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Die Zaubereiministerien der Welt sind in ständiger Alarmbereitschaft. Zum einen weiß niemand, wann und wie jener Zauberer wieder zuschlägt, der sich Lord Vengor nennt. Zum anderen sind da die Werwölfe von Luneras, Rabiosos und Finos Mondbruderschaft, deren Ziel es ist, durch Vermehrung ihrer Daseinsform mehr Einfluss und Anerkennung zu erzwingen. Diese wollen innerhalb eines Monats die Früchte ihrer Mühen ernten, zusammen mit den asiatischen Wertigern. Wie werden die Zaubereiministerien und die Schwesternschaft der schwarzen Spinne auf diese unerträgliche Herausforderung antworten?
Auch wenn er sie schon so oft gesehen hatte erschauerte er immer noch bei dieser gewaltigen Erscheinung. Jeder Schritt rief einen spürbaren Erdstoß hervor. Mit jedem Schritt überwand sie bald drei Meter. Fortzulaufen würde ihm nichts bringen. Sieben Meter ragte sie vor ihm auf. Sie trug ein dunkelbraunes Lederkleid, dessen Größe gut für ein unbezaubertes Drei-Personen-Zelt gereicht hätte. Ihre Haut schimmerte gelblich und wirkte stark verhornt. Ihre nachtschwarzen Haare wogten bei jedem ihrer Schritte. Von ihrer hohen Warte blickte sie mit großen, tintenschwarzen Augen auf ihn herab.
Julius Latierre war froh, mindestens noch dreißig ihrer Schritte entfernt zu sein. Außerdem hielt er sich bereit, sofort zu disapparieren, wenn sie Anstalten machte, nach ihm zu greifen. Er war ja gewarnt worden.
Die Warnerin, Mademoiselle Olympe Maxime, stand nur zwei Meter von Julius entfernt und blickte die Gigantin an, deren leibliche nichte sie war. Mademoiselle Maxime war die offizielle Betreuerin und Fürsprecherin der Riesin. Deshalb war Julius heute hier.
"Wenn sie schneller wird besser Abstand nehmen", gedankensprach Mademoiselle Maxime zu Julius. Sie hatten sich darauf geeinigt, keine lauten Worte zu benutzen, die die Riesin zu unbeherrschbaren Handlungen treiben mochten. Julius behielt die 7-Meter-Frau in ihrem Lederkleid im Blick. Ihre Füße waren nackt. Schuhe brauchte die Riesin wegen der mehrere Zentimeterdicken Hornschicht auch nicht. Damit könnte die glatt über glühende Kohlen laufen, dachte er einmal mehr. Jetzt brauchte Meglamora nur noch fünfzehn Schritte zu tun, um Mademoiselle Maxime und Julius Latierre mit ihren Händen erreichen zu können. Julius bemerkte durchaus die gewisse Gier in den Augen der Gigantin. Es war ein gewisser Hunger, den er in den großen schwarzen Augen sehen konnte. Doch es war kein Hunger, der dem Magen entstammte, sondern der ihres Unterleibs. Sie suchte nach einem Fortpflanzungspartner. Wäre sie eine Hündin, hätte Julius sie als läufig bezeichnen dürfen. Er wusste, wie gefährlich es war, alleine vor sie hinzutreten. In ihrem Zustand konnte sie glatt alles nehmen, was annähernd ähnlich aussah und eindeutig männlich war.
"Tante Meglamora! Das ist nahe genug!" rief Mademoiselle Maxime. Doch die Riesin schritt weiter voran. Sie beschleunigte sogar ihren Schritt. Jetzt fehlten nur noch zehn ihrer Schritte, um Julius und ihre Nichte mit den Händen erwischen zu können. "Wenn sie unter vier Schritte ist auf zweihundert Meter Abstand zurück!" jagte Olympe Maximes Gedankenstimme durch Julius' Kopf. das ging deshalb so gut, weil die beiden bald drei Monate zusammengelebt hatten und Julius nur durch das Blut der Halbriesin vor der Verwandlung zu einem Schlangenkrieger Skyllians bewahrt werden konnte.
"Du da, ich will dein Guigui!!" röhrte Meglamora und deutete mit der rechten Hand auf Julius. Ihre bald zehn Zentimeter über die Fingerkuppen ragenden Nägel wirkten wie die Krallen eines Raubtieres. Mit der linken Hand öffnete sie die aus Hirschhorn gemachten Verschlüsse ihres Kleides. Das war mehr als eindeutig.
"Der ist nicht für dich, Tante. Das habe ich dir doch gesagt. Der will helfen, dir einen zu finden, der groß genug ist und dir starke Kinder machen kann!" rief Mademoiselle Maxime entschlossen. Julius selbst musste jene geistige Formel denken, die ihm in vielen Fällen geholfen hatte, seine Selbstbeherrschung zu bewahren. Er peilte eine Linie zwischen sich und der Riesin an. Übertrat sie diese, musste er weg.
"Du hast den stark gemacht. Der kann mir starkes, schlaues Guigui in den Bauch drücken!" röhrte die Riesin. Dann übertrat sie die von Julius rein gedanklich gezogene Grenzlinie.
Er riss den Zauberstab hoch und wirbelte auf der Stelle herum. Mit vernehmlichem Plopp verschwand er, um keine Hundertstelsekunde später zweihundert Meter weiter fort wieder aufzutauchen. Er hatte sich dabei auf einen Punkt hinter der Riesin konzentriert, einen markanten Felsen, neben dem er erscheinen wollte. Als seine Sinne den magischen Ortswechsel überstanden hatten, sah er, wie die Riesin sich auf Mademoiselle Maxime zubewegte und dabei in einen schnellen Trab verfiel. Doch bevor sie ihre gewaltigen Hände niederfahren ließ, um die halbgroße Nichte zu packen, verschwand auch diese mit einer schnellen, bei ihrer Größe wundersam elegant anmutenden Drehung. Julius meinte schon, es gleich neben sich wie einen Kanonenschlag krachen zu hören. Doch der einzige Knall den er hörte kam nach zwei Dritteln einer Sekunde von da, wo sie gerade noch gestanden hatte. Eine Sekunde später vernahm Julius einen von den Felsen widerhallenden Knall. Er konnte durch das vielfache Echo nicht hören, wo die Quelle war. Doch er konnte Mademoiselle Maxime sehen, die auf einem knapp fünfhundert Meter entfernten Plateau stand. Als sie sah, das Julius sie sah wurde sie auf einmal so groß, als stünde sie direkt vor ihm. Julius kannte diesen Zauber. Das war der Distaumentatus-Zauber, der die übliche optische Verkleinerung entfernter Wesen aufhob, damit diese entfernte Dinge so sehen konnten, als seien sie keine zwei Schritte davon entfernt. Der Nebeneffekt war, das alle die Augen besaßen den Ausführer des Zaubers so sahen, als sei der unmittelbar vor ihnen.
"Gut, Monsieur Latierre, es hat wohl keinen Sinn, dass wir uns mit Meglamora unterhalten. Der Drang zur Prokreation ist schon zu stark. Wenn wir noch warten wird sie mir entwischen und sich wen suchen."
"Meine Frau würde mich erwürgen, wenn ich mich von Ihrer Frau Tante zur Zeugung eines Kindes überreden ließe", mentiloquierte Julius zurück.
"Nur, falls Sie den Liebesakt mit meiner Frau Tante lebend überstehen sollten", gedankenerwiderte Mademoiselle Maxime. Er konnte die mitschwingende Verärgerung in diesen Gedanken nicht überhören.
"Sie rennt auf mich zu, wie erhofft", mentiloquierte Mademoiselle Maxime. "Dürfte sie sichtlich verwirren, dass sie mir dabei scheinbar nicht näher kommt."
Tatsächlich hörte Julius die Riesin wütend aufbrüllen. Jetzt noch auf Vernunft zu hoffen war wohl erledigt, dachte er.
"Ich stelle mich in einer Viertelstunde bei Ihnen im Büro ein, wenn ich meine Tante an einen Ort geführt habe, wo sie ihre Wut unschädlich für sich und Ragnar abreagieren kann", gedankensprach Mademoiselle Maxime. Julius verstand und winkte ihr zu. Dann disapparierte er wieder.
Julius tauchte im Foyer des Zaubereiministeriums wieder auf. Hier konnten Mitarbeiter problemlos apparieren. Mit einem der Aufzüge fuhr er hinauf in das Stockwerk, wo die Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe untergebracht war. Im Gang zu den verschiedenen Büros traf er seine Schwiegertante Barbara, die gerade mit einem neuen Anwärter vor ihrem Büro stand und ihm wohl letzte Instruktionen für einen Auftrag erteilte. Julius winkte, um nicht in die Besprechung hineinzurufen. Seine Schwiegertante sah ihn an und winkte zurück.
"Und, schon wieder da?" fragte Mademoiselle Ventvit ihren jungen Mitarbeiter, als dieser das gemeinsame Büro betrat.
"Ich kann froh sein, dass ich nicht von Madame Meglamora zum Ehebruch verleitet wurde oder dass ich noch in einem Stück bin. Mademoiselle Maxime möchte mit uns in fünfzehn Minuten die Lage besprechen", erwiderte Julius.
"Tja, wie Sie wissen ist es bisher nicht gelungen, einen mit normalgroßen Menschen behutsam umgehenden Riesen außer Grawp zu finden, den wir Meglamora als Geschlechtspartner vorschlagen können", sagte Ornelle Ventvit. Pygmalion Delacour, der neben ihr und Julius dieses Arbeitszimmer nutzte, blickte von dem gerade zu schreibenden Bericht auf und nickte Julius zu.
"Dann diente ihr Ausflug wohl eher für Mademoiselle Maxime als Situationsindikator, inwieweit Meglamora bereits dem Drang zur Fortpflanzung unterliegt oder nicht", stellte Ornelle Ventvit fest. Julius nickte. Dann fing er sich einen der herumspukenden Bürostühle ein. Erst als er es schaffte, ihn vor seinen Schreibtisch zu bekommen und sich darauf niederzulassen, verhielt sich das Möbel wie ein völlig normaler Bürostuhl.
Ohne dazu aufgefordert zu werden schrieb Julius in der Zeit, bis Mademoiselle Maxime eintraf einen Bericht über diesen kurzen Ausflug. Danach besprachen Ornelle und er mit der ehemaligen Schulleiterin von Beauxbatons, was sie in der Angelegenheit tun konnten.
"Meglamora ist nun darauf aus, wieder Nachwuchs zu bekommen. Die Hegeinstinkte für ihren Sohn Ragnar ermüden langsam. Wenn wir nicht wollen, dass sie Ragnar tötet und/oder sich von mir absetzt und einen unbescholtenen Menschen zur Fortpflanzung zwingt, ist Eile geboten."
"Monsieur Latierre hat Ihnen sicher geschildert, dass unsere Suche nach einem adäquaten Partner für Meglamora erfolglos verlief. Abgesehen davon, dass Riesen gerade erst drei Jahre alte Riesen töten, um deren Mütter für sich allein zu haben, müsste dieser männliche Riese sich menschlichen Anweisungen unterordnen. Das tun aber die allerwenigsten. Dass Ihre Tante Meglamora dies tut liegt zum einen daran, dass Sie größer sind als Monsieur Latierre oder ich und dass Sie mit ihr verwandt sind. Das gleiche konnte ja auch schon für Hagrid und seinen Halbbruder Grawp konstatiert werden", fasste Ornelle Ventvit die bekannten Einzelheiten zusammen. Dann ging es darum, ob der Fortpflanzungsdrang wie bei anderen Säugetieren nach einer gewissen Zeit abklang und sie dann wieder umgänglich wurde.
"Das dürfen Sie leider nicht hoffen, Mademoiselle Ventvit. Soweit ich es von meiner Tante erfuhr, muss eine Riesin, die erfolgreich Nachwuchs bekommen hat, alle vier Jahre zumindest eine körperliche Vereinigung mit einem ihr ähnelnden Partner haben. Zwar kann der direkte Drang, sich fortzupflanzen einschlafen, aber nur solange sie keinen fortpflanzungsfähigen Humanoiden in ihrer Umgebung sehen, hören oder riechen kann. Es könnte ihr sogar passieren, dass sie jedes weibliche Wesen als Konkurrenz um möglichen Nachwuchs einordnet und tötet. Dies wird leider durch eine Äußerung bestätigt, die Meglamora aus ihrer Wut über Monsieur Latierres Flucht ausgestoßen hat. Ich zitiere: "Wenn du mir keinen lässt, der mir ein Guigui macht, mach ich dich tot!" Soviel zu dem, woran wir gerade sind."
"Will sagen, Sie hat Ihnen den Tod angedroht", bestätigte Ornelle für das Besprechungsprotokoll. Mademoiselle Maxime bejahte dies.
"Was ist ihr wichtiger, der Geschlechtsakt oder die Empfängnis eines Kindes?" fragte Julius nach einer halben Minute des Schweigens. Mademoiselle Maxime blickte ihn aus ihren schwarzen Augen verstört an, während Ornelle ihren jungen Mitarbeiter interessiert bis amüsiert anblickte. Julius vervollständigte seine Frage noch: "Geht es ihr nur darum, geschlechtlich befriedigt zu werden oder will sie unbedingt ein weiteres Kind bekommen?"
"Nun, das zweite kann ja nicht ohne das erste stattfinden", erwiderte Mademoiselle Maxime. "Weil ja sonst die Angelegenheit zwischen Madame Cassiopeia Odin und ihrem Gatten nicht derartig unschöne bis rechtlich aufwühlende Auswirkungen gezeitigt hätte."
"Mademoiselle Ventvit, darf ich dazu eine Bemerkung machen?" fragte Julius. Seine direkte Vorgesetzte erlaubte es.
"In der magielosen Menschheit wird es seit mehreren Jahrzehnten praktiziert, dass Zuchttiere wie Rinder oder Pferde nicht mehr mit einem zur Zucht bestimmten Geschlechtspartner zusammengebracht werden. Kühe bekommen den Samen eines passenden Bullen direkt in ihre Scheide eingespritzt, ohne den Bullen auch nur riechen zu können. Das gleiche passiert mit Rassestuten, die Fohlen eines bestimmte Eigenschaften besitzenden Hengstes bekommen sollen. Bei Menschen gibt es seit der erfolgreichen Geburt von Louise Joy Brown im Jahre 1978 die künstliche Befruchtung. Hierbei werden allerdings Eizellen der Frau, die Mutter werden möchte durch einen Chirurgischen Eingriff entnommen, in einem Reagenzglas mit den Samen des gewünschten Vaters zusammengebracht und nach erfolgreicher Entstehung von Zygoten, also der Vorstufe von Embryonen, diese Zygoten durch einen weiteren chirurgischen Eingriff in die Gebärmutter der Eizellenspenderin zurückverpflanzt, um dort wie natürlich gezeugte Kinder heranzuwachsen und entweder durch natürliche Geburt oder den als Kaiserschnitt bezeichneten chirurgischen Eingriff auf die Welt zu kommen." Julius machte eine kurze Pause, um seine Erklärung wirken zu lassen. Mademoiselle Ventvit sah ihren Mitarbeiter interessiert, Mademoiselle Maxime ihren ehemaligen Schüler verstört an. Dann fragte Mademoiselle Ventvit, ob das alles sei, was Julius sagen wollte. Dieser schüttelte behutsam den Kopf und fuhr fort: "Es ist auch irgendwie zu einer nicht ganz unumstrittenen Alltäglichkeit geworden, dass Männer, die keine Frau neben sich haben wollen, aber doch ihr Erbgut für ein Kind hergeben möchten ihren Samen spenden können, der dann in so genannten Samenbanken tiefgekühlt gelagert wird. Frauen, die zwar gerne Mutter werden wollen aber dafür nicht die Partnerschaft mit einem Mann begründen oder mit einem solchen geschlechtlich verkehren möchten, können dann unter gewissen Auflagen solche anonym ausgelagerten Anteile von Samenflüssigkeit eingespritzt bekommen, um dadurch ohne Berührung eines Mannes schwanger zu werden und das Kind dann als alleinerziehende Mutter großzuziehen. Wie gesagt ist diese Vorgehensweise umstritten, weil zum einen traditionelle Gefüge wie Familien in Frage gestellt werden und zum anderen Kinder, die auf diese Weise auf die Welt kommen nicht erfahren, wer ihre Väter sind, womit sie einen Teil ihrer eigenen Abkunft vorenthalten bekommen."
"Ich denke nicht, dass Meglamora es sich gefallen ließe, dass ein Einspritzgerät eingeführt wird, um dort zeugungsfähige Samenflüssigkeit auszustoßen", sagte Mademoiselle Maxime. Außerdem denke ich, dass Meglamora die einer Empfängnis vorangehende geschlechtliche Befriedigung erfahren will."
"Aber es ist schon interessant, was Monsieur Latierre anführt", erwiderte Ornelle. Dann fragte sie Julius, ob die Heiler der Zaubererwelt von diesen Methoden der magielosen Menschen Kenntnis besaßen. Julius bestätigte das. Immerhin hatte er sowohl mit seiner Ersthelferausbilderin Hera Matine, wie auch mit Aurora Dawn, sowie mit seiner Schwiegertante Béatrice Latierre und Madame Rossignol besprochen, wie der Nachwuchs bei den so genannten Muggeln zur Welt kommen konnte. Barbara Latierre die jüngere hatte sich von ihm auch einmal erklären lassen, wie das mit der künstlichen Besamung von Nutztieren ablief. Das hatte der Züchterin der Latierre-Kühe aber nicht gefallen, weil sie dies als Eingriff in die natürliche Lebensweise und zudem auch irgendwie als Betrug an der zum Kalben gebrachten Kuh ansah, den Erzeuger des Kalbes nicht einmal in der Nähe gehabt zu haben. Das erwähnte er ebenfalls.
"Nun, wenn es darauf hinausläuft, dass Meglamora dazu getrieben wird, jeden männlichen Humanoiden zur Zeugung eines Kindes zu zwingen, es also weder um Auswahl noch um emotionale Verbundenheit geht, so könnte es vielleicht nur darum gehen, dass sie ein Kind bekommt", vermutete Mademoiselle Maxime. "Aber wie erwähnt vermute ich weiter, dass sie den dazu führenden Akt erleben muss, um zumindest die für die ersten Jahre des Kindes nötige Beziehung zu ihm herzustellen, also das Kind nicht mal eben so in ihr entsteht und heranwächst."
"Da hätte ich sogar eine Idee, wie beides geht. Ich muss dazu noch mal im Internet recherchieren, wie das geht, dass gemacht wird und eine für die Zaubererwelt mögliche Umsätzung finden", sagte Julius und formulierte aus, wie er sich das vorstellte. Mademoiselle Maxime bekam auf einmal große Augen und nickte heftig. Mademoiselle Ventvit blickte Julius mit einem schelmischen Ausdruck an. Monsieur Delacour hörte sehr aufmerksam zu. Der von ihm zu schreibende Bericht war erst einmal vergessen. Als Julius seine Idee unter dem Vorbehalt der Undurchführbarkeit dargelegt hatte folgten mehr als dreißig Sekunden nachdenklichen Schweigens. Dann sahen sich Mademoiselle Ventvit und Mademoiselle Maxime an. Beide nickten einander zu. Mademoiselle Maxime bat darum, vor der Durchführung die biomedizinischen und technischen Gegebenheiten der Muggelwelt vorgeführt zu bekommen. Julius wusste, dass sein Geräteschuppen in Millemerveilles zu klein für die Halbriesin war. So bat er Ornelle Ventvit, ihm ein Amtshilfeersuchen an das Büro für die friedliche Koexistenz für Menschen mit und ohne Zauberkräfte stellen zu lassen. Sie genehmigte und unterzeichnete seinen eine Viertelstunde später korrekt formulierten Antrag und schickte ihn mit einem Memoflieger in Madame Grandchapeaus Büro.
"Können Sie Meglamora so lange unbeaufsichtigt lassen?" fragte Julius Mademoiselle Maxime, die ganz ruhig und keinesfalls unter Druck auf den drei für sie eingefangenen Besucherstühlen zugleich saß.
"Ragnar ist wieder in der Mine, in der er geboren wurde. Meglamora vermisst ihn nicht. Ich habe ihr Wohngebiet mit einem zwanzig Meter hohen Feuerwall eingefriedet, über den und durch den sie nicht hindurchkann. Irgendwann wird ihre Wut nachgelassen haben. Es kann aber sein, dass sie mich attackiert, wenn ich vor ihrer nächsten Schlafperiode zurückkehre. Wenn sie geschlafen hat dauert es immer erst einige Zeit, bis ihre aufgestauten Triebe wiedererwachen. In der Zeit kann ich wohl mit ihr reden.
"Verstehe", sagte Julius.
Als die Antwort Madame Grandchapeaus eintraf flohpulverte Julius mit Mademoiselle Maxime in die Außenstelle des Ministeriums, wo hundert Meter vom Flohnetzanschluss entfernt ein klimatisierter Raum mit vier laufenden Computern stand. Belle Grandchapeau erwartete sie dort schon.
"Diese Gerätschaften erscheinen mir sehr zerbrechlich", bemerkte Mademoiselle Maxime, als sie die Bildschirme, Tastaturen und Computergehäuse betrachtet hatte. Julius nickte. Dann schaltete ihm Belle den Internetzugang auf einem der vier laufenden Rechner frei. Er forschte mit Hilfe der Suchmaschinen nach allem, was über künstliche Befruchtung und künstliche Stimulation von Geschlechtsorganen bei Menschen zu finden war. Die Werbung bei manchen Anbietern solcher Hilfsmittel nervte ihn schon. Doch als er genug auszudruckende Dokumente zusammengetragen hatte meinte Belle:
"Ich fürchte, Ihre Gattin würde über derartige Ersatzmaßnahmen sehr ungehalten sein."
"Das könnte sein", erwiderte Julius. Er verschwieg der Hexe, deren Zwillingsschwester er selbst einmal für vier Tage gewesen war, dass er die wilden Gefühlsstürme in sich während der drei Monate in Madame Maximes Nähe zum Teil nur damit hatte abwettern können, dass er mit Millie magische Fernbefriedigungsmittel verwendet hatte. Von Mademoiselle Maxime wusste er in dem Zusammenhang, dass sie ähnliche Hilfsmittel benutzt hatte oder dies noch tat, um ihre Begierden kontrolliert und für andere unbemerkt abreagieren zu können.
Wieder zurück im Büro von Mademoiselle Ventvit besprachen sie die Ergebnisse seiner Nachforschungen. Am Ende stand ein möglicher Lösungsansatz für die zunehmende Unberechenbarkeit Meglamoras.
Immer wieder, wenn er sich über den Kopf strich wurde er an die schmerzhafte Begegnung mit diesem Spinnenweib erinnert. Seitdem er versucht hatte, sie vor der Mutter seiner Gefährtin zurechtzuweisen, ja in Stücke zu zerreißen, fehlte Feuerkrieger das linke Ohr. Selbst wenn er sich in einen überlebensgroßen Tiger verwandelte hatte er nur das rechte Ohr. Dieses Spinnenweib hatte ihn für den Rest seines Lebens gezeichnet, ihn fertig gemacht, ihn vor seiner schwangeren Gefährtin und der da ebenfalls gerade mit einem Kind im Leib herumlaufenden Matriarchin lächerlich gemacht.
Feuerkrieger, der vor vier Jahren noch Rupert Möller gerufen worden war, fühlte sich seit jener Begegnung am 22. Juli 1999 zurückgestuft. Sicher, seine Gefährtin Sonnenglanz hatte von ihm einen strammen kleinen Jungen bekommen und hatte nach der Stillzeit auch wieder mit ihm Liebe gemacht. Doch er spürte, dass der Kampf mit der schwarzen Spinne ihn bei ihr nur noch halb so imposant rüberkommen ließ. Vor allem Nachtwind und dieser Yankee Neubeginner widerten ihn immer mehr an, weil sie diese Zurückhaltung angeordnet hatten, selbst als Lunera, die weiße Werwölfin, ganz offen um Beistand bei einer Aktion gebeten hatte, die ihr die Eroberung einer von echten Zauberern und Hexen verwalteten Lagerstätte einbringen sollte. Der Überfall der Werwölfe hatte deshalb nicht stattgefunden. Denn ohne einen alle freigesetzte Zauberkraft schluckenden Wertiger an der Seite konnte sich diese blonde Werwölfin gleich eine Silberkugel durch den Schädel schießen. Feuerkrieger erinnerte sich auch zu gut an diese Monsterbienen mit Menschenköpfen, die ihm in Europa die Tour versaut hatten. Wenn er deren Beschwörerin zwischen die Werpranken bekam würde er sie in tausend Stücke zerfetzen. Wegen der, deren Freundin, der Spinnenfrau und deren offenbar dressierten Begleiter, der mal Mensch und mal ein echter Feuerdrache sein konnte, wollte Nachtwind nichts davon wissen, die Übereinkunft mit den Wolfsleuten zu verbessern. Statt dessen hielt ihn Sonnenglanz damit bei Laune, dass sie ihn mindestens viermal in der Woche ranließ. Doch jetzt war die schon wieder von ihm schwanger und würde im kommenden März sein zweites Kind ausliefern. Feuerkrieger fühlte, dass er was unternehmen musste. Wozu hatten sie sich Kontakte zur Unterwelt von Mumbai verschafft, wenn sie davon keinen Gebrauch machen sollten?
Feuerkrieger lauschte. Auch wenn ihm das linke Ohr fehlte konnte er doch noch ziemlich gut hören, wenn etwas ganz leises durch den Dschungel strolchte. Er wechselte die Gestalt. Da er in der Nähe des Tigertempels ohnehin nackt herumlief musste kein Kleidungsstück dran glauben, als er innerhalb von fünf Sekunden zu einer über drei Meter langen Raubkatze wurde. Auch Neubeginner hatte wohl mitbekommen, dass etwas fremdes im Dschungel unterwegs war. Eigentlich mussten gleich die um den Tempel postierten Wachen reagieren, dachte Feuerkrieger und nahm rein geistigen Kontakt mit dem Führer des äußeren Wachrings auf, der in Menschengestalt auf einem der Urwaldbäume hockte. "Es ist der Rotschopf aus der Mondtruppe", bekam Feuerkrieger nach wenigen Sekunden die Rückmeldung. Feuerkrieger wunderte sich nicht schlecht, warum der fuchshaarige Kerl, den sie Rabioso riefen, sich alleine zum Tempel der Tiger traute. Dann stach ihm der unverkennbare Gestank von Flüssigbrennstoff in die Nase. Der Kerl war mit einem Flammenwerfer bewaffnet. Dann hörte Feuerkrieger noch vier weitere Eindringlinge durch den Urwald schleichen. Sie waren in Wolfsgestalt unterwegs.
"Lasst sie zu uns vor", durchdrang Nachtwinds willensstarke Geistesstimme die Wachen und Feuerkrieger. Der einohrige Wertiger knurrte unwirsch und zwang sich dazu, seine Gedanken nicht nach außen zu lassen. Sollte er gleich wieder hören, dass die Tigermenschen sich nicht an ihren Pakt mit den Werwölfen hielten?
Rabioso trat nun offen auf den Platz des Tigertempels. Nachtwind verließ ihre Wohnung. Trotz ihrer Leibesfülle bewegte sie sich sehr gewandt. Sie begrüßte Rabioso auf Spanisch, was Feuerkrieger nicht konnte. Rabioso erwiderte den Gruß. Sonnenglanz gesellte sich zu ihrem Gefährten. Während sie Feuerkriegers zweites Kind trug konnte sie sich nicht so geschmeidig in eine Tigerin verwandeln. Doch im Moment war das auch nicht wichtig. Sie übersetzte Feuerkrieger auf rein geistigem Weg, worum es Rabioso ging. Nachtwind fragte ihn, ob er kein Vertrauen mehr zu den Wertigern habe, wenn er und seine Leute bewaffnet zu ihnen kamen. Er konterte damit, dass die Absage von vor drei Monaten noch zu gut in Erinnerung sei. Dann wurde Rabioso gefragt, welche Bitte oder Botschaft er vorbringen wolle. "Ich bin dazu beauftragt worden, darum zu bitten, dass der alte und ehrwürdige Clan der Tiger uns hilft, jene Zauberer und Hexen niederzukämpfen, die unsere Sache gefährden. Das Geheimnis unseres mächtigen Trankes ist verraten worden. Viele wie wir werden dazu angestachelt, gegen uns zu kämpfen. Wenn wir unsere großen Ziele erreichen wollen müssen wir unser Alleinnutzungsrecht an dem Trank zurückerobern. Dazu brauchen wir aber wen, der uns hilft, durch alle Barrieren und Gegenzauber zu kommen. Daher bittet Lunera euch vom Tigerclan darum, uns zumindest zwanzig eurer besten Krieger mitzugeben, damit wir da, wo wir wissen, dass unser Trank gebraut wird, zuschlagen können. Wir wissen, dass ihr immer noch berechtigte Angst vor der schwarzen Spinne und ihrem handzahmen Drachenmann habt. Doch wenn unsere Bruderschaft zerschlagen wird werden die Eingestaltler sich danach gegen euch zusammentun", übersetzte Sonnenglanz, was Rabioso mit schwer im Zaum gehaltener Ungeduld erbat. Nachtwind wollte dann natürlich wissen, wie und wo genau die Mondbruderschaft zuschlagen wollte. Dann winkte sie entschieden ab. "Dort, wo ihr zuschlagen wollt, werden sie euch erwarten. Ihr wisst sicher noch, dass eine dieser Hexen Gewalt über fliegende Ungeheuer hat, die uns und euch aus der Luft heraus töten können. Außerdem habe ich meinem verstorbenen Gefährten zugesichert, dass ich nicht noch einmal zulassen werde, dass der Tempel zerstört wird. Die Spinnenfrau weiß, wo der Tempel steht. Nur die Übereinkunft mit ihr hält sie noch zurück, ihn zu zerstören."
"Die hält sich doch an keine Übereinkunft mehr, Königin Nachtwind", schnarrte Rabioso zurück. Sonnenglanz dachte ihrem Gefährten in Echtzeit die entsprechende Übersetzung zu. "Nur wenn wir uns nicht einschüchtern lassen und zusammenhalten können wir sie und alle die erledigen, die gegen uns sind. Bitte gewährt uns zwanzig starke und mutige Krieger!"
"Die Spinnenfrau hätte schon längst Gelegenheit gehabt, den erhabenen Tempel niederzubrennen. Dass sie es nicht tat liegt wohl daran, dass sie es bisher nicht nötig hatte. Solange mein Clan in Indien und den direkten Nachbarländern bleibt hat sie es nicht nötig. Denn von meinem Land will sie ja nichts."
"Darf ich das Lunera so weitergeben, dass der Tigerclan zu feige ist, sich an einmal getroffene Vereinbarungen zu halten, nur weil eine kleine Drachenbändigerin ihren handzahmen Feuerdrachen um euren Tempel herumgeführt hat?" versetzte Rabioso mit unverhohlener Enttäuschung.
"Unsere Stärke besteht, solange es den Tempel gibt. Verfällt er oder verbrennt er, verlieren wir an Macht. Ihr habt gut reden, wie unerschütterlich ihr seid. Wir hingegen müssen um die feste Grundlage unseres Seins fürchten. Das ist keine Feigheit, sondern gebotene Vorsicht. Kehre also zu deiner Herrin zurück und verkünde ihr, dass die Vereinbarung gilt, wie sie getroffen wurde. Jeder in seinem Revier. Geh!"
"Wenn die paar Steine da der Grund für eure Duckmäuserei sind können wir die auch gut ..." setzte Rabioso an. Da tauchten dreißig überlebensgroße Tiger zwischen ihm und Nachtwind auf. Die Herrin des Tigerclans rief noch einmal, dass er keinen ihrer Krieger mit nach Europa nehmen würde. Denn die Gefahr durch die Insektenmenschen sei dort immer noch zu groß. "Die Biester gibt's nicht mehr!" rief Rabioso. "Die wurden alle in einer großen Vernichtungsaktion weggebrutzelt. Aber wenn euch nichts mehr daran liegt, besser dazustehen, ihr kleinen Kuschelkätzchen, dann verkriecht euch weiter im Dschungel!"
"Unsere große Aufgabe ist erledigt. Wir haben das Zepter Nagabapus bewacht. Es ist nicht mehr da. Jetzt geht es nur darum, unser Volk zu erhalten. Denn anders als ihr ist unser Sein keine reine Krankheit, sondern eine erhabene Erbschaft, die wir aufrechterhalten müssen", sagte die Führerin des Tigerclans. Feuerkrieger fühlte die Wut in sich. Er wollte nicht im Urwald versauern, bestenfalls den Deckhengst für Nachtwinds Tochter mimen. Auch wenn Sonnenglanz ihm immer noch sehr gefiel wollte er endlich klarstellen, dass er ein mächtiges Wesen war. Der Kampf mit der schwarzen Spinne hatte ihn gedemütigt, aber auch noch entschlossener gemacht, sich nichts mehr gefallen zu lassen. Er verbarg seine Gedanken vor Sonnenglanz, die ihrer Mutter beipflichtete. Sie wollte nicht heimatlos mit einem Kind im Bauch herumstreunen, immer darauf gefasst, von den hier wohnenden Zauberern aufgestöbert und mit unmagischen Feuerwaffen getötet zu werden.
Rabioso zog mit seinen vier Begleitern ab. Feuerkrieger wartete, bis Sonnenglanz und Nachtwind wieder in ihren Wohnbau zurückgingen. Dann lief er in den Urwald. Hoffentlich erwischte er die fünf Werwölfe noch, bevor sie sich wegbeamten. Von unterwegs nahm er telepathischen Kontakt zu fünf von ihm selbst zu Wertigern gemachten Untergebenen auf. Eigentlich hätte er gerne Himmelsreiter noch dazugezählt. Doch der hatte sich seit dem Ausflug nach London damals immer mehr von ihm freigemacht, nahm ihn nicht mehr als seinen direkten Anführer hin. Die fünf anderen jedoch waren kleine Geisteslichter, die irgendwo in den Slums von Mumbai und Neudheli herumgestromert waren. Sie waren ihm sicher.
Als Rabiosos Leute auf einer Waldlichtung anlangten, wo ein alter LKW-Reifen lag, traten ihnen sechs nackte Männer entgegen. Der rothaarige Werwolf zog sofort eine seiner Leuchtpistolen, während seine nun auch wieder in menschlicher Gestalt herumlaufenden Begleiter Flammenwerfer bereithielten. Da erkannte Rabioso einen der sechs. Denn zum einen war es kein Inder, sondern ein Europäer wie er selbst. Zum anderen fehlte dem Mann das linke Ohr. Rabioso kannte die Geschichte, wie einer der Wertiger, der Feuerkrieger hieß, im Kampf mit der schwarzen Spinne das Ohr eingebüßt hatte.
"Geht da weg und lasst uns abrücken", zischte Rabioso auf Englisch. Feuerkrieger deutete auf den Autoreifen. "Mit dem Ding da seid ihr wohl hergekommen, wie? Wenn wir nicht wollen kommt ihr damit nicht wieder weg."
"Gleich gibt's gegrillte Dschungelkatzen", knurrte einer von Rabiosos Begleitern und schwenkte die Düse des Flammenwerfers auf Feuerkrieger ein. Dieser deutete auf Rabioso. "Wenn du mich mit dem Ding abfackelst ist erst euer großer Sprecher tot und dann du und jeder andere, der meint, uns in unserem Revier dummkommen zu können. Außerdem will ich keinen Krach mit euch haben. Mir liegt 'ne Menge dran, dass wir Wergestaltigen endlich das durchsetzen, was wir vor zwei Jahren vereinbart haben. Deshalb bin ich überhaupt mit meinen fünf Freunden hergekommen."
"Ach neh, wo eure kugelrunde Stammesmutter gerade gesagt hat, dass wir nichts von ihr und ihrem Clan zu erwarten haben?" wollte Rabioso wissen. "Nachtwind will nur den Tempel behüten. Ich will endlich wieder einen Platz in der Welt haben, da wo Menschen wohnen. Nur im Dschungel abhängen ist auf die Dauer zu langweilig für'n echten Großstadtjungen wie mich."
"So, und ich bin dein Ticket in die Zivilisation, wie?" fragte Rabioso verächtlich.
"Wir sechs können in zwei Nächten zwanzig oder dreißig werden. Dann sind wir dein Ticket zur Vorherrschaft der Wergestaltigen, Rotschopf", erwiderte Feuerkrieger unerschüttert. Rabioso fragte, ob Nachtwind das gutfinden würde. Feuerkrieger grinste und sagte, dass er gerade eben wieder gemerkt habe, dass sie keinen Wert drauf lege, aus ihrem Urwald rauszukommen. Dass sie damals welche von ihrem Volk losgeschickt habe sei ja nur wegen der Vampire und der Schlangenmenschen gewesen. Rabioso nickte. Dann sagte einer seiner Gefährten: "In zwei Kilometern entfernung kommen dreißig dieser Biester, Rabioso. Wenn wir nicht sofort abrücken kommen wir hier nicht mehr weg." Rabioso nickte und bedeutete Feuerkrieger, sich zu entscheiden. "Wenn wir dich und deine Leute mitnehmen seid ihr quasi Verräter an dem was eure dicke Königin beschlossen hat. Ihr habt vielleicht gerade eine Minute Zeit. Dann sind eure Artgenossen hier. Wenn die herkommen gibt's was übergebraten. Also entscheidet euch!"
"Wir kommen mit euch. Also, wie löst man diesen Reifen als Transporter aus?" fragte Feuerkrieger. Er stand sichtlich angespannt da. Rabioso ging zu dem Reifen hin und befahl seinen Werwölfen, sich danebenzustellen und die Hände aufzulegen. Auch die Wertiger versammelten sich um den Reifen. Sie fühlten schon die Annäherung ihrer Artgenossen. Dann legten sie ihre Hände auf den Reifen. Rabioso berührte ihn zusätzlich mit einem Zauberstab. Da umfloss sie alle eine blaue Lichtspirale. Als diese wieder in sich zusammenfiel waren Reifen, Wertiger und Werwölfe einfach nicht mehr da. Die dreißig Wachtiger, die hinter Feuerkrieger und den fünf Getreuen hergelaufen waren, kamen genau eine halbe Minute zu spät an.
"Er wird uns alle in den Abgrund stürzen", schnarrte ein Cousin Nachtwinds, als klar war, dass Feuerkrieger mit den Werwölfen gegangen war. Nachtwind wiegte ihren Kopf und fühlte die ohnmächtige Wut und Enttäuschung in sich aufwallen. Feuerkrieger hatte es gewagt, sich ihrem klaren Gebot zu widersetzen. Sonnenglanz stierte in den Dschungel. Sie fühlte die sachten Regungen in ihrem Leib. Sie trug das Kind eines Abtrünnigen. Die uralten Gesetze des Clans waren unerbittlich. Wer gegen das Wort des Herrschers oder der Herrscherin aufbegehrte verlor den Schutz und die Obhut des Clans. Zwar empfand sie Feuerkrieger immer noch als sehr entschlossenen und kampfstarken Gefährten. Doch genau diese Entschlossenheit war es nun, die ihn von ihr weggerissen hatte und das wohl wortwörtlich. Denn so wie die Mitbrüder es berichtet hatten waren die sechs Widerspenstigen mit den Werwölfen in einer magischen Kraft davongerissen worden, die sie über eine gewaltige Strecke tragen konnte.
"Wir versuchen noch einmal, ihn zurückzurufen", sprach Nachtwind in den Geist ihrer Tochter. Diese bedankte sich bei ihrer Mutter. Doch der Dank war verfrüht. Nach zehn Minuten konzentrierten Rufens stand fest, dass Feuerkrieger nicht mehr auf sie hören wollte. Er antwortete einfach nicht auf ihre Rufe.
"So bleibt nur, unseren Clan aufzuteilen. Sonnenglanz, du gehst mit Mondlicht und dreißig anderen Brüdern und Schwestern so schnell du kannst in den Dschungel. Neubeginner soll uns über Brückenbauer und Brückenkopf einen dieser Metallvögel beschaffen. Mit dem soll Himmelsreiter euch und sich auf die Insel der Kopfjäger bringen. Dort verbergt ihr euch. Sollte der Tempel mit uns anderen darin zerstört werden, so sei du meine Erbin und Trhonfolgerin, Sonnenglanz!" Sonnenglanz verzog ihr Gesicht. Doch dann nickte sie. Nachtwind beruhigte sie dann: "Wenn wir wissen, ob wir den Tempel noch räumen können, werden wir uns in den Wald zurückziehen und dort überlegen, ob es noch einen Sinn macht, einen dritten Tempel zu errichten. Hab also keine Furcht, dass deine Mutter sich einfach so dem Tod überlässt!" Sonnenglanz bejahte es und suchte dann neben Himmelsreiters Familie und die von ihr zur Tigerfrau gemachte Mondlicht noch weitere Artgenossen beiderlei Geschlechts aus. Dabei wählte sie vor allem die jüngeren aus, die im Bedarfsfall auch auf rein geschlechtliche Weise den Tigerclan erhalten konnten. Als die Truppe dann eine Stunde später den Platz des erhabenen Tempels verließ sah Nachtwind ihr nach. Neubeginner wandte sich seiner Gefährtin zu. Der früher Dennis Taller angesprochene geborene Wertiger wusste, dass seine Gefährtin eine schwere Entscheidung getroffen hatte. Im inneren verfluchte er diese Berliner Großschnauze, die nur weil sie so gut mit magielosen Feuerwaffen zurechtgekommen war, so weit in der Hierarchie nach oben gestiegen war. Doch jetzt würde genau dieser Draufgänger die Zündschnur in Brand stecken, die diesen Tempel und alle darin lebenden Wertiger in die Luft jagen konnte. Neubeginner wusste, dass nur die Sorge um Sonnenglanzes und sein Kind Feuerkrieger hier im Dschungel gehalten hatte. Im Urwald zu wohnen war nichts für den Burschen aus Berlin. Da konnte auch der wildeste Sex mit seiner Zugesprochenen nichts gegen ausrichten. Das erkannte er jetzt genauso wie Nachtwind.
Selene war froh, dass sie mittlerweile wieder groß genug war, um zumindest auf einem erhöhten Kinderstuhl an einem richtigen Tisch sitzen zu können. Eigentlich hätte sie auch gerne wieder mit Messer und Gabel gegessen. Doch ihre Mutter Theia hatte ihr das nicht erlaubt. "Die würden erst dich und dann mich komisch angucken, wenn du ein Messer zum Essen in die Hand nimmst", hatte ihr Theia gesagt. So konnte Selene hemlock entweder nur mit einer kleinen Gabel oder einem kleinen löffel essen. Beim Frühstücken gab es neben Haferflocken in Milch und Honig auch kleingeschnittene Fruchtstücke und Kakao. Tee oder gar Kaffee wollte ihr ihre Ururgroßmutter Eileithyia noch nicht erlauben, selbst wenn beides mit viel Milch verlängert werden konnte.
Ansonsten gewann Selene ihrer zweiten, von anfang an bewusst erlebten Kindheit immer mehr schöne Seiten ab. Sicher, wenn es für länger aus dem Haus ging musste sie noch Windeln tragen. Auch der an einer speichelfesten Schnur um den Hals getragene erdbeerrote Schnuller war immer noch ihr ständiger Begleiter. Sie hätte Theia besser nicht sagen sollen, dass sie noch mit vier Jahren so ein beruhigendes Nuckelding benutzt hatte. Tatsächlich überkam es sie auch immer wieder, den Schnuller in den Mund zu nehmen und darauf herumzukauen und das als sehr beruhigend zu empfinden. Offenbar traten alle frühkindlichen Urbedürfnisse wieder hervor, die Selene in ihrem vergangenen Leben besessen hatte. Das konnte noch was werden, wenn sie in die Pubertät kam. Sie erinnerte sich noch zu gut daran, was für ein wildes Hexenmädchen sie gewesen war und dass sie durchaus schon für mehr als flüchtige Umarmungen bereit gewesen wäre. Ihre Lehrer damals in Beauxbatons hatten das aber damals gut unterbunden.
Es war am 18. September 2001, als Eileithyia Greensporn aus dem Kamin der Hemlocks herausfauchte. Sie trug einen mauvefarbenen Umhang und ihre weiße Heilertasche. Selene blätterte gerade in einem Bilderbuch, das die Geschichte von Hillary, der honigfarbenen Häsin erzählte.
"Ah, Kleines!" begrüßte Eileithyia Selene. Diese sah ihre offizielle Ururgroßmutter ein wenig verbittert an, rang sich dann aber ein Lächeln ab. "Ist deine Mom wieder in ihrem Blubberkeller, wo du nicht hingelassen wirst?" fragte Eileithyia weiter.
"Nöh, im Bücherzimmer", erwiderte Selene.
"Theia, Grangran Thyia ist da!" flötete Eileithyia.
"Habe schon geahnt, dass du mich aufsuchen wirst", hörte Selene die Stimme ihrer Mutter durch Türen und Wände gedämpft. Einen winzigen Moment dachte sie daran zurück, dass sie Theias Stimme genau so zum ersten Mal in ihrem zweiten Leben vernommen hatte, nur ein wenig lauter und mit einer ziemlich umfangreichen Geräuschkulisse unterlegt.
"Sie hat mir gesagt, ich soll euch zwei mit einbeziehen", rief Eileithyia. Dann winkte sie Selene zu. "Bring mich zu deiner Mom, Lenny!"
"Wie sagt man das?" erwiderte Selene verbissen.
"Bring mich bitte zu deiner Mom, Selene!" entgegnete die über hundert Jahre alte Sprecherin der nordamerikanischen Heilmagier. Selene klappte das Bilderbuch zu. Die Hasengeschichte war ihr eh zu langweilig gewesen. Ihr war es nur um die Zeichentechnik der Bilder und die eingeschränkte Animationsbezauberung gegangen. Sie stand auf und nahm ihre Ururgroßmutter bei der Hand.
Selene bedauerte es, nie alleine in die Bibliothek gehen zu können. Doch Theia hatte den Türknauf bezaubert, dass nur eine ausgewachsene Hexe ihn drehen konnte. Ohne einen zauberstab war da nichts gegen zu machen. Eileithyia öffnete die Tür und deutete auf sich und das kleine Mädchen, dass ihr trotz der offiziellen Verwandtschaft kein bißchen ähnelte.
"Es geht um diesen Dunkelmagier, der sich Lord Vengor nennt, richtig?" fragte Theia Hemlock zur Begrüßung. Ihre Urgroßmutter sah sie erst erstaunt an. Als sie aber das Bild über dem Lesetisch sah, auf dem gerade ein makellos weißer Schwan auf einer grünen Wiese saß, legte sich ihr Erstaunen. "Natürlich wurdest du schon informiert, dass Cartridges Ministerium deshalb in heller Aufregung ist. Wahrscheinlich kennst du auch die Geschichte, dass dieser Zauberer gegen mehrere Ministeriumszauberer gekämpft hat und auch die schwarze Spinne da war, die jedoch keinem der Ministeriumsleute was getan hat." Theia nickte. Selene nickte auch. Ihre Mutter hatte ihr diese Begebenheiten als exotische Gutenachtgeschichte erzählt.
"Der Minister hat eine Umfrage an alle eingetragenen Experten für dunkle Künste gestartet, wer von diesem Vengor schon mal gehört hat, und vor allem, was es mit jenem schwarzen Kristall auf sich hat, den er aus den Trümmern der Zwillingstürme von New York geborgen haben soll. Einigs sind sich alle, dass dieses Ding dunkle Kräfte potenzieren kann, womöglich sogar von diesen neue Energie bezieht. Aber das sind eben nur vermutungen."
"Gut, mach bitte die Tür von innen zu, Grangran Thyia", schnaubte Theia. "Selene soll mithören?" Ihre Vorfahrin nickte entschlossen. "Sie hat es ausdrücklich gewünscht, Theia."
Selene hätte einiges dafür gegeben, wenn sie erfahren hätte, wer jene "Sie" war, von der ihre Verwandten es immer wieder hatten. Ihr war natürlich klar, dass damit die Sprecherin der nordamerikanischen Gruppe der Sororitas Silenciosa gemeint war. Doch nur eingeschworene Mitschwestern durften diese kennen, und Selene konnte erst zu dieser nicht eindeutig einzuordnenden Gruppe stoßen, wenn sie offiziell volljährig war. So hatte es die altehrwürdige Heilerin ihr mal gesagt, als Selene gerade fünf Monate auf der Welt war.
Theia Hemlock schloss das große Fenster, während ihre Urgroßmutter die Tür schloss. Dadurch trat der unterbrochene Dauerklangkerkerzauber wieder in Kraft. So konnten die drei Hexen sich nun unbekümmert über die neuesten Entwicklungen unterhalten. Selene erfuhr, was am 13. September genau passiert war. Wie "sie" das streng geheime Einsatzprotokoll zu Gesicht bekommen hatte wurde dabei nicht enthüllt. Selene grübelte nach, ob sie schon einmal von so einem kristall gehört oder gelesen hatte. Sie hoffte, dass diese Erinnerungen nicht während ihrer Geburt aus ihrem Gehirn hinausgedrückt worden waren. Eine Minute lang dachte sie nach. Dann sagte sie: "Wenn es wirklich so ist, dass dieser Kristall unter den Trümmern des von diesen wahnwitzigen Muggeln zum Einsturz gebrachten Gebäudekomplexes lag, ohne das bis zu diesem Anschlag jemand von ihm Kenntnis erlangte, so ist er dort wohl durch den Anschlag selbst entstanden. Ich kann mich erinnern, dass es unter den Dunkelmagiern sowie unter den Bekämpfern der dunklen Künste das Gerücht gab, dass massenhaftes, gewaltsames Sterben irgendwie Substanz gewinnen kann. Allerdings hielten die meisten dies für einen Mythos, ähnlich wie die Berichte vom alten Reich der großen Magier, das als Atlantis bekannt ist. Und womöglich hängen beide Geschichten ursächlich zusammen. Ich kann mich an etwas erinnern, was eine fünfhundert Jahre alte Hellmondvampirin aufgeschrieben haben soll, dass der hundertfache Tod in der Zeit einer Erddrehung einen winzigen Kristall der Dunkelheit erzeugen kann, der aber nur von dunklen Seelen genommen und gehalten werden kann. Ein solcher Kristall soll der Kern des Mitternachtssteins gewesen sein, der das Heiligtum und der stärkste Machtfokus der Vampire war. Um diesen Dunkelkristall herum brauchte dessen Erschaffer nur noch konzentrierte Lichtlosigkeit zu bündeln, hieß es. Es ging damals darum, dass meine ..., dass Voixdelalune fürchtete, ein Dunkelmondvampir könne den Mitternachtsstein erbeuten und damit die finstersten Kräfte dieses Steins freisetzen, da dessen Erschaffer selbst wohl der dunklen Seite angehört hat. Das war zu der Zeit, als Tom Riddle alias Voldemort seine Auferstehung vollzogen hatte und die Welt bedrohte." Theia nickte heftig. Dann fragte sie, was ihre Tochter noch von diesem Kristall wisse. "Eben nur die Beschreibung, die die mittlerweile ihre verdiente Ruhe gefundene ... Professeur Tourrecandide niedergeschrieben hat. Näheres, so hat sie behauptet, sei in der Bibliothek der Nachtkinder zu lesen, an die eben nur Vampire herankämen."
"Öhm, ist dir irgendwoher auch bekannt, wo diese Nachtkinderbibliothek sein soll?" wollte Eileithyia wissen.
"Professeur Tourrecandide hat das auch gefragt. Doch die erwähnte Vampirin wollte diese Information nur einer Tochter der Nacht anvertrauen. Nur wenn sich Professeur Tourrecandide dazu bereitgefunden hätte, eine solche zu werden, wäre sie zum Erhalt dieser Information berechtigt gewesen. Daher hat Professeur Tourrecandide diese Schilderung als billigen Trick abgetan, um sie auf die Seite der Blutsauger zu locken." Selene empfand es immer noch als unangenehm, dass sie nicht einfach von sich selbst sprechen konnte. Doch die Vereinbarung mit ihrer Mutter Theia und den anderen, die in ihre wahre Natur eingeweiht waren lautete, dass Professeur Tourrecandide tot und aus der Welt sei.
"Vielleicht kann Ms. Silver Gleam uns helfen", sagte Theia. Ihre Urgroßmutter verzog das Gesicht.
"Du möchtest eine seit fünfundsiebzig Jahren schlafende Vampirin aufwecken, um zu erfahren, ob diese Vampirbibliothek existiert, Theia? Ich hoffe, du erinnerst dich gut, was deiner Mutter Daianira mit dieser Nyx passiert ist."
"Silver Gleam ist eine Hellmondlerin und hat damals mit unseren Vorschwestern gut zusammengearbeitet. Sie hat diese nie hintergangen, ja hat sie sogar vor den Vierschatten gewarnt, die damals Europa heimgesucht haben." Selene nickte. Sie kannte diese Geschichte auch. Silver Gleam war eine ehemalige Hogwartslehrerin gewesen, bis sie im jungen Alter von dreißig Jahren zur Witwe wurde. In ihrer Einsamkeit hatte sie sich von Moonshadow, einem anderen Hellmondvampir, zur Frau nehmen lassen, was natürlich mit einer Verwandlung in einen Vampir einherging. Vor ihrer Vampirwerdung hieß sie Ruby Lakewater und hatte in Hogwarts zwei Jahre lang Pflege magischer Geschöpfe unterrichtet. Das war nach ihrem Daseinswechsel natürlich nicht mehr möglich. 1926 hatte sie wohl gegen Grindelwald gekämpft, der versucht hatte, die Kräfte der Vampire seinem Willen zu unterwerfen, um auch ohne Mitternachtsstein Macht über sie zu bekommen. Dabei hatte sie sich so verausgabt, dass sie in jenen scheintodartigen Dauerschlaf verfiel, den Vampire über Jahre hinweg führen konnten, bis jemand so freigiebig war, sein oder ihr Blut in den nur wenig geöffneten Mund tropfen zu lassen. Grindelwald hatte sie in einen Sarg aus einem nicht weiter erwähnten Metall gelegt und versteckt. Wo, das hatte Albus Dumbledore vor dem letzten Duell mit Grindelwald von diesem selbst erfahren, weil Grindelwald wohl Hoffnungen hatte, der aufstrebende Zauberer würde sich ihm anschließen. Dumbledore hatte nach dem Sieg über Grindelwald für einen handverlesenen Kreis von Bekämpfern der dunklen Künste erwähnt, was er über Silver Gleam erfahren hatte. Konnte Selene das verraten? Sie versuchte es. tatsächlich wirkte der magische Eid nicht mehr, weil es eben nicht mehr Austère Tourrecandide war, sondern die vollständig neu im Mutterleib herangewachsene und geborene Selene Hemlock.
"Ihr wollt sie wecken, um mehr über diese Vampirbibliothek zu erfahren?" schnarrte Eileithyia.
"Vielleicht wurde sie schon von Angehörigen der Liga wiedererweckt", vermutete Selene. "Ich kenne ja nicht als einzige den ungefähren Aufenthaltsort."
"Also Nyx wusste nichts von Silver Gleams Ruhestatt. Es wäre für die sicher eine Bereicherung gewesen, an diese Bibliothek zu kommen", vermutete Theia. Ihre Urgroßmutter konnte dem nur unwillig zustimmen. Sie merkte aber an, dass Nyx vielleicht auf andere Weise Wind von der Ruhestatt Silver Gleams erhalten hatte. Das konnten Theia und ihre Tochter nicht grundweg ausschließen. Theia sagte dann: "Wenn wir wissen wollen, was es mit diesem Kristall auf sich hat, so sollten wir jede Chance nutzen."
"Schließt dies auch ein, euch freiwillig zu Töchtern und damit Weggefährtinnen von Silver Gleam machen zu lassen?" wollte Eileithyia wissen. Selene lehnte das kategorisch ab. Theia pflichtete ihr unumstößlich bei.
"Professeur Tourrecandide hätte bereits vor über hundert Jahren eine Tochter der Nacht werden können. Angebote hierzu erhielt sie wahrlich mehr als genug", sagte Selene, wieder von ihrem früheren Leben wie von einem gelesenen Buch erzählend. Theia grinste erst, sagte dann aber: wenn meine Mutter das Angebot von Nyx und Haemophilos vor zwanzig Jahren angenommen hätte, ihre Tochter zu werden, säßen wir drei heute nicht hier zusammen." Selene hörte den gewissen Sarkasmus aus dieser Feststellung heraus.
"Dann macht was, um ihr nicht zu verfallen. Ich gehe mal davon aus, dass ihr wisst, wie das geht", sagte Eileithyia.
"Um sie aufzuwecken müssen wir ihr ein wenig Blut geben. Erst wenn das passiert ist können wir uns schützen", sagte Selene und deutete auf ihren linken Arm. Damit bot sie an, dass sie die Blutspenderin sein würde. Eileithyia verzog ihr Gesicht. Sie öffnete den Mund, um Selene zu verbieten, sich für dieses Opfer herzugeben. Doch dann sagte sie missmutig: "Ich dürfte es euch weder als Heilerin noch als treusorgende Verwandte erlauben. Andererseits fürchte ich, dass dieser Vengor jetzt den Rausch seiner Macht ausreizen möchte und weitere Morde begeht, um womöglich mehr von diesen Kristallen zu erschaffen. Da wir schlecht zum Minister gehen und ihm die Suche nach Silver Gleam vorschlagen können muss ich diesem Vorhaben zustimmen. Aber seht euch bitte bitte vor! Auch Hellmondvampire sehen in Menschen eher Futter als gleichwertige Mitgeschöpfe."
"Wir sorgen vor", sagte Theia beschwichtigend. Sie erinnerte an den Trank, den sie gegen das Vampyrogen hergestellt hatten. Das brachte Eileithyia auf einen anderen Punkt, den sie, wo sie schon mal hier war, ansprechen konnte. Es ging um die Werwölfe der Mondbruderschaft. Diese wurden immer gefährlicher. Das Ziel war klar: Erstens genug arglose Menschen beißen und so den Keim der Werwut in die Körper treiben. Zweitens diese Menschen zu folgsamen Mitstreitern für die Mondbruderschaft zu machen. Drittens ging es wohl darum, die nicht mit der Lykanthropie infizierten Menschen zu erpressen. Wertiger seien zwar außerhalb Asiens keine mehr angetroffen worden, was aber nicht heiße, dass sie sich aus dieser Sache heraushielten.
"Wenn ich eine Probe des Trankes und einen uns loyalen Lykanthropen hier hätte könnte ich daran forschen, ob diesem Trank ein den Körper des Anwenders schwächendes Mittel entgegengestellt werden kann", sagte Theia. "Ein Mittel, dass die Nutzer des Trankes von denen unterscheidet, die ihn nicht getrunken haben."
"Die Heilerzunft in Großbritannien besitzt eine kleine Menge von dem Trank. Vielleicht geht das tatsächlich."
"Wenn ein ähnliches, ätherisches Mittel erstellt wird, wie es gegen die Anwender des Berserkertrankes entwickelt wurde, könnte die Mondbruderschaft tatsächlich einen schweren Rückschlag erleiden", sagte Selene. Die beiden anderen Hexen nickten. Sie waren beide Expertinnen für zaubertränke, wenngleich Eileithyia hauptsächlich in den magischen Heilkünsten für werdende Mütter und ihre Kinder arbeitete. Sie sagte dann noch, dass sie dies als ihren eigenen Vorschlag an die Kollegen in den Ländern weiterleiten würde, die bereits Proben des Trankes besäßen. Theia und Selene wollten sich derweil um Silver Gleam und die Bibliothek der Nachtkinder kümmern.
Nach der Besprechung im Dauerklangkerker unterhielten sie sich im geräumigen Wohnzimmer Theias über Selenes Fortschritte. Hierbei musste Selene wieder die Sprechweise einer Zweijährigen benutzen, wie es zwischen ihr und den beiden anderen Hexen vereinbart war. Als Eileithyia ein magisches Rufsignal aus dem Honestus-Powell-Krankenhaus erhielt, verabschiedete sie sich von ihrer offiziellen Urengkelin und deren Tochter. Sie flohpulverte sich direkt in ihr Büro im HPK zurück. Theia und Selene sahen einander an. Sie waren sich einig. Für Selene bot sich mit dieser für ein kleines Mädchen ziemlich gefährlichen Angelegenheit eine Möglichkeit, ihrem zweiten Leben den nächsten wichtigen Erfolg zu verschaffen. Nur auf den Spielplätzen herumtollen, in Windeln, Töpfchen oder durch den Zwischensitz auf der für die Großen gemachten Toilette zu machen war nichts für eine, in deren kleinem Kopf schon über hundert Jahre Erfahrung steckten.
Lunera, die weiße Werwölfin, Dank der Kenntnisse um den Lykonemesis-Trank unangefochtene Führerin der Mondbruderschaft, wusste, dass irgendwas mit ihr nicht so war wie sonst. Irgendwas passierte da mit ihrem Körper. Wenn sie sich verwandelte tat es mehr weh als sonst und dauerte wesentlich länger. Deshalb hatte sie darauf Verzichtet, sich außerhalb der Vollmondnächte zu verwandeln. Erst dachte sie, dass es an irgendwelchen Spätfolgen des Trankes lag, dass ihr Körper ihn langsam nicht mehr so vertrug wie früher. Als sie dann merkte, dass ihre übliche Monatsregel ausblieb vermutete sie, dass es von der wilden Nacht mit Valentino kommen konnte, die sie ausgerechnet vom zehnten auf den elften September in einer Höhle bei Panama-Stadt erlebt hatte. Erst hatten sie ihre ganze Leidenschaft ausgelebt, sich erschöpft und nebeneinander auf einer großen Wolldecke geschlafen. Als sie wieder aufgewacht waren hatten sie von den gezielten Flugzeugeinschlägen in das Welthandelszentrum von New York und das fünfeckige Verwaltungsgebäude der US-Streitkräfte erfahren. Sollte in der Nacht zu dem Tag, der die gesamte Welt erschüttert hatte, neues Leben entstanden sein?
Lunera hatte sich immer schon vorgestellt, Mutter zu werden. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, Cortorejas Kinder zu kriegen. Doch der konnte ihr offenbar keine machen. Wenn Valentino das jetzt geschafft hatte, dann war das schon witzig. Sie hatte Valentino zum Mondbruder gemacht. Dabei hatte sie zum ersten mal mit ihm geschlafen. Dann erkannte sie, woran das lag, dass sie womöglich jetzt erst von ihm schwanger werden konnte. Sie beide waren mehr als einem Monat nicht zu Wölfen geworden. Durch den Trank hatten sie es geschafft, die sonst eintretende Verwandlung bei Vollmond zu vermeiden. Zudem hatten sie wegen des Ausbaus der kleineren Niederlassungen weltweit mehrere getarnte Portschlüsselreisen unternommen und waren deshalb häufig dort, wo noch Tag war oder der Mond hinter dichten Wolken verborgen gewesen war. Offenbar hatte dies eine ungestörte Empfängnis bewirkt. Doch bevor sie es den anderen mitteilte musste sie Gewissheit haben. Außerdem kam das bei den anderen vielleicht nicht so gut an, dass sie ein Kind erwartete. Vor allem Rabioso mochte eifersüchtig auf Valentino werden. Denn der hielt sich für Cortorejas rechtmäßigen Nachfolger und damit auch den Erben der Partnerschaft mit Lunera.
"Lunera, hier Silvana, Don Rico hat zugesagt!" erklang die Stimme einer Frau aus einer leeren Bierdose, die von Fino als Gegenstück zu einer anderen Bierdose als drahtloses Zaubertelefon gemacht worden war. Lunera nahm die Dose und bestätigte den Erhalt der Meldung. Also würde sie demnächst noch einen erfolg verbuchen. Denn dieser Don Rico interessierte sie besonders. Vor einem Jahr war er erstmalig in der mexikanischen Unterwelt aufgefallen. Irgendwie hatte er sich völlig unbemerkt ein Netzwerk aus ihm beistehenden Stadträten und Polizeioffizieren errichtet und sich durch die bewährte Methode Blei oder Silber immer mehr Einfluss gesichert. Jetzt streckte der von den eingesessenen Unterweltfürsten als Emporkömmling verschriene seine Hände nach größeren Stücken vom illegalen Kuchen aus.
"Da bin ich ja mal gespannt, wo du eigentlich herkommst", dachte Lunera.
Die Meldung von der möglich werdenden Ergreifung Don Ricos hatte sie von ihren ganz privaten Grübeleien um ein mögliches Kind von Valentino abgelenkt. Jetzt, wo im Moment keiner mehr was mitteilen wollte, konnte sie wieder darüber nachsinnen. Am Ende kam sie zu einem Entschluss. Sie wollte nach einem möglichen positiv ausfallenden Schwangerschaftstest solange niemandem etwas darüber sagen, solange es nicht offen sichtbar wurde. Selbst Valentino sollte es erst erfahren, wenn sie mindestens im fünften Monat war. Dann dachte sie an Rabioso, ob dieser erfolgreich mit den Wertigern verhandelt hatte. Falls nicht, so hatte das vielleicht auch sein gutes. Denn einerseits wurde ihr Rabioso langsam zu unbeherrschbar. Andererseits wären die Wertiger immer ein Sicherheitsrisiko. Denn waren die erst einmal in Tigerform unterwegs, konnte nur offenes, magielos entfachtes Feuer oder Tiefe Temperaturen oder gar Geschosse aus Eis oder flüssige Luft ihnen den Garaus machen.
Nina klopfte an die Tür zur kleinen aber gut vernetzten Zentrale der Mondbruderschaft. Lunera rief "Herein!" Nina trat behutsam ein und schloss die Tür. Dann deutete sie um sich herum. Der Raum besaß keine Fenster. Dafür aber eine Lüftungsklappe. Sie schüttelte den Kopf und deutete auf die Lüftungsklappe. Lunera verstand und schloss diese. Jetzt war die kleine Zentrale ein Dauerklangkerker, aus dem keine Geräusche hinausdrangen, aber damit auch keine magische Abhörmöglichkeit und Fernverständigung mehr bestand.
"Lunera, ich glaube, ich hab Finos Kind im Bauch", preschte Nina ohne lange zu überlegen vor. Lunera starrte Nina prüfend an. Die andere blonde Werwölfin, mit der Lunera aus den Klauen einer Mädchenhändlerbande entflohen war, sah nicht danach aus, dass sie bald Mutter wurde. Doch wenn das so sein sollte, dann wäre das schon merkwürdig. Lunera fragte, woran Nina das merken wollte.
"Na ja, zwei Wochen über die Zeit und Sechs Wochen nach meinem Auftrag, bei dem ich mit Fino die Lage in Mexiko-Stadt gepeilt habe", seufzte Nina. "Wir waren doch da in dem Stundenhotel und ... Na ja, wir haben da das gemacht, was die anderen da alle gemacht haben."
"Hmm, die Aufregung könnte deinen Rhythmus durcheinandergebracht haben. Ähm, wie lange ist es her, dass du dich das letzte mal verwandelt hast?"
"So sechs Wochen. Ich war mit Fino ja dauernd unterwegs in der Welt. Er meinte dann noch, dass wir es immer hinkriegen sollten, irgendwo zu sein, wo Tag war, bis der Mond wieder abnimmt, weil wir keinen Trank mithatten. Den hast du doch den Erntemondbrigaden ausgeteilt."
"Verstehe, Nina. Aber es könnte einfach nur die Umstellung sein, weil du den Trank lange nicht mehr getrunken hast", sagte Lunera. Nina nickte. Dann fragte diese, ob es möglich sei, ohne den anderen, also auch Fino, was davon mitzuteilen an irgendwelche Schwangerschaftstests dranzukommen. Lunera bejahte es und sagte, dass sie eh bald mehrere Mitgeschwister in eine Stadt schicken und da einige Substanzen zusammenklauen lassen wollte. Nina bedankte sich.
"Ich will unsere Sache nicht dadurch kompliziert machen, dass Fino nur noch um mich rumspringt und dieser Rohling Rabioso meint, er könne dann beim nächsten mal an mich ran. Ich habe das nicht fvergessen, was du nach den Terroranschlägen in New York gesagt hast: "Wenn wir dadurch Probleme kriegen, unsere Leute durch die Welt zu schicken, bleibt ja immer noch, dass wir uns gegenseitig befruchten." Ich komme mit Fino wunderbar aus. Aber ob ich dem gleich sowas aufladen will weiß ich nicht."
"Sagen wir so, wenn es passiert ist und du das Kleine nicht weit vorher wieder loswerden willst, wird er das schon rausfinden müssen, ob es ihm zu viel Verantwortung ist oder nicht", erwiderte Lunera. Nina nickte. Dann entschuldigte sie sich noch einmal für diese betrübliche Mitteilung.
"Erst mal abwarten, ob du wirklich mehr Gepäck aus Mexiko-Stadt mitgebracht hast, Nina. Dann sehen wir weiter. Ich werde aber respektieren, wenn du das keinem auf die Nase binden möchtest, was mit dir gerade ist."
"Danke, Lunera!" sagte Nina. Dann verließ sie die Zentrale. Lunera öffnete die Lüftungsklappe wieder, damit sie im Bedarfsfall wieder mit ihren Einsatzleitern in der Welt sprechen konnte.
Eine leere Weinflasche gab gerade einen tiefen Ton von sich, als bliese ein Unsichtbarer über ihre Öffnung. Lunera ergriff die Flasche, auf der eine große Sieben gemalt war. "Vincenzo, alles klar?" fragte sie. Da erklang aus der Weinflasche eine sehr triumphierende Frauenstimme, die Spanisch mit italienischer Klangmelodie sprach:
"Deine zehn reudigen Köter sind von uns erledigt worden, Lunera. Denkst du, wir hätten das nicht vorhergeahnt, dass du dich bei den alteherwürdigen sizilianischen Familien reinwanzen willst. Am besten pfeifst du die anderswo in der Welt herumstreunenden Tollwutüberträger zurück, bevor einer von denen uns verrät, wo du wohnst."
"Wer spricht da?" brüllte Lunera in die leere Weinflasche.
"Eine sehr zuverlässige Vertraute der schwarzen Spinne. Von uns hast du sicher schon mal gehört."
"Ach, ihr, die meint, nur Hexen dürften sagen, wo es langzugehen hat", knurrte Lunera. "Sag deiner Mutter Oberin oder wie sie sich nennt, dass wir euch irgendwann kriegen. Wir können uns schneller vermehren als ihr."
"Wage ich zu bezweifeln", klang die triumphale Stimme aus der Weinflasche zurück. Da begann die Flasche zu vibrieren und einen leisen Ton auszustoßen. "Aber vielleicht bereden wir das, wenn wir wissen, wo wir dich finden", hörte Lunera die Stimme der fernen Widersacherin. Die Vibrationen der Flasche wurden stärker. Da begriff Lunera, dass man gerade versuchte, über die magische Fernsprechverbindung ihren Standort zu finden. Sie holte mit der Flasche aus und schleuderte sie mit ganzer Kraft gegen die glattgeschmirgelte Kalkwand ihrer Zentrale. Mit lautem Knall zerplatzte die Flasche. Für eine Sekunde blitzte es rot-grün auf. Funken stoben in alle Richtungen und vergingen knisternd im Raum. Lunera bekam jenen geruch in die Nase, der bei frei überspringenden elektrischen Ladungen entsteht. Ozon, so hatte Valentino diesen Stoff genannt, der bei solchen Übersprüngen entstand. Von der Flasche waren nur noch winzige Glassplitter übrig, die wie angeschmolzen aussahen.
Lunera atmete zweimal tief durch. Offenbar hatte sie es gerade so noch geschafft, die magische Ortung über die beiden Verbindungsflaschen zu vereiteln. Das durfte ihr nicht noch mal passieren.
Die Mitteilung, dass ihre Einsatztruppe, die so genannte Erntemondbrigade 7, es nicht geschafft hatte, Donna Regina Venuti zu ergreifen und der Umstand, dass die mysteriöse Hexenschwesternschaft der schwarzen Spinne ihre Aktion vorhergesehen und sie anzupeilen versucht hatte machten ihr gut zu schaffen. Wenn das wirklich so einfach war, über die verschiedenen Fernverständigungsgegenstände ihre Zentrale zu orten, musste sie diese bisher so erfolgreiche Verbindungsart aufkündigen oder sicherstellen, dass beim Versuch, eine Fernortung hinzubekommen, die beiden Verbindungsgegenstände sofort zerstört wurden. Insofern doch noch eine brauchbare Erkenntnis. Sie hoffte jetzt darauf, dass die Hexenschwestern ihren Coup mit Don Rico nicht vorausgesehen hatten und nun auch bei ihm auf ihre Leute lauerten.
Während Lunera darauf wartete, ob ihr Don Rico in die Falle ging dachte sie daran, dass es schon ein merkwürdiger Zufall war, dass auch Nina, die von den anderen männlichen Werwölfen teils gierig, teils bewundernd angeblickt wurde, ein Kind erwartete. Die anderen Mondschwestern hatten wohl bisher noch keinen, mit dem sie sich auf sowas einlassen wollten.
Heinrich Güldenberg, der deutsche Zaubereiminister, blickte von seinem britischen Amtskollegen Shacklebolt zum französischen Kollegen Grandchapeau, dem US-Amerikanischen Kollegen Cartridge und dem österreichischen Kollegen Rosshufler und wieder zurück. Die vier Minister hatten sich auf direktem Weg über die bei der letzten Quidditch-Weltmeisterschaft vereinbarte Direktkontaktlinie zu einer Besprechung im dritten Kellerstockwerk des deutschen Zaubereiministeriums getroffen. Der Wandkalender zeigte den fünfzehnten September. Vor zwei Tagen hatte jener neue Feind, wie er bereits Intern genannt wurde, in den Trümmern der Zwillingstürme des New Yorker Welthandelszentrums einen Kristall erbeutet, der die von seinem Besitzer ausgeführten dunklen Zauber erheblich verstärkt hatte.
"Jetzt warten wir nur noch auf den ehrenwerten Ninigi Takahara, der uns die Vorkommnisse in seiner Heimat berichten möchte", sagte Güldenberg. Er sprach Englisch, die Sprache, die alle anwesenden leitlich beherrschten.
Eine halbe Stunde verging, bis ein untersetzter, weißhaariger Asiate in einem schwarzen Seidengewand den Kellerraum betrat. Er verbeugte sich tief vor den anderen. Die ahmten die Begrüßungsgeste nach. Heinrich Güldenberg bot dem Kollegen aus dem fernen Osten einen bequemen Stuhl an. Als der Nachzügler saß begrüßte der Gastgeber noch einmal alle Amtskollegen einzeln. Der Nachzügler entschuldigte sich umfangreich für seine Verspätung und gelobte, dafür alle Fragen zu beantworten, die nichts mit seinem Privatleben zu tun hatten. Darüber mussten Cartridge und Rosshufler grinsen.
Güldenberg erwähnte alles, was in Deutschland zu dem "Fall Vengor" geschehen war. Dann erwähnte Cartridge, was sich am 13. September in New York ereignet hatte. Daraufhin berichtete Ninigi Takahara, der japanische Zaubereiminister, was in Hiroshima und Nagasaki geschehen war und was die dort gefangenen Eindringlinge um ihr Leben gebracht hatte.
"Es steht also fest, dass dieser sich Lord Vengor nennende Zauberer diese dunklen Zwölfflächler gesucht hat", fasste Güldenberg abschließend zusammen. "Also sind diese Dinger nur da zu finden, wo viele Menschen wohl durch Gewalt umgekommen sind. Dabei muss diese gewaltsame Todesart nicht in einer direkten Aktion eines Menschen gegen einen anderen Menschen stattfinden, sondern kann auch wie bei den Anatombomben über Ihrer erhabenen Heimat, Takaharasan, diese Kristalle hervorbringen. Öhm, Monsieur Grandchapeau, was habe ich jetzt so amüsantes gesagt?" wollte der Zaubereiminister von Deutschland von seinem französischen Kollegen wissen. Dieser bat um Entschuldigung, weil Güldenberg die Bezeichnung für die alles andere als lustigen Bomben aus der Muggelwelt verfremdet hatte. Das führte dazu, dass er näheres über die Wirkungsweise dieser Waffen berichten sollte, wozu er sich auf einen vor sechs Jahren erhaltenen Bericht des jungen Zauberers Julius damals noch Andrews bezog. Die anderen sahen den französischen Amtskollegen leicht verdrossen an. Takahara, der neben Shacklebolt als einziger astreines britisches Englisch sprach, drückte seine Verwunderung aus, dass derartige Berichte nicht dorthin gelangten, wo sie auf ungeteiltes Interesse treffen würden. Damit meinte er, dass er als Zaubereiminister des Landes, über dem die ersten Atombomben abgeworfen wurden, ein sehr fundamentales Interesse daran hatte, was seinen Landsleuten da widerfahren war. Doch Grandchapeau hatte keine Probleme, dem japanischen Kollegen eine passende Antwort zu geben:
"Nun, das mit den dunklen Kristallen haben Sie, Kollege Takahara, doch auch nur weiterberichtet, weil die beiden aufgegriffenen Zauberer eindeutig als flüchtige Verbrecher aus Großbritannien und Österreich identifiziert werden konnten. Aller von Ihnen hochgeschätzten Höflichkeit zum Trotz kann ich Ihnen genauso unterstellen, Berichte zurückzuhalten, von denen Sie wissen, dass es in anderen Ländern jemanden gibt, der sich dafür interessiert."
"Gentlemen", schnitt Güldenberg in die kurze Auseinandersetzung ein. "Es geht hier und jetzt doch nicht darum, wer da wem was vorenthalten oder nicht vorenthalten will. Wichtig ist doch, wie wir mit der Lage umgehen, dass da ein selbsternannter Erbe des Unnennbaren in Erscheinung getreten ist und was er genau alles mit diesem Kristall anstellen kann und will, den er unter den Trümmern des Welthandelszentrums gefunden hat. Außerdem ist die Frage berechtigt, warum auch die Sicherheitstruppen des Kollegen Cartridge die schwarze Spinne dort antrafen. Ihnen allen dürfte klar sein, dass diese unberechenbare Hexe, die je nach eigenem Gutdünken oder unserer zaubereipolitischen Weltlage mal heimliche Helferin und mal offene Gegnerin sein kann, mehr über diese Kristalle wusste als unsere für magische Gegenstände ausgebildeten Mitarbeiter zusammen. Das, Gentlemen, ist für mich das wahrhaft erschreckende. Deshalb ist es wichtig, näheres über die Gehilfen dieses Lord Vengor zu erfahren. Immerhin hält er sich noch nicht für stark genug, alleine zu handeln, um auf gleichgesinnte Hilfskräfte zu verzichten. Wir müssen einen oder mehrere von diesen Leuten festnehmen, ohne dass sie zu Staub zerfallen, wie es der Kollege Takaharasan beschrieben hat."
"Gefangennahme löst den Zersetzungsfluch aus", erwiderte Takahara. Die anderen nickten. Dann spielte Güldenberg den Trumpf aus, den er bisher sorgsam verborgengehalten hatte.
"Wir hier in Deutschland wissen, dasss jemand namhafte Sprengstoff- und Giftgasexperten der magielosen Alchemie entführt und gegen Vielsaft-Doppelgänger ausgetauscht hat. Ich habe mit dem Kollegen Rheinquell aus der Schweiz festgestellt, dass es wohl an die sechs Männer sind. Leider kann der erwähnte Kollege heute nicht bei uns sein, da er der Hochzeit seiner Enkeltochter beiwohnen muss und die Geheimhaltung dieser Zusammenkunft jedes unnötige Aufsehen verbietet. Meine Zaubertrankexperten haben anhand von abgetrennten Haaren der Verdächtigen eine Methode erarbeitet, genug organische Materie zu erzeugen, um damit die Originalkörper der Ausgetauschten zu orten. Ein genauerer Bericht darüber, wie dies möglich ist wird Ihnen allen zugehen, wenn wir wissen, ob dieses Verfahren den gewünschten Erfolg gezeitigt haben wird. Sollte es gelingen, damit die drei bereits ermittelten Ausgetauschten zu finden, könnten wir dort hingelangen und sie befreien. nach dem Bericht über die dunklen Kristalle und die Ereignisse nach dem von uns unbekannten Tätern verübten Anschläge in den vereinigten Staaten steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass die Entführten unter dem Imperius-Fluch mithelfen sollen, Anschläge mit hunderten von Toten auf einen Schlag vorzubereiten. Ich hoffe, unsere Gegenmaßnahme kommt noch nicht zu spät, und die Entführten halten sich alle am selben Ort auf. Sollte es mehrere Verstecke geben, in denen diese Fachmänner gegen ihren Willen an verheerenden Sprengmitteln oder gasförmigen Giften arbeiten, so könnte uns die Zeit weglaufen. Mein für Muggelweltbeziehungen zuständiger Mitarbeiter Weizengold hat die Vermutung geäußert, dass die Anschläge an von tausenden von Menschen besuchten Orten wie Wettkampfstätten oder großen Zentralbahnhöfen der Eisenbahnlinien stattfinden könnten. Ein Apparator bringt die tödliche Ladung unter die Menschen, verschwindet wieder und überlässt es der wenige Sekunden später freiwerdenden Sprengkraft oder Vergiftung, möglichst viele Menschen zu töten." Güldenberg verschwieg, dass eine von drei Haarproben eines Doppelgängers trotz aller Sicherheitsvorkehrungen gestohlen worden war.
"Vielleicht hätte dieser Anschlag schon stattgefunden, wenn dieser sich Lord Vengor nennende Zauberer nicht anderswo Beute gemacht hätte", vermutete Shacklebolt. Die anderen stimmten ihm durch Nicken zu. Cartridge bat darum, sofort informiert zu werden, wenn es gelänge, einen Verdächtigen daran zu hindern, sich selbst zu zerstören. Grandchapeau wirkte nachdenklich, als wolle oder müsse er noch was dazu sagen. Dann sagte er:
"Ich denke nicht, dass die Vernichtung der in Japan ergriffenen Kristallsucher eine von diesen bewirkte Selbsttötungsart war. Erinnern Sie sich bitte im Zusammenhang mit Nocturnia daran, dass die führenden Gehilfen Lamias durch Schmelzfeuerfluch am Verrat gehindert wurden. Ähnliches, eben nur anders wirkend, muss ich bei den Gehilfen dieses Vengor annehmen." Die anderen nickten wieder.
"Dann bleibt uns im Grunde nur, die Helfer daran zu hindern, die Aufträge ihres Anführers auszuführen. An ihn oder an Informationen über seinen zentralen Versammlungsort kommen wir wohl so einfach nicht heran", sagte Güldenberg.
"Ja, und vor allem wissen wir alle hier nicht, wer diesem neuen Feind zuarbeitet", knurrte Milton Cartridge. "Wenn ich die hitzigen Diskussionen in meiner Heimat bedenke, dass keiner dort weiß, welche Hexe vielleicht der schwarzen Spinne angehört, könnte dieser Lord Vengor ebensogut Getreue in einflussreicher Stellung in unseren Ministerien oder den magischen Manufakturen besitzen. Ich will hier keine Horde Basilisken rufen, Gentlemen. Doch wenn auch nur ein Anhänger dieses Vengor mitbekommt, welche Maßnahmen gegen ihn und seinen Anführer beschlossen werden, werden diese Maßnahmen wertlos."
"Vielleicht unterhält dieser Vengor eine Gegenbewegung zur schwarzen Spinne", warf Leopold Rosshufler in die Diskussion ein. "Dann dürfte er keine Hexe in seine Geheimnisse einweihen oder sie als seine Gehilfin benutzen."
"Gut gebrüllt, Löwe", erwiderte der britische Zaubereiminister darauf. "Wer sagt uns, dass Vengor ein Zauberer ist? Er könnte sich ebenso durch Vielsaft-Trank von einer Hexe in einen Zauberer verwandeln, diese grüne Schlangenkopfmaske aufsetzen und für mindestens eine Stunde herumlaufen. Ich unterstelle ihm, dass er anders als Tom Riddle mehr Wert auf Heimlichkeiten seinen Mitläufern gegenüber legt. Daher könnten die gehalten sein, bei Versammlungen ebenfalls maskiert zu sein. Wenn sie dann noch nicht mal wissen, wer unter der grünen Maske steckt, kann es ebenso ein mit Hogwarts fertiger Jungzauberer sein, wie eine über hundert Jahre alte, verbitterte Hexe, die meint, eine persönliche Rechnung mit der ganzen Welt offen zu haben. Wir können halt nur ausschließen, dass die schwarze Spinne und Vengor ein und dieselbe Person sind, da die Spinnenverwandlung eine mächtige Magie benötigt, die wohl nur ganz ganz wenigen Menschen zugänglich ist."
"Dann könnte dieser Feind jetzt auch hier bei uns sitzen, Kingsley?" fragte Rosshufler.
"Kann ich eindeutig ausschließen, Gentlemen", fuhr Güldenberg sofort dazwischen, um bloß kein gegenseitiges Misstrauen aufkommen zu lassen. "Gerade um einen Vielsaft-Doppelgänger in unseren Reihen auszuschließen habe ich den Zugang zu diesem Raum mit Sigmar Rauhfelses Verinomina-Zauber belegen lassen. Wer bewusst weiß, dass er nicht den wahren Namen benutzt, wird nicht eingelassen, ja kann bei einem Apparierversuch auf der Stelle gebannt werden."
"Ja, und da Sie den Zauber ja dann hätten einrichten lassen wissen wir nicht, ob Sie dann der echte Heinrich Güldenberg sind", warf Takahara ein. Dem konnte Güldenberg entgegenwirken, indem er eine Dosis Vielsaft-Trank mit dem Haar eines der Anwesenden trank. Als er als Erscheinungs- und stimmgetreue Kopie von Monsieur Grandchapeau auf seinem Stuhl saß sagte er: "Damit sind der Kollege Grandchapeau und ich eindeutig als Originale bestätigt. Denn eine Vielsaft-Trank-Kopie kann nicht noch einmal kopiert werden. Und einer, der bereits den Vielsaft-Trank in sich hat kann bis zum Abklingen der wirkenden Verwandlung nicht noch einmal durch den Trank in eine andere Person als seine Originalerscheinung verwandelt werden, ohne zu einem unförmigen Gebilde zu werden. Der Gerichtsprozess gegen den angeblichen Monsieur Pétain hat diese Methode als unanfechtbaren Nachweis für die Echtheit einer auftretenden Person etabliert."
"Okay, dann müssen wir das mit uns anderen auch tun", sagte Cartridge. Güldenberg in Grandchapeaus Erscheinungsform lächelte und holte aus seinem Schreibtisch eine große Flasche mit schlammartig zähflüssigem Inhalt hervor. Er schenkte daraus in vier kleine Becher ein. Die Anwesenden, Shacklebolt, Takahara, Rosshufler und Cartridge rupften sich Haarbüschel aus und ließen diese in die Becher fallen. Als deren Inhalt sich in unterschiedlich gefärbte Flüssigkeiten verwandelt hatte tauschten sie die Trinkgefäße und stürzten den Inhalt todesmutig in sich hinein. Danach vollzog sich die für alle unangenehme Umwandlung. Am Ende sah es so aus, dass die Gäste die Plätze und Kleidungsstücke getauscht hatten.
"Damit ist wohl der letzte Zweifel aus der Welt, dass einer von uns nicht der echte Zaubereiminister seines Landes ist", stellte Grandchapeau klar, der als einziger nicht getrunken hatte, weil Güldenberg ja seine Gestalt schon angenommen hatte.
Während der einen Stunde, die die Wirkung andauerte, ging es um die Suche nach dem vermuteten Sprengstofflabor. Takahara, der gerade wie Rosshufler aussah und klang, schlug vor, die Verdächtigen ebenfalls von dem Vielsaft-Trank trinken zu lassen, sobald sie ihre eigentliche Gestalt wiedererlangten.
"Na ja, dazu müssten wir sie vorher gefangennehmen. bekommen sie ihre angeborene Gestalt zurück könnte das der Auslöser für den Vernichtungsfluch sein", sagte Rosshufler, der gerade wie Kingsley Shacklebolt aussah und klang. Doch die Idee erschien Cartridge zumindest interessant genug, um sie weiter zu durchdenken. Am Ende konnte die Vernichtung vielleicht nur den Originalkörper töten, aber nicht, wenn dieser gerade in einer anderen Erscheinungsform steckte. Shacklebolt erwähnte, dass Flüche sich nicht an äußerer Erscheinung, sondern an Geist und Seele des zu treffenden hielten. Die einzige Ausnahme sei wohl, wenn jemand dem Contrarigenus-Fluch unterworfen würde, worauf sich seine Persönlichkeit änderte und ein Mann zur Frau und eine Frau zum Mann wurde, so fühlte und auch dachte, immer schon so gewesen zu sein. Doch er räumte ein, dass eine vorangegangene Verwünschung diesen Fluch womöglich schwächen oder gänzlich unwirksam machen mochte.
Während der Beratung der vorübergehend körpervertauschten Zaubereiminister läutete eine unsichtbare kleine Glocke zweimal. Güldenberg bat um Unterbrechung der Unterredung und verließ kurz den Keller, um die mit dem Glockenton angekündigte Meldung entgegenzunehmen. Eine Minute Später kehrte er in den unabhörbar bezauberten Besprechungsraum zurück.
"Gentlemen, ich darf Ihnen allen verkünden, dass es tatsächlich gelungen ist, anhand des Originalderivatvervielfältigungsverfahrens den Standort der lebenden Quellkörper zu ermitteln. Sobald die Wirkung der von uns eingenommenen Dosen VST abgeklungen ist, lade ich Sie ein, den Vollzug der daraus resultierenden Maßnahmen mitzuverfolgen. Ich werde zu diesem Zweck eine Bildverpflanzungsleinwand in einem anderen Raum auf dieser Etage errichten und Schallverpflanzungsartefakte aufstellen, die uns mitverfolgen lassen, was meine Außendienstmitarbeiter erwirken können."
Anthelia hatte ihre Schwestern dazu angehalten, jede magische Aktivität weiterzumelden, die auf weitere Aktionen dieses Lord Vengor hinwiesen. Ihr war klar, dass der neue Feind seine Macht weiter ausbauen wollte. Allerdings konnte es auch sein, dass er schon bald den Weg zu Iaxathans Auge der Finsternis finden würde. Sie wusste von dem vernichteten Nachtschatten, dass dieser Vengor den Ort verraten hatte. Anthelia/Naaneavargia empfand deshalb eine bisher nicht verspürte dumpfe Angst. Wenn Vengor und Iaxathan einen Pakt schlossen, die Welt in Iaxathans Sinne umzugestalten, würden alle bisherigen Feindschaften lächerlich gering, alle errungenen Siege würden wertlos. Doch wie sollte sie gegen einen vorgehen, der sich ihr gegenüber so unüberwindlich gut verschlossen hatte? Sie kannte weder das Gesicht, noch den Namen des Feindes. Auch die Stimme mochte verfremdet sein. Somit fehlten ihr die wichtigsten Anker, um einen wirksamen Fernfluch auszusprechen. Denn Lord Vengor war ja nur der Kampfname. Womöglich wollte dieser Vengor auch erst genug von den Unlichtkristallen erzeugen, um unüberwindliche Gegenstände der schwarzen Magie zu erschaffen. Sowas ging nur, wenn genug Unlichtkristalle vorhanden waren. Denn diese waren von keinem anderen Material als sich selbst zu bearbeiten, so wie es auch bei Diamanten der Fall war. Also musste Vengor weiterhin töten. Die Frage war nur, ob er ähnliche Großanschläge durchführen wollte, wie sie die noch nicht ermittelten Attentäter vom 11. September verübt hatten, oder ob er einfach nur den aus den Trümmern des Welthandelszentrums geborgenen Kristall weiterfüttern würde, ja sogar riskierte, von dessen Einfluss und Kraft so abhängig zu werden wie ein Mensch von atembarer Luft. Das wäre dann sogar eine Schwachstelle, erkannte Anthelia. Wenn man ihm irgendwie den Kristall wieder abnehmen und vernichten konnte, könnte Vengor körperlich und seelisch verfallen und sterben. Doch wenn der Nachtschatten Ipsen geplant hatte, Vengor zu Iaxathan zu führen, dann wohl, um ihn dem gefangenen Finsterling zu unterwerfen. Von einem körperlichen oder gar geistigen Wrack hatte Iaxathan nichts.
Hatte wieder Kontakt zu Sonnenkindern", mentiloquierte Romina Hamton. Ominöse Bande namens Hermanos de la Luna verzeichnet Gebietsgewinne in Mexiko."
"Geht es ein wenig genauer?" schickte Anthelia zurück.
"Ist eine Lange Liste. Schwer über die Entfernung zu meloen", bekam sie die geistige Antwort. Anthelia erwiderte auf demselben Weg: "Bin gleich bei dir! Bereite deinen elektrischen Nachrichtensammler darauf vor, mir alles erwünschte zu zeigen!" Dies wurde Anthelia bestätigt.
Eine Minute später apparierte Anthelia im Badezimmer Romina Hamtons. Von dort aus ging sie ins Wohnzimmer. Romina führte ihr alle neuen Ergebnisse vor und zeigte ihr auch Bilder eines Bordells, das erst vor einem Tag zerstört worden war. Anthelia wollte wissen, wer dieser Don Rico sei, mit dem die Mondbrüder offenbar nicht so einfach fertig wurden wie mit anderen Verbrecherorganisationen.
"Der muss wohl relativ neu sein, aber über viel Macht verfügen. Der Kontakt zu den Sonnenkindern hat nur gemeldet, dass er vor einem Jahr erstmalig erwähnt worden ist."
"Setzen wir voraus, dass die Werwölfe keine Zaubererweltgeborenen sind können sie mit Feuer und für menschen tödlichen Giftdunstgebräuen getötet werden", erwiderte Anthelia.
"Ja, aber wenn ich mich recht erinnere sind bei den Mondbrüdern mindestens drei aus der Zaubererwelt."
"Du erinnerst dich richtig", bestätigte Anthelia unwirsch. "Und wenn ich einem von denen begegnen sollte werde ich nicht zögern, ihn zu töten, um die Anzahl der Magie nutzenden Mitglieder dieser Truppe zu verringern. Allerdings geht es mir vordringlich um diese Lunera, die Anführerin. Sie kennt das Rezept des Lykonemesis-Trankes. Ist sie ausgeschaltet werden die bisher so aufsässigen Werwölfe wieder zu armen, unter den fatalen Wirkungen ihrer Veränderung leidenden Zeitgenossen, sofern sie nicht auf die Bedingungen der Ministerien eingehen, die Proben des Tranks erbeutet haben." Romina nickte. Dann spielte sie Anthelia alle bisher gewonnenen Daten über die Aktionen der Werwölfe in Lateinamerika auf den Bildschirm. "Der Rausch der Erfolge wird sie bald in die Versuchung treiben, gegen europäische und nordamerikanische Städte loszuschlagen. Ich werde mir das nicht länger ansehen, wie diese beißwütigen Pelzträger ihren Keim weiter und weiter verbreiten wie die Pest. Wenn Patricias erfolgreich übernommener Schützling neue Angaben über eine gerade laufende Aktion der Werwütigen hat will ich unverzüglich darüber in Kentnis gesetzt werden. Ich will einen von denen lebend haben, um deren Organisation zu ergründen. Wenn ich allerdings die Anführerin selbst ergreifen kann wird die Tollheit der Werwütigen schon bald beendet sein."
"Ich glaube nicht, dass die sich selbst an irgendeiner Außenaktion beteiligt, höchste Schwester", grummelte Romina.
"Das glaube ich für dich mit", schnarrte Anthelia. Da trällerte dieser Fernsprechapparat, der nicht an einer langen Schnur hing, sondern seine Verbindung über elektrische Wellen herstellte. Romina nahm das schnurlose Gerät und drückte einen der vielen Knöpfe darauf. Anthelia hörte auf geistigem Wege mit, was die Anruferin am anderen Ende mitteilte. "Gangster mit Schnellfeuerwaffen mit blau umflossener Badewanne in London angekommen. Hatten großen Tiger dabei. Abwehrtruppen von K. S. durch Tiger kampfunfähig gemacht. Drei der Eindringlinge noch vorher endgültig ausgeschaltet. K. S. hat fliegendes Einsatzkommando nachgeschickt. verbliebene Angreifer vertrieben. Von zwanzig Bodentrupplern nur eine entwischt, Temperence Whitesand. Gib das an das Hauptquartier weiter!"
Anthelia wartete, bis Romina die Meldung bestägigt hatte. Dann pflückte sie ihr den drahtlosen Fernsprechapparat telekinetisch aus der Hand und hielt ihn so, dass sie hineinsprechen konnte.
"Hallo Schwester Selina, ich bin gerade bei Romina. Erwarte mich in deinem Haus und bereite dich vor, mit mir unabhörbar über diesen Vorfall zu sprechen!"
"Gut, ja, warte auf dich", erwiderte Selina Cottington, eine Mitschwester Anthelias aus London. Anthelia reichte Romina den kleinen Fernsprechapparat zurück, damit diese ihn ausschalten konnte. Dann verabschiedete sie sich von ihr und disapparierte.
Selina Cottington war klein, pummelig und besaß dunkelblondes Haar und moosgrüne Augen. Als Anthelia bei ihr im Flur apparierte schrak sie erst zusammen. Doch dann führte sie sie sofort in ihr Arbeitszimmer, wo sie schon vor Zeiten einen dauerhaften Klangkerker-zauber eingerichtet hatte. Dort berichtete sie Anthelia ausführlich, was passiert war. Zum Schluss sagte sie mit sehr tiefer Anteilnahme:
"Unsere Mitschwester Gilda Moore ist bei diesem Einsatz gestorben, höchste Schwester. Sie hat wohl versucht, den Wertiger mit brennenden Geschossen zu erledigen. Doch einer seiner Kumpane hat sie regelrecht in ein Sieb verwandelt. Die Auroren und Unfallumkehrer sind dabei, die ganzen Schäden zu beseitigen und die Erinnerungen der Tatzeugen umzuändern."
"So, Gilda ist tot. Damit fällt uns der Kontakt zur Aurorentruppe aus", schnarrte Anthelia. "Und diese Temperence Whitesand konnte als einzige entwischen, weil sie eine Animaga ist? Also können Wertiger nicht zwischen einem gewöhnlichen Tier und einer Animagusform unterscheiden. Diese erkenntnis ist die einzige nützliche Begleiterscheinung dieses Anschlages."
"Dann gehen die Werwölfe wieder mit den Wertigern zusammen? Dann werden die ab jetzt nur noch so arbeiten", brachte Selina beklommen heraus.
"Dann werdet ihr eben gleich wenn irgendwo ein Portschlüssel unter freiem Himmel auftaucht entsprechend vorgehen und diese Pest vom Himmel aus niederbrennen", schnarrte Anthelia. Ihr blassgoldenes Gesicht färbte sich dunkelrot vor Wut. Selina nickte eingeschüchtert. Anthelia fragte, ob ihre Cousine, die bei den Schweigsamen Schwestern war ihr näheres über das Aussehen des Wertigers, seine Fellfärbung, seine Kopfform oder Augenfarbe berichtet hatte. Als Anthelia hörte, dass dem Tiger das linke Ohr gefehlt habe schnaubte sie: "Also dieser Hitzkopf und Möchtegernkrieger war das also. Dann hat er es nicht lernen wollen, was ich ihm beizubringen versucht habe. Gut, Schwester Selina. Wenn ihr jetzt davon ausgehen müsst, dass diese Brut immer von einem Wertiger begleitet wird werft ihr eben aus hundert Metern höhe brennende Gegenstände auf ihn ab. Am Besten richtet ihr auch Taranis' Riegel wieder ein."
"Taranis' Riegel?" fragte Selina. Anthelia grinste überlegen und erklärte ihrer Mitschwester, dass damit ein zauber gemeint war, der alle unangemeldet unter freiem Himmel erscheinende Portschlüssel zerstören konnte. So seien im ausgehenden 17. Jahrhundert viele unerlaubte Portschlüssel und ihre Benutzer unschädlich gemacht worden.
"Öhm, wenn die im Ministerium diesen zauber nicht mehr kennen?" fragte Selina.
"Glaube es mir, Schwester. Das pergamentene Gedächtnis des englischen zaubereiministers dürfte ebenso unvergänglich sein wie das in Frankreich. Öhm, Wo sind eigentlich die drei Leichen der Feinde?"
"Das bekam ich nicht mit. Temperence wurde da wohl nicht drüber informiert. Vermute Myst oder einen außerministeriellen Standort, vielleicht geheime Untersuchung in St. Mungo."
"Es wäre zu schön gewesen, den Mageninhalt der Toten und ihre Blutzusammensetzung zu ergründen", grummelte Anthelia. "Vielleicht, nein, sehr wahrscheinlich hätten uns die drei toten Feinde verraten, wie man ihre mit dem Trank abgefüllten Spießgesellen bekämpfen kann, ohne sie gleich töten zu müssen."
"Sehr interessant, so ähnlich hat Temperence das auch erwähnt. Sie meinte, dass ihre heilkundigen Verwandten oder Ceridwen Barley die Toten dazu kriegen, ihnen zu verraten, wie man die anderen ohne Einsatz von zauberstäben Kampfunfähig machen kann."
"Sollte noch einmal ein Wertiger mit nur einem Ohr auftauchen zögere nicht, Romina mit deinem Fernsprechgerät da anzurufen. Dann wird sie mich rufen und den Einsatzort bekanntgeben. Ich will diesem Einohrigen die letzte Lektion seines Lebens gerne selbst erteilen."
"öhm, und wenn wir den schon erledigen, bevor du eintriffst?"
"Dann habt ihr mir ein Vergnügen vorenthalten, aber einen lästigen Gegner vom Hals geschafft", erwiderte Anthelia verknirscht. Dann bedankte sie sich für die Meldung und die Informationen. Danach kehrte sie in den Hausflur zurück, aus dem heraus sie ebenso unortbar disapparieren konnte, wie sie vorhin dort appariert war.
Nummer vier hatte den Auftrag, die ersten Sprengladungen bereitzulegen, damit seine ihm namentlich und gesichtsmäßig unbekannten Mitverschwörer diese in die größten Fußballstadien Europas schaffen konnten. Lord Vengor hatte trotz seines Erfolges in New York darauf bestanden, noch mehr Unlichtkristalle herzustellen, am Besten noch größere als den, den er geborgen hatte. "Die werden es denen in die Schuhe schieben, die die Flugmaschinen in diese hohen Türme reingesteuert haben", hatte er gesagt. "Das ist für uns die beste Ablenkung überhaupt."
Nummer vier beobachtete die Gefangenen, die unter dem Imperius-Fluch ihre tödlichen Vorrichtungen zusammenbauten. Sechs kleine Labore brachten pro Tag zwölf Ladungen hervor. Zwar gab es von den Wächtern der Vergeltung nur noch siebenundzwanzig. Doch die konnten mal eben zwischen verschiedenen Anschlagszielen wechseln. Insgesamt achtundvierzig Bomben wollte Lord Vengor einsetzen, in Deutschland, England, Italien, Spanien und den Niederlanden. Wenn diese Anschläge das gewünschte Ergebnis, also neue Unlichtkristalle hervorbrachten, wollten die Wächter der Vergeltung auch große Bahnhöfe in die Luft sprengen, wie den Frankfurter Hauptbahnhof, den Hauptbahnhof von Moskau oder den Zentralbahnhof von New York. Damit, so wusste Nummer vier, würden sie doch die von Vengor geforderte Menge erhalten. Wie schwer der Kristall war, den Vengor aus den Trümmern des Welthandelszentrums geholt hatte wusste Nummer vier nicht.
Vier las noch einmal die Instruktionen Vengors. Um Mitternacht in der Nacht vom Freitag auf den Samstag sollten die Ladungen verteilt werden. Durch Zeitzünder sollten sie alle zur selben Zeit detonieren und neben einer mörderischen Druckwelle auch winzige Stahlkugeln verbreiten, die wie Geschosse aus einer der Feuerwaffen der Muggel weitere Menschen töten konnten.
Vier beobachtete seine Gefangenen weiter. Da fiel ihm auf, dass einer von ihnen sich immer wieder an den Kopf fasste, als habe er starke Kopfschmerzen. Ein anderer schien Probleme mit seinem linken Arm zu haben. Denn dieser ruckte und zuckte immer wieder nach links, rechts, oben oder unten. Das ganze dauerte jedoch nur eine halbe Minute an. Nummer vier verwarf die Idee, zu den Männern in die Laborräume zu gehen und sich anzusehen, was da passiert war. Er wollte lieber Lord Vengor bescheidgeben. Schnell griff er nach der silbernen Schreibfeder, die aus der Schwungfeder eines Greifen gemacht worden war. Damit schrieb er auf eine Platte aus mit Occamysilber veredeltem Silber:
Habe bei Gefangenen Arnulf Breitstetter und Loudwig Holler merkwürdiges Verhalten beobachtet. Breitstetter schien für eine halbe Minute unter starken Kopfschmerzen zu leiden. Holler machte mit dem linken Arm für den gleichen Zeitraum unkontrollierte Bewegungen. Vermute entweder Ermüdungserscheinungen oder magischen Fernangriff auf ihre Stellvertreter. Frage: Wie damit umgehen?
Die auf dem Silber aufleuchtenden blauen Buchstaben glommen zehn Sekunden lang. Dann verschwanden sie übergangslos. Eine Viertelminute später schrieb eine unsichtbare Hand mit grünen Leuchtbuchstaben eine Antwort:
Anfrage: Welche Körperfragmente wurden Breitstetter und Holler zur Herstellung von Vielsaft-Trank entnommen?
Nummer vier überlegte. Die Austauschaktionen waren von denen vorgenommen worden, die nun die Rollen der Entführten spielten. Er hatte die Idee geliefert und die Einrichtungen bereitgemacht. Doch wenn er jetzt keine Antwort fand würde ihm Lord Vengor das vielleicht als Verweigerung auslegen. Deshalb schrieb er nach dem Verlöschen der grünen Buchstaben zurück, dass die Doppelgänger der beiden Gefangenen ihm diese Mitteilung nicht gemacht hatten, weil es ihnen in dem Moment unwichtig erschien. Darauf erfolgte eine höchst verärgerte Antwort:
Diese idiotischen Stümper hätten es zumindest aufschreiben können, ob sie nur die Haare oder auch Fingernägel ihrer Opfer benutzt haben. Ich kann nicht mit ihnen Kontakt aufnehmen, um Tarnung nicht zu gefährden. Aber wenn wegen denen das Projekt scheitert werde ich diese Hohlkürbisse grausam bestrafen. Schicke zehn Mann zur Verstärkung deines Postens. Maske aufsetzen. Wer unmaskiert anderen Wächtern begegnet stirbt auf der Stelle den Tod der Verräter.
Nummer vier zog unverzüglich das taschehntuchgroße weiße Stoffstück aus seinem Umhang hervor und legte es sich über die Stirn. Sofort wuchs das Stück Stoff an und legte sich von alleine über Nummer viers ganzen Kopf, umspannte sogar seinen Hals und Nacken. Zuerst sah Vier nur wie durch dicken weißen Nebel. Dann klärte sich sein Blick. Er fühlte ein kurzes Ziehen im Hals, begleitet von einem Wärmeschauer. Seine Ohren wurden fest an den Kopf gedrückt. Doch er hörte ganz normal. Erst als er in den Spiegel sah, der an einer Wand seines Bereitschaftsraumes hing, erkannte er die Veränderung. Statt seines bartlosen, hellhäutigen Gesichts mit den graublauen Augen und dem erdbraunen Wuschelhaar prangte nun ein flachgesichtiger, kalkweißer Schlangenkopf mit scharlachroten Augenschlitzen, schmalen Nasenschlitzen und einem maulartig verbreiteten Mund auf seinem Hals. Er wusste, dass auch seine Stimme durch die Maske verändert worden war, damit niemand, auch kein Mitverschwörer, seine wahre Stimme hören und erkennen konnte.
Keine Viertelstunde nach Anlegen der Maske erklang ein silbernes Horn über einer der beiden massiven Stahltüren zum unterirdischen Komplex. Drei kurze und ein langer Ton. Nummer vier wusste, dass das einer der Mitverschwörer sein musste, der seine Hand gegen die Tür gelegt hatte. Er tippte das große Drehrad an der Wand mit dem Zauberstab an. Dieses begann sich von selbst zu drehen. Leise rasselnd und knirschend ging die Tür auf.
Fünf wie Nummer vier maskierte Mitverschwörer traten ein und grüßten. Wer sie waren konnte auch Nummer vier nicht erkennen. Die Tür schloss sich, als alle Neuankömmlinge anderthalb Türbreiten tief in den Raum eingetreten waren. Eine halbe Stunde später erklang erneut das Hornsignal. Es kündigte fünf weitere Unterstützer an.
"Wir wissen nicht, ob unsere Kameraden ergriffen wurden oder ob die Gefangenen eine Übelkeit hatten" sagte der als Nummer eins ranghöchste nach Lord Vengor vorgestellte Vergeltungswächter. Nummer vier konnte das nicht ganz ausschließen, dass sie alle hier einem falschen Alarm aufgesessen waren. Doch wenn Vengor etwas anderes vermutete, dann durften sie es ihm nicht ausreden.
"Wo wir schon einmal hier sind können wir die Ladungen ja auch mitnehmen. Am besten mit den zwölf anderen, die in einer Stunde erwartet werden", sagte Nummer eins. Die anderen widersprachen ihm nicht.
Zwanzig Minuten vor Mitternacht kamen sie. Es waren aber nicht die erwarteten Mitverschwörer. Die beiden Silberhörner über den stählernen Zugangstoren gaben lautstarke Warnsignale von sich. Das nützte jedoch nicht viel. Denn mit Urgewalt brachen Steine aus den Wänden. Löcher und Risse klafften auf. Die Türen erzitterten grelle Blitze schleudernd. Dann kamen die ersten Gegner durch die Wände. Es waren Männer in rot-blauen Umhängen mit schwarzen Dreispitzen auf den Köpfen. Ihre Gesichter verschwammen fast innerhalb bläulicher, dennoch gut durchsichtiger Sphären, die ihre Köpfe umschlossen. In den Händen hielten sie Zauberstäbe. Immer mehr Gegner brachen durch die meterdicken Wände, die mehr und mehr zusammenbrachen. Die mit dem Ferrifortissimum-Zauber gehärteten Stahltüren beulten sich immer mehr ein, bis sie unter einem Spektakel blau-roten Elmsfeuers in Stücke zersprangen. Jetzt quollen noch mehr Angreifer in den Laborkomplex.
Die elf Vergeltungswächter riefen fast wie im Chor "Avada Kedavra!" Damit fällten sie elf Eindringlinge mit dem grünen Todesblitz. Doch dann klirrte es, und dichter, bläulicher Dunst breitete sich im Hauptgang zu den Laborräumen aus. Noch einmal riefen die Verteidiger den Todesfluch aus. Doch statt der tödlichen grünen Blitze entfuhr den Zauberstäben nur eine Kaskade hellgrüner Funken, die laut prasselten und an den silbernen Schilden der hereinbrechenden Feinde zerstoben. Dann fielen die nicht durch eine Kopfblase geschützten Vergeltungswächter um. Ihre Masken verbargen nur die Gesichter und Stimmen, schützten aber nicht vor dem Rauschnebel, der in hoher Konzentration ein schnell wirksames Betäubungsgas und Brandlöschmittel in einem war. Der Widerstand war nach einer halben Minute restlos gebrochen. Zwar hatten elf der Eindringlinge den Vorstoß mit dem Leben bezahlt, doch die anderen vierzig Mann waren durchgekommen. Die Betäubten wurden mit magischen Stricken gefesselt und durch die freigesprengten Türen und Wandabschnitte hinausgetragen, um sie an einen der Portschlüssel zu hängen, die das Überfallkommando in die Nähe dieser Anlage gebracht hatten.
Vier auf Spreng- und Giftstoffe spezialisierte Mitglieder des Angriffstrupps untersuchten die Laboratorien und Lagerstätten. Die sechs Chemiker versuchten noch Widerstand zu leisten. Sie warfen mit Säureflaschen oder warfen von einem Pulver etwas in eine andere Säure, worauf gelb-grüne Gasschwaden hervorquollen. Dem hielten die Angriffstruppen aber mit Wasserstrahlen und aus dem Nichts beschworenen durchsichtigen Glocken über den offen dastehenden Lösungen entgegen. Die sechs Männer wehrten sich nur so lange, bis die Rauschnebelschwaden auch sie erfasst hatten.
"Eindeutig Imperius. Kein vernünftiger Mensch setzt sich ohne Eigensicherung dem grünen Gas aus", sprach einer der Angriffstruppler, der die gelblich-grünen Dunstwolken, die schwerer als Luft waren, mit einem grünlichen Schaum band, der jedes giftige Gas in winzige Kugeln einschloss und damit an der Ausdehnung hinderte.
"Sagt Minister Radovic, dass wir die Maskenträger und ihre Giftküche ausgehoben haben!" rief ein Truppenmitglied mit silbernem Stern am Dreispitz. Er sprach die Sprache der Montenegriner.
Als eine halbe Stunde nach dem erfolgreichen Überfall auf das Geheimlabor britische, deutsche und US-Amerikanische Bekämpfer dunkler Magie eintrafen waren an die fünfzig einsatzbereite Bomben gefunden und in unzerbrechliche Stahlkanister umgeladen worden. Einen Moment lang hatten sie auch eine Karte mit markierten Einsatzgebieten vor sich gehabt. Doch die war in dem Moment in grünem Feuer verglüht, als einer der Eindringlinge sich ihr näherte. Ebenso zerschmolz eine einen Meter lange Silberplatte, als einer der Eindringlinge sie mit einer behandschuhten Hand aufzunehmen versuchte. Sie zerlief einfach wie Wachs in der Kerzenflamme, jedoch ohne dabei einen Hauch von Hitze abzustrahlen oder in Flammen aufzugehen.
"Immerhin haben wir dieses Labor des Todes ausgehoben", grummelte Kingsley Shacklebolt, der die Aktion mit seinen Kollegen, zu denen nach Bekanntwerden des Standortes auch der südslawische Zaubereiminister hinzugezogen worden war, auf der großen Bildverpflanzungsleinwand beobachtet hatte.
"Die sechs konnten identifiziert werden. Die nicht ermittelten Doppelgänger können nun also gezielt festgenommen werden. Doch als das passieren sollte stellte sich heraus, dass alle, auch die bereits bekannten und nicht offen behelligten Verdächtigen, wie auf ein geheimes Warnzeichen verschwunden waren. Also hatte Vengor oder wie er wirklich heißen mochte mitbekommen, dass sein Plan gescheitert war und hatte die sich noch frei bewegenden Getreuen fortgerufen. Somit war also nicht einmal bekannt, wer die Verschwörer waren. Der Versuch, sie durch Vielsaft-Trank zu kopieren führte zu einem grauenvollen Ergebnis. Die Probanden verwandelten sich, schrumpften dabei jedoch immer mehr zusammen, bis sie gerade so groß wie Fingerhüte waren und leise knisternd zu Staub zerfielen. Auf diese Weise war den Verschwörern also nicht auf die Spur zu kommen.
Der Versuch, die gefangenen Verteidiger der Laboratoriumsstätte zu verhören erbrachte bei fünfen dasselbe schauerliche Ergebnis wie bei den Gefangenen des japanischen Zaubereiministeriums. Deshalb wurden die anderen in magischen Tiefschlaf versenkt, bis jemand einen Weg finden würde, sie ohne Gefahr für ihr körperliches Dasein zu verhören.
Nach der erfolgreichen Durchführung der Aktion Tagesruhe nutzten der französische und US-amerikanische Zaubereiminister die Gelegenheit, in einem kleinen abhörsicheren Zimmer über die Zukunft von Martha Merryweather zu sprechen. Cartridge wehrte sich gegen die Unterstellung, seine Mitarbeiter würden der nach Übersee umgezogenen Mitarbeiterin Grandchapeaus zusetzen, ja unterschwellig mit Geheimdiensten der Muggelwelt drohen. Grandchapeau präsentierte Briefe, die Martha Merryweather in weiser Voraussicht vor dem Lesen mit den Augen durch ein Gerät namens Scanner gejagt hatte, nachdem ihre elektronischen Geräte mit Ausnahmegenehmigung gegen magische Streustrahlung besser gewappnet worden waren. Cartridge unterstellte dem französischen Kollegen, ihn als skrupellosen Erpresser zu bezichtigen. Dies wies Grandchapeau mit Nachdruck zurück. Mit demselben Nachdruck forderte er jedoch von seinem US-amerikanischen Kollegen, nicht auf die aufkommende Paranoia der Muggelwelt-Politiker anzuspringen, jeder nicht in den Staaten geborene Einwohner könnte Helfer oder Helfershelfer der Attentäter vom 11. September 2001 sein. "Sie dürfen nicht unsere Fehler aus der Zeit des Todesserregimes nachmachen. Diese sind absolut nicht zur Nachahmung empfohlen", stellte Grandchapeau klar. Als Cartridge ihm dann unter Verzicht auf diplomatische Zurückhaltung vorwarf, er ließe sich von seiner Frau dazu instrumentalisieren, ihre eigene Rangstellung im Ministerium anzuheben, erwiderte Grandchapeau unbeeindruckt, dass Milton Cartridge da wohl aus eigener Erfahrung und eigener Angst spreche, da er wohl sehr großen Wert auf die Ansichten seiner Frau lege und nicht wolle, dass die Zaubererweltpresse ihn als ihren willfährigen Besenputzer ansehe. Daher ginge er lieber darauf ein, ihr durch genügend Nachwuchs ein größeres Ansehen bei den Hexen zu verschaffen, als wie er, Grandchapeau, auch einmal eine in der Öffentlichkeit ausgefochtene Meinungsverschiedenheit mit seiner Frau wegen ministerieller Maßnahmen zu riskieren. Cartridge erkannte, dass er da wohl was unbedachtes geäußert hatte.
"Ich biete Ihnen einen Kompromiss, Armand. Martha Merryweather wechselt offiziell zu uns über und erhält die Vollmacht, bei uns erledigte Aufträge an Sie weiterzuleiten, sofern feststeht, dass diese Ergebnisse auch Ihr Land oder Ihren Kontinent betreffen. Können Sie damit leben?"
"Ach, damit Sie oder Ihr neuer Muggelweltbeauftragter Lester Worthington auswählen dürfen, wovon wir etwas wissen dürfen oder nicht? Unterstellen Sie bitte nicht anderen die Einfalt, die Sie sich selbst nicht vorwerfen lassen möchten, Milton! Sollte ihr Mitarbeiter Worhtington oder gar Ihr bei diesem obskuren Auslandskundschafterdienst CIA arbeitender Mr. Waterford weiterhin damit drohen, nachrichtendienstliche Ermittlungen gegen meine Mitarbeiterin anzuregen, bin ich sehr zuversichtlich, dass Madame Merryweather Ihren Gatten dazu überreden kann, nach Europa zurückzukehren. An einem Land, das seine eigenen Bürger und deren ausländische Verwandte generalverdächtigt, wird niemand für immer sein Herz hängen. Bitte bedenken Sie das, wie ich es bedacht habe, als die Zeit von Didier und Pétain vorbei war und ich genau abwägen musste und dies bis heute noch tun muss, wo private Rachegefühle oder juristisch notwendige Entschlüsse mein Handeln beeinflussen und ich immer den rechtlich einwandfreien und im Sinne einer freiheitlichen Zaubererwelt zu handeln habe."
"Glauben Sie mir, Armand, ich mag die gerade stattfindende Entwicklung in meiner Heimat ebensowenig. Deshalb habe ich dem Kontaktbild im ovalen Arbeitsraum des Präsidenten befohlen, sich bis auf meinen ausdrücklichen Widerruf nicht mehr zu rühren. Ich habe diesem auf blinde Vergeltung ausgehenden Präsidenten sogar die Erinnerung blockiert, dass ich ihn bei seinem Amtsantritt aufgesucht habe, um ihn auf die magische Welt hinzuweisen. Besser ist es, wenn er dies nicht weiß. Und was meinen Mitarbeiter angeht, so kann und werde ich ihm nur empfehlen, Mrs. Merryweathers Erfahrungen mit dem Regime der Todesser und den sich daraus ergebenden Entwicklungen in Frankreich zu bedenken und keine entsprechenden Ängste zu schüren. Doch verbieten, sie weiterhin auf den Vorzug hinzuweisen, in dem Land offiziell angestellt zu sein, in dem sie sich zu leben entschlossen hat, kann, will und werde ich nicht, damit wir uns da ganz klar verstehen."
"Dann muss ich diese Unterredung als verschenkte Zeit ansehen, da ich meiner Mitarbeiterin Martha Merryweather nicht empfehlen kann, für jemanden zu arbeiten, dem nationalistische Vorteilssuche wichtiger ist als ein gedeihliches Miteinander aller Menschen auf der Erde. Denn als etwas anderes kann und darf ich die Aktionen nicht sehen, die Sie und ihre Mitarbeiter durchgeführt haben oder immer noch durchführen, Milton. Grüßen Sie mir Ihre Gattin, wenn Sie einen offiziellen Anlass heranziehen können, der Sie und mich miteinander in Kontakt hat treten lassen!"
"Sie wird erfreut sein, dass Sie an sie denken", schnarrte Cartridge. Damit war die Unterredung der beiden Zaubereiminister beendet.
Valentina Ponticelli wusste, wie gefährlich es war, sich zwischen zwei Fronten zu wagen. Doch wenn ihre höchste Schwester recht hatte, und Luneras Werwölfe versuchen wollten, sich Gefolgsleute aus den Kriminellenkreisen der verschiedenen Länder zu sichern, dann musste sie es eben wagen.
Donna Regina Venuti war Valentina nicht näher bekannt. Sie wusste nur, dass diese Frau im Ruf stand, eine Art Maria Theresia der Cosa Nostra zu sein, eine unangefochtene Anführerin, die keine Probleme damit hatte, ihre Kinder und Kindeskinder in andere einflussreiche Familien der Organisation zu verheiraten. Passierte irgendwo irgendwem was, konnte Valentina ganz schnell dort hin und versuchen, für ihre Schwesternschaft etwas zu ergattern.
Valentina hatte sich teilweise verwandelt und benutzte Verwirrungszauber, um sich bis in den prunkvollen Salon Donna Reginas vorzuarbeiten. Die beiden unterschiedlichen Frauen überprüften einander mit den Augen. Kleidung, Haare, Figur, Körperhaltung, künstliche Gerüche, überhaupt die verwendete Kosmetik. Als diese lautlose Überprüfung beendet war kam die verbale Überprüfung. Donna Regina oder auch Donna Gina wollte von ihrer Besucherin wissen, warum sie ausgerechnet zu ihr gekommen war. Valentina erzählte von einer Hochzeitsfeier, bei der der Großneffe der Hausherrin die Tochter eines angesehenen Bankdirektors aus Mailand geheiratet habe. Sie würde gerne einen Artikel über den immer wieder heraufbeschworenen Unterschied zwischen Nord- und Süditalien, Festlandsitalienern und Sizilianern schreiben, der auf diesen Festakt aufbaute, ohne zu indiskret zu werden. Die ehrenwerte Frau sah die als gewöhnliche Stadtbewohnerin gekleidete Hexe argwöhnisch an. Doch dann lächelte sie. Valentina hatte vorsorglich okklumentiert. Sie konnte nie wissen, ob ein Gegenüber nicht unbewusste magosensorische Begabungen besaß. Es hatte schon Fälle gegeben, wo jemand tatsächlich durch den Blick in die Augen seines Gegenübers erkannte, was diesem gerade wichtig war oder er oder sie gerade vorhatte. Sowas kam sehr selten vor. Aber drauf vorbereitet sein musste sie schon.
"Vielleicht ist es bis zu ihrer Zeitung durchgedrungen, dass ich sehr scharf darauf achte, dass meinen Verwandten keine üble Nachrede angehängt wird, Signorina Pucini. Aber da ich auch weiß, dass Ihre Zeitung nicht zu den typischen Klatschblättern gehört möchte ich Ihnen gerne die Gelegenheit geben, eine brauchbare Story vorzuweisen."
Zwei stunden lang sprachen die beiden Frauen über Donna Ginas Familie, ohne dass die Matriarchin durchblicken ließ, dass diese zur Cosa Nostra gehörte. Valentina hütete sich auch davor, in diese Richtung zielende Fragen zu stellen. Derweil passten fünf Leibwächter, darunter zwei übertrainierte Bodybuilderinnen, auf jede Bewegung auf, die Valentina ausführte. Als dann der Alarm losging und unvermittelt wildes Geratter und Schwirren erklang wusste sie, dass jemand das Haus angriff. Sie mentiloquierte schnell: "Wolfsfalle bei Donna Gina!"
Zwanzig Sekunden später konnte Valentina Zauberwörter vernehmen. Die Leibwächter rannten zur Tür. Nur eine der Muskelfrauen blieb auf dem Posten. Valentina kümmerte sich nicht darum. Sie zog ganz seelenruhig ihren Zauberstab. Sofort reagierte die Kraftsportlerin und riss eine für Frauen ungewöhnlich große Pistole hervor. Sie sprang so, dass sie ihre Herrin vollständig vor Schlägen oder Geschossen abschirmte. Dann feuerte sie aus ihrer Waffe. Die Kugeln prallten jedoch auf ein unsichtbares Hindernis und zerstoben zu funken. Valentina hatte nie daran gedacht, ohne Drachenhautpanzer zu einer Familie zu gehen, die im Verruf stand, kriminell zu sein. Drei Kugeln zerplatzten an Valentinas Schildaura. Dann schickte sie mit "Stupor!" einen roten Blitz aus ihrem Zauberstab. Die muskulöse Wächterin stürzte laut um. Donna Gina schnellte in ihrer ganzen Leibesfülle aus dem bequemen Sessel heraus. In der rechten Hand hielt sie eine kleine Pistole. Doch als sie sah, wie seelenruhig Valentina dastand erbleichte sie. "Hexe, du bist eine verfluchte Hexe!!" schrie Donna Gina. Weiter kam sie nicht. Denn der zweite rote Blitz warf sie in ihren Sessel zurück.
"Sei froh, dass ich gerade hier bin, Mafia-Mutti", knurrte Valentina. Dann wandte sie sich der Tür zu.
Es war die klassische Szene eines Horrorfilmes. Gerade eben noch hatte sich die dunkelbraunhäutige Bordellhure Perrita vor ihrem neuen Boss, dem kaffeebraun getönten, schwarzhaarigen Don Rico komplett ausgezogen, um ihm zu zeigen, wie die Natur sie geschaffen hatte. Dann hatte die Dirne angefangen, sich in immer stärkeren Krämpfen zu winden und dabei schmerzvoll aufgestöhnt. Dabei wuchs ihr über die ganze Haut erst dunkler Flaum, der sich von Sekunde zu Sekunde in immer dichteres, nachtschwarzes Fell verwandelte. Doch nicht nur die Haut veränderte sich. Der ganze Körper der käuflichen Dame unterlag einer voranschreitenden Umwandlung. Dem sonst durch Schminke und andere Kosmetiktricks jung gehaltenen Gesicht entspross eine regelrechte Schnauze. Die ohren wurden größer und spitzer. das wohl schon altgediente Freudenmädchen sank auf die Hände, die immer mehr zu gefährlichen Pranken wurden.
Don Rico starrte auf die unheimliche Umwandlung. Er hatte es bisher für absichtlich übertriebene Ammenmärchen gehalten, wenn ihm was von echten Werwölfen erzählt worden war. Doch hier und jetzt sah er einer Werwölfin bei ihrer Umwandlung zu. Dabei war es noch nicht einmal Vollmond, was ja sonst die übliche Zeit für diese Gruselmonster war. Don Rico hatte in seinem langen Leben schon vieles unheimliche und grausame mit angesehen und davon vieles selbst begangen. Doch was ihm hier und jetzt geboten wurde übertraf dies alles. Jetzt musste er es endlich einsehen, dass es neben den naturwissenschaftlich erklärbaren Dingen auch Sachen gab, die ganz eigenen Regeln folgten. Auf jeden Fall wusste er, dass er hier und jetzt in großer Gefahr, ja womöglich sogar Lebensgefahr schwebte. Er durfte nicht warten, bis die Hure sich komplett verwandelt hatte. Er zog seine russische Armeepistole, die er mit Stahlmantelmunition geladen hatte und feuerte auf die Prostituierte, die immer noch unter den körperlichen Auswirkungen der Verwandlung am Boden hockte. Die Geschosse peitschten aus dem schallgedämpften Lauf und pfiffen Don Rico postwendend als Querschläger um die Ohren. Krachend schlugen die abgeprellten Geschosse in die Wände. Don Rico keuchte, als er daran dachte, dass er sich fast selbst hätte erschießen können.
Hinter Don Rico schnellte eine kleinwüchsige Gestalt in Schwarz mit verspigeltem Schutzhelm hervor, einen Apparat wie ein Megaphon wie eine Waffe hochreißend. Perrita vollendete soeben die Verwandlung und kam auf ihre vier Läufe. Die aus ihrem Steißbein hervorgewachsene buschige Wolfsrute reckte sich nach hinten. Noch einmal feuerte Don Rico seine Waffe ab. Doch wieder prallte die Kugel vom Körper der Wölfin ab und krachte knapp unter der Decke in die dünne Betonwand. Der kleinwüchsige Mann drückte auf eine Taste an seinem Gerät. Die Werwölfin, die gerade ansetzte, Don Rico anzuspringen, schrak laut viepend zurück und verfiel in ein ohrenbetäubendes Jaulen und Winseln. Sie versuchte, aus der Erfassung des trichterförmigen Vorderteils zu gelangen. Don Rico hielt sich die Hände an die Schläfen und taumelte zur Seite. Jetzt hatte der kleine Mann in Schwarz die Wölfin direkt vor sich. Er drehte an einem Regler seines geheimnisvollen Apparates. Mit einem schrillen, eindeutig tierhaften Schrei brach die Wölfin zusammen. Dann begann sie wieder wie unter Stromschlägen und Krämpfen zu zucken. Ihre Tiergestalt veränderte sich. Aus der Wölfin wurde innerhalb von nur zehn Sekunden wieder eine dunkelbraun getönte Frau mit schwarzer Naturkrause. Sie war ohnmächtig.
"Orejazo hatte echt recht", sagte der Kleinwüchsige, nachdem er das getönte Visier seines Schutzhelmes geöffnet hatte. "Wenn es echte Wölfe sind müssen die bei superlautem Ultraschall Probleme kriegen."
"Ja, aber für Normalos ist dieses Ding auch übel", knurrte Don Rico und steckte seine ohnehin nutzlose Pistole sicher fort. "Habe wild herumtanzende Sterne gesehen und geglaubt, in meinem Kopf dröhnt ein Presslufthammer. Mach das mit dem Schallwerfer also bloß nicht noch mal, wenn ich voll im Strahlengang stehe!"
"Wolltest du lieber von einem Werwolf gefressen oder durch seinen Biss selbst so ein Monster werden?" fragte der Kleinwüchsige.
"Dann wäre ich wenigstens gegen die meisten Kugeln immun. Vielleicht stimmt die Kiste mit den Silberkugeln dann ja auch", meinte Don Rico. "Aber dein Schallwerfer ist schon gut, um mir diese Bestien vom Hals zu halten."
"Wenn dieses Weib da eine Werwölfin ist, dann sind's die anderen vielleicht auch, die hier anschaffen", vermutete der kleine Mann in Schwarz.
"Ist zu vermuten. Sag Trueno, er soll die Bude hochjagen, wenn wir hier raus sind. Egal ob dabei noch bedürftige Kunden mit draufgehen."
"Achtung, Jefe, hier Orejazo. Höre Pfotengetrappel von großen Hunden oder Wölfen!" hörte Don Rico die stimme seines Horchpostens im mit Abhörtechnik gespickten VW-Bus. Rico rief in das Kragenknopfmikrofon, wo genau die Schrittgeräusche herkamen. "Von oben und von der Bar her. Die anderen haben wohl gehört, was du erlebt hast, Jefe."
"Okay, Orejazo, sag Trueno, die Ladentür zuzuschlagen, sobald wir hier raus sind!" befahl Don Rico. Dann sah er, wie sich die reglos am Boden liegende Dirne wieder zu bewegen begann. Der kleine Mann benötigte keine Anweisung. Er lief vor, dabei einen anderen kleinen Apparat hervorreißend und versetzte der Bordellangestellten einen heftigen Stromschlag. Auch dagegen waren diese Wesen also nicht immun, stellten er und sein Boss sehr erleichtert fest.
"Wir seilen uns ab, Laurin", sagte Don Rico, nachdem er festgestellt hatte, dass irgendwer die Zimmertür fest verriegelt hatte. Das Fenster war zwar zu öffnen, aber von außen vergittert. Dagegen hatte der kleinwüchsige Helfer Don Ricos jedoch ein gutes Mittel, einen kraftvollen Trennschleifer mit Diamantbesatz. Er klappte sein Helmvisier wieder zu und schützte damit seine Augen vor dem Funkenflug, als er mit dem Trennschleifer die Halterungen des Gitters bearbeitete. Der Lärm übertönte das vor der Tür aufkommende Getrappel und Hächeln. Don Rico nahm den von seinem Helfer bei Seite gelegten Schallapparat und richtete ihn auf die verschlossene Tür. Er drehte den Regler für die Lautstärke von achtzig auf hundert Prozent und belegte die Fläche vor der Tür mit dem Ultraschall. Wie nützlich war es doch gewesen, sich die Pläne für dieses Gerät aus den Bastelwerkstätten des MI6 zu organisieren, dachte Don Rico. Hätten die jemals gedacht, eine wirksame Waffe gegen echte Werwölfe erfunden zu haben?
"Okay, Jefe, wir können!" rief Laurin und stieß das herausgeflexte Gitter vom Fenster weg. Laut scheppernd landete das Gitter drei Stockwerke tiefer auf dem schmutzigen Hinterhof der Cantina Pasión. Laurin holte noch etwas aus seinem schwarzen Einsatzanzug, einen suppentellergroßen Saugnapf mit angeschlossener Pumpvorrichtung und eine Rolle Nylonseil mit Karabiner. In einer zigfach trainierten Bewegungsabfolge setzte er den Saugnapf neben dem Fenster an die Wand und ließ die kleine Pumpvorrichtung alle Luft daraus absaugen. Jetzt saß der Saugnapf wie festzementiert an der Wand fest und konnte ein Gesamtgewicht von 200 Kilogramm halten. Im nächsten schnellen Arbeitsschritt klinkte Laurin den Karabiner der Seilrolle am Saugnapf ein. Zwei Sekunden Später schwang er sich zum Fenster hinaus und ließ sich mit der Rolle nach unten gleiten. Eine eingebaute Wirbelstrombremse sorgte dafür, dass sich die Rolle nicht zu schnell abspulte und Laurin so schnell aber gefahrlos nach unten gelangte. Don Rico bestrahlte die Tür noch einmal mit dem Schallstrahler. Dann warf er sich das nützliche Gerät an seinem Trageriemen über die Schulter und fischte das Paar dicker Schutzhandschuhe aus seinem Versace-Anzug heraus und streifte sie über. Eine halbe Minute später schwang er sich aus dem Fenster und umfasste das dünne Nylonseil. Dann ließ er sich einfach daran hinunterrutschen. Dabei wurden die Innenflächen der Handschuhe so stark aufgeheizt, dass es nach verbranntem Leder stank. Doch Don Rico schaffte es, in nur zehn Sekunden aus dem dritten Stock auf den Erdboden zu gelangen. Gerade als er den Aufprall in den durchtrainierten Beinen abfederte meldete sein Horchposten Orjeazo, dass die Tür von Perrita aufgebrochen wurde.
"Gut, Leute. Wir sind aus dem Laden raus. Trueno, hau die Tür zu!" befahl Don Rico, während er und Laurin schon im Geschwindschritt über den Hinterhof liefen.
"Gut, Jefe. In einer Minute!"
"Vergiss es. Die kommen uns sonst nach. hau die Tür zu!" rief Rico seinem draußen wartenden Experten für schnelles, wenn auch nicht lautloses Abreißen von Häusern und Hindernissen zu. Die Funkverbindung stand immer noch.
"Ihr müsst mindestens hundert Meter vom Objekt weg sein, sonst fällt euch alles auf den Kopf", begehrte der Mann am anderen Ende der Funkverbindung auf. "Sind wir gleich", erwiderte Rico und beschleunigte noch einmal. Laurin, der zwei Schritte tun musste, wo sein Anführer nur einen brauchte, keuchte heftig. Sein Einsatzanzug wog schwer. Doch der kleine Mann schaffte es, ebenfalls die wichtige Entfernung zu erreichen. Kaum war das geschafft hörten sie beide ein unheilvolles Schwirren. Keine Sekunde später erfolgte der dumpfe Knall einer heftigen Detonation. Der Knall hallte mehrere Sekunden lang von den umstehenden Gebäuden wider. Fensterscheiben zersprangen unter der Wucht der Druckwelle. Das Explosionsecho und das Klirren der herabregnenden Glassplitter übertönte das zweite Schwirrgeräusch. Eine Sekunde später rüttelte die zweite Explosion an den Körpern der Fliehenden.
Don Rico riskierte einen Blick zurück. Die Cantina Pasión brach gerade unter Feuer, Rauch und Staub zusammen. Die Flammen schlugen aus dem Trümmerhaufen heraus und hüllten die Ruine ein. Die Staubwolke umhüllte die Flüchtenden. Auch einzelne Betonsplitter rieselten auf die beiden herab. Don Rico schützte sein Gesicht mit einem dunklen Tuch vor dem Staub. "Die Tür ist zu, Jefe", vermeldete die Stimme aus dem kleinen Funkempfänger, den Don Rico wie ein Hörgerät hinter dem rechten Ohr befestigt hatte.
"Gut, wir setzen uns ab", sagte Don Rico und zog seine schallgedämpfte Waffe. Dann liefen er und Laurin um den lichterloh brennenden Trümmerhaufen herum. Da schnellten aus einem Gully zwei schlanke, dunkle Körper hervor und galoppierten auf vier schnellen Läufen auf die Flüchtenden zu. Don Rico feuerte auf den ihm nächsten Angreifer. Doch wie vorhin schon bei Perrita prallte die Kugel wie von einem massiven Stahlblock ab und sirrte als Querschläger davon. Don Rico ließ die Waffe fallen und nahm den Schallwerfer zur Hand. Dieser war noch auf volle Leistung gestellt. Er bestrich die beiden Angreifer mit dem gebündelten Ultraschallstrahl. Laut heulend prallten die beiden hundeartigen Angreifer wie gegen eine unsichtbare Wand und fielen um. Rico bestrich die beiden noch fünf Sekunden lang mit dem Schallstrahl. In der Zeit hob Laurin die Magnum seines Anführers auf.
Nachdem die beiden Angreifer außer Gefecht waren liefen Don Rico und Laurin zu ihrem gepanzerten Einsatzkleinbus zurück, wo sie von ihren Helfern Trueno und Orejazo erwartet wurden.
"Oha, gut, dass ich den Verstärker wegen Truenos Feuerzauber runtergedreht habe. Der Schallstrahl erzeugt auch im hörbaren Spektrum heftige Störgeräusche, wenn das Mikro in den Strahlengang gerichtet wird", sagte der eine dunkle Sonnenbrille tragende Spezialist für Lauschvorrichtungen und Nachrichtentechnik, der Orejazo, das Riesenohr, genannt wurde.
"Wenn ich gesagt kriege, eine Tür zuzuhämmern dann mit Schmackes, Orejazo", erwiderte der andere Businsasse mit verächtlichem Grinsen. Wenn sie unter sich waren sprachen sie Englisch mit unverkennbar nordamerikanischer Klangfärbung.
"Kein Gerede, Leute! Sag Delgado, wir kommen!" wandte sich Don Rico an den Mann mit der dunklen Brille. Dieser hantierte an einem kleinen Schaltpult und sprach in das vor dem Mund befestigte Mikrofon.
Mit einem Kavaliersstart, als sei der Bus ein hochgezüchteter Sportwagen, mit dem Don Rico wen beeindrucken wolle, sprang der gepanzerte Kleinbus los, als der Motor ansprang. Keine zehn Sekunden später jagte der stumpfgrau lackierte Bus bereits auf dem Zuweg dahin, der die Kunden der ehemaligen Cantina Pasión zu ihrem Ziel geführt hatte. Eine Minute später sahen sie einen großen Tankwagen vor sich fahren. Der Bus holte auf. Als sie nur noch fünfzig Meter vom Heck des wuchtigen Tankzuges entfernt waren bremste der Kleinbus. Da klappte das Heck des Tankwagens nach oben. Gleichzeitig schob sich eine breite Rampe hervor. Der Bus wurde ein wenig langsamer. Als die Rampe ganz auf der Straße auflag war der Bus heran und fuhr darauf. Don Rico trat noch einmal kurz auf das Gaspedal, um dem Bus den nötigen Schwung zu geben, die Rampe zu erklimmen. Als der Kleinbus dann in den großen Tankauflieger hineingerollt war wurde die Rampe wieder eingezogen. Fünf Sekunden später schlug das hochgeklappte Heck des Lastwagens wie eine große Luke zu und wurde wieder fest mit dem geräumigen Auflieger verbunden.
"Infrarotverbindung steht", sagte der am Funk sitzende Brillenträger. "Delgado, ganz ruhig über die Piste! Nicht auffallen!" gab er den bereits mit seinem Anführer abgestimmten Befehl durch. Der Tankwagen fuhr wieder los. Der angeblich für eine namhafte mexikanische Mineralölfirma Benzin transportierende Tanklaster fuhr mit der hier erlaubten Reisegeschwindigkeit weiter. Das der silberweiße Tank kein Benzin, sondern Dieseltreibstoff enthielt, sah man ihm von außen nicht an. Manchmal wurde ein ähnlicher Tankwagen mit echtem Treibstoff befüllt, in den zum Verdruss gewisser Behörden Kokainlösung vermischt worden war. Den Trick hatte sich Rico aus einem Agentenfilm aus den Achtzigern abgekuckt. Doch er machte keinen übermäßigen Gebrauch davon.
Zwei Stunden später hielt der Tankwagen an einem kleinen Flughafen. Dort wartete bereits der Learjet Don Ricos. Da der Anführer der kleinen Organisation ausgebildeter Pilot für Propeller- und Düsenflugzeuge aller Größen war, brauchten sie keinen weiteren Helfer, um mit der Maschine zu ihrem Zielflughafen in der Nähe der mexikanischen Südgrenze zu kommen. Von dort aus nahmen sie einen ähnlichen Kleinbus wie bei der Cantina Pasión, um zu ihrem Versteck zu fahren. Natürlich mussten Trueno, Orejazo und Laurin erst einmal prüfen, ob jemand den Bus mittlerweile verwanzt hatte. Erst als sicher war, dass keine wie auch immer arbeitende Peiltechnik angebracht war, ging es in die Berge und zu einer geheimen Plattform, die auf ein Ultraschallsignal hin zwanzig Meter in die Tiefe sank und den Weg durch einen kurzen Tunnel freigab. Von dort aus ging es in "die Halle des Bergkönigs", wie Don Rico die in das Bergmassiv hineingebaute unterirdische Festung nannte.
"Sie hätten eine Blutprobe von dieser Lykanthropin beschaffen müssen, Don Rico", begrüßte sie ein Mann im weißen Kittel, als Don Rico zusammen mit Laurin und Trueno in das geheime Laboratorium eintrat, in dem nicht nur Drogen hergestellt wurden, sondern auch neue Technologien erprobt wurden, Technologien, die zum Teil aus den Werkstätten und Chemieküchen von Geheimdiensten abgezweigt worden waren.
"Doc, das hätte uns Zeit gekostet", knurrte Don Rico. "Aber wenn wir eines dieser Monster alleine erwischen holen wir das sofort nach", grummelte er. Denn Don Rico war genauso wie der Mann im weißen Kittel daran interessiert, das Geheimnis der Werwölfe zu ergründen. Vielleicht gab es ja doch eine biologisch-medizinisch nachvollziehbare Erklärung für das Phänomen.
Valentina besah sich die vor ihr zersprungene Weinflasche. Ihr von Anthelia erlernter Localisatus-Resonatus-Zauber war durch die Zerstörung des zu findenden Gegenstückes unterbrochen worden. Die bereits fließende Magie hatte sich dann in der verbliebenen Weinflasche entladen und diese dabei zerstört. Nun ja, immerhin hatten Valentina und ihre fünf italienischen Mitschwestern die zehn dreisten Eindringlinge erwischt und mit dem Todesfluch erledigt. Nachdem ihnen die schwarzen Schutzanzüge ausgezogen worden waren hatten die Hexen sie mit den Schnellfeuerwaffen der außen postierten und mit Schockzaubern belegten Leibwächter regelrecht zersiebt. Im Tode wirkte die sonst gegen Metalle außer Silber wirksame Magie der Werwölfe nicht. Danach wurden die Gedächtnisse der Hausbewohner und Bediensteten verändert, dass eine rivalisierende Gruppe die Familie Venuti überfallen habe, der Angriff aber vollständig niedergeschlagen werden konnte. Leider, so die eingepflanzte Scheinerinnerung weiter, sei es nicht gelungen, einen der Angreifer lebend zu erwischen, weil der sich im Augenblick der Niederlage selbst erschossen habe. Mit diesem kleinen Erfolg kehrten die Spinnenschwestern an ihre üblichen Wirkungsstätten zurück.
Feuerkrieger stand aufrecht und stolz vor der weizenblonden Werwölfin, die bisher die große Anführerin der Mondbruderschaft war. Er war froh, dass sie mit diesem magischen Autoreifen gereist waren. Denn seit drei Passagierflugzeuge in das Welthandelszentrum und das Pentagon hineingeflogen worden waren war die ganze Welt in Alarmstimmung. Feuerkrieger verwünschte diese Terroristen, die das getan hatten. Denn durch deren Aktion wurde es schwer, mal eben mit einem Flugzeug irgendwo hinzufliegen, schon gar in die vereinigten Staaten oder andere NATO-Staaten. Immer auf die Zauberei angewiesen zu sein gefiel dem aus der mit Elektrizität und Verbrennungsmotoren lebenden Menschheit nicht.
"Deine Königin hat gesagt, dass keiner von euch mit uns zusammengehen soll und nur in Asien zu bleiben hat?" fragte Lunera den einohrigen Wertiger. Dieser nickte. Dann sagte er: "Ja, weil ihr dieses Spinnenweib und ihr Feuerspucker wohl doch mehr Angst eingejagt hat, als die zugeben will. Außerdem weiß die nicht, ob von diesen Riesenbienen noch welche herumschwirren, die mir und Sonnenglanz damals zugesetzt haben."
"Die Biester sind angeblich alle von ihrer Schöpferin auf einen Schlag erledigt worden", sagte Lunera. "Aber so ganz genau weiß das auch keiner, ob das wirklich alle waren. Aber wir haben genug Feuerwaffen, um die abzuschießen, wenn die uns und deinen Leuten dummkommen wollen", fügte sie hinzu. Feuerkrieger entging nicht, dass sie ihm nicht so recht vertraute. Kunststück, denn er hatte seine Herrin verraten und hatte auch kein Geheimnis draus gemacht, dass er noch eine Rechnung mit der schwarzen Spinne offen hatte. Wollte er Luneras Vertrauen haben musste er sich erst einmal klein und handzahm geben. Das stank ihm zwar. Doch andererseits wollte er nicht mehr in den Urwald zurück, zumal sie ihn dort zum Ausgestoßenen erklärt hatten. Am Ende durfte ihn Sonnenglanz selbst noch umbringen, den Vater ihres Sohnes, der noch keinen richtigen Namen hatte und den Vater des Babys, das sie noch in sich herumtrug.
"Dass wir im Moment nicht mit den lauten Düsenfliegern herumfliegen können, weil irgendwelche Muggel gemeint haben, mal eben das Welthandelszentrum abreißen zu müssen hat dir Rabioso erzählt. Aber wenn wir euch mit magischen Mitteln transportieren geht das nur, solange ihr als Menschen herumlauft. Abgesehen davon können wir euch auch nur da einsetzen, wo unsere magielosen Kampfgefährten eingesetzt werden, weil die so oder so ohne zu zaubern klarkommen müssen. Ich will noch genau wissen, wo du eigentlich herstammst, wie du zu den Tigermenschen gekommen bist und was du so kannst, wenn du als Mensch herumläufst. Dann werde ich dir eine passende Erntemondbrigade zuteilen. Also, bist du ein geborener oder erst später entstandener Wertiger?"
Feuerkrieger musste sich zusammenreißen, nicht loszublaffen, dass er sich das nicht bieten lassen wollte. Wie kam dieses Wolfsweib darauf, ihn zu verhören? Dann fügte er sich jedoch. Natürlich wollte die wissen, was er so drauf hatte. So beantwortete er ihr alle Fragen, bis auf die, wie er vor seinem Erwachen als Wertiger geheißen hatte. Das wollte er als sein ganz eigenes Geheimnis hüten. Lunera schnaubte ihn zwar an, dass sie alles von ihm wissen müsse. Doch Feuerkrieger tat dies mit einer lässig rübergebrachten Antwort ab:
"Da ich von euch sicher keinen neuen Reisepass kriege muss auch keiner von euch wissen, wie ich als unschuldiges Menschenkind geheißen habe. Und da ihr eh kein Schulzeugnis von mir haben wollt brauche ich euch auch nicht zu erzählen, wo ich zur Schule gegangen bin. Es ist doch völlig schnuppe, wie ich mal geheißen habe."
"Nicht unbedingt. Denn ohne zu wissen, wer du mal warst wissen wir nicht, ob nicht noch wer nach dir sucht oder ob es wen gibt, den du für uns kontaktieren und auf unsere Seite holen kannst. Aber lassen wir das erst einmal! Wichtig ist, dass wir zusammenarbeiten und dass du im deutschsprachigen Raum und in England eingesetzt werden kannst. In England haben die doch glatt eine Truppe aus anderen Mondgeweihten gegründet, die ausdrücklich gegen meine Bruderschaft eingesetzt werden soll. Wenn es dir und deinen Unterworfenen gelingt, die aus dem Weg zu räumen, dann ist schon mal viel gewonnen. Vor allem will ich die Leute erledigt wissen, die wissen, wie der Trank gebraut wird, der uns die volle Willenshoheit über unsere Zweitgestalt gibt. Da diese Leute zum einen Magie benutzen können und zum anderen an magisch geschützten Orten leben, brauchen wir dich und andere Wertiger, um dagegen vorzugehen. Allerdings geht das nur mit Mondbrüdern, die selbst keine Magie nötig haben, um vorzugehen. Du kannst mit Feuerwaffen umgehen? Dann bildest du unsere Erntemondbrigade Britannien an solchen Waffen aus und gehst mit denen in die Einsätze, wenn wir wissen, wer genau unseren Trank kennt!"
"Geht klar, Señorita", erwiderte Feuerkrieger. Er dachte daran, dass die schwarze Spinne gegen Panzerfäuste und Raketen sicher nicht so immun war wie gegen Krallen und Zähne eines Wertigers. Dieses Biest würde sich umgucken, wenn er ihm damit einheizte.
Nachdem Feuerkrieger und seine Mitstreiter alle Fragen nach ihren Fähigkeiten beantwortet hatten teilte Lunera die anderen Wertiger auf zwanzig kleine Einsatztruppen der Mondbruderschaft auf. Als das erledigt war gab Lunera bei Rabioso und Fino die Herstellung von zwanzig Portschlüsseln in Auftrag. Die Operation Erntemond konnte nun verstärkt vorangetrieben werden.
Lunera war persönlich mit Fino und zwei anderen Werwölfen bei Nacht und bewölktem Himmel in eine Apotheke von Malaga eingebrochen, um dort wichtige Chemikalien zu erbeuten. Dabei hatte sie auch mehrere Sets eines einfachen Schwangerschaftstests eingesteckt, ohne dass Fino das mitbekommen hatte.
Wieder zurück im Hauptquartier traf Rabioso mit sechs Wertigern ein. Darunter war auch der durch die schwarze Spinne um ein Ohr gebrachte Europäer, der sich Feuerkrieger nannte. Die beiden unterschiedlichen Wergestaltigen sahen sich prüfend an. Lunera fühlte die Entschlossenheit, aber auch die Aggression, die Feuerkrieger antrieb. Der Wertiger merkte wohl, dass Lunera nicht einzuschüchtern war. Doch er bekam auch den Eindruck, dass sie sich auf nichts einlassen würde, was sie nicht überblicken konnte.
"Don Rico haben wir nicht festnehmen können. Er war wohl auf eine Begegnung mit uns vorbereitet", schnarrte Amalia, eine rotbraunhaarige Mondschwester, die die Aktion mit Don Rico überwachen sollte. "Die haben das ganze Haus in die Luft gesprengt. Dieser Don Rico ist entwischt und wird wohl jetzt noch vorsichtiger sein. Am Ende besorgt der sich noch funktionierende Silberkugeln für seine Feuerwaffen."
"Zwei Nachrichten, eine miese und eine gute", fasste Nina die beiden so unterschiedlichen Mitteilungen zusammen. "Wir kriegen ihn trotzdem. Irgendwann haben wir wen erwischt, der mit ihm zusammenarbeitet. Dann kriegen wir ihn auch."
"Und was ist mit Brigade sieben? Wenn diese Hexenschwestern uns jetzt auch jagen wird das nichts mit den Mafiosi und anderen Gangsterclubs von Europa und Asien", bemerkte Fino. Rabioso lauschte. Dann erfuhr er, was mit der auf Sizilien eingesetzten Brigade passiert war.
"Kommt davon, wenn man nur Muggel in so einen Einsatz reinschickt", schnarrte der rotbraunhaarige Werwolf. Dann sah er Feuerkrieger an. Dieser grinste hämisch. Beide hatten sich ohne Worte oder mentiloquierte Gedanken verstanden.
Die ganze Angelegenheit war unter die Geheimhaltungsstufe S5 eingeordnet worden. Vom 20. bis zum 29. September fanden anstrengende und gezielt schweißtreibende Sportübungen im Ministerium statt, bei denen junge bis mittelalte Ministeriumsmitarbeiter aus der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe sowie der Abteilung für den magischen Personenverkehr und der Spiele- und Sportabteilung mehrere Unterwäschegarnituren durchzuschwitzen hatten. Diese wurden eingesammelt und der Schweiß mit alchemistischen Verfahren herausgefiltert und konzentriert. Gleichzeitig arbeitete Florymont Dusoleil ohne Wissen seiner Familie an einem magicomechanischen Etwas, das wie ein zwei Meter großer Mann aussah und am Ende schwarzes Kunsthaar erhielt und sehr geschmeidige Bewegungen ausführen konnte. Allerdings war dieser magicomechanische Mann nur eingeschränkt Sprachbegabt. Er konnte eigentlich nur um Hilfe rufen oder laute Schreie ausstoßen, um Gnade winseln oder gequält bis lustvoll stöhnen. Am 30. September wurde der von Florymont gebaute magicomechanische Roboter mit einer in den Alchemistenlaboren des Ministeriums erzeugten Schicht Kunstfleisch und haut überzogen.
Julius blickte auf das künstliche Geschöpf, das innerhalb von nur neun Tagen entstanden war. Es war von einem echten Mann mit athletischer Figur nicht zu unterscheiden. Doch ihm fehlten zur Erfüllung seiner Aufgabe noch zwei Dinge: Der Körpergeruch eines angestrengten bis hochgradig verängstigten Mannes und genügend ausgelagerte Samenflüssigkeit, um damit mindestens zehn gesunde Kinder hintereinander zu zeugen. Hierfür bekam der Automatenmann die freiwillig gespendeten Samenflüssigkeitsvorräte von vier gesunden Zauberern in die zu gleichwarm auf 35 ° gehaltenen Genitalien eingespritzt, die er durch eine kleine und leistungsstarke Pumpe wieder ausstoßen konnte, wenn sein künstliches Glied entsprechend ausdauernd und heftig angeregt worden war und zum Zeitpunkt des Samenausstoßes eine Außentemperatur von mindestens 36 ° und nur Licht von einem Hundertstel Tageslicht um sich herum hatte. Julius staunte über die Fortschritte in der Einrichtung künstlicher Sinnesorgane. Florymont erwähnte, dass er solche auf Umweltbedingungen ansprechende Vorrichtungen schon dutzendfach gebaut habe, aber sowas wie den Humaninseminator, wie Julius das Kunstgeschöpf nannte, noch nicht erstellt hatte.
"Schade, dass die Kiste unter S5 läuft. Sonst könnte ich mit sowas eine Menge Galleonen bei den Prinzen der Leidenschaft machen", sagte Florymont.
"Wer auch immer das ist", erwiderte Julius. Florymont erwähnte, dass die Hilfsmittel für die körperliche Liebe herstellten. Das genügte Julius als Erklärung.
Am Ende bekam der magicomechanische Mensch mit künstlicher Haut die ausgefilterten und konzentrierten Schweißanteile der für ihn in hochtemperierten Übungsräumen turnenden und gewichthebenden Zauberer untergespritzt, so dass er genau wie es die natürlichen Körperregionen hergab schwitzen konnte, wenn er entsprechend bewegt wurde. Ob das reichen würde, eine im Fortpflanzungsrausch befindliche Riesin zu befriedigen und damit auch ruhigzustellen wusste Julius nicht. Die Alternative wäre gewesen, unverheiratete Zauberer zu finden, die freiwillig auf eine höchst gefährliche Vereinigung mit Meglamora eingingen. Da war der künstliche Befruchter schon einfacher herzustellen.
Am Nachmittag des 30. Septembers wurde Freudenstifter, wie Ornelle das Kunstgeschöpf nannte, klammheimlich in Meglamoras Nähe geportschlüsselt. Mademoiselle Maxime hatte die zwanzig Meter hohen Feuerwände nicht niederreißen können. Die Riesin konnte sich nicht beruhigen.
Meglamora durchstreifte das ihr zugeteilte Revier. Sie blickte sich immer wieder um und stieß ab und an ein Wutgebrüll aus. Dann sah sie einen dunkelhaarigen Normalmenschen, den sie zu den Kleinlingen zählte. Der ihr fremde hatte blauglänzende Augen und strotzte vor Muskeln. Er schien zu schlafen. Als Meglamora auf ihn zurannte sprang er auf und lief vor ihr davon, auf die hohe Feuerwand zu. Als etwas in ihm ansprang, was ihn anhalten ließ, weil es sonst zu heiß wurde holte ihn die Riesin ein. Sie riss ihn an sich. Er schrie vor Anst und strampelte um sich. Die unter hohem Fortpflanzungsdruck stehende Riesin beroch und beleckte den Gefangenen, der um Gnade winselte und um Hilfe rief. Sie schien wohl mit dem zufrieden zu sein, was sie da eingefangen hatte. Sie riss dem Fremden seinen roten Umhang und seine Leinenunterkleidung runter. Dann warf sie ihr Lederkleid und die aus grobem Tuch bestehende Unterwäsche ab. "Du bist stark genug für ein gutes Guigui!" schnarrte sie, als sie die Genitalien des Gefangenen mit zwei Fingern berührte. Der andere strampelte um sich. Doch gegen die ihn nun immer unbändiger festhaltenden Hände konnte er sich nicht mehr wehren. Dann vollzog die Riesin mit ihm die geschlechtliche Vereinigung. Der andere schrie erst, als habe er große Schmerzen und Angst. Doch je wilder es mit ihm zur Sache ging, desto mehr wurden seine Schreie zu Lauten der steigenden Lust. Das ganze dauerte an die zwanzig Minuten, dann ruckte und zuckte der Unterleib des Gefangenen, der von der Riesin fest an ihren Unterkörper gepresst wurde. Der Fremde keuchte. Die Riesin stieß einen lauten Lustschrei aus. Sie wartete, bis der andere regungslos in ihrer Umklammerung hing. Dann ließ sie von ihm ab. Sie schnaufte wie eine berganfahrende Dampflokomotive. Doch in ihrem Gesicht stand die pure Erleichterung und eine große Glückseligkeit. Ihr lauter, schnaufender Atem beruhigte sich langsam. Sie sah den vor ihr auf dem Boden liegenden zufrieden an. Der andere regte sich nicht.
Julius Latierre und Mademoiselle Maxime saßen fünfhundert Meter vom Ort des Geschehens entfernt. Sie hatten sich beide mit Tarnzaubern belegt und zudem das Entduftungselixier verwendet, was Julius sonst zur Vertilgung von Latierre-Kuh-Gerüchen benutzte. So hatte Meglamora nur jenen dunkelhaarigen Fremden erblicken und erschnüffeln können.
"Sie hat ihn sich tatsächlich genommen, ihn nicht als pseudolebendiges Facsimile entlarvt", mentiloquierte Mademoiselle Maxime.
"Schon unheimlich, bei sowas zuzusehen. Schon sehr voyeuristisch", erwiderte Julius ebenfalls nur in Gedanken.
"Ja, dies ist wohl wahr. Aber ohne eine gründliche Beobachtung wären wir nicht im Stande, den Ausgang dieses Versuches zu bewerten."
"Das Abkommen gilt ab morgen. Die Herren, die ihr wertvolles Erbgut dafür gespendet haben, erheben keinen Anspruch auf die Rechte als Vater", mentiloquierte Julius.
"Immerhin sind sie unverheiratet, was ja die Bedingung für diesen Versuch war", schickte Mademoiselle Maxime zurück. Dann deutete sie auf den immer noch reglos daliegenden mit den dunklen Haaren.
"Irgendwie muss ich dem seine Unterkleidung anziehen, damit der darin eingewirkte Portschlüssel ihn wieder zurückbringt", gedankensprach Mademoiselle Maxime. Ihr Blick drückte eine gewisse Begierde aus. Julius ahnte, dass die ehemalige Beauxbatons-Direktrice daran dachte, Freudenstifter für sich selbst zu behalten, um auch ihre immer wieder aufwallenden Begierden kontrolliert auszuleben. Doch er hütete sich, ihr das zu sagen.
Als Meglamora sich in ihren großen Wohnbau zurückzog und schlief versah Mademoiselle Maxime so leise sie konnte den Kunstmenschen mit seiner Kleidung. Vielleicht konnte man ihn in fünf Jahren - vorausgesetzt, Meglamora hatte von ihm wirklich ein Kind empfangen - wieder verwenden. Die Fragen, die jetzt aufkamen betrafen Meglamoras Umgang mit Ragnar, sobald sie fühlte, dass sie schwanger war. Julius indes würde diese Phase sporadisch überwachen, auch weil es ja seine Idee gewesen war, Meglamora derartig "zu bedienen". Ab morgen stand jedoch die Reise nach Moskau auf dem Programm. Er würde mit seiner direkten Vorgesetzten und der Veela Léto zu einer Konferenz reisen, um über das weitere Schicksal von Sarjas Sohn Diosan zu entscheiden. Hoffentlich hatte sich Zaubereiminister Arcadi nicht schon längst von seinen Mitarbeitern dazu beknien lassen, Sarjas Sohn zu töten. Doch dazu musste er ihn ja erst einmal finden.
Als Julius vom langen Tag nach Hause kam fand er seine Frau und seine bereits geborene Tochter auf einem Sofa vor. Millie lag auf mehreren Kissen. Aurore lag mit einem Ohr auf Millies langsam immer umfangreicher werdendem Bauch und schlief. Dabei hatte sie ihre Beine so stark angezogen, dass ihre Füße fast in ihrem Gesicht lagen. Ihre Arme hatte Sie vor dem Oberkörper verschränkt. Millie atmete ruhig und regelmäßig. Doch sie schlief nicht.
"Die hat gehört, dass ihre kleine Schwester schon ein Herz hat und ist dabei doch glatt auf meinem Bauch eingeschlafen", sagte Millie leise und winkte mit der linken Hand Julius zu sich heran.
"Hoffentlich wird sie nicht eifersüchtig auf Chrysope, weil die es gerade so schön warm und bequem hat."
"Könnte ihr erst passieren, wenn Chrysie auf der Welt ist, Monju", flüsterte Millie. "Aber wir kriegen das hin, dass die sich nicht gegenseitig umschupsen. Nur vom Regenbogenvogel kann ich der jetzt nichts mehr erzählen, wo die hört, dass ihr Schwesterchen schon längst in meinemBauch steckt", grinste Millie.
"Aurore liegt so, als wäre sie auch noch da drin", wisperte Julius und deutete auf seine schlafende Tochter.
"Auch eine Methode, ein kleines Kind ruhigzukriegen", flüsterte Millie zurück. Julius fragte, ob ihr das nicht zu schwer würde oder Chrysope dadurch nicht eingeengt würde.
"Das macht die gute Gymnastik und die Latierre-Kuhmilch, Monju. Ich kann sie beim Atmen noch locker mit anheben und wieder absinken lassen. Chhrysie spürt sie vielleicht schon. Aber sie beschwert sich noch nicht." Julius sah seine ganze Familie an, die aus einer erwachsenen, einer gerade knapp anderthalb Jahre alten und einer erst im Februar des nächsten Jahres erwarteten Hexe bestand. Da regte sich Aurore. Sie öffnete ihre Augen. Julius meinte wieder einmal, die Augen seines Vaters zu sehen. Das kleine Mädchen rutschte vom runden Bauch ihrer Mutter herunter und trippelte schlaftrunken auf ihren Vater zu. "Ach, darf ich dich jetzt auch mal hochheben?" fragte Julius und pflückte seine Tochter vom Boden. Diese freute sich. Sie lachte und gluckste. Dann deutete sie auf ihre Mutter. "Baby in Maman drin", sagte sie. Julius sagte: "Ja, da ist deine kleine Schwester Chrysope. Da warst du auch mal."
"Da kann die sich irgendwie sicher noch dran erinnern", grinste Millie.
Nach einem reichhaltigen Abendessen und einem zwanzig Minuten dauernden Kampf gegen Aurores Bedürfnis, noch herumzulaufen und der doch sehr starken Müdigkeit des kleinen Mädchens konnte Millie mit ihrem Mann alleine sprechen:
"Auch wenn's hoch geheim war, Monju: Hat das mit dieser zweibeinigen Samenspritze geklappt?"
"In drei Monaten wissen wir's wohl. Aber Meglamora hat sehr selig dreingeschaut, als sie "den Kleinen" getestet hat. Vielleicht kann Ornelle da doch noch eine öffentlichkeitstaugliche Mitteilung draus machen."
"Sage das aber bloß nicht Tante Babs, dass sowas geht. Die würde gleich den Untergang der natürlichen Arterhaltung beschwören."
"Oder sich selbst so'n Teil bauen lassen", erwiderte Julius frech.
"Neh is' klar, Monju. - Aber Pssst, könnte ich mir glatt vorstellen", raunte sie noch verrucht klingend. "Aber Temmie und die anderen Latierre-Kühe kannst du mit sowas nicht abfertigen. Die brauchen schon richtige, lebende, auf alles von ihnen ausgehende eingehende Partner", stellte sie klar. "Ich übrigens auch. So'n Halbfleischling, der mir noch dazu von Typen Kinder in den Bauch schupst, die ich nicht kenne, will ich garantiert nicht."
"Ich will auch kein künstliches Frauenzimmer haben, nur um mir was für künftige Kinder abzapfen zu lassen", erwiderte Julius.
"Und will deine Blutsschwester den kleinen Freudenstifter behalten, oder darf der jetzt bis zum nächsten Guigui für Meglamora schlafen?"
"Der Umstand, dass ich zu dir zurückkommen konnte und bei euch dreien sein darf sollte dir verraten, dass ich diese Frage nicht gestellt habe. Am Ende hätte die darauf bestanden, Florymonts Liebesroboter mit mir zu vergleichen. Wolltest du sicher nicht wirklich."
"Mann, du kannst aber echt gemein sein", schnarrte Millie und hieb ihrem Mann mit der Flachen Hand kräftig auf die Brust. Er steckte den Schlag weg, wohlwissend, dass Millie wusste, dass er das eh nicht ernstgemeint hatte.
Lord Vengor schäumte vor Wut. Erst war ihm der Nachtschatten Ipsen entrissen worden. Jetzt hatten sie ihm gleich elf treue Mitverschwörer entrissen und dazu noch die aussichtsreiche Aktion Paukenschlag verdorben. Damit konnte er im Moment nur mit dem Kristall auskommen, den er aus dem Schutthaufen in New York gezogen hatte. Das Gewicht reichte zwar aus, um den Zugang zur Nimmertagshöhle zu öffnen. Doch wenn er sich eine wirklich schlagkräftige Armee von unbesiegbaren Getreuen erschaffen wollte, brauchte er mehr von den Kristallen. Doch daran war vor Halloween nicht mehr zu denken. An Halloween selbst wollte er am Fuße des Himalaya-Gebirges nach dem Eingang zur Nimmertagshöhle suchen. Denn sonst würde ihm der große Iaxathan sicher die Gefolgschaft versagen. Was er mit dem erbeuteten Unlichtkristall schon einmal machen konnte, ihn mit neuen Toden füttern. Doch die Erfahrung mit dem geheimen Labor hatte ihn gewarnt. Er durfte es nicht zu auffällig machen.
Big Ben vollendete gerade den elften Schlag am Abend des dreißigsten Septembers. Nieselregen fiel von einem völlig verhangenen Himmel. Trotz der späten Stunde waren noch viele Menschen unterwegs, die mit Regenkleidung und Regenschirmen dem nassen Wetter trotzten. Da entstand aus dem Nichts heraus eine blaue, wild rotierende Lichtspirale. Aus dieser fiel eine große, rostige Badewanne, an der zehn schwarz gekleidete Männer hingen. In der Wanne selbst saß ein nackter Mann und blickte sich um. "Erst warten, ob wer kommt und möglichst zwei Gefangene machen", zischte Finley, der Führer dieses auf so unheimliche Weise mitten vor dem Eingangsportal der Westminster Abbey erschienenen Trupps. Das galt vor allem für den nackten Mann in der Wanne, an dem das auffälligste war, dass ihm das linke Ohr fehlte.
Die Menschen, die Zeugen dieser unheimlichen Ankunft geworden waren, stoben schreiend und rufend in alle Richtungen davon. Sicher würde es gleich von Polizisten wimmeln. Doch die Bobbys waren unbewaffnet, so die alte Tradition. Doch deren Trillerpfeifen würden den Ankömmlingen gut zusetzen. Tatsächlich hörten sie bereits eine halbe Minute nach ihrer Ankunft das Hin und Her von Polizeipfeifen. Die Truppe postierte sich um die rostige Wanne. Jeder der zehn Männer machte eine Maschinenpistole schussbereit. Die arglosen Passanten suchten ihr Heil in der Flucht. Doch die zehn Männer waren nicht hinter ihnen her.
Es dauerte nur eine Minute, bis es um die Ankömmlinge herum krachte und ploppte. Auf dieses Zeichen hatte der nackte Mann in der Wanne gewartet. Er dachte so konzentriert wie möglich daran, seine zweite, wesentlich gefährlichere Gestalt anzunehmen. Da tauchten zwanzig Mann in Umhängen auf, hölzerne Stäbe in den Händen. Die zehn Männer mit MPs eröffneten unverzüglich das Feuer. Gleichzeitig vollzog sich in der rostigen Wanne die mörderische Metamorphose, die aus dem einohrigen Mann einen überlebensgroßen Tiger machte. Die aus dem Nichts erschienenen Umhangträger riefen Zauberwörter. Drei von ihnen riefen "Avada Kedavra!" Grüne Blitze sirrten durch die Luft und trafen drei MP-Schützen. drei Weitere fielen unter roten Blitzen zu Boden. Doch der Gegenschlag kam zu spät. Vier der zwanzig Zauberer waren im Kugelhagel umgekommen. In diesem Augenblick vollendete der Wertiger in der Badewanne seine Verwandlung. Ab jetzt schluckte die geheimnisvolle Aura seiner Tiergestalt alle Zauberkraft, die sich durch den Raum bewegen musste, um ihr Ziel zu treffen. Sie blockierte aber auch Versetzungszauber wie den Zeitlosen Raumsprung, den Lunera als Apparieren bezeichnet hatte. Der Wertiger peilte in die Menge der nun machtlos dem MP-Feuer ausgelieferten Gegner und erkannte, dass es doch nicht nur Männer waren. Er sah eine Frau mit langen schwarzen Haaren, eine ältere Frau mit grauen Locken, eine klapperdürre Rothaarige und eine kleine, zierliche Blondine. Feuerkrieger fühlte das Begehren in ihm brennen. Die Blonde da sollte seine neue Gefährtin werden. Dann konnte er endgültig auf Sonnenglanz verzichten. Die neue Gefährtin würde ihm dann auch vollständig unterworfen sein. Er konnte dann alles mit ihr anstellen, was er wollte. Er rannte los und verlegte seinen Begleitern die Schussbahn, damit sie seine Auserwählte nicht ganz aus Versehen umlegten. Das laute Trillern der Bobbys nervte ihn. Diese Blaumänner rotteten sich zusammen. Aber das brachte denen nichts.
Die blonde Hexe hatte schon erkannt, welche Gefahr da gerade auf sie zugerannt kam. Sie wusste sicher, was ihr gleich blühte. Aber weglaufen konnte sie nicht. Wegbeamen konnte sie sich auch nicht. Gleich hatte Feuerkrieger sie und dann ...
Die Gier nach dem Körper der blonden Hexe machte Feuerkrieger fast blind und Taub für seine Umgebung. So bekam er erst mit, dass die Zauberer nicht nur auf ihre Magie vertraut hatten, als ein rotes Leuchtgeschoss gefährlich tief über seinen Tigerschädel hinwegzischte. Fast hätte ihn die Glut des Leuchtgeschosses das Fell versengt. Der Wertiger warf sich unverzüglich zu Boden. Der eigene Schwung ließ ihn noch drei Meter vorwärtsrutschen. Wieder zischte es. Diesmal aber flirrte das Leuchtgeschoss knapp vier Meter hinter ihm vorbei. Der einohrige Wertiger blickte sich um und sah und erkannte die rothaarige Hexe, die in jeder Hand eine Leuchtpistole hatte. Feuerkrieger brüllte los, um seinen Begleitern zu signalisieren, dass er in Bedrängnis war. Wenn dieses rothaarige Luder ihn genau anvisieren konnte war er gleich Geschichte. Da fegte eine MP-Garbe heran und zersiebte die Rothaarige.
Feuerkrieger schnellte wieder auf die Beine und suchte sein ausgewähltes Opfer. Doch die Blondine war nicht mehr da. Wo war sie abgeblieben? Er schnüffelte. Die konnte doch nicht verschwunden sein. Mit Zauberstabzaubern ging hier im Moment doch gar nichts. Feuerkriegers Kopf ruckte hin und her, nach oben und unten. Seine Nasenlöcher bebten vor Anstrengung. Er konnte den Geruch nach junger Frau, Badeöl und Wiesenkräuterparfüm noch wittern. Doch wo war die dazugehörende Blondine abgeblieben? Das einzige was er in hundert Metern Entfernung noch sehen und riechen konnte war ein vom Lärm aufgeschreckter Straßenhund, ein Golden Retriever, wenn er sich nicht in der Rasse vertat. Das Tier strömte Angst und Ruhelosigkeit aus. Kein Wunder, wenn es um es herum andauernd Ratterte und trillerte. Der Wertiger unterdrückte die aufkommende Jagdlust, den Hund zu hetzen und zu zerfleischen. Wenn er zu weit von seinen Leuten weglief konnten die noch stehenden Zauberer ihre verdammten Flüche anbringen. Also wieder zurück!
Die zwei noch übriggebliebenen hexen hatten ebenfalls Leuchtpistolen bei sich und feuerten damit. Ebenso hatten die noch stehenden Zauberer solche Waffen und setzten sie ein. Der Versuch, einen davon zu beißen verwarf Feuerkrieger, als er fast in vier Leuchtgeschosse auf einmal hineinsprang. Die noch handlungsfähigen Mondbrüder hatten ihr eigentliches Einsatzziel vergessen, weil sie unvermittelt wie Fackeln zu brennen begannen. Sie feuerten nun hemmungslos und streckten die noch kämpfenden Zauberer und Hexen nieder. Als der Widerstand endlich gebrochen war wälzten sich die Werwölfe am Boden und erstickten die auf der Kampfmontur züngelnden Flammen. Als sie sich wieder erhoben heulten Polizeisirenen. Da kamen die magielosen Ordnungshüter. Gegen ein bewaffnetes Sonderkommando war mit nur noch drei kampffähigen Männern und einem Wertiger nicht viel auszurichten. Selbst wenn sie gegen Kugeln gefeit waren mochten die Polizisten mit Schockgranaten oder Betäubungsgas angreifen. Erstes würde zumindest Feuerkrieger heftig zusetzen. Zweites würde den Werwölfen nicht bekommen, da diese im Gegensatz zu den Wertigern nicht gegen Giftstoffe aller Art immun waren. Blieb nur der schnelle Rückzug.
Finleys Stellvertreter Boulder rief nach dem Wertiger, der gerade die Spur der ihm entwischten Hexe wieder aufnehmen wollte. Zumindest wollte der wissen, wo sie nach der irgendwie gelungenen Flucht ins Nichts abgetaucht war. "Hey, Einohr, wir müssen weg hier! Werd wieder ein Mensch!" brüllte Boulder. Der Wertiger brüllte verärgert zurück. Doch dann siegte der Rest von menschlichem Verstand, der ihm noch innewohnte. Auch er hörte die Polizeisirenen. Am Ende rückte auch noch Militär an, weil hier gerade wild geballert worden war. Das konnten sie nicht überstehen. Er brach die Verfolgung der Fährte ab und rannte zu den Werwölfen zurück. Diese hoben gerade die nur betäubten Mitbrüder auf und schleppten sie zu der rostigen Wanne hin. Feuerkrieger konzentrierte sich auf seine menschliche Erscheinungsform. Fünf Sekunden dauerte es, bis er fast wieder so aussah, wie seine Eltern ihn in Erinnerung behalten hatten. "Los, rein in die Wanne, die vier gut festhalten. Die drei anderen sind alle", kommandierte Boulder. Zu den unter den grünen Blitzen gestorbenen gehörte auch Finley, mit dem die Erntemondbrigade eigentlich bis in die Downing-Straße vorrücken wollte. Das wäre überhaupt der Schlager des jungen Jahrhunderts geworden, wenn es gelungen wäre, den britischen Premierminister und seine Familie zu Wergestaltigen zu machen. Doch das war jetzt erst einmal gescheitert.
Als zehn gepanzerte Polizeiwagen gerade anhielten rief Boulder "Monduntergang!" Die Badewanne glühte blau auf. Das blaue Licht wuchs sich zu einer wild wirbelnden Lichtspirale aus, die die acht Erntemondtruppler umschloss. Eine Viertelsekunde später war das blaue Licht verschwunden und mit ihm die rostige Badewanne und acht Feinde der eingestaltigen Menschheit. Nur die toten Hexen, Zauberer und Werwölfe, sowie die unzähligen Einschüsse in den Mauern der Abteikirche und der angrenzenden Gebäude bezeugten das blutige Drama, das sich hier abgespielt hatte.
Feuerkrieger fühlte diese fremdartige Magie, die fast seinen absoluten Orientierungssinn verwirrte, weil sie irgendwie nicht richtig flogen, aber auch nicht in einem einzigen Augenblick den Standort änderten. Als sie wieder im Hauptquartier der Mondbrüder ankamen, dass gegen die Erfassung dieser Art von Zauberei abgeschirmt war, wurden sie schon von Lunera und ihrem dünnen Gehilfen erwartet.
Lunera war alles andere als begeistert, als sie hörte, dass außer einem Gemetzel mit den Ministeriumszauberern nichts herumgekommen war. Vor allem dass es drei Tote auf ihrer Seite gegeben hatte ärgerte sie. Als Feuerkrieger ihr noch erzählte, dass er eine blondhaarige Hexe verfolgt hatte und die ihm irgendwie entwischt war stierte sie den Wertiger an. "Wie konnte dir eine Frau weglaufen, die nicht disapparieren konnte?"
"Weil mich deren Kompaniekameradin mit Leuchtkugeln beballert hat, ey", knurrte Feuerkrieger. "Als mir Stanford dieses rothaarige Luder vom Hals geschafft hat und ich die Blondine krallen wollte war die weg. Die konnte nicht aus meinem Dunstkreis verschwunden sein. Aber die war weg. Ich habe die nicht mehr gerochen."
"Was hast du denn gesehen, wo sie eigentlich hätte sein müssen?" wollte der dünne Mann wissen, der sehr gut Englisch sprach.
"Da war nur so 'n Köter, Golden Retriever glaube ich", grummelte Feuerkrieger. "Das Vieh ist natürlich weggelaufen, weil um es rum so viel geballert wurde."
"War der Hund vorher schon irgendwie bei euch?"
"Ich habe den erst gesehen, als ich wieder nach der Blondine gesucht habe", grummelte Feuerkrieger. Ihm gefiel dieses Verhör absolut nicht. Der dünne Mondbruder Luneras verzog das Gesicht. Dann fragte er die überlebenden Mitbrüder nach dem Hund.
"Das Tier haben wir nicht gesehen. Kann unmöglich da gewesen sein, wo die Wanne uns abgeliefert hat. Wieso ist das so wichtig. Wir haben nach Menschen gesucht."
"Ja, und alle komplett umgelegt", schnarrte Lunera. Dann sagte ihr Mondbruder:
"Offenbar unterbindet die Wertigermagie nicht jeden Zauber, sondern nur den, der von einer Person weg zu einem Gegenstand oder einem anderen Lebewesen fließen muss. Die schwarze Spinne und ihr Drachenmann konnten sich ja auch verwandeln, als mehr als dreißig Wertiger um sie herumgestanden haben."
"Moment mal, dann meinst du ... Maldita sea esa puta!" Auch wenn sie den letzten Satz auf Spanisch gerufenhatte erkannte Feuerkrieger, dass sie nichts nettes gesagt hatte. Dann starrte sie Feuerkrieger an. "Du seltendämlicher Volltrottel. Du hast dieses Weib entwischen lassen, damit die allen auf die Nase bindet, dass wieder Wertiger in England herumlaufen."
"Eh, kleine Mondschwester, den Volltrottel nimmst du sofort zurück, wenn ich dir nicht was wichtiges abbeißen soll", schnarrte Feuerkrieger. "Wie sollte ich wissen, dass die kleine Blonde auch 'ne Tierwandlerin ist, ey? Anstattmich ganz übel anzupampen pack dir gefälligst an die eigene Nase. Sowas hättet ihr mir mal früher stecken können. Dann hätte ich die Schnalle auch als Köter gekrallt und zerfleddert."
"Konnten wir ja nicht wissen, dass die gewöhnlichen Animagi sich auch im Einfluss der Wertigeraura verwandeln können", erwiderte der dünne Werwolf. "Halten wir fest für das Manöverprotokoll, dass die Hexen und Zauberer, die sich in was anderes verwandeln können, das auch dann noch können, wenn ein Wertiger in Tiergestalt in der Nähe ist."
Lunera fing nun eine schnelle, hitzige Diskussion mit ihrem dünnen Partner an, den sie wohl Fino rief. Feuerkrieger verstand kein Wort. Für die Reisen nach Mallorca hatte er kein Spanisch lernen müssen, wo fast alle da Deutsch oder zumindest Englisch konnten.
"Ich würde ja versuchen, diese Tessa highdale zu fragen, ob die uns die Liste besorgen kann. Aber ich denke, dass die zu denen gehört, die jetzt gegen uns eingesetzt werden. Die hat sich ja sehr rar gemacht", knurrte Lunera.
"Wieso machen wir es nicht gleich so, dass wir da wo wir landen gleich alle beißen und zu unseren Artgenossen machen?" wollte Feuerkrieger wissen. "Irgendwann sind wir so viele, dass diese Zauberstabschwinger mit dem Trank nichts mehr anfangen können und deren Geheimniskrämerei nichts mehr wert ist."
Lunera fragte ihren Mondbruder etwas auf Spanisch. Er nickte und wandte sich an Feuerkrieger.
"Wenn du es bisher noch nicht bedacht hast, Feuerkrieger, es geht nicht darum, unser Dasein wie eine Pestepidemie über die Erde zu verbreiten, sondern darum, dass wir genug Einfluss bekommen, um endlich als lebensberechtigte, gleichrangige Daseinsform anerkannt zu werden. Wenn wir jetzt losziehen und nach allem schnappen, was nach Mensch riecht kriegen wir zwar vielleicht einige hundert neue Artgenossen hin. Dann aber kommen die von den Zauberstabschwingern auf die Idee, uns alle auszurotten. Die können das locker, mit Feuer und Mondsteinsilber und dem Todesfluch. Das ist dann wie bei den Nocturnia-Vampiren. Alles was kein Standardmensch ist wird dann gnadenlos ausgelöscht. Euch kann man ja auch beikommen, wie dein fehlendes Ohr zeigt. Also ist es wichtig, sicherzustellen, dass wir einerseits genug sind, um mitreden zu können, andererseits aber nicht als tollwütige Biester abgestempelt werden, die hirnlos um sich beißen. Das gäbe denen die totale rechtfertigung, uns vollständig auszulöschen. Vielleicht ist es genau das, was eure Königin davon abgebracht hat, uns zu unterstützen."
"Ach neh, dann kneift ihr jetzt auch?" entrüstete sich Feuerkrieger. "Wozu dann der ganze Affentanz, ey?"
"Die Frage hätte sich nach eurer verpatzten Aktion gar nicht gestellt. Zumindest wissen die Zauberstabschwinger nicht, dass Finley, Boulder und die anderen Mondbrüder waren oder sind."
"Neh, wo die drei von uns umgehauen haben und jetzt deren Leichen untersuchen können", warf Feuerkrieger ein. Finos Gesicht erstarrte. Dann nickte er. Lunera erbleichte und keuchte. Dann schrie sie unerträglich laut:
"Ihr erbärmlichen Vollidioten. Ihr hättet die wieder mitbringen müssen. Capullos! Tontos! Hijos des Burros!""
"Ist jetzt nicht mehr zu ändern, Lunera. Oder wir zauberfähigen müssen dahin und zusehen, die Leichen rauszuholen, bevor die mit denen irgendwelche Versuche anstellen können", versuchte Fino, die weizenblonde Mondschwester zu beruhigen. Diese zeterte jedoch weiter. Sie steigerte sich derartig in ihre Wut hinein, dass sie hemmungslos losheulte und um sich schlug. Feuerkrieger und Fino konnten ihren Schlägen und Tritten gerade so noch ausweichen. Dann rannte Lunera aus dem Besprechungszimmer und hämmerte die Tür zu. Zehn Sekunden später krachte eine weitere Tür in ihren Rahmen.
"Okay, ich weiß, ihr Südländer seid sehr temperamentvoll. Aber wir haben die Kacke nicht gequirlt, dass die jetzt so heftig austickt", grummelte Feuerkrieger.
"So unbeherrscht habe ich sie auch noch nicht erlebt. Aber so eine verflixte Lage hatten wir auch noch nicht", erwiderte Fino.
"Und wie geht's jetzt weiter?" wollte Feuerkrieger wissen.
"Lunera ist die einzige von uns, die den Trank brauen kann. Wir haben im Moment nur noch für hundert Dosen was da. Wir müssen warten, bis sie sich wieder abgeregt hat und wir mit ihr vernünftig planen können, wie es weitergeht. Bis dahin können ja die anderen Brigaden zusehen, ob sie an die Listen der außerhalb von England informierten Trankbrauer kommen."
"Und ich häng dann hier rum? Dafür bin ich nicht aus dem Urwald raus, um in einem Bunker zu vergammeln."
"Suchst du Streit, Kleiner?" wollte der dünne Werwolf wissen.
"Suchen nicht, aber wer mir so kommt kann welchen finden, ey", erwiderte Feuerkrieger. Da hielt Fino eine Spritzpistole in der Hand. "Schon in Materie gewirkte Zauber bleiben stabil. In der kleinen Spritzpistole ist flüssiger Stickstoff. Der allein kann dich wortwörtlich kaltmachen. Denkst du echt, ich würde mich dir und Deinesgleichen ausliefern, wo ich genug Zeit hatte, eure Schwächen zu studieren?"
"Ich will nur das, was ihr auch wollt, dass wir ohne uns ducken zu müssen leben dürfen", knurrte der Wertiger. Die Aussicht, in -196 ° kalten Stickstoff gehüllt zu werden gefiel ihm nicht. Denn unmagisches Eis und Feuer waren neben den eigenen Artgenossen und dem Verdauungssschleim der schwarzen Spinne das einzige, was einem Wertiger den Garaus machen konnte. So sagte er: "Gut, wir warten, bis eure Chefin sich wieder abgekühlt hat."
Wieder in seinem zugewisenen Zimmer lauschte Feuerkrieger auf die wie ein leises Flüstern in seinem Kopf vernehmbaren Gedanken seiner Artgenossen. Besonders dann, wenn sie ihre Tiergestalt angenommen hatten konnte er ihre Gefühle und Gedanken auffangen. Denn er hatte sie ja zu seinen Untergebenen gemacht. So bekam er mit, wie der von ihm in den Tigerclan eingebürgerte junge Wertiger Hammertatze sich mit seinem zauberunfähigen Truppenkameraden Mal Huntington darüber stritt, ob die zwei bei ihrem Einsatz in Killarney, Irland, überwältigten Zauberer nun in die Mondbruderschaft oder den Tigerclan eingegliedert werden sollten. Feuerkrieger befahl seinem Kameraden, die Eingliederung in den Tigerclan auszuführen. Hammertatze schickte zurück, dass er das eh vorhatte. Doch als er versuchte, einen der Gefangenen zu beißen wurde er von den fünf noch kampffähigen Werwölfen beschossen. Das machte ihm zwar erst nichts. Doch dann warf einer einen Molotowcocktail auf ihn. Das letzte, was Feuerkrieger noch von Hammertatze mitbekam, waren telepathische Schmerzens und Hilfeschreie. Dann brandete überdeutlich ein langgezogener geistiger Todesschrei durch Feuerkriegers Bewusstsein. Der einohrige Wertiger fühlte, wie die Wut in ihm explodierte. Die unbändige Wut löste bei ihm den Gestaltwechsel aus. Innerhalb von nur zehn Sekunden wurde aus dem Menschen Rupert Möller der Wertiger Feuerkrieger. Seine Freizeitkleidung ging dabei laut ratschend in hundert Fetzen. Doch das kümmerte den Wertiger nicht. Er rannte zur Tür und hieb mit der Pranke auf die Klinke. Er wollte jeden dieser hinterhältigen Wolfsmenschen die Knochen brechen, deren Blut trinken und deren Fleisch fressen. Die hatten ihn voll verladen. Sie hatten seinen Kameraden umgebracht, einfach mal eben so. Er wollte die Stahltür aufstoßen. Da durchzuckte ihn ein heftiger Stromschlag. Laut jaulend prallte er von der Tür zurück. Noch einmal sprang er zur Tür hin. Da bekam er wieder einen gewischt. Strom gehörte zu den wenigen Sachen, die ihm ernsthaft zusetzen konnten. Die Wut, dass die Werwölfe einen von seinen Untergebenen umgebracht hatten und die Hilflosigkeit, eingesperrt zu sein lähmten seinen Verstand. Nur noch ein wutentbranntes wildes Raubtier tobte er durch das Zimmer, zerfetzte die Matratze, die Decken und Kissen seines Bettes, zertrümmerte die drei Stühle, die er im Zimmer hatte, zog mit seinen messerscharfen Raubtierkrallen zentimetertiefe Furchen in die sonst so standfesten Betonwände und zerbiss die Sitzpolster der Stühle. Immer wieder sprang er gegen die zweieinhalb Meter hohe Decke. Dabei hätte er mit einem Prankenhieb fast die helle Deckenlampe mit den fünf Glühbirnen heruntergerissen. Minutenlang dauerte dieser Tobsuchtsanfall. Erst dann bekam Feuerkrieger die Kontrolle über seine Gefühle und seinen Körper zurück. Das letzte Opfer seines animalischen Wutanfalls war der mechanische Wecker auf dem umgekippten Nachttisch. mit einem einzigen Schlag zertrümmerte er das Metallgehäuse. Das Federwerk flog durch das Zimmer, und die einzelnen Zahnräder kullerten unter das in zwei Teile zerlegte Bettgestell, auf dem die in Dutzend Einzelstücke zerfetzten Teile der Matratze aufgehäuft lagen. Erst als Feuerkrieger wieder klar denken konnte und das Ausmaß seines Gewaltausbruchs begriff, erkante er, wie sehr er sich diesen Mondheulern gerade ausgeliefert haben mochte. Er hatte sich von dem gemeinen Kameradenmord an seinem Artgenossen zum hirnlosen, tollwütigen Monstrum machen lassen. Das durfte ihm nicht noch einmal passieren. Doch ihm war nun klar, dass er nicht mehr warten würde, bis Lunera oder die anderen Werwölfe beschlossen, was sie mit ihm noch anfangen konnten, oder ob Fino ihm die angedrohte Stickstoffdusche verpassen und damit für alle Zeiten runterkühlen würde.
Als Feuerkrieger wieder seine menschliche Gestalt angenommen hatte suchte er zuerst in dem ramponierten Kleiderschrank nach unversehrt gebliebenen Anziehsachen. Immerhin, der feine Anzug, den Luneras Lieblingsmondbruder Valentino alias Turboimpulso ihm gegeben hatte, war noch unversehrt. Er musste wieder einmal grinsen, als er daran dachte, warum er diesen schnieken Anzug bekommen hatte. Es konnte ja immerhin sein, dass er und wer sonst noch auf die Chefetage einer großen Firma oder einer politischen Partei geschickt wurde, um da neue Mitglieder der Mondbrüder oder Wertiger "anzuwerben". Im guten Anzug würde er sicher an den meisten Beobachtern vorbeikommen. Doch in dem Moment, wo er seine erhabene Gestalt annehmen musste, würde ihm der Anzug im Weg sein. Immerhin hatte er noch einen Jogginganzug und noch ein Par Wanderschuhe, sowie eine Jeans und zwei T-Shirts. Alles andere war kaputt, erledigt, für den Müll. Dann dachte er daran, wieso die Tür unter Strom gesetzt worden war. Wer hatte da auf den entsprechenden Knopf gedrückt? Hastig blickte er sich um. Durch seinen Tobsuchtsanfall waren die Wände ziemlich ramponiert. Eine Kamera oder ein Mikrofon fand er jedenfalls nicht. Dann fiel ihm ein, dass das auch nicht nötig war. Ein verwandelter Wertiger erzeugte doch diese Antimagieausstrahlung. Wenn was, das Magie in sich fließen hatte, in dieses Kraftfeld reingeriet und entweder ausfiel oder nur schwächer wurde, wusste man, dass ein Wertiger in der Nähe war. Dann brauchten die nur in seiner Umgebung so ein Messgerät hingesetzt zu haben und zu warten, bis es anschlug. Dann konnte die Tür durch eine automatische Schaltung unter Strom gesetzt worden sein, eine Schaltung, die sicherstellte, dass ein Wertiger in seiner Tiergestalt nicht aus dem Zimmer hinausrennen konnte. Am Ende wurde die Stromzufuhr sogar jedesmal erhöht, bis der Wertiger zerbrutzelt wurde. Feuerkrieger kapierte es nun, dass die Mondbrüder ihm niemals über den Weg getraut hatten und es wohl auch niemals tun würden. Wenn jetzt noch herauskam, dass es zwischen Hammertatze und seinen Erntemond-truppkameraden gekracht hatte und die Werwölfe wohl nichts anderes mehr bringen konnten als einen Molotowcocktail mit ziemlich übel brennendem Zeug, würden sie ihn noch mehr beschränken. Seine Wut hatte ihn gerade für Luneras Truppe wertlos gemacht. Das wiederum schürte neue Wut in ihm, Wut auf sich selbst, weil er sich nicht hatte beherrschen können. Er war ein geborener Wertiger. Er konnte seine Daseinsform besser beherrschen als die, die durch den Biss dazu wurden. Aber jetzt war es passiert. Jetzt konnte Feuerkrieger sich nur noch die Frage stellen, ob er hier überhaupt noch einmal herausgelassen würde.
Theia war stolz, zu den wenigen Auserwählten zu gehören, die einen Bronco Parsec besaßen. Den Besen hatte sie offiziell von ihrer Mutter Daianira geerbt. Damit war jedes lästige Flohpulvern zwischen den Kontinenten unnötig. Selene war hinter ihrer Mutter gut am Besenstiel gesichert worden. Theias kleine Tochter hatte amüsiert gelächelt, weil sie beide in den Schutzanzügen für Flüge in großen Höhen Reisewindeln trugen, so dass sie mit der dem Besen eingebauten Kursstreckensprungfähigkeit ohne zwischenzulanden von der Ostküste Amerikas bis nach Süddeutschland fliegen konnten. hier, im großen Fuß der Zugspitze, hatte Grindelwald die schlafende Silver Gleam in einer Gletscherhöhle versteckt.
Sie hatten bei Einbruch der Dunkelheit jene Stelle im hohen Gletscher des höchsten Berges Deutschlands gesucht, bis Theia eine starke Konzentration von Magie erfassen konnte. Zwischen dem nicht mehr ewig erscheinendem Eis und den Felsen war ein haardünner Spalt zu erkennen, der auf einen vereisten Felsvorsprung hinabreichte, auf dem ein Besenflieger gerade so landen konnte. Selene hatte erwähnt, dass der Eingang nur zu öffnen war, wenn der Zutrittsuchende mindestens ein Haar seines Kopfes genau in den Spalt legte und dann beide Hände flach links und Rechts an die eisige Wand drückte. Da Selene trotz Kinderkörper wohl noch als vollwertige Hexe im Sinne magischen Ruhepotentials zu sehen war, musste sie, wenn sie mit ihrer zweiten Mutter hineinwollte, auch dieses Ritual vollführen.
"Tja, und hat Dumbledore euch auch erzählt, dass nur Zauberer eingelassen werden?" fragte Theia, nachdem sie vorsorglich einige Untersuchungs- und Enthüllungszauber auf die verschlossene Tür gelegt hatte. Selene schüttelte den Kopf. "Offenbar hat Grindelwald es nicht erwähnt, dass er diesen Eingang mit dem Uterardoris-Fluch belegt hat, der widerlichste Anti-Hexen-zauber, den sich wer überhaupt ausgedacht hat."
"Er ist mir leider bekannt", knurrte Selene. "Aber woher weißt du das?"
"Tja, meine Fürsprecherin bei dem exklusiven Club, in dem ich Mitglied bin hat mir zauber beigebracht, um gezielt gegen Hexen und andere weibliche Säugetiere wirksame Flüche, vor allem zauberfallen, zu erkennen. Ich hatte so ein mieses Gefühl, dass Grindelwald nie was mit Hexen zu schaffen haben wollte, weder freundschaftlich noch geschlechtlich. Daher habe ich diesen zauber verwendet, den nur eine Eingeschworene erlernen darf."
"Uterardoris kann nicht mit normalen Fluchzerstreuern aufgehoben werden", schnarrte Selene. "Aber dem Preservirgines-zauber, dem unsichtbaren Keuschheitsgürtel. Die beiden zauber reagieren sich in Form hitzeloser, blassblauer Flammen ab, sofern der Preservirgines-zauber nicht vor dem, sondern im Unterleib der zu schützenden Hexe freigesetzt wird."
"Ja, habe ich auch gelernt, aber nicht in Thorntails. Sowas hätten sie wohl eher in Broomswood gelehrt, um den Mädchen die Lust an ihren Körpern auszutreiben. Da müssen wir dann wohl jetzt entscheiden, ob wir Silver Gleam wirklich wecken wollen oder lieber nach Hause fliegen." Selene sah ihre Mutter an. Dann sagte sie, dass sie sich lieber die kurzfristige Tortur des Schutzzaubers antun wolle, als zuzusehen, wie dieser Lord Vengor immer mehr von diesen dunklen Kristallen herstellte und damit Grindelwald und Voldemort, womöglich noch Sardonia und ihre wiedergekehrte Nichte Anthelia in den tiefsten Schatten stellte.
Selene nahm es hin, das ihre zweite Mutter ihr so behutsam sie konnte die zauberstabspitze in ihre Geschlechtsöffnung einführte und dann "Virgines preserveantur!" rief. Unvermittelt meinte Selene, ein immer größer werdender Eisball würde ihren Unterleib von innen aufblähen. Sie zitterte und quängelte: "Brrr ist das aber kalt. So kalt habe ich es nach meiner Geburt nicht empfunden. Brrrrrr!"
"Du willst durch die Tür. Du bist ein Mädchen, also muss ich dich so kalt ausstopfen", lachte Theia. Dann zog sie den zauberstab behutsam wieder frei. Selene versuchte kurz, ihre Scham zu berühren, kam aber nur bis auf einen halben Zentimeter heran. Theia half ihrer Tochter zurück in die bequeme, noch über sechs Tage haltende Reisewindel. Dann reinigte sie ihren zauberstab und führte dann an sich selbst diese Prozedur durch. Auch sie erschauerte. "Brrr, ist ja wirklich kalt. Aber wenn's hilft, sagt Grangran Thyia immer, darf es kurz unangenehm werden."
Erst legte Theia ein langes Haar in den schmalen, mehr als zwei Meter hohen Spalt. Dann legte sie beide Hände an die Wand. Es knirschte und knisterte. Dann schossen aus Theias Unterleib blassblaue Flammen heraus und tanzten wild flackernd im Kreis um sie herum. Die Spalte in der Wand verbreiterte sich immer weiter. Dann wurde Theia von einem Sog erfasst und hindurchgezogen. Krachend fiel die Tür wieder zu. Selene zupfte sich ebenfalls eines ihrer langen, schwarzen Haare aus und schaffte es, dieses in den haarfeinen Spalt zu zwengen. Dann stellte sie sich an die Wand und legte ihre Hände rechts und links neben den Spalt. Sofort verbreiterte sich der Spalt wieder. Selene meinte, jemand rüttele von innen an ihrem Bauch. Sie sah die hitzelos aus ihrem Leib schlagenden Flammen. Sie sah noch einmal zurück. Der Parsec-Besen lehnte noch an der Wand. Sollte sie ihn mitnehmen? Zu spät! Schon riss jener kraftvolle Sog an ihr, der schon Theia in die Wand hineingezogen hatte. Da Selene einen leichteren Körper besaß wurde sie mit der mehrfachen Geschwindigkeit in den Felsen hinübergesogen. Als die Tür wieder hinter ihr zufiel erloschen die blauen Flammen. Ein warmer Schauer durchströmte Selenes Unterleib. Der Preservirgines-zauber war verbraucht. Wenn sie durch diese Tür wieder hinauswollten, mussten sie ihn noch einmal ausführen.
Theia hatte die hitzelosen Flammen auf ihrer linken Handfläche gezaubert, um den zauberstab frei für andere Sachen zu haben. Außerdem gaben die zauberflammen bald zehnmal so viel Licht ab und erhellten einen größeren Raum als das zauberstablicht. Allerdings konnte man dann nichts metallisches außer Gold anfassen, weil die Flammen alles andere Metall zurückdrängten.
Nachdem Theia einen Falltürenfluch und einen Rotationsfluch aus dem Weg gehext hatte, konnten die beiden die dreihundert Meter bis zu einer steinernen Tür gehen, auf der ein mürrisch dreinschauendes Gesicht zu sehen war, dass einem Troll oder einem übergroßen Zwerg entlehnt zu sein schien. Das Gesicht in der Tür klappte den mit spitzen Zähnen gespickten Mund auf und dröhnte rauh und hohl in deutscher Sprache: "Wer einlass begehrt, der nenne den Wert! Was steht über allem Gesetz und Bedürfnis des Menschen?" Als das steinerne Gesicht diese Frage gestellt hatte, sauste hinter Theia und Selene ein Fallgitter mit armdicken Stäben nieder und verriegelte sich am Boden. Theia verzauberte ihre Stimme, so dass sie wie ein Mann klang und sagte: "Das größere Wohl!"
"Diese Antwort ist die richtige", dröhnte das eingemeißelte Gesicht. Ein vierfaches Krachen in der Tür, ein Rasseln, und die Tür schwang nach innen auf. "Willkommen würdiger Besucher in Grindelwalds Berghöhle!"
Die beiden Hexen liefen schnell durch die Tür und standen in einem runden Raum, von dem aus mehrere Gänge abzweigten. Über ihnen hing eine Decke aus Eis und Geröll. Selene dachte daran, wie schnell so eine Eisdecke einbrechen konnte.
"Er hat die Vampirin in einen Sarg aus Metall gelegt. Es könnte angehen, dass er diesen gegen Suchzauber verhüllt hat", sagte Selene.
"Mit anderen Worten, wir dürfen jetzt durch zwölf Gänge und da wohl jeweils zwölf Abzweigungen auskundschaften", sagte Theia verknirscht. Selene bekam nicht mit, wie ihre Mutter innerlich verwünschte, dass Marie Laveaus Geist ihr die Fähigkeit vergellt hatte, den eigenen Körper zu verlassen und als unsichtbare Astralform die gefährlichsten und entlegensten Orte in kürzester Zeit abzusuchen. Doch nach zehn Sekunden hatte Theia eine Idee.
"Dann suche ich eben den stärksten Verhüllungszauber. Schon einmal vom Speculum Occultorum gehört?"
"Natürlich", grinste Selene. "Dann wollen wir doch mal sehen, ob Grindelwald gegen den was machen konnte. Errecto Speculum Occultorum. Monstrato occultantes!" Sie rief so laut, dass ihre Stimme aus allen Gängen unterschiedlich spät widerhallte und sogar Folgeechos erzeugte. Ihr zauberstab glühte erst dunkelblau, dann weißblau. Knisternd wie eine abbrennende Wunderkerze tanzte das blaue Licht über das vorderste Viertel des zauberstabes. Dann explodierte ein weißblauer Lichtball mit lautem Plopp. Theias zauberstab vibrierte mit einem mittleren Summton. Zwei Sekunden später erklang ein ähnlicher Summton aus dem halb links nach vorne weisenden Durchgang. Ebenso schien weißblaues Licht durch diesen. Theia grinste. Dann schlug sie die angezeigte Richtung ein.
"Wer was gut verstecken will sollte es dreifach verhüllen und mindestens drei weitere Verhüllungszauber an anderen Stellen in Rufweite des Suchenden platzieren", dozierte Selene wie eine Lehrerin.
"Und wer das nicht wahrhaben will wird die UTZ-Prüfungen nicht einmal mit akzeptabel bestehen", fügte Theia hinzu. Beide Hexen lachten. Denn beide hatten mal als Lehrerinnen gearbeitet und wussten, dass dieser zauber nicht zum Schulstoff gehörte, sondern nur Ministerialzauberern beigebracht wurde. Mochte es angehen, dass Grindelwald deshalb nur diesen einen Verhüllungszauber benutzt hatte, der durch Theias zauber genau das Gegenteil bewirkte was er sollte.
Erst als sie durch den Gang hindurch in eine kleine Kammer kamen sahen sie vor sich einen quaderförmigen Sockel. Auf diesem ruhte ein im Licht der zauberflammen silbern glänzender Sarg. Um diesen lag eine blassblau flirrende Aura. . Theia beendete ihren zauber mit "Finis Incantato!" Es ploppte, und Sockel und Sarg verschwanden wie disappariert. Doch in Wirklichkeit standen sie noch da, wo sie sein sollten. "Eine negative Illusion", stellten beide fest. Diese aufzuheben war für Theia kein Thema. Doch zuvor wirkte sie mehrere Flucherkennungs- und Zerstreuungszauber. Erst als nach einem kurzen Feuerwerk aus bunten Lichtern, Blitzen und Flammen alles entladen war, was an dunklen Schilden, Fangzaubern und sonstigem vorhandengewesen war, hob Theia die negative Illusion auf, die vorgaukelte, dass etwas nicht da war, was in Wirklichkeit direkt vor ihren Augen war.
Der Sarg besaß sechs Schlösser. Theia schnaubte. Bezauberte Schlösser ließen sich nicht mit einem simplen Alohomora öffnen. Selene erkannte jetzt erst, welchen Respekt, womöglich welche Angst Grindelwald vor Silver Gleam gehabt haben mochte. Sicher, sie kannte die Vierschatten, die damals durch Europa marodiert waren. Womöglich wäre es doch besser, diese Vampirin schlafen zu lassen, um keine zweite Nyx respektive Lamia auf die Menschheit loszulassen. Doch wenn sie mehr über Vengor und seine Möglichkeiten wissen wollten mussten sie es riskieren. Theia und Selene waren nicht einfältig. Sie wussten, wie gefährlich eine mächtige, intelligente Vampirin werden konnte. Andererseits galt bei den Blutsaugern auch ein gewisser Ehrenkodex. Wer einem Vampir freiwillig Blut gab und ihn darum bat, sein Leben zu schützen, hatte einen loyalen Leibwächter, solange er dies wollte. Wohl deshalb wollte Selene auch die Blutspenderin sein. Hinzu kam noch etwas. Das Blut eines unberührten Menschen wirkte dreimal so schnell bei einem in Überdauerungsschlaf verfallenen Vampir. Das schloss auch die Loyalität mit ein. Selene hoffte, dass es hierbei um die körperliche Unberührtheit ging. Ansonsten war ihr Blut eben das eines noch wachsenden Menschen.
"Er wird wohl mit dem Clavunicus-zauber gearbeitet haben", sagte Theia. "Außerdem enthält dieser Kasten sicher auch Occamysilber und wurde mit Unvergänglichkeitszaubern belegt. Er wollte auf keinen Fall, dass sie wieder aufwacht. Gut, auf diese Weise war sie zumindest dem Zugriff von Nyx und Lamia entzogen."
"Es wurden keine Schlüssel erwähnt, die Grindelwald nach dem Duell bei sich hatte", sagte Selene.
"Wenn er sie verschluckt hat", meinte Theia. "War Grindelwald nicht der letzte Gefangene von Nurmengard?" Selene nickte.
"Gut, dorthin zu reisen würde jetzt zu lange dauern. Wir nehmen die Kiste einfach mit."
"Öhm, wie soll das gehen?" wollte Selene wissen. Zur Antwort zog ihre Mutter etwas orangerotes aus ihrem Umhang. Es sah aus wie ein Taschentuch. Doch als sie es auf den silbernen Sarg legte breitete es sich aus, schlug dabei Wellen und umschloss den silbernen Kasten vollständig. Dann hob er ab und steckte unvermittelt in einem passgenauen orangeroten Sack. "Das hat ein diebischer Zauberer namens John Hammersmith vor vierhundert Jahren erfunden. Denn Allwegtragesack. Du brauchst ihn nur auf das zu entführende Objekt, wohl gemerkt einen toten Gegenstand, zu legen, und er schließt diesen ein. Gleichzeitig macht er ihn zu 99 Prozent gewichtslos und verringert die Massenträgheit auf ein Prozent."
"Öhm, Unsere Familie war nicht zufällig mit dem Verwandt?" fragte Selene.
"Nein, unsere Familie nicht. Aber die einer loyalen Mitschwester war mit dem Verschwägert. Wollen die aber nicht gerne drüber reden, weil dieser Tunichtgut es fast geschafft hat, seine eigene Schwester auf den Scheiterhaufen landen zu lassen."
"Dann tragen wir den Sack jetzt nach draußen und befestigen ihn an dem Besen?" wollte Selene wissen.
"Verdammtes Hexenpack!" brüllte dieselbe Stimme, die vorhin an der Tür nach dem Passwort gefragt hatte. Unvermittelt begann es in der Kammer zu beben. Als die beiden Hexen sahen, wie die Decke und die Wände immer näher rückten, erkannten sie, dass Grindelwald noch eine weiter im Berg verborgene Sicherung eingebaut hatte. Theia ergriff den Trageriemen des Sacks und zog ihn federleicht hinter sich her. Selene lief hinter ihr her. Da sausten Fallgitter vor ihnen nieder. "Ihr kommt hier nicht mehr raus!!" brüllte die konservierte Stimme Grindelwalds. Jetzt begann es kleine Eisstücke von der Decke zu regnen.
"Du hinten auf den Sack, Hopp!" rief Theia. Selene wollte erst zögern. Doch die Unerbittlichkeit, mit der ihre Mutter diese Anweisung erteilt hatte gemahnte sie, besser zu gehorchen. Sie sprang auf den orangeroten Sack mit Inhalt. Theia setzte sich ebenfalls rittlings auf den Sack: "Sanctissima libertas!" rief sie. Da explodierte der raum um sie herum. Gleichzeitig wuchsen aus dem orangeroten Material zehn insektenartige Beine heraus. Der nun hunderte von Metern große Raum erstreckte sich vor ihnen. Theia hielt sich gut fest. Selene klammerte sich an den Umhang ihrer Mutter. Jetzt lief der Sack los, sprang mit einem einzigen Satz zwischen den nun turmstarken Fallgitterstäben hindurch. Krachend prasselten die nun Tischgroßen Eisbrocken links und rechts nieder. Doch der verhexte Sack wich den niedergehenden Brocken so flink aus, als wisse etwas in ihm, wo der rettende Weg lag. Als kein Fallgitter mehr zu passieren war wuchs der Sack mit seinen reitern wieder zur vollen Größe an und galoppierte in einen der anderen Seitengänge, nicht zur magisch verriegelten Tür. Dann kletterte er die Wand hinauf wie eine flüchtende Spinne auf dem Weg in die nächste Ritze. Die magische Stimme brüllte "Ihr kommt hier nicht raaaauuus!!" Dann kamen sie zur Tür. "Ihr kommt hier nicht mehr raaaaauuuuus!!!" brüllte die magische Stimme noch einmal, und das Echo ihres Gebrülls hallte fünffach wider.
Als der verhexte Sack mit seinen beiden Reiterinnen kurz vor der Decke ankam schrumpfte er wieder. Jetzt konnte Selene einen Spalt in der Decke erkennen, durch den Luft eindrang. Der Spalt wuchs immer mehr. Als er so breit und hoch war, dass sie locker hindurchschlüpfen konnten, beschleunigte der verzauberte Sack noch einmal und huschte durch ihn hindurch.
Selene schrie fast vor Erstaunen. Sternenklarer Himmel wölbte sich über ihnen. Sie waren wieder im freien. Um sie herum schrumpfte die Landschaft wieder zusammen. Dennoch blieben imposante Bergmassive und klobige Felsen zu sehen.
"Haben wir uns auf die Art auch den Selbstvereisungszauber erspart", bemerkte Theia. Selene stimmte ihr schweigend zu.
Der magische Allzwecksack wuselte auf seinen zehn Laufbeinen am Berghang entlang bis zum Plateau, wo der Besen angelehnt war. Da erbebte die Erde. Sie hörten vom inneren des Felsens her ein unheilvolles Knirschen, Knacken und dann ein lautes Rumpeln. Grindelwalds Keller stürzte in sich zusammen.
Schnell band Theia den Sack am Besen fest. Da verschwanden die zehn Laufbeine wieder. Selene setzte sich hinter ihre Mutter und schlug die Kapuze mit eingewirktem Kopfblasenzauber über den Kopf. Sofort startete Theia. Der magische Sack mit dem Sarg wurde wie ein Sack Daunenfedern hinterdreingezogen.
Als beide die Zugspitze aus mehr als viertausend Metern Höhe sahen lachten sie befreit auf. Sie hatten Grindelwalds letzte Fallen überlebt. Selene hoffte nur, dass in dem Sarg wirklich die Vampirin Silver Gleam ruhte und dass diese nicht zur zweiten Lady Nyx oder Blutmondkönigin Lamia wurde.
Innerhalb von zwei Flugtagen schafften sie die Strecke von Europa bis Amerika. Wie sie den silbernen Sarg aufbekommen wollten wussten sie noch nicht. Doch sie würden es irgendwie schaffen.
Lunera blickte auf die blaue Lösung, die aus dem Gemisch ihres eigenen Urins und der erbeuteten Testlösung entstanden war. Also stimte es. Sie trug Valentinos Baby. Das änderte natürlich einiges. Zum einen würde sie wohl nun nicht mehr so locker ihre erhabene Wolfsgestalt annehmen können, wenn kein Vollmond war. Zum anderen musste sie überlegen, ob sie selbst in weitere Einsätze gehen konnte. Die Operation Erntemond sollte bis Halloween Unterweltgrößen und kleinere Orte zu Abhängigen der Mondbruderschaft machen. Allerdings kamen jetzt noch die abtrünnigen Wertiger dazu. Wenn deren Artgenossen befanden, ihnen nachzujagen konnten die für sie zu einem weiteren Gefahrenherd werden. Vor allem aber, wenn diese Wertiger meinten, eine gesonderte Rangstellung haben zu wollen könnten sie ihr gefährlicher werden als die Zaubereiministerien und die Spinnenhexen. Denn anders als die Zauberstabschwinger konnten die Wertiger weitermelden, wo das Hauptquartier der Mondbruderschaft war.
Die erste Besprechung der Mondbrüder mit den angereisten Wertigern drehte sich um die neuen Einsätze und die Gefahr, die nicht nur die Zaubereiministerien darstellten. Vor allem ging es um das vordringliche Einsatzziel. Hier kam es fast zu einem offenen Streit zwischen Lunera, Rabioso und Feuerkrieger. Rabioso schlug vor, die Erntemondbrigaden nach der Ankunft ausschwärmen zu lassen, um wen auch immer in Reichweite zu beißen, damit diese Leute zu Werwölfen wurden, auch wenn ihnen nicht die Mitgliedschaft in der Mondbruderschaft angeboten wurde. Feuerkrieger wollte dem beipflichten, allerdings unter der Bedingung, dass er und seine Artgenossen auch neue Wertiger hervorbringen sollten. Diese, so Feuerkrieger, unterstünden dann automatisch denen, die sie gemacht hätten. Lunera wollte diese beiden Vorgehensweisen nicht haben, weil ihr wichtig war, Einfluss in der Welt der Eingestaltler zu gewinnen. Dazu war es wichtig, erstens auszuwählen, wer zu einem Wergestaltigen wurde und zweitens diesen auserwählten Personen klarzumachen, dass sie für die Mondbruderschaft einzutreten hatten. Nach möglichkeit sollte das heimlich gehen. Doch Rabioso erwähnte, dass es wohl nicht heimlich ginge, wenn die meisten Mondbrüder keine geborenen Zauberer seien. "Wir haben nur zehn magisch begabte bei uns. Cortoreja wollte damals nicht so viele Zauberstabbenutzer haben, weil er selbst keiner war", knurrte Rabioso. Fino nickte zustimmend.
"Das ist mir bekannt", knurrte Lunera. "Deshalb geht das heimliche anlanden von Getreuen nur, wenn wir Flugzeuge hätten. Nur haben uns diese Fanatiker vom elften September die Tour versaut, mit gekaperten Flugzeugen irgendwo einzufliegen. Vor allem in den Staaten würden die jeden Flieger vom Himmel schießen, der nicht wie lange vorher angemeldet fliegt. Also bleiben nur die Portschlüssel, weil an denen auch magielose drangehängt werden können. Fino und Rabioso haben zwanzig Portschlüssel gemacht. Einer ist uns bei der Aktion gegen die Venutis abhandengekommen. Zum Glück hat Fino ihn so bezaubert, dass nur Lykanthropen ihn benutzen können, sonst hätten wir die Spinnenhexen schon hiergehabt. Aber genau deshalb können wir nicht mehr mit kleinen Truppen zuschlagen, sondern müssen gleich mit Zehner- oder Zwanzigertruppen arbeiten."
"Hört hört, wo Señorita Lunera in den letzten Monden immer schön zu Hause gesessen hat", knurrte Rabioso. Valentino widersprach ihm und erwähnte, dass er mit Lunera ja drei Wochen lang die Niederlassungen eingerichtet habe.
"und was auch sonst noch", schnarrte Rabioso unverkennbar verärgert. Fino ging nicht darauf ein.
"Leute, außer mir kennt hier keiner den Lykonemesis-Trank", stellte Lunera klar. "Wenn ihr meint, einfach so auf Biegen und brechen Leute zu Werwölfen oder Wertigern machen zu müssen, dann geht das nur noch bei Vollmond. Was die Wertiger angeht, so denke ich, dass sie ohne magische Hilfsmittel nur Flugzeuge benutzen könnten, um weite Strecken zu schaffen. Warum wir diese Möglichkeit nicht nehmen können wurde gerade erwähnt. Also halten wir an dem Ziel fest, bestimmte Gruppen von Eingestaltlern zu unseresgleichen zu machen. Dafür schicken wir jeweils zehn oder zwanzig Leute und einen Wertiger los. Wenn es gelingt, ein paar Hexen und Zauberer einzufangen bekommen wir womöglich noch bessere Zugrifssmöglichkeiten auf magische Reisemöglichkeiten und auf Informationen aus dem Zaubereiministerium."
"Und was ist mit diesen Werwolffanggruppen, die aus Werwölfen bestehen?" wollte Rabioso wissen. Seine britischen Mitbrüder nickten. Drei von ihnen waren von solchen Einfängern kassiert worden. Da hatte es auch nichts genutzt, die zu beißen. Denn wer schon mit dem Werwolfkeim angesteckt war konnte nicht noch einmal verflucht werden.
"Ja, und warum gibt's die, weil unsere große Anführerin nicht klargekriegt hat, wer den Trank bekommt", schnarrte Rabioso. Doch das hätte er besser nicht sagen sollen. Denn nun konnten Lunera und einige andere ihm vorhalten, dass er bei der Verteilungsaktion dabei gewesen war und daher mitschuldig an einem möglichen Leck in der Geheimhaltung war. Deshalb gelang es Lunera auch, klarzustellen, dass es auch darum ging, die Zaubereiministerien der Lächerlichkeit preiszugeben. Selbst mit dem Trank würden die nichts ausrichten können, wenn mehrere Werwölfe zugleich einen Ort angriffen und bestimmte Leute entführten oder gleich an Ort und Stelle zu ihren Artgenossen machten.
"Es bleibt bei dem Hauptziel: Bis Halloween müssen wir mindestens mehrere Untergrundorganisationen in Europa und Amerika kontrollieren. Dann können wir alle Zaubereiministerien der Welt dazu zwingen, unsere Daseinsform als gleichberechtigt anzuerkennen und allen, die in den letzten Jahren wegen ihres Daseins benachteiligt wurden, Entschädigung zu zahlen", sagte Lunera. Fino und die anderen ihr folgenden Werwölfe nickten. Feuerkrieger hörte nur zu. Was er dachte bekam keiner mit.
Als die Unstimmigkeiten für's erste geklärt worden waren legten sie die Einteilung und Einsatzgebiete der Erntemondbrigaden fest. Lunera teilte die Brigaden fünf und acht zur Jagd nach Don Rico ein. Dass dieser ihr entwischen konnte sah sie als persönliche Kampfansage. Die anderen Brigaden sollten Europa, die USA und die an Bodenschätzen reichen Staaten Afrikas heimsuchen. Von Asien wollte Lunera zunächst die Finger lassen, weil sie sich doch noch eine Chance ausrechnete, mit den Wertigern eine dauerhafte Übereinkunft zu treffen.
Als Lunera alleine in ihrem Zimmer war und sich ausruhen wollte hörte sie Finos worthafte Gedanken in ihrem Kopf:
"Lunera, möchte noch mal mit dir reden. Bin in einer Minute in Werkstatt zwei!" Lunera konnte leider keine Gedankenbotschaften verschicken. Doch sie erkannte, dass es besser war, mit Fino noch einmal alleine zu reden. So stand sie auf und nahm einen nur ihr bekannten Weg durch das in die Höhlen bei Almeria gegrabene Labyrinth, bis sie die Zauberwerkstatt 2 erreicht hatte. Sie klopfte dreimal und dann noch einmal zweimal. Die Tür wurde leise entriegelt und schwang von selbst auf. Sie trat ein.
Die Einrichtung der Werkstatt für Portschlüssel und Fernverständigungs- und Fernbeobachtungsgegenstände kannte sie schon. Sie interessierte sich nur für den dünnen Mitbruder, der an einer der Werkbänke stand. Fino winkte ihr zu und bedeutete ihr, auf Flüsterreichweite heranzukommen:
"Das mit Rabioso und dem einohrigen Wertiger könnte uns sehr übel aufstoßen, Lunera", wisperte er, während um sie herum einige selbsttätige Maschinen schnarrten, surrten und klickten.
"Mir gefällt dieser Einohrige auch nicht. Der ist nur mitgekommen, weil er die schwarze Spinne bekämpfen will. Der will sein eigenes Ding machen", wisperte Lunera.
"Ich kann mir vorstellen, dass wir bald schon krach mit denen kriegen, sei es mit deren Königspaar oder mit denen, die wir jetzt hier haben. Aber Rabioso macht mir mehr Sorgen. Der Typ denkt nur noch dran, wie Cortoreja einfach so Leute zu kassieren und zu beißen, egal, wie wichtig die sind. Einige von den Muggel-Mitbrüdern stimmen dem heimlich zu. Vor allem Cortorejas erste Mitbrüder wollen einfach nur noch raus in die Welt und möglichst um sich beißen wie tollwütige Hunde. Rabioso könnte auf die Idee kommen, sich mit denen abzusetzen."
"Nur dann, wenn Erntemond zum Fehlschlag wird, Fino. Der macht noch bei uns mit, weil er dadurch eine bessere Rangstellung hat als alleine. Außerdem weiß der, wie sehr er auf den Trank angewiesen ist. Der würde nicht zu einem der Zaubereiministerien hingehen und sich den Trank von denen geben lassen, weil er dann nämlich auf braver Schoßhund machen müsste."
"Bist du absolut sicher, dass der nicht an das Rezept von dem Trank drankommt?" wollte Fino wissen.
"Selbst wenn er mich foltern würde bekäme er es nicht. Und das Originalrezept liegt an einem Ort, den nur ich kenne, weil Cortoreja und ich die so genannten Geheimnisträger von Bruder Alfonso waren."
"Fidelius? Gut, dann kommt er da nicht dran. Aber wir müssen aufpassen, dass unsere Vorräte nicht geplündert werden. Der könnte bei genügenden Dosen genauso hinbekommen, wie der geht, wie es diese verdammten Ministeriumszauberer und -hexen geschafft haben." Dem konnte Lunera nur beipflichten. Fino flüsterte dann noch:
"Am besten schicken wir Rabioso und Feuerkrieger wohin, wo sie ziemlich sicher erledigt werden."
"Rabioso ist für uns genauso wichtig wie du. Ich werde keinen Zauberfähigen in eine totale Mondfinsternis reinjagen", knurrte Lunera warnend. Fino verstand und entschuldigte sich für seinen unbedachten Vorschlag. "Doch was diesen Wertiger angeht, so komme ich gerne auf deinen Vorschlag zurück, wenn sich zeigt, dass er unkontrollierbar ist." Fino nickte. Lunera wollte wissen, ob das alles sei. Fino flüsterte, dass es alles sei. Lunera winkte zum Gruß und kehrte über ihren Schleichweg zurück in ihr Zimmer.
Jemand hatte ihr einen Zettel unter der Tür durchgeschoben. Er war mit blauer Tinte beschrieben. Auf ihm stand:
So wie diese Schrift.
n.
Lunera verstand. Auch Ninas Test hatte die für eine begonnene Schwangerschaft ausgewiesene Färbung angenommen. Damit stand fest, dass die beiden Werwölfinnen Kinder erwarteten. Hoffentlich war die Operation Erntemond bis dahin abgeschlossen.
Julius traf Ornelle Ventvit und Léto im Foyer des französischen Zaubereiministeriums. Als er die reinrassige Veela sah, wie sie aus dem Besucherfahrstuhl stieg, musste er erst schlucken. Sie trug ein wadenlanges, fließendes Kleid aus rosarotem Stoff, das auf Taillenhöhe von einem weißen Gürtel zusammengehalten wurde. Allerdings war das Kleid oben tief ausgeschnitten. Darunter trug sie sowas wie einen schneeweißen Büstenhalter, der ihre weiblichen Formen betonte, statt sie zu verstecken. Ihr Haar hatte sie zu einem luftigen, helmartigen Schopf frisiert, der auf Stirnhöhe durch ein weißes Band in Form gehalten wurde. Als sie sah, dass Julius sie regelrecht anstarrte lächelte sie.
Julius fühlte die auf ihn einströmende Kraft der Veela. Ohne sein Lied des inneren Friedens wäre er diesem überragend schönen Zauberwesen schon oft rettungslos verfallen. Sie wusste das auch, dass sie männliche Wesen über elf Jahren entsprechend berauschen und verführen konnte. Doch dafür war sie nicht unterwegs.
Um nach Moskau zu kommen benutzten sie nicht das Flohnetz, weil Veelas damit nicht verreisen konnten. Ebenso verabscheuten es Veelas, von etwas anderem als den eigenen Flügeln durch die Luft getragen zu werden. So blieb nur ein Portschlüssel. Diese Funktion erfüllte ein mottenzerfressenes Sofa.
Um punkt genau zehn Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit setzte die Portschlüsselwirkung ein. Léto hielt die Augen geschlossen und kuschelte sich an Julius, während sie alle durch einen wilden Farbenwirbel rasten. Dann ruckte es, und sie waren da, wo sie hinwollten.
Erst dachte Julius, dass sie nicht den Standort gewechselt hatten. Doch dann fielen ihm alle Unterschiede zum Startpunkt auf. Sie waren in einer weiten Halle mit mehreren Kaminen an den Wänden. Rot und Gold wie bei den Gryffindors waren die beherrschenden Farben, ob auf den Säulen, die die mindestens zwanzig Meter hohe Decke trugen, ob auf dem Teppich, der den Boden überdeckte, die Vorhänge, die karmesinrot bis Rubinrot waren und goldene Säume und Schnüre besaßen. An der Decke wanderten goldene Symbole entlang, die Julius als Machtrunen für Bewahren, Beschützen und verbergen erkannte. Außerdem war an einer Säule ein Schild mit wechselnden goldenen Buchstaben angebracht. Die Buchstaben erkannte er als kyrillische Schriftzeichen. Er erinnerte sich daran, wie er aus Bokanowskis Burg entkommen war und dem russischen Zaubereiminister mehrere kleine Zylinder mitgebracht hatte, die mit solchen Buchstaben beschrieben gewesen waren. In der Mitte erhob sich eine spiegelnde, durchsichtige Kugel, die knapp einen Meter über dem Boden schwebte. Die Kugel mochte mindestens acht Meter durchmessen und erreichte somit zwei Drittel der Größe von Julius' und Millies Apfelhaus. Julius vermeinte, die Oberfläche der Kugel leichte Wellen schlagen zu sehen. Über der Kugel spannte sich von der Decke bis zum Boden ein frei schwebender Regenbogen, der im Licht der goldenen Kronleuchter wie in der freien Natur aussah.
"Das ist der Tropfen Ewigkeit, Julius", drang Létos Gedankenstimme sanft in seinen Kopf, als er die Kugel besah. "Es ist reines, nur durch Zauberkraft zusammengehaltenes Wasser und ein darüber errichteter gefrorener Regenbogen", fügte sie noch hinzu. Dann sahen sie alle zwanzig Hexen, die nicht in Rot-Gold, sondern stahlblau gekleidet waren und auf die Veela zueilten. Julius verstand nicht, was die Hexen wollten, bis Ornelle ihnen ein goldgerahmtes Dokument zu lesen gab. Dann sagte eine der Hexen in sehr akzenthaftem Französisch: "chaben Sie erst in Zwei Minjuten erwartet, Dama Vjentevjit und Gosbodin Julius Latjärrr. Ich erbitte Verzei'ung, wegen Veela. Aber Veela eigentlich nicht durch große Empfangshalle kommen dürfen, weil verboten."
"Deshalb ja die Sondergenehmigung Ihres obersten Vorgesetzten", sagte Ornelle Ventvit. Julius hatte vor Antritt der Reise die Instruktion erhalten, nur dann offen zu sprechen, wenn er direkt gefragt oder um seine Ansicht gebeten würde. Immerhin war er Anwärter und Ornelle Büroleiterin. Das hatte er eingesehen.
"Die sollen sich nicht so haben", schickte Léto ihm ihre Gedanken unter die Schädeldecke. Trotzdem sie nicht mehr so eng miteinander verbunden waren wie damals, als er ihren Neffen Diosan finden und festnehmen musste, hatte Léto Gefallen daran gefunden, dass sie eine gute geistige Verbindung zu ihm herstellen konnte, wenn sie einander sehen konnten. "Ich war schon oft hier, allerdings unsichtbar. Habe meine erhabene Kraft dann sehr klein gehalten, um die da nicht sofort anrücken zu lassen." Mit "Die da" meinte sie die Hexen in Blau, eine Sondertruppe, die gegen weibliche Zauberwesen eingesetzt wurde, die es schafften, Männer um den Verstand zu bringen. Außer den Veelas gehörten dazu sibirische Eisfeen, Baba Jagas, die, wenn sie wollten, wie junge, höchst attraktive Mädchen aussehen konnten, obwohl sie in Wirklichkeit eher den im westen bekannten Sabberhexen ähnelten, sowie die aus Griechenland ins schwarze Meer übergewechselten Sirenen, jene legendäre Wassernymphen, die durch ihren betörenden Gesang Menschen um den Verstand bringen konnten. Aber gegen eine wie Hallitti, Itoluhila oder Ilithula wären diese Gardeamazonen wohl auch machtlos gewesen, dachte Julius.
Anders als in den westlichen Zaubereiministerien gab es hier keine Fahrstuhlkabinen. Wer zu einer der sechs Hauptetagen wechseln wollte musste in eine Schaufel eines sich langsam drehenden Wasserrades hineinsteigen und zusehen, auf der gewünschten Etage wieder herauszuspringen. Sowas kannte Julius aus London, wo es in alten Amtsgebäuden ähnliche Aufzüge gab, die dort Pater Noster hießen.
Da in eine der großen Transportschaufeln bis zu sechs Leute hineinpassten begleiteten drei der Hexen aus der Veela-Rücktreibetruppe die Gäste aus Frankreich. Wie in den bisher besuchten Zaubereiministerien hörte Julius auch hier eine magische Etagenansage, allerdings mit einer männlichen Stimme und natürlich auf Russisch, was er weder verstehen noch sprechen konnte. Als Léto und zwei der Begleithexen mit einer Armbewegung andeuteten, bei der nächsten Etage auszusteigen bereitete er sich darauf vor, dem sich langsam drehenden Rad zu entspringen. Julius hätte gerne gefragt, wie die das machten, wenn bei Dienstbeginn oder Dienstende so viele Leute gleichzeitig irgendwo hin wollten. Doch er hielt sich an die Weisung, nur auf direkte Anrede zu antworten. Doch er behalf sich damit, dass er Ornelle anmentiloquierte. Diese grinste und fragte die ihr am nächsten stehende Hexe: "Was machen Sie, wenn der Andrang so groß wird, dass alle Radschaufeln doppelt besetzt werden müssten?"
"Dann wir lassen Rrad zweimal so schnell laufen", erwiderte die Hexe. Julius hatte mit einer ähnlichen Antwort gerechnet. Doch bevor er sich mehr dazu überlegen konnte kam die Zieletage in Sicht. Eine der Begleithexen vollführte einen ballerinenhaften Sprung und landete federnd außerhalb der weiter nach oben wandernden Radschaufel. Julius ahmte diesen geschmeidigen Ausstieg nach und erkannte, dass er schon zwanzig zentimeter tiefer springen musste als die Hexe in Blau. Keine Sekunde später verließen auch Léto, Ornelle und die beiden weiteren Hexen die Radschaufel, die unbekümmert immer weiter nach oben angehoben wurde. Julius sah, dass dieses Transportmittel nicht ganz so ungefährlich war wie ein Kabinenlift. Da brauchte man echt schon Konzentration für.
Sie hatten vier Gänge zur Auswahl. durch den links von ihnen wurden sie zu einem Büro geführt, das Julius schon mal betreten hatte. Hier, in diesem ländlich eingerichteten Raum, residierte Maximilian Arcadi, der amtierende russische Zaubereiminister. Der Büroinhaber hatte sich nicht verändert, seitdem Julius ihn flüchtig bei der Quidditch-Weltmeisterschaft in Frankreich gesehen hatte. Im Moment trug er einen dunkelblauen Umhang mit silbernen Halbmondmustern. Er saß, beziehungsweise thronte in einem breiten, schwarzen Ledersessel. Zu seiner Rechten saß ein spindeldürrer Mann mit rotem Bürstenhaar und wallendem, ebenso rotem Vollbart. Der andere war mindestens einen halben Kopf größer als Maximilian Arcadi und trug einen rot-blau quergestreiften Umhang. Julius musste an Ernie aus der Sesamstraße denken. Doch der Rotschopf hieß nicht Ernie, sondern Anatol Andrejewitsch Borodin. Borodin war der Leiter des Büros für denk- und sprachfähige Zauberwesen. Damit hatte er die gleiche Aufgabe wie Ornelle Ventvit in Frankreich.
Maximilian Arcadi begrüßte die Gäste aus Frankreich, wobei er besonders die mitgereiste Veela ansah. Dann ließ der Minister eine Kanne Tee und fünf Tassen herbeischaffen. Léto lehnte den Tee höflich ab. Sie wollte lieber nur Wasser.
Als alle was zu trinken hatten begannen sie sofort mit der Unterredung. Die benutzte Sprache war Französisch, da die Konferenz nur einen Tag dauern sollte und dafür kein Wechselzungentrank ausgeteilt werden sollte. Julius hielt sich an die Instruktion und sprach nur, wenn er von Arcadi direkt dazu aufgefordert wurde. "Dann sind Sie jetzt also bei meinem Kollegen Grandchapeau untergekommen, Gosbodin ... Latjärr. Ich fürchte, ich werde mich nicht so leicht an diesen Nachnamen gewöhnen."
"Doch, ging für mich ganz gut, Herr Minister", sagte Julius locker. Dann ging es auch schon um den einzigen Tagesordnungspunkt.
"Ihre Schwester, die eigentlich herkommen sollte, versteckt ihren Sohn vor uns. Wir müssen sicher sein, dass er niemandem mehr was tut", begann Borodin, nachdem er sich durch einen kurzen Blick die Sprecherlaubnis geholt hatte. Léto, die angesprochen worden war, sagte mit ihrer sanften Stimme:
"Ich habe sehr gestaunt, als Mademoiselle Ventvit mich bat, mit ihr und dem jungen Mann hier mitzukommen, um das zu besprechen. Meine Schwester ist seit einem Jahr mit ihrem Sohn Diosan in einem versteckten Gebiet der Taiga und passt dort mit ihren vier Töchtern auf ihn auf. Warum wollen Sie jetzt, dass er irgendwo anders hinkommen soll?"
"Weil er ihr schon einmal entkommen konnte", sagte Arcadi. "Ich habe lange und breit mit dem Kollegen Borodin darüber gesprochen, ob wir uns einfach so darauf verlassen können, dass Sarja ihren Sohn unter Kontrolle behalten kann. Anatol, bitte legen Sie dar, was Sie zu diesem Punkt vorbringen möchten!"
"Kurz und gut, auch wenn das die Dame da in Rosarot nicht begeistern wird: Ich halte ihre Schwester für nicht vertrauenswürdig. Meiner Auffassung nach ist sie unzuverlässig und vor allem ignorant, was die Zuständigkeit des Zaubereiministeriums angeht. Daher kann ich in meiner Eigenschaft als Leiter des Büros für denk- uns sprachfähige Zauberwesen nicht anders, als die Auslieferung von Diosan Sarjawitsch verlangen. Sollte sie dieser Aufforderung nicht nur nicht nachkommen, sondern Widerstand dagegen leisten, werde ich sie und ihn wohl einkerkern müssen. Allein schon, dass sie die höchstoffizielle Vorladung zu dieser Unterredung ignoriert beweist, dass sie weder willens noch fähig ist, die Aufsichtspflicht gegenüber Diosan aufrechtzuerhalten. Der Junge kann froh sein, dass wir sein Verhalten als Krankhaft akzeptieren und bereit sind, diese Krankheit zu behandeln. Aber dazu muss er sich unbedingt in unsere Obhut begeben."
"Und was ist, wenn er nicht eingekerkert werden will?" fragte Léto herausfordernd. Die beiden russischen Zauberer sahen einander an. Léto setzte deshalb nach: "Wollen Sie ihn dann töten, obwohl Sie beide wissen, dass dann alle seine Blutsverwandten Sie und Ihre Blutsverwandten töten dürfen?" Die beiden Russen sahen immer noch einander an.
"Wir müssten ihn und gegebenenfalls auch seine Mutter in magischen Tiefschlaf versenken." Léto musste wieder den Ernst der Lage glockenhell lachen. Sie räumte ein, dass Diosans Vater, Gellert Grindelwald persönlich, ihn sicher schon längst in Tiefschlaf versenkt und an einem nur von ihm erreichbaren Ort versteckt hätte, wenn das gegangen wäre. Doch Veelas besaßen eine natürliche Immunität gegen vorhaltende Betäubungs- und Schlafzauber. Julius hätte das gerne bestätigt. Doch er war ja nicht gefragt worden. Die beiden Ministerialzauberer erwähnten Betäubungsgas, das dann eben in regelmäßigen Abständen versprüht werden müsse.
"Selbst wenn sie das schaffen, Herr Minister, wird Diosan dadurch nicht von seiner schweren Krankheit geheilt. Im Gegenteil, er könnte trotz der körperlichen Betäubung zu einem gefährlichen Feind werden. Wir Veelas können, wie Sie beide sicher wissen, unseren Geist aus einem sterbenskranken Körper hinausatmen und damit in die Gestalt geschlechtsgleicher Vögel und Säugetiere eindringen, sobald wir keine Möglichkeit mehr sehen, unseren angeborenen Körper zu bewegen. Wollen Sie im ständigen Verfolgungswahn leben, von einem rachsüchtigen Sperling oder gar einem sibirischen Tiger angefallen und getötet zu werden?"
"Dann müssen wir ihn eben töten und jeden Gegenstoß seiner Verwandten entsprechend ahnden", knurrte Borodin. Arcadi erkannte, dass sein Mitarbeiter da gerade ziemlich gefährlich argumentierte, wo Léto dabeisaß. So sagte er schnell: "Es sei denn, und dies ist der Grund meiner Einladung, Sie drei erklären und zeigen uns, wie wir Diosan sofort orten und überwältigen können, wenn er aus dem zugestandenen Waldgebiet entkommt. Den Rest können Sie dann uns überlassen." Julius wartete, ob Léto oder gar Ornelle was dazu sagen würde. Ornelle erwiderte darauf.
"Die Art, wie Diosan beim letzten mal Gefunden und überwunden werden konnte wurde zum Geheimnis der Stufe 9 erhoben. Das heißt, dass weder mein junger Mitarbeiter noch ich berichten dürfen, wie die Ortung genau stattfand." Léto nickte beipflichtend. Dann fragte Borodin Julius, ob er zumindest berichten dürfe, wie er Diosan unschädlich machen konnte. Ornelle nickte ihm ein Einverständnis zu.
Julius berichtete. Er ließ jedoch den altaxarroischen Todeswehrzauber aus, den er gegen Diosan und auch gegen Augustin Grandville verwendet hatte. Die Sache mit den verwandelten Mädchen amüsierte Arcadi und Borodin. Anatol fragte Julius, ob das nicht riskant gewesen sei. Julius erwähnte, dass er den Wiederholzauber gerade bei Verwandlungen gut genug eingeübt habe. Dann wurde er gefragt, wie er Diosan zu Léto und Sarja gebracht hatte. Doch das gehörte zu den Einzelheiten, die er nicht erwähnen durfte.
"Nichts für ungut, aber so kommen wir nicht weiter", sagte Borodin nach einem Nicken Arcadis. Julius dachte an einen Bauern beim Schach, der vor dem König stand und meistens als einer der ersten gezogen wurde. So kam ihm Borodin gerade vor. Der durfte sich die Ablehnungen anhören und für seinen Chef den ungehaltenen Ministeriumsmitarbeiter mimen.
"Die Besprechung stand seit bald einem Monat fest, meine Herren. Es wäre doch eine Kleinigkeit gewesen, unseren Zaubereiminister und Monsieur Vendredi um Freigabe der benötigten Informationen zu ersuchen", sagte Ornelle. Léto funkelte die Hexe dafür ungehalten an.
"Haben wir versucht, aber nur eine Ablehnung erhalten, weil hierfür die Erlaubnis von Léto erteilt werden müsste. Da sie Ihrem jungen Anwärter hier geholfen hat, könnte sie uns ebenfalls helfen, Diosan zu finden."
"Nein, Sie wollen ihn umbringen", erwiderte Léto ungefragt. "Das will und werde ich nicht zulassen. Was ich mit dem jungen Zauberer hier zusammen ausgeführt habe, um Diosan zu finden, werde ich nicht verraten und er auch nicht. Denn nur weil er Diosan nicht töten wollte habe ich ihm geholfen. Jeder, der Diosan oder auch seine Mutter töten will wird diese Hilfe nicht von mir erhalten. Ich habe aber auch gehofft, dass meine Schwester hierherkommt. Da sie das nicht getan hat möchte ich sie gerne suchen und über Ihre Auswahlmöglichkeiten informieren."
"Unser Land ist groß, Veela. Da wirst du Tage oder Wochen unterwegs sein", sagte Borodin, jede Höfliche Anrede fortlassend. Léto überhörte das einfach. Sie erwähnte, dass sie bereit sei, mit ihrer Schwester per Veelagesang zu verhandeln. Die beiden russischen Ministeriumsmitarbeiter lehnten das ab. "Wir wollen den hier bei uns haben. Entweder erzählen Sie uns jetzt, wie das möglich war, ihn so präzise zu orten, oder wir inhaftieren Sie alle wegen mutwilliger Behinderung ministerialer Ermittlungen."
"Oh, jetzt zeigt der Kelpi seine wahre Gestalt", zischte Ornelle Ventvit. "Sie dürfen uns ebensowenig inhaftieren wie wir Sie, wenn Sie in unserem Zaubereiministerium wären. Die Geheimhaltungsstufen zu beachten habe ich mir nicht ausgesucht, sondern während meiner Ausbildung eingeprägt bekommen. Also unterlassen Sie gütigst solche Drohungen, Gosbodin Borodin!"
"Die Veela und Ihr junger Anwärter wissen, wie ein vollkommen geisteskranker Halb-Veela zu finden und zu überwinden ist. Wenn die beiden uns nicht helfen, entspricht das der bewussten Behinderung von Ermittlungsarbeiten", stieß Borodin aus. Da rief ihn Arcadi zur Ordnung.
"Verstehen Sie bitte unsere Besorgnis, Mademoiselle Ventvit, Madame Léto und Monsieur Latjärr! Der Umstand, dass ein Halb-Veela unerkannt unser Land verlassen und nach Westen reisen konnte wiegt sehr schwer auf unseren Seelen. Wenn es eine Möglichkeit gibt, die Gefahr, die von ihm ausgeht, ein für allemal zu bannen, müssen wir dies tun, auch wenn mir das schwerfällt."
Julius wandte sich an seine Vorgesetzte. Diese nickte ihm zu. kann man Diosan einen Fernortungsanhänger umhängen? Mit sowas wäre er sicher immer zu finden, wenn er außerhalb eines festgelegten Gebietes ist."
"Sobald er sich verwandelt würde das Ding von ihm abfallen, Julius", sagte Léto.
"Wir gingen davon aus, dass Sie uns helfen würden", sagte Maximilian Arcadi. "Nun, das war wohl eine Fehleinschätzung. Da Diosan in unserem Zuständigkeitsbereich haust, sind wir für alles verantwortlich, was er tut. Damit sind wir aber auch berechtigt, alles zu erfahren, was nötig ist, um solche Wesen wie ihn unschädlich zu machen, Mademoiselle Ventvit, Madame Léto und Monsieur Latjärr. Und ich bin darauf vereidigt, jeden Schaden und jede magische Gefahr von diesem Land abzuwenden. Ragoschin!" Als der Zaubereiminister das letzte wort rief flutete ein grüner Nebel den Besprechungsraum. Das ging so schnell, dass niemand mehr hätte reagieren können. Julius fühlte schlagartig Hitze, die durch seinen Körper jagte. Er sah sich um. Léto saß auf ihrem Stuhl. Um sie flirrte die Luft in einer rötlich-goldenen Aura. Ornelle indes kippte übergangslos mit dem Kopf auf den Tisch. Der Nebel trug einen eigentümlichen Geruch, der in Julius' Nase eine merkwürdige Vibration erzeugte. Mehr empfand er nicht. Auch die beiden russischen Ministeriumsbeamten konnten sich noch bewegen.
Léto lachte laut und überlegen auf. Ihre Stimme hallte wie eine kleine Kirchenglocke von den Wänden wider. Julius indes erkannte, dass die Vorsichtsmaßnahme tatsächlich nötig gewesen war. Seine Schwiegertante Béatrice hatte ihm geraten, mindestens einen gegen Schlafdunst wirksamen Zaubertrank und einen gegen Veritaserum einzunehmen. Zwar hätte er ihr nicht verraten dürfen, dass er nach Moskau reiste. Aber er hatte so eine dumpfe Vorahnung gehabt, dass Arcadi vielleicht mehr von ihm persönlich wollen könnte als nur zu wissen, wie Diosan besiegt wurde. Da gab es die Kinder Ashtarias, sowie auch die Begegnung mit Ilithula und Hallitti.
"Wieso ...?" fragte Borodin ungläubig, als Julius und Léto zusammen aufstanden. Léto formte einen Trichter aus ihren Händen. Arcadi zog seinen Zauberstab. Immer noch waberte der grüne Nebel. Léto parierte einen Schockzauber mit einem rötlichen Zauberschild. Der Schocker krachte in die Wand und löste lautes Alarmgeheul aus. Julius wusste, dass er den Minister auf keinen Fall mit einem Zauber angreifen durfte. Entweder würde Arcadi in Sicherheit teleportiert oder der Angriff auf ihn zurückgeworfen. Aber Borodin war nicht geschützt. "Stupor!" rief Julius dem Rotschopf entgegen. Dieser riss den Zauberstab hoch, war aber genau die Zehntelsekunde zu langsam. Julius' roter Schockblitz traf ihn an der Brust und warf ihn zu Boden. Arcadi versuchte, Léto magische Stricke anzulegen. Doch sie wurde innerhalb eines Sekundenbruchteils zu einer nicht mehr ganz so ansehnlichen Mischform aus Mensch und Vogel und ließ die Stricke einfach in einem aus ihren Händen schlagenden Feuer verkohlen. Ornelle indes lag halb auf dem Tisch. Léto packte Julius mit der einen und Ornelle mit der anderen jetzt schuppig wirkenden, scharfbekrallten Hand und kreischte ein Wort: "Rochade!" Unvermittelt wurden die drei Besucher aus Frankreich in einen bunten Farbenwirbel hineingerissen. Die Wirbelei dauerte jedoch nicht lange. Als sie aus dem Wirbel herausfielen waren sie wieder im Foyer.
Der Alarm heulte. Sicherheitstruppen tauchten aus den Seitengängen auf. Julius hielt immer noch den Zauberstab in der Hand und dachte an die flauschigen, gurrenden Pelztierchen von der Raumstation K-7, während er "Evoco Plurimagines!" rief. Schlagartig bevölkerten fünf, dann zwanzig und noch mehr Juliuses, Ornelles und Létos die Halle. Die Sicherheitszauberer wurden davon zunächst abgelenkt.
Léto schwang sich mit ihren beiden Begleitern in die Luft. Julius fürchtete, dass das für die Veela zu schwer war. Doch sie trug die beiden sicher zu jener Stelle, wo der eigentliche Portschlüssel stand. Die Sicherheitszauberer eröffneten das Magische Feuer auf die fliegenden und laufenden Ebenbilder. Erst als einer schimpfte und wohl was kommandierte, hörten die nutzlos in den Raum geschleuderten Fang- und Lähmzauber auf. Als Léto mit Julius und Ornelle über dem mottenzerfressenen Sofa herunterstieß knisterte es. Julius fühlte, wie etwas eiskaltes seinen Körper umschloss und daran rüttelte. Dann verschwanden die Ebenbilder im Nichts. Er fühlte eine große Erschöpfung. Da landeten sie auf dem Sofa, Julius zu unterst. Er konnte seinen Zauberstab gerade noch langstrecken, um Ornelle nicht damit aufzuspießen oder den Stab an ihr zu zerbrechen. "Heimkehr!" rief Léto mit ihrer Vogelstimme auf Französisch. DA erfasste die drei wieder ein Portschlüsselwirbel. Julius hörte gerade noch, wie ein ihnen geltender Fluch entgegensirrte. Dann hatte sie jener wilde Wirbel zwischen Raum und Zeit endgültig verschlungen.
Die Reise dauerte jetzt etwas Länger. Julius rang mit seinem Bewusstsein. Der Zauber gegen seine Ebenbildvervielfältigung hatte ihm mehr zugesetzt als der grüne Nebel in Arcadis Büro. Als der Zug an seinem Bauchnabel aufhörte und das Sofa mit ihnen laut polternd landete tanzten die ersten Sterne vor seinen Augen.
Léto wurde wieder zur überragendschönen Frau mit silberblondem Haar. Sie drehte Julius und Ornelle in eine bequemere Lage. Dann rief sie nach jemandem. Sofort kamen mehrere Zauberer herbei, die Französisch sprachen. Julius schaffte es, den Sternenregen vor seinen Augen zu verdrängen. Er atmete tief ein und wieder aus und wieder ein und wieder aus. Das half ihm, die Ohnmacht von sich fernzuhalten.
"Ich Weiß, dass Sie hier einen Heiler haben. Der möchte bitte Mademoiselle Ventvit untersuchen und behandeln", sagte Léto. Dann lächelte sie Julius an. "Hast auch damit gerechnet, dass Arcadi wegen seiner Angst ein falsches Spiel treibt, wie?"
"Zumindest gibt es einiges, was er gerne von mir hätte wissen können, ich aber nicht verraten will", erwiderte Julius darauf. Dann fragte er, wieso Léto dem Giftgas nicht zum Opfer gefallen sei.
"Erkläre ich dir gleich, wenn wir deine Vorgesetzte in die Obhut des residenten Heilers gegeben haben", sagte sie.
In dem Moment tauchte der Notfallheiler Louis Champverd im Foyer auf. Julius kannte ihn noch von seinen ersten Apparierübungen, die er hier absolviert hatte.
"Was liegt vor, Monsieur Latierre?" fragte der Heiler, weil Léto sich bei seinem Eintreffen schon drei Schritte zurückgezogen hatte. Julius gab eine kurze Schilderung der verpatzten Festnahme durch das russische Zaubereiministerium und beschrieb die Farbe des Nebels und welche Maßnahme er dagegen genommen hatte, ohne vorher zu wissen, was ihm passieren könnte. Der Heiler fragte ihn dann noch, wie er sich gefühlt hatte, als sein Abwehrtrank das Gas bekämpft hatte. "Die sind echt dreist, mit dem Schlaf des Gehorsams zu hantieren. Von wem haben Sie das Rezept für den Vorbeugetrank?" Julius erwähnte ein Buch aus seiner Bibliothek, in dem die stärksten alchemistischen Betäubungsmittel und ihre Antidote erwähnt wurden. "Öhm, und dann hat die gute Antoinette Eauvive es zugelassen, dass Sie hier bei uns im Ministerium anfangen konnten?" fragte der Heiler. "Okay, den Trank müsste ich nachbrauen. Die Betäubung dürfte noch vier Stunden andauern und hat die üble Nebenwirkung, das die bis dahin gehörten und verstandenen Anweisungen nach dem Erwachen befolgt werden. Das gibt sicher Ärger", grummelte der Heiler.
"Muss sie in die Delourdesklinik?" fragte Julius.
"Hmm, könnte sein, dass die das Antidot gegen den Schlaf des Gehorsams vorrätig haben", sagte der Heiler und deutete auf einen gerade freien Kamin.
"Schlaf des Gehorsams klingt ziemlich heftig außerhalb des Zulässigen", erwiderte Julius.
"Wie erwähnt, wer davon erwischt wird muss alle in der Wirkungszeit gehörten Anweisungen ausführen, fast wie unter Imperius. Allerdings können diese Anweisungen durch einen simplen Schockzauber mit Wiedererweckung entkräftet werden. Daher und weil es zu dem Trank genug Antidote gibt wird seine Anwendung nur mit fünftausend Galleonen plus dem doppelten Jahresgehalt des oder der Betroffenen geahndet. Im Wiederholungsfall gibt's dann zwei Jahre Vollpension in Tourresulatant oder Askaban."
"Wie heftig muss sich jemand in die Enge gedrängt fühlen, um sowas zu riskieren?" fragte Julius.
"Ziemlich", erwiderte der Heiler, während er Julius half, Ornelle in einen gerade smaragdgrün brennenden Kamin zu bugsieren. ""Notfalleinweisung Delourdesklinik!" rief der Heiler. Fauchend verschwand er mit der Patientin. Julius hatte sich nicht mit auf die Reise begeben. Er wollte dem Zaubereiminister und Monsieur Vendredi Bericht erstatten. Léto begleitete ihn.
Nachdem Julius Monsieur Vendredi erzählt hatte, was passiert war und dieser ungläubig um sich blickte, betrat Ornelle Ventvit das Büro ihres direkten Vorgesetzten und entschuldigte sich, dass sie nicht sofort zu ihm hatte kommen können. "Die hatten den Antagonisten zum Schlaf des Gehorsams, Monsieur Vendredi und Monsieur Latierre", sagte sie. Dann holte sie einen Gegenstand wie einen Lippenstift aus ihrem Umhang. Sie drehte am verschluss und ließ daraufhin die Wörter und Geräusche der letzten zwei Stunden in den Raum hineinklingen, als säßen die Sprecher unsichtbar bei ihnen. Als dann die entscheidende Szene akkustisch wiedergegeben wurde erstarrte Monsieur Vendredi. Es dauerte einige Sekunden, bis er was sagen konnte:
"Nun, er muss sich wohl sehr in die Enge gedrängt gefühlt haben. Er hatte wohl viel Angst vor etwas, was er nicht zugeben wollte."
"Gut, Angst rechtfertigt nicht alles. Aber so wie ich ihn verstanden habe fürchtete er sich vor Diosan", erwiderte Ornelle Ventvit.
"Ja, und wie wir ihn hier erlebt haben wohl zurecht. Abgesehen davon könnte er bei einer sich bitenden Gelegenheit entwischen und sich wem anschließen, der seine Fähigkeiten zu nutzen weiß", erwiderte Monsieur Vendredi.
"Wem da bitte?" fragte Julius. Doch Monsieur Vendredi winkte ab und sagte, dass dies die Sache für Seniorbeamte sei. Julius nickte. Das musste er zumindest akzeptieren.
Als auch noch der Zaubereiminister die Zeugenaussagen gehört und die Aufzeichnung der Konferenz nachgehört hatte sagte er: "Ich kläre das mit Maximilian auf direktem Weg. Monsieur Vendredi, sie begleiten mich bitte. Die Aufzeichnung nehmen wir mit. Ich werde aussagen, dass ich Mademoiselle Ventvit beauftragt habe, den Gesprächsverlauf auf diese Weise aufzuzeichnen."
"In Ordnung, Monsieur leministre", sagte Monsieur Vendredi.
"Werden wir dann noch benötigt?" erkundigte sich Ornelle Ventvit. Der Zaubereiminister erwähnte, dass diese Angelegenheit bis auf weiteres der Geheimhaltungsstufe S9 zugeordnet wurde. Damit hatte Julius schon gerechnet. "Dann möchte ich mit meinem Anwärter gerne die Berichte schreiben", sagte Ornelle.
Julius musste sich erst wieder einen Stuhl einfangen, als sie im Büro waren. Léto zog es vor, zu stehen. Ihr Schwiegersohn Pygmalion hatte heute frei, weil ja durchaus die Möglichkeit bestanden hatte, das Léto ins Büro kam und eine Übereinkunft besagte, dass er und seine Schwiegermutter nicht zur selben Zeit im Büro sein durften.
"Darf ich Sie fragen, wie sie das Gift abwehren konnten", sagte Julius.
"Damit", sagte die Veela und deutete auf ihr Kleid. "In dem Kleid sind Haare aller meiner Töchter und Enkeltöchter verwoben und mit einem Lied verstärkt worden, dass jeden bösen Dunst oder jede zerfressende Flüssigkeit von mir fernhält."
"Und wo war der Kurzstreckenportschlüssel?"
"Den hat meine Tochter Apolline mir mir als Armband umgebunden. Allerdings konnte ich damit nur dorthin, wo der Portschlüssel wartete, der mich zuvor transportiert hat. Dass der Auslöser für einen großen Ministeriumsportschlüssel Heimkehr ist wusste ich schon von Ornelles Vorgängerin."
"Da haben wir im Land der Schachspieler aber erstaunlich gut gepokert", grinste Julius. Ornelle meinte dazu: "Wenn Arcadi mit uns Schach gespielt hätte. Er hat aber Roulette gespielt, Rot oder Schwarz, gerade oder ungerade und gehofft, dass er auf das richtige Feld gesetzt hat. Irgendwas ist da, warum er so kurzentschlossen und überhastet geplant hat."
"Das unterliegt bei ihm wohl auch S9", erwiderte Julius abfällig.
Zwei Stunden später hatten Ornelle und Julius ihre Berichte fertig und eingereicht. Minister Grandchapeau hatte Arcadi ein großes Feuer unter dem Kessel angemacht. So hieß das, wenn jemandem viel Ärger angekündigt oder bereitet wurde. Arcadi erklärte sich damit bereit, für zehn Jahre nicht mehr aus seinem Land auszureisen, weil er erkannt hatte, dass er in einer Lage, wo er besonnen hätte handeln müssen, sehr unvorbildlich und zudem auch vertrauensgefährdend gehandelt hatte. Es gab Verträge, die Angehörigen ausländischer Zaubereiministerien eine gewisse Unantastbarkeit einräumten, solange sie nicht darauf ausgingen, die Bürger des besuchten Landes magisch zu unterwerfen oder anderweitig zu schädigen. Über diese kurze und noch dazu ergebnislose Konferenz durfte kein Wort an die Öffentlichkeit dringen, allein schon, um die Zusammenarbeit zwischen den Ministerien nicht zu schädigen. Julius fragte den Minister, ob er mit einer Entschuldigung von Arcadi rechnen könne und erhielt die zu erwartende Antwort:
"Nun, so gesehen ist ja nichts geschehen. Bei einer Entschuldigungsforderung müssten wir ja erwähnen, warum wir Sie nach Moskau geschickt haben, was wiederum Fragen nach sich zieht, worum es bei Diosan ging und wie er aufgehalten werden konnte und noch dies und jenes, was auch für Sie unangenehme Fragen nach sich ziehen dürfte." Julius nickte. Ja, das würde dann durchaus passieren. So ballte er beide Fäuste in den Taschen und tat die kurze und noch dazu unerfreuliche Reise als nicht wirklich passiert ab.
"Wir haben Anfragen aus den Staaten und Spanien, ob wir die von uns entschlüsselten Lykonemesis-Tränke weitergeben werden", sagte Monsieur Vendredi, nachdem er alle seine Mitarbeiter um sich versammelt hatte. Die Reise nach Moskau hatte offiziell wirklich nicht stattgefunden. Jetzt ging es um die so genannte Mondbruderschaft der Werwölfe. Die dafür zuständigen Fachleute besprachen, inwieweit die Zaubereiverwaltung der vereinigten Staaten den Trank nachbrauen wollte. Dann ging es darum, dass die Werwölfe mit Portschlüsseln in südamerikanische Städte eingefallen waren.
Mitten in das Referat eines Mitglieds der neuen Legion de la Lune, der französischen Version des Kommandos Remus Lupin aus England, traf eine eilige Eulenpost ein. Monsieur Vendredi las vor:
"Warnung, zehn Werwölfe mit Portschlüssel in der Nähe von Westminster Abbey aufgetaucht. Waren in Begleitung eines Wertigers. Wertiger setzte hinzustoßendes Kommando von Auroren magisch außer Gefecht. Elf Truppenmitglieder durch Beinfeuerwaffen der Muggel getötet. Entsatzkommando konnte drei tote Werwölfe bergen. Werwölfe mit Wertiger mit Portschlüssel entkommen. Warnung an alle zaubereiministerien, bei Ortung von Portschlüsseln nicht durch Apparatoren aufklären und abwehren, sondern aus sicherer Höhe. Gezeichnet Amos Diggory, Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe."
Julius lauschte. Erst musste er grinsen, weil da was von Beinfeuerwaffen gestanden hatte. Mr. Diggory meinte aber garantiert Handfeuerwaffen, also Pistolen, Gewehre und Schnellfeuerwaffen. Das war nicht so spaßig, wie es klang. Zudem kam noch die höchst unangenehme Erkenntnis aus dieser Meldung. Also hatten die Werwölfe, die sich durch einen Zaubertrank wann sie wollten verwandeln und dann frei handeln konnten, mit den indischen Wertigern zusammengetan. Wie mächtig diese waren wusste er aus den Erinnerungen von Camilles Vorfahrin Ariassa. Er wusste auch, dass diesen Bestien nur mit Feuer und Eis beizukommen war, aber Kinder Ashtarias und Eingeweihte in die vier alten Schutzzauber diese Wesen nicht töten durften.
Nach der Verlesung des in Englisch geschriebenen Textes erfüllte betretenes Schweigen den großen Konferenzraum. Die Angehörigen der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe sahen einander fragend an. Wie konnte man gegen Wertiger kämpfen, ohne dabei eine halbe Stadt in Brand zu stecken. Dann sagte Ornelle Ventvit:
"Es ist merkwürdig, dass die Wertiger sich jetzt wieder bei uns in Europa blicken lassen, wo sie vor dreieinhalb Jahren so unverhofft aus Frankreich und England geflohen sind. Es wäre günstig, einen der Lykanthropen lebend zu fangen und auszuhorchen."
"Ja, aber der Wertiger?" fragte Simon Beaubois, der Leiter der Geisterbehörde.
"Eis geht gegen die. Kennen Sie flüssigen Stickstoff oder Sauerstoff?" fragte Julius.
"Flüssige Luft", warf ein Außendienstmitarbeiter aus Barbara Latierres Büro ein. Julius bejahte es. "Ist dann wie besonders kaltes Eis. Das könnte Wertiger zumindest lähmen."
"Und wo bekommt man sowas?" fragte Monsieur Vendredi. Darauf konte dann einer seiner Schädlingsbekämpfungsbeamten antworten und was von einer Tiefgefrierspirale erzählen, die alles auf knapp über die kälteste mögliche Temperatur herunterkühlte. "Gut, dann stellen Sie umgehend genug durch Abkühlung verflüssigte Luft her und lagern diese in gleichwarm bezauberten und Rauminhaltsfergrößerten Behältern, die bei Bedarf von oben heruntergeworfen werden können!" befahl er. Julius erschauerte. Hatte er gerade den entscheidenden Vorschlag gemacht, denkende Wesen zu töten.
"Sie wollen ihren Keim verbreiten, Julius. Wenn sie nicht davon loskommen müssen sie aufgehalten werden", drang eine celloartig klingende Frauenstimme in seinen Geist ein.
"Wir dürfen doch niemanden töten", dachte Julius der Quelle dieser Stimme zu.
"Nicht von uns aus und nicht als erstes Mittel, Julius. Wir müssen immer vermeiden, jemanden zu töten. Aber wenn es nicht zu vermeiden ist muss zumindest eine Waffe vorgezeigt werden, die den Tod herbeiführen kann", antwortete die nur für Julius vernehmbare Stimme. Er bat noch einmal ums Wort und sagte:
"Vielleicht sollte den Wertigern erst einmal gedroht werden, das man sie töten kann und ihre Magieabsorbtion ihnen nicht helfen wird. Vielleicht können dann sogar Verhandlungen stattfinden. Wenn es ihnen nur darum geht, sich auszubreiten, dann muss es wohl mit Gewalt verhindert werden. Doch wenn sie nur versuchen, mehr Mitsprache zu bekommen, gehen vielleicht verhandlungen, wenn sie wissen, dass sie nicht gewinnen können."
"Nichts für ungut, junger Anwärter Latierre. Aber Wertiger sind, soweit wir das aus allen verfügbaren Quellen kennen, mehr tier- als menschenähnlich. Da sie selbst keine Magie anwenden können kann die Zusammenarbeit mit den Werwölfen, von denen ja wohl einige vollwertige Zauberer und Hexen sind, ihnen mehr Möglichkeiten bieten, ihre Art über die ganze Welt zu verbreiten, ähnlich wie bei den Vampiren."
"Ja, nur mit dem Unterschied, dass wir mit Vampiren der hellen Mondphase gewisse Abkommen erwirken konnten", sagte Ornelle Ventvit. Ihr Kollege aus der Vampirüberwachungsbehörde nickte schwerfällig und murmelte das Wort Nocturnia. Vendredi überlegte schon. Dann sagte er: "Gut, wir warnen erst und befehlen den Wertigern, sich nicht zu verwandeln. Tun sie es doch, müssen wir mit unmagischen Gewaltmitteln antworten, so leid mir dies ebenfalls tut." Julius nickte. Mit diesem Kompromiss konnte und musste er leben.
Hallo Julius! Auch wenn eine Eule durch die Kamine immer noch langsamer als eine E-Mail ist möchte ich vorerst keine weiteren elektronischen Briefe verschicken. Ich habe auch Brittany gebeten, mich per Eule anzuschreiben. Dir möchte ich empfehlen, auch nur über unsere Viviane-Bilder und das Bild von Aurora Dawn Kontakt zu mir und Aurora Dawn zu halten. Du weißt sicher, dass im Zuge der Ermittlungen nach den Anschlägen vom 11. September das FBI und andere Bundesbehörden und Geheimdienste krampfhaft nach den Drahtziehern dieser Attentate fahnden. Hierzu wollen diese Behörden auch den elektronischen Briefverkehr zwischen den USA und anderen Ländern prüfen. Offenbar versucht das Zaubereiministerium von Mr. Cartridge, die aufgeworfene Bedrohungsstimmung in den Staaten zu einer massiven Abwerbungskampagne zu nutzen, um mich aus dem französischen ins US-amerikanische Zaubereiministerium zu holen. Hierbei war sich ein gewisser Mr. Worthington, der seit dem ersten Juli 2001 der leiter für das Kontaktbüro zwischen Menschen mit und ohne Magie ist, nicht zu schade, mir in Aussicht zu stellen, dass die US-Geheimdienste nach verdächtigen Ausländern suchten, auch solchen, die zum Erwerb einer Wohn- und Arbeitserlaubnis einen eingetragenen US-Bürger heirateten. Zwar würden die Behörden eher nach männlichen Attentätern suchen. Dies schließe aber nicht aus, dass auch ausländische Frauen verdächtigt würden, den Attentätern Unterschlupf oder Ausrüstungsmittel zu verschaffen. An und für sich ist das für unsereins lächerlich. Doch wenn ich mir in Erinnerung rufe, wie gründlich Didier und Pétain mit den französischen Ermittlungsbehörden zusammengearbeitet haben, um uns festnehmen zu lassen, kann ich leider nicht darüber lachen, was Mr. Worthington mir da enthüllt. Ja, und wenn er dann noch behauptet, dass er jedem Mitarbeiter des US-Zaubereiministeriums garantiere, dass es nicht von Muggelweltbehörden behelligt würde, klingt das für mich schon wie aus einem Mafia-Film: Zahl schön brav Schutzgeld, dann zünden wir dein Haus nicht an oder verstümmeln Mitglieder deiner Familie! Es ist schlichtweg widerwärtig, dass ich hier nicht in Frieden leben und arbeiten darf, so wie ich hergekommen bin. Ich habe Lucky nicht geheiratet, um eine rasche Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, die legendäre grüne Karte, zu bekommen. Aber die unterschwellige Drohung mit den Geheimdiensten muss ich ernstnehmen. Sicher, es gibt nur drei Alternativen: Entweder auf diese schon kriminellen Avancen eingehen, sie ignorieren und dabei meinen Familienfrieden gefährden oder Lucky dazu zu überreden, seine Heimat aufzugeben und wieder nach Frankreich oder England zurückzukehren. Keine der drei Möglichkeiten erscheint mir im Moment annehmbar. Heute morgen suchte mich dann eine gewisse Brenda Brightgate auf. Sie apparierte vor der Grundstücksgrenze. Sie erwähnte, sie habe früher mit Jane Porter zusammengearbeitet. Lucky und ich kannten die dame nicht. Aber sie ist definitiv eine Hexe. Als wir sie höflicherweise ins Wohnzimmer gebeten haben, präsentierte sie uns einen Ausweis von der CIA und behauptete, dort zu arbeiten, um Dinge, die aus der Zaubererwelt stammen, für Magielose plausibel umzuarbeiten. Sie wies mich darauf hin, dass ein anderer Mitarbeiter von ihr, ein gewisser Ira Waterford, bereits nach Anhaltspunkten suche, ob wir verräterische Informationsspuren hinterlassen hätten, die entweder als verdächtig für Terrorismus oder fahrlässige Preisgabe der Geheimhaltung ausgelegt werden könten. Im Angedenken ihrer verstorbenen Kollegin wolle Sie mich vorwarnen, dass ich bis auf weiteres nichts im Internet mache, was meine Beziehung zur Zaubererwelt darlege, da die CIA und die NSA wohl auf einen Freibrief hofften, um alle Daten- und Geldbewegungen der letzten zehn Jahre nachzurecherchieren und zukünftige Daten- und Geldbewegungen zu überwachen. Ich muss meine Aussage vom elften September bekräftigen, Julius. So wie es gerade den Anschein hat ist unsere freie Welt bald Geschichte. Im Namen der Angst und der Sicherheit könnten ebenso schlimme Verbrechen begangen werden, wie es das Attentat an sich war. Will sagen, mehr als die 3000 Leute aus dem WHZ und den Feuerwehrtruppen könnten demnächst ihr Leben verlieren und der Rest wird mit Überwachungs- und Hasskampagnen niedergehalten. Ein ziemlich finsteres Déjà vu ist das, wo wir beide ähnliches im dunklen Jahr erlebt haben. Lucky fragte die Geheimagentin, die gleichzeitig wohl für dieses Laveau-Institut arbeitet, ob sie wisse, dass das Zaubereiministerium versuche, mich auf diese Weise für sich einzuspannen. Er unterstellte ihr frei heraus, dass sie mich nur aufgesucht habe, um mir noch mehr Druck zu machen. Sie blieb erstaunlich gelassen und räumte ein, dass dies durchaus den Eindruck machen möge. Dann erwähnte sie, das es ihr und vor allem ihrem magischen Arbeitgeber wichtig sei, dass ich weiterhin außerhalb des US-amerikanischen Zaubereiministeriums arbeiten würde. Denn die hätten immer noch Probleme mit Hexen in ihren Reihen, wenn gleich das Ministerium mittlerweile wieder Hexen beschäftige. Lucky fragte dann, ob Brenda dann nicht für ihren Chef, diesen Elysius Davidson vorfühlen wolle, ob ich bei denen unterkommen wolle. Darauf sagte sie nur, dass ich dazu ein bestimmtes Einstellungskriterium erfüllen müsse und zudem auch Willens und fähig sein müsse, gegen gefährliche Lebewesen und Menschen präventiv und offensiv zu kämpfen. Da sie dies alles nicht wisse und jene ominöse Einstellungsgrundlage nicht mal eben so erfüllt werden könne, dürfe und wolle sie mir nicht dazu raten, mich beim Laveau-Institut zu bewerben, zumal ich dann ja auch die einträgliche Anstellung beim französischen Zaubereiministerium aufgeben müsse. Ich sagte ihr dann, dass ich mir keinen Druck von einem Zaubereiministerium machen ließe, dessen Besetzung in den letzten zehn Jahren immer wider zu unangenehmen Verwicklungen geführt habe. Welche Einstellungsbedingung diese Brenda Brightgate gemeint hat weiß ich nicht. Vielleicht hast du mit Glorias Oma darüber gesprochen und darfst es mir erzählen. Lucky und ich haben uns vom LI zumindest noch ein paar Vorwarnzauber und Fluchtportschlüssel geben lassen. Eine Justine Brightgate, die Cousine von erwähnter Brenda, bestätigte mir, dass ihre Cousine mich durchaus nur warnen und auf einen möglichen Coup des Zaubereiministeriums, da vor allem Mr. Worthington, vorbereiten wolle. Offenbar, so Justine, eine sehr wandlungsfähige Dame, erhoffe sich dieser Worthington eine Beförderung und Gehaltserhöhung, da seine Tochter Wendy am zweiten Februar 2002 heiraten wolle und ihr Auserwählter ein Neffe von Minister Cartridge sei, also wohl was hermache. Dies soll mich nicht interessieren. Ich schreibe es nur, damit du mitbekommst, warum wer auch immer versucht, mich für sich zu vereinnahmen. Hätte ich das vorher gewusst, dann hätte ich Genevièves Werbungsversuche positiv beschieden und bräuchte mich nur vor rauflustigen Jungen oder ignoranten Mädchen fürchten, die meine Arbeitszeit wertlos machen. Gut, von der Sorte gab es zu meiner Zeit in Millemerveilles niemanden, weil die meisten über ihre Neugier und die Möglichkeit, besser sein zu können als ihre anderen Freunde und Bekannte, gut zu führen waren und hoffentlich noch sind. So, jetzt habe ich viel von mir geschrieben, was ich nicht gerne am Telefon sagen möchte. Wie geht's euch vieren? Oder zählt Millie das von ihr getragene Baby noch nicht mit? Schreibe mir ruhig. Vielleicht ist es doch wieder was erhabenes, etwas von deiner Hand geschriebenes auf Papier zu kriegen, das du vorher in der Hand gehabt hast. Ich soll euch auch schön von Brittany grüßen und ausrichten, dass sie am 31. Oktober eine Halloweenparty geben möchte, wenn sie weiß, wie sie ihr Haus gegen die Mondbrüder sichern kann. Lucky und ich senden euch unsere besten Wünsche für eure Arbeit und Gesundheit für Millie, die kleine Aurore, die noch kleinere Chrysope und dich!
P.S. Handgeschrieben kommt mir mein neuer Nachname noch sympathischer vor.
"Selbstverständlich zähle ich Chrysie schon mit, Monju", grinste Millie, nachdem Julius ihr den Brief leise vorgelesen hatte. "Aber schon ziemlich gemein, wie die Yankees Martha für sich einspannen wollen. Da war Sandrines Maman ja noch recht harmlos gegen. Ähm, von wegen schnelle Verbindungen. Wolltest du nicht längst die beiden Armbänder weitergegeben haben, die du für Martha und Britt eingesammelt hast?" Julius nickte heftig.
"Das mache ich besser bei erwähnter Party. Öhm, was hat die Dame, die dir ihr Kleid vererbt hat über Nachhilfeunterricht erzählt?" fragte Julius.
"Jedes Jahr, es sei denn, ich würde gerade ein Kind erwarten. Also können wir den Ausflug zu der diesen Oktober weglassen. Aber vielleicht möchte sie dann, wenn Chrysope sich aus mir rausgezwengt hat, dass ich wieder zu ihr hingehe."
"Dann wollen wir hoffen, dass ich bis dahin nicht von Werwölfen oder Wertigern gefressen wurde", knurrte Julius.
"Eh, das verbiete ich dir, Rorie und allen anderen, an denen mir eine Menge liegt, Süßer."
"Wenn ich das bei dir so einfach könnte", seufzte Julius."Ich persönlich bleibe jetzt erst einmal hier. Da draußen wuseln mir zu viele Pelzwechsler rum, die hier nicht reinkommen können. Außerdem habe ich gerade eine Interviewserie mit unserer ehemaligen Klassenkameradin Laurentine laufen, wie sie den Übergang von der Schulzeit und dem Jahr als Beamtenanwärterin zur Dorfschullehrerin hinbekommt."
"Ui, Laurentine wollte ich ja längst fragen, ob die ihren schnuckeligen Dienstwagen wieder hat abgeben müssen oder ob sie den als Mitglied des magischen Bildungswesens behalten durfte."
"Das kann ich dir auch so sagen, Monju. Sie hat ihren Ministerwagen wieder abgeben müssen. Den Führerschein hat sie aber behalten dürfen. Der Mann, den ich Pa nennen darf, hat mit ihr was gefingert, dass sie einen kleinen Wagen hat, der schlau oder aufgeweckt heißt, oder was bedeutet das englische Wort Smart sonst?"
"Wie, ich dachte, die wollte ein Auto haben", lachte Julius. "Vielleicht kriegt sie ja zu Weihnachten noch so einen motorisierten Rollschuh für den anderen Fuß."
"Lustig, als ich das Ding gesehen habe dachte ich auch, dass sei ein Spielzeug für Muggelkinder, so wie unsere Baby-Besen. Aber die hat mich und Pa damit mal durch die Stadt gefahren. dank flexiblem Rauminhaltsvergrößerungszauber kann der bis zu zehn Leute und genausoviele Koffer mitnehmen. Oma Line wollte auch mal mit allen noch bei ihr wohnenden Kindern mitgenommen werden, um zu gucken, ob das Ding ein ähnlich gutes Maman-Automobil ist wie Pas Bus."
"Gut, viel kann bei dem Wagen nicht passieren. Der letzte Große Unfall war, als ein Förstergehilfe im Wald einen Ameisenhaufen gerammt hat."
"Echt. Und, viel passiert?"
"Na ja, zwei Ameisen haben sich ein Bein Gebrochen und eine Tannennadel im Haufen musste repariert werden", sagte Julius. Millie überlegte kurz und musste dann schallend lachen. Das wiederum erregte den Unmut einer kleinen Hexe, die erst im nächsten Jahr zur Welt kommen wollte. "Ist gut, Kleines, ich wackel nicht mehr. Kannst weiterschlafen", kicherte Millie, nachdem sich ihr Bauch einmal kräftig ausgebeult hatte. Sie und Julius streichelten zärtlich über Chrysopes kleine Behausung. Aurore kam, weil Mamans Lachen sie aufgeweckt hatte. "Fein, Fein!" quäkte sie, als sie sich am Streicheln von ihrer allerersten Behausung beteiligte. Dafür bekam sie dann von ihren Eltern ebenfalls Streicheleinheiten, bis sie auf dem immer runder werdenden Bauch ihrer Mutter einschlief. Millie bettete Aurore so, dass sie der kleinen Schwester nicht den Platz wegnahm und summte leise ein Wiegenlied, während Julius sich dezent in die Küche zurückzog und für die ein drei Achtel Hexen das Abendessen zu machen.
Brandon Rivers fühlte sich nicht sonderlich gut. Immer wieder versuchten die Sicherheitsdienste der NATO, alle ihre Netzwerke auskundschaftenden Programme auszuhebeln. Am Ende warfen die noch eine Atombombe über der Sonneninsel ab, weil sie dort den bösen Feind suchten, der den elften September verschuldet hatte. Als er am neunten Oktober einen hochverschlüsselten Brief von den Jungferninseln erhielt fragte er sich erst, was an einem gewissen Rupert Möller so wichtig sein sollte, dass er seine Daten auskundschaften sollte. Doch die Antwort lieferte Patricia Straton sofort mit. "Anthelia hat ihn wohl als den Wertiger Feuerkrieger identifiziert. Sie will ihn fangen. Womöglich sucht der nach Leuten, die ihn kennen, um neue Kontakte in Europa oder den Staaten zu knüpfen."
"Nachdem, was ihr mir über diese Monster erzählt habt sind die selbst für Magier heftig. Okay, ich hangel mich durch den immer dichteren Datendschungel und hoffe, dass die Karnivoren der NSA mich nicht fressen oder deren Kannibalen mich in eine Datenfallgrube reinrasseln lassen."
"Wenn Gefahr besteht müssen wir uns eben totstellen", sagte Patricia. Brandon nickte. Dann machte er sich daran, den neuen Auftrag auszuführen.
Lunera wusste nicht, ob es die noch nur ihr bekannte Schwangerschaft war, die ihre Stimmung durcheinanderbrachte oder die immer mehr piesackende Erkenntnis, dass durch den Bruch des Lykonemesis-Monopols immer mehr magisch begabte Werwölfe für die Zaubereiministerien arbeiten wollten, anstatt der Mondbruderschaft beizutreten. Als dann noch herauskam, dass wohl eine Hexe entkommen war, die bei Feuerkriegers erstem Einsatz gegen ihn gekämpft hatte, war ihr klar, dass die Taktik mit den Wertigern wohl bald wertlos wurde.
Am dritten Oktober erhielt sie einen Tipp, wo sie einen von Don Ricos Kurieren abfangen konnte. Hatte sie den, konnte sie auch an Don Rico heran. Auch wenn sie nicht wusste, ob sie diesen Einsatz überleben würde oder nicht, nahm sie persönlich daran teil.
Mit einer löcherigen Gießkanne als Portschlüssel landete sie mit einem Fünfertrupp in der Nähe von Mesilla in Mexiko. Fino hatte mit einigen von dort stammenden Mitbrüdern einen alten Keller ausgekundschaftet, der gegen das Orten landender Portschlüssel abgeschirmt werden konnte. Allerdings war der Keller so klein, dass nur bis zu sieben Leute dort ohne sich gegenseitig niederzutrampeln stehen konnten.
"Wir bleiben in menschlicher Gestalt", wisperte Lunera ihren Mitkämpfern zu. "Der Kurier ist um sieben Uhr Ortszeit auf der nach Mexiko-Stadt führenden Autobahn. Bis dahin müssen wir die Sperre eingerichtet haben."
"Und wenn das wieder eine Falle ist?" fragte Jorge, einer der Mitkämpfer.
"Jeden töten, der uns angreift", erwiderte Lunera.
Die Werwölfe schlichen sich durch Anzüge und Helme unkenntnlich und selbst für Feuer und Silberkugeln unangreifbar zur Autobahn. Luneras Kontakt hatte genau beschrieben, in welchem Fahrzeug der Kurier sitzen würde. Kam dieses, so würden sie ein von Fino präpariertes Seil über die Fahrbahn spannen, das alle elektrischen und elektronischen Vorgänge in einem Auto unterbrach und das Fahrzeug selbst wie ein ultrastarker Magnet festhielt. Diese Sperre konnte nicht von Ministeriumszauberern erfasst werden und war innerhalb von Sekunden einzurichten und wieder abzubauen.
Lunera studierte die vorbeirauschenden und knatternden Kraftfahrzeuge. Da waren große, dröhnende und klappernde Lastwagen, deren Ladung gefährlich unsicher auf der offenen Ladefläche herumrutschte. Da kamen neuwertige, große oder zweisitzige, flache Autos, sowie angejahrte, rostbefallene Wagen, deren Motoren immer wieder blechern blubberten und spotzten. Lunera erkannte sogar mehrere ältere und neuere Modelle des Wagens, den Nina als Käfer bezeichnet hatte. Für Leute mit wenig Geld waren die wohl noch sehr begehrenswert. Natürlich ratterten und röhrten auch unzählige Motorräder vorüber.
Es war zwanzig Minuten nach sieben, als ein alter, mittelgrüner Ford die Straße entlangglitt. Der Wagen war wohl fünfundzwanzig Jahre alt, erkannte Jorge, der sich mit Autos auskannte. Drei Beulen in der vorderen Stoßstange und ein auffälliger Rostfleck an der rechten Hintertür waren die Kennzeichen, auf die Lunera gewartet hatte. Ein einziger Mann, klein, dick und dunkelhaarig, saß am Steuer. Das sollte er sein, Dulcino, Don Ricos Nachrichtenbote.
"Okay, Abstoppen und Fahrer so schnell wie es geht rausholen und betäuben!" rief Lunera. Sie peilte noch einmal in alle Richtungen, ob jemand ihr zusehen würde. Dann warf sie das antielektrische, ultramagnetische Seil mit Wurfknoten am anderen Ende über die bahn. Ihr Kumpan auf der anderen Straßenseite fing das Ende und warf es um den mit Saugnapf am Boden festgeklebten Haltepoller.
Als der grüne Ford sich dem Seil näherte, hörten die Werwölfe, wie dessen Motor stotterte. Einen Moment lang schien der Wagen schneller zu werden. Dann traf er auf das Seil und blieb abrupt stehen. Das Motorengeräusch erstarb augenblicklich, weil die Zündfunken fehlten. Der Insasse versuchte wohl, die Tür zu öffnen. Doch das ging nicht so leicht, wie er gedacht hatte. Denn die supermagnetische Kraft des Seils beschwerte die Türen. Außerdem schien er selbst mit den Füßen festzukleben. Lunera grinste. Der hatte wohl Nägel in den Schuhen oder gar Stahlkappen in den Schuhspitzen.
Jorge und zwei weitere Mondbrüder stürmten auf den Wagen zu. Sie rissen die Fahrertür auf und packten den Fahrer. Jorge zog eine kleine Injektionspistole hervor, um dem Fahrer ein Betäubungsmittel zu verabreichen. Da quoll fast durchsichtiger Dunst aus dem Wageninneren hervor. Die Werwölfe taumelten und wankten. Lunera erkannte sofort die Falle. Jemand hatte eine Gassprühanlage in den Wagen eingebaut, die in einer bestimmten Situation losging. Der tückische Brodem machte, dass Jorge und seine beiden Helfershelfer nicht mehr wussten, wie sie sich auf den Beinen halten sollten. Sie kippten über und schlugen flach auf den Boden hin. Die Gaswolke dehnte sich derweil aus und wurde völlig unsichtbar.
"Luft anhalten und unsere Leute zurückholen", stieß Lunera laut aus. Ihre beiden noch handlungsfähigen Begleiter rannten los, auf den Wagen zu. Lunera überlegte, ob sie mithelfen sollte, als sie das unverkennbare Geräusch eines heranfliegenden Hubschraubers hörte. Sie ahnte, dass ihr und ihren Werwölfen hier wieder eine Falle gestellt worden war, aber diesmal nicht von den Zauberern, sondern von den Muggeln. Sie verwünschte den Umstand, nicht den ganzen Wagen aufheben und wegtragen zu können. Aber den Fahrer wollte sie haben.
Sie rannte los, sicher die Luft anhaltend. Hoffentlich konnte sie den Fahrer wegziehen und aus dem Wirkungsbereich der Gaswolke ziehen. Vielleicht war der Gasvorrat auch schon erschöpft und verflüchtigte sich im sachten Wind. Sie kam an die betäubten Mitbrüder heran und packte den ohnmächtig auf dem Fahrersitz hockenden Mann unter den Schultern. Sie zog an ihm, versuchte, ihn aus dem Wagen herauszuholen. Da hörte sie ein unheimlich lautes, sehr hohes schrillen. Einen Moment später war ihr, als jage ihr jemand Speerspitzen durch die Ohren in den Kopf. Sie hatte nur noch den schrillen, überhohen Pfeifton im Kopf. Vor ihren Augen irrlichterten kleine Blitze. Es war, als explodiere immer wieder etwas mit Urgewalt in ihrem Kopf. Diese Schmerzen drohten ihr die Besinnung zu rauben. Erst als sie sich auf den Boden warf ließ diese unheimliche Folter nach. Ihre beiden Mitbrüder fühlten wohl auch diesen unheimlichen Angriff auf Gehör und Gehirn. Doch sie schafften es noch, ihre Maschinenpistolen bereitzumachen und in Richtung des Hubschraubers zu feuern.
Die Kugeln prallten ab. Die Maschine war gepanzert. Lunera hörte nun diesen überhohen Pfeifton noch lauter. Doch weil sie gerade am Boden lag empfand sie keinen weiteren Schmerz. Ihre Mitbrüder feuerten weiter auf die Maschine. Sie versuchten, dierekt in die Rotorblätter zu treffen, um das Fluggerät abzuschießen. Doch wer immer es steuerte kannte die Schwachstelle und hielt die Maschine so, dass die MP-Geschosse nur die besonders gut gepanzerte Unterseite trafen. Dann verloren die beiden Schützen erst die Waffen und dann ihr Bewusstsein. Lunera sah noch einmal wilde Blitze vor ihren Augen und fühlte einen wie tausend brennende Pfeile in ihrem Kopf wütenden Schmerz. Dann hörte die Folter auf. Sie keuchte am Rande der Ohnmacht. Sie sah den Arm und ein Bein zweier Mitbrüder in Reichweite. Sie wusste, dass sie hier wegmusste. Wenn diese Banditen landeten und sie in ihre Gewalt brachten konnten die womöglich aus ihr herausholen, wo das Hauptquartier der Mondbrüder war. Wem sie das Wissen verkauften wusste Lunera nicht. Doch irgendwer würde dafür sicher was bezahlen oder herausgeben.
Sie holte die verbeulte Gießkanne hervor, legte sie sich unter ihre Brüste, drückte mit dem oberkörper darauf und bekam den einen Arm und eine Hand zu fassen. "Rückzug!" keuchte sie. Sie hörte gerade noch, wie fünf Männer aus dem Hubschrauber auf ihre Position zurannten, dann riss sie der Portschlüsselzauber mit sich.
Wieder im Hauptquartier suchte sie nach Fino, um ihn mit einem Trupp zum bezeichneten Autobahnabschnitt zurückzuschicken. Doch Fino war nicht im Hauptquartier. Sie fragte herum und erfuhr, dass er unterwegs in einen verbotenen Wald irgendwo in Schottland war, weil er dort von irgendwelchen Zaubertieren Sachen erbeuten wollte. Lunera stieß nur einen wütenden Schrei aus. Rabioso war auch gerade unterwegs, um in einem magischen Garten Spaniens Zauberkräuter für diverse Tränke zu beschaffen. Lunera ärgerte sich, dass sie nicht daran gedacht hatte, mindestens einen weiteren Portschlüssel für eine Rettungsmission eingerichtet zu haben.
Als Fino wieder da war und zehn Mann Rettungstruppe zur Autobahn bei Mesilla zurückkehrten, fanden sie weder das Seil, noch die drei zurückgelassenen Mitbrüder noch den Wagen und erst recht nicht den Hubschrauber. Don Rico hatte einen weiteren Sieg über die Mondbruderschaft errungen. Lunera wollte es nicht wahrhaben, dass jemand ohne magische Fähigkeiten dazu in der Lage gewesen war, ihre Einsatztruppe auszutricksen. Vor allem, so wurde ihr mit ganzer Wucht klar, hatte er die drei ohnmächtigen Mitbrüder sicher am Leben gelassen. Die wussten zwar nicht, wo genau das Hauptquartier der Mondbruderschaft lag. Doch sie kannten die Gesichter fast aller Mitbrüder und wussten auch von den Wertigern. Vor allem aber, sie besaßen das veränderte Blut der Lykanthropen. Am Ende meinte dieser Don Rico noch, daraus was besonderes machen zu können oder den Keim zu isolieren, um ihn als Waffe und/oder Druckmittel gegen andere magielose Eingestaltler einzusetzen. Sie hatte einem gewievten, skrupellosen Banditen den Schlüssel zu sehr viel Macht und Reichtum in die Hände gespielt. Dafür sollte der aber bald büßen. Das schwor sie sich.
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