BEZAUBERNDE BEGLEITUNG

Eine Fan-Fiction-Story aus der Welt der Harry-Potter-Serie

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P R O L O G

Seit Menschengedenken gibt es neben den Menschen auch andere, denk- und handlungsfähige Geschöpfe, die mit verschiedenen übernatürlichen Kräften ausgestattet sind. Die Mehrheit der Menschen hält diese Wesen für Erfindungen, mythologische Figuren, Märchengestalten und Fabelwesen. Nur jene, die mit der Fähigkeit, nach außen hin Magie wirken zu können leben, wissen, dass es diese verschiedenen Wesen gibt, die sowohl gutes wie böses zu tun im Stande sind und auch genug Selbstbewusstsein besitzen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Um das Miteinander von Menschen mit und Ohne Magie, sowie das Miteinander von Menschen und jenen Zauberwesen zu überwachen und zu lenken, haben die Zaubereiministerien in aller Welt Behörden geschaffen, die diese Aufgaben erfüllen. Besorgnis bereitet den Mitarbeitern dieser Behörden, wenn ein eindeutig magisches Wesen in die Lebensgründe der ohne Magie lebenden Menschen vordringt und dort seine oder ihre Ziele verfolgt. So sind es die den magielosen Menschen aus Legenden und Schauergeschichten bekannten Vampire und Werwölfe, die versuchen, mehr Einfluss auf die Menschheit zu gewinnen. Ebenso gibt es derzeit zwei handlungsfähige, fast unbesiegbare Geschöpfe, die als Töchter des Abgrunds bezeichnet werden. Sie und die magisch begabten Menschen, die mit den Gesetzen der Zaubereiministerien nichts zu schaffen haben, sorgen immer wieder für Handlungsbedarf in den Ministerien. So sind die Beamten in diesen Behörden immer in Alarmbereitschaft, wenn irgendwo ein denk- und Entscheidungsfähiges Zauberwesen eigene Pläne verfolgt.

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Zaubereiministerium der russischen Föderation in Moskau


17. Januar 2002 Gregorianischer Zeitrechnung, 10:30 Uhr Ortszeit

Maximilian Arcadi musste schon sehr arg darum ringen, sich seine Wut nicht anmerken zu lassen. Erst vor einer Viertelstunde hatte er erfahren, dass sein Mitarbeiter Anatol Andrejewitsch Borodin sich selbst zu einem Außeneinsatz abkommandiert und seinem Stellvertreter Ilja Alexejewitsch Groschenko die Leitung der Zauberwesenbehörde überlassen hatte. Üblicherweise bekam der ranghöchste Zauberer Russlands solche Pläne zur Genehmigung vorgelegt, gerade um immer darüber unterrichtet zu sein, wo wichtige Mitarbeiter während ihrer Dienstzeit zu finden waren und was sie zu erledigen hatten. Doch dieses bürokratische Versäumnis war nicht der eigentliche Grund für Arcadis Wut. Vielmehr war er darüber wütend, was den Mitarbeiter dazu getrieben haben mochte, sich selbst ohne Vorankündigung auf einen Außeneinsatz zu schicken, den Borodin dann auch noch mit der höchsten Geheimhaltungsstufe klassifiziert hatte.

Arcadi erinnerte sich daran, wie er mit Borodins Vater Andrej Michailowitsch Borodin viele Jahre zusammengearbeitet und schließlich dessen Nachfolge als Zaubereiminister angetreten hatte. Maximilian hatte auf Bitte seines Amtsvorgängers und Gönners immer die schützende Hand über den halbmuggelstämmigen Anatol gehalten, der eben wegen seiner Halbmuggelstämmigkeit nicht nach Durmstrang hatte gehen können und stattdessen in Greifennest seine Zauberfertigkeiten hatte ausbilden lassen. Auch Anatols Sohn Wladimir war nicht von Durmstrang angenommen worden, weil dort immer noch eine Ablehnung teilweise muggelstämmiger Hexen und Zauberer gepflegt wurde. Maximilian Arcadi dachte daran, dass Vater und Sohn Borodin keine lebenden Blutsverwandten mehr hatten, nachdem Anatols Frau Irmina sich im Auftrag der Drachenbekämpfungsbrigade mit einem ukrainischen Eisenbauch angelegt und dabei ihr Leben verloren hatte. Und jetzt waren beide ohne Absprache mit dem Zaubereiminister abgereist, zu einem Einsatz, von dem Borodins Stellvertreter keine Einzelheiten kannte.

"Ilja, ich weiß, dass Sie nichts für die Eigenmächtigkeit Ihres Vorgesetzten können", setzte Arcadi an, als er Groschenko im Büro zur Verwaltung denkfähiger Zauberwesen traf. "Allerdings erwarte ich von Ihnen unverzüglich alle Einzelheiten zu erfahren, die Sie über den unvermittelt begonnenen Einsatz von Gosbodin Borodin vermittelt bekamen", fügte er hinzu.

"Er hat Sie nicht informiert?" fragte Ilja Groschenko, ein schwarzhaariger Zauberer Mitte vierzig. Arcadi machte eine verneinende Geste und dachte für sich, wie dumm diese Frage doch war. "Nun, er trug mir auf, Sie erst über die mir mitgeteilten Einzelheiten zu unterrichten, wenn er mehr als zwei Tage überfällig sei. Bis morgen wollte er den Einsatz beendet haben. Also hätte ich Ihnen erst überübermorgen ..."

"Soweit ich weiß übe ich immer noch das Amt des Zaubereiministers der russischen Föderation so wie der mit ihr asoziierten Länder aus und bin somit ihr oberster Dienstherr, was wiederum heißt, dass ich jede Anweisung außer Kraft setzen und/oder abändern kann, die von einem Mitarbeiter unter meinem Rang erteilt wird", zischte Arcadi. In seinen Augen glomm es unheilverheißend. Groschenko machte deshalb eine abbittende Geste und nickte. Er griff an eine Schublade des großen Schreibtisches, an dem sonst sein Vorgesetzter zu sitzen pflegte. Er versuchte, die Schublade aufzuziehen. Doch sie schien festgebacken zu sein. Als Groschenko noch stärker zu ziehen versuchte zuckte er wie von einem Blitz getroffen zusammen. "Die Schublade ist magisch versiegelt", stieß er höchst verunsichert aus. "

"Sollen da die Einsatzunterlagen drinsein?" fragte Arcadi.

"Er sagte mir, dass diese in der zweiten Schublade von rechts und eersten von oben bereitlägen", erwiderte Ilja Groschenko.

"Anatol versteht sich gut auf magische Versiegelungen, obwohl er nicht bei Professor Bakunin gelernt hat", grummelte Arcadi. Doch dann zog er seinen Zauberstab. "Machen Sie mal Platz, Ilja!" befahl er. Groschenko kam dieser Anweisung unverzüglich nach.

Arcadi murmelte mit unheimlich tiefer Stimme eine Zauberformel, die Groschenko nicht kannte. Dabei ließ er seinen betagten aber immer noch vollkommen brauchbaren Zauberstab vor der verschlossenen Schublade kreisen, einmal im und einmal gegen den Uhrzeigersinn. Darauf glomm die Schublade in einem rotgoldenen Licht und erzitterte. Dieser Effekt hielt jedoch nur eine Sekunde an. Dann sah der Tisch und die Schublade so aus wie sonst.

"Steinbeißers Blutuhr", knurrte Arcadi. "Schon eine nützliche Sperre."

"Diesen Zauber kenne ich nicht", gestand Groschenko sehr beklommen klingend ein.

"Klar, weil dieser Zauber seit seiner Erfindung nicht mehr in den achso auf reine Defensivmaßnahmen bedachten Zauberschulen gelehrt wird, seitdem der Erfinder selbst seine Tochter in einem unzerbrechlichen Glashaus eingesperrt hat, bis sie verhungerte und damit auch das von einem Muggel empfangene Kind starb. Aber der Vater Ihres Vorgesetzten und ich haben den bei Bakunin in Durmstrang noch gelernt. Jemand kann durch Opferung so vieler Blutstropfen, wie der Zauber in Tagen wirken soll einen Raum oder einen Behälter versperren. Den bekommt außer ihm dann niemand mehr auf, es sei denn, der Behälter wird mit magischer Gewalt zerstört. In diesem Fall müsste ich also den ganzen Schreibtisch zerstören. Abgesehen davon dürfte in der Schublade noch eine Sicherung verbaut sein, die die Unterlagen vernichtet oder an einen unbekannten Ort befördert, wenn jemand die Blutuhr zu überwinden versucht."

"Dann kommen wir nicht an die Unterlagen heran?" wollte Groschenko wissen.

"Nicht an die niedergeschriebenen", knurrte der russische Zaubereiminister. "Was sagten Sie? Überübermorgen erst sollten Sie mir Bericht erstatten? Dann muss ich davon ausgehen, dass die von Borodin in Gang gesetzte Blutuhr erst dann abgelaufen sein wird. Was hat er Ihnen über den Einsatz erzählt, Ilja?"

"Dass er davon ausgehen muss, dass egal ob er erfolgreich ist oder nicht seinen Tod damit herbeiführen würde", seufzte Ilja Groschenko.

"Und den seines Sohnes?" fragte der Zaubereiminister, der sich in seiner dunklen Ahnung bestätigt sah.

"Gesagt hat er es nicht. Aber so wie er geguckt hat geht er wohl davon aus, dass beide bei dem Einsatz sterben werden", erwiderte Groschenko voller Unbehagen.

"Ja, oder deshalb, weil sie diesen Einsatz erfolgreich beenden", schnaubte Arcadi. "Ich lasse ihn zur Fahndung ausschreiben. Sie wissen, was das heißt, Gosbodin Groschenko?"

"Ja, dass ich den blauen Gardisten als Zeuge zur Verfügung stehen muss und dass ich Gosbodin Borodin festzunehmen habe, wenn er hier auftaucht."

"Falls er es überhaupt bis in dieses Büro schafft", schnarrte Arcadi nun nicht mehr so darauf bedacht, seine Wut zu verbergen. Er sagte dem Stellvertretenden Leiter des Zauberwesenbüros noch, dass dieser die noch ausstehende Angelegenheit mit den Zaubereiministerien von Frankreich, Großbritannien und Deutschland klären solle.

"Die sind ziemlich ungehalten", bemerkte Groschenko. Arcadi tat diese Feststellung mit einem harschen Nicken ab. Dann verließ er das Büro, um von seinem eigenen Büro aus den Leiter der Blauen Garde zu informieren, den Überwachern und Vollstreckern der magischen Gesetze. Dabei dachte er daran, wie froh er sein konnte, dass er nicht selbst von der blauen Garde festgenommen worden war, weil er selbst gegen bestehende Gesetze und Verträge verstoßen hatte, als er die Delegation des französischen Zaubereiministeriums festsetzen und verhören wollte, die wegen Sarja und ihrem geistesgestörten Sohn Diosan bei ihm vorgesprochen hatte.

"Er will es also alleine durchziehen und weiß, dass er so oder so dabei sterben wird. Und seinen Sohn will er mit in den Tod nehmen, dieser rotschopfige Halbmuggel", knurrte er, als er die nötigen Formalitäten erledigt hatte. Zu seiner Wut kam nun auch eine gewisse Besorgnis. Was wenn Borodins Alleingang dazu führte, dass Sarjas Verwandte annahmen, er habe im Auftrag des Ministeriums gearbeitet? Deshalb mussten sie Borodin erwischen, bevor er auch nur eine Chance bekam, seinen wahnwitzigen Alleingang zu einem Erfolg zu bringen. Dann dachte Arcadi noch daran, was noch so alles passierte. Es gab Anzeichen, dass Nocturnia noch nicht ganz erledigt war. Seine Kontakte in die Vampirgemeinde Osteuropas hatten ihm zugetragen, dass eine neue Kraft versuchte, jene Blutsauger zu unterwerfen, die mit Hilfe des Mitternachtsdiamanten erschaffen worden waren. Das konnte nur heißen, dass dessen starke Magie noch nicht erloschen war. Ja, und dann hatten sie noch einen Werwolf ergreifen können, der versucht hatte, neue Artgenossen in Russland zu erschaffen. Am schwersten wog aber die Erkenntnis, dass es eine grüne Riesin gab, die der eigenen Aussage und äußeren Beschreibung nach eine grüne Waldfrau zur Mutter hatte und deshalb über nach außen wirksame Beeinflussungszauber gebot, mit denen sie reinrassige Riesen kontrollieren konnte. Diese Halbriesin, die den amtierenden Gurg der letzten Riesen im Zweikampf getötet und damit seinen Rang erobert hatte, wanderte gerade durch Europa, niemand außer ihr wusste, wohin sie wollte und was sie vorhatte. Wenn jetzt noch Borodin und sein Sohn versuchten, eigenmächtig gegen Sarjas Sohn Diosan vorzugehen, ihn womöglich gezielt angriffen um ihn zu töten, konnte das in einem Krieg der Veelas gegen die Menschen ausarten. Ein Krieg mit diesen Wesen war jedoch das allerletzte, was Arcadi gebrauchen konnte. Deshalb mussten die blauen Gardisten Borodin und seinen Sohn ergreifen, bevor er sein Ziel erreichte. Arcadi überlegte, ob er nicht von sich aus mit Sarja oder ihrer Base am Schwarzen Meer Kontakt aufnehmen und sie vorwarnen sollte, damit kein Verdacht aufkam, das Zaubereiministerium habe die Tötung Diosans befohlen. Dann fiel dem altgedienten Zauberer ein, dass eine solche Vorwarnung auch einen Präventivschlag der Veelas gegen das Zaubereiministerium auslösen mochte. Nein! Sie mussten Borodin fassen, ohne die Veelas mit den hübschen Nasen darauf zu stoßen, dass Diosan nun doch aus der Welt geschafft werden sollte. Hoffentlich waren die blauen Gardisten noch früh genug alarmiert worden.

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Am westlichen Stadtrand von Wladiwostok


17. Januar gregorianischer Zeitrechnung, 9:21 Uhr Ortszeit

Das kleine, pechschwarze Objekt sah aus wie eine ein Viertel so groß wie natürlich gewachsene Libelle im Erwachsenenstadium. Doch fliegen konnte es wie sein natürliches Vorbild, ja sogar dreimal so schnell wie die größte Libellenart. Die beiden Flügelpaare schwirrten so schnell, dass sie nicht als Flügel, sondern verwaschene Schemen aussahen und erzeugten dabei einen so leisen und so hohen Ton, dass Menschenohren selbst dann nichts davon hörten, wenn das winzige Ding unmittelbar am Ohr eines Menschen vorbeischwirrte. Gerade steuerte das winzige fliegende Ding, von dem es nur zwölf seiner Art gab, auf eine Terrasse eines dreistöckigen Hauses zu, in dem die Zaubererfamilie Rugov wohnte. Auf der Terrasse spielte im Schein dreier Laternen ein Mädchen von gerade neun Jahren. Im Schein der großen Laternen schimmerte das hellblonde Haar des Kindes wie Gold. Trotz der Kälte in dieser Jahreszeit trug es nur ein dünnes Kleid über seinen Untersachen. Das Mädchen warf einen bunten Ball gegen die Wand und fing ihn immer wieder auf. Die Tür zur Terrasse war verschlossen, konnte aber bei Ausruf unverzüglich aufspringen.

Knapp einen halben Kilometer von dieser Terrasse entfernt hockte ein Mann in pechschwarzer Kleidung. Sein Gesicht wurde von einer schwarzen Stoffmaske verhüllt. Seine Augen verbargen sich hinter dunklen Brillengläsern. Hinter dem wie auf Beute wartenden Mann stand ein zweiter Mann in dunkler Kälteschutzkleidung, einen Zauberstab einsatzbereit haltend.

"Bring Haarprobe von Mädchen!" wisperte der Mann mit Maske und Brille.

"Wenn das klappt können wir das Arcadi als geniale Umgehung der natürlichen Unortbarkeit verkaufen", frohlockte der Mann hinter dem Maskenträger halblaut. Doch er erhielt keine Antwort. Das lag daran, dass der andere gerade voll auf jenes winzige magicomechanische Insekt konzentriert war, das er mit Hilfe eines Bildverpflanzungszaubers überwachte und über die Maske per Schallverpflanzung in die auf 40 Kommandos eingestimmte Zaubermechanik hineinsprechen konnte.

"Nummer eins, Apportieren!" befahl der mit der Brille dann noch. Dann löste er die Maske vom Gesicht.

"Wenn das bei Veelas auch klappt wie es bei Vampiren und Zwergen funktioniert ist das Kapitel Diosan morgen beendet, mein Sohn", sagte der nun frei sprechende Mann und stellte sich aufrecht hin.

"Du bist fest entschlossen, Diosan zu terminieren, Vater?" fragte der andere, der bis dahin mit seinem Zauberstab in der Hand gewacht hatte.

"Einsperren können wir ihn nicht, weil seine Blutsverwandten ihn dann herausholen würden. Bleibt also nur die Terminierung", grummelte der Mann, der immer noch seine Überwachungsbrille trug. "Ah, mein kleiner Beschaffer ist schon auf dem Rückweg. Mal sehen, wie viele Zentimeter Haar er der Kleinen hat abschneiden können, ohne dass die das bemerkt hat."

"Ist schon unheimlich, wie gut diese Winzlibellen gehen", stellte der zweite, wesentlich jüngere fest.

"Sowas hättest du mit zu den Riesen nehmen können, wenn ich nicht herausgefunden hätte, wie wir Diosan und seine Mutter trotz ihrer natürlichen Unortbarkeit aufspüren können. Da hätten diese Mitsehaugen aus England nichts gegen bestellen können. Vor allem sind meine kleinen Helfer absolut gefühlsfrei und gehorsam, anders als diese Sing- und Greifvögel, mit denen dieser Hugo Dawn herumexperimentiert hat."

"Und was, wenn wir nicht herauskriegen, wo Diosan versteckt ist?" wollte der andere wissen.

"Wird überübermorgen meine Schublade wieder frei ausziehbar sein und wir zwei werden dem Minister wohl erzählen, dass wir eine aufdringliche Baba Yaga aus Wladiwostok verjagen mussten."

"Und Ilja?" fragte der andere.

"Der wird mir nicht widersprechen, wenn ich meinen Schreibtisch zurückhaben will."

"Da kommt dein diebischer Nachtschwärmer", sagte der zweite. Zu sehen war aber nichts. Doch der andere nickte bestätigend.

"Also können wir festhalten, dass der Annäherungshorcher optimal auf meine kleinen Lieblinge abgestimmt ist", sagte er. Dann streckte er die rechte Hand mit der Handfläche nach oben vor und wartete. Eine halbe Minute später schloss er vorsichtig die Hand und zog sie zurück. "Mach Licht!" zischte er seinem Begleiter zu. Dieser streckte den Zauberstab vor, dessen Spitze sofort wie eine kleine Lampe erstrahlte.

Aus der leicht geschlossenen Faust des älteren Mannes hing eine goldblonde Haarsträhne links und rechts herunter.

"Das war Phase eins. Morgen wissen wir, ob Phase zwei auch ein Erfolg wird", sagte er.

"Ja, aber wenn der Minister nach uns suchen lässt?" fragte der jüngere.

"Deshalb schlafen wir beide diese Nacht auf dem Hausboot. Die Geschwister von Libelle eins werden uns bewachen", sagte der ältere. "Wir kriegen das hin, Wladimir."

"Ja, Vater", bestätigte der jüngere.

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Vereinshaus des Le Havre Athletic Club


18. Januar 2002, 14:25 Uhr

Es war wie im Kino. Aus akustisch ausbalanciert verteilten Lautsprechern erklangen die Chorgesänge und Fanfaren tausender Fans, während auf der aufgespannten, zehn mal zehn Meter messenden Leinwand ein temporeiches Fußballspiel ablief, bei dem keiner der Spieler älter als zwanzig Jahre alt war. Gerade nahm ein hochgewachsener Bursche in hell- und dunkelblauem Trikot einen gekonnt zugespielten Pass seines Kameraden aus dem vorderen Mittelfeld an und preschte los. Dabei führte er den Ball so geschickt von einem Fuß auf den anderen, dass dieser wie mit einer unsichtbaren Schnur an ihn gebunden wirkte. Der schlachsige junge Spieler, der einen bis in den Nacken wallenden schwarzen Lockenschopf und walnussfarbene Augen besaß, rannte mit dem vom linken auf den rechten Fuß wechselnden Ball über den Platz, als bereite ihm die Führung des runden Spielgerätes überhaupt keine Probleme. Bis zum Tor fehlten noch zwanzig Meter. Zwei gegnerische innenverteidiger stürzten auf ihn zu, um ihm den Weg abzuschneiden. Ein anderer Abwehrspieler sprang genau so, dass er ein Abspiel auf den kleinen, quirligen Mannschaftskameraden des schwarzgelockten Laufwunders verlegte. Der Spieler im Ballbesitz blickte kurz zum Tor, wo der gegnerische Hüter bereits in Abfangstellung ging. Als die beiden Innenverteidiger ansetzten, den Ballführenden zu passieren und ihn so ins Abseits zu stellen beförderte dieser den Ball mit einer geschickten Beinbewegung kerzengerade nach oben und sprang gerade so noch unter den Ball, um ihn über die gerade auf seiner Höhe ankommenden Verteidiger hinwegzuköpfen, bevor er ins Abseits geriet. Der Ball flog in flachem Bogen durch den Strafraum, wobei er sogar einen Drall nach links aufwies und segelte an dem einen Hundertstelsekunde zu spät reagierenden Torwart vorbei in das linke obere Eck. Lautstarker Jubel brandete aus den Lautsprechern. Die ganze Aktion hatte nicht mehr als zehn Sekunden gedauert.

"Falls Sie wollen, Señor Camacho können wir Ihnen dieses Tor auch gerne in Einzelbildfolge zeigen", sagte einer der vier Männer, die diese Aufzeichnung gerade ansahen. "Unsere Kameras nehmen mit 500 Bildern pro Sekunde auf." Er sprach fließendes Oxford-Englisch, obwohl sie hier gerade an der französischen Atlantikküste waren.

"Ist es das beste Tor überhaupt, dass der Junge geschossen hat?" fragte ein rundlicher Mann mit hellem Haarkranz, der wie die drei anderen im Raum einen dunklen Anzug trug. Er sprach das Englisch von der Ostküste der vereinigten Staaten von Amerika, obwohl er eigentlich aus Spanien stammte.

"Nun, das beste Tor war ein Lauf um alle Verteidiger herum und ein Distanzschuss aus dreißig Metern Torabstand. Aber bei dem Tor, dass Sie gerade gesehen haben hat Monsieur Lundi fast alle Talente kombiniert, die wir an ihm entdeckt und gefördert haben, präzise Ballannahme, körpernahe Ballführung bei hohem Tempo, abpassen der besten Schussgelegenheit, Wechsel vom Fuß zum Kopf und kraftvolles wie zielgenaues Kopfballspiel ins gegnerische Tor. Deshalb wird Monsieur Aron Lundi nach der Winterpause auch für die U-21-Nationalmannschaft trainieren."

"Sie sagten fast alle Talente, die der Junge besitzt, Monsieur Louvel", griff der rundliche Mann mit dem hellen Haarkranz eine Bemerkung von gerade eben auf. "Welche Talente besitzt er noch?"

"Guillaume, die Szene aus dem Spiel gegen die U-21-Auswahl von St. Germain, bitte!" wies der mit Monsieur Louvel angesprochene den jungen Mann am Laptop an, wobei er französisch sprach. Der Mann am Rechner nickte bestätigend und hantierte mit Maus und Tastatur, bis auf der Leinwand der Ausschnitt aus einem anderen Video zu sehen war. Diesmal spielten die jungen Spieler in Hell- und Dunkelblau gegen eine Mannschaft in den Farben von Paris St. Germain. Ein vom Computer eingeblendetes rotes Markierungskreuz erschien auf dem Körper des vorhin gezeigten Torschützen, der gerade eine schnelle Staffette mit seinen Kameraden spielte, bei der er es schaffte, innerhalb von fünf Sekunden drei Pässe anzunehmen und weiterzuspielen. Nach der zehnten Sekunde bekam er den Ball wieder und legte auf den Rechts außen seiner Mannschaft ab, kaum dass sein Fuß den Ball berührt hatte. Dabei rückte das offensive Mittelfeld und der Stürmerkollege des schwarzgelockten Spielers bis zur Strafraumgrenze vor. Im gegnerischen Strafraum versammelten sich alle Abwehrspieler und das defensive Mittelfeld, um den Vormarsch auf ihr Tor zu stoppen. Da flankte der Rechts außen den Ball in Richtung Tor. Die hastig errichtete Abwehrmauer sprang fast zeitgleich hoch. Der linke Außenverteidiger bekam seinen Kopf unter den Ball und prellte ihn aus seiner Flugbahn heraus nach oben. Der Ball tippte aus drei Metern Höhe fallend vor ihm auf und flog dabei einige Meter zurück. Wie ein zum Beutefang losspringender Panther schnellte der schwarzgelockte Spieler in Himmelblau und Marineblau vorwärts und erwischte den Ball noch vor dem hochschnellenden Bein des gegnerischen Innenverteidigers. Er flog noch einen Meter weit mit dem Ball durch die Luft, bevor er wieder auf die Füße kam. Der Ball stieg noch zwei Meter nach oben, unerreichbar für den langen Innenverteidiger, der versuchte, ihn mit seinem kurzgeschnittenen braunen Haarschopf abzufangen. Das runde Leder segelte unaufhaltsam auf das Tor zu. Der Torhüter von St. Germain, der drei Meter aus seinem Torgehäuse hervorgerannt war, wetzte zurück über die Grundlinie und versuchte, den hereinsegelnden Ball mit nach oben gerissenen Händen herunterzupflücken. Doch es blieb nur bei einem Versuch, weil der Ball zu schnell unterwegs war und dem Torhüter von den Fingerspitzen abtropfte, ehe er seine behandschuhten Hände fest um das runde Spielgerät bekam. Der Ball bekam dadurch einen leichten Rechtsdrall und sprang gegen den Innenpfosten und von da aus direkt ins Tor. . Jubel, Klatschen und hämisches Gelächter quittierten die verpatzte Parade.

"Eigentlich hätte Monsieur Lundi den Torschuss zuerkannt bekommen müssen. Da der Hüter von St. Germain aber als letzter Ballberührung hatte wurde er als Torschütze registriert", kommentierte Monsieur Louvel mit unüberhörbarer Schadenfreude.

"Wenn der Ball zehn Stundenkilometer langsamer geflogen wäre hätte er den auch ohne Probleme gehalten", erwiderte Señor Camacho.

"Genau, und das ist es. Monsieur Lundi ist ein überragender Kopfballspieler. Er hat sein ganzes Gewicht gegen den abgefälschten Ball gebracht. Gut, ein Profitorhüter wie Kahn oder Zubizareta hätte den Ball noch gehalten. Aber dass wir einen jungen Nachwuchsspieler haben, der jede Strafraummannschaft durch sein Köpfen das Gruseln lehren kann finde ich schon erwähnenswert."

"Dann hätte ich gerne diese Szene noch einmal in zehnfacher Verzögerung gesehen", sagte Camacho. Der Wunsch wurde an den Mann am Rechner weitergegeben. Der ließ die Wiedergabe zwanzig Sekunden zurücklaufen und wählte dann die gewünschte Verzögerungsrate. Camachos dunkle Augen wurden immer größer. Denn die Zeitlupe offenbarte die Präzision, mit der der schwarzgelockte Aron Lundi Pässe annahm und weiterleitete, bishin zu dem zielgenauen Sprung zum Ball und die damit erzielte Kraftübertragung, die den Ball für den gegnerischen Torwart unhaltbar machte. Die vom Computer in die Wiedergabe eingefügten Entfernungsmarkierungen zeigten auch, dass der Torwart den Ball noch erwischt hätte, wenn er einen halben Meter größer gewesen wäre.

"Seit wann spielt Aron Lundi für Sie?" fragte Camacho und deutete auf den schwarzgelockten auf der Leinwand.

"Seit seinem achtzehnten Lebensjahr, also knapp zwei Jahre. Vorher hat er in einer Mannschaft seiner Schule hier in Le Havre mitgespielt und dreimal mit seiner Mannschaft die Departementmeisterschaft privater Schulen gewonnen. Davon liegen uns aber keine digitalisierten Videofilme vor.'"

"Hmm, er war auf einer Privatschule? Sind seine Eltern so reich?" wollte Camacho wissen, der wusste, dass französische Privatschulen nicht billig waren.

"Sagen wir es so, er hatte von Geburt an ein Stipendium für seine Schule", druckste Louvel herum. Dann bat er seinen Computertechniker, die Fenster wieder zu öffnen und dann den Raum zu verlassen. Der junge Techniker nickte und fuhr das Betriebssystem des Laptops herunter, schaltete den daran angeschlossenen Videoprojektor aus und lies die Leinwand wie einen Theatervorhang nach oben zusammenrollen. Er ließ die elektrischen Jalousien vor den Fenstern auffahren und blickte kurz hinaus. Die Straßenbeleuchtung war bereits eingeschaltet, und nur noch ein fahler Rest von Sonnenlicht drang durch die Fenster herein. Deshalb deutete er auf den Lichtschalter. "Gut, lassen Sie die Jalousien wieder runter und machen Sie Licht", sagte Louvel auf Französisch. Der junge Bedienstete befolgte die Anweisung.

"Hier haben Sie den Lebenslauf von Aron Lundi, Señor Camacho", sagte Louvel leicht verhalten, als der Computertechniker mit seinem Klapprechner das Büro Louvels verlassen hatte.

"Ist etwas mit dem Jungen, das mich veranlassen sollte, die Verhandlungen um seinen Transfer abzubrechen?" fragte Camacho, dessen Haar im schein der drei 100-Watt-Birnen aschgrau schimmerte.

"Na ja, ich erinnere mich an die Sache, die mit Alberto Fontanero Vega passiert ist und könnte es verstehen, wenn Sie sich trotz der unbestreitbaren Talente von Monsieur Lundi gegen seine Verpflichtung entscheiden möchten."

"Ach, die Sache vor zwanzig Jahren. Da war ich gerade selbst noch Ersatzspieler bei uns", lachte Camacho. "Ja, wäre ein genialer Nachwuchsstürmer geworden, wenn der wegen seiner verkorksten Kindheit im Santa-Clara-Heim nicht zu einem leicht aufbrausenden und gewalttätigen Burschen geworden wäre. Aber zum einen heißt das ja nicht, dass das jedem so ergeht und zweitens ist das eben schon zwanzig Jahre her"., sagte Camacho und überflog die Daten auf dem Lebenslauf, der ein Bild von Aron Lundi bei seinem Eintritt in den Verein Le Havre AC zeigte.

"Hmm, auch ein Schwesternheim?" fragte Camacho, als er las, dass Aron als gerade eine Woche alter Säugling vor dem Eingang eines Waisenhauses in der Nähe von Le Havre gefunden worden war. Da an dem Tag gerade Montag war und die amtierende Heimleiterin Findelkinder immer dem Alphabet nach benannte hatte der Junge den Namen Aron Lundi erhalten. Wie genau er im Heim St. Marie dela Incarnation aufwuchs stand nicht im Lebenslauf. Dem Waisenhaus war eine halb von reichen Spendern halb von der katholischen Kirche finanzierte Privatschule angegliedert, die somit gleichsam als Internatsschule für die Waisenjungen und -mädchen ausgelegt war, die bis zur Hochschulreife dort lernen konnten, sofern das Lehrerkollegium die entsprechenden Fähigkeiten atestierte. Aron hatte dort den Abschlussgrad in Sport und Physik erworben. Dass er über eine angeborene Intuition und eine an Perfektion heranreichende Bewegungskoordination verfügte hatte ihn zum As seiner Fußballmannschaft gemacht. Weil er damals schon wie ein lauerndes Raubtier bis zum günstigsten Moment wartete, um einen Ball zu erbeuten und dann blitzartig zum Tor zu befördern wurde er von den Kameraden aus der Jugendmannschaft des Le Havre AC Bagheera genannt, nach dem Panther aus dem Dschungelbuch. Unter dem Namen wurde er auch in einschlägigen Sportzeitschriften erwähnt, wenn er, wie gegen St. Germain oder anderen Gegnern aus einer Ballannahme oder Kopfballsituation heraus ein blitzartiges Tor erzielte.

"Ich hörte was, dass beim letzten Spiel Ihrer U-21-Mannschaft genausoviele junge Mädchen vor dem Stadion aufmarschiert waren wie bei einem Konzert der Backstreet Boys. Hat er sich schon eine feste Freundin zugelegt?" wollte Camacho wissen.

"Das fragen Sie ihn besser selbst, da ich sowas wohl erst aus einer der Zeitungen erfahren würde", erwiderte Louvel.

"Wissen Sie darüber was?" fragte Camacho den zweiten außer ihm im Vorführraum verbliebenen, den Jugendtrainer von Le Havre AC.

"Gegenfrage, warum ist das für Sie so wichtig?" erwiderte der gefragte langsam sprechend, um bloß keinen Aussprachefehler zu machen. Anders als Luvel und Camacho war er mit dem Englischen nicht so gut vertraut.

"Nun, nicht selten entscheiden Spieler einen Vereinswechsel auch danach, ob sie mit ihrer Freundin, Lebensgefährtin oder Ehefrau zusammenbleiben können, wenn sie wechseln. Wir bieten seit einigen Jahren entsprechende Umzugshilfen und, weil viele unserer Fans streng katholisch sind, auch die Kostenübernahme für eine kurz vor dem Vereinswechsel erbetene Hochzeitsfeier. Also, hat sich der junge Monsieur Lundi bereits entsprechend umgesehen oder gar gebunden?"

"Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass er die vor unserem Trainingsgelände herumkreischenden Mädchen für mehr als besonders laute Fans hält. Kann an seiner Kindheit in einem katholischen Internat liegen. Die werden da ja nicht gerade animiert, sich wen zu suchen, wenn Sie verstehen ..."

"Nein, aber Priester werden wollte Ihr Monsieur Lundi sicher nicht, weil er sonst nicht bei Ihnen eingetreten wäre", erwiderte Camacho. Er hoffte nur, dass Lundi nicht homophil veranlagt war oder wegen dieser Klosterschwestern ein Frauenhasser war, der bei all zu aufdringlichen Verehrerinnen in Wut geraten konnte. Beides wollte Camacho seinem Verein ersparen.

"Sagen wir mal so, wir überwachen unsere Spieler nicht und sperren sie auch nicht ein, wenn es dunkel wird. Hauptsache sie erscheinen pünktlich und fit zu den Trainingseinheiten und Spielen. Was Monsieur Lundi in seiner Freizeit tut und ob er es alleine tut darf mich erst interessieren, wenn er eben nicht mehr in Form ist oder in ein körperliches oder geistiges Formtief gerät", sagte der Trainer, der sich eh wunderte, dass sein Vereinspräsident persönlich die Verhandlungen über einen Transfer eines so jungen Spielers führte.

"Gut, da der junge Monsieur Lundi eh bei den entscheidenden Gesprächen dabei zu sein hat kann ich ihm die Frage nach einer möglichen Lebensgefährtin auch dann stellen", sagte Camacho. Louvel sah den Gesprächspartner erleichtert an. Denn mit dieser Aussage hatte der kleine, runde Spanier gerade bekundet, dass er weiterhin an einer Verpflichtung des jungen Aron Lundi interessiert war. Sicher würde er dafür noch seinen Chef, den Manager des FC Barcelona, befragen müssen.

"Nun, um die Verhandlungen genehmigen zu lassen muss ich das noch einmal zu Hause klären. Dazu hätte ich gerne eine Kopie des mir vorgeführten Videomaterials, wenn es geht so vollständig wie möglich."

"Natürlich, Señor Camacho", erwiderte Louvel und ging an den Tisch, auf dem eben noch der Laptop gestanden hatte. Er nahm eine Pappschachtel herunter, die mit einem Etikett beklebt war. Camacho nahm die Schachtel entgegen und nickte. "Gut, dass die Winterpause noch einige Wochen dauert", schmunzelte er, als er las, dass insgesamt dreißig Stunden Videomaterial über Aron Lundi in der Schachtel waren.

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In der südöstlichen Taiga Sibiriens an einem versteckt liegenden See


18. Januar gregorianischer Zeitrechnung, 22:25 Uhr Ortszeit

Diosan verwünschte alle, die ihn an diesen Ort gebannt hatten, diesen viel zu jungen, viel zu starken Burschen aus Frankreich, der ihn daran gehindert hatte, sein Schicksal zu erfüllen, seine Tante Léto, die diesem Burschen geholfen hatte, ihn zu finden und seine Mutter, die ihn dazu gezwungen hatte, an diesem von allen Menschen und Wesen seiner Art vergessenen Ort geschleppt und mit ihrem gemeinen Gesang dazu gezwungen hatte, nicht weiter als ihre Rufweite von einem bestimmten Baum weggehen zu können. Hier sollte er nun sein restliches noch langes Leben vertun? Warum hatte dieses Weib, dass ihn geboren hatte, nicht einfach mit ihm schlussgemacht, ihn irgendwo ausgesetzt, wo er sich mit den Zauberstabträgern hätte schlagen können? Auf diese Art von Mutterliebe verzichtete er. Er wollte sein eigenes Leben leben. Wer das nicht wollte sollte ihn halt töten und danach sterben. Er hatte einmal versucht, seine eigene Mutter umzubringen. Doch wie es bei den Veelas üblich war konnte er ihr kein Haar krümmen, ohne große körperliche und seelische Schmerzen zu erleiden. Das wusste diese dem Ministerium zu hörige Alte auch zu gut und hatte ihn mit einem widerlich mitleidsvollen Blick angesehen. Dann hatte die noch glatt versucht, ihn mit anderen Abkömmlingen von Veelas zu verkuppeln. Doch er wollte kein ihn wie einen todkranken Schwächling ansehendes Veela-Mädchen haben. Aber hier noch über Jahrhunderte festhängen wollte er auch nicht.

In der Gestalt eines schwarzen Storches hatte sich Diosan auf den höchsten Baum am Ufer des vollständig zugefrorenen Sees hingesetzt. Seine Mutter hatte sich in einen hohlen Baum am gegenüberliegenden Ufer zurückgezogen. Diosan horchte in die Nacht. Immer hoffte er darauf, dass ein argloser Mensch diesen See finden würde. Doch auch heute schien niemand aus der Menschenwelt den Weg hierher zu finden.

"Gebe es der dunkle Urdrache, dass ein Blitz in den Baum einschlägt, der mich hier festhält!" betete Diosan in Gedanken. Das gehörte für ihn schon zu einem Ritual, dass er über ein Jahr lang ausführte, wenn er wie heute ganz allein auf seinem Wachposten hockte. Einmal hatte er zum dunklen Urdrachen gebetet, er möge seine Mutter mit ihrem Schlafbaum in die Erde hinunterziehen und verschlingen. Doch das hatte ihm eine Nacht voller Albträume beschert, wo er von diesem Ungeheuer aus der archaischen Weltanschauung der Veelas verfolgt und gefressen wurde, um immer wieder aus Sarjas Unterleib heraus in die Welt zurückgepresst zu werden. Danach betete er nur noch, dass der ihn bannende Baum zerstört würde.

Diosan hörte einen Wolf in der Ferne heulen. Aus einer anderen Richtung antworteten ihm andere Wölfe. Diosan kannte das schon. Knapp zwei Kilometer entfernt wohnte ein Rudel, dass in diesem Teil der Taiga zu jagen pflegte.

Diosan wollte gerade seinen Posten verlassen, um in seinen eigenen Schlafbaum zurückzukehren. Die kalten Nächte durchzuwachen half ihm auch nicht gegen seine Verärgerung und seine Enttäuschung. Er wollte gerade auffliegen, als er etwas wie einen tropischheißen Luftstrom von links hinten fühlte. Diese Empfindung hier und jetzt war völlig fremdartig. Der in Storchengestalt auf dem Baum sitzende Halb-Veela suchte mit seinen Vogelaugen nach der Quelle dieser warmen Luftströmung. Jetzt vermeinte er, von vielen kleinen Nadeln gestochen zu werden, eine sehr unangenehme Empfindung. Doch er fühlte auch, wo das herkam und wollte es genauer erforschen. Er flog los, genau in die Richtung, aus der die ihn immer mehr piesackenden Reize kamen.

Anatol Borodin hielt den runden Gegenstand ruhig ausgestreckt vor sich. Die untere Hälfte bestand aus einer kristallischen Halbkugel, die mit blutrot leuchtendem Dunst erfüllt war. Aus der Schnittfläche der Halbkugelschale ragte eine hauchdünne Achse nach oben, auf die eine haardünne Goldscheibe montiert war. Auf der Goldscheibe war ein Kranz aus sechsunddreißig grünen Punkten zu erkennen, Alle fünfundvierzig Grad war eine Markierung in die goldene Scheibe eingraviert. Dort, wo bei einer Zeigeruhr die Zwölf zu finden war, glomm ein roter Pfeil mit nach außen weisender Spitze. Borodin trat noch einen Schritt vor. Der Pfeil glomm nun noch heller.

"Es klappt, Wladimir. Mein Blutweiser spricht tatsächlich auf Diosan und seine Mutter an", grinste Anatol Borodin. Sein Sohn Wladimir hielt ein ähnliches Instrument in seiner Hand und streckte es behutsam vor. Jetzt begann auch bei ihm ein bis dahin unsichtbarer Pfeil zu leuchten, während die von ihm bezeichnete Markierung hellgrün glomm.

"Dann haben sich die zwanzig Stunden Suche gelohnt", erwiderte Wladimir.

"Genau, mein Sohn", erwiderte Anatol Borodin. Er klappte die an seiner Fellmütze hängende Beobachtungsbrille nach unten, um den Flug seiner magicomechanischen Libellen zu verfolgen. Wladimir hatte ihn auf die Idee gebracht, wie sie beide der Blutrache der Veelas entrinnen konnten. Anatol, der diese Möglichkeit bis dahin nur angedacht aber nicht für durchführbar erachtet hatte, wollte es hier und heute versuchen. Gelang es, dass die beiden mitgenommenen Kundschafter und Miniaturbeschaffer auch zu heimlichen Waffen wurden, die gezielt töten konnten, so würde das den Veelas und auch anderen aufmüpfigen Zauberwesen eine gehörige Lektion sein, dass das russische Zaubereiministerium sich nichts mehr von ihnen bieten lassen würde, ohne harte Maßnahmen zu ergreifen.

"Vater, du erinnerst dich, dass die Blutweiser bei dem Versuch mit der Hauselfe eine Wahrnehmung derselben ausgelöst haben?" fragte Wladimir Borodin. Sein Vater nickte verdrossen. "Wenn Diosan oder seine Mutter merken, dass sie von wem angezielt werden könnten die flüchten oder einen Präventivangriff starten."

"Libelle fünf, Anflug auf bestimmte Zielperson! In Kopf eindringen und Selbstzerstörung ausführen!" befahl Anatol mit vor dem Mund befestigter Sprechmaske. "Libelle sieben, Aktion von Libelle Fünf überwachen und absichern!" gab er einen weiteren Befehl. Dann zog er die Sprechmaske von seinem Gesicht. Die Brille behielt er jedoch auf.

"Wenn sie auf den Blutweiser reagieren werden sie der von ihm und ihnen erzeugten Verbindungslinie folgen müssen. Apparieren können die nicht, mein Sohn", erwiderte Anatol. Wladimir nickte nun. "Ah, ein schwarzer Storch genau in der verlängerten Ausrichtung!" grinste Anatol überlegen und zog schnell die Maske vor sein Gesicht. "Libelle fünf, Storch ist Ziel. Ziel anfliegen und in Kopf eindringen. Dort Selbstzerstörung ausführen!"

"Das Biest fliegt verdammt schnell, Vater. Moment. Fünf ist aber gleich .... Sabberhexenschleim! Fünf ist voll von diesem Storch aus der Flugbahn geworfen worden."

"Ich sehe es, das Biest fliegt schneller als jeder natürliche Vogel", mentiloquierte Anatol seinem Sohn, weil er noch die Sprechmaske vor dem Gesicht hatte, um seinen beiden winzigen Kunstgeschöpfen weitere Anweisungen erteilen zu können. "Fünf, Storch verfolgen und Befehl ausführen!" wies er den einen der beiden Miniaturautomaten an. Sieben sollte nun versuchen, den Befehl zur Vernichtung des Storches auszuführen und ihm entgegenfliegen. Anatol nutzte die übernatürliche Geschwindigkeit des verwandelten Veela-Abkömmlings aus und ließ Libelle Sieben vor ihm herfliegen. Dabei sollte das winzige Flugartefakt sich einholen lassen und dann durch eine Gehöröffnung oder den zum Atmen aufklappenden Schnabel in den Kopf oder Bauch des Storches eindringen.

Vater und Sohn Borodin verfolgten, ob das Manöver gelang. Die miniaturisierten Mordwerkzeuge versuchten, in die Nähe des schwarzen Storches zu kommen, der genau der Ausrichtung des Blutweiserkompasses folgte. Also fühlte der wirklich etwas auf ihn einwirken. Libelle Sieben wurde eingeholt und passte sich von alleine der Geschwindigkeit des Ziels an. Doch als Libelle sieben in die Nähe des Kopfes gelangte, schnappte der Storch mit dem Schnabel zu. Mit einer kurzen Folge roter, blauer und grüner Blitze erlosch die Bildverpflanzungsmagie, über die die Borodins den Flug der künstlichen Libelle beobachtet hatten.

"Verdammt, das Vieh hat Libelle sieben zerstört, bevor sie den eingewirkten Sprengzauber auslösen konnte", knurrte Wladimir. Er beobachtete, wie der schwarze Storch immer mehr Vorsprung vor Libelle fünf gewann. Diese konnte zwar viermal so schnell fliegen wie ein natürliches Insekt. Doch wegen seiner winzigen Größe und der bereits eingewirkten Zauber hatte Anatol dem mechanischen Insekt keinen Windumlenkungszauber einprägen können. So setzte der Flugwind der winzigen Maschine eine Geschwindigkeitsobergrenze, während der Storch offenbar keine Schwierigkeiten mit dem Flugwind hatte. Dadurch verschaffte sich der Storch einen immer größeren Vorsprung.

"Wir hätten alle Libellen mitnehmen sollen", grummelte Wladimir, der bereits ein Scheitern des heimlichen Mordanschlages auf Diosan voraussah.

"Dann müssen wir es eben auf die vorher abgesprochene Weise tun", gedankenknurrte Anatol Borodin. Er nahm die Brille ab, zog die Sprechmaske vor seinem Gesicht hoch und hielt den Blutweiserkompass und seinen Zauberstab bereit.

"Weißer Schwan folgt schwarzem Storch", vermeldete Wladimir. Überholt gerade Libelle fünf."

"Verdammt, dass ist Sarja. Sie kann sich in einen weißen Schwan verwandeln und viermal so schnell wie ein natürlicher Schwan fliegen. Dann müssen wir sie wohl auch erledigen", murrte Anatol Borodin. Er hatte gehofft, Diosans Mutter nicht angreifen zu müssen, selbst wenn er so oder so der Blutrache der Veelas anheimfallen würde. Da der Blutweiser auch auf sie abgestimmt war mochte sie seiner magischen Spur genauso folgen wie Diosan.

"Primäres Ziel ist die endgültige Ausschaltung Diosans, mein Sohn. Die Mutter nur angreifen, wenn sie sich dazwischenwirft!" befahl Anatol seinem einzigen Sohn und ging in Kampfstellung. Er prüfte noch einmal, ob der Richtungspfeil Ausrichtung und Leuchtkraft verändert hatte. Der Pfeil zeigte immer noch in die bisherige Richtung. Doch nun erstrahlte er in einem weißen Licht, und der Blutweisekompass vibrierte sachte aber spürbar. Mindestens eines der Wesen, auf die er abgestimmt worden war, befand sich nun in weniger als einem halben Kilometer Entfernung. Der Tödliche Fluch konnte bis hundert Meter weit geschleudert werden. Allerdings musste der Zauberstab genau in die Richtung des ausgewählten Ziels zeigen. Bei dieser Dunkelheit war ein schnell fliegender schwarzer Storch nicht so leicht zu erkennen. Doch Wladimir hatte eine Idee. Er murmelte "Nox!" und dann "Nigerilumos Maxima!" Erst erlosch das helle Licht an seiner Zauberstabspitze. Dann glomm in weiter Ferne ein hellgrüner Lichtkreis an einem der wie Riesenschatten wirkenden Bäume auf. Schnell bewegte Wladimir den Zauberstab. Die leuchtende Kreisfläche wanderte nach rechs weg und verschwand. Keine Viertelsekunde später erstrahlte ein blütenweißer Lichtfleck, der immer größer wurde und als sehr schnell heranfliegender Vogel zu erkennen war. Anatol grinste und zielte auf den im schwarzen Licht der Farb- und Helligkeitsverkehrung leuchtenden Vogel. Er wollte noch eine Sekunde warten, um sicher zu sein, den Todesfluch mit ganzer Wirkung ausführen zu können, da ließ sich der Storch fallen. Damit geriet er aus dem magischen Umkerhlichtstrahl heraus und verschmolz mit der Dunkelheit.

"Drachenmist, der hat was mitgekriegt", knurrte Wladimir. Anatol blieb jedoch ruhig. Er behielt die Umgebung im Blick und erkannte einen Schatten, der sich vor den Schatten der Bäume schnell bewegte. Wie eine Geste der Provokation schwenkte Anatol den Blutweisekompass nach unten und oben. Dann sah er den Storchenvogel im nun grellen Licht des Richtungspfeils. Raschelnd landete der Storch auf seinen langen Beinen und stolzierte auf die Borodins zu. "Besser geht's nicht", knurrte Anatol. Dann zielte er auf den vor ihm heranstolzierenden Storch.

"Avada Kedavra!" erscholl Anatol Borodins Stimme lange nachhallend durch die nächtliche Taiga. Unmittelbar nach der letzten Silbe klang ein unheilvolles Sirren auf. Ein gleißender Blitz aus grünem Licht schlug aus Borodins Zauberstab. Im selben Moment warf sich der Storch zur Seite. Der grüne Todesblitz verfehlte ihn um nur fünf Zentimeter. Dafür traf die tödliche Magie eine haushohe Fichte am Fuße ihres Stammes. Es knackte laut. Dann knarzte es, und der getroffene Baum kippte in Flugrichtung des Todesfluches um. Laut rauschend riss der fallende Baum Zweige seiner Nachbarbäume mit sich. Fichtennadeln wirbelten durch die Luft und rieselten zu Boden. Dann schlug der getroffene Baum mit dumpfem Schlag auf den Waldboden. Seine Wurzeln reckten sich Borodin wie die riesenhaften Beine eines Insektes entgegen. Das eigentliche Ziel, der schwarze Storch, kullerte mit angelegten Flügeln zwischen zwei andere Bäume. Wladimir zielte auf ihn. Der Storch erstrahlte unvermittelt in einem scheinbar aus ihm abstrahlenden weißen Licht. Wladimir rief bereits "Avada ..." als sein Vater ihn mit einem kräftigen Stoß in die Seite aus der Konzentration brachte. "Du Hirnloser Halbmuggel. Bei Nigerilumos nie einen anderen Lichterscheinungsbeinhaltenden Zauber benutzen!" schnarrte er. Knisternde violette Funken tanzten vor Wladimirs Zauberstab, und der gerade wie aus sich selbst leuchtende Storch erschien in einem roten Flackerlicht. Wladimir fühlte, dass sein Zauberstab sich stark erwärmte und für einen Moment wild zitterte. Dann sah er seinen Fehler ein. Beinahe hätte er eine Überlastung seines Zauberstabes herbeigeführt, die den Stab und vielleicht ihn selbst zerstört hätte.

"Halt ihn im Licht! Ich erledige ihn", schnaubte Anatol Borodin. Doch der Storch legte keinen Wert darauf, mal eben totgeflucht zu werden. Er stieß sich mit seinem rechten Flügel in die Bauchlage. Dann schnellte er auf seine langen, staksigen Beine, um im nächsten Moment wie von zwei auseinanderschnellenden Sprungfedern hochgeschleudert zu werden. Mit kraftvollen Flügelschlägen stieg der Storch zwischen den Bäumen nach oben und nutzte die dichten Zweige als Deckung vor weiteren Todesflüchen aus. Dann drehte der übernatürliche Schwarzstorch nach links ab und flog zwischen den Bäumen bleibend davon. Ein neuerlicher Todesfluch Borodins fällte nur noch eine stattliche Fichte.

"Fünf ist zu weit weg, um ihn zu jagen. Wir müssen hinterher!" rief Anatol Borodin. Doch da plumpste etwas schweres rechts von ihm zu Boden. Wladimir wirbelte herum, wobei er "Nox!" und "Lumos Maxima!" rief. Nun wieder mit gewöhnlichem aber so hell wie möglich erzeugtem Zauberlicht erleuchtete er einen blütenweißen Schwan, der rechts von seinem Vater gelandet war und gerade Hals und Beine so lang wie möglich streckte. Anatol zielte mit dem Zauberstab auf den Schwan. Er wusste, das Veelas gegen die meisten Fang- und Lähmzauber immun waren. So blieb ihm nur der Todesfluch. Doch der Schwan war zu nahe, um ihn in Ruhe zielen zu lassen. Ein Schnabelhieb schlug Anatol den Zauberstab aus der Hand. Wladimir wollte seinem Vater beispringen, als sich der Schwan innerhalb einer Sekunde in eine völlig unbekleidete Frau mit wenigen Altersfalten auf der Haut verwandelte. Das lange, silberblonde Haar umwehte den üppig ausgeformten Brustkorb der Veela, die ihn mit ihren strahlendblauen Augen anblickte und ihm dann ein überwältigendes Lächeln bot. Wladimir versäumte es, sich von dem betörenden Blick der Veela abzuwenden. Da überkam ihn auch schon eine unbändige Hingabe. Die Veela hatte ihn mit ihrer ganzen Ausstrahlung erwischt. Da er trotz seiner vierzig Jahre noch sehr empfänglich für derartige Betörungen war, verflog seine Absicht, dieses überragende Wesen mit einem tödlichen Zauber anzugreifen. Er nahm es sogar hin, dass die Veela mit einer schnellen Armbewegung zuschlug und mit ihrer rechten Faust Anatol Borodins Kinn erwischte. Der Zauberwesenbeamte des russischen Zaubereiministeriums sackte zu Boden wie einer der von ihm gerade gefällten Bäume. Dann wandte sich Sarja ganz Wladimir zu, der von der völlig in den Bann ihrer magischen Ausstrahlung geriet. "Willst du nicht deinen Zauberstab fortwerfen, Junge? Hier brauchst du ihn nicht", säuselte sie beinahe singend, während sie ihn mit einem unüberwindlichen Lächeln anblickte. Wladimir zitterte. In ihm stritten Hingabe und Gefahrenbewusstsein, sein freier Wille und der ihm auferlegte Veela-Zauber um die Vorherrschaft über seinen Körper. Dann seufzte er ergeben und ließ den Zauberstab aus der Hand fallen. Im nächsten Augenblick stimmte die Veela ein weit hallendes Lied an, dessen Töne ohne Widerstand durch Wladimirs Ohren bis in seine tiefsten Gehirnregionen drangen und ihn endgültig um seinen freien Willen brachten. Er sah nur noch einen immer dichteren Nebel vor sich, wähnte sich in einem beglückenden Traum und sank halb fallend halb sich niederlegend zu Boden.

"Aha, die Herren Anatol und Wladimir Borodin", schnarrte Sarja, als Wladimir hilflos und hingebungsvoll vor ihr am Boden lag. "Ich hätte mir denken können, dass ihr nichts unversucht lasst, um mir meinen Sohn wegzunehmen. Aber dass ihr so weit gehen wolltet, ihn umzubringen, wo ihr beide doch wisst, was dann mit euch passiert, hätte ich nicht erwartet."

Sarja betrachtete den von ihr mit einem Faustschlag niedergestreckten Anatol. Sie wusste, dass ihr Lied der völligen Betörung ihn trotz seiner Ohnmacht genauso unterworfen hatte wie Wladimir. Doch die Wirkung würde nur wenige Minuten anhalten, wenn sie es nicht weitersang. Doch weil diese Idioten ausgerechnet den Baum getötet hatten, mit dem sie ihren kranken Sohn Diosan an diesen Ort gebunden hatte, musste sie schnell hinter diesem her, bevor er aus ihrer unmittelbaren Reichweite geriet und damit wieder unaufspürbar wurde. Deshalb begnügte sie sich vorerst damit, die beiden Zauberstäbe aufzuklauben und mit zwei schnellen Handbewegungen zu zerbrechen. Dann sah sie die immer noch leuchtenden Blutweisekompasse auf dem Boden liegen und fühlte die davon ausgehende magische Strahlung. Also so hatten sie sie und Diosan trotz üblicher Unaufspürbarkeit gefunden. Sie nahm beide Blutweiser an sich. Einen schleuderte sie weit in den Wald und schickte ihm einen lodernden Feuerball hinterher. Der Blutweiser glühte auf und zerbarst mit lautem Knall. Die goldene Scheibe wirbelte wie ein glitzernder Diskus in Richtung des Sees davon. Den zweiten Blutweiser hielt sie in der Hand und fühlte, dass dieser mit ihr und Diosan eine Verbindung einging. Sie konnte nun förmlich spüren, in welcher Richtung und Entfernung ihr Sohn war. "Diosan, mein Sohn. Vergiss es, mir wieder entfliegen zu wollen!" sang sie ihm zu. "Ich komme gleich zu dir und hole dich, wenn du nicht freiwillig zu mir zurückkehrst." Sie rechnete nicht mit einer Antwort und nickte, als sie auch keine erhielt.

Durch die Erbeutung eines auf sie und Diosan abgestimmten Blutweisers konnte sie ihr Vorhaben, Diosan möglichst schnell zu verfolgen hintanstellen. Jetzt interessierte sie sich dafür, wie genau die beiden Borodins das angestellt hatten. Sie wandte sich wieder an Wladimir, der gerade aus der seelischen Umnebelung des betörenden Liedes zu erwachen begann. Sarja sang erneut jene Töne, die einen ungeschützten Mann unter ihren Willen zwingen konnten. Damit hatte sie Grindelwald, den selbsternannten Großmeister der wahren Magier, für sich empfänglich gemacht. Wladimir Borodin hatte nicht die geringste Chance, ihr zu widerstehen. Sie kannte nur einen Zauberer, der es schaffte, sich der vollen Kraft einer erwachsenen, reinrassigen Veela zu entziehen. Doch der wohnte weit weg von hier in Frankreich. Als Sarja ihre geistige Kontrolle über Wladimir gefestigt hatte fragte sie ihn aus, wie diese Zaubergegenstände arbeiteten und was das mit diesen kleinen, keine Lebensaura ausstrahlenden Libellen sollte, denen sie und Diosan begegnet waren. Als sie von dem wie in Trance antwortenden Wladimir erfuhr, dass die kleinen Libellen winzige Maschinen waren, die sowohl Kundschafter, Beschaffer aber auch Mordwerkzeuge sein konnten verlor sie fast ihre gefühlsmäßige Balance. Fast hätte sie Wladimir aus Wut mit einem Feuerball geröstet. Doch dann kam ihr eine bessere Idee. Diosan war nicht tot. Also musste sie niemanden töten. Durch das magische Gerät, dass Wladimir als Blutweiser bezeichnete, konnte sie ihren Sohn ebenso aufspüren wie es die Menschen vermocht hatten. Anatol Borodin lag immer noch ohnmächtig am Boden. Offenbar hatte sie mit zu viel Wut zugeschlagen. Dass sie derartig rabiat sein konnte erstaunte die über dreihundert Jahre lebende Veela sehr. Doch dann empfand sie diesen Umstand als weiteren Vorteil. "Du wirst mich begleiten und bei mir wohnen, solange ich das will", sagte Sarja und deutete auf Wladimir Borodin. Dieser nickte marionettenhaft. "Komm, folge mir!" befahl sie in einer Mischung aus Befehl und Trällern. Wladimir schritt wie an unsichtbaren Fäden geführt hinter der nackten Veela her.

Erst eine halbe Stunde später erwachte Anatol mit brummendem Schädel und pochenden Schmerzen im Unterkiefer. Er schmeckte vertrocknetes Blut und musste einen halb abgebrochenen Zahn ausspucken. Dann erst erkannte er, dass er allein und ohne Zauberstab im weiten Waldland Sibiriens stand. Er versuchte seinen Sohn anzumentiloquieren. Doch der für diese Art der Fernverständigung übliche Nachhall in seinem Geist blieb aus.

"Ich habe dich unterschätzt, Sarja", schnaubte Anatol und spuckte frisches Blut aus. "Du vermaledeites Monstrum. Aber jetzt setz ich dich auf die Liste gemeingefährlicher Wesen." Er blickte sich um. Doch ohne Lichtquelle war der Wald für ihn nur ein düsterer Ort voller Kälte und riesenhafter Schatten. Als er sich durch die Dunkelheit tastete fand er die beiden Zauberstäbe am Boden. Sie waren zerbrochen. Vielleicht konnten sie mit einem anderen Zauberstab repariert werden. Aber ohne Zauberstab konnte er nicht aus diesem Waldstück disapparieren. Er dachte an den in seinem Rucksack steckenden Buran-Besen. Doch als er seinen Rucksack öffnete, fand er den Besen nicht mehr vor. Er stieß eine Reihe wilder Kraftausdrücke an Sarjas Adresse aus. Als habe sie nur darauf gewartet, dass er sie beschimpfte hörte er ihre Stimme auf einmal aus einem der Baumwipfel klingen:

"Spar dir deinen Atem für deinen langen Marsch in deine Heimat, Anatol Borodin! Geh nicht davon aus, dass du deinen Sohn so schnell wiedersiehst. Ich habe ihn wie meinen eigenen in Gewahrsam genommen und werde beide an einen anderen sicheren Ort bringen. Wenn du und dein Herr und Vorgesetzter ganz brav seid und uns Veelas in Ruhe lasst, darfst du Wladimir in fünf Jahren wiedersehen. Wie du sicher weißt ist das die Zeit, die wir Veelas unsere Kinder austragen, bevor wir sie zur Welt bringen. Solange wird er bei mir bleiben. Das ist meine Strafe für deinen üblen Mordversuch gegen meinen eigenen Sohn und mich. Und vergiss es, diese Blutweisevorrichtung nachzubauen, mit der du ihn und mich gefunden hast. Ich besitze noch eine Ausgabe dieser Gerätschaft von euch beiden und werde schnell ergründen, wie ich weitere Nachstellungen damit verhüten kann. Auch deinen Sohn wirst du damit nicht aufspüren können. Denn ich habe ihn in meine Obhut genommen und damit vor jeder menschlichen Magie verhüllt. Gehab dich wohl, Anatol Andrejewitsch Borodin!"

"Du bist tot, du Ungeheuer. Tot!!" brüllte Anatol, während die nackte Veela auf dem Fichtenbaum ihre Gestalt wechselte und als weißer Schwan davonflog. Er bekam keine Antwort mehr von ihr.

Anatol wusste, dass er lange marschieren musste, wenn er nach Moskau zurückkehren wollte. Aus dieser Entfernung zu mentiloquieren gelang nicht. Denn der einzige, mit dem er über so eine Entfernung gedankensprechen konnte, war in der Gewalt dieser bildschönen Bestie. Wie lange mochte er brauchen, um in die Nähe einer menschlichen Ansiedlung zu kommen? Das würde er wohl erst wissen, wenn er dort ankam. Mit dieser sehr trüben Aussicht begann er seinen langen Marsch zurück nach Hause, ohne zu wissen, dass er bereits auf einer Fahndungsliste stand.

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Im Büro des Präsidenten des Le Havre Athletic Club


20. Januar 2002, 09:00 Uhr

Jean-Pierre Louvel hatte an diesem Tag beschlossen, sich nach weiteren Neuzugängen für die Profimannschaft umzusehen. Sollte es gelingen, Aron Lundi für die angedachte Summe nach Barcelona zu schicken würde dem Club eine beachtliche Summe zufließen, mit der sicher der ein oder andere Profi eingehandelt werden konnte. Er hatte mit seinen Spielerbeobachtern auch schon zwei in Aussicht, die vielleicht für Lundis Ablösesumme zu haben waren. Doch das wollte er erst erwähnen, wenn der Transfer perfekt war.

Louvel hatte gerade seinen Rechner hochgefahren, um nach elektronischer Korrespondenz zu sehen, als das Telefon auf seinem Schreibtisch trällerte. Der Präsident des Le Havre AC griff zum altmodisch wirkenden Hörer und meldete sich. In den nächsten Sekunden bedauerte er, dass die vom Verein bezahlte Sekretärin ausgerechnet in diesen Wochen Winterurlaub in den schweizer Alpen machen musste.

"Ach, kriege ich Sie gleich direkt an ans Rohr", blaffte eine unüberhörbar verärgerte Männerstimme. Louvel erkannte sie sofort. Das war Domenique Lasalle, Vorsitzender der Hafenmeister, eines der Fanclubs, aber eines, der den Verein quasi als Heiligtum und Nabel der Welt ansah. "Da Ihre Zeit sicher knapp ist hier die Frage im Namen aller Fans vom HAC: Wollen Sie Bagheera Aron Lundi echt an die Barcas verscheuern?"

"Monsieur Lasalle, können Sie, wenn Sie ein ernstes Anliegen haben nicht einmal versuchen, sich nicht wie ein Prolet auszudrücken?" fragte Louvel zurück, um nötige Bedenksekunden für eine intelligente und unumstößliche Antwort herauszuschinden.

"Die Proleten und Seeleute halten den Club am Laufen und damit Ihren Arsch gut gepolstert und warm auf dem Ledersessel. Aber jetzt bitte Klartext: Wollen Sie echt den Panther an Barcelona verscheuern?"

"Wenn Sie sagen, dass Sie und alle anderen Fans mein Hinterteil im warmen, weichen Sessel halten stimmen Sie sicher zu, dass wir auch die Verantwortung haben, wer bei uns mitspielt oder nicht. Zweitens bestehe ich auf eine anständige Ausdrucksweise, wenn Sie mit mir von einem erwachsenen zum anderen Erwachsenen sprechen möchten, Monsieur Lasalle."

"Tut mir aber leid, dass meine alten Herrschaften kein Geld zu viel hatten, um mich mal eben zur Uni zu schicken", erwiderte der andere. "Aber jetzt bitte die Antwort auf meine Frage. Immerhin soll morgen die neue Ausgabe vom Hafenmeisterbrief herauskommen."

"Achso, Sie sprechen als Journalist bei mir vor. Dann möchte ich Sie an unseren Pressesprecher verweisen, der Ihre Anfrage entgegennehmen und zeitnah beantworten wird", erwiderte Louvel. Da klapperte es in der Hörmuschel, und eine andere Männerstimme sprach:

"Guten Morgen, Monsieur Louvel. Hier spricht Henri Clairmont, der Pressesprecher des HAC-Fanclubs "Die Hafenmeister". Da Sie offenbar nur mit wem ernsthaft sprechen möchten, der Ihren gehobenen Stil beherrscht möchte ich Sie in meiner Eigenschaft als Referent für Medien und Nachrichtenverbreitung fragen, ob Sie bereit sind, mir und den Mitgliedern unseres treuen Fanclubs die durchaus berechtigte Frage zu beantworten, ob es sich so verhält, dass der HAC sich mit dem Vorhaben trägt oder dies bereits in die Tat umsetzt, den jungen Ausnahmespieler Aron Lundi, derzeitig noch als Mittelstürmer der professionellen Juniorenauswahl der unter einundzwanzigjährigen spielend, noch innerhalb der laufenden Winterpause an den ersten FC Barcelona auszuleihen oder gegen eine noch nicht bezifferte Ablösesumme dauerhaft zu überlassen?"

"Nun, als der von Ihrem Club eingesetzte Referent für Medien und Nachrichtenweitergabe haben Sie sicherlich größtes Verständnis, dass derartige Fragen von unserem Pressesprecher entgegengenommen und beantwortet werden, da meine Zeit zu knapp kalkuliert ist und ich zum Wohle des Vereins jede Minute dafür einsetzen muss, den Klassenerhalt in dieser Spielzeit zu sichern, . Da ich auf einen für dieses Ziel sehr entscheidenden Telefonanruf warte möchte ich Sie bitten, meine Leitung wieder freizugeben und wie erbeten mit unserem Pressesprecher zu sprechen."

"Der Typ weiß doch nix, wo die das im geheimen Kämmerlein ausknobeln", hörte Louvel Lasalles Stimme.

"Nun, dann kann, will und werde ich wohl in der morgigen Ausgabe unseres Clubjournals den Vorschlag unterbreiten, dass jeder, den es interessiert, ob Aron Lundi weiterhin für uns spielt oder demnächst zu Gunsten einer für erfolgreiche Neuverpflichtungen der über einundzwanzigjährigen Berufsmannschaft einem anderen Verein angeboten wird", erwiderte Clairmont.

"Jetzt möchte ich Sie als Zuständiger für Nachrichtenweitergabe fragen, weshalb Sie auf den Gedanken verfallen sind, ich könnte von einem derartigen Transfer Kenntnis besitzen. Für Neuverpflichtungen und Ablösefragen ist der Manager zuständig, der sich aber gerade nicht im Vereinshaus aufhält. Seine E-Mail-Adresse ist Ihnen ebenso bekannt wie die unseres Pressesprechers. Ich hoffe, Ihnen damit geholfen zu haben."

"Eh, Bagheera Lundi ist einer von uns und bleibt einer von uns", hörte Louvel Lasalles Stimme aus dem Hörer, jedoch wohl einige Schritte vom anderen Apparat weg.

"Monsieur Clairmont, Sie können mir sowie Ihrem Clubvorsitzenden einen überaus großen Gefallen erweisen, indem sie sowohl die Verfassung der französischen Republik als auch die Satzung unseres Fußballclubs erörtern. Die Verfassung garantiert jedem volljährigen Bürger die freie Berufswahl und den frei erwählbaren Wohnsitz. Unsere Satzung erlaubt die Verpflichtung oder Zurverfügungstellung von Spielern nach deren Zustimmung, nicht nach der Zustimmung von Leuten, die meinen, mit der Treue zu unserem Club Eigentumsansprüche an allen dort tätigen Personen einfordern oder gar bekunden zu können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!"

"Das nehme ich gerne zur Kenntnis und werde gemäß dieser Aussage als offizielle Verlautbarung werten, dass Sie keinerlei Bedenken haben, einen noch sehr jungen Spieler so früh wie möglich an einen ausländischen Profiverein abzugeben, falls es gelingt, ihn dazu zu überreden, dort sein Glück zu finden. Vielen Dank für diese klare Aussage", erwiderte Clairmont und sagte nur noch "Auf Wiederhören!" Dann knackte es in der Leitung, und das sich wiederholende Tutsignal für die getrennte Verbindung war zu hören.

"Woher haben diese verdammten Ultras das", schnarrte der Vereinspräsident. Immerhin hatte er bis auf den Trainer der und den Manager keinen bei der direkten Unterredung dabeigehabt. Sicher, Guillaume Montrose, der den Präsentationsrechner bedient hatte, war bis nach der Viedeovorführung im Raum geblieben. Doch der hatte eine Vereinbarung unterschrieben, alle von ihm mitgehörten Gespräche, sofern er bei diesen zuhören musste, für sich zu behalten und niemandem was davon mitzuteilen, in welcher Form auch immer. Wenn der das diesen Fanatikern weitergereicht hatte konnte der sich auf etwas gefasst machen. Am Ende hatten es auch schon verschiedene Zeitungen mitbekommen. Dabei sollte es erst bekanntgegeben werden, wenn Lundi sich zu einem Wechsel bereitfand, gerade um das wie gerade eben zu vermeiden.

Louvel atmete auf, dass zumindest in den E-Mails noch nichts von dem geplanten Transfer zu lesen war. Da läutete wieder das Telefon. Diesmal ließ Louvel den Anrufbeantworter einsetzen und lauschte, wer da mit ihm sprechen wollte. Denn anders als vorhin behauptet erwartete er keinen dringenden Anruf.

"Ach noch nicht im Büro. Klar, wo ihre Handzahme Tipse und Kaffeeschubse noch nicht aus St. Moritz zurück ist", setzte eine verärgert klingende Frauenstimme an. "Nur so viel, um mir nicht an Ihrem elektronischen Wortschlucker den Mund fusselig zu quatschen: Wir, die Freibeuterinnen, haben das mitbekommen, dass dieser Fettklops Camacho aus Barcelona bei Ihnen war, weil Sie dem Aron Lundi andrehen wollen. Haben Sie und ihre hochvornehme Sesselpuperbande sich schlau ausgedacht, die Alverado-Zwillinge aus Bahia einheimsen zu können, wenn Sie genug Zaster für die Ablöse auf der Naht haben. Aber dafür unseren Aron Lundi verhökern ist voll fies. Hauen sie dafür besser den Mirot aus der B-Truppe von den über einundzwanzigjährigen raus. Der klebt sonst noch an der Bank fest. Für den kriegen Sie sicher auch so viel wie für den Panther. Der soll noch im nächsten Jahr für uns spielen und am besten noch den Championsleague-Pott für uns holen. Grüße an ihre Kaffeemaschinendompteuse!"

"Außer zwei Brüsten und möglicherweise viel Schminke im Gesicht kein Unterschied zu den Rüpeln von den Hafenmeistern", kommentierte Louvel den von ihm nicht in eigener Person entgegengenommenen Anruf. Aber woher hatten die von diesen radikalen Frauenzimmern, die sich die Freibeuterinnen nannten das mit Lundi? Louvel rief den Manager an und dann noch Montrose. Diesem drohte er so ruhig wie er gerade noch konnte an, dass er keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen würde, sollte sich herausstellen, dass er höchstvertrauliche Informationen weitergeleitet hatte. Montrose erwiderte, dass er sich keiner Schuld bewusst sei und sein Rechner auch immer auf dem neuesten Stand der Viren- und Hackerabwehr sei. Als er dann hörte, dass auch die Freibeuterinnen von dem möglichen Transfer wussten erschrak er jedoch hörbar. "Was, die auch schon. Moment, Janine Lasalle heißt deren Vorsitzende. Die ist ein Crack, also supergut in Rechnern. Die habe ich vor zwei Monaten bei einem Spieletreffen kennengelernt, kann Prolig und Eierköpfig, je danach, mit wem sie über was genau reden will. Die hat mir ein Spiel empfohlen ... Ich prüfe da gleich was nach und melde mich wieder."

"Wollen Sie mir jetzt etwa sagen, Sie hätten sich trotz ihrer angeblich so aktuellen Virenschutzprogramme einen Trojaner eingehandelt?" schnarrte Louvel, der ahnte, was Montrose so erschüttert haben mochte. Statt einer Antwort klickte es nur in Hörer. Eine Stunde später wusste er es. "Diese Hexe hat mir mit der DVD doch glatt vier als Systembibliotheken getarnte Hintertüralgorithmen untergejubelt, die keine bekannte Virenkennung aufweisen und daher bei jeder oberflächlichen Diagnose als unverdächtig eingestuft wurden. Dann konnte die immer, wenn ich im Netz war heimlich mitlesen oder in meinen Pausen am Keybord ohne Bildschirmecho Sachen auf meinem Rechner machen wie Dateien suchen, sichten und kopieren oder löschen. Jetzt muss ich die infizierten Bibliotheken gegen unbefallene austauschen, zum Henker noch eins."

"Seien Sie froh, dass unser Verein keine Todesstrafe für Verrat in der Satzung stehen hat", knurrte Louvel. Doch was brachte es. "Die Milch ist verschüttet. Dichten Sie die Lecks ab und prüfen Sie, was dieses Weibsbild alles von uns mitbekommen hat!" herrschte Louvel Montrose an. Dieser willigte ein. Dann fragte er noch, was für ein Spiel das denn war, das diese Hintertüren eingeschmuggelt hatte. "Terra Nova- Wiederaufbau der Erde nach der totalen Überbevölkerung", seufzte Montrose. "Die Hintertüren steckten in den Grafikmodulen, die die superguten Karten und die ganzen mutierten Tiere und Menschen nachgezeichnet haben, die das Spiel enthält. Ich kümmere mich drum und setze meine Virenabwehr auf höchste Diagnosestufe, auch wenn dann bei einer System- und Datenträgerprüfung alle Anwendungen nur noch halb so schnell laufen wie sonst. Muss dann eben sein."

"Wie gesagt, reparieren sie, was kaputt ist. Ähm, am besten reden Sie mit unserem Anwalt und unserem Pressesprecher, inwieweit wir gegen diese Saboteurin vorgehen können!"

"Kein Problem, Monsieur Louvel."

"Woher haben Sie das Spiel?" fragte er noch.

"Das wurde bei der Zusammenkunft vorgestellt. Wer wollte konnte Vorabversionen auf den eigenen Rechner laden."

"Trauen Sie niemals etwas ohne Preisschild, weil der Preis höher ist, als sie bezahlen wollen, Monsieur Montrose!" musste Luvel seinem kalt erwischten Computertechniker noch einen moralischen Rat auf den Weg geben.

"Jean-Paul, du liegst voll daneben, dass Mädchen keinen Dunst von Mathematik und Computerprogrammen haben", dachte Louvel an die Adresse eines großspurigen Oberschulkameraden, der immer behauptet hatte, Frauen sollten nur als Krankenschwestern, Putzfrauen, Sekretärinnen oder Flugbegleiter arbeiten, wenn sie schon keine Hausfrauen und Mütter sein wollten. Dabei hatte gerade Frankreich die erste Physiknobelpreisträgerin der Welt hervorgebracht, auch wenn Marie Curie in Polen geboren worden war. Doch was half es nun, sich darüber zu ärgern, dass der mögliche Handel viel zu früh bekannt geworden war? Jetzt half womöglich nur noch die Flucht nach vorne. Louvel wählte die Telefonnummer des Hotels, in dem Camacho logierte. Doch der Gast war vor einer halben Stunde ausgegangen. So wählte er die Mobilnummer des Gastes aus Spanien.

"Haben Sie mit dem Jungen schon gesprochen?" wollte Camacho wissen, als Louvel ihm mit abbittendem Tonfall die Lage geschildert hatte.

"Erst wenn Ihr Vereinsvorstand die endgültige Verhandlung erlaubt", sagte Louvel.

"Dann wird's aber wohl Zeit, bevor mein Club aus der Zeitung erfährt, dass er demnächst einen neuen Spieler kauft, ohne das überhaupt beschlossen zu haben. Ich sollte ja nur sondieren", sagte er noch. Louvel bejahte das. Dann hörte er erregte Stimmen und Camachos Namen: "Eh, da is' er ja. Eh, Fettklops, Finger weg von Bagheera Lundi!" tönte die Stimme eines jungen Mannes im havraiser Dialekt. Dann klangen unbestimmte Geräusche im Hörer des Vereinspräsidenten. Er fragte, was los sei. Da krachte es im Hörer, und das Tutsignal für eine Verbindungstrennung war zu hören. Louvel drückte die Auflegentaste seines Mobiltelefons und wählte den Polizeinotruf. Denn er fürchtete zu recht, dass Camacho in eine gewaltsame Auseinandersetzung hineingeraten war.

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Vor dem Wohnhaus von Aron Lundi in Le Havre, nahe der Seinemündung


20. Januar 2002, 09:20 Uhr

Aron war am Morgen wieder wie üblich an der Seine entlanggejoggt, um auch während der Trainingspause seine Form zu halten. Dabei hatte er wieder einmal mehr an sie gedacht, jene goldblonde Wunderfrau, die kurz nach Anfang der Winterpause an einem Morgen wie aus dem Nichts neben ihm aufgetaucht war und ihn von einer Sekunde zur anderen derartig berauscht hatte wie die anderthalb Flaschen Messwein, die er damals mit seinem Schulkameraden Roman Dobrovic weggesoffen hatte, um zu testen, wer mehr aushielt, der balkanesische Bergbauernsohn oder das angebliche Kind einer Hafendirne und eines Seemanns. Offenbar hatte er doch das Stehvermögen eines Seebären im Blut, weil Roman nach einer Dreiviertelflasche schon hohen Seegang gezeigt hatte. Schwester Marie-Clementine, von den Schülern Gottes rechter Haken genannt, hatte die beiden dann bis zum Hals in Leinensäcke gesteckt und aus eigener Kraft an die Decke des Büßerbunkers gehängt, auf dass sie dort zur sichtbaren Schande für alle hängen sollten, bis sie den Frevel an Jesu Blut genug gebüßt hatten, was auch hieß, dass sie nicht anständig zur Toilette gehen konnten. Welche Buße würde er dafür ableisten müssen, dass er die goldblonde Frau getroffen hatte, die mit der Stimme eines Engels sprach, die Klugheit einer studierten und welterfahrenen Frau hatte und diese sündhafte Ausstrahlung bot, der er immer dann verfiel, wenn er versuchte, seine eingebläuten Bedenken gegen die Fleischeslust zu äußern. Bisher hatten sie es noch nicht miteinander getrieben, wohl auch, weil Aron sich dafür schämte, männlich zu sein und es Frauen sehen konnten, wenn er eine besondere Lust spürte.

Heute hatte er sie noch nicht getroffen. Wenn er sie traf, dann bekam er nie mit, woher genau sie kam. Einmal hatte er gemeint, zehn Meter hinter ihm hätte wer mit einer Knarre herumgeballert. Doch als er sich umgesehen hatte war nur ein altersschwacher Wagen und diese absolute Wunderbraut zu sehen gewesen. Deshalb hatte er den scharfen Knall für einen Gruß der sich langsam verabschiedenden Zylinder des Wagens gehalten und war mit ihr zusammen weitergelaufen.

"Eh, Bagheera! Jemand ist hinter dir her. Wir passen ab jetzt auf dich auf, ganz für lau. Wir wollen ja nicht, dass dich wer von uns wegholt", tönte eine verräuchert klingende Männerstimme. Aron blieb stehen und sah sich um. Dann erkannte er drei Männer mit schwarzen Haaren in der blauen Kleidung des Fanclubs "Die Hafenmeister", die immer die größte Fahne zu den Spielen mitbrachten oder die Gegner mit den wüstesten Schimpfwörtern bedachten, für die der rechte Haken Gottes wohl jeden einzelnen für mehr als einen Tag in der eigenen Schiffe hätte hängen lassen wie ein Baby, für das es keine Windeln mehr gab. Was wollten die drei Klötze denn jetzt hier? Seit wann brauchte er eine Leibwache, wo er nach der Schulzeit einen Karatekurs gemacht hatte?

"Jungs, ist ja nett von euch. Aber wenn ich mit einer Leibwache zu den Spielen hingehe werden die anderen neidisch, und dann wollen die mit mir nicht mehr zusammen spielen", sagte Aron Lundi so ruhig er konnte.

"Wir können auch auf die anderen aufpassen, damit die Kopfjäger von den Spaniaken oder den Sauerkrautfressern euch nicht einfangen und in ihre Heimat schaffen."

"Du hast die Spaghettiwickler vergessen", sagte ein anderer der drei klotzartigen Jungspunde.

"Eh, Jo, hast voll recht. Aber im Moment sind wohl die Flamencotänzer scharf auf Bagheera", sagte der erste selbsternannte Leibwächter.

"Echt, Madridd oder Barca?" fragte Aron, den es amüsierte, dass die drei da sich so wichtig taten.

"Unsere Kameraden klären das gerade, Roger", sagte Klotzjunge Nummer drei. "Wetten dass Camacho heute noch über die Pyrenäen zurückfliegt?"

"Wo der keinen zum Aufpassen mit hat", lachte der, der gerade Jo genannt worden war.

"Jungs, nichts für ungut, aber in der Straße wohnen nicht nur Spiler und Fans vom HAC. Die könnten die Bullen rufen, wenn ihr hier so rumsteht. Und in meine Wohnung reinlassen darf ich nur Madame Bonfils, die bei mir putzt. Steht in meinem Mietvertrag drin. Und der HAC zahlt meine Miete. DA bin ich nicht so blöd, gegen den Vertrag zu verstoßen, wenn ihr verstehtt ..."

"Kein Thema, wir bleiben auf der Straße und passen auf", knurrte der, der gerade Roger genannt worden war.

"Ihr seid von den Hafenmeistern, richtig? Dann ruft bitte euren Sprecher Lasalle an und sagt dem mit einem schönen Gruß von mir, dass der Verein schon aufpasst, dass mir keiner was tut und ihr sicher nicht wegen mir im Knast landen wollt."

"Eh, Moment mal, wie finde ich das denn", schnaubte Jo. Doch Roger legte seinen Finger auf die unrasierten Lippen und nickte Aron zu. "Wir passen auf dich auf, bis die Kiste mit den Flamencotänzern vom Tisch ist und sonst keiner meint, dich anquatschen zu müssen."

"Jungs, nur für mich, damit ich nicht dumm sterb: Ihr würdet jeden Spanier zusammendreschen, der mir einen guten Tag wünschen möchte?" fragte Aron so ruhig er konnte.

"Aber volle Elle, Bagheera", knurrte Jo.

"Hmm, past aber nicht zu eurem Clubmotto. Wenn ich das richtig mitgekriegt habe sagt ihr doch "Die Hafenmeister stehen mit Körper, Geist und Seele zu dem HAC. Sich zu prügeln hat aber nichts mit dem Geist zu tun."

"Eh, geh in deine Bude und lass uns hier unseren Job machen", knurrte Jo, dem diese Predigt auf die Nerven ging. Wäre das ein anderer als der umjubelte Hoffnungsträger gewesen, der das gerade gesagt hatte, dann läge der wohl schon mit ausgeschlagenen Zähnen auf der Straße. Zumindest meinte Aron das aus dem Blick des zwanzig Zentimeter kleineren ablesen zu können. Da er nach dem Morgenlauf Hunger und Durst hatte wollte er sich auch nicht auf eine längere Diskussion mit dem Burschen einlassen. Wenn seine Nachbarn meinten, die würden ihnen Angst machen, dann sollten die doch die Polizei anrufen. So sagte er nur noch: "Okay, Jungs, ich bin dann bei mir in der Bude. Bis irgendwann im Stadion!"

"Joh, Bagheera", sagte Roger noch. Da hörten sie das Knattern von Motorrädern.

Drei Susukis kamen um die Ecke, auf jeder thronte eine stämmige Frau in dunkelblauer Ledermontur und schwarzen Helm, der mit einem silbernen Enterhaken über zwei nach unten offenen Halbkreisen markiert war. Auch diese Aufmachung kannte Aron. Das war das weibliche Gegenstück zu den Hafenmeistern, die von Lasalles Cousine Janine gegründeten Freibeuterinnen, kraftstrotzenden Mädels, die klar ansagten, mit wem sie was wollten und mit wem nicht. Dasss Loulou, eine der Freibeuterinnen, ihn schon offen gefragt hatte, ob er ihr seine Unschuld schenken würde, hätte fast zu einem Stadionverbot dieser Mädchenbande geführt. Doch weil er geantwortet hatte, dass er seine Unschuld nur der Frau geben wollte, die sich von einem Priester mit ihm verheiraten lassen würde und ihm ihre Unschuld opferte, hatten sie vom Stadionverbot abgesehen. Denn die Freibeuterinnen hatten garantiert schon längst das berühmte erste Mal erlebt.

"Eh, Sardinendose, dein Cousin hat uns schon zum aufpassen hergeschickt", rief Jo der größten von ihnen zu. Diese nahm den Helm ab und ließ ihr dunkelbraunes Haar bis auf die breiten Schultern herunterfallen.

"Immer noch 'ne große Klappe, Josef Monier! Wieder Hunger auf Straßendreck?" fragte die Anführerin der drei Mädchen. Ihre Kameradinnen lachten, was durch die noch geschlossenen Helme hohl und unnatürlich klang.

Aron blickte auf die Haustür. Bis dahin waren es nur zehn Meter. Wenn er mit ganzem Antritt loswetzte war er in unter einer Sekunde dran. Nach der zweiten hatte er dann sicher den Schlüssel im Schloss rumgedreht. Dann konnten die beiden Banden sich gegenseitig über die Straße verteilen. Die Polizei konnte dann rufen wer wollte. Da ging die Tür auf, und heraus trat sie, seine goldblonde Traumfrau. Wer hatte die denn ins Haus reingelassen?

"Ach, da bist du ja doch noch gekommen, Aron. Hatte schon befürchtet, dir wäre unterwegs was passiert", sagte sie mit ihrer engelsgleichen Stimme. Ihre strahlendblauen Augen fingen seinen Blick ein, und er fühlte die ersten Auswirkungen ihrer besonderen Ausstrahlung.

"Ups, aus welchem Märchenbuch haben Sie dich denn rausgelassen, Prinzesschen?" fragte die Anführerin der drei Freibeuterinnen.

"Aus dem Backofen von Hänsel und Gretel, Honigschnütchen", erwiderte die Goldblonde. "Hat mir nichts anhaben können, wie du siehst."

"Toller Witz, Blondie", lachte Roger. "Schon was vor heute abend?" fragte er noch.

"Ich plane nicht so weit voraus", sagte die andre. Janine und die beiden anderen jungen Frauen auf den Motorrädern spannten sich immer mehr an, je süßer das Minenspiel der goldblonden Frau war, die jeden der Jungen mit ihrem Blick überstrich, worauf jeder einen verklärten Gesichtsausdruck bekam, als würde sie ihm gerade ganz zärtlich über die Haut streicheln oder gar sündhafte Handreichungen ausführen.

"Eh, Schlampe, wenn du auch in dem Spießerkäfig da wohnst komm ganz raus oder verschwinde wieder rein. Wir haben hier noch was zu klären, wo wir keine übergetakelten Diven für brauchen."

"Mädchen, kommst du nicht schon zu spät, wenn du noch zur Schule musst?" fragte die Frau mit den goldblonden Haren, die ihr bis fast zu den ausladenden Hüften hinabreichten.

"Die Dame braucht neue Augen, damit sie erkennt, mit wem sie redet", zischte Janine und rutschte von ihrem Motorrad herunter. Im Vergleich zu der Goldblonden war sie klobig und breit. Von der Größe her war Janine zehn Zentimeter kleiner als die andere. Diese sah sie mit einer Spur Bedauern an. Das war zu viel für die, die es gewohnt war, durch ihren Anblick abzuschrecken. Janine startete mit einem kurzen Kampfschrei durch und rannte auf die Goldblonde zu. Ihre beiden Gefährtinnen sahen zu, was passierte. Aron rechnete mit einem unschönen Kampf Bulldogge gegen Rassekatze. Da setzte Janine schon zu einem Karateschlag an, den Aron auch gelernt hatte. Doch die andere federte zur Seite weg und ließ ihrerseits die rechte Hand mit ausgebreiteten Fingern vorschnellen. Es klatschte leise, als ihre Hand die gerade unbehelmte Stirn der Freibeuterin berührte. Janine zuckte so heftig zusammen wie von einem heftigen Stromschlag getroffen und fiel vom restlichen Schwung nach vorne geworfen aufs Gesicht. Dann blieb sie liegen wie ein gefällter Baum. Die beiden anderen Mädchen stürzten vor, um ihre Anführerin zu rächen. Da hielt die Frau, die Aron bisher für seinen vom Himmel herabgestiegenen Engel angesehen hatte, ihre Hände wie zum Auffangen eines Balls. Doch statt einen Ball aufzufangen glühte einer zwischen ihren Händen auf und flog auf die beiden sie anstürmenden Gegnerinnen zu. Auf der Höhe der beiden Mädchen explodierte die Glutkugel zu einem blauen Blitz, der sie einhüllte und wie mit einer Ramme zurückschleuderte. Auch Janines beiden Begleiterinnen landeten ohne weitere Regung auf dem Boden.

"Noch jemand, der schon schlafen möchte?" fragte die Blondine. Aron meinte, einen sanften, goldgelben Flaum wie bei frisch geschlüpften Küken in ihrem Gesicht zu sehen. Doch als er eine Sekunde später noch einmal hinsah war ihre Haut wwieder völlig glatt und rosig, wie er sie kannte.

"Eh, die is'n Alien, 'ne Mutantin", stieß Roger aus. Dann wollte er loslaufen. Da hielt die andere auf einmal einen zierlichen Holzstab in der rechten Hand. Ein roter Blitz schoss daraus hervor und traf Roger in den Rücken. Roger fiel ohne einen Laut um. Die beiden anderen Hafenneister wollten auch das weite suchen, als auch jeden von ihnen der rote Blitz traf.

"Du bist echt nicht von dieser Welt", stieß Aron aus. Da fing sie seinen Blick mit ihren strahlendblauen Augen ein und lächelte. Sofort meinte er, wieder anderthalb Flaschen Messwein im Körper zu haben, mehr noch, als habe sie ihn bei den Händen genommen und zöge ihn behutsam zu sich hin. Er konnte nicht anders als auf sie zugehen. Erst als sie "Da bitte stehenbleiben", wisperte verhielt er auf dem Punkt auf dem er gerade stand. wie am Boden verankert sah er zu, wie seine Traumfrau ihren Zauberstab - er fand echt kein anderes Wort dafür - in sachten Bewegungen über die Köpfe der von ihr mal eben so umgehauenen Hafenmeister und Freibeuterinnen streichen ließ. Dann steckte sie den Holzstab fort und winkte ihm. Immer noch fühlte er jene ihn berauschende Kraft, die ihn schwindelig machte und gleichzeitig Schauern aus Feuer und Eis über den Körper jagte. Er trottete hinter ihr her wie ein gehorsamer Haushund und zog die Haustür von innen zu. Er fragte sich jetzt erst, ob jemand das gesehen hatte. Falls ja, dann kam gleich die Armee, weil hier entweder eine Außerirdische aufgetaucht war oder der Gemeindepfarrer mit Kreuz und Weihwasser, weil hier angewandte Hexenkunst beobachtet wurde. Ihm fielen alle Warntiraden über die Mächte des Bösen und ihre Verführungskraft wieder ein. Die Frau, die ihm ihren Namen einmal zugehaucht hatte sah aus wie ein Engel und klang auch so. Doch sie beherrschte die Künste der Hexen und damit des Teufels, und vor dem sollte er sich hüten, hatten ihm die Nonnen aus dem Waisenhaus eingetrichtert. Andererseits konnte die Hölle nicht schlimmer sein als die Strafen, die ihm und seinen Mitschülern für Schimpfwörter oder Ungezogenheiten angetan worden waren. Außerdem fühlte er, das diese Frau da keine Gefahr für ihn war, sondern nur für die, die ihm was tun wollten.

"Es ist im Moment keiner außer uns hier, und ich will dir auch nicht etwas abverlangen, was du nicht von dir aus machen möchtest, Aron. Aber ich muss dir wohl erzählen, was gerade passiert ist, damit du weißt, mit wem du dich eingelassen hast und mit wem du demnächst dein Leben verbringst."

"Du bist eine Hexe", zischte Aron und fühlte, wie diese Äußerung ihm selbst Unbehagen bereitete.

"Das stimmt", sagte die unheimlich schöne Unheimliche. "Aber besser, wir bereden das in deiner Wohnung. Kriegt keiner mit. Die sechs Straßenkinder da draußen werden in einer halben Stunde wieder aufwachen und denken, dich und mich hier nicht getroffen zu haben und die ganze Zeit drauf gewartet zu haben, dass du zurückkommst."

"Du kannst zaubern", seufzte Aron. "Diese versponnenen Nonnen hatten echt recht. Es gibt die Magie."

"Das stimmt. Deshalb zeigen wir das auch nicht jedem, der das nicht auch kann", flüsterte sie. Dann deutete sie auf die Wohnungstür. Aron sah ein, sowas nicht im Flur besprechen zu können. Die vertragliche Beschrenkung, keine fremde Frau und keine Partygäste in die Wohnung zu lassen und die ihm eingebläute Furcht vor den Kräften des Teufels bäumten sich noch einmal gegen die ihn überflutende Ausstrahlung seiner Begleiterin auf. Dann erwachte die Abneigung gegen die Klosterschwestern und wischte alle ihre Tiraden mit einem einzigen Gedanken aus seinem Bewusstsein fort. Übrig blieb nur dieses berauschende Gefühl der Betörung und Verheißung. Er schloss die Tür auf und ließ seine bezaubernde Begleitung an sich vorbei in seine Drei-Zimmer-Wohnung.

Als sie beide im Wohnzimmer saßen und die goldblonde Hexe ihre Beine locker übereinandergeschlagen hatte erzählte sie ihm, dass sie eine von wenigen war, die mit der Gabe der Magie im Blut geboren worden waren, ja sie erzählte sogar, dass sie einem besonderen Volk entstammte, dass auch ohne Zauberstäbe Magie ausführen konnte. Als sie den Namen ihres Volkes aussprach erinnerte sich Aron an Märchen aus dem Osten, die ihm Roman nach der anbefohlenen Bettgehzeit zugeflüstert hatte. Diese feengleichen Wesen waren zaubermächtig, standen aber im Verruf, unbewachte Kinder aus Häusern zu stehlen und die eigenen Kinder an ihrer Stelle dort zurückzulassen und Männer, die in ihr Land eindrangen durch ihren Tanz willenlos zu machen, dass sie nie wieder zu ihren Freunden und Verwandten zurückkehren konnten. Er hörte erst zu. Dann stellte er die eine entscheidende Frage:

"Wieso ich? Bin ich einer von euch, ein Wechselbalg?"

"Nur weil du vor einer Waisenhaustür ausgesetzt wurdest bist du kein Wechselbalg. Aber du bist sehr stark und hast eine besondere Gabe, genau die Bewegungen auszuführen, die dir helfen, mit dem, was du vorhast erfolgreich zu sein. Deshalb bist du ein so guter Fußballspieler geworden und wirst es bleiben."

"Ja, aber dann hätte ich doch auch Zauberkräfte wie du", sagte er.

"Keine, die du nach außen wirken kannst. Aber du hast eine sehr starke Intuition, das kommt bei Mugg..., ähm, magielos geborenen Menschen sehr sehr selten vor. Deshalb bin ich zu dir gekommen und möchte dich einladen, dein Leben mit mir zu verbringen und dir beizustehen, gegen was und wen auch immer."

"Ich weiß nicht, ob ich mit dir zusammenleben kann, ob ich mich da nicht versündige. Ich meine, du sagst, dass du nicht aus einem Dämonenreich kommst, sondern auf unserem Planeten geboren wurdest. Aber ich habe gelernt, dass Magie grundsätzlich böse ist und nur Gott Wundertaten vollbringen darf."

"Ja, oder von ihm ausgesandte Heilige", erwiderte seine blonde Bekannte. "Da geht es schon los. Die Frauen, die ihr Leben dem Hass aller Körperlichkeit gewidmet haben beten einen Vater im Himmel an, halten dieses Wesen aber für allmächtig. Wie kann ein Wesen allmächtig sein, dass nur Vater oder nur Mutter sein kann? Ich kann meine Herkunft auf eine große Urmutter zurückführen, die aber ohne einen sie ehrenden und liebenden Mann niemals zur Stammmmutter unseres alten Volkes hätte werden können. Das göttlliche, was alle Religionen suchen, ist das Leben selbst und sein Wirken in der Welt, das Werden, bestehen und vergehen, Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter und , Tod, an jedem Ort der Welt zu jeder Minute des Tages. Insofern ist es keine Sünde, das Leben zu verehren und es willkommen zu heißen, es weiterzugeben und damit ein Teil des ewig göttlichen zu sein, dass die Welt erfüllt und bewegt. Deshalb gibt es Wesen wie mich und Wesen wie dich, damit immer wieder neue Verbindungen entstehen können, die neue Formen des Lebens hervorbringen." Aron spürte auch ohne die ihn sonst überflutende Ausstrahlung der überirdisch begabten Frau, dass sie irgendwie recht hatte. Im Grunde zielte doch jede Religion darauf ab, das Leben der Menschen zu deuten und Wege zu zeigen, es so friedlich wie möglich zu leben, Gemeinschaften zu schaffen und Verbundenheit zu fördern. Dass das leider nicht immer und überall ging lag nicht an den Glaubensvorstellungen selbst, sondern an denen, die meinten, damit die einzigwahre Bestätigung für sich und ihr Tun zu haben und keine anderen Meinungen zulassen wollten. Genau das hatten ihm die Klosterschwestern einzuhämmern versucht, nur ihre Meinung von der Welt als richtig anzusehen. Diese frau mit den langen, goldblonden Haaren, hatte ihm mit wenigen tiefgehenden Sätzen all die Bedenken ausgetrieben, die ihm von außen eingepflanzt worden waren. Er nickte ihr zu. Vielleicht war sie doch keine Sendbotin des Teufels, sondern sein rettender Engel, der ihm mehr vom Leben zeigen wollte, als die Freude am Fußball, der ja, wie die drei klotzartigen Kraftmeier da draußen bewiesen, auch eine Art von Religion mit Ritualen, Anbetungen, Heiligenverehrungen und Verwünschungen des Widersachers darstellte. So sagte er:

"Die da draußen haben behauptet, irgendwer aus Spanien wollte mich abwerben. Dabei kann ich kein Spanisch, nur Lateinisch."

"Und Französisch, womit du eine gute Ausgangsstufe hast, um Spanisch, italienisch, Portugiesisch und Katalan zu lernen."

"Ja, aber ob ich jetzt schon von hier weg will? Ich meine, ich komme mit den Jungs von HAC gut klar und möchte gerne in die Nationalmannschaft rein und dann 2004 mit denen den Europameistertitel verteidigen. - Aber das könnte ich auch, wenn ich nicht beim HAC bleibe. Aber wie gesagt gefällt es mir hier zu gut. Hier ist wenig Hektik, die Jungs sind noch nicht so übertourt wie die aus Paris oder die aus München, die meinen, mit zweiundzwanzig schon Millionäre zu werden oder die aus England, die meinen, den Fußball erfunden zu haben. Aber würdest du denn dann da wohnen wollen, wo ich wohne."

"Nicht hier in dieser Wohnung. Die ist mir zu klein und dunkel", sagte sie unvermittelt und mit einer unerschütterlichen Ehrlichkeit. "Aber wenn du mit mir zusammenleben möchtest werden wir überall auf dieser großen Weltkugel unseren Platz finden und mit unserem Leben segnen, wie die große Urmutter meines Volkes es mit der heiligen Insel getan hat, die nur Träger unseres Blutes erreichen können."

"Ich denke, dass ... Moment, ich glaube, jemand kommt nach Hause", wisperte Aron.

"Stimmt, deine Nachbarin, die Witwe aus dem dritten Stock. Ich habe sie vorhin zum Einkkaufen gehen sehen, bevor ich mich in dem Haus verstecken musste, um zu sehen, wer die drei unausgegorenen Burschen waren, die dich angeblich bewachen wollen."

"Dann darf die dich hier nicht sehen", flüsterte Aron. Seine übernatürliche Bekannte, die ihm unmissverständlich klargemacht hatte, für ihn mehr als nur eine Bekannte sein zu wollen, nickte. Dann nahm sie ihren Zauberstab aus dem luftig fließenden Kleid heraus und stellte sich mit halb gespreizten Beinen vor ihm hin. Einen Moment dachte er daran, dass sie ihm ihren Körper anbieten wollte. Doch dann drehte sie sich geschmeidig um die eigene Achse. Es ploppte vernehmlich, und sie war weg, regelrecht verschwunden. Er fühlte nichts mehr von ihrer Ausstrahlung. Wie aus einem Traum erwachend fand er sich in seiner Wohnung alleine. Dann fiel ihm ein, dass er sich nun noch leiser verhalten musste, weil Madame Clavier, auch wenn sie unter altersbedingter Schwerhörigkeit litt, sicher mitbekam, wenn er zur Tür hinausging. Wenn die die sechs jungen Leute auf der Straße gesehen hatte war sowieso bald die Polizei da. Was würde er denen erzählen? Dass er eine Runde gejoggt und dann wegen leichter Kreislaufprobleme nach Hause gelaufen sei, um sich auszuruhen. Ja, so ging es, hoffte er.

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vor der Kathedrale St. Josef in Le Havre

20. Januar 2002, zwischen 09:50 und 10:00 Uhr

Alfredo José María Camacho Vicario, der Spielersucher aus Barcelona, hatte in seinem Leben bisher nur vier gefährliche Situationen überstehen müssen, einen Autounfall, wo er gerade fünf Jahre alt war und er zuerst Angst gehabt hatte, nie wieder laufen zu können. Dann hatte er sich in seiner Jugend in den finsteren Gassen von Sevilla herumgetrieben und dabei Streit mit einem dort hausenden Straßenräuber bekommen, der ihn fast erstochen hätte, wenn nicht ein Mann mit seiner Schrotflinte dem Verbrecher einen gezielten Schuss in den Kopf verpasst hätte. Die dritte Gefahrensituation war ihm als Spieler passiert, als seine Mannschaft haushoch gewonnen hatte und gewaltsüchtige Fans der Gegenseite versucht hatten, ihn vor dem rettenden Tunnel zu den Kabinen zusammenzuschlagen, weil er von den sechs Toren zwei geschossen und drei vorbereitet hatte. Deshalb hatte er Karate erlernt, was ihm bei der vierten gefährlichen Situation, als er auf dem Nachhausewege von zwei Straßengangstern überfallen worden war Leben und Gesundheit gerettet hatte.

Jetzt stand Camacho der fünften Gefahrenlage gegenüber, besser, er stand von einem auf den anderen Augenblick von ihr umzingelt da. Sechs grobschlächtige Kerle in hellblauen Ledersachen hatten ihn auf Französisch angepöbelt und dann Schlagringe geschwungen. Er hatte noch versucht, Jean-Pierre Louvel zu bitten, die Polizei zu rufen. Da hatte ihm einer der Kerle das Mobiltelefon aus der Hand geschlagen. Ein anderer hatte es dann mit ganzer Wucht zertreten. Da er kein Französisch konnte und die anderen wohl wenig bis überhaupt kein Englisch halfen ihm die erlernten Beredungskünste wohl nicht weiter. Da sauste klirrend eine Fahrradkette auf ihn zu. Er fühlte das Adrenalin in seinem Blut wallen. Für seine Statur unerwartet geschmeidig tauchte er unter dem Schlag weg. Da kam ein auf seinen Kopf zielender Schlag mit einem Baseballschläger. Camacho riss den rechten Arm hoch und spannte alle Muskeln an. Der Hieb prallte auf den Arm und drückte ihn nieder. Doch nun konterte der Spielersucher mit einem fast ansatzlosen Karatetritt gegen den Waffenarm des Burschen mit dem Baseballschläger. Er nahm nur unbewusst die Entsetzensschreie von Frauen und Rufe nach der Polizei wahr. Das schien die sechs Schläger erst recht anzutreiben, ihr blutiges Werk so schnell es ging zu Ende zu bringen. Camacho zweifelte keinen Moment daran, dass die ihn glatt totschlagen würden, wenn er sich nicht wehrte. So explodierte er regelrecht und teilte nach links und rechts blitzartige Handkantenschläge und Tritte aus. Zwei seiner Gegner wurden voll getroffen und gingen zu Boden. Jetzt hatte er mehr Luft und zielte genauer auf die, die ihm mit ihren Schlagwaffen am gefährlichsten werden konnten. Schläge zwischen Lunge und Bauchraum, Nasenwurzeltreffer und ein wuchtiger Tritt gegen das fleischige Kinn eines würfelförmigen Muskelmannes setzten drei weitere Angreifer außer Gefecht. Der sechste ließ den Schlagring fallen und riss ein Schmetterlingsmesser aus der Lederjacke heraus. Camacho rief eines der wenigen französischen Wörter, die er konnte: "Attention!" Sein letzter Gegner erstarrte. Das war der entscheidende Sekundenbruchteil, den Camacho brauchte, um auch Gegner Nummer sechs mit einem wuchtigen Schlag außer Gefecht zu setzen. Da hörte er auch schon die Polizeisirenen aus drei Richtungen. Jetzt erst fühlte er, wo ihn die Bande getroffen hatte. Sein Arm begann langsam zu pochen, weil er damit den wuchtigen Baseballschlägerangriff pariert hatte. Noch wirkten Adrenalin und andere Stoffe gegen die Schmerzen an. Doch Camacho war medizinisch gut genug ausgebildet um zu wissen, dass er ohne ärztliche Behandlung und ein gutes Schmerzmittel keinen Schritt mehr tun konnte.

Endlich kam die Polizei an. Gleich zwölf Mann in schwerer Ausrüstung sprangen aus den drei Einsatzwagen heraus. Einer fragte was auf Französisch, was Camacho nicht konnte. Er fragte deshalb, ob der Beamte Englisch verstand. Doch das konnte der auch nicht. So fragte er ihn: "Habla español?" Darauf erhielt er ein "Si señor" zur Antwort. So konnte er zumindest den Hergang des Überfalls schildern und darum bitten, bei der ärztlichen Versorgung einen Dolmetscher zur Verfügung zu bekommen. Als der Spanisch sprechende Polizist sagte: "Sie haben alle sechs geschafft. Wo und wie trainieren Sie, dass sie das können, Señor?"

"Ich musste früh lernen, nicht immer einen Leibwächter in der Nähe zu haben. Weshalb ich trotz meiner zwei Rettungsreifen noch so gut kämpfen kann liegt daran, dass ich jede Woche drei Stunden trainiere, wenn ich in meiner Heimatstadt bin."

"Sie konnten nicht verstehen, was die Männer von Ihnen wollten, bevor die meinten, gewalttätig werden zu müssen?" Camacho schüttelte den Kopf. "Gut, kriegen wir dann raus, wenn die Schläger wieder aufwachen. Ah, da kommt eine Ambulanz", sagte der Beamte und deutete auf einen mit Blaulicht und Sirene heranpreschenden Wagen.

Eine Stunde später ähnelte Camacho einer altägyptischen Mumie mit den Bandagen und Verbänden um Kopf, Armen, Bauch und Beinen. Immerhin konnte er noch mit Louvel telefonieren und sagen, dass er überlebt hatte, aber bereits Anzeige gegen die sechs Schläger und ihre Auftraggeber erstattet hatte.

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im Hauptquartier des Fanclubs "Die Hafenmeister" in einem alten Luftschutzkeller unter dem Boulevard Jules Durand in Le Havre


20. Januar 2002, 14:00 Uhr Mitteleuropäische Zeit

"Mann, die sollten den einschüchtern und nicht totschlagen", brüllte ein drahtiger Mann Mitte zwanzig mit struppigem schwarzen Haar und dito Vollbart. "Ich habe denen nicht gesagt, den Camacho krankenhausreif oder ins Leichenschauhaus zu kloppen. Nur laut und deutlich zurufen, dass er Lundi nicht von uns wegholen soll, dieser abgehalfterte Rechts außen."

"Öhm, du hast denen aber gesagt, ihm klar zu machen, dass wir um Bagheera kämpfen werden, Dom", warf Henri Clairmont ein, der bereits nach dem besten Anwalt suchte, der im Rahmen der Clubkasse zu engagieren war.

"Ja, und weil dieser kleine Fettklops kein französisch kann haben die wohl gedacht, erst zu kämpfen, und dann zu versuchen, ihm was klarzumachen. Ich hätte Fidelio mit denen losschicken sollen, der kann Spanisch."

"Ja, und wohl genau deshalb ist der für Barca, wenn die nicht gerade gegen uns spielen, was ja in den letzten Jahren sehr selten vorkam", erwiderte Clairmont, der anders als der Führer der Hafenmeister einen sehr gepflegten Eindruck machte, kurzes, schwarzes, glatt anliegendes Haar, ein glattrasiertes Gesicht ohne Schnauzbart, gebügelter Anzug mit Schlips und Kragen.

"Und jetzt, wo die Kacke am dampfen ist?" blaffte der Anführer der Hafenmeister. Clairmont atmete zweimal ein und aus. Dabei bestrich der Blick seiner klugen, silbergrauen Augen jeden der sieben in diesem Raun. Erwartungsvolle Stille machte sich breit. In diese Stille hinein sprach Henri Clairmont leise, dass es fast nicht von den Wänden widerhallte. Doch was er sagte klang für die anderen so schmerzhaft, als hätte er in das Mikrofon einer 100000-Watt-Verstärkeranlage gesprochen: "So wie es aussieht, werte Clubkameraden, kommen wir nicht darum herum, uns einerseits klar von dem Überfall auf Señor Camacho zu distanzieren, also jeden Vorwurf zu widerlegen, wir hätten Bernies Gruppe beauftragt, ihn niederzuschlagen oder gar zu ermorden. Zweitens müssen wir uns hochoffiziell für diesen Überfall entschuldigen, da die Täter - Guck mich nicht so vorwurfsvoll an, Dom! - also die Täter unseren bisher untadeligen Ruf zerstören wollten, dass wir ein intelligentes Miteinander von Verein und Fans befürworten und vorleben. Ja, bis heute hat das doch auch geklappt, Jacques. Brauchst mich also nicht so verächtlich anzugrinsen! Denn wenn wir uns nicht entschuldigen und jeden gegen uns erhobenen Vorwurf widerlegen können, werte Clubkameraden, sind wir ab heute kriminelle und können belangt werden. Euch mag das vielleicht nicht so wichtig sein, wo und für wie viel ihr in der nächsten Zeit arbeiten könnt. Aber ich denke für alle gerade nicht anwesenden Clubmitglieder gleichermaßen zu sprechen wenn ich sage, die überwiegende Mehrheit unseres Clubs, ich eingeschlossen, legen sicher wert auf hindernisfreie Berufschancen. Und ein Vorstrafenregister ist ein verdammt großes Hindernis. Außerdem, werte Clubkameraden und vor allem unser verehrter Herr Vorsitzender, wenn wir uns nicht klar von dem Überfall auf Camacho distanzieren, hätte die Rechtsabteilung des FC Barcelona einen höchst willkommenen Grund, unseren Club und den HAC auf Schadensersatz zu verklagen. Die Ersatzleistung müsste nicht unmittelbar auf die Zahlung einer bestimmten Geldsumme festgelegt werden. Es könnten auch Dienstleistungen oder Eigentumsübertragungen ausgehandelt werden. Gut, jetzt ist ein Fußballspieler kein frei handelbares Objekt wie ein Auto oder ein Pferd. Aber der Vereinsvorstand könnte, um schönes Wetter bei Barca zu machen, auf eine Ablösesumme für Aron Lundi verzichten, beziehungsweise einen anderen Spieler von einem Wechsel nach Barcelona überzeugen. In jedem Fall würde das unseren Verein, zu dem wir alle unverbrüchliche Treue gelobt haben, erheblich schwächen und den Verbleib in der ersten Liga gefährden und einen Wiederaufstieg in der kommenden Saison unwahrscheinlich machen. So sehe ich das, Leute. Aber wenn ihr meint, damit leben zu können, als gemeingefährlich angesehen zu werden und mit einem Bein im Gefängnis durchs Leben zu laufen, dann macht das! Aber dann fragt bitte alle anderen Mitglieder, ob sie bei dieser Art von Neuausrichtung unseres Clubs mitmachen möchten!"

"Eh, wir sollen uns bei dem Dicken entschuldigen?" fragte Jacques, ein schnauzbärtiger Bursche von gerade neunzehn Jahren. Henri nickte. Domenique blickte erst den offiziellen Pressereferenten an und dann die anderen. Dann sagte er: "Henri, du bist ein Schlappschwanz! Aber ich kapier's, dass der Herr Studiosus Angst um die von seinen Spießereltern vorgeplante Karriere hat und daher meint, vom fahrenden Zug abspringen zu können, wenn der ihm zu schnell fährt. Nur in einem Punkt stimme ich dir zu, halber Schlipsträger, wir streiten ab, den Jungs befohlen zu haben, den spanischen Fleischklops zusammenzuschlagen. Alles andere ist totaler Blödsinn."

"Darf ich das so verstehen, dass mein Vorschlag unter deiner Würde ist, Domenique Lasalle? Dann hoffe ich zumindest, dass die übrigen Clubmitglieder, vor allem die, die gerade nicht hier sind, es dir in einer Sprache erklären können, die du verstehst, warum es besser wäre, sich für den Vorfall zu entschuldigen. Die sind in unserer Clubkleidung losgezogen, vergiss das nicht! Und wenn du mich einen Schlappschwanz nennst und meinst, du wärest härter und nur die Harten kommen in den Garten dann denke bitte daran, dass Sachen im Garten auch für immer verbuddelt werden können."

"Dom, tut mir leid, dir das so zu sagen, aber der Studentenkopf hat leider recht", sagte nun Charles, ein gerade erst zwanzig Jahre alt gewordener Bursche, der gerne selbst beim Le Havre AC angefangen hätte, aber wegen einer zwanzigprozentigen Sehschwäche auf dem linken Auge nicht genommen worden war.

"Okay, wenn ihr Demokratie spielen wollt, bitte. Wer findet, dass wir nur sagen sollen, dass wir den Scheiß nicht befohlen haben?" fragte Domenique Lasalle. Er hob die Hand und sah sich um. Doch im Schein der kreisrunden neonlampen sah er keinen weiteren erhobenen Arm. "Gut, und wer findet, dass wir die Pflicht haben, uns bei Camacho zu entschuldigen und für den Mist geradezustehen haben, den Bernie, Rick, Dodo, Georges, Jean, Alf und Baudouin verzapft haben?" Er hielt beide Arme krampfhaft mit den Händen nach unten an seinen Körper gepresst, während Henris rechter Arm in einer Zehntelsekunde kerzengerade nach oben zeigte. Es folgten Charles, Rob, Claude und Émile. Nur Jacques' Arm blieb unten. Somit stand es für die erste Frage eins gegen sechs und für die zweite Frage fünf gegen zwei. Domenique knurrte dann noch: "Enthält sich jemand?" Darauf erfolgte keine Meldung. "Dann klärt das mit Monsieur Weichspüler hier ab, wer diesem Fettwanst wann wie tief in den Arsch kriecht oder seine überteuerten Hochglanzlackschuhe ablutscht."

"Moment, der Form und Fairness halber müssten wir diese Fragen allen anderen stellen", sagte Henri, der natürlich merkte, dass der ungewollt eröffnete Machtkampf gegen Domenique unschöne Auswirkungen haben mochte.

"Ich habe doch alle hergerufen. Wer nicht wollte oder konnte hat eben pech. Wer nichts sagen kann schweigt, wer schweigt stimmt zu. Du wolltest deine demokratische Abstimmung, dann genieß es auch, gewonnen zu haben! Genieße es, solange du das kannst, Moralapostel."

"Eh, es geht doch nicht darum, ob ich dir einen reinwürgen will und dann noch zufrieden grinse, wenn es geklappt hat", erwiderte Henri. Die anderen sahen ihren gewählten Anführer mit einer Mischung aus Verunsicherung und Abbitte an.

"Wie gesagt, du wolltest das so. Dann zieh die Nummer mit denen durch, die dir zugestimmt haben. Ob die Mehrheit unseres Clubs dir dann folgt kriegst du dann früh genug mit", sagte Domenique. "Ich weiß nur, dass ihr alle mich damals zum Vorsitzenden gewählt habt, weil ich den Draht zur Stadionverwaltung habe und ihr fandet, dass ihr lieber einen Typen vorne weg haben wolltet, der sich nicht einschüchtern und rumschubsen lässt. Wenn ihr das heute anders seht tagen wir gerne nächste Woche wieder hier mit Anwesenheitspflicht für alle und lassen neu wählen. Ich bin doch nicht so blöd, mal in die eine und in die andere Richtung zu hampeln. Aber ihr dürft erst gerne ausprobieren, wie weit ihr mit der Büßernummer kommt. Aber erwartet nicht, dass Jacques und ich euch dabei helfen. Wir gucken uns die Lachnummer an und warten ab, wie ihr da rauskommt."

"Das ist doch mal eine Aussage", sagte Henri, der seine Bedenken wegen der erzwungenen Machtprobe überwunden hatte. "Ihr kuckt euch an, was wir erreichen, aus sicherer Entfernung. Ebenso halten wir dann sicheren Abstand zu allem, was ihr meint, anders und radikaler hinkriegen zu müssen."

"Wie du meinst, Eierkopf", knurrte Dom. Da läutete die elektrische Glocke rechts neben der Tür. Jemand war durch die Lichtschrankenabsicherung gekommen. Wieder läutete es, und dann noch mal. Domenique Lasalle drückte eine Taste an dem Schaltpult, dass er zusammen mit Jacques und Claude installiert hatte. Aus unter der Decke angebrachten Lautsprechern klangen die Stimmen von drei jungen Männern. "Wird ihm nicht schmecken, dass die Bullen uns den Platzverweis erteilt haben. Scheiß Weiber!"

"Das sind Jo, Roger und Luc", schnarrte Domenique. Er warf Henri einen herausfordernden Blick zu. Dann grinste er. "Wollen wir noch mal abstimmen, wenn die drei mir gesagt haben, warum die nicht bei Bagheera geblieben sind?" Henri Clairmont straffte sich und schien dabei um fünf Zentimeter größer zu werden.

"Maximal käme dann Stimmengleichstand raus. Habe ich kein Problem mit." Dom erschauerte sichtbar. Als er merkte, dass das seinen Clubkameraden aufgefallen war funkelte er sie alle angriffslustig an. Dann hörten sie die drei Kameraden vor der schweren Stahltür. Domenique löste die Innenriegel und stemmte sie zusammen mit Jacques weit genug auf, damit die drei anderen hereinkommen konnten.

"Die haben uns wegen Janines Sardinendosenarmee die Bullen auf den Hals gerufen. Irgendwer aus dem Haus vom Panther hat die gerufen, weil Janine meinte, die könnten Lundi besser bewachen als wir", sagte Jo. Roger fügte hinzu: "Ja, und ich habe den Schnepfen dann mitgegeben, dass wir ihm auch aufs Klo nachgehen könnten, wenn der irgendwo in der Stadt mal muss. Da meinte deine süße Cousine, Dom, dass sie kein Problem damit hatte, pullernde männer anzusehen. Offenbar hat wer im Haus das gehört und die Polente gerufen."

"Ja, und am Ende bekamen wir einen einwöchigen Platzverweis, die Straße nicht mehr ohne ausdrückliche Aufforderung oder Einladung durch einen der Anlieger zu betreten. 'n Sergeant, der so aussah, als würde der jeden Morgen ein Kleinkind zum Frühstück verputzen, hat dann noch getönt, dass Aron Lundi, um den es ja ging, so'n Ding namens einstweilige Verfügung machen könnte, um nicht von uns angenervt werden zu können."

"Schon heftig", erwiderte Henri Clairmont darauf. Domenique nickte und schilderte dann kurz, was die drei nicht mitbekommen hatten. Jo, Roger und Luc erbleichten. Als Dom dann auf Henri deutete und meinte, dass er eine Abstimmung hatte haben wollen, ob sich die Hafenmeister bei Camacho entschuldigten und irgendwelche Entschädigungssachen machen sollten stimmte Roger Henri zu, Jo enthielt sich und Luc trat für Domenique ein. Damit hatte jede Partei noch eine Stimme mehr, der Abstand zwischen den Stimmen war durch die Enthaltung nur um eine Stimme geschrumpft.

"Ich werde mich heute mal mit meiner werten Cousine treffen und der klarmachen, dass sie uns allen die Möglichkeit versaut hat, Lundi gegen diese ganze Kopfjägerbrut abzusichern."

"Sie wird dir womöglich ihr Knie unten reinjagen", vermutete Jo und erntete abfälliges Grinsen der anderen.

"Haha, wie witzig", erwiderte Domenique verärgert. Doch dann sah er ein, dass die Wiederholung der Abstimmung seine Stimmung nicht verbessert hatte. Er sagte dann nur: "Dann soll Henri machen, was der für richtig hält. Aber kommt nicht alle an und heult mir was vor, wenn dabei nichts echt gutes bei rumkommt!" Dann erklärte er die Sitzung für beendet, sofern alle, die mit Henri hielten zumindest dem zustimmten. Das taten sie, wohl auch, um diese Anspannung nicht noch länger aushalten zu müssen.

"Ich schreibe den Brief auf Französisch und Spanisch. Den faxe ich rum. Wer zustimmt unterschreibt und schickt das Fax weiter wie damals, wo wir die Liste für die Ablehnung der höheren Eintrittspreise gemacht haben", sagte Henri.

Zu Hause in seinem Studentenwohnheim tippte er einen dreiseitigen Brief, in dem die Geschichte der Hafenmeister und ihr Verhältnis zum Verein erläutert und darauf verwiesen wurde, dass es um einen respektvollen Umgang zwischen Verein und Fanclub gehe. Dabei empfand er gewisse Bauchschmerzen, weil Louvel diesen Teil für glatt geheuchelt ansehen mochte. Auf jeden Fall sei es nicht im Sinne der Hafenmeister, ausländische Besucher zusammenzuschlagen. Dies sei zu keiner Zeit angeregt noch klar in Auftrag gegeben worden. Den letzten Abschnitt füllte er mit einer umständlichen Entschuldigung an Camachos Adresse aus und beteuerte, dass der Fanclub "Die Hafenmeister" weder das Recht noch den Auftrag habe, in geplante oder gerade laufende Verhandlungen zwischen dem Le Havre AC und anderen Vereinen einzugreifen und darum bitte, den entstandenen Schaden irgendwie beheben zu können. Danach druckte er den Brief aus und unterschrieb ihn. Er ließ die Seiten von seinem Faxapparat einlesen und wählte im Alphabet der Clubmitglieder den ersten Eintrag aus, um das Fax abzuschicken. Surrend nahm der Apparat seine Arbeit auf.

Henri wollte gerade eine CD mit klassischer Musik einlegen, als die Klingel über seinem Bett losschrillte. Er eilte auf den Flur seiner Wohnetage und fragte über Sprechanlage, wer da sei: "Deine kleine Aphrodite, mein Götterbote", hörte er eine Frauenstimme leise aber klar erkennbar antworten. Er wunderte sich erst und fragte, ob sie denn Zeit hätte. "Wegen Dom? Das ist schon abgehandelt. Jetzt habe ich Zeit, wenn du Zeit hast, süßer", erwiderte die Frau an der Haustür. Henri drückte den Türsummer. Dann hastete er zur abschließbaren Glastür und drückte die schwere Türklinke nieder. Dafür hatte er gerade zehn Sekunden benötigt. Als er die Tür aufzog sah er bereits eine hochgewachsene Frau mit athletischem Körperbau in einer schwarzen Motorradmontur. Ihre dunkelbraunen Haare wehten bei ihren schnellen Schritten um ihre breiten Schultern. Keine drei Sekunden später warf sie sich Henri um den Hals und umschlang ihn mit ihren starken Armen. Er versuchte, genauso stark mitzuhalten. Doch noch war er nicht so stark wie sie. Dann schmatzte sie ihm links und rechts einen dicken Kuss auf die Wange und hauchte ihm zu: "Wenn du Zeit hast, Süßer, dann können wir weitertrainieren."

"Habe gerade ein Serienfax an den Club abgeschickt. Bis die alle geantwortet haben ist der Tag eh rum."

"Dann los, bevor deine Zimmernachbarn mal wieder blöd glotzen", legte die gerade eingetroffene fest. Henri nickte und ging mit ihr auf sein Zimmer, wobei er die Tür von innen fest verschloss.

"Lass dich ja nicht von Dom einschüchtern", keuchte sie, als sie nach einer Stunde ausgiebiger Betätigung zu zweit eine Pause einlegten. "Der will nur nicht zugeben, dass er dir geistig unter ist und setzt auf die Drähte zu denen im Stadion. Aber wenn euer Club echt Krach wegen der Schlägerei kriegt wird der sich wünschen, wen zu haben, der nicht gleich lospoltert, wenn was läuft, was ihm nicht passt."

"Na ja, der könnte mir dummkommen, ausgerechnet mit dir so gut zu können."

"Dann gebe ich es ihm amtlich, dass du absolut kein Schlappschwanz bist, sondern nur genau aussuchst, in wessen kleinen Garten du hineinmöchtest", grinste sie, während sie wie er im natürlichsten Zustand neben ihm lag.

"Hauptsache, meine Erzeuger kkkriegen nicht raus, dass ich a) schon längst mit einer Frau im Bett war und b) dass die eine berüchtigte Piratenbraut ist", flüsterte Henri, während er fühlte, wie seine Besucherin nachprüfte, ob er eine weitere Runde anfangen konnte. Als sie fand, dass er konnte, fischte sie nach der mitgebrachten Packung und half Henri, sich und sie für eine sichere Runde Intimakrobatik abzusichern. "Dann Position neun", sagte er. Sie tätschelte ihm das Gesicht. Immerhin waren sie jetzt schon bei der neunten von sechsundsechzig Liebespositionen aus dem Kamasutra angekommen. Wenn das so weiterging konnten sie im Sommer wieder bei Position eins anfangen, dachte Henri, bevor das Denken wieder durch das Handeln verdrängt wurde.

Als es Abend geworden war verließ Henris ganz persönliche Körpertrainerin das Zimmer wieder, als feststand, dass keiner sie beobachten würde. Da der Parkplatz videoüberwacht war hatten sich die beiden darauf verständigt, dass sie nie zusammen dort gesehen werden durften. So verabschiedete sich Henri mit einer letzten Umarmung und kehrte in sein Zimmer zurück. Inzwischen war das von den anderen unterschriebene Fax eingetrudelt. Die bei jeder Weiterleitung mitgelieferte Unterschriftenliste zählte am Ende zwanzig Unterschriften, das waren drei Viertel aller Clubmitglieder. Dass Dom und Jacques nicht unterschrieben hatten nahm Henri zur Kenntnis. Zumindest konnte er dieses Rundfax nun in seiner Eigenschaft als Pressesprecher an alle lokalen Zeitungen und die führenden Sportzeitungen der Region und des Landes weiterschicken. Damit war der Tag für ihn in jeder Hinsicht ein Erfolg geworden. Er fragte sich nur, ob das zwischen ihm und ihr eine verbotene Liebschaft bleiben würde oder doch zu einer gutbürgerlichen Ehe werden mochte. Im Moment mochte er es so, wie es war, solange seine Eltern, die sein Studium finanzierten, nichts davon mitbekamen. Ja, und solange Dom nicht wusste, dass seine selbstbewusste und kraftstrotzende Cousine es mit dem Mann trieb, der ihm heute die bisher größte Niederlage seines Lebens eingebrockt hatte.

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vor dem Appartmenthaus von Aron Lundi in Le Havre


24. Januar 2002, 08:20 Uhr Mitteleuropäische Zeit

Beinahe wäre sie mitten in den Haufen vor dem Haus lauernder Männer und Frauen mit ihren eelektrischen und mechanischen Bild- und Tonaufnahmevorrichtungen herausgekommen. Doch ihre Vorsicht, mindestens zweihundert Meter vom Haus weg hinter den nach verdorbenem Essen und vollen Windeln stinkenden Müllbehältern anzukommen hatte sie vor der unerwünschten Entdeckung bewahrt. Abgesehen davon konnte sie mit ihrer besonderen Natur jede magielose Aufnahme ihres Körpers und was sie am Leib trug vereiteln. Sie konzentrierte sich. Wenn sie wollte, konnte sie sogar für Menschenaugen unsichtbar werden, eine Eigenschaft, die nur Abkömmlinge von Veelas und Zauberern in sich trugen und wie das Laufen, Sprechen und sonstige Alltagsdinge üben und erweitern mussten. Sie nickte dem immer noch anwachsenden Aufgebot der Reporter zu. Dann konzentrierte sie sich. Um unsichtbar zu werden brauchte sie als Trägerin von Veelaerbanteilen keinen Zauberstab. Erst verschwamm ihre Erscheinung zu einem flirrenden rosigen Nebel. Dann verschwand sie übergangslos. Für jedes Menschenauge war sie nun nicht mehr zu finden.

Im Schutze ihrer Unsichtbarkeitsaura ging sie ganz gemütlich an den wartenden Reportern vorbei und bekam mit, wie ein silberner Motorwagen der Marke Mercedes aus einer Seitenstraße hervorrollte. Sofort schwenkten die gläsernen Augen und kugelförmigen Ohren der künstlichen Bild- und Tonaufnahmevorrichtungen auf den Wagen ein. Wieso das so war bekam die Unsichtbare mit, als sie an einem Mann vorbeiging, der eines dieser in den letzten Jahren so explosionsartig vermehrten Tragefernsprecher am rechten Ohr hatte.

"Du hörst richtig, Jeanne, da kommt gerade der Fahrdienst vom HAC an. Sonst fährt der Panther doch immer mit seiner Susuki zum Training. - Ja, ist ein Panzerwagen. Die haben sicher Schiss, dass diese Ultrafanatiker, die Camacho verprügelt haben ... oder der die ... Ich bleib drauf und fang euch ein paar Bilder, wie Bagheera abgeholt wird. ... Wenn du den beamen kannst schick mir was von dem rüber. Hier abzuhängen macht müde, und es ist auch etwas kälter ... Ja, Maman, werde mich beim nächsten Mal brav dick anziehen, damit ich keinen Schnupfen kriege."

Die Unsichtbare verwünschte dieses Aufgebot. Jetzt sollte Aron Lundi, den die Muggel nach dem Panther aus einer erfundenen Urwaldgeschichte benannt hatten, von seinem Brotgeber abgeholt werden, weil denen der ganze Rummel zu viel wurde. Da kam sie nicht mehr an ihn dran, um ihn für den Abend einzuladen, mit ihr an der Nordatlantikküste zu essen.

Ein Mann im teuren Anzug und ein kleiderschrankartiger Kerl in dicker Lederkleidung stiegen aus dem hinteren Teil des silbernen Wagens aus. Der breit und hoch gewachsene und an den prallen Muskelpaketen als gut durchtrainiert zu erkennende Mann walzte dem anderen den Weg frei. "Monsieur Lundi gibt keine Interviews und will nur zum Training. Weg da!" blaffte der Kleiderschrankmann.

"Monsieur Dubois, , nur eine Frage", versuchte einer der mit Kamera und Mikrofon bewaffneten, den Mann im teuren Anzug anzusprechen. Doch dieser schüttelte nur den Kopf und sagte: "Fragen bitte an unseren Pressesprecher! - Danke!"

"Ist es schon klar, ob Lundi beim HAC bleibt oder doch schon vor der Rückrunde zu Barca wechselt?" fragte ein anderer Reporter unbeeindruckt von dem Kleiderschrankmann und der Ablehnung des Anzugträgers. Doch diesmal sagte der Anzugträger nichts. Sein Wegfreihalter musste gerade einen aufdringlichen Kameramann zur Seite bugsieren, der meinte, zwischen ihm und dem mit Monsieur Dubois angesprochenen hindurchschlüpfen zu können.

"Wie viel bietet Barca für Lundi?" warf der vorhin mit Worten abgewiesene Reporter eine Frage ein. Doch Dubois schwieg weiter.

Eine Kamerahalterin wandte sich der Unsichtbaren zu. Diese sah in das gläserne Auge des Bildaufnahmegerätes und das Gesicht der knapp vierzig Jahre alten Frau, dass erst leicht verwundert dreinschaute und dann eine gewisse Verärgerung zeigte. Die Unsichtbare erkannte, dass sie zwar für die Augen der anderen unsichtbar war, aber ihre besondere Ausstrahlung trotzdem auf Körper und Geist der davon getroffenen einwirkte. Sie musste sich konzentrieren, diese Ausstrahlung zurückzunehmen, so wie sich ein gewöhnlicher Mensch darauf einstimmen muss, natürliche Bedürfnisse zurückzuhalten, bis er oder sie einen Ort fand, um sich davon zu erleichtern. Doch dass die andere Frau gerade aus einem für diese wohl nicht erkennbaren Grund wütend geworden war würde die nicht so leicht vergessen. Hier und jetzt aber einen Gedächtniszauber auszuführen würde Zeit kosten und auffallen.

Trotz der nicht nachlassenden Reportermeute schaffte es Dubois zum Haus. Sein durchtrainierter Begleiter sicherte nach hinten, dass keiner sich an ihn herandrängeln konnte. Dann ging die Tür auf und ihr Auserwählter trat heraus. Dubois legte sofort den Zeigefinger auf seine Lippen, womit er ihm bedeutete, bis auf weiteres nichts zu sagen oder zu rufen.

Lundi ging an der Seite des Anzugträgers. Er selbst trug ebenfalls einen Anzug aus Pariser Fertigung und sogar eine Krawatte. Sofort riefen und brüllten die lauernden Reporter ihre Fragen durcheinander, ob er nun schon zum Vertragsabschluss mit Barca führe, ob er dafür zu Camacho ins Krankenhaus fahren wolle oder ob er dem von überreagierenden Fans verprügelten Funktionär doch eine Absage erteilen würde. Doch Lundi hatte wohl schon Erfahrung mit Presse, Funk und Fernsehen. Er sagte keinen Ton, bis er vor Dubois in den Mercedes geschlüpft war. Als dann noch Dubois' Begleitschutz in den silbernen Motorwagen gestiegen war versuchten doch tatsächlich einige Reporter, die Abfahrt des großen Motorwagens zu verhindern. "Die Fans haben ein Recht zu wissen, ob Sie noch bei uns bleiben oder nicht!" rief ein hagerer Mann mit brauner Hautfarbe, womöglich Abkömmling eines ehemaligen Kolonialvolkes aus Afrika. "Monsieur Lundi, sagen Sie uns nur, ob sie bei uns bleiben oder wechseln wollen!" Das Warnhorn des Motorwagens, was die Muggel Hupe nannten, schmetterte laut wie ein Trompetensignal. Erst als der Lenker des silbernen Motorwagens kurz den blauen Dunst aus dem unten angebrachten Rohr blasenden Motor lauter werden ließ und der Wagen nach vorne rollte und dabei fast den hageren mit seiner Kamera umgeworfen hätte gaben die lauernden Presseleute den Weg frei. Sie sprachen noch in ihre Tonaufnahmegeräte und hielten ihre Bildaufnahmevorrichtungen dem wegrollenden Motorwagen hinterher. Dann löste sich der ganze Menschenauflauf wie auf ein unhörbares Kommando auf. Alle hasteten zu an den Bordsteinrändern geparkten Wagen. Die Unsichtbare konnte jetzt auch sehen, dass auf einigen davon jene schüsslförmigen Metallvorrichtungen befestigt waren, die der feste Freund ihrer Cousine Gabrielle als Parabolantennen oder Satellitenschüsseln bezeichnet hatte. Die Wagen konnten also mit den von den Muggeln auf großen, lauten, im Flug in ihre Einzelteile auseinanderfallenden Raketen ins Weltall geschossenen Fernverständigungsapparaten Verbindung aufnehmen. Womöglich jagten sie gerade alle aufgenommenen Bilder und Töne über diese künstlichen Monde zu ihren Arbeitgebern irgendwo im Land oder auf der Welt hinüber. Ja, die Muggel hatten in den letzten hundert Jahren eine Menge Rückstand aufgeholt, was die schnelle Verbreitung von Nachrichten anging. In einigen Fällen hatten sie sogar schon die magische Nachrichtenübermittlung überflügelt, wusste die Unsichtbare. Das Geheimnis ihres Vorhandenseins konnte damit innerhalb von Sekunden um die ganze Welt verbreitet werden. Das musste sie unbedingt immer bedenken, wenn sie sich mit ihrem Auserwählten treffen wollte. Außerdem musste sie jetzt darauf gefasst sein, dass diese überneugierigen Leute ihm nun auf Schritt und Tritt hinterherjagten, um alles von und über ihn zu bekommen, was ihre Leser, Zuschauer und Zuhörer von ihm wissen wollten. Aber das kannte sie ja auch schon aus den Berichten von Pierre Marceau, dass die Freundinnen oder Frauen von berühmten Fußballspielern ebenso von der Meute der Reporter belauert und bejagt wurde. Und genau das spornte sie an, zu einer solchen Spielerfreundin und später Spielerfrau zu werden. Um sicherzustellen, dass ihr Aron nicht mehr entwischen würde musste sie ihn aber noch eine Woche lang behutsam umschmeicheln und die in seine Seele eingebrannten Ablehnungen verdrängen, ohne magische oder körperliche Gewalt anwenden zu müssen. Sicher könnte sie ihn mit dem Imperius-Fluch oder einem ihrer sowieso schon wirkenden Ausstrahlung zuarbeitenden Trank seine Gefolgschaft erringen. Doch sie wollte, dass er bei ihr bleiben wollte, ja sich körperlich und seelisch an sie gebunden fühlte und diese Beziehung nicht mehr von sich aus beenden würde, egal was ihm und ihr so alles entgegengeworfen wurde.

Als der letzte Reporter vor dem Haus abgerückt war nutzte Arons bezaubernde Begleitung ihre Unsichtbarkeit aus, um so leise sie konnte zu disapparieren.

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Währenddessen wurde Aron Lundi in das Vereinsgebäude des Le Havre Atletic Clubs gefahren. Dort traf er sich mit dem Manager des Vereins und besprach mit ihm das vorliegende Angebot aus Barcelona. Immerhin hatte er in der hochexklusiven Privatschule, in der er gewesen war, auch genug Spanisch gelernt, um bei nicht all zu hochintelligenten Gesprächen mithalten zu können. Außerdem hatte er in der Stadt keinen festen Freundeskreis, was eine Entscheidung, Land und Verein zu wechseln, noch mehr erleichtern würde. Was Lundi jedoch noch davon abhielt, das großzügige Angebot aus Barcelona anzunehmen war der Umstand, dass er gerne noch bis zum Saisonende bleiben wollte, um seiner Mannschaft zum Gewinn der Juniorenmeisterschaft zu verhelfen. Insgeheim spekulierte er darauf, dass ihm der FC Barcelona dann ein noch besseres Angebot machen würde. Nicht, dass er geldgierig war. Doch wenn er schon in ein anderes Land umsiedeln wollte sollte es sich auch für ihn lohnen. Zudem träumte er immer noch von einem Platz bei "Les Bleus", der Nationalmannschaft. Tja, und dann war da noch sie, diese überirdische Frau, die ihm verraten hatte, dass sie eine Hexe aus einem besonderen Volk war und mit ihm gerne zusammenleben wolle. Was, wenn die nicht zu weit von ihrem Heimatland wegziehen wollte oder durch einen wie auch immer laufenden Zauber dazu gezwungen war, einen bestimmten Ort nicht weiter als siben mal sieben mal sieben Meilen zu verlassen? Wenn er jetzt das Angebot aus Barcelona annahm wusste er nicht, ob die ihn da auf den Platz ließen, damit er weiter für die Nationalmannschaft trainieren konnte und ob seine überragend anziehende Begleiterin ihm dann nicht einen Schwächelfluch oder dergleichen aufhalste, weil sie nicht bei ihm bleiben konnte. Das musste er mit ihr klären. Beim nächsten Dauerlauf würde er sie sicher treffen, sofern die sich von den ganzen Medienleuten nicht abschrecken ließ.

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Im Hauptquartier des Fanclubs "Die Hafenmeister"


25. Januar 2002, 18:20 Uhr

"Bedenkzeit bis zum ersten zweiten, Jungs. Bis dahin will Bagheera klar haben, ob er bleibt oder sich verramschen lässt", knurrte Domenique Lasalle, als er mit Jacques und vier weiteren Clubmitgliedern im Hauptquartier zusammengetroffen war.

"Warum hast du Henri nicht herbestellt?" fragte Gilbert, einer, der beim letzten Treffen nicht dabei gewesen war und auch das von Henri Clairmont herumgeschickte Fax mit der Unterschriftenliste nicht unterschrieben hatte. Ihn hatte es sogar in den Fingern gekribbelt, das Fax nicht weiterzuleiten. Aber dann hätte dieser Eierkopf sicher rundgerufen, wer alles das Fax bekommen hatte und das rausgekriegt. Auch wenn ihm Henris Arschkriechertaktik nicht passte musste Gilbert sich an die Clubregeln halten, die sagten, dass kein Kamerad einem anderen die Tour versauen durfte. Und leider hatten die ja ohne ihn abgestimmt, weil er da gerade wegen eines Termins bei einer Firma, für die er jobben sollte, nicht dabei sein konnte.

"Noch mal so'ne Aktion wie mit Roger und seinen Leuten können wir jetzt nicht mehr bringen, wo Henri unseren achso reumütigen Presseartikel rausgehauen hat. Aber ich seh mir das nicht an, dass die den so einfach verramschen wie 'nen uralten Renault nach vierzig Jahren Pariser Innenstadtverkehr", tönte Domenique Lasalle.

"Ja, aber wie willst du Bagheera dazu kriegen, bei uns zu bleiben? Wenn die von Barca mit Geld gewunken haben und der darauf abfährt stinken wir total ab", knurrte Jacques. "Zusammenhauen wie den Camacho wäre voll idiotisch", sagte Gilbert dazu noch.

"Wieso. Wir sagen dem, dass er entweder bei uns spielt oder nirgendwo sonst", sagte Jacques. "Mein Alter hat letzten Sommer von seiner Geschäftsreise nach Madrid fünf Real-Trikots mitgebracht. Da komme ich dran, ohne dass der das mitkriegt. Dann schnappen wir uns Lundi und bunkern den für ein paar Stunden irgendwo ein, wo er keinen erreichen kann. Dann geben wir dem einen Schrieb, wo drinsteht, dass wir den jederzeit ganz und für immer vom Markt nehmen."

"Jau, wir könnten sogar den ausrangierten Rollstuhl von meiner Großtante nehmen. Der steht noch bei meinen Eltern im Schuppen rum. Wenn wer den vor ihm hinstellen und den draufgucken lassen kapiert er, dass er wenn er weiterlaufen will nur für uns laufen soll", tönte Jacques.

"Neh is' klar, wo in Le Havre ach soooo viele Madrid-Fans herumlaufen. Abgesehen davon haben die Trikots doch sicher Rückennummern. Wenn Bagheera das bei den Bullen erzählt glauben die zum einen eh nicht, dass das echte Real-Fans waren und zum zweiten prüfen die dann nach, wer so alles so Trikots hat. Mann, die haben unsere Mitgliederliste, Leute. Das war eine Bedingung, warum die uns bisher nicht vom Brett gezogen haben. Kriegen die raus, dass ein Anhängsel von einem von uns in die Nähe eines Real-Madrid-Fanladens gekommen ist hängt derjenige am Haken und mit ihm wir anderen zusammen. Gut, dann müsste der brave, fleißige Henri mit uns zusammen einfahren, wenn er für die Tatzeit kein Alibi hat, wie die Krimifritzen das nennen. Aber wir könnten Bagheera dann nur noch hinterherwinken und im Knastfernseher, falls die Mitknackis uns lassen, mitkriegen, wie erst die Juniormannschaft den Anschluss verliert und der Club dann einen guten Nachwuchsspieler weniger hat, um in der ersten Liga zu bleiben oder sogar in der Championsleague mitzuspielen. Ich habe da eine wesentlich bessere Idee", sagte Domenique Lasalle. Dann erklärte er, was er vorhatte. Die Jungs pfiffen vergnügt und machten hämische Bemerkungen. Dann sagte Gilbert: "Und Loulou würde das bringen?"

"Wenn du es hinbiegst, Loulou bei Bagheera ins Quartier zu schmuggeln wird das eine einwandfreie Sache. Bagheera war ja bei Klosterschwestern in der Schule. Wenn rauskommt, was Loulou bei ihm erlebt hat schämt der sich so heftig in Grund und Boden, dass der bereut, mit dieser dicken Sau Camacho überhaupt sprechen zu wollen."

"Dann klär das mit deiner Cousine, ob die Loulou für die Kiste klarmachen kann!" sagte Gilbert.

"Bitte, wie war das?" fragte Lasalle mit drohendem Unterton. Gilbert wiederholte seine Aufforderung. "Eh, wenn hier wer kommandiert bin immer noch ich das, Gilbert. Außerdem ist das mein Plan. Ihr sollt nur zusehen, dass die kleine Piratenschlampe bei Lundi an Bord kommt, um ihn zu kapern und dann anzusagen, dass sie das in aller Welt herumfunkt, dass er sich an ihr vergriffen hat und das keiner mitkriegen muss, wenn er die Sache mit Barca ins Klo wirft und runterspült."

"Deshalb wolltest du Henri nicht dabei haben, weil der uns gleich einen von Erpressung und soundso vielen Jahren Knast vorgesülzt hätte", bemerkte Jacques, der es genoss, dass Gilbert einen reingewürgt bekommen hatte.

"Okay, Jungs. Ich leier das mit Janine und Loulou an. Wie ich die Schlampe Loulou kenne bringt die das sogar, sich von Bagheera rammeln zu lassen. Wenn der bisher so brav war kann sie dem sogar noch mitgeben, dass sie ihn entjungfert hat", lachte Domenique.

"Jungs, und wenn der das mit Loulou echt treibt und das supergut findet und die heiraten will?" fragte Jacques.

"Dann ist das noch besser, weil sie ihm dann sagen kann, dass sie nicht mit ihm nach Barcelona umziehen will", freute sich Domenique über die Möglichkeiten, die sein höchst zweifelhafter Plan bereithielt. Dabei hatte er jedoch zwei Dinge übersehen, weil er davon nichts wissen konte: Das eine war die vor ihm noch gut verhüllte Beziehung seiner Cousine zu Henri Clairmont. Das zweite, von dem er erst recht keinen blassen Schimmer haben konnte, war die überirdische Frau, die seit einigen Tagen Aron Lundis Begleiterin war und sich bereits mehr ausrechnete.

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zwei Stunden später

Henri Clairmont kämpfte darum, nicht laut werden zu müssen. Gerade hatte sein Vater ihm durchs Telefon gedroht, die Unterstützung zu beenden, weil ihm, Monsieur François Gustave Clairmont, zu Ohren gekommen war, dass sein Sohn sich in den letzten Wochen immer wieder mit einer ihm bis dahin nicht vorgestellten Dame in Motorradkleidung treffe, mit der er dann auch noch außerehelichen Geschlechtsverkehr habe. Am Ende handele es sich um eine Prostituierte, die er vom hart erarbeiteten Geld seines Vaters bezahle. Außerdem sei seinem Vater der Artikel über den Überfall auf den Fußballfunktionär Camacho und die Verwicklung eines Clubs namens "Die Hafenmeister" unter die Augen gekommen. Damit hatte Henri ja schon gerechnet. Aber dass sein Vater so sicher war, dass er sich häufiger mit einer Frau traf und die dann nicht selten ihre Motorradkluft und alles was sie darunter trug in seinem Zimmer ablegte machte ihn wütend. Er war bisher davon ausgegangen, dass keiner seiner Mitbewohner sich an seinen Freizeithandlungen störte, zumal es auch genug andere Studentenheimbewohner gab, die zu den unterschiedlichen Zeiten körperliche Liebe zelebrierten, ohne Rücksicht auf ihre Zimmernachbarn zu nehmen.

"Punkt eins, werter Vater: Ich bin erwachsen und wohne nicht mehr unter deinem Dach. Dass du mir für das Studium Geld gibst hängt damit zusammen, dass du möchtest, dass ich einen einträglichen Beruf erlernen kann. Wenn du mir die Zuwendungen streichst - was dein gutes Recht ist - kann und werde ich diesem Anspruch nicht mehr gerecht werden. Dann werde ich nämlich noch vor Beginn des Sommersemesters meine Exmatrikulation einreichen und mir hier oder anderswo einen Job in einer Firma suchen, der zwar nicht so gut bezahlt wird, mich aber endgültig von dir und Maman unabhängig macht. Da mir im Moment was daran liegt, dass ich selbst einen einträglichen Beruf ergreifen kann verschwende ich das mir zur Verfügung stehende Geld nicht mit Prostituierten. Ob und mit wem ich geschlechtlich verkehre betrifft dich und Maman erst, wenn ich beschließe, eine Familie zu gründen, und daran ist im Moment noch nicht zu denken. So, das zum Punkt eins. - Lass mich bitte ausreden, Papa!" Henri kannte seinen Vater zu gut und wusste, dass jede Sekunde Sprechpause diesem die Gelegenheit geben würde, lautstark dagegen anzusprechen. "Komme ich zu Punkt zwei: Ja, ich bin seit einem Jahr Mitglied des Fanclubs "Die Hafenmeister" und bei denen sowas wie der Medienreferent und Rechtsberater. In dieser Eigenschaft war es meine Pflicht, diesen Artikel zu schreiben und eine öffentliche Entschuldigung für den Vorfall auszusprechen, dem der erwähnte Fußballfunktionär zum Opfer fiel. Ich schäme mich nicht, mir einen Fanclub gesucht zu haben, wo du doch schon seit Jahrzehnten Mitglied bei den "Wilden Wellen" bist. Glaubst du denn, ihr hättet keine Hooligans in euren Reihen, die bei einer sich bietenden Gelegenheit ausrasten können? Ich schäme mich also weder für meine Mitgliedschaft in einem Fanclub, noch dafür, diesen Artikel verfasst und verbreitet zu haben. Wie gesagt, wenn du mir die finanzielle Unterstützung kündigen möchtest, so ist das dein Recht. Aber sobald mir das Geld ausgeht muss ich das Studium unvollendet beenden. Ich denke, diese Konsequenz hast du bereits einkalkuliert. Wenn du sie tragen möchtest, ich habe damit kein Problem. Gibt mir das auch die Möglichkeit, das Image des Berufssohnes abzubauen, das ich bei den aus dem Proletariat stammenden Clubkameraden besitze."

"Wer ist diese Hure?" fragte sein Vater. Henri atmete tief durch. Da fiel ihm was ein, was seine Verärgerung in Schadenfreude umschlagen ließ:

"Wenn ich mich erinnere haben Oma Annemarie und Opa Auguste dir dieselbe Frage gestellt, als du von Maman erfahren hast, dass sie mit mir schwanger war und du das irgendwie hinbiegen musstest, das ihr noch weit genug vor meiner Geburt heiraten konntet. Hat mir Opa Auguste breit erzählt, als es darum ging, dass du eine Damenbesuchsverbotsklausel in einen Finanzierungsvertrag eintragen wolltest."

"Was meinst du dann wohl, warum mir daran liegt, dass du nicht denselben Fehler machst wie ich?" schnaubte Monsieur Clairmont.

"Achso, dann bin ich also ein Fehler, der größte Irrtum, den sich der sonst so unfehlbare François Gustave Clairmont erlaubt hat? Danke für die Bestätigung eines schon lange schwelenden Anfangsverdachtes!. Aber sei beruhigt, wenn ich mit einer Frau intim zu werden beabsichtige denke ich schon von mir aus an Empfängnisverhütende Maßnahmen, um dich nicht in dieser Hinsicht kopieren zu können. Sicher weiß ich, dass es Frauen gibt, die sich durch ein Kind von mir eine Fahrkarte in die höheren Gesellschaftsregionen erträumen. Aber die Mädels heute legen es auch nicht gleich darauf an, deshalb schwanger zu werden und damit ihre eigenen Möglichkeiten einzuschränken. Die die ich bisher kennengelernt habe wollen selbst arbeiten und Geld verdienen. Da passt ein Baby nicht in die Planung rein. Soviel und nicht mehr dazu", sagte Henri.

"Du hast eine Woche Zeit, mein Junge. Hast du das bis dahin nicht klargestellt, dass du mit dieser Schlampe schluss machst und bis zu deiner finanziellen Unabhängigkeit nichts dergleichen weiterführen wirst, ist der Februar der letzte Monat ddeines sorglosen Lebens."

"Sorgloses Leben? Das hat schon aufgehört, als ich in die Schule kam und da immer die Höchstnoten erringen musste. Du hast mir ja schon bei einer Note unterhalb sehr gut Faulheit unterstellt. Wie soll ich mich da noch vom Ende eines sorglosen Lebens bedroht fühlen? Wäre ja genauso, als wenn du Charles de Gaulle den Tod androhen würdest, wenn er nicht sofort Steuererleichterung für Großhändler einführen würde."

"Du bist noch jung, du meinst, alles läge dir zu Füßen. Aber in Wirklichkeit hast du bisher nichts über das wahre Leben gelernt", schnarrte Henris Vater. Dieser grinste jedoch innerlich und erwiderte:

"Ja, aber im Gegensatz zu dir bin ich eben noch jung genug, dass ich genug Zeit habe, es zu lernen, während du schon so gut wie abgemeldet bist, um noch das echte Leben kennen und leben zu lernen. Als Fanclubmitglied kriege ich genug mit, wie sich Leute mit den niedrigsten Jobs rumärgern müssen, um nicht auf der Straße zu landen. Hattest du jemals Angst, dass du auf der Straße landen würdest? Nein, und bevor du es sagst, ich auch nicht. Und wenn du mir jetzt den Geldhahn zudrehst werde ich das wahre Leben kennenlernen, wie das ist, an Geld für Wohnung und Essen zu kommen. Aber dann rechne nicht damit, dass ich reumütig zu dir zurückkomme. Nutze die von dir ausgerufene Bedenkzeit also besser auch, um zu klären, ob du dich als Vater eines einfachen Fabrikarbeiters oder Bürobotens in deinem Golfclub oder bei den wilden Wellen sehen lassen kannst! Die Firma kannst du dann gleich auch verkaufen, weil ja dann keiner da ist, der die irgendwann übernehmen wird. Ende der Durchsage - Nacht!" Sprach's und trennte die Telefonverbindung. Kaum hatte er die Leitung freigemacht trällerte sein Telefon noch einmal. An der eingeblendeten Nummer sah er, dass es das Mobiltelefon Janines war. Er nahm sofort ab:

"Mann, sind dir unsere Trainingsstunden nicht genug, dass du nebenher noch Telefonsex haben musst?" hörte er seine Freundin schnauben. Er lachte und erwiderte, dass er mit seinem Vater Krach bekommen hatte, weil der von irgendwoher mitbekommen hatte, dass er mit ihr "trainierte".

"Wo der dich deiner Info nach ohne Trauschein gemacht hat? Soll der nicht so spießig rüberkommen. Der soll froh sein, wenn der dich nicht im Knast besuchen kommen muss."

"Mist, wieso?" erwiderte Henri.

"Weil deine werten Clubgenossen drauf aus sind, eine miese Erpressernummer anzuschieben. Die wollten mich glatt als Kupplerin anheuern, damit ich Loulou bei Lundi in die Wohnung reinschmuggel, die es dem dann besorgt und dafür als Gegenleistung den Verbleib beim HAC abverlangt, wenn sie ihn nicht wegen versuchter oder vollendeter Vergewaltigung hinhängen will."

"Bitte was?" entfuhr es Henri. Das Blut schoss ihm aus dem Gesicht. Janine sagte: "Ich selbst habe Domenique freundlich aber unumstößlich gesagt, dass ich keine meiner Mädels zu sowas überreden werde und die gerne zusehen sollen, wie sie an Loulou drankommen. Es könnte ihnen nur passieren, dass Loulu dann ihr eigenes Ding draus macht und Lundis präsentable Spielerfrau werden und mit dem zusammen nach Barcelona überwechseln will. Das sollen die dann aber mit ihr selbst klären, ob die sich auf sowas einlassen will. Ich fürchte aber, dass Loulu voll bei deren mieser Tour einsteigt, um sich den Panther in ihr Bett und dann an die Seite zu ziehen, wo der wegen der ganzen Klosterschulneurosen bisher keine Frau angeguckt hat, die kein Pinguinkostüm anhatte."

"Dein Cousin fängt offenbar langsam zu spinnen an", schnaubte Henri. "Aber wenn ich jetzt dazwischenfunke wird der fragen, woher ich das habe. Der ist zwar ein halber Rohling, aber nicht so blöd, dass er da nicht draufkommt, dass mir eine von euch die Sache gesteckt, ähm, zugetragen hat."

"Also, ich habe dich nur gewarnt."

"Am besten verschaffe ich mir für die Zeiten außerhalb der Vorlesungen und Seminarstunden immer ein wasserdichtes Alibi, solange ich noch Geld zur Verfügung habe. Und wenn nicht mache ich eh den Abflug."

"Die wollen das morgen durchziehen, falls Loulu auf diese Nummer eingeht", schnarrte Janine. Vielleicht kannst du was machen, dass Lundi zur angepeilten Zeit nicht zu Hause ist und dann anonym die Polizei rufen, dass ein Groupy von Aron Lundi alle Anstandsgrenzen überschritten hat."

"Um mich dann von deinen Seeräuberbräuten vermöbeln zu lassen?" fragte Henri.

"Ich kläre das dann, sollte Loulou von eifrigen Freunden und Helfern bei Lundi geschnappt werden. Ich kenne eine gute Anwältin, die meine Mutter damals wegen angeblichen Beischlafdiebstahls verteidigt hat und geklärt hat, das deren Macker von damals das angeblich geklaute Bild selbst hat verschwinden lassen, um von der Versicherung Geld zu kassieren. Der durfte dann wegen falscher Anschuldigungen, versuchter Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft, versuchten Versicherungsbetrugs und Prozessbetruges einfahren."

"Ich komme auf deine Anwältin zurück, falls ich es nicht schaffe, ohne dich als meine Informantin auffliegen zu lassen hinzubiegen, dass Lundi nicht in diese fiese Falle hineingerät."

"Is' gut, Süßer. Wir reden dann morgen noch mal drüber!"

"In Ordnung, Süße", sagte Henri Clairmont. Wieso mussten solche Sachen auch alle am selben Tag passieren?

__________

Vor der Wohnungstür von Aron Lundi


26. Januar 2002, 22:15 Uhr

"Eh, Jungs, damit das klar ist. Ich geh da alleine zu ihm rein. Spanner kriegen Kloppe. Abgesehen davon könnte mir und den Mädels einfallen, euch ein paar überstehende Anhängsel abzuschneiden, wenn ihr mir nachsteigt. Ich kriege das mit dem hin."

"Wir sollen nur sichern, dass du gut rein und auch wieder rauskommst, wenn du mit ihm durch bist", zischte Jacques. Er sicherte noch einmal, ob Flur und Aufzug frei waren. Gilbert stand unten mit dem Mobiltelefon. Anders als sie noch vor einem Tag befürchtet hatten verfügte das Haus nicht über eine ständig anwesende Hausverwaltung. Dafür patrouillierten in unregelmäßigen Abständen Sicherheitsleute außen und innen. Somit konnte die Diskretion der Hausbewohner gewahrt und doch noch zeitnah ein Feuer oder Einbruchsversuch erkannt werden. Um zu klären, ob Gefahr für Loulou bestand, bevor Lundi nach Hause kam passte Gilbert vor der Haustür auf. Jacques würde gleich wieder runtergehen, nachdem er ausprobiert hatte, ob das klappte, was er mit Domenique und Jean-Paul ausgeheckt hatte. Jean-Paul hatte nämlich eine alte Schuld bei einem Cousin von Bernard einfordern können, der einen Nachschlüssel für das Vereinshaus hatte und dort nach Nachschlüsseln für wichtige Räume suchen konnte. Tatsächlich hatten sie dabei einen Nachschlüssel für Lundis Wohnung abstauben und nachmachen können. Jacques grinste, als er die Kopie vorsichtig ins Türschloss schob und behutsam drehte, bis es einmal klick machte und dann noch einmal. Die Tür war offen. Kein Alarm schlug an. Zumindest hörten sie nichts.

"Dann mal rein mit dir, Süße und erfüllten Abend!" wisperte Jacques und machte Anstalten, Loulou in die Wohnung hineinzubugsieren. Diese wehrte seine Hand ab und funkelte ihn warnend an. Doch dann ging sie ohne weiteres Wort in Lundis Wohnung. Sie pflückte den Schlüssel aus dem Schloss heraus. Wenn Lundi nach Hause kam würde sie vorgeben, ein besonderer Service der Vereinsfühhrung zu sein, der natürlich als Hauptmieter dieser Wohnung einen Nachschlüssel besaß. Jacques wetzte bereits auf seinen geräuscharmen Schuhsohlen über den Flur und stieß die feuerfeste Glastür auf, um die Hintertreppe zu erreichen. Gerade noch rechtzeitig. Denn gerade erklang vom anderen Flurende her das Klappern schwerer Stifel auf der Steintreppe. Loulou drückte die Tür gerade rechtzeitig ins Schloss. Sie lauschte. Tatsächlich klapperten schwere Stiefel durch den Flur, verhielten vor jeder Tür, auch vor der Lundis. Loulou zog sich weit genug in den dunklen Flur zurück, um nicht durch den Türspion erkannt zu werden. Sie lauschte. Eine anstrengend lange Minute stand der Stiefelträger vor der Tür. Dann ging er weiter, ganz ruhig, ohne Anstalten zu machen, irgendwen zu alarmieren. Als er weit genug fort war schloss Loulou die Wohnungstür so leise es ging wieder fest zu und zog den Schlüssel heraus. Sie legte ihn in ihre kleine Handtasche.

Loulou überlegte, wie sie sich Aron Lundi präsentieren sollte. Wenn sie sich auf oder in sein Bett legte würde er vielleicht auf dem Absatz kehrt machen und das Weite oder die Polizei suchen. Wenn sie ihn dabeikriegen wollte, dann musste sie ihn in einer Lage erwischen, wo er nicht so eben weglaufen konnte oder jeder, den er alarmierte peinliche Fragen stellen musste. Da fiel ihr ein, wie sie damals Samuel Berger, einen jungen Anwaltsgehilfen, dazu bekommen hatte, sein Versprechen, vor der Ehe keinen Sex zu haben, zu vergessen.

Erst einmal prüfte sie, ob man ihr von draußen zusehen konnte. Noch waren die Jalousien nicht heruntergelassen. Also durfte sie bloß kein Licht anmachen oder sich zu nahe an einem der Fenster zeigen, wo ein verirrter Autoscheinwerferstrahl sie treffen konnte. Dann fand sie das Schlafzimmer und nickte zufrieden. Hier, unter dem nicht ganz so breiten, aber faltenfrei gemachtem Bett, war genug Platz für alles, was sie verstecken wollte. So zog sie erst ihre Schuhe aus und dann ihre restliche Oberbekleidung. Barfuß und nur noch in Unterwäsche versteckte sie alles so, dass es nicht beim einfachen hinsehen auffiel, sie es aber schnell wieder unter dem Bett hervorholen konnte, wenn sie los musste. Dass sie sich möglichen Störenfrieden gerade auslieferte war ihr klar. Aber wenn sie kriegte, was sie wollte, war es das wert, dachte Loulou.

Ganz leise schlich sie sich ins Badezimmer. Hier gab es kein Fenster. Also konnte sie Licht machen. Sie schloss die Tür und ließ den Halogendeckenfluter aufflammen. Für einige Sekunden musste sie die an die Dunkelheit gewöhnten Augen zukneifen. Dann ging es wieder. Sie bestaunte die Ansammlung von Dusch- und Pflegeprodukten. Bei einem alleinstehenden Mann, der noch dazu im Ruf stand, sehr körperablehnend getrimmt worden zu sein, legte Aron Lundi wohl viel Wert auf Männerkosmetik. Sie grinste sogar, als sie bei den Rasierutensilien einen elektrischen Apparat sah, der dazu geeignet war, nicht nur den Bart, sondern alle mögliche Körperbehaarung abzurasieren. Jetzt interessierte es sie erst recht, diesen Wunderknaben ohne seine Fußballklamotten zu sehen. Dann fiel ihr ein, dass er ja schon vier Werbeverträge an Land gezogen hatte und von den Werbeträgern sicher auch die einen oder anderen Sachen zum Ausprobieren oder Gutfinden bekommen hatte. Loulou begutachtete das Bad. Sie wusste, dass Lundi jeden Freitag Besuch von einer Putzfrau bekam. Daher hielt sie es nicht für so wichtig, dass alles blitzblank geputzt und gescheuert war. Eine geräumige Dusche mit zuschiebbarer Milchglastür mit Magnetverschluss lud zur schnellen Reinigung ein. Eine Badewanne, in der locker zwei erwachsene Leute drin sitzen konnten, war für die, die sich beim Ganzkörperputzen viel Zeit lassen wollten.

Vor der Dusche schlüpfte sie auch noch aus dem Unterzeug. Sie hoffte, dass Lundi, wenn er ins Bad kam, sie durch die Milchglastür nicht sofort sehen würde. Denn erst, wenn sie sicher war, dass er in der Wohnung war, würde sie ihren verruchten Plan durchziehen.

In der Duschkabine schien alles auch soweit sauber zu sein. Sie wollte so naturbelassen wie sie nun war hinein und die Tür von innen zumachen, nachdem sie das Licht wieder ausgemacht hatte. Doch als sie auf die ansonsten blitzblanke Mischbatterie sah wunderte sie sich nicht schlecht. Irgendwer hatte da ein ganz langes Haar vergessen, ein mehr als einen halben Meter langes, hauchzartes, seidigglattes, goldblondes Frauenhaar! Loulou bekam große Augen. Vor allem, dass dieses Haar dreimal um die Zuleitung zum Hebel geschlungen war und trotzdem noch mit beiden Enden tief hinunterhing wunderte sie. Sie dachte erst daran, dass die Putzfrau eines von ihren Haaren hier vergessen hatte. Doch nach Jacques', Janines und Domeniques Beschreibung war Lundis Putzfrau eine Witwe von über sechzig, die sicher schon graue Haare hatte. Das Haar an der Mischbatterie sah auch nicht wie nachblondiert aus, sondern glänzte im Licht des Deckenfluters goldblond. Was lief hier ab, dachte Loulou. Konnte es echt sein, dass Aron Lundi sie und die anderen Freibeuterinnen voll verladen hatte und auch die seit Tagen vor dem Haus abhängenden Paparazzi verlud, dass er doch eine Freundin hatte oder sich mit käuflichen Damen abgab?

Loulou betrachtete das um die Mischbatterie geschlungene Haar. Es war an zwei Stellen verknotet. Doch was sollte das? Loulou erkannte zwar, dass das hier mit Absicht hingehängt worden war, aber von wem und warum leuchtete ihr nicht ein. Dann dachte sie, dass Lundi vielleicht von dieser goldblonden Dame immer mal wieder besucht wurde, die dann, genau wie sie und die zwei Jungs, durch die Hintertür und über die Treppe hochkam und ebenso wieder verschwand. Am Ende hatte die das Haar hier angebracht, um ihm bei jedem Duschen zu zeigen, wem er gehörte. Eifersucht stieg in ihr auf. Am Ende würde sie Aron Lundi nicht das erste Mal bieten, falls der nicht nachher mit dieser Schlampe zusammen aufkreuzte und sie dann nur noch die Wahl hatte, sich von denen erwischen zu lassen, sich im Besenschrank zu den Putzsachen zu quetschen oder gar wie ihre Klamotten unterm Bett zu liegen und darauf zu hoffen, dass die es dann nicht über ihr zu treiben anfingen. Die Eifersucht und die Furcht, sich für nichts und wieder nichts in die Wohnung eingeschlichen zu haben, machten sie wütend. Sie griff nach dem blonden Haar und zerrte daran. Doch es riss nicht ab. Eher fühlte sie, wie etwas darin kribbelte. Mit noch mehr Wut zerrte sie an der vor ihr baumelnden Haarsträhne. Das Kribbeln wurde zu einem Wärmeschauer. Doch das Haar riss nicht durch. Auch war es so fest verknotet, dass sie es nicht einfach abwickeln und im Klo runterspülen konnte, wie sie es vorhatte. Beim vierten Anlauf, das sie störende Haar durchzureißen jagte ein so heißer Schauer durch ihre Hand und ihren ganzen Arm, dass sie meinte, jemand habe ihr heißes Wasser ins Blut gekippt. Sie wollte das verflixte Haar loslassen. Doch jetzt klebte es an ihrer Hand fest. Loulou stieß einen lauten Schrei aus, ohne darauf zu achten, dass sie gerade verbotenerweise in dieser Wohnung war. Der Hitzeschauer jagte inzwischen durch ihren ganzen Körper und explodierte in ihrem Unterleib wie ein dort gezündeter Feuerball. Aus dem Angst- wurde ein Schmerzensschrei. Immer noch hing dieses wohl verhexte Haar an ihrer Hand fest. Sie konnte ihre Hand gerade so weit zurückziehen, wie das Teufelshaar lang war. Doch sie kam nicht frei. Was sie früher als einen blöden Witz verlacht hätte war ihr nun passiert. Wenn ihr jemand erzählte, etwas hinge an einem haardünnen Faden, dann hatte sie auf ihre tizianrote Mähne gezeigt und ein einzelnes Haar freigefingert und gefragt, ob an so einem dünnen Haar etwas so schweres hängenbleiben konnte. Auch hatte sie die Geschichte von diesem König gehört, der einen Gast mal unter einem von der Decke hängenden Schwert hatte essen lassen um dem zu zeigen, wie schnell alle Macht und aller Reichtum weg sein konnte, wenn der haardünne Faden durchreißen und das Schwert auf dem der druntersaß runtersausen würde. Jetzt genau hing sie an diesem verfluchten, unabreißbarem Frauenhaar fest wie eine Fliege am Fliegenfänger.

Nach zehn Sekunden Angst- und Schmerzensschreien rang sie um Atem. Sie war in eine Falle getappt, mit der niemand gerechnet hatte. Als ihr das klar wurde versuchte sie, mit der anderen Hand das Haar durchzureißen. Das Resultat war, dass sie auch mit der zweiten Hand daran festhing. Diesmal jagte kein Hitzestoß durch die Hand, sondern explodierte gleich in ihrem Unterleib. Diesmal unterdrückte sie den Schmerzensschrei und wimmerte nur.

Loulou hörte ein betörendes Singen, dass den gesamten Raum ausfüllte. Sie fühlte, wie der Gesang sie erst schläfrig werden ließ. Doch dann kribbelte das höllische Haar an ihren Händen und machte, dass sie wieder ganz wach wurde. Solange dieser total einlullende Gesang zu hören war kribbelte dieses verhexte Haar und hielt sie wach. Wie lange das Lied gesungen wurde konnte Loulou nicht sagen. Als es dann endlich vorbei war hörte das gemeine Kribbeln wieder auf. Doch sie hing immer noch an diesem Haar fest.

"Habe ich mir doch gedacht, dass es eine von euch anhänglichen und niederen Muggelgören wagen könnte, sich bei meinem Liebsten einzuschleichen, um ihn um seine wertvolle Unschuld zu bringen", zischte eine verärgerte Frauenstimme.

Loulou schaffte es, ihren Kopf weit genug zu drehen, um der anderen ins makellos schöne Gesicht zu sehen. Sofort erkannte sie, wessen Haar sie gerade derartig haarsträubend ausgetrickst hatte. Strahlendblaue Augen funkelten sie wütend an, als wollten sie gleich tödliche Blitze auf sie abfeuern. Die andere trug ein altmodisch wirkendes, aber auch luftig fließendes Kleid. In der rechten Hand hielt die urplötzlich im Badezimmer erschienene einen schlanken Holzstab. Loulou, die sonst nicht gerade belesen oder umfangreich ausgebildet war, dachte sofort an den Zauberstab einer Fee, eines Zauberers oder - einer Hexe! Dieses Wort stieß Loulou als erste Reaktion auf die unbekannte und überirdisch schöne Frau aus.

"Besser eine Hexe als eine dumme Göre", lachte die andere schadenfroh. "Oh, hängst du zu fest an meinem Haar? Das habe ich extra da angebracht, damit Aron vor Muggelgören wie dir sicher ist. Aron ist mein Auserwählter. Er hat sich damit abgefunden."

"Die rufen eh jetzt die Bullen, du Höllenbraut", stieß Loulou aus. "Ich brauche nur noch mal zu schreien, dann stehen die Jungs von der Sicherheit hier in der Wohnung. Wenn die mich dann an dem Haar hängen sehen bist du auch dran."

"Ach ja? Hast du nicht eben mein Lied gehört? Die Leute in dem Haus hier schlafen gerade alle tief und fest. Niemand wird die Ordnungshüter rufen", stieß sie noch aus."

Loulou wollte es darauf anlegen und losschreien. Da rief die andere "Silencio" und stieß dabei ihren Holzstab nach vorne, als wolle sie ihn Loulou in den Hals rammen. Da fühlte Loulou, wie ihr etwas über Mund und Hals strich und einen kurzen Druck darauf ausübte. Dann war es auch schon vorbei. Loulou riss den Mund zum Schrei auf und legte alle Kraft ihrer Lungen in diesen einen Laut. Doch was immer dieses Satansflittchen angestellt hatte, sie bekam keinen noch so leisen Laut aus ihrem Mund heraus.

Loulou sah, wie die andere mit ihrem Zauberstab ein ockergelbes Licht über Boden, Wände und Decke streichen ließ, bis wie eingeschaltet alles in diesem ockergelben Licht leuchtete. Dann fühlte Loulou, wie etwas über Mund und Hals strich. Ihr war irgendwie klar, dass sie nun wohl wieder sprechen und schreien konnte. So brüllte sie der anderen die heftigsten Schimpfwörter zu, die sie kannte, und das waren nicht wenige. Die andere errötete kurz an den Ohren. Doch dann schnalzte sie missbilligend mit der Zunge.

"Und im Schoß eines so vulgären Frauenzimmers hätte mein Auserwählter seine Knabenzeit begraben sollen? Das hätte ich mir nie verzeihen können, so schlecht auf ihn achtgegeben zu haben. Übrigens kannst du jetzt so laut brüllen, kreischen, keifen und zetern wie du willst. Durch das magische Licht dringt kein Laut mehr nach draußen. Also spar dir den Atem für wichtigeres!""

"Wichtigeres, du Hexenschlampe?! Okay, du hast mich erwischt und kannst mich wohl mal eben tothexen. Aber glaub nicht, dass ich dir noch irgendwas sage."

"Ach, das denke ich aber doch. Zum beispiel schon mal, wie du heißt interessiert mich."

"Das kannst du voll knicken", schnarrte Loulou.

"Ich knicke dich gleich mal, wenn du nicht endlich friedlich wirst", knurrte die andere wie eine wütende Katze. Doch dann musste die andere lächeln. Loulou gefiel dieses Lächeln nicht. Es wirkte zu überlegen.

Jetzt führte die Hexe ihr vor, was sie noch so alles konnte. Mit ihrem Zauberstab ließ sie aus einem Gästehandtuch erst eine Blumenvase und dann eine lebendige Schildkröte werden. Loulou konnte nur mit weit aufgerissenen Augen zusehen. Immer noch hingen ihre Hände an diesem einen dünnen Haar fest. Der für Loulou erschütternde Abschluss dieser Verwandlungsvorführung war, als aus der auf dem Boden dahinkriechenden Schildkröte innerhalb weniger Sekunden ein absolut haargleiches Abbild von ihr selbst wurde. Das Ebenbild bewegte sich zwar erst hölzern, doch dann immer gewandter. Als die Kopie von Loulou losgehen wollte erstarrte sie.

"Ich zeige dir was, das längst nicht jede Hexe und schon gar kein Zauberer kann. Denn dazu muss jemand eine so starke Magie in den eigenen Haaren haben, dass diese auch nach dem Abtrennen mit dem Körper verbunden bleiben können, an dem sie gewachsen sind", sagte die goldblonde Hexe. Dann strich sie sich mit der freien Hand durch ihr Har, fingerte eines davon frei und zupfte es mit einem kurzen Ruck von ihrem Kopf. Ihr Gesicht verzog sich für einen Moment vor Schmerz. Doch dann entspannte es sich wieder und zeigte dieses überlegene Lächeln. Anschließend konnte Loulou zusehen, wie die goldblonde Hexe der herbeigehexten Nachahmung das ausgezupfte Haar um den Hals band und mehrfach verknotete. Dann streichelte sie mit ihrem Zauberstab über die Stelle und sang dabei in einer Sprache, die Loulou nie vorher gehört hatte. Anschließend machte die blonde Hexe eine ausladende Schwenkbewegung vom Hals der Nachahmung zur Dusche und sagte was, was Loulou als "Per Capiles connectatae" klang. Wieder fühlte sie ein Kribbeln durch ihre an einem verhexten Haar hängenden Hände gehen.

"Jetzt brauche ich nur noch dein Ebenbild zu befragen, und es wird die wahrhaftigen Antworten aus deinen Erinnerungen empfangen, solange ihr beiden über meine Haare mit mir verbunden seid", kündigte die Hexe an, dass Loulou wohl jetzt ausgefragt werden sollte und wohl nichts dagegen tun konnte. Loulou versuchte zwar, krampfhaft den Mund zuzuhalten und an einen ihr seit Tagen im Kopf herumgeisternden Ohrwurm zu denken. Doch alles was sie fühlte war nur ein Kribbeln im Kopf, als liefen ihr hunderte von Ameisen unter der Kopfhaut entlang und wuselten durch ihr Gehirn.

Loulou musste mit anhören, wie ihr Ebenbild alle Fragen der Hexe beantwortete und dabei keine einzige Lüge von sich gab.

"Ich erkenne an, dass eine neuerliche Gedächtnisveränderung nicht mehr ausreicht, um euch so genannten Fans davon abzubringen, meinem Auserwählten weiter nachzustellen. Außerdem gibt mir das die Gelegenheit, an denkfähigen Wesen ohne Magie zu erproben, was ich bei rein triebgesteuerten Tieren schon erfolgreich angewandt habe", sagte die Hexe. "Sehr entgegenkommend von dir, dich zu entkleiden, bevor du dich an mein Haar gebunden hast", fügte sie mit unüberhörbarer Ironie noch hinzu.

"Was hast du Satansschlampe vor?" fragte Loulou.

"Gleich wirst du wesentlich freundlicher und respektvoller zu mir sein", knurrte die Hexe. Dann befahl sie der Loulou-Kopie, ihr Original von hinten zu umarmen. Loulou wollte wie ein sich bedroht fühlendes Pferd austreten. Doch ein ihren ganzen Körper erstarrender Zauberbann hielt sie davon ab. Dann fühlte sie, wie die herbeigehexte Kopie sie mit ihren Armen umschlang und sich an sie drückte. Die Berührung erschauerte Loulou, nicht dass der fremde Körper eiskalt war oder sich wie ein Roboter oder eine Holzpuppe anfühlte. Eben genau das war es ja, was sie so erschütterte. Die Kopie fühlte sich genauso warm und weich an wie sie. Ja, sie fühlte sogar durch die innige Umschlingung das Herz der anderen schlagen. Dann fühlte sie, wie ihre eigene Beweglichkeit zurückkam. Doch dies half ihr nichts. Denn sie hing immer noch mit den Händen an dem verhexten Haar fest. Dieses erwärmte sich sogar, fing an, Wärmeschauern durch ihre Hände zu schicken, die immer wieder in Bauch und Kopf zu schwachen Schmerzempfindungen wurden.

"Origen et copea ad unum corpus unificanto!" Um die beiden Loulous wallte eine blutrote Wolke auf. Die Wolke umklammerte beide wie ein sich immer enger zusammenziehendes Stahlnetz. Loulou und ihre Doppelgängerin schrien zeitgleich auf. Dann war der Druck und die Atemnot so groß, dass Loulou glaubte, gleich ersticken zu müssen. Das ihre Hände haltende Haar der blonden Hexe fühlte sich nun so heiß an, dass Loulou fürchtete, es würde ihr gleich die Hände verbrennen. Dann meinte sie, etwas würde von hinten in ihren Rücken und durch diesen in den gesamten Körper eindringen. Sie keuchte, sah nur noch die blutrote Wolke, von der sie mit jedem heftigen Atemzug ein Teil einsaugte oder wieder ausstieß. Dann durchlief sie ein Hitzeschauer. Die rote Wolke zog sich noch einmal mit einem Ruck zusammen, um in Form eines letzten heißkalten Schauers in Loulous Körper zu verschwinden. Der Druck ließ nach. Im gleichen Moment kam Loulou mit den Händen frei. Das verhexte Haar war nicht mehr da. Aber nun dachte und fühlte sie anders. Die grenzenlose Verachtung für die blonde Hexe mit den strahlendblauen Augen war einer bedingungslosen Unterwerfung gewichen. Sie war froh, sie zur Beschützerin zu haben und würde nichts tun, um sie zu verärgern oder zu gefährden. Loulou ahnte, dass das nicht ihr eigener Wille sein konnte und versuchte, sich gegen diese plötzliche Verbundenheit zu dieser Hexe zu stemmen. Doch ein unangenehmes Ziepen und Prickeln an ihrem Hals, sowie an ihren nun wieder frei beweglichen Händen und ein ihr selten untergekommenes Schuldgefühl brachten sie davon ab, gegen die andere zu kämpfen, deren Namen sie jetzt erst erfuhr.

"Na, sind wir jetzt ein braves Mädchen?" hörte Loulou die andere Fragen. Fast als stehe sie neben sich selbst bekam sie ihre eigene, keineswegs weltentrückt klingende Antwort mit: "Brave Mädchen will heute keiner mehr wirklich."

"Ich schon, vor allem, wenn sie mir helfen sollen, meinen Auserwählten zu beschützen. Du ziehst dich jetzt wieder an und verlässt das Haus. Draußen rufst du mit deinem Mitnehmfernsprecher deine Spießgesellen an und lässt dich von denen wieder abholen. Erzähle denen, dass du mitbekommen hast, wie jemand vom Verein einen gepackten Koffer aus der Wohnung geholt hat und dass du mitbekommen hast, dass Aron Lundi nach dem Wohltätigkeitsabend in ein Hotel gebracht werden soll, wo er bis zur Klärung, ob er weiter beim HAC spielt oder nicht wohnen soll, weil hier zu viele verärgerte Fans und überneugierige Sensationsreporter herumlaufen! Das wirst du tun." Loulou hörte sich so antworten, als sei sie nicht ganz in ihrem eigenen Körper:"Ja, das werde ich tun." Erst dann fühlte sie sowas wie einen eigenen Willen und konnte ihren Körper selbstständig bewegen.

Loulou zog sich ihre abgelegten Sachen wieder an und nahm ihre Handtasche an sich. Dabei dachte sie daran, dass sie der Hexe alles erzählt hatte, auch wo sie wohnte und wer mit ihr zusammen zu den Freibeuterinnen gehörte. Doch das machte ihr nichts aus. Im Gegenteil empfand sie eine große Erleichterung dabei, dass Lundi von ihr, der goldblonden Hexe, auserwählt worden war. Einen Moment lang fürchtete sie, sie könne mit ihrem Mobiltelefon nicht mehr telefonieren, weil in ihr ein starker Zauber steckte. Doch der steckte eben nur in ihr drin. Das wurde ihr klar, als sie auf die Anzeige ihres Mobiltelefons sah und es ganz normal blieb.

So heimlich, wie sie sich ins Haus schleichen konnte verließ die nur innerlich veränderte Loulou Lundis Haus. Ihre neue Freundin und Beschützerin hatte ihr ohne Worte mitgeteilt, dass ihr Zauberlied noch eine Stunde vorhalten würde. Wer dann wach wurde würde sich nicht an irgendwelche Schreie oder sonstigen Sachen erinnern.

"Wie, die haben den umquartiert?" stieß Jacques aus. Loulou sagte mit abbittendem Blick: "Den waren wohl zu viele Paparazzi unterwegs. Dann war da noch die große Bernie-Show mit Camacho. Die wollten wohl nicht, dass Bagheera von uns oder sonst wem weitergepiesackt wird, bevor die klarhaben, ob der bei Barca unterschreibt oder beim HAC bleibt."

"Und du taube Nuss hast nicht gehört, wohin die die Koffer bringen wollten?" fragte Gilbert.

"Sag noch mal taube Nuss zu mir und du kannst deine Nüsse aus dem nächsten Gully fischen, Kleiner", schnarrte Loulou. Das wirkte. Gilbert nickte hilflos.

"Wird weder Dom noch deine Piratenkapitänin freuen, dass Aron Lundi umquartiert worden ist", grummelte Jacques. "Diese scheiß Abfütterungsgala. Wenn die nicht gewesen wäre hättest du den klarmachen können, bevor Louvels Fahrdienst aufgeschlagen ist." Loulou nickte beipflichtend. Doch innerlich dankte sie dem, der Lundi zu dieser Veranstaltung eingeladen hatte. Sie konnte ja nicht wissen, dass Henri Clairmont über einige Komilitonen den Namen Aron Lundi auf die Einladungsliste gesetzt hatte und ihre Mitfreibeuterin Janine ihm rechtzeitig genug gesagt hatte, dass die Jungs und sie ein neues Erpressungsmanöver starten wollten.

Gegen Mitternacht kehrte Aron Lundi von seinem Wohltätigkeitsauftritt zurück. Ein Fahrer des Le Havre AC brachte ihn bis vor die Wohnung, vorbei an den vor dem Haus immer noch herumlungernden Reportern. In der Wohnung selbst war alles in Ordnung. Lundi nahm noch einmal eine Dusche, um den Zigarettenqualm von Haut und Haaren herunterzukriegen. Das erst seit einer halben Stunde an der Mischbatterie baumelnde Haar übersah er. Denn es war dazu bezaubert, nur von anderen als von ihm gesehen zu werden.

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Brief von Kevin Malone an Mildrid und Julius Latierre vom 27. Januar 2002

Hallo Julius und Millie.

Patrice hat letzte Nacht an die sieben Stunden lang gestöhnt und geschrien. Ich habe nur einmal zu ihr reinsehen dürfen, aber so tief rein habe ich eigentlich nicht sehen wollen. Immerhin bin ich nicht aus den Latschen gekippt. Madame Ploeger, die Patrice geholfen hat, hat mich dann wieder rausgeschickt. Jedenfalls krähte dann um acht Uhr morgens jemand, der bis dahin nur in Patrices rundem Bauch gewohnt hat. Ich durfte zu ihr und mir das kleine Krähbündel ansehen. Es ist ein kleines Mädchen und heißt Shivaun Renée Malone. Die ist nicht größer als ein Laib Brot, macht aber Krach wie ein schottischer Dudelsack. Patrice ist komplett geschafft, aber glücklich. Sie hat mir gesagt, dass ich Millie bitte schreiben möchte, dass sie immer noch sehr froh ist, eurer Aurore beim Rauskommen zugucken zu dürfen. Da war sie zumindest gut vorgewarnt. Ob Shivaun die einzige bleibt, die wir zwei auf die Welt loslassen will Patrice erst sagen, wenn sie nicht mehr an die ganzen Schmerzen denken muss, sondern einfach nur daran, dass sie vorher zum platzen rund war und dann in nur wenigen Stunden so ein quirliges Krähbündel in den Armen liegen hat. Die Kleine hat meine Haarfarbe abbekommen. Fanden Patrices Eltern zwar nicht so witzig, aber weil Shivaun Patrices Augen hat und Patrices Mum oder Mam ihr ja zusehen konnte, dass das auch wirklich ihr kleines Pullerpüppchen ist, dass da angekommen ist, lassen sie die Haare durchgehen.

Ich habe gleich am Abend nach der Auslieferung unserer neuen Mitbewohnerin ein paar Jungs aus der Nachbarschaft und aus meinem Büro zu einem zünftigen Whiskey eingeladen, den Gwyneth mir besorgt hat. Patties Hebamme sagt, sie hätte mich fast auch noch auf den Wickeltisch gepackt, damit ich mir nicht im Vollrausch in die Hose mache.

Ihr wundert euch sicher, warum ich den Namen von meiner und Patrices Tochter Shivaun schreibe und nicht Siobhan, wie es in Irland üblich ist. Das kommt daher, dass ich mal nachgeguckt habe, wie viele Schreibweisen es von dem Namen gibt und die dann genommene die ist, die auch die Franzosen aussprechen können und es trotzdem fast so klingt wie im Original. Warum die mit zweitem Namen Renée heißt? Ich weiß nicht, ob ihr mich deshalb auslacht. Aber zwei Wochen bevor sie Patties Vordertür aufgedrückt und sich durchgeschoben hat habe ich geträumt, bei Patrice unten drin zu liegen und mit meiner verstorbenen Tante Siobhan zu reden. Sie hat mir erzählt, dass sie froh sei, Patrices Baby zu werden und ich mich von der richtigen Hexe auf den Besen habe heben lassen. So könne sie mich erst mit vollenWindeln ärgern und später wieder so gut bei Laune halten. Ich habe sie gefragt, warum sie mein Kind werden wollte und nicht das von Gwyneth. Da hat die geantwortet, dass sie lieber mal was neues erleben wolle, und Gwyneth kennt sie ja. Ich wollte wissen, warum sie überhaupt wieder leben wollte. Da hat die gemeintt, dass sie noch einiges auf unserem Planeten zu tun hat. Das würde sie aber wohl erst wieder wissen und können, wenn sie wieder groß ist, weil das so heftig ist, dass sie das als Kind nicht auf die Reihe kriegen würde. Jedenfalls hat sie mir gesagt, sie freut sich darauf, Patrices und mein Baby zu werden.

Okay, war nur ein Traum, weiß ich. Patrice hat sich aber gefreut und gesagt, dass sie eben nicht Tara Nicole heißen würde, sondern eben Shivaun Renée. Öhm, bitte erzählt das mit meinem Traum nicht herum, schon gar nicht Madame Blanche und eurer ortsansessigen Kinderholerin. Die würden mich glatt für durchgeknallt halten. Aber dir, Julius und auch Millie musste ich das erzählen, weil mir das so echt vorkam, die Geräusche, die Enge, das warme Wasser um mich rum.

Ich möchte die Kleine am fünften Februar noch mal richtig strullen lassen und alle die einladen, die mir in Hogwarts und auch Beauxbatons angenehm waren. Gut, ich weiß, dass du, Millie, so um den zweiten oder dritten Februar herum euer zweites Krähbündel herauslassen willst oder musst oder darfst. Aber wenn das geht, seid ihr zwei und die kleine rotblonde Motte, die ihr noch in Beaux gekriegt habt eingeladen. Gut, nachdem, wie du, Julius das Alkoholverbot für Minderjährige bei der Quidditch-WM durchgezogen hast muss ich wohl gucken, dass ich auch whiskeylose Getränke auf Lager habe. Öhm, und wegen der Namensgebung sagen wir einfach, dass ich mit Gwyneth gewettet habe, wer als erster eine Tochter kriegt und die dann nach ihrer Mutter und meiner Tante benennt. Geht auch gut.

Gwyneth wollte ich gerne als Patin haben. Aber so'n komisches Gesetz sagt, dass Pate nur jemand sein darf, der auch in dem Land geboren ... Ups, jetzt habe ich das Wort doch geschrieben ... also aus dem gleichen Land kommt wie der oder die, von dem der oder die Pate werden soll. Ich habe aber kein Problem damit, Corinne als Patin zu nehmen. Die heizt eurer Liga immer noch gut ein, wie ich höre. Von zwölf Spielen elf durch Schnatzfang gewonnen. Hätte nicht gedacht, dass die so gut abgeht. Ich höre es immer wieder, wenn ich im Büro bin, wie gerne die belgische Liga die heim ins Reich holen würde. Aber eure Liga hat offenbar auch wegen der WM mehr Galleonen zu bieten. Aber dafür darf sie in der Nationalmannschaft nächsten Monat zum ersten Mal mitspielen. Da geht's gegen die Engländer. Und die werden voll versenkt!

So, das war es jetzt. Ich schicke den Brief jetzt los, bevor Shivaun mir was von ihrem zweiten Frühstück ihres Lebens daraufkäckelt.

Kevin Malone

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Im Hauptquartier der Hafenmeister unter dem Boulevard Jules Durand


28. Januar 2002, 15:30 Uhr

"Drecksäcke. Die haben den echt rumgekriegt", schnaubte Domenique Lasalle, als er und seine treuen Anhänger sich um den kleinen Fernseher versammelt hatten, für den Bernard, der auf Kaution aus der Untersuchungshaft freigekommen war, vor zwei Jahren ein langes Antennenkabel quer durch den Bunkerkomplex gelegt hatte. Gerade war die Pressekonferenz des Managers vom Le Havre AC zusammen mit Alfredo José María Camacho Vicario, dem Spieleranwerber aus Barcelona, sowie Aron Lundi, dem hoffnungsvollen Jungspieler, zu Ende gegangen. Lundi hatte den auf ihn gerichteten Kameras und Mikrofonen zugewandt gesagt, dass er ab dem 20. Februar in die Juniorenauswahl von Barcelona wechseln würde, mit Option, bereits in der nächsten Saison in die Profiauswahl der ersten Division Spaniens aufgenommen zu werden.

"Wau, dann darf der gleich in der Königsklasse mitkicken", feixte Gilbert unüberhörbar ironisch. "Gegen das Angebot hätte alles von Louvel abgestunken", knurrte Jacques. Er ärgerte sich immer noch, dass das mit Loulou nicht geklappt hatte. Bis heute wussten die Hafenmeister nicht, wie das hingehauen hatte, dass Lundi ausgerechnet an dem Abend schon so früh aus dem Haus gehen konnte.

"Kann auch sein, dass einer von den Pennern ihm geraten hat, bloß früh genug die große Kohle abzuräumen", feixte Bernard. "Ich hätte den Camacho doch echt voll die Birne einschlagen sollen, bevor der seine Jean-Claude van Damme-Tricks ausgepackt hat."

"Sei froh, dass sie euch nur wegen leichter Körperverletzung und Nötigung drankriegen wollen", knurrte Domenique. "Wegen dir mussten wir die armen Sünder geben und in allen Blättern Abbitte leisten."

"Ach ja? Ich hörte sowas, dass du Henri eigentlich zurückpfeifen wolltest, so'n arschkriecherischen Mist nicht in die Zeitungen reinzukleistern. Aber jetzt sind wir eh unten durch. Die anderen Fanclubs lachen uns doch jetzt voll aus."

"Vielleicht hätte ich auf Jacques und Gilbert hören sollen und das mit dem vor Bagheeras Nase geparkten Rollstuhl durchziehen lassen sollen."

"Die Nummer könnten wir immer noch bringen", warf Jacques ein. Doch Domenique herrschte ihn an, dass es dafür wohl jetzt zu spät war.

"Der hat bei Barca unterschrieben. Kuck dir mal an, wie viele Leibwächter schon um den rumstehen. Nach dem Blödsinn mit Camacho wollen die sich sowas nicht noch mal gefallen lassen. An den kommen wir nicht mehr ran", knurrte Domenique.

"Wo ist eigentlich der Eierkopf. Ich will den fragen, was die Tour mit der Entschuldigung jetzt gebracht hat und ihm dann gepflegt eine vor die Birne hauen."

"Davon kriegen wir Bagheera auch nicht mehr wieder", schnaubte Jacques. Bernard sprang auf und schwang die Fäuste.

"Willst du eins in die Fresse haben? Kein Problem!" blaffte er.

"Mann, Bernie, mit deinen lockeren Fäusten kriegen wir echt noch voll den Ärger", schnaubte Gilbert. Bernard holte aus und schlug zu. Doch Gilbert hatte den Schlag genau vorausberechnet und sich im letzten Moment weggeduckt. "Feiges Schwein. Wenn du schon rumsülzt kannst du echt zeigen, ob du auch das Echo verträgst", blaffte Bernard.

"Bernie, wir haben alles zusammengekratzt, was die Reisekasse hergibt und können deshalb nicht mehr zu den Auswärtsspielen mit, damit du und die anderen aus dem Knast rauskommen. Wenn du da wegen sowas wieder einfährst Schicke ich deine kleine Schwester anschaffen, bis wir unsere Knete wieder drin haben. Ist das angekommen?"

"Jetzt is' genug", brüllte Bernard. Auch Domenique sah ein, dass er sich da doch zu heftig im Ton vergriffen hatte. Doch jetzt war es zu spät. Bernard schlug zu. Anders als der Kampfsport trainierende Gilbert konnte er den hammerharten Schwinger Bernards nicht abducken und bekam ihn mit voller Wucht ins Gesicht. Doch Domenique war hart im Nehmen und noch härter im Zurückschlagen. So entbrannte innerhalb einer einzigen Sekunde eine wilde Schlägerei, an der sich nun auch Bernards noch im Hintergrund abwartende Spießgesellen, Gilbert, Jacques und andere Domenique folgende Mitglieder der Hafenmeister beteiligten. Dabei krachte ein geworfener Stuhl voll in den Bildschirm des noch laufenden Fernsehers, der mit dumpfem Knall und einem gefährlichen Splitterregen implodierte. Flammen schlugen aus dem nun kaputten Fernseher heraus und griffen auf das billige Mobiliar über. Erst als Qualm und Feuer stark genug waren, und einige die in Arme, Rücken und Nacken gedrungenen Splitter fühlten, ließen die wilden Raufbolde voneinander ab und suchten ihr Heil in der Flucht. Der Luftschutzkeller geriet durch das Öffnen der Tür erst recht in Brand.

Eine Halbe Stunde nach diesem unrühmlichen Zwischenfall erhielten die Lokalredakteure aller hiesigen Zeitungen die Meldung, dass das amtliche Hauptquartier des HAC-Fanclubs "Die Hafenmeister" wegen eines aus Wut durchs Zimmer geworfenen Stuhls und eines implodierten Fernsehers restlos ausgebrannt war und dass sieben der Clubmitglieder mit Splitterverletzungen und Prellungen behandelt werden mussten, darunter auch Domenique Lasalle, der Clubvorsitzende.

Henri Clairmont erfuhr von dem Zwischenfall, weil ein junger Reporter beim Jornal Havrais seine Festnetznummer hatte. Janine Lasalle war gerade bei ihm. Sie beide waren nur mit einer Bettdecke bekleidet.

"Nun, ich erhielt keine Anfrage, einem Treffen wegen der Pressekonferenz beizuwohnen, Julien. Ich muss leider auch einräumen, dass die Atmosphäre der letzten Tage nicht besonders einladend war. Ich kläre das, wer da wie was erlebt hat und melde mich dann gerne bei Ihnen zurück, um für einen möglichen Artikel zutreffende und unverfälschte Tatsachen zu liefern. Oder wollten Sie die Angelegenheit auf Seite eins setzen?"

"Mein Chef, der gerade noch bei der PK im Vereinshaus ist und sich mit den Kollegen unterhält, weiß noch nichts von den Nachwirkungen der PK. Insofern haben Sie und ich Zeit, herauszufinden, welchen Nachrichtenwert dieser Zwischenfall hat."

"Das ist sehr entgegenkommend", sagte Henri. Seine heimliche Freundin und besonders persönliche Trainerin nahm diese Antwort zum Anlass, sich wieder näher an Henri heranzuschieben und ihre Hand unter der Decke zu ihm hinüberwandern zu lassen. Als Julien gerade sagte, dass er ja noch mit der Polizei und der Feuerwehr über den Brand sprechen wolle fühlte Henri Janines Finger an einer sehr empfindsamen Stelle und musste sich konzentrieren, den Gesprächspartner nicht wissen zu lassen, dass er wieder einmal mehr angeregt wurde.

"Gut, ich war ja zur Tatzeit nicht am Tatort, Julien. Vielleicht kriege ich das mit den anderen hin, ob wir darüber überhaupt eine eigene Verlautbarung ... herausgeben sollen. Bis dahin überlege ich mir den Wortlaut."

"In Ordnung, Henri. Noch einen angenehmen Nachmittag!" wünschte Julien. Endlich war das Gespräch zu ende.

"O Mann, Janine, wenn du so weitermachst kriegen wir bis Ostern alle sechsundsechzig durch", wisperte Henri. Da klingelte wieder das Telefon. Er wollte schon drangehen, doch Janine hielt seinen Arm zurück. "Lass klingeln, noch so'n Presseheini. Komm lieber wieder zu mir hin!" Henri nickte. Gleich würde der virtuelle Anrufbeantworter irgendwo bei der Telefonfirma das Gespräch annehmen und aufzeichnen, was der Anrufer wollte. Er bekam das nicht mit. Eine Minute später war es ihm auch schon wieder egal, ob noch jemand was von ihm wollte. So erfuhr er nicht, dass sein Vater von der Sache mit den Hafenmeistern Wind bekommen hatte und auch deshalb beschlossen hatte, mit einer anderen Universität zu verhandeln, seinen Sohn zum nächsten Sommersemester dort aufzunehmen. Das bekam Henri erst mit, als er ein Fax aus Salamanca in Spanien bekam, worin ihm auf Spanisch, englisch und Französisch ein Ummeldeantragsformular vorgelegt wurde und ein Begleitbrief seines Vaters, dass er, Henri, ihn, Monsieur Clairmont, darum gebeten habe, ein Auslandssemester in Spanien verbringen zu dürfen, mit der Option, das Studium dort auch bis zum Diplom fortsetzen zu können.

"Ach kuck mal, dein netter Herr Papa hat Angst, dass du in unserer schönen Stadt in all zu schlechte Gesellschaft geraten bist", flötete Janine, die das mehrseitige Fax mitlas. Henri grummelte nur, dass das seinem Vater ähnlich sehe, er aber, um nicht komplett auf Niedriglohnberufe angewiesen zu sein, wohl in den sauren Apfel beißen würde. Vielleicht, so bemerkte er, sei das auch nicht das schlechteste, von den offenbar total auf Abwege geratenen Leuten um Domenique und Jacques loszukommen.

"Und von mir, Süßer? Wir habenmindestens noch vierzig Kamasutrapositionen abzuarbeiten. Abgesehen davon wäre das mir gegenüber sehr undankbar, wenn du einfach so weggingst, ohne irgendwie zu regeln, wie das mit uns weitergeht."

"Stimmt, du hast leider recht. Jetzt damit rauszukommen, dass wir zusammen sind würde bei Dom alle Sicherungen auf einmal raushauen und meinen Vater dazu bringen, mir doch noch alle Gelder zu streichen. Aber loswerden möchte ich dich nicht", sagte er so ehrlich er klingen konnte.

"Das würde dir auch nicht so leicht gelingen, Süßer", erwiderte Janine. Henri sah es an ihrem Blick, dass sie es todernst meinte. Auch wenn das, was sie beide verband im Moment noch eher unterhalb der Gürtellinie ablief, so konnte er sich doch ausmalen, wie wütend es sie machen würde, von einem Mann einfach so abserviert zu werden. Andererseits wusste er noch nicht, wer die heimliche Liebschaft überhaupt an seinen Vater weiterposaunt hatte. Nachher bekam der noch mit, mit wem sich Henri eingelassen hatte. War es da nicht klüger, die Initiative zu ergreifen und Janine als seine feste Freundin vorzustellen? Die konnte auch gut mit höhergestellten Leuten reden. Aber dann fiel ihm ein, dass seine Eltern die totalen Moralapostel waren, die keinen außerehelichen Sex erlaubten. Wenn die dann noch erfuhren, dass Janine die Cousine von Domenique Lasalle war, würden sie dieser Verbindung absolut nicht zustimmen. Das musste also anders geregelt werden.

"Der will, dass ich das Land verlasse. Wie ist das mit dir, meine Liebesgöttin?"

"Ob ich das auch will oder ob ich auch das Land verlassen will?" fragte sie zurück. Dann sagte sie: "Wenn du wen klarmachen kannst, der meine Ummeldung so locker durchpaukt wie dein alter Herr jeder Zeit."

"Da kenne ich keinen, der das fingern kann."

"Aber ich kenne wen, beziehungsweise Loulou kennt wen. Die ist ja heilfroh, dass sie am Ende doch nicht in diese Erpressungskiste reingeraten ist. Andererseits ist sie seitdem auch sehr zurückhaltend. Aber den kleinen Gefallen wird sie mir sicher tun", säuselte Janine Lasalle leise genug, dass es nicht aus dem Zimmer drang. Henri nickte. "Dann kläre das bitte mit ihr ab, wie du das anstellen kannst."

"Ich werde ihr dann wohl meinen Job überlassen", flüsterte Janine, die unvermittelt angespannt wirkte und dann auf die Zimmertür deutete. Die war zwar abgeschlossen, aber nicht schalldicht. Sie sagte dann klar und deutlich: "Mit dem, was du bei mir gelernt hast hast du in Spanien bald an jeder Hand fünf rassige Señoritas hängen, die dich in Form halten wollen. Wird deinen Vater sicher freuen, wenn er hört, wie gut sein Geld investiert ist."

"Ganz klar, meine Liebesgöttin", sagte Henri nun ebenfalls laut. Er hatte nichts verdächtiges von draußen mitbekommen. Doch er traute Janine zu, dass sie was spürte, was er nicht oder noch nicht mitbekam. Er nickte Janine, noch was zu sagen:

"Ich kenne da in der Gegend von Salamanca eine María Elena Duarte Dominguez. Vielleicht sollte ich die anrufen, dass du solange mit ihr weitertrainieren kannst, solange ich noch keine Möglichkeit habe, zu dir hinzuziehen und ..."

Henri war während Janines Ausführungen leise zur Tür geschlichen. Mit einer Hand drehte er den Schlüssel um, mit der anderen stieß er die Klinke nach unten. Keine Zehntelsekunde später fiel ihm Louis Vandri entgegen, ein angehender Mediziner nur ein Semester hinter Henri. Henri zog ihn ohne weitere Ansage ins Zimmer und warf die Tür zu. Louis wollte gerade was sagen, als Janine schon auf ihn zusprang und ihm die Hand auf den Mund legte.

"Jaja, unter der Erde kriegt man nicht alles mit, was so los ist. Da muss so ein Maulwurf doch mal die Nase rausstrecken, nicht war, Louis?" zischte Henri, während Janine und er den heimlichen Horcher auf einen der beiden Plastikstühle niederdrückten.

"Eh, Henri, spinnst du jetzt total!" protestierte Louis laut. Da legte Janine ihm wieder die Hand auf den Mund. "Neh, sehe ich nicht so. Ich sehe es eher so, dass du auf mich angesetzt worden bist, um klarzukriegen, dass ich nicht irgendwas anstelle, was einem gewissen Herren nicht in den Kram passt."

"Guck nach seinem Handy, Süßer", zischte Janine und deutete auf die linke Hosentasche des ertappten Lauschers.

"Eh, wenn ihr ... Mmmmmpf", wollte Louis zu einem neuen lautstarken Protest ansetzen. Doch Janine hielt ihm jetzt noch fester den Mund zu. Henri fischte das Mobiltelefon aus Louis Tasche. Es war eingeschaltet und gerade mit einem anderen Anschluss verbunden. Henri sah die Nummer in der Anzeige und nickte. Dann hielt er den Apparat vor seinen Mund und sagte: "Netter Versuch, Papa. Zumindest weiß ich jetzt, wer dein Agent war. Das du echt so billige Methoden anwendest ... Aber was die Sache mit Spanien angeht, so werde ich das Angebot annehmen. Meine Freundin hat nichts dagegen, dass ich dort wen finde, die mich bei Laune hält."

"Was ist mit Louis?" wollte Henris Vater wissen.

"Wir beraten noch, ob meine Freundin ihn ausprobieren soll oder wir ihn unangerührt ins Trübe zurückwerfen, aus dem du ihn gefischt hast. Schön zu wissen, dass du so gut bei Kasse bist, dass du gleich zwei Studenten finanzieren kannst. Aber der hätte dich sicher später mal damit erpresst, dass du ihn angeheuert hast, mir hinterherzuspionieren. So klärt sich doch manches schneller auf, als es ursprünglich gedacht war. Noch einen schönen Abend dir und Maman."

"Junge, ich warne dich, wenn Louis was passiert ..." Den Rest würgte Henri mit einem einfachen Tastendruck ab.

"Ihr seid beide Banane", knurrte Louis, nachdem Janine ihre Hand von seinem Mund weggenommen hatte. Dann sah er Janine genau ins Gesicht. "Eh, hat dein Bruder, dieser Straßenkriminelle, dich auf ihn angesetzt, um ihn bei der Stange zu halten? ... Öhm, gefügig zu halten wollte ich sagen."

"Ich habe keinen Bruder, Kleiner, nur eine kleine Schwester, die gerade erst in der zweiten Grundschulklasse ist. Und was das andere angeht, da bin ich von ganz allein drauf gekommen, als ich meinen Süßen zum ersten Mal auf einem Foto gesehen habe. Und keine Angst, an Spannern und Spionen mach ich mir bestimmt nichts schmutzig, was noch für wichtigeres gebraucht wird. Da Henri und ich jetzt wissen, wer das seinem alten Herren weitergefunkt hat bist du für den jetzt sowieso erledigt. Vielleicht musst du dann für dein Studium selbst ranklotzen. Mach dir da besser jetzt schon mal Gedanken drüber! Wenn mein Süßer nicht noch was dazu sagen will bin ich mit dir durch."

"Neh, ich habe nichts mehr zu sagen. Mach den Abflug, Louis. Was ich wissen wollte weiß ich jetzt."

Louis war froh, als er so ungeschoren wieder aus dem Zimmer herauskam. Doch was dieses Krawallmädchen ihm gesagt hatte wirkte schlimmer nach, als wenn sie ihn mit Henris Hilfe ernidrigt und vergewaltigt hätte oder ihm alle Zähne aus dem Mund geschlagen hätte. Er war als heimlicher Aufpasser aufgeflogen. Sein Gönner würde sich das jetzt dreimal überlegen, ob er ihn auch noch weiter unterstützen würde. Dazu kam noch, dass er zwar ihr Gesicht gesehen hatte, aber nie ihren wahren Namen gehört hatte, wenn er von ihrem Lustgeschrei angelockt vor der Tür Posten bezogen hatte. Er hatte sie immer als "Meine Liebesgöttin" angesprochen. Aber wenn sie diesem Domenique Lasalle ähnelte, dann konnte sie eine Cousine von dem sein. Doch wenn er sich mit dem Lasalle-Clan anlegte konnte er bald alle Knochen und Blutgefäße in seinem Körper ohne Röntgengerät begutachten und eine neue anatomische Karte von sich selbst anfertigen lassen. Nein, er durfte das nicht weiterreichen.

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Tief in der sibirischen Taiga


30. Januar 2002, 11:32 Uhr Ortszeit

Die grimmige Kälte hatte ihm nichts anhaben können, weil er seinen dickgefütterten, gleichwarm bezauberten Anzug und die ebenso kälteabweisenden Stiefel trug. Doch Hunger und Durst drohten, Anatol Borodin doch noch niederzuwerfen. Immer die wenigen hellen Stunden am Tag nutzend war Anatol Borodin westwärts marschiert. Er hatte seine Hoffnung auf ein Pelztierjägerlager oder patrouillierende Soldaten gesetzt. Doch in dieser im stählernen Klammergriff des Winters gefangenen Landschaft war er der einzige Mensch. Längst schon hatte er es aufgegeben, frisches Wasser trinken zu können. Die einschneidende Kälte, die nur wegen seiner Handschuhe, seiner Maske, seiner Mütze und der restlichen Kleidung nicht zu ihm vordringen konnte, gefror jeden Wassertropfen innerhalb von Sekunden zu Eis. Sobald er selbst einen Rest von Speichel ausstieß, konnte er sehen, wie dieser schon zu winzigen Eiskristallen erstarrte, bevor er den steinhart gefrorenen Boden erreichte. Doch nun hatte er keinen Speichel mehr. Sein Körper war beinahe restlos ausgetrocknet. Sein Magen knurrte wild wie ein kampfeslustiger Wolf, und genauso hungrig fühlte sich Anatol Borodin.

Einmal hatte er es versucht, einen Schneehasen zu fangen. Doch das Tier, daran gewöhnt, von vielen als Beute auserwählt zu werden, war ihm mit drei schnellen Haken und vier weiten Sätzen entkommen. Beinahe am Rande der totalen Auszehrung hatte Borodin aus dem frischen Schnee ein kleines Iglu gebaut. Hunger und Durst vernebelten bereits seine klaren Gedanken. wollte dieses hinterhältige, unverschämt schöne Ungeheuer Sarja ihn so elend krepieren lassen? Langsam war er davon überzeugt, dass sie ihn auf diese Weise töten wollte. Immerhin hatte er eine Gefahr durch Wundbrand ausräumen können, weil die Veela ihm die Notfallapotheke gelassen hatte, zu der auch verdauungsfreundliches Wundheilelixier gehörte.

Hatte Anatol in den ersten Tagen seines einsamen Marsches noch gedacht, der Hass auf die Veela würde ihm die nötige Kraft und das nötige Durchhaltevermögen einflößen, fühlte er nun, wie sein bereits altgedienter Körper die voranschreitende Auszehrung nicht mehr länger aushalten würde. Sollte er nun um Hilfe rufen, wo niemand in hundert Kilometern Umkreis ihn hören konnte? Nein! Er würde solange marschieren, bis er unwiderruflich niederfallen würde. Einen letzten Versuch, jemanden mit Mentiloquismus zu erreichen, schaffte er nicht mehr. Sein Schädel schmerzte von dem immer weiter voranschreitenden Wassermangel. Seine Arme und Beine zitterten und zeigten erste Anzeichen von Totalerschöpfung. Was brachten ihm die Nachtstunden im Iglu, wenn er trotz Schlaf keine neue Kraft schöpfen konnte? Was brachte es, noch einen weiteren Tag voranzustolpern, durch hohen Schnee und zwischen den Bäumen hindurchblasendem Wind? Dann fiel ihm ein, dass er erst dann aufgeben würde, wenn er hinfiel und nicht mehr aufstehen konnte. Er kämpfte sich auf die wackeligen Beine und schwankte weiter voran, eher einem Zombie als einem kraftstrotzenden Menschen ähnelnd. Trotz der vor ihm immer wieder verschwimmenden Umgebung kämpfte er sich weiter voran. Ob er am kommenden Abend noch genug Kraft aufbieten konnte, ein kleines Schneehaus für die lange, kalte Nacht zu bauen wusste er nicht. Sollte es sein, dass Väterchen Frost ihn in der nächsten Nacht erledigte, so wollte er doch mindestens noch zehn Kilometer weit kommen.

Zeit war für Anatol Borodin nicht mehr wichtig. Für ihn zählten nur noch hell und Dunkel. Urinieren konte er schon seit vier Tagen nicht mehr. Gleiches galt für feste Ausscheidungen. Deshalb hatte er seit dieser Zeit nicht einmal die Hosen heruntergelassen. Nur weil diese mit dem schützenden Gleichwärmezauber belegt waren froren die Kleidungsstücke nicht an ihm fest. Doch das war im Vergleich zu der ihn immer mehr dahinraffenden Entbehrung vernachlässigbar wenig Trost.

Die Nachtstunden kamen. Anatol blickte noch einmal in die sinkende Sonne, die vor seinen ebenfalls ausgezehrten Augen immer wieder in kleinere Feuerbälle zerfiel und wabernd wieder zu einer blutrot erglühenden Scheibe verschmolz. Womöglich sah er den Licht und Wärme spendenden Himmelskörper heute zum allerletzten mal, bevor er in die Ewigkeit hinüberwechseln würde. Seine Augen brannten vor Erschöpfung und Trauer. Für tränen war kein Wasser mehr vorhanden.

"Vielleicht graben sie dich in tausenden von Jahren wieder aus und fragen sich, was du in dieser Gegend getrieben hast", dachte Borodin an seine eigene Adresse. Er dachte an den aus einem Gletscher freigekommenen mumifizierten Leichnam eines Steinzeitmenschen in den Alpen, von dem sein Greifennestschulfreund Ernst Grünwasser ihm geschrieben hatte. Würde er ebenso zu einem Studienobjekt neugieriger Forscher werden? Noch einmal blickte er in die versinkende Sonne. In Gedanken sah er seine eigene Seele hinter dem unter dem Horizont verschwindenden Feuerball hersinken und für alle Zeiten vergehen. Dann war es soweit. Die Sonne glitt zwischen den Baumwipfeln in die Tiefe und schickte nur noch einen Rest blassrosa Glut über den westlichen Horizont. Anatol Andrejewitsch Borodin, Leiter des Büros für denk- und handlungsfähige Zauberwesen, fiel auf Knie und Hände. Die letzte Kraft, sich auf den Füßen zu halten, war aus seinen Gliedern verschwunden. Er krabbelte noch einige Meter wie ein wenige Monate alter Säugling. Hilflosigkeit und Hunger peinigten seinen Geist wie seinen Körper. Die letzten klaren Gedanken, die er fassen konnte waren, dass er von niemandem gefunden würde, wenn er hier und gleich den letzten Atemzug tat. Ohne Tränen schluchzend robbte er noch einige Meter auf dem tiefgefrorenen Waldboden dahin. Eigentlich brauchte er doch nur seine Kleidung vom Körper zu reißen. Sollte die erbarmungslose Kälte dann ein schnelles Ende machen. Womöglich würde er es nicht einmal spüren, wann er starb. Dann begann sich sein Verstand immer mehr einzutrüben. Er wähnte sich in seinem Büro, seine Mitarbeiter zusammenstauchend, weil sie in der Angelegenheit Diosan nicht gründlich genug aufgepasst hatten, weil sie es versäumt hatten, mehr über die Schlangenkrieger dieses britischen Irren Voldemort herauszufinden oder weil sie kein wirksames Mittel gefunden hatten, die aus dem Dämmergrau der Legenden aufgetauchten Sonnenkinder festzusetzen, um deren Geheimnisse zu erfahren. Dann hörte er seine Frau lachen, seine Irmina, die ihm einen kräftigen, unbeugsamen Sohn geboren hatte. Er hörte sie Wiegenlieder singen und stimmte darin ein. Aus Irminas Stimme wurde die Stimme seiner eigenen Mutter, einer russischen Bauerstochter, in die sein Vater, ein reinblütiger Zauberer, sich verliebt hatte, als er mit seinen Eltern auf einem Markt eingekauft hatte. Ja, seine Mutter hatte auch eine sehr schöne Stimme besessen, auch im hohen Alter, wo sie ihrem Enkel Wladimir Schlaflieder vorgesungen hatte. Anatol wähnte sich gerade selbst in einem warmen Zimmer in einer sachte schaukelnden Wiege liegend. Dass sein Körper in Wirklichkeit langgestreckt auf steinhartem Permafrostboden lag erkannte er nicht mehr. Dann hörte er die Stimme seiner Mutter noch lauter singen. Doch das Lied kannte er nicht. Er hörte nur, dass es sehr schön klang und ihm Wärme und Geborgenheit gab. Sich immer mehr in die Vorstellung verlierend, ein hilfsbedürftiger kleiner Junge zu sein, gab er sich diesem Gesang hin. Ja als ihn auch zwei starke Arme umfassten wähnte er sich im Schutz seiner Mutter. Dass diese schon vor zwanzig Jahren verstorben war fiel dem kurz vor dem Verschmachten stehenden Borodin nicht mehr ein. Dann umfing ihn unausweichlich die Müdigkeit. Unvermittelt verschwanden alle Bilder und Gefühle.

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An Bord des Ausflugsdampfers Fille de Honfleur, einen Kilometer südlich der Brücke Pont de Normandie


31. Januar 2002, 12:00 Uhr Bordzeit

"Antoine Peltier hatte es gerade so noch mitbekommen, dass Aron Lundi, der in den letzten Tagen häufig in den Schlagzeilen vertretene Fußballspieler, vor seinem Umzug nach Barcelona noch einmal alle bisher nicht besuchten Sehenswürdigkeiten Le Havres aufsuchen wollte. Er war froh, es noch auf das Ausflugsschiff geschafft zu haben. Die anderen Kollegen von der Sensationspresse hatten das voll verschlafen, wie Lundi von einem Fahrer in Begleitung von drei bulligen Leibwächtern an Bord gegangen war. Sollte Peltier noch mal ein Interview mit ihm machen, wo er ihm gerade nicht entwischen konnte? Nachher bekam er Krach mit den Leibwächtern, die ihm seit der Kiste mit diesen so genannten Hafenmeistern zugeteilt worden waren. Als er dann die blendend schöne Frau mit dem goldblonden Haar sah, die aus dem Schiffsinneren heraufstieg war Peltier nicht der einzige, der sich verzückt nach ihr umblickte. Die anderen mitreisenden Männer stierten ihr nach, wie sie ihre langen Beine sicher bewegte. Ihr fast bis zum wohlgerundeten Hinterteil wehendes Haar floss sacht bei jedem ihrer Schritte. Peltier fragte sich, wieso ihm dieses Wunderwerk der Weiblichkeit nicht schon beim Bordgang aufgefallen war. Er fühlte sich leicht berauscht, als habe er gegen seine Arbeitsauffassung schon vor dem Job einen zünftigen Schoppen getrunken. Dann fiel ihm auf, dass wo Männer wie er förmlich hin und weg waren, Frauen sichtlich gereizt bis verärgert auf die überragende Erscheinung blickten. Dann sah er wie alle anderen auch, wie sie freundlich lächelnd an den drei Leibwächtern Lundis vorüberging, die ihr freundlich nachwinkten und sich neben Lundi auf die Bank setzte. Das alles hätte jeder andere noch als nicht groß zu erwähnende Sache abgetan. Schöne Frauen gab es ja auf Gottes weiter Erde immer mal wieder. Aber dass sich dieses Kunstwerk der Venus jetzt ganz dicht an Aron Lundi heranschob und ihm dann noch den linken Arm um den Oberkörper legte gehörte nicht mehr zur Ablage Belanglosigkeiten.

Peltier wusste, dass er nicht all zu offen mit seiner Kamera herumhantieren durfte. Zwar ging es ihm darum, die Besichtigungstour von Aron Lundi zu überwachen und in Fotos festzuhalten. Aber auf dem Schiff war es nicht so einfach. Doch Peltier hatte für diesen Fall einen hilfreichen Trick, beziehungsweise eine neuartige Spielerei dabei. Er zupfte wie beiläufig an einem seiner Kragenknöpfe. Darauf trällerte sein Handy in seiner graublauen Winterjacke. Er zog es hervor und drückte eine Taste, für alle anderen wohl die Sprechtaste. Denn er fing nun an, mit jemandem zu sprechen, den er erst "Chérie", dann "Zuckerschnütchen" und dann nur noch "Laure, liebes" ansprach. Als die Innigkeit Lundis und der Blonden den höchsten Grad öffentlich zulässiger Vertrautheit erreichte sagte Peltier: "Ja, Liebes!" Sein Mobiltelefon vibrierte einen winzigen Moment lang. Er saß konzentriert da, als lausche er noch einer wichtigen Mitteilung: "Ja, Laure", sagte er dann, als er genau sah, wie Lundi und die andere wange an Wange zu ihm hinsahen. "Ja, mach ich", sagte er. "Ja, das auch", fuhr er nach zehn Sekunden fort. Immer wieder vibrierte sein Telefon unmerklich. "Du, wir fahren gleich unter der Brücke durch. Da wird es wohl kurz kein Netz gegeben, liebes. - Ja, kriege ich hin. - Ja, um halb sieben. - Ja ... Ja ... Ja, geht klar. - Bis dann, Zuckerschnütchen!"

"Ist denn schon wieder frühling?" grummelte ein sehr gut genährter Mann Ende sechzig und deutete erst auf den gerade sein Mobiltelefon senkenden Peltier und dann auf die ungeniert miteinander schmusenden Lundi und die goldblonde Schönheit.

"Morgen wissen wir es, ob wir noch sechs Wochen mehr Winter haben", erwiderte Peltier auf die harsche Bemerkung.

"Häh?!" machte der ältere Herr. Peltier grinste lausbübisch und erwähnte was von einem Murmeltier, dass in Amerika jedes Jahr am zweiten Februar die noch verbleibende Winterzeit vorhersagte.

"Die spinnen, die Amis", war die Antwort des älteren Mannes. Antoine stimmte ihm da zumindest zu, aber nur in Gedanken. Außerdem wusste der grauhaarige Miesepeter doch nicht, dass Peltier nicht wirklich mit seiner Holden geturtelt und bei der Gelegenheit noch einen halben Einkaufszettel aufgeschwatzt bekommen hatte. Den Trick hatte er immer dann parat, wenn er nicht offen mit einer Kamera herumjonglieren durfte. Immerhin hatte er jetzt mindestens sechs Aufnahmen von dem Liebespärchen. Ob sein Chef ihm die Bilder abnahm, ohne dass er wusste, wer die schöne Unbekannte war wusste er nicht. Aber im Moment ging alles mit dem Namenszug "Aron Lundi" wunderbar weg. Nur die Fans, allen voran die Hafenmeister, maulten immer noch darüber, dass Barca den jungen Spieler eingeheimst hatte. Jetzt bedauerte Peltier das auch. Denn wenn die blonde Schönheit da wirklich eine Freundin Lundis war, so hätte das eine geniale Fotostory mit Fortsetzungen gegeben. Immerhin wollte er noch herausbringen, wer die schöne Frau war. Dann sah er die Brücke, die sich über die Seine spannte. Einige Mitreisenden, die bislang auf die Superblondine geglotzt hatten, wurden von ihren angenervten Frauen oder Freundinnen angestupst. Hände deuteten auf die Brücke. Das war für die anderen wohl ein Zeichen, die Videokameras herauszuholen. Geniale Gelegenheit, dachte Peltier. Denn jetzt konnte er seine von Foto auf Video umschaltbare Digitalkamera mit eingebauter Festplatte hervorkramen und sich ebenfalls in eine günstige Aufnahmeposition stellen.

Die Unterquerung der Brücke nahm Peltier sowohl in einer schnellen Einzelbildaufnahme wie als Kurzfilm auf. Dann kam das für ihn wichtigste. Als sie unter der Brücke hindurch waren lief Peltier nach vorne und baute sich so auf, dass er die Brücke nun von der anderen Seite aufnehmen konnte. Mit zunehmendem Abstand verringerte sich der Aufnahmewinkel. Er konnte nun ganz harmlos die Kamera immer tiefer ausrichten. Jetzt bekam er die sich weiter und weiter entfernende Brücke nur noch drauf, wenn er riskierte, auch einige Köpfe von Passagieren mit ins Bild zu kriegen. So gerieten die ihm nun zugewandten Gesichter Lundis und seiner Begleiterin für eine Sekunde ins Bild. Diese eine Sekunde würde er nachher zu fünfundzwanzig Einzelbildern auseinandernehmen. Scheinbar enttäuscht ließ er die Kamera sinken, als die Brücke hinter dem Heck der "Fille de Honfleur" versank.

"In zwei Stunden weiß ich wie du heißt, Prinzessin Goldhaar", dachte Peltier, als er weit genug, um keinen von den Leibwächtern zu reizen, an den beiden immer noch eng zusammensitzenden vorbeischlenderte. "Und morgen früh weiß es das ganze Land", fügte er seinem ersten Gedanken hinzu.

Als die Reise zu Ende war versuchte Peltier, in die Nähe Lundis und seiner bezaubernden Begleiterin zu kommen. Doch einer der bulligen Bodyguards bemerkte das und machte unmissverständliche Gesten, dass jeder Schritt näher der berühmte eine Schritt zu viel sein würde. Er legte es nicht darauf an, sich vertrimmen zu lassen, nicht von einem Leibwächter. Da müsste es schon Prinz Albert von Monaco persönlich sein. Immerhin konnte er noch sehen, wie die beiden zusammen von den drei Leibwächtern abgesichert in einen Renault der Oberklasse einstiegen. Er nahm noch einmal die Videokamera und hielt von der Seite auf die Rückbank. Mit zwölffachem Zoomfaktor bekam er das Gesicht der blonden Schönheit groß genug ins Bild.

Als Peltier in sein Film- und Fotolabor zurückkehrte machte er eine zum teil enttäuschende, zum anderen Teil verwirrende Feststellung. Die Bilder, die er mit seinem Mobiltelefon auf dem Schiff gemacht hatte zeigten nur einen leeren Ausschnitt der Bank. Auf dem Video, das er von der Brückenunterquerung gemacht hatte, war nur ein leichtes Flimmern über einem freien Platz auf der Bank zu sehen. Erst und einzig die aus mehr als zweihundert Metern erheischte Aufnahme der Blondine zeigte sie scharf und flimmerfrei.

"Also doch kein Gespenst", grummelte er. Denn er hatte als Junge viele Gruselgeschichten gelesen oder als Hörspiele gehört, wo Dämonen, Geister und Vampire nicht mit handelsüblichen Kameras und Tonbandgeräten aufgezeichnet werden konnten. Dass die Frau ein Vampir war konnte er ja schon deshalb ausschließen, weil sie sich auf einem breiten Strom in hellem Mittagssonnenlicht befunden hatten. Gut, Geisterstunde war das auch nicht. Aber zumindest hatte er sie ja aus sicherer Entfernung erwischen können. Aber wie machte Lundi oder sie das, dass Fotos aus kürzerer Entfernung nur den freien Platz zeigten, nicht einmal einen weißen oder von Schnee erfüllten Hintergrund, sondern die Bank ohne darauf sitzende Leute, als hätten die sich nur für die Kameras unsichtbar gemacht. Sowas ging technisch gar nicht. Wenn jemand sich tarnte dann nicht nur für Kameras, sondern auch für das menschliche Auge. Ja, und warum hielt diese Unsichtbarkeit dann nur bis zu dreihundert Metern Abstand vor? Die Fragen konnte er nicht beantworten. Aber zumindest hatte er ein klares Porträt von ihr. Das konnte er jetzt seinem heimlichen Helfer geben, der Zugriff auf Rechner von Passamt, Staatspolizei und der Pariser Kriminalpolizei hatte. Er musste die aus dem Film herauspräparierten Einzelbilder nur als verschlüsselte E-Mails versenden und hoffen, dass sein Bekannter ihm noch vor Redaktionsschluss einen Namen zu den Bildern liefern konnte.

Zwei Stunden später bekam er die Antwort:

Nicht in der Datenbank von Interpol, Staatspolizei, Zoll oder dem französischen Auslandsgeheimdienst erfasst. Habe Freund in den Staaten angesetzt, FBI, CIA und NCIS zu prüfen."

"Doch ein Phantom", seufzte Peltier. Dann ging er mit Ausdrucken der wenigen klaren Bilder zu seinem Chefredakteur und erzählte ihm, was er herausbekommen hatte.

"Wenn die nicht mal beim Einwohnermeldeamt registriert ist ... klar, wenn die angeblich unfotografierbar ist", sagte Monsieur Dumont zu seinem Fotoreporter. "Aber so wie sie aussieht kann die jedes Mannequin aus dem Rennen werfen, das sonst mit einem Spieler herumzieht. Da kann David Beckham mit seinem Ex-Spice-Girl einpacken, wenn wir damit rauskommen."

"Ja, aber ohne Namen?" fragte Peltier.

"Wie lange sind Sie schon bei uns?" fragte Dumont. "Wie oft haben wir uns blumige Namen ausgedacht, solange wir die wahren Namen nicht kannten?"

"Gut, im Internetzeitalter ist sowas aber schon traurig, wenn wir zu dem Gesicht nicht auch den Namen liefern können", grummelte Peltier.

"So unbekannt kann die nicht sein, dass die nirgendwo auf der Welt registriert ist", erwiderte Dumont. Damit hatte er sogar recht, wenngleich die schöne Unbekannte in einer Behörde registriert war, über deren Erwähnung er schallend losgelacht hätte.

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Ein Einzelbettzimmer im Leonid-Botkin-Krankenhaus für magische Krankheiten und Verletzungen


31. Januar 2002 gregorianischer Zeitrechnung, 12:30 Uhr Ortszeit

Maximilian Arcadi hatte sich nicht abwimmeln lassen. Jetzt stand er neben Heilerin Jana Rugowa vor einem Bett, in dem ein sichtbar ausgemergelter Mann lag. Vor anderthalb Wochen hätte er dem gerne noch den Hosenboden strammgezogen oder durch einen Parcours mit wilden Wichteln und jungen Drachen geschickt. Doch so wie Anatol Borodin nun da im Bett lag konnte er ihm im Moment nicht böse sein. Denn er erinnerte ihn in diesem Zustand daran, wie er, Maximilian Arcadi, ihn bereits als wimmernden Säugling auf den Knien geschaukelt hatte.

"Wenn diese Nachricht nicht gekommen wäre hätten wir ihn nicht mehr lebend bergen können, Herr Minister", bekundete die für diese Station zuständige Heilerin noch einmal, wie knapp es für Borodin geworden war.

"Schon perfide von dieser sturköpfigen Veela, ihn bald zwei Wochen ohne Nahrung und Trinkwasser durch die sibirische Taiga irren zu lassen", knurrte Arcadi leise genug, um den im Bett liegenden nicht aufzuwecken.

"Ja, aber wenn sie ihre Enkeltochter nicht zu uns geschickt hätte um zu melden, wo wir den Vermissten suchen sollen wäre er gestorben", hielt die Heilerin dem russischen Zaubereiminister entgegen. Dieser knirschte mit den Zähnen und nickte verdrossen.

Eine Minute lang blickten beide schweigend auf den knapp dem Verschmachten entrissenen Patienten.

"Wie lange werden Sie ihn hierbehalten, Heilerin Rugowa?" fragte Arcadi behutsam.

"Nun, die Schädigungen seiner Verdauungsorgane müssen natürlich behoben werden. Dann müssen wir ihn behutsam wieder an die Aufnahme fester Nahrung gewöhnen. Alles in allem dürften zwei bis drei Wochen Behandlungszeit angezeigt sein."

"In Ordnung! Dann werde ich die Anhörung entsprechend ansetzen, dass er dieser im Vollbesitz seiner körperlich-geistigen Gesundheit miterleben kann", sagte der Zaubereiminister.

"Ich weiß, dass der Patient sich gegen klare Anordnungen von Ihnen vergangen hat. Doch gestatten Sie mir als Heilerin, darum zu bitten, möglichst mildernde Umstände für ihn geltend zu machen. Womöglich leidet er unter überhöhtem Erfolgsdruck im Zusammenspiel mit unausräumbaren Schuldgefühlen, was seine Verantwortung und seine Leistung im Kampf gegen übermächtige Zauberwesen angeht. Berücksichtigen Sie dies bitte!"

"Unter diesem Erfolgsdruck stehen wir im Ministerium leider alle, Heilerin Rugowa", schnarrte der Minister. "Was Borodin im Alleingang versucht hat hätte all zu leicht zu einer blutigen Auseinandersetzung mit den Veelas führen können. Das kann ich ihm leider nicht als mildernden Umstand durchgehen lassen, dass diese unserer Kontrolle immer wieder entgleitenden Wesen in seiner amtlichen Zuständigkeit liegen. Gut, dasss sein Sohn verschleppt wurde und von uns wohl nicht wiedergefunden wird könnte für Anatol Borodin Strafe genug sein. Ich werde mich wohl noch einmal mit einigen Experten beraten, ob und wie wir diese Veela dafür zur Verantwortung ziehen dürfen oder müssen."

"Auch hier möchte ich Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung einen wohlgemeinten Rat geben, Herr Minister, auch wenn Sie nicht auf meine Ratschläge achten oder sie gar befolgen müssen", setzte Jana Rugowa an. Der Minister nickte ihr nur zu. "Nehmen Sie sich an den Franzosen ein Beispiel und bieten Sie den Veelas an, einen für ihre Angelegenheiten zuständigen Beamten zu erwählen, der sowohl Ihr Vertrauen als auch das der Veelas genießt! Die Existenz eines offenkundig schwer geistesgestörten Halbveelas darf nicht zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen uns und ihnen ausufern. Dafür gibt es zu viele Bedrohungen in der Welt."

"Ich nehme Ihren Rat zur Kenntnis, Heilerin Rugowa. Allerdings muss ich nach Borodins Alleingang bezweifeln, dass die Veelas jemals einem von uns vertrauen werden. Was die Franzosen angeht, so konnten die ja nur einen direkten Vermittler benennen, weil Sarjas Schwester sich in ihrem Ältestenrat dafür eingesetzt hat, weiß der grimmige Eisriese warum", grummelte Arcadi.

"Öhm, wo Sie gerade den Begriff Riese erwähnen, Herr Minister. Ist damit zu rechnen, dass diese grüne Halbriesin noch einmal gegen Menschen vorgeht?"

"Das betrifft nicht Ihre Zuständigkeit, solange dergleichen nicht passiert", blaffte der Minister. "Schon schlimm genug, dass die halbe Zaubererwelt weiß, dass es diese grüne Gurgha gibt und wir sie nicht erledigen konnten."

"Das kann und wird unser Zunftsprecher gerne mit Gosbodin Groschenko oder Ihnen persönlich erörtern, wer darüber zu unterrichten ist, was dieses offenbar einem übermächtigen Rachewahn verfallene Wesen vorhat."

"Rachewahn?!" stieß Arcadi nun doch etwas lauter als gebürlich aus. "Die hat ihre Rache bekommen und auch noch gezeigt, dass sie übermächtig ist. Die kann es sich nun leisten, Ruhe zu geben", brummelte er noch was. Dann blickte er noch einmal auf den schlafenden Patienten.

Wieder vor der Tür las der Minister noch einmal Sarjas Brief, der bei dem ohnmächtig am Boden liegenden Borodin gefunden worden war. Sie bekundete darin, dass sie sich nur gegen Anatol und seinen Sohn habe wehren müssen, weil diese ihren Sohn töten wollten. Da dies Dank ihres Eingreifens nicht gelungen sei habe sie sich damit begnügt, den Sohn Anatols in Gewahrsam zu nehmen. Sie werde ihn in fünf Jahren wieder in seine Welt zurücksenden. Anatol habe sie die ganzen Tage, die er unterwegs war beobachtet, bis er nicht mehr konnte. Diese Erfahrung, ganz und gar verloren zu sein, möge ihm, Anatol, als wichtige Lektion dienen, für Wesen, die sich selbst für verloren halten, mehr Mitgefühl aufzubringen, auch wenn dieses Mitgefühl mit dem Hass auf sie, Sarja, erkauft würde. Doch ohne ihr Eingreifen wäre Borodin nun wohl ein Opfer des Winters geworden, trotz Schutzkleidung. Sie hatte es in der Hand, ihn umkommen zu lassen. Dass sie ihn nicht hatte verrecken lassen solle der Minister sich gut einprägen, wenn er meine, zu einem Vergeltungsfeldzug blasen zu wollen.

"Wenn der Junge Wladimir wieder zurückkommt wird er nicht mehr derselbe sein wie zum Zeitpunkt seines letzten, wahnwitzigen Einsatzes", dachte Maximilian Arcadi. Fünf Jahre konnten einen Menschen grundweg verändern, und Veelas besaßen Mittel, Menschen zielgerichtet für ihre Interessen zu beeinflussen. Erst in fünf Jahren würden sie wissen, wie sie mit Wladimir Borodin umgehen mussten. Ob Arcadi bis dahin noch Minister bleiben würde wusste er noch nicht. Er sah an den ganzen Veränderungen der letzten zwanzig Jahre, dass er langsam in die Jahre kam. Der einzige Grund, warum er noch auf seinem hohen Stuhl thronte war der, dass er in seinem gesamten Beamtenapparat niemanden ausgemacht hatte, der oder die ihn beerben konnte. Alle waren zu ehrgeizig oder übereifrig aufgefallen. Andere wählten sich einen neuen Zaubereiminister. Doch in Ländern so alt und groß wie Russland war das nicht so günstig, mal eben nach Volksstimmung zu gehen, um für wenige Jahre einen Minister zu ernennen. Besser war es, einen potenziellen Nachfolger behutsam und umfangreich auf dieses hohe Amt vorzubereiten. Das hatte Anatols Vater Andrej mit ihm, Maximilian Arcadi, so gemacht. So wollte er es auch mit einem von ihm für geeignet befundenen Nachfolger halten.

Arcadi verließ das am südlichen Stadtrand von Moskau errichtete und unter Tarn- und Raumverschiebungszaubern versteckte Krankenhaus. Es galt, die durch die grüne Gurgha aufgehäuften Unstimmigkeiten zwischen seinem Ministerium und anderen Zaubereiministerien auszuräumen. Denn Arcadi war vorgewarnt, dass es eine neue Vampirbedrohung gab, die wie ein Phönix aus der Asche Nocturnias emporsteigen wollte. Um diese zu bekämpfen brauchte er ihm wohlgesinnte Nachbarn und Partner. Ob das gelingen würde wusste er nicht. Doch versuchen musste er es.

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Haus Pomme de la Vie, Millemerveilles, Südfrankreich


2. Februar 2002, 08:20 Uhr Mitteleuropäische Zeit

Julius Latierre keuchte unter der Flut der ihn bestürmenden Gefühle, seiner und die seiner Frau, die gerade eben mit lautem Schrei Unterleib und Beine des zweiten gemeinsamen Kindes in die große, helle Welt hinausstieß. Endlich war es geschafft. Vier Stunden hatte es diesmal gedauert. Noch etwas wackelig auf den Beinen half er seiner Schwiegertante Béatrice dabei, die bis dahin so wichtige Nabelschnur abzubinden und Mutter und Kind vom gegenseitigen Blutaustausch zu trennen. Julius glaubte an eine Halluzination, hervorgerufen durch den auf seiner Brust einmal kräftig hüpfenden Herzanhänger. Doch in dem Moment, in dem seine zweite Tochter endgültig dem schützenden Mutterleib entbunden war, erstrahlten die Kerzen und das Kaminfeuer für einige Sekunden um einiges heller und in einem goldenen Farbton. Als das nach vierzig Wochen und einem Tag angekommene Mädchen mit einem langen Schrei sein Missfallen von dieser ganzen Plage kundtat, erzitterte die Luft und kleine goldene Funken flogen umher, als würde zwischen den Wänden, dem Boden und der Decke der Wohnküche ein elektrischer Spannungsausgleich ablaufen. Dann ließen diese Eindrücke nach. Das Julius sie jedoch nicht alleine empfunden hatte bekam er sofort mit, als seine Schwiegertante der Flotte-Schreibe-Feder Mitteilte:

"Bei Vollendung der Geburt leicht angehobene Lichtstärke mit leichter Goldverschiebung. Bei ersten Schreien des Neugeborenen Mädchens magischer Funkenflug ohne Brandauslösung für zehn Sekunden. Vermutete Ursache: Wechselwirkung mit aufgebautem Schutzzauber um die Geburtsstätte zum Effekt der Integration der Neugeborenen in denselben."

"Stimmt, hat Jeanne erwähnt, als sie die Zwillinge bekam, dass es da ein kleinwenig heller und goldener wurde", keuchte Millie. "Dann ist die kleine Chrysie jetzt auch gut beschützt, auch wenn ich sie nicht mehr in mir drin herumtrage. Oha, die Nachgeburt", seufzte sie noch. Ihre Tante und Hebamme war jedoch schon auf dem Posten. Fünf Minuten später war der nicht mehr benötigte Mutterkuchen aus Millies Körper heraus und zum organischen Abfall gegeben. Julius unkte, dass Dusty den vielleicht fressen könne oder Goldschweif, die ja in den nächsten Tagen selber wieder Mutter werden würde.

"Es gibt Fleischfresser in freier Wildbahn, die mit den trächtigen Muttertieren einer Herde mitlaufen, um auf die Nachgeburt zu warten", konnte Béatrice Latierre dazu sagen. "Aber ich glaube, an euren Küchenabfallmülleimer kommen die so nicht dran."

"Das, wo eine Katze und erst recht ein Kniesel nicht dran kommt muss fest verschlossen sein oder von einer Feuerwand umgeben sein", meinte Julius dazu. Dann war das Thema für ihn auch schon abgehakt.

"Ich schicke gleich noch die Nachricht an alle von uns, dass unser Baby jetzt da ist. Am Besten machen wir dann auch schon klar, wann wir die Willkommensfeier machen", sagte Millie.

"Spar dir deinen Atem besser auf, Millie. Du hast einen sehr anstrengenden Kraftakt überstehen müssen, und die Kleine will sich wohl schon genug Nahrung für die nächsten Stunden einverleiben", sagte Béatrice Latierre und grinste die nun zweifache Mutter verwegen von unten an.

"Ich will mich auch nicht mit dir herumstreiten, Tante Trice", erwiderte Millie leise, um das kleine Mädchen nicht zu erschrecken.

"Dann hätte ich Ihnen auch empfohlen, sich bei der dritten Schwangerschafts- und Geburtsbegleitung einer anderen Heilerin anzuvertrauen, vorzugsweise der residenten Heilerin und Hebamme Madame Matine", erwiderte Béatrice.

"Die wird wohl gleich auch auftauchen", sagte Julius. "Zumindest hat sie dich gewähren lassen."

"Die kommt erst, wenn ein neuer Erdenbürger in ihrer selbsttätig mitschreibenden Kartei verzeichnet ist", sagte Millie. "Dazu muss ich die kleine erst benennen. Dann tun wir das doch. In Absprache mit meinem Ehemann geben wir unserer zweiten Tochter den Namen Chrysope Martha Latierre! Schön, dass du jetzt bei uns bist!"

"Jetzt dürfte es bei Hera und Madame Faucon geklingelt haben", scherzte Julius.

"Was aber nichts daran ändert, dass ich die erbetene und damit zuständige Hebamme bin und bleibe", sagte Béatrice entschieden. Da klang das Glockenspiel, "Wie leuchtet mir der Apfelbaum".

"Die hat auf glühenden Kohlen genächtigt", scherzte Julius. Dann eilte er die gläserne Wendeltreppe bis zur großen runden Wohnhalle mit Küche hinunter.

"Guten morgen Hera, du kommst gerade richtig, um jemand neuen kennenzulernen", begrüßte Julius die altgediente und in Millemerveilles ortsansessige Heilerin und Hebamme.

"Ich höre sie nicht. Ist sie schon am saugen?"

"Ja, ist sie. Sie ist gerade erst zehn Minuten aus dem Mutterleib heraus. Millies Hebamme hat keine besorgniserregenden Abweichungen bei den Geburtsparametern festgestellt. Die Nachgeburt hat sich auch schon gelöst."

"Trotzdem möchte ich als für euch alle zuständige Heilerin, die zugleich auch die vor- und nachgeburtliche Betreuung versieht, zumindest sehen, wer da in den nächsten Jahren meine Hilfe brauchen könnte", sagte Hera Matine ganz freundllich. Dieser Wunsch wurde ihr nicht verwährt.

"Gleich braune Augen? Offenbar stimmt doch, was ich über Ihre Familie erfahren habe, Mademoiselle Latierre", wandte sich Hera an Béatrice, als sie gesehen hatte, dass es Mutter und Kind gut ging.

"Dass nur jedes fünfte Hexenmädchen der Latierresippe mit blauen Augen auf die Welt kommt und die anderen vier die rehbraunen Augen Eudora Latierras haben, die damals Orions Sohn Arcturus geheiratet hat, der sich danach ihren Nachnamen zugelegt hat", sagte Béatrice. "War Orion dem Wilden damals nicht so recht, dass einer seiner Söhne den Namen seiner Frau angenommen hat, wo er doch meinte, dass Frauen den Männern zu gehören hätten und nicht umgekehrt."

"Nachzulesen in "Die lange Linie der Latierres", ergänzte Julius. Offenbar machte es ihm nichts aus, dass Chrysope nicht wie ihre Schwester Aurore seine blauen Augen bekommen und bisher behalten hatte. Dann wandte er sich an das in der Wohnhalle aushängende Vollporträt von Viviane Eauvive. "Viviane, sagst du meiner Mutter bitte, ihre zweite Enkeltochter ist angekommen?"

"Deine Mutter ist gerade erst ins Bett gegangen. Aber sie bat mein bei ihr weilendes Ich darum, mich zu bitten, sie zu informieren, wenn die kleine Chrysope da ist." Sprach's und verschwand durch den linken Bilderrahmen.

"Wie lange hast du jetzt Urlaub, Julius?" fragte Hera Matine

"Bis zum Valentinstag", sagte Julius. "Mehr ging leider nicht, weil Väter nach Geburten nicht so großzügig beurlaubt werden wie die Mütter, hat Ornelle Ventvit mir erklärt. Ja, und da ich ja schon seit dem dreißigsten Januar Urlaub habe seien sechzehn Tage wohl das äußerste."

"Ich hörte von meiner Kollegin Heidrun Silbergras, deren Großtante Euphrasia Maiglock ihr ja von der Quidditchweltmeisterschaft her kennt, dass sie die Muggelgesetzgebung übernehmen möchten, demnach auch Väter einen so genannten Erziehungsurlaub erbitten können. Aber wir hier in Frankreich sind in der Hinsicht noch sehr traditionell."

"Wäre zumindest günstig, wenn schon ein Kind da ist, dass die Mutter entlastet wird", sagte Julius dazu. "Da ich keine großen oder kleinen Geschwister habe weiß ich nicht, wie ich das regeln kann, wenn Aurore über die erste "Ist die Niedlich-"-Zeit weg ist und in Chrysope vielleicht eine Konkurrentin sieht."

"Da können wir dir aber genug erzählen", sagte Béatrice. Millie sagte dazu noch: "Das "vielleicht" kannst du schon mal weglassen. So oder so werden sich die beiden und jeder und jede nach denen als Konkurrenten sehen. Das kannst du auch nicht durch viel Aufmerksamkeit aus denen rauskriegen. Ich hatte mit Tine immer irgendwas, um das wir uns gekäbbelt haben."

"Ja, und ich musste mich auch daran gewöhnen, schon große Brüder und Schwestern zu haben, die natürlich alle wussten, was für mich das richtige ist, vor allem, nicht an deren Sachen dranzugehen", sagte Béatrice. Dann schmunzelte sie und sagte: "Und ob du immer ohne Geschwister bleibst ist ja auch nicht mehr soooo sicher." Das konnte Julius nicht abstreiten.

"Also, Madame Latierre, wenn das Kind satt ist möchte ich, dass sie sich wie verabredet in das Einzelbettzimmer legen, um dort die nächsten zwei bis drei Wochen auszuruhen und sich zu erholen", sagte Béatrice Latierre.

"Muss das echt sein, Tante Trice", grummelte Millie. Béatrice Latierre nickte entschlossen. Dann sagte sie:

"Du merkst das jetzt nicht, Millie, weil du auf dem Stuhl sitzt und dabei halb liegst. Aber dein Körper hat sich sehr verausgabt. Ja, und bevor du mir damit kommst, dass die Muggelmütter schon am zweiten Tag nach der Geburt aus diesen überhellen und seelenarmen Krankenhäusern hinausdürfen, dann sage ich dir zum wiederholten mal, dass zu einer Mutter-Kind-Beziehung nicht nur die Geburt und das Stillen gehören, sondern auch die Zeit, um sich einander kennenzulernen und dem Kind zu zeigen, dass es auch nach der Geburt gut beschützt und versorgt ist."

"Ja, und eben dazu gehört genug Ruhe", sagte Hera Matine. Millie sah sie verdrossen an. Doch sie wagte keine neuen Einwände.

"Julius, deine Mutter freut sich und lässt euch mitteilen, dass sie gerne übermorgen zu Besuch kommen möchte. Im Moment, so hat sie wörtlich gesagt, traue sie sich nicht zum Luftschifflandehafen Viento del Sol. Den Grund dafür wollte sie meinem dortigen Ich nicht kundtun", vermeldete Viviane Eauvives Vollporträt.

"Weil Chloe Palmer sie auf der Party am dreiundzwanzigsten so angeguckt hat, als wollte die abklopfen, ob meine Mutter nicht demnächst ihre Patientin sein könnte", sagte Julius. Béatrice grinste, ebenso Millie.

"Gut, was ich hier erledigen wollte habe ich erledigt. Ich wünsche euch nun vieren, dass ihr immer so gut miteinander zurechtkommt, dass die anfallenden Streitigkeiten, die sicher aufkommen werden, nur die berühmten Gewitter sind, die die Luft wieder reinigen!" Dann ging die residente Heilerin von Millemerveilles wieder.

"Na, ob das mit den noch fehlenden Geschwisterchen schon erledigt ist, Monju?" feixte Millie, während ihre gerade eine halbe Stunde alte Tochter immer noch die erste Milchration ihres taufrischen Lebens einsaugte. Julius konnte im Moment nur dazu den Kopf wiegen. Dann sagte er schnell: "Ich kann das auch mit dem Rundbrief an unsere Verwandten machen, Millie."

"Du kannst deinen anderen großen Freunden und Freundinnen bescheid geben. Abgesehen davon hat Britt kein Porträt von irgendwem, dessen Bild bei uns herumhängt." Julius verstand. So ging er daran, alle die anzuschreiben, die das wissen sollten. Vor allem Pina und Gloria wollten ja wissen, ob die neue Latierre echt am Imbolgtag, dem die Christen den Namen Mariä Lichtmess gegeben hatten, zur Welt gekommen war. Auch wollte er Kevin und Patrice zur kleinen Tochter gratulieren und Kevin die nötige Ruhe und Geduld wünschen.

Erst erledigte er das mit den Bilderwesen wie Auroras Bild-Ich, dem Pappostillon und Viviane, die er noch zu Jeanne und Camille schickte. Dann schrieb er von Hand Briefe an die von Millie und ihm gefragte künftige Patin Belisama Lagrange, danach Gloria, Pina, Kevin und die Hollingsworth-Zwillinge. Danach wechselte er zu Fuß in den fliegenpilzförmigen Schuppen über, wo seine elektronischen Fernverständigungsgeräte bereitstanden. Er schickte E-Mails an die Priestleys und die Familie Brittany und Linus Brocklehurst, die er bei der Gelegenheit bat, die Redliefs zu grüßen. Da er leider keine Zauberfotos einscannen konnte ließ er es bleiben, noch einen ausführlichen Brief an seine Mutter zu schreiben.

Als er wieder im Apfelhaus war trug Millie die kleine Chrysope auf wackeligen Beinen in das Wochenbettzimmer, wo auch die Wiege stand, in der Aurore schon die ersten Lebensmonate zugebracht hatte.

"Ich fürchte, wenn Bruno meine Nachricht kriegt will der bald schon eine Babypinkelparty besuchen", seufzte Julius. Doch dann fiel ihm ein, dass er noch ein ganzes Fass Met und ein kleines Fass Rotwein im Vorratslager stehen hatte. Damit ließ sich sogar jemand wie César Rocher bis zum Rand abfüllen. Am fünften wollte Kevin in Lüttich mit allen, die ihm den Auszug aus Irland vergeben hatten seine Tochter Shivaun Rénée so richtig pullern lassen. Millie hatte ihm gesagt, wenn er Kevin noch mit zurücktragen könne dürfe er ruhig ohne sie und Chrysie dort hingehen.

"Es ist für mich immer wieder ein erhabenes Gefühl, jemandem auf die Welt zu helfen", gestand ihm Béatrice ein. Julius nickte. "Ich danke dir, dass ich dabei zusehen konnte. Dass das bei euch Hebammenhexen immer noch nicht selbstverständlich ist weiß ich ja."

"Millie wollte dich dabei haben und du bist bei allen Geburten, bei denen du bisher zusehen oder assistieren durftes nicht aus den Schuhen gefallen oder hast mit deiner letzten Mahlzeit Boden oder Wände vollgespritzt. Mein werter Stiefvater musste sich schon erbrechen, als Maman die Fruchtblase geplatzt ist. Ich sehe es aber wie Millie und du, dass Beide Eltern ihre Kinder bei der Geburt miterleben dürfen, wenn sie das wollen. Außerdem hattest du ja noch den Herzanhänger um. Da wäre es eh Blödsinn gewesen, dich rauszuschicken."

Im Kamin rauschte es, und aus einem smaragdgrünen Wirbel erschien die füllige Ursuline Latierre. Sie kletterte vom Kaminrost und umarmte erst Julius und dann ihr achtjüngstes Kind. Dann besuchte sie ihre Enkeltochter und ihre zweite Urenkelin in Wochenbettzimmer. Zwei Minuten später erschien Hippolyte Latierre aus dem Kamin. Ihr folgte keine zehn Sekunden später ihr Mann Albericus. Sie beglückwünschten Julius. Béatrice nahmen sie fast nur als erwartetes Beiwerk wahr. Albericus übergab Julius eine Magnumflasche Rotwein. "Die kriegen Bruno und César wohl alleine leer", scherzte Julius.

"Nicht, bevor du mit mir davon was getrunken hast, werter Schwiegersohn. Auch grüße von Tine. Sie hat ihren Pappostillon bei sich im Büro und wäre auch gerne gekommen. Aber eine gewisse Mademoiselle Béatrice Latierre hat ihr das Flohpulvern untersagt, auch wenn ihre eigentliche Hebamme da nichts gegen hatte.

"Ichhabe einige Streitpunkte mit Madame Matine, aber in der Hinsicht, wann eine Schwangere noch flohpulvern darf oder nicht mehr sind wir uns beide zu einhundert Prozent einig, Berie", sagte Béatrice Latierre.

"Meine Mutter meinte, du solltest dich um die Frauen kümmern, die dich von ganz alleine an sich und ihre Kinder ranließen und nicht meinen, ihr auch noch die wegzunehmen, die sich ihr immer noch anvertrauen", sagte Albericus Latierre.

"Sage ihr von mir Gleichfalls, Berie", schnarrte Béatrice.

Nachdem auch Millies Eltern ihr neues, in der Wiege schlafendes Enkelkind bestaunt hatten öffnete Albericus den mitgebrachten Rotwein und trank mit Julius, Ursuline und Hippolyte auf das Leben und die Gesundheit von Chrysope Martha Latierre. Eigentlich wollten Julius und Millie Béatrice als Patin für die neue Erdenbürgerin registrieren lassen. Doch Béatrice hatte auf eine Heilerrichtlinie verwiesen, demnach Hebammen nur dann die Patenschaft über ein von ihnen auf die Welt geholtes Kind übernehmen durften, wenn sie verheiratet waren und schon eigene Kinder zu versorgen hatten. Das fand Julius zwar ein wenig merkwürdig, musste es aber hinnehmen. So sagte er: "Wir haben Jeanne gefragt, ob sie die Patin wird. Die hat aber gesagt, dass sie schon die Patin von Barbara van Helderns Kindern sei und die ja Patin ihrer Kinder sei. Irgendso'n Gesetz sagt, dass jemand nur Pate oder Patin von dem Kind oder den Kindern eines Elternpaares werden dürfe. Wusste ich vorher auch nicht. Gemäß den Regeln, dass Pate nur jemand des gleichen Geschlechtes und desselben Geburtslandes sein darf haben Millie und ich Belisama gefragt. Ich habe sie auch schon angeschrieben", sagte Julius. Als habe er damit ein Zauberwort ausgesprochen fauchte es wieder im Kamin, und erwähnte Hexe erschien auf dem Kaminrost.

"Hallo ihr fünf. Ich hoffe, ich komme nicht zu plötzlich angerauscht", sagte die junge Hexe mit dem honigfarbenen Haar und den bergquellklaren Augen. Dann beglückwünschte sie Julius zu der neuen Tochter. Wenn Julius daran dachte, dass Belisama und Millie sich früher einmal um ihn gestritten hatten empfand er das jetzt als endgültiges Ende dieser lange zurückliegenden Auseinandersetzung, dass sie sich freute, Chrysopes Patin sein zu dürfen. Dann sah sie, ob das Angebot noch gelte, dass sie ihrem Vater gemacht habe.

"Aber sicher gilt das noch, junge Mademoiselle Lagrange", sagte Ursuline. "Immerhin meint dein Vater ja, er hätte endlich eine Strategie, mit der er mich in zwanzig Zügen mattsetzen könne. Falls es klappt kenne ich dann eine siegreiche Strategie mehr. Falls er verliert hat er eine wichtige Erfahrung mehr im Leben gemacht. Das lasse ich mir garantiert nicht entgehen."

"Wo ist denn Aurore?" fragte Belisama.

"Die schläft im selben Zimmer wie meine vier ganz kleinen. Mein Mann und meine Tochter Barbara passen auf die kleinen Wildfänge auf."

"Deshalb werden wir zwei auch gleich wieder nach Hause flohpulvern", sagte Béatrice Latierre. "Millie soll sich erst mal ausschlafen. Ich bringe euch Aurore dann heute Abend wieder vorbei." Julius nickte.

Als Béatrice und Ursuline wieder davongeflohpulvert waren unterhielten sich Julius, seine Schwiegereltern und Belisama über die Geburt und auch, dass Patrice Malone auch ihr erstes Kind bekommen hatte.

"Gefällt es Kevin noch bei der belgischen Handelsabteilung?" fragte Belisama.

"Das darfst du ihn fragen, wenn wir am neunten die Willkommensfeier für Chrysope haben", sagte Julius. "Aber jetzt, wo die kleine Shivaun Rénée da ist muss er sich noch mehr beherrschen, nicht mit allen Krach zu kriegen. Denn Patrice gefällt es da, wo sie wohnen. Corinne ist ja Patin von der Kleinen."

"Wird sicher interessant für die, mitzukriegen, was ein so kleiner Mensch alles für Gefühle rüberbringt." Julius nickte.

Die magische Türglocke läutete. Davor warteten alle in Millemerveilles wohnenden Dusoleils, wenn sie nicht gerade wie Dénise in Beauxbatons die Schulbank drücken mussten. Camille meinte sofort: "Die Wirkung der Schutzbezauberung ist um einiges stärker geworden. Offenbar hat die Geburt eine erhöhung der alten Kraft heraufbeschworen."

"Wird bei den beiden von mir auch passiert sein, sagte Jeanne und deutete auf ihre Zwillinge Janine und Belenus sowie auf Viviane, die in den letzten Monaten wieder einen kleinen Schuss in die Höhe getan hatte, aber auch einen kugelrunden Bauch hatte, als würde Jeanne demnächst schon Großmutter. Das lag aber daran, dass ihre vier Großeltern sie immer mit viel Süßkram fütterten, um sie hübsch ruhig zu halten, wusste Julius.

"Dein und Millies Einverständnis vorausgesetzt habe ich das Barbara in Brüssel weitergemeldet. Die hat auch schon die kleine Shivaun zu sehen bekommen. Patrice hat sie einmal im Ministerium rumgezeigt. Barbara meinte, sie hätte auch Millies Tochter sein können. Oh, da hätte es fast ein Hexenduell auf dem Flur zur Handelsabteilung gegeben."

"Ist auch nicht nett, einer Mutter aufzutischen, dass ihr Kind wie das von einer anderen Mutter aussieht", meinte Camille dazu. "Oder würdest du das gut finden, wenn jemand behauptet, Viviane sei nicht deine Tochter, sondern deine Cousine mütterlicherseits."

"Maman, ich hab's begriffen", knurrte Jeanne.

"Oh, die muss ich noch anschreiben, vielleicht auch Babette. Aber wie ich Callie, Pennie, Patricia und Mayette einschätze haben sie's Melanie spätestens nach dem Mittagessen erzählt."

"Dann kriegst du sicher heute noch einen Kontaktfeueranruf von Blanche", sagte Camille.

Im Apfelhaus waren weitere Besucher eingetrudelt, Catherine und Claudine Brickston. "Joe hat es abgelehnt von mir durch den Flohpulverkamin geschmuggelt zu werden", sagte Catherine und beglückwünschte Julius zum zweiten Kind. Dann ging sie mit Claudine zu Millie. Unterwegs flüsterte sie Claudine zu, ganz artig leise zu sein, weil das Baby jetzt schlief.

Gegen Mittag liefen auch César , Laurentine und Caroline bei den Latierres auf. Caroline hatte ihrem Vater ein kleines Fass Erdbeerwein abluchsen können. Sie hielt auch gut beim Rotwein mit, den Julius nun doch schon vor der offiziellen Feier angezapft hatte. Mittags halfen Jeanne, Belisama und Catherine Julius beim Essen machen. Millie und Chrysope schliefen tief und fest. Chrysope hatte schon Freundschaft mit dem speichelabweisenden Murmeltier und der grünhaarigen, orangerotschwänzigen Planschnixe geschlossen.

Nachmittags um drei kam Laurentine mit einer Horde Mädchen aus der vierten Klasse. Die Jungen hatten keine Lust auf Babygucken. Sie sangen der neuen Mitbürgerin das Lied von der Sonne und den Tautropfen, die den neuen Tag begrüßten. Chrysope quengelte zwischendurch und schrie auch, weil das alles ihr im Moment noch zu laut war.

"hast du schon im Internet nachgesehen, was das Murmeltier Phil für die nächsten sechs Wochen vorausgesagt hat?" fragte Laurentine. Julius grinste und schüttelte den Kopf. Laurentine grinste zurück und verließ kurz das Apfelhaus und den weißmagischen Schutzbereich der durch Ashtarias Formel bestärkten Apfelbäume. Auf der Höhe von Julius' Gerätepilz rief sie bei ihren Verwandten in Kalifornien an und fragte nach dem besondren Wetterbericht.

"Echt? ... Dann eben noch mal sechs Wochen ... Bei uns auch nicht. Schnee wäre hier was total abgedrehtes, Oma. ... Gut, demnächst per Internet-Chat. Öhm, Echt, die beiden haben es noch nicht aufgegeben? ... Wenn die das Geld haben wollen sollen die sich als Panzer an die US-Armee verhökern lassen, die sind nur halb so stur. ... Mir geht's gut. Meine Schüler und ich haben heute das neue Baby von Julius besucht. ... Richtig, ein kleines Mädchen. Habe echt vergessen, wie klein so'n Baby ist ... Ja, war ich und du auch, Oma ... Dann heute Abend meiner Zeit im Chat ... Ja, mach ich gerne - Soll deine Frau und dich schön von Oma Monique grüßen, Julius!" Julius bedankte sich laut genug, dass es auch über alle zwischen Laurentine und ihrer verwitweten Großmutter stehenden Satelliten hinübergelangte. "In den Osterferien vielleicht? Kläre ich noch mit meiner Chefin, die ist sehr strickt, was Urlaubspläne angeht. Kleine Schule, wenige Lehrer ... Ja, versuche ich. ... Ich dich auch." Sie schmatzte ihrem Handy noch einen Kuss auf und beendete die Verbindung. "Also, Julius, du hast es gehört, Punxsutawney Phil hat erklärt, dass er oder sie - habe ich bis heute nicht raus - den eigenen Schatten sieht."

"Dann eben noch mal sechs Wochen Winter", lachte Julius.

Drinnen im Haus durften Julius und Laurentine den von Belisama und Catherine mit Kakao und Kuchen versorgten Viertklässlerinnen erklären, was es mit dem Murmeltiertag auf sich hatte und warum der ausgerechnet am Imbolgtag stattfand. Dann gab Julius eine Kurzbeschreibung des nach diesem Ereignis benannten Spielfilms. Die Mädchen wollten den gerne sehen. Julius sah Florymont an und meinte: "Da müssten Monsieur Dusoleil und ich was erfinden, um Muggelfilme in Laterna-Magica-Vorführungen umzuwandeln. Wäre mal ein interessantes Projekt auch im Hinblick auf den Muggelkundeunterricht in Beauxbatons."

"Ich habe die DVD zu Hause. Das Problem ist ja die gegenseitige Störung von Magie und Elektronik."

"Vielleicht geht es, wenn einer den Film unter Kopfhörern und mit einer Art 3-D-Brille sieht und die Erinnerungen dann in die Matrix für die Laterna-Magica-Illusionen umwandelt", stellte Julius eine Vermutung an.

Während sie weiter über neue Kinder, Murmeltiere und alle möglichen Wettervorhersagearten sprachen ploppte es im Kamin der großen Fest- und Empfangshalle im untersten Stockwerk des Apfelhauses und Ornelle Ventvits Kopf erschien. Ihr Gesicht errötete leicht, als sie die ganzen großen und kleinen Besucher sah. Dann entschuldigte sie sich für ihr unangemeldetes Erscheinen. Julius erwähnte, dass sie eine kleine Feier zur Ankunft seiner Tochter Chrysope Martha abhielten. Sie gratulierte ihm und Millie, die gerade mit dem kleinen Bündel Leben auf den Armen hereinkam. "So, damit ihr auch mal seht, wie sie mit offenen Augen aussieht, Mädels", sagte sie und strahlte die jüngeren Mädchen an. Dann sah sie auch den im Kamin hockenden Kopf von Julius' Vorgesetzten. "Oh, guten Tag, Mademoiselle Ventvit!"

"Guten tag und auch an Sie meinen herzlichsten Glückwunsch, Madame Latierre. Ich wollte auch nur durchgeben, dass Madame Léto bei uns angefragt hat, ob sie sich mit Julius morgen früh treffen könne, bei ihr oder bei ihm wäre ihr gleich. Zu uns kann sie leider nicht, weil die Absprache weiterhin gilt, dass sie nur dann zu mir ins Büro darf, wenn Ihr Kollege Delacour nicht in der Nähe ist, Monsieur Latierre."

"Ich hatte sowas in Erinnerung, dass sie mich wegen der Suche nach Euphrosyne noch mal ansprechen wollte", seufzte Julius, der hier und heute nicht an seinen Beruf erinnert werden wollte. Vor allem fürchtete er, dass aus dem bis zum Valentinstag genehmigten Urlaub nichts mehr werden würde, falls die Veela Léto ihn wegen ihrer Verwandtschaft um Hilfe oder Beistand bat.

"Öhm, hat Madame Léto schwierigkeiten mit der Schutzglocke über Millemerveilles?"

"Natürlich nicht, weil sie bisher niemanden mit ihrer Magie getötet hat", sagte Ornelle. "Soweit ich weiß war ihre Enkeltochter Fleur ja auch schon öfter in Millemerveilles." Julius verzog das Gesicht. Da hätte er echt von selbst drauf kommen müssen. Er schickte nur schnell nach, dass Fleur ja keine reinrassige Veela sei und da eine mögliche Abwehrreaktion der sardonianischen Schutzglocke nicht so heftig einwirken würde.

"Dann möchten Sie Madame Léto in Ihrem Haus empfangen?" fragte Ornelle. Julius hätte fast gefragt, dass er das eigentlich nicht mochte. Doch er wollte weder Léto vor den Kopf stoßen, noch als einer rüberkommen, der ihm zugeschusterte Aufgaben ablehnte, sobald sie ein wenig unangenehmer wurden. So sagte er, dass er Léto morgen um zehn gerne am See der Farben begrüßen würde. Denn flohpulvern konnte eine reinrassige Veela genausowenig wie apparieren.

"Das gebe ich dann an Monsieur Delacour weiter, dass er die Nachricht auf den üblichen Wegen übermitteln lässt", bestätigte Ornelle. Dann verschwand ihr Kopf wieder. Laurentine winkte Julius zu und sagte dann, dass sie noch einmal zu Madame Dumas wolle, um den U-Boot-Ausflug durch den Farbensee abzuklären. Sie winkte Julius und sagte: "Wenn du möchtest, kannst du mitkommen und Sandrine die frohe Botschaft überbringen, dass ihr jetzt auch zu viert seid. Die ist nämlich gerade mit ihren Zwillingen bei ihren Eltern." Julius verstand, dass Laurentine nur einen Vorwand brauchte, um mit ihm alleine zu sprechen, ohne dass ihre Schülerinnen dumme Fragen stellten. Er nickte und fragte, ob sie apparieren sollten. Laurentine bestätigte das.

"Ich bin in einer halbenStunde wieder da. Vielleicht kommt Sandrine auch noch, falls du das möchtest, Millie."

"Sage ihr, sich für den neunten Februar freizunehmen, Julius", erwiderte Millie. So ließ Julius seine Frau und die ganz kleine Latierre bei Catherine, Camille, Jeanne, Florymont und den hinter einem Wandschirm um die Wette trinkenden Bruno und César alleine.

Fünfzig Meter vom Apfelhaus entfernt nahm Laurentine Julius an einen Arm. Sie übernahm die Zielausrichtung. Da sie in der Apparierprüfung wie Julius 100 von 100 Bewertungspunkten erzielt hatte vertraute er sich ihr bedenkenlos an. Beide durchdrangen das sie zusammenstauchende schwarze Zwischenstadium zwischen Hiersein und Dortsein. Als sie dann am Ufer des Farbensees herauskamen nickte Julius. Dann sagte er: "Moment, ich mach mal eben den Rundumlauschabwehrschirm!" Er verwendete den von Gloria gelernten Muffliato Totalum, um sich und Laurentine eine für Fernbelauschung undurchdringliche Barriere zu erschaffen. Dann fragte er:

"Du hast so geguckt, als Ornelle Léto und Fleur erwähnt hat. Warum?"

"Weil ich gestern in der Internetausgabe eines französischen Fußballmagazins einen Artikel aus dem Jornal Havrais aus Le Havre gefunden habe. "Aron Lundis bezaubernde Begleitung - Himmlische Liebe oder höllische Leidenschaft?" war die Schlagzeile. Da wurde ein junger Fußballspieler namens Aron Lundi erwähnt, der mit gerade zwanzig Jahren zum FC Barcelona wechselt. Die Story wurde deshalb so aufgeschaukelt, weil durchgeknallte Fans von seinem bisherigen Club den Spieleranwerber aus Barcelona auf offener Straße zusammenschlagen wollten und der sich mit Karate gegen sechs Leute durchgesetzt hat. Jedenfalls muss so ein Spannerfotograf vom Journal den heimlich geknipst haben, wie er mit einer goldblondhaarigen Frau zusammen war. Das verrückte daran ist, die sieht fast so aus wie Mademoiselle bin-ich-nicht-wunderschön Fleur Delacour oder ihre ihr langsam immer mehr ähnelnde Schwester Gabrielle, nur das die goldblondes Haar hat und nicht dieses silberblond wie die Delacour-Mädchen. Wo deine Chefin das gerade mit Fleur und dieser Léto, wohl ihrer ganzveela'schen Oma erwähnt hat fiel mir ein, dass es vielleicht damit zu tun haben könnte."

"Millie hat mir heute morgen gesagt, aus einem meiner Sätze das Wort "vielleicht" herauszustreichen. Ich fürchte, das muss ich dir auch empfehlen", grummelte Julius. "Denn ich denke nicht, dass du mir jetzt was vom grünen Pferd erzählst. Stand da noch mehr drin?"

"Ja, dass der Knipserich vom Journal behauptet hat, erst aus zweihundert Metern Entfernung ein klares Bild von ihr auf Video bekommen zu haben. Die ist in einem Auto fotografiert, von der Außenansicht her ein großer Renault."

"Hmm, zweihundert Meter Entfernung? Näher an ihr dran konnte er kein Foto machen?" fragte Julius.

"Weder von ihr noch von ihm. Viele Kollegen von dem halten die Story für eine tonnenschwere Ente und haben den Artikel auf ihren Seiten mit den Worten Quak quak und "Überirdischer Kicker trifft außerirdische Prinzessin, um die neue Nationalmannschaft von Andromeda zusammenzuklonen kommentiert." Aber ich bin mir absolut sicher, dass dieses Frauenzimmer in dem großen Brummer fast wie Fleur und Gabrielle aussieht. Haben die nicht eine Menge Cousinen über das Land verteilt?"

"Ja, ein paar sind es. Ich habe als Veela-Zaubererweltkontakter einen Stammbaum erstellt, wer da mit wem verwandt ist", sagte Julius. Er verschwieg Laurentine, dass er von denen eine bisher nicht persönlich getroffen hatte. Aber sich vorzustellen, dass die mit einem Jungstar aus dem Fußball herumkutschiert wurde ... war nicht so abwegig. Dann fiel ihm ein, dass Gabrielle auch den Namen Aron Lundi erwähnt hatte. Dann passte es leider doch, dachte er. Doch äußerlich ließ er es sich nicht anmerken. Er bedankte sich nur bei Laurentine, dass sie ihm den Tipp gegeben hatte. Er wollte dem zumindest mal nachgehen, bevor wer anderes noch meinte, sich darum kümmern zu müssen. Danach apparierten sie zu den Dumas'. Die Lauschabwehrbarriere fiel eine Sekunde nach dem Verschwinden ihres Urhebers zusammen.

Sandrine begleitete Julius zum Apfelhaus und gratulierte Millie. Sie wirkte jedochnicht sonderlich erfreut. Das lag aber nicht daran, dass Millie nun auchzwei Kinder hatte, sondern daran, dass Gérard offenbar gezielt auf Aufträge ausging, die ihn über Tage und Wochen von ihr wegführten. "Ich kann verstehen, dass er sich für die beiden und mich reinhängen will, zumal seine Eltern ihm wohl immer noch in den Ohren liegen, dass er zu jung geheiratet hat. Aber ich weiß echt nicht, warum ich nicht mal frage, ob er nicht lieber wieder alleine sein will. Ich kann nur froh sein, dass die Zwillinge da sind. Sonst würde mir in dem großen Haus die Decke auf den Kopf fallen."

"Ist der jetzt fest bei Omnes viae?" fragte Julius.

"Ja, hat sich neben Französisch noch Spanisch, Deutsch und Englisch eingetrichtert und will demnächst noch Mandarinchinesisch lernen, um bei denen im Osten Möglichkeiten für Omnes Viae auszuloten."

"Vielleicht ist er davon besessen, es seinen und deinenEltern so richtig zu zeigen und sucht eine Möglichkeit, ein noch größeres Haus zu kriegen, damit ihr da leben könnt", seufzte Julius. Er dachte an seinen Vater, der auch mal gemeint hatte, mit einer steilen Karriere was für seine Familie tun zu können. So fragte er: "Wie oft sehen die beiden ihren Vater denn so im Monat?"

"Hallo Hera, wusste nicht, dass du ein Dibbuk bist und dir junge Väter als zeitweilige Wirtskörper aussuchst", grummelte Sandrine. Julius verzog erst das Gesicht. Als Sandrine dann aber schalkhaft grinste musste er auch grinsen. "Genau dieselbe Frage hat Hera Matine mir nämlich auch gestellt. Sie begründete das damit, dass es für ihn wichtiger sein sollte, eine gesunde Beziehung zu seinen Kindern zu haben, da ich ja durch diesen Regenbogencocktail ja schon ganz fest auf die beiden eingeschworen bin. Gefiel mir zwar nicht, wie sie das so kühl heruntergeleiert hat, stimmt aber leider. Na ja, sie gibt ihm noch einen Monat. Wenn er dann von seinem nächsten Ausflug nach Südamerika zurückkommt will sie mit ihm unter vier Augen sprechen."

"Das könnte danebengehen, Sandrine", seufzte Julius. "Gérard hört nicht immer auf Heilerinnen, die ihm was raten."

"Ja, und was kannst du mir neues erzählen?" schnaubte Sandrine zur Antwort.

"Dass das Murmeltier in Punxsutawney noch sechs Wochen dauernden Winter vorhergesagt hat", erwiderte Julius.

"Schön für das Murmeltier, dann kann das zumindest noch sechs Wochen Winterschlaf halten", schnarrte Sandrine. Dann sagte sie: "'tschuldigung, ich wollte dich nicht ausgerechnet am Geburtstag der kleinen Chrysope mit meinem Seelenmüll beladen."

"Ich habe dich gefragt, was dich gerade so bedrückt, Sandrine. Hätte mich das nicht interessiert, hätte ich dich nicht gefragt", sagte Julius.

"Das ist nett von dir. Hmm, danke, dass du mir zugehört hast. Aber sage Millie nichts davon! Nachher meint die, Gérard wolle mich genauso loswerden wie sie damals."

"Gut, ich sage Millie nichts. Ich denke nur, dass sie in der Zeit, die wir in Beaux waren auch mehr dazugelernt hat und sowas nicht behauptet, weder wo du dabei bist noch wo du nicht dabei bist", verteidigte Julius seine Frau. Sandrine nickte.

Wieder zurück in der Wohnhalle trank die Besucherin noch ein Glas Rotwein mit und nahm eine verschließbare Karaffe für ihre Eltern mit. Dann kehrte sie per Flohpulver in ihr Elternhaus zurück.

Am Abend - Außer Millie, Chrysope und Claudine war keiner mehr so richtig nüchtern - brachte Ursuline die nun nicht mehr ganz kleine Aurore zu ihren Eltern zurück. Sie begrüßte ihr gerade seine Abendmilch trinkendes Schwesterchen und ließ sich von ihrer Mutter die weniger blutigen Einzelheiten von der Geburt erzählen. Millie und Julius hatten vereinbart, das sie ihren Kindern, wenn sie gut genug sprechen konnten, nicht die Geschichte von irgendeinem Regenbogenvogel auftischen wollten. Als Aurore ihrer kleinen Schwester eine gute Nacht gewünscht hatte brachte ihr Vater sie ins Bett.

"Jetzt haben wir zwei von der Sorte", tat er angenervt, als er zu seiner Frau zurückkehrte. . Doch dann lächelte er und küsste seine Frau noch einmal. "Danke, dass du das noch mal für mich durchgestanden hast, Mamille", flüsterte er.

"Ich steh das auch noch mal und nochmal durch, wenn wir die Zeit dafür haben, Monju. Ich glaube, ich lege mich besser auch jetzt hin, Öhm, wenn Léto dich wegen einer von ihren Enkelkindern aus demUrlaub rausholen will, dann frag bitte bei Ornelle an, ob die zugestandenen Tage nachgeholt werden können!"

"Ich hoffe auch, dass ich den Urlaub nicht abbrechen muss", seufzte Julius.

Als Millie sich hingelegt hatte schlich Julius noch einmal aus dem Haus in seinem Geräteschuppen. Dort fuhr er den Laptop und das Satellitenmodem hoch. Dann suchte er nach dem, was Laurentine gemeint hatte. Er fand den Artikel ziemlich schnell und las die für uneingeweihte lachhaft anmutende Geschichte über die Frau, die nicht von nahem fotografiert werden konnte. Ein Leser, der ins Kommentarfeld geschrieben hatte meinte: "Ja ja, die Töchter der Lilith geistern immer noch durch die Welt und vernaschen kleine unbedarfte Fußballspieler." Eine Leserin namens Schwester Marie-Clementine ließ eine wilde Tirade darüber ab, wie die Klatschpresse den von ihr und ihren Ordensschwestern zum Anstand und zur Zurückhaltung erzogenen Zögling in den Schmutz zu ziehen trachteten und dass Aron Lundi sich Gott und dem Heiland verschrieben habe und seine unsterbliche Seele ganz gewiss nicht durch die Buhlschaft mit einer Braut des Satans oder ihm da selbst in Gestalteiner sündhaften Dirne gefährden würde. Julius hätte fast zurückgeschrieben, dass die alle keinen Dunst hätten, und dass es mindestens noch zwei wache Töchter der bei den Juden und Christen Lilith genannten Erzmagierin gebe und diese Nonnen hinter einem Mond lebten, wo er aber nicht wisse, welchen Planeten dieser Mond umkreiste. Er stellte sich den jungen Spieler vor, der solche und noch heftigere Moraltiraden mit der Frühstücksmilch zu schlucken bekommen hatte, und wenn er gewagt hatte, sie wieder rauszurülpsen womöglich hundert Rosenkränze im dunklen Karzer herunterzubeten hatte. Außerdem war die Sache zu ernst für ihn. Denn die angeblich erst aus zweihundert Metern Abstand auf Video gebannte Frau sah wirklich aus wie Églée Blériot. Also konnte das nur die von ihm noch nicht interviewte Euphrosyne sein. Er fand es auch irgendwie komisch, sowas erst aus dem Internet erfahren zu können. Dann fiel ihm ein, dass das absolut nicht komisch war. Denn wenn sich Euphrosyne tatsächlich den jungen Aron Lundi als ihren Gefährten ausgeguckt hatte, dann musste er in der Sache vermitteln. Das konnte lange dauern und hart werden.

Als er, wo er schon einmal hier war, noch einmal E-Mails abrief meldete ihm der von seiner Mutter erhaltene Arkanet-Postbote, dass Belle Grandchapeau ihm und seiner Mutter eine Mail geschickt hatte. Er las, dass sie ebenfalls auf den merkwürdigen Artikel gestoßen sei und bereits Kontakt mit Mademoiselle Ventvit aufgenommen habe, da ihre Mutter an diesem Tag wegen bereits bekannter Termine nicht im Büro sein konnte. Sie bat Julius darum, sich in den nächsten Tagen zumindest auf dem Briefweg mit seiner Vorgesetzten zu beraten und falls er eine Möglichkeit fand, mit Fleur Delacours Großmutter zu sprechen. Denn eine veelastämmige Hexe, die einen berühmten Muggel begleitete, gefährde die Zaubereigeheimhaltung. Es sei also unbedingt zu klären, inwieweit diese Viertelveela diese Beziehung ernst meine. Falls es für diese nur ein Experiment sei, so solle sie ersucht werden, es unverzüglich zu beenden. Dem musste Julius leider zustimmen. Ja, aber was sollte passieren, wenn es kein Experiment war? Diese Frage beantwortete Belle nicht. Er schrieb an sie und seine Mutter, dass er bereits ein Gespräch mit Léto verabredet habe und auch den betreffenden Artikel gelesen habe, auf den Laurentine Hellersdorf ihn gebracht hatte. Dann wünschte er seinen beiden Kolleginnen, von denen eine seine Mutter war, noch eine angenehme Nacht und schickte die Nachricht in verschlüsselter Form durch das nur für Zaubereiministerien und ihre muggeltechnisch ausgestatteten Mitarbeiter eingerichtete Darknet. Danach druckte er das Foto der Frau in dem Renault aus und fuhr alles herunter.

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Am See der Farben in Millemerveilles


3. Februar 2002, 10:00 Uhr

Julius winkte dem weißen Schwan, der aus südöstlicher Richtung in einem wilden Tempo angeflogen kam. Der strahlendweiße Vogel zog eine nach innen führende Bremsspirale über seinem Kopf. Dann setzte er auf. Kaum berührten die Vogelfüße den Boden, wurden sie zu schmalen Frauenfüßen in dunklen Lederschuhen. Die Beine wurden zu schlanken, biegsamen Beinen. Die weißen Schwingen wurden zu schlanken Armen in blauem Seidentuch. Aus dem Brustkorb des in die Höhe wachsenden Vogels erblühten pralle Brüste, und der Vogelkopf wurde zum Kopf einer makellos schönen Frau mit hüftlangen, silberblonden Haaren.

"Erst einmal meinen Glückwunsch zur vollendung der zweiten Vaterschaft, mein Junge", begrüßte Léto den jungen Zauberer und schmatzte ihm auf jede Wange zwei Küsse auf. Dann ließ sie sich von ihm zum Apfelhaus führen, allerdings so, dass sie dabei nicht in die Nähe der beiden Knieselbauten kamen. Er hatte nämlich von Goldschweif gesagt bekommen, dass Fleur eine sie zurücktreibende Kraft ausgestrahlt hatte. Fleur war nur zu einem Viertel eine Veela. Also würde Léto Goldschweif noch stärker bestrahlen. Julius fühlte auch, dass sie, ohne es zu wollen, seinen Verstand zu umnebeln begann. Schnell dachte er das Lied des inneren Friedens, um sich vor dem Einfluss der Veela-Aura abzuschirmen.

Als sie in den von den zu einem Pentagramm formierten Apfelbäumen geschützten Bereich um das Apfelhaus kamen fing Léto auf einmal zu keuchen an. Julius fürchtete erst, die weiße Magie Ashtarias, die in den fünf immer noch wachsenden Apfelbäumen lebendig gehalten und weiterverstärkt wurde, würde die Veela doch abwehren, wo Sardonias schwarzmagische Glocke es nicht getan hatte. Doch dann sah er, wie Léto immer verzückter, ja leidenschaftlicher dreinschaute und hörte sie immer wollüstiger stöhnen, als erlebe sie gerade einen besonders anregenden Liebesakt. Keine zehn Sekunden später warf sich Léto zu boden, streckte alle Glieder weit von sich und schrie eine sie überkommende Liebeswallung hinaus. Das rief die Kniesel auf den Plan. Dusty kam näher und schnurrte, während Léto die letzten Wellen ihrer unverhofften Wonne durchlebte. Goldschweif fauchte: "Goldhaarweibchen ganz wild, ist in Stimmung. Bleib weg von der!"

Julius wusste nicht, ob er die ganze Situation jetzt bedauern, sich darüber sorgen oder sie einfach nur lustig finden sollte. Da lag diese Veela am Boden und keuchte, weil ihr scheinbar aus dem Nichts heraus eine übermächtige Wonne widerfahren war.

"Hui, so herrlich überwältigend habe ich es in der Stunde erlebt, in der ich Laure-Rose empfing", stöhnte Léto. "Ihr habt offenbar aus dem versunkenen Schatz einen sehr lebensbejahenden Zauber hervorgerufen und ihn in lebendige Träger gelockt, die ihn um euer Haus halten. Dass mich das derartig ... Oha, es will mich wieder überkommen." Goldschweif fauchte derweil wieder: "Julius geh von der weg, die ist in Stimmung. Die soll nicht deine Junge kriegen, mag ihr Singen nicht."

"Sie passt auf mich auf und hat Angst, du könntest über mich herfallen, weil du in der entsprechenden Stimmung sein sollst", flüsterte Julius.

"Wenn mir das Anliegen nicht zu ernst und du hier nur für dich alleine leben würdest hätte ich dich auch wirklich zu mir geholt und mit dir den Tanz des Lebens getanzt. Aber ich bin aus einem andren Grund hier, als fast vergessene Glückswogen in mir auf- und wieder absteigen zu lassen. Aber ich möchte nicht belauscht werden. Draußen könnt ihr doch nicht diesen Klangkerker machen." Julius erwähnte einen Freiluftzauber, der gegen Belauschung schützte und führte ihn sofort aus. "Oh, kribbelt in den Ohren", grummelte Léto. "Aber wenn er unliebsame Mithörer aussperrt sei es. Ich fürchte, Euphrosyne ist wahrhaftig aufgetaucht und plant, sich einen athletischen Jüngling zum Gefährten zu gewinnen. Wäre nicht so schlimm, wenn dieser Jüngling magische Kräfte hätte und über ihre Natur unterrichtet werden dürfte. Aber er ist kein Träger der Magie."

"Ich weiß", sagte Julius und präsentierte Léto das aus dem Internet abgedruckte Foto. "Das ist bei uns schon im Internet." er gab ihr auch den Artikel, den ein gewisser A. P. verfasst hatte. "Das spart zumindest Zeit", grummelte Léto. Julius fragte sie, woher sie denn wisse, dass Euphrosyne Blériot sich einen jungen Muggelsportler ausgesucht habe. "Von meiner schadenfrohen Schwester Sarja", fauchte Léto. "Sie hat mich vor drei Tagen angesungen und mir mitgeteilt, dass sie zum einen das Vorhaben vereitelt hat, sie und Diosan mit Hilfe bezauberter winziger Geräte mit Flügeln und einem Blutsbandekompass zu finden und zu töten. Sie hat den Sohn dessen, der es versucht hat als Unterpfand zu sich geholt und will ihn fünf Jahre bei sich behalten. Der Zauberer, der sie töten wollte ist von seinen Leuten eingekerkert worden, weil er sein Volk gefährdet hat. Dann hat sie mir das mit diesem Aron Lundi erzählt. Wieso kann jemand nach einem eurer sieben Wochentage benannt werden?"

"Lundi, also Montag war der Tag, an dem der junge Mann als Säugling vor einem von katholischen Ordensschwestern geführten Waisenhaus mit angeschlossener Internatsschule gefunden wurde. Hier steht das alles noch", sagte Julius und gab ihr den vor seinem Aufbruch noch vervollständigtenArtikel über Aron Lundi. Sie fragte, ob dies das Original oder eine Kopie sei. "Eine Kopie. Davon kann ich problemlos hundert neue machen", sagte Julius. "Gut, dann spare ich mir das Lesen mit den Augen und nehme das Geschriebene direkt in meinen Geist auf", sagte sie. Dann hielt sie sich die bedruckten Blätter an die Stirn. Julius sah ihr gespannt zu. Dann drückte sie ihre Flachen Hände auf das Papier und verfiel in eine konzentrierte Haltung. Unvermittelt schlugen silberne Flammen aus dem Papier heraus und umtanzten Létos Kopf. In den Flammen meinte Julius viele umherwirbelnde und dannin Létos Kopf verschwindende Buchstaben zu sehen. Dieser magische Vorgang dauerte nur drei Sekunden. Dann fielen die silbernen Flammen in sich zusammen. Das Haar der Veela war unversehrt. Doch von dem Papier war nur eine graue Aschenwolke geblieben, die sachte zu Boden rieselte. Létos Augen huschten schnell hin und her. Julius dachte an die REM-Phase träumender Menschen. Vier Sekunden später erwachte Léto aus dieser Form von Traum und atmete einmal ein und aus.

"Diese mechanisch erlangten Buchstaben wollten nicht so in mein Gedächtnis wie es von Menschenhand geschriebene Schriftzeichen tun. Aber das Feuer des Wissens konnte sie mir doch unterwerfen. Das können auch nur wir Veelaa", sagte Léto.

"Nur dass es wohl den Träger der Schriftzeichen zerstört. Damit darfst du leider in keiner Bibliothek hantieren, ohne ein lebenslanges Hausverbot für alle Büchereien der Erde aufgeladen zu kriegen", scherzte Julius.

"Deshalb habe ich dich ja auch gefragt, ob es das Original oder eine Abschrift war", grinste Léto. "Allerdings habe ich auch schon handgeschriebene Bücher auf diese Weise zu mir genommen. Aber am Tag darauf hatte ich Kopfschmerzen. Aber dafür kenne ich den ganzen Koran auswendig. Und die Bibel auch."

"Oha, darfst du keinem erzählen, dass du eine Bibel verbrennen musst, um sie auswendig zu lernen", sagte Julius. Dann erkannte er, dass dieser Feuerzauber Zeit sparen sollte und sie deshalb keine Zeit mit weiterem Geplauder vertun sollten. "Ich habe den Text natürlich gründlich gelesen", sagte Julius. "Könnte es sein, dass Euphrosyne diesen Fußballer deshalb für sich haben will, weil der streng katholisch erzogen wurde und wohl noch mit keiner Frau geschlafen hat?"

"Könnte nicht sein, ist leider so, julius. Sie hofft dadurch, dass sie die erste Frau seines Lebens wird und er bei dieser Gelegenheit auch ihre Unberührtheit beendet, dass er dann für immer bei ihr bleiben wird. Das ist noch schlimmer, als ich befürchtet habe."

"Öhm, dann braucht die nur wie eine von den Abgrundstöchtern mit ihm zusammenzuliegen und beherrscht ihn dann?"

"Nicht ganz. Sie muss ihn für sich erwärmen und dazu auch noch in fruchtbarem Zustand sein, so wie ich in diesen Tagen. Außerdem verfällt er ihr nicht derartig, dass er alles tut, was sie befiehlt, auch wenn es gegen sein Gewissen geht. Aber er wird keine andere Frau mehr begehren. Außer ihr wird er sich keiner anderen Gefährtin mehr zuwenden."

"Die perfekte Treue", grummelte Julius. "Aber das hat doch dann mit Liebe nicht viel zu tun."

"Das sehe ich auch so, Julius. Es ist schöner, wenn sich zwei finden und nur durch ihr reines Vertrauen und füreinander Dasein wollen binden und nicht, weil einer findet, der andere habe nur für ihn da zu sein und ihm als Zeugungsgefährte zur Verfügung zu stehen. Aber genau deshalb ist meine werte Schwester so schadenfroh. Sie hofft, dass wir nicht rechtzeitig zu ihm hinfinden, um die erste gegenseitige Berührung zu verhindern."

"Moment, Lundi wohnt in Le Havre. Die Straße und Hausnummer steht zwar nicht in dem Artikel. Das kriege ich aber über meine Mutter raus. Wann ist Euphrosyne denn in ihrer fruchtbaren Phase?"

"In diesen Tagen, Julius. Was meinst du, warum mir Sarja erst gestern diese Mitteilung gemacht hat. Ich bin zumindest froh, dass ihr Muggelstämmigen durch dieses Internetnetzwerk schnell an Nachrichtenüber wichtige oder erfolgreiche Leute kommt. So können wir wohl noch rechtzeitig hinkommen."

"Nicht jeder findet das toll, wenn was über ihn sofort ins Internet gestellt wird", seufzte Julius. "Außerdem kann das auch die Zaubereigeheimhaltung gefährden. Dann würdet ihr Veelas auch von denen gejagt, die Angst vor Zauberwesen haben. Ich kann dir aus einem Bahnhofskiosk mal billige Gruselromane besorgen, wo alles, was mit Magie zu tun hat böse ist, solange es nicht von dem Gott der Christen, Muslime und Juden kommt. Deshalb müssenwir zu Euphrosyne und es ihr ausreden oder zumindest klar regeln, unter welchen Bedingungen sie mit Lundi zusammenbleiben darf."

Dann beschaffe das, was wir noch nicht wissen!" trieb Léto ihn an. "Fällt dieser Lauscherschutzzauber weg, wenn du aus diesem Kreis heraustrittst?" Julius nickte. "Gut, dann bring bitte das mit, was wir noch wissen müssen und treff mich da, wo du mich abgeholt hast!" Mit diesen Worten setzte bei Léto die Verwandlung zum Schwan ein. Als diese vollendet war stieß sie sich ab und schwirrte mit irrwitziger Geschwindigkeit in Richtung Farbensee davon.

"Als wenn wir Menschen nicht schon genug Ärger in der Welt anrichten würden", knurrte Julius für sich. Dann apparierte er zehn Meter vor dem Gerätepilz.

Er hatte vermutet, es sei schwer gewesen, an die Adresse von Aron Lundi zu kommen. Doch es war schon eher zu einfach, fand er. Denn sowohl ein Sportmagazin aus Paris, sowie ein Fanclub namens "Die Hafenmeister" hatten die genaue Adresse gespeichert. Nur die Telefonnummer war geheim. Aber was hieß geheim schon im Internetzeitalter? Julius verdrängte den Gedanken an die zunehmenden Gefahren der weltweiten Datenvernetzung. Sein Auftrag war, Euphrosyne Blériot davon abzubringen, sich im Zaubereiministerium maximal unbeliebt zu machen. Er merkte sich die Adresse, schrieb sie noch auf und holte sich sogar eine Stadkarte von Le Havre mit dem entsprechenden Ausschnitt auf den Schirm. Die druckte er auchin Einzelblättern aus. Apparieren konnte er mit Léto nicht. Vielleicht aber durfte er einen Portschlüssel herstellen. der würde aber erst außerhalb von Millemerveilles funktionieren. Er schrieb Belle Grandchapeau an. Doch die schien gerade nicht im Internetzentrum des Zaubereiministeriums zu sein. Er rief ihre Mutter und Chefin Nathalie an. Doch niemand ging dran. Also blieb ihm nur, mit Léto loszufliegen, wie er es vor drei Monaten häufiger getan hatte.

Da er davon ausgehen musste, dass Euphrosyne ihm nicht nur mit Veela-Zaubern sondern auch in Beauxbatons erlernten Zaubern kommen würde steckte er die Goldblütenhonigphiole so ein, dass ihre Schutzwirkung ungehemmt anhielt. Dann fiel ihm ein, wie Diosan ihn bekämpft hatte. Wenn Euphrosyne das auch konnte brauchte er sowas wie dauerhaften Feuerschutz. Er kante da zwar was sehr wirksames. Doch das durfte er nicht benutzen, wenn er weiterhin ein "er" bleiben wollte. "Millie, ich weiß nicht, ob die Sache, zu der ich los muss eine Supergeheimhaltungsstufe kriegt. Eine von Fleuers Cousinen hat sich vorgenommen, einen Muggel für sich als Gefährten zu sichern. Könnte mir unterwegs passieren, dass die mich mit Veela-Feuerzaubern angreift. Das Kleid kann ich nicht anziehen. Aber kennst du einen Feuerschutzzauber, der länger und stärker wirkt als Aura Sanignis?"

"Das hat Léto da draußen so abgehen lassen, als wenn du mit ihr zwei werden eins gespielt hättest?" gedankenfragte Millie zurück. "

"Erzähle ich dir gerne hinterher, warum die so abgegangen ist, Mamille", gedankenantwortete Julius.

"Dann komm schnell rüber. Ich kann dir den Schild des Sonnenfeuers geben. der hält einen vollen Tag jeden Feuerzauber von dir fern."

"Ich bin in zwei Sekunden bei dir, Mamille", mentiloquierte Julius. Dann lief er einige Meter von seinem Schuppen fort und apparierte fast aus dem Laufen heraus in der Wohnküche. Millie nickte ihm zu. Chrysie lag in einem Tragetuch auf ihrem Rücken und schrie, weil etwas laut und plötzlich bei ihrer Maman aufgetaucht war. Julius tat es zwar leid, seine zweite Tochter gerade so erschreckt zu haben, doch daran konnte er jetzt nichts ändern. "Gib mir bitte deinen Ring", sagte Millie. Julius fragte nicht lange und gab ihr seinen Ehering. Sie hielt ihn so, dass das Tageslicht sich darin spiegelte und sprach eine ihm unbekannte Zauberformel. Sie sang sie eher als sie zu sprechen. Durch das Fenster flogen goldene Funken und setzten sich auf dem Ring ab. Eine Minute lang ging das so. Dann erstrahlte der Ring für zwei Sekunden im goldenen Licht. Danach wurde er wieder so wie immer. "So, einmal im Monat kann jemand sich auf diese Weise gegen Zauberfeuer und magische Blitzschläge schützen. Gegen natürliches Feuer machst du besser den Flammengefrierzauber", sagte Millie. "Kailishaia hat mich aber gewarnt, dass der Zauber nur vorhält, wenn er im gewohnten Zeitfluß bleibt. Sie meinte, jede Kraft, die den Lauf der Zeit anhält oder umdreht würde ihn schlagartig entladen und den Anwender zu Asche verbrennen. Komm also bitte nicht auf die Idee, dir vom Ministerium einen dieser merkwürdigen Zeitumkehrer auszuborgen, falls du meinst, den Tag verlängern zu müssen! Und wenn du sonst in etwas reingeraten bist, wo du alleine nicht mehr rauskommst, Monju, dann melo mich bitte an. Ich zieh mir gleich das Kleid an und bleibe in Bereitschaft. Wenn du mich um Hilfe rufst finde ich dich, egal wo auf diesem Planeten."

"Dann darf das Zaubereiministerium aber nichts davon mitkriegen. Sonst darfst du dein schickes Tanzkleid an die abgeben."

"Kann ich. Aber ich kann es auch wieder zu mir hinrufen, wie du weißt, Süßer. Also los, wenn schon nicht die Welt, dann die Freiheit eines Balltreters."

"Und dessen Unschuld, Mutter meiner Kinder", sagte Julius.

"Dann musst du aber ganz schnell los. So viele unberührte Fußballtreter gibt es nicht mehr auf der Erde."

"Genau", lachte Julius und apparierte aus der Wohnküche zum Farbensee, wo er bereits den weißen Schwan sah. "Öhm, Monju, Felix trinken", durchbrauste ihn noch eine Gedankenbotschaft seiner Frau. Julius verstand. Sie wollte sicherstellen, dass seine Erfolgsmöglichkeiten so gut es ging waren.

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Hotel Excelsior, Le Havre, Senatorensuite


3. Februar 2002, 13:30 Uhr

Aron Lundi war geschafft. In zwei Tagen sollte er nach Barcelona, um den medizinischen Check vor dem Transfer über sich ergehen zu lassen. Um nicht sang und Klanglos zu verschwinden hatte der Verein ein Abschiedstreffen mit seinen bald ehemaligen Kameraden arrangiert. Irgendwie war das wohl zu den Fanclubs durchgesickert. Die hatten vor dem Vereinshaus auf ihn gewartet und ihn verächtlich angeglotzt. Dabei hatten diese Ultras von den Hafenmeistern ihm immer zugerufen: "Nonnenschüler, Hurenbock. Knickst gleich ein, hebt sie den Rock!" Sein Trainer hatte ihm auch erzählt, dass er bei Barca sicher noch enthaltsamer leben müsse. Die wollten keinen, der seine Kondition im Bett verheizte. Einer seiner Mannschaftskameraden hatte ihm dann noch ein Bein gestellt und ihn mehr als zwei Meter durch die Luft fliegen lassen. "Das musst du abkönnen, wenn du gegen Real und Sevila ran musst", hatte der Spieler ihm zugerufen. Gut, dass bisher keiner wusste, dass er vom HAC ins Excelsior gesteckt worden war. Die einzige Bedingung war: keinen Damenbesuch, solange der HAC für ihn die Zeche zahlte. Er hatte sich standhaft geweigert, Louvel, Camacho und auch keinem Presseheini den Namen seiner Traumfrau zu verraten. Da der Ablösevertrag bereits unterzeichnet war und der Termin für die medizinische Überprüfung feststand hatte er versucht, sich im guten von den Kameraden zu trennen. Doch die hatten ihn alle angestarrt, als hätte er ihnen ihre Frühstücksbrote weggefressenund ihre Mineralwasserflaschen leergesoffen. Sicher, er fragte sich immer, warum ausgerechnet er für Camacho so interessant war. Dabei fiel ihm ein, dass er irgendwie ein Gespür für Ball und Beinbewegungen hatte, etwas überragendes. Das machte die anderen schon neidisch, auch wenn sie im Namen des Mannschaftsspiels nichts darüber sagten, sondern es sich zu Nutze machten. Und jetzt wurde er deshalb abgeworben, konnte schon mit unter einundzwanzig Millionär werden, wenn er es schaffte, für die Erwachsenenauswahl ausgewählt zu werden. Ausgewählt. Warum Barca ihn ausgewählt hatte sah er ein. Doch warum bezeichnete Euphrosyne ihn als ihren Auserwählten. Aber wie sie es sagte, und wie sie dabei lächelte gefiel es ihm.

In den Letzten Tagen hatte er sich immer mehr damit angefreundet, verliebt in eine Hexe zu sein. Dabei hatte er sich fragen müssen, wer die Eltern Euphrosynes waren. Als wenn sie diese Frage aus seinen Gedanken erfasst hatte hatte sie ihm vor dem Verlassen seiner Wohnung zugeflüstert: "Maman freut sich darauf, dich auch endlich mal kennenzulernen."

Im Internet zerrissen sie sich alle die Mäuler über seine Begleiterin. Sicher, irgendwie konnte man sie nicht aus der Nähe filmen. Magie eben. Aber was sollte das Getue? Die sollten doch froh sein, dass er kein schwuler Fußballspieler war. Warum auch das so schlimm sein sollte begriff er nicht. Doch im Moment war er froh, zumindest nicht in dieser Ecke gelandet zu sein. Lag wohl auch an seiner erzkonservativen Erziehung bei gefühlskalten und körperfeindlichen Nonnen. Das einzige, wofür denen ein Körper gut war, war, um die darin festhängende Seele zu bestrafen. Euphrosyne hatte ihm verheißen, dass es auch andere Arten gab, den eigenen Körper zu empfinden. Wollte er das, ohne Trauschein, ohne Pfarrer? Er hatte mittlerweile alles zu hassen begonnen, was diese schwarz-weißen Gouvernanten ihm einzutrichtern versucht hatten. Er erinnerte sich an das, was sie über göttliches Wirken gesagt hatte. Damit ließen sich Dinge des Lebens doch leichter bewältigen, genießen oder überstehen. Dann stellte er sich die Frage, ob er es noch vor oder erst nach dem Flug nach Barcelona mit ihr tun wollte. Am Ende durfte sie nicht mit, warum auch immer. Er rief sich den Kommentar von Schwester Marie-Clementine ins Gedächtnis. Seit wann lasen diese alten Krawallschachteln im zügellosen Internet? Er überlegte, ob er auf den harschen Kommentar von Schwester Marie-Clementine antworten wollte, als die dezente Türglocke läutete. Er ging an die Sprechanlage im Salon und fragte, wer da sei. "Zimmerservice, Monsieur Lundi", säuselte eine ihm all zu vertraute Stimme. Er entriegelte die Tür und machte auf.

Euphrosyne sah völlig verändert aus in der blütenweißen Schürze und der Haube auf dem Kopf. Doch ihre Ausstrahlung und ihr Lächeln waren unverkennbar. Sie nickte Aron zu und schlich mit ihm in den Flur der Suite zurück. Aron verriegelte die Tür wieder.

"Diese Schürze ist eine Beleidigung für jeden ansehnlichen Frauenkörper, weil sie ihn verhüllt", murrte Euphrosyne. "Aber anders kam ich nicht an den ganzen Leuten vorbei. Nachdem dieser A. P. mein Gesicht allen gezeigt hat muss ich aufpassen, nicht erkannt zu werden. Da habe ich mich eben als Zimmermädchen verkleidet."

"Das wird aber auffallen, wenn du zu lange bei mir bleibst", sagte Aron.

"Möchtest du, dass ich wieder weggehe?" fragte sie schnippisch.

"Nein, natürlich nicht. Aber die wollen nicht, dass ich hier Frauen in der Suite habe", flüsterte Aron. "Öhm, hast du einem echten Zimmermädchen die Sachen geklaut?"

"War nicht nötig. In den großen Schränken für bedienstete hingen genug dieser Körperversteckerschürzen und Hauben herum. Ich habe die hier einfach einmal verdoppelt. Das fällt keinem auf."

"Du bist echt eine", sagte Aron. "Womit habe ich dich verdient?"

"Gut, dass du nicht fragst, womit ich dich verdient habe", grinste Euphrosyne. Dann lüftete sie die Haube und ließ ihr langes, goldblondes Haar herabfallen. Danach legte sie die Schürze ab. Darunter trug sie ein blaues Seidenkleid mit kurzem Rockschoß. Dann ließ sie sich auf das große, gemütliche Sofa plumpsen. Aron entging nicht, dass sie dabei die Beine ein wenig weiter voneinander abgespreizt hatte, als es für eine Dame gestattet war. Doch ihm machte das nichts mehr aus. Vor einem Jahr hätte er sie sofort aus dem Zimmer gejagt, weil sie sich so vor ihm präsentierte. Doch heute, auch nach dem, was ihm wieder alles zugerufen worden war, sah er in Euphrosynes Besuch eine höchst willkommene Abwechslung. Er dachte, dass es vielleicht hier und heute geschehen würde. Doch im Hotel wohnten viele Leute, und die Zimmer waren nicht schalldicht, mal von der Hochzeitssuite und der Präsidentensuite abgesehen.

"Ich muss die Jalousien runtermachen, sonst spannen die von draußn wieder."

"Die Fenster sind bei den teueren Zimmerfluchten verspiegelt, Süßer", säuselte sie. "Gerade weil hier Leute wohnen, die nicht von draußen fotografiert werden wollen haben die Wert darauf gelegt, dass bei Tag keiner reinglotzen kann. Außerdem hängen da doch die schönen, weißen Gardinen", fügte sie hinzu und deutete flüchtig auf die breiten, fast die ganze Fensterhöhe ausfüllenden Gardinen.

Sie plauderten über die letzten Tage, die Umzugspläne und wie sie sich der neugierigen Öffentlichkeit am besten präsentieren wollten. Als Euphrosyne ihn fragte, ob er wert auf eine Hochzeit in einer Kirche legte schüttelte er den Kopf. Sie atmete auf und erwiederte, dass ihr Priester wegen ihrer Herkunft schon ein Graus seien. Sie könne zwar in Kirchen und Kapellen hineingehen, anders als diese Kuttenträger es Hexen immer abstritten. Doch wenn sie sah, wie überladen diese Gebäude waren und sich dachte, wie viel Schweiß, Blut und Tränen beim Bauen dieser Häuser vergossen werden musste, verging ihr selbst die schönste Archittektur. Da hielt sie es lieber mit der Natur, mit Wäldern, grasbedeckten Hügeln, dem Meeresstrand, ja auch auf einer kleinen Insel zu stehen und das Meer um sich rauschen zu hören und die Wellen an- und wegrollen zu sehen. Tropfsteinhöhlen mochte sie auch sehr. Die dort entstandenen Säulen und Formationen erzählten die lange Geschichte von Mutter Erde.

"Wo ich herkomme, gelten Mann und Frau einander angetraut, wenn sie sich miteinander vereinigen, Aron. Ich bin dazu bereit. Aber du musst es wollen, nicht denken, ich fordere es von dir. Du musst es wollen."

"Ich will es. Aber ich habe Angst, dabei erwischt zu werden. Hier im Hotel können zu viele Leute zuhören. Außerdem möchte ich es nicht vor unverhangenen Fenstern tun. Da draußen könnten zu viele Fotografen und Spanner herumlaufen, die auf die große Sensation warten."

"Ja, die Gefahr besteht. Ich habe zwar eine Cousine, die keine Probleme damit hat, den, den sie liebt auch dort zu sich zu nehmen, wo sie beobachtet werden kann, weil sie sich weder ihres Leibes noch ihrer Bedürfnisse schämt. Aber ich respektiere es, dass du, nach allem, was in diesemInternet über uns verbreitet wurde, Angst vor Hohn und Spott hast. Andererseits müssten dann alle bestätigen, dass wir einander angetraut sind. Oder glaubst du, diese Nonnen hätten recht, dass nur ein Priester sagen darf, wann jemand mit einem geliebten Artgenossen körperliche Liebe erleben darf?"

"Ist nicht so leicht, das abzuschütteln, was die mir alles erzählt haben, Phrophro. Aber ich weiß jetzt, dass vieles von dem, was die und die ganzen Pfarrersleute von sich geben Heuchelei und Machtgier ist. Die unsterbliche Seele, mag sein, dass ich sowas habe. Aber wozu brauchen wir dann Körper, wenn nicht, um damit alles auszuleben, was sie ermöglichen, solange niemand dabei gegen seinen oder ihren Willen leidet oder den anderen verabscheut."

"Verabscheust du mich?" fragte Euphrosyne.

"Nein, ich finde dich sehr schön und begehrenswert.

Sie lächelte ihren Auserwählten an. Er blickte sie begehrend an. Sie hatte Aron so weit, dass er sie ohne Anwiderung annehmen würde. Doch zu hastig durfte sie es nicht anstellen, um den Zauber dieses einen wichtigen Ereignisses nicht zu schwächen. Einander annähern, einander berühren, einander annehmen, miteinander Leidenschaft und Lust erleben, beieinander bleiben.

__________

Am selben Tag um 14:40 Uhr in der Nähe von Le Havre

Julius flog wieder mal im eingeschrumpften Zustand auf Létos Rücken mit. Gegen zwanzig vor drei nachmittags erreichten sie den Stadtrand von Le Havre. Dort vollführte Léto mit der in einzelnen Papierseiten abgedruckten Straßenkarte, die Julius an der entsprechenden Stelle Markiert hatte, denselben Zauber wie mit dem Artikel über Aron Lundi. Als die silbernen Flammen des Wissensfeuers die Papierseiten aufgefressen und alle darauf gedruckten und geschriebenen Buchstaben in Létos Kopf hinübergewirbelt hatten verwandelte sie sich wieder in den weißen Schwan. Julius schrumpfte sich noch einmal auf ein Zehntel seiner gewohnten Größe und flog mit ihr hoch genug über die Häuser hinweg. Léto orientierte sich am Erdmagnetfeld wie ein Zugvogel. Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie die Straße erreicht hatten, in der AronLundi wohnte. Sie landeten auf dem Hinterhof eines gerade menschenleeren Mietshauses. Léto wurde wieder zur überragendschönen Frauengestalt. Julius entschrumpfte sich wieder. "Sie ist nicht in dem Haus, das wir suchen", sagte Léto. "Hat dieser Aron Lundi heute eine Übungsstunde?"

"Oh, das hätte ich mal nachprüfen sollen", grummelte Julius. "Aber im Grunde brauchen wir uns nur in der Nähe des Hauses aufzuhalten. Gut, wenn Euphrosyne hier ankommt merkt sie, dass du hier bist. Aber das müssen wir riskieren", sagte Julius.

"prüfe das Haus, bitte! Ich fühle, dass etwas von ihr, etwas leicht vibrierendes, dort ist. Aber was und wo genau es ist kann ich aus diser Entfernung ... Halt, Moment, ich fühle Schwingungen von ihr, aber nicht so stark, dass sie von ihr selbst sind. Moment mal, die Quelle teilt sich. Es sind vier schwache Kraftströme von ihr, die aus zwei Richtungen auf uns zukommen."

"Öhm, kann die irgendwas mit ihrer Veelamagie bezaubern. Wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, dass ich das weiß", zischte Julius. Léto lauschte offenbar. Dann verfiel sie in eine angespannte Haltung. "Das ist nicht wahr", schnaubte sie. "Das kann sie wirklich nicht gewagt haben."

"Meine Frage ist immer noch nicht beantwortet", bestand Julius auf eine Antwort.

"Ja, das gehört zu einem unserer wirklich überlebenswichtigen Geheimnisse. Ich fürchte nur, sie hat es und die bei euch in Beauxbatons erlernten Zauber dazu missbraucht, ihr Ziel mit allen Mitteln zu erreichen", schnaubte Léto.

"Was genau hat sie angestellt?" fragte Julius.

"Nicht unter freiem Himmel, Julius. Außerdem haben sie mich erspürt beziehungsweise reagieren auf meine Anwesenheit. Ich habe mich schon dagegen zu verschließen versucht. Doch jene, die ihr zum Opfer gefallen sind erspüren mich immer noch, genauso wie ich sie immer deutlicher verspüren kann."

"Wer genau und warum?" knurrte Julius. Warum konnte diese uralte Zauberfrau da neben ihm nicht endlich damit herausrücken, was da los war? Wie sie wollte. Dann musste er es eben herausfinden.

"Léto, wenn du mir nicht sagen darfst oder willst, was du mitbekommen hast sage mir zumindest bitte, wie ich wem oder was auch immer ausweichen kann?"

"Indem ich mich von dir trenne und sie hinter mir herziehe. Falls Euphrosyne denkt, dass du oder ein anderer vom Zaubereiministerium bei mir bist werden sie an mir dranbleiben."

"In Ordnung, ich prüfe das Haus."

"Ja, aber hüte dich vor losen blonden Haaren!" gab sie ihm noch mit, bevor sie wieder zum Schwan wurde und aufflog. Julius peilte das ursprüngliche Ziel an. Er verjagte alle Gedanken an Létos Geheimnistuerei mit seiner Selbstbeherrschungsformel. Direkt in die Wohnung hineinapparieren wollte er nicht. Am Ende war Euphrosyne schon mal da gewesen und hatte einen Locattractus- oder Locorefusus-Zauber aufgebaut. Aber vor dem Haus ... aber nur unsichtbar.

Erst trank Julius ein Viertel aus der von Ceridwen Barley geschenkten Phiole Felix Felicis. Jetzt hatte er sechs Stunden maximal erhöhte Erfolgsaussichten, egal was er unternahm. Reichte das aus?

Felix half ihm bereits, präzise an der Hintertür des Hauses zu apparieren, dass ihn keiner sofort sehen konnte. Ebenso war es wohl auch der Glückstrank, der seine Gedanken und Zauberstabbewegungen so leicht fließen ließ, dass er innerhalb von fünf Sekunden völlig unsichtbar war. Dann horchte er in sich hinein, ob er die Tür aufzaubern oder sich besser hinter die Tür versetzen sollte. Er beschloss, dass eine Kurzstreckenapparition über zwei Meter hinweg besser war, weil in der Tür vielleicht Alarmvorrichtungen waren. So überwand er das feste Hindernis, ohne es berühren zu müssen. Im Treppenhaus wählte er intuitiv die Treppe und schlich hinauf. Er fühlte, dass er sich nicht beeilen musste. Eine unmittelbare Gefahr schien nicht auf ihn zu lauern. So leise er konnte nahm er Stufe für Stufe. Dann fühlte er, dass er nicht alleine auf dieser Etage war. Ja, und er fühlte, dass es für ihn gefährlich werden würde, wenn jemand ihn hörte oder zu fassen bekam. So schlich er noch langsamer voran. Er hoffte nur, dass er keine verräterische Duftspur auslegte. Dann sah er den Mann vor der Tür zur Appartmentwohnung von Aron Lundi.

Der Bursche war breit und hoch wie ein Kleiderschrank. Selbst Julius mit seinen stolzen 1,92 Metern und seiner athletischen Statur hätte sich hinter dem Brocken verstecken können. Der Mann trug schwarze Ledersachen. Er stand da, als sei er nur eine dekorative Puppe. Doch Julius fühlte, dass der andere quicklebendig war und genau aufpasste. Julius überlegte, ob ein Erstarrungszauber helfen würde. Doch irgendwie empfand er keine Zuversicht, den Brocken da vor ihm in seiner Paradestellung festzunageln. Sollte er sich jetzt gegen diese Empfindung stellen und doch den Erstarrungszauber bringen? Wie war es mit dem Schockzauber? Irgendwie schon ein besseres Gefül. Doch auch diese Lösung erschien ihm nicht sicher genug. Dann überlegte er, ob er den anderen in ein Netz einwickeln konnte. Da hatte er das beste Gefühl, aber nur, wenn er schnell genug war. "Reticum instantum", jagte er einen Gedanken mit aller Kraft durch seinen Kopf. Seine Zauberstabhand ruckte, und wie aus einer Pistole oder Kanone geschossen jagte ein sich im Flug ausbreitendes Netz auf den anderen zu. Der reagierte schnell und duckte sich. Doch Julius hatte intuitiv den Winkel gewählt, mit dem er das Netz noch über dem anderen herabfallen lassen konnte. Keine Sekunde später zog es sich auch schon um dem anderen zusammen. Dieser wehrte sich jedoch, versuchte, es loszuwerden. Doch dabei verfing er sich immer mehr und wurde stärker zusammengeschnürt. Dann löste sich der daumendicke ausgangsfaden von Julius' Zauberstab und wirbelte so rasch, dass keiner ohne Omniglas oder Rückschaubrille hätte nachvollziehen können, wie das Seil sich verknotete. Der Kleiderschrankmann war eingewickelt und verschnürt. Doch Julius empfand plötzlich einen immensen Zeitdruck. Wenn er in den nächsten Sekunden nicht in der Wohnung war würde es vielleicht nicht mehr klappen.

Aus einem Funkgerät, dass der eingewickelte Kleiderschrank am Gürtel trug quäkte es. Das war nicht Französisch. Es war aber auch kein Spanisch, wie Julius es von Millie in regelmäßigen Privatstunden lernte und seit Weihnachten auch mit einem Sprachlernbuch weiter ausbaute. Ihm kam die Idee, dass es Katalanisch sein konnte. Aber was sollte diese Erkenntnis jetzt? Julius erkannte, wie der lebende Kleiderschrank anfing, die einzelnen Fäden des magischen Netzes zu zerreißen.

Julius dachte erst, hinter die Tür zu apparieren. Doch es war wie ein kurzer Schmerzensschauer, der ihn davon abbrachte. So dachte er, ob er die Tür öffnen konnte. Ja, das würde wohl gehen. "Alohomora", dachte er. Immer noch unsichtbar ging er durch die sich gehorsam öffnende Tür hindurch und ließ sie mit "Portaclausa addo duro!" hinter sich zufallen. Im nächsten Moment wurde die Tür so hart wie zehn Zentimeter dicker Stahl. Er hörte, wie der Gefangene nun größere Stücke aus dem Netz von sich absprengte. Der Kerl musste stärker sein als zwei Männer. Julius war froh, nicht gegen den im offenen Kampf angetreten zu sein. Der draußen noch halb verschnürte Gefangene brüllte siegessicher. Julius überhörte es. Er jagte mehrere erweiterte Magieaufspürer durch die Räume und erkannte, dass er beim Apparieren wohl in eine Falle geraten wäre, deren Wirkungsart er aber nicht kannte. Es war weder ein Zurückweiser, noch ein Zauber, der einen Apparator an einen bestimmten, für ihn höchst unangenehmen Ort ziehen würde. Aus dem Badezimmer empfing er eine schwache Vibration. Sein erweiterter Zauberspürer zeigte ihm nur, dass etwas vibrierendes im Bad war, aber nichts über die Art des Zaubers. Die Tür war zumindest unverflucht. Er ließ sie mit dem Türöffnungszauber aufschwingen, weil er keine Lust hatte, mit chemisch präparierten Türklinken Bekanntschaft zu machen, die ihm irgendwas fieses auf und in die Haut bringen konnten. Bei aller Zauberei hatte er nicht vergessen, was er aus den vielen Chemibüchern gelernt hatte, die sein Vater ihm als Nebenbeschäftigung in Hogwarts aufgeladen hatte.

Das Bad war sehr sauber und für einen Mann reich an Pflegeartikeln. Dann sah Julius die offene Dusche. Er trat behutsam näher. Noch lauerte keine Gefahr auf ihn. Da sah er das lange, goldblonde Haar, das um den Hebel der Mischbatterie geschlungen war. Er hörte im Kopf die Warnung Létos, sich vor losen blonden Haaren zu hüten. Mit Haaren, so wusste er seit dem Corpores-Dedicata-Zauber mit Claire, konnte man einiges magische anstellen. Veelahaare konnten als Zauberstabkomponente verwendet werden, wenn die Veela, deren Haar verwendet wurde, es freiwillig gab und für eine von ihr ausgewählte Person. Galt das auch für Viertelveelahaare? Julius streckte ganz vorsichtig die linke Hand vor, bis ihm der Gedanke: "Vorsicht,Falle" durch den Kopf ging. Seine unsichtbaren Finger waren noch genau zehn Zentimeter von dem Haar entfernt. Julius zog die Hand blitzschnell wieder zurück. Also hatte Euphrosyne ihr eigenes Haar verflucht, vielleicht um jemanden zu erspüren oder handlungsunfähig zu machen. Julius überlegte, ob der Fluchumkehrer das verhexte Haar entschärfen würde. Da hörte er ein heftiges Hämmern und Bollern an der Tür. Dann rumste es laut. Die ganze Wohnung erzitterte. Offenbar hatte sich der Kleiderschrank auf dem Flur aus dem magischen Netz befreit. Das sollte eigentlich auch nicht gehen, wusste Julius. Denn die Zaubernetze waren so reißfest, dass damit sogar wilde Zaubertiere festgehalten werden konnten. Die Tür hielt auf jeden Fall noch.

Julius prüfte das Schlafzimmer, nachdem er von irgendwoher, womöglich von dem in seinem Bauch und Kopf wirkenden Felix Felicis, die Eingebung erhalten hatte, dass er nicht mehr viel Zeit hatte und das Bad nichts außer dem tückischen Haar bereithielt. Am Ende hatte die das Bett verhext, dass jeder, der mit einem seinem oder ihrem Geschlecht angenehmem Artgenossen darauf landete, hemmungslosen Sex haben wollte. Doch das Bett war in jeder hinsicht unberührt. eine leichte magische Restschwingung kam aus dem Schrank. Julius ging in Deckung und ließ den Schrank durch Zauberkraft aufspringen. Da hingen einige Anzüge, Trainingssachen und drei Trikots in Hellblau und Himmelblau. Das waren die Farben des Le Havre AC, erinnerte sich Julius. Sonst war nichts zu sehen. Erst als Julius näher an den Schrank heranging sah er ein weiteres seidenweiches, langes, goldblondes Frauenhaar zwischen den Anzügen. Diesmal warnte ihn Felix schon bei einem Abstand von einem Meter vor einer Gefahr. Was hatte dieses Viertelveelamädchen damit angestellt?

Rums! Wieder erzitterte die Wohnung. Die Tür hielt aber wohl noch. Aber wie lange noch? Außer dem Haar, das offenbar mit einem starken Zauber behaftet war, gab es nichts für Julius wichtiges im Schlafzimmer. Wieder rumste es. Diesmal konnte Julius ein häßliches Knacken und Knistern hören. Wenn der Muskelschrank beim nächsten Anlauf die Tür trotz Härtungszauber aufbekam saß er hier drinnen fest wie die Maus in der Falle. Dann lief es vielleicht auf einen Kampf hinaus. Er wollte und durfte kein denkendes Wesen töten, hatte ihn Ianshira gewarnt, als sie ihm ihre vier stärksten Zauber beigebracht hatte. Aber sich töten zu lassen hatte er heute auch nicht vor.

Rums-Krack! Das klang sehr final für die Tür, erkannte Julius. Da hörte er auch schon das laute Siegesgebrüll des Kleiderschranks. "Alohomora Fenster!" zischte Julius und ließ das Schlafzimmerfenster damit aufspringen. Er lief geduckt los und sprang durch das offene Fenster hinaus. Bevor der freie Fall ihn richtig beschleunigte dachte er die fünf Auslöseworte des Flugzaubers. Er sah die wenig befahrene Parallelstraße der Hauptstraße unter sich. Doch sein Flugzauber griff und machte ihn so leicht, dass er in der Luft schwimmen konnte wie ein phantasischer Glücksdrache. Weit weg fliegen wollte er nicht. Es reichte, dass er über die Straße hinwegsegelte. Dann landete er und hob die Wirkung des Flugzaubers auf.

"Léto, zwei verzauberte Haare deiner Enkeltochter gesehen und nur durch meinen Schutztrank rechtzeitig als Falle erkannt. Wohnung gegen Apparieren abgesichert. Vor Wohnung superstarker Wächter größer und breiter als ich. Ist gegen verschiedene Zauber gefeit und kann sogar magisch gehärtete Türen nach viermaligem Dagegenrennen aufbrechen. Ich Konnte ohne Kampf und unerkannt aus Schlafzimmerfenster entwischen. Wo bist du?" mentiloquierte Julius an Léto.

"Hast du mit den Haaren irgendwas angestellt, um sie zu entzaubern?" fragte Léto ihn auf rein gedanklichem Weg. Julius verneinte es. "Das war sehr gut. Denn über die Haare hält sie Kontakt zu der Wohnung und hat sie wohl auch als Fangvorrichtung verzaubert, um missliebige Eindringlinge festzusetzen. Habe vier Menschen, die stark und groß sind gesehen, die meiner Ausstrahlung folgen. Fliegen können sie aber nicht. Bin aber sicher, dass sie in Kontakt mit Euphrosyne stehen. Sie weiß, dass ich hier bin."

"Sollen wir uns treffen?" fragte Julius.

"Nein, nur in deiner gewohnten Größe kannst du handeln. Den schnellen Weg kannst du mit mir nicht gehen. Also bist du sicher, solange du nicht in meiner Nähe bist. Außerdem dürfen sie mich nicht töten, egal welche Aufgaben sie haben. Solange sie an mir dran sind bist du beweglicher."

"Aber Lundi ist nicht da und ich habe auch keine Rückschaubrille mit."

"Die hätte dir jetzt auch nicht geholfen, wenn Euphrosyne ihre Haare bezaubert hat. Denn dann schwingt auch etwas von ihrer Unaufspürbarkeit mit."

"Wieso weißt du, dass sie dich nicht töten können oder dürfen?" fragte Julius auf Gedankenwegen.

"Weil etwas von Euphrosyne in meinen Verfolgern ist. Was immer sie tun sollen, sie dürfen mich nicht verletzen oder töten. Das kann auch eine zu drei Vierteln Hexe nicht überwinden. "Aber sie wollen und werden versuchen, mich gefangenzunehmen und am besten auch jeden, der bei mir ist."

"Aha, ein wenig mehr Katze ist aus dem Sack", dachte Julius. Etwas von Euphrosyne war also in den Verfolgern, vielleicht auch in dem Kraftprotz vor der Wohnungstür. Dann hörte er Létos Gedankenstimme wieder: "Sie haben erfahren, dass ich sie hinhalten sollte. Sie rennen zu dir hin. Versteck dich oder mach dich unsichtbar. Sie sind viermal so stark wie normale Menschen."

"Weiß ich von dem Wachtposten an der Tür. Mist! Der hatte ein Funkgerät. Alles klar!" schickte Julius zurück. Dann sah er die vier Männer, die nun genau auf das Haus zurannten. Sie waren schneller als ein Olympiasprinter. Am ende waren die noch bionisch, dachte Julius. Dann konnte er einpacken. Gegen kybernetische Organismen konnte er weder mit Körperkraft noch mit Betäubungszaubern was ausrichten. Jetzt war ihm auch klar, dass die wandelnde Werbung für Fitnesszentren das Netz und die gehärtete Tür geschafft hatte. Gut, in der Magie gab es ultrastarke Sinne und Körperglieder. Aber das waren bezauberte und feinjustierte Kunstprodukte. Sie erfüllten aber die selben Anforderungen wie die aus Zukunftsgeschichten stammenden Maschinenteile.

Julius fühlte sich schwindelig. Er wusste, woran das lag. Durch den Flug- und den Unsichtbarkeitszauber war ein Teil seiner Ausdauer geschwunden. Wohl nur Felix Felicis hielt ihn noch aufrecht. Aber wie lange noch. Jetzt noch einen wachhaltetrank zu nehmen war irrsinnig, weil die beiden Tränke störende Nebenwirkungen hatten.

Julius apparierte so leise er konnte einen Kilometer vom Haus weg. Dann hob er seine Unsichtbarkeit auf. Das leichte Schwindelgefühl ließ sofort nach. Dann erinnerte er sich wieder, dass ein Unsichtbarkeitszauber nur fünf Minuten gewirkt werden durfte, wenn der Anwender Felix Felicis getrunken hatte. Julius hätte sich selbst in den Hintern beißen können, dass er daran nicht gedacht hatte. Unsichtbarkeit war ein gezielt verschaffter Allgemeinvorteil. So verhielt es sich auch mit Felix Felicis. Wie bei unterschiedlichen Flug- oder Verwandlungszaubern konnten sich die beiden unterschiedlich aufgebauten aber ähnlich wirkenden Magien aneinander reiben und zu unerwünschten Nebenwirkungen führen. Julius wusste, dass er gerade so noch einen körperlichen Gau verhindert hatte. Denn wer länger als fünf Minuten unsichtbar war, dem gerieten alle körperfunktionen durcheinander. Sicher hätte Felix ihm eine Warnmarkierung gegeben, dass er besser wieder sichtbar wurde, aber nicht in dieser Wohnung in diesem Moment. Immerhin wirkte Felix Felicis noch. Doch jetzt und bis zum Abklingen des Trankes durfte er den Unsichtbarkeitszauber nicht mehr verwenden. Unbegrenzte Möglichkeiten gab es also auch in der Magie nicht, erkannte Julius.

"Du musst noch einmal in die Wohnung, Julius. Wir müssen wissen, wo Lundi ist, um ihn besser abzusichern, falls es nicht schon geschehen ist."

"Und wenn es geschehen ist?" gedankenfragte Julius.

"Können wir nur hoffen, dass Euphrosyne vernünftig genug ist, ihre Zauberkräfte vor unbeteiligten zurückzuhalten. Aber die Leute, die sie bereits verhext hat lassen mich leider daran zweifeln, dass sie sich vernünftig verhält."

"Vielleicht können ihn die Heiler helfen, durch Gedächtniszauber oder so."

"Du kannst es leider nicht verstehen", gedankenseufzte Léto.

"Dann erkläre es mir bitte", schickte Julius eine zornige Gedankenbotschaft an seine Begleiterin.

"Dazu müsstest du einer von uns sein, und das bist du nicht", kam die harsche und dennoch eine Spur Bedauern tragende Antwort. Julius dachte an Sabberhexen, die junge Zauberer oder Muggel von sich abhängig machten. Doch dann fielen ihm auch die Abgrundstöchter und die Vampire ein. Gegen die Sabberhexenaddiktion konnten sie mit Tränken und Gedächtniszaubern behandeln. Gegen die Abhängigkeit von einer Abgrundstochter half entweder nur Infanticorpore oder der Tod. Und wer Vampir war war durch sein verändertes Blut immun gegen die meisten Tränke und widerstandsfähig gegen nicht auf Feuer oder Sonnenlicht bezogene Zauber. Das gleiche, so wusste er, galt für Wertiger. So mentiloquierte er mit einer Spur Resignation:

"Ich fürchte, ich verstehe es doch, Léto. Wenn eine Veela mit einem jungen Mann das erste Mal gemeinsam erlebt bleibt etwas von ihm in ihr und umgekehrt und das findet auf körperlich-geistig-seelischer Ebene statt und kann dann nicht durch Tränke oder Gemütsbeeinflussungszauber oder Gedächtniszauber behoben werden, weil man alle drei Faktoren zugleich und auf einer ähnlichen Weise behandeln müsste."

"Genau das ist es. Du hast verstanden. Wir Veelas heiligen das Körperliche und das geistige. Wenn wir freiwillig etwas mit anderen teilen, und diese diese Gabe aus eigenem Willen annehmen, so wird eine Verbindung geschaffen, wie du ja an uns beiden immer noch miterleben kannst."

"Wohl wahr", gedankenerwiderte Julius. Das er mal losziehen würde, die Unschuld und Willensfreiheit eines Fußballspielers zu verteidigen ... Das hätte er vor sieben Jahren noch für einen genialen Witz gehalten. Doch jetzt konnte er überhaupt nicht darüber lachen.

Julius sah zwei junge Frauen die Straße entlangkommen. Sofort fühlte er, dass von den beiden Gefahr ausging. Im gleichen Moment empfing er Létos Gedankenstimme: "Ich fühle noch zwei, zwei weibliche Wesen."

"Zwei junge Frauen, fast noch Mädchen. Eins mit tizianrotem Haar, die andre brünett und Lockig. Vom Gesicht her Cousinen. Die laufen gerade auf der Straße entlang in meine Richtung. Ich setz mich ab", schickte Julius zurück. Da begannen die beiden Frauen loszuspurten. Sie hatten ihn zwar noch nicht gesehen. Doch irgendwas verriet ihnen, das er ihr Gegner war. Dann fiel es ihm ein. Das bißchen von Léto, was trotz der Lossprechung von ihrem Blut noch in ihm wirkte. Weil er gerade häufig mit ihr mentiloquiert hatte ... Er musste weg. "Bleib ja stehen, Lulatsch!"

"Ich bleib auch stehen", sagte Julius halblaut. Dann drehte er sich auf der Stelle. Das wütende Kreischen der Tizianroten nahm er noch mit in den Transit.

Julius sah es ein, dass die beiden Frauen und die mittlerweile aus dem Haus und aus den Seitenstraßen aufgetauchten Männer ihn gezielt erspüren konnten. Das konnte nur mit dem Rest der Veelakraft Létos in seinem Körper zu tun haben. Zumindest half Felix ihm, immer rechtzeitig Deckung zu finden, wenn einer der Verfolger näher heran war. Langsam hatte er das Katz-und-Maus-Spiel satt, zumal es ihn davon ablenkte, nach Aron Lundi zu suchen. In die Wohnung konnte er nicht mehr hinein, weil aufmerksame Nachbarn die Einbruchsgeräusche gehört und die Polizei angerufen hatten. Wenn die Polizisten die beiden verhexten Haare anfassten konnten sie irgendwas abbekommen, bestenfalls einen Stromschlag, schlimmstenfalls eine Verunstaltung oder den Tod. Das musste Julius verhindern. Aber wie? "Ich komme gleich wieder hierher, Léto! Muss schnell meine Kollegen informieren", schickte Julius an Léto.

Er Apparierte von seinem gegenwärtigen Standort aus im Foyer des Zaubereiministeriums. Da nur dort appariert werden konnte musste er sich die zeitraubende Aufzugfahrt antun. Deshalb brauchte er bald zwei Minuten, bis er das Büro seiner Vorgesetzten erreichte. Er stieß die Tür auf und rief: "Roter Zaubererhut! Euphrosyne Blériot hat Wohnung von Fußballsportler Aron Lundi in Le Havre mit zwei von ihr verfluchten Haaren zu einer Falle gemacht. Wohnung nicht durch Apparieren betretbar." Er gab Ornelle das Papierblatt mit der Adresse, die er vorsorglich zweimal hatte ausddrucken lassen. "Von ihr magisch manipulierte Männer und zwei Frauen patrouillieren vor Haus. Schutzpolizei der Muggel wurde von Anwohnern alarmiert. Polizeibeamte könnten in magische Fallen laufen oder von den manipulierten Menschen verletzt oder getötet werden. Ausführlicher Bericht folgt später. Gefahr im Verzug!"

"Also doch", schnarrte Pygmalion Delacour, der durch Julius harsches Eindringen erst sehr verstört aufgesehen hatte. Doch der Codesatz "Roter Zaubererhut!" rechtfertigte ein Eindringen ohne Anklopfen und wies auch auf eine lebensgefährliche Lage für unbeteiligte Menschen hin.

"Wollten Sie wieder vor Ort? Sind Sie mit Léto dort im Einsatz? Wieso haben Sie uns nicht bei Aufbruch informiert?" Julius beantwortete die Fragen mit "Léto mahnte zur Eile. Sie brachte mich auf die Ihnen bekannte Weise dorthin, wo ihre Tochter sich aufhalten könnte. Muss schnell zurück und mit ihr versuchen, Lundi vor möglicher Abhängigkeit von Euphrosyne Blériot schützen. Abhängigkeit kann durch für beide erstmaligen Geschlechtsakt hergestellt werden. Laut Léto kann diese Abhängigkeit dann nicht mehr heilmagisch beendet werden."

"Gut, Ich mach dir den Notausgang auf", schnarrte Ornelle. "Und wehe, du kommst nicht aus diesem Einsatz zurück und kannst mir den Bericht schreiben!" Die Drohung hatte sie jedoch mit einem verhaltenen Lächeln ausgesprochen. Julius kannte seine Vorgesetzte mittlerweile gut genug, um zu erkennen, wann sie was ernst meinte und wann nicht. Aber er hoffte, dass er aus dem Einsatz zurückkommen würde.

"Sie waren in der Wohnung von diesem Lundi? Wenn der nicht dort war, wo ist er jetzt?" fragte Pygmalion Delacour, der sichtlich erbleicht war. Mochte es sein, dass seine Frau ihm einiges über die hellen und dunklen Kräfte von Veelas und Veelastämmigen erzählt hatte? Das musste Julius jetzt absolut nicht interessieren. Für ihn wichtig war nur, dass Ornelle die kurzfristige Unterbrechung des Apparierblockierzaubers wirkte. Kaum dass der so genannte Notausgang offen war verschwand Julius wieder.

Dank Felix landete er punktgenau dort, wo er vorhin noch gewesen war, ohne etwas von seinem Körper zurückgelassen zu haben. Dann fühlte er die heranstürmende Gefahr. Er reagierte blitzschnell durch eine weitere, über zweihundert Meter die Straße entlang führende Apparition. Doch was brachte das? Hinter sich hörte er schnell laufende Leute. Er peilte einen Balkon im vierten Stock an und verschwand, um punktgenau darauf zu reapparieren. Hier herauf mussten die erst einmal kommen. Er rief in Gedanken Léto. Sie erwiderte, dass sie ihn sähe und zu ihm hinkommen wolle.

Julius blickte durch die Balkontür. Er hatte nicht prüfen können, ob dahinter wer wartete. Als er ein älteres Ehepaar sah, das erschrocken auf ihn starrte ließ er mit Alohomora die Tür aufspringen. Die Frau setzte gerade zum Schrei an, als Julius sie mit dem Schockzauber betäubte. keine Sekunde später bei dem Mann. Dann verpasste er beiden mit "Mikramnesia" eine Kurzzeitgedächtnislöschung. Das missfiel ihm zwar jedesmal. Doch er konnte jetzt keinen weiteren Alarm gebrauchen. Dann murmelte er zweimal "Retardo enervate!", wobei er einmal auf die Frau und dann auf den Mann deutete. Jedesmal dachte er an die Zahl 180. Dann schloss er die Balkontür von außen und schrumpfte sich auf ein Zehntel seiner Größe ein. Denn da kam gerade Léto angeflogen. Von für ihn nun mehr als einen halben Kilometer weiter unten hörte er die Schritte der Verfolger. Die waren wirklich schnell zu Fuß. Bevor die von Euphrosyne irgendwie beeinflussten nahe genug für einen Sturmlauf waren hob Léto ab und flog über die Häuserdächer dahin wie ein weißer Blitz. Die Verfolger zogen sich nun zurück. Denn hinter einem viermal so schnell wie natürlich fliegenden Schwan konnten sie nicht herlaufen und zum Glück auch nicht fliegen.

"Der wird hier nicht mehr hinkommen, Léto. Die sind nur hier, um uns oder Kollegen von mir hinzuhalten. Hätte mir echt früher einfallen müssen. Dass der Bullemann auf dem Flur durch den Härtungszauber der Tür konnte liegt wohl darin, dass er bei Berührung Zauber schwächen kann. Diosan konnte dass, bis ich ihn in magishe Ketten gelegt habe."

"Ja, aber er konnte sich nicht mehr befreien, weil er nicht mehr unberührt war, Julius. Unberührte Veelas sind ungleich stärker. Und wenn sie noch dazu richtige Zauberstabzauber können sind sie sehr gefährlich für die, die sie wütend machen. Aber wo sollen wir nun suchen?"

"Bei denen die wissen, wo sich Lundi gerade aufhält, seinem Noch-Verein oder seinem zukünftigen Verein. Hätte ich auch früher drauf kommen können. Bitte fliege mich zum Haus vom Le Havre Atletic Club, Léto!"

Da Léto die gesamte Straßenkarte Le Havres mit wichtigen Gebäuden und Adressen in sich aufgenommen hatte konnte sie die Strecke ohne sich zu verirren in nur zwei Minuten schaffen. Julius wollte nicht als er selbst auftreten und verschaffte sich durch teilweise Selbstverwandlung schwarze Haare und dunkelbraune Augen. Nur seine Körpergröße behielt er bei. Mit Léto an seiner Seite betrat er das Vereinshaus. Zum Glück saß hier nur ein Pförtner.

"Schönen Tag Monsieur. Ich bin Guillaume Fontclair von der globalen Internet-Nachrichtenagentur. Diese Dame hier ist freya Arnesdottir. Sie hat den weiten Weg von Island gemacht, weil sie aus unseren Nachrichten erfahren hat, dass ihre Tochter, Gudrun Ivarsdottir, mit Ihrem früheren Spieler Aron Lundi zusammen ist. Sie wollte ihn gerne besuchen, hatte aber kein Geld. Da haben wir ihr den Flug zu uns runter und zu Ihnen hoch gebucht. Sie würde gerne mit dem Präsidenten oder einem Informationsweitergabeberechtigten sprechen, ob es sich einrichten lässt, Monsieur Lundi zu besuchen."

"Öhm, öhm!" seufzte der Mannhinter der Panzerglasscheibe. Létos Veela-Aura drang mühelos zu ihm durch und überflutete ihn. Julius hatte sich sorgfältig mit dem Lied des inneren Friedens abgeschirmt. Der Einfall mit der isländischen Mutter der Phantom-Freundin war ihm auf dem Flug gekommen, weil er sich fragte, wie er Létos blonde Haare und blauen Augen erkllären konnte.

"Moment mal, wer sind Sie noch mal?" keuchte der Pförtner. Julius erkannte wieder einmal, wie viel Macht eine reinrassige Veela über Männer haben konnnte, wenn sie das wollte. Denn der Pförtner war schon fast in Trance.

"Die Dame heißt Freya Arnesdottir und sucht ihre Tochter Gudrun Ivarsdottir und möchte deshalb mit jemandem sprechen, der ihr helfen kann. Sie spricht leider kein Französisch, aber neben ihrer Muttersprache sehr gut Englisch."

"Öhm, der Präsident ist gerade in einer Besprechung wegen des Transfers. Öhm, darf ich ihnen eigentlich nicht sagen."

"Was sagt der Herr?" fragte Léto in lupenreinem Cambridge-Englisch. Julius übersetzte die Aussage des Pförtners in Londoner Englisch. "Dann sagen Sie ihm bitte, dass ich erst aus den Nachrichten aus diesem Internet gehört habe, dass meine Tochter hier in Frankreich ist. Ich habe schon seit einem Monat nichts mehr von ihr gehört."

"Ma'am, ich hab's dem Gent in Ihrer Begleitung schon gesagt, dass Präsident Louvel gerade ein Treffen hat wegen wichtiger Transfers. Kann ich jetzt nicht reinrufen und ihn rausrufen", sagte der Pförtner nun im holprigen New Yorker Englisch.

"Ich bitte auch nur darum, wenn es gestattet ist, Mr. Aron Landie oder wie er sich aussprechen muss, zu fragen, woher er meine Tochter kennt und ob er ihr von mir einen Gruß überbringen kann."

"Nichts für ungut, Ma'am, aber ... darf ich eigentlich nicht machen", sagte der Pförtner und verdrehte fast die Augen, weil Léto ihn regelrecht anschmachtete. Julius sagte dazu auf Englisch: "Mrs. Arnesdottir, der Gentleman ist nur ein kleiner Pförtner. Der hat leider nicht auf alles zugriff und darf auch nicht alles sagen."

"Was sagen Sie da. Glauben Sie, ich hätte das nicht gehört?" entrüstete sich der Pförtner. Léto sah ihn bedauernd an und sagte auf Englisch, dass sie verstehen könne, dass er ihr nicht helfen könne, weil er ja nur Pförtner sei.

"Hören Sie, Ma'am, ich sitz hier zwar in der Loge ab. Aber ich kann und kenne alle wichtigen Telefonnummern und Adressen, wenn mal wer vom Verein wen andren sucht. Natürlich habe ich auch die Adresse von Aron Lundi. Aber der ist da ohne Ihre Tochter hin, kann ich Ihnen verbindlich sagen."

"Ich glaube nicht, dass sie mir sagen können, wo er ist", provozierte Léto ihn und setzte ein bedauerndes Gesicht auf. Doch gleichzeitig musste sie die Strahlkraft ihrer Veela-Präsenz derartig erhöht haben, dass der Pförtner aufsprang und rief: "Das beweise ich Ihnen. Hier, da wohnt er: Hotel Excelsior, Senatorensuite auf dem dritten Stock. Wenn Sie wollen kann ich bei dem anrufen und sie anmelden. Außerdem kann ich Ihnen die Durchwahl zum Präsidenten, seine Privatnummer, die Passwörter für die Parkgarage und die Ankunftszeiten von ihm, seiner Sekretärin und den ganzen Managerheinis geben, die alle meinen, was besseres zu sein als ich. Wollen Sie die auch, Lady? Kein Thema."

"Ich wollte nur wissen, wo ich Mister Lundi finde. Danke!" sagte sie und lächelte zuckersüß. Der Pförtner sah sie anschmachtend an. "Wenn's klappt, Ma'am, grüßen Sie ihre Tochter. die muss sich warm anziehen, wenn sie den Lundi halten will."

"Das wird sie sicher freuen zu hören", sagte Léto und winkte dem Pförtner. Julius zog den Zauberstab und murmelte "Obleviate!" Der Pförtner bekam noch einen weltentrückteren Gesichtsausdruck. Julius steckte den Zauberstab wieder weg und folgte Léto hinaus. Beide waren sich sicher, dass keine Videoüberwachung sie erfasst hielt, vor allem nicht, wo Léto ihre ganze Kraft eingesetzt hatte.

"Habe ich dir schon mal gesagt, dass ich froh bin, mit euch eigentlich gut klar zu kommen?" fragte Julius Léto.

"Das passiert Männern immer, wenn sie meinen, sich größer hervortun zu müssen, als sie sind."

"Der hätte dir echt alle vertraulichen Daten gegeben, die bei ihm im Rechner herumliegen. Na ja, er wird denken, dich geträumt zu haben."

"Grüß mir deine Frau, dass sie dir beibringt, bessere Komplimente zu machen", lachte Léto. Dann konzentrierte sie sich. "Ich bring uns hin. Ist nicht zu weit für mich. Wir landen auf dem Dach und fahren runter zu ihm. Wenn Euphrosyne bei ihm ist hoffe ich, noch was regeln zu können. Wenn sie nicht bei ihm ist können wir ihn in Schutzhaft nehmen oder wie das heißt."

"Haft ist ein hartes Wort. Aber ein besseres fällt mir leider auch nicht ein", sagte Julius.

Léto als Schwan und Julius eingeschrumpft auf ihrem Rücken flogen im rasanten Tempo über die Hafenstadt an der französischen Atlantikküste hinweg, bis sie unter sich das breite Dach eines bestimmten Hauses hatten. Sie ging in den Sinkflug. Dann schickte sie Julius zu: "Sie ist da und sie kommt in Stimmung. O nein, sie hat sich mit ihm vereinigt. Wir sind zu spät."

Julius ärgerte sich. Hätte er gleich nach Lundis neuem Wohnsitz gefragt hätten sie sich zwanzig unsinnige Minuten und den Einbruch in Lundis Wohnung ersparen können. Das konnte doch nicht angehen, dass er schon mit knapp zwanzig eine derartig lange Leitung hatte. Aber nein, er hatte auf Léto gehört und wollte ihr helfen, wenn sie bei Lundi im Haus gewesen wäre. Er hätte doch wissen müssen, dass sie ihn nach dem Wirbel um seinen Transfer und diesen hirnlosen Hooligans umquartieren würden. Aber wesentlich schlauer als einer dieser Chaoten hatte er sich heute auch nicht verhalten. Wenn Lundi jetzt lebenslänglich von Euphrosyne abhängig war, dann hatte er, Julius Latierre, voll versagt.

"Wenn du es wagst, dir jetzt Vorwürfe zu machen, Junge, dann werfe ich dich gleich hier runter und sage deiner Frau, dass du vor lauter Angst, mit zwei oder mehr Töchtern nicht fertig zu werden von mir heruntergesprungen wärest", gedankensprach Léto. Hatte die etwa seine Gedanken gelesen. Das fragte er zurück: "Solange du auf mir draufhockst und solange du immer noch ein wenig von meiner Lebensverbindung in dir hast bekomme ich mit, wenn du dich in falscher Schuld ertränkst. Ich hätte dich gestern schon aufsuchen können, wo Sarja mir diese hämische Mitteilung zugesungen hat. Ich wollte es aber erst genauer wissen und von Mademoiselle Ventvit und Madame Grandchapeau prüfen lassen. Außerdem hat mir Gabrielle auch geschrieben, für wen sich ihre Cousine so begeistert. Da hätte ich mit meinen Verwandten auch längst was erforschen können. Wenn der Krug schon umgefallen ist, sollten wir ihn mindestens wieder aufrichten und den vergossenen Wein aufwischen, bevor er zu hartnäckige Flecken in den Boden treibt."

"Wie du meinst", gedankensprach Julius.

Léto landete auf der gerade nicht besetzten Dachterrasse. Julius entschrumpfte sich. Dann gingen beide durch die Tür in die oberste Etage. Mit einem Aufzug fuhren sie hinunter bis zur Etage, auf der die Senatorensuite lag, die laut Létos Aussage gerade zum Schauplatz einer verbotenen Liebschaft geworden war. Julius hatte es zunächst verdrängt, die Schuld für den Schlamassel auf sich zu nehmen. Sicher hätte Léto ihn gestern schon informieren können. Doch wahrscheinlich hätte Euphrosyne ihre Pläne dann um einen Tag vorverlegt oder wäre mit Aron Lundi geflüchtet und hätte sich versteckt. Kein Muggel und kein Zauberer hätte sie dann noch finden können. So war es vielleicht zu spät für Aron, um seine Auswahlfreiheit zu erhalten. Aber zumindest konnten sie beide nun zur Rede stellen, falls Euphrosyne nicht mit ihrem neuen Gefährten disapparierte. Als habe er Euphrosyne diese Möglichkeit zumentiloquiert hörte er Léto verärgert fauchen:

"Bei Mokusha, sie ist den Zeitlosen Weg gegangen."

"Alleine oder mit ihm zusammen?" fragte Julius.

"Alleine."

"Dann versuche ich, mit ihm zu sprechen."

"Julius, das bringt nichts. Wenn du ihm zusetzt wird sie ihn nachholen. Sie hat uns auf ganzer Linie geschlagen", seufzte sie. Julius musste es eingestehen. Er fragte innerlich, welche Möglichkeiten er noch hatte. Doch selbst Felix konnte ihm keine Möglichkeit mehr aufzählen. Da ging die Tür zur Senatorensuite auf, und ein schwarzhaariger Mann im blauen Freizeitanzug kam heraus. Er winkte mit einem Umschlag, als er sah, dass Léto und Julius noch im Flur standen.

"Wenn Sie meine Schwiegergroßmutter sind", sagte er und deutete auf Léto "und sie ein gewisser Julius Latierre von einer nicht näher zu benennenden Dienststelle, dann habe ich hier diesen Umschlag. Wie der zu mir gekommen ist muss keiner wissen. Bitte schön!" Er schnippte Julius den Umschlag entgegen. Der fing ihn problemlos auf. Dann zog sich Aron Lundi in seine Suite zurück.

"Und ich kann ihn da nicht einfach rausholen und zu den Heilern bringen?" fragte er Léto mentiloquistisch. Doch im selben Moment fiel ihm die Antwort ein. Lundi konnte zu einer Falle für jeden werden, der versuchte, ihn fortzubringen, vor allem durch Apparieren.

Weil nichts mehr zu erledigen war ging es für Julius per Apparieren ins Zaubereiministerium zurück. während Léto missgestimmt in ihr Haus zurückkehrte. Julius schöpfte noch alle ihm zustehenden Mittel aus, Euphrosyne aufspüren zu lassen. Doch das würde sehr schwierig werden, wo Veelas eine natürliche Unortbarkeit besaßen.

Die beeinflussten konnten zwar durch fünf Schockzauber pro Gegner für einige Sekunden kampfunfähig gemacht werden. Doch dann erwachten sie wieder und verschwanden in goldenen Lichtbällen, die weder Hitze verströmten noch Brandspuren hinterließen. Fünfzehn Zauberer und vier Hexen waren dabei zu Fällen der Heiler geworden, nicht durch Zauber, sondern durch reine körperliche Gewalt. Dabei hatten sie offenbar Glück gehabt, dass die Beeinflussten wohl nur den Auftrag hatten, ihre Gegner gefangenzunehmen oder kampfunfähig zu machen. Der Feuerzauber war den Ministeriumsbeamten und den Mitgliedern der Liga gegen dunkle Kräfte unbekannt. Julius hoffte jedoch, dass seine Frau Millie ihm etwas darüber sagen konnte.

Der Versuch, Euphrosynes Kegelhaus zu stürmen misslang, weil das Haus nicht mehr am registrierten Standort zu finden war. Dort lag nur noch ein großer grüner Papiersack voller Küchenabfälle.

Der Umschlag enthielt einen mehrseitigen Brief, in dem Euphrosyne erklärte, dass es ihr nicht darum gegangen sei, Menschen Schaden zuzufügen. Die von ihr beeinflussten würde sie wieder zu sich holen, als Personal ihres künftigen Haushaltes. Sie würden vorher noch einmal zu ihren Angehörigen gehen, um ihnen davon zu erzählen, dass sie eine neue Anstellung gefunden hatten. Jeder Versuch, sie dabei erneut festzusetzen könnte den unbeteiligten Verwandten Schaden zufügen und würde dann auch gleich über mehrere Quellen ins Internet gestellt. Ihr war es nur wichtig, dass sie Aron Lundi als ihren Gefährten gewinnen konnte. warum ihn, erklärte sie damit, dass er einer der seltenen Menschen in der Geschichte sei, der keinen Felix Felicis trinken musste, um eine erhöhte Intuition, Beweglichkeit und Reaktionsgeschwindigkeit zu haben. Sie hoffte, dass sie diese Eigenschaften an jedes gemeinsame Kind weitergeben konnte und dass ein solches Talent für reine Muggelfrauen einfach eine Verschwendung sei. Julius fragte seine wie er Überstunden machende Vorgesetzte, ob es dokumentiert sei, dass es solche Menschen gab.

"Da müssen Sie sich mit Madame Eauvive von der Heilerzunft beraten, ob derlei überragende Multitalente ohne Zutun von magischen Essenzen entstehen können", hatte Ornelle Ventvit darauf geantwortet.

Abschließend forderte Euphrosyne, dass sie und ihr Mann Aron Lundi von keiner Stelle des Zaubereiministeriums behelligt würden. Jeder Versuch würde mit weltweiter Veröffentlichung der Zaubererwelt, sowie dem Tod der beiden enden und damit die Blutrache der Veelas heraufbeschwören.

Als Julius um halb zwölf abends wieder im Apfelhaus ankam wartete seine Frau auf ihn. Wie sie gesagt hatte trug sie das orangegoldene Kleid Kailishaias, das wie zusammengewebte, eingefrorene Flammenzungen aussah.

"Habt ihr Fleurs böse Base erwischt?" fragte Millie mentiloquistisch.

"Leider nicht. Die ist disappariert. Lass mich an die große Granitschüssel. Dann kannst du es dir ansehen, wenn es dir mal langweilig werden sollte."

"Noch was, Monju", sagte Millie nun mit natürlicher Stimme. "Was war das heute morgen mit Fleurs Oma genau?" Julius erklärte es ihr. Sie grinste erst, dann musste sie lachen. "Weißt du, was das heißt, Monju. Die ganze Drohung, dass wir einer irren Blutrache ausgesetzt sind, wenn eine von denen von einem von uns getötet wird, fällt voll auf die Nase. Wenn Léto schon so heftig in Ashtarias warmer Schutzaura abgeht, dann passiert das mindestens allen Veelaweibchen. Ob die Männchen auch so ausmanövriert werden können weiß ich nicht. Aber die können uns dann garr nichts, wenn wir schnell genug hierher zurückhüpfen." Julius überlegte und nickte. Dann sagte er noch: "War eine Gute Idee mit Felix. Von irgendeinem verhexten Brocken wolte ich nicht abgemurkst werden." Millie nickte beipflichtend. Dann verabschiedete sie sich zur Nacht. Julius wisperte ihr auch einen Gutenachtgruß zu. Mit der Beruhigung, dem Vergeltungsfeldzug der Veelas doch nicht ganz so hilflos ausgeliefert zu sein füllte er sein Denkarium mit den Erlebnissen vom heutigen Tag. Er verbuchte sie als eine weitere, wenn auch nicht schmerzhafte Niederlage. Dann wusch er sich und legte sich hin.

__________

Am Flughafen von Le Havre


5. Februar 2002, 07:30 Uhr

Dieses gemeine Blitzen der Kameras störte sie ein wenig. Doch mehr noch quälte sie dieser krampfhafte Druck, ihre eigene Aura so schwach zu halten, dass die üblichen Störungen dieser Geräte ausblieben. Doch wenn sie als die Frau an seiner Seite akzeptiert werden wollte musste sie zumindest einmal für diese Leute aufnehmbar sein. Jedenfalls war sie glücklich. Das Zaubereiministerium hatte sich nicht mehr gerührt. Ihre Mutter hatte ihr Glück gewünscht und ihr versichert, dass sie auch weiterhin zu ihr stehen würde und ihre Großmutter Himmelsglanz, die sich bei den Menschen Léto nannte, auch irgendwann begreifen würde, dass sie richtig gehandelt hatte.

Loulou, ihre erste Helferin, stand zusammen mit ihrer Schwester Celeste einige Meter weiter hinter ihr. Rechts und links standen die fünf von ihr nach und nach angeworbenen Leibwächter, die eigentlich immer noch für Camachos Fußballverein arbeiteten, aber jederzeit für besondere Aufträge beansprucht werden konnten. Rechts von ihr badete Aron Lundi im Meer der vielen Blitze. Gerade hatten sie der neugierigen Sensationsmeute verkündet, dass sie nun, wo Aron in die große weite Welt hinauszihe, ihre Heimlichkeiten beenden konnten und sich öffentlich zueinander bekannt hatten. Als Beweis dafür trug jeder von beiden Haar des anderen am linken Ringfinger. Auf die Frage, ob sie richtig groß heiraten würden hatte Aron nur gesagt, dass sie gleich nach der Medizinischen Überprüfung eine Reise nach Las Vegas machen würden. Das hatte genau da eingeschlagen, wo es sollte. Die Fans von pompösen Hochzeiten in übergroßen Kirchen waren enttäuscht. Aber wenn die beiden ihnen den Gefallen nicht tun wollten ...

"Noch eine abschließende Frage, Monsieur Lundi", setzte der Reporter eines Sportmagazins an. Aron nickte. Können Sie sich vorstellen, auch für die Französische Nationalmannschaft zu spielen? Oder wollen sie gleich die spanische Staatsbürgerschaft beantragen?"

"Das sind zwei Fragen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass ich immer schon davon geträumt habe, für die Blauen zu spielen. Das mache ich dann auch, wenn man mich wirklich für die Mannschaft haben möchte."

"Viel Erfolg, viel Glück und Mucha suerte", wünschte man den beiden und ihrem kleinen Hofstaat, der nicht so ins Rampenlicht geraten war wie das junge Paar, von dem nur wenige wirklich wussten, woher Aron diese überragendschöne, goldblonde Frau kannte, die nun mit grazilen Bewegungen neben ihm her zur Sicherheitsschleuse schritt.

Aron freute sich, dass er jetzt richtig durchstarten konnte. Keiner hier wusste, woher seine Frau stammte. Nur sie, er und ein paar nicht auf Öffentlichkeit versessene Leute wussten, wer sie war und vor allem was sie war. Stolz und zufrieden ging er neben ihr her zur Sicherheitsschleuse.

In einem anderen Teil des Flughafens passierte gerade ein weiteres, weniger von den Medien begehrtes Paar eine andere Schleuse. Die Frau hatte ihre früher braunen haare geschwärzt, sich eine gewisse Menge Selbstbräuner auf alle sichtbaren Hautstellen gerieben und trug dunkelbraune Kontaktlinsen. Außerdem hatte sie durch entsprechende Schmink- und Gummiteile ihr Gesicht so geändert, dass es dem Passfoto entsprach, dass sie als Consuela Evangelia Casillas aus Lima identifizierte. Ihr begleiter war unauffällig bekleidet, besaß ebenfalls ein braunes Gesicht und dunkles Haar. Auch er hatte seine silbergrauen Augen hinter dunkelbraunen Kontaktlinsen versteckt und sich mit Schminke und hauchdünnen Maskenteilen ein anderes Gesicht verpasst. Laut Pass hieß er Juan Domingo Casillas und war als Handelsvertreter aus Lima in der Normandie gewesen. Jetzt ging es wieder nach Hause, über Madrid nach Lima.

"Wird ihm sehr übel aufstoßen, wenn er rauskriegt, dass ich nicht mehr da bin", flüsterte er seiner offiziellen Ehefrau auf Spanisch zu. Sie erwiderte in derselben Sprache:

"Vor allem die Herrschaften, die meinten, die Bugs in dem Spiel zu reklamieren dürften bald einsehen, dass alles lamentieren nichts hilft."

"Dann hoffen wir mal, dass alles glatt geht", erwiderte der Mann.

"Der große Sponsor wird erst morgen früh nach ihm suchen." Beide grinsten behutsam. Denn sie wollten nicht auffallen.

Ohne Probleme ging es durch die Sicherheitsschleuse. Da sie erst in Madrid das Schengengebiet verließen genügte eine flüchtige Vorlage der Pässe. Der Beamte sah beide kurz an und winkte sie dann durch.

Eine Stunde später hob die Maschine nach Madrid ab. Drei Stunden später startete das Ehepaar Casillas Richtung Peru. Niemand hatte erkannt, dass hier zwei junge Leute alle Brücken hinter sich abbrachen, weil dem einen die väterliche Bevormundung zu viel wurde und der anderen ein Gerichtsprozess wegen Sabotage und Datendiebstahl drohte. Nur weil sie früh genug von einer Klagevorbereitung erfuhr, hatte sie einen schon länger gehegten Ausbruchsplan umgesetzt. Und der, mit dem sie gerne und ausgiebig trainierte, hatte keinen Moment gezögert, mit ihr zusammen durchzubrennen.

ENDE

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