatte, der durfte es nicht von sich aus beenden. Doch was blieb ihm übrig?" Da fing diese überirdische Erscheinung zu singen an. Colonades erstarrte. Aller Widerstandswille war mit einem Schlag gewichen. Mustafa Yilmaz kämpfte dagegen an, sich von den Tönen einlullen zu lassen. Er mied auch den Blickkontakt mit der Dämonin. Er zog seine Leuchtpistole. Das makellos schöne Monstrum stand noch weit genug weg, um nicht selbst zu verbrennen. Wenn er es nicht schaffte, es zu vernichten, würde er sich eben selbst töten. Da erwachte Colonades wieder aus seiner Starre. Von den Tönen des Liedes getrieben lief er wie an unsichtbaren Fäden geführt auf Yilmaz zu. Dieser zielte bereits auf die Unheimliche. "Inch Allah!" rief er. Da fegte ein wohlplatzierter Fußtritt ihm die Pistole aus der Hand. Die Signalpistole, die er gerade eben noch als Waffe einsetzen wollte, schlug auf den Boden auf und zerfiel dabei in immer kleinere Teile. Dabei sang die Unheimliche etwas in einer Sprache, die weder türkisch, Englisch noch Arabisch war. Yilmaz vermutete, dass es ein uralter Zauberspruch sein mochte,, der dafür sorgte, dass die Signalpistole restlos pulverisiert wurde. Einen Augenblick später war von ihr nichts mehr zu sehen.

"Ich biete dir das gleiche Glück, dass ich Alfonso bereits gewährt habe und noch vervollständigen werde, Mustafa Yilmaz. Werde mein Gefährte und erfreue dich eines langen, freudigen Lebens", sprach die Unheimliche, nachdem ihr Zauberlied verhallt war auf Türkisch. "An meiner Seite zu leben ist besser als so zu enden wie die da oben oder der Bursche, der gedacht hat, mich unterwerfen zu können und jetzt als ewiges Mahnmal daliegt."

"Niemals werde ich mich dir unterwerfen, Höllengeschöpf. Allahs Engel werden mich vor dir retten, auch wenn ich sterben ..." Er hatte vergessen, dass er der anderen nicht in die Augen sehen wollte. Jetzt hatte sie ihn ganz im Blick. Unvermittelt sah er die schönsten Frauen vor sich spazieren und erlebte seinen großen Wunschtraum, mit einem kleinen Flugzeug über die Weiten Nordamerikas dahinzufliegen. Dieser Wunsch wurde immer stärker in ihm. "Du gehörst mir auch schon längst, Mustafa. Ich werde nicht zulassen, dass du oder der achso süße Alfonso euch wertlos macht. Ich bin euch ja so dankbar, dass ihr mich wieder aufgeweckt habt, wenngleich ich erkenne, dass da jemand genau drauf hingearbeitet hat, der oder die das ruhig schon viele Jahre früher hätte tun mögen."

"Was sollen wir für dich tun?" fragte Colonades, der offensichtlich schon ganz im Bann der Unheimlichen gefangen war.

"Für mich leben und Leben für mich finden. Dein altes Herz werde ich dauerhaft jung und stark machen, wenn du bei mir bleiben wirst."

"Ich will bei dir bleiben", hörte Mustafa sich sagen. "Dann kommt zu mir, alle beide!" befahl die Unheimliche. Die beiden Männer gehorchten. Wie Schlafwandler gingen sie auf ihre Überwinderin zu und ließen sich gefallen, dass sie sie beide umarmte. Dann waren sie auf einmal verschwunden. Wenige Minuten später erzitterte die Erde dort, wo das notgelandete Flugzeug stand. Große Risse entstanden. Gleichzeitig rutschten Felsen von den Talhängen herunter und begruben die immer tiefer im Boden versinkende Maschine. Auch die noch stehenden Zelte verschwanden im Aufruhr der Erde. Eine Minute später konnte niemand mehr sehen, dass hier einmal ein Flugzeug gelandet war.

__________

Mehmet Kerim tigerte in seinem großzügig eingerichteten Büro auf und ab. Seit über einen Tag hatte er nichts mehr von seiner Maschine gehört. Sechs Stunden nach der vereinbarten Zeit hatte er die Luftverkehrsaufsichtsbehörde in Ankara angerufen und die Maschine als Verschollen gemeldet. Danach hatte er sich von einem Herrn Yamal von der Behörde anhören müssen, dass er diese Meldung schon eine Stunde nach dem ausgebliebenen Funkspruch hätte erstatten sollen. Dann war er in die Behörde selbst zitiert worden, um Bericht zu erstatten. Anschließend hatte er mitbekommen müssen, dass seine Maschine hundert Kilometer vor dem vereinbarten Ziel aus der Radarerfassung verschwunden war. Davor war sie schon mehrmals mehrere Minuten zwischen den Berghängen untergetaucht. Doch da hatte der Pilot immer noch Funkkontakt mit der Flugsicherung gehalten, um seine Manöver zu melden. Beim letzten Abtauchen zwischen die hohen Bergwände war diese Mitteilung ausgeblieben. Es hatte sogar ausgesehen, als sei die Maschine in einen rapiden Sinkflug übergegangen. Falls ein Notfall vorgelegen habe, so habe der Pilot diesen nicht gemeldet oder nicht melden können. Jedenfalls sei nicht sicher, ob das Flugzeug abgestürzt oder sicher gelandet sei. Wo genau das Flugzeug letztendlich aufgekommen war konnte anhand der Radarerfassung auch nicht bestimmt werden.

"Am besten prüfen Sie die Wartungsprotokolle der Maschine. Nein, besser wir machen das", hatte Yamal ihm gesagt. Eine Stunde später war herausgekommen, dass der zuständige Mechaniker Harkan Ösil nicht mehr aufzufinden war. Die Polizei wurde in die Untersuchung eingeschaltet. Weil es bei den Vermissten um ausländische Bürger ging, würde sich wohl auch das Außenministerium in die Angelegenheit einschalten. Für Mehmet Kerim hieß das alles den bevorstehenden Ruin der Firma. Den Verlust einer Maschine und zehn Reisender würde ihm die Eigentümergruppe nicht verzeihen. Ob die Maschine noch gelandet war oder unhaltbar gegen einen Berg gestoßen war erschien Kerim egal. Eine Katastrophe war es für ihn und seine Firma in jedem Fall.

Jetzt wartete er darauf, dass die ersten Eigentümer sich zu ihm durchstellen lassen wolten. Doch die Telefonleitung schien gekappt zu sein. Einmal pflückte er den Hörer von der Gabel und lauschte. Da tutete das übliche Freizeichen der hauseigenen Anlage. Er brauchte nur die Null für die Auswärtswahl zu drehen, dann konnte er wohl mit wem auch immer sprechen. Doch wen sollte er anrufen? Er legte den Hörer wieder auf die Gabel und setzte seinen Lauf durch das Büro fort, hin und her, her und hin.

Erst kurz vor zehn Uhr rief ihn Yamal von der Aufsichtsbehörde an und teilte ihm mit, dass es möglich geworden sei, die Satellitenaufnahmen der NATO zu überprüfen, um das Flugzeug wiederzufinden. Das ging nur, weil an Bord der Maschine ein wichtiger Staatsbürger Großbritanniens und einer aus Italien gewesen war.

Mehmet Kerim übernachtete in seinem Büro. Er hoffte darauf, dass man ihn wegen der Satellitenbilder anrufen würde. Doch bis zum Morgen erfolgte kein solcher Anruf.

Gegen sieben Uhr überkam Kerim eine große Müdigkeit. Der aufregende Tag und die durchwachte Nacht forderten ihren Tribut von seinem auf Bequemlichkeit abgestimmten Körper. Er schaffte es zumindest noch, sich in den bequemen Sessel zu setzen und diesen in Ausruhstellung zu bringen. Keine Minute später schnarchte er bereits tief schlafend.

Die junge Sekretärin betrat leise das Büro und sah ihren Chef tief schlafen. Ebenso unhörbar wie sie hereingekommen war schlüpfte sie wieder aus dem Arbeitszimmer ihres Vorgesetzten. Sie griff zum Telefon und ließ sich mit Yamal verbinden. Dieser klang übernächtigt und blaffte: "Die Satellitenwärter von der NATO sagen nichts. Offenbar müssen die erst mal entscheiden, was wir eigentlich wissen dürfen. Jede Sekunde können die Leute sterben, wenn sie nicht schon bei einem Absturz umkamen", grummelte Yamal.

"Haben Sie Suchflugzeuge losgeschickt, wollte die Sekretärin wissen."

"Alle verfügbaren, allein schon, um nicht die Syrer vor uns an die Maschine rankommen zu lassen", knurrte Yamal und gähnte ungeniert laut. "Lassen Sie mich erst mal Kaffee trinken", brachte er noch hervor. Die Sekretärin Mehmet Kerims billigte ihm das zu.

Am Nachmittag bollerte Kerims Stellvertreter an die Bürotür des Chefs. "Herr Kerim, es gab einen Anschlag auf die USA!" rief er noch vor dem Türöffnen. Mehmet Kerim, der unter der dienstbeflissenen Fürsorge seiner Sekretärin ungestört hatte schlafen können erwachte und sprang förmlich aus dem Büro. Als er und Sezen erfuhren, was sich in New York ereignet hatte erbleichte er. Keine halbe Stunde später rief Yamal an und sagte, dass die Satellitenüberwachung im Moment nach weiteren Feindmaschinen suchen musste, die Ziele in den USA ansteuern sollten. Die Zivilmaschinen könnten durchaus ein erster Schlag eines noch folgenden Militärschlages sein. Außerdem müsste die türkische Luftwaffe die Grenzen zu den arabischen Nachbarländern und dem Iran absichern, falls von dort auch Anschläge auf die NATO-Stützpunkte auf türkischem Boden verübt werden sollten. Im Moment sei die Luftraumüberwachung ein einziges aufgescheuchtes Wespennest.

"Aber die Bilder von der fraglichen Gegend liegen Ihnen schon vor?" wollte Kerim wissen.

"Die für die Satellitenbilder zuständigen Leute sitzen im Hauptquartier der Luftwaffe. Die haben vor einer halben Stunde alle Türen zugemacht, wenn Sie wissen, was das heißt."

"Nichts mehr rein, nichts nach draußen", seufzte Kerim. Der Beamte am anderen Ende der Telefonleitung bestätigte das. So blieb kerim nur, die Fernsehberichterstattung über die Anschläge von New York und auf das Pentagon zu verfolgen. Ihn schauderte es, wenn er daran dachte, dass auch seine Maschinen zu fliegenden Bomben gemacht werden konnten. Vielleicht war das sogar passiert, und seine Maschine war deshalb irgendwo gelandet worden, um später als gelenkte Bombe zurückzukehren, um einen der türkischen NATO-Stützpunkte anzugreifen. Kein Wunder, dass die Satellitenüberwacher ihm davon nichts erzählen wollten.

"Sie sollten nach Hause gehen, Herr Kerim. Hier können Sie heute auch nichts mehr ausrichten", sagte Sezen Gögsün mit unverkennbarem Befehlston. Mehmet Kerim hätte ihr dafür gerne einen Tadel ausgesprochen. Doch sie hatte ja leider recht. So ließ er sich ein Taxi kommen. Denn um seinen schnieken BMW 700 zu steuern fühlte er sich gerade sehr unwohl. Am Ende baute er noch einen Unfall und starb dabei, trotz der Airbags und Sicherheitseinbauten des deutschen Nobelfahrzeugs.

__________

Ullituhilia, die wiedererwachte Tochter des düsteren Felsens, ärgerte sich darüber, dass man sie jahrhundertelang hatte schlafen lassen. Der einzige Trost war, dass sie die beiden jungen Türken und ihren neuen Kraftspender und Abhängigen sichergestellt hatte. Als Mächtige der Erdelementarzauber hatte sie die drei gesicherten vorübergehend zu Stein erstarren lassen. Nur so konnte sie sie in ihren Lebenskrug legen, ohne dass die drei darin vergingen und ihr drei wonnige, aber ansonsten nutzlose Wallungen bereiteten. Dass sie hier nicht bleiben konnte war ihr vollauf bewusst. Denn sicher gab es von diesen Ausgeburten ihrer Tante Ashtaria noch zu viele, und dieser Bund des Morgensterns, der um einen Sohn dieser Weltverbesserin entstanden war, existierte sicher auch noch. Also suchte sie nach einem Ort, wo sie sich neu einrichten konnte. Dabei durfte sie jedoch nicht in das Revier einer anderen Schwester eindringen, selbst wenn diese schlief. Denn die konnte durchaus auch erwachen und dann sehr ungehalten werden. So rief sie, nachdem sie mindestens fünfzehn Leben aus ihrem goldenen Lebenskrug gesogen hatte, wer von ihren Schwestern noch wach war. Dabei lauschte sie hinaus in die unendliche Weite des geistig erfassbaren Raum-Zeit-Gefüges. Da hörte sie es, dieses leise Raunen und Knarzen, Knattern und Klicken, als wolle da jemand ihr etwas mitteilen, sei aber dabei unheimlich langsam. Sie erschauerte, als sie daran dachte, dass sie womöglich die einzige wache Schwester war und das Raunen und Knarren die noch um ein vielfaches verlangsamten Gedanken ihrer ganz langsam wieder aufwachenden jüngsten Schwester sein mochten. Da traf sie die Antwort auf ihren geistigen Ruf: "Willkommen zurück im Leben, Schwester Ullituhilia! Leider sind du und ich die beiden einzigen gerade wachen Töchter unserer großen Mutter."

"Itoluhila", stieß Ullituhilia eine Gedankenantwort aus. "Wo wohnst du nun?"

"Auf der iberischen Halbinsel, in Südspanien genau gesagt. Ich hoffe, mein Wiedererweckungsgeschenk ist gut bei dir eingetroffen."

"Ah, du hast mir also Alfonso überantwortet, werte Wasserschwester. Wie hast du ihn zu mir befördert, ohne ihn mit deiner Hand oder Kraft zu berühren?"

"Das kann ich dir gerne erzählen, wenn du deine neue Heimstatt gefunden hast. Denn sicher werden die heute lebenden Zauberer bald wissen, dass du wieder aufgewacht bist. Es gibt immer noch alle Kinder Ashtarias und einen Sohn, von dem wir bisher nichts wussten."

"Ich befürchtete dies", gedankenschnaubte Ullituhilia. "So werde ich meine Heimstatt verlegen. Ist das Frankenreich frei?"

"Da würde ich nur hinziehen, wenn dich die Ausgeburten Ashtarias schnell wieder erwischen sollen. Die sind da gut aufgestellt. Am besten wanderst du in das Westland aus, dass die Vorfahren unserer Mutter erwähnt haben. Du kannst gerne auf den nördlichen Teil davon ziehen. Aber hüte dich bitte vor all zu großer Begierde. Hallitti ist daran gescheitert."

"Ich werde nach Südafrika ziehen. Ich erfuhr, dass dort verschiedene Menschenrassen zusammenleben", gedankensprach Ullituhilia. "Wenn ich meine Höhle dort erschaffen habe, treffen wir uns auf einer Insel, die unsere neuen Reviere begrenzt, am besten eine aus der Gruppe, die heute kanarische Inseln heißen."

"Du bist erstaunlich gut unterrichtet, Schwester", stellte Itoluhila fest.

"Ich habe neun Leben in mich aufgenommen und damit all das Wissen ihrer Träger."

"Nur neun Leben? Soweit ich erfuhr kamen zwölf Männer in deine Nähe."

"Außer Alfonso habe ich die beiden jüngsten verschont. Der eine kann mir mit seinen Kenntnissen über diese magielosen Fluggeräte sicher noch sehr nützlich sein. Der andere soll mir helfen, neue Leben zu erbeuten."

"Weißt du sicher, ob nicht wer mitbekommen hat, wo das Flugzeug notgelandet ist?" wollte Itoluhila wissen.

"Ist nicht mehr wichtig. Ich habe den Ort, wo ich deine Gabe fand mit meinen Kräften aufgewühlt und verschüttet. Jetzt werde ich mir ein paar arglose junge Menschen holen und damit den Abhängigen verjüngen, denn er wäre mir fast unter meiner Annäherung weggestorben."

"Oh, ich konnte ihn leider erst finden, als ich Zugang zu gewissen Ahnentafeln bekam", erwiderte Itoluhila mit falscher Anteilnahme.

"Du hast mich sicher nicht geweckt, weil du dich einsam fühlst, Schwester", gedankenknurrte Ullituhilia. Darauf erhielt sie eine Minute lang keine Antwort. In dieser Minute hörte sie wieder jenes leise Raunen, Brummen und Knarren wie von einer mindestens dreißigmal langsamer sprechenden Stimme. Dann gedankenantwortete Itoluhila: "Hast du es gehört, das Brummen und Knarren. Das ist ihre Gedankenstimme. Sie träumt noch. Aber wenn ich dich nicht aufgeweckt hätte, wäre sie in den nächsten Mondkreisen erwacht, weil ich allein sie nicht mehr niederhalten konnte. Dann wäre auch kein sie aufweckender Träger unerweckter Zauberkraft mehr nötig gewesen wie bei dir."

"Dachte ich mir doch, dass du mich nicht aus purer Schwesternliebe hast aufwecken lassen", gedankenschnarrte Ullituhilia. Dann übermittelte sie noch, dass sie nun an den Umzug gehen würde. Itoluhila wünschte ihr dafür viel Erfolg.

__________

Das Tafelgebirge erzitterte sacht in gleichbleibenden Erdstößen, gerade einmal stark genug, um von unmittelbar in dieser Gegend herumlaufenden Wesen verspürt zu werden. Zu diesen Wesen gehörten mehrere Rudel Löwen und eine große Antilopenherde. Weiter fort horchten dreißig Elefantenkühe auf, weil die tiefen Töne aus der Erde ihre dafür empfänglichen Gehörgänge erreichten. Die erfahrene Matriarchin der Herde, die von den Rangern Lady Joan genannt wurde, richtete ihren von Altersfalten verzierten Rüssel in die Richtung, aus der die extrem tiefen Töne erklangen. Sie fühlte in sich die Angst vor dem, was da rumorte. Als diese Angst ihre Neugier überlagerte wandte sie sich um, trompetete eindringlich und trabte an, die Herde mit den Kindern, Enkeln, Neffen und Großneffen hinter sich herführend. Dadurch entging sie ohne es zu wissen einem Wilderer, der mit seinem weitreichenden Gewehr auf einem hohen Baum ansaß, um die große Herdenführerin nur um ihres Elfenbeins wegen niederzuschießen. Der Wilddieb dachte, dass die alte Elefantenkuh ihn doch gewittert haben mochte. Denn er fühlte nichts von den Erdstößen und den davon ausgehenden Niederfrequenztönen. Er griff zu seinem kleinen Funkgerät, um seine Kumpane anzurufen, wohin Lady Joan mit ihrer Herde gerade abrückte. Kaum hatte er zum sprechen angesetzt, schwirrten vier Stahlmantelgeschosse auf ihn zu und stanzten laut tackernd breite Löcher in den provisorischen Hochsitz. Der Wilderer wirbelte herum, um auf die Schützen anzulegen. Selber jagen lag ihm eher als gejagt zu werden. Er konnte im Schutz eines Busches zwei Mann erkennen, die mit Maschinenpistolen bewaffnet waren. Doch als er einen von ihnen aufs Korn genommen hatte, bekam er aus beiden Schnellfeuerwaffen eine Salve Kugeln aufgebrannt. Er konnte zwar noch zwei Schüsse zurückfeuern, diese gingen jedoch fehl. Dann fiel der Elefantenjäger von seinem Hochsitz, der wie der Wilddieb selbst bereits einem Haushaltssieb glich. Der ilegale Jäger war selbst zur Beute geworden.

"Die Lady hat den Bastard aus dem Konzept gebracht", meinte einer der beiden Menschenjäger, der unter dem Kampfnamen Backhand agierte. Sein Kumpan, der den Kampfnamen Wild Fire führte, grinste durch das geschwärzte Visier des mit Tarnfarben überpinselten Helms. "Wetten, dass das Jack Towers war, der für Big Charlie geballert hat?"

"Neh, der konnte besser schießen und hätte sofort abgedrückt, wo der Lady Joan vor dem Rohr hatte. Komm, wir holen uns den Typen und dann ab zum Müllplatz!" sagte Backhand.

"Sollen wir nicht sehen, wo Lady Joan mit ihrer Herde abbleibt, bevor die Kumpels von dem Stück Scheiße da noch welche von denen rausschießen?"

"Macht Vulture mit seinen Drohnen", sagte Backhand und schlüpfte aus dem Versteck. Die Elefantenschützer, deren Tun ebenso illegal war wie das der Elfenbeinjäger, beseitigten die von Kugeln durchsiebte Leiche ihres Opfers. Keiner dachte daran, was die Herde Lady Joans zum schnellen Abmarsch getrieben hatte. Wenn es ihnen jemand erzählt hätte, dass keine zehn Kilometer entfernt, mitten unter dem Tafelberg, eine Höhle entstanden war, in der eine weitere Jägerin mit ihren lebenden Trophäen erschienen war, hätten sie es für dummes Zeug gehalten.

__________

Tief unter ihr rollten die Wellen des Atlantiks an die Felsen der steil abfallenden Küste auf Fuerte Ventura. Der Treffpunkt lag weit genug von den Touristenzielen entfernt. Itoluhila ging im Schutze ihres angeborenen Unsichtbarkeitszaubers am Strand entlang. Sie lauschte auf das rhythmische Rauschen der Wellen. Die Kraft des Wassers und das einlullende Meeresrauschen überlagerten das beinahe unhörbare Raunen und Brummen, Knarren und Knattern in ihrem Geist. Sie wusste, dass sie vielleicht um einen Tag oder eine Stunde zu spät gehandelt hatte. Doch anders als wie sie es angestellt hatte war Colonades nicht in die Nähe Ullituhilias zu bugsieren. Denn er musste ja gänzlich unbewusst und von ihrer magischen Kraft ungestreift dorthin. Hätte sie ihn mal eben packen und hinübertragen können wäre er schon Ende Juli dort gelandet und das ohne die wertlosen Mitreisenden.

"Itoluhila, ich fühle dich. Ich warte auf dem Gipfel des schlafenden Berges!" drang eine fordernde Frauenstimme direkt in Itoluhilas Geist ein. Sie bestätigte auf mentalem Wege und verschwand übergangslos und unbemerkt. Ebenso tauchte sie keine Sekunde danach auf dem Gipfel des größten hier vorfindbaren Vulkans wieder auf und wurde sichtbar. Ullituhilia erschien ebenfalls. Itoluhila trug einen knappen, wasserblauen Bikini. Ullituhilia hatte sich wadenhohe Stiefel, einen fast bis zur Unterkante der Oberschenkl kurzen roten Minirock und darüber ein textilarmes weißes Top angezogen, das gerade einmal die Brustwarzen überdeckte. Die beiden unsterblichen Schwestern genierten sich nicht, ihre makellosen Körper zur Schau zu stellen, weil dies zu ihrer Art der Nahrungsbeschaffung gehörte. Doch im Moment suchten beide nicht nach Beute, sondern wollten sich nur einmal wiedersehen. Sie umarmten einander und küssten sich auf Mund und Wangen. Dann zerrte Ullituhilia an Itoluhilas leicht gewellten schwarzblauen Haaren und keifte: "Warum jetzt erst, wo sie fast aufgewacht ist?! Was hat dich so lange abgehalten, mich wachzukriegen?!"

"Ich war nicht darauf gefasst, dass ich alleine wachbleiben würde", schnarrte Itoluhila. Um sie herum wirbelte eine immer dunklere Wolke aus sich zusammenballendem Wasserdampf. "Außerdem konnte ich dir den passenden Kurzlebigen schlecht einfach so hinbringen. Ich musste herausbekommen, wie jemand ihn in diese Gegend bringen konnte. Ja, und ich weiß, ich hätte früher nach einer solchen Möglichkeit suchen sollen. Aber vielleicht ist es jetzt noch nicht zu spät dafür, noch ein oder zwei andere von uns aufzuwecken, bevor sie von selbst wiedererwacht."

"Wenn du sie genauso hören kannst wie ich erwacht sie bereits. Ihr Geist ist nur so stark verlangsamt, dass es Monate oder vielleicht ein Jahr dauert, bis sie ganz aufwacht, ohne dass ein Mensch mit unweckbarer Zauberkraft in ihre Nähe kommt. Aber sie wacht auf, Itoluhila. Wenn wir jetzt noch eine oder zwei der anderen wecken dauert es nur länger. Die Schwächung hat zu lange bestanden."

"Erzähl mir bloß nichts, was ich nicht schon selbst ergründet habe", fauchte Itoluhila. Von der Wiedersehensfreude zweier Schwestern war im Moment nichts mehr zu spüren. "Aber ich habe nicht darum gebeten, dass Ilithula sich an dem Sohn von Hallittis letztem Abhängigen heranzumachen versucht. Das war Hallittis Schuld."

"Erzähl mir, was du weißt und sag bloß die Wahrheit. Sonst lasse ich den Vulkan hier unter uns erbeben und damit die Verschlüsse seiner feurigen Eingeweide öffnen!"

"Als wenn du mir damit etwas anhaben könntest, Ullituhilia", lachte Itoluhila. Dann aber berichtete sie, wie es zu Hallitis Erwachen, ihrem bald darauf erzwungenen Körperverlust, ihrer halbwegs gelungenen Rückkehr und schließlich zu der Auseinandersetzung mit gleich drei Kindern Ashtarias gekommen war.

"Die haben noch versucht, mich zu finden", lachte Ullituhilia. "Doch da war mein Lebenskrug bereits unterwegs an meinen neuen Zielort. Ich werde den Seelen der beiden für mich wertlosen Kurzlebigen bald neue Körper überstreifen, um sie für mich in der Welt der lebenden handeln zu lassen. Meinen neuen Abhängigen werde ich wohl mit den Leben neugeborener Kinder füttern müssen, um ihn zu verjüngen, weil er sonst wertlos für mich werden könnte. Und was wirst du tun?"

"Ich werde meiner bewährten Jagdweise folgen. Vielleicht kannst du sie für dich ebenfalls nutzen", sagte Itoluhila. Sie erwähnte, dass sie einen Großteil der südspanischen Prostitution beherrschte, zumindest aber den Teil, der nicht von Drogen und erzwungenen Abhängigkeiten geprägt war.

"Erinnert mich an schöne alte Zeiten, bevor diese Silbersternträger und ihre Nachläufer mich aus diesem Badehaus hinaustrieben und mir alle Leben aus dem Körper rissen, dass ich ohne Gegenwehr in den langen Schlaf gestürzt bin, bis eine achso gnädige Schwester mal daran gedacht hat, mir einen Aufwecker herüberzusenden. Aber deine Ernährungsweise behagt mir. Südafrika ist ein großes Land voller verschiedener Volksgruppen. Die Sicherheit dort steht im Moment nicht zum besten. Genug Jagdgründe für mich. Am besten lagern wir genug frische Lebenskraft in unsere Krüge ein. Denn entweder erwacht die jüngste von uns und versucht, uns einzuverleiben, um sich die in uns wirkende Kraft unserer erhabenen Mutter zu verschaffen, oder diese Ausgeburten Ashtarias zwingen uns zum Kampf."

"Es könnte auch schlimmer kommen, Schwester. Ich bin froh, nicht allein zu stehen", setzte Itoluhila an. Dann erwähnte sie das, was sie über einen neuen Schwarzmagier gehört hatte und das dieser mit dem eingekerkerten Geist des Schattenfürsten in Verbindung treten mochte.

"Das kann nicht dein Ernst sein, Schwester", schnarrte Ullituhilia. Doch ihre Schwester bestand auf der Richtigkeit ihrer Aussage. Dann erwähnte sie noch die schwarze Spinne und dass diese wohl Kräfte der Erde beherrschte. Das brachte Ullituhilia zum lachen.

"A-hach de-heshalb hast du mich aufgeweckt und nicht eine der anderen, weil ich Rache für dich nehmen soll. Moment, töten darf ich sie nicht." Itoluhila bestätigte das. "Dann stammt sie von diesen Luftmeistern aus dem versunkenen Reich unserer Vormütter ab. Aber ich werde versuchen, sie zu besiegen, aber erst, wenn ich mein Revier abgesteckt und gegen andere Zugriffe abgesichert habe. Hmm, was macht eigentlich die von dir gehegte Massenmutter?"

"Solange keiner beschließt, eine ihr blutsverwandte Tochter nach ihr zu benennen erhalte ich keine Möglichkeit, ihr einen neuen Körper überzustreifen. Aber sie bemerkt nichts vom Vergehen der Zeit, da wo ich sie aufbewahre."

"Vielleicht sollte ich mir auch so eine Dienerin zulegen wie Ilithula und du sie hattet. Aber ich denke, einer der beiden kleinen Kurzlebigen, die dein Geschenk an mich begleitet haben kommen auch für sowas in Frage."

"Wenn wir diesen Abkömmlingen Ashtarias einen Hinweis geben, vielleicht kann einer von denen sie dann für uns bekämpfen", schlug die Wiedererwachte vor.

"Und wenn er sie dadurch entkörpert muss eine von uns sie neu austragen, oder was?" fragte Itoluhila.

"Das wirst du dann tun, werte Schwester. Denn du hast es ja zugelassen, das wir so sehr geschwächt wurden", schnarrte Ullituhilia. Itoluhila tat diesen Vorwurf mit einem Schulterzucken ab. Sie verbarg ihre Gedanken vor der anderen. Diese Närrin hatte offenbar vergessen, dass in der jüngsten ihrer Schwestern der große Rest ihrer gemeinsamen Mutter steckte. Sollte es wirklich geschehen, dass die Jüngste entkörpert wurde und Itoluhila nahe genug an ihr dran war, um ihren freigesprengten Geist in sich aufzunehmen, auf dass er zu ihrer jungfräulichen Tochter wurde, floss damit auch alles in sie ein, was bei der Geburt der Jüngsten aus der gemeinsamen Mutter Lahilliota in die Jüngste übergeflossen war. Doch vorerst galt es, die eigenen Reviere zu bejagen und genug Kraft für die mit sicherheit kommenden Kämpfe zu sammeln. Dem pflichtete Ullituhilia vollkommen bei.

Nach diesem kurzen, gefühlsstürmischen Wiedersehen der beiden Schwestern verschwanden beide in unterschiedliche Richtungen. Itoluhila kehrte nach Sevilla zurück, während Ullituhilia unter den Tafelberg am Kap der guten Hoffnung zurückkehrte. Noch wollte sie die immer noch versteinerten Gefangenen nicht wiederbeleben. Sie wollte erst einmal nach unbeaufsichtigten Säuglingen suchen und diesen ihre Lebenskraft entreißen, ohne Verdacht zu erregen. Dann wollte sie zwei Männer einfangen, deren Seelen sie aus den Körpern herausziehen wollte, um dafür die Seelen von Kemal Özdemir und Mustafa Yilmaz hineinzutreiben. Denn die beiden durften ja nicht mehr in ihrer angeborenen Erscheinungsform auftauchen.

__________

Ceridwen hatte Arianrhod bei ihrer Tochter Galatea gelassen. Die konnte zur Not auch als Amme einspringen, zumal Arianrhod ja keine Blutsverwandte war. Doch das Treffen mit ihren Schwestern, dass Lady Sophia Whitesand einberufen hatte, musste sie besuchen. Denn das Auftauchen eines neuen Dunkelmagiers, der sich Lord Vengor genannt hatte, bedeutete für alle gleichviel Ungemach.

Ceridwen begrüßte alle höflich und lächelte zwei junge Hexen an, die vom Gesicht her Cousinen waren. Die Eine besaß pechschwarzes, schulterlanges Haar. Die zweite besaß strohblondes Haar, das ungebändigt weit den Rücken herabfloss. Die schwarzhaarige sah immer wieder verschüchtert zu der Sprecherin, Sophia Whitesand, hinüber. Die andere saß ganz ruhig da. Ihre Mutter saß auch dabei, ebenso wie die Ladies Genevra und Alexa Hidewoods und die ganze weibliche Blutsverwandtschaft von Sophia Whitesand. Kurz vor dem angesetzten Konferenzbeginn trafen noch vier Nachzüglerinnen ein, Loren mit ihrer Mutter, sowie Mrs. Underwood und Proserpina Drake. Proserpinas erste Tochter hatte um die Aufnahme in die Schwesternschaft gebeten. Doch ihre Mutter wollte nicht ihre Fürsprecherin sein. Ob Mrs. Underwood das sein wollte wusste Ceridwen nicht. Proserpina sah die beiden Cousinen an, die eindeutig die jüngsten Mitglieder der Versammlung waren.

"Schwestern, ich bedanke mich sehr, dass ihr es einrichten konntet, hier und jetzt vollzählig zu erscheinen", begann Lady Sophia Whitesand und warf jeder hier einen Blick aus ihren stahlblauen Augen zu. "Ihr habt es auf eure verschiedenen Wege ja mitbekommen, dass die Zaubererwelt indirekt auch von den grauenvollen Anschlägen in Amerika betroffen ist. Unsere dortigen Mitschwestern sind in Sorge, dass man es der Spinnenschwesternschaft und somit indirekterweise auch allen anderen Hexen zur Last legen könnte, sollte keine klare Bestätigung für muggelweltkriminelle als Auftraggeber und Ausführer enthüllt werden." Die versammelten Hexen tuschelten leise. "Weit aus gravierender ist, dass zwei Tage nach diesem Anschlag ein uns bis heute unbekannter Zauberer in den Trümmern der Geschäftstürme einen dunklen Kristall erbeutet hat, der offenbar die bösartigen Zauber seines Trägers vervielfachen kann. Ich muss sagen, ich war zu tiefst bestürzt, als ich von dieser Substanz hörte. Denn sie war weder mir noch keinem aus der Liga gegen dunkle Künste bekannt. Der Widersacher - wir müssen ihn wohl so nennen - nannte sich Lord Vengor. Offenbar will er damit andeuten, im Namen des gestürtzten Emporkömmlings Tom Riddle auf Rache auszugehen. Wieso dieser Kristallkörper, der meinen Informanten nach gerade haselnussgroß war in den Türmen verschüttet war und woher dieser Zauberer wusste, dass er dort sein musste weiß ich nicht. Eine Informantin warf ein, dass der Kristall durch den vielfachen Tod innerhalb der Türme erst stofflich werden konnte. Woher sie das hat möchte ich mit ihr klären, wenn ich mit meiner nordamerikanischen Schwester darüber spreche. Was uns dieser Lord Vengor jetzt angeht ist folgendes: Offenbar unterhielt er bereits vorher eine Truppe aus Handlangern. Mir kam zu Ohren, dass Calligula Scorpaenidus, ein für den Tod der Lehrerin Vector verantwortlich gemachter Schüler, in Japan aufgetaucht sein soll, um dort etwas zu finden. Ob er es gefunden hat konnte ich bisher nicht in Erfahrung bringen. Nur so viel: Wir müssen davon ausgehen, dass es den Leuten um diesen Lord Vengor darum geht, noch mehr dieser Kristalle zu finden oder herzustellen. Sie vervielfachen die Wirkung von dunklen Zaubern. So wurde ich unterrichtet, dass ein ausgerufener Todesfluch ausreichte, drei im Gesichtsfeld des Zauberers stehende Menschen auf einmal zu töten. Vielleicht wären es sogar mehr gewesen, wenn neben diesen noch mehr Menschen gestanden hätten. Wir haben also einen neuen Feind, wir Schwestern und der Rest der Menschheit."

"Wie genau äußert sich die Kraft dieses Kristalls?" wollte Ursina Underwood nun wissen. Lady Sophia erläuterte es. "Dann könnte es die Substanz sein, aus der auch der Mitternachtsdiamant bestand, den die Vampirin Nyx lange Zeit bei beziehungsweise in sich getragen hat." Sophia und die anderen mit dunklen Künsten vertrauten Schwestern nickten bejahend.

"Woher wussten die schwarze Spinne und dieser grünmaskierte Kerl Vengor davon?" wollte Loren Wiffle wissen. Sophia Whitesand sagte dazu:

"Wohl aus derselben Quelle. Womöglich ging die schwarze Spinne selbst darauf aus, diesen Kristall zu erbeuten. Dieser Lord Vengor war eben einige Minuten schneller."

"Dann sollen wir jetzt zusehen, weitere solcher Kristalle zu finden und wegzukriegen?" fragte die strohblonde der beiden jüngsten Mitschwestern.

"Ja, am besten. Allerdings fürchte ich, dass diese Kristalle eine gewisse Form von Eigenleben besitzen. Wenn sie an wen geraten, der mit ihnen dunkle Zauber ausführen kann, könnten sie ihn beeinflussen, sie mit magisch erzeugtem Leid zu füttern. Insofern wissen wir nicht, ob wir diese Kristalle auch nur berühren dürfen. Wir wissen leider viel zu wenig", sagte Sophia.

Zumindest legten die Schwestern einen Aktionsplan fest, der im Kern die Suche nach weiteren Kristallen enthielt. Da Melissa und Loren auch die Muggelweltnachrichten mitverfolgen konnten wurden diese gebeten, jede Merkwürdigkeit aufzuschreiben und zur Überprüfung einzuschicken. Dann war die Sitzung vorbei.

"Wie geht es der kleinen Arianrhod?" fragte Sophia, als Ceridwen und sie alleine waren.

"Sie wächst und erfreut sich jedes neuen Tages ihres jungen Lebens, Lady Sophia. Sie hat sich doch am Ende mit ihrer neuen Identität angefreundet. Jetzt wo die ersten Zähne durch sind und die langen Nächte endlich überstanden sind werde ich sie langsam auf andere Nahrung hinführen. Dafür ist jetzt die kleine Kathleen mit den Zähnen dran. Also immer was los bei uns", sagte Ceridwen.

"Es freut mich, dass sie uns erhalten geblieben ist. Ich weiß nicht, warum mir das so wichtig ist, dass sie mit unangetastetem Erinnerungsvermögen aufwächst. Aber ich habe den Eindruck, dasss sie uns noch sehr helfen kann, wann und wie kann ich aber nicht sagen", erwiderte Sophia Whitesand. Ceridwen bekräftigte einmal mehr, dass sie auf "die kleine" arianrhod Deardre aufpassen würde. Dann bedankte sich Lady Sophia noch einmal bei ihr, dass sie Julius Latierre und seiner Frau den Felix-Felicis-Trank geschenkt hatte. Womöglich würden die beiden diese Gabe irgendwann wieder benötigen.

__________

Sally Curby schrak aus einem neuen Albtraum auf. Wieder hatte sie sich durch London rennen sehen, hinter ihr eine Feuerwalze, um sie herum die schwirrenden Geräusche und dumpfen Detonationen niedergehender Fliegerbomben. Seitdem sie im Fernsehen die Bilder vom Anschlag auf das Welthandelszentrum gesehen hatte, waren diese uralten Erinnerungen wieder aus der Tiefe ihres Unterbewussten hervorgetreten, wie sie fast gestorben war, weil sie beinahe nicht mehr in den Luftschutzbunker gelangt war, als die Deutschen London angegriffen hatten. Das schreckliche nach dem bösen Traum war jedoch die Stille. Nur ihr wild pochendes altes Herz durchbrach diese Totenstille. Sally Curby keuchte und bangte, ob ihr ach so langes Leben nicht hier und jetzt enden musste. Diese Verbrecher! Wieso hatten sie das getan? Die ganzen Menschen, die in den brennenden Türmen umgekommen waren.

Was ihr noch mehr zu schaffen machte war die Einsamkeit. Sie wusste, dass sie daran schuld war, dass ihr Neffe in diesen schlimmen Stunden nicht bei ihr war. Sie hatte ihm dieses Preisausschreiben aufgeladen. Sie hatte ihm zugeredet, den Gewinn anzunehmen und diese vierwöchige Reise zu machen. Warum hatte der kein Mobiltelefon? Wohl aus demselben Grund, warum sie kein solches Ding hatte: Zu kompliziert und oben drein wie eine Art Hundeleine, an der sie von anderen geführt werden konnte.

Als eine weitere Nacht des Grauens aus der Vergangenheit vorbei war beschloss Sally Curby, selbst für eine Woche zu verreisen. Sie dachte da an ein paar schöne Tage in Stretford. Als sie in das nächste Reisebüro gehen wollte, um diese Idee umzusetzen läutete es an ihrer Haustür. Ein starker Windstoß begleitete das melodische Klingeln. Denn Sallys Ohren waren nicht mehr die besten. Nur wenn sie mit anderen zusammen war trug sie ihre Hörgeräte. Diese setzte sie schnell ein, bevor sie durch den Türspion blickte. Vor der Tür standen zwei Herren in Anzügen. Sie öffnete die Tür soweit, wie die kurze aber stabile Kette es zuließ. "Inspektor Benning, Scotland Yard", stellte sich der ältere der beiden Männer vor und reichte der alten, weißhaarigen Dame eine durchsichtige Plastikhülle mit Inhalt durch den Türspalt. Sally erschauerte. Sie las den Ausweis und fand nichts, an dessen Echtheit zu zweifeln. Auch der andere zeigte einen Ausweis. Er war Kriminalassistent Fuller. Als die Hausbewohnerin sich sicher war, keine Halunken in ihr Haus einzulassen öffnete sie das Schloss der kurzen Türkette und gab den Eintritt frei.

"Trifft es zu, dass Sie die einzige noch lebende Verwandte von Mr. William Curby sind?" fragte der Inspektor. Sally hörte aus diesen Worten sofort großes Unheil heraus. Sie erbleichte, während sie nickte. "Ist was mit meinem Neffen? Er ist zur Zeit verreist", seufzte sie.

"Das ist der Grund, weshalb wir zu Ihnen gekommen sind", sagte der Yard-Beamte. Er machte eine unbehagliche Pause von drei Sekunden. Dann teilte er der alten Dame mit, dass William Curby bei einem Erdbeben im Taurusgebirge unrettbar verschüttet worden war. Sally stieß einen kurzen Entsetzensschrei aus. Das durfte nicht wahr sein. Sie musste noch träumen. Doch der Schmerz, der unvermittelt in ihrer Brust entstand, zwang sie, das für die Wirklichkeit zu halten, was sie gerade gehört hatte. Der Beamte erläuterte ihr, dass William und die anderen wohl mit einem Propellerflugzeug in den Bergen notgelandet waren und da in ein verheerendes Erdbeben hineingeraten waren. Die Trümmer waren so groß und waren von so weit oben herabgestürzt, dass jede Hoffnung, ihn noch lebend zu finden gleich null war. Sally hörte es noch. Doch ihr Herz wummerte so laut, dass sie jeden Schlag wie von einer großen Kesselpauke zu hören glaubte. Dann fühlte sie einen heftigen Schmerz im Kopf, der ihr sofort die Besinnung raubte.

Inspektor Benning erschrak, als die weißhaarige Dame, die seiner Auskunft nach bereits über hundert Jahre alt war, so unvermittelt wie vom Blitz getroffen zusammenbrach. Hätte er gewusst, wie empfindlich sie auf diese Nachricht reagieren würde, hätte er einen Arzt mitgebracht. Sofort versuchten die beiden Beamten, die regungslos am Boden liegende Frau zu Bewusstsein zu bringen. Sie wendeten die in ihrer Ausbildung erlernten Ersthelfertechniken an, sogar Beatmung und Herzmassage. Der gerufene Notarzt traf vier Minuten nach dem Zusammenbruch von Sally Curby ein. Er konnte jedoch nur noch den Tod feststellen. Eine Stunden später erfolgte Autopsie erwies, dass Sally an den Folgen eines simultanen Herz- und Gehirninfarktes verstorben war. Die Nachricht, dass ihr Neffe tot war, hatte ihrem so langen Leben mit einem einzigen Schlag ein jähes Ende gesetzt.

ENDE

Nächste Story | Verzeichnis aller Stories | Zur Harry-Potter-Seite | Zu meinen Hobbies | Zurück zur Startseite

Seit ihrem Start am 1. März 2014 besuchten 3719 Internetnutzer  diese Seite.