Es ist nun über drei Monate her, dass eine internationale Streitmacht verschiedener Zaubereiministerien gegen die kriminelle Mondbruderschaft vorgegangen ist. Die führenden Köpfe dieser Bruderschaft konnten jedoch nicht gefasst werden. Alle für die Überwachung von Werwölfen zuständigen Ministeriumszauberer und -hexen fragen sich, wann, wo und wie die zurückgeschlagenen Werwölfe und Werwölfinnen der Mondbruderschaft wieder zuschlagen werden. Im Februar 2002 soll diese bange Frage beantwortet werden.
Donny Clarkson war superstolz auf sein silbern lackiertes Skateboard. Wenn er damit über die Straßen von Hell's Kitchen sauste staunten die einen und schimpften die anderen. Vor allem die mit roten, grünen und weißen Leuchtdioden besetzten Rollen, die ein wildes Lichterspiel beim Laufen veranstalteten, machten bei Donnys Altersgenossen eindruck. Auch wenn er schon einigemale vor neidischen Mitgliedern der in diesem Revier herrschenden Banden hatte flüchten müssen wollte er das Brett nicht mehr hergeben.
Passend zu seinem Brett trug er neongrüne und orangerote Sportsachen und glitzernde Schutzkappen für Knie, Ellenbogen und Schutzbänder für die Handgelenke. "Fehlt nur noch, dass du dir 'nen grünen Helm mit zwei Antennen drauf aufsetzt", hatte sein Vater ihm mal gesagt. Donny hatte dazu gemeint, dass er das eigentlich mal ausprobieren sollte. Da hatte der ihm nur Spinnerei unterstellt. Dabei hatte der in Donnys Alter schon einen aufgemotzten Dodge gefahren, auf den der sehr stolz war. Mit einem Skateboard kam man in Manhattan immer noch besser durch als im Auto.
"Eh, Rowdy", schimpfte eine ältere Frau ihm nach, als er knapp an ihr vorbeibügelte und sie nur mit dem lauten Ruf "Miep-miep!" auf sich aufmerksam gemacht hatte. Jetzt, wo die Sonne schon untergegangen war fuhr Donny noch mehr auf sein Viertel ab. Wenn die Straßenlaternen so an ihm vorbeiflogen, die Autoscheinwerfer mit seinen Leuchträdern ein irres Lichtgewitter veranstalteten und er an den Schaufenstern der Läden vorbeizischte.
Donny bog in einer halsbrecherischen Lage um die Ecke 33. Straße und zehnte Avenue, als er den Streifenwagen sah. "Mist!" dachte er halblaut. Mit den Cops konte er nicht so gut, weil die mit ihm nicht so gut konnten. Da machten die auch schon ihre rote Discoleuchte an und fuhren ihm hinterher. Wenn die ihn nicht kassieren sollten musste er immer schnell genug bleiben, dass die nicht aussteigen konnten. Abgesehen davon kannte er hier ein paar enge Gassen, die ihn locker auf die Hinterhöfe der hier hingesetzten Häuser brachten. Da konnte kein Streifenwagen hinterher. Jetzt machten die auch noch ihre wild wimmernde Partymusik, weil er offenbar schneller weiterkam als die auf der Fahrbahn. Da sah er die rettende Gasse und peilte genau, wie er abbiegen konnte, ohne bremsen zu müssen und ohne vom Brett runterzufliegen. Noch zwanzig Meter! - Noch zehn! - Jetzt bog er ab, wobei er mit seinem Kopf fast gegen eine der eng beieinanderstehenden Wände knallte. Doch er hatte sein Brett immer noch unter den Füßen und war nur zehn Stundenkilometer langsamer geworden.
Durch die gerade handtuchbreite Gasse flitzte er hindurch. Grinsend schoss er über zwei hubbelige Unebenheiten im Straßenbelag hinweg. Dann war er auf einem Hinterhof. Die mehr als zehnstöckigen Häuser wuchsen um ihn wie Felsen in einer Berglandschaft. Das Skateboard ruckelte weiter über rissige Stellen. Donny bremste, um sich in Ruhe umzusehen.
Das Echo der immer noch wimmernden Polizeisirene kam von den Häusern zurück, als wären da schon vier oder fünf Streifenwagen unterwegs. Donny trieb es dazu, schnell zu sehen, wie er weiterkam, bevor die Cops anhielten und ihm zu Fuß durch die Gasse folgten. Schräg rechts von ihm war eine ähnlich schmale Gasse, wie die, durch die er den Cops entwischt war. Dann sah er noch eine links von ihm, die wieder auf die 33. Straße zurückführte, aus der er vorher abgebogen war. Die wollte er nehmen. Er gab dem Brett wieder schwung, wobei er sich doch ein wenig ärgerte, dass die Hubbel und Risse im Boden ihn nicht richtig auf Tour kommen ließen.
Die Schmale Gasse lag keine fünfzehn Meter mehr vor ihm, als er an der Hauswand rechts vom schmalen Durchstich etwas aufglühen sah. Das brachte ihn aus dem Rhythmus. Das Brett holperte und schlingerte ein wenig. Fast hätte es ihn doch noch abgeworfen. Donny bremste voll und sah sich an, was da so plötzlich aufleuchtete.
An der Hauswand glühte es blutrot, ein einzelnes Zeichen, das wie hingemalt aussah. Doch er kannte keine Farbe, die so hell leuchtete wie die LEDs an seinen Rollen. Das Zeichen war ein Kreis, in dem ein Schriftzeichen, Buchstabe oder Symbol steckte. Donny meinte, den Buchstaben schon mal gesehen zu haben. Doch was das Zeichen sollte wusste er nicht. Es war auf jeden Fall kein ihm bekanntes Bandensymbol, mit dem sie ihre Reviere klarmachten. Er dachte einen Moment, dass er vielleicht bei einer hier noch nicht so bekannten Bande ins Revier reingeschneit war und sah sich schnell um, ob nicht gleich ein paar wütende Gangster mit Messern oder Knarren auf ihn losgehen wollten. Dann sah er zwei graue Schatten, die genau in der Gasse herumstrichen, durch die er eigentlich abrücken wollte. Das von einem Kreis umschlossene Symbol glühte noch eine winzige Spur heller auf, als die Schatten näherkamen. Jetzt sah Donny, dass es große Hunde waren, struppige graue Hunde mit kurzen Schnauzen. Dann dachte er an etwas stämmigere Wölfe, weil die Beine der Tiere so lang waren. Auf jeden Fall kamen die Biester jetzt aus der Gasse. Donny wusste sofort, dass sie ihn angreifen wollten, bevor sie ihre Mäuler aufrissen und ihre rasiermesserscharfen Zähne zeigten. Er gab seinem Brett einen Stoß nach hinten, um genug Schwung und Abstand für eine Punktwende zu kriegen. Rückwärts fahren war was, wo ihn andere Skateboarder immer wieder verdattert anguckten, weil er das so gut konnte. Er versuchte die Wende. Da flog ihm schon einer der beiden grauen Vierbeiner entgegen. Er schaffte es gerade, auf die andere Gasse zuzusteuern, als ihn etwas am Schwungbein erwischte. Ein Riss, und er war runter vom Brett. Das flog wie vom Katapult geschossen durch die Luft und überschlug sich. Die gerade noch wild fleuchtenden Rollen wurden dunkel, als das Brett laut klappernd auf dem Rücken landete, genau wie sein Fahrer.
Donny hatte nur ein Gefühl wie eine ihn packende Kneifzange gefühlt. Sein Sportanzug war aus einer besonders reiß- und hitzefesten Kunststoffverbindung, die selbst bei Stürzen starke Reibung abkonnte, um ihn nicht heftig zu verletzen. Donny war durchtrainiert und wollte sofort wieder auf die Füße kommen, als das graue Hunde- oder Wolfstier von der anderen Seite kam und voll auf seinem Bauch landete. Donny sah gerade noch die kurze, weit offene Schnauze vor dem Gesicht. Er verfluchte es, doch keinen anständigen Helm mit Visier zum fahren zu benutzen. Doch was brachte Skateboarden, wenn man nicht den Wind im Gesicht spürte? Statt des windes fühlte er jetzt die Zähne des Biestes. Das Biest schnappte nach seiner nur teilweise vom Helm geschützten rechten Wange. Der Schmerz war höllisch. Donny stieß einen kurzen Schrei aus. Der Schmerz machte ihn aber auch wütend. Er warf sich herum und stieß das Biest, das ihn gerade gebissen hatte von sich runter. Dabei fühlte er es heiß und klebrig von seiner Wange herunterlaufen.
Dass da noch ein zweiter Straßenköter war bekam Donny zu spüren, als er versuchte, aufzuspringen und ihm Biest Nummer eins voll in die Seite sprang. Zwar kamen die scharfen Krallen und die zuschnappenden Zähne nicht durch seinen Sportanzug. Doch der Druck war heftig. Donny kippte auf die rechte Seite. Er war froh, dass der Ellenbogenschützer so viel wegstecken konnte. Er teilte mit dem linken Arm einen Schlag aus, um das ihn angreifende Untier am Maul zu treffen. Er hatte gelernt, dass die Nase von Hunden sehr schmerzempfindlich war. Wenn er es schaffte .. Doch das Mistvieh hatte sich nach dem Sprung wieder zurückfallen lassen. Donnys Schlag zerteilte nur leere Luft. Dann war Biest Nummer zwei schon wieder über ihm und schnappte ganz gezielt nach der nur wenig geschützten linken Wange des Skateboarders.
Donny fühlte, wie auch Untier eins wieder auf ihn losging und zuschnappte, wenngleich es mit seinen Zähnen im Schulterpolster seines Sportanzugs hängen blieb. Er fühlte, wie aus den beiden Bisswunden Blut über seinen Mund lief. Gleichzeitig fingen die Bisswunden an zu pochen und immer wilder zu brennen. Da ließen die Biester von ihm ab und liefen auf die Gasse zu, durch die Donny gekommen war. "Bleib unten, Junge!" hörte er die Stimme eines Mannes, der daran gewöhnt war, klare Ansagen zu machen.
"Donny Clarkson", knurrte Sergeant Ian O'Connor, der mit seinem Partner Demis Casalla dem Skateboarder auf silbernem Brett mit wild blitzenden Rollen nachjagte. "Die Kollegenhaben den schon zweimal wegen seines verkehrsunzulässigen Fahrens verwarnt. Diese Blitzerrollen sind gefährlich."
"Ja, und der weiß das", grinste Casalla, der heute am Steuer saß. Gerade war der Junge in eine verdammte enge Gasse hineingefahren.
"Sollen wir den von den Kollegen vorladen lassen?" fragte Casalla.
"Nein, den schnappen wir uns selbst, Demis", grummelte O'Connor. Ich geh raus und du verfolgst den im Wagen, wenn ich weiß, wo der vom Hinterhof runterfährt." Casalla bremste zur Bestätigung voll. Kaum dass der Wagen hielt sprang O'Connor schon heraus, um die Motorhaube des Ford Crown herum und jagte im beachtlichen Sprintertempo durch die Gasse. Casalla fragte sich, ob das noch was bringen würde, wenn Donny sich durch eine andere schmale Gasse längst abgesetzt hatte. Doch er kannte seinen irischstämmigen Partner und einen Rang über ihm stehenden. Der wollte haben, dass gerade die Iroamerikaner sich anständig aufführten, um der Ehre seiner Vorfahren wegen. Er selbst lebte erst in zweiter Generation in den Staaten. Sein Großvater hatte noch Besucher durch die Akropolis geführt, während Seamus' Großeltern schon in New York geboren worden waren.
Demis Casalla meldete, dass sie gerade einen Fall von Verkehrsrowdytum entdeckt hatten und gab den genauen Standort durch. Da erfolgte Seamus' Anruf über das Handfunkgerät: "Streife siebzehn Alfa an Streifenwagen siebzehn, Subjekt von grauen Straßenhunden angefallen. Unverzüglich Ambulanz anfordern!"
Seamus O'Connor hatte den Schmerzensschrei und das wütende Knurren und Kläffen gehört und wusste sofort, dass der unbelehrbare Skateboardbandit Donovan Clarkson in Schwierigkeiten steckte. Er zog seine Dienstwaffe und entsicherte sie. Dann war er am Ende der schmalen Gasse und sah Donny am Boden liegen, Blut im Gesicht. Gerade ließ einer von zwei grauen, struppigen Vierbeinern von ihm ab. O'Connor rief dem Jungen zu, liegenzubleiben. Denn er hatte genau gesehen, dass die aggressiven Tiere kein Halsband oder andere Erkennungszeichen eines Besitzers trugen. Jetzt jacherten die beiden Tiere genau auf ihn zu. Nein, das waren keine Hunde, sondern Wölfe, wenngleich die Schnauzen etwas kürzer aussahen. Gab es in New York wilde Wölfe? Angeblich kam ja immer wieder ein Alligator in der Kanalisation vor. Aber von Wölfen ... Das erste Tier war nur noch zwanzig Meter von O'Connor entfernt. Er feuerte.
Laut krachte der Schuss und hallte schmerzhaft laut und leicht klirrend von den Hauswänden wider. Fast im selben Augenblick fühlte O'Connor, wie etwas knapp an seinem linken Ohr vorbeisauste. Im Mündungsfeuer hatte er die Brust des Tires gesehen. Es war von der Kugel gebremst worden. Doch kein Einschuss war zu sehen. Ja, das Tier berappelte sich sogar wieder. Jetzt war sein Artgenosse auf gleicher Höhe mit ihm. Noch einmal drückte O'Connor ab. Wieder krachte und hallte der Schuss. Diesmal bekam er einen wuchtigen Hieb gegen die eigene Brust. Er taumelte rückwärts. Dann erkannte er, dass er nur seiner kugelsicheren Weste unter der Uniform verdankte, sich nicht selbst erschossen zu haben. Der angezielte Wolf war zwar auch von der Aufschlagwucht zurückgestoßen worden, jedoch genauso unverletzt wie vor dem Schuss. Wieso prallten die Kugeln von diesen Biestern ab? O'Connor zielte so, dass er keinen Querschläger abbekommen konnte und feuerte auf den Kopf des ersten Wolfes. Diesmal bekam er es im Mündungsblitz mit, wie sein Geschoss vom Schädel abprallte und krachend in die Betonwand eines der um ihn aufragenden Häuser einschlug. Noch mal feuerte er auf Wolfswesen Nummer zwei. Doch wieder hätte er fast die eigene Kugel abbekommen. Die Biester waren absolut kugelsicher, mehr als er mit seiner schusssicheren Weste. Die waren lebende Stahlblöcke!
"Demis, habe zwei wilde Hunde oder Wolfsartige Tiere gegen mich. Sind absolut schusssicher. Wiederhole, kann die nicht erschießen!" rief er in das Kragenmikrofon seines Handfunkgerätes. Da waren die zwei Wölfe auf Sprungentfernung heran. O'Connor feuerte noch einmal in schneller folge und Riskierte sogar die Treffer durch Rückpraller. Tatsächlich bekam er zwei Kugeln vor Brust und Bauch und verlor den Halt. Da sprang der ihm nächste los und krachte gegen ihn.
"Sergeant O'Connor, wiederholen Sie Ihre Meldung", quäkte es aus dem Funkgerät. Doch O'Connor konnte nicht antworten. Wie besessen schnappte das ihn gerade bestürmende Tier nach seinen Armen und seinem Gesicht. Nur die guten Nahkampfreflexe bewahrten O'Connor vorerst vor Verletzungen. Ein wuchtiger Karatetritt trieb den ersten Angreifer zurück. Das Tier fiel kraftlos zu boden. Also ging zumindest körperliche Gewalt, schöpfte O'Connor Hoffnung. Da flog Tier nummer zwei auf ihn zu. O'Connor schätzte so genau er konnte die Flugbahn ab und trat ein weiteres Mal zu. Er erwischte Angreifer Nummer Zwei voll am Brustkorb. Das Tier jaulte auf. Der Polizist atmete auf, als die beiden Tiere am Boden lagen. Sicher waren die nur ohnmächtig. Aber vielleicht konnte man die jetzt fesseln, wenngleich seine Polizeihandschellen dafür ungeeignet waren. Er sah sich um. Donny Clarkson hatte seine Anweisung befolgt und war am Boden geblieben, solange die Gefahr bestand, von einer Kugel erwischt zu werden. Doch jetzt wollte der Junge auf die Füße kommen. Er wollte es. Doch irgendwie schien er nicht mehr in Form zu sein. Er taumelte und schwankte wie im Vollrausch. Aus zwei gezackten, halbkreisförmigen Wunden lief ihm das Blut über Gesicht und Oberkörper. O'Connor lief auf Donny zu, um ihm zu helfen. Da sah er, wo das rote Glühen herkam, das ihm schon die ganze Zeit merkwürdig vorgekommen war. Er traute seinen Augen nicht. Da war was an der Wand, dass wie ein Zwischending zwischen Wandschmiererei und Leuchtreklame aussah. Er rief seinen Kollegen zur Unterstützung. Dabei achtete er genau auf die zwei auf dem Boden liegenden Tiere, aus deren kurzen Schnauzen Geifer tropfte. Am Ende waren die Biester noch tollwütig, dachte O'Connor.
Casalla kam durch die Gasse von der zehnten Avenue herunter und sah die Bescherung. "Rettungssanitäter und Ambulanz verständigt", sagte er und präsentierte den zur Ausrüstung gehörenden Verbandskasten. Dann sah er das rote Zeichen.
"Das ist ein großes Lambda, Sergeant. Was der kreis darum herum soll weiß ich nicht."
"Ist mir schon irgendwie bekannt vorgekommen. Aber ich kenne den Buchstaben nur in der Kleinschreibeversion, wie ihn die Leute bei der Christopher-Straße gerne als Zeichen benutzen."
"Ja, für Libertas, das lateinische Wort für Freiheit", sagte Casalla und besah sich die beiden am Boden liegenden, die gerade eine unheimliche Umwandlung durchmachten.
Die Körper der ohnmächtigen Geschöpfe wurden in die Länge gezogen. Die kraftvollen Hinterläufe wurden menschlichen Beinen immer ähnlicher. Die mit scharfen Krallen bewehrten Pranken formten sich immer mehr zu menschlichen Händen. Der struppige Pelz schrumpfte in die Haut zurück, während die kurzen Schnauzen sich zu menschlichen Gesichtern formten. Die Ohren verloren ihre Spitze Form und wurden kleiner und runder. Jetzt fingen bei den am Boden liegenden Geschöpfen auch weibliche Brüste zu sprießen an. Das Fell auf den Köpfen wurde einmal zu einem blonden und dann noch zu einem schwarzen Schopf.
"Das glaube ich jetzt nicht", stöhnte O'Connor, als da, wo die von ihm niedergestreckten Tiere gelegen hatten, zwei junge Frauen auf dem Boden lagen. Er sah jedoch, dass sie atmeten. Anders, als er es in den üblichen Geschichten, in denen diese Geschöpfe mitspielten kannte, hatte er sie nicht erst töten müssen, um diese Verwandlung auszulösen. Dann blickte er nach oben zum Himmel. Durch die allgegenwärtige Dunstglocke über der Stadt, die niemals schlief konnte er den Mond sehen, der gerade zu zwei Dritteln voll war. Also stimmte auch das nicht, dass diese Monster nur bei Vollmond auftraten, zumal er bis gerade eben noch geglaubt hatte, dass diese Biester nur Erfindungen waren.
"Lykanthropen, Werwölfe", sprach Casalla aus, was O'Connor mit großem Unbehagen dachte.
"Okay, die beiden Biester kann ich fesseln", knurrte er dann von einer plötzlichen Eingebung beflügelt. Er zog zwei Paare Handschellen frei, die nicht mehr aus Stahl gemacht waren, sondern aus noch härterem Kohlenstoffverbundmaterial. Da rief ihm Casalla eine Warnung zu und deutete auf die Gasse, neben der das in einem Kreis eingefasste Lambda glühte. Das Zeichen glühte noch einmal eine Spur heller. Sein Widerschein ließ sechs gedrungene, auf vier Beinen durch die Gasse rennende Geschöpfe erkennen, die wie von einer roten Aura eingehüllt wirkten, als sie durch die Öffnung der Gasse hervorbrachen. Drei schwarze und drei graue Geschöpfe auf langen, sich sehr schnell bewegenden Beinen.
O'Connor steckte die Handschellen wieder weg und hielt seine Waffe schussbereit. Als die ersten auf nur noch fünfzig Meter herangekommen waren drückte er ab. Doch wie bei den beiden vorher prallten die Kugeln wie von Stahlblöcken ab und schwirrten als Querschläger davon. Zwei Schüsse pfiffen sogar wie irrwitzige Flipperkugeln zwischen drei Vierbeinern hin und her, bevor sie in einem Winkel abgelenkt wurden, der ihnen eine freie Flugbahn bot. Die sechs Wolfswesen teilten sich in zwei Dreiergruppen auf. O'Connor hoffte, die auf ihn zujagenden Gegner wie die beiden Werwölfinnen eben mit Karate auf Abstand zu halten. Da fächerten die drei ihn aufs Korn nehmenden auseinander. Einer preschte frontal auf ihn zu, während die beiden anderen von rechts und links auf ihn zurannten. O'Connor hoffte, die Taktik der drei Angreifer durchkreuzen zu können, indem er sich den von links heranjagenden als Ziel ausguckte und seinerseits auf ihn zurannte, um den Abstand für einen heftigen Sprung zu verkürzen. Es gelang ihm, auf Beinreichweite an den Gegner heranzukommen und ihn mit einem wuchtigen Tritt aus der Bahn zu fegen. Doch die zwei anderen Wölfe machten noch mehr Tempo. Den zweiten Wolf hätte O'Connor noch mit einem Tritt erwischt, wenn Wolf Nummer drei nicht in dem Moment von rechts gegen ihn gesprungen wäre. Dann war auch der zweite Wolf zu nahe, um noch einen Tritt anbringen zu können. O'Connor versuchte, ihn mit einem Handkantenschlag zu treffen. Doch die eine Bestie duckte sich unter dem Schlag weg, während die zweite sich in den reißfesten Stoff seiner Uniform verbiss und ihn herumriss. Jetzt konnte auch der zweite Angreifer von der Seite kommen. Angreifer Nummer eins, den O'Connor eigentlich aus dem Weg geschafft hatte, war aber härter im Nehmen gewesen als die beiden Wolfsfrauen. Er berappelte sich unangenehm früh und sprang wortwörtlich seinen beiden Artgenossen bei. Nun alle drei Wölfe direkt am Körper konnte O'Connor nicht mehr richtig zuschlagen. Der erste sprang an ihm hoch und erwischte ihn an der linken Wange. Der zweite zerrte immer noch am Ärmel der Uniformjacke. Der dritte nahm Anlauf und rammte ihn mit seinen beiden Vorderpranken so heftig am Solaplexus, dass O'Connor trotz der schusssicheren Unterkleidung einen Moment lang keine Luft bekam und von der Wucht getroffen zurücktaumelte. Jetzt setzten die zwei anderen nach und warfen den Cop auf den Rücken. Er versuchte noch, den ersten Angreifer mit hochschnellenden Beinen über sich hinwegzuhebeln. Doch der bekam in einem Reflex noch O'Connors rechtes Hosenbein zu fassenund hielt sich daran fest. Jetzt lag der eine Wolf mit seinem ganzen Gewicht auf O'Connors Beinen, während die beiden anderen laut knurrend und blaffend nach ihm schnappten. Noch einmal erwischte es ihn im Gesicht. Er fühlte, wie die scharfen Zähne ein Stück Haut herausrissen. Dann ließen sie von ihm ab, als hätten sie genug von ihm.
Casalla hatte ein wenig mehr glück. Er traf seinen direkt auf ihn zujagenden Widersacher mit seinem Fuß voll am Kinn. Den zweiten Angreifer erwischte seine linke Handkante von oben auf die Schnauze. Dafür bekam er von dem von rechts an ihm hochspringenden Wolf eine mörderisch brennende Bissverletzung in die rechte Wange ab. Sofort meinte er, jemand habe ihm alle Kraft aus dem Körper gezogen. Er dachte an Vampire, die Blut aus ihren Opfern saugten und damit schwächten, bis es starb und zu einem von ihnen wurde. Ihm wurde klar, dass diese Bestien, wenn sie ihn nicht töteten, ihn mit ihrem höllischen Keim angesteckt hatten. Jetzt erwischte ihn auch noch der fast vom Schlag betäubte Wolf an der linken Wange. Dann sprangen die Angreifer zurück und ließen von ihm ab.
"Hinterher!" rief O'Connor wütend, als er sah, wie die Vierbeiner durch die Gasse entkamen, durch die sie herübergekommen waren. Doch die Flüchtenden waren zu schnell.
Jetzt fiel ihm auf, dass Donny Clarkson verschwunden war. Der hatte den Kampf der Cops dazu genutzt, sein Brett zu nehmen und sich aus dem Staub zu machen.
"Einen haben wir", sagte Casalla. Er hoffte darauf, dass er sich wie die beiden Frauen zurückverwandeln musste, weil er ohnmächtig war. Doch offenbar hatte der getroffene den Tritt besser verdaut. Denn er kam langsam wieder auf die Beine, ohne sich in seine menschliche Gestalt zu verwandeln. Und auch die zwei Frauen kamen gerade wieder zur Besinnung. O'Connor wollte gerade hin, um ihnen Handschellen anzulegen, da trat ihm die Blonde so heftig in den Unterleib, dass er die Schmerzen in seinem Gesicht zunächst nicht mehr spürte.
"Du bleibst mir vom Leib, Straßensheriff", schnaubte sie. Dann landete sie ihrerseits einen wuchtigen Handkantenschlag gegen O'Connor, der ihm alle Sorgen um Schmerzen und mögliche Folgeschäden einstweilen austrieb.
Casalla taumelte auf die beiden Frauenzimmer zu. Er wollte erledigen, was sein Partner nicht geschafft hatte. Da hielt die dunkelhaarige Frau O'Connors Pistole in der Hand.
"Im Moment kann ich dir noch ein Loch in die Birne ballern", sagte sie mit unverkennbar hispanoamerikanischem Akzent. Casalla wollte in sein Funkmikrofon rufen, als ein Schuss losging und punktgenau in das Sprechfunkgerät einschlug. Knisternd und qualmend verabschiedete sich die Elektronik.
Die Blondine wurde gerade wieder zur Wölfin, während die Latina Casalla genau auf seinen nur durch die Dienstmütze bedeckten Kopf zielte. "Du lässt die Finger von deiner Knarre, Gringo. Ich Hab' schon neun Löcher im Körper. Außerdem tun mir eure Kugeln nix, nada, nullo."
"Wir finden sie", schnaubte Casalla. Dann zog er blitzschnell seine Waffe frei. Doch im nächsten Moment blitzte O'Connors Waffe auf, und Casalla fühlte den heftigen Schlag gegen den Lauf seiner Waffe. Diese Latina konnte verdammt gut schießen. Dann sah er noch, wie die Blondine seinem Kollegen noch eine dritte Bisswunde knapp unter sein Kinn versetzte.
"Das sei ihr gegönnt", grinste die Schwarzhaarige. Dann deutete sie auf eine schmale Gasse und schnüffelte. Sie machte der in eine graue Wölfin verwandelten Kameradin ein Zeichen, worauf diese losrannte wie ein Windhund. Casalla vermutete, dass die Bestien hinter Donny Clarkson herjagen würden. Er hatte sie schließlich gesehen. Er war ein gefährlicher Zeuge, so wie er und O'Connor.
"!Ich seh's dir an, woran du denkst, Gyrosdompteur. Aber sie soll nur sehen, wo er hin will. Vielleicht sind da, wo der hingeht wichtige Leute, die Bürger unseres neuen Staates werden dürfen", sagte die Dunkelhaarige. Dann fiel ihr was ein. Sie rannte auf Casalla zu, der in Karatekampfstellung ging. Doch mit einem beidbeinigen Sprungtritt kam ihm die dunkelhaarige zuvor. Ihr linker Fuß traf seinen Bauch und wurde von der kugelsicheren Kleidung gut abgedämpft. Doch ihr rechter Fuß erwischte ihn voll am Kinn und ließ einen ganzen Sternenregen vor seinen Augen erglühen, bevor er die Besinnung verlor und umfiel.
Donny Clarkson fühlte sich sauelend. Diese beiden Bissverletzungen taten höllisch weh. Sie pochten und brannten. Außerdem meinte er, dass von denen aus ätzende Säure in seinen restlichen Körper tropfte. Er hatte genau gesehen, wie die beiden Biester, die ihn angefallen hatten zu jungen Frauen geworden waren. Das waren Werwölfe. Die hatten ihn gebissen! Wenn echt alles stimmte, was über diese Biester im Kino und Büchern so erzählt wurde, dann hatten die ihn mit ihrem Höllenvirus angesteckt. Aber Heute war kein Vollmond.
Donny quälte sich auf seinem silbernen Brett gerade hundert Meter die 33. Straße entlang. Dann konnte er nicht mehr, ohne umzufallen. Außerdem hatten schon genug Autofahrer und Fußgänger gesehen, dass da ein im Gesicht blutender Bursche im blutverschmierten Sportanzug herumschwankte. Zwei Kollegen der beiden Cops von eben tauchten mit ihrem Streifenwagen auf und hielten ihn an. Jetzt war es ihm auch egal, was die mit ihm anstellten. Vielleicht konnten die das Teufelsvirus ja noch früh genug aus seinem Körper herausspülen, durch einen totalen Blutaustausch und Antibiotika. So ergab er sich den beiden Beamten, die sofort Meldung machten.
"Streifenwagen 17 hat nach letzter Standortmeldung keine weitere Meldung abgesetzt", sagte die Stimme der Funkerin im zuständigen Polizeirevier.
"Da hinten", stöhnte Donny und deutete in die Richtung, aus der er gekommen war. Einer der Beamten sah dorthin und konnte gerade noch ein graues Etwas sehen, das in Windeseile davonjagte.
"Das war eine von denen", stöhnte Donny. "Das sind echte Werwölfe", brach es dann noch aus ihm heraus.
"Junge, du hast einen Schock. Da ist das mit der Wahrnehmung manchmal schwierig. Wir bringen dich ins nächste Krankenhaus, damit die diese bösen Bisswunden behandeln und dir alles an Antibiotika geben, was die aufzubieten haben. Es gibt keine echten Werwölfe", schnarrte Sergeant Philips vom Streifenwagen 19.
Als die Kollegen O'Connor und Casalla mit ihren eigenen Handschellen aneinander aufgefunden wurden meldete einer der am Einsatz beteiligten, dass er ein ihm bis dahin fremdes Grafito an der Hauswand gesehen hatte. Ein Foto davon wurde unverzüglich über Digitalfunk zur Auswertung in den Zentralrechner des NYPD übermittelt.
"Das sind echte Lykanthropen", stieß Casalla aus, während er in einem Krankenwagen mit einem Kollegen sprach. "Wir haben die nicht erschießen können, und zwei vonn denen haben sich vor unseren Augen in junge Frauen verwandelt, eine Weiße und eine Latina."
"Als wenn wir mit möglichen Nachahmungstätern von Al-Qaida und den Gangstern nicht schon genug um die Ohren hätten", schnaubte Casallas Kollege. Dann ordnete der im Krankenwagen mitfahrende Notarzt an, dass der Patient sich nun erholen müsse.
Jeff Bristol war von einem eher langweiligen Arbeitstag in sein Wohnhaus in Brewster bei New York zurückgekehrt. Sein schwarzer Ford Mustang parkte in der Tiefgarage. Jeff hoffte, dass seine heimliche Tisch- und Bettgenossin Justine Brightgate bereits wieder aus Kalifornien zurück war. Irgendein Sammler obskurer Dinge aus dunklen Quellen hatte die Mumie eines in einr verborgenen Mayapyramide begrabenen Priesters gekauft und irgendwas angestellt, dass diese zu schwarzmagisch animiertem Leben erwacht war. Die Mumie hatte danach den Sammler umgebracht und sich dann auf die Suche nach weiteren Opfern gemacht. Das Laveau-Institut war erst durch Verbindungsleute bei der Polizei von Barstow auf diesen Fall aufmerksam gemacht worden. Justine war die einzige, die neben Englisch, Spanisch und Französisch auch ein paar indigene Sprachen Mittel- und Südamerikas gelernt hatte.
"Fünf vor acht, und wieder ist ein Tag vollbracht", stöhnte Jeff, als er die Zeit von seiner Armbanduhr ablas. Diese ihm einen Monat nach Antritt seiner Arbeit in New York von Quinn Hammersmith übergebene Uhr konnte aber nicht nur die Zeit anzeigen, sondern auch noch ein paar nützliche Sachen mehr. Zum einen sorgte sie dafür, dass Jeff in der von ihm angenommenen Erscheinungsform nicht unter der bei Selbstverwandlungszaubern üblichen Erschöpfung leiden musste. Zum zweiten erhöhte sie, solange er sie trug, seinen Fremdverwandlungswiderstand auf über 900 von 1000, womit es andere schwer hatten, ihm gegen seinen Willen eine andere Erscheinungsform zu geben. Drittens waren in die Uhr zwanzig menschliche Erscheinungsformen eingearbeitet, die Quinn an Hand von echt lebenden Besitzern eines schwarzen Ford Mustangs Baujahr 1990 ergattert hatte. Ein Zauberstabstupser an der Stellkrone und er konnte durch einfaches verstellen der Zeiger die Erscheinungsform ändern, ohne lange und konzentriert mit dem Zauberstab hantieren zu müssen. Zusammen mit einem winzigen Drehregler unter dem Lenkrad seines Wagens konnte er somit Identität und Autokennzeichen dieser zwanzig weiteren Personen auswählen. Er hoffte dabei nur, dass er nicht eines Tages als Mrs. Alice Keller oder Ms. Diana Fender auftreten musste. Er hatte die möglichen Identitäten einmal durchprobiert und dabei gemerkt, wie schmerzhaft das war, das Geschlecht zu wechseln und dass er sich fast in Ms. Fenders Äußeres verliebt hätte, weil die sehr anziehend aussah. "Am besten überlässt du mir die Frauenrollen", hatte Justine darauf gescherzt. Sie brauchte die Wechselbanduhr nicht, wie Quinn Jeffs bisher einzigartiges Hilfsmittel zur Identitätsänderung nannte.
Unter dem Briefeinwurfschlitz lag ein Packen Werbezettel, das übliche Spiel. Jeff sortierte die schrill bunten und nach Druckerfarbe stinkenden Zustellungen sofort zum Altpapier. Nur ein Brief war keine Werbung. Der Umschlag war blau und trug eine in scharlachroter Tinte geschriebene Anschrift, die von Jeff Bristol.
Jeff musste nach dem ersten Lesen des Briefes dankbar sein, dass er in einer auch von Muggeln bewohnten Gegend wohnte. Denn sonst hätte ihm sein Zaubererweltchef Elysius Davidson sicher einen Heuler geschickt. Vom Inhalt her kam das einem solchen Wutbrief jedenfalls schon sehr nahe.
New Orleans, 4. Februar 2002
Werter Mr. Jef Bristol,
seit bereits bald anderthalb Jahren genießen Sie die Ehre und den Vorzug, Mitarbeiter des renommierten Marie-Laveau-Institutes zu sein. Ich ging bisher davon aus, dass Sie sich dieser Ehre und Zuwendungen unsererseits bewusst seien und die in unserem Haus gültigen Verhaltensregeln einhielten. Dies erwies sich jedoch zu meiner großen Verärgerung als Trugschluss. Denn wie ich über verschlungene Wege zu erfahren gezwungen war pflegen Sie seit Aufnahme Ihrer Tätigkeit als Jeff Bristol eine unzulässige, weil das betriebliche Miteinander gefährdende, außereheliche Beziehung zu unserer bis dahin ebenfalls als untadelig vermuteten Mitarbeiterin Justine Brightgate. Es wurde von hier nicht zu nennenden Quellen bestätigt, dass Ms. Brightgate mehrmals bei Ihnen übernachtet hat und dabei immer ein für den zeitweiligen Klangkerker bezeichnendes Licht durch die Rollläden Ihres Schlafzimmers drang, woraus ich nur und höchst ungehalten schließen kann, dass sie beide sich in den Regeln unseres Institutes unerlaubter sexueller Handlungen mit ihr hingegeben haben. Jetzt sind meine Quellen nicht darauf aus, diese Form des Konkubinats im gesamten Institut bekannt zu machen.
Sowohl Ihnen, als auch der Mitarbeiterin Brightgate war von Anfang an klar, dass diese Art außerberuflicher Beziehungen nicht erwünscht ist, nicht von mir und auch nicht im Sinne eines objektiven Miteinanders. Wie soll ich gemischtgeschlechtliche Einsatzgruppen bilden, wenn ruchbar wird, dass es zu geschlechtlichem Miteinander unter Kollegen kommt?
Eigentlich darf und muss ich Ihnen und der wie Sie auf verbotenen Pfaden wandelnden Mitarbeiterin nahelegen, eine berufliche Anstellung außerhalb des Laveau-Institutes zu finden. Leider hindern mich zwei Dinge daran, dies zu tun: Der eine Grund sind die außergewöhnlichen Fähigkeiten Ms. Brightgates, die für Operationen unter Verwendung von Fremdidentitäten unverzichtbar sind. Der zweite Grund liegt in Ihrer wichtigen Aufgabe in der nichtmagischen Welt, auf Ereignisse zu achten, die die Einflussnahme durch Zauberer, Hexen oder Zauberwesen nahelegen. Deshalb kann ich Ihnen beiden nicht kündigen, so gern ich es täte. Doch zwei Dinge kann und werde ich tun:
Zum einen spreche Ich Ihnen hiermit eine offizielle Ermahnung gemäß Anstellungsverttrag Artikel sieben aus, demnach Sie beide zur Einhaltung der Unter Artikel 6 dargelegten Anstandsregeln verpflichtet sind. Diese Ermahnung geht mit einem über einen noch von mir festzusetzenden Bewährungszeitraum einher.
Zum zweiten fordere ich Sie beide auf, wenn Sie beide wieder verfügbar sind, umgehend in mein Büro zu kommen, und mir rede und Antwort zu stehen, ab wann genau Sie Ihre unerwünschte Beziehung führen. Sollten Sie beide dieser Forderung nicht nachkommen werde ich durch Abstandshaltezauber auf sie beide dafür sorgen, dass Sie beide sich außerhalb des Institutes nicht weiter als bis auf einhundert Meter nähern können.
Ich räume Ihnen beiden Zeit bis zum siebten Februar ein, meiner Aufforderung zur mündlichen Auskunft zu entsprechen. Geschieht dies nicht, werden sie beide ab dem achten Februar nur noch innerhalb der überwachten Räumlichkeiten des Institutes miteinander sprechen können. Sie sind hiermit verwarnt.
Ich wünsche Ihnen trotz all des mir bereiteten Ungemachs noch einen erholsamen Feierabend.
Elysius Davidson, Leitender Direktor des Marie-Laveau-Institutes
Jeff Bristol fragte sich, wer da verraten hatte, dass er und Justine sich immer wieder trafen und etliche Nächte miteinander verbrachten. Quinn, der was ahnte, konnte aber nicht die Plaudertasche sein, weil Justine ihn wohl mal bei etwas erwischt hatte, was der Chef besser auch nicht wissen sollte, hatte sie ihm mal gesagt, ohne zu erwähnen, was genau der vielseitige und experimentierfreudige Mr. Hammersmith so in seinem Laboratorium angestellt hatte. Wichtig war für ihn nun, dass er mit Justine bis zum siebten darüber sprach, ob und wie sie zusammen weiterleben wollten. Vielleicht musste er sogar kündigen und ins Zaubereiministerium zurückkehren, um sowohl Davidson zu beschwichtigen, als auch die Beziehung mit Justine weiterzuführen.
Aus Trotz legte Jeff eine CD ein, die er sich gekauft hatte, als er so nachrecherchiert hatte, wer so aus seiner neuen Wohnheimat stammte. Er wählte Stück Nummer sieben aus, das hieß, was Justine und Jeff waren: stille Partner.
Mitten im Lied trällerte das schnurlose Telefon Bristols. Nur zehn Leute kannten seine Nummer, außer Justine und Brenda Brightgate waren das alles Kollegen.
"Jeff, das glaubst du nicht", meldete sich Ralf Burton, der wegen eines längeren Artikels bis neun im Büro bleiben wollte. Jeff fragte, was er nicht glauben würde und fischte nach der Fernbedienung für die Stereoanlage, um die Musik leiser zu drücken. "Mäuschen hat gepiepst, dass an der Ecke 33. Straße west und zehnter Avenue ein Skateboarder und zwei Streifenhörnchen von Werwölfen überfallen worden sind. Ich habe die Kiste auf unserer schwarzen Platte."
"Werwölfe?!" stieß Jeff aus. Dann drückte er schnell die An-Aus-Taste der Fernbedienung. Die Musik brach ab, Der CD-Spieler setzte den Laser zurück und die LED-Anzeige wurde dunkel.
"Ja, heißt es. Ich habe die ganze Sache mit, als Mäuschen was von einem Überfall und acht scheinbaren Straßenhunden gepiepst hat", sagte Burton.
"Das ist verdammt nett von dir, dass du mich gleich angerufen hast, Ralf. Du weißt ja, dass mich alles interessiert, was irgendwie aus dem Gruselkabinett oder der Geisterbahn stammt. Ich komme rüber. Lass bis dahin keinen an die Platte dran!"
"Habe die schon gesichert. Passwort Nummer sieben, Jeff. Bis gleich!"
Jeff Bristol juckte es in der rechten Hand, den Zauberstab aus dem mittlerweile diebstahlsicheren Hosenbeinfutteral zu ziehen und die Strecke von Brewster nach New York zu apparieren. Doch dann hätte er Ralf einen Gedächtniszauber verpassen müssen, ja jedem, der ihn vorher hatte wegfahren sehen können. Das war ihm zu aufwendig, und die Kollegen vom LI wollte er bei der Gewitterstimmung von Davidson nicht damit behelligen.
Jeff fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage, wo sein Mustang stand. Er brauchte nur am Türgriff zu ziehen, und der Wagen war offen. Das machte ein in den Griff eingebauter Körperspeicher, der auf seine lebendige Hand abgestimmt war. Jeder andere hätte den Wagen niemals aufgekriegt, selbst nicht mit Schneidbrenner oder Diamantbohrer. Jeff startete den Motor und fuhr durch das ferngesteuerte Falttor hinaus. Dann legte er den linken Zeigefinger auf die Drehachse des Tachometers und murmelte: "Carpe Ventum!" Da war es, als seien in dem Wagen drei weitere Motoren angesprungen. Das Auto machte einen Satz nach vorne, bevor es mit kraftvoller Beschleunigung auf der Straße entlangpreschte. "Na, Quinn, ob dein Radar- und Laserschlucklack taugt?" fragte Jeff an die Adresse des gerade nicht mit ihm im Auto sitzenden Quinn Hammersmith. Jedenfalls glitt die Tachonadel innerhalb von drei Sekunden auf einen Wert über 150 Stundenkilometer. Bei dem Tempo hätten Marty McFly und Doc Brown also locker durch die Zeit springen können, dachte Jeff. Dann lagen ganze 190 Stundenkilometer an. Jeff war gerade mal auf halber Extrakraft. Zu schnell durfte er mit seinem schwarzen Flitzer aber auch nicht fahren, weil er dann in nicht einmal zehn Minuten die Strecke bis zur Redaktion geschafft hätte.
So kam er nur zehn Minuten früher an als er bei zivilisierter Fahrweise brauchte.
"Dunston wollte die Kiste nicht haben", sagte Burton, ein schlachsiger Blondschopf Mitte dreißig zur Begrüßung. Dann ließ er Jeff an den nicht ans Internet angeschlossenen Rechner, wo eine nur auf eindeutige Anforderung angezeigte Festplatte eingebaut war, auf der Bilder, Texte und Tonaufnahmen aus fragwürdigen bis unerlaubten Quellen abgespeichert wurden. Jeff überlegte, was Passwort Nummer sieben war. Als es ihm einfiel tippte er das aus zwölf Zeichen bestehende Schlüsselwort ein. Sofort bekam er Zugriff auf drei mp3-Aufnahmen, die mit dem Zeitcode Jahr, Monat, Tag, Stunde und Minute versehen waren. Er wählte die erste Datei aus und setzte die Kopfhörer auf.
Er lauschte einem über Polizeifunk geführten Dialog. Mäuschen, ein eigentlich unzulässiges Zusatzgerät in diesem Rechner, konnte alle Frequenzen von Feuerwehr und Polizei abhören. Darüber hinaus war eine Spracherkennung installiert, die auf die im Polizeifunk üblichen Codes für Straftaten und Notfälle abgestimmt war. Wenn die Codes für Raub, Überfall, Entführung oder Mord genannt wurden wurde automatisch aufgezeichnet. So konnte Jeff nun mithören, wie Streifenwagen 17 auf der Jagd nach einem rüpelhaften Skateboardfahrer mit wolfsartigen Tieren in Berührung gekommen war und die beiden darin patrouillierenden Polizisten verletzt worden waren. Als erwähnt wurde, dass zwei der Vierbeiner zu jungen, unbekleideten Frauen geworden waren fühlte Jeff den kalten Schweiß ausbrechen. Mit einer Nachricht wie dieser hatte er seit den Aktivitäten einer selbsternannten Mondbruderschaft immer wieder gerechnet. Ein auf den Hilferuf reagierender Streifenwagen hatte den Skateboardfahrer an der neunten Avenue aufgelesen und tiefe Bisswunden auf beiden Wangen gemeldet. Auch die Polizisten waren gefunden worden, mit ihren eigenen Handschellen aneinander gefesselt.
Aufnahme zwei bezog sich auf den Überfall, handelte aber von einem merkwürdigen Zeichen an der Wand, das zur näheren Überprüfung fotografiert und in den Zentralrechner überspielt wurde. Laut dem Streifenpolizisten Casalla war es ein großes Lambda in einem Kreis. Jeff dachte an die Symbole der Mondbruderschaft. Hatten die ihr Firmenzeichen geändert?
Die dritte Aufnahme war eine Fahndungsmeldung. Gesucht wurden zwei Frauen, eine hellhäutig und blond mit grauen Augen, die andere lateinamerikanisch oder kreolisch mit schwarzem Haar und dunkelbraunen Augen. Sie wurden als mögliche Drahtzieherinnen des Überfalls bezeichnet.
"Das glaubt ihr aber auch nur, dass die die Auftraggeberinnen waren", dachte Jeff. Er erinnerte sich an die Beschreibungen von Lunera, die wegen ihrer Kenntnisse vom Lykonemisis-Trank die Führerin der Mondgeschwister war. Die Beschreibung passte jedoch nicht auf sie, und die Schwarzhaarige kannte er auch nicht. Er würde gerne die Phantombilder der beiden sehen, dachte er fast noch mit dem Verstand eines Bundesermittlungsagenten. Dann fiel ihm ein, dass er die verdammte Pflicht hatte, seinen Vorgesetzten im LI und auch das Zaubereiministerium zu informieren. Nein, Cartridges Werwolfjäger sollte Davidson bitte selbst kontaktfeuern.
"Ralf, es wird wohl eine lange Nacht", sagte Jeff. "Wenn da wirklich wer tiere mit kugelsicherem Fell auf Menschen abgerichtet hat und irgendwie vortäuschen kann, dass zwei von denen zu Menschen und wieder zurückverwandelt werden haben wir wen, der die ganze Stadt erpressen kann, vielleicht sogar die ganzen Staaten. Will Dunston echt nichts davon wissen?"
"Er sagt, dass wir die Anweisung haben, keine mit Mäuschen mitgehörten Sachen zu bringen, weil er nicht will, dass rumgeht, dass auch die angesehene Times den Polizeifunk abhört. Es sind schon sieben Kollegen von den Regenbogen- und Revolverblättern ausgeschwärmt."
"Um so wichtiger ist es, den ganzen Spuk schnellstmöglich als gelungene Horrorschau zu entlarven", sagte Jeff. Denn was er gerade gesagt hatte meinte er auch so. Wenn Werwölfe mit Hilfe des Trankes gezielt auf die Erschaffung weiterer Artgenossen ausgingen, ohne sich durch Portschlüssel zu verraten, konnte wer immer hinter ihnen stand einen ganzen Katalog von Bedingungen diktieren. Das durfte das Zaubereiministerium nicht zulassen.
"Ach, wie möchtest du das beweisen, ohne die Zeugen befragt zu haben?" wollte Burton wissen.
"Genau so, dass ich die Zeugen befrage. Ich dreh das so, dass uns ein Informant der Stadtpolizei drauf gebracht hat, da zöge jemand eine Erpressungsnummer mit irgendwelchen Gruseleffekten durch."
"Die lassen dich nicht bis zu denen vor", sagte Burton. Jeff fragte dann etwas ungehalten, wieso er dann überhaupt noch mal in das Büro hatte kommen sollen, wenn er mit dem Material sowieso nicht arbeiten durfte. Burton grummelte, dass es ja auch nur darum gehe, dass jemand irgendwas vorhabe und dabei eine Horrorgeschichte in die Welt setze, die selbst die Polizisten vor Ort geschluckt hätten.
"Ja, und genau das zu enthüllen ist unser Job", sagte Jeff. Ralf sah ihn verdrossen an. Er arbeitete fünf Jahre länger bei der Times als Jeff. Deshalb sagte Jeff schnell: "Jedenfalls sollten wir auch an dieser Sache dranbleiben, auch und vor allem, um sie nicht diesen Schmierfinken und Räuberpistolenschützen von der reinen Sensationspresse zu überlassen. Ich fahr hin und seh zu, wie ich an die Opfer rankomme."
"Du meinst, ob ..." berichtigte Burton Jeff Bristol. Dieser sagte noch einmal, dass er einen Weg suchen und finden würde.
Jeff Bristol fuhr jedoch nicht zum Columbia-Krankenhaus, sondern steuerte eine Mülldeponie westlich des Hudson-Flusses an. Dort holte er aus dem auch mit Körperspeicher versehenen Geheimfach unter dem Handschuhfach ein Objekt heraus, dass rein äußerlich ein Feuerzeug war. Dann fischte er noch etwas wie eine Pillendose heraus und entnahm dieser eine winzige, silbergraue Kugel, die er in das Feuerzeug hineinlegte. Dann schlug er eine Flamme, die sofort smaragdgrün aufleuchtete. Er hielt die grüne Flamme direkt an seinen Mund, ohne dass sie ihm die Lippen versengte. "Achtung, hier Bristol an Einsatztrupp Wolfsrudel!" sprach er in die von seinen Worten erzitternde Flamme. Dann wartete er. Zehn Sekunden später vergrößerte sich die Flamme auf die dreifache Breite und höhe. In ihr schwebte das Gesicht eines älteren Mannes mit grauem Ziegenbart. "Hallo, Jeff, was liegt an?" fragte er in texanischem Dialekt. Jeff gab einen Bericht im Telegrammstil ab. Dann antwortete der andre aus der Flamme heraus: "Okay, fahr du in dein Büro zurück und sage, dass die die Opfer wegen Ansteckungsgefahr unter Quarantäne gestellt haben. Wir regeln das."
"Danke, Max", sagte Jeff Bristol. Der andere verabschiedete sich noch, dann schrumpfte die grüne Flamme wieder auf normale Größe. Jeff ließ den Gashebel los und die Flamme seines Feuerzeuges erlosch gänzlich.
"Das Patent hätten die vom Ministerium sicher auch gerne", grinste Jeff, als er das Feuerzeug und die Pillendose zurück in das Geheimfach legte und es verschloss. Dann fuhr er im ganz gemütlichen Tempo ins Büro zurück und sagte den von Max vorgeschlagenen Spruch auf. Ralf hatte inzwischen mit dem Chefredakteur darüber gesprochen, der die Angelegenheit erst in die Times bringen wollte, wenn der Polizeidirektion selbst daran gelegen war, die Angelegenheit sachlich und ohne Panikmache zu veröffentlichen. Jeff sagte dazu nur, dass dann aber gleich alle Mäuschen-Meldungen in den Papierkorb verschoben werden konnten, wenn es darum ging, zu warten, was die Polizei der Öffentlichkeit mitzuteilen bereit war.
"Sie sind noch nicht lange bei uns, aber schon lange genug um zu wissen, dass eine gute Zusammenarbeit mit den Ordnungskräften ein sehr wichtiges Standbein unserer Berichterstattung ist, Mr. Bristol", wies Chefredakteur Dunston ihn auf die geltenden Verhaltensrichtlinien hin.
Jetzt auch noch von seinem Muggelweltvorgesetzten gemaßregelt hakte Jeff diesen Tag als erst langweilig, dann unheilvoll und schließlich ärgerlich ab.
Julius Latierre konnte nicht richtig schlafen. Die Sache mit Euphrosyne und Aron Lundi ging ihm doch näher, als er sich zunächst eingestehen wollte. Dabei hatte er alles getan was er tun konnte. Er war eben nur eine oder zwei Stunden zu spät dran gewesen. Als er dann doch fast wegnickte schrie Chrysope laut und fordernd. Damit weckte sie nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihre große Schwester, die auf ihren kurzen Beinen zum Elternschlafzimmer herüberwuselte. Weil Aurore schon einmal wach war klappte Julius ihr den Zwischensitz herunter, damit sie Pipi machen konnte.
Während Millie ihre jüngste Tochter erst trockenlegte und dann an ihre linke Brust legte las Julius Aurore eine weitere Gutenachtgeschichte vor. Doch schon nach drei Minuten schlief seine erste Tochter wieder tief und fest. Immerhin hatte sie nicht gemault, weil ihre kleine Schwester sie wachgemacht hatte. Das ließ hoffen, dass sie sich doch noch an die Neue im Haus gewöhnen konnte.
"Dich treibt das mit Fleurs und Gabrielles großer Cousine noch um, richtig, Monju?" wisperte Millie, während Chrysope immer träger und schläfriger saugte.
"Ich wäre gerne zwei oder drei Stunden zurückgereist, um das noch abzuwenden", sagte Julius.
"Mademoiselle Ventvit hat deinen Bericht, und du hast Urlaub. Solange sie dich nicht zu einer gesonderten Anhörung rufen brauchst du dich nicht um die Sache zu kümmern, bis du wieder zum Dienst gehst."
"Ruf den großen Drachen nicht, Mamille", seufzte Julius. Am Ende wollten die ihn noch befragen, warum er nicht früher auf die Idee gekommen war, nach Aron Lundis vorübergehender Unterbringung zu fragen. Chrysope hörte auf zu saugen und gluckste zufrieden. Millie klopfte ihr behutsam auf den Rücken, bis sie aufstieß und dabei ein paar Spritzer Milch ausspuckte.
"Das mach ich mal eben weg", säuselte Millie und legte Julius das Kind in die Arme. Er trug die kleine Chrysope zu ihrer Wiege, in der auch schon Aurore ihre ersten Lebensmonate geschlafen hatte. Einen Moment stellte er sich eine wie Millie aussehende junge Hexe vor, die ihm zuwinkte, bevor sie in einer sonnenuntergangsroten Lichtsphäre verschwand. Dieser Tag würde schneller kommen, als ihm wohl lieb war.
Als Millie sich gesäubert hatte und ins Bett zurückglitt winkte sie Julius zu, sich an sie anzukuscheln. "Wenn du nicht schlafen kannst sage ich Tante Trice, sie möchte dir auch ein Kardiophonkissen machen, damit du meinen beruhigenden Herzschlag hören kannst." Julius grinste und drückte sich an den Körper seiner Frau. Er schob sich so, dass sein Kopf an ihrem Brustkorb anlag und lauschte. Er hörte sie sanft und langsam ein- und ausatmen und das regelmäßige und ruhige Rum-bumm ihres Herzens. Diese ständigen Geräusche hatte bis vor drei Tagen auch Chrysope um sich gehabt und war dadurch im ruhigen Gefühl herangewachsen, von jemandem erwartet und geliebt zu werden.
In einer halben Umarmung mit Millie und unter dem Einfluss ihrer beiden Herzanhänger gelang es Julius, doch noch einzuschlafen.
Weil es um diese Jahreszeit noch nicht so früh hell wurde schaffte es Julius, noch vor Aurore aufzuwachen. Denn die stand immer gleich auf, wenn das erste Morgenrot durch ihr Fenster schimmerte, ganz wie es ihrem Vornamen entsprach. Da Millie noch tief und fest schlief machte er für sie, Aurore und sich schon einmal frühstück. Als er wieder ins Schlafzimmer ging lag Aurore in den Armen ihrer Mutter und kuschelte sich an ihre üppigen Brüste. "Neh, Rorie, das ist nur für kleine Kinder, die nur schreien können", grinste Millie, als Aurore anstalten machte, ihren Mund anzulegen. Sie quängelte, wofür Millie ihr den an ihrer Halskette hängenden Schnuller zwischen ihre Zähnchen drückte.
"Ich habe Bananenmilch für dich, Rorie und Knusperbrot mit Honig drauf", säuselte Julius. Aurore wollte schon los, um zu frühstücken. Doch Julius bestand darauf, dass sie sich erst einmal waschen und anziehen lassen musste.
Als dann alle am Frühstückstisch saßen und Aurore ihre Bananenmilchmischung trank und die für sie in mundgerechte Stücke portionierte Toastbrotscheibe mit Madame L'ordouxes Apfelblütenhonig verputzte, was nicht ohne Krümelei abging, las Julius in der zugestellten Ausgabe des Mirroir Magique von einer französischen Touristin, die die Jahreswende in der Zaubererstraße von New York gefeiert hatte und dabei vergessen hatte, erst auf die goldenen Funken des Zeremonienmagiers zu warten, bevor sie mit ihrem künftigen Mann an ihrer Seite die Wonnen der Liebe erlebte. Sie erwähnte, dass sie eigentlich erst in fünf Jahren zwei Kinder haben wollte, es aber wohl schon im Oktober diesen Jahres so weit sein würde. Das lies Julius an Sandrine und Gérard Dumas denken, die auch bei einer Feier einen besonderen Cocktail getrunken und danach mehr als einen Tag verschlafen hatten. Außerdem las er, dass Bruno seinen Vertrag bei den Mercurios um weitere drei Jahre verlängert hatte. Nächsten Samstag würde es gegen die Dijon Drachen gehen, da hieß es, möglichst viele Tore zu schießen, bevor deren Starsucherin Corinne Duisenberg den Schnatz zu fassen bekäme.
"Diese Babymacherbande von Vita Magica hat wieder Opfer gefunden", sagte Julius und gab Millie die Zeitung, nachdem sie ein großes Glas Fruchtsaft in einem Zug geleert hatte.
"Wen hat's erwischt?" fragte sie und las. "Ui, Mademoiselle Montétoille? Die ist ein Jahr vor meiner Einschulung mit Beaux fertig geworden, hat immer getönt, erst Karriere und dann Kinder machen zu wollen. War eine von den Violetten."
"Und hat sich mit deiner großen Schwester nicht verstanden, oder woher kennst du die?" fragte Julius.
"Deren Maman hat sich immer über Oma Line ausgelassen, dass die zu viel Angst hat, mal allein zu sein, wenn die nicht jedes Jahr wen neues im Bauch hat. Oma Line hat darüber nur lachen können und gemeint, dass das nur der blanke Neid sei, weil der Mann von Mademoiselle Charlotte Montétoille ihr eben nur die eine Tochter zum Tragen gegeben hätte und sich danach hauptsächlich im Ausland aufgehalten habe, als Zaubertierforscher in Südamerika. Dann kam raus, dass er mit einer Hexe aus Brasilien noch zwei Kinder mehr aufgelegt hat. Das ging gut durch die Zeitungen, da waren wir gerade mit dem ersten Jahr durch."
"Ja, und jetzt hat diese Mademoiselle mit unerwünschter Hilfe dieser Befruchtungsanschieberbande gleich zwei Kinder in Aussicht", erwiderte Julius.
"Schon fies", sagte Millie und fügte hinzu: "Sicher, die ist durch dieses Sauzeug darauf eingestimmt, die beiden Würmchen mit allen Mitteln haben und beschützen zu wollen. Aber irgendwie ist das schon gemein, einem Mann und einer Frau die Entscheidung abzustreiten, wann sie ein Kind haben wollen und wann nicht. Ich finde es auf jeden Fall schöner so, wie wir es hinbekommen haben oder wie's Oma Line immer wieder hingekriegt hat." Dem konnte und musste Julius beipflichten. Er fragte sich nur, wieso die Veranstalter der Party nicht mitgekriegt hatten, dass da mal wieder ein unerlaubtes Stimulanz die Runde gemacht hatte. Rechtlich war es auf jeden Fall eine Form von Körperverletzung, könnte sogar als vollendete Vergewaltigung mit Hilfe magischer Gebräue angeklagt werden. Aber wen sollten die anklagen? Darauf konnte Julius keine Antwort geben.
Nach dem Frühstück legte sich Millie wieder hin, weil ihre Tante und Hebamme sie in einer Stunde untersuchen wollte. Vielleicht durfte Millie ja doch mit zu Kevins und Patrices Willkommensfest für ihre Tochter Shivaun Rénée.
Julius flog mit Aurore zum Spielplatz von Millemerveilles. Dort trafen sie Sandrine Dumas und ihre Zwillinge, die siebzehn Tage nach Aurore geboren worden waren. Während sich die drei in Beauxbatons geborenen Kinder auf den hier bereitgestellten Spielgeräten austobten und auch mal über die große Tummelwiese und die wie eine große, himmelblaue Torte aussehende Hüpfburg hopsten unterhielt sich Julius mit Sandrine über die ersten Tage von Chrysope und den Artikel in der Morgenzeitung. Sandrine verzog ihr Gesicht, als sie sagte, dass es ein Skandal sei, dass man diesen Verbrechern nicht das Handwerk legen könne.
Er wollte gerade darauf antworten, als Millie ihm zumentiloquierte: "Tante Trice hat's genehmigt, dass ich mitkomme, weil wir auf Temmie fliegen. Sie hat's mit Tante Babs geklärt, möchte aber, dass sie dabei ist."
"Okay", schickte Julius zurück. "Ach ja, und die Mutter deiner zeitweiligen Zwillingsschwester hat ihren Kopf im Kamin gehabt. Du möchtest, wenn du schon mal Zeit für den Computer hast, alles raussuchen und an ihre Elektropostanschrift schicken, was die Karrieren von Berufssportlern begünstigt oder gefährdet. Sie möchte die Sachen bis morgen früh haben."
"Mir schwant, das hat was mit Lundi und seiner Traumfrau zu tun", gedankenseufzte Julius.
"Ja, und offenbar hat Belles Maman beschlossen, dass sie auch dafür zuständig ist. Aber von einer Anhörung hat sie nichts gesagt.""Zumindest das ist beruhigend", erwiderte Julius. Dann sah er Sandrine abbittend an, weil die wohl gerade was gesagt hatte und erwähnte, dass seine Frau ihm nur mitgeteilt hatte, dass sie morgen mit zu einem Fest reisen durfte.
"Ach, Patrice hat ja auch ein Baby bekommen", schnarrte Sandrine. "Gut, ich wurde nicht eingeladen, weil ich mich auch das eine oder andere mal mit ihr oder ihrem irischen Auserwählten gestritten habe, was richtige Umgangsformen sind. Aber du darfst die beiden trotzdem von mir grüßen. Immerhin wollten die ihr Kind ja auch haben und wurden nicht durch einen gemeinen Cocktail dazu getrieben."
"Ich bin gespannt, wem die kleine ähnlicher sieht", sagte Julius.
Gegen Mittag brachte er seine unwillig herummaulende Tochter Aurore zurück ins Apfelhaus. Die hätte gerne noch länger mit den Zwillingen Roger und Estelle getobt. Doch nach dem Mittagessen fiel sie fast übergangslos in einen tiefen Schlaf.
Julius nutzte es aus, dass auch Millie und Chrysope schliefen, um die von ihm erbetene Internetrecherche durchzuführen. Dabei gab er als Suchbegriffe "Doping", "Unfaires Verhalten" und "strafbare Handlungen" zusammen mit Begriffen aus dem Sport ein. Aus den darauf folgenden über zehntausend Treffern sortierte er zwanzig Artikel aus, wo es um beim Doping oder Konsum von verbotenen Rauschmitteln erwischte Sportler, wegen erwisener Verbrechen gesperrter und zu Freiheitsstrafen verurteilter Sportler und um aufgedeckte Affären zwischen Sportlern und verheirateten Männern und Frauen ging. Er las über homosexuelle Sportlerinnen und Sportler, die nach Enthüllung ihrer Lebensweise offensiv damit umgegangen waren oder von einem auf altbackene Moralvorstellungen pochenden Mob aus ihrer Sportart gedrängt worden waren. Dabei dachte er daran, dass Madame Grandchapeau diese Artikel garantiert benutzen wollte, um zu klären, ob Lundi weiterhin als Profifußballer Karriere machen durfte. Deshalb fügte er auch Artikel hinzu, die von über ihr Versagen total aus dem Gleichgewicht geratenen Sportlern handelten. Dann schrieb er noch eine persönliche Einschätzung, dass Aron Lundi, dessen Lebenslauf und Spielstatistiken er auch noch aus dem Internet gefischt hatte, sicher sehr bestürzt bis lebensmüde reagieren mochte, wenn er nicht mehr weiterspielen durfte. "Das war das einzige, was ihn in seiner Schule aufrechtgehalten hat, dass er Fußball spielen durfte", schrieb er und packte dann alle Artikel und seinen Bericht in einer passwortgesicherten Archivdatei zusammen, die sich zu einem selbstentpackenden Programm umwandelte. Diese Datei schickte er mit dem Hinweis, dass das Passwort der Reisename von Belles Zwillingsschwester plus ihrem vollständigen Erscheinungsdatum im Format Monat, Tag, Jahr lautete. So wusste nur Nathalie Grandchapeau oder eben Belle, dass das Passwort Laetitia10311995 lautete. Dann schickte er die E-Mail ab.
Eine halbe Stunde später - Julius hatte noch E-Mails an Brittany und Aurora Dawn geschrieben und ihnen mitgeteilt, dass es bei dem Termin für die Willkommensfeier bliebe, kam bereits eine Anntwort Madame Belle Grandchapeaus zurück. Die E-Mail enthielt eine Anlage. Im E-Mail-Text selbst stand nur, dass sie dasselbe Passwort wie er benutzt hatte. So konnte er den zu einer Archivdatei zusammengepackten Text problemlos auspacken und las, dass es noch an diesem Tag eine Konferenz der gerade diensttuenden Mitarbeiter aus der Zauberwesenbehörde und dem Büro für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie geben würde. Da er noch Urlaub habe werde ihm das Ergebnis dieser Konferenz bei Wiederantritt seines Dienstes mitgeteilt. Für Julius hieß das, dass er nicht mitreden durfte, was in der Angelegenheit zu tun war. Er nahm es hin. Hauptsache, er wurde nicht doch zu einer Anhörung vorgeladen.
"O Mann, Monju, du hättest aber echt mal nachsehen können, ob ich nicht noch mal aufstehen möchte", grummelte Millie ihn an, die ihn mit einer gerade wieder nuckelnden Chrysope und einer ihr dabei mit großen Augen zusehenden Aurore im Wohnzimmer empfing. "Ich wollte nicht so lange schlafen, verdammt", fügte sie hinzu. Julius erwiderte so ruhig er konnte:
"'tschuldigung, die Recherche für Belles Mutter hat länger gedauert. Wollte eigentlich auch nicht so lange im Gerätepilz hocken."
"Sei's. Wir haben ja jetzt einen neuen Wecker im Haus", grummelte Millie. Doch dann musste sie grinsen. Julius nickte ihr zu. Dann setzte er sich zu Aurore, die ganz aufmerksam zusah, wie ihre kleine Schwester gefüttert wurde. Sicher dachte sie daran, dass sie das auch mal so getrunken hatte. Aber ihre Maman hatte ihr sanft aber unerbittlich klargemacht, dass das jetzt nur für ihre kleine Schwester war.
Erst als Chrysope satt und zufrieden in ihrer Wiege lag wollte Aurore wieder spielen und toben. Julius durfte sie draußen in der Kinderschaukel anschupsen, ihr den zu ihrer Geburt geschenkten Klingelmuff zuwerfen, der immer lustige Glockentöne von sich gab, wenn er flog oder vor Aurore auf den Boden tippte und mit ihr die von baldiger Mutterschaft kugelrund gewordene Goldschweif ansehen. "Ich mach eine Alterslinie um dein Haus, wenn deine Kleinen kommen, damit Aurore sie nicht anfassen kann", flüsterte Julius seiner vierbeinigen Vertrauten zu.
"Nein, will ich nicht. Mag die Kraft nicht, die da drin singt", knurrte Goldschweif. Julius überlegte dann, wie er verhindern konnte, das Aurore aus Versehen Krach mit Goldschweif kriegen würde. Dann fiel ihm ein, dass er um den Wohnbaum Goldschweifs auch eine Schnellwachshecke hochziehen konnte. So säte er, nachdem Aurore wieder im Kinderbett lag, spät Abends noch die entsprechenden Samen, die er von Camille bekommen hatte, falls er auf die Idee kam, die große runde Wiese um das Apfelhaus in mehrere voneinander abgetrennte Bereiche einteilen zu wollen. Goldschweif sah ihm dabei sehr aufmerksam zu.
"Die Pflanzen wachsen in einer Woche halb so hoch wie der Baum. Wenn du deine Kleinen nicht mehr trinken lassen willst kann ich machen, dass sie wieder verschwinden."
"Mach das so", schnurrte Goldschweif, die im Moment sehr kuschelbedürftig war.
"Schon unheimlich, dass Temmie ohne Führketten fliegt und weiß, wo sie hin muss", sagte Béatrice Latierre, als sie am Morgen mit der gerade im ersten Viertel trächtigen Latierre-Kuh gelandet war. Auf dem Rücken trug Temmie den kastenförmigen Transportaufsatz, in den mehr als zwanzig Leute hineinpassten. Millie trug Chrysope in der für Körper und Beine eingenähten Aufbewahrung ihres neuen, apfelgrünen Stillumhangs vor Brust und Bauch, während Julius Aurore auf den Schultern trug. Außerdem hatten sie eine Tasche mit Ersatzkleidung für Aurore und Schlabberlätzchen für Chrysope eingepackt. "Piesel mir nicht in den Umhang, Rorie", mahnte Julius seine Tochter. "Sonst kriegst du auch noch Windeln um." Aurore verstand ihn, auch wenn sie noch nicht so antworten konnte wie er sprechen konnte. Sie grummelte nur.
"Okay, Julius, du leitest sie an, wie sie fliegen muss", sagte Trice Latierre. Ich bleibe bei Millie und den Kindern im Kasten." Julius bestätigte und nahm auf dem an den Transportkasten davorgebauten Kutschbock platz.
"Gut, Temmie, feines Mädchen! Und los!" Temmie muhte vernehmlich und trabte los, bis sie genug Schwung hatte, um durchzustarten.
"Geht das noch gut mit dem Kasten auf dem Rücken und dem Kind im Bauch?" fragte er, als Temmie auf normale Reisegeschwindigkeit für Latierre-Kühe war.
"Das Kleine ist noch nicht zu schwer, und euer Reisekasten ist ja mit der Erleichterungskraft aufgefüllt", gedankenantwortete Temmie. Julius empfand ihre Gedankenstimme, die wie ein sanft angestrichenes Cello klang immer wieder anregend wie erhaben.
Als sie die magische Abgrenzung um Millemerveilles durchflogen hatten beschleunigte Temmie langsam auf mehr als die dreifache Reisegeschwindigkeit einer Latierre-Kuh. Auf die von ihr eingeübte Fähigkeit, sich dabei unsichtbar zu machen verzichtete sie jedoch. Julius hörte mit, wie Millie und seine Schwiegertante sich über die Vita-Magica-Gruppe unterhielten und dass die offenbar jetzt dazu übergegangen seien, verzögert wirkende Auslöser für einen Zeugungsakt zu verwenden. Auch lag denen wohl was daran, es nicht bei Einzelkindschwangerschaften bewenden zu lassen, sondern durch entsprechende Wirkstoffe oder in diesen eingewirkte Zauber gleich zwei oder mehr neue Kinder auf einmal entstehen zu lassen. Außer Mademoiselle Montétoille hatte es auch wieder zwei Hexen auf Martinique erwischt, obwohl dortige Heilerinnen jedes Getränk vor dem Ausschank auf unerwünschte Zusätze geprüft hatten.
Die Reise nach Lüttich verlief ohne witterungsbedingte Schwierigkeiten. Sie mussten halt immer nur aufpassen, Autobahnen und Ortschaften weiträumig zu umfliegen. Als sie dann auf der von Kevin und Patrice angemieteten Festwiese landeten winkte der stolze Vater seinen Gästen bereits zu.
"Eh, voll stark, du kannst die ohne Lenkhilfen führen?"
"Ich habe das von meiner Schwiegertante Barbara gelernt, mich auf sie einzustimmen", sagte Julius. Dass in Temmies Körper der Geist einer Erzmagierin aus dem alten Reich verkörpert war brauchte Kevin nicht zu wissen.
Julius übergab Kevin als Geschenk für sein erstes Kind einen goldroten Schlummerdrachen und an Patrice eine Ausgabe von "Ein Haus voller Leben" und einen Satz bunter Kleidung, wenn die kleine Shivaun mehr als ein halbes Jahr alt sein würde.
"Eh, den Schnarchedrachen behalte ich besser für mich", scherzte Kevin Malone. Dann deutete er auf das auf der Wiese aufgebaute Festzelt. "Ich habe mir schon gedacht, dass ihr mit eurer großen Milchkuh angesegelt kommt, weil meine Schwiegergroßtante was sagte, dass ihre Kollegin aus Frankreich deine Frau nicht so früh auf einen Besen rauflassen will."
"Wir haben auch noch ein Fass Met und ein Conservatempus-Fass mit Latierre-Kuhmilch mitgebracht", sagte Julius. Dann wollte er Milie die Treppe herunterhelfen. Diese winkte jedoch ab. Sie übergab Kevin eine Spieluhr, die zwanzig verschiedene Wiegenlieder aus Frankreich spielen konnte und Patrice einen schicken Stillumhang aus wasserblau gefärbter Grünstaudenfaser.
"Oh, was neues, wie ein Kängurubeutel", grinste Patrice, als sie den in die Schürze eingenähten Strampelanzug bemerkte. "Ja, habe ich für unsere ganz kleine auch machen lassen", sagte Millie. "Madame Arachne hat sich darauf ein Patent geben lassen. Damit kannst du das Kleine den ganzen Tag mit dir rumtragen, wenn du unterwegs bist, ohne dass es dir zu schwer wird."
"Das kleine? Die hat ein kleines Pullerdöschen zwischen den Beinen, ist also eine Die", erwiderte Patrice darauf. Sie sah genau wie Millie noch sehr rund und mollig aus.
"Sieht mir jetzt ähnlicher als ihr lieb ist", scherzte Corinne, die Julius umarmte, als Millie sich mit Patrice über die neue Erfahrung unterhielt.
"Gut, dass Bruno nicht weiß, dass du hier bist. Der hätte mir sonst glatt gesagt, dich irgendwie dazu zu kriegen, nicht gegen ihn zu spielen."
"Ich spiele nicht gegen den, sondern gegen eure neue Sucherin Violette Beaulieu", sagte Corinne. Dann deutete sie auf Millie und Chrysope.
"Schon praktisch, so ein Reisestillumhang. Nur könnte ich so'n Teil wohl bei meiner Größe nicht anziehen." Julius sah an Corinne herunter. Sie war immer noch kugelrund wie ein Quaffel mit Armen und Beinen. Doch sie kam damit sehr gut zurecht, vor allem dann, wenn sie auf einem Besen hinter einem Schnatz herjagte. "Bestimmt kann Madame Arachne so einen Umhang auch für deine Größe nähen lassen, wenn du einen haben möchtest", sagte er.
"In den nächsten Monaten wohl nicht, auch wenn ich so aussehe, als könnte ich meiner Tante morgen schon den ersten Großneffen vorstellen", scherzte Corinne Duisenberg. Dann winkte sie Gwyneth Malone, die gerade mit ihrer Tante Dana auf einem Familienbesen von Sauberwisch angeflogen kam.
"Hi, Julius!" grüßte Gwyneth Kevins früheren Schulkameraden. Dann deutete sie auf ihre Tante: "Ich hätte gerne beide mitgebracht. Aber Onkel Clayton ist und bleibt ein Sturschädel unter Irlands Sonne."
"Kuckt er dich denn zumindest noch an, Gwyn", fragte Julius.
"Ja, mit dem Hinterteil", grummelte Gwyneth. "Der weiß genau, dass ich das hingebogen habe, dass Kevin jetzt mit einer nicht-irischen Hexe verheiratet ist. Mir war einen Moment danach, ihn auch mitzubringen, und zwar so, wie ich Kevin zu euch hingebracht habe. Dann fiel mir aber ein, dass er mich dafür wegen Freiheitsberaubung, Entführung und unerbetener Verwandlung drankriegen könnte. Habe ich dann lieber doch gelassen."
"Meine Mutter kommt aber zu der Willkommensfeier für meine jüngste Tochter", sagte Julius.
"Ach, die ist noch in den Staaten, wo irgendwer großräumig die Samenkörner für viele neue Hexen und Zauberer ausgestreut hat?"
"Ich habe bisher nichts davon mitbekommen, dass diese Samenkörner auch in Viento del Sol runtergekommen sind", grummelte Julius. Irgendwie war ihm bei dem Gedanken, dass es auch seine Mutter erwischt haben könnte nicht sonderlich wohl zu Mute.
"Ich begrüße mal deine sehr gut ausgepolsterte Angetraute", sagte Gwyneth, die merkte, dass ihre letzte Bemerkung bei Julius nicht so gut angekommen war.
Mrs. Dana Malone, Kevins Mutter und die Großmutter der heute zu ehrenden Shivaun Renée, wechselte mit Julius einige Sätze auf Englisch. So ganz froh war sie auch noch nicht, dass Kevin seine Heimat verlassen hatte und jetzt unumkehrbar auf dem Festland leben musste. Andererseits wollte sie anders als ihr Mann mitbekommen, wie dieses und wenn es sein sollte auch jedes weitere Enkelkind aufwuchs.
Weitere Klassenkameraden von Patrice außer Jacques Lumière trafen noch ein, sowie Verwandte der strahlenden Kindesmutter. Alle bestaunten die geflügelte Kuh Artemis, die wie ein Berg aus weißer Wolle auf einem abgelegenen Teil der Wiese lag und aus einem vor ihr liegenden Rauminhaltsbezauberten Sack frass. Kevin und Patrice hatten Musiker aus Irland und Belgien engagiert, die zunächst nur leise Musik zur Begrüßung der Gäste spielten. Dann, als Patrice und Kevin alle laut begrüßten und den Grund der Feier, die kleine, rotblonde Shivaun wie einen Pokal in die Luft reckten, spielten die Musiker einen Tusch. "Shivauns Reise war lange und am Ende sehr beschwerlich für sie und mich. Aber sie freut sich doch, dass es so viele Leute gibt, die sie gerne begrüßen wollen", sagte Patrice. Kevin fügte dem noch hinzu, dass er sich vor zwei Jahren noch nicht hatte vorstellen können, wie das war, ein eigenes Kind auf den Armen zu haben und dass ihn das doch sehr berührte, etwas lebendiges von sich hinbekommen zu haben.
Nach der Begrüßungsansprache defilierten alle Gäste an der Wiege der kleinen Shivaun vorbei und wünschten ihr alles Glück und Gesundheit für ein langes Leben. Danach gab es zu essen.
Nach dem Essen unterhielten sich Gastgeber und Gäste. Patrice zog sich einmal mit Millie zurück, um die beiden Säuglinge zu stillen. Dana Malone unterhielt sich mit Gwyneth und Julius, welche große Verantwortung alle trugen, die die Geburt der kleinen ermöglicht hatten. Dana sagte: "Was Clayton zusetzt ist, dass Kevin der kleinen den Namen seiner Schwester in einer nach seiner Meinung anbiedernden französisierten Schreibweise gegeben hat. Vielleicht ist er auch nur verärgert, dass Kevin keinen Sohn hinbekommen hat."
"Kann ja noch passieren, Tante Dana", sagte Gwyneth. "Guck dir Julius an, der hat auch schon zwei Kinder hingekriegt, und seine Frau wirkt nicht so, als wenn sie damit genug hätte."
"Du kennst deinen Onkel Clayton gut genug, Gwyn. Er sieht in Kevin einen Verräter am irischen Zaubererblut, ja unterstellt denen aus Beauxbatons immer noch, sie hätten ihn mit Patrice verkuppelt. Mich kuckt er auch immer wieder so an, als hätte ich Kevin an die Franzosen verkauft."
"Belgier, Tante Dana. Patrices Eltern sind Belgier."
"Nicht für deinen Onkel", fauchte Dana Malone.
Julius durfte dann auch Patrices Eltern und damit auch Corinnes Großeltern sprechen, die er sonst nur aus der Ferne bei Elternsprechtagen gesehen hatte.
"Ich hoffe, dass Sie auch weiterhin gut mit unserer Tochter und ihrem Mann auskommen, Monsieur Latierre", sagte Madame Duisenberg zu Julius. Er bestätigte das.
Vor dem Abendessen wurde noch ein wenig getanzt. Da das Fest nur bis neun Uhr gehen sollte war es nichts mit einem ausgedehnten Ball.
Als dann um neun Uhr die Gäste mit der weitesten Anreise aufbrachen winkte Julius Gwyn und Kevins Mutter nach. Kevin bedankte sich dann auch noch einmal bei Millie und ihm. "Jetzt habe ich eure Kleine schon gesehen. Dürfen Patrice und ich trotzdem noch am neunten zu euch kommen?" fragte er.
"Aber natürlich. Wenn ihr die kleine Shivaun mitbringen dürft freuen sich sicher auch alle, die heute nicht mitgefeiert haben, sie mal zu sehen."
"Auch Sandrine? Kann mich noch zu gut erinnern, wie die meinte, mir fünfzig Strafpunkte dafür anzudrohen, weil ich der zu heftig auf den Bauch und aufs Becken geglotzt habe um zu sehen, ob da auch zwei Plärrbälger durchpassen."
"Millie und ich haben alle eingeladen, mit denen wir gut auskommen", sagte Julius nur dazu.
Gegen zehn flog Temmie wieder los. Julius gedankensprach mit ihr auf der Reise zurück nach Millemerveilles über den Unterschied, wie Menschen ihre Kinder großzogen und wie das bei Latierre-Kühen passierte.
"Jetzt kenne ich ja beide Lebensweisen gut genug. Von der Geburt und dem Milchgeben her habe ich es jetzt einfacher. Nur das Austragen dauert ein wenig zu lange", schickte ihm Temmie zurück. Dann kam sie auf die Sache mit Euphrosyne und Aron. "Nimm das hin, dass sich diese Frau, die von einer alten, mit der Kraft begabten Rasse abstammt diesen Jungen ausgesucht hat. Du musst nicht seine Kinder kriegen, sondern sie."
"Ja, aber sie hat ihn im Grunde an sich gebunden, wohl aus purer Selbstsucht", sagte Julius.
"Ja, sie ist wohl selbstsüchtig. Aber wie du sagst, sie hat ihn an sich gebunden. Damit ist sie auch an ihn gebunden und das für ihr ganzes Leben. Nur der natürliche Tod kann und wird diese Bindung wieder lösen, weil sie wohl älter als er werden kann."
"Die im Ministerium wollen aber nicht, dass der Junge sein Geld mit Fußball verdient, weil er und damit auch sie dann immer von so vielen Leuten angesehen wird."
"Dann sollen sie ihn und sie fragen, was er statt dessen machen soll. Wenn sie mit böser Kraft gegen ihn gehen wird das auf sie zurückfallen."
"Sie haben mir deutlich gesagt, dass es mich nicht betrifft, solange ich die ersten Tage von Chrysope bei Millie bleibe."
"Ja, aber du hast ihnen geholfen, sich eine Sache auszudenken, wie sie ihren Willen gegen den von Euphrosyne durchsetzen können. Vielleicht solltest du ganz außerhalb deines Auftrages mit ihr sprechen, jetzt, wo sie bekommen hat, wonach ihr war."
"Sie ist nicht zu finden", gedankensprach Julius. Temmie schickte darauf keine Antwort zurück.
Dank Temmies besonderer Fähigkeiten waren sie um ein Uhr wieder in Millemerveilles. Temmie und Béatrice wollten bei Millie und Julius übernachten. Temmie schlief auf der großen Wiese vor dem Apfelhaus, während Béatrice in einem der bereitgehaltenen Gästezimmer übernachtete.
"Und Sie können nichts machen, um uns von diesem Teufelsvirus zu erlösen, außer uns umzubringen?" empörte sich Seamus O'Connor. Erst hatten sie ihn, Casalla und Donny bei Nacht und Nebel aus dem Columbia-Krankenhaus abtransportiert um sie angeblich in eine abgeschirmtere Einrichtung zu bringen. Dann hatte sich herausgestellt, dass die, von denen sie weggebracht worden waren, bereits wussten, dass es echte Werwölfe waren. Eine Frau, die sich als Heilerin Drusilla Fennel vorgestellt hatte, hatte dann erzählt, dass sie drei jetzt damit zu leben lernen hatten, jeden Vollmond weit genug von anderen Menschen wegzugehen, um die nicht auch noch zu beißen.
"Wie Sie richtig erkannt haben tragen Sie den Keim der Lykanthropie in sich. Der lässt sich auch nicht mehr durch einen vollständigen Blutaustausch aus dem Körper schwemmen, da er fünf Minuten nach dem Biss bereits aktiviert wurde. Wenn der Mond ganz voll ist entsteht zwischen den Befallenen und dem Mond eine Verbindung, die die Verwandlung auslöst, normalerweise. Jetzt wissen wir aber, dass es einen Trank gibt, der die Verwandlung willentlich steuerbar macht, so dass jemand unabhängig von der Mondphase Mensch oder Wolf sein kann und als Wolf die völlige Willenshoheit über sein Verhalten behält, anders als bei jenen, die diesen Trank nicht erhalten."
"Jetzt wollen Sie mir noch erzählen, es sei kein Virus, sondern ein wie eine Krankheit übertragbarer Fluch, oder was und dass Sie und der kleine runde Gentleman da an ihrer Seite echte Hexen und Zauberer sind, wie?" entrüstete sich O'Connor. An ein Virus, dass Zellen umbaute, dass jemand zum Wolf werden und sich zurückverwandeln konnte hatte er gerade so glauben können. Aber Magie ... Zur Beantwortung seiner Frage zückte die dunkelhaarige Frau in der hellgrünen Tracht mit der Aufschrift HPK einen Holzstab aus ihrer Seitentasche und machte damit drei schnelle Bewegungen. Mit lautem Knall wurde aus dem gerade leeren Beistelltisch ein quietschfideles, dickes Schwein, dass grunzte und dann an O'Connors Bettdecke zu ziehen begann.
"Wenn Sie mir erzählen können, wie ich das ohne Magie hinbekommen habe muss ich Ihre Frage mit "Nein" beantworten", sagte Ms. oder Mrs. Fennel mit einem vergnügten Grinsen.
"Öhm, Hypnose ... Halluzinogene Drogen, unter deren Einfluss jemand zu sehen und zu hören glaubt, was ihm jemand als real vorgibt", sagte O'Connor. Doch die Frau mit dem Zauberstab widerlegte seine Begründung sofort.
"Dann hätte ich Ihnen sagen müssen, dass sie gleich einen jungen Eber vor sich zu sehen bekommen werden und dass der Tisch dieser Eber wird."
"Ich sehe das Borstenvieh auch. Kriege echt Hunger auf Schweineschnitzel",, sagte Donny Clarkson. Darauf quiekte der aus dem Tisch entstandene Eber und machte anstalten, Donny seine rosa Rüsselnase in die Seite zu boxen. Mit einem scharfen Knall wurde aus dem Eber wieder ein Beistelltisch. Nur stand der jetzt an Donnys Bett.
"Wau!" machte Donny. "Echte Hexenzauber. Klar, dann gibt's auch Werwölfe, Vampire, Zombies, Drachen, Nixen und Gespenster, wie?"
"Ja, alles das gibt es, und die Verwaltungsbehörden der magischen Welt sind immer hinterher, dass das nicht bekannt wird", sagte der kugelrunde Mann neben Heilerin Fennel, der sich als Frederic Huntington vorgestellt und behauptet hatte, er sei von einer ominösen Behörde namens Werwolfregistratur- und Betreuungsamt.
"Neh is' klar, die X-Akten und die geheimen Dokumente im Vatikan gibt's echt", sagte Donny.
"Wir müssten diese Sonderberichte aus der Welt, aus der sie so brutal herausgerissen wurden eher als M-Akten bezeichnen. Was den Vatikan angeht müssen unsere Kollegen in Italien darauf achten, dass diese Organisation nicht zu viel über unsere Welt erfährt, um die Jagd auf magische Menschen im Nachhinein zu rechtfertigen und wieder aufnehmen zu lassen."
"Sie sagten gerade, dass wir aus unserer Welt herausgerissen worden seien, Mr. Huntington. Mit anderen Worten, Sie werden uns nicht mehr freilassen?" erkundigte sich Casalla.
"Nun, wir müssen davon ausgehen, dass Sie Opfer einer gezielten Aktion geworden sind, womöglich im Rahmen einer Serie von weiteren Übergriffen dieser Art. Deshalb ist uns daran gelegen, dass Sie uns helfen, jene Lykanthropinnen zu identifizieren, deren vorübergehende Rückverwandlung Sie erzwungen haben, Sergeant O'Connor."
"Wenn Sie die Phantombilder wollen wenden Sie sich gütigst an meine Vorgesetzten", sagte O'Connor.
"Phantombilder sind leider nur unzureichende Dokumente. Wir möchten gerne die einhundertprozentige Identifikation."
"Ach ja, Flummiball, und wie wollt ihr das fingern?" fragte Donny. O'Connor dachte sofort an eine Form von Hypnose, um verschüttete Erinnerungen bewusst zu machen. Wenn die Leute hier echte Magie und keine Bühnentricks benutzten konnten die womöglich sogar in die Gehirne von Menschen hineinsehenund Gedanken lesen.
"Indem wir Ihnen allen Bilder uns bekannter Werwölfe weiblichen Geschlechts zur Überprüfung vorlegen, ob sie die von Ihnen angetroffenen erkennen."
"Ahuuuuuuh, ein Verbrecheralbum aller bösen Monster der Welt", spottete Donny. Das brachte die Heilerin dazu, dem Jungen zu sagen, dass wenn er Werwölfe für Monster hielt, er nun selbst eines sei und daher etwas mehr Zurückhaltung üben dürfe. Das wirkte auf Donny. Denn genau aus dem Grund, weil er immer daran denken musste, ein gemeingefährliches Ungeheuer geworden zu sein und deshalb nicht mehr mit den Kumpels bei Vollmond den Asphalt zu bügeln, war er so aufsässig.
"Und wenn wir die beiden nicht in Ihrer Kartei finden, was dann?"
"Dann werden Sie als von uns registrierte Werwölfe ohne eigene Zauberkräfte eingestuft und erhalten von uns die Verhaltensrichtlinien für ihr weiteres Leben. Dass Sie deshalb nicht mehr bei der Polizei arbeiten können sollte Ihnen allerdings jetzt schon klar sein."
"Eh, Moment, die Hexe in Grün hat was von einem Trank getönt, der macht, dass die sich verwandeln, wann die wollen", sagte Donny. "Haben nur die Gangsterwerwölfe den Trank oder auch noch andre?"
"Wundere mich, dass diese Frage von Ihnen kommt und nicht von Ihren älteren und mit Kriminalfällen vertrauteren Mitpatienten, Junger Mann", sagte die Heilerin. "Diesen Trank zu brauen ist den Zaubereiministerien und den magischen Heilern mittlerweile hinlänglich bekannt. Er ist jedoch sehr kompliziert und mit nicht so leicht regenerierbaren Zutaten zu erstellen, dass er nur an wenige Personen mit bestätigter Lykanthropie ausgegeben wird. Bis auf wenige Ausnahmen in Großbritannien und Frankreich sind diese Personen alle im Besitz nach außen wirksamer Zauberkräfte."
"Moment, dann dürfen nur Leute wie Sie das Hexengebräu saufen?" fragte Donny. Huntington und Fennel nickten bestätigend.
"Und die andren müssen dann bei Vollmond eingesperrt werden oder nur in weit abgelegenen Revieren rumlaufen, damit die keine anderen Leute beißen?"
"Korrekt", bestätigte Huntington. Heilerin Fennel fügte dem noch hinzu: "Ansonsten haben Sie die Wahl, entweder Dauerpatient in der geschlossenen Abteilung für unheilbare magische Erkrankungen zu sein und bei jedem Vollmond in einer ausbruchssicheren Zelle zu überdauern oder gemäß Gefahreneindämmungserlass Nummer dreiundzwanzig von Angehörigen des Werwolffangkommandos getötet zu werden. Denn wenn jemand in den ersten fünf Minuten nach dem Biss eines Werwolfs nicht durch vollständigen Blutaustausch mit zwischenzeitlichem Stillstand von Herz und Lunge geheilt wird, kann er oder sie nur noch durch den Tod von dieser Krankheit befreit werden."
"In Ordnung, wir haben begriffen", schnaubte O'Connor. "Wann dürfen wir Einblick in Ihr Verbrecheralbum nehmen?"
"Da Sie vollständig über Ihre Lage informiert sind und die Heiler die dauerhafte Erkrankung mit Werwut bestätigt haben werde ich innerhalb von zehn Minuten die Bilder aller registrierten Werwölfinnen Amerikas zusammenhaben. Eine entsprechende Sortierungsanweisung ist bereits vor meinem Besuch hier ergangen", sagte Huntington.
"Wie viele Wolfsweiber gibt es denn offiziell?" fragte Donny verächtlich.
"Nach aktueller und offizieller Feststellung im Jahre 2000 genau siebenundsiebzig Werwölfinnen", kam es von Huntington wie aus der Pistole geschossen."
"Das geht ja noch, wenn ich bedenke, wie umfangreich das Verbrecheralbum vom NYPD ist", sagte O'Connor. Dann sagte Casalla:
"Der Gentleman sagte was von offizieller Feststellung. Womöglich gibt es eine Dunkelziffer."
"Eine was?" fragte Huntington. Donny lachte laut, weil der kleine, runde Mann, der sonst immer so amtlich tat einen Begriff aus der Polizeisprache nicht kannte.
"Polizeioffizier Casalla meint damit, dass es weit mehr unregistrierte Werwölfe gibt als jene, die Ihrer Behörde zugänglich und daher aktenkundig sind."
"Das bestreite ich", schnaubte Huntington. "Vorfälle mit Werwölfen werden immer sehr schnell und gründlich verfolgt."
"Ach ja?!" stieß O'Connor aus, der den kleinen, runden Beamten da endlich auf dem falschen Fuß erwischt zu haben glaubte. "Ich als altgedienter Polizist bekam es immer wieder mit, dass Opfer von Verbrechen diese nicht anzeigten, weil sie von den Tätern abhängig waren, selbst strafbare Handlungen begangen haben oder sich schlicht dafür schämten, dass ihnen sowas passieren konnte. Als Paradebeispiel weise ich darauf hin, dass es Ehefrauen gibt, die jede Nacht von ihren eigenen Männern und deren guten Freunden vergewaltigt werden und das nicht anzeigen, weil sie sich dafür schämen oder es als ihre eheliche Pflicht ansehen, ihrem Mann immer zur Verfügung stehen zu müssen. Also erzählen Sie mir ja nicht, Sie könnten alle stattfindenden Straftaten ermitteln, die nicht zur Anzeige gebracht werden! Verfügen Sie denn über Personal und Alarmverfahren, um diese Vorfälle auch ohne Anzeige der Betroffenen zu ermitteln und aufzuklären?"
"Ich hole jetzt die Fotos", knurrte Huntington und verschwand.
"Das war jetzt nicht gerade feinfühlig", sagte die Heilerin, als der kugelrunde Zauberer das Dreibettzimmer verlassen hatte. Donny lachte nur und sagte:
"Der Sergeant hat den kleinen Flummi voll eingeschenkt, dass der sich warm anziehen kann, wenn diese Monstermädels Leute erwischen, die nicht von der Polizei sind oder schnell genug nach der rufen können oder aus lauter Angst, keine Freunde mehr zu haben die Schnauze halten, was ihnen passiert ist. War dem kleinen Dicken sicher noch nicht klar."
"Etwas weniger Gehässigkeit würde Ihnen sehr gut bekommen, Mr. Clarkson. Oder würden Sie Ihren Freunden und vor allem von Ihnen umworbenen Damen erzählen, dass sie ein Werwolf sind und jeden Vollmond auf Beute ausgehen?" Donny schwieg. "Ich werte Ihr Schweigen als ein Nein. Sie würden es nicht herumerzählen. Und auch aus dem Grund, dass Sie nicht in missliebige Situationen geraten, machen wir das hier alles mit Ihnen. Geht das endlich einmal in Ihr von den Wallungen der Pubertät und Furcht in Unordnung gebrachtes Gehirn hinein?"
"Eh, kühl bleiben, schwester, ich wollte nur sagen, dass ihr Kollege Huntington keinen Dunst hat, wie heftig die Kacke am dampfen ist."
"Punkt eins, ich bin nicht Ihre Schwester. Punkt zwei, Mr. Huntington ist Beamter des Zaubereiministeriums, wohingegen ich aprobierte Heilerin bin. deshalb sind wir keine Kollegen. Punkt drei: Mr. Huntington ist sich der von Ihnen und Sergeant O'Connor dargelegten Lage leider vollkommen bewusst, auch wenn dabei kein dampfender Kothaufen im Spiel ist. So, und jetzt überlasse ich sie für die nächsten Minuten der nötigen Erholung, bis Mr. Huntington mit den Unterlagen zurückkehrt."
"Öhm, Ma'am, vorher noch eine Feststellung", sagte O'Connor. "Sie haben mir und Mr. Clarkson gerade fehlende Feinfühligkeit vorgeworfen. was Sie ihm gerade gesagt haben war aber auch nicht gerade taktvoll."
"Ja, dies stimmt, war aber leider therapeutische Notwendigkeit. Ich bringe Ihnen nachher zu Essen und zu trinken."
"Au ja, Schwester, Argentinische Hüftsteaks schön Blutig", grummelte Donny. Diesmal antwortete die Heilerin nicht. Sie verließ das Zimmer und schloss die Tür.
"Eh, die hat keinen Schlüssel umgedreht", sagte Donny und versuchte, von seinem Bett aufzuspringen. Doch da wurde seine bettdecke unheimlich lebendig und wickelte ihn so schnell und stramm ein, dass er keine Bewegung mehr ausführen konnte und einige Zentimeter tief in die Matratze hineingedrückt wurde.
"Mist, die hat die Bettdecke verhext!" schimpfte er. Seamus O'Connor grinste erst. Dann zog er behutsam an seiner Bettdecke. Doch als er aufstehen wollte, schlug sie wie eine zupackende Riesenhand über ihm zusammen und warf ihn auf sein Bett zurück.
"Das hätte ich euch sagen können, das die uns hier nicht frei herumlaufen lassen, wo wir den Keim des Bösen in uns tragen", maulte Demis Casalla.
Zehn Minuten später war Huntington mit einer Metallkiste zurück. Als er die Fotos in drei Gruppen aufteilte, um sie von jeden durchsehen zu lassen erschrak Casalla. "Die leben ja!" stieß er aus.
"Natürlich, daran sind Sie selbstverständlich nicht gewöhnt. Unsere Fotografien fangen nicht nur das augenblickliche Abbild, sondern auch die Bewegungsarten der Motive ein und ihre zum Zeitpunkt der Aufnahme empfundenen Stimmungen. Daher werden sich die abgelichteten Damen nicht so leicht von Ihnen betrachten lassen."
"Eh, stark, wie Videos auf papierdünnen Bildschirmen. Science Fiction war gestern, wie?" tönte Donny Clarkson.
"Sagen wir es so: Ausgefeilte Zauberkunst ist jeder magielosen Technologie immer hundert Schritte voraus", sagte Huntington.
Donny war einer, der eine der fotografierten Werwölfinnen als die Dunkelhaarige erkannte, die bei dem Überfall dabei gewesen war.
"Juanita Castilla Casapiedra", knurrte Huntington. "Sie ist eine geborene Hexe und stand im Verdacht, Mitglied der Mondbruderschaft zu sein, einer Organisation spanischer und südamerikanischer Werwölfe."
"Ich habe die Dame mit blondem Haar", sagte Casalla und hielt das entsprechende Foto hoch, das gerade scheinbar leer war. Auf der Rückseite stand die Registriernummer. Anhand der mitgeführten Liste konnte Huntington auch hier den Namen nennen: "Paulina Witfield-Torrealta. Wurde als Tochter des nordamerikanischen Kulturatachés in Lima von einem Werwolf gebissen, als sie mit ihren Eltern eine Nachtwanderung machte. Wer der Werwolf war konnte nicht ermittelt werden."
"Aha", stieß O'Connor aus, der dem kleinen, runden Zauberer deutlichmachen wollte, dass er eben nicht alles ermitteln konnte. Doch Huntington legte sofort nach: "Wenn die beiden hier zusammen zu sehen sind könnte Casapiedra diejenige gewesen sein. Sie stand im Ruf, Tagebuch über ihre Opfer geführt zu haben."
"Ui, da kommen Sie aber jetzt früh drauf", feixte O'Connor, den Donnys jugendliche Verachtung dieser Leute und dieser Monster angesteckt zu haben schien. Donny nickte dem Polizisten anerkennend zu.
"Gut, jetzt wissen wir, dass diese beiden Damen sich offenbar wieder kriminell betätigen und zwar bei uns in den Staaten. Ich gebe das unverzüglich an die autorisierten Stellen weiter."
"An das Finde-und-Vernichte-Kommando?" fragte Donny. Huntington bedachte diese Frage nur mit einem warnenden Blick. Dann ließ er mit einem Zauberstabwink die Fotos wieder in der Kiste verschwinden und sagte: "Vielen Dank für Ihre Mitarbeit. Das gibt zur Hoffnung anlass, dass Sie drei auch was die weitere Zusammenarbeit mit uns angeht mithelfen werden. Noch eine gute Erholung", sagte er und verließ das Krankenzimmer.
"Entschuldigung, Ms. oder Mrs. Fennel", setzte Donny an. "Ihre verhexten Bettdecken lassen mich nicht aufstehen, und ich muss gerade total nötig pullern. Wenn Sie nicht auf demTrip sind, mir und den beiden Freunden und Helfern hier Windeln anzulegen würde ich gerne wissen, wie und wo ich das machen kann."
"Benutzen Sie hierfür bitte die unter Ihren Betten stehenden Nachttöpfe mit eingewirktem Ausscheidungsbeseitigungszauber!" sagte die Heilerin. "Ich stimme den Ruhighaltungszauber so ein, dass er nur wirkt, wenn sie mir oder Kollegen gegenüber aggressiv zu werden ansetzen. Bis nachher."
Die Heilerin verließ den Raum. Tatsächlich konnten die Männer jetzt von ihren Betten herunter. Auch O'Connor und Casalla nutzten das Angebot, sich von drängenden Bedürfnissen zu erleichtern.
"Eigentlich haben wir ein Recht auf Privatsphäre, Mr. Davidson. daher wäre es mir sehr wichtig, zu wissen, wer da meint, unser Privatleben zum Gegenstand einer Angelegenheit des Institutes zu machen", sagte Justine Brightgate, als sie und Jeff Bristol um 12:30 Uhr Oststandardzeit bei Mr. Davidson im Büro saßen.
"Wie ich Ihnen beiden in den jeweils zugegangenen Mahnschreiben dargelegt habe handelt es sich bei meinen Quellen um Personen außerhalb des Institutes, die jedoch mein vollstes Vertrauen genießen, jenes Vertrauen, das Sie beide schamlos missbraucht haben."
"Wir sagen nicht, dass wir die von Ihnen angeklagte Tat nicht begangen haben", erwiderte Jeff Bristol. "Aber wir wollten klarstellen, dass niemand hier im Institut, der es nicht auf eine nicht von uns angeregte Weise herausbekommt, nicht erfährt, dass Ms. Brightgate und ich eine außereheliche Beziehung führen, die keineswegs zum Schaden des Institutes verläuft, da wir beide ja an räumlich voneinander getrennten Arbeitsplätzen tätig sind."
"Was absolut nichts aber gar nichts daran ändert, dass es klare Richtlinien gibt, die vertraglich fixiert sind und von Ihnen unterschrieben wurden, Mr. Bristol", knurrte Davidson. "Außerdem dürfen Sie davon ausgehen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann nicht nur ich von Ihrem Konkubinat Kenntnis erhalten haben werde. Wir beschäftigen hier Leute, die sehr klare Vorstellungen von einem moralisch zulässigen Miteinander von Männern und Frauen haben. Selbst wenn Sie keinen aktiven Anteil zur Schädigung unseres Betriebsklimas und der interkollegialen Kommunikation haben wollen, so schädigen Sie durch diese Ihre unerwünschte Beziehung auf lange Sicht den respektvollen Umgang der Kollegen untereinander, weil jeder Zauberer und jede Hexe damit rechnet, zum Zielobjekt sexueller Begehrlichkeiten werden zu können und das mit dem anerzogenen Moralempfinden nicht vereinbaren kann."
von Ihnen"Achso, und dann halten Sie es für klug, uns durch den Seggrregacorpus-Fluch auf einhundert Meter Abstand voneinander zu zwingen", sagte Justine Brightgate mit verhaltenem Lächeln.
"Außerhalb des Institutes", erinnerte sie Davidson an das, was er geschrieben hatte.
"Ja, und wenn jemand unterhalb von Ihnen findet, dass Mr. Bristol und ich bei einem Außeneinsatz gut zusammenarbeiten können müsste er oder sie dann bei Ihnen anfragen, warum wir uns nicht mehr als einhundert Meter annähern können."
"Da Sie beide in getrennten Abteilungen arbeiten, wie Mr. Bristol es ja bemerkt hat, müsste jede Gruppenbildung von mir genehmigt werden, wie es ja damals auch nötig war, als nach den von Agenten Nocturnias entführten Eltern eines gewissen Zachary Marchand gesucht wurde. Aber womöglich habe ich durch diese Zustimmung damals eine gewisse Mitschuld an den Folgen, die sich daraus ergeben haben." Jeff zwang sich, nicht laut loszulachen, weil Davidson gerade zugegeben hatte, nur deshalb wütend auf ihn und Justine zu sein, weil sie wegen der Sache damals zueinander gefunden hatten.
"Wir haben also die Alternativen, uns nicht mehr einander anzunähern oder durch den Seggregacorpus-Fluch auf den angekündigten Abstand gezwungen zu werden", sagte Justine. Jeff ergänzte: "Oder dass einer von uns beiden das Institut verlässt. Im Zweifelsfall muss ich das dann wohl, weil Ms. Brightgates Fähigkeiten eindeutig besser hier als im Zaubereiministerium gebraucht werden."
"Ach ja, und wie wollen Sie Cartridge und anderen Beamten erklären, dass Jeff Bristol nicht ihre wahre Identität ist, Mister? Wenn Sie meinen, jetzt aus dem Institut zu verschwinden müssten Sie alles abgeben, was Sie von uns erhalten haben, einschließlich der von Mr. Hammersmith für Sie konstruierten Wechselbanduhr und dem nur mit sehr großen Bauchschmerzen genehmigten Bezauberungen Ihres Automobils, die nebenbei gesagt ohne Kenntnis der magischen Personenverkehrsabteilung ausgeführt wurden. Ich werde Sie so nicht aus dem Vertrag herauskommen lassen, Mister, da wir dann mehr unangenehme Fragen zu beantworten hätten als uns lieb ist, und mit uns meine ich auch Sie, Mr. Bristol."
"Aha, der Herr möchte ein Exempel statuieren, für die ganzen Puritaner, die hier arbeitenund für die heimlichen Verehrer der Blumenkinder, dass freie Liebe unter Kollegen nicht nur nicht erlaubt, sondern auch nicht zugelassen wird", sagte Jeff.
"Ich sehe auf Grund dieser Äußerung keinen Grund mehr, Ihnen beiden eine vernünftige Entscheidung zuzutrauen. Daher werde ich wie angekündigt am achten Februar den von Ms. Brightgate erwähnten Zauber ausführen, um eine dauerhaft wirksame Trennung zwischen Ihnen beiden zu gewährleisten. Innerhalb des Institutes können Sie sich nicht der freien Liebe hingeben, da die Meldezauber für besonders intensive Gefühlsregungen das sofort anzeigen. Aber außerhalb des Institutes ..."
Davidson schluckte den letzten Teil des Satzes hinunter. Denn wie eine aus unter hohem Druck stehenden Kessel entfahrende Dampfwolke brach die silbrige, durchsichtige Erscheinung von Marie Laveau durch den Fußboden hervor. Im Gesicht der als mächtiger Geist auf der Welt verbliebenen Voodoo-Meisterin stand Entschlossenheit und Wut.
"Elysius, du wirst die beiden hier nicht mit einem Zauber zwingen, sich nicht mehr zu berühren!" sagte die Geisterfrau statt einer Begrüßung. "Wenn du nicht willst, dass ihre Kinder, die einst mithelfen werden, diese Welt vor großer Dunkelheit zu bewahren, für alle Zeiten ungezeugt und ungeboren bleiben, dann wirst du diesen Entschluss zurücknehmen."
Davidson war es gewohnt, den lebendigen Mitarbeitern gegenüber autoritär und unerschütterlich aufzutreten. Doch vor Marie Laveaus Geist hatte auch er einen gehörigen Respekt, seitdem er damals von ihr vor ihrem Grabhaus begrüßt worden war, weil er ihren Rat gesucht hatte, um gegen einen seine Familie bedrohenden Bokor in Florida ankämpfen zu können. Sie hatte ihm Hilfe zugesagt, wenn er sich dafür verpflichte, in dem nach ihr benannten Institut zu arbeiten und auf eine aussichtsreiche Quodpot-Karriere zu verzichten. Da dies auch hieß, auf zwanzig ständige Verehrerinnen zu verzichten, er aber nicht Schuld am grausamen Tod und einer möglichen Seelenversklavung seiner Eltern sein wollte hatte er zugesagt.
"Warum sucht Ihr mich deshalb jetzt erst auf, Marie?" fragte er unterwürfig.
"Weil ich jedem, der sich mir anvertraut hat bis zu einem Punkt alle Entscheidungsfreiheiten einräume. Doch als ich erfuhr, dass du vorhast, diese beiden davon abzubringen, eine eigene Familie zu gründen, gewahrte ich, dass eine dunkle Bedrohung, deren Ausmaß ich bis dahin nicht genau erkennen konnte, zu einer Folge unheilvoller Bilder wurde, die mir offenbart haben, dass jemand wichtiges fehlen wird, um dieses Unheil einzudämmen."
"Nichts für ungut, Marie, aber Justine und ich haben bisher keine Kinder geplant, weil wir beide mit unserer Arbeit mehr verheiratet sind als mit sonst was", sagte Jeff Bristol.
"Nun, Das könnt ihr ändern, dass ihr nicht nur mit euren Aufgaben hier verbunden seid", sagte die Gespensterfrau lächelnd. Jeff und Justine erkannten, was Marie Laveau damit sagen wollte. So fragte Jeff, wann der nächste Flug nach Las Vegas ginge. Justine musste lachen:
"Wir in Las Vegas? Da gibt's eine Zeremonienmagierin, die gleich zehn Paare auf einmal traut, weil auch bei den Zauberern rumgegangen ist, dass das dort so schnell erledigt werden kann. Willst du nicht wirklich, Jeff."
"Ich will das so auch nicht", grummelte Davidson. "Aber ich werde mich damit zufriedengeben, Ihre bisherige Beziehung als nicht stattgefunden zu betrachten, wenn Sie beide bis zum vierzehnten Februar einen Termin bei Zeremonienmagier Laurentius Bridger erhalten und in meinem Beisein und je einem von Ihnen zu bestimmenden Trauzeugen eheliche Treue geloben. Dann bin ich wegen Marie Laveaus Intervention bereit, Sie beide ohne weitere Ermahnung oder Strafmaßnahme als Ehegatteneinsatzgruppe anzuerkennen und bei entsprechenden Anforderungen einzusetzen."
"Laurentius Bridger? Der ist für alles am Atlantik unterhalb von New York bis zum Mississippi zuständig. Das prüfe ich nach", sagte Justine. Jeff nickte schwerfällig. Dasss er die bisher eher auf Besuche und nette Abende und heiße Nächte beschränkte Beziehung zu einer Ehe ausbauen sollte passte ihm auch nicht so recht in den Kram. Andererseits hatte ihn Maries Auftritt sichtlich beeindruckt. Sie sagte nicht, dass er keine Kinder oder mit wem anderen Kinder haben würde, sondern klipp und klar, dass er nur mit Justine Kinder haben würde. Aber wie viele und warum die dann so entscheidend sein würden verschwieg die gespenstische Gründerin dieses Institutes - mal wieder. Damit war dieser Teil der Unterredung beendet. Jetzt ging es noch um die Werwolfattacke in New York. Huntington hatte die Befürchtung geäußert, dass die beiden Cops und der Skateboardfahrer nur die Spitze eines Eisberges sein mochten. Dem hatte Maxwell Hillcrest, der LI-eigene Leiter einer Werwolfsuchmannschaft, nicht widersprechen können. Quinn Hammersmith war beauftragt, alle anderen Projekte hintanzustellen und ähnlich wie zur Ortung von Vampiren Erkennungsmittel zur Ortung und/oder Vertreibung in Wolfsgestalt handelnder Werwölfe zu erfinden. Das Kontralyko-Gas war nur im Zaubereiministerium verfügbar und auch nicht in unendlichen Mengen. Ebenso verhielt es sich mit den Zutaten für den Lykonemisis-Trank, der die Werwolfverwandlungen beherrschbar machte.
"Könnte es sein, dass diese Mondbruderschaft um Lunera wieder aktiv ist, nachdem mehrere Monate seit der Operation Wolfsherbst verstrichen sind?" fragte Justine Brightgate.
"Die von den bekannten Bissopfern identifizierten Damen legen diesen Schluss nahe. Allerdings habe ich das unbestimmte Gefühl, dass es auch innerhalb dieser Mondbruderschaft Leute gibt, die nicht mit dem Kurs der Anführerin einverstanden waren oder sind. Aber solange wir keine klare Bestätigung erhalten müssen wir eben von diesen Lykanthropen ausgehen. Allerdings ist mir das Lambda als Kennzeichen rätselhaft. Mr. Hammersmith äußerte, dass es seine Arbeit maßgeblich beschleunigen würde, wenn ergründet werde, wieso dieses Zeichen bei Annäherung von Werwölfen aus sich selbst heraus zu leuchten vermochte und nach dem Überfall und dem Abtransport der Opfer wie ein leider all zu oft im Stadtbild anzutreffendes Farbzeichen irgendwelcher rebellischen Menschen oder berufsmäßiger Verbrecher aussieht."
"Ich habe mir das Zeichen selbst angesehen. Es kann nicht übermalt werden. Eine halbe Stunde später war es wieder sichtbar. Auch magische Reinigungsmittel konnten es nicht tilgen, hat Mr. Hillcrest mir erzählt", sagte Jeff.
"Mr. Hammersmith wird mit Ihnen dieses Zeichen noch einmal begutachtenund Proben von der Farbe zu nehmen versuchen", sagte Elysius Davidson. Jeff Bristol nickte bestätigend. Damit war die Unterredung zu Ende. Marie Laveaus Geist versank nach einem wohlwollenden Abschiedsgruß wieder im Boden.
Die flachsblonde, kleine, knochige Frau im himbeerfarbenen Hosenanzug senkte ihre Kamera, aus der noch einzelne rote Rauchfäden strichen. Vor ihr an der Wand prangte ein blutrotes Zeichen, von dem sie gehört hatte, dass es mit üblichen Farbentfernungsmitteln der magielosen Welt nicht von der Wand zu tilgen war. Dass hier in Köln wie auch in anderen Städten die Unsitte grassierte, Häuserwände und Waggons von U- und S-Bahnzügen mit irgendwelchen aufgesprühten Zeichen, Bildern und Schriftzügen zu versehen wusste sie. Doch bisher hatten die Magielosen diese unerwünschten Hinterlassenschaften immer übermalen oder entfernen können. Bei dem Zeichen hier gelang das aber komischerweise nicht. Seit dem fünften Februar war dieses Symbol an der Wand.
Die flachsblonde Mitarbeiterin des Büros zum Kontakt zwischen Menschen mit und ohne magische Kräfte horchte auf. Irgendwer näherte sich der Unterführung. Um drei Uhr in der Nacht war das höchst verdächtig. Im Flackerlicht der Leuchtröhren an der Decke konnte sie zwei junge Burschen an die sechzehn Jahre sehen, die den letzten Treppenabsatz bis auf die Unterführungsebene herabstiegen. Die beiden trugen Ledersachen und blickten sich um. Als sie die flachsblonde Frau im Hosenanzug sahen starrten sie sie einige Sekunden lang an. Dann langten sie an die Außentaschen ihrer dicken, schwarzen Lederjacken.
"Wer bis du denn?" fragte einer der beiden, bevor er ein zusammengeklapptes Messer freizog. Der andere hatte einen Schlagring hervorgeholt.
"Niemand, die euch dummkommen will, Jungs. Also packt eure Spielsachen wieder ein."
"Eh, hier steigt gleich ein verdammt wichtiges Meeting. Nur für Clubmitglieder, klar?" fragte der mit dem noch zusammengeklappten Messer.
"Ach, dann habt ihr das da an die Wand gemacht", erwiderte die Frau so unbekümmert, als habe sie die völlige Kontrolle über die Lage.
"Das ist unser Clubzeichen, Schlampe. Und jetzt mach dich dünn, oder ich schneide dir die Möpse ab."
"Nur keinen Neid, weil du nicht so was schönes hast", erwiderte die Flachsblonde unbeeindruckt von der Drohung. "Wie heißt denn euer Club? Luschenclub oder Lahmarschclub?"
"Häh?!" machte der mit dem Schlagring und stierte die andere verdrossen an. Der, welcher bisher herumgetönt hatte, klapte unüberhörbar sein Messer auf und setzte an, auf die ihm unerwünschte Zuschauerin zuzurennen. Da hielt diese einen Holzstab in der Hand und rief "Expelliarmus!" Ein scharlachroter Blitz schlug von ihrem Stab zur Waffenhand des auf sie zustürzenden über und prellte das Messer weg. "Maneto!" rief sie noch. Da erstarrte der Junge mitten in der Bewegung. Sein Schwung warf ihn vorne über. Klatschend schlug er mit dem Gesicht auf den schmutzigen Betonboden. Der andere Junge rannte nun los, um ihr den Schlagring über den Kopf zu hauen. Doch auch dieser erstarrte mitten in der Bewegung und fiel auf sein Gesicht.
"Gut, Jungs, die Kindergartenstunde ist um. Ich will wissen, was ihr hier wollt und was dieses rote Zeichen da an der Wand soll", sagte die Flachsblonde, die nun wirklich die Lage unter Kontrolle hatte. Mit einem Schwenker ihres Zauberstabes erschuf sie zwei Netze, in die sie die beiden Überwältigten einwickelte, bevor sie bei jedem den Bewegungsbann löste.
"Hexenschlampe", stieß der eine aus. Der andere wimmerte nur, weil er mit dieser Lage nicht fertig wurde.
"Hast recht, kleiner, und weil das stimmt weißt du sicher auch, dass ich aus dir locker einen Frosch oder eine Schmeißfliege machen kann, wenn du mir weiter dummkommst. Also rück raus, was hier los ist!"
"Die killen dich. Du bist so gut wie tot, du Stück Scheiße!"
"Das bin ich schon seit meiner Zeugung, genau wie du, du Brüllaffe", sagte die flachsblonde Hexe. Sie ärgerte sich, dass sie mit dem Bengel nicht umspringen konnte wie sie wollte. Doch sie war in offiziellem Auftrag hier und nicht, weil sie und ihre Bundesschwestern etwas unternehmen wollten. denn dann hätte sie auf ein Geschenk ihrer Anführerin zurückgreifen können, das die magische Fernbeobachtung und Nachbetrachtung vereitelt hatte. So beließ sie es dabei, den offenbar nicht kleinzukriegenden Burschen mit einem Schockzauber zu betäuben und dafür den in seinem Netz bibbernden Jungen anzuherrschen, ihr nun Fragen zu beantworten. Er fragte, was sie gemacht habe. Sie log und behauptete:
"Ich habe aus seinem Körper die Seele herausgelöst. Wenn ich sie in zwei Stunden nicht wieder darin einbette verschwindet sie ganz aus der Welt."
"Was willst du?" wimmerte der zweite Gefangene.
"Wer seid ihr und was für ein Treffen soll hier steigen?"
"Ich bin Jan und der andere is' Kevin. Wir kriegten 'ne Einladung, in einen Club reinzukommen, der sich Rheinwölfe nennt. Das Treffen soll hier steigen, gleich um vier. Wenn die anderen mitkriegen, dass wer hier ist gibt's tierischen Zoff."
"Rheinwölfe?" fragte die Hexe. "Wer hat euch zwei halben Hemden denn angesprochen?"
"So'n Typ mit schwarzen Haaren, Mittelding zwischen Antonio Banderas und Arnold Schwarzenegger, wenn du die zwei kennst."
"Erstens, ja,ich kenne dieund zweitens sagst du gefälligst "Sie" zu mir. Vom Altersunterschied her könnte ich glatt deine Mutter sein, was die große Mutter Natur zum Glück verhütet hat. Stell dir diesen Typen mal vor, damit ich weiß, wie der aussieht!" befahl sie. Da fühlte sie ein leichtes Vibrieren am oberen Knopf ihres Kostüms und wirbelte herum. Die Frage nach dem Kontaktmann hatte sich gerade beantwortet. Denn von der anderen Seite der Unterführung trat ein Mann ein, der zwar einen halben Kopf kleiner als sie war, aber dafür Muskelüberladen war. Im Gegensatz zu seinem übertrainierten Körperbau wirkte sein Gesicht engelsgleich. Die schwarzen Haare fielen in weitgeschwungenen Locken bis auf die Schultern. In denHänden hielt der Fremde eine Maschinenpistole mit aufgesetztem Schalldämpfer. "Weg mit dem Stab, du ..." weiter kam er nicht, weil die Hexe ohne lautes Wort den roten Schockzauber ausgelöst hatte. Dieser traf den anderen an der Stirn. Er fiel um wie ein gefällter Baum.
"Gut, dann unterhalte ich mich eben mit ihm", sagte die Hexe und betäubte den von ihr verhörten. Sie wollte gerade ein drittes Netz heraufbeschwören, als sie das Klatschen großer Pfoten wie von Schäferhunden oder Doggen hörte, das von beiden Seiten der Unterführung kam. Gleichzeitig glühte das an der Wand aufgebrachte Zeichen aus sich selbst heraus auf.
Von jeder Treppe her rannten je vier dunkelgraue Wölfe auf die Hexe zu. Diese erkannte an den kurzen Schnauzen und buschigen Ruten, dass es keine natürlichen Wölfe waren. Da heute noch kein Vollmond war mussten es durch einen bestimmten Trank zur willentlichen Verwandlung fähige Lykanthropen sein. Die Hexe schätzte, dass sie gerade noch drei Sekunden Handlungsspielraum hatte. Für das Kontralykogas, dass sie in ihrer Handtasche mitführte, war das zu kurz. So wirbelte sie herum und rief mit nach vorne gestrecktem Zauberstab: "Flammanulus Altus!"
Fauchend loderte um sie herum eine orangerot leuchtende Feuerwand auf, die bis zur Betondecke reichte. Zwei der Leuchtröhren gerieten dabei in die Flammen hinein und zerplatzten mit lautem Knall. Es wurde aber nur ein wenig dunkler, weil die magische Feuerwand genug Licht abgab.
Die gerade noch in vollem Lauf auf sie zujagenden Werwölfe stemmten sich mit ihren Krallen gegen den Betonboden. Es schabte laut. Vier der acht ließen sich sogar auf ihre Bäuche fallen, um den Schwung noch schneller abzufangen. Die beiden vordersten Geschöpfe kamen mit ihren kurzen Schnauzen bis auf eine Handbreit an die lodernde Flammenwand heran. Sie schnupperten hektisch und fletschten ihre scharfen Zähne. Ein achtstimmiges Wutgeknurre setzte ein.
"Ja, ist es denn wahr?" schnarrte die Hexe, die erst einmal aufgeatmet hatte, diesen Ansturm noch rechtzeitig abgewehrt zu haben. Dann überlegte sie, ob sie den Feuerring um sich wieder zusammenfallen lassen sollte, um die Werwölfe mit dem Kontralyko-Gas zu lähmen. Doch die Biester würden sofort aufspringen und zu ihr hinrennen, wenn der Feuerring verschwand. Da das Gas jedoch in Zauberfeuer verpuffte konnte sie es innerhalb des Flammenrings nicht freisetzen. Blieb ihr also nur, jeden einzelnen Werwolf zu betäuben und dann einzeln zu verhören. Doch die Lykanthropen nahmen ihr die Entscheidung ab. Sie sprangen wie auf ein unhörbares Zeichen auf und preschten wieder zu den Treppen zurück. Dabei erkannte die Hexe durch die lodernde Feuerwand, dass es ausnahmslos weibliche Exemplare waren. Eine dieser Werwölfinnen wollte sie festnehmen, um herauszukriegen, was los war. Da schwirrten plötzlich Dutzende von Projektilen durch die Unterführung. Die Schüsse kamen aus beiden Richtungen angeschwirrt. Die Hexe fühlte die unter ihrem Hosenanzug getragene Unterwäsche erzittern und hörte das Knistern der durch die Feuerwand dringenden und dabei weißglühend werdenden Geschosse, bevor diese mit Wimmernund Pfeifen keine fünfzig Zentimeter vor ihrem Körper abprallten. Es war doch immer wieder richtig, mit einem Drachenhautpanzer in die Welt der Magielosen zu gehen. So konnte die Hexe die Salven Furcht- und schmerzlos überstehen. Einige der Kugeln verglühten beim Zurückprallen in der Feuerwand. Andere klatschten halbflüssig gegen Boden, Decke und Wände und blieben daran haften. Der Geschosshagel hielt zwanzig Sekunden an. Dann trat wieder Ruhe ein. Doch dafür waren die acht Werwölfinnen entwischt. Statt ihrer standen nun je zwei breitschultrige Männer an den Treppen. Sie trugen schwarze Schutzhelme mit verspiegelten Visieren und senkten ihre leergeschossenen Waffen. Einer riss einen eiförmigen Gegenstand von seinem Gürtel und riss an einem daran befestigten Ring. Die Hexe sah, wie das Ding auf sie zuflog und rief "Vanesco Solidus!" Übergangslos verschwand das metallische Ei im Nichts. Der Mann, der es geworfen hatte zog noch eines davon frei. Sein Kumpan tat es ihm gleich. Die Hexe erkannte, dass sie gegen zwei dieser explosiven Metalleier zugleich nicht anzaubern konnte und wirbelte auf der Stelle herum. Mit lautem Plopp verschwand sie im Nichts.
Eigentlich wollte sie hundert Meter von der Unterführung herauskommen, um von dort aus die flüchtenden Werwölfinnen zu erwischen. Doch statt sofort aus jener lichtlosen, alle Körperteile zusammendrückenden Enge heraus in die stoffliche Welt zurückzukehren sah sie eine blutrote Wand vor sich und prallte mit schmerzhafter Wucht darauf. Dabei meinte sie, ein vielstimmiges Knurren zu hören. Am Rande der Ohnmacht fiel sie aus dem Zwischenstadium zwischen zwei Standorten heraus mit dem Kopf nach unten aus mehr als zehn Metern Höhe. Jetzt zahlte sich aus, dass der unter ihrer Oberbekleidung verborgene Drachenhautpanzer nicht nur Geschosse abwehren konnte, sondern auch als Aufprallschutz bei Stürzen aus großer Höhe half. Wie auf ein prallgefülltes Luftkissen kam sie auf und sackte den letzten halben Meter bis zur harten Erdoberfläche durch. Keuchend rappelte sich die Hexe wieder auf. Vor ihren Augen tanzten rote Kreise. Ihr dröhnte der Kopf so sehr, dass sie den Dumpfen Schlag, der zwei Sekunden später erst durch den Boden und eine weitere Sekunde danach auch in ihre Ohren drang erst für eine Auswirkung dieses Unwohlseins hielt. Dann erkannte sie, dass das gerade die zwei in der Unterführung gezündeten Handgranaten gewesen waren. Also war sie zumindest nicht kilometerweit von der Unterführung entfernt angekommen.
Sie blickte sich um. Bis zum Zugang unter die Erde mochten es fünfhundert Meter sein. Sie versuchte, in die Nähe davon zu apparieren. Doch wieder war ihr, als pralle sie mitten im Transit gegen eine leuchtendrote Wand, höre ein vielstimmiges Aufheulen und fand sich dann mit dem Gesicht auf dem Boden wieder. Als sie wieder aufstand erkannte sie, dass sie keinen Meter von ihrem Ausgangspunkt abgewichen war. Blieb ihr wirklich nur das Laufen? Wie gerne hätte sie jetzt ihren Donnerkeil 21 hiergehabt. Doch Dann hätte sie eine entsprechende Tasche mitnehmen müssen. So musste sie wohl oder übel laufen.
Die zwei Fehlsprünge beim Apparieren hatten sie sichtlich geschlaucht. So konnte sie leider nicht so schnell laufen, wie sie wollte. Als sie noch hundert Meter von der südlichen Treppe entfernt war fühlte sie ein heftiges Vibrieren in ihrer rechten Schuhsohle. Sie konnte gerade noch abstoppen, um nicht in eine plötzlich aus dem Boden herausschlagende silberblaue Flammenwand hineinzugeraten, die sich über die gesamte Breite des Weges zog und bis zu zwanzig Metern aufragte. Die Hexe fühlte eine unvermittelte Hitze, die jedoch nicht von der Feuerwand ausströmte, sondern in ihr selbst aufwallte. Sie trat sofort zwei schritte weiter zurück. Die intensive Hitze ebbte ab, und die Flammenwand fiel lautlos in sich zusammen. Die flachsblonde Hexe tat einen Schritt nach vorne. Sofort schossen vor ihr wieder Flammen aus dem Boden. Wieder fühlte sie in sich selbst aufkommende Hitze. Sie wagte noch einen Schritt nach vorne und meinte, ihr Blut würde gleich zu kochen anfangen. Gerade noch so unterdrückte sie einen Schmerzenslaut. Sie ging schnell zwei Schritte zurück. Wieder verschwanden die mörderische Hitze in ihrem Inneren und die vor ihr tanzenden silberblauen Flammenzungen. Sie konzentrierte sich,um zu apparieren. Doch kaum dass sie in jenen einengenden Transit eintrat prallte sie gegen die blitzartig vor ihr glühende Wand wie eben. Diesmal fand sie sich aus hundert Metern Höhe abstürzen. Sie argwöhnte, dass sie gleich voll in jene silberblauen Zauberflammen hineingeraten würde, als sie erkannte, dass sie mehr als einen Kilometer von der Unterführung entfernt aus dem Transit herausgefallen war. Mit dem Fallbremsezauber milderte sie den Sturz in ein federgleiches Herabsinken. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen fühlte sah sie es ein, dass die hinter den Werwölfen steckenden Leute Vorkehrungen getroffen hatten, um unliebsame Zauberer und Hexen auf Abstand zu halten. Dass sie vorhin noch unbehelligt in die Unterführung eindringen konnte erklärte sie sich damit, dass die magisch begabten Helfer dieser Werwütigen ihre Absicherungen noch nicht vollendet hatten oder erst nach ihrem Eintreffen vollzogen hatten. Das war jetzt auch nicht mehr so wichtig. Sie musste ihre Kollegen herbeirufen, um zu verhindern, dass dieser Club, der unter dem Lambda-Symbol gegründet worden war neue Mitglieder bekam.
Als eine Minute später zehn Zauberer und die flachsblonde Hexe Albertine Steinbeißer auf Donnerkeilbesen auf die Unterführung zuflogen wären sie alle fast in eine plötzlich entstandene silberblaue Flammenkuppel hineingeraten, wenn Albertines rechte Schuhsohle nicht wieder früh genug vibriert hätte, ein Geschenk ihrer heimlichen Anführerin.
"Den Zauber kenne ich", keuchte Kuno Hammelsprung, der neben Albertine flog. Der spindeldürre Zauberer mit dem aschgrauen Haarkranz war Vermittler zwischen der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe und dem Kontaktbüro zwischen Menschen mit und ohne magische Kräfte. "Das ist das Feindesfeuer. Es wehrt jeden dem Anwender feindlich gesinnten Eindringling ab. Dabei entsteht in dem Eindringling selbst eine große Hitze, die bei jedem Schritt auf die Flammen zu verdoppelt wird und bei Berührung den Eindringling aus in einem Augenblick zu Asche zerfallen lässt. Auf tote Materie und nicht feindliche Wesen haben die Flammen keine Wirkung."
"Hineinapparieren können wir vergessen", sagte Albertine Steinbeißer. Kuno nickte. Doch dann winkte er nach hinten, wo ein hagerer Zauberer auf seinem Besen flog. Dieser kam näher und besah sich die keine zehn Meter unter ihnen stehende Flammenkuppel. "Da kommt kein lebendes Wesen mit feindlichen Absichten durch. Und die Werwölfe aufzumischen ist schon eine feindliche Absicht", sagte Kuno Hammelsprung. "Kannst du sie bitten, da für uns runterzugehen, Kilian?"
"Ich kann sie fragen, Kuno. Aber ihr wisst ja noch, was sie nach der letzten Mission verlangt hat."
"Der Antrag ist doch schon im Bearbeitungsprozess, Kilian. Also bitte. Wir müssen wissen, was da unten los ist. Am Ende werden da unschuldige Leute zu neuen Werwölfen gemacht."
"Am Ende? Das dürfte das eigentliche Ziel dieser Bande sein", fauchte Albertine Steinbeißer. Kilian Nebeltau, der früher einmal in der Geisterbehörde gearbeitet hatte, war seit einem Vorfall mit über den Abriss ihres alten Hauses zu einem ewigen Gespensterdasein verwunschenen Raubrittern in einem Einkaufszentrum Mitglied des Muggelkontaktbüros. Vor zwanzig Jahren hatte seine Schwester Rosalinde sich todesmutig zwischen ihn und ein auf ihn zufliegendes Schwert geworfen und war dabei tödlich getroffen worden. Doch sie war als Geist in der Welt zurückgeblieben und hielt mit ihm über einen Rubinring Kontakt. Wenn sie und er wollten, konnte sie damit in Gedankenschnelle wie ein einbestellter Dschinn aus dem Orient an seinem augenblicklichen Standort auftauchen. Allerdings tat Rosalinde das nicht aus reinem Pflichtbewusstsein für das Ministerium, sondern nur, um ihren Bruder zu beschützen, weil sie es seiner kurz nach seiner Geburt verstorbenen Mutter versprochen hatte.
Kilian Nebeltaus Rubinring glomm auf, als er an Rosalinde dachte und ihr Gesicht vor sich sah. Da entstieg ein hauchzarter Nebel dem Ring, der sich immer mehr zu einer durchsichtigen Frauengestalt verdichtete, bis diese ihre Füße scheinbar aus dem Ring zog und frei vor ihm schwebte. "Wollen die mich mal wieder bitten, für sie an lebensbedrohliche Orte zu gehen?" grüßte die in ein langes, am Brustteil aufgerissenes Kleid gehüllte Gespensterfrau. Kilian erklärte ihr, was los war. Die Geistererscheinung verzog ihr perlweißes Gesicht und schnaubte sphärisch: "Damit sind diese Mondheuler noch weiter davon entfernt, Anerkennung zu erhalten. Gut, ich kundschafte für euch aus. Aber der Lohn für diese Leistung soll mir bald bezahlt werden, sonst wirst du keinen Frieden mehr haben, bis du diese knauserige Bande verlassen hast." Mit diesen Worten segelte die Gespensterfrau nach unten durch die Zone, in der die silberblauen Flammen vorher noch gelodert hatten. Ihr konnte dieser Zauber nichts anhaben, weil sie keinen lebenden Körper mehr besaß.
Um sich konzentrieren zu können landete Kilian mit den anderen zusammen weit genug von der Absperrzone entfernt. Kilian hielt den Rubin an seinem Ring an die Stirn gedrückt. Keiner von der Geisterbehörde wusste, wie die beiden das hinbekommen hatten, dass er mit dem Geist seiner Schwester in ständigen Bild- und Gedankenkontakt bleiben konnte. Mutmaßungen, er habe Geisterversklavungszauber aus dem Orient benutzt konnten nicht bewiesen werden.
Nach nur fünf Minuten erbleichte Kilian Nebeltau und stieß aus: "Die Bande macht die alle zu Lykanthropen. Vier Mädchen und fünf Jungen. Der Anführer sagt was von neuen Bürgern. Dieses rote Zeichen an der Wand glüht hell auf."
"Kann sie nichts dagegen tun?" fragte Kuno Hammelsprung.
"Ihre Telekinese wirkt nicht auf lebende Wesen, und in dieser Unterführung gibt es nichts aus Mondsteinsilber", sagte Kilian bestürzt.
"Es kommen noch mehr jugendliche", rief Georg Hagelschlag, einer der Zauberer, die zur Beobachtung über dem Gelände herumflogen. "Wenn sie noch ausßerhalb der mit dem Feuerzauber gesicherten Zone sind handlungsunfähig machen!" befahl Kuno und startete auf seinem Besen. "Albertine, Sie bleiben bei Kilian!" rief er noch. Dann flog er davon.
"Da ist einer, der sich Gouverneur von Nordeuropa nennt. Er kann zaubern. Aber Rosalinde ist für seine Augen unsichtbar.
In der Ferne hörte Albertine das Fauchen von Schockzaubern. Zwei Minuten später kam einer ihrer Kollegen zurück und vermeldete, dass insgesamt dreißig junge Leute vorübergehend betäubt und in Sicherheit gebracht worden seien. Das war dann auch, als Kilian meldete, dass die Werwölfe und ihre neuen Artgenossen sich an einem Tischtuch festhielten. Dann waren sie verschwunden.
"Sie sind geflohen, weil wir ihren Nachschub abgefangen haben", knurrte Kuno Hammelsprung, als er von seinem Einsatz zurückkam. Rosalinde kehrte nun für alle sichtbar aus der Unterführung zurück und nickte ihrem Bruder zu. "Bis zur Tagundnachtgleiche will ich die Antwort aus dem Ministerium", sagte sie, bevor sie mit den Füßen Kilians Rubinring berührte und zu einem Nebelschleier werdend darin einsank. Zumindest sah es für alle anderen so aus.
"Was hat dieser so genannte Gouverneur noch gesagt, von wem er beauftragt wurde?" fragte Albertine Steinbeißer.
"Er hat nur gesagt, dass er im Auftrag des neuen Staates aller Werwölfe regiere und der oberste Rat im Ausland wohne. Er hat weder den Namen Mondbruderschaft noch einen von den uns bekannten Vertreter dieser Werwolfvereinigung erwähnt. Womöglich dürfen das die gerade initiierten noch nicht wissen, sondern erst, wenn sie selbst wen gebissen haben oder die von denen gebissenen ihrerseits wen gebissen haben", vermutete Kilian. Kuno nickte.
"Die werden sich hüten, neuen Anhängern gleich alles zu verraten, wo der Wolfsherbst denen noch gut in Erinnerung sein dürfte."
"Ja, und wir kommen nicht an diese Biester heran, solange dieser Antiapparierwall besteht", schnaubte Albertine.
"Und das Feindesfeuer", erwiderte Kuno. Albertine nickte. Ihr war klar, dass diese neuen Erkenntnisse umgehend weitergemeldet werden mussten. Zuerst musste sie im Ministerium antreten und ihren Bericht abgeben. Sie beschrieb alles genau und auch, was während des Einsatzes passiert war. Das dauerte eine Stunde. Dann durfte sie nach Hause.
Als sie sicher war, dass ihr niemand weitere Fragen stellen wollte, begann sie eine Reise über zwanzig Apparitionsetappen, bis hinein in die Empfangshalle eines Landhauses, der Villa von Stanley Daggers.
Jetzt waren es nur noch zwei Tage bis zum Willkommensfest für Chrysope Latierre. Aurore war durch die Anwesenheit des Geschwisterchens noch anhänglicher geworden, was jedoch im Moment leichter dazu zu kriegen war, zu essen, rechtzeitig aufs Klo zu gehen und auch nicht mehr das große Theater vor dem Schlafengehen abzog. Millie hatte Julius nur gewarnt, dass diese Phase der Bravheit die Ruhe vor einem Sturm sein konnte. Martine hatte ihr nämlich erzählt, wie wichtig ihr das damals war, ihren Eltern zu zeigen, dass sie schon ein großes Mädchen war und deshalb eine Zeit lang gemacht hatte, was ihre Eltern von ihr wollten, bis sie, Millie, zu laufen angefangen hätte und es dann doch den einen und anderen heftigen Zank um Spielsachen und Klamotten gegeben habe. Sowas ähnliches sagte ihm auch Camille, als sie am Morgen dieses Tages den Garten der Latierres für die Feier inspizierte und mit Julius abstimmte, wie er die Schnellwachshecken um Goldschweifs Wohnung ansetzen musste, damit sie noch hindurchpasste, um zu jagen, aber Aurore nicht zu ihren bald ankommenden Jungen durchschlüpfen konnte. Dabei durfte sich Aurore natürlich nicht verletzen.
"Als Claire noch in meinem Bauch gewohnt hat war Jeanne hellauf begeistert, dass sie bald ein Geschwisterchen bekommen würde. Als Claire dann auf der Welt war hat Jeanne mir immer beim Stillen und Wickeln zugesehen und das mehr als zwei Jahre geduldig mitgemacht, wie Claire größer wurde. Dann fingen sie an, sich um Kleinigkeiten zu käbbeln. Ähnlich lief es dann zwischen Claire und Denise. Gut, jetzt ist eure Chrysope nicht mal ganz zwei Jahre nach eurer Aurore angekommen. Aber sei darauf gefasst, dass du den einen oder anderen Zank mitbekommst und dabei trotzdem nicht für die eine oder die andere alleine Partei ergreifst. Glaub's mir, die Kleinen kriegen das raus, mit wem von euch zweien sie leichtes Spiel haben, wenn ihr sie lasst. Da muss ich auch aufpassen, dass ich nicht als die böse Tante und Florymont als der liebe Onkel rüberkommt, wenn Philemon mal wieder mit Chloé Krach hat."
"Das ist für mich auf jeden Fall eine ganz unbekannte Erfahrung", sagte Julius dazu.
"Ja, aber du hast so vieles gelernt und überstanden, da wirst du damit auch wunderbar zurechtkommen. Denk einfach daran, dass diese Zeit auf jeden Fall viel zu schnell vorbei sein kann!" seufzte Camille. Julius nickte. Was Claire anging hatten sie beide es ja auf brutale Weise miterleben müssen, wie schnell eine gemeinsame Zeit vorbei sein konnte. Jeanne war jetzt selbst Mutter und Denise war kein kleines Mädchen mehr und im Moment weit weg von ihren Eltern in Beauxbatons.
Mittags traf eine Überseeposteule aus Australien ein. Aurora Dawn hatte es für anständiger gehalten, eine handgeschriebene Zusage zu verschicken als eine E-Mail abzusenden. Auf jeden Fall kündigte sie sich für den 9. Februar um zehn Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit an. Julius legte das aus der Villa Binoche mitgebrachte Armband um und rief darüber nach Aurora Dawn. Denn die Armbänder aus dem verhängnisvollen Raum mit den betörenden Pflanzen und Zaubern konnten mit ihren Mehrlingsgeschwistern weltweit in Verbindung treten. Wie damals bei den Pflegehelferarmbändern entstand nach Ausruf des Namens Aurora Dawn das räumliche Abbild der Gerufenen frei vor Julius schwebend.
"Ich habe deine und June Priestleys Zusage bekommen, Aurora. Geht also klar mit eurer Heilerzunft?"
"Die gute Laura Morehead hat noch nicht aufgegeben", klang Auroras Stimme wie aus einem unsichtbaren Lautsprecher im Armband. "Sie lässt schön grüßen und bietet dir weiterhin eine Ausbildung an, falls du mit den Anforderungen im Ministerium moralische Probleme kriegen solltest." Julius hätte fast gefragt, welche Probleme das sein sollten. Doch gerade rechtzeitig fiel ihm ein, dass er da besser erst einmal nicht drauf antworten sollte. Am Ende sollte er doch noch was tun, was gegen sein Gewissen ging. Laurentine hatte das ja schon vorgelebt, wie schnell das passieren konnte. So sagte er nur, dass Millie und er sich freuten und eines der Gästezimmer für sie vorbereiten würden.
"Und Camille lässt dir das durchgehen?" fragte Aurora Dawn verschmitzt grinsend. Julius sagte, dass der Gastgeber dem geladenen Gast eine Übernachtungsmöglichkeit anbieten dürfe und nicht ein Gast einem anderem. Darauf nickte die in australien lebende Heilerin.
Julius wollte gerade Millie bei der Zubereitung des Mittagessens helfen, als das Armband an seinem rechten Handgelenk zitterte. Er legte den Finger auf den Kreis, in dem die Runen für Hören und Sprechen miteinander verbunden waren. Vor ihm erschien die freischwebende Abbildung seiner Mutter. Sie trug ein weit wallendes, himmelblaues Kleid aus einem fließenden Stoff. "Hallo Julius. Ich habe gehofft, dass du das Armband trägst. Ich hätte dir sonst noch eine E-Mail geschrieben, ob es euch unangenehm wäre, wenn wir statt am Morgen des neunten schon am Morgen des achten Februars zu euch herüberkommen."
"Ihr könnt auch gerne auch schon heute rüberkommen. Der gerade in VDS ankernde Überschallzeppelin startet um neun Uhr Morgens Pazifikküstenzeit. Plus zwei Stunden Flugzeit, dann seit ihr um acht Uhr Abends unserer Ortszeit hier in Millemerveilles."
"Das geht leider nicht, weil ich noch einen wichtigen Termin habe, über den ich dir dann näheres erzählen möchte, wenn ich bei euch bin. Wir dürfen also schon morgen rüberkommen?"
"Wenn Millie nichts einzuwänden hat ..." Millie sagte, dass sie kein Problem damit hatte, ihre Schwiegereltern schon am Morgen des achten Februars da zu haben. "Okay, dann seid ihr morgen früh um neun unserer Zeit bei uns. Hmm, dann müsst ihr aber bei euch in der Nacht starten." Seine Mutter nickte bestätigend. "Bringt ihr die Brocklehursts mit?"
"Die werde ich gleich noch fragen. Britt hat ja auch eines von diesen Armbändern, richtig?" Julius nickte dem Abbild seiner Mutter zu. Irgendwie sah sie so aus, als müsse sie ihm dringend was erzählen, müsse sich aber noch zurückhalten. Außerdem wirkte sie nicht wirklich vorfreudig, was das Wiedersehen mit ihrem Sohn und seiner Familie anging. Als sich beide voneinander verabschiedet hatten brachte Millie es auf den Punkt:
"Martha sah so aus, als sei ihr etwas unangenehmes passiert, was sie dir nicht einfach so an den Kopf knallen wollte. Außerdem war ihr das nicht so recht, dass du sie gefragt hast, ob sie Britt und Linus mitbringt. Hmm, von denen kam bisher auch keine Zu- oder Absage."
"Ich kann ja mal kucken, ob Britt das Armband um hat", sagte Julius und blickte noch einmal auf die Uhr. Dann sagte er: "Neh, im Moment haben die gerade zwei Uhr Nachts. Da muss ich Britt nicht unbedingt wegen dieser Frage wecken."
Nach dem Mittagessen verbrachten die Latierres die Zeit im weitläufigen Garten rund um das Apfelhaus. Die drei Kamine hatten sie so lange gesperrt. Wer jetzt noch was wollte musste eben warten.
Gegen fünf Uhr nachmittags rief Brittany Brocklehurst über die Armbandverbindung an. "Ist ja wirklich praktisch mit diesen Bändern", sagte sie, als sie einmal mehr die konturscharfe Abbildung von Julius bewundert hatte. "Ich wollte euch nur sagen, dass Die Redlief-Schwestern, Linus, Onkel Lucky, Tante Martha und ich zusammen rüberkommen. Tante Martha hat schon erwähnt, dass ihr zwei nichts dagegenhabt. Großtante Hygia kann leider nicht, weil sie ja Dienst in Thorny hat. Sie lässt aber schön grüßen und hat für die Kleinen Geschenke bei uns abgeliefert. Wir helfen natürlich bei den letzten Vorbereitungen und bringen auch noch was zum Essen und Trinken mit. Öhm, hat deine Mutter dir erzählt, warum sie so früh schon zu euch rüberfliegen möchte?"
"Hmm, wo du so fragst, sie hat nur erwähnt, dass sie heute noch einen Termin hätte, über den sie mir was erzählen wolle oder müsse, wenn sie leibhaftig bei uns ist. Öhm, ich hoffe mal, ihr ist nichts passiert."
"Ich überlasse es besser ihr, dir das zu erzählen. Zumindest ist sie nicht von einem Werwolf angefallen worden."
"Werwolf? Der nächste Vollmond ist doch erst in einigen Tagen."
"Das stimmt. Deshalb ist das ja so fies. Offenbar haben sich diese Mondbruderschaftswerwölfe wieder erholt und wollen jetzt neue Leidensgenossen in die Welt setzen. In New York sind drei Muggel gebissen worden. Jetzt ist hier ein tonnenschwerer Haufen Drachenmist himmelhoch am qualmen, wie diesen Werwölfen beizukommen ist."
"Ich bin ja im Moment im Urlaub und kriege daher nicht mit, was im Ministerium los ist. In unseren Zeitungen stand nichts von neuen Werwolfübergriffen außerhalb der Vollmondnächte drin", sagte Julius. Brittany meinte dazu, dass er davon wohl früher was mitbekommen würde, als ihm lieb sei. Das konnte Julius zu seinem größten Bedauern nur bestätigen.
"Also, wir sind dann morgen früh um neun eurer Zeit da. Tante Martha lässt das über unsere Heilerin Palmer mit euren residenten Heilern klären, dass wir den Ortszeitanpassungstrank kriegen", sagte Brittany noch. Julius bestätigte das. Seine Schwiegertante Béatrice würde einen neuen Vorrat dieses nützlichen Trankes brauen und mitbringen.
"Britt wirkte leicht angenervt, als sie dich gefragt hat, ob Martha dir erzählt hat, warum sie früher zu uns wollte", bemerkte Millie, als Julius sich von Brittany verabschiedet hatte.
"Hmm, wird wohl an dem vorgezogenen Reiseplan liegen. Britt sucht ja was neues, damit sie auch Zeit für eine Familie hat", sagte Julius.
"So kam mir das nicht vor. Ich hatte irgendwie den Eindruck, dass sie genervt ist, weil da was ist, was sie nicht haben wollte oder umgekehrt. Am Ende hat Martha schon dein Geschwisterchen im Gepäck, und Brittany ist angepiekst, weil Linus ihr noch kein süßes Bündel zum tragen zugesteckt hat", erwiderte Millie. Julius erschauerte einen Moment. Er überlegte mehr als neun Sekunden, ob und wie er darauf antworten sollte. Dass Millie ihn gerne damit frotzelte, dass er nicht ewig Einzelkind bleiben würde war er schon gewohnt, und dass er damit rechnete, dass seine Mutter ihm eines nicht so fernen Tages ein Halbgeschwisterchen vorstellen würde auch. Aber dass Brittany das so persönlich nehmen würde, weil sie noch kein Kind in Aussicht hatte? Ja, doch, konnte er sich auch vorstellen. Milie und Brittany kannten sich auch gut genug und hatten meistens die selbe Wellenlänge, zumal jede der beiden sofort den passenden Deckel auf den Topf brachte, wenn die jeweils andere eine nicht so angenehme Bemerkung machte oder einen derben Scherz anbrachte. Brittany hatte sich nach ihrer Hochzeit mit Linus Brocklehurst etwas verändert. Sie war ernster geworden, vor allem was die Frage anging, wie sie als Familienmutter leben würde. Dass Millie ihr da nun schon um zwei Kinder voraus war, obwohl Brittany einige Jahre älter war mochte sie nicht wirklich verwunden haben.
Laurentius Bridger war nicht sonderlich begeistert, als Justine Brightgate und Jeff Bristol bei ihm vorsprachen. Als er erfuhr, dass beide möglichst bald heiraten sollten fragte er Justine, im wie vielten Monat sie denn schon schwanger sei. Justine erwiderte darauf, dass sie beide bisher gut verhütet hatten. "Lassen Sie das ja nicht diese Fanatiker von VM hören! Ich musste bereits vier junge Paare, die gerade mit Thorntails fertig waren vorzeitig trauen, weil diese zur falschen Zeit die falschen Speisen und Getränke zu sich nahmen. Diese unholde legen es darauf an, möglichst schnell neue magisch begabte Menschen in die Welt zu setzen."
"Uns ist die Untergrundgruppe Vita Magica bekannt", schnaubte Justine. "Aber Sie dürfen versichert sein, dass Jeff und ich bisher erfolgreich verhütet haben. Allerdings mag unser gemeinsamer Vorgesetzter es nicht, dass wir außerehelich zusammenleben."
"Dem kann ich nur beipflichten", knurrte der kleine, grauhaarige Zauberer, der eine dicke Brille mit schmalem Goldgestell trug. "Aber lassen wir das! Sie sind also dazu beauftragt worden, Entweder Ihre Beziehung zu beenden oder amtlich bestätigen zu lassen? Bis zum elften Februar habe ich keine Termine, sofern nicht jemand stirbt oder mich als Zeremonienmagier für ein Willkommensfest für einen Zaubererweltbürger erbittet. Eigentlich müssten Sie beide mit mir dann besprechen, wo und wann und mit wie vielen Leuten Sie feiern und Ihre Eltern informieren, auch wenn Sie beide volljährig und damit selbstbestimmt zu leben berechtigt sind. Doch ich schätze es, wenn die Mutter des Bräutigams und der Vater der Braut bei der Zeremonie anwesend sind."
"Meine Eltern sind tot, in die Luft gesprengt", knurrte Jeff Bristol. "Ja, und mein Vater hält seit dem Besenunfalltod meiner Mutter vor zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr mit mir. Ich weiß nur, dass er in Südamerika ist, aber nicht genau wo, weil er einen Eulenabschreckzauber benutzt, um nicht angeflogen zu werden. Ich weiß deshalb auch nicht, ob ich nicht mittlerweile zehn Halbgeschwister habe", sagte Justine Brightgate. "Aber meine Cousine Brenda könnte als Zeugin dabei sein."
"Ja, und ich frage einen Kollegen, ob er Trauzeuge sein möchte", sagte Jeff. Denn dass die Trauung mindestens zwei Zeugen brauchte, die amtlich bestätigten, die Trauung mitverfolgt zu haben wusste er.
"Gut, wann wäre es Ihnen beiden genehm?" seufzte Bridger. Beide schlugen den zehnten Februar vor, da Brenda nicht ohne großes Aufsehen mal eben von ihrer offiziellen Dienststelle fort konnte. Bridger nickte.
"Diese VM-ler sind wie die Lykanthropen. Die meinen, wenn sie sich wie die Kanickel vermehren würde die Welt unter ihren Zauberstäben tanzen", schnaubte Jeff, als Justine und er auf den Institutseigenen Besen unterwegs nach New Orleans waren.
"Wenn sie sich nur untereinander beschlafen und schwängern würden könnten sie das gerne tun, bis jede Hexe bei denen hundert Babys auf die Welt geworfen hat. Aber die manipulieren die Körper und Empfindungen unbeteiligter Hexen und Zauberer", erwiderte Justine. Das wusste Jeff Bristol aber auch schon.
"Nach eingehender Abschlussuntersuchung durch mich und den Kollegen Hazelwood kann ich Ihnen dreien verkünden, dass Sie drei nun vollkommen austherapiert sind und gemäß den mit Mr. Huntington getroffenen Absprachen aus unserer Obhut in Ihr Leben zurückgeschickt werden können", verkündete Heilerin Fennel den drei Patienten aus der Welt der magielosen Menschen. Donny Clarkson blickte sie verstört bis hoffnungsvoll an. "Eh, heißt dass, Sie konnten dieses Teufelsvirus in uns doch plattmachen?" fragte er.
"Austherapiert heißt das auch bei unseren Ärzten, wenn ein Patient nicht mehr weiter behandelt werden kann, die Krankheit oder Körperschädigung aber nicht behoben werden kann", knurrte O'Connor. Fennel nickte ihm betroffen zu. Dann sagte sie noch: "Da unsere Statuten untersagen, Menschen ohne Verbindung zur magischen Welt länger als bis zum Abschluss aller möglichen Behandlungen in unserem Krankenhaus zu beherbergen teile ich Ihnen mit, dass Sie in einer halben Stunde in Ihre Heimatstadt zurückgebracht werden. Vorher werden wir Ihnen gemäß unseren Statuten sowie den Abschnitten drei und fünf des Gesetzes zum amtlichen Kontakt mit Menschen ohne eigene Magie einen Zauber auferlegen, der Sie davon abhält, über die Existenz magischer Menschen und Wesen zu berichten. Für Ihre Welt waren sie wegen Ausschlusses aller ansteckungsgefahren in einer vom Gesundheitsministerium finanzierten Klinik."
"Sie wollen uns einfach so in unsere Leben zurückschicken?" fragte Casalla. "Aber Sie haben erzählt, wir könnten nicht mehr als Polizisten arbeiten, weil wir da ja keine Nachtschichten bei Vollmond mehr arbeiten könnten."
"Das ist leider richtig", sagte die Heilerin mit leichtem Bedauern in der Stimme.
"Es sei denn, Sie oder der Flummi aus diesem ulkigen Zauberministerium geben uns das Zeug, mit dem die Wolfsweiber und ihre verflohten Artgenossen auch ohne Vollmond als Wölfe rumrennen können", sagte Donny Clarkson.
"Das wurde Ihnen gesagt, dass dieser Trank nur an mit Magie begabte Menschen ausgeschenkt werden kann, weil seine Herstellung sehr umständlich und kostspielig ist", schnarrte Fennel.
"Dann machen Sie uns zu Obdachlosen und Bettlern", räumte O'Connor ein. "Abgesehen davon sind Leute, die keinen Broterwerb haben leichter zu kriminellen Taten zu verführen. Ist Ihrem Kontaktmann Huntington dies bewusst?"
"Soll das eine Drohung sein?" fauchte Fennel, die Mühe hatte, ihre Verärgerung professionell niederzuhalten.
"Ich sehe es als eine Weitergabe langjähriger Erkenntnisse an. Nicht selten wurden Leute, die von heute auf morgen und langfristig um ihre Einkommensgrundlage gebracht wurden und um ihr nacktes Leben fürchten mussten zu willigen Handlangern von Verbrechern. Ich würde also Ihrem Kontaktmann dringendst empfehlen, uns nicht um unsere Arbeitsplätze zu bringen, nicht mit diesem Keim im Körper", legte O'Connor nach.
"Sie kennen auch die Konsequenz, wenn Sie unliebsam auffallen", hielt die Heilerin ihm entgegen.
"Ach ja, wir sind ja für Sie keine lebenden Menschen mehr, sondern gemeingefährliche Raubtiere, die man, wenn sie zu wildern anfangen, ohne weiteres erlegen darf", stieß O'Connor aus.
"Wie das Zaubereiministerium Sie einstufen wird liegt bei Ihnen. Und was den Broterwerb angeht, Mr. O'Connor, so steht es Ihnen frei, sich einen Beruf zu erwählen, der Sie nur während der Tagesstunden beansprucht, womit Sie dann in den Nächten für sich und andere die nötigen Sicherheitsvorkehrungen einhalten können."
"Das können Sie den beiden nicht klarmachen, Lady. Einmal Bulle immer Bulle", tönte Donny Clarkson.
"Pass bloß auf, du halbes Hemd, dass ich dir nicht gleich mal den Hosenboden strammziehe", schnaubte O'Connor. Da sagte Casalla:
"Warum verzichtet dieser Mr. Huntington auf die Gelegenheit, Kontaktleute innerhalb der New Yorker Polizei zu haben, die weiter nach diesen verbrecherischen Werwölfen suchen, ohne noch Angst davor haben zu müssen, von diesen gebissen zu werden? Das will mir nicht in den Kopf."
"Weil es nun einmal Richtlinien gibt, wer welche Hilfsmittel an die Hand bekommt und warum und Mr. Huntington das natürlich bedacht hat. Aber er hat mir erklärt, dass er keine Ausnahme machen wird. Denn dann müsste er diese Ausnahme zur Regel erheben, und dazu sei er nicht berechtigt."
"Schreibtischtäter", blaffte Donovan Clarkson. Die beiden künftigen Ex-Polizisten nickten ihm zustimmend zu.
Als die Heilerin das Krankenzimmer wieder fverließ wollten die drei hinter ihr her. Doch wieder hielten sie die Bettdecken zurück. Das taten diese solange, bis Huntington mit drei schwarzen Steinen im Gepäck hereinkam. Heilerin fennel hielt sich hinter ihm.
"Und was ist, wenn wir nicht wollen", sagte Donny, als ihnen erklärt wurde, dass die schwarzen Steinblöcke magisch bindende Vereidigungen unterstützten.
"Dann habe ich im Namen des Zaubereiministeriums die Genehmigung, Ihnen dreien die Erinnerungen an den Aufenthalt hier zu nehmen und sie drei in eine abgelegene Gegend der staaten zu verbringen, wo sie völlig auf sich gestellt weiterleben, natürlich von unseren Leuten überwacht, dass Sie nicht mehr in die Nähe von Menschen gelangen können, ohne getötet zu werden. Wollen Sie nicht wirklich!"
"Wer sagt das?" fragte O'Connor. "Vielleicht ist es besser zu sterben, als mit diesem Fluch weiterzuleben."
"Dazu fehlt mir leider die Genehmigung, zumal wir unter dem Dache einer magischen Heilsstätte keinen Menschen töten dürfen", schnaubte Huntington.
"Ich mach das mit dem Eidesstein", sagte Donny unvermittelt. "Ich will nicht irgendwo in der Wüste oder im Dschungel abhängen, ohne Freunde, ohne Handy und ohne Musik."
"Können Sie garantieren, dass diese magische Vereidigung nichts mit uns anstellt, solange wir uns an den Eid halten?" fragte Casalla. Huntington bestätigte das.
So gingen alle drei darauf ein, sich der magischen Vereidigung zu unterziehen und schworen, niemandem von ihren Freunden, Bekannten, Kollegen und Verwandten zu erzählen, dass sie in einer Klinik gewesen waren, die von echten Zauberern und Hexen betrieben wurde und auch nicht, dass es richtige Hexen und Zauberer gab und sie nun als Träger der Lykanthropie weiterleben mussten. Die Steine erwärmten sich, als sie den Eid bekräftigten. O'Connor und Casalla schworen sogar bei Gott und der Unsterblichkeit ihrer Seelen, während Donny "Das schwöre ich bei meinem Leben", aussprach.
Nun wurden die drei Patienten unter der Wirkung eines Betäubungszaubers aus dem Honestus-Powell-Krankenhaus gebracht und mit einem Portschlüssel nach New York zurücktransportiert. Dort wurden sie aus der Betäubung aufgeweckt und erhielten ihre persönlichen Sachen zurück.
Als Heilerin Fennel die Abreise der drei Patienten schriftlich bestätigt hatte ging sie in ihr Büro. Dort traf sie Chefheiler Ambrosius Silberspoon, der nach dem Gründer des HPK und dessen Tochter Calendula Powell der dritte Chefheiler dieser Institution war. Silverspoon war jedoch nicht alleine. In seinem Büro saß auch die Leiterin der Mutter-Kind-Abteilung, Großheilerin Eileithyia Greensporn, die neben ihrer Tätigkeit auch als Gesamtsprecherin der nordamerikanischen Heilzunft arbeitete, wenn sie nicht gerade für die Ankunft neuer Erdenbürger gebraucht wurde.
"Huntington hat sich nicht darauf eingelassen, ddden dreien den Wolfsbanntrank bereitzustellen?" fragte Eileithyia Greensporn, als ihre wesentlich jüngere Kollegin einen mündlichen Abschlussbericht abgeliefert hatte. Heilerin Fennel bestätigte das.
"Das widerspricht aber dem Übereinkommen vom 31. Dezember 2001, demnach alle muggelweltlichen Werwölfe jährlich sechs Dosen des Wolfsbanntrankes erhalten dürfen, sofern sie nicht daran interessiert sind, in Sondereinsatzgruppen gegen kriminelle Werwölfe einzutreten und damit sogar Anrecht auf den Lykonemisis-Trank erhalten." Fennel nickte ihrem fast obersten Vorgesetzten zu. Dann erläuterte sie, was Huntington mit ihr und ihrem direkten Vorgesetzten Hazelwood erörtert und beschlossen hatte.
"Auf das höchst fragwürdige Spiel haben der Kollege Hazelwood und Sie sich eingelassen", entrüstete sich die etwas mehr als 120 Jahre alte Heilerin Greensporn. Ihre Kollegin nickte schwerfällig.
"Damit hätte Hazelwood zu mir kommen müssen", knurrte Silverspoon. "Ich dachte, nach der Ära Wishbone würden wieder Anstand und Aufrichtigkeit zwischen Ministerium und Heilerzunft gelten."
"Polybios Hazelwood hat ein schriftliches Amtshilfeersuchen des Strafverfolgungsleiters und von Mr. Huntington persönlich vorliegen und hat mir gegenüber begründet, dass es so wie es jetzt ist besser sei."
"Wir sollen heilen und menschliches Leben schützen", knurrte Chefheiler Silverspoon. "Das kläre ich aber noch einmal mit dem Kollegen Hazelwood und dem kleinen adipösen Mr. Huntington, dass solche Absprachen und Verhaltensweisen nicht erwünscht sind."
"Ja, und Sie, Drusilla, hätten vor der Einwilligung zu dieser höchst fragwürdigen Verfahrensweise zu mir kommen sollen, um mit mir darüber zu sprechen, ob wir Heilerinnen und Heiler in solchen Fällen nicht gegen die Interessen des Ministeriums handeln müssen. Dann hätten wir den dreien den Wolfsbanntrank bereitstellen müssen", sagte Eileithyia Greensporn.
"Wir können es uns nicht leisten, Misstrauen im Ministerium zu schüren", erwiderte Heilerin Fennel.
"Ach nein, können wir das nicht? Wir haben uns schon genug am Rande unserer klar umrissenen Verpflichtungen bewegt", fauchte Eileithyia Greensporn.
"Natürlich, Eileithyia, vor allem was die ungenehmigte Mutterschaft der Kollegin Leda Greensporn angeht, nicht wahr?"
"Vorsicht, Mädchen, du tanzt sehr gefährlich auf einem haardünnen Hochseil über glühender Lava entlang", grummelte die Sprecherin der Heilzunft. Ihr für diese Dienststelle offizieller Vorgesetzter Silverspoon nickte Fennel jedoch zu. Deshalb sagte Eileithyia: "Außerdem macht es einen Unterschied, ob neues Leben willkommengeheißen wird oder drei Leben bewusst in tödliche Gefahr gebracht werden und diese Handlungsweise unter diesem Dach ihren Anfang nimmt." Da musste Silverspoon der innerhalb dieses Hauses unterstellten, ihn um mehr als fünfzig Lebensjahren voraus seienden Kollegin zustimmen.
"Ich habe dazu nichts mehr zu sagen, beschloss Drusilla Fennel ihren Bericht.
"Und ich habe zu tun", seufzte Eileithyia Greensporn. Mit diesen Worten winkte sie Silverspoon zu, um auf ihre Station zurückzukehren.
"Das kann gut gehen, muss aber nicht", grummelte Silverspoon, als er mit Drusilla Fennel alleine war. "Wie immer es ausgeht, es wäre mir sehr wichtig, dass unser Krankenhaus in keinem Falle in dieser Angelegenheit erwähnt wird, sollte das an die Öffentlichkeit kommen."
"Es ist die drittoberste Geheimhaltungsstufe festgelegt worden, Ambrosius", sagte Drusilla Fennel.
"Ja, aber das war die My-Truppe von Wishbone auch, und trotzdem kam ihre Existenz und ihre Aktionen an die Öffentlichkeit", erwiderte Silverspoon.
Wie weit der Arm des Zaubereiministeriums reichte bekam Donny Clarkson gleich bei seiner Ankunft in seinem Elternhaus mit. Seine Eltern konnten sich nur daran erinnern, dass sie den Ärzten in der Universitätsklinik eine schriftliche Erlaubnis erteilt hatten, dass ihr Sohn zur intensiveren Behandlung in ein kleineres, auf exotische Seuchen und von Tieren übertragbaren Krankheiten spezialisiertes Krankenhaus verlegt wurde. Sie hatten ihn dann dreimal besucht und mit einem Arzt namens Huntington gesprochen, wie die Behandlung verlief. Dabei konnte sich Donny nicht an irgendeinen Besuch seiner Eltern erinnern. Er dachte daran, dass diese Zauberer und Hexen von Erinnerungsveränderungszaubern gesprochen hatten. Damit konnten sie sicherstellen, dass keiner sich mehr daran erinnerte, mit ihnen oder einem Wesen aus der magischen Welt zu tun gehabt zu haben. Dann konnten die denen auch was eintrichtern, dass sie ihn im Krankenhaus besucht hatten. Sollte er jetzt sagen, dass das alles nicht stimmte? Aber allein bei dem Gedanken hatte er das Gefühl, seine Zunge liege tonnenschwer im Mund. Dieser verflixte Eidesstein blockierte ihn echt. Aber wie sollte er seinen Eltern dann auftischen, dass er bei Vollmond im Haus zu bleiben und ihnen auch nicht zu nahe kommen durfte?
"Ich soll dir auch schöne Grüße von einem Cop namens O'Connor bestellen, dass er noch einmal von einer Anzeige wegen rücksichtslosen Fahrens auf deinem Skateboard absieht und keine Verwarnung aussprechen wird, sofern du in den nächsten sechs Monaten nicht noch mal sowas anstellst", sagte sein Vater noch. Donny hätte fast gegrinst. Dann fiel ihm ein, dass dazu echt kein Grund war. Die hatten sein ganzes bisheriges Leben ausgeforscht und seine Eltern mit irgendwelchem Hexenzeug bearbeitet. Das war nichts. worüber er sich freuen konnte.
Auf seinem Zimmer dachte er daran, dass die ihn jetzt völlig diesem verdammten Werwolfsfluch ausgeliefert hatten. Die wollten ihm nicht helfen, den kleinzuhalten. Dann würde er wohl beim nächsten Vollmond seine Eltern anfallen und beißen, wenn er sie nicht sogar umbrachte. Bei allem Stress, den er mit seinem alten Herren hatte, das wolte er dann nicht. Dann dachte er daran, dass in einer Woche Vollmond war. In einer Woche würde ihn dieser verdammte Fluch zum gefährlichen Monster machen. Er wolte aber nicht wie im Kinofilm herumlaufen und alles anfallen, was nicht schnell genug weglaufen konnte. Diese Biester, die ihn gebissenhatten hatten einen Zaubertrank, mit dem sie das niederhalten konnten. Wenn ihm die achso auf ihre Geheimhaltung abonierten Hexen und Zauberer diesen Trank nicht geben wollten, dann musste er sich den eben bei diesen Bestien holen, ob ihm das passte oder nicht. Er wusste nicht, dass O'Connor und Casalla dieselbe Idee hatten.
Selene schlief, als Theias Urgroßmutter Eileithyia noch einmal zu ihr zu Besuch kam.
"Da hast du meiner Mutter immer gesagt, wie fragwürdig ihre Methoden sind?" musste sie lachen, als sie beide im Schutze eines Klankerkerzaubers über den Fall der drei in New York gebissenen Muggel sprachen.
"Vor allem, dass Drusilla, die ich von vor ihrer Geburt an bis heute mehr oder weniger durch die Welt geführt habe es versäumt hat, mich mal um Rat zu fragen, wie die Interessen des Ministeriums mit den Grundsätzen der Heilerzunft zusammengehen können macht mich wütend, Theia. Und dann hält die mir doch noch frech vor, dass wir ja schon bei Leda von unseren Grundwerten abgewichen wären."
"Ich kann mich dran erinnern, wie du, der damalige Zunftsprecher und dieser Mr. Silverspoon mit Leda darüber gesprochen haben. Ihr wart ja alle laut genug, dass ich das sogar über Ledas Verdauungsmusik hinweg hören konnte."
"Ja, und da ging es darum, ein neues Leben willkommen zu heißen", sagte Eileithyia. Theia hätte fast gesagt, dass das Leben so neu nicht war. Doch sie hütete sich davor, sowas auch nur anzudeuten. So fragte sie, ob die Schwesternschaft sich aus diesem Spiel des Ministeriums heraushalten oder heimlich beobachten sollte, wer es gewann.
"Dabei sollten dem guten Mr. Huntington auch die Kontakte mit dieser Werwolfstruppe aus dem Ausland vorliegen."
"Mir ist übrigens nach dem, was ihr mir über das Lambda im Kreis erzählt habt eingefallen, wie es womöglich erzeugt wird, Oma Thyia", sagte Theia Hemlock.
"Ein sympathetischer Zauber, der auf die Anwesenheit von Werwölfen reagiert", schnaubte Eileithyia. "Also wird bei der Mischung der Farben mindestens ein Werwolf anwesend gewesen sein."
"Ja, und hat sein oder ihr Blut dafür hergegeben. Dann könnte die Farbe so beschaffen sein, dass nur Werwolfsblut sie wieder auslöschen kann", sagte Theia, die keinesfalls überrascht war, dass ihre Urgroßmutter auch darauf gekommen war, was ihr zu dem Thema eingefallen war. Doch ihr fiel noch was ein, was Eileithyia Greensporn womöglich nicht bedacht hatte.
"Die Gebissenen und auch die Zeugen bei den Lambda-Vorfällen außerhalb der Staaten haben immer von einem Überhang weiblicher Lykanthropen berichtet, richtig? Dann könnte es sogar sein, dass die Farbe aus dem Menstruationsblut von Werwölfinnen erstellt wurde. Dafür muss keine Schnittwunde zugefügt werden."
"Wenn wir daran denken, dass die Mondbruderschaft von einer Werwölfin angeführt wird durchaus denkbar", grummelte Eileithyia Greensporn.
"Ich gebe das mal weiter an unsere britischen Schwestern. Die Werwölfin Tessa Highdale ist ja offiziell in dieser Sondertruppe gegen kriminelle Werwölfe." Theia nickte.
"Vielleicht kann auf diese Weise auch herausgefunden werden, wo sich diese Mondschwestern aufhalten, wenn sie nicht gerade in Polizisten und freche Jungen beißen."
"Ich kläre das mit Lady Roberta."
"Wo du schon mal hier bist, Oma Thyia, was hältst du von der im September bis Oktober erwarteten Babyflut?"
"Willst du mich jetzt ärgern, Kleine?" fauchte Eileithyia. "An die dreißig Hexen tragen ungewollt oder eher ungeplant an mindestens zwei Kindern. Beruflich müsste ich dieser Verbrecherbande meinen Dank für so viele sichere Aufträge abstatten. Ethisch aber kann und muss ich dieses Vorgehen heftig verurteilen. Andererseits werden meine Kolleginnen und ich diese ganzen von dieser Bande verursachten Kinder auf die Welt holen. Chloe Palmer hat mich schon gebeten, für die beiden älteren Ehepaare aus Viento del Sol Betten im HPK freizuhalten, falls nötig auch für drei weitere Patientinnen, die sich ihr anvertraut haben."
"Mehr möchte und darf ich nicht wissen", sagte Theia. "Ich habe eben nur mitbekommen, dass es gerade in VDS doch zwanzig Paare auf einen Streich und fünf unverheiratete Hexen erwischt hat."
"Weil der Dorfrat es geschafft hat, VDS gegen die Anbringung von Alterslinien abzusichern, so dass diese alljährliche Mora-Vingate-Party nicht mehr in der Umgebung gefeiert werden kann." Theia nickte. Sie hatte den Artikel in der Stimme des westwinds auch gelesen.
"So, dann lege ich mich jetzt schlafen. Morgen könnte es wieder ein langer Tag werden", sagte Eileithyia. Doch sie lächelte. Denn sie freute sich immer noch, dass sie neuen Zaubererweltkindern auf die Welt helfen durfte.
Martha Merryweather war es mulmig, als sie an Bord des in Viento del Sol verankerten Luftschiffs ging. Hinter ihr erkletterte Lucky die Strickleiter. Er wirkte ein wenig besorgt, weil seine Frau in ihrem himmelblauen Umhang irgendwie unbeholfen wirkte. Er sollte sich nicht so haben, dachte Martha. Sie hoffte nur, dass die Feier bei Julius und die Zeit danach nicht zu einer unüberwindlichen Krise ausartete. Dann kam ihr wieder der Gedanke, dass sie, auch wenn sie nicht darum gebeten hatte, alles durchstehen würde, was ihr aufgebürdet worden war.
Brittany Brocklehurst erwartete sie hinter der Einstiegsluke. Ihr Mann Linus war vorne bei den Steuerleuten, um von dort aus die Reise mitzuverfolgen. Außerdem warteten die Redlief-Geschwister in einem der großen Passagiersäle.
"Chloe Palmer soll sich nicht so haben", knurrte Brittany, als Martha ihr bedauernd mitteilte, dass sie wegen der Anordnung der Heilerin nicht mit Brittany im selben Saal bleiben konnte, um mit ihr zu plaudern.
"Ich sehe ein, warum sie das angeordnet hat, Brittany. Je besser der Strahlenschutz, desto sicherer", sagte Martha Merryweather. Dann ging sie durch den Passagierraum auf der Steuerbordseite und betrat einen der Frachträume. Dort stand bereits ein Conservatempus-Vorratsschrank auf acht Rollen und lagerten sieben große Fässer, von denen vier kalifornischen Wein enthielten und drei Saft aus verschiedenen Früchten. Im hinteren Teil des Frachtraums war eine zwei Meter hohe Metallbox hingestellt worden, fast schon ein Kleiderschrank. Martha Merryweather steuerte den Behälter an und legte ihre rechte Hand auf den Türknauf. Dieser vibrierte und drehte sich. Sie öffnete die box und sah einen breiten Sessel mit Arm- und Kopfstütze. Auf der Sitzfläche lag ein Briefumschlag, der mit der Aufschrift "Für eine der Kolleginnen vor Ort" beschriftet war. Martha Merryweather schnaubte verächtlich. Ihr Mann, der hinter ihr stand sah sie an.
"Das ist wirklich übertrieben, Martha. Aber ihr zwei seid euch offenbar einig, oder?"
"Lucky, auch wenn das so nicht von uns beabsichtigt war stimme ich Chloe zu, dass nichts unterlassen werden darf, was den Schutz verbessert. Also mach bitte hinter mir zu!"
"Wie du meinst, Martha", sagte Lucky und klappte die Tür der Box zu, als Martha sich in den Sessel gesetzt hatte. Sofort glühte ein Kranz von Leuchtkristallen an der Decke auf, und aus unsichtbarer Quelle umfloss Martha ein sanfter, warmer Luftstrom. Dann erklang die magisch gespeicherte Stimme der Heilerin Chloe Palmer:
"Hallo, Martha. Auch wenn Ihr Mann meint, es sei nicht nötig, diese Schutzvorkehrung einzuhalten hoffe ich doch, dass Sie mir immer noch zustimmen, dass es so besser ist, wenn sie für mehr als zwei Stunden fliegen. Sicher, ich hätte auch eine dieser Rüstungen beantragen können. Doch mir ist diese Art von Bekleidung zu wider. Falls Sie nicht die Reise verschlafen möchten finden Sie im Staufach der rechten Armlehne mehrere Bücher zu verschiedenen Themen der Zaubererwelt. Ich empfehle Ihnen jedoch, die zwei Stunden mit Schlaf zu überbrücken. Womöglich benötigen sie dann auch nicht so viel des Ortszeitanpassungstrankes. Falls Lucullus sich noch einmal wegen meiner Umsicht und Aufmerksamkeit beklagt haben Sie das Recht, ihm von mir auszurichten, dass er froh sein soll, dass ich ihn nicht in dieser Weise umsorgen muss wie sie und er das, was vor uns beiden liegt, sicherlich nicht mit dem ihm eigenen Humor überdecken kann, wenn es ihm selbst auferlegt wäre. Empfehlen Sie mich bitte meinen in Millemerveilles mitfeiernden Kolleginnen und halten Sie sich beim Genuss von Getränken an die von Mrs. Brocklehurst bevorzugten Getränke! Gute Reise!"
Schlafen, so aufgeregt wie ich bin?" fragte sich Martha Merryweather. Doch dann erkannte sie, dass sie zum lesen auch keine rechte Laune hatte und lehnte sich zurück. Der Sessel war so weich, als reite sie auf einer Schönwetterwolke. Das waren bestimmt entsprechende Bezauberungen. Auf jeden Fall bekam sie schon nicht mehr mit, wie das Luftschiff von seinem Ankerplatz ablegte und innerhalb von Minuten mit achtfacher Schallgeschwindigkeit in mehr als dreißigtausend Metern über Grund nach osten raste.
Erst als die überall hörbare Durchsage des Piloten erklang, dass sie gerade in Millemerveilles landeten wachte Martha wieder auf. An einen Traum konnte sie sich nicht erinnern.
Erst als das Luftschiff keine eigenständige Flugbewegung mehr ausführte ließ sich die Tür der kleinen Reisekammer von innen öffnen. Durch die breiten Fenster des Passagierraumes fiel helles Morgenlicht herein. Wieder einmal hatte sie die Strecke von der amerikanischen Westküste bis Mitteleuropa und damit neun Zeitzonen überwunden. Die von Madeleine zur bestandenen UTZ-Prüfung geschenkte Damenausführung der praktischen Weltzeituhr hatte sich bereits auf die hier geltende Ortszeit umgestellt. Jetzt war es drei Minuten nach neun uhr Morgens.
"Na, wie war die Brotbüchse?" fragte Lucky Merryweather. Seine verschwägerte Nichte Brittany grinste verhalten.
"Wenn man die Reisezeit verschläft sehr bequem, vor allem der Sessel", sagte Martha.
"Dann sollen die das Ding drin lassen, wenn ich die nötig habe", sagte Brittany.
"Oder Mel", feixte Myrna Redlief.
"Pass du mal auf, das du nicht vor mir in so'ne Büchse reinklettern musst, damit in dir alles frisch bleibt, Myrna", knurrte Melanie Redlief.
"Wenn ich mir Britt ansehe, wie angefressen die aussieht, will ich das bei dir nicht erleben, wenn ich eher damit anfange als du, Mel", kicherte Myrna.
"Frage die von VM, ob sie dir nicht was von ihrem Sauzeug zuschicken", knurrte Brittany. Martha Merryweather nickte. Die beiden jungen Hexen zankten sich um etwas, was beide nicht wirklich haben wollten.
Soll ich dir bei der Leiter helfen?" fragte Lucky seine Frau.
"Lucky, Ich-kann-das-noch-al-lei-ne", stieß Martha jede einzelne Silbe betonend aus.
"Hab nur gefragt, meine holde", erwiderte Lucky. Er prüfte noch mal, ob sein sonnengelber Umhang weit genug hochgekrempelt war, dass er nicht selbst darüber stolperte. Er wollte gerade zuerst hinunterturnen, als Brittany sich keck an ihm vorbeidrängelte und "Die Damen zuerst, Onkel Lucky", trällerte.
"Das ist nicht wahr", lachte Lucky. Er sah seiner weizenblonden Nichte zu, wie sie die Leiter hinunterturnte und die beiden letzten Sprossen mit einem geschmeidigen Absprung ausließ.
Als alle aus Viento del Sol eingeladenen Gäste auf festem Boden standen begrüßte Julius seine Mutter, während Millie zuerst Brittany landestypisch umarmte und diese aufpassen musste, nicht an Millies nährender Oberweite zu ersticken. . "Schön, dass du kommen konntest", sagte Julius seiner Mutter. "Ich hoffe, euch geht es gut?"
"Öhm, du meinst Lucky und mir? Ja, uns geht es gut", sagte Martha, die einen winzigen Moment überlegt hatte, wen Julius genau meinte. Doch um sich nicht vorzeitig zu verraten musste sie davon ausgehen, dass er Lucky und sie meinte.
"Wo ist denn Rorie?" fragte Brittany Millie. "Sag bloß, die passt auf ihre kleine Schwester auf."
"Nein, umgekehrt, Britt", scherzte Millie. Beide lachten. Dann sagte Millie: "Aurore ist bei Jeanne und Bruno. Ich hole sie aber zum Mittagessen wieder ab. Chrysope wird von meiner Tante Béatrice betreut. Die kam zu uns und meinte, wir sollten sicherstellen, dass alle, die im Luftschiff waren auch gesund zu uns hinfinden."
"Ach neh", erwiderte Brittany. Martha hingegen dachte sich nur ihren Teil und schwieg.
Julius deutete auf die Wiese, über der das Luftschiff zur Ruhe gekommen war. Dort stand die sieben meter aufragende, doppelt so groß und doch nur drei Viertel so schwer wie ein afrikanischer Elefant beschaffene Latierre-Kuh Artemis. Auf ihrem Rücken trug sie einen kutschenartigen Transportkasten, von dem eine Treppe nach unten reichte.
"Ist das Temmie? Sieht ein wenig moppeliger aus, als ich diese Tiere in Erinnerung habe", sagte Melanie Redlief.
"Weil sie schon wieder was kleines im Bauch hat, Mel. Frag doch nicht so blöd!" erwiderte Brittany.
"Das war keine blöde Frage, Mrs. Brocklehurst", schnaubte Melanie.
"Die sind eigentlich noch immer Freundinnen", sagte Julius leise genug, dass nur seine Mutter das hörte. Diese nickte verhalten.
Die mitgebrachten Vorräte und Gepäckstücke wurden ausgeladen. Dann wurde die Leiter wieder eingezogen. Julius half seinem Stiefvater und Brittany dabei, die Sachen in den Gepäckraum des Transportaufsatzes zu versetzen. Dann bestiegen alle über die Falttreppe den Transportkasten. Millie nahm neben Julius auf dem Bock platz, während Brittany die Tür von innen zuzog.
Martha dachte daran, wie es sie mitgenommen hatte, als sie das erste mal in einem solchen Transportkasten gereist war. Gut, richtig heftig hatte es sie erwischt, als sie Béatrice Latierre dabei zugesehen hatte, wie sie ihrer damals mit den Zwillingen Félicité und Esperance schwangeren Mutter in den Bauch hineingesehen hatte. Das war irgendwie in einem anderen Leben, dachte Martha.
Der Frlug verlief sanft. Irgendwie hatte Martha den Eindruck, dass sie fast schwerelos war. Sie wusste zwar, was es mit Artemis vom grünen Rain, wie Temmie vollständig hieß, auf sich hatte. Doch es erstaunte sie, mit welcher Behutsamkeit dieses geflügelte Wesen über die Dächer des Dorfes Millemerveilles hinwegsegelte, beinahe wie ein Ballon. Sie brauchte nur wenige Flügelschläge pro Minute auszuführen. Die Krönung dieses federgleichen Fluges war eine vollkommen erschütterungsfreie Punktlandung ohne restlichen Schwung auf der Wiese vor dem Apfelhaus, das nur doppelt so hoch wie Temmie war.
Nuagette kann das nicht so", stellte Brittany fest, als sie alle wieder auf festem Boden standen und Julius den Transportkasten mit wenigen Zauberstabbewegungen von Temmies Rücken gelöst hatte. Martha fühlte, dass die Reise und die Zeitumstellung ihr doch ein wenig zu schaffen machten. Doch sie wollte es sich nicht anmerken lassen, nicht hier und nicht wo sie alle um sie herumstanden.
Im Haus begrüßte sie Béatrice Latierre in einer grasgrünen Schürze mit bunten Blumen darauf. Martha sah genau hin, ob Julius' Schwiegertante vielleicht ihre kleine Großnichte unter dieser Schürze trug, weil ihr Béatrices Oberweite trotz der Verhüllung etwas üppiger vorkam und sie gut genug wusste, welche Hilfsmittel es für Hexenmütter und -ammen gab, um die eigenen und anderer Leute Säuglinge satt zu halten. Doch als ein leises Quängeln aus dem hinteren Teil der Wohnhalle erklang verwarf Martha ihren Gedanken wieder. Abgesehen davon konnte Millie es ihrer Tante durchaus erlaubt haben, sich im vollen Umfang um das Baby zu kümmern.
"Hallo zusammen. Ihr kennt mich ja noch von den diversen Feiern der letzten Jahre", begrüßte Béatrice Latierre die Gäste. "Ich habe für euch neuen Ortszeitanpassungstrank gebraut und für die Vorräte meiner Verwandten zertifiziert. Ihr seht auch alle so aus, als wenn ihr noch nicht richtig wach wäret."
"Vielleicht hätten die Himmelswurstler das blaue Baby nicht mit voller Kraft durch den Himmel jagen brauchen, dann hätten wir auf der Reise gut schlafen können", sagte Linus Brocklehurst."
"Als wenn du eine Überseefahrt verschlafen würdest", meinte Lucky Merryweather dazu. "Wer hat denn bei mir vorne in der Steuerkugel geglotzt, bis ihm fast die Augen rausgekullert sind?"
"Da hast du den Knut gewechselt, Linus", erwiderte Melanie Redlief. Brittanys Mann funkelte sie dafür warnend an. Martha fragte sich, wie lange dieses Geplänkel noch gehen sollte. Sie fühlte, dass ihr trotz des Schlafes in der kleinen Reisekammer noch einige Stunden fehlten. Die Beine wurden ihr langsam schwer und sie konnte nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken. Doch wenn sie gleich was sagen sollte würde es sie wohl überkommen.
"Gut, für so interessierte Gäste haben wir genug von dem Trank, damit sie nicht gleich im Flur umfallen. Oder möchtet ihr hier und jetzt ein paar Stunden Schlaf nachholen?" wollte Béatrice wissen. Doch die Gäste wollten besser den hier geltenden Tagesrhythmus einhalten. Also bekam jeder und jede eine Dosis des Ortszeitanpassungstrankes, der lebende Wesen unverzüglich auf die gerade geltende Tageszeit einstimmte. Um die Wirkung ohne hinzufallen überstehen zu können mussten sich alle hinsetzen. Dafür gab es in der großen, runden Wohn- und Festhalle genug Möbel.
Als Béatrice einen kleinen Becher zu Martha brachte fragte sie leise, wie es ihr ging. Sie antwortete im Flüsterton: "Eigentlich wollte ich nichts mehr trinken, was ich nicht selbst abgefüllt habe." Dann nahm sie das gerade eierbechergroße Gefäß und stürzte den Inhalt hinunter. Béatrice blieb bei ihr stehen und beobachtete sie. Bald hätte sie losgeblafft, dass ihr das Trinken dieses Trankes erlaubt worden sei. Doch dann beruhigte sie sich. Sie wollte kein unnötiges Aufsehen erregen. Sie fühlte, wie in ihrem Körper ein Wärmeschauer aufwallte und fühlte, wie sie schlagartig munter wurde, nicht, weil der Trank ein Stärkungsmittel war, sondern weil es hier eben gerade halb zehn am Morgen war. Doch das kurze Vibrieren im Unterleib und ein kurzes Holpern ihres Herzens machte ihr doch etwas Sorge. Béatrice, die ihr zugesehen hatte nickte und sagte: "Alles in Ordnung, Martha, du hast es gut verkraftet." Dann ging sie weiter zu Lucky, der gerade einem Zank zwischen Melanie und Linus zuhörte. Melanie zog Linus damit auf, dass er immer noch Angst vor überlebensgroßen Geschöpfen mit Flügeln habe.
"Wenn dich das Bienenbiest gekrallt hätte wärest du der vor Angst schon krepiert, bevor sie dich mit eigenen Händen abgemurkst oder in sich einverleibt hätte, Määäälanie."
"Jetzt ist genug!" rief Brittany dazwischen. Julius, der sich trotz seiner Rangstellung als Hausherr dezent zurückgehalten hatte sagte dann im ruhigen Ton: "Wenn jemand Angst vor etwas hat ist das kein Verbrechen und auch nichts, wo andere immer wieder drauf herumhacken müssen, Melanie. Oder soll ich Tante Béatrice fragen, ob sie irgendwoher einen Irrwicht besorgen kann, damit wir alle sehen, was dir am meisten zu schaffen macht? Nein, müssen wir nicht."
"Die würde glatt eine zweihundert Jahre alte Version von sich selbst zu sehen kriegen", feixte Linus Brocklehurst. Brittany zischte ihm zu, dass er jetzt auch Ruhe geben sollte. Das aber gefiel Linus nicht. Der sagte: "Eh Britt, wenn es doch mal irgendwann mit eigenen Babys hinhauen sollte lass an denen deine Mutterinstinkte aus, nicht an mir, bitte!"
"Echt, gefällt dir das, mit Mel andauernd rumzuzanken? Dann ohne mich", knurrte sie sichtlich verstimmt. Martha schwante, dass Brittany, die sonst vieles mit Humor nehmen konnte und nicht um eine gekonnte Antwort verlegen war, diesmal nicht so gelassen und wortgewandt damit umgehen konnte. Sie wusste ja auch, warum das so war.
"Eh, Leute! Wenn ihr euch über irgendwen oder irgendwas käbbeln wollt hättet ihr das vor der Abreise klären können", sagte Julius. Was sollen denn Aurore und Chrysope von Leuten denken, die sich selbst noch wie angenervte Kinder benehmen."
"Das brauchen die, Julius, vor allem Britt und Mel", sagte Lucky Merryweather.
"Sonst wäre es uns in Thorny wohl zu langweilig geworden, was Mel?" erwiderte Brittany darauf.
"Aber ganz sicher, Britt", bestätigte Melanie mit verwegenem Grinsen. Pack schlug sich, Pack vertrug sich, erkannte Martha mal wieder. Womöglich lag es einfach an der Zeitverschiebung, denn als alle ihre Dosis des Ortszeitanpassungstrankes geschluckt hatten hörte die für Martha völlig alberne Zankerei auf.
"Ich freue mich, dass ihr es einrichten konntet, alle herzukommen. Die anderen Gäste kommen erst morgen her", sagte Julius, während Millie Chrysope aus der hier aufgebauten Wiege klaubte und mit leisem Summen in den Armen schaukelte, bevor sie die in der Mittelachse des Apfelhauses nach oben führende Wendeltreppe ansteuerte.
"Offiziell wird euch Chrysope ja morgen vorgestellt, wenn Gloria, Pina und Kevin und alle anderen Gäste hier sind", sagte Julius. "Aber wenn ihr schon mal hier seid, wie wäre es mit einem zweiten Frühstück?" Sie alle hatten genug Hunger. Natürlich erkundigte sich Brittany, ob die Latierres auf ihre vegane Lebensweise Rücksicht genommen hätten. Julius lächelte sie an und zählte auf, was sie an Auswahl hatte. Sie strahlte ihn an. "Du bist doch nicht das erste mal bei uns", sagte er. Das konnte sie nur bestätigen.
Martha war sehr begeistert, ein mehrgängiges Frühstück zu bekommen. Linus, der sonst mit Brittany nur Sachen ohne tierische Zutaten aß und trank, freute sich auf die gebutterten Toastbrote und die Eierpfannekuchen mit Ahornsirup. Brittany aß amerikanische Erdnussbutter auf ihrem Toastbrot und durfte sich an Maismehltortillas mit tropischen Früchten satt essen.
Als Millie nach einer halben Stunde wieder herunterkam langte sie vor allem beim Milchkaffee zu, der mit echter Latierre-Kuhmilch angesetzt worden war. Als Linus meinte, er wolle sich bei Temmie für die edle Spende bedanken fiel ihm auf, dass die geflügelte Kuh nicht vor dem Haus war. Er fragte, wo sie denn abgeblieben sei. Julius erzählte, dass sie ihr beigebracht hatten, am Ablauf des Farbensees ihre Geschäfte zu verrichten beziehungsweise auf einem unbeackerten Feld am Dorfrand ihre Fladen abzuwerfen.
"Und die fliegt unbeaufsichtigt herum und kommt von alleine wieder?" wunderte sich Linus.
"Wie unsere Kniesel", sagte Julius."Soviel zur erzwungenen Haltung von Tieren, Mrs. Brocklehurst", sagte Myrna Brittany zugewandt.
"Hallo, Myrna, ich habe den beiden nicht unterstellt, dass sie ihre Kuh misshandeln würden. Ich sagte nur, dass diese Tiere nicht auf natürliche Weise so wurden, wie sie wurden und das eben nur, weil Menschen keine Rücksicht auf natürliche Bedürfnisse und Anforderungen von Tieren nehmen. Da Temmie sich mit ihrem Körper abfindet, weil sie nichts anderes kennt, hat sie selbstverständlich gelernt, damit zu leben. Das sie sehr intelligent ist durften wir ja vorhin wieder bewundern, weil sie so präzise fliegen und ohne Restschwung landen konnte, ohne durchzusacken. Dann darf ich ihr auch die Intelligenz zutrauen, zu erlernen, wo sie ihre Ausscheidungen loswerden kann, ohne damit anderen zur Last zu fallen. Dass sie wieder zurückkommt dürfte eine Frage von Geduld und Belohnung sein, weil diese Tiere zu stark sind, um durch Körperstrafen beeindruckt zu werden."
"Oder auf eine Form von gegenseitiger Zuwendung beruhen?" fragte Melanie, die ja von Gloria mitbekommen hatte, wie Temmie damals hinter Julius hergeflogen war.
"Jetzt sag nicht Liebe", grummelte Brittany. Julius schwieg dazu. Millie antwortete darauf an Brittanys Adresse: "Babys können schon ihre Eltern lieben, wenn sie gerade einmal geboren sind. Dann dürfen wir das Tieren mit nachweislicher Intelligenz auch unterstellen, dass sie das im Jugend- und Erwachsenenalter tun können." Darauf konnte Brittany nichts antworten. Martha fiel auf, dass Brittany bei dem Wort Babys verlegen bis erschüttert dreingeschaut hatte. Aber womöglich bildete sie es sich nur ein, weil sie selbst eine gewisse Verlegenheit empfand.
"Unser Geschenk aus VDS steht auch noch sehr schön da", sagte Brittany, als sie die verkleinerte Nachbildung des Uhrenturms von Viento del Sol bewunderte, die neben dem Apfelhaus stand. Das brachte alle darauf, sich den Garten um das Apfelhaus noch einmal genauer anzusehen. Julius zeigte seinen Gästen auch den Kreis, in dem er bereits die kleinen Schößlinge für Schnellwachshecken eingesetzt hatte. Goldschweif blickte aus ihrem Baumhaus herunter. Dass sie hochtragend war konnte jeder sehen, als sich das katzenartige Wesen weiter herauswagte und jeden mit seinen smaragdgrünen Augen begutachtete. Martha fühlte, wie der Blick der grünen Katzenaugen auf ihr landete. Sie wusste, dass Kniesel Stimmungen und Zauberkräfte, aber auch Blutsverwandtschaft erspüren konnten. Goldschweif zog sich wieder in ihre angestammte Wohnung zurück. Julius deutete auf einen ausgehölten Baumstumpf mit wasserdichter Lackierung. "Das ist ihr Geburtshaus. Wenn sie fühlt, dass ihre Jungen kommen geht sie da rein und bekommt sie dort."
"Wo ist denn der glückliche Vater?" fragte Lucky auf Goldschweifs Baumhaus deutend.
"Sternenstaub ist wohl unterwegs, vielleicht sucht er noch nach einem Weibchen, das seine Jungen kriegen soll. Aber die Katzen - und Knieselhalter hier haben Meldezauber eingerichtet. Wenn sie nicht wollen, dass der ihre Kätzinnen begattet scheuchen sie ihn mit Wasserstrahlen weg."
"Der soll auch bei seiner Angetrauten bleiben", feixte Lucky. Martha sah ihren Mann leicht verwundert an. Sie wusste nicht, ob er gerade einen seiner berühmten Scherze machte oder es todernst meinte.
Weil es bis Mittag noch Zeit war beschlossen die angereisten Gäste, ihre Koffer später auszupacken und lieber eine Besichtigungstour durch Millemerveilles zu machen. Martha hatte zwar das Besenfliegen und auch das Apparieren erlernt und die nötigen Prüfungen bestanden. Sie riss sich aber nicht darum, mit den anderen auf Besen zu fliegen. Lucky wollte gerne zum Schattenhaus, um die dort ausgestellten Gegenstände und Bücher über dunkle Künste zu besichtigen, während Brittany und Linus zur grünen Gasse hinfliegen wollten und die Redlief-Schwestern zum magischen Tierpark hinwollten. So blieb Martha bei ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter zurück. Auch Béatrice Latierre blieb im Haus.
"Martha, ich erfuhr über meine Zunftsprecherin, dass die gute Chloe Palmer ein Schreiben für mich mitgegeben hat. Darf ich das jetzt schon lesen?" fragte Béatrice. Martha Merryweather nickte und holte den Umschlag hervor, der auf dem Sessel in der für sie eingerichteten Kammer gelegen hatte. Sie fragte erst gar nicht, wie Béatrice so schnell davon erfahren hatte. Immerhin hatte sie selbst ja ein gemaltes Abbild von Viviane Eauvive im Haus hängen, das mehrere Ableger in anderen Zaubererhaushalten besaß.
"Jetzt verstehe ich, warum Brittany derartig durch den Wind ist", murmelte Béatrice, als sie das Schreiben gelesen hatte. Julius und Millie saßen dabei und schwiegen. Martha fand, dass es vielleicht jetzt doch schon Zeit war, besser als es morgen, wenn noch mehr Gäste da waren, breitzutreten. Brittany wusste es eh, also dann wohl auch Linus und womöglich auch die Redlief-Schwestern, zumal es ja durch die Zeitungen gegangen war. Sie sah Béatrice an und fragte, ob sie ihnen allen sagen durfte, was in dem Schreiben stand.
"Da dieses Schreiben einer Überweisung gleichkommt liegt es bei dir, was du erzählen möchtest, zumal du gerade nur von Verwandtschaft umgeben bist", sagte Béatrice. Martha überlegte. Millie bekam bereits einen ahnungsvollen Ausdruck im Gesicht. Um ihre Mundwinkel formte sich bereits ein Lächeln, während Julius tief Luft holte, wohl um die kommende Nachricht besser verdauen zu können. Doch ob er damit gerechnet hatte, was Martha jetzt zu sagen hatte, wusste sie nicht.
"Ihr erinnert euch sicher alle noch gut an die Neujahrsfeier in Viento del Sol", begann Martha Merryweather. "Nun, offenbar befanden gewisse Zeitgenossen, die weder den Mut noch den Anstand hatten, sich und ihr Anliegen bei mir vorzustellen, es sei der ideale Zeitpunkt, das kommende Jahr auf jeden fall zu einem unvergesslichen Zeitraum zu machen. Gut, ich will nicht abstreiten, dass Lucky und ich nicht früher oder später ohnehin darauf hingewirkt hätten ..." Millies Gesicht zeigte ein verhaltenes Grinsen, während Martha sah, wie es wohl auch in Julius' Kopf an der richtigen Stelle einrastete. Doch er fiel ihr nicht ins Wort, ebensowenig Millie. So vollendete Martha ihre weit ausholend begonnene Verkündigung: "Jedenfalls ist es so, dass Leute, die derselben anrüchigen Gruppierung angehören, welche Madame Sandrine Dumas ihre Kinder verdankt, wohl wegen einer erfolgreichen Absicherungsmaßnahme des Ortsvorstandes von Viento del Sol befunden und trotz heilmagischer Überwachung aller Lebensmittel vollbracht haben, zwanzig verlobten oder verheirateten Paaren unterschiedlicher Altersstufen zu im zeitraum Ende September Anfang Oktober 2002 zu erwartendem Nachwuchs zu verhelfen, wobei verhelfen schon sehr beschönigend klingt. Ja, und eines dieser wie auch immer ausgewählten und bearbeiteten Paare sind Lucky und ich." Jetzt war es heraus. Doch noch nicht im vollen Umfang.
"Öhm, okay, dass ihr irgendwann mal ein Kind miteinander haben würdet sehe ich ein", sagte Julius. "Aber wir haben doch keinen Regenbogentänzer-Cocktail getrunken", sagte Julius.
"Ja, mit einem Kind wäre Lucky problemlos einverstanden, weil er ja dann wie ich auch davon ausgegangen wäre, dass es ausschließlich aus unserer gemeinsamen Liebe heraus entstanden wäre. Aber zum einem sind wir beide nicht die einzigen, die durch dieses Neujahresfest Nachwuchs in Aussicht gestellt bekamen. Zum anderen haben diese Zeitgenossen es irgendwie hinbekommen, dass gerade die Paare, die schon länger keinen Nachwuchs mehr bekommen haben, gleich zwei bis vier Kinder auf einmal einplanen müssen. Ihr habt euch sicher über die besondere Aufmerksamkeit von Béatrice gewundert. Das liegt daran, dass ihre Kollegin Chloe Palmer Mitte Januar bei mir, so wie bei den Eheleuten Friday, Hammersmith und Blackberry Drillingsschwangerschaften festgestellt hat. Ich trage drei Kinder auf einmal aus." Diese Enthüllung schlug bei Millie und Julius heftig ein. Sie hatten gedacht, gebangt oder gehofft, dass die junge Ehe der bereits mitten im Leben stehenden Merryweathers doch die eine oder andere Frucht tragen würde. Doch gleich drei Kinder auf einen Streich war selbst für die von Kindern begeisterte Millie schwer zu verdauen. Julius war regelrecht erbleicht. Millie war das Strahlen vergangen und einem betroffenen Gesichtsausdruck gewichen. Womöglich dachte sie jetzt auch an Sandrine, mit der Martha nun ein ähnliches Schicksal teilen musste. Musste? Auch wenn sie lieber nur eines bekommen hätte würde sie alle drei so gut sie konnte austragen und zur Welt bringen. Dieser Gedanke erschreckte sie. Doch dann fiel ihr wieder ein, was Chloe Palmer erzählt hatte und was sie über Sandrines frühzeitig begonnene Mutterschaft erfahren hatte. So sagte sie nur noch: "Abgesehen davon, dass ich keine Hexenheilerin finden würde, die mir bei einer Abtreibung helfen würde empfinde ich sofort Wut, wenn ich nur daran denke, sie wieder loszuwerden. Was auch immer diese Verbrecher mir und anderen untergejubelt haben, es wirkt ähnnlich wie ein hypnotischer Befehl, es hinzunehmen und sich sogar mit aller Kraft darauf zu konzentrieren, es hinzubekommen."
"Öhm, Okay, dass ich mal ein Halbgeschwisterchen haben würde habe ich schon akzeptiert", sagte Julius. "Abgesehen davon geht das ja auch nur, weil du den Anschlag auf das WHZ überlebt hast, wo du eigentlich um die Uhrzeit im Restaurant da oben sitzen wolltest. Aber ich verstehe, was du sagen willst, dass du das von dir aus gewollt hättest und dann auch nicht so heftig auf einmal." Aber weil du meine Mutter bist und das wohl deine Kinder sind, die da in dir heranwachsen möchte ich dir doch meine besten Wünsche aussprechen, dass du es mit ihnen und wir mit ihnen und sie mit uns so gut aushalten werdet wie es geht."
"Ich schließe mich dem an und hoffe, auch im Namen meiner Familie zu sprechen, dass wir dir immer helfen möchten, egal wobei, dass du dich nicht damit alleine fühlst", sagte Millie.
"Dann möchte ich als gerade anwesende Heilerin vor Ort gerne noch dazu sagen, dass ich, sofern du mir dein Vertrauen dafür aussprichst, bei allem beistehe, was du in Frankreich bis zur Niederkunft bewältigen musst, Martha. Ich weiß auch, dass meine Mutter es nicht so ernst gemeint hat, als sie sagte, du solltest langsam mal loslegen."
"Sie sagte langsam, Trice", sagte Martha. "Das hätte ich auch gerne so und nicht anders gehalten. Aber irgendwie konnten Lucky und ich uns nicht dagegen wehren. Na klar, es war ein besonders intensives Aphrodisiakum, dem er und ich unterworfen wurden. Aber warum gleich drei auf einmal? Vor allem wie?"
"Hier auf französischem Boden sind keine ungewollten Mehrlingsschwangerschaften verzeichnet worden. Allerdings sind einige Touristinnen, die in den Staaten waren, in unverhofft guter Hoffnung von ihren Reisen zurückgekehrt", sagte Béatrice. Seit der Sache auf Martinique prüfen wir Heiler jede ins Land gebrachte Zutat und führen eine umfangreiche Liste aller Ovulationsstimulanzen, ähm, Eireifungsanreger und Samenzellenausdauerverstärkungsmittel. Wir haben sogar den Verdacht, dass diese gegen alle Freiheiten der Familienplanung handelnde Untergrundgruppe mit gefälschtem Kontrazeptivelixier handelt, also dass dieses eine Empfängnis nicht verhütet, sondern erzwingt, unabhängig davon, wie beweglich die väterlichen Samenfäden sind und ob im Eierstock der erwählten Mutter mindestens ein reifes Ei bereit ist. Lucky und du habt nach dem Neujahresfest ein Empfängnisverhütungselixier benutzt?" fragte Béatrice. Martha fragte zurück, ob Chloe Palmer ihr das nicht mitgeteilt habe. Béatrice deutete auf das Schreiben und verwies darauf, dass Martha alleine diese Frage beantworten möge, solange sie nicht sprachunfähig sei und ihre Angehörigen in Sprechweite seien.
"Wir haben das blaue Zeug benutzt. Aber es stimmt sicher, dass wir damit den ungeplanten Zeugungsvorgang erst begünstigt als unterbunden haben. Aber das alleine konnte es nicht sein."
"Nein, im Zusammenspiel mit den euch beiden irgendwie verabreichten Anregern reiften wohl zwei bis drei Eier bei dir heran, und Luckys Spermatozoiden wurden haltbarer und ausdauernder, so dass genügend von ihnen in deinem Leib verblieben, um diese Eizellen zu befruchten. Magische Stimulanzen für Lebensprozesse gibt es ja doch eine Menge. Aber wie diese Bande es hingekriegt hat, solche Mixturen unter den kritischen Augen meiner Kollegen in Lebensmittel für ein Fest zu schmuggeln wird sicher noch lange und breit diskutiert werden."
"Wenn die werte Chloe Palmer nicht wegen möglicher Aufträge mitgemischt hat", grummelte Julius. Béatrice räusperte sich sehr laut. Doch Julius sah sie entschlossen an und fuhr fort: "Tante Trice, bei allem Respekt vor eurer Zunft, aber irregeleitete oder gar Verbrecher gab und gibt es in jeder Berufsgruppe. Meine Mutter hier hat vor dem Zaubereiministerium einen Vortrag über die Helfer von Diktatoren gehalten. Denen haben auch Ärzte, also die Heilkundigen der Muggel, geholfen, weil diese sich dadurch neue Erkenntnisse und die Bestätigung abstruser Erklärungsansätze versprochen haben, und Igor Bokanowski war auch ein Heiler und Anthelia auch."
"Gut, dass Antoinette Eauvive und Hera Matine das jetzt nicht mitbekommen haben", seufzte Béatrice. Doch Julius war gerade in Fahrt: "Okay, ich ziehe meine Verdächtigung gegen Madam Palmer zurück, weil ich dann ja ebenso beweislos Stiefoma Hygia oder Madam Greensporn verdächtigen könnte. Aber ich halte meine Ansicht aufrecht, dass wer so gezielt und erfolgreich in die Lebensprozesse von Männern und Frauen eingreifen kann, eine sehr gute Ausbildung in dieser Sache haben muss, genauso wie ein Beauxbatons-Erstklässler nicht den Todesfluch können kann, ohne ihn von jemandem gelernt zu haben, können die nicht ohne gutes Heilerwissen solche heftigen Sachen durchziehen. Und vor allem, werte Schwiegertante, die scheinen immer besser zu werden. Sandrine und Gérard haben die damals einen vollen Tag lang verschlafen lassen, damit keine Verhütungsmittel mehr nützen, das ist ja offenbar nicht bei dir, Mum undd den anderen Damen passiert, oder?"
"Nein, das stimmt, Julius. Ja, Trice, ich weiß, es muss dich sehr schwer treffen, dir vorzustellen, dass Mitglieder deiner hochethischen und in über neunundneunzig Prozent auch integeren Berufsgruppe schwarze Schafe oder wie Madeleine sie nannte, stachelige Knuddelmuffs sein müssen, die solche erfolgreichen Aktionen planen, durchführen und wiederholen können. Denn Viento del Sol war ja nicht alleine betroffen", sagte Martha und holte ihren Apfelholzzauberstab hervor. Damit apportierte sie ihre kleinere Reisetasche. Dieser entnahm sie ein Bündel Zeitungsartikel. "Alles Artikel aus dem vergangenen Monat, die sich mit dieser Machenschaft jener obskuren Organisation namens Vita Magica befassen."
"Öhm, Brittanys Eltern erwarten aber kein Kind oder?" fragte Millie behutsam.
"Nein, das stimmt. Die Foresters sind genauso unbehelligt geblieben wie Britt und ihr Mann. Aber Stella Hammersmith hat wie ich drei Embryonen im Uterus, ebenso Mrs. Friday. Heiler Partridge hat bei seiner Frau Zwillinge festgestellt und sie an seine Kollegin Palmer überwiesen."
"Und Brittany wäre wohl gerne mit auf dieses Babykarussell aufgesprungen, wie?" fragte Millie. Ihre Tante räusperte sich erst verhalten, musste dann aber nicken.
"Ui, hier steht: Urgroßmutter noch mal in freudiger Erwartung", las Julius eine Schlagzeile vom zwanzigsten Januar. Es ging um eine Hexe in New York, die vom Verlobten ihrer bis dahin unverheirateten Enkeltochter Zwillinge empfangen hatte, weil die beiden sich am Neujahrsabend lang und ein wenig zu ausführlich über seine Möglichkeiten unterhalten hatten, Nachwuchs auf den Weg zu bringen. Die wusste es nun und würde es nicht mehr vergessen.
"Ui, das darf Oma Line nicht lesen, wie alt die Dame ist", sagte Millie, als sie den Artikel mitgelesen hatte.
"Ui, du stehst sogar in der Stimme des Westwindes drin", sagte Julius, als er einen Artikel vom fünfundzwanzigsten Januar las, ein Interview mit Dorfrätin Stella Hammersmith."
"Haben wir leider zu spät mitbekommen, dass sie dieses Interview gegeben hat", schnaubte Martha Merryweather. Sie hätte jetzt zu gerne diese Gedankenausforschungszauberei gekonnt, gegen die sie Madeleine und ihre Nichte Catherine erfolgreich wehrhaft gemacht hatten. Andererseits war die Lage schon schlimm genug für sie und Julius. Sich damit abzufinden, dass da demnächst drei Kinder ankommen würden, die das gleiche Recht an ihr hatten wie er mochte ihm gut zusetzen, auch und vor allem, weil diese Kinder nicht aus reiner Liebe und gewollter Zeugung entstanden waren.
"Öhm, da ich wie erwähnt im Moment deine hierorts anvertraute Heilerin bin, Martha, möchte ich dir einen Vorschlag machen, den du nicht umsetzen musst, wenn du es nicht willst. Aber ich weiß aus guter Erfahrung, dass es für Menschen, die mit bestimmten körperlichen oder seelischen Belastungen zu tun haben eine gewisse Erleichterung bot, sich mit Leuten zu unterhalten, die gleichartige Erfahrungen gemacht haben. Vielleicht, eben nur vielleicht, kannst du hier jemanden finden, der oder besser die sich mit dir darüber unterhalten möchte, was dich demnächst erwartet und wie du es bewältigen kannst, ohne seelisch daran zu zerbrechen."
"Dann hätte ich nicht herkommen dürfen", grummelte Martha. Doch dann verstand sie, was Béatrice meinte. Julius verstand es wohl auch und sagte:
"Tante Trice, du meinst, meine Mutter möchte Sandrine fragen, ob die ihr erzählen möchte, wie sie das in Beauxbatons hinbekommen hat, mit Zwillingen schwanger zu sein und wie sie damit zurechtkam, richtig?"
"Gut, das ist nur ein Vorschlag, Julius. Außerdem kann und darf ich Sandrine nicht dazu drängen, darüber zu sprechen."
"Was soll'n der Titel hier? "Das Babymacherimperium schlägt zurück - Nach dauerhaftem Platzverweis für Mora Vingate erfolgt Rückkehr der Umstandsritter."
"Häh?!" entfuhr es Julius und ließ sich von Millie den Artikel geben. "Oh, hat der Kristallherold auch Muggelstämmige mit Kinowissen in der Redaktion. Der Typ zitiert aus den letzten zwanzig Jahren Filmgeschichte, von wegen "Nach den Tagen des Donnerwetters für die Gruppe Vita Magica geht es nun für diese zurück in die Zukunft. Mit jeder Menge Energie ließen sie präzise wie mit gerichteten Strahlen neue Kinder in den kleinen Transporterkammern ihrer Mütter materialisieren. Diese Mütter wurden mit der Gnadenlosigkeit jede individuelle Freiheit ablehnender Kreaturen dahingehend assimiliert, keinen Widerstand gegen diese lebende Fracht zu leisten."
"Den hat mir Melanie zugeschickt, als das auch an der Ostküste herum war", sagte Martha Merryweather. Nein, Julius, der Schreiberling ist kein Muggelstämmiger, sondern der Ehemann einer magielosen Frau, deren Bruder ihn wohl vorzugsweise in amerikanische Science-Fiction-Filme mitgenommen hat. Ich hatte erst das Verlangen, die Redaktion des Kristallherolds anzuschreiben und wegen der reißerischen bis verächtlichen Schreibweise auf eine Gegendarstellung zu pochen. Doch dann fiel mir ein, dass dieser Sensationsreporter leider in wichtigen Punkten recht hat. Immerhin wurden Sandrine, Stella und auch ich von etwas gegen unsere eigenen Freiheiten gerichtetes entsprechend angepasst, jeden Widerstand gegen die uns aufgedrängten Kinder für zwecklos bis unerbeten zu erachten. Und ja, weil die Zauberer und Hexen in Viento del Sol einen großflächigen Zauber gegen das Ziehen von Alterslinien gewirkt haben kann jetzt keine Mora-Vingate-Party gefeiert werden, ohne dass die Sicherheitstruppen sie sofort stürmen und beenden können."
"Okay, halten wir fest, Mum, ich werde Ende September Anfang Oktober drei Halbgeschwister dazubekommen, du und Lucky müsst euch auf drei Kinder auf einmal einrichten und in VDS dürften demnächst weitere Hebammen und Grundschullehrer nötig sein", sagte Julius. "Ich würde dir gerne gratulieren, weil ich schon möchte, dass Lucky und du so glücklich miteinander leben könnt wie es geht und dass da auch das eine oder andere Kind von euch beiden dazugehören kann. Aber so kann ich nur Millie beipflichten, dass wir dir helfen möchten, damit klarzukommen, wie gut wir das auch von hier aus können. Ja, und ich denke, Sandrine würde sich gerne mit dir unterhalten. Allerdings solltest du sie nicht morgen bei der Feier ansprechen, sondern besser schon heute. Sie ist gerade in Millemerveilles. Ihr Mann ist mal wieder auf einer Dienstreise. Deshalb ist sie ja auch froh, dass wir feiern, weil das sie von ihrem Strohwitwendasein ablenkt."
""Das sollte ich zumindest versuchen", sagte Martha. Millie kontaktfeuerte dann, erreichte aber niemanden bei den Dumas'. Da Millemerveilles weitläufig war und Julius kein mit Sandrine verbundenes Pflegehelferarmband mehr trug versuchte es Julius über das Bild von Viviane Eauvive, das über seinen Ableger in Beauxbatons mit einem Bild in Verbindung stand, von dem die Dumas' auch einen Ableger hatten. Nach fünf Minuten wusste Julius, dass Sandrine gerade auf dem Spielplatz war. Wo dieser war wusste Martha nicht. Deshalb erbot sich Julius, seine Mutter dort hinzubringen. Auf dem Rückweg wollte er dann Aurore bei Jeanne abholen. "Sage Jeanne bitte noch nichts, Julius. Ich möchte das Camille selbst sagen", bat Martha ihren Sohn, bevor sie hinter ihm auf dem Familienbesen mitflog.
Julius begrüßte Sandrine. Als Martha ihr sagte, sie würde gerne etwas mit ihr besprechen, wobei sie ihr helfen könne sagte Sandrine, dass sie gerne bereit sei, am Nachmittag mit ihr im Haus ihrer Eltern zu sprechen. Das akzeptierte Martha. So konnten Julius und sie nun los, um die kleine Aurore bei den Eheleuten Jeanne und Bruno Dusoleil abzuholen.
"Oh, schon in Millemerveilles, Martha? Wird meine Mutter freuen, die wollte nämlich wissen, ob du noch die Zeit findest, dir für euren Garten noch zwei Apfelkerne mitzunehmen, die du bei euch einpflanzen kannst", sagte Jeanne.
"Das mache ich dann, weil ich heute eh noch ein wenig durch euren Ort gehen wollte", sagte Martha.
Aurore freute sich, dass ihre Oma mit dem schwer auszusprechenden Namen gekommen war, auch wenn ihr wohl irgendwie klar war, dass sie wegen des kleinen, plärrenden Wesens hergekommen war, das vorher im Bauch ihrer Maman geschlafen hatte und an Mamans Milchkugeln saugen durfte, was sie nicht mehr tun durfte.
Nach dem Mittagessen machte Martha ihre Ankündigung war und spazierte durch den Ort. Béatrice hatte ihr dafür einen Ausdauerverstärkungstrank gegeben, den sie heimlich zwischen dem erstenund zweiten Gang des dreigängigen Mittagsmenüs eingenommen hatte. Als sie bei Sandrine war fragte deren Mutter sie doch glatt, ob sie nicht doch langsam der Arbeit für Madame Grandchapeau überdrüssig sei so wie Laurentine. Martha rang sich ein verhaltenes Lächeln ab und sagte, dass sie bereits vom Schuldirektor der Grundschule von Viento del Sol umworben wurde, aber diesem genauso abgesagt hätte wie sie ihr absagen musste.
"Du musst mir nicht absagen, Martha. Du musst nur wissen, wie du deine Fähigkeiten am besten anwenden kannst. Aber ich bin zumindest froh, dass Laurentine sich sehr gut eingearbeitet hat und mit deinen Aufzeichnungen einen sehr guten Einstieg vollbracht hat. Aber du wolltest mit meiner Tochter sprechen. Sag bloß, du bist auch eine der Betroffenen von dieser großangelegten Schurkerei gegen die Eigenständigkeit erwachsener Hexen und Zauberer, die bei euch in den Staaten begangen wurde."
"Öhm, Geneviève, ich möchte dich bitten, mich mit deiner Tochter alleine sprechen zu lassen. Inwieweit ich dir dann zustimmen oder widersprechen möchte werde ich danach entscheiden", sagte Martha. Doch sie fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht geflogen war. Das sagte Geneviève alles, was sie wissen musste. Sie nickte behutsam und deutete auf eine Treppe. "Sandrine, Julius' Maman ist jetzt hier! Darf sie raufkommen?!" rief Geneviève. "Ja, darf sie, Maman!" Rief Sandrine zurück.
"Ihr zwei, Oma Geneviève hat euch doch versprochen, noch ein paar Lieder vorzusingen. Ihr dürft jetzt zu ihr gehen", sagte sie zu ihren Zwillingen. Diese sprangen aus ihren kleinen Sesseln auf und wuselten an Martha vorbei, die sie nur mit schnellem Winken begrüßten.
Sandrine baute ohne Ankündigung einen Klangkerker auf und setzte sich ihr gegenüber hin. Sie sah so aus, als müsse Martha nicht groß ausholen oder erklären. Sie fragte nur: "Falls das stimmt, was im kristallherold drinstand, haben diese schrägen Schnatzer dich jetzt auch erwischt, die mich und Gérard zum schnellstmöglichen Erwachsenwerden gedrängt haben?" Martha nickte heftig. Sie legte sich behutsam die Hand auf den Unterbauch und sagte, dass sie sogar noch eines mehr empfangen habe als Sandrine. Diese seufzte. "Weiß Julius davon schon. Ich meine, Maman hat ihm wohl nicht erzählt, dass der Kristallherold sich damit überschlägt, dass bei euch jetzt viele Hexen unerhofft in Hoffnung sind. Bei uns hat es eine Touristin erwischt, die in New York den Jahreswechsel miterlebt hat."
"Da die für mein Wohngebiet zuständige Heilerin ihren Kolleginnen, die morgen hier mit uns mitfeiern wollen eine Überweisung ausgeschrieben hat wusste es Julius' Schwiegertante Béatrice. Sicher weiß es auch Hera Matine. Aber die hält sich zurück, was ich sehr sympathisch von ihr finde. Auf jeden Fall wissen Millie und Julius es."
"Oha, gleich drei auf einmal. Gut, tragen und kriegen wirst du sie wohl vom körperlichen her. Du bist aber sicher bei mir um mit mir darüber zu reden, wie ich das hingekriegt habe, sie auszuhalten und was mir alles so an Spott und Mitleid aufgeladen wurde und wie Gérard damit klarkommt, richtig?"
"Na ja, ich hoffe, dir damit nicht auf die Nerven zu gehen. Ich will das ja auch nicht ausschlachten, um damit zur Presse zu gehen. Ich möchte halt nur fragen, was ich tun kann, um damit klarzukommen."
"Gut, du siehst das so, dass ich dir Erfahrungen voraushabe, obwohl ich mehr als zwanzig Jahre Jünger als du bin. Aber ich erzähle dir gerne, was ich in den Monaten bis zur Geburt erlebt habe und auch, wie es mir heute ergeht, wo die beiden schon laufen können ..."
Nach anderthalb Stunden in ruhiger Atmosphäre wusste Martha alles, was Sandrine ihr erzählen wollte und hatte auch genug Antworten auf Fragen. "Wenn Millie und ihre Familie sagen, dass sie dir helfen nimm die Hilfe an. Julius ist sehr stark und wird dich immer noch lieben, gerade auch deshalb, weil er weiß, dass du ihn nicht mit dieser dir aufgeladenen Drillingsschwangerschaft ärgern möchtest. Ansonsten können wir zwei gerne Eulenpost verschicken. Wenn du das nicht möchtest, dass das in Millemerveilles rumgeht behalte ich das natürlich für mich. Aber ich fürchte, Maman hat schon eins und eins zusammengezählt und drei dabei rausbekommen."
"Wobei in dem Fall eins und eins fünf ergeben haben", grummelte Martha. Dann bedankte sie sich bei Sandrine und verabschiedete sich bis zum Fest von ihr.
"Öhm, Bevor ich den Klangkerker aufhebe, Martha: Meine Mutter hat dich noch nicht aufgegeben. Sollte dir passieren, was mir im Moment passiert, und die vom Ministerium können dich mit drei auf einmal nicht mehr gescheit einplanen, dann kannst du gerne zu uns zurückkommen. Das junge Gemüse, dass du vor vier bald fünf Jahren unterrichtet hast ist immer noch begeistert, wie du denen allen Rechnen beigebracht hast. Und die Geschichte der nichtmagischen Welt hat mich auch immer sehr interessiert, auch wenn ich von dem, was du den Kleinen beigebracht hast nur aus Mamans Aufzeichnungen nachlesen konnte. Ich wünsche dir auf jeden Fall Glück, dass dein Mann Lucky dich und seine Kinder eher akzeptiert als Gérard mich und seine beiden Wonneproppen."
"Ich wünsche dir, dass Gérard wieder erkennt, was er an und von dir hat, Sandrine. Danke für die Zeit, die du für mich aufgebracht hast!" erwiderte Martha die guten Wünsche und Danksagungen. Dann verließ sie das Haus der Dumas'.
Wie mit Julius und Millie vereinbart wurde das Thema nicht mehr angeschnitten. Sie waren hier, um Chrysopes Ankunft in der Welt zu feiern, nicht um sich über eine Schurkerei aufzuregen, die ihr bald drei Onkel und/oder Tanten auf einen Streich bescheren würde.
Meine neuen Klopfer drücken mich runter. Aber noch sind die nicht groß genug, damit ich die rausdrücken muss. Ich kriege mit, wie noch mehr Zweifußläufer zu Julius und Millie hinkommen. Julius' Mutter hat ihm gesagt, dass sie drei Kinder also Junge im Bauch hat. Das ist doch schön. Aber die Zweifußläufer jammern immer so viel, wohl weil die ihre Jungen fast durch alle vier Zeiten durchtragen müssen und das denen noch mehr weh tut sie rauszudrücken als mir.
Das junge Weibchen Aurora Dawn ist auch gekommen. Die hat mich angesehen und Julius' Gefragt, wann meine Jungen rauskommen. Dann hat sie gesagt, dass sie da, wo sie wohnt, keines von denen haben darf, weil die da Wesen wohnen haben, die von meinen Jungen ganz weggefressen werden könten. Deshalb dürfen die da keine Wesen aus meinem Land haben. Temmie ist auch da. Dieses ganz große, fliegende Weibchen, das eine sehr satt machende Milch geben kann, dass davon nicht nur ihre Jungen, sondern auch andere was trinken dürfen. Ich weiß, dass das Weibchen früher auch mal Zweifußläuferin war. Jetzt ist es eine Latierre-Kuh, so heißt dieses ganz große Vierfußläuferweibchen, und passt auf Millie und Julius auf, trägt sie auf dem Rücken und gibt ihnen von ihrer Milch ab. Aber die hat jetzt auch einen Klopfer im Bauch, kriegt also auch ein Junges.
Dusty, der mir die neuen Jungen in den Bauch gedrückt hat, ist wieder ganz nass. Der hat wohl wieder ein anderes Weibchen gesucht, das auch Junge von ihm kriegen soll. Der ist jetzt ganz grummelig und liegt nur so da, um von der Sonne wieder trockengemacht zu werden.
Ah, jetzt kommen noch mehr, die Jungweibchen Gloria und Pina, die noch nie die Stimmung ausgelebt haben, und jetzt auch die Wurfgeschwister Sabine und Sandra. Ah, da ist auch das Weibchen Sandrine mit ihren zwei Jungen, die kurz nach Aurore aus ihr rausgekommen sind. Dann ist da noch Camille, die die starke ganz gute Kraft in einem kleinen Ding vor den Milchknubbeln mit hat und ihre Jungen Jeanne und Chloé. Denise ist da, wo meine Jungen groß geworden sind und immer noch wohnen. Die alle umklammern sich mit den Vorderbeinen, die sie nicht zum laufen brauchen. Damit zeigen sie, dass sie froh sind, sich zu sehenund zu hören. Jetzt sind die alle in dem großen runden Bau, um den die fünf starken Bäume stehen, in denen die ganz gute Kraft atmet. I, Wasser fällt vom Himmel. Es regnet. Ich geh besser in das Haus, wo ich meine Jungen kriegen kann. Wenn die noch vor dem Einschlafen der Sonne aus mir raus wollen will ich nicht nass werden.
Alle geladenen Gäste waren gekommen. Der Großteil der Familie Latierre war am Nachmittag durch den Kamin dazugekommen. Gilbert hatte bereits einen Satz Fotos von Chrysope mit ihrem Vater, ihrer Mutter, beiden zusammen und Einzeln gemacht. Dann waren die weiteren Gäste aus dem Flohpulverkamin im Erdgeschoss herausgetreten. Ebenso trafen auch die Eheleute Porter mit Gloria, Pina Watermelon zusammen mit ihrer Mutter, sowie Melissa Whitesand und ihrem Bruder Michael und dessen Frau Prudence und deren gemeinsamem Sohn Perseus, Die Hollingsworth-Zwillinge, die Delamontagnes, Deloires, Dumas', Dusoleils und Montferres, Laurentine Hellersdorf, sowie die Malones aus Lüttich und die Patin der Neugeborenen, Belisama Lagrange ein. Jeder hatte ein kleines oder größeres Geschenk für die neue Hexe und/oder ihre Eltern. Kevin hatte es über seine Cousine Gwyneth hinbekommen, ein kleines Fass Single Malt Whiskey aus seiner Heimat herüberzuholen. Die Porters schenkten Chrysope und ihrer Mutter Cremes und hautschonende Badeöle, sowie einen Knutknarl, der mit Bronzeknuts gefüttert werden konnte und bei jeder Fütterung lustige Tänze aufführte. Die Whitesands schenkten Chrysope einen Stimmungsfarbschnuller an einer reißfesten, speichelabweisenden Kette, der wie die bereits bekannten Stimmungsfarbringe auf die Gefühlslage dessen einging, der beziehungsweise die an ihm nuckelte. Dazu schenkte Prudence Millie noch zwei Ohrringe, die auf den Schnuller abgestimmt waren und bei ersten zaghaften Lautäußerungen des Kindes bis zu zwanzig Kilometer weit für sie allein hörbar die Schreie hörbar machten. Millie hätte fast gesagt, dass sie die Kleine fast immer mit sich herumtrüge. Doch weil sie sich nach der Schwangerschaft bei dieser Aufgabe ja mit Julius abwechseln konnte, und der die kleine Hexe nicht stillen konnte, fand sie es schon praktisch, zumindest mitzubekommen, ob Chrysope etwas nötig hatte. Die Montferres schenkten den jungen Eltern und ihrer jüngsten Tochter ein Mobilee, dass die Quidditchmannschaft der Pariser Pelikane darstellte. Aurore bekam von Sabine und Sandra noch einen Miniaturquaffel, der im Dunkeln in einem orangeroten Licht leuchtete und darauf abgestimmt war, nur dann zu leuchten, wenn jemand im Zimmer, in dem er lag gerade wach war. "Den kannst du doll werfen oder treten. Der hält alles aus, Aurore", sagte Sabine, als Aurore sie freudestrahlend ansah. Natürlich schenkten vor allem ihre Verwandten der Erstgeborenen auch neue Sachen zum spielen und anziehen, damit sie wusste, dass keiner sie vergessen hatte oder nicht dachte, dass niemand sie mehr haben wolle. Besonders der himmelblaue Hippocampus auf sonnengelben Rädern, mit dem sie sowohl wie mit einem Roller fahren als auch auf dem Farbensee herumschippern konnte gefiel ihr. Das war ein Geschenk von Florymont Dusoleil. Jeanne hatte dazu passende Schwimmflügel für Aurore gefunden. "Wenn ihr schon so nahe am See wohnt lernst du sicher bald auch schwimmen wie Viviane, Janine und Belenus", hatte sie dazu gesagt.
Millie präsentierte die kleine Chrysope schon fast wie einen gewonnenen Pokal. Alle klatschten begeistert. Kevin, der bereits einige Zehntelpromille Alkohol intus hatte flötete: "Sieht von den Haaren her echt fast aus wie Leute aus meiner Familie." Darauf begann Chrysope zu plärren. Der Rummel um sie war ihr zu viel. Sofort fingen alle an, ein Wiegenlied zu singen. Doch Chrysope wollte nur bei Maman kuscheln und Ruhe vor den ganzen Leuten haben.
"Vor sieben Tagen war sie ja noch sicher und warm verpackt", meinte Robert Deloire, der gerade mit seiner Frau Céline selbst auf zwei weitere Kinder wartete. Julius' Mutter schien über die Formulierung erst nicht so begeistert zu sein. Doch dann nickte sie wie alle anderen.
Nachdem die eigentliche Gastgeberin mit ihrer Mutter ins Kinderzimmer abgewandert war, um dort in Ruhe zu trinken und dann zu schlafen, unterhielten sich alle Festgäste über die letzten Monate. Gloria informierte Julius über neue Werwolfangriffe in England. Pina erwähnte, dass sie nun fest Tims Vorzimmerdame war, weil sie neben Englisch ja auch Französisch sprechen konnte und sich mit der Muggelwelt genauso auskannte wie er. Darauf meinte Kevin: "Dann pass aber auf, dass er dich nicht mit auf Dienstreisen nimmt. Manche Sekretärin brachte von da ein bißchen mehr Gepäck zurück, als sie eigentlich mitnehmen wollte."
"Wie überaus witzig", knurrte Pina Kevin an. "Hat selbst gerade ein kleines Pullerpüppchen hingekriegt und meint, mir gute Ratschläge geben zu müssen. Dabei ist Mr. Abrahams sehr glücklich verheiratet. Ich denke nicht, dass seine Frau das einen Moment lang zulässt, dass der an eine andere denkt."
"Ist schön mitzukriegen, dass mein Mann seine Frechheiten noch nicht in unserer einen Tochter abgeladen hat", sagte Patrice Malone. "Vielleicht darf ich die dann in einem kleinen Jungen einbacken, wenn der in meinem kleinen Lebenskessel herumplätschert."
"Ja, und vielleicht erkennt mein Vater dich dann auch als seine Schwiegertochter an", grummelte Kevin. Darauf meinte Gloria:
"Kevin, ich hoffe auch, dass dein Vater es kapiert, dass du dein Leben führst. Aber ich fürchte, wenn du dessen Sturschädel geerbt hast, dann wird er erst auf dem Sterbebett fragen, ob er seine Enkelkinder sehen darf."
"Ruf bloß keinen großen Drachen!" knurrte Kevin. "Das mit Tante Siobhan hat mir voll und ganz gereicht." Gloria erkannte, wie heftig sie, die sonst immer genau abwog, was sie sagen wollte und durfte, sich in der Wortwahl vertan hatte.
"Außerdem könnten diese Halunken von Vita Magica auch auf die Idee kommen, Hexen ohne direktes Beisammensein mit einem Mann in andere Umstände zu versetzen", sagte Sandrine. "Ich traue diesen Leuten zumindest diese Unverschämtheit zu."
"Dann sollten wir langsam doch mal an eine Kolonie auf dem Mars denken", grummelte Gloria, die an was ähnliches wie das Vampirismusvirus dachte, dass Nocturnia über die Welt verteilen wollte.
Weil sie aber alle erkannten, dass sie nicht wegen düsterer Theorien hier waren ging es wieder um die schönen Seiten ihrer Leben. Madame Delamontagne, die zusammen mit ihrem Mann, ihren beiden minderjährigen Kindern Baudouin und Giselle sowie Virginie und ihrem Mann Argon gekommen war, sowie auch Barbara van Heldern mit allen drei Kindern, Jeanne und ihren Verwandten, tauschten sich aus, was sie von- und miteinander noch alles haben wollten.
Abends stießen sie dann noch einmal alle auf die kleine Chrysope an, wobei Kevin tönte, dass die Männer die Kleine jetzt richtig pinkeln lassen würden. Doch die Frauen konnten, sofern nicht gerade selbst in Umständen oder vegan lebend, wunderbar mithalten. Zumindest hatten Hera Matine, Aurora Dawn und Béatrice Latierre sichergestellt, dass diesmal keine prokonzeptivlösungen untergejubelt werden konnten.
Gegen Mitternacht lagen die meisten Gäste in den Gästebetten, außer denen, die in Millemerveilles wohnten. Brittany, die wie Millieund Martha auf Alkohol verzichtet hatte, saß mit den Hauseigentümern und ihrer neuen Tante noch eine Zeit lang in der Wohnküche im dritten Stockwerk. Sie war sichtlich betrübt. "Es gibt so Schreiberlinge, die meinen Eltern und mir um die Ohren hauen, wir könnten nur nicht von Vita Magica manipuliert werden, weil mein Vater und ich kein tierisches Eiweiß und keinen Alk zu uns nehmen. Aber irgendwie muss es doch auch bei Veganerinnen gehen, dass sie Kinder kriegen können. Ich sehe das zumindest nicht ein, dass diese rücksichtslosen Tierverbraucher am Ende noch recht behalten."
"Britt, glaube es mir und wohl auch Sandrine, dass es schöner ist, wenn du ein Kind bekommst, wann du es willst und nicht, wann jemand meint, dass du es zu kriegen hast", sagte Martha leise. Immerhin war es gelungen, dass außer Sandrine und Béatrice keiner davon mitbekommen hatte, dass Martha zur zeit zu viert unterwegs war. Julius sah Brittany an und sagte:
"Ich denke, in den nächsten Monaten kriegt ihr zwei das auch hin, dass deine Eltern Oma und Opa werden."
"Ja, nachdem Venus ihre beiden Geschwisterchen windeln darf", knurrte Brittany. Millie sagte dazu nur:
"Brittany, es gibt eine Menge Leute, die jetzt stocksauer auf diese Vita-Magica-Banditen sind. Da ist das bestimmt schön, wenn du oder eine andere Hexe sagen kann, dass du ein Kind bekommst, weil du und dein Mann das wollten."
"Tante Martha will ihre Kinder doch auch haben", schnaubte Brittany.
"Ja, aber nur, weil die mir was untergejubelt haben, dass ich die auf gar keinen Fall loswerden will", erwiderte Martha Merryweather. "Aber ich bin wenigstens in guter Gesellschaft."
"Ich gehe mal schlafen. Sonst torkelt Linus noch durch die Gegend und sucht nach mir", grummelte Brittany. Dann winkte sie den anderen zur Nacht.
"Tante Béatrice hat leider recht, Britt nimmt das ziemlich übel mit, dass diese Gangster euch alle zum Kinderkriegen nötigen konnten und sie will endlich auch was kleines", sagte Julius. Seine Mutter nickte schwerfällig. Dann befand sie, wenn sie schon für vier essenund trinken müsse, auch schon mal für vier auf Vorrat schlafen wolle. Am nächsten Tag würden sie dann mit demLuftschiff, in dem die Fortiplumbumkammer war, die noch besser gegen die kosmische Strahlung in großen Höhen abschirmte, zurück in die Staaten reisen.
Goldene Funken regneten auf Justine und Jeff herunter. Gerade waren sie in Anwesenheit von Brenda Brightgate, Quinn Hammersmith und Elysius Davidson von Zeremonienmagier Bridger zu Mann und Frau erklärt worden. Von nun an würden sie unter dem Namen Bristol weiterleben. Bridger hatte ursprünglich darauf bestanden, dass Jeff in seiner angeborenen Erscheinungsform vor ihn zu treten hatte. Doch andererseits wurden von dem Hochzeitspaar Fotos gemacht. So hatte er darauf verzichtet, als er die ganze Geschichte gehört hatte.
"Nun, damit ist die leidige Angelegenheit für mich erledigt", sagte Mr. Davidson. "Da sie offiziell in Las Vegas sind, um dort zu heiraten genehmige ich Ihnen fünf freie Tage, um sich diese sündige Stadt anzusehen. Sollten Sie dabei erfolgreich auf Nachwuchs hinwirken, so bitte ich mir aus, mindestens acht Monate vor der Geburt eines Kindes über dessen Ankunft informiert zu werden und nicht erst, wenn es zwei Jahre auf der Welt ist, falls Sie verstehen ..." Justine und Jeff verstanden. Brenda grinste.
Als der Zeremonienmeister sich verabschiedet hatte sagte Quinn Hammersmith noch: "Hoffentlich lässt sich Justine von dir nicht auch gleich drei auf einmal in den Bauch legen, wie meine Großtante Stella."
"Wir sehen zu, keinen Alkohol zu trinken, den wir nicht in fest verschlossenen Flaschen gekauft haben", sagte Jeff. Er hatte auch davon gehört, was in Viento del Sol und anderen Zauberersiedlungen passiert war. Vor allem dass in Viento del Sol fünf Drillings-, neun Zwillings- und zwei Vierlingsschwangerschaften gemeldet worden waren gab ihm sehr zu denken.
Mit offiziellem Segen ihres Chefs reisten die frisch verheirateten Eheleute Bristol nun nach Las Vegas, der Stadt der Sünde, wie sie nicht nur bei den Muggeln genannt wurde. Allerdings war es Hexenund Zauberern bei Strafe verboten, an den dort angebotenen Glücksspielen teilzunehmen. In den größeren Kasinos hatten Ministeriumszauberer Spürsteine mit Weitermeldefunktion versteckt, die jede Manipulation von Würfeln oder Roulettespielen unverzüglich weitergaben. Doch für Jeff und Justine gab es trotzdem genug zu erleben, vor allem die Vorstellungen von so genannten Zauberkünstlern, die ganz ohne Magie die erstaunlichsten Effekte herbeiführen konnten.
"Ist schon heftig, wie stark unsere Sinne sind", grummelte Demis Casalla. Er und sein Partner hatten sich entschlossen, nicht um ihre Kündigung zu bitten. Dieses Zaubereiministerium konnte vielleicht machen, dass jemand glaubte, sie seien in ein geheimes Staatskrankenhaus verlegt worden. Aber noch hatten sie beide ihren freien Willen. Allerdings hatte ihr Revierleiter, Captain O'Casy, ihnen beiden zwei Wochen Urlaub gegeben, um sich von den ganzen Anstrengungen zu erholen. Deshalb durften die beiden weder in Uniform noch mit ihren Dienstwaffen herumlaufen. Doch sie waren entschlossen, die Gegend zu überprüfen, in der sie von den Werwölfen angefallen worden waren. Ihnen ging es nicht darum, sie festzunehmen oder umzubringen, sondern herauszufinden, wie sie selbst an den Trank kommen konnten. Hatten sie den, konnten sie als für normale Kugeln unverwundbare Cops weitermachen, ja sogar in Gefechte mit schwerbewaffneten Gangstern hineingehen.
Das rote Lambda im Kreis war gerade nicht zu sehen. Jemand hatte ein Holzbrett darüber an die Wand geschraubt. An dem Brett hing eine Mitteilung der Hauseigentümergemeinschaft:
Das aufmalen und Aufsprühen von Bildern, Text, Zeichen oder Symbolen an unseren Hauswänden ist strengstens verboten.
"Klar, ich hänge ein Verbotsschild hin und gehe davon aus, dass alle sich dran halten", spottete O'Connor. Dann sah er die sanfte Glut, die durch die Mitteilung schimmerte. Als er näher heranging verstärkte sich die Glut. Erst war es wie ein rötlicher Lichtfleck auf dem Brett. Als O'Connor und Casalla näher herangingen wurde es mit einem Schlag deutlich, jener griechische Buchstabe Lambda in einem Kreis, als wenn das Brett und das Papier mit der Verbotsmitteilung nicht darübergesetzt worden wäre.
"Verdammt, dieses Mistzeichen reagiert auf uns", knurrte O'Connor. Casalla trat bis auf einen Schritt an die Wand heran. Nun leuchtete das Lambda im Kreis so hell wie eine rote 100-Watt-Glühbirne. .
"Es ist wohl auf Leute wie uns geprägt worden", vermutete der griechischstämmige Streifenpolizist und führte seine Hand behutsam an das Zeichen heran. Keine Wärme strahlte davon aus. Er berührte es. Jetzt war ihm, als liefen hunderte Ameisen über seine Hand, über den Arm, die Schulter und dann den ganzen Körper entlang. In seinem Kopf erklang ein leiser, sphärischer Ton, wie von einem dezent singenden Frauenchor angestimmt. Er fühlte sich auf einmal sehr geborgen, ohne Angst und Abscheu. Er winkte O'Connor, dem die Stimmungsänderung seines Partners nicht entgangen war. Der irischstämmige Cop trat ebenfalls an die Wand heran. Casallas Gefühl der Geborgenheit verstärkte sich. Er dachte nicht mehr daran, dass er bereits ein erwachsener Mann war, sondern gab sich der Empfindung hin, ein Kind in den Armen oder gar noch im warmen Schoß seiner ihn liebenden Mutter zu sein. Als auch O'Connor das Brett an der Stelle berührte, wo das Lambda zu sehen war, überkam ihn dasselbe Empfinden wie seinem Kollegen Casalla. Beinahe schon in Trance, gleichmäßig und vollkommen synchron atmend standen sie da.
Als es um sie herum mehrmals ploppte reagierten sie nicht einmal darauf. Dieses Gefühl der totalen Geborgenheit war zu wichtig, als auf die Umwelt zu achten. Fünf Frauen in Lederkleidung umstanden sie. In ihren Händen hielten sie Zauberstäbe. Eine von ihnen blickte sich suchend um. Es war niemand zu erkennen.
"Das sind unsere beiden lieben Ordnungshüter, die versucht haben, mich und Paulina zu erschießen", feixte eine der fünf und streichelte O'Connor über sein rotes Haar. Eine andere sagte:
"Wusste nicht, dass unser Zeichen so einen starken Eindruck auf die beiden macht."
habe ich euch doch gesagt, dass das Monatsblut von bereits Mutter gewordenen Schwestern einen Frischling so einlullt. Seht euch das an! Die kriegen uns nicht mit." Alle grinsten. Dann riefen sie zusammen "Autsch!" Sie zuckten dabei kurz zusammen. Dann mussten sie wieder grinsen."Oh, die Damen und Herren Eingestaltler haben gemeint, die beiden als Köder hinhängen zu müssen. Also, Schwestern, entbietet den Leuten aus dem Ministerium einen heißen Willkommensgruß!"
Unter ihren Ledersachen holten die fünf Hexen kleine Kugeln hervor. "Nicht zu früh!" zischte die Anführerin, die dunkelhaarige Juanita Castilla Casapiedra. Wieder fuhren sie alle wie unter einem schmerzhaften Stoß mitten durch ihre Eingeweide zusammen. Für sie hieß das, dass eingestaltliche Zauberer und Hexen versuchten, in direkt bei ihnen bis doppelte Sichtweite zu apparieren. Doch die von Rabioso, dem König ihres neuen Landes entwickelten Vorrichtungen wehrten alle Nicht-Werwölfe sicher ab. Wenn die zu ihnen wollten, dann mussten sie laufen oder fliegen. Ja, und da kamen sie auch schon auf ihren Besen angeflogen.
"Noch vier Sekunden warten. Die müssen in der Wirkungszone drinstecken", zischte Juanita mit eiskaltem Lächeln. "Wenn die zu nahe sind knipsen die uns mit dem grünen Todesblitz aus", zischte eine weitere Mitschwester Juanitas. Doch diese schüttelte den Kopf. Dann ließ sie den Zauberstabarm nach oben zucken. Das war für die anderen das Signal. Sie ließen die hervorgeholten, handgroßen Glaskugeln fallen. Klirrend zersprangen diese und setzten einen rötlichen Dunst frei, der im nächsten Moment zu silberblauen Flammen wurde. Zwanzig auf Besen heranpreschende Hexen und Zauberer gerieten voll in diese Flammenwolke hinein. Jetzt geschah etwas unfassbares. Die Körper der heranfliegenden Hexen und Zauberer verglühten innerhalb einer Viertelsekunde zu Asche. Diese rieselte aus der völlig unversehrt gebliebenen Kleidung heraus und umwehte die ebenso unversehrt gebliebenen Besen. Obwohl die Besen von den Flammen regelrecht verschlungen worden waren, richtete das Feuer keinen Schaden an. Fünf weitere Besenflieger gerieten noch in die Feuerwolke. Auch ihre Körper verbrannten, ohne das die Kleidung und die besen auch nur angesengt wurden. Vier weitere Hexen und Zauberer, die die Nachhut gebildet hatten, drehten rasch bei und wollten flüchten. Doch da schossen die Werwölfinnen ihnen aus handelsüblichen Signalpistolen Leuchtraketen hinterher, die sie zielgenau an den Besen trafen und diese in Brand setzten. Die Werwölfinnen liefen los, um die Flüchtenden nicht entwischen zu lassen. Dabei dünnte sich die Feuerwolke aus und teilte sich in fünf kleinere Feuerwolken, die jede für sich eine der fünf Werwölfinnen umloderte. Von alle dem hatten Ian O'Connor und Demis Casalla nichts mitbekommen. Sie standen immer noch im Bann des magischen Zeichens, dass trotz des darüberliegenden Brettes seine Wirkung tat.
Die Werwölfinnen konnten apparieren. Denn sie waren alle geborene und ausgebildete Hexen aus dem hispanoamerikanischen Raum, die es nie zu Beruf und Familie gebracht hatten, bis erst Lunera und nach ihrer feigen Flucht vor den Zauberern ihr ehemaliger Bundesgenosse Rabioso ihnen einen neuen Weg aufgezeigt hatte, doch noch beide Ziele im Leben zu erreichen.
Die flüchtenden Hexen und Zauberer versuchten, die Brände an ihren Besen zu löschen. Doch jedesmal, wenn sie an einem Ende Flammen mit dem Feuerlöschzauber beseitigt hatten, bekamen ihre Besen durch die Signalpistolen der Werwölfinnen an anderer Stelle Feuer ab. Die magischen Flughilfen trudelten bereits. Als Juanita Castilla Casapiedra noch einen Reducto-Fluch gegen das Besenende eines Flüchtenden wirkte stürzte dieser ab und hinein in die Juanita umgebende Feuerwolke. Die Flüchtenden erkannten, dass sie nicht mehr weiterfliegen konnten. So setzten sie auf das letzte verbliebene Mittel, um die Gegner zu bekämpfen. Sie wollten den Todesfluch anbringen. Doch Juanitas Kameradinnen kamen ihnen zuvor. Sie riefen bereits "Kedavra!" als die Flüchtenden gerade erst "Avada" riefen. Ihre grünen Todesblitze waren schneller bei den flüchtenden Zauberern und ließen sie von den brennenden Besen fallen. In dem Augenblick, wo kein Gegner mehr lebte erloschen auch die silberblauen Flammenwolken ohne Übergang.
""Fünf gegen dreißig Hexen und Zauberer", frohlockte Juanita. Dann grinste sie. "Über zwanzig Besen für uns und unsere magisch begabten Mitbürger."
"Und die beiden Muggelcops", lachte eine der vier anderen Werwölfinnen, bevor sie wieder alle zusammen einen schmerzhaften Stoß verspürten.
"Sie wollen es immer noch nicht kapieren", keuchte Juanita. Dann grinste sie. "Wahrscheinlich haben sie die Cops mit Markierungszaubern versehen oder ihnen angeboten, bei ihnen mitmachen zu dürfen, wenn sie dafür hinter uns herrennen."
"Brauchen wir sie dann noch?" fragte Patagrisa, eine stämmige Werwölfin.
"Hmm, unsere Zeichen sind gesetzt. Sicher könnten wir die zwei gut als Kundschafter und Anwerber ... Auuaa ... Wir brauchen Sie nicht mehr", schnaubte sie und apparierte in die Nähe der beiden an der Wand stehenden. Sie betrachtete noch einmal O'Connor. Eigentlich war es schade, dass sie den nicht als Samenspender für süße kleine Wolfskinder haben konnte. Doch da fiel ihr ein, dass diese neunmalklugen Eingestaltler sicher auch den dritten von ihnen gebissenen für sich eingespannt hatten. Der war jung und kräftig. Paulina hatte sein Blut geschmeckt. Dann sollte sie ihn kriegen. Die zwei hier brauchten sie nicht. "Avada Kedavra!" rief sie, mit dem Zauberstab auf O'Connor zielend. Dieser bekam in der letzten Sekunde seines Lebens nur noch einen grünen Blitz zu sehen, ohne wie alle anderen, denen dieser Fluch auferlegt wurde, im letzten großen Entsetzen die Augen aufzureißen. Verträumt, ja glücklich und zufrieden dreinschauend fiel O'Connor um. Casalla folgte ihm keine zwei Sekunden später in den Tod.
Die Werwölfinnen sammelten unter mehreren schmerzanfällen die Besen ein. Als dann weitere Hexen und Zauberer auf Besen heranflogen disapparierten sie. Diesmal entstand keine Feuerwolke, die ausschließlich lebende Materie verbrannte. Die heranfliegenden fanden nur die Leichen von vier Kollegen und die scheinbar abgelegten Kleidungsstücke von den anderen vor.
"Das war ein Fiasko", stöhnte Huntington. "Die Aktion war ein einziges Fiasko."
"Katastrophe trifft es leider eher, Freddy", sagte Huntingtons Mitarbeiter Gregory Summerwind.
"Sollen wir an dem Jungen dranbleiben?" fragte Lisa Summerwind, eine brünette Mitarbeiterin Huntingtons, nachdem sie erkannt hatte, dass gerade an die dreißig Kollegen umgekommen waren. .
"Wir lassen ihn verschwinden, bevor der auch Kontakt mit dieser Brut bekommt."
"Und wie verfahren wir in Zukunft?" fragte Lisa.
"Das soll der Minister beschließen", grummelte Huntington.
Donny Clarkson fuhr auf seinem Skateboard durch sein Revier in Hell's Kitchen. Anders als früher legte er keinen Wert auf hohe Geschwindigkeit. Denn der Fahrtwind beeinträchtigte seinen besonders gut entwickelten Geruchssinn. Das war wohl die Folge des ihm eingepflanzten Erregers. Zwar sah er noch so aus wie früher, konnte aber nun besser riechen und hören und auch bei sehr wenig Licht noch gut sehen.
Er dachte erst daran, noch mal zu dem Hinterhof zu fahren, wo er angegriffen worden war. Doch dann fiel ihm ein, dass die Hexen und Zauberer da garantiert wen auf Beobachtungsposten hingepflanzt hatten. Vielleicht konnte er riechen, wer ein Werwolf war und wer nicht.
Als er in die Nähe einer Unterführung kam taten ihm plötzlich die Beine weh. Er fühlte es wild pochen, da wo sie ihn gebissen hatten. Sofort hielt er an und starrte die Treppen hinunter. Innerhalb der Unterführung brannte kein Licht. Das war mal wieder kaputt, womöglich von anderen jungen Leuten, die Zielschießübungen auf die Neonlampen gemacht hatten.
Donny Clarkson stieg von seinem silbernen Skateboard und klemmte sich dieses unter den linken Arm. Mit wild schmerzenden Beinen stolperte er eher als zu gehen die Stufen hinunter. Doch als er in die Unterführung eintrat hörten die Schmerzen auf. Dafür stach Donny der Geruch von verkrustetem Blut und angefaultem Fleisch in die Nase. Als er sich umblickte sah er einen älteren Mann in total kaputter Kleidung auf dem Boden liegen. Das war Jack Daniels, der in dieser Gegend gerne schnorrende Penner, der seinen Namen von der von ihm gesoffenen Whiskeysorte hatte. Donny hatte für den alten Säufer immer nur Hohn und Spott übriggehabt. Mit seiner Clique von Skateboardfahrern hatte er ihn schon so oft getroffen, dass er das nicht mehr zählen konnte. Und jetzt lag der alte Stadtstreicher tot auf dem Boden. Den hatte es also erwischt. Rein äußerlich konnte Donny nicht sehen, was genau den Alten erwischt hatte. Dann fühlte er ein leises Pochen am linken Bein und roch die Ausdünstungen eines noch lebenden Menschen. Nach seinen bisherigen Erfahrungen mit seiner neuen Nase hatte er eine Frau vor sich, vielleicht noch ein Mädchen. Dann konnte er sie auch atmen hören und sah, wie sie von ganz weit hinten aus der Unterführung heranlief. Es war die blonde Werwölfin.
"Es hat echt geklappt", sagte sie in einem spanisch angehauchten Englisch. Donny sah sie genau an. Seine Nasenflügel blähten sich. Ihr Geruch gefiel ihr von Sekunde zu sekunde besser. War die vielleicht gerade heiß?
"Du und deine schwarze Rudelschwester habt mir dieses fiese Virus verpasst. Was sollte der Mist?"
"Oh, du weißt, was dir passiert ist?" fragte sie scheinheilig. Er nickte heftig. Da sie selbst zu den Werwölfen gehörte konnte der ihm aufgeladene Eid ihn nicht am sprechen hindern, zumal sie ja keine von seinen Freundinnen und Verwandten war.
"Haben Sie dich deshalb einkassiert, um dir zu sagen, dass du ab jetzt nicht mehr im hellen Licht unseres großen Nachthüters herumlaufen darfst?" fragte sie noch und kam näher. Ihre Ausdünstungen regten Donny immer mehr an. Er hatte eigentlich vorgehabt, sie anzubrüllen, ja anzugreifen um sie zu zwingen, ihm den Trank zu geben, der die Verwandlung steuerbar machte. Doch jetzt fühlte er ganz andere Sachen, Lust darauf, sie für sich zu haben, ja aber auch eine form von Anerkennung, Hingezogenheit und sogar eine Spur von Dankbarkeit. Deshalb sagte er behutsam:
"Die haben gesagt, dass ich aufpassen soll, bei Vollmond keinen anderen mehr zu beißen. Aber wie soll ich das anstellen, wenn ich das nicht steuern kann, wie ihr das könnt?"
"Oh, man hat dir also auch erklärt, wie wir das anstellen?" fragte die blondhaarige Werwölfin, die Donny ansah, anhörte und wohl auch roch, was ihn gerade heftig erwischt hatte.
"So'n Flummiballmann namens Huntington", stieß Donny heraus.
"Verstehe. Und jetzt bist du unterwegs um zu fragen, ob wir dir von dem Trank geben, der dir hilft, immer bei Verstand zu bleiben?" Donny nickte. Da ploppte es für Donny schmerzhaft laut. Er roch sie, bevor er sie sehen konnte. Das war die Dunkelhaarige. Sie knurrte:
Die Dunkelhaarige zischte wild gestikulierend auf Spanisch, dass die Ministeriumszauberer die drei Gebissenen als Köder benutzte, um die in New York lebenden Werwölfe zu finden. Dann sah sie Donny lächelnd an.
"Schön, dass der von unserem König erfundene Verbundenheitsruf funktioniert hat. Ich habe Paulina damit bezaubert, um zu fühlen, wo du gerade bist und damit du fühlst, wenn du in ihrer Nähe bist. Damit werden diese Kerle vom Ministerium gerechnet haben. Aber womit die nicht rechnen ... Auuua! ... Ja, sie sind schon unterwegs. Also kommt her, wir verschwinden!"
Donny wollte gerade lospoltern, dass er den Trank haben wollte, als die blonde Werwölfin ihm zuwinkte und dabei verführerisch ihre Hüften schwang wie Shakira. Er sog ihren Geruch in seine Nase und folgte ihr wie ein Rüde, der einer läufigen Hündin nachsteigt. Als er bei ihr war zuckte die Dunkelhaarige zusammen wie von einem Stromstoß getroffen. "Ich werde Rabioso zwingen, sich auch einen Rückpreller reinzustopfen", knurrte sie auf Spanisch, was Donny gut genug gelernt hatte, um es zu verstehen. Dann packte sie den Jungen mit der linken Hand und hielt ihren Zauberstab nach oben. Einen Moment später meinte Donny, in einen unendlichen Raum aus Farben zu stürzen. Ehe er es sich versah war dieser Sturz auch schon zu Ende. "Willkommen im Haus von Gouverneur Aureus", sagte die Dunkelhaarige. "Hier rein kommen die nicht, und auch wenn die dir einen Aufspürzauber aufgeklebt haben sollten ist der jetzt auf jeden Fall erledigt."
"Eh, Wolfslady. Ich wollte nur den Trank von euch haben", sagte Donny.
"Ja,und wenn Gouverneur Aureus zustimmt kriegst du den auch", sagte die Dunkelhaarige. Ich klär das. Du kannst mit Paulina ja schon mal auf ihr Zimmer gehen, falls sie will." Den letzten Satz hatte sie mit einem verrucht klingenden Unterton gesäuselt, der Donny heftig erschauerte. Paulina, die blonde Werwölfin, nickte heftig und winkte Donny. Dieser konnte nicht anders. Er trottete ihr nach. Wenn sie ihn gleich noch zu sich ins Bett holen wollte würde er garantiert nicht nein sagen, beschloss er für sich.
Während ihr Fang gerade mit ihrem blonden Zögling Paulina Witfield Torrealto in einen der von kleinen Öllampen erleuchteten Gänge abbog steuerte Juanita Castilla Casapiedra eine Treppe an und stieg hinauf bis ins dritte Obergeschoss des alten Landhauses, dass sie erst vor einem Monat zu ihrem US-amerikanischen Hauptquartier gemacht hatten. Ein umfangreiches Netzwerk aus Melde- und Abwehrzaubern, sowie mehrere Schutzzauber gegen Fernbeobachtung und -belauschung waren eingerichtet worden. Vor allem waren aber immer zehn Mitbürger hier, die durch die in ihre Körper eingeführten Blutkontaktkugeln den Rückprellzauber gegen Nicht-Werwölfe aufrecht erhielten.
Juanita klopfte an die Tür des Zimmers, auf der ein aus Goldblech gemachter Wolfskopf prangte. Von drinnen erfolgte ein knurriges: "Herein, wenn's kein Langzahn ist." "Die fehlten uns noch", grummelte Juanita. Dann betrat sie den Raum.
Gouverneur Aureus war ein an die fünfzig Jahre alter Mann mit goldblondem Haar und Vollbart. Dunkelbraune Augen kontrastierten mit der goldblonden Haarpracht. Seinen Namen, der aus dem Lateinischen übersetzt Goldstück bedeutete, hatte er von dieser Haarpracht, die er sogar in der Wolfsverwandlung behielt und fast wie eine Mischung aus Wolf und Golden Retriever aussah. Weil er zum einen sehr stark war und zum anderen zu den in der Mondbruderschaft aufgegangenen Verehrern des Werwolfs Fenrir Greyback gehörte hatte Rabioso, der seit einem Monat als König von Lykotopia von Spanien aus regierte, Aureus zum Gouverneur der USA ernannt.
Juanita verneigte sich andeutungsweise. Von Rang her war sie Aureus' Stellvertreterin und Führerin der Werberinnen, wie die um sich beißenden Werwölfinnen sich selbst bezeichneten. Sie brachten die Lambda-Symbole an nicht zu sehr begangenen Orten an und lauerten auf arglose Eingestaltler. Durch sie würde es bald noch mehr Bürger Lykotopias geben.
"Du wirkst ziemlich verärgert und leicht abgehetzt", sagte Aureus. Seine stimme war sanft und tief. Juanita berichtete, was ihr passiert war und dass sie den Jungen Donny in Gewahrsam genommen hatten.
"Gut, Paulina kann sich von dem auffüllen lassen, wenn ihr danach ist. Aber ab jetzt lassen wir die Gebissenen in Ruhe, wenn die vom Ministerium kassiert wurden."
"Gut, gebe ich an die Truppe weiter. Schon was neues von König Rabioso?"
"Er hat einen Brief geschickt, dass er in Spanien bald hundert neue Mitbürger hat. Allerdings kommen ihm diese verfluchten Waldhexen quer. Dann hat er davor gewarnt, dass der Ofen mit den Vampiren noch lange nicht aus ist. Zwei von seinen Leuten haben einen dieser Blutsauger getroffen und fast zerrupft. Da hat der sich in einem schwarzen Wirbel aufgelöst. Womöglich haben die Blutschlürfer jetzt einen neuen starken Freund, der denen hilft und sie für sich durch alle möglichen Reifen springen lässt."
"Nur, dass wir locker bei Sonnenschein herumlaufen können und die nicht mehr, nachdem deren Schutzhautfabriken erledigt sind", grinste Juanita.
"Der König meint, die könnten die wieder aufbauen, wenn die noch die Herstellungspläne haben. Am Ende gibt's noch einmal richtigen Krieg mit den Langzähnen."
"Die sind stärker als wir und können fliegen. Aber gegen Feuer und fließendes Wasser sind die nicht immun", grinste Juanita.
"Und was sagen unsere Mitbürger aus dem Rest von Europa?"
"Die haben auch schon einigen Zuwachs und einige Zaubereiministeriumsleute auf uns aufmerksam gemacht. König Rabioso will deshalb am zwanzigsten Februar eine weltweite Erklärung verbreiten, dass es uns gibt und unsere Bedingungen diktieren."
"Wenn uns Lunera nicht doch noch dazwischenspringt", meinte Juanita.
"Die ist sicher noch im Bauch des großen Wals unterwegs und hofft, dass keiner mehr von ihr redet", grinste Aureus. Da klingelte es.
"Oh, die Meldeglocke. Moment, mal hören, was anliegt!" Er zog eine Schublade auf und zog ein kleines grünes Brett heraus. Auf dem Brett stand etwas in roter Schrift. Aureus verzog das Gesicht. Dann sagte er:
"Die haben Pedro in Texas kassiert, obwohl er von Irma begleitet wurde. Irma schreibt, dass eine Gruppe von maskierten Zauberern sie an Lambda siebenundzwanzig überfallen hat. Die sind nicht appariert, sondern auf unsichtbaren besen angeflogen. Pedro ist in so eine eiförmige Schale eingeschlossen worden. Als das mit Irma auch passieren sollte hat sie den Notfallportschlüssel ausgelöst. Lambda siebenundzwanzig könnte verloren sein. Ich prüfe das mal." Er tippte mit seinem rechten Zeigefinger an eine Stelle auf einer Wandkarte und hielt den Zeigefinger da. Dann grummelte er: "Lambda siebenundzwanzig ist erledigt, komplett ausradiert."
"Wie bitte?! Öhm, waren das nur Hexen, die Lambda siebenundzwanzig angegriffen haben?" fragte Juanita.
"Nein, auch Zauberer, aber alle mit blutroten Kapuzenumhängen und rosigen Masken, die aussahen wie Babygesichter. Die hatten sogar die großen blauen Augen von Plärrbälgern."
"Wo ist Irma jetzt?"
"Lambda fünfundzwanzig. Da ist eine Portschlüsselabsicherung. Aber wieso die Pedro gekriegt haben wissen wir nicht. Moment, sie schreibt, dass er eine Minute vorher heftige Kieferschmerzen und ein leichtes Brennen im Mund hatte."
"Was? Den Zauber kenne ich nicht", seufzte Juanita. Sie hatte erst mit den Helferinnen dieser Spinnenhexe gerechnet, die auch keine Freundin des Zaubereiministeriums war. Doch Hexen und Zauberer, die sich Babymasken aufsetzten waren ihr neu.
"Jedenfalls haben die Pedro und Lambda siebenundzwanzig erledigt. Das muss ich sofort dem König weitermelden." Juanita nickte. Dann fragte sie noch, ob der von ihr hergebrachte Junge den Trank haben durfte, zumindest eine Dosis, um den Monat lang über die Runden zu kommen.
"Ja, darf er. Wenn er sich bewährt wird er offiziell eingebürgert", sagte Aureus. Dann lauschte er. "Offenbar ist der auch kein Typ von langen Worten", grinste er feist. Auch Juanita hörte es mit ihren feinen Ohren. Paulina und der irischstämmige Junge hatten beschlossen, sich ganz nahe zu sein.
Als Juanita zwei Stunden später zu den beiden hinging um ihnen den Trank zu bringen meldete sich Irma erneut über die Fernschreibtafel. Aureus las und knurrte. Beinahe wäre er vor lauter Wut in die Werwandlung eingetreten. Er klingelte nach allen, die noch im Hauptquartier waren, das als Lambda 2 geführt wurde.
"Hallo erst mal. Willkommen Donny Clarkson, unser neuer Mitbürger. Wie ich mitbekam hast du heute unsere treue Mitbürgerin Paulina geheiratet. Glückwunsch! Aber jetzt zu wichtigerem. Wir haben einen neuen Feind. Haben wir bisher gedacht, die Zaubereiministerien, diese Hexenschwestern von der schwarzen Spinne und die unausrottbaren Blutsauger mit den langen Zähnen seien unsere Feinde, so ist da noch wer dazugekommen. Pedro wurde von einer Truppe kassiert, die mit Geruchloslösungen und Stimmverstellungszaubern hantieren. Er konnte nicht riechen und nicht hören, wer da so bei ist. Auf jeden Fall haben sie dem einen Brief mitgegeben und ihn bei Lambda siebenundzwanzig wieder rausgelassen. Den Brief hat er zu Irma geschickt. Ich habe eine Kopie davon bekommen. Ich lese den euch vor.
"An die verpesteten Mondheuler, die meinen, sich ungestraft und ungehindert über die ganze Welt ausbreiten zu müssen." Das sind eindeutig wir . "Wir, der Hohe Rat des Lebens, haben Kenntnisse davon erhalten, dass ihr nicht nur damit zufrieden seid, eure Mondheulerpest weiterzugeben und damit das unverdorbene Blut von Hexenund Zauberern zu vergiften, sondern auch noch gegen euch vorgehende Hexen und Zauberer mit Magie zu töten, und das nicht im ehrlichen Zweikampf, sondern mit Massenzerstörungsmitteln wie dem Feindesfeuer oder anderen Sachen. Deshalb haben wir, der hohe Rat des Lebens, beschlossen, eurem Wildwuchs Einhalt zu gebieten und euch abzutöten. Die zimperlichen Zaubereiministerien mögen sich damit begnügen, euch mit einem Lähmgas entgegenzuwirken. Wir werden uns nicht damit begnügen. Wir werden bald über ein Mittel verfügen, den in euch wallenden Keim in ein Gift zu verwandeln, dass euch tötet, egal, wo ihr euch verkriecht. Wir, der hohe Rat des Lebens, der die Vermehrung magischen Fleisches und Blutes zum Ziel hat, werden euch alle ausrotten, die nicht freiwillig zu von uns bestimmten Orten kommt und dort den unbrechbaren Eid schwört, keinen mehr aus freiem Willen und in voller Absicht zu beißen. Die Liste der Orte, zu denen ihr kommen könnt geht euch bald zu. Denkt nicht einen einzigen Augenblick daran, uns dort überrumpeln zu können. Wir verfügen über Jahrhunderte gesammeltes Wissen über das Leben und seine Stärken und schwächen. Selbst wenn wir wissen, dass wir damit viele Träger magischen Blutes töten müssen und damit auf den ersten Blick gegen unser heeres Ziel zu handeln genötigt sind, so werden wir diese grausame wie heilsame Kur an der magischen Menschheit vollziehen, bis die von euch getragene Pest keinen Träger magischen Blutes mehr bedroht. Dies sei unsere letzte Warnung an euch, die Mondheuler, von uns, dem hohen Rat des Lebens." Ende des Briefes, meine werten Mitbürgerinnen und Mitbürger", beendete Aureus die Verlesung.
"Und was jetzt?" wollte Paulina Witfield Torrealta wissen. Sie war erst einundzwanzig Jahre alt, viel zu jung zum sterben.
"Die wollen uns eine Liste von Orten schicken, an denen die uns diesen unbrechbaren Eid abnehmen wollen, was immer das sein soll", knurrte Aureus. Dazu konnte Juanita was sagen und erklärte den Anwesenden, was damit gemeint war. Aureus knurrte ungehalten und blaffte: "Da können die bei mir lange drauf warten."
"Eigentlich müssten die dann auch den Blutschlürfern so ein Ultimatum stellen", meinte Boney Red, ein spindeldürrer Mitbürger mit ziegelrotem Stoppelhaar.
"Denen stellen die kein Ultimatum. Die werden die gleich unter dem Mond wegschießen oder in die helle Sonne hängen oder für mehrere Minuten im Mississippi, dem Guadalquivir oder dem Amazonas baden, wenn sie welche erwischen", schnarrte Aureus. Alle anderen nickten zustimmend. "Aber wie sich dieses Geschreibsel liest stehen die auch nicht gut mit dem Zaubereiministerium." Juanita nickte. Donny, der die ganze Zeit neben Paulina saß und begreifen musste, dass sein von ihm nun doch angenommenes Los auch üble Auswirkungen haben konnte, hob behutsam die Hand. Aureus sah ihn an.
"Wenn die echt Flüche machen können oder sowas wie ein für uns tödliches Virus ausbrüten können, wieso gehen die dann nicht zu denen vom zaubereiministerium hin und bieten denen das für einen Arsch voll Kohle an?"
"Was?!" blaffte Aureus. Paulina grinste und übersetzte, dass ihr neuer Gefährte meinte, die könnten ja dem Ministerium für eine Menge Zauberergeld helfen, alle Werwölfe auf der Welt umzubringen, die nicht auf deren Bedingungen eingingen.
"Weil die eben selbst eine Menge Drachenmist am Zauberstab kleben haben", erwiderte Aureus. Das sah Donny ein. Keine Bande würde eine andere Bande an die Cops verpfeifen, selbst wenn das deren Erzfeinde waren. Sowas wurde dann untereinander geklärt. Deshalb sagte er:
"Dann können wir die auch bedenkenlos abmurksen, wenn wir welche von denen in die Finger kriegen."
"Ja, und uns damit genau mit dem Zeug anstecken, dass die gegen uns ausbrüten wollen", sagte Juanita. "Sie könnten Leute von sich als Giftköder anbieten, wie das mit Ratten und Füchsen gemacht wird, wenn's von denen zu viele gibt." Das sah Donny ein. Dumm war er ja wirklich nicht.
"Also, ich reiche diesen Schrieb erst mal an König Rabioso weiter. Der soll entscheiden, ob wir kuschen oder zurückbeißen. Bis er antwortet bleibt alles wie von ihm festgelegt. Wir bürgern weitere Leute ein, aber ohne dabei die Polizei oder das Zaubereiministerium drauf zu bringen. Die werden schon früh genug blöd gucken, wenn es auf einmal tausend oder mehr neue Lykanthropen gibt", legte Gouverneur Aureus fest.
"Öhm, dieser König Rabioso, kriegen wir den hier auch mal zu sehen?" wollte Donny wissen. Statt einer Antwort deutete Aureus auf ein goldgerahmtes Foto, doppelt so groß wie das Poster eines Popmusikers. Es zeigte einen Mann mit fuchsrotem Haarschopf in einem schwarzen Lederanzug mit glitzernden Ellenbogen- und Kniegelenksschützern, der Donny sehr entschlossen zuwinkte. Rechts und links hinter ihm standen mehrere Männer und Frauen in roten Ledersachen. Ein Mann war Nackt und bekam gerade ein graues Fell. Aureus sagte, dass der König entscheiden würde. Donny nickte einverstanden. Hauptsache, er bekam den Zaubertrank, um nicht ohne es zu wollen zum Wolf zu werden und konnte weiter mit der wilden Paulina tollen Sex haben.
Zaubereiminister Cartridge saß gerade mit den wichtigsten Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern zusammen im Konferenzraum auf seiner Arbeitsetage. Freddy Huntington hatte soeben über die Katastrophe in New York berichtet. Sein Kollege aus der Strafverfolgungsabteilung, Claudius Swordgrinder, hatte bei diesem Einsatz zehn seiner besten Außeneinsatzbeamten verloren und war entsprechend ungehalten.
"So viel zur Operation Wolfsfalle", blaffte Swordgrinder. "Da können wir noch von Glück reden, dass sie sich den Jungen geschnappt und mit ihm das Weite gesucht haben, bevor noch mal so viele gute Leute in diesem Feuerzauber draufgegangen sind. Das einzige, was wir jetzt wissen ist, dass die verdammt gute Elementarzauberer in ihren Reihen haben und dass zwei von denen erkannt wurden."
"Sie hätten die drei Muggel nicht derartig zurückweisen dürfen, Freddy", sagte Worthingtons Nachfolger im Muggelkontaktbüro. Der Minister selbst wiegte den Kopf. Er hatte die Erlaubnis zur Operation Wolfsfalle gegeben und trug damit eine gewisse Mitschuld am Tod von dreißig guten Hexen und Zauberern.
"Ja, aber wenn wir diese Brut nicht aufstöbern und ihre Bauten ausräuchern haben wir bis zum nächsten Vollmond über tausend neue Werwölfe, die ohne den Trank herumwüten und in einer Nacht ihre Zahl verdoppeln oder verdreifachen können. Wollten Sie alle hier garantiert auch nicht", rechtfertigte Huntington sein Vorgehen.
"Ja, wollen wir nicht wirklich. Aber die Gefahr ist durch diesen totalen Fehlschlag noch größer geworden, weil wir jetzt mit weniger Einsatzkräften auskommen müssen. Außerdem hat die Presse Wind von der Sache bekommen", sagte Swordgrinder. "Wenn wir jetzt dementieren packen die Angehörigen der dreißig Toten aus. Dann sind wir erst recht in akuter Erklärungsnot."
"Wenn wir der magischen Öffentlichkeit das Horrorszenario von jeden Vollmond auf die dreifache Anzahl wachsenden Werwölfen präsentieren werden wir den nötigen Rückhalt behalten. Daher habe ich bereits eine Pressekonferenz für den morgigen Tag angesetzt, bei der ich Sie, Claudius und sie, Frederic, dabeihaben möchte", stellte der Minister seine beiden Mitarbeiter vor vollendete Tatsachen. Diese verzogen die Gesichter, was vor allem bei dem kleinen, runden Frederic Huntington irgendwie komisch wirkte.
"Ja, dann müssen Sie aber einen Aktionsplan vorweisen, wie wir diese Lambda-Halunken aufspüren und unschädlich machen können, Milton", sagte Swordgrinder.
"Denselben Aktionsplan, den wir bei Auftauchen der Mondbruderschaft schon erwogen haben", sagte der Minister. Die anderen nickten. Nur der für Handel- und Finanzwesen zuständige Mitarbeiter starrte verdrossen über den sich der Zahl der Konferenzteilnehmer anpassenden Tisch und dachte daran, wie viel Gold nötig war, um alle in Gringotts lagernden Silbervorräte aus ministeriellem und privatem Besitz in noch zu bauenden Mondsteinöfen zu schmelzen und zu Armbrustbolzen und Klingenwaffen umzuarbeiten, um jedem Familienoberhaupt die Möglichkeit zu geben, sich und die seinen vor angreifenden Werwölfen zu schützen. Huntington hatte sogar die Freigabe des tödlichen Fluches gegen erwiesene Werwölfe gefordert. Doch der Minister hatte das abgelehnt, weil dies hieß, dass Zauberer und Hexen in der Anwendung dieses Zaubers geübt werden mussten. Natürlich kannten die, die bis zum Schulende Verteidigung gegen die dunklen Künste gehabt hatten die drei unverzeihlichen Flüche. Doch sie zu wirken wurde den Schülern nicht beigebracht.
"Ich habe auch ein Anschreiben aus dem Marie-Laveau-Institut erhalten", teilte Claudius Swordgrinder seinen Kollegen und dem Minister mit. "Mr. Davidson hat von unserem grandiosen Fehlschlag Kenntnis erhalten und bekundet im Namen aller seiner Mitarbeiter tiefstes Beileid für die Angehörigen der im Einsatz umgekommenen. Darüber hinaus erwähnt er, dass seine Experten für die Erkennung und Ortung bösartiger Zauberwesen an Hilfsmitteln forschen, die uns ermöglichen, Werwölfe aus sicherer Entfernung von unbelasteten Menschen zu unterscheiden und sogar, falls wir ihnen das Rezept für den Lykonemisis-Trank zugänglich machen, Hilfsmittel, um Benutzer des Trankes von nicht damit behandelten Werwölfen zu unterscheiden. Er geht davon aus, dass nur die, die Zugang zu diesem Trank haben, gezielt die Verbreitung ihres Daseins betreiben. Ich wollte in dieser Angelegenheit gerne mit Ihnen allen klären, wie ich auf dieses Schreiben antworte oder ob ich es dem Minister zur Kenntnis und Entscheidung vorlegen soll."
"Zu meinen Händen hätte ich dieses Anschreiben schon gerne, Claudius", sagte der Minister. "Außerdem würde mich interessieren, wie genau diese Hilfsmittel arbeiten sollen. Immerhin haben uns die Vampirspürer schon gute Dienste geleistet, und im Falle mit dem Totentänzer konnten wir die massiven Zombieangriffe auf wichtige und gefährliche Einrichtungen der Muggelwelt früh genug erkennen und zurückschlagen."
"Nun, weil ich die Auffassung meiner Vorgänger teile, dass das Institut seine sture Unabhängigkeitshaltung uns gegenüber zurückstellen sollte", sagte Swordgrinder.
"Das kannst du knicken, Claudy", erwiderte Freddy Huntington. "Ich habe mir an deren Betonköpfigkeit schon oft genug den Kopf verbeult."
"Nichts für ungut, Mr. Huntington, ich würde es begrüßen, wenn wir uns im Dienst nicht wie zwei ZAG-Schüler ansprechen würden", murrte Mr. Swordgrinder. Huntington grinste erst. Doch weil alle anderen ihn tadelnd ansahen verging ihm das schnell wieder. Der Minister sagte dann noch, dass er den Brief gerne lesen und sich dann auf der obersten Ebene mit dem Laveau-Institut abstimmen wolle, und zwar so, dass die Zaubererweltmedien nichts davon mitbekamen. "Das mit den toten Außeneinsatzkräften zu bestätigen und zu begründen ist schon schlimm genug. Doch das ist Wissen, dass die Werwölfe bereits besitzen. Alle gegen sie abzielenden Maßnahmen sollten nicht in die Presse oder den magischen Rundfunk. Denn, Ladies and Gentlemen, wir müssen davon ausgehen, dass nicht wenige hier in den Staaten wütenden Werwölfe Zaubererweltbürgerinnen und -bürger sind, die Zugang zu den Nachrichtenverbreitungsmedien besitzen. Vielen Dank!"
"Öhm, wollten Sie noch mehr über die Untergrundorganisation Vita Magica wissen, oder ist deren Verfolgung wegen der Lykanthropengefahr einstweilen zurückgestellt?" wollte Mr. Dime wissen. Der Minister blickte alle an und sagte dann:
"Nun, auch wenn nach dem bisher größten Eingriff in die Familienplanung von Zaubererweltbürgern unbestreitbar ist, dass diese nicht nur bei uns in den Staaten tätige Vereinigung skrupellos vorgeht, so kann ich, so ironisch es klingt, die erzwungene Steigerung des magisch begabten Bevölkerungsanteils nicht als alle menschlichen Leben bedrohende Gefahr einstufen. Sicher handelt es sich dabei um eine gegen die Freiheitsrechte von Zaubererweltbürgern zielende Vorgehensweise, Paare zur Zeugung von Kindern zu treiben und dabei noch mit entsprechenden Mitteln sogar Mehrlingsschwangerschaften zu bewirken. Aber bis wir wissen, wie wir eine unbeherrschbare Lykanthropieepidemie oder gar - pandemie verhindern können untersage ich die Freistellung von fachkundigen Einsatzkräften für die Suche nach Mitgliedern dieser obskuren Organisation, zumal wir ja außer den Werwölfen auch noch ein Wiedererstarken der Vampire und die Untaten eines sich selbst Lord Vengor nennenden Schwarzmagiers bekämpfen müssen."
"Dann dürfen diese Verbrecher weiterhin Paare mit ihren kriminellen Mixturen manipulieren oder gar unverheiratete junge Hexen zu vorzeitiger Neuausrichtung ihres Lebens zwingen?" fragte Nancy Gordon, die hauptamtliche Vorsteherin des Muggelkontaktbüros.
"Wir haben denen den Krieg erklärt, als wir im Umkreis von hundert Meilen um Viento del Sol jede Alterslinie vereitelt haben", feixte Swordgrinder. "Hätten wir doch mit rechnen müssen, dass die mit ihren Mitteln heftig zurückschlagen."
"Wobei diese Maßnahmen eigentlich nur in diesem Kollegium auf Stufe S9 vereinbart wurden", erinnerte sie der Minister daran, dass die Gegenmaßnahmen gegen die Mora-Vingate-Partys keinem Außenstehenden bekannt werden durften. "Also müssen wir uns eher die Frage stellen, wer für diese Organisation bei uns spioniert. Ja, ich sehe es Ihnen allen an, dass Sie jeden Verdacht von sich weisen möchten. Und genau um keine voreiligen Verdächtigungen innerhalb unserer Abteilungen aufkommen zu lassen gilt es zunächst, die Gefahr der unkontrollierbaren Lykanthropie einzudämmen. Das Gesetz zur rehabilitierung bisher benachteiligter Werwölfe ist seit dem 1. Januar in Kraft. Ich schlage Ihnen beiden vor, dass Sie über die in Europa so erfolgreich angelaufene Einrichtung einer aus loyalen Lykanthropen gebildeten Ermittler- und Ergreifungsgruppe nachdenken, Frederic und Claudius."
"Wenn Croesus unserer Abteilung das doppelte Budget gönnt kann ich schon übermorgen sieben registrierte Lykanthropen mit und dreißig registrierte Lykanthropen ohne magische Begabung anwerben", sagte Huntington und sah Finanzabteilungsleiter Dime an. Dieser starrte den kleinen, runden Werwolfbehördenbeamten verstört an, als habe der ihm gerade gesagt, dass Gold keinen Wert mehr habe.
"Ich sehe, das ist genug Stoff für eine bilaterale Verhandlung zwischen Ihnen beiden", erwiderte der Minister, der bei dieser Konferenz keine ellenlangen Diskussionen über freizugebende Geldmittel vom Zaun brechen wollte, wenn davon nur eine seiner Abteilungen betroffen war.
"Ja, aber wie reagieren wir jetzt auf die unmittelbare Bedrohung durch die Werwölfe?" wollte Swordgrinder wissen.
"Patrouillen in allen größeren Städten und gesonderte Aufmerksamkeit auf alle Polizeiberichte, bei denen es um Angriffe tollwütiger Hunde oder in Städten marodierender Wölfe geht. Nancy, das dürfen Sie dann mit ihren Computernetzfachleuten ausführen", sagte der Minister. Nancy Gordon nickte. Damit war die Konferenz beendet.
Cartridge zog sich in sein Büro zurück, um längst überfällige Anfragen an seine europäischen Kollegen zu schicken, ob bei Ihnen auch das rote Lambda im geschlossenen Kreis aufgetaucht war. Er hatte gerade einen kurzen Brief an seinen deutschen Amtskollegen Güldenberg fertig und war froh, dass der zumindest britisches Englisch konnte, als sein Sekretär Lenonard Fields eine Besucherin meldete. "Öhm, Madam Greensporn ist draußen, ähm, und sie ist ziemlich angesäuert, Sir", sagte der dunkelhäutige Zauberer.
"Ich kann mir was denken, Lenny. Schicken Sie sie rein und lassen sie ihr Lindenblütentee mit Wildbeerenhonig und mir Earl Grey mit Kandiszucker bringen!"
"Geht klar, Sir", sagte Fields und verkündete, dass Großheilerin Greensporn das Büro des Ministers betreten durfte.
"Sie sind sicher hier, weil Sie mit mir über die Machenschaften von Vita Magica sprechen möchten, richtig, Madam Greensporn?" fragte der Minister, als er der späten Besucherin seinen Sessel als Sitzgelegenheit angeboten hatte.
"Minister Cartridge, ich hoffe doch sehr, dass Sie nicht davon ausgehen, mir gehe in meinem Alter langsam der Verstand aus", schnaubte Eileithyia Greensporn. "Es geht mir nicht oder zumindest heute nicht um die Aktivitäten von Vita Magica. Denn dass sie deren Treiben zunächst untergeordnet betrachten müssen wurde mir in dem Moment klar, als sich kriminelle Lykanthropen dazu entschlossen, ihre Krankheit zielgenau auf arglose Muggel zu übertragen. Und genau aus dem Grund bin ich hier, weil Sie und Ihr Mitarbeiter Huntington mit Großheiler Silverspoon und den Kollegen aus der Abteilung für Verletzungen und Krankheitsübertragungen durch magische Wesen ausgeheckt haben, drei bis dahin unbescholtene Muggelweltbürger zu Ködern für diese Kriminellen zu machen, in dem Sie diesen den Zugang zum Wolfsbanntrank vorenthalten ließen. Ich erhielt vor einer Stunde Kenntnis darüber, dass zwei dieser drei Muggel und dreißig Zauberer und Hexen aus dem Ministerium im Einsatz getötet wurden und der dritte infizierte Muggel, ein Halbwüchsiger noch dazu, spurlos verschwunden ist, womöglich von den Lykanthropen entführt wurde, um ihnen als neuer Mitkämpfer oder Fortpflanzungspartner zu dienen. Ich bin nur hergekommen, weil ich in meiner Eigenschaft als Sprecherin der nordamerikanischen Heilzunft mitteilen möchte, dass ich diese Vorgehensweise für mit den Heilerdirektiven unvereinbar halte, ich nicht rechtzeitig über diese Übereinkunft unterrichtet wurde und nach dem fatalen Fehlschlag dieser Aktion klarstellen möchte, dass wir, also alle nordamerikanischen Heilerinnen und Heiler, uns für derartige Irrsinnsoperationen nicht mehr hergeben werden."
"Und dafür sind sie extra aus dem HPK zu mir herübergekommen, um mir das zu sagen?" fragte der Minister nach außen hin unbeeindruckt.
"Wäre Ihnen ein Heuler lieber gewesen, Herr Minister?" antwortete Eileithyia Greensporn mit einer Gegenfrage.
"Ich habe dem zugestimmt, weil wir dringendst aufklären müssen, wer hinter dem neuerlichen Aufruhr von Werwölfen steckt und wo diese Kriminellen ihren Unterschlupf haben. Ich konnte nicht wissen, dass diese Halunken über einen besonderen Feuerzauber verfügen, der ausschließlich lebende Substanz zerstört. Abgesehen davon hat das Ministerium das Recht, den Zugang zu magischen Tränken zu gewähren oder zu verweigern, die außerhalb heilmagischer Behandlungsvorgänge liegen. Abschließend kann und will ich nur bekräftigen, dass mir und meinen Mitarbeitern weder am Tod der beiden Polizisten noch an dem tragischen Tod so vieler gut ausgebildeter und loyaler Hexen und Zauberer gelegen war. Was den Jungen angeht, so sucht die Werwolfbehörde bereits nach der ihm durch die Vereidigung aufgeprägten Spur. Sobald sie ihm den Lykonemisis-Trank geben können wir ihn orten. Dann wissen wir auch, wo der Unterschlupf ist."
"Ich kenne die Planung und kann Ihnen jetzt schon sagen, dass Ihnen das Wissen um den Unterschlupf nichts einbringen wird, selbst wenn die Lykanthropen die Aufspürbezauberung nicht erkennen oder brechen können. Die Werwölfe haben aus Wolfsherbst sicher die Lehren gezogen, ihre wichtigen Ausgangsbasen noch mehr abzusichern als jenes Quartier in Spanien, und selbst das konnten über fünfhundert Hexen und Zauberer aus der ganzen Welt nicht erstürmen, ohne eine Selbstvernichtungsvorrichtung auszulösen und nicht früh genug, um die Flucht der darin verschanzten Werwölfe zu verhindern."
"Ach, wie wollen Sie denn verhindern, dass diese Verbrecher ihre Erkrankung als Waffe und Druckmittel gegen uns alle einsetzen?" fragte der Minister zurück.
"Zunächst dadurch, dass denen, die befallen sind endlich die Anerkennung als immer noch gleichwertige Bürger der Zaubererwelt zugestanden wird und den magielosen Trägern des Keims der Zugang zum Wolfsbanntrank oder dem Lykonemisis-Trank gewährt wird, und zwar ohne wenn und aber. Sollte es an Finanzmitteln oder Fachpersonal mangeln stehen wir von der Heilerzunft natürlich sehr gerne bereit, Ihnen auszuhelfen."
"Das Gesetz zur Rehabilitierung ungerecht behandelter Träger des Lykanthropiekeimes ist seit dem 1. Januar dieses Jahres in Kraft, wie Sie wissen dürften. Was die Zugänglichkeit von Tränken angeht wundert es mich, Sie als Heilerin auf die Endlichkeit von Zutatsressourcen hinweisen zu müssen. Wir können keine tausend oder gar zehntausend Lykanthropen mit Wolfsbanntrank oder dem noch komplexeren Lykonemisis-Trank versorgen, zumal durch die Verbreitung der Werwut auch die Geheimhaltung der Zauberei gefährdet ist. Also müssen wir das Übel an der Wurzel packen und jede Gefahr einer unkontrollierbaren Epidemie oder gar Pandemie ersticken."
"Mir gefällt der Gedanke nicht, den Sie mit Ihrer Äußerung angeregt haben. Doch rein offiziell frage ich Sie, ob Sie nicht davor zurückschrecken würden, Werwölfe gezielt jagen und töten zu lassen, unabhängig davon, ob sie der kriminellen Vereinigung angehören oder nur deren Opfer sind?"
"Da dies nicht innerhalb der Zuständigkeit der Heilerzunft liegt und auch sonst ohne deren Beteiligung stattfinden kann werde ich Ihnen auf diese Frage keine Antwort geben", sagte der Minister, womit er Eileithyias Frage indirekt beantwortet hatte.
"Wie erwähnt stehen wir Ihnen zur Verfügung, wenn es um die Behandlung der Gebissenen und deren Wiedereingliederung in die restliche Bevölkerung geht. Aber Aktionen wie die mit den drei Muggeln werden wir nicht mehr mittragen."
"Das hätte ich gerne Schriftlich von Ihnen", sagte der Minister dazu. Zur Antwort förderte Großheilerin Greensporn einen offenen Umschlag aus ihrer Heilertasche und überreichte ihn dem Minister. Cartridge zog die darin steckenden Pergamente heraus, las sie durch und schob sie in den Umschlag zurück. "Zur Kenntnis genommen und akzeptiert", sagte er nur dazu. Dann fragte er die hauptberufliche Hebamme, ob sie ihm einen Rat im Bezug zum Umgang mit Vita Magica geben könne.
"Propagieren sie für alle erwachsenen Hexen und Zauberer den durch Präservative geschützten Geschlechtsverkehr, Minister Cartridge. Soweit ich weiß wird dies wegen einer das Immunsystem schwächenden Viruserkrankung innerhalb der Muggelwelt bereits seit den 1980er Jahren so gemacht. Ich war und bleibe sehr gerne bereit, neuen Zaubererweltkindern auf die Welt zu helfen, sehe aber durchaus ein, dass deren Eltern sich bewusst für ihre Entstehung entscheiden dürfen sollen. Auch wenn die Mütter dieser Kinder durch die ihnen unerwünscht verabreichten Mittel zur Empfängnisförderung auch einen gesteigerten Drang zum Schutz der so entstandenen Kinder eingepflanzt bekommen handelt es sich doch um einen rechtswidrigen Eingriff in die freie Lebensführung von Menschen. Menschen wie Zuchtvieh zu behandeln widerstrebt mir und allen Kolleginnen, die die Ehre haben, neue Kinder auf die Welt zu holen."
"Ich habe echt schon gedacht, Sie würden mir anbieten, das Kontrazeptivelixier kostenlos anzubieten", grinste der Minister.
"Ich fürchte, diese Halunken haben korrumpierte Derivate davon entwickelt und schmuggeln sie unter ursprünglich wirksame Dosen dieses Mittels. Statt eine ungewollte Zeugung zu verhüten könnten die verfälschten Mittel diese erst recht herbeiführen. Zumindest ist das eine Schlussfolgerung, die meine Kolleginnen und ich aus den vermehrt entstandenen Mehrlingsschwangerschaften ziehen müssen. Darüber hinaus können wir erst nach erfolgter Niederkunft mit Sicherheit bestimmen, ob Kinder unter der Wirkung eines VM-Gebräus gezeugt und ausgetragen wurden oder aus beiderseitigem Kinderwunsch des Elternpaares entstanden. Daher kann ich Ihnen nur diesen Rat geben, die Anwendung rein mechanischer Verhütungsmittel zu fördern, natürlich nur bei volljährigen Hexen und Zauberern, um ungezügelten Geschlechtsverkehr und damit die Entwertung desselben zu betreiben."
"Gut, das kläre ich mit Mr. Dime, ob wir derlei Hilfsmittel kostenlos verteilen können oder nicht."
"Ich habe mir bei einem Ausflug in das San Francisco der Muggel mal einen Verkaufsautomaten für derlei Verhütungsmittel angesehen und mir mal um den Erwerbsvorgang nachzuvollziehen eine Packung mit Latexpräservativen gekauft. War irgendwie amüsant, wie mich drei junge Mädchen angesehen haben, weil ich das getan habe, wo ich unübersehbar schon jenseits des für wilde Liebesakte üblichen Alters bin. Da habe ich denen gesagt, dass ich in meinem Alter bei dem einen mal im Winter jedes Jahr doch noch aufpassen muss, dass ich meinen Urenkeln keine Großonkels oder Großtanten vorstellen möchte, die jünger sind als diese. Da haben die ganz verhalten gegrinst und sich sehr schnell und leise davongemacht. Falls Sie möchten übersende ich Ihnen und der Abteilung für magische Familienfürsorge meinen Bericht über diesen Vorgang."
"Öhm, ja bitte", sagte der Minister.
"Und was die Lykanthropen angeht, Herr Minister, so sollten Sie sich um des Schutzes aller Ihnen vertrauenden Bürgerinnen und Bürger wegen zu weiterführenden Verhandlungen bereiterklären."
"Das werde ich mit den betreffenden Kollegen erörtern, wenn diese Zeit haben", erwiderte der Minister.
"Am besten gestern", fauchte Eileithyia Greensporn. Da kam Lenny mit einem Tablett mit zwei dampfenden Teetassenherein.
"Ah, sehr aufmerksam, Mr. Fields. Danke!" sagte Eileithyia Greensporn und lächelte Leonard Fields an. Dieser verneigte sich vor ihr und sah dann den Minister an. "Öhm, Sir, das Zeichen wurde jetzt auch in San Francisco gefunden. Habe gerade eine Rohrpost aus dem Mukobü bekommen."
"Dann sind es jetzt zwölf größere Städte", grummelte der Minister. "Geben Sie eine Kopie an Huntington weiter!"
"Wird erledigt, Sir", erwiderte Fields und eilte zurück ins Vorzimmer.
"Sie sehen, Madam Greensporn, dass diese Bande unbedingt gestoppt werden muss. Wenn wir wissen, wo sie den Jungen hingebracht haben werde ich nicht umhin kommen, die vollständige Vernichtung dieses Unterschlupfes anzuordnen."
"Ohne zu wissen, ob dies das Hauptquartier oder nur ein Rückzugsort ist?" fragte Großheilerin Greensporn. Darauf konnte oder wollte Cartridge ihr keine Antwort geben.
Sie tranken den Tee in Ruhe, wobei Eileithyia Greensporn versuchte, den Minister von einer friedlichen Lösung des Werwolfproblems zu überzeugen, ja sogar andeutete, dass es sich bei der jetzt aktiv gewordenen Gruppe nicht um die Mondbruderschaft handele oder ein von dieser abgespaltener radikaler Zweig sei. Davon ging der Minister auch aus, weshalb er ja gerade auch mit radikalen Mitteln zurückschlagen müsse. War es der Mondbruderschaft noch darum gegangen, ihre Opfer gezielt zu wählen, so wollte die jetzt aufgetauchte Bande einfach nur neue Werwölfe entstehen lassen. Am Ende trachteten die auch noch danach, durch natürliche Zeugung mit dem Keim geborene Kinder auf die Welt zu bringen.
"Ich habe mit dem Laveau-Institut Kontakt aufgenommen. Dieses hat sich bereiterklärt, mit meinen Kolleginnen und mir die Mutter-Kind-Stationen von Muggelweltkrankenhäusern gegen lykanthropische Eindringlinge abzusichern. Das wollte ich Ihnen bei der Gelegenheit auch mitteilen, obwohl das auch ohne Ihre Genehmigung vollzogen werden kann."
"Ob das so ist werde ich bei der erwähnten Beratung mit den Fachkollegen klären und Ihnen dann mitteilen", erwiderte der Minister nun doch etwas verdrossen.
"Dass es in der Welt auch zu neuen Übergriffen von Vampiren kommt wissen Sie sicher auch schon längst", schnitt Eileithyia Greensporn ein anderes Thema an. Der Minister nickte. So ging es dann noch um die Vampire, die wohl als Erben von Nocturnia auftraten und dass einige von denen wie in nachtschwarzen Portschlüsselspiralen verschwinden konnten, wenn es ihnen an den Kragen ging. Der Minister wollte wissen, woher sie das wusste und erhielt die Antwort, dass die Heiler weltweit miteinander Kontakt hielten und alle die Gesundheit von Menschen bedrohenden Ereignisse aus der Zaubererwelt weitermeldeten. "Das die Muggel sich und uns mit ihren Maschinen und Mixturen immer mehr vergiften können wir ja leider nicht verhindern, solange wir nicht bereit sind, die Geheimhaltung aufzukündigen und im selben Augenblick die gesamtverantwortung für die gesamte Menschheit zu übernehmen, was jedoch die Gefahr in sich birgt, dabei auf alle freiheitlichen Errungenschaften verzichten zu müssen, um die angerichteten Schäden zu beheben. Weder Sie noch ich wollen dies."
"Ja, aber Anthelias Schwesternschaft", seufzte der Minister.
"Bei der Gelegenheit, nur unter uns beiden, Sie hätten das Abkommen mit dieser unverwüstlichen Hexe nicht gefährden dürfen. Jetzt hat sie genug Grund, wieder ihren eigenen, uns beiden missfallenden Weg zu gehen."
"Das ist mir leider all zu klar. Aber die magische Öffentlichkeit verurteilt mich wegen des bisherigen Abkommens und hat klargemacht, dass eine Neuauflage dieses Burgfriedens nicht mehr erwünscht ist."
"Ja, das ist wohl leider wahr", seufzte Großheilerin Greensporn.
Nachdem sie ihren Tee in aller Ruhe ausgetrunken hatte verließ sie den Minister mit Grüßen an seine Frau und seine Kinder.
"Sie hätte dir von diesen Muggeldingern eins mitgeben sollen, damit wir mal ausprobieren, wie sich das anfühlt, mit sowas zu schlafen", sagte Godiva Cartridge am Abend, als sie mit ihrem Mann im Bett lag. Der Minister grummelte nur, dass es garantiert nicht so prickelnd und vereinend sein würde wie sonst.
"Da könnten die entsprechenden Hersteller dann was dran machen", säuselte Godiva Cartridge. So beschloss der Minister, die Anregung Madam Greensporns bei der Handelsabteilung unterzubringen.
Alfredo José María Camacho Vicario fühlte sich elend. Vor einer Stunde hatten die Ärzte in der Sportklinik von Barcelona ihm und dem Vorstand des FC Barcelona mitgeteilt, dass an den in den letzten drei Tagen aufgekommenen Gerücht doch was dran sei. Blut- und Gewebeproben, sowie Haar- und Fingernägel des zu untersuchenden hatten Reste einer bis dahin nicht bekannten Gruppe von Substanzen aufgewiesen, die über mehrere Phasen die körperlichen und geistigen Fähigkeiten steigerten. Es waren Auszüge aus tropischen Pflanzen, die jede für sich giftig war, aber offenbar in entsprechender Dosierung und Zusammenstellung wie eine Mischung aus Amphetaminen und Anabolika wirkten. Doktor Torres Mingues, der untersuchende Arzt, hatte selbst erst nachrecherchieren müssen, was an dieser Kombination von Wirkstoffen dran war und erfahren, dass die Stoffe in Südamerika jungen Kriegern mit dem Essen verabreicht wurden, um sie wendig, reaktionsschnell und ausdauernd zu machen. Wenn das zutraf, dann war Aron Lundi über Jahre hinweg einem gezielten Doping unterzogen worden. Er fragte sich nur, wieso das in Frankreich noch nicht herausgekommen war. Dann kam ihm der schreckliche Verdacht, dass die Vereinsfunktionäre von Le Havre das gewusst haben mussten, ja insgeheim wohl darauf spekuliert hatten, dass die verwendeten Substanzen nach wenigen Tagen nicht mehr im Körper nachweisbar waren, weil sie zu Körper eigenen Substanzen verändert wurden.
"Und es ist zertifiziert, dass Señor Lundi diese Mittel eingenommen hat?" fragte Camacho den leitenden Arzt.
"Ich habe mittlerweile Unterlagen aus Lima und La Paz, die derartige Vorkommnisse bei Leistungssportlern mit indigenem Hintergrund berichten. Weil die Kollegen nicht wollten, dass das öffentlich wird, um keine neuen Drogen zu bewerben, wurde es so gehandhabt, dass die betreffenden Sportler für eine hohe Stillhaltesumme ihre Sportlerlaufbahn beendeten und in anderen Berufszweigen untergebracht wurden, natürlich auch mit schriftlich vereinbartem Stillschweigen über diese Substanzen. Es wird sogar gemunkelt, dass diese Substanzen schon an Soldaten in Chile und Argentinien erprobt wurden. Aber offenbar geht es in der gesundheitsunbedenklichen Dosierung nur bei Jungen und Mädchen vor Eintritt in die Pubertät."
"Ja, aber wie konnte dann ein Klosterschüler in Frankreich diese Drogen erhalten?" wollte Camacho wissen.
"Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich nur Arzt bin und kein Polizist. Ich konnte nur medizinische Unterlagen und Testergebnisse auswerten", sagte Torres mit verkniffenem Gesicht.
"Die Reporter vom Barca-Express und auch schon einer von El Mundo haben bei uns angerufen, um zu erfahren, ob an den Gerüchten was dran sei, dass Lundis Talente nicht natürlichen Ursprungs sind."
"Und was haben Sie denen gesagt?" fragte der Arzt. Camacho holte tief Luft und erwiderte:
"Das wir keine Stellungnahme abgeben, solange wir keine vollständigen Untersuchungsergebnisse erhalten haben. Haben wir diese Ergebnisse jetzt?" Der Arzt nickte schwerfällig.
"Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mit Ihren Unterlagen in der Hand zu meinem Vorstand zu gehen und ihm zu empfehlen, Aron Lundi bis auf weiteres nicht ins Training für die Juniorenmannschaft einzubinden, bis wir wissen, ob die ihm verabreichten Substanzen mit seinem Wissen oder ohne sein Wissen verabreicht wurden und ob sich nach längerem Verzicht darauf körperliche oder geistige Spätfolgen zeigen."
"Die Presse wird Sie und mich fragen, warum der junge Spieler nicht spielen darf", sagte der Arzt. "Ich sage Ihnen das deshalb, weil ich fürchte, dass es in unserem Haus eine undichte Stelle gibt. Irgendwie gelangen sehr vertrauliche Informationen an verschiedene Zeitungen. Sollten Sie, was Ihr gutes Recht ist, eine Beurlaubung des jungen Spielers erwirken, könnte dieser Maulwurf versuchen, an unsere Testergebnisse zu kommen, um sie meistbietend zu verkaufen. Spätestens dann ..."
Das altertümlich wirkende Telefon auf Torres' Schreibtisch läutete. Der Arzt nahm den klobigen Hörer von der Gabel und meldete sich. Er sagte mehrmals "Ja" und erbleichte dann. "Alle Unterlagen?" fragte er. Dann errötete er wütend und blaffte: "Wozu haben wir eine Firewall, wenn jeder halbwüchsige Hacker ... Wie, von innen? Ohne Zugangsprotokoll? Besteht die Möglichkeit, die Daten noch im Haus abzufangen? ... Schön, dass Sie das jetzt schon herausgefunden haben, wo es doch erst eine Stunde her ist. Ja, ich werde mich bei der Krankenhausleitung beschweren, Sie Stümper. Falls jemand uns auf Schadensersatz verklagt kriegen Sie und Ihre Schlafmützenkompanie die Rechnung ... Sie auch von meinem Anwalt." Dann knallte Torres Mingues den Hörer unüberhörbar wieder auf die Gabel zurück. Camacho wollte die Frage nicht stellen, die ihm gerade wie eine aufgescheuchte Hornisse durch den Kopf surrte. Er schwieg einige lange Sekunden. Dann sagte Torres:
"Das erwähnte Leck hat wieder zugeschlagen, Alfredo. Ich fürchte, was wir gerade erörtert haben kann heute noch irgendwo in einer Zeitung oder bei einem Fernsehsender erwähnt werden."
"Sie meinen, jemand hat Kopien von den Unterlagen gemacht und will sie jetzt vermarkten?" fragte Camacho, der nun sichtlich blasser aussah. Wenn das veröffentlicht wurde war das ein Skandal, und er hing voll drin.
"Von diesem Vorgang und von drei anderen Untersuchungen, die noch laufen. Bei den Unterlagen waren auch die Berichte meiner südamerikanischen Kollegen."
"Wir könnten es so hinstellen, dass Sie eine Falle für einen möglichen Spion in dieser Klinik aufgebaut und diese Unterlagen als Köder bereitgestellt haben", versuchte Camacho, den drohenden Schaden abzuwenden. Doch Torres schüttelte den Kopf.
"Dann werden die uns erst recht fragen, was an Lundi dran ist, dass Sie ihn nicht spielen lassen dürfen. Und glauben Sie mir, wenn er gegen Madrid spielt und so überragend ist, wie die Fitness- und Reaktionstests es aussagen, werden die ihn untersuchen, gerade dann, wenn jemand in Umlauf bringt, dass er womöglich mit unbekannten aber dennoch unzulässigen Pharmazeutika versehen wurde."
"Dann müssen wir uns eine Taktik für eine Flucht nach vorne ausdenken, Doktor. Ich rufe mal eben bei meinem Vorstand an und erörtere das mit diesem." Dr. Torres nickte schwerfällig.
Julius seufzte, als er den Packen von dreißig Papierseiten sortiert hatte. Das Arkanet, das maßgeblich von seiner Mutter programmiert und installiert worden war, hatte über seine virtuellen Suchroboter an die dreißig Seiten über Aron Lundi zu Tage gefördert. Nachdem bei der angesetzten Untersuchung von Aron Lundi auch auf langfristige Einnahme von Drogen getestet worden war hatten die Ärzte wohl einen Cocktail aus exotischen Pflanzenwirkstoffen nachgewiesen, der, wenn über Jahre in kleinen Dosen verabreicht, Muskeln und Nerven stärken und Menschen zu besonders gewandten, ausdauernden und reaktionsschnellen Athleten im besten und Elitesoldaten im schlimmsten Fall machen konnte. Angeblich entstammte dieser Drogencocktail den Urwaldküchen irgendwelcher südamerikanischer Medizinleute und Schamanen und war über Missionsstationen auch den Streitkräften Perus, Boliviens und Venezuelas bekannt geworden. Ein Reporter aus Paris mutmaßte sogar, dass westliche Geheimdienste wie die CIA oder der israelische Mossat hinter dieser Arznei her sein mochten. Jedenfalls war herausgekommen, dass Aron Lundi in seiner Schulzeit wohl ohne sein Wissen mit diesen Mitteln behandelt worden war, wie auch immer die Nonnen seiner Klosterschule das beschafft hatten. Zumindest wimmelte es von Dementis seitens des HAC und der Klosterschule. Mit herkömmlichen Untersuchungsmethoden war die Verabreichung dieser Droge nicht zu ermitteln, hieß es in der Stellungnahme eines spanischen Arztes, der über Fakten und Fiktionen im Bezug auf tropische Wundermittel referiert hatte. Auf jeden Fall hatte irgendein Informant im Sportkrankenhaus die Unterlagenüber Lundi an eine Zeitung in Madrid verscherbelt. Der Vorstand vom FC Barcelona hatte eine unbefristete Trainingspause für Aron Lundi angeordnet und sich wohl, was ebenfalls nur Dank mitteilsamer Informanten weitergereicht worden war, mit dem Vorstand des Le Havre AC darum zu streiten begonnen, ob sie die für Lundi ausgehandelte Summe zurückfordern oder einen ungedopeten Ersatz für ihn einhandeln konnten.
"Ich habe ein absolut reines Gewissen. Ich habe nie was geschluckt, um schneller oder besser zu werden als alle anderen. Außerdem hätten alle die, die meinten, an mir herumerziehen zu dürfen, ja dann auch andre Mitschüler von mir damit bearbeiten können. Was das Gerücht angeht, ich würde wegen dieses Zeugs jedes Vierteljahr eine Geldsumme bar in meine alte Schule schicken, so ist das eine verdammt gemeine Lüge. Wer immer die in Umlauf gesetzt hat soll so mutig sein, sich dafür vor Gericht zu verantworten. Ich habe kein Doping genommen und werde das auch in Zukunft nicht tun. Die Unterlagen wurden frisiert", las Julius eine Stellungnahme Aron Lundis vom Abend. Diese Stellungnahme konnte er auch auf der Internetplattform eines Fernsehsenders aus Barcelona in Bildd und Ton nachverfolgen.
"Ja, eindeutig, die Unterlagen sind frisiert worden", sagte Julius, als Millie die Texte nachgelesen hatte.
"Kriegt er dafür jetzt gefängnis?" fragte sie. Julius überlegte. Dann sagte er:
"Wenn nachgewiesen wird, dass er damit nichts zu tun hatte kann er selbst sogar wegen Körperverletzung Anzeige erstatten, weil ihm jemand was gegeben hat, was seinen Körper verändert hat. Jedenfalls darf er vorerst nicht spielen."
"Und diese Ordensschwestern, denen das jetzt in die Schuhe geschoben werden soll?" fragte Millie.
"Ich fürchte, daran arbeitet Madame Grandchapeau noch, ob die deshalb belangt werden oder nicht. Das primäre Ziel, Lundi vom Platz zu nehmen ist ja erreicht worden."
"Wird Fleurs großer Cousine garantiert nicht schmecken, dass sie jetzt doch nicht mit dieser Victoria Beckham konkurrieren kann", seufzte Millie. Früher, so dachte Julius, hätte sie das mit einem spöttischen Unterton gesagt. Doch sie und er wussten, dass Euphrosyne das nicht so locker nehmen würde, falls ihr Auserwählter nicht mehr öffentlich auf Torejagd gehen durfte. Am Geld lag ihr wohl nichts. Aber am Ruhm und der Anerkennung, vermutete Julius.
"Tun wir so, als hätten wir davon nichts mitbekommen?" fragte Millie.
"Solange Euphrosyne nicht mich verdächtigt, daran gedreht zu haben können wir so tun", sagte Julius. Er dachte an Temmies Warnung: "Wenn sie mit böser Kraft gegen ihn gehen wird das auf sie zurückfallen." Andererseits hatte ihm Nathalie Grandchapeau durch einen großen Blumenstrauß mitteilen lassen, dass er mit dieser Angelegenheit nichts zu tun haben sollte. Aber würde sich Euphrosyne Blériot daran halten?
"Und, möchtest du auch drei Kinder ins Leben tragen, Schwester Louisette?" fragte Anthelia ihre französische Mitschwester, bei der sie gerade zu Besuch war, um neues aus dem Geburtsland ihres ersten Körpers zu erfahren.
"Bei uns hat es keinen Startschuss zu vielen neuen Kindern gegeben. Im Moment tragen fünfzehn Hexen je ein Kind aus, bei einer weiß ich, dass sie Zwillinge erwartet und dann ist ja am zweiten Februar die zweite Tochter von Julius und Mildrid Latierre zur Welt gekommen."
"In den vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko sind über hundert Hexen schwanger geworden, davon tragen achtzig mehr als zwei Kinder zur selben Zeit aus. Ist schon lustig, dass es da eine Gruppe von Leuten gibt, die meinen, die magische Menschheit auf diese Weise zu vermehren. Aber dann sollten die Hexen es selbst entscheiden, wann sie Kinder haben möchten und wann nur vergnügliche Liebesakte erleben möchten", erwiderte Anthelia. Dann sprachen sie über die Werwölfe. Louisette konnte leider nicht auf alle im Ministerium herumgehenden Mitteilungen zugreifen, ohne aufzufallen. Daher wusste sie nur, dass die Légion de la Lune, die französische Sondertruppe, die aus Werwölfen bestand, mittlerweile sechzig hauptamtliche Mitglieder und eine nicht bekannt gemachte Zahl von Informanten besaß.
"Wollen wir daran arbeiten, dass die Truppe nicht doch irgendwan auf Legionsstärke anwachsen muss,um der Flut von Werwütigen Einhalt bieten zu können", sagte Anthelia.
"Ja, und dann sind da noch die neuen Vampire. Öhm, und ich habe jetzt eine vollständige Liste aller der Leute, die mit den ersten Opfern dieses Vengors über mehrere Zweige und Unterzweige verwandt sind. Insgesamt dreißig stück."
"Hast du auch die Geburtstage von diesen Leuten erfahren?"
"Natürlich. Denn wenn Vengor wirklich ein Ritual einhalten muss, seine Opfer alle um ihre Geburtstage herum töten zu müssen, müssen wir wissen, wann und wen wir beobachten müssen."
"Solange wir kein Mittel haben, um die Macht der Unlichtkristalle zu brechen wäre jeder Angriff auf ihn ein Selbsttötungsakt. Aber vielleicht können wir zumindest seine Handlanger auslöschen", erwiderte Anthelia und erwähnte, dass sie an einer Methode forsche, Träger der Unlichtkristalle zu finden.
"Das wäre auf jeden Fall ein großer Fortschritt", sagte Louisette.
"Du hast angedeutet, dass es noch was gäbe, was mich interessieren könnte, aber nicht so dringend sei. Was ist es?" fragte Anthelia. Zur Antwort gab Louisette ihr ausgeschnittene Artikel aus dem Mirroir Magique, der Temps de Liberté und einigen französischen und spanischen Muggelzeitungen, die sich schwerpunktmäßig mit Sportarten und Sportlern befassten. Als Anthelia die Artikel überflogen hatte musste sie grinsen.
"Oh, haben sie dieser Viertelveela nicht gegönnt, ein Leben lang als alle magielosen Gespielinnen überstrahlende Gefährtin eines Berufssportlers zu glänzen? So ein Pech aber auch."
Eine Waldohreule klopfte hektisch ans Wohnzimmerfenster. Louisette öffnete es und löschte damit den provisorischen Klankerker aus. Anthelia sah, wie ihre französische Mitschwester einen Brief entgegennahm. Die Eule schwirrte sofort wieder zum Fenster hinaus.
"In einem Obdachlosenasyl der so genannten Heilsarmee ist das ominöse Lambda im Kreis an der Wand der Damentoilette gefunden worden. Da es kein eindeutig satanistisches oder obszönes Zeichen ist haben die dort hineingehenden Reinigungskräfte es erst einmal nicht beseitigt. Aber eine Mitschwester von mir hat es den Zögerlichen gemeldet. Sie arbeitet in diesem Heim als Küchenhilfe, um nach kriminellen Zauberern oder Zauberwesen ausschau zu halten, die die Clochards beeinflussen oder für ihre Zwecke entführen wollen."
"Ist dieser Bedürfnistrakt gegen Apparieraufspürger gesichert, Schwester Louisette?"
"Ja, weil besagte Mitschwester von dort aus schnell verschwinden oder unauffällig dort ankommen möchte. Ich war da zwar noch nicht, kann dir aber Entfernung und Richtung mitteilen."
Anthelia lauschte und erfasste auch die Gedanken ihrer Mitschwester. Dann war sie sicher, in den richtigen Raum hineinzuapparieren. Sie bedankte sich bei ihrer Mitschwester und verschwand unverzüglich.
Als Anthelia unmittelbar vor einer weißgekachelten Wand in einem nach Muggelchemikalien stinkenden Gang erschien hörte sie zunächst einen kurzen Aufschrei. Dieser kam von einer älteren Frau, die gerade an einem Waschbecken stand, um sich die Hände zu waschen. Blitzartig zielte Anthelia mit ihrem Zauberstab auf die unerwünschte Zeugin und belegte sie mit einem Gedächtniszauber, damit die andere glaubte, Anthelia sei gerade erst durch die Tür hereingekommen. Dann wechslte Anthelia aus ihrer Zaubererweltkleidung in eine aus dem Bestand dieses Hauses apportierten Uniform einer Heilsarmistin, die ihr an den Brüsten zu eng und um die Hüften zu weit anlag.
"Haben Sie das auch gesehen?" fragte Anthelia und deutete auf das rote Lambda im Kreis. Die ältere Dame neben ihr machte eine hilflose Geste. "Habe ich vorhin mit Farblösern wegzuputzen versucht. Die Farbe ist jedoch unabwaschbar. ich weiß nicht, was dieses Symbol soll. Majorin Lantier sagt, das Zeichen sei ein griechischer Buchstabe und stehe für Lux, also Licht. Aber wer es da hingemacht hat und warum es dann blutrot ist weiß ich nicht."
"Wieso ausgerechnet hier und nicht an einer für Bilder zugelassenen Oberfläche in den anderen Räumlichkeiten?" fragte Anthelia.
"Deshalb glaube ich das auch nicht, dass es ein Heilssymbol ist. Wenn es wirklich ein L-Zeichen ist könnte es auch für Luzifer stehen, den gefallenen Engel, Gott sei uns gnädig."
"Es ist der griechische Buchstabe Lambda, der dem lateinischen L entspricht", bestätigte Anthelia. Sie hätte zu gerne magische Versuche mit dem Zeichen angestellt. Doch solange diese alte Frau im Raum war konnte sie nicht so wie sie wollte.
"Wenn Sie denken, dass der Teufel oder einer seiner Jünger dieses Zeichen angebracht hat versuchen Sie es doch mal mit geweihtem Wasser", schlug Anthelia scheinheilig lächelnd vor. Die ältere Frau nickte heftig.
"Ja, ich gehe schnell in unsere Kapelle und hole ein wenig davon und ein geweihtes Kreuz. Vielleicht ist es wirklich mit der Magie der Hölle imprägniert."
"Dann sollten Sie aber vorsichtig sein, weil die Mächte der Hölle es übelnehmen, wenn jemand sich gegen sie stellt", sagte Anthelia und hätte fast losgelacht, so erheiternd fand sie die Vorstellung, dass diese Eingottanbeter diesmal noch nicht mal ganz unrecht hatten.
"Ich hole eben das geweihte Wasser", sagte die ältere Frau und verließ den Raum mit den Waschbecken.
Anthelia zwinkerte ihr verwegen nach und wartete, bis die Tür zufiel. Ohne den Zauberstab benutzen zu müssen ließ sie das Türschloss einrasten. Dann baute sie noch einen provisorischen Klangkerker auf. Im Moment war ja sonst niemand in diesem Waschraum anwesend. Sie stimmte sich auf einen Zauber ein, der die Erde zur Preisgabe hier vollführter Zaubereien oder durchgewanderter Zauberwesen veranlasste. Damit hatte sie in ihrer Existenz als Verschmelzung mit der Magierin Naaneavargia schon viele Sachen ergründet. Auch diesmal half ihr dieser Zauber, den sie gezielt gegen das Lambda-Symbol richtete. Das Zeichen glühte unvermittelt hellgrün auf und erzitterte wild. Dann sprühten rote Funken heraus und schwirrten um Anthelia herum. Im Geiste hörte sie das Heulen mehrerer Wölfe. Dann sah sie die Schatten dreier Frauen, die aus den Körpern von Wölfen heraustraten und Pinsel in sich hineinschoben, um damit das Symbol an die Wand zu zeichnen. Abschließend konnte Anthelia fast körperlich einen Zauber nachempfinden, mit dem das Zeichen alle Träger gleichen Blutes begrüßen und anzeigen sollte, ja auch bei Berührung das Gefühl großer Verbundenheit übermitteln sollte. Dann blitzte es vor Anthelia auf, in ihrem Kopf erscholl ein scharfer Knall. Dann brach der Zauber ab. Das Funken sprühende Lambda hörte zu glühen und zu sprühen auf und zitterte auch nicht mehr.
"Ah, so habt ihr das also gemacht", grummelte sie. "Kein Wunder, dass keiner dieses Zeichen ausradieren kann."
Es ploppte laut in einer der Kabinen. Anthelia erfasste sofort, dass es eine mit Werwut behaftete Hexe war, die nicht der Légion de la Lune angehörte. Es war Roubette Grandchamp, eine Cousine dritten Grades der Gebrüder Garout. Besser konnte es für Anthelia nicht kommen. Hier und jetzt eine der Werwölfinnen zu erwischen, die für die Lambda-Malereien verantwortlich waren würde ihrer Schwesternschaft einen gehörigen Vorsprung verschaffen.
Anthelia blockierte mit ihrer auch ohne Zauberstab wirkbaren telekinetischen Kraft die Kabinentür, dass die Werwölfin nicht einfach so heraustreten konnte. Tatsächlich rüttelte Roubette an der Tür. Dann hörte Anthelia das Zauberwort "Alohomora!" Doch weil Anthelia die Tür als solches zuhielt nützte es nicht, den Öffnungszauber zu wirken. Dann griff die Werwölfin mit dem Reducto-Fluch an. Krachend flog die Tür in acht Teilen aus dem Rahmen. Dann standen sich beide Hexen gegenüber.
"Mondfinsternis, du!" schnaubte sie und machte anstalten, zu disapparieren. Doch Anthelia hielt telekinetisch ihr linkes Bein fest, so dass sie keine kontrollierte Drehung vollführen konnte. "Auch ein Bein von dir genügt mir, um eure blutige Verschwörung zu enthüllen, Roubette Grandchamp!" rief Anthelia aus.
"Du bist die Spinne, dieses verfluchte Weib. Avada Kedavra!" Anthelia fühlte den Hass und den Wunsch nach ihrem Tod von der anderen ausstrahlen. Das reichte, um ihre Verwandlung zur schwarzen Spinne auszulösen. Als der grüne Todesblitz durch den Gang sirrte prallte dieser vom mit starker Magie getränkten Panzer der menschengroßen Spinne ab und krachte in die zweite Kabinentür, die in einem kurzen Feuerregen zu Asche und Dampf zerfiel. Roubette nutzte den Moment, wo Anthelia mit ihrer Verwandlung zu tun hatte, um sofort zu disapparieren. Anthelia ärgerte sich, dass sie ihr in ihrer mächtigen Zweitgestalt nicht auf die gleiche Weise folgen konnte. Zumindest wusste sie aber jetzt, mit wem sie es zu tun hatte.
"Die Flucht wird dir nicht helfen", dachte Anthelia/Naaneavargia. Dann empfingen ihre für Schall empfindlichen Tastsinne die Schrittgeräusche der älteren Frau, die wohl mit Weihwasser zurückkam. Anthelia konzentrierte sich deshalb auf die Rückverwandlung. Da tauchten zwei Männer aus dem Nichts heraus auf. In den rechten Händen hielten Sie Zauberstäbe, in den linken Sprühvorrichtungen. Um die Köpfe spannte sich der bläulich durchscheinende Kopfblasenzauber. Sofort entließen sie was in den Sprühkanistern war. Die schwarze Spinne registrierte mit ihrem hochempfindlichen Geruchssinn, dass es ein auf die Nerven davon einatmender Wesen wirkendes Mittel war. In ihrem Körper vibrierte es. Die Tränen der Ewigkeit, die in ihr immer noch wirkten, wehrten alle Giftstoffe ab. So tat ihr das Gas nichts, das nun als feiner, grünlich-blauer Nebel die Toilettenräume ausfüllte.
"Das zeug haut selbst die um. Los, vereisen und dannirgendwo über dem Nordpolarmeer abwerfen!" hörte sie einen der Ankömmlinge zu seinem Begleiter sagen. Dieser zog aus einem unsichtbaren Rucksack einen weiteren Kanister hervor. Jetzt musste sie handeln. Sie sprang unvermittelt vorwärts und schlug dem mit dem Vereisungsmittelkanister ihre Beißscheren in den Körper. Der Werwolf schrie auf und krümmte sich. Polternd fiel der Vereisungskanister zu Boden. Der zweite Werwolf griff hinter sich. Seine Hand verschwand scheinbar auch im Nichts. Anthelia wollte es gar nicht darauf ankommen lassen, dass er einen Vereisungsmittelkanister hervorholte und erwischte ihn ebenfalls mit ihren giftigen Beißscheren. Dann sah sie zu, wie die beiden bewusstlos zu Boden fielen. Wenn sie nicht in zwei Minuten das von ihr entwickelte Gegengift verabreichte würden die beiden tot sein. Doch tot nützten sie ihr nichts. Doch um das Gegenmittel zu holen musste sie sich zurückverwandeln. Das dauerte zehn Sekunden. Einen Moment lang meinte sie, das immer noch in der Luft schwebende Gas würde sie überwältigen. Doch dann hatten die Tränen der Ewigkeit sie auch in ihrer Menschenform dagegen immunisiert. Sie schrumpfte die beiden schwer vergifteten auf Handgröße ein. Dann reparierte sie die in acht Teile zersprengte Kabinentür, kopierte sie und setzte dann in jede aufgesprengte Türöffnung eine intakte Tür ein. Danach löschte sie den Klangkerker und disapparierte mit ihren Gefangenen.
Anthelia stellte bereits nach der ersten Apparition fest, dass ihr die Gefangenen verlorengegangen waren. Das war ihr seitdem sie die Kunst des kurzen Weges erlernt hatte nicht mehr passiert. Sie versuchte, in den Toilettenraum zurückzukehren. Doch dabei prallte sie gegen ein Hindernis, das sich für sie wie eine blutrote Lichtwand darstellte. Sie glaubte noch, mehrere Wölfe aufheulen zu hören, bevor sie mit schmerzhaftem Ruck an ihren Ausgangspunkt zurückgeworfen wurde. Ihr Kopf dröhnte, ihr Herz wummerte. Schweiß brach ihr aus allen Poren. Sie erinnerte sich an Albertines Bericht, dass die Werwölfe der Lambda-Bande einen Apparierabweisezauber benutzten, um nicht unmittelbar angegriffen werden zu können. Da sie keinen Besen mitgenommen hatte konnte sie nicht schnell genug zum Obdachlosenheim der Heilsarmee zurückkehren. Damit waren die beiden Gefangenen dem Tode geweiht. Sie bedauerte es, dass sie die beiden nicht verhören konnte. Andererseits gab es jetzt zwei beißwütige Werwölfe weniger. Dann fiel ihr was ein. Sie zählte im Geiste zwei weitere Minuten ab und versuchte dann noch einmal, in den Toilettenraum hineinzuapparieren. Diesmal gelang es. Als sie dort ankam fand sie die ältere Frau vor, die mit einem Weihwasserpinsel und einem hölzernen Kreuz am Boden lag. Das Gas hatte sie erwischt. So konnte sie auch nicht die zwei mittlerweile zu winzigen Leichnamen gewordenen Gefangenen sehen. Für Anthelia war das aber die Bestätigung, dass nur dort, wo lebende Exemplare dieser Werwolfsbande waren kein unbelasteter Apparator erscheinen konnte. Sie lauschte. Mit dem Öffnen der Tür hatte sich auch das Gas weiter verteilt und fand immer noch Opfer. Anthelia fühlte es fast körperlich, wie rege Gedankenströme flackerten und dann zu den schwachen Grundschwingungen ohnmächtiger Menschen wurden. Gerade versank jene Küchenhilfe, von der Louisette ihr erzählt hatte, in einer tiefen Bewusstlosigkeit. Anthelia überlegte, ob sie die Gunst der Stunde nutzen und einen Zauber wirken sollte, der dieses Haus für Lykanthropen unbetretbar machte. Denn was die konnten konnte sie sicher auch. Sie nickte ihrem Bild in einem der Spiegel über den Waschbecken zu und nahm die toten Gegner. Diese ließ sie auf natürliche Größe anwachsen. Mit dem Bann des toten Blutes konnte sie bis zu einer halben Stunde nach Todeseintritt die Verbündeten oder Verwandten eines Gegners von einem Ort fernhalten.
Anthelia vollführte den nötigen, sehr blutigen Zauber, bei dem sie fast alles Blut ihrer beiden toten Gegner innen und außen an den Zugängen des Hauses verteilte und dabei immer wieder altdruidische Zauberformeln sprach. Den Zauber hatte sie noch von Sardonia persönlich erlernt. Als sie alle Zugänge mit dem Blut ihrer toten Feinde bestrichen hatte rief sie so laut sie konnte in der Sprache der alten Druiden:
"Gefallener Feinde erstorbenes Blut, halte die gleich sind vom Orte hier!" Es knisterte und säuselte. Dann prasselte es laut. Heiße Luft erfüllte das Haus. Das über Fenster und Türen verteilte Blut erglühte und sprühte Funken. Die Funken erfüllten das Haus und wirbelten in immer weiter ausgreifenden Spiralen nach außen. Dann erzitterte das Haus mit einem Ruck. Dabei hörte Anthelia einen lauten Knall aus der Richtung der Toilettenräume. Das auf Türen und Fenster aufgebrachte Blut war scheinbar verschwunden. Wahrhaftig aber hatte es sich nun in aller toten Materie des Hauses und des Grundstücks verteilt, steckte im Stein, im Holz und auch im Kunststoff, für Menschenaugen unsichtbar. Doch würde es nun ein volles Jahr lang dieses Haus und das Grundstück vor allem beschützen, was gleichartig war. Da Anthelia bei ihrer großen Beschwörung auch immer an heulende Werwölfe gedacht hatte galt dieser Zauber nun gegen alle Werwölfe.
Als Anthelia in den Toilettentrakt für Damen eintrat fand sie ein klaffendes, kreisrundes Loch in der Wand vor, wo vorher das Lambda-Symbol aufgebracht gewesen war. Das Loch besaß den doppelten Durchmesser des Kreises, der den griechischen Buchstaben umschlossen hatte. Anthelia musste lachen. Hatte ihr großer Zauber doch auch das hier verstrichene Werwolfsblut mitvernichtet. Nur gut, dass sie die ältere Frau mit ihren christlichen Werkzeugen vor dem Zauber aus dem Raum geschafft hatte. Mit dem Repleno-Zauber füllte sie das Loch in der Wand wieder auf. Dann nickte sie noch einmal ihrem Spiegelbild über einem Waschbecken zu und disapparierte. Dieses Obdachlosenasyl war für die Mondheuler ein ganzes Mondjahr lang unbetretbar geworden.
Roubette Grandchamp schrie auf. Es war, als habe ihr gerade jemand einen glühenden Speer in den Unterleib gestoßen. Auch ihre leibliche Schwester Claudette fühlte wohl starke Schmerzen. Gleichzeitig war den beiden, als wenn etwas von innen gegen ihre Bauchdecke hämmerte. Dann war die Pein vorbei. Die beiden Werwölfinnen sahen einander an. Dann sagte Roubette zu Claudette:
"Die beiden Stümper haben versagt und dieses Spinnenmonster nicht erledigt. Dieses Biest hat dann einen Zauber gegen unser Zeichen gemacht. Oh mann, tat das weh."
"Als wollten mir alle meine drei Kinder als Ungeborene die Bauchdecke wegtreten", ächzte Claudette. Roubette nickte.
"Wenn die mit diesem fiesen Zauber durchgekommen ist und das weitersagt war's das mit unserem unauslöschlichen Zeichen", schnaubte Roubette.
"Schick noch mal wen los, der nachsehen soll. Ich bin im Moment zu heftig am Boden", stöhnte Claudette.
Eine Minute später wussten es die beiden noch lebenden Verwandten der ausgelöschten Garout-Familie, dass keiner von ihnen in die Nähe des Hauses apparieren konnte. Jeder, der es versuchte wurde mit Urgewalt zum Ausgangspunkt zurückgeschleudert. Drei Stunden später wussten die in Frankreich tätigen Gehilfen von König Rabioso, dass das Grundstück und das Haus auch nicht mehr zu Fuß betreten werden konnte. Sobald ein Werwolf in Menschen- oder Tierform über die Grundstücksgrenze wollte war es ihm, als würde er oder sie von einer unsichtbaren, sengendheißen Faust zurückgeworfen.
"Sie wird es weitersagen, seufzte Roubette. "Irgendwem wird sie es weitersagen."
"Das muss Rabioso sofort erfahren. Vielleicht kann er einen Gegenzauber anbringen."
"Alles gute zum Valentinstag", sagte Jeff Bristol zu seiner Frau Justine und überreichte ihr einen großen Strauß roter Rosen.
"Die hast du echt gekauft?" fragte Justine. "Sag das bloß nicht unserem gemeinsamen Boss! Sonst kürzt er dir noch das Gehalt."
"Ich werde meiner ordentlich und vor Zeugen angetrauten Frau doch noch rote Rosen zum Valentinstag schenken dürfen", sagte Jeff. "Auf Schmuck bist du ja nicht so erpicht."
"Auch wieder wahr", sagte Justine.
Die beiden angeblich in Las Vegas blitzgetrauten Eheleute von der Ostküste nutzten die Morgenstimmung, um auf ihrem Balkon hoch über den Straßen von Las Vegas zu frühstücken. Bis zum 16. Februar hatten sie ja noch frei, sowohl bei der Times als auch beim Laveau-Institut. Jeff machte sich einen Spaß daraus, mit seinem kleinen Zauberfernglas nach unten zu spähen und die verliebt beieinander untergehakten Paare zu zählen. In der Nähe des Hotels, in dem sie beide ihre auf eine Woche zusammengerafften Flitterwochen zubrachten lag eine jener Hochzeitskapellen. Jeff schwenkte sein kleines, entspiegeltes Fernglas darauf ein um zu prüfen, wer da so hineinging.
"Hallo, Jeff, du musst nicht spannen", säuselte Justine, die gerade das Geschirr auf den Teewagen zurückstellte, um den Servierwagen für den Zimmerservice bereitzustellen.
"Hast auch wieder recht", grummelte Jeff und erkannte, wie heftig er da gerade in die privaten Angelegenheiten ihm unbekannter Leute hineinspionierte. Schaffte er es nie, sein erstes Leben ganz loszuwerden?
Eine Eule segelte über die Straßen und steuerte punktgenau auf den Balkon von Zimmer 2230 zu. Jeff verzog das Gesicht. Die Waldohreule trug einen Umschlag am rechten Bein. Hoffentlich sah keiner von unten den Vogel anfliegen!
"Flitterwochen im Eimer", kommentierte Jeff die Zustellung des Umschlages. Die Eule war unverzüglich nach Lieferung des Briefes wieder davongeflogen. Jeff fand einen kurzen Brief von Elysius Davidson und einen Zeitungsartikel aus dem Kristallherold, der vor allem an der Ostküste und den südöstlichen Staaten gelesen wurde. Der Zeitungsartikel berichtete von einer zur kompletten Niederlage ausgearteten Aktion gegen die New Yorker Untergruppe beißwütiger Werwölfe. Der Zaubereiminister hatte die Flucht nach Vorne angetreten und in einer Pressekonferenz über die Hintergründe der Aktion informiert. Dem Artikel beigefügt waren dreißig schwarzgerahmte Zaubererweltfotos, die alle die fröhlich bis entschlossen herausschauenden Gesichter von Hexen und Zauberern zeigten. Jeff erschauderte, als er drei Namen las: Pete Gallagher, Orville Taffy und Leroy McGregor. Mit denen war er in einer Jahrgangsstufe gewesen. Die hatten alle unterschiedliche Laufbahnen eingeschlagen. Dass sie drei jetzt alle bei derselben Aktion gestorben waren setzte ihm sichtlich zu. Gut, offiziell war er weit vor ihnen gestorben. Aber jetzt zu wissen, dass die drei auch nicht mehr da waren berührte den Mann, der ein zweites, mit vielen Tricks konstruiertes Leben führte schon. Wenn er nicht wegen seiner Muggelabstammung die Laufbahn beim FBI angefangen hätte, wäre Zachary Marchand sicher auch entweder Inobskurator, Werwolfjäger oder Fernbeobachtungsüberwacher geworden.
"Die drei waren mit Zach Marchand im selben Jahrgang, haben einige gelungenen Streiche gegen die Rockridges gelandet", seufzte Jeff Bristol. Justine nickte und deutete auf das Bild einer älteren Hexe: "Etna Shackleton, war mit meiner Mutter in Thorntails. Die sollte eigentlich meine Patin werden, wenn meine Tante Laverne keine Ansprüche angemeldet hätte."
"Sie war Expertin für Aufspür- und Verfolgungszauber, steht hier."
"Ja, die wollte ursprünglich auch mal zum LI. Doch sie hat das Einstellungskriterium nicht erfüllt", sagte Justine. "Und es ist noch nicht mal ein Fitzel Asche oder Knochenstaub von ihr übrig geblieben. Wie selten dämlich waren die denn, in einen vorher nicht auf Fallenzauber oder Abwehrbanne überprüften Bereich einzufliegen."
"Deshalb haben wir den Brief gekriegt, dass wir unseren Zeitrafferhonigmond morgen schon beenden, weil Mr. Davidson dem Ministerium Hilfe bei der Jagd auf die Lambda-Lykanthropen zugesagt hat und deshalb alle Mitarbeiter in New Orleans haben will. Da ich ja bei der Times noch bis zum zwanzigsten Frei habe passt ihm das wunderbar ins Konzept."
"Dreißig Gesichter und Namen, die für uns und andere wichtige Leute bedeutet haben", seufzte Justine. "Ich bin schon so lange im LI und habe mitbekommen, wie Kollegen nicht mehr vom Einsatz wiedergekommen sind. Aber das hier rührt mich echt an. Etna Shackleton hat mich als Baby gebadet und gewickelt. Nur gestillt hat sie mich nicht, weil ich damals schon metamorphkräfte gezeigt habe. Sie hat mich auf jeden Fall beglückwünscht, dass ich die Aufnahme ins LI geschafft habe."
"Die Gedenkfeier steigt am neunzehnten in der Halle der Verewigten im Zaubereiministerium. Würde da gerne hingehen. Aber da dürfen nur leibliche Angehörige hin, steht hier."
"Ich verstehe nicht, dass die alle hier ohne Frühwarner oder andere Fluchvorauserkennungsartefakte losgestürmt sind."
"Hat Zach Marchand auch schon erlebt, Justine. Da ist er mit fünf Kollegen los, um einen Kurier der Cosa Nostra zu erwischen, der verschlüsselte Botschaften für die Familie in Jackson dabei hatte. Dabei sind vier Kollegen voll in einen Feuerhagel reingerannt, weil die Konkurrenz der Adressaten die Unterlagen auch haben wollte. Die hätten damals mit rechnen müssen, dass der Informant doppelt kassiert hat. Na ja, ist ihm auch nicht gut bekommen, weil er eben zu viel wusste."
"Klar, sie wollten mindestens einen von den Lambda-Wölfen einfangen, nachdem diese die Köder angenommen haben."
"Genau, Justine", bestätigte Jeff Bristol.
Anthelia/Naaneavargia war seit dem 13. September 2001 nicht mehr in New York gewesen. Das war, als sie und jener selbsternannte Erbe Voldemorts zum ersten Mal aufeinandergetroffen waren. Jetzt untersuchte sie den innenhof der Häuser im Block zehnte und neunte Avenue und 33. und 34. Straße west. Dieser Ort stand seit einigen Tagen für einen grandiosen Fehlschlag des Zaubereiministeriums. Eingehüllt in einen Unsichtbarkeitszauber schritt sie behutsam über den Platz. Der Rest von Dairons Seelenmedaillon, der in ihrem Körper weiterwirkte würde ihr früh genug dunkle Magie verraten, die nicht von ihr selbst freigesetzt worden war. Tatsächlich fühlte sie ganz sanfte Schwingungen, den Rest eines mittlerweile verklungenen Zaubers, von dem nur noch ein nicht mit den Ohren vernehmbares Echo nachwirkte. Als sie dann das Brett sah, auf dem der Zettel mit dem Verbot von Wandmalereien angebracht war musste sie grinsen. Hinter dem Brett war das blutrote Lambda im geschlossenen Kreis angebracht.
Behutsam bewegte sie ihren Zauberstab vor dem Brett, bis dieser gleich einer Wünschelrute sanft ausschlug. Ja, hinter dem Brett war verdichtete Magie. Vielleicht konnte sie dieses Reviermarkierungszeichen genauso tilgen wie in Paris, wenngleich sie dort ja einen umfangreichen Abwehrzauber ausgeführt hatte. Doch ihr ging es eigentlich darum, ihre und des Ministeriums Feinde anzulocken. Sie wollte einen von denen lebend haben, um ihn oder sie zu verhören. Sie blickte sich um. Graue Wolkenungeheuer krochen träge am Himmel entlang und blockierten über sieben Zehntel des Sonnenlichtes. Mit dem Zauber, der ihr das im Erdboden gespeicherte Wissen über große Ereignisse der letzten Tage enthüllte vollzog sie nach, was hier passiert war. Sie bekam mit, wie zwei Frauen, offenbar Werwölfinnen, wie die in Paris mit Blut aus dem eigenen Körper das Zeichen angemalt und verstärkt hatten. Dann waren da die Explosion in der Nähe. Womöglich hatten dort welche ihr hiesiges Quartier. Zu gerne hätte sie einen Zauber gekannt, der die Spur eines Portschlüssels verfolgen konnte, der bereits vor Tagen benutzt wurde. Sie ärgerte sich ein wenig, dass sie so spät auf diesen Ort hingewiesen worden war. Sie bekam gerade noch mit, wie eine Gruppe von Wesen in Glaskugeln konzentrierte Magie freigesetzt hatte, als sie fühlte, wie das hinter dem Brett verborgene Lambda-Zeichen mit ihrer Körperaura wechselwirkte. Sie trat noch etwas näher heran und fühlte nun ein sanftes Abtasten und durchdringen. Das Zeichen war irgendwie belebt, nicht einfach nur aufgemalt. Dann fühlte sie, wie ein Impuls davon ausstrahlte. Es war ein sie abstoßender Impuls, den sie wohl nur wegen ihrer besonderen Konstitution und Begabungen verspüren konnte. Sie trat einige Schritte zurück, um nicht zu nahe an der Wand zu sein. Da ploppte es unüberhörbar, und ein dürrer Mann mit ziegelrotem Stoppelhaar und eine dunkelhaarige Frau mit kaffeebrauner Haut standen da. Anthelia empfing sofort die Gedanken der beiden. Der eine nannte sich Boney Red, wegen seines äußeren Erscheinungsbildes, hieß aber in Wirklichkeit Chuck Carrigan. Seine Begleiterin war ungleich wichtiger. Sie war Juanita Castilla Casapiedra, die zweitwichtigste Mitkämpferin dieser Bande von Werwölfen. Das im Symbol vermischte Monatsblut stammte wohl auch von ihr und hielt Verbindung zu ihr.
"Das Zeichen hat mindestens zwei Feinde erspürt", hörte Anthelia Juanita mentiloquieren. Ihr Begleiter suchte die Umgegend mit seinem Zauberstab ab. Als er "Discovobscuro" murmelte, mit dem in Dunkelheit oder Unsichtbarkeit verborgene Wesen sichtbar gemacht werden konnten, hielt Anthelia bereits ihren Zauberstab bereit. Da ploppte es noch einmal, und zehn Apparatoren standen gleichmäßig über den Platz verteilt. Sie hatten Begleiter mitgenommen, so dass Anthelia unvermittelt zweiundzwanzig Gegner um sich herum hatte. Da erfasste sie auch schon der Enthüllungszauber. Sie fühlte, wie es sie ein klein wenig schwächte. Doch mit einem einzigen Gedanken und kurz nach unten deutendem Zauberstab beschwor sie einen kurzen Kraftstrom aus der Erde herauf, der sie vollständig erstarken ließ. Dann rief Juanita Castilla Casapiedra:
"Ah, die schwarze Spinne. Du hast also unser Zeichen gekitzelt. Sei es. Lass deinen Zauberstab fallen und gib dich gefangen. Disapparieren gelingt dir nicht. Wir haben dich eingekreist und damit in einen unausbrechbaren Antidisapparierkreis eingeschlossen."
"Ich wollte euch nur ansehen und mit euch sprechen", sagte Anthelia. Dann ließ sie ihren silbergrauen Zauberstab zu Boden fallen.
"Swifty, hol dir den Stab!" zischte Juanita fast unhörbar. Ein kleiner, sehr gelenkiger Mann rannte auf den Zauberstab zu. Da wurde dieser scheinbar lebendig und sprang ihm aus dem Weg. Anthelia blieb ruhig stehen.
"Stupor!" rief Juanita. Das löste bei Anthelia die blitzartige Verwandlung aus. Ehe der rote Schockzauber sie erreichte war sie schon die schwarze Spinne, Naaneavargias innere Tiergestalt. Sofort fauchten drei weitere Schocker auf sie zu und prallten ab. Dann feuerte Juanita einen Todesfluch ab. Sirrend sauste der grüne Blitz auf den gigantischen Spinnenkörper zu, prallte ab und schlug schwirrend auf einen muskelbeladenen Mann zu, der an der Seite einer brünetten Hexe und Werwölfin appariert war. Der Querschläger traf ihn an der Brust. Der Muskelberg klappte zusammen und fiel hin. Anthelia hatte das letzte Aufflackern seiner Gedanken fast körperlich gespürt. Jetzt kam von ihm nichts mehr.
"!Serviert sie heiß ab!" befahl Juanita. Anthelia erfasste auch in ihrer Spinnengestalt ihre Gedanken und wusste, dass sie mit einer Abwandlung jenes Feurzaubers hantieren würden, den Guntram Schleichfuß in sein Haus im Schwarzwald eingefügt hatte. Dem mochte sie womöglich genauso hilflos ausgeliefert sein wie die dreißig Hexen und Zauberer des Ministeriums.
"So, du Monsterspinne. Wogegen du immer auch gefeit warst. Gleich bist du tot!" rief Juanita vorfreudig. Anthelia/Naaneavargia überlegte schon, ob sie sie und noch zwei von ihren Begleitern mit in die Ewigkeit nehmen konnte, als ihr einfiel, dass sie ja auch als Spinne noch den Flugzauber aus Altaxarroi beherrschte. Diesen wendete sie umgehend an und katapultierte sich zusätzlich mit der für Spinnen eigenen Sprungfähigkeit mehrere Meter hoch in die Luft. Gerade als die Feuerkugeln zerplatzten erreichte sie eine Höhe von dreißig Metern. Unter ihr wallte eine silberblaue Feuerwolke auf. Sie fühlte sofort eine starke Hitze in sich. Dieser Zauber wirkte nicht von außen, sondern überwand alle Materie, um ihren Geist oder ihre Stimmung selbst als Hitzequelle zu entfachen.
Anthelia stieg noch weiter auf, bis sie keine Hitze mehr verspürte. Sie empfing noch die Gedanken des Werwolfs, der ihren Zauberstab an sich nehmen sollte. Der hatte den Stab unversehrt vom silberblauen Feuer ergriffen. Doch Anthelia würde ihm keine Freude damit lassen. Sie schwebte zu einem der Häuser und haftete alle acht Beine daran fest. Gerade sah eine Frau aus dem Fenster. Als sie die Riesenspinne an ihrer Wand hinaufklettern sah stieß sie einen gellenden Schrei aus. Der wiederum rief auch andere Nachbarn auf den Plan. Anthelia/Naaneavargia wollte möglichst wenig Aufsehen. Sie erklomm einen breiten Balkon und nahm wieder menschliche Erscheinungsform an. Unten war kein Feuer zu sehen. Sie fühlte jedoch eine gierig lauernde Kraft von unten und wusste, dass der Zauber noch wirkte und nur auf sein Opfer wartete.
"Gib mir den Stab, Swifty!" empfing die Verschmelzung aus Anthelia und Naaneavargia Juanitas Befehl. Weitere Menschen aus den Häusern sahen nach unten und entdeckten die zwanzig Fremden.
"Zurück zu mir", dachte Anthelia auf Japanisch und machte eine zu sich hinweisende Geste. Sie fühlte, wie etwas versuchte, ihr Widerstand entgegenzusetzen. Dann hörte sie von unten einen erschreckten Ausruf. Im nächsten Moment machte es piff, und in Anthelias rechter Hand lag er, der silbergraue Zauberstab, der Stab des Dunklen Wächters, einem mächtigen Magier aus dem japanischen Kaiserreich. Sie hatte ihn gleich nach ihrer Wiederverkörperung vor bald sieben Jahren mit ihrem eigenen Geist durchtränkt und an sich gebunden. Diese Bindung war trotz der Verschmelzung mit Naaneavargia noch erhalten geblieben, weil er diese Verschmelzung ja maßgeblich eingeleitet hatte.
"Holt sie da runter, solange sie in der Sperrzone ist!" rief Juanita. Anthelia konnte es von diesem Stockwerk aus nur wie fernen, sich zwischen den Hochhäusern verlierenden Hall hören, aber die Gedanken der Widersacherin vernehmen.
Jemand versuchte, die Balkontür von innen zu öffnen. Das konnte Anthelia jetzt echt nicht gebrauchen. Mit "Colloportus" und "Infragibilis" ließ sie Tür und Glasscheibe unaufbrechbar werden.
Von unten flogen nun Reducto- und Todesflüche nach oben. Anthelia verstärkte den noch nicht ganz aufgehobenen Flugzauber und sprang vom Balkon herunter, bevor sie einem Freiballon gleich und dann immer schneller nach oben stieg. Sie wollte jedoch nicht flüchten, ohne wertvolle Informationen ergattert zu haben. Gerade barst der Balkon, auf dem sie zwei Sekunden vorher noch gestanden hatte mit lautem Knall unter zwei gleichzeitig auf ihn treffenden Todesflüchen. Qualmende und brennende Trümmer regneten auf die unten wartenden Werwölfe herab. Diese mussten ausweichen, um nicht von den glutheißen Brocken und Aschewolken getroffen zu werden. Diese Gelegenheit nutzte Anthelia kaltblütig aus, um sich so tief hinunterfallen zu lassen, dass sie die silberblaue Flammenwolke wieder auslöste. Doch sie schaffte es, gerade noch weit genug von ihr fernzubleiben, um nicht durch die davon in ihr angefachte Hitze zu verglühen. Sie musste wissen, von wem diese Bestien diesen Zauber gelernt hatten, wo ihr Hauptquartier lag und wo ihr Anführer zu finden war. Das alles konnte ihr sicher diese Juanita Castilla Casapiedra verraten, die gerade vom lodernden Feuer unbehelligt dastand. Anthelia fühlte auch, dass aus sicherer Entfernung mindestens zwanzig Leute durch die Luft geflogen kamen, aus allen Richtungen gleichzeitig. Dann empfing sie einen durch Vocamicus-Zauber übermittelten Befehl an alle heranfliegenden.
"Die frei fliegende Hexe einfangen. Alle im Feuer stehenden töten!" Sie erkannte, dass es ein gewisser Claudius Swordgrinder war. Swordgrinder? Tatsächlich, das war der jüngere Bruder von Hyneria Swordgrinder, die Donata Archstone im Entmachtungskampf der Hexenladies besiegt und getötet hatte und der Theia Hemlock und ihre Tochter ihr gemeinsames Leben zu verdanken hatten.
"Mal gucken, ob ich mich dir nicht gleich einfange", dachte Anthelia. Doch das Stichwort Einfangen brachte sie darauf, endlich diesen viel zu viel Aufsehen erregenden Ausflug erfolgreich zu Ende zu bringen. Als gerade drei magische Netze auf sie zuflogenließ sie um sich herum einen über mehrere Dutzend Meter nach außen drängenden Ring aus roten und blauen Flammen entstehen, die gefürchtete Flammenwelle Sardonias. Diese konnte auch magisch erzeugte Materie verbrennen. Als die drei Netze lichterloh brannten und eine Sekunde darauf zu nichts als davonwirbelnden Funken zerfielen hätte Anthelia fast losgelacht. Doch ihr ging es jetzt um was anderes. Sie brauchte einen festen Kontakt zur Erdoberfläche. Deshalb segelte sie auf einen noch intakten Balkon einen Stock weiter über ihr zu und landete darauf. Sofort führte sie den Wiedererstarkungszauber der Erdmagier Altaxarrois aus. Zwar stand sie nicht auf massivem Grund, konnte aber über die Verbindungen zum Haus die labenden Kräfte der Erde in sich hineinsaugen. Derartig blitzregeneriert zzielte sie nun nach unten, wo gerade die auf den Harvey-Besen heranpreschenden Zauberer auf die in der Flammenwolke stehenden Werwölfe zielten, um sie zu erledigen. Anthelia suchte und fand die Quelle von Juanitas Gedankenausstrahlung. Sie dachte kurz daran, den Manus-Medianoctis-Zauber zu wirken, um Juanitas Körper zu zerstören und ihr gesamtes Wissen in sich aufzunehmen. Doch das letzte Mal, wo Anthelia diesen Zauber angewendet hatte, war es zur unvorhersehbaren Verschmelzung zwischen ihr und Naaneavargia gekommen. Deshalb verwarf sie den Gedanken. Statt des Manus-Medianoctis-Fluches fiel ihr ein anderer Zauber ein, der einen Gegner gefangennehmen und zu ihr schaffen konnte. Sie dachte an Catherine Brickston, wie diese die gefangenen der schlafenden Schlange vor dem Erdbeben gerettet hatte. Die eigentlich nicht so gut auf sie zu sprechende Hexe hatte für die Konzentration auf diesen Zauber ihre geistige Abschirmung vernachlässigen müssen. Daher wusste Anthelia, wie sie den Zauber ausgeführt hatte, mit dem Catherine damals selbst von ihrer Mutter im Sternenhaus vor mordlüsternen Todessern gerettet worden war.
"Aggregato transmutaccio!" stieß Anthelia aus, nachdem sie so sorgfältig sie konnte auf Juanita Castilla Casapiedra gezielt hatte. In einem violetten Blitz verschwand die Führerin der Lykanthropentruppe. Keinen Augenblick darauf schwirrte ein scharlachrotes Taschentuch unversehrt durch die Feuerwolke zu Anthelia hinauf und landete punktgenau in ihrer freien Hand. Die Führerin der Spinnenschwestern grinste, weil sie sich fragte, ob die achso anstandsliebende Hexenlehrerin Faucon je daran gedacht hatte, der Nichte Sardonias auch noch was nützliches beibringen zu können. Dann besann sie sich auf die nächsten zu tuenden Schritte.
Nach ihren Erfahrungen mit den Mitgliedern der Lambda-Gruppe wusste Anthelia, dass es mit Disapparieren nicht getan war. Aber der Freiflugzauber zehrte zu sehr aus und machte sie angreifbar. Sie konnte sich ein überlegenes Grinsen nicht verkneifen, als gleich vier Harvey-Besen auf sie zurasten, während unten alle apparierfähigen Werwölfe die Flucht in das Nichts antraten. Nur jene, die nicht von selbst apparieren konnten bliebenzurück und gerieten ihrerseits in von oben auf sie schlagende Feuerbälle.
Anthelia bekam davon nur auf rein geistigem Wege etwas mit. Swordgrinder wollte keine Gefangenen haben? Offenbar drängte es Hynerias Bruder danach, Vergeltung für die fehlgeschlagene Wolfsfallenaktion zu üben. Wie unüberlegt er doch handelte, dachte Anthelia, während sie durch die leere Wohnung ins Treppenhaus eilte. Hinter sich hörte sie, wie die vier Zauberer landeten. Sie erkannte, dass die von ihr gefangene Werwölfin nur als lebendes Wesen ihren Apparierschutz aufbieten konnte. Doch im Moment wollte und durfte sie sie nicht zurückverwandeln. So schickte sie einen altaxarroischen Zauberbann aus, der das Gebäude, in dem sie war, solange für den kurzen Weg unerreichbar machte, solange sie sich darin aufhielt. Einer der Zauberer, der versuchte, hinter ihr herzuapparieren, erschien für einen Moment als flirrender Schemen, bevor er mit dumpfem Knall ins Nichts zwischen Hiersein und Dortsein zurückgeworfen wurde. Anthelia empfing seinen geistigen Schreckensschrei, als er mitten in der Luft reapparierte und in die Tiefe stürzte. Seine Kollegen würden ihn schon auffangen. Dafür gab es wahrlich genügend Zauber, dachte Anthelia.
Sich dessen sicher, nicht aus dem Nichts heraus angegriffen werden zu können lief Anthelia die Treppen hinunter, wobei sie immer wieder die Kraftzufuhr aus der Erde nutzte, um schnell und ausdauernd die zwölf Stockwerke hinunterzulaufen. Als sie endlich festen Grund unter den Füßen fühlte wandte sie das Lied der schnellen Reise durch die Erde an, etwas, was auch die Kobolde von Natur aus beherrschten. Wie in einen tiefen Schacht stürzend verschwand Anthelia innerhalb einer Sekunde unter der Erdoberfläche, um dann mit der im Erdboden möglichen Schallgeschwindigkeit an Leitungen und Versorgungsschächten entlang durch New York zu brausen. Erst als sie dort ankam, wo sie ihren eigenen Besen versteckt hatte, fuhr sie blitzartig aus der Erde empor und stand sicher auf festem Grund. "Na, Mädchen, bist noch gut verpackt bei mir. Dann ab nach Hause", sagte Anthelia und tätschelte die verwandelte Gefangene in ihrer Umhangtasche. Sie saß auf ihrem Besen auf und flog davon. Sie wusste, dass jedes apparieren in der Nähe einer wieder in ihrer wahren Gestalt steckenden Werwölfin Juanita Castilla Casapiedra unmöglich war. Jetzt könnte sie zwar locker in ihr Hauptquartier hinüberwechseln. Doch wenn sie die Gefangene dort zurückverwandelte konnte keine ihrer Bundesschwestern zu ihr vordringen oder im geheimen Hauptquartier Schutz vor direkter Verfolgung finden. Deshalb wollte sie nicht in die Daggers-Villa. Eine Stunde wollte sie fliegen, um genug Abstand zwischen sich und möglichen Verfolgern zu bringen. Verfolgen konnte man sie nicht. Sie hatte ihre Lebensaura mit einer über einen vollen Tag haltenden Unortbarkeitsmagie angereichert. Dagegen würde auch keine Rückschaubrille helfen.
"Die hat sich eine von denen gefangen, fragt mich nicht, wie sie das angestellt hat!" schnaubte einer von Swordgrinders Leuten. Gerade gingen fünf am Boden herumlaufende Lykanthropen in Flammen auf.
"Hätten wir auch machen müssen", schnarrte ein anderer Zauberer.
"Ach ja, und wie?" fragte Swordgrinder. Darauf bekam er keine Antwort. Denn die Werwölfe standen von jener ominösen silberblauen Feuerwolke gut beschützt vor jeder Festnahme da. Erst als der letzte von ihnen in einem Bollidius-Feuerball sein Leben aushauchte brach auch das silberblaue Feuer zusammen.
"Die wird die Gefangene verhören und sicher mehr aus ihr herausbekommen als nur, dass sie eine Werwölfin ist", sagte Lester Marley, ein Mitarbeiter Freddy Huntingtons.
"wir schreiben dieses Weib zur Fahndung aus ... öhm, wurde sie ja schon. Drachenmist!"
"Und was ist, wenn sie mit diesen Bandieten paktiert?" fragte Huntington, der sich selbst in den Bauch gebissen hätte, wenn er gelenkig genug dafür gewesen wäre.
"Man kann dieser Unperson alles mögliche unterstellen oder nachsagen", setzte Swordgrinder an. "Aber wenn sie mit diesen Bestien hätte paktieren wollen, hätte sie es nicht darauf angelegt, dass wir sie und diese Monster so auf dem Präsentierteller serviert bekommen hätten."
"Ach, werter Kollege, sie ist uns serviert worden. Wieso empfinnde ich dabei keine Genugtuung oder gar ein Erfolgserlebnis?"
"Ich bleibe dabei, die will diese Beißwütigen genausowenig haben wie wir. Wir müssen auch Gefangene machen. Wenn das LI diese Werwolfortungsartefakte bereitstellt wird dem Spuk schnell ein Ende bereitet."
"Ja, wenn, Claudy oder besser falls, Claudy", unkte Huntington.
"Und ich hab dir gesagt, du Übungsquod mit Armen und Beinen, dass du mich im Dienst nicht Claudy nennen sollst", zischte Swordgrinder.
"Sehen wir zu, dass wir aufräumen und von hier fortkommen", zischte Swordgrinder.
Die Ministeriumsleute gedächtnismodifizierten alle Zeugen aus dem Haus und fingierten bei der Polizei, dass es sich bei der magischen Schlacht auf dem Innenhof um ein Feuergefecht dreier rivalisierender Banden gehandelt habe, die sogar mit Flammenwerfern und Molotowcocktails hantiert hätten. Damit konnten die in den Boden gebrannten Krater wunderbar erklärt werden.
Paulina fühlte, dass die, die mit ihr die Blutsbindung vollzogen hatte, von einem mächtigen Gegner überwunden worden war. Sie fühlte Angst in sich aufsteigen. Juanita war eine echte Hexe. Wenn jemand sie besiegen konnte, dann musste es ein Zauberer oder eine noch mächtigere Hexe sein. Da fiel ihr nur die Führerin der Spinnenhexen ein. Ja, Juanita hatte an sie gedacht, bevor die geistige Verbindung zu Paulina abgerissen war.
"Hat die Spinnenhexe sie getötet?" fragte Aureus, als Paulina ihm von ihren sympathetischen Visionen erzählt hatte.
"Ich habe keinen Todesschrei oder Todesschmerz von ihr mitbekommen", sagte die blondhaarige Lykanthropin.
"Mondfinsternis! Dann hat dieses Biest sie gefangengenommen und wird sie verhören, was heißt, sie foltern, bis sie alles von ihr weiß, was sie wissen muss, um Lambda zwei zu finden."
"Wie willst du das verhindern, Aureus?" fragte Paulina. Der Gouverneur von Nordamerika sah sie lauernd an und sagte dann: "In dem wir die zwischen euch beiden aufgebaute Bindung nutzen, um sie aus der Ferne zu töten. Aber dafür musst du dein Leben geben, Süße."
"Dein Leben für Lykotopia", schnaubte Aureus und zog seinen Zauberstab hervor. Da sprang ihn jemand von links an und hieb ihm seine Handkante so wuchtig gegen die Schläfe, dass selbst ein starker Kerl wie Aureus das nicht wegstecken konnte. Der blondschopfige Werwolf verdrehte die Augen und fiel ohnmächtig um.
"Schweinepriester!" fluchte Donny Clarkson und versetzte dem von ihm niedergeschlagenen einen Tritt vors Kinn, dass knirschend mehrere Zähne abbrachen. "Der wollte dich echt mit seinem Zahnstocher da umnieten, weil Juanita von irgendeiner Spinnerin gefangen wurde? In welchem Film bin ich hier gelandet?"
"Donny, du hast den Gouverneur angegriffen und niedergeschlagen", staunte Paulina. So viel Mut hatte sie Donny nicht zugetraut. Doch dann fiel ihr ein, dass er sich und sie damit in sehr große Schwierigkeiten gebracht hatte. Wenn Aureus wieder aufwachte würde er nicht nur sie töten wollen, um die Gefangene der Spinnenhexe am Reden zu hindern, sondern auch Donny Clarkson töten. Zumindest war sie froh, dass der Stützpunkt Lambda zwei im Moment nur von sechs Wachen besetzt war. Die anderen waren unterwegs, um bis zum nächsten Vollmond genug arglose Menschen in entlegenen Gegenden zu beißen, dass es im ganzen Land mehr als fünfhundert Werwölfe geben würde. Dann wollte Aureus das Edikt des in Europa residirenden Königs verlesen, dass eine uneingeschränkte Anerkennung des Reiches Lykotopia forderte. Ob Donny und sie das aber noch erleben würden war nun äußerst fraglich.
"Okay, ich habe den Boss plattgemacht und nicht komplett unter die Erde gebracht. Das gibt mächtig viel Zoff, wenn der wieder klar ist", sagte Donny. "Können wir nur durch Beamen hier rauskommen oder hat diese Festung auch normale Türen und Wege zum Rauslaufen?"
"Was meinst du mit rausbeamen? - Ach, lassen wir das! Die werden unsere Spur aufnehmen und uns jagen, wenn er wieder wach ist", sagte Paulina. "Und er wird uns ächten lassen. Dann kann uns jeder umbringen, der Bürger Lykotopias ist."
"Wie bei Robin Hood und Zorro? Muss ich das Arschloch da dann doch komplett erledigen. Dann mach ich das besser gleich, bevor mir das Gewissen hochkommt."
"Nicht!" zischte Paulina. "Der Stützpunkt ist an seinen Herzschlag gebunden. Wenn er stirbt geht hier alles hoch", fügte sie hastig hinzu.
"Dann müssen wir doch das Weite suchen", grummelte Donny Clarkson.
"Ach ja, und wo kriegst du dann den Trank her, um nicht bei Vollmond unbeherrscht herumzuwüten?"
"Hat das Goldschätzchen da am Boden nicht was getönt, dass diese Leute vom Zaubereiministerium den Trank auch haben?"
"Die werden uns einsperren oder töten, Donny. Dann können wir auch warten, bis der Gouverneur wieder wach wird."
"Ach, doch jetzt sterbesüchtig, Süße?" stieß Donny aus. Er hatte gehofft, dass Paulina mit ihm abhauen würde, wenn sie hier schon nicht mehr länger bleiben durfte. Dann fiel Paulina was ein:
"Moment, Donny. Da ist noch Juanitas Kamm. Der ist ein Portschlüssel."
"Ein was?" fragte Donny. Paulina vertröstete ihn auf später. Sie eilte mit ihm in Juanitas Zimmer. Jede Sekunde konnte Aureus wieder aufwachen. Sie zog eine Schublade auf und holte einen roten Kamm heraus, in dem noch schwarzes Haar steckte. "Sie meinte, wenn uns die Sache hier doch über den Kopf steigt oder der Gouverneurspalast gestürmt wird kämen wir damit noch weg, wohin genau hat sie mir nicht verraten. Aber sie hat mir das Auslösewort genannt. Halte dich bitte an dem Kamm fest!"
Donovan Clarkson stierte sie an. Ein Kamm sollte sie fortbringen? Dann nickte er und hielt sich am anderen Ende des Haarpflegeutensils fest. "Es gibt keinen Ort wie zu Hause" säuselte Paulina. Da vibrierte der Kamm, leuchtete blau auf und hüllte sie und ihren Gefährten in eine schnell rotierende Lichtspirale ein. Beide meinten, durch ein unendlich tiefes Meer aus Farben und Geräuschen gezogen zu werden. Dann ließ der Zug an ihren Bauchnabeln nach und sie plumpsten auf harten Boden. Die Luft war auf einen schlag viel dünner und kälter. Als Donny sich umsah erkannte er himmelhohe Berge um sich herum.
"Wir sind in den Anden gelandet", vermeldete Paulina, die an ihrer Landestelle einen in Plastik eingeschweißten Zettel gefunden hatte.
"Hier an diesem Ort tat ich meine ersten Atemzüge. Ich hoffe, dass du eines Tages einmal mit mir hierherkommst, um diesen Ort zu sehen und die Luft dieser himmelnahen Berge zu atmen, Paulina. Du bist zweihundert Kilometer südlich von Lima in einer für gewöhnliche Menschen unzugänglichen Region der Anden. Nimm den Kompass, der unter dem Stein liegt und lass dir von ihm die Richtung zeigen! Im Norden steht eine kleine getarnte Hütte. Dort ist genug von dem Trank, den Lunera für uns beide gebraut hat. Sollte ich dich nicht begleiten können, dann bin ich entweder gefangengenommen oder getötet worden. In diesem Fall öffne die Truhe im Zelt mit dem Wort "Smaragdstadt" und hole alles heraus, was drin ist! Halte dich nicht zu lange an diesem Ort auf, weil ich bei einer Gefangennahme vielleicht verraten werde, wo unser Fluchtpunkt liegt. Geh zurück zu Lunera und erzähle ihr dann, dass Rabioso seinen Wahnsinn in die Tat umgesetzt hat. Wie erwähnt, bleib nicht zu lange an diesem Ort!"
"Okay, wo ist die Hütte?" fragte Donny. Paulina zeigte sie ihm.
In der nicht auf den ersten Blick erkennbaren Hütte fanden sie neben einem Rucksack voller Vorräte noch ein Tagebuch und ein Fässchen, in dem mindestens zwanzig Dosen des Lykonemisis-Trankes enthalten waren. Daneben war noch ein auf einen nicht von Juanita selbst eingestimmten Ort festgelegter Portschlüssel, der auf ein Passwort hin auslöste und den oder die, wer auch immer daranhing, zu einem anderen von Juanita nicht mitgeteilten Ort transportierte. Paulina erfuhr nun auch, dass Juanita nur zum Schein auf Rabiosos Plan eingegangen war. Sie hatte behauptet, Lunera habe sie und die anderen in Südamerika stationierten Werwölfe verraten und im Stich gelassen. Um sich bei Rabioso einzuschleichen habe sie zeigen müssen, dass sie mehr als zehn arglose Menschen in Werwölfe verwandeln könne. Wer und wo diese Menschen waren hatte sie wie ihre anderen Empfänger der Mondabhängigkeit in ihrem Tagebuch festgehalten. Donny staunte nicht schlecht. Juanita, die eiskalte Werwölfin, die für Aureus und diesen ihm noch nicht vorgestellten König Rabioso alles mögliche angestellt hatte, war in Wahrheit eine Spionin? Das würde er hoffentlich noch kapieren. Immerhin hatten sie und Paulina ihn durch den Werwolffluch ja mit in die ganze Kiste reingezogen.
Als sie mit dem Wort "Morgenmond" den zum Portschlüssel gemachten Schneebesen ausgelöst hatten wirbelten sie noch einmal durch jenes Farbenmeer. Dass die Hütte zehn Sekunden nach ihrer Abreise in einem grellen Feuerball verglühte bekamen sie nicht mehr mit.
Jetzt landeten sie in einem Urwald. Donny staunte mal wieder, wie gut diese Portschlüsselteleportationen liefen. Dann hörte er eine Glocke bimmeln. Paulina lief los und führte ihn zu einem wuchtigen Baumstamm, dessen unteres Ende zu einem gut getarnten Unterschlupf ausgebaut worden war. Dann fand sie eine Silberdose und öffnete sie. Dabei sprang ihr eine lange, spitze Feder in die Hand und stach sie. Donny wollte ihr schon helfen, als aus der Dose ein räumliches Abbild einer Frau mit weizenblondem Har entstieg. Paulina stierte sichtlich überrascht auf den leicht vorgetriebenen Bauch der Erscheinung.
"Paulina, du bist das. Ich habe den Blutschlüssel auf dich oder Juanita geprägt. Jeden anderen hätte die Dose das Blut ausgesaugt und getötet", klang es aus der Dose. Donny staunte noch mehr. Die weizenblonde Holo-Frau sah ihn offenbar irgendwie und fragte Paulina, wer er sei. "Das ist mein Gefährte. Juanita und ich haben ihn zu einem von uns gemacht. Eigentlich wollten wir bei Aureus bleiben und für den König Rabioso arbeiten. Aber dann ist Juanita gefangengenommen worden. Aureus wollte mich töten, weil ich den Blutbindungszauber mit Juanita gemacht habe. Da hat er ihn niedergeschlagen. Wir mussten flüchten. Ich wusste nicht, dass Juanita die ganze Zeit für dich ausgekundschaftet hat, was der König vorhat", sprudelte es aus Paulina heraus. Dann sollte sie einen vollständigen Bericht der letzten Monate abliefern. Hierfür benutzte sie das von Juanita erhaltene Tagebuch aus der Hütte in den Anden.
"Ja, bei uns hat sich auch einiges getan. Wie du siehst trage ich seit fünf Monaten ein Kind aus, und wir haben einiges über eine neue Vampirsekte herausgefunden, die sich als Erben von Nocturnia verstehen und einen sehr mächtigen Anführer oder eine mächtige Anführerin haben. Bleibt bis übermorgen im Urwaldhaus. Fino holt euch beide dann ab. Wenn sonst niemand das Haus ansteuert können wir dort wieder einen Stützpunkt auf festem Grund finden", klang die Stimme der holografischen Erscheinung aus der Dose. Paulina und Donny nickten. Dann klappte sich der Dosendeckel von alleine zu.
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