Während die europäischen Zaubereiministerien sich um die Riesen-Waldfrauen-Hybridin Nal sorgen trachtet die im Mitternachtsdiamanten verankerte Gooriaimiria danach, die von Unlichtkristallstaub verstärkten Vampire auszuschicken, um mehr Einfluss zu erringen. Damit bahnt sie eine Auseinandersetzung mit ihren alten Feinden an, den Abgrundstöchtern und den Sonnenkindern.
Er keuchte laut und heftig. Seine Beine schmerzten so stark, dass jeder Schritt wie Dolchstoße durch Füße und Schenkel war. Doch er durfte nicht anhalten. Vor ihm lag die Stadt, Paititi, die heilige Stadt. Noch einmmal warf Oyxo, der Chaski, den Blick zurück. Es war ihm wwahrhaftig gelungen, den weißhäutigen Verfolger auf seinem großen Tier mit den Metallfüßen im wuchernden Gesträuch abzuschütteln. Er fühlte das sanfte Pochen und Glühen auf seiner Brust. Das heilige Symbol, Intis Beistand, war noch am Leben.
Der Chaski rannte und rannte über die schmale Straße, hinein in den schmalen Eingang zu einem Tal. Da konte er sie sehen, die aus mühsam herbeigeschleppten Felsen und dem glänzenden Metall Intis errichtete Stadt. Dieser Anblick entfesselte in ihm die letzte Kraft, mit der er noch laufen konnte. Mit wild pochendem Herzen und laut keuchendem Atem stürmte er durch das enge Tal, dass geeignet war, ganze Armeen zurückzuschlagen. Er hörte die Töne von Vögeln und wusste, dass das die Wächter des Weges waren, die seine Ankunft weitermeldeten.
Endlich erreichte er die aus gebranntem Lehm und Felsgestein gebaute Mauer und das aus dicken Bambusrohren und davorgeschlagenen Holzbrettern gebaute Tor. Darüber hockten zwei Wächter mit wurfbereiten Speeren, deren Bronzespitzen im Licht des erhabenen Urvaters glänzten. Die letzten Schritte stolperte Oyxo auf das Tor zu und schrie mit vor Überanstrengung heiserer Stimme die Losung heraus, die sein Vorläufer ihm bei der Übergabe des heiligen Symbols und der geknüpften Mitteilung zugeflüstert hatte, bevor einer dieser weißen Dämonen ihn mit dem Tod aus dem Donnerrohr zu den Ahnen geschickt hatte.
"Der große Sohn der Sonne wurde totgeschlagen!" rief er. "Tupac Amaru ist tot!" Das waren die letzten Worte, die er in seinem Leben rufen konnte. Da forderte die Überanstrengung seines Körpers ihren gnadenlosen Lohn ein. Oyxo fiel um und atmete nicht mehr.
"Nicht anfassen!" schnaubte Ahotek, der Hohepriester Intis und in dieser Stadt dem großen Sohn der Sonne ebenbürtiger Herrscher. Sein Sklave aus den grünen Wäldern hatte gerade versucht, das im Licht des Urvaters leuchtende runde Schmuckstück vom Hals des Läufers zu nehmen.
"Die weißen Dämonen haben den großen Sohn der Sonne getötet", schnaufte der Priester, als sein Knotenschriftleser ihm die geknüpfte Botschaft ins Ohr geflüstert hatte, die der letzte Chaski überbracht hatte.
Der Hohepriester versuchte, das heilige Schmuckstück zu nehmen. Dabei verbrannte es ihm fast die Hand, und ein unbarmherziger Stoß jagte wie ein Speer aus Feuer durch seinen Arm und seinen Brustkorb. Einen Moment lang wurde er in ein gleißendes Licht eingehüllt. Der Priester keuchte vor Schmerz und Enttäuschung. Offenbar war Inti ihm zornig, weil er mit den anderen Fürsten und deren Familien in die Abgelegenheit der heiligen Stadt geflohen war, als die weißen Krieger, die über das Mehr in Sonnenaufgangsrichtung ins Land gekommen waren, die erhabene Königsstadt Cuzco erobert und auch die mächtige Festung Vilcabamba besiegt hatten. Der Priester war ein sehr gläubiger Mann. Wenn Inti ihm den Besitz seines Heiligtums verweigerte, dann musste er das demütig hinnehmen. So kniete er nieder und bat den Urvater am Himmel und die nährende Mutter Pachamama um Gnade für seine Handlungen.
Da jeder der in die stadt geflüchteten gesehen hatte, wie das Schmuckstück den Hohepriester zurückgewiesen hatte wagte auch sonst niemand, das dem großen Urvater am Himmel nachempfundene Schmuckstück anzufassen. So blieb es an seiner Kette am toten Körper des letzten Chaskis.
"Verschließt das Tal!" rief der Priester. "Lasst niemanden mehr sehen, wo der Weg nach Paititi verläuft!" fügte er hinzu.
Die Wachen im Tal vernahmen diesen Befehl und machten sich daran, die Felsen zu verschieben, die über dem Zugang lagen. Stunde um Stunde mühten sich die starken Krieger ab, bis endlich alles Gestein ins Rollen kam und laut polternd und krachend die ersten hundert Schritte in das Tal hinein versperrte. Andere Krieger waren dabei, die glänzenden Teile der Stadt mit halbverbranter Baumrinde zu überdecken, so dass Intis strahlende Pracht nicht von den weißen Feinden erkannt werden konnte. Keiner wagte es, dem Priester zu widersprechen. Sein Wort war das Gebot Intis. Doch alle wussten, dass sie nun Gefangene in ihrer eigenen Stadt bleiben würden. Sicher, es gab genug Felder und Bäume, die ihnen Essen gaben, und Pachamama, die nährende Mutter, hatte in der Mitte der heiligen Stadt, die von der Ausdehnung mit der bisherigen Hauptstadt Cuzco mithalten konnte, eine labende Wasserquelle entspringen lassen, die die fünf mal zehn mal zehn Männer, Frauen und Kinder mit dem so lebenswichtigen Nass versorgte. Doch sie würden Gefangene bleiben. Tawantinsuyu, das mächtige Land der vier Weltecken, war endgültig in die Hände der Weißen aus Sonnenaufgangsrichtung gefallen. Die früheren Hilfsvölker hatten geglaubt, mit den Weißen gegen die bisherigen Herrscher kämpfen zu müssen. Atahualpa und dessen Nachfolger waren entweder getötet worden oder hatten mit den Weißen gehandelt, um zumindest vom Namen nach weiterherrschen zu dürfen. Doch nun, wo Tupac Amaru, der vorerst letzte Sohn der Sonne, unter einem der aus fremdem Metall gemachten Schwert den Kopf verloren hatte, war es eindeutig, dass die Größe und Erhabenheit des Reiches verloren war.
Der Tod des letzten Sohns der Sonne wurde mit einem Schweigemarsch um das Heiligtum, den Intitempel und vorbei an dem Hügel der labenden Quelle betrauert. Der Hohepriester vollzog eine überlieferte Messe zur Ehre der Seele des letzten Herrschers. Auch wenn er selbst dadurch zum neuen Herren geworden war, so wusste er seit der misslungenen Berührung des heiligen Schmuckstückes, dass er kein wirklicher Herrscher sein durfte. Was immer die Götter erzürnt hatte, sei es der Bruderkrieg vor dem Eintreffen der Weißen oder die Unfähigkeit, diesen Eindringlingen wirksam entgegenzutreten, sie hatten beschlossen, dass das große Reich nicht mehr fortbestehen durfte.
Chuqui Ruahua, die Tochter des Hohepriesters, war die einzige, die nicht so leicht von dem großen Erbe lassen wollte. Sie hatte immer geglaubt, der große Sohn der Sonne würde mit Hilfe des Urvaters und dessen schlafenden Kriegern mit ihren Feuerspeere verschleudernden Waffen die Wende bringen und die frevlerischen Weißen mit ihren furchtbaren Donnerrohren und den metallfüßigen Ungeheuern, auf denen sie schneller als ein Mensch laufen konnte durch die Lande reisten, in das Meer zurückwerfen. Doch die mächtigen Krieger, von denen der erste Sohn der Sonne, Manco Cápac, bei seinem Eintritt in die Welt gesprochen hatte, waren nicht erschienen. Ihre magischen Feuerlanzen waren nicht in die Horden der metallhäutigen, auf merkwürdige Laute von sich gebenden Ungeheuer hockenden Fremden hineingestoßen. Selbst die mit der Macht der Götter vertrauten Priester hatten es nicht vermocht, gegen die Eindringlinge zu kämpfen. Denn auch diese hatten Kundige einer Zauberkraft mitgebracht, die den Weißen wie Dämonen in Menschengestalt beigestanden hatten.
Chuqui Ruahua wollte das so nicht hinnehmen. Ihre Mutter war ebenfalls mit der Macht der Götter vertraut und hatte sie in der behutsamen Anwendung unterwiesen. Im Alter von zwölf mal zwölf Mondwechseln war sie zur Botin Pachamamas geweiht worden. Obwohl die Priester Intis und Viracochas die wahren Herren neben den Söhnen der Sonne waren genossen die Priesterinnen und Botinnen Pachamamas zumindest ein hohes Ansehen als Heilerinnen und Bewahrerinnen des Lebens. Im Alter von fünfzehn mal fünfzehn Monden war sie dann zur jüngsten Priesterin der nährenden Erdmutter geweiht worden. Damit war sie im Grunde genauso wichtig wie ihr Vater. Das hatte wiederum Tupac Amaru, den letzten Sohn der Sonne, dazu bewogen, sie als Nebenfrau zu erwählen. Als zu ersehen war, dass die Weißen aus dem Meer in Sonnenaufgangsrichtung das erhabene Reich ganz erobern und Intis heiliges Metall mit Gier und Missachtung seiner Göttlichkeit zusammenrafften und mit ihren schwimmenden Häusern davonschafften, war sie mit ihrem Vater und den höchsten Familien des Reiches hierher geflohen. Und jetzt sollte sie hier bleiben und trauern? Nein, sie wollte und durfte nicht ihre heilige Aufgabe verleugnen. Ihr war von ihrer Urahnin, die als nur für sie sichtbares Abbild ihres verstorbenen Leibes in der Welt geblieben war verkündet worden, dass sie die Zeit der wahren Kinder Intis vorbereiten musste. Als sie dann erfuhr, dass sie von Tupac Amaru ein Kind unter ihrem Herzen trug hatte sie gedacht, durch dieses Kind die Wende zur Vernichtung der dämonischen Weißhäutigen zu erleben. Doch jetzt sollte sie hier in dieser Stadt bleiben, in ihrem Leib das letzte Kind eines hingerichteten Herrschers. Wenn es der letzte Spross Intis sein sollte, dann durfte dieser nicht in dieser Stadt gefangensitzen. Er musste in Freiheit das Licht seines Urvaters erblicken und aufwachsen. Doch dazu musste sie aus der Stadt hinaus. Das ging aber nicht mehr so leicht, weil die Krieger ihres Vaters den Weg versperrt hatten.
Die schweigsame Trauer über den Verlust des großen Herrschers und die Gewissheit, nun zu abgeschiedenen Hütern des alten Erbes geworden zu sein brachte die Überlebenden dazu, ein Fest zu Ehren Viracochas und seiner Kinder zu feiern. Vielleicht konnten sie die Götter wieder gnädig stimmen und somit ein Zeichen erhalten, wann sie Paititi verlassen konnten.
Chuqui Ruahua glaubte das jedoch nicht, dass Beten und Singen alleine was ausrichten konnte. Vielleicht gelang es ihr, den Festungsturm der wahren Krieger Intis zu finden, in dem die mächtigen Waffen des Licht und Leben gebenden Vaters gelagert waren. Wenn sie, die mit den Gaben der Götter vertraut worden war, die Stadt verließ und weit genug von den Weißen und den in ihr Schicksal ergebenen Verwandten Tupac Amarus letztes Kind gebärenund aufziehen konnte, hatte sie die Möglichkeit, die Frevler und Schänder aus dem Land zu vertreiben, natürlich nur, wenn die Götter ihr hold waren.
Als die Männer zum Spiel der Flöten und Trommeln vom Kauen der Kokablätter und Trinken des Chichas berauscht immer müder wurden und sich in ihre Häuser zurückzogen, räumten die Frauen und Mädchen die letzten unverzehrten Speisen zusammen. Was am nächsten Tag noch gegessen werden konnte musste vor den Tieren der Nacht versteckt werden.
Chuqui Ruahua fühlte sich zwar auch müde, weil das in ihr wachsende Kind des getöteten Sonnensohns ihren Leib sichtlich auszehrte. Doch sie wollte nicht in dieser stadt bleiben. Sie wollte über die aufgetürmten Felsblöcke hinwegklettern, um noch in dieser Nacht den sinnlosen Schutz dieser Stadt hinter sich zu lassen. Sie würde auf Umwegen zu ihren fernen Verwandten im Norden flüchten, immer nur dann, wenn ihre Schutzgöttin Pachamama ihr genug Wasser und Essen gab. Doch sie musste warten, bis alle Bewohner Paititis in den Häusern waren. Da frauen nur mit den ihnen anvertrauten Männern im selben Haus wohnen durften hatte Chuqui Ruahua ein kleines Lehmziegelhaus für sich, direkt am Hügel der labenden Wasserquelle.
Endlich hatte der Schlaf alle anderen in seine sanfte Umarmung geschlossen. Die letzten Feuerreste erloschen. Chuqui Ruahua schlich aus dem Haus. Auf ihrem Rücken trug sie ein Bündel mit Mais und Kartoffelknollen. Solange sie konnte würde sie von den frei wachsenden Früchten der Bäume und Sträucher essen, die ihr als ungefährlich beigebracht worden waren. Sie sah die wolligen Lamas, die mit wachsamen Ohren in der von zusammengebundenen Bambusrohren gemachten Umzäunung standen. Sollte sie sich eines davon nehmen und ihm noch mehr Essen und wasser aufladen? Nein, auch wenn Lamas gut klettern konnten würde das Packtier nicht so gewandt über die aufgetürmten Felsblöcke gelangen wie sie, selbst wenn sie gerade ein Kind trug. So füllte sie nur einen großen, mit Wachs abgedichteten Lederbeutel mit genug Wasser, um einen Tagesmarsch zu überstehen. Dann ging sie auf die angehäuften Felsblöcke im Tal zu. Da nun keiner mehr den Weg in diese Stadt sehen konnte waren die Wächter von ihren Stellungen abgezogen worden und schliefen sich aus.
Chuqui Ruahua betrachtete die Felsen. Sie konnte gut klettern. Das hatte sie schon als ganz kleines Mädchen gekonnt. Ja, sie würde es schaffen. Doch dann sah sie den kleinen Steinhaufen, unter dem Oyxo, der letzte Chaski, begraben lag. Niemand hatte gewagt, den Toten fortzutragen, weil er den heiligen Beistand Intis trug, der vor Dämonen der Nacht schützen und dem Träger die Gnade Intis gewähren konnte, wenn er sie brauchte. Da sah sie das schwache Glosen, als brenne unter dem Steinhaufen ein kleines Feuer. Intis Beistand sendete das Licht seines Schöpfers aus, dachte die Priesterin Pachamamas. Dann kam ihr der Einfall, dass sie ohne Intis Beistand sicher nicht in der Lage sein würde, den in ihr wachsenden Herrscher des neuerwachten Reiches mit der Macht des Inti zu betrauen. Eigentlich durfte nur ein Sohn der Sonne diesen Schutz tragen. Doch Intis Beistand ließ sich nicht von jedem ergreifen und tragen. Das hatte das Schmuckstück an diesem Tag eindrucksvoll und unvergesslich bewiesen. Wieso sie dachte, dass sie würdiger als ihr Vater sein mochte wusste Chuqui Ruahua nicht. Doch irgendwie war sie der festen Überzeugung, dass Intis Beistand ihr nichts tun und sie als seine Trägerin annehmen würde, bis sie dem künftigen Sohn der Sonne das Leben geschenkt hatte.
chuqui kniete sich vor den Steinhaufen nieder. Eigentlich war sie zu schwach, die aufgehäuften Steine bei Seite zu schaffen, noch dazu so leise, dass keiner in der Stadt es hören würde. Sie hatte jedoch die Kräfte der Götter erlernt und da vor allem die Anrufungen, die von Pachamama gebotenen Steine und Felsen zu bewegen. So hielt sie ihre Hände über den Steinhaufen und summte so leise sie konnte die Worte der Anrufung und des freien Weges. Damit hätte sie durchaus auch den versperrten Weg freiräumen können. Doch für sie bestanden Grenzen. Der Weg durfte nicht wieder freigeräumt werden. Aber dieser Steinhaufen hier musste zumindest für einige Zeit fortgeräumt werden. Chuqui Ruahua vollführte Handbewegungen über den Steinen und berührte in festgelegten Abständen an festgelegten Punkten den Boden, um Pachamamas große Kraft in sich aufzunehmen. Tatsächlich fühlte sie, wie ihr immer wieder frische Kräfte in Hände und Körper flossen, um gleich darauf einen Stein nach dem anderen wie von unsichtbarer Hand ergriffen anzuheben und lautlos zur Seite zu tragen. Das Glimmen unter dem Steinhaufen wurde heller und ging von einem sanften Rot in ein helleres Rot über, dass dem Rot des aus der Tiefe zurückkehrenden Inti glich. Einen Moment lang durchzuckte Chuqui Ruahua der Gedanke, dass Intis Beistand sie mit einem Feuerstrahl verbrennen würde, wenn sie ihn freilegte. Doch dann siegte die Zuversicht, dass das heilige Schmuckstück genau deshalb leuchtete, um sie anzutreiben, es freizulegen, um es entgegenzunehmen. So fuhr sie damit fort, die Kraft der Erde auf die Steine zu übertragen und diese ohne sie anzufassen bei Seite zu räumen.
Endlich lag der Tote frei vor ihr. Einen Moment lang erschauerte sie. Die ersten Kerbtiere hatten bereits auf seinem Körper Platz gefunden und würden wohl anfangen, dort zu nisten. Nur die großen Tiere konnten die Steine wirklich abhalten. Chuqui Ruahua fühlte, wie ihr Magen ruckte und zuckte. Wenn sie gleich das gegessene ausspuckte musste das ungeborene Kind hungern. Wenn es dann als zu schwach geboren wurde und starb war ihr die gnadenlose Strafe der Götter sicher. Also rang sie darum, ihr Abendessen nicht auszuspeien.
Intis Beistand glomm nun wieder in einem dunklen Rot. Gleichzeitig fühlte die der Erdgöttin Pachamama geweihte eine belebende Kraft davon ausgehen, in sie eindringen und sie antreiben, ihre schmale Hand behutsam über dem runden Gegenstand abzusenken. Sie fühlte eine sachte Wärme von dem Gegenstand ausgehen. Dann berührte sie ihn.
Einen Moment lang fürchtete sie, genauso zurückgewiesen zu werden wie ihr Vater. Ein Stoß aus Wärme jagte durch ihren Arm. Doch dann fühlte sie ein sanftes Pochen unter ihren Fingern. Ohne darüber nachzudenken umschlossen ihre Finger den runden Gegenstand und hoben ihn behutsam an. Sachte streifte sie die Kette über den Kopf des Toten. Der Gedanke, sich gleich den heiligen Gegenstand umzuhängen, an dem die Spuren des Todes hafteten ließ sie für eine Sekunde erschauern. Doch weil Intis Beistand da gerade wohlig warm in ihrer Hand lag und sich weich wie Lamawolle anfühlte verscheuchte sie den Gedanken, einen schon seit bald einem Tag toten zu berauben. Nein, sie stahl nicht, sie nahm ihr Schicksal entgegen. Sie zog das runde Stück Metall an seiner Kette von dem toten Chaski weg und streifte sich die Kette über den eigenen Kopf. Kaum berührte Intis Beistand ihren Körper zwischen ihren langsam anschwellenden Brüsten, jagte ein weiterer wohliger Schauer durch ihren Körper. Sie fühlte jenes Auflodern, das sie empfunden hatte, als der Sohn der Sonne sie zur Frau gemacht hatte. Die wachsende Lust ließ sie wohlig aufstöhnen. Sie schob das kraftvolle Schmuckstück unter ihre wollige Kleidung. Als es ihre Haut direkt berührte musste sie darum kämpfen, ihre ganze Wonne nicht in lauten Schreien kundzutun. Sie konnte nicht anders als sich am Boden zu wälzen und die Schauer der lodernden Leidenschaft über sich ergehen zu lassen. Sie hielt sich den Mund zu, um nicht doch vor Verzückung zu schreien. Dann endlich war der Ansturm der plötzlichen Lust überstanden. Sie fühlte nur noch die Wärme des runden Schmuckstückes und eine wohlige Wärme in ihrem Bauch, wo der neue Herrscher seiner Geburt entgegenwuchs. Dann hörte das Pochen und die warmen Schauer auf. Chuqui Ruahua keuchte noch einige Male. Dann erhob sie sich. Müdigkeit oder gar Erschöpfung fühlte sie dabei nicht. Es war, als habe sie die Vereinigung mit Intis Beistand mit neuer Kraft erfüllt und jede Müdigkeit und jeden Hunger aus ihr verjagt.
Sie vollführte noch einmal die Anrufungen der Erdgöttin, um den Toten wieder unter den Steinen zu begraben. Diesmal vollzog sich der Vorgang schneller und weniger anstrengend. Die Tochter des Hohepriesters ging davon aus, dass Intis Beistand ihre eigenen Kräfte, die sie von den Göttern erhalten hatte stärkte. Endlich lag Oyxo wieder unter den Steinen, die genauso zusammengetragen waren wie vorhin. Chuqui Ruahua bedankte sich flüsternd bei ihrer Schutzgöttin und Inti, dem Vater der großen Herrscher. Dann schlich sie durch das Tal zu den Felsentrümmern hin.
Beschwingt und gewandt erkletterte Chuqui Ruahua die Hindernisse und stieg über sie hinweg, als wäre sie auf einem Weg und müsse nur über den Boden durchziehende Wurzeln steigen. Sie hatte sich nicht gemerkt, wie lange sie für die Überwindung der Sperre brauchte. Doch als sie am anderen Ende von dem Felsenberg hinunterstieg war sie kein bißchen müde. So ging sie los, hinein in das freie Land, ihrem Schicksal entgegen.
"Patricia, die wollen meinen leiblichen Vater hoppnehmen", durchbrauste sie eine höchst erregte Gedankenstimme. Sofort verschwand die Umgebung, die versteckte Stadt im Urwald, die Stille. Das ständige An- und Abbranden von Meereswellen drang in ihre Ohren ein, genauso wie der Geruch nach Holz und Seeluft. Sie öffnete die Augen. Sie lag in ihrem Bett, nebenan Hesperos, ihr in den Säulen der Sonnenkinder blitzangetrauter Ehemann. Endlich hatte sie sich wiedergefunden. Sie war weder der nach hartem Lauf tot umgefallene Staffettenläufer Oyxo noch die magisch begabte Priestertochter Chuqui Ruahua, die das Medaillon des Inti an sich genommen hatte. Sie war Patricia Straton, bei den Sonnenkindern auch Gwendartammaya genannt, weil ihr Name wolhabend geborene Tochter" bedeutete.
"Was ist passiert?" fragte sie in Gedanken.
"Die neue Version von Argos hat ein Petzprogramm drin und das hat bei seinem Ableger beim FBI und der NSA ausgeplaudert, dass von ihm noch eine nicht für eine Drei-Buchstaben-Truppe gezogene Kopie unterwegs ist. Hätte ich mit rechnen müssen, bei dem paranoiden Pack in Bushland, verdammt noch mal!" hörte sie Brandon Rivers' Gedankenstimme antworten.
"Sind die schon unterwegs zu ihm?" wollte Patricia wissen.
"Die warten noch auf den Durchsuchungsbefehl, um zu klären, wo die Hintertür genau ist. Lange kann es aber nicht mehr dauern", erwiderte Brandon.
"Was geschieht?" grummelte Hesperos, der durch die stark ausgetauschten Gedankenbotschaften aus seinem Schlaf aufgeschreckt worden war.
"Ich muss mit Brandon verhindern, dass der, der uns unbeabsichtigt bei der Suche nach Hinweisen auf die Nachtkinder und Abgrundsschwestern hilft deshalb eingesperrt oder gar umgebracht wird", erwiderte Patricia. Sie fischte nach ihrem Zauberstab auf dem Nachttisch und führte den Schnellankleidezauber aus. Dann disapparierte sie, um direkt bei Brandon Rivers im Computerarbeitszimmer seines Blockhauses zu erscheinen.
"Neh, is' klar", schnaubte Dean Cushing, während er zusammen mit seinem Freund und Kollegen Eduardo Marco Casillas Ortíz im geliehenen Austin durch die überfüllten Straßen von Kapstadt zuckelte. Gerade lief im Autoradio eine mit afrikanischen Rhythmen und Zulusängern arrangierte Fassung des Weihnachtsklassikers "Freude der Welt".
"Was willst du, Amigo mio?" fragte Eduardo, der anders als viele seiner Landsleute hochgewachsen war. Zudem besaß er ein athletisches Aussehen. Dies rührte von Eduardos Leidenschaft für Ausdauerkraftsport, Langstreckenschwimmen und andere den Körper fördernde und fordernde Tätigkeiten her.
"Einen anderen Sender", schnaubte Dean und führte seine linke Hand bereits zum Sendersuchknopf. "Dieses alljährliche Gedudel nervt mich in diesem Jahr noch mehr als sonst", sagte er. Da wurde das laufende Stück ausgeblendet.
"Und hier die aktuelle Verkehrslage für den Metropolbereich Kapstadt", sprach eine routiniert klingende Frauenstimme. Dean zog die Hand zurück. Das war wichtig. Denn wenn die Straßen zum Flughafen verstopft waren mussten sie einen anderen Weg finden. Jedenfalls mussten sie zusehen, in den nächsten drei Stunden aus Kapstadt herauszukommen. Das Handgepäck, dass Eduardo in seiner Aktentasche mitführte, war zu brisant, um noch einen Tag länger auf dem afrikanischen Kontinent zu bleiben.
Tatsächlich informierte die Radiosprecherin über einen mehr als zwanzig Meilen langen Stau in Richtung des internationalen Flughafens und gab die amtliche Empfehlung weiter, die Ausweichroute nach Westen zu nehmen oder besser die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, wenn man in den nächsten vier Stunden einen Flug erreichen musste.
"Huh, da werden aber viele Leute in den Taxis schimpfen", feixte Eduardo. Anders als Dean, der sich in der gegenwärtigen Lage nicht gerade wohl fühlte, blieb Eduardo lässig und unerschütterlich. Dean fragte sich einmal mehr, woher sein südspanischer Freund und Kollege diese Gelassenheit nahm, in unüberschaubaren Situationen nicht zumindest angespannt zu sein. Gerade jetzt, wo die beiden Mitarbeiter der regierungsunabhängigen Organisation Freies Land für freie Völker den Skandal des noch jungen Jahrhunderts enthüllen wollten blieb Eduardo so locker, als ginge er zu einer fröhlichen Geburtstagsparty oder Hochzeit.
"Die müssen auch keine Angst vor Cales Handlangern haben", knurrte Dean. Er blickte einmal mehr in den Rückspiegel. Doch bei den vielen Autos und Motorzweirädern hinter ihnen konnte er nicht sagen, ob jemand sie gezielt verfolgte.
"In drei Stunden sind wir aus Südafrika raus und in zwölf Stunden schon in der Zentrale. Dann kann dieser Cale schon mal den längsgestreiften Schlafanzug rauslegen", sagte Eduardo.
"Wenn den seine Rechtsverdreher ihn da nicht doch noch rauspauken", schnarrte Dean.
"Die Fotos und Tonaufnahmen sind doch eindeutig. Außerdem haben wir zehn Steine aus der Mine, um die analysieren zu lassen, um ähnlich aufgebaute Steine auf dem Weltmarkt wiederzufinden, wenn Cale die Dinger als die in seiner Mine hier unten geförderte Steine ausgibt."
"Nur, dass Henri für seine Recherchen und Enthüllungen sterben musste", knurrte Dean. Er hielt sich zwar nicht für einen Angsthasen. Bei dem Job, den er und Eduardo hatten war das auch grundverkehrt. Doch er wusste zu gut, dass der aufgedeckte Schwindel mit liberianischen Blutdiamanten, die der steinreiche Minenbesitzer Raymond Cale als in Südafrika geförderte Steine ausgab, einigen Leuten großen Ärger machte. Cales einträgliche Geschäfte und seine Freiheit standen auf dem Spiel. Da konnte der skrupellose Gangster locker mehrere millionen Dollar auf die Köpfe derer aussetzen, die seine anrüchige Existenz bedrohten. ER hatte es auch schon versucht, als das kleine Päckchen mit den Daten-CDs und den zehn in Plastik eingeschweißten Diamanten in Kapstadt angekommen war. Der Kurier wäre fast auf offener Straße erschossen worden, wenn Eduardo nicht von irgendwoher gefühlt hätte, wo der Scharfschütze lauerte und den Kurier zu Boden gerissen hätte, als die ersten Kugeln flogen. Mit dem Päckchen waren sie dann über Umwege in ihr Hotel gelangt und hatten das Material auf Deans Laptop überprüft. Das hatte sie veranlasst, so schnell es ging das Land, besser den Kontinent zu wechseln. In Südafrika gab es zu viele Leute, die wegen eines fürstlichen Lohnes zu Raubmördern werden konnten, vom freundlich lächelnden Zimmermädchen bishin zu einem mit seinem Gehalt unzufriedenen Polizisten. Deshalb wollten die beiden auch nicht unter ihren richtigen Namen ausreisen, sondern die von ihrer Organisation ausgestellten Pässe nutzen, die sie beide als schweizer Bürger ausgaben. Das war zwar ebenso illegal wie Cales Diamantenwäschegeschäfte, ließ sich aber moralisch besser rechtfertigen, wenn dadurch hunderte ausgebeuteter Kinder gerettet und Cale als Geldquelle für grausame Bürgerkriegsanführer ausfiel.
"Es ist Weihnachtszeit", begann ein nach der Verkehrsdurchsage eingespieltes Stück. Dean dachte daran, dass dieses Stück ihn vor siebzehn Jahren dazu gebracht hatte, nach der Oberschule Ethnologie und Volkswirtschaft zu studieren, um auf dem afrikanischen Kontinent Entwicklungshilfe zu leisten.
"Jetzt will ich aber einen anderen Sender", grummelte Dean. Das Lied erschien ihm gerade wie die pure Verhöhnung der Wirklichkeit. Die westliche Welt lag seit den Anschlägen vom elftenSeptember 2001 mit den Taliban in Afghanistan im Krieg, und in Liberia wurden Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren dazu geprügelt, mit unzureichender Ausrüstung in ungesicherten Gruben nach Diamanten zu suchen, damit die örtlichen Kriegsherren ihre brutale Machtgier befriedigen konnten. Wer wusste auf dieser Welt denn wirklich noch, was Weihnachten war? Dean langte wieder nach dem Sendersuchknopf, als Eduardo "Cuidado de tras!" rief. Nur weil Dean neben seiner Muttersprache noch verschiedene afrikanische Sprachen so wie wegen zweier Südamerikareisen auch Spanisch gelernt hatte verstand er die Warnung sofort. Er blickte in den Rückspiegel, wo er gerade vier schwere Motorräder sah, die sich mit einem Schlenker an zwei altersschwachen Mercedessen vorbeiwurstelten. Auf den Maschinen saßen Männer in dunkler Lederkleidung mit Helmen mit verspiegelten Visieren. Soweit noch harmlos, dachte Dean. Doch wenn Eduardo "Vorsicht!Hhinter uns" rief, dann wohl deshalb, weil der Mann aus Südspanien wieder eine unmittelbare Gefahr fühlte. Woher der Kamerad das konnte wusste Dean nicht. Es war ihm auch egal. Er versuchte, den gemieteten Austin zu einer höheren Gangart anzutreiben, um mehrere Wagen zwischen sich und die vier Motorräder zu bringen. Wer immer auf den Maschinen saß durfte sie nicht einholen.
"Die haben keine Waffen gezogen", sagte Dean. Eduardo deutete nach hinten und sagte wieder auf Englisch: "Die sind nicht so blöd, auf offener Straße herumzuballern, wenn sie nicht ganz genau zielen können."
"Auch wieder richtig", sagte Dean. Einen anderen Radiosender zu suchen hatte er erst einmal vergessen. Er brauchte beide Hände am Steuer um sofort ein Ausweichmanöver zu fahren, wenn sie direkt angegriffen wurden.
"Mierda! Von vorne auch welche", knurrte Eduardo und deutete auf die nächste Querstraße links. Zu allem Verdruss sprang die Ampel an der Kreuzung auch noch auf Rot um. Noch konnte Dean nicht sehen, wer da vor ihnen lauern mochte. Er wusste nur, dass die vor ihm fahrenden Autos einen langen Rückstau bildeten und er keinen Platz fand, um den Wagen möglichst nahe an die Kreuzung zu bugsieren.
"Die werden doch keinen offenen Angriff auf der belebten Straße riskieren", versuchte Dean, die bedrohliche Lage kleinzureden.
"Doch, die wollen töten, Amigo. Die werden draufhalten, wenn wir nahe genug an denen dran sind. Die Harleys von hinten sind gleich bei uns."
"Stimmt", bestätigte Dean verärgert und sah im Rückspiegel, wie die vier schweren Maschinen sich um die bremsenden Autos herumschlängelten und nun nur noch einen lädierten VW-Bus zwischen sich und den geliehenen Austin hatten.
"Rechts rein, Dean, wenn du noch das Lied zu Ende hören willst!" rief Eduardo über die von Bob Geldorf zusammengetrommelte Truppe aus dem Radio hinweg. Dean hatte keine Veranlassung, seinem Freund und Kollegen zu widersprechen. Schon mehrmals hatte der einen untrüglichen Sinn für direkte Bedrohungen bewisen. Jetzt konnte er auch den Lieferwagen sehen, der auf aus der linken Querstraße hervorkam. Das Fenster an der Fahrerseite war offen. Dean erkannte, dass wenn der kleine, qualmende Lastwagen zwischen seinem Wagen und dem Lieferwagen nur einen halben Meter weiter nach vorne fuhr ein freies Schussfeld entstand. Er ignorierte das rote Licht und trat aufs Gas. Er schaffte es gerade so noch, an einem verbeulten Cadillac vorbeizurutschen und ohne vorgeschriebenes Blinken in die rechte Querstraße einzubiegen. Ein kurzes Hupkonzert der von diesem Manöver erschreckten Fahrer unterstrich die Anspannung, die Dean unmittelbar ergriffen hatte. Er rammte seinen rechten Fuß mit solcher Wucht auf das Gaspedal, dass der angejahrte Motor laut röhrend protestierte. Doch er erfüllte immer noch seine Pflicht und trieb den alten Austin mit zunehmender Geschwindigkeit in die gut befahrene Querstraße.
Die Motorräder hatten weniger Probleme, dem abbiegenden Austin zu folgen als der Lieferwagen. Außerdem hatte Dean durch das Manöver die letzte Deckung aufgegeben. Nun konnten die schweren Maschinen aufholen. Doch Eduardo schien diesen taktischen Rückschlag offenbar nicht zu erkennen. Er murmelte "Bueno, capullos!" Dean wollte ihn schon fragen, wieso Eduardo glaubte, die Männer hinter ihnen seien Dummköpfe, wo sie gerade den nötigen Vorteil erhalten hatten. Da rief Eduardo: "Die nächste Gasse links rein."
"Amigo, die sitzen auf Motorrädern. Die kommen noch da durch, wo wir steckenbleiben", fühlte sich Dean berufen, den Freund und Kollegen zu belehren.
"Ja, die. Aber nicht der Liferwagen", sagte Eduardo.
"Die können uns jetzt locker abknallen, weißt du sicher", blaffte Dean und warf das Steuer herum, um in die nächste kleine Seitenstraße einzufahren, die gerade breit genug war, um den Austin durchzulassen.
"Ja, aber die können uns nicht so locker einsammeln, um uns verschwinden zu lassen, wie die im Lieferwagen das hinkriegten. "Nächste Gasse Links ab!"
"Dann zieh die Spiegel ein, sonst bleiben wir hängen", blaffte Dean, der sah, dass die kurze Gasse zur Hauptstraße noch schmaler war als die Seitenstraße. Eduardo grinste nur und kurbelte das Seitenfenster runter. Mit einem schnellen Griff klappte er den linken Außenspiegel ein. Dean verzichtete auf weitere Fragen oder Bemerkungen. Er bog ohne zu blinken in dem Moment ab, wo der Wagen schon fast an der schmalen Gasse vorbei war. Die Reifen quietschten ein wenig. Das Heck des Austins brach nach rechts aus. Dean fürchtete schon, es würde gleich gegen eine der schmutzigen Hauswände krachen. Doch im letzten Moment bekam er den Austin wieder in den Griff. Er trat aufs Gas, um die schmale Gasse zu durchqueren, als Eduardo "Halt!" rief.
"Dann kriegen sie uns, wenn ich hier bremse", fauchte Dean sichtlich verstimmt.
"Der Lieferwagen kommt von vorne. Nur wenn wir hier rausspringen kommen wir noch weg."
"Unfug!" blaffte Dean. Doch da schwang Eduardo schon seinen rechten Fuß zur Seite und hieb diesen auf das Bremspedal. Dean argwöhnte, dass sein Kollege vielleicht die Seiten gewechselt hatte. Er wollte gerade Eduardos Fuß vom Bremspedal wegstoßen, als der Wagen auch schon zum Stillstand gekommen war. Jetzt sah er, dass von den vier Motorrädern nur zwei in die Gasse hineingefahren waren. Doch sie konnten nicht an dem Austin vorbei um ihn zu flankieren oder ihm den weiteren Weg abzuschneiden. Auch die Fahrer der schweren Maschinen mussten abrupt bremsen. "Und raus!" rief Eduardo und kam seiner eigenen Aufforderung als erster Nach. Dean konnte sehen, wie Eduardo nach links aus dem Wagen schlüpfte. Die Tür knallte scheppernd gegen die nächste Wand. Dann rannte der Spanier auf die gerade zum stehen gekommenen Motorräder zu. Dean dachte erst, dass Eduardo auf Selbstmord ausging, als er seine Hände hochriss. Dann wusste er gar nicht mehr, was er von dem halten sollte, was er sah.
Die zwei auf den Motorrädern schwangen sich aus den Sätteln und rannten auf Eduardo zu, der wie eine sich anbietende Beute auf der schmalen Straße stand. Dann passierte es. Vor Eduardo quoll unvermittelt schwarzer Nebel auf. Dean meinte, dass der nachtschwarze Brodem aus Eduardos Brust hervorquoll. Die beiden Motorradfahrer gerieten in die dunklen Schwaden hinein und blieben wie darin eingebacken stecken. Dean sah, wie der Nebel zu einer die ganze Straßenbreite ausfüllenden Dunstwalze wurde, die lautlos über die beiden Männer hinwegrollte, um weiter und weiter zu gleiten. Dean sah die beiden Motorradfahrer, die von dem düsteren Dunst voll erwischt worden waren. Sie standen da wie tiefgefroren. Ja, und tatsächlich konnte Dean winzige Eiskristalle sehen, die sich auf den Körpern der beiden bildeten. Nur Eduardo, der immer noch auf der Straße stand, schien von diesem Vorgang völlig unberührt zu bleiben. Da sah er die beiden anderen Motorräder in die schmale Straße einbiegen und genau in die dunkle Nebelwalze hineinsteuern. Er hörte das Geräusch der kraftvollen Maschinen mit einem lauten, blechernen Spotzen ersterben. Dann rollten die beiden Motorräder noch zwei Meter weiter, bevor sie stehenblieben. Dean meinte, eine dünne Reifschicht auf Tanks und Blechen der Motorräder entstehen zu sehen. Wie konnte das sein, dass dieser Nebel nicht nur Licht schluckte, sondern auch eine derartige Eiseskälte in sich trug? Er konnte sich diese Fragen nicht beantworten, am wenigsten die, wie Eduardo das angestellt hatte. Jedenfalls erkannte er, dass die vier Verfolger außer Gefecht waren. Jetzt sah er noch, wie der schwarze Nebel sich wieder zurückbewegte, als handele es sich bei ihm nicht um ein lichtschluckendes Gas, sondern um einen festen Körper, der unabhängig von der vorherrschenden Windrichtung und ohne sichtbaren Antrieb auf Eduardo zurollte. Dieser hielt seine Arme nun weit gespreizt und verharrte in erwartungsvoller Haltung. Jetzt berührte der schwarze Nebel den Spanier. Dabei hellte er sich auf und zog sich zusammen. Ja, die dunkle Nebelwalze wurde immer kleiner und lichter, bis sie wie von Eduardo eingeatmet in dessen Brustkorb verschwand. Als der letzte Hauch des unheimlichen Brodems verschwunden war gab Eduardo seine Haltung auf und wandte sich Dean zu, der immer noch im Wagen saß.
Deans Gedanken überschlugen sich. Was genau hatte Eduardo gemacht und vor allem wie genau? Dann fiel ihm mit einer unerbittlichen Klarheit ein, dass Eduardo sicher nicht wollte, dass jemand anderes davon erfuhr, dass er gerade im Alleingang vier mutmaßliche Auftragskiller schachmatt gesetzt hatte. Dean erkannte, dass Eduardo womöglich gefährlich war, nicht nur für die vier Motorradfahrer, sondern auch für ihn. Blitzartig fiel Dean ein, dass Eduardo es nicht zulassen würde, dass er über diesen Vorfall berichtete. Er musste weg, bevor Eduardo wieder im Wagen saß. Noch lag dessen Aktentasche auf dem Rücksitz. Doch die Tür stand noch offen. . Dean warf sich nach links. Doch der Sicherheitsgurt hielt ihn zurück. Mit einem für einen Menschennfreund und Akademiker unstatthaften Fluch auf den Lippen fingerte er nach dem Gurtverschluss. Da kam Eduardo jedoch schon angelaufen. Jetzt war es zu spät.
"Wieder zurück und durch die Parallelstraße weiter bis zur dritten Kreuzung!" befahl Eduardo mit einer Stimme, die absolut keinen Widerspruch duldete.
"Wusste nicht, dass du sowas kannst", seufzte Dean, als der Spanier mit einer ballerinengleichen Gewandtheit in den Wagen zurückschlüpfte und die Tür zuzog.
"Ich war das nicht", sagte Eduardo. "Aber ich darf dir nicht sagen, wer das war. Und du sagst auch keinem, was du gerade gesehen hast, wenn du keinen unerfreulichen Besuch kriegen möchtest."
"Okay, du bist mir über, Eduardo", räumte Dean seine Unterlegenheit ein. "Aber wohin jetzt?"
"Wie geplant, zum Flughafen. Wenn wir da sind nehmen wir eine Privatmaschine und ..." Eduardo brach mitten in seiner Ausführung ab. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Rückbank. Doch dort war niemand zu sehen. Dann hörte Dean die Stimme aus dem Nichts, die Stimme einer Frau.
"Wusste nicht, dass ein Gespiel meiner Schwester sich in meinen neuen Jagdgründen herumtreibt. Eh, du, Engländer. Du bringst uns drei jetzt mit diesem qualmenden Ratterfuhrwerk hier weg!"
"Verdammt, was ist denn das jetzt?" stieß Dean aus. Eduardo ballte die Fäuste, als müsse er gleich gegen wen kämpfen. "Entspanne dich, Eduardo. Ich will dich deiner Herrin nicht wegnehmen. Im Gegenteil, ich schicke dich gerne zu ihr zurück, um keinen Streit mit ihr zu kriegen."
"Verdammt, wer sind sie?" stieß Dean aus. Da flimmerte die Luft, und auf der Rückbank erschien eine Frau in einem goldfarbenen Badeanzug, der so textilarm war, dass er gerade die Warzen der üppigen Brüste und den Schambereich verdeckte. Die freiliegende Haut schimmerte in einem warmen Bronzeton. tiefbraunes, beinahe schwarzes Haar umwehte Kopf und Oberkörper der Fremden. Dean sah in die nachtschwarzen Augen der Fremden, die sichtlich Mühe hatte, ihre ellenlangen Beine im Fußraum zwischen Font und Vordersitzen unterzubringen. Der Blick dieser Augen war wie ein kraftvoller Strom, der seine Gedanken einfach fortspülte. Sein Misstrauen, seine Furcht, alles wurde ihm aus dem Kopf hinausgeschwemmt. Das Gefühl grenzenloser Geborgenheit breitete sich in seinem Bewusstsein aus. Er konnte seinen Blick nicht von den schwarzen Augen der Fremden lösen. "Du fährst uns drei jetzt zu mir. Wenn meine Schwester ihren Gespielen wiederhaben will soll sie es mir sagen. Aber du hast Sachen gesehen, die sonst keiner sehen darf. Ich muss mir überlegen, was ich mit dir anfangen kann. Aber so wie du aussiehst und was du so in deinem Kopf hast wäre es sicher eine Verschwendung, dich zu töten", hörte er die Stimme der Anderen mit den Ohren aber auch direkt in seinem Kopf, als spräche sie gleichzeitig zu ihm und aus ihm heraus. Er hantierte halbmechanisch an Steuerrad und Schalthebel. Er dachte nicht daran, dass die Motorräder den Rückweg blockiert hatten. Er setzte mit ganzer Kraft des alten Motors zurück und drückte die abgestellten Maschinen nach hinten weg. Die beiden wie tiefgefroren dastehenden Verfolger wurden vom Heck des Wagens zur Seite geworfen. Es krachte laut, als habe er gerade einen Laternenpfahl oder eine Betonwand gerammt. Dann schabte es über das Blech, als der Austin sich zwischen den beiden hindurchzwengte. Dean dachte nicht an die Kratzer, die der Mietwagen abbekommen haben musste. Er fuhr im Rückwärtsgang weiter und schob die Motorräder in die etwas breitere Straße zurück. Dann vollführte er mehrere Schwenkbewegungen, um den Wagen in die Richtung zu drehen, aus der er vorhin gekommen war. Dass er eigentlich zum Flughafen wollte hatte er vergessen. Er schaltete in den ersten Vorwärtsgang und fuhr an. Dabei kippte er eines der Motorräder um. Es kümmerte ihn nicht. Er beschleunigte und folgte der gerade leeren Straße, bis die auf dem Rücksitz aufgetauchte Unbekannte ihm eine neue Richtung ansagte. Eduardo rief auf Spanisch dazwischen:
"Verschwinde aus dem Wagen, oder ich mach dich tot!"
"Droh nichts an, was du nicht ausführen kannst, Süßer", erwiderte die Unbekannte. "Außerdem würdest du deine Herrin damit sehr wütend machen."
"Ich will mit dir nicht im selben Wagen sitzen und ..." rief Eduardo noch. Da ploppte es, und der Beifahrersitz war leer. Dean nahm es zur Kenntnis, dachte aber nicht groß darüber nach. Für ihn zählte nur die Frau auf dem Rücksitz. Ihr Wort war sein Gesetz. Er bog in die anbefohlene Richtung ab und fuhr weiter, immer dort abbiegend, wo die Unbekannte es ihm ansagte.
Es pingelte, und auf allen Bildschirmen erschien in roter Schrift die Mitteilung:
Achtung. Sicherheitsverletzung in den Bereichen Entwicklung, Kommunikation und Datensicherung. Fremdzugriff durch unbefugte. Alle Internetverbindungen geschlossen.
Ein regelmäßiges Ping-ping-ping unterlegte diese Schreckensmeldung auf allen Bildschirmen. Hatten sie sich ein Virus eingefangen, trotz Firewall und Pufferrechner?
"Mein Rechner wurde gerade gesperrt", schimpfte Will Buckley, der Assistent von Benjamin Jacob Calder. Dieser blickte auf seinen eigenen Bildschirm und las zu dem allgemeinen Warnhinweis, dass die Sicherheitslücke auf seinem Rechner gefunden worden war. Als er die genaue Meldung las, dass sein Rechner gerade auf weitere Schlupflöcher überprüft wurde wusste er, was die Stunde geschlagen hatte. Jemand hatte von außen seine Hintertür benutzt, dabei wohl die neue Version von Argos 20xx angezapft und dann zumindest den schnellen Rückzug angetreten. Allerdings hatte die neue Version nicht nur die Aufgabe, das Internet zu durchforsten, sondern auch, mögliche Fremdzugriffe auf seine Stammroutinen zu vermerken und den genauen Zugriffsweg verschlüsselt abzuspeichern. Eigentlich wollte Ben Calder in diese Routinen noch ein Schlupfloch einbauen, damit seine seit zehn Jahren eingerichtete Hintertür nicht aufgedeckt wurde. Doch irgendwer von außen hatte genau diese Hintertür benutzt und damit die Warnroutinen ausgelöst. Hinzu kam noch, dass ein möglicher Klon dieser Anwendung, der von seiner Version erzeugt wurde, den offiziell lizenzierten Ablegern auf die eingeprägten Gruß- und Identifizierungsformeln hin verriet, wann er von wem erzeugt und aktiviert wurde. Das war eine Bedingung gewesen, um Argos 20xx weiterhin anbieten zu dürfen, für Polizeitruppen, wie auch US-Geheimdienste. Der normale Internetnutzer sollte und durfte davon nichts mitbekommen, dass ein solches Programm existierte. Aber irgendwer hatte seine Hintertür aufgemacht und sich die neueste Version gezogen, was nur ging, wenn er die durchgetestete und bereitgestellte Vorgängerversion besaß.
"Alles runterfahren!" erscholl über Lautsprecher die Stimme von Clayton Finch, dem Chef von Genialotech Infosysteme. "Wir haben den Fall Peeping Tom. Alle Rechner werden heruntergefahren und verbleiben bis zur Einzeluntersuchung durch die externen Sicherheitsprüfer. Alle Daten werden gesichert." Der Chef hatte seinen Generalschlüssel benutzt, um das komplette Firmennetzwerk anzuhalten und alle Rechner herunterzufahren. Die ersten Geräte zeigten bereits an, alle noch laufenden Anwendungen zu schließen und alle damit erzeugten Daten zu speichern. Calder erbleichte. Jetzt konnte er nicht mehr in die ihm zugänglichen Bereiche eingreifen und noch versuchen, alle auf die Hintertür deutenden Routinen und Module zu verändern. Da die Hintertür eh in den tiefsten Eingeweiden des Kernrechners eingespeichert war, hätte er sowieso mehrere Sicherheitsüberwachungsprogramme aufgeschreckt, wenn er nicht jedes einzelne Element seiner Programmierung über den vor Jahren festgelegten Weg deaktivierte.
Immer noch liefen mehrere Anwendungen, die Datensuchen und Hardwaretests beinhalteten. Wenn die nicht ordentlich beendet wurden konnte das beim nächsten Systemstart ein Chaos geben, womöglich die Restaurierung der gesamten Systemarchitektur erfordern. Also würde Calders Rechner wie der von seinem Assistenten noch eine oder zwei Minuten laufen, bevor er sich abschalten konnte und dann erst wieder ins Netzwerk eingekoppelt werden konnte, wenn die von außen angeforderten Systemprüfer jedes verdächtige Kilobyte überprüft hatten. Da passierte es.
Schlagartig klang über alle angeschlossenen Lautsprecher ein wildes Brummen, Knarzen und Piepsen. Auf den Bildschirmen tobte eine Schlacht aus ineinanderschlagenden Lichtblitzen verschiedener Farben. Das fast nicht hörbare Arbeitsgeräusch der großen Festplatten wurde zu einem hektischen Klackern und Tackern, bis es ein hässliches Knirschen gab und auf dem Bildschirm für einen Sekundenbruchteil "Schwerer Gerätefehler bei Laufwerk E:" aufflammte, bevor die immer noch über die Bildschirme tobenden Farbgewitter die Meldung regelrecht pulverisierten.
"Super, was ist denn das jetzt?!" schimpfte Buckley.
"Massive Störungen aller Geräte, Will. Ich fürchte, uns hat es gerade die große Platte zerbröselt", sagte Calder. Dann nahm er den erst sachten und dann immer stärker werdenden Geruch verschmorter Elektronik wahr. Dann machte es Klack und der Strom für die Abteilung war komplett ausgefallen. Calder sah auf den großen Plasmabildschirm, der eben noch von einem irrsinnigen Feuerwerk aus wilden Farben gestrotzt hatte und nun grau und leer wie ein Vierkantauge in den Raum hineinglotzte. Aus der Rückwand des Bildschirmgehäuses stieg feiner, grauer Rauch auf. Dann sah Calder, dass das Festplattengehäuse sich verzogen hatte und in einem unbekannten Rotton glänzte. Buckley streckte gerade die Hand danach aus, als Calder "Nicht anfassen!" rief.
"Holla, die Platte ist total heißgelaufen. Noch zwei Sekunden länger, und uns wäre die mit lautem Knall um die Ohren geflogen, oder was."
"Ja, oder der Bildschirm", erwiderte Calder und deutete auf den Bildschirm. Der Rauch quoll nun immer stärker heraus. Offenbar schwelte es innerhalb des Gehäuses.
"Gehen die Türen noch?" fragte Buckley und sprang zur schalldichten Tür, die wegen ihrer Schwere schon fast als Panzertür zu bezeichnen war. Deshalb besaß sie auch einen Servomotor, der bei gewissem Zug das Öffnen erleichterte. Doch der Motor war ausgefallen, so dass Buckley und Calder zusammen die Tür bewegen mussten. Immerhin war sie nicht verriegelt worden, wie es nach dem Verlassen des letzten Mitarbeiters von der Pförtnerloge aus vorgenommen wurde.
Auf den lichtlosen Fluren trafen sich die Mitarbeiter. Einige hatten bereits Feuer in ihren Abteilungen oder röchelten, weil sie den Qualm aus verschmorten Geräten eingeatmet hatten. Calder rannte mit seinem Mitarbeiter zu den Nottreppen. Denn die Fahrstühle waren sicher auch ausgefallen. Auch wenn kein Feueralarm plärrte wussten doch alle, dass sie besser zum Sammelpunkt auf dem Firmenparkplatz laufen sollten. Gemäß der mehrmals in den letzten Jahren durchgeführten Feuerübung wusste jeder, wohin er oder sie zu laufen und welchen Ausgang er oder sie zu benutzen hatte. So entstand kein Stau an den Haupttreppen oder im Bereich des großen, gläsernen Kundeneingangs.
"Was war denn das gerade, Ben?" keuchte Will, der mit dem jeden Samstagmorgen dreimal um seine Heimatstadt joggenden Ben Calder nicht so gut mithalten konnte.
"Totalausfall aller Geräte, vielleicht eine bewusst herbeigeführte Überspannung", vermutete Ben Calder. Innerlich dachte er jedoch: "Meine Rettung."
"Mist, die tägliche Sicherung lief. Wenn es die Sicherungsplatten auch zerschossen hat ist gerade unsere Arbeit von zwanzig Jahren beim Teufel."
"Solange wir da nicht landen, Will", stieß Ben aus und deutete auf wabernden Qualm, der aus der Abteilung für Telefonanlagen für mehr als 200 Endgeräte kam. Er sah mehrere Frauen verschiedener Altersklassen aus den Abteilungen für Kundenbetreuung und Internetseitengestaltung hasten, ebenso die Sekretärin von Finch, die wegen ihrer wallenden schwarzen Lockenpracht und ihrer Vorliebe für schwarze Hosenanzüge hinter ihrem Rücken Black Betty genannt wurde. Ihr folgte Finch, breit, im schneeweißen Anzug mit vom Kehlkopf bis knapp über den Bauchnabel reichender Regenbogenkrawatte. Er sah aber auch viele junge Programmierer in einfacher Kleidung wie Jeans und Sweatshirts, die ja nur des Programmierens wegen hier waren und keinen repräsentativen Eindruck machen mussten. Die ganze Firma war auf der Flucht vor dem Feuer. Vielleicht konnten die Halonanlagen aber auch noch ausgelöst werden, wenn sie alle draußen waren, um den schlimmsten Schaden zu verhindern. Doch Calder dachte, dass wohl nicht nur die mehrstöckige Festplatte mit ihren zwanzig Terabyte Speichervermögen unrettbar beschädigt war, sondern auch alle anderen Laufwerke. Vielleicht lief auch die Halonanlage nicht mehr. Allein schon, dass die elektronische Notbeleuchtung außer Betrieb war sprach schon fast für einen Rundumschlag gegen alles elektronische. Das brachte Calder auf eine Idee. Er hob seinen linken Arm, um auf die Uhr zu sehen. Doch da war nur eine leere Flüssigkristallanzeige. Also hatte es nicht nur die ans Stromnetz angeschlossenen Geräte erwischt, dachte er. Waren sie von einem EMP getroffen worden?
"Mist, meine Uhr hat sich auch verabschiedet", knurrte Buckley, der Calders Beispiel folgte und nachsah, wie spät es war.
"Meine auch, Will. Dann könnten unsere Mobiltelefone auch ausgefallen sein. Könnte ein EMP sein."
"Was? Heftig! Aber dann hätte irgendwer über uns 'ne Atombombe zünden oder mit 'ner Supermagnetspule mehrere tausend Volt in einen EMP umsetzen müssen."
"Das können wir auch machen, Will. Das Zusatzaggregat zum Abfangen von Unterspannungen und Maximalbelastungen kann sowas auch machen", sagte Calder.
"Wir haben einen EMP-Generator? Heilige Scheiße!"
"Sollen die von der Feuerwehr und anderen Stellen rauskriegen", knurrte Calder.
"Ja, und wenn die von Al-Qaida an Atombomben gekommen sind und sowas weit genug über uns losgelassen haben ist ganz Jackson platt", erwiderte Buckley.
"Diese Fanatiker würden eine echte Bombe nicht dazu benutzen, um einen EMP auszulösen, sondern die gleich und dann auch nicht unbedingt bei uns über einer Stadt zünden, damit dort alles stirbt", erwiderte Calder.
"Malen Sie den Teufel bloß nicht an die Wand, Mr. Calder", schnarrte Betty Dawson, die Sekretärin von Finch. Dann kam Finch selber.
"Alles lahmgelegt. Telefon, sogar mein Mobilgerät, zum Teufel noch mal!"
"Den Teufel haben wir heute schon ein paar mal beim Namen genannt. Hoffentlich ist unsere ganze Firma nicht gerade auf dem Weg zur Hölle", knurrte Buckley.
"Alle erst mal zum Sammelpunkt. Vielleicht kann ich vom Sicherheitskasten aus den Strom für die Löschanlage anfahren", dröhnte Finch und trieb seine Angestellten zu größerer Eile an. Denn immer mehr Qualm drang aus den einzelnen Abteilungen. Als sie an einer verschlossenen Fahrstuhltür vorbeirannten sahen sie sogar schon den flackernden Schein offenen Feuers. In den Fahrstuhlschächten würde sich Feuer wie in einem Kamin ausbreiten.
Draußen auf dem Parkplatz veranstaltete Finch einen Zählappell, wobei seine Abteilungsleiter wie Unteroffiziere ihre Truppenteile zusammenzogen. Es waren alle aus dem zehnstöckigen Gebäude entkommen. Allerdings war bei allen jedes elektronische Gerät ausgefallen, vom Terminkalender bis zum tragbaren Telefon. Jeder und jede hier ging von einem elektromagnetischen Puls aus, der alles lahmgelegt hatte. Allerdings konnten sie an den typischen Geräuschen einer geschäftigen Stadt hören, dass dieser Vorfall nur ihr Haus betroffen haben musste. Autos fuhren noch, hier und da wummerten Bässe aus einem Autoradio.
Innerhalb des Hauses standen zwei ungeladene Besucher im bis dahin klimatisierten Raum mit den drei Zentralrechnern und dem Notstromaggregat. Gerade verlosch das letzte Licht, dass diesen Raum erfüllt hatte, das Glühen eines goldenen Medaillons. Vor nicht einmal einer Minute noch hatte es auf die Anrufung der totalen Kraft der Sonne hin den Raum in ein gleißendes Licht gehüllt, so hell, dass gewöhnliche Menschen daran hätten erblinden müssen und Vampire unverzüglich zu Asche zerfallen wären. Die Wände waren von der geballten Entladung von Sonnenmagie rotglühend geworden. Dann war das Licht langsam wieder dunkler geworden. Intis Beistand saugte alle von ihm mittelbar erzeugte Hitze wieder in sich ein, ohne selbst dabei zu zerschmelzen.
"Es hat dich als Schutzbefohlenen akzeptiert und mich als Mutter eines wahren Sonnensohnes", gedankensprach Patricia Straton, nachdem ihr mächtiges Schmuckstück zu glühen aufhörte. "Sonst hätten wir die Macht von zehn Sonnentagen nicht so geballt entfesseln können."
"Ja, und was hat es gebracht. Sind alle Anlagen platt?" fragte Brandon Rivers.
"Ich fange verschiedene Gedankenströme auf. Die meisten sind verängstigt, einige wütend und ein ganz bestimmter unverkennbar glücklich. Der Denker muss sich sehr anstrengen, die anderen nicht mitbekommen zu lassen, wie erleichtert er gerade ist."
"Ich kann leider nur eure Gedanken mitkriegen. Kannst du mich mal auf ihn eintunen, Patricia?"
"Wie heißt das Zauberwort?" fragte Patricia Straton schnippisch.
"Bitte, liebe Schwippschwägerin, kannst du mir bitte helfen, mitzubekommen, wie es meinem Vater gerade geht?" fragte Brandon mit großer Überwindung.
"Dann nimm besser meine Hand. Wir müssen eh gleich raus, um den zweiten Streich zu landen, den du vorgeschlagen hast."
"Ja, aber da sollten wir besser keinen Totalvernichtungsschlag landen", dachte Brandon und ergriff Patricia Stratons Hand. Sofort hörte er die Stimme seines Vaters im Kopf:
"Was immer das war könnte meinenArsch gerettet haben. Ui ui ui, wenn die hinter die Hintertür gekommen sind kriegen die jetzt zumindest nicht mehr raus, wo genau die eingebaut war. Nur mit dem Job dürfte es wohl aus und vorbei sein."
"Dann klären wir das jetzt mit den Feds", schlug Brandon vor, der sich freute, dass sein Vater wohl doch um die Festnahme herumkam. Patricia und er verschwanden mit einer Seit-an-Seit-Disapparition. Weil keiner im Haus war hörte das keiner. Und weil sie einen besonderen Zauber ausgeführt hatten, der Verhüllung des Weges hieß, konnten die Überwacher des Zaubereiministeriums das auch nicht nachprüfen.
Der nächste Zwischenstop der Reise war die Filiale der Bundesermittlungsbehörde in Jackson. Dort wollten und durften sie kein massives Störfeuer auslösen, zumal das Medaillon diesen Zauber nur einmal alle zehn Tage entfesseln konnte. Hier gingen sie behutsamer vor. Sie suggerierten den Computerexperten ein, dass der unerlaubte Ableger des so praktischen Internetdurchsuchungsprogramms nicht in der Firma Genialotech Infosysteme erzeugt worden war, sondern in der Zentrale der Marinekriminalermittlungsbehörde NCIS, die noch keinen so genannten Familienpass besaßen, wie die Feds die per Kurier auf CDs verteilten Listenerstellungsgeneratoren und Abgleichroutinen erhalten hatten. Um das wasserdicht zu machen reisten Ben und Patricia noch nach Washington, um es den Leuten dort als gegeben einzutrichtern, dass sie ohne das betreffende Abgleichprogramm abzuwarten einen Klon von Argos 20xx 3.7 erzeugt und voreilig auf Reisen durchs Internet geschickt hatten.
Der Vorfall bei Genialotech wurde durch Patricia Straton so ausgelegt, dass der Zusatzgenerator für mehr Strombedarf wahrhaftig in die Luft geflogen und dabei einen örtlich begrenzten aber für alle in der Wirkungszone vorhandene Geräte fatalen EMP ausgelöst hatte. Weil davon auch die automatische Löschanlage betroffen war musste die Feuerwehr anrücken, um zumindest das Gebäude zu retten, wenn sie auch zu spät kam, um die bereits brennenden Festplatten, Bildschirme und Zentralprozessoren zu retten. Sicher, damit war Genialotech Infosysteme über Monate handlungsunfähig. Doch da sie alle zwei Monate eine Datensicherung auf einem Server auf den Kaiman-Inseln betrieben würde die Firma selbst wohl nicht komplett ruiniert werden. Für die Ausfälle würde eine Sonderversicherung gegen Überspannungen, Blitzschlag und Kabelbrände einspringen, die wohl auch die Löhne der Angestellten weiterbezahlte.
Als Brandon und Patricia nach einem Tag in den Staaten auf ihre Sonneninsel zurückkehrten waren sie zwar erschöpft aber erleichtert. Brandons Vater war noch einmal der geballten Staatsgewalt entronnen. Jetzt würden sich die Ermittlungsbehörden gegenseitig Vorhaltungen machen, irgendwelche Pferde scheu gemacht zu haben. Doch die Calders konnten ihr ruhiges, biederes Kleinstädterleben fortsetzen. Sicher, Ben Calder Senior würde jetzt erst einmal über Wochen zu Hause sein. Aber vielleicht nahm er sich mit seiner Frau Maggy Urlaub, wenn das neue Jahr anfing. Dann mochte er nicht zu sehr darüber nachgrübeln, was er ohne Job anfangen sollte. Nur er wusste, dass er gerade so noch einer Verhaftung entgangen war. Zumindest würden sie ihm nicht noch einmal wegen einer Hintertür auf die Schliche kommen. Denn für den Server auf den Kaiman-Inseln hatte er keine solche Zugangsmöglichkeit programmiert. Das war ihm dann doch zu riskant erschienen.
Als die Sonnenkinder sich über diesen Notfalleinsatz ihrer aus der Gegenwart stammenden Erwecker unterhalten hatten erwähnte Patricia ihren Traum, wo sie einmal ein Botenläufer gewesen war und dann als schwangere Tochter eines Hohepriesters mit dem Medaillon fortgelaufen war. Sie fragte Faidaria:
"Wieso habe ich das geträumt?" Faidaria atmete mehrmals ein und aus und begann zu erzählen:
"Irgendwo auf diesem Erdenrund steht Worakashtaril, der Sonnenturm. Dort wurden wir, die wir die direkten Sonnenkinder sind, von unseren in der Kraft der Sonne gebetteten Müttern geboren. Ich weiß nur, dass wir dort zwanzig Jahre wohnten und in unseren Fertigkeiten unterwiesen wurden. Dann wurden wir auf dem zeitlosen Weg hinaus in die Welt geschickt, um gegen die Nachtkinder zu kämpfen. Wir, die wir die grausamen Kämpfe überlebten, wurden zu den Säulen der Überdauerung gerufen, wo wir bis zur Wiedererweckung durch euch schliefen. Die goldenen Scheiben, die die Kraft der Sonne in sich speichern und in verschiedener Form freigeben sind nicht nur Hilfsmittel im Kampf gegen die Nachtkinder, sondern auch Lebensleser. Sie stehen immer noch mit dem Sonnenturm in Verbindung. Für jeden der drei großen Erdteile wurde ein solcher Schlüssel geschaffen, der dem ältesten dort lebenden Sonnenkind überlassen wurde. Eigentlich wurde der Schlüssel vom Vater an den Sohn oder von der Mutter an die Tochter weitergegeben. Aber im Laufe der Zeit, die wir verschlafen mussten, weil die Macht des Dieners der alles endenden Dunkelheit uns sonst ausgelöscht hätte, sind wohl die beiden anderen Schlüssel verlorengegangen. Ich weiß nur von Darfaian, dass sie immer danach trachteten, von einem, den sie für fähig halten, brauchbare Träger zu gebären oder zu zeugen, gefunden und getragen zu werden. Sie übermitteln die wichtigsten Ereignisse aus dem Lebenihrer stärksten Träger in den Schrein der erinnerten Leben, ähnlich wie es diese unsichtbaren, aus der Kraft des Feuers geschöpften Wellen tun, die Ilangardians Blutsverwandte Funk- oder Radiowellen nennen."
"Moment, Faidaria! Dann steht irgendwo auf der Welt ein Gebäude, ein Turm eben, wo Erinnerungen von Trägern dieses Medaillons eingespeichert werden wie in einem Denkarium?" fragte Patricia und dachte an jenes den heutigen Magiern bekannte Gefäß., in dem Erinnerungen in der Form einer silbrigweiß leuchtenden Substanz aufbewahrt und nachbetrachtet werden konnten.
"Ja, so ist es. Die mit dem Schlüssel der Sonnenkinder unmittelbar zusammenhängenden Erinnerungen werden aufbewahrt und im Sonnenturm sicher verwahrt", sagte Faidaria.
"Hmm, aber warum konnte ich jetzt davon träumen, wo ich bis dahin keine Ahnung von diesem Sonnenturm hatte?" wollte Patricia wissen.
"Der Sonnenturm soll jene warnen, die weit ab von gefährlichen Ereignissen wohnen, dass solche stattfinden oder möglich werden. Dort wohnen die ihren Tod überdauernden Hüter von Feuer und Sonne, die nicht in die Halle der Altmeister von Khalakatan eintreten wollten, weil ihnen ihr eigenes Werk zu wichtig war, um es unbeaufsichtigt zurückzulassen. Zu ihnen gehört auch meine Schwester Kaigoordarmiria, die ein Jahrhundert vor mir in die Welt der Lebendigen hineingeboren wurde. Ich weiß auch, dass uns damals eingeprägt wurde, den Sonnenturm wiederzufinden, wenn er uns zu sich ruft."
"Und wann passiert das?" fragte Brandon nun.
"Wenn die, die leben nicht ausreichen, gegen die Ausgeburten des dunklen Diners zu bestehen", seufzte Gisirdaria alias Dawn Rivers.
"Moment, Patricia, dann könntest du diese Sache mit dieser Choco Choco geträumt haben, weil irgendeiner dieser Turmwächter meint, dass wir auf was aufpassen müssen und du bis dahin noch keinen Dunst von dem Sonnenturm hattest, wie ich ja auch nicht."
"Chuqui Ruahua", grinste Patricia. "Mit Choco choco hat das nichts unmittelbares zu tun, abgesehen davon, dass sie das Medaillon wohl nur nehmen durfte, weil sie da gerade von dem letzten befugten Träger dieses Medaillons schwanger war."
"Da du uns an den Bildern und Worten deines Traumes hast teilnehmen lassen, Gwendartammaya, so hat diese Geweihte der Erde und Trägerin eines Erben des bis dahin letzten Trägers wohl gehofft, aus dem Sonnenturm die mächtigen Waffen der Sonne zu bergen, die Sonnenkeulen und die goldenen Rüstungen der Mittagssonne, die wie die Mondschilde der Luft- und Wassergeweihten körperliche und mit der Kraft ausgeführte Angriffe zurückschlagen können, solange sie mit genug Sonnenlicht angereichert wurden."
"Sonnenkeulen?" fragte Brandon und empfing im nächsten Moment von seinem Schwager Hesperos das Bild eines Mannes in einer goldenen Umhüllung, die eine flirrende, weißgoldene Aura ausstrahlte und der mit einem Ding, das wie ein goldenes Fernrohr mit einem kugelförmigen Anhängsel und einer Abzugsvorrichtung aussah gegen einen Schwarm menschengroßer Fledermäuse kämpfte und aus dem goldenen Gerät gleißende Strahlenbündel verschoss, die dort wo sie eine Fledermaus trafen nur noch Aschewolken hinterließen. "Laserkanonen und tragbare Schutzschirmgeneratoren. Ich glaub, ich bin im Kino!" staunte Brandon, als er diese Eindrücke als bildhafte Erklärung verdaut hatte.
"Kann ich eigentlich von dem Schlüssel hier mitgespeicherten Erinnerungen welche bewusst abrufen oder mich darauf einstimmen, sie im Traum nachzuerleben?" fragte sie.
"Du möchtest wissen, wie jene, der du Intis Beistand abgenommen hast daran kam?" fragte Yandaria, eine Base Gisirdarias, die nur zwanzig Jahre älter als diese war.
"Wie sie darankam weiß ich von meiner Mutter", sagte Patricia. "Sie hat das Medaillon in einer Pyramide in Peru gefunden, wo sie gegen die durch dunkle Magie belebte Mumie eines alten Kriegers gekämpft hat, der mit seiner Ausstrahlung noch andere Untote erschaffen wollte, um zum untoten Kriegsherren der Region zu werden. Erst als sie dieses Medaillon und die Quipos mit allen nötigen Formeln und Einsatzbedingungen geborgen hat konnte sie diesen mumifizierten Kriegsherren besiegen. Dabei ging auch dessen dunkle Ruhestatt in Flammen auf. Das weiß ich alles. Aber ich möchte gerne wissen, wer vor ihr das Medaillon dort zurückgelassen hat und warum", sagte Patricia.
"Das wird dir nur verraten, wenn du es wissen musst, Gwendartammaya. Der Sonnenturm befriedigt keine Neugierde, sondern vermittelt Macht und Wissen, um gegen die Feinde unserer Eltern bestehen zu können", sagte Faidaria.
"Vielleicht ist es auch besser, wenn wir nie dazu gezwungen werden, den Sonnenturm betreten zu müssen. Denn das, Mutter meines Sohnes, wird nur dann nötig sein, wenn wir gegen unsere Feinde nicht mehr ohne Hilfe bestehen können", sagte Hesperos alias Gooaridarian mit sichtlicher Beklommenheit.
"Hmm, wenn jemand diesen Schlüssel da finden konnte", sagte Brandon und deutete auf das Medaillon Patricias, "könnte auch wer den Sonnenturm finden."
"Nein, nicht wenn er unortbar und in einer magischen Raumentrückung versteckt ist, Brandon. Das können sogar die postatlantischen Zauberer wieder machen, wie verschiedene Einkaufsstraßen in der magielosen Welt oder der in England so berühmte Bahnsteig 9 3/4 es sind oder die Winkelgasse, die zwar mitten in London liegt, aber nur durch bestimmte Tore oder durch direkt dort apparieren betreten werden kann und sonst scheinbar keinen Platz wegnimmt."
"Außerdem ist der Turm mit besonderen Mitteln geschützt, über die ich jedoch nur weiß, dass kein Feind der Sonnenkinder sich wünschen sollte, ihn zu finden", sagte Hesperos dazu.
"Dann wollen wir hoffen, dass wir wirklich nicht dazu gezwungen werden, diesen Turm zu finden. Öhm, Patricia, grüß mir diese Chuqui Ruahua, wenn du erfährst, wie ihre Geschichte weitergegangen ist", sagte Dawn Rivers mit mädchenhaftem Grinsen.
"Du meinst, sie hätte wohl da keinen Sohn, sondern eine Tochter in sich getragen, Schwägerin", vermutete Patricia mit nicht minder amüsiertem Grinsen.
"Wenn dein Schlüssel nur vom Vater an den Sohn gehen durfte, dann wäre dem doch so gewesen und du hättest ihn nicht finden können und jemand anderes hätte uns wiedererweckt", vermutete Dawn Rivers. Brandon nickte. Das erschien ihm logisch. Andererseits hätte auch erst ihre Urenkelin das Medaillon "verlegen" können, falls wegen dieses Mumienkriegers nicht sowieso beschlossen worden war, es dort zu deponieren, um ihn aufzuhalten, wenn er den Dschungel unsicher machen wollte. Das konnten die Sonnenkinder nicht völlig ausschließen. Damit war Patricia genauso schlau wie vorher. Doch dann fiel Brandon eine Erklärung ein.
"Hmm, wenn dieses Teil macht, dass jeder Frau, die es für würdig hält, erst einmal voll einer abgeht - ich kann das im Moment nicht anders sagen - könnte das daher kommen, dass sie im Moment nicht mit einem Jungen im Bauch herumläuft, sondern einen würdigen Vater für so einen Jungen suchen soll. Damit sie weiß, wie schön das mit dem werden kann wird sie entsprechend interessiert."
"Jetzt interessiert es mich doch, was Daianira Hemlock damals empfand, als sie das Medaillon an sich nahm", grinste Patricia Straton.
"Hättest sie damals fragen sollen, als sie ihren Astralkörper auf Urlaubsreise zu uns geschickt hat", feixte Brandon.
"Könnte ich immer noch. Aber die Blöße will ich mir nicht geben", erwiderte Patricia Straton darauf. "Vielleicht darf ich das ja mal träumen."
"Wie gesagt, lebensfrohe Gebärerin meines ersten Sohnes", setzte Hesperos an, "Der Sonnenturm gewährt nur das Wissen, dass zum Kampf gegen die Feinde seiner Schöpfer und unserer Erzeuger dient."
"Ach so, und wie laut diese Ddamals noch Daianira heißende Hexenlady geschrien hat, weil ihr so richtig einer abging ist dafür nicht wichtig genug, Patricia", legte Brandon das von seinem Schwager erwähnte jungenhaft frech aus.
"Eindeutig nicht, fürwitziger Halbknabe", lachte Hesperos, während Faidaria ihren Mitstreiter aus der Welt der Jetztzeitmenschen vorwurfsvoll ansah, aber weder mit Stimme noch Gedanken einen Tadel aussprach.
"Dann legen wir uns besser schlafen. Heute haben wir zwei die Welt genug gerettet", erwiderte Patricia und unterstrich ihre Worte durch ein Gähnen.
"Zumindest die von meinem Vater", dachte Brandon und empfand nichts dabei, dass das alle anderen Sonnenkinder mitbekamen.
"Mac, Elroy, Curtis!" rief Mike Walton ins Mikrofon des hochverschlüsselnden Funkgerätes. "Mann, meldet euch gefälligst. Seid ihr noch an den beiden Samaritern dran?!"
"Wenn wir hier noch länger stehen haben wir gleich die Bullen am Hals, Mike. Oder willst du für Mr. van Rieten auch ein paar Polizisten abknallen?"
"Maul halten, Fred", blaffte Mike und wiederholte seinen Funkanruf. Dabei sollte die Kiste doch so einfach sein. Sie sollten die zwei überneugierigen Weltverbesserer auf dem Weg zum Flughafen abfangen und denen die ganzen Videos und anderen Aufzeichnungen abjagen. Harry van Rieten, ihr Boss, hatte einen Handel mit einem nicht genannten Auftraggeber, dass weder die zwei Burschen noch die von denen mitgeschleppten Daten aus dem Land hinausdurften. Doch aus der einfachen Aktion, die Beute zu den Jägern zu treiben, war wohl nichts geworden, weil der Typ am Steuer ohne zu blinken in eine Querstraße eingebogen war, noch ehe Mike und sein Kumpan mit ihren schallgedämpften MPs auf die Hinterreifen halten konnten, ohne unbeteiligte Fahrzeuge zu gefährden. Denn ihr Auftrag lautete, ohne größeres Aufsehen einzusacken, was die zwei bei sich hatten und die dann den Vettern vom weißen Hai als Abendessen zu servieren. Tja, und jetzt meldeten sich die vier Harleyjockeys nicht mehr. "Mann, ihr Pennbrüder, sag endlich einer, ob es euch noch gibt!" brüllte Mike Walton zum X-ten mal. Dann befand er, dass die Sache zu heiß wurde, um hier noch länger herumzustehen. "Okay, ihr Komiker. Wir rauschen ab. Wenn ihr die Typen nicht einsackt und ihr nicht bis heute abend im Quartier seid sucht euch schon mal passende Gräber aus!" rief er noch. Dann hängte er das Mikrofon wieder ein und startete den Motor.
Maurice Reiner stand in seinem Pass, Wohnhaft in Genf. Doch den Pass würde er nicht mehr benötigen, weil er sie getroffen hatte. Sie hatte ihn zu einem kleinen, vernachlässigten Haus gelotst, vor dem freizügig gekleidete Frauen in eindeutiger Absicht bereitstanden. Jeder Versuch, über die neue Lage nachzudenken, war ihm von ihr mit einem eindringlichen Blick vereitelt worden. So empfand er nichts, als sie ihn über ausgetretene Holztreppen in ein kleines Zimmer mitnahm und ihm dort befahl, sich auszuziehen. Danach hatte er sich mit ihr auf einem betagten Bett körperlich vereinigt. Dabei war es auch zu einer geistigen Verbindung gekommen. Erst war er wie ausgezehrt neben ihr eingeschlafen. Dann jedoch war er berauscht und voller unbändiger Zuversicht wieder aufgewacht. Ein Lied, das die Unheimliche ihm vor dem Einschlafen und zum Aufwecken ins Ohr gesungen hatte, füllte ihn mit neuer Kraft auf. Dann hatte er sich in den verbeulten Austin gesetzt und den Weg zum Flughafen eingeschlagen.
"Wenn du am Flughafen bist aufs Feld für Geschäftsflieger zufahren. Murat und Ali werden dich dort abholen und mit unserer Maschine in dein Geburtsland bringen", hatte ihn die bronzehäutige Unheimliche mit den nachtschwarzen Augen instruiert.
Zum Flughafen fehlten noch zehn Meilen. Da sah er ihn wieder, den Lieferwagen. Doch diesmal fürchtete er sich nicht davor, von dessen Insassen angegriffen zu werden. In ihm herrschte eine unerschütterliche Zuversicht, unaufhaltsam zu sein. So fuhr er ohne jeden Anflug von Vorsicht auf den wartenden Wagen zu.
Mike Walton sah den zerbeulten Austin anrollen. Seine Idee, zwanzig Mann um den Flughafen herum zu postieren und zu warten hatte sich also bewährt. Doch in dem alten Vehikel saß nur einer. Dem Schwarzen Schopf nach war es der Spanier. Doch wo war der rotblonde Engländer abgeblieben? Egal. Den Spanier würden sie gleich kassieren. Hoffentlich hatte dessen Kumpel die brisante Ladung noch nicht über Umwege aus dem Land geschafft!
"Auf die Reifen halten, nicht zu lange ballern!" befahl Walton seinem Compagnon Fred Wilkie, einem braungetönten Abkömmling von Inder, Europäer und Zulu.
Die Kugeln aus den schallgedämpften MPs sirrten in kurzen Feuerstößen durch die Luft. Doch sie erreichten die Reifen nicht. Nur zwanzig Zentimeter vor dem Austin prallten sie auf ein unsichtbares Hindernis und kamen pfeifend zurückgeflogen. Krachend schlugen sie in den Kühlergrill des Lieferwagens ein und ließen die beiden äußeren Vorderreifen zerplatzen. Mike hörte nur das unheilvolle Tschiumm einer knapp am Seitenfenster vorbeischwirrenden Kugel und erkannte, dass er sich fast aus zwanzig Metern Entfernung selbst erschossen hätte.
"Verdammt, was war das?" stieß Walton aus und zielte noch einmal auf den Austin, diesmal auf die Frontscheibe.
"Nicht mehr, Mike. Der Wagen ist verflucht", stieß Fred aus. Da drückte Mike Walton schon ab. Zehn Kugeln in einer halben Sekunde peitschten zum Austin hinüber. Dann klirrte es, und Mike fühlte nur noch einen dumpfen Schlag an den Kopf. Dann fühlte er nichts mehr.
Fred hörte gerade noch zwei der abgefeuerten Kugeln knapp an seinem rechten Ohr vorbei in den Laderaum durchschlagen und fühlte, wie eine warme Flüssigkeit gegen seine rechte Gesichtshälfte spritzte. Er brauchte den Kopf nicht zu wenden um zu sehen, dass sein Kumpan und Einsatzleiter gerade von den eigenen Kugeln erledigt worden war. Die rechte Hälfte der Windschutzscheibe glich einem Solitairespiel. Dann riss die Scheibe der Breite nach auf. Die Scherben klirrten in das Führerhaus. Fred hatte reflexartig die Hände nach hinten gerissen und bewarhte sie vor bösen Schnittwunden. Da er reißfeste Kleidung trug störten ihn die auf den Beinen landenden Splitter nicht. Was ihn jedoch sehr störte war die Tatsache, dass der Austin ohne jeden neuen Kratzer an dem Liferwagen vorbeiratterte. Fred lauschte und hörte das metallische Knacken im Motorraum. Dann sah er den Qualm. Die Rückpraller hatten die Benzinleitung durchlöchert. Der auslaufende Treibstoff hatte sich am glühendheißen Motorblock entzündet. Jetzt schlugen die ersten Flammen aus dem Motorraum heraus. Fred brauchte keine Aufforderung. Er stieß die Tür auf und katapultierte sich aus dem Wagen heraus. Tief geduckt jagte er den Bürgersteig entlang in eine Lücke zwischen zwei Häusern. Wie sollte er das dem Boss erklären, dass der Lieferwagen gerade abbrannte und Mike Walton sich selbst aus zwanzig Metern Entfernung abgeknallt hatte? Doch mehr als die Furcht vor van Rietens Strafe fürchtete er sich davor, dass jemand diesem Weltverbesserer geholfen hatte, unangreifbar zu sein. Jemand hatte den Wagen verzaubert, dass keine Waffe ihn treffen konnte. Deshalb konnte dieser Wicht auch ohne Angst und Vorsicht auf den Lieferwagen zufahren.
Fred fühlte, dass etwas klebriges auf seinem Gesicht und an seiner Schulter trocknete. ER war froh, dass das nicht sein eigenes Blut war. Doch er wusste, dass er so nicht lässig auf den Straßen der Kapmetropole herumlaufen konnte. Doch er musste mehr Abstand zum brennenden Wagen gewinnen. Denn außer zwei Tragen im Laderaum waren dort noch Ersatzmagazine für die MPs geladen. Wenn das Feuer die heiß genug machte flog der Wagen in die Luft, wenn nicht vorher ... Bums! Ein ohrenbetäubender Knall schnitt jeden weiteren Gedanken ab. Fred hörte die Angstschreie von Leuten und quietschende Reifen, Klirren zerberstender Scheiben und die aufgebrachten Rufe von Männern. Also hatte es doch schon den Treibstofftank erwischt. Die Benzinleitung hatte wie eine Zündschnur gewirkt.
"Eh, du blutest ja", hörte Fred einen gerade wohl fünf Jahre alten Jungen rufen. Fred wollte und durfte keinen Zeugen zurücklassen. Er griff schnell zu seiner zweiten Waffe, einer schallgedämpften Luga, als eine sehr unerbittliche Männerstimme "Keine Dummheiten! Hände flach auf den Kopf legen!" befahl. Fred versuchte die Waffe freizuziehen, als ein weiterer Knall ertönte. Er fühlte einen dumpfen Schlag gegen den rechten Oberarm. Mehr war aber nicht. Seine kugelsichere Kleidung hatte den Schuss abgefangen. Er riss die Luga heraus und wirbelte herum, um in den noch qualmenden Lauf einer Smith & Wesson zu blicken, die von einem Mann in Uniform gehalten wurde. Der Andere feuerte nun auf Freds Brustkorb. Der Shlag der auftreffenden Kugel trieb Fred einen Schritt zurück. Gleichzeitig feuerte er. Doch auch der andere trug schusssichere Kleidung. Fred riss die Waffe höher, um einen gezielten Kopfschuss anzubringen, als ihn eben dieses Schicksal selbst ereilte. denn er hatte den zweiten Uniformierten nicht bemerkt, der im Schutz der Häuserecke bereitgestanden und seinem Kollegen Feuerschutz verschafft hatte.
"Fred Wilkie, van Rietens Ausputzer", sagte der erste Uniformierte, als er den auf dem Boden liegenden Mann besah. Der Junge, der vorhin noch über das Blut am Gesicht des Unbekannten gestaunt hatte, war schreiend davongerannt.
"Dann ist das mit dem Lieferwagen wohl ein Fememord von van Rietens Konkurrenz und Fred war als einziger noch rausgekommen", vermutete der zweite Uniformträger.
"Das stinkt nach Bandenkrieg, Mac", sagte der Uniformierte, dem sein Kollege das Leben gerettet hatte.
"Wundert dich das? Es war doch schon zu lange ruhig hier in der Gegend", warf Mac mit unüberhörbarer Ironie ein.
"Sichern wir die Videobilder, um zu sehen, wer die beiden da beharkt hat!" sagte Roy, der erste Uniformierte.
Als sie einige Zeit später, nachdem die Trümmer des explodierten Lieferwagens fortgeschafft waren, in ihrer Dienststelle die Aufnahmen der Videokamera betrachteten wunderten sich die beiden Polizeioffiziere. Denn auf dem Video war nur der Lieferwagen zu erkennen, aus dem heraus auf einmal geschossen wurde. Es sah ganz danach aus, als hätten sich die beiden Auftragskiller mit ihren eigenen Pistolen erschossen. Doch die Kugeln waren sicher einige Meter geflogen. Als dann die Ballistiker die nächste Merkwürdigkeit vermeldeten wusste der Dienststellenleiter, Captain Conway überhaupt nicht mehr, was er davon halten sollte. Denn die Untersuchung der Kugeln hatte erbracht, dass diese aus nur zwei Waffen abgefeuert worden waren und von einem massiven Hindernis abgeprallt und zum Ausgangspunkt zurückgeschleudert worden waren. Die Kugeln waren so deformiert gewesen, dass sie beim Einschlagen wie Dumdumgeschosse gewirkt haben mussten. Weiter hinter dem Lieferwagen sichergestellte Projektile hatten handtellergroße Löcher in Straßenbelag und Häuserwände gerissen.
"Erklär mir bitte jemand, wie die beiden sich selbst so gründlich aus dem Verkehr gezogen haben", knurrte Conway.
"Mir ist aufgefallen, dass zwischen den Autos, die sich dem Liferwagen genähert haben, eine größere Lücke ist, als wenn da noch ein Wagen zwischengesteckt hätte", sagte Roy Cunningham, einer der beiden Polizisten, die den flüchtigen Fred Wilkie gestellt hatten.
"Sie waren in der Nähe. Haben Sie einen Wagen gesehen?" fragte Conway zurück. Cunningham zog die Stirn kraus. Dann nickte er. "Mir fehlt auf dem Video ein zwanzig Jahre alter, graublauer Ausstin mit Nummernschildern von Avis. Der fuhr nämlich zwischen dem klapperigen Ford und dem altehrwürdigen 500er SEL die Straße entlang, als wir das Klirren und knallen hörten, was von den MP-Kugeln kam. Als wir um die Ecke kamen sah ich den Austin gerade mit gemächlicher Geschwindigkeit auf die Straße zum Flughafenzubringer einbiegen. Am Steuer saß ein dunkelhaariger Weißer."
"Warum fehlt dieses Auto dann auf dem Video?" fragte Conway und ließ die Wiedergabe noch einmal eine Minute zurücklaufen. Dann schaltete er auf Standbild und drückte den Knopf für die Bildschärfeverstärkung, um die gezeigten Objekte störungsfrei abzubilden. Da konnte er sehen, dass zwischen den zwei im gewissen Abstand fahrenden Autos ein dunstiger Schemen schwebte, der entfernt an ein Auto erinnerte. "Das gibt es nicht!" stieß Conway aus und ließ die Wiedergabe mit zwanzigfacher Zeitlupe weiterlaufen. Der dunstige Schemen verschwand sofort, als die Bildwiedergabe weiterlief. Als er noch einmal Pause drückte und den Bildschärfeverstärker zuschaltete tauchte das dunstige Bebilde wieder auf.
"Öhm, wir drehen im Moment keinen James-Bond-Film oder sowas?" fragte Conway.
"Dann hätte ich den Wagen wohl auch nicht sehen dürfen, wenn der sich unsichtbar gemacht hat", wandte Cunningham ein.
"Ah, sie denken also dasselbe wie ich", knurrte Conway und wählte die größtmögliche Zeitlupe, ein Bild pro Sekunde. Doch sobald das nächste Einzelbild erschien verschwand das nebelartige Etwas.
"Offenbar hat der Fahrer von dem Austin einen technischen Trick angewendet, um elektronische Bildaufzeichnung zu verhindern. Nur menschliche Augen, die mehr als die berühmten fünfundzwanzig Bilder pro Sekunde aufnehmen können, konnten den Wagen noch als solchen sehen."
"Ja, klar, und der Austin hatte eine Art Schutzschirm, der die ihm geltenden MP-Salven auf ihre Urheber zurückgeworfen hat, Captain. Aber sowas gibt's wohl erst in fünfhundert Jahren, wenn überhaupt technisch möglich", wandte Cunningham ein.
"Wie spricht der zeitweilige Kokainfichser, Geigenvirtuose und Pfeifenraucher Sherlock Holme"Schließen Sie das unmögliche aus, und was dann noch bleibt muss die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich es auch ist!"."
"Ja, aber ein Energieschirm oder so was existiert nur in Science-Fiction-Geschichten", widersprach Cunningham.
"Wie ein Auto, dass sich gegen Videokameras abschirmen kann?" fragte Conway. "Am Ende behauptet noch wer, dieser Wagen sei ein Zauberauto, unangreifbar und unaufspürbar, oder wie, ein Voodoo-Auto."
"Lassen wir die Eierköpfe in den Laboren daran knabbern", schlug Cunningham vor. Conway nickte zustimmend.
Doch als sich die beiden Polizisten eine Stunde später danach erkundigten, ob die Bilder eine geschickte Montage oder tatsächlich gemachte Aufnahmen waren mussten sie erfahren, dass irgendein Tolpatsch aus der technischen Abteilung die Daten-DVD in einen Säurebehälter hatte fallen lassen und die Daten im Computer durch andere Videoaufnahmen ersetzt worden waren, die scheinbar zufällig die selbe laufende Registriernummer hatten wie die Kamerabilder.
"Irgendwer vom Geheimdienst oder einer anderen Behörde will uns verulken", schnarrte Conway. Am Ende tauchen noch Männer in Schwarz mit Sonnenbrillen und Erinnerungsauslöschungsapparaten auf, wie?"
"Malen Sie den Teufel besser nicht an die Wand, Sir", erwiderte Mac Chesterton, der Polizist, der Fred Wilkie in Nothilfe erschossen hatte.
Zehn Minuten später wurden alle an dem Vorfall beteiligten Beamten ins Büro des Polizeichefs gebeten. Dieser eröffnete ihnen, dass die Angelegenheit oberste Geheimhaltungsstufe erhalten hatte. Das Innenministerium ging von einem versuchten Anschlag auf den kapstädter Flughafen aus, der gerade im letzten Augenblick vereitelt werden konnte. Als der Austin restlos ausgebrannt einen halben Kilometer vom Flughafen entfernt gefunden wurde war auch die letzte Spur zu seinem Fahrer erloschen. Dieser befand sich zu diesem Zeitpunkt schon an Bord einer Gulfstream in Richtung Europa.
"Du giltst als tot und verschollen", grummelte seine Gebieterin. Eduardo sah sie an wie ein getretener Hund. Er wusste, dass seine Rolle als verdeckter Ermittler von Interpol gerade Geschichte war. Seit einem Jahr hatte er zusammen mit den Aktivisten von Freies Land für freie Völker an der Aufdeckung von Diamantenschiebungen gearbeitet, sehr zum Unwillen seiner mächtigen Herrin und Geliebten Loli, die ihn vor fünf Jahren in der Casa del Sol kennengelernt und in ihren Dienst genommen hatte.
"Ich habe die Cale-Daten bei Dean lassen müssen, weil du mich von dem Wagen wegholen musstest, Loli."
"Ja, weil mein Liebesgeschenk an dich dich dazu getrieben hat, meiner Schwester eine Runterzuhauen oder sie gar zu erwürgen. Ich weiß auch nicht, warum es dich nicht freundlicher ihr gegenüber gestimmt hat. Vielleicht hat sie sich gezielt gegen dich gestemmt, um keinen Ärger mit mir zu kriegen."
"Wusste nicht, das du noch Schwestern hast, Loli", grummelte Eduardo. Seine Gebieterin verzog ihr Gesicht.
"Im Moment nur die eine, die gerade in der Welt herumläuft. Aber das betrifft dich nicht mehr. Wichtiger ist, dass wir zusehen müssen, was du weiter für mich tun kannst."
"Ich kann echt nicht wieder da runter?" fragte Eduardo verunsichert.
"Dein Gesicht ist denen da unten jetzt zu bekannt. Außerdem hat dieser Cale zwei Millionen Dollar auf deinen Kopf ausgesetzt, wie auf den von diesem Dean Cushing. Aber der gehört jetzt sicher meiner Schwester. Soll die mit ihm fertig werden."
"Ich möchte nicht noch einmal ein halbes Jahr verschlafen, Loli", begehrte Eduardo auf. Sie sah ihn sehr verdrossen an und zischte: "Wenn ich das will, schläfst du hundert Jahre durch, bis es niemanden mehr gibt, der dich je gekannt hat, Schätzchen! Aber du weißt und kannst Sachen, die mir wichtig genug sind, um dich in der Welt zu halten. Ich kriege das hin, dass niemand dich wiedererkennt. Ich such uns einen raus, der zu dir passt. Mein Vorrat an starken und begabten Männern ist noch groß genug."
"Ich weiß, dass du mich nicht im Stich lassen wirst", sagte Eduardo unterwürfig.
Loli wollte gerade darauf antworten, als sie eine Erschütterung in ihrem Geist wahrnahm. Es war wie ein einschlagender Blitz, der ihren für Magie und Gedanken sensiblen Verstand aufwühlte. Dann fühlte sie den Eindringling, als berühre dieser sie körperlich. Es war, als grübe sich jemand durch ihren Verstand hindurch. Einen derartigen Angriff hatte sie bisher nur von wenigen verspürt. Auch war die Art des Angriffs nicht direkt auf ihren Geist gerichtet. Vielmehr war jemand körperlich und mit einer starken magischen Kraft über die von ihr gezogenen Bannlinien getreten, die sie um ihr Jagdrevier gelegt hatte, damit kein Vampir mehr dort eindringen konnte. Ja, es war ihr, als brächen gleich zwanzig dieser Blutsauger in einer dichten Formation in den westlichen Abschnitt ihrer Jagdgründe ein. Doch sie verspürte nur einen entschlossenen Geist, der diese Kraft hervorbrachte. Nein, es waren ihrer zwei, wobei der eine körperliche Erscheinungsform besaß und der andere wie ein leises Flüstern Anweisungen gab.
"Du bleibst erst einmal hier. Hier findet dich keiner", schnarrte Loli ihrem Abhängigen zu. Dieser verstand und wagte keinen Widerspruch. Dann verschwand Loli übergangslos aus der großen Höhle, die sie tief unter die Erde gegraben hatte. Der zwei Meter hohe Krug, der bis dahin golden gestrahlt hatte glomm nun noch in einem sanften Rot. Eduardo Marco Casillas Ortíz legte sich auf die Strohmatte neben dem Krug nieder. Sofort überkam ihn große Müdigkeit, die in einen tiefen Schlaf überging.
Das Wesen, dass sich Menschen gegenüber gerne Teresa Dolores Herrero nannte, erschien wie aus dem Nichts heraus am westlichen Ende einer abgelegenen Straße in Granada. Hier herrschte gerade der übliche Nachtbetrieb. Freischaffende Prostituierte boten bedürftigen Männern und Frauen ihre Dienste an. Autos brummten über den Asphalt. Die Tochter des schwarzen Wassers fühlte die Nähe eines mächtigen Feindes. Von der Ausstrahlung her war es ein Blutsauger. Doch als hätte jemand gleich fünf oder sechs dieser niederen Geschöpfe in einen Körper zusammengepresst jagten starke Wellen seiner körperlich-geistigen Aura über Loli hinweg. Sie fühlte die geistigen Echos viler Tode in dieser starken Ausstrahlung mitschwingen, als wenn sie aus einem lauten Musikstück ein sehr leises Instrument heraushörte, dass eine unheilvolle Melodie spielte, während der Rest des Orchesters einen Triumphmarsch aufführte. Dann erkannte sie, woher das kam. Sie hatte es eigentlich schon längst geahnt, dass mal wieder jemand diese verstofflichten Rückstände massenhaften Sterbens benutzen würde. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass es ein Vampir sein würde. Wieso konnte dieser Blutsauger die körperliche Nähe eines solchen Stoffes vertragen?
"Ich weiß, dass du da bist, Blutsauger. Zeige dich!" stieß Loli im Flüsterton aus. Sie setzte darauf, dass Vampire ein hochempfindliches Gehör besaßen. Ja, jetzt konnte sie den Blutsauger auch orten. Er war gerade auf dem Weg in ein Sündenzimmer. Er hatte sich Mariposa ausgesucht, eine halbafrikanische Schutzbefohlene Lolis. Wenn er die aussaugte oder gar zur Vampirehe zwang konnte der rumerzählen, die mächtige Itoluhila gedemütigt zu haben. Diese Frechheit wollte und durfte sie nicht gewähren. Sie wechselte mit der Geschwindigkeit eines Gedankens auf den Flur über, der zu Mariposas Arbeitszimmer führte. Fast war es ihr, als pralle sie gegen eine massive Wand. Doch dann stand sie sicher und stabil auf dem Flur. Vor ihr stand ein kleiderschrankartiger Mann mit aschgrauer Hautfarbe. Sie konnte förmlich die Aura aus dunkler Magie sehen, die ihn einhüllte und hörte seine Gedanken und die seiner Antreiberin. Ja, die Stimme kannte sie auch. Doch wie konnte das angehen? Nyx war doch mit ihrem heißgeliebten Mitternachtsdiamanten im Golfstrom versenkt worden.
"Ach, du bist schon da, Abgrundsdirne", schnarrte der Vampir. Mariposa, die hinter ihm lief, stand unter dem Bann seines Blickes. Den hatte selbst Itoluhilas Tätowierung nicht zurückdrängen können, die sonst jeden Vampirblick unschädlich machte.
"Und du trägst die Saat des vielfachen Todes in deinen Adern", schnarrte Itoluhila zurück. "Aber wie kommt es, dass eine Tote dich leitet. Ist ihr Geist in dir drin?"
"Für eine, die bald ausgelöscht ist bist du aber neugierig", schnaubte der Fremde und entblößte seine messerscharfen Eckzähne, die nicht wie bei anderen Vampiren schneeweiß glänzten, sondern in einem silbriggrauen Glanz schimmerten. Mariposa, die halbafrikanische Hure, blieb weiterhin untätig.
"Du wurdest geschickt, um mich herauszufordern, Blutschlürfer?" fragte Itoluhila, die die Antwort auf ihre letzte Frage nicht mehr nötig hatte. Denn der Vampir hatte in dem Moment, wo sie sich ihm entgegengestellt hatte den Befehl erhalten, die andere zu töten. Außerdem, so fühlte sie, war er nicht alleine. Wenn er in Schwierigkeiten geriet würden weitere seiner verwandelten Artgenossen zu Hilfe kommen.
"Sie ist mächtiger als je zuvor und allen und jedem überlegen, die große Mutter der Nachtkinder", stieß der überstarke Vampir aus. "Und jetzt stirbst du, Abgrundshure!"
"Heute gewiss nicht", schnaubte Itoluhila. Im selben Moment bildete sich um ihren Körper eine schwarze Nebelwolke. Der Vampir sprang sie an und wurde von dem Dunst wie von einer Ladung Daunenfedern aufgefangen und eingehüllt. Er kämpfte dagegen an, von der mörderischen Kälte innerhalb des Nebels außer Gefecht gesetzt zu werden. Er stemmte sich gegen die in ihn dringende Magie der völligen Vereisung. Itoluhila konnte sich gerade noch aus der Armreichweite des Feindes zurückziehen. Sie fühlte, wie der Unhold ihr regelrecht Kraft entzog. Der Vereisungsnebel bremste ihn, lähmte ihn aber nicht. Selbst Hallitti, ihre Schwester hatte Itoluhila damit bannen können. Dieser Unhold war genauso stark wie Nyx, als diese sich den Mitternachtsdiamanten angeeignet hatte. Ja, sie fühlte, wie dem Gegner von außen weitere Kraft zufloss. Wie immer Nyx ihr Ende überstanden hatte, es hatte sie nur noch stärker werden lassen. Doch Itoluhila wollte sich hier und jetzt nicht geschlagen geben und schon gar nicht ihren Körper verlieren. Die Vorstellung, von ihrer vor wenigen Monaten geweckten Schwester Ullituhilia neu ausgetragen und wiedergeboren zu werden trieb sie an, sich mit aller Macht gegen ihren Untergang zu wehren. Da schlug ihr der Vampir ihre eigenen Kräfte um die Ohren, als sei er ein Spiegel, der magische Gewalten auf seinen Urheber zurückwarf. Itoluhila fühlte, wie die Wucht ihres eigenen Angriffs sie fast aus dem eigenen Körper herausriss. Doch gerade so blieb sie gestaltlich. Sie fühlte jedoch, wie sie selbst in einen immer dickeren Eisblock eingefroren wurde. Noch tat ihr die erbarmungslose Kälte nichts. Doch wenn der Vampir ihre ganze Kraft auf sie zurückspiegelte war es nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie das Opfer ihrer eigenen, für unüberwindlich gehaltenen Macht wurde. Womöglich würde sie dann mit Leib und Seele in diesem Eisblock gefangen bleiben und nicht die fragwürrdige Gnade einer Wiedergeburt aus dem Leib ihrer Schwester erleben. Diese Vorstellung jagte ihr eine selten gefühlte Todesangst ein. Diese Angst vor der ewigen untätigkeit mobilisierte in Itoluhila noch einmal eine starke Kraft. Doch sie nutzte sie nicht zum Kampf, sondern zur Flucht. Mit lautem Knall zerbarst die pechschwarze Eissäule, in die Itoluhila eingeschlossen worden war und zerstob zu grauem Nebel, der sich über den Flur ausbreitete. Dass dabei Mariposa in die gnadenlose Kälte der freiwerdenden Vereisungsmagie hineingeriet wusste die flüchtende Abgrundstochter nicht. Mariposas Körpertemperatur fiel innerhalb eines Liedschlages um mehr als fünfzig Celsiusgrade ab. Wände, Decke und Boden wurden innerhalb von Sekunden von einer geschlossenen Reifschicht bedeckt. Das Wasser in den Leitungen gefror und sprengte die Rohre. Doch dem Vampir tat dies alles nichts. Er überstand die Kältewelle. Nur dass sein Opfer gerade schockgefroren worden war bekam er mit und verwünschte diesen Umstand. Doch dann entlud sich grenzenlose Euphorie im Bewusstsein des übermächtig erscheinenden Blutsaugers.
"Sieg! Große Göttin und Mutter, ich habe die Feindin zerstört!" rief der durch die Macht des Unlichtkristalls bestärkte Vampir.
"Du Narr, sie ist geflohen und nicht zerplatzt", schalt seine Anführerin ihn mit unerbittlicher Strenge in der rein geistigen Stimme.
"Dann habe ich sie verjagt und kann nun ihr Revier einnehmen, für dich, meine Göttin", erwiderte der Kristallvampir.
"Ja, das kannst du", erwiderte Gooriaimirias Gedankenstimme. "Wir haben es geschafft, eine der überheblichen Töchter Lahilliotas zu vertreiben. Übernimm das Gebiet dieser Missgeburt, auf dass das neue Nocturnia von dieser Straße aus erblühen kann!" "
"Jawohl, Gebieterin!" bestätigte der Kristallvampir. Er blickte noch einmal auf die in einen menschenförmigen Eisblock verwandelte Dirne. Zu gerne hätte er ihr Blut getrunken und sie von seinen mit dem Unlichtkristall versetzten Blut trinken lassen. Doch wo die hergekommen war gab es noch mehr. Allerdings fühlte der Vampir nun, wo er den Kampf überstanden hatte, einen schier unerträglichen Blutdurst. Den musste er zuerst stillen, bevor er gezielt neue Artgenossen erschaffen konnte. Da er nicht die Aufmerksamkeit seiner Feinde auf dieses Gebiet ziehen wollte, bevor seine neuen Untertanen und Abkömmlinge entstanden waren, musste er dazu woanders hingehen, weit genug weg von der Stadt. Das Revier der Abgrundstochter konnte er später immer noch zu seinem eigenen machen.
Itoluhila erschien direkt in ihrem Lebenskrug, der sie wie einen rettenden Anker in der Welt hielt. Sofort fühlte sie die Ströme dort gespeicherter Lebensenergie und sog sie gierig in sich auf. Sie hatte überlebt. Aber zu welchem Preis? Sie war von diesem überstarken Vampir und seiner in reiner Geistform bestehenden Herrin verjagt worden. Mit all ihrer dunklen Magie hatte sie ihn nicht überwinden können. Schlimmer noch, er hatte ihr ihre eigenen Kräfte um die Ohren geschlagen, mehr als dreimal so stark wie sie es selbst ausführen konnte. Natürlich musste er jetzt davon ausgehen, sie besiegt zu haben. Sie war wütend, weil er damit nicht einmal unrecht hatte. Denn jetzt, wo er wusste, wie er ihre Angriffe kontern konnte, würde sie bei jeder Begegnung das Nachsehen haben, bis sie keine vorrätige Lebenskraft mehr aufbieten konnte. Dann würde sie von ihrer eigenen Magie gebannt, vielleicht sogar unwiederbringlich eingekerkert. Am liebsten wäre sie ihrem Lebenskrug sofort wieder entstiegen und hätte sich dem Frechling noch einmal gestellt. Doch sie fühlte, dass sie bei diesem kurzen Kampf mehr als sieben Leben verloren hatte. Jetzt gegen den Vampir anzutreten würde sie derart schwächen, dass sie von Glück reden konnte, wenn sie noch in den Überdauerungsschlaf fallen konnte. Allein dass sie bei ihrer Flucht sofort in dem Krug erschienen war war für sie Warnung genug, dass die kritische Grenze beinahe unterschritten worden war. Doch wenn sie dem Blutsauger jetzt das Gebiet überließ konnte sie auch gleich von sich aus in den langen Schlaf eintreten, ja genauso die Ewigkeit verschlafen, wie es ihren zwei Schwestern Hallitti und Ilithula durch Ashtarias Bann auferlegt war. Doch sie wollte nicht schlafen. Sie wollte sich nicht ergeben. Wenn diesem Vampir nicht durch dunkle Zauberkraft beizukommen war, dann musste es eben die von ihr verabscheute Kraft von Licht und Leben sein. Aber an die kam sie nicht heran. Sich einem der selbsternannten Weltschützer anzubiedern widerstrebte ihr auch. Aber vielleicht ... Sie dachte daran, dass Nocturnia durch die aus dem Grau der Legende aufgetauchten Sonnenkinder besiegt worden war. Sie selbst hatte die Welle der Vernichtung gefühlt und hunderte von hinfortgetilgten Seelen schreien hören können, als die Welle über ihren Schlafort hinweggebrandet war. Dann fiel ihr ein, dass von den Gegenspielern der Vampire erzählt wurde, sie seien einst in einem mit mächtigen Zaubern getränkten Gebäude erzeugt und großgezogen worden, dem Sonnenturm. Doch wo dieser Turm gestanden haben sollte wusste sie nicht. Womöglich war er mit dem alten Reich im Meer versunken. Ihre Mutter Lahilliota hatte zumindest nicht gewusst, wo dieser mächtige Turm, die Wiege aller Sonnenkinder, gestanden haben mochte. Dort, so dachte Itoluhila alias Teresa Dolores Herrero alias der schwarze Engel, sollten jene legendären Waffen lagern, mit denen die Kraft mehrerer Stunden Sonnenlicht in der Zeit zwischen zwei Herzschlägen freigesetzt werden konnte. Außerdem hieß es, dass in dem Turm Rüstungen lagerten, die aus kristallisiertem Sonnenlicht gemacht worden waren. Aber es hieß auch, dass die Feinde der Schöpfer der Sonnenkinder sich dem Turm nicht nähern konnten. Wenn sie ehrlich war musste sie sich selbst zu diesen Feinden zählen, wenngleich die Vampire auch ihre Feinde waren. Aber vielleicht wusste ihre wache Schwester von dem Sonnenturm. Falls ja, dann hatte sie eine Chance, die erlittene Niederlage zu vergelten und hoffentlich noch früh genug in ihr Revier zurückzukehren, bevor der überstarke Blutsauger es zu einem neuen Vampirnest machen konnte.
"Ullituhilia! Höre mich an! Wir werden von Blutsaugern bedroht, die durch die Kraft des verstofflichten Sterbens bestärkt wurden", schickte Itoluhila einen Gedankenruf durch Raum und Zeit. Keine halbe Minute später empfing sie eine von Ärger getragene Antwort.
"Was soll der Unfug mit überstarken Vampiren, Wasserspielerin! Reicht es dir nicht, dass einer deiner Gespielen fast in meinen Jagdgründen getötet worden wäre?"
"Diese Nyx, von der ich dir erzählt habe, ist nicht wirklich vernichtet. Ihr Geist ist offenbar noch in der Welt und konnte mindestens einen Blutsauger durch die Macht des Unlichtkristalls in einen ebenbürtigen Gegner verwandeln", setzte Itoluhila an. Dann schilderte sie ihrer viele tausend Kilometer entfernten Schwester den Kampf und ihre dabei gewonnenen Eindrücke.
"Und du willst den Sonnenturm finden, wo nicht mal wir erfahren haben, ob es ihn gibt? Aber du hast recht, Schwester. Wenn diese Machttrunkene Blutsaugerin die Vernichtung ihres Körpers und auch die Vernichtung ihrer Brut überstanden hat, dann wird sie ihre Handlanger auch zu mir schicken, wenn sie denkt, dass wir ihr nichts mehr anhaben können. Dann können wir beide uns gleich in den langen Schlaf fallen lassen und abwarten, ob unsere jüngste Schwester diesen Kreaturen auch noch unterliegt oder am Ende über uns alle frohlockt. Ich helfe dir bei der Suche nach dem Sonnenturm. Aber sei darauf bedacht, dass dessen Geschöpfe die Suche bemerken, ja selbst auf der Suche nach ihrer Brutstätte sein werden, wenn sie erfahren, dass ihr Sieg nicht von Dauer war. Dabei habe ich mich gerade so schön in diesem Land eingelebt."
"Ich will auch nicht in den langen Schlaf fallen", gedankenknurrte Itoluhila. Die Zeit drängte. Ja, und wenn sie in sich hineinlauschte hörte sie auch das leise Schnarren, Knarzen und Rasseln einer sehr langsam sprechenden Stimme. Verloren sie und ihre Schwester den anstehenden Kampf, würde die jüngste von ihnen unangefochten erwachen und auf die Suche nach den Lebenskrügen ihrer Schwestern gehen, um sich diese und ihre Seelen einzuverleiben, wie sie es damals angedroht hatte, bevor ihre acht Schwestern in einer gemeinsamen Anstrengung den Bann über sie verhängt und sie in den langen Schlaf der Überdauerung gezwungen hatten. Keine beruhigenden oder gar erfreulichen Aussichten, erkannte Itoluhila. Allein dass sie heute zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtige Todesangst empfunden hatte widerte sie an.
Als sie genug neue Lebenskraft getrunken hatte versetzte sich Itoluhila noch einmal in die Nähe ihres Jagdrevieres. Der Vampir war nicht mehr zu fühlen. Wo war der? Sie drang auf zeitlosem Weg in das Haus ein, in dem der Kampf stattgefunden hatte. Dort fühlte sie den Nachhall der von ihr selbst entfesselten und auf sie zurückgespiegelten Magie und fand Mariposa, auf deren vereistem Körper weiterer Reif entstanden war. Da fühlte sie, dass in dem Körper noch der Geist der unter ihrem Schutz stehenden Hure wirkte. Er schlummerte. Nur Wesen, die geistige Ausstrahlung wie Duftspuren oder leise Töne wahrnehmen konnten offenbarte sich, dass Mariposa nicht völlig tot war, sondern eben nur mit Leib und Seele eingefroren war. Da kam Itoluhila die Idee, die magisch vereiste Dirne wiederzubeleben. Denn ihre eigene Magie konnte sie mühelos aufheben. Doch Mariposa hier und jetzt aufzutauen und wiederzubeleben erschien ihr nicht ratsam, solange sie nicht wusste, wo der Blutsauger abgeblieben war. So begnügte sie sich damit, die magisch tiefgefrorene Dirne in ihre Schlafhöhle zu tragen und dort neben dem Lebenskrug aufzustellen. Für Mariposas Geist verlief die Zeit nun um den Faktor dreitausend verzögert ab. Somit mochte sie jede Stunde wie eine einzelne Sekunde empfinden. So konnte sie locker dreitausensechshundert Stunden in diesem Zustand verbringen und am Ende daran glauben, die ganze Zeit nur geschlafen zu haben. Itoluhila argwöhnte nämlich, dass in der gefrorenen Straßendirne noch ein Rest der vampirischen Unterwerfungsmagie wirkte. Erst wenn sie sicher war, dass sie deren Quelle beherrschen oder auslöschen konnte, wollte sie Mariposa ins Leben zurückbringen.
Um das Verschwinden der Dirne und den vielfachen Rohrbruch in dem für Straßenmädchen beliebten Mietshaus zu erklären setzte Itoluhila in Umlauf, dass Mariposa vor einem sie zu sehr bedrängenden Freier geflüchtet und bis auf weiteres verreist war. Den Rohrbruch ließ Itoluhila als Folge von massivem Überdruck in den Wasserleitungen auslegen. Da sie einige Abhängige in wichtigen Behörden hatte war das für diese kein Problem, die entsprechenden Akten zu frisieren. Doch das, so wusste die Tochter des schwarzen Wassers, war nur ein Kurieren an den Symptomen. Die Ursache dafür wirkte noch. Nur weil der Vampir nach dem Kampf ihr Revier verlassen hatte hieß das nicht, dass er sich mit diesem Sieg begnügt hatte. Das würde dessen Herrin schon nicht so stehen lassen. Sie wusste, das die nächste Schlacht entscheiden würde, ob der schwarze Engel gegen eine Blutgöttin verlieren oder sein Revier behaupten würde.
Feuerwerk und Jubel drangen an Itoluhilas Ohren. Seit zwei Tagen erwartete sie bereits die Rückkehr des Vampirs, der sie vorübergehend aus ihrem Revier vertrieben hatte. Ihre Schwester Ullituhilia hatte sich daran erinnert, dass in der von einem Erdbeben verschütteten Bibliothek von Alexandria eine unzerbrechliche Amphore aufbewahrt wurde, in der hauchdünne Schriftrollen aus einem fremdartigen Stoff stecken sollten, die berichteten, wo der Sonnenturm stehen sollte. Allerdings hatte sie damals, wo sie diese Amphore bergen wollte die für sie so unliebsame Begegnung mit den Brüdern des blauen Morgensterns gehabt, an deren Ende sie in den langen Schlaf gefallen war. Deshalb wollte Ullituhilia nicht in eigener Person losziehen, um zu sehen, ob die Amphore noch an ihrem Platz war. In der Zwischenzeit wollte Itoluhila ergründen, woher die Vampire den Unlichtkristall bekommen hatten und ob sie womöglich davon abhängig waren, wie Heroinsüchtige oder Alkoholiker. Traf dies zu, so bestand die Möglichkeit, dass diese Art Vampir nicht dauerhaft so stark war, ja durch die denkbaren Entzugserscheinungen sogar noch schwächer wurden als vor der Kristallbehandlung. Das war zumindest eine Vermutung, weshalb ihr Gegner sich seit seinem Erfolg nicht mehr in ihrem Revier herumgetrieben hatte. Doch genau wusste sie es nicht.
"Salud, Loli", rief Maruja, die Geschäftsführerin der Casa del Sol, die Itoluhila nach dem Treffen mit dem Vampir durch zusetzliche Schutzzauber zu einem Bollwerk ihres Reiches ausgebaut hatte. Itoluhila roch die Alkoholfahne und unterdrückte ein Naserümpfen. Immerhin hatte sie ihren Kolleginnen erlaubt, mit den Kunden auf das neue Jahr zu trinken. Dass sie selbst keinen Alkohol trank begründete sie damit, dass sie nicht rückfällig werden wollte. Ihrer eigenen Legende nach hatte der schwarze Engel sie damals aus der Gosse gefischt, als sie wegen Alkohol und Kokain schon knapp vor dem endgültigen Absturz gestanden hatte. Dass sie jedes Rauschmittel verachtete, weil es den menschlichen Körper beeinträchtigte und damit für Wesen wie sie ungenießbar machte durfte sie keinem auf die Nase binden.
"Salud, Maruja!" Erwiderte Itoluhila alias Teresa Dolores Herrero. Sie trank den reinen Orangensaft aus ihrem Sektglas und zwinkerte allen Anwesenden zu. Das durch Flüsterpropaganda übermittelte Angebot, aus dem alten ins neue Jahr hinüberzulieben war von den Bedürftigen dankbar angenommen worden. Itoluhila wusste, dass das den Vampir oder seine Brüder sicher auf den Plan rufen würde. Doch sie war fest entschlossen, ihr Revier nicht kampflos zu räumen.
"War schon lustig", setzte einer der schnieke gekleideten Kunden an. "Als ich mit der kleinen Inés hier zusammengestöpselt war hatten wir noch 2001, Als ich wieder von ihr loskam war schon 2002. Ein ganzes Jahr durchgevögelt. Das wär's doch, Leute!"
"Rat mal wer noch, du Modepuppe", lachte ein anderer Kunde, der mit Magdalena, einer brünetten Mittdreißigerin im Lotterbett den Jahreswechsel vollzogen hatte.
"Du hast doch keinen Dunst, was ich sonst noch so anschieben kann, Kleiner. Wer drauf steht, mit Frauen rumzumachen, die seine Mutter sein können muss mir bestimmt nichts vormachen."
"Immerhin kriege ich das hin, mit Frauen zusammenzusein, die meine Mutter sein könnten", erwiderte der zweite. "Die haben nämlich höhere Ansprüche an die Männer, mit denen sie ins Bett steigen als die jungen Dinger, die jeden Mann für einen Sexgott halten, bis sie wen besseren treffen."
"Kein Zank, Jungs. Jeder hier kriegt das, was er sucht, ohne sich mit anderen drum zanken zu müssen", schritt Loli ein, die als einzige von den Leuten hier nüchtern war. Im Nächsten Moment fuhr sie wie von einem Schlag getroffen zusammen und erbleichte, was bei ihrer milchkaffeefarbenen Haut was heißen sollte. Es sah so aus, als erleide sie gerade einen Herzinfarkt. Doch die Ursache lag ganz woanders. Maruja sah Loli besorgt an. Trotz des in ihrem Blut zirkulierenden Alkohols war sie noch fähig, zu erkennen, dass ihre heimliche Vorgesetzte gerade unter irgendwas litt. Sie wollte gerade fragen, was es war, als Loli keuchend: "Morpheus' Arme!" rief. Unvermittelt zischte es aus gut hinter der plüschigen Wandverkleidung in der Bordellbar versteckten Düsen. Das farb- und geruchlose Narkosegas flutete den Raum innerhalb von nur zwei Sekunden. Ehe die mehr oder weniger betrunkenen Dirnen und Freier es registrierten wirkte das Betäubungsgas auch schon. Am Ende blieb nur die dezente Partymusik aus den Lautsprechern und das laute Zischen der Gassprühanlage.
Itoluhila machte das Gas nichts aus. Gifte konnten ihr nichts anhaben. Was ihr zusetzte war die massive magische Gewalt, mit der sich jemand Zugang zu dem gegen zeitlosen Ortswechsel von Zauberern und Hexen und Vampirabweisebannzaubern stemmte und kurz davor war, diese Hürden zu überwinden. Itoluhila fühlte, wie die in die Abwehrzauber gesteckte Lebenskraft versiegte. Dann krachte die Haustür. Jemand hatte brachiale Gewalt wüten lassen, um ins Haus zu kommen.
"Habe ich dich nicht schon genug gewarnt!" rief eine überlegen klingende Männerstimme. "Jetzt hole ich mir dein Jagdgebiet, Wasserhure!"
"Kommst du jetzt erst?" keuchte Itoluhila, bevor sie sich darauf besann, die in ihr gespeicherte Lebenskraft anzuzapfen, um sich auf den bevorstehenden Kampf vorzubereiten.
"Meine Göttin wollte nicht, dass ich mich in meinem neuen Revier satttrinke, du Schlampe. Aber jetzt ist der Übergabetag. Das unumdrehbare Jahr wird das Jahr der Kinder der Nacht, und wir übernehmen deinen Laden und alles, was du in den letzten Jahrzehnten zusammengehurt hast."
"Dann komm in die Bar und besprich das in anständiger Lautstärke mit mir!" erwiderte Itoluhila.
Keine Minute später betrat jener Vampir mit der aschgrauen Gesichtshaut, der sie damals in die Flucht geschlagen hatte die Bar. Er blickte sich um und sah die vom Gas betäubten auf Sofas, Sesseln und Teppichboden liegen. Er bleckte seine silbergrauen Fangzähne und bohrte den Blick seiner Augen in die schlaffen Gesichter der Betäubten. "Netter Versuch, mir meine ersten Gefolgsleute vorenthalten zu wollen, Metze! Aber das du dich noch mal hertraust, wo deine Eiszauber mir nichts antun können ..."
"Ich lebe länger als du und alle die zusammen, die so wie du geworden sind, sogar länger als die, die dir eingeredet hat, mit dem Staub verstofflichter Tode wärest du unbesiegbar", schnarrte Itoluhila.
"Das Freudenmädchen pfeift im dunklen Walde", spottete der Vampir. "Willst du es jetzt auf rein körperliche Weise hinter dich bringen, wo deine Zauberei mir nichts tut? Da wirst du dich aber umgucken. Erst rammel ich dich durch und dreh dir dann gemütlich den Kopf vom Hals."
"Hast du dich mal umgehört. Eine Stunde mit mir ist sehr teuer. Kannst du bezahlen?"
"Du zahlst jetzt. Meine Göttin wird sehr zufrieden mit mir sein, eine weniger von euch in der Welt zu haben, nachdem zwei deiner Schwestern sich mit irgendwelchen Weltbeschützern verhoben haben."
"Oh, über die fühlst du dich sicher auch erhaben", erwiderte Itoluhila, die nicht wusste, ob das, was sie vorhatte, gegen den Vampir funktionierte. Doch wenn sie morgen noch was gelten wollte, dann musste sie die Entscheidung suchen.
"Wenn nicht ich, dann die schlafende Göttin, die Mutter aller Nachtkinder."
"Natürlich, das ist kein Kunststück, sich jemandem überlegen zu fühlen, der weit genug von einem fort ist", erwiderte Itoluhila bewusst provozierend. Dann nästelte sie an ihrem ohnehin schon knappen Kostüm herum. "Du willst mich? Komm und hol's dir!" sprach sie die endgültige Kampfansage aus.
"Kein Problem, Süße!" schnaubte der Vampir. "Vielleicht trinke ich gleich auch dein Blut und werde dadurch noch stärker."
"Das geht nur, wenn du ein Mädchen wärest. Bei Jungs wirkt es schwächend", lachte Itoluhila, die sich konzentrierte, keinen ihrer Gedanken nach außen entwischen zu lassen. Der Vampir und die ihn fernsteuernde Nyx durften nicht mitbekommen, was sie vorhatte.
"Ach, dann hätte ich unsere Hohepriesterin schicken sollen. Aber die durfte nicht vom Pulver der Unbesiegbarkeit nehmen, hat unsere Göttin befohlen."
"Ihr Pech", schnarrte Loli. Dann schlängelte sie sich geschmeidig aus ihrem Kostüm heraus und stand nur noch in textilarmer Unterwäsche vor dem Vampir. Dieser konnte nun nicht mehr an sich halten und sprang ansatzlos auf sie zu.
"Prost Neujahr, meine Süßen", säuselte Ullituhilia. Die drei Männer, zu denen sie das sagte nickten ihr zu und stießn ihre Gläser mit ihrem zusammen. Keiner der vier hatte den für den Jahreswechsel üblichen Sekt oder Champagner im Glas. Eigentlich feierten die Muslime nicht am selben Tag wie Christen den Jahreswechsel. Warum die vier es taten lag daran, dass Ullituhilia es amüsant fand, in ein Jahr hineinzufeiern, das von vorne wie von hinten gleich gelesen werden konnte. Für sie war das zwar keine Besonderheit, wo sie schon mehrere Jahrtausende gelebt hatte. Doch nach ihrem langen Schlaf war es gleich das erste beginnende Jahr ihres zweiten Wachlebens.
"Auf das Dabro Imex in diesem Jahr einen festen Platz auf dem Graumarkt einnimmt", sagte einer der Männer, der rein äußerlich Mitte zwanzig war und eine samtbraune Haut und pechschwarzes Kraushaar besaß.
"Und dass wir die Brut der Nachtkinder überleben", knurrte Ullituhilia. Da hörte sie in Gedanken den Aufschrei ihrer wachen Schwester und fühlte, wie etwas in pulsierenden Wellen an- und abschwoll. Also hatte diese Brut doch diesen Tag für ihre endgültige Entscheidung gewählt, dachte sie und hoffte, dass das, was sie ihrer Schwester geraten hatte, als sie an ihre früheren Taten dachte, auch bei diesen Trägern von Dunkelkristallstaub gelingen mochte. Falls nicht, würde sie wohl in wenigen Minuten einen heftigen Schauer in ihrem Unterleib empfinden und für wohl wenige Minuten die geistigen Regungen ihrer Schwester in ihrem eigenen Leib wahrnehmen, bevor diese einschliefen und erst im Laufe einer zeugungslosen Schwangerschaft wieder aufleben würden. Für sich und ihre Schwester hoffte sie, dass dieser Zustand nicht eintreten würde. Doch sie war bereit, das durchzustehen, sofern die Brut der Nachtkinder das zuließ.
Er flog auf sie zu, ohne Flügel, ansatzlos abgesprungen. Bisher hatte Itoluhila nicht erfahren, mit wem sie da gerade den Entscheidungskampf führen musste. Das kümmerte sie jetzt auch nicht weiter. Denn in dem Moment, wo der Vampir lossprang jagte Itoluhila einen Gedanken durch ihren Körper, der eine den Töchtern Lahilliotas angeborene Verwandlungskraft entfesselte. Als der durch Unlichtkristall bestärkte Vampir die Stelle erreichte, an der sich Itoluhila gerade noch aufgehalten hatte, geriet sein Kopf nur in eine dünne, weiße Nebelwolke. Der Blutsauger lachte laut auf. Damit wollte sie ihn doch nur hinhalten. Er riss seinen Mund weit auf und grölte. Da hörte er eine eindringliche Gedankenstimme: "Mann, Guerrerazo, lass den Mund zu!" Das war sie, Gooriaimiria, die schlafende Göttin. Doch die Warnung kam zu spät. Das merkte der Vampir, als er plötzlich das Gefühl hatte, als habe ihm jemand mehrere Pfund Watte in Mund und Rachen gestopft. Von dem weißen Nebel, der eben noch da gewesen war, wo seine fast unbekleidete Gegnerin gestanden hatte, war nichts mehr zu sehen. Jetzt fühlte er auch, wie sich das Etwas, das seinen Mund und Rachen verstopfte, immer tiefer in ihn hineintastete. Er griff in seinen Mund und fühlte nur etwas hauchzartes. Hätte er noch einen Sinn für Hitze und Kälte besessen, so wäre ihm aufgefallen, dass es sich eiskalt anfühlte. Doch schlimmer für ihn war, dass er keine Luft mehr bekam. Zwar war er im Stande, mehr als eine Stunde lang ohne zu atmen zu überstehen, ja im schlimmsten Fall in einen scheintodartigen Zustand zu verfallen, der ihn Jahre lang ohne Luft auskommen ließ. Doch was da in ihn hineinkroch breitete sich weiter aus. Er fühlte, wie es seine Lungen verstopfte und sich darin ausdehnte.
"Du Vollidiot!" hörte er Gooriaimirias Stimme im Kopf.
"Hol ihn doch nach Hause", vernahm er die Gedankenstimme seiner Gegnerin. "Hol ihn doch zurück, bevor ich zum Höhepunkt komme, Blutschlürfergespenst!"
"Das ist nicht wahr. Wir sind stärker und ...." Guerrerazo, der spanische Überkrieger aus der Gesandtschaft der schlafenden Göttin fühlte von außen frische Kräfte in seinen Körper strömen. Doch genauso fühlte er, wie von innen etwas seinen Brustkorb ausdehnte. Schmerzen verspürte er keine. Er sah es an seiner Kleidung, die laut ratschend von ihm wegplatzte. Jetzt nahm auch sein Bauchumfang zu. Wie hatte die das gemacht? Er war doch unverwundbar.
"Guerrerazo ist dein Ende, Abgrundsdirne!" kreischte Gooriaimirias Gedankenstimme. Da begann es um den Vampir schwarz zu flimmern. Die in ihm tobenden Gewalten entluden sich in lichtschluckenden Schlieren, die zu einer wabernden, immer weiter ausgreifenden Aura verdichtet wurden.
"Das überlebst du nicht, Wasserdirne!" gedankenschrie Gooriaimiria. Doch als mit einem hässlichen Reißen die ersten Hautpartien von Guerrerazos Körper wegflogen und im freien Flug zu schwarzem Staub zerfielen erkannten der Vampir und seine in Geistform existierende Herrin, dass sie die Kraft der Abgrundstöchter doch noch unterschätzt hatten.
"Zur Sommermittagsonne! Ich kann dich nicht zurückholen!" hörte Guerrerazo die Stimme seiner Herrin, während er sichtlich damit rang, dass sein Leib immer weiter aufgeblasen wurde. Er fühlte, wie die von außen einströmenden Kräfte regelrecht in ihm versickerten, wie Regen in tönernem Boden. Um sich sah er den Ansatz von nachtschwarzen Kreisen, die versuchten, ihn einzuschließen und dann im pulsierenden Wabern der schwarzen Aura vergingen.
"Grüß deine Göttin schön von mir!" hörte er die angestrengt aber siegessicher betonende Gedankenstimme seiner Gegnerin. Dann fühlte er, wie die in ihn eingedrungene Feindin schlagartig wuchs. Die letzte Empfindung, die er in körperlicher Gestalt verspürte, war das Zerspringen seines Rumpfes. Die schwarze Aura explodierte zu einem Schock totaler Dunkelheit und überlagerte alles Licht in diesem Raum. Jetzt erst fühlte der Vampir Schmerz, den Schmerz des vergehenden Körpers. Sein Kopf flog von einem ungeheuren Druck abgesprengt durch den Raum und krachte gegen die Wand, wo er laut klirrend zerbarst und als feiner Staub niederrieselte. Guerrerazo fühlte, wie er aus seinem Körper hinausgeschleudert wurde und auf die gegenüberliegende Wand zuraste. "Ich hol dich zu mir!" hörte er Gooriaimirias Stimme. Einen Moment später fühlte er den Wirbel, diesmal unsichtbar, weil er selbst keine sichtbare und greifbare Erscheinung mehr besaß. Das letzte, was er mit nichtstofflichen Sinnen wahrnahm, war ein gewaltiger Rochen, der aus den klirrend zerberstenden Teilen seines Körpers hervorkroch. Dann war da nur noch der Sog, der ihn zu seiner Herrin zog. Er sah sich in einem dunklen Kanal dahinrasen, bis er vor sich blutrotes Licht sah, das innerhalb einer Sekunde zur riesenhaften Erscheinung einer nackten Frau wurde, bevor er in den geisterhaften Körper der schlafenden Göttin eindrang und innerhalb einer Sekunde mit ihr und allen in ihr gebündelten Seelen eins wurde.
Itoluhila hatte schon befürchtet, ihr besonderer Angriff würde sie selbst zerstören. Doch als sie in Nebelform in die Atemwege des Vampirs eingedrungen war hatte sie es gefühlt, diese Kraft, die von allen Seiten auf sie einströmte. Was immer den Vampir bestärkte wirkte in seinem Körper bestärkend auf alles, was dort hineingeriet. Sie drängte nach außen und fühlte, wie sie noch mehr Kraft erhielt. Sie bekam mit, wie der Vampir Guerrerazo und seine Herrin panisch wurden und fühlte, dass irgendwas den Blutsauger fortreißen wollte. Doch sie stemmte sich dagegen und klammerte sich an den Wunsch, diesen Ort nicht zu verlassen. Dann beschloss sie, sich in eine feste Gestalt zurückzuverwandeln, in jene Gestalt, als die sie ihre größte physische Kraft entfalten konnte. Ein Gedanke reichte aus, um den um sie liegenden Leib des Vampirs von sich abzusprengen. Dabei flossen ihr für einen winzigen Moment noch mehr Kräfte zu. Sie fühlte, wie die aus dem Körper gedrängte Seele in einen magischen Wirbel geriet und erfasste eher instinktiv als bewusst, wo das Ende dieses Kanals lag. Doch bevor sie es bewusst begriff, dass die zur Göttin der Vampire gewordene Nyx die Seele ihres Dieners an sich zog und wo der körperliche Anker ihres neuen Seins ruhte, schloss sich die vom Wirbel geschaffene Lücke im Gewebe von Raum und Zeit wieder. Zurück blieb nur ein über vier Meter großer Rochen, der mit seinen mehrweggliedmaßen vom Boden aufstieg und zur Decke emporglitt. Dass im ganzen Haus gerade jede künstliche Elektrizität erstarb und jede Elektronik irreparabel zerstört wurde bekam sie noch nicht mit. Für sie waren zwei Sachen wichtig. Sie hatte den frechen Versuch, ihr Revier zu übernehmen doch noch zurückgeschlagen und dabei mitbekommen, dass Nyx wohl doch kein reiner Geist war, sondern irgendwo auf diesem Planeten einen festen Halt besaß. Ja, und dann fiel ihr noch ein, dass sie doch nicht zur zeugungslos entstandenen Tochter ihrer Schwester geworden war.
Als Itoluhila sich wieder auf ihre physischen Wahrnehmungen konzentrierte waren nur Stille und Dunkelheit um sie. Immerhin hatte der Kampf keinen der Kunden und keines ihrer Mädchen verletzt. Die vom Körper des Vampirs abgesprengten Teile waren im Flug zu reinem Kristall erstarrt und dann wie gewöhnliches Glas zersprungen, allerdings ohne Scherben. Woran das lag wusste Itoluhila nicht. Es war nur wichtig, das gut im Gedächtnis zu behalten. Dann fiel ihr ein, dass Guerrerazo noch gleichartige Kameraden besaß. Vielleicht griffen diese nun an, wo sie ... Aber sie stellte fest, dass sie trotz des harten Kampfes nur zwei der zehn in sich aufgenommenen Leben verbraucht hatte. Also konnte sie weiterkämpfen, mindestens noch fünf dieser überzüchteten Blutsauger wortwörtlich pulverisieren.
Zunächst nahm sie ihre menschliche Gestalt wieder an. Selbst die knappe Unterwäsche war noch unversehrt, stellte sie fest. Als sie dann aber mitbekam, dass in dem Haus kein einziges elektrisches oder elektronisches Gerät mehr arbeitete prüfte sie in Nebelform nach, was die Auseinandersetzung bewirkt hatte. Die Stromleitungen waren zwar intakt, boten aber nun den tausendfachen Widerstand auf. Als sie die Innereien ihres Computers und der hausweiten Musikanlage begutachtete stellte sie fest, dass die winzigen Transistoren unter der Wucht der magischen Entladung genauso pulverisiert worden waren wie der Kristallvampir. Damit fiel die Casa del Sol für Tage wenn nicht für Wochen aus und musste rundweg renoviert werden, stellte sie mit dem Verstand einer Geschäftsfrau fest. Das war also der Preis ihres Sieges. Und ob der Sieg endgültig war wollte sie nicht wirklich glauben. Sie hatte eine mörderische Schlacht gewonnen. Doch wenn sie den Krieg gegen die, die sich als schlafende Göttin bezeichnete überleben oder gar gewinnen wollte, dann musste sie bessere und stärkere Mittel in die Hand bekommen.
Als das Betäubungsgas zu wirken aufhörte erklärte sie unter Benutzung ihres magischen Blickes, dass es zu einer massiven Überspannung gekommen war und wohl das ganze Haus für mehrere Monate die Pforten schließen musste. Als sie dann aber die ersten Beschwerden der Kunden erhielt, dass auch deren Mobilttelefone, Digitaluhren und elektronischen Terminkalender kaputtgegangen waren musste sie eine neue Erklärung erfinden. Dabei half ihr José, der eigentlich Professor für Physik an der Universität von Salamanca war und wegen seiner Familie und den Studenten den weiten Weg in das Sündenhaus von Sevilla gefunden hatte.
"Offenbar ist es durch die Überspannung in den Spulen des hauseigenen Umspanners zu einem energiereichen elektromagnetischen Impuls gekommen, der nicht nur die ans Stromnetz angeschlossenen Geräte, sondern auch alle anderen Elektronischen Geräte im Umkreis zerstört hat. Natürlich werden wir jedem den entstandenen Schaden ersetzen", sagte Itoluhila. Vom Geld her hatte sie keine Probleme. Sie kannte sogar noch Orte, wo über das Meer herbeigeschafftes Gold aus Amerika verborgen war. Sie bot auch an, die geschädigten Kunden nach der wiedereröffnung eine Zeitwoche lang umsonst mit ihren Mädchen zusammenkommen zu lassen. Damit erzielte sie einen größeren Beruhigungseffekt als mit einer Zahlungsankündigung. Immerhin hatte sich der Prozess nicht über die Casa del Sol hinaus ausgebreitet. Denn dann wäre sicherlich noch mehr aufsehen entstanden.
Am Ende der Begutachtung- und Beschwichtigungsansprachen schickte Itoluhila einen Gedankenruf an ihre Schwester:
"Es war hart, hat aber funktioniert. Irgendwie hat die Kraft, die mir zuerst zugesetzt hat, innerhalb seines Körpers geholfen, diesen zu sprengen."
"Dann gelingt mir das mit ähnlichen Frechlingen auch", erfolgte Ullituhilias Antwort. "Schön, dass du nicht bei mir unterschlüpfen musstest."
"Das sehe ich auch so", erwiderte Itoluhila und wünschte ihrer vor wenigen Monaten wiedererweckten Schwester noch ein schönes neues Jahr, auch wenn sie beide nicht an den glaubten, nach dem diese Zeitrechnung benannt war.
"Wir konnten beim besten Willen keine Datenverfremdung nachweisen", sagte Doktor Anthony McRore, der oberste Rechtsbeistand von Freies Land für freie Völker. "Und nachdem Sie auch noch die drei ehemaligen Minensklaven von Lord Harana gefunden haben können wir mit dem Material vor Gericht gehen." Howard Snyder, der offizielle Leiter der Organisation Freies Land für freie Völker, atmete auf. Seitdem seine Mitarbeiter Dean Cushing und Eduardo Ortíz verschwunden waren und es hieß, sie seien von Cales Killern erledigt worden, nachdem diese selbst sechs Mann verloren hatten, wollte schon die ganze Aktion verlorengeben. Da war dieser Viertelinder William Rundhi Hastings in London aufgetaucht und hatte die von Desalle zusammengetragenen Daten vorgelegt. Wochen lang hatten die Computerexperten und Anwälte von FLFV zugebracht, die Dateien auf mögliche Manipulationen zu prüfen, aussagewillige Zeugen zu finden und nach Europa zu schmuggeln. Denn sicher war nur, dass Cale bei der öffentlichen Anschuldigung sofort mit seinen Anwälten aufmarschieren würde, um legal zu erreichen, was er auf kriminellem Weg nicht erreicht hatte, alle gegen ihn erhebbaren Anschuldigungen zu entkräften und so sauber wie ein frisch gebadeter Säugling aus allem herauszukommen, wie er es bei ähnlichen Fällen schon geschafft hatte.
Den Prozess verzögert hatte auch der Umstand, dass FLFV dem wie aus einem Zaubererzylinder gehüpften William Hastings erst misstraut hatte. Doch als dessen Lebenslauf lückenlos nachgeprüft und bestätigt worden war hatten sie das von ihm mitgebrachte Material zur Überprüfung gegeben. Es hätte ja immerhin sein können, dass ein Konkurrent Cales diesem etwas anhängen wollte, um das dadurch freiwerdende Revier zu übernehmen.
"Werden Sie auch Desalles Tagebuch als Beweis vorlegen?" fragte Snyder den Anwalt.
"Nachdem unsere Graphologen seine Handschrift bestätigt haben auf jeden Fall, genauso wie die chemischen Gutachten über die sichergestellten Diamanten", erwiderte McRore.
"Gut, da Sie die Sachen nur per Eilexpress von dem leider zu früh von uns gegangenen Mr. Cushing erhalten haben brauchen wir Sie nicht als Zeugen für die Beschaffung zu erwähnen", sagte Snyder. William Hastings blickte ihn an, als fühle er sich durch diese Feststellung zurückgesetzt, lächelte dann aber erleichtert. Wenn die Sache erst einmal ins Rollen geraten war waren alle Zeugen in Gefahr. Deshalb wussten bis auf Snyder, den Anwalt und ihm auch nur zehn Inspektoren von Scotland Yard, wo die fünf aus Afrika nach Großbritannien geschmuggelten Jugendlichen untergebracht waren, die für den machtgierigen Kriegsherren Harana erst nach Diamanten gewühlt und dann als dessen Kindersoldaten ihr Leben im Kampf gegen verfeindete Truppen riskiert hatten.
Als Hastings in die von der Organisation angemietete Ferienwohnung im Londoner Westend zurückkehrte ging er als erstes in das Schlafzimmer und legte sich auf das Bett. "Daganzipa, meine Göttin. Ich möchte mit dir sprechen", dachte er, wobei er sich auf seinen linken Arm konzentrierte. An diesen war ein festanliegendes Band aus schwarzbraunem Frauenhaar geknotet, das sich bei der geistigen Anrufung seiner Herrin sachte erwärmte. "Daganzipa, meine Göttin der irdischen Freuden, ich rufe dich", dachte er erneut und sah nun im Geiste das Bild einer berückend schönen Frau mit bronzefarbener Haut und nachtschwarzen Augen vor sich, die anfing, völlig unverhüllt vor ihm zu tanzen und dabei ein leises, in die tiefsten Schichten seines Bewusstseins dringendes Lied zu singen, wie damals, als sie ihn vor Cales Killern gerettet hatte. Als sie ihn dann noch körperlich mit einem halbindischen Studenten Verschmolzen und damit ihrer beiden Seelen zu einer zusammengefügt hatte, gehörte er ganz und gar ihr.
"Du hast den Auftrag beenden können", hörte er die sanfte Stimme seiner Herrin im Kopf. "Das wird einige Herrschaften freuen, die Cales Revier übernehmen können. Achso gute Menschen helfen mit, von ihnen verachteten Menschen mehr Macht zu geben. Ist das nicht erheiternd?"
"Du bist meine Göttin, meine Liebe, mein Leben", erwiderte William mit einem in seinen Geist und Verstand eingebranntem Mantra der Unterwürfigkeit.
"Und deshalb wirst du von mir immer beschützt sein und meine Augen und Ohren in den Ländern jener sein, die sich angemaßt haben, sich als Lenker der Welt zu sehen. Dort wo du bist hast du genug Einblick in die Abgründe ihrer Taten und kannst mir damit wichtige Kunde bringen."
"Da ich nicht Dean Cushing bin werden sie mich nicht als Zeugen benennen, um mich nicht doch noch in Gefahr zu bringen. Sie werden so tun, als habe Desalle zwei Pakete verschickt, eines offen, um mögliche Verfolger darauf zu stoßen, das andere heimlich, um sicherzustellen, dass Cales Machenschaften auch wirklich enthüllt werden."
"War eine gute Idee von mir, nicht wahr?" stellte seine körperlich weit von ihm fort lebende Herrin eine rein rhetorische Frage. Denn etwas anderes als eine Bejahung würde sie nicht hinnehmen. So bestätigte er, dass ihr Plan, Raymond Cale doch noch auffliegen zu lassen, gut durchdachtt und narrensicher gewesen war. Von dem Menschenrechtler und bekennenden Pazifisten Dean Cushing war nach der ersten Begegnung mit Daganzipa nichts mehr übrig. Deshalb lächelte Hastings überlegen, wenn er daran dachte, dass der Besitzer jenes Privatjets, mit dem er aus Südafrika geflüchtet war, Cales Diamantenmine übernehmen und sich Daganzipas Getreuen dankbar erweisen würde.
Dass seine Schutzherrin im Moment größere Sorgen hatte, als sich eine außergesetzliche Organisation aufzubauen wusste er nicht. Für ihn war nur wichtig, dass das Haarband an seinem Arm ihn gegen jede Waffe aus Metall oder Mineralstoff immun machte. Auch Gifte konnten ihm nichts anhaben, weil die meisten von denen aus pflanzlichen Zutaten bestanden und Pflanzen nun einmal aus der Erde herauswuchsen.
Vince Brown, der als Vincente Aurelio Marón nach Südafrika geflohen war, weil die Konkurrenten seines früheren Anführers alle wichtigen Helfershelfer erledigen wollten, hatte zu einer Besprechung geladen, bei der auch sie anwesend sein würde. Wie Vince Brown, der seinem Lebenslauf nach aus Kolumbien stammte und dort Lieferrant eines Drogenbarons gewesen war, innerhalb von nur zwei Monaten diese Firma für Import und Export hochgezogen hatte wussten nur er und die beiden Orientalen, die gewissermaßen Schicksalsbrüder von ihm waren. Der eine nannte sich seit jener Reise in das Taurusgebirge Murat Gögzun und war ausgebildeter Pilot für alles zwischen Sportmaschine und Jumbojet. Der andere nannte sich Ali ben Faruk und arbeitete in Browns kleiner Firma als Aquisitor und Personalchef, wenngleich die Firma gerade einmal sieben Personen beschäftigte.
"Unsere große Schutzherrin hat mir eine Warnung geschickt, wir sollen vor langzähnigen Leuten auf der Hut sein", sagte Brown alias Marón. "Deshalb kann das noch ein paar Minuten dauern, bis sie hier ist."
"Hast du den Rechner runtergefahren, Compadre?" fragte der Mann, der seit der Reise in den Taurus Murat Gögzun hieß.
"Noch einen heftigen Ausfall dieses neumodischen Dings muss ich nicht erleben, wenn sie herkommt", knurrte Brown. Trotz der durch seine Schutzherrin von im Lande tätigen Experten vermittelten Computerkenntnisse traute er diesen kleinen, tragbaren und superschnellen und vielseitigen Rechnengeräten nicht über den Weg. Er hatte noch die alten, schrankgroßen Apparate im Kopf, die laut rasselnde Relais besaßen und ihre Informationen in Lochstreifen einstanzten. Dass er durch die Körperverjüngungstherapie seiner neuen Herrin alles vergessen hatte, was er in den letzten vierzig Jahren erlebt hatte, war ihm zuerst als Belastung erschinen. Seine Herrin hatte dann aber lächelnd gesagt, dass er ohne das ganze Wissen wesentlich freier leben könne.
"Nur soviel. Wir kriegen Rogers Gulfstream und seinen ausrangierten Bürojumbo geschenkt, weil wir ihm geholfen haben, Cales Diamantenschiebung auffliegen zu lassen", sagte Ali ben Faruk, der vor dem elften September 2001 noch Kemal Özdemir geheißen hatte. Doch nach einer schwarzmagischen Seelenvertauschung mit einem jungen arabischen Studenten war dieser Teil seines Lebens endgültig Geschichte.
"Estupendo", erwiderte Vince Brown alias Vincente Marón. "Murat, du kannst sowas fliegen?"
"Ich habe einen Schein, wo das draufsteht, dass ich auch das Muster 747 fliegen kann. Wieso?""Weil wir die Maschine dann zu unserem fliegenden Befehlsstand machen, Leute", sagte Vince Brown. "Wenn sich rumspricht, dass wir Cales Imperium zerschlagen haben, haben wir nicht nur Freunde da draußen."
"Hatten wir die überhaupt?" fragte Ali ironisch. Darauf wollte keiner der beiden anderen antworten.
Sie plauderten die nächsten Minuten über den Start ihrer kleinen Firma und wer sich schon wo in Südafrika umgeschaut hatte. Ali liebäugelte mit einer Lodge bei Port Elizabeth im Osten. Dort wollte er die ihm zustehenden Urlaubstage unter Löwen, Elefanten und Nashörnern zubringen. Murat träumte von einem Flugsimulator für den geplanten Airbus A380. "Das wäre ein Kommandostand. Wir könnten zwei Drittel der Passagiersitze und Bordserviceräume ausbauen und durch Zusatztanks ersetzen lassen, mit denen wir dann mit einer Füllung einmal um die Erde jetten können", sagte Murat. "Vorausgesetzt, Daganzipa erlaubt uns das."
"Das müssen wir sie fragen, wenn sie kommt", sagte Vince Brown, der daran dachte, den Abend wieder mit Louisa zu verbringen, einer aufstrebenden Schwimmsportlerin, die ihm und seiner Herrin als neue Lebensenergiequelle diente.
Unvermittelt flimmerte die Luft, und völlig geräuschlos tauchte sie auf, ihre Liebesgöttin und Herrin.
"Hallo ihr drei. Na, plant ihr schon die Ausweitung eurer Handelsbeziehungen?" fragte sie mit der Betonung und Miene eines neugierigen Mädchens. Die drei Männer nickten.
"Ali, dann wirst du wohl nichts dagegen haben, die Möglichkeiten für Beziehungen zu ägyptischen Firmen auszukundschaften?" fragte sie Ali ben Faruk. Dieser wollte wissen, worin die von seiner neuen Herrin gewünschten Beziehungen bestehen sollten.
"Es geht mir um Gegenstände aus der Vergangenheit, Altertümer sagen die Menschen heute dazu. Für mich gehören diese Dinge zu meiner Jugendblüte und ich würde gerne welche davon in Besitz bringen."
"Wer hindert dich daran, sie dir zu nehmen?" wollte Vincente Marón alias Vince Brown wissen.
"Der Umstand, dass ich keine Zeit mit der Suche vertun möchte, wer solche Dinge besitzt und welche genau und ob er oder sie für Reichtum empfänglich ist, sich davon zu trennen oder wie ich sehr daran erfreut ist, solche Dinge zu besitzen", erwiderte die Gebieterin der drei Männer, wobei sie mit keiner Regung verriet, ob sie über diese Frage erfreut oder verärgert war. Ali Faruk stimmte zu, sich von Murat nach Kairo fliegen zu lassen. Jetzt, wo sie die Gulfstream von Leroy Rogers dauerhaft benutzen durften, waren sie von den üblichen Flugverbindungen unabhängig.
"Und was soll ich in der Zeit tun, Daganzipa?" fragte Vince Brown.
"Du bleibst hier bei mir und erfüllst den besonderen Auftrag, den ich dir nach deiner Gesundung erteilt habe", legte die tödlich gefährliche Schönheit fest.
"In Ordnung, Jungs, ich halte hier den Laden am laufen, während du, Ali, im Land der Pharaonen nach Ramses' erster Windel und Nophretetes Schminkkoffer suchst", scherzte Vince Brown.
"Mich interessiert eher etwas über den Kult von Amun, Horus oder Aton", legte Daganzipa genauer fest, worum es ihr ging. Ali und Murat bestätigten das.
"Gut, dann verlasse ich euch wieder. Hütet euch vor nächtlichen Besuchern oder solchen, die eine euch beunruhigende Ausstrahlung aussenden!" gab sie ihren drei kurzlebigen Unterworfenen noch eine Warnung mit. Dann verschwand sie mit einem leisen Säuseln und einem kurzen Flimmern, als habe sie sich in Luft aufgelöst.
"Die hätte dich in Stein verwandeln können für die Frage, was sie will", tadelte Vince Brown seinen arabisch aussehenden Schicksalsgenossen. Dieser winkte ab und sagte:
"Sicher weiß ich, dass sie mir keine Rechenschaft schuldig ist, warum ich dieses oder jenes tun soll. Aber wo sie schon mal hier war konnte sie mir doch sagen, worum es ihr geht." Dem musste Murat Gögzun zustimmen. Natürlich hätte ihre gemeinsame Herrin Ali auch in seinen Geist hineinsprechen oder ihm mit ihrem Blick die Bilder der Dinge, die sie haben wollte in den Kopf übermitteln können. Doch wenn sie das auf natürliche Weise erzählte, warum nicht.
"Pass gut auf Daganzipas Geschenk auf! Nach dem elften September sind die arabischen Länder genauso unsicher geworden wie Südafrika", warnte Vince Brown.
"Ihr Band schützt mich vor Kugeln, Splittern und Klingen. Aber wenn wir mitten in der Luft angegriffen werden ... Ich will nicht irgendwas beschreien", grummelte Ali ben Faruk. Jedenfalls war es nun klar, dass Vince Brown die nächsten Tage oder Wochen alleine in diesem Büro arbeiten würde.
Itoluhila hatte damit gerechnet, dass die irgendwie zu einer überragenden Daseinsform gewordene Nyx sich nicht damit abfinden würde, dass ihr Superkrieger den Kampf mit ihr verloren hatte. Als am 20. Januar wieder eine mächtige Erschütterung der magischen Bannlinien gegen Vampire erfolgte und Loli gleich vier Feinde spürte, die auf ihrer Lieblingsstraße angefahren kamen, wusste sie, dass ihre neue große Feindin sich von ihrer Niederlage erholt hatte und nun mit größerer Wucht zurückschlug. Sie fühlte, dass die vier Eindringlinge von derselben Beschaffenheit waren wie Guerrerazo. Konnte sie gegen vier von denen zugleich ankämpfen? Sie wusste, dass um diese Nachtzeit nur Adelita und Eugenia auf der Straße bereitstanden. Ricarda, die ebenfalls in diesem Revier anschaffte, hatte am Abend wieder ihren Stammkunden zu Besuch, einem, der gleich eine ganze Nacht bei ihr zubrachte und dafür auch sehr großzügig zahlte. Wenn die vier Feinde sich die Mädchen schnappten und umbrachten oder gar in Ihresgleichen verwandelten hatte sie ein sehr ernstes Problem. Also musste sie hin, um sich den vier Fremden zu stellen.
Adela langweilte sich. Ricarda hatte wieder ihren Stammkunden, diesen Profesor Pedro, von dem keines der hier tätigen Freudenmädchen annahm, dass Pedro sein richtiger Name war. Er kam immer mit einem Mercedes mit madrider Kennzeichen an und parkte diesen im Hinterhof von Ricardas und Adelas Arbeitsstätte. Auch wenn der Wagen sicher gutes Geld brachte würde sich in dieser Gegend kein Autodieb an ihm vergreifen. Denn hier regierte das Gesetz des schwarzen Engels. Wer sich an den für ihn laufenden Mädchen oder dem Eigentum ihrer Kunden vergriff lag nicht viel später in einer Schublade im städtischen Leichenschauhaus. Das hatte sich bei den kleinen Ganowen so tief eingegraben, dass dieses Viertel auch ohne Polizeistreife so sicher war wie ein Banktresor. Deshalb war Adela auch nicht so argwöhnisch, als sie die zwei silbergrauen BMWs sah, die sich ihrem üblichen Stellplatz näherten. Sie erkannte, dass die Wagen aus Barcelona stammten, also einen weiten Weg hinter sich hatten. Die Fenster waren so stark abgedunkelt wie die stärksten Sonnenbrillen. Das weckte in der Straßendirne zum ersten Mal seit Jahren ein gewisses Unbehagen. Als dann leise Surrend das Fenster an der Fahrerseite herunterfuhr und ein Mann mit kurzen Haaren seinen Kopf heraussteckte rührte sie sich nicht von der Stelle. Sonst hätte sie sicher schon ihr bestes Lächeln aufgesetzt und wäre mit eindeutig einladend ausladenden Bewegungen auf den Wagen zugegangen, um den Fahrer zu fragen, ob er mit ihr wollte. Doch sowohl am Wagen als auch an dem Kopf des Fahrers war einiges Unheimlich. Deshalb tat sie einen behutsamen Schritt nach hinten. Sie verwünschte jetzt den Umstand, in ihren extrahohen Stöckelschuhen zur Arbeit angetreten zu sein. Eugenia, die gerade auch von einem fremden Mann begutachtet wurde, trug kniehohe Stiefel aus rotem Lackleder. Die konnte im Ernstfall schneller und sicherer laufen.
"Hallo Señorita, Lust auf fünfhundert Euro?" raunte der Fahrer des einen BMWs. Adela fühlte eine immer größer werdende Angst. Normalerweise hätte sie sofort nach den Wünschen des Kunden gefragt. Sie hatte sich schon vor der Währungsumstellung den Umrechnungskurs von den alten Peseten in die Gemeinschaftswährung eingeprägt, um nicht von ihren Kunden betrogen zu werden. Jetzt sah sie auch, dass in dem Wagen noch jemand saß. Auf Dreierspiele hatte sie seit einem unliebsamen Zwischenfall vor fünf Jahren überhaupt keine Lust mehr. Das hätte sie dem anderen auch gerne gesagt. Doch die Angst vor dem hielt ihr den Mund zu. Sie trat noch zwei Schritte zurück, um schnell weglaufen zu können. Da hörte sie, wie ihre Kollegin Eugenia kurz aufschrie, bevor zwei Wagentüren zuklappten. Das war für die beiden im Auto vor Adela wohl ein Startzeichen. Sie stießen die Türen auf. Der Beifahrer sprurtete um die wuchtige Motorhaube herum, während der Fahrer direkt auf Adela losstürzte. Diese warf sich herum und rannte los. Beinahe stürzte sie dabei über ihre viel zu hohen Absätze. Doch auch so kam sie gerade einmal zehn schnelle Schritte weit. Zwei starke Arme schlangen sich wie eine zuschnappende Zange um sie und rissen sie von den Füßen. Sie wurde herumgewirbelt und sah genau in das einen Meter von ihr entfernte Gesicht des Beifahrers. Der Blick seiner Augen traf den ihren. Adela blieb der Aufschrei im Halse stecken. Unvermittelt überwältigte sie eine völlige Lähmung ihres Willens und ihrer Bewegungsfähigkeit. "Du und die andere Nutte kommt mit uns und werdet unsere Schwestern im Namen der großen Mutter der Nacht", zischte der Fahrer des Wagens, während er Adela mit seinem Blick unter völliger Kontrolle hielt. Zu keiner Regung mehr fähig wurde die Straßendirne auf den breiten Rücksitz des BMWs gewuchtet. Die Hintertür klappte zu. Dann schlüpften die beiden Unheimlichen auf ihre Sitze und schlossen die Türen. Da der Motor noch lief brauchte der Fahrer nur von Parken auf Fahren umzuschalten und Gas zu geben.
Die BMWs schafften gerade fünfzig Meter, als eine undurchdringlich schwarze Wolke von oben herabfiel und die beiden Fahrzeuge umschloss. Die kraftvollen Motoren liefen noch zwei Sekunden. Dann begannen sie zu stottern und erstarben schließlich mit hässlichem Knirschen und Krachen. Die beiden Wagen rollten noch einige Meter weiter. Doch dann hatte die unheimliche Wolke auch Räder und Achsen blockiert. Jetzt standen die beiden Fahrzeuge still. "Raus hier, die greift uns mit ihrem blöden Eisnebel an!" rief der Fahrer des Wagens, mit dem Adela entführt worden war. Da sahen die beiden Unheimlichen schon eine immer dickere Eisschicht, die den Wagen einschloss.
"Los, dagegenstemmen. Die meint, die könnte uns in unseren Autos festfrieren", lachte der Beifahrer.
"Ihr seit zu viert und habt die Kraft, jeden Zauberangriff zurückzuwerfen. Sprengt euch frei!" peitschte eine auffordernde Gedankenstimme durch die Köpfe der vier Unheimlichen. Diese gehorchten. Sie legten ihre Hände gegen die schrägen säulen, die Vordertür und Windschutzscheibe trennte. Sofort begannen ihre Hände in einem blauen Licht zu leuchten. Währenddessen wuchs um sie herum ein immer dickerer Eispanzer an.
Das blaue Licht erfüllte nach und nach den Innenraum der beiden Autos. Denn auch die beiden anderen Bundesgenossen versuchten, mit der ihnen eingeimpften Zauberkraft der Unlichtkristalle, die sie bedrängende Magie zurückzuwerfen. Es sah auch ganz danach aus, als sei diese gemeinsame Kraftanstrengung erfolgreich. Der Eispanzer bröckelte und riss. Es waren nur noch Sekunden, bis er völlig zerbersten würde. Da passierte etwas, womit die vier von Unlichtkristallstaub bestärkten Nachtkinder nicht hatten rechnen können.
Von vorne kam ein Auto mit überhöhtem Tempo angerast. Die beiden Kristallvampire, die Adela in ihre Gewalt gebracht hatten hörten mit ihren empfindlichen Ohren die Schreie einer Frau aus dem anderen Auto. Dann quietschten Bremsen und Reifen. Knapp vor dem ersten BMW war das andere Auto zum stehen gekommen. In dem Moment erklang ein langgezogener Schrei, der erste Schrei eines soeben geborenen Kindes.
In dem Moment, wo der erste Schrei ertönte, war es den beiden, als reiße ihnen jemand durch den Kopf die Eingeweide aus dem Leib. Sie versuchten, ihre große Göttin anzurufen. Doch ihnen schwand innerhalb von zwei Sekunden jede Kraft. Sie hörten nur noch die Schreie des Neugeborenen, die wie schmerzhafte Hiebe durch ihre Leiber zu dringen schienen. Die beiden konnten sich nicht mehr rühren. Einer von ihnen versuchte, Gooriaimiria um Hilfe zu bitten, dass sie sie mit ihrer besonderen Kraft aus dieser Lage herausholte. Doch er konnte nicht mehr genug geistige Kraft aufbringen, um seine Gedankenrufe weit genug zu senden. Das blaue Leuchten, mit dem sie gerade noch die magische Vereisung zurückgedrängt hatten, erlosch so schlagartig wie ausgeschaltetes Elektrolicht. Sofort danach kehrte der dunkle Vereisungsnebel zurück und schloss den Wagen und auch den der beiden Kumpane in einen neuen, rasch anwachsenden Eispanzer ein.
Mit dem abrupten Kraftverlust wich auch der Bann, in dem Adela untätig auf dem Rücksitz gelegen hatte. Weil sie keine hochempfindlichen Ohren hatte hatte sie nur die quietschenden Bremsen eines anderen Autos gehört. Was den beiden Unheimlichen da vor ihr auf den Sitzen so zusetzte und ihr gleichzeitig ihre Willens- und Bewegungsfreiheit zurückgab wusste die Straßenhure nicht.
Jose Manolo Alvarez Dominguez hatte nicht durch dieses Viertel fahren wollen. Doch als seine Frau Isabel schon rief, dass der Kopf ihres vierten Kindes zu sehen war und nur noch laut schreien konnte, hatte er den Weg durch das Hurenviertel gewählt, um noch schneller bei der Maria-Mercedes-Klinik anzukommen. Dort sollte seine Frau das vierte Kind bekommen. Doch dann war da vor ihnen auf einer Straße diese schwarze Wand aufgetaucht, in der José zwei große blau leuchtende Gebilde sehen konnte. Er hatte sofort gebremst, um nicht in diese unheimliche Schwärze hineinzufahren. In dem Moment hatte Isabel einen langen Aufschrei ausgestoßen. Dann hatte ein Neugeborenes geschrien, sein Kind. Es war schon da! José warf einen Blick nach hinten. Seine Frau lag wild keuchend auf dem Rücksitz. Blut und Fruchtwasser tränkten das Polster, und immer noch an der Nabelschnur hängend strampelte und schrie ein kleines rotes Bündel Menschenleben, sein Kind!
"Isa, wir können nicht weiter. Vor uns ist die Straße zu, verdammt!" stieß er aus. "Pepe, hilf mir. Das Kind!" wimmerte Isabel.
José löste den Sicherheitsgurt, um aus den Wagen zu springen. Da tauchte links von ihm eine schlanke, langbeinige Erscheinung mit üppiger Oberweite auf. "Ja, wen haben wir denn da, ein neues Menschenwesen!" hörte er eine hocherfreute Frauenstimme flöten. Er stieß die Tür auf. "Wir brauchen Hilfe!" rief José. Dann sah er, dass die Fremde sehr spärlich bekleidet war. Womöglich hatte sie hier ihr Arbeitsrevier. Egal! Dann wollte er der Hure eben jede Minute bezahlen, damit die keinen Krach mit ihrem Zuhälter bekam. Das war sein Kind und das Leben seiner Frau hundertmal wert.
"Ich kann Ihnen jetzt vierhundert Euro geben und später noch mal tausend, wenn Sie uns helfen, meine Frau und das Kleine ins Krankenhaus zu kriegen. Ich weiß nicht, was für eine Wand das vor uns ist und ..." sprudelte es aus José heraus. Dann traf ihn der Blick der wasserblauen Augen der Fremden. Unvermittelt wich alle Nervosität und Angst aus seinem Bewusstsein und machte einem Gefühl grenzenloser Sorglosigkeit Platz. "Ich helfe euch gerne. Ihr habt mich schon fürstlich bezahlt", hörte er die nun tief und warm klingende Stimme der Unbekannten. Isabel sah sie an und schrie erst, weil ihr die andere unheimlich war. "Fassen Sie mich nicht an! Lassen Sie mein Kind in Ruhe!" Doch dann verfiel sie wie José einer unheimlichen Kraft, die ihre Angst und ihre Schmerzen aus dem Bewusstsein verdrängte.
Mit einer silbernen Schere aus ihrer Handtasche und Strähnen von ihrem langen, schwarzblauen Haar band die Unbekannte die Nabelschnur ab und schnitt sie durch, damit das Kind nun ganz von der mütterlichen Blutversorgung gelöst war. "Ein kleines Menschenmädchen, unschuldig und lebenshungrig", flötete die Unbekannte. "Du kriegst sie gleich in deine Arme gelegt, Isabel. Aber ich brauche sie noch, um meinen unerwarteten Sieg zu vollenden", sagte die Unbekannte und hob das gerade neugeborene Mädchen aus dem Auto heraus. Isabel und José blieben handlungsunfähig zurück. Sie sahen noch, wie die Unbekannte ihr neugeborenes Kind wie eine Trophäe vor sich hertrug und auf die schwarze Wand zuging. "Hört es, den Ruf neuen Lebens!" lachte sie. Das kleine Mädchen schrie derweil. Ihm war kalt und es vermisste den beruhigenden Klang des mütterlichen Herzens und fühlte den ersten Hunger seines Lebens. In die Schreie der Neugeborenen hinein begann die Unbekannte ein Lied zu singen. Die schwarze Wand wippte unter den Tönen dieser Melodie und zog sich dann zurück. Jetzt konnte José zwei in dicke Eispanzer eingefrorene Autos erkennen, protzige Wagen, sicher von Managern oder höheren Beamten. Unvermittelt verschwand das Eis und wurde zu schwarzem Dunst. "Adelita, Eugenia, raus da!" hörte José die Unbekannte rufen. Dann sah er, wie aus den freigelegten BMWs zwei leichtbekleidete Frauen herausschlüpften und auf einen Wink der Unbekannten mehrere Dutzend Meter weit liefen. Kaum waren sie weit genug von den Autos fort, verfestigte sich der Nebel wieder zu schwarzem Eis.
Die Unbekannte sang eine Melodie, in die die Schreie der Neugeborenen wie die Rufe eines Vorsängers hineinpassten. Das Eis wuchs zunächst, um sich dann unter steigendem Druck zusammenzuballen. Wie eine Schrottpresse aus Eis quetschte die unheimliche Kraft die beiden eingeschlossenen Autos mehr und mehr zusammen. Das Metall knirschte und kreischte. Plastikteile krachten und knackten. In einem hässlichen Zusammenklang von zusammengedrücktem Metall und Plastik schrumpften die beiden schwarzen Eisblöcke. Dann hielt die andere inne, ließ das kleine Mädchen eine halbe Minute lang alleine Laut geben. Dann zogen sich die Eismassen mit erbarmungsloser Urgewalt zusammen. Kreischend und krachend wurden die beiden Autos endgültig zusammengedrückt. Einen Moment lang sah es so aus, als wolle von innen her noch etwas gegen die eisige Vernichtung ankämpfen. Dann krachte es laut und endgültig, und dort, wo vorhin noch zwei stattliche Nobelwagen gestanden hatten, lagen nur noch zwei gerade einen Meter große Blöcke aus schwarzem Eis. "Nix da, ihr bleibt bei mir!" hörte José die Unbekannte entschlossen rufen. Da sah er, wie aus den beiden Eisblöcken je zwei tennisballgroße Klumpen herausflogen und einige Meter über die Straße kullerten. Dann verschwand das Eis und hinterließ zwei von Öl und ausgewrungenem Benzin getränkte Metallklumpen.
José hatte der ganzen magischen Vernichtungsaktion tatenlos zugesehen. Doch während die andere ihr böses Zauberwerk vollführte kehrte sein Wille zurück. Seine Sorge um das gerade erst geborene Kind, um seine Frau. Dann dachte er, dass die andere keine Hure, sondern eine Hexe war, die gerade mit zwei ihr lästig fallenden Feinden aufgeräumt hatte und dabei das unschuldige Leben seines Kindes als Verstärker ihrer gottlosen Zauberkunst benutzt hatte. Er sprang aus dem Wagen und griff unter sein Hemd. Dort hing das goldene Kreuz, dass er zur Firmung bekommen hatte. Der darin eingravierte lateinische Segensspruch und die Insignien der vier mächtigsten Erzengel zierten das religiöse Schmuckstück. Doch warum hatte es ihn nicht vor der teuflischen Magie beschützt, mit der Isabel und er gebannt worden waren? Womöglich musste die Teufelsdienerin es sehen, um seiner heiligen Kraft zu verfallen.
"Im Namen des Herren und seines Sohnes Jesu Christi, gib mir mein Kind zurück, Hexe!" rief er, während er der anderen das goldene Kruzifix entgegenstreckte.
"Och nöh, noch so einer", knurrte sie. Dann lachte sie. "resurrectio et vita sum. Lux eterna te dueceat per omnes dies vitae tuae!" deklamierte sie den Segensspruch. "Ach neh, und die vier Schwertträger Javes auch noch mit dabei."
"Gib uns unser Kind wieder!" rief José und setzte an, die vier Namen zu rufen. Doch die andere kam ihm zuvor. Er erstarrte, als sie die Namen der höchsten Streiter Gottes ausrief und dann lachte. "Das hat vor zehn Jahren schon mal wer gemeint, weil er es in einem Märchenheft für Erwachsene gelesen hat, dass damit achso böse Dämonen vertrieben oder vernichtet werden können. Hat dem netten Jungen aber nicht den Erfolg gebracht, den er sich erhofft hat. Aber ich habe euch gesagt, dass ihr euer Kind wiederbekommt. Also mach nichts, was sein junges Leben gefährdet!"
"Heiland hilf", wimmerte José.
"Das hat er doch schon. Er hat mich zu euch geschickt, damit deine Frau nicht verblutet, Pito", säuselte die unheimliche Geburtshelferin. Dann trug sie das kleine, immer noch laut und fordernd schreiende Mädchen zu Josés Opel Corsa zurück und legte es seiner Mutter in die Arme. "Hege und nähre es wohl, euer Geschenk!" sagte sie. Dann bannte sie José und Isabel wieder mit ihrem magischen Blick. Sie half der nun vierfachen Mutter beim Austreiben der Nachgeburt und reinigte mit Desinfektionslösung und hochprozentigem Alkohol den wunden Unterleib der neuen Mutter. Dann ließ sie die Eltern des Kindes in einen kurzen Schlaf versinken. Als sie daraus erwachten fanden sie sich auf der Straße wieder. Zwei Ölflecken zeigten, dass dort wohl ein Wagen mit lecker Ölwanne entlanggefahren war. Deshalb hatte José gebremst. Weil das Kind da schon mit dem Kopf aus ihrem Leib gedrungen war hatte er ihr so gut es ging beigestanden und sie versorgt. Nabelschnur und Nachgeburt hatte er dann in den nächsten Gully geworfen. Jetzt wollte er mit seiner Frau und der Kleinen, die sie María Mercedes Milagro nennen wollten ins Krankenhaus, damit Isabel und sie sich von der unbetreuten Geburt erholen konnten. Was wirklich passiert war wusste zu diesem Zeitpunkt nur die kleine neue Erdenbürgerin. Denn um die Reinheit ihres unschuldigen Lebens nicht zu verderben hatte ihre unheimliche Geburtshelferin sie nicht mit ihrem magischen Blick unterworfen. Doch würde das kleine Mädchen jemals erzählen können, was ihm in dieser Nacht, der Nacht zum zwanzigsten Januar 2002, widerfahren war?
Woran es genau lag bekam Winston Carrigan nicht mit. Jedenfalls war der Alarm losgeplärrt. Irgendwer hatte irgendwas an der gesicherten Tür zu den Laboratorien angestellt. Hier wurden Experimente zur Zellregeneration gemacht. Jetzt, wo tausende von Soldaten in Afghanistan waren hatte Onkel Sam die Mittel für die Wissenschaftler hier um das vierfache aufgestockt. Immerhin wollten die Seren und Methoden entwickeln, um starken Blutverlust auszugleichen, schwere Gewebeschäden schneller zu heilen oder durchtrennte Nervenverbindungen zu heilen, um dauerhafte Lähmungen zu verhindern oder Knochenbrüche schneller verheilen zu lassen, um Soldaten möglichst schnell ins Feld zurückschicken zu können.
"Wo ist der Alarm losgegangen?" fragte Laslo Ortega, der Leiter des hauseigenen Sicherheitstrupps.
"Abteilung H3, wo sie mit genetisch verändertem Knochenmark herummachen, um die Bluterneuerung zu beschleunigen", meldete Carrigan. Er versuchte die ganze Zeit, Bilder der Eindringlinge zu kriegen. Die Sensoren spielten total verrückt. Mal meldeten sie drei Unbefugte, mal dreißig. Dann waren sie für ganze fünf Sekunden tot. Die Videokameras zeigten nur Schnee, als wenn sie mitten in einen heftigen Schneesturm hineingehalten würden.
"Die stören unsere Elektronik", knurrte Ortega. "Okay, Pancroft, Rippley und Moretti nahch H3. Ausrüstung Stufe zehn!" befahl Ortega über den verschlüsselten Funk. Er bekam von allen namentlich erwähnten eine Klarmeldung.
"Wenn's Al-qaida-Leute sind könnten die das Institut in die Luft sprengen", unkte Carrigan.
"Dann hätten die das schon gemacht", knurrte Ortega. "Neh, die wollen an unsere Forschungsergebnisse und die Eierköpfe ran, die daran forschen. Sofort eine Leitung nach Washington!" befahl Ortega, bei dem jetzt die Ausbildung zum Marineinfantristen durchschlug.
"Natürlich, Sir", sagte Carrigan und betätigte die Schaltung, um einen Notruf über die Standleitung abzusetzen und die Sensordaten zur weitergehenden Analyse abzuschicken.
Peter Rippley, ein ehemaliger Deltaforce-Lieutenant, brauchte nicht lange zum Anziehen. Die splittersichere Panzerkleidung von den Stiefeln bis zum Helm, die feuerfeste Atemmaske gegen Säuren, Rauch und toxische Gase hatte er in einer Minute angelegt. Dann nahm er die MP und drei Magazine mit Sprengmunition und den Gürtel mit Schock- und Betäubungsgasgranaten. Dagegen würden auch keine kugelsicheren Sachen helfen. Wenn Gunny Ortega Ausrüstung zehn meinte, dann hatten sie auch diese Ausrüstung anzulegen.
Rippley lief durch die neonlichterfüllten Korridore. Die Sohlen seiner Stiefel waren aus einem Geräuschdämmenden Material, sonst konnten die ihn ja schon aus einem Kilometer entfernung hören. Wer die waren und wie stark sie bewaffnet waren wusste er nicht. Er hoffte nur, nicht von hundert genauso schwer bewaffneten Feinden auf einmal erwartet zu werden.
"Bin an Einsatzort. Kommen!" sprach Rippley in das vor seinem Kehlkopf befestigte Mikrofon des Funknetzes. Doch außer einem Rauschen und in der Tonhöhe auf- und abschwingenden Pfeiftons bekam er keine Antwort.
"Schweinepriester, die blockieren unseren Funk", dachte er. Dann sah er die tonnenschwere Sicherheitstür, die zu den Labors der Abteilung H3 führte. Irgendwer bollerte mit solcher Urgewalt dagegen, als führe er mit einem gepanzerten Wagen immer und immer wieder dagegen. Dann knisterten Funken, und die Tür tat sich Zentimeter für Zentimeter auf. Rippley vergaß fast die Weisung, erst eine Warnung auszurufen und erst bei Missachtung derselben zu feuern. Denn was er sah bestätigte, dass sie von sehr gefährlichen Subjekten angegriffen wurden.
Durch die immer weiter aufgedrückte Tür zwengte sich ein Mann, der vollkommen in Grau gekleidet war. Dass er die tonnenschwere Tür fast wie eine gewöhnliche Holztür aufdrückte verriet, dass er immense Körperkräfte besitzen musste. Sein Gesicht war eine aschgraue Maske. Seine Augen waren pechschwarz und so groß wie Golfbälle. Rippley fühlte unmittelbar die Ausstrahlung, die von dem Fremden ausging. Sie verhieß Unheil und Tod. "Eh, stehenbleiben!" rief Rippley. "Stehenbleiben und Hände so halten, dass ich die Handflächen sehen kann!" vervollständigte er die Anweisung. "Eh, Sie, verstehen Sie kein Englisch?" fragte er und versuchte es erst auf Spanisch, dann auf Russisch. Das wirkte offenbar. Denn zur Antwort bekam er einen wüsten Kraftausdruck zu hören. Doch der ehemalige Deltaforce-Mann konnte sowas so locker wegstecken wie die Eintrittskarte für einen Kinofiln. So warnte er den Fremden, der nun genug Platz hatte, um durch die Tür zu kommen. Doch der andre versuchte, ihn anzublicken, als wolle er ihn mit seinem Blick durchbohren. Da schwand Rippley die Entschlossenheit. Er stand starr da und hörte die Stimme des anderen mit den Ohren und im Kopf:
"Ich will an eure Blutlabore. Geh mir aus dem Weg und bring jeden um, der mich noch mal aufhalten will!" Rippley wandte sich ab und zielte mit der schussbereiten MP in den Gang, wo gerade seine Kameraden auftauchten. Ohne zu zögern zog er den Auslöser durch. Laut ratternd spuckte die MP ihre tödliche Ladung aus. Die Sprenggeschosse zerplatzten dumpf auf den Körpern der Kollegen und rissen trotz der Schutzkleidung große Löcher in diese. Wo die Geschosse die Masken durchschlugen hatten die Getroffenen nicht zu leiden.
Der Unbekannte betrat nun den Korridor und stapfte an den grausam zugerichteten Sicherheitsmännern vorbei. Einen Moment lang blieb er stehen und sog mit unübersehbarer Gier den Geruch des überreichlich vergossenen Blutes in die Nasenflügel ein, als sei es der Geruch seines Lieblingsessens. Rippley schwenkte seine noch rauchende Waffe hin und her, bis der andere an ihm vorbei und weiter in den Korridor vorgedrungen war.
Noch zwei graue Männer mit wie unter Strom stehenden Haaren drangen durch die offene Sicherheitstür ein und rannten an dem zum reinen Tötungsautomaten degradierten Sicherheitsmann vorbei um die von diesem erschossenen Kollegen herum weiter zu den Labors. Doch von da aus schlugen den Fremden plötzlich Salven aus in den Wänden verbauten Waffen entgegen. Schwaden von Narkosegas waberten durch den Gang. Dann schaltete Ortega sogar eine Starkstrombarriere ein. Knallend baute sich ein gleißender, flirrender Lichtbogen vor den Fremden auf. Knisternd und knatternd entluden sich mehrere zigtausend Volt zwischen den elektrischen Polen in der Wand. Rippley wollte schon rufen, dass die drei Fremden das sicher nicht überlebten, als diese auch schon mitten in die Entladungsblitze hineintraten. Um sie herum wirbelten Funken auf, Qualm drang aus ihrer Kleidung und zerfaserte im wilden Wetterleuchten der tödlichen Entladungen. Doch ebenso konnte Rippley einen Mantel aus tiefschwarzem Dunst erkennen, der wie zu weite Hemden und Hosen die Körper der Fremden umfloss. Jedenfalls durchbrachen sie die Starkstrombarrieren, ohne auch nur im Ansatz von ihnen verletzt oder gar zerstört zu werden. Sie lachten sogar über dieses Hindernis. "Wir sind unbesiegbar!" brüllte Eindringling Nummer zwei. Eure Blutmacher gehören gleich uns", antwortete ihm Eindringling Nummer drei.
"Mann, wo seid ihr denn?!" rief Ortega über Lautsprecher. Das schien den Eindringlingen eher zuzusetzen. "Ruhe!" brüllte einer. Dann liefen sie los, mitten durch die ihnen entgegenschlagenden Garben, die laut pfeifend von ihnen abprallten wie von massiven Stahlblöcken und zwischen den gepanzerten Wänden hin und hersirrten, bis sie endlich ihre ganze Wucht verbraucht hatten und wie Tropfen aus Stahl und Blei zu Boden regneten.
"Falltür!" stieß Rippley aus, der sah, wie der erste auf die letzte schwere Sicherheitstür vor dem gekachelten und steril gehaltenen Labortrakt zustapfte. Da passierte es auch schon. Eine der Bodenplatten gab nach. Der Eindringling sackte in die Tiefe. Doch da war sein Kamerad mit einem Sprung an ihn heran und bekam ihn noch an den Schultern zu fassen. So schnell konnte kein Mensch reagieren. So weit konnte selbst der Weltmeister im Weitsprung nicht springen. Und wie er den Kameraden aus dem viereckigen Loch herauspflückte besaß der auch die Kraft von fünf Gewichthebern. .
"Eure Blutmacher gehören uns, den Paladinen der schlafenden Göttin!" rief der gerade noch vor dem Sturz in die Tiefe bewahrte. Dann nahm er Anlauf und sprang über die sich gerade wieder schließende Falltüre hinweg und gegen die Panzertür, die wohl unter Strom gesetzt worden war. Denn wieder knisterten Funken. Doch dass Strom und selbst Stahlmantelgeschosse den Fremden nichts anhaben konnten hatten die drei schon bewiesen.
"Soso, ihr nennt euch Paladine!" hörte Rippley die Stimme eines Mannes. Er fuhr herum und wollte den Unbekannten erschießen. Doch er sah ihn nicht. Die drei unverwüstlichen Eindringlinge fuhren herum und zitterten. "Knall den ab. Das ist unser Feind!" brüllte der Eindringling, der Rippley mit einem konzentrierten Blick den freien Willen geraubt hatte. Rippley drückte ab. Doch irgendwie stimmte da was nicht. Es klickte nur hektisch, weil der Mechanismus der Waffe zwar lief, aber keinen Schuss auslöste. Dann blitzte es vor Rippley grell auf wie eine Schockgranate, und er verlor das Bewusstsein.
Gooriaimiria versuchte wieder und wieder, zu den Seelen ihrer vier Kristallkrieger Kontakt zu bekommen. Wieso war deren Aufschrei so plötzlich erstorben? Wieso war das magische Band, dass zwischen ihnen und ihr bestanden hatte, so plötzlich zerrissen? Einen Moment lang dachte die als übermächtige Geistesballung im Mitternachtsdiamanten eingeschlossene Vampirgöttin daran, dass sie wenige Augenblicke zuvor den Schrei eines neugeborenen Kindes gehört hatte. Ab da war jede Verbindung erloschen. Aber das konnte nicht sein. Wo sollte denn in dieser Dirnengasse ein Baby herkommen? Doch unheimlich war es schon, dass sie überhaupt keinen Kontakt mehr zu den Seelen ihrer Diener bekam, als wären diese restlos zerstreut worden oder in etwas für Gedankenströme absolut undurchlässiges eingeschlossen worden.
"Und ich kriege dich doch, Wasserdirne", drohte sie rein gedanklich. Sie erkannte erst, dass sie sich besser zurückhalten sollte, als sie aus der Ferne eine höhnische Frage ihres Widersachers hörte:
"Na, taugen deine mir abspenstig gemachten Geschöpfe nichts mehr, aufsässiges Stück Unrat?"
"Wenn ich weiß, was ich wissen will, Flaschengeist, verwende ich es, um dich aus diesem unserem Universum zu kegeln. Verlass dich drauf!" stieß Gooriaimiria eine eher an Hilflosigkeit als Entschlossenheit grenzende Drohung aus.
"Du bist und bleibst mein Geschöpf, wie der Stein, den du dir unrechtmäßig angeeignet hast. Nur mir gebührt es, mit den Kristallen des vielfachen Todes mein Werk zu vollbringen. Und wenn mein eifriger Helfer endlich den Weg zu mir gefunden hat, werde ich ihn entsenden, mir den Stein zu bringen, damit du ihm entrissen und in die Unendlichkeit zerstreut wirst, vorausgesetzt, diese vaterlosen Töchter einer männerhassenden Dirne besorgen das nicht für mich, ohne dass sie wissen, welchen großartigen Dienst sie mir damit erweisen."
"Pass lieber auf, dass die Ausgeburten dieser Kreatur nicht dich und deine Spiegelkugel ins nächste schwarze Loch im Universum dreschen, Iaxathan", gedankenschnarrte Gooriaimiria. Dann empfing sie den Hilferuf weiterer Diener, die sie auf eine andere Mission entsandt hatte. Die Sonnenkinder waren wieder aufgetaucht, um den Kampf gegen die Kinder der Nacht fortzusetzen.
Argos schlug Alarm. Auf die Stichworte "Blut, Angriff auf Blutbank und unerkennbare Eindringlinge, die Brandon schon bei der Sache mit Nocturnia programmiert hatte, war sein überarbeitetes Suchprogramm auf denAngriff auf ein Forschungsinstitut in Chicago gestoßen, das sich mit Geweberegeneration und Bluterneuerung befasste. Als Argos dann noch über die ihm eingebauten Zusatzfunktionen zur Überwachung sicherheitsrelevanter Notrufleitungen mitbekam, dass das Pentagon selbst alarmiert wurde schickte Brandon einen telepathischen Ruf an seine Mitbewohner auf der Sonneninsel los.
"Sie sind noch nicht erledigt", schnaubte Gooaridarian alias Hesperos Straton.
"Nur zehn Männer los!" befahl Faidaria. erkundet und macht Gefangene. Aber aufpassen, falls sie wieder mit dem grünen Tod versehen sind."
"Oder explodieren", warnte Brandon, der erst daran dachte, mit in diesen Einsatz zu gehen. Doch Dawn alias Gisirdaria ergriff ihn mit ihrer kleinen Hand und jagte ihm den konzentrierten Gedanken: "Du bleibst bei mir" durch den Kopf.
Als dann Gooaridarian mit neun weiteren Sonnensöhnen im Schutz von ABC-Kleidung und Unsichtbarkeitszaubern dorthin apparierten, wo ihr Fernerkunder Ilangardian die Gefahr ermittelt hatte wirkten sie zuerst das Lied der schlafenden Feuer. Denn sie hatten gelernt, dass die lauten Explosionsstoffe der magielosen Menschen durch blitzartiges Verbrennen ihre tödliche Gewalt ausübten. Ebenso kannten sie die Feuerwaffen der modernen Menschheit. Genau deshalb entgingen sie dem Angriff eines Mannes, der in schwerer Kleidung in einem Gang stand und gerade den Auftrag erhalten hatte, Gooaridarian zu töten. "Sein inneres Selbst ist von ihnen gebunden worden", dachte er seinen Kameraden zu. Da fühlte er auch schon den Blick eines der drei Graugekleideten auf sich. Er stemmte sich dagegen. Doch dieser da wich nicht vor ihm zurück. Er zitterte zwar und schnaubte. Doch er floh nicht wie die gewöhnlichen Nachtkinder. Er kämpfte. Gooaridarian fühlte, dass nur seine Unsichtbarkeit den anderen daran hinderte, ihn direkt anzusehen. "Zeig dich mir und erkenne deine Schwäche, Sonnenanbeter!" schnaubte der graue Man und entblößte silbern glänzende Fangzähne. Währenddessen jagte Darsirdarian, ein Mitstreiter Gooaridarians dem Menschen mit der Schnellfeuerwaffe das Licht der gereinigten Gedanken auf den Hals. Eigentlich vertrieb dies die Kraft der Nachtkinder aus den von ihnen unterworfenen. Doch bei dem da wirkte dieses Mittel wie ein wuchtiger Schlag gegen den Kopf. Der andere fiel um. "Diese Kraft von denen ist stärker als sonst. Irgendwas haben sie an oder in sich."
"Die dunkle Ausstrahlung von ihnen ist bei jedem so stark wie bei fünf von ihnen auf einmal", schickte Gooaridarian zurück. Dann fing der erste Eindringling doch noch den Blick seiner Augen ein. Gisirdarias Bruder fühlte, wie die unheilvolle Kraft in seinen Kopf hineinstieß. Er stemmte sich mit der ganzen Macht seiner eingeprägten Natur dagegen und schaffte es unter heftigen Kopfschmerzen, den anderen aus seinem Geist hinauszudrängen. Dann dachte er selbst das Lied vom Licht der Reinigung. Das trieb den Feind endgültig aus seinem inneren Selbst hinaus.
"Ich mach dich mit bloßen Händen tot!" röhrte der zurückgeschlagene los und stürzte in die Richtung, wo er die für ihn peinigende Ausstrahlung fühlte. Doch da wurde er von zwei weiteren Sonnensöhnen flankiert. Er schrie auf. Drei ihn peinigende Kraftquellen waren mindestens eine zu viel. Dann fingen die auch noch ein Lied zu singen an, dass die Erhabenheit der Sonne und ihre ganze Kraft beschwor. Unvermittelt erglühten die drei Sonnenkinder in gleißendem Licht, als trügen sie Mäntel aus reinem Sonnenlicht. Das war für den Umstellten zu viel. Er schrie laut auf, krümmte sich. Um seinen Körper entstand eine nachtschwarze Aura, die wild flimmerte und dabei hektisch umherschlagende Auswüchse wie haarfeine Fangarme ausstreckte. Die zwei anderen Eindringlinge sahen in die gleißenden Erscheinungen hinein. Das bei diesem magischen Widerstreit alle Elektronik und das Neonlicht im Gang ausfielen bekamen die Kämpfenden nicht mit. Die Sonnenkinder traten nun im Schutz ihrer gleißenden Lichtauren auf die drei Eindringlinge zu, die laut schrien und versuchten, ihrerseits das auf sie einwirkende Licht durch lichtschluckende Auren zu dämpfen. Doch je näher die Sonnenkinder ihren alten und doch auch neuen Feinden kamen, desto schriller schrien sie auf. Dann formte sich um jeden ein Wirbel aus nachtschwarzen Windungen und sog sie ein wie in ein schwarzes Loch. Ihre Schreie erstarben schlagartig. Dann fielen die schwarzen Wirbel in sich zusammen. Damit endete auch die übermächtige Ausstrahlung mitternächtiger Kraft. Jetzt erfüllte nur noch die Ausstrahlung der Sonnenkinder die Korridore. Einzelne Computer, die näher als fünfzig Meter waren, gingen mit dumpfen Knällen in Flammen auf oder versagten mit einem lauten Klackern ihren Dienst. Nur die wirklich weit genug stehenden Geräte überstanden die massive Ausstrahlung von zehn Kämpfern gegen die Kreaturen der Dunkelheit. Diese wussten, dass sie nun noch die Menschen mit neuen Erinnerungen versehen mussten. Sie wussten aber auch, dass sie sich keinen elektrischen oder elektronischen Geräten nähern durften, die nicht ausreichend gegen ihre besondere Ausstrahlung abgeschirmt waren.
"Dann sollen die Jetztzeitmenschen, die die Kraft benutzen können das tun", beschloss Gooaridarian. Dieser Beschluss wurde über das aufgebaute Gedankennetzwerk über tausende von Kilometern weitergeleitet. Brandon Rivers kannte eine E-Mail-Adresse, mit der er diese Anweisungen weiterleiten konnte.
""Super, die Sonnenkinder machen hier alles kaputt, und wir sollen dann alles so drehen, als wenn die Muggel das alles selbst angerichtet hätten", knurrte Romina Hamton, die wenige Minuten nach dem Einsatz der Sonnenkinder mit drei weiteren Schwestern des Spinnenordens vor Ort war. Anthelia selbst hatte auf die Teilnahme an dieser Aufräumaktion verzichtet. Die Schwestern wussten, dass sie sich nicht in die Nähe wahrhaftiger Sonnenkinder wagte, weil deren Ausstrahlung sie beeinträchtigte. Das wussten sie schon, seitdem Patricia Straton ohne Folgen den Orden hatte verlassen können. Deshalb blieb es nun an Romina Hamton hängen, die sich mit der Muggelwelt auskannte.
"Bleibt ja gut verhüllt", sagte sie ihren Mitschwestern. "Es wird nicht lange dauern, und die Ministeriumsleute schicken ihre Gedächtnisumstricker her und dann die mit den Rückschaubrillen."
"Warum sind wir dann hier, Schwester?" wollte eine der zehn über längere Zeit von Hynerias Magie gefangengehaltene Mitstreiterin wissen.
"Weil uns und vor allem unsere höchste Schwester interessiert, was genau hier passiert ist. Wir sollen dann dafür sorgen, dass die Muggel sich nicht daran erinnern können, ob sie wen von den Sonnenkindern erkannt haben."
"Achso, wenn Patricia dabei war oder ihr Zögling aus der Muggelwelt", feixte Selma Howlingwind, eine halbindianische Mitschwester Anthelias. Diese war mitgekommen, um ihre auf andere Formen der Magie geprägten Sinne einzusetzen. So sagte sie nach einer halben Minute konzentrierten Horchens:
"Die Vampire strahlten die Schmerzenslaute von hunderten von gepeinigten Seelen aus, die zu einem winzigen Teil in dieser Welt festgehalten wurden. Die Sonnenkinder strahlten aus ihrem eigenen Geist heraus die Kraft des Tageslichtes aus, das sie in sich aufnehmen können wie wir Wasser und Essen in uns anreichern können."
"Hunderte von toten?" fragte Romina. "Bist du dir sicher? Natürlich bist du dir sicher. Ihr animistischen Hexen und Zauberer seht Magie ja nicht nur als Kraft, sondern als Spuren von lebenden oder toten Wesen."
"Deshalb bin ich hier", knurrte Selma Howlingwind. Der Mann dort ist von einer die Seele reinigenden Kraft getroffen worden. Doch sie war von einer starken dunklen Macht so sehr durchdrungen, dass er durch die Reinigung sein Bewusstsein verloren hat. Ich kann aber die Klagelaute von ihm getöteter Männer hören, die nur langsam verhallen", sagte die Halbindianerin. "Leider bin ich im Hören von Seelenrufen nicht so gut wie die mir in die Welt der Ahnen vorausgeeilte Wanda Waxingmoon." Romina nickte.
"Kannst du zumindest fühlen, ob seine Seele einen bleibenden Schaden hingenommen hat?" wollte sie wissen.
"Nein, die beiden einander bekämpfenden Kräfte machen es mir nicht möglich, das zu hören, ob sein Geist noch in ihm wohnt oder bereits zum großen Geist vorausgegangen ist, wie es früher beim Stamm meines Vaters genannt wurde."
"Dann sollen seine eigenen Leute das herausfinden oder die Gedächtnisumpoler ... Wie auf Stichwort", knurrte sie, weil es vernehmlich ploppte. "Okay, Schwestern, nichts wie weg!" zischte sie. Das brauchten sie sich nicht zweimal sagen zu lassen.
"So, hat diese Marionette Iaxathans auch Vampire mit diesem Unlichtkristallstaub verunreinigt", knurrte Anthelia, als ihre Schwestern ihr berichteten. "Als wenn diese grüne Sabberhexenhybridin nicht schon unbeherrschbar genug wäre", schnarrte sie noch. Dann überlegte sie. "Moment, nur weil dieser sich Vengor nennende Narr mit diesem Zeug herumhantiert heißt das nicht, dass er der einzige ist, der davon was weiß. Wie war das, was unsere britischen Schwestern berichtet haben? Jemand kann Vampire in einem schwarzen Wirbel verschwinden lassen? Diese unverwüstliche Sophia Whitesand hat die These aufgestellt, dass Nyx alias Lamia nicht wirklich ganz aus der Welt ist, sondern im Mitternachtsdiamanten eingekerkert ist, aber nun genug Kraft aufbieten kann, neue Helfer zu finden und zu lenken. Wenn sie kein Freund von Vengor ist wird sie danach trachten, ein Gleichgewicht der Kräfte zu erzielen, so wie wir ja auch immer darum bemüht sind, dies zu schaffen."
"Ja, aber wenn wir uns diesen Unlichtkristallstaub beschaffen, was ist dann mit unserem freien Willen?" fragte Romina Hamton.
"Das zum einen und zum anderen werde ich mich und euch nicht mit dem Gift Iaxathans verunreinigen. Unser Auftrag ist die sichere Führung der Menschen, nicht deren restlose Vernichtung. Und nur danach kann streben, wer die Tode von tausenden von Menschen herbeiführt, um ein wenig von diesem Unlichtkristall zu erschaffen. Das wird dieser Vengor bald schon merken, welchem Herren er da zu dienen bereit ist. "
"Aber wenn diese Unlichtkristallvampire so heftig stark sind, dass die Sonnenkinder mit denen nur noch schwer fertig werden können?" fragte Romina.
"Müssen wir etwas finden, dass unsere Schwäche aufwiegt, ohne auf Iaxathans Mittel zurückzugreifen." Anthelia verschwieg den Schwestern, dass die mit ihr verschmolzene Naaneavargia von den Tränen der Ewigkeit getrunken hatte. Außer einigen wenigen Erzmagiern des alten Reiches wusste niemand, wo das Auge der Ewigkeit zu finden war und wie ihm die so mächtigen und zugleich so tückischen Tränen entlockt werden konnten. Am Ende bestand das Auge der Ewigkeit auch zum Teil aus Unlichtkristall. Dann trüge Anthelia dessen Kraft in sich. Doch dann fiel ihr ein, dass dieser Kristall im Ruf stand, dunkle Magie wie ein schwarzer Spiegel zu reflektieren. Dann hätte Naaneavargia weder dem Überdauerungsschlaf anheimfallen, noch durch die Macht des Mitternachtsvogels und der Mitternachtshand mit Anthelia verschmolzen werden können. Sie hätte das alles auf ihre Urheber zurückgeworfen. Außerdem hieß es, der Kristall kehre Heilzauber um. Und die vertrug Anthelia problemlos. Nein, das Auge der Ewigkeit war eine andere Sache, nicht minder ruchlos, aber doch anders.
"Höchste Schwester, die Gurgha ist aus Frankreich abgezogen. Sie hat Meglamora und ihren Sohn dort gelassen. Der junge Monsieur Latierre hat wohl wieder einen der ihm beigebrachten Geheimzauber benutzt, um sie zurückzuschlagen und sich dann dafür eingesetzt, dass sie nicht getötet wird, obwohl meine Landsleute da was neues haben, Sprengschnatze, die gezielt in übergroße Wesen oder andere Ziele hineinfliegen und explodieren sollen", meldete Louisette Richelieu wenige Tage nach dem Zusammenstoß der Sonnenkinder mit den Unlichtkristallvampiren.
"Natürlich, weil er nicht mithelfen darf, sie zu töten, solange sein Zauber sie friedlicher stimmt", grinste Anthelia. Mit Naaneavargias Wissen kannte sie ja die Wirkung eines bestimmten Zaubers, den Julius Latierre schon einige Male benutzt und an für ihn würdige weiterverraten hatte.
"Und da ist noch was, höchste Schwester. Es ist jetzt wohl amtlich, dass die Tochter der dunklen Erde oder des finsteren Felsens aus ihrem Überdauerungsschlaf erweckt wurde, und das wohl von einem gewissen Alfonso Colonades", legte Louisette nach. "Ich konnte einen Außentruppler von Ornelles Büro dazu kriegen, mir die Frage zu beantworten, ob sie noch gegen die Abgrundstochter kämpfen würden, die in Spanien herumliefe. Da hat der mir erzählt, dass es wohl jetzt wieder zwei seien und jemand wohl einen Mann mit unerweckten Zauberkräften benutzt hatte um ..."
"Ullituhilia ist wach?!" rief Anthelia/Naaneavargia. "Dann hat sich meine Befürchtung bestätigt, dass dieses Schmutzwasserweib eine Methode überlegt, wie sie mindestens noch eine ihrer zurecht schlummernden Schwestern wachbekommt. Colonades? Ja, das gibt sinn. Als ich damals gegen diesen Lebenspfuscher Bokanowski antrat traf ich auf einen starken Magus, der mit seiner Stimme Magie erzeugen und auf alle ihn hörenden wirken konnte. Orfeo Colonades, wie Julius damals noch Andrews ein Ruster-Simonowsky-Zauberer. Ja, das macht Sinn", grummelte Anthelia. "Und natürlich macht es auch sinn, dass diese Wasserpanscherin Itoluhila, die sich wohl irgendwo in Spanien ihre Höhle gegraben hat genau die Schwester weckt, die mir ebenbürtig genug ist, um mich in Atem zu halten."
"Wie gehen wir dann vor, höchste Schwester?"
"Nun, wenn diese Kristallvampire so stark sind, dass selbst die Sonnenkinder nur in Überzahl sie nur vertreiben können, sofern ihre alte und neue Herrin dies für richtig hält, werden diese Blutsauger sicher irgendwann wagemutig genug sein, sich mit ihren Erzfeindinnen aus der Zeit vor den Sonnenkindern anzulegen, allein schon, um mehr Eindruck bei ihren nicht mit dem Unlichtkristall vergifteten Geschwistern zu schinden. Sehen wir erst, ob es zum Kampf kommt und wer daraus siegreich hervorgeht!"
"Und wenn die wirklich stärker als die Succubi sind?" fragte Louisette.
"Gilt es um so mehr, mehr über die Abstammung der Sonnenkinder zu erfahren. Das muss ich euch alleine überlassen, weil Dairons letztes Vermächtnis mich daran hindert, mich ihnen auf gewohnte Sprechweite zu nähern." Den letzten Satz hatte sie mit unüberhörbarer Verärgerung gesprochen.
"Gut, dann kehre ich besser wieder zurück und warte auf neue Briefe aus Beauxbatons. Jacqueline hat sich auf eine Konkurrenz mit einer älteren Mitschülerin eingelassen. Ich fürchte, ich muss sie in den Osterferien doch noch einmal ermahnen, sich nicht wegen eines Jungens eine dauerhafte Feindin zu machen."
"Nein, nicht dafür, mit dem ihr ganzes Leben zusammengekettet zu sein, wo es auch mit ein paar schönen Nächten getan ist", säuselte Anthelia. Darauf wollte Louisette keine Antwort geben. Sie verabschiedete sich mit dem gebotenen Respekt und disapparierte aus dem Weinkeller der Daggers-Villa.
"Eine interessante Sache ist das, dass ausgerechnet neues Menschenleben diesen Unholden die Kraft entreißen kann", sagte Ullituhilia, als sie sich mit Itoluhila in der westmarokkanischen Wüste traf. Beide hatten Neuigkeiten auszutauschen.
"Ich muss davon ausgehen, dass diese schlafende Göttin, von der die Gefangenen es hatten, bald ihre nicht von den Kristallen vergifteten Handlanger schickt. Vielleicht weiß sie von der Schwäche, dass Träger dieses Stoffes nicht in die Nähe gerade erst dem Mutterschoß entwundener Menschenkinder gelangen dürfen. Außerdem weiß ich nicht, wie lange diese Kraft reinen, ganz jungen Lebens vorhält. Uns dient sie ja, um neue Kräfte zu sammeln, weil wir das Leben an sich als Nahrung genießen."
"Ich weiß jetzt, wer das Wissen um den Sonnenturm besitzt. Ich werde es mir heute noch aneignen", sagte Ullituhilia.
"Das ist gut. Denn ich lege keinen Wert darauf, eine offene Entscheidungsschlacht vom Zaun zu brechen, bei der alle, die mir unterworfen sind ausgelöscht werden und ich womöglich doch noch in den langen Schlaf oder deinem warmen Schoß gebannt werde."
"Mir liegt auch nichts daran, meine Kräfte in einer offenen Schlacht zu offenbaren, wo die vom blauen Morgenstern schon nach mir suchen. Mein Erwecker wurde doch schmerzlicher vermisst, als er selbst sich eingestanden hat. Na ja, in seiner neuen Erscheinungsform und ohne das Wissen der letzten vierzig Jahre ist er für seine selbsternannten Helfer unauffindbar und kann auch nicht befreit werden."
"O doch, das kann er. Wenn sie seinen Körper ganz verjüngen und damit jedes Band männlicher Begierde zu dir zerreißen. Denke daran, was unserer Schwester Hallitti widerfuhr!"
"Das werden sie nicht wagen", schrillte Ullituhilia. "Ich werde ihn nicht freigeben. Er gehört mir!!" brüllte sie in die weite Wüste hinaus.
"Dann halte ihn dir hübsch nahe, Schwester!" erwiderte Itoluhila.
"Suche keinen Streit mit mir, Itoluhila! Wenn du deine Jagdgründe und deine Freiheit wahren willst bist du auf meine Hilfe angewiesen, sage ich dir", schnaubte Ullituhilia.
"Wie du auf meine. Vergehe ich stehst du der jüngsten von uns alleine und hilflos gegenüber. Oder hast du schon einen Plan, welche von unseren anderen Schwestern du wie erwecken kannst?"
"Darüber reden wir, wenn wir die Seuche der Nachtkinder eingedämmt haben", knurrte Ullituhilia. Dann winkte sie ihrer Schwester und verschwand auf dem zeitlosen Wege.
"Ich habe dich aufgeweckt, Ullituhilia. Ich hätte auch eine der anderen wecken lassen können, Schwester!" schickte Itoluhila ihrer wütenden Schwester noch eine Gedankenbotschaft nach. Sie erhielt keine Antwort. Damit hatte sie jetzt auch nicht gerechnet. So blieb ihr nur, in ihr offizielles neues Hauptquartier zurückzukehren. Dieses war der Keller unter dem Sta.-María-Mercedes-Krankenhaus, wo die kleine María Mercedes Milagro die ersten Tage ihres Lebens zugebracht hatte, bis sie mit ihren Eltern wieder nach Hause durfte. Keiner der Ärzte, Schwestern, Hebammen und Reinigungsleute wusste, wer da in einem kleinen Kellerverschlag ihres Heil- und Pflegebetriebes neue Fäden spann, um sich der immer noch bestehenden Bedrohung zu erwehren, die die Gesandten der schlafenden Göttin darstellten.
Selene Hemlock mochte keinen Schnee. Womöglich hatte sie den schon in ihrer ersten Kindheit als Austère Tourrecandide nicht gemocht. Doch jetzt, wo sie körperlich zweieinhalb Jahre alt war und deshalb noch viel zu kurze Beine hatte, um schnell genug aus den angehäuften Schneeverwehungen freizukommen verabscheute sie den Schnee noch mehr. Warum war ihre zweite Mutter, die wie sie auch schon zum zweiten Mal geboren worden war, mit ihr in diese kalte, schneeüberfrachtete Gegend gereist?
"Selene, besser ist es, wenn du deinen Besen nimmst, wie?" fragte Theia Hemlock am Rande der Scheinheiligkeit, als ihre Tochter gerade wieder bis zum Bauch im Pulverschnee verschwand.
"Blöder Schnee", schimpfte Selene ganz ihrer Rolle als kleines Mädchen gerecht werdend. Das war eines der wenigen Annehmlichkeiten der Kindheit. Sie durfte noch ehrlich ihren Unmut über Belanglosigkeiten äußern, die sie als Erwachsene geduldig hinzunehmen und zu ertragen hatte.
"Ja, aber wenn wir nicht beim Plaudern mit einem Ministeriumszauberer erwischt werden wollen müssen wir dahin, wo keiner uns erwartet", sagte Theia. Wie ihre Urgroßmutter Thyia das auch ohne dunkle Magie hinbekommen hatte, diesen Vampirjäger aus Colorado dazu zu bekommen, mit ihr über den Vorfall in Chicago zu sprechen, sie war gespannt.
Als dann ein schnittiger Rennbesen vom Typ Bronco Millennium mit einem warm eingekleideten Mann Ende fünfzig landete empfing Selene noch die mentiloquierte Anweisung, bloß nichts zu verraten, was immer der andere für schlimme Dinge offenbaren würde.
"Ich bin nur hier, weil Madam Greensporn meiner Frau vor zwei Monaten so schnell geholfen hat, diese Drillinge gesund auf die Welt zu bringen. Eigentlich sind Sie mir suspekt, und der Minister hat auch rumgereicht, dass wir uns nicht mit Ihnen befassen dürfen, solange nicht klar ist, wie Sie zu den Leuten stehen, mit denen Ihre selige Mutter Umgang gepflegt haben soll."
"Meine Mutter ruht im seligen Frieden. Das könnte sie sicher nicht, wenn sie sich große Schuld aufgeladen hätte. Dann wäre sie in irgendeiner Form als Geist auf der Erde geblieben", schnaubte Theia Hemlock. "Außerdem bin ich die letzte, der Sie Vorwürfe wegen meiner Mutter machen können, weil ich nach meiner Geburt nichts mehr von ihr mitbekommen habe. Also erzählen Sie mir bitte, was Sie mir erzählen wollen und dürfen. Meine Tochter fühlt sich in diesem Pulverschnee nicht so wohl, und ich als Tropenkind muss mich auch immer wieder damit abfinden, auf diesem Knirschzeug herumzulaufen."
"Anderswo hätte ich Sie aber nicht treffen können. Und das Balg, das Ihnen die Tür in die Staaten geöffnet hat ..."
"Aber jetzt bitte nicht persönlich werden, Mister Archer", schnarrte Theia unvermittelt streng, dass selbst Selene zusammenfuhr, als würde sie gerade getadelt. "Sie haben fünf Kinder, drei davon erst seit zwei Monaten. Bei den Muggeln wäre das abartig, wenn eine Frau über sechzig noch einmal Mutter und dazu von Drillingen würde. Also nennen Sie meine Tochter nicht noch einmal Balg, falls ich nicht gleich wieder mit ihr verschwinden soll und Sie nicht von mir hören, was ich vielleicht über die neue Bedrohung sagen kann."
"Die neue Bedrohung? Das trifft es wohl", knurrte der seinen Namen nicht genannt hatte. Woher kannte Theia ihn? "Also gut, wir müssen davon ausgehen, dass jener, der sich zum Erben dieses einen Psychopathen aus England erklärt hat und meint, dessen Untaten übertreffen zu müssen, neue Vampire gezüchtet hat, die er mit diesem Kristallzeug impft, das er aus den Trümmern des WHZs geholt hat. Jedenfalls haben wir nach der Sache in Chicago einen dieser Vampire in der Nähe des Huntsville-Gefängnisses gefunden. Der sollte oder wollte wohl die dort einsitzenden Gefangenen rekrutieren. Der ist immun gegen Eichenpfähle. Mit Sonnensegen konnten wir nur uns davor schützen, von ihm angegriffen zu werden. Bei ihm prallten sie ab, ebenso Ungier und Mondfriedenszauber. Ein Kollege von mir, der die Knallwaffen der Muggel so faszinierend findet, hätte sich fast selbst erschossen, als er den Vampir mit einem Gerät namens MP zwanzig Kugeln in einer Sekunde auf den Körper geschleudert hat. Nur sein und mein Drachenhautpanzer haben uns davor geschützt, von den zurückfliegenden Kugeln zersiebt zu werden. Dann passierte was, dass ich nicht begriffen habe und wo Ihre Frau Urgroßmutter so merkwürdig gelächelt hat. Einer dieser Krankentransportautowagen mit Drehlicht und Wimmerwarnlautmacher kam vorbei. Erst hat der gestellte Supervampir gegrinst und uns seine versilberten Fangzähne gezeigt. Dann hörten wir zwei Babys schreien. Offenbar lag da 'ne Gebärende in dem lärmigen Autowagen. Das hat diesen Blutsauger sichtlich erschreckt und erstarren lassen. Da erwischte ihn mein Kollege mit zwei mit Sonnensegen überladenen Goldbolzen aus seiner sich selbst nachspannenden Armbrust. Die haben den regelrecht zersplittern lassen. Allerdings sind die Splitter zu Staub zerfallen, als sie gegen unsere Drachenhautpanzer geprallt sind. Jedenfalls blieb von dem Vampir nur ein graues Skelett übrig, dass innerhalb von einer Minute kohlschwarz anlief und dann wie in einem unsichtbaren Feuer verbrannte.Wir fragen uns, was gerade erst geborene Babys für eine Magie anwenden können, um so ein Monster zu erledigen, dass gegen alles andere immun war?"
"Das kann ich Ihnen tatsächlich sagen und wundere mich auch nicht, dass meine Urgroßmutter darüber gelächelt hat. Diese Kristalle existieren durch den gewaltsamen Tod von Menschen. Offenbar verleihen sie Vampiren mehr Kraft. Aber wenn ein gerade erst zu leben anfangender Mensch in die Nähe kommt verschwindet diese Kraft wieder oder kehrt sich gegen den, der mit diesem Zeug beladen wurde. Das reine, unschuldige Leben hebt die übermächtige Kraft dieser Kristalle wieder auf. Jetzt weiß ich nur nicht, ob das ausschließlich für Vampire gilt oder auch für Menschen, die sich damit beladen."
"Moment mal, dann brauchen wir nur gerade geborene Kinder mitzunehmen, um uns diese Pest vom Hals zu schaffen? Das meinen Sie doch nicht ehrlich."
"Dann müssten Sie mich belogen haben, als sie mir diesen Vorfall geschildert haben. Denn aus dem kann ich nur das schließen, dass ein mit diesen Kristallen angereicherter Blutsauger schlagartig geschwächt wird, sobald soeben geborene oder geboren werdende Kinder ihren ersten Schrei im Leben tun, was ja fast gleichbedeutend mit dem ersten tiefen Atemzug überhaupt ist."
"Ginge dann auch Infanticorpore oder wenn eine schwangere Kollegin in der Nähe ist?" fragte Archer verdrossen.
"Wenn Sie mir erzählen, was das sein soll, Infanticorpore", erwiderte Theia Hemlock zuckersüß lächelnd. Der Vampirjäger grummelte, dass das dann auch nicht so wichtig sei. "Aber was werdende Mütter angeht vermute ich, dass das in ihnen wachsende Leben noch zu sehr mit ihrem Leben verbunden ist, ja sie in gewissen grenzen sogar schwächt und damit nicht diese Macht hat wie ein gerade erst aus dem Mutterschoß entwundenes Kind."
"Dann sehen Sie mal zu, möglichst jedes Jahr ein neues Balg ... Öhm, neue Kinder auszuliefern", schnarrte Archer verächtlich.
"Sie haben da mehr Übung drin", revanchierte sich Theia eiskalt betonend.
"Dann müssen wir jetzt unsere Einsatzzentrale in der Station Ihrer Urgroßmutter einrichten?" fragte Archer.
"Ich glaube, meine Urgroßmutter würde sich nett bedanken, wenn eine Horde Vampirjäger genau da zusammenkommt, wo sie ängstlichen Hexen beistehen will, neue Hexen und Zauberer auf die Welt zu bringen. Oder wäre ihre Frau freiwillig in das HPK gegangen, um dort ihre Drillinge zu bekommen, wenn nebenan über Tötungsarten und im Einsatz gefallene Kollegen diskutiert wird?"
"Ja, aber gegen fließendes Wasser sind diese Bestien wohl auch immun. Na ja, was soll ich mich mit einer Zivilistin darum zanken, wo und wie wir diese Brut bekämpfen. Vielleicht prüfen wir das mal nach. Dann möchte ich nicht Ihre Ohren haben, sollte das Unfug sein und mein Boss Ihnen und Ihrer Urgroßmutter je einen Heuler schickt. Noch einen netten Winterspaziergang, die große und die ganz kleine Dame!" sagte Archer noch und schwang sich auf seinen Besen.
"Er könnte misstrauisch werden, woher du seinen Namen kanntest, Mutter", flüsterte Selene hemlock.
"Wieso? Oma Thyia hat mir doch sicher erzählt, dass ausgerechnet der jüngere Bruder von der unglückselig verschiedenen Professor Archer so viel Spaß an neuen Kindern hat, dass seine Frau ihm noch mal drei ausgeliefert hat, auch wenn sie deren Großmutter sein könnte", wisperte Theia ihrer Tochter ins Ohr. Die beiden Hemlocks lachten darüber. Auch Selene erinnerte sich an die Broomswood-Hexen. Bei denen wäre sie zwar auch gut untergekommen und hätte sich dadurch vielleicht die Rückkehr als Selene Hemlock erspart. Aber im Nachhinein war sie doch froh, auch mit männlichen Kollegen gearbeitet zu haben und dass sie als Schulmädchen von Beauxbatons nicht die tugendreine und gestrenge Hexe war, die sie als Lehrerin für den Schutz gegen zerstörerische Formen der Magie dargestellt hatte.
Dann wollen wir wieder nach Hause, Kleines", sagte Theia Hemlock und schulterte ihre Tochter, bevor diese sich darüber beschweren konnte. Mit einer schnellen Drehung verließen sie die schneebedeckten Gipfel der Rocky Mountains wieder. Jedenfalls waren beide mit sich zufrieden. Wenn das stimmte, dass ganz neue Menschenkinder diese Kristallmacht erheblich schwächen konnten, würde diese Gefahr nicht mehr lange bestehen bleiben.
"Wer soll das sein? Daganzipa? Du machst Witze, Abdul!" lachte Omar ben Kasim Hamit, ein mit Tourismus und Vermittlung von Wanderausstellungen reich gewordener Geschäftsmann aus Kairo. Dass er auch einen schwungvollen Handel mit gefälschten Königsmumien betrieb wusste außer ihm und seinen zehn stillen Teilhabern keiner, zumal die Käufer dieser angeblichen Relikte altägybptischer Bestattungskultur selbst zu viel Dreck am Stecken hatten, als ihn zu verpfeifen.
"Daganzipa, hat sie sich vorgestellt. war ziemlich anrüchig gekleidet. Meine zweite Frau hat sie schon als Hure bezeichnet. Das hat ihr aber nichts ausgemacht", sagte die Stimme Abduls aus dem Hörer des an einen Zerhacker angeschlossenen Telefons.
"Das war eine der alten hetitischen Erdgöttinnen, Abdul. Garantiert ein Künstlername. Wie sah sie denn aus?"
"Öhm, Bronzehaut, pechschwarze Augen und sündhaft lange Beine, Allah steh mir bei!"
"Hat deine Kamera sie nicht beim Rausgehen geknipst? Fax mir bitte ihr Bild zu!"
"Schön wär's. Aber die Kamera hat nur den Durchgang zur Haustür geknipst, Omar."
"Ich dachte, die löst nur aus, wenn du den kleinen Sender drückst, der ihr sagt, dass da wer aus dem Haus geht, den du näher prüfen willst, Abdul."
"Ja, habe ich auch. Aber die hat beim Durchschreiten der Infrarotlichtschranke nur die gegenüberliegende Wand mit dem Spiegel erwischt und sich damit quasi selbst fotografiert."
"Öhm, Spiegel? Die Dame hatte aber ein klar erkennbares Spiegelbild, oder?"
"Ja, und keine langen Zähne und lief bei strahlendem Sonnenschein auf der Straße herum, Omar. Aber die wurde nicht geknipst."
"Und die hat sich für meine Sammlung verschütteter Amphoren interessiert? Wieso hat Hosnin auch geplaudert?"
"Er hat doch versucht, diesen Ali ben Faruk festzunehmen, als der ihn mit seinem Hypnosetrick die Sache mit den Amphoren verraten hat. Aber der Typ trägt eine kugelsichere Schutzhaut oder so was. Den konnte keiner aufhalten, als er aus Hosnins Haus raus ist."
"Ja, und Hosnin hatte es bisher nicht nötig, mir das selbst zu sagen. Ihr seid wahrhaftig Helden unter Allahs weitem Himmel", knurrte Omar. "Und dann ist diese Daganzipa bei dir aufgetaucht und wollte wissen, ob du die Amphoren in deinem Tresor hast. Wie kamst du dann darauf, ihr zu erzählen, dass ich die unter meinem Hotel im Geheimbunker habe, eh?"
"Weil die das schon wusste und mich einspannen wollte, dich zu fragen, ob du ihr mal einen kurzen Blick darauf erlaubst, für eine großzügige Entlohnung, wie sie behauptete."
"Moment, dass ich die angeblich von pharaonischen Zauberern stammenden Amphoren aus Alexandria habe weiß außer dir und mir keiner, auch Hosnin nicht. Der kann das also nicht ausgeplaudert haben. Dann warst du das, du elender Sohn eines höckerlosen Kamels."
"Nein, die hat das gewusst und mich gebeten, dich zu fragen, ob du sie mal da ranlassen kannst. Die hat mir sogar angeboten, die Freuden des Paradieses zu kosten. Aber mit meinen vier Blumen des Nils habe ich das garantiert nicht nötig."
"Möge der Allerhöchste dir weiterhin die Kraft geben, diese Blumen immer genug zu gießen", knurrte Omar. Dasss Abdul sich von seinem Anteil am Geschäft vier Ehefrauen halten konnte und Omar bis heute keine dem Allerhöchsten und seinem Propheten gefällige Frau hatte finden können ärgerte Omar immer wieder, wenn Abdul das erwähnte.
"So soll ich der bronzehäutigen Schönen sagen, dass du die falsche Adresse bist, Omar?"
"Ja, mach das, Abdul! Ich verhandele nicht mit Dirnen, die sich anmaßen, die Namen heidnischer Göttinnen zu benutzen."
"So sei es", erwiderte Abdul und verabschiedete sich. Omar legte auf. Da summte die Sprechanlage. Er drückte den Freigabeschalter an seinem Schreibtisch. "Was liegt an, Mara?" fragte er.
"Ein Anruf aus Übersee, Herr Hamit", meldete Mara, seine Sekretärin, die aber auch nur seine Sekretärin war.
"Durchstellen!" blaffte Omar. Mit dem Anruf hatte er gerechnet. Eine gewisse Firma aus Langley in Virginia hatte bei ihm angefragt, ob seine Verbindungen zur ägyptischen Staatspolizei noch gut waren. Offenbar planten die Amerikaner eine weiterführende Zusammenarbeit mit der ägyptischen Regierung, von der aber nicht jeder was wissen sollte. Auch im Land am Nil fürchteten sie die Auswirkungen jener Angriffe vom elften September des vor wenigen Wochen verstrichenen Jahres 2001 nach crhristlicher Zeitrechnung. Wenn Omar einen Fuß in die Tür zu einer Zusammenarbeit mit den amerikanischen Geheimdiensten bekam konnte er seine Geschäftsbeziehungen weiter ausbauen, hoffte er.
Tatsächlich war es ein Unterhändler einer Firma aus den Staaten, die höchst individuellen Tourismus betrieb und dafür nach weiteren Kontakten in den mittleren Osten suchte. Omar verabredete sich zu einem Gespräch am dreißigsten Januar um elf Uhr in seinem Büro in Kairo. Als er die Überseetelefonverbindung beendete dachte er an das großzügige Honorar von einer Million schweizer Franken, wenn er bis dahin keinem auf die Nase band, welche neuen Beziehungen er knüpfen sollte. Er wollte gerade in den von einem Imam geweihten gebetsraum gehen, um das traditionelle Mittagsgebet zu verrichten, als ihm von dort jemand entgegenkam, eine Frau mit bronzefarbener Haut und schwarzem Haar.
"Nettes kleines Räumchen, schön schalldicht, Omar", sagte sie. Der ägyptische Geschäftsmann starrte auf die Unbekannte, die außer ihrem Haar und ihrer Haut nichts am Leibe trug. Er wollte schon nach seinen Sicherheitsleuten rufen. Da fiel ihm ein, dass die Fremde ja irgendwie an denen vorbeigeschlüpft sein musste. "Gefällt dir, was du siehst, Omar?" fragte sie mit sündhaft tiefer Stimme.
"Du bist diese Hündin, die bei Abdul war", knurrte er. "Wie bist du hier reingekommen?"
"Weil ich immer da ankomme, wo meine Wünsche mich hintragen", säuselte die Fremde und stellte sich in eine höchst undamenhaft anbiedernde Pose.
"Du bist eine Braut des Sheitans. Ich knall dich ab!" rief Omar. Da fing ihr Blick den seinen ein. "du bist jetzt ganz lieb zu Daganzipa und zeigst ihr die Amphoren der alten Magier!" säuselte sie. Omar konnte dem Blick dieser nachtschwarzen Augen nicht entrinnen. Er kämpfte zwar dagegen an, versuchte sogar, heilige Verse aus dem Koran in seine Gedanken zu rufen. Doch die andere grinste darüber nur.
"Als wenn du wirklich so gläubig wärest. An deinem Leib haftet der Hauch verbotener Freude, wie du sie vor zwei Tagen genossen hast, unten am Ende dieses künstlichen Weges zwischen dem afrikanischen und dem roten Meer. Ich bin weitaus geübter als jene Kurzlebige, die deinen Wunsch nach Mannesfreuden gestillt hat", wisperte sie. "Dafür will ich aber was haben, die Amphore aus rosigem Gold."
"Die liegt in meinem Privattresor unter dem Haus. Da komme nur ich rein. Außerdem ist sie durch Hochenergielaser und Gassprühvorrichtungen abgesichert. Das ist das wertvollste Objekt meiner Sammlung", drangen die Worte aus seinem Mund, ohne dass er sie zurückhalten konnte.
"Dann wirst du sie mir bringen, oder der Herr aus den Staaten, der gerne eine heimliche Beförderungsart sucht, um seine Gefangenen hierher zu bringen, um sie unter Schmerzen verhören zu lassen, wird mit wem anderem unterhandeln müssen", zischte die unbekleidete Fremde. Omar fühlte, dass sie ihm überlegen war. Ihr Wort war ein Gesetz, dem er folgen musste.
"Also, eil dich und schaff mir deinen schatz unter die Augen!" schnarrte sie direkt in seinen Kopf hinein.
Omar wandte sich um und schritt ohne es zu wollen zu einer Tür, hinter der ein ganz privater Fahrstuhl wartete. Mit Hilfe seiner Fingerabdrücke und eines zwölfstelligen Zugangscodes setzte er den Aufzug in Gang und fuhr in das tiefste Kellergeschoss hinunter, wo sein privater Schutzbunker lag, der laut Erbauer selbst einer über dem Haus explodierenden Atombombe standhalten würde.
Omar vollführte wie in Trance die nötigen Sicherheitsschaltungen, blickte in den Netzhautabtaster und sprach einen altägyptischen Satz aus der Zeit des Pharaos Echnaton in ein Mikrofon. Erst dann glitten die tonnenschweren Stahlbetontüren langsam aber sicher auseinander. Mit dem in seiner linken Schulter eingepflanzten RFID-Chip, der über haardünne Golddrähte die elektrischen Ströme seines Herzens überwachte, wies er sich als Zutrittsberechtigter aus. Jeder andere hätte beim Durchquerungsversuch sofort die Laserbarriere ausgelöst und wäre von mehreren Megawatt starken Energiestrahlen regelrecht tranchiert worden.
Erst als die tonnenschweren Türen sich wieder geschlossen hatten konnte Omar es wagen, auf die zweite Laserbarriere zuzugehen, die durch Bewegungsmelder auf sich nähernde Personen und Objekte zielte. Als er einem versteckten Mikrofon die Namen von Mohammeds beiden Großvätern zugerufen hatte leuchtete ein grünes Licht auf, das ihm sagte, dass seine Stimme und das gesprochene Passwort erkannt und für zugangsberechtigt befunden worden waren. Jetzt übertrat er die nächste Grenze, hin zu einer Vitrine aus mehreren Zentimeter dickem Panzerglas. In dieser herrschte ein Vakuum, um die darin enthaltenen Objekte vor der Zersetzung durch Sauerstoff zu schützen. Da sah er sie, die einen halben Meter große Amphore aus einem rosiggoldenen Material, von dem keiner seiner zahmen Wissenschaftler eine Probe hatte abkratzen können. Ein Sonnensymbol und eine nicht mit den Hieroglyphen verwandte Inschrift auf dem Deckel wiesen das Gefäß als besonderen Behälter aus. An der Seite war mit aufgelegtem Gold eine Platte aufgebracht, auf der in Hieroglyphen aus der Zeit des Echnaton zu lesen stand, dass diese Amphore das Buch eines mächtigen Dieners Atons, also dem damals für einzig erklärten Sonnengottes, enthalte und nur von Trägern wahrer Magie geöffnet werden könne. Tatsächlich hatte es in den zwanzig Jahren, die Omar dieses Gefäß schon besaß, keinen gegeben, der die Amphore hatte öffnen können. Außerdem hatte er sehr genau darauf geachtet, dass der Kreis der davon wissenden möglichst klein blieb. Er hatte die Amphore als unaufbrechbar oder gar massiven Körper in Form einer Amphore bezeichnet und alle unliebsamen Mitwisser durch gewisse Verbindungen aus dem Weg räumen lassen. Irgendwann hatte er erfahren, dass es Nachfahren alter Magier in Ägypten gebe. Doch wenn die wirklich die Kräfte des allerhöchsten oder des von ihm Verfluchten besaßen würden die ihm die Amphore wegnehmen und ihn töten oder sonstwie unschädlich machen. Tja, und jetzt war diese Hure Daganzipa aufgetaucht. Am Ende gehörte sie zu denen, die das Erbe alter Magier in sich trugen, daher wohl auch der hetitische Name. Das alles dachte Omar, bevor die in ihn eingepflanzte Anweisung sein Bewusstsein zurückeroberte. Er drehte an den Walzen des rein mechanischen Schlosses, das einem Cryptex aus der Zeit Leonardo da Vincis nachempfunden war und bei falscher Kombination eine Ladung Nervengas freisetzte, die den Unbefugten innerhalb von Sekunden töten konnte.
Endlich öffneten sich die vielen Verriegelungen, und Omar hörte das leise Zischen der in die Vitrine zurückströmenden Luft. Jetzt klackte es. Der Druck war ausgeglichen, und die Vitrinentür konnte ohne Kraftaufwand geöffnet werden. Er griff hinein. Jetzt gab es keine zu überwindenden Sicherheitsvorrichtungen mehr. Er ertastete die Amphore. Für einen Metallbehälter fühlte sie sich merkwürdig warm an. Er fühlte sogar ein gewisses Pulsieren. Als wenn das Gefäß mit Leben erfüllt sei, dachte er. Doch dann zog er es behutsam aus der Vitrine und warf noch einen Blick auf die anderen Schätze, die er hortete. Darunter war das konservierte Herz der Königin Nophretete, das heimlich aus ihrem Grab entfernt worden war, bevor der Fund höchst offiziell und weltweit bekanntgemacht worden war.
"Du sammelst echt seltsame Dinge", hörte er eine Stimme im Kopf. Das war die Stimme dieser Frau, dieser Sheitanshure.
"Ich diene nicht diesem Bockshornträger, kleiner Leichenschänder", hörte er die Gedankenstimme noch einmal in sich. "Und jetzt bring mir die Amphore, bevor der in sie eingeprägte Zauber dich als unbefugten einordnet und dich zurückschlägt!"
Omar schloss die Tür der Vitrine wieder und stellte das Schloss so, dass es sich wieder verriegelte. Die Vakuumpumpe setzte ein und sog die eingedrungene Luft aus dem Panzerglaskasten heraus.
Tatsächlich erwärmte sich die Amphore immer weiter, und statt leichter Vibrationen war dem Ägypter so, als sende der Behälter elektrischen Strom durch seinen Körper. Er überquerte die Sicherheitslinien und gab den Befehl, die Tür zu öffnen. "Tränen des Re!" rief er.
Die Amphore piesakte ihn nun immer mehr. Nicht nur, dass sie immer heißer wurde, sondern auch schmerzhaft spürbare Stromschläge austeilte. Ja, das konnte nur echte Magie sein, und er war unwürdig, den Behälter zu tragen oder gar zu öffnen. Doch dann war dieses Geschöpf des Höllenfürsten auch unberechtigt, die Amphore zu berühren, dachte Omar. Doch der von ihr erteilte Befehl zwang ihn, nach dem Öffnen der tonnenschweren Türen im Eiltempo zurück in seine Wohn- und Arbeitsetage zu fahren.
"Na, merkt es, dass du unter einem fremden Zauber stehst", begrüßte diese Frau ihn, die sich ungeachtet ihrer Rangstellung auf seinem bequemen Schreibtischstuhl niedergelassen hatte und dabei keinen Fetzen Stoff zwischen sich und dem wertvollen Bezug hatte.
"Mögest du dieses Ding nehmen und damit zur tiefsten Hölle hinabfahren", schnarrte Omar und warf ihr den Behälter zu, darauf hoffend, dass sie und das Gefäß gleich in einem Flammenwirbel vergingen.
"Ja, in der Tat, es wehrt sich ganz ordentlich", stöhnte die Unbekannte, die sichtliche Mühe hatte, die Amphore festzuhalten. "Ich kann noch nicht mal mit ihr den zeitlosen Weg gehen", fauchte sie. "Aber ich bin stärker als die Kraft, die in sie eingewirkt wurde. Einen Blutsauger hätte allein schon ihr Anblick zerstört. Ich aber ... Wirst du wohl!" Sie drehte an dem Deckel der Amphore. Blitze zuckten heraus und schossen ihre Arme entlang. Omar glaubte, einen Hauch von schwarzem Horn oder Panzer zu erkennen. Aus der Stirn der Unheimlichen sprossen die haarigen Enden von Insektenfühlern. Die Frau war keine Hexe, die war eine wahrhaftige Dämonin, durchzuckte Omar ein höchst bedrohlicher Gedanke. Dann erstrahlte die Amphore in gleißendem Licht, dass Omar sich die Hände vor die Augen schlug. Er taumelte zurück und sah seine eigenen Handknochen im roten Schein. Das Licht durchdrang sein Fleisch und erfüllte den Raum.
"Wahrhaftig, die Abkömmlinge des alten Reiches wussten ihre Schriften vor ihren Feinden zu schützen. Aber ich bin stärker!" dröhnte eine den ganzen Raum ausfüllende Stimme, die nichts menschliches mehr an sich hatte. Überhaupt vermeinte Omar, dass vor ihm etwas viel größeres als diese Frau im Raum war. Er hörte einen merkwürdig rasselnden Atem. Dann klirrte es. Dann polterte es. Sengende Hitze flutete den Raum. Eigentlich hätten jetzt die Feuermelder losgehen müssen, dachte Omar. Doch er hörte kein schrilles Piepen. Statt dessen hörte er Schritte auf dem Flur. Das war Mara.
"Herr Hamit, der Strom ist weg. Das Notstromaggregat springt nicht an!" hörte er Mara durch die Tür. Dann wurde es wieder dunkel. Er wagte es, die Hände von den Augen fortzunehmen und sah ein Ungeheuer vor sich.
Halb auf dem Boden, halb auf dem Schreibtisch hockte eine Ausgeburt der Hölle, pechschwarz, das Licht der Sonne verschluckend. Es sah aus wie eine an die drei Meter große Wanderheuschrecke, wie sie die afrikanischen Länder immer mal wieder in hungrigen Riesenschwärmen heimsuchte. Sogar Flügel besaß die Abscheulichkeit. Zwischen den mörderischen Beißzangen klemmte die Amphore und glomm nur noch schwach rot. Zwischen den vordersten Beinen des Ungeheuers klemmte der Deckel der Amphore. Überhaupt stellten die Beine neben den Beißzangen die schlimmste Ausprägung dieses Geschöpfes dar. Denn sie wiesen an der Innenseite lange, spitze Stacheln auf. Wer das Pech hatte, von diesen Beinen umschlungen zu werden, wurde grausam erdolcht. Zumindest aber würde er sich nicht mehr aus der tödlichen Umarmung lösen können.
"Gefällt dir mein kraftvoller Körper?" hörte er die Gedankenstimme der Unheimlichen, die sich wohl in diese dämonische Abscheulichkeit verwandelt hatte. Er wich zurück. Dann hörte er Mara klopfen.
"Mara, um Allahs Willen stören Sie mich jetzt nicht, wenn Sie heute abend noch nach Hause gehen möchten!" rief er seiner Sekretärin zu. Er wusste selbst nicht, ob er diese Begegnung überleben würde. Er sah gerade einem Dämon des von Allah verfluchten vor sich. Wer so etwas ansehen musste, durfte nicht weiterleben, wenn er nicht dem Wahnsinn verfile und in lebenslanger Umnachtung darben würde. Omar kämpfte darum, nicht den Verstand zu verlieren. Vielleicht war das auch nur ein weiterer Hypnosetrick dieser Frau, die ihn irgendwie dazu gezwungen hatte, die Amphore zu holen. Vielleicht träumte er das alles, weil er am Schreibtisch eingeschlafen war. Ja, das war es, nur ein Albtraum, nicht etwas, was wirklich passierte. Zumindest hatte Mara sich zurückgezogen. Denn sie wusste, dass ihr Dienstherr keine leeren Drohungen aussprach. Vielleicht holte sie aber auch nur die sieben Leibwächter herbei. Doch wenn dies alles nur ein böser Traum war, dann würde er gleich aufwachen und ...
Kaum dass die Amphore nicht mehr glühte, fiel die schwarze Riesenschrecke in sich zusammen und gab jene überaus schöne, nur mit ihrer bronzefarbenen Haut bekleidete Frau frei, die schweißgebadet dasaß und gerade mehrere hauchdünne Schriftrollen aus einem silbriggrauen Material aus der geöffneten Amphore zog. "Die Amphore kannst du jetzt wieder zurückbringen. Ich brauche nur den Inhalt. Danke. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder", sagte sie. Dann blickte sie Omar Hamit noch einmal durchdringend an. Er meinte, in einen tiefen Schacht hinabzustürzen. Als er sich am Boden liegend wiederfand stand vor ihm die offene Amphore. Der Deckel lag daneben. Dann erinnerte er sich, dass eine Gaswolke aus der Amphore gequollen war, als er sie hier im Büro mit einem Laserstrahler bearbeitet hatte. Außer dem Gas war jedoch nichts in dem Behälter gewesen, wohl eine Falle für all zu neugierige, eine arglistige Täuschung.
Verärgert, wweil an dem großen Geheimnis nun doch nichts dran war schraubte er die Amphore wieder zu und stellte sie einfach so auf den Schreibtisch. Das Material mochte Säuren, Diamantbohrern und Metallwerkzeugen widerstanden haben. Aber einem Hochenenergielaserstrahl hatte der Deckel dann doch nicht standgehalten. Dabei fragte sich Omar, ob sie das nicht schon vor zwei Jahren ausprobiert hatten und die Laserstrahlen da vollständig reflektiert worden waren und das Strahlengerät selbst kaputtgemacht hatten. Aber nein, das Gerät war da schon kaputt gewesen und beim Einschalten schlicht überlastet worden. So und nicht anders konnte das gewesen sein.
"Geht es ihnen wieder besser?" wollte Mara wissen, die mit dem hauseigenen Arzt und zwei Leibwächtern zurückgekehrt war.
"Die Rache des Echnaton für die, die meinten, seine Schätze rauben zu müssen", knurrte Omar Hamit. Weder er noch die heimlich in sein Haus eingedrungene Fremde wussten, dass das unbefugte Öffnen der Amphore ein Signal ausgesendet hatte, das der Radiowellentechnik des 21. Jahrhunderts überlegen war.
Es war wie ein Schrei von mehreren Stimmen. Vor allem die älteren Bewohner Ashtaraiondrois vernahmen ihn so deutlich, als wäre er unmittelbar in ihrer Nähe ausgestoßen worden. Doch auch die beiden in die Gemeinschaft der Sonnenkinder eingegliederten und die mittlerweile vier hinzugeborenen fühlten, dass etwas passiert war. Unmittelbar nach dem Empfinden eines mentalen Aufschreis ergoss sich eine Flut von Bildeindrücken in die Bewusstseine der Bewohner der kleinen aber wichtigen Insel im Pazifik. Brandon, der ausnahmsweise nicht an seinem Rechner sondern bei seiner Frau und seiner Tochter saß, bekam über sie mit, wie in einem ihm unbekannten Haus eine Frau mit bronzefarbener Haut, die entweder Asiatin, amerikanische Ureinwohnerin oder arabisch-asiatische Eltern hatte eine rosiggoldene Amphore öffnete. Sie sahen eine Wolke aus Feuer, die die Unbekannte einhüllte, um dann förmlich vom Erdboden verschluckt wurde. Es blitzte kurz auf. Dann hörten sie ein Sprechduett, dass von einem Mann und einer Frau vorgetragen wurde. Brandon dachte an einen Rap aus tiefster Vorzeit und lauschte den Worten, die durch Raum und Zeit zu den Sonnenkindern wehten.
"Wir sind die Wahrer des Schlüssels und Wissens,
die euch einst entsendet ganz reinen Gewissens,
zu streiten für alle, die ständig bedroht,
die leiden durch mitternachts Kinder die Not.
Zu schützen den Ort, wo euch einst wart gegeben
durch mächtiger Ratschluss erhabenes Leben
verbargen wir sorgsam mit Kraft und Verstand
wo ganz genau eure Wiege einst stand.
Solange ihr konntet mit Zuversicht streiten
und ehrenvoll siegtet in schwierigen Zeiten
solange verborgen sollt' sein dieses Haus
aus dem ihr einst zoget zum Kampfe hinaus.
Nur für jene Lage wo finstere Macht
bedroht alle Menschen mit endloser Nacht
und ihr, unsere Kinder nicht dem haltet Stand
sollt' werden euch Erbe und Heimat genannt.
In diesem Sinn schufen wir Schlüssel und Wort
zu weisen euch sicher den wichtigen Ort.
An diesem ihr Wissen und Stärke erringt,
die drohendes Dunkel am Ende durchdringt.
Drei Zeichen der Herrschaft sind euch wohl gegeben
um auf jedem Erdteil nach Ausgleich zu streben.
Als Kinder der Sonne seid ihr uns geboren.
Der Hilfe der leidenden Menschen verschworen.
Der Schlüssel zur Heimstatt geborgen vor Gier
nur wenn er gebraucht wird entsperrt er die Tür.
Erst dann sollt' er zeigen, wo er wart versteckt
und neue Kraft für euch zum Nutzen erweckt.
Doch auch wenn geborgen das Wissen sehr gut
in haltbarer Hülle und mächtiger Glut
Ein mächtiges Wesen in Geist und Gestalt
Erzwang seine Kunde mit Kraft und Gewalt.
Drum müsst ihr euch eilen das Erbe zu finden
bevor euer Feind es erreicht und mit ihm könnt' entschwinden.
So sehet die Bilder und höret die Worte!
Sie führen euch alle zum richtigen Orte."
Während dieses in der Sprache des alten Reiches zitierte Gedicht in den Köpfen erklang sahen sie alle wie aus großer Höhe ein aus dem Boden in die Höhe wachsenden Bau, der auf den ersten Blick wie ein Kegel ohne runden Kopf aussah, bis sich aus ihm Gebilde wie große Blüten entfalteten. Aus der flachen Oberseite wuchsen Säulen aus Licht, die sich mit der Sonne verbanden, um dann zu pulsieren. Im Licht des gerade sichtbaren Tagesgestirns schimmerte der Turm schneeweiß und seine blütenartigen Auswüchse glänzten golden und reckten sich der Sonne entgegen wie lebende Blumen. Mochte es an der Spiegelung oder den Lichtsäulen liegen oder aus dem Material dieses mysteriösen Bauwerks selbst stammen umfloss den Turm ein sanfter, rotgoldener Lichtschein, wie der Hof um eine Laterne oder bei diesigem Himmel um Sonne oder Mond. Halo nannten Astronomen diese Art von Streulicht. Oder war es eher eine Aura, die die Kraft der Sonne in sich trug? Brandon bestaunte das Gebäude, dessen Höhe er aus dieser Perspektive nicht ermessen konnte. Dann hatte er wie jeder andere seiner Mitbewohner den Eindruck, über dem Turm herabzusinken, sah silberne Kreise im Boden auftauchen, die den kegelförmigen Turm mit seinen goldenen Auswüchsen als gemeinsamen Mittelpunkt hatten. Hellrot leuchteten die silbernen Kreislinien durchziehende Linien auf. Die Kreislinien wurden mit weißen, die hellroten Linien mit ebensoroten Zeichen markiert. Zudem baute sich nun auch eine Kuppel aus blauen Linien auf, die sich in um etwa fünfundvierzig Grad versetzt zueinander wirkende Lichtbögen über den Turm hinwegspannte. Nun tauchten noch einmal konzentrische, diesmal gelbe Kreislinien innerhalb der blauen Lichtbögen auf. Dabei vernahmen sie Worte, die Brandon als Zahlen und Messgrößen verstand. Das waren also die Koordinaten und Höhenangaben, wo der Turm stand. Von Navigation hielten sie im alten Reich also auch etwas. Damals hatte Patricia Straton aber Angaben in Schritten erfahren, als sie mit ihm nach den schlafenden Sonnenkindern zu suchen hatte. Jetzt ging es um den Bezug zu Gestirnen und den unsichtbaren Linien des Erdmagnetfeldes. Denn nur das konnte mit "Bahnen, die dem Eisen seine Richtung weisen" genannt sein. Dann erfuhren sie noch, dass dieses Wissen unerreichbar für Erkennungszauber in den Bewusstseinen jedes geborenen Sonnenkindes verankert worden war, wie eine versteckte und mit mehreren Passwörtern gesicherte Datei auf einer Festplatte. Als Brandon diesen Vergleich zog räusperte sich seine Frau Gisirdaria alias Dawn Rivers. "Die Wissenserfassungs- und Preisgabemaschinen, die du kennst kommen nicht im Ansatz an die Mittel heran, die unseren Vorfahren im Laufe der Tausendersonnen erwuchsen", stellte sie rein mental klar. Dann erkannten sie alle, dass der Schlüssel zum Sonnenturm sich gerade offenbart hatte. Das lag aber daran, dass jemand mit genug Macht, seine Abwehr zu überwinden sein Geheimnis gelüftet hatte. Offenbar war es jene bronzehäutige Frau mit den schwarzbraunen Haaren und den nachtschwarzen Augen, die unbeschadet von einer Glutwolke dieses rosiggoldene Gefäß aufgemacht hatte.
"Das war die Schwester derjenigen, die wir bei den Wilsons bekämpft haben", erkannte Patricia. "Aber das war nicht die, die Anthelia schon getroffen hat, die kenne ich aus ihren Beschreibungen."
"Eine von diesen Höllenhuren, von denen es neun Stück gegeben haben soll?" fragte Brandon. Patricia bejahte das.
"Dann müssen wir uns beeilen. Wenn dieses Unheilswesen die Kraft vieler Menschenleben in sich trägt, um den Schlüssel zum Sonnenturm zu enthüllen, so könnte es auch die Wehr um den Turm selbst überwinden, weil sie nachlesen kann, welche Losungswörter sie zu sprechen hat", sagte Faidaria. Gooaridarian stimmte ihr da vollkommen zu. "Wenn sie wie wir die Zutrittsworte erfahren kann und der Abwehr des Turmes widerstehen kann könnte sie auch in den Turm hinein und an sich reißen, was allein für uns bestimmt ist."
"Deshalb müssen wir aufbrechen, um den Ort zu finden und dort hinein, bevor sie dort auftaucht", erwiderte Faidaria darauf. Patricia warf ein, das die bronzehäutige mit den dunklen Augen sicher nicht alleine kommen würde. "Die bringt garantiert ihre Schwester mit. Wenn es darauf ankommt, gegen die Vampire was zu ergattern sind das eben doch liebende Schwestern."
"Kann man da hinapparieren, oder müssen wir fliegen?" wollte Brandon wissen.
"Du willst mitkommen?" fragte Yantulian verwundert. Faidaria kam Brandon mit der Antwort zuvor:
"Er gehört seit unserer Erweckung zu uns, weil er sein Fleisch und Blut mit dem Gisirdarias vereinte und dafür alles vorangegangene von seinem äußeren und inneren Selbst abwaschen ließ. Also hat er wie du und ich das Anrecht, die für uns bestimmten Dinge und Kenntnisse zu erfahren und anzurühren." Damit war die Frage geklärt, erkannten Brandon und Patricia. Denn dass sie ebenfalls mit zum Sonnenturm reisen würde stand für sie fest. Immerhin hatte sie ja all die Dinge in Bewegung gesetzt, als sie Daianira, die nun Theia Hemlock hieß, Intis Beistand abgenommen hatte, ohne dafür bestraft worden zu sein wie der Vater Chuqui Ruahuas.
"Vielleicht können wir den zeitlosen Weg in die Nähe des Turmes gehen. Doch in den Turm hinein dürfen wir wohl nur, wenn wir uns als zutrittsberechtigte zu erkennen gegeben haben", sagte Faidaria.
"Dann nehmen wir einen Portschlüssel, der uns einen Kilometer an den Turm heranbringt", sagte Patricia.
"Ja, und wir sollten es tun, solange Tag ist. Denn wenn die Nacht einbricht besitzt die dem Turm eingewirkte Abwehr eine geringere Ausdauer als am Tage", sagte Yantulian. Alle wussten, was er damit meinte. Wenn die ihnen namentlich noch nicht bekannte Abgrundstochter den Turm zu betreten wagen wollte dann nachts. Am Ende gelang es ihr und ihrer wachen Schwester noch, sich Zugang zu verschaffen. Auf die Gnade, ob die beiden den rechtmäßigen Erben etwas brauchbares an Wissenund Ausrüstung hinterlassen würden wollten und durften sie nicht hoffen. Allein schon die Vorstellung, dass eine Monsterfrau, die einerseits die Meisterin der Verführung und der körperlichen Liebe war und andererseits gnadenlos über Leichen ging mit einer magischen Abwandlung einer Laserkanone herumschießen mochte gefiel Brandon gar nicht. Und da war er absolut nicht alleine.
"Woher weißt du denn, was ein Laser ist?" fragte Itoluhila ihre Schwester, als sie zwei Tage nach dem letzten Treffen wieder zusammentrafen.
"Eine Dreingabe deines Aufweckgeschenks an mich, werte Schwester, dieser Italiener, der hat mit diesen Lichtbündelungsgeräten herumhantiert. Schon sehr einfallsreich, was die Kurzlebigen in den letzten Jahrhunderten ersonnen haben", erwiderte Ullituhilia. "Aber es riss acht der zwölf in mich aufgenommenen Leben aus mir heraus, diese Amphore zu öffnen. Ich kann froh sein, dass der Inhalt nicht zerstört wurde. Aber nun zu dem Text. Er stammt aus dem alten Reich und war von einer Generation Magier zur anderen weitervererbt worden. Nur die wahren Kinder der Sonne sollten die Schriften lesen und den Weg zu ihrer Wiege wiederfinden, der ihnen, nachdem sie vollständig zu Männern und Frauen aufgewachsen waren, vorübergehend aus den Erinnerungen genommen worden war. Nur dass es den Schlüssel zum sonnenturm gab sollte überliefert bleiben, bis ein wahrer Sohn oder eine wahre Tochter der Sonne ihn erbat und berührte. Nun, ich bin kein Sonnenkind. Deshalb hat sich die Amphore auch gegen mich gewehrt. Aber jetzt weiß ich, wo der Sonnenturm steht."
"Ja, und die wahren Sonnenkinder?" fragte Itoluhila.
"Die werden wohl nicht erfahren, wo der Turm steht, solange wir das ihnen nicht verraten", erwiderte Ullituhilia mit einem gewissen Spott in der Stimme. Dann gab sie ihrer Schwester die hauchdünnen Silberfolien, die angeblich aus Orichalk und Silber bestanden und solange halten würden, wie der Mond um die Erde kreiste und die Sonne ihr Licht auf diesen Planeten sandte.
"Oh, die Gegend kenne ich. Da soll ein vergessener Pharao eine kleine Pyramide gebaut haben, weil er sich dort eine Wiederverjüngung erhoffte. Nach ihm haben andere Könige die großen Pyramiden bauen lassen."
"Die Legende vom vergessenen Pharao, natürlich. Hätte aber nicht gedacht, dass an dieser Geschichte doch etwas dran ist. Unsere Schwester des dunklen Mondes hat dort nachgeforscht und nichts gefunden. Liegt wohl daran, dass der Sonnenturm von starken Hüllzaubern umflossen wird. Aber mit den Formeln auf diesen Schriftstücken können wir die Umhüllung öffnen und uns dem Turm nähern. Schwester. Begleitest du mich?"
"Nachdem ich sichergestellt habe, dass alle meine Schutzbefohlenen in meiner Schlafhöhle liegen. Da kommen selbst die Kristallvampire dieser Gooriaimiria nicht rein."
"Die widerwärtigen Kurzlebigen, die Hallitti in ihrer Höhle überfallen haben kamen auch zu ihr hinein, hast du gesagt", knurrte Ullituhilia. "Nur das Geheimnis wo sie liegen schützt unsere Schlafhöhlen. Merke dir das, Schwester."
"Das weiß ich doch schon seit all den Jahrtausenden, die ich auf dieser Welt bin, Schwester", erwiderte Itoluhila. Dann verabredeten sie sich für den nächsten Abend. Denn den Sonnenturm wollten sie nicht bei Tageslicht betreten, weil seine Schutzvorkehrungen da wohl am stärksten wirkten.
Zwölf Sonnenkinder hielten sich an dem rot-weißen Rettungsring der Lady Sunrise, der Staatsyacht Ashtariondrois fest, als dieser als Portschlüssel in Kraft trat. Nachdem die Sonnenkinder die in der alten Sprache mitgeteilten Bezugswerte in moderne Längen-, Breiten- und Höhenangaben umgerechnet hatten war es Patricia möglich gewesen, diese Werte zusammen mit dem übermittelten Bild der Umgebung in die Einrichtung des Portschlüssels einzubeziehen. Dass die Bewohner des alten Reiches sich hauptsächlich nach den hellsten Sternen im Bezug zu den magnetischen Feldlinien der Erde ausgerichtet hatten empfand Brandon schon sehr faszinierend. Zumindest hatte es das Magnetfeld damals schon in der Form gegeben, wie es heute bestand. Das war gemäß geophysikalischer Forschungsergebnisse nicht immer so gewesen und würde auch nicht immer so bleiben. Irgendwann mochte die Polung des Erdmagnetfeldes umspringen und das Feld für eine gewisse Zeit abgeschwächt. Welche Auswirkungen das für die darauf ansprechenden Tiere hatte wurde von Geologen und Biologen rege diskutiert.
Zu der Expedition zum Sonnenturm gehörten außer Brandon und Patricia auch Faidaria, Yandaria, sowie Gooaridarian. Brandons Frau Gisirdaria war mit den restlichen Sonnenkindern zu Hause geblieben. Doch über die vereinte Gedankenverbindung bekam sie alles mit, was er mitbekam oder ihr konzentriert zudachte.
Der heiße, staubige Atem der Wüste schlug ihnen entgegen. Vom Himmel brannte die Sonne herab. Doch ihre Strahlen machten ihnen nichts aus, da sie dieser mächtigen Feuerkugel am Himmel verbunden waren. Eher luden Hitze und Kraft die zwölf Sonnenkinder mit Ausdauer und Geistesfrische auf, dass sie alles um sich mit hellwachen Sinnen erfassten und mühelos in ihren Erinnerungen verankerten.
Zunächst war von einem besonderen Turm nichts zu erkennen. Vor ihnen lag nur karges Wüstenland aus Sand und Geröll. Brandon konnte ein Abbild der Sonne im Norden sehen, das jedoch flimmerte und waberte. Er hatte zwar davon gelesen und sowas auch schon im Fernsehen gesehen. Doch eine echte Fata Morgana zu erleben war doch mal was anderes. Am Ende konnte er vielleicht noch Häuser aus Dropout sehen oder sah dort das Meer, wo eigentlich nur Sand sein durfte.
"Wir haben die richtige Stelle erreicht. Ich fühle es, dass wir unser Elternhaus so gut wie erreicht haben", sagte Faidaria. Brandon fühlte sich eher beobachtet, überwacht, gerade einer Prüfung unterzogen. Auch Patricia empfand so. "Wir sind keine geborenen Sonnenkinder", dachte sie nur ihm zu. "Wir müssen uns als solche ausweisen."
"Hoffentlich stimmen die Zutrittsformeln", dachte Brandon. "Mittlerweile wusste er, dass in dem Turm nicht nur Sonnenlichtsammler eingebaut waren, sondern ebenso Sonnenlichtschleudern, die wie die ganz großen Geschwister jener goldenen Strahlenwerfer die Umgebung absicherten. Wer da nicht erwünscht war konnte leicht zu Wasserdampf und Kohlenstaub zerkocht werden. Doch was war, wenn die magischen Barrieren überwunden wurden, bevor die gewaltigen Strahlenkanonen sich auf die erklärten Ziele ausrichten konnten?
Noch tausend Schritte in die halbe Richtung zwischen Mittag und Abend", legte Faidaria fest, nachdem sie zusammen mit drei anderen Sonnentöchtern eine Art Gefühlstriangulation ausgeführt hatte. Gooaridarian sah seine Tante mit gewisser Bewunderung an, dass sie derartig empfindsam auf die Schwingungen des Sonnenturmes ansprach.
"Den kurzen Weg können wir nicht gehen, weil dies als ungestüm und Missachtung unserer Erzeuger verstanden wird", sagte Faidaria, die älteste der noch lebenden Sonnenkinder. So marschierten sie los, wobei Gooaridarian und sein Schwager Ilangardian alias Brandon Rivers den Rettungsring trugen. Die Frauen aus der Expedition hielten sich bei den Händen. Vor allem jene, die bereits neue Kinder bekommen hatten schienen für den genauen Standort ihres Elternhauses besonders empfänglich zu sein. Einmal meinte Brandon, jemand habe ihm "Bleib stehen" zugerufen, um dann "Du darfst dich nähern" zu flüstern. Als er Patricia Straton alias Gwendartammaya ansah wusste er, dass sie eine ähnliche Empfindung verspürt hatte. Denn sie blickte mit großer Zuversicht auf eine Stelle im Sand, die so aussah, als sei sie nur von Wind und Sonne geformt worden. Dann verhielt Faidaria den strammen Marschschritt und reckte ihre Arme zum Himmel.
"Formt einen Kreis und singt mit mir das Lied der Erzeuger, wie es uns das in uns verborgene Wissen enthüllt hat!" befahl sie. Sofort ergriffen sich alle bei den Händen und formten einen großen Kreis. Patricia hielt dabei ihren Angetrauten Gooaridarian und Brandon, welcher seinerseits Kontakt zu Faidaria hielt.
Es war ein schönes, wenn auch außerhalb europäischer Tonleitern klingendes Lied, in dem die Namen der Schöpfungseltern klangen, bei denen die männlichen etwas mit Feuer, Flamme oder Hitze und die der Frauen mit Licht, Kraft, Leben und Erneuerung zu tun hatten. Auf eine nicht weiter erläuterte Eingebung Faidarias hin begannen sie einen dreistimmigen Kanon zu singen, dessen dreißig Worte lange Strophe viermal wiederholt wurde. Dann überkam sie alle das unbändige Gefühl, endlich wieder zu Hause zu sein, die geliebten Eltern wiedersehen zu dürfen. Im selben Augenblick flimmerte vor ihnen die Luft, und dann sah Brandon ihn wahrhaftig vor sich, den bestimmt fünfzig Meter aufragenden Turm. An der kreisrunden Basis mochte er einen Durchmesser von zwanzig Metern besitzen. Doch die Wände verjüngten sich nach oben hin so schnell, dass die flache Oberseite gerade noch fünf Meter Durchmesser besaß. Brandon sah die bereits bekanten goldenen Auswüchse, die wie große Blüten wirkten und sogar über Stempel verfügten. Diese Stempel, so erkannte er nun, waren die Läufe jener Sonnenlichtbündler, die den Laserstrahlern aus den Zukunftsfilmen und -büchern locker das Wasser reichen konnten. Nur die aus der Oberseite aufragenden Lichtsäulen waren nicht zu sehen. Irgendwie hatte Brandon den Eindruck, kein festes Haus, sondern ein gelandetes Raumschiff vor sich zu haben. Denn die Wände waren so glatt, dass sie unmöglich aus gemauertem Stein bestanden. Das sah wie angegossenes Metall oder glasierter Zucker aus. Vielleicht war das nur der äußere Anstrich, eine Haut aus mehreren Schichten Farbe und Schutzmaterial, räumte Brandon für sich ein. Jedenfalls strahlte dieses aus dem Unsichtbaren herausgelöste Objekt aus einer Zeit, wo die meisten Menschen noch mit Steinwerkzeugen hantierten eine unverkennbare Überlegenheit und Erhabenheit aus. Jetzt empfand auch er es voll und ganz, nach langer Suche nach Hause zurückzukehren. Nur dass seine Eltern nie hier gewohnt hatten und auch deren direkte Vorfahren nie hier gewohnt haben konnten.
"Tretet ein! Willkommen!" hörten sie alle einen Chor aus reinen Gedanken in ihren Köpfen. Wie zur bestätigung leuchtete eine Stelle vor ihnen in einem silbernen Licht auf und formte ein Rundbogentor . Faidaria trat vor und legte ihre Hände auf das silberne Tor. Da wurde sie von einem Sog erfasst und durch das Tor hindurchgezogen. Doch sie empfand keine Angst, eher Erleichterung, den Zugang passieren zu dürfen. Nun folgten dem Alter nach alle bereits als Sonnenkinder geborenen, bis die Reihe an Gooraidarian kam. Dieser schritt würdig auf das silberne Tor zu und berührte es. Auch er wurde in den Turmhineingezogen. Brandon Rivers und Patricia Straton mussten warten, bis sie als einzige vor dem Turm standen. In ihren Köpfen klang nun Faidarias Gedankenstimme: "Der Zugang ist euch gewährt. Denn ihr habt unser Fleisch und Blut gemehrt."
"Dann hat sich diese Tortur mit Prunellus doch für etwas gelohnt", sagte Patricia. Sie nahm Brandon bei der Hand und schritt mit ihm auf das Tor zu. Einen Meter davor ließ sie ihn los und legte ihre Hände auf die silberne Fläche und glitt durch diese hindurch. Jetzt stand nur noch Brandon vor dem Tor. Das hätte er sich nie träumen lassen, einmal in das Gebäude einer völlig anderen Zivilisation einzutreten. Der Eindruck, es nicht mit einem fest am Boden verankerten Haus, sondern mit einem gelandeten und jederzeit startbereitem Raumschiff zu tun zu haben überkam ihn noch einmal. Am Ende würde dieses Gebäude gleich abheben und mit irrsinniger Beschleunigung in den Weltraum hinaufjagen, um ab einem bestimmten Punkt einen Überlichtsprung auszuführen oder in ein Warpfeld eingehüllt die Lichtmauer überwinden und zwischen den Sternen dahinjagen. Doch dann besann er sich, dass das hier ein rein irdisches Ding war, fremdartig und mit einer für ihn immer noch nicht ganz durchschaubaren Kraft errichtet und erfüllt, aber von Menschen der Erde erbaut, die sich auch nur auf ihren Heimatplaneten beschrenkt hatten. So trat er vor und berührte das Tor. Einen Moment lang sah er seine kleine, kugelrunde Frau Dawn mit ihren Kupferhaaren und den Roséaugen, wie sie in einer letzten Kraftanstrengung die kleine Laura, ihr und sein Kind, vollständig in die Welt hinausstieß. Er hörte ihren letzten Schrei vor vollendung der Geburt und Lauras ersten Schrei nach Vollendung der Geburt. Dabei fühlte er, wie etwas ihn sanft umfasste und wie in einem von selbst fahrenden Rollsessel in den Turm hineinbeförderte. Er hatte den Eindruck, in einen kurzen Lichtttunnel zu gleiten. An dessen Ende lag eine imposante, kreisrunde Halle unter einer hellen Kuppel.
"Erkundet und erkennt!" hörte er wie die ebenfalls hier versammelten die reinen Gedankenstimmen jener, die es angestellt hatten, ihren körperlichen Tod zu überstehen. Daraufhin öffneten sich sechs bronzefarbene Türen. "Durch jede müssen mindestens zwei von euch. Denn jedem soll ein Teil des Wissens erschlossen werden", empfingen sie den Chor der Gedankenstimmen. "Ilangardian und Gwendartammaya, ihr seid die zu unseren Kindern dazugestoßenen, die sie erweckten, um den von dem Diener der alles endenden Finsternis in die Welt gebrachten Nachtkinder zu bekämpfen. Ihr kennt die Welt dieser Gegenwart. Betretet zusammen die Kammern der gegenseitigen Belehrung!" Über der Tür in Drei-Uhr-Richtung glommen Schriftzeichen aus dem alten Reich auf, die zu Bildern wurden, die Brandon und Patricia darstellten. Das war eindeutig. Durch diese Tür sollten sie gehen.
"Schade, ich hätte mir gerne angesehen, ob das mit diesen Sonnenlichtkeulen stimmt", sagte Brandon. Doch Patricia grinste.
"Die wollen wissen, warum dieser Turm jetzt unbedingt gebraucht wird, Brandon. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass sie von mir und von dir wissen wollen, wie wir es empfunden haben, mit den geborenen Sonnenkindern neue Kinder in die Welt gesetzt zu haben." Das sah Brandon irgendwie ein, weil der Eindruck am Tor das ja irgendwie schon andeutete.
Über eine gewöhnliche Wendeltreppe ging es hinauf in mehrere Räume, deren Türen sich von ganz allein öffneten wie im Raumschiff Enterprise. In den Räumen konnte Brandon Möbel sehen und Bilder. Die Bilder wirkten aber nicht starr, wie er es aus Museen oder aus seiner Kindheit mit Malbuch und Wasserfarben kannte, sondern lebendig wie Bilder aus dem Kino oder Fernseher. Sie zeigten Männer und Frauen in sonnengelben oder roten Gewändern, wobei die in Rot zudem noch Kleidungsstücke oder Kleidungszubehör trugen, dass orange-golden gemustert war. Als er eine besonders füllige, dabei aber hoch aufragende Frau in fast schon unanständig zu nennen knapper Kleidung sah, die genauso kupferfarbenes Haar wie Dawn und Hesperos besaß musste er fast grinsen. "Was erheitert dich an meiner Gestalt, wo du meine jüngste Tochter als begehrenswert erkannt und dich mit ihr zum Tanz des neuen Lebens vereint hast. Ich trug sie und ihren Bruder in mir und vor ihnen noch sechs weitere Söhne und Töchter, darunter den stärksten Vertrauten des Feuers Yanxotahr und seine nicht minder dieser Kraft vertraute und kundige Schwester Kailishaia."
"Das ist kein Bild", erkannte Brandon. Da wurde aus der bis dahin rein flächenhaften Darstellung dieser besonders umfangreich gestalteten Frau eine dreidimensionale Erscheinung, die aus dem Bild heraustrat und gespenstergleich über den Boden auf ihn zuschwebte. Er verdrängte die erste Regung, durch die Tür zurück zur Treppe zu flüchten. Das war ein echter Geist. Doch anders als er es von Patricia beschrieben bekommen hatte war es keine perlweiße, weitgehend durchscheinende Erscheinung, sondern eine farbige, nur zum Teil durchscheinende Gestalt.
"Teile dein Wissen mit meinem!" befahl die Geisterfrau und streckte ihre große Hand nach Brandons Arm aus. Er hob seinen Arm und legte seine Hand in ihre. Er rechnete damit, eine eiskalte Geisterhand zu berühren. Doch es war eher wie ein Schauer aus Wärme und ein Prickeln wie tausende von über seinen Arm hinweglaufende Ameisen. Dann fühlte er, wie er in eine andere Wirklichkeit hinübergezogen wurde. Er tauchte ein in das Gedächtnis der ihren körperlichen Tod überdauernden Kaigoordarmiria, was übersetzt Mutter des großen, erhabenen Lichtes hieß.
Er erlebte zuerst die Geburt dieser einstmals sehr schlanken Frau mit und bekam im Zeitraffertempo ihre Ausbildung zur Feuervertrauten mit und dass sie nach dem Tod ihres ersten Gefährten durch die Magie eines Dunkelhexers erst auf Rache ausgegangen war, bis ihr dann im Traum die Stimme ihres Mannes zum Einhalt geraten hatte. Er hatte sie damit getröstet, dass er zu ihr zurückkommen würde in Gestalt ihres nächsten Sohnes, weil er ihr doch versprochen hatte, mit ihr gemeinsam nach drei Töchtern doch noch einen Sohn zu haben. Den Vater hierfür fand sie in einem Bruder der letzten Lichtkaiserin Darxandria. Tatsächlich hatte der Geist ihres von einem Schüler Skyllians getöteten in ihrem Unterleib Zuflucht gefunden, weil er nicht mit dem Gewissen in die Nachwelt eintreten wollte, sein Versprechen ihr und seinem Vater gegenüber nicht mehr einhalten zu können. In Gestalt des Feuermagiers Yandarothar kehrte er in die Welt der Lebenden zurück. Da er schon als Ungeborener alles Wissen seines ersten Lebens in sich wiedergefunden hatte wurde er als Daisirian, als zum zweiten Mal geborener bezeichnet.
Nachdem Kaigoordarmiria Yandarothar noch einen Bruder und eine Schwester vom selben Vater geboren hatte wandte sich dieser einer Vertrauten der Erde zu, um auch mit dieser Träger der Kraft zu zeugen. Das war damals im alten Reich weder sündhaft noch ungesetzlich, sondern gehörte zum guten Ton jener Menschengruppe, die durch magische Kräfte den Adelsstand bildete. Brandon bekam noch mit, wie Girryantoran geboren wurde, was übersetzt Flämmchen hieß, weil er eben als Sohn zweier Feuermagier zur Welt kam und bei seiner Geburt so winzig war, obwohl er die übliche Zeit im Mutterleib herangewachsen war. Doch aus dem Flämmchen wurde Yanxothar, der größte Meister des Feuers des alten Reiches. Seine zwei Jahre später geborene Schwester hieß schon von Geburt an Kailishaia, was erhabene Freude hieß, weil sie ihrer Mutter keine Umstandsbeschwerden bereitet hatte und ohne all zu großen Schmerz förmlich in die Welt hinausgesprungen war. Auch sie war zu einer mächtigen Feuermagierin geworden und hatte das, was ihr Bruder als Schmied vollbrachte, als Schneiderin magischer Kleidungsstücke hinbekommen. Das Glanzstück ihres Schaffens war ein Kleid, das vor allen Feuern der Welt beschützen und sogar mit Hilfe von Feuer größere Fernreisen mit Begleitperson ermöglichte. Brandon amüsierte es, als er sah, wie Yanxothar, der ein flammendes Schwert hergestellt hatte, einmal das Kleid seiner Schwester anzog und im gleichen Augenblick wie sie aussah und auch eine Frau blieb, als er das Kleid erschrocken von sich abstreifte. Erst als sie es wieder anzog wurde er wieder er selbst.
Er bekam die Schlacht zwischen lebenden und künstlichen Drachen mit und hörte auch vom Tausendsonnenfeuer, wobei ihm sofort der Begriff Antimaterie einfiel. Er erschrak, wenn er sich vorstellte, dass in diesem Turm der Herd für Tausendsonnenfeuer enthalten war, also eine Vorrichtung zur Erzeugung dieses zerstörerischen Stoffes. Ja, da durfte wirklich keiner dran, der aus lauter Machtgier die ganze Menschheit versklaven oder vernichten wollte. Er bekam noch mit, wie Kailishaia zu den Altmeistern ging, nachdem sie ihr Kleid in die Obhut einer Frau aus Gold gegeben hatte. Sie wurde eins mit einem gläsernen Zylinder. Ihr Körper löste sich völlig auf. Dann erschien eine silberweiße Substanz innerhalb des Zylinders, aus der wiederum die in ihrem orange-goldenen Kleid gehüllte Kailishaia wiederverstofflicht wurde. Sie lächelte den anderen in solchen Glaszylindern steckenden zu, bevor sie und die anderen wieder zu einer silberweiß leuchtenden, ätherischen Substanz zerflossen.
Nun erfolgte die Geschichte der Entstehung der Sonnenkinder. Dabei sah er Kaigoordarmiria, die er nun auf zwei Meter groß schätzte wie sie im Zeitraffertempo mit fünf verschiedenen Männern in golden strahlenden Leuchtspähren Sex hatte und dabei vier Kinder, drei Jungen und ein Mädchen bekam. Er sah, wie sie innerhalb der goldenen Spähre wie in einem Kokon eingebettet blieb und von goldenen Frauen wie ein Kleinkind gefüttert und gewickelt wurde, bis jedes ihrer Kinder ihren Leib und die goldene Sphäre verlassen hatte. Dabei grinste ihn das Mädchen an, kaum dass es geboren war. Sie besaß da schon jenes Kupferhaar, das sie als erwachsene Gisirdaria immer noch besaß. Nur ihre Augen waren bei der Geburt himmelblau gewesen wie bei vielen Babys auf der Welt. "Interessant, mich selbst mal so zu sehen", hörte er Dawns Stimme so, als spräche sie aus dem Mund des gerade erst geborenen Kindes. Darauf erfolgte ein ungehaltenes Räuspern Kaigoordarmirias.
"So bist du durch sie mit mir verbunden", sagte sie noch, bevor er sah, wie Gisirdaria aufwuchs und mit den anderen Sonnenkindern gegen die Vampire kämpfte, wobei sie nicht mit jenen Sonnenkeulen kämpfte, sondern mit einer Art goldenen Netz, in dem die Vampire verkleinert wurden, bis sie wie geisterhafte Abbilder aus ihren Körpern herauswehten und mit lauten Jubelschreien vergingen, ihre durch den Vampirismus vergifteten Körper losgeworden zu sein.
Dann kamen die schattenhaften Wesen, die wie Dämonen aus einer Version der Hölle entstammt sein mochten. Sie besaßen acht Beine und besaßen Walzenform. Nur die Köpfe waren groß und haarlose Menschenköpfe mit blau leuchtenden Augen, die die Fähigkeit besaßen, alles zu Eis erstarren zu lassen, was sie ansahen. Außerdem konnten sie durch Berührung Menschen die Seelen entreißen oder durch überlagerung ihrer Schatten den Keim für neue Schattenwesen legen. Als dann auch noch die Schlangenkrieger eines gewissen Skyllians auftauchten drohten die Sonnenkinder zu unterliegen. Fünfzig von ihnen eilten auf den Ruf ihrer rein geisterhaft fortbestehenden Eltern zu fünfzig Säulen und schlüpften dort hinein, um mit ihnen im Sand der Wüste zu versinken. Danach sah er noch sein eigenes Leben aus seiner Perspektive im Zeitraffertempo vorüberfliegen, seine letzten Tage im Mutterleib, seine Geburt, die Kindheit in Dropout, die Begegnung mit Anthelias Hexenschwestern, wie er zu Cecil Wellington wurde und als solcher mithalf, Bokanowski zu bekämpfen. Er erlebte wie Standbilder die Schmusestunden mit Laura Carlotti und erlebte noch einmal die erste körperliche Liebe mit Gwendolyn nach der Geburtstagsfeier für Madonna nach. AmEnde bekam er die Zeugung und Geburt seiner eigenen Tochter Laura noch einmal mit. "Danke, dass du meine Blutlinie verlängern wirst. Sei guten Mutes, mit dieser großen Aufgabe angemessen und sicher umgehen zu lernen", hörte er noch die Stimme Kaigoordarmirias, bevor er meinte, durch einen Vorhang aus warmer Luft zu treten.
Kaigoordarmiria war wieder zu einer rein zweidimensionalen Erscheinung im goldgerahmten Gemälde geworden. Doch sie lächelte aus dem Bild auf ihn herab. "So wissen wir beide nun voneinander. Erkunde die anderen Räume und lerne die Kunst des Ortshörens und die Schalen des Windes kennen, von denen es in unserem Haus fünf Stück gibt."
"Dieses Kleid deiner TochterKailishaia, soll ich es suchen oder soll Patricia oder Gwendartammaya es finden?" fragte Brandon Rivers.
"Nein, nur Kailishaia darf bestimmen, wer es tragen soll. Womöglich hat sie es schon einer ihr würdigen zugesagt. Leider kann ich nur mit den hier verbliebenen Eltern der Sonnenkinder sprechen und nun, wo ihr uns wiedergefunden habt, durch eure Augen und Ohren die Welt wahrnehmen. Wenn du einmal eine Frau, die die Kraft benutzen kann triffst, die dieses Kleid trägt, rühre sie nicht an und erkenne an, dass sie dieses Kleid verdient hat. Das waren die vorerst letzten Worte seiner gespenstischen schwiegermutter. Oder sollte er sie eher als eine Art Engel sehen?
"Ah, da bist du. Ich habe deine Gedanken nicht mehr hören können", sagte Patricia, als sie durch die Tür hereintrat. Brandon wollte schon ansetzen, ihr zu erzählen, was er mitbekommen hatte. Doch als wenn ihm wer den Mund zuhielt bekam er kein Wort heraus. Auch daran zu denken gelang nicht. Er konnte nur den Raum verlassen. Die Tür fiel zu. Womöglich würde Patricia nun von ihrer Schwiegermutter unterrichtet, wie die Sonnenkinder entstanden waren.
Brandon durchstöberte weitere Räume und erfuhr dabei noch mehr über die Herkunft der Sonnenkinder und auch, dass die goldenen Sphären nicht nur die Mütter, sondern auch die Väter der Sonnenkinder aufbewahrt hatten, bis deren Nachkommen geboren waren. Dadurch wurde über beide Blutlinien hinweg die besondere Natur in die heranwachsenden Kinder eingewirkt, sozusagen im Erbgut eingraviert. Sich aber vorzustellen, neun Monate lang in einem goldenen Kokon zu liegen und von irgendwelchen Robotern gefüttert und wie ein Baby gewickelt zu werden erschien ihm aber sehr umständlich und langweilig.
Als er Patricia in einer Halle weiter oben an einem Zwischending zwischen Boot und großer Muschelschale wiedertraf meinte sie: Kaigoordarmiria hat mich meine ungeborene Tochter lachen hören. Die klang dabei wie meine verstorbene Mutter. Die will haben, dass ich bald wieder rund werde."
"Ich habe noch keinen kleinen Bruder von Laura gehört", grinste Brandon. "Weil der in meinem Kullerbauch gelacht und um sein baldiges Erscheinen gerufen hat", hörten sie beide Dawns Gedankenstimme. "Und jetzt, wo ihr beide die Kraft des inneren Selbst meiner Mutter eingeatmet habt wird sie uns nicht mehr in Ruhe lassen, bis du, Patricia und ich zum zweiten Mal neues Leben tragen."
"Erst einmal möchte ich wissen, wie diese Flugmuschel geht", sagte Brandon, der die mit weit ausgespannten Flügeln versehene Konstruktion bewunderte. "Dann besteige den Windsegler und lerne ihn zu lenken", hörte Brandon die Stimme eines Mannes aus einem Bilderrahmen. ""Lege vorher alle künstliche Verhüllung ab, um eurem neuen Gefährt die Muster deines körperlichen Seins einzuprägen!"
"Individualimpulsabstimmung oder DNS-Kodierung?" fragte Brandon. "Du kannst zu einem von drei Lenkern dieses Windseglers werden, wenn du dich ihm unverhültt anvertraust. Auch deine Begleiterin kann zeitgleich mit dir erlernen, wie er zu fliegen ist", sagte die Stimme. Sie stammte von einem in rote Tücher gehüllten Mann auf einem Bild. Patricia nickte dem Gemälde zu und entledigte sich ihrer Kleidung. Brandon stand ihr nicht nach. Dann bestiegen sie nacheinander jenes muschelförmige Fluggerät. Brandon meinte, in eine sich fest um ihn legende Decke gewickelt zu werden. Dann vibrierte es unter ihm. Danach flutete etwas seinen Geist mit Worten und vorgemachten Handgriffen, bis er wusste, wie er dieses magische Fluggerät mit seinen Gedanken und Verlagerung seines Körpers zu einem heißen Renner durch die Luft machen konnte.
Als dann auch Patricia sich in dem Windsegler der Blitzschulung unterzogen hatte meinte sie: "Eigentlich besser als ein Besen und als der Maserati. Nur bedauerlich, dass dieses Gerät sich nicht unsichtbar machen lässt."
Am Schluss des Rundganges stießen Brandon und Patricia auf eine Kammer, die wie ein mittelalterlicher Raum beschaffen war. Dort konnte Brandon jene goldenen Vorrichtungen bestaunen, mit denen gespeichertes Sonnenlicht auf engem Raum gebündelt auf ein Ziel gerichtet werden konnte. Eine große, schwarze Zielscheibe mit konzentrischen Ringen und durch diese schneidenden Linien lud dazu ein, den Gebrauch dieser Waffen zu üben. Hierbei kam sich Brandon wie vor einer Videospielkonsole vor. Mit jungenhafter Begeisterung probierte er die Sonnenlichtkeule aus und jagte fauchende Strahlenbündel in das offenbar hitzebeständige Material der Zielscheibe, bis er es raushatte, die sich bewegenden Linien punktgenau zu treffen oder das scheinbar von ihm wegrückende Zentrum der Zielscheibe genau zu treffen. Als er endlich meinte, genug herumgeballert zu haben wandte er sich um und sah eine Frau ganz aus Gold. Als er die grünen Augen mit dem leichten Graustich erkannte wusste er, dass Patricia Straton alias Gwendartammaya diese goldene Frau war.
"Sitzt gut und hält warm. Aber immer anhaben möchte ich dieses Kostüm nicht", hörte er ihre Stimme wie in eine Blechbüchse hineinsprechen. Er betrachtete sie genau und stellte fest, dass sie zwar an Oberkörper, Kopf und Gliedmaßen wie von einer zweiten Haut bedeckt aussah, der Unterleib jedoch wie in einer festen, geschwungenen Metallunterhose verborgen war.
"Du auch noch", sagte Patricia. "Vielleicht erzählt mir dieser Golandarman dann, wie ich aus der Goldrüstung wieder rauskomme, bevor ich in sie hineinwässern muss."
"Wer ist Golandarman?" fragte Brandon. Ein wie ganz aus Gold bestehender Mann auf einem Bild, das den Kampf gegen fliegende Riesenfledermäuse zeigte lachte und wisperte dann direkt in Brandons Kopf. "Lege deine mitgebrachte Verhüllung ab und ergreife den dir zustehenden Sonnenpanzer!"
Brandon hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, sich andauernd an- und auszuziehen. Patricia kannte ihn ja auch schon zur Genüge wie er sie. Doch wo war der Goldpanzer. Endlich fand er in einem kleinen Schrank eine zusammengelegte goldene Folie, die sich wie ein Gewebe aus Metall und Tierhaut anfühlte. Wie bei einem Strampelanzug schlüpfte er in die elastisch wirkende Folie hinein. Als er dann den von Bauch bis Nasenspitze reichenden Verschluss einfach durch Zuklappen nahtlos zuwachsen ließ fühlte er erst eine kurze Vibration. Dann war ihm, als pieksten ihn mehrere Nadeln in Stirn, Bauch und Gliedmaßen. Er meinte, eine feste Hand umgreife seine Weichteile, was ihm erst unangenehm war. Doch dann verflog das alles und er meinte, überhaupt nichts am Körper zu haben. Er konnte mit seinen Händen so fühlen wie sonst, auch mit seiner Haut. Doch wenn er versuchte, sich zu kneifen glitten seine Finger von der fest anliegenden Folie ab. Rein äußerlich sah er nun aus wie einer dieser goldenen Dinstboten, die sie im alten Reich offenbar gebaut hatten. "Ich kann nichts in den Mund stecken", stellte er fest, als er versuchte, seinen Mund weit genug zu öffnen. "Must du auch nicht, weil der erhabene Himmelsvater dich ernährt wie die grünen Pflanzen dieser Welt. Benötigst du Wasser, so fließt es dir aus der Luft direkt in den Leib. Musst du Wasser lassen, so saugt der Schutz deiner Lebenskugeln und deines Lebensbotens es auf und zerstreut es geräusch- und Geruchlos", sagte die Stimme Golandarmans, der sich als Erfinder der Sonnenrüstungen verstand.
"Ja, und Liebe machen und Kinder kriegen geht in diesen Rüstungen auch?" fragte Brandon keck.
"Nein, dies geht nicht. Dazu müsst ihr sie ablegen. Aber sie wird sich nur dort ablegen lassen, wo ihr den Menschen wisst, mit dem ihr die Wonnen des Lebenstanzes erleben möchtet. Empfindet der oder die andere nicht denselben Wunsch, könnt ihr sie nur ablegen, wenn ihr im Umkreis von hundert Schritten kein anderes lebendes Wesen wisst. Denn ihr könnt keine einfache Kleidung unter oder über der Rüstung tragen."
"Tolle Klamotten", knurrte Brandon. "Und wozu taugt dieser Anzug eigentlich?"
"Gwendartammaya, zeige ihm, was ich dir beschrieb, als er zuerst die Kraft der Sonnenkeulen kennenlernen wollte, während du dich für den Schutz der Sonnenkinder interessiertest!" forderte das Bildnis Golandarmans die immer noch wie ein goldener Nachbau ihrer selbst aussehende Patricia auf.
Diese ergriff eine andere Sonnenkeule und zielte auf Brandon. Er wollte schon rufen, dass er gerne noch mal aus diesem Anzug herauskommen wollte, bevor er starb, als sie auch schon auf ihn feuerte. Doch der sonst so tödliche Energiestrahl wurde um seinem Körper zu einer goldenen Aura, die für einige Sekunden erstrahlte, bevor sie erlosch.
"Ja, und in der Rüstung verdichtet sich unsere eigene Sonnenkindaura", sagte Patricia, als sie noch zweimal auf Brandon gefeuert hatte.
"Ja, wunderbar. Ist sie auch Kugel- oder säurefest?" fragte Brandon.
"Nur eine Macht der Welt kann diese Rüstung durchdringen und dich töten, Ilangardian, und das ist das Alter", sagte Golandarmans Stimme.
"Und der Todesfluch?" fragte Patricia und griff nach ihrem Zauberstab. Brandon wollte schon protestieren, sich doch nicht von ihr umbringen zu lassen.
"Lässt du das bleiben, Gwendartammaya! Oder willst du wieder auf den dunklenPfad zurück, von dem du nur unter großen Schmerzen abkehren konntest?" hörten sie beide Dawns Stimme im Kopf.
"Ich wolllte es nur wissen", erwiderte Patricia.
"Wenn du ernsthaft einen deiner neuen Artgenossen töten willst wirst du erreichen, dass du selbst dein Leben verlierst", erwiderte Golandarman sehr ernst. "Ihr dürft und könnt euch nicht gegenseitig das Leben nehmen. Das wurde dir mit Gooarirdarians Leibesfrucht in alle Fasern deines greifbaren und inneren Seins eingeprägt, genau wie es dir, Ilangardian, durch die Vereinigung deiner und Gisirdarias Blutlinie in deine greifbare und innere Daseinsform eingeprägt wurde."
Aber ich möchte doch aus meiner Rüstung raus und mir wieder meine üblichen Sachen anziehen", grummelte Brandon.
"Das ist doch nicht nötig, solange du nicht den Tanz des Lebens mit deiner Gefährtin tanzen möchtest. Außerdem haben sich auch alle anderen ihre Rüstungen und Sonnenlichtkeulen beschafft und für ihre Gefährten ebenfalls welche mitgenommen."
"Na toll, und wenn wir mal wieder die Welt retten müssen fallen wir total auf in dieser Rüstung", erwiderte Brandon.
"Hmm, das ist einer der Haken an dem Komplettschutzpaket mit eingebauter Satt- und Sauberhaltung", grummelte Patricia. Brandon dachte schon, dass sie ihm zustimmte. Da sagte Golandarman:
"Nur wahre Sonnenkinder können die Träger dieser Rüstung sehen. Für eure Feinde seid ihr unerträglich helle Lichter und für alle anderen unbemerkbar und auch unhörbar."
"Also bin ich jetzt für jeden Unsichtbar, der kein eindeutiger Feind von mir ist?" fragte Brandon. Patricia und Golandarman bejahten es. Dann wollte er wissen, was die anderen Haken an der Sache seien.
"Wer die Rüstung trägt kann nicht mehr mit dem Mund essen oder den Duft von schönen Dingen einatmen, weil alles gasförmige, was keine reine Luft ist ferngehalten wird. Wenn du wässern oder unverdauliches Loswerden musst landet das erst wie bei einer Windel im Unterleibsschutz, bevor es in seine Grundbestandteile aufgelöst und weiträumig um dich herum verteilt wird. Ob das dann den anderen stinkt weiß ich nicht. Der dritte Haken ist, dass jede Form von unangebrachtem Leichtsinn, der wie Lebensmüdigkeit aussieht damit bestraft wird, dass du einen vollen Mondumlauf lang keine Bewegung mehr ausführen kannst. Du kannst zwar von einem Gebäude wie dem Turmhier runterspringen. Bei Tag sinkst du wie eine Feder nach unten und bei Nacht knallst du auf den Boden, ohne dir einen einzigen Knochen zu brechen. Aber wenn du das in Selbstmordabsicht tust bleibst du dann eben einen vollen Mondmonat lang deine eigene Statue. Dadurch, dass dich nur Sonnenkinder sehen können fällt das auch keinem auf, dass du irgendwo rumliegst oder stehst. Ja, und der vierte Haken ist der, dass du die Rüstung erst zwei Tage nach dem Sex oder der Niederkunft wieder anziehen kannst. Tust du es gleich danach, so wirst du auf ein Zehntel deiner Körper- und Geisteskraft geschwächt, bis diese zwei Tage um sind."
"Ja, und wenn du die Rüstung jemandem gibst, der kein Sonnenkind ist kann er sie zwar anlegen, aber nie wieder ablegen. Dann wirst du zeit seines oder ihres Lebens ständig an Kraft verlieren, die ihm oder ihr zugeführt wird, bis du zu viel Gewicht und Kraft zum Überleben verloren hast. Der Träger der Rüstung bleibt aber bis zu seinem natürlichen Tod in ihr eingeschlossen. Stirbt der unzulässige Träger, so löst sich die Rüstung in die Bestandteile auf, aus der ich sie gefertigt habe."
"Oha, schon krass", knurrte Brandon. "Öhm, und wenn mir wer die Rüstung klaut, solange ich sie nicht trage?" wollte er wissen.
"Kann er oder sie sie nicht anlegen. Du musst sie freiwillig weitergeben, sei es an einen deiner Nachkommen oder an jemanden, der nicht würdig ist, sie zu tragen. Ein Räuber kann die Rüstung wweder anlegen noch als solche erkennen. Außerdem wird er von der Sonne bestraft, indem sie ihn stärker blendet als so und ihre unsichtbaren Strahlen ihn zehnmal so schnell verbrennen wie die Haut eines gewöhnlichen Menschen", sagte Golandarman. Damit war für Brandon soweit alles wichtige klar.
"Nun versammelt euch in der Halle der Vollendung, wo ihr als rechtmäßige Erben des Sonnenturmes bestätigt werdet und somit auch auf dem kurzen Weg in ihn hineingelangen könnt, auch wenn ihr mit dem Helm der neuen Heimat einen anderen Standort für ihn erwählt."
"Der Helm der neuen Heimat?" fragte Brandon.
"Er erlaubt dem Würdigen und ältesten von euch, den Sonnenturm einmal in jedemSonnenumlauf an einen anderen Ort zu stellen, ohne seine Einrichtungen zu beschädigen. Er oder sie sollte nur darauf achten, ihn unter freiem Himmel und an einem Ort mit genug freiem Sonnenlicht hinzustellen."
"Faidaria ist unsere Älteste", sagte Patricia Straton.
"Na ja, wenn niemand in den Turm eindringen kann brauchen wir ihn nicht zu versetzen", sagte Brandon, dem der Vergleich mit einem gelandeten Raumschiff jetzt doch wieder sehr gefiel.
"Mal sehen, wer noch alles diese Rüstungen trägt", scherzte Patricia, als sie ihre und Brandons normale Kleidung in ihrer rauminhaltsvergrößerten Handtasche versenkte.
"Solange wir nicht im eigenen Saft schmoren oder ersticken wie das Bond-Mädchen Tilly Masterson habe ich im Moment kein Problem mit der Weihnachtsfolie", erwiderte Brandon.
"Ach, die Sache mit dem goldgierigen Mann, der meinte, die Goldreserven der Staaten durch eine Atombombenexplosion unberührbar und damit wertlos zu machen?" fragte Patricia. Brandon nickte.
"Ja, doch die Darstellerin dieser Frau hat die besondere Bemalung überlebt, soweit ich von einer meiner früheren Mitschwestern erfahren habe", erwiderte Patricia. Auch dazu konnte Brandon nur mit einem Nicken antworten.
In der Halle der rechtmäßigen Erben traten die Geister der Sonnenkindeltern noch einmal auf und begrüßten ihre Kinder und deren neue Gefährten. In einem feierlichen Eid mussten sie geloben, das Geheimnis des Sonnenturmes nur wahrhaftigen Sonnenkindern zu verraten. Dann kam die Nacht und mit ihr der Alarm.
Die beiden wachen Töchter Lahilliotas flogen in ihren monströsen Zweitgestalten über die Wüste im ägyptisch-sudanesischen Grenzgebiet. Itoluhila, die Tochter des schwarzen Wassers, hatte die Gestalt eines mehrere Meter großen schwarzen Rochens angenommen, der wie ein Vogel mit den Flossen schlagend durch die Luft glitt. Ullituhilia, die Tochter des schwarzen Felsens, hatte die Form einer übergroßen Wanderheuschrecke mit schwarzer, gegen jede aus der Erde geschöpfte Waffe trotzenden Haut, die jedoch so beweglich war, dass sie die großen Flügel mühelos schwingen konnte, die anders als bei gewöhnlichen Insektenflügeln eher den Flügeln eines Kolibris entsprachen und auch die energiesparende Flugtechnik des Achtenschlages verwendeten. Dass sie aber eher eine Raubschrecke war bewisen zum einen die mörderischen Mandibeln, die mühelos ganze Rinder oder Pferde durchbeißen konnten, sowie die tödlich spitzen Stacheln an den Innenseiten ihrer beiden vorderen Beine, mit denen sie ihre Opfer in eine unbarmherzige Umarmung nehmen und dabei erdrücken und gleichzeitig erdolchen konnte.
Die beiden Abgrundsschwestern wichen den an der Grenze umherziehenden Soldaten aus, deren Gedankenausstrahlung sie ebenso wittern konnten, wie sie die Schwingungen ihrer elektrischen Lichter fühlen und mit ihren nachtempfindlichen Augen selbst die Wärmespuren ihrer zugtierlosen Kampfmaschinen und Fuhrwerke erspähen konnten. Sie standen in direktem geistigen Kontakt zueinander.
"Da vorne ist die Stelle, aus der der Turm hervorgerufen werden kann, Schwester", teilte Ullituhilia ihrer Schwester mit.
"Ja, und wir wollen hoffen, dass wir dort eingelassen werden. Diese Sonnenkeulen und die Rüstungen interessieren mich wahrlich am meisten."
"Schon lustig, wie der Schrei eines neugeborenen Kindes die ganzen Pläne dieser selbsternannten Vampirgöttin zu Staub zerblasen hat", amüsierte sich Ullituhilia über das, was ihre Schwester ihr berichtet hatte und was ihr selbst die Idee eingegeben hatte, ihre drei wertvollsten Abhängigen in die Nähe eines Geburtshauses zu versetzen, solange die Gefahr durch die Vampire nicht gebannt war.
Gleich sind wir da und ... in die tiefste Glut der Welt", gedankenschnarrte Itoluhila. Das Brennen wie von kleinen, unsichtbaren Flammen war so plötzlich über sie gekommen, dass sie fast aus ihrer Flughöhe abstürzte.
"Irgendwas jagt mir Kälteschauer wie ein eisiger Sturmwind über den Körper", gedankenknurrte Ullituhilia. "Das sind die Schutzzauber um den Sonnenturm. Wir haben ihn gleich."
"Ja, aber unsere Schwester hat dieses Gebiet doch damals auch immer wieder durchquert", widersprach Itoluhila, die das Gefühl eines auf ihrer schwarzen Fischhaut tanzenden Feuers immer unerträglicher empfand.
"Weil die nicht wusste, dass er hier steht. Wir wissen das und haben damit seine Abwehr ausgelöst, weil er von uns nicht erreicht werden will."
"Dann müssen wir runter, um die Zutrittsformeln zu singen, Schwester. Vielleicht können wir in unserer angeborenen Gestalt leichter zu ihm vordringen."
"Du hast recht. Mir ist der Kontakt zur Erde auch lieber als in freier Luft von einem Abwehrbann getroffen und zerstört zu werden."
"Eigentlich schon sehr leichtsinnig, dass wir beide zugleich hier sind. Wenn wir beide dabei unsere Körper verlieren irren wir wohl so lange umher, bis wieder eine von uns aufwacht und uns beide zugleich empfängt", stellte die Tochter des schwarzen Wassers eine Überlegung an, die weder ihr noch Ullituhilia behagte. Denn beide wussten, wessen unfreiwillige Töchter sie dann wohl werden müssten.
Um so wichtiger, dass wir uns diese Blutsaugerseuche vom Hals schaffen. Dazu brauchen wir die Waffen der Schöpfer der Sonnenkinder", gedankenschnaubte Ullituhilia.
Gerade so konnten beide noch landen, bevor das Gefühl eines den Atem und die Wärme austreibenden Sturmes bei Ullituhilia und eines schmerzhaft brennenden Feuers bei Itoluhila übermächtig wurde. Wieder auf dem Boden nahmen sie innerhalb einer Sekunde ihre menschlichen Erscheinungsformen an. Beide trugen lange Kleider. Ullituhilia ein rubinrotes, Itoluhila ein wasserblaues. Nur war von den Farben im Schein des Mondes und der Sterne nicht viel zu erkennen.
"Los, wir fangen an. Wie abgesprochen singst du die obere Stimme für die Töchter und ich die tiefe Stimme für die Söhne", bestimmte Ullituhilia. Da fühlten sie, dass sie nicht mehr alleine waren.
"Mächtige Feinde rücken an. Ich kann sie nicht zurückweisen. Ich muss sie einkerkern!" rief eine geschlechtslose Stimme über einen hektisch schallenden Gong hinweg. "Ich, der Hüter des Turmes, warne euch vor zwei übermächtigen Wesen, die nicht sein durften aber sind."
"Diese Biester sind doch berechenbarer, als sie selbst gerne hätten", schnarrte Patricia. Als die Stimme des Hüters rief: "Ich werde sie vernichten!" rief Patricia noch: "Halt! Das hilft nichts. Die Körper zu zerstören schafft sie nicht aus der Welt!"
"Hüter, zeige uns die Feindinnen!" rief Faidaria. Darauf hin entstand mitten in der Halle der rechtmäßigen Erben eine helle Fläche, die den Sonnenturm aus der Vogelperspektive darstellte. Wieder erschienen silberne Kreise und rote Geraden, die die Kreise durchzogen. Dann konnten sie sie sehen, zwei dunkle Gestalten. Als Patricia die fliegende Fangheuschrecke sah deutete sie darauf.
"Oha, jetzt wissen wir, mit welcher von den noch übrigen Abgrundstöchtern wir es zu tun haben", sagte Patricia und dachte für alle mithörbar an Ullituhilia, die Tochter des schwarzen Felsens. Denn diese war laut Berichten im Stande, sich in eine gegen jede körperliche Gewalt schützende Panzerung zu hüllen, die ihr die Gestalt einer fliegenden Fangheuschrecke gab.
"Ob Anthelia das schon weiß?" fragte Brandon, der sich nicht vorstellen wollte, dass dieses geflügelte Monster auch eine unwiderstehlich schöne Frau sein konnte. Er malte sich aus, wie es für einen arglosen Mann sein mochte, mit diesem Monstrum Sex zu haben und plötzlich in den stachelbewehrten Armen einer übergroßen Gottesanbeterin festzuhängen, die ihn dann bei lebendigem Leibe auffraß. Keine Vorstellung, mit der er seine kleine Tochter oder seinen kleinen Neffen in den Schlaf wiegen wollte. Doch dann konnte nicht nur er es sehen, wie die beiden Geschöpfe landeten und innerhalb einer Sekunde zu erwachsenen Frauen wurden, wobei Brandon sich vor allem an Brustkorb und Beinen der beiden festguckte.
"sie brechen den Schutz der Unauffindbarkeit. Sie kennen die Namen und Wiegenstätte der Erbauer", stöhnte die Stimme jenes ominösen Hüters. "Ich kann sie aber noch einfangen." Da konnten sie sehen, wie die beiden Unerwünschten in einem magischen Licht verschwanden.
"Wenn er sie halten kann sind wir das Thema Abgrundstöchter endgültig quitt", schnaubte Patricia, die sich mittlerweile gut daran gewöhnt hatte, bis auf ihre Augen ganz in Gold zu glänzen und wie in eine leere Blechdose hineinzusprechen. Doch weil das alle anderen hier auch taten empfand sie sich nicht als Ausgeschlossene.
Bange Minuten vergingen. Da tönte ein Geräusch wie von zehn versetzt gestimmten Trompeten. "Warnung, eine Feindin konnte entrinnen. Die verbliebene durchdringt die Seelenmauer des Kerkers. Flucht! Flucht! Flucht!"
"Die sind zu stark. Aber wo ist die zweite hin", schnaubte Faidaria und fragte. Doch der Hüter wiederholte nur das eine Wort: "Flucht!"
"Wenn sie dem Kerker entrinnen können können sie in den Turm vordringen. Auch wenn wir nun alle die Sonnenrüstung tragen besteht doch die Gefahr, dass die beiden uns mit ihrer unreinen Kraft besiegen oder zumindest unser Erbe zerstören, wenn sie es nicht in ihre gierigen Klauen bekommen. So sei es!" rief Faidaria über das Alarmgetröte und die Aufforderung zur Flucht hinweg.
"Nicht auf unsere Insel, weil da Ilagardians Wissenssammler steht. der könnte zerstört werden, Mutterschwester Faidaria!" rief Gooaridarian. Brandon verstand, Faidaria wollte den Helm der neuen Heimat verwenden. Patricia blickte Faidaria an. Wegen der das Gesicht zum größten Teil bedeckenden Goldrüstung konnte niemand sehen, ob sie wütend war oder lächelte. Erst als alle ihre Gedankenstimme hörten wussten sie, dass sie sich gerade amüsierte. "Ich kenne einen Ort, wo die beiden Furien uns nicht suchen werden, weil dort nichts mehr für sie zu finden ist." Dann dachte sie Faidaria etwas zu. Diese nickte und griff unter den thronartigen Sessel, der dem oder der ältesten und damit als Sprecher anerkannten gebührte. Sie zog einen zwiebelförmigen Helm aus rosiggoldenem Metall hervor, an dessenOberseite abgespreitzte Stummelflügel saßen, fast wie bei Thor, dem Donnergott, dachte Brandon. Faidaria stülpte sich den Helm über den Kopf, bis hinunter zur Nasenspitze. Dann entspannte sie sich. Sie alle hörten die Auslöseworte: "Helm neuer Heimat nichts hält uns noch hier, nimm neuen Ort an und gehorche mir!" Es dauerte einige Sekunden, während der Boden zu beben begann. Dann schlossen sich die Fenster. Die Goldrüstungen begannen aus sich selbst in einem sanften Rotton zu leuchten. Dann erklang ein leises Summen, das durch alle Wände lief. Dann war Brandon, als stünde er in einem Expressaufzug, der mit hoher Geschwindigkeit nach oben fuhr. Brandon blickte auf seine rein mechanische Uhr mit Sekundenzeiger, um die Zeit genau abzulesen, die sie jetzt unterwegs sein mochten. Das Gefühl, in einem rasch aufwärts fahrenden Aufzug zu stehen hielt an die drei Minuten vor. Dann umschloss ihn und alle anderen jenes schwarze, totale Einengen, dass er vom Apparieren kannte. Diesmal meinte er, es wesentlich länger zu fühlen, ja immer wieder stärker und schwächer werdend zu spüren. Als es dann endlich ganz abklang und seine Umgebung wieder Raum und Formen bekam fühlte er sich völlig schwerelos. Er kannte das Gefühl vom Achterbahnfahren, wenn der Wagen in einen fast freien Fall überging. Ja, sie fielen wieder. Alles im Raum schwebte langsam nach oben. Dann setzte eine spürbare Bremsverzögerung ein, die ihnen erst ihr gewohntes und dann das doppelte Gewicht zurückgab. Brandons Uhr sagte, dass dieser rasante Fall mit Bremsung eine Minute andauerte, bis es einen leichten Hüpfer gab und das Summen aus den Wänden zu einem kurzen Wimmern wurde. Dann trat Stille ein. Für zwanzig lange Sekunden war nichts mehr zu hören. Dann fuhren die großen Fensterläden wieder nach oben. Es war heller Tag, und draußen erstreckte sich eine Wüstenlandschaft. Allerdings sah sie anders aus als die, in der der Turm eigentlich stand.
"Die Sonnenkinder sind da, mindestens zehn Stück", knurrte Ullituhilia. "Sie sind bereits im Turm. Los, Schwester! Wir müssen uns auch Zugang verschaffen."
Die beiden Abgrundstöchter sangen das Lied. Die Noten dafür hatten sie den Schriftrollen entnommen. Itoluhila sang mit einer glockenhellen Stimme die Verse der den Turm suchenden Töchter, während Ullituhilia ihre Stimme so tief senkte wie ihr weiblicher Körperbau dies zuließ und den Anteil der suchenden Sonnensöhne sang. Die Magie aus der Vorzeit erwachte zu neuem Leben.
Blitze schossen um die beiden Schwestern herum aus dem Boden, helle, goldgelbe Lichtbahnen, die weit in den wolkenlosen Himmel emporschlugen und dort zu goldenen Funkenschauern auseinanderflossen. Das Gefühl eines auf ihrer Haut brennenden Feuers ebbte bei Itoluhila ab. Das Gefühl eines eisigen Wintersturms verflog bei Ullituhilia. Zudem mobilisierte die Tochter des schwarzen Felsens die in den Schichten der Erde schlummernden Kraftströme und bündelte diese auf ihr Ziel. Itoluhila hatte sich offenbar eingesungen und trällerte ihren Anteil an der Melodie und dem in der alten Sprache verfassten Text hinaus, . Dann geschah es.
Laut zischend und prasselnd schoss vor den beiden eine Säule aus goldenem Licht empor, die mehr als einhundert Meter aufragte und sich dabei immer mehr bog, bis ihr Ende wieder in Richtung Erdboden wies. Innerhalb von zehn Sekunden traf das Ende der gigantischen Lichtbahn wieder auf den Boden und schloss den flirrenden und blitzenden Rundbogen.
"Vorsicht, Itoluhila, das ist eine ..." Falle, hatte Ullituhilia noch rufen wollen. Doch da erfasste sie beide der Sog, der innerhalb des Bogens aufkam. Die Tochter des schwarzen Felsens widerstand dem Sog nur eine Sekunde, weil sie für sich die Anhaftung an die Erde verstärkte. Doch dann wurde sie auch von der mörderischen Kraft fortgerissen und durch den flirrenden Torbogen hindurchgezogen.
Sie wurden durch den schwarzen Schlund gesogen wie Wasser in ein Abflussrohr. Das brachte Itoluhila darauf, ihre Wassermagie anzuwenden, um einen Gegenfluss zu erzeugen. Das hätte sie besser lassen sollen. Denn unvermittelt wurde sie von einem hellblauen Leuchten umschlossen, das sie in eine tropfenförmige Schale einschloss. Wie ein ungeborenes Kind zusammengekrümmt und die Knie bis zum Kinn gedrückt hing Itoluhila fest in der blauen Umhüllung. Nur ihre Gedanken drangen noch nach außen.
"Bei unserer erhabenen Mutter, was ist das für eine verfluchte Kraft?" schimpfte sie. Ullituhilia erwiderte:
"Das ist ein Fangzauber, der uns irgendwo abladen und sicherstellen soll. Ich habe ihn auch zu spät erspürt, als mein Gespür für die Erde einen gegen mich wirkenden Sog angekündigt hat."
"Wieso hänge ich dann jetzt in diesem blauen Tropfen fest wie vor meiner Geburt in Lahilliotas Leib?" gedankenschnarrte Itoluhila.
"Weil du die Kräfte des Wassers gerufen und damit eine dem Wasser verwandte Gegenwehr herausgefordert hast. Hätte ich den festen Halt der Erde beschworen wäre ich jetzt wohl in einen Steinblock eingeschlossen worden", schickte Ullituhilia zurück. Dann ebbte der Sog ab. Die Welt gewann wieder Form und Licht.
Sie landeten im Zentrum eines fünfzackigen Sternes, dessen Spitzen von aufragenden goldenen Säulen gebildet wurden. "Wie toll, ein Pentagramm", knurrte Itoluhila. Ihre Stimme klang hohl und dumpf aus der sie immer noch umschließenden Einkapselung.
"Ihr gehört nicht hierher", drang eine donnerwetterartige Stimme aus allen Richtungen. "Ihr habt den Schlüssel gestohlen und seine Kraft ohne jede Berechtigung erweckt", fuhr die Donnerwetterstimme fort. "Dafür werdet ihr bis über das Ende eurer körperlichen Daseinsform in dieser Halle der feindlichen Seelen gefangenbleiben."
"Oh, das ist aber eine sehr lange Zeit", stieß Itoluhila aus.
"Ja, für mich auf jeden Fall zu lang", knurrte Ullituhilia. Dann begutachtete sie die fünf Säulen. Sie bestanden aus reiner Magie, kein fester Kern aus einem der Erde entstammendem Stoff. Itoluhila versuchte, die tropfenförmige Lichtblase um sich herum zu sprengen, schaffte es aber nur, dass sie ihre Beine langstrecken konnte.
"Wer bist du?" fragte Ullituhilia in Richtung der Stimme. Denn sie fühlte, dass irgendwo eine Quelle starker Gedankenströme wirkte.
"Ich bin der Hüter des Worakashtaril und soll die Feinde der Erbauer zurückdrängen oder festhalten. Mehr musst du nicht wissen, widernatürlich erzeugtes Wesen aus Gier und dunklem Streben. Deine Schwester wird in der von ihr selbst erwählten Einkerkerung verbleiben, bis eure Körper ersterben und um euch herum verwittern. Denn töten darf ich nicht, solange ich den erhabenen Worakashtaril bewachen muss."
"Ach, aber verhungern lassen darfst du uns?" fragte Ullituhilia und Itoluhila ergänzte aus ihrer Lichtblase heraus: "Ja, und verdursten lassen?"
"Die Art von Hunger und Durst, die ihr empfindet kann und werde ich nicht stillen. Sonst hättet ihr bis zum natürlichen Ende eures körperlichen Daseins zu Essen und zu Trinken erhalten. Doch so bleibt mir nur, euch darben zu lassen, bis alles ungerecht erlangte Leben erloschen ist und eure Seelen aus der leiblichen Hülle heraustreten."
"Dann mach dich darauf gefasst, dass wir Jahrhunderte hier bleiben können."
"Jahrhunderte, Schwester", protestierte Itoluhila. "Dann werde ich lieber deine Tochter, als Jahrhunderte lang wie ein nie ausreifender Embryo in dieser Blase festzustecken."
"Deine Feinde sind auch unsere Feinde. Gib uns frei, damit wir sie auch im Namen deiner Schöpfer und Herren bekämpfen können", versuchte es die Tochter des schwarzen Felsens mit einer neuen Taktik.
"Ich darf nicht zulassen, dass Feinde der mir übergeordneten Herren meiner Obhut entrinnen, um ihr Treiben fortzuführen. Ihr hättet nicht herkommen dürfen. Ihr hättet den erhabenen Schlüssel unberührt lassen müssen. So tragt die Folgen eurer Neu- und Machtgier!"
"Das wollen wir doch mal sehen", gedankenknurrte Ullituhilia. Sie konzentrierte sich auf die Kräfte der Erde. Doch in dieser Halle fühlte sie keinen Kontakt zu der der Erde innewohnenden Magie. So ging es also nicht, mal eben ein Erdbeben zu machen, um die ganze Halle zusammenbrechen zu lassen. Sie suchte und fand die Gedankenströme. Doch als sie versuchte, zu entwirren, wie viele Gedankenquellen es waren war es ihr, als hiebe ihr jemand mit einer weißglühenden Keule vor Stirn und Augen. Sie schrie laut auf. Sie kannte die Kunst der geistigen Verhüllung. Doch das war eher eine Art krampfhaften Schweigens und Stillhaltens. Der Abwehrschlag eben war eine ganz andere Angelegenheit. Ab jetzt konnte sie nicht einmal mehr lauschen, woher die Gedankenströme kamen, ohne dass die geistige Keule sie unbarmherzig bestrafte. Sie wechselte die Gestalt und wurde wieder zu jener flugfähigen Fangheuschrecke. Als solche konnte sie die knapp hundert Menschenschritte durchmessende Innenfläche des Pentagramms durchfliegen. Doch sobald sie mit der für alles irdische undurchdringbaren Haut zwischen den magischen Säulen hindurchzuschlüpfen versuchte prallte sie auf eine unwiderstehliche Wand und hörte im Kopf den Ruf: "Zurück mit dir!" Dabei dachte sie, zehn Stimmen auf einmal zu vernehmen. Doch eine neuerliche Suche nach den Ursprüngen der fremden Gedanken wurde einmal mehr mit der sie treffenden Geisteskeule bestraft. Dann stellte sie was fest. Ihr gelang es mit ihren Gliedmaßen, in die bläuliche Lichtblase einzudringen, in der Itoluhila gefangen war. Sie konnte ihre Schwester sogar am Arm berühren und versuchte, sie freizuziehen. Doch das misslang. Für Itoluhila war die Leuchtblase wie eine zähe, unzerreißbare Gummihülle.
""So komme ich nicht frei."
"Hast du es schon mit deiner Kampfgestalt versucht, Schwester?" gedankenfragte Ullituhilia. Ihre Schwester flimmerte einen Moment. Doch mehr passierte nicht. "Dieses Zeug schluckt jede Magie, mit der ich meine Gestalt verändern kann."
"Du erinnerst dich an damals, wo wir die jüngste in ihren tiefen Schlaf versenkt haben, Schwester", gedankenfragte die Tochter des schwarzen Felsens. Itoluhila bestätigte das. Sie beide waren darauf bedacht, ihre Gedanken nach außen zu verbergen, um dem allgegenwärtigen Hüter nicht zu verraten, was sie vorhatten. "Gut, wir sind zwar nur zu zweit, aber vielleicht gelingt es uns doch, die uns bändigende Macht niederzuringen. Stell dich auf mich ein, Schwester!"
"Um das zu tun müssen wir in angeborener Gestalt und ohne tote Umhüllung sein", stellte Itoluhila klar. Sie ging auch sofort daran, ihr Kleid und die Unterwäsche auszuziehen. Trotz der beengenden Einkerkerung gelang ihr das, weil sie sehr gewandt und geschickt war, ein Vorzug, den sie sich in all den Jahrtausenden ihres Lebens erarbeitet hatte.
Auch Ullituhilia warf alle Hüllen ab und baute sich so vor ihrer nun nackten Schwester auf, dass beide einander in die Augen sehen konnten. "Werde eins mit mir, Schwester!"
"Teile deinen Leib mit mir, Schwester", hörte sie Itoluhilas Antwort. Beide sangen diese kurze Beschwörung der jeweils anderen immer eindringlicher. Sie fühlten, wie von der jeweils einen Ströme zu der anderen überflossen und auf umgekehrtem Weg zum Ausgangspunkt zurückkehrten. Die blaue Lichtblase begann zu erzittern. Die durch sie hindurchfließenden Energien konnte sie nicht abblocken. Sie hielt nur den Körper, nicht den Geist fest. Dafür war das Säulenpentagramm zuständig, in dem die Seelen der erwiesenen Feinde auf ewig eingekerkert bleiben sollten.
Als beide zu einem Kreislauf aus immer stärker fließenden Geistesströmen wurden begannen ihre Körper zu flimmern und an Kontur zu verlieren. Ein außenstehender Beobachter hätte den Eindruck gewinnen müssen, in einen aus den beiden Schwestern steigenden, von einer sengenden Glut erhitzten Nebel hineinzublicken. Mehr und mehr verloren die Körper der Schwestern an Schärfe und Festigkeit. Sie wurden sogar für das Licht der magischen Säulen durchlässig. Als sie nur noch flirrende Schemen aus dunstartigem Gas zu sein schienen fflogen sie aufeinander zu. Dabei trafen sie sich an der Umrandung der blauen Lichtblase. Es knallte laut, als das blaue Licht unter der Kollision zweier einander zustrebender Ladungen aus Magie und Geisteskraft zerplatzte. In dem Moment, wo die trennende Umhüllung verschwand ballten sich die beiden nebelhaften Erscheinungen zu einer einzigen , dunkelgrauen Wolke zusammen, an deren fließend die Konturen veränderndem Rand rubinrote und wasserblaue Blitze entlangzuckten. Die Wolke dehnte sich aus und stieg nach oben. "Nein, das kann nicht sein!" donnerte die Stimme des Hüters. "Das ist nicht möglich!"
Doch es war möglich. Die aus zwei festen Erscheinungsformen zu einer gewordene Erscheinungsform trieb mit steigender Geschwindigkeit auf eine Linie des Pentagramms zu. Dieses glühte nun in einem orangeroten Licht auf und bildete durchsichtige Wände. Die Wolke stieß gegen diese Wand. Blitze zuckten zwischen ihr und der Wand auf. Die Säulen erzitterten. "Nein, ihr seid zwei, nicht eine. Ich habe zwei Seelen gefangen, nicht eine!" scholl die Stimme des Hüters. "Ihr kinder der Schöpfer seid gewarnt. Ein mächtiger Feind ist mir entronnen!" rief die Donnerwetterstimme aus.
Dann drang die dunkle Nebelwolke durch die Lichtwand zwischen den Säulen hindurch. Die Säulen erloschen mit einem metallischen Knall.
Die magische Wolke, die sich aus den beiden Abgrundstöchtern geformt hatte, schwebte aus der Halle hinaus und drang durch eine schmale Belüftungsritze in den danebenliegenden Raum vor. Dort befand sich der Hüter der Sicherheit des Sonnenturmes.
Wer immer behauptet hatte, dass die Anhänger der hellen Künste niemals in die Vorgaben der Natur eingegriffen hätten musste sich an diesem Ort gründlich getäuscht befinden. Denn in der Mitte des Raumes befand sich ein Gestell, dass auf zwölf schlanken Beinen mit breiten Auflagetellern stand. In das Gestell war eine mehr als drei Meter im Durchmesser große Kugel aus einem glasartigen Material, das jedoch aus sich heraus dunkelrot leuchtete. Durch die nahtlos beschaffene Kugelwandung war eine Grau-weiße Masse zu erkennen, in der pulsierende Adern verliefen, die nach außen mit haarfeinen, durchsichtigen Verbindungsschläuchen zusammengefügt waren. Der Hüter des Worakashtarils war der Gegenspieler des Schattenträumers Kanoras, eine Verschmelzung aus mehr als zehn von ihren Körpern gelöster Gehirne, die nur das eine Ziel kannten, den Sonnenturm gegen seine Feinde zu verteidigen. Die zehn mächtigsten Diener des Feuermagiers Yanxothar hatten sich zu diesem Schritt entschlossen, nachdem ihre Körper je zehn Jungen und zehn Mädchen gezeuggt hatten, deren Mütter in leuchtenden Blasen geborgen waren, wo sie die gesamte Schwangerschaft lang von den lebensgebenden und lebenserhaltenden Kräften der Sonne durchflossen worden waren, so dass die zwanzig Kinder vom Zeitpunkt ihrer Zeugung an mit diesen Kräften erfüllt und belebt waren und diese erst bei Eintritt des Todes wieder verlieren würden. Das Opfer der Körperlichkeit war den alten Magiern nötig erschienen, weil sie wussten, dass auch die Feinde mit Körper und Seelenverändernden Kräften hantierten. Natürlich hatten es Folger des Feuers sein müssen, da die Folger des Lichtes jedes natürlich entstandene Leben über alles andere schätzten und somit niemals von sich aus diesen Schritt getan hätten. Doch die in diesem Turm verbliebenen Sonneneltern hatten diesen Vorgang als notwendiges Übel hingenommen. Jetzt stellte der aus zehn Gehirnen entstandene Hüter fest, dass die zwei gefangenen Seelen zu einer einzigen in einem viermal so starken Körper verschmolzen waren und der sicheren Verwahrung entrinnen konnten. Ihm blieb nur, die gerade rechtmäßig in den Turm gelangten Kinder seiner Schöpfer zu warnen und alle körperlichen und magischen Verbindungen zu dem über ihm stehenden Turm zu versperren, bis die rechtmäßigen Erben den Helm der neuen Heimat benutzten. Erst dann konnte er sich und den gefangenen Feind aus der Welt schaffen. Denn versagt hatte er. Seine Ausgangskörper hatten behauptet, keine Seele und keinen Körper entkommen zu lassen. Die Ehre galt dem Hüter mehr als das eigene Leben, wobei er die meiste Zeit im tiefen Überdauerungsschlaf zugebracht hatte, der nur durch die Berührungen des zurückgelassenen Schlüssels unterbrochen worden war.
"Ich komme nicht hier raus", dachte die zur großen, dunklen Wolke gewordene Vereinigung der beiden Abgrundstöchter. Denn nachdem sie mit nichtstofflichen Sinnesorganen den Raum betrachtet und auf alles materielle und magische geprüft hatte, hatte sie keinen Ausgang gefunden. Es war so, als habe der zu einem Riesengehirn gewordene Hüter alle Verbindungen zur stofflichen Welt unterbrochen. Aber vielleicht gelang es, in der festen Form etwas zu unternehmen. Doch die zu einer gasförmigen Einheit gewordene Verbindung der beiden Schwestern hegte kein Bedürfnis, wieder in zwei Körper zu zerfallen. Die magische Verschmelzung war so stark, dass sie nun wie ein einziges Wesen dachten, das nur die Erinnerung daran besaß, dass es einmal zwei getrennt lebende Geschöpfe gegeben hatte.
"Ist es dieses Gebiet, Gwendartammaya?" fragte Faidaria noch blechern klingender als nur mit der Rüstung.
"Das ist das richtige Gebiet, Faidaria", bestätigte Patricia Straton.
"neue Heimat ist gefunden. Hier nun sei der Turm gebunden!" sagte Faidaria. Dann nahm sie den geflügelten Helm wieder ab und legte ihn unter ihren Sessel zurück. Damit hatte der Sonnenturm seinen Standort gewechselt.
"Und die finden uns hier wirklich nicht?" fragte Gooaridarian. Patricia erklärte, dass hier Hallittis letzte Zuflucht gelegen hatte, bis sie mit ihren damaligen Schwestern dieses Versteck gestürmt und Hallitti entkörpert hatte. Wer nicht wusste, wo der Sonnenturm stand, der konnte ihn auch nicht mit Magie erspüren, hatten sie bei ihrer Vereidigung erfahren. Damit war dieser Turm dem Zugriff nicht nur der Abgrundstöchter entzogen. Und wer doch erfuhr, wo der Turm stand würde von dessen starken Waffen bekämpft und wohl getötet, auch wenn einige der Lichtfolgenden mit dieser drastischen Maßnahme unzufrieden waren. Doch der Sonnenturm war ein zu wert- und machtvolles Bauwerk, dass es auf keinen Fall in feindliche Hände geraten durfte. Der Hüter des Schutzes hatte sich bei seinem Kampf gegen die Abgrundstöchter selbst vernichtet. Damit war ein Gutteil der magischen Verteidigungsmacht mitvernichtet worden. Doch die als Mantel der Unauffindbarkeit bezeichnete Bezauberung hielt noch und konnte durch angezapfte Sonnenenergie solange aufrechterhalten bleiben, wie die Sonne die Erde beschien. Außerdem gab es noch die wie schöne goldene Blütenkelche aussehenden Sonnenlichtrammen, die wie Superlaser gegen erkannte und abzuwehrende Feinde eingesetzt werden konnten. Deren Einsatz musste jedoch vom Sprecher oder der Sprecherin der Sonnenkinder freigegeben werden.
"Ich verfüge, dass jeder, der keiner von uns ist und ohne Begleitung durch einen von uns erkundet, wo der Worakashtaril steht, unverzüglich von den Sonnenrammen vernichtet wird", sagte Faidaria mit einer für Lebensbeschützer sehr unerwarteten Gnadenlosigkeit. Durch die vor ihrem Gesicht gespannte Goldfolie klang dieser Befehl wie von einer auf dem Kriegspfad befindlichen Amazonenkönigin, fand Brandon Rivers. Also würden die Sonnenlichtbündler ab jetzt auf jeden schießen, der durch seine mentale Ausstrahlung zeigte, dass er wusste, wo der Turm stand. Yantulian fragte deshalb, ob es wirklich nötig war, derartig zu beschließen.
"Dass wir den Worakashtaril nicht dort stehen lassen konnten, wo er viele Tausendersonnen lang unentdeckt und unbehelligt stand hat mich dazu veranlasst, jeden neuen Versuch, ihn ohne unsere Erlaubnis zu betreten mit aller Härte zu vereiteln. Ich weiß, dass dies den Grundsätzen derer widerspricht, die uns auf die Welt gebracht haben, Yantulian. Doch bedenke bitte und bedenkt auch ihr anderen, dass in diesem Bauwerk zu viel Macht vereint ist! Sie darf nicht in falsche Hände fallen."
"Sollen dann nicht besser welche hierbleiben und aufpassen, wer sich dem Worakashtaril nähert?" fragte Dardaria, Yantulians Gefährtin. "Ich biete mich an, hier zu wachen und solange im Raum des tiefen Schlafes zu überdauern."
"Nein, Dardaria. Du und Yantulian habt eine wichtige Aufgabe, genau wie Gwendartammaya, Ilangardian oder ich. Unser Volk muss wieder wachsen. Dafür ist jeder fruchtbare unserer Rasse nötig. Ich bleibe dabei, dass Worakashtaril ab sofort auf unmittelbare und gnadenlose Verteidigung eingestimmt ist, sobald wir in unsere Heimat zurückkehren."
Brandon wollte gerade sagen, dass der Turm doch als Festung aller Sonnenkinder gebaut worden war und somit bis zu hundert von ihnen hier unterkommen konnten, wenngleich er im Moment nicht wusste, wie das dann mit der Nahrungsversorgung ablaufen würde, als durch die Tür zur großen Versammlungshalle die nicht ganz durchsichtige Erscheinung von Kaigoordarmiria hereinschwebte. Sie deutete auf Faidaria und dann auf die Fenster, durch die das Sonnenlicht hereinfiel.
"Der Hüter des Worakashtarils hat sich geopfert, um die mächtigen Feinde zu bezwingen. Ob ihm dies gelang wissen wir nicht. Wir Hüter eurer Herkunft haben nur den letzten Aufschrei seines inneren Selbst gehört, mit dem er sein Erlöschen verkündete. Wir Hüter erfüllen und lenken alle Einrichtungen im Worakashtaril. Doch wenn du willst, Faidaria, dass jeder erwiesene Feind gleich bekämpft wird, sobald er den Schutz der Unauffindbarkeit überwinden kann und nicht von einem von euch begleitet und geleitet wird, so ist es nötig, dass du oder ein von dir bestimmter Nachkomme von uns als lebender Wächter hierbleibt und im Raum des langen Schlafes verweilt, bis wir die Annäherung von erwiesenen Feinden erkennen. Denn sonst wird keine Sonnenlichtramme in Tätigkeit treten. Also verfüge, wer hierbleibt!"
"Ich melde mich freiwillig", sagte Yantulian. Seine Gefährtin Dardaria nickte beipflichtend. Faidaria schnaubte erst. Doch dann nickte sie. Dann sagte sie etwas, was Brandon Rivers schlucken ließ.
"So muss ich als älteste von uns meiner Pflicht nachkommen und wegen der starken Schwächung unserer Rasse festlegen, mit wem die wenigen verbliebenen Männer die Pflicht zur Erhaltung unserer Rasse erfüllen. Wenn du, Yantulian, wahrhaftig hierbleiben möchtest und deine Gefährtin, die mit dir noch keine Kinder hatte auch, so werde ich die verbleibenden Männer auf je vier Frauen verteilen, mit denen sie Nachwuchs hervorbringen sollen. Wer genau mit wem außer der bereits zugesprochenen die nächsten Jahre dieser Pflicht nachkommt befinde ich nach Fähigkeiten und Kenntnissen. Eine genaue Festlegung treffe ich dann, wenn alle von uns außer Yantulian und Dardaria auf unserer Insel Ashtaraiondroi versammelt sind."
Brandon wollte schon was einwenden, als Dawns Gedankenstimme in ihm aufklang: "Widersprich ihr nicht! Sie ist die älteste!"
"Ja, aber dann musst du mich mit drei anderen teilen. Ich bin kein Mormone. Für mich ist das heftiges Zeug", schickte Brandon Rivers zurück.
"Du hast doch mitbekommen, dass meine Mutter mehr als nur den einen Gefährten hatte und diese auch andere als sie zur Gefährtin hatten. Du wirst immer der eine und erste für mich sein und ich die eine und ... wichtigste für dich."
"Wäre ich ein Hengst oder Bulle würde mich das sicher sehr freuen", schickte Brandon zurück.
"Bring Faidaria nicht auf Ideen. Sie könnte genau das herbeiführen, wenn du dich ihrem Wort widersetzt", erhielt er Dawns telepathische Antwort. Er hörte daraus die gewisse Verdrossenheit und Hilflosigkeit, die jemand äußert, der oder die weiß, dass er oder sie nichts gegen eine einmal getroffene Entscheidung machen kann. So unterließ er es, gegen Faidarias Beschluss zu sprechen, zumal sie sicher mitbekommen hatte, dass der ihn nicht so freute, wie es einige andere Männer auf dieser Welt sicher erfreut hätte, einen kleinen Harem von vier Frauen um sich zu haben.
"Wir bleiben hier", sagte Yantulian. Seine Gefährtin bestätigte es noch einmal. Damit war die Sache entschieden. Die anderen Sonnenkinder würden zurückkehren und ein Leben abseits christlicher Ehevorstellungen führen. Andere Länder, andere Zeiten, andere Sitten, dachte Brandon nur für sich.
Patricia Straton alias Gwendartammaya dachte daran, mit wem von den männlichen Sonnenkindern sie noch auf Nachwuchs ausgehen sollte. Im Grunde hatte sie sich ja nur darauf eingelassen, mit Gooaridarian zwei Kinder in die Welt zu setzen, weil sie mit Intis Beistand diesen Auftrag übernommen und zugleich ein Mittel gegen Nocturnia gesucht hatte, das ihr ganz nebenbei die Unterordnung unter Anthelias Willen vom Hals geschafft hatte. Darüber hinaus dachte sie an die beiden Abgrundsschwestern. Wie war die eine entwischt, wo dieser Hüter doch getönt hatte, dass er beide festhalten konnte? Die Frage war, ob bei der Vernichtungsaktion des Hüters des Worakashtarils mindestens eine der Abgrundstöchter mitvernichtet worden war. Doch Patricia Straton konnte sich nicht mit dem Gedanken trösten, sich auszumalen, welche der beiden ihren Körper hatte lassen müssen. Denn die andere konnte die Seele der entkörperten dann in sich aufnehmen und als vaterlos empfangene Tochter wiedergebären. Dieser Ofen, so wusste Patricia Straton, war erst dann endgültig aus, wenn es gelang, alle neun Abgrundstöchter zu vernichten. Aber gelang das wirklich?
Nachdem sie also festgelegt hatten, wer von ihnen im Sonnenturm zurückblieb verabschiedeten sich alle von Yantulian und seiner Gefährtin Dardaria. Da der Portschlüssel nur für das Gebiet der ägyptisch-sudanesischen Grenzregion ausgelegt war musste Patricia Straton die Portschlüsselbezauberung auf dem Rettungsring noch einmal aufheben und dann für die weite Reise auf die Insel der Sonnenkinder umändern. Als das erledigt war hielten sich alle wieder an dem Rettungsring fest und überstanden die reise durch den bunten Wirbel ohne oben und unten, bis sie am Liegeplatz der Lady Sunrise ankamen. Brandon sah sich die mitgereisten und die zu ihrer Begrüßung herbeieilenden Sonnentöchter an. Er wusste, dass keine von ihnen unter sechzig Jahren alt war. Drei von ihnen sollte er in den nächsten Jahren zu Müttern machen. Schon eine sehr haarsträubende Vorstellung, dachte Brandon. Dann sah er Patricia Straton. Am Ende sollte er auch mit ihr neue Sonnenkinder in die Welt setzen. Das wäre wirklich heftig, ausgerechnet mit der Hexe eine kleine Familie aufzulegen, die ihn aus seiner gewohnten Lebenswelt herausgerissen hatte. Doch Dawn, die ihn gerade begrüßen wollte, schickte ihm nur zu: "Wir schaffen das schon, Ilangardian. Hab keine Angst!"
Eine Erschütterung durchlief den Raum mit dem gewaltigen Gehirn, in dem die Kraft des Hüters gebündelt war. Ein Seufzer der großen Erleichterung brandete laut durch den Raum und die nebenanliegende Kerkerhalle.
"So nehme ich dich mit in das Nichtsein, weil mir ein nachkörperliches Sein verwehrt ist", donnerwetterte die Stimme des Hüters. Da begannen die Wände zu glühen. Sie wurden erst dunkelrot, dann hellrot. Dann ging das Rot über Orange in ein helles Gelb über, das zu einem strahlenden Weiß wechselte. Gleichzeitig entstand eine immer größere Hitze. An den immer heißer glühenden Wänden erhitzt begann nun auch die Luft zu glühen, formte rot flimmernde Schleier, die sich schwankend und zerfasernd über den ganzen Raum ausdehnten, bis sie immer dichter und heller wurden und ineinanderflossen. Die magische Wolke, die zuvor die beiden Schwestern des Abgrunds gewesen war, geriet in das immer heißerwerdende Durcheinander der erregten Luftmassen hinein. Schon entluden sich kleine Blitze, weil die aneinanderreibenden Luftteilchen sich elektrisch auf- und wieder entluden. Diese elektrischen Entladungen drangen auch in die magische Wolke ein und brachten sie zum erzittern.
"Wenn du denkst du Riesenbrägen, dass ich mich von dir zerkochen lasse hast du dich getäuscht", dachte die vereinte Seele zweier mächtiger Zauberwesen. Unvermittelt bildete sich um den Kern der Wolke eine dunkle Kugel, die rasch an Größe zunahm. Gegen die immense, immer noch ansteigende Hitze setzte die vereinte Seele die absolute Kälte des sonnenfernen Weltraums, die durch Magie in untaubarem Eis gebannt werden konnte. Die Wolke schrumpfte in die immer mehr wachsende Kugel hinein. Dann sackte sie von der irdischen Schwerkraft gezogen nach unten und schlug auf den Boden auf. Dann geschah noch etwas. Die Kugel glitt in den mittlerweile glutheißen Boden hinein wie ein Stein in Lava. Das vereinte Wesen fühlte, wie es den Kontakt zu den magischen Strömen der Erde fand und beschleunigte das Absinken. Die Kugel durchdrang den glühenden Boden und stieß dabei gegen den letzten Abwehrwall, der gegen Geisterwesen und körperlose Seelen wirkte. Einen quälend langen Moment lang durchlitt die vereinte Seele alle Qualen und Niederlagen, an die sich ihre Ursprungsseelen erinnern konnten, vom immer enger werdenden Mutterleib, über die Schmerzen bei der Geburt, Kämpfe und verlorene Abhängige bis zum Fall in den langen Schlaf. Der Seelenkerker erzitterte, weil die Quelle seiner Kraft gerade in der die letzte Grenze übersteigenden Hitze zu verglühen begann. In einer letzten Explosion aus dem Erdkern gesaugter Hitze verging das riesige Gehirn, und mit ihm alle von ihm aufrechtgehaltenen Abwehrzauber. Mit einem letzten Ruck, der der vereinten Seele vorkam wie eine zeitgleich stattfindende Geburt von Zwillingen, durchstieß die Kugel aus Dauereis die letzte Barriere und fiel in die Tiefe der Erde. Da wurde sich der Teil, der früher Ullituhilia war über die Gefahr klar, unrettbar im Bauch der Erde zu verschwinden und damit den einen Kerker gegen einen anderen zu tauschen. Sofort kehrte das in der Eiskugel konzentrierte Wesen die Wirkung der irdischen Schwerkraft gegen sich um und erzielte so erst ein Abbremsen und dann einen Aufstieg, wobei das vereinte Wesen nicht den Fehler beging, wieder unter der gerade in einer unerträglichen Hitze verdampfenden Kerkerhalle anzukommen, sondern mehrere hundert Menschenschritte davon entfernt. Wie aus einer Kanone geschossen flog die Eiskugel aus dem Wüstensand heraus und in die Luft. Doch da hörte der Kontakt mit den Kräften der Erde auf. Jetzt besann sich das vereinte Wesen wieder auf die Kräfte Itoluhilas und wandelte das Eis in Dampf um. Aus der Kugel wurde wieder die dunkle Wolke. Dabei wurde sich der darin enthaltene Anteil Itoluhilas seiner selbst wieder bewusst. "Ich will wieder ich sein. Lass ab von mir, Schwester!" dachte Itoluhila. Doch Ullituhilia wollte nicht von ihr lassen. Sie klammerte sich mit ihren Gedanken fest. Mächtig zu sein, frei schweben zu können und doch mit Wasser und Erde zu wirken behagte ihr. "Nichts da, du hast dein eigenes Leben. Ich habe dich nicht wecken lassen, um eine Ewigkeit lang eine halbe Gewitterwolke zu bleiben. Außerdem will ich gegen die Vampire kämpfen. Du doch auch."
"Wir sind eins, wir können ..." Da fiel dem Teilbewusstsein, dass Ullituhilia war ein, dass sie keine Möglichkeit hatten, die schlafende Schwester aufzuhalten, wenn sie in dieser Form weiterbestanden. Damals, wo die acht sich zu einer ähnlichen formlosen Einheit zusammengefügt hatten, hatten sie ihre jüngste Schwester in sich aufgenommen und von allen seiten angesaugt, bis diese keine Kraft mehr aus dem Fluss der Zeit schöpfen konnte und von ihnen ausgespuckt in ihren Lebenskrug hinübergeschleudert wurde. Nur weil sie zu acht waren und damit unterschiedliche Wünsche und Fähigkeiten hatten, war es gelungen, die Einheit wieder aufzugeben und zu acht eigenständigen Körpern und Seelen zurückzufinden. Daran erinnerten sich nun beide. Außerdem dachte jede von ihnen daran, wieder körperliche Nähe zu starken Männern und unberührten Jungen zu finden. Keiner konnte Liebe mit einer Gewitterwolke machen.
Endlich schafften es beide, sich voneinander zu lösen. Die Wolke flimmerte und brach in der Mitte auseinander. Keinen Lidschlag darauf standen die beiden Abgrundstöchter leibhaftig da, nur ohne Kleidung. Die war nun in der Kerkerhalle verbrannt und verdampft. Als sich beide gegenseitig ansahen verzogen sie ihre Gesichter.
"Du hast deinen eigenen Körper und ich will meinen wiederhaben", knurrte die, die gerade wie Ullituhilia aussah.
"Dein Leib könnte mir auch behagen, Itoluhila", sagte die, die wie die Tochter des schwarzen Wassers aussah. "Aber du hast recht. In unseren angeborenen Leibern können wir unsere Kräfte voll entfalten. Dann müssen wir uns mal eben wandeln."
Die beiden berührten sich erst an den Händen, dann mit den Mündern. Knisternde Entladungen flogen zwischen ihnen hin und her. Dann zuckten beide heftig zusammen und lösten sich voneinander.
"Das sollten wir besser nicht noch mal tun", grummelte Itoluhila, die wieder ihren eigenen, milchkaffeebraunen Hautton bewundern durfte.
"Ja, und wenn die jüngste erwacht müssen wir die anderen wecken, wie auch immer. Sonst wird sie uns eine nach der anderen in sich einsaugen, um unsere Kräfte zu erbeuten", sagte Ullituhilia. Dann deutete sie nach Süden.
Mehr als hundert Schritte entfernt gähnte ein Krater, der gut und gern dreißig Meter Durchmesser besaß. In seinem inneren brodelte und zischte es. Glutflüssiges Gestein wogte auf und ab. Dabei stieß es kleine und große blubbernde und gluckernde Gasblasen aus. Hier und da züngelte kurz eine blaue oder rote Flamme auf, wenn brennbare Gase mit dem Sauerstoff der Luft zusammenkamen.
"Das hätte Hallitti sehen sollen. Ein Minivulkan", grinste Ullituhilia. Doch dann verging ihr das Grinsen.
"Merkst du was?" fragte sie nun sehr verdrossen. Ihre Schwester überlegte und nickte. "Die Magie ist weg. Hier ist nichts mehr", sprach Itoluhila aus, was sie bemerkt hatte.
"Der Sonnenturm ist entweder vernichtet worden oder anderswo hinversetzt worden", vermutete Ullituhilia.
"Dieser verdammte Wächter hat uns lange genug aufgehalten, um das hinzubekommen", schnaubte Itoluhila. Ihr war genauso wie ihrer erst vor kurzem wieder aufgewachten Schwester klar, dass sie für nichts und wieder nichts ihre körperliche Existenz gefährdet hatten. Mehr noch: Sie hatten nicht die legendären Waffen des alten Reiches erbeuten könnnen. Doch die wahren Sonnenkinder hatten den Turm gefunden, Wenn die den Turm entweder vernichtet hatten oder ihn irgendwie anderswo hinversetzt hatten, dann nicht ohne vorher alles frei heraustragbare mitzunehmen. Die beiden sahen einander verbittert an. Sollte es nun im Ernstfall darauf hinauslaufen, dass sie bei den Sonnenkindern um Unterstützung bitten mussten, wenn diese Nyx noch einmal ihre mit Unlichtkristallen versehene Vampirbrut gegen sie ausschickte? Keine wirklich gute Aussicht. Doch dann überflog Itoluhila ein scheinbar unpassendes Lächeln.
"Vielleicht können wir am Ende doch noch diese Brut ausrotten, Schwester. Aber das muss ich genauer durchdenken und vor allem überlegen, wie ich es anstellen kann, ohne mein Leben zu gefährden von dieser Vampirgöttin aus eigenen Gnaden zu erfahren, wo sie nun wahrhaftig ruht."
"Ach, daran denkst du", schnarrte Ullituhilia verärgert. Denn ihr wurde klar, dass sie nicht die Möglichkeit haben würde, die ihrer Schwester zur Verfügung stand. Deshalb sagte sie nur: "Dann sollten wir uns jetzt trennen und unsere Kräfte wieder auffrischen, bevor wir mit dieser Blutsaugerbrut oder den wohl jetzt im Rausch ihrer Errungenschaft badenden Sonnenkindern kämpfen müssen."
"Ja, das ist wohl klüger", stimmte Itoluhila zu.
Die beiden Schwestern vertaten keine weitere Sekunde mehr mit Abschiedsworten. Jede für sich verschwand, um auf zeitlosem Weg in die eigene magische Rückzugsstätte überzuwechseln. Jede von beiden wusste, dass jeder neue Tag das Ende der eigenen körperlichen Daseinsform bringen konnte. Doch Itoluhila wähnte sich zuversichtlich, vielleicht doch noch den entscheidenden Schlag gegen Nyx und ihre Vampirbrut ausführen zu können. Mit dieser gewissen Zuversicht stieg sie in ihren Lebenskrug und gab sich der darin gelösten Lebensenergie hin, um neue Kräfte einzusaugen.
"Ohne das goldene Schutzgewand gefällst du mir doch immer noch am besten", säuselte Dawn Rivers, als sie ihrem Mann half, die den ganzen Körper bedeckende Rüstung wie eine gummiartige Schale vom Körper zu lösen. Er bedankte sich bei ihr, dass sie darauf eingegangen war, die dazu nötige Bedingung zu erfüllen.
"Machst du Scherze, Ilangardian? Als meine Mutter dich mit sich und ihrem Wissen umkleidet hat hörte ich Lucian unerträglich laut nach seiner Freilassung aus meinem Leib fordern. Also solle er im Namen des großen Vaters Himmelsfeuer und unserer nährenden Mutter Erde seinen Weg in die Welt antreten. Fülle meinen Kelch mit seinem Leben und gib uns beiden das Glück der großen Freuden!" forderte sie, während sie sich für Brandon bereitlegte. Früher, so wusste er, hätte er darüber gelacht, wenn ein so kleines, kugelrundes Mädchen ihm so einen direkten und unmissverständlichen Antrag gemacht hätte. Doch Dawn alias Gisirdaria war sein Glück, sein Lebenssinn. Er sah, wo seine Tochter Laura zum Vorschein gekommen war und fühlte, wie das, was die Sonnenkinder Lebensboten nannten, sich bereitmachte, um dorthin vorzustoßen, wo allein ein neuer Mensch entstehen konnte.
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