DIE GESANDTEN

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Der selbsternannte Erbe Voldemorts plant seine nächsten Aktionen, um sich den Weg zum Machtzentrum Iaxathans zu erschließen. Der Zauberer, der sich Lord Vengor nennt weiß, dass er mit jedem weiteren Mord, den er dafür begehen muss, seinen Feinden mehr und mehr offenbaren wird. Doch ihm bleibt keine andere Wahl. Zeitgleich mit Vengors dunklen Taten beschließt die nach der Welle der Vernichtung entkörperte Nyx, die mit ihren selbsterzeugten Vampirzöglingen zu einer einzigen Seele verschmolzen ist, die ihr aufgezwungene Tatenlosigkeit zu beenden. Sie sucht nach körperlich lebenden Helferinnen und Helfern, die ihre Gesandten und Vollstrecker werden sollen.

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Wie hatte der sich befreien können? Vesta Moran hatte diesen Vampir doch mit festen Eisenketten gefesselt. Doch die hatte der zerrissen, als wenn es haardünne Fäden gewesen wären. Sie hatte gerade versucht, ihm ein wenig seines weißen Blutes zu entnehmen, als er sich freisprengte und sofort über sie herfiel. Vesta fürchtete schon, dass er ihr gleich sämtliches Blut aus den Adern saugen würde. Doch er hatte was schlimmeres mit ihr vor. Er warf sie mit unmenschlicher Brutalität auf den Bodn, riß ihr mit seinen Klauen die Kleidung vom Leib und warf sich über sie. "Bevor ich dir alles aussauge, was du im Leib hast pflüge ich deinen Schoß um, du verdammtes Weib", schnarrte er, bevor er sie mit Gewalt nahm und erst nach unendlich erscheinender Zeit von ihr abließ. Vesta wurde halbohnmächtig. Der Vampir meinte jedoch, sie sei unter der Pein für Körper und Seele gänzlich bewusstlos geworden. Ein boshaftes Verlangen, sie erst dann auszusaugen, wenn sie es mit vollem Bewußtsein erlebte, ließ ihn erst einmal von ihr Abstand nehmen. Doch Vesta war nicht völlig bewusstlos. Die grausame Demütigung, der Schmerz und die Furcht wurden zu einer Flamme des Hasses, die sich in einer unbändigen Wut entlud. Vesta fühlte, dass sie dieses Monstrum da töten mußte, bevor es sie tötete. Sie wollte ihn vernichten, verbrennen sehen. Diese aus ihrem unsäglichen Leid entstandene Zerstörungswut ließ ihren Körper erhitzen. Sie fühlte die Spannung, die zwischen ihren Fingern knisterte. Als der Vampir, der von seinen Artgenossen Moonwalker genannt worden war, erkannte, welchem Irrtum er aufgesessen war, war es schon zu spät. Er wollte sich schnell über die nun gänzlich erwachende Hexe werfen, um ihr diesmal seine Fangzähne in den Leib zu bohren, als um Vesta eine Aura aus fliegenden Funken entstand, die schlagartig um den in sie hineingeratenen Vampir zu einer Wolke grüner Flammen gebündelt wurde. Moonwalker schaffte es nicht mehr, der Feuersphäre zu entrinnen. Vestas Hass loderte nun wortwörtlich um den Leib des Vampirs, während aus den Fingern der Hexe blattgrüne Blitze schossen und die ebensogrünen Flammen nährten, in denen der Vampir unter lauten Schreien und Verrenkungen sein Dasein aushauchte. ER brannte nieder wie ein Reisigbündel. Nichts als Asche blieb von ihm zurück. Vesta lachte, als sie fühlte, wie der Blutsauger allein durch die Kraft ihres Hasses verging, ohne dass sie an ihren Zauberstab gelangt wäre. Sie fühlte, wie das ihn vernichtende Feuer ihr neue Kraft gab, ihre Schmerzen für einen Moment überlagerte. Aus ihrem Vernichtungswillen wurde eine übermächtige Glückseligkeit, die sie vor Verzückung aufschreien und laut lachen ließ. Wer sie so gehört und gesehen hätte wäre wohl davon überzeugt gewesen, dass die Vergewaltigung durch Moonwalker sie in den Wahnsinn getrieben haben mochte. Doch ihr Verstand klärte sich, nachdem sie lauthals und inbrünstig ihre Überlegenheit und Befriedigung ausgelebt hatte. Dann erkannte sie, dass sie das geschehene nicht umkehren konnte. Ihre Unberührtheit war dahin, wo sie doch geschworen hatte, mit unversehrtem Schoß ins Grab zu steigen. Das ging jetzt nicht mehr. Doch der, der sie geschändet hatte, existierte nicht mehr. Ja, sie fühlte, dass sie in ihrer zu tödlichem Hass ausgeuferten Wut alle physischen Kräfte des Blutsaugers in sich aufgesogen hatte, während ihr Vernichtungsfeuer die Substanz zerstört hatte, aus der er bestanden hatte. Doch niemand sollte es erfahren, dass sie, die Stellvertreterin der entschlossenen Schwestern Großbritanniens, von einem Vampir vergewaltigt worden war. Dann fiel ihr ein, dass männliche Vampire voll wirksame Samenflüssigkeit ausbilden konnten. Es hatte schon Fälle gegeben, wo Vampirpaare richtige Kinder gezeugt hatten, die von einer Vampirin ausgetragen und geboren wurden, wobei sie jedoch viel frisches Blut junger Menschen trinken mußte, um die Leibesfrucht ausreifen zu können. Vesta erschrak bei dem Gedanken, dass Moonwalker sie mit seiner rohen Gewalthandlung vielleicht sogar geschwängert haben mochte. Dem mußte sie entgegenwirken. Sie mußte den Trank der folgenlosen Freuden brauen und einnehmen.

Vesta hatte ganze drei Wochen gebraucht, um so heimlich wie nötig alle Zutaten für den Trank der folgenlosen Freude zu beschaffen. Diesen zu brauen hatte zwei Tage gedauert. Doch irgendwie mußte sie beim brauen etwas falsch gemacht haben. Denn als sie ihn getrunken hatte, meinte sie, es zerreiße ihren Magen. Dampfend und pechschwarz war ihr der Trank mit dem restlichen Mageninhalt zum Mund herausgeflogen. Sie hatte auch ein gewisses Ruckeln in ihrem Unterleib gefühlt. Aber ob das ausreichte, jeden unerwünscht eingenisteten Lebenskeim abzustoßen wußte sie nicht.

Erst als sie mehr als zwei Wochen über ihre übliche Zeit hinaus war wußte sie, dass die Schändung ihres Körpers sie tatsächlich mit ungewolltem Nachwuchs beladen hatte. Sie versuchte den Trank noch einmal nachzubrauen, prüfte mit Untersuchungslösungen auf die korrekte Wirkung und erlebte dasselbe wie beim ersten Mal. Kaum hatte sie den Trank eingenommen, revoltierte ihr Magen und schleuderte ihn wieder zu ihrem Mund hinaus. Mußte sie wirklich mit körperlicher Gewalt abtöten, was da in ihr aufgekeimt war? Erst mal mußte sie Gewißheit haben. Sie vollzog einen Test und fand die für sie unangenehme Bestätigung, dass sie neues Leben trug, das Kind eines Vampirs. Diese Schande, einer derartig späten Rache zum Opfer zu fallen und womöglich von allen anderen Hexen übermäßig bemitleidet oder rundweg verachtet zu werden wollte sie nicht ertragen. Sie dachte an rein mechanische Mittel, eine ungewollte Leibesfrucht zu zerstören. Doch dabei empfand sie plötzlich Anwandlungen von Scham und Furcht. Sie konnte doch nicht einfach mit irgendwelchen scharfen oder spitzen Gegenständen in ihrem Leib herumfuhrwerken! Das ging doch nicht. So blieb ihr, um die Schande nicht ertragen zu müssen, nur der Weg in den Freitod. Doch auch da überkam sie eine Woge von Schuldgefühlen. Sie hatte Moonwalker gefangengenommen, wollte ihm sein Blut stehlen, um damit für ihre Mitschwestern interessante Versuche zu machen. Wie der sich befreien konnte wußte sie bis heute nicht. Doch sie hatte ihn zuerst gedemütigt und wollte ihn sogar töten. Sie hatte ihn getötet. Wenn er im letzten Akt seines Lebens seinen Erben in ihr hatte entstehen lassen, so mußte sie, um diese Schuld zu sühnen, diesen Erben zur Welt bringen, ihn hüten und großziehen. Warum dachte sie so? Sie hatte Moonwalker nicht töten wollen, bevor er meinte, sie schänden zu müssen. Er hätte doch einfach nur flüchten müssen. Aber sie hätte ihn dann sicher umgebracht, weil er sie nie in Ruhe gelassen hätte. Vielleicht hatte er sie deshalb vergewaltigt, weil er wußte, dass er sowieso von ihr umgebracht würde. Der konnte unmöglich wissen, dass Vesta schon immer eine gute Beziehung zum Element Feuer hatte, dass sie bereits durch gezielten Wunsch ein Feuer dort entstehen ließ, wo sie hinblickte oder mit dem Finger hinzeigte. Das war ja schon damit losgegangen, als sie selbst geboren wurde, und das Kaminfeuer noch stärker und heller gebrannt hatte, wohl weil es ihr, der Neugeborenen, zu kalt geworden war. Daher hatten ihre Eltern sie ja Vesta genannt, nach der altrömischen Göttin des Herdfeuers. Genau deshalb wollte sie auch wie die Priesterinnen dieser Göttin bis in den Tod unberührt bleiben, zumal sie fürchten mußte, dass ihre angeborene Pyrokinetische Begabung sich bei möglichen Kindern unkontrolliert auswirken würde. Und jetzt war sie mit einem Kind schwanger, dass zur Hälfte Vampirblut enthielt und zur Hälfte ihr Blut. Ihr Fleisch und Blut, vermischt mit dem eines Nachtkindes. Das ließ sie daran denken, dass sie gerade ein besonderes Kind im Leib trug, ein Sonderfall der Natur. Denn bisher war es wohl noch keiner Hexe eingefallen, die Keimflüssigkeit eines männlichen Vampirs zu verwenden, um sich damit zu befruchten. Selbst die großartige Anthelia hatte dies nie versucht, und diese hatte schon zur Zeit ihrer Tante Sardonia und dann auch in England vieles mit ihrem Körper angestellt, um noch stärker zu werden. Vesta entschied sich, dieses Experiment zu wagen und das, was ihr Moonwalker in den Schoß getrieben hatte, ans Licht dieser Welt zu bringen. Vielleicht starb das Halbkind ja, wenn es in den Schein der Sonne oder des Feuers geriet. Vielleicht wurde es aber auch zum mächtigsten Zauberwesen überhautp. Dann durfte sie stolz sein, seine Mutter zu werden. Allerdings hoffte sie nun inständig, einen Sohn unter dem Herzen zu tragen. Denn eine Tochter, die ihr womöglich überlegen sein konnte, wollte sie nicht haben.

Nach Vestas Entschluß, das ihr gewaltsam eingepflanzte Leben auszureifen, stellte sie fest, dass Vampirembryonen offenbar länger brauchten, um zu reifen. In ihrem Tagebuch, dass sie führte, notierte sie jede körperliche Regung und auch, dass sie trotz eindeutiger Prüfungsergebnisse erst vier Monate nach dem Ergebnis die Herztöne des Ungeborenen hatte hören können. Außerdem konnte sie essen, soviel sie wollte. Sie nahm an allen nicht für die Kindesversorgung nötigen Stellen immer mehr ab als zu, obwohl sie Heißhunger auf rohes, blutiges Fleisch entwickelte und es einmal notierte, dass sie ein halbes Schwein vertilgt hatte, ohne dass sie danach nur um eine Unze zugenommen hatte. So schwollen ihre Brüste und ihr Bauch, während sie an Armen und Beinen immer abnahm und schon fürchtete, sie könne zu einem lebenden Gerippe abmagern. doch zehn Monate nach der bestätigten Empfängnis, wo sich das in ihr reifende Kind nun deutlich spürbar bewegte, kehrte sich die Gewichtsabnahme um. Sie gewann wieder genug Körpergewicht, ohne übermäßig zuzunehmen. Ihr Heißhunger auf rohes, blutiges Fleisch und alles, wo kein Knoblauch drin verarbeitet war, wurde stärker, so dass sie sogar schon dazu überging, ganze Kühe von den Weiden zu stehlen, umzubringen und dann innerhalb von zwei Tagen bis auf die unverwertbaren Knochen, Knorpel und Sehnen zu verspeisen. Doch die hunderte von Pfund Rindfleisch setzten bei ihr nur zu einem Zwanzigstel an. Das in ihr ungewöhnlich langsam wachsende Kind schien den größten Teil davon zu verwerten, ohne ihr selbst schwerer als üblich zu werden. Insgesamt dauerte Vestas grausam erzwungene Schwangerschaft ganze siebzehn Monate. Da sie sich von allen zurückgezogen hatte, um ihr dunkles Geheimnis zu wahren und auch erreicht hatte, dass ihre Mitschwestern sie nicht finden konnten, mußte sie alleine gebären. Sie tat dies in einem dunklen Raum, um das Kind, mit dem sie nicht nur körperlich immer mehr herangewachsen war, nicht gleich nach seinem ersten Atemzug durch Sonnenlicht oder Feuer sterben zu lassen. In manchen Träumen hatte sie gemeint, mit dem ungeborenen zu sprechen, wie es sich dafür bedankte, dass sie es am Leben gelassen hatte und sich freute, ihr Kind zu werden und sich sogar dafür entschuldigte, dass sein Vater sie nicht mit Liebe sondern Verachtung genommen hatte. Sie hatte ihm im Traum versprochen, es zu achten und ihm ein lebenswertes Leben zu geben. Das passierte am 1. September 1939.

Als Vesta schon meinte, die Schmerzen nicht mehr auszuhalten, öffnete sich die Tür des Hauses. Sie konnte gerade nicht aufstehen. Gerade war die Fruchtblase geplatzt. Sie schrie eine weitere Wehe hinaus in die Dunkelheit. Da ging die Tür zu jenem Zimmer auf, in dem sie hockte. Das einfallende Licht tat ihr für einige Sekunden in den Augen weh. Daher sah sie nicht, wer da an allen ihren Schutzzaubern vorbei in dieses dunkle Zimmer eintrat. Erst als sie Sophia Whitesands Stimme hörte wußte sie, dass die aufstrebende Cousine des Hogwarts-Lehrers Albus Dumbledore sie gefunden hatte.

"Hast du wirklich gedacht, Schwester, dass du mit dieser dir aufgeladenen Last alleine zurechtkommst", hörte sie Sophias Stimme. Dann ging die Tür wieder zu.

"Woher weißt du das?!" Schrie Vesta in einer Mischung aus Schmerz, Ertapptheit und Furcht.

"Hast du echt gedacht, wir Schwestern bekämen es nicht mit, dass du dich vor uns zu verbergen suchtest? Auch wenn deine Verbergezauber sehr gut sind konnten wir doch ergründen, was dich zur Heimlichkeit trieb. Als wir dann auch wußten, dass du kein normales Menschenkind trägst war uns klar, dass du unsere Hilfe brauchst. Doch erst jetzt kann ich mich dir gefahrlos nähern, ohne von deiner Pyrokinetischen Wut zerstört zu werden. Laß mich dir beistehen und dir helfen, dieses Kind zur Welt zu bringen!"

"Lieber lasse ich mich von ihm zerreißen und sterbe, als dass ich dir erlaube ... Aaaarg!" Rief Vesta und fühlte, wie die gerade über sie hereinbrechende Wehe sie beinahe ohnmächtig machte. So konnte sie nichts tun, als Sophia Whitesand sich vor ihr hinsetzte, ihre Arme festband und dann ihre unerbetene Hebammenpflicht tat. Vesta fügte sich und befolgte alle ihr gegebenen Anweisungen. Zehn Stunden später ertönte der erste Schrei des ungewöhnlichen Kindes. Sophia machte kein Licht. Sie betastete den feuchten Körper des gerade entbundenen Kindes und verkündete, dass Vesta einem Sohn das Leben geschenkt hatte, wenngleich beide nicht wußten, was für ein Leben das sein würde. Vesta sagte, dass sie den Jungen Aidoneus nennen wollte, weil er so lange in der Dunkelheit ihres Leibes hatte ruhen wollen und wohl vor der Sonne in Deckung gehen müsse. Dann übermannte sie die Erschöpfung.

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62 Jahre später

Die Kraft von über hundert in ihr vereinten Seelen und die ewige Dunkelheit, die ihre unfreiwillige und später doch sehr willkommene Behausung umgab, hatten ihr mehr Kraft verliehen, als der Schöpfer dieses dunklen Gegenstandes und ihrer Lebensform es sich je hätte träumen lassen. Sie hatte die Wächterseele überwunden und sich einfach einverleibt. Zwar hatte das Fragment des finsteren Magiers, der den Mitternachtsdiamanten erschaffen hatte, sich erst noch gegen sie zu wehren versucht, war dann aber ganz und gar ihrem Geist eingefügt worden. Damit hatte sie nun alle Macht, die man jemals mit dem Mitternachtsdiamanten entfesseln konnte, zu ihrer Verfügung. Weil ihr das die Macht einer Göttin gab, einer schlafenden Göttin, und weil sie als die neue Urmutter der Nachtkinder gegen Iaxathan und seine Weltzerstörungspläne ankämpfen wollte, nannte sie sich ab dem Zeitpunkt ihres Triumphes über die Wächterseele Gooriaimiria, die große Mutter der Nacht.

Sie suchte und tastete um sich. Die Macht von über achthundert von ihr zu Nachtkindern gemachter Seelen ließ sie die ganze Welt überstreichen. Sie fand tief schlafende Nachtkinder und solche, die nur die Sonnenstunden in Verstecken verschliefen, um dann auf die Jagd nach dem Blut lebender Warmblütler zu gehen. Einmal verspürte sie eine gerade aus tiefem Schlaf aufwachende Präsenz einer starken Tochter der Nacht. Doch diese Präsenz entglitt ihr sofort. Sie konnte sie nicht ergreifen. Da wurde ihr bewusst, dass diese Nachttochter wohl durch freiwillig gegebenes Blut einer unberührten Geschlechtsgenossin geweckt worden war.

Worüber sie jedoch besonders erfreut war, das war der Umstand, dass sie alle Nachtkinder, die von solchen, die einmal den nun von ihr bewohnten und beherrschten Stein in Besitz hattenerzeugt worden waren, am besten erreichen und erforschen konnte. Ja, sie fand sogar solche, die im Tiefschlaf lagen und auf ihre rein geistigen Rufe und Berührungen reagierten. Diese brauchte sie. Mit diesen würde sie ihre neue Macht entfalten, die Macht der schlafenden Göttin.

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Das dorf lag am Rande des Urwaldes, gerade so noch von einer von Schlaglöchern übersäten Straße erreichbar. Hier hatte einmal eine alte Kautschukfabrik gestanden. Doch seitdem die Briten es in einer hinterhältigen Nacht- und Nebelaktion geschafft hatten, Setzlinge der Kautschukbäume aus Brasilien nach Indien zu schmuggeln und sie dort in ihrer Kolonie anzusiedeln, war das Gummimonopol Brasiliens Geschichte und damit auch diese Fabrik. Denn der Weg zu ihr war nun nicht mehr wirtschaftlich genug, um sie in Gang zu halten.

Vengor hatte das von einem aus Brasilien stammenden Helfer erfahren, wo er ein altes Haus der Muggel finden konnte, das zum einen große Hallen und zum anderen große Lagerräume und Keller besaß. Als er die Fabrik im September erstmalig besichtigt hatte, hatte er sich mehrmals in denArm gekniffen, um zu prüfen, ob er das nur träumte oder wahrhaftig erlebte. "Die einfältigen Muggel haben dieses Haus ganz allein für uns gebaut, meine folgsamen Vergeltungswächter!" hatte er durch die größte aller Hallen gerufen und sich am Echo seiner Stimme erfreut. "Hier bauen wir eine neue, wesentlich ergiebigere Fabrik auf", hatte er dann mit halbsolauter Stimme hinzugefügt.

Es hatte durch den Einsatz von Zauberkraft nur wenige Tage gedauert, die benötigten Gerätschaften in die Fabrik zu bringen und die schadhaften Stellen in Mauerwerk und Dach zu reparieren. Ab da regierten Grauen und Mord die vergessene Fabrik. Die weiten Hallen wurden von den unheilvollen Geräuschen niedersausender Riesenfallbeile erfüllt. Hunderte arg- und schuldloser Menschen jeden Alters gerieten unter die erbarmungslos niedersausenden Fallbeile. Ihr gewaltsam erzwungenes Lebensende säte den Keim eines neuen Unlichtkristalls. Weitere hundert Tode nährten diesen Kristall. Nach zehntausend in schneller Folge hingerichteter Menschen an nur einem Tag ließ er die Fabrik einen Tag stillstehen. Als er dann einen walnussgroßen, zwölfflächigen, völlig schwarzen Kristall aus dem Boden grub und in die Mitte der am tiefsten gelegenen Kellerhalle legte, gab er die Anweisung, die Massenhinrichtungen fortzuführen. Vengors einziges Problem war die Beschaffung weiterer Menschen, ohne die Muggel und die Zauberer darauf aufmerksam zu machen, dass hier jemand massenweise Menschen abschlachten ließ. Spätestens als seine Fabrik in der tschechischen Republik ausgehoben wurde wusste er, dass er vor allem darauf achten musste, keinen Menschen Zeuge seiner unheilvollen Unternehmung werden zu lassen.

Der Unlichtkristall im Keller wuchs weiter an. Seine Ausstrahlung beeinflusste die Tiere im nahen Dschungel. Sie zogen sich immer tiefer in den Urwald zurück. Vengor blickte durch sein Fernrohr in die grüne Wildnis hinein. Er musste daran denken, dass die über Jahrmillionen gewachsene Gemeinschaft von Pflanzen und Tieren eigentlich erhalten bleiben konnte. Wenn er es schaffte, die Frist seines fernen Partners einzuhalten und bis zum November 2002 alle lebenden nahen und fernsten Blutsverwandten zu töten und nur noch er als Träger seines Blutes auf der Erde herumlief, dann würde er die Muggel unterwerfen und bis auf wenige ihm dienende ausrotten. Dann würde sich dieser Urwald wieder unberührt ausbreiten können, während er die Welt nördlich vom Äquator mit eiserner Faust umklammert hielt.

Wieder fielen zweihundert Köpfe unschuldiger Menschen unter den Klingen zwanzig zeitgleich niedersausender Fallbeile. Vengor fühlte den plötzlichen Massentod schon körperlich. Denn auch in ihm steckte ein Unlichtkristall und pulsierte wie ein zweites, dunkles Herz, das ihm mehr Macht über tod- und zerstörungbringende Zaubersprüche und Schutz vor magischen Angriffen verschaffte. Der in Vengors Leib pulsierende Unlichtkristall sog ein wenig der Lebensenergie auf, die hier gerade freigesetzt wurde. Den Hauptanteil davon aber verschlang der hier entstandene Unlichtkristall. Vengor wusste, dass er nicht lange hier bleiben durfte, wollte er nicht, dass immer ein Teil der geopferten Leben auf ihn überfloss, statt den hier erzeugten Kristall zu vergrößern. Denn mit dem hier entstandenen Kristall wollte er neue Ausrüstungsgüter und auch neuen Unlichtstaub erschaffen, mit dem er seine neuen Helfer versehen wollte. Doch das würde er erst machen, wenn der Kristallkörper hier groß genug war. So blickte er noch einmal auf den Urwald, der knapp einen halben Kilometer entfernt begann und wieder zurück auf seine Unlichtkristallfabrik, in der die massenweisen Hinrichtungen weitergingen, beaufsichtigt von Nummer zehn, seinem brasilianischen Helfer.

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Cielonegro hatte lange im Überdauerungsschlaf zugebracht. Bei seinem Machtkampf mit seinem Feind aus den eigenen Reihen, Blutfürst Hirudazo, war er so sehr geschwächt worden, dass ihm nur die Flucht in den Überdauerungsschlaf geblieben war.

Sonst nur von der Nähe lebender Menschen aufweckbar reichte eine weibliche Stimme aus dem Nichts, den tief unter der Erde in einem restlos ausgebeuteten Bergwerksstollen schlafenden zu wecken. Cielonegro hörte noch immer: "Erwache, Cielonegro!" Dieser Befehl flößte ihm eine ähnliche Kraft ein wie das Trinken von Menschenblut. Der Vampir lauschte sehr hingebungsvoll. Dann, als er erkannte, dass die betörende wie kraftvoll in seinen Geist rufende Frauenstimme seine Antwort erwartete, dachte er so konzentriert wie möglich zurück: "Ich bin erwacht, Fremde. Wer bist du?" Er erhielt die Antwort, konnte aber weder mit dem Namen Gooriaimiria noch mit dem Begriff "Schlafende Göttin der Nacht" etwas anfangen. Als er dann aber erfuhr, was in den Jahren seines Überdauerungsschlafes geschehen war erschrak er. Der Mitternachtsdiamant, den der Blutvater seiner Nachtmutter eine Zeit lang besessen hatte, war verloren, Nocturnias Aufstieg war durch die zurückgekehrten Sonnenkinder vereitelt worden. Ja, Gooriaimiria hatte im letzten großen Angriff eines Sonnensohnes ihr körperliches Dasein verloren und ruhte nun im heiligen Stein tief auf dem Meeresgrund. Sie hatte erfahren, dass alle Nachtkinder dazu dienen sollten, dem Urschöpfer von Stein und Nachtkindern als willfähriges Heer zu dienen, das alle Menschen der Erde vernichten sollte, um alles Leben in jene ewige Finsternis zurückzustoßen, aus der es einmal entstanden war. Doch Gooriaimiria hatte andere Pläne. Sie wollte zwar ein neues Reich der Nachtkinder, aber nicht um einem in seiner eigenen Verbannung feststeckenden Geist zu dienen, sondern um die rotblütige Menschheit als vorherrschende Lebensform auf der Erde abzulösen und ein über Jahrtausende währendes Weltreich zu begründen, in dem die Nachtkinder die Rotblütler wie nährendes Nutzvieh halten konnten oder aus den Mengen von Menschen brauchbare Gefährten und Nachkommen erhalten konnten. Cielonegro erfuhr auch, was mit Hirudazo passiert war und dass eine der neun Abgrundstöchter wiedererwacht war und dann doch wieder entmachtet wurde. "Diese vermaledeiten Dirnen, sowie die Sonnenkinder sind unsere Feinde. Diese gilt es zu vernichten." Dem konnte sich Cielonegro nur anschließen, wenngleich es ihn schon entsetzte, dass die mythischen Sonnenkinder wirklich existierten. "Gehe nun hinaus und nähre dich. Suche dir eine der rotblütigen und nimm sie zu deiner Frau. Doch sie muss stark, klug, auch schön sein, ja bereits als Rotblütlerin einen gewissen Rang erreicht haben. Hüte dich vor denen mit den Zauberstäben! Erst wenn ihr, meine Gesandten, zahlreich genug seid, werden wir uns mit den Zauberstabträgern befassen." Cielonegro gelobte es.

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Anthelia, die Führerin des Spinnenordens, hörte sich in Ruhe an, was Marga Eisenhut über die Ermordung Albrecht Ziegelbrands erfahren hatte. Anthelia ließ ihre deutsche Mitschwester ruhig aussprechen. Dann fragte sie:

"Hat sich dieser Albrecht Ziegelbrand in irgendeiner Weise eine persönliche Hinrichtung durch diesen neuen Wahnwitzigen verdient, besser, hat er irgendwas getan, um sich die Todfeindschaft der Marionette Iaxathans zuzuziehen?"

"Das wird noch von den Lichtwachen geprüft, ob Ziegelbrand sich mit wirklich dunklen Magiern angelegt hat. Interessant finde ich nur, dass er zwei Tage vor seinem sechsunddreißigsten Geburtstag umgebracht wurde und vor allem, dass dieser Massenmörder Ziegelbrands Frau nicht hat töten können, obwohl dem sicher daran gelegen sein muss, keine Zeugen zu hinterlassen."

"Sieh an, das finde ich auch interessant", erwiderte Anthelia. Dann umspielte ein gewisses Lächeln ihre blassgoldenen Lippen. "Sie zog ohne Hast ihren Zauberstab frei und zielte nach oben. Dann vollführte sie eine schnelle Bewegungsabfolge, die Marga trotz der Geschwindigkeit als Apportationszauber erkannte. Es ploppte, und ein dicker Foliant in silbernem Einband mit Mondsymbolen, die alle vier Hauptphasen des Mondes darstellten, verstofflichte sich über dem Steintisch, auf dem Anthelia vor nun sechs Jahren und vier Monaten ihren zweiten Körper erhalten hatte.

"Ui, der immer wiederkehrende Mondkalender von Agresta Stellabianca", staunte Marga. "Davon gibt es nur noch zwanzig Exemplare Weltweit, weil der gerade bei wohlhabenden Hexen so beliebt ist. Ich hätte auch gerne so einen. Aber da ist nicht so leicht dranzukommen."

"Du sagst es, Schwester Marga", erwiderte Anthelia. "An den Kalender ist nicht so leicht dranzukommen. Ich habe ihn sozusagen geerbt, von einer von uns gegangenen Mitschwester", fügte sie hinzu. Marga nickte. Sie vermutete, dass damit Pandora Straton gemeint sein mochte, die ganz sicher eine Menge alter Bücher wie den wiederkehrenden Mondkalender besessen haben mochte. Dann sah sie zu, wie Anthelia die Seiten des dicken Buches durchblätterte. Als sie endlich die entsprechende Seite fand las sie sie leise. Dann deutete sie auf eine bestimmte Stelle und sagte: "Ahnte ich es doch. Der Mord an diesem Ziegelbrand fand genau in der Mondphase statt, in der er damals, vor nun also sechsunddreißig Jahren, den schützenden Schoß seiner Mutter verließ. Dazu kommt noch, dass der Mond da auch an jenem Punkt des von der Erde aus betrachteten Tierkreises entlangwanderte, in dem Ziegelbrand zur Welt kam. Vielleicht hätte Vengor - Lassen wir ihm einstweilen noch den Spaß, sich hinter diesem lächerlichen Namen verstecken zu können - Albrecht Ziegelbrand auch an seinem Geburtstag töten können. Vielleicht war ihm aber auch daran gelegen, ihn vorher heimlich, still und leise zu töten, hauptsache in der richtigen Mondphase im richtigen Tierkreiszeichen."

"Wer glaubt denn heute noch an die Bedeutung astrologischer Tierkreiszeichen?" fragte Marga voreilig.

"Es gibt immer noch genug Hexen und Zauberer, die daran glauben, dass die Sternbilder mit den Planeten, zu denen auch der Mond gezählt wird, ihr Schicksal bestimmen. Für die Bewohner im alten Reich stand jedoch schon ein Jahrtausend vor der Zeit, wo die mit mir vereinte geboren wurde fest, dass die weit entfernten Sterne auch wie Sonnen sind, aber eben nur zu weit entfernt, um Wärme und Leben von ihnen zu empfangen oder im unsichtbaren Griff ihrer Schwerewirkung zu treiben. Dennoch war für alle magisch begabten Menschen die Beziehung der Sonne zu den Planeten wichtig. Damals kannten die Sternenkundler des alten Reiches neben der Sonne und dem Mond sieben weitere Wandelsterne, also auch jene Planeten, die heute Uranus und Neptun heißen. Im alten Reich hießen sie eben nur anders. Wie genau spielt für uns gerade keine Rolle. Es ist nur überliefert geblieben, dass die Erde die Mutter alles Lebenden ist und durch Licht und Wärme der Sonne den Samen für dieses Leben in ihrem großen Schoß empfing, in den auch alles feste zurückkehrt, wenn die Seele jedes Toten mit dem letzten Atemzug der Luft zurückgegeben wurde. Nur die Vertrauten des Wassers und des Feuers haben es anders gehaltenund haben ihre Körper ins Meer werfen oder in einem Vulkankrater versenken lassen."

"Und wie nannten die aus dem alten Reich das, was wir Galaxis oder Milchstraße nennen?" wurde Anthelia gefragt.

"Sternenband oder silberne Brücke", erwiderte Anthelia. "Allerdings wussten sie damals nicht, dass die Sonne mit den Planeten um das Zentrum dieser Sternenansammlung kreist. Aber wir hatten es von Vengor und diesem Ziegelbrand. Ich kann im Moment nur vermuten, dass Vengor mit Iaxathan einen Pakt geschlossen hat, seit seinem Kontakt zu ihm jeden Mond jemanden zu töten, vielleicht durch alle vier Phasen, also insgesamt achtundvierzig Menschen.""

"Wegen der Stellung von Erde und Mond zur Sonne?" fragte Marga. Anthelia nickte.

"Deshalb werde ich wohl nicht umhin können, die anderen Schwestern darum zu bitten, ihre Augen und Ohren offenzuhalten und auch ihre Kontakte zu bemühen, wann jemand ermordet wird, immer im Bezug zu dessen Geburtstag." Marga nickte. Anthelia klappte ihren wiederkehrenden Mondkalender zu und schickte ihn mit einem Versetzungszauber zeitlos und durch alle festen Wände und Decken zurück an seinen Aufbewahrungsort.

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Sie hatten ihn gejagt, bis hinein in die Höhlen unter den Bergen. Die Jäger der Nachtkinder, die der Sultan in das Land der Griechen entsandt hatte, um ihn und seinesgleichen zu vernichten, hatten dieses vermaledeite Zepter des Amun Ra bei sich gehabt. Seine Eltern Melanoptera und Phobotes hatten sich den Heschern entgegengestellt und waren von der unheilvollen Kraft des goldenen Herrscherstabes verbrannt worden, der das Licht des verhassten Feuerballs am Himmel bündeln und auf die Gegner des Amun Ra schleudern konnte. Selbst die dagegenhaltende Kraft des heiligen Steins aus verfestigter Eislandnacht hatte Phobotes nicht beschützen können. Anaxerebos, der in einer sturmdurchbrausten Neumondnacht von Melanopteras und Phobotes' Blut gekostet hatte und mit seinem eigenen Lebenssaft das alte Leben an diese abgegeben hatte, wollte den heiligen Stein nehmen, der durch die ihm entgegengeworfene Vernichtungskraft auf die Größe eines Taubeneis geschrumpft war. Dabei hätte ihn das gebündelte Sonnenfeuer fast zu reiner Asche verbrannt, wenn er nicht blitzartig in Deckung gesprungen wäre. So traf das sonnenhelle Strahlenbündel die Decke der Tropfsteinhöhle und sprengte krachend ein Stück heraus. Dies führte dazu, dass die gesamte Decke in Aufruhr geriet und niederstürzte. Anaxerebos sah noch, wie der Mitternachtsdiamant unter mehreren Zentnern Kalkstein verschüttet wurde. Er robbte schneller als ein Mensch zurück. Seine Jäger flüchteten in Panik. Der Sohn Melanopteras und Phobotes' kannte sich in den Höhlen aus. Er wusste, dass keine fünfzig Schritte entfernt eine kleine Kammer war. In ihr wollte er den Einsturz abwarten.

Dank seiner übermenschlichen Kraft und Schnelligkeit schaffte er es, die rettende Kammer zu erreichen, bevor mit gewaltigem Getöse der breite und hohe Durchgang zusammenbrach. Da er gelernt hatte, seine Körpertätigkeiten auf den zwanzigsten Teil der üblichen Stärke und Geschwindigkeit zu senken, benutzte er diese Fertigkeit, um sich auf ein tagelanges Warten einzustimmen. Der Lärm der nachrutschenden Kalkmassen störte zwar seine Konzentration. Doch es gelang ihm, sich in diesen totengleichen Zustand zu versetzen. Er spürte noch die Ausstrahlung des heiligen Steins, die durch die Rückkehr der völligen Dunkelheit neue Kraft gewann. Sie half ihm, sich sogar wachzuhalten, auch wenn seine Atmung, sein Herzschlag und sein Nahrungsbedürfnis gerade sehr gering war. Er könnte sogar noch sein Gehirn entsprechend in Schlaf versetzen. Doch dann hätte er warten müssen, bis jemand den Weg zu ihm fand und durch seine Lebensausstrahlung und den Geruch nach strömendem Blut das Erwachen des Nachtkindes bewirkt hätte.

Als selbst die empfindlichen Ohren des Blutsaugers kein Knirschen und Knarzen mehr hörten lauschte er, ob seine Verfolger, die Mörder seiner Eltern, ihm wieder zu Leibe rückten. Ohne den unter vielen Kalkbrocken begrabenen Kraftstein wäre er diesen hilflos ausgeliefert. Dann hörte er sie einen Gesang anstimmen, dessen Text den Namen des altägyptischen Sonnengottes enthielt. Anaxerebos fühlte, wie ihm die Sinne schwanden. Er verstand, dass die Verfolger ihn bannten, ihn für alle Zeit in dieser Höhle festsetzen wollten, ungefährlich für ihre rotblütigen Artgenossen und Nachkommen. Anaxerebos versuchte, geistige Verbindung mit dem Mitternachtsdiamanten zu erhalten. Sein vernichteter Vater hatte ihm gesagt, dass in dem Stein eine wachende Seele steckte, die den Nachtkindern half, die Macht dieses schwarzen Steins zu gebrauchen. Doch der immer eindringlichere Gesang der verhassten Verfolger störte seine Konzentration. Er raubte ihm die verbliebene Kraft. Er rief geistig um Hilfe. Doch seine Gedanken waren bereits zu schwach, um weiter als bis zum Höhleneingang zu fliegen. Dann versank er in Besinnungslosigkeit. Sein Körper erstarrte vollständig.

Wie viel Zeit vergangen war wusste er nicht. Er erwachte aus einem bösen Traum, in dem er zusammen mit hunderten von Nachtkindern in einem Strudel aus sonnenhellem Feuer dahintrieb. Ringsum sich verbrannten seine Brüder und Schwestern. Er fühlte Schmerzen. Diese weckten ihn auf. Als er mit großem Durst und wilder Furcht erwachte fühlte er zunächst, dass die belebende Kraft des Mitternachtsdiamanten nicht mehr da war. Dann stellte er fest, dass seine Kammer zugemauert worden war. Er brüllte wütend und rannte gegen die harte Mauer. Sie hielt fünf Stößen stand. Dann brachen die ersten Steine heraus. Nach dem siebten Anlauf fiel die Mauer nach außen.

Der Höhlengang war freigeräumt worden. Er erkannte, dass jemand wohl die Kalkbrocken weggeräumt hatte. Ja, und mit den Kalkbrocken hatte man auch den Mitternachtsdiamanten fortgeschafft. Aber wer hatte ihn in seiner Kammer eingemauert? Das musste er unbedingt herausfinden.

Für den wiedererwachten Vampir war es zunächst ein Schock, dass mittlerweile zweihundertfünfzig Jahre verstrichen waren. Das osmanische Reich war in einzelne Staaten zerfallen. Griechenland war ein eigenständiges Land geworden. Beinahe wäre Anaxerebos von zwei Vampirjägern einer von Magiern geführten Behörde namens Zaubereiministerium getötet worden. Nur die Flucht in die hohen Berge hatte ihn davor bewahrt, seinen Eltern doch noch nachzufolgen. Von dort aus ging er jede zweite Nacht auf Blutjagd, wobei er vorzugsweise auf Verborgenheit ausgehende Liebespaare heimsuchte, die kurz davor standen, miteinander zu schlafen. Die mit deren Blut aufgesogene Liebeslust prickelte in ihm nach und berauschte ihn. Der mit dem Blut aufgenommene Alkohol hingegen wirkte nicht auf ihn. Unmagische Giftstoffe filterte sein besonderer Organismus restlos aus.

So verging ein Mond nach dem anderen. Anaxerebos schaffte es, sich vor den Heschern des neuen Griechenland zu verbergen. Er erfuhr von einem anderen im Neumond als Nachtsohn geborenen, dass eine Nachttochter den Mitternachtsdiamanten benutzt hatte, um das legendäre Reich ohne Grenzen zu errichten, von dem Anaxerebos seinen Vater hatte sprechen hören. Auch Phobotes hatte dieses Reich der Nachtkinder errichten sollen. Denn die dem heiligen Stein innewohnende Seele hatte ihm zugeflüstert, die mit der Macht zugefallene Pflicht zu erfüllen, jenes Reich ohne Grenzen zu schaffen. Deshalb war er, Anaxerebos, überhaupt entstanden. Denn als Mensch war er ein wichtiger Beamter des Sultans gewesen und hätte als solcher eine Verbindung zu den Beamten im fernen Konstantinopel ausbauen sollen. Doch es war anders gekommen.

Als er dann noch erfuhr, dass der Mitternachtsdiamant von westlichen Zauberern in einem mächtigen Meeresstrom versenkt worden war und dass jemand alle von seiner Trägerin erschaffenen Nachtkinder mit einem Schlag ausgelöscht hatte, befiel ihn nicht geringe Furcht. Wer oder was konnte so mächtig sein? Vor allem dass der Stein nun unerreichbar für alle Nachtkinder war, ängstigte ihn. Dann erkannte er, dass mit dem heiligen Stein auch die Verpflichtung, dieses Reich ohne Grenzen zu errichten verfallen war. Er konnte sein freies Leben führen, ja sich vielleicht bald Gefährten durch die Nächte verschaffen, wenn er es gut hinbekam, nicht erwischt zu werden.

Dann, in der Neumondnacht des Oktobers des nach christlicher Zeitrechnung gezählten Jahres 2001, vernahm er eine vom Himmel zu ihm niederwehende Stimme. Er blickte hinauf, wo das gerade nicht sichtbare Leitgestirn aller Nachtkinder sein mochte und hörte die Stimme noch stärker. "Anaxerebos, Sohn der Melanoptera und des Phobotes von Arkadien, höre mich und folge mir!" Er ertappte sich dabei, wie er dieser von oben zu ihm wehenden und in ihn eindringenden Stimme antwortete. Als er dann erfuhr, dass die Stimme einer Gooriaimiria gehörte, die sich als schlafende Göttin der Nacht bezeichnete, musste er erst lachen. Doch das Lachen verging ihm, als die Stimme ihn bei seinem Menschennamen und dem von seinen neuen Eltern verliehenen Namen ansprach und damit jene Macht auf ihn einwirkte, mit der Vampire von Ihresgleichen oder gar Menschen zeitweilig gebunden werden konnten. Er hörte aufmerksam, was die Stimme von ihm verlangte: "Verbirg dich in der größten und wichtigsten Stadt deines Landes und finde eine Gefährtin, die sowohl klug, schön, gewandt wie in gesellschaftlich aussichtsreicher Stellung ist! Diese mache zu deiner Angetrauten!"

"Ich geh doch nicht nach Athen, wo diese Hundesöhne des so genannten Zaubereiministeriums herumsitzen. Ich bin doch nicht einfältig", widersprach Anaxerebos.

"Du hörst meine Stimme. Wer meine Stimme und seinen Namen hört gehorcht mir. Du tust, was ich dir sage", drang die Stimme aus dem Himmel nun unbarmherzig Laut in seinen Geist ein. Er fühlte eine sehr beunruhigende Schwächung seines Körpers. "Du bist von mir dazu bestimmt, einer meiner Gesandten zu sein. Also befolge meine Anweisung. Ich kann und werde dir helfen, dich vor den Feinden dieser Zeit zu verstecken. Doch nur wenn du dich mir ganz und gar anvertraust und meine Anweisungen befolgst, wirst du weiterleben. Ansonsten befehle ich deinen Tod."

"Du kannst mich nicht mit bloßen Worten töten", lachte der Dunkelmondvampir Anaxerebos. Ich bin in der Dunkelheit des neuen Mondes gezeugt worden. Meine Eltern hatten den mächtigen Stein der Mitternacht, der vom Urvater aller Nachtkinder erschaffen wurde. Der Stein ist im Meer versenkt worden. Du kannst mich also nicht mit bloßen Worten ..." Er hätte gerne noch das Wort "töten" ausgerufen. Doch als wenn ihm ein zweites mal Blut aus dem Leib gesaugt würde, fühlte er eine immer größere Schwäche. Er zitterte. Er taumelte. Er rang damit, nicht umzufallen. Dann fiel er doch. Er landete auf den Knien. Die scheinbar aus dem Nichts auf ihn wirkende Gewalt raubte ihm noch mehr Kraft. Er fand sich keuchend und stöhnend auf dem Bauch liegend. "Ich brauche jetzt nur noch zwei Worte zu dir zu sagen, und es hat dich gegeben, Anaxerebos", drohte die unheimliche Frauenstimme.

"Nein, ich will nicht sterben, Gooriaimiria. Gnade!" winselte der am Boden liegende Vampir.

"Nur wenn du mir deine Gefolgschaft gelobst und das tust, was ich dir aufgetragen habe. Ich will bald eine würdige Gesandte auf diesem von Rotblütern überbevölkerten Planeten haben. Du wirst sie mir beschaffen. Also schwöre mir beim Mond und dem Blut deiner Eltern Gefolgschaft, Anaxerebos, der du einst Kerim Ismael Bei geheißen hast!" Der von der unheimlichen Macht der schlafenden Göttin niedergeworfene Vampir schwor es und opferte dafür auch ein paar Tropfen seines Blutes. Dann erst durfte er sich wieder erheben. Die Dunkelheit der Neumondnacht flößte ihm neue Kräfte ein. Doch um wirklich alle ihm entrissene Kraft zurückzugewinnen brauchte er frisches Menschenblut. In der Nähe seines derzeitigen Lagers war ein Bergdorf ohne Anschluss an diese widerwärtigen Elektroleitungen. Es würde also niemand erfahren, dass er sich dort Nahrung besorgte. Von diesem Entschluss vorangetrieben trat Anaxerebos in die transformative Trance ein, die ihn zur menschengroßen Fledermaus werden ließ.

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John Kellerman dachte, E. Papadakis sei ein Mann, als er am Morgen des 20. Oktobers ins Chefbüro von Aiolos Airways eintrat. Er hielt die in einem meergrünen Kleid und cremefarbenen Stöckelschuhen verhüllte schlanke Frau mit dem nachtschwarzen, fast bis zum herausragenden Hinterteil reichenden Haar, den mitternachtsblauen Augen und der schlanken Nase für eine Angestellte, die als Kundenmagnet dienen mochte. Aber der breite, weiße Ledersessel mit der höhenverstellbaren Lehne und den einklappbaren Kopfstützen passte nicht so recht zu einer Angestellten.

"Ah, Mr. Kellerman von Lone Star Airways", begrüßte die Frau den Eintretenden. Dieser ertappte sich dabei, die scheinbar endlos langen Beine der Frau anzustarren, bevor sein Blick sich an der ausgeprägten Oberweite der Frau verfing. Die Stimme der Frau drang warm aber ebenso entschlossen klingend in sein Gehör und ergänzte den Eindruck perfekter Weiblichkeit, den Kellerman vor sich zu haben meinte. "Ich bin Eleni Papadakis, der Lady Boss, wenn sie es so ausdrücken möchten", sagte sie noch. Ihr Englisch war ohne südländischen Akzent, ja eindeutig in Oxford geprägt und geschliffen, erkannte der weitgereiste Geschäftsmann. Dieser schluckte und riss sich zusammen. Wenn die da vor ihm gemerkt hatte, wie ausgehungert er sie angestarrt hatte ... Keine gute Grundlage für erfolgreiche Verhandlungen.

"Oh, darüber hat mein Boss mich leider nicht informiert, Ma'am", erwiderte Kellerman. Mit seinem Texas-Akzent wirkte er wie das überzeichnete Idealbild eines Cowboys, ein Cowboy im sündteueren Nadelstreifenanzug mit dezent gefärbter Seidenkrawatte.

"Nehmen Sie doch Platz, Mr. Kellerman!" sprach Eleni Papadakis weiter und deutete auf einen breiten Besucherstuhl ihr gegenüber. Kellerman bedankte sich und setzte sich hin.

Zwei Stunden später verließ John Kellerman das Büro von E. Papadakis. Jetzt erst sah er die kleine, untersetzte Frau, die hinter einer Computertastatur saß und mit flinken Fingern tippte. Zum einen war er noch völlig benebelt vom Auftritt der Chefin von Aiolos Airways, die immer mal wieder ihre Finger durch ihr Haar gleiten ließ oder immer dann besonders tief einatmete, wenn er gerade drauf und dran war, seine ursprüngliche Entschlossenheit zurückzugewinnen. Ja, und in dieser superheißen Verpackung steckte ein eiskalt vorausberechnendes Gehirn. Das Unterfangen, alle Niederlassungen von Aiolos Airways in Mexiko und Mittelamerika einzusacken und zugleich noch die Aktienmehrheit dieses kleinen Unternehmens zu erringen war auf ganzer Linie gescheitert. Eleni hatte ihn die Absichten seines Auftraggebers darlegen lassen. Dann hatte sie ihm mit einem verboten gehörenden Lächeln hingeknallt, dass sie schon seit dem Tod ihres Herrn Vaters darauf gefasst gewesen war, dass jemand aus den Staaten sich um den lukrativen Abenteuertourismusmarkt mit Südamerika bewerben würde. Daher habe sie Aktien der aussichtsreichsten Bewerber erworben. Sie hatte dann angeboten, Lone Star Airways die insgesamt dreißig Prozent umfassenden Anteile zurückzuverkaufen, beziehungsweise deren Piloten und Maschinen dafür entgegenzunehmen, die den Mittel- und Südamerikasektor beflogen. Kellerman hatte versucht, sie darauf hinzuweisen, dass sie wohl auf lange Sicht Verluste machen würde. Doch dann hatte die nur die Beine übereinandergeschlagen, wobei der Saum ihres kurzen Kleides einige Zentimeter weiter nach oben verrutscht war und ihm gesagt, dass sie das von ihren Agenten an der New Yorker Börse überprüfen lassen wollte. Die hatte dann in seinem Beisein mit einem echten New Yorker gesprochen und den doch glatt, wo er über Lautsprecher mithören konnte gefragt, wie die Aussichten standen. Der hatte dann erwähnt, dass Ailos Airways gerade einundfünfzig Prozent des Aktienkapitals von Lone Star zusammenbekommen habe. Derartig direkt und unverklausuliert serviert zu bekommen, dass die eigene Firma gerade von der Konkurrenz geschluckt worden war war dem sonst so überlegt und behutsam verhandelnden Vertreter von Lone Star noch nie untergekommen. Als die Chefin mit dem aussehen einer schwarzharigen Version von Barbie und dem skrupellosen Verstand von Ming dem Gnadenlosen den Hörer wieder aufgelegt hatte, wurde er doch glatt von ihr gefragt, ob er einen Auftrag von ihr ausführen wolle, nämlich nach Houston zurückzufliegen und zu ergründen, ob sich der Ausbau des von Lone Star errichteten Flughafens für Privatjets zum Flughafen für Großraumflugzeuge mit Langstreckenkapazität lohne und ob dieser Ausbau von Lone Star finanziert werden könne, wobei Aiolos-Piloten jedoch unbeschränktes Start- und Landerecht erhielten. Kellerman hatte mit dem Rest von Sachlichkeit und Routine erwidert, dass er zunächst nur nach Texas zurückkehren wolle, um zu ergründen, ob sich durch die Mehrheitsverschiebung irgendwas in der Firmenpolitik ändern würde. Eleni hatte ihm dann mit einem zuckersüßen Lächeln gesagt, dass er dafür nicht mehr nach Houston fliegen müsse, weil sie ihm das ebenfalls sagen könne, sobald die Sitzung der Hauptaktionäre stattgefunden habe, was ja am nächsten Tag anstehe. Da er ja für zwei Nächte im Hilton gebucht habe könne er diese Sitzung noch abwarten, sofern er nicht daran dächte, sich beruflich zu verändern. Für Kellerman klang das so, als drohe sie ihm seine Entlassung an, wenn er nicht tat, was sie wollte. Das musste er unbedingt prüfen, ob die Lady da drinnen ihm nicht eine gelungene Komödie vorgespielt hatte. Deshalb hatte er geantwortet, dass er das Ergebnis der Sitzung abwarten wolle. Danach war es nur noch um die Flughäfen und Zubringer und Zuliferer gegangen, die Lone Star gerne erworben hätte. Die eigenen Start- und Landeplätze hatte Kellerman tunlichst nicht erwähnt, auch wenn Eleni Papadakis ihn immer wieder darauf anzusprechen versucht hatte.

"Wie, das stimmt? Wer hat denn da bei euch gepennt, als deren Strohleute mal eben dreißig Prozent der Aktien zusammengekauft haben?" brüllte Kellerman in das Mikrofon seines Mobiltelefons, als er im klimatisierten Hotelzimmer saß, ein volles Whiskyglas vor sich auf dem Marmortisch.

"John, Cunningham ist da auch voll kalt erwischt worden, als New York aufgemacht hat. Die von Aiolos müssen Aktien von unseren deutschen, kanadischen und britischen Anteilsinhabern eingeheimst haben. Cunningham hat das auch erst vor einer Stunde erfahren, als Finley, unser Mann in der Wall-Straße es auf den Anzeigeschirmen gesehen hat, dass Lone Star zu einundfünfzig Prozent Aiolos gehört. Soviel zum Thema freundliche oder feindliche Übernahme."

"Wie geht sowas? Unser Papier ist doppelt so teuer wie das von Aiolos. Wenn die durch das übliche Spiel von Aktientausch an die Mehrheit gekommen sind, müssten die ja ihre eigene Mehrheit verhökert haben. Aber so wie diese schwarzmähnige Eisbarbie das mir serviert hat meint die wohl, ihren Mehrheitsanteil zu halten."

"Kommt davon, wenn man sich nicht die Sachen durchliest, die der Boss einem als Flugzeuglektüre mitgibt", bekam Kellerman zur Antwort. "Da steht nämlich drin, dass der alte Andronikos Papadakis mit südafrikanischen Diamanten reich geworden ist, bevor er sich auf Luftfahrt eingepeilt hat. Der hat mindestens zwei Milliarden Dollar gemacht, auch wenn das damals verpönt war, mit dem Appartheidsregime Geschäfte zu machen. Ja, und er hat dann wohl schon mit den Russen um Gas und Öl gefeilscht, als wir die noch für das Reich des Bösen gehalten haben. Wer sich mit siebzig Jahren ein zwanzigjähriges Model als Brutmutter eines eigenen Kindes zulegen kann muss schon 'ne Menge Zaster haben." Kellermans Antwort darauf war ein für Geschäftsleute sehr unfeiner Kraftausdruck.

"Im Sinne, wwofür dieses Wort steht schon der passende Kommentar", hörte er seinen Gesprächspartner antworten. "Jedenfalls ist E. Papadakis die späte Frucht des alten Andronikos' Lenden, superteuere Ausbildung, Rekordzeitstudium mit zwei Doktoren, einer davon in Betriebswirtschaft, der andere in Flugzeugbau. Die Dame hat sogar einen Pilotenschein für alles zwischen einem Windvogel und einer sieben vier sieben. Würde mich auch nicht wundern, wenn die auch schon im Simulator für den neuen Riesenbrummer von Airbus sitzen darf, zumindest einen davon in ihrem Partykeller stehen hat. Wie erwähnt, John, im Flugzeug lesen bildet."

"Eh, jetzt nicht frech werden, Chucky. Ich habe dieses Zeug nicht erhalten. In meinem Aktenkoffer war nur eine Aufstellung der Flugplätze. Wenn mir Mr. Cunningham echt die ganze Vita von der Eisbarbie mitgeliefert hat, dann hat die irgendwer zwischen dem und mir verschlampt. Prüf das besser mal nach, solange die Tochter von Aphrodite und Athene uns zwei noch Geld gönnt!"

"Neh, nicht echt, oder?" seufzte Kellermans Gesprächspartner. Dann hörte er ihn mit einem jüngeren Mann in einem anderen Zimmer sprechen. Das dauerte eine Minute. Dann war der andere am Apparat. "Hi, John, hier Steve. Stimmt, den ganzen Abriss über die Eigner von dem Laden hat der Papierstau im Drucker gefressen. Da du schon halb im Taxi zum Flughafen gesessen hast hat dir Goldie wohl nur die bereits fertigen Sachen in den Koffer gepackt. 'tschuldigung!"

"Ihr seid echt Vollpfeifen", schimpfte John Kellerman. "Mich derartig unbewaffnet in die Höhle einer Löwin reinzuschicken. Besten Dank, Leute! Ich werde mich dessen erinnern, wenn Weihnachten kommt."

"Wenn wir da überhaupt noch unsere Jobs haben, John", seufzte Steve. "Habe das gerade auf unserem Ticker gelesen, dass wir von Aiolos vernascht, ähm, feindlich übernommen worden sind. Cunningham versucht seine Parteifreunde zu mobilisieren, einige der rübergerutschten Prozent zurückzukaufen. Also nicht gleich ... Mist! Die Lone-Star-Aktie ist gerade um zehn Dollar nach oben gegangen, Tendenz steigend. Ich geb dir Chuck wieder. Will das jetzt genauer prüfen, was da abgeht."

"Super, erst die aktie runterjubeln und dann wieder anheizen", grummelte John Kellerman. Dann sagte er zu Chuck: "Ich mach das, was die Lady mir vorgeschlagen hat. Ich bleibe noch hier, bis die ihre Aktionärsversammlung hatte. Dann weiß ich hoffentlich, ob ich noch einen Job habe, wenn ich nach Hause komme. Bis dann!"

"Hab noch einen schönen Tag", grüßte Chuck über die teure Mobilverbindung zurück. Kellerman drückte auf "Auflegen" und klappte sein Mobiltelefon wieder zu. Er ärgerte sich. Er wusste, dass sein Ärger zum einen daher kam, dass er so blind wie ein Maulwurf in eine für ihn undurchschaubare Sache hineingeraten war. Dann kam zur Verärgerung noch Besorgnis. Wenn die Lady echt seine Firma geschluckt hatte, ohne aufstoßen zu müssen, dann war die jetzt seine Chefin und konnte ihn mit ihrem waffenscheinpflichtigen Zuckerlächeln feuern, ja sogar noch hinbekommen, dass er nirgendwoanders unterkam. Bei seinem gewohnten Lebensstil kam das einem Absturz gleich. Doch er stammte aus einer Pionierfamilie. Die hatte dem trockenen Land Weideflächen abgerungen. Einer seiner Ururgroßväter war gegen die Mexikaner in den Krieg gezogen und hatte Texas endgültig von denen abgerungen, auch wenn er selbst dabei gefallen war. Dann fiel ihm ein, dass Aiolos wohl nur deshalb billig an Aktien eines Luftfahrtunternehmens kommen konnte, weil kurz nach Wiedereröffnung der Börse nach der Schweinerei vom elften September viele Werte im Keller waren. So abgebrüht musste erst mal wer sein, den tiefen Schock auszunutzen, in dem sein Land immer noch festhing. Als er dann aus den englischsprachigen Nachrichten erfuhr, dass Aiolos Flughäfen in der Nähe von Afghanistan hatte wurde ihm klar, dass diese Eleni Papadakis den Handel ihres Lebens gemacht hatte. Denn ausgebaute Flughäfen in der Nähe des Landes, gegen den der US-Präsident gerade Krieg führte waren für Militär und Zulieferer sicher goldwert. Wen sollte es da wundern, dass die Aktienkurse einer feindlich übernommenen Firma ebenfalls im Steigflug waren? Denn Lone Star besaß ja auch Flughäfen in den Staaten. Aber gerade das, so hoffte Kellerman, würde sich die Bush-Regierung nicht gefallen lassen, dass eine kleine Firma in Europa einen Anteil am Geschäft mit dem Krieg einheimsen konnte.

Zwei Tage später war Kellerman wieder auf dem Weg nach Houston, und zwar in einem Learjet von Aiolos Airways zusammen mit drei griechischen Geschäftsleuten, die Eleni Papadakis als Vorauskommando nach Houston schicken wollte. Der Rückkauf der Mehrheitsaktien war gescheitert, weil die neuen Eigentümer diese nur zum hundertfachen Kaufpreis zurückgeben wollten. Es hatte sich herausgestellt, dass Eleni Papadakis sechzig Prozent dieser Aktien erworben hatte. Vielleicht, so dachte Kellerman, könnte es ihr passieren, dass sie demnächst einem bedauerlichen Unfall zum Opfer fiel, weil die für die Regierung tätigen Bluthunde aus Virginia sicherstellen mussten, dass der Afghanistan-Feldzug nicht von europäischen Geschäftsleuten torpediert werden konnte.

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Es hatte sich doch verdammt viel geändert, stellte Cielonegro fest, als er nach langer Wanderung in Madrid angekommen war. Überall dieses verdammte Kunstlicht. Selbst wenn es nicht mit der Kraft offenen Feuers oder gar der Sonne selbst leuchtete tat es ihm in den Augen weh. Außerdem fiel sein bleiches Gesicht im Schein dieser verfluchten Lichtröhren noch mehr auf als sonst schon. Hier eine mögliche Gefährtin auszuwählen und für sich zu gewinnen war verdammt schwierig. Dazu kam noch, dass er nur eine Rotblütlerin nehmen sollte, die weder zu den Zauberstabschwingern gehörte, noch arm und unbedeutend war. Auch hatte er nicht die geringste Ahnung von diesen neumodischen Geräten, die Computer hießen und offenbar zum Inbegriff von Wissensspeicherung und -verwertung geworden waren. Doch genau mit so einem Ding sollte er sich Zugang zum Wissen der Rotblütler verschaffen.

Zunächst einmal verschaffte er sich durch Einsatz seines bannenden Blicks Schminke, um sein bleiches Gesicht rosiger zu bekommen. Auch die Arme und Hände rieb er mit dem widerlich stinkenden Zeug ein. Doch die Wirkung gefiel ihm. Jetzt sah ihm niemand an, dass er ein Sohn der Nacht war. Er durfte nur nicht übermäßig lächeln. Denn seine gefährlich spitzen Fangzähne durfte er nur denen zeigen, deren Blut er auch trinken wollte. Seine neue Herrin Gooriaimiria kannte sich nicht nur mit neumodischer Körperbemalung aus, sondern wusste auch, wo er hingehen musste, um an das von ihr geforderte Wissen zu kommen. Mit ihrer rein geistigen Stimme leitete sie ihn an, kurz vor elf Uhr nachts in einer beliebten Flanierstraße der spanischen Hauptstadt auf ein bestimmtes Haus zuzugehen. Dort sollten jene Maschinen stehen, die das Wissen ganzer Bibliotheken einsammeln und wiedergeben konnten. Er betonte im Geiste, dass er derlei Maschinen nicht kannte und daher wohl nicht so bedienen konnte, wie seine Herrin es von ihm verlangte.

"Ich kenne diese Geräte sehr gut", hörte er Gooriaimirias Stimme in seinem Kopf, als er in jenes Haus trat, dass sich Internetcafé nannte. Überall um ihn herum floss elektrischer Strom durch in Wänden verbaute Leitungen, wurde in Glaskugeln mit einer Art Docht zu Licht oder trieb Maschinen an, die heißen Kaffee machen oder kalte Speisen kalt halten sollten. Auch die zwanzig in diesem neumodischen Laden stehenden Computergeräte wurden damit betrieben. Cielonegro widerte es an, sich einem elektrischen Gerät zu nähern. Es piesackte seine Nerven. Das lag daran, dass die von den modernen Rotblütlern gezähmte Kraft der Blitze eine Abwandlung der Elementarkraft des Feuers war. Irgendwo wurde in heißen Öfen dieser Elektrostrom gemacht, der die umgewandelte Kraft trug und dort in Licht oder Bewegungskraft umwandelte, wo es gebraucht wurde.

Gib dich mir hin!" befahl Gooriaimiria und nannte Cielonegros Menschennamen und den von seinen Vampireltern erhaltenen Namen. Er verfiel immer mehr in eine Trance, während er sich auf einen freien Stuhl vor einem jener Tastenbretter hinsetzte und auf das flirrende Kunstfenster blickte, in dem er wohl alles lesbare lesen sollte. Er fühlte, wie seine Hände sich über die mit je einem Buchstaben bemalten Klötzchen bewegten, die einfach nur in das leicht schrägstehende Brett aus fremdem Stoff hineingedrückt werden mussten. Weil Cielonegro gerade mit seinem gesamten Bewusstsein den geistigen Strömen Gooriaimirias unterworfen war verwunderte es ihn nicht, dass jeder versenkte Buchstabenklotz den darauf gemalten Buchstaben in das elektrische Kunstfenster brachte. Außerdem bediente er jenes verschiebbare Ding, das an einer Schnur hing und Maus genannt wurde. Damit hantierte er so schnell und zielgenau, dass ihm absolut niemand die eigentliche Unkenntnis angemerkt hätte. Er wurde regelrecht ferngesteuert. Er las die von ihm erfragten Sachen nach. Dann gab er über die versenkbaren Klötzchen und die Maus Befehle an eine Maschine, die leise surrend alles im Elektrofenster stehende und das gerade weiter unterhalb oder oberhalb des sichtbaren geschriebene auf Papierblätter schrieb. Cielonegro nahm die so beschriebenen Blätter an sich. Dann vollführte er mit den Eingabedingern Handlungen, die alles von ihm erfragte aus dem elektrischen Wissensspeicher entfernten, damit nicht wer anderes wissen konnte, was Cielonegro hatte wissen wollen. Erst dann wollte er den Laden verlassen. Eine Frau, die zugleich die rotblütigen Gäste mit Essen und Trinken versorgte und als Hilfe für die Rechnergerätebenutzer arbeitete sah ihn an und fragte ihn, welchen Computer er gehabt hatte. Offensichtlich wollte sie Geld dafür haben. Doch mit seinem Menschen bannenden Blick sagte er leise und eindringlich: "Ich habe keinen der Computer benutzt und nichts gegessen und getrunken." Das widerholte er solange, bis die Bedienung wie eine Schlafwandlerin davonging. Cielonegro verließ so unauffällig er konnte das Internetcafé.

Außerhalb des neumodischen Gasthauses gab seine Herrin ihn ganz frei. "Lies dir alle Namen und Lebensläufe durch und treffe deine Wahl, Cielonegro!" hörte er die Gedankenbotschaft seiner neuen Herrin. Er war jedoch wütend, weil sie ihn wie einen belebten Leichnam benutzt hatte. "Ich kann dich auch gerne zu einem wahrhaftigen Leichnam werden lassen, Cielonegro", erhielt er eine Drohung zur Antwort. "Du wurdest von mir aufgeweckt. Ich kenne deine Namen. Damit gehörst du mir! Füge dich dieser Bestimmung und führe meinen Befehl aus!"

"Ja, Herrin", erwiderte Cielonegro, als ein plötzlicher Schwächeanfall ihn beinahe zu Boden streckte. Er erkannte, dass die unsichtbare, offenbar allgegenwärtige und allwissende Gooriaimiria wahrhaftig die Macht einer weiblichen Gottheit besaß. Sie konnte Leben geben, und sie konnte es wieder zurückfordern, je nachdem, welche Pläne sie mit denen hatte, die ihr Untertan waren. Cielonegro dachte wehmütig daran, dass er sich doch besser von Hirudazo hätte töten lassen sollen. Das verursachte ein erheitertes Lachen in seinem Geist. Er sah ein, dass er keine andere Wahl hatte.

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Eileithyia Hemlock besuchte ihre neuen Verwandten am Abend des dreizehnten Novembers. Selene hatte nämlich ihre erste eigene Post erhalten, aber nicht von einer Eule, sondern von einer Fledermaus.

"Wir wissen alle drei, wer Fledermäuse als Briefboten benutzt", begann die Sprecherin der nordamerikanischen Heilzunft und Vorsteherin der Mutter-Kind-Station des Honestus-Powell-Krankenhauses. Darauf bekam sie natürlich nur ein Nicken zur Antwort. Die nur äußerlich kleine Selene sagte nach drei Sekunden: "Ich weiß, dass Austère Tourrecandide mindestens hundert Fledermausbriefe bekommen hat, neunundneunzig davon mit der Frage, ob sie es sich nicht doch noch überlegen wolle und wie ihre ehemalige Schwester Lucine den Kindern der Nacht angehören wolle. Deshalb war ich erst mal durcheinander, als so gegen halb neun dieses Fledertier an meiner Fensterscheibe herumgekratzt hat, dass ich erst mal Mom rufen musste, weil die ja gemacht hat, dass ich das Fenster nur am Tag aufmachen kann."

"Ja, und warum deine Mom das gemacht hat weißt du auch", grummelte Theia Hemlock. Dann deutete sie auf den Brief, den Selene heute bekommen hatte. "Also, mit Flüchen von menschlichen Magiern ist der Brief nicht beladen. Aber offenbar hat der Absender, wobei ich eher an eine Absenderin denke, Selenes Blut als Freigabeschlüssel festgelegt. Das kann nur, wer ihren Blutgeruch und/oder Geschmack kennt, und da gibt es nur eine."

"Die langzähnige Dame aus dem Silbersarg", schnarrte Eileithyia. "Also, Selene, wenn da kein böser Portschlüssel im Brief steckt, möchtest du Grangran Thyia das vorlesen, auch wenn du eigentlich noch gar nicht lesen können darfst?" Selene verzog erst das Kleinmädchengesicht, musste dann aber grinsen. Sie nahm den Brief in die Hand und hielt ihn einige Sekunden fest. Dann las sie laut und flüssig vor:

"Meine liebe, kleine Aufweckerin. Ich bin dir immer noch sehr dankbar dafür, dass du mir ein wenig von deinem wertvollen Blut gegeben hast, damit ich nach der langen Zeit aufstehen konnte. Damit du und deine mutige Mutter nicht meint, ich würde jetzt über jeden herfallen, wenn ich Durst habe, ich habe herausbekommen, dass es bei denen, die nicht zaubern können Leute gibt, die gerne spielen, mit Kindern der Nacht zusammenzusein oder selber welche zu werden. Bei denen finde ich genug, weil die mir gerne was geben wollen. Sie nennen es eine besondere Form der Sinnlichkeit, von mir geküsst zu werden. Allerdings habe ich bisher keinen oder keine gefunden, der immer bei mir bleiben möchte. Wenn es darauf ankommt wollen die doch immer noch gerne diese widerliche Sonne sehen und ihre gemeinen Strahlen auf der Haut spüren.

Außer dir mal zu schreiben, dass ich dich nicht vergessen habe und dir zeigen möchte, dass ich mich immer noch sehr gut daran erinnere, wie gut mir dein jungfräuliches Blut getan hat möchte ich dir und deiner Mutter schreiben, dass jemand wohl einen Weg gefunden hat, nach bestimmten Kindern der Nacht zu suchen. Ich bin zweimal von einem Flüstern geweckt worden und habe ein leichtes Kribbeln auf meinem Körper gespürt, als wolle mich jemand ganz vorsichtig anfassen, wisse aber nicht, wie und wo. Als mir das zweimal passiert ist habe ich mich dran erinnert, dass meine damaligen Bluteltern mir erzählt haben, dass die Nachtkinder, die an bestimmten Orten oder durch bestimmte Sachen, die während ihrer Wiedergeburt passiert sind was gemeinsam haben, besser miteinander in der Ferne sprechen können. Da habe ich mich erinnert, dass ein Gefährte meines Blutvaters von einem Sohn der Nacht abstammt, der den heiligen Stein getragen hat, aber diesen nicht immer bei sich hatte und so doch noch einem dieser ängstlichen Rotblüter zum Opfer fiel, der meinte, ihm einen Holzpfahl in den Körper schlagen zu müssen. Als ich mit euch zwei Hübschen in unserer ganz geheimen Bücherei war habe ich auch eine Notiz gefunden, dass die von Trägern des Steins erzeugten Söhne und Töchter der Nacht sich über alle Meere und Berge hinweg Gedanken zuschicken können. Ich selber habe keinen Ahnen in derLinie meiner Eltern, der den Stein mal bei sich hatte. Doch irgendwie kommt mir das Flüstern und sanfte Betasten so vor, als suchten die ehemaligen Träger des Steins nach neuen Helfern, weil dieses Nocturnia-Bündnis zusammengebrochen ist. Vielleicht haben wir uns auch alle ganz heftig geirrt, und die letzte und am längsten mit ihm zusammenwohnende Besitzerin des Steins ist nicht völlig aus der Welt verschwunden, sondern nur in den Stein zurückgezogen worden und langweilt sich da. Andauernd in irgendwas engem drinzuliegen kann ja auch sehr eintönig sein. Manche werden verrückt davon, wenn sie nicht einmal mitbekommen, was draußen passiert. Kann sein, dass die aus ihrem Körper rausgezogene jetzt fest in dem Stein wohnt und nach anderen Nachtkindern sucht, mit denen sie sprechen kann. Nachdem, was ihr mir über sie und Nocturnia erzählt habt und dem, was ich über den Stein mitbekommen habe, will ich aber nicht mit der reden. Ich schreibe dir das nur, damit ihr, wennirgendwo außerhalb meines Landes was passiert, was mit uns Nachtkindern zu tun hat, nicht so ganz ahnungslos seid.

Ich halte dein in mir weiterfließendes Blut in Ehren. Möge es in dir ebensolange weiterfließen, bis du vielleicht, und nur wenn du das auch wirklich willst, dein und mein Blut zusammenfließen lassen möchtest.

Deine immer noch überaus dankbare Silver Gleam"

"Frechheit hat manchmal lange Zähne", knurrte Theia Hemlock. Selene konnte ihr da nur zustimmend zunicken. Doch dann sagte Theias Tochter:

"Leider kann ich das aber nicht als totalen Blödsinn abtun, Granggran und Mom. Voix de la Lune Sangazon hat sowas ähnliches erwähnt, weshalb ihr Blutgatte gerne auch diesen Stein gehabt hätte. Den hätte er aber nur einem Rotblütler, also einem anständigen Menschen, abnehmen dürfen."

"Dann soll dieser Albtraum noch weitergehen?" schnarrte Eileithyia.

"Das ist die Frage, ob Silver Gleam uns da nicht gehörig Angst machen will, damit wir uns ihr ganz anvertrauen, Grangran Thyia", erwiderte Theia Hemlock. Selene schüttelte vorbeugend den Kopf.

"Immerhin konnte Nyx wohl auch nach dem körperlichen Tod auf ihre direkten Abkömmlinge einwirken. So abwegig ist es also nicht, dass sie nun nach denen sucht, die nicht von ihr selbst erzeugt wurden, aber mal mit dem Mitternachtsdiamanten in Berührung kamen. Vielleicht brauchte der Stein solange, um sich nach der Vernichtung Nocturnias zu erholen, dass sie aus ihm heraus nach möglichen Bundesgenossen rufen kann. Wie war das? Dunkelheit und direkt auf ihn aufgebrachtes Blut verstärken seine Macht?"

"Ja, und da, wo er jetzt liegt ist es ewige Nacht", fauchte Theia Hemlock.

"Dann sollten wir zumindest tun, was Selenes neue Brieffreundin empfiehlt, nämlich überwachen, ob es irgendwo in der Welt zu neuen Vampirzwischenfällen kommt, die außerhalb des üblichen liegen."

"Ja, und wir sollten uns näher damit beschäftigen, wie genau Lamia, Nyxes Thronerbin, und alle ihre Blutsverwandten auf einen Schlag vernichtet werden konnten. Am Ende müssen wir den gleichen Kunstgriff noch einmal bemühen."

"Ich fürchte, werte Urenkelin, dass dieser Spuk, wenn er denn wirklich weitergeht, nicht aus der Welt zu schaffen ist", seufzte Eileithyia. "Am Ende wäre es vielleicht sinnvoll, diesenStein aus dem Meer zu bergen und dorthin zu legen, wo die meisten Sonnenstunden im Jahr verzeichnet werden."

"Schön, nur mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass wir nur wissen, dass das Ding im Golfstrom versenkt wurde und uns keiner sagt, wo genau und wie tief genau. Außerdem dürften da mittlerweile Sand und Schlamm drübergerutscht sein und sich die Lage selbst noch verändert haben."

"Dann bleibt uns eigentlich nur zu hoffen, dass die noch lebenden Vampire aus der Vernichtung Nocturnias gelernt haben, es nicht noch einmal zu versuchen, zumal die Zaubereiministerien ja wohl auch alle Sonnenschutzfolienfabriken gefunden haben", sagte Selene Hemlock.

"Wie erwähnt, Theia und Selene, wir können und dürfen erst einmal nur hinhören und hingucken, was in der Welt so passiert."

"Das machen wir dann wohl. Aber nicht mehr heute. Selene, auch wenn dich diese Fledermaus ganz wach gemacht hat möchte ich doch, dass du wieder ins Bett gehst", sagte Theia. Selene setzte erst zu grummeln an. Doch dann fügte sie sich. Wenn sie hier nicht wie ein kleines Mädchen behandelt werden wollte, durfte sie sich auch nicht wie eines benehmen.

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Vengor prüfte noch einmal, wie er es anstellen würde, seinen nächsten Blutsverwandten, einen Vetter zwanzigsten Grades, am erstenDezember mit eigener Magie oder Körperkraft umzubringen. Er hätte es gerne als Unfall hingestellt oder dem betreffenden Gift zugespielt. Doch Gift zu verschicken war ein Würfelspiel mit mindestens vier Würfeln, bei dem alle beim ersten Wurf einen Sechserpasch ergeben mussten, und es aus der Ferne zu tun war nicht dasselbe wie es in Sichtweite oder mit eigener Hand zu erledigen. Denn mittlerweile wusste er, dass der in seiner Brust wie ein zweites Herz pulsierende Unlichtkristall jeden in seiner unmittelbaren Nähe ausgeführten Lebensraub sofort in sich aufsog. Das gehörte zur Prüfung, die ihm sein hoffentlich doch noch erreichbarer Bundesgenosse Iaxathan auferlegt hatte. Bis dahin wollte er die beiden heimlichen Unlichtkristallfabriken überwachen. Die Ausbeute würde jetzt schon für weitere Dosen des Kristallstaubs reichen, mit dem er ihm treuergebene Zauberer zu seinen mächtigen Helfern machen konnte. Außerdem spukten ihm Bilder von magischen Waffen durch den Kopf, Rüstungen, die wie geformte schwarze Spiegel wirkten, vielleicht sogar noch besser als die rein gezauberten Fluchrückpreller. Er dachte an Klingenwaffen aus Unlichtkristall, Dunkelschwertern sozusagen, die jedes damit genommene Leben unverzüglich in sich aufsogen und dadurch noch mächtiger wurden. Vor allem dachte er an zwei Sorten Ungeheuer: Die Dementoren, die auf einer Insel im Nordatlantik dahindarben mussten. Die Insel wurde jedoch durch einen Fidelius-Zauber geschützt. Wer der Geheimniswahrer war wusste Vengor nicht. Selbst wenn er es gewusst hätte, so hätte er das Geheimnis nur erfahren, wenn der Geheimniswahrer es ihm ganz und gar freiwillig verraten würde. Man wollte die Dementoren nicht noch einmal zur Geißel aller Menschen werden lassen.

Die zweite Sorte Ungeheuer, die ihm vorschwebte, waren die Vierschatten, die nur jemand erschaffen konnte, der sich die Gunst Iaxathans erworben hatte. Er hoffte, sich diese Gunst im kommenden Jahr erwerben zu können, um diese dunklen Kreaturen neu zu erschaffen und auf die Menschheit loszulassen.

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Anthelia musste schallend loslachen, als sie einen Bericht ihrer Bundesschwester Louisette Richelieu las. Sie schrieb ihr, dass Julius Latierre zum einen gegen vier Gespensterfrauen hatte kämpfen müssen, die durch ihr auf die Sekunde genau gleichlanges Leben zu besonders mächtigen Geistern geworden waren und dass Julius dem Ministerium vorgeführt hatte, wie mächtig diese Zauber Ashtarias waren, die, und das war der Grund für Anthelias Erheiterung, er keinem weitergeben durfte, wenn er nicht sein ganzes Gedächtnis verlieren wolle. Immerhin habe er es wohl geschafft, die vier Gespenster mit ihrer ebenso geisterhaften Mutter zusammen durch das Tor der aus demLeben gehenden zu schicken. Außerdem teilte Louisette ihr noch mit, dass sich ihre Nichte Jacqueline und deren Schlafsaalkameradin Armgard wohl in denselben muggelstämmigen Mitschüler aus dem gelben Saal verguckt hattenund nun heimlich darum konkurrierten, wer ihn bei der nächsten Walpurgisnacht auf dem Besen mitnehmen durfte. Als sie dann aber las, dass Laurentine Hellersdorf wohl für die Spinnenschwestern unerreichbar geworden sei, weil sie nun im vom Sanctuafugium-Zauber umfriedeten Haus der Brickstons wohnte und tagsüber in Millemerveilles die Grundschüler unterrichtete, verging ihr das Lachen doch wieder. Mit einer Muggelstämmigen, die ohne Ruster-Simonowsky-Abstammung hervorragend zaubern konnte, hätte sie ihren Hexenorden sicher bereichert. Aber die Leute, die meinten, sie sei grundsätzlich und absolut böse hatten wohl genau das vorausgeahnt und Laurentine ohne sie mit der Nase darauf stoßen zu müssen in einen für sie und die meisten anderen Schwestern unbetretbaren Bereich geschickt. Als sie dann noch las, dass die Ministergattin in guter Hoffnung war, entlockte ihr das nur ein kurzes Schmunzeln. Doch als sie den Brief wieder fortlegte dachte sie genauer darüber nach. Wenn Madame Grandchapeau wegen des späten Mutterglücks die im Ministerium vorgeschriebene Pause einlegen musste, so würde sie ihre Behörde umordnen müssen und womöglich aus den anderen Behörden wen zu einer Stellvertreterin machen. Am Ende konnte es passieren, dass sie offiziell darum bat, dass Laurentine hellersdorf ins Ministerium zurückkehrte. Doch bis dahin konnte viel passieren.

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Seitdem Aidonius Moran die hart erstrittene Ausbildung in Hogwarts beendet hatte arbeitete er für den Waldbauern Gregory Westwood, einem Schwiegerenkel seiner Patin Sophia Whitesand. Dessen gegen magielose Menschen mit Verdrängungszaubern abgesicherten Wälder bei Dorcester wurden von Zauberstabmachern ganz Nordeuropas wegen der großen Auswahl an Baumsorten geschätzt. Aidonius hatte sich gerade damit empfohlen, dass er eine besondere Ausstrahlung besaß, die magische Tierwesen kleiner als Einhörner verscheuchen konnte, wenn er nur angestrengt an Kampf dachte. Damit konnte er von keinem Bowtruckel bedrängt an den Bäumen herumklettern, die für Zauberstabholz günstige Äste hatten. In einer zwei Monate dauernden Ausbildung hatte er die Grundlage für die richtige Erntezeit von Holz lebender Bäume erlernt. So wusste er, dass das Holz von Eichen vor allem in den Sommermonaten geerntet werden musste, während das von Buchen besser im Frühherbst geerntet werden sollte. Für alle Holzarten galt jedoch, dass die sie bietenden Bäume nicht abgestorben oder gefällt sein durften. Sie mussten weiterleben.

Aidonius vertrug das Sonnenlicht zwar ohne Probleme, fühlte sich aber trotzdem während der Nachtstunden besonders stark. Das lag an seiner dunklen Abstammung. Sein Vater war ein reinrassiger Vampir gewesen. Das sah man Aidonius nur an, wenn er ohne vorgehaltene Hand gähnte oder sich seinen roten Vollbart ganz abrasierte und darunter sehr helle Haut zum Vorschein kam. Seine oberen Eckzähne ragten einen halben Zentimeter über die restlichen Zähne hinaus. Seine dunkelbraunen Augen vermochten unbedarfte Menschen wie mit Stricken auf der Stelle zu fesseln oder in hingebungsvolle Stimmung oder wilde Panik zu versetzen. Allerdings hatten seine Mutter, die die seltene Gabe der zauberstablosen Feuerbeeinflussung besaß, sowie seine Patentante und Hebamme Sophia Whitesand ihn gemaßregelt, diese Macht seines Blickes nicht übermäßig zu gebrauchen, weil er sonst Ärger mit dem Zaubereiministerium bekommen würde. Weil er in Hogwarts als unheimlicher Sonderfall gegolten hatte, war es ihm nicht vergönnt gewesen, eine Hexe zu finden, die es mit ihm, dem Halbvampir, aushalten wollte. Damit hatte er sich abgefunden. Wenn er nach geschlechtlicher Befriedigung suchte, ging er nachts zu den käuflichen Damen in die Stadt und brachte sie durch seinen beeinflussenden Blick dazu, ihm zu Willen zu wsein. So hielt er sich in seelischer Balance. Das wichtigste aber war für ihn die Ruhe in den Wäldern. Hier fühlte er sich eins mit der Natur. Wenn er die Waldtiere belauschte, den Duft von Blättern und Blüten in die hochempfindliche Nase sog oder in den Nachtstunden im Wipfel eines hohen Baumes in den Sternenhimmel blickte, fühlte er sich eins mit dem allem hier. Hinzu kam noch, dass er gegen Hitze und Kälte völlig immun war, eine Eigenschaft, die er von beiden Elternteilen geerbt hatte. Denn wo die unbewusste Kraft der Feuerbeeinflussung seiner Mutter an heißen Tagen eine unsichtbare Schildaura um ihn errichtete, in der schädliche Sonnenstrahlen und Hitze um ihn herumgelenkt wurden, widerstand sein Körper selbst polaren Temperaturen. Er hätte sogar völlig nackt im klirrendkalten Winter arbeiten können. Das kam von seinem vampirischen Vater her, weil Vampire eine natürliche Immunität gegen die Kälte besaßen.

Im Juni des letzten Jahres hatte er für eine halbe Minute lang die ersten wirklichen Kopfschmerzen seines Lebens empfunden. Es war ihm, als hämmerten mehrere Dutzend Zwerge in seinem Kopf, und ein gleißender Sturm aus Lichtblitzen tobte vor seinen Augen. So plötzlich wie dieser Ansturm über ihn hereingebrochen war, so unvermittelt war er auch wieder verebbt. Später hatte er von seiner Mutter erfahren, dass wohl irgendwo auf der Welt jemand eine unbändige Sonnenmagie freigesetzt und damit alle Vampire der Bewegung Nocturnia vernichtet hatte. Auch seine Mutter, die eine natürliche Beziehung zur Elementarkraft des Feuers besaß, hatte diesen Ansturm empfunden. Doch für sie war es wie ein Rausch hemmungsloser Lust gewesen, aus dem sie erst Minuten nach der die Welt überrollenden Woge erwacht war.

Aidonius Moran kletterte gerade eine vierhundert Jahre alte Esche hinauf. Er dachte dabei daran, jeden mit bloßen Fäusten zu erschlagen, der sich ihm in den Weg stellte. Ein lautes Rascheln und Knistern verriet, dass die auf den Zweigen lauernden Baumwächter Reißaus nahmen. Er erkannte mit seinen im Dunkeln sehr gut sehenden Augen die von seinem Baum zu den Nachbarbäumen hinüberspringenden, astartigen Geschöpfe. Einige von denen waren nicht stark genug, die Entfernungen zu schaffen oder hatten in ihrer Panik den Sprung falsch angesetzt und stürzten auf den mit einem dichten Laubteppich bedeckten Waldboden. Lautes Knacken verriet, dass einige der Bowtruckels diesen Sturz nicht überlebt hatten. Andere jagten wild raschelnd über den Waldboden, um einen anderen Baum zu erreichen. Aidonius Moran indes erreichte unbehelligt den Wipfel und legte seine Hände auf die starken Äste. Eschenholz im Mittelherbst geerntet ergab für Zauberkunst und Fluchabwehrzauber geeignete Zauberstäbe. Je nachdem, mit welchen Zaubertierbestandteilen die Stäbe verbunden wurden mochte damit ein guter Elementarzauber oder auch ein tückischer Fluch ausgeführt werden. Es galt nur noch, die stärksten Äste zu finden und das äußerste Drittel davon abzuhauen. Zu diesem Zweck führte Aidonius seine koboldgefertigte, unzerstörbare Silberaxt mit sich. Diese konnte selbst das stärkste Holz durchtrennen wie eine scharfe Schere einen dünnen Stoff. Als Aidonius einen mehr als vier Meter langen Hauptast fand, in dem noch ein Rest der belebenden Kraft pulsierte, die der Baum an seine Äste abgab, zog er die Axt frei. Das durch die fast vollständig entlaubten Wipfel fallende Mondlicht genügte ihm vollkommen, um einen sauberen Schlag anzubringen. Mit einem kraftvollen Hieb trennte er das äußerste Drittel des Astes mit davon abstehenden Zweigen ab. Er fühlte fast, wie der angegriffene Baum unter der mutwilligen Verletzung erzitterte. In den vierzig Jahren, die er schon als Holzernter arbeitete hatte er dieses Gespür entwickelt, wie gut es einem Baum ging oder wie er auf zugefügte Verletzungen reagierte. Mitgefühl oder gar Mitleid empfand er aber nicht für die Bäume. Er hob bereits die im Mondlicht glänzende Axt zum zweiten Schlag an, als er meinte, von oben her eine Stimme zu hören. Er ließ die Axt wieder sinken und lauschte. Hier konnte doch sonst niemand sein.

"Sohn des Moonwalker, vernimm meine Botschaft!" wisperte es. Er sah nach oben und erblickte nur den von Wolkenfetzen umlagerten Mond. Da hörte er die fremde Stimme erneut. Dieses Mal konnte er aus dem Flüstern heraushören, dass es sich um eine weibliche Stimme handelte, die direkt in seinen Geist eindrang. Er vernahm erneut die Botschaft. Dann erkannte er, dass da jemand versuchte, ihn zu beeinflussen. Jemand benutzte das Mondlicht als eine Art Übermittlungswellen wie es bei den Muggeln mit dem passierte, was sie Radio nannten. Er wendete sofort Okklumentik an, wie seine Patin sie ihm beigebracht hatte. Denn er erkannte die Stimme. Das war dieses Vampirweib Nyx, das vor vier Jahren versucht hatte, ihn zu unterwerfen. Die hatte damals den Mitternachtsdiamanten, jenen unheilvollen Kraftstein aller Vampire besessen, den der Blutsauger besessen hatte, der seinen vermaledeiten Vater zum Vampir gemacht hatte. Die Stimme verstummte. Er hatte sie also erfolgreich aus seinem Geist ausgesperrt. Aber Nyx war doch tot, fiel es ihm ein. Amerikanische Vampirjäger hatten sie in eine Falle gelockt und trotz Mitternachtsdiamant vernichtet. Der verfluchte Stein war danach im Meer versenkt worden, irgendwo in diesem Golfstrom, der warmes Wasser aus den Subtropen bis nach Europa beförderte. Aber er hatte die Stimme genau erkannt. Das war die Stimme von Nyx gewesen. Konnten Vampire also auch zu Geistern werden? Falls ja, dann stand den Normalmenschen wohl wieder was böses bevor.

Er wartete und hielt seine okklumentische Abwehr aufrecht. Denn er war sich sicher, dass die Stimme noch nicht aufgegeben hatte. Das Mondlicht erschien ihm auf einmal wie ein immer schwerer auf seinen Kopf lastendes Gewicht zu sein. Wenn er in den Mond hinaufsah meinte er, es bohre sich wie spitze Nadeln in seine Augen, um bis in sein Gehirn vorzudringen. Er konnte nur mit großer Anstrengung seinen Kopf abwenden. Erst als er die Augen schloss merkte er, wie er zitterte. Was immer da auf ihn einwirkte machte ihm sichtlich zu schaffen. Er fühlte den Drang, seine Abwehr aufzugeben. Doch genau das, so erkannte der Halbvampir, wäre jetzt verhängnisvoll. Er kämpfte gegen diesen Drang und das immer mehr auf seinen Kopf drückende Gewicht an. Dann entschloss er sich, sich vor dem Mondlicht zu verstecken, das zu einer immer schwereren Decke zu werden schien. Er steckte die Axt fort und Wirkte mit seinem Rotbuchenzauberstab mit der Feder eines Phönixes den Kletterzauber Muscapedes. So schnell er konnte turnte er den Eschenstamm wieder hinunter. Er fühlte immer noch jeden einzelnen Mondstrahl wie ein Gewicht auf ihn niederdrücken. Noch nie hatte er sich dem Mond derartig ausgeliefert gefühlt. Er konnte nicht aufrecht gehen, so schwer lastete die unheimliche Kraft auf ihm. Der Mond drückte ihn förmlich mit seinen silberhellen Lichtstrahlen auf den Boden nieder. Der Drang, seinen Geist für äußere Gedankenbotschaften zu öffnen nahm wieder zu. Er blickte sich um. Selbst der Widerschein des Mondlichts schmerzte in seinen Augen. So ähnlich mussten sich vollständige Vampire fühlen, die in das Sonnenlicht gerieten. Zwar fühlte er im Moment keine Verbrennungsschmerzen. Doch das konnte noch kommen. Was auch immer ihm den sonst so treuen Mond zum Feind machte gab noch nicht auf. Aidonius musste mit Geist und Körper dagegen ankämpfen, nicht hilflos wimmernd am Boden zu liegen. Dann kam ihm eine Idee. Wenn das kalte Mondlicht ihm zusetzte, half vielleicht offenes Feuer. Er sah den von ihm vorhin abgetrennten Ast am Boden liegen. Er zielte mit dem Zauberstab darauf und rief "Incendio!" Die von seiner Mutter ererbte Beziehung zum magischen Element Feuer und die in seinem Zauberstab enthaltene Phönixfeder ließen den Ast unvermittelt zu einer hell lodernden Fackel werden. Sofort hörte die Pein auf, die ihm das Mondlicht bereitet hatte. Wenn er in das die Nacht durchdringende Feuer blickte fühlte er sich sofort um Zentnerlasten erleichtert. Er sah, wie die vom Ast ausgreifenden Flammen das trockene Laub ergriffen und ebenfalls entflammten. Nur die vom Herbstnebel angefeuchteten Blätter widerstanden dem heraufbeschworenen Feuer. Aidonius wollte garantiert nicht den halben Wald abbrennen. Deshalb lief er zu dem lodernden Ast und packte ihn dort, wo er noch nicht brannte. Die von seiner Mutter ererbte Schutzaura gegen jede Art von Feuer und Hitze bewahrte das Astende davor, ebenfalls zu brennen. Er hob die so erschaffene Fackel an und trat die kkleinen Brände aus. Dann hob er seinen Zauberstab und vollführte eine schnelle Drehung. Laut fauchend wischte die Riesenfackel durch die Luft. Zumindest traf keine weitere Flamme auf brennbares Material. Aidonius und die Riesenfackel verschwanden mit lautem Knall in leerer Luft.

Im Keller seines Hauses apparierte der Sohn eines Vampirs und einer geborenen Feuerhexe. Hier hinein drangen weder Tageslicht noch Mondschein. Nur die laut knisternd lodernde Fackel erhellte den unmöblierten Raum. Aidonius atmete auf. Er war dem unheimlichen Angriff entronnen. Konnte er es wagen, seinen Geist wieder zu öffnen? Er hatte die Kunst des Gedankensprechens erlernt, sie aber nur mit seiner Mutter angewendet.

"Mutter, ich wurde mit einer fremdartigen Mondmagie angegriffen. Habe dabei die Stimme der toten Vampirin Nyx gehört. Musste in mein Haus fliehen", schickte er los. Doch er vernahm nicht den typischen Nachhall seiner Gedanken, der ihm zeigte, dass er seine Mutter auch erreicht hatte. Er versuchte es noch einmal. Abermals misslang es ihm, seine Mutter zu erreichen. Natürlich schlief sie, dachte er. Doch als er auch ein drittes und ein viertes Mal keinen Erfolg hatte fragte er sich, ob sie weit von ihm fort war. Am Ende blieb ihm nur, zu ihr hinzureisen.

Er wartete noch einige Minuten. Dann löschte er die große Fackel, die er mitgenommen hatte. Er lauschte bange, ob wieder jemand versuchen mochte, ihn zu bedrängen. Als er sich sicher wähnte, dass keine Gefahr bestand, konzentrierte er sich auf das Haus seiner Mutter und disapparierte. Doch im selben Moment, wo ihn die alles zusammendrückende Schwärze umschlang, prallte er auch schon gegen ein hartes Hindernis. Laut schreiend fiel er aus knapp einem Meter Höhe herunter und landete an seinem Startpunkt. Als er nach einigen bangen Sekunden festgestellt hatte, dass er außer dem Aufprall keinen Schaden hingenommen hatte, erkannte er, dass seine Mutter ihr Haus gegen jedes Hineinapparieren abgeschottet hatte. Eigentlich konnte er als ihr Blutsverwandter doch hinein. Also war sie gerade nicht zu Hause. Denn dann pflegte sie einen zusätzlichen Abwehrzauber gegen Apparatoren zu errichten. Denn seine Mutter bevorzugte Reisen mit Flohpulver. Also war sie im Moment nicht zu Hause, womöglich an einem gegen Gedankensprechen abgeschirmten Ort. Aber wo? Aidonius beschloss, bei Tag zu seiner Mutter zu reisen. In dieser Nacht wollte er auf keinen Fall wieder ins Mondlicht hinaus.

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Anaxerebos mied alles elektrisch betriebene der Magielosen. Als ihn seine neue Herrin mit ihrer unheimlichen Kraft dazu treiben wollte, sich einem Haus mit vielen Wissenssammelgeräten zu nähern, waren diese durcheinandergeraten. Denn die geballte Kraft, die sie in ihn hineinpumpte, um ihn gegen die Ausstrahlung künstlicher Elektrizität zu schützen, wirkte sich störend auf die empfindlichen Computer und daran angeschlossenen Bildschirme, Einlesegeräte und Drucker aus. Anaxerebos konnte gerade noch einem Trupp aufgebrachter Rotblütler entwischen, die nachsehen wollten, wer da so massiv ihre achso wichtigen Gerätschaften beschädigt hatte. "Dann eben gedrucktes", hörte er Gooriaimirias verdrossene Gedankenstimme in sich.

Als Fledermaus flog er über das nächtliche Athen hinweg, immer darauf achtend, nicht in den Widerschein von Laternen oder Autoscheinwerfer zu geraten. Dann erreichte er das Gebäude einer namhaften Zeitung. Es gelang ihm, ein Kellerfenster zu öffnen und mit einem Kraftstoß, den Gooriaimiria durch seine Hände schickte, alles elektrische in dem menschenleeren Haus außer Gefecht zu setzen.

Da er kein Licht brauchte konnte er in den dunklen Kellern herumsuchen, bis er das Archiv der Zeitung fand. Er lachte über eine feuerfeste Tür, die ihm den Zugang verwehren sollte. Die würde er genauso einrennen wie die Mauer, die die ihm bis heute unbekannt gebliebenen Menschen vor seiner Überdauerungshöhle hochgezogen hatten. "Nicht brutal, sondern ganz zart, Anaxerebos!" mahnte ihn Gooriaimirias Gedankenstimme. Auch wenn hier unten keine Sicht auf den Mond bestand bestand der Kontakt fort. Das lag einfach daran, dass die Verbindung zu ihm bereits zu stark war, als sich noch mit Mondstrahlen oder dem freien Blick auf den Neumond behelfen zu müssen. Doch das wusste der Vampir nicht und hielt es auch nicht für wichtig. Er fragte viel mehr, wie er die Tür aufbekommen sollte. Zur Antwort wurde er mal wieder zur ferngesteuerten Marionette der schlafenden Göttin. Es war ihm unheimlich, wie seine Hände eine Vorrichtung aus Metall aus einer Tasche seines aus einem Modegeschäft gestohlenen Anzuges holte und erst unbeholfen und dann immer geschickter am Türschloss herumfuhrwerkte, bis dieses mit vernehmlichem Klick aufsprang. Erst jetzt bekam der Vampir die Herrschaft über seinen Körper zurück. Einmal mehr verwünschte er diesen Zustand, in dem er kein selbstständiges Geschöpf war. Wenn er herausfand, wie er sich dagegen absichern konnte ...

"Wirst du für mich wertlos", jagte Gooriaimirias Gedankenstimme durch seinen Kopf. Sie überwachte ihn also weiterhin. "Ich bin ein Sohn des neuen Mondes und kein toter Sklave eines Leichenbeschwörers, zur Sommermittagssonne noch mal!"

"Ja, und so kundig wie ein Säugling, der nach der nährenden Brust seiner Mutter tastet, was die neuen Maschinen der Rotblütler angeht", bekam er zur Antwort. "Also geh da rein und lies dich durch die alten Zeitungen! Sicher findest du dort Berichte über Menschenfrauen, die es zu was gebracht haben."

"Ja, Gebieterin!" schnarrte Anaxerebos. Sich weiter gegen die ihn führende Macht aufzulehnen würde ihm wohl wieder übel bekommen, wenn er nicht endlich fand, was er zu suchen hatte.

Zwanzig Minuten durchstöberte Anaxerebos die Ausgaben des laufenden Jahrganges. Denn er musste eine mögliche Gefährtin finden, die in genau dieser Zeit zu Rang oder Ruhm gelangt war. Er war gerade dabei, den Wirtschaftsteil von vor drei Wochen zu prüfen, als er fernes Geheul hörte. Er kannte es und wusste, dass damit die pferdelosen Fuhrwerke ihren Weg freiräumten, die zum Feuerlöschen oder auf der Jagd nach Räubern oder Mordbuben durch die Straßen eilten. Das sich wiederholende Geheul kam näher. Zwei Fuhrwerke näherten sich. "Leichenblut, die Polizei hat den Stromausfall bemerkt!" zischte Gooriaimirias Gedankenstimme. "Nimm alle Ordner mit dir und flüchte, bevor die Polizisten das Gebäude umzingeln und stürmen!"

"Ich will kämpfen. Ich will das Blut von denen!" widersetzte sich Anaxerebos. "Damit deren Kollegen mitbekommen, dass hier wer ganz böses eingebrochen ist? Nein! Nimm die drei Ordner mit und verschwinde!" bekräftigte die Stimme der Schlafenden Göttin den Befehl. Anaxerebos fühlte bereits die ersten Anzeichen jener ihm verhassten Schwächung, mit der sie ihn beim ersten Kontakt niedergeworfen hatte. So gehorchte er und klaubte alle Ordner des laufenden Jahrgangs auf und rannte so leise er konnte zurück zum Fenster. Draußen hörte er das Geheul noch deutlicher. Seine hochempfindlichen Ohren vermittelten ihm den Eindruck, dass die Fuhrwerke bereits ganz nahe waren. Doch die mochten noch einige Minuten brauchen. So band er die erbeuteten Zeitungsordner mit Stricken zusammen und schlang sich die beiden Enden um den Leib. Dann wurde er wieder zur Fledermaus und flog im Schutz der Dunkelheit aufwärts. Er sah noch die rotierenden Warnlichter und hörte die Wagen vor dem Zeitungsgebäude halten. Das trieb ihn zur größeren Eile an.

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Es war ein verdammt langer und anstrengender Arbeitstag gewesen. Eleni Papadakis hatte mit dem Militär-Ataché der US-Botschaft, zwei NATO-Vertretern aus Griechenland und mit einem extra mit einer F-16-Jagdmaschine aus den Staaten herübergejetteten Vertreter des US-Verteidigungsministeriums konferiert, inwieweit sie ihre Flughäfen und Wartungseinrichtungen zur Verfügung stellen würde. Denn eine lückenlose Verbindung zwischen den Staaten und Afghanistan war schon sehr verlockend, zumal es US-Investoren nicht gelungen war, die Aktienmehrheit an Lone Star Airways zurückzukaufen. Die aus den Staaten hatten zeitweilig mit Flugverbote für Lone-Star- und Aiolos-Flugzeuge gedroht, wenn sie keine als zivile Touristentransporte getarnten Sonderflüge für die Streitkräfte für 50 Prozent Preisnachlass beim Treibstoff und kostenlose Nutzung der Wartungsmöglichkeiten bekamen. Eleni hatte darauf gekontert, dass sie nicht auf die USA angewiesen sei und die Piloten und Mechaniker von Lone Star entlassen würde, sollten die US-Behörden ihr die Geschäfte auf dem amerikanischen Markt verderben. Das würde natürlich nicht ohne Presserummel abgehen. Der Militärataché hatte dann unterschwellig damit gedroht, dass Eleni Papadakis auch so schon auf der Abschussliste ihr neidender Gruppen stehe und es sich gerade jetzt nicht mit mächtigeren Leuten verderben wolle. Sie hatte darauf nur geantwortet, dass sie längst Vorkehrungen getroffen habe, sollte ihr etwas anderes zustoßen, als dass sie im Alter von über neunzig Jahren friedlich einschliefe. Da sie erst fünfunddreißig Jahre alt war verstanden ihre Konferenzpartner diesen Hinweis. Am Ende war es darauf hinausgelaufen, dass Eleni als Ausgleich für den Treibstoffpreisnachlass zwanzig Millionen Dollar in frei handelbare Aktien bekommen würde. Diese würden über mit der Regierung zusammenarbeitenden Firmen eingekauft und an Partnerfirmen von Aiolos Airways weitergegeben. Dafür konnten amerikanische Transportflugzeuge, die eindeutig zivil beflaggt sein mussten, problemlos auf den Flugplätzen landen, die Elenis Firma gehörten.

Mit sich und ihrer Unbeugsamkeit und Unerschütterlichkeit zufrieden hatte sich Eleni um zehn Uhr abends in ihr schalldichtes Schlafzimmer im obersten Stockwerk eines Wohnturms auf ihrem Anwesen zurückgezogen. Der Turm war dem berühmten Glockenturm von Pisa nachempfunden, nur mit dem herausragenden Unterschied, dass er kerzengerade aufragte.

Wegen der Schallisolierung bekam Eleni nicht mit, was auf ihrem Anwesen mit dem Wohnturm und dem für die zwanzigköpfige Dienerschaft erbautem Gesindehaus vorging. Als sie jedoch das leise Bimmeln hörte, mit dem ihre persönliche Leibwächterin Alexandra Konstantinides meldete, dass sie etwas von ihrer Herrin wollte, schrak diese aus dem Schlaf. Sofort war sie hellwach. Als sie dann auf der funkgesteuerten Digitaluhr ablas, dass es gerade ein Uhr Osteuropäischer Winterzeit war vermutete sie, dass womöglich ein Brand ausgebrochen war. Denn sonst pflegte Alexandra sie nicht um diese frühe Zeit aus dem Schlaf zu bimmeln. Sie schaltete die Sprechanlage ein und fragte, was los sei. Alexandra Konstantinides antwortete: "Ich erhielt gerade einen Anruf, dass mehrere Wagen und Hubschrauber auf das Anwesen zuhalten. Ich fürchte, Ihre Geschäftspartner wollen sich nicht mit den ausgehandelten Bedingungen abfinden."

"Ein offener Angriff? Mit Hubschraubern? Bin ich denen echt so viel wert?" erwiderte Eleni sarkastisch. Alexandra erwiderte, dass sie das die Angreifer wohl nicht fragen wollte. Dem stimmte Eleni zu. "Ich fahre zu Charon runter", knurrte Eleni. Sie griff nach der schon für den nächsten Morgen bereitgelegten Unterwäsche, sowie Rock und Bluse. Sich groß waschen und frisieren fiel wohl flach. Sie lauschte. Doch durch die Schallisolierung und die zentimeterdicken Panzerglasscheiben und den davor heruntergefahrenen Sicherheitsjalousien hörte sie nichts. Griff man sie wahrhaftig an? Sie konnte es sich nicht vorstellen, dass die Amerikaner oder ihre Landsleute so plump und brutal gegen sie vorgehen mochten. Doch sie hatte auch keinen Grund, Alexandra zu misstrauen. Vorstellbar war es ja schon, dass eine ihr feindlich gesinnte Gruppe sie mit schweren Waffen angriff. Linksgerichtete Terroristen, aber auch auf sie neidische Konkurrenten aus dem Ausland.

Als Eleni die Schlafzimmertür öffnete prallte sie fast gegen einen stämmigen Mann, der auf dem dunklen Flur stand. Der Geruch von feuchter Erde und altem Leder wehte ihr entgegen. Sie öffnete den Mund, um um Hilfe zu rufen. Da stieß sie der Unbekannte in das Schlafzimmer zurück und drückte die Tür zu. Eleni schrie laut auf, hoffte, dass die Sprechanlage noch eingeschaltet war. Der Fremde postierte sich an der nun verschlossenen Tür. Eleni sah nur einen Schatten. "Es ist sehr nützlich, dass dein Schlafgemach gegen das herein- und Herausdringen von jedem Laut verschlossen ist", sagte der Unbekannte. Eleni dachte an ihre kleine Pistole im Nachttisch und wich behutsam zurück. Das war die letzte Möglichkeit, wenn ein gefährlicher Eindringling es bis zu ihr geschafft hatte. "Wenn du diese und alle nächsten Nächte weiterleben willst, vergiss deine Waffe. Deine leibeigene Amazone hat mir das schon gesagt, dass du so ein lautes Handfeuerding in deinem Gemach hast."

Eleni fühlte Wut und Enttäuschung. Alexandra Konstantinides, die sie schon von Kindesbeinen an kannte, die sie als ihr Vorbild, wie Frauen sich verhielten ansah, nachdem ihre leibliche Mutter sie gleich nach der Geburt an ihren Vater abgegeben und mit dessen Abfindung ein neues Leben im Ausland angefangen hatte. Ausgerechnet Alexandra Konstantinides hatte sie verraten, hatte das gegen böswillige Eindringlinge hochgesicherte Haus zu einer Mausefalle gemacht, in der sie, Eleni, nun unentrinnbar gefangen war. Doch ihr Trotz und ihr Wille, sich nicht wehrlos überrumpeln zu lassen, trieben sie an, mit einem Satz an den Nachttisch zu springen, die Schublade herauszureißen und die geladene Pistole herauszupflücken. Der Fremde hatte sich in der Zeit keinen Millimeter vom Fleck gerührt. Eleni entsicherte die Waffe und rief: "Wenn Sie mich töten wollen nehme ich Sie mit."

"Das ist ein gutes Stichwort", erwiderte der andere. "Ich wollte dir gerade anbieten, mit mir zu kommen. Aber wenn du auf mich schießt werde ich mir das sehr genau überlegen." Eleni lachte nur. Mittlerweile hatten sich ihre Augen gut an die vorherrschende Dunkelheit gewöhnt. Der Fremde zeichnete einen unübersehbaren Schatten gegen die im winzigen Restlicht des durch die Jalousien sickernden Mondlichts grau schimmernde Wand. Sie entsicherte die Waffe und feuerte so, dass sie den Kopf des anderen treffen musste. Sie rechnete mit kugelsicherer Kleidung. Der scharfe Knall und die weißgelbe Feuerblume vor der Mündung ließen Eleni zusammenzucken. Doch im kurzen Aufblitzen des Mündungsfeuers sah sie den Feind, einen hageren Mann in altmodischer derber Lederkluft, ein wachsbleiches Gesicht mit blutunterlaufenen Augen. Er lächelte sie an. Zwei ungewöhnlich lange Eckzähne ragten dabei aus seinem Oberkiefer. Im gleichen Moment hörte Eleni ein unheilvolles Pfeifen knapp an ihrem rechten Ohr vorbei. Dann sirrte es knapp über ihren Kopf hinweg und krachte, als die zweimal abgeprellte Kugel in die opulente Deckenlampe einschlug. Hatte der andre, der sich wohl zur Irritation seiner Gegnerin als Vampir maskiert hatte, von sich aus geschossen? Eleni drückte noch einmal ab. Wieder sah sie den Fremden im kurz aufblitzenden Mündungsfeuer. Sie sah auch, dass ihre Kugel von dessen Kopf zurückprallte und diesmal links an ihr vorbei gegen die Wand schlug und von dieser wieder abgeprellt wurde. Noch zweimal hörte sie die Kugel im Zimmer querschlagen, weil alles hier Stahlbeton und Panzerglas war. Erst als das Geschoss in der Frisierkommode einschlug war einen Moment lang Ruhe. "Du hättest dich jetzt schon zweimal selbst erschießen können, du dummes Stück", schnarrte der Fremde. Eleni erkannte, dass der Kerl recht hatte. Wie auch immer, sein Kopf war kugelsicher umkleidet, obwohl sie keinen Helm sah, der das hinbekam. Sie legte noch einmal auf den Schatten an der Tür an. Doch diesmal sprang er vor. Die Bewegung erfolgte so blitzartig, dass Eleni nicht mehr reagieren konnte. Ein wuchtiger Schlag hieb ihr die Pistole aus der Hand. Die Waffe krachte gegen die Wand und polterte von innen gegen die schalldichte Schlafzimmertür. Dann hatte sie der Unbekannte am Arm gepackt. Ihre linke Hand und ihre Beine waren jedoch noch frei. Mit einem lauten Aufschrei versetzte sie dem fremden erst einen Handkantenschlag an den Kopf und dann noch einen gezielten Fußtritt in den Unterleib. Beides hätte ihn außer Gefecht setzen müssen. Die rein körperliche Attacke zeigte mehr Wirkung als die zwei Pistolenschüsse. Der andere taumelte zurück. Er schrie zwar nicht auf, wie ein Mann es nach einem gezielten Tritt in seine Intimteile hätte tun müssen. Aber er taumelte zurück. Sein stahlharter Griff löste sich ein wenig. Eleni bekam den rechten Arm Frei und versetzte dem andren sogleich einen weiteren Handkantenschlag voll auf die Nase. Sie hörte es knacken und den anderen verdrossen grummeln: "Meine Nase, Dirnenbrut. Dafür saug ich dich ganz aus."

Eleni sprang zurück, bereit zu einem weiteren Angriff. Der andere stieß nach, warf sich todesmutig in ihren nächsten Karatetritt hinein. Sie erwischte ihn an der Brust und trieb ihn zurück. Er ließ sich überfallen und warf sich herum. Eleni wollte über ihn, um ihn in einen Judohaltegriff zu zwingen. Doch was dann? Alexandra hatte dem Kerl die Tür geöffnet. Sie würde ihr wohl nicht helfen. Ohne freie Hand konnte sie nicht nach dem Telefon oder der Sprechanlage greifen. Sie musste den anderen mit einem Würgegriff betäuben oder ihm noch einen Schlag an den Kopf versetzen. Diese nur eine Sekunde Bedenkzeit verdarb Eleni die letzte Fluchtchance. Der andere stieß wie ein tiefstartender Sprinter auf sie los und warf nun sie zurück. Sie schaffte es gerade noch, ihre Beine hochzureißen und den über sie stürzenden über sich hinwegzuhebeln, dass er krachend gegen die Wand prallte. Doch er federte zurück und landete mit Urgewalt auf der auf ihrem Bett liegenden Hausherrin. Blitzartig umschlang er sie mit seinen Armen und klammerte sich fest. Sie kämpfte gegen ihn an. Doch er war zu stark und hielt sie umschlossen wie eine Stahlklammer.

"Jetzt ist dein vorwitziges und goldgierigges Dasein zu Ende", schnarrte der Feind. Da durchzuckte ihn etwas wie ein Stromstoß. Eleni fühlte, wie die mörderische Umklammerung nachließ. Sie wollte sich herumwerfen und den Gegner von sich abbschütteln, als dieser loswimmerte, als würde er gerade gnadenlos gefoltert. Sie wartete einige Sekunden. Dann fühlte sie den Schlag gegen die Schläfe. Ein ganzes Sternenmeer explodierte vor ihren Augen.

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Cielonegro fühlte die Anwesenheit mindestens dreier Menschen. Der erst vor wenigen Wochen aus Überdauerungsschlaf erweckte Vampir wollte eigentlich nur mit Juanita Angeles Alvarado Palomas genannt Paloma des Angeles zusammentreffen. Doch als er mitten in der Nacht zum 16 November im Stil einer Eidechse vom Dach aus die Hauswand hinuntergeklettert war und nun auf dem Balkon vor dem Luxusappartment der lebenshungrigen Musical-Darstellerin landete, fühlte er zwei Menschen mehr. Er wusste, dass die des Angeles einen Leibwächter hatte. Doch wer war der zweite. Lag die etwa mit einem heimlichen Liebhaber im Bett? Der Vampir blickte zum Mond hinauf. Sogleich erfolgte eine Botschaft direkt aus dem Mondlicht in seinen Kopf: "Schalte erst die elektrischen Leitungen aus!" Als der Vampir schon fragen wollte, wie er diese lästigen Kraftleitungen unterbrechen konnte, ohne sich dabei einen schmerzhaften Schlag zu versetzen, war ihm, als flösse ihm aus dem kalten Mondlicht alles dazu nötige Wissen zu. So leise, wie er nach seiner Landung auf dem Dach an den Wänden hinuntergekrackselt war, stieg er nun vom Balkon weiter hinunter, ohne Seil und Sicherung. Für einen Sohn der Nacht, der schon mehr als zweihundert Jahre existierte, war das eine Kleinigkeit.

Die Fenster und Balkontüren waren gesichert. Aber eines der Kellerfenster erwies sich als unsicher. Er zog den aus einem Werkzeugladen in Madrid gestohlenen Diamantschneider und ritzte damit behutsam und leise am äußeren Rand der Fensterscheibe entlang, immer und immer wieder, bis er die normaldicke Scheibe sauber herausgeschnitten hatte. Wie ein berufsmäßiger Einbrecher zog er die Scheibe mit einer dafür ausgelegten Saugvorrichtung heraus und legte sie so leise, dass selbst seine hochempfindlichen Ohren es gerade als ganz leises Geräusch vernahmen, auf den Boden ab. Dann schlüpfte er flink und gewandt wie eine Schlange durch das aufgebrochene Fenster. Er hörte kein Alarmgeheul. Die Sicherung der Wohnungen unterlag den Eigentümern oder Mietern. Was mit dem Keller passierte schien keinen zu interessieren.

Da er kein Licht brauchte konnte er ganz unauffällig die Kellerräume absuchen. Er fühlte die Nähe fließenden Wassers. Doch Gooriaimiria hielt mit ihm zufließenden Kraftströmen dagegen. Als er einen leicht zu öffnenden Kanaldeckel sah, wusste er auch, wo das Wasser floss. Allerdings waren der Raum für die Hauselektrik und der Raum für die Zentralheizung mit Sicherheitsschlössern verriegelt. Das teilte er rein geistig seiner neuen Herrin und Beschützerin mit. Da war ihm, als flutete eine unglaubliche Kraft vom Boden her in ihn hinein. Er vfühlte sich auf einmal um ein vielfaches stärker. Doch was ihm unheimlich war, er sah, wie sein Körper sich in weißen Dunst auflöste. "Unter der Tür durch!" hörte er Gooriaimirias Befehl. Das ließ ihn sich so lang und dünn ausstrecken wie er konnte. Dabei schien der Türspalt so hoch zu werden, dass er bequem unter ihm hindurchkriechen konnte. Ohne anzustoßen, ohne irgendein Geräusch, überwand er so die Tür. Als er vollständig hindurch war, war ihm, als ziehe sich alles an ihm zusammen. Er fühlte auf einmal seinen Körper wieder als feste Gestalt. Er fiel fast um. Doch er hatte es geschafft. Er stand im Steuerraum für alle elektrischen Versorgungseinrichtungen des Appartmenthauses.

Mit sehr schnellen, ganz genau angesetzten und ausgeführten Handgriffen verschaffte er sich Zugang zu den Stromverteilern. Nur eine Minute nach dem Betreten des Steuerraumes fielen sämtliche elektrischen Leitungen aus. Der Vampir hörte das Ersterben des lästigen Brummens und fühlte zugleich, wie das damit zusammenfallende Prickeln auf seinem Körper verschwand. Er lauschte. Sicher würde es gleich jemand bemerken, dass der Strom weg war. Nun ohne Angst vor elektrischen Schlägen oder gar Feuer rupfte er die stillgelegten Leitungen heraus und pflückte einige Meter Kupferkabel aus der Spule des lahmgelegten Umspanners. Die Teile steckte er in seine kleine Umhängetasche, die er mit Gooriaimirias magischer Kraftzufuhr zu einem nur innen sehr geräumigen Behälter gemacht hatte. Er lief auf die Tür zu und fühlte, wie ihn erneut Kraft von außen zufloss, diesmal noch schneller und stärker, wohl weil keine störende Elektrizität in der Nähe wirkte. Wieder meinte er, sich in ein nebelhaftes Gebilde aufzulösen. So konnte er noch einmal unter der Türspalte hindurchschlüpfen und unmittelbar außerhalb des Raumes wieder feste Form annehmen.

Da er nun schon einmal im Haus war benutzte er die Treppe. Von überall fühlte er die abgeschwächte Lebensaura schlafender Menschen, hörte sogar deren Herzen schlagen oder witterte ordentlich durchblutete Menschen, die vor zwei Stunden noch durch die Gänge gelaufen waren. Als er im völlig dunklen Haus vor dem Appartment stand stellte er fest, dass es mehrfach verschlossen war. Noch einmal verhalf ihm Gooriaimirias Kraft dazu, wie ein weißer Bodennebel durch die Türritze zu dringen. Dann sah er den Leibwächter. Dieser hantierte gerade an einer Vorrichtung hinter einer Klappe, eine Vorrichtung mit Kippschaltern. Er bemerkte den lautlos hinter ihm vorbeistreichenden Dunst nicht. Vielmehr war ihm wichtig, wieder Strom zu bekommen.

Während der Wachposten sich wohl eine tragbare Lichtquelle suchte waberte Cielonegro durch den Flur unter der Tür zum Schlafzimmer durch. Er hatte sich nicht vertan. Im protzig breiten Bett, das ihm irgendwie merkwürdig beschaffen vorkam, lagen zwei gewöhnliche Menschen: Zwei Frauen. Der Vampir wünschte sich seine Wiederverfestigung. Doch Gooriaimiria ließ ihn noch nicht feste Form annehmen. Warum das so war bemerkte der zu Nebel gewordene Blutsauger, als die Schlafzimmertür aufging und der Leibwächter mit einer brennenden Kerze hereintrat. Cielonegro fühlte die kraftsaugende Macht selbst dieser winzigen Flamme. Das war direkt in seiner Nähe brennendes Feuer, ein Ableger der Sonnenkraft. Er fühlte, wie er nach oben gehoben wurde und platt an die Decke gedrückt wurde. Eine der zwei Frauen hatte wohl den Wächter gehört und wachte auf. "Eh, José, mach, dass du wieder rauskommst!" grummelte die Erwachte.

"'tschuldigung, Juanita, aber der Strom ist weg. Die Hauptleitung muss ausgefallen sein. Da muss ich direkt in Ihrer Nähe bleiben, ob Ihnen und Ihrer ... Base das gefällt oder nicht."

"Im Arbeitsvertrag steht, dass du nur dann in mein Schlafzimmer darfst, wenn ich nicht drin bin, um zu sichern, ob wer sich unter dem Bett versteckt hat. Ansonsten hast du maximal vor der Tür zu wachen. Also raus! Öhm, ist der Hausmeisternotdienst informiert?"

"Geht nicht wegen Stromausfall. Da geht auch das schnurlose Telefon nicht."

"Und dein Mobiltelefon?" knurrte die Erwachte.

"Akku leer. Wollte es heute Nacht aufladen", grummelte der Leibwächter.

"Dann ab zurück ins Wohnzimmer. Hier kommt von draußen keiner rein!" brummelte die aufgewachte. Jetzt wachte auch die zweite Frau auf. "Was is'n?" brummelte sie schlaftrunken.

"José meint, er müsse mit uns Händchen halten, weil die Stromleitung ausgefallen ist, Cariña."

"Ich mach nur meinen Job, die Damen", knurrte der Wächter und zog sich mit der brennenden Kerze zurück. "Dann klingel ich mal beim Hausmeisternotdienst durch", maulte die zuerst erwachte, die der als Nebeldunst unter der Decke hängende Vampir als seine Zielperson erkannte. Er durfte nicht zulassen, dass sie oder ihre Bettgenossin um Hilfe rufen konnten. Lautlos und schnell sank er im verdunkelten Schlafzimmer auf den Boden herab und bekam jetzt feste Gestalt. Er fühlte, wie ihm wie vom Mondlicht zugeführt neue Kraft erfüllte. Als die beiden aufgewachten Frauen, von denen die eine fast noch ein Mädchen war, den aus dem Nichts entstandenen Eindringling sahen war es schon zu spät. Der bannende Blick seiner Augen, von Gooriaimirias unheimlich mächtiger Kraft um ein vielfaches verstärkt, traf erst Juanita und dann die gerade neunzehn oder zwanzig Jahre alte Frau, die ihm als passable Dreingabe erschien. Vielleicht saugte er die nur leer. Doch dann drang Gooriaimirias Gedanke in ihn ein, dass es doch sehr günstig war, gleich zwei Gefährtinnen zu haben, ja am besten schon eine Bluttochter zu gewinnen. So erzählte er im Flüsterton, dass er ein Bote der Nachtkinder war und gekommen war, die beiden Frauen in die Welt der Unsterblichen zu holen, weil er mit ihnen zusammen das Vermächtnis der schlafenden Nachtgöttin antreten wollte. Nach nur zehn Minuten, unterstützt von seinem bannenden Blick, gab sich Juanita Angelita Alvarado des Palomas seinem Wunsch hin. Die andere, von der er bei der Gelegenheit erfahren hatte, dass sie Ana María mit Vornamen hieß, wartete geduldig. Behutsam nahm der Vampir das Blut der aufstrebenden Musical-Darstellerin in sich auf und ließ sie gleichzeitig aus seinem rechten Unterarm sein weißes Blut trinken. Dabei fühlte er, wie ihm auch von außen frische Kraft zufloss und durch den Arm in Juanitas Körper überging. Nach zwanzig Minuten behutsamen Saugens versank Juanita in eine tiefe Ohnmacht. Trotzdem der Vampir den Widerwillen verspürt hatte, mit dem Ana María sich ihm hingab, genoss er auch ihr noch jugendliches Blut, wenngleich er dabei entdeckte, dass sie keine unberührte Jungfrau mehr war. Auch sie nahm von seinem Blut. Wieder merkte er, wie fremde Kraft von außerhalb in ihn und durch in überfloss. Er zog gerade seinen linken Unterarm fort, weil Ana María bewusstlos geworden war, da flog die Tür auf, und der Leibwächter sprang mit entsicherter Pistole herein. Aufgeladen durch das Blut der beiden Frauen und die Kraft Gooriaimirias wirbelte der Vampir herum. Der Wächter krümmte gerade den Zeigefinger, um seine Waffe abzufeuern, da krachte ihm schon die rechte Faust des Vampirs auf den Kopf. Er hörte es laut Knacken und sah ein tiefes, sich rot färbendes Loch. Immerhin hatte der Wächter keine brennende Kerze in der Hand gehalten, sondern eine elektrische Handlampe. Somit bestand keine Feuergefahr. Der Vampir fühlte, wie José innerhalb weniger Sekunden starb. Er hatte zu fest zugeschlagen. Doch seine Mission hatte er erfüllt.

Im Schutze dicker Vorhänge wartete der Vampir mit seinen beiden Opfern darauf, dass diese zu neuem Leben erwachten. Er hatte damit gerechnet, einen vollen Tag warten zu müssen. Doch aus einem ihm noch nicht bekannten Grund dauerte die Umwandlung nur zwei Stunden. Er hörte die beiden Frauen unter Schmerzen stöhnen, weil ihnen die neuen Zähne wuchsen und ihre Körper sich vollständig umwandelten. Von nun an würden sie nur noch mit einem Zehntel der üblichen Geschwindigkeit altern, waren mehr als dreimal so stark wie sonst und konnten, wenn er sie darin unterrichtete, zu menschengroßen Fledermäusen werden. Dafür konnten sie kein Sonnenlicht oder offenes Feuer mehr vertragen, durften nicht mehr in die Nähe von fließendem Wasser kommen oder Gegenstände berühren, auf denen Zauber der Sonne wirkten.

Es war um vier Uhr und zehn Minuten am 16. November 2001, als Juanita als erste die Augen aufschlug und sofort wieder in eine angespannte Haltung verfiel. Dann nickte sie, als müsse sie jemandem zustimmen, der nicht zu sehen war. Dann hörte er ihre Gedanken in seinem Kopf:

"Ui, so heftig erregend habe ich das noch mit keinem Mann erlebt. Hmm, nur die Zähne könnten stören, wenn ich Gooriaimirias Geschenk unter das Volk bringen soll."

"Daran gewöhnt sich jeder", erwiderte Cielonegro. Dann hörte er auch Anas Stimme in seinem Kopf: "Dürfen meine Alten nicht mitkriegen, dass ich mit Juanita im Bett war und dann von 'nem echten Vampir angeknabbert wurde."

"Dann warst du nicht hier", sagte Cielonegro. Danach ging es darum, was mit dem Wächter passierte. Sie beschlossen, ihn in einen Teppich einzurollen und durch den Kanaldeckel im Keller in das Abwasser zu werfen.bevor alle anderen merkten, dass der Strom weg war. Auch das Bett wurde abgezogen. Jetzt erfuhr der Vampir auch, dass es ein Wasserbett war, eine neumodische Erfindung, die angeblich eine behaglichere Lage und Anpassung an den darauf gebetteten Körper bescherte, aber auch, wie er erfuhr, für der körperlichen Liebe frönende Paare eine sehr bewegungsanpassende Unterlage bot.

Um den Eindruck zu wahren, dass jemand den Strom sabotiert hatte, um bedenkenlos in die besseren Wohnungen einzubrechen, überließ es Cielonegro seinen neuen Gefährtinnen, die Leiche Josés im Kanal zu versenken, während er in dreißig verschiedene Wohnungen eindrang und wertvolle Schmuckstücke und Kameras stahl, die zu seiner Verwunderung immer die Verwandlung zur Nebelgestalt mitmachten und unverändert wieder auftauchten, wenn er feste Form annahm.

Als das erledigt war fehlten zum Sonnenaufgang nur noch fünfzig Minuten. Da sprach die schlafende Göttin zu den drei Vampiren. "Wünscht euch, von mir dorthin getragen zu werden, wo ich euch hinbringen will! Denn um am Tage herumlaufen zu können benötigt ihr einen sehr erprobten Sonnenschutz." Die drei nahmen sich bei den Händen und konzentrierten sich darauf, dort hinzureisen, wo Gooriaimiria sie hintragen wollte. Erst flimmerte es um ihre Körper, dann verwischten ihre Umrisse in schwarzen Schlieren. Dann fielen diese in sich zusammen wie ein in sich zusammenstürzender Stern, der zu einem Schwarzen Loch wird. Am Ende blieb nur ein winziger, schwarzer Punkt, der mit leisem Knistern im Nichts verschwand.

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Eleni Papadakis erwachte mit bohrenden Kopfschmerzen in einem dunklen Raum. Neben ihr lag noch jemand. Sie erkannte, dass sie nicht gefesselt war. Sie setzte sich auf und betastete ihren Körper. Sie war völlig unbekleidet. Dann hörte sie die Stimme des Fremden. "Eigentlich hätte ich deine tapfere Amazone zu meiner Gefährtin haben und dich einfach nur leersaugen wollen. Aber meine Herrin hat mir befohlen, dich in unsere Reihen einzugliedern. Sie da neben dir wird dir auch dann noch eine nützliche Begleiterin sein."

"Okay, Kirie Attentäter und Entführer. Die Vampirnummer hat mich sicherlich gut beeindruckt, und Ihre Kampfausbildung ist exzellent", erwiderte Eleni und hörte, dass sie wohl in einem kleinen Raum mit Metallwänden war. "Aber jetzt muss es mal gut sein. Mag sein, dass Ihre Auftraggeber sie darauf gedrillt haben, die Rolle eines Psychopathen zu spielen, der von der fixen Idee besessen ist, ein Vampir zu sein. Aber an diese Monster glaubt doch kein Mensch mit Verstand."

"Wie erwähnt. Hätte meine Herrin und Göttin nicht befohlen, dass du auch zu ihren Gesandten wirst, so hätte ich dein von Überheblichkeit und Geltungssucht verdorbenes Blut schon längst bis auf den letzten Tropfen aufgesogen. Aber für die Beleidigung, wir seien nur erdichtete Ungeheuer, wirst du vor deiner Neuwerdung noch um dein jämmerliches Leben winseln und ... Arrg!" Eleni hörte, wie ihr unheimlicher Gegner erst laut aufschrie und dann wie im Todeskampf röchelte, bis er keinen Ton mehr von sich gab. Da regte sich neben ihr jemand. Sie fühlte eine kräftige Hand auf ihrem nackten Arm und zuckte zusammen. "Er wollte es nicht anders, Eleni. Sie hat sein Leben eingefordert und an sich gerissen. Er war ihr offenbar zu frech." Eleni sah nach rechts und erkannte in der Dunkelheit einen Schatten. "Lex, bist du das? Hat dieser Psychopath dich also auch entführt. Natürlich, weil es ja echt aussehen soll und du dann nicht belangt werden kannst, nicht wahr?"

"Eleni, Anaxerebos war kein Psychopath. Er war ein echter Sohn der Nacht, ein Vampir", entgegnete Alexandra Konstantinides, die erste Leibwächterin und Vertraute Elenis. Diese schlug nach ihr, hätte aber so schon ahnen müssen, dass sie dabei keinen Punkt machen konnte. Alexandra fing ihren wuchtig geführten Karatehieb ab und hielt den Arm fest und sicher. "Dir und mir wird eine große Ehre zu Teil. Wir dürfen die Gesanten der schlafenden Göttin sein. Eigentlich wollte sie, dass du Anaxerebos' Gefährtin durch die Nächte wirst. Dann hat sie ihm befohlen, auch mich dazu zu machen. Er wollte dich erst nehmen, wenn du wieder bei Bewusstsein bist. Aber er war zu stolz und zu von seinem Rang überzeugt."

"Mit anderen Worten, du bist jetzt auch ein Vampir?!" lachte Eleni, die getreu der Devise, bloß keine Angst oder Hilflosigkeit zu zeigen gegen ihre Lage aufbegehrte.

"Vampirin, Eleni. Soviel Zeit muss sein." Dann führte sie Elenis festgehaltene Hand zu ihrem Mund. Eleni fühlte deutlich die überlangen Eckzähne, die der Leibwächterin aus dem Oberkiefer ragten. "Die schlafende Göttin bietet dir an, mächtiger zu werden als du es schon warst und zudem noch viele Hundert Jahre lang zu leben. Allerdings müsstest du dich dann dazu bereitfinden, meine Bluttochter zu werden. Noch ist Zeit genug, um deine Neuwerdung vor Sonnenaufgang zu schaffen."

"Ich soll mich von dir beißen, aussaugen und damit umbringen lassen, damit ich als Untote wiederkomme? Was für eine Droge hat dieser Knilch dir gegeben, dass du diesen Unfug echt glaubst?"

"Sein Blut, damit ich werde wie er", erwiderte Alexandra ganz unbekümmert. Eleni lachte erst. Doch dann fiel ihr auf, dass Alexandras Haut sich kälter anfühlte als bei einem gesunden Menschen. Es war zwar nicht die Eiseskälte, wie es von Kinovampiren behauptet wurde. Aber irgendwie schien in ihrer ehemaligen Leibwächterin kein warmes Blut mehr zu fließen. Dann sah sie die Augen der anderen in der Dunkelheit schimmern und fühlte, wie ihr Wille schwand. Dieses Gefühl hielt nur einige Sekunden vor. Dann sagte Alexandra: "Sie gibt mir die Erlaubnis und die Kraft, dich auch zu uns Nachttöchtern zu holen."

"Und was ist, wenn ich diesen Spuk nicht mitmache, Alexandra? Musst du dann deinen Geldgebern von der CIA oder einem anderen amerikanischen Drecksladen melden, dass ich einem bedauerlichen Unfall zum Opfer gefallen bin und sie nur noch warten müssen, bis der Staat mein Vermögen erben und alle Aktien weiterverkaufen kann?"

"Sie würden dich nicht finden, weil wir keine ausgesaugten Leichen hinterlassen dürfen. Ich würde dann verkünden, dass dich ein Trupp einer fremden Macht auf dem Weg nach Athen entführt hat und wohl als Geisel hält. Sie würden dann nach dir suchen, dich aber nicht finden und es entweder Al-Qaida oder der CIA in die Schuhe schieben. Wenn mir die schlafende Göttin hilft, kann ich deine Erbin werden und dann das tun, wofür sie eigentlich dich ausersehen hat."

"Und das wäre?" fragte Eleni nun doch ein wenig neugierig.

"Die Gesandten und Vollstrecker der schlafenden Göttin ohne von den Hexen und Zauberern aufgespürt werden zu können von Amerika bis Asien bringen und dort in ihre Einsatzgebiete schicken. Außerdem könnte ich dann für unsere Gemeinschaft Aktienanteile und damit Einfluss auf die Wirtschaft der Tagmenschen zusammenkriegen. Denke daran, dass wir uns alles erzählt haben, wann, wer, wie und auf welche Weise."

"Und wenn ich mich auf diesen obskuren Handel einlasse, Alexandra?"

"Werden wir als erstes zum letzten Rückzugsort reisen, um dort die Schutzfolien gegen die Sonnenstrahlen beschaffen."

"Ach ja, das mit der Sonne! Ach ja, mit unserer Landesküche ist es dann ja auch nichts mehr, wegen Knoblauch, und auf dem Meer oder einem Fluss herumschippern ginge dann ja auch nicht, abgesehen von der Sache mit den Eichenholzpflöcken oder Silberkreuzen. Ich dürfte dann ja nicht mehr zum Weihnachtsgottesdienst in die Kirche, ohne gleich von einem Blitz erschlagen zu werden", spottete Eleni.

"Das mit dem Wasser, der Sonne und dem Knoblauch stimmt, leider auch das mit den Eichenholzpfählen. Allerdings ist das mit den Kreuzen oder dass wir kein Weihwasser berühren oder keine Kirche betreten dürfen Unfug. Das mit dem fehlenden Spiegelbild und Schattenwurf ist auch Blödsinn. Wir können uns also weiterhin schönmachen."

"Nur dass wir zwischendurch unschuldige Leute beißen und aussaugen müssen."

"Tja, wie unschuldig die sein müssen hat mir die schlafende Göttin nicht gesagt", erwiderte Alexandra. Eleni lachte noch einmal. Doch als sie erkannte, wie ernst Alexandra Konstantinides geklungen hatte, keineswegs irgendwie weltentrückt oder leierig, wurde ihr doch ganz anders. Was, wenn sich alle so genannten Vernunftsmenschen geirrt hatten und es diese Dämonen und Ungeheuer aus der Sagenwelt doch gab? Alexandra fühlte wohl, dass Eleni wohl sehr genau nachdachte. Dann kam sie wohl zu einem Entschluss.

"Verstehe ich das richtig, dass ich nur die Wahl habe, mich auf dieses Vampirspiel einzulassen oder einfach nur als Leiche irgendwo zu verschwinden, also so oder so nicht mehr so weiterleben darf wie bisher?"

"Das ist richtig", bestätigte Alexandra. "Dann will ich es wissen oder als große Idiotin des einundzwanzigsten Jahrhunderts sterben", sagte Eleni. Alexandra Konstantinides erwiderte, dass es sie freue.

Für Eleni war es schon merkwürdig, als Alexandra Konstantinides ihr Blut aus dem Handgelenk saugte und sie wie ein Baby an der linken Brust der ehemaligen Leibwächterin sog. Doch sie fühlte bald, dass da eine berauschende Kraft in sie einströmte. Der Rausch trieb sie dazu, immer mehr von Alexandras Blut zu saugen, während die andere ihr Blut trank. Dann fühlte sie, wie sie in einen dunklen Strudel hinabstürzte. Doch dabei flutete eine ungeheure Glückseligkeit ihren Körper, als erlebe sie zum ersten mal den Höhepunkt des Liebesaktes. Sie schrie in einer Mischung aus Schmerz und Glück. Dann umgab sie erst völlige Dunkelheit.

Sie trieb dahin, hörte, wie ihr Herz immer langsamer Schlug. Einen Moment lang fand sie sich in totaler Stille und Finsternis wieder. Dann rumpelte es, und ihr Herz schlug langsam weiter. Sie fühlte, wie ihre körperlichen Empfindungen zurückkehrten. Doch da waren diese bohrenden Zahnschmerzen, als wolle ihr ein sadistischer Zahnarzt ohne Betäubung zwei Zähne zugleich ziehen. Sie quängelte und wand sich. Sie keuchte und stöhnte. Diese Qual dauerte eine unerträgliche Zeit lang an. Dann, mit einem Mal, waren die Schmerzen verflogen, und erneute Glückseligkeit, ja körperliche Lust loderte in ihrem Geist und Körper auf. Sie öffnete die leicht brennenden Augen und sah, dass sie im Inneren eines Lieferwagens steckte. Sie sah Alexandra, die unbekleidet neben ihr saß und sie genau ansah. Dann sah sie das Lächeln der Gefährtin, als habe jemand indirektes aber helles Licht in diesen Raum gebracht. Sie hörte ihren Herzschlag und den ihrer alten und neuen Gefährtin, einer Gefährtin, auf die sie sich in ihrem ersten Leben verlassen konnte und auf die sie sich in ihrem zweiten Leben verlassen konnte. Dann vernahm sie in ihrem Geist Alexandras Stimme: "Wir sind wahrlich füreinander bestimmt. Sie hat noch nie die Geburt eines Nachtkindes miterlebt, die derartig beglückend für Eltern und Nachtkind verlief. Es fehlen noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang, Zeit genug, uns von ihr zu ihrem heimlichen Refugium tragen zu lassen. Du brauchst es dir nur zu wünschen, dort zu sein, wo sie dich hintragen will."

"Wer sie? Wer ist diese schlafende Göttin?" fragte Eleni und hörte sofort eine laute, erfreut klingende Antwort in ihrem Geist:

"Ich bin Gooriaimiria, die schlafende Göttin, deine große Beschützerin und Führerin, wenn du es so willst deine Urgroßmutter. Denn durch den undankbaren Anaxerebos, der mit meiner Hilfe deine neue Mutter in unsere Erhabene Rasse hineinführte und durch die an sie übermittelte Kraft, die du mit ihrem Blut in dich eingesogen hast, bis du meine Nachfahrin. Und ich habe schon eine sehr wichtige Aufgabe für dich und deine Weggefährtin. Doch zunächst müsst ihr beiden euch mit einer Schutzhaut bekleiden und eure nun auf jedes helle Licht schmerzhaft reagierenden Augen mit verdunkelnden Gläsern bedecken. Wünsche dir einfach, dort zu sein, wohin ich euch tragen möchte!" Eleni hätte gerne noch gewusst, was für eine Aufgabe es sein sollte. Doch die Verwandlung und die dabei erlebten Glückswallungen hatten ihre sonstige Ungeduld und ihr Bedürfnis, immer und überall Überblick und Kontrolle zu behalten zurückgedrängt. Sie erkannte, dass sie auf alle Fragen Antworten erhalten würde. "

Eleni ergriff Alexandras Hand. Beide dachten zeitgleich daran, dort zu sein, wo Gooriaimiria, die schlafende Göttin, sie hintragen wollte. Dabei durchflutete sie beide eine unbändige Kraft. Dann war es ihnen, als trieben sie immer schneller in einem völlig lichtlosen Tunnel dahin. Erst war es wie ein Sog, der sie voranzog. Dann sah Eleni eine riesenhafte, blutrote Frauengestalt, auf die sie beide zurasten. Sie erkannte ein entschlossen dreinschauendes Gesicht und fürchtete, gleich mit der blutroten Erscheinung zusammenzuprallen. Da drehte diese sich zur Seite, und sie beide rasten an ihr vorbei, nun von einem enormen Druck weitergetrieben, der sie wie durch ein Kanonenrohr hinausschoss. Mit einem kurzen Aufschrei landeten beide nackten Vampirinnen in einer Höhle. Weil sie beide nun Töchter der Dunkelheit waren konnten sie ohne Licht klar und deutlich sehen, dass sie in einer Tropfsteinhöhle gelandet waren. Vor ihnen ragte ein zwei Meter hoher Hügel aus Kalkstein auf, auf dessen Gipfel eine knapp zwei Meter lange und einen halben Meter tiefe Mulde zu erkennen war. "Mein Ruhebett in schlechten Zeiten. Hierhin haben mein damaliger Blutgatte und ich uns zurückgezogen, wenn wir kein festes Haus mit fensterlosem Raum zur Verfügung hatten", hörten sie beide Gooriaimirias Stimme in ihren Köpfen. Dann sahen sie die zwanzig sargartigen Kästen. Eleni musste an die Darstellungen in Vampirfilmen denken. Sollten die etwa in den Särgen den Tag verschlafen? "Das sind keine Särge. Dass sind Kisten mit Solexfolien. Ich habe aus jeder Fabrik, in der ich damals noch unter dem Druck, für einen gerade unwichtigen Auftraggeber Schutzfolien habe herstellen lassen, eine Kiste abgezweigt. Jede Kiste enthält zehn Solexfolien. Da wir im Moment niemanden haben, der neue machen kann, werdet ihr und drei andre Gesandte, die ich euch noch vorstellen werde, fünf von zweihundert sein, die zunächst in meinem Namen das große Erbe der Nachtkinder antreten werden."

Alexandra öffnete eine helle Kiste und untersuchte die darin liegenden Pakete. Dann holte sie zwei heraus. Offenbar konnte die schlafende Göttin auch mit jeder einzeln telepathischen Kontakt aufnehmen, dachte Eleni. Denn woher hätte sie sonst wissen sollen, dass jedes der Pakete eine passende Solexfolie für eine Frau war und dass diese zwei Pakete ihrer Körpergröße und Körperform passen würden. "Wir müssen uns die Haare bis auf die Kopfhaut abrasieren, Eleni. Aus den Haaren können wir dann Perücken machen."

"Na toll", grummelte Eleni. Dann erfüllte Gooriaimirias Stimme ihren Geist erneut: "Wenn gelingt, was ich mit dir vorhabe, dann könnte es sogar sein, dass du diese Prozedur nur einmal erdulden musst. Näheres später."

Eleni ließ es sich gefallen, dass Alexandra ihr die langen, schwarzen Haare vom Kopf rasierte. Dann probierten sie die Folienanzüge aus, die sich mit kleinen Handpumpen fest an die Haut ansaugen ließen. Auch die Kontaktlinsen mit verschiedenen Augenfarben setzten sie ein. Für Eleni war dabei kein Unterschied zu erkennen, da sie ja gerade in völliger Dunkelheit waren. Doch laut ihrer neuen Herrin aus dem Jenseits, an der sie auf ihrer magischen Reise vorbeigetrieben waren, filterten die Kontaktlinsen über 99 % des Sonnenlichtes und schützten die Augen vor der für Vampire schädlichen UV-Strahlung. Eleni erkannte, dass die Vampirgöttin offenbar gut mit naturwissenschaftlichen Begriffen vertraut war. "Da erkennst du richtig. Eine der in mir aufgegangenen Nachtgeborenen hat diese Folien erfunden und wurde deshalb überhaupt zu meiner wichtigsten eigenen Bluttochter", erläuterte Gooriaimiria.

Als sie die Folien und die abgetrennten Hare sicher geborgen hatten, befahl Gooriaimiria ihren beiden neuen Gesandten, sich nun wieder von ihr in den Turm auf dem Anwesen Elenis tragen zu lassen. So trieben die beiden wider durch jenen geheimnisvollen Kanal, erst gezogen und dann, als sie erneut an der blutroten Riesengestalt vorbeirasten, von einem gewaltigen Druck wie abgefeuerte Kanonenkugeln in Elenis Schlafzimmer herauszukommen.

"Ich ruf Milena und Andreas an, dass ich mir heute einen freien Tag nehme", sagte Eleni zu ihrer alten und neuen Weggefährtin.

"Gut, ich bleibe dann natürlich bei dir. Aber wie machen wir es mit der Ernährung?

"Agatha und Anna sollen Steaks auftauen. Die holst du uns dann, weil wir angeblich im Freien grillen wollen", grummelte Eleni. Sie fühlte bereits, wie die Sonne aufging. Doch unter der ihrer Haut nachempfundenen Schutzfolie fühlte sie die durch das Fenster hereinsickernden Strahlen nicht. Erst dachte sie, dass das mit der Solexfolie nur ein Gag sei. Doch als sie den Mund öffnete und für einen winzigen Moment die Zunge herausstreckte, war ihr, als steche ihr jemand mit glühenden Nadeln hinein. Alexandra musste lachen. "Hat sich die kleine mal wieder was verbrannt, weil sie nicht hören wollte?"

"Ja, glaube es jetzt", grummelte Eleni verdrossen.

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Anaxerebos schrie und tobte. Doch es half nichts. Er wurde mit Urgewalt aus seinem Körper gezogen. Die Kraft, die ihn sonst immer beflügelt hatte, im Namen der schlafenden Göttin zu handeln, riss ihn nun ganz und gar aus seiner körperlichen Existenz. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, in einen tiefschwarzen, sich drehenden Tunnel hineinzufliegen. Doch es half nichts. "Solche selbstherrlichen, rachsüchtigen Hitzköpfe will ich nicht in meiner Gesandtschaft haben", hörte er Gooriaimirias Stimme. "Du hast deine Schuldigkeit getan. Jetzt brauche ich dich nicht mehr."

"Du wirst es nicht wagen, mich zu töten. Ich bin der letzte meiner Dynastie!" rief der entkörperte Vampir. Doch nur ein lautes Lachen war die Antwort. Er raste durch den schwarzen Tunnel dahin, bis er in der Ferne eine blutigrote Leuchterscheinung sah. Er trieb ohne einen Hauch von Widerstand darauf zu und erkannte eine mehr als zwölf Meter große Frauengestalt. Er konnte sehen, dass sich in ihrem leicht vorgewölbten Bauch verschwommene gesichter von mehr als einem Dutzend Menschen zeigten und wie zerfließender Honig wieder auflösten. Er sah, wie sich die rot leuchtende Riesenfrau zu ihm hindrehte, während er auf sie zuflog. "So nehme ich dich nun auch in mich auf, wie alle meine Kinder, die mit mir zugleich verglühten." Er schrie, dass er nicht sterben wollte. Doch da riss die rote Riesenfrau schon ihren gewaltigen Rachen auf. Er sah die zwei heller leuchtenden Zahnreihen und vor allem die mächtigen Fangzähne, die wie flammenloses Feuer glühende Zunge und den tiefroten Schlund. Dann geriet er auch schon hinein. Das letzte, was er als eigenständiges Bewusstsein erfasste, war ein gewaltiger heller Raum, in dem hunderte von rot leuchtenden, durchsichtigen Schemen trieben, die mal zusammenflossen und mal als Einzelwesen zu sehen waren. Er sah noch etwas dunkles am Boden hocken und wie gegen unsichtbare Fesseln ankämpfen. Es sah aus wie ein auf Säuglingsgröße eingeschrumpfter, aber wie ein Erwachsener gestalteter Mann. Dann schlug er in diese Halle ein und fühlte, wie er in einer einzigen Sekunde eins mit allen hier vereinten Seelen wurde. Sein letzter Wutschrei wurde zu einem vielstimmigen Ausruf der Glückseligkeit, wieder um eine bestärkende Seele reicher geworden zu sein.

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Vesta Moran hatte sofort ihre anderen Bundesschwestern informiert, als sie von ihrem Sohn Aidonius erfuhr, dass jemand ihn mit Hilfe von Mondlichtzauberei angegriffen hatte. Auch dass er vermeint hatte, die Stimme von Lady Nyx zu hören, hatte nicht nur ihn in höchste Alarmstimmung versetzt. Jetzt saßen sie und er zusammen im Haus der Feuerhexe und Mutter eines halben Vampirs. Sophia Whitesand, die weißblonde Cousine Dumbledores, ihres Zeichens Sprecherin der schweigsamen Schwestern der britischen Inseln, hörte sich an, was Aidonius erlebt hatte.

"Wenn es wirklich Nyx war, dann ist sie immer noch nicht vernichtet", seufzte Sophia Whitesand. "An diesem verfluchten Stein hängt offenbar zu viel Magie, als dass man ihn einfach damit unwirksam machen könnte, ihn zu versenken."

"Aber wie geht sowas, Tante Sophia?" schnarrte Aidonius. "Wenn die ein Geist geworden ist, dann kann die doch keine Mondmagie ausüben, oder?"

"Deine werte Mutter, lieber Aidonius, hat damals gemeint, unbedingt einen Vampir fangen und dessen Blut untersuchen zu müssen. Mittlerweile wissen wir, dass dessen Erzeuger, also der Vampir, der ihm sein Menschenblut geraubt und ihm dafür sein eigenes Blut zu trinken genötigt hat, zwanzig Jahre lang den Mitternachtsdiamanten besessen hat, nachdem ein gewisser Phobotes aus Griechenland, dass damals noch zum osmanischen Reich gehörte, von Gehilfen des Hofzauberers des Sultans besiegt und trotz der Kraft des Steines vernichtet wurde. Sie hatten damals gedacht, der Stein sei unwirksam unter Tonnen von Höhlenkalk verschüttet. Moonwalkers Vampirvater hat ihn aber gesucht und an sich genommen. Der Bann, mit dem Phobotes' Sohn Anaxerebos belegt wurde, hätte ihn dabei fast ebenso betroffen. Er konnte gerade noch entkommen. Ja, und unter dem Einfluss des Steines hat er dann zusammen mit seiner Gefährtin deinen Vater erschaffen. Deshalb ist es wohl so, dass in dir ein winziger Rest jener bösen Magie wirkt, die vom Mitternachtsdiamanten auf jeden übergeht, der seine Macht einsetzt, um neue Vampire zu erschaffen."

"Mit anderen Worten, dieses angeblich vernichtete Vampirweib hat mal so in den Mond hineingefunkt, ob jemand auf ihrer Wellenlänge liegt?" fragte Aidonius. Normalerweise hätten die beiden Hexen jetzt fragen müssen, was damit gemeint war. Doch beide Hexen kannten den magielosen Rundfunk und die Wellennatur von Licht- und Wärmestrahlung. So nickte Sophia nur.

"Öhm, dann frage ich doch mal mit ganz üblen Bauchschmerzen, ob dann noch mehr ehemalige Diamantenträger oder Diamantenabkömmlinge in der Welt herumlaufen. Gibt es da sowas wie ein Register beim Ministerium?"

"Von Moonwalkers Vater Shadowmouth wissen wir es nur, weil er damit gegen Hexen und Zauberer aus verschiedenen Interessensgruppen gekämpft hat, bis ein Zauberer namens Melanchton Fletcher es geschafft hat, ihm den Diamanten abzujagen, in dem er mit seinem Handschuh der flinken Finger dem Vampir den Diamanten entwendet hat. Deshalb haben sie ihm auch die Strafen wegen fortgesetzten Taschendiebstahls und Trickbetruges unter Ausnutzung der Magie gegen eine Geldstrafe erlassen, weil er damit eine große Gefahr beseitigt hat. Der Narr hat den Stein dann irgendwo in Transsylvanien beim Kartenspielen verloren und musste sowieso ganz schnell flüchten, weil einige junge Hexen es nicht so berauschend fanden, dass er mit seinen Handschuhen der flinken Finger nicht nur fremde Taschen sondern auch die Unschuld unberührter Junghexen rauben konnte. Auch deshalb kenne ich die Geschichte des Zauberers."

"Melanchton Fletcher? Ist der mit dem krummbeinigen Strauchdieb Mundungus verwandt?" wollte Aidonius wissen. Vesta nickte und sagte, dass es der Großvater von Mundungus war. "Er hat damals Jennifer, die fünfte Tochter von Madam Juniper, geheiratet. Die war mit meinen Eltern, also deinen Großeltern mütterlicherseits, in Hogwarts, Aidonius."

"Super, dann hat sich die Kleptomanie mal echt vererbt", grummelte Aidonius. "Und was mit dem Klunker passiert ist weiß keine von euch?"

"Der Klunker ist wohl irgendwie bei einem Vampirehepaar namens Dserschinski gelandet und danach in einem Kampf zwischen Voldemort, Lady Nyx und der Abgrundstochter des schwarzen Wassers bei Lady Nyx gelandet", beantwortete Sophia Whitesand die Frage.

"Ja, und die hat ihn sich unten reingestopft und solange mit sich rumgetragen, bis jemand sie irgendwie in den Golfstrom gelockt hat", erwiderte Aidonius. Sophia und seine Mutter sahen ihn tadelnd an, weil er sich so derb ausdrückte.

"Ja, und dann kam Nocturnia noch einmal in Fahrt, bis einer dieser aus dem Grau der Legende aufgetauchten Sonnenkinder Nyxes Nachfolgerin Lamia und damit alle anderen ihrer Blutkinder und von ihr erschaffenen Vampirkeime vernichtet hat."

"Ja, aber wenn dieser schwarze Klunker so heftig ist, dass er sie nicht ganz aus der Welt verschwinden lassen will, kann die dann noch mal körperlich werden?" wollte Aidonius wissen.

"Ich hege die sehr große Befürchtung, dass sie keinen Anreiz mehr sieht, noch einmal einen verwundbaren Körper haben zu wollen. Aber wie sie es anstellt, mit Hilfe des Mondlichts Magie zu wirken, die nur durch natürliches Feuer verdrängt werden kann, weiß ich nicht", seufzte Sophia Whitesand.

"Jedenfalls werde ich wohl nicht mehr bei hellem Mondlicht draußen arbeiten können", grummelte Aidonius. "Es sei denn, ich kriege von euch beiden eine Art Schutzhelm oder Schutzmantel gegen ihre Kräfte."

"Der Mondfriedenszauber sollte dir helfen. Ich lasse dir eine Silberkette mit davon durchwirkten Gliedern machen."

"Mondfriedenszauber? Den habe ich nie von mir aus hingekriegt. Hätte mich deshalb ja fast den Verteidigungs-ZAG gekostet", schnarrte Aidonius.

"Dann kannst du froh sein, dass du mich hast, Kleiner", sagte Sophia Whitesand. Aidonius grummelte, wagte aber sonst keinen Widerspruch.

Als Sophia Whitesand sich alles angehört und notiert hatte verließ sie die Morans durch den Flohpulverkamin. Denn Vesta hatte nach der Geschichte ihres Sohnes beschlossen, alle ihr bekannten Appariersperren ineinander zu verzahnen. Somit umspannte die gleiche Kombination von Zaubern das Moran-Haus, die auch in Hogwarts das magische Verschwinden oder Auftauchen vereitelten.

"Bis die Kette fertig ist arbeitest du bitte nur am Tag und wohnst nachts bei mir", sagte Vesta Moran. Ihr sohn sah sie finster an und versuchte, den winzigen Anteil vampirischen Suggestivblicks einzusetzen. Doch wie schon als er ein kleiner Junge war zuckte er schmerzhaft zurück, als er wie in zwei grellweiße Flammenbündel hineinsah.

"Du weißt, dass dir danach die Augen tränen, wenn du es wagst, mich mit deinem Blick umzustimmen, Jungchen. Ich will nicht, dass dieses scheinbar nicht restlos aus der Welt getilgte Blutgespenst dich doch noch zu irgendwas manipuliert."

"Ich will das auch nicht", schnaubte Aidonius. "Aber in Westwoods Wälder komme ich nur durch Apparieren oder auf 'nem Besen."

"Dann nimmst du eben den Besen", bestand seine Mutter darauf, dass er die Nächte bei ihr im Haus verbrachte. Aidonius erklärte sich einverstanden.

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Nur dank der von Gooriaimiria in sie einfließenden Zusatzkräfte schaffte es Juanita, ihren Kollegen vom Musical-Theater von San Sebastian jeden Verdacht auszutreiben, dass mit ihren Haaren etwas nicht stimmte oder die aufgetragene Schminke nicht so glatt und farbecht auf ihrem Gesicht verteilt wurde. Jedenfalls taugte die Solexfolie, die sie zusammen mit ihrer Freundin Ana María angezogen hatte. Als sie dann im Schutze der Dunkelheit wieder nach Hause ging musste sie noch drei Polizisten mit ihrem neuen Wunderblick bezirzen, dass ihr wertvolle Trophäen und ein Fotoalbum aus ihrer frühen Karriere geklaut worden waren, um nicht in den Verdacht zu geraten, die Einbrecher und Stromausfallspezialisten hätten nur die anderen beraubt. Dass sie mal eben einen neuen Leibwächter bekommen hatte nahmen alle zur Kenntnis. Sie stellten es so hin, dass José den Einbrechern geholfen hatte und mit der Diebesbeute verschwunden war. Wenn er doch irgendwann gefunden wurde würden die Polizisten vielleicht davon ausgehen, dass seine Kumpane ihn erschlagen hatten.

Um Mitternacht, Cielonegro und seine beiden Blutgefährtinnen verdrückten gerade einen Eimer Schweineblut von einem Schlachthof - empfingen sie eine neue Botschaft ihrer mächtigen Herrin. "Wünscht euch, dort sein zu wollen, wohin ich euch bringen will!" Die drei ergriffen einander bei den Händen, bildeten ein Dreieck. Wie sie es schon einmal erlebt hatten wurden sie in einen pechschwarzen Tunnel oder Kanal hineingezogen, auf eine rotleuchtende Riesengestalt zu, die der vereinte Geist ihrer großen Herrin war. Juanita sah erneut Dutzende Gesichter, die sich auf dem Bauch der roten Riesin abzeichneten. Dann wurden sie auch schon an ihr vorbeigerissen und wie von einem Katapult durch den dunklen Kanal geschleudert, um fast übergangslos in jener Höhle herauszufallen, in der sie die Sonnenschutzfolien ergattert hatten. Dort warteten bereits zwei weitere Nachtkinder.

"Somit möchte ich euch zwei weitere Gesandte von mir vorstellen, Nyctodora und ihre Gefährtin Scotochironia." Cielonegro sah die schlankere der beiden Frauen an, die seidigglattes, schwarzes Haar bis hinunter auf den Rücken und ein grünes Kleid trug. Die andere trug eine nachtschwarze, hautenge Lederkluft und einen ebenso schwarzen Schutzhelm mit verspiegeltem Visier, das gerade hochgeklappt war. Dann hörten sie alle Gooriaimirias Stimme weitererläutern: "Und ihr beiden, Nyctodora und Scotochironia, dies sind eure aus Spanien stammenden Geschwister der Nacht, Cantaluna, Hijanoches und Cielonegro, ihr Blutgefährte."

Die schwarzhaarige Vampirin im grünen Kleid sah die Blutschwester an, die als Cantaluna vorgestellt worden war. Dann sagte sie in astreinm Castellano-Spanisch: "Sie kenne ich doch. Sie sind doch Paloma des Angeles, die bei Ihnen auf der iberischen Halbinsel gerade durchgestartet ist."

"Das war ich mal", grummelte die Angesprochene. Sie empfand ein gewisses Unbehagen, weil jemand nun ihren früheren und ihren jetzigen Namen kannte. Doch dann erkannte auch sie die andere und revanchierte sich: "Und Sie kenne ich aus dem Wirtschaftsteil von El País. Haben sie nicht vor kurzem eine amerikanische Fluglinie feindlich übernommen, ohne das anzukündigen?" Die Gefragte nickte. Dann erscholl wieder Gooriaimirias Gedankenstimme, laut und tadelnd in allen Köpfen der Versammelten: "Wer die eine oder der andere früher war ist nur für mich bedeutsam. Ihr tragt ab der Nacht eurer Wiedergeburt nun die Namen, die ich euch gerade zudachte. Es ist bei Strafe verboten, einen meiner Gesandten bei seinem Menschen- und bei seinem Nachtkindnamen anzusprechen."

"So, wie willst du uns denn bestrafen?" schnarrte Cielonegro herausfordernd.

"In dem ich dich aus deinem Körper herausreiße, ihn vergehen lasse und deine Seele verschlucke und damit deine Eigenständigkeit beende", erwiderte die schlafende Göttin. Cielonegro schien davon sichtlich erschüttert zu sein. Er blickte abbittend umher, wohl denkend, dass die Herrin über ihn und die Anderen irgendwo saß.

"Für euch zwei, Nyctodora und Scotochironia, habe ich bereits einen wichtigen Auftrag. Er wird euch in das Land der Briten führen. Näheres, wenn ich euch an eurem Zielort abgesetzt habe. Für dich, Cantaluna und deine Gefährtin Hijanoches habe ich nur den Auftrag, den Schein eures früheren Lebens fortzuführen und dabei nach aussichtsreichen Männern und Frauen zu suchen, die zu meinen weiteren Gesandten werden können. Ich habe euch heute alle zusammengerufen, weil ich euch über unsere Stärken und unsere schlimmsten Feinde berichten muss, damit ihr wisst, vor wem ihr euch hüten und wen ihr bekämpfen sollt", begann die schlafende Göttin.

Gooriaimiria berichtete von den Hexen und Zauberern und hob die Bedeutung der Zaubereiministerien hervor. Sie erwähnte jedoch auch außerhalb der Ministerien bestehende Machtgruppen wie den Hexenorden der schwarzen Spinne, die schweigsamen Schwestern, die Bruderschaft des blauen Morgensterns, das Marie-Laveau-Institut in den Staaten und die neu entstandene Gruppe um den, der versuchen wollte, das Vermächtnis des größten Dunkelmagiers aller Zeiten wiederzubeleben. Zum Schluss, eindeutig an wichtigster Stelle, warnte sie ihre neuen Gesandten vor den Sonnenkindern, jenen mit der Kraft des Tagesgestirns verschmolzenen, die als Antwort auf die Entstehung der Nachtkinder erzeugt worden waren. Auch wenn es so aussah, als wenn sie wieder in tiefen Schlaf verfallen seien, müsse man mit ihnen rechnen und dann bekämpfen. Sie machte eine kurze Pause. Dann lachte ihre Gedankenstimme: "Ah, er ist doch bereit, mich als seine Herrin anzunehmen. Dann kann ich ihn dir, Cielonegro, zur Seite stellen, was mir sehr recht ist." Es vergingen einige Sekunden. Dann fühlten die vier weiblichen und der männliche Vampir, wie die Luft in der Höhle magisch aufgeladen wurde. Es schien, als bliese jemand einen unsichtbaren Luftballon auf. Dann knallte es, und aus einer Wolke schwarzer Schlieren fiel ein kleiner, dicker Mann mit Halbglatze. Seine Lebensaura und sein Geruch zeigten aber, dass er auch einer der Nachtkinder war. Er sagte was. Doch nur Nyctodora verstand ihn. Sie antwortete ihm. Dann erklang wieder Gooriaimirias Geistesstimme in allen Köpfen: "Das ist der sechste Gesandte, der unter dem Neumond wiedergeborene Wladimir Dserschinski, von seinen eigenen Bluteltern in tiefen Schlaf versenkt, als dieser versucht hatte, sich einem gewissen Gellert Grindelwald anzuschließen."

"Ein Russe?" wollte Hijanoches wissen. Nyctodora wiegte den Kopf.

"Er ist eigentlich polnischer Abstammung, kann aber auch Russisch, Serbisch, albanisch, griechisch und Rumänisch."

"Dann kann der mir nicht helfen", wagte Cielonegro eine Kritik an Gooriaimirias Ankündigung, er würde ihn zur Seite gestellt bekommen.

"Da ihr beiden Blut voneinander trinken werdet, um euch zu vollkommenen Brüdern zu machen, wirst du ihn verstehen und er dich, weil ihr auch dadurch noch mit mir verbunden werdet. Also lass das Maulen, Cielonegro!" Danach fragte sie Nyctodora und ihre stämmige Gefährtin, ob sie beide bereit seien, ihren Einsatz zu beginnen. Sie bestätigten es. Darauf hin umflossen sie schwarze Schlierenmuster, die ihre Konturen verschlangen, bis das Schlierenspiel zu einem schwarzen Punkt zusammenstürzte und mit leisem Knacklaut verschwand. Die verbliebenen Vampire hatten in dieser Zeit etwas wie eine aus allen Richtungen heranfließende und in diesem magischen Schlierenmuster verschwindende Kraft verspürt.

"Ich habe sie an die Grenze des geschützten Bereiches geschickt. Jetzt will ich, dass du, Cielonegro und du Wladimir von eurem Blut trinkt, damit die Bruderschaft zwischen euch erwacht."

Beide bissen sich in die Handgelenke und saugten das weiße Vampirblut. Dabei wurden sie von einer immer dichteren Wolke schwarzer Funken umflogen, die, als sie beide meinten, genug voneinander zu haben, mit lautem Fauchen in sie hineinfuhr. Keine halbe Minute später verschwanden die beiden männlichen Vampire in einem weiteren Strudel aus schwarzen Schlieren, der am Ende zu einem winzigen Punkt zusammenfiel und verschwand.

"Ist schon wie Beamen mit lichtschluckenden Strahlen", meinte Hijanoches zu ihrer Gefährtin.

"Schon beeindruckend. Aber die echten Zauberer, die mit unseren Bühnentricksern nur die Klamotten gemein haben, können übergangslos verschwinden und auftauchen, hat unsere Göttin mir verraten. Und sie brauchen dazu keine andre Hilfe als ihre echt magisch ausrichtbaren Zauberstäbe."

"So, ihr zwei Hübschen, und jetzt trage ich euch auch noch hier raus und nach Hause", kündigte Gooriaimiria an. Die beiden Gefährtinnen aus Spanien nahmen wieder bei den Händen und konzentrierten sich darauf, dort zu sein, wo ihre Herrin sie hinschicken wollte. Wieder überkam sie das Gefühl, in einen sich drehenden schwarzen Kanal hineingesogen zu werden, im Sog auf eine blutrot leuchtende Riesenfrau zuzutreiben und dann, als sie an ihr vorbeiflogen, mit gewaltigem Druck durch den Tunnel hinaus und zurück in die stoffliche Welt geschossen zu werden.

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Die selbsternannte schlafende Göttin der Nacht hatte durch die Erzeugung neuer von ihr angeregter Abkömmlinge einen noch besseren Spürsinn für jene erhalten, die mit dem von ihr beseelten Stein längere Zeit in Berührung gestanden hatten. Irgendwie enthielt der Stein und die ihn belebende und nun in ihr eingekerkerte Wächterseele eine Art Gedächtnis, auf das sie nun, wo sie seine Kraft erneut in die Welt der stofflich lebenden ausgestrahlt hatte, weiter zugreifen konnte. So konnte sie während der Wiedergeburten von Eleni, Alexandra, Juanita und Ana María weitere neun Nachtsöhne erwecken, die im Atlasgebirge Nordafrikas, den Bergen Dalmatiens und in der russischen Taiga überdauert hatten. Darunter war jedoch keine Nachttochter. Somit musste sie sich, wollte sie sich auch von den Sinneseindrücken her wieder in der Welt bewegen, auf die ganz frischen Nachttöchter stützen. Allerdings wollte sie diese nicht gegen ihre neuen erklärten Feinde ausschicken, die Handlanger von Iaxathans Knecht.

Gooriaimiria wusste, dass der Knecht Iaxathans nun wieder frei handeln konnte. Er hatte seinen Nachtschatten ausgeschickt, dessen Präsenz sie dadurch, dass sie nun fünfzehn eigene Helfer in der stofflichen Welt hatte, fast punktgenau orten konnte. Was ihr aber wichtiger war als das, war der Umstand, dass sie von der Wächterseele des von ihr bewohnten Zaubersteins erfahren hatte, dass sie damit auch aktivierte Unlichtkristalle oder deren Staub zum Nachschwingen bringen konnte. Den Knecht selbst wollte sie noch nicht angreifen, weil der es mit ihren Vampiren wohl so wie sie jetzt waren mühelos aufnehmen konnte. Doch ihr schwebte was vor, was ihre Chancen mindestens vervierfachen würde. Dazu wollte sie einen Versuch machen. Sie konzentrierte sich und ließ die Kraft reiner Dunkelheit, sowie die Licht- und Kraftbindung zwischen Erde und Mond in sich einfließen. Sie konzentrierte sich und schaffte es wahrhaftig, einen schön weit abgesetzten Träger von Unlichtkristall zu ertasten. Sie konnte nur hoffen, dass dieser das nicht genauso bemerkte wie sie ihn ortete. Sie wusste zu ihrem Verdruss noch zu gut, welche Wechselwirkung zwischen Nachtkindern und diesen vermaledeiten Vampirblutresonanzkristallen stattfand. So musste sie das anvisierte Ziel erst kurz vor dem Versuch erspüren. Jetzt, wo sie zwei männliche Gesandte in die Nähe des Ziels gebracht hatte, veranlasste sie, dass sie als Fledermäuse weiterflogen. Jetzt konnte sie das Ziel direkt erfassen. Wenn es gelang, was sie vorhatte, würden ihre Gesandten mächtiger als jeder gewöhnliche Vampir, auch ohne dass sie ihnen zusätzliche Kraftströme schickte.

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Antonio Bocaleón hasste die weiße Schlangenkopfmaske, die in seinem silbernen Tresor lag. Wegen seiner Wut auf die Dumbledorianer hatte er sich darauf eingelassen, diesem auf Vergeltung ausgehenden Zauberer, der sich nur Lord Vengor nannte, Gefolgschaft zu geloben. Damals hatte er nicht im Traum daran gedacht, dass er deshalb den Staub eines magisch aktiven Kristalls in sich eingespritzt bekommen würde und danach nur noch das Fleisch am selben Tag geschlachteter Tiere und am selben Tag gepflückte Pflanzenteile essen zu können. Auch seine Selbstbeherrschung litt unter der Einspritzung des Kristallstaubes. Doch das schlimmste, was er empfand, war, dass er keine eigene Körperwärme mehr besaß.

Bocaleón hatte gerade mal wieder eine Ziege von einer Weide aus einem Bergdorf Andalusiens gestohlen und zu sich mitgenommen. Sonst hatte er auch mal Hühner, Enten oder Gänse entwendet. Er wusste, dass er nicht alles Fleisch des gefangenen Tieres essen konnte. Nur was jünger als einen Tag war konnte er essen, ohne es ungenießbar zu finden und um es mit seinem Körper zu verwerten.

Die Dunkelheit hatte sich schon über sein mit mehreren Feindesabwehrflüchen umspanntes Haus gelegt. Die Ziege am Pflock meckerte kläglich. Denn sie fühlte wohl ihr nahes Ende. Früher hatte sich Bocaleón nie Gedanken darum gemacht, wie ein schlachtreifes Tier litt. Doch seitdem er zum Kristallstaubträger Vengors geworden war, musste er seinen Fleischbedarf mit eigenen Händen befriedigen.

Weil der tödliche Fluch zu auffällig klang und aussah, jagte Bocaleón der Ziege den Schockzauber voll in die Brust. Dieser wirkte durch den Kristallstaub ebenso tödlich, weil er die Atemorgane oder das Herz erstarren ließ. Das Meckern erstarb schlagartig. Jetzt trat der Zauberer mit erhobenem Schlachtermesser auf die getötete Ziege zu. Als er ansetzte, sie fachmännisch aufzuschneiden und auszunehmen, fühlte er, wie etwas seine Abwehrzauber erschütterte. Er wirbelte herum, das noch nicht benutzte Messer hochreißend. Da sah er zwei Punkte, die über dem Haus hingen und scheinbar wie Fliegen im Spinnennetz festklebten. Er erkannte beim genaueren Hinsehen zwei große Fledermäuse und lachte.

"Ach neh, zwei Blutschlürfer über meinem Haus?! Tja, welcher Floh hat euch denn gebissen, dass ihr es wagt, zu mir hinfliegen zu wollen?!"

Die Vampire antworteten erst nicht. Doch dann umtoste sie ein schwarzer Wirbel, der zu zwei nachtschwarzen Sphären wurde. Bocaleón erstarrte, als er sah, wie von diesen Sphären violette Blitze ausgingen, die sich zu einem glühenden Netz auswuchsen. Er hörte es laut knistern und prasseln. Dann, als würde jemand mehrere starke Äste hintereinander durchbrechen, knackte es. Violette Funken tobten über dem Haus. Die beiden Sphären sanken zu boden. Dabei schrumpften sie ein und verschwanden in den Körpern der beiden Riesenfledermäuse. Dann griffen sie den Gefolgsmann Vengors direkt an. Sie stürzten wie hungrige Adler auf ihn zu.

"Avada Kedavra!" rief Bocaleón mit auf beide zielendem Zauberstab. Da schwärmten sie aus, und ein greller, weißgrüner Blitz schlug mit lautem Brausen in den Himmel hinauf und zerstob dort zu flackernden Lichtwirbeln. Jetzt gingen ihn die beiden Vampire von zwei Seiten zugleich an. Es fehlten nur noch fünfzehn Meter. Er zielte auf den einen und wollte gerade den Todesfluch rufen, als dieser seine Sturzbahn korrigierte und blitzschnell zur Seite wegzog. Als Bocaleón den Stab nachführen wollte knallte Vampir Nummer zwei, ein wohl ziemlich dickes Etwas, mit voller Wucht gegen ihn. Er stürzte zu boden. Der Zauberstab fiel ihm aus der Hand.

"Glaubst du wohl, dass du mein Blut kriegst, du aufgeblasene Mücke", stieß Bocaleón aus und kämpfte mit der durch den Kristallstaub zufließenden Kraft gegen den auf ihm liegenden Vampir, der ihm in den Hals beißen wollte. Da war auch Blutsauger Nummer zwei heran und warf sich auf den Zauberer. Das war für den Kristallstaubträger zu viel. Gleich würde einer der beiden ihn beißen und sein mit dem Staub der Unlichtkristalle versetztes Blut trinken. Würde ihn das umbringen? Wussten die etwa, was in ihm steckte?

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Vengor erwachte aus tiefem Schlaf. Er hörte Hilferufe in seinem Kopf. "Señor ayudame!" Das war Antonio Bocaleón, sein spanischer Helfer. Er konzentrierte sich auf diesen und sah sofort durch dessen Augen, dass er von gleich zwei Vampiren angeflogen wurde. Das war eine Frechheit oberster Ordnung, dachte er. Wie kamen diese Nachtgeschöpfe darauf, sich ausgerechnet an einem seiner Helfer zu vergreifen?

Vengor sprang auf und wollte gerade mit gezücktem Zauberstab disapparieren, als sein geisterhafter Mentor Iaxathan ihm in Gedanken zurief: "Verbleibe wo du bist! Beobachte, was geschieht. Du hast deinen Getreuen mit einem Treuefluch belegt, der ihn tötet, wenn er gefangen wird. Sieh zu, ob dies meinen frei jagenden Geschöpfen bekommt!"

"Aber, Meister Iaxathan, wenn er sinnlos stirbt oder von denen zum Vampir gemacht wird ..."

"Wenn er zum Vampir wird, ohne deinem Fluch zu erliegen, war dein Fluch nicht stark genug. Stirbt er und sterben die Vampire, so war sein Tod nicht sinnlos. In jedem Fall lernst du aus dieser Begegnung was für dich sehr wichtiges, wenn du nur beobachtest."

"Ich habe ihn selbst ausgewählt, ihm geholfen, wieder Tritt zu fassen. Ich will ihn nicht verlieren und ..." Unvermittelt fühlte Vengor, wie seine Beine erstarrten. Auch seine Arme bewegten sich nicht mehr.

"Wenn du meine Gunst erwerben willst, dann befolgst du alle meine Anweisungen, ohne Widerspruch!" dröhnte Iaxathans Gedankenstimme in ihm. Er gelobte, nicht einzugreifen, sondern nur zu beobachten, was geschah. Daraufhin wurde ihm seine körperliche Bewegungsfreiheit wiedergegeben.

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"Schon komisch, so ohne Flugzeug zu fliegen. Ist wie im Draculafilm", dachte Nyctodora ihrer Gefährtin zu, während sie auf ein in einem Wald gelegenes Haus zuflogen. Schon von weitem fühlten sie eine sie zurückweisende Aura. Das Haus besaß also Abwehrschildzauber. Dort hineinzufliegen würden sie wohl vergessen können. Also blieb ihnen nur, die Bewohner herauszulocken. Zwei sollten es sein, hatte ihre Herrin ihnen mitgeteilt, zwei ganz gefährliche, deren Blut ihnen aber wohl um so mehr Stärke verleihen mochte, wenn es gelang, es zu trinken.

""Ich helfe euch hineinzukommen. Aber den Auftrag müsst ihr dann alleine erledigen", hörten sie Gooriaimirias Gedankenstimme. Da fühlten sie, wie vom Mond her eine unbändige Kraft in sie einfloss und sie zu silbern leuchtenden Flugsäugern werden ließ.

Sie näherten sich dem Haus. Da knisterte und prasselte es um sie herum. Sie wurden herumgewirbelt, nach oben und nach unten geworfen und um ihre Längs- und ihre Waagerechtachse gedreht. Doch sie kämpften gegen die sie zurückdrängende Abwehrmagie. Wer den Mond und sie sah konnte einen haarfeinen, pulsierenden Silberstrahl sehen, der vom Mond zu Nyctodora und Scotochironia führte. Über diese gebündelte Macht des Mondes bezogen die beiden ihre Widerstandskraft.

Aus dem Haus hörten sie ein wildes Gebimmel. Also wurden die Bewohner alarmiert, dass jemand mit geballter Kraft angriff. Da flog auch schon eine Tür auf, und ein grünblauer Feuerball, so groß wie ein Jumbojet, fauchte auf die voranfliegende Scotochironia zu. Diese warf sich nach unten. Ebenso stürzte sich Nyctodora, die für die Normalmenschen weiterhin Eleni Papadakis sein sollte hinunter. Mit Getöse wie ein achtstrahliger Großraumflieger donnerte der grünblaue Feuerball heran. Nyctodora konnte sich gerade noch auf den Boden niederwerfen, als das flammende Ungetüm über sie hinwegkrachte. Die Vampirin fühlte noch ein Sengen auf dem Rücken. Der silberne Kraftstrahl vom Mond war unterbrochen. Sie fühlte, wie etwas vom Haus her ihr die zusätzliche Kraft zu rauben begann. Doch kaum war der Feuerball über sie hinweggedonnert, baute sich die stärkende Verbindung wieder auf.

Aus dem Liegen heraus schnellten die beiden Vampirinnen wieder hoch, eingehüllt von silbernem Glanz. Im gleichen Moment rumste es wie von zehn Böllern gleichzeitig. eine mehr als fünfzig Meter große Wolke aus rotgoldenen Flammen erhellte die Nacht. Scotochironia warf sich zwischen die entfesselte Elementargewalt und ihre Gefährtin. Doch die Flammen erreichten sie beide nicht.

"Der nächste kriegt euch!" brüllte eine alte Frau vom Haus her und hielt ihnen einen knorrigen Stab entgegen. Die beiden verstanden sich wortlos und flogen in zwei unterschiedliche Richtungen. So entgingen sie einer weiteren gigantischen Glutkugel, die genau zwischen ihnen hindurchdonnerte und mehr als hundert Meter von ihnen entfernt auseinanderplatzte. Dann rief eine Männerstimme aus dem Haus: "Avada Kedavra!" Nyctodora konnte noch sehen, wie ihre Gefährtin Scotochironia sich zwischen sie und den Rufer warf. Da hörten sie ein unheilvolles Sirren, als jage ein schnelles Geschoss auf sie zu. Ein gleißendes grünes Licht erhellte den Vorhof des Hauses. Doch der grüne Blitz sirrte knapp einen Zentimeter an Scotochironias linkem Flügel vorbei. Nyctodora hörte noch das verhängnisvolle Brausen knapp an ihrem linken Ohr vorbei. Dann war der Zauber verklungen. Er hatte kein Ziel getroffen.

"Schnell, die Mutter zuerst!" hörte Nyctodora die Stimme ihrer Herrin. Sie erkannte auch sofort warum. Denn um sie entstand eine grünliche Flammensphäre. Ihr wurde auf einmal sehr heiß. Das silberne Licht auf ihrem Körper flackerte und verschmolz fast mit den grünen Flammen. Da war Nyctodora an der Hexe, die ihr diesen Zauber auferlegt hatte. Sie verdrängte den Impuls, sie sofort zu beißen. Statt dessen rammte sie sie mit dem Kopf am Kopf. Ihr wurde es noch heißer. Sie fühlte Schmerzen, als würde sie gleich in Flammen aufgehen. Dann ebbte diese Pein ab. Die grünen Flammen verpufften mit lautem Wuff im Nichts. Nyctodora lag über der zu Boden geworfenen und durch den Kopfstoß benommenen Hexe. Sofort fühlte sie, wie ihr Körper sich in ihre Menschenform zurückverwandelte. Wieder so bekleidet wie vor der Fledermausverwandlung lag sie nun als Menschenfrau ohne Haare über der Hexe. Diese kam wohl wieder zu sich. Da schlug Nyctodora ihr bereits die Fangzähne in den Hals und begann, gierig zu saugen.

Scotochironia ging inzwischen auf den Jungen los. Dieser rief noch einmal jene zwei Zauberworte aus. Nyctodora war im Blutrausch und konnte eh nicht mehr eingreifen. Sie hörte noch das wilde Brausen und fühlte unmittelbar, wie ihrer Gefährtin das Leben entrissen wurde. Sie hörte noch eine Art von geistigem Todesschrei. Doch gleichzeitig war ihr, als hülle etwas sie in eine weiche Decke ein und glitte dann in ihren Körper hinein. Dies steigerte den Blutdurst.

Nyctodora fühlte erst, wie das von ihr gesaugte Blut ihr neue Kraft gab. Doch dann war ihr, als würde es sie von innen her aufheizen, immer mehr. Doch Gooriaimiria befahl ihr, weiterzusaugen. "Du musst alles von ihr trinken, bevor sie noch einen letzten Feuerzauber anwenden kann!" Doch Nyctodora fühlte die immer größere Hitze. Da stürmte der jüngere Hausbewohner heran. Sein Gesicht war kalkweiß. Nyctodora warf sich und seine Mutter herum, so dass sie über ihr zu liegen kam und somit ein Schutzschild bot. Der Andere stieß ein Wutschnauben aus und zielte mit dem Zauberstab auf seine Mutter: "Per solem Benedico!" rief er. Doch was immer er damit auslösen wollte, es blieb nur beim Ausruf des Zauberspruches. Während dieser Sekunden meinte Nyctodora, gleich von einem Feuerball in ihrem Bauch eingeäschert zu werden. Da erstarb das Brennen in ihrem Körper. Jetzt überwog nur noch der Kraftstrom des eingesaugten Blutes. Doch das Herz der Hexe schlug immer langsamer und lieferte nicht mehr so viel nach.

"Per Solem benedico!" rief der jüngere nun in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung. Wieder geschah nichts. Nyctodora sog noch einmal kräftig. Da rumpelte das alte Herz der Hausbewohnerin zum letzten Mal. Der Blutstrom versiegte, sie war tot.

Nyctodora keuchte, als sie unter der leergesaugten Leiche lag. Der andere stürmte nun heran und entriss ihr die Tote. Doch als er erkannte, dass er zu spät kam, schrie er wütend und ließ den Körper seiner Mutter fallen. Diesen Augenblick nutzte Nyctodora, um aus dem Liegen aufzuspringen und sich auf den jüngeren Hausbewohner zu stürzen. Sie kämpfte mit ihm. Er war stark. Er versuchte noch einmal, ihr einen Zauber aufzuhalsen. Doch sie hieb ihm mit einem gekonnten Karateschlag den Zauberstab aus der Hand, dass dieser mehrere Dutzend Meter weit davonwirbelte. Dann gruben sich ihre Fangzähne in seinen Hals und durchbohrten die Halsschlagader.

Zwei Minuten später hörte auch das Herz des jüngeren zu schlagen auf. Da war Nyctodora, als tobe neues Feuer in ihr. Sie schrie auf, weil um ihren Körper herum grüne und rote Flammen züngelten. Sie wähnte sich gleich im Höllenfeuer verbrennen. Ihr Körper glühte immer heller. Das war ihr Ende, dachte sie. Als sie dann noch das blitzblanke Knochengerüst sah, das in einer dafür zu weiten Lederkombination am Boden lag, bangte sie, dass sie auf ganzer Linie versagt hatte. Gleich würde auch sie sterben und wohl zum Knochengerüst zerfallen oder richtig zu Asche verbrennen.

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Bocaleón wähnte sein Ende gekommen. Zwei Vampire hielten ihn mit übermächtiger Kraft am Boden. Es waren nur noch Millimeter zwischen seinem Hals und ihren rasiermesserscharfen Zähnen. Er rief im Geist um Hilfe. Er hoffte, dass sein Meister, Lord Vengor ihm beistehen würde. Da fühlte er die schmerzhaften Einstiche im Hals. Sofort merkte er, wie ihm eiskalt wurde. Etwas in ihm regte sich, kämpfte mit eisigen Klauen von innen her gegen etwas an. Dann fühlte er, wie ihm immer mehr Kraft entzogen wurde. Da glomm etwas auf, blutrot und immer stärker ausgeprägt. Es glomm von Bocaleóns linkem Arm her. Erste Funken sprühten auf und schlugen auf die beiden Vampire und ihr Opfer über. Die Funken entsprangen einem hellglühendem V auf Bocaleóns linkem Unterarm, dem Zeichen der Vergeltungswächter Lord Vengors.

Die zwei Vampire, die ihr Opfer überwältigt hatten, sogen wie vor dem Verdursten stehende. Ihnen hatte die spürbare Aura, die irgendwie Tod und Zerstörung ausstrahlte, eher mehr Lust auf das Blut des Fremden eingeflößt. Doch als sie beide mehrere Sekunden lang das Blut des Niedergeworfenen saugten, fühlten sie, wie etwas in ihrem Inneren explodierte. Es war eisige Kälte, wie sie die Kinder der Nacht eigentlich nicht mehr empfinden konnten. Die Kälte jagte ihnen in alle Glieder hinein. Zudem kam nun ein immer dichterer Funkenstrom aus Bocaleóns linkem Arm, der die zwei Vampire wie mit glühendheißen Nadeln piesackte. Dann sah einer der beiden, wie das von ihm gebissene Opfer immer dunkler wurde und dabei immer mehr zusammenschrumpfte. Dann erkannte der Vampir sein eigenes Verhängnis. Etwas entriss ihm Kraft. Er hörte ein lautes Knistern und Knacken, als zerfiele Holz im Feuer. Dann verlor er jedes Gefühl in seinen Armen und Beinen. Er wandte den Kopf, der immer schwerer wurde und sah noch, wie seine Schulter immer dunkler wurde, bis sie mit lautem Krachen wie auf harten Grund schlagendes Eis zersplitterte. Das war dann auch schon das letzte, was der Vampir sehen konnte. Denn im nächsten Moment fiel sein Kopf von den Schultern und zersprang laut klirrend auf dem Boden. Sein Begleiter endete auf die gleiche Weise. Es vergingen nur wenige Sekunden, da zerbarsten die Körper der Vampire zu schwarzen Staubhaufen. Bocaleón bekam seine unverhoffte Rache nicht mehr mit. Der Gedanke, nun unrettbar verloren zu sein hatte jenen Fluch ausgelöst, der durch den in ihm kreisenden Unlichtkristallstaub verstärkt worden war. Sein Körper schrumpfte, weil ihm alles körpereigene Wasser entrissen wurde, bis er am Ende selbst zu einem daumenlangen, schwarzen Etwas verdorrt war, das keine zehn Sekunden danach zu schwarzem Staub zerfiel.

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Er hatte es miterlebt, ja fast körperlich gespürt, wie die beiden Vampire seinem Getreuen das Blut entrissen hatten und damit eine verheerende Wechselwirkung ausgelöst hatten. Bocaleón war dabei wirklich dem Fluch Vengors erlegen, und dieser, so hatte Vengor es noch mitbekommen, bevor die Verbindung zu seinem spanischen Gefolgsmann abriss, hatte sich sogar auf die zwei Blutsauger übertragen. So lachte Vengor darüber, dass das Blut seiner Getreuen, ja wohl auch sein eigenes, für Iaxathans frühere Sklaven ungenießbar bis absolut tödlich war. Mit dieser so erheiternden wie wichtigen Erkenntnis legte sich Vengor wieder hin und schlief weiter.

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Sie schrie vor Schmerzen. Sie stöhnte und röchelte. Ihr ganzer Körper glühte in einem hellen Rotton. Um sie herum tanzten wilde grüne und rote Feuerzungen. Eine schier undenklich lange Zeit litt sie unter dieser Pein. Warum starb sie nicht einfach? Warum zerfiel sie nicht einfach zu Asche?

Unvermittelt erloschen die Flammen, und auch die hellrote Glut auf ihrer Haut dunkelte sich ab und verschwand. Sie lag noch auf dem Boden. Ihr Herz pumpte wild. Sie hörte das veränderte Blut in ihren Ohren rauschen. Dann erklang die Stimme Scotochironias, ihrer getöteten Gefährtin.

"Du hast es überstanden, meine Tochter und Schwester. Du hast es mit meiner Lebenskraft überstanden. Du hast die Kräfte einer Feuerhexe und eines Zwielichtsohnes in dich eingesaugt. Jetzt kann ich in Frieden mit unserer großen Herrin vereint werden. Genieße dein Leben und halte dich aufrecht, auch wenn ich es nicht mehr beschützen kann, meine Tochter! Ich habe dich immer geliebt, mehr als deine geldgierige Mutter, die dichnur bekommen wollte, weil sie dafür zehn Millionen Yankeedollars bekam." Nyctodora fühlte, wie etwas sanft aus ihrem Körper herausglitt und sah für eine Sekunde noch einmal das Abbild ihrer langjährigen Vertrauten, Beschützerin und Gefährtin, Alexandra Konstantinides. Die geisterhafte Erscheinung lächelte sie an. Dann schrumpfte sie zusammen und verschwand wie der winzige Punkt eines fernen Objektes hinter dem Horizont. Nyctodora fühlte Tränen in ihre Augen steigen. Wie lange war es her, dass sie das letzte Mal geweint hatte? Die eiskalte Karrierefrau, die Macherin und Kämpferin, lag am Boden, körperlich und gefühlsmäßig. Sie wusste, dass sie einen hohen Preis bezahlt hatte, als sie sich auf den Weg gemacht hatte, Erfolg zu haben. Sie war das Produkt der Erziehung ihres Vaters und der von ihm bezahlten Privatlehrer. Das einzige, was ihr an Zuneigung oder gar Zärtlichkeit entgegengebracht worden war, war von Alexandra Konstantinides gekommen. Deshalb war sie erst so maßlos enttäuscht gewesen, als sie diesem Anaxerebos Zutritt zu ihrem Schlafzimmer ermöglicht hatte. Doch nun, wo sie endgültig von ihr fortgegangen war, erkannte Nyctodora, dass diese Frau die einzige Person auf der Welt gewesen war, die sie nicht wegen ihres Geldes oder das Geld ihres Vaters geachtet hatte. Diese späte und schmerzvolle Erkenntnis ließ Nyctodora mehrere Minuten lang hilflos am Boden liegen. Wer sie jetzt auffand und erkannte, was ihre Natur war, konnte sie töten. Doch das wäre ihr in dieser schweren Stunde wohl egal gewesen.

Endlich fand sie wieder zu ihrer eiskalten Selbstbeherrschung zurück. Ihre Vertraute war tot. Das war nicht mehr zu ändern. Doch die Mission war erfüllt worden. Ja, und wenn stimmte, was Alexandra alias Scotochironia bei ihrem geisterhaften Abschied noch gesagt hatte, dann trug sie gerade die vereinte Kraft eines halben Vampirs und einer geborenen Feuermagierin in sich. Dann mochte es sein, dass sie dadurch wesentlich stärker geworden war als jeder andere Vampir, ja vielleicht sogar der Sonne widerstehen konnte.

"Das werden wir in sechs Stunden deiner Zeit überprüfen, Nyctodora! Kehre Vorerst in deinen Turm zurück und bereite dich darauf vor, wieder deinen Tageslichttätigkeiten nachzugehen!" Nyctodora bestätigte den Erhalt dieser Anweisung. Irgendwie hatte die schlafende Göttin jetzt nicht wie eine unumschränkte Gebieterin aus dem Jenseits geklungen, sondern wie eine tröstende Mutter, die ihrem Kind neuen Mut zusprechen wollte. Vielleicht bildete sich Nyctodora das auch nur ein.

"Halt, nimm noch den Zauberstab von ihr mit!" durchpulste Gooriaimirias Stimme Nyctodoras Geist. Die relativ neue und gerade durch eine Hölle von brennendem Schmerz gegangene Vampirin blickte erst zum Mond und dann auf die Leiche der Leergesaugten. Ja, die hatte noch ihren magischen Stab bei sich. "Nimm ihn mit", drängte Gooriaimirias Gedankenstimme. Nyctodora nickte, obwohl ihre Kontaktpartnerin nicht sichtbar anwesend war. Sie zog den Zauberstab aus dem Umhang der Getöteten.

Nyctodora stand auf. Dann sah sie das Skelett. "Ich möchte sie begraben, Göttin Gooriaimiria!"

"Es tut mir leid, dafür hast du keine Zeit mehr", erwiederte Gooriaimirias Gedankenstimme, die ein wenig so klang wie die von Alexandra. Da fühlte es Nyctodora auch. Aus der Luft näherten sich sieben lebende Wesen, fliegende Menschen. Sie wünschte sich, in ihren Turm zurückgebracht zu werden. Als sie vom schwarzen Transportstrudel eingesogen wurde, sah sie noch einmal das Skelett in der Lederkluft. Das würde ihr eine Mahnung sein, wie schnell es auch mit ihr zu Ende gehen konnte.

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Sophia Whitesand war unverzüglich mit sechs rasch zusammengerufenen Hexen ihrer Schwesternschaft losgeflogen. Da der Apparierschutz mehr als zehn Kilometer weit reichte, hatten sie die Besen nehmen müssen, um zum Haus von Vesta Moran zu fliegen. Das Bild-Ich von Vestas Ururgroßmutter Belisama hatte sie in Whitesand Valley aus dem Schlaf gerufen und über den Angriff informiert. Sophia wäre gerne alleine losgezogen, um zu kämpfen. Doch das Bild-Ich hatte von zwei übermächtig gut beschützten Mondvampiren gesprochen. So hatte sie mit den Schwestern, die sich mit den Astralzaubern auskannten, den Hilfsflug gestartet. Doch als sie bei dem Haus ankamen konnte Sophia gerade noch einen schwarzen Wirbel sehen, der in sich zusammenfiel und verschwand. Als sie dann bei dem Haus landeten fanden sie die beiden Morans tot und entdeckten ein weibliches Skelett in einer Ledermontur mit einem muggelmäßigen Schutzhelm.

"Ich hab's ihr hundertmal gesagt, sie soll mindestens einen Portschlüsseldurchlass freihalten", schnarrte Sophia, als sie Vestas bleiche Leiche fand. "So wurde aus einer uneinnehmbaren Festung am Ende eine unentrinnbare Falle", grummelte sie noch. Sie dachte daran, dass Vesta keinen Sanctuafugium-Zauber um ihr Haus haben konnte, weil das wohl Aidonius' Tod bedeutet hätte, wenn der Zauber nicht wegen ihm versagt hätte. Jetzt waren beide tot. Das Skelett einer Frau deutete darauf hin, dass hier eine Vampirin mit dem Todesfluch getötet worden war. Weil Das Moran-Haus unter permanentem Unortbarkeitszauber lag konnte man nicht einmal mit einer Rückschaubrille nachforschen, was genau passiert war.

"Ich hatte den Eindruck, dass da vorhin so ein schwarzer Wirbel gewesen ist, sowas wie ein Schattenportschlüssel", sagte Ursina Underwood, die es nicht kalt ließ, die beste Schulfreundin ihrer vor zwanzig Jahren im Kampf gegen die Todesser verstorbenen Mutter zu sehen.

"Ich denke eher, es ist eine Art Schattenkanal", sagte Ceridwen Barley, die ebenfalls zu tiefst erschüttert auf die beiden toten Morans blickte. Dann meinte sie: "Aber vielleicht verrät uns das Skelett, wessen Fleisch es einmal getragen hat, Schwestern."

"Dein Rückverfleischungszaubertrank, Schwester Ceridwen?" fragte Ursina Underwood.

"Den ich vor einem Jahr zum Patent angemeldet habe, um längst skelettierte Leichname identifizieren zu können", sagte die rothaarige Hexe, die eine bewanderte Braumeisterin, Zauberkunst- und Verwandlungsgroßmeisterin war.

"Wobei dieser Trank noch nicht an skelettierten Vampirleichen erprobt wurde, Schwester Ceridwen. Ich denke, Schwestern, wir übergeben den Fall an Kingsley Shacklebolt und die Auroren", erwiderte Sophia Whitesand darauf.

"Und wie erfahren wir, wie es ausgeht?" fragte Ursina. Sophia musste nur mit dem Kopf schütteln. Dann sagte sie: "Wenn es um Vampire geht, dann wird uns Tessa eine sehr willige Informationsquelle sein."

"Gut, dann ziehen wir uns zurück und lassen Kingsleys Kettenhunde ran?" wollte Ursina wissen. Alle mit ihr angeflogenen Hexen nickten. So saßen sie wieder auf ihren Besen auf und flogen davon, alle mit den Bildern des doppelten Mordes und der vielleicht in Notwehr erfolgten Tötung einer Vampirin im Kopf.

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Nyctodora fühlte weder Schmerz noch angewidertheit, als sie sich der Sonne auslieferte. Ja, die Strahlen des für ihre Neue Daseinsart so feindlichen Gestirns blendeten sie nicht einmal, als sie behutsam eine der Kontaktlinsen aus dem Auge nahm und für eine Sekunde ins Tageslicht blickte. Sie traute sich und nahm beide Linsen heraus. Dann hörte sie die Stimme ihrer Herrin im Kopf: "Wie ich erhofft habe, ist das in dir zusammengeführte Blut und Leben eines Zwielichtsohnes und seiner dem Feuer verbundenen Mutter mit deinem Blut vereint worden und hat dich mit demselben Schutz versehen, den sonst eine Solexfolie bietet. Zwar bist du rein körperlich noch immer eine meiner Gesandten. Doch du bist nun vor der Sonne und wohl vor dem Feuer geschützt, wie es Mutter und Sohn Moran waren. So ist meine Hoffnung voll erfüllt worden. Hiermit ernenne ich dich zu meiner ersten Botin, meiner Hohepriesterin. Nyctodora, dein Name sei gesegnet unter den Kindern der Nacht!"

"Oha, da bekomme ich aber großen Ärger mit meinem Beichtvater", spottete Nyctodora, als sie die Strahlen der Sonne noch eine weitere Minute auf ihre bloße Haut hatte treffen lassen.

"Wozu sollte ich den Hexenstab mitnehmen?" wollte die soeben zur Hohepriesterin erhobene wissen.

"Nimm ihn in die Hand, mit der du die meisten Dinge verrichtest!" erwiderte Gooriaimiria. Nyctodora gehorchte der Anweisung. Als sie den knapp dreißig Zentimeter langen Holzstab anhob fühlte sie erst einen gewissen Widerstand, als hebe sie einen zentnerschweren Holzklotz an. Doch dann erwärmte sich das Holz, und der Stab pulsierte wie ein sanft schlagendes Herz in ihrer rechten Hand. "Bewege ihn in leichtem Schwung einmal durch die Luft!" befahl die schlafende Göttin ihrer ersten Gesandten. Diese gehorchte abermals und ließ den Stab aus dem Handgelenk heraus einmal durch die Luft kreisen. Diesmal war es, als schwinge sie eine Feder. Dabei prasselte eine Fontäne weißgoldener und blutroter Funken heraus. Die Luft vor ihr schien auf einen Schlag um mehr als hundert Grad erhitzt worden zu sein. Ein erheitertes Lachen erklang in ihrem Geist. "Die Macht der Mitternacht ist mit uns. Du hast mit dem Blut Vestas auch einen gutteil ihrer eigenen Magie in dich aufgesogen. So kann und werde ich dir auch beibringen, damit und dem Zauberstab zu zaubern. Aber wir werden diesen Versuch noch mal wiederholen, wenn es Nacht ist." Nyctodora nickte.

Nun ohne Sonnenschutzfolie, nur mit ihrer aus eigenem Haar gemachten Perücke auf dem Kopf, trat sie ihren nächsten Arbeitstag an. Eleni Papadakis war wieder im Geschäft, und wie gut sie das war, würden bald nicht nur die Streitkräfte bemerken. Das Verschwinden Alexandras begründete sie damit, dass sie auf einem Alleinflug zum Flughafen an der afghanischen Grenze von einer Boden-Luft-Rakete der Taliban abgeschossen worden sei. Zumindest ein Heldentod, den man ihr glauben würde.

Als sie abends noch einmal den erbeuteten Stab Vesta Morans nahm und schwang, entringelte sich diesem eine Spirale aus silberweißen und saphirblauen Funken, die zielgenau auf den Mond zukreiste und sich weit über ihr in einen silbernen Schauer auflöste, der wie ein Schwarm Sternschnuppen am Himmel entlangsauste. "Aha, er reagiert auf die Anwesenheit der Leitgestirne", erkannte Gooriaimiria, die durch Nyctodoras Augen mitverfolgte, wie der entwendete Zauberstab ansprach. "Das ist eine Seltenheit in der angewandten Magie, aber durchaus nicht unbekannt", fügte die schlafende Göttin noch hinzu. "So wirst du sicher die Zauber des Feuers und der Sonne am Tag und die Zauber des Mondes, der Dunkelheit und des Wassers bei Nacht besonders gut ausführen."

"Ich eine Hexe, eine Vampirhexe?" fragte Nyctodora.

"War ich als sterbliche auch", erwiderte Gooriaimiria. "Mit der Macht, die du in dir verstärkt hast ist das kein Widerspruch, sondern eine große Macht." Nyctodora fühlte eine gewisse Euphorie. Sie war nicht nur stärker als jeder Mensch geworden, sondern hatte bei der Gelegenheit auch noch magische Kräfte erlangt, mit denen sie im Grunde die Herrschaft über alle Menschen erringen konnte. Doch diese Glückseligkeit wurde sofort gedämpft:

"Hüte dich vor übermäßiger Überlegenheit! Ich selbst verfiel ihr und bin zweimal aufs schmerzvollste dafür bestraft worden. Sei auch darauf gefasst, dass die rotblütigen Hexen und Zauberer sehr wohl bedenken, dass du den Zauberstab Vesta Morans genommen hast. Nur solange sie nicht wissen, dass du ihn hast, können sie dich nicht offen angreifen. Bedenke das immer! Nur wenn du mit der dir zugeflossenen Magie behutsam umgehst, sie nicht offen zeigst oder die Zeugen deiner Zauber verstummen lässt, bist du bis auf weiteres sicher vor den geborenen Hexen und Zauberern." Dies sah Nyctodora alias Eleni Papadakis ein.

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Der Raum war fensterlos. Außer acht in Kristallsphären leuchtenden Lichtern gab es hier unten keine Beleuchtung. In diesem Raum wurden durch Magie oder Zauberwesen hervorgerufene Todesfälle untersucht. In einem vergoldeten Zuber, der wie ein Mittelding aus Badewanne und Getreideflockenschale aussah, schwappte und sprudelte eine rosafarbene Flüssigkeit.

"Der Trank wurde verifiziert, ich beginne mit der Rekarnifikation des weiblichen Skelettes!" sprach Joshuar McFee, der ministeriumseigene Pathologiemagier. Er wusste nicht, ob man die entfleischten Knochen eines Vampirs mit neuem, wenn auch nur totem Fleisch verkleiden konnte, um zu erkennen, wer das Skelett früher einmal war. Er wollte das aber jetzt wissen.

Im Hintergrund stand ein hochgewachsener, dunkelhäutiger Mann in einem der neuen Duotectus-Anzüge. Der glasartige Kopfschutz, in dem eine dauerhafte Frischluftblase steckte, schimmerte im Licht der Kristallsphären wie ein schwacher Glorienschein.

"Wir wissen nicht, ob der Trank auf Vampire ähnlich gut anspricht wie auf unmagische Skelette, Josh. Bleiben Sie also bloß in der Nähe des Portschlüssels", hörte Joshuar die sonore Bassstimme durch die glasartige Kugelschale um Kingsley Shacklebolts Kopf. Er nicgte.

Um keine Giftstoffe einzuatmen ließ er die erst wie eine silberne Kapuze aussehende Schutzfolie aus dem Halsring seines gelben Duotectus-Anzuges herausgleiten und sich um seinen Kopf spannen. Dadurch wurde sie zur glasklaren, frei drehbaren Kopfbedeckung mit eingewirktem Kopfblasenzauber, der einen vollen Tag lang aufrecht erhalten blieb.

Jetzt erst öffnete er den Zinksarg, in dem das vor dem Moran-Haus geborgene Skelett lag. mit einem Transportzauber ließ er die aufgelesenen Knochen in den goldenen Zuber hinüberschweben. Als die Knochen hineinsanken geriet der rosafarbene Trank in Wallung. Silberner Dampf wölkte auf. Bis dahin entsprach die Reaktion dem, was Ceridwen Barley den Heilern und Zaubertrankbraumeistern vor einem Jahr vorgeführt hatte. Doch dann passierte es. Mit ohrenbetäubendem Knattern schlugen weißblaue Blitze aus dem Zuber heraus. Mit einem Schwall entwich ein Großteil des rosafarbenen Trankes aus dem Behälter. Wie brennendes Bratfett, in das jemand in der falschen Annahme, es damit löschen zu können, Wasser hineinkippt, spritzte der Trank als blau brennende Tropfen durch den Raum. Überall, wo die brennenden Tropfen auf Decke, Boden und Wände trafen, krachte es wie einschlagende Geschosse. Joshuar sah vor seinen Augen nur noch tanzende Feuerkugeln. Sein Anzug schirmte ihn gegen Druck und Hitze ab und war zudem noch säureunempfindlich. Dreißig Sekunden tobte dieses Feuer. Dann sahen er und der Minister das in den Zuber geworfene Skelett. Jeder Knochen glühte in einem blutroten Farbton. Es schwebte in aufrechter Haltung über dem Zuber. Dann schoss eine rote Stichflamme aus dem Schädel heraus. Der Rest des Gerippes flog laut krachend in alle Richtungen auseinander. Die beiden Zauberer fühlten die auf sie einprasselnden Bruchstücke und hörten den dröhnenden Schlag der Explosion. Dann war es auch schon vorbei. Die beiden standen in einem hellrot glühenden Raum. Der goldene Zuber war zu einem unförmigen, gelb glühenden Metallklumpen verformt worden.

"So eine heftige Reaktion habe ich nicht erwartet", stellte McFee fest. Sein oberster Vorgesetzter nickte ihm zu. "Ich auch nicht", grummelte er. "Aber wir dürfen festhalten, dass die in den Knochen eines Vampirs gesammelte dunkle Magie offenbar mit dem Wiederverfleischungstrank eine schädliche Wechselwirkung ausübt. Kann auch sein, dass das Skelett einen Teil des Todesfluches gespeichert hat, mit dem die Vampirin erledigt wurde. Gut zu wissen, dass wir damit besser keine Vampirskelette mehr untersuchen sollen."

"Dann bekommen wir so nicht raus, wer die mal als lebende Frau war", knurrte McFee. Sein oberster Vorgesetzter bejahte es mit ebenso hörbarem Widerwillen. Dann fiel Shacklebolt etwas ein:

"Wir haben die Lederkleidung. Die wurde nicht zerstört. Wenn da in dem Helm noch Haare sind oder Hautschuppen in den Ärmeln oder Hosenbeinen ..."

"Können wir leider nichts mit anfangen. Vielsaft-Trank geht mit Vampirbestandteilen nach hinten los, und dieses Zeug, was mein in Erfüllung seiner Pflicht gestorbener Kollege Patch in den Staaten gebraut hat ist mit ihm zu Grabe getragen worden."

"Hmm, dann geben wir die Kleidung den Muggeln zur Untersuchung. Vielleicht können die in den Zellresten diese ominöse DNS-Bausteine finden und sie wem zuordnen."

"Wollen Sie mich jetzt auch noch verhöhnen, Herr Minister?" schnarrte McFee. Doch dann nickte er resignierend. Am Ende war die Vampirin eine ehemalige Muggelfrau und konnte somit von den Magielosen identifiziert werden.

Minister Shacklebolt verließ das gesicherte Labor in denunteren Etagen seines Ministeriums und fuhr in seiner üblichen Dienstbekleidung zur Chefetage hinauf. Dort traf er sich noch einmal mit Arthur Weasley, dem Leiter der magischen Strafverfolgungsabteilung. Der hochgewachsene Zauberer mit dem flammenroten Haarkranz und der Brille wirkte sichtlich angespannt, als er seinem obersten Dienstherren gegenüberstand.

"Habt ihr alle Spuren sichern können, Arthur?" fragte Kingsley Shacklebolt.

"Der dauerhafte Unortbarkeitszauber hat Rückschauzauber vereitelt. Aber meine Mitarbeiter und ich konnten mit Wärmesichtbrillen und Blutfärbemitteln Spuren sichern. Was mich aber mehr beschäftigt als die Ermordung der beiden Morans ist das Fehlen von Vesta Morans Zauberstab. Denn die großflächigen Brandspuren hundert Meter von ihrem Haus entfernt deuten auf einen besonders starken Feuerballzauber hin. Den kann sie unmöglich ohne Zauberstab ausgeführt haben."

"Moment mal, Arthur! Madam Moran hatte ihren Zauberstab nicht dabei?" wollte der Minister wissen. Arthur Weasley nickte heftig. "Aidonius hatte seinen mit. Wir haben den auf seine letzten drei Zauber geprüft. Dabei war auch Avada Kedavra! Aber Madam Morans Zauberstab war weg. Der konnte nicht gefunden werden."

"Dann hat der geflüchtete Vampir ihn mitgehen lassen", knurrte Shacklebolt wie ein gereizter Wolf.

"Vielleicht bildet sich der Blutsauger ein, mit Madam Morans Blut auch ihre Zauberkraft eingesogen zu haben", vermutete Weasley.

"Arthur, ich hoffe inständig, dass es wirklich nur Einbildung ist. Ich habe mich tief ins Archiv der letzten zwanzig Minister gewühlt und auch meine ganze Autorität in die Waagschale geworfen, mehr über Vesta Moran zu erfahren. Sie war eine geborene Feuermagierin, die schon durch Gedankenkraft gelenkte Flammen entstehen oder Gegenstände erhitzen und verglühen lassen konnte. Diese seltene Gabe der Pyrokinese kam in den letzten fünfhundert Jahren nur dreimal vor und jedesmal in der Blutlinie von Vesta Moran. Es war eine rein auf Hexen vererbte Begabung. Vesta Morans Vorfahrin Phaetusa konnte mit ihrer Begabung den Scheiterhaufen löschen, auf dem ihre Nichte verbrannt werden sollte, ohne durch einen geführten Zauberstab als Urheberin aufzufallen. Wenn diese Begabung durch das Blut verstärkt wird, dann könnte der Vampir, der Madam Moran getötet hat, entweder von diesem verbrannt worden sein oder neue Kraft daraus geschöpft haben, vielleicht sogar nach außen hin wirksame Zauberkräfte. Habt ihr Asche oder eine besonders große Brandfläche innerhalb des Halbmessers gefunden, wo der Feuerballzauber gewirkt wurde?"

"Ja, neben der Leiche Madam Morans fanden wir einen Körperabdruck, von dem noch eine starke Resthitze abgestrahlt wurde. Wer oder was da immer gelegen hat muss wie gut durchlüftete Kohle geglüht haben", erwiderte Arthur Weasley. Dann nickte er mit betrübtem Gesicht. "Ja, von diesem Körperabdruck führten dann auch Spuren fort. Es waren aber nur drei Schritte. Sieht also danach aus, als wäre wer immer dort gelegen hat aufgestanden und entweder fortgeflogen oder disappariert."

"Das ist bis auf weiteres S8-Status, Arthur. Ich kläre es mit dem Propheten, wie wir Madam Morans Tod bekanntgeben", sagte der Zaubereiminister. "Der Umstand, dass sie jahrzehntelang wie eine Einsiedlerin gelebt hat wird uns wohl helfen, dass sie nicht zu sehr vermisst wird."

"Ich möchte gerne noch einmal mit Madam Whitesand sprechen, Kingsley. Ich möchte von ihr wissen, wie genau das Verhältnis zu Madam Moran war", sagte Arthur.

"Ich habe sie bereits eingeladen, mit uns beiden über den Vorfall zu sprechen", erwiderte der Zaubereiminister. Dann sagte er noch: "Soweit ich weiß war sie die Patin von Aidonius. Könnte sein, dass der Überfall auf jene zurückgeht, die seinen Vater zum Vampir gemacht haben. Wie erwähnt ist das alles bis auf weiteres als S8 festgelegt, Arthur. Also bitte auch nichts zu deinem Schwiegersohn!"

"Natürlich, Herr Minister", bestätigte Arthur Weasley den Erhalt der Anweisung.

So kam es, dass Sophia Whitesand am Nachmittag durch geheime Nebengänge ins Büro des Ministers ging. Nicht mal Shacklebolts Vorzimmerhüter bekam mit, dass sie eintraf.

Arthur Weasley hatte Dumbledores Cousine bisher nur auf der Beerdigung des für Hogwarts gestorbenen Schulleiters und bei diversen Gerichtsverhandlungen gegen ergriffene Todesser sehen können. Jetzt, aus unmittelbarer Nähe, fühlte er eine unverkennbare Aura der sanften Überlegenheit, die von Sophia Whitesand ausstrahlte. Die betagte Hexe, die ähnlich vielseitig und meisterhaft zaubern konnte wie ihr berühmter Vetter, war für Arthur der Inbegriff einer wahren Matriarchin, einer weisen Mutter, die um ihre Macht und ihren Einfluss wusste, jedoch selten davon Gebrauch machte.

Die Unterredung, die eine Mischung aus gepflegter Unterhaltung und Verhör war, verlief im ruhigen Ton gegenseitigen Respekts. Sophia berichtete ohne sichtbare Erregung, dass Vesta Moran sie über ein Porträt um Hilfe gerufen hatte, dessen Kopie sie besaß. Da das Haus von einem weiträumigen Locorefusus-Zauber umspannt war, der unmittelbares Apparieren unterband, sei Sophia mit sechs Verwandten auf fliegenden Besen ausgeritten, jedoch schon zu spät gekommen. Als sie gefragt wurde, ob sie wisse, wo Vesta Morans Zauberstab abgeblieben war zeigte sie zum ersten Mal bei dieser Unterredung eine gewisse Erregung.

"Haben Sie den nicht bei der Toten gefunden? Ich habe zumindest nichts an oder bei ihr verändert", sagte die weißblonde Hexe mit der goldenen Halbmondbrille auf der Nase.

"Wir haben Mr. Morans Zauberstab sicherstellen und auf seine letzten Zauber prüfen können. Madam Morans Zauberstab war unauffindbar", erwiderte Arthur Weasley kühl. Sophia Whitesand bekräftigte erneut, dass sie die beiden Leichname nicht angerührt hätten.

"Sie kennen sich gut mit dunklen Kreaturen und Astralzaubereien aus, Madam Whitesand", setzte Shacklebolt zu einer Frage an. "Können Sie sich vorstellen, dass ein Vampir durch das vollständige Aussaugen eines magischen Menschen mit besonderen Kräften dessen Zaubertalent einverleiben kann?"

"Hmm, mein seliger Vetter war mit dunklen Kreaturen weit besser vertraut als ich", holte Sophia zu einer Antwort aus. "Deshalb kann ich diese Frage nicht so entschieden beantworten, wie Sie es erwarten, Gentlemen. Doch rein subjektiv, nicht für offizielle Verlautbarungen: Vesta Morans Begabung und dass sie einen Sohn von einem Vampir bekommen musste, könnten ihr Blut entsprechend potenziert haben, dass es im Körper eines Vampirs eine Erweckung bis dahin schlummernder Zauberkräfte bewirkt haben könnte. Wenn dann noch als verbindendes Agens das Blut von Aidonius Moran dazukommt könnte wer immer die beiden getötet hat einen Teil wenn nicht alles von Vesta Morans besonderer Begabung in sich aufgenommen haben. Vesta Moran besaß eine körperlich-geistige Verbindung zur Elementarkraft Feuer. Falls ihr Mörder durch Trinken ihres und ihres Sohnes Blut diese Beziehung erworben hat, könnte der nun größtenteils immun gegen Feuer und Sonnenstrahlen geworden sein."

"Und auch zaubern?" fragte Kingsley Schacklebolt.

"Nun, wir wissen alle drei, dass sowohl die mit dem Mitternachtsdiamanten herumlaufende Nyx wie auch ihre Nachfolgerin Lamia nicht nur Vampirinnen, sondern auch Hexen waren. Deshalb kann ich diese Möglichkeit nicht grundweg ausschließen, auch wenn mir diese Vorstellung höchst unangenehm ist", erwiderte Sophia Whitesand mit sicht- und hörbarem Unmut.

"Der Traum eines jeden Vampirs, so unauffällig am Tage leben zu können wie ein Werwolf", knurrte Shacklebolt. Arthur Weasley wiegte den Kopf und fragte dann mit gewisser Beklemmung in der Stimme:

"Wäre das Geschlecht des Vampirs entscheidend, ob Madam Morans Begabung mit ihrem Blut aufgesogen werden konnte?"

"Hmm", machte Sophia Whitesand und wiegte den Kopf. "Wenn der Vampir nur Vestas Blut getrunken hätte würde ich sagen, dass es ein weiblicher Vampir sein müsste, um Vestas Begabung übernehmen zu können. Da aber auch Aidonius restlos ausgesaugt wurde könnte dessen Blut eben als Katalysator gewirkt haben, der die Befähigung auch für einen männlichen Vampir erschlossen hat." Diese Antwort behagte keinem der drei im Büro des Ministers. Shacklebolt grummelte leise. Arthur Weasley atmete einmal tief ein und wieder aus.

"Wie Sie sagten, Madam Whitesand, das halten wir besser inoffiziell. Vielleicht erkennt wer immer die beiden Morans getötet hat nicht, dass er oder sie damit mehr Kraft erlangt hat. Vielleicht sehen wir auch nur einen Grimm, wo nur ein weißer Pudel herumläuft", sagte Shacklebolt. "Jedenfalls bedanke ich mich, dass Sie uns bei der Aufklärung dieses höchst unangenehmen Zwischenfalls helfen wollen."

"Nach dem Tod so vieler ehrbarer Hexen und Zauberer ist das für mich eine Selbstverständlichkeit, neues Übel früh genug zu erkennen und abzuwehren", bekräftigte Sophia Whitesand. Dann verabschiedete sie sich von Zaubereiminister Schacklebolt und Arthur Weasley.

"Der oder die hätte den Zauberstab nicht mitgenommen, wenn er oder sie nicht davon ausgeht, mit Vesta Morans Blut auch ihre besondere Zauberkraft einverleibt zu haben", knurrte der Minister, als Sophia Whitesand sein Büro verlassen hatte.

"Ja, oder er oder sie glaubt, dass der Zauberstab von jemandem, dessen Blut er getrunken hat, auch dem dient, der seinen früheren Besitzer getötet hat", warf Weasley ein. "Das mit dem Schicksalsstab, der sich einen neuen Meister sucht oder dem dient, der ihn im Kampf erobert hat, hat sich ja leider nicht ganz verschweigen lassen. Gut, dass Harry keinem auf die Nase gebunden hat, wo er den Stab hingelegt hat."

"Hoffentlich hat er sich das Versteck gemerkt", brummte Shacklebolt. "Am Ende kommt es wieder auf dieses verfluchte Ding an, wenn es hart auf hart kommt. Am Ende ist der Überfall auf die Morans auf dem Drachenmist dieses Nachahmungstäters, der sich Lord Vengor nennt, gewachsen."

"Dann schlage ich vor, Herr Minister, dass wir über die dem S8-Status entsprechenden Wege die Kollegen in anderen Ministerien informieren. Nocturnia war ein weltweites Problem, und dieser neue Massenmörder Vengor arbeitet auch mit weltweiten Beziehungen."

"Ich akzeptiere diesenVorschlag, Arthur. Ich werde das in höchst eigener Person erledigen. Sie kümmern sich bitte darum, dass die Leichen eine ehrenvolle, wenn auch nicht zu öffentliche Beisetzung erhalten!"

"Natürlich, Minister Shacklebolt", bestätigte Arthur Weasley. Den beiden Zauberern und Kampfgefährten war alles andere als wohl bei dem Gedanken, dass womöglich ein Vampir, der ohne Solexfolie in der Sonne herumlaufen konnte, eine neue Ära des Vampirterrors beginnen mochte. Die Unwissenheit, ob es ein männlicher oder ein weiblicher Vampir war machte dieses Gefühl nicht angenehmer.

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"Dann ist das mit Nocturnia wirklich noch nicht erledigt", seufzte Theia Hemlock, als ihre Urgroßmutter Eileithyia ihr und Selene mitgeteilt hatte, dass in England eine Hexe und ihr durch Vergewaltigung entstandener halbvampirischer Sohn umgebracht worden waren.

"Womöglich kann die Seele von Nyx auf ein hundertfach größeres Geistespotenzial zurückgreifen, seitdem sie und ihre direkten Abkömmlinge entkörpert wurden", sagte Selene. Eileithyia fragte leicht verdrossen:

"Was meinst du, Selene?"

"Gut, Grangran", grummelte Selene und sagte dann: "Wenn die Nyx nach dem Tod mit allen, die mit ihr tot sind zusammen ist und deshalb sehr sehr stark ist, dann kann die sicher auch andere Vampire rufen oder machen, dass die das machen, was sie will."

"Fürchte ich auch", pflichtete Theia ihrer Tochter bei. "Am Ende haben die wackeren Kämpfer gegen Nyx einen Drachen getötet, um das Ausschlüpfen von hundert Basilisken passieren zu lassen."

"Ja, und wenn stimmt, was Grangran Thyia da gerade erzählt hat, dann kann die auch Vampire wegzaubern wie ein Portschlüssel oder Disapparieren", entgegnete Selene verdrossen dreinschauend.

"Und anderswo hinzaubern, Kindchen", seufzte Eileithyia. "Dann gebe ich mal die Parole aus, im HPK diese VBR-Kristalle mit Warnvorrichtungen zu verbinden, um einen plötzlich dort eindringenden Vampir sofort zu erfassen." Theia und ihre Tochter nickten beipflichtend.

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Wie bitte?!" rief Anthelia, als sie erfuhr, was beim Haus von Vesta Moran passiert war. "Da gab es seit zweiundsechzig Jahren einen Halbvampir, und keine von euch netten Mitschwestern hielt es für nötig, mir das längst mitzuteilen, bevor zwei Blutsauger den leergesaugt haben. Außerdem hätte mich das auch sicher wahrhaftig brennend interessiert, dass eine geborene Feuermagierin die Mutter dieses Halbvampirs war. Überlegt euch doch mal, was die beiden Blutsauger, beziehungsweise der eine, der entkommen konnte, mit einem Gemisch aus Feuerhexen- und Halbvampirblut für eine unberechenbare Mischung in sich aufgenommen hat! Am Ende ist dieser Vampir immun gegen natürliche Feuerquellen, die Sonne eingeschlossen und kann wie ein Werwolf unbehelligt am hellen Tag herumlaufen, ja seine besondere Eigenart weitergeben."

"Öhm, und wenn der Vampir von dem Feuerhexenblut verbrannt wurde?" fragte Shanon O'Grady, eine nordirische Bundesschwester Anthelias.

"Dann hätten deine Mitschwestern aus den Reihen der Zögerlichen wohl kaum eine intakte Gestalt verschwinden sehen können. Wie soll das noch mal ausgesehen haben?" wollte Anthelia wissen.

"Als wenn der Vampir in einen schwarzen Strudel gezogen wurde, der in sich zusammenfiel", erwiderte Shanon. Anthelia erstarrte. Einige Sekunden lang sah es so aus, als sei sie zu einer Statue geworden. Dann zischte sie: "Wiederhol das bitte!" Shanon tat ihr den Gefallen. Anthelia nickte schwerfällig.

"Gut, dann dürfen wir alle uns darauf einrichten, dass das Thema Nocturnia vielleicht nur ein harmloser Ballabend war im Vergleich zu dem, was da noch auf uns zukommt."

"Wieso das? Die nocturnianer sind doch alle auf einen Schlag verbrannt", erwiderte Shanon.

"Ja, ihre Körper. Aber wenn dieser verfluchte Mitternachtsdiamant es vollbrachte, den Geist seiner längsten und intimsten Aufbewahrerin in einen anderen Körper zu versetzen, so könnte es auch passieren, dass alle aus ihren Körpern herausgebrannten Seelen in den Stein hineingezogen wurden. Denn ich weiß aus dem alten Reich, dass der sich gerne als Diener der alles endenden Dunkelheit bezeichnende eine Methode ersonnen hat, seine Nachtkinder mit Hilfe des Steines zu teleportieren, wenn sie seinem Ruf gehorchten und dort sein wollten, wo er sie haben wollte. Er hat es seiner letzten Gefangenen sogar einmal vorgeführt, um ihr zu zeigen, wie groß seine Macht über den Stein und seine Geschöpfe ist. Wenn jetzt also wieder ein Vampir auf diese Weise verschwinden konnte, dann entweder, weil Iaxathan, besagter Dunkelmagier, wieder Macht über ihn erlangt hat oder Nyx, Lamia oder wer auch immer den Stein und seine Möglichkeiten vollständig beherrscht und ausspielt."

"Oha, der Drache, den du da rufst ist aber größer als die Erde", stöhnte Shanon.

"Ja, eindeutig. Wenn wir nicht aufpassen kann er sie wie einen blanken Kirschkern runterschlucken", seufzte Anthelia. Doch dann hellte sich ihr Gesicht wieder auf. "Dann dürfte wer auch immer den Stein beherrscht aber kein Freund von Iaxathan oder Vengor sein, ja, sich den beiden überlegen fühlen. Was sagt uns das?"

"Dass wir, wenn wir uns nicht zu dämlich anstellen, zwei Drachen auf einander hetzen können und den der gewinnt am Ende erledigen können, weil der zu stark angeschlagen ist", sagte Shanon.

"Genau", erwiderte Anthelia. Ihre anfängliche Verärgerung über eine neue Bedrohung war endgültig einer großen Erheiterung gewichen. Iaxathan hatte sich mit dem Mitternachtsdiamanten und den Vampiren womöglich die Grundlage seiner endgültigen Niederlage bereitet. Ja, und die in Anthelia weiterbestehende Naaneavargia hatte wohl in grauer Vorzeit mitgeholfen, diese Niederlage einzuleiten, indem sie Iaxathan aus seinem Körper hinausgejagt und ihn vom Mitternachtsdiamanten getrennt hatte. Doch galt es, weiterhin auf der Hut zu sein, dass sie am Ende nicht zwischen den sich abzeichnenden Fronten aufgerieben wurden.

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Gooriaimiria verbuchte die Vernichtung von zwei Gesandten als unliebsames, aber lehrreiches Ergebnis. Einen Träger des Unlichtkristallstaubs, der offenbar noch unter einem Treuefluch seines Meisters stand auszusaugen war genauso, wie gleich in ein loderndes Feuer hineinzuspringen. Das ging also nicht.

Andererseits empfand sie Triumph. Nicht nur, dass sie es geschafft hatte, fünf wichtige Gesandte in der Welt zu platzieren und demnächst noch mindestens zwanzig weitere Getreue in ihren Dienst nehmen konnte, sie hatte mit der Geschäftsfrau Eleni Papadakis eine besondere Helferin gewonnen. Das Erbe Moonwalkers hatte sie zu ihrem Vorteil ausgeschöpft.

"Ich habe lange nichts von dir gehört, Bluthure", hörte sie Iaxathans Stimme, als sie es wagte, ihn erneut anzusprechen. "Mein Knecht hat weitere Erfolge erzielt und sein getreuer Schattenkrieger wächst auch weiter an."

"Lass den mal wachsen, Flaschengeist ohne Flaschenöffner. Meine Saat, die Saat der freien Nachtkinder, wird aufgehen. Frag deinen Knecht mal, was seinem Gefolgsmann Löwenmaul passiert ist."

"Nein, das kannst du nicht gewesen sein. Du bist in dem Stein gefangen. Du kannst unmöglich neue Gehilfen aussenden. Aber soweit ich erfuhr bekam ihnen sein Blut nicht. Mein Knecht wird deine Hinterlassenschaften finden, die du in der Welt zurücklassen musstest. Dann wirst du endgültig in meinem Stein weggesperrt sein, ein ewig unschlüpfbares Küken in einem unaufbrechbaren Ei."

"Ich habe deinen kleinen Splitter deiner Seele in mich einverleibt und weiß deshalb, was der Stein alles kann. Ich nutze das aus. Du wirst es schon begreifen, dass meine Zeit gekommen ist, nicht deine, Iaxathan. Ich bin Gooriaimiria. Du bist nur der König oder Kaiser der Nacht, aber ich bin die große Mutter der Nacht und damit dir übergeordnet. Danke für deinen herrlichen Stein! Langsam empfinde ich es als sehr gemütlich, in ihm zu stecken." Als sie das übermittelt hatte schickte sie nur ein Lachen aus, das lange nachhallte. Dann zog sie sich zurück. Sie versperrte sich gegen Iaxathans Tastversuche, ja ließ ihn geradewegs ins Leere tasten. Bald würde sie weitere Erfolge feiern, wenn sie wusste, ob was Vengors Gehilfen bekam, auch echten Nachtkindern bekommen würde. Doch dazu musste sie erst einen Stützpunkt dort errichten, wo gerade jede Menge Menschenblut vergossen wurde.

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Ginstermoor hieß eine weite Sumpflandschaft südlich von Emden. So hieß jedoch auch das im Zentrum des Moores auf einem drei mal zwei Kilometer großen Felsen gebaute Dorf. Hier, schön weit abgeschieden von der sich langsam in diese ekelhafte Weihnachtsvorfreude hineinlullenden Leute, stand das Haus von Helgo Krötenbein.

Lord Vengor hatte Tage darauf verwandt, seinen ungebetenen Besuch in Ginstermoor so rasch es ging und so heimlich es ging abzustatten. Wenn er wieder einen Zeugen zurückließ würde ihm das sein Bündnispartner wohl nicht mehr durchgehen lassen.

Das Haus, das er suchte ähnelte in gewisser Weise einem halb im festen Boden vergrabenen Schneckenhaus. Die Eingangstür lag auf dem oberen Absatz einer fünfstufigen Treppe und war dreieckig mit einem gläsernen Bullauge in der oberen, sich verjüngenden Hälfte. Vengor, der sich unsichtbar gemacht hatte, lauschte noch einmal umher. Doch außer dem Wind, der die Geräusche aus dem Moor herübertrug, war nichts verdächtiges zu hören. Er prüfte mit seinem Zauberstab auf das Haus umgebende Abwehrzauber und wurde wahrhaftig fündig. Er atmete auf, als er erkannte, dass es kein Sanctuafugium-Zauber war. Die um das Haus aufgespannten Schutzzauber konnte er alle überwinden, indem er sich selbst in eine körperenge Panzeraura einschloss, die durch den in ihm pulsierenden Kristall erheblich verstärkt wurde. So schritt er ohne weitere Bedenken voran und überquerte die unsichtbare Abgrenzung. Wer jetzt genau hinsah konnte einen bläulich flimmernden Schemen erkennen, der Meter für Meter auf das Haus zuglitt. Lord Vengor erkannte, dass durch die Abschottung gegen Abwehrzauber seine Unsichtbarkeit nicht mehr vollständig war. Wenn ihn jetzt wer von den Nachbarn sah waren in nur noch einer Minute die Lichtwachen hier. Mittlerweile wusste er von seinen Helfern und auch durch eigene Nachforschungen, wobei er seine grüne Kampfmaske in ihrem Versteck gelassen hatte, dass die Zaubererwelt ihn zum neuen Staatsfeind Nummer eins ausgerufen hatte. Doch solange die Narren nicht wussten, wer sich hinter der grünen Maske verbarg, konnte er weiterhin frei herumlaufen. Damit das auch heute so blieb musste er sich aber beeilen.

Die Tür war natürlich verschlossenund garantiert auch mit Meldezaubern für unbefugte Öffnungsversuche gespickt. Blieben also nur die Fenster oder die runde Außenwand. Doch als er diese überprüfte stellte er fest, dass die Wand magisch gehärtet und zudem nicht aus einer Gesteinsart, sondern aus organischem Kalkmaterial bestand. Hatte da echt jemand eine riesenhafte Schnecke entdeckt und aus deren Haus sein eigenes Haus gemacht? Jedenfalls war die Wand nicht so einfach zu durchdringen, dito die Fenster. Blieb also nur der Kamin. Doch zu dem hinaufzugelangen war nicht einfach. Lord Vengor hatte gehört, Voldemort habe die Kunst des Hilfsmittelfreien Fliegens beherrscht. Er hatte das nicht gelernt, und das ärgerte ihn fast maßlos. Nur der Auftrag und der Zeitdruck hinderten ihn, sich weiter damit herumzuärgern. Er musste ins Haus hinein, und er würde da auch reinkommen, ohne zu frühen Alarm auszulösen. Dann erinnerte er sich an die Idee, die Corvinus Flint benutzt hatte, um in die Bibliothek Bathilda Backshots einzudringen.

Immer noch wie ein bläulich flimmerndes Phantom aussehend eilte Vengor zum nächsten Baum auf dem Grundstück und kletterte auf diesen hinauf. Dann suchte er sich den Stärksten Ast aus, der auf das Haus deutete und strich mit seinem Zauberstab darüber hinweg in die Richtung des Schneckenhausgebildes. "Rame prolongato!" murmelte er. Der Baum, eine bereits altehrwürdige Ulme, knarzte protestierend, weil jemand in ihr natürliches Wachstum hineinfuhrwerkte. Doch der überstrichene Ast streckte sich eine Winzigkeit länger aus. "Rame Prolongato!" murmelte Vengor mit einer erneuten Streichbewegung. Wieder knarzte das Holz des ganzen Baumes. Wieder wuchs der überstrichene Ast um eine Wenigkeit. Doch bei jeder Wiederholung dieses Zaubers beschleunigte sich das Wachstum des Astes. Das kam daher, dass es immer der gleiche Bruchteil an Größenwachstum war, den ein bezauberter Ast oder Zweig anwuchs, also je größer der Ast wurde, desto schneller wuchs er weiter. Der Baum erzitterte und erbebte. Sein entlaubter Wipfel schüttelte sich unter der ihm aufgezwungenen Veränderung. Doch Vengor, der keine Rücksicht auf Menschen nahm, nahm erst recht keine Rücksicht auf einen Baum. Mehr und mehr näherte sich der Ast dem Haus und nahm dabei sogar in der Breite zu. Vengor erkannte dabei, dass die von ihm absprießenden Zweige immer kürzer und dünner wurden. Immer weiter zwang er den Ast auf das Haus zu, bis er beim dreißigsten Zauber einen Wachstumsschub um gleich zwei Meter erzwang und die Astspitze genau auf dem Dach des Hauses auflag. Die Zweige waren dabei gänzlich in den Ast zurückgeschrumpft, aus dem sie hervorgesprossen waren.

Vengor erklomm den nun so dick wie zwei Dachbalken gewordenen Ast und ging zum Haus hin. Der Baum wankte dabei und knarzte immer noch. Offenbar war ihm der Wachstumszauber wortwörtlich an die Substanz gegangen. Wie auf einer leicht wackelnden Brücke überschritt Vengor den Abstand zwischen Baum und Haus. Dann war er am Ziel. Er trat von der improvisierten Brücke herunter auf das beinahe kuppelförmige Dach und sah sofort den trichterförmigen Schornstein, aus dem gerade kein Rauch kam. Er lief die letzten Meter dorthin und prüfte schnell, ob im Kamin eine Sperre errichtet war. Nein, kein Imperturbatio-Zauber und auch keine Flohpulversperre. So schwang er seine Beine hinüber in den Schlot und stemmte sie gegen die andere Seite. Dann ließ er sich Handbreit um Handbreit nach unten absinken, bis er auf dem Rost eines gerade leeren Kamins landete. "Wie dieser rotgewandete Knilch, mit dem einfältige Eltern ihre naive Brut ruhig und brav halten", dachte Vengor abschätzig. Doch das Geschenk, das er abgeben wollte, würde weder Freude noch Jubel hervorrufen.

Zumindest war die Unsichtbarkeit wieder vollständig, erkannte Lord Vengor, als er im ländlich eingerichteten Wohnzimmer des Hauseigentümers stand. Er unterdrückte den Wunsch, sich in einen der Sessel zu setzen. Am Ende waren die noch mit Fangzaubern gespickt, die unerwünschte Besucher fesseln sollten. So blieb ihm nur übrig, sich mitten im Raum hinzustellen und zu warten.

Es dauerte mehr als zwei Stunden, bis jemand die Haustür aufschloss. Mehr als vier Riegel sprangen rasselnd zurück. Dann ging die Tür auf. Er hörte ein verärgertes Grummeln: "Ich krieg die Alte dran, wenn die das echt macht, was die mir angedroht hat!" Dann hörte der Unsichtbare das Rascheln eines Reiseumhanges und Klappern eines Kleiderbügels. Jemand zog sich im Flur wohl schwere Stiefel aus. Dann schlüpfte er in Pantoffeln. "Schön, dass du bisher nie ans Heiraten gedacht hast", bedachte Vengor den Hauseigentümer, dessen Leben er, Lord Vengor, nur noch in Minuten, wenn nicht Sekunden zählte. Dann trat Stille ein. Wollte der Andere nicht ins Wohnzimmer? Ja, musste er vielleicht noch zur Toilette? Doch zwanzig Sekunden verstrichen, ohne dass er ein Geräusch hörte. Dann, ohne jede Vorwarnung, flog die Wohnzimmertür auf. Doch niemand stand in der Türöffnung.

"Antiscotergia!" hörte Vengor eine Stimme und sah sofort einen blauen Lichtstrahl, der direkt ins Wohnzimmer flutete und zielgenau auf ihn überschlug. Sofort begann der in ihm pulsierende Unlichtkristall wie wild zu hüpfen und zu pochen. Kälte drang von außen in die Glieder des Unheimlichen. Als er an sich heruntersah erkannte er, dass er gerade ein blau leuchtendes Ebenbild seiner selbst war. Die Energie des Dunkelkraftauflösers hatte sich förmlich um ihn verdichtet. Normalerweise löste sie dunkle Flächenzauber wie den Feindfressernebel oder Verdorrungsflüche auf. Bei ihm wirkte sie wie ein Sichtbarkeitszwang und Fesselungszauber in einem. Denn er fühlte, wie seine Glieder immer starrer wurden. Nur der wild pulsierende Unlichtkristall hielt noch dagegen. Dann explodierte etwas aus Vengor heraus, eine schwarze Wolke, die laut knisternd und knatternd den blauen Strahl zerfaserte und absorbierte. Allerdings beendete dieser düstere Befreiungsschlag Vengors Unsichtbarkeit.

"Ach neh, der Kerl, der sich Vengor nennt!" rief jemand von Jenseits der Türöffnung. "Hast nicht damit gerechnet, das mein Häuschen mir beim Nachhausekommen petzt, dass wer sich übers Dach hineingeschmuggelt hat, wie? Aber die Lichtwächter kriegen dich gleich am Arsch, grüner Weihnachtsmann."

"Wenn du so viel Mut hast, Krötenbein, dann leg's doch auf ein Duell mit mir an!" Rief Vengor.

"Neh, lass mal, deine Überstärke kennt man ja mittlerweile. Gehab dich wohl!"

Vengor argwöhnte, dass sein Opfer disapparieren wollte und stürmte aus dem Wohnzimmer. Doch als er einen Mann mit besonders langen Beinen sah, der mit seinem Zauberstab die Haustür anstupste, erkannte er, dass der andere wohl nicht aus dem Haus disapparieren konnte. Er hob schnell den Zauberstab und rief: "Heliotelum!" Der langbeinige Zauberer hatte bereits die Tür geöffnet und nutzte sie als Schild. Krachend schlug ein weißgelber, armdicker Lichtspeer in die dreieckige Tür und verwandelte sie in eine auseinanderberstende Wolke aus Glut und Rauch. Vengor stürmte jedoch unbeirrt voran und sprang durch die Tür. Er sah noch, wie der andere einen Besen ergriff und gerade sein rechtes Bein über den Stiel schwang. Vengor rief "Stupor Amplifico!", wobei er auf Kopf und Oberkörper des anderen zielte. Dieser war bereits einen Meter in die Luft gestiegen, als ihn ein roter Blitz im Rücken traf und ihn regelrecht vom Besen herunterfegte. Als der Getroffene auf dem Boden aufschlug blitzte es merfach auf und Vengor roch jenen Rauch, den Magische Kameras ausstießen. Er verwünschte den Umstand, das Grundstück nicht genauer inspiziert zu haben. Da sah er noch, wie eine geflügelte Kamera aus einem Busch heraus davonjagte, wilde Zickzackmanöver ausflog und dabei rasch an Höhe gewann. Auch andere Kameras verließen ihre Stellungen und flogen mit wild schwirrenden Flügeln in alle Richtungen davon.

Vengor ließ die behexten Fotoapparate davonfliegen. Ihn interessierte nur, ob er seinen eigentlichen Auftrag erledigt hatte. Er rannte auf den vom Besen heruntergezauberten zu und rief dabei: "Vivideo!" Seine Zauberstabspitze erglühte in einem flirrenden Grün. Er schwenkte denStab und erzeugte damit die dunkelgrünen, langsam pulsierenden Lebensauren der Pflanzen, die langsam in ihre Winterstarre verfielen. Als das magische Prüflicht auf den am Boden liegenden traf umfloss diesen jedoch keine grüne Aura. Vengor hielt den Stab drei Sekunden länger darauf, ohne ein weiteres grünes Leuchten zu erzeugen. Er wollte gerade triumphieren, weil es ihm doch gelungen war, seine zweite Zielperson, Helgo Krötenbein, mondphasen- und Tierkreiszeichengerecht erledigt zu haben, als er von mehreren Zauberflüchen auf einmal umschwirrt und getroffen wurde.

Jetzt konnte er die auf Besen heranfliegenden Hexen und Zauberer in weißen Umhängen erkennen, die ohne Vorwarnung auf ihn einzauberten. Er fühlte jeden ihn treffenden Fluch und Fangzauber. Doch die meisten der Angriffe schlugen mit Hui und Getöse auf ihre Urheber zurück oder wurden von einer Vengors Leib entströmenden schwarzen Aura verschluckt. Der Führer der Vergeltungswächter zielte und rief zweimal den Todesfluch. Zweimal fegte ein weit ausfächernder, weißgrün gleißender Blitz drei anfliegende Angreifer von ihren Besen. Ja, die Besen selbst, die in den Wirkungsbereich des Fluches gerieten, zerbarsten lautstark zu Wolken aus Dampf und glühender Asche. Dann versuchten es seine Widersacher mit dem Todesfluch. Vengor wusste, was das bedeutete. Er lachte seine Gegner an, als ihn gleich zwei grüne Blitze an Brust und Kopf erwischten. Doch er fühlte nichts davon, außer zwei kurzen Hüpfern seines Unlichtkristalls. Glückseligkeit flutete durch seinen Kopf, wurde jedoch unverzüglich von Widerwillen verdrängt. So also fühlte sich das an, wenn ihm der Imperius-Fluch übergebraten wurde, dachte Vengor bei sich, während er lauthals über die sich in schwarze Wolken verwandelnden Zauberer lachte, die von seiner Abwehraura wie magnetisch angezogen heranrastenund eingesaugt wurden.

"Ich bin unbesiegbar!" rief Vengor, nachdem er ungesagt seine Stimme magisch verstärkt hatte. "Begreift es endlich einmal!"

"Anapneo!" rief eine Hexe im weißen Lichtwächterumhang. Vengor erschrak. Da war ihm, als halte ihm jemand Mund und Nase zu und schiebe ihm ein Stück Stoff in die Luftröhre. Sein Unlichtkristall pochte schmerzhaft dagegen an, konnte den Zauber aber nicht so beiläufig aufheben wie alle Flüche zuvor. "Ventricalmus!" rief ein anderer Lichtwächter und zielte auf den Bauch des um seinen Atem ringenden Vengor. Es war ihm, als trete ihm ein Abraxaner-Pferd voll in die Magengrube. Er sackte zusammen. Da flog ihm von drei Lichtwächtern zugleich beschworen ein Netz zu. Die wollten ihn doch glatt einwickeln. Noch einmal rief die Hexe in der Lichtwächtermontur "Anabneo!" Doch dieses Mal blitzte es um Vengors Hals und Mundpartie nur rot auf.

Der Mann mit der grünen Schlangenkopfmaske warf sich herum. Da zwickte ihn etwas wie mit einer glühenden Zange in den Nacken. Er erkannte, dass die jetzt alle mit ursprünglich heilenden Zaubern auf ihn einstürmten. Sein Kristall vertrug keine Heilzauber. Allerdings musste wer immer sie wirkte auch heilen wollen. Wer schaden wollte, der konnte mit dem Zauberwort allein nichts anfangen. Doch offenbar wirkten die Lichtwächter die entsprechenden mentalen Komponenten für Heilzauber. Denn ein Restaurosthes-Zauber, der sonst einen Knochenbruch behob, ließ seinen rechten Oberarm erstarren. Jetzt konnte er den Zauberstab nicht mehr bewegen. Doch er hatte auch gelernt, mit links zu zaubern. So pflückte er den Stab aus der rechten Hand und schaffte es, auf die Beine zu kommen. Als ihm ein Episkiye-Zauber an der linkenWange wie eine zuschnapende Zange erwischte, geriet er kurz aus der Konzentration. Dann sah er das Netz über sich. "Diffindo Netz!" rief er, den Zauberstab nach oben haltend. Laut ratschend riss das Netz und zerfiel in einzelne Fasern, die sich unverzüglich in reine Luft auflösten. Jetzt konnte sich Vengor konzentrieren. Er sprang wieder auf und wirbelte auf der Stelle. Er fühlte noch, wie etwas ihn zurückhalten wollte. Doch es knisterte lautstark, dann war Vengor, von einem Wirbel schwarzer Schlieren umkreist verschwunden.

Als Vengor in seinem Zweitversteck mit Ortungsschutz auftauchte klangen alle ihn beeinträchtigenden Zauber ab. "Verdammte Brut!" brüllte er ins Nichts. Denn jetzt wusste er, dass er eben nicht vollkommen unbesiegbar war. Eigentlich hätte er das doch schon bei seinem Kampf gegen Albrecht Ziegelbrands Schwager wissen müssen. Doch damals hatte er es auf dessen vermaledeites Schmuckstück geschoben. Doch nun wusste er, dass der Kristall in seinem Körper alle bösartigen Zauber schluckte oder auf ihre Urheber spiegelte, während Heilzauber dazu neigen konnten, das Gegenteil von dem zu bewirken, was sie ursprünglich ausrichten sollten. Das würden die sich merken und weitergeben, wusste Vengor. Und wenn einer seiner Helfer bei denLichtwachen oder den Auroren oder den Desumbrateuren oder welche in den tiefsten Abgrund der Welt zu verdammende Jagdtruppe auch immer davon erfuhren, konnten die nächsten Monate noch sehr anstrengend werden. Jetzt hatte er gerade zwei von über dreißig näheren und weit entfernten Blutsverwandten umgebracht. Vielleicht würden sie noch nicht darauf kommen, die Tode mit seiner offiziellen Identität in Beziehung zu bringen. Doch jeder Verwandte mehr erhöhte das Risiko, dass sie ihm draufkamen. Doch er musste diesen Auftrag ausführen, wollte er im nächsten November nicht zu einer schwarzen Kristallstatue erstarren.

ENDE

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