Seitdem jenes blutrote Lambda in geschlossenem Kreis auf verschiedenen Hauswänden in verschiedenen Städten auftauchte wissen die Zaubereiministerien, dass verbrecherische Werwölfe wieder aktiv sind. Denn diese verbreiten skrupellos ihren Keim und wollen mit Hilfe des Lykonemisis-Trankes eine Neuordnung der Verhältnisse zwischen Menschen mit und ohne den Keim der Werwut erzwingen. Sie haben sich gut auf direkte Gegenangriffe der magischen Ordnungshüter eingestellt, können diese am Apparieren bei ihnen hindern oder vernichten die, die auf Besen zu ihnen hinfliegen in einem magischen Feuer. Die Zaubereiministerien gehen von einem Erstarken der einmal zurückgedrängten Mondbruderschaft aus. Doch die verbrecherischen Werwölfe haben auch noch andere Feinde, vor allem die Gruppe namens Vita Magica, die nicht minder skrupellos ihr Ziel verfolgt, den Zuwachs an magisch begabten Menschen zu steigern. Sie droht den aktiv gewordenen Lykanthropen damit, alle Werwölfe weltweit abzutöten wie unerwünschte Insekten oder Krankheitserreger. Außerdem ist da noch die um die zu einer mächtigen Magierin vereinte Anthelia/Naaneavargia gruppierte Schwesternschaft der schwarzen Spinne und natürlich die Vampire, die von der im Mitternachtsdiamanten verankerten Seelenzusammenballung Gooriaimiria geführt werden. Eine Entscheidung steht unmittelbar bevor
"O Mann, wie Buttermilch mit Zitronensäure", knurrte die eine in schwarz-weißer Nonnentracht steckende Frau mit kurzen schwarzen Haaren. Die zweite Ordensschwester sah äußerlich vierzig Jahre älter aus als die erste. Ihr kurzgehaltenes Haar war bereits silbern, und sie musste eine altmodische Hornbrille mit dicken Gläsern tragen. "Lamentieren Sie nicht herum! Ich muss das wesentlich härtere Los ertragen", sagte diese zur ersten. "Und falls es Sie interessiert, Pampelmusensaft mit einer Beigabe von Essig", fügte sie dann noch mit Blick auf den vor ihr stehenden kleinen, restlos geleerten Becher hinzu.
"Ab jetzt drei Stunden Zeit. Reicht das aus?" fragte Ordensschwester Nummer eins, die gerade nach einer Haube mit Schleier fischte. "Nur wenn Sie weitere Unmutsäußerungen unterlassen und sich mit mir unverzüglich zu unserem Einsatzort begeben, bevor die Abwesenheit der beiden bemerkt wird", sprach die äußerlich älter aussehende und klingende Nonne. Nur in Gedanken fügte sie noch hinzu: "Falls noch einmal so ein Manöver ausgearbeitet wird sollte ich besser auch wieder in hoffnungsvollen Umständen sein, um dergleichen nicht durchführen zu müssen."
Die beiden Ordensschwestern prüften noch einmal die kleine Kammer, in der zwei Feldbetten standen, auf denen zwei wie tot daliegende Frauen in derber und textilaufwändiger Unterkleidung lagen. Die ältere blickte dabei auf eine Frau, die körperlich mindestens sechzig Lebensjahre vollendet hatte. Sie musste daran denken, dass sie ab nun drei Stunden lang so auftreten musste wie diese. Die zweite wie tot daliegende sah von Körperbau, Haar und Gesicht her genauso aus wie die äußerlich vierzig Jahre jünger wirkende Mitschwester der älteren Nonne.
"Noch einmal zum Missionsziel", setzte die älter aussehende Nonne an. "Es geht nicht darum, die Klosterschwestern ins Gefängnis zu bringen, sondern lediglich die Grundlage zu schaffen, dass die Angelegenheit unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt und wie erwünscht festgestellt wird."
"Nichts für Ungut, Madame ..., öhm, Schwester Marie-Clementine", setzte die jünger aussehende Nonne an, "rein rechtlich hätte Monsieur Lundi die Möglichkeit, alle für seine Erziehung und Ernährung verantwortlichen wegen fortgesetzter Körperverletzung zu verklagen. Das ist in Frankreich ein Straftatbestand."
"Dessen bin ich mir bewusst", erwiderte die ältere Nonne verdrossen und stellte für sich selbst fest, dass sie durch diese leichte Verärgerung gut in die von ihr bekannte Grundhaltung hineinfand. Doch das wollte sie nicht offen aussprechen. Statt dessen sagte sie streng klingend und dreinschauend: "Wenn Sie unser Missionsziel gründlich genug studiert haben wissen Sie, dass bereits Vorkehrungen getroffen sind, um den für Verantwortlich auszuweisenden Ordensschwestern der Freiheitsentzug erspart wird, wenn diese auf die von unseren Kollegen ausgearbeiteten und in bälde hergestellten Bedingungen eingehen. Und jetzt los, sonst verfehlen wir die anbefohlene Zeit!"
Jeff Bristol hatte irgendwie nicht hier damit gerechnet, dass sein winziger VBR-Kristall, den er an einer dünnen Seeschlangenlederschnur um den Hals gebunden trug, so heftig reagieren konnte. Doch als dieser mitten in der Nacht, als Justine und er endlich in den Schlaf gefunden hatten, sengendheiß und sehr stark vibrierte musste er wohl erkennen, dass gerade mehr als zehn Vampire auf einmal in der Reichweite des Vampirblutresonanzkristalls aufgetaucht waren. Aus seinen Erfahrungen mit den größeren, zu zwei Dutzend an einem Gürtel befestigten Geschwistern dieses Kristalls, das Vampire davon nicht nur angezeigt, sondern auch auf Abstand gezwungen wurden, ging er davon aus, dass sie ihn ebenfalls wahrnahmen und auf Abstand gehalten wurden. "Just, wir haben langzähnige Nachbarn", sagte Jeff Bristol."
"Wir haben noch Urlaub, Jeff", grummelte Justine schlaftrunken. Doch dann wurde sie schlagartig wach. "Okay, Jeff. Wenn wir blutdurstigen Besuch kriegen, sollen die angemessen empfangen werden." Sie griff ohne hinsehen zu müssen an den Nachtschrank und zog die unterste Schublade heraus. Keine Sekunde später hatte sie ihren Zauberstab und eine kleine, mit stumpfen Stacheln besetzte Metallkugel in den Händen. Jeff Bristol holte aus seinem Nachtschrank seinen Zauberstab heraus. Dann belegten sich beide zusätzlich zur Wirkung des VBR-Kristalls noch mit dem Segen der Sonne, wodurch sie für gewöhnliche Vampire einen vollen Tag lang unantastbar blieben. Mit dem Schnellankleidezauber schlüpften sie in ihre Sachen.
"Das wilde Vibrieren kommt vom norden und weiter unten", sagte Justine, die sich nun auch noch einen VBR-Kristall umlegte.
"Das sind mindestens zehn oder zwanzig auf einmal. Aber so plötzlich." "Ja, und die sind schon so nahe, dass die von unseren Kristallen angeregt werden müssen. Also los!" trieb Justine sich und ihren Mann an.
Da sie ohne direkte Gefahr nicht in einem Muggelhotel herumapparieren durften eilten sie in ihren Lautloslaufschuhen über den auch so schon Schrittgeräuschschluckenden Teppich des Korridors zu den Fahrstühlen. Sie Fuhren mit einem der langsameren Aufzüge zwei Stockwerke tiefer und wechselten dort in einen Expresslift über, der nur auf den Zehnerstockwerken und in der Hotelhalle hielt. Aus den Lautsprechern der Fahrstuhlkabine rieselte ihnen das Lied von der Strandschönheit aus Ipanema in die Ohren. Um keine unerwünschten Fragen zu provozieren zwangen sich beide zu einer ruhigen Gangart, als sie die spärlich bevölkerte Halle mit den protzigen Dekorationen durchwanderten. Auch hier plätscherte ihnen der jene unahbare Schönheit anschmachtende Bossa Nova aus den Lautsprechern in die Ohren. Den beiden offiziell ihre verkürzte Hochzeitsreise machenden war das egal. Ihnen war die Schwingung der VBR-Kristalle wichtiger als die Musikauswahl für Hotelhalle und Aufzüge. Sie schlenderten ruhig am Nachtportier vorbei, der ihnen zuzwinkerte, weil er sie doch erst vor drei Stunden hereinkommen gesehen hatte. Sie achteten nicht darauf.
Vor dem Hotel legten sie Einige Schritte zu. Jetzt erwies es sich als sehr gut, dass ihr gemeinsamer Boss, Elysius Davidson, sich und seinen Mitarbeitern auch ein gutes Körperertüchtigungsprogramm verordnet hatte. "Zaubern bringt nur was, wenn sie auch ausdauernd genug sind. Das geht nicht nur über den Kopf", hatte er immer mal wieder gesagt, wenn vor allem ältere Mitarbeiter schimpften, dass sie mit ihrer Magie doch alles erledigen konnten. Jetzt half ihnen das Training, im guten Jogging-Trab zwischen den taghell beleuchteten Außenfassaden entlangzulaufen.
"Das gibt es nicht", knurrte Jeff, als sein VBR-Kristall ihm fast den Hals verbrannte und jetzt noch zu summen anfing, als sei in ihm eine rammdösige Hornisse eingesperrt, die mit aller Macht versuchte, herauszufliegen. Als sie um die letzte Straßenecke bogen, um zielgerade auf die Versammlung von Vampiren zuzulaufen, stießen sie auf eine immer größer werdende Menschenansammlung. Alle guckten nach oben. Viele hatten Kameras im Anschlag und knipsten drauf los. Jeff blickte über den Menschenauflauf hinweg. Und dann sah er sie.
Über den Köpfen der Leute, fünf Meter über dem Boden, flatterte eine überlebensgroße, völlig schwarze Fledermaus. Sie schien nicht recht zu wissen, ob sie weiter aufsteigen, davonflattern oder wie ein Greifvogel niederstoßen und sich eine Beute fangen sollte. Denn mal flatterte sie schneller, um einen Meter weiter nach oben zu kommen, um dann mit halb angelegten Flughäuten wieder nach unten durchzusacken. Justine und Jeff Bristol wussten, dass sie bei der Menschenmenge mit Fotokameras nicht so frei zaubern durften. Außerdem irritierte sie, wie offen sichtbar die Riesenfledermaus über der Stadt flog. Aber wo waren die anderen Vampire? Laut den Kristallen hätten vor ihnen gleich zehn oder zwanzig von denen lauern müssen. Da fauchte mit einem von allen Wänden laut widerhallendem Lärm eine gleißend grüne Lichtfontäne in den Himmel. Das Ziel war die Fledermaus. Doch diese schlug einen blitzschnellen Haken und entging der nach oben hin ausfächernden Leuchterscheinung.
"Aus dem Weg da, ihr blöden Muggel!" fauchte ein erboster Mann mittenin der Menge. Wieder strahlte gleißendgrünes Licht auf. Jeff erschrak wie Justine, als sie sahen, wie gleich sieben Männer und fünf Frauen vom grellen Licht getroffen stürzten und reglos liegenblieben. Sofort brach eine wilde Panik aus. Laut schreiend stoben die Neugierigen auseinander. Zehn von ihnen kamen jedoch nicht weiter als zwanzig Meter. Wieder fauchte ein gleißender Lichtfächer aus der sich lichtenden Menge heraus und warf sie um wie Dominosteine. Das trieb die Flüchtenden endgültig zur schnellstn Gangart an. Justine und Jeff konnten sich gerade noch auf eine Treppe zu einer massiven Haustür retten, bevor die Menschenstampede sie einfach überrannte.
"Vengor", mentiloquierte Jeff seiner Frau zu. Diese schickte zurück: "Höchstwahrscheinlich. Er hat also den Vampir gerufen."
"Ist noch nicht sicher", sagte Jeff. Sie wussten, dass der sich Lord Vengor nennende Schwarzmagier durch einen Kristall, den er zwei Tage nach dem Anschlag vom elften September 2001 aus den Trümmern des WHZs geborgen hatte ungleich stärkere Zauberkräfte ausüben konnte. Dass er mit einem Todesfluch gleich zehn oder zwölf arglose Leute in der Ausrichtung töten konnte erschreckte die beiden, die doch schon so viele Grausamkeiten der Zaubererwelt mitbekommen hatten.
Als die wild schreiende und rennende Menge sich zerstreut hatte und in der Ferne schon die ersten Polizei- und Ambulanzsirenen wimmerten konnte Jeff einen kleinen Mann im dunklen Anzug sehen, der schwarze Haare und eine helle Haut hatte. Jeff dachte seltsamerweise erst an Harry Potter. Doch als der Fremde noch einmal einen grünen Todesfächer über den Platz schickte und dabei einen Müllcontainer in einem grellen Feuerball explodieren ließ wusste er es sicher, dass Harry Potter sowas wohl nicht tun würde.
"Na, Blutsauger, komm und versuch's doch!" brüllte der überstarke Zauberer und zielte nach oben, wo die Fledermaus gerade zum Sturzflug ansetzte. "Avada Kedavra!" In dem Moment schwirrte mit rasant schnellen Flughautschwüngen eine zweite Fledermaus aus einer Einfahrt heran und stieß den Zauberer von den Beinen. Dessen Todesfluch fauchte schräg nach oben und schlug voll in ein zwanzig Meter hohes Dach ein. Mit einem kanonenschlagartigen Knall schossen beinahe sonnenhelle Flammengarben aus dem getroffenen Dach heraus und hüllten es innerhalb einer Sekunde völlig ein. Feuer gehörte eigentlich zu den Dingen, vor denen jeder Vampir Reißaus nahm oder denen er sich nicht so leicht nähern konnte. Doch die beiden Riesenfledermäuse schien das lichterloh brennende Haus nichts auszumachen. Die eine Fledermaus entführte gerade den kleinen, schwarzhaarigen Zauberer in die Luft, während die andere sich umblickte und dann auf die Bristols zusteuerte.
"Ah, jetzt sind wir dran", knurrte Jeff und zielte auf den Vampir. Sein VBR-Kristall glühte schon und summte immer lauter. Diese kleine Version konnte jeden normalen Blutsauger auf vierzig Meter Abstand zwingen. Doch die Fledermaus unterschritt diesen Abstand. Justine jagte ihm einen Sonnensegen auf den Körper, der flirrend von ihm abglitt. Sie beide sahen für einen winzigen Augenblick einen schwarz flimmernden Dunst um den getroffenen Vampir. Dann waren es nur noch dreißig Meter. Jeff schrie fast auf, so heiß brannte der VBR-Kristall auf seiner Haut. Fühlte dieses Biest das nicht auch?
"Lass die Sonne raus!" rief Justine und warf die kleine Stachelkugel aus goldenem Metall in die Luft. Sofort glühte sie sonnenhell auf und stieg wie ein prallgefüllter Wasserstoffballon über die Fledermaus hinweg, die einen Moment irritiert war. Aus dem Körper des Ungeheuers drang jener schwarze Dunst, der zu einer konturgenauen Aura um das geflügelte Unwesen wurde. Jeff dachte an das, was er über den Mitternachtsdiamanten und über jene Kristalle erfahren hatte, für die sich Vengor so brennend interessierte. Dann kam ihm die Idee. "Ventus tenebrosus!" rief er. Aus seinem Zauberstab fauchte eine pechschwarze Nebelwalze, die den anfligenden Vampir in zwanzig Metern Entfernung berührte und einschloss. Die Fledermaus erstarrte und fiel nach unten. Justine behielt Fledermaus Nummer zwei im Blick, die gerade den entführten Zauberer mit ihrem spitzen, haarigen Maul an der linken Schulter festhielt und höher und höher trug.
Die auf die Bristols losgehende Riesenfledermaus kämpfte derweil mit der dunklen Nebelwalze, die sie zu Boden zu reißen trachtete. Fast wäre das Ungeheuer heftig auf dem Boden aufgeschlagen. Doch im letzten Moment kam es aus der über ihm hinweglaufenden Dunstwalze frei und schaffte noch eine Landung. Sie fauchte die beiden LI-Mitarbeiter an wie eine drohende Katze. Doch dann warf sie sich herum und stieß sich ab, um mit immer schnelleren Flügelschlägen hinter seiner Artgenossin herzueilen.
"Wieso hat die den Angriff abgebrochen?" fragte Justine, die gerne noch einen Zauber ausprobiert hätte.
"Siehst du doch, sie gönnt dem Artgenossen nicht alleine die Beute."
"Ja, aber der oder die hätte uns doch fast erreicht, trotz der VBRs", entgegnete Justine. Jeff hatte darauf auch keine Antwort. Er sah nur, wie seine schwarze Nebelwalze auf ein Wohnhaus zutrieb. "Antiscotergia!" rief er mit auf die hundert Meter lange und halb so hohe Dunstwalze deutend. Aus seinem Zauberstab schlug ein hellblauer Lichtstrahl in den schwarzen Dunst und verbreitete sich darin. Innerhalb einer Sekunde war die schwarze Nebelwalze verschwunden.
"Wir sollten besser wieder weg. Die beiden Flügelbiester hauen eh ab. Die haben, was sie eigentlich wollten", sagte Jeff und deutete auf heranfahrende Polizeiwagen. Justine nickte und holte schnell mit der Gegenformel für die Sonnenlichtkugel ihr eigentlich gegen Vampire geeignetes Hilfsmittel zurück. Dann disapparierten beide.
Euphrosyne sah ihren Auserwählten sehr streng an. Dieser sah sie mit dem Ausdruck eines zu Unrecht bestraften Kindes an. Deshalb sagte sie schnell: "Ich ärgere mich nicht über dich. Du hast doch nicht darum gebettelt, dass sie deinen Ruf und deine Zukunft zerstören. Ich hätte es doch wissen sollen, dass diese Besserwisser und Bestimmungssüchtigen vom Zaubereiministerium nicht hinnehmen, dass du mit mir an deiner Seite eine erfolgreiche Zukunft als Fußballspieler hast. Sie haben mich noch nicht einmal aufgefordert, vertraglich auf jeden magischen Eingriff in die von dir mitgespielten Spiele zu verzichten. Nein, die gehen einfach davon aus, dass unser Zusammensein alleine ausreicht, um deren oberstes Prinzip, alles magische geheimzuhalten, lächerlich macht. Gut, so ganz abstreiten kann und will ich nicht, dass das durchaus passieren könnte, allein schon, wenn ich mal vergesse, meine Unfotografierbarkeit zu unterdrücken."
"Verdammt, ich habe diesen Höllenkessel von Marie de Incarnation nicht überstanden, um jetzt auf das Spielen zu verzichten. Wenn die mich sperren bin ich so gut wie aus dem Profifußball raus, könnte vielleicht gerade mal eine Trainerausbildung machen. Aber wenn die so weitermachen bleibt zu viel an mir hängen, als dass ich das dann beruflich machen könnte, ohne als einer hingestellt zu werden, der weil er selbst gedopt wurde anderen was unterjubelt. Die wollen mich echt fertigmachen."
"Vielleicht kriege ich das hin, dass wir diese Gauner auf Schadensersatz für dich verklagen können. Die dürfen nicht einfach hingehen und jemandem die Existenz kaputtmachen, nur weil der mit einer Hexe verheiratet ist", sagte Euphrosyne.
"Öhm, heiraten wollten wir noch, wenn die Checks durch sind. Außerdem geht's mir nicht ums Geld. Ich will in der Nationalmannschaft mitspielen, vielleicht schon dieses Jahr mit nach Südkorea und Japan, um den WM-Titel zu verteidigen. Das kann ich im Moment komplett zusammenknüllen und als unhaltbare Flanke in die nächste Mülltonne kicken. Abgesehen davon könnten diese Verbrecher zum Teil recht haben, dass die mir in der Klosterschule immer wieder was ins Essen oder den Tee reingetan haben, um mich ruhig und folgsam zu kriegen, wenn die fanden, dass ich denen zu frech war. Wenn ich mir so ein paar Ex-Mitschüler ansehe, wie die als Dreizehnjährige immer schnell ausgerastet sind und sich an den kleineren vergriffen haben und von heute auf morgen ganz freundlich waren könnte das echt passiert sein, wenngleich der rechte Haken Gottes schon genug Psychoterror draufhatte, um jeden fertig zu machen. Aber wer nicht gerade den Küchenboden scheuern musste kam nicht in die Küche rein, wo die Schränke auch noch alle zugeschlossen waren, damit keiner naschen konnte."
"Ich werde versuchen, dass wir von diesen Leuten aus den Ministerien eine für dein ganzes Leben ausreichende Entschädigungszahlung kriegen. Denn glaube es mir bitte, wenn die beschlossen haben, dass du für keine Berufsmannschaft mehr spielst, werden sie das durchbringen. Das einzige, was sie sich nicht leisten dürfen ist, dich zum straffälligen Verbrecher zu stempeln oder dich körperlich oder seelisch zu verletzen."
"Ach ja! Was machen die denn gerade? Ich habe mein Leben lang darauf gesetzt, Fußballprofi zu sein. Das hat mich die Hölle von Marie de Incarnation überleben lassen. Deshalb konnte ich beim HAC anfangen. Aber vielleicht ist das die Strafe dafür ..." weiter sprach er nicht. Denn jetzt funkelte ihn Euphrosyne sehr wütend an, diesmal wegen ihm. Denn was er nicht gesagt hatte aber angedacht hatte war sonnenklar. Hätte er sich nicht auf sie eingelassen und sich damit zur Zielscheibe für diese Wichtigtuer des französischen Zaubereiministeriums gemacht, dürfte er wohl demnächst unbehelligt für den FC Barcelona spielen. So sagte Euphrosyne:
"An deiner und meiner Entscheidung, zusammenzusein kannst du nichts mehr ändern, Aron. Du und ich sind jetzt zusammen und bleiben es auch. Und ich brauche weder einen dieser heuchlerischen Pfaffen, noch einen dieser ministeriumshörigen Zeremonienzauberer, um klarzustellen, dass wir verheiratet sind. Wir haben uns geliebt und damit geheiratet, so wie es bei meinen Vorfahren üblich ist. Und was deine Zukunft angeht, so werde ich diese Bande vor die Wahl stellen, entweder viel Geld für deinen Lebensunterhalt rauszurücken oder diese Dreckskampagne gegen dich sofort einzustellen und den schon angerichteten Schaden zu reparieren. Glaube es mir, wenn die mitkriegen, wie viel dir wegen ihrer Lumperei entgeht werden sie schon zusehen, dass sie dir ein eigenes, einträgliches Leben erlauben, auch mit mir an deiner Seite!"
"Wenn sie nicht mal eben finden, mich auf die eine oder andere Weise verschwinden zu lassen", grummelte Aron Lundi. Das brachte seine bezaubernde Gefährtin zum grinsen.
"Genau das ärgert die am meisten, dass sie dich nicht einfach so verschwinden lassen und allen, mit denen du zu tun hattest die Erinnerungen an dich wegnehmen können. Denn wenn sie dich daran hindern, als freier Mann weiterzuleben, gefährden sie dein und auch mein Leben. Und mein Leben gefährden ddürfen die nicht, weil sie sonst mit einer durch ein jahrtausendealtes Gesetz festgelegten Vergeltung rechnen müssen. Aber das habe ich dir schon nach unserer Hochzeit gesagt." Aron nickte. Doch er wandte ein, dass er eben nicht frei weiterleben konnte, wenn er nicht Fußball spielen durfte.
"Berufssport ist in der Zaubererwelt eben nur ein Beruf, der aufgegeben und geändert werden kann", schnaubte Euphrosyne. "Und für Fußball interessieren sich nur die, die keine magisch begabten Eltern haben, und die wechseln schnell zum Quidditch."
"Was immer das auch ist", grummelte Aron. Dann sagte er, dass er von sich aus weiter auf Schadensersatz drängen würde, falls die gegen ihn losgetretene Rufschädigungsaktion nicht zurückgenommen würde.
"Dann müsstest du denen beweisen, dass sie deine Untersuchungsunterlagen verfälscht haben, und glaube mir bitte, dagegen haben diese Halunken sich doppelt und dreifach abgesichert", sagte Euphrosyne.
Das Telefon in dem Hotelzimmer läutete. Auf ausdrückliche Aufforderung Lundis durfte niemand ihn per Durchwahl erreichen, nachdem seine Zimmernummer und die Durchwahl in einer Sensationszeitung verbreitet worden war. Aron nahm den Hörer ab und sagte nur "Ja". In akzentlastigem Französisch sprach eine Männerstimme aus dem Hörer: "Señor Lundi, Señor Camacho möchte mit Ihnen sprechen. Sind Sie bereit, ihn in ihrem Zimmer zu empfangen?"
"Wenn Sie ihn an den auf dem Flur lauernden Schmierfinken und Spannerfotografen vorbeilotsen können jederzeit", grummelte Lundi.
"Wir lassen ihn über unsere Servicegänge zu Ihnen führen", sagte die Stimme aus dem Hörer. Lundi nickte und bestätigte es auch mit "Ja, machen Sie das bitte!"
"Ich ziehe mich in den Schlafraum zurück, damit du mit dem kleinen Dicken sprechen kannst, ohne dass der meint, ich wolle dich zu irgendwas verleiten", wisperte Euphrosyne, nachdem Lundi den Hörer wieder aufgelegt hatte. Aron nickte. Er hoffte, dass er Camacho klarmachen konnte, dass er garantiert nicht auf die Idee gekommen war, zu dopen.
Als dann ein Hotelbediensteter den kleinen, korpulenten Vereinsfunktionär des FC Barcelona zur Servicetür der vom Verein gesponserten Suite geführt hatte stellte Lundi fest, dass dieser in Begleitung eines Leibwächters war. Vor dem offiziellen Zugang der Suite bemerkten die seit Tagen herumlungernden Medienvertretr, dass wohl wer durch den diskreten Zugang zu Lundi hingelangt war und betätigten die melodiöse Klingel und klopften an die schallgedämpfte Tür. Lundi bedachte die Besucher mit einer einladenden Handbewegung in Richtung Salon und schloss die Tür hinter ihnen.
Die Unterredung dauerte nur fünf Minuten. Lundi pochte immer wieder darauf, dass er niemals bewusst irgendwelche Substanzen eingenommen habe und er immer davon ausgegangen sei, dass seine Fußballtalente angeboren und von seiner Sportlehrerin, Schwester Benedicte-Lucie, nur sehr gründlich und zielgerichtet gefördert worden wären.
"Ja, aber Sie können die Untersuchungsergebnisse nicht widerlegen, dass Sie über Jahre hinweg exotische Substanzen zu sich genommen haben, die ihre Muskulatur und Ihr Nervensystem erheblich verstärkt haben. Wenn wir Sie jetzt bei uns spielen ließen würde jeder gegnerische Verein bei einem überragenden Erfolg von uns auf Annullierung des Ergebnisses klagen. Paris St. Germain erwägt bereits eine derartige Widerrufsklage vor dem französischen Fußballverband, behält sich sogar eine zivilrechtliche Klage gegen den Le Havre AC vor, weil St. Germains Juniorenauswahl durch die von Ihnen maßgeblich zugefügte Niederlage zu einem finanziellen Schaden geführt haben soll. Aber das wissen Sie leider ja schon. Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen, dass wir Sie im Moment nicht in das Trainingsprogramm oder gar den Spielbetrieb übernehmen dürfen, bis die endgültigen ermittlungsergebnisse vorliegen, ob Sie in absehbarer Zeit von den Auswirkungen der fremden Substanzen genesen, auch wenn Sie persönlich sich in Bestform empfinden. Der Entzug der Ihnen zugeführten Substanzen könnte Sie körperlich schwächen, vielleicht auch die geistige Fitness beeinträchtigen."
"Mit anderen Worten, Sie unterstellen mir nach wie vor, ich bezöge unzulässige Mittel, um meine Fähigkeiten möglichst hochzuhalten, Señor Camacho", knurrte Lundi. "Ist schon schlimm genug, dass alle an mich gehenden Postsendungen geröntgt werden und diese Sudeljournalie da draußen vor der Tür fragt, was die achso frommen Nonnen mir noch alles mit Gottes Segen aus ihrer geheimen Kräuterapotheke zukommen lassen, damit ich genug Geld zusammenspielen kann, um ihren Laden am laufen zu halten."
"Was wir nicht behauptet haben", musste Camacho dringend anmerken. Lundi nickte ihm zu und erwähnte, dass diese Schmierfinken dafür andere Quellen angezapft hatten. Am Ende stand nur fest, dass der Verein die Suche nach einer Stadtwohnung für Lundi und seine zukünftige Ehefrau beendet habe und es ihm überlasse, ob er auf eigene Kosten in Spanien bleiben wolle oder nach Frankreich zurückkehren wolle. Das war deutlich, dachte Lundi. Wenn er hier nicht spielen konnte war er für Barca wertlos. Da er nicht die spanische Staatsangehörigkeit besaß war er dann einer von vielen arbeitslosen Ausländern, die zusehen mussten, wie sie über die Runden kamen. In seine Wohnung in Le Havre konnte er nicht mehr zurück, weil die dem HAC gehörte.
"Wenn die Vorwürfe aus der Welt sind werden Sie darum betteln, mich hier spielen zu lassen. Aber dann werde ich mir einen anderen Verein suchen, einen, der nicht auf getürkte Untersuchungsergebnisse und falsche Anschuldigungen hereinfällt. Ich hoffe, Sie nicht zu lange aufgehalten zu haben, Señor Camacho."
"Das gleiche hoffe ich für Sie. Ich wünsche Ihnen noch ein paar angenehme Tage in unserer schönen Stadt", sagte Camacho bar jeder diplomatischen Zurückhaltung. Denn mit diesem Satz hatte er Lundi gerade vor den Kopf geknallt, dass er nur noch solange in Barcelona bleiben konnte, wie die Ermittlungen liefen. Nicht länger.
"Ich könnte ihn und seine Kameraden dazu bringen, dich doch noch spielen zu lassen, Aron. Doch dann würde das passieren, was der kleine Dicke dir gesagt hat. Alle Vereine dieses Landes und der Welt kann und will ich auf diese Weise nicht zugänglich stimmen, zumal die Zaubereiministerien auch dagegen vorgehen würden, weil das ein ganz offener Angriff auf die Geheimhaltung ist", sagte Euphrosyne, als Camacho gegangen war und sie zur Sicherheit vor Mithörern jenes ockergelbe Klangkerkerlicht über Boden, Wände und Decke gelegt hatte.
"Die werden das so hindrehen, dass ich heimlich irgendwelche Päckchen von diesen durchgeknallten Pinguinen gekriegt habe", blaffte Aron Lundi. Euphrosyne nickte. Sie hatte mehrere Leibwächter von Barca und einige ehemalige weibliche Fans von Lundi durch einen an und für sich verwerflichen Zauber zu ihren bedingungslos treuen Helfern gemacht. Doch wenn sie jeden Fußballfunktionär auf diese Weise unterwerfen wollte müsste sie einen Gutteil ihrer Haare opfern. Die Haare waren aber die Quelle des Veelazaubers und durften nicht beliebig häufig geopfert werden. Was blieb ihnen dann also noch außer einer Gegenaktion in den Medien?
Gegen Abend läutete noch einmal das Telefon. Der stellvertretende Geschäftsführer kündigte den Besuch eines Staatsanwaltes und seines französischen Kollegen an. Lundi sah Euphrosyne an, die über Freisprechlautsprecher mitgehört hatte. Sie nickte. Er erlaubte den Besuch.
-Als die beiden hochrangigen Juristen in ihren maßgeschneiderten Anzügen mit bis zur Unterkante Brustkorb hängenden Krawatten durch den Servicezugang die Suite betraten begrüßten sie Lundi und seine auserwählte Lebensgefährtin, die ungeniert ihre besondere Ausstrahlung wirken ließ, was die beiden Herren Mitte Fünfzig sichtlich entrückt dreinschauen ließ.
Mutter Anne-Catherine deutete auf einen der schmalen, ungepolsterten Stühle vor ihrem Schreibtisch. Die Leiterin des Marie-de-Incarnation-Waisenhauses mit angeschlossener Privatschule sah ihre Priorin und für die Unterbringung zuständige Mitschwester Marie-Clementine verdrossen an. "Ich erhielt eben wieder die Aufforderung des Staatsanwaltes von Le Havre, der Polizei Zutritt zu unseren Räumlichkeiten einschließlich des Archives und der Apotheke zu gewähren. Offenbar schenken die auf rein weltliche Rechtsgrundlagen festgelegten Damen und Herren unserer Beteuerung keinen Glauben mehr, wir hätten zu keiner Zeit irgendwelche Arzneien an einen unserer Schüler weitergegeben. Schwester Marie-Josephine bekam eine offizielle Vorladung, bei der Polizei darüber auszusagen, welche Medikamente sie wem wann verabreicht hat. Dieser Staatsanwalt will eine vorübergehende Aufhebung der Schweigepflicht erwirken, da seiner Meinung nach der Verdacht bestehe, dass in unserem Hause über viele Jahre die uns anvertrauten Jungen und Mädchen mit irgendwelchen unzulässigen Mitteln behandelt wurden."
"Was sagt der Bischof?" fragte Marie-Clementine verdrossen dreinschauend.
"Er rät mir, im eigenen Interesse, unsere Redlichkeit zu bestätigen, dieser Durchsuchung auf freiwilliger Basis zuzustimmen, da er nicht den Vorwurf riskieren möchte, die Kirche betreibe unter den Dächern ihrer Institutionen gezielte durch Drogen herbeigeführte Züchtung von Hochleistungssportlern. Dies, so seine Exzellenz, dürfe nur und ausschließlich diktatorischen Regimes vorgeworfen werden, aber nicht der heiligen Mutter Kirche. Daher sei es an uns, diesen Vorwürfen entschieden entgegenzutreten und im Sinne einer unanfechtbaren Beweisführung unsere Unschuld zu bestätigen", schnarrte die Mutter Oberin. Dann sah sie Marie-Clementine sehr genau an. Diese sah mit einer Mischung aus Unterwürfigkeit und Verdrossenheit zu ihrer Vorgesetzten hinüber.
"Wenn wir die Untersuchung in unseren Räumlichkeiten zulassen könnte den Polizeibeamten einfallen, dass wir zur Besänftigung durch die Wallungen der Pubertät aggressiv und aufsässig werdender Jungen und ihrem Fleisch zu früh verfallender Mädchen gewisse Zusätze in den Tee gaben", sagte die Mutter Oberin. Marie-Clementine nickte. "Außerdem erfuhr ich, dass ein Interview mit drei ehemaligen Schützlingen von uns geplant ist, die damals sehr ungebärdig auffielen. Und dann sind da noch die Fälle Eugenie Mardie und Claire-Virginie Dimanche, über die der Vorgänger unseres erhabenen Bischofs damals seinen schützenden Mantel des Schweigens gebreitet hat. Da Sie und ich damals maßgeblich in diese Vorkommnisse einbezogen waren könnte es den Polizeibeamten einfallen, weitere Ereignisse zu ermitteln, die im Weltbild der von göttlicher Demut und Moral abgekehrten Öffentlichkeit als verwerflich, unzulässig oder gar tyrannisch ausgelegt werden. Deshalb muss ich Sie ersuchen, alle von Ihnen angelegten Aufzeichnungen in diesen Angelegenheiten schnellstmöglich zu vernichten, ebenso wie die Beete, in denen die Kräuter für den Besänftigungstrunk gezogen wurden, komplett umstechen unnd mit nicht all zu frischer aber unbelasteter Erde auffüllen zu lassen. Wir dürfen nicht den geringsten Hinweis auf unzulässige Methoden zurückbehalten. Ich werde den Staatsanwalt morgen früh unsere Bereitschaft mitteilen, einer offiziellen Untersuchung unserer Räumlichkeiten zuzustimmen. Bis dahin muss alles, was die rein weltliche Justiz für anrüchig halten kann verschwunden sein, natürlich ohne eine Spur zu hinterlassen."
"Die Akten über Mardi und Dimanche verschwinden zu lassen würde eine Lücke in unseren Aufzeichnungen klaffen lassen", sagte Marie-Clementine. "Es wäre also besser, alle im fraglichen Zeitraum angelegten Akten zu beseitigen und nur einen Bestand von 1972 bis heute vorzuweisen."
"Damit würden wir aber das ganze Archiv der letzten dreihundert Jahre aufgeben", sagte Schwester Monique-Louise, die für das Archiv zuständige Ordensschwester.
"Wir haben doch alles auf Mikrofilm, Schwester. Wir brauchen nur die Papier- und Pergamentunterlagen verschwinden zu lassen, am Besten in die nicht mehr genutzte Zelle unseres Ordens, wohin die ehrwürdige Mutter und ich uns vor zehn Jahren für eine kontemplative Klausur zurückgezogen haben", sagte Marie-Clementine.
"Mir behagt es nicht, Schwester Marie-Cleementine", widersprach Schwester Monique-Louise.
"Würde es dir eher behagen, wenn weltliche Richter und Anwälte uns wie gewöhnliche Verbrecher behandeln könnten, Schwester?" fragte die ehrwürdige Mutter. Schwester Monique-Louise schüttelte den Kopf. Schwester Marie-Clementines Gesicht war eine starre Maske der Verärgerung. Dass hinter diesem Gesicht Gerade Gedanken an einen erfolgreichen Abschluss eines Auftrages kreisten konnte niemand sehen.
"So werde ich dann wohl in das Archiv gehen müssen und mit Schwester Monique-Louise die entsprechenden Akten aussortieren müssen", sagte Marie-Clementine.
"Ja, und vor allem solltest du die außerhalb des Archives angelegten Aufzeichnungen verschwinden lassen, Schwester Marie-Clementine."
"Wie Ihr wünscht, ehrwürdige Mutter", schnaubte Marie-Clementine.
Vor der Tür sprach sie mit der jüngeren Mitschwester Angelique-Évangeline, die von der ehrwürdigen Mutter nicht in ihr Büro hineingerufen worden war. "Wir müssen unsere Unterlagen präsentabel sortieren, Schwester Angelique. Dies ist eine klare Anweisung unserer ehrwürdigen Mutter", grummelte Marie-Clementine.
"Präsentabel ordnen bezieht auch ein, dass unsere Schützlinge instruiert werden, nur im Beisein von uns irgendwelchen Reportern oder Polizeibeamten gegenüber Aussagen zu machen?" fragte Angelique-Évangeline. Marie-Clementine und Monique-Louise nickten verdrossen.
"Gut, dann geht ihr beide ins Archiv und sortiert die Akten, die wir vorzeigen dürfen", sagte Marie-Clementine. Ich spreche mit unseren Schwestern aus dem Garten und dem Krankenrevier", sagte Marie-Clementine. Dabei sah sie Angelique gestreng an und handelte im Geiste fünf Stufen eines inneren Vorgangs ab, der ihr erlaubte, in Gedanken zu anderen zu sprechen. Dabei stellte sie sich unter anderem das Gesicht eines dreißig Jahre alten Mannes mit schwarzem Schopf und Spitzbart vor, bis sie sich ihn das sagen hörend dachte: "Ich soll die Geheimunterlagen verschwinden lassen. Sorgen Sie für eine nicht all zu gründliche Beseitigung aller Vorgänge vor dem Jahr 1972!" Dann wandte sie sich zum gehen und ließ die beiden anderen Ordensschwestern zurück.
Statt die erwähnten Mitschwestern aus der Gärtnerei und dem Krankenrevier aufzusuchen eilte Marie-Clementine in das ihr zugewiesene Arbeitszimmer. Gemäß den Erinnerungen der Ordensschwester befand sich hinter der verkleinerten Kopie des berühmten Frescos "Das letzte Abendmal" eine Geheimtüre, durch die sie durch einen den hier wohnenden Kindern und Jugendlichen unbekannten Gang zu einer mit zwei Kerzenleuchtern und drei mit schmiedeeisernen Beschlägen versehenen Eichenschränken möblierte Kammer ging. Dort angekommen vollführte sie erneut jenen geistigen Vorgang über fünf Stufen, mit dem sie in Gedanken zu jemandem anderen Sprechen konnte. Hierbei war es unerheblich, dass die Zielperson weit weg in paris wartete, denn es war die Mutter jener, die gerade Körper und Stimme Marie-Clementines verwendete.
"Madame Grandchapeau, wurde beauftragt, verräterische Unterlagen zu entsorgen und fragwürdige Kräuter und Essenzen verschwinden zu lassen. Phase vier kann anlaufen."
"Verstanden! Phase vier beginnt jetzt!" empfing sie keine fünf Sekunden später die rein geistige Antwort ihrer Mutter.
Die Frau, die gerade wie Marie-Clementine aussah fingerte eine Schachtel Zündhölzer unter einem der Kerzenleuchter hervor und riss ein Streichholz an. "Gut, dass wir das schon in der vierten Klasse gelernt haben, wie die magisch unbegabten Feuer machen können", dachte die jene, die wie Marie-Clementine aussah. Sie zündete alle Kerzen an und öffnete die Schränke mit einem Schlüssel, den sie neben einem silbernen Kruzifix an einer Kette um den Hals trug. Sofort fand sie die ihr bekanntgemachten Aktenordner, die je nach Grad von Verfehlungen oder dauerhafter Auffälligkeiten gefärbt waren. Kirschrot waren die, die gewalttätige und bei sündhafter Selbstbefriedigung ertappter Jungen und Mädchen beinhalteten, Erdbraun jene, die von unaufmerksamen bis faulen Kindern und Jugendlichen berichteten und zitronengelb jene, die von Kindern und Jugendlichen handelten, die sich durch fortgesetzte Widerborstigkeit und ungehöriges Hinterfragen von Anweisungen hervorgetan hatten. Aus diesem bunten Sündenregister stach ein kleines, schwarzes Buch hervor, dass die echte Marie-Clementine als ihr ganz persönliches Tagebuch führte und in dass sie die Vollstreckung und Auswirkung von ihr ersonnener Strafmaßnahmen notierte. Dieses kleine buch, so wusste jene, die gerade wie die ordensschwester aussah, war reine Erumpentflüssigkeit für die Nonne und ihre Mitschwestern. Eigentlich war nur geplant gewesen, die fortgesetzte Verabreichung von Kraft und Beweglichkeit fördernden Drogen nachzuweisen. Doch als im Zuge der heimlichen, nur von den Leiterinnen der Büros für denkfähige Zauberwesen oberhalb der Jardinane-Grenze und dem Büro zur friedlichen Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie abgesegneten Untersuchungen herauskam, dass die achso gottesfürchtigen Betreiberinnen dieses Waisenhauses mit angeschlossener Grund- und Oberschule ihre Zöglinge durch Kräutertees in halber Betäubung hielten, wenn sie ungebärdig oder offen aggressiv wurden und dass es vor dreiunddreißig Jahren zu einem Todesfall nach unverhältnismäßig harter Bestrafung gekommen war, hatten die in die Aktion einbezogenen Ministeriumsmitarbeiter beschlossen, die ganze unter der Decke gehaltene Angelegenheit aufzudecken.
So holte jene, die gerade als Marie-Clementine herumlief alle Ordner und das schwarze Buch aus den Schränken heraus und trug sie ins Büro, angeblich, um sie in einem rollenden Container zum einzigen Reißwolf des Hauses zu schaffen und die von diesem nützlichen Gerät zurückgelassenen Schnipsel im Heizungsofen verbrennen zu lassen. Da empfing sie eine neue Gedankenbotschaft:
"Ordnungsbehördliche Beamte der magielosen Welt in Marsch gesetzt. Rückzug nach bereitstellung der fraglichen Unterlagen und Pharmazeutika!"
"Verstanden", erwiderte jene, die sich gerade als Marie-Clementine ausgab. Sie las gerade im schwarzen Buch über die durch heftiges Prügeln mit einer Lederschnur an inneren Bauchverletzungen verstorbene Schülerin Claire-Virginie Dimanche, die wegen fortgesetzter Homophilie öffentlich gezüchtigt worden war, damit durch den Schmerz des sündigen Fleisches die Reinheit ihrer Seele wieder hergestellt werden möge. "Heuchlerisches Aas", dachte die vorübergehend im Körper einer siebzig Jahre alten Ordensschwester herumlaufende Ministeriumsmitarbeiterin. Dann fiel ihr ein, dass zum erfolgreichen Abschluss von Phase drei und vier noch die entsprechenden Substanzen im Garten und der Apotheke verteilt werden mussten. Mit dem Mentijectus-Zauber prüfte sie nach, ob die für das Krankenrevier zuständige Nonne gerade in der Apotheke war und erkannte, dass sie wohl gerade mit der Schwester Botanikerin sprach, welche Kräuter demnächst für die selbst zu brauenden Heilmixturen bereitstanden. So konnte die verwandelte Ministeriumsmitarbeiterin unbemerkt in der Apotheke apparieren und dort die exotischen Kräuter unterbringen, die aus dem südamerikanischen Dschungel beschafft worden waren und in keinem Bezug zur magischen Pflanzenwelt standen. Dann eilte sie zu Fuß in den Garten, wo sie Schwester Véronique traf und ihr vom Auftrag der Mutter Oberin erzählte.
"Dann müssen wir uns aber beeilen", sagte die Ordensschwester. "Ich verstehe jedoch, warum es die ehrwürdige Mutter so drängend macht. Das muss ja wirklich niemand wissen, wie wir offene Gewaltausbrüche und aggressive Aufsässigkeit beherrschen."
"Gut, Schwester Véronique. Ich habe dann noch was mit der Schwester Archivarin zu regeln. Gutes Gelingen und gelobt sei Jesus Christus!"
"In ewigkeit Amen", erwiderte die für die Gärtnerei zuständige Nonne.
"Monsieur Bleuchamp, Phase vier wie geplant angelaufen. Rückzug nach erfülltem Auftrag!" gedankensprach sie zu ihrem beigeordneten Mitarbeiter aus dem Zauberwesenbüro. Dieser gedankenerwiderte keine zehn Sekunden danach:
"Schriftstückzerreißvorrichtung durch unbemerkt ausgeführten Elektroschlagzauber außer Funktion. begebe mich auf Rückzugsposition!"
"Gut. Bin gleich dort", bestätigte jene, die Marie-Clementines Rolle gespielt hatte. Zeitlich passte es. Die drei Stunden waren gleich um. Die drei getrunkenen Dosen Vielsaft-Trank würden dann ihre Wirkung verlieren. Bis dahin mussten die beiden Originale der Ordensschwestern wieder in dieses Haus zurückgeschafft und mit den entsprechenden Erinnerungen versehen werden, dass sie die Unterlagen unauffindbar gemacht hatten, wiedererweckt werden sollten.
Als sie gerade die beiden im Zauberschlaf befindlichen Nonnen in das Büro Marie-Clementines zurückgebracht und mit einem verzögerten Aufweckzauber belegt hatten hörten sie aus der Ferne den Lärm von Warnvorrichtungen, wie sie auf Feuerbekämpfungs-, Krankennottransport- und Gesetzesüberwachungskraftfahrzeugen angebracht waren.
"Dann aber zurück. Ich fühle schon, dass ich diesen Leib gleich loswerde", zischte Angelique-Evangeline alias Pierre Bleuchamp. Die Beiden zogen den Nonnen noch ihre Trachten an, wechselten dann mit dem Schnellumkleidezauber in dunkelblaue Umhänge und verschwanden danach mit leisem Plopp, bevor die anrückende Polizei vor den Toren von Marie de Incarnation eintraf.
Zehn Minuten später, die beiden angeblichen Nonnen saßen bereits im Büro von Madame Nathalie Grandchapeau, klang die Wirkung des Vielsaft-Trankes ab. Aus Marie-Clementine wurde unter schmerzhaften Schauern Belle Grandchapeau. Unangenehmer erging es Pierre Bleuchamp, der sich von einer Mitte zwanzig alten Frau in einen vierzig Jahre alten Mann zurückverwandelte. Ein durch Vielsaft-Trank bewirkter Geschlechtswechsel war sowohl hin als auch zurück wesentlich schmerzhafter als ein reiner Körpertausch ohne Geschlechtswechsel.
"O Mann, als wenn mir wer den Bauch mit glühenden Zangen und Teigrollen durchgewalgt hätte und mit Heißen Bügeleisen auf den Brustkorb gedrückt hätte", lamentierte Pierre Bleuchamp, der sich jedoch erleichtert über seinen bis auf die nun wieder brettflache Brust reichenden Spitzbart strich.
"Unser Mitarbeiter bei der Staatspolizei ist vor Ort und leitet gerade die Beschlagnahme aller hastig zusammengetragenen Unterlagen", sagte Nathalie Grandchapeau. Dann fuhr sie fort: "Unser Mitarbeiter in der französischen Bischofssynode wird in wenigen Minuten mit dem für Le Havre zuständigen Bischof telefonieren und mit ihm zusammen einen Handel mit dem Staatsanwalt aushandeln, dass die ganze Angelegenheit nur an den beiden von Ihnen verkörperten Ordensschwestern und der über ihre Verpflichtungen zu weit hinausgegangenen Ordensschwester für die Apotheke hängen bleiben wird. Wenn alles so läuft wie geplant, ohne auf den unverzeihlichen Imperius-Fluch zurückgreifen zu müssen, ersparen wir den dreien eine Anklage wegen fortgesetzter Körperverletzung an Aron Lundi."
"Ich fürchte, Marie-Clementine wird nicht so glimpflich davonkommen, Madame Grandchapeau", wandte Belle Grandchapeau ein. Innerhalb der Dienstzeit und Diensträume benutzten sie beide die förmliche Anrede. Dann erklärte Belle, was sie beim flüchtigen Studium der geheimen Unterlagen herausgefunden hatte.
"Oha, wir wollten es nur brummen lassenund haben statt dessen ein Hornissennest angestochen", sagte Nathalie Grandchapeau. Pierre sah seine jüngere Kollegin Belle an und meinte:
"Da sollen die Muggelstämmigen noch mal behaupten, die Disziplinarmaßnahmen in Beauxbatons stammten noch aus dem Mittelalter. Fügsamkeitstränke wurden in Beaux zum letzten Mal vor hundertzwanzig Jahren verordnet, bis der damalige Heilzunftsprecher die regelmäßige Verabreichung verbot, weil damit behandelte Jungen und Mädchen später, wenn sie eiggene Kinder hatten, viel zu leicht wütend auf diese wurden und zu Misshandlungen neigten."
"Soviel zur alchemistischen Grundregel, dass die Dosis das Gift macht", bemerkte Belle dazu.
"Wie dem auch sei, was wir zu erreichen trachten dürfte trotz der zusätzlich enthüllten Vorkommnisse ein Erfolg werden", sagte Nathalie Grandchapeau.
"Nur wenn Mademoiselle Blériot keine zaubererweltrechtliche Handhabe findet, die Profisportkarriere ihres Auserwählten gerichtlich garantieren zu lassen und uns alle wegen massiver Rufschädigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft verklagt."
"Letzteren Anklagepunkt könnten höchstens die zwei Nonnen geltend machen, wenn wir sie über unsere Welt orientierten", sagte Belle. "Hmm, Euphrosyne Blériot könnte auf diese Idee kommen."
"Dann müsste sie den drei Ordensschwestern aber erklären, dass sie eine Hexe ist und sich ihren damaligen Zögling durch magische Manipulation gefügig gemacht hat."
"Stimmt, das würde sie wohl nicht tun, ohne sich selbst einer Verfolgung durch die Muggel auszuliefern", sagte Belle.
"Wir dürfen sie nicht festnehmen, weil ihre magisch erwirkte Verbindung Lundi tötet, sobald sie länger als einen Tag gefangen ist. Sie würde danach auch sterben und wir hätten damit die Blutrache ihrer Verwandten zu befürchten. Genausowenig dürfen wir ihn wegen eines Verbrechens verurteilen oder wegen der Vermutung, er könne geisteskrank sein in Gewahrsam nehmen lassen. Dieses Biest hat das sehr raffiniert und unumkehrbar eingefädelt. Wir hätten echt drei Stunden früher zugreifen müssen."
"Sie haben den Bericht des jungen Anwärters Julius Latierre gelesen, Madame Grandchapeau. "Darin verweist er auf den Umstand, dass nicht früh genug herausgefunden wurde, dass Lundi nicht in seinem Appartment zu finden war."
"Das trifft leider zu", knurrte Nathalie Grandchapeau.
Drei Stunden später hatte Madame Nathalie Grandchapeau die Bestätigung, dass die drei Ordensschwestern und die Archivarin wegen versuchter Verdunkelung mindestens einer Straftat festgenommen worden waren. Der Staatsanwalt war bereits mit einer kleinen Düsenmaschine auf dem Weg nach Barcelona, um sich dort mit seinem spanischen Kollegen zu treffen, um Lundi zu befragen, um herauszufinden, ob er nicht doch was von der unzulässigen Körperertüchtigung mitbekommen hatte.
"Sie wird sich das nicht gefallen lassen", sagte Belle zu ihrer Mutter, als die beiden im Büro alleine waren.
"Wenn sie uns offen den Krieg erklärt oder gezielt Gewalt gegen uns oder andere ausübt können wir sie immer noch festnehmen und sie und Lundi in einen langjährigen Zauberschlaf versenken", gedankenantwortete Nathalie Grandchapeau. "Erzähl das bitte keinem der Kollegen, dass ich einen winzigen Fehler im Plan der Veelanachfahrin gefunden habe."
"Veelaabkömmlinge lassen sich nicht in Zaubertiefschlaf versenken, Maman", gedankenwidersprach Belle.
"Ja, denkt dieses Luder. Aber man kann es doch. Allerdings dürfen weder Mademoiselle Ventvit, noch ihre Mitarbeiter das wissen, dass ich das herausgefunden habe, zumal die Methode ein wenig fragwürdig ist."
"Wie soll das gehen?" wollte Belle wissen. Ihre Mutter schrieb es ihr auf, belegte den Pergamentbogen jedoch mit einem Zauber, dass Belle ihn nur zweimal lesen konnte, bevor er zu Staub zerfiel.
"Stimmt, das darf den anderen Veelaabkömmlingen nicht bekannt werden, sonst sind wir für die Veelas natürliche Todfeinde", gedankenseufzte Belle. Ihre Mutter bestätigte das durch ein mentiloquiertes "Ja, so ist es wohl."
Eigentlich hatte Cane Firenettle gedacht, hier in Las Vegas vor den Nachstellungen von Zauberern, Werwölfen oder Vampiren sicher zu sein. Er wolte für seinen Herren, Lord Vengor, ein paar Dutzend Leben für seine Kristallfabrik in Brasilien beschaffen. Dann war unvermittelt dieses Biest über ihm aufgetaucht. Er hätte disapparieren können. Doch er wollte diesem Monster zeigen, dass er ein Kristallstaubträger war. Fast hätte er es auch erwischt, wenn nicht urplötzlich ein zweites Scheusal aufgetaucht wäre und ihn überrumpelt hätte. Jetzt hatte ihn dieses Biest an der Schulter und zog ihn höher und höher. Er versuchte noch einmal, zu disapparieren. Es klappte jedoch nicht, trotz der besonderen Kraft des in seinem Blut kreisenden Kristallstaubes. Dann versuchte er, noch einen Zauber anzubringen. Doch das Biest hieb ihm aus dem Schwung heraus mit der linken Flughaut den Stab aus der Hand. Dann flog es auf ein Hochhaus zu, wohl in der Absicht, dort zu landen. Firenettle rief in Gedanken um Hilfe. "Idiotischer Stümper, dich von einem Vampir einfangen zu lassen", bekam er zur Antwort. Firenettle sah das hohe Dach schon unter sich. Doch gleich würde er eben mit bloßen Fäusten gegen den Vampir vorgehen. Der Kristallstaub machte ihn schier unverwüstlich. Zumindest hoffte er, dass es für ihn reichen würde.
"Ich will auch von ihm trinken, du untreuer Federwisch", hörte Leonidas die Gedankenstimme seiner Frau Lunaroja. "Wir wollten ihn zusammen zu uns nehmen", fügte sie hinzu.
"Ach, ich dachte, du wolltest die zwei Witzfiguren, die dieses Kitzelzeug dabei haben", schickte er zurück.
"Der eine hat mir einen Nebel aus reiner Dunkelheit angehetzt. Aber der hat mich nicht gestärkt, sondern fast total ausgezehrt. Jetzt will ich Kristallstaubblut."
"Dein Pech, was musstest du deine Zeit mit diesen beiden Normalblütern vertun."
"Du lässt deine Zähne von ihm, bis ich bei dir bin", gedankenkeifte Lunaroja. "Dann beeile dich. Ich habe Durst, und sein Blut riecht nach einer Menge Kraft."
"Ich bin gleich bei dir, du Gierhals", gedankenknurrte Lunaroja.
Firenettle bekam davon nichts mit. Er fühlte und sah nur, wie er auf das Dach geworfen wurde. Die Fledermaus ließ von ihm ab und landete vor ihm. Er sprang auf die Füße. Schmerzen fühlte er keine. Das machte der Kristallstaub. Er sprang auf die Fledermaus zu, um ihr mit ganzer Wucht auf die spitze Nase zu hauen. Vielleicht konnte er damit das Ungeheuer betäuben, vielleicht sogar töten. Da verwandelte es sich und wurde zu einem hageren Mann mit grauer Hautfarbe. Dieser erkannte den ihm drohenden Angriff und tanzte den wuchtigen Schlag von Vengors Gehilfen aus.
"Hast du dir gedacht, mein Blut zu kriegen, du Obstfledermaus. Aber ich bin auch ohne Zauberstab überlegen!" rief Firenettle und setzte zum zweiten Angriff an. Doch der andre bog sich gelenkig zur Seite und ließ auch den zweiten Schlag ins leere gehen. Da schoss die zweite Riesenfledermaus heran. Dann erwischte ihn der zum Menschen zurückverwandelte Blutsauger mit seinen Armen von hinten und riss ihn hoch wie einen Daunensack.
"Schön hast du mit ihm gespielt, säuselte eine Frauenstimme mit spanischem Akzent. Er sah, dass da, wo die Fledermaus gerade noch gewesen war, eine nackte, schlanke Frau mit hellgrauer Hautfarbe stand, die von der ungesunden Hautfarbe abgesehen durchaus Firenettles Interesse hätte finden können. Doch als sie zwei silbern schimmernde Vampirzähne entblößte vergaß er das mit einer unverbindlichen Liebesnacht endgültig."Oh, du bist doch schon da", feixte der männliche Vampir. "Dann nehmen wir unseren Endnachtstrunk eben doch gemeinsam ein, bevor wir deine beiden anderen Auserwählten beehren."
"Die sind nicht so dämlich wie der da. Die sind sofort im Nichts verschwunden. ich habe es gespürt, wie dieses herrlich kitzelnde Zeug, was die bei sich haben auf einmal weg war. Aber jetzt nehmen wir was herrlich kräftigendes zu uns."
"Das glaubt ihr aber auch,. Mein Blut ist pures Gift für euch. Es hat doch schon einer von euch ..." stieß Firenettle aus. Da fing die grauhäutige Vampirin seinen Blick ein. Er kämpfte dagegen an. Eigentlich konnte er jede Form dunkler Magie wie ein schwarzer Spiegel auf den Absender zurückwerfen. Doch diesmal klappte das nicht. In seinem Kopf klang ein sphärisches Singen an, dass seinen Geist mehr und mehr ausfüllte. Er meinte auch, im Gleichklang dieses sphärischen Tones am ganzen Körper zu schwingen. Er versuchte noch einmal, sich dagegenzustemmen. Doch das führte nur dazu, dass er nun vibrierte wie eine angestrichene Saite. Dann sah er auch immer tiefer in die Augen des männlichen Vampirs, der ihn losgelassen und sich neben seine Gefährtin gestellt hatte. Nun war Firenettle, als höre er in seinem Kopf einen ganzen sphärischen Akkord aus hohen und tiefen Tönen. "Gib dich uns hin und genieße es, uns deine Kraft zu geben!" sprachen die beiden Vampire gleichzeitig, und für Firenettle hallte es laut und warm in seinem Kopf nach.
"Nein, das können die nicht. Wehre dich gefälligst!" hörte er eine andere Gedankenstimme. Doch diese wurde von einem entschiedenen "Hör nicht auf ihn!" einfach ausgeblendet. Firenettle hörte und sah nur noch die beiden Vampire, die sich nun über ihn beugten. Als sie zeitgleich zubissen war ihm, als erlebe er einen Rausch, der ihn weiter und weiter forttrug.
Zehn Minuten später erhoben sich die beiden Vampire. Vor ihnen lag ein blutleerer Körper, der mit leisem Knistern zu Staub zerfiel. In den beiden Vampiren wallte eine unbändige Kraft. Sie leckten sich über die mit schwarzem Blut besudelten Lippen. Dann horchten sie nach unten. "Die beiden anderen haben Verstärkung geholt", knurrte Leonidas.
"Dann sehen wir zu, hier zu verschwinden", sagte Lunaroja. Das war wie ein Stichwort.
Als dreißig Männer und Frauen auf fliegenden Besen heranjagten konnten diese gerade noch erkennen, wie zwei Gestalten mit hellgrauer Hautfarbe in einer schwarzen Spirale verschwanden.
"Drei Sekunden zu spät", knurrte der Anführer der Besentruppe. Dann sahen sie die Kleidung des entführten Cane Firenettle und auch den dunkelgrauen Staub, zu dem Firenettles Körper zerfallen war. Es gelang ihnen, genug davon einzusammeln, um ihn untersuchen zu lassen.
"Dir ist klar, lieber Gatte, dass diese Biester überall auftauchen können, wo ihre mächtige Beschützerin sie hinhaben will", sagte Justine.
"Ja, das ist mir bekannt", grummelte Jeff. "Die werden bald die Umgebung nach unseren Kristallen absuchen. Dann erwarten wir sie eben im Hotel. Wir müssen wissen, wieso die so stark sind", fügte er noch wild entschlossen hinzu.
"Klar, und alle Gäste in Gefahr bringen?" fragte Justine. Doch Jeff hatte darauf die richtige Antwort: "Das haben wir schon in dem Moment, wo wir da eingezogen sind. Wenn die alle Hotels abklappern sind die Gäste auch in Gefahr, wenn wir uns den Vampiren nicht offen stellen", sagte Jeff. In ihm war jene alte Wut erwacht, die er auf die Vampire um Nocturnia empfunden hatte und jetzt wieder empfand, weil er wusste, dass das Erbe des Mitternachtsdiamanten und seiner letzten Besitzerin immer noch nicht aus der Welt war, ja sogar stärker sein mochte als je zuvor.
"Wenn Sie drei achso anständig tuende Nonnen verhaftet haben, weil die solche Kräuter oder Essenzen bei Seite schaffen wollten, dann frage ich Sie, warum Sie mich noch einmal damit behelligen, dass ich angeblich was davon mitbekommen haben soll, was die mir in den Tee, das Essen oder die Zahnpasta getan haben", entrüstete sich Aron Lundi, als ihm der Staatsanwalt aus Le Havre mitgeteilt hatte, dass er sich als Kronzeuge gegen die drei Ordensschwestern seiner früheren Schule zur Verfügung stellen könne, wenn er wider bisheriger Beteuerungen doch was von dem an ihm vorgenommenen Doping gewusst habe. Aron hätte fast losgebrüllt, dass die ganze Sache eine von einer Gruppe unbedingt geheim bleiben wollender Leute mit übernatürlichen Kräften ausgeheckt und durchgezogen worden sei. Doch er hatte Euphrosynes Warnung im Ohr, dass jede Behauptung, sie sei eine Hexe und es gebe echte Hexen und Zauberer, Drachen, Veelas und Vampire, von den echten Zauberern und Hexen so ausgelegt würde, dass er wohl den Verstand verloren habe, vielleicht als Auswirkung der ihm verabreichten Arzneien. Wenn er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen würde würde Euphrosyne einen Tag später sterben, weil sie bei ihrer magischen Hochzeit was gedreht hatte, dass keiner von ihnen beiden länger als einen Tag in Gefangenschaft sein durfte. Auch er würde sterben, und das wollte er nicht. Also behielt er schön für sich, was er über echte Zauberer und Zauberwesen wusste. So sagte er nur, dass er weiterhin auf seiner Aussage bestehen würde, nicht mitbekommen zu haben, dass er gedopt worden war und es immer als von Gott geschenktes Talent erzählt bekommen hätte, wie gut er Fußball spielen könne.
"Ihnen Steht dann auch frei, als Nebenkläger in einem Strafprozess zu erscheinen, weil ich nach der bisherigen Beweislage von fortgesetzter Körperverletzung ausgehen muss."
"Wenn diese drei mir schon die Profikarriere verdorben haben, dann soll deren achso erhabene übergeordnete Dienststelle mir den Verdienstausfall bezahlen und meinetwegen auch die Ablösesumme für mich an Barca zurückzahlen und alle Schadensersatzforderungen, die andere Vereine noch wegen mir stellen könnten, verdammt noch mal!" blaffte Aron Lundi.
"Diese Aussage nehmen wir gerne zu Protokoll", sagte der spanische Kollege des französischen Staatsanwaltes. Dann verließen die beiden Lundis Suite.
"Wenn die jetzt zum Vorstand von Barca laufen kann ich morgen früh schon auschecken und irgendwo anders was zum Wohnen suchen", knurrte Lundi, dem die ersten Tränen in die Augen traten. Euphrosyne umarmte ihn und sagte:
"Ich habe überlegt, wie wir gegen diese Unverschämtheit vorgehen können. Doch ich muss feststellen, dass ich dabei gegen eine Tausendschaft von ausgebildeten Hexen und Zauberern in verschiedenen Bereichen der magielosen Welt ankämpfen müsste. Aber glaube es mir, dass die, die dir das angetan haben, um mich zu demütigen, das noch bereuen werden."
"Meinst du, dieser junge Bursche, der mich im Hotel angesprochen hat, hat da was dran gedreht?" fragte Lundi.
"Nein, dafür ist der wohl zu anständig und noch nicht lange genug in dieser Bande, um derartig skrupellos zurückzuschlagen", grummelte Euphrosyne. "Nach dem, was ich von meinen Cousinen Fleur und Gabrielle über ihn erfahren habe ist er darauf bedacht, keinem was zu tun, der ihn nicht offen angreift. Und dadurch, dass ich mich vor seinem Eintreffen zurückgezogen habe, habe ich ihn nicht offen angegriffen."
"Ja, aber wenn er nur ein Befehlsempfänger ist?"
"Das bekomme ich sehr leicht heraus", sagte Euphrosyne Blériot. "Falls er an dieser Gemeinheit mitgewirkt hat werde ich ihn wohl mit in meine fällige Vergeltung einbeziehen. Falls nicht, soll er mit ansehen, was denen passiert, die es gewagt haben, mich zu beleidigen."
"Willst du einen Fluch auf die alle aussprechen?" fragte Lundi verunsichert.
"Auf Ministeriumszauberer ist das nicht so einfach, weil die in geschützten Räumen arbeiten. Aber mir fällt da sicher was ein, was die nicht vergessen werden."
Donny Clarkson und seine Gefährtin hatten die Vollmondnacht auf der ungefähr einen Kilometer großen Dschungelinsel mitten im Amazonasstrom genossen. Anders als andere Schicksalsgenossen, die mit der Lykanthropie leben mussten, half der Zaubertrank Luneras, dass sie ihren freien Willen behielten. Allerdings hatte es beide gereizht, auch in Wolfsgestalt die Wonnen der körperlichen Liebe zu erleben, was beide jedoch irritiert hatte, weil Donny sich dabei irgendwie in Paulinas Leib verknotet hatte und erst eine halbe Stunde später wieder von ihr loskam. Als der Tag anbrach hatte sie nur gesagt: "Jetzt weiß ich, warum Hündinnen nur einmal in neun Monaten heiß werden. Im menschlichen Körper gefällt mir das doch besser." Dem konnte Donny nur zustimmen.
Der frühere Schrecken der Fußgänger in Manhattan war immer noch nicht darüber hinweg, dass er trotz verbesserter Sinne nicht bis zu einem der fernen Ufer hinübersehen konnte. Der Amazonas mochte an dieser Stelle mehr als vierzig Kilometer breit sein. Schon heftig, dachte der Junge, der für Erdkunde nur gerade so viel übrig gehabt hatte, um zu wissen, wo Kalifornien und seine Heimatstadt auf der Landkarte zu finden waren und in welche New Yorker Viertel er besser nicht hineinskateboarden sollte, um nicht von den dortigen Gangstern aufgemischt zu werden. Doch jetzt erkannte er, wie stark sich gelesenes oder Landkarten von der echten Natur unterschieden. Jedenfalls fühlte er sich zum einen winzig im Vergleich zu dem Riesenfluss, andererseits aber auch erhaben. Er gehörte dazu, zur unbändigen Natur, und das alles, weil ihm Paulina Witfield Torrealta und ihre Ziehmutter Juanita Castilla Casapiedra das Werwolfvirus in den Körper gepflanzt hatten.
Julius Latierre fühlte sich beklommen. Seitdem die Internet-Ausgabe der Lokalzeitung von Le Havre mit dem Artikel "Fromme Klosterschwestern züchten überragenden Supersportler" aufgemacht hatte, hatte Julius jeden Moment eine aus Wut gestartete Gegenaktion von Euphrosyne Blériot erwartet. Sicher wusste die, dass das Zaubereiministerium gegen sie gearbeitet hatte. Gegen wen würde sich ihre Wut dann zuerst richten, falls sie nicht befand, dass sie es bei diesem eins zu eins bewenden lassen sollte, nachdem sie das Zaubereiministerium von Frankreich so gründlich ausgetrickst und sich Aron Lundi gesichert hatte.
Weil er seinen Kollegen gegenüber nicht heraushängen lassen wollte, dass er trotz der klaren Anweisung, nicht weiter mit dem Fall Blériot-Lundi befasst zu sein, zumindest die Muggelweltauswirkungen dieses Vorfalls mitbekommen hatte, begrüßte er Mademoiselle Ventvit und Pygmalion Delacour so, als sei er eben nur aus einem kurzen aber ereignisreichen und erholsamen Urlaub zurückgekehrt. Nachdem er sich einen der freien Bürostühle eingefangen und sich darauf niedergelassen hatte sah er sich den Stapel Akten an, der in der Zeit seiner Abwesenheit auf seinem Tisch gelandet war.
"Die Meerleute haben Ihre Teilnahme an der Hochzeit von Méridana abgelehnt, weil es eben keine Möglichkeit gebe, Sie in ständigem Körperkontakt eines für den Clan verantwortlichen Meermenschens zu belassen, während die Zeremonie vollzogen würde", sagte Ornelle Ventvit, nachdem Julius die drei in einem blauen Holzring steckenden Pergamentrollen betrachtet hatte. Dann fand er noch vier Briefe von Mademoiselle Maxime und einen Brief, der wohl auf einer ganzen Kuhhaut geschrieben worden war und von einer grobschlächtigen Hand eher gekleckert als geschrieben worden war. Der Brief stammte von Meglamora, die ihm damit zeigen wollte, dass sie langsam genug lesen und schreiben konnte, um sich und ihre Ende 2002 erwarteten Zwillinge vorstellte. Offenbar hatte es die Riesin nicht in Ruhe gelassen, dass die kleinen Menschen Wörter auf Pergamente schreiben konten und ließ sich von ihrer Nichte und offiziellen Fürsorgebeauftragten Lesen und Schreiben beibringen. Julius musste an das Gekrakel der legendären Seeräuberbande aus dem zweiten Teil der Jim-Knopf-Geschichte denken, wo jeder der Piraten nur einen Buchstaben schreiben konnte. Gegenüber denen hatte Meglamora echt schon einen immensen Vorsprung. Aber sollte ihn das bei der Lehrmeisterin wundern?
"Oh, ich werde gebeten, mich bei Wiederantritt meines Dienstes mit dem Leiter der LDLL zu treffen", grummelte Julius. Dann sah er auch, wieso die Légion de la Lune ihn kontaktieren wollte. Denn neben den Akten zum Thema Méridana waren auch Berichte über das Auftauchen von mondphasenunabhängigen Werwölfen und ihrem magisch aufgeladenen Kennzeichen zu finden. Diese Berichte informierten auch über ein Obdachlosenasyl der Heilsarmee, in dem das blutrote Lambda im geschlossenen Kreis aufgetaucht sein sollte und in das kein mit Lykanthropie behafteter Mensch hineingehen konnte. Der Aussage einer älteren Küchengehilfin des Asyls nach habe diese kurz vor dem Verschwinden dieses blutroten Zeichens eine sehr attraktive Frau mit blassgoldener Hautfarbe und grünblauen Augen und dunkelblondem Haar gesehen. Die legilimentische Untersuchung durch einen Desumbrateur hatte ergeben, dass die ältere Frau niemanden anderen als die schwarze Spinne gesehen hatte. Weitere Untersuchungen hatten ergeben, dass das ganze Haus und das umliegende Grundstück mit einem unbekannten, aber eher schwarzmagischen Zauber durchtränkt war, dessen materielle Komponente entweder Fleisch oder Blut von mindestens einem Menschen gewesen sein musste. Dieser Zauber verwehrte den für die LDLL tätigen Werwölfen den Zutritt.
"Offenbar kann sie ein Gebäude gegen den Zutritt von Lykanthropen abschirmen", stellte Ornelle fest, als Julius ihr die Akte zeigte. "Haben Sie schon von einem derartigen Zauber erfahren, Monsieur Latierre?"
"Nicht in Beauxbatons und auch nicht von den Kindern Ashtarias", antwortete Julius.
"Das notieren Sie bitte, dass Sie nach Kenntnisnahme dieses Vorganges keinen entsprechenden Zauber ermitteln konnten, der diese vollkommene Absperrung in alle Raumrichtungen und gegen das Apparieren von Werwölfen bewirkt!" erwiderte Mademoiselle Ventvit.
"Ich gehe davon aus, dass wir noch nicht alle Zauber kennen, die Sardonia anwenden konnte und erst recht nicht wissen, welche Kenntnisse die andere Magierin besaß, mit der die Wiederkehrerin sich vereint hat", sagte Julius. Wenn er jetzt erwähnt hätte, dass Anthelia/Naaneavargia sicher alle Erd- und vielleicht auch Windzauber aus dem alten Reich konnte hätte er dann gleich auch herauslassen können, woher er seine besonderen Zauberkenntnisse bezog. Daran lag ihm nichts.
Julius las noch, dass wegen der grünen Gurgha eine Anhörung am 21. März angesetzt worden war. Das konnte noch was geben, wenn sie ihm dabei vorhielten, er habe gegen klare Anweisungen verstoßen und damit Menschenleben gefährdet, nur weil er dagegen eingeschritten war, die Hybridin aus Riese und grüner Waldfrau zu töten, wo eine günstige Gelegenheit dazu bestanden hatte. Die Aussicht, schriftlich abgemahnt oder gar disziplinarisch bestraft zu werden wog jedoch nicht so schwer wie er erst dachte. Denn was ihm am meisten zusetzte war die Ungewissheit, was Euphrosyne Blériot nun unternehmen würde, nachdem ihr die Aussicht auf das Leben als Spielerfrau verdorben worden war. Hierzu fand er überhaupt keine Akte. Gemäß der Anweisung, sich nicht mit dem Fall befassen zu sollen durfte er auch nicht danach fragen, obwohl es ihn brennend interessierte, zumal er ja der offizielle Vermittler zwischen Veelastämmigen und Menschen war.
Ein Brief aus der Vampirüberwachungsbehörde, an dem noch einige Seiten Aktenmaterial angehängt waren, erinnerte Julius daran, dass die Gefahr durch den Mitternachtsdiamanten und der wohl im ihn verankerten Seele seiner letzten Besitzerin und ihrer Opfer genauso akut war wie die Bedrohung durch sich ungehemmt vermehrende Werwölfe. Außerdem war noch eine Einladung an die Zauberwesenbüroleiter der Ostlandgruppe ergangen, sich zu einem Treffen in Berlin am 15. März einzufinden. Das Thema war die grüne Gurgha Nal. Zu dem Treffen war Julius auch hochoffiziell eingeladen worden, da er offenbar den einzigen nicht-tödlichen Weg gefunden hatte, die grüne Halbriesin zu besiegen. Das konnte schwierig werden, wenn er denen erklären musste, wie er das genau angestellt hatte, ohne seine besonderen Zauberkenntnisse zu erwähnen. Wenn er noch auf einen Eidesstein schwören sollte, die Wahrheit zu sagen, würde das mit den Geheimhaltungszaubern querlaufen, denen er durch die Altmeister und den Schutz der Familie der Latierres anvertraut war.
Ornelle musste ihn mal wieder daran erinnern, eine Frühstückspause einzulegen, weil er sich so sehr in die vor ihm gestapelten Vorgänge vertieft hatte. "Sie sind kein Golem und auch kein Automaton oder Roboter, wie die Muggel zu mechanischen Menschen sagen", grummelte Ornelle, als sie mit einer wie beiläufig wirkenden Zauberstabbewegung den Aktenstapel vor Julius bei Seite fliegen ließ und an dessen Stelle eine kleine Porzellankanne platzierte, aus deren Ausguss es verheißungsvoll dampfte und duftete.
"Ich war gerade mit der Akte Méridana beschäftigt. Wenn wir schon keinen offiziellen Vertreter zur Hochzeit dieser Meerfrau entsenden dürfen sollten wir zumindest gratulieren und um einen Gesprächstermin mit dem neuen Ehepaar anfragen", flüsterte Julius, während Pygmalion Delacour bereits seinen Frühstückspausenkaffee trank und aus der gleichwarm bezauberten Brotbüchse ein knuspriges Baguette von der Länge von Julius Unterarm aß.
"Das dürfen sie verfertigen, wenn Sie den Brief an Meglamora beantwortet haben", sagte Ornelle Ventvit und deutete auf den Riesenbrief, der zu einer anderthalb meter langen und beindicken Rolle zusammengerollt in einem silbernen Haltering an der Wand lehnte.
"Wie Sie möchten", sagte Julius zu seiner Vorgesetzten, bevor er sich Tee aus dem Kännchen in die hauchdünne Tasse füllte und zwei knusprige Baguettestücke mit Frischkäse vom Tablett auf dem Teewagen nahm, der zur Frühstückspausenzeit von einem der Hauselfen in dieses Büro versetzt worden war.
Während die Belegschaft von Ornelle Ventvits Büro die Frühstückspause genoss flutschte ein bunter Memoflieger durch die dafür in der Wand verbauten Luke und landete schliddernd auf Julius' Schreibtisch. Es war aber keine Anfrage oder Mitteilung aus einem anderen Büro, sondern ein Eulenpostbrief. Julius erkannte die runde, sehr feine Handschrift, mit der Adresse und Absender auf dem Umschlag notiert waren. Der Brief kam von Églée Blériot, der Mutter von Euphrosyne Blériot. Ornelle starrte den Umschlag verdrossen an, als erwarte sie, dass da gleich ein giftiges Kerb- oder Spinnentier herausspringen würde. Julius legte den Brief so, dass er ihn gleich lesen konnte, wenn er zu Ende gefrühstückt hatte. Zumindest war es kein scharlachroter Umschlag, an dessen Ecken es unheilvoll qualmte.
"Sie kennen die mit Madame Nathalie Grandchapeau getroffene Übereinkunft, dass gewisse Vorgänge trotz Ihrer amtlich bestätigten Zuständigkeit nicht von Ihnen bearbeitet zu werden haben", schnarrte Ornelle mit Blick auf das gerade eingetrudelte Schreiben. Julius nickte. Doch wenn Églée in einer anderen Angelegenheit schrieb war er als eben amtlich bestätigter Veelastämmigenbeauftragter dafür zuständig. So nahm er nach dem Frühstück den Brief und las ihn.
Sehr geehrter Monsieur Latierre,
ich wende mich an Sie, da Sie der offizielle Ansprechpartner für Mitbürger mit Veela-Abstammung sind. Wie Sie zusammen mit meiner Frau Mutter, Madame Léto, herausfanden, hat meine Tochter Euphrosyne sich einen jungen Mann ohne magische Abstammung zum Mann an ihrer Seite und zukünftigen Vater ihrer Kinder erwählt. Da ich mit der Welt der magielosen Menschen sehr unzureichend vertraut bin - ich habe dem Unterrichtsfach Studium der magischen Welt damals keine Bedeutung zuerkannt -, sehe ich mich nun zusammen mit meinem Gatten Didier in der sehr unangenehmen Lage, meine Kenntnisse über die Lebensumstände und Gepflogenheiten meines Schwiegersohnes und künftigen Vaters meiner Enkelkinder auf einen für alle Seiten annehmbaren Stand zu bringen. Da Sie selbst bis zur Aufnahme in eine magische Lehranstalt in der nichtmagischen Welt aufwuchsen und auch noch weiterhin mit dieser Welt Kontakt haben möchte ich Sie hiermit offiziell darum bitten, mir und meinem Gatten bei der nun dringend gebotenen Auffrischung meiner Kenntnisse behilflich zu sein. Daher bitte ich Sie, mir auf dem Eulenpostwege oder über meine bereits erwähnte Mutter mitzuteilen, wann es Ihnen recht sei, mich zu einem direkten Gespräch in Didiers und meinem Haus zu besuchen, um die nötigen Grundlagen zu erörtern und gegebenenfalls einen zeitlich kurzen aber intensiven Nachhilfekurs auszuarbeiten, der meinem Gatten und mir die notwendigen Erkenntnisse vermittelt.
In der Hoffnung, Ihre wertvolle Zeit nicht länger als unbedingt erforderlich beanspruchen zu müssen bedanke ich mich bereits jetzt für Ihre Hilfe und Mühe und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Égl´é Blériot
Julius las den Brief noch einmal. Dann wandte er sich an Ornelle und erklärte ihr, was Euphrosynes Mutter von ihm wollte. "Hier steht nichts davon, dass ich für ihre Tochter vermitteln oder Fürsprechen soll", sagte er. "Madame Blériot gibt vor, sich nur für Sachen zu interessieren, die Monsieur Lundi aus seiner Lebenswelt wichtig sind. Doch wenn ich das richtig mitbekommen habe ist der mit Mademoiselle Euphrosyne Blériot nach Barcelona umgezogen, weil er dort für den renommierten Fußballverein aus der primera División spielen möchte."
"Öhm, ja, deshalb verstehe ich nicht, warum es Madame Blériot so dringend macht", erwiderte Ornelle. Dann wandte sie sich an Pygmalion. "Können Sie sich entsinnen, dass Ihre Gattin sich hochoffiziell um eine außerschulische Ausbildung in den Gepflogenheiten und Lebensumständen britischer Hexen und Zauberer bemüht hat, als Ihre Tochter Fleur bekanntmachte, den jungen Zauberer William Weasley zu ehelichen?"
"Nicht auf dem Dienstweg, Ornelle", erwiderte Pygmalion. "Sie hat sich mit mir zusammen das Land angesehen und aus der Bücherei in der Rue de Camouflage übersetzte Bücher besorgt, die von britischen Hexen und Zauberern handeln. Den Rest haben wir dann vor und nach der Hochzeit mit unseren Verwandten besprochen, sobald ich die britischen Inseln wieder betreten konnte, ohne vom Ausländervernichtungsfluch des Unnennbaren gefährdet zu sein."
"Na ja, aber es ist ein Unterschied, was ich den Schwiegerverwandten erzählen darf und muss, wenn die mit der magischen Welt vorher nichts zu tun hatten. Das habe ich doch bei der Trauerfeier für Mademoiselle Hellersdorfs Großvater mitbekommen", erwiderte Julius. "Ja und auch bei der Hochzeit von Ms. Brittany Forester mit Mr. Linus Brocklehurst, wo Brittanys muggelweltliche Verwandten väterlicherseits dabei waren. Da kann es sehr leicht zu Missverständnissen und Unstimmigkeiten kommen. Und ich erinnere mich auch noch sehr gerne daran, wie wir, Pygmalion, uns über Bill Weasley und Babettes muggelweltliche Großeltern und ihre Lebenswelt unterhalten haben", fügte Julius noch hinzu. Pygmalion Delacour nickte eifrig. So sagte Ornelle:
"Hmm, gut, dann dürfen Sie dem offiziellen Antrag Madame Blériots entsprechen und ihr nach Konsultation Ihres Terminplanes zwei Stunden Zeit einräumen, um die von ihr und Monsieur Blériot erbetenen Kenntnisse zu erhalten oder zu erarbeiten, wie sie sich diese Kenntnisse aneignen können, ohne eine Muggelweltschule besuchen zu müssen." So ganz schien ihr diese Zusage nicht zu behagen, hörte und sah Julius. Doch er wollte nicht nachhaken und bestätigte den Erhalt dieser mündlichen Genehmigung. Irgendwie wunderte er sich aber selbst, dass Euphrosynes Mutter ausgerechnet jetzt erst und dann ganz offiziell um ein Treffen bat. Hatte sie vielleicht schon direkt nach der Sache in Le Havre angefragt, ob sie ihn treffen dürfe? Egal! Jetzt war jetzt und der Brief enthielt weder eine Beschwerde wegen irgendwelcher Maßnahmen des Zaubereiministeriums gegen die Interessen ihrer Tochter noch irgendeine Anklage, dass er es nicht verhindert habe, dass ihre Tochter sich einen Muggel im Rampenlicht der Öffentlichkeit ausgesucht hatte. Julius wurde eh den Verdacht nicht los, dass Euphrosyne schon weit vor dem Artikel über Aron Lundi gewusst hatte, dass dieser von ihrer Tochter umgarnt wurde. Doch er würde den Teufel tun, Églée an den Kopf zu werfen, dass sie diese Beziehung nicht nur zugelassen sondern womöglich auch noch gefördert haben konnte. Denn hierfür fehlte ihm der Beweis. Vielleicht bekam er den ja, wenn er sich mit Églée unterhielt, dachte er und prüfte seinen Zeitplan der nächsten Tage. Am 20. Februar konnte er ab zwei Uhr zu den Blériots. So verfasste er die Antwort auf Églées Brief und brachte diesen zur ministeriumseigenen Eulerei.
Der Rest des Arbeitstages ging für die Korrespondenz mit der Werwolfbehörde und dem Leiter der Légion de la Lune ins Land. Es ging vor allem um die Koordination mit den anderen europäischen Ermittlungsgruppen zum Aufspüren krimineller Werwölfe. Immerhin hatten jetzt alle europäischen Zaubereiministerien solche Einsatztruppen aus der Zaubererwelt wohlwollend gesinnten Werwölfen.
"Da kommt Euphrosynes Maman aber früh drauf, sich mal nach den Vorlieben und Interessen von Muggeln zu erkundigen", meinte Millie, als Julius nach dem Arbeitstag wieder im Apfelhaus war.
"Ich wollte es Ornelle nicht unter die Nase reiben. Aber ich vermute stark, dass Euphrosyne ihre Maman vorgeschickt hat, nachzuprüfen, ob ich in dieser Rufmordkiste gegen ihren Auserwählten drinhänge. Und das macht mir schon ein gewisses Unbehagen."
"Du meinst, die könnte versuchen, dich mit magischen Mitteln zu verhören?" fragte Millie. Julius schloss es nicht komplett aus. Dann sagte er: "Ornelle ist nicht so begeistert, dass sie mir dieses Gespräch erlauben musste. Sicher denkt sie, dass Églée mir auftischt, was dem Auserwählten ihrer Tochter gerade um die Ohren fliegt und dass mir das vielleicht sehr übel aufstoßen könnte. Aber das habe ich schon hinter mir. Aber gemäß der Dienstanweisung halte ich dazu meinen Mund."
"Wenn du da hingehst lade ich deinen Ehering noch mal mit dem Schutz vor Zauberfeuerangriffen auf wie bei deiner Suche nach Euphrosyne", sagte Millie. Julius bedankte sich im Voraus.
Seitdem sie von der skrupel- und gnadenlosen Geschäftsfrau zur Hohepriesterin der schlafenden Göttin aufgestiegen war, hatte Nyctodora fünfzig weitere Gefährten in ihren Bann ziehen und die ersten zwanzig Kristallstaubvampire erschaffen können. Doch von denen waren fünf sehr schnell getötet worden. Alle fünf gingen auf das Konto einer Kreatur, die sich als Tochter des schwarzen Wassers bezeichnete. Bei einem hatte Nyctodora alias Eleni Papadakis es erfahren, dass diese Gegnerin sich als Dunst in seinen Körper eingeschlichen und ihn von innen her zerrissen hatte. Die vier anderen hatten unvermittelt jeden Kontakt zu ihrer gemeinsamen Herrin Gooriaimiria verloren.
Hier, in dem Geheimversteck keine zehn Kilometer von einem kleinen Flughafen mittenin Afghanistan, überwachte Nyctodora die Erzeugung weiterer Kristallvampire. Gooriaimiria hatte ihr kundgetan, dass es gelang, die Helfer eines gewissen Lord Vengors zu erspüren und anzugreifen. So hatte sie drei von denen ausschalten können. Doch Lunaroja und ihr Mann Leonidas wollten noch in Las Vegas bleiben, um zwei Fremden nachzustellen, die merkwürdig prickelnde Sachen bei sich hatten.
Dann war da noch ein Kristallstaubvampir, der in Madrid ein Rudel Werwölfe gewittert hatte. Nyctodora hatte befohlen, diese Erzfeinde der Vampire zu töten, weil es sich zweifellos um Erben Espinados handelte, dem Erzfeind aller spanischen Vampire.
Dientemuertes gehörte zu den zwanzig ersten Kristallstaubvampiren. Gooriaimiria, seine große Göttin und Schutzherrin, hatte ihn in Spanien postiert, wo er nach Helfern jenes Mannes suchte, der Gooriaimirias erklärter Feind auf Erden war. Doch statt dessen hatte er in einem Haus weit im Süden von Madrid jenen ihn schon vor der Kristallstaubeinflößung verhassten Geruch von Mondheulern gewittert. "Was soll ich mit denen machen, Herrin?" fragte er Gooriaimiria.
"Das sind Auswürfe Espinados, die meinen, weil sie einen besonderen Trank haben alles tun und sein zu dürfen. Also lass sie tot sein!" hatte Gooriaimiria erwidert.
Als es dunkel wurde und Dientemuertes seine ganze erhabene Kraft in sich aufsteigen fühlte flog er los und näherte sich dem Haus, an dessen Wand ein widerliches Zeichen prangte, dass auf Werwölfe anziehend wirkte, ihn jedoch abzustoßen versuchte. Er segelte ohne Flügelschlag über das Haus hinweg. Er wollte im Hinterhof landen, wo gerade an die dreißig Jugendliche durch den Keim der Mondheulerei die Qualen der Verwandlung erlebten. Er würde sie zerreißen, wie ein habicht, der über wehrlose Küken herfiel würde er sie packen und zerreißen.
Er stieß nieder. Die Werwölfe waren noch mit ihrer eigenen Verwandlung beschäftigt. Die meisten von denen verloren dabei ihre Selbstbeherrschung und Willensfreiheit. Nur zwei erwachsene Werwölfe widerstanden der Kraft, vom Mond verwandelt zu werden. Die wollte Dientemuertes zuerst angreifen.
Die Lykanthropen Rabiosos sahen die vom Himmel herabstoßende Riesenfledermaus und rochen den Duft von tödlicher Entschlossenheit. Irgendwas in der Ausstrahlung dieses Ungetüms flößte den beiden Besitzern dieses angeblichen Jugendtreffs große Angst ein. Dann schoss die Riesenfledermaus auf sie zu. Sofort warfen sie sich auf den Bauch und vereitelten so den Angriff des Vampirs. Doch er wendete und flog erneut an. Seine messerscharfen Zähne gruben sich in den Nacken des Hausbesitzers und zerrten daran, bis die oberen Halswirbel mit lautem Knacken brachen. Seine Frau versuchte es in der Zeit mit Feuer. Sie brannte eine Papierserviette an und warf sie nach dem Vampir. Dem machte Feuer jedoch nichts mehr aus. Es erstarb unmittelbar, als die Serviette seine Haut berührte.
"Das macht mir nichts", fiepte der Vampir immer noch in Fledermausgestalt. Die Werwölfe, die nun mit ihrer Verwandlung durch waren, rannten laut knurrend auf ihn zu, weil sie in ihm instinktiv einen Todfeind erkannt hatten. Sofort hingen fünf geifernde Mäuler mit rasiermesserscharfen Zähnen an demVampir. Doch dem tat das nichts. Er konnte sich befreien und schlug nun um sich. Mit seinen übermenschlichen Kräften brach er drei Werwölfen das Rückgrat und schmetterte einem mit dem Kopf so hart auf den Boden, dass der Schädel zerdrückt wurde. Weitere Werwölfe kamen angejachert, sprangen auf ihn und versuchten, ihn mit Pranken und Zähnen zu erledigen. Er schüttelte die Angreifer von sich herunter, biss und schlug seinerseits um sich. Die Hausbesitzerin war ins Haus geflüchtet und hatte die Tür verschlossen. Für den Vampir würde die kein Hindernis sein. Doch erst wollte er die willenlos auf ihn losgehende Wolfsbrut erledigen. Dann würde er sich die Hausbesitzerin krallen und mit seinen Zähnen zerfleischen, wie er es mit diesen einfachen Tieren hier tat.
Währenddessen keuchte und stöhnte Daniela im von allen abgeschotteten Kellerzimmer. Sie hörte das Heulen, knurrenund fauchen von draußen. Doch sie hatte von ihrer Cousine gesagt bekommen, dass sie und ihre Schwester Virginia nicht vor dem Morgengrauen aus diesem Zimmer hinaus durften. Die beiden waren seit Monaten hier, seitdem Daniela wusste, dass sie Pacos Kind erwartete. Ihre Cousine María Dolores und ihr Mann Mateo hatten sie erst fortschicken wollen. Doch dann hatten Virginia und sie die Erlaubnis erhalten, hier bis nach der Geburt von Luiz oder Pamela - sie wussten es noch nicht - zu bleiben. War das Kind erst einmal auf der Welt, so María Dolores, würden Danielas Eltern es wohl schon akzeptieren, dass es zu ihr gehörte. Denn sie wollte es behalten, ob mit oder ohne Paco.
Und während da draußen irgendwas tierhaftes heulte, jaulte, quiekte und knurrte zwengte sich Pacos Kind Zentimeter für Zentimeter hinaus in die Welt. Daniela hatte es noch geschafft, die schlimmen Schmerzen zu veratmen, nicht laut aufzuschreien. Denn niemand sollte sie hören und hier so finden, so ausgeliefert, so hilflos. Ihre Schwester stand ihr jedoch bei und kannte die wichtigsten Verhaltensweisen bei einer Geburt.
Als draußen noch mehr Geheul und Geknurr klang durchfuhr Daniela ein besonders schmerzhafter Ruck. Sie hielt sich den Mund zu, um nicht loszuschreien, während Virginia das Baby aus dem Leib seiner Mutter herauszog. "Pamela ist da, Daniela. Ich helfe dir mit der Nabelschnur", sagte Virginia. Da gluckste und prustete das soeben geborene Mädchen, bevor es laut und unüberhörbar seinen ersten Schrei im Leben ausstieß.
María Dolores hatte die blanke Wut und Hilflosigkeit über den Tod ihres Mannes und dem der vielen anderen da draußen noch nicht überwunden. Sie wusste, dass die Monsterfledermaus sie auch noch jagen würde. Zum glück hatte sie ihre Cousine Daniela in einem Kellerraum mit dicker Stahltür eingesperrt. Aber hatten bei der nicht vorhin schon die Wehen eingesetzt? Am Ende verreckte sie da unten noch wegen der Geburt, und sie musste dann mit Virginia das kleine irgendwo unterbringen. Sie hatte die beiden Cousinen bisher nicht zu Lykanthropinnen machen wollen, weil sie erst einmal abwarten wollte, was Rabioso, der sich als König von Lykotopia bezeichnete, genau vorhatte. Vielleicht konnte sie ihre Cousinen und das Kleine vor dem nächsten Vollmond noch nach Hause schicken, ohne dass die beiden mitbekamen, was hier gespielt wurde.
Als die Riesenfledermaus gerade den zwölften Gegner getötet hatte, drang lautes Babygeschrei aus dem Keller herauf. Irgendwie war María Dolores, als hätte jemand bei der Fledermaus einen Stecker gezogen. Sie fiel auf den Boden. Wieder schrie ein gerade neu geborenes Kind laut auf. Da griffen die noch lebenden Werwölfe an. Sie packten die Flügel, den Hals und die Hinterbeine der Fledermaus und zerrten mit mörderischen Kräften daran. Noch einmal schrie das Neugeborene. Da hingen zwanzig wild zerrende Werwölfe am Körper des Feindes und zerrten daran. María Dolores sah, wie das Ungetüm von dieser Übermacht endgültig überwältigt wurde.
Dientemuertes war sich sicher, alle hier herumlaufenden Werwölfe töten zu können, als der Schrei aus dem Haus kam. Dieser Schrei stach ihm in die Ohren und jagte durch seinen Körper. Er fühlte, wie ihm auf einen Schlag die Kraft genommen wurde. Was Sonnenlicht, Ffließendes Wasser und Feuer nicht mehr vermochten, dieser laute Schrei reichte aus, um ihn zu Boden zu bringen. Er versuchte, seine Herrin anzurufen. "Hilfe, große Mutter der Nacht! Etwas reißt mir alle Kraft aus dem Leib!" stieß er in Gedanken aus. Doch die Botschaft wollte nicht ankommen. Der zweite Schrei trübte seinen Verstand ein. Er fühlte die nun ungebärdig an ihm reißenden Werwölfe. Die bezahnten Mäuler verbissen sich nun unlösbar in seinen Flügeln, Beinen und seiner Kehle. Er konnte sich nicht mehr dagegen wehren. Als der dritte Schrei erklang schwand auch die durch die Unlichtkristalle verstärkte Haltbarkeit seines Körpers. Die Übermacht von zehn wütenden Werwölfen setzte ihm nun ein jähes Ende. Er konnte noch nicht einmal seine Schutzherrin anrufen, um sie um Gnade anzuflehen. Da fühlte er den letzten Schmerz seines Lebens, ein mörderisches Reißen in allen Fasern seines Körpers.
Daniela sah, wie die von ihr und ihrem nun toten Mann mit dem Werwolfkeim angesteckten Jungen und Mädchen den bis vorhin noch so unbesiegbaren Angreifer in Stücke rissen. Doch die Stücke verfärbten sich, wurden schwarz und zerbröckelten wie pulvertrockener Sand.
"Rache für Mateo", knurrte María Dolores. Dann wurde ihr klar, dass die ersten Schreie ihres neuen Verwandten dieses Scheusal geschwächt hatten. Sie musste lachen. Dann dachte sie, dass sie das Rabioso umgehend erzählen sollte.
Für unbewaffnete Augen vollkommen unsichtbar kämpfte sich ein über zwanzig Meter großes Ungetüm durch den mächtigen Amazonas, ein Geschöpf, das eigentlich nicht in dieses Gewässer hineingehörte. Es sah äußerlich wie ein Blauwal aus und arbeitete sich vier Meter unter der Wasseroberfläche durch die schlammigen Fluten des gigantischen Stromes. Immer wieder musste das walförmige Etwas die Querströme in den Hauptstrom einfließender Flüsse ausgleichen, die jeder für sich mit einem europäischen Strom wie dem Rhein oder der Loire mithalten konnten. Immer wieder flüchteten die hier heimischen Flussfische, weil das Ungetüm eine für augenund Ohren unvernehmbare Ausstrahlung besaß, die verhinderte, dass Meerestiere wie Haie, Muscheln oder Schnecken sich daran versuchten. Selbst die weltweit berühmt-berüchtigten Piranhas blieben dem Eindringling mehr als seine ganze Länge fern, zumal das Ungetüm mit seiner waagerechten Schwanzflosse wilde Wasserwirbel machte, in denen kleinere Fische hilflos herumgeschleudert wurden.
Der Wal war in Wirklichkeit ein besonderes Unterseeboot, zusammengebaut und betrieben mit Magie und von magieloser Unterseetechnik abgeschauten Geräten. Die Innenräume waren auf ein achtfaches äußerer Abmessungen vergrößert, um den darin mitreisenden Platz und Bewegungsfreiheit zu erlauben. Die meisten Passagiere dieses Unterseefahrzeuges lagen in Vorrichtungen, die dem gläsernen Sarg Schneewittchens entlehnt sein mochten. Denn sie lagen dort wie scheintot.
Ursprünglich war geplant, vier Monate am Stück getaucht zu bleiben. Doch nach zwei Wochen hatte sich bei den hundert Mitreisenden, die keine technischen oder seemännischen Aufgaben zu erfüllen hatten, ein gewisser Unmut gegen das Eingesperrtsein gezeigt. Tibo, der Kommandant dieses sonderbaren Fahrzeuges, hatte deshalb mit seinen Kameraden Lunera und Fino, sowie Nina und Leonardo beraten, wie sie einem unbeherrschbaren Bunkerkoller entgegenwirken konnten. Am Ende hatten sie zwei zeitgleich laufende Verfahren ausgearbeitet. Das erste bestand in der Herstellung und Ausbringung schwimm- und flugfähiger Erkundungssonden, die im Wasser wie ihren aus ihrem Schwarm geratene Heringe aussahen und bei einem Sprung aus dem Wasser zu kleinen, wendigen künstlichen Vögeln wurden. Fino und Leonardo,einer von noch fünf magisch begabten Werwölfen, so wie dessen Gefährtin Divina hatten sich einen regelrechten Wettbewerb geliefert, wer die lebenden Fischen und Vögeln am nächsten kommenden Erkunder herstellen konnte. Das Material dazu besorgten sie sich aus versunkenen Schiffen. Verfahren Nummer zwei zur Abwendung des Bunkerkollers bestand in einer Technik, die die Autoren von Zukunftsgeschichten schon vor mehreren Jahrzehnten in ihre Geschichten eingebaut hatten, wo es um unterlichtschnelle Reisen durch den Weltraum ging. Mit hilfe des Perithanasia-Zaubers, der jemanden in einen scheintodartigen Zauberschlaf versenkte, konnten die nicht für die Erkundungssonden und die Steuerung des walförmigen U-Bootes benötigten Kameraden einen Großteil der Zeit verschlafen. Um immer genug Besatzungsmitglieder zur Hand zu haben und nebenbei nicht in Langeweile abzugleiten hatten Fino und die auch auf Heilzauber spezialisierte Divina einen Rotationsplan festgelegt, ähnlich wie bei einer Wacheinteilung der Mannschaft, nur dass hier nicht in Stunden, sondern Wochen gerechnet wurde. Die einzigen Ausnahmen vom Rotationsplan waren die Mondschwestern, die gerade schwanger waren. Lunera und Nina trugen nun schon fünf Monate an einem Kind, Tibos neue Gefährtin Lucia und Divina waren im vierten Monat, während fünf weitere Mondschwestern in sechs Monaten ihre Kinder bekommen würden. Lunera und Nina hatten Tibo überzeugt, dass ein Sex- und Geburtenverbot nur Unfrieden schaffen würde und er ja auch was davon hätte, wenn ihn eine der Mitschwestern erhörte und ihm die lange Reise mit wilder Liebe versüßte.
In den Monaten der langen Fahrt der Reina De Las Mareas oder RDLM hatten die schwimm- und flugfähigen Erkunder interessante, wenn auch längst nicht immer erfreuliche Informationen geliefert. So wussten die abgetauchten Führer der Mondbruderschaft, dass die von ihnen abgefallenen Kameraden um den leicht aufbrausend werdenden Rabioso wohl langsam dahintergekommen waren, wie der Lykonemisis-Trank gebraut wurde. Damit hatte sich Luneras Befürchtung bestätigt, dass Rabioso klammheimlich trinkbare Dosen des Trankes bei Seite geschafft hatte, um den Trank zu enträtseln und nachbrauen zu können. Ihnen war klar, dass Rabioso, sobald er entscheiden konnte, wer mit dem erhabenen Keim der Zweigestaltlichkeit im Blut dem Mond unterworfen war oder sich aus eigenem Willen verwandeln konnte, sein radikales Ziel in Angriff nehmen würde, die Welt durch Terror und ungezügelte Ausbreitung des Keimes in Angst und Schrecken zu versetzen, bis er die eigentlich schon von der Mondbruderschaft erhobenen Forderungen erfüllt bekam, dass Werwölfe weltweit gesellschaftlich gleichgestellt wurden, ja in einigen Bereichen vielleicht sogar höherrangig behandelt wurden. Weil Lunera damals nicht alle Mitglieder der Mondbruderschaft mit auf ihre lange Tauchfahrt hatte nehmen können hatte Rabioso großen Zulauf von denen erhalten, die sich von Lunera und ihren engsten Getreuen im Stich gelassen fühlten. Immerhin hatte Lunera es auf diese Weise hinbekommen, eine Spionin in Rabiosos Reihen einzuschleusen, die durch den Divitiae-Mentis-Zauber davor geschützt war, als Verräterin enttarnt zu werden.
Die zweite betrübliche Erkenntnis war, dass es wohl eine neue Macht unter den Vampiren gab, die das Vakuum ausfüllen wollte, das Nocturnias plötzlicher Zusammenbruch hinterlassen hatte. Dabei hatten die fliegenden Erkunder sogar zwei in Riesenfledermäuse verwandelte Vampire angetroffen, die durch eine unheimliche Kraft, die wie ein Stärkungstrank in ihren Körpern wirkte, nicht nur länger dem Sonnenlicht ausgesetzt werden konnten als andere Langzähne, sondern auch über fließendes Wasser hinwegfliegen konnten, solange es um sie herum dunkel genug war. Wo genau diese neuen Supervampire herkamen hatten die Erkunder bisher nicht ermitteln können. Denn immer dann, wenn einer von ihnen auf einen solchen Vampir traf, erkannte er in dem Erkunder ein künstliches Objekt, mit dem wer spionieren wollte. Der ertappte Erkunder konnte dann nur noch alle in ihm gespeicherten Informationen an seinen knapp hundert Meter entfernten Begleiter übermitteln, der dann mit höchstgeschwindigkeit davonflog, während der erste Erkunder von dem Vampir ergriffen und mit unbändiger Kraft zerrissen worden war.
Die dritte, eher unter der Rubrik neues über die Natur der Lykanthropen zu verbuchende Erkenntnis bestand darin, dass keiner der gerade wachen Lykanthropen an Bord sich bei Vollmond verwandelte, wenn das Unterwasserfahrzeug tiefer als einhundert Meter unter der Wasseroberfläche blieb. Es war ähnlich wie bei Wolken, die den Mondschein blockierten, und Wolken bestanden ja auch aus Wasser. Valentino alias Turboimpulso, einer der ranghohen, nichtmagischen Mondbrüder, hatte behauptet, dass es wohl die Wassermenge war, die die Mondstrahlen filterte. Bei wolken mussten es eben mehrere Kilometer hohe, lichtdichte Wolken sein, wo es bei flüssigem Wasser nur eine Wasserdecke von hundert Metern über dem getauchten Schiff benötigte, um den Einfluss der Mondstrahlen auf null zu reduzieren. Fino hatte darauf eingeworfen, dass das Element Wasser ja in direkter Beziehung zum Mond stand, sowohl das Meerwasser wie auch das sich in Tieren und Pflanzen befindende Wasser. Divina hatte dazu eingeworfen, dass sich die Elementarmagietheoretiker da noch drüber stritten, ob die Mondmagie nun eine der Luft oder dem Wasser zugeordnete Kraft sei, da der Mond nun einmal keine materielle Verbindung zur Erde besaß. Valentino hatte dazu bemerkt, dass für die Naturwissenschaftler ohne Magie der Mond als ehemaliger Teil der Erde feststand, der vor mehr als drei Milliarden Jahren von einem marsgroßen Himmelskörper aus der Erdkugel herausgeschlagen worden sei. Solche und ähnliche Grundsatzdebatten über die Erkenntnisse der magischen und nichtmagischen Menschheit hielten ebenfalls die Langeweile und den Bunkerkoller auf Abstand.
"Das Mädel bringt's", freute sich Tibo, der mit Fino, Turboimpulso und Lunera in der Zentrale saß und die von den magicomechanischen Sonarvorrichtungen eingefangenen Laute auf entsprechende Wiedergabegeräte geschaltet hatte. Seit vier Tagen wühlte sich der scheinbare Blauwal durch den Amazonas. Deshalb hörten sie ein grundlegendes Gluckern und Grummeln um sich herum, wenn der Strom sein Bett aufwühlte oder die immensen Wassermassen auf festen Widerstand trafen und verwirbelt wwurden. Auch die Laute von Fischen konnten so hörbar gemacht werden.
"Also, nachdem wir die Süßwasserdifferenz wunderbar ausgetüftelt haben ist die Reina der erste Wal, der es nach mehr als hundert Millionen Jahren gewagt hat, den Amazonas hinaufzuschwimmen", sagte Valentino. Er sah auf Lunera. Sie trug sein Kind. Als er das erfahren hatte war er erst einmal für eine Stunde zu nichts zu gebrauchen gewesen, so heftig hatten ihn alle damit verbundenen Gefühle überwältigt. Im Moment musste er aber seine Gefühle für sie und das gemeinsame Kind zurückdrängen, weil es nun mal wieder galt, wichtige Entscheidungen zu treffen.
"Also, werte Mitbrüder und -schwestern, unser Mondlichtungshaus auf der Amazonas-Insel Verde Pequeña steht noch. Paulina ist dort mehr aus Not als aus Berechnung mit ihrem Gefährten hingereist. Juanita wurde wohl gefangengenommen. Da sie die Position des Mondlichtungshauses nicht kannte kann sie die auch nicht verraten. Wenn wir dort eintreffen beraten wir, was wir mit den neuen Erkenntnissen machen, die wir in den letzten vier Monaten zusammengetragen haben", legte Lunera fest. Sie sprach Spanisch, die von den meisten hier beherrschte Sprache, die deshalb als Bordsprache galt.
"Wann wecken wir alle, die gerade in Schneewittchens Särgen wie Dornröschen schlafen?" fragte Valentino. Er würde gerne prüfen, ob er seinen Laptop noch benutzen konnte, dessen Akku er nur alle drei Wochen mit Hilfe eines so genannten Permoschwungrad-Dynamos hatte aufladen können. Den rechner selbst hatte er nicht einschalten können, weil um diesen herum zu viel Magie wirkte.
"Wir landen erst einmal", sagte Lunera. Wenn wir die Insel als sicheren Stützpunkt benutzen können, zu dem wir immer wieder zurückkehren können, beraten wir, wen von den Mitbrüdern und -schwestern wir hier lassen und wen wir auf weitere Fahrten mitnehmen. Dazu müssen wir klären, wie wir in der nächsten Zeit auftreten wollen. Nachdem, was Rabioso sich nun herausnimmt können wir nicht mehr so weitermachen wie bei Erntemond."
"Konnten wir schon damals nicht", grummelte Valentino.
"Haben du und alle die, die aus der rein technischen Welt kamen immer schon gesagt, dass die Verbreitung einer Krankheit den Respekt vor den Kranken nicht steigert", schnaubte Lunera. "Aber damals galt es, grundlegende Veränderungen in der Ansicht der magischen Menschheit zu bewirken. Die Zeit schien damals günstig, dass wir eben nicht als rein kranke Geschöpfe gesehen werden, die zu bemitleiden oder auszugrenzen sind. Aber diese Zauberstabschwinger haben sich zu schnell auf unsere Taktik der gezielten Eingliederung eingestellt und zurückgeschlagen. Wissen wir alle hier. Also müssen wir nun zusehen, wie wir zumindest noch unsere Bewegungsfreiheit erreichen können, ohne ständig auf der Flucht zu sein."
"Rabioso hat allen Nicht-Werwölfen den biologischen Krieg erklärt. Damit bringt er alle anderen nur noch mehr gegen sich und auch uns auf und auch gegen diese Weltverbesserer, die meinen, für die Zauberstabschwinger Polizei und Feuerwehr spielen zu müssen, weil die ja schon den Werwolfskeim im Blut haben und deshalb keine Angst mehr vor uns oder Rabiosos Bande haben müssen", grummelte Valentino."
"Ja, und genau deshalb müssen wir unsere ganze Ausrichtung, unsere Ideologie, wenn ihr es so wollt, neu überdenken und dann, wenn wir selbst wissen, was genau wir wollen und wie wir es hinbekommen, gegen Rabiosos Wahnwitz angehen. Ich will dein und mein Kind nicht in tausend Metern Meerestiefe kriegen und stillen. Es soll die Sonne und den Mond kennenlernen und den Wind auf der Haut fühlen. Weil sonst könnte ich mich gleich zu den Tiefschläfern legen und daran denken, ob das Kleine in meinem Bauch mit mir in den Tiefschlaf fällt oder irgendwann in mir erstickt und verhungert, ohne dass ich das mitbekomme. Willst du nicht wirklich, Tino, und ich erst recht nicht."
"Also erst mal auftauchen und an Land gehen. Ob die anderen noch auf festem Boden laufen können?" fragte Tibo. Lunera deutete auf einen Glaszylinder, in dem mehrere farbige Kugeln trieben. Sie schwebten unbewegt im Wasser. "So gut wie die Reina ausbalanciert und gleitet finden die keinen Unterschied, nur dass sie oben wieder freien Wind und freien Himmel über sich haben werden."
"Und die Urwaldinsekten", grummelte Tino. Doch Divina beruhigte ihn.
"Mosquitos und andere Blutsauger riechen, dass wir kein gewöhnliches Blut im Körper haben. Das hält die von uns ab. Als ich noch klein war, zwei Jahre nachdem mich Cortoreja gebissen hat, grassierte eine Läuseepidemie bei den Nachbarskindern. Ich war die einzige, die keine einzige Laus im Haar hatte und deshalb kmeine Haare behalten durfte, wo bei vielen Mädchen radikal abrasiert wurde. Als ich dann nach der Schule heimlich Heilerbücher und -rezepte studierte - selbst eine Heilerin werden konnte ich als Lykanthropin ja nicht -, habe ich die Bestätigung gefunden, dass blutsaugende Insekten unsere veränderten Körperausdünstungen riechen und uns für ungenießbar halten. Ich habe es dann mal probiert, und einigen Flöhen mein Blut unter die Stechrüssel gehalten. Die sind fast einen Meter weit zurückgesprungen, als hätten sie Angst, zu verbrennen, wenn sie damit in Berührung kämen."
"Ist vielleicht auch so", vermutete Valentino. "Aber Flöhe gehen doch sonst auf alles warmblütige drauf, von der Ratte bis zum Dobermann."
"Aber nicht ein und dieselbe Art, Tino", grinste Tibo."Übrigens sind wir gleich da", fügte er noch hinzu.
Donny Clarkson und Paulina Torrealta blickten hinaus auf den gewaltigen Strom, der ihre Insel umfloss. Die Tiere des Urwaldes stimmten gerade ihr Morgenkonzert an. Irgendwo flötete ein Uirapuru sein melodisches Lied. Donny fand es einfach nur schön, nachdem er mitbekommen hatte, dass Mosquitos, Wanzen und andere Insekten vor ihm Reißaus nahmen, sobald er in ihre Nähe kam. Paulina erwähnte, dass Tiere egal welcher Art Lykanthropen mieden, genau wie Lykanthropen außer im Fressrausch auch von anderen Tieren fernblieben und eher versuchten, ihren Keim an andere Menschen weiterzugeben.
Die Sonne glitzerte in den dahineilenden Fluten. Hier und da tauchte ein Amazonasdelphin aus dem Strom heraus und blies eine meterhohe Wasserfontäne in die Luft, bevor er wieder untertauchte.
"Wie kriegen wir mit, aus welcher Richtung deine große Chefin anrückt?" fragte Donny seine Gefährtin.
"Sie wird uns über die Silberdose hier ein Signal geben", sagte Paulina und klopfte auf die an einer festen Schnur um ihren Hals baumelnde Silberdose, die beim Öffnen eine tückische Falle und dann ein Holobild von Lunera rausgelassen hatte.
Eine Stunde verstrich. Das Sonnenlicht wechselte bereits von Orangerot zu Gleißendgelb, als in südöstlicher Richtung, mindestens einen Kilometer entfernt, eine mehr als fünfzig Meter hohe Wassersäule aus den Fluten emporschoss und an der oberen Spitze zu einem glitzernden Pilz aus herabfallenden Wassertropfen auseinanderfloss. Dann sah Donny den Kopf und die Rückenflosse eines gewaltigen Tieres, das er nur aus Dokumentarfilmen im Fernsehen kannte. Seine Augen wurden größer und größer, als der mächtige Körper bis fast zur Unterseite aus den Fluten des Amazonas herausragte. Er sah die breite, waagerechte Schwanzflosse, die in schnellen, kraftvollen Schlägen das Wasser hinter sich zurückdrängte und dem Riesengeschöpf den Weg gegen den Strom bahnte.
"Ein Blauwal? Wie kommt denn ein ausgewachsener Blauwal in den Amazonas rein?" fragte Donny.
"Ich bin zwar nicht sicher, ob dir die Antwort gefällt, Donny. Aber ich behaupte mal, aus dem Meer den Strom aufwärts. Abgesehen davon ist das unsere Anführerin mit ihren Leuten. Die Dose hat gerade leicht gesummt."
"Moment mal, könnt ihr Wale wie U-Boote benutzen in der magischen Welt?"
"Wohl eher so, dass U-Boote wie Wale aussehen und schwimmen können", sagte sie und klappte die Silberdose auf. Wieder schnellte eine spitze Feder heraus und traf ihre Hand. Doch diesmal schnellte sie genauso blitzartig wieder in die Dose zurück. Donny dachte: "Blutpasswort akzeptiert, Login erfolgreich." Aus der Dose schwebte die räumliche Darstellung einer weizenblonden Frau, die gerade ein Baby im Bauch hatte.
"Ah, ihr seht uns schon. Wir kommen gleich an Land. macht am besten Platz für uns!"
"Stark, ein U-Boot wie ein echter Riesenwal", staunte Donny. Er sprach Spanisch mit US-amerikanischem Akzent.
"Das ist das Ergebnis eines sehr guten Kulturaustausches zwischen der technischen und magischen Menschheit", klang die Stimme der Holo-Frau blechern aus der Silberdose.
Zehn Minuten später robbte der Wal auf den Kies am Strand und glitt wie eine gewaltige Schnecke weiter. Die Brustflossen hatte das Ungetüm wie Vogelflügel an den Körper gelegt und schob sich weiter und weiter bis in eine Schneise zwischen über neunzig Meter hohen Bäumen, so dass deren weit ausladende Kronen mit tellergroßen Blättern einen natürlichen Sichtschutz boten. Erst dann kam der künstliche Blauwal zur Ruhe. Links und rechts klappten auf einmal große, halbkugelförmige Luken nach außen auf. Für Donny sah es gerade aus, als habe der Wal an jeder Seite sechs weitere Augen dazubekommen. Dann schnurrten Laufbänder heraus und legten sich auf den Boden, wo knirschend Verankerungen fassten. Dann lief jedes Band an und trug je fünf Leute aus dem Inneren des Wales.
"Wauu! Science Fiction war echt gestern", staunte Donny einmal mehr, als er das alles bewunderte. Dann erkannte er die weizenblonde Frau aus der Silberdose. In echt sah die ja noch viel besser aus in ihrem grünen Kostüm. Dann sah er noch ein paar Frauen, die mehr oder weniger schwanger aussahen, die meisten von denen dunkelhaarig. Doch die, die so weit war wie Lunera hatte auch blonde Haare. Er erkannte noch einige Männer, mal superathletisch und auch solche, die Sport eher aus dem Fernsehen kannten. Als die dreißig Walfahrer auf festem Boden standen eilte Lunera mit leicht auslenkenden Hüftbewegungen auf Paulina zu und umarmte sie. Die beiden begrüßten sich herzlich wie Schwestern, die sich lange nicht mehr gesehen hatten. Donny wusste, dass das wohl auch so war. Dann fand er sich unvermittelt in den Armen der zweiten Blondine.
"Hallo Donny. Ich bin Nina, Luneras Mondschwester", begrüßte sie den Jungen, der nicht wusste, wie ihm geschah. Er fühlte unvermittelt einen leichten Stupser aus dem Bauch der ihm noch fremden in seinen Bauch. "Ach, das kleine ist ein wenig eifersüchtig, weil ich mich freue, noch einen starken Jungen in die Arme nehmen zu können." Dann tauchte ein sehr dünner Mann hinter der anderen Blondine auf und blickte Donny leicht verdrossen an. Da rief Paulina:
"Nina, der da ist meiner. Wir sind schon verheiratet!"
"Ich will den dir auch nicht wegnehmen, Paulina", lachte Nina und ließ von Donny ab, der leicht verstört einen Schritt zurücktrat. Dann sah er den dünnen Mann an und machte ihm Zeichen, dass er nicht darauf aus war, anderen die Braut wegzuschnappen, wo er selbst eine hatte, die ihm alles bieten konnte, was sein noch jugendliches Hirn sich vorstellen konnte.
"Ich bin Fino", grummelte der Dünne. Donny erwiderte: "Fino? Das sieht man."
"Du bist Donny, hat unsere Anführerin uns gestern erzählt. Wenn deine Braut in ein paar Monaten auch so angerundet herumläuft kapierst du sicher, warum ich Nina besonders gut beschützen will. Die hat mein Baby im Bauch, nur, damit du auf dem gleichen Stand bist wie die anderen."
"Ansage angekommen", sagte Donny und war froh, das seine Eltern ihn getrietzt hatten, gut genug Spanisch zu lernen.
"Gut, dann sind jetzt alle da, die damals in unserer Festung waren", sagte Lunera. "Ich freue mich auch, dass wir noch wen dazubekommen haben, der sich mit der technischen Welt zurechtfindet. könnte sein, dass wir demnächst wieder wen da reinschicken müssen."
"Das klären wir besser dann, wenn wir uns alles erzählt haben, Lunera", erwiderte Paulina Torrealta gerade noch am Rande einer Aufsässigkeit entlangschrammend. Lunera glubschte sie verdrossen an. Dann nickte sie.
Die angelandeten Lykanthropen trafen sich im ausgehöhlten Urwaldbaum, der zu einem mehrstöckigen Unterschlupf ausgebaut worden war. "Weiß Rabioso, wo das Mondlichtungshaus liegt?" wollte Paulina wissen.
"Dann wäret ihr zwei sicher nicht zu unserem Empfang hier, sondern er und seine Tollwuttruppe", zog Lunera einen logischen Schluss.
"Gut, an dem Wal hat er wohl mitgebaut", setzte Paulina nach. Lunera bestätigte das. "Na ja, aber das Mondlichtungshaus war nur eine Sache zwischen Divina, Fino und mir, Wärend Rabioso irgendwo in der Wüste von Arizona ein unterirdisches Versteck ausheben sollte. Wenn er uns dort gesucht hat und nicht gefunden hat wird er wohl erst einmal abwarten, aus welcher Ecke der Welt wir irgendwann wieder auftauchen. Aber wichtiger ist, dass er offenbar endgültig dem Größenwahn anheimgefallen ist. Er nennt sich jetzt König Rabioso. Wie soll sein Reich heißen?"
"Lykotopia, das Wolfsheim", erwiderte Paulina. "Aureus sollte es in den vereinigten Staaten verwalten. Der dürfte immer noch darauf aus sein, mich umzubringen um Juanita am Verrat zu hindern."
"Okay, wir besprechen das alles gleich im kleinen Kreis. Donny kann sich derweil mit den anderen bekannt machen.
"Aber mach dir da bloß keine Hoffnungen, noch wen für heiße Runden abzugreifen, Großstadtbursche! Die meisten von den Frauen sind schon vergeben und angefüllt", lachte einer der mitgereisten Werwölfe, der eindeutig schon mehr als vierzig Jahre zählte.
"Nur kein Neid. Es kann ja nicht jeder aus der größten und buntesten Stadt der Welt kommen", erwiderte Donny Clarkson. Darauf mustten alle die lachen, die selbst in Großstädten großgeworden waren.
Als dann die von Lunera angesagte Runde der ranghöchsten Mondgeschwister in einem kleinen Raum im Baum zusammengetreten waren unterhielt sich Donny mit den jüngeren Lykanthropen über die lange Reise im Bauch des künstlichen Wals und erfuhr, dass noch sechzig Brüder und Schwestern in einem magischen Tiefschlaf lagen, um die Zeit besser herumzukriegen und dabei dann auch nichts essen zu müssen.
"Wie ein Langstreckenraumschiff ohne Warpantrieb?" fragte Donny. Da viele von denen kein Fernsehen kannten musste er ihnen erklären, was er meinte und erfuhr, dass Valentino und Fino, die zum innersten Kreis um Lunera gehörten, das so ähnlich beschrieben hatten. "Nur dass irgendwann fast alle Frauen bei uns geschwängert waren und deshalb nicht mehr in die Glaskisten reingehen durften, weil keiner weiß, ob die Babys von denen dann auch tiefschlafen oder verhungern. Und Lunera, unsere große Chefin, hat klargestellt, dass wir, die wir auf normale Art Nachwuchs hingekriegt haben, den bitte auch gescheit auf die Welt zu bringen haben, so wie sie und ihre blonde Ziehtochter Nina, die von Fino was kleines kriegt", sagte Mike, ein fünfundzwanzig Jahre alter Werwolf aus Chicago, der nur dank den Mondbrüdern vor einem Werwolffangkommando des US-Zaubereiministeriums entkommen konnte. Donny erzählte dem Landsmann, wie er dieses ominöse Zaubereiministerium kennengelernt hatte und von dem roten Lambda an einer Hauswand in Hell's Kitchen.
"Jedenfalls sind Betsy und ich froh, dass wir noch leben und sie im September unser Kind kriegt." Sie unterhielten sich dann über die Weltlage seit Oktober, wo Donny mitbekam, dass die Werwölfe aus dem künstlichen Wal doch eine Menge mitbekommen hatten. Er ließ sich auch von den neuen Vampiren erzählen, die angeblich superstark und unverwüstlich sein sollten. "Mit denen kriegen wir wohl den nächsten großen Krach, wenn uns Rabiosos Lykotopiaspinnerei nicht alle auf die Abschussliste der Zaubereiministerien bringt. Am Ende erfinden diese Zauberstabschwinger noch ein Virus, das Werwölfe gezielt abtötet."
"Hmm, hätten die doch schon längst machen können", meinte Donny.
"Aufwand und Auswirkung, Donny. Das ist wie in der Welt, aus der wir herausgebissen wurden. Wenn eine Krankheit zu wenige Leute befällt und die auch noch gut abgeschottet werden können braucht man kein Seuchenbekämpfungsprogramm und keinen Impfstoff."
"Will sagen, bisher war sowas nicht nötig", grummelte Donny. Mike nickte. Dann kam seine Gefährtin Betsy, die er erst bei Lunera kennengelernt hatte dazu. Sie war dunkelhäutig und hatte eine tizianrote Haarkrause. Dass sie auch schwanger war konnte Donny ihr noch nicht ansehen.
Als die Tropensonne innerhalb weniger Minuten unter dem Horizont versackte rief Lunera alle ihre Gefolgsleute zu einer Ansprache in einen großen Kreis, der mit fremdartigen Zeichen durchzogen war. Donny erfuhr, dass damit jede magische Fernbelauschung und -beobachtung abgewehrt wurde.
"Folgendes, liebe Brüder und Schwestern unter dem Mond", setzte Lunera an. "Wir müssen weitere Erkundigungen über Rabioso und seinen Traum von Lykotopia erringen. Da Juanita uns darüber leider nichts mehr mitteilen kann, bleibt nur, einige von uns an die Orte zu schicken, wo sie ihr Kennzeichen angebracht haben und die Paulina bekannten Stützpunkte zu beobachten, ob von dort aus ein Großangriff auf die eingestaltlichen Menschen geplant ist. Erst wenn wir das alles wissen werden wir einen Aktionsplan durchführen, den ich mit euren höchsten Mitbrüdern ausgearbeitet habe. Wie dieser genau ablaufen soll wird nur dann und nur denen mitgeteilt, die unmittelbar damit zu tun bekommen sollen. Ja, ich weiß, klingt bevormundend bis diktatorisch. Aber glaubt mir, meine werten Mitbrüder und -schwestern, die Gefahr, zu früh etwas zu verraten ist zu groß und unser Überleben zu wichtig, als uns einer vorzeitigen Enthüllung und Durchkreuzung unserer Pläne auszuliefern. Also kommen wir zu den anstehenden Nachforschungen ..."
Donny erfuhr, dass er noch einmal nach New York geschickt werden sollte. Da der Vollmond ja vorbei war brauchte er keine Sorge zu haben, sich ungewollt zu verwandeln, wenn er nicht aufpasste. Um nicht erkannt zu werden würden ihm Divina und Fino eine Maske und hauchdünne Handschuhe machen, die andere als seine Fingerabdrücke hinterließen. Ebenso würden auch andere sich mit der technischen Welt auskennende Mondgeschwister, die nicht gerade ein Kind im Leib hatten, verkleidet in die Menschenwelt zurückgeschickt. Paulina bestand jedoch darauf, dass Donny einen wörtlich auslösbaren Portschlüssel bekam. Außerdem sollte er eine Vorrichtung mitnehmen, die jede Form künstlicher Elektrizität in einem bestimmten Umkreis unterbrach und unterdrückte. Fino willigte ein, das alles zu bauen und noch dazu etwas, dass jeden, der es am Leibe trug, für künstliche Augen und Bildaufzeichner unerfassbar machte. Donny nannte es ein Gespensterhemd, weil Gespenster ja nicht fotografiert oder gefilmt werden konnten. "Eher eine Geisterhose", sagte Fino. "Das Verfahren wollte ich mir eigentlich patentieren lassen und es denen vom Zaubereiministerium anbieten. Aber dann war da die Sache mit Nocturnia. Na ja, dann haben wir das eben."
"Dann bin ich einverstanden, dass Donny mit in den Einsatz geht", sagte Paulina.
"Als wenn du das zu bestimmen hättest, Blondinchen", lachte Divina. Lunera gebot den beiden, nicht zu zanken. Dann gebot sie, dass sich alle im sicheren Haus zur Ruhe begeben sollten. Die noch an Bord der Reina schlafenden wollte sie erst morgen früh wieder aufwecken.
"Am besten sehen wir zu, dass von dir was bei mir bleibt, bevor du in deine Heimatstadt zurückgeschickt wirst", säuselte Paulina, als sie mit Donny zusammen in ihrem kleinen Schlafraum lagen. Donny überlegte erst. Doch dann grinste er. Warum eigentlich nicht?
Mr. John Sherman staunte nicht schlecht, wie am Nachmittag an die dreißig Elternpaare mit gerade erst wenige Tage oder Wochen alten Kindern in sein Hotel kamen. Dann traf noch eine kleine Frau mit hellem, silberfarbenen Haar und einer goldenen Brille auf der Nase ein und erwähnte, dass die dreißig Elternpaare zu einem Projekt gehörten, das "Familien auf den ersten gemeinsamen Schritten" genannt wurde. Sie fragte, wie teuer die einfacheren Zimmer seien und ob auf den Stockwerken 21, 22 und 23 noch solche Zimmer zu haben seien. Der Hotelmanager gab die Frage an seinen diensthabenden Portier weiter, weil die ältere Dame, die er so auf rüstige siebzig Jahre schätzte, eine platinfarbene American-Express-Karte präsentierte. "Was immer es kostet, Sie können damit gutes Geld machen und gleichzeitig Werbung für Familienfreundlichkeit in der Stadt der Sünde machen", lächelte die ältere Dame den Manager an. Dieser erfuhr, dass noch zwanzig Zimmer in den erwünschten Stockwerken zu bekommen waren. Scherzhaft sagte er: "Aber sagen Sie Ihren Kundinnen, sie mögen die Babys bitte nicht zu heftig schreien lassen. Wir haben hier Geschäftsreisende und mehrere Hochzeitsreisende."
"Och, gerade die ersten sollten zwischendurch mal daran denken, für wen sie ihre Geschäfte eigentlich machen und wem die Welt eigentlich gehört, mit der sie Handel treiben. Ja, und die Hochzeitsreisenden kommen beim Klang von neugeborenen Stimmen doch sicher auf den Geschmack, selbst sowas kleines, lautes, aber süßes auf den Weg zu bringen."
"Ja, oder sich nach der Blitzhochzeit hier in Vegas in Mexiko wieder blitzscheiden zu lassen, weil sie keine Kinder wollen", dachte der Manager bei sich. Laut sagte er: "Wie erwähnt, Ms. ..."
"Mrs. Greensporn, Eileithyia Greensporn", ergänzte die ältere Dame.
"Ah, lese ich gerade hier", sagte der Manager, als er die Kreditkarte für die Buchung persönlich durchzog. "Gut, dann sagen Sie ihren Gruppenmitgliedern, sie möchten sich genau wie Sie im Gästebuch eintragen!" Mrs. Greensporn nickte.
Jeff und Justine Bristol bekamen erst mit, was im Hotel passierte, als sie auf dem Flur zum Lift einer jungen Mutter begegneten, die eindeutig die Nichte von einem Schulkameraden dessen war, der heute Jeff Bristol hieß. Dann sah er die ganzen jungen Familien, die sich über die Kartenschlösser der Zimmer amüsierten. Einer der jungen Väter tastete sogar an seine Hosennaht, und zog behutsam einen dünnen Holzstab hervor. Da tauchte eine kleine, silberhaarige Frau auf, die Jeff Bristol und Justine auch schon bekannt war, wenngleich sie ihr bisher nicht persönlich begegnet waren.
"Max, steck ihn wieder weg. Oder soll Gladys denken, dass du keine einfache Tür öffnen kannst?" fragte die Silberhaarige. Der Angesprochene errötete und schob den Holzstab wieder in sein rechtes Hosenbein. Dann bekamen sie alle mit, wie die Türen geöffnet werden mussten.
"Was machen Sie und die anderen bitte hier?" fragte Jeff Bristol.
"Das ist Ihre Leibwache, von mir persönlich zusammengetrommelt. Falls Ihnen trotzdem was zustoßen sollte ..." Sie gab Jeff und Justine je ein Taschentuch aus himmelblauem Stoff. "Einfach nur den Namen des Gründers meiner offiziellen Arbeitsstätte ausrufen, bevor diese Monster sie zu fassen kriegen."
"Woher wissen Sie von diesen Biestern und weshalb die vielen Windelpupser?" fragte Jeff Bristol.
"Erstens und zweitens, weil wir mittlerweile einiges mehr über diese Art von Fledermäusen wissen", sagte Eileithyia Greensporn. Dann entschuldigte sie sich und begleitete ein Elternpaar mit seinen gerade eine Woche alten Zwillingen aufs Zimmer.
"Babys, um Vampire zu bekämpfen. Langsam wird die alte Kinderpflückerin wohl wunderlich", meinte Jeff zu Justine, als sie wieder in ihrer Hochzeitssuite waren.
"Wissen wir, woher diese Biester kommen, Jeff?" Er schüttelte den Kopf. "Dann wissen wir leider auch nicht, was sie für Stärken und Schwächen haben." Jeff nickte. Eine Schwäche hatte er schließlich selbst herausgefunden. Die fremdartigen Vampire ließen sich nicht mit einemVBR-Kristall oder Sonnensegen bekämpfen. Aber der Wind der Finsternis, der auf Menschen so wirkte wie in fast flüssigen Stickstoff eingetaucht und auf Vampire wie ein immenser Kraftschub wirkte, hatte der Fledermaus fast alle Kraft geraubt, also das Gegenteil von dem bewirkt, was er sonst bewirken sollte.
"Dann will ich nur hoffen, das die Plärrbälger alle schon gut durchschlafen können. Auch wenn die Zimmer gut abgedichtet sind können wir die wohl noch hören, wenn die losquängeln."
"Soll das jetzt heißen, du wünschst dir keine Kinder mit mir?" fragte Justine schnippisch.
"Ach du großer Drachenmist, nicht diese Tour!" knurrte er. Doch dann fiel ihm eine Antwort ein: "Das Plärren und sabbern von meinem eigenen werde ich wohl aushalten, weil das irgendwo in meiner DNS eingefressen ist, dass ich mal Nachwuchs mit jemandem haben kann.""Soso", erwiderte Justine.
Seltsamerweise hörten sie von den Babys auf ihrer Etage nichts. Sie ließen sich vom Zimmerservice das Abendessen bringen. Jeff dachte daran, vielleicht eine Runde leidenschaftlichen Beisammenseins mit seiner Frau zu erleben. Doch ihr war nicht danach, und wenn er seinen Verstand bemühte, riet der ihm auch davon ab.
Sie hatten extra viel Knoblauch zum Abendessen bestellt und hatten zudem verschiedene Zauber an den nichtelektronischen Bestandteilen ihres Zimmers angebracht, darunter den Sonnensegen und den Mondfrieden. Gegenübliche Vampire war einer alleine schon genug. Aber diese beiden Riesenfledermäuse waren keine üblichen Vampire.
"Ich höre die absolut nicht quängeln oder krakehlen", wunderte sich Jeff über die beinahe Totenstille in den anderen Zimmern.
Es war kurz vor der Tageswende, als Jeffs und Justines VBR-Kristalle wieder vibrierten. Sie wurden heißer und fingen zu summen an. Dann sahen sie die beiden Fledermäuse, die mit irrsinniger Geschwindigkeit auf die breitflächigen Fenster im Salon zuflogen. Jeff und Justine gingen sofort hinter einem durchsichtigen Wandschirm in Deckung. Da barsten die Fensterscheiben mit lautem Knall, und mit Urgewalt brachen zwei überlebensgroße, geflügelte Geschöpfe die stählernen Rahmen aus dem Beton heraus, um in das Zimmer zu kommen.
"Ventus Tenebrosus!" riefen Jeff und Justine, während die mit Segen der Sonne belegten Fensterrahmen goldene Funken versprühten und die mit Mondfrieden bezauberten Möbel silberne Entladungsblitze erzeugten. Sie achteten nicht darauf, dass ihre VBR-Kristalle gerade mit leisem Knall zu beinahe rotglühendem Staub zerfielen.
Dunkler Nebel wallte vor den Bristols nach draußen und erfasste die beiden Fledermäuse, die laut und schrill schrien. Und als hätten sie damit einen auf Geräusche abgestimmten Schalter betätigt begannen in den Nebenzimmern die ersten Babys zu plärrenund zu schreien.
Jeff starrte auf die beiden ungebetenen Eindringlinge, die gerade noch im dunkllen Nebel des Ventus-Tenebrosus-Zaubers zusammengeschreckt waren. Immer mehr Babys stimmten in das allgemeine Geschrei neugeborener Kinder mit ein. Es entstand ein Chor aus mehr als zwanzig kleinen Menschenwesen. Für die Ohren der Bristols war es erst einmal nur nervig. Doch für die Fledermäuse war es verheerend.
Die beiden Ungetüme erzitterten, wanden sich in Krämpfen und lagen dann zuckend wie sterbende Fliegen am Boden. Als der Chor der schreienden Babys noch lauter wurde passierte es. Mit dumpfem Knall explodierten die beiden Fledermäuse in zwei Wolken aus grauem Staub, der innerhalb einer Sekunde alles und jeden im Zimmer einhüllte. Jeff und Justine husteten laut, um das graue Zeug wieder loszuwerden. Dann schaffte Justine es mit dem Accumuluszauber, den grauen Staub auf zwei Haufen zusammenzublasen. Als das passiert war reparierte Jeff die Fenster mit Zauberkraft.
"Mein Hals. Diese Biester habenunsere VBRs überladen", quängelte Jeff.
"Wir haben ja eine Heilerin hier im Hotel. Die kriegt uns beide wohl wieder hin", sagte Justine, die ebenfalls eine tiefe Brandwunde am Hals aufwies. Jeff fragte sie, ob sie die nicht durch ihre Kräfte wegmetamorphen könnte.
"Das lasse ich besser sein, weil ich nicht weiß, ob die Verletzungen magisch oder nur hitzemäßig sind."
"Schön, kreisrunde Brandwunden. Nachher haben wir ähnliche Andenken an diesen Spuk wie Harry Potter an seine erste Begegnung mit dem Psychopathen Voldemort.
Es klopfte an der Tür. Jeff Bristol, der gerade die letzten Schäden des rabiaten Besuches beseitigt hatte, steckte schnell den Zauberstab wieder fort und fragte, wer draußen sei: "die liebe Tante Heilerin Eileithyia. Ich möchte wissen, ob es euch beiden noch gibt und ob ihr Hilfe braucht."
"Wir haben unsere Indikatoren für Vampire eingebüßt. Die haben wir dummerweise am Hals getragen", sagte Jeff und entriegelte die Tür. Eileithyia kam herein und besah sich die Verwundung und die Staubhaufen. "Hmm, von dem Zeug da hätte die Heilerzunft gerne zwei Prisen", sagte sie. "Aber erst mal guck ich mir die kleinen Brandlöcher an, die ihr euch eingehandelt habt."
"Woher wussten Sie, dass diese Monster uns heimsuchen kamen und wie haben Sie das mit den Kindern hinbekommen, dass die alle zeitgleich losschrien?" fragte Justine.
"Erst die Behandlung, dann die Erklärung", sagte Eileithyia und bat die beiden, sich aufs Bett zu legen, weil sie für die kleine Heilerin ein paar zentimeter zu lang waren, um ohne wilde Überstreckungen zu arbeiten. Nach einer gründlichen Untersuchung auf magische Rückstände und einer Behandlung mit kühlendem Reinigungselixier salbte sie die Hälse der beiden mit Diptam ein und verband sie mit dem Zauberwort "Bandagio sterilis!" Dann sagte sie. "So bis morgen Abend bitte so lassen. Diptam wirkt zwar sehr schnell. Ich möchte aber, dass die Wunden sich nicht mit bösen Keimen füllen. Morgen werdet ihr zwei davon nichts mehr zurückbehalten haben." Dann erzählte sie den beiden, was sie über ihre Zunftkolleginnen mitbekommen hatte, das die Schreie gerade erst geborener oder sehr junger Säuglinge diesen Vampiren genauso zusetzten wie der Hahnenschrei einem Basilisken."
"Wir hätten sie verhören sollen", sagte Jeff.
"Neh, wo deren in den Diamanten eingekapselte Herrin und Meisterin die mal eben von uns hätte wegholen können", sagte Justine. Dem konnte Jeff nicht widersprechen.
"Die Babys waren alle durch den Silencius-Zauber stillgehalten, bis von mir verteilte kleine Piekser den Zauber aufgehoben und sie zum Schreien gebracht haben. Jedenfalls haben wir die zwei, die euch an den Hals wollten erledigt. Und wir bleiben noch bis zu eurer Abreise hier. Dann kommen auch keine anderen Biester von der Sorte mehr hier herein", sagte Eileithyia.
"Öhm, vom Personal hat das hoffentlich keiner mitbekommen, oder?" fragte Justine. Die Heilerin grinste und verwies auf die jungen Väter, die sich schön unauffällig im Hotel postiert hatten, um bei den ersten ungewohnten Geräuschen die Angestellten mit Gedächtniszaubern zu belegen.
"Vielleicht gönnt uns unser Boss noch ein paar Tage Urlaub mehr", sagte Justine. Jeff fragte sie, wozu sie den brauchte. Da sah sie ihn vieldeutig an. Eileithyia grinste und winkte den beiden, um sich ohne Abschiedsworte zurückzuziehen.
"Du hast doch mitbekommen, wie gut neues Leben das eigene Leben verlängern kann", säuselte Justine, als Eileithyia die Tür von außen geschlossen hatte. Jeff räusperte sich. Doch warum eigentlich nicht? Verheiratet waren sie ja, sowohl nach Zaubererwelt- als auch nach Muggelweltgesetzen.
Gooriaimiria verstand nicht, was passierte. Da war Dientemuertes, der gerade gegen Werwölfe kämpfte und ihnen haushoch überlegen war. Plötzlich waren seine Gedanken abgerissen. Sie hatte ihn nicht mehr gespürt. Sie hatte nur noch mitbekommen, wie seine Seele verwehte, ohne von ihr ergriffen und in ihren rein geistigen Verbund aus über achthundert entkörperter Vampire hineingezogen zu werden. Dann waren Lunaroja und ihr Mann Leonidas, die in den Staaten unterwegs waren, auf einen Schlag ausgelöscht worden. Von deren Seelen hatte sie gerade nur noch ein kurzes Flackern vernommen. Drei Kristallstaubkrieger innerhalb weniger Stunden ausgelöscht, ohne dass sie mitbekommen hatte, was ihnen den Garaus gemacht hatte. Das war ihr unheimlich. Sie hatte fest daran geglaubt, dass der Unlichtkristallstaub unbesiegbare Krieger schaffen konnte. Was genau hatte sie übersehen? Solange sie das nicht wusste durften die Kristallstaubkrieger nicht mehr eingesetzt werden. Denn ihr war klar, dass ihre Feinde, die Werwölfe und die Zauberer und Hexen, das sehr genau wussten und jetzt immer und überall gegen ihre Krieger verwenden würden. Wenn sie herausfand, was genau das war, konnte sie klären, ob ihre Krieger noch zu gebrauchen waren, oder ob sie doch lieber die empfindlicheren, nur mit der Solexfolie gegen Sonnenlicht abgeschirmten Untertanen einsetzen sollte. Immerhin hatte sie Vengor einen Helfer entrissen. Lunaroja und Leonidas hatten ihm mit dem Kristallstaub durchsetzten Blut auch seine Seele aus dem Leib gesaugt und ihr überlassen. Daher wusste sie nun, dass niemand von Vengors gehilfen seinen Herrn und Meister beim richtigen Namen kannte. Doch wenn sie in ihrem kleinen, dunklen, übermächtigen Exil mitbekam, wo die gerade waren, würde sie bald wohl einen Großangriff auf sie starten, wenn sie eben wusste, was ihren Kristallstaubkriegern widerfahren war.
"Nyctodora, unsere großen Krieger versagen, ohne dass ich von ihnen erfahre, warum", schickte sie eine Gedankenbotschaft an ihre Hohepriesterin, die gerade wieder unterwegs nach Athen war, um ihre offiziellen Geschäfte weiterzuführen.
"Dann dürfen wir sie nicht mehr einsetzen?" fragte Nyctodora.
"Nicht solange ich nicht weiß, was ihnen derartig gründlich den Garaus macht, Nyctodora", erwiderte Gooriaimiria in Gedanken.
"Verstanden, große Mutter der Nacht", erwiderte Nyctodora.
"Er hat Berufung über einen Rechtsanwalt gegen die provisorische Sperrung eingelegt", sagte Belle Grandchapeau zu ihrer Mutter, als sie diese in ihrem Büro traf. "Und die Nonnen von Marie de Incarnation haben jetzt offiziell eine Anklage wegen fortgesetzter Misshandlung Schutzbefohlener in noch zu ermittelnden Fällen und Körperverletzung durch Verabreichung pharmakologischer Substanzen ohne ärztliche Anweisung und Kenntnis der Betroffenen in einer ebenfallls noch zu ermittelnden Anzahl von Fällen zu erwarten", fügte sie hinzu. Ihre Mutter, die im Juni lange Zeit nach ihr das zweite Kind bekommen würde nickte bestätigend.
"Ich habe mit dem spanischen Kollegen aus dem Büro für Muggelweltkontakte korrespondiert, Madame Grandchapeau. Bis zur Stunde ist keine wie auch immer geartete Reaktion seitens Mademoiselle Blériots erfolgt. Das beunruhigt mich mehr als eine Mitteilung, dass die spanischen Kollegen jede Stunde einen Heuler von ihr entgegennehmen müssen. Immerhin wird sie davon ausgehen, dass die Angelegenheit vordringlich gegen sie abzielt."
"Ich habe sie in Beauxbatons nicht miterleben dürfen oder müssen, Madame Grandchapeau", setzte Belle an. "Nur wie ich Fleur damals noch Delacour und ihre zwei Jahre ältere Cousine Daphne Désirée miterlebt habe sind Veelaabkömmlinge weiblichen Geschlechtes sehr von sich und ihrer Präsenz und Willenskraft überzeugt und beharren auf die Erreichbarkeit ihrer Ziele. So stehen also die Fragen im Raum, ob es Mademoiselle Blériots vordringliches Ziel war, Gattin eines in der Öffentlichkeit stehenden, erfolgreichen Berufssportlers zu sein oder ob es ihr vordringlich nur um die Sicherung eines in jeder Hinsicht potenten Lebensgefährten ging. Falls zweites der Fall ist, so war dieses von ihrer Seite aus erfolgreich und kann nicht mehr ohne körperlich-seelische Gefährdung ihres Auserwählten zurückgenommen werden. Falls sie jedoch Wert auf den Status einer überragend attraktiven wie intelligenten Partnerin eines künftigen Erfolgssportlers abzielte, so haben wir ihr diese Aussicht massiv und wohl unumkehrbar verdorben. Dann müssten wir ihr bisheriges Stillhalten eher als Warnzeichen deuten, als als Anerkennung unseres Erfolges."
"Zur Kenntnis genommen", grummelte Nathalie Grandchapeau. Dann sagte sie noch: "Womöglich arbeitet sie an einer neuen Strategie, die Frau an der Seite eines öffentlich bekannten Mannes zu sein, falls ihr das wirklich so wichtig sein sollte. Ich persönlich teile aber eher die Auffassung, dass es Mademoiselle Blériot um die in Aron Lundi entfalteten Begabungen geht, die sie gerne an ihre eigenen Nachkommen weitergeben möchte. Da wir ja einvernehmlich mit Mademoiselle Ventvit und Monsieur Vendredi festgelegt haben, Monsieur Latierre trotz seiner amtlichen Zuständigkeit außen vor zu lassen, können wir ihn in dieser Angelegenheit nicht um seine Einschätzung bitten."
"Ich möchte Ihre Intelligenz nicht beleidigen, Sie darauf hinzuweisen, dass die Vorgehensweise in der magielosen Medienwelt bereits umfassnd behandelt wurde und Monsieur Latierre über die ihm zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel längst Kenntnis darüber erhalten haben wird", sagte Belle, womit sie eigentlich genau das getan hatte, was sie nicht zu tun beteuert hatte.
"Natürlich wird Monsieur Latierre über die Medien der magielosen Welt Kenntnis über die Auswirkungen unserer Vorgehensweise erhalten beziehungsweise erhalten haben. Doch solange Mademoiselle Blériot nicht auf die Idee verfällt, ihn als Vermittler zwischen ihr und den Zaubereiministerien Spaniens und Frankreichs anzurufen kann und wird er in dieser Sache nicht tätig werden."
"Wobei ich einmal mehr die Frage stellen möchte, wieso es Ihnen und Mademoiselle Ventvit so wichtig ist, ihn aus dieser Angelegenheit herauszuhalten", wagte Belle eine indirekte Kritik an der Entscheidung ihrer Mutter und Vorgesetzten.
"Weil die Angelegenheit mit dieser Riese-Waldfrauen-Hybridin klargestellt hat, dass er im Zweifelsfall einer anderen moralischen Ausrichtung folgt als die von amtlich notwendigen Maßnahmen", sagte Nathalie Grandchapeau mit unüberhörbarer Kälte in der Stimme. "Er würde also im Falle, wo rigorose, aber alternativlose Maßnahmen anstehen eher seinem Gewissen folgen und auf die Durchführung dieser Maßnahmen verzichten."
"Nun, wie Sie wissen, Madame Grandchapeau, erhielt ich von ihm Unterricht in vorzeitlichen Zaubern, die vor allem den Schutz und die Unversehrtheit denkender Wesen bewirken. Er erwähnte uns, die er ins Vertrauen zog, gegenüber, dass die Macht über diese Zauber in dem Moment erlösche, wenn einer, der sie erlernt habe bewusst ein denkfähiges Wesen, schlimmstenfalls einen Artgenossen, tötet. Wenn er diese Hybridin nur mit einem dieser Zauber abzuwehren vermochte, so war er in diesem Moment ihr gegenüber verpflichtet, ihr Leben zu schützen. Aber das kann ich Monsieur Vendredi gegenüber nicht erwähnen, weil ich wie alle anderen verpflichtet bin, unsere besonderen Unterrichtseinheiten nichtverwandten gegenüber unerwähnt zu lassen." Nathalie nickte.
"Ja, und genau deshalb können wir Monsieur Latierre nicht in diese Angelegenheit einbeziehen, da die Möglichkeit eines gewaltsamen Konfliktes mit Mademoiselle Blériot bestanden hat oder immer noch besteht. Sollten wir mit unserer Erfahrung die unangenehme Erkenntnis erlangen, dass Euphrosyne Blériot zu einer tödlichen Gefahr für die magischen und nichtmagischen Mitmenschen wird, so sind wir von unserem Amtseid her verpflichtet, sie einzuschränken, was eigentlich auch die nur im allerletzten Fall bestehende Option beinhaltet, sie zu töten." Belle sah ihre Mutter an. Diese trug neues Leben in sich und sprach davon, jemanden anderen im Ernstfall umzubringen. Das ließ sie innerlich erschauern. Ja, womöglich sagte ihre Mutter das gerade, weil sie Angst um die Unversehrtheit ihres Kindes, Belles Geschwisterchen, hatte. Das friedfertige und liebenswerte Mütter zu tödlich gefährlichen Kämpferinnen werden konnten, wenn sie Angst um ihre Kinder hatten wusste Belle, auch dass ihre Mutter nach den Monaten der Gefangenschaft auf der Elfenbeininsel empfindlicher reagierte, was mögliche Bedrohungen der Zaubererwelt anging spielte sicher mit hinein. Deshalb unterließ Belle es, noch eine wie auch immer aufzufassende Erwiderung zu äußern und nickte nur verhalten. Sie hoffte nur, dass ihre Mutter und die Kollegen aus der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe sich keine neue Todfeindin herangezüchtet hatten.
"Wie lange willst du mich noch hier so quälen, du Furie?" wimmerte Juanita Castilla Casapiedras Stimme. Ihr Körper war auf ein Zehntel der üblichen Größe eingeschrumpft und steckte in einer Masse aus rotem Ton. Nur für ihre Körperöffnungen waren Löcher freigelassen worden. Ansonsten ähnelte sie einer vorzeitlichen Figurine, wie sie in der Steinzeit Fruchtbarkeit und Mutterschaft symbolisiert hatte. Gerade eben tropfte wieder ein dicker, roter Tropfen auf ihren Kopf und wurde von der rötlichen Umhüllung wie ein Schwamm verschluckt. Über ihr stand, aus einer feinen, silbrigen Pipette die roten Tropfen vergießend, eine dunkelblonde Frau mit blassgoldener Hautfarbe und grünblauen Augen.
"Genieße es. Nicht jeder hat den Vorzug, als Botin der roten Erde zu helfen. So wie du jetzt bist kannst du über tausend Jahre alt werden", sagte die normalgroße Frau, Anthelia/Naaneavargia. Wieder ließ sie einen Tropfen ihres eigenen Monatsblutes, dass sie in einem die Gerinnung unterbindenden Gefäß für Hexereien wie gerade eben aufbewahrte auf den Kopf der in damit vorbehandelten Ton eingeschlossenen tropfen, womit sie eine direkte Verbindung zu ihrem Blut und damit zu den Sinnen einer anderen herstellte. Für Anthelia war diese Prozedur eine heimliche Erkundung fremder Sinne. Für Juanita war es eine qualvolle Folter, weil jeder auf ihre Umhüllung treffende Blutstropfen sich förmlich in sie selbst hineinfraß, um die gewünschte Verbindung herzustellen. Anthelia hatte jedoch sichergestellt, dass die Gegenstelle dieser magischen Verbindung nichts davon spürte, solange sie, Anthelia, dies nicht ausdrücklich wollte.
"Du bist und bleibst eine größenwahnsinnige, gemeine Hexenschlampe", schrie die Eingeschrumpfte.
"Oja, Kleine, in jeder Hinsicht", schnurrte Anthelia. Eigentlich wollte sie keinen unbescholtenen Menschen derartig leiden lassen. Doch zum einen hatte sie erfahren, das es unter anderemJuanita war, die ihr Blut für das magisch aufgeladene Lambda-Symbol hergegeben hatte, dass Juanita in den vergangenen Monaten viele arglose Menschen mit dem Werwutkeim angesteckt hatte und das alles, um nicht als Spionin dieser ominösen und vor den Feinden geflüchteten Lunera enttarnt zu werden. Jetzt war sie wieder eine Spionin, aber unfreiwillig. Anthelia hatte nicht gedacht, dass die Kontrolle über Juanita ihr zwei miterlebte Liebesnächte bescheren würde, die auch ihrem eigenen Drang nach körperlicher Wonne eine gewisse Befriedigung verschafft hatten. Sie fand es schade, dass Paulinas halbwüchsiger Gespiele nun in seine Heimatstadt zurückgeschickt werden sollte. Sie hätte noch gerne erlebt, ob Paulina ihn noch einmal mit sich vereinigte. Doch im Moment ging es auch darum, dass sie erfuhr, was die wortwörtlich wieder aufgetauchten Mondgeschwister so vorhatten. Es war schon amüsant, dass die Anführerin sich von einem von ihr selbst zum Werwolf gemachten Muggel hatte schwängern lassen. Das war doch mal was neues. Doch welchen Aktionsplan hatte sie ausgearbeitet. Anthelia wollte das auf jeden Fall noch herausfinden. Vielleicht würde sie Juanita dann sogar freigeben, damit diese berichtete, wie es ihr ergangen war.
Was sie ebenfalls sehr interessierte war, dass die Werwölfe offenbar eine Fehde mit jener im Untergrund wirkenden Gruppierung vom Zaun gebrochen hatten, die befand, dass fruchtbare Hexen mehr magische Kinder auf die Welt zu bringen hatten und dies mit Tränken und anderen Mitteln herbeizuführen trachteten, wo und wie es ihnen immer gestattet wurde. Wenn diese Untergrundgruppe ein alle Lykanthropen tötendes Mittel ersann, dann musste sie das wissen. Am Ende versuchten die auch noch, eindeutige Mitschwestern von ihr auf diese Weise abzutöten, wenn sie sie nicht dazu trieben, den Zaubereischulen dieser Welt neue Schüler zu verschaffen. Das war der Punkt, an dem für Anthelia das amüsante an dieser Gruppe aufhörte. Hexen zu Muttersäuen und jedes jahr kalbenden Kühen abzuwerten war ihr ein Graus. Das würde sie denen, die so handelten nicht auf Dauer durchgehen lassen.
Donny hatte sich irgendwie an sein neues Spiegelbild und die hauteng an sein Gesicht geheftete Maske gewöhnt, die sich unheimlich körperwarm und wie echte Haut anfühlte. Auch die ihm über die Hände und Arme gezogenen Handschuhe hatte er schnell als notwendiges, gut zu ertragendes Übel hingenommen. Im Moment sah er nicht wie ein irischstämmiger Bursche aus, sondern besaß dunkelblondes Haar. Fino hatte ihm mehrere Ausweispapiere zurechtgemacht, die ihn als Logan Billings auswiesen. Als solcher war er in die Nähe des Hauses zurückgekehrt, an dem das blutrote Lambda aufgemalt worden war. Er konnte es sogar jetzt körperlich fühlen, wo dieses magische Zeichen aufgebracht worden war. Wenn er ihm noch näher kam würde es seine Anwesenheit weitermelden, wusste er. Doch bevor er herausfand, wer dann reagierte wollte er noch was wichtiges klären.
Donny fuhr mit einem der vielen gelben Taxis in die Nähe seines Elternhauses. Einerseits hatte er den Auftrag, zu prüfen, wie auf sein Verschwinden reagiert worden war. Andererseits lag ihm auch was daran, zu erfahren, ob seine Eltern unbehelligt blieben, nachdem das Zaubereiministerium ihnen eingeimpft hatte, er sei in einem exklusiven Krankenhaus behandelt und von ihnen mehrmals besucht worden.
"Yo, Burschi, das sind mal eben dreißig Kröten", grummelte der dunkelhäutige Taxifahrer, als Donny alias Logan einenBlock vor seinemElternhaus aussteigen wollte. "Kein Thema, Mister", sagte Donny, der sich nicht anmerken lassen wollte, wie befremdlich ihn die durch die Maske veränderte Stimme klang. Außerdem musste er den Akzent der aufgeblasenen Typen von der Wallstraße imitieren, um nicht als irischstämmig aufzufallen. Er zahlte die geforderte Summe und sprang aus dem Taxi. Der Fahrer wartete noch auf das grüne Licht, bevor er mit einem kräftigen Tritt auf das Gaspedal in den fließenden Autoverkehr zurücksprang.
Donny ging auf das Haus zu, in dem er groß geworden war. Ein ungutes Gefühl regte sich in seinem Magen. Als er noch näher an das Haus herankam lauschte er. Durch die Verwandlung waren seine Ohren in Menschengestalt viermal und in Wolfsgestalt achtmal so gut wie sonst. Wo blieb die übliche Swingmusik, die sein Vater immer gerne hörte? War seine Mutter vielleicht gerade einkaufen? Er schlich noch näher und lauschte weiter. Dann sah er es. An der Tür klebte genau auf Höhe des Schlosses ein amtliches Siegel der New Yorker Polizeibehörde. Donny alias Logan schrak zusammen. Dann hörte er das leise Summen von einer der nahebei stehenden Laternen her. Er blickte sich um und meinte, eine winzige Kamera unterhalb der Laterne zu erkennen, die wohl gerade auf ihn einschwenkte. Hatte er einen Bewegungsmelder ausgelöst? Egal! Seine dunkelgraue Hose war mit Finos besonderem Zauber durchwirkt, der eine Antikamera-Aura um ihn flimmern ließ, die mit natürlichen Augen nicht gesehen werden konnte. Jedenfalls würde die Kamera jetzt nur eine leere Einfahrt einfangen.
Donny hastete um das Haus herum. Auch an der Veranda- und der Hintertür klebte ein Siegel des NYPD. Wenn die Cops das Haus seiner Eltern versiegelt hatten war was passiert. Er wollte und musste wissen, was. Er wünschte sich jetzt, genauso teleportieren zu können wie die Zauberstabschwinger. Doch was, wenn diese Kerle und Schlampen in das Haus einen Teleportationsabwehrschirm eingebaut hatten? Dann kam ihm die Idee, die Nachbarn zu fragen. Von einer Nachbarin wusste er, dass sie immer und gerne ausplauderte, was in der Gegend passierte. Er wollte sich als junger Reporter von USA Heute ausgeben. Wenn hier was mit seinen Eltern passiert war, dann passte das wohl eher in dieses Schmierblatt rein als in die renommierte Times. er wollte gerade in Richtung des angepeilten Hauses abrücken, als er es fühlte. Das Bauchgrimmen eben war nicht von ungefähr gekommen. In dem Haus wirkte die selbe Zauberei, wie sie in dem Lambda-Zeichen enthalten gewesen war. Es war irgendwie eine düstere, lauernde Kraft, nicht eine, die eine Verbindung mit ihm suchte. Dennoch wollte er wissen, wo genau sie herkam. Er umschritt das Haus in immer engeren Spiralen, wobei er weitere winzige Videokameras kitzelte, ohne dass die ihn aufnehmen konnten. Dann wusste er, wo die lauernde Kraft herkam, aus dem Schlafzimmer seiner Eltern.
Donny sah nach oben. Das Fenster zum Schlafzimmer lag im obergeschoss. Donny trat näher an das Haus heran. Da hörte er das leise ploppen innerhalb des Hauses und hörte ein leises Grummeln. Donny war klar, dass gerade jemand im Haus materialisiert war und dabei die vorhandene Luft verdrängt hatte. Donny musste wissen, wer das war. Also ging er näher an das Haus heran. Die Fenster waren von außen nicht versiegelt. Vielleicht hatten die Freunde und Helfer die von innen verklebt. Egal! Er wollte jetzt da rein. Doch ein Superspringer war er nie gewesen. Blieb nur eine Leiter.
"Nur, wenn du sie brauchst", hatte Fino gesagt, als er ihm die auf Streichholzschachtelgröße geschrumpfte Ausziehleiter in die Hand gedrückt hatte. Er zog sie aus seiner linken Hosentasche und stellte sie an die Wand. "Ausfahren!" flüsterte er so leise er konnte. Sofort wuchs die Leiter erst auf Mannsgröße an, bevor sie sich wie eine Feuerwehrleiter immer weiter auseinanderzog und mit dem oberen Ende an der Fensterbank anhielt. Keine Sekunde später hatte Donny auch schon die erste Sprosse erklommen und hetzte wie eben ein Feuerwehrmann im Einsatz hinauf zum Fenster. Er würde es wohl einschlagen, was laut war und wohl Aufmerksamkeit erregte. Doch jemand kam ihm zuvor.
Mit wucht wurde das Schlafzimmerfenster von innen aufgerissen. Donny ließ sich sofort drei Sprossen weiter nach unten fallen. Gerade noch rechtzeitig. Denn ein schwungvoll geworfenes Netz vfiel über ihm herunter. Es hing an zwei starken Seilen. Er nahm die Füße von den Sprossenund ließ sich an den Holmen der Leiter nach unten rutschen, wobei er fast meinte, sich die besonderen Handschuhe bei den Übergängen der einzelnen Segmente der Leiter aufzureißen. Das Netz verfing sich am oberen Ende der Leiter und ruckelte daran. Donny ließ los und ließ sich den letzten Meter bis zum Boden fallen. Dann flüsterte er: "Einfahren!" Die Leiter gehorchte und schnurrte innerhalb von zwei Sekunden auf Mannshöhe zusammen, bevor sie innerhalb einer Sekunde auf Streichholzschachtelgröße einschrumpfte. Das Netzbaumelte nun vom Obergeschoss herunter. Donny schnappte sich die verkleinerte Leiter, packte sie fort und sah, wie jemand in der Fensteröffnung auftauchte. Es war Aureus, der Gouverneur von Nordamerika in Diensten Lykotopias.
Detective Lieutenant Graham Duffy vom Polizeiabschnitt Hell's Kitchen saß gerade bei Dr. Maureen Branigan, der Psychologin im Sprechzimmer. Die Ereignisse der letzten beiden Tage hatten selbst dem altgedienten Polizeioffizier sichtlich zugesetzt. Er hatte immer geglaubt, alles böse und grausame unter New Yorks Sonne gesehen zu haben, von wilden Schießereien bis zu zerstückelten Leichen. Doch die Szene im Haus der Clarksons hatte ihm doch zugesetzt. Die Eheleute waren von einem oder mehreren unbekannten bestialisch ermordet worden, wobei es den Tätern wohl eine perverse Freude gewesen war, den Opfern die inneren und äußeren Geschlechtsorgane zu entfernen und sie elendiglich verbluten zu lassen. Die Täter hatten an der Wand im Schlafzimmer jenes obskure Zeichen hinterlassen, das bereits vor zwölf Tagen für Aufruhr gesorgt hatte. Der Anblick der grausam hingeschlachteten Eheleute hatte ihn in seinen Träumen verfolgt. Deshalb hatte sein Vorgesetzter, Captain Moretti, ein Gespräch mit der Polizeipsychologin vereinbart. Vielleicht konnte die ihm sagen, was diese brutale Tat zu bedeuten hatte.
Gerade sagte Dr. Branigan irgendwas von wegen möglicher Rache gegen ein Kind der Opfer, als ihr Telefon trällerte. "Ich bin gerade im Gespräch mit ihm", sagte sie nach ihrer Meldung. "Wie? Dann haben sie doch die Aufzeichnungen. ... Haben Sie nicht. Warum lösen die dann aus? ... Ist jetzt irgendwie ungünstig, da ich mit ihm ... Gut, wie Sie meinen, Captain!" Sie legte das schnurlose Telefon wieder fort und sagte: "Der Captain will, dass sie zusammen mit ihm und einem Eingreiftrupp zum Haus der Clarksons hinfahren, weil dort die Kameras ausgelöst wurden, aber angeblich keine Aufzeichnung von dem gemacht haben, der sie ausgelöst hat. Er möchte das überprüfen."
"Vielleicht doch eine Art Ritualgangster", stöhnte Duffy.
"Ich werde Sie begleiten, Lieutenant", entschied Dr. Branigan. Dagegen hatte der Lieutenant nichts.
Bis fünf Blocks vor dem Haus jagten die Polizeiwagen mit Rotlicht und Sirenengeheul dahin. Dann beließen sie es nur beim Rotlicht. Als sie in die Nähe des Hauses kamen konnten sie nur mit weit aufgerissenen Augen und Mündern zusehen.
"Ah, haben Sie dir eine Maske aufgesetzt oder dich gleich komplett verwandelt, du Bettwanze. Hast mir alle Schneidezähne aus dem Maul gedroschen, du Bastard", schnaubte Aureus. "Neh, versuch's erst gar nicht, wegzulaufen. Ich habe schon Verstärkung gerufen. Der König selbst will dich verhören. Und ich darf die Instrumente führen."
"Oh, hast deine Beißerchen aber alle wiedergekriegt, wie?" fragte Donny, der gerade mehr Mut als Verzweiflung verspürte. Denn er wollte wissen, was mit seinen Eltern passiert war.
"Ja, die hat mir unsere süße Sugarpaw wieder nachwachsen lassen. Schon toll, eine ausgebildete Heilerin bei uns zu haben, nich' wahr?"
"Aber dein Gehirn hat sie nicht repariert, Aureus", erlaubte sich Donny eine Frechheit. Er dachte an die Pistole, die er zusammen mit Fino und dem, der sich Turboimpulso nannte ausgeheckt hatte. Dann würde Goldbart gleich eine heftige Überraschung erleben. Dann hörte er es ploppen und rauschen. Er blickte sich hektisch um. Aus blauen Leuchtspiralen und unmittelbar aus dem Nichts tauchten zwölf bullige Typen in kugelsicheren Anzügen auf. Die, die Zauberstäbe hatten zielten auf Donny. Die anderen zogen Pistolen verschiedener Größen, von einer Winzpistole für Damen bis zu wuchtigen Armeepistolen. Donny ging davon aus, dass die alle mit Silberkugeln geladen waren.
"Ihr lasst den ganz, bis seine Majestät ihn im Regierungspalast hat!" blaffte Aureus, der sich nun doch als Sieger auf ganzer Linie fühlen durfte. Donny dachte an den einen ihm bleibenden Trumpf. Aber vielleicht konnte er Goldbart da oben im Fenster doch noch einkassieren.
"Silencio!" rief einer der Zauberstabträger und stieß den Stab in Richtung Donny. Dieser wollte losschreien, das Auslösewort rufen. Doch kein Laut entrang sich seiner Kehle.
"Kassiert ihn ein und nehmt ihm alle Spielsachen ab, die ihm die zahnlose Hündin und ihre schwanzlosen Schoßhunde mitgegeben haben!" befahl Aureus. "Incarcerus!" rief ein anderer Zauberstabträger. Aus seinem Stab schossen Seile heraus, die sich blitzartig um Donnys Arme und Beine schlangen und ihn wie ein Paket verschnürten. Dann ließen die anderen ihre Waffen wieder in den Taschen verschwinden.
"Packsnout, zieh alles ein, was er am Körper hat!" befahl Aureus. Das ringsum die Kameras an den Laternen surrten, weil immer wieder wer ihre Annäherungssensoren kitzelte schien Aureus nicht zu stören. Wieso auch. Die konnten und würden gleich allesamt wieder verschwinden, bevor die Polizei angeritten kam. Zwei Zauberer traten vor, um dem Gefangenen alles abzunehmen, was irgendwie magisch aufgeladen war. Aureus glotzte und feixte, dass Donny bald den Tag seiner Geburt genauso bereuen würde, wie seine Eltern es bereut hatten, ihn überhaupt gemacht zu haben. Donny versuchte ihm noch die Frage zuzurufen, was Aureus mit seinen Eltern gemacht hatte. Doch er konnte keinen einzigen Laut hervorbringen. Dann rief Aureus noch was, was Donny in eine Mischung aus Wut und Verzweiflung stürzte. Aureus hatte mit zwei Getreuen seine Eltern umgebracht und sich grausam an ihnen zu schaffen gemacht. Das alles betete ihm dieser Goldbart nun in allen Einzelheiten vor.
"Ach, eine antiphotographische Hose. Ist sicher von dem Dünnen, wie", feixte einer der beiden Zauberer, als er Donnys graue Hose mit einem Prüfzauber abtastete. Donny hingegen musste daran denken, dass seine Eltern seinetwegen grausam ermordet worden waren. Sie waren nicht einfach umgebracht worden, sondern bei lebendigem Leibe verstümmelt worden und hatten noch, bevor die Gnade des zu großen Blutverlustes sie vor weiteren Schrecken verschont hatte, mit ansehen müssen, was Aureus angestellt hatte. Wenn er das überlebte, würde er sich grausam an Aureus rächen.
"Wir müssen ihm die Beinfesseln abnnehmen, wenn wir die Hose in einem Stück haben wollen", schnaubte der zweite Zauberer.
"Bist du blöd, der kann diesen Muggelkampfsport", schnarrte der erste. "Dann eben so! Stupor!" rief der zweite mit auf Donny zielendem Zauberstab. Der leidenschaftliche Skateboarder sah gerade noch einen roten Blitz aufleuchten, bevor es um ihn stille Nacht wurde.
"Du stinkender Hundehaufen solltest ihn nicht schocken!" blaffte Aureus, als Donny reglos am Boden lag. "Dann hätte ich das selbst. Los macht den wieder wach!"
"Aber der hat eine bezauberte Hose an, die wir so nicht von ihm runterkriegen", rechtfertigte der, der den Schockzauber ausgeführt hatte.
"Dann macht den nackig und weckt ihn dann wieder auf. Der soll wach zum König. Außerdem habe ich dem noch nicht alles erzählt, was ich mit seinen Eltern und deren Teilen gemacht habe. Der soll wissen, dass sein Verrat das alles bewirkt hat."
"Wir ziehen dem alles aus und ..." weiter kam der Zauberer nicht, weil gerade in dem Moment ein roter Blitz aus dem Himmel auf ihn niedersauste und ihm die Besinnung raubte. Aureus starrte nach oben, wie alle anderen seiner Truppe.
"Schwestern, den Goldbart lebendig, die anderen nur schonen, wenn sie sich ergeben!" rief eine tiefe Frauenstimme.
"Zorra susia Te quemo tu ...!" brüllte Aureus, konnte seinen Satz aber nicht zu Ende sprechen, weil ein silberner Lichtfächer auf ihn zufauchte. Er konnte gerade noch ins Zimmer zurücktauchen, als der Zauber schon durch das Fenster jagte und das Zimmer in mondlichtfarbenes Licht tauchte. "Ui, mui rapido!" rief die Anführerin der in weiße Kapuzenumhänge gehüllten Fremden auf Besen zurück. Da flog aus dem Fenster ein grüner Feuerball. Da zog die Anführerin einen länglichen Gegenstand aus einer über ihrem Rücken hängenden Hülle hervor und stieß leise ein Wort aus, dass ihre Begleiter nicht erkannten. Jedenfalls loderten unvermittelt orangerote Flammen aus dem schwertartigen Gegenstand und zogen den Feuerball förmlich an sich. Die Flammen wuchsen für einen Lidschlag auf die fünffache Länge an und färbten sich dabei bläulich, bevor sie wieder auf ihre übliche Länge von knapp zwei Metern zusammenfielen. Mit dem Flammenschwert in der linken Hand zielte sie mit einem silbergrauen Zauberstab in der rechten Hand auf das Fenster. Aureus hatte jedoch nach seinem Feuerzauber die Flucht ergriffen und war disappariert. Doch die Hexe auf dem Besen hatte mitbekommen, wo er hin wollte. Deshalb war sie nicht wütend. Sie griff nun in den erbitterten Kampf ein, den ihre Begleiterinnen sich mit den Zauberern auf dem Boden lieferten. Die, die keinen Zauberstab benutzen konnten zogen ihre Pistolen. Doch mit einem einzigen Schwung ihres Zauberstabes ließ die Hexe in Rosarot alle Schusswaffen aus den Händen ihrer Träger fliegen und durch die Luft segeln. Gerade rief einer der am Boden kämpfenden "Avada ..." Da stieß ihn eine unsichtbare Macht so brutal zu Boden, dass er heftig mit dem Kopf aufschlug. Sein Zauberstab, gerade noch auf eine Hexe in Weiß zielend, entfiel dem Niedergestreckten. Gleichzeitig riefen die übrigen Hexen auf den Besen die eigentlich verbotenen Worte "Avada Kedavra!" Keine Sekunde darauf ließen die Zauberer unter den Helfern von Aureus ihr Leben.
"Sollen wir ihn da mitnehmen, höchste Schwester?" fragte eine der Hexen in Weiß und deutete auf den betäubten Donny.
"Nein, er soll zu seiner Gefährtin zurück und sich an ihren prallen Brüsten die Wut und Trauer aus dem Kopf weinen, bevor er sie wieder leidenschaftlich zu lieben vermag", erwiderte die Hexe in Rosarot. "Wir sind einem kapitalen Leitwolf auf den Pranken. Ich weiß, wo er hin ist. Dort fühlt er sich sicher, weil er und sein König viele Sperr- und Wehrzauber aufgebaut haben. Nun, sollen er und sein größenwahnsinniger Anführer heute noch lernen, dass diese Zauber nicht ewig halten!" schnaubte die Hexe in Rosarot. Sie hatte durchaus auf rein geistigem Wege mitgehört, was Aureus Donnys Eltern zugefügt hatte und dabei auch die Bilder in seinem Kopf gesehen. Wenn er den Jungen damit endgültig in geistige Umnachtung getrieben hatte, dass dieser kein so heißblütiger Liebhaber mehr war ... Sie horchte und empfing die sehr hektischen Gedanken von unerwünschten Zuschauern, die in dienstlichem Auftrag unterwegs waren, weil hier in den Bäumen und an den Laternen kleine Spionageaugen angebracht waren, die auf jede Annäherung reagierten.
"Ich bringe den Jungen fort. Fliegt weit genug weg, bevor die magieunfähigen Stadtwächter da unten noch wen vom Zaubereiministerium benachrichtigen", schnaubte die Anführerin der Hexentruppe. Dann ließ sie mit einem nur ihr bekanntem Zauberwort die Flammen an ihrem Schwert erlöschen und steckte dieses in seine Scheide zurück. Dann landete sie neben Donny und führte ihren Zauberstab über seinem Kopf. Mit wenigen leisen Worten fegte sie alle Erinnerungen der letzten Minuten aus seinem Gedächtnis hinfort, bevor sie noch mit demselben zauber neue Erinnerungen in sein Gehirn pflanzte. Demnach hatte Aureus ihm nicht erzählt, was mit seinen Eltern passiert war, sondern nur damit gedroht, ihn langsam und qualvoll zu foltern, damit er verriet, wo er jetzt herkam und wer ihm seine Verkleidung und seine magische Ausrüstung gegeben hatte. Sie achtete nicht darauf, dass gerade zwei Dutzend Polizisten auf das Haus zustürmten und dabei automatische Waffen in Anschlag brachten. Erst als die Eingreiftruppe der New Yorker Stadtpolizei fast in Schussweite war besann sie sich, zog das Schwert noch einmal blank und erweckte seine Flammen zum Leben. "Halte alles Feuer in Rufweite in Schlaf!" sprach sie in der Sprache des alten Reiches, die dem Meisterschmied und Erzfeuermagier Yanxothar so vertraut war wie ihr selbst.
Die Polizisten riefen, sie sollte stehenbleiben. "Oder sonst?" rief sie überlegen zurück. "Eure Feuerwaffen sind gerade von mir außer Kraft gesetzt worden. Ich will keinen von euch töten. Aber ich werde mich nicht von euch unfähigen gefangennehmen lassen!"
"Zugriff, rief einer der Polizisten, seinen Gedankenausstrahlungen nach ein Polizeikapitän und Revierleiter.
Aureus wusste, dass er gegen die Spinnenhexe keine Chance hatte. Sein Feuerball war nur ein Ablenkungsmanöver gewesen. Seine Leute würden ihm unfreiwillig den Rückzug decken. Er musste dem König Bericht erstatten.
Er apparierte in seinem Büro, dass nur er und der König selbst auf diese Weise betreten konnten. König Rabioso saß im Sessel des Gouverneurs und blickte erwartungsvoll auf den Punkt, an dem sein Vasall gerade erschien. Aureus verbeugte sich schnell. Auch wenn er selbst ein Zauberer war, so hatte der König ihn und alle anderen hochrangigen Getreuen durch den unbrechbaren Eid dazu verdingt, ihm nichts anzutun und immer höchste Demut zu zollen.
"Du wolltest dieses Muggelbürschchen mitbringen, was Juanita und Paulina in unsere Reihen hineingebissen haben, Aureus! Wo ist er?" fragte Rabioso.
"Die Spinne, die schwarze Spinne ist uns dazwischengekommen, O großer König", wimmerte Aureus. "Ich konnte noch sehen, wie die einen Feuerballzauber von mir gekontert hat. Deshalb musste ich flüchten."
"Du musstest was?!!" stieß Rabioso aus. "Warum hast du dieses Miststück nicht mit dem Todesfluch angegriffen! Und wieso hast du eigentlich so lange gebraucht, dass diese Schlampen in aller Ruhe zu dir hinfliegen konnten?!"
"Ich brauchte Zeit. Der Bursche musste schließlich verpackt werden und ..."
"Du stinkst nach Lüge, du goldhaariger Volltrottel!" blaffte Rabioso. "Los, erzähl! Was hat da so lange gedauert?!"
Aureus versuchte, dem Befehl zu widerstehen. Doch er glaubte, sein Herz würde sofort aussetzen, wenn er dem König die Wahrheit verschwieg. Der unbrechbare Eid zwang ihn, aufrichtig und vollständig zu berichten.
"Was hast du dir dabei gedacht, dem Bengel vor seinem Abtransport auf die Nase zu binden, was wir zwei mit seinen in den tiefsten Schwefelkessel zu verdammenden Eltern gemacht haben? Du solltest den nur kassieren und herbringen, damit wir ihn hier verhören, du Weihnachtswichtel."
"Ich wollte ihn von jeder Hoffnung abbringen, noch gerettet zu werden", sagte Aureus und fühlte unvermittelt einen Krampf in der Brust. Er keuchte. Aus seinem Gesicht wich alles Blut. Seine Lippen verfärbten sich zu einem ungesunden Blau.
"Lügen töten, Aureus. Also sag mir die Wahrheit! Was hast du dir dabei gedacht?!" brüllte Rabioso.
Aureus bekam wieder Luft. Sein Herzschlag normalisierte sich wieder. Dann erzählte der Gouverneur ihm alles, dass er es genossen hatte, den Jungen zu quälen, der ihn, einen Zauberer, mit einem simplen Muggeltrick überrumpelt hatte.
"Wie gesagt, du Auswurf einer stinkenden Ziege, hättest du das dem auch hier auf die Nase binden können, um ihn in diese Stimmung zu bringen. Du wolltest deinen Triumph auskosten, dich ohne meine Erlaubnis daran weiden, wie der Junge, der es geschafft hat, dich niederzuschlagen, unter dem Tod seiner verwünschten Erzeuger leidet. Dir ging es nicht um unsere Sache, sondern um deine Genugtuung. Dafür müsste ich dich an und für sich in eine Wanne mit pulverisiertem Mondsteinsilber setzen. Aber ich brauche dich noch hier. Wenn die Hexenschlampen diesen Bengel jetzt haben werden die rauskriegen, wo er herkommt. Vielleicht nehmen sie uns dann die Sache mit der zahnlosen Hündin ab, wenn ich die Forderungen Lykotopias verkünde. Aber glaube nicht, dass dein Versagen ungestraft bleibt, Aureus. Dafür wirst du mir einen hohen Tribut zollen."
"Ich bin Euer treuer Diener, König Rabioso", beteuerte Aureus.
"Bis in den Tod", schnaubte Rabioso.
"Wie habt ihr in der Sache mit diesem so genannten hohen Rat des Lebens befunden?" fragte Aureus, froh, ein anderes Thema anschneiden zu dürfen.
"Wenn es wirklich einen Fluch oder ein Mittel gäbe, alle Träger unserer erhabenen Daseinsform auf einmal oder zielgerichtet zu töten, dann hätten es alle Feinde, die wir in den letzten Jahrhunderten hatten schon längst benutzt. Aber ich sehe durchaus, dass diese Babymasken für ihre Frechheit bezahlen müssen. Ich weiß, dass es eine Gruppe gibt, die meint, möglichst schnell möglichst viele neue Zaubererweltbürger entstehen zu lassen. Die flößen bei Festen oder anderen Gelegenheiten Hexen und Zauberern irgendwelche Scharfmachertränke ein, damit die es miteinander treiben. In dem zeug ist dann wohl noch was drin, was Hexen leichter schwanger macht und dann am besten gleich mit zwei oder drei Braten auf einen Schub. Klar, dass diese Spinner meinen, wir würden denen die Tour versauen. Die haben uns angepiekst. Wenn wir einen von denen zu fassen kriegen machen wir die ganze Bande platt. Wenn die Krieg wollen, sollen die Krieg kriegen", sagte Rabioso wildentschlossen.
"Jawohl, mein König", erwiderte Aureus darauf.
Lieutenant Duffy und Dr. Branigan hatten sich den unheimlichen Kampf zwischen Menschen auf fliegenden Besen und Leuten mit Zauberstäben am Boden aus sicherer Entfernung angesehen. Als dann bis auf die in Rosarot gekleidete Frau alle tot oder davongeflogen waren befahl der Captain über Funk den Zugriff.
"Das erleben wir doch wirklich. Das ist doch keine Einbildung, oder?" fragte Duffy die Psychologin. Diese sah nur nach vorne. Ihr ganzes Weltbild war gerade mit Wucht in Stücke zerschlagen worden. Hatte sie mit vier Jahren noch Angst vor bösen Hexen auf fliegenden Besen gehabt, war sie mit fünf Jahren davon überzeugt worden, dass es die nicht gab. In der Schule hatte sie gelernt, dass fliegende Besen, überhaupt Zauberei und Hexenspuk wissenschaftlich unmöglich waren. In ihrem Studium hatte sie gelernt, dass Glaube und Furcht vor etwas unfassbarem schlimme Auswirkungen auf die Psyche haben konnten. Deshalb gab es Märchen, Legenden und triviale Horrorgeschichten über Geister, Hexen und Dämonen. Und jetzt hatte sie genau solche Ausgeburten uralter Angstvorstellungen leibhaftig zu sehen bekommen. War sie nur mitgefahren, um Duffy beizustehen, wenn er an den Ort seines schweren Traumas zurückkehrte, hatte sie gerade selbst ein Trauma hinnehmen müssen, über das sie wohl nicht mehr hinwegkam.
"Die wird mit denen aufräumen wie mit den anderen", dachte Duffy, der sah, wie die einzelne Hexe seelenruhig über dem am Boden liegenden Jungen stand und ihren silbergrauen Zauberstab über seinem Kopf auspendeln ließ. Dann gewahrte sie wohl seine auf sie zulaufenden Kollegen. Sie zog jenes Schwert, mit dem sie eben noch einen Feuerball aufgespießt hatte. Wieder flammte es auf. Dann rannten die von Captain Moretti geführten Kollegen aus verschiedenen Richtungen auf sie zu. Doch sie blieb ruhig stehen. Dann wirbelte sie mit dem brennenden Schwert einmal im Kreis. Die Flammen an der Klinge färbten sich blutrot und pulsierten wie ein schlagendes Herz. Die Kollegen versuchten zu schießen. Doch irgendwie funktionierten die Waffen nicht. Dann wurden sie von irgendwas gebremst und begannen zu zittern. Sie fielen zu boden und blieben liegen. Die Frau in Rosa ließ die Flammen ihres Schwertes nach zehn Sekunden wieder erlöschen. Dann trat sie mit dem Zauberstab - ein anderes Wort konnte es dafür nicht geben - auf jeden einzelnen zu und berührte ihn am behelmten Kopf. Als sie damit fertig war wirbelte sie auf der Stelle herum und war fort. Es knallte laut wie ein Schuss oder eine Fehlzündung. Mit einem lauten Schrei zeigte Dr. Branigan, dass sie die Fremde rechts von sich außerhalb des gepanzerten Einsatzfahrzeuges erkannt hatte. Da schwand ihr die Besinnung. Duffy griff an sein Holster. Doch man hatte seine Dienstwaffe einbehalten, bis die Psychologin ihn wieder für dienstfähig erklärt hatte. "Finaler Rettungsschuss, äußerste Gefahr, Leute!" rief Duffy den beiden vorne sitzenden Kollegen zu. Diese hatten bereits ihre Waffen freigezogen. Doch durch die gepanzerten Scheiben konnten sie nicht schießen. Einer stieß die Tür auf ... und wurde im nächsten Moment von dieser in den Wagen zurückgestoßen.
"Macht es mir bloß nicht schwer, Büttel!" rief die Hexe von draußen. Dann zielte sie auf den Polizisten auf den Fahrersitz und machte, dass er wohl besinnungslos wurde wie Dr. Branigan. Duffy und der Kollege auf dem Fahrersitz stießen ihre Türen auf und wollten hinausspringen, als mit lautem Knall die Hexe auf ihrer Seite aus dem Nichts auftauchte. Unvermittelt wurden Duffy und sein Kollege, Sergeant Matthews in den Wagen zurückgeworfen. "Ich habe euch gesagt, ihr sollt es mir nicht schwer machen, zum gefräßigen Purpurpanzer noch mal! Ich will euch keinen Schaden zufügen, sondern euch nur davon erleichtern, was ihr gesehen habt, damit ihr damit nicht euer ganzes Leben schwanger gehen müsst wie die Mutter von Ashtargayyan."
"Im Namen der Bürger von New York, Sie sind verhaftet", rief Matthews mit dem Mut der Verzweiflung und griff zu seinen Handschellen. Doch diese wurden plötzlich lebendig und umschlossen seine eigenen Handgelenke. "Wenigstens eine brauchbare Übung für meine Kräfte", lachte die Hexe, bevor sie auf Duffy zielte. Was dann passierte bekam er schon nicht mehr mit.
Als er wieder klar war sah er seine Kollegen auf der Straße liegen. Vor ihnen lagen mehrere Glasscherben. Dann fiel es ihm ein, dass sie in eine Falle geraten waren. Straßengangster hatten mit den Bewegungsimpulsen nachempfundenen Geräten die Kameras ausgelöst um zu sehen, wo die waren und sie dann geklaut. Die Sondertruppe war wie die blutigsten Anfänger in eine Falle hineingeraten. Alle waren mit einem Gas betäubt worden.
"Soviel zu unserer wundervollen neuen Überwachungstechnologie", meinte Captain Moretti. "Die haben unsere Kameras und knacken vielleicht gerade deren Übertragungsprotokolle. Am Ende schleusen die so noch irgendwelche Viren bei uns ein. Ich sage sofort durch, dass die Kanäle für diese Kameras stillgelegt werden müssen."
"Das Haus?" fragte Duffy.
"Wird neu untersucht", sagte Moretti.
"Mal interessant, Ihnen bei einem Einsatz über die Schultern sehen zu dürfen", lächelte die Psychologin. Duffy meinte, dass das im Vergleich zu dem Mord an dem Ehepaar Clarkson eher wie ein dummer Jungenstreich wirkte.
"Dann fahren wir besser wieder zurück und besprechen, wie wir weiter mit Ihren Erlebnissen umgehen können", sagte Dr. Branigan.
"AmBesten kehrst du gleich wieder dahin zurück, wo du herkamst, Donovan Clarkson", sagte die überragend schöne Frau im rosaroten Umhang. Donny starrte sie an und vermeinte, dass ihre Aufmachung nicht alles verbergen konnte, was sie zu bieten hatte. Da sagte sie: "Du weißt, an wessen warmem Leib du dich ergötzen kannst, Jüngling. Ich habe nur dafür gesorgt, dass du nicht von diesem Fehlgeleiteten verschleppt und gefoltert werden konntest."
"Ja, Streckbank, Brandeisen, Elektroden an den Klunkern", stieß Donny aus. "Aber wer zum Teufel sind Sie?"
"Bestelle dieser Mondführerin schöne Grüße von der schwarzen Spinne. Sie kennt mich und weiß, dass ich genau überwache, was ihr Lykanthropen so treibt. Also treibt es besser nicht zu weit, sonst wird ihr keine zweite Flucht gelingen! Sage ihr das."
"Woher wussten Sie, dass ich hier bin?"
"Weil ich Aureus überwacht habe", sagte die Hexe. Dann verschwand sie mit lautem Knall. Donny Clarkson sah die am Boden liegenden Polizisten. Die waren nur Ohnmächtig. Aber wenn die wieder aufwachten sollte er besser nicht mehr hier sein. "Mondlichtung!" sagte er. Unverzüglich reagierte die Portschlüsselbezauberung seines Hosengürtels und riss ihn durch das ihm schon vertraute Gefüge aus Farben und Rauschen davon.
Aureus war froh, dass Rabioso nach seiner unerbittlichen Zurechtweisungsarie mit seinem zum Portschlüssel gemachten Krönungsmantel in die ihm und seinen engsten Vertrauten bekannte und durch Fidelius geschützte Residenz zurückgekehrt war. Allerdings hatte der selbsternannte König Lykotopias seinem nordamerikanischen Statthalter noch einen Auftrag erteilt: "Sammle alle Adressen von Hexen und arbeite einen Plan aus, dass jeder Untertan von uns direkt nach meiner Ansprache bei allen Eingestaltlern zuschlagen soll, um diese Weibsbilder entweder zu neuen Untertanen zu machen oder zu töten! Die Spinnenhexe soll keine Helferinnen mehr haben."
"Die hat Juanita", knurrte Renato Costa, der sich eigentlich Chancen auf die dunkelhaarige Lykanthropin Juanita Casapiedra ausgerechnet hatte. Du hättest mich mitnehmen sollen. Ich hätte dieses Biest zerfleischt und ..."
"Volltrottel!" blaffte Aureus. "Die hat uns aus sicherer Höhe angegriffen, und du magieunfähiger kannst keinen Besen fliegen. Die hätte dich dann genauso abgefertigt wie deine Kameraden von meiner Leibgarde. Dafür darfst du dann mindestens drei eingestaltliche Hexen beißen."
"Ich beiß denen die Möpse ab", knurrte Costa. Aureus konnte darauf nicht antworten, weil er verstand, wie sich Costa gerade fühlte. Und ihm ausreden wollte er es auch nicht.
"Hier in Lambda zwei sind wir sicher. Ich habe alle unsere Bürger aus den zehn übrigen Stützpunkten hergerufen. Hier dringt kein Fernortungszauber und kein Fluch ein."
"Aber dann fehlt die Überwachung der Staaten und Kanada", wagte Costa einen Einspruch.
"Geh davon aus, dass Pedro unfreiwillig ausgeplaudert hat, wo unsere Stützpunkte liegen, Renato! Geh genauso davon aus, dass Juanita die ihr bekannten Stützpunkte an diese Spinnenschwester verpfiffen hat. Deshalb müssen und werden wir neu aufbauen. Zum Glück wurden unsere Leute ja immer per Portschlüssel hierher geholt, wenn was anstand", sagte Aureus. "
"passen denn hier alle rein?" fragte Rafaele di Sorento, der vor drei Monaten noch Laufbursche bei der Detroiter Cosa Nostra gewesen war.
"Wir kriegen hier alle unter, Raf. Notfalls schrumpfen wir alle Magier auf Fingerlänge zusammen und stecken die in diese kitschigen Puppenhäuser, mit denen die kleinen Mädchen bei den magielosen Eingestaltlern spielen", schnaubte Aureus. Das schlug bei di Sorento und Costa heftig ein, weil beide keine Zauberer waren. Costa schnaubte, dass er sich garantiert nicht auf Spielfigurengröße zusammenschrumpfen lassen würde und ab jetzt jedem, der einen Zauberstab auf ihn richtete noch was ins Gesicht schleudern würde, bevor der oder die einen Schrumpfspruch aussprechen konnte.
"Ach ja?!" rief Aureus und hielt blitzartig seinen Zauberstab in der Hand. "Decinimus!" stieß er aus, ehe Costa Zeit fand, einen Angriff zu starten. Mit leichten Schwung nach unten ließ Aureus den Zauberstab niedersausen. Gleichzeitig schrumpfte Costa auf ein Zehntel seiner stattlichen 1,89 Meter zusammen.
"So schnell geht das, Renato", brüllte Aureus und sah mit Vergnügen, wie Costa sich krampfhaft die Ohren zuhielt und mit ebenfalls verkleinerter Stimme dagegen anwinselte. Dann gab Aureus dem Werwolf seine ursprüngliche Größe zurück. Costa versuchte, nach vorne zu springen, wurde aber von einem Lähmzauber abgefangen. "Ich lass mich garantiert nicht zweimal von einem ehemaligen Muggel zusammenschlagen", knurrte Aureus. Er sah di Sorento an und raunte: "Und denkt nicht daran, mich im Schlaf zu überfallen um mir den Zauberstab oder gar das Leben zu nehmen. Der König hat mich mit einemZauber belegt, der jeden seiner Untertanen qualvoll tötet, der an mein Eigentum oder mein Leben will. Immerhin diese Gnade erwies er mir. Ob ich mit euch so gnädig bin, wenn ihr euch noch mal gegen mich auflehnt weiß ich nicht. So, und jetzt helft euren Kameraden, die Adressen aller in Nordamerika lebenden Hexen zusammenzutragen und die Quartiere für unsere Mitbürger aus den anderen Stützpunkten vorzubereiten.
"Und wenn diese Spinnenhexe uns alle hier zusammen angreift, bevor wir wissen, wer ihr alles so hilft?" fragte di Sorento.
"Dann kämpfen wir. Wir sind dann über hundert Lykanthropen", sagte Aureus und deutete auf die Tür seines Audienzzimmers, wie er den Büroraum auch nannte.
"Das ist das dümmste, was dem einfallen konnte, die alle hier auf einem Fleck zusammenzupferchen", schnaubte Costa, nachdem der ihn bannende Lähmzauber endlich abgeklungen war. "Da warten unsere Feinde doch nur drauf, dass wir uns wie damals die Mondbrüder in einer bekannten Festung zusammendrängen."
"Weiß der sicher. Aber hier kommt keiner so einfach rein, solange mindestens zehn von uns hier sind. Ich hörte sogar, dass je mehr von uns hier sind, desto stärker wirken die Schutz- und Abwehrzauber. Der geht darauf aus, dass die sich an denen allen die Köpfe einrennen", sagte di Sorento.
"Die können viel erzählen, nur weil die echte Magie können. Aber was Menschen erfinden können können andere Menschen knacken oder übertreffen."
"Sollen die sich da Gedanken drüber machen. Ich seh nur zu, dass wir keine Kenpuppen oder Playmobilmännchen werden müssen, um weiter hier bleiben zu dürfen."
"Wie überaus witzig", schnaubte Costa. Doch mehr sagte er dazu nicht.
"Immerhin waren diese Spitzhüte so gnädig, dir nicht die Schuld an dem angeblichen Schlucken von Stark- und Schnellmachersachen ans Bein zu hängen", knurrte Euphrosyne, als sie zusammen mit ihrem Auserwählten am Flughafen von Madrid die neueste Ausgabe der führenden Sportzeitung lasen. Lundi hatte nach der offiziellen Bekanntmachung seiner zeitweiligen Trainings- und Spielsperre beschlossen, mit Euphrosyne nach Las Vegas zu fliegen, um sich dort in einer der vielen kitschigen Hochzeitskapellen offiziell zu Mann und Frau erklären zu lassen. Wie Euphrosyne an einen amtlichen Reisepass gelangt war hatte er sie nicht zu fragen gewagt. Vielleicht bekamen Hexen und Zauberer auch Ausweispapiere wie jeder nicht mit Magie im Blut aufgewachsene Staatsbürger. Da nun durch die Presse ging, dass Lundi das Opfer und nicht der Täter in der leidigen Sache war, bestand auch keine Veranlassung irgendeiner Behörde, ihn nicht ausreisen zu lassen, zumal er ja kein spanischer Staatsbürger war.
"Es ist gut, dass wir von hier aus fliegen. In Barcelona hätte ich warhscheinlich hunderte von verdrossenen Fans um mich herumgehabt. Hier grinsen die alle, wenn sie mich sehen, weil die glauben, dass Barca wegen mir eine Menge Geld in den Sand gesetzt hat", grummelte Aron. Den achso frömmelnen Klosterschwestern, die damals nicht bange waren, heftige Körperstrafen zu verhängen, weinte er keine Träne nach. Vielleicht drehten die, die ihm ein Dopingvergehen angedichtet hatten, auch daran, dass die Nonnen aus Marie de Incarnation mit Bewährung davonkamen. Die Kirche würde sie dann garantiert anderswo unterbringen, wo ihre Fähigkeiten gewürdigt wurden, ohne weiteren schaden an dieser Institution anzurichten.
"Bis wir wieder da sind wissen wir auch, wie Camacho das findet, dass ich ihm statt der zurückgeforderten Flugreisekosten eine Goldkette überlassen habe", grinste Euphrosyne, während sie in der Boeing 747 auf den Flug nach New York warteten. Aron Lundi nickte. Dass der FC Barcelona Euphrosynes Flugkosten wegen der ganzen leidigen Angelegenheit zurückforderte war nicht durch die Zeitungen gegangen. Dass mehrere Sicherheitsbeauftragte des Vereins Euphrosynes willige Helfer waren wusste außer denen und ihr keiner. Auch Aron durfte nicht wissen, wie sie sich mehrere Männer und zwei Frauen gefügig gemacht hatte. Loulou, die ihm in seiner Wohnung hatte auflauern wollen, um ihn in eine pikante Falle zu locken, war nach den ersten Anschuldigungen gegen Aron klammheimlich wieder nach Frankreich zurückgeflogen.
Euphrosyne bedauerte es, dass die Flugreise so lange dauerte. Doch die Aussicht auf die Wolken und den Atlantik gefielen ihr. Das unterwegs gereichte Essen behagte ihr schon weniger. Neidvoll sah sie, wie die Flugbegleiterinnen echte Porzellanteller über eine Treppe zum Oberdeck der Maschine trugen, wo eine kleine Passagierkabine für die Reisenden der ersten Klasse lag. Hätte Aron mehr Geld zur Verfügung gehabt, dann hätte sie darauf bestanden, in dieser erlauchten Reiseklasse zu fliegen. So blieb ihr eigentlich nur, einige Stunden zu verschlafen.
"So darf ich die ersten dreißig Mitglieder der Sondereinheit Quentin Bullhorn offiziell begrüßen", sagte Zaubereiminister Cartridge zu den zwanzig Männern und zehn Frauen, die vor ihm in einem Konferenzsaal auf schmalen Stühlen saßen. "Mögen wir den Terror, den verbrecherische Werwölfe verüben, möglichst bald eindämmen!" fügte er noch hinzu. Dann reichte er jedem der dreißig registrierten Lykanthropen die Hand zum Gruß. Wer genau dazugehörte war jedoch Geheimstufe S6, damit mögliche Zielpersonen nicht sofort wussten, mit wem sie es zu tun hatten.
"Es ist vertrackt, dass wir dieses Weibsbild nicht einfach so festnehmen dürfen", knurrte Nathalie Grandchapeau. Daraufhin fühlte sie einen sanften Stupser aus ihrem Körper. "Ich bin nicht wütend auf dich, Kleines", säuselte sie dann und strich sich zärtlich über den sacht vorgewölbten Unterbauch. Ihre Tochter Belle und der Mitarbeiter Bleuchamp übergingen diese Regung ganz diskret. So konnte Nathalie ruhig weitersprechen: "Sie sind beide in die Staaten abgeflogen, Reiseziel Las Vegas. Dort werden sie sicher eine dieser Hochzeitskapellen aufsuchen, um sich offiziell zu Mann und Frau erklären zu lassen."
"Lundi ist erst zwanzig Jahre alt", wandte Belle ein. "In den USA gilt in vilen Bereichen noch einundzwanzig als Volljährigkeitsgrenze."
"Nichts für ungut, Madame Grandchapeau, aber wenn die sich darauf berufen, dass sie in ihrem Heimatland schon volljährig sind wird das vielleicht nur eine oder zwei Stunden mehr beanspruchen, um die nötigen Formalitäten zu erledigen", sagte Nathalie Grandchapeau. "Auf jeden Fall nutzt sie es aus, dass wir sie und/oder den von ihr vereinnahmten Mann nicht für mehr als eine Stunde in Gewahrsam nehmen können und die Kollegen aus Spanien ihn deshalb unbehelligt abreisen lassen mussten."
"Im Grunde kann der Bursche auch gerne die amerikanische Staatsangehörigkeit beantragen", meinte Bleuchamp dazu. "Dann haben die Leute um Nancy Gordon und deren Zauberwesenabteilung den Drachenmist am Besenschweif hängen."
"Ja, weshalb ich schon fast ernste Differenzen mit meiner US-amerikanischen Kollegin bekommen habe, weil die doch glatt behauptet hat, wir wollten unsere Probleme zu ihnen abschieben, nachdem die Kollegen aus Spanien uns und die in den Staaten über Blitzeule informiert haben, dass da eine Veelastämmige mit einem dieser Düsenflugapparate zu ihnen hinüberkommt."
"Stimmt, die haben ja keinen Veelastämmigen bei sich in den Staaten", feixte Pierre Bleuchamp. Belle bat ums Wort:
"Apropos Nancy Gordon. Ich las in der letzten Arkamail von Martha Merryweather, dass die sie wieder kontaktiert habe, um sie jetzt, wo sie wohl durch Familiengründung eher in den Staaten als in Frankreich ihren Lebensschwerpunkt finden würde, nicht auch offiziell für unsere Kollegen in Washington arbeiten möge."
"Das war und ist der zweite Stein des Anstoßes zwischen Ms. Gordon und mir, Madame Grandchapeau. Sie erhofft sich durch eine andere Taktik als ihr ehemaliger Mitarbeiter Worthington, Madame Merryweathers Kenntnisse primär für ihre Behörde ausschöpfen zu können. Ich warte noch eine Antwort auf meine letzte Überseeeule ab, bevor ich in der Angelegenheit tätig werden möchte", sagte Nathalie Grandchapeau.
"Wie verfahren wir denn, wenn Euphrosyne muggelwelttechnisch mit diesem Balltreter Lundi verheiratet ist? Erkennen wir das an, auch wenn sie da wohl mit gefälschten Unterlagen hantieren wird?" fragte Bleuchamp.
"Das müssen wir leider", knurrte seine Vorgesetzte verdrossen. "Denn wenn wir auch noch herausbringen, dass sie die Behörden in den Staaten betrogen hat, was ihre Herkunft und Abstammung angeht, werden die Lundi und sie festzunehmen versuchen. Gelingen wird es ihnen nicht. Aber er wird dann nur noch hier in Frankreich vor Nachstellungen sicher sein und damit ein noch mehr eingeschränktes Leben haben als so schon. Deshalb habe ich darum gebeten, Euphrosyne Blériot als Euphrosyne Lundi zu akzeptieren und habe das auch an die Kollegen des Zauberwesenbüros weitergegeben."
"Wie gesagt. Es wäre doch ziemlich praktisch, wenn die zwei in den Staaten hängenblieben, natürlich ohne Sie dort einsperren zu müssen", sagte Pierre Bleuchamp.
"Hoffen können Sie ja, Pierre", erwiderte Nathalie. Insgeheim hofte sie, dass die beiden tatsächlich in den Staaten bleiben oder zumindest auf dem amerikanischen Kontinent verbleiben würden. Doch offiziell durfte sie das nicht sagen.
Anthelia fand es hochinteressant, die wortwörtlich aufgetauchten Anhänger Luneras aus der Ferne zu überwachen. Wenn sie genug von ihnen wusste, würde sie entscheiden, ob sie die Gruppe weiterleben lassen wollte oder besser vernichtete, damit eine unbeherrschbare Quelle des Lykonemisis-Trankes versiegte. Andererseits liebte sie es, in Paulina Torrealtas Liebesakte hineinzuhorchen. Für einen noch im Wachstum befindlichen Burschen war dieser Donny Clarkson schon ein sehr ausdauernder Beilagergenosse. Wenn er kein Werwolf geworden wäre, und Anthelia mal wieder in New York nach kräftigem Fleisch zur Beglückung ihres Lebenskelches gesucht hätte, sie hätte ihn wohl nicht mehr so schnell hergegeben.
Du verdammtes Weib, bring mich endlich um oder hör mit dieser gemeinen Folter auf!" zeterte die immer noch unter dem Zauber der blutroten Erde gepeinigte Juanita Castilla Casapiedra, als Anthelia sie einmal mehr mit ihrem Blut benetzte, das ihr über Juanita eine exosensorische Brücke zu Paulina Torrealta baute. "
"Gib Ruhe, wenn du nicht willst, dass ich dir nicht was viel unangenehmeres zumute", schnaubte Anthelia. Dann lauschte sie. Sie war wieder in Paulinas Wahrnehmung.
"Wir müssen davon ausgehen, dass Rabiosos Aktionen nicht mehr länger hingenommen werden. Je mehr er die beißwütige Bestie verkörpert, desto lauter werden die Hämmer der Silberschmiede und Schleifsteine der Klingenschleifer tönen", sagte Lunera, die gerade mit allen Bewohnern des Mondlichtungshauses zusammen saß. Anthelia fühlte, dass Paulina und Donny es wohl erst vor einer halben Stunde noch sehr leidenschaftlich miteinander getrieben hatten.
"Und wenn echt wer so ein Antiwerwolfvirus zusammenbrauen kann, kann das uns hier auch erwischen?" fragte Donny.
"Wenn es ein stofflich gebundener Keim ist wie unser Speichel, der mit Blut lebender Menschen zusammenkommen muss, dann kann der uns hier erwischen, wenn jemand ihn in einer sehr großen Menge über die ganze Welt verteilt. Ein Virus oder Bazillus, der durch die Luft verbreitet werden kann vermehrt sich in seinen Wirtskörpern. Wir hätten dann nur eine Chance,ihm nicht zu erliegen, wenn wir uns von allen menschlichen Siedlungen fernhielten und absolut nichts mehr essen, trinken oder einatmen, was mit Menschen in Berührung gekommen ist."
"Ja, aber angeblich wollen diese VM-Leute doch denen, die auf ihre Forderung eingehen einen Schutz geben, also einen Impfstoff, ein Gegenvirus", sagte Paulina immmer noch erschöpft von dem letzten Liebesakt mit ihrem jungen Auserwählten.
"Ja, und an den müssen wir genauso dran kommen wie Rabioso", sagte Lunera.
"Von hier aus geht das wohl nicht", sagte Nina, die künftige Mutter von Finos Kind.
"Gehen wir besser schon davon aus, dass das Virus unterwegs ist", sagte Valentino. "Vielleicht warten die, bis es sich weit genug ausgebreitet hat und knipsen dann einen Aktivator an, der seine tödliche Wirkung auslöst. Am Ende haben wir alle das schon, weil Donny und Paulina lange genug bei den anderen waren."
"Überaus witzig, Eierkopf", schnarrte Donny. "Aber dann könntest du das Geschwafel voll vergessen, weil wir euch auch schon lange genug um uns herum haben. Wenn dann wer den großen Killersatelliten im Weltraum auf "Auslöschen aller Werwölfe" schaltet, damit dessen Strahlen das Virus aktivieren, habt ihr das jetzt alle im Blut. Da würde dann auch keine ABC-Kleidung mehr König gegen helfen. Achso, ich vergaß, dass die anständigenHexen und Zauberer nix mit unserer technischen Welt zu tun haben. Da haben wir aber noch mal Glück gehab, dass die uns doch nicht mit einem Knopfdruck erledigen können."
"Ich weiß ein bißchen mehr als du halbe Hose von der Zaubererwelt. Auch haben wir uns technische Hilfsmittel zugelegt", sagte Tino. Donny musste lachen.
"Paulina, bin ich für dich eine halbe Hose?" fragte er dann kichernd. Paulina konterte kokett:
"Der ist doch nur neidisch, weil du ihm von der Ausdauer her voraus bist und er jetzt auch noch zusehen muss, wie er eine Familie durchbringt."
"Da hörst du's, Eierkopf", sagte Donny.
"Hört gefälligst auf damit, oder ich setze euch beide irgendwo hier im Dschungel aus", schrillte Lunera. "Wir müssen zusehen, dass wir uns gegen einen möglichen Angriff dieser Vita-Magica-Leute schützen können." Das wirkte. Alle stimmten ihr zu. "Also wo gibt es solche ABC-Schutzanzüge?"
"Da ich meinen Laptop nicht mehr benutzen und hier eh keine unortbare Internetverbindung kriegen kann kann ich nur in einem Internetcafé rausfinden, wo's solche Überzieher gibt", grummelte Valentino.
"Gut, das kannst du dann mit Mirella erledigen", sagte Lunera und deutete auf eine schwarzhaarige Mondschwester, die wesentlich kleiner als Valentino war. Dieser nickte zustimmend.
"Das wird sicher interessant, euch dabei zuzusehen, wie ihr die Magielosen bestehlt", amüsierte sich Anthelia von den beobachteten unbemerkt. Dann beendete sie den Zauber. Juanita wimmerte noch unter den Nachwirkungen.
"Jetzt lasse ich dich in Ruhe. Werde jetzt erst einmal zusehen, dass Rabiosos nordamerikanische Statthalter und ihre Vasallen aus dieser Welt getilgt werden", sagte Anthelia und stellte die von rotem Mineral umschlossene Juanita zurück in den kleinen Conservatempus-Schrank. Sie hatte nämlich herausgefunden, dass dieser Zauber auf kleine oder verkleinerte Lebewesen nicht so schädlich wirkte wie auf menschengroße. So konnte sie Juanita über Wochen fortsperren, ohne dass diese erstickte, verdurstete oder verhungerte.
Sie beriet sich mit ihren Mitschwestern, was im Fall Rabioso zu tun sei und erwähnte auch ihre heimlichen Ausspähaktionen gegen Lunera. Dann formulierte sie ihren Plan, wie sie den nordamerikanischen Stützpunkt Rabiosos ausschalten konnte, trotz und gerade wegen der diesen umschließenden Zauberbanne.
Nach der Besprechung mit den Mitschwestern setzte Anthelia ihre Vorbereitungen fort. Da ein Blutauffrischungstrank bei ihr ebensowenig wirkte wie jeder andere Zaubertrank und sie sowieso auch das Blut von dreiundzwanzig weiteren Mitschwestern aus allen Ecken der ihr bekannten Welt brauchte würde es wohl noch bis zum zwanzigsten Februar dauern, bis Lambda 2 erfolgreich bestürmt und geschleift werden konnte, wobei geschleift hier der falsche Begriff war, weil es nicht darum ging, das Hauptquartier von der Erdoberfläche herunterzubrechen und zu schaben.
Sie hatte ihren ganzen Veelacharme spielen lassen, um den Leiter dieser kleinen Kapelle davon zu überzeugen, dass Aron schon im heiratsfähigen Alter war. Wieso konnten die hier in den Staaten nicht auch die drei mal sechs Jahre als Volljährigkeitsalter für offizielle Anlässe festlegen? Die drei weiblichen Bediensteten dieser Eheglück gegen schnelle Dollars verkaufenden Einrichtung hatten Euphrosyne schon mit am Rande des Hasses funkelnden Augen angeglotzt, weil sie ihre ganze Kraft aufgeboten hatte, um den Leiter der Kapelle zu bearbeiten, ohne den Imperius-Fluch anwenden zu müssen. Immerhin war die nötige Amtshandlung relativ zügig von Statten gegangen, wohl auch, weil schon zwanzig weitere Paare vor der Kapelle warteten, die an diesem herrlich sonnigen Februartag zu Mann und Frau erklärt werden wollten.
"Sollen wir uns unser Reisegeld zurückerspielen?" fragte Aron nun seine offiziell angetraute Frau, nachdem sie mit allen Dokumenten ausgestattet waren.
"Ich erfuhr, dass in dieser Stadt in jedem Glücksspielbetrieb Spürsteine zur Erkennung von Magie versteckt wurden, weil es ja sonst jedem mittelmäßigen Zauberer und jeder in Geldnot befindlichen Hexe möglich wäre, immer und überall zu gewinnen", sagte Euphrosyne. Doch Aron grinste nur.
"Bevor ich beim HAC anfing war ich mit einem ehemaligen Leidensgenossen von mir in Monte und habe da satte zehntausend Franc beim Roulette abgeräumt. Mit Bällen in jeder Größe habe ich so mein Glück", grinste er. Euphrosyne grinste zurück. Natürlich, genau deshalb hatte sie ihn ja haben wollen, weil er keinen Felix Felicis trinken musste, um erfolgreich zu sein. "Wir dürfen halt nur nicht zu viel auf einmal gewinnen, weil dann sonst die Leute böse werden, denen die Glückspielhäuser gehören", mahnte sie an. Aron nickte verstehend. Sicher, mal eben mehrere Millionen aus den Spielkasinos von Las Vegas abzuschleppen war schon eine große Versuchung. Aber wenn er weiterhin in Frieden leben wollte durfte er nicht zu viel verlangen.
So statteten die beiden frischverheirateten innerhalb der nächsten zehn Stunden vier Spielkasinos Besuche ab. Aron erwies sich wirklich als Talent im Erkennen von Rouletteergebnissen. Durch behutsames Setzen und nicht bei jeder Zahl richtig tippend schaffte er es, insgesamt 50000 US-Dollar zu gewinnen, die er per Auslandsüberweisung nach Le Havre transferierte, abzüglich Gebühren und Steuern auf beiden Seiten des Atlantiks und zwei Erster-Klasse-Flugkarten für den 28. Februar. Bis dahin wollten sie in der sündigen Stadt bleiben. Aron hatte von Las Vegas aus Camacho vom FC Barcelona angerufen und ihm gesagt: "Wenn Sie mich doch noch auf den Platz lassen möchten komme ich selbstverständlich gerne früher wieder zurück." Der kkleine, korpulente Vereinsfunktionär hatte darauf nur geantwortet, dass er darüber nichts zu befinden habe.
Als Aron nach dem langen Tag und einer nun ganz offiziellen Hochzeitsnacht in den frühen Morgenstunden in einen tiefen Schlaf fiel nutzte Euphrosyne das aus, um so leise sie konnte aus dem Badezimmer ihres Hotelzimmers zu disapparieren. Sie landete zehn Kilometer außerhalb von Las Vegas in der Wüste. Dort holte sie aus ihrer Handtasche einen kleinen, rosaroten Stoffball hervor, den sie bei ihrem Herflug als Glücksbringer aus Kindertagen bezeichnet hatte, weil dem Grenzüberwachungsbeamten komisch vorkam, dass eine Frau so einen Ball im Handgepäck mitführte. Sie warf den Ball in die Luft und ließ ihn mehrmals auftippen, bevor sie ihn mit einem schnellen Zauberstabwink in eine Waldohreule verwandelte, die wild mit den Flügeln schlug und laut schuhuhte. "Gib Ruhe!" rief Euphrosyne. Sofort beruhigte sich der Vogel. "Komm her und nimm meinen Brief mit!" befahl sie und zog aus ihrer Handtasche eine Puderdose, in deren Deckel sie einen verkleinerten Briefumschlag verborgen hatte. Den Umschlag ließ sie nun auf übliche Größe anwachsen und band ihn mit einem aus ihrem eigenen Haar geflochtenen Faden an das rechte Bein der Eule. Dann rief sie: "Bringe den Brief zu ihr, der Wiederkehrerin!" Als habe sie damit eine Zauberformel ausgesprochen sauste der Eulenvogel wie eine abgefeuerte Kanonenkugel davon. Euphrosyne lächelte überlegen. Die Eule gehörte zu den ersten erfolgreichen Versuchen, Lebewesen dauerhaft an sie zu binden und ihnen gleichzeitig übergroße Kraft und Ausdauer einzuflößen. Mit dem Stück von ihrem Haar um das Eulenbein potenzierte sie die auf den Vogel übertragenen Kräfte auf das zehnfache. Somit konnte die Eule den amerikanischen Kontinent innerhalb nur eines Tages überfliegen. Auch wenn die, die sich als Anthelias Wiederverkörperung ausgegeben hatte in einem geheimen Versteck unter Ortungsschutz lebte würde die Eule sie finden, weil diesen Tieren ein untrügliches Gespür für den Standort der anzufliegenden Person eigen war. Dieser Spürsinn war wie die Körperkraft und Ausdauer bei der magischen Bindung mitverstärkt und durch die Schnur aus Euphrosynes Haar verzehnfacht worden. Die Eule würde ihr Ziel erreichen. Ein wenig bangte Euphrosyne vor der Reaktion der Adressatin. Würde sie ihr Gehör schenken, ja sie unterstützen?
Nachdem sie die magisch manipulierte Eule losgeschickt hatte ging sie den zweiten Teil ihres heimlichen Vorhabens an, von dem ihr nun auch bescheinigter Angetrauter nichts mitbekommen durfte. Sie berührte ihren linken Schuh mit dem Zauberstab und konzentrierte sich auf ihre angeborene Unortbarkeit. Dann zischte sie: "Zurück zur Wiege!" Unvermittelt umfloss sie blaues Licht und wirbelte zu einer sie einschließenden Spirale auf. Keine Sekunde später war sie verschwunden. Kein Portschlüsselaufspürzauber konnte sie finden, denn sie hatte durch die Verbindung des bezauberten Gegenstandes mit ihrem Körper ihre Unortbarkeit in den Versetzungszauber mit einfließen lassen.
König Rabioso hatte sich aus allen Stützpunkten der Welt einen Lagebericht geben lassen. Lambda 2, der US-amerikanische Stützpunkt, machte ihm da die größten Sorgen. Seitdem Juanita von der Spinnenhexe verschleppt worden war hatten seine Leute dort die anderen Stützpunkte aufgeben müssen. Zumindest wusste Juanita nicht die genauen Koordinaten des Stützpunktes. Sollte die Spinnenhexe also angreifen, würde sie erst einmal suchen müssen, also eine ausreichende Zeit, um sich abzusichern.
"Haben wir noch was von den Vampiren gehört?" fragte er seinen HofmarschallRico, der wegen seiner Erscheinung als pechschwarzer Wolf und seiner asiatischen Kampfsportkenntnisse auch Rayo Negro genannt wurde.
"Nachdem dieser Mutant ein Dutzend von uns erledigt hat, bevor wir rausbekamen, dass der keine neugeborenen Kinder in Hörweite verträgt und ihn dann plattmachen konnten nichts mehr. Wird so sein, dass seine Leitstelle alle anderen Kampfmutanten ins Hauptquartier zurückgebeamt hat", sagte Rico.
"Hofmarschall Rico, wie oft muss ich das noch sagen, dass du bei uns mit diesem albernen Gefasel aus den Traumwelten der Muggel aufhören sollst", schnaubte Rabioso. "Diese Blutschlürfer, die dunkelgrau aussehen und um ein zigfaches stärker und ausdauernder sind als der sonnenlichtscheue Rest von denen sind keine Mutanten, sondern gezielte Neuschöpfungen, meinetwegen Kreaturen. Und wie die in ihr Hauptquartier befördert werden hat nichts mit irgendwelchen Maschinen zu tun, die Sachen und Leute in einemLichtstrahl auflösen und aus dem heraus wieder zusammensetzen. Aber zumindest in einer Sache stimme ich dir zu, Rico: Die Macht, der diese Blutsauger unterworfen sind, muss damit erst einmal klarkommen, dass ihre Supervampire doch nicht unbesiegbar sind."
"Plärrbälger sind für die wie Kryptonit für Superman", grinste Rico. Rabioso knurrte dazu nur verächtlich.
"Majestät, ihr wolltet doch auch etwas über diesen Lord Vengor erfahren", sagte Rico.
"Ja, und?"
"Seitdem wir von allem ausgeschlossen sind, was in den Ministerien so läuft kriegen wir auch von ihm nichts mit."
"Immerhin haben wir von Lunera erst einmal nichts zu befürchten. Wenn die schlau ist bleibt die mit den anderen Weichlingen die vollen zwei Jahre abgetaucht", sagte Rabioso.
"Und dieser eine künstliche Spatz, den wir nicht erwischen konnten, als wir ihn enttarnt haben?" fragte Rico.
"Der Dünne ist ein genialer Zauberkünstler. Aber wenn der das Ding in die Nähe von Madrid geschickt hat hätten wir ja eine magische Spur zu seinem Horchposten finden müssen. Der hat aber nicht auf das Meer hinaus gesendet, sondern in Richtung Frankreich. Kann mir vorstellen, dass Grandchapeau und Pataleón uns den geschickt haben, um rauszufinden, wo unser Hauptquartier ist."
"Und Ihr denkt, Lunera bleibt ganze zwei Jahre untergetaucht?"
"Vielleicht sogar noch für viel länger. Ich habe damals mit dem Dünnen ausgetüftelt, dass zwei Drittel der Besatzung über Monate in Tiefschlaf gehalten werden können, sollten zu viele von denen an Bord sein. Wenn die das ausgebaut haben, dass das für alle geht kann die da unten jetzt mehrere hundert Jahre verschlafen, wie eure Märchenprinzessin, Gänseblümchen oder wie die hieß."
"Dornröschen, Eure Majestät", berichtigte Rico seinen König behutsam. Er hätte fast noch den Comichelden Buck Rogers erwähnt, der je nach Erzählweise in einer Höhle unter fremdartigen Gasen oder in einer sehr weiten Erdumlaufbahn in seinem Raumschiff tiefgefroren 500 Jahre überdauert hatte.
"Sind alle Sendboten mit unserer aufgezeichneten Nachricht unterwegs, Hofmarschall?" wollte Rabioso zum Schluss noch wissen. Rico nickte energisch und erwähnte, dass alle dreißig ausgeschickten Untertanen in der Nähe der Radiosender und Zeitungshäuser der Zaubererwelt postiert waren. Auch hatten er und zwei russische Helfer einen Internetrechner bereitgemacht, der Zeitgleich mit der Ansprache an die Zaubererwelt auch eine Aufforderung an die Muggelwelt verbreiten würde. Das immerhin hatten sie von Luneras Elektronikbastler Valentino alias Turboimpulso übernommen, nicht nur die Medien der Zaubererwelt zu benutzen.
"Dann sei es!" setzte Rabioso den Schlusspunkt hinter diese Unterredung.
Julius bedankte sich bei seiner Frau, dass sie seinen Ehering noch einmal mit dem Schutz vor Feuerzaubern aufgeladen hatte. "Trinkst du eine Dosis von Felix Felicis?" wollte Millie von ihm wissen.
"Heute nicht, Millie, weil ich den Trank für wirklich dringende und gefährliche Sachen aufbewahren möchte." Millie nickte. Dann wünschte sie ihm einen schönen Tag und küsste ihn zum Abschied.
Als Julius in Ornelle Ventvits Büro eintraf herrschte dort eine mit Händen greifbare Anspannung. Nicht nur Ornelle und Pygmalion waren da, sondern auch Monsieur Arion Vendredi und Madame Nathalie Grandchapeau. Julius begrüßte die vier und fragte leise, warum sie so alarmiert und angespannt aussahen.
"Es hat einen Überfall auf den magischen Sender Zaubererweltecho gegeben beziehungsweise eine Besetzung. Die Lykanthropen, die sich durch das rote Lambda im Kreis zu kennzeichnen pflegen, haben den Sender gestürmt und alle Senderäume besetzt. Nur dank einer Porträtverbindung zum Büro des Sendeleiters verdanken wir, dass wir jetzt schon davon wissen", sagte Monsieur Vendredi. Madame Grandchapeau sah Julius an und sprach nun ihrerseits:
"Das Lambda-Symbol ist auch im Internet aufgetaucht. Meine Mitarbeiterin, Madame Grandchapeau die jüngere, hat zehn Seiten für öffentliche Bekanntmachungen gefunden, auf denen dieses Zeichen auftauchte. Unter dem Symbol fand sich die Mitteilung, im Laufe des Tages eine Verlautbarung eines gewissen König Rabiosos zu erwarten."
"Die Lykanthropen haben einen Radiosender gekapert? Öhm, und da hat sich keiner gegen wehren können?"
"Die Sicherheitszauberer wurden durch kugelförmige Gegenstände, die beim Auftreffen zu kokonartigen Umhüllungen wurden, bewegungsunfähig gemacht", sagte Ornelle Ventvit.
"Soeben erfahre ich, dass auch der Zauberrundfunk in London von Lykanthropen überfallen und besetzt wurde. Nur die Mitarbeiter von Potter Watch konnten einen Ansturm von Werwölfen durch massiven Kontralykogaseinsatz abwehren."
"König Rabioso? Rabioso ist das spanische Wort für tollwütig oder jähzornig", murmelte Julius. Ornelle Ventvit nickte, ebenso Madame Grandchapeau.
"Der Leiter des Werwolfüberwachungsamtes und der Leiter der Légion de la Lune teilten mir mit, dass zu den identifizierten Mitgliedern der Mondbruderschaft ein gewisser Raúl Fernando Castillo Lorca gehört, der wegen seiner fuchsroten Mähne und seiner leicht aufbrausenden Natur den Kampfnahmen Rabioso trägt. "Das dieses Individuum sich selbst als König bezeichnet könnte eine neue Taktik der Mondbruderschaft sein, um ihre noch nicht aufgegebenen Ansprüche auf gesellschaftliche Aufwertung der Werwölfe zu bekräftigen, könnte aber auch dafür sprechen, dass es innerhalb dieser Schattenorganisation zu einem Machtwechsel kam und Rabioso betrunken von der neuen Rangstellung findet, er sei nun der König aller Lykanthropen", sagte Vendredi noch. Julius fiel noch eine dritte Möglichkeit ein. Als habe Nathalie Grandchapeau seine Gedanken aufgefangen sagte diese:
"Vorstellbar ist auch, dass es innerhalb der Mondbruderschaft zu einem Zerwürfnis und einer Spaltung kam und Rabioso eine eigene Linie verfolgt, die ein Königreich der Werwölfe zum Ziel hat, in Nachahmung des Vampirreiches Nocturnia womöglich."
"Wenn mir die Bemerkung gestattet ist, das halte ich persönlich für die wahrscheinlichste Möglichkeit", sagte Julius, nachdem er erst genickt und dann ums Wort gebeten hatte. Auf die Frage, warum er diese Möglichkeit für die wahrscheinlichste hielt erläuterte er: "Seitdem Wolfsherbst durchgeführt wurde haben wir von den Mondbrüdern und -schwestern nichts mehr gehört. Wir gingen davon aus, dass sie sich alle in den Untergrund zurückgezogen haben, um abzuwarten. Womöglich gab es auch diese Überlegung bei dieser Lunera, die diese Organisation angeführt hat. Wenn stimmt, was Sie gerade über Rabioso gesagt haben, dann hat der sich nicht damit abfinden wollen, klein und unauffällig zu bleiben, bis ans Ende aller Tage. Vielleicht ist er auch schon vor Wolfsherbst anderer Meinung gewesen und hat sich unter dem Ansturm der Zaubereiministerien von seiner offiziellen Anführerin losgesagt und alleine oder mit ein paar Gleichgesinnten abgesetzt, wo die Lykanthropen eh alle geflüchtet sind. Womöglich konnte er den Lykonemisistrank da nicht alleine nachbrauen. Deshalb musste der sich erst einmal genau wie alle anderen ducken. Aber nach dem, was in den letzten Tagen so rausgekommen ist hat er oder seine Kumpane den Trank entschlüsselt und erfolgreich nachzubrauen gelernt und noch einiges mehr ausgearbeitet, um uns allen den Tag zu verderben. Wenn er jetzt als selbstgekrönter König von eigenen Gnaden auftritt dann wohl, weil er sich für den einzig rechtmäßigen Anführer der Werwölfe hält."
"Den Tag verderben. Julius, bitte nicht die künstlich auf abgebrüht getrimmten Floskeln der Muggelmilitärs verwenden", maßregelte Madame Grandchapeau den jungen Amtsanwärter im zweiten Jahr.
"Dann hätte ich sagen müssen den Tag versauen, Madame", erwiderte Julius mit einem Anflug von Frechheit.
"Unabhängig davon, wer da wem was verdirbt, die Herrschaften, müssen wir damit rechnen, dass ein offenbar größenwahnsinniger Werwolf, dem es gelang, mehrere erfolgreiche Abwehrmittel gegen unsere Einsatztruppen zu entwickeln, demnächst der Welt ein Ultimatum stellen wird", sagte Monsieur Vendredi. "Er hat die Rundfunksender sicher überfallen lassen, um über diese seine Forderungen verbreiten zu lassen. Das Problem ist, dass wir die besetzten Sendehäuser nicht angreifen können. Zum einen sind dort arg- und schuldlose Mitarbeiter, die als Geiseln gehalten werden. Zum zweiten wirkt an dem Sendehaus von Zaubererweltecho jener Apparierabwehrwall, von dem die deutschen Kollegen berichtet haben. Zum dritten konnte einer meiner Notfalltruppler zusammen mit einem der Desumbrateure gerade einmal hundert Meter an das Gebäude heranfliegen. Dann flammte auf einmal ein silberblaues Feuer auf, in das die beiden, wenn sie nicht extrem langsam geflogen wären, unweigerlich hineingeraten und verbrannt wären. Kontralykogas verflüchtigt sich jedoch zu schnell, um es wie diese obskuren Giftgasbomben der Muggel über dem Gebäude abzuwerfen."
"Gegen die Hybridin Nal wollten Sie Sprengschnatze einsetzen", sagte Julius. "Vielleicht kommen die an das Gebäude heran und können statt einer Sprengung eine Ladung Kontralykogas ins Haus einblasen", schlug er vor.
"Nette Idee, nur leider so nicht durchführbar, da die Sprengschnatze eben nur auf Explosionswirkung hinentwickelt wurden", knurrte Vendredi und funkelte Julius verärgert an. Der wusste auch wieso.
"Vielleicht sollten wir, bevor wir an eine sehr gefährliche Erstürmung des Senders denken abwarten, welche Forderungen Rabioso stellt", sagte Ornelle.
"Sie wollen zulassen, dass dieser psychopathische Werwolf unsere Rundfunksender und noch dazu dieses Internet der Muggel für seine Propaganda missbraucht?!" entrüstete sich Vendredi. Ornelle Ventvit sah ihn ruhig an und erwiderte:
"Hätten Sie es lieber, dass er statt einer landesweiten Ansprache gleich einen unerklärten Krieg gegen uns vom Zaun bricht, Monsieur Vendredi?"
"Er könnte ihm getreue Lykanthropen an stark bevölkerten Plätzen in Paris, Marseille, Avignon oder Callais in Bereitschaft stellen, die auf ein Zeichen von ihm wild um sich beißen und jeden mit ihrer Erkrankung anstecken", schnaubte Belles Mutter.
"Das ist wohl genau das, was er uns allen androhen wird, Nathalie!" polterte Vendredi. "Und wenn alle Hörer das mitbekommen haben wir bald die totale Panik, weil jeder dann überall beißwütige Lykanthropen zu sehen glaubt."
"Gut, mein ungeborenes Kind hat Sie jetzt auch klar und deutlich verstanden", sagte Nathalie Grandchapeau. "Dann möchte ich, dass Sie und alle anderen mich auch klar und deutlich verstehen. Ich werde dem Zaubereiminister gleich den Stand der Dinge berichten und seine Entscheidung für meine Abteilung einholen. Diese werde ich dann umsetzen. Anstatt hier auf Grund unerträglicher Hilflosigkeit herumzubrüllen sollten Sie für Ihre Abteilung ebenfalls eine Grundsatzanweisung des Ministers erbitten und diese dann umsetzen, wenn der konkrete Fall eingetreten ist. Ich empfehle mich bis auf weiteres." Sprach's und verließ das Büro von Ornelle Ventvit.
"Der Tag fängt ja gut an", sagte Julius, als auch Monsieur Vendredi das Büro nicht ohne warnenden Seitenblick auf ihn verlassen hatte.
"Julius, ich hatte Sie gebeten, auf der Hut zu sein, was weitere Unstimmigkeiten mit unserem gemeinsamen Vorgesetzten angehen", erinnerte ihn Ornelle an die Lagebesprechung nach Nals Abzug aus den Pyrenäen. "Er wird sich das gut merken, dass Sie seine Idee von den Sprengschnatzen veralbert haben und damit seine Autorität erneut in Frage stellen. Wir wissen beide nicht, ob er nicht eine geheime Liste führt, auf der er alles verzeichnet, was Sie belasten kann, Monsieur Latierre. Wir wissen auch nicht, wann sein Maß voll ist, bevor es überläuft. Da ich Sie sehr als Mitarbeiter schätze und ungerne verlieren möchte rate ich Ihnen dringend, sich unserem Abteilungsleiter gegenüber bedeckt zu halten und nur dann etwas vorzuschlagen oder anzuregen, wenn er und nur er es Ihnen persönlich abverlangt, sobald er mit Ihnen im selben Raum ist."
"Ich will jetzt nicht wie ein getretener Hund loswinseln, Mademoiselle Ventvit. Doch ich kann und will zu meiner Verteidigung einwerfen, dass das mit den Sprengschnatzen keine Veralberung sein sollte, sondern ein ernstgemeinter Vorschlag. Denn soweit wir erfahren mussten greift dieses Zauberfeuer nur lebendes Gewebe von denen an, die den Verursachern des Zauberfeuers abneigend oder feindlich begegnen. Deshalb halte ich den Einsatz unbelebter Flugkörper mit Gassprühvorrichtung nicht für einen Witz, sondern für eine wirkungsvolle Möglichkeit. Ich hoffe, Sie verstehen mich in dieser Sache."
"Was ich verstehe oder empfinde ist in diesem Moment zweitrangig. Ich habe an Gesten und Blick von Monsieur Vendredi gesehen, dass er sich von Ihnen nichts uneingefordertes mehr anhören möchte, egal wie ernst oder fundiert es vorgetragen wird."
"In Ordnung, ich werde dieser Ihrer Empfehlung Folge leisten", erwiderte Julius leicht ungehalten. Ornelle sah ihn kritisch an, nickte dann aber. Nur in seinen Gedanken fügte Julius hinzu: "Dann sollte ich aber zusehen, dass ich weit vor der Hütte stehe, wenn sie brennt."
Ornelle holte ein kleines Radio ins Büro und stellte den Sender Zaubererweltecho ein. Im Moment lief dort eine Sendung über die Zuverlässigkeit von zusammenfaltbaren Zaubertrankkesseln. Anschließend folgte ein Bericht über die Organisation Vita Magica, die vor allem auf dem amerikanischen Kontinent und den vorgelagerten Inseln ihr Unwesen trieb. Julius erstarrte, als er die Stimme von Alouette Laporte erkannte, die die Geburtsstation in der Delourdesklinik leitete. Er dachte an die eine Nacht in der Klinik, wo er und Millie überwacht wurden, ob sie ihre beiden Zuneigungsherzen ablegen konnten oder nicht. Sich vorzustellen, dass die Heilerin gerade die Geisel von durchgeknallten Werwölfen war und dabei so ruhig wie möglich sprechen musste war schon unheimlich.
"Dann sehen Sie in der Aktivität dieser Leute keine Aufwertung Ihrer Arbeit?" wurde die Hebammenhexe befragt.
"Unsere Arbeit erhält ihren Wert dadurch, dass in inniger Liebe gezeugte Kinder ihren Weg auf unsere Welt finden und dabei gesund bei ihrer ebenfalls gesunden Mutter aufwachsen dürfen. Was diese Bande Vita Magica treibt hat mit Liebe nichts zu tun, sondern mit Viehzucht. Hexen werden zu reinen Gebärerinnen abgewertet, die wie dem Menschen ausgelieferte Kühe jedes Jahr Nachwuchs hervorzubringen haben. Die wenigen Fälle, die wir in unserer großen Nation betreuen zeigen deutlich, dass derartige Eingriffe in die freie Familienplanung zu unerträglichen Spannungen zwischen den Elternteilen ausufern können, worunter dann die Kinder zu leiden haben. Wenn meine Kolleginnen und ich Kindern auf die Welt helfen hoffen wir bei jeder Geburt, dasss das neu beginnende Leben ohne Furcht vor Verachtung oder Verstoßung verläuft. Zwar sind die Mütter durch die Machenschaften der so genannten Vita-Magica-Gruppe darauf eingestimmt, das ihnen in den Leib getriebene Leben auszureifen und mit allen Mitteln zu verteidigen. Doch die Väter dieser Kinder empfinden nicht dergleichen, könnten sich ausgenutzt und verhöhnt vorkommen. Daher stimme ich der Empfehlung meiner respektablen Kollegin aus den Staaten zu ..."
"Über die wir zu späterer Stunde sprechen werden, wenn Madame Eauvive uns in dieser Sache Rede und Antwort stehen wird", schnitt der Sprecher der Heilerin einfach das Wort ab. Julius wusste nicht, ob er jetzt grinsen oder verstimmt dreinschauen sollte. Vielleicht gehörte das auch schon zum Coup der Werwölfe. Doch die Heilerin schien diese Abfuhr locker wegzustecken und sagte:
"Natürlich achte ich die Gebote für Kinder und jugendliche verträglicher Inhalte in Ihrer Sendung. Daher wollte ich eben nur bekunden, dass ich Eileithyia Greensporns Empfehlung zu einhundert Prozent zustimme."
Der Sprecher wollte gerade was dazu sagen, wurde aber von einem plötzlich aus dem Radio dröhnenden Brummen überlagert. Das Brummen dauerte nur drei Sekunden. Dann klang das Ticken einer Standuhr. Julius sah auf seine Weltzeituhr. Es fehlten nur noch fünfzehn Sekunden bis halb zehn. Als der Sekundenzeiger seiner Uhr die Zwölf erreichte erklang das mehrstimmige Heulen von Wölfen aus dem Radio. Es hielt ganze zwanzig Sekunden lang an. Dann rief eine angerauhte Frauenstimme: "Schweigt, meine Brüder und Schwestern und vernehmt die Botschaft eures und meines großen Herrschers!"
"Jetzt wird's interessant", dachte Julius. Sagen wollte er nichts. Dann erklang eine rauhe Männerstimme, die wie aus einem sich ständig kürzer und länger schiebenden Rohr sprach. Der Mann sprach Spanisch, wie Julius gleich am ersten Satz hörte. Keine Sekunde nach seinen ersten Worten sprach ein Julius' unbekannter Mann mit unüberhörbarer Überlegenheit in der Stimme: "Wir, vom Monde erwählt und beschienen König Rabioso der erste von Lykotopia, tun hiermit allen Untertanen unseres erhabenen Reiches sowie allen Eingestaltlern Kund um zu wissen, dass wir, unsere Majestät, Rabioso der erste, es nicht mehr hinnehmen werden, wie die eingestaltlichen Menschen unser Volk und alle die unter dem Monde mit uns verwandten weiterhin wie unnützes Ungeziefer betrachten und wo es ihnen gefällt zu jagen und zu töten. Uns missfällt, dass unsere Untertanen und wir durch ständige Entwürdigung und Verfolgung leiden müssen und der uns zustehende Platz in der Gesellschaft denk- und empfindungsfähiger Wesen verwehrt wird, weil man uns als krank und abartig, unberechenbar und gefährlich eingestuft hat und damit rechtfertigt, unser Leben vorzeitig beenden zu dürfen, indem sie uns den Erwerb täglichen Fleisches vorenthalten, so dass wir in Elend und Hunger dahindarben müssen oder uns mit dem Mond entrissenen Waffen zu töten trachten, um uns aus der Welt zu schaffen. Doch dieses ist ein zum scheitern verurteiltes Unterfangen. Wir sind da, wir leben und wir werden weiterleben. Vernehmt nun unsere Forderungen!
Wir verlangen bis zum nächsten Vollmond die magisch beeidete Anerkennung unserer Untertanen als vollwertige, in ihrer Lebensführung frei und ungehindert bestätigte Mitglieder der denk-und empfindungsfähigen Rassen auf dieser Welt, sowie Entschädigung aller durch fortgesetzte Herabwürdigung und Ausgrenzung um den Lohn ihrer Leistungen gebrachten Untertanen in allen Landen, über die ihr bisher geboten habt. Ferner fordern wir die vollständige Anerkennung Lykotopias als zu allen Verhandlungen berechtigtes Reich mit dem Recht, über alles mitberaten und Vorschläge unterbreiten zu dürfen. Weiterhin fordern wir die Festnahme und Inhaftierung aller Eingestaltler, die es gewagt haben, den erhabenen Trank der freien Gestaltenwahl nachzubrauen. Sie sind uns ein Gräuel und haben sich unseren gerechtfertigten Zorn erworben. So sollen sie für den Rest ihres Lebens in Dunkelheit und Unfreiheit darben, wie ihr uns bisher habt darben lassen oder sich dazu bereitfinden, Untertanen unserer Majestät zu werden und durch den unbrechbaren Eid lebenslange Treue und Gehorsam zu schwören. Zum Schluss fordern wir den freien Zugang zu allen Lagerstätten, an denen das heilige Metall des Mondes in der Erde ruht, um dessen Förderung und Verwendung in unsere Obhut zu nehmen. Werdet ihr Eingestaltler es wagen, diesen Forderungen zu widersprechen und euch uns zu widersetzen, so haben unsere treuen Untertanen den Befehl, jeden Mondwechsel die Zahl unserer Untertanen zu verdreifachen, bis es genug von uns gibt, dass wir mehr als ihr seid. Euch ist eine gnädige Frist von einem Mond gewährt, diese unsere Forderungen zu erfüllen. Ab dann gilt unser gestrenger Befehl, das Reich mit neuen Untertanen zu bevölkern." Als der spanischsprachige Redner geendet hatte rief eine andere Männerstimme auf Spanisch: "Es lebe der König!" Ein Chor von mehr als dreißig Stimmen, überwiegend weiblichen, wiederholte den Ruf. "Es lebe Lykotopia!" übersetzte der wohl im Sendehaus postierte Dolmetscher. Danach erfolgte wieder das Chorgeheul von vielen Wölfen. Danach knisterte und krachte es im Radio, bevor Stille eintrat. Die Stille hielt ganze dreißig Sekunden vor. Dann sagte der, der eben die Rede übersetzt hatte:
"Ihr habt die Ansprache unseres erhabenen Königs vernommen. Die Frist gilt ab jetzt. Legt es nicht darauf an, sie ungenutzt verstreichen zu lassen oder gegen uns anzukämpfen." Dann ploppte es und rauschte es. Julius war nicht der einzige, der an apparierende Hexen und Zauberer dachte. Wieder trat für einige Sekunden Stille ein. Dann sagte der Radiosprecher von eben:
"Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, das war kein Scherz unseres Sendeleiters. Wir wurden wahrhaftig von feindseligen Leuten angegriffen, die mindestens zehn Werwölfe dabei hatten. Sie zwangen uns, bis zu einem Zeichen ihres Anführers unauffällig mit unserem Tagesprogramm fortzufahren, ansonsten würden wir alle getötet oder mit deren verfluchtem Keim angesteckt. Jetzt sind die alle mit Portschlüsseln weg oder disappariert. Natürlich stehen wir für Fragen des Ministeriums zur Verfügung."
"Dann mal los", dachte Julius für sich und hoffte, dass er nicht in diesen Einsatz geschickt wurde. Dieser Rabioso war doch wirklich krank, sich für eine Art zweiten Napoléon zu halten, der die ganze Welt bedrohen durfte. Schlimm war jedoch, dass er diese Drohung auch wahrmachen konnte. Dann fiel ihm ein, dass ja auch im Internet irgendwas veröffentlicht werden sollte. Wenn dieser Rabioso da auch seinem Größenwahn seinen Lauf gelassen hatte war die Geheimhaltung der Zaubererwelt womöglich gerade erledigt.
Eine Minute später verkündete Belle Grandchapeau voller Genugtuung, dass es über das Arkanet gelungen sei, die betreffenden Seiten zu kapern und jede Veröffentlichung abzufangen, bevor sie für alle Internetnutzer sichtbar wurde. Tatsächlich hatte jemand von einem Internetanschluss in Georgien aus Bilder von um sich beißenden Werwölfen und einen Mann im nachtschwarzen Anzug mit einem kupfernen Helm mit zwei überdimensionierten Wolfsohren auf dem Kopf auf die bereits angezapften Seiten zu schicken. Auch ein in Schrift und spanischem Originalton gehaltener Text war dabei. Darin erklärte Rabioso der Muggelwelt, dass es Werwölfe gebe und die Zeit nun reif sei, dass diesen die gebührende Anerkennung zu Teil würde. Auch von den Muggeln forderte er den Zugang zu Silbererzlagerstätten, um diese zu überwachen.
"Arkaguardian, Madame Merryweathers Filterprogramm gegen alle mit der magischen Welt unmittelbar zu tun habenden Inhalte blockierte alle weiteren Versuche, Rabiosos Trhonrede und Kriegserklärung ins Internet zu bringen. Allerdings gelang das vordringlich nur, weil der Standort der ersten Nachrichten ermittelt und gegen den Rest des weltweiten Datenstroms abgeschottet werden konnte. Das war auch ein Verdienst russischer Muggelweltspezialisten, die seit Januar mit im weltweiten Netzwerk der Zaubererwelt arbeiteten.
"Also, meine Damen und Herren", begann Zaubereiminister Grandchapeau um zwölf Uhr, nachdem er alle Mitarbeiter der Abteilungen für Zauberwesen, Strafverfolgung und internationale magische Zusammenarbeit, genauso wie die Vertreter der magischen Rundfunkanstalten im großen Konferenzsaal versammelt hatte: "Wir stehen unmittelbar vor einer schwerwiegenden Auseinandersetzung mit durch die Jahrhunderte andauernde Zurückweisung und Erniedrigung zu Schwerverbrechern gewordenen Werwölfen. Sie drohen damit, ihre Ansteckung unkontrolliert und überall zu verbreiten, bis es so viele von ihnen gibt, dass wir unbelasteten Menschen ihre Forderungen erfüllen. Ihnen allen sollte klar sein, dass wir weder den Forderungen dieses selbsternannten Königs von Lykotopia entsprechen noch zulassen dürfen, dass eine Handvoll krimineller Lykanthropen uns alle wie Geiseln behandelt oder mit ihrer Erkrankung ansteckt. Wir müssen dieser Bedrohung mit aller nötigen Härte entgegenwirken, dürfen dabei aber keinesfalls den überwiegenden Teil derjenigen Träger des Lykanthropiekeimes verdammen und verfolgen, die mit diesen Kriminellen genausowenig zu schaffen haben wollen wie wir. Da wir weder wissen, wo die Rädelsführer dieser Verschwörung gegen noch auf jeden sich zeigenden Lykanthropen losschlagen können bleibt uns nur, die bereits erprobten Mittel gegen Übergriffe der Kriminellen verstärkt zu produzieren und jedes Mittel, diese Kriminellen aufzuspüren vorrangig herzustellen und anzuwenden. Wir dürfen nicht den Fehler wiederholen, der von Janus Didier begangen wurde und jeden Lykanthropen oder mit einem solchen Verwandten unter Generalverdacht stellen. Es ist schlimm genug, dass diese Drohung ungehindert über unseren Rundfunk verbreitet werden konnte. Eine gegen alle Werwölfe gerichtete Stimmung hilft uns jetzt nicht weiter. Deshalb bitte ich Sie alle, sowohl in Ihrer Dienstzeit sowie im Kreise Ihrer Freunde und Verwandten darauf hinzuwirken, dass keine unkontrollierten Aktionen gegen bekannte oder ermittelte Werwölfe stattfinden. Ich habe Monsieur Colbert und dem Leiter des Koboldverbindungsbüros vorgeschlagen, die Ausgabe nicht zu Münzen geprägten Silbers sowie Mondsteins nur unter Vorlage einer ministeriellen Erlaubnis zu gestatten. Die Silbererzstätten, auf die wir Zugriff haben, werden strenger bewacht, um mögliche Angriffe der Lykanthropen zu verhindern. Des weiteren habe ich mich mit Kollegen in Deutschland, England, Spanien und den vereinigten Staaten in Verbindung gesetzt, um Aufspürmittel gegen böswillige Lykanthropen zu entwickeln und ohne großen bürokratischen Aufwand allen Zaubereiministerien der Welt zugänglich zu machen. Wir werden dieser Gefahr angemessen und mit der gebotenen Umsicht entgegentreten. Die von Lykotopia erhoffte Panik muss vermieden werden, um uns nicht alle der Willkür dieses selbsternannten Königs auszuliefern. Ich danke Ihnen allen für ihre Aufmerksamkeit."
"Gut, dass wir die Drohung Rabiosos noch vor der Verbreitung aus dem Internet gefischt haben", seufzte Julius. "George W. Bush hätte Rabioso glatt den Atomkrieg erklärt."
"Das ist doch genau das was die von Lykotopia wollen", meinte Gilbert Latierre, der für seine Zeitung die Rede des Ministers mitgeschrieben hatte. "Wenn Front gegen alle Lykanthropen gemacht würde bekämen diese Verbrecher immer mehr Anhänger und Helfer. Sind Sie von Ihrer Vorgesetzten Autorisiert, Fragen zu beantworten, Monsieur Latierre?"
"Nein, das bin ich nicht, ich bedauere", erwiderte Julius darauf und deutete auf Ornelle Ventvit. Gilbert nickte und wandte sich an sie. Doch Ornelle deutete auf den Leiter der Werwolfüberwachungsbehörde. Gilbert bedankte sich und stellte sich zu diesem, der gerade von einem Mitarbeiter von Radio freie Zaubererwelt interviewt wurde.
"Machen wir Mittagspause, Julius. Wer weiß, wie oft wir noch in Ruhe zu Mittag essen können." Julius nickte seiner Vorgesetzten zu.
Nach der Mittagspause, wo an allen Tischen nur ein Thema besprochen wurde, bereitete sich Julius innerlich auf den Besuch bei Églée Blériot vor. Er dachte daran, ob Euphrosynes Mutter ihm noch Vorhaltungen machen oder für ihre Tochter Partei ergreifen würde, was auch heißen konnte, dass sie ihm die Schuld an den inszenierten Dopinganschuldigungen gegen Aron Lundi gab oder sich freute, dass ihre Tochter doch nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen musste, was ja sowohl Segen als auch Fluch sein konnte. Am Ende befand er, dass er so oder so mit den Blériots und ihren Verwandten klarkommen musste, weil der Ältestenrat der Veelas ihn eben zu ihrem Vermittler berufen hatte.
Julius empfand das kleine, mauvefarbene Haus der Blériots als noch kleiner, als er es in Erinnerung hatte. Das lag wohl daran, dass er es zuerst aus der Warte eines auf knapp zwanzig Zentimeter eingeschrumpften Schwanenreiters gesehen hatte. Damals war er auf Létos Rücken auf dem Balkon des zweiten Stockwerks gelandet. Heute würde er wie jeder Nicht-Veela die Haustür benutzen.
Rechts neben der Tür hing ein silberner Glockenstrang. Doch Julius musste nicht daran ziehen. Denn als er keine zehn Schritte mehr von der schneeweiß gestrichenen Tür entfernt war wurde sie schon geöffnet. Églée Blériot stand in der Türöffnung. Sie trug ein bis zu den Waden herabreichendes Kleid aus hellblauem, seidigweich fließendem Stoff. Sie winkte Julius zu, der wohl noch rechtzeitig das Lied des inneren Friedens angestimmt hatte, um von der Wucht ihrer übernatürlichen Ausstrahlung unbehelligt zu bleiben. Er winkte freundlich lächelnd. Als er keine zwei Schritte mehr von ihr entfernt war begrüßte er sie ruhig und eher wie ein Beamter klingend.
"Ich habe vergessen, dass Ihre Wiege auf britischem Boden stand und Sie daher zur Pünktlichkeit erzogen wurden", säuselte Églée. "Unsere Uhr hat genau in dem Moment zwei Uhr nachmittags geschlagen, als Sie vor meiner Tür apparierten."
"Nun, ich habe gelernt, nicht nur in meinem Geburtsland, dass vereinbarte Zeiten schon einen Sinn machen", erwiderte Julius, der sich fragte, was diese Belanglosigkeiten, deren englische Bezeichnung Smalltalk in viele andere Sprachen eingezogen war, nun sollten. So fragte er noch, ob ihr Mann Didier auch schon da sei.
"Der ist zum Erfolg von Aufträgen erzogen worden. Er wird wohl erst in einer Viertelstunde da sein, wenn er mit den ihm gestellten Aufgaben durch ist", sagte Églée zuckersüß lächelnd. Julius musste an einen Kniesel oder eine übliche Hauskatze denken, die schnurrte und um die Beine von jemandem strich und dabei ihre scharfen Krallen und Zähne verbarg. Das Gefühl, vielleicht doch in eine Falle zu tappen meldete sich zurück. Doch er verdrängte es sofort wieder. Wenn sie was mit ihm vorhatte, was ihm nicht gefiel bekam sie mehr Ärger als ihr lieb sein konnte. Und umbringen durfte sie ihn nicht, weil Léto ihn zu ihrem Schützling erklärt hatte. Derartig beruhigt sagte er nur:
"Dann ist es vielleicht günstiger, wenn wir mit der Unterredung warten, bis Ihr Mann wieder zu Hause ist." Églée nickte zustimmend.
Im Haus der Blériots sprachen sie über die letzten Wochen und dass Julius wegen der Geburt seiner zweiten Tochter mehrere freie Tage hatte. Églée erwiderte dazu, dass es seine Vorgesetzten wohl nicht davon abgehalten habe, ihn zusammen mit ihrer Mutter Léto hinter Euphrosyne herzuschicken. Julius erwähnte dazu, dass Léto ihn darum gebeten habe, ihr zu helfen. Églée Blériot überlegte kurz und musste dann nicken. "Das kann ich mir vorstellen, dass ihr das nicht gefiel, dass meine Tochter sich ihren Gefährten ohne den Segen ihrer Großmutter erwählt hat, nachdem wie die reinrassigen Veelas mit meiner Entscheidung umgesprungen sind. Julius hielt es für klüger, keine direkte Antwort auf diese Bemerkung zu geben. Er sagte statt dessen:
"Es wäre siccher auch kein Problem für die Zaubererwelt, wen sich Euphrosyne ausgesucht hat, wenn da nicht die von ihr irgendwie verzauberten Männer wären, die die Wohnung von Aron Lundi, ihrem wohl jetzt de jure und de facto Schwiegersohn bewacht haben. Ich selbst musste feststellen, dass einer dieser Männer übermenschlich stark war, was ohne Magie oder eine noch in einer unbekannten Zukunft liegenden Technologie unmöglich ist. Das ist ein Punkt, weshalb Ihre Tochter wohl längst vor Gericht gestellt worden wäre, wenn sie es nicht angestellt hätte, dass sie nicht lange am Leben bliebe, wenn jemand sie festnehmen und wegsperren würde. So kann das Ministerium nur hoffen, dass Ihre Tochter nicht zur unerträglichen Schwerverbrecherin wird, der dann doch irgendwie beizukommen ist."
"Gut, das ist die Meinung Ihrer Dienststelle, Monsieur Latierre. Aber wie sehen Sie das persönlich?" stellte Églée eine sehr direkte und von Julius auch schon erwartete Frage. Er atmete kurz durch und erwiderte: "Wenn Ihnen an meiner persönlichen Meinung gelegen ist, hätten Sie mich nicht offiziell um Beistand bitten dürfen. Denn ich bin jetzt im Dienst und bin laut Dienstvorschrift gehalten, nur im Rahmen der Zaubereigesetze zu handeln und zu argumentieren, ohne Ansehen von Personen oder persönlicher Auffassung." Églée verzog zwar erst das Gesicht, weil Julius so unbeeindruckt und förmlich geantwortet hatte. Doch dann nickte sie verhalten. Dann deutete sie auf den Tisch, an dem sie beide saßen.
"Hmm, ich war unhöflich, Monsieur Latierre. Ich habe Ihnen nichts angeboten. Möchten Sie etwas trinken?" fragte sie mit einem sehr warmen Lächeln. . Julius dachte nicht im Traum daran, hier und jetzt was trinken zu wollen. Dafür hatte er sich zu sehr mit Zaubertränken befasst. Außerdem fühlte er trotz des Liedes des inneren Friedens, dass Églée wohl ihren ganzen Veelacharme auf ihn ausstrahlte. So sagte er:
"Ich weiß, es ist unhöflich, angebotene Speisen und Getränke zurückzuweisen. Andererseits erhielt ich vor meinem Aufbruch von meiner Vorgesetzten Ventvit den unumstößlichen Befehl, außerhalb des Ministeriums keine Speisen und Getränke zu mir zu nehmen, die nicht durch zertifizierte Heiler und Zaubertrankexperten für unbedenklich erklärt wurden. Dadurch, dass heute morgen ein größenwahnsinnig gewordener Werwolf der ganzen unbelasteten Menschheit mit einem Sturmlauf beißwütiger Schicksalsgenossen gedroht hat müssen wir alle davon ausgehen, dass auch an Mitteln geforscht wird, die den Keim der Lykanthropie unter Umgehung des üblichen Übertragungsweges verbreiten. Daher gilt diese neue Dienstanweisung." Das war zwar frei erfunden, konnte von Églée aber nicht nachgeprüft werden.
"Nichts für ungut, aber damit unterstellen Sie mir, ich würde versuchen wollen, Sie mit Tee oder Kaffee zu vergiften oder Ihnen dauerhaften Schaden zuzufügen. Das ist aber nicht gerade taktvoll", erwiderte Madame Blériot.
"Dessen bin ich mir im klaren", erwiderte Julius ungerührt von dem Vorwurf. "Aber Sie wollen schließlich auch nicht, dass unsere Sicherheit gefährdet wird, weil es jemandem wie auch immer gelingt, alle dafür zuständigen Hexen und Zauberer außer Gefecht zu setzen", fügte er noch hinzu. Églée nickte rein mechanisch. Sie kam dann darauf, wieso Fußball bei den magielosen Menschen so beliebt war wie Quidditch bei Hexen und Zauberern. Julius erzählte ihr dann, wie es zur so großen Begeisterung kam und dass Fußball ja überall auf der Welt gespielt werden konnte, wenn ein ausreichend großer Ball und zwei als Tore dienende Abschnitte auf dem Spielfeld gekennzeichnet werden konnten. Innerlich stimmte er immer wieder das Lied des inneren Friedens an, weil er schon merkte, dass Églée darauf lauerte, dass er ihrer betörenden Ausstrahlung erliegen mochte. Sich vorzustellen, dass ein Mann ihr und ihren Verwandten mütterlicherseits widerstehen konnte passte der goldblonden Schönheit wohl nicht ins Konzept. Julius sah ihr an, dass sie sichtlich um ihre Fassung rang, weil er sich noch ganz ruhig und selbstbeherrscht verhielt. Doch dann lächelte sie unvermittelt, als habe sie gerade eine höchsterfreuliche Nachricht erhalten oder einen Erfolg errungen. Julius fragte sich, was die gerade noch so angespannte Halbveela derartig umgestimmt hatte. Dann fühlte er das Vibrieren an seinem linken Handgelenk. Gleichzeitig erstarb das warme, regelmäßige Pulsieren, das von dem unter seinem Unterhemd verborgenen Herzanhänger ausging. Im gleichen Augenblick änderte sich auch das bisher im Hintergrund klingende Tick-tack der Standuhr. Es wurde zu einem dauerhaften, leisen Schnarren. Julius blickte zum Zifferblatt der Uhr. Die Zeiger zitterten auf der Stelle. Als er seine Armbanduhr vor die Augen hob sah er, dass auch die Zeiger seiner Weltzeituhr zitternd in ihrer gerade erreichten Stellung blieben. Er wollte zu seinem Zauberstab im diebstahlsicheren Futteral greifen. Doch er schaffte es nicht, ihn freizuziehen. Er erkannte, dass er trotz aller Vorsicht in eine Falle geraten sein musste, eine besonders perfide noch dazu: Eine Zeitfalle.
Im Hort des magischen Lebens, von dem nur die Eingeweihten wussten, wo er zu finden war, versammelte sich der ganze hohe Rat des Lebens, zzehn Hexen und zwanzig Zauberer, die alle das Privileg innehatten, die meisten eigenen Kinder gezeugt oder zur Welt gebracht zu haben. Zwar galt hier jeder gleichberechtigt, dennoch war Mater Vicesima die unbestreitbare Respektsperson. Zusammen mit Pater septimus decimus bildete sie ein Paar von Primi inter pares, der erstenunter Gleichen. Sie hatten natürlich auch noch übliche Namen. Doch mit denen durften sie sich nur außerhalb der Ratssitzungen ansprechen, zumal Mater Vicesima ihren Namen schon dreimal geändert hatte, genauso, wie sie schon zum zweiten Mal aufgewachsen war. Im Moment sah sie wie eine Hexe von Mitte fünfzig aus, noch etwas füllig von einer vor sieben Monaten erfolgreich beendeten Zwillingsschwangerschaft, die ihr die Kinder neunzehn und zwanzig, zwei Jungen, beschert hatte.
"Vita magica", sagte sie zur begrüßung aller anderen. "Maximae Divitiae", vollendeten die neunundzwanzig anderen Ratsmitglieder im Chor. Dann setzten sie sich um den großen Ratstisch. Sie alle trugen blattgrüne Kleidung, die Männer maßgeschneiderte Anzüge ohne Halsschmuck, die Frauen ebenfalls maßgeschneiderte, jedoch jeden ihrer Reize hervorhebende Kleider mit tiefen Ausschnitten. Wenn sie andere Mitglieder zu sich riefen trugen sie zudem noch blütenweiße Roben mit dem Emblem, das ein V zeigte, zwischen dessen Schenkeln ein M hervortrat. Diese Roben hingen gerade sorgsam ausgebreitet über den breiten und hochlehnigen Sitzungsstühlen.
"Ihr kennt die Tagesordnung, liebe Mitglieder", sagte Pater Septimus Decimus, ein Zauberer, der zwei Jahrzehnte älter aussah als seine um drei Kinder vorauseilende Amtsgenossin. "Die beißwütigen Lykanthropen haben unsere Ankündigung an ihre nordamerikanischen Genossen offenbar zum Anlass genommen, ein Reich der Werwölfe auszurufen und Forderungen an die magielose und magische Welt auszusprechen. Das heißt, dass sie unsere Aufforderung nicht nur ignorieren, sondern schlicht weg für lachhaft erachten. Wir müssen also davon ausgehen, dass wir, wenn wir hart bleiben wollen, dazu beitragen werden, innerhalb der nächsten Monate mehrere hundert oder tausend bisher arglose Menschen zu töten, sobald diese den Keim der Lykanthropie im Blut haben. Deshalb muss ich euch das fragen: Geht ihr alle diesen Weg mit?"
"Wenn es uns nicht vorher gelingt, die beißwütigen und machthungrigen Werwölfe von denen zu trennen, die in ihrem Dasein eine Belastung, aber keine Vorrangstellung erkennen werde ich diesen Weg mitgehen, Pater Septimus Decimus", sagte Mater Undecima, eine afroamerikanische Hexe von fünfzig Jahren, die hoffte, den Rekord von Ursuline Latierre ohne Wiederverjüngung und Wiederwachstum überbieten zu können.
"Und ihr anderen, fragte Mater Vicesima in die Runde. Alle stimmten hörbar zu, im Zweifelsfall hunderte oder tausende Menschen sterben zu lassen, sofern es keine Träger magischen Blutes waren. Allerdings erhob Pater Quintus Decimus, ein australischer Zauberer, den Einwand, diese heikle Frage besser allen Mitgliedern der erhabenen Organisation zur Förderung und Mehrung magischen Lebens vorzulegen und jedes Mitglied darüber befinden zu lassen, ob es diesen Weg mitgehen würde.
"Alle dreitausend Mitglieder befragen?" warf Pater Tertius Decimus ein, ein Zauberer aus Bulgarien. "Bei all deiner Sympathie für die Regierungsform Demokratie, werter Kollege, aber das würde in langwierigen Erhebungen ausarten, zumal wir unsere Mitglieder dazu bringen müssten, ihre Heimlichkeit zu gefährden. Jedes Mitglied hat bei der Initiation entschieden, ob es der Akte von Toronto zustimmt oder nicht. Die ist seit 1802 in Kraft und bisher von keinem Rat hinterfragt oder geändert worden."
"Nun, ich wollte nur einwerfen, dass nicht jeder sich mit dem Tod von unschuldigen Menschen belasten möchte und Gewissensnot schon häufig die Gemeinschaft und die Sicherheit einer geheimen Gesellschaft gefährdet hat, weil es doch den einen oder anderen gab, der oder die aus purer Gewissensnot Verrat übte, um das eigene Gewissen zu entlasten. Das dürfen wir nicht unterschätzen", wandte Quintus Decimus ein.
"Dann frage ich, wie groß die Gewissensnot ist, wenn durch unsere langwierige Befragung nicht hundert oder tausend sondern zehn- oder hunderttausend Werwölfe getötet werden müssen", sagte Septimus Decimus. Mater Vicesima nickte ihm zu und sah dann alle mit ihren meergrünen Augen prüfend an. Dieser Blick duldete keinen Widerspruch und drang tief in das Bewusstsein jedes einzelnen ein, den er traf. Schweigen breitete sich über alle Ratsmitglieder aus. Dann sagte Mater Vicesima: "Ich erkenne, dass niemand dies zulassen will, dass diese beißwütigen Werwölfe unseren Planeten verseuchen und es niemanden mit unseren Kenntnissen und Errungenschaften gibt, der dagegen vorgehen möchte, wie diese sich ausbreiten. Also müssen wir es tun. Das sind wir alle unseren Kindern schuldig." Quintus Decimus dachte nur für sich, dass die meisten von Vicesimas Kindern nicht mehr wussten, ob ihre Mutter noch lebte oder nicht, denn nur neun von denen hatte sie bis zum Erwachsenwerden großgezogen. Aber das durfte er ihr hier und auch sonstwo nicht auf die Nase binden. Der einzige, der es gewagt hatte, sich ihr offen zu widersetzen hatte mit ihrem siebzehnten Kind zusammen neu aufwachsen dürfen, als das Problem mit der Speicherung und Abstimmung von Totalamnesie- und Infanticorpore-Fluch gelöst worden war.
"So überlassen wir es jenen, die den Weg nicht mitgehen wollen, sich der Gnade der Reinitiation ergeben?" fragte Mater Undecima. Die anderen Ratsmitglieder nickten. Mit der Lösung konnten sie leben, wenngleich die Reinitiation, also die totale Wiederverjüngung mit vollständiger Gedächtnislöschung eher als Strafe und Abwehrwaffe gegen magische Menschen ersonnen worden war und nicht als Gnadenakt.
"Kommen wir zu Tagesordnungspunkt zwei, die ministerielle Fahndung nach unseren Leuten", sagte Mater Vicesima. "Wie mir zu Ohren kam hat Fornax Hammersmith Strafanzeige gegen uns gestellt. Wie nahe oder wie weit sind uns die Ministeriumszauberer?"
"Im Moment konzentrieren sie sich auf die Werwölfe und Vampire", sagte Mater Undecima. Aber wenn sie den Ablauf des Festes noch einmal in allen Einzelheiten nachstellen wollen, könnte es ihnen passieren, dass herauskommt, wer unsere Verteiler sein könnten. Innerministeriell wird sogar schon davon gesprochen, dass die SNG-Liste korrigiert und wir auf den zweiten Platz gesetzt werden sollen."
"Den zweiten Platz? Vor wem?"
"Vor diesem Vengor und vor der Gruppe um die schwarze Spinne", sagte Mater Undecima.
"Oha, da würden aber viele nicht mehr mitmachen, wenn sie erführen, dass sie einer Gruppe angehörten, die über einer intriganten Hexenschwesternschaft und über einer ausgewiesenen Mörderbande notiert ist", seufzte Mater Tertia Decima, eine deutsche Hexe, deren Mann bis heute noch nicht wusste, wie sie drei Drillings- und eine Vierlingsschwangerschaft hinbekommen hatte.
"Dann sollten wir, wenn es wirklich so kommen sollte, alle die Zaubereiministerien auskundschaftenden vereidigen, nur uns vom Rat darüber zu berichten", sagte Mater Vicesima.
"Und wenn sie das nicht schaffen zurück in Wiege und Windeln", kicherte Pater Quartus Decimus, ein spanischer Zauberer, der seine den Namen verleihenden vierzehn Kinder mit drei Frauen hinbekommen hatte, die voneinander nichts wussten.
"Bedenke, dass dir ein solches Schicksal widerfahren könnte, wenn eine deiner Blutmehrerinnen erfährt, dass sie nicht die eine und einzige ist", warnte Vicesima ihren Ratsgenossen. "In meiner Heimat heißt es, eine wütende Hexe ist schlimmer als zehn Drachen."
"Nur dass unser wackerer Pater Quartus Decimus zwei Muggelfrauen bezirzt und beglückt hat", feixte Tertius Decimus, der es genoss, den um ein Kind besser stehenden Kollegen mal eins auswischen zu dürfen.
"Hauptsache, meine Kinder können alle zaubern, Tertius Decimus. Bis deine zehn waren war das ja nie sicher, ob die nicht als Muggel fertigwachsen würden", revanchierte sich Quartus Decimus. Dann sagte Septimus Decimus:
"Genug. Wenn ihr Kinderhortkäbbeleien wollt steht es euch frei, euch reinitiieren zu lassen." Das traf und saß.
"Also Punkt drei, die öffentliche Beurteilung unserer Aktion Moras Geschenk. das wir damit an wahrhaftigen Mörderbanden vorbeirücken und dass wir damit rechnen dürfen, dass jedes entlarvte und in Haft genommene Mitglied sich Anklagen wegen mehrfacher Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Missbrauch der Magie gegenübersehen muss", sagte Septimus Decimus. "Gut, das haben wir dann auch. Ist die Liste der durch Moras Geschenk entstandenen Elternpaare denn zumindest jetzt vollständig?" fragte er. Seine Kollegen holten ihre Aufzeichnungen hervor und prüften sie auf fehlende Angaben. Dann nickten alle.
"Der letzte Tagesordnungspunkt für heute ist die Sache mit den Verwandten der Opfer von Vengor. Mater Duodecima, sind alle Vorkehrungen getroffen, dass deine Enkeltochter außer Gefahr ist, sollte sich bewahrheiten, was in den Ministerien herumgeht?"
"Ich habe das mit einigen Mitstreitern geklärt. Sie will aber, dass der Vater ihres ungeborenen Kindes auch gerettet wird, sollte Vengor seine Krallen nach ihm ausstrecken. Sie legt wert darauf, dass ihr Kind einen Vater hat."
"Wie sollen wir das anstellen, wo sie und er gut abgeschirmt leben?" fragte Pater Duodecimus.
"Im Zweifelsfall, hat sie gesagt, will sie eine als Kleidungsstück getarnte Vorrichtung, um mit ihm und ihrem ungeborenen Kind fliehen zu können, am besten noch zusammen mit seinen Geschwistern."
Gib deiner Tochter bitte weiter, wir kümmerten uns darum, wo wir schon diesem jungen Leben neues Leben zumuten. Aber diese Erblinie in das eigene Fleisch und Blut einzubringen war eine zu günstige Gelegenheit, als sie ungenutzt zu lassen", sagte Pater Septimus Decimus. Alle nickten."Ich möchte gerne noch erwähnen, sozusagen als Tagesordnungspunkt fünf, dass wir weiterhin die Entwicklung der Kinder des Ruster-Simonowsky-Zauberers Julius Latierre geborener Andrews beobachten müssen, inwwieweit seine besonderen Gaben ihre zauberischen Talente bedingen und ausrichten", sagte Mater Vicesima.
"Das haben wir doch auch schon bei Orfeo Colonades veranlasst", erinnerte Septimus Decimus sie daran.
"Ich wollte dies nur klarstellen, dass diese Regelung auch für die Eheleute Mildrid und Julius Latierre und ihre Kinder gilt."
"Vielleicht hat der Junge jetzt genug davon, wo er zwei hingekriegt hat", feixte Tertius Decimus.
"Nein, der hat noch nicht genug, und seine Frau auch noch nicht", grinste Vicesima schalkhaft. "Da müssen wir nicht intervenieren."
Am Ende der kurzen Ratssitzung sprach Vicesima mit auf den Bauch gelegter Hand: "Vita Magica", worauf die anderen mit auf den Unterleib gelegten Händen sprachen "Ad eternum continuato!"< Dann verließen sie alle das geheime Ratszimmer, um ihren bürgerlichen Tätigkeiten und Verpflichtungen weiter nachzugehen.
Sie hatte im Nebenzimmer gewartet und durch Augen und Ohren ihrer Mutter mitverfolgt, wie sie versuchte, den Besucher dazu zu bekommen, seine unglaublich starke innere Abwehr zu vernachlässigen. Gleichzeitig fühlte sie die von ihm auf ihre Mutter ausstrahlende Verbundenheit. Es stimmte also wirklich, dass ihre Großmutter Léto ihn durch die Macht der körperlich-seelischen Bindung eine Zeit lang mit sich und damit auch allen ihren Verwandten verbunden hatte. Aber offenbar hatte sie ihm dann mit dem Lied vom Schlaf der Geborgenheit die Zeit verschlafen lassen, damit er nicht geistig zu ihrem schutzbefohlenen, neugeborenen Kind im Körper eines gerade erst erwachsen gewordenen Mannes zurückverwandelt wurde. Doch die Bindung war da und war unbrechbar geworden. Das hieß, dass sie oder ihre Mutter ihm keine körperliche oder geistige Gewalt antun durften. Das hieß aber auch, dass er selbst genau wie sie und ihre Mutter frei beweglich bleiben würde, wenn sie den vor zehn Jahren in Abwesenheit ihres Vaters gewirkten Zauber der verharrenden Zeit wirkten. Sie sang ihrer Mutter im Geiste zu, dass sie seine Unterstützung erlangen würden, weil er mit ihnen verbunden war. ER müsse sie halt nur lange genug ansehen, ohne unnatürliche Verhüllung. Dann dachten sie und ihre Mutter zeitgleich das auslösende Wort für den Zauber.
Rein körperlich war nichts davon zu spüren, dass er in Kraft trat. Nur in den Bewusstseinen der beiden veelastämmigen Hexen entlud sich ein kurzer Schauer. Jedes nicht durch die Verbundenheit mit ihnen geschützte Wesen musste nun erstarren. Ab jetzt konnten sie solange frei agieren, bis beide zusammen das Wort für den Wiedereintritt in den normalen Zeitablauf dachten. Um nicht der lästigen Nebenwirkung anheim zu fallen, nach Wiedereintritt in den Zeitfluss schlagartig um Jahre oder Jahrzehnte älter zu werden, je länger der Zauber vorhielt, hatten sie gleichzeitig eine Komponente eingewirkt, die diese Blitzalterung in die freie Luft außerhalb des Hauses ableitete. Alle in diesem Moment in zweihundert Schritt um das Haus herum anwesenden Tiere, Pflanzen oder Menschen würden dann um einige Minuten oder Stunden älter werden, bis sich die freigesetzte Nebenwirkung mit der Luft verteilt hatte. Doch jetzt galt es, endlich Klarheit zu gewinnen, ob Julius Latierre aktiv an der Rufmordaktion gegen ihren Gefährten beteiligt gewesen war.
Euphrosyne Lundi ließ ihrer Mutter den Vortritt, weil sie näher mit Himmelsglanz, die bei den Menschen Léto hieß, verwant war.
Der junge Zauberer war gerade aufgesprungen, weil die magischen Dinge, die er am Körper trug wohl auf den Zeitverharrungszauber reagierten. Da ließ Églée ihr Kleid vom Körper rutschen. Darunter trug sie nichts weiteres. Der junge Zauberer erstarrte einen winzigen Moment. Dann versuchte er, sich abzuwenden. Doch in dem Moment sagte Églée: "Sieh mich an, deine Schwester!" Zwar mochte der Geistesschild dieses Burschen noch halten. Doch durch den direkten und ohne jede Verhüllung gestörten Anblick griff die zwischen ihm und ihr bestehende Verbundenheit. Dadurch, dass sie sich auch noch als seine Schwester bezeichnet hatte wirkte die Verbundenheit noch stärker. Er versuchte wohl, sich dagegen zu wehren. Doch er konnte es nicht. Sein Körper gehörte ihm im Moment nicht mehr.
Euphrosyne Lundi legte mit einem schnellen Zauber alle ihre Kleidung ab und trat durch die Tür des Nebenzimmers ins Wohnzimmer ein. Julius Latierre sah immer noch auf den Körper der vor ihm stehenden Hausherrin.
"Sieh und erkenn auch mich an, deine mit dir verbundene Verwandte!" befahl Euphrosyne und posierte vor dem Besucher, der im Moment eher ein Gefangener war. Julius Latierre erstarrte, als habe ihn der Zeitzauber doch noch überwältigt. Doch die Erstarrung hielt nur zehn Sekunden lang vor. Dann regte er sich. Er keuchte und wimmerte. Dann erkannte er wohl, dass sie ihn überrumpelt hatten. Der junge Zauberer versuchte, seinen Zauberstab freizuziehen. Doch das gelang nicht. Der steckte fest wie festgebacken. Dann versuchte er, Mutter und Tochter körperlich anzugreifen. Euphrosynes Mutter sagte: "Du darfst deiner Schwester und ihrer Tochter nichts tun!" Das wirkte wie ein Schlag gegen den Körper und ein Iovis-Zauber, erkannte Euphrosyne. Dann fühlte sie schlagartig, wie der innere Abwehrschild des jungen Zauberers erlosch. Sofort konzentrierte sie sich darauf, aus allen Fasern ihres Geistes und Körpers die machtvolle Ausstrahlung freizusetzen, die fast jedes humanoide Wesen männlichen Geschlechtes überwältigte und ihn wie Wachs in der Kerzenflamme dahinschmelzen ließ. Auch ihre Mutter ließ ihre volle Ausstrahlung wirken. Hinzukam nun noch, dass alle drei durch Létos besondere Fürsorge und Bezauberung miteinander verbunden waren.
"Sei wohl geborgen, ganz ohne Sorgen", sangen die beiden Veelastämmigen nun mit glockenhellen Stimmen. Diese beschwörenden Worte wiederholten sie sibenmal. Eigentlich sollte dabei eine direkte Verbindung zwischen ihrem und seinem Geist entstehen, die ihnen die Möglichkeit gab, alle Erinnerungen und Gedanken zu ergreifen, die sie sehen und hören wollten. Doch statt dessen war ihnen, als prallten sie gegen eine Wand aus gleißendem Licht und hörten das laute Brüllen eines ungeheuer großen Tieres. Dann hörten sie das Lied, mit dem Léto ihnen immer etwas zum Einschlafen vorgesungen hatte. Die Verschmelzung endete erneut mit dem Gefühl, gegen eine gleißende Lichtwand zu prallen.
"Die Mächte, die ihm den versunkenen Schatz gezeigt haben, haben seinen Geist gegen jede Form des unfreiwilligen Verrates geschützt und ihm wohl zu allem Verdruss noch einen inneren Wächter beigegeben, der seine Erinnerungen vor Wesen wie uns beschützt, ohne dass er davon etwas weiß und fühlt", flüsterte Églée.
"Mutter, ich will wissen, ob er in dieser Verschwörung gegen meinen Mann mit drinsteckt", fauchte Euphrosyne wie eine wütende Katze. Ihre Mutter nickte. Dann fragte sie Julius mit schon glasharmonikaartig klingender Stimme:
"Sage deiner Schwester doch, was du mit Euphrosynes Angetrauten so anstellst. Hilfst du denen, die ihn seine Arbeit vergellen wollen?"
"Ich habe nur geschrieben, dass Berufssportler wegen Dopings gesperrt werden können", erwiderte Julius mit einer weltentrückten Stimme. Euphrosyne fragte ihn behutsam sprechend, wem er das wie geschrieben hatte. Dann erfuhr sie auf Anfragen nur, dass er von Ornelle Ventvit die Anweisung erhalten habe, sich nicht weiter damit zu befassen. Er hatte dann nur mitbekommen, dass etwas gegen Aron Lundi ins Werk gesetzt worden war.
"Du hast nichts getan, um meinen Mann in Ungnade zu stürzen?" wollte Euphrosyne wissen. Julius verneinte es. "Dann wirst du auch in Zukunft nichts unternehmen, um ihn oder mich zu gefährden! befahl sie dann noch. Églée sagte dann noch:
"Das soll das einzige sein, woran du dich erinnern sollst." Dann begann sie ein neues Lied zu singen, das Julius in eine tiefe Trance versetzte.
"Nein, Mutter, ich will ihm die Erinnerungen nehmen", schnarrte Euphrosyne, als ihre Mutter Anstalten machte, sich über den gerade tief und ruhig atmenden Zauberer zu beugen.
"Mein Haus, Meine Regeln, Tochter. Du hast von mir bekommen, was du haben wolltest. Ich habe ihn hergelockt, ich werde sichern, dass er keinen Anlass hat, gegen dich oder mich vorzugehen."
"Es betrifft mich", knurrte Euphrosyne.
"Wirst du wohl folgen, du unbezähmbares Mädchen? Bei Mokushas warmem Schoße befehle ich dir, mir den Vortritt zu lassen."
"Mokusha ist tot und ..." stieß Euphrosyne aus, als sie unvermittelt wie in eine feste, körperwarme Umhüllung eingeschlossen in der Luft hing und dabei langsam und unaufhaltsam in eine gekrümmte Haltung verfiel, die Beine immer weiter zum Körper hingezogen. Églée lächelte überlegen. "Die Nachkommen sind gebunden, in allen Lebensstunden", zischte sie. Dann beugte sie sich über Julius, öffnete seinen Mund ein wenig weiter und drückte ihren Mund dann auf den seinen.
Julius Latierre starrte auf seine Weltzeituhr. Hatte er echt eben noch gedacht, sie wäre stehengeblieben? Er fühlte seinen Herzanhänger warme und regelmäßige Ströme in seinen Brustkorb aussenden und wusste, dass Millie und er noch miteinander verbunden waren. Vor ihm saß Églée Blériot und lächelte ihn an.
"Irgendwer", sagte sie, "versucht gerade wohl, die Zukunft meines Schwiegersohnes zu ruinieren. Aber weil Sie ohne Anflug von Schuld zu mir hereingekommen sind weiß ich, dass Sie da nicht mit drinstecken."
"Ach, wie haben Sie das denn .." Julius erkannte, das sein Lied des inneren Friedens offenbar nachgelassen hatte. Denn unvermittelt fühlte er die Hingezogenheit zu dieser Frau, für die er alles tun wollte. "Monju, mach zu!" hörte er Millies Gedankenstimme und gleich noch Temmies hinterher: "Sie hat darauf gewartet, dass du deinen Schutz vernachlässigst. Errichte ihn schnell wieder!" Julius kam dieser Anweisung aus zwei mit ihm verbundenen Geistern sofort nach. Dann sagte er:
"Netter Versuch, mich aus dem Konzept zu bringen, Madame Blériot. Aber sei es drum! Ich bin nicht für das verantwortlich, was gerade mit Ihrem Schwiegersohn passiert. Ich weiß zu gut, dass ich ihm nichts tun darf und ihrer Tochter auch nicht. Das habe ich auch meiner Vorgesetzten so berichtet. Wenden Sie sich doch mit einer Beschwerde an sie!"
"Das werde ich tun, jetzt wo ich es amtlich habe, dass meine Tochter verheiratet ist. Bekanntlich müssen in der magielosen Welt geschlossene Ehen, wo mindestens ein magieloser zum Brautpaar gehört, auch in der magischen Gemeinschaft anerkannt werden. Sagen Sie Ihrer Vorgesetzten bitte mit einem schönen Gruß von mir, dass sie demnächst eine formal korrekte Beschwerde erhalten wird!"
"War das der einzige Grund, warum Sie mich herbaten?" wollte Julius wissen.
"Nein, der offizielle Grund bleibt weiterhin gültig. Wenn mein Mann zu Hause ist möchten wir von Ihnen in den grundlegenden Angelegenheiten der magielosen Welt unterrichtet werden, zumal ja wohl außer meiner Tochter auch meine Nichte Gabrielle irgendwann einen aus der magielosen Welt heiraten wird, wenngleich der ein immer besser werdender Zauberer ist."
"Nun, das ist ja doch mein Beruf", grummelte Julius etwas verbittert. Doch er fragte, wie sie trotz seines Geistesschutzes mitbekommen hatte, dass er keine Schuld trug.
"Weil Sie durch meine Mutter zu einem unserer Adoptivverwandten wurden, auch wenn Ihnen das nicht immer bewusst ist. Deshalb wirkt ein Zauber, ob jemand aus meiner Verwandtschaft sich gegen mich oder einen anderen Verwandten schuldig gemacht hat. Dagegen kann auch der innere Schutzwall, den sie wohl dem versunkenen Schatz entnommen haben, nichts ändern, weil es über den Körper ghet. Wer sich schuldig macht prägt es in seinen Körper ein, nicht nur in seine Seele." Julius nahm diese Behauptung hin. Offenbar hatte er deshalb geglaubt, seine Uhr wäre einen Moment lang zitternd stehengeblieben. Das konnte eine Nebenwirkung dieses Zaubers sein.
Als Monsieur Blériiot von seiner Arbeit nach Hause kam grummelte er erst, weil Julius da war: "Ach, der Schwiegersohn von Hippolyte Latierre ist schon da." Doch dann erkannte er, dass es zu wichtig war, dass Julius da war.
Die nächsten beiden Stunden vergingen mit einer langen und breiten Unterhaltung über die Welt der Magielosen, beginnend bei Fußball, über Verkehrsmittel wie Autos, Züge, Flugzeuge und Busse, weiterführend über elektrische Geräte, sowie elektronische Geräte wie Fernseher und Computer und warum diese immer mehr das Leben der magielosen Menschen beeinflussten bis zum Schluss noch über die politischen Verhältnisse der europäischen Staaten und die Lage nach dem elften September 2001. Didier Blériot, der bei der Beschreibung von Flugzeugen zwischendurch fasziniert dreingeschaut hatte, war durch den Gedanken, dass damit zwei turmhohe Bürohäuser zum Einsturz gebracht werden konnten sichtlich verstört worden. Julius setzte deshalb noch hinzu, dass im Grunde fast jede von Menschen gemachte Erfindung, vom Rad bis zur Weltraumrakete, zum guten wie zum bösen für die Menschheit eingesetzt werden konnte, ähnlich wie es bei der Mehrheit aller Zaubersprüche und Zaubertränke sei, die ja auch von Menschen gemachte Erfindungen seien. "Nur eindeutig zur Zerstörung und zum Töten gebaute Dinge können nicht zum Heilen von Wunden oder Reparieren zerstörter Gebäude und Brücken eingesetzt werden", beendete er seine Expressvorlesung. Dann übergab er den beiden Eheleuten noch Listen mit Büchern und die Ausgaben einiger Zeitungen der letzten Wochen, die er in seinem Aktenkoffer mitgenommen hatte. Danach verabschiedete er sich. Es lag ihm auf der Zunge, Églée den Rat zu geben, ihre Tochter zur Vernunft zu bringen, mit Aron außerhalb der Öffentlichkeit zu leben. Doch dann musste er daran denken, dass er sich nicht gegen Euphrosyne stellen wollte, weil er es sich sonst mit ihrer Verwandtschaft verderben könne.
Wieder zurück im Zaubereiministerium berichtete er seiner Vorgesetzten, was er erlebt und besprochen hatte. "So, die hat Ihnen einen Schuldenthüllungszauber auferlegt beziehungsweise über Sie hinweggehen lassen?" schnaubte Ornelle. "Nun, das ist eigentlich nicht gerade loyal dem Ministerium gegenüber. Andererseits kann und wird ihre Tochter und ihre übrige Verwandtschaft darauf gedrängt haben, mehr zu erfahren. Gut, dann wissen Sie es eben auch, dass Aron Lundi wegen der Einnahme unzulässiger Arzneien nicht mehr erwerbsmäßig Fußball spielen darf."
"Und sie haben keine Angst, dass die Blériots Sie deshalb belangen können?" fragte Julius.
"Dann könnten wir Gegenklage erheben und Strafen verhängen lassen", sagte Ornelle. Sie wirkte dabei jedoch alles andere als zuversichtlich. "Halten Sie es wie bisher. Sie sind wegen der damaligen Aktion gegen Diosan zu sehr mit Létos Blutsverwandten verbunden, um sich offen gegen sie stellen zu können. Überlassen Sie dies bitte uns!"
"Meine Aufgabe beinhaltet aber die Vermittlung zwischen Menschen und Veelastämmigen", erwähnte Julius.
"Wenn Vermittlung gewünscht wird", schnarrte Ornelle Ventvit. "Bedenken Sie das gütigst jederzeit, dass Sie nur dann und dort tätig werden, wo eine Vermittlung erwünscht wird!"
"Sehr wohl", erwiderte Julius so ruhig er konnte.
Wieder im Apfelhaus fragte Millie, wie der Tag gelaufen sei. Sie erwähnte auch, dass sie für zwei Sekunden die Herzanhängerverbindung verloren habe und schon geglaubt hatte, Julius sei was passiert. Er erwähnte den Zauber, den Églée verwendet hatte. "Super, dann wissen die zumindest, dass du an der Kiste mit Aron Lundi nichts gedreht hast." Julius nickte. Dann kümmerte er sich um seine erstgeborene Tochter, während Millie die kleine Chrysope stillte.
Vierundzwanzig Hexen flogen auf ihren schnellen Besen aus vierundzwanzig Richtungen auf einen gemeinsamen Punkt zu, eine Farm in Oregon. Die Anführerin, Anthelia, hatte für sich und jede ihrer dreiundzwanzig Begleiterinnen einen besonderen Stein erschaffen, der in einem sanften Rotton glomm und im Gleichtakt der Herzen Schlug, deren Blutkreislauf das ihn aktivierende Blut entnommen worden war. Anthelia hatte lange in Naaneavargias Erinnerungen hineingehorcht und sie sogar in das ererbte Denkarium Sardonias kopiert, um sie wie leibhaftige Erlebnisse nachzuvollziehen. Das Ritual, was sie heute ausführen wollte, war bisher nur viermal in der Geschichte der altaxarroischen Magier ausgeführt worden. Dabei durften es ausschließlich Magierinnen sein, die zwar schon einmal körperlich geliebt hatten, aber bisher kinderlos geblieben waren. Sie mentiloquierte ihre Mitschwestern noch einmal eine nach der anderen an und holte auch Botschaften von den ausgekundschafteten zehn anderen Stützpunkten der Lykanthropen ein.
"Auch Lambda 28 ist dem Erdboden gleichgemacht worden", gedankensprach Bernice Trylief zu Anthelia.
"Die werden nicht in so kurzer Zeit neue Stützpunkte errichtet haben. Die sind wohl alle wie vor dem Gewitter zusammenrückende Schafe in ihr Hauptquartier geflüchtet, Lambda 2. Gut, dann sollen sie dort eben ewig behütet und geborgen bleiben, wie die so genannten Finger des Dunkelmagiers Shardarian, die es gewagt haben, die Großmeisterin Madrash Ghedon zu beleidigen", dachte Anthelia.
Euphrosyne hatte die Beendigung des Zeitverharrungszaubers wie einen eiskalten Schauer empfunden. Sie hatte es nicht mit ansehen wollen, wie ihre Mutter sich über den in Trance versetzten Julius Latierre hermachte und ihm fast so wie ein Dementor die Errinnerungen der letzten Minuten aus dem Geist saugte, bevor sie den Zeitverharrungszauber beendet hatte. Die Zeit bis zur Abreise von Julius hatte sie wie vorher in der Umkleidekammer verbracht. Denn erst als er ging und ihr Vater sich in die hauseigene Bibliothek zurückgezogen hatte trat sie noch einmal vor ihre Mutter.
"Na, fühlst du dich jetzt besser, dass du seine Erinnerungen in dich hineingesogen hast, Maman?"
"Ich war nicht so gierig wie du, Tochter. Ich habe ihm nur das genommen, was er hier und mit uns erlebt hat. Du hättest versucht, ihm sein besonderes Wissen zu entreißen und dabei wohl den letzten Rest Verstand verloren, den du noch hast", schnaubte Églée.
"Du meinst, weil ich mir einen Mann ausgesucht habe, der zufällig im Licht der Öffentlichkeit steht?"
"Genau das, meine Tochter. Aber ich kann, darf und will dich nicht weiter davon abhalten, mit diesem Mann zu leben, was auch immer er in Zukunft beruflich leisten darf."
"Immerhin wissen wir jetzt, wer für die Gemeinheiten gegen ihn zuständig ist", erwiderte Euphrosyne verdrossen.
"Kind, lege dich nicht mit dem Zaubereiministerium oder mit deiner Großmutter Léto an! Meine Mutter könnte sonst befinden, den letzten Schnitt zu vollziehen. Also treibe es nicht zu weit!"
"Ich werde weder jemanden töten noch mit einem dauerhaften Fluch belegen, Maman", sagte Euphrosyne. "Aber wissen lassen, dass ich mit ihrem Tun nicht einverstanden bin werde ich sie auf jeden Fall."
"Wirst du nicht von deinem Mann vermisst?" fragte ihre Mutter. Euphrosyne sah auf die Standuhr und nickte. Sie zeigte viertel nach vier nachmittags. In Las vegas war es jetzt also viertel nach sieben morgens. "Mein Göttergatte und Vater deiner zukünftigen Enkelkinder schläft sicher noch tief und fest, nachdem er gestern so hart für unser Urlaubsgeld gearbeitet hat", sagte sie und grinste dabei.
"Dann wünsche ich euch beiden noch einen erfüllten und erholsamen Urlaub", grummelte églée. Euphrosyne nickte nur und tippte sich mit dem Zauberstab an den linken Schuh. "Da wo ich war!" flüsterte sie. Dann verschwand sie in einer blauen Portschlüsselspirale. Églée kehrte in den Salon zurück. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken und Sinneserinnerungen von Julius Latierre vom Zeitpunkt des Zeitverharrungszaubers an. Sie hatte nicht geglaubt, dass auch ein Mensch ohne das Blut von Mokushas Kindern im Leib die Erkenntnis, wer seine Verwandten waren wie einen beschleunigten Weg durch den Geburtskanal erlebte. Dabei hörte sie sogar die vor Schmerzen stöhnende und schreiende Stimme ihrer Mutter. Kein Wunder, dass er derartig beeinträchtigt worden war. Immerhin würde er von sich aus nichts gegen sie oder Euphrosyne unternehmen. Aber er würde auch nicht mehr daran denken, dass er jetzt mehrere große Schwestern hatte, mit denen er sich zwar streiten, denen er aber nicht schaden durfte. Das hatte ihm Léto nicht verraten, weil es zu den lebenswichtigen Geheimnissen der Veelas gehörte, wie eng sie mit ihren Blutsverwandten, vor allem den Müttern und Vormüttern, verknüpft blieben. Églée konnte sich sogar vorstellen, dass Julius am Ende seines Lebens wie alle vorausgegangenen Veelas und ihre Kinder und Kindeskinder in den warmen, bergenden Schoß der ihnen allen vorausgegangenen Urmutter zurückkehren würde, um dort friedlich mit allen anderen den ewigen Traum zu träumen, ohne Angst, Sorge oder Hass. Irgendwie regte es sie wohlig an, sich vorzustellen, ihn dort wiederzutreffen, wenn sie irgendwann in mehr als zweihundert Jahren folgen würde. Was Euphrosyne anging, so fürchtete sie, dass ihre Tochter einen Weg beschritten hatte, der sie immer weiter von ihr und allen anderen fortführen würde. Sicher könnte sie sie wie eben vorhin für eine gewisse Zeit bannen. Doch für immer festhalten durfte sie sie nicht, auch ohne Euphrosynes Vorkehrung, dass sie keine Gefangenschaft lange überleben würde. Zumindest verstand Églée aber nun, was ihre Mutter an diesem Zauberer namens Julius Latierre so faszinierte.
"Hier hat keiner Bunkerkoller zu schieben", knurrte Aureus, als sein Stellvertreter meldete, dass die ins Hauptquartier umgesiedelten und bis auf weiteres ohne Ausgangserlaubnis festgehaltenen Mitbrüder und -schwestern langsam aufbegehrten. Selbst die Erlaubnis zur freien Liebe, mit der Aureus vor allem die Männer hatte beruhigen wollen, hatte nicht lange geholfen.
"Wir müssen durchhalten. Unser Plan, die Spinnenschwestern zu beißen ist von diesen Babymachern gründlich versaut worden. Wir müssen erst wissen, wie die uns alle erledigen wollen und was wir dagegen machen können. Geht das nicht in die verblödeten Schädel von denen rein?"
"Doch, tut es wohl", knurrte Aureus' Stellvertreter. "Es ist nur so, dass viele von denen langsam wissen wollen, wozu sie sich das mit dem Trank antun müssen, und die letzte Vollmondnacht hat denen auch klargemacht, wie unangenehm das ist, sich zu verwandeln. Wenn Sie ihnen zurufen würden, dass es endlich gegen wen auch immer losgeht, haben Sie sie alle auf Ihrer Seite."
"Seine Majestät, König Rabioso der erste besteht darauf, dass wir erst dann aktiv werden, wenn wir wissen, wie und wo diese Babykopfbanditen zuschlagen wollen", grummelte Aureus. "Und die vom Ministerium sind eh darauf aus, uns auf einem Haufen zu kriegen. War ja eh klar, dass wir nicht zu denen hingehen und um Gnade winseln."
"Gouverneur, Melde Anflug von mehreren einzelnen magischen Flugobjekten!" klang eine in den Raum hineingezauberte Warnung. Aureus rief sofort zurück: "Wie viele und aus welcher Richtung?"
"Öhm, Einzelne Flugkörper, jeder aus einer eigenen Richtung. Schnittpunkt aller Flugrichtungen ist das Silo."
"Das Silo? Das ist genau in der Mitte der Farm!" brüllte Aureus. Dann lachte er. "Lass die sich an unseren Schutzzaubern die Köpfe einrennen oder selbst vom Besen abschießen!"
"Sir, die sind im Sinkflug, zirka noch einen halben Kilometer von der Schutzsphäre entfernt, insgesamt vierundzwanzig einzelne Flugkörper. Sollen wir die Abwehrtruppe losschicken?"
"Wie erwähnt, lasst die ruhig gegen den Zauberwall an. Da kommen selbst hundert von ausgebildeten Zauberern nicht durch. Ich komme rüber in die Überwachung."
"Verstanden, Sir, keine offensive Gegenwehr."
"Sir, woher wissen die so genau, wo das Zentrum von Lambda 2 liegt?" fragte Rico seinen Vorgesetzten. Dieser wiegte den Kopf. Dann ging ihm auf, dass die Frage absolut berechtigt war. Deshalb beeilte er sich, in den Überwachungsraum zu kommen, den er mit sechs anderen zauberfähigen Mitbürgern gebaut und ausgestattet hatte.
"Sir, die sind exakt in einem Kreis mit Zentrum Silo gelandet. Der Abstand zur Schutzzonengrenze beträgt genau zweihundert Meter", sagte Patazo, einer der sechs neben Rabioso und Aureus am Auf- und ausbau des Stützpunktes beteiligten. Dann zeigte er auf beleuchtete Punkte auf der auf dem runden Tisch in der Raummitte ausgebreiteten Karte der Farm und ihrer Umgebung. Vierundzwanzig rosarote Punkte leuchteten. Damit wussten die Überwacher auch, dass es ausschließlich nicht-lykanthropische Hexen waren. Denn Schicksalsgenossinnen hätten ein mondlichtfarbenes Leuchten verursacht.
"Die schwarze Spinne", zischte Aureus. In Gedanken fragte er sich, woher die Hexenschwestern genau wussten, wo die Farm lag? Die Antwort darauf gefiel ihm absolut nicht. Er selbst hatte es diser Furie mit dem Feuerschwert verraten, als er sich auf diesen Ort eingestimmt hatte. Sie hatte irgendwie seine Gedanken abgefischt. Doch warum hatte sie nicht sofort zugeschlagen? Und warum rückte sie nur mit dreiundzwanzig Mitschwestern an? Die Antworten darauf beunruhigten ihn genauso wie die Frage nach dem Verräter: Sie hatten sich ein Ritual ausgedacht, dass mit zwei mal zwölf Hexen vollzogen werden konnte. Doch er grinste. Sollten die versuchen, was sie wollten. Dieser Wall konnte hundert gleichzeitig darauf einwirkende Zauberer oder Hexen abhalten.
Aureus ließ sich die Außenansicht seiner Residenz auf technischen Bildschirmen gleichkommenden Bildverpflanzungswänden vorführen. Doch zunächst sah er nichts. Dann begann der Boden zu vibrieren. Aureus sah in einhundert Metern Entfernung schwach leuchtende Blitze grün und rot durch die Luft springen. Einige davon schlugen in einer exakten Bogenform über die mit massiven Schutzzaubern abgedeckte Zone hinweg aus dem Boden in den Boden. Andere glommen auf, verästelten sich und erloschen wieder. Wieder andere zuckten aus dem Boden nach oben und erloschen. Das Vibrieren des Erdbodens nahm langsam zu.
"Was immer die machen, unsere Zauber leiten es um uns herum", grinste Aureus. Doch Rico, sein Stellvertreter war da anderer Ansicht. "Sir, die jagen irgendwas in die Erde rein. Was nützt es, wenn unsere Schutzbezauberung das um uns herumleitet, wenn um uns herum der ganze Erdboden mit einer unbekannten Magie aufgeladen wird?"
"Ich spreche mit seiner Majestät", knurrte Aureus und nahm eine milchkannengroße Silberdose. Er klappte sie auf und rief hinein: "Eure Majestät, ich erbitte Gehör! Wir werden von den Hexenschwestern der schwarzen Spinne belagert. Was befehlt Ihr?"
Aus der großen Silberdose drang unheilvoll blechern die verärgerte Stimme Rabiosos: "Wie, die belagern euch? Woher wissen die denn, wo Lambda zwei ist?!"
"Vierundzwanzig eingestaltliche Hexen in weitem Kreis mit Mittelpunkt an Vorratssilo gelandet, wirken offenbar ein Ritual, das mit Erderschütterungen und grünen und roten Entladungsblitzen in unserem Schutzgeflecht einhergeht", erwiderte Aureus. Da quoll aus der Silberdose wie ein der Flasche entfahrender Dschinn eine erst blutrote Wolke, die sich innerhalb einer Sekunde als räumliches Abbild Rabiosos stabilisierte. "Woher weiß dieses Weib und seine Schoßhündinnen, wo Lamgda zwei ist und wo der geometrische Mittelpunkt davon liegt?!" blaffte Rabiosos Stimme nun noch lauter, mit metallischem Hall unterlegt. Aureus war froh, dass durch seinen goldblonden Vollbart nicht so gut zu sehen war, wie heftig er erbleicht war. Da brummte es laut und raumfüllend. Das Brummen kam aus dem Boden und schwoll an und ab wie in kurz hintereinander folgenden Wellen.
"Woher weiß die Schlampe vom Standort?!" brüllte Rabiosos Stimme. "Ich befehle dir, mir diese Frage zu beantworten, bei deinem Leben!" Aureus sah die räumliche Abbildung des Königs an und sagte mit kratziger Stimme:
"Sie muss es von mir erfahren haben, als ich den taktischen Rückzug antrat. Ich habe sie zwar nicht angesehen und keinen Blickkontakt mit ihr gehabt. Aber irgendwie muss sie es legilimentisch erfahren haben. Es tut mir leid."
"Sooo, es tut ihm leid. Es tut ihm leid, dass er unsere gefährlichste Feindin zu unserem nordamerikanischen Hauptquartier gelockt hat. Ist ja nicht so schlimm, Aureus. Der Stützpunkt ist ja gut abgesichert. Setz dich, Aureus! Mach's dir gemütlich! Willst du nicht was trinken?" grummelte Rabioso leise. Doch zwei Sekunden später polterte er los: " - Du hohlbirniger, vollverblödeter Riesenarsch!! Die Nutte kann jeden Furz von dir hören, sobald du merkst, dass du ihn lassen musst, du seltendämlicher Totalversager! Wie konnte ich so einen Vollidioten zu meinemStatthalter in einem der wichtigsten Ländereien überhaupt ernennen? Am besten hoffst du, dass dieses Biest dich und deine ganzen Mitfresser von der Erdoberfläche wegfegt. Denn sollte irgendwer von euch dieses unverzeihliche Debakel überleben, wird er sich dafür vor mir zu verantworten haben und ..."
Der Rest der wütenden Tirade verebbte unter einem besonders lauten Brummen aus dem Boden, gefolgt von einem heftigen Erdstoß. Rabiosos Bild zerfloss, seine Stimme wurde von einem metallischen Kreischen und Schaben wie von mehreren durch Metall schneidenden Sägen verdrängt. Dann ploppte es, und die räumliche Erscheinung war völlig fort. Einen Moment später knirschte es metallisch, als die silberne Sprechdose wie von unsichtbaren Riesenhänden zusammengedrückt wurde.Aureus sah auf die Karte auf dem Tisch und erschrak. Die bisher vierundzwanzig Punkte waren wärend der Unterredung mit dem König zu immer längeren Teillinien geworden, die den von ihnen gebildeten Kreis mehr und mehr ausfüllten. Es fehlte nur noch wenig, bis sie sich trafen. Aureus stierte auf die Bildverpflanzungswände. Während die Erde dröhnte hatte sich über ihnen eine Kuppel aus grünen und roten Leuchterscheinungen gebildet, die unstetig flackerten, aufblitzten und immer wieder zu sich verknüpfenden Glutsträngen wurden. Außerdem konnte er sehen, wie außerhalb des Schutzbereiches die Erde wie Meereswellen zäh und prasselnd anbrandete und um den Schutzbereich einen langsam breiter und höher wachsenden Wall aufwarf.
"Die verformen festes Gestein wie flüssiges Wasser", stöhnte Aureus' Gefährtin Despina, die dem unheilvollen Geschehen mit großen Augen zusah. Die wellenförmig anrollenden Gesteinsmassen kamen im Abstand von zwei Sekunden. Wenn sie heran waren war auch das ständige tiefe Gebrumm im Boden am lautesten. Aureus sorgte sich aber eher um die zerstörte Fernverständigungsdose. Hatte König Rabioso die Verbindung zerstört, oder hatte der unbekannte Zauber, mit dem ihm die Spinnenhexen zu Leibe rückten, die Verbindung überlagert und die stofflichen Anker dieser Verbindung zerstört?
"Der Kreis schließt sich!" rief einer der anderen im Überwachungsraum stehenden und musste im nächsten Moment wie alle anderen Halt suchen. Denn als die bisher vierundzwanzig einzelnen Leuchtmarkierungen zu einer einzigen, rosaroten Kreislinie zusammenfanden, erzitterte der Boden unter einem kräftigen Erdstoß. Im selben Moment erglühte über ihnen und um sie herum ein grobmaschiges Netz aus glühenden roten und grünen Lichtsträngen.
Aureus schnappte nach einer kleinen vergoldeten Muschel auf dem Tisch und rief hinein: "Ausfalltruppe ausrücken. Abwehrplan Lambda Pi! Alle nicht zauberfähigen Bürger an die Portschlüssel. Bereithalten für Notfallplan Lambda Omega!""
"Aus den Häusern flogen vierzig lykanthropische Hexen und Zauberer auf schnellen Besen heraus. Sie wollten die Feindinnen niederkämpfen, um was auch immer zu beenden. In der Zeit rollten weitere, noch höhere Wellen aus verformten Gestein heran und vergrößerten den ringförmigen Wall, der nun Kontakt mit dem aus flirrenden Lichtsträngen bestehenden Netzwerk hatte. Aureus sah, dass dieses Netz nicht nur in eine Richtung gespannt war, sondern aus miteinander verwobenen Quersträngen und sich aufbauenden weiteren Netzen verknüpft wurde. Langsam und scheinbar unaufhaltsam formte sich aus dem bisher sichtbaren Netz ein Gefüge aus übereinandergelagerten Zellen, die immer deutlicher die sechseckige Form von Bienenwaben annahmen. Dann gingen die ausgesandten Abwehrkämpfer daran, durch die noch breiten Zwischenräume hindurchzufliegen. Das heißt, sie versuchten es. Denn als sie in gerade vollendete Zellen hineinflogen, wurden ihre Besen schlagartig abgebremst und angehalten, und blitzartig wurde aus den leuchtenden Rändern der Wabenzellen geschlossene, sechseckige Körper, die die in sie eingedrungenen in sich einschlossen. Egal in welche Richtung jemand nach außen zu dringen versuchte, er oder sie wurde beim Einflug in eine der Zellen von dieser eingefangen und eingeschlossen. Auf diese Weise waren die vierzig fliegenden Abwehrkämpfer innerhalb von nur einer Minute außer Gefecht. Denn offenbar gelang denen kein Brechungszauber.
"Das Biest ist uns über", schrillte Despina, die mit ansehen musste, wie ihre jüngere Schwester ein Opfer der Lichtwaben wurde. Sie wusste nicht, ob sie dabei gestorben war oder noch lebte. Sie sah nur, wie die entstandenen Zellen immer kleiner wurden. Waren sie vorher hausgroß gewesen, schrumpften sie langsam auf die Größe mittelgroßer Wohnzimmer zusammen. Im selben Maße nahm ihre Anzahl zu. Und zu dem allen dröhnte die Erde im Takt der gegen das kuppelförmige Gefüge anrollenden Wellen.
"Vielleicht geht es zu Fuß. Noch ist der Wall nicht zu hoch", sagte Aureus. Doch die ihn aufwerfenden Wellen krachten so wuchtig dagegen, dass immer wieder die oben aufliegenden Steine heruntergeschlagen wurden und wie eine immer wieder neu entstehende Gerölllawine auf der Innenseite herunterstürzten. Aureus verfluchte den Umstand, dass er selbst den Jungen Donny Clarkson hatte holen wollen. Außerdem verfluchte er den Umstand, dass er sich hatte hinreißen lassen, dem Jungen die brutalen Details erzählt zu haben, wie er seine Eltern zugerichtet hatte. Das hatte wichtige Zeit gekostet. Rabioso hatte recht, er war ein seltendämlicher Versager. Er hatte total versagt, seinem Herren Schande und Verdruss bereitet, ja sogar zu dessen Niederlage auf diesem Kontinent beigetragen. Diese jähe Erkenntnis löste die Bestrafung durch den unbrechbaren Eid aus. Mit einem letzten, den Brustkorb zu zersprengen drohendem Schmerz setzte sein Herz aus. Seine Lungen verkrampften sich zwischen Ein- und Ausatmen. Rote Kreise tanzten vor Aureus' Augen, wurden zu einem schwarzen Vorhang. Dann fiel er um. Keine Sekunde später setzten alle in der Festung verbauten Vernichtungszauber ein, die bei seinem Herzstillstand ausgelöst wurden.
"Anthelia konzentrierte sich voll. Das Ritual der Rückstoßung war anstrengend und kostete Zeit. Doch es überwand mit Hilfe der Magie der Erde alle Schutzzauber, ja formte diese zu einem Kerker für alle um, die mit Magie daraus hinaus zu entkommen versuchten. Anthelia sang immer wieder die altaxarroischen Zeilen vor, die die große Mutter Erde beschworen, ihre unerwünschten Kinder wieder in ihren Schoß zurückzunehmen. Gelang das Ritual, würden die Eingeschlossenen nicht wirklich sterben, sondern so tief im Gestein vergraben werden, wie der von ihnen errichtete Schutzbereich groß war. Doch dazu kam es nicht mehr.
Anthelia sah gerade noch, wie alle gegen sie ausgesandten Besenflieger in rote oder grüne Wabenzellen eingeschlossen wurden. Da blähten sich hausgroße Feuerbälle auf und brannten wild qualmend und dampfend tiefe Krater in den Boden hinein. Die Glut reichte an die Innenseite der Wabenkuppel heran. Diese wurde zu einer einzigen orangeroten Halbkugel, die eine halbe Minute lang zitternd über der vernichteten Farm stand. Dann fiel die Kuppel innerhalb einer Sekunde in sich zusammen. Sie hinterließ nur einen großen Krater, der von den nächsten rollenden Gesteinswällen und dem von diesen getroffenen Wall zugeschüttet wurde. Die Hexen fühlten, wie sich ihre konzentrierte Magie in diesen Krater hinein entlud. Die Wellenbewegungen hörten auf. Statt dessen erbebte die Erde nun wild und gleichmäßig. Der Krater schrumpfte. Die Erde schloss die ihr zugefügte Wunde von selbst.
"Alle aufbrechen, Mission erfüllt!" rief Anthelia mit Hilfe des Vocamicus-Zaubers. Eigentlich hatte sie alle lebendig begraben wollen, über ein Jahrhundert lang unrettbar im Schoß der Erde einschließen wollen. Doch so war es ihr auch recht. Hauptsache, die nordamerikanische Kolonie des Königreiches Lykotopia war mit Stumpf und Stiel ausgerottet.
Das Erdbeben klang in dem Moment ab, als alle vierundzwanzig Hexen auf ihren Besen vom Boden abhoben. Sie flogen in vierundzwanzig Richtungen davon. Sicher würden hier gleich Ministeriumszauberer eintreffen, weil sich gerade starke magische Elementarkräfte entladen hatten. Doch das kümmerte Anthelia nicht mehr.
Rabioso war in Fahrt. Er wollte und würde seine ganze Wut über diesen Versager herausbrüllen. Nur den Tod durfte er ihm nicht wünschen, weil ja immer noch zu hoffen war, dass die Festung Lambda 2 dem Angriff widerstand. Doch Als seine große Silberdose erst mondlichtfarben aufglühte und dann wie in einem Schmelzofen erhitzt zu einem einzigen unregelmäßigen Metalltropfen zusammenschmolz erkannte Rabioso, dass gerade etwas übermächtiges die über tausende von Kilometern errichtete Verbindung zerstört hatte. Er blickte auf die bezauberte Wandkarte. Lambda 2 blinkte gerade orangerot auf. Zwei Minuten später fauchte eine Stichflamme an der Stelle aus der Karte, wo der Stützpunkt verzeichnet war und hinterließ ein qualmendes, schwarzes Loch in Wand und Karte. Das war für Rabioso zu heftig. Wenn der Stützpunkt verlorengehen sollte, hätte die Karte sich ohne Flamme an der Stelle schwarz verfärbt. Irgendein starker Vernichtungszauber hatte die Verbindung zwischen Karte und wirklichem Standort zerschlagen. Der Stützpunkt war erledigt und damit alle in den Staaten eingeschworenen Untertanen Lykotopias. Rabioso erbleichte. Er hatte gedacht, mit genug Schutzzaubern gegen eine ganze Armee von Feinden aufbegehren zu können. Doch nur vierundzwanzig Hexen hatten den Stützpunkt vernichtet. Dann fiel ihm ein, dass Aureus mal erwähnt hatte, dass er einen Zauberbann gewirkt hatte, dass im Falle seines Todes Lambda 2 zerstört werden sollte. Womöglich war allein der Gedanke, vollkommen versagt zu haben der Auslöser für die Totalvernichtung gewesen. Dann hatte sein unbrechbarer Eid im Zusammenspiel mit Aureus' Absicherung den Totalverlust von Lambda 2 bewirkt. Rabioso brüllte wütend auf. Diese schmachvolle, ja seine ganzen Pläne gefährdende Niederlage nahm ihm alle Selbstbeherrschung. Er rannte aus der Villa Mariposa hinaus und rannte laut brüllend und schreiend wie ein angestochener Drache durch den zur Villa gehörenden Großgarten, der schon ein kleiner Park war. Keiner hielt ihn auf. Keiner wagte es, sich mit ihm anzulegen, wenn er derartig tobte.
Erst eine halbe Stunde nach dem Wutausbruch hatte Rabioso seine Selbstbeherrschung wiedergefunden. Jetzt galt es, ähnliche Niederlagen zu vermeiden, besonders die noch verbliebenen Statthalter in Europa, Afrika und Australien darauf einzustimmen, dass sie ihre Stützpunkte nicht sofort vernichteten, wenn sie selbst starben. Denn dann war es zu einfach. ein imperisierter Mensch mit einer Silberwaffe oder mit dem Todesfluch konnte mit dem Tod des Statthalters gleich den Stützpunkt erledigen und alle, die gerade dort untergebracht waren. Das erkannte Rabioso als eine entscheidende Schwachstelle, die er unverzüglich auszumerzen hatte. Dann wollte er daran gehen, in den Staaten neue Untertanen zu erschaffen, bevor seine Feinde mit der Siegesfeier fertig waren.
"Mist! Der Anwalt schreibt, dass die Beweise unanfechtbar seien und ich deshalb mit der Sperre leben soll. Aber er schreibt auch, dass ich wohl Erfolg mit einer Schmerzensgeld- und einer Verdienstausfallsklage haben würde, wenn ich gegen die verdammten Pinguine von Marie de Incarnation vorgehe", schnaubte Aron Lundi, als er das gerade angekommene Fax aus Barcelona gelesen hatte. Euphrosyne nickte.
"Ich werde auf jeden Fall eine Klage wegen Rufss- und Existenzschädigung einreichen, jetzt wo ich weiß, an wen ich mich da wenden muss", sagte sie.
"Und, bringt es das denn?" blaffte Aron Lundi. Euphrosyne konnte ihm dazu keine eindeutige Antwort geben. Sie sagte deshalb:
"Hast du nicht gesagt, dass ein Spiel erst mit dem Abpfiff entschieden ist? Solange ich nicht aus der Zaubererwelt ausgeschlossen wurde habe ich gewisse Rechte."
"Pass mal auf, die erklären dich demnächst noch zur unerwünschten Person und erlauben jedem, dich abzuknallen, dem du über den Weg läufst."
"Eben das dürfen die nicht, und das frustriert die mehr als alles andere", grinste Euphrosyne. "Meine Verwandten mütterlicherseits haben mit der Zaubereiverwaltung eine Übereinkunft, dass kein Zauberer und keine Hexe jemanden töten darf, der oder die von Veelas abstammt. Wer es doch tut handelt sich eine sehr gründliche Blutfehde mit meinen Verwandten ein. Weil die das wissen, und weil ich uns beide entsprechend bezaubert habe, dass weder du noch ich gefangengenommen oder getötet werden dürfen, werden die sich hübsch still verhalten, was irgendwelche Strafmaßnahmen gegen mich angeht. Weil, sonst hätten sie mir schon längst Leute nachgeschickt, die mir den Zauberstab weggenommen hätten. Aber da meine Magie zu meinem freien Leben gehört dürfen die das eben nicht. Vielleicht kriege ich es hin, dass du unter einem anderen namen berufsmäßig Fußball spielen darfst, wenn nicht in Europa dann vielleicht auf einer der Überseeinseln von Frankreich oder den Bahamas oder Bermudas."
"Toll, die Bermudas. Da fällt nicht auf, wenn wer verschwindet, weil die das ja gewöhnt sind", knurrte Aron Lundi.
"Ich frage dich jetzt einmal mehr, was dir wichtiger ist, dass wir zusammenleben oder dass du für irgendwelche steinreichen Typen deine Knochen hinhältst, damit die in deinem Ruhm baden können?"
"Moment mal, vor drei Wochen hast du mir gesagt, dass du mich auf meinem Weg begleiten willst und es sehr schön fändest, so Zitat "eitle Schnepfen wie Victoria Beckham" Zitat ende auszustechen. Da hättest du eigentlich wissen müssen, dass ..." Lundi fühlte, wie seine Wut auf Euphrosyne übersprang. Doch dann schien es, als habe jemand erst in ihr und dann in ihm einen Schalter gedrückt, der von wütend auf hingebungsvoll umschaltete. Wie berauscht hörte er nun ihre Stimme sagen:
"Ja, ich war und bin bereit, an deiner Seite vor den ganzen Kameras zu bestehen. Doch das muss doch nicht in Spanien oder im europäischen Teil Frankreichs sein. Hauptsache, wir sind zusammen, findest du nicht?"
"Ja, das finde ich auch", sagte Lundi laut und entschlossen.
"Dann sehen wir zu, dass wir einen gemeinsamen Weg finden, der deinen Traum und unseren Frieden vereint!"
"Mein Traum war und ist die französische Nationalmannschaft", erwiderte Lundi. "Aber da haben deine zauberstabschwingenden Landsleute ja was gegen und deren Kollegen in Spanien sind auch voll auf diesen Zug aufgesprungen."
"Von anderen Sachen hast du nie geträumt?" fragte Euphrosyne. Eigentlich kannte sie die Antwort. Denn sie hatte mit Aron schon häufiger darüber gesprochen, was er getan hätte, wenn er nicht diese Talente zum Fußballspielen hätte.
"Ja, nur ob die mich das machen lassen, wo die schon meine Spielerkarriere versaut haben?" fragte Lundi.
"Klären wir, wenn wir alles ausprobiert haben, was noch geht", sagte Euphrosyne zuversichtlich.
Es klopfte an der Zimmertür. Aron sah seine Frau fragend an. Die schüttelte den Kopf. Sie blickte auf das ockergelbe Licht, dass sie immer dann über Boden, Wände und Decke ausbreitete, wenn sie unabhörbar mit ihrem Mann sprechen wollte. Dann sah sie auf das Telefon. Sie verzog kurz das Gesicht. Natürlich, der Klangkerker blockierte alle elektrischen Sprechgeräte innerhalb seines Wirkungsbereiches. Dann deutete sie auf die Zimmertür. "Prüfe nach, wer was will. Sollte dir jemand dumm kommen schicke ich José zu Hilfe." Dabei tätschelte sie das geräumige Nachtschränkchen. Aron nickte und öffnete die Zwischentür zur kurzen Diele, von der aus es zum Badezimmer, auf den Hotelflur oder eben zum geräumigen Wohn- und Schlafzimmer ging.
"Ja, bitte?!" rief Lundi durch die verschlossene Tür.
"Ihr Telefon geht nicht, Sir. Jemand von UPS hat für Sie ein Päckchen und benötigt Ihre Unterschrift auf dem Auslieferungsschein", sagte die Stimme eines Mannes nicht älter als Aron Lundi. Er kannte den Pagen, der für diese Etage zuständig war.
"Wir haben nichts bestellt und erwarten auch keine Sendung", sagte Lundi.
"Die Adresse auf dem Päckchen lautet "Vorstandsbüro Le Havre AC" und ist so groß wie eine Schreibmaschinenseite", sagte der Page.
"Dann möchte der Bote raufkommen und mir das Paket an der Tür übergeben", erwiderte Lundi. Der Page bestätigte die Anweisung.
"Offenbar kriege ich noch irgendwelche Papiere von meinem Verein zugeschickt, die beim Wechsel nach Barca vergessen wurden", feixte Lundi.
"Und die wissen, wo wir abgestiegen sind?" fragte Euphrosyne.
"Eigentlich dürften die das nicht wissen. Aber in dieser Zeit ist Privatsphäre ja ein Auslaufmodell", schnaubte Lundi. "Am Ende haben die über die Behörden in Frankreich eine Anfrage bei Kollegen in den Staaten durchgeführt, um uns gegebenenfalls zurückzuzitieren, wenn was anliegt."
Eine Minute später stand ein Bote in der Uniform des weltweit tätigen Paketdienstes UPS vor der Zimmertür. Aron begutachtete das Paket, die Lieferung, die wie ein eingepackter Aktenkoffer aussah. Er war auf einen möglichen Angriff gefasst. Doch der Paketbote hielt ihm behutsam die Zustellungsbestätigung unter die Nase. Lundi unterschrieb an der entsprechenden Stelle und erhielt das Paket. Der UPS-Mann bedankte sich und wünschte Lundi noch einen schönen Tag. "Du mich auch", grummelte Lundi, während er die Zimmertür wieder verschloss.
"Lass mal sehen, Aron! Nicht gleich auspacken!" zischte Euphrosyne. Zuerst baute sie wieder den Klangkerker auf. Dann betrachtete und beroch sie das Paket. "Außer der Verpackung kann ich kein weiteres Papier riechen", sagte sie. Dann nahm sie ihren Zauberstab und hielt ihn über das Paket: "Specialis revelio!" wisperte sie. Unvermittelt wurde das Paket durchsichtig wie Glas. Lundi konnte einen flachen Behälter mit einem Ventil erkennen, das über mehrere Drähte mit der Verpackung verbunden war. Keine Sekunde später sah es so aus, als schlüpfe ein dickbäuchiger, giftgrüner Nebelgeist aus dem Behälter heraus und schwebte sich weiter aufblähend über dem Paket. Dann tat der grüne Dunstmann seinen breiten Mund auf und gähnte unhörbar aber unübersehbar. Gleichzeitig winkte er in alle Richtungen. Dann erlosch die Erscheinung wie ausgeschaltetes Licht, und auch das Paket wurde wieder undurchsichtig.
"Habe ich es mir doch gedacht", fauchte Euphrosyne. Dann erklärte sie, was diese heraufbeschworene Erscheinung zu bedeuten hatte: "In dem Paket steckt ein Behälter mit einem betäubenden Gas, das beim Öffnen freigelassen werden sollte. Außerdem scheint mir, dass in dem Paket noch etwas steckt, was jemandem zurufen oder anderswie mitteilen soll, dass der Behälter sein Gas abgelassen hat."
"Woher weißt du, dass es ein Betäubungsgas ist und kein tödliches Gas?" fragte Lundi.
"Weil die Dunsterscheinung grün war und gegähnt hat. Ein tödliches Gas hätte eine nebelhafte Erscheinung eines Sarges erscheinen lassen, aus dem ein pechschwarzes Knochengerüst herausgeschwebt wäre. Außerdem hätte keiner was davon, dich zu töten. Es sind auf jeden Fall keine Zauberer. Die wissen genau, dass sie weder dich noch mich außer Gefecht setzen und gefangennehmen dürfen."
"Aha, dann schickt mir also wer Giftgas, der mich und dich einkassieren will", schnaubte Aron.
"Jemand der wissen will, was es mit dir und mir auf sich hat, weil du so gut laufen, zielen und abspielen kannst und ich ja unfotografierbar bin, solange ich nicht fotografiert werden will."
"Scheiße, die CIA oder ein anderer Sauladen von hier", schnaubte Lundi. "Und was machen wir jetzt mit dem netten Paket? Die lauern sicher irgendwo, wann wir umfallen."
"Wir ziehen einfach hier aus, ohne uns abzumelden", grinste Euphrosyne und winkte mit dem Zauberstab. "Packe alles!" rief sie. Daraufhin flogen die drei Koffer von Aron und ihr auf das Bett und klappten sich auf. Gleich darauf sprangen der große Kleiderschrank und die Nachtschränke auf und spien ihren Inhalt in den Raum. Kleidung, Schuhe, Bücher und Geld flogen in die Koffer hinein. Diser von Euphrosyne heraufbeschworene Spuk dauerte ganze zwanzig Sekunden, bis auch aus dem Badezimmer die Kosmetiktaschen der beiden Bewohner herbeigeflogen und in den Koffern gelandet waren. Säuberlich zusammengefaltet lagen alle Wäschestücke in den Koffern auf den Schuhen und Wertsachen, die nicht im Handgepäck mitgenommen wurden. Die Koffer erzitterten noch einmal kurz, bevor sie zeitgleich zuklappten und sich verriegelten.
"Wer braucht da noch Personal?" grummelte Aron.
"Damit habe ich meine Oberschulklassenkameradinnen immer sehr frustriert, als wir diesen Zauber im Unterricht hatten. Meine Mutter kann das auch gut und hat sogar heraus, Koffer zu packen und gleichzeitig noch einmal das ganze Haus durchzuputzen und aufzuräumen. Daran arbeite ich noch", sagte Euphrosyne.
"Und jetzt?" fragte Aron. Zur Antwort deutete Euphrosyne auf das Paket und murmelte: "Retardo diffindo!" Sie hob anschließend ohne gesprochenes Wort den Klangkerkerzauber auf. Dann ergriff sie Arons rechten Arm und drehte sich mit ihm auf der Stelle. Es knallte laut, als beide gleichzeitig verschwanden. Das Paket blieb auf dem Tisch zurück. Doch zehn Sekunden später riss ratschend die Verpackung auf, als habe eine unsichtbare Hand daran gezerrt. Mit einem lauten Plopp öffnete sich ein Ventil und laut zischend strömte ein unsichtbares Gas aus, dass innerhalb von nur zwei Sekunden das Hotelzimmer ausfüllte.
"Moment, das dürfen die nicht!" rief Ira Waterford, der im Auftrag des US-amerikanischen Zaubereiministeriums die Tätigkeiten des Auslandsgeheimdienstes CIA überwachte. Gerade vor drei Minuten hatte er über die ihm erschlossenen Kanäle erfahren, dass ein Einsatzteam in Las Vegas ins Hotel Goldenes Glück unterwegs war, um den dort logierenden Aron Lundi aufzugreifen. Jemand ganz schlaues aus der Abteilung für pharmakologische Forschungen hatte befunden, dass Lundi, wo er schon mal in den Staaten war, gründlich untersucht und gegebenenfalls zu weiterführenden Studien in einem gesonderten Sanatorium der Firma aus Langley untergebracht werden sollte. Denn wenn stimmte, was in Europa herumgereicht wurde, trug der junge Spieler eine Kombination von bisher unbekannten Kraft- und Reaktionsverbesserern im Körper. Solange die wirkten musste geklärt werden, wie genau, um möglicherweise eigene Feldeinsatzagenten damit auszurüsten, vielleicht auch Soldaten der Armee und der Marineinfantrie.
"Wenn die es schaffen, die zwei sicherzustellen haben wir keine Stunde später alle Veelas der Welt gegen uns", dachte Waterford und überlegte, wie er den Einsatz verhindern konnte, ohne seine Tarnung zu gefährden. Denn einen neuen Beobachter einzuschleusen mochte wertvolle Zeit kosten, wo sowas wie das gerade eben stattfinden konnte. Er beschloss, als Hotelangestellter verkleidet die Operation der Kollegen zu sabotieren. Da er wusste wie die vorgehen wollten konnte er sich problemlos postieren. Er überlegte, welche Sorte Angestellter an unauffälligsten wäre. Dann brach er auf, indem er aus seinem Büro disapparierte, um in drei Sprüngen in den Weinkeller des Hotels Goldenes Glück zu gelangen.
"Mr. Sandmann sendet", sagte Paul Derby, der Leiter des fünfköpfigen Greifkommandos, das als Zimmerkellner, Zimmermädchen und Hotelgast verkleidet auf dem Posten war. "Zugriff in einer Minute!" gab er über das hochverschlüsselnde, mit abgestimmten Frequenzwechsel arbeitende Funkgerät durch.
"Wäschereitrupp bereit", meldete eine Agentin, die mit einer Kollegin in der Nähe des Personallifts postiert war.
"Chamäleon bereit", sagte ein Agent, der nach erfolgreicher Operation in Verkleidung Lundis mit seiner Partnerin einen üblichen Auscheckvorgang durchführen sollte. "Zimmerservice bereit", meldete der fünfte Agent, der als Zimmerkellner getarnt dafür sorgen sollte, dass es von dem Gas und dem Paket keine Spuren mehr geben würde.
Die Minute war noch nicht ganz verstrichen, als jemand an die Tür von Derbys Zimmer klopfte. Der Agent fragte: "Sind Sie der Kellner mit der Thüringer Bratwurst?"
"Nein, ich bin das Zimmermädchen mit dem Staubsauger, Sir. Bei Ihnen soll Sand im Schlafzimmer sein", sagte eine Frauenstimme.
"Da sind Sie falsch", erwiderte Derby. In dem Moment ploppte es vor der Tür und zeitgleich direkt neben ihm. Eine Frau in der Schürze eines Zimmermädchens stand neben ihm und hielt in der linken den Griff eines Staubsaugers und in der rechten einen Holzstab. "Ich fürchte, ich bin gerade so noch richtig", sagte sie, bevor Derby von einem roten Blitz aus dem Stab getroffen wurde. Das Zimmermädchen ließ den Staubsauger los, der unvermittelt im Nichts verschwand und hielt sich den Zauberstab an die Kehle: "Varivox!" zischte sie. Dann griff sie dem betäubten Agenten in die Hemdtasche und zog das streichholzschachtelgroße Spezialfunkgerät hervor: "Achtung, an alle, Zugriff abbbbrechen. Subjekte tragen Sprengstoffwesten, die bei plötzlichem Sturz scharfgemacht werden und beim Abtransport zünden! Zugriff abbrechen!"
"Die sind nicht da!" rief eine der Agentinnen, die den Abtransport erledigen sollten. "Die sind nicht im Zimmer!"
"Und Sandmann?" fragte das mit Derbys Stimme sprechende Zimmermädchen.
"Sandmann gefunden. Schlafsand restlos verteilt."
"Dann haben die den Braten gerochen und sich abgesetzt", dachte das Zimmermädchen für sich und atmete erleichtert auf. "Dann sind die raus und haben eine Vorrichtung benutzt, um das Paket aus sicherer Entfernung zu öffnen. Einsatz beendet. Alle zurück zur Operationsbasis!" befahl das Zimmermädchen und steckte dem Agenten auf dem Boden das Funkgerät wieder zu. Danach besorgte es mit einem Gedächtniszauber, dass Derby sich beim Aufwachen an das Funkgespräch, nicht aber an den schlagartigen Überfall eines angeblichen Zimmermädchens erinnern konnte. Danach wandelte der äußerlich weiblich erscheinende Eindringling die Stimme wieder um, dass er wie eine "Sie" klang und murmelte "Retardo Enervate!", wobei der Eindringling an die Zahl dreißig dachte. Danach verschwand er so plötzlich, wie er im Zimmer aufgetaucht war. Dreißig Sekunden später wachte Derby aus der magischen Betäubung auf. Da klopfte es auch schon an seine Tür. Er erfragte die Parolen und ließ vier der Agenten zu sich ein.
"Zimmerservice beseitigt noch die Spuren. Woher haben Sie das mit dem Sprengstoff?" fragte eine der Agentinnen, die mit einem wuchtigen Waschkorb ausgerüstet war.
"Bekam ich gerade über Kryptotext durchgegeben. Die beiden sind nach ihrer Abreise aus Spanien zu einem Waffenhändler gegangen, um sich für ihren Aufenthalt hier mit Sprengwesten zu bewaffnen, weil sie wohl damit rechneten, dass wir oder ein anderer Dienst sie sicherstellen wollte."
"Ja, aber die sind aus dem Zimmer verschwunden, ohne dass wir sie dabei beobachten konnten."
"Das konnte Harry Houdini auch", knurrte Derby. "Die beherrschen wohl entsprechende Zaubertricks."
"Wir haben alles überprüft. Die Schränke und Kommoden waren leer", sagte die zweite zur Wäschereigruppe gehörende Agentin.
"Die haben das Paket bekommen und sich dann innerhalb von nur drei minuten mit allem Gepäck abgesetzt. Wie genau sollen unsere Eierköpfe in Langley herausfinden", sagte Derby. Seine Mitarbeiter nickten. Doch interessieren tat es sie schon, wo die beiden Gesuchten abgeblieben waren.
Euphrosyne hatte sich und ihren Mann in die Wüste hinausgeschafft. Dort baute sie ein scheinbar nur für eine Person reichendes Zelt auf, das die Hitze des Tages und die klirrende Kälte der Nacht zu einhundert Prozent aussperrte und innen so groß war wie ein luxuriöses Schlafzimmer mit einem altmodisch wirkenden Himmelbett für zwei Personen in der Mitte.
"War doch eine gute Idee von meiner Mutter, mir dieses Zelt mitzugeben. Darin kann uns keine magische und nichtmagische Macht orten", sagte Euphrosyne. "Nur meine Posteule findet mich hier, weil sie auf mich abgestimmt ist", fügte sie hinzu. Dann beschrieb sie ihrem Mann, welche Vorzüge dieses Zelt alles besaß, vor allem den, von draußen nicht gehört zu werden und wenn sie wollte, auch nicht gesehen zu werden.
"Wenn jetzt die Geheimdienste hinter mir her sind kann ich doch keinen Schritt mehr tun, ohne von denen beobachtet oder abgegriffen zu werden, verdammt noch mal!" fluchte Lundi.
"Glaube mir, die werden dich sehr schnell wieder vergessen haben und in Ruhe lassen", erwiderte Euphrosyne und erklärte, dass das französische und spanische Zaubereiministerium das sicher auch an die Kollegen in den Staaten gemeldet hatten, dass ja niemand ihn und/oder sie festnehmen und wegsperren durfte. Lundi fragte dann zu recht, warum man ihnen dann die Gasbombe geschickt hatte. "Weil der oder die, welche die Geheimdienste auskundschaften, wohl nicht früh genug davon erfahren hat. Aber für uns zwei geht das Leben trotzdem weiter. Wir müssen nur lange genug warten."
"Wie lange?" wollte Lundi wissen.
"Höchstens eine Woche, bis alle es wissen, dass wir niemals gefangengenommen werden dürfen. Ich besorge uns beiden noch was zu essen. Du bleibst bitte hier im Zelt. Hier findet dich keiner."
"Wie du meinst", schnaubte Lundi, der nun endgültig mit einer Karriere bei einem Fußballclub und der Nationalmannschaft abschloss.
Es war schon spät am Abend, als ein forderndes Schuhuh zu den beiden Lundis ins Zelt hereinklang. Euphrosyne schlüpfte kurz hinaus und stieß einen lauten Wutschrei aus. Dann rief sie jemandem zu: "Bleib bis morgen weit weg von mir!" Danach kam sie mit einem scharlachroten, an den vier Ecken immer stärker qualmenden Umschlag zurück ins Zelt. Sie schloss es und rief ihrem Mann zu: Stecke dir die Finger in die Ohren und lass den Mund offen. Das ist ein Heuler. Sie hat mir einen verfluchten Heuler zurückgeschickt!" Dann riss sie den Umschlag auf und warf ihn zu Boden. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich selbst die Ohren zuhalten, als mit der Gewalt eines unmittelbar über ihnen einschlagenden Blitzes eine höchst verärgerte Frauenstimme losbrüllte:
"Was fällt dir kleinem, geltungssüchtigen Mädchen ein, mich anzuschreiben, ich möge so gnädig sein, dich in meine Reihen zu holen?!! Ich habe sehr wohl mitbekommen, was du mit diesem zugegeben sehr talentierten Burschen vorhast! Ich weiß auch sehr genau, dass die Zaubereiministerien dir das nicht durchgehen lassen wollen, dass du dich kokett wie die meisten deiner mütterlichen Ahnenlinie von den Magielosen bewundern und verehren lässt. Und da wagst du es, dich an mich zu wenden, um mich und meine Mitschwestern in deinen törichten Feldzug gegen die Zaubereiministerien zu verwickeln?! Entweder zeugt das von absolutem Übermut oder unheilbarem Irssin, dass du es wagen konntest, mich um ein Bündnis mit dir zu bitten, ja anzuflennen wie ein kleines Mädchen, das nach seinem großen Bruder oder der achso hilfreichen großen Schwester wimmert, um alle die bestrafen zu lassen, die ihm das Lieblingsspielzeug weggenommen haben. Abgesehen davon, dass nicht nur mich, sondern auch meine Schwestern deine mütterlichen Vorfahren zu tiefst anwidern haben wir genug wirkliche Sorgen und Aufgaben, die unsere Zeit beanspruchen. Da werde ich es mir nicht leisten, dich auch nur für eine Minute anzuhören. Dieser Brief ist schon das äußerste, was ich an Zeit und Energie auf dich verwenden werde. Komm nie wieder auf den einfältigen Einfall, mich vor den Karren deiner kindischen Rache zu spannen!! Geh wieder zurück zu Maman, kleines Mädchen, bevor sie dich noch schmerzlich vermisst!"
Als diese letzten, absolut herabwürdigenden Worte verklungen waren zerbarst der rote Umschlag in einer Wolke aus Feuer. Da der Zeltboden einen Flammenschutzzauber besaß geschah diesem nichts.
"Aua!" rief Lundi. "Selbst mit den Fingern in den Ohren war das noch zu laut", beschwerte er sich. Seine Angetraute hockte am Boden, ihr makellos schönes Gesicht war eine einzige Maske aus Wut und Niedergeschlagenheit. Tränen strömten aus ihren Augen und liefen wie kleine Bäche über ihr Kinn und versickerten in ihrem schicken Kleid. Sie schniefte und flennte ungehemmt. Zwei ganze Minuten lang hielt dieser Ausbruch unerträglicher Gefühle an. Dann schaffte sie es, sich wieder zusammenzunehmen.
"Sie hat mich zurückgewiesen, mich für unwürdig befunden, bei ihr mitzumachen. Aber dann wird es auch ohne sie gehen. Die soll mir bloß nicht über den Weg laufen. Ich bring das Weib um, wenn ich die vor den Zauberstab kriege", heulte sie wütend. Dann schaffte sie es, sich endgültig von den sie niederhaltenden Gefühlen freizumachen. Sie sagte zu Aron: "Ich habe gedacht, eine sehr mächtige Verbündete gewinnen zu können und war bereit, ihr sogar in gewissen grenzen zu dienen. Aber wenn sie mich für zu klein und abstoßend hält, dann soll die eben sehen, was sie ohne mich ausrichten kann. Mit denen, die dir und mir übles wollen kann und werde ich dann eben alleine fertig."
"Du hast doch nicht etwa eine schwarze Hexenlady angeschrieben, dir zu helfen, für mich zu kämpfen. Die hätte auch sagen können, dass sie dir hilft, wenn du mich ihr dafür überlässt. Sei froh, dass die dir diesen Brüllbrief geschickt und dich und mich nicht gleich kassiert hat!"
"Zum Blitzschlag noch mal, du hast leider recht, Aron. Sie hätte dich mir glatt wegzunehmen versuchen und mich damit gefügig machen können. Vielleicht war das doch besser so. Aber das kleine Mädchen, das noch bei seiner Mutter bleiben soll kriegt die irgendwann wieder, wie mächtig die immer sein will", schnaubte Euphrosyne.
"Öhm, vielleicht hat die einen Peilzauber in diesen Brief eingehext, um spitzzukriegen, wo du bist", vermutete Aron.
"Nein, das geht bei dieser Art von Briefen nicht, weil das, was sie so laut und schrecklich macht jede andere Art von Bezauberung verdrängt. Aber sie hätte meine Eule mit einem Aufspürzauber versehen können. Deshalb habe ich die auch bis morgen früh weggeschickt. Wenn die Sonne wieder scheint kann ich meine Eule mit einem Reinigungszauber von jeder Form mir unerwünschter Magie freimachen."
"Und was machen wir, wenn diese Hexe und die erwähnten Mitschwestern uns bis dahin doch finden?" wollte Aron wissen.
"Das Zelt können die nicht orten und ich habe den Tarnzauber darauf gelegt. Die finden uns nicht. Aber wenn du mich fragst, wie wir die Nacht rumkriegen können hätte ich da eine Idee", säuselte sie und nahm eine sehr eindeutige Haltung ein, während sie ihn einladend anlächelte.
Julius erhielt über das Arkanet eine Mitteilung einer gewissen Brenda Brightgate, die zum Marie-Laveau-Institut gehörte. Auch Belle Grandchapeau bekam diese Nachricht. Darin hieß es, dass wegen einer zu spät erfahrenen CIA-Aktion gegen die Lundis diese wohl aus dem Hotel in Las Vegas geflohen seien, bevor eine Gasbombe sie erwischt hätte. Wo genau die beiden nun seien wisse niemand. Julius schrieb der Absenderin zurück, dass er sich für die Nachricht bedanke und wohl aus anderen Quellen hören werde, ob und wo die beiden wieder auftauchen würden, wobei er nun davon ausging, dass denen der nordamerikanische Kontinent zu ungemütlich sei und der Zweck ihrer Reise ja erfüllt worden sei.
Den Tag erlebte Julius im Innendienst. Er koordinierte Absprachen zwischen den Werwolfsondertrupps in Frankreich und Großbritannien. Die Ansprache dieses Rabioso hatte eine für diesen unerfreuliche Nebenwirkung gezeitigt. Alle bereits registrierten Werwölfe hatten sich erboten, den Sondereinsatzgruppen ihrer Heimatländer beizutreten, um die offenkundig größenwahnsinnigen Verbrecher ihrer Schicksalsgenossen zur Strecke zu bringen.
Anthelia fühlte sich selbst sehr beengt, als sie mitbekam, wie Paulina einen aus Beständen der US-Armee entwendeten ABC-Schutzanzug anprobierte. "Nicht wirklich was für fruchtbare Frauenzimmer", grummelte sie, als sie alle Reißverschlüsse geschlossen hatte. "Aber wenn es schützt."
"Mir ist noch was eingefallen", sagte Fino. "Die werden wohl kein mal so eben ausgestreutes Virus oder Bakterium in die Luft blasen, sondern mit gezielten und gelenkten Überträgern arbeiten. Denn die werden nicht riskieren, dass ihr Virus oder Bakterium bei anderen Wirten seine Funktion ändert und dann auch auf Nicht-Lykanthropen losgeht." Tino und Donny stimmten ihm durch nicken zu.
"Entweder gehen die dann auf unseren Geruch oder auf die Lebensschwingungen. Bei erstem müssen wir den Geruch überdecken, egal ob in Wolfs- oder Menschengestalt", sagte Fino. "Im zweiten Fall müssen wir unsere besondere Lebensausstrahlung überdecken, so wie dieser Florymont Dusoleil das mit den Magiebegabtenabschirmdingern, diesen Antisonden, gemacht hat."
"Ja, und bis wir das raus haben müssen wir in Siedlungen immer in diesen Anzügen rumlaufen?" fragte Paulina und öffnete ihren Anzug wieder.
"Wir haben nur fünf Stück davon. Außer unseren werdenden Müttern und solchen fünfen darf dann solange keiner wach herumlaufen, bis wir wissen, woran wir bei denen sind", sagte Fino. Valentino nickte.
"Würde mich jetzt auch interessieren", dachte Anthelia, die immer noch Verbindung hielt.
"Dann taucht der Blauwal wieder ab?" fragte Nina.
"Zumindest solange, bis wir wissen, wie wir uns gegen gelenkte Tötungsvorrichtungen absichern können", sagte Lunera. Sie war auch nicht so sonderlich begeistert davon, dass sie wieder abtauchen sollte. Doch bis zum Juni, wo ihr Kind und das von Nina zur Welt kommen sollten, würden sie schon eine Möglichkeit finden, nicht erledigt zu werden. Ihr bester Schutz, das sagte sie, war der Umstand, dass bisher keiner wusste, dass sie wieder aufgetaucht waren. Anthelia konnte darüber nur grinsen, auch wenn das natürlich niemand mitbekam.
"Ach, dann haben die in den Staaten auch schon ein aus Lykanthropen bestehendes Kommando", feixte Julius, als er am Morgen dieses Tages einen Brief aus Washington übersetzen durfte. Darin stellte sich ein gewisser Hubert Woodworth als offizieller Leiter der Einheit Quentin Bullhorn vor, die seit dem 18. Februar diesen Jahres offiziell ihre Arbeit aufgenommen habe und aus bisher vierzig männlichen und weiblichen Mitgliedern bestehe, die alle mit dem Los der Lykanthropie zu leben hätten, wie der Namensgeber, der vor zweihundert Jahren verstorbene Quentin Bullhorn, der damals schon versucht habe, eine bessere Behandlung von Werwölfen in den vereinigten Staaten zu erwirken, ohne Gewalt. Julius durfte im Namen der Zauberwesenbehörde und der LdLL eine Antwort schreiben und auf dem Expresseulenweg zurückschicken.
"Haben sie nach dem 20. Februar noch was von Euphrosyne Blériot beziehungsweise Lundi gehört?" fragte Julius seine Vorgesetzte. Diese sah ihn verdrossen an.
"Seitdem ein paar übereifrige Muggel meinten, sie aus einemHotel in Las Vegas herausfangen zu können nichts mehr, Monsieur Latierre. Und sollte Madame Léto nicht in ihrer Eigenschaft als Verwandte dieser Person befinden, Sie als Vermittler anzurufen, empfehle ich Ihnen an, sich nicht weiter mit dieser Person zu befassen. Sollte sie von sich aus mit Ihnen Kontakt suchen, so weise ich Sie unmissverständlich an, mir sofort darüber Meldung zu erstatten oder, falls sie es gegen alle bisherigen Erfahrungen mit Sardonias Glocke schaffen sollte, Sie in Millemerveilles direkt aufzusuchen, erstatten Sie mir unmittelbar nach dem Zusammentreffen einen vollständigen Bericht! Haben Sie das verstanden?"
"Ja, das habe ich verstanden, Mademoiselle Ventvit. Ich soll jede Kontaktaufnahme von meiner Seite aus unterlassen und bei einem Kontaktversuch oder Kontakterfolg ihrerseits umgehend darüber berichten", bestätigte Julius den Erhalt dieses Befehls. Ornelle nickte.
"Es ist höchst bedauerlich, dass wir die nicht alle mit einem Fluch erledigen können", knurrte die Hexe im roten Kapuzenumhang, die über ihren Kopf einen lebensechten künstlichen Babykopf gestülpt hatte, der Maske und Helm zugleich war und sich leicht und warm an den umschlossenen Kopf anschmiegte. Durch die Maskerade wurde auch die Stimme verändert und klang nun so wie die eines kleinen Mädchens von gerade einem Jahr.
"Unsere Frühlingsboten erfüllen ihren Zweck auch", quäkte ihr Kollege, der ebenfalls mit Umhang und Babykopfvollmaske ausgestattet war.
"Besteht noch die Möglichkeit, an eines von diesen neuartigen Instrumenten aus dem LI heranzukommen?" fragte die Hexe.
"Nein, im Moment nicht, weil die Vertriebswege zu gut überwacht werden. Aber lass jetzt unsere Frühlingsboten raus. Die haben alle Bilder und Duftproben der registrierten Lykanthropen. Jeder nicht registrierte ist danach Freiwild."
"Dann mal los!" sagte die Hexe der kleinen Einsatztruppe, die in der Nähe von New York unterwegs war.
Sie öffnete eine eiförmige Tasche und holte nacheinander zwanzig scheinbar totenstarre Insekten heraus, alles kleine Fliegen. Doch jede hatte es in sich, genauer, trug hunderte von für Lykanthropen tödliche Mikroobjekte in sich. Die Rüssel der Fliegen waren an der Spitze mit Mondsteinsilber gehärtet, damit sie die Haut von Werwölfen durchdringen konnten. Der Zauberer mit der Babykopfmaske schwang seinen Zauberstab durch die Luft. Da regten sich die winzigen Körper und schwirrten keine zwei Sekunden später davon. Sie waren exakt auf die besonderen Geruchsspuren im Schweiß von Werwölfen abgestimmt.
"Die einzelnen kriegen wir so. Aber wenn wir ein Rudel haben müssen wir direkt eingreifen", sagte die Hexe, nachdem alle Winzflugkörper unterwegs waren.
"Hauptsache, unsere Aktion wird ein Erfolg", sagte der Zauberer.
Rabioso saß in seinem Studierzimmer in der Villa Mariposa. Es war gerade zwei Uhr Mittags. Da kam Rico angelaufen und meldete:
"Mein König, Jorge in Madrid hat einen Notruf abgesetzt. Irgendwas hat ihn gestochen und wohl vergiftet oder verseucht. Er klagt über nachlassende Kraft zusammen mit immer größerer Kälte."
"Um diese Jahreszeit ist es in Madrid nicht so warm", grummelte Rabioso. Dann erkannte er den Ernst der Lage. Doch er wollte Gewissheit.
"Lasst ihn nicht mehr zu uns rein, selbst wenn er es noch schafft, bis zu uns hinzukommen!" schnaubte er.
"Was vermutet Ihr, mein König?" fragte Rico.
"Na was schon, den schon lange angedrohten Gegenschlag dieser Babymacherbande. Keine Mücke und kein Floh beißt oder sticht einen Werwolf. Außerdem ist es noch ein wenig früh für Mücken. Also haben die was gebaut, das deren Zeug überträgt."
"Dann kriegen die uns damit doch auch, wenn sie die Dinger in genügender Anzahl losschicken", erschrak Rico.
"Erst mal rauskriegen, was mit Jorge los ist", brummelte Rabioso.
"Majestät, irgendwas hat mich am Arm gestochen. Das brennt. Ich kann meine Beine und Arme nicht mehr richtig bewegen", hörte er ein gequältes Stöhnen aus einer der dreißig Silberdosen, die ihn mit Kundschaftern in Spanien und Frankreich verbanden.
"Hast du gesehen oder gehört, was es war, Jorge?" wollte Rabioso wissen.
"Ich habe nur einen kurzen, brennenden Stich verspürt. Dann fing mein Arm an, immer schwerfälliger zu werden. Verdammt, mir ist kalt. Ich kann nicht mehr richtig atmen"", erwiderte Jorge.
"Versteck dich in der Nähe, wo du bist. Ernando wird dich holen kommen", sagte Rabioso.
"Ich schaff's noch bis zur Villa. Muss nur einmal apparieren."
"Gut, dann komm", knurrte Rabioso. Dann klappte er die Dose zu.
"Ihr habt eure Anweisungen. Jorge ist verpestet. Am Ende hat er den Überträger bei sich. Also sofort Aktion Brandmauer", sagte er und zog seinen Zauberstab.
Es dauerte jedoch über eine Minute, bis Jorge sich wieder meldete. "Kann mich nicht mehr bewegen. Friere wild. Kriege keine Luft mehr! Hi-hilfe!" Seine letzten Worte waren ein qualvolles Röcheln.
"Ich will wissen, wie die das hingekriegt haben. Toni, in den Anzug und aufpassen, dass da nichts dran hängenbleibt."
"Ihr meint, Jorge ist tot?" fragte Antonio Rojas, einer, der von Lunera zu Rabioso übergelaufenen aus Südamerika.
"Ja oder so gut wie. Geh hin und untersuch den. Wenn du Blud und Haare von dem hast herbringen. Den rest verbrennen, verstanden!"
"Verstanden, keine Spuren zurücklassen", sagte Toni. Dann zog er sich einen von Rabioso und seinen muggelweltlichen Gehilfen nachgebauten Raumanzug mit eingewirkter Kopfblase an. Der war zwar noch weit von der Qualität eines Duotectusanzuges entfernt, konnte aber, weil er nur aus Helm und Körperschutzumhüllung bestand, zumindest gegen schädliche Erreger und Giftgase eingesetzt werden.
Mit dem wie ein umgedrehtes Goldfischglas aussehenden Helm auf dem Kopf disapparierte Toni. Zwei Minuten später war er wieder da.
"Ich habe gerade so noch etwas Blut von ihm ziehen können. Habe die Leiche restlos verbrannt. Was immer den umgebracht hat, er sah am Ende wie ein Vampir aus, so bleich und kalkig."
"Und du hast aufgepasst, dass dich nichts begleitet hat?" fragte Rabioso.
"Ich habe mich nach Jorges Verbrennung von Kopf bis unter die Füße mit dem Ratzeputzzauber abgeschrubbt und vor dem Disapparieren einen Luftwirbel um mich gemacht, der alles aus meiner unmittelbaren Nähe wegpustet. Was immer das war ist nicht mit mir gekommen."
"Wehe dir wenn doch", knurrte Rabioso. Doch jeder hörte es aus ihm heraus, das er gerade Angst hatte, eine mörderische Todesangst.
"Wie großzügig", feixte Monsieur Vendredi, als er seinen Mitarbeitern ein Gerät vorstellte, dass vor wenigen Tagen in den vereinigten Staaten als serienreif freigegeben worden war und im Gegentausch von zehn Duotectusanzügen zur Benutzung in Frankreich überlassen wurde. "Gemäß der bisherigen Nomenklatur von Aufspürgeräten bösartiger Zauberwesen wie das Vampyroskop und das Zomboskop hat der Erfinder dieser Vorrichtung es Lykanthroskop genannt. Mit hilfe der neuen Sondertruppe Quentin Bullhorn gelang es, die typischen Lebensschwingungen von Lykanthropen von denen ohne den dunklen Keim zu unterscheiden und damit bis auf einundzwanzig Meilen also an die vierunddreißig Kilometer entfernung einzelne Lykanthropen zu orten, sofern sie nicht im Schutz eines Unortbarkeits- oder Fideliuszaubers stehen. " Er präsentierte den Mitarbeitern das Suchgerät, das rein äußerlich wie eine handgroße, feuerrote Kastanienhülle aussah, nur dass die Stacheln länger waren und eher wie biegsame kleine Antennen oder Fühler aussahen. Barbara Latierre blickte auf das Ding auf Vendredis Tisch.
"Sieht irgendwie unirdisch aus", sagte sie.
"Interessant. Diese Ansicht hegte auch mein Kollege in den Staaten, als er mir dieses Artefakt und seine vier Geschwister übersandte. "Als hätte dieser Quinn Hammersmith aus dem Laveau-Institut kleine, außerirdische Wesen auf die Erde beschworen, um uns zu helfen. Leider gibt er uns seine Konstruktionspläne nicht preis und hat in die Artefakte selbst genug Schutzmechanismen eingebaut, um jede Entschlüsselung ihrer Funktionsweise zu vereiteln", hat er mir in seinem beigefügten Schreiben mitgeteilt. Auf jeden Fall reagieren diese Gegenstände auf die in Reichweite lebenden Lykanthropen, je mehr auf engem Raum zusammen sind desto intensiver. Dabei richten sich die biegsamen Auswüchse in die Richtung aus und verlängern sich bis auf das vierfache, je näher man einer Ansammlung von Lykanthropen kommt. Unterschreitet die Entfernung ein Zehntel der Maximalreichweite reagieren sie durch Vibration, bei einer Annäherung auf unter hundert Metern erglühen sie sogar. Um Ihnen vorzuführen, wie diese Geräte im Ruhezustand und bei Ortung von Lykanthropen aussehen habe ich unsere loyalen Mitarbeiter von der Légion de la Lune gebeten, bis zu meinem Anruf mehr als die Maximalreichweite vom Ministeriumsgebäude entfernt zu sein." Vendredi griff zu einer jener silbernen Fernsprechdosen, die Julius auch schon im Einsatz benutzt hatte. Er klappte den Deckel auf und rief hinein: "Monsieur Lemont, Sie und Ihre Kollegen dürfen nun wieder zu uns kommen. Benutzen Sie bitte die Flugbesen. Den nicht-Zauberern und Hexen unter Ihnen ist das Mitfliegen gestattet."
"In Ordnung, Monsieur Vendredi", klang blechern die Stimme von Lucian Lemont aus der Dose.
"Wie kommt wer auf die Idee, Messgeräte in dieser Weise zu bauen?" fragte Adrastée Ventvit aus der Geisterbehörde.
"Wie erwähnt schweigt sich der Erbauer und Bezauberer dieser Artefakte über die genaue Funktionsweise aus. Womöglich dient die äußere Beschaffenheit einem Zweck, den wir nicht ergründen können."
"Für die räumliche Ortung stellt eine Kugel einen idealen Körper da, wenn es gilt, in allen drei Raumdimensionen präzise zu orten", sagte Lamarck aus der Tierwesenbehörde.
"Entschuldigung, Monsieur Vendredi, Sie erwähnten zwei andere wichtige Messgeräte. Besteht die Möglichkeit, diese Geräte ebenfalls zu erbitten?" fragte Simon Beaubois, der Chef der Geisterbehörde. "Ich denke, dass durch dunkle Magie belebte Leichen genauso in unseren Bereich fallen wie in den der Desumbrateure, da sie keine Lebewesen im eigentlichen Sinn mehr sind."
"Die Verhandlungen laufen noch. Vordringlich war es Minister Grandchapeau wichtig, endlich brauchbare Fernortungsgeräte zum Aufspüren von Werwölfen zu erhalten. Mit Zombies haben wir im Moment ja zum Glück keine Schwierigkeiten."
Nach wenigen Minuten kam Leben in den auf dem Tisch liegenden Gegenstand. Mehrere seiner Auswüchse vibrierten und pendelten erst weit ausladend und dann immer schneller immer enger, bis sie auf zweifache Länge ausfuhren und in einem Winkel von dreißig Grad nach oben in Nordostrichtung wiesen. Vendredi fragte Lemont, ob sie aus nordöstlicher Richtung anflögen. Das wurde bestätigt. "Gut, drei Gruppen bilden und in nach vorne offener V-Formation weiter anfliegen!" befahl Vendredi. Sofort spreizten die den ausgerichteten Antennen benachbarten Anzeigeanhängsel sich nach links und rechts und pendelten sich auf die weiteren Zielgruppen ein. "Wunderbar. Das Gerät hat Ihren Formationswechsel angezeigt. Fliegen Sie nun in vier Gruppen aus verschiedenen Zwischenrichtungen an! Eine Gruppe kann uns dabei überfliegen, bevor sie zum Zielendanflug ansetzt", kommandierte Vendredi fast so wie ein Marineadmiral oder Luftwaffengeschwaderführer.
Tatsächlich reagierte das Lykanthroskop auf die veränderten Anflugsgruppen. Die an der Oberseite gelegenen Auswüchse schnellten sogar bis auf vierzig Zentimeter nach oben, als eine der Gruppen wohl gerade über das Ministeriumsgebäude hinwegflog. Dabei vibrierte es sogar hörbar, aufleuchten tat es aber nicht. Das kam erst, als die vier Gruppen unterhalb der 100-Meter-Marke entfernt waren.
"Das ist unheimlich, wie ein lebendes Wesen. Sind sie sicher, dass dieser Hammersmith da keine künstlichen Lebewesen erschaffen hat?" fragte Ornelle Ventvit.
"Darauf konnten sie überprüft werden. Nein, es sind keine magisch erzeugten Lebensformen, sondern vielschichtig bezauberte Gegenstände."
"Ja, aber unhandlich im direkten Einsatz, wenn man so eine Kugel in der Hand hat und genau aus der Richtung Lykanthropen angebraust kommen, die der Handfläche des Benutzers entgegengesetzt ist", sagte Montrich. Julius, der ebenfalls zuhörte befolgte Ornelles eingehenden Rat, sich aus jeder Diskussion herauszuhalten, solange er nicht ums Wort gebeten wurde. Er kannte den Erfinder nicht, wusste nur, dass der geniale Sachen baute. Er musste an die goldenen Männer und Frauen von Khalakatan und die zwei Goldmädchen von Kallergos denken. War dieser geniiale Tüftler Quinn Hammersmith so gut, deren Funktionsweise nachzuempfinden? Laut durfte er diese Frage natürlich nicht stellen.
Schließlich traten die Mondlegionäre angeführt von Lucian Lemont durch die Bürotür, begrüßt von einem vierstimmigen Summen und wie eine untergehende Sonne leuchtendem Lykanthroskop. Die Beobachter dieses Versuches klatschten und nickten der Sondertruppe zu.
"Wie erwähnt verfügen wir im Moment über fünf dieser Artefakte. Genausoviele haben die Ministerien von Spanien, Deutschland, Großbritannien und Italien erhalten. Belgien und die Schweiz werden wohl je zwei dieser Geräte zugeteilt bekommen, zumal die erwähnten Länder im Moment nichts im Ausgleich dafür anbieten können und somit wohl nur leihweise diese Apparaturen benutzen können. Ich teile nun aus den verschiedenen Unterbehörden Benutzer dieser Geräte ein. Nun, da diese Artefakte nicht zwischen uns freundlich gesinnten und feindlich agierenden Lykanthropen unterscheiden können kann ich der Légion de la Lune bedauerlicherweise keines davon anvertrauen." Er rief die dienstältesten Außeneinsatzleiter zu sich hin und übergab Montrich das gerade vorgeführte Lykanthroskop.
"Das ist schon der achte tote Lykanthrop", seufzte Gunnar Hasenklee, der in der Tierwesenbehörde des deutschen Zaubereiministeriums arbeitete. Er zeigte seiner Begleiterin Albertine Steinbeißer den toten, einen noch sehr jungen Mann.
"Vom Aussehen her hätte ich den auch für einen Vampir halten können", sagte Albertine.
"Ja, als wenn ihm jemand das Blut ausgesogen hätte. Aber die Zeugen, die meine Leute vernommen haben, behaupten, dass der Muggel hier zehn Minuten vor seinem Tod noch ganz munter gewesen sein soll.
"War der Junge registriert?" fragte Albertine. Gunnar Hasenklee schüttelte den Kopf.
"Gut, ich besorge die muggeltauglichen Entschuldigungen. Nachher bricht hier noch eine Panik aus."
"Danke Al", sagte Gunnar. Er war froh, dass die Hexe aus dem Muggelkontaktbüro die Sache übernehmen würde. Ihn interessierte nur, wie der Werwolf gestorben war. Denn dass es einer war ergab sich aus dem Umstand, dass er als nur einer von dreitausend anderen umstehenden diesem schnellen Tod zum Opfer gefallen war.
Albertine vermittelte, dass der mitten auf einem Platz in Hannover unter Krämfen und kälteartigen Zitterattacken gestorbene Mann einen tödlichen Schlaganfall erlitten habe. Nachdem sie genug Blut-, Haar und Speichelproben von ihm genommen und unter Anwendung aller Eigenschutzmaßnahmen in ein Labor ihrer Behörde geschafft hatte, nahm sie Kontakt zu ihrer eigentlichen Anführerin auf.
Anthelia hatte mitverfolgt, wie immer mehr Werwölfe einen schnellen Tod fanden. Rein äußerlich schienen sie zu erfrieren. Doch dazu passte nicht das immer stärkere Röcheln um Luft und die bleiche Hautfarbe, die sie nach dem Tod annahmen. Als Albertine ihr die Blutproben eines gestorbenen Werwolfs in Hannover mitbrachte untersuchte sie diese sofort. Dabei stellte sie fest, dass irgendwas die Eisenkerne aus den roten Blutkörperchenherausgelöst und zerstäubt hatte. Sie kannte weder ein Gift, noch einen Fluch, der das konnte. Selbst mit zwei hintereinandergestellten Trimaxgläsern konnte sie nicht herausbekommen, was den Werwölfen den Tod gebracht hatte.
"An dem Körper war in Höhe der linken Halsschlagader ein ungefähr zwei Zehntelmillimeter durchmessender Einstich", sagte Albertine. Anthelia nickte. Dann hatte jemand den Werwölfen etwas in die Adern gespritzt. Es hatte dann alle roten Blutkörperchen unrettbar geschädigt und zwar so schnell, dass kein neues Blut mehr nachgebildet werden konnte. Wenn alles Blut unbrauchgbar geworden war versiegte der Stoffwechsel und das Opfer starb mehr oder weniger schnell. "Genauso, als hätte ihm ein Vampir alles Blut aus dem Leib gesogen", sagte Anthelia. "Ich gäbe einiges dafür, wenn ich erführe, wie die das hinbekommen haben." Albertine konnte sich gerade noch zusammenreißen, nicht laut zu sagen, dass Anthelia das sicher erführe, wenn sie sich als Zuchthexe für mindestens fünf neue Zaubererweltkinder anböte. "Das habe ich gehört", mentiloquierte Anthelia ihr, aber nicht tadelnd, sondern amüsiert. "Aber die werden mich nicht mit unerwünschten Bälgern im Bauch herumlaufen sehen. Wenn ich je ein Kind haben möchte, dann ganz gezielt und von jemandem, von dem ich und nur ich sicher bin, dass er es würdig ist, Vater meiner Kinder zu werden", sagte sie dann laut.
"Wieso kann ich dir gegenüber nie so zumachen wie allen anderen gegenüber", quängelte Albertine.
"Weil du es anregend findest, mir deine geheimen Wünsche zu offenbaren vielleicht?" säuselte Anthelia.
"Gut, ich werde besser zu meinem ordentlichen Dienststandort zurückkehren", schnaubte Albertine mit hochrotem Kopf. Sie verabschiedete sich von Anthelia und disapparierte.
"Ichmuss einen der gerade damit verseuchtenLykanthropen erwischenund lebend untersuchen", knurrte Anthelia verdrossen.
5. März 2002
Julius staunte nicht schlecht, als er von seiner direkten Vorgesetzten mit einem "Das werden Sie nicht glauben" empfangen wurde. Julius fing sich erst einen der herumspukenden Bürostühle und setzte sich. Dann fragte er, was er nicht glauben würde. Statt einer Antwort bekam er ein Memo zu lesen, dass Ornelle vor seiner Ankunft im Büro auf den Tisch geflattert war. Er las:
Rudel aus 20 Lykanthropen bei Saint Tropez in Kampf mit unbekannten Hexenund Zauberern aufgespürt. Hexen und Zauberer durch gleich aussehende, überlebensgroße Säuglingsköpfe auffällig. Vermutung: Säuglingsköpfe sind Kombinationen aus Helm und Maske zur Herstellung von Unkenntlichkeit. Fünf Werwölfe durch unbekannte Waffe tödlich verletzt. Restliches Rudel flüchtig. Habe Verfolgung aufgenommen. erbitte Verstärkung!
Montrich
"Monsieur Montrich ist mit einem der roten Werwolffindebällchen unterwegs an der Côte d'azur, richtig?" fragte Julius. Ornelle nickte.
"Die Verstärkung ist schon unterwegs. Ich frage mich nur, wer die unbekannten Hexen und Zauberer sind und was ausgerechnet Babyköpfe als Maskierung sollen."
"Hmm, möchten Sie meine Vermutung dazu hören, Mademoiselle Ventvit?" erkundigte sich Julius vorsichtshalber.
"Ich bitte darum", erteilte Ornelle ihm das Wort.
"Ein Babykopf, wohl ohne Haare, steht für neues Menschenleben, wie ein Totenkopf für den Tod und damit für Gift oder andere tödliche Gefahren steht. Ich vermute, dass die Lykanthropen es sich endgültig mit jener Schattenorganisation verdorben haben, die sich selbst Vita Magica nennt", sagte Julius und fügte nur in seinen Gedanken hinzu "und denen ich im September oder Oktober drei Geschwister zu verdanken habe. Sausäcke!"
"Das deckt sich absolut mit meiner Vermutung. Danke für Ihre Einschätzung", sagte Ornelle. "Immerhin laufen die Ziele des so genannten Königreichs Lykotopia und die der Vita Magica diametral entgegengesetzt. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sich beide Gruppen in einer offenen Schlacht begegnen."
"Wie lauten Ihre Anweisungen für mich?" fragte Julius, der hoffte, mal wieder in einen Außeneinsatz gehen zu dürfen.
"Hinterherfliegen und ausschließlich beobachten. Keinerlei Eingriff in den Ablauf der Ereignisse, da ich einen vollständigen Lagebericht benötige", sagte Ornelle. Julius nickte und erhielt eine Anweisung, sich einen der wenigen Harvey-Besen auszuborgen, die im Austausch für Rückschaubrillen eingehandelt werden durften.
Auf diese Weise völlig unsichtbar für Freund und Feind brauste Julius wenige Minuten später in Richtung Südfrankreich davon. Außerhalb von Paris disapparierte er und flog dann die beliebte Côte d'Azur entlang. Sein Onkel Claude hatte hier mit seiner Frau den fünften Hochzeitstag gefeiert, wusste er noch. War er deshalb noch nie weiter als bis Marseille geflogen?. Auch fiel ihm ein, dass der kleine rauflustige Philemon Dusoleil in Saint Tropez gezeugt worden war. Egal, jetzt galt es, die Ereignisse zu beobachten, die sich hier abspielten. Ornelle wisperte ihm über eine Winzversion der beliebten Silberdosen knapp hinter seinem linken Ohr zu, wo die flüchtigen Werwölfe waren. Julius zog die gerade fingerhutgroße Silberdose vor seinen Mund und flüsterte hinein, dass er den Kurs entsprechend korrigiert hatte.
Zwanzig Flugminuten später konnte er vier in Rechteckformation fliegende Besen ausmachen, die knapp zwanzig Meter über Grund dahinflogen. Er nahm das Superomniglas zur Hand, dass auf seiner Ausrüstungsanweisung gestanden hatte und hielt den Halben Maximalabstand zu den Besen. Er erkannte Montrich und drei von den Zauberern, die ihn bei der Suche nach Nal begleitet hatten. Jetzt verstand er, warum er sich nicht offen zeigen durfte. Die vier verübelten es ihm wohl immer noch, dass er zum einen keinen seiner Sonderzauber weiterunterrichten wollte oder durfte und zum zweiten die der grünen Gurgha unterworfenen Kollegen in tote Gegenstände verwandelt hatte, um sie vor ihr in Sicherheit zu bringen.
Dann sah er gleich sieben fliegende Objekte, die er beim Heranholen als Aeton-Pferde erkannte, geflügelte, fuchsfarbene Tiere, auf denen Männer und Frauen in blutroten Kapuzenumhängen saßen. Die Aetons wurden ausschließlich auf den britischen Inseln gezüchtet, wusste Julius. Doch mehr noch fielen ihm die sieben blassrosa Köpfe ohne Behaarung und mit weichen, runden Gesichtszügen und niedlichen Stupsnasen auf. Julius sah die großen, strahlendblauen Augen in den Gesichtern. Die Fremden trugen tatsächlich übergroße Babyköpfe zwischen den Schulterblättern. Doch die restlichen Körper waren die von Erwachsenen, unverkennbar in männlich und weiblich unterscheidbar. Jetzt hätte Julius noch gerne ein Langziehohr oder Linda Knowles magobionische Ohren gehabt um zu hören, was da vor ihm abging. Er meldete die Sichtung der Gruppe um Montrich und die sieben Aetons mit den Risenbabys darauf. Er fragte sich, ob die sieben Unbekannten nicht noch stilechter unterwegs wären, wenn sie statt der Aetons geflügelte Wiegen benutzten.
Jetzt konnte er auch am Strand entlangjachernde Hundewesen erkennen und holte sie durch sein Fernrohr näher heran. Ja, das waren elf flüchtende Werwölfe. Er ging in den Tiefflug über, wobei er sehr genau darauf achtete, nicht in die Ausrichtung eines Zauberstabes hineinzugeraten. Er meldete nun die Sichtung der Werwölfe. Dann sah er, wie Montrich eine große Glasflasche zwischen die Lykanthropen warf. Das Glas zerbarst und setzte eine Wolke frei, die Julius als Kontralykogas erkannte. Die flüchtigen Werwölfe gerieten voll in die Wolke hinein und erstarrten unverzüglich. Montrich riss eine Silberdose vor seinen Mund und rief wohl nach Verstärkung. Gleichzeitig formierten sich seine drei Kameraden so, dass sie den sieben nun heranpreschenden Aeton-Reitern mit den Babyköpfen entgegenflogen. Julius wollte gerade seine Silberdose vor den Mund ziehen, um die neue Lage zu melden, als er wie durch ein langes Ofenrohr Montrichs Stimme hörte: "Die Babyköpfe festnehmen!"
"Ihr seid mutig oder total bekloppt", dachte Julius. Dann erkannte er, dass Ornelle ihn sozusagen mit auf Montrichs Dosenfunk geschaltet hatte.
"Ich würde an Ihrer Stelle den Festnahmebefehl widerrufen", erklang eine wohl magisch verstärkte, wahrhaftig babyhaft hohe Stimme. Julius konnte nicht sagen, wer von den sieben das gerufen hatte.
"Sie behindern eine zaubereiministerielle Sicherheitsmaßnahme, sind im Besitz nicht in Frankreich zugelassener Reittiere und haben sich zu allem Verdruss auch noch unkenntlich gemacht. Genug gründe, Sie festzunehmen. also ergeben Sie sich freiwillig!" rief Montrich.
"Festnahme sofort widerrufen!" dröhnte Ornelles Stimme aus Julius Silberdöschen und wohl auch aus Montrichs Fernsprechartefakt. Er erwiderte:
"Tut mir leid, Mademoiselle, kann Ihre Anweisung nicht ausführen!" Dann landete er. "Bleibt von den Mondpelzlern weg", plärrte die magisch verstärkte Babystimme. Doch Montrich dachte nicht daran, darauf zu verzichten, einen der gelähmten Werwölfe festzunehmen und abzuführen. Die drei Begleiter von ihm stürmten derweilen vor. Sie hatten wohl keine Sprechdosen mit, sonst hätten sie Ornelles Befehl wohl mitbekommen und würden ihn ausführen, dachte Julius. Er drückte die kleine Taste an seinemOmniglas, die ihm ermöglichte, eine ganze Minute lang alles damit gesehene aufzuzeichnen. Und was er durch das Fernglas sah erstaunte und erschreckte ihn gleichermaßen. Die sieben Aeton-Reiter hatten plötzlich goldene Rohre in den Händen, ähnlich wie Blasrohre. Montrich riss den Zauberstab hoch und versuchte, einen der Aetons zu schocken. Doch das geflügelte Pferd wich so blitzartig aus, dass der Schockzauber um drei Meter an ihm vorbeizischte. Dann erfolgte auch schon der Gegenschlag der sieben Babyköpfe.
Aus den goldenen Rohren schlugen goldene Lichtstrahlen zu den Ministeriumszauberern über und hüllten sie innerhalb eines Lidschlags vollkommen ein. Es krachte viermal. Keine Zehntelsekunde nach Erlöschen des goldenen Lichtes schnellten blau flirrende lichtstrahlen aus den Goldröhren dort hin, wo die Ministeriumszauberer gewesen waren. Zwei volle Sekunden lang flirrte dieses Zauberlicht, bevor auch dieses erlosch. Danach kam vorerst nichts weiteres aus den Goldenen Röhren.
Julius wusste nun, warum er nicht offen sichtbar am Einsatz teilnehmen sollte. Ornelle hatte die Gefährlichkeit der sieben Babyköpfe früher erkannt als ihre Mitarbeiter. Denn da wo vorher noch die großen und kampferprobten Kollegen Montrich, Brussac, Lelyonais und Laroche gestanden hatten, lagen nun vier gerade erst einen oder zwei Tage alt aussehende Babys im Sand. Auf jeden fall hatten die sieben den Zauber, mit dem sowas ging innerhalb einer halben Sekunde ausgeführt, viel zu schnell, um die einzig wirksame Gegenformel dagegen anzuwenden. Dann fingen die vier zurückverjüngten wohl auch zu schreien an. Zumindest konnte Julius es durch seine Sprechdosenverbindung hören. Deshalb riss er schnell seine fingerhutgroße Silberdose vor den Mund und wisperte: "Sieben Aeton-Reiter mit Babykopfüberzügen haben Montrich, Lelyonais, Brussac und Laroche durch gespeicherten und blitzartig entfalteten Infanticorporezauber mit nachfolgender Lähmung oder Geistesbeeinflussung kampfunfähig gemacht."
"Sind die siben noch da?" fragte Ornelle sichtlich erschüttert. Julius bestätigte das.
"Sie machen sich gerade an den gelähmten Werwölfen zu schaffen. Oha, die Werwölfe sterben. Sie verwandeln sich in Menschen zurück ... o Himmel! Alles Halbwüchsige, keiner älter als fünfzehn."
"Wie haben die das angestellt?" wollte Ornelle wissen. Julius erwähnte winzige Spritzen, mit denen die sieben den Werwölfen wohl was injiziert hatten, wohl ein tödliches Gift.
"Spritzen?" fragte Ornelle verwundert. Julius wiederholte es.
"Gut, Bergung der infanticorporisierten, dann und nur dann, wenn die sieben Gegner außer Omniglasreichweite sind!" befahl Ornelle.
"Befehl verstanden. Ausführung jedoch leider wohl unmöglich, weil die vier gerade von den Riesenbabys eingesammelt werden. Erbitte Anweisung zur weiteren Vorgehensweise!"
"Bisherige Anweisung blleibt gültig. Weiterbeobachten, wenn möglich Verfolgung der sieben Unbekannten, jedoch unter Einhaltung aller Sicherheitsmaßnahmen. Keine eigenmächtigen Aktionen! Ich wiederhole, greifen Sie nicht ein, egal, was Sie zu sehen kriegen!"
"Einmal infanticorporisiert zu werden hat mir auch gereicht", erwiderte Julius. Ornelle wusste, dass er den Zauber schon einmal an sich hatte ausprobieren lassen und auch, dass nach dem ersten Zusammenstoß mit Hallitti ermittelt wurde, dass er bei einem neuerlichen Infanticorpore-Angriff nicht mehr auf sein natürliches Lebensalter zurückgeführt werden konnte. Erwischten die ihn mit diesen Blasrohren konnte Millie ihn als Chrysopes einige Wochen später angekommenen Zwillingsbruder mitgroßfüttern.
Er sah zu, wie die sieben Aeton-Jockeys in blutroten Kapuzenumhängen die vier Ministeriumszauberer aus den ihnen zu groß gewordenen Umhängen herauszogen und dann in den Himmel hinaufritten. Julius hatte auch gesehen, wie einer der Babyköpfe das Lykantrhoskop Montrichs aus seinen Sachen herausgekramt und eingesteckt hatte. Das meldete er nun auch Ornelle.
"War zu befürchten. Montrich hätte sich zurückziehen sollen, als die sieben kamen", seufzte Ornelle.
Julius jagte den Aetons nach. Der Harvey konnte noch gut mit den geflügelten Pferden mithalten. Er hielt genug Abstand. Dann aber passierte es. Der Besen stieß unvermittelt in etwas unsichtbares hinein, das immer dichter und träger wurde, bis der Besen vollständig in der Luft gebremst war. Julius dachte erst an den Impersecutio-Zauber, der Verfolger auf Abstand hielt, bestenfalls die Verfolgung unmöglich machte. Doch als es ihn warm und konturgenau umschloss wie eine vorgewärmte Gummidecke verwarf er den Gedanken an den Impersecutio-Zauber. Er ging davon aus, dass die sieben Reiter nun unbehelligt weiterfliegen würden. Doch zwei der sieben machten kehrt und flogen auf ihn zu. Gleichzeitig sah Julius in der Ferne ein Pulk weiterer Besenreiter anfliegen.
Julius konnte sich gerade soweit bewegen, dass er seine Arme ein wenig zur Seite drücken konnte. Aber er kam nicht aus der Umhüllung frei, die auch seinen Besen festhielt. Dann waren die zwei Reiter in seiner Nähe. Unvermittelt durchzuckte Julius ein Energiestoß wie ein starker Elektroschock. Die Luft um ihn flimmerte. Dann konnte er sich selbst und den Besen sehen, auf dem er saß. Sie hatten ihn enttarnt.
"Ach nein, der hoffnungsvolle junge Zauberer Julius Latierre", plärrte einer der Babyköpfe. Der andere plärrte mit genau derselben Stimme zurück: "Gut, dass Septurion zwei den Wächter der Luftdurchdringung hinter uns aufgerufen hat. du hast das gesehen, was wir mit deinen Kollegen tun mussten?"
"Da möchten Sie doch jetzt wirklich keine Antwort drauf haben", knurrte Julius und wunderte sich, dass er in der Gummisackartigen Umschließung noch deutlich sprechen konnte.
"Das nehmen wir mal als ja. Gut, ich muss eben Erkundigung einholen, wie mit dir zu verfahren ist", sagte Babykopf Nummer eins. Sein Kumpane deutete auf die anfliegenden Besen, die in diesem Moment abgebremst wurden. Julius hörte ein belustigtes, wirklich babyhaft hell klingendes Glucksen von den beiden her.
"Rätin Vicesima weist an, Julius Latierre unversehrt heimkehren zu lassen, da er erwachsen und im Vollbesitz aller Erinnerungen für unsere Sache wertvoller ist, als ihn erst wieder neu aufwachsen zu lassen", sagte Babykopf eins. der zweite fragte den ersten, was mit den neuen Gegnern passieren sollte. "Wenn sie auf unsere Rückzugsaufforderung reagieren abziehen lassen, ansonsten reinitieren wie Montrich und seine übermütigen Begleiter", sagte Nummer eins.
"So, du hast gehört, was unsere hohe Rätin des Lebns beschlossen hat! Stelle dich nicht gegen uns, wenn du nicht bei einer unserer Ammen neu aufwachsen willst!"
"Schade,dass er sich nicht persönlich bei Vicesima für seine Schonung bedanken darf", feixte Babykopf Nummer zwei. Julius konnte sich gerade noch beherrschen, zu fragen, ob er sich für die drei Geschwister bedanken sollte, die er auf einen Schlag dazubekommen sollte. Dann sagte Nummer zwei noch was, was ihn einen weiteren Schauer durch den Körper jagte:
"Achso, wo du schon einmal Kontakt zu uns bekommen hast, richte deinem ehemaligen Schulkameraden Gérard Dumas aus, er soll sich mehr um die Kinder kümmern, die er mit seiner Frau gezeugt hat, weil er sonst in eine sehr unangenehme Lage geraten könnte! Dann plärten beide "Tschüs, Julius!" Dann winkten die ihm auch noch zu wie die Teletubbies, bevor sie auf ihren geschickt auf der Stelle schwebenden Flügelrössern davonpreschten.
Julius musste dann noch zusehen, wie sich die angerückte Verstärkung mit den beiden Babyköpfen eine kurze Luftschlacht lieferte. Eigentlich war bei zwölf zu zwei die Sache klar. Doch in diesem Falle glichen die Instinkte und Bewegungsfähigkeiten der Aetons und die blitzartig wirkenden Geheimwaffen der Babyköpfe das Verhältnis aus. Schocker und Lähmzauber jagten auf die Aeton-Reiter zu. Doch deren Pferde rollten, sprangen und schlugen Haken. Innerhalb von drei Sekunden stürzten bereits vier infanticorporisierte Ministeriumszauberer dem Erdboden entgegen. Julius meldete das weiter. Drei Sekunden später waren nur noch vier erwachsene Besenreiter unterwegs. Diese traten aber den schnellen Rückzug an. Die Verwandelten flogen unmittelbar nach ihrer Umwandlung wie von unsichtbaren Zugstrahlen angezogen auf die beiden Flügelpferdreiter zu und landeten in großen, geräumigen Satteltaschen. Dann flogen die beiden ihren Kumpanen hinterher. Julius sah, wie die sich zurückziehenden Zauberer wie er wieder in der Luft gebremst wurden. Erst als die Aetons mehr als zehn Minuten außerhalb der Omniglasreichweite waren kamen sie wieder frei. Sie trafen sich dann zum Rückflug.
"Wie nannten Sie diese illegale Waffe der Gegner?" fragte Ornelle Julius, nachdem er seinen Bericht geschrieben hatte. "Reinitiatoren, Mademoiselle. Zumindest muss ich das aus den Äußerungen der beiden mich kontaktierenden Mitglieder dieser skrupellosen Gruppe so nennen.
"Demnach, was von der Omniglasaufzeichnung gestützt wird, wird den davon Getroffenen das Gedächtnis gelöscht, nachdem ihre Körper verjüngt werden. Der blaue Lichtstrahl ist ein wahllos wirksamer Erinnerungstilgezauber, der eigentlich nur die Erinnerung der letzten zwei Tage auslöschen soll, und zwar so, dass kein Restaureminiscentius-Zauber sie wieder zurückholen kann. Da jener Lichtstrahl aber mehr als zwei Sekunden vorhielt muss ich befürchten, dass den Betroffenen alle seit der Geburt erworbenen Erinnerungen wenn nicht sogar die vorgeburtlichen Erinnerungen ausgelöscht werden. "Das heißt, dass die Betroffenen zwar nicht körperlich aber geistig tot und für uns verloren sind", schnaubte Ornelle. "Dann hatte meine Informantin leider all zu recht, dass VM an geheimen Geräten forscht, mit denen sie Gegner nicht tödlich dauerhaft kampfunfähig machen kann. Deshalb habe ich Sie nur zur Beobachtung eingesetzt, Julius. Ich bedanke mich bei Ihnen, dass Sie dieses Mal meiner Anweisung vollständig gefolgt sind!"
"Dann haben wir jetzt vier gegnerische Gruppen, die jede für sich gefährlich genug ist", sagte Julius und erwähnte Vita Magica, die Werwölfe um Lykotopia, die Vampire, die wohl Nocturnia neu aufleben lassen wollten und Lord Vengor.
"Die so genannten Spinnenschwestern haben Sie bei der Gelegenheit ausgeschlossen, Julius. Halten Sie diese Gruppierung nicht mehr für eine Bedrohung?"
"Da davon auszugehen ist, dass die Spinnenschwestern dieselben Feinde wie wir haben, haben die auch dieselben Probleme wie wir und werden sich im Moment nicht mit direkten Aktionen gegen Zaubereiministerien hervortun. Was in Zukunft sein wird kann und will ich nicht festlegen", erwiderte Julius. Das nahm Ornelle Ventvit zur Kenntnis.
"Oha, dann hätte ich das wohl mitbekommen, wie sie dir das Gedächtnis weggenommen hätten", seufzte Millie. "Aber warum haben die die Verwandelten nicht einfach zurückgelassen?"
"Weil sie sie jetzt in ihrem Sinne neu großziehen können, erspart ihnen das Warten auf die nächsten Kinder. Außerdem könnnen die so sicherstellen, dass die Verwandelten nicht zu ihren Feinden erzogen werden, sondern zu ihren loyalen Unterstützern."
"Wenn ich Chrysope abgestillt habe gehe ich noch einmal zu Kailishaia und frage die, ob die wen kennt, der mir und dir einen Zauber verraten kann, um den eigenen Körper zu schützen."
"Weißt du, ob Gérard wieder bei Sandrine ist?" fragte Julius. Millie verneinte es. "Dann schicke ich dem eine Eule. Sage Sandrine bitte erst einmal nicht, dass mich diese Gangster drauf gebracht haben, ihn zu warnen, abgesehen davon, dass ich das irgendwie vor Aurores, Estelles und Rogers Geburt schon einmal getan habe."
"Du meinst, der jagt denen doch nach, obwohl du ihm davon abgeraten hast?" fragte Millie.
"Ich habe im Moment keinen Grund, daran zu zweifeln, was die beiden Riesenbabys mir gesagt haben", grummelte Julius. Millie nickte."Die sind eben doch nicht allmächtig", jubilierte Rabioso, als er von seinen Außenkundschaftern erfuhr, dass seine Vermutung wohl richtig gewesen war. Mit einem Armreif aus Silber, das nicht in Mondsteinöfen geschmolzen worden war, war es gelungen, sowohl die Annäherung von winzigen Mondsteinsilbermengen aufzuspüren und zum anderen einen Zauberschild in dieses Armband zu prägen, der alles aus dem gleichen Stoff auf dreifache Armlänge abwies, was nicht schwerer als ein Gramm und nicht schneller als zehn Meter in der Sekunde war. "Damit ist das Thema Silberstechfliegen erledigt", lachte er. Denn gestern war ihm zum ersten Mal eine der Überträger in einem bruchsicheren Glasröhrchen vorgeführt worden. Als er dann noch von seinen Zauberkunsttechnikern erfuhr, wie diese Mikromonster töten konnten hatte er erst kreidebleich auf das im Röhrchen herumschwirrende Winzobjekt gestarrt und dann anerkennend genickt. "Gut, wir machen es auf die altmodische Art, ohne technischen Firlefanz", beschloss er. "Ab morgen startet die Aktion wütender Schmetterling! Alle am Einsatz beteiligten kriegen ein Silberband um, das auch in der Verwandlung am Körper bleibt, ohne wie dieses Mondsteinzeug zu brennen. Dann holen wir uns die fünfhundert weggestochenen Kameraden und solche, die es hätten werden können zurück, in null komma nix."
"Die werden diese Biester zu Riesenschwärmen aufblähen und ..."
"Tja, wenn die genug Mondsteinsilber hätten, um das zu machen, Ricolito", schnarrte Rabioso. "Aber solange die das noch nicht hinkriegen, silberfreie Mücken auf uns abzurichten beißen wir uns jeden Tag und jede Nacht mehr als hundert weitere Leute zusammen."
"Dann werden die wieder mit richtigen Silberwaffen gegen uns kämpfen", sagte Rico.
"Und wir schießen mit Muggelwaffen und Zauberflüchen zurück. Wenn die Krieg wollen, habe ich gesagt, dann sollen die Krieg kriegen. Lang lebe Lykotopia!"
"Du kannst unser baby doch an der frischen Luft bekommen, Nina", freute sich Fino, als er über geheime, höchst fragile Kanäle erfuhr, was gegen den bleichen Tod der Lykanthropen zu tun war. Nina fragte ihn, ob er sich da nicht auf eine gezielte Falschmeldung verlasse.
"In dem Fall nicht, Nina. Denn meine Quelle hat heftige Gewissensbisse bekommen, als rumging, dass Rabioso gnadenlos zurückschlagen will. Das wissen sogar schon die von diesem Kommando Lupin in London. Zwar kann meine Quelle wegen Fidelius nicht verraten, wo Rabiosos Räuberhöhle ist. Aber wir klären das nach möglichkeit noch."
"Wie können wir uns schützen?" fragte Nina. Zur Antwort holte Fino ein hauchdünnes Halsband aus Silber hervor. Nina wich zuerst zurück. "Das ist kein Mondsteinsilber. Sonst könnte ich das doch gar nicht anfassen, Ninita", lachte Fino. "Wenn du das umlegst kann dir der bleiche tod nichts antun." Dann erklärte er, was Rabiosos Leute herausgefunden hatten. Nina erbleichte und kippte fast aus den Schuhen. Fino stützte sie und setzte sie auf einen breiten Stuhl. "Komm, Mädel, nicht dass dir Alejandro zu früh rausfällt."
"Sie wird Barbara heißen, Fino", grummelte Nina. Zwar wusste sie es bisher nicht, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen erwartete, aber eine kleine Tochter wäre ihr lieber als ein Junge, der sich gerne als großer Max aufspielte, nur um mit den anderen Jungen mithalten zu können.
"Hauptsache, unser Baby bleibt noch die nötige Zeit bei dir verstaut", sagte Fino.
"Dann hättest du mir diese grauenhafte Sache nicht auf die Nase binden dürfen", schnaubte Nina.
Fino und Lunera riefen alle gerade nicht im Zaubertiefschlaf steckenden Mitstreiter in der großen Mannschaftsmesse ihres walförmigen Unterseebootes zu einer Unterweisung zusammen. Fino erwähnte erst, wie die Leute von Vita Magica Werwölfe mit winzigen Tötungsvorrichtungen verseuchen konnten. Donny nannte das "Robomücken" oder "Killerdrohnen". Fino nahm das lässig als Randbemerkung ohne weiteren Wert hin. Dann händigte er auch an alle anderen silberne Halsbänder aus, die mit Gleichstoffabstoßungszaubern belegt waren. Dann war er erst einmal fertig.
"Wir wissen jetzt, wo Rabiosos Versteck ist", sagte Lunera. "Ich habe sehr genau überlegt, ob wir das Zaubereiministerium des betreffenden Landes unterrichten sollen. Allerdings fürchte ich, dass eine anonyme Benachrichtigung von den Eingestaltlern nicht ernstgenommen wird. Patagrisa hier", wobei sie auf eine Kameradin mittleren Alters deutete, "hat allen ernstes vorgeschlagen, diese Spinnenhexe und ihre Helfer anzuspitzen, sich um Rabioso zu kümmern."
"Ich wollte nur versuchen, zwei uns lästige Gruppen gegeneinander auszuspielen", rechtfertigte die grauhaarige Werwölfin ihren Vorschlag. Fino blickte sie an und stieß verächtlich aus:
"Diese Hexenschlampe hat genug Feinde. Da müssen wir die nicht noch mit der Nase darauf stoßen, dass es uns noch gibt."
Lunera nickte Fino zu und fuhr dann fort: "Außerdem habe ich beschlossen, dass es unsere Sache ist, Rabioso aufzuhalten. Gelingt es uns, so übernehmen wir sein Hauptquartier. Dann haben wir auch einen sicheren Unterschlupf, wo wir, die gerade auf Nachwuchs warten, unsere Kinder bekommen und ungestört von Zaubereiministerleuten und diesen Zaubererweltkinderzüchtern großziehen können, um uns auf eine weniger grobe weise das zu holen, was diese Eingestaltler uns bis heute vorenthalten, die vollständige Anerkennung unserer Lebensweise als ihnen ebenbürtig. Wenn wir Rabioso erwischen und töten, so wird uns Finos Informant die Tür zu jenem Geheimversteck öffnen, das er bisher nicht verraten kann, weil er nicht der Wahrer dessen Geheimnisses ist." Sie erwähnte noch den Fidelius-Zauber, der Dinge, Orte oder die Beziehung von Personen im Geist eines Geheimniswahrers verbarg, so dass sie für alle nicht von diesem unterrichteten unentdeckbar blieben. Der Geheimniswahrer konnte nicht dazu gezwungen werden, das ihm eingepflanzte Geheimnis zu verraten und auch nicht mit Hilfe von Geistesausforschungszaubern verhört werden. Doch wenn sie Rabioso töteten würde jeder, den er freiwillig in sein Geheimnis eingeweiht hatte, gleichwertiger Geheimniswahrer und konnte das ihm verratene Geheimnis weitergeben, wenn er dies aus freien Stücken wollte. Fino erwähnte noch, dass sein Informant bisher so getan habe, als sei er vollkommen zu Rabioso übergelaufen, in Wirklichkeit aber auf den Tag wartete, an dem Lunera Tinerfeño und er, Fino, wieder die Führung der Mondbruderschaft übernahmen.
"Und du bist sicher, dass deine Quelle nicht was falsches berichtet hat, Fino?" fragte Valentino.
"Du meinst, um uns in eine Falle zu locken?" fragte Fino. Tino nickte. "Ich bin mir sicher, dass er uns nicht in eine Falle locken wird. Dafür hat er zu großen Respekt vor Lunera und mir."
"Und was sollen wir tun? An den Strand fahren und wie US-Marines die Küste stürmen? Huuujaaa!" fragte Donny Clarkson. Er machte keinen Hehl daraus, dass er Fino nicht wirklich respektierte. Fino sah ihn an und dachte nur für sich, dass er dem Skateboardmuggel da schon bald den nötigen Respekt vor einem Zauberer und Lykanthropen beibringen würde. Dann lächelte er ihn an.
"Nein, wir brauchen nicht hinzufahren und zu landen, du wandelnder Piephahn. Mein Informant bringt uns Rabioso persönlich, sobald ich ihm signalisiere, wann wir ihn empfangen können. Also nicht die Marines, sondern ein geheimes Entführungskommando, wie in euren Geschichten über Geheimagenten, die in feindlichen Ländern Leute bestehlen, entführen oder töten."
"Und wie willst du deinen Agenten antexten, wo der doch geheim bleiben muss, Telepathie?" fragte Donny.
"Wenn du das Gedankensprechen meinst, das ginge, wenn wir nahe genug an ihm heran sind. Aber bis morgen abend kommen wir nicht nahe genug. Aber ich habe schon meine Botschaft abgeschickt. Wie, das geht dich Straßenbengel nichts an. Sei besser froh, dass wir dich und Paulina bei uns aufgenommen haben."
"ich ein wandelnder Piephahn? Nur keinen neid, weil die, die dich zuletzt rangelassen hat im Moment genug von dir drin hat, außerdem siehst du 'nem wandelnden Piephan ähnlicher als ich", tönte Donny Clarkson.
"Fino, nicht!" fauchte Lunera, als Fino zu seinem Zauberstab greifen wollte. "Du hast ihn beleidigt und er kennt das nicht anders, als mit gleicher Münze zurückzuzahlen, wenn nicht sogar noch eins draufzulegen. Wenn du dich für erwachsener als er hältst hör nicht auf ihnn", schnarrte sie noch. Fino zitterte einen Moment. Donny sah ihn herausfordernd an. Doch Fino beruhigte sich und deutete dann auf die Decke. "Morgen früh tauchen wir auf und fahren los, richtung Treffpunkt", knurrte er. Lunera nickte. Wo der Treffpunkt war verschwiegen beide. Nur dass Finos Geheimagent Rabioso dort mit einem dieser Portschlüssel anliefern wollte, die Donny schon in Aktion erlebt hatte. Dann war die Unterweisung für die gerade wachen Werwölfe beendet.
Anthelia grinste, als sie über Juanita und Paulina mitbekam, was die Anhänger Luneras planten. "Das mit der Hexenschlampe müsste ich euch eigentlich sehr übel vergelten", dachte sie. Doch dann fiel ihr ein, dass sie ja nicht mehr nur Anthelia war.
Sie informierte über ihre Nachrichtenverbindungen alle ihre Mitschwestern über die neue Lage. "Gib das ruhig an Lady Roberta weiter, dass ich eine Schläferin bei den Mondbrüdern habe, Schwester Beth! Wichtig ist mir, dass wir dem wütenden Schmetterling die Flügel ausreißen, bevor seine Tollwut überhand nehmen kann."
"Ich gebe es weiter", sagte Beth McGuire.
"Drachenmist, woher weißt du denn ..." stieß Fino aus und wollte seinen Zauberstab zzücken. Doch die dunkelblonde Hexe mit der blassgoldenen Haut, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet mitten in Finos Kabine an Bord der RDLM aufgetaucht war grinste nur.
"Du meinst, weil ihr gerade fünfhundert Meter unter der Wasseroberfläche vor Brasilien auf Grund liegt dürfte ich hier nicht sein? Ihr hättet euch denselbenApparierschutz wie Rabiosos Bande zulegen sollen. Aber der ist für ihn mitführende Weibchen sehr unangenehm, wenn da jemand gegenknallt."
"Du hast Juanita verhört. Aber woher ..."
"Warum wollte Aureus Juanita umbringen, Jaime?" fragte Anthelia, die perfekt Spanisch konnte, wie Fino anerkennen musste.
"Scheiße, die Blutbindung. Du Schleimdose hast ..."
"Pass auf, was du mir an den Kopf wirfst, Jaime Diego Sánchez Fontanero. Oh, und denk nichtan den Eindringlingsalarmzauber. Es wäre dann dein allerletzter Gedanke. Ich will nur zwei Sachen von dir, deine Quelle in den Reihen Lykotopias und die von denen erhaltenen Baupläne für die Werwolftöter, damit ich an einem Mittel dagegen forschen kann, wenn diese Vermehrungszwangfanatiker befinden, sowas auch gegen eingestaltliche Feinde einsetzen zu können." Mit diesen Worten streifte sie ihren Lendenschurz ab und stand nun völlig nackt vor Fino. Der ließ sich von der makellosen Erscheinung der blassgoldenen Hexe nur zwei Sekunden ablenken.
"Sonnenflut!" stieß Fino einen reinen Gedankenruf aus. Anthelia war darauf gefasst und ließ ihren Zauberstab blitzartig von oben nach unten sausen. Fino kam nicht mehr dazu, sich zur Seite zu werfen. Er schrumpfte innerhalb einer Sekunde auf knappe zwanzig Zentimeter zusammen. Telekinetisch riss Anthelia ihn dann an sich, während sie fühlte, wie überall um sie herum ein Apparierwall entstand. Doch das walförmige Unterseefahrzeug lag auf dem Meeresgrund, also in Kontakt mit der Erde. Laut lachend wirkte Anthelia ungesagt den Zauber für die Schnelle Reise durch die Gefilde der großen Mutter. Als die Tür auf sprang und drei Männer mit Zauberstäben und Handfeuerwaffen hereinstürmten sahen sie gerade noch, wie Anthelia laut lachend wie in einen Schacht durch den Boden stürzte und verschwand.
"Wo kam denn die her?" stieß einer der drei aus, während ein stiller Alarm bei Lunera ankam.
"Frag lieber, wie die wieder verschwunden ist", knurrte der zweite und feuerte aus Frustration eine Silberkugel aus seiner schallgedämpften Waffe ab, die von der schusssicheren Wand abprallte und in Finos Bett steckenblieb.
"Was ist mit Fino?" fragte Lunera.
"Diese Spinnenhexe hat ihn sich geholt. Die hat den auf Handgröße zusammengeschrumpft mit in die Erde runtergezogen wie der Teufel die sündige Seele. Aber sie hat diesen komischen Lendenschurz hiergelassen."
"Woher wusste die, wo wir sind?" fragte Lunera. Dann kam ihr die Erleuchtung, und sie musste sich setzen, weil die Erkenntnis in ihrem Zustand fast zu heftig war. "Ich habe mir ein trojanisches Pferd in die Festung geholt", seufzte sie. "Deshalb wollte Aureus sie umbringen."
Sie rief Paulina zu sich und eröffnete ihr ohne Umschweife: "Fino wurde von der Spinnenschwester entführt. Die hat wie auch immer über Juanita zu dir Verbindung gehalten und dich damit zu ihrer Kundschafterin gemacht. Hast du da je was von mitbekommen?"
"Wie was, wie das?" stammelte Paulina Casapiedra und erbleichte.
"Die hat irgendwie über die Blutbindung zu Juanita mit dir Verbindung gehalten. Das hat sie schön lange verschwiegen. Aber jetzt, wo sie wohl durch dich mitbekommen hat, wie wir gegen Rabioso vorgehen wollen, hat sie beschlossen, ihren Trumpf auszuspielen und hat sich Fino geholt."
"Ich habe nichts davon mitbekommen", wimmerte Paulina. "Wenn die echt sowas gemacht hat weiß ich davon nichts."
"Bete zu welchem Gott auch immer, dass Fino das überlebt und zu uns zurückkommt. Sonst bleibt mir nichts anderes, als dich als ihre Außenstelle auszuschalten", sagte sie. Paulina sprang auf. Doch Lunera hielt plötzlich eine Pistole in der Hand. "Da sind Mondsteinsilberkugeln drin. Die waren eigentlich für Rabioso. Aber wenn es sein muss sind die auch gut genug gegen dich."
"Was willst du von mir?" schrillte Paulina.
"Wenn die entscheiden kann, wann du ihre Außenstelle bist denke ihr immer zu, dass ich meinen Getreuen wiederhaben will, sonst werde ich alle Hexen der Welt jagen und beißen lassen, bis ich eine erwischt habe, die ihr wichtig war. Denk ihr das zu. "Noch bin ich bereit, ihr diese Frechheit zu verzeihen. Aber wenn ich Fino bis morgen neun Uhr Ortszeit nicht wiederkriege läuft meine Vergeltungsaktion an.""
Paulina nickte und ging wieder in ihr Zimmer. Sie musste erst weinen. Womit hatte sie das alles verdient? Dann schaffte sie es, alle zwanzig Sekunden Luneras Botschaft zu denken.
Eine Stunde hockte Paulina so da, als plötzlich etwas aus dem Boden ihrer Kabine emporschoss, eine Frau mit dunkelblondem Haar und blassgoldener Hautfarbe. Außer einem silbergrauen Zauberstab hatte sie nichts am Körper.
"Du hast mich gerufen, Paulina?" fragte Anthelia. Paulina wollte ihr ein Buch an den Kopf werfen. Doch es prallte vor Anthelia ab und klatschte aufgeschlagen aufs Bett. "Wie niedlich, die Bibel", feixte Anthelia und guckte dann auf die aufgeschlagene Seite. Dann lachte sie. "Das Hohelied Salomons. Was für ein herrlicher Zufall. Achso, Lunera wollte ja was wiederhaben", sagte sie und drehte sich mit dem Rücken zu Paulina. Diese griff erneut nach der heiligen Schrift, in der sie nur noch aus sentimentalen Gründen las, zum Angedenken ihrer Großmutter von der sie die Bibel hatte. Dann hörte sie Anthelia einenZauberspruch murmeln. "So, da habt ihr ihn wieder. Grüße an Nina, im ganzen ist er zehnmal besser", lachte sie. Dann verschwand sie wieder durch den Fußboden. Paulina starrte auf den Boden, wo ein fassungslos zitterndes Wichtelmännchen gerade erst zu begreifen schien, wo es war. Dann wuchs es anund wurde zu einem nackten, dünnen Mann, zu Fino.
"Dieses ... Nein, du hast mich hier so nicht gesehen, wenn du noch den nächsten Vollmond erleben willst, Paulina. Hörst du? Du hast mich so nicht gesehen."
"Die hat doch nicht ..."
"Halt um deiner unversehrten Gestalt Willen dein Maul, Paulina", knurrte Fino, der zwischen hilfloser Wut und totaler Anwiderung dastand. Dann stellte er fest, dass er keine Kleidung und keinen Zauberstab hatte. Er verließ schnell die Kabine, Wobei er Donny über den Weg lief. Der ehemalige Fußgängerschreck aus Hell's Kitchen wollte Fino gerade einen frechen Spruch entgegenrufen, weil der nackt war und so aussah, als hätte der sich gerade von Kopf bis Fuß mit einer Creme eingerieben. als er sah, dass Fino förmlich erledigt war und bereit war, jedem eine reinzuhauen, der ihm dummkam ließ er das mit dem frechen Spruch doch besser bleiben. So ließ Donny Fino schnell an sich vorbei.
"Habe schon gedacht, du hättest dem ein ungehöriges Angebot gemacht, Paulina. Hörte was, dass Mama Lu auf dich sauer ist, aber nicht warum."
"Besser du weißt das nicht, Donny. Besser ich hätte das auch nicht mitbekommen. Halten wir also beide das Maul darüber."
Lunera erfuhr erst fünf Minuten nach Finos Rückkehr davon. Sie eilte so schnell sie mit dem mittleren Umstandsbauch sicher laufen konnte zu seiner Kabine. Doch sie hörte nur das Rauschen der Dusche. "Fino, wenn du wieder da bist mach schnell, ich will wissen, was dieses Weib von dir erfahren wollte und erfahren hat!" rief sie. Doch sie hörte nur das rauschen der Dusche. "Fino, ich steh mir hier draußen bestimmt nicht die Beine in den Bauch. Da sind schon zwei drin. Also komm, trockne dich ab und lass mich zu dir rein, zur Mondfinsternis noch mal." Eine Minute nichts als Wasserrauschen. "Hat die sich an dir vergangen, diese Hure?!" rief Lunera. Das Wasser hörte zu rauschen auf.
"Lunera, sie will und sie wird das zu Ende bringen. Aber wie sie das von mir mitbekommen hat willst du nicht wirklich wissen und ich dir nicht verraten. Trag Tinos Baby wieder in deine Kabine zurück und lass mich bitte bitte bitte in Ruhe!" brüllte Fino aus der Kabine heraus. Lunera nickte und ging zurück. Sie beschloss, dass Nina nichts davon erfahren würde, dass Fino unfreiwillig von Bord gegangen und klammheimlich wieder zurückgekehrt war.
11. März 2002
Vicente Dominguez fühlte sich nicht wirklich wohl. Zwar war er bisher nicht aufgeflogen, und bisher hatte Rabioso ihm auch nicht den unbrechbaren Eid abgenommen. Aber er wusste, dass heute der Tag war, an dem er sich zu erkennen geben musste. Denn als Rabioso seinen Plan dargelegt hatte, vor allem in Kindergärten und Säuglingsstationen von Krankenhäusern einzufallen und alle Kinder zu beißen, hatte er es endlich begriffen, dass Rabioso kein König mit Visionen, sondern nur ein rachsüchtiger, rammdösiger Raufbold war, der es der ganzen Welt zeigen wollte. Das mit Lykotopia war für ihn ein schönes, interessantes Spiel gewesen, dass er gerne noch einige Jahre so hätte weiterspielen können. Doch anstatt in Frieden mit den Nachbarreichen zusammenzuleben hatte der König seinen Nachbarn den Krieg erklärt. Das konnte, durfte und würde nicht gut enden. Er dachte an Lunera, die Erntemond nur deshalb so gestaltet hatte, um in wichtigen Positionen Fürsprecher zu erhalten, Spione und Strohleute. Rabioso wollte einfach nur Terror, und jetzt hatte er den letzten Rest von Überlegtheit aufgegeben.
Zwar hatte Vicente über die vielen geheimen Wege, die er damals mit Fino ausgetüftelt hatte, erzählen können, was besprochen wurde, doch wo genau das Hauptquartier lag und wie es hieß hatte er nicht verraten können. Doch Fino hatte ihn auf eine andere Idee gebracht. Er hatte die Sternbilder aufgezeichnet und auch die Berge der Umgebung nachgezeichnet. Die Bilder hatte er eingeschrumpft mit gewöhnlichen Haussperlingen auf die Reise geschickt, die er nach einer Methode eines Tierkundlers namens Hugo Dawn abgerichtet hatte, ohne das Rabioso es mitbekommen hatte. Wenn es Lunera und Fino gelang, aus den Aufzeichnungen die Umgebung auf einen Kilometer genau zu bestimmen, dann konnten sie vielleicht noch rechtzeitig eintreffen, um dem Wahnsinn ein Ende zu machen.
"Vicente. Du reist mit Nela zur Frauen- und Kinderklinik Santa María de la Esperanza bei Madrid, wo die reichen Schnösel ihre Brut schlüpfen lassen", lachte Rabioso. "Ihr geht da rein, verwandelt euch und schnappt nach jedem Bein und jedem Babyarm. Aber keinen töten, nur anknabbern! Das wird morgen in allen Zeitungen stehen, und auch wenn die Ministerien unseren schönen Internetaufruf abgefangen haben, kommen sie dann nicht mehr darum herum, zuzugeben, dass es uns gibt", sagte Rabioso. "Rico und Carmella, ihr geht in eine Klosterschule, die in den letzten Wochen so oft in den Zeitungen war. Lasst die doppelmoralischen Kuttenträgerinnen und ihre hilflos ausgelieferten Zöglinge den Hauch der Hölle kosten!"
"Mein König, Frieden ist besser als jeder Krieg", sagte Vicente. "Wer die Kinder seiner Nachbarn tötet wird zum Feind aller anderen."
"Vicente, wir wollen niemanden töten, sondern zu besseren Menschen machen", lachte Rabioso. "Ich selbst werde zu Diane nach Paris gehen und da in die Mutter-Kind-Station der Universitätsklinik reinstürmen. Albert und Selma, ihr werdet in einer Stunde nach London geschickt, wo ihr das St.Mary-Abbots-Krankenhaus heimsuchen werdet. Eure Silberhalsbänder habt ihr alle um. Dann können euch keine bösen Schmeißfliegen küssen", lachte er.
Vicente musste jetzt reagieren, Rabioso offen angreifen und mit Hilfe des letzten Ausweges, einem Notfallportschlüssel zu Lunera und Fino zurückkehren. Das würde die Meute hoffentlich so verwirren, dass sie nicht zu ihrer Jagd ausrückte. Er stand auf und drehte sich zu Rabioso hin. Er sprach ganz ruhig zu ihm:
"Sind wir wirklich bessere Menschen, Rabioso? Bist du dadurch, dass du über Jahre hinweg missachtet und zurückgewiesen wurdest, ein besserer Mensch geworden? Oder hast du dadurch, dass sie dich alle für ein hirnloses, bissiges Tier gehalten haben nicht irgendwann entschieden, dass du genau das sein willst, ein bissiges Tier?"
"Viecente, was soll denn diese Anwandlung jetzt? Du hast mich auf Knien angefleht, dich aufzunehmen, weil Lunera und dieser dünne Zahnstocher Fino dich zurückgelassen haben. Du hast Lykotopia für die bessere Idee gehalten als das zögerliche Vorgehen Luneras. Und jetzt kommst du mir mit Moralpredigten. Ich glaube, aus dem Mond ist ein Zacken rausgebrochen."
"Gut, du willst mir die Frage nicht beantworten. Aber bevor du dich endgültig auf die Abschussliste aller anderen setzt solltest du dir die Frage beantworten, was du genau bist. Ich gehe auf jeden Fall nicht mit deiner Bettgenossin los und beiße kleine Kinder, die mir nichts getan haben. Das habe ich bisher nicht getan und werde es jetzt erst recht nicht tun."
"Liebe Leute, der von den Eingestaltlern riesig verehrte Heiland ist zu uns gekommen, um uns den Segen seiner Weisheit zu bringen", spottete Rabioso. "Hier will keiner was von dir, Jesus Christus. Also geh wieder aus Vicentes sterblichem Körper raus und lass den den Job erledigen, den ich ihm zugesprochen habe!"
"Wenn du meine Unterwerfung willst, du Tier, dann nur über meine Leiche", stieß Vicente unerwartet entschlossen aus. Rabioso glotzte ihn an.
"Hast du, ein Mondgebundener, mich eben als Tier bezeichnet?!" zischte Rabioso mit gefährlich funkelnden Augen.
"!Was anderes bist du doch nicht, und ihr alle, die ihm hinterherjachern und mit ihm den Mond anheulen. Ja, ich habe auch mal dazu gehört. Aber wenn ich aus Erntemond und den Aktionen der letzten Wochen was gelernt habe, dann dass ich niemals anerkannt und geachtet werde, wenn ich hunderte von Leuten beiße und mit diesem verfluchten Keim anstecke. Gib's wenigstens zu, dass du ohne den Trank niemals auch nur ansatzweise stark geworden wärest, Rabioso. Wer schon Gefallen daran findet, sich so nennen zu lassen muss doch durch den Wind sein. Ja, du bist nur noch ein hirnloses, gefühlloses reudiges Tier", spie Vicente Rabioso hin. Dieser sprang nun vor.
"Du willst deine Leiche, dann sollst du sie kriegen. Ich drehe dir mit eigenen Händen den Hals um!" brüllte Rabioso.
"Diese Hure!" schrie Lunera, als sie von Fino erfuhr, dass seine unheimliche Entführerin ihren Lendenschutz in seiner Kabine zurückgelassen hatte. Das alleine wäre nicht so schlimm gewesen. Doch der Lendenschurz war mit einem Diebstahlschutzzauber belegt worden und obendrein mit mehreren Unzerstörbarkeitszaubern belegt worden, dass er weder mit gewöhnlichem Feuer verbrannt, mit Säure begossen oder zerflucht werden konnte. Selbst das riskante Experiment mit Dämonsfeuer direkt auf dem Lendenschurz konnte ihm nichts anhaben, und Fino musste die entstehende Flammenkreatur sofort wieder vernichten, bevor sie zu einer Gefahr für die RDLM wurde.
"Dieses Weib verhöhnt mich immer noch", jaulte Fino. Dann deutete er auf den Lendenschurz. "Außerdem kommen wir damit keinen Meter mehr weit. Du kennst den Mihisolus-Zauber?"
"Ja, haben mir Cortoreja und Espinado erklärt", schnaubte Lunera. "Wenn der, auf den der Zauber geprägt ist nicht im selben Fahrzeug ist wie das bezauberte Objektt kann das Fahrzeug nicht vom Fleck bewegt werden. Die hat uns mit einem ganz einfachen Zauber am Boden festgeklebt."
"Er lässt sich auch nicht mit Verschwindezauber versetzen. Der Versuch hätte mir fast den Zauberstab zerbrochen", jammerte Fino. Diese Hexe hatte ihn in jeder Hinsicht gedemütigt und ihm gezeigt, wie hilflos er ihr gegenüber war. Dafür hasste er sie. Doch was brachte es, wenn sie sich vor ihm versteckte.
"Wenn mein Agent Rabioso dazu bringt, ihn fest anzufassen und ..."
"Werden sie da ankommen, wo wir nicht sind", schnaubte Lunera. "Dann wird er entkommen und dein Agent ist dann in jeder Hinsicht aufgeflogen. Kommen wir mit einem Portschlüssel hin?""
"Nicht, wenn wir keine Tiefseetauchanzüge haben. Ich habe den Portschlüssel damals auf eine Stelle dreihundert Meter unter der Meeresoberfläche eingestellt, als ich mit Tibo die RDLM auf ihre Tieftauchfähigkeiten getestet habe", seufzte Fino.
"Du hirnloser Dödel", schnaubte Lunera. Fino erstarrte und starrte sie entsetzt an. Dann sagte er:
"Konnte ich wissen, dass du dir mit Paulina eine Laus in unseren Pelz gesetzt hast?" schnarrte Fino. Dem konnte Lunera nichts entgegnen.
"Wir können die Notfallfluchtportschlüssel zum Mondlichtungshaus nehmen", sagte Lunera.
"Und die Reina und die noch schlafenden hier lassen?" fragte Fino. Lunera nickte. Dann kam ihr die Idee, auch Paulina und Donny hierzulassen, mit einem unbeweglichen Schiff voller Tiefschläfer. Fino grinste. Das war eine gute Idee. Dann fiel ihm was ein: "Wenn wir eh nicht mehr an Rabioso herankommen, dann machen wir eben das Mondlichtungshaus zu unserem Geheimstützpunkt mit Fidelius-Zauber." Lunera strahlte ihn an und nickte heftig. Warum war sie nicht gleich nach dem ersten Auftauchen dort auf diese Idee gekommen? Die Antwort war einfach, weil sie eigentlich darauf spekuliert hatte, in ihrem Geburtsland Tinos und ihr gemeinsames Kind bekommen zu können. Sie nickte noch einmal. Wenn es eben so sein sollte, dann sollte es eben so sein.
Paulina und Donny saßen in ihrer Kabine, als unvermittelt blauer Nebel aus der Belüftung in der Decke strömte. Sie sprangen zur Tür. Doch die war verriegelt. Donny dachte erst, dass man ihn und Paulina jetzt doch umbringen würde, bevor er das Bewusstsein verlor.
"Am bestenhätte ich die getötet oder Ohne Abstoßungsbezauberte Silberbänder in einer Großstadt ausgesetzt", knurrte Fino, als er auf Tibos Instrumenten sah, dass die beiden wohl dem Betäubungsgas erlegen waren. Lunera schüttelte den Kopf.
"Nein, lass die als Gefangene hier an Bord. Wenn die wieder aufwachen werden sie eben in ihrer Kabine verschmachten. Das ist ein viel grausamerer Tod." Fino grinste seine Anführerin an. Die Wut in Gesicht und Stimmlage verrieten ihm, dass sie diese Spinnenhexe genauso hasste wie er. und das vereinte sie noch mehr, auch wenn das Kind unter ihrem Herzen von einem anderen gezeugt worden war.
"Und wir evakuieren die Reina. Vollständig?" fragte Tibo. Lunera überlegte. Dann nickte sie. "Du hast doch mit Rabioso und Fino das Schiff so konstruiert, dass es für Fremde unbenutzbar ist, wenn du und noch wer, den du berechtigst, das festlegst. Sperre alle Türen und Manövriervorrichtungen, wenn wir und die Schläfer von Bord sind!" Der Mitstreiter, der sich Tiburon Blanco, der weiße Hai, kurz Tibo nennen ließ nickte.
So erzeugte Fino mit den vier anderen Zauberern unter den Mondgeschwistern fünf Portschlüssel. Lunera weckte die über dreißig im Tiefschlaf ruhenden mit dem vereinbarten Losungswort "Blauer Mond" auf. Die gläsernen Schlafbehälter sprangen auf, als die darin liegenden sich zu regen begannen. Danach erfolgte die geordnete Evakuierung, ohne die Außenluken benutzen zu müssen. Am Ende blieben Tibo, Fino und Lunera übrig. Fino bat darum, noch zehn Minuten auf ihn zu warten. Lunera und Tibo verstanden warum.
Als er wiederkam sprach Tibo in die muschelförmige Vorrichtung, mit der er die meisten Schiffsfunktionen per Stimmkommando steuern konnte. "Lebenserhaltung auf Ruhezustand!" Sofort erstarb das leise Säuseln der magicomechanischen Klima- und Frischluftanlage. "Alle Manövrierelemente sichern und verriegeln!" Die Steuerhebel für Höhen- und Seitensteuerung glommen rot. Dann klickte es. Die Hebel waren nun nicht mehr bedienbar und Dank Contramotuszauber auch nicht durch magische Fernbewegungsarten zu bewegen. Die Mechanismen, die die Walflossen nachempfundenen Antriebs- und Steuervorrichtungen steuerten waren jetzt auch in einer unaufzauberbaren Verschlussstellung eingerastet. "Alle Türen an Bord schließen!" befahl Tibo. Rumpelnd und Klappend fielen schwere Schotten und die Türen zu Messen, Kabinen und anderen Räumen zu und verriegelten sich. "Ich, Tiburón Blanco, erteile hiermit den Befehl, dass nur ich und Lunera von jetzt an die Sperren aufheben können. Lunera, bitte Stimprobe!" Lunera stellte sich laut und deutlich vor. "Ab jetzt Alle funktionen im gegenwärtigen Zustand belassen, bis Passwort Neumondflut erfolgt. Wiederhole Passwort: Neumondflut!" Vor den Instrumenten sank nun eine bläuliche schimmernde Metallplatte. Die Bildverpflanzungssegmente wurden dunkel. Das Licht schwächte sich ab bis auf reine Sternenlichthelligkeit. Damit war das Schiff nun für Unbefugte unbenutzbar. Er hätte zwar auch für den Fall eines Eindringlings eine Selbstvernichtung auslösen lassen oder die äußeren Räume des Schiffes mit Wasserfluten lassen können. Doch er wollte unter anderem sein Schiff nicht so einfach aufgeben. Für die schwarze Spinne war es jetzt genauso unbenutzbar wie diese das Schiff unbeweglich für die Mondbrüder gemacht hatte. Als das erledigt war schlüpfte Lunera in einen den ganzen Körper umhüllenden Stoffsack wie ein Schlafsack. Der war mit dem Innertralisatus-Zauber belegt, so dass sie und ihr ungeborenes Kind auf der nun anstehenden Reise unversehrt blieben. Nun griffen die drei Verbündeten zu einem ausgebeulten Zaubererhut, der von Fino zum letzten Portschlüssel richtung Mondlichtungshaus gemacht worden war.
Anthelia bereute keine Sekunde, was sie Fino angetan hatte, um ihn zu zwingen, ihr sein Wissen auszuliefern. Ihr war klar, dass sie nun einen weiteren Todfeind in der Welt hatte. Doch davon hatte sie schon so viele, dass es auf den einen auch nicht mehr ankam.
Da sie diesmal nicht wusste, wo der Mittelpunkt eines von ihr zu ziehenden Kreises sein musste wollte sie anders vorgehen.
Zunächst legte sie mehrere vorher bezauberte Steine aus. Als sie den letzten an seine Position geschafft hatte tippte sie ihn von vorne, von links, von hinten, von rechts und schließlich von oben an, wobei sie je einen Teil einer Zauberformel aus dem alten Reich wisperte. Der stein begann bläulich zu glühen. Die Glut floss in die Erde und sprang auf den nächsten Stein und ab da immer schneller auf den Rest der bezauberten Steine über. Die Glut hielt einige Sekunden vor. Dann erlosch sie. Der Boden war nun mit der Kraft des Festen Haltes belegt. Alles was jetzt in dieser Gegend war, konnte nicht weiter als Rufweite vom Mittelpunkt der Bezauberung fort. Er oder sie konnte aber auch keine magische Ortsversetzung vollziehen. Es war wie ein Diebstahlschutzzauber, bei dem nicht etwas totes auf eine lebende Person, sondern alle Lebenden Personen auf die Materie der Umgebung geprägt wurden.
"So, ihr Wolfsbrut, mal sehen, wie gut eure Ohren sind", dachte Anthelia. Sie zog sich einige Schritte vom äußeren bezauberten Stein zurück. Dann verstärkte sie ihre Stimme und lud sich mit der Kraft der Erde bis zur größten Ausdauer und Wachheit auf. Dann begann sie, Sardonias Lied der quälenden Träume zu singen. Es klang unheilvoll und hallte von den Bergen wieder. Wo sich die Schallwellen in der Luft überkreuzten erzeugten sie weitere, unsichtbare Schwingungen, die sich mit denen des Liedes immer weiter ausbreiteten. Wer keine magisch geschützten Ohren hatte oder über einen mächtigen Geistesschutzzauber verfügte, wie ihn wohl der Zauberer Julius Latierre erlernt hatte, konnte diesem Lied nicht mehr ausweichen. Wer es hörte fühlte die Angst vor einer ihn bedrohenden Gefahr, vor ihn jagender Feinde und schrecklicher Ungeheuer. Damit hatte Sardonia einmal eine Riege Feinde aus einem Fideliusgesicherten Haus herausgelockt, die kopf- und ziellos davongerannt waren und von ihr nur noch wie Muscheln aus dem Sand aufgelesen werden mussten. Der Zauber gehörte zu denen, die Sardonia nur ihr persönlich beigebracht hatte.
Rabioso war fast an Vicente, der schon darauf gefasst war, das Auslösewort zu rufen, sobald Rabioso ihn zu fassen bekam. Da hörten sie die Töne, laut, klar und bedrohlich. Sie kamen von draußen. Doch irgendwie meinte Vicente, sie riefen jemandem im Haus zu, aus seinem Versteck zu kommen. Er sah Rabiosos Schatten, der unvermittelt ein erschreckendes Eigenleben zu haben schien. Denn er drehte sich und kroch auf Rabioso zu, der gerade auf die Töne des Liedes laushte, die laut und durch alle Wände dringend jedes Ohr in der Villa Mariposa erreichten. Nela begann zu schreien, weil sie meinte, eine Horde großer Spinnen fiele aus dem Kronleuchter herunter. Vicente sah überall Schatten zu gierigen schwarzen Monstren werden, die lautlos und zielstrebig auf ihn und Rabioso zukrochen. Rabioso selbst blickte sich angstvoll um. Er tat einen tastenden Schritt und blieb zitternd stehen.
So erging es allen anderen auch. Sie hörten oder sahen Ausgeburten ihrer schlimmsten Albträume. Rico rief "Feuer! Feuer!" während Carmella um sich schlug, weil ein Schwarm wütender und immer größer werdender Hornissen sie zu umtosen schien. Rabioso meinte, auf einem schwankenden Stein zu stehen, der auf einem immer schmaler werdenden Grat lag, von dem es links und rechts in einen immer tieferen Abgrund hinabging. Und das schlimme war, dass der Grat von von hinten immer weiter schrumpfte. Ton für Ton drangen die Auslöser der schlimmen Angstvorstellungen in die Köpfe derer, die sie hören mussten. Schließlich überwog der Gedanke, diesen grauenvollen Ort zu verlassen bei allen. Rabioso schloss die Augenund stürmte blind vor. Vicente rief das Auslösewort vür den Notfallportschlüssel aus, weil ein gigantischer Wolf aus tiefster Schwärze seinen Rachen weit über ihm aufriss. Es blitzte blau auf. Ein Ruck ging durch Vicente, dann fiel er aus knapp fünf Metern herunter. Er sah noch die Mauer um die Villa, bevor er auf den Boden aufschlug und die Besinnung verlor.
Rabioso rannte durch das Haus, knallte immer wieder gegen eine Wand. Doch er rappelte sich auf und lief weiter, vor dem ihm folgendenAbgrund, in den er hineingezogen werden sollte. Nela schrie immer noch wegen irgendwelcher Spinnen, die versuchten, sie zu beißen und in ihren Fäden einzuwickeln, während Carmella weiterhin wild um sich schlagend durch die Hintertür flüchtete. Rico hatte das Küchenfenster aufgerissen und sprang hinaus. Er rannte vor nur für ihn sichtbaren Flammen davon. Rabioso hielt die Augen geschlossen. Doch das in seinem Kopf klingende Lied sagte ihm, dass er gleich abstürzen und zerschmettert werden würde, wenn er nicht lief.
Schließlich hatte er die von Carmella aufgerissene Tür erreicht und jagte hinaus in die Nacht bis zur Mauer und kletterte daran hinauf, weil er dachte, es sei noch ein rettender Berg. Auf der anderen Seite war jedoch nichts. Er fühlte, wie die Verwandlung ihn überkam. Die Schreckensbilder hatten ihm den letzten Rest an Beherrschung geraubt. Er wollte einfach nur noch schnell davonlaufen, so schnell er konnte. Seine Kleidung platzte von ihm ab. Nur das Silberband um seinem Hals hielt noch. Er sprang in die Nacht hinaus und lief laut jaulend und winselnd weiter und Weiter.
Immer mehr Bewohner der Villa Mariposa verließen das schützende Haus, rannten auf die Mauer zu und fanden das Tor. Eine panisch flüchtende Horde, teils in Menschlicher, teils in Wolfsgestalt, suchte das Heil in der Flucht.
Und plötzlich Stille!! Die bisher so lauten, Qual und Bedrohung verkündenden Töne waren verklungen.
Rabioso löste sich als erster aus der Umklammerung der inneren Angst. Er Streckte sich und horchte. Seine Wolfsohren stellten sich auf, kippten in die eine und in die andere Richtung. Seine Nase witterte seine Gefährten und noch was, einen Geruch, der hier nicht hergehörte. Es war der Geruch einer Frau, einer Frau, die gerade für einen Kampf oder eine Runde körperlicher Liebe eingestimmt war. Da wusste er, mit wem er es zu tun hatte. Er heulte laut los. Jetzt erst erkannte er, dass er in seiner Verwandlung alles verloren hatte, was er am Leib getragen hatte, bis auf das silberne Halsband, dass ihn vor den Geflügelten Todesboten Vita Magicas schützen sollte. Er erkannte, wie ausgeliefert er gerade war und wollte zurück zur Villa, als ihn ein Schockzauber traf.
Anthelia musste sich beherrschen, keine eigenen Gefühle überwiegen zu lassen. Sie sang und sang, bis erst eine wild um sich schlagende Frau und dann immer mehr Leute aus dem Nichts heraus auftauchten. Einige waren Menschen, andere Werwölfe. Sie erfasste, dass insgesamt vierzig Werwölfe in der geheimen Zuflucht verborgen gewesen waren. Als sie entsprechend viele Gedanken auffing hörte sie zu singen auf. Mit dem letzten fernen Echo verklangen auch die Ströme der Angst, die von den anderen ausgegangen waren. Jetzt konnte sie erkennen, wer von den Werwölfen wer war. Sie erkannte auch Rabioso, dessen struppiges Fell bei Tage oder Vollmond fuchsrot glänzte. Der erkannte auch, was ihm passiert war. Er wollte zurück in sein Versteck, dessen Namen sie trotz Gedankenhörens nicht mitbekam. Wenn er dort war war er für sie wieder unerreichbar. So dachte sie "Stupor!" und schockte ihn.
Als die anderen erkannten, was ihnen widerfahren war rissen die, die noch Menschen waren Zauberstäbe oder Schusswaffen hervor. Anthelia zog blitzartig eine unsichtbare Schutzwand vor sich hoch und dachte dabei an die alles Übel von ihr ableitende Kraft der Erde. Da flogen auch schon die ersten Flüche zu ihr hin, wurden aber wie Blitze vom Blitzableiter in den Boden gezogen. Als einer "Avada" rief legte es Anthelia nicht darauf an, ob der Todesfluch durchkommen würde und schockte den Rufer, bevor er "Kedavra!" vollenden konnte. Ein Wolf jagte auf sie zu. "Crucio!" rief sie. Laut schrie der Wolf auf und hing für zwei Sekunden unter unerträglichen Schmerzen zuckend und sich windend in der Luft. Dann ließ Anthelia von ihm ab. Vier Mondlichthämmer krachten mit Urgewalt vor ihr in den Boden. Sie belegte die noch zauberfähigen Angreifer mit ungesagten Erstarrungszaubern. Jene, die mit Feuerwaffen auf sie schossen, mussten zusehen, wie die Kugeln gegen die unsichtbare Wand vor ihr prallten und wimmernd als Querschläger davonsausten. Doch die Schützen gaben nicht auf und feuerten aus ihren halbautomatischenund automatischen Waffen, bis ihre Magazine leer waren. In der Zeit ließ Anthelia einen nach dem anderen erstarren, ohne ihm oder ihr das Bewusstsein zu nehmen.
Doch nun kamen die in Wolfsgestalt steckenden auf sie zugerannt. "Dann eben alle auf einmal!" rief sie und wirbelte herum. Wie aus ihr heraus loderte ein Flammenring auf, der sich blitzartig ausdehnte und dabei die heranstürmenden Werwölfe erfasste. Ihre Felle loderten auf wie trockene Zweige.
Anthelia schwang sich auf ihren Besen und stieg nach oben. Sie konnte die von ihr gezauberte Sperre durchdringen. Doch das wollte sie nicht. Sie fegte vielmehr wie eine gnadenlose Furie über die noch heranstürmenden Werwölfe hinweg und jagte ihnen Mondlichthämmer auf die Hälse, bis keiner mehr stand. Die gerade brennenden Werwölfe rannten los, um die sichere Zuflucht zu erreichen. Doch das wollte Anthelia nicht mehr zulassen. Sie schleuderte drei Glutbälle nach den Fliehenden und machte ihren Qualen damit ein jähes Ende.
Anthelia sah Rabioso. Er würde ihr nicht verraten, wie das Versteck hieß und wie man dort hinfand. Doch sie konnte seinem Treiben hier und jetzt ein Ende machen. Doch nicht so, nicht, wo er bewusstlos war. Sie erweckte ihn aus seiner Betäubung. Er knurrte und schnappte um sich. Doch Anthelia zog sich immer schnell zurück. "Du willst ein Duell. So sei es hierund jetzt!" rief sie und warf sich nach vorne. Sie konzentrierte sich auf ihre Zweitgestalt. Da kam Rabioso schon wutschnaubend angejachert. Anthelia fühlte, wie sie sich veränderte. Der auf sie losstürmende Werwolf beschleunigte den Verwandlungsvorgang. Dann standen sie sich gegenüber, die schwarze Spinne und der König von Lykotopia. Rabioso erkannte jedoch, dass er ihr in dieser Gestalt nichts anhaben konnte. Er brauchte einen Zauberstab. Er rannte auf einen der gebannten zu, der seinen Stab noch kampfbereit hielt. Anthelia hätte ihn mühelos einholen und mit einem Biss ihrer giftigen Scheren oder ihrem verheerenden Verdauungssaft erledigen können. Doch wenn er mit ihr ein Zaubererduell führen wollte, warum nicht? Sie ließ sich zurückfallen und wartete, bis Rabioso erst den Zauberstab und dann seine angeborene Gestalt angenommen hatte.
"Du hältst dich für die beste aller Hexen. Aber ohne deine Zweitgestalt bist du nur ein kleines Licht!" rief Rabioso. "Ein kleines Licht, das ich hier und jetzt ausblasen werde." Er feuerte einen Sonnenlichtspeer auf Anthelia ab, die diesen jedoch mit einem kurzen Zirkeln des Zauberstabes abfälschte.
"Wo bleiben deine Manieren, Rabioso? Du willst ein König sein, und kennst nicht die einfachste Etikette?" Rabioso schickte ihr ungesagt einen Cunnicrematus-Zauber entgegen. Anthelia blockte ihn kurz bevor dieser in ihrem Unterleib einschlug mit dem entsprechenden Gegenzauber ab. Dann schlug sie mit einem Vexatesticulum-Zauber zurück. Den bekam Rabioso voll zwischen die Beine und schrie auf. "Wer anderen die Scham bedroht, wird selbst kastriert, du reudiger Köter", rief Anthelia. Dann nahm sie die Qualvollen Schmerzen wieder von ihm. "Wer den Schmerz gibt, kann ihn zurücknehmen", dozierte sie.
"Aber nicht den Tod!" rief Rabioso. Er wollte gerade ansetzen, den Todesfluch auszurufen, als Anthelia ihm mit "Taceto" den Sprechbann auferlegte. "Na, können wir auch wortlos?" provozierte sie ihn. Er konnte, aber sie auch.
Die Duellanten gingen mit allem, was ungesagt ging zu Werke, Schildzauber, Angriffe auf Körper oder Geist, Elementar- und Materialisationskomponentenzauber wechselten von einem zur anderen. Der boden um die beiden bebte und warf Qualm und Staub auf. Schließlich versuchte Rabioso es mit einer Kopplung zwischen Feuerstrahl und fliegendem Dolch. Gleich sechs weißglühende Klingen schossen auf Anthelia Zu. Diese wirkte einen Umwandlungszauber, und aus den glühenden Dolchen wurden weiße Wattebäusche, die unschädlich von ihr abprallten. Die Sekunden nutzte er jedoch, um den Sprechbann ungesagt abzuschütteln. "Jetzt bist du tot, Spinnendirne!" brüllte er. Doch da hatte Anthelia schon "Avada" gerufen. Als Rabioso seinerseits das erste Wort des tödlichen Fluches ausstieß rief Anthelia bereits "Kedavra!" Aus ihrem Zauberstab sirrte ein gleißendgrüner Blitz heraus und traf Rabioso, der gerade "Kedavra!" vollendete. Anthelias Fluch erwischte ihn an der Brust, er fiel nach hinten, wobei sich schwirrend und prasselnd eine Kaskade grüner Blitze in den Himmel entlud.
"Das bekommen kleine Jungen, die erst noch wilde Beschimpfungen herausschreien müssen, wo die Todfeindin schon zum Schlag bereitsteht", fauchte Anthelia. Er hatte ihren Tod gewolltund seinen gefunden. Das Duell zwischen der Hexenlady und dem selbsternannten Werwolfkönig war zu Ende.
"Ich weiß, dass ihr mich hören könnt. Sicher werden demnächst die Zaubereiministeriumsleute hier aufkreuzen. Ihr habt jetzt alle die Chance, das hier und heute relativ glimpflich zu beenden. Rabioso wollte nicht erkennen, wann es genug war. Ich werde seinen Kopf jemandem überbringen, die sicher nicht begeistert, aber dann doch beruhigt sein wird. Den rest könnt ihr behalten." Mit einem Abtrennzauber wie von einem unsichtbaren Schwert enthauptete sie Rabioso und verschwand mit der grauenhaften Trophäe auf ihrem Besen, die noch lebenden Bewohner der Villa Mariposa zurücklassend.
Eine stunde später landete eine schnelle Eule im spanischen Zaubereiministerium. Sie trug einen kleinen Zettel, auf dessen Rückseite eine schwarze Spinne im silbernen Radnetz aufgeprägt war.
Wenn Sie den Hofstaat des von mir enthaupteten Königs Rabioso suchen, reisen sie zu folgenden Bezugspunkten!Es grüßt
Die schwarze Spinne
Unverzüglich reisten fünfzig Zauberer und Hexen auf Besen mit Armbrüsten und Mondsteinsilberbolzen zu den angegebenen Punkten und fanden dort die noch lebenden Bewohner der Villa Mariposa. Allerdings wollten die nicht verraten, wo ihr Versteck war, als sie im Ministerium waren.
"Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als Sie wegen mehrfacher schwerer Körperverletzung und anderer Delikte in Haft zu nehmen", sagte der Zaubereiminister. "Da können Sie dann warten, ob der bleiche Werwolftod sie alle nacheinander erwischt, jetzt, wo wir Ihnen die Zauberstäbe und Silberhalsbänder entwendet haben", sagte Pataleón entschlossen.
"Das werden Sie nicht wagen", stieß Rico aus.
"So, werde ich das nicht? Haben Sie alle sich eingebildet, wir würden Ihnen Blumen auf den Weg streuen und Hosianna, denen die da kommen entgegenrufen, nachdem, was Sie und ihr geköpfter Oberbandit veranstaltet haben."
"Wir verraten nichts", stieß Rico aus. Dabei betonte er das Wort "wir" jedoch so merkwürdig. Außerdem nickte Lucio Figueras, der oberste Jäger schwarzer Magier seinem Vorgesetzten bedeutsam zu. Dieser sagte dann:
"Gut, wie Sie wollen. Dann kommen Sie eben alle in Einzelhaft", sagte er. "Ich werde den Mitgefangenen nicht zumuten, von Ihnen gebissen zu werden, wenn sie sich verwandeln." Rico und die anderen knurrten. Doch die auf sie gerichteten Silberbolzen und Zauberstäbe waren überdeutliche Warnhinweise.
Zwei stunden später wurde Rico dem Minister persönlich vorgeführt. Er bot an, sie in das Versteck zu führen, wenn sie ihm zumindest das Leben gewährten, ja ihn als Kronzeugen gegen Rabiosos restliche Bande akzeptierten. Pataleón ging darauf ein und fixierte diesen Handel mit einem magisch bindenden Vertrag.
So gelangten die spanischen Ministeriumszauberer an Rabiosos Unterlagen und hatten bei der Gelegenheit noch einen Geheimstützpunkt hinzugewonnen, in dem wirklich geheime Dinge besprochen und vorbereitet werden konnten.
Anthelia tauchte wieder aus der Erde in Paulinas Kabine auf. unter dem Linken Arm trug sie eine Leinentüte, der anzusehen war, dass etwas großes, rundes darin steckte. Paulina und Donny sahen sie an. In ihrem scharlachroten, hautengen Kleid kamen ihre ganzen Reize zur Geltung, als wenn sie ihnen völlig unbekleidet erschienen wäre.
"Du Miststück hast uns das eingebrockt. Die halten uns gefangen und haben uns nichts zu Essen und zu trinken gebracht", stieß Paulina aus. Donny sprang auf, um der Hexe mit einem Karatetritt den Zauberstab aus der Hand zu prellen. Doch ein telekinetischer Stoß warf ihn so wuchtig auf Paulinas Bett zurück, dass es protestierend quietschte.
"Junge, du bist noch zu jung, um grausam zu sterben", sagte sie und bannte ihn mit einem ungesagten "Maneto". Dann sah sie Paulina an und lächelte. "Ich habe euer faszinierendes Unterseevehikel nur deshalb hier verankert, weil ich eurer Anführerin etwas mitbringen wollte und mir dabei nicht von ihr oder anderen dummkommen lassen wollte. Sie öffnete die Leinentüte. Paulina erbleichte und wandte angeekelt das Gesicht ab. "Das Ende eines Königreiches passt in eine kleine Tüte", sagte Anthelia verächtlich und schloss die Tüte wieder. Dann lauschte sie. "Oh, die haben das Schiff verlassen. Niemand außer uns hier. Schade, dass Lunera nicht hier ist. Wo könnte sie sein?"
"Hmm, da wo sie uns abgeholt hat", sagte Paulina. Anthelia fragte, wo genau das sei. Doch Paulina schüttelte den Kopf. Sie beteuerte, es nicht zu wissen, und Anthelia konnte selbst mit Legilimentik nicht aus ihren Erinnerungen schöpfen, wo das war. Wenn sie Erinnerungen zu fassen bekommen wollte, die mit dem Stützpunkt an der Oberfläche zu tun hatten, sah sie nur grauen Nebel. Da wusste sie, dass Lunera ihr doch noch ein Schnippchen geschlagen hatte. Sie hatte den neuen Stützpunkt mit dem Fidelius-Zauber belegt. "Sie will nichts mehr von euch wissen", sagte Anthelia unumstößlich. "Sie will euch verhungern und verdursten lassen, weil sie wohl denkt, ihr Schiff nicht mehr bewegen zu können."
Und jetzt?" fragte Paulina schnippisch.
"Hinterlege ich für eure Anführerin dieses Souvenir aus Spanien", sagte sie. Dann zielte sie auf Paulina, die schon anstalten machte, ihr entgegenzuspringen. Da erwischte sie erst ein Erstarrungs- und dann ein Einschrumpfungszauber. Denselben erlegte sie auch Donny auf, wobei sie ihn mit einer gewissen Begierde ansah. Doch dann fiel ihr ein, dass Donny ihr sicherlich nicht diese herrliche Überlegenheit bieten würde wie Fino. Sollte Paulina ihn behalten.
Sie grummelte erst, als sie feststellte, dass Paulinas Kabinentür fest verschlossen und unbezauberbar war. Doch dann schnarrte sie verächtlich: "Natürlich!" Sie versuchte zu disapparieren. Doch das gelang nicht. Dann grinste sie verächtlich. Sie zielte auf die Tür und trällerte "Kadanachalin Madrash madrashammaya naanotaratir!" An ihrer Zauberstabspitze glomm ein rot-grünes Flirren auf, das sich zu einem irritierenden Lichtbogen zur Tür spannte und diese unvermittelt in rot-grünen glimmenden Dunst verwandelte. Anthelia trat hindurch. Hinter ihr verfestigte sich die Tür wieder.
Anthelia genoss die Überlegenheit, die ihr die Kenntnis der alten Erdzauber bescherte. Mit "Repetitio" konnte sie den vorhin gesungenen Zauberspruch nun weglassen und den damit beschworenen Zauber bei jeder neuen Tür wiederholen. Raum für Raum untersuchend trug sie die Tüte in die große Messe und bezauberte sie mit dem Conservatempus-Zauber. Dann legte sie sie mit ihrem Inhalt auf den großen Tisch in der Mitte. Danach begab sie sich mit einsatzbereitem Zauberstab zu Finos Kabine, die sie daran erkannte, dass sie von einer dunklen Magie umhüllt war. Sie konnte beinahe körperlich fühlen, wie etwas vor der Tür darauf lauerte, ihr die Haut vom Leibe zu brennen. Sie grinste. Hatte der doch wirklich einen Pyrodermis-Fluch vor die Tür gepflanzt, der wohl auf weibliche Nicht-Werwölfe ansprach. Sie neutralisierte den Fluch mit drei schnellen Zauberstabbewegungen und entsprechenden Formeln, dass er leise prasselnd zersprühte. Sie fühlte jedoch, dass noch mehr in dem Raum Finos enthalten war, was ihr oder anderen Eindringlingen übel zusetzen wollte. Sie trat einige Meter zurück. Dann sang sie das Lied von der reinigenden Erde, das alles in hörweite von körper- und geistschädigenden Kräften befreite. Vor ihr zuckten drei Blitze von der Decke hernieder. Zwei Sekunden lang erschien eine geisterhaft durchsichtige, doppelt so groß wie das Original beschaffene Abbildung Anthelias, die in dieser kurzen Zeit umJahrhunderte alterte und dann zu einem Skelett wurde, das leise zischend im Nichts verschwand. Zum Schluss ringelte sich ein durchsichtiger, fadenförmiger Wurm aus der Wand und zerfiel keine zwei Sekunden später zu Staub. Dann ploppte es, und für einen Moment glühte hellgrünes Licht in der Richtung von Finos Kabine auf. Dann erlosch auch dieses.
"Mit einem Lied drei Flüche getilgt", grinste Anthelia. Sie trat wieder etwas näher an die Kabinentür heran. Die Ausstrahlung einer lauernden dunklen Kraft war verschwunden. Anthelia/Naaneavargia empfand es einmal mehr als nicht so schlecht, dass ein winziger Rest von Dairons Seelenmedaillon mit ihr vereint worden war, so dass sie dunkle Zauber aus ausreichender Entfernung verspüren konnte. Nun konnte sie die Tür wie die anderen für sie passierbar zaubern. Sie betrat die Kabine und griff zu dem von ihr selbst abgestreiften Lendenschurz.
Wieder bei Paulina und Donny klaubte sie die beiden Eingeschrumpften auf und verschwand mit ihnen durch den Boden. Mit der innerhalb von Gestein möglichen Schallgeschwindigkeit jagte sie dreißig Kilometer bis zum Festland zurück, wo sie an die Oberfläche zurückschoss wie ein Korken aus einer unter Überdruck stehenden Schaumweinflasche. Jetzt konnte sie ungehindert mit ihren Gefangenen disapparieren.
Zunächst brachte sie sie in ihr Hauptquartier. Dort nahm sie die in rotem Mineral eingeschlossene Juanita aus dem Conservatempusschrank. Dann apparierte sie in zwei Sprüngen dort hin, wo Donny von Paulina und Juanita überfallen und zum Werwolf gemacht worden war. Dort angekommen ließ sie um Juanita die rote Substanz zu Staub zerfallen, bevor sie sie rückvergrößerte. Juanita wollte sie sofort anspringen. Doch Anthelia bewegungsbannte sie. Dann sagte sie energisch:
"Eigentlich hätte ich dich jetzt wegwerfen können wie die Schale einer längst gegessenen Frucht, Juanita. Aber weil ich dir dafür danke, dass du mir mehr nolens als volens geholfen hast, eine üble Pest aus der Welt zu tilgen, schenke ich dir das Leben. Aber ohne den Lykonemisis-Trank seid ihr drei dazu verdammt, bei Vollmond ungefragt und willenlos der Wandlung zu verfallen. Außerdem geistern in dieser Stadt bestimmt genug Sendboten des Bleichen Lykanthropentodes herum. An eurer Stelle würde ich also zusehen, euch bald unter mächtigen Schutz zu begeben, der euch mit einem Similia-per-similium-repulsus-Zauber belegte Silberarm- oder Halsbänder zur Verfügung stellt. Gehabt euch wohl!" Sie rückvergrößerte erst Paulina und Donny. Dann wirkte sie mit "Retardo Removete" dreimal einen verzögerten Bewegungsbannaufhebungszauber, bevor sie disapparierte.
Donny rief über eine der immer seltener werdenden Telefonzellen die Polizei und meldete, dass man ihn ausgesetzt hatte, nachdem er entführt worden war. Das wirkte. Nur zwei Minuten später heulte eine Polizeisirene. Doch bevor der Einsatzwagen bei ihm und den beiden Schicksalsgenossinnen eintraf krachte es mehrfach um sie herum, und fünf wie in Märchenbüchern oder Kasperlstücken gekleidete Zauberer standen um sie herum. Sie griffen sofort zu und verschwanden mit den drei Gefangenen. Der Polizeitruppe wurde mitgeteilt, dass es sich um den Versuch eines Straßenjungen handelte, der gucken wollte, wie schnell die Polizei nach einem Notruf vor Ort war. Das FBI, zuständig für alle Entführungsfälle innerhalb der USA, wurde darüber unterrichtet, dass Donovan Clarksons Leiche im Hudson-Fluss treibend gefunden worden war. Die Identifizierung konnte nur anhand von DNS-Untersuchungen bestätigt werden, weil andere Körpermerkmale grausam unkenntlich gemacht worden seien, nach Ansicht der zuständigen Pathologen ante Mortem, also wo er noch gelebt hatte.
"So müssen wir davon ausgehen, dass diese Lunera, wenn sie ihr von diesem Tino empfangenes Kind zur Welt gebracht hat, wieder gegen uns vorgehen möchte", seufzte Cartridge, als er sich mit seinem engsten Mitarbeiterstab beriet. "So ist die Sondereinheit Quentin Bullhorn doch noch nicht überflüssig."
"Lykotopia mag zu Staub zerfallen sein, Herr Minister. Aber wenn nicht diese Lunera, dann hätten andere Werwölfe mit kriminellen Vorhaben uns bedroht."
"Ja, während VM weitere nichtregistrierte Werwölfe aus der Muggelwelt sterben lässt", schnaubte Cartridge. Dem konnte und wollte niemand seiner Mitarbeiter widersprechen. Immerhin wussten sie dank der Spinnenhexe nun, wie die zu schützenden Werwölfe vor dem unheimlichen Tod geschützt werden konnten. Sollte Cartridge ihr dafür dankbar sein?
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