Die Geschichte der Menschheit sah viele segensreiche wie grauenvolle Zeitalter kommen und wieder verwehen. Vieles davon verschwand mit dem Ende derer, die es in die Welt brachten. Doch einiges davon geriet nur in Vergessenheit oder wurde zurückgedrängt. Als der selbsternannte Erbe Voldemorts auszieht, um dessen zweitmächtigste Diener zu suchen, glaubt er, leichtes Spiel zu haben und bald eine Armee des Schreckens aufstellen zu können. Damit beschwört er jedoch auch das Erbe aus verflossener Vorzeit herauf, von dem er nicht weiß, ob es ihm nützen oder schaden wird.
Haushohe Wellen rollten vom wütenden Sturm getrieben gegen die turmhohe Steilküste einer kargen, nur einen halben Quadratkilometer großen Vulkaninsel an. Donnernd brachen sich die aufgepeitschten Wogen an den zerklüfteten Felsen. Laut zischend sprühte die Gischt bis über die ungleichmäßig geformte Kante und benetzte die unbewachsenen Felsen. Wieder donnerte eine mehr als zwölf Meter hohe Welle gegen die aus der aufgewühlten See ragende Insel. Wie winzige Fontänen schoss der Sprüh aus Salzwasser bis über die Kante der Klippen hinaus und wurde vom unbändig blasenden Sturm weiter auf das scheinbar leblose Eiland gepustet. Wohl wahr, dieser seinem baldigen Untergang entgegenstehende Felsen mitten im Mehr trug seinen Namen völlig zurecht: Roughwater Island, die Insel der rauhen Wasser.
Vor mehr als einhundert Jahren hatte die Zaubererfamilie Shacklebolt dieses Eiland gefunden, als Cooper Shacklebolt und seine Frau Thelma die Meere befahren hatten, um die Natur von Vulkaninseln zu studieren. Hier war auch ihr erster Sohn zur Welt gekommen, den sie Triton genannt hatten, weil seine ersten Eindrücke von der Welt das Tosen der See, die salzige Luft und das Heulen des Sturmes gewesen waren. Cooper hatte mit seiner vulkan- und Drachenkundigen Frau herausgefunden, dass die Insel die höchste eines bereits vor mehr als hundert Jahren im Atlantik versunkenen Archipels gewesen war und wegen der noch ausreichenden Höhe von mehr als zweihundert Metern über dem Meeresspiegel wohl noch zwei weitere Jahrhunderte bestehen würde. Das wollte in diesen Breiten, wo Stürme fast ununterbrochen wüteten, was bedeuten. Weil die Insel für die Muggel keinen Wert haben würde konnte Cooper sie als Abbaugebiet für im Vulkanstein verschmolzenes Silber erwerben. Deshalb gab es auf der Insel mehrere in den Felsen getriebene Stollen und Kavernen. Wer sich dort aufhielt empfand das Anbranden der Wellen und das Heulen des Sturmwindes noch unheimlicher als unter freiem Himmel. Wie es der Nachfahre afrikanischer Zauberer angestellt hatte, eine Horde Zwerge dazu zu bekommen, auf der Insel Silbererz auszugraben wusste wohl nur er. Als es dann aber zu einem massiven Wassereinbruch gekommen war, bei dem hundert der Bergbauzwerge starben, wollte keiner der kleinwüchsigen Wesen mehr hier arbeiten. Cooper musste im Gegenzug eine Goldmine in Südafrika an das Zaubereiministerium abtreten, um den Zwergen Entschädigung leisten zu können. Damit war Roughwater Island eigentlich wertlos geworden. Doch Cooper Shacklebolt wollte sie nicht aufgeben und beließ die Insel in ihrem gegenwärtigen Zustand. Als Tritons Frau Anthea ihr erstes Kind erwartete brachte er sie und ihre Hebamme auf diese Insel. Coopers erster Enkel wurde somit auch hier geboren. Er erhielt den Nachnamen der Hebamme Adorata Kingsley als Vornamen, weil Triton von der Vorstellung besessen war, ein Stück Land zu besitzen, das nur ihm und seiner Familie gehörte und sein Sohn dereinst nach ihm König dieses kleinen Reiches sein würde.
Das alles war nun mehr als sechzig Jahre her. Roughwater Island war seit Kingsleys Geburt nicht mehr von Menschen betreten worden, bis es in der Nacht zum 2. Mai 1998 zur entscheidenden Schlacht gegen die Todesser gekommen war. Da hatte sich Kingsley Shacklebolt daran erinnert, dass er ein eigenes, sonst keinem mehr bekanntes Land besaß.
Über Roughwater Island tobte nun auch ein Gewitter. Doch nicht deshalb war es stockfinster. Selbst wenn eine Wolke einen Blitz gebar, glomm dieser nur gerade so hell wie ein ferner Stern auf. Der ihn begleitende Donner grummelte dumpf und wie durch dichten Nebel gefiltert. Ebenso klang das Brausen und Donnern der sturmgepeitschten Wellen wie aus weiter Ferne. So war es seit dem 1. Juni 1998, seitdem Kingsley Shacklebolt es in einer wortwörtlichen Nachtt-und-Nebelaktion vollbracht hatte, fünftausend unheimliche Geschöpfe mit zehn großen Schiffen, die bis auf einen Steuermann unbemannt fuhren, auf dieser Insel auszusetzen. Fünftausend nach Glück und Seelen lebender Menschen gierende Geschöpfe, die nur mit vereinter Kraft zusammengetrieben und unter Deck verstaut werden konnten, waren hier zur ewigen Verbannung abgeladen worden. Die über drei Meter großen, in schwere Kapuzenumhänge gekleideten Gestalten hatten zwar immer wieder versucht, sich aus den Laderäumen der Transportschiffe zu befreien. Doch an Deck waren sie immer wieder auf die von dreißig versierten Zauberern und Hexen zur Bewachung abgestellten Erscheinungen aus silberweißem Licht gestoßen und von diesen in die Bäuche der Transportschiffe zurückgetrieben worden. Vor allem ein Luchs aus silberweißem Licht hatte den in die Verbannung geschickten arg zugesetzt. Erst als sie vor Roughwater Island angekommen waren verschwanden die silbernen Erscheinungen. Doch auch die Steuerleute waren verschwunden, hatten sich mit Portschlüsseln abgesetzt, als die Schiffe sicher verankert worden waren. Als die Unheimlichen dann versuchten, von der Insel fortzukommen waren sie gegen eine Mauer aus konzentriertem silbernen Licht geprallt und brutal zum Zentrum des davon gebildeten Kreises zurückgeschleudert worden. Als die Verbannten dann versuchten, die Anker zu lichten, um mit den nun unbemannten Schiffen zu flüchten, war ein von ihnen nicht zu stoppender Mechanismus ausgelöst worden. Schlagartig hatten sich alle Räume der Schiffe mit Wasser gefüllt. Den Unheimlichen war dann nur die Flucht auf den Felsen geblieben, während die Schiffe unter ihnen wegsanken. Doch die unerbittliche Ummauerung aus Magie blieb. Sie bildete eine unsichtbare Glocke, die nur an der Stelle silberweiß aufleuchtete, an der einer der Unheimlichen einen Durchbruch versuchte. Selbst als alle zugleich versuchten, die Glocke zu durchbrechen schleuderte diese sie alle zurück auf die Insel. Dabei prallten mehrere von ihnen so heftig aufeinander, dass sie wie wuchtig gegeneinanderstoßende Schneebälle zusammengefügt wurden. So waren von den fünftausend verbannten am einem Tag fünfhundert weniger auf der Insel, wobei fünfhundert von ihnen nun doppelt so groß und so stark waren wie ihre übrigen Artgenossen.
Da durch ihre bloße Anwesenheit ewige Nacht und eisige Kälte die Insel umschlossen hielten wurde die verstreichende Zeit bedeutungslos. Weder die Sonne, die sich das eine oder andere Mal durch die Sturmwolken zwengte, noch die in den tobenden Gewittern entstehenden Blitze vermochten, diese Dunkelheit zu verdrängen. Immer mehr Eis überzog die Insel und schloss sie in einen festen, unnachgiebigen Panzer ein. Die fünfhundert übergroßen von Ihnen wurden von den anderen als neue Herrscherklasse akzeptiert. Doch es gab ein unausräumbares Problem: Auf dieser Insel wohnte kein fühlendes Wesen. Die Natur, die sonst jede neue Insel erst mit Pflanzen und dann mit Tieren eroberte, hatte diesen sturmumtosten Felsklotz nicht für wichtig genug gehalten. So gab es für die Verbannten keine Nahrung. Denn sie lebten und gediehen durch die Glücksempfindungen denkfähiger Wesen. Früher hatten sie als Wärter des Zauberergefängnisses Askaban immer neue Nahrung erhalten. Doch nach dem endgültigen Sturz des dunklen Lords waren sie nicht mehr erwünscht. sie wurden Gejagt und zusammengetrieben. Diese verhassten Silberphantome, die die Zauberer Patroni nannten, sowie die Kraft der Sonne und des Mondes nutzende Zauber, hatten sie nacheinander besiegt. Ohne neue Nahrung mussten sie nun dahindarben. Doch ihr Überlebenswille war zu groß, als sich damit abzufinden. Und als der Hunger nach seelischer Energie übermächtig wurde, hatten die stärkeren von ihnen angefangen, die mit weniger Seelenenergie angefüllten zu fangen und ihnen alle Kraft auszusaugen. Die, die sich nicht ausreichend wehren konnten, schrumpften dabei und verschwanden in den Schlünden ihrer Überwinder. Diese wuchsen danach auf die doppelte Größe, wie die fünfhundert, die durch den Abwerhwall zusammengebacken worden waren. So schrumpfte die Zahl der ursprünglich Verbannten im Laufe der Monate und Jahre von fünftausend auf nun noch eintausend zusammen. Als alle gleichstark waren konnten sie einander nichts mehr anhaben. Der Hunger nach frischen Seelen oder Glücksgefühlen quälte sie nun immer weiter. Er wurde zu ihrem ständigen Begleiter, wie die Stürme und die tosende See. Ja, und mit jedem Tag, den sie keine neue Nahrung bekamen schrumpften sie langsam aber unaufhaltsam zusammen. Bald waren sie wieder so groß wie ursprünglich. Die Furcht, noch weiter zu schrumpfen und dann einfach zu vergehen war genauso bedrückend wie der sie quälende Hunger.
Als sie spürten, dass sich ein Mensch aus der Luft näherte, loderte der Überlebenswille in den in Höhlen und Stollen zusammengekauerten wieder auf. Sicher würde es zum Kampf um die Seele des Eindringlings kommen, wer immer das auch war. Sie stürmten in Gedankenschnelle aus ihren Verstecken heraus und jagten als unheilvolle Schatten dem heranfliegenden Menschen entgegen. Da sie keine menschlichen Augen besaßen konnten sie nur mitbekommen, dass es ein Mann mit starken Zauberkräften sein musste, der durch die Luft flog. Als er die unerbittliche Zauberkraftglocke um die Insel durchdrang stürzten sie sich auf ihn. Doch da entfesselte der Eindringling einen überstarken Zauber, der ihn mit einer dröhnenden Kraft aus verstofflichter Dunkelheit umschloss. Die ersten Verbannten, die darauf prallten, wurden gnadenlos zurückgeworfen und flogen gegen die über die Insel gespannte Glocke aus Zauberkraft. Diese stieß sie nicht minder gnadenlos auf die Insel zurück. Dabei prallten fünfzig von Ihnen aufeinander und wurden zu fünfundzwanzig übergroßen Vertretern ihrer geächteten Art.
"Ich komme als euer Befreier!" rief der Fremde laut und dachte es auch konzentriert genug, um die Verbannten zu erreichen. "Ich kann euch helfen, weiterzuleben. Aber wenn ihr versucht, mich zu überwältigen werde ich euch mit aller Macht, die ich habe zurückwerfen und dann auf Nimmerwiedersehen von hier fortfliegen. Weit genug weg von hier werde ich dann ein Seebeben entfesseln, dass euren kümmerlichen Felsen dahin befördert, wo er schon längst hingehört hätte! Also lasst von mir ab und hört mir zu!"
"Hunger!" brüllten die Verbannten nun und stürzten sich erneut auf den Eindringling. Doch wieder prellte sie dessen Abwehrzauber zurück. Nur die gerade ganz großen von ihnen konnten nahe genug an den Eindringling heran, um ihn zu packen. Doch als sie ihn berührten durchfuhr sie ein solch heftiger Stoß, dass sie schon fürchteten, gleich in tausend Fetzen zerrissen zu werden.
"Das ist meine letzte Warnung!" schrillte der Eindringling. "Noch einmal so ein Versuch, und ihr könnt mit eurer verfluchten Insel im Meer versinken. Also versammelt euch gefälligst auf dem Plateau da oben, damit ich euch meinen Vorschlag erzählen kann!"
Die Verbannten zogen sich zurück. Der Versuch, den anderen zu fangen und ihm die Seele auszusaugen war misslungen. Der war zu mächtig, ja schien sogar die Macht mehrerer Leben in sich zu tragen, dass er sich so gut gegen sie wehren konnte.
Jener, der sich Lord Vengor nannte, hatte die von seinem früheren Vorbild Voldemort erlernte Bezauberung auf seinen Geist gelegt, den Seelenspiegel. Zudem hatte er einen von ihm erfundenen Zauber aufgebaut, der durch die Inkorporation von Unlichtkristall erst recht wirkte, die Nekrosphäre, eine dunkle Verkehrung jener magischen Schutzblase, die körperliche Gewalt und die meisten Zauber zurückweisen konnte. Als schwebe er in einem nachtschwarzen Luftballon, durch den er allein hinaussehen konnte, trieb er seinen Besen in die ewige Nacht hinein, die das Verbannungseiland der letzten Dementoren umhüllte. Tatsächlich hatten die hier Ausgesetzten Ex-Wächter von Askaban sofort versucht, ihn anzugreifen. Doch die schwarzmagische Schutzblase wehrte sie fast alle ab. Nur fünfzig übergroße von ihnen schafften es, den für lebende Wesen tödlichen Schutz zu durchdringen. Doch als sie ihn zu fassen versuchten hatten sowohl der Seelenspiegelzauber als auch die alle dunklen Kräfte auf ihre Urheber zurückwerfende Kraft des Unlichtkristalls sie abgewisen. Vengor lachte laut, als er sah, wie die ausgehungerten Dementoren sich seiner Anweisung fügten und sich auf dem Hochplateau der Insel versammelten.
Als er gelandet war zählte er die noch existierenden Dementoren kurz durch und kam auf gerade noch 975 Exemplare dieser einst so gefürchteten Geschöpfe. Wollte er sie wirklich zu seinen Gehilfen machen? Um Shacklebolt einen Schlag zu versetzen, der meinte, sein Coup mit Roughwater Island sei nur ihm allein bekannt auf jeden Fall. Aber zunächst würde er sie irgendwo auf der Welt ansiedeln, damit sie neue Nahrung bekamen und sich wieder vermehrten. Mit knapp eintausend Dementoren würde er die Welt nicht erobern, wo es zu viele gab, die einen Patronuszauber konnten. "Gut, dass euch trotz eures Hungers noch nicht alle Vernunft verlassen hat", sagte Vengor zur Begrüßung. Dann unterbreitete er den Dementoren seinen Vorschlag: "Ich werde die Säulen jener Schutzglocke, die euch hier auf der Insel festhält nacheinander zerstören. Ich weiß, dass sie in den vor der Insel versenkten Schiffen sein müssen. Ich muss erst ein Hilfsmittel beschaffen, mit dem ich gefahrlos hinuntertauchen kann. Außerdem muss ich Zauber anwenden, die die in den Schiffen konzentrierte Kraft für euch unschädlich aufhebt, bevor ich die Träger dieser Zauber zerstören kann. Das alles wird so einen vollen Monat dauern. Solange müsst ihr noch aushalten. Wenn ich aber diese euch hier festhaltende Magie gebrochen haben werde, müsst ihr mir aber folgen, wie ihr dem dunklen Lord gefolgt seid."
"Der dunkle Lord ist tot", schnarrten ihm über hundert Dementoren entgegen. Vengor nickte. Doch das konnten die Dementoren ja nicht sehen, diese blinden Maulwürfe. So sagte er:
"Ja, er fiel in der Schlacht von Hogwarts, weil er auf etwas setzte, was er nicht genau kannte. Ich bin sein Erbe, sein Nachfolger und werde alles, was er mit euch erreichen wollte erreichen. Also hört mir weiter zu!" Er erklärte dann noch, dasss er selbst vier große Schiffe besorgen würde, auf denen die Dementoren an ihren neuen Wohnort gebracht werden konnten. Auf den Schiffen würden Menschen sein, die ihnen als Nahrung dienen sollten, um wieder zu Kräften zu kommen. Doch das alles würde er nur tun, wenn sie ihm hier und heute Gefolgschaft schworen. "Ich werde euch mit dem Eid des dunklen Mondes daran binden. Also überlegt es euch, ob ihr bis zum letzten eurer Atemzüge hier verrotten möchtet, oder bis ihr euch gegenseitig aufgefressen habt." Den letzten Satz sprach er mit unüberhörbarer Verachtung.
"Du bist stärker als der dunkle Lord. Doch wer bist du?"
"Ich bin Lord Vengor, Vertrauter der mächtigen Künste der Dunkelheit."
"Deinen wahren Namen!" schnarrte einer der fünfzig doppelt so großen Dementoren. Doch Vengor sah ihn nur verächtlich an und schnaubte:
"Wer mein Gesicht oder meinen wahren Namen kennt ist tot. Also vergiss es besser, meinen Namen wissen zu wollen."
"Gut, Lord Vengor. Ich werde dir folgen", schnarrte der übergroße Dementor. Doch Vengor hörte ihm an, dass er noch nicht aufgegeben hatte. So sagte er: "Und den Eid des dunklen Mondes schwören."
Alle Dementoren berieten sich auf rein geistigem Weg. Vengor blieb auf der Hut und hielt die ihn umschließende Nekrosphäre stabil. Nach nur zwei Minuten erscholl ein einstimmiges "Ja, Lord Vengor, wir wollen dir folgen!" So vollzog Vengor den Eid des dunklen Mondes. Hierzu hatte er Knochensplitter eines bei Neumond gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen gesammelt, die er zu einem Kreis auslegte und in dessen Mitte die Anrufung von Dunkelheit und mondloser Nacht beschwor. Nun musste sich jeder Dementor in den Kreis stellen und ihm Gefolgschaft schwören. Vampire und andere Wesen der dunklen Magie konnten so genauso gebunden werden wie durch den unbrechbaren Eid. Nur bei Werwölfen, die zum Teil von dunkler Mondmagie erfüllt waren, half das nicht, weil diese eben nur zu einem kleinen Teil von dunkler Magie durchdrungen waren. Ein Dementor nach dem anderen schwor den Eid, Lord Vengor treue bis in das Ende seines Daseins zu leisten und alles zu tun, was er befahl und jeden von ihm bestimmten Feind zu bekämpfen. Diese Prozedur dauerte mehr als zehn Stunden an. Erst dann war Vengor mit allen durch. Jetzt konnte er die Nekrosphäre um sich zerfließen lassen. Da auf dieser Insel eh Dunkelheit herrschte konnte nur Vengor mit seinem auf magische Finsternis abgestimmten Sehsinn erkennen, wie die schützende Blase zu schwarzen Schlieren zerfloss und in immer größeren Spiralen davongeweht und von der Dementorendunkelheit aufgezehrt wurde. Er griff seinen Besen. "Ich komme zurück!" rief er den Dementoren noch zu. Dann rief er "Nachtwache!" Auf dieses Wort hin glühte der Besen auf und hüllte ihn in eine Lichtspirale, die wegen der allgegenwärtigen Dunkelheit ein sehr schwaches Licht ausstrahlte. Dann fühlten die Dementoren, dass ihr neuer Hoffnungsträger verschwunden war.
Sie dachten einander zu. Welche Aufträge würden sie erfüllen müssen? Doch diese Frage sollte unbeantwortet bleiben. Denn unvermittelt zerrte etwas von allen Seiten an ihren Kräften. Über fünfhundert von ihnen schrien gleichzeitig laut auf, als die gnadenlose Kraft sie regelrecht zu schwarzem Dampf vergehen ließ. Dieser Dampf dehnte sich aus, geriet in den immer noch blasenden Sturm hinein. Wen von den noch stehenden dieser Rauch erreichte traf dasselbe Schicksal wie die schlagartig vernichteten. Sie schrien laut im Geiste auf und zerflossen.
Nur zehn von über neunhundert Dementoren konnten der mörderischen Entkräftungswelle und den ihr folgenden Dampfschwaden entgehen, weil sie gegen die Windrichtung fliehen konnten. Der schwarze Rauch erreichte sie nicht. Doch für ihre Artgenossen war es aus und vorbei. Die zehn überlebenden Dementoren rasten trotz Sturmwind auf das Meer zu und stürzten sich über die Klippenkante. Der schwarze Rauch zerfaserte langsamer im Wind als zu erwarten gewesen wäre. Er bedrohte die zehn Fliehenden. Sie hatten nur eine Chance: Das tosende Meer. Kopfüber stürzten sie sich in die aufgewühlten Fluten. Ihre unheilvolle Aura wirkte dabei wie ein Gefriermittel. Vom Wasser zusammengestaucht konzentrierte sich die Kraft der Dementoren zu einer gerade anderthalb mal so groß wwie sie selbst ausgedehnten Kugelzone. Innerhalb dieser Kugelzone stürzte die Wassertemperatur innerhalb einer Sekunde um mehr als dreißig Grad. Selbst die tiefe Gefriertemperatur von Salzwasser wurde um mehr als zwanzig Grad unterschritten. Erst als sich um die in die Tiefe tauchenden Dementoren erste Eisstücke bildeten, die nach oben trieben und dann auch unter ihnen zu erst kleinen und dann immer größeren Stücken wurden, die zusammenstießen und sofort aneinander festfroren, hörte der tolkühne Tauchversuch auf. Die Dementoren, die über Minuten lang keine natürliche Luft atmen mussten, wurden von der um sie entstehenden Eismasse umschlossen und erstarrten. Die zehn Eiskugeln stiegen nun langsam wieder nach oben. Jetzt erst kehrte das klare Denken zurück. Die Dementoren verabscheuten den Kontakt mit größeren Wassermengen, weil eben genau das passierte, dass sie von ihrer eigenen Kraft in Eis eingefroren wurden. Und wenn das Eis größer wurde als sie selbst, so schwächte es auch ihre eigenen Gedanken. Sie waren der Vernichtung entkommen, nur um nun in großen Eisblöcken eingefroren immer träger und schwächer zu werden. Jeder der zehn fühlte, wie die geistige Verbindung zu seinen Artgenossen verebbte. Dann war jeder für sich alleine. Das war dann auch der letzte Gedanke, den jeder konzentriert denken konnte.
Gooriaimiria hörte einen langgedehnten, vielhundertstimmigen Aufschrei aus der Ferne. Es klang wie der Todesschrei hunderter von Wesen. Es waren aber keine Kinder der Nacht. denn deren Sterbeort würde sie genau erspüren, dachte die aus mehr als tausend Einzelseelen zusammengewachsene schlafende Göttin aller Vampire. Als sie in dem langen, lautstarken Aufschrei auch die kurzen Jauchzer wie aus langer Qual oder Gefangenschaft befreiter hörte, wusste sie, wer da gerade ein jähes Ende gefunden hatte. Als sie noch Griselda Hollingsworth geheißen hatte waren diese Kreaturen schon unterwegs gewesen. Als sie dann zu Lady Nyx geworden war hatte sie einen anderen Vampir dazu überredet, eine Brutstätte dieser Wesen aufzusuchen. Durch gegenseitiges Bluttrinken hatte sie eine Verbindung mit ihm hergestellt. Dadurch hatte sie mitbekommen, wie ihr Artgenosse von den Unheimlichen ergriffen worden war. Die hatten ihm dann mit einem gierigen Atemzug die Seele entrissen. Sie konnte ihn noch einige Sekunden lang geistig aufschreien hören. Dann war da nur noch eine untätig atmende Hülle geblieben. Deshalb verabscheute sie diese Geschöpfe und war ihnen aus dem Weg geblieben. Selbst mit dem Mitternachtsdiamanten, als dieser noch in ihr verstaut war, hatte sie diese Seelensauger gemieden. Sie fragte sich, ob nun wirklich alle auf einmal getötet worden waren, wie immer die Rotblütler das angestellt hatten. Dann fragte sie sich, ob es Vengors Werk gewesen war, der diese Kreaturen nicht unter Kontrolle bekommen hatte und sie deshalb alle erledigt hatte. Als sie die letzten mentalen Nachschwingungen des vielhundertfachen Todesschreis nicht mehr vernehmen konnte befand sie, dass die Welt ohne diese Kreaturen wirklich besser dran war. Die hätten ihr vielleicht noch die Tour versauen können.
"War das deine Brut, die das getan hat, unschlüpfbares Küken", hörte sie die verärgert schwingende Gedankenstimme ihres Erzfeindes Iaxathan.
"Nein, das war wohl deine Brut, Flaschengeist", schickte Gooriaimiria zurück. "Oder hast du diese rasselatmenden, nach Fäulnis stinkenden Seelenschlürfer nicht erschaffen?"
"Ich schwor dir, die Stunde wird kommen, wo dein Hochmut zu Staub wird, entleibtes Schmutzweib. Wenn mein Diener endlich den Weg zu mir findet und ich ihn endgültig mein werden lasse ..."
"Ach, dann war der das, der die vielen hundert Rasselatmer ausgelöscht hat?" fiel ihm Gooriaimiria ins Wort. "Wollten wohl nicht seine Schoßhündchen werden und dann nach seiner Flöte tanzen, wie?"
"Schweig still, verruchte!!" gedankendröhnte Iaxathan voller unbändiger Wut.
"Ah, dann war nicht geplant, die vielen Seelenschlürfer umzubringen, wie? Hat dein noch nicht ganz sicher angeleinter Apportierhund wohl was verdorben, wie?" stichelte Gooriaimiria. Sie genoss es immer wieder, Iaxathan, den Urheber ihres Daseins, derartig zu provozieren.
"Ich gebot dir, zu schweigen, mein Geschöpf. Du bist mir zu Gehorsam und Demut verpflichtet. Gehorche und folge mir!"
"Ach nöh, Flaschengeist, das hatten wir doch schon", gedankenfeixte Gooriaimiria. Zwar fühlte sie tief im Verbund ihres Seins, wie etwas kurz aufzubegehren versuchte und dann doch wieder schwieg. Iaxathans Antwort waren Wellen aus Wut. Doch dann auf einmal hörte sie ihn kurz und wild auflachen. Warum er dies tat fühlte sie nun auch. Und die Ursache gefiel ihr nicht. Sie hoffte nur, dass dieser in einer Spiegelkugel irgendwo auf der Welt eingekerkerte Magier, der den Begierden einer Hexe zum Opfer gefallen war, keinen Grund hatte, sich wirklich zu freuen.
Nur Vengor wusste, dass der finstere Schatten mit den eisblauen Augen früher mal ein Zauberer namens Corvinus Flint gewesen war. Der zum Nachtschatten gewordene und von Vengor unterworfene Getreue hatte hier auf die Rückkehr seines stofflichen Herrn und Meisters gewartet. Als er aus einer blauen Portschlüsselspirale heraus erschien begrüßte er Vengor ehrerbietig. "Wir kriegen demnächst noch weitere Helfer. Die kann ich dann eher in brenzlige Situationen schicken als deine und meine Artgenossen", lachte Vengor überlegen. "Und vor denen haben die alle mal gezittert."
"Vergiss nicht, Meister, dass du mit dem Unlichtkristall versehen bist", sagte der Nachtschatten mit geisterhaft säuselnder Stimme. "Nur deshalb konntest du dich ihnen widersetzen."
"Der über diesen Halbblutbengel in den Tod gestürzte Riddle konnte mit denen auch fertig werden", entgegnete Vengor. Dass er Voldemort alias Tom Riddle nicht mehr als leuchtendes oder besser finsteres Vorbild sah hatte Flint nach seiner Verwandlung zum Nachtschatten schnell begriffen. Da passierte etwas, was den Nachtschatten sichtlich erschütterte. Vengor sah, wie sein unheimlicher Gehilfe flimmerte und pulsierte wie ein zu schnell schlagendes Herz. Die blauen Augen erloschen beinahe. Der Vorgang dauerte ganze zehn Sekunden an. Dann stabilisierte sich die Erscheinung des Nachtschattens wieder. "Meister, ich wurde gerade von einer heftigen Welle aus Todesqual und gleichzeitiger Erleichterung überflutet, die aus der Richtung kam, wo du vorhin noch warst", ächzte Flint. "Ich habe einen langen Schrei von mehr als hundert Stimmen gehört. Womöglich wurden gerade viele hundert magische Wesen auf einen Schlag und auf die gleiche Weise getötet."
"Moment, da wo ich war?" entfuhr es Vengor. Sein geisterhafter Gehilfe bestätigte es. "Das kann nicht sein", stieß er laut aus. "Ich habe denen nur den Eid des dunklen Mondes abgetrotzt und mich dann sofort abgesetzt. Ich hätte es bemerkt, wenn da noch jemand gewesen wäre. Der Homenum-Revelius-Zauber hat keinen Menschen auf diesem verfluchten Felsen enthüllt."
"Und dennoch habe ich gerade ihre Todesschreie gehört, sie regelrecht wie ein überlautes Sturmgeheul mitbekommen, Meister."
"Dann muss ich da noch mal hin", schnarrte Vengor. Er wollte nach dem Besen greifen, der ein Portschlüssel gewesen war. Doch der Besen hatte sich nach der Rückreise in Holzmehl aufgelöst, weil die Portschlüsselbezauberung zu stark gewesen war. Nur zwischen zwei festgelegten Orten wirkende Portschlüssel überstanden mehr als einen Einsatz.
"In den tiefsten Pfuhl mit diesen Portschlüsseln", knurrte Vengor. Da vernahm er eine nicht minder wütende Stimme in seinem Geist: "Du hast mal wieder versagt, du Stümper. Ich habe dir nicht befohlen, uns hilfreiche Kreaturen auszurotten."
"Ich habe denen nichts getan, Herr", gedankenwimmerte Vengor. Er fürchtete, jetzt schon die Strafe zu erleiden, die Iaxathan ihm im Falle seines kompletten Versagens angedroht hatte.
"Dann war es wer anderes, vielleicht der, der die Geschöpfe auf der Insel abgeladen hat wie einen Haufen Unrat", gedankenschnarrte Iaxathan.
"Da war aber keiner, und ich habe alle Unortbarkeitsaufhebungszauber eingesetzt", beteuerte Vengor. "Ja, aber du warst da und hast die Kraft benutzt. Vielleicht hätte dein Gefolgsmann dir das erzählen müssen, ob dort eine Aufspürvorrichtung verstaut war, die bei unerlaubter Anwendung der Kraft den Tod der Verbannten herbeiführt."
"Hat er aber nicht. Er wusste es nicht. Er wusste nur von dem Ort", schickte Vengor zurück.
"Dann sieh zu, dass du noch mehr Staubträger machst und endlich unauffällig deine Aufgabe erfüllst! - Moment, oh, ist das denn wahrhaftig?" erwiderte Iaxathans Stimme, die von einem auf den anderen Augenblick von zornig zu hocherfreut umschwenkte. Es folgte ein höchst erheitert klingendes Lachen. Als endlich wieder Ruhe in Vengors Bewusstsein einkehrte gedankenfragte er, was den fernen, in seinem mächtigsten Artefakt gefangenen Verbündeten auf einmal so erfreut hatte.
"Das werde ich dir erst kundtun, wenn du bewiesen hast, dass du würdig bist, mit mir zusammenzuarbeiten", gedankengrummelte Iaxathan. "Sieh also zu, dass du deine nächste Aufgabe erfüllst, ohne dass jene, die dir nachjagen erkennen, dass du sie erfüllt hast!"
"Jawohl, großmächtiger Herr Iaxathan", bestätigte Vengor. Dann sah er seinen schattenhaften Diener an. "Wir müssen uns daranmachen, die nächste Person auf meiner Liste abzuhaken, ohne dass es jemandem bekannt wird. Sicher suchen die schon nach allen, die mit den vorhergehenden verwandt sind."
"Dann könnte diese Cousine fünften Grades von dir schon bewacht werden", wisperte der Nachtschatten. Vengor nickte. "Ja, aber sie ist nicht mit denen verwandt, die ich bisher töten durfte", schnarrte Vengor. Er beschloss, eine Versammlung seiner dreißig Getreuen einzuberufen. Dabei konnte er auch entscheiden, ob er den rangnidrigeren Gehilfen die Kristallstaubinjektion setzen und sie damit endgültig auf ihn einstimmen sollte. Das brachte ihm das Gefühl der Überlegenheit zurück, das die Schimpftirade Iaxathans ihm vorhin genommen hatte.
JETZT BIN ICH LANGSAM WIEDER IN DEM ZUSTAND, WO ICH DOPPELT SO VIEL ESSEN UND TRINKEN MUSS, OBWOHL MEIN ZWEITES KALB NOCH MEHR ALS EINEN SONNENLAUF IN MIR HERANWACHSEN MUSS. DAFÜR KANN ICH ABER AUCH VIEL AUS MEINEM MILCHSACK HERGEBEN. ICH BIN FROH, DASS JULIUS DIE BEGEGNUNG MIT JENEN ÜBERSTANDEN HAT, DIE MEINEN, DIE ZAHL MIT DER KRAFT BEGABTER MENSCHEN MIT UNERWÜNSCHTEN MITTELN ZU ERHÖHEN. VIELLEICHT SOLLTE ICH DOCH ZUSEHEN, IMMER IN SEINER NÄHE ZU BLEIBEN. ICH HOFFE, DASS MEINE NATÜRLICHE UNVERWANDELBARKEIT ZUSAMMEN MIT DEM LIED DES BESTEHENDEN LICHTES IHM HILFT, WENN ER DIESEN FEHLGELEITETEN ERNEUT BEGEGNEN SOLLTE.
ICH FÜHLE DAS KLEINE IN MIR. MEIN GANZES ESSEN NIMMT IHM LANGSAM DEN PLATZ WEG. OHHH! WIEDER VIELE STERBENDE, DIE SCHREIEN. DUNKLE WESEN STERBEN. AH! IST DAS LAUT! ES IST ABER NOCH WAS DABEI. JA, GEFANGENE SEELEN KOMMEN FREI. SIE FREUEN SICH, WIEDER FREI ZU SEIN. MEIN KOPF! IST DAS LAUT! AHH. JETZT HÖRT ES AUF. ICH MUSS WISSEN, WAS DAS WAR.
Es sah aus, als sei Yantulian tot. Unbekleidet lag der Mann mit der blassgoldenen Haut auf einer breiten, gepolsterten Liege. Über ihm glomm violettes Licht und hüllte ihn wie mit einer nichtstofflichen Decke ein. Dann wechselte das Licht plötzlich zu sonnengelb. Ein Stoß ging durch Yantulians Körper. Er riss die Augen weit auf und holte hörbar tief Luft. Im gleichen Augenblick schwebte die Erscheinung eines Mannes in roten Gewändern mit orangeroten Verzierungen durch die geschlossene Tür. Der Widerschein des Gelben Lichtes durchdrang die Erscheinung und ließ sie scheinbar von innen erleuchten. Es war der seinen Tod als besonders ausgeprägter Geist überdauernde Gortanorryan, Yantulians leiblicher Vater.
"Wir wachenden und die mit der Kraft erfüllten Spürvorrichtungen haben einen langen Todesschrei vieler hundert düsterer Wesen vernommen und dessen Ursprungsort erkannt. Doch was die vielen über eine unverhoffte Freilassung erfreuten Stimmen dabei zu bedeuten haben entzieht sich unserem Wissen. Bitte tretet mit unseren Kindern und deren Gefährten in Verbindung und übermittelt ihnen, was wir vernommen und erkannt haben!"
Yantulian fragte, ob es vielleicht Nachtkinder sein mochten, die da gestorben waren. Doch der Geist seines Vaters schüttelte den Kopf. "Das war nicht so wie beim verzweifelten Opfer Darfaians, als er die Königin der Nachtkinder verbrannte und sie und ihre dunklen Zöglinge aus ihren Leibern löste. Es war wie ein sich aufblähender Schatten, der in letzter Qual schrie. Doch aus seinem Schrei gebar er Freudenlaute, die jedoch sofort wieder verklangen."
"Welches Jahr haben wir eigentlich?"
"Es sind nur knapp zwei Mondwechsel vergangen, seitdem Dardaria und du dich auf die Liegen der ruhenden Wächter gebettet habt, mein Sohn", erwiderte Gortanooryan. Yantulian nickte. Dann bat er darum, in der Kammer der inneren Worte mit seinen Artgenossen auf der Sonneninsel in Verbindung zu treten.
Als Dardaria und er unbekleidet in der kleinen Kammer waren, die einen Geistesrufverstärkungskristall besaß, konnte er mit seinen Angehörigen und deren Gefährten geistigen Kontakt aufnehmen. Sofort fädelten sich fast alle Sonnenkinder in die Verbindung ein, bis auf zwei. "Warum höre ich Ilangardian nicht?" wollte Yantulian wissen.
"Weil er mit Faidaria das Lied der Verheimlichung gesungen hat", hörte er die Antwort Miridarias. Das genügte Yantulian als Antwort. Um seine aufwallende Verbitterung darüber zu unterdrücken, dass er und Dardaria bis auf weiteres nicht zu diesem Vergnügen kommen durften, sprudelte sein Geist in Worten und Bildern alles heraus, was der Worakashtaril erfasst hatte. Dann antwortete Gwendartammaya alias Patricia Straton:
"Dann könnten das die letzten lebenden Dementoren gewesen sein. Ihr habt doch von mir und Brandon oder Ilangardian erfahren, was für Wesen das sind und dass die wohl von Zaubereiminister Shacklebolt und andren Amtsträgern zusammengetrieben und irgendwo hinverfrachtet wurden, wo sonst keine Menschen leben."
"Ja, und deshalb haben wir uns nie mit diesen Wesen befasst, obwohl sie uns wohl gefährlich werden können", brachte Guryan ein, Miridarias Bruder und Kenner aller Dunklen Wesen seiner Zeit.
"Dann sind diese Wesen nun alle vernichtet?" fragte Yantulian.
"Vielleicht", erwiderte Patricia Straton. "Ich frage mich aber dann, warum jetzt erst und nicht gleich nach dem Zusammentreiben?"
"Weil der, der sie einfing und wegbrachte wohl noch gerne wissen wollte, wie sie entstanden und ob auf diesem Wege noch andre Geschöpfe entstehen können", vermutete Guryan.
"Wir müssen es prüfen, ob noch welche da wohnen", erwiderte Yantulian. "Die Rüstungen müssten eigentlich gut vor ihrer Kraft schützen."
"Vielleicht. Es kommt auf einen Versuch an. Ich werde es wagen. Aber dazu brauche ich einen der beiden Windsegler", erwiderte Guryan.
"Wir können den Nehmen, der von mir und Brandon geprägt wurde", erwiderte Patricia Gwendartammaya.
"Nein, das tust du nicht. Du hast neues Leben in deinem inneren Nest, wie ich", stieß Gisirdaria energisch aus. "Du hast damit die Pflicht, unser Volk zu vergrößern und darfst dich nicht in Gefahr bringen."
"Dann muss Guryan den zweiten Segler auf sich abstimmen, wenn er unbedingt dahin will", entgegnete Gwendartammaya mit unverkennbarer Verärgerung.
"Gut, ich mache den zweiten Segler für mich bereit", gedankenknurrte Guryan.
"Nichts da, Guryan. Diese Nacht teilst du erst einmal mit mir das Lager, da du dein Fleisch und Blut noch nicht vermehrt hast", erscholl Nomidarias Gedankenstimme laut und unerbittlich. Yantulian und Dardaria grinsten einander an. Nomidaria war Dardarias große Schwester, dreißig Jahre älter als sie und schon länger hinter Guryan her, seitdem ihr erster Gefährte bei einer dieser lauten Mitreißtode der gestellten Nachtkinder gestorben war.
"Das bespreche ich mit Faidaria", gedankenschnaubte Guryan.
"Oder möchtest du Yantulian haben, Schwester?" fragte Dardaria.
"Wo du selbst noch nichts von ihm zu tragen geschafft hast? Nein, ich will Guryan, besonders dann, wenn er meint, sich in Lebensgefahr bringen zu müssen", beharrte Nomidaria auf ihrer Entscheidung.
"Dann müssen wir eben warten, bis Ilangardian oder Guryan bereit sind, um an den Ort zu reisen, wo die Unheimlichen starben", sagte Dardaria.
"Ich kann auch dorthin reisen, wenn wer für mich hierbleibt", erwiderte Yantulian. Da widersprach ihm Dardaria: "Du hast mir versprochen, dass ich die Mutter deines ersten Kindes werden darf. Bevor dies nicht eingelöst wurde lasse ich dich nicht mehr verreisen."
"Ja, aber solange wir im Tiefschlaf hier zu warten haben geht das nicht. Außerdem bin ich alt genug, selbst zu entscheiden, welchen Gefahren ich mich entgegenstelle", entgegnete Yantulian. Doch Dardaria schüttelte den Kopf. "Wir haben uns einander versprochen und gelobt, unser Fleisch und Blut zu vereinen. Deshalb bin ich hiergeblieben, wo du hierbleiben wolltest. Also bleibst du solange hier, bis jemand anderes uns beide ablöst." Yantulian grummelte. Eigentlich könnte er längst los, um die Sache zu überprüfen. Doch er hatte Dardaria vor dem Langen Schlaf der Sonnenkinder zur Frau gemacht. Das galt als Verbindliche Vereinbarung, dann auch mindestens ein Kind jeden Geschlechtes mit ihr zu zeugen, und an die alten Gesetze musste er sich halten, wollte er das Erbe seiner Ahnen ehren. So nickte er ihr zustimmend zu.
Kingsley Shacklebolt, der Zaubereiminister Großbritanniens, griff sich an den goldenen Ohrring, der von seinem linken Ohr herabbaumelte. Der zitterte gerade wie wild. Damit erfuhr der Zaubereiminister, dass eine von ihm eingerichtete Meldevorrichtung was sehr wichtiges weitergab. "Und ruhe!" knurrte Shacklebolt mit zwei Fingern am Ohrring. Das Zittern hörte auf. Mit weit ausgreifenden Schritten eilte Shacklebolt aus seinem Büro in seine besonders gut abgeschirmten Privaträume, durchdrang die Aufspürzauber, die seine Identität und die Grundstimmung jedes eintretenden erfassten und öffnete die mit Körperspeicherzauber belegte Tür eines begehbaren Schrankes. Dort stand ein silberner Zylinder, aus dem ein knapp zwanzig Zentimeter langer Pergamentstreifen heraushing. Shacklebolt pflückte den Streifen aus dem Zylinder heraus und las:
Roughwater Island von unbefugten Betreten und lebend wieder verlassen. Endvorrichtung nach Abreise des Unbefugten ausgelöst.
Shacklebolt grummelte kurz. Dann nickte er stumm. Eigentlich hatte er alles darangesetzt, den Aufenthaltsort der letzten Dementoren geheimzuhalten. Er hatte nur anklingen lassen, dass sie auf eine unbewohnte Insel verbracht worden waren. Dass sie auf Roughwater Island abgesetzt worden waren wusste außer ihm nur noch eine Person. Doch von der hatte er bis jetzt gedacht, dass diese es keinem verraten würde. Sie hatten den Fidelius-Zauber ausgeführt. Kingsley hätte selbst gerne als Geheimniswahrer fungiert. Doch da er bereits ein wertvolles Geheimnis in sich aufgenommen hatte, musste er jemanden darum bitten, von dem er hoffte, dass dieser es niemals weitererzählen würde, nachdem sie die Dementoren auf der Insel ausgesetzt hatten. Doch jetzt half alles lamentieren nicht. Roughwater Island war um genau sieben Minuten nach fünf Uhr nachmittags britischer Zeit von einem unbefugten verlassen worden. Dass danach zwanzig gut verteilte Incantivacuum-Kristalle ausgelöst wurden hatte er aber keinem erzählt. Sonst hätte der Unbefugte diese Vorrichtung sicher gesucht und entschärft.
Ich kann mir nicht denken, dass Mat das weitererzählt hat, dachte Kingsley Shacklebolt. Doch er musste es überprüfen. Er verschloss den Schrank mit dem silbernen Zylinder wieder und eilte in sein Büro zurück. Dort schrieb er eine kurze Mitteilung an eine bestimmte Adresse. Diese verschickte er als Blitzeule. Doch auch drei Stunden später hatte er noch keine Antwort. So brach er auf, um selbst nachzusehen.
Als Shacklebolt vor einem kleinen Ziegelhaus in der Nähe von York eintraf warnte sein Ohrring ihn durch schlagartige Erwärmung vor mindestens einer Zauberfalle. Der Zaubereiminister errichtete um sich mehrere mit ihm mitwandernde Schildzauber und prüfte mit Enthüllungszaubern auf die Natur der Fallen. Da erkannte er, dass das Haus von einem Kerkerfluch erfüllt war. Wer arglos in das Haus eintrat wurde unverzüglich in einer der Wände eingeschlossen, durch die nicht einmal sein Geist herausdringen konnte, wenn er oder sie dort verhungerte. Diesen zauber konnte Mat unmöglich heute aufgebaut haben. Außerdem hatte er Mat ja gestern noch gesprochen, und der Kerkerfluch unterschied nicht mehr zwischen Ausrufer und Unbeteiligtem, wenn der Verursacher den verfluchten Bereich für länger als einen halben Tag verließ. Shacklebolt konnte den Fluch brechen. Der Kreis der Reinigung würde das erledigen. Doch er hatte weder Zeit noch Lust, ihn hier und jetzt zu ziehen. Er rief "Matty, bist du noch hier!" Wie er erwartet hatte bekam er keine Antwort. Als er mit dem Mentiiectus-Zauber seine Sinne förmlich in das Haus hineinstrecken wollte prallte sein Zauber auf einen unnachgiebigen Widerstand, der Shacklebolt gehörige Kopfschmerzen zufügte. Also war das Haus nicht nur eine Falle, sondern auch unerkundbar. Der Zaubereiminister starrte das Haus für einige Sekunden drohend an. Dann kehrte die Abgebrühtheit des ehemaligen Auroren zurück. Wenn er schon nicht im Haus nachsehen konnte, ohne den aufwendigen Reinigungszauber zu wirken, so galt es, ihm keine arglosen Opfer zukommen zu lassen. Deshalb sorgte er dafür, dass das Haus von keinem unbeteiligten betreten werden konnte, indem er einfach da, wo Türen und Fenster waren bakunin'sche Vorhänge hinzauberte. Er hoffte, dass er Mat schnellstmöglich und noch lebend wiederfand. Sollte er wahrhaftig mit Vengor gesprochen und ihm das ihm anvertraute Geheimnis freiwillig verraten haben, so konnte er schon längst tot oder anderswie beseitigt worden sein. Zumindest war sich der dunkelhäutige Experte für bösartige Zauber sicher, dass Vengor hinter der Sache mit Roughwater Island stecken musste. Denn außer Vengor traute Shacklebolt keinem zu, eine Masse ausgehungerter Dementoren zu besuchen. Selbst die Spinnenhexe würde wohl darauf verzichten.
Wieder zurück im Ministerium gab er eine stille Fahndung nach Mat heraus. "Ich will es nicht wahrhaben. Aber wenn du die Seiten Gewechselt hast gnade dir jeder Gott, an den in unserem Land jemand glaubt", knurrte Shacklebolt. Doch konnte er das wirklich ausschließen? Er hoffte es zumindest noch.
"Er wird dich suchen, dreizehn. Er wird dich suchen, weil du mir sein Geheimnis verraten hast", wisperte Vengor, als er, die Grüne Schlangenkopfmaske über dem Kopf, mit seinem Gehilfen sprach, der zur Rangstufe 13 aufgerückt war, aber noch keine Kristallstaubinjektion erhalten hatte, weil er noch zu wichtig in dem war, was er offiziell tat. Dreizehn sah seinen auserwählten Herrn und Meister durch die rotglühenden Linseneinsätze seiner bleichen Schlangenkopfmaske an und erwiderte:
"Er wird mich finden. Wenn er will kann er sicher den Zauber, der eine Verbindung zwischen Blutsverwandten herstellen kann, Lord Vengor."
"So, kann er das?" fragte Vengor spöttisch. "Nun, dann ist es wohl an der Zeit, dass du in den Kreis der auserlesenen eintrittst, die durch den Staub des Unlichtkristalls unverwüstlich und zaubermächtig werden."
"Diese Ehre wollt Ihr mir gewähren?" wunderte sich Dreizehn. Durch den in die Maske eingebauten Stimmverstellungszauber klang er schnarrend und hell, fast wie die Stimme dessen, dessen bleichem Schädel die Maske nachempfunden worden war.
"Du hast es dir verdient. Und wenn die anderen nachher zu uns stoßen kann ich ihnen verkünden, wie wertvoll deine Dienste für uns alle sein werden, auch wenn du nicht mehr nach York zurückkehren kannst."
"Danke, Herr", erwiderte Dreizehn.
Vengor bat ihn in den Versammlungsraum. In zehn Minuten würden die anderen kommen. Bis dahin wollte er bei dreizehn die Umwandlung vollzogen haben. Er holte jene altertümlich wirkende Spritze mit silberner Kanüle und füllte sie mit einem tiefschwarzem Pulver. Dann setzte er die Nadel in eine Armvene seines Gehilfen und zog den Kolben bis zum Anschlag heraus, damit sich der gläserne Zylinder mit Blut füllte. Als dieses sich mit dem schwarzen Staub zu einer dunkelroten Flüssigkeit vermischt hatte, jagte er das Gemisch mit schnellem Druck in Dreizehns Körper zurück. "Es wird ein wenig schmerzhaft sein, aber danach fühlst du dich wie ein neuer Mensch", lachte Vengor und nahm die Spritze von Dreizehns Arm fort.
Keine zehn Sekunden später begann die infernalische Injektion zu wirken. Dreizehn schrie laut auf, als ihn Schauern aus Eiseskälte und rasenden Schmerzen durchfluteten. Dann fühlte er eine zunehmende Taubheit in seinem rechten Arm. Die Taubheit wanderte bis in Hand und Schulter und dann über den ganzen Brustkorb und bis hinauf in den Kopf, wo unter einem letzten Kälteschauer alle Gehirnfunktionen auf einen Schlag versagten. Keine Sekunde danach erstarrte der Körper des Gehilfen wie versteinert, besser, wie kristallisiert.
"Wer einmal die Seite wechselt tut dies auch ein zweites Mal, Matty", schnarrte Vengor. "So kannst du wenigstens nicht verraten, dass du mir gedient hast, wie auch immer", lachte Vengor. Dann löste er mit drei Zauberstabstupsern die bleiche Maske von Dreizehns Kopf. Darunter kam ein Gesicht zum Vorschein, dass bis auf eine geringfügige Abweichung genauso aussah wie das von Kingsley Shacklebolt, eben nur, dass auf dem Kopf noch ein wenige Zentimeter langer Haarkranz wuchs, der nun, wo alles erstarrt war, wie die Stacheln eines Igels in alle Richtungen abstand.
"Tja, hat keiner von euch gedacht, dass eine Spur Basiliskenzahnpulver den Staub so verändert, dass damit imprägnierte schlagartig zu Unlichtkristallstatuen erstarren." Vengor hängte seinem hinterhältig ermordeten Ex-Gehilfen eine kleine Holzkette um und tippte sie an: "Abgesang!" sagte er. Dann riss er den zauberstab zurück. Drei Sekunden später verschwand der erstarrte Körper von dreizehn in einer Portschlüsselspirale. Zielpunkt war der Platz, der Speaker's Corner genannt wurde. Dort sollte man den zu einer Kristallstatue erstarrten finden.
Julius hatte gerade Aurore ins Bett gebracht und saß noch bei seiner Frau und der kleinen Chrysope, als sich Temmie bei ihm meldete.
"Julius, ich musste eben einen unheilvollen Schrei vieler sterbender vernehmen. Doch dabei waren auch die kurzen Jubelschreie Lautr wie befreit aufjauchzender Stimmen, als wenn gepeinigte Seelen nach langer Qual endlich wieder freigekommen wären."
"Wieder Vampire, die auf einen Streich erledigt wurden?" fragte Julius.
"Nein, das war jetzt anders als damals mit Nocturnias Ende. Ich konnte den Shrei genau erfassen, wo er herkam. Schreibe dir bitte auf, was ich dir mitteile!" Julius erzählte Millie, was los war.
"Welche die sterben und andere, die dabei freikommen. Hmm, Seelen, die gequält waren und freikamen, als andere starben?" fragte Millie. Da machte es bei Julius klick.
"Du hast verdammt recht, Mamille. So Wesen gibt's, die Seelen in sich einverleiben. Dementoren."
"Oha, lange nichts mehr von denen gehört. Kann echt auch so bleiben", seufzte Millie. Julius nickte und wandte dann ein, dass ja niemand wusste, wohin die letzten Dementoren geschafft worden waren, vor allem, um sie nicht für selbsternannte Erben Voldemorts verfügbar zu machen. Vielleicht hatte jemand den Aufenthalsort dieser Wesen gefunden und beschlossen, sie gleich auf einen Schlag zu erledigen, mit Incantivacuum-Kristallen.
"Natürlich, dieses Mittel steht ja zu Gebote", erwiderte Temmie. Dann diktierte sie Julius genau die Richtung und Höhenabweichung. Julius schrieb sich auch den Höreindruck dieses Todesschreies mit unterlegten Freudenschreien auf. Damit konnte er leider nicht zu Ornelle Ventvit gehen oder gar zu Vendredi, der ihn morgen früh wegen der Sache mit Nal durch die Mangel drehen wollte. Aber zu Camille konnte er damit gehen oder zu Catherine Brickston oder ihrer Mutter. Er entschied sich für Catherine.
"Bin mal kurz rüber in die Rue de Liberation", meldete er sich bei Millie ab.
"Bleib aber nicht zu lange weg, du wolltest Chrysope noch das Lied vom wandernden Mond vorsingen, hast du ihr gestern versprochen", erinnerte ihn Millie an seine Zusage an die Kleine, die dieses Lied gut zum Einschlafen nutzte.
Julius wechselte per Flohpulver aus Millemerveilles nach Paris, nachdem er sich bei Catherine angemeldet hatte. "Claudine ist wieder oben bei Laurentine?" fragte er, nachdem er Catherine zur Begrüßung umarmt hatte.
"Claudine hält Laurentine gut bei Laune, seitdem die ihren Großvater verloren hat. Aber du bist sicher nicht bei mir, um nach meiner Tochter zu fragen, wo du selbst zwei hast, die dir das Leben würzen", lachte Catherine. Julius nickte verhalten.
"Ach, mal wieder auf Weltrettungsmission unterwegs?" fragte Joe Brickston, der die Ankunft des ehemaligen Mitbewohners mitbekommen hatte.
"Nein, ich habe beschlossen, dass die Welt heute mal von wem anderen gerettet werden soll, Joe", erwiderte Julius.
"Und, ist deine Mum immer noch davon begeistert, drei Kinder gleichzeitig zu kriegen?" fragte Joe verächtlich.
"So wie du gerade drauf bist habe ich den Eindruck, dass sie dir die drei Kleinen in den Bauch rübergebeamt hat, damit du sie fertig austrägst. Echt, Joe, es muss dich doch selbst ankotzen, so missmutig rüberzukommen."
"Hast du 'ne Ahnung", knurrte Joe und wollte noch was sagen, als Catherine ihm mit einer von ihr selten erlebten Strenge in der Stimme sagte: "Joe, wo er jetzt hier bei uns ist. Er ist garantiert nicht hier, um sich dein frustriertes Genöle anzuhören, wie hinterhältig die Zaubererwelt ist und dass Martha es sich ja ausgesucht habe, von diesen Viehzüchtern zur Zuchtstute degradiert worden zu sein und dass du dich mir oder einer anderen Hexe nur noch im Keuschheitsgürtel nähern wirst und so weiter. Er ist hier, weil er mir was erzählen möchte, mit dem er nicht zu seinen Vorgesetzten gehen kann, weil sie es entweder nicht verstehen oder nicht wissen dürfen. Also geh wieder zu deiner Seifenoper und lass dich von den künstlichen Liebschaften und Intrigen berieseln."
"Ja, und Claudine lässt sich von Laurentine da oben weitermanipulieren, wie schön das ist, eine Hexe zu sein, damit die mir eines tages drei oder fünf Enkel auf einen Rutsch anbringt."
"Joe, ist jetzt in Ordnung. Wir sind nicht die bösen, und Claudine schon mal gar nicht", sagte Catherine. Dann zog sie Julius mit sich in ihr Dauerklankerker-Arbeitszimmer.
"Hör einfach nicht mehr hin, was er sagt, Julius! Zumindest hält er sich bei Claudine mit derartigen Sachen zurück. Aber jetzt zu dieser Sache, die deine ganz große Freundin dir mentiloquiert hat."
"Bevor ich das erzähl, Catherine, nur noch so viel zu Joes Miesepetertour: Ich wollte ihn nur begrüßen, und der pampt gleich los wie ein Schuljunge, der eine Klassenarbeit verhauen hat oder dem sein bester Freund die Freundin ausgespannt hat. Da musste ich drauf reagieren, weil du ja, wie du sagtest, wohl vieles überhörst. Gut, du bist mit dem verheiratet und musst das irgendwie mit ihm hinkriegen. Millie war während ihrer Schwangerschaften auch nicht jeden Tag frohgelaunt und ich auch nicht immer. Aber meiner Mutter vorzuwerfen, sie hätte sich die Sauerei mit der Drillingsschwangerschaft ausgesucht ist hundsgemein, und das musste ich dem gleich so zurückgeben, damit er es kapiert, dass mir sowas nicht an der linken Pobacke vorbeigeht. Das nur dazu. Vielleicht hat Temmie den Todesschrei der letzten Dementoren gehört. Ich habe das aufgeschrieben, was sie mir erzählt hat." Julius präsentierte Catherine seine Notizen. Sie nahm sie und machte vier Kopien davon. Das Original gab sie ihm zurück. "Meine Mutter kriegt eine, dann noch Professeur Delamontagne und der Ratssprecher der Liga gegen die dunklen Künste", erwähnte sie, wer die Kopien bekam. Dann besprach sie mit Julius, ob das zutreffen konnte. Er erfuhr, das nicht mal die Liga erfahren habe, wo die Dementoren hingeschafft worden waren, nur dass sie auf zehn Schiffen abtransportiert worden waren, die Schiffsführer aber mit Portschlüsseln zurückgekommen seien, als hätten sie sie auf offener See zurückgelassen.
"Ach, dann haben die die Schiffe wohl versenkt, nachdem sie die Dementoren irgendwo abgeladen haben", sagte Julius. "Hmm, könnten dabei irgendwelche Barriereartefakte auf den Meeresgrund gesetzt haben, um die Dementoren einzupferchen, wie das auch immer gehen soll."
"Ja, und nach all der Zeit hört Temmie einen vielhundertfachen Todesschrei", raunte Catherine. "Könnte sein, dass jemand den Aufenthaltsort erfahren hat und die Dementoren vernichtet hat. Könnte aber auch sein, dass Shacklebolt oder wer die Deportation durchgeplant und umgesetzt hat eine letzte Sicherung eingebaut hat, falls jemand unbefugtes in die Nähe der Dementoren kommt."
"Das die ohne Glücksgefühle und Menschenseelen so lange überleben können ist schon heftig", sagte Julius. Doch Catherine wusste darauf eine Antwort, die ihm schon wieder weh tat, so klar und deutlich war sie: "Kannibalismus, Julius. Alle räuberisch lebenden Tiere und Zauberwesen können ihm verfallen, wenn es keine ausreichende Nahrung für die Zahl der Hungernden gibt."
"Ja, schon heftig", erwiderte Julius, der sich an Berichte von zivilisierten Menschen erinnerte, die nur durch Kannibalismus überleben konnten. In der Zaubererwelt gab es sogar den Straftatbestand des transfigurativen Kannibalismus, wo Zauberer ihre Mitmenschen in Nutztiere verwandelten, um sie so skrupelloser schlachten und essen zu können.
"Super, dann könnten sich die letzten Dementoren auch gegenseitig angefallen und umgebracht haben, weil sie alle gleichstark waren", vermutete Julius.
"Nein, das denke ich nicht. Dann hätte Temmie und wer sonst noch alles diesen kollektiven Aufschrei nicht hören können, weil sie ja sonst jeden einzeln sterbenden Dementor hätte hören müssen. Es muss schon eine schlagartige Freisetzung von Magie im Spiel gewesen sein."
"Uah, es wird immer gruseliger, wo du gerade sagst "wer sonst noch", Catherine", sagte Julius. "Da laufen noch zwei wache Abgrundstöchter auf der Welt herum, und ob dieser Lord Vengor nicht auch was kann, um das zu empfangen... Wenn der die Sache nicht selbst angerichtet hat, sei es, dass er die Dementoren nicht für sich vereinnahmen konnte oder sich mit voller Kraft gegen sie wehren musste und dabei den Dementoren-Overkill ausgelöst hat oder weil durch seine bloße Anwesenheit die von dir erwähnte Sicherung losging."
"Deshalb möchte ich das ja gerne mit meinen Mitstreitern von der Liga besprechen", bemerkte Catherine dazu. Julius nickte. Dann meinte er noch:
"Vielleicht sollte das jemand dann mal Shacklebolt mitteilen, falls der das noch nicht weiß."
"Der hat das bestimmt schon mitbekommen, wenn er die Sicherung eingerichtet hat", sagte Catherine zuversichtlich. Dann meinte sie noch: "Abgesehen davon ist dann zu klären, wer von dem Aufenthaltsort der Dementoren wusste. Wenn es nur Ministeriumsleute waren, hätte er einen Maulwurf in seinem Garten."
"Ja, das könnte sein, wenn es nur Leute aus dem Ministerium wussten", erwiderte Julius.
"Wo du schon einmal hier und in diesem Raum bist, Julius", holte Catherine zu einem Themenwechsel aus. "Diese Anhörung morgen früh, wo sie dich hinzitieren, ist das nur wegen dieser grünen Gurgha oder auch wegen der Konfrontation mit diesem Vollstreckerkommando dieser Vita-Magica-Bande?"
"Angesetzt ist das wegen der grünen Gurgha, weil ich Monsieur Vendredi widersprochen habe. Aber weil dessen Zeugen zum Teil wegen dieser Babymacher-Gangster abhanden gekommen sind könnte er mir das auch noch um die Ohren hauen, dass ich das doch bitte hätte verhindern sollen und so."
"Vendredi hat lange gebraucht, bis er auf dem Stuhl sitzen durfte, auf dem er jetzt sitzt. Und er merkt jeden Tag, wie heftig der wackelt, überhaupt jeder Stuhl eines Abteilungsleiters. Deshalb will er natürlich zeigen, dass er alles und jeden in seiner Abteilung unter Kontrolle hat. Da will er jetzt an dem, der was kann, was er nicht kann, ein Exempel statuieren. War mir klar, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Dass er schon so früh kommt habe ich nicht erwartet."
"Will sagen, er will mich vor die Wahl stellen, entweder brav nur das zu machen, was er sagt und nichts gegen seine Entscheidungen zu sagen oder mir eine neue Anstellung suchen, jetzt wo ich zwei Kinder zu versorgen habe."
"Ob er das will weiß ich nicht, weil ich seine Gedanken nicht lesen kann, Julius. Aber in die Richtung könnte es gehen. Lass dich bitte nicht so provozieren wie gerade von Joe", gab ihm Catherine als unerbetenen Rat mit. Julius versprach, erst einmal abzuwarten. Dann fragte er, wie sie mit Laurentine zurechtkam, wo Joe offenbar beschlossen hatte, die Zaubererweltwieder ganz scheußlich zu finden.
"Ich schicke ihr Claudine immer hoch, wenn sie wach genug ist und rede mit ihr auch lange über Familienbeziehungen in der Zaubererwelt. Jetzt, wo ihre Eltern ganz nach Französisch-Guayana umgezogen sind und ihre deutschen Verwandten nach der Trauerfeier nichts mehr von sich haben hören lassen fragt sie sich immer wieder, ob sie was falsch gemacht hat oder was sie tun muss, um mehr Kontakt mit ihren Leuten zu haben. Aber das kannst du sie gerne selber fragen. Claudine muss gleich eh ins Bett. Dann kannst du sie mir wieder zurückbringen."
"Wieso, kommt die nie freiwillig wieder runter?" fragte Julius.
"Freiwillig nur, wenn sie sich von Laurentine oder mir noch eine Fruchtschaumschnecke erbitten kann. Die weiß schon genau, wie der Besen bestiegen wird. Nur wenn Maman hier ist ist sie schön artig wie ein Kuschelpüppchen."
"Und du kriegst das nicht hin?" fragte Julius keck.
"Wenn ich muss dann ja, und sie sieht auch vieles schon ein, dass sie nicht mit hochgezogenem Rock durch den Flur rennt, wenn sie mal muss und dass sie bei größeren Geschäften gründlich spülen muss und einiges wichtige mehr. Aber du kannst sie dir gerne angucken und dann zu mir zurückbringen. Aber komm ihr bitte nicht mit irgendwelchen Angstmachereien. Das macht Joe schon zu oft, wenn ich nicht da bin. Ich weiß nicht, was das soll, als wenn sie dadurch vernünftiger wird."
"Okay, ich erzähle ihr nicht, dass ein großes böses Monster sie frisst, wenn sie nicht vor zehn Uhr im Bett liegt", sagte Julius. Catherine kniff ihm in die Nase und sagte: "Wir zwei kennen zu viele böse Monster, die sich nicht um die Uhrzeit scheren, wenn sie wen fressen wollen. Muss Claudine noch nicht so jung wissen." Julius nickte zustimmend.
Als er vor Laurentines Wohnungstür stand - er hatte nicht den Kamin benutzt - hörte er keine Musik, sondern wie Laurentine etwas vorlas, was sehr wissenschaftlich formuliert klang. Julius fragte sich, ob sowas für eine bald fünfjährige gut zu verdauen war, auch weil es um das Verdauungssystem des Menschen ging. Er betätigte die Klingel. Laurentine unterbrach ihre Vorlesung und meinte: "Ist bestimmt deine Maman, die möchte, dass du wieder runtergehst."
"Och nöh!" erwiderte Claudine. Laurentine lachte nur und kam zur Tür.
"Ach nein, der Papa von Aurore und Chrysie ist da", flötete sie, bevor sie die Tür öffnete.
"Huch, du hast keinen Türspion", sagte Julius, bevor er Laurentine in die Arme nahm, wie sich das in Frankreich gehörte.
"Ich habe in die obere Türhälfte einen Bildverpflanzungszauber eingeprägt, damit ich mitkriege, ob Catherine oder Joe vor der Tür sind. Aber komm rein. Bist du den weiten Weg von Millemerveilles gereist, um mich zu besuchen?" fragte Laurentine höchst erfreut. Julius musste eine Sekunde überlegen, wie er antworten musste, ohne zu lügen und ohne ihr zu verraten, was er wirklich hier erledigt hatte. "Ich musste noch was mit deiner Vermieterin besprechen, was ich morgen bei dieser Anhörung sagen oder nicht sagen soll, weil sie da wohl schon gewisse Erfahrungen mit hat. Das ging in ihrem Arbeitszimmer besser als über den Kamin", sagte er und hatte damit nicht gelogen, weil sie ihn ja wirklich wegen der Anhörung angesprochen hatte. "Ja, und weil sie deshalb was jetzt erst erledigen kann soll oder darf ich Claudine begrüßen und fragen, ob sie noch weiß, wo ihr Bett steht."
"Dann komm mal rein. Wie lange hat Millie dir freigegeben?"
"Hmm, mal die Uhr fragen", sagte Julius und sah auf seine silberne Weltzeituhr. "Ui, in zehn Minuten möchte sie mich wiederhaben."
"Ich weiß wo mein Bett is', bin aber noch zu wach dafür", trällerte Claudine. Dann zwinkerte sie Julius mit ihren saphirblauen Augen an. "Eh, Julius, hast du auch Endosimboniten im Bauch?"
"Endo-, wa-has", lachte julius, bevor ihm klar wurde, was Claudine wirklich meinte. "Endosymbionten habe ich im Bauch, besser unten im Popo, alles kleine Bakterien, die fleißig helfen, dass das, was ich gegessen habe ganz durchverdaut wird, damit ich nicht verhungern muss. Außerdem verhauen die die bösen Bazillen, die ich irgendwie runtergeschluckt habe, so dass ich nicht so leicht krank werden kann. Und wenn es von denen zu viele sind und nichts mehr weiterverdaut werden kann geh ich aufs Klo: Pups, platsch, brauner Matsch!"
"Die Laurentine sagt mir, dass wir alle so ganz kleine Dinger drin haben. Dabei hat meine Maman mir erzählt, dass nur die kleinen Babys bei ihrer Maman im Bauch wohnen, bis sie gebohrt werden."
"Ich habe das gehört, dass Tante Laurentine ..." Laurentine räusperte sich sehr laut und funkelte Julius an. "Öhm, also die Laurentine, zu der größere Kinder und ganz große auch Mademoiselle Hellersdorf sagen, dir aus einem Buch über Essen und Verdauen was vorgelesen hat."
"Die kleine wilde Motte hier wollte wissen, was ich da lese, nachdem wir unsere tägliche Musikstunde durch hatten", lachte Laurentine. "Muss morgen und übermorgen den Viertklässlern erzählen, wie die menschliche Verdauung geht, weil deine Maman Sandrines Maman was aufgeschrieben hat, dass sie das mit denen von vor Beauxbatons mal durchgenommen hat. Da habe ich ihr das vorgelesen. Aber die hat sich nicht gelangweilt, sondern ganz genau zugehört."
"ich habe doch genug Heilerbücher im Schrank, und auch eins über Kinder von vor dem Gebohrtwerden bis zwölf oder dreizehn Jahren."
"Ja, weiß ich. Aber die brauchst du doch gerade mehr als ich", sagte Laurentine. "Auf jeden Fall hat Claudine sich über das Wort "Endosymbionten" amüsiert, auch wenn das für sie irgendwie komisch ist, dass es Sachen gibt, die so klein sind, dass sie die nicht sehen oder anfassen kann."
"Also liest du einer Vierjährigen was vor, um zu sehen, ob du das Viertklässlern aus der Grundschule erklären kannst. Auch eine interessante Taktik", sagte Julius. "Hmm, gab es dazu nicht auch mal so eine Zeichentrickserie, wo das alles erzählt wird, wie es im Körper zugeht?"
"Die habe ich schon auf DVD bei diesem Internetladen bestellt, der sich Amazon nennt", lachte Laurentine. Dann deutete sie auf die Tür und sagte: "Du hast es gehört, Claudine, Julius muss in jetzt noch acht Minuten wieder zu Hause bei Millie und Aurore und Chrysie sein."
"Dann kann der mich doch mitnehmen, kann ich Aurore guten Tag sagen und Chrysie das Lied von Lolita vorspielen."
"Neh, lass besser Claudine. Chrysie kann nur bei Liedern vom Mond einschlafen. Deshalb muss ich nach Hause zurück, um ihr das Lied vom Wandernden Mond zu singen. Dann kann die gut schlafen und wir dann auch. Und wenn ich gut schlafen kann kann ich morgen früh auch gut zur Arbeit hingehen und Geld für sie, Aurore und mich verdienen, um was zu essen zu kaufen, damit wir nicht verhungern müssen."
"Und Millie kann das nicht singen?"
"Nicht wenn Chrysie noch bei ihr trinken möchte, damit die nicht Hunger hat und nicht schlafen kann. Deshalb singe ich", sagte Julius.
"Ooh!" machte Claudine. Dann sah sie Julius sehr entschlossen an. "Gut, dann geh ich runter, damit Chrysie und ihr morgen was zu essen habt."
"Ich bring dich runter", sagte Julius. Doch Claudine wischte an ihm vorbei, hüpfte, um an die Türklinke zu kommen, stieß die Wohnungstür auf und wuselte schneller die Treppe hinunter, als Julius "Gute Nacht, Claudine!" rief. Sie rief noch: "Nacht, Julius!" zurück, bevor sie an die untere Wohnungstür klopfte. Catherine hatte schon hinter der Tür gelauert und schnappte sich ihre kleine Tochter mit einem fröhlichen Lachen.
"Ich sage Laurentine noch Auf wiedersehen und komme dann wieder runter!" rief Julius nach unten.
"Du kannst auch bei ihr oben durch den Kamin, wenn du möchtest. Nacht, Julius. Du darfst mir deine Süßen grüßen."
"Mach ich, Sweety", erwiderte Julius keck. Doch das kam bei Catherine offenbar falsch an.
"Sag bitte nicht Sweety zu mir. Drei erzählte Tage lang in grobe Windeln machen und auf einem Quietscheschnuller herumnuckeln und sich von der großen Schwester Winny albernes Zeug anzuhören hat mir gereicht. Sei froh, dass dieser Spuk jetzt endgültig erledigt ist!" Julius nickte ihr zu. Er kannte Winnys wilde Welt. Fast wäre er bei Aurora Dawn in dieses Verhexte Buch hineingezogen worden. Als gerade ein halbes Jahr altes Baby bis Winny Müde genug war wollte er dann doch nicht seine Zeit vertun."Also, ich darf dir in Ruhe Auf Wiedersehen sagen und dann durch den kamin bei dir", wandte sich Julius an Laurentine.
"Hast ja noch sechs Minuten", grinste Laurentine, bevor sie übergangslos ernst zu ihm aufblickte: "Öhm, wegen eben: Ich habe es Claudine beigebracht, dass sie mich beim Vornamen ohne Tante davor anreden soll. Wo ich keine Geschwister mit Kindern habe muss keiner zu mir Tante sagen. Hat mich schon damals angenervt, zu jeder mir total widerlichen Frau aus dem Bekanntenkreis meines Großvaters Tante sagen zu müssen, wo das so eine wichtige Anrede ist. Deshalb sagt hier keiner im Haus Tante Laurentine zu mir. Nur, damit du das verstehst, warum das eben gelaufen ist."
"Habe ich mir schon gedacht", erwiderte Julius abbittend. "Ich kenne das leider nur nicht anders, dass kleine Kinder zu allen die nicht Mamam und Papa heißen Onkel und Tante sagen müssen, bis Catherine und Joe das mir erzählt haben, dass ich sie nicht mehr so anreden soll."
"Deshalb hat Catherine das auch kapiert. Nur Joe meinte, dass sich das so gehöre, zumindest für fünfjährige Mädchen, die mit erwachsenen Frauen sprechen, damit sie wisse, dass ich nicht ihre große Schwester bin."
"Höh, die hat doch eine große Schwester", wunderte sich Julius. "Das hat die doch schnell kapiert, wo da der Unterschied ist."
"Genau wie eben, wo die sofort gepeilt hat, dass du nur dann deine Frau und die Kleinen satthalten kannst, wenn Chrysie euch gut genug schlafen lässt. Ich frage mich, wie so ein aufgewecktes und zu dem soziales Kind zu so einem miesepetrigen Vater gekommen ist."
"Das frage ich mich auch immer wieder, wenn ich die beiden miteinander vergleiche", grummelte Julius. "Babette hat mich früher angenervt. Aber als sie und ich wussten, dass wir über dieselben Sachen reden können - von Sex mal abgesehen -, wurde sie doch irgendwie umgänglich. Und Millie und ich kriegen ja immer noch briefe aus Beauxbatons von ihr, jetzt vor allem Millie, weil sie jetzt mehr über Mädchen- und Frauensachen was wissen will, die sie ihre Mutter nicht fragen will."
"Ich kann mit Joseph Brickston nur auf einer Ebene Klarkommen, und zwar "Guten Morgen, guten Tag, guten Abend und gute Nacht, Joe." Catherine meinte, das sei wohl ein taktischer Fehler gewesen, ihm zu sagen, dass deine Mutter drei Kinder erwartet und warum das so ist. Seitdem ist der auf uns Hexen nicht mehr gut zu sprechen."
"Warum meine Mutter drei Kinder im Bauch hat ist doch logisch: Weil sie den elften September überlebt hat", stieß Julius verdrossen aus. "Der ist Informatiker. der muss doch logisch denken können. Gut, meine Mutter hat die Logik auch irgendwann nicht mehr als wichtigste Lebenshilfe angesehen. Aber mit Catherine läuft's weiter gut?"
"Sonst würde sie mir die Kleine nicht immer wieder hochschicken. Die merkt halt, dass ich wegen Opa Henri und der Kiste mit dessen zänkischen Krawallschwestern und weil der Rest der Verwandtschaft nach der Beisetzung nichts mehr von sich hat hören oder lesen lassen nur noch zwischen der Schule und meinem Wohnzimmer hin und herpendel. Na ja, zwischendurch nimmt sie mich auch mit, wenn sie mit Claudine durch die Rue de Camouflage tourt. Da treffe ich dann auch mal alte Kameradinnen wie Céline oder Jasmine. Dass Irene Pontier André auf den Besen gehoben hat weißt du schon?"
"Öhm, nöh, das ist gerade total neu für mich", erwiderte Julius perplex.
"Ja, das ist wohl deshalb so, weil die beiden sich im letzten Herbst bei einem Spiel der Lyonaiser Löwen erst in ein Fass Met versenkt haben und am nächsten Morgen ganz naturbelassen gekleidet nebeneinander aufgewacht sind und Irene danach behauptet hat, sie hätte noch mitbekommen, dass André sich über sie hergemacht hat. Tja, und weil sie jetzt einen kleinen Pontier im Bauch hat, der im Mai ans Licht kommen möchte hat sie André vor vielen Leuten in der Rue de Camouflage auf den Besen gehoben."
"Tolles erstes mal", grummelte Julius. "Ich war dabei aber stocknüchtern und erinnere mich deshalb an alles."
"Kann mir auch vorstellen, dass Irene ihm das Kind als seins unterjubeln will, weil Andrés Opa väterlicherseits ihm eine Menge Galleonen schenkt, wenn er mit zwanzig sicher verheiratet ist. Könnte ihr nur passieren, dass Andrés Großpapa die Schenkung widerruft, weil er keinen Sex vor der Ehe honorieren will. Aber dann ist Irene immer noch schwanger. Ach und dass Céline zwei Jungs ausbrütet weißt du sicher."
"Das weiß ich", erwiderte Julius. Dann sagte er: "Überall neue Kinder. Am Ende behauptet Irene noch, die Vita-Magica-Bande hätte sie mit André zusammengetrieben."
"Die hat nur ein Kind unten drin, Julius", grinste Laurentine schadenfroh. Julius nickte verhalten. Dann kam Laurentine noch mal auf die Anhörung, ob das wirklich der Grund für seinen Besuch bei Catherine war. Er bestätigte, dass er schon damit hadern müsse, ob er unter den Umständen, wie Vendredi sie ihm biete noch bei ihm arbeiten wolle. Mit Ornelle kam er zwar sehr gut aus und auch mit Fleurs Vater Pygmalion. Doch was brachte eine gute Bürogemeinschaft, wenn wer auf der Abschussliste vom Vorgesetzten stand.
"Gut, ob ich dieses Riesenweib am Leben gelassen hätte weiß ich nicht. Aber mich für jeden Dreck einspannen zu lassen hatte ich auch nicht vor. Aber Nathalie Grandchapeau tut jetzt so, als wäre das mit den Vigniers damals nur ein bedauerlicher Unglücksfall gewesen, der absolut nicht die wirklichen Errungenschaften ihrer Abteilung repräsentiert. Wie du das aushältst, anderer Leute Erinnerungen umzustricken, nur weil sie nicht zaubern können weiß ich nicht. Aber für mich war da die berühmte rote Linie."
"Gut, bei dem, was da alles dranhing war klar, dass dich das moralisch mitnehmen musste. Da hätten die auch wesentlich feinfühliger drauf reagieren müssen, sagt Madame Rossignol."
"Kann und will ich jetzt nicht mehr ändern. Ich wollte dir nur sagen, dass du nur einen hast, der dir sagen soll, was richtig und was falsch ist, und das ist dein Gewissen. Gut, du hast Familie und musst irgendwie legal an Geld kommen. Damit haben sie dich, wenn ich diesen undamenhaften Ausdruck mal verwenden darf, an den Eiern. Aber Das sollte dich aber nicht hindern, was gleichwertig einträgliches zu finden. Die Heiler wollen dich doch immer noch anwerben, sagt Hera Matine und meinte, dass du mit deinen Kenntnissen und Fähigkeiten bei denen auch mehr Anerkennung finden würdest."
"Huch, du redest mit Hera Matine? Du bist doch nicht auch schwanger", erwiderte Julius.
"Kam ich nicht drum herum, weil einer der Zweitklässler meinte, vor dem Unterricht dreißig Bananen mit Honig zu verputzen und dann die große Kübelei anfing. Da habe ich lieber die Heilerin geholt, bevor mir dem seine Eltern stümperhaftes Verhalten vorwerfen konnten. Da habe ich nach der Stunde mal länger mit ihr gesprochen, wie ich solche Situationen meistern könne und auch, wie es mir selbst gehe und ob ihr aus meiner Klasse noch viel mit mir zu tun habt. - Öhm, oh, deine Minuten sind alle", sagte sie noch schnell und deutete auf die Uhr.
"Ui, hast recht. Dann fauche ich schnell nach Hause, um meiner ganz kleinen Tochter noch das Lied vom wandernden Mond zu singen und dann noch ein wenig meine Endosimboniten zu füttern, Mampf - mampf!"
"Dann grüße an die Süße und die kleinen Wonneproppen!" lachte Laurentine.
"Soso, dann hast du noch ein wenig mit Claudine geplaudert, und die ist sofort runter, als du ihr erzählt hast, dass wir Chrysie und Aurore nur satt halten, wenn Chrysie uns beide nachts gut schlafen lässt?" fragte Millie.
"Eigentlich durfte ich das so nicht rüberkommen lassen, weil Catherine mir untersagt hat, ihr Angst zu machen."
"Hatte sie denn Angst, als sie runterlief?" Julius schüttelte den Kopf. "Die ist an mir vorbeigeflitzt, das muss ich noch lernen, kleinen Mädchen dann noch nachzufolgen, bevor Aurore oder später Chrysie richtig gut laufen können. Aber Spaß gemacht hat mir das, und Laurentine auch. Ähm, wusstest du das von Irene Pontier schon?"
"Was? Achso, dass die euren André auf den Besen gehoben hat, weil sie angeblich von dem wen kleines im Bauch hat? Habe ich erst heute von Caro gehört. Die sucht ja auch nach wem, der sie aus Papas Schenke herausholen kann. Aber wo du weg warst hat Tine ihren Kopf zu uns reingesteckt. Sie hat auch ein Mädchen in Aussicht. Sie soll aber nicht Messaline heißen, sondern Héméra, nach ihrer Klassenkameradin. Da war wohl eine Wette, dass die erste, die ein Mädchen kriegt dem den Namen der Freundin gibt."
"Und was sagt Alon dazu?" fragte Julius.
"Der freut sich, weil er befürchtet, dass Tines oder meine Söhne Papas Kleinwüchsigkeit erben könnten. Das hat Tine nicht so gefreut, weil sie auch gerne einen Jungen gehabt hätte, allein schon, weil sie mir dann wieder voraus wäre, Schwesternkäbbeleien halt, lernst du auch noch kennen, wenn Martha mindestens zwei Mädchen in Ausicht haben sollte."
"Tja, viele neue Erdenbürger", feixte Julius.
Als sie dann im Bett lagen meinte Millie noch: "Und mach dir jetzt keinen Kopfmehr um die Sache mit den Dementoren. Du brauchst morgen genug Ausdauer, um Vendredi zu überstehen. Catherine hat leider recht, dass die meisten Abteilungsleiter aus lauter Angst meinen, immer mal wieder hart durchzugreifen. Ma und Tante Babs müssen auch immer aufpassen, nicht in diese Umgangsfalle zu treten und die unbeugsamen Chefinnen herauszukehren. Nacht, Monju!"
"Nacht, Mamille", erwiderte Julius und küsste seine Frau zur guten Nacht.
Es war noch früh am Morgen, gerade erst fünf Uhr britischer Zeit, als die Streifenbeamten der Londoner Stadtpolizei Hank Bradley und Theobald Hamilton auf ihrem Rundgang durch den ansonsten menschenleeren Hyde-Park die berühmte Ecke für freie Redner erreichten. Einzelne Podeste standen noch vom Vortag. Jede Menge Einwegflaschen lagen mal wieder in den sorgfältig gestutzten Büschen. Da würden sich die Parkaufseher freuen, dachte Bradley. Dann fiel ihm ein dunkles Etwas auf, dass halb in einer Hecke hing. Das Etwas war so groß wie ein erwachsener Mensch, schluckte jedoch alles Licht. Theobald Hamilton ließ den Lichtkegel seiner starken Taschenlampe über den Fund tasten. Doch das Licht wurde vollständig verschluckt, als habe hier jemand ein schwarzes Loch in die Landschaft geschlagen. Zumindest konnten die beiden Bobbies erkennen, dass der Fund menschliche Gestalt besaß. Doch es war keine Leiche. Davon hatten die zwei Beamten schon mehr als genug zu sehen bekommen, vor allem Wasserleichen oder die zerschmetterten Körper von lebensmüden, die von Dächern oder Brücken in den Tod gesprungen waren.
"Geben wir das gleich durch. Da liegt eine total schwarze Statue", sagte Bradley, der der dienstältere und damit Streifenführer war. Er griff zu seinem Funkgerät und rief die Zentrale. Dort wollte man wissen, ob es sich um einen mit schwarzer Farbe bestrichenen Toten handelte oder tatsächlich um eine Statue. Hamilton prüfte es nach, indem er behutsam um den Körper herumging. Dann blickte er in das Gesicht des halb hängenden Standbildes. Es war von Schmerz und Entsetzen gezeichnet und wies eindeutig afrikanische Merkmale auf. Hamilton ignorierte die geltende Vorschrift, einen Fund- oder Tatort nicht zu verändern. Er griff nach dem erstarrten Gesicht und fühlte unvermittelt ein sanftes Kribbeln durch die Hand gehen. Dazu fühlte sich das Ding auch noch eiskalt an, ohne jedoch die übliche Eiseskälte zu verströmen. Das unheimlichste aber waren die Gedanken, die Bradley in den Sinn kamen: "Hol Kingsley Shacklebolt, Nachtwächter!" Hamilton ließ die unheimliche Statue los. Die fremden Gedanken verstummten. Dann berührte er sie noch einmal. "Schaff mich zu Shacklebolt, du blöder Muggel!" dröhnte nun die tiefe, sonore Stimme eines Mannes höchst verärgert in seinem Kopf. Hamilton ließ sofort wieder los. Er blickte auf seine Finger, die blau angelaufen waren, als hätte er sie über Minuten in eiskaltem Wasser gebadet. Er wandte sich Bradley zu und deutete auf das Funkgerät. "Rufen Sie nach Scotland Yard. Hier ist was, was mindestens drei Nummern zu groß für uns ist."
Als auch Bradley den Kristallkörper berührte und wie sein Kollege die unheimliche Stimme im seinem Kopf gehört hatte zog er sein Mobiltelefon und wählte die Durchwahl zum Yard.
"Hier liegt etwas, das mit einem gewissen Kingsley Shacklebolt zu tun haben soll. Prüfen Sie bitte nach, wer damit gemeint ist und schicken Sie bitte das technische Team von Ihnen her!"
Knapp zwanzig Minuten später trafen zwei Beamte von Scotland Yard am Fundort ein. Sie begutachteten die Statue. Als der ältere Beamte sie anfassen wollte hielt sein jüngerer Kollege ihn zurück. "Nicht anfassen, ist sicher mit gefährlichen Substanzen behaftet." Doch weil der Kollege das nicht hinnehmen wollte blieb dem zweiten Yard-Beamten nur, in sein linkes Hosenbein zu greifen und einen dünnen Holzstab daraus hervorzuziehen. Diesen reckte er blitzartig nach oben und rief "Sensofugato!" Ein gleißendes Licht und ein überlauter Knall folgten diesem Ausruf. Die drei Beamten fielen betäubt zu Boden. Um sicherzustellen, dass sie noch eine Weile weiterschliefen beschoss der jüngere Yardbeamte sie noch mit je einem roten Lichtstrahl. Dann zeichnete er mit seinem Stab geheimnisvolle Figuren über der Statue, bis aus dieser unvermittelt schwarzer Dunst hervorbrach und sich bis zum Standplatz des als Yardbeamter getarnten Zauberers ausdehnte. Dieser erschien unvermittelt in einem hellblauen Strahlenkranz, worauf der schwarze Dunst so schnell wich, wie er entstanden war. Dann drehte sich der Zauberer auf einem Absatz um und verschwand mit einem vernehmlichen Knall. Keine Minute später tauchten aus dem Nichts heraus zehn Zauberer in ihrer üblichen Aufmachung mit Umhang und Spitzhut auf. Darunter waren ein hochgewachsener Mann mit feuerrotem Haarkranz und Brille, ein noch recht junger Mann, der jedoch die Selbstsicherheit eines leitenden Beamten ausstrahlte und vor allem ein hochgewachsener, dunkelhäutiger Mann mit Glatze, von dessen linkem Ohr ein goldener Ring herabbaumelte.
"Verdammt, das ist er", brummte der Dunkelhäutige und beugte sich behutsam herunter, bis sein Ohrring wild vibrierte und winzige Eisstückchen daran erschienen.
"Nur mit Antifluchhandschuhen anfassen. Sofort in die Mysteriumsabteilung. Vorgang Stufe S9!" blaffte er. Sofort zogen sich die Zauberer silberne Handschuhe an und hoben die schwarze Statue auf. Dabei sprühten blaue und violette Funken zwischen den Fingern der Zauberer. "Logan, Sie versehen die drei Nichtmagier mit der Erinnerung, dass ein Sondereinsatzwagen des Yard diesen Fund abgeholt hat!" befahl der noch junge Mann im marineblauen Umhang. Der Zauberer, der vorhin die drei Polizisten betäubt hatte, trat aus der Truppe heraus und bestätigte den Befehl.
"Das kann nicht dieser Kristall sein, Kingsley. Aber vom Gesicht her könnten das Sie sein", seufzte der Rothaarige.
"Nein, nicht ich, Arthur, mein kleiner Bruder Matthew ist das, und nein, ich weiß nicht, wie der ganze Körper kristallisiert wurde. Aber er wurde es, in drei Gorgonen Namen", knurrte der kahlköpfige Zauberer mit dem Ohrring. "Ich weiß nur, dass eine zerstörerische Aura diesen Körper umgibt, der sich keiner länger als nötig aussetzen sollte."
"Näheres bei mir im Büro. Sie kommen auch, Tim!" brummte der Ohrringträger und winkte dem Mann in Marineblau zu. Dieser nickte.
Zusammen mit der schwarzen Statue verschwanden die Zauberer im Nichts. Die betäubten Polizeibeamten erwachten fünf Minuten später. Sie erinnerten sich nur daran, dass ein gepanzerter Wagen vom Yard die Statue mitgenommen hatte. Einer der Beamten hatte was von einem gestohlenen Kunstwerk aus Ägypten erwähnt, die Statue eines Nubiers. Mehr wussten die Bobbies und der Yardbeamte, der die Gegend noch sichern sollte nicht mehr.
Dreißig Minuten später trafen der Zaubereiminister, Strafverfolgungsleiter Weasley und Muggelkontaktbüroleiter Abrahams im Büro des Ministers zusammen. "Ja, es ist mein Bruder Matthew, den ich wegen möglicher Entführung oder Beihilfe zu bevorstehenden Verbrechen habe suchen lassen", eröffnete Shacklebolt den beiden Mitarbeitern und erzählte ihnen, dass Matthew in der Besenmanufaktur von Nimbus arbeitete, weil diesem eine Karriere als Auror versagt geblieben war, weil er mit Zaubertränken auf dem Kriegsfuß stand und auch in Verwandlungen den UTZ verfehlt hatte. Dass das ihm so zusetzen würde, dass er sich fragwürdigen Leuten, namentlich diesem Lord Vengor zuwenden würde, hatte Kingsley nicht bedacht.
"Das haben die Potters damals auch nicht vermutet, dass ihr bester Freund Peter Pettigrew ein Verräter war", wandte Arthur Weasley ein. "Ja, und Janus Didier hat seinen eigenen Bruder ermordet, weil er es hasste, von diesem immer überflügelt zu sein", schlug Tim Abrahams in dieselbe Kerbe. Kingsley Schacklebolt grummelte verärgert, musste aber zustimmend nicken. Dann sagte er:
"Offenbar hat dieser Verbrecher Vengor ihn aber nun nicht mehr nötig gehabt und ihn ganz frech vor unserer Haustür abgeladen. Aber wenn ich die Aussagen der Bobbies richtig verstehe ist diese Statue nicht wirklich unbelebt oder besser, sie ist noch beseelt. Deshalb bitte ich mir strengstes Stillschweigen gemäß Geheimhaltungsstufe 9 aus, Gentlemen."
"Kann es sich dabei um einen Fluch handeln, der aufgehoben werden kann?" fragte Weasley. Shacklebolt schüttelte den Kopf. "Ein Fluch ist es wohl, aber keiner, der sich mit ein paar Zaubersprüchen aufheben lässt."
"Vielleicht geht Alraunentrank", schlug Abrahams vor.
"Wird geprüft", sagte Shacklebolt. Doch als ein bunter Memoflieger in das Büro schwirrte mussten sie die Hoffnung begraben, Matthew Shacklebolt wieder zum Leben zu erwecken. Der Alraunentrank war wie Dampf auf einer glühenden Metallplatte verflogen. Außerdem war festgestellt worden, dass die Kristallstatue jedem in Sichtweite Tagesausdauer entzog, ja womöglich auch Lebenszeit. Shacklebolt erinnerte sich an die Berichte aus Japan über jene, die unter Hiroshima und Nagasaki diese schwarzen Kristalle gefunden hatten. Ein kleines Kind hatte diese durch bloße Berührung zu Staub werden lassen. Doch wenn die Statue wirklich beseelt war erschien das zu gefährlich. Er überlegte, ob er sie in der Todesabteilung unter Verschluss nehmen sollte. Da kam ihm eine noch bessere Idee. Er fuhr mit Tim Abrahams und Arthur Weasley in seinem Privataufzug bis hinunter zur Mysteriumsabteilung. Dorthin ließ er die schwarze Statue schaffen. "Nur die beiden und ich bringen sie rein, Webley!" befahl Shacklebolt, der nun wie Weasley und Abrahams die silbern beschichteten Schutzhandschuhe trug. Sie fühlten, wie etwas trotz dieser Maßnahme Kraft aus ihren Körpern sog.
Auf einer Trage schleppten die drei Zauberer die Kristallstatue durch den Gang mit der schwarzen Tür und durch den Runden Raum mit den vielen Türen, bis sie auf Shacklebolts Zeichen eine der Türen aufstießen. Sie betraten jene Abteilung, in der einst Harry Potter und seine Freunde mit den Todessern gekämpft hatten, dort, wo das große steinerne Tor mit dem unheimlichen Schleier aufgebaut war, jenes Tor, durch das der unschuldig in Askaban eingesperrte Sirius Black gestürzt war. Hinter dem meterlangen Schleier erklangen beim Eintreten der drei leise flüsternde Stimmen. Kingsley fühlte einen kalten Schauer den Rücken hinablaufen. Er war schon einige Male hiergewesen und hatte die leisen Stimmen nur gehört, wenn er sich dem verhängnisvollen Tor genähert hatte. Doch jetzt wollte er nicht mehr zurück. Er gab das entscheidende Kommando: "Durch das Tor mit ihm! Retten können wir ihn eh nicht mehr."
Die drei Zauberer verfielen in einen schnelleren Lauf. Dann, keine vier Meter mehr vom Tor entfernt, entströmte der Statue wieder schwarzer Nebel. "Antiscotergia!" rief Shacklebolt mit gezücktem Zauberstab. Blaues Licht flutete durch den Saal und drängte den schwarzen Dunst zurück. Doch dieser verflüchtigte sich nicht, sondern zog sich in den Kristallkörper zurück. Dann waren sie am Tor. Mit einem gemeinschaftlichen Schwung warfen sie die Trage mit Inhalt durch den Schleier hindurch. Im selben Moment gellte ein markerschütternder Schrei durch die große Halle. Alle drei wussten, dass sie diesen Schrei nie mehr im Leben vergessen würden, ja womöglich von ihm aus wilden Träumen aufgeschreckt werden mochten. Doch es war nicht nur der das Blut gefrierende Schrei. Als der zu schwarzem Kristall gewordene Matthew Shacklebolt durch den Schleier stürzte, schossen schwarze Dampfstrahlen aus dem Körper heraus. Die Dunststrahlen wurden innerhalb eines Lidschlages zu schattenhaften Gesichtern, Gesichtern von männern, Frauen und Kindern, die qualvoll dreinschauten, bis ihre Gesichter im Wirbel des schwarzen Dunstes verwehten. Dann tauchten übergangslos bleiche, von bläulichem Schimmer umflossene Gestalten zwischen den Torsäulen auf, Erscheinungen nicht mehr von dieser Welt. Die drei erkannten die Gesichter, es waren alles Vorfahren von Artuhr Weasley, Tim Abrahams und Kingsley Shacklebolt. Sie fuchtelten mit ihren Händen durch die schwarzen Dunstfetzen, während die Statue Matthew Shacklebolts immer kleiner und Kleiner wurde. Sie gaste regelrecht aus. Und jeder Dunsthauch, der ihr entwich zeigte das Gesicht eines zu Tode gepeinigten Menschen, bevor es von den Erscheinungen der verstorbenen Vorfahren regelrecht ausgewischt wurde. Dann zerplatzte die auf Handgröße eingeschrumpfte Statue, und silbergrau erschien die gespenstische Erscheinung Matthew Schaklebolts. Diese deutete auf Kingsley: "Du Haufen Drachenscheiße! Ich will dich nie mehr wiedersehen!" schrie Mat Shacklebolt, bevor er von den Armen einer großen, fülligen Frauengestalt umschlungen und nach hinten weggezogen wurde. Da erstarb der Rest des grauenvollen Aufschreis, und der unheimliche Schleier fiel laut rauschend wieder zwischen die Torsäulen.
"Danke, dass du ihn zu uns gebracht hast, mein Sohn", erklang wie aus unendlicher Ferne die Stimme einer älteren Frau zu Kingsley Shacklebolt und seinen Begleitern durch.
"Zumindest ist er unschädlich gemacht", meinte Arthur Weasley dazu. Die beiden anderen nickten nur. Dann verließen sie schweigend die Mysteriumsabteilung. "Das hier war jetzt Stufe S10", grummelte Shacklebolt, als sie wieder unterwegs in die oberen Regionen waren. Er war hellbraun im Gesicht. Das erlebte hatte selbst ihm, dem ehemaligen Auror, gehörig das Gruseln gelehrt. Und die bange Frage bohrte in seinem Bewusstsein, ob der Verbrecher, der sich Lord Vengor nannte, das gewusst hatte, dass sein Opfer in den Kristall zusammen mit den Seelen anderer Opfer eingekerkert worden war. Doch dazu musste er ihn fragen. Auf jeden Fall hatte Vengor nun einen Todfeind, der nicht nur von Amtswegen seinem Tun Einhalt gebieten wollte, sondern ihn, wenn er ihn erwischte, gnadenlos und ohne langes Federlesen töten würde. Doch das behielt Kingsley Shacklebolt tunlichst für sich.
Julius hatte sich an diesem Morgen besonders gründlich rasiert, sein Haar gekämmt und einen frisch gereinigten und gebügelten lindgrünen Umhang mit Sthekragen und auf Hochglanz geputzte Schuhe angezogen. Er selbst legte nicht viel Wert auf äußere Erscheinung. Doch er kannte genug Leute, denen das wichtiger war, wie jemand gepflegt und gekleidet war, als das, was er oder sie wusste oder konnte. Millie verzichtete sogar auf den üblichen Abschiedskuss, weil sie nicht wollte, dass Julius Spuren ihres Lippenstifts am Mund zurückbehielt. Aber auf eine innige Umarmung wollte sie nicht verzichten. Julius konnte sich gerade noch den derben Scherz verkneifen, dass er ihr die ganze Milch aus den Brüsten quetschte, wenn sie ihn so an sich drückte. "Lass dich nicht kleinmachen, Julius. Was du gemacht hast war richtig. Egal was Vendredi meint, du musst mit deinem Gewissen leben, nicht mit ihm."
"Bis heute Abend, Mamille, wünsch mir Glück, dass ich danach nicht was neues suchen muss!"
"Viel Glück, Mon Cher", hauchte Millie ihm zu. Dann gab sie ihn aus ihrer Umarmung frei.
Julius dachte immer wieder seine Selbstbeherrschungsformel, als er im Ministerium nach oben fuhr. Die Anhörung war im Büro von Monsieur Vendredi angesetzt. Fünf Minuten vor der angesetzten Uhrzeit saß er bereits zusammen mit Mademoiselle Ventvit, seiner Schwiegertante Barbara, dem Geisterbehördenleiter Simon Beaubois und sieben weiteren Hexen und Zauberern im Büro. Dann klopfte es, und noch wer kam hinzu. Den Zylinder unter dem linken Arm betrat Zaubereiminister Armand Grandchapeau höchstpersönlich den Raum. Ein kurzes, leises Raunen klang auf und wieder ab. Dann erschien der Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe. Er wirkte entschlossen, aber auch ein wenig angespannt. Als er den Minister sah grüßte er höflich, aber mit gewisser Verunsicherung.
"Ich mache von meinem Vorrecht gebrauch, bei Anhörungen zu Themen, die mit dem Tod von Hexen und Zauberern zu tun haben, persönlich anwesend zu sein. Bitte führen Sie die Anhörung so, als sei ich nicht anwesend!" Eine Flotte-Schreibefeder notierte, was der Minister gesagt hatte. Sie würde auch das Gespräch protokollieren.
Monsieur Vendredi begrüßte die hier versammelten kühl und kurz, stellte der Feder alle Anwesenden vor, erkannte auf Vollständige Anwesenheit aller einbestellten und erwähnte, dass er nun jeden und jede einzeln befragen würde. Hierfür würden Madame Latierre und Monsieur Beaubois als Beisitzer aus nicht betroffenen Unterbehörden fungieren. Diese, so Vendredi, hatten auch das Recht, Fragen an die Befragten zu richten. "Gemäß der ministeriumsinternen Dienstordnung Paragraph dreiundzwanzig setze ich jede und jeden der Anwesenden davon in Kenntnis, dass jede gestellte Frage wahrheitsgetreu beantwortet werden muss. Sollte der Verdacht der vorsetzlichen Täuschung entstehen, kann auf eine magische Vereidigung bestanden werden. Diese Mitteilung gilt als rechtliche Belehrung", setzte Vendredi im Stil eines gefühllosen Beamten fort. Er ließ drei Sekunden verstreichen, in denen ihm alle zunickten. "Die Anwesenden nehmen die Belehrung zur Kenntnis", diktierte er der Schreibefeder. Dann schickte er die Anwesenden außer die Beisitzer in einen hinteren Raum. In dem hörte niemand mehr die eigenen Schritte. Nur die Geräusche innerhalb des Körpers konnte jeder noch hören. Am Hinterende des Raumes hing eine Tafel, auf der in aus sich heraus weiß leuchtender Schrift stand:
Bitte hier warten. Absprachen durch geräuschlosen Raum unmöglich, Mentiloquismussperre in Kraft. Rot aufleuchtender Namenszug gilt als verbindlich zu befolgender Aufruf.
Julius nahm wie alle anderen auf den eng beieinanderstehenden Stühlen Platz. Er konzentrierte sich auf Temmie, ob er sie noch erreichen konnte. Das ging, trotz der erwähnten Gedankensprechabsperrung. Mit Millie wollte er im Moment nicht mentiloquieren.
"Wielange musst du nun warten, bis du befragt wirst?" wollte Temmie wissen.
"Jacqueline Dubois ist erst dran. Wenn es nach dem Alphabet geht kommen nach ihr erst drei weitere dran, bis ich drankomme. Könnte dem aber auch einfallen, erst alle anderen zu fragen und mich dann als Zeugen und Angeklagten in einer Person aufzurufen."
"Deine Gefährtin und Mutter deiner Töchter hat recht, dass du bisher alles richtig gemacht hast." Julius nahm es zur Kenntnis. Dann teilte Temmie ihm noch was mit, was ihn fast um seine nach außen gezeigte Ruhe brachte: "Wo du gerade nichts machst, wofür du diese Goldstücke bekommst, möchte ich dir mitteilen, dass ich die leisen Schwingungen einer uns Königinnen und Königen damals wohlbekannten Anwesenheit vernehme. Ich denke, dass der Todesschrei dieser Dementoren ihn wachgerufen hat, den Wächter von Garumitan."
"Garumitan?" gedankenfragte Julius.
"Garumitan ist eine der vier wichtigen Städte. Sowie Khalakatan, die Stadt der Bewahrung von Wissenund Erzeugnissen dient, gilt Garumitan als die Stadt der vielfältigen Schöpfungskraft und Einfälle. Am besten erzähle ich dir das dann, wenn wir uns in deinem Schlafleben treffen können, Julius. Denn ich erkenne, dass es wohl Zeit ist, dir mehr von meinem erhabenen Reich zu erzählen, wenn selbst Garumitan noch besteht. Nur das noch: Wenn der Krieger der Himmelsmächte, wie der Wächter von Garumitan auch genannt wurde, durch den Schrei der sterbenden Dementoren aufgeweckt wurde, dann wird er davon ausgehen, dass es keine mit der Kraft begabten Menschen mehr gibt. Wie er das deuten und was er dann tun wird weiß ich nicht, da zur Zeit meines ersten Lebens keiner der Schöpfer des Wächters mehr lebte und diese auch keinem der Könige hinterlassen haben, was der Wächter für einen Auftrag hat, wenn er die Welt ohne die Begüterten vorfindet."
"Moment mal, dann könnte dieser Wächter, wohl einer wie die Goldenen in Khalakatan, den Todesschrei der Dementoren so auswerten, dass er alle Menschen unterwerfen oder töten soll, damit die noch in seiner Stadt wohnenden wieder herrschen?" gedankenfragte Julius. Temmie bestätigte das. "Wobei wir nicht wissen, ob die Stadt noch bewohnt ist. Zu ihr kann ja nur, wer sich dem Wächter gegenüber als würdig erweist und die Tore der vorauseilenden Zeit durchschreiten darf."
"Die Was?" fragte Julius über die trotz Sperrzauber immer noch tadellose Geistesverbindung.
"Das erzähle ich dir alles im Schlafleben. Ist zu viel für den Augenblick", vertröstete ihn Temmie. Julius sah ein, dass seine geflügelte Vertraute im Moment nicht mehr herauslassen würde. Doch jetzt fühlte er sich angespannter als durch die ihm gerade blühende Anhörung. Er musste sich ruhig atmend auf seine Selbstbeherrschungsformel konzentrieren.
Tatsächlich bblinkte erst der Name Fontainbleu rot auf der Tafel auf. Gleichzeitig vibrierten die Stühle, wohl als unhörbares Signal, dass sich was geändert hatte. Als die Trägerin des Namens in den Befragungsraum ging griff Julius wie die anderen Anwesenden nach ausgelegten Zeitschriften und Zeitungen. Er nahm sich die Temps de Liberté und stellte fest, dass es die Ausgabe von vorgestern war. Da hatte sein Verwandter Gilbert mit Antoinette Eauvive gesprochen, wie sich arglose Paare beim Geschlechtsverkehr gegen ungewollte Zeugung oder Empfängnis absichern konnten. Gilbert hatte doch echt die Frechheit besessen, einen Kommentar unten drunter zu schreiben:
Wenn die Herstellung elastischer Präservative tatsächlich in Schwung kommt müssen wir alle aber darauf achten, dass wir nicht die Erzeugnisse aus Fabriken kaufen, die auch in der Herstellung von Beißringen, Gummiunterlagen für von Windeln zu entwöhnenden Kindern, Schnullern und Stilleinlagen tätig sind. Die könnten um ihre Umsätze bangen und daher in einer Art Lotterieverfahren die Dichtigkeit der Verhütungsüberzieher aufheben. Also besser Augen auf beim Präserkauf!
Hera Matine hatte darauf einen Leserbrief geschrieben, der in der heutigen Ausgabe abgedruckt wurde, dass sie als praktizierende Hebamme die Unterstellung, Fabriken könnten aus Angst vor schwindenden Verkaufserlösen für Säuglings- und Kleinkindprodukte Verhütungsmittel sabotieren auch als indirekte Unterstellung sah, Hebammenhexen und Ammenhexen könnten den von Vita Magica erzwungenen Geburtenzuwachs als sprudelnde Einnahmequelle sehen und deshalb mit dieser Verbrecherbande sympathisieren. Dem sei nicht so, und daher weise sie jede entsprechende Unterstellung im Namen aller Heilerinnen von sich. Die hatten wirklich Probleme, dachte Julius.
Die Folge der Aufrufe verlief nicht alphabetisch, stellte Julius fest. Denn Madame Rieuvive, die die Hilfstruppe beim ersten Einsatz gegen Nal geführt hatte, kam schon als dritte dran und danach Monsieur Margeau, der beim zweiten Kampf gegen die Gurgha dabei gewesen war. Womöglich ging es um aufeinander aufbauende Aussagen. Am Ende saß Julius alleine im geräuschlos bezauberten Wartezimmer. Das beste zum Schluss, dachte er trotzig. Er prüfte die Uhrzeit. Es war schon halb eins, eigentlich Mittagspause. Doch die konnte auch um ein Uhr begonnen werden, wusste er. Es wurde viertel vor eins, dann fünf vor eins. Dann glomm der Schriftzug "Befragter Latierre, Julius bitte im Warteraum verbleiben und Mittagessen einnehmen!" Julius stierte die Tafel an und stand dann auf. Er ging zur Tür. Doch die war verschlossen. Die hatten ihn echt eingesperrt? Das würde er aber gleich mal klären, dachte er verärgert. Dann sah er, wie drei Hauselfen mit einem kleinen Tisch im Zimmer apparierten. Auf dem Tisch standen gleichwarm bezauberte Schüsseln und Töpfe, sowie eine Wasserflasche, ein Glas, drei Teller und Besteck. Julius winkte den drei Hausbediensteten dankend. Dann setzte er sich an den Tisch. Wenn die ihm mit dem Essen Veritaserum eintrichterten ... Doch das konnte er prüfen. Er zog seinen Zauberstab und dachte konzentriert "Specialis Revelio!" Eigentlich konnte dieser Zauber nur ausgesprochen gewirkt werden. Doch hier und jetzt wollte Julius sehen, ob er als Ruster-Simonowsky-Zauberer den auch ungesagt hinbekam. Ja, es gelang, wenngleich er damit nur den schwachen Lichtschimmer erzeugte, der auf ein zu prüfendes Objekt traf. War daranoder darin etwas besonderes, wurde es hervorgehoben und bildlich dargestellt, was es war oder wie es wirkte. Bei einem den freien Willen beeinflussenden Trank würde es ein von grün lodernden Schlingen umloderter Schemen eines Kopfes sein, der je nach Beeinflussungsart größer oder kleiner ausfiel. Doch dieses Anzeichen blieb aus; das essen enthielt auch keine giftigen Stoffe. So hob Julius den Zauber auf und griff zum Besteck, um sich genug Kraft anzufuttern.
Nachdem er sich sattgegessen hatte verschwanden Tisch, Geschirr und Besteck einfach so. Jetzt hieß es nur noch warten.
Um viertel vor zwei durfte er endlich aus dem geräuschlosen Zimmer heraustreten. Die Rückkehr der Umgebungslaute irritierte Julius für einige Sekunden. Alles klang jetzt lauter als vorher. Dann hatten seine Ohren sich wieder an das Hören gewöhnt.
In dem Raum saßen nur der Zaubereiminister, Monsieur Vendredi, Madame Latierre, Mademoiselle Ventvit und Monsieur Beaubois. Julius grüßte und wartete, bis er Monsieur Vendredi gegenüber platznehmen durfte. "Bitte erst sprechen, Wenn ich Ihnen eine Frage gestellt habe, Monsieur Latierre", kam Vendredi Julius zuvor, der wegen der abgesperrten Tür fragen wollte. Julius nickte. Sollte er mal so tun, als wenn er das mit der Tür nicht mitbekommen hätte.
In den nächsten Minuten wurde er befragt, wann und von wem er von der Existenz der grünen Riesen-Waldfrauen-Hybridin erfahren habe. Das ging ja noch, dachte Julius und gab die korrekten Antworten. Dann ging es schon um den ersten Einsatz in Nordfrankreich.
"Wie vermochten Sie als einziger, sich der stimmlichen Bezauberung der Hybridin zu widersetzen, Monsieur Latierre?" wollte Monsieur Vendredi wissen. Julius antwortete ganz ruhig:
"Durch einen inneren Schutzzauber, der keine nach außen abstrahlende Aura erzeugt, aber meinen Geist und meine Gefühle gegen von außen wirkende Einflüsse vollständig sichert."
"Können Sie uns den Namen dieses Zaubers nennen und wie er ausgeführt wird?"
"Nein, das kann ich nicht, weil ich einen magischen Eid denen gegenüber leisten musste, die mir den Zauber und einige mehr beibrachten, dass ich das mir zugänglich gemachte Wissen nicht weitergebe. Bei Zuwiderhandlung würden mir alle Erinnerungen meines bisherigen Lebens schwinden."
"So, würden sie das? Wer hat Ihnen das gesagt?" wollte Vendredi wissen. Julius erwähnte die geheime Gruppe um die Kinder Ashtarias, die ihm diesen und noch einige Zauber mehr beigebracht hätten. Auf die Frage, wer das sei und wie viele es gebe antwortete er, dass diese Kenntnis wie die Zaubereien, die er auszuführen gelernt hatte, durch die magische Vereidigung unterdrückt würden.
"Sie schützen also weiterhin vor, von einer uns im Ministerium bis zu dem angeblichen Zusammenstoß mit einer zweiten Abgrundstochter nicht bekannten Organisation oder Gruppierung unterwiesen worden zu sein. Wollen Sie wirklich weiterhin darauf beharren, dass Ihnen jemand vollkommen auf Geheimhaltung setzender mächtige Abwehrzauber beigebracht hat? Fürchten Sie nicht, dass dies gegen die von Ihnen beeidete Loyalität dem Zaubereiministerium gegenüber verstößt?" Julius hätte fast gesagt, dass das schon zwei Fragen waren. Vendredi beging den Fehler, ihm zwei Fragen zu stellen, so dass er sich die ihm genehmste Antwort aussuchen konnte. So sagte er ruhig:
"Da die Gruppierung, wie Sie sie nennen nicht in Opposition zu den Zielen eines Zaubereiministeriums oder der gesamten magischen Menschheit steht vereinbart sich meine Beschränkung, was die Weitergabe dieser Zauber angeht, sehr gut mit der beschworenen Loyalität dem französischen Zaubereiministerium gegenüber."
"Natürlich bietet sich Ihnen durch die Behauptung, unter Androhung eines strafenden Gedächtnisauslöschungszaubers nichts verraten zu dürfen eine große Freiheit, mit hier nicht registriertenZaubern zu hantieren und das noch im offiziellen Auftrag. Das, werter Monsieur Latierre, verträgt sich nicht vollständig mit der von Ihnen beschworenen Loyalität. Soviel für's erste zu diesem Punkt. Wieso verfielen Sie bei der Abwehr der Ihnen hinterhergeschickten Kollegen auf die Idee, sie durch Verwandlungszauber kampfunfähig zu machen, wo sie genau wissen, das unerlaubte Fremdverwandlungen an Ministeriumsbeamten eine strafbare Handlung darstellen?" wollte Vendredi wissen.
"Weil die Strafbare Handlung darin besteht, durch Verwandlung einen Menschen seiner Willens- und Bewegungsfreiheit zu berauben. Da jedoch die Willensfreiheit bei den Kollegen bereits von der grünen Gurgha entzogen wurde und ich in berechtigter Notwehr nur die Auswahl zwischen körperverletzenden Flüchen oder eben Verwandlungen hatte, entschied ich mich für die Verwandlungen."
"Ist das nicht ein wenig überheblich, zu denken, dass Ihre Zauber immer fehlerlos in Kraft treten?" fragte Vendredi. Julius erwiderte, dass er nur solche Zauber verwendete, von denen er sicher wusste, dass sie gelangen und andere nur in Gefahrensituationen, wo es um sein Überleben ginge. Da dies im vorliegenden Fall beides zutraf, er also die Verwandlung fehlerfrei beherrschte und zudem in tödlicher Gefahr schwebte, halte er sein Vorgehen für der Situation angemessen.
"Sie verschanzen sich offenbar gerne hinter nicht von uns aus nachprüfbaren Behauptungen, Monsieur Latierre. Woher wollen Sie wissen, ob die von Ihnen verwandelten zu diesem Zeitpunkt keine Willenshoheit hatten?" Julius wiederholte nun, wie sich der Einsatz aus seiner Sicht abgespielt hatte. Er verwies auch auf die vor ihm befragten Hexen, die wohl ähnliche Schwierigkeiten mit den Kollegen gehabt hatten. Seine Schwiegertante Barbara zwinkerte ihm zustimmend zu, ohne dass Vendredi das mitbekam. Dieser sagte dann doch glatt:
"Es kam Ihnen sehr zu Pass, dass jene Kollegen vor kurzem Opfer von magischen Verbrechern wurden. Bei der Gelegenheit: Sie waren doch auch bei diesem Einsatz vor Ort. Fühlten Sie sich nicht berufen, einzugreifen?"
"Ich fühlte mich schon berufen, einzugreifen. Doch ich hatte eine unmissverständliche Anweisung von Mademoiselle Ventvit, meiner direkten Vorgesetzten, nicht in den Ablauf der von mir beobachteten Ereignisse einzugreifen."
"Das wäre jetzt auch chronologisch etwas ungeordnet, werter Monsieur Vendredi", sagte Simon Beaubois. "Abgesehen davon, dass uns Mademoiselle Ventvit auf diese Frage genau dieselbe Antwort gab und dies auch in den vorliegenden Berichten niedergelegt ist."
"Nun, werter Kollege Beaubois, ich wollte den Befragten lediglich damit konfrontieren, dass ihm die Verwandlung und Entführung der Kollegen sehr viele Vorteile bei einer Befragung wie dieser einträgt", sagte Vendredi. Hier schaltete sich der Minister ein:
"Gehen Sie bitte davon aus, dass der Anwärter Julius Latierre sich dieses Umstandes bereits bewusst war, bevor Sie ihn darauf hinwiesen. Bitte vermeiden Sie derlei auf Gefühlsregungen abzielende Fragen!" Vendredi sah den Minister verdutzt an. Doch dieser blickte unerbittlich zu ihm zurück. Die Beisitzer nickten dem Minister zu, womit klar war, wessen Meinung sie teilten. So fuhr Vendredi im rein sachlichen Stil und in einhaltung der Ereignisabfolge mit der Befragung fort, wie Julius in England auf die Gurgha getroffen sei, dass diese mehrere Acromantulas getötet hatte, Thestrale unter ihre Kontrolle gebracht hatte und schließlich von diesen geflügelten Pferdewesen in einem Netz mit dem von ihr unterworfenen Hagrid davongeflogen sei. Dann schilderte er, wie er zusammen mit Megan Barley zum Versteck von Grawp gereist war, wobei er die heftigen Zauber, die die rothaarige Verteidigungslehrerin verwendet hatte nur mit dem Nebensatz abhandelte, dass sie dabei ihm unbekannte aber sehr wirksame Zauber vorgeführt habe, über die sie ihm jedoch keine Auskunft erteilen wollte, da es Geheimnisse ihrer Familie seien.
"Wieder einmal geheime Sachen, die nur bestimmte Leute und kein Ministerium kennen sollen", entschlüpfte es Vendredi darauf. Julius sagte darauf nichts. Er wollte den Vorgesetzten nicht dazu reizen, ihm unerwünschte Zwischenbemerkungen vorzuwerfen. So beantwortete er die Fragen so klar und sachlich, wie sie ihm gestellt wurden.
Als es um den zweiten Einsatz in Frankreich ging wurde es wieder gefühlsbetonter. Denn Vendredi fragte Julius: "Haben Sie in Ihrer Machttrunkenheit, dieses Geschöpf für einen selbst Ihnen nicht bekannten Zeitraum handlungsunfähig gemacht zu haben, daran gedacht, wie viele unschuldige Menschen dieses Geschöpf da bereits auf dem Gewissen hatte, als Sie meine klare Anweisung zu kritisieren wagten, dieses Ungeheuer gleich an Ort und Stelle zu erlegen?"
"Immerhin unterstellen Sie der grünen Gurgha ein Gewissen", musste Julius jetzt doch spitzfindig werden. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nur, dass sie über hohe Intelligenz verfügt, die auch ohne ein Gewissen auskommen kann."
"Werden Sie ja nicht frech, Anwärter Latierre!" blaffte Vendredi. "Beantworten Sie gefälligst meine Frage!"
"Da ich geschworen habe, jeden von mir außer Gefecht gesetzten Gegner am leben zu lassen, sofern es sich nicht um ein rein instinktgesteuertes, von natur aus auf Tötung von Menschen angelegtes Tierwesen, auch Ungeheuer oder Monstrum genannt, handelt. Die Gurgha, die laut der Ostlandgruppe den Namen Nal trägt, erwies sich trotz der unbestreitbaren Skrupellosigkeit als denk- und empfindungsfähiges Wesen und durfte daher nicht von mir getötet werden oder durch mich dem Tode preisgegeben werden, solange sie handlungsunfähig war."
"Damit sind wir beim Kern- und Angelpunkt dieser Anhörung, Messieursdames", setzte Vendredi mit überlegener Miene an. "Sie, Anwärter Latierre, maßen sich an, Anweisungen des Ministeriums zu missachten, wenn diese Ihrer ganz eigenen Vorstellung von Anstand und Gerechtigkeit zuwiederlaufen, nicht wahr?"
"Punkt eins, ich maße mir nichts an, weil sonst hätte ich mich kaum dazu verpflichtet, hier im Ministerium zu arbeiten und zu lernen, sondern hätte gleich eine eigene Privatfirma gegründet, die sich mit Zauberwesen aller Art beschäftigt und wo nur meine Ansichten gegolten hätten. Habe ich aber nicht, Messieursdames. Nur in der Konkreten Situation durfte ich nicht zulassen, dass ein von mir unbestreitbar außer Gefecht gesetztes Einzelwesen mit Empfindungsfähigkeit vorsätzlich und ohne Abwägung von Alternativen getötet wurde. Meine Argumentation damals, die Sie im betreffenden Bericht nachlesen können, bezog und bezieht sich auch auf die Gefahr, die der Tod der grünen Hybridin ausgelöst hätte."
"Da dies eine mündliche Anhörung ist zitieren Sie bitte diesen Ihren Argumentationsgang noch einmal", sagte Barbara Latierre, die sich bisher hübsch ruhig aber aufmerksam verhalten hatte. Julius überlegte kurz und zitierte tatsächlich aus dem Bericht. War doch gut, dass er den in den letzten Tagen, seitdem er von dieser Anhörung wusste, immer wieder nachgelesen hatte. Vendredi blieb das Gesicht stehen, weil Julius so gefühlsfrei wiedergab, was er geschrieben hatte, ja sogar die Dialoge nacherzählte, die zwischen ihm, Vendredi und Mademoiselle Ventvit geführt wurden.
"Ich beharre auf meine Frage, ob Sie sich anmaßen, Ihre eigene Auffassung von Anstand und rechtschaffenem Tun über klare Anweisungen zu stellen?"
"Wie erwähnt maße ich mir nichts an, sondern entscheide im Einklang mit der Forderung, jede Situation als Einzelfall zu betrachten und zu werten, welche Auswirkungen die eine oder andere Vorgehensweise hätte und entscheide mich dann und erst dann für die mit dem geringsten Gefährdungsrisiko für die gesamte Menschheit mit und ohne Magie."
"Ach, und Sie sind der Auffassung, ein Feind, der bereits seine Skrupellosigkeit unter Beweis gestellt hat, würde sich von einer Schonung seines Lebens derartig beeindrucken lassen, dass er seine Taten bereut und sich dann zum besseren verändert?" wollte Vendredi wissen.
"Im Fall der grünen Gurgha hat dieses Vorgehen funktioniert, zumal Sie selbst einräumen mussten, dass die Bedrohung durch die irgendwann aus ihrer Abhängigkeit gelösten Riesen dann einen grausamen Rachefeldzug gegen alle anderen geführt hätten."
"Achso, das wissen Sie ja noch nicht", grummelte Vendredi und legte nach: "Heute morgen erhielt ich eine Eule von unserem Beobachter, der die Gurgha und die von ihr kontrollierten Riesen überwacht. Der vermeldete mir, dass dieses Geschöpf herausgefunden hat, dass mehrere Beobachtungsartefakte über ihm flogen und hat diese von ihr unterworfenen Raubvögeln im Flug zerstören lassen, obwohl sie sehr hoch flogen."
"Monsieur Vendredi, wenn Sie dem Anwärter Latierre schon dieses Schreiben als Vorwurf vorhalten möchten, dann erwähnen Sie bitte, dass diese Hybridin lediglich die in ihrer Nähe fliegenden Sprengschnatze hat zerstören lassen", schritt Mademoiselle Ventvit ein. "Die weiteren Überwachungsartefakte blieben unbehelligt. Nicht nur das, diese grüne Ausgeburt hat zwei junge Riesen beiderlei Geschlechts herangewunken und ihnen wohl befohlen, sich unter freiem Himmel zu paaren. Diesem Beispiel ließ sie dann noch einige andere folgen. Danach hat sie sich selbst unbekleidet hingelegt und so getan, als vollführe sie den Paarungs- oder Liebesakt mit einem unsichtbaren Partner."
"Was eine unzweifelhafte Verhöhnung unserer Maßnahmen darstellt, Mademoiselle Ventvit", schnaubte Vendredi, der an den Ohren rot angelaufen war, wohl eher, weil Ornelle das mit den zerstörten Sprengschnatzen ausgeplaudert hatte. Das wäre eine geniale Steilvorlage für Julius gewesen. Doch er wartete lieber auf die nächste Frage.
"Wären Sie bereit, jedem, der vom Zeitpunkt Ihres direkten Zusammentreffens mit der Hybridin an zu Schaden kommt Entschädigung zu zahlen, Monsieur Latierre?"
"Ich bin bereit, bei neuerlichen Übergriffen vor Ort um Einhalt zu ringen", sagte Julius. "Mich auf Schadensersatz zu verklagen ist gemäß Paragraph siebenundzwanzig der Richtlinien für Außeneinsetze nur möglich, wenn ich persönlich den angezeigten Schaden verursacht habe, sei es durch fehlerhafte Zielausrichtung bei richtungsabhängigen Zaubern, Flugunfällen mit Schädigung dritter oder absichtliche Beschädigung oder Körperverletzung gegen unbeteiligte Menschen oder deren Eigentum. Ansonsten sind alle während eines Einsatzes oder in folge desselben entstehende Schäden dem Leiter der Finanzabteilung des Zaubereiministeriums anzuzeigen, der durch Prüfung der vorgelegten Fälle auf Erstattung oder verweigerung befinden kann", zitierte Julius ohne zu stottern aus der betreffenden Vorschrift. Seine Schwiegertante konnte sich jetzt ein gewisses Grinsen nicht verkneifen, und auch der Geisterbehördenleiter schmunzelte einige Sekunden, bis Vendredis Stimme wie ein Schwert in die aufgekommene Stille schnitt:
"Mit anderen Worten, Sie erdreisten sich, Männer, Frauen und Kinder, sowie ihre lebenswichtigen Güter einfach so aufs Spiel zu setzen, solange sie sich auf einen Auftrag des Ministeriums berufen?"
"Nein, ich setze nichts und niemanden auf irgendein Spiel, wenn ich mit intelligenten Zauberwesen zu tun habe. Mag sein, dass ich etwas riskiert habe, als ich der mir auferlegten Bedingung folgte, die Gurgha wegen ihrer Empfindungs- und Denkfähigkeit nicht als wildes, menschenfressendes Tier einzustufen, selbst wenn ich nicht weiß, und sie auch nicht, ob sie nicht doch antropophage Ernährungsgewohnheiten besitzt. Weil ich das eben nicht weiß hat das meine Gewissensentscheidung sehr erschwert, Monsieur Vendredi. Aber ich spiele nicht mit dem Leben anderer Menschen. Dann säße ich auch nicht hier, sondern hätte längst diesen Psychopathen Riddle alias Voldemort beerbt. Die greifbare Tatsache, dass ich hier vor Ihnen sitze beweist, dass ich eben nicht so denke und handele, dass mir ein Menschenleben gleichgültig ist, von hunderten oder tausenden Menschenleben ganz zu schweigen. Abgesehen davon hat mir dieses Wesen nach dem Zauber, mit dem ich es in den Mund traf, ein höchst unannehmbares Ansinnen unterbreitet, nämlich dass es Kinder von mir will, weil ich ihm gezeigt habe, dass ich zumindest einmal stärker gewesen bin. Das und die Gedanken an eine doch noch zur grünen Rachegöttin mutierenden Hybridin zwischen Waldfrau und Riese gibt mir genug Anlass, jeden Tag daran zu denken, ob es nicht doch besser gewesen wäre, sie zu töten, wo die Gelegenheit dazu bestand. Dann komme ich aber immer wieder zu dem Schluss, dass ihr die Herrschaft über die Riesen wichtiger ist, als Terror auf normalgroße Menschen auszuüben."
"So, das denken Sie. Aber ich trage die Verantwortung und ..."
"Sachlich bleiben, Kollege Vendredi", schritt der Minister unvermittelt wieder ein. Doch mehr sagte er nicht.
Vendredi fragte Julius nun nach der Konfrontation mit der Vita-Magica-Truppe. Erneut erwähnte dieser, dass er in strickter Befolgung einer Anweisung seiner direkten Vorgesetzten auf jedes Eingreifen verzichtet hatte. Da fragte der Leiter der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe doch glatt:
"Ach, haben Sie diesmal die Anweisung strickt befolgt, weil sie ihrer eigenen Ansicht genehm war und sie nicht ihr Leben oder ihre Freiheit riskieren mussten?"
"Erstens wusste ich selbst bis zu der Verwendung jener Gerätschaften, die wohl Reinitiatoren heißen nicht, wie gefährlich die Gruppe von Zauberern und Hexen war, die die Werwölfe getötet haben. Zweitens hätte ich sofort eingegriffen, wenn Mademoiselle Ventvit mir nicht klar befohlen hätte, meine Unversehrtheit zu erhalten, um anschließend berichten zu können. Es war ihr wichtig, dass ich keinesfalls gegen einen von mir nicht einschätzbaren Gegner kämpfte. Aus meinen Beobachtungen ist auch ersichtlich, dass mehrere der zur Verstärkung angerückten Ministeriumszauberer den Rückzug antraten, als ihnen die Aussichtslosigkeit eines offenen Kampfes gewahr wurde."
"Könnte es nicht sein, dass jene ominösen Kinder Ashtarias, auf die Sie sich bisher immer berufen haben, mit dieser feindlichen Gruppierung in guter bis sehr guter Beziehung stehen?" fragte Vendredi nun sehr provokant. Julius blieb jedoch ruhig.
"Dann hätten die mich, um abzusichern, dass ich diese, Ihre Frage nie beantworten kann, auch gleich reinitiiert und verschleppt. Denn dann wäre ich für diese ein gefährlicher Mitwisser gewesen, der um jeden Preis hätte beseitigt werden müssen. Auch hier kann ich nur sagen, dass meine bloße Anwesenheit in diesem Raum bestätigt, dass dem nicht so ist."
"Monsieur Latierre, bitte mehr Respekt", rief Mademoiselle Ventvit ihren Mitarbeiter zur Ordnung. Dann fragte Beaubois:
"Was hätten Sie getan, wenn Mademoiselle Ventvit Ihnen nicht die eindeutige Anweisung erteilt hätte, nur zu beobachten und das beobachtete anschließend zu berichten?"
"Ich hätte mit allem, was ich weiß und kann meinen Kollegen beigestanden, wie in allen Einsetzen davor", sagte Julius ganz ruhig. Mademoiselle Ventvit sagte laut aber ruhig:
"Für das Protokoll, da mir Anwärter Latierres Hilfsbereitschaft und Einsatzbereitschaft hinlänglich bekannt und geachtet sind und ich von der in dieser Anhörung erwähnten Quelle zuverlässig erfuhr, dass Vita Magica über eine neuartige Waffe zur dauerhaften Beeinträchtigung von Menschen ohne sie zu töten verfügt blieb mir nur, Anwärter Latierre wiederholt darauf hinzuweisen, dass er nur beobachten solle."
"Mit anderen Worten, Mademoiselle Ventvit, Sie schätzen die Bereitschaft des Anwärters Latierre zur wortgetreuen Befolgung von Anweisungen nicht besonders hoch ein, dass Sie diese ständig wiederholen müssen", legte Vendredi das gerade gesagte aus. Julius fühlte jetzt doch eine gewisse Wut. Da sagte Beaubois unerwartet entschlossen:
"Monsieur Vendredi, wir alle hörten, dass Anwärter Latierre vorrangig das Wohl aller Menschen im Sinn hat, wenn er in einen Einsatz geht. Er hätte sicher nicht so riskant eine Disapparition vom fliegenden Besen gewagt, wenn er feige wäre, wie Sie es ihm unterstellen."
"Moment, Monsieur Beaubois, ich wollte nur hervorheben, dass sich Anwärter Latierre die Handlungsweise aussucht, die ihm gerade genehm erscheint."
"Das ist aber nicht Ziel dieser Anhörung, Monsieur Vendredi", sagte Beaubois unerwartet entschlossen. "Es geht und ging darum, abzuklären, ob bei den Einsätzen gegen die grüne Hybridin eine unzulässige Gefährdung von Menschenleben begangen wurde. Zumindest stand das so in der Einberufung als Beisitzer. Falls es gerichtlich relevante Vorwürfe gegen den Anwärter gibt, wäre eine direkte Anhörung in der Strafverfolgungsabteilung oder vor dem Gamot die bessere Lösung. - Aber diese Notwendigkeit sehe ich in diesem Fall nicht. Also frage ich nun auch noch mal was, Anwärter Latierre: Würden Sie den klaren Befehl zur Tötung eines Menschen zurückweisen oder ausführen?"
"Ich bin kein Berufsmörder und habe auch keinen Vertrag unterschrieben, der mich als solchen verpflichtet. Die Antwort auf Ihre Frage, Monsieur Beaubois: Ich würde niemanden auf wessen Befehl auch immer töten, nicht solange ich meinen freien Willen habe", antwortete Julius.
"Was soll diese Frage bezwecken, Monsieur Beaubois?" schnarrte Vendredi sehr gereizt.
"Nicht mehr und nicht weniger als die Feststellung, dass Anwärter Latierre nur solche Aufträge ausführt, die das Leben eines oder mehrerer denkender Lebewesen schützen, nicht solche, die zu ihrer Vernichtung führen. Das soll mir und damit auch Ihnen als Grundlage dienen, wie die weiteren Aufträge an den Anwärter Latierre beschaffen sein müssen."
"Wollen Sie mir jetzt diktieren, wie ich die Kapazitäten der in dieser Abteilung tätigen Mitarbeiter einsetze, Kollege Beaubois?" schnaubte Vendredi. Da schritt wieder der Minister ein:
"Er sicher nicht, Monsieur Vendredi. Aber Sie erinnern sich im Zusammenhang mit der grünen Gurgha sicher daran, dass ich Ihnen mitteilte, es könne noch Hinterlassenschaften jener Überriesen geben, und dass Nal als Verbündete gegen solche Wesen sehr wertvoll sein könnte. Insofern kann und muss ich jetzt doch aktiver in diese Anhörung eingreifen, als ich es vorhatte, zumal ich mich jetzt doch fragen muss, was Sie eigentlich von dem bei Ihnen tätigen Anwärter Latierre wollen, ganz konkret und ohne irgendwelche Vorhaltungen, was er alles nicht getan hat oder besser hätte tun sollen."
"Gut, was ich von ihm will ist das, dass er jede ihm gegebene Anweisung ausführt, nie öffentlich hinterfragt, warum er dieses oder jenes ausführen soll und vor allem mehr Respekt seinen höheren Vorgesetzten gegenüber an den Tag legt. Vermag er auch nur eines davon nicht zu vollbringen, so lege ich ihm sehr nahe, sich gemäß der Regeln für die Anwartschaft zu überlegen, ob er im Zaubereiministerium noch wirklich am rechten Platz ist."
"Ich habe diesbezüglich keinen Grund zur Klage", sagte Mademoiselle Ventvit, was fast schon gelogen war, wie Julius dachte. Immerhin hatte sie ihn ja mehrmals gewarnt.
"Aber ich sah und sehe mich damals wie heute von den Äußerungen und Handlungsweisen dieses jungen Anwärters herabgewürdigt, der Lächerlichkeit preisgegeben. Am Ende soll ich noch jeden von Ihnen Fragen, ob es Ihnen etwas ausmacht, dieses oder jenes für mich zu tun", ereiferte sich Vendredi.
"Sie haben gehört, was Monsieur Vendredi von Ihnen erwartet", wandte sich nun Mademoiselle Ventvit an Julius. "Bitte äußern Sie sich dazu!"
"Monsieur le Ministre, Monsieur Vendredi, Mademoiselle Ventvit, werte Beisitzenden", holte Julius aus, um noch ein paar Sekunden Zeit herauszuholen. Dann sagte er:" Als ich in Beauxbatons eingeschult wurde, empfand ich die dort vorherrschende Atmosphäre von strenger Hierarchie und stundengenauer Tagesplanungen als kalt, unmenschlich und abweisend. Als ich dann ein ganzes Jahr dort war erkannte ich, dass eine gewisse Ordnung und Disziplin durchaus wichtig sind, um heranwachsenden Menschen, die von neuen und aufwallenden Gefühlen umgetrieben werden, einen sicheren Halt und auch eine Sicherheit jedes einzelnen geben, vor allem, wo jeder dort mit einer gefährlichen Waffe ausgestattet ist: Zauberkraft. Ich habe mich deshalb diesem System bis zu dem Punkt untergeordnet, wo ich den von mir erwarteten Respekt auch erwidert bekam, auch von denen, die mir hierarchisch übergeordnet waren. Deshalb konnte und wollte ich auch alle von mir erwarteten Leistungen erbringen, weil ich eine gewisse Anerkennung zurückbekam. Jetzt werden Sie sagen, die Anerkennung des arbeitenden Menschen sei das Gold oder Papiergeld. Ist es aber nicht. Geld ist nur dazu da, Nahrung, Wohnraum und Bekleidung, zwischendurch auch erheiternde Zerstreuung zu erwerben. Aber Anerkennung ist das, was der einzelne Mensch braucht, was ihn morgens zum Aufstehen bringt. Bei Mademoiselle Ventvit habe ich eine solche Anerkennung erhalten, auch wenn ich nicht immer so gehandelt habe, wie sie es von mir erwartet hatte. Ich kann und will nicht von ihr erwarten, dass sie sich nun schützend vor mich hinstellt und mich beschützt, aus dem Alter, wo ich sowas nötig hatte bin ich raus, meine Damen und Herren. DA Sie, Monsieur Vendredi wissen möchten, ob ich willens und fähig bin, Ihre Entscheidungen zu respektieren und Sie als meinen zweithöchsten Vorgesetzten zu achten und zu unterstützen, so kann ich hier und jetzt nur sagen, das ich dies tun will, solange mein Gewissen dies zulässt. Respektieren Sie das und dass mir wegen dieser Sache mit den Abgrundstöchtern mehr Zauberwissen an die Hand gegeben wurde, so respektiere ich Sie und werde Sie und jeden hier weiterhin unterstützen, wobei auch immer. Aber ich bin kein kadavergehorsamer Zombie, kein seinem Schöpfer unterworfener Golem und erst recht kein stumpfsinnig auf Befolgung der ihm einprogrammierten Anweisungen ausgelegter Roboter oder Automat. Ich bin ein Mensch mit Gedanken und einer Seele, wie Sie ein denkfähiger und fühlender Mensch sind. Wenn wir uns auf dieser Linie begegnen können kann und will ich Sie achten und unterstützen."
"Das gibt es doch nicht", schnaubte Vendredi. Da sagte Beaubois grinsend:
"Sie wollten alles protokollieren lassen. Da haben Sie es jetzt Tinte auf Pergament."
"Wobei diese Aussage auch dazu gereicht, demAnwärter Julius Latierre zu empfehlen, sich eine andere Betätigung zu suchen, die mit seiner fortgesetzten Aufsässigkeit besser zurechtkommt, wo aber zumindest kein Menschenleben in Gefahr geraten kann."
"Halten Sie anderen dies auch für geboten?" fragte der Minister und deutete ausdrücklich auf die zwei Beisitzer Latierre und Beaubois.
"Nachdem, was ich durch die Assistenzeinsetze mitbekommen habe ist Monsieur Latierre jemand, der in der Gruppe mitarbeitet, aber dann, wenn es ansteht, auch schnell und ohne lange Rückfragen handelt. Sicher würde es mich auch interessieren, wer die Kinder Ashtarias sind, wie man mit Ihnen in Verbindung treten kann und was sie so alles wissenund können. Aber ich kann und darf nicht verkennen, dass es Schutzzauber gibt, die einen Verrat effektiv verhindern. In meiner Behörde habe ich schon derlei erlebt, vor allem bei Menschen, die von sterbenden Hexen oder Zauberern verflucht wurden und die das nicht verraten durften, ohne selbst zu Geistern zu werden, als welche sie dann der dauernden Folter jener Hexen und Zauberer ausgeliefert waren. Monsieur Latierre erwähnte etwas sehr entscheidendes, was uns immer wieder bewusst sein muss: Zauberkraft ist eine gefährliche Waffe, wenn sie ohne Gewissen und ohne genaue Abwägungen der Folgen angewendet wird. Insofern muss ich unterstellen, dass diese Zauber, die Monsieur Latierre erlernt hat, sicher nicht von ihm hätten gelernt werden dürfen, wenn es zu gefährlich wäre, dass er sie benutzt. Ob wir damit keinen Unfug anstellen würden weiß ich nicht und er damit erst recht nicht. Was die Grüne Gurgha angeht, so stimme ich dahingehend zu, dass sie gefährlich ist, weil sie körperlich, magisch und geistig sehr stark ist. Aber sie ist bisher die einzige ihrer Art und als Geisterbehördenleiter hat es mich schon sichtlich beeindruckt, wie Mademoiselle Ventvit vorhin erwähnte, sie sei quasi die Wiedergeburt ihrer eigenen Mutter, wobei die Seele aus dem Körper der gebärenden Mutter in den der gerade geboren werdenden Tochter übertrat. Wissen wir mit sicherheit, ob dieses Wesen nicht nach dem körperlichen Tod wieder in ein anderes Wesen eindringt und es übernimmt wie ein Dibbuk oder ob sie zu einem uns unvorstellbar mächtigen Geisterwesen wird, wie die vier rachsüchtigen Schwestern, die nicht zuletzt durch Monsieur Latierres Entschlossenheit und Tatendrang besiegt werden konnten? Also können Sie ihm nicht eine falsche Entscheidung in Tateinheit mit offener Befehlsverweigerung unterstellen, wenn Sie selbst nicht wissen, ob Ihre Entscheidung die richtige gewesen wäre. Auch habe ich in meiner Tätigkeit viele Nachtodexistenzen angetroffen, die nur deshalb Geister wurden, weil sie zu Lebzeiten nicht auf ihr Gewissen gehört und ihre Seele mit schwerer Schuld beladen haben, die der Tod nicht von Ihnen nehmen konnte. Das ist meine Einschätzung."
"Gut, ich bin ein wenig befangen, weil Anwärter Latierre ein angeheirateter Verwandter von mir ist. Daher darf und will ich nichts äußern, dass zu parteiisch klingen kann", holte Barbara Latierre aus. "Ich möchte nur sagen, dass Anwärter Latierre erst im zweiten von fünf Anwartschaftsjahren ist und die Angelegenheit mit dieser Gurgha eine außerordentliche Extremsituation für uns alle und damit auch für ihn darstellt. Der Aussage seiner unmittelbaren Vorgesetzten nach hätte ihn Léto sicher nicht zum Veelabeauftragten ernennen lassen, wenn er nicht einfühlsam genug wäre und damit auch in der Lage, sich auf bestehende Beziehungen einzustellen. Außerdem kennt er sich im Umgang mit Riesen aus und weiß aus eigenster Erfahrung, wie heftig deren Gefühlsleben sein kann. Ansonsten hätte Mademoiselle Olympe Maxime ihm sicher nicht zugemutet, im Auftrag des Ministeriums ihre gerade wieder schwangere Tante zu betreuen, wobei es auch indirekt auf seine Idee zurückzuführen ist, dass diese Riesin nicht vor lauter angestautem Fortpflanzungstrieb arglose Menschen verletzt, misshandelt und/oder getötet hat. Soviel von mir, Herr Minister."
"Ich übe die Leitung dieser Abteilung aus", setzte Monsieur Vendredi nun an. "Daher kann ich verfügen, welcher der mir zugeteilten Mitarbeiter welche Aufgaben wahrnimmt." Julius schwante nichts gutes, weil ihm der überlegene, ja angriffslustige Tonfall seines zweithöchsten Vorgesetzten für ihn wie eine Drohung klang. "Da ich feststellen muss, dass Anwärter Latierre offenbar der Meinung anhängt, er komme mit jedem gut aus und sei überall beliebt, sobald er seine besonderen Kräfte und Kenntnisse präsentiert, sollte er diese seine Fähigkeiten dort wirken lassen, wo noch großer Bedarf an wirklich herausragenden Zauberern besteht." Julius wusste nun, dass gleich ein wuchtiger Hammerschlag kommen musste. "Daher empfehle ich Monsieur Latierre, das Büro für denkfähige Zauberwesen auf Réunion mit seinen Fähigkeiten und seiner Einsatzbereitschaft zu verstärken, und zwar bis zum tonusmäßigen Personalwechsel in drei Jahren. Diese Maßnahme soll am ersten April beginnen. Bis dahin können alle Formalitäten wie Familienunterbringung, Umzugshilfen und dergleichen durchgeführt werden." Rums! Das war wirklich ein Hammer, dachte Julius. Alle hier außer dem Minister starrten Vendredi verstört an. Doch er blickte seine Mitarbeiter nur ernst und unerbittlich an. Julius wusste, dass er gleich wohl die Auswahl vorgehalten bekommen würde, diese als Personalverstärkung verharmloste Strafversetzung hinzunehmen oder von sich aus um seine Freistellung also Entlassung zu ersuchen.
"Ich gehe davon aus, dass Anwärter Latierre nach allen Aussagen und seiner eigenen Einschätzung eben die nötige Disziplin aufbringen wird, diese nicht für jeden Anwärter gebotene Gelegenheit zu einem Erfolg für sich und das Zaubereiministerium zu machen und ..."
"Besonders wo auf La Réunion derzeit weder Riesen, Veelas oder registrierte Lykanthropen wohnen", sagte der Minister unvermittelt. "Auch wenn Sie als Abteilungsleiter verfügen können, welcher Mitarbeiter von Ihnen an welchem Ort mit welchen Aufgaben betraut ist, kann und will ich dem nicht wort- und tatenlos zustimmen. Monsieur Latierre hat sich dazu bereiterklärt, dort, wo intelligente Zauberwesen leben, mit seinem Wissenund Können einzustehen. Diese von Ihnen als für Anwärter selten angebotene Gelegenheit einer Dienstzeit in tropischen Gefilden missfällt mir aufs schärfste. Denn Anwärter Latierre hat hier sehr wichtige Aufgaben, die er dann nicht mehr erfüllen könnte. Zudem gilt für ihn wie für alle durch herausragende Vorleistungen in den UTZs ausgezeichneten, dass nicht nur die ihn als Mitarbeiter führende Abteilung ihn einsetzen kann, sondern im Rahmen von Amtshilfeersuchen jede in diesem Hause arbeitende Behörde ihn und erwähnte andere Mitarbeiter um Assistenz bitten kann. Soweit mir bekannt ist besteht unsere Niederlassung auf Réunion derzeit aus meinem örtlichen Stellvertreter, dem Abteilungsleiter für magische Geschöpfe, einem Vertreter der Handelsabteilung, sowie eine Vertreterin des Büros zur friedlichen Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie. Und die Berichte, die mir zugehen weisen La Réunion derzeit als ausgesprochen ruhig und leicht zu verwalten aus. Außer kleineren Zusammentreffen mit Touristen aus der magischen und nichtmagischen Welt werden von dort keine Vorfälle gemeldet, für die eine Personalverstärkung dringend erforderlich wäre. Daher mache ich von meinem Veto bei der Personalzuteilung Gebrauch und verfüge, dass Anwärter Latierre in Frankreich verbleibt."
"Das ist nicht Ihr Ernst, Her Minister", seufzte Vendredi, der irgendwie wohl nicht damit gerechnet hatte, dass ihm Grandchapeau die Tour vermasseln würde.
"Zum einen, es ist mein Ernst, Kollege Vendredi. Zum zweiten hatten Sie selbst eben gerade moniert, es bestehe zwischen Ihnen und Monsieur Latierre ein Missverhältnis auf Grund fehlender Anerkennung Ihrer Befehlsgewalt und Entscheidungshoheit. Wollen Sie nun mich als Ihren direkten und obersten Vorgesetzten derartig brüskieren?"
"Keinesfalls, Herr Minister", schnaubte Vendredi verdrossen. Er holte mehrmals tief Luft. Dann sagte er: "Sofern Sie, der Sie sich für Anwärter Latierre verwenden auch befinden möchten, in welcher Abteilung er außendienstlich tätig sein darf, werde ich diese Ihre Entscheidung selbstverständlich akzeptieren. Sofern Sie jedoch wünschen, dass Anwärter Latierre in meiner Abteilung verbleibt kann ich nich umhin, ihm für den Rest seiner Anwartschaft jegliche Beteiligung an Außeneinsetzen zu untersagen, da eine Situation wie mit der grünen Gurgha jederzeit wieder eintreten kann und ich mich dabei auf die Zuverlässigkeit der außen tätigen Mitarbeiter verlassen muss. Daher bleibt mir, da Sie einer Aufstockung des Personals auf Réunion nicht zustimmen möchten, die Generalanweisung an Anwärter Latierre, bis zum Ende seiner Anwartschaft oder bis er von sich aus das Ende seiner Anwartschaft erbittet oder in eine andere Abteilung versetzt zu werden beantragt ausschließlich im Innendienst zu arbeiten, also nur Korrespondenzen zu bearbeiten, Anfragen von Besuchern zu bearbeiten oder als Mittler zwischen Außendienst und Archiv tätig zu sein. Diese Entscheidung gilt ab morgen bis zum Juli 2005."
"Das heißt, Mademoiselle Maxime muss persönlich bei uns vorsprechen, wenn Sie in den Angelegenheiten ihrer Tante unterhandeln möchte?" fragte Mademoiselle Ventvit.
"Dies trifft zu", bestätigte Vendredi.
"Dasselbe gilt dann auch für die Vermittlung zwischen uns und den französischen Veela-Abkömmlingen?" fragte Ornelle Ventvit.
"Auch dies trifft zu, Mademoiselle Ventvit.
"Ich bitte um das Wort", sagte Julius nun. Vendredi blickte ihn herausfordernd an.
"Soweit ich weiß wird jedem Anwärter das Recht eingeräumt, innerhalb einer Frist zwischen einem Tag bis einen Monat Widerspruch gegen die ihm zugeteilten Aufgaben einzulegen und einen alternativen Vorschlag einzureichen. Ich melde an, diese Bedenkzeit zu nutzen, um zu erwägen, welche Vor- und Nachteile bei der einen oder andren der verfügbaren Auswahlmöglichkeiten bestehen. Ich bitte hierfür um die angebotene Bedenkzeit."
"Dieses Recht haben Sie. Aber bis Sie eine Entscheidung getroffen haben, die dann endgültig ist, erfüllen Sie die Ihnen von mir gerade zugewiesenen Aufgaben!" erwiderte Vendredi. Julius nickte und bestätigte es.
"Somit erkläre ich diese Anhörung vom 10. März 2002 um 15:40 Uhr mitteleuropäischer Zeit für beendet", sagte Vendredi. "Ich danke den Beigeordneten für Ihre Teilnahme und Ihre Mithilfe und wünsche allen Anwesenden noch einen erfolgreichen Restarbeitstag und einen erholsamen Feierabend", beschloss er noch die Sitzung, die bis zum letzten Wort von der Flotte-Schreibefeder mitprotokolliert wurde. Für die Anwesenden hieß das, dass sie nun an ihre eigentliche Arbeit zurückzugehen hatten.
Julius verbarg seine Wut nach außen hin. Eigentlich wollte er sich noch bei Minister Grandchapeau bedanken. Doch der wandte sich so schnell ab, dass Julius nicht dazu kam. Zusammen mit Ornelle Ventvit kehrte er in ihr Büro zurück.
"Das ist doch nicht wahr, wieso ist er nicht hier?" schnaubte Ornelle, als sie die Tür aufschließen musste und feststellte, dass Monsieur Delacour nicht wie eigentlich angeordnet anwesend war. Auf seinem Schreibtisch lag nur ein Zettel, dass er wegen einer zu klärenden Familienangelegenheit den Dienstposten unbesetzt lassen musste. "Das werde ich wohl noch mit ihm erörtern müssen, was da so drängend war, dass er eine klare Anordnung missachten musste", sagte Ornelle. Dann wandte sie sich an Julius, der dabei war, sich einen der lebendig gezauberten Stühle einzufangen. "Ihnen ist sicher klar, dass Sie in dieser Abteilung wohl kein Bein mehr auf sicheren Boden bekommen werden, solange Monsieur Vendredi sie leitet", sagte Sie. Julius sprang gerade den in die Ecke gedrängten Stuhl an, der versuchte, mit Lehne und Füßen um sich zu schlagen. "
"Das war mir schon in dem Moment klar, wo er mich als Bauernopfer für den Verlust seiner Leute ausgeguckt hat, Mademoiselle. - Hab ich dich!" Er hog den gerade sicher gepackten Stuhl an und trug ihn zu seinem Schreibtisch. Dort warf er sich wuchtig mit dem Hinterteil auf die Sitzfläche. Jetzt würde der Stuhl nicht mehr herumspuken.
"Natürlich mussten Sie diesen Eindruck gewinnen, Monsieur Latierre. Das hat wohl auch der Minister so gesehen und deshalb interveniert. Mir bleibt leider nichts mehr übrig, als seine Anordnung zu befolgen und Sie ausschließlich im Innendienst zu beschäftigen, sofern Sie nicht von sich aus Ihre Freistellung erbitten oder die Versetzung in eine andere Abteilung beantragen. Da ich jedoch weiß, dass diese Betätigung weit unter Ihren Möglichkeiten liegt haben wir beide ein erhebliches Problem zu bewältigen."
"Ja, entweder ich sitze meine restliche Anwartschaft nur noch im Büro oder verlasse Sie und Monsieur Delacour in die eine oder andere Richtung."
"Ich hätte sofort gesagt, Sie könnten im Rahmen einer Fortbildung in eine andre Behörde dieser Abteilung überwechseln, aber die Generalanweisung Vendredis gilt für seine ganze Abteilung. Somit hätten also weder Madame Latierre noch Monsieur Beaubois etwas davon, wenn ich Sie zu einem Wechsel in deren Zuständigkeitsbereich veranlasse."
"Ja, und die Vampir- und Werwolfüberwachung steht und fällt mit den Außeneinsatztrupplern", wusste Julius. "Aber welche Madame Latierre meinen Sie jetzt, Mademoiselle Ventvit? Ich kenne zwei, die im Ministerium arbeiten."
"Madame Barbara Latierre natürlich. Aber sollte Ihre Frage implizieren, dass Sie um der Außeneinsatzmöglichkeiten wegen mit einem Wechsel in die Abteilung für magische Spiele und Sportarten liebäugeln, so darf ich Ihnen als Ihre noch immer direkte Vorgesetzte den guten Rat geben, dass Madame Hippolyte Latierre keine Rücksicht auf verwandtschaftliche Beziehungen nimmt."
"Ich könnte auch ins Appariertestzentrum überwechseln. Ich weiß zwar nicht, wie lange da die Umschulung dauert. Aber vielleicht ginge da auch was", sagte Julius.
"Ich erkenne, dass Sie sich mit diesen und ähnlichen Überlegungen sicher sehr viel Zeit und Ruhe nehmen müssen. Selbst wenn der Innendienst im Vergleich zum Außendienst weniger gefahrenträchtig ist kostet es sie doch eine Menge Zeit und Aufmerksamkeit. Ich möchte Ihnen daher vorschlagen, die Ihnen noch zustehenden vier Wochen Jahresurlaub zu nehmen, um sich in Ruhe und meinethalben auch in Absprache mit Ihrer Frau und Ihren Freunden und Verwandten zu einer klaren, für Sie tragbaren Entscheidung finden können. Möchten Sie diesen Vorschlag annehmen?"
"Eigentlich wollten meine Frau und ich um Ostern herum eine Woche haben, um in die Staaten zu unseren dortigen Verwandten zu reisen und im Sommer drei Wochen, um mit der Familie nach Australien zu reisen, da ich von dort mehrere Einladungen erhalten habe, meine Frau und unsere beiden Kinder endlich meinen dort wohnenden Briefbekannten zu präsentieren."
"Welchem Sommer? Der australische Sommer klingt ja jetzt erst langsam aus", erwiderte Ornelle Ventvit. Julius musste wider seine Verdrossenheit über Vendredis Urteil grinsen. Dann sagte er: "Sogesehen haben Sie natürlich recht. Dann möchte ich Ihren Vorschlag sehr gerne annehmen. Allerdings dauert ein Urlaubsantrag doch zwei Tage, weil geprüft werden muss, ob genug Personal zur vollständigen Einsatzbereitschaft der betroffenen Dienststelle vorgehalten werden kann."
"Ja, und da Sie per Generalanweisung von Monsieur Vendredi für jeden Außeneinsatz gesperrt sind und ich mit Monsieur Delacour, sofern er auch hier ist, die innendienstliche Einsatzfähigkeit dieser Unterbehörde aufrecht zu halten im Stande bin, muss der Antrag lediglich an mich gereicht und von mir geprüft und entschieden werden", erwiderte Ornelle.
"Und wenn Monsieur Vendredi befindet, ich möge bei Madame Barbara Latierre im Schädlingsbekämpfungsbüro die Beschwerdebriefe von Schweinezüchtern, Gärtnern oder Förstern über Nogschwänze, Horklumps, Gnome oder Knarls sortieren?"
"Hätte meine Kollegin Sie wohl schon gleich nach der Anweisung Monsieur Vendredis entsprechend angefordert", erwiderte Mademoiselle Ventvit.
Ein Memoflieger zwengte sich durch die Ein- und Ausflugsluke und schlingerte zu Mademoiselle Ventvits Schreibtisch. Sie nahm den dicken Pergamentpacken, den der bunte Flieger gerade so eben noch zustellen konnte und nickte Julius zu. "Das ist die offizielle Anweisung Monsieur Vendredis. Da müssen wir zwei unterschreiben und eine Kopie davon zu ihm zurückschicken."
Julius unterschrieb widerwillig, dass er die bis zum Ende seiner Anwartszeit gültige Anweisung zur Kenntnis genommen hatte, setzte jedoch in das Feld für Widerspruchsankündigung hinein, dass er im Rahmen der ihm gewährten Rechte einen Monat Bedenkzeit erbat, um sich klar für den Verbleib in dieser Abteilung zu entscheiden oder eine andere Möglichkeit nutzen würde. Dann händigte ihm seine direkte Vorgesetzte ein Urlaubsantragsformular aus, dass er gründlich ausfüllte. Konnte sein, dass er deshalb noch was von Millie zu hören bekam, weil der Besuch bei den Foresters, Brocklehursts, Merryweathers und Southerlands ja schon geplant war. Aber dem sah er mit weniger Unbehagen entgegen als der Anhörung. Er würde es auch Millie sagen, dass Vendredi sie und ihn glatt jenseits von Europa und Afrika abkommandiert hätte, sofern sie nicht darauf bestanden hätte, mit den zwei Kindern alleine in Millemerveilles zu bleiben.
Der Urlaubsantrag lief komplett gegen alle regeln der Bürokratie in weniger als einer Viertelstunde ab. Dann hatte Julius eine von drei kopierten Genehmigungen bei sich. Da Monsieur Delacour immer noch nicht da war und der Urlaub ja erst mit Beginn des nächsten Tages in Kraft trat half er Ornelle noch bei der angefallenen Korrespondenz. Zumindest war nichts über Riesen oder Veelas mit dabei.
Als er dann um fünf Uhr wieder bei seiner Frau im Apfelhaus war fragte sie erst: "Noch berufstätig oder gerade auf Arbeitssuche?"
"Im Moment im Urlaub", sagte Julius und zeigte ihr die Urlaubsbescheinigung."
"Gut, dann müssen wir Britt und Martha schreiben oder sonst wie durchgeben, dass wir eine Woche vor dem ausgemachten Tag zu ihnen gehen, Monju", hakte Milie das total gelassen ab, dass ihr Mann mal eben alle Urlaubspläne umgeworfen hatte. Er fühlte, dass sie auch nicht verärgert oder verunsichert war. Dann rief sie nach Aurore, die gerade draußen vor dem von einer hohen Hecke umfriedeten Knieselwohnbaum herumlief. Julius lief hinunter und machte seiner ersten Tochter die Tür auf. Da kam sie auch schon auf ihren kurzen Beinen angewetzt und flog ihm in die Arme. Er knuddelte sie, wobei er aufpassen musste, nicht zu doll zuzudrücken. "Na warst du auch ganz lieb zu Maman und Chrysie?" fragte er, als er in ihr rundes Gesicht mit den strahlendblauen Augen sah, die ihn an seine eigenen Augen erinnerten.
"Rorie bei Sandrine, Estelle, Roger", quiekte sie. "Ganz viel gehüpft und gerutscht und Besen-hui gemacht."
"Oi, so viel? Sehr schön. Jetzt rein Rorie. Maman möchte dir was zu essen geben."
"Goldies Maunzebällchen gehört. Sehe die aber nicht."
"Weil die Maunzebällchen noch zu klein sind um mit dir zu spielen Rorie. Deshalb hat Papa ja die gaaaanz hohe Hecke gemacht, damit die ruhig größer werden können. Goldie kriegt sonst Angst und wird dann böse. Und das tut dann ganz gemein weh."
"Ja?" fragte Aurore. Julius nickte nur. Dann trug er seine Tochter, weil Papa doch die längeren Beine hatte, ins Haus zurück.
Julius genoss die Stunden, bis Aurore ins Bett musste. Er sang und spielte mit ihr und las ihr zur guten Nacht noch die Geschichte von Purly, dem purpurnen Knuddelmuff vor, der wegen seiner besonderen Färbung von den vanillefarbenen Knuddelmuffs immer ausgelacht wurde und schließlich einen rosaroten Knuddelmuff namens Poinky in einem Schweinestall irgendwo traf. Die darunter stehende Werbung, dass die Kinder von den beiden im Laden von George Weasley in London besucht werden konnten ließ er aus. Aurore war über der Geschichte selig eingeschlummert.
"Und warum hast du jetzt Urlaub und nicht erst in den Tagen um Ostern?" fragte Millie, was für Julius hieß, die ganze Geschichte zu erzählen. Während Chrysope selig in der Wiege schlummerte, bis sie ihre Nachtmahlzeit erquängeln würde, wisperte er seiner Frau alles zu, was ihm passiert war, auch das mit Temmie.
"Die hat mich heute morgen gefragt, ob ich mit meiner eigenen Milch auskäme oder noch was von ihr mithaben möchte. Aber dann sollten wir zwei sie persönlich bei ihr abholen, weil sie das jetzt so haben wollte, dass sie wisse, wer ihre Milch bekommt."
"Dann machen wir morgen zusammen einen Ausflug auf den Bauernhof", nahm Julius die Anregung auf.
"Dir ist sicher klar, dass Ornelle dich nur deshalb in den Urlaub hineingestupst hat, weil sie jetzt in Ruhe mit Vendredi und anderen Leuten aushandeln kann, bei wem du ausreichend genug gefordert wirst, und wenn das so ist, dass nur der Minister uns zwei hier in Millemerveilles halten konnte, dann ist dir sicher klar, was der damit bezweckt."
"Dass ich ins Muggelkontaktbüro wechsel?" fragte Julius. Millie nickte. "Habe ich mir auch in dem Moment gedacht, als ich auf dem Weg ins Foyer war. Muss ich mir gut überlegen, ob ich da besser klarkomme. Immerhin könnte ich da an einen Computer ran."
"Ornelle Ventvit hat leider auch recht, dass du da in der Abteilung von Monsieur Vendredi so schnell kein Bein mehr auf den Boden bekommst, vor allem jetzt, wo er dich nicht zur allgemeinen Abschreckung auf eine fast einsame Insel rüberwerfen konnte."
"Ich denke, da hätte ich dann doch eher den Knopf für den Schleudersitz gedrückt, und das weiß der Minister auch."
"Dann hättest du auch zu Camille gehen oder dich von Hera Matine im Einzelprogramm zum Heiler ausbilden lassen können."
"Ja, oder wäre als Létos persönlicher Dolmetscher mit ihr um die Welt gereist, um nach ihrer Enkeltochter zu suchen."
"Léto? Da hätte ich dann auf einen Knopf gedrückt und dann hätte es sehr laut geknallt, mein süßer", schnaubte Millie. Dann wollte sie wissen, was es mit dieser Wächtergeschichte auf sich hatte, die Julius von Temmie erfahren hatte. Er erwiderte, dass er es wohl wieder im Traum vorgeführt bekäme. "Dann stelle ich den Antrag, dass ich da mitträumen darf", sagte Millie und ging davon aus, dass Temmie, mit der sie genauso verbunden war wie Julius, das mitbekam.
In der Nacht fand sich Julius dann aber alleine auf Temmies Weide. "Mildrid soll ihre eigene Schlafwelt haben, wo sie für dich und ihr zweites Kind gerade so viel Kraft braucht", hörte er Temmie wie mit den Ohren. Dann gebot sie ihm, auf ihren Rücken zu steigen. Er verwendete den Freiflugzauber dafür. Sie hob behutsam vom Boden ab und verließ das Tal, in dem ihr Hof lag. Dann waren sie auf einmal über einer Ansammlung von himmelhohen Gebäuden. Da waren Kuppeln, Türme und sogar stufenartige Bauten, die an die altbabylonischen Tempel erinnern mochten. "Golaritan, Julius. Das ist die Stadt der Mitte und der Begegnungen", erklärte Temmie, während sie sich und ihn unsichtbar machte und über die nur am Rand aufgebauten Riesengebäude hinweg in eine Stadt trug, die ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Straßen, Plätzen, Parkanlagen und Gewässern zu bieten hatte. Geflügelte Muschelbarken flogen über der Stadt herum. Doch auch altertümlich anmutende Fuhrwerke rollten auf den glatten Prachtstraßen zwischen Bäumen aus allen Regionen der Erde dahin. Die Fuhrwerke wurden von silbern glänzenden Pferden gezogen. Hier und da hörten sie Musik aus den in der Innenstadt bis zu gerade hundert Meter hohen vieleckigen Gebäuden.
Ganz in der Mitte erhoben sich drei Mauern, die drei konzentrische Kreise bildeten. An der inneren Mauer standen zehn achteckige Türme, die genauso hoch aufragten wie das zerstörte Welthandelszentrum von New York. Um jeden der Türme lag ein flimmerndes oder strahlendes Leuchten. Julius erkannte jenes grüne Energiefeld wieder, mit dem er es in der Himmelsburg Ailanorars zu tun gehabt hatte. Dann sah er jenen silbernen Schimmer, wie er bei den tragbaren Schutzschilden der Wachen der Himmelsburg vorhanden gewesen war. Um eines der Gebäude tanzten und züngelten orangegoldene Flammensäulen, deren wild zuckende Spitzen sich über der selbst wie eine Flammenzunge nachempfundenen Spitze des Turmbaus berührten, durchmischten und wieder trennten, ohne einen Funken zu versprühen und ohne rauch abzusondern. Um einen der Türme erhob sich eine einzelne Kuppel, durch deren nebelartige Konturen grüne und rote Schlierenmuster geisterten. Eines der Gebäude glänzte golden und stand im Zentrum einer sonnengelben Halbkugel. Ein wie eine gigantische Koralle geformter Turm wurde von einer dunkelblau leuchtenden Nebelsäule umkreist. Dann war da noch ein violettes Leuchten, dass den davon umflossenen Turm scheinbar immer wieder schrumpfen und wieder wachsen ließ, sobald ein kurz aufzuckender Blitz daraus den Turm traf. Ein durchsichtiger Turm wurde von einem goldenen Nebel umgeben, der jedoch nicht so dicht war, als dass nicht zu sehen gewesen wäre, was innerhalb des Turmes geschah. Dazu im Kontrast stand ein nachtschwarzer Turm, der von einer tiefblauen Aura umgeben wurde, in der zwischendurch dunkelviolette Schlieren entlanghuschten.
"Der gläserne Turm, oder auch die Säule des Lichtes war meine Residenz damals", sagte Temmie und näherte sich dem durchsichtigen Turm mit der goldenen Aura. "Das Licht darum ist der Atem des Friedens, der dem, der dort eindringt jede Feindseligkeit nimmt und jedes Geschoss oder jeden Angriff der Kraft in den höchsten Himmel abweist. Dagegen steht die Säule der Nacht für jene, die die alles endende Dunkelheit verehrten und ohne Beschränkung durch Mitgefühl und Anerkennung handelten, weil sie glaubten oder noch glauben, dass die Welt in die Finsternis zurückkehren müsse, aus der sie einst entstanden ist", erläuterte Temmie ganz eine Stadtführerin, als sie behutsam einmal um den schwarzen Turm herumflog. "Diesen Turm umgibt der Hauch des letzten Atems. Wer dort ohne Voranmeldung eindringt verliert jede Freude, Wärme und Kraft und stirbt, wenn er nicht von einem der Bewohner ergriffen und hineingezogen oder wieder zurückgewiesen wird. Direkte Angriffe werden mit dem vielfachen der Ausgangswucht gezielt auf den Angreifer zurückgeworfen. Somit ist dieser Hauch eine Form dessen, was ihr heute einen schwarzen Spiegel nennt, nur dass hier auch feststoffliche Geschosse betroffen sind."
"Schon gruselig. Dann hat jeder deiner damaligen Mitkönige sein besonderes Element als Schutzwall um seinen Palast gelegt?" fragte Julius. Temmie bejahte es. "Ja, Der Pfeiler der Zeit ebenso wie die Flamme der Ewigkeit, Die Lanze der Sonne oder die Säule des Mondes ebenso wie der Hort des Windes und das Haus der großen Mutter. Aber eigentlich waren diese Schutzwälle nicht nötig, weil Golaritan als Regierungsstadt einer von vier Orten des dauerhaften Friedens war, bis die Schergen Iaxathans befanden, sich nicht mehr an bestehende Vereinbarungen gebunden zu fühlen. Dann wurde Golaritan auch zum Kampfplatz und verlor seine Bewohner. Kantoran, der Hüter der Ereignisse, kann dir das vielleicht einmal zeigen, wenn du wieder nach Khalakatan kommst."
"Moment, Khalakatan existiert noch wie diese Stadt Garumitan. Wieso konnte das nicht auch bei der Hauptstadt gehen?" fragte Julius.
"Weil sie eben für alle Strömungen des Seins und Strebens offen zu sein hatte. Sie sollte nicht behüten und nicht verwehren. Daher konnten Iaxathans Schergen sie am Ende entvölkern. Doch die Kundigen von Erde, Feuer und Luft haben ihm den Triumph vereitelt, sie als seine ganz alleinige Hauptstadt zu behalten. Sie haben die Stadt in Flammen, Erdbeben und Stürmen dem Erdboden gleichwerden lassen. Doch damit war der Kampf um Altaxarroi endgültig der Weg zum Untergang geworden", seufzte Temmie.
Temmie stieg wieder höher. Unvermittelt flogen sie auf einen himmelhohen Berg zu, auf dessen Gipfel Schnee und Eis aufgetürmt waren. Sie flog einige Minuten lang. Dann ging sie nach unten. Sie flog am Fuße des Berges entlang und dann über einem flachen Hügel dahin. Julius fragte sich, ob nicht irgendwelche Lustphantasien von ihm in diese Szenerie einflossen, weil ihm der Hügel vorkam wie ... "Der Lebenskelch der großen Mutter, Madrashghedoxalan", sprach Temmie etwas aus, was Julius irgendwie so verstand, dass es seinen Gedanken ähnelte. "Es heißt, dass alle lebenden Wesen mit und ohne die Kraft von der großen Mutter Erde hier ans Licht gelangt sind. Natürlich ist es nicht wirklich so passiert, wussten auch unsere Naturkundigen schon. Doch die Formation und die Nähe des mächtigen Himmelsberges ließen die Urahnen daran denken, dass ihre große Mutter Erde sie hier geboren haben muss. In dem Hügel ist die Stadt der Erdverehrer. Sie wurde als Schutzstadt für alle das Leben bewahrenden errichtet. Viele Frauen kamen hierher, um ihre Fruchtbarkeit zu verbessern und dann auch, um hier ihre Kinder zu bekommen, vor allem die Erdvertrauten oder deren Gefährtinnen. Mag sein, dass Agolars Gefährtin Aimartia auch hier ihre Kinder gebar." Julius erinnerte sich an den Namen. Aimartia war Naaneavargias und Ailanorars Mutter. Schon heftig, dachte er.
Temmie landete auf der Sohle des Tales, das den Hügel durchzog. Vor ihnen stand eine Steinwand. Doch diese tat sich auf, als Temmie laut muhte. Frauen in roter Kleidung mit grauen Kopftüchern winkten sie herein. "O große Königin, willst du die Frucht deines Leibes zu seiner und aller Wesen ehren aus dem Schoß unserer großen Mutter dem Licht der Welt darbringen?" fragte eine der rotgekleideten Frauen. Temmie sprach: "Noch nicht. Doch ich will euch den zeigen, der von Agolar die Macht erhielt, die Beleidigung der großen Mutter von ihrem Angesicht zu fegen. Erweist ihm und mir die Ehre, eure heilige Stadt zu besuchen!"
"Diese Bitte sei dir und ihm gewährt", sagte eine der Frauen.
Temmie trabte nun behutsam durch imposante Tunnel und unterirdische Säle. Julius sah in die Wände eingelassene Gebäude, die keine Ecken und Kanten besaßen. Viele Frauen bestaunten Temmie, doch nicht weil sie eine riesige, geflügelte Kuh war, sondern weil sie von der Aura Darxandrias umflossen wurde, die auch Julius aufgeprägt war. Temmie erläuterte Julius, während sie tiefer und tiefer in diese unterirdische Stadt vordrangen, dass hier niemand mit lebensfeindlichen Absichten eingelassen werde. Jeder der töten wolle versteinere bei Berührung der Talsohle und würde dann in den Schoß der Erde zurückgezogen, um dort auf die Gnade einer Wiedergeburt in freundlicher Erscheinung warten zu müssen. Daher fürchte Iaxathan nichts mehr, als hierher zu kommen.
"Öhm, gibt es diese Stadt noch?"
"Das weiß ich nicht. Vor Kurzem dachte ich auch noch, dass Garumitan auf Ewig im Mantel der voraneilenden Zeit verbleiben würde", sagte Temmie.
Julius wunderte sich, keine Beleuchtungskörper zu sehen. Lag das daran, dass er ja träumte und im Traum kein Licht zum sehen brauchte? "Wer Einlass erhält sieht in der bergenden Dunkelheit der großen Mutter, ohne ein aus Feuer entstehendes Licht zu brauchen", sagte Temmie.
"Ein noch sehr jung wirkendes Mädchen mit langen, fuchsroten Haaren kam aus einem der rundlichen Gebäude heraus, sah Temmie und ließ sich auf die Hände fallen. Sie löste sich in eine bunte Wolke aus Lichtwirbeln auf. Die Wolke wuchs an, dehnte sich aus und verfestigte sich dann zu einer fuchsroten Risenkuh mit goldenen Hörnern und goldenen Hufen. Das Euter war noch nicht ausgeprägt, also war es eine Färse, eine jungfräuliche Kuh. Allerdings blieben die dunkelgrünen Augen, die Augen, die die unbekannte besessen hatte. Julius hatte das Gefühl, diese Augen schon gesehen zu haben. Dann fiel es ihm ein: Es waren die gleichen Augen, wie Naaneavargia sie besessen hatte, als diese sich im Uluru in Menschlicher Gestalt vor ihm hingestellt hatte.
"Behagt mir, diese Erscheinung, Königin Darxandria. Und dein Zögling, möchte er nicht auch diese erhabene und starke, sowie bedächtige und nährende Form annehmen, so kann ich von ihm mein erstes Kind empfangen."
"Er hat bereits eine Gefährtin, die ihn zwei Töchter schenkte, Shainorammaya", lachte Temmie. Dein Tag wird kommen."
"Ich weiß, meine Sohnestochter hat ihm geholfen, die Untat Skyllians zu vergelten. Doch dauert das noch zu lange, bis ich diesen Kedargororian finde und er mich mit seinen Kindern erfüllt. Also ist noch Zeit, Jüngling. Komm und schenke mir die Kraft deines Lebensspenders in der erhabenen Gestalt der großen Königin!"
Julius fühlte, wie etwas aus den seltsamerweise grasgrünen Kuhaugen auf ihn einströmte. Doch bevor es ihn vollends erwischen konnte hob Temmie ab und flog. Die fordernde, betörende Kraft ließ nach. Julius atmete auf.
"Moment mal, war das Naaneavargias Großmutter?" fragte er, während er sah, wie die zur roten Kuh mit goldenen Hörnern und Hufen gewordene Frau hinter ihnen herlief, jedoch nicht so schnell mitkam, wie Temmie fliegen konnte.
"Ja, das ist Naaneavargias Vatermutter, Shainorammaya, was Tochter der Freude heißt. Wir sind offenbar in die Zeit geraten, in der sie noch ein junges Mädchen von gerade zwanzig Sonnen war. Doch sie galt als überragende Gestaltwandlerin, ähnlich jener Lehrmeisterin, die Maya Unittamo heißt. Allerdings muss sie dafür auf dem Erdboden stehen. Wäre ich nicht in die Luft gestiegen, hätte sie dich wohl in einen ihr gefälligen und sie begehrenden Stier verwandelt, und ich habe mit dem Kalb im Bauch schon genug zu tragen. Am Ende hättest du nach ihr noch mich mit deinem Lebensspender beglücken wollen. Auch wenn dies alles in deinem Schlafleben geschieht muss ich dies nicht geschehen lassen."
"Wenn nicht ich dein Fleisch und Blut mit meinem vereine, so wird eine meiner Nachtöchter es von dir bekommen", säuselte Shainorammayas Stimme in Julius Ohren. Er sah sich um und erkannte, dass sie gerade wieder als junges Mädchen auf der Straße vor ihnen stand, naturbelassen und makellos schön, ein blassgoldenes Geschöpf mit grasgrünen Augen, die rote Haarpracht provozierend mal vorne über ihren Brustkorb fallen, um sie dann mit einer kurzen sachten Handbewegung über die Schultern zu streichen und mit einem kurzen Nicken nach hinten über den Rücken fallen zu lassen. Dann waren Temmie und Julius auch schon an ihr vorbei.
"O Mann, hoffentlich kommen mir nicht alle Frauen hier so dreist anbietend."
"Du bist bei mir, und da bist du in Sicherheit", lachte Temmie.
Nach einer weiteren geträumten Stunde innerhalb der unterirdischen Stadt ging es wieder hinaus. Als sie die Höhle verließen wurden sie fast vom hellen Licht des Himmels geblendet und fühlten eisige Kälte. Dann waren die normalen Eindrücke wieder da. Keine zehn Sekunden später flogen sie auf ein gewaltiges Rundbogentor aus blauem Licht zu. Da dröhnte ihnen eine tiefe, blecherne Stimme entgegen: "Haltet ein oder vergeht. Wer die Pforte der vorauseilenden Zeit durchschreiten will muss königlicher Würde sein oder das Siegel eines der erhabenen Herrscher tragen!"
Julius sah erst einen mächtigen Schatten von links. Dann sah er ihn, den gigantischen Körper, einen mindestens acht Meter hohen Riesen. Der Riese sah aus wie ein besonders muskulöser Mensch aus purem Gold. Er trug überhaupt nichts kleidungsartiges am Körper. Seine Schöpfer hatten ihn wohl in voller Absicht als anatomisch einzelheitengetreuen Mann gestaltet. Mit schnellen, weit ausgreifenden und laut stampfenden Schritten preschte das goldene Ungetüm auf sie zu. "Julius, dies ist er, der Wächter von Garumitan. Präge dir sein Aussehen, seine Größe und seine Stimme ein, wenn du ihn suchen gehen willst", sagte Temmie über das Gestampfe der Riesenschritte hinweg. Dann war der Wächter auf Länge seiner Arme heran. Er blickte sie beide aus seinen großen, jadegrünen Augen an und hob behutsam seine linke Hand. Dann sagte er: "O Königin Darxandria, Ihr und euer Bote und Schüler mögt eintreten!" Temmie trabte wieder an. Dann flog sie los, auf das blaue Lichttor zu. Julius fiel noch auf, dass das Tor sich genau in Sonnenrichtung öffnete, dann umfing ihn blaues Licht und ein Gefühl, als drehe sich alles in ihm mehrmals im Kreise. Dann flogen sie unter einer bläulich-grau wabernden, aus dem inneren heraus glühenden Riesenkuppel, die Julius an Khalakatan erinnerte, nur dass diese gewaltige Konstruktion nicht starr war sondern immer wieder zerfloss und sanfte Wellen warf. "Hörst du mich noch gut, Julius?" fragte Temmie ihn. Julius vermeinte, ihre Stimme wie aus der Ferne anfliegen zu hören und dann erst aus ihrem Maul klingen zu hören. Er rief: "Ja, ich verstehe dich!" Er erschauerte. Denn bevor er seine Stimme direkt aus dem Mund hörte wehte sie von allen Seiten heran. "Ich kenne mich nicht mit den Kräften der fließenden Zeiten aus, Julius. Aber das ist wohl die Wirkung, wenn jemand im Mantel der vorauseilenden Zeit eingeschlossen ist", sagte Temmie. An den umgekehrten Nachhall konnte man sich vielleicht doch gewöhnen, dachte Julius. Er fragte, was damit gemeint sei.
"Ich lernte, dass Garumitan, um vor den Anstürmungen der Natur und feindlicher Wesen beschützt zu sein, von ihren Bewohnern in diesen Mantel der vorauseilenden Zeit eingehüllt wurde. Sie eilt damit dem Jetzt um eine Zeitspanne voraus, die ein Tausendsteltag sein mag. Somit ist alles der Jetztzeit für die Stadt bereits Vergangen und damit nicht gegenwärtig und die Stadt selbst noch nicht gegenwärtig. Niemand kann ein Wesen in der Zukunft angreifen, ohne in dessen Zeit zu gelangen."
"Oha, so wie Aurélies besonderer Tresor? Ich dachte nur, der kann nur tote Dinge aufnehmen."
"Vielleicht kommt es auf die Größe und die Ausgeglichenheit zwischen Jetztzeit und Wirdzeit an, wie viele Lebewesen darin eingeschlossen sein dürfen." Das musste Julius zunächst einmal so hinnehmen.
Die Stadt war kreisrund. Er musste einen Moment an den Friedhof von Millemerveilles denken, weil die konzentrischen Kreise von langen Straßen wie Speichen eines Rades durchzogen wurden. Doch die Wege waren nicht gerade sondern unterschiedlich gebogen, mal in S-Kurven, mal zu sich überschneidenden Linien, vielerlei irrwitzige Linien, aber auch klar erkennbare geometrische Figuren. Neben den Straßen standen nicht minder aberwitzig gebaute Häuser, oder wie diese Gebäude sonst genannt werden mochten. Julius konnte Sogar schwebende Bauten erkennen, die sich wie zum Takt einer für ihn unhörbaren Musik drehten oder sanft hinund herglitten. Er sah Parks mit gewaltigen Blumen und winzigen Bäumen, Wasserbecken, in denen leuchtende Tiere schwammen und sah Land- und Luftfahrzeuge, die wie bunte Tropfen, silberne Blütenblätter und leuchtende Schneckenhäuser aussahen. Auch sah er bunte Lichter in den Häusern und auch über den Gebäuden aufflammende Symbole, die ihn an die Orichalktür in der Villa Binoche erinnerten. Mit einem melodiösen Hornsignal machte ein regenbogenfarbiger Tropfen von drei Metern Größe auf sich aufmerksam. Temmie ließ ihn an sich und Julius vorbeifliegen. Kein Geräusch war zu hören.
"Garumitan ist die Statt der vielen Einfälle. Alles kann, nichts muss erschaffen werden, Julius. Allerdings haben hier auch die klügsten Köpfe der drei Hauptrichtungen ihre größten Einfälle in die Tat umgesetzt. Daher galt Garumitan neben Khalakatan und Madrashghedoxalan als drittes wirkliches Heiligtum aller Bewohner meiner Heimat", sagte Temmie, während weitere Luftfahrzeuge sich trällernd oder vielstimmig klingend freie Bahn erstritten. Julius sah einen Mann auf einem geflügelten Nashorn mit goldener Haut. Er winkte Temmie zu und sagte: "Ein wahrhaftig überragender Einfall, als geflügelte Kuh zu erscheinen. Oh, ihr versucht euch auch im Tragen eines Kalbes. Wirklich außerordentlich", rief er und lenkte sein geflügeltes Nashorn längsseits. Julius sah, dass der Mann dunkles Haar und einen Vollbart trug und in blutrote Gewänder mit silbernen und goldenen Verzierungen gehüllt war.
"Es gibt meinem Leben einen neuen Sinn, einmal ein solches Erlebnis zu durchleben", erwiderte Temmie. Dann stellte sie Julius den Fremden vor: "Kuniworonian, der Verleugner der festen Regeln", lachte sie.
"Und das Reittier?" fragte Julius.
"Ein Geschenk meiner Schwester Ashtardarmiria, die möchte, dass ich nicht den kurzen Weg gehe, weil sie fürchtet, ich könne sonst noch weit in der Warzeit erscheinen oder mich in ihrem inneren Nest wiederfinden und darauf warten, dass sie mich dort wieder hinauslässt. Daher hat sie mir dieses künstliche Fortbewegungsgerät gegeben, das sie dummerweise mit einer Nachbildung ihres inneren Selbst belegt hat, dass ich es nicht einfach irgendwo stehenlassen kann. Zudem hat sie mich durch ihr und mein Blut an dieses Gerät hier gebunden, dass ich nicht weiter als halbe Sichtweite den kurzen Weg nehmen kann."
"Hüte dich vor seinen Einfällen, du könntest vergessen, woran dir liegt und was für dich wirklich ist oder nicht ist!" lachte Temmie.
"Verratet Ihr mir, wie ihr diese Erscheinung annehmen konntet?" fragte Kuniworonian Temmie.
"Nein, weil ich keinen Streit mit deiner Schwester will, die dir ja deine Gefährtinnen aussucht. Außerdem müssen wir wieder zurück. Ich wollte meinem Abgesandten nur noch zeigen, wo ihr alle die gewagtesten Sachen macht", sagte sie und flog unvermittelt weiter. Das goldene Nashorn blieb ihnen dicht auf den Flügeln.
In der Mitte erhob sich eine blaue Kuppel. Unter dieser ging es mehrere hundert Ebenen hinunter, zu den Werk- und Fertigungsstätten der Erfinder, Denker, Künstler und Handwerker. Danach brachte Temmie Julius mit Höchstgeschwindigkeit wieder an den Stattrand. Dabei hängten sie das Nashorn mit dem komischen Kuniworonian ab.
"Jetzt kennst du Garumitan. Ich erfuhr, dass kurz vor dem Ende meiner Heimat an einem Vorhaben gearbeitet wurde, in das die Geheimnisse des Lebens und des inneren Selbst eingewoben sein sollten. Je danach, wer Hand darauf legen konnte soll es gutes oder böses erbrüten, dass alles bis dahin gewesene überstrahlen oder überschatten soll. Wohl auch deshalb hat der Wächter, der mit den Gaben von Sonne und Mond versehen wurde, die Pforten der vorauseilenden Zeit sofort geschlossen, als der große Krieg entflammte."
"Mit anderen Worten, wenn die Stadt noch bewohnt ist, und von den Pfflanzungen her könnte das ja gehen, könnte dieses Superduperding, was das ganz gute oder ganz böse ausbrüten kann, auch noch da sein?" fragte Julius.
"Genau das ist meine Sorge, Julius. Denn wenn der Wächter erwacht ist, könnte er den Bewohnern von Garumitan erlauben, alle ihre Erzeugnisse in unsere Zeit zu bringen, eben auch jenes, was das ganz gute oder ganz böse erbrüten kann. Deshalb habe ich dir unsere wichtigen Städte gezeigt. Finde den Wächter von Garumitan! Denn ich höre nur sein leises Singen, ohne die Richtung zu erfühlen, aus der es erklingt."
Sie flogen durch das Blaue Tor zurück. Julius meinte, nun seine Eingeweide dreimal in die andere Richtung verdreht zu bekommen, bevor sie heraus waren. Außerhalb der Zeitbezauberung klang alles wieder wie gewohnt.
"So, und ihr vier kommt dann zu mir, um Milch aus mir herauszuziehen. Ich freu mich schon, deine zweite Tochter wiederzusehen. Ruhe wohl und erwache in Frieden!" Mit diesen Worten löste sich Temmie und alles um sie herum in Dunkelheit auf. Julius fand sich in seinem Bett wieder. Er war hellwach. Von wegen wohl ruhen. Also stand er behutsam auf und schlich sich in den Raum mit dem schutzbezauberten Schrank. Aus diesem holte er sein Denkarium und kopierte alle Erinnerungen an diesen Traum dort hinein. Wohl wahr, Temmies Befürchtung konnte zutreffen. Und ausgerechnet jetzt musste ihn dieser Sturkopf Vendredi derartig ausmanövrieren. Aber was hatte Temmie alias Darxandria erwähnt und auch dieser Goldene Gigant gedröhnt? Nur wer königlicher Abstammung oder Träger des Siegels eines Königs oder einer Königin war durfte Garumitan betreten. Also würde es, so sehr er das auch verwünschte, am Ende ganz allein an ihm oder vielleicht noch an Temmie hängen. Was hatte Joe ihn gefragt? Ob er mal wieder die Welt retten müsse? Hoffentlich nicht, dachte Julius. Dann schlich er sich in sein und Millies Schlafzimmer zurück und legte sich behutsam neben seine Frau ins Bett. Sie drehte sich zu ihm hin und tätschelte ihm die Wange. "Hat die große weiße Dame dich ihre alte Heimat sehen lassen, Monju?" wisperte sie ihm ins Ohr. Julius brummte nur: "Mmmhmmm." Dann schliefen die beiden Eheleute wieder ein.
Der Aufklärungshubschrauber der libanesischen Armee schwirrte wie eine aufgescheuchte Libelle über das knapp zwanzig Quadratkilometer große Areal etwa zwanzig Kilometer südöstlich der Stadt Baalbek, die auf den Ruinen einer jahrtausende alten Ansiedlung errichtet worden war. Die drei Besatzungsmitglider hatten bis zu dieser Sekunde nicht ausmachen können, was der Grund für den knapp fünf Sekunden langen Aufruhr in der Erde verursacht hatte, der vor etwa zwanzig Stunden die Umgebung mit einer Erdbebenstärke von fünf auf der Richterskala erschüttert hatte. Eine geologische Ursache war rasch ausgeräumt worden. Also konnte es nur eine in sich zusammengebrochene Höhle tief unter der Erde oder eine von Menschen ausgelöste Explosion gewesen sein.
"Windauge eins null drei an Hauptquartier! Beenden Überflug Nummer neun von Ost nach West um siebzehnhundertdreiunddreißig. Keine Anzeichen für sichtbare Ursache des Bebens ausgemacht", meldete der Pilot der Maschine, während er das wendige Fluggerät zu einem weiteren Überflug in West-ost-Richtung einschwenken ließ. Sein Untergebener an den elektronischen Instrumenten konnte die Augen nicht von den Monitoren lassen. Wenn hier was explodiert war, dann hätten Infrarotspuren davon übrigbleiben müssen.
"Windauge eins null drei von Hauptquartier! Überflüge in halber Höhe fortsetzen!" kam der kurze und knappe Befehl über die hochverschlüsselnde Funkanlage. Der Pilot im Range eines Hauptmanns der libanesischen Armee bestätigte den Erhalt der Order und ließ seine Maschine von knapp dreihundert auf unter zweihundert Meter absinken.
"Melde ungewöhnliche Störung, Herr Hauptmann", sagte der Mann an der Ortungselektronik. "Radarsignale werden im Koordinatenviereck siebenundzwanzig absorbiert, kein Bodenecho. Lidar zeichnet unklar."
"Position markieren! alle Aufnahmeeinheiten mitlaufen lassen!" befahl der Pilot und Kommandant des Hubschraubers. Er blickte hinunter, wo nur die von Felsen und Halbwüstengewächsen beherrschte Umgebung der auf einer alten Römersiedlung wiedererrichteten Stadt Baalbek zu erkennen waren. Einst hatten hier die Römer geherrscht. Doch die Siedlung gab es schon seit achttausend Jahren.
"Radar völlig unwirksam! Lidar zeichnet unklares Bild! Das gibt es doch nicht", knurrte der Mann an den Messgeräten. Sein Kamerad, der neben der optischen Überwachung auch die Bordsysteme des Helikopters zu betreuen hatte, stieß unvermittelt einen kurzen Schreckenslaut aus. Der Hauptmann wollte ihn schon anfahren, dass ein Soldat sich nicht so unbeherrscht verhalten dürfe, als er ihn selbst sah.
Aus dem Boden schob sich langsam, doch mit einer Zielsicherheit, die keinen Zweifel an der Entschlossenheit aufkommen ließ, ein großer, im Schein der Nachmittagssonne golden leuchtender Kopf, der Kopf eines Menschen. Doch der Schädel war mindestens viermal so groß wie der eines erwachsenen Mannes und völlig kahl, ja bestand scheinbar aus golden glänzendem Metall. Links und rechts neben dem gigantischen Schädel wühlten sich zwei nicht minder riesenhafte Hände aus dem Boden und schaufelten Steine und Staub lässig zur seite. Nun brachen Hals und Schulterpartie des goldenen Riesens durch den Boden, nicht schnell, aber eben zielstrebig. Das goldene Ungetüm schob sich aus dem Boden heraus wie ein Taucher, der nach einem Ausflug unter Wasser durch die Oberfläche eines ruhigen Gewässers an die Luft zurückkehrt. Der Hauptmann griff zum Funkmikrofon. Bevor er es einschaltete befahl er kurz und harsch: "Videoaufzeichnung direkt an die Zentrale übermitteln!" Dann drückte er die Sprechtaste, um Verbindung mit dem Hauptquartier zu bekommen.
"Windauge eins null drei an Hauptquartier!- Windauge eins null drei ruft Hauptquartier! ..." Ein immer lauter werdendes Knistern und Rauschen drang aus den Kopfhörern in Gehör und Gehirn des Piloten ein. Noch einmal rief er sein Hauptquartier. Doch niemand meldete sich.
"Radar total ausgefallen!" rief der Soldat an der Ortungselektronik. "Lidar zeichnet konturlose Fläche! Suchstrahl womöglich zerstreut!"
"Was ist das für ein Ding?" wollte der Mann an der Bilderfassungsanlage wissen. Er sah die Augen des goldenen Giganten. Sie wirkten wie fußballgroße Kugeln aus grüner Jade.
"Ein Imam würde es wohl als einen Dämon der Erde bezeichnen", seufzte der Hauptmann. Er war Muslim und somit mit dem Koran und den Geschichten um die Dschinnen vertraut. Doch so, wie dieses Ungeheuer da vor ihm aus dem Boden tauchte war ihm bisher keines dieser Geisterwesen beschrieben worden. Jetzt hatte das goldene Ungetüm seinen Bauch aus dem Boden gewühlt und zog mit zwei ruckartigen Bewegungen je ein gewaltiges Bein frei. Steine und Staub wirbelten dabei um das aus der Erde emporsteigende etwas. Es glänzte am ganzen Körper. Die Männer im Hubschrauber starrten auf das glitzernde Ungetüm, das sie nun auf etwa acht Meter von den breiten Füßen bis zur glänzenden Schädeldecke schätzten.
"Windauge eins null drei ruft Hauptquartier! Dringende Meldung!" rief der Hauptmann ins Mikrofon.
"Das ist ein Roboter", vermutete der Soldat an der Videoüberwachung. "Das kann nur ein Roboter sein."
"Ein Roboter mit ausgeprägten Geschlechtsteilen?" fragte der Hauptmann und deutete auf den Unterleib des goldenen Riesens. Das Ungetüm hatte nun sicher den Hubschrauber gesehen, wenn seine jadegrünen Augen zum Sehen überhaupt taugten. Der Pilot hatte das unbestimmte Gefühl, besser Abstand zu der aus der Erde gewachsenen Erscheinung nehmen zu müssen und wollte ganz ohne eine entsprechende Order aus dem Hauptquartier die Flucht ergreifen. Doch da hob das goldene Geschöpf die rechte Hand. Wie ein Mensch besaß auch der Riese fünf Finger an der Hand. Der mittlere davon streckte sich nun dem Hubschrauber entgegen. was in vielen Kulturen der Welt als rüde Geste galt wurde für den Hubschrauber und seine Besatzung zu etwas weit schlimmerem. Denn aus dem auf sie deutenden Finger schoss ein sonnenheller und wie das Tagesgestirn gefärbter, armdicker Strahl hervor, der keine hundertstelsekunde Später den Hubschrauber traf. Die Maschine wurde von einem dumpfem Einschlag erschüttert. Wie mit einer Gasflamme durch Butter bohrte sich der gleißende Strahl durch die Maschine hindurch. Der Soldat an der elektronischen Ortung hatte nicht einmal Zeit, zu schreien. Sein Brustkorb verschwand in einer Wolke aus hellgelber Glut, Asche und Dampf. Sein Körper flammte unvermittelt auf wie eine entzündete Pechfackel. Dann hatte der grelle Strahl auch die Tanks der Maschine durchbohrt und deren Inhalt auf einen Schlag entzündet. Das letzte, was der Hubschrauberpilot in seinem Leben mitbekam war der schlagartig explodirende Feuerball, der ihn und den noch verbliebenen Untergebenen einhüllte und in sengender Hitze verglühte.
Im Hauptquartier von Windauge 103 kam trotz militärischer Disziplin immer mehr Unruhe auf. Zuerst war die Maschine auf dem Radar immer undeutlicher nachgezeichnet worden. Dann verschwand sie vollkommen von derRadarüberwachung. Jeder Versuch, die Maschine über Funk anzurufen schlug fehl. Oberst Ibrahim ben Jamil griff zum Hörer des Haustelefons und rief in der Luftüberwachung an. "Ist Himmelswächter drei noch auf Sendung?" bellte Oberst ben Jamil in die Sprechmuschel.
"Noch auf Sendung, Herr Oberst", bekam er die erhoffte Antwort. Doch als dem Oberst wenige Sekunden später gesagt wurde, dass die knapp zehn Kilometer über dem ermittelten Erdbebenherd kreisende Aufklärungsdrohne den explodierenden Hubschrauber und ein das Sonnenlicht wiederspiegelndes Objekt erfasst hatte fühlte sich der Oberst sichtlich in die Enge gedrängt. Er rief bei seinem Vorgesetzten, General El-Faruk an und meldete ihm den Vorfall. Der General kam sogleich in den Überwachungsraum und ließ sich die Aufzeichnungen von der Zerstörung des Aufklärungshubschraubers zeigen. Die Drohne hatte derweil gemeldet, dass ihre Radar- und Lidarvorrichtungen durch etwas von dem goldenen Objekt ausgehendes gestört wurden. Der General wollte gerade befehlen, zwei bewaffnete Hubschrauber und eine Staffel Düsenjäger hinterherzuschicken, als die Drohne einen massiven Eingriff in ihre Flugkontrolle meldete. Das unbemannte Überwachungsflugzeug verlor an Höhe. Jede automatisch eingeleitete Maßnahme, die einprogrammierte Flughöhe einzuhalten, schlug fehl. Dann erfuhren die Beobachter im Hauptquartier, dass die Drohne offenbar von einem besonders intensiven Magnetfeld erfasst worden war. ben Jamil hätte fast von einem Traktorstrahl à la Krieg der Sterne oder Raumschiff Enterprise gesprochen. Doch er behielt seine unüberprüfbare Mutmaßung besser für sich.
"Himmelswächter sinkt schneller", meldete der Operator, der die Drohne aus der ferne überwachte.
"Etwas zieht unsere Drohne förmlich vom Himmel herunter", seufzte der General. Das unbemannte Überwachungsflugzeug versuchte noch mehrmals, aus dem aufgezwungenen Sinkflug auszubrechen. Doch die auf es einwirkende Gewalt war den kleinen Motoren der Drohne hoffnungslos überlegen. Je tiefer sie sank, desto stärker wirkte sich die verhängnisvolle Kraft aus. Die Drohne stürzte nun förmlich der Erde entgegen.
"Alarmstufe Rot! Unbekanntes metallisches Objekt greift unsere Drohne an! Jagdbomberstaffel vier sofort zum Einsatzort!" befahl der General. Als er sah, was da auf dem Boden stand und gerade auf die dem Boden entgegensinkenden Überreste des explodierten Hubschraubers zustampfte, meinte er, alle düsteren Zukunftsgeschichten von böswilligen Außerirdischen seien mit einem Schlag wahrgeworden. Dann hörte die bis jetzt andauernde Funkübertragung der Drohne auf. "Kontaktverlust auf Höhe eintausend über null", meldete der Operator der soeben verlorengegangenen Drohne und fügte die genauen Koordinaten an.
General El-Faruk, der in seiner Dienstzeit schon gegen die israelische Armee sowie die vom Iran unterstützten Hisbolla-Milizen hatte kämpfen müssen, vermutete, dass ihnen heute ein übermächtiger Feind erwachsen war. Die einzige Ironie an der Sache war die, dass auch die Israelis, wenn die mit Hilfe ihrer amerikanischen Waffenbrüder den Libanon immer noch überwachten, auf ihren Satellitenbildern dieses goldene Ungeheuer zu sehen bekamen und nicht wussten, ob sie den Ungläubigen aus dem Westen den Vortritt lassen oder selbst gegen die sehr unsicheren Vereinbarungen verstoßen und neuerlich im Libanon einmarschieren sollten.
"Geben Sie mir das Büro des Verteidigungsministers! Geheimleitung für unmittelbare Kriegseinsätze!" wies der General den Telefonisten vom Dienst in der Zentrale an. Keine zwei Minuten später hatte er vom Verteidigungsminister die klare Anweisung, das goldene Ungeheuer mit aller nötigen Macht am Vorrücken auf die Städte des Landes abzuhalten, dabei aber auch dafür zu sorgen, dass es den Feinden, also den Militionären der Hisbolla oder den Juden nicht in die Hände fiel. "Angreifen und restlos vernichten!" war die unmissverständliche Order aus dem Verteidigungsministerium. Damit besiegelte der Verteidigungsminister des Libanons das Schicksal von mehr als fünfhundert treuen Soldaten.
Die nächsten opfer nach der Besatzung von Windauge 103 waren die vier Besatzungen einer Jagdbomberstaffel, die nur zwanzig Minuten nach dem Einsatzbefehl über dem fraglichen Punkt eintrafen. Die Maschinen konnten das goldene Ungetüm nicht mit Radar erfassen, und jede Art von Laserstrahl wurde unwirksam von dem Etwas zerstreut, so dass auch keine Zielerfassung für die aus Ägypten gelieferten Raketen möglich war. Als die Jagdmaschinen dann alle Luft-Boden-Raketen auf die Reise geschickt hatten, um zumindest einen oder zwei Zufallstreffer anzubringen, erlebten die Piloten und ihnen zugeteilten Waffenoffiziere die wahre Macht des Unbekannten. Erst baute sich um das goldene Ungetüm eine silberne Lichtkuppel auf, die zu einer seinen Körper genau nachzeichnenden Erscheinungsform wurde. Die Raketen zerplatzten wirkungslos an diesem silbernen Licht. Dann schossen aus den Augen der gigantischen Gestalt silberne Strahlenbündel heraus und trafen die beiden vorderen der vier Jagdbomber voll im Fluge. Die Maschinen wurden aus der Bahn gerissen. Ihre Tragflächen brachen weg. Dann zerbarsten auch die Rümpfe der Maschinen. Die Besatzungen fielen heraus. Doch bevor sie ihre Fallschirme öffnen konnten schlugen sonnenhelle Energiestrahlen aus den Fingern des goldenen Riesens auf sie über und ließen sie innerhalb einer Sekunde restlos zu Asche verbrennen.
Die zwei folgenden Maschinen ereilte nur eine halbe Minute das gleiche Schicksal.
"Bodentruppen los. Aus sicherer Entfernung auf die Erscheinung feuern lassen!" befahl ein in die Angelegenheit mit einbezogener General des Heeres und setzte mehrere Dutzend Panzer und zehn fahrbare Geschütze in Marsch, deren Geschosse ganze Häuserblöcke dem Erdboden gleichmachen konnten. Die Operation mit dem Namen "goldener Dämon" wurde zur strengsten Geheimsache erklärt, auch wenn die libanesische Armee davon ausgehen musste, dass Mossad und CIA irgendwie Wind von ihren Militäroperationen bekamen und sei es die Satellitenüberwachung. Doch ihr Staat wurde unmittelbar bedroht, und trotz der nach den Selbstmordanschlägen in New York und Washington angespannten Weltlage durfte ein Staat sich immer noch gegen unmittelbare Angriffe verteidigen.
Er hatte den Schrei vernommen, den letzten Schrei verlöschender Leben. Es war der Schrei von Trägern der Kraft gewesen. Er war laut genug gewesen, ihn in seinem unortbaren Ruheraum tief unter der Erde zu erreichen und zu wecken. Zunächst hatte sich der Wächter geschüttelt, um alle seine Körperfunktionen zu prüfen. Dann war er so schnell er mit seinen übermenschlichen Kräften konnte aus dem Versteck nach oben getaucht und durch die Erdoberfläche gebrochen. Sein für fühlende Wesen ausgelegter Rundumsinn verriet ihm die Anwesenheit angrifsslustiger Wesen, die in der Luft flogen. Er prüfte mit seinem Sinn für die Ströme der Kraft, ob diese fliegenden Menschen die Kraft benutzten. Doch dem war nicht so. Sie flogen ohne die erhabene Kraft. Also konnten das nur gegen ihre wahren Herren aufbegehrende Wesen sein, die es irgendwie erreicht hatten, ohne Benutzung der Kraft der Fessel der allgegenwertigen Kraft der großen Mutter zu entfliehen. Mit seinen selbst bei völliger Dunkelheit, Rauch und Nebel voll funktionsfähigen Augen prüfte er die Beschaffenheit des fliegenden Körpers. Seine hochempfindlichen Ohren, die Geräusche noch aus zwanzigtausend Körperlängen seiner Schöpfer aufnehmen und orten konnten, hörte er das wilde Schrappen der die Luft zerteilenden, wild kreisenden Blätter auf der Oberseite der Flugvorrichtung. Dann erkannte er, dass die Menschen ohne die Kraft die in der Natur geltenden Gesetze von Auftrieb und Strömungen durchdrungen und sich zu Nutze gemacht hatten, um ohne die Kraft fliegende Maschinen zu bauen. Das waren niemals die Gesandten der königlichen Familien, ja überhaupt keine würdigen, die ihn erblicken durften. Außerdem musste er davon ausgehen, dass es keine Träger der Kraft mehr auf dieser großen Weltenkugel gab. Denn die hätten niemals zugelassen, dass die ihnen untergeordneten Menschen eigene Wege zum fliegen ersinnen konnten. Er zielte mit dem rechten Arm auf das Fluggerät und entfesselte die in ihm schlummernde Gewalt der Sonne. Diese bündelte sich in einem Glutstrahl und zerteilte das Fluggerät, das gleich nach dem Treffer in einem Feuerball verglühte. Also hatten diese Menschen sich die Macht des Feuers unterworfen, um die Kraft für die wild wirbelnden Flügel zu erhalten, ermittelte der Wächter.
Er fühlte, dass über ihm noch ein Metallkörper war. Er blickte hoch und sah das kleine, vogelartige Ding, das über ihm kreiste. Offenbar dachten jene, die das Fliegen ohne die erhabene Kraft erlernt hatten, dort oben reiche niemandes Waffe hin. Doch der Wächter nutzte die Beschaffenheit des künstlichen Beobachters aus. Er zog ihn mit der Macht des Eisenfanges vom Himmel und zerstörte ihn, als er nahe genug für seine Sonnenglutstrahlenbündel war.
Als dann erst vier noch schneller und lauter fliegende Maschinen, die mit feuerspeienden Flügeln versehen waren, herankamen und er die scharf gebündelten Strahlen auf seinem Körper spürte handelte er sofort. er hüllte sich in einen Mondschild ein und zerstörte damit die von Feuer getriebenen Geschosse. Dann warf er die Flugmaschinen mit der Kraft des abweisenden Mondes aus ihrer Flugbahn und zerbrach sie so leicht, als würde er Sand zwischen den Fingern zerreiben. Die aus den Feuervögeln herausfallenden Menschen verbrannte er ohne weitere Überprüfung, wer und was sie waren.
Die Menschen hatte er kampfunfähig gemacht. Doch er vernahm von ganz weit über ihm ein merkwürdiges Singen und Schwingen. Er richtete seine Wahrnehmung für Feuer, Eisenansaugkraft und fliegende Körper nach oben, weit weit hinaus, mehr als einhunderttausend seiner eigenen Körperlänge. Da erfasste er es, jenen Gegenstand, der diese unsichtbaren Tastströme zu ihm hinuntersandte, künstliche, nicht durch die Kraft genährte Tastströme aus der Quelle von Blitz und den Erdball umspannende Kraft, die alles eiserne ordnete und ihm und vielen lebenden Wesen half, Richtung und Standort wahrzunehmen. Das fremde Etwas flog wie ein Mond im Schwerefeld der Erde. Es beobachtete ihn mit seinen unsichtbaren Taststrahlen. Das durfte nicht so bleiben. Er musste es zerstören, bevor es aus seinem Erfassungsbereich heraus war. Nachher konnte es noch jemandem mitteilen, was es gefunden hatte. Er blickte mit seinem linken Auge in die gleißende Sonne. Das Auge verfärbte sich von Grün zu Schwarz. Dafür schien sein rechtes Auge zu schrumpfen. Als es genau dorthin blickte, wo der künstliche Mond mit seinen unsichtbaren Strahlen war, entfuhr der Pupille ein haardünner, gleißender Lichtstrahl, der leicht flirrend in den Himmel hinaufjagte und das künstliche Etwas erfasste. Die von diesem Strahl übertragene Glut der Sonne ließ den künstlichen Mond immer heißer werden, bis er in einer einzigen Wolke aus glühendem Metall auseinanderbarst, nichts weiteres, als wertloser Staub, der sich im weiten Raum der Gestierne verteilte.
Nachdem dieser künstliche Beobachter vernichtet war umgab der Wächter von Garumitan sich und seine ersten Opfer mit dem Schleier der Himmelsschwester, einem nicht aus Wassertröpfchen, sondern schwarzen Funken bestehenden Nebel, der wie eine große Glocke über dieser Umgebung blieb und Alles, was innerhalb davon war für Beobachter von außen verbarg.
Als erst einmal keine Menschen mehr auftauchten nahm er Kontakt zum Schlüssel des Tores von Garumitan auf. Die alte, von Sonne und Mond in Gang gehaltene Vorrichtung arbeitete noch. Er prüfte, ob das Tor der vorauseilenden Zeit noch zu öffnen war. Wenn er sicher wusste, dass kein Träger der Kraft mehr lebte, würde er das Tor für die ihm anvertrauten Bewohner Garumitans aufsperren, damit diese die verstorbenen Schöpfer beerben konnten. Hierzu musste der Wächter jedoch die ganze Welt überprüfen, ob der lange Schrei, der ihn aufgeweckt hatte, von den letzten der erhabenen Schöpferrasse stammte. Wusste er genau, dass die Träger der Kraft tot waren, konnte er zurückkehren und das Tor der vorauseilenden Zeit öffnen.
Als der Wächter gerade vorausgeplant hatte, in welcher Richtung er die Welt abschreiten wollte, erfasste er die Annäherung großer Metallkörper. Dann vernahm er die Kampfes- und Zerstörungslust vermittelnden Ströme anderer Menschen. Als er sah, dass sie mit bewaffneten Fahrzeugen vorrückten, verwarf der Wächter seinen Plan, die Welt zu überprüfen. Das Tor der vorauseilenden Zeit durfte nicht unbewacht bleiben, wenn die Gefahr bestand, dass die falschen Menschen es erreichten. Also rief der Wächter seine fünf Beigeordneten, die nur halb so groß wie er waren. Sie sollten für ihn die Welt abschreiten und nach Trägern der Kraft oder der Kraft selbst forschen.
Als die ersten schweren Panzer und Artillerieeinheiten nur noch fünf Kilometer entfernt waren eröffneten sie bereits das Feuer. Der Wächter hüllte sich rechtzeitig in seinen Mondschild ein und zerstörte neun von zehn ihm entgegengeschickten Geschosse im Fluge. Dann schlug er zurück. Seine Sonnenglutbündel erwischten die auf Laufketten herankriechenden Fahrzeuge und verbrannten sie zu rotglühenden Metallklumpen. Wo schwere Geschütze aufgefahren wurden, zerstörte er die Geschütze mit der Macht des abweisenden Mondes. Doch der Feinde wurden es immer mehr. Weitere Angriffe erfolgten. Der Wächter von Garumitan schlug noch grausamer zurück. Wo eines der gepanzerten Kettenfahrzeuge getroffen wurde, entstand ein regelrechter Krater. Vor allem dort, wo die fahrbaren Schussvorrichtungen, die die Sprenggeschosse ausspucken konnten, von seinen Strahlen getroffen wurden, barsten gewaltige Feuerbälle. Die in den Panzern und Transporteinheiten für die Geschütze starben so schnell, dass sie keine Schmerzen empfinden konten. Als er Wächter von Garumitan jedoch fühlte, dass ihm die Kraft für diese Angriffe schwand besann er sich auf eine andere seinr Gaben, die Kraft des den Schlaf hütenden Mondes, die ihm hundert seiner Erschaffer in mehreren Sitzungen aus sich in ihn übertragen hatten. Außerdem hatte er noch den Atem der verfliegenden Zeit zur Verfügung. Doch von dieser schrecklichen Waffe durfte er nur dann gebrauch machen, wenn andere Kampfarten fehlschlugen.
Als er keine weiteren kraftvollen Sonnenbündel mehr verschleudern konnte waren schon mehrere Dutzend stählerner Kampffahrzeuge herangerückt. Er drehte sich schnell im Kreis, während weitere dieser Sprenggeschosse gegen seinen Mondschild prallten und von diesem zurückgeprellt wurden, um um ihn herum tiefe Trichter in den Boden zu sprengen. Aus den Händen und Augen des Wächters strömten diesmal unsichtbare Kräfte hervor, die das Schlafbedürfnis der Angreifer um einen Schlag auf das zwanzigfache erhöhten. Die Menschn in den Kampfvorrichtungen kamen schon nicht mehr dazu, weitere Angriffe auf den Wächter auszuführen. Sie schliefen einfach da ein, wo sie gerade saßen. Noch drei aus den gewaltigen Abschussrohren herausgespuckte Geschosse krachten gegen den Mondschild des Wächters. Dann kehrte vollständige Ruhe ein.
Der Wächter besah sich das Ausmaß des Kampfes. Er zählte fünfhundert getötete Menschen, alles solche, die nicht zu den erhabenen zählten. Der Wächter wusste, dass er auch die dreifache Menge hätte töten können. Doch wenn der unbändige Schlaf schneller und gründlicher wirkte als die Sonnenbündel, so würde er diese Leute solange in Schlaf halten, bis er Gewissheit über die Weltbevölkerung erlangt hatte.
"Was, die haben den Satelliten verloren?" wollte Weitzmann wissen. Koen beschrieb ihm, dass die Signale kurz nach der ersten Militärübermittlung aus dem Libanon ausgesetzt hatten. Die Auswertung verriet eine plötzliche Überhitzung wie bei einem ungeplanten Wiedereintritt in die Erdatmosphäre.
"Der Orbit lag bei über achthundert Kilometern. Wie kann denn der dann ungeplant in die Erdatmosphäre eintreten, noch dazu so plötzlich, dass es keine Vorwarnungen über Kursabweichungen und ungeplanter Sinkrate gab?"
"Die einzig verbleibende Erklärung wäre der Abschuss des Satelliten durch einen Hochenergielaser", erwiderte Rebecca Koen.
"Ein Hochenergielaser im Libanon? Beten Sie zu Gott, dass das nicht zutrifft. Weil dann hätten die da ja eine sehr mächtige Waffe. Außerdem haben unsere Kollegen im libanesischen Militär nichts von Laserversuchen berichtet", erwiderte Weitzmann, der sichtlich erbleicht war. Wenn im Libanon oder einem anderen Nachbarland Israels eine superstarke Lasereinheit existierte, konnte die unter Umständen benutzt werden, um israelische Flugzeuge abzuschießen, wenn sie schon einen hoch am Himmel kreisenden Satelliten ausschalten konnte. Deshalb verwarf er diesen Gedanken schnell wieder und erwähnte, dass es auch innerhalb des Satelliten zu einer Überhitzung durch dessen Energieversorgung gekommen sein mochte und herrschte Koen an, nicht so abgehobene Ideen zu äußern. Dann fragte er, über welche Satelliten die Behörde noch auf das betroffene Gebiet blicken könne.
"Die Verhandlungen mit der CIA laufen noch, ob wir einen von deren Satelliten mitbenutzen dürfen, der in einer Stunde das betreffende Gebiet erreicht."
"Den wir aber schon benutzen können, nicht wahr?" wollte Weitzmann wissen. Koen nickte sachte. "Dann schalten Sie sich gütigst auf den auf und kopieren Sie alles mit, was der meldet!" befahl Weitzmann.
"Zu Befehl", erwiderte Koen und ging daran, die Anweisung auszuführen.
Als jedoch nach einer Stunde die Bilder des CIA-Satelliten aufgefangen und entschlüsselt worden waren, war darauf nur eine von Menschen und Maschinen leere Gegend zu erkennen. Nicht einmal die Infrarotsensoren des Satelliten hatten etwas verdächtiges empfangen. Da die CIA auf Radar verzichten musste, um mögliche elektronische Signalerfassungsgeräte der Armee nicht mit der Nase drauf zu stoßen, dass sie beobachtet wurden, konnten die an den Satelliten angeschlossenen nur eine leere Gegend ohne menschliche oder sonstige Aktivitäten erkennen.
Brandon Rivers alias Ilangardian war heilfroh, dass das von Faidaria gesungene Lied der Verheimlichungen nicht nur den damit belegten Raum vor Belauschung und Beobachtung jeder natürlichen und magischen Art abschirmte, sondern auch die Gedanken und erinnerungen jener, die während der Wirkungsdauer darin waren abschirmte, so dass kein Gedankenleser nach Verlassen des Raumes rausbekam, was in dem Raum passiert war. Er hätte wohl auch selbst nicht gedacht, dass das, was ihm anfangs als unangenehme Pflicht vorkam, am Ende so leidenschaftlich verlaufen würde. Das konnte an Faidarias Parfüm liegen, dass sie aufgelegt hatte, als er zu ihr gegangen war, um nach erfolgreicher Zeugung seines zweiten Kindes die aufgeladene Verpflichtung zu erfüllen, drei weiteren Frauen zu neuen Kindern zu verhelfen. Eine davon war Faidaria, die ihn zwei Wochen, nachdem Gisirdaria alias Dawn die erfolgreiche Empfängnis ihres zweiten Kindes vermeldet hatte, um ihn gebeten hatte. Aber die scheinbar uralte Hexe aus dem Volk der Sonnenkinder hatte sich als fleischgewordene Liebesgöttin entpuppt. Aoryan, der kurz vor Darfaians Opfer in eine Explosion auf Selbstzerstörung gepolter Vampire geraten war, musste ein glücklicher Mann gewesen sein. Immerhin hatte der mit der kleinen Gilyana noch ein süßes Mädchen hinbekommen, das irgendwann mit Patricias Prunellus oder einem der wenigen anderen Neugeborenen von heute Frau und Mann sein würde.
"Und los!" befahl er der auf reinem Gedankenwege ansprechbaren Steuerung des Windseglers Ashtarlohinia, was Sonnengruß hieß, den Startvorgang. Vor ihnen schwangen die beiden Hälften eines runden Tores nach Außen. Die Flügel der muschelartigen Flugbarke schwangen auf und ab. Dann löste sich das uralte aber sehr flotte Fluggerät vom Boden. Guryan saß neben ihm im zweiten von vier Sitzen, die bei längeren Reisen sogar ganz zurückgeklappt werden konnten. Der Experte für dunkle Geschöpfe, der mit Brandon losfliegen sollte, um nach der Insel der letzten Dementoren zu suchen, blickte verdrossen nach draußen, über die Sand- und Felslandschaften der Mojavewüste, in der der Sonnenturm seinen neuen Standplatz gefunden hatte. Er hatte nur gesagt, dass er bei Brandons derzeitiger Übernachtungsgefährtin Faidaria durchgesetzt hatte, dass unverzüglich zu klären war, ob es noch Dementoren gab und ob die Rüstungen der Sonnenkinder sie vor ihnen schützen konnten oder nicht. Sonst hätte Nomidaria, was waches, muntteres Licht hieß, ihn wohl nicht vor den nächsten vier Tagen hergegeben. Die hätte Brandon fast selbst eingefordert, wenn nicht Darfaians Witwe Miridaria ihr Vorrecht geltend gemacht hätte, die Mutter eines Kindes des Erweckers zu werden. Brandon empfand das alles immer noch als sehr befremdlich. Doch der halbe Tag und die ganze Nacht bei Faidaria hatten ihn von seinen Skrupeln kuriert, die seine Kleinstadterziehung im Süden der USA ihm aufgeprägt hatte, von wegen ehelicher Treue und Verzicht auf außerehelichem Sex. Als Abkömmling eines kalifornischen Blumenkindes hätte er damit wohl überhaupt keine Probleme gehabt, dachte Brandon einmal mehr.
""Wir haben den Weg begonnen, den du mir befohlen hast, Lenker Ilangardian", säuselte die künstliche Gedankenstimme der mentalen Schnittstelle zwischen ihm und dem Windsegler Ashtarlohinia. Dass die kurz nach dem Start auf einmal mit Laura Carlottis Stimme zu ihm sprach verstörte ihn erst. Doch dann erklärte die magisch belebte Steuerung: "Ich habe diese Stimme gewählt, weil sie mit deiner körperlichen und geistigen Reife verbunden ist, Lenker Ilangardian." Damit hatte die Schnittstelle wohl recht. Denn Laura war die erste wirkliche Liebe von Cecil Wellington, als der Brandon damals noch gelebt hatte.
Da die Flugmaschine, um ihre volle Reichweite von zwei Erdumfängen zu bewahren nicht mit Überschallgeschwindigkeit flog, brauchten sie von Kalifornien aus über fünfzehn Stunden, bis sie an den Punkt gelangten, den der Sonnenturm ermittelt hatte.
Sturm war aufgekommen. Auf diesen Breiten war das leider nichts seltenes, wusste Brandon aus der Zeit als Ben Calder und Cecil Wellington. Doch die Ashtarlohinia meisterte dieses Wetter mit sagenhafter Manövrierfähigkeit. Sie hatte von sich aus die durchsichtigen, unzerbrechlichen Schutzschalen über den beiden Reisenden geschlossen. So konnten ihnen die faustgroßen Hagelkörner nichts anhaben. Es war nur ein lautes Getrommel. Doch als keine hundert Meter vor ihnen ein gleißender Blitz in drei Verzweigungen ins Meer schlug und ein Donnerschlag wie zehn Kanonenschüsse gleichzeitig über den Windsegler hinwegdröhnte hörte Brandon die künstliche Gedankenstimme Ashtarlohinias sagen: "Blitzgefahr über zulässigen Wert gestiegen. Errichte Mondschild!"
"Halt, nein, kein Schild. Dann können uns welche sehen", versuchte Brandon, den Befehl zu widerrufen. Doch da umfloss die Ashtarlohinia bereits eine silbern leuchtende Blase aus magischer Energie, die angeblich oder wahrhaftig aus mehreren Nächten Mondlicht geschöpft wurde und solange alle natürlichen und einen Gutteil magischer Bedrohungen abwehrte, wie der Vorrat an Mondenergie hergab.
"Blitzgefahr übersteig zulässigen Wert. Mondschild bleibt errichtet."
"Hast du den Mondschild ausgespannt", gedankenknurrte Guryan. Brandon beteuerte, dass der Windsegler selbst eine Sicherheitsschaltung hatte, bei besonders großer Blitzschlagsgefahr diesen Schild auszuspannen. Er versuchte es noch einmal, die silberne Energieblase auflösen zu lassen.
"Blitzgefahr übersteigt zulässigen Wert. Mondschild bleibt errichtet", kam die wie von einem Computer generierte Antwort. Brandon argumentierte: "Entdeckungsgefahr durch sichtbaren Mondschild zu groß. Mondschild senken!"
"Entdeckungsgefahr nicht vorhanden. Keinerlei fühlendes Wesen in Kugelraum von zwanzig Tausendschritten erkannt."
"Du hörst es. Die Süße will uns nicht durch böse Blitze fliegen lassen, ohne dass ..." Brrrroommmmm! Brandons Gedankenantwort wurde vom mehr als sonnenhellen Licht eines genau über ihnen aufflammenden Blitzes und den ihn begleitenden Donnerschlag abgewürgt.
"Der hätte uns erwischt", stellte Brandon fest, als er nach dem Schrecken sah, wie der sich in fünf Unterzweige aufspaltende Blitz wie ein Wirbel aus grellen Funken vom silbernen Schutzschild abgeflossen war. Er bedauerte, dass der Windsegler keinen geschlossenen Metallkörper besaß und damit kein Farraday'scher Käfig war, der elektrische Entladungen von seinem Inhalt ablenkte. Jetzt würde die Steuerungsautomatik den Schild nicht mehr senken. Brandon nutzte die ihm vermittelten Kenntnisse und spielte mit den Aufspürgerätschaften, die ihm Bilder, Geländeformen oder lebende Wesen anzeigten. Als sie die Felseninsel erreichten krachte gerade ein Blitz auf ein Hochplateau nieder.
"Du kannst den kurzen Weg nach draußen gehen, Guryan, aber nicht mehr auf diesem zu mir zurück", wusste Brandon, nachdem er die Steuerung gefragt hatte, ob sie beide aussteigen und wieder einsteigen konnten.
"Gut, dann bleiben wir besser im Segler und suchen alles mit dessen Vorrichtungen ab", sagte Guryan, der sichtlich enttäuscht und verärgert war, nicht mit eigenen Zauberkräften nach den Unheimlichen suchen zu können, weil er dazu unter freiem Himmel hätte stehen müssen, ließ Brandon die ganze Suche übernehmen. Dabei fanden sie heraus, dass die Insel Einstiege zu Höhlen im Felsgestein besaß. Doch zum hineinfliegen waren die Eingänge zu klein.
"Wir bräuchten Drohnen oder Begleitsatelliten wie die Seaquest", grummelte Brandon. Da Guryan wie die meisten Sonnenkinder wusste, dass Brandon sich immer schon für Zukunftsgeschichten aus dem Fernsehen interessiert hatte, wusste er, was er meinte.
"Ich kann den Kurzen Weg hinaus und die Höhlen mit den Liedern der Suche erforschen. Aber wenn du deine neue Freundin nicht dazu bringst, den Mondschild zu senken komme ich nicht mehr zurück."
""Wir können dich über das Tor der Vereinten Kraft zurückholen, Guryan", gedankensprach Miridaria, die sich als leibliche Schwester am besten mit Guryan verständigen konnte. Brandon sollte die Ashtarlohinia dann nach Ashtaraiondroi zurückfliegen und nicht wieder im Sonnenturm unterstellen. Beide waren einverstanden.
Guryan verschwand mit leisem Plopp aus dem Windsegler. Miridaria übernahm es, seine Wahrnehmung zu überwachen, als sei er ihre Erkundungssonde. Brandon dachte mit mulmigen Gefühlen daran, dass er jahrelang für Anthelia und später Patricia so eine lebende Erkundungssonde gewesen war. Doch jetzt konzentrierte er sich darauf, den Segler über dem Einstieg zu den Höhlen kreisen zu lassen, während es um ihn herum stürmte, regnete, hagelte und blitzte. Er dachte an das Lied von Simon und Garfunkle "Ich bin ein Fels, ich bin ein Eiland", mit dem sie ihn und alle anderen in der Schule getriezt hatten, was von dem Text zu halten sei.
"Ich kann Spuren einer die Kraft zehrenden Kraft erfassen, die in den Wänden nachschwingt. Aber mehr ist hier nicht zu finden", vermeldete Guryan. "Die Insel ist bis auf uns beide verlassen. Moment, ich habe noch was erfasst." Brandon wartete mit dem Abflug. "Ah, hier haben die Träger der Gegenkraft gelegen, die ihr Incantivacuum-Kristalle nennt. Seine Restkraft singt noch in der Wand, ganz schwach", übermittelte Guryan.
Während Guryan suchte überprüfte Brandon mit dem durch Wasser blickenden Aufspürgerät der Ashtarlohinia die Umgebung der Insel. Dabei fand er zehn gleißende Lichter auf dem Meeresboden. Doch das waren keine wirklichen Lichter, sondern magische Abschirmungen. Was immer davon umschlossen wurde blieb verborgen. "Die haben sicher mit diesen zehn Schiffen eine Art Käfig für die Dementoren hochgezogen", vermutete Patricia Straton alias Gwendartammaya. "Womöglich war es eine Glocke aus Magie ähnlich der über Millemerveilles, nur dass sie für Dementoren undurchdringlich war."
"Klar, die mussten sie ja hier bannen, sonst wären die ja gleich nach dem Abladen wieder auf und davon", erwiderte Brandon und übermittelte noch einmal die Bilder der zehn um die Insel verteilten Lichter. Dann vermeldete Guryan: "Auf der Insel ist nichts lebendes mehr, und die Wallung der Gegenkraft macht jeden Nachspürversuch unmöglich. Kehr zurück zu unserer wesentlich freundlicheren Insel. Wenn es Nomidaria noch immer kribbelt bin ich eher da als ... Uaaah!" Brandon konnte gerade noch die Woge einer starken Magie der Sonnenkinder über die Insel hinwegjagen fühlen, und dass diese sich um Guryan zu einem wilden Wirbel zusammenbündelte. Dann war Guryan weg.
"Offenbar kribbelt es Nomidaria noch sehr", spöttelte Brandon und achtete darauf, es nicht nach außen dringen zu lassen. "Okay, Ashtarlohinia, Neuer Weg!" befahl er und dachte den Weg zur Insel der Sonnenkinder vor, den die geflügelte Muschelbarke dann einschlug.
Als er endlich aus der Zone der schlimmsten Unwetter heraus war baute sich der Mondschild von alleine ab. Brandon brachte seinen Sessel in Liegestellung und schlief sofort ein. Er träumte von einer wilden Liebesnacht mit Gwendolyn Fender, Gisirdaria und Faidaria gleichzeitig. Als er wieder aufwachte fühlte er sich erschöpfter als vor dem Einschlafen. Doch weil er gerade von einer unverstellten Sonne beschienen wurde, lud ihn die Rüstung rasch mit neuer Kraft auf.
Als er am Strand von Ashtaraiondroi landete wurde er von seiner Angetrauten Gisirdaria und Patricia Straton begrüßt. "Wenn die Ashtarlohinia wieder ihre volle Ausdauer hat fliege ich damit mal ein paar Runden um die Insel. Mal sehen, ob die für mich auch die Stimme ändert", sagte die ehemalige Mitschwester Anthelias und deutete auf den Windsegler.
"Miridaria hat mich ganz offen und angemessen gebeten, dich ihr solange zu überlassen, bis sie von dir empfangen hat", sagte Gisirdaria alias Dawn Rivers und küsste den Vater ihrer Tochter Laura.
"Ist Guryan noch zu sprechen?" fragte Brandon.
"Den haben wir seit vierzehn Stunden nicht mehr zu sehen und zu hören bekommen", grinste Patricia. Damit war für Brandon alles gesagt. Er kehrte in das Haus zurück, in dem er, Patricia, ihr Gefährte Gooardarian und seine eigentliche Lebensgefährtin wohnten. Sie waren sich im Moment sicher, dass keiner der Dementoren die Freisetzung der Incantivacuum-Kraft überlebt hatte. So dachte sicher auch Shacklebolt, der diese Vorrichtung sicher eingerichtet hatte. Dass sie sich da täuschten und welche Folgen das für die Sonnenkinder haben sollte, ahnte noch niemand.
Millie und Julius empfanden Temmies strengen Kuhgeruch nicht mehr als Belastung. Das lag daran, dass sie mit Temmie durch den Pokal der Verbundenheit einen intensiveren Kontakt hielten, als es anderen Menschen möglich war. Außerdem gedankensprachen sie immer mit Temmie, wenn sie bei ihr waren. So war es auch jetzt, während Julius die von seiner Schwiegertante erlernten Melkzauber verwendete, weil Temmie darauf bestand, von ihm oder Millie persönlich gemolken zu werden und nicht an die speziell für Latierre-Kühe erfundene Melkmaschine angeschlossen zu werden.
"Hast du mehr über diesen Wächter herausbekommen, Temmie?" fragte Julius.
"Ich fühle nur, dass er erwacht ist und nach denen ruft, die seine Rufe hören können. Er wird die auf den großen Erdteilen verborgenen Gehilfen wecken, um von diesen erkunden zu lassen, was in der Jetztzeit geschieht. Wenn sein geschmiedeter Verstand, der ohne Reue, Mitgefühl und Rücksichtnahme ausgestattet wurde, erkennt, dass noch genug Menschen mit der Kraft leben, wird er vielleicht wieder einschlafen. Doch die Menschen von heute haben so viele Sachen erfunden, die ohne die Kraft auskommen, dass er diese vielleicht für eine Bedrohung hält. Dann wird er wohl versuchen, diese Bedrohung zu beseitigen."
"Will sagen, Krieg mit der ganzen Welt anfangen?" wollte Julius wissen, während er den idealen Rhythmus seines Zug- und Druckzaubers fand.
"Wohl möglich, wenn ihn die anderen nicht als Vermittler von Menschen anerkennen, die das Recht zum Herrschen haben. Er kennt nur die Gesetze Altaxarrois. Denen nach waren die Menschen ohne Kraft zu hegende und zu führende Menschen, die nur das Recht auf Leben besaßen und auch nur solange, wie sie nicht offen gegen die Herrschenden aufbegehrten."
"Leider wahr", gedankengrummelte Julius. Dass das alte Reich kein verlorenes Paradies war, wie es Plato in seinem Bericht über Atlantis ausgemalt hatte, wusste er ja schon von seinem ersten Besuch in Khalakatan. Außerdem war es ja immer schon so gewesen, dass bestimmte Menschengruppen sich für bessergestellt hielten, sei es weil sie stärker waren, intelligenter, reicher oder größer waren als der Rest ihrer Mitbewohner. Warum sollte das im Reich Altaxarroi, wo Menschen mit und ohne Zauberkräfte miteinander auszukommen hatten, anders verlaufen sein. Dass sie feudalstaatlich organisiert waren wie europas Länder im Mittelalter war durch die Könige und Fürsten auch unbestreitbar.
"Dann ist dieser Wächter ein Golem oder Roboter, wie Julius solche Maschinenmenschen nennt?" wollte Millie wissen.
"Natürlich. Er ist ein Wächter. Wächter waren immer die mit der Einhaltung der Gesetze versehenen Diener. Und der Wächter von Garumitan musste der stärkste und eigenständigste von ihnen sein, einer, den keine Macht der Welt bezwingen oder unterwerfen kann", schickte Temmie zurück, während aus ihrem Euter Schwall um Schwall Milch in das darunter aufgestellte Fass floss.
"Ja, aber wenn du nicht weißt, wo dieser Wächter ist, dann kann keiner von uns zu ihm hin und ihm erklären, dass das mit den Dementoren nicht ihm galt und er ruhig weiterschlafen kann", erwiderte Julius auf Temmies letzte Antwort.
"Das stört mich auch, Julius. Wenn keiner den Wächter als solchen anerkennt und ihm sagen kann, dass er keinen Grund hat, gegen die ganze Welt zu kämpfen, wird er gegen die ganze Welt kämpfen, sobald seine Untergebenen ihm mitteilen, dass die Träger der Kraft nicht mehr die Macht haben."
"Mit anderen Worten, wer immer die Dementoren erledigt hat hat damit auch uns alle zum Tode verurteilt?" wollte Millie wissen.
"Euch und eure Blutsverwandten nicht, weil in euch die Kraft strömt. Er wird nur gegen die kämpfen, die mit Geräten ohne die Kraft auskommen und damit Macht über ihre Mitmenschen ausüben. Das wird er als ungesetzlich ansehen. Vielleicht wird er aber auch die Bewohner Garumitans dazu bringen, die neuen Herrscher der Welt zu werden", erwiderte Temmie.
"Öhm, weiß der Wächter, was in den ganzen Jahrtausenden passiert ist? Ich meine, kann er vielleicht nach Khalakatan hin?" fragte Millie. Julius hätte ihr fast unterstellt, eine dumme Frage gestellt zu haben. Doch er schluckte diese Antwort noch rechtzeitig hinunter.
"In die Halle der Altmeister darf kein künstlicher Diener eintreten, Millie. Und nur die Khalakatan unmittelbar eingegliederten Diener dürfen die Weisungen der Altmeister hören, ihnen aber keine Fragen stellen, wer und warum", erwiderte Temmie.
"Monju, dann solltest du diesen Wächter aber bald finden, bevor der uns findet und dabei die halbe Welt zerbröselt. Ich meine, kann der überhaupt so gefährlich werden?"
"Er ist mit den Kräften von Sonne und Mond ausgestattet worden, und ich hörte, dass auch die Vertrauten der fließenden Zeiten ihm einige ihrer Gaben eingeflößt haben sollen", erwiderte Temmie.
"Super, Zeitzauber. Mit denen allein kann jemand schon eine Menge Unfug anstellen", gedankenschnaubte Julius. Er dachte an Filme wie "Terminator" oder "Zurück in die Zukunft, aber auch daran, wie er im Schutz des Zeitpaktzaubers vor Hallitti und Bokanowski geflohen war. Ein nicht so mitfühlender Mensch hätte im Schutz dieses Zaubers locker mehrere Leute töten können, ohne, dass die sich dagegen hätten wehren können. Zumindest hatte er nichts davon gehört, dass es dem Anwender des Zaubers übel erging, wenn er während seiner Wirkung tötete."
"Ja, wer dir diesen Zauber beibrachte und deshalb irgendwo gelernt haben muss, hat dir ein gefährliches Geschenk übergeben", gedankenwisperte Temmie. Julius sah seine Frau an, die fasziniert auf den pulsierenden Milchstrom aus Temmies Euter blickte. "Hoffentlich finde ich diesen Wächter. Hmm, wenn der irgendwo in der Welt ist, wo ich die Sprache der Leute nicht kann, wird es eh schwierig."
"Habt ihr noch keine Allversteher?" fragte Temmie überflüssigerweise, da sie sich ja jederzeit in Julius' und Millies Bewusstsein einfügen konnte.
"Du meinst diese runden Dinger, die die Vogelmenschen tragen?" fragte Julius zurück. Temmie erwiderte, dass es auch schon zu ihrer Zeit an den Ohren tragbare Ausführungen davon gab. Sie halfen den Trägern, jede Lautsprache zu verstehen und nach den ersten paar Sätzen auch wie vollständig erlernt sprechen zu können, solange sie im Bereich der Leute waren, die die fremde Sprache sprachen. Julius musste an die Babelfische aus Adams' Science-Fiction-Parodie "Per Anhalter durch die Galaxis" denken. Temmie hatte dafür ein rein gedankliches Lachen übrig. "So wie diese erfundenen Hilfswesen wirken die Allversteher."
"Hmm, gibt es da, wo Millie ihr neues Abendkleid und ihre feurige Leibwächterin herhat auch solche Dinger?" fragte Julius.
"Natürlich. Aber ich würde mir welche aus Khalakatan holen", erwiderte Temmie. Da klickte es in Julius' Verstand. Wenn jemand wusste, wo der unheimliche Wächter steckte, dann die in gläsernen Zylindern überdauernden Geister der alten Erzmagier. Bei der Gelegenheit konnte er auch bei Ianshira oder Agolar anfragen, ob es einen Zauber gab, der ihn und jeden, dem er vertraute, einen Schutz gegen die Reinitiatoren der Vita-Magica-Truppen bot. So gedankensprach er:
"Jetzt habe ich einige Wochen Zeit. Da werde ich gleich morgen rüber nach Khalakatan und nachfragen."
"Warum nicht gleich heute, Monju?" wollte Millie wissen.
"Weil Camille heute nachmittag den Garten für den Frühling klarmachen will. Der könnte ich zwar kurzfristig absagen. Doch im Moment möchte ich sie nicht in die Sache mit dem Wächter reinziehen", erwiderte Julius. Millie bestätigte das. Zwar konnten sie Camille grundweg vertrauen und hatten sie ja auch schon nach Khalakatan mitgenommen. Doch Camille hatte zu viele Verpflichtungen und konnte sich nicht immer freihalten. Denn es war klar, dass sie irgendwann wohl auch wieder nach Khalakatan wollte, um mehr zu lernen, genauso wie Catherine auch wieder gerne dorthin wollte. Millie würde noch die Stillzeit abwarten, bevor sie zu Kailishaia zurückkehrte, um weitere Feuerzauber zu lernen.
"Danke, dass ihr den Druck aus meinem Milchsack genommen habt. Ich hoffe, ihr und eure Kinder gedeihen davon genausogut wie Orion und das Kleine, das noch in meinem Bauch heranwächst", schickte Temmie an beide zurück.
Millie und Julius bedankten sich bei ihr für die Milch und nahmen das Fass mit.
"Ihr müsst das noch mit Babs klären, ab wann Temmie nur noch für ihr neues Kalb Milch vorrätig haben darf", sagte Julius' Schwiegeronkel Jean, bevor sie sich von ihm verabschiedeten. Millie und Julius versprachen, das früh genug abzuklären. Dann flohpulverten sie in ihr Apfelhaus zurück.
"Wenn du einen Ohrring tragen willst brauchst du das dazu nötige Loch. Ich habe ja schon in jedem Ohr eins", grinste Millie.
"Kann ich mir selbst durchstechen", meinte Julius mit gewissem Unbehagen.
"Nichts da. Das lässt du dir schön von Tante Trice machen, damit deine Ohren nicht ausfransen", bestimmte Millie und blickte ihren Mann so an, dass sie keine Widerworte dulden würde.
Als Béatrice Latierre für diese Prozedur herüberkam weihte Julius sie kurz ein, warum er, der Ohrringe für Mädchenkram oder für Angehörige fahrender oder naturreligiöser Völker gehalten hatte, auf einmal einen tragen können wollte.
"Aber schon praktisch. Darf ich so einen Allversteher auch tragen, oder muss ich dafür in diese geheimnisvolle Stadt mitkommen?" fragte Béatrice. Julius wusste es nicht, wollte aber gerne nachfragen.
Die Prozedur war sehr kurz und zu Julius Verwunderung völlig schmerzlos. Béatrice hatte ihm mit einer winzigen Zange am linken Ohr ein Loch gemacht. "Das wächst nur wieder zu, wenn ich oder eine andere für derartige Behandlungen ausgebildete Hexe - auch eine Kosmetikerin wie Glorias Mutter - den entsprechenden Umkehrzauber anwendet. Aber meistens suchen junge Hexen oder auf hervorhebenden Schmuck ausgehende Zauberer einen Heiler oder eine Heilerin dafür auf", sagte sie noch. Dann untersuchte sie, wo sie schon mal hier war, Millies Milchvorräte, machte einen Abstrich von jeder ihrer Brustwarzen und prüfte Wachstum und Gewichtszunahme von Aurore und Chrysope. Dann kehrte sie zum Château Tournesol zurück.
"Gewöhnungsbedürftig", meinte Julius, als er sich sein nun angelöchertes Ohr im Badezimmerspiegel betrachtete.
"Sei froh, dass wir alle nicht die Tradition der Beschneidung über uns ergehen lassen müssen", grinste Millie. Doch als Julius erwähnte, dass in diversen Ländern Frauen und Mädchen durch sowas regelrecht verstümmelt wurden grinste sie nicht mehr, sondern zischte durch die zusammengebissenen Zähne und deutete kurz zwischen ihre Beine.
"Wir können oder müssen echt froh sein, dass wir hier leben dürfen", grummelte sie noch.
Am Nachmittag beging Camille mit Julius den Garten, wobei sie sich auf rein geistiger Ebene mit ihm unterhielt, weil das genausogut ging wie mit gesprochenen Worten.
"Du kannst sofort in mein Büro kommen, wenn die im Ministerium dich nicht mehr haben wollen, Julius. Das weißt du, und die Familie Grandchapeau weiß das auch sehr gut. Also verhungern lassen wird dich hier eh keiner, abgesehen von Caros Vater vielleicht, der jedes Getreidekorn berechnet, das bei ihm jemand isst oder trinkt."
"Eigentlich gefällt mir das, was ich im Ministerium mache. Nur die Beziehung zum Boss ist leicht unterkühlt", gedankengrummelte Julius. Camille erwiderte ohne körperlich wahrnehmbare Regung:
"Mein Vater war mit dem Vater deines zweithöchsten Vorgesetzten in Beaux. Die waren schon immer sehr auf Rangstellung festgelegt. Eigentlich ist dein Vorgesetzter ein armer Bursche, dem seine Eltern immer und überall vorgeschrieben haben, was er zu tun und zu werden hatte. Deshalb ist er wohl so neidisch darauf, dass da jemand sowohl eigene Ideen und Lösungswege ausarbeiten kann, als auch Sachen machen kann, die er nie gelernt hat und auch nicht lernen kann. Aber wie erwähnt kannst du sofort zu mir hinkommen, wenn die vom Ministerium dich wirklich dazu drängen, bei denen aufzuhören, Julius. Es sei denn, du hast Hera oder unserer gemeinsamen Bekannten Aurora Dawn schon eine Zusage gemacht, zu ihnen zu gehen, wenn du keine Anstellung im Ministerium bekommen solltest."
"Oha, Hera. Nein, der habe ich keine solche Andeutung gemacht, abgesehen davon, dass ich das dann eher ihrer Zunftsprecherin gegenüber hätte mitteilen müssen", erwiderte Julius. Jetzt musste Camille doch wider die Mentiloquismusregeln lächeln. Dann gedankenantwortete sie:
"Die käme gegen ihre Rangstellung sofort zu dir, wenn deine Ausgabe von Viviane erfährt, dass du nicht mehr im Ministerium erwünscht sein solltest." Das konnte und wollte Julius nicht abstreiten. Immerhin hatte Antoinette Eauvive auch ein Intrakulum, mit dem sie durch die Zaubererbilder reisen konnte. Dann meinte er:
"Apropos Viviane, was machen deine Enkelkinder?"
"Sie wachsen, sie lernen, sie freuen sich an jedem Tag, den sie erleben, so wie es gesunde Kinder tun, deren Eltern streng, aber nicht alles bestimmend mit ihnen umgehen", erwiderte Camille und unterhielt sich dann noch weiter über ihre jüngste Tochter und ihre bisher drei Enkelkinder. Julius wollte dann noch wissen, ob Dénise schon einen festen Freund in Aussicht hatte.
"Da wirst du sicher eher was drüber erfahren als ich, wo Babette euch ja häufig genug anschreibt und Millies Verwandte ja gut mit Melanie auskommen, die denen das sicher auch früh genug erzählt, wenn ihre Cousine sich wen ausgeguckt hat." Das wollte Julius nicht bestreiten.
Nach Camilles und Julius' Gartenbegehung kam Jeanne mit ihren drei Kindern herüber. Janine und Belenus freuten sich, dass da noch ein Kind war, das kleiner als sie war, wo sie in der Familie "die kleinen" waren. Der Abend klang dann mit Hausmusik aus. Jeanne blieb in einem der Gästezimmer, weil ihre Kinder gerade so schön schliefen und sie sie nicht für die Reise nach Hause aufwecken wollte.
"So geht das, wenn man eine stolze Oma fragt, was ihre Enkel machen, wo die nur einige Minuten von einem weg wohnen", bemerkte Julius, als er mit seiner Frau im nach außen schalldichten Bett lag.
"So kann ich Ihnen allen zuversichtlich verkünden, dass es ab dem neunten März keinen Dementor mehr auf diesem Planeten gibt", beschloss Kingsley Shacklebolt gerade eine Ansprache an die Presse. Er hatte erklärt, dass er zum Schutz vor neuerlichen Übergriffen dieser Wesen eine abgesicherte Insel ausgewählt hatte, wo er die noch aufgetriebenen Dementoren hatte hinschaffen lassen. Wo diese Insel lag verriet er jedoch nicht.
"Warum haben Sie diese Ungeheuer nicht gleich vernichten lassen?" fragte Ossa Chermot vom französischen Miroir Magique und erhielt zustimmendes Nicken von ihren Kolleginnen und Kollegen.
"Weil wir bis heute nicht wissen, wann und wie sie entstanden sind und ich trotz der berechtigten Aversion gegen diese Geschöpfe die Quelle wichtiger Erkenntnisse nicht gleich zuschütte, nur weil ihr Gift entströmt ist. Deshalb ging ich davon aus, irgendwann mehr über diese Wesen zu erfahren und dann an den dann noch lebenden Exemplaren wirkungsvolle Methoden erproben wollte, um Geschöpfe wie sie gleich und ohne großen Aufwand zu bekämpfen. Der Patronus-Zauber, den viele von Ihnen wohl im Zuge der Todesserherrschaft kennenlernten, ist ein wirksamer Abwehrzauber, aber beseitigt die Gefahr eben nur vorübergehend."
"Dementoren können fliegen. Wie haben sie die auf dieser ominösen Insel denn festgehalten?" fragte marita Hollingsworth vom britischen Tagespropheten.
"Durch ein druidisches Ritual und Imprägnationszauber, die nur den Mitgliedern des Aurorenkorps vermittelt werden dürfen, Mrs. Hollingsworth", antwortete der Minister. "Nur soviel, der Rückhaltewall blieb solange in Kraft, wie es lebende Dementoren gab", erwiderte der Minister.
"Schön, dass Sie uns alle zusammenriefen, um uns mit vielen Worten überhaupt nichts zu sagen, Monsieur Le Ministre", erwiderte ein Mann mit rotblonder Bürstenfrisur darauf frech.
"Öhm, Monsieur - Latierre nehme ich an - , ich habe Ihnen allen gerade mitgeteilt, dass wir zumindest die Bedrohung durch die Dementoren nicht mehr zu fürchten haben. Sicher gibt es noch genug Gefahren für die Zaubererwelt. Aber ich halte es für richtig, Ihnen und Ihren Hörern und Lesern diese doch sehr frohe Botschaft zu übermitteln", brummte der Zaubereiminister. Doch Gilbert Latierre, der rotblonde Chefredakteur, Herausgeber und Chefreporter der Temps de Liberté, hatte dafür nur ein verächtliches Grinsen übrig. Seine Kollegin Linda Knowles aus den vereinigten Staaten sah ihre Chance, auf die Dreistigkeitswoge aufzuspringen und fragte mit ihrem weltweit gefürchteten Augenkullern:
"Dann wollen Sie uns alle einladen, Ihre Verbannungsinsel zu besuchen und dort die Vernichtung der Dementoren zu feiern, oder?"
"Wenn Sie feiern möchten tun Sie das, Ms. Knowles", grummelte Shacklebolt nun doch sehr missmutig. "Ich habe nichts zu feiern. Dafür gibt es noch zu viele Gefahren in der Welt, allen voran jener Zauberer, der sich anmaßt, Erbe des über seine eigene Macht- und Geltungssucht gestürzten Erzverbrechers Tom Vorlost Riddle zu sein. Dann haben Sie bei sich wohl noch diese Spinnenschwesternschaft mit einer Anführerin, die ihre ganz eigenen Vorstellungen von einer geordneten Welt hat. Das wir gerade so einer Werwutpandemie entgingen haben Ihre Ohren sicher auch schon vernommen, und dann gibt es Hinweise auf Vampire, die über besondere Kräfte verfügen. Das alles ist Grund genug, auf der Hut zu bleiben und jene bei der Arbeit zu unterstützen, die gegen diese Bedrohungen vorgehen. Da sollten Sie also froh sein, dass es keine Dementoren mehr gibt."
"Haben Sie das überprüft?" blieb Gilbert Latierre aufsässig und erntete einen anerkennenden Blick von Linda Knowles und von seiner südafrikanischen Kollegin Amata Mbutu.
"Ja, habe ich, zum dreischwänzigen Hornschwanz noch mal!" polterte Shacklebolt nun ungehemmt verärgert. "Ich habe das überprüft. Auf der Insel sind keine Dementoren mehr, und der Rückhaltezauber hätte keinen entkommen lassen."
"Dann hoffen Sie sehr, dass Ihnen ihre frohe Vorfrühlingsbotschaft nicht eines Tages mit Donnerhall um die Ohren fliegt", wagte Gilbert Latierre eine letzte Dreistigkeit. Shacklebolts Augen rückten eng zusammen. Seine Stirnadern schwollen an. Dann sagte er:
"Sie spielen sehr tollkühn mit meiner Geduld und Ihrer Akreditierung, Monsieur Latierre. Aber ich bin es ja von Ihrer Familie und von Ihrer Zeitung her gewohnt, dass sie immer direkt und ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten formulieren. Deshalb gebe ich Ihnen Ihren Kommentar gerne zurück: Hoffentlich fliegen Ihnen ihre Worte nicht eines Tages mit Donnerhall um die Ohren. Mehr kann und möchte ich dazu nicht sagen."
"Dann bedanken wir uns für die Zeit, die Sie uns gewährt haben", sagte Marita Hollingsworth. Doch für Ossa Chermot war das Thema noch nicht durch:
"Wenn Sie das von Minister Grandchapeau und Belenus Chevallier entdeckte Verfahren zur massenhaften Dementorenvernichtung verwendet haben können Sie nicht überprüfen, ob welche davonkamen oder nicht, Monsieur le Ministre. Das Retrocular, von dem Sie wie ich weiß, einige Exemplare erhielten, kann die erste Stunde nach einer Incantivacuum-Entladung nicht mehr nachbilden. Also tischen Sie uns gütigst nicht auf, Sie oder Ihre Mitarbeiter hätten alles genau überprüfen können!"
"Wenn Sie Gerüchte und Behauptungen als Tatsachen hinnehmen, Mademoiselle Chermot, so hoffe ich zumindest, dass Ihre Redaktion nicht diesem Fehlurteil erliegt und Ihre Leser und Leserinnen deshalb mit unbewiesenen Halbwahrheiten abgespeist werden. Und jetzt ist meine Zeit um. Ich empfehle mich, Ladies and Gentlemen!" brummte der Minister und wandte sich demonstrativ ab.
Ich glaube, die werden Sie fragen, woher Sie das mit dem Rückschauleck haben, werte Kollegin", grinste Gilbert seine frühere Firmenkollegin verschmitzt an.
"Ich habe das riskieren müssen, weil ich mir sicher bin, dass der werte Mr. Shacklebolt uns glauben machen will, er alleine habe alle Dementoren der Erde erledigt. Vom Vampirismus hat man auch mal geglaubt, er sei eingedämmt worden und meine Leser wollen immer noch wissen, ob Sie Angst vor Werwölfen haben müssen oder nicht. Da werde ich diese Meldung über vernichtete Dementoren mit sehr großer Skepsis behandeln, werter Ex-Kollege", grummelte Ossa Chermot. Dann wandte sie sich zum gehen.
"Das traut sich bei uns unten am Kap keiner, dem Zaubereiminister so frech zu kommen", bewunderte Amata Mbutu Gilbert. Dieser war beim Anblick der grazilen, ebenholzfarbenen Kollegin mit der nachtschwarzen Naturkrause schon auf verbotene Ideen gekommen. Doch sein Beruf erlaubte es nicht mehr wie früher, seine Jungesellenfreiheiten bis zum Anschlag auszukosten. Dann kam auch noch Linda Knowles zu ihm und zwinkerte ihm anerkennend zu.
"Er hat es nicht überprüfen können. Außerdem schleppt er wegen dieser Sache etwas mit sich herum, was er keinem sagen wird", wisperte sie.
"Warum sagen Sie mir das, Ms. Knowles?" wisperte er eine Frage. "Weil ich Sie für Ihren Mut bewundere und Ihnen deshalb mitteilen wollte, warum der sonst so beherrschte Minister heute derartig zornig reagiert hat."
"Der hätte doch die ganze Kiste einfach verschweigen können", wisperte Gilbert. "Genau wegen der anderen Sachen, die er aufgezählt hat, hätte kein Hahn der Welt nach Dementoren gekräht, solange die verschwunden bleiben. Deshalb habe ich dem das auch mitgegeben, dass er aufpassen soll, dass ihm seine eigenen Worte nicht um die Ohren fliegen."
"Bleibt zu hoffen, dass wir diese Monster zumindest nicht mehr fürchten müssen", bemerkte Amata Mbutu dazu..
Da alle so schnell wie möglich ihre Berichte weitergeben wollten verschwanden die geladenen Reporter aus dem londoner Zaubereiministerium. Gilbert Latierre ging sofort daran, den Artikel für den nächsten Tag zu schreiben. Da er wusste, dass Ossa Chermot das mit der Rückschaubrille sicher nicht in die Zeitung setzen würde, wenn sie keinen Krach mit Minister Grandchapeau kriegen wollte, schrieb er zu der Bemerkung des britischen Zaubereiministers nur, dass er mit allem ihm möglichen Mitteln geprüft haben wolle, ob noch Dementoren da waren. Doch diese Wesen seien zäh. Wenn auch nur einer entkommen sein mochte, so Latierre, würden sie früher als sie wollten wieder von diesen Ungeheuern hören. Ihm fröstelte beim Ausdrucken der Zeitung. Vielleicht hatte er damit gerade eine ihm selbst unangenehme Prophezeiung gemacht.
Es kamen keine stählernen Kriegsmaschinen mehr. Der Wächter hatte zwanzig der feuerspeienden Kampfvögel vom Himmel geholt und fünf weitere der auf Ketten kriechenden Gefährte verglühen lassen. Dann hatte er nur mit dem Schlafzauber, den sie ihm eingewirkt hatten die Feinde kampfunfähig gemacht. In seiner Sichtweite lag ein Feld der Verwüstung. Doch immerhin hatte er bereits die ersten Rückmeldungen von seinen fünf Untergeordneten erhalten, dass sie sich nicht aus ihren Verstecken wagen konnten, weil darüber viele Menschen wohnten, die zu den Unbegüterten gehörten. Die hatten einfach Städte über ihnen gebaut. Nur wenn der Wächter den Fall "Königsrecht" ausrief würden sie aus diesen Verstecken hervorkommen, um den Auftrag ihrer Schöpfer auszuführen. So musste der Wächter, wenn er über die Lage auf der Welt mehr wissen wollte, die Gegebenheiten selbst erkunden. Fand er heraus, dass die Begüterten wirklich restlos ausgestorben waren, ja womöglich durch den letzten großen Krieg vernichtet worden waren, würde er die drei Tore der vorauseilenden Zeit öffnen und die Bewohner Garumitans hinausgeleiten, um ihnen ihr Herrschaftsrecht zurückzugeben. Doch im Moment musste er seine Kampfkraft wiederherstellen. Diese Unbegüterten hatten ihn doch stärker beansprucht, als er es mit seinem geschmiedeten Verstand hatte erwägen können. Wie würde es sein, wenn er wirklich einen großen Krieg führen musste? Doch dabei, so vermittelte sein vom Ballast der Gefühle freier Verstand, würden ihm die Bewohner Garumitans helfen, zumal innerhalb der Stadt noch einige künstliche Diener wohnten, die zum Schutz und zum Wohl der Bewohner erschaffen worden waren.
Der Tag verstrich. Im Licht der Sonne füllte der Wächter seine Vorräte an Sonnenglut wieder auf. Als dann auch der Mond aufging sog er über seine Augen dessen Licht in sich ein, um es für Mondschild und alle Mondkräfte aufzubewahren. Dabei blieb er jedoch wachsam. Er empfing die geistigen Regungen der von ihm in Schlaf gebannten. Sonst traute sich niemand mehr zu ihm hin. Er musste jedoch darauf gefasst sein, dass sie noch nicht aufgegeben hatten und vielleicht noch Waffen besaßen, die seinen Kräften zumindest ebenbürtig waren. Zerstören konnten sie ihn jedoch nicht. Selbst das Tausendsonnenfeuer würde ihm nichts anhaben können, weil er, sobald er dessen Nähe wahrnahm, in einen Schild der vorauseilenden Zeit gehüllt würde, der ihn vor dessen unbändiger Zerstörungskraft schützte.
"Willst du Garumitans Bewohner ansprechen?" wisperte die nur vom Wächter vernehmbare Stimme des Tores der vorauseilenden Zeit.
"Erst wenn ich weiß, dass sie die Stadt verlassen können oder verlassen müssen", erwiderte der Wächter von Garumitan. Sein Verstand duldete keine Halbheiten. Wenn er Garumitan für die Jetztzeitwelt öffnete, dann nur, wenn er wusste, dass die Bewohner in dieser Welt gebraucht würden, um die altbewährte Ordnung wwiederherzustellen.
Jeanne und ihre Kinder waren erst seit fünf Minuten fort. Julius war auch von Jeanne darauf hingewisen worden, dass er wohl locker bei ihrer Mutter anfangen konnte, wenn die Grandchapeaus ihn nicht mehr im Ministerium halten konnten.
Mit dem Lotsenstein ausgerüstet reiste Julius so heimlich er konnte über die Dorfgrenze von Millemerveilles und apparierte in der Nähe des Zugangs zu den alten Straßen. Zwar wussten nur die, die er dorthin mitgenommen hatte, wo dieser lag. Doch er wollte sicherstellen, dass ihm niemand bei seiner Abreise zu sehen bekam, wenn er schon die Rückkehr nicht entsprechend absichern konnte. Doch die Stelle mitten in den Pyrenäen, wo die magische Plattform unter der Erde auf ihre Aktivierung wartete, war wieder einmal menschenleer. "Ashmirin!" rief Julius, als er genau auf dem Punkt stand, von dem aus die alten Straßen sich öffnen ließen. Dann rief er die beiden restlichen Worte, die ihm den Weg nach Khalakatan, der behütenden Stadt, ebneten. "Pantiakhalakatanir Kenartis! "
Als er nach einer Reise durch die silbern-rot-blauen Tunnel und Kurven zwischen dem normalen Raum und einer magisch übergeordneten Ebene gereist war fand er sich wie schon mehrere Male zuvor unter jenem gigantomanisch hohen Torbogen wieder, der sozusagen den Eingang in die von Menschen verlassene Stadt bildete. Er flog direkt vom Torbogen aus los in Richtung des kilometerhohen Turmes, in dem alles Wissen der alten Zeit und dessen mächtigste Erzeugnisse aufbewahrt wurden. Diesmal kamen ihm keine der hier patrouillierenden Elementarwesen in die Quere. Offenbar hatten die sich endlich damit abgefunden, dass er hier hereinkommen durfte. Er fühlte, dass der freie Flug ohne Besen oder andere Hilfsmittel gut an der Ausdauer fraß. Doch wer sich dem Turm näherte konnte auf keinem künstlichenFluggerät bis an ihn herankommen.
Wie er es schon mehrere Male getan hatte legte er seinen Kopf und den Lotsenstein zugleich an die glatten Wände des Turmes. Ein Sog ergriff ihn und zog ihn durch einen weiteren silbern-blau-roten Tunnel auf das Podest in der weiten Eingangshalle. Er flog noch bis nach unten, weil er keine Lust hatte, die 144 Stufen zu Fuß hinunterzugehen. Wieder öffneten sich die Türen innerhalb des Podestes. Diesmal traten nur zwei goldene Dienerinnen heraus, eine in sonnengelber und eine in blutroter Kleidung. "Wir bringen dich zu den Altmeistern, Träger des Siegels Darxandrias", sagte die in Sonnengelb. Die in Blutrot fügte hinzu:
"Doch sei daran erinnert, dass die Altmeister dir nur das künden, was sie dir zu künden gewillt sind." Julius nickte.
Während er und die beiden goldenen Mädchen in jenem gläsernen Transportkorb mal waagerecht und mal senkrecht durch die einzelnen Abteilungen des gewaltigen Turmes rasten fragte sich Julius einmal mehr, ob er nicht einmal aussteigen und sich das eine oder andere näher besehen könnte. Tatsächlich hielt der Korb diesmal nicht erst unterhalb der kugelförmigen Halle der Altmeister an, sondern kam in einem Raum voller kristallener Schränke zum Stehen. "Kailishaia und Agolar teilten mir mit, dass du für dich und deine Anvertraute die Gehänge des Verstehens erbitten wolltest", sagte die goldene Androidin im blutroten Gewand. Dann deutete sie mit ihrer Kraft verheißenden rechten Hand auf einen Schrank. Julius sah, dass der Arm der goldenen Dienerin etwas muskulöser ausgeformt war als er es bei den anderen goldenen Dienerinnen bisher gesehen hatte. So wirkte sie wie eine kräftige Bauernmarkt oder Kampfsportlerin. Dabei war es doch eigentlich egal, weil diese magischen Mädchen sowieso ein vielfaches stärker waren als Menschen aus Fleish und Blut.
Julius sah und bestaunte, was hier alles aufbewahrt wurde. Da war Geschirr von schlicht bis übermäßig protzig. Da waren Kleidungsstücke, von denen er nicht wusste, ob sie magische Kräfte besaßen wie Millies neues besonderes Kleid. Außerdem sah er Waffen, von blauen Schwertern, spiegelnden Schilden bis zu jenen wie goldene Fernrohre mit kugelförmigen Enden und Abzugsvorrichtungen aussehende Strahlwaffen, die er in der Himmelsburg im Einsatz gesehen hatte. Eine kleine Vitrine enthielt eine Unzahl von Ohrringen. Die goldene in Blutrot nahm Julius behutsam bei der Hand und führte ihn langsam zu dem Schrank hin. Sie legte seine Hand auf die durchsichtige Oberfläche und ihre linke Hand direkt daneben. Julius fühlte ein sanftes Vibrieren durch die Finger gehen. Die Glasplatte oder was es war erwärmte sich leicht. Dann war es auch schon wieder vorbei. Es rasselte leise. Dann glitt die vordere Tür zur Seite. "Wähle die für die dir am meisten Vertrauten aus. Doch bedenke, diesen zu sagen, dass sie die Ringe nur dann tragen sollen, wenn sie sie wirklich brauchen. Denn sonst kann ihnen widerfahren, dass andere danach begehren und sie ihnen fortnehmen wollen." Julius verstand. Neid war durchaus kein Privileg der Magielosen.
Er nahm für Millie, Catherine und Camille einen Ohrring heraus und dann noch einen für sich selbst. Dann schloss sich die Vitrinentür wieder. Wie immer die Verriegelung beschaffen war, sie schloss sich leise rasselnd wieder. Dann ging es zum Transportkorb zurück.
Als Julius ohne die Begleitung der goldenen Dienerinnen in die Halle der Altmeister eintrat begrüßte er erst Garoshan, den Torhüter. Diesen fragte er, wen er fragen dürfe, um mehr über den Wächter von Garumitan zu erfahren.
"Im Grunde darfst du jeden nach ihm fragen, weil er allen dient, egal, welcher Richtung der Kraft sie sich verbunden haben. Doch nicht jeder wird dir Auskunft erteilen wollen", sagte Garoshans Erscheinung, die sich aus dem silbernen Nebel innerhalb des Kristallzylinders verfestigt hatte. Julius wollte wissen, ob er Kantoran, den Beobachter der Ereignisse, fragen konnte. "Kantoran wird ihn dir zeigen, doch nicht verraten, wo er ruhte und wie er anzusprechen ist, Julius Erdengrund", erwiderte Garoshan. Julius fragte, ob Garoshan es ihm verraten würde.
"Du bist doch nicht wegen ihm alleine hier", antwortete der Torhüter. Dann zerfloss er einfach wieder zu silbern leuchtendem Gas, dass jeden Kubikzentimeter des mannshohen Zylinders ausfüllte. Das war überdeutlich, fand Julius. Er stieß sich ab und flog mit Hilfe des hier erlernten Frreiflugzaubers nach oben. Er erinnerte sich, als ob es gestern war, wo die bereits von ihm befragten Altmeister wohnten. Er hörte leises Babygeschrei, als er am Zylinder Madrashtargayans vorbeiflog und sah, wie die beiden Mitternachtszwillingsschwestern in ihren blauen Gewändern vor ihm Gestalt annahmen und ihm hämisch zuzwinkerten. Er hielt sich jedoch schön weit von ihnen fern und flog weiter, bis er bei Ianshira vorbeikam. Doch ihr Zylinder blieb unverändert. Als er ihn berührte, wurde er mit einem leichten aber unverkennbaren Stoß durch den Körper abgewiesen. Sie wollte sich ihm nicht zeigen, nicht heute. Vielleicht meinte sie aber auch, dass er von ihr nichts mehr lernen durfte, zumal er in dem zum lebenslangen Dasein als Ungeborener oder Säugling verfluchten Madrashtargayan einen besseren Lehrer für die hellen Künste gefunden hatte. Vielleicht würde ihm Agolar verraten, was er wissen wollte. So flog er dorthin, wo der Zylinder des Erdmagiers Agolar zu finden war.
Der Kristallzylinder leuchtete wie alle anderem im silberweißen Licht der in ihm aufbewahrten Substanz, aus der die ihren Körpern entstiegenen Altmeister bestanden. Beim letzten mal hatte Agolars Heimstätte ihn mit einem Energieschlag ähnlich einem Elektroschock abgewiesen. Deshalb flog Julius ganz behutsam an den Zylinder heran. Er streckte die Finger seiner linken Hand nach der gewölbten, glatten Wand aus. Das silberweiße Leuchten veränderte sich nicht. Er riskierte es und berührte die Wand. Um ihn flammte für einen Sekundenbruchteil silberweißes Licht auf. Dann hatte er den Eindruck, unter freiem Himmel auf einer grünen wilden Wiese zu stehen. Hier wuchs Gras, das ihm bis an die Oberschenkel reichte und sachte im warmen Wind wogte. Ein unverkennbarer, Julius höchstbekannter Geruch stieg ihm in die Nase, der unverkennbare Geruch einer Latierre-Kuh. Er wandte den Kopf und erstarrte fast in dieser Haltung. Hinter ihm lag, anderthalbmal so hoch aufragend wie er lang war, ein Ungetüm mit fuchsrotem Wollkleid. Julius empfand ein heftiges Déjà Vu, als er die paarigen, golden glänzenden Hufe und die ebenso goldenen, mehr als einen Meter aus der Stirn herausragenden Hörner sah. Dann fielen ihm die Augen der gigantischen Kuh auf. Sie waren zwar der Größe dieses Zaubertieres angepasst, wirkten aber nicht wie die eines Tieres wie bei Temmie oder ihren leiblichen Verwandten, sondern wie die Augen einer Menschenfrau, wie er sie in dem von Temmies innerer Natur Darxandria gesteuerten Traum gesehen hatte.
"Dreh dich mir richtig zu, Sonnenhaar", hörte er die körperliche Stimme dieses Ungetüms, eine tiefe, für die gewaltige Größe sanft und leise klingende Frauenstimme, die ihn ebenfalls sehr an Naaneavargia erinnerte. Doch Naaneavargia hatte durch die Vereinigung mit Anthelia eine andere Stimme und andere Augen bekommen, wusste Julius. "Ich bin nicht meine Sohnestochter, sondern Agolars liebende Mutter", sagte die fuchsrote Riesenkuh. Als Julius feststellte, dass sie keine Flügel besaß bebte der Körper der Riesenkuh vor Lachen. "Ich bin Vertraute der Erde und daher nicht dazu bereit, mir Flügel anzulegen. Die in einer weißen Milchkuh wiedererwachte Königin Darxandria hatte wirklich eine sehr gute Idee, dich damals zu mir nach Madrashghedoxalan zu bringen. Das war die einzige Möglichkeit, meinen unangemessen selbstsicheren Nachkommen davon abzuhalten, dir ohne die endgültige Einberufung in unsere Gemeinschaft der Erdvertrauten zu erzählen, was du noch wissen möchtest. Denn es wurde ihm von der hier im Konzil weiterbestehenden ersten Tochter der großen Mutter Madrashmironda verboten, dir weitere Dinge zu berichten. Deshalb habe ich ihn wieder zu mir genommen."
"Bitte was?" fragte Julius. Da stand die riesige Kuh auf. Nun ragte sie auf ihren baumstammdicken Beinen an die sieben Meter auf. Julius trat unwillkürlich drei Schritte zurück. Dann sah er, dass das Riesenrind ein voll ausgeprägtes, prallgefülltes Euter besaß und einen merklich aufgetriebenen Bauch aufwies. Im Leib der Riesenkuh regte sich etwas und beulte die Bauchdecke aus. Dann hörte Julius die Stimme der Riesenkuh wieder: "Ja, du siehst richtig. Ich trage ein Leben in mir, Agolar. Nur so kann ich ihn davon abhalten, dir aus purer Verbundenheit, weil du seine Tochter aus ihrer Gefangenschaft befreit hast, mehr über uns zu verraten, bevor Madrashmironda oder meine Sohnestochter dich nicht über einen der zwei Wege in unsere erhabene Gemeinschaft geführt haben.".
"Das soll wohl ein Scherz sein", grummelte Julius und dachte daran, dass das hier alles nur in seinem Kopf passierte, eine traumartige Illusion war, die Agolar in seinen Geist einpflanzte. "Nein, Sonnenhaar, das ist kein Scherz. Natürlich hat er dir nicht verraten, dass ich, seine Mutter, vor ihm in die Reihen der Altmeister eintrat, weil ich über die Natur der grünen Kinder unserer großen Mutter so viel weiß, dass sie mir die Ehre erwiesen, mich in ihre Reihen aufzunehmen. Als ich erfuhr, dass du zu uns kommen würdest musste ich Agolar zu mir nehmen. Er hat versucht, sich zu wehren. Doch ich umschloss ihn und barg ihn in meinem Leib. Dort bleibt er jetzt, bis du einen der zwei Wege zu unserer Gemeinschaft beschritten haben wirst. Nur Madrashmironda oder Naaneavargia dürfen dich auf einen davon bringen und ans Ziel geleiten, nachdem du dich klar für die Verbundenheit mit unserer großen Mutter entschieden hast."
"Agolar, netter Ulk", dachte Julius, wobei er sich das mit Agolars Stimme sprechen vorstellte. "So kannst du ihn nicht mehr erreichen", dröhnte die Stimme der Riesenkuh nun gänzlich ihrer gewaltigen Körpergröße entsprechend. "Finde dich damit ab, dass er dir keine weiteren Ratschläge oder Hilfen mehr gewähren kann, bis Madrashmironda es ihm wieder erlaubt."
"Ich kann auch wieder gehen und wen anderen fragen", sagte Julius.
"Kailishaia. Sie ist auch als mächtige Meisterin des Feuers den alten Regeln unterworfen. Du hast dich für unseren Weg entschieden, auch wenn die Lichtfolger dich immer noch für einen der ihren ansehen. Doch auch diese dürfen dir nur die Dinge mitteilen, die unmittelbar mit ihnen zu tun haben, solange du nicht eindeutig ein Mitglied unserer Gemeinschaft bist. Danach dürfen auch sie dir keine neuen Künste mehr beibringen, auch nicht Madrashtargayan. Und die Fragen, die du hast, sind nicht so drängend, dass einer der Altmeister sie als unbedingt notwendig empfindet, sie dir zu beantworten, zumal du für die Antwort auf deine zweite Frage noch die nötige Voraussetzung schaffen musst."
"Dann wird der Wächter von Garumitan einfach so losziehen und die Welt ins Chaos stürzen", sagte Julius.
"Das ist sie doch schon, seitdem die unbegüterten Menschen alles, was wir früher mit der erhabenen Kraft wirken konnten, durch ihre Erfindungen ersetzen, von den zugtierlosen Fuhrwerken über die eisernen Reisevögel bishin zur unbedachten Entfesselung des unsichtbaren Feuers, dass jedem Grundteil alles Stofflichen innewohnt. Wenn sie auch noch erlernen, ohne die Kraft den Brennstoff für das Tausendsonnenfeuer zu erzeugen wird diese unsere Welt am Abgrund dessen schweben, was die Eingottanbeter die Hölle nennen. Vielleicht ist es sogar besser, der Wächter von Garumitan bekommt freie Bahn und übernimmt mit dem ihn beigegebenen Helfern die Herrschaft über die Welt."
"Agolar, das könnt ihr nicht ernstmeinen", stieß Julius aus. Sich die Welt von übermächtigen Robotern beherrscht vorzustellen widerstrebte ihm.
"Sonnenhaar, ich bin nicht Agolar, sondern seine Mutter Shainorammaya", brummte die fuchsrote Riesenkuh. Julius Latierre erkannte, dass er so nicht weiterkam. So sagte er:
"Gut, Shainorammaya. Temmie, also Darxandria hat Euch als Tochter der Freude bezeichnet. Welche Freude kann ein Mensch noch empfinden, der von gefühllosen Kunstgeschöpfen beherrscht wird?"
"Die, weiterleben zu dürfen, sich wieder auf die Dinge des Lebens zu besinnen und die Ehrfurcht vor der großen Mutter wiederzuerlangen. Doch da ist was, was mich doch nachdenken lässt. Der Wächter schlief mehr als sechstausend Sonnen, und wir wissen nicht, was in Garumitan geschah. Das letzte mal ... aber lassen wir das! Aber ich darf dir nicht sagen, wie du zu ihm hinfinden kannst. Ich darf es dir nicht sagen, und alle anderen hier, die es wissen, werden es dir nicht sagen wollen, sofern du nicht die Schuld einlöst, die du übernommen hast."
"Welche Schuld?" fragte Julius nun sichtlich erschüttert.
"Die Schuld, den Preis für das Wissen zu entrichten, dass Agolar dir übergab und dass eigentlich nur besitzen darf, wer ein Einberufener der großen Mutter ist. Wir haben es dir damals nur gestattet, weil wir die Gefahr erkannten, die Skyllians letzte Untat über diese Welt bringen wollte. Doch damit hast du dich uns gegenüber verpflichtet."
"Das möchte ich gerne überprüfen, ob keiner mir etwas verraten möchte", erwiderte Julius, dem das hier alles schon länger dauerte als er wollte.
"Außer den beiden Mitternächtigen, die Madrashtargayans Mutter dazu verwünschten, ihren Sohn bis kurz vor dem eigenen Tod im Leib zu tragen weiß ich keinen, der dir was erzählen wird, und die beiden Schwestern werden eine hohe Gegenleistung von dir verlangen, höher als die, die wir Einberufenen der großen Mutter von dir einfordern."
Julius nickte. Also musste er erfahren, was die beiden Wege waren, von denen er einen gehen sollte. Dass er dazu garantiert nicht Naaneavargia/Anthelia aufsuchen würde stand für ihn fest. So fragte er: "Darf ich von Euch zumindest wissen, was die beiden Wege zu Eurer Gemeinschaft sind?"
"Oja, das darf ich dir verraten. Jedes Menschenkind, das unserer Gemeinschaft beitreten möchte, muss, wenn es körperlich ausgereift ist, zu einem erhabenen Sohn der Großen Mutter gehen, falls weiblich oder zu einer erhabenen Tochter der großen Mutter gehen, falls männlich. Ihm oder ihr muss der oder die Einzuberufende die Bitte vortragen, einberufen zu werden. Danach kann er oder sie zwischen einem der folgenden Wege wählen:
Der erste Weg dauert einen vollen Mondkreis und fordert viel Vertrauen und Selbstbeherrschung von dem Bittenden. Er oder sie muss sich bis zum Hals in den Leib der großen Mutter zurücktreiben lassen und dort einen vollen Mondkreis ausharren. Er oder sie darf nur essen und trinken, was der Sohn oder die Tochter der großen Mutter ihm direkt vor den Mund hält oder dort hineinlegt, was immer es ist. Das obliegt der Tochter oder dem Sohn der großen Mutter, solange es kein tödliches Gift ist."
Julius erschauerte bei dem Gedanken, bis zum Hals im Boden eingegraben zu sein und einen ganzen Monat von einer ihm fremden Person total abhängig zu sein. Dann sprach die fuchsrote Riesenkuh, die angeblich Agolars Mutter war und ihn durch Magie wieder in ihren Leib eingeschlossen hatte weiter:
"Der zweite Weg, Sonnenhar, dauert nur zwölf Tage und zwölf Nächte an. Doch in der Zeit muss der oder die Eingemeindungswillige mit dem oder der Einberufungsberechtigten in unmittelbarer Nähe zubringen, nicht weiter als doppelte Armeslänge voneinander entfernt sein und in dieser Zeit mindestens einhundertvierundvierzigmal den Tanz des Neuen Lebens tanzen, also das tun, was ihr Jetztzeitmenschen Beischlaf, Geschlechtsverkehr oder Sex nennt." Julius erschauerte noch einnmal. "Ist nicht so beängstigend, wie es dir vorkommt, Sonnenhaar, zumal du in dieser Hinsicht schon geübt bist", brumte die Riesenkuh unüberhörbar angeregt. "Ach ja, der oder die Einberufende muss dabei mindestens einmal am Tag zur höchsten Befridigung der körperlichen Lust gelangen. Der oder die Eingemeindungswillige muss dabei jeden Wunsch des oder der Einberufenden erfüllen, mit oder ohne die Kraft anzuwenden. Ist diese Zeit der nächsten Nähe vorüber kann der oder die Einberufende erkennen, dass der oder die Eingemeindungswillige berechtigt ist, in unsere Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Dabei kann ein neues Menschenkind entstehen, muss aber nicht. Doch wenn eines den Weg in unsere Welt antritt, so ist es der nächste erhabene Sohn oder die nächste erhabene Tochter der großen Mutter. Es wird dann im Haus der erhabenen Söhne oder dem der erhabenen Töchter großgezogen und ausschließlich mit den Künsten der großen Mutter vertraut gemacht. Stirbt der gleichgeschlechtliche Elternteil, so tritt er oder sie das Erbe an, neue Mitglieder der Gemeinschaft auf einen der beiden Wege führen und zum Ziel geleiten zu dürfen."
"Ach, und Ihr seid dazu nicht berechtigt. Aber warum ausgerechnet Naaneavargia?" preschte Julius vor, der einen gewissen Hoffnungsschimmer erkannte, es nicht auf eine Begegnung mit der Spinnenlady ankommen lassen zu müssen.
"Weil sie die einzige noch lebende Vertraute ist und damit alle anderen überlebt hat. Auch wenn dies durch dunkles Werk geschah, dass sie noch lebt und in ihr das innere Selbst einer von Dunkelheit erfüllten Trägerin der Kraft einkehrte bleibt sie doch die letzte lebende Tochter der großen Mutter."
"Öhm, dann verzichte ich besser darauf, um Eingemeindung zu bitten."
"Das meinst du, weil du denkst, dass du uns nicht mehr nötig hast und dich vor meiner Sohnestochter ekelst", grummelte die Riesenkuh. In ihrem aufgetriebenen Bauch strampelte es nun sichtbar. "Gib Ruhe und genieße mich wie damals", schnaubte Shainorammaya unwirsch. Dann sagte sie zu Julius: "Einen der zwei Wege wirst du gehen müssen, wie deine derzeitige Gefährtin sich den Flammen der Durchdringung anvertrauen musste. Entweder gehst du einen dieser Wege mit Madrashmironda oder mit meiner Sohnestochter Naaneavargia."
"Schön, jetzt kenne ich die wichtigsten Sachen, um mich entscheiden zu können. Aber so richtig glauben kann ich nicht, dass Agolar da drinnen ist", sagte er und deutete auf den vorgewölbten Unterbauch der Riesenkuh. Diese nickte ihm mit ihrem Riesenrinderschädel zu. In ihren Augen blitzte es auf, nicht vor Zorn, sondern vor Vergnügen, wie Julius meinte. Dann löste sie sich einfach in einen bunten Wirbel auf, so wie Maya Unittamo es konnte, wenn sie ohne Zauberstab die Gestalt wechselte. Julius sah, wie ein nackter Mann aus dem Farbenwirbel herausfiel und im hohen Gras landete. Es war Agolar. Der schlug um sich und schnappte wild nach Luft. Dann sah Julius, wie sich neben ihm eine gutgenährte Frauengestalt verstofflichte. Ja, das war Shainorammaya, einige Jahrzehnte älter, aber unverkennbar. Und jetzt, wo er sie aus der Nähe sah fielen ihm fiele Merkmale Naaneavargias in ihrem Gesicht auf.
"Julius Erdengrund, sie begreifen nicht, wie wichtig es ist, dem Wächter Einhalt zu gebieten!" rief Agolar und zitterte wie in eisigem Wasser. Julius lief auf ihn zu und wollte ihn fragen, doch da umfloss ihn ein farbiger Dunst, der pulsierte und ihn unvermittelt aufhob. Im nächsten Moment blieb ihm die Luft weg. Doch er erstickte nicht. Er schwamm im warmen Wasser und hörte ein gewaltiges Herz pochen und das laute, aber ruhige Schnaufen von ein- und ausatmenden Lungen. Alle Kleidung und alles, was er in die Stadt mitgenommen hatte waren weg. Er war nackt. Doch er war noch immer ein Mensch. Aber er fühlte an seinem Bauch die direkte Verbindung zu dem wesen, dass ihn mal eben in sich eingeschlossen hatte. Der erste Widerwille und das Gefühl, in einer Falle zu sitzen verflogen mit jedem pulsieren, über das ihm Blut oder Lebenskraft aus dem gewaltigen Körper zufloss, der ihn umschloss.
"Gib ihn frei, er muss seinen Auftrag erfüllen, als Hüter des Erbes!" hörte er wie durch dicke Wände Agolars Flehen.
"Du wolltest ihm verraten, wo der Wächter wohnt, obwohl unsere Sprecherin dies klar untersagt hat. Du bist zu wichtig für uns, als dass wir dich ausstoßen dürfen. So bleibt er also bei mir. Da hat er es sowieso besser als da draußen", hörte Julius die überlaute Stimme wie aus nur auf Bässe eingestellten Lautsprechern. Tatsächlich empfand er seine Lage als sehr angenehm. Aller Argwohn, alle Beklommenheit waren weg. Er begann, diese innigste Geborgenheit zu genießen.
"Mutter, bitte, gib ihn wieder frei und lass ihn gehen. Jemand hier wird ihm schon helfen, wenn wir es nicht dürfen", flehte Agolar schon eher wie ein kleines Kind als wie ein altgedienter Zaubermeister und mehrfacher Vater.
"Ich finde ihn leichter zu tragen als dich alten Felsenschädel. Ich behalte ihn bei mir. Und diese meine Erscheinung gefällt mir besser als die, in der ich hier ankam. Madrashmironda hat mir gerade erlaubt, ihn bei mir zu behalten."
"Dann werde ich zusammen mit allen anderen, die ihn als unseren Boten in der vergänglichen Welt sehen bei ihr vorsprechen, dass du ihn wieder freizugeben hast", hörte Julius Agolar laut genug, dass es auch bis zu ihm durchdrang. Doch er empfand sich gar nicht als unfrei. Vielmehr fühlte er sich jetzt richtig wohl, unangreifbar, sorgenlos. Die Aussicht, für immer in Shainorammayas unmittelbarer Obhut zu bleiben begann ihm zu gefallen. Er verschwendete keinen Gedanken mehr an Millie, seine Mutter, die Brickstons und schon gar nicht seine Arbeit im Ministerium. Er fühlte sich entspannt und geborgen.
"Madrashmironda hat es mir erlaubt, dich zu mir zu nehmen, Agolar. Sie hat mir auch erlaubt, dich daran zu hindern, ihm mehr zu erzählen, ohne dass er in unsere Gemeinschaft eintritt. So, und jetzt habe ich Hunger. Verweile hier und bedenke deinen Ungehorsam!" dröhnte Shainorammayas Stimme um Julius herum. Dann begann sein neues, warmes Zuhause sich zu wiegen. "Du kommst mit ihm nicht aus meinem Dauerglas frei, solan...", hörte Julius noch Agolar. Doch irgendwas ließ dessen Worte wie abgeschnitten verstummen. Er fühlte nur die sanft wiegenden Bewegungen, mit denen seine neue Behüterin ihn davontrug. Er versuchte in Gedanken zu ihr zu sprechen. Es gelang.
"Ich werde dich solange bei mir behalten, wie wir beide miteinander zurechtkommen", erwiderte sie. "Ich fühle, dass wir beide eine sehr innige Verbundenheit erleben", schickte sie noch zurück. Julius empfand ebenso.
Als er sich dieser unmittelbaren Behütung gänzlich hingegeben hatte, fühlte er, wie neue Gedanken in seinem Kopf entstanden. Als würden sie über die pulsierende Nabelschnur direkt in sein Gehirn gepumpt erinnerte er sich daran, wie die Bewohner des alten Reiches die Weltkugel vermessen hatten. Wie die Erdkundler und Schiffsführer viele tausend Jahre später benutzten sie Längen- und Breitengrade, allerdings keine gedachten, sondern an den das Eisen bewegenden Kraftlinien und die Bewegungen der Gestirne am Himmel. Während ein fremdes, viel größeres Herz für ihn mitschlug bekam er auch mit, wo die Städte des alten Volkes errichtet worden waren. Als wenn er selbst dabei mitgeholfen hatte entsann er sich, wie das Ankunftstor von Khalakatan gebaut wurde. Er konnte sich auch daran erinnern, dass weit vor Shainorammayas Geburt Garumitan einen Wächter erhalten hatte. Dann sah und hörte er in seinem Geist die ersten Jahre Shainorammayas. Es war wie mit dem Kopf in den ausgelagerten Erinnerungen in einem Denkarium. Dass er gerade von der als Riesenkuh herumlaufenden Shainorammaya wie ein ungeborenes Kalb getragen wurde bekam er nur noch über das allgegenwärtige Pochen, Schnauben und Pulsieren mit. Als er sich dann auf Temmie nach Madrashghedoxalan anreisen sah dachte er, dass er diese Reise wahrhaftig gemacht hatte. Irgendwie waren er und Temmie in die alte Zeit und in die Stadt zurückgereist. Dass es nur ein von Temmie erzeugter Traum gewesen war kam ihm ebensowenig in den Sinn, wie dass er eigentlich auch nur in einer geistigen Scheinwelt feststeckte. Er prägte sich die in der alten Sprache gesprochenen Grußworte noch einmal ein, die die Besucher von Garumitan dem Wächter sagen mussten, um sich ihm gegenüber als Zutrittsberechtigt auszuweisen. Dann dachte er daran, dass Garumitan nicht von den Altmeistern beobachtet werden konnte. Die Stadt lag in ihrer mächtigen Zeitzauberblase außerhalb der von ihnen mitverfolgbaren Ereignisse. Denn in die Zukunft konnten sie nicht sehen, in die Zukunft, in die jene Stadt durch eine längst verggessene Magie verschoben wurde, jede Sekunde. Deshalb wussten die Altmeister auch nicht, was in all der Zeit dort vorgegangen war.
Das Wissen um die Art, wie der Wächter beschaffen war und wie er in Kraft gesetzt und handlungsfähig gemacht worden war wussten nur die Vertreter der kleinen Gemeinden von Sonne, Mond und Wandelsternen, die eine Art Zwischenlösung zwischen den Hauptgruppen von Feuer, Wasser, Luft und Erde darstellten. Deshalb sorgten sich die Altmeister auch, was jemand erreichen würde, der oder die den Wächter fand und in seinen oder ihren Dienst stellen konnte. Ja, und weil Garumitan eben auch vor den allgegenwärtigen Empfindungen der Altmeister verhüllt blieb fürchteten nicht wenige, wer den Wächter träfe und nicht zu den von ihm als würdig anbefohlenen Trägern der Kraft gehöre, könne dessen vollkommen gefühl- und gewissenlosen Drang erregen, die Welt zu unterwerfen. Daher, so hatten die Altmeister beschlossen, solle niemand mit magischen Kräften den Wächter antreffen, es sei denn, die Sonnenkrieger hätten durch ihre wiedererstarkende Kraft auch den Standort des Wächters erfahren. Als er an diese mysteriösen Wesen dachte sah er sich über einer kleinen Insel dahinfliegen und dachte auch an die nach alter Weise festgelegten Bezugspunkte. Er sah mehrere Männer und Frauen mit goldener Haut. Er konnte deren Alter jedoch nicht so recht einschätzen. Die ihm vermittelten Seheindrücke zeigten ihm junge Leute, nicht viel älter als er. Doch in ihm schwang dabei die Gewissheit mit, dass die meisten von denen schon mehr als sechzig Sonnenkreise auf der Welt waren. Dann sah er zwei Menschen, die eindeutig europäisch aussahen, einen jungen Mann und eine Frau. Den Jungen sah er merkwürdigerweise vor einem modernen Laptop sitzen und mit Maus und Tastatur hantieren. Außer, dass der tragbare Rechner mit einer tiefschwarzen Folie überzogen war unterschied der sich nicht von anderen Geräten aus heutiger Zeit. Als er sich wie ein unsichtbarer Geist der jungen Frau mit den dunkelbraunen Haaren näherte durchfuhr ihn ein heißkalter Schauer. Er kannte diese Frau mit den grünen Augen, die gerade im Licht der Sonne einen leichten Graustich zeigten. Das war die, die vor seinen Augen seinen Vater von einem dem Tod nahen Greis in einen wimmernden Neugeborenen zurückverwandelt hatte. Später hatte er von ihr in einer amerikanischen Zaubererweltzeitung gelesen, dass sie getötet worden war, angeblich von ihrer damaligen Anführerin Anthelia. Diese Frau hieß Patricia Straton, erinnerte er sich. Doch wer war der junge Mann mit europäischer Hautfarbe?
Julius wollte noch mehr über diese beiden wissen, weil er fühlte, dass er jetzt, ausgerechnet in Shainorammayas innigster Obhut, alle Fragen der Welt stellen und beantworten konnte. Da sah er einen goldenen Nebel und hörte viele erbost sprechende Stimmen. "Bedenke die Orichalkregel, Shainorammaya!" Dann war Julius wieder dort, wo seine geistige Rundreise begonnen hatte, eingeschlossen im warmen Leib Shainorammayas. Er hörte Geräusche, ein Gluckern und Rumoren. Er wusste, dass sie gerade ihren Hunger stillte. Gleichzeitig fühlte er, wie eine neue Erkenntnis in ihm aufstieg. Er wusste, dass es Wege gab, sich gegen Fremdverwandlungen zu schützen. Die demFeuer vertrauten nannten es den Mantel der flammenden Freiheit. Die dem Wasser vertrauten nannten es die Reinheit des inneren Wassers. Die vom Licht nannten es das Lied vom beständigen Licht, das unerwünschte Beeinträchtigungen von einem abhielt. Die der Luft vertrauten sprachen von einem Lied des schützenden Atems, und die der Erde vertrauten nannten es das Lied der felsenfesten Beständigkeit. allen diesen Schutzzaubern gemeinsam war, dass hierfür jedoch der oder die Kundige ein Kind des eigenen Geschlechtes gezeugt oder zur Welt gebracht haben musste, um die volle Kraft zu wirken. Julius, der gerade wieder ins Dahinschweifen in interessanten Erkenntnissen schwelgte, vermutete einen allen gemeinsamen Urzauber, eine Kraft, die alle Elementarkräfte in sich barg und beherrschte, der nur aus dem Leben selbst gewirkt werden konnte. Als ihm diese Erkenntnis kam hörte er erneut verärgert klingende Stimmen: "Shainorammaya, er nimmt von dir zu viel von unserer Gemeinschaftskraft in sich auf. Auch wenn Madrashmironda dir erlaubte, ihn statt Agolar in dir zu tragen, so ist ihm nicht erlaubt, in unsere gemeinsame Erkenntnis und Erlebniswelt hineinzusehen. Versenke ihn in den Schlaf des werdenden Lebens und verzichte darauf, von ihm alles zu erfahren, was er erlebt hat!"
"Es behagt mir, wie wir zwei zusammen sind. Er bereichert mich und genießt meine Obhut. Solange ich ihn bei mir habe kann er niemandem von uns zuwiderhandeln", hörte Julius Shainorammayas Stimme laut und dumpf um sich herum.
"Er darf nicht unser Wissen teilen. Du öffnest ihm zu viele Türen, die er nicht durchschreiten darf", dröhnten nun die erbosten Stimmen.
"Ich behalte ihn bei mir. Dann kann er niemandem außerhalb unserer Gemeinschaft etwas von unserem Wissen verraten", widersprach Shainorammaya. Ein unerbittliches "Nein!!" hämmerte wie ein gewaltiger Donnerschlag in Julius Kopf hinein. Diesem Donnerschlag folgte unmittelbar der Blitz. Ein grelles, sengendheißes Licht flutete in die soh schöne, bergende Behausung, in die Julius aufgenommen worden war und schleuderte ihn mit unerbittlicher Gnadenlosigkeit heraus. Er hörte noch ein von Schmerzen und Wut getragenes Brüllen, das schlagartig in der Ferne verklang. Dann fühlte er kalte Luft um sich herum und einen immer stärker werdenden Wind, der von unten nach oben blies und seine Kleidung zerzauste. Er fiel in die Tiefe!
Es war wie damals, wo sie sich zum ersten Mal nach ihrem Wiedererwachen getroffen hatten. Ullituhilia und ihre Schwester Itoluhila standen an der schroffen, von hohen Wellen angebrandeten Küste Fuerte Venturas. Eigentlich hatten sich beide darauf geeinigt, sich bis auf wweiteres nur noch über geistigen Kontakt miteinander zu verständigen. Doch es war etwas geschehen, was beide gleichermaßen beunruhigte.
Die beiden dämonischen Schwestern umarmten sich flüchtig und grüßten mit kalten Stimmen. Dann kam Itoluhila auch schon auf den Grund für das direkte Treffen.
"Du hast diesen vielfachen Todesschrei auch gehört, Schwester. Ich kann dir sagen, wer das war."
"So, kannst du das?", erwiderte Ullituhilia schnippisch. "Dann kläre deine viel zu lange im Schlaf gefangene Schwester auf, welche Wesen derartig laut aufschreien können!"
"Das waren die Seelensauger, die Lichtschlucker, die Kältebringer. Du kennst sie auch noch, denke ich", entgegnete Itoluhila.
"Zu gut. Nur die Kräfte der Erde, die ich beherrsche, konnten mir helfen, diese Ausgeburten der Nacht zurückzudrängen. Drei von denen habe ich in Felsen gebannt. Die waren mit zehn Seelen entkörperter Menschen geschwängert. Aber die vier anderen von denen hätten mir selbst fast alle Leidenschaft und Freude entrissen und mich damit angreifbar gemacht", schnaubte Ullituhilia.
"Ja, die waren stark", schnaubte Itoluhila zurück. "Ich bekam nie heraus, wohin die alle verschwunden sind. Aber jetzt denke ich, dass sie alle auf einen Schlag vernichtet wurden. Wer das getan hat muss mächtiger als die gewesen sein oder was ausgelöst haben, was wie ein Lauffeuer auf sie übergesprungen ist und jeden von denen aufgefressen hat."
"Ja, und dann schreien die geistig so laut auf, dass mir fast der Kopf geplatzt ist", maulte Ullituhilia.
"Mir auch, und das fand ich gar nicht lustig", fauchte Itoluhila. "Und, hast du es gemerkt, dass ihr schläfriges Raunen etwas lauter ist als vorher und dass es nun nicht mehr so tief brummt wie vorher?"
"Du willst sagen, dass auch sie das gespürt hat? Vielleicht hat es auch die anderen aufgeweckt", erwiderte Ullituhilia.
"Hast du schon von unseren anderen Schwestern was verspürt?", wollte Itoluhila wissen. Ihre Schwester schüttelte den Kopf. "Dann schlafen die noch. Aber unsere jüngste Schwester, von der wir zwei hoffen, dass sie bloß nicht aufwacht, könnte diesen Todesschrei mitbekommen haben. Sie wird wach, Schwester. Das Sterben der Lichtschlucker und Seelensauger war ein weiterer Weckruf für sie."
"Werte Schwester, beklage dich ja nicht bei mir, dass sie aufwacht, wo du durch deine Selbstsucht dazu beigetragen hast, dass du zu lange als einzige wach geblieben bist!", schnarrte Ullituhilia. Itoluhila zischte nur, dass sie sich nicht beklagen wollte. Dann sagte sie:
"Mein Angebot, die anderen aufzuwecken steht noch. Hast du schon wen gefunden, den wir zu einer der anderen hinschicken können?"
"Die Suche läuft. Ich habe all die Mädchen, deren neue Meisterin ich wurde, entsprechend besungen, dass sie es spüren, wenn in jemandem unaufweckbare Magie wohnt. Aber womöglich muss ich mir eine selbst mit Magie begabte suchen, die noch empfindsamer ist. Wir müssen wen finden, den wir zu einer der anderen Schlafenden schicken. Sonst wird dieser Sommer womöglich der Beginn einer neuen Zeitrechnung."
"Ich würde ja all zu gerne wieder eine kurzlebige Trägerin der Magie in meine Dienste nehmen. Doch diese Spinnenhexe, die aus zwei anderen Magierinnen zusammengewachsen ist, und diese verfluchten Kinder Ashtarias vereiteln das. Ich hätte gerne längst wieder eine sehr treue Dienerin. Doch die, die sie wecken könnten wissen zu gut, wie sie dies tun können und unterlassen es."
"Warum hast du die auch so an dich gebunden, dass du ihre schlafende Seele in deinen Leib einlassen musstest?", feixte Ullituhilia.
"Weil ich das so wollte", schnaubte Itoluhila. "Aber ich werde schon eine Dienerin oder einen Diener der magischen Menschen erlangen. Meine auf dem amerikanischen Kontinent wohnenden Abhängigen arbeiten daran, mir einen oder eine zuzuführen."
"Schön für die. Aber wenn sie aufwacht ist es vielleicht zu spät", bemerkte Ullituhilia. Dann fügte sie noch an: "Vielleicht sollten wir dann diesen Irregeleiteten, der sich den verstofflichten Todesschmerz in den Leib getrieben hat und die Blutsauger gegen sie wenden, auch wenn es unsere Schwester ist."
"Wenn die das zulassen", erwiderte Itoluhila schnippisch. Dann sagte sie noch: "Gut, du suchst nach magischen Helfern und ich weiter nach möglichen Aufweckern für unsere etwas umgänglicheren Schwestern."
"Gehst du davon aus, dass alle diese Dunkelheitverbreiter tot sind?" wollte die Tochter des schwarzen Felsens noch wissen.
"Ich hoffe es, Schwester. Wenn unsere jüngste Schwester wach wird können wir diese Seelenschlürfer nicht auch noch am Hals haben."
"Da sind wir uns doch wirklich einmal einig", erwiderte Ullituhilia darauf. Dann sprachen sie noch über die Kristallstaubvampire und ihre erhebliche Schwachstelle. "Ihre Anführerin wird bald erfahren, woran es liegt, dass ihre Überkrieger so plötzlich erlöschen. Sie wird sich darauf einstellen."
"Wenn sie Zeit hat. "Mit jedem, den sie aussendet beschwört sie die Gefahr ihrer Entdeckung herauf. Eines Tages werde ich wissen, wo ihr stofflicher Anker versteckt ist und ihn bergen."
"Ja, und dich von der darin eingekerkerten Seelenballung vereinnahmen lassen", grummelte Ullituhilia. Ihre Schwester sagte dazu jedoch nichts. Sie beharrte nur darauf, möglichst viele dieser Blutsauger auszurotten, bevor es ein zweites Nocturnia gab. Dem musste ihre erst im September des letzten Jahres aufgewachte Schwester zustimmen.
Julius brauchte drei Sekunden, um wieder zu sich zu finden. Er stürzte in die Tiefe, auf den Boden der kugelförmigen Halle zu. Es fehlten nur noch hundert Meter bis zum Aufschlag. Julius war verwirrt. Wie kam er denn in diese Halle? Er hatte doch eben noch warm und weich verpackt in Shainorammayas gewaltigem Leib geruht. Dann erkannte er, dass er in wenigen Sekunden tot sein würde, wenn er nichts tat. Hektisch dachte er die Freiflugformel, wobei er seine Augen geschlossen hielt, um nicht durch den auf ihn zurasenden Boden und die um ihn herum in die Höhe jagenden Glaszylinder abgelenkt zu werden. Endlich ließ der Wind nach, sein freier Fall wurde zu einem sanften Schweben. Er öffnete die Augen und erschrak. Er war gerade noch fünf Meter vom Boden der gewaltigen Halle entfernt. Er hätte keine Sekunde später die Formel für den freien Flug durchdenken dürfen.
Julius Latierre landete nun sicher. Dann ordnete er seine Gedanken. Das war doch nie im Leben wirklich passiert, dass eine überragende Erdmagierin ihn mal eben ohne Umweg über einen Liebesakt in sich aufgenommen und wie ein ungeborenes Kind getragen hatte. Natürlich war das nicht wirklich passiert, erkannte er. Denn hier in der Halle der Altmeister gab es keine körperlich lebenden Wesen mehr außer denen, die als Besucher herkamen. Nachdem er den Schock der so abrupten Verbannung aus Shainorammayas Leib endlich überwinden konnte überlegte er, was er nun noch wusste. Zu seinem Erstaunen konnte er sich trotz des brutalen Blitzschlages an alles erinnern, was Shainorammaya ihm über ihren Blutkreislauf eingeflößt hatte. Jetzt fragte er sich, ob das beabsichtigt war oder nicht. Doch im Moment drängte ihn ein unbestimmtes Gefühl, diese Halle schnellstmöglich zu verlassen. Denn womöglich konnten die hier überdauernden Altmeister beschließen, dass er nicht mehr lebend hier hinausgelangen durfte. So flog er wieder auf und jagte der Ausgangstür zu. Er hörte um sich herum ein angeregtes Singen in den Glaszylindern und sah das silberne Leuchten wabern und flimmern. Dann war er an der Tür und stieß sie auf. Keine Macht der Welt hielt ihn zurück oder traf ihn mit etwas, dass ihn lähmen oder töten sollte. Der Transportkorb stand noch so da, wie er ihm entstiegen war. Mit gewissem Unbehagen, dass die Altmeister diesen Turm mit allen Einrichtungen steuern konnten, ging er darauf zu.
Als er wieder in den gläsernen Transportkorb einstieg sagte die dort auf ihn wartende goldene Dienerin in Rot: "Hat Shainorammaya doch einen Weg gefunden, dir mitzuteilen, was Madrashmironda ihr zu sagen untersagt hat. So trage dein neues Wissen hinaus in deine Welt. Doch sei dir gewiss, dass Madrashmironda auf dich warten wird, sofern du nicht zu der vom festen Pfade abgekommenen Tochter Agolars gehst."
"Wem dienst du?" fragte Julius. Die Goldene erwiderte:
"Ich diene Madrashmironda und heiße Worakamirida." Julius nahm den Namen zur Kenntnis.
Während der Korb wieder richtung Eingangshalle raste hatte Julius genug Zeit, über sein befremdliches Erlebnis nachzudenken. Hätte ihn Shainorammaya wirklich bis in alle Ewigkeit wie ein ungeborenes Kalb in sich herumgetragen? Was bedeutete es, dass man Agolar nicht aus den Reihen der Altmeister ausstoßen wollte? Konnten sie es also? Dann konnten sie doch jetzt auch Shainorammaya ausschließen. Vor allem befremdete ihn, wie geborgen, ja hingebungsvoll er die wenigen Minuten oder Stunden in Shainorammayas Riesenkuhleib gelegen hatte. Ihm war nicht einen Augenblick der Gedanke gekommen, sich dagegen zu wehren, bis diese Altmeistergruppe ihn gewaltsam aus ihr herausgerissen hatte. Die Erkenntnis, dass die Altmeister mächtige Daseinsformen waren, die mit denen, die zu ihnen kamen machen konnten, was sie wollten, beunruhigte ihn sehr. Ihm wurde klar, dass sie ihn mit vereinter Kraft auch in Shainorammayas virtuellem Kuhkörper hätten einkerkern können, wenn sie sich alle zugleich gegen ihn gestemmt hätten, wie sie ja verhindert hatten, das er alles über die Sonnenkinder erfuhr und auch, welche Geheimnisse die Erdvertrauten alles zusammengetragen hatten. Doch hätte Ashtaria das zugelassen, wo sie seine zweite Mutter geworden war? Womöglich hätte sie ihn dort belassen, bis Shainorammaya befunden hätte, ihn virtuell wiederzugebären, ohne sich einfach in eine bunte Lichtwolke aufzulösen und ihn so wie er war wieder freizulassen, wie sie es mit ihrem Sohn Agolar getan hatte. Die altmeister hätten ihn auch alles Wissen, was er empfangen hatte, wieder entreißen können. Sie hatten es aber nicht getan. Dann erkannte er, dass dies alles ein Ritual gewesen war, um ihm alles nötige Wissen zu vermitteln, ohne gegen bestehende Gebote zu verstoßen. Dadurch, dass er für wenige Momente in Shainorammayas Körper gesteckt hatte war zwischen ihr und ihm eine starke Verbindung entstanden, ähnlich wie die Verbindung zwischen ihm, Temmie und Millie oder gar die zwischen ihm und den Kindern Ashtarias. Agolar hatte nichts verraten dürfen. Ob er nicht doch die ganze Traumszene gelenkt hatte oder tatsächlich seine Mutter dies getan hatte war in dem Moment auch unwichtig. Was Julius jedoch sicher wusste war, dass die Geschichte mit den zwei Wegen keine Gaukelei war. Denn von Millie wusste er ja, dass sie sich einem Initiationsritual hatte unterziehen müssen, um Kailishaias Kleid und Kenntnisse erben zu dürfen. Ja, damals hatte er was lernen dürfen, was unbedingt nötig war, um die Welt zu erhalten. Doch der Preis für dieses Wissen war nicht erlassen worden, sondern nur wie ein Bankkredit für eine ihm nicht bekannte Frist zurückgestellt worden. Auch die Erkenntnis, dass die Altmeister nicht sehen konnten, was in Garumitan vor sich ging war für ihn sehr aufwühlend. Bisher hatten die ihn immer im Glauben gelassen, jeden gedachten Gedanken und jede vollzogene Handlung mitverfolgen zu können. Vielleicht, so schloss Julius aus dieser Erkenntnis, hatten sie ihm deshalb dieses Wissen überlassen, damit einer hinging und für sie nachsah, was aus Garumitan geworden war.
Der Abschied von den goldenen Dienern fiel kurz und kühl aus. Dann brachte sich Julius mit dem Lotsenstein wieder in die Bergwelt der Pyrenäen zurück. Erst dann sah er auf seine Uhr und erschauerte. Er war ganze sechzehn Stunden unterwegs gewesen.
Bevor er in die Nähe von Millemerveilles zurückapparierte erreichte ihn Temmies Gedankenanruf. "Hast du erfahren, wie du den Wächter finden kannst?
"Das und noch einiges mehr, das ich lieber nicht auf diese Weise mitbekommen hätte", erwiderte Julius. Dann fühlte er ein sachtes Vibrieren unter seiner Schädeldecke. Sein Kopf erwärmte sich ein wenig mehr als üblich. Dann hörte er Temmies erheitertes Lachen in seinem Geist: "Shainorammaya hat dich wahrhaftig in ihren Leib eingeschlossen. So geht es auch, jemandem vom eigenen Wissen und erlebten Erinnerungen weiterzugeben."
"Ja, war voll witzig, weil ich mich nicht dagegen gewehrt habe. Sollte ich Millie besser nicht auftischen."
"Und sie hat dir gesagt, wenn du etwas mehr lernen willst musst du zu Madrashmironda?" wollte Temmie wissen, die aus einem für Julius nicht erkennbaren Grund sehr belustigt war. Er schickte zurück, dass sie das doch wohl genauso aus seinen Erinnerungen abgelesen hatte wie die Art, wie Shainorammaya ihn mit sich vereinigt hatte.
"Shainorammaya, die Tochter der Freude, ist ihr Geburts- und Mädchenname gewesen. Doch als ihre Mutter starb erbte sie ihren erhabenen Namen, Lebensquelle der großen Mutter, Madrashmironda." Rums! dachte Julius. Das hatte gesessen. Jetzt verstand er, was die in der Latierre-Kuh Artemis wiederverkörperte Erzmagierin und Mitkönigin von Altaxarroi so amüsierte.
"Moment, Shainorammaya ist Madrashmironda?" fragte er zurück.
"Ich durfte es noch miterleben, wie sie diesen Namen von ihrer Mutter erbte und damit zu einer der zwanzig Einberufungsberechtigten Erdvertrauten wurde. Sie war nur zweihundert Jare Jünger als ich gewesen."
"Oha, dann hat die sich mal eben selbst erlaubt, mich in sich einzuschließen. Aber den Altmeistern hat es offenbar nicht gefallen, dass sie mich dadurch an deren Wissen mitbeteiligt hat. Muss sie dafür eine Strafe erwarten?"
"Sie haben dich wieder gehen lassen. Wäre das nicht in deren Sinn, dass du mit dem Wissen weiterlebst, dass du in dich aufgenommen hast, würdest du wohl den Rest aller Tage in Madrashmirondas innerster Obhut verbleiben, auch wenn dein lebender Körper längst zu Staub zerfallen ist. Und wenn sie beschlossen hätten, sie aus den Reihen der Altmeister auszustoßen, dann wärest du wohl mit ihr zusammen ausgestoßen worden. Am Ende wäret ihr dann als Zweiseelenkind auf die Weltenbrücke übergetreten, wo Ammayamiria, Ashtaria, Pentaia und einige andere leben. Vielleicht hätte es auch gerade die Altmeisterinnen erheitert, sie zur Strafe für ihr ungestümes Handeln und eine unverzeihliche Missachtung der Orichalkregel in den Körper eines anderen Lebewesens zu treiben. Am Ende hätte ich die dann noch als mein zweites Kind in diesem Leben zur Welt bringen dürfen. Hätte ich mit rechnen müssen, dass sie das amüsiert, wie ich dich ihr auf der Schlafreise durch Garumitan vorgestellt habe. Aber jetzt kehre zu deiner Gefährtin und Mutter deiner Kinder zurück!"
"Wenn ich weiß, wo der Wächter ist, kommst du dann wieder mit mir?" fragte Julius.
"Ich finde das zwar schade und sehr bedenklich, aber diesmal werde ich dich nicht begleiten können. Denn Garumitan liegt weiter ab von allen alten Straßen. Außerdem würde er mich zwar als Wiederverkörperung meines früheren Seins erkennen, aber fürchten, jemand habe mich in diese Gestalt getrieben, um mich machtlos zu halten. Er könnte es als Angriff gegen die von ihm zu hütende Ordnung fehleinschätzen. Nein, da musst du alleine hingehen. Mein Siegel macht dich als zutrittsberechtigt kenntlich, und was du an Grußworten erlernt hast sagt ihm, dass du unseren Segen hast, Garumitan zu betreten."
"Unseren Segen?" wollte Julius wissen.
"Den der zehn Herrscherfamilien, Julius." Julius Latierre sah ein, dass das wohl zutraf. Dann verabschiedete er sich von Temmie.
"Genieße deine Bewegungsfreiheit, Julius. Schätze jeden Tag, an dem du sie besitzt!" gab Temmie ihm noch mit auf den Heimweg.
Als er wieder im Apfelhaus war fragte ihn Millie, ob er nun Vertrauter der Erde sei, weil er so lange fortgeblieben war. Julius wiegte den Kopf. "Ob ich jetzt vertrauter der Erde bin weiß ich nicht. Aber ich habe die Altmeister getroffen und mich sehr lange mit einer zur Einberufung von Erdmagieanwärtern berechtigten Hexe ausgetauscht, die irrwitzigerweise die Großmutter von Naaneavargia ist. Die hat mir in den sechzehn Stunden, die ich unterwegs war zwar die zwei Fragen beantwortet, die ich hatte, aber die üblichen Bedingungen, zu denen ich Erdvertrauter werden kann sind mir ein wenig zu heftig, um das in den nächsten Jahren durchzuziehen. Aber ich habe gute Nachrichten für dich: Weil du schon Mutter mindestens einer Tochter geworden bist darfst du bei Kailishaia einen Zauber lernen, um bösartige Verwandlungszauber von dir abzuhalten." Er holte die Allversteher-Ohrringe hervor und gab Millie einen. Den anderen hängte er sich selbst an sein linkes Ohr. "Jetzt sehe ich beinahe aus wie Kingsley Shacklebolt", grummelte er, wobei er die Soulsängerstimme des britischen Zaubereiministers nachzuahmen versuchte.
"Na ja, du hast zu viele Haare auf dem Kopf und bist dafür viel zu bleich", grinste Millie. Dann fiel ihr wohl was ein. "Accio Temps!" rief sie mit gezücktem Zauberstab. Da kam die tagesfrische Ausgabe der von Gilbert Latierre herausgebrachten Zeitung angeschwirrt. Julius nahm sie und las den Aufmacher:
Britischer zaubereiminister sagt: "Es gibt keine Dementoren mehr auf diesem Planeten."
Als Julius den Artikel hinter der Schlagzeile durchgelesen hatte verzog er das Gesicht. "Dafür, dass Shacklebolt meistens so cool rüberkommt hat er sich aber jetzt sehr sehr weit aus dem Fenster gelehnt und dann noch heftig die fragenden Journalisten angeblafft, falls Gilbert hier keinen blauen Dunst absondert. Wollen wir nur hoffen, dass wirklich alle Dementoren erledigt sind."
"Schon heftig, sowas so klar zu behaupten", sagte Millie. "Gilbert schreibt ja auch, dass es mit sehr großer Vorsicht zu genießen ist. Von der Pest habe man auch schon als ausgerottete Krankheit gesprochen, bis sich ein Zauberer 1976 in Kapstadt damit angesteckt hat und seine halbe Familie mit ihm zusammen zwei Tage lang im Seuchentrakt vom Delourdeskrankenhaus bleiben musste."
"Von dem Fall habe ich gelesen", sagte Julius. "Deshalb wird jedem, der in tropische Gegenden mit vielen Ratten und Rattenflöhen verreist dringend die Mitführung von Keimbanntrank und Keimbannwaschlösung empfohlen. Reiseveranstalter müssen sogar darauf hinweisen, diese Mittel mitzuführen, damit deren Versicherungen im Krankheitsfall befinden können, ob sie Entschädigung zahlen oder nicht. Schon bitter. Aber diese Dementoren waren ja auch eine Art Pest. Gilbert hat alles, was er über die erfahren hat ja komplett ausgewalzt. Schon gruselig, sich diese Monster auf verrottendem Abfall vorzustellen, weil sie aus der voranschreitenden Fäulnis die Substanz für ihren Nachwuchs beziehen."
"Ja, schon ekelhaft", schnaubte Millie. Julius nickte.
Als Millie die kleine Chrysope unter ihrem Stillumhang verschwinden ließ musste Julius seine Selbstbeherrschungsformel denken, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn dieser natürliche und dennoch so intime Vorgang anrührte. Dann dachte er, dass er die Erlebnisse in Khalakatan wie einen besonders intensiven Traum abhandeln musste. Doch würde das auch klappen, wenn er doch einmal dazu gezwungen wurde, sich für einen der beiden Wege zu den Erdvertrauten zu entscheiden?
"Ich rechne mal eben um, wo dieser Wächter wohnt", sagte Julius. "Ich hoffe, dass ich wieder da bin, bevor Chrysie rund und satt ist."
"Das kann noch dauern", grinste Millie und setzte sich in die für sie und das Baby bequemste Haltung.
Im Gerätepilz brauchte Julius zwei ganze Stunden, um die in seine Erinnerungen eingeflößten Beschreibungen über das Standortbestimmungsverfahren aus Altaxarroi in heute gebräuchliche Werte umzusetzen. Dann konnte er endlich den in seinem Rechner gespeicherten virtuellen Globus benutzen, um die erhaltenen Werte umrechnen zu lassen. Am Ende zeigte ihm das Programm die Stelle, wo der Wächter wohnte. Der Punkt lag in der Nähe der libanesischen Stadt Baalbek. Morgen wollte er hin, um zu sehen, ob der Wächter wirklich dort war und ob dieser ihm, den Träger des Siegels der Herrscherin Darxandria, Einlass in die Stadt der vielfältigen Schöpfungen gestattete.
Als er nach dem langen Tag neben seiner Frau im Bett lag kamen ihm die Bilder von den Sonnenkindern ins Bewusstsein. Warum hatte er nicht nach dieser Insel gesucht, jetzt, wo er die Koordinaten erfahren hatte? Zu gerne wollte er wissen, wer der junge Mann mit dem Laptop war und wieso die Hexe Patricia Straton dort war. Doch er wusste, dass die Altmeister ihm diese Fragen so schnell nicht beantworten würden.
Er schlüpfte noch einmal aus seinem Bett heraus, als Millie schon tief schlief. Er schlich in die Bibliothek und notierte sich die Bezugspunkte. Jetzt noch an den Rechner zu gehen wollte er doch nicht. Aber das Denkarium musste er noch mit seinen neuesten Reiseerlebnissen füttern. Erst dann konnte er wirklich an Schlaf denken.
Was tat man nicht alles, wenn die eigenen Leute nicht mitbekommen sollten, das man unterwegs war? Die Frage hatte sich Julius Latierre in den letzten zwölf Stunden immer wieder gestellt. Zum ersten mal, als er in seinem Gerätepilz mit Hilfe von Phantommacher 2.8 im Arkanetpaket einen gewissen Sam Underhill erzeugt hatte, der in allen wichtigen Datenbanken dieser Welt als vor zweiundzwanzig Jahren geborener Jungunternehmer im Bereich Rucksacktourismus gelistet war. Weil Phantommacher 2.8 auch einen nicht ganz so sauberen Hintereingang in eine rennomierte Kreditkartenfirma besaß hatte Sam Underhill selbstverständlich eine Platinkreditkarte mit unbegrenztem Spielraum, so dass er es sich leisten konnte, ein Erste-Klasse-Ticket für einen Direktflug London - Beirut zu sichern.
Das zweite mal, wo er sich die Frage, was man nicht so alles tue gestellt hatte war, als er in die Maschine eingestiegen war. Offenbar war er seit seiner letzten Linienflugreise einige Zentimeter zu lang für die modernen Verkehrsflugzeuge geworden. Millie hatte ihn vor der Abreise schon gefragt, ob er sich das wirklich nocheinmal antun wollte. Der Flug an sich war störungsfrei verlaufen. Julius hatte es nicht auf ein Gespräch mit seinen Sitznachbarn angelegt. Er mied auch den Blickkontakt. Denn die von Florymont erbetene Antisonde in Form eines für Männer umgeschnittenen Badeanzuges unterdrückte seine Fähigkeiten, sich gegen Legilimentik zu verschließen.
Das dritte mal, wo er sich die Frage nach dem Sinn dieses Aufwandes gestellt hatte war dort, wo er in einem altersschwachen, zerbeulten und zerkratzten Mercedes ohne Klimaanlage gesessen hatte, mit dem er in Baalbek selbst zu einer kleinen Herberge gefahren worden war. Mittlerweile graute hier der Morgen, der vierzehnte März, dachte Julius.
Als er sich sicher war, keine unerwünschten Zuschauer zu haben, zog er sich erst alles aus. Dann legte er den Antisonden-Bikini, wie er ihn nannte, in den großen unbezauberten Rucksack, den er mit Wäsche für eine Woche, Pflegemittel und mehreren großen Flaschen Wasser zum Zähneputzen gefüllt hatte. Dann zog er aus seinem zu Weihnachten geschenkten Aktenkoffer mit den drei wechselbaren Innenräumen seinen Zauberstab, das Verbindungsband aus der Villa Binoche, eine Flasche mit aufgesetztem Dosierer und eine nicht zu öffnende kleine Phiole heraus. Die Phiole enthielt mit Phönixtränen verstärkten Goldblütenhonig. Diese von Madame Faucon vor Jahren an ihn übergebene Essenz konnte mittelschwere Flüche abwehren oder deren Wirkung eindämmen. In der großen Flasche befand sich eine Dosis des Breitbandgegengiftes AD 999. Immerhin konnte er hier auf Schlangen oder andere giftige Tiere treffen. Die Phiole verstaute er in seinem Reiseanzug, den er kurz vor der Abreise noch khaki umgefärbt hatte. Als Julius die Flasche mit dem Gegengift in eine rauminhaltsvergrößerungsbezauberte Innentasche gesteckt hatte fühlte er sich Einsatzbereit. Er blickte auf die kurz vor dem Abflug noch schnell in London gekaufte Digitaluhr. Seine Weltzeituhr wäre den Kontrolleuren vom Zoll sicher aufgefallen. Dann wendete er den von Agolar damals noch erlernbaren Richtungssinnzauber an, der anders als der Vier-Punkte-Zauber nicht äußerlich, sondern innerlich die Nord-Süd-Ausrichtung vermittelte. So fühlte Julius es wie ein sich mitten im Kopf sanft ausrichtendes Bleigewicht, in welche Richtung er musste. Er konzentrierte sich auf die Umgegend, die er auf dem Ausschnitt der Landkarte gesehen hatte, die er sich für die Reisevorbereitungen hatte anzeigen lassen. Dann wirbelte er auf einemAbsatz herum und verschwand mit leisem Plopp.
ICH ÄRGERE MICH UND BIN AUCH SEHR BESORGT, DASS JULIUS NICHT MIT MIR ZUSAMMEN NACH GARUMITAN HINREISENKANN. ABER ICH ERINNERE MICH, SEITDEM ICH ORION AUS MIR IN DIESE WELT GEBOREN HABE, DASS DER WÄCHTER JEDEN, DER NICHT EINGELADEN, VON EINER DER FAMILIEN ANGEMELDET WURDE ODER EIN SIEGEL DER HERRSCHERFAMILIEN AUFGEPRÄGT BEKOMMEN HAT ABGEWIESEN HAT. ICH WEIß, DASS ICH IHM SEHR NÜTZLICH WÄRE. ICH HOFFE NUR, ER FINDET DEN WEG NACH GARUMITAN HINEIN UND SICHER WIEDER HINAUS.
DIE SORGE UM IHN VERDRÄNGT VÖLLIG MEINE BELUSTIGUNG, AUF WELCHE ART MADRASHMIRONDA IHM DAS WISSEN ÜBER DEN WEG MITGETEILT HAT. ALSO STIMMT DOCH, WAS ICH GERÜCHTEWEISE GEHÖRT HABE, DASS SIE EINEN WEG DER KRAFT GELERNT HAT, AUSGEWACHSENE MENSCHEN OHNE LEBENSTANZ IN IHREN SCHOß HINEINZULEGEN UND OHNE DIE SCHMERZEN DER GEBURT WIEDER ALS ERWACHSENE MENSCHEN DARAUS FREIZUGEBEN. DOCH JETZT IST JULIUS IN DER NÄHE DES WÄCHTERS. WÄHREND ER DIESE KRAFTABSAUGEKLEIDUNG TRUG KONNTE ICH SEINE GEDANKEN NUR NOCH SCHWACH WAHRNEHMEN. JETZT DRINGEN SIE WIEDER MIT ALLER DEUTLICHKEIT ZU MIR DURCH. DOCH DAS WIRD SICH ÄNDERN, WENN ER DURCH EINES DER TORE EINGELASSEN WIRD UND DAMIT IN DIE HÜLLE DER VORAUSEILENDEN ZEIT EINTRITT. HOFFENTLICH IST GARUMITAN NICHT MITTLERWEILE VON VÖLLIGER DUNKELHEIT ERFÜLLT!
Julius erstarrte fast vor Schreck, als er sah, wo er angekommen war. Er hatte vorsorglich nicht direkt auf den erhaltenen Zielkoordinaten ankommen wollen, sondern knapp einen Kilometer davon entfernt. Dennoch meinte er, zu nahe zu sein. Denn um ihn herum standen schwere Panzer und viele Meter lange Geschütze auf Lafetten mit Rädern, die fast so hoch waren wie er lang war. Das hier war ein Schlachtfeld. Ein Schlachtfeld, auf dem entweder gerade Pause gemacht wurde oder auf dem die Schlacht schon entschieden war. Zusätzlich zum Anblick der Kriegsmaschinen kam noch etwas. Die noch intakten Panzerfahrzeuge und Geschütze standen starr und unbeweglich da. Doch das schlimmste waren die noch leicht qualmenden Metallklumpen, die von der Größe her früher durchaus stählerne Mordmaschinen gewesen sein mussten. Außerdem konnte er die Trümmer von abgestürzten Flugzeugen sehen, die weit über das Land verstreut waren. Vielleicht warrteten die Soldaten auf Verstärkung aus der Luft. Vielleicht waren sie auch schon alle tot, getötet durch eine unheimliche Waffe des Wächters. Aber warum hatte der nur zehn Panzer und fünf Riesenkanonen zerschmelzen lassen? Hatte er für mehr nicht genügend Energievorräte? Oder ging es ihm darum, Gefangene zu haben, nachdem er seine Macht an einigen Kriegsfahrzeugen ausgiebig bewiesenhatte? Wie dem auch war, Julius musste sich dem Wächter stellen. Er unterdrückte den Wunsch, seinen Geist mit dem Lied des inneren Friedens abzuschirmen. Wenn der Wächter eine Art Gedankensensor eingebaut hatte würde jede Abschirmung einer Kampfansage gleichkommen, wo er doch in friedlicher Absicht hier war. Dass er für die Soldaten in den zerschmolzenen Fahrzeugen zu spät gekommen war piesackte sein Gewissen. Doch wie hätte er früher hier sein können, ohne gleich alle Zaubereiministerien der Welt auf den Plan zu rufen? Warum war es aber nur bei dieser relativ kleinen Truppe geblieben? Die Frage konnte ihm wohl nur die Armeeführung in Beirut beantworten.
Julius hielt seinen Zauberstab bereit, sofort zu disapparieren, wenn sich auch nur ein Geschützrohr auf ihn einzuschwenken versuchte. Doch er blieb von den Panzern unbehelligt, und auch von wo anders drohte ihm keine unmittelbare Gefahr. mit bis zum Hals pochendem Herzen umging er einen Krater, in den das Apfelhaus locker hineingepasst hätte. Von diesen Explosionstrichtern gab es mehr als zu viele auf diesem eingefrorenen Schlachtfeld. Die Soldaten hatten sicher mit allem geschossen was sie aufbieten konnten. Dennoch hatten sie nicht gewonnen. Doch wo war der Wächter? Wo waren die Zugänge nach Garumitan? War er hier überhaupt am richtigen Ort? Vielleicht hatte Shainorammaya alias Madrashmironda ihm auch nur einen üblen Streich gespielt und ihm etwas als echt vorgegaukelt, was in Wahrheit glatt erlogen war, um seine Neugier zu bestrafen.
"Nein, du bist am richtigen Ort, Julius. Du warst zu sehr mit Madrashmironda verbunden, als dass sie dir etwas hätte vorlügen können", hörte er Temmies wie ein sanft angestrichenes Cello klingende Gedankenstimme. "Das was du um dich herum siehst ist sein Werk. Die nicht zerstörten Kriegsmaschinen sind nur deshalb unversehrt geblieben, weil er deren Lenker und Wärter verhören will."
"Warum hat er das noch nicht getan?" gedankenfragte Julius Temmie.
"Wohl weil er die Berichte seiner fünf Diener erwartet, die in der Welt unterwegs sind. Außerdem ist der Himmel nicht so hell wie anderswo. Sieh hinauf!" Julius tat es und erkannte, dass über dem Schlachtfeld ein disiger, leicht rußiger Dunst lag, der wie eine Decke den gesamten Platz überspannte. "Der Schleier des neuen Mondes, Julius. Er verhüllt für alle, die außerhalb davon sind, was innerhalb zu sehen, zu hören und zu fühlen ist", entgegnete Temmie. "Aber besinne dich nun auf den Ort. Der Wächter kann sehr nahe sein. Bedenke die Worte, die du an ihn richten musst!" Julius bestätigte es und näherte sich weiter den errechneten Koordinaten. Der Richtungssinnzauber wirkte noch. Er fühlte damit nicht nur, wo Norden lag, sondern irgendwie auch, wie weit die jeweiligen magnetischen Pole der Erde von ihm fortlagen. So konnte er sich immer weiter voranarbeiten, um einen zum ausgeglühten Metallklumpen zerschmolzenen Panzer herum. Julius roch den Gestank verbrannten Metalls. Doch er roch kein verbranntes oder verkohltes Fleisch. Sollte er dem Himmel oder einer anderen Macht dafür danken, das nicht riechen zu müssen?
Bis zum Zielpunkt fehlten noch hundertzwanzig Meter. Doch hier häuften sich die Einschlagkrater, wobei Julius auch sah, dass einige der Granaten oder Bomben wohl irgendwie abgelenkt worden waren, weil es nicht nur Einschlagstrichter gab, sondern auch tief in den Boden gezogene Furchen. Dann stand Julius genau auf dem Punkt, den er über Madrashmirondas mentalmagische Nabelschnur ins Gehirn geflößt bekommen hatte. Tatsächlich fühlte er nun, wie sowohl sein Armband wie auch die Goldblütenhonigphiole reagierten. Das Armband erwärmte sich. Die Phiole vibrierte sanft. Hier wirkte Magie im Boden. Doch wo war der Wächter?
"Adonoranian Garumitanil! Kanatona aranihanodai!" rief Julius. Erst kam keine Antwort. Dann rief er noch: "Alodaniran ahadnoa Darxandriai tai rannohar!" Übersetzt hieß dies: "Wächter von Garumitan, ein Suchender erbittet deine Gunst!" und "Der abgesandte der Lichtkönigin ruft nach dir."
"Das war die richtige Aussprache, Julius", bekräftigte Temmie. "Jetzt kann er nicht anders als sich zu zeigen."
"Wenn er noch da ist", erwiderte Julius. Dann wusste er, dass der Wächter noch da war und vor allem, wo er gesteckt hatte.
Eines der zershmolzenen Geschütze wurde angehoben. Es schwebte höher und höher. Darunter erhob sich der goldene Riese, den Julius in Madrashmirondas Geborgenheit gesehen hatte. Die jadegrünen Augen richteten sich auf den Besucher aus Europa. Julius wusste, dass er mit diesen Augen tödliche Lichtstrahlen verschießen konnte, aber auch seine goldenen Finger konnten derlei Todesstrahlen aussenden. Der goldene Riese war der vollendete Kampfroboter, hinter dem jeder in Zukunftsgeschichten erwähnte Maschinenkrieger gnadenlos abstank. Allein schon die zerschmolzenen Panzer und Geschütze bewiesen, wie gnadenlos er zuschlagen konnte. Als das Ungetüm aus der Vorzeit der Grube unter dem Metallklumpen entschlüpft war, krachte das zerstörte Geschütz laut und erderschütternd keine zwanzig Meter vom Wächter entfernt auf den Boden zurück. Julius besann sich, nicht von der gezeigten Macht des Wächters eingeschüchtert werden zu wollen. Er trat auf den sich nun auf die Füße emporreckenden Koloss zu. Dann hörte er die dröhnende, metallisch nachhallende Stimme des Wächters. Er sprach in der Sprache des alten Volkes. Julius fühlte zeitgleich, wie etwas über seinen Körper strich und sah jene goldene Aura um sich erglühen, die immer dann entstand, wenn er mit mächtigen Zaubern in Berührung geriet, die ihn beeinträchtigen oder durchdringen wollten.
"Du bist wahrlich Träger eines Herrschersiegels, Begüteter." Julius dankte dem Allversteher an seinem linken Ohr, dass dieser die alte Sprache sofort und unmissverständlich übersetzte. "Warum kamst du nicht sofort, als ich erwachte?" fragte der goldene Gigant und blickte von oben herab auf den jungen Zauberer.
"Weil ich erst erfahrenmusste, ob du wirklich erwacht bist, nachdem unsere Brüder und Schwestern über neunhundert Träger dunkler Kräfte in einer schnellen Schlacht erledigen mussten", erwiderte Julius spontan. Sicher hatte der Wächter erwartet, sofort nach seinem Aufwachen von jemandem begrüßt zu werden, der ihm erzählte, warum er überhaupt aufgewacht war.
"Du trägst das Siegel einer Lichtfolgerin in dir, Besucher. Nenne mir deinen Namen?"
"Mach das nicht, Julius", peitschte Temmies Gedankenstimme durch seinen Geist. "Nenne dich weiter meinen Abgesandten und bestehe darauf, dass kein niederer Diener deinen wahren Namen kennen darf, bis du geprüft hast, ob Garumitan noch eine ehrwürdige Stadt ist." Julius nickte fast. Doch da fiel ihm ein, dass der Wächter diese Geste falsch auslegen konnte. Außerdem verboten die Mentiloquismusregeln, äußerliche Regungen auf erhaltene Gedankenbotschaften zu zeigen. Also sagte er nach den sicher drei verstrichenen Sekunden das, was Temmie ihm aufgetragen hatte. Der Wächter von Garumitan erstarrte fast wie eine echte antike Statue. Dann hob er die rechte Hand und vollführte damit eine Kreisbewegung. Da in Julius noch der Richtungssinnzauber wirkte sah er, dass der Wächter im Osten ansetzte und wie beim Sonnenlauf über Süden, Westen bis Norden durchschwenkte. "Wiederhole die Geste mit der anderen Hand und vollende dabei den Kreis! Sie ist der Gruß der Herrscherfamilien", gedankenwisperte Temmie. Julius hob den linken Arm und schwenkte die Hand ebenfalls von Osten über Süden, Westen Norden bis zum Osten durch. Dem Wächter genügte das wohl, um ihn endgültig als Bote einer Herrscherin anzuerkennen. Er ließ die Hände sinken und trat mit den Boden erschütternden Schritten näher. Julius dachte an Nal oder Meglamora. Die beiden machten beim Gehen nicht so heftige Minierdbeben, schon gar nicht Nal, dachte er. Dann stand der Wächter vor ihm und sprach nun etwas leiser aber dafür noch metallischer wie aus einem großen, leeren Tank klingend:
"Du zählst wohl erst wenige Zehnersonnen, wie du beschaffen bist. Welcher Gruppe der Kraft dienst du?"
"Ich wurde mit dem Siegel der Herrscherin Darxandria versehen, um ihr Werk auf dieser Welt fortzusetzen. Um dies zu tun vertraute ich mich den Altmeistern der Erde an", sagte Julius und dachte dabei wieder daran, dass er entweder mit Madrashmironda oder Naaneavargia/Antehlia die Einberufungszeremonie durchziehen sollte.
"Ich erbitte als Diener der zehn großen Familien und der drei großen Strömungen der erhabenen Kraft deine Auskunft, weshalb ihr mich geweckt habt, ohne gleich an diesem Ort zu sein. Gibt es noch Träger der Kraft in dieser Welt?" Julius erwiderte, dass er erst erfahren musste, wo der Wächter sich aufhielte, weil das Wissen darum im Lauf der Tausendersonnen verschüttet worden war. Die zweite Frage bejahte er und erwähnte, dass es noch mehr als eine Million Träger der Kraft gebe.
"Warum haben sie dann nicht ihr erhabenes Recht erhalten, diese Welt zu beherrschen? Warum haben sie zugelassen, dass unwürdige Geräte erschufen, mit denen sie das Fehlen der erhabenen Kraft auszugleichen wagten?"
"Lüg ihn nicht an, Julius. Das würde er dir anhören und an deinen Körperschwingungen erkennen", gedankenwisperte Temmie. So erzählte Julius dem Wächter, dass es nach dem Untergang des alten Reiches nicht mehr viele Wissende gegeben habe und die übrigen Träger der Kraft vieles von dem damaligen Wissen nicht mehr erlernt hatten, sondern es sich erst nach und nach neu erschließen lernten. In der Zeit sei es denen, die ohne die Kraft geboren worden waren gelungen, mit ihrem Verstand Dinge zu erfinden, mit denen die Kraft für sie nicht mehr nötig war wie Flugzeuge, Funkwellen und leider auch zerstörerische Waffen, mit denen ganze Städte vernichtet werden können. Nur das Tausendsonnenfeuer sei ihnen noch nicht ohne die Kraft zugänglich, was wohl auch gut so war. Der Wächter hörte mit der Geduld eines seelenlosen Apparates zu und speicherte wohl alles sorgfältig. Als Julius erkannte, dass der Wächter darauf kommen mochte, die Welt der Unbegüterten zu zerstören, um den Trägern der Kraft ihre Rechte zurückzugeben sagte er noch: "Die Träger der Kraft haben gelernt, dass zu viel Macht nur in die Selbstzerstörung führt. Die Unbegüterten wissen dies jetzt auch. Daher ist es nötig, dass beide Völker ohne Angst voreinander zu leben lernen. Doch dieser Vorgang muss behutsam und mit Umsicht durchlaufen werden."
"Die der Mitternacht folgenden haben das erhabene Reich verwüstet, seine Herrscher entmachtet und die alte Ordnung zerstört. Sie muss wieder hergestellt werden. Dazu werde ich die Bewohner Garumitans aus der Stadt hervorrufen und Ihnen helfen, dieses Werk zu vollziehen."
"Warte, Wächter von Garumitan! Im Namen der Königin, die mich zu dir schickte befehle ich dir, die Tore der Stadt erst für alle ihre Bewohner zu öffnen, wenn ich ihr berichtet habe, was in allen Tausendersonnen dort geschehen ist. So fordere ich dich auf: Öffne das Tor der vorauseilenden Zeit für mich!"
"Du forderst mich auf?" fragte der Wächter. Da sagte Julius noch die drei Worte, die er bei oder besser in Madrashmironda gelernt hatte: "Du bist Diener!"
"Ich muss dem Befehl deiner Herrin gehorchen, weil sie meine Herrin ist", dröhnte die Stimme des Wächters. Dann deutete er erst in die Richtung, aus der die Sonne schien und dann in die entgegengesetzte Richtung. Julius wusste, was das hieß. Es gab drei der am Tage über den Himmel wandernden Sonne zugewandte Portale. Das der nun weit genug über dem Horizont stehenden Sonne geltende Portal sollte geöffnet werden. Julius ging erhobenen Hauptes los, immer den ausgestreckten Fingern des Wächters nach. "Viel Glück, Julius und dass du sicher wieder zurückkehren kannst!" hörte er noch Temmies Gedankenstimme. Da erzitterte der Boden.
Vor Julius schossen zwei strahlendblau leuchtende, mehrere Meter durchmessende Säulen in den Himmel. Er kannte das schon von den verschiedenen Versetzungstoren. Diesmal würde er jedoch nicht nur an einen anderen Ort, sondern in eine andere Zeit gelangen. Die Aussicht, wie das war, hatte Temmie ihm ja schon vermittelt. Insofern bestand kein Grund mehr, nervös zu sein. Er wartete, bis die beiden Säulen sich weit über ihm zu einem halbkreisförmigen Bogen zusammenschlossen. Das Tor sah nun aus wie ein auf den Kopf gestelltes U. Julius fühlte eine gewisse Kälte von dem Tor ausstrahlen. Er trat darauf zu. Zu hören war nichts, wie in den von Temmie übermittelten Traumbildern. dann war er an dem Punkt angelangt, wo das magische Tor wirksam werden musste.
Es war wie in dem von Temmie gelenkten Traum. blaues Licht umfing ihn, und er verspürte das Gefühl, als drehe sich alles in ihm mehrmals im Kreise. Dann stand er unter jener gräulichblau wabernden Kuppel, die wie ein künstlicher Himmel alles hier überspannte. Julius fühlte jedoch sofort eine gewisse Kälte. Es war nicht allein kalte Luft, sondern etwas, dass in ihn zu dringen trachtete. Aus einem inneren Impuls heraus dachte er an das Lied des inneren Friedens. Währenddessen erwärmte sich seine Phiole spürbar, und das Armband begann zu zittern, also eine umgekehrte Reaktion wie eben. Doch er wusste, dass er jetzt eindeutig in einen Bereich schwarzer Magie eindrang oder zumindest an einen Ort gelangt war, der von einer bösen Aura durchdrungen wurde. Endlich hatte er das Lied des inneren Friedens durchgedacht und fühlte sich sofort wesentlich freier und selbstsicherer. Er machte behutsam zwei Schritte. Es hörte sich an, als käme erst der Nachhall und dann das eigentliche Geräusch. Bis dahin stimmte auch noch alles. Doch außer seinen leisen Schritten auf dem glatten Boden hörte er nichts. In der Vision von Garumitan hatte er menschliche Stimmen, das Rollen von Rädern oder Schwirren von künstlichen Flügeln gehört, das Tröten und Tuten von Warnhörnern, wenn jemand freie Bahn haben wollte. Hier hörte er eben nichts außer seine Schritte. Sollte er die Freiflugformel benutzen?
Er blickte sich um. Hinter ihm sah er schemenhaft blass die Umrisse des noch offenen Tores. Doch in dem Moment, wo er es sah fiel es auch schon wieder in sich zusammen. Er stand nun mitten in der Stadt mit ihren illusteren Häusern und andersartigen Gebäuden. Hier war er auf einem großen Platz. Doch wenn er mehr über die Stadt wissen wollte musste er sie erkunden. Wenn hier noch jemand wohnte würde der oder die nicht von sich aus auf diesen Platz kommen, wenn er nicht schon hier war.
Julius sah auf seine Digitaluhr. Natürlich lief die nicht mehr. Hier wirkte zu viel Magie. Jetzt hätte er mal seine Weltzeituhr mithaben sollen, um zu sehen, wie die mit dem Zeitzauber zurechtkam, der alles hier umhüllte. Doch was half es? Er musste schneller werden, wollte er nicht mehr als ein Jahr in diesen Straßen herumsuchen. So benutzte er die Freiflugformel.
Als er von der Mitte des großen Platzes aufgestiegen und auf die Höhe der bis zu einhundert Meter hohen Gebäude gelangt war, verschlug es ihm fast den Atem. Er sah in die Unter ihm verlaufenden Gassen und Straßen und erkannte nur eine nachtschwarze Masse, die zwischen den Häusern dahinfloss wie ein Fluss aus Pech. Was war hier los? Julius stieg noch höher. Doch er fühlte körperlich, dass er der wabernden Kuppel besser nicht zu nahe kommen sollte. Er verstand, warum in dieser Stadt keine kilometerhohen Riesentürme hingesetzt werden konnten. Doch einen halben Kilometer konnte er getrost nach oben steigen. Das reichte ihm aus, um zu sehen, dasss nicht alle Straßen von der lichtschluckenden Masse ausgefüllt wurden. Viele Straßen waren frei aber auch eben menschenleer. Er flog schnell in die Richtung, wo keine düsteren Flüsse die Straßen durchzogen. Er suchte nach den umfangreichen Anpflanzungen. Doch er sah dort, wo Gärten sein sollten nur leere staubige Flächen. Nicht mal einen einzigen Baum konnte er sehen. Was immer hier passiert war hatte die Pflanzenwelt zerstört und damit die Lebensgrundlage der Bewohner gleich mit. War das wirklich alles für nichts und wieder nichts gewesen? Hatte die Stadt den Untergang auch hier in der Zeitblase nicht überstanden? Julius hätte jetzt so gerne Temmie seine Eindrücke mitgeteilt. Doch wie sie und er schon recht erkannt hatten war aus dieser Zeitblase heraus keine Verbindung mehr möglich.
Mit großem Schrecken fiel ihm ein, dass das Tor wieder zugegangen war. Was immer hier geschah, er war dem ausgeliefert und konnte sich nicht davor in Sicherheit bringen. Denn zu aparieren war hier sicher genauso unmöglich wie in Khalakatan. Anders waren die vielen Flug- und Fahrzeuge hier nicht zu erklären. Julius fühlte die gewisse Verzweiflung, dass er hier für alle Zeiten ausgeliefert sein würde. Da merkte er, dass dieses Gefühl nicht in ihm selbst entstand. Irgendwas flößte ihm diese Trübsal von außen ein. Da erkannte er wohl, dass das Lied des inneren Friedens jetzt schon seine Wirkung verloren hatte. Er zwang sich, seine Gefühle zurückzudrängen und jagte das Lied des inneren Friedens wieder durch seinen Kopf. Es wirkte, und unvermittelt fühlte er sich wieder entschlossener, bereit, sich nicht mit seinem Schicksal abzufinden, sondern zu klären, was um ihn geschah und wie er hier wieder wegkam. Dann stieg in ihm die dumpfe Ahnung auf, dass er diese Art der Beeinflussung schon erlebt hatte. Doch er wollte es nicht sofort darauf beziehen, nicht, bevor er diese Stadt genauer untersucht hatte.
Als er nach unten sah, um sich zu orientieren, vergaß er fast seine geistige Balance. Unter ihm wimmelte es von dunklen Gestalten, die gerade eine Zone völliger Dunkelheit erschufen, die wie ein schwarzes Loch alles darunter verschlang. Der dumpfe Verdacht wurde für Julius zur schrecklichen Gewissheit. Das, was da unter ihm lauerte, was ihm schon beim Betreten der Stadt durch starke Kälte und düstere Magie einen schaurigen Willkommensgruß entboten hatte, was ihn an seiner Lage zweifeln lassen wollte kannte er zu gut. Es war einer der ersten wirklich schlimmen Eindrücke auf seinem Weg in die Zaubererwelt gewesen, als er zum ersten Mal im Hogwarts-Express gesessen hatte, damals mit Gloria, Pina, Kevin und den Hollingsworths. Sofort dachte er wieder das Lied des inneren Friedens. Es half. Ja, es hielt ihren Einfluss von ihm fern, fast wie der Zauber, mit dem sie zu verjagen waren. Dann erkannte er auch, dass er sich dadurch nicht nur vor ihrem Einfluss schützte, sondern auch seine Anwesenheit vor ihnen verhüllte. Sie waren auf ihn aufmerksam geworden, weil er nicht früh genug das Lied angestimmt hatte. Doch nun, wo er es nicht mehr aus dem Kopf ließ, wussten diese Monster nicht mehr, wo er war. Außerdem konnten sie nicht beliebig hoch über den Boden aufsteigen, wusste er von Catherine, Madame Faucon und aus seinen eigenen Erlebnissen mit diesen Ungeheuern. Wieso waren die hier? Auf diese drängende Frage gab es für Julius nur eine logische Antwort: Hier war ihr Geburtsort.
Der erste Schock, dass er mittenhinein in die Brutstätte der weltweit gefürchteten Dementoren geraten war klang schnell wieder ab. Julius wusste nun, mit wem er es zu tun hatte. Er fühlte sich auch zuversichtlich, weil er sich gegen sie abschotten konnte und im Zweifelsfall auch einen gestaltlichen Patronus rufen konnte. Den, so dachte er, würde er sicher nötig haben, wenn er nicht die ganze Zeit herumfliegen wollte. Er musste klären, ob die Dementoren die einzigen noch verbliebenen Bewohner waren, ja ob es jemand geschafft hatte, ihnen bis heute zu entkommen. Julius wollte in eines der Gebäude, auch wenn die Gefahr bestand, dass diese dämonischen Geschöpfe sich dort häuslich eingerichtet hatten.
Als er vor dem nächsten Gebäude gelandet war streckte er vorsichtig den Arm mit dem Armband aus. Es zitterte leicht, aber nicht stärker als bisher. Offenbar waren dort drinnen keine bösen Ungeheuer. Julius untersuchte das Gebäude von allen Seiten und überflog es, dabei immer das Lied des inneren Friedens denkend. Wie man solche Häuser betrat hatte ihm noch niemand beigebracht. Zu gerne hätte er jetzt Temmie gefragt. Die Kälte nahm wieder zu. Doch die Phiole wirkte mit wohligen Wärmeschauern dagegen an. Er sah sich um. der Horizont war eine einzige Mauer aus mitternachtsgleicher Dunkelheit. Die Dementoren waren in der Nähe, aber noch nicht so nahe, dass sie alles ihn umgebende Licht auslöschten.
Julius erinnerte sich an die Zauber, mit denen geheime Türen sichtbar gemacht werden konnten. Er wendete einen davon an und wurde fündig. an einer Seite war eine A-förmige Leuchtfläche zu sehen. Doch wie bekam er die Tür auf? Da tat diese sich schon von ganz alleine auf. Julius dachte schnell noch einmal das Lied des inneren Friedens. Danach wollte er eintreten. Doch eine unsichtbare Wand stoppte ihn wie eine Panzerglasscheibe. Die Phiole und das Armband ruckelten im gleichen Maße, und um Julius Körper blitzte es golden auf. Dann hörte er eine hohl und plätschernd klingende Stimme: "Weiche, Leergesaugter! Dieses Haus ist dir verwehrt!"
"Leergesaugter? Ich bin kein leergesaugter", erwiderte Julius. Dann sah er etwas auf sich zukommen, dass ihn für eine Sekunde überraschte.
Auf ihn zu schwappte und plätscherte ein großes, tropfenförmiges Etwas, aus dessen Unterteil glitzernde, sich beim Ausstülpen auseinanderfließende Scheinfüße bildeten, aber noch genug Kraft besaßen, um das befremdliche Etwas oder Wesen voranzutreiben. Dann erkannte Julius es als eine Miniversion jener Wasserelementargeschöpfe, mit denen er es öfter in Khalakatan zu tun gehabt hatte.
"Wenn du kein Leergesaugter bist, so enthülle dein inneres Selbst!"
"Ach, du überzüchteter Wassertropfen willst, dass ich meinen Schutz aufgebe, damit die Tür mich durchlässt, aber dann die ganzen Ungeheuer von draußen wissen, wo ich bin? Vergiss es, Plätschergeist!"
"Nein, du bist nicht leergesaugt. Aber die Tür wurde von meinem vor vielen vielen Sonnen dahingegangenen so besungen, dass sie nur Träger von innerem Selbst hereinlässt. Ich diene ihm immer noch, dass ich keinen Leergesaugten hereinlasse."
"Dein Herr ist dahingegangen. Dann ist aber auch sonst niemand in dem Haus, Diener aus Wasser?"
"Er ging in hohem Alter. Weil seine geliebten grünen Freunde nicht mehr wachsen und gedeihen wollten, blieb er hier und verging an Körper und Geist. Doch ich bin und bleibe sein Diener und hüte sein Haus."
"Dann wohnt außer dir keiner mehr hier?" fragte Julius.
"Das ist richtig, Träger eines inneren Selbst. Du kommst von einem anderen Volk, wie ich sehe", sagte der Wasserelementargeist. Julius fragte ihn, womit er denn sehe. Da fuhr das aus magisch belebtem Wasser bestehende Geschöpf vier kreisrunde Stielaugen aus, die jedoch ab einer bestimmten Länge zerflossen und in den restlichen Wasserkörper zurücktropften. Julius sah damit seine Frage als beantwortet an.
"Dann hüte das Haus deines Herren weiter", seufzte der Besucher aus der Gegenwart und trat von der Tür zurück, die unvermittelt wieder mit der Wand verschmolz. Er atmete durch. Was für ein Elend sich ihmhier bot. Das war anders als in Khalakatan. Da hatte er überall eine gewisse Erhabenheit und Beständigkeit empfunden, auch wenn es dort keine Menschen aus Fleisch und blut gab. Doch was ihm hier geboten wurde war ein Albtraum aus Trübsal, Bedrohung und Vernichtung, der Vorhof einer Hölle, wie sich die Religionsverkünder dieser Welt ihn nicht schauriger hätten ausmalen können. Er dachte sofort wieder das Lied des inneren Friedens. Die Trübsal und Verzweiflung verflogen wieder. Doch Julius wusste, dass er nicht immer gegen diesen Dauerzustand ankämpfen konnte. Einmal würde er erschöpft sein. Dann hatten diese Monster leichtes Spiel mit ihm. Nein, nein und nochmals nein! Er wollte erst wissen, ob hier wirklich niemand mehr wohnte und vor allem, ob hier die Dementoren ausgebrütet worden waren oder von draußen eingesickert waren, bevor der Wächter von Garumitan die großen Tore zugemacht hatte.
Der Wassergeist hatte ihn davon abgehalten, das Lied des inneren Friedens immer weiter und weiter zu singen, wusste er nun. Das durfte ihm nicht noch mal passieren. Da umfing ihn schlagartig völlige Dunkelheit und eisige Kälte. Die Dementoren hatten ihn gefunden.
Julius wandte nun noch einmal das Lied des inneren Friedens an. Er zwang sich förmlich zur inneren Ruhe, auch wenn er aus der Grabesstille heraus die ersten saugenden und röchelnden Atemgeräusche hören konnte. Wie viele Dementoren ihn einkreisten wusste er nicht. Einer war ja schon einer zu viel. Er hob seinen Zauberstab an und dachte an die große Freude, die er und Millie empfunden hatten, als Chrysope geboren war. Als er diese Freude richtig stark spürte rief er: "Expecto Patronum!!" Sein Ruf klang erst aus der Ferne von den Häusern, wurde lauter und scholl dann so laut, wie er ihn ausgestoßen hatte. Keine Sekunde später schoss ein armdicker, silberweißer Lichtstrahl aus seinem Zauberstab heraus. Gleichzeitig durchfuhr ihn von der Goldblütenphiole her ein unglaublicher Wärmestoß, der die Eiseskälte für einen winzigen Moment verdrängte. Aus dem silbernen Strahl wuchs innerhalb einer Sekunde die so groß und erhaben wirkende Gestalt von Artemis vom grünen Rain. Das Licht ihrer Erscheinungsform glomm hell in der sonst alles verschlingenden und durchdringenden Dunkelheit. Ein hörbares Schnauben und Schnarren klang um Julius herum auf. Dann galoppierte die Patrona los, um julius herum, dabei immer weitere Kreise ziehend, bis die ersten Schmerzens- oder Schreckenslaute aufklangen, mit umgekehrtem Widerhall und verwaschen, die Stimmen geplagter Dämonen, die sich ihres Opfers doch so sicher gewesen waren. Julius fürchtete schon, dass diese Biester ihn von oben attackieren würden. Doch über ihm klaffte auf einmal wieder das unirdische graublaue Wabern, das die Stadt überwölbte. Als aus diesem hohen Himmel doch noch dunkle Gestalten nachrückten schoss die Patrona wie ein Pfeil auf Julius zu und bedeckte ihn mit ihrem gewaltigen Leib. Die Dementoren prallten zurück. Wenn sie nicht schnell genug waren erwischte sie die Patronus-Temmie mit Hörnern oder Flügeln. Es dauerte zwanzig Sekunden, dann war alles wieder frei. Die Patronus-Temmie stieß ein triumphales Muhen aus und jagte mindestens noch ein Dutzend Dementoren in die Flucht. Dann trottete sie zu Julius zurück und löste sich auf, ein Zeichen, dass im weiteren Umkreis keine Gefahr mehr drohte. Julius wollte auf Nummer sicher gehen und verstärkte den Schutz des inneren Friedens wieder. Dann stieß er sich ab und flog so hoch, bis er fast in die Ausläufer der graublauen Dunstschwaden geriet. Da sah er unter sich sich selbst nach oben steigen. Erst als er aus den Dunstschwaden herauskam löste sich die Erscheinung seiner Selbst wieder auf. War das eine Spiegelung gewesen? Nein, es war eine Zeitversetzungum wenige Sekunden in die Vergangenheit, oder besser, zurück in die Gegenwart. Zumindest ging Julius davon aus. Damit stand fest, dass er nicht höher als einen halben Kilometer fliegen durfte. Kemen die Dementoren so hoch? Besser war es, wenn er da nicht dran dachte.
Julius flog nun über die Straßen hinweg, wo keine düstere masse entlangkroch. Sein Ziel war die blaue Kuppel, die er aus der Traumvision in Erinnerung hatte.
Auf Temmies Rücken war diese Kuppel nur einige Minuten Flug entfernt gewesen. Doch er konnte nicht mit mehr als zweihundert Stundenkilometern fliegen und das nur für kurze Zeit. Er hätte seinen Besen mitnehmen sollen. Da hörte er eine wunderschöne, wenn auch leicht metallisch klingende Frauenstimme mit dem hier üblichen Umkehrhall sagen:
"Du verausgabst dich, wenn du so weiterfliegst. Komm, ich trage dich weiter!" Julius sah sich verdutzt um. Da schwirrte etwas großes goldenes auf ihn zu. Als er erkannte was es war glitt es auch schon unter ihn und hob ihn an. Er zögerte nicht lange und setzte sich richtig auf den Rücken des goldenen Flugwesens oder vielleicht auch eines besonderen Roboters.
"Es ist doch noch mal wer von unserem Volk gekommen, sprach die fremde Frauenstimme aus dem Maul des goldenen Nashorns, auf dessen Rücken Julius gerade durch die Luft ritt. Er dachte an seinen Traum von dieser Stadt und fragte: "Bist du Ashtardarmiria?"
"Oh, du kennst den Namen meiner menschlichen Form? Ja gut, wenn du sie kanntest, dann nenn mich weiter so."
"Du bist kein körperlich lebendes Wesen mehr, weil deine Erschafferin ihr inneres Selbst in deine jetzige Form eingefügt hat."
"Ja, erst nur eine genaue Nachbildung. Doch als sie ihr körperliches Dasein aufgab wurden die Nachbildung und ihr inneres Selbst eins. Ich fand ganz zu mir. Aber woher kannst du mich kennen, wo du sicher mehrere Tausendersonnen nach meiner Erschafferin geboren wurdest."
"Darxandria hat mir von dir und deinem Bruder Kuniworonian erzählt. Doch warum gibt es dich hier noch?"
"Kuniworonian war zwar ein verspielter Junge, aber einer der wenigen, die erkannten, dass das Vielformbare leichter zum bösen als zum guten geeignet war. Er war dagegen, es zum Erbrüten der Krieger der neuen Zeit einzusetzen, die selbst alle anderen Geschöpfe überragen konnten. Sie wollten die stärksten Krieger aller Zeit erschaffen, die den Feinden den Mut und die Freude entreißen sollten und allen Feuerwesen Wärme und Licht entziehen sollten. Damit hofften sie, Iaxathans Werk aus der Welt zu schaffen", sagte das geflügelte Nashorn, während es Julius weiter über die Stadt trug. Julius musste zwischendurch das Lied des inneren Friedens denken. "Auf meinem Rücken bist du geschützt. Meine Erschafferin und ihr verspielter Bruder haben in mich mehrere Bilder der Behütung eingewirkt, wie du vorhin eines herbeigerufen hast. Wenn ein lebendes Wesen mit mir zusammen ist werden so viele davon freigesetzt, dass von keiner Seite an mich heranzukommen ist."
"Deine Erschafferin war schon eine sehr kluge und vorausplanende Frau", lobte Julius die längst verstorbene Schöpferin des geflügelten Nashorns.
"Danke, mutiger Besucher. Doch ich finde, du solltest langsam wieder zum Tor hinaustreten und dem Wächter sagen, dass die Stadt von einer üblen Plage befallen ist. Obwohl, das weiß er eigentlich schon."
"Jetzt wird's interessant", grummelte Julius, der daran dachte, gleich zu hören zu kriegen, dass die Dementoren von hier aus in die Außenwelt eingesickert waren.
"Wenn ich meinem Sonnenzähler richtig trauen kann ist es sechs Tausendersonnen her, dass schon mal ein Träger der Kraft den Wächter aufgeweckt und ihn das Tor hat öffnen lassen. Der Besucher musste jedoch nach kurzer Zeit fliehen, wobei er von zwanzig der Schreckenskrieger verfolgt wurde. Da der Wächter sie als Bewohner der Stadt erkannte, tat er ihnen nichts an, und sie konnten zum Tor hinaus. Erst als sie den Besucher fingen und ihm sein inneres Selbst aussaugten erkannte der Wächter, was er da freigelassen hatte. Zwar konnte er viele von ihnen mit der Kraft seiner Erschaffer vernichten. Doch fünf entkamen ihm im schnellen Flug. Deshalb hat er das Tor geschlossen, weil er davon ausging, dass wir diese Plage sonst nicht eindämmen könnten. Wir, das waren die lebenden Bewohner dieser einstmals so erhabenen Stadt."
"Tja, aber ihr habt sie nicht vernichtet", erwiderte Julius.
"Aus einem sehr sehr bedauerlichen Grund: Wenn sie die inneren Daseinsformen fühlender und denkender Wesen aufsaugen und deren Körper danach sterben, geht alles Wissen aus diesen Körpern auf die Krieger über. Sie lernten dadurch, was ihre Erzeuger wussten und konnten und wussten daher auch, wie sie sich vor der Vernichtung schützen und weitere Abkömmlinge ausbrüten konnten."
"Moment mal, aber nach solanger Zeit hätten die sich gegenseitig auffressen müssen, um zu überleben. Wenn es keine lebenden Wesen außer ihnen mehr gab hätten die doch auch vergehen mmüssen."
"Das geschah auch am Anfang. Doch dann kamen sie darauf, die letzten Überlebenden in die Gefäße der ewigen Glückseligkeit zu stecken, in denen sich sonst die unbedachten Halbwüchsigen und gelangweilten Bewohner einschließen ließen, um über Zehnteltage glücklich zu sein und nur in vom Glück erfüllten Schlafwelten zu wandeln. Damit konnten sie auch erreichen, dass die vom ewigen Glück erfüllten Menschen durch den Tanz des neuen Lebens immer neue Kinder bekamen, die über Jahre hinweg gefüttert und mit Glücksgefühlen überflutet wurden."
"Moment mal, willst du sagen, dass diese Ungeheuer Menschen als Nutztiere züchten?" entfuhr es Julius, und dass sein Ruf erst zwei Sekunden später wie aus seinem Mund klang steigerte seine Beklemmung.
"Wenn du innerlich stark bist und es mir nicht glauben willst, so zeige ich dir die Gefäße des ewigen Glücks. Aber sei auf der Hut, dass du dem darin wirkenden Atem der Glückseligkeit nicht verfällst!"
"Atem, also ein Luftgemisch oder Gas?" fragte Julius. Ashtardarmiria bestätigte, dass es in der Luft lag, was alle im ewigen Glückseligkeitszustand hielt, also eine Art gasförmiger Euphorietrank, das totale Rauschgift.
"Wenn der Atem der ewigen Glückseligkeit aus Pflanzen gewonnen wird müsste er doch schon längst aufgebraucht sein, wo hier keine Pflanzen mehr wachsen."
"Du meinst damit die grünen Kinder der großen Mutter? Unter dem Himmel der vorauseilenden Zeit können sie nicht mehr wachsen, weil die Dunkelheit der Schreckenskrieger das wenige Licht noch verdrängt, dass sie am Leben gehalten hat. Doch sie wachsen in den Hallen der Sonnenfeuer weiter, getrieben von dem Feuer der großen Mutter. Aus ihnen bekommen die im ewigen Glück gefangenen Nahrung und Glückseligkeit. Auch das zeige ich dir gerne."
Julius wollte eigentlich fragen, wer die Menschen fütterte und deren Ausscheidungen beseitigte. Doch das war nicht mehr nötig. Denn als Ashtardarmiria mit ihm über eine breite Straße dahinflog sah er lautlos fahrende Fuhrwerke, heutigen Lastwagen gleich, auf denen Berge von Früchten und Pflanzenteilen lagen. In den nach oben offenen Kabinen saßen golden schimmernde Wesen, die weiße Gewänder trugen. "Diener aus Dauereisen wie ich, die mit Nachbildungen innerer Daseinsformen versehen wurden und weiterhin dienen. Dinerinnen versorgen die Glückseligen. Da vorne ist eine der Gefäße der Glückseligkeit."
"Julius dachte an alle Geschichten, wo Menschen stumpfsinnig oder dauerberauscht waren oder wo wie im Film von der Matrix Menschen in Tanks gehalten wurden. Dabei musste er wieder an seine Mutter denken, die von einem skrupellosen Arzt in einem ähnlichen Behälter eingelagert worden war. Doch was er zu sehen bekam war keine Anordnung von Ställen, Käfigen oder Tanks, sondern eine gläserne Säule, zwanzig Meter im Durchmesser und an die dreihundert Meter hoch. Warum hatte Julius sie nicht schon längst gesehen? Die Frage stellte er Ashtardarmiria.
"Der Schleier des neuen Mondes, von den größten Vertrauten des Mondes erdacht und verbessert, macht die Gefäße für unbefugte Augen unsichtbar, bis jemand nahe genug an sie herankommt. Bedenke, dass dies früher Vergnügungsstätten für gelangweilte Bürger waren. Und wer hierher kam galt als Einfallsloser oder Zeitvergeuder. Das war damals auch mit den Männern und Frauen, die jede Stunde Lebenstanz mit schnödem Tauschgut bezahlt haben wollten, als die gemeinsame Erhabenheit und Verbundenheit dieses Aktes zu ehren."
"Ach, das gab's damals auch schon bei euch?" fragte Julius. "Ich hörte bisher, dass euer Volk sehr frei und ungezwungen leben durfte."
"Ich weiß zwar nicht, warum Darxandria dir das erzählt hat, Besucher aus der Außenwelt. Aber die Freiheit der Wahl galt nur, wenn mindestens ein Sohn und eine Tochter aus einer gemeinsamen Zeit hervorgegangen waren. Erst dann durfte sich ein Mann eine neue Gefährtin suchen oder eine Frau einen neuen Gefährten, musste es aber nicht. Nur die Unersättlichen, die die Freude am Tanz selbst immer wieder fühlen wollten, hielten sich nicht daran. Sie wurden zu Orichalktänzern und -tänzerinnen, um neben dem Vergnügen auch Bezahlung zu erhalten."
Julius sagte nichts. Er dachte erst an das Lied des inneren Friedens. Dann sah er sich die gläserne Säule an. Sie war in mehrere Stockwerke unterteilt. Er konnte vier stämmige Frauen in roten Gewändern sehen, die die Lastwagen entluden. Eine öffnete die Tür. Sofort strömte ein bläulicher Nebel aus der Tür heraus. Von drinnen konnte Julius Jauchzen und Freudengeschrei hören, dazwischen sogar Liebesgestöhn. Er fühlte, dass der Nebel ihn trotz des Liedes des inneren Friedens zuzusetzen begann. Er erkannte den Geruch. Das war genau das Zeug, mit dem Naaneavargias Liebesnest verpestet gewesen war, als er im Uluru unterwegs gewesen war. Ja, und die Pflanzen, die das Zeug ausbrüten konnten waren sicher auch in der Villa Binoche gewesen, als er und Camille beinahe doppelten Ehebruch begangen hätten. Er fühlte schon, wie seine Sorgen, seine Angst, seine Wut immer mehr verflogen und dem Drang wich, sich einfach nur zu freuen, nichts mehr zu bereuen und sich einfach allem hinzugeben, was ihm Freude machte. Er musste dagegenhalten. Er hob den Zauberstab und beschwor gerade soeben noch eine Kopfblase. Die davon erzeugte Frischluft verdrängte die Ausläufer des Nebels, der wohl als Erweiterung des Rauschnebels diente, nur das die Rauschnebelhecke wie Opium wirkte, während das Zeug aus dem Glashaus eher Extasy oder LSD Konkurrenz machte.
"Na, willst du mich mit deinem Lebensspender beglücken, mutiger Krieger?" fragte Ashtardarmiria den Besucher herausfordernd. Julius kam gerade erst wieder richtig zu sich. Er hatte gerade noch rechtzeitig gehandelt.
"Wenn du einen Lebenskelch hast, Goldhörnchen", erwiderte er.
"Sicher habe ich einen Lebenskelch, wie alle lebenden Frauen nachgeformten, mutiger Krieger. Aber ich denke, du bist wieder bei deinen Sinnen. Halte deinen inneren Schutz in Kraft, ich verspüre die Annäherung der Schreckenskrieger, die sich an der Glückseligkeit der Gefangenen satttrinken wollen."
"Wie viele gibt es von den Lebenden noch?" fragte Julius verdrossen.
"Es gibt zwanzig dieser Bauwerke, und in jedem werden eintausend gehalten. Die Schreckenskrieger achten darauf, dass es nicht mehr werden. zwanzig mal eintausend ergebene Nahrungsquellen. Mein Volk hat sich seinen eigenen Geschöpfen zum Fraß vorgeworfen." Der letzte Satz klang zu gefühlsbetont, um von einer reinen Maschinenintelligenz erzeugt worden zu sein. Julius erschauerte. Zwanzigstausend Menschen wurden hier als Seelenvieh für Dementoren gehalten. Dann sah er auch schon die ersten dieser Monster anrücken. Doch bevor er seinen eigenen Patronus aufrufen konnte flogen aus Ashtardarmirias Kopf und Hinterteil je drei große Vögel und drei Meermenschen mit silbernen Dreizacken in den Händen heraus. Die vorrückenden Dementoren wurden innerhalb von nur drei Sekunden vertrieben. "
"Würde es was bringen, die da alle wieder herauszuholen?" fragte Julius, der nicht einfach hinnehmen wollte, hier nichts tun zu können.
"Das haben die Dienerinnen schon oft mit den Neugeborenen versucht. Doch die Schreckenskrieger haben sie ihnen wieder weggenommen, weil ihr inneres Selbst nicht so verhüllt war. Nachgeborene Erwachsene vertrugen es nicht, mehr als einen Zehnteltag außerhalb der Gefäße der Glückseligkeit zu sein. Sie gerieten in heillose Angst und Wut und liefen den Kriegern damit direkt in die Arme. Sie saugten ihnen die ganzen inneren Daseinsformen aus den Leibern und töteten sie sofort. Danach bekamen die Dienerinnen den Befehl, niemanden mehr aus den Gefäßen der Glückseligkeit hinauszulassen, wenn sie nicht wollten, dass ihre Schutzbefohlenen starben. Da ihnen der Schutz menschlichen Lebens eingeprägt ist, müssen sie es schützen, auch wenn sie erkannt haben, dass es wertlos gehalten wird."
"Ich habe nur gefragt", seufzte Julius nun auch aus tiefstem Inneren resignierend. Sollte er nun einfach wieder umkehren und dem Wächter sagen, das Tor bloß nicht noch mal aufzumachen? Denn falls die hier hausenden Dementoren ins Freie gelangten, dann war das, was ihre vor Jahrtausenden entwischten Vorfahren angerichtet hatten ein müder Witz gegen das, was die hier hausenden Monster mit der Menschheit anstellen würden. Denn die besaßen das Wissen und können von genialen wie total weltfremden Magiern und würden es skrupellos anwenden. Wer sprach dann noch von der Hölle?
"Bevor ich versuche, zu dem Wächter zurückzugehen will ich noch wissen, wie diese Ungeheuer ausgebrütet werden", sagte Julius. Er wollte das Schreckliche nun ganz genau kennen, um es jedem, den es etwas anging, in allen Einzelheiten berichten zu können. Das musste er einfach tun, auch wenn es vielleicht keiner hören wollte.
"Du bist wirklich sehr mutig, die Brutstatt der Schreckenskrieger zu sehen. Sei dir dessen bewusst, dass deren Anblick dein inneres Selbst so schwer beschädigen kann, dass keine Macht des Lebens und Todes es wieder heilen kann."
"Ich musste schon einiges ertragen, was einen in den Wahnsinn treiben kann, Ashtardarmiria. Ich hoffe, das hier kriegt es auch nicht hin, mich zu erledigen. Aber ich muss das wissen, für Darxandria, für die Altmeister von Khalakatan, ja für mein eigenes Volk. Ich muss wissen, wie es angefangen hat und ob es wirklich nicht mehr umzukehren ist."
"Nun gut, mutiger Krieger, du sollst es sehen", seufzte das goldene Nashorn und spannte seine Flügel aus. Da jagten zwei rotgewandete Dienerinnen heran. Sie sprangen los, um Julius von Ashtardarmiria herunterzuholen, weil sie wohl davon ausgingen, dass er aus Versehen aus dem Glücksaquarium, wie er es heimlich getauft hatte, entschlüpft war.
"Deterrestris!" rief Julius, als die erste der goldenen Mägde fast bei ihm war. Der Schwerkraftumkehrzauber erwischte die fliegende Goldfrau und ließ sie über ihn hinwegfliegen. Mit einem schnellen Wiederholzauber beförderte er auch die zweite Goldfrau himmelwärts. Er fragte sich keinen Moment, was denen da oben passieren würde.
"Oh, sehr einfallsreich", lobte Ashtardarmiria Julius' Zauber. Der winkte jedoch ab, was das goldene Rhinozerosweibchen natürlich nicht sehen konnte und sagte: "Das habe ich bei einem der Fälle erfolgreich ausgeführt, wo ich dem von Menschen gemachten Wahnsinn begegnet bin."
"Du wärest durchaus ein würdiger Bewohner dieser Stadt. Es ist sehr bedauerlich, dass du Garumitan in diesem Zustand in Erinnerung behalten musst, wenn dein Verstand das, was du gleich zu sehen bekommst, übersteht."
Julius schwieg, während Ashtardarmiria mit ihm über der Stadt dahinflog. Er sah Dementoren, die wie ein zähflüssiger schwarzer Strom durch die breiten Straßen glitten. Er erkannte jedoch auch Gestalten, die er zunächst für lebende Menschen hielt, bis er die pechschwarze Schleimschicht und die sie umwabernde Dunstaura sah. Als er dann noch die augenlosen Gesichter mit den überbreiten Mäulern sah wusste er, dass es keine Menschen waren. Er hatte sich schon immer gefragt, ob Dementoren wie Menschenkinder geboren wurden oder ob sie irgendwie sofort in der Entform entstanden wie sich teilende Zellen oder ob sie Larvenstadien hatten wie Insekten und viele Fische. Jetzt sah er Dementoren, die noch nicht ausgewachsen waren.
Da ist die Brutstatt der Schreckenskrieger", kündigte Ashtardarmiria das Grauen an, das Julius erwarten sollte.
Die blaue Kuppel, die früher die Werkstätte und Labore umgeben hatte gab es nicht mehr. Statt dessen patrouillierten hunderte erwachsener Dementoren um das unter die Erde reichende Gebäude. Da Dementoren blind waren konnten sie die anfliegenden Besucher nicht sehen. Da Julius das Lied des inneren Friedens aufrechthielt nahmen sie seine Geistesströme auch nicht wahr. Das goldene Nashorn besaß kein lebendes Gehirn. So konnten die beiden bis auf hundert Meter heranfliegen, bevor die in Ashtardarmiria gespeicherten Patroni freigelassen wurden. Wutgeschrei und drohendes Zischen brandete auf, als die Hüter der Brutstätte in alle Richtungen vertrieben wurden. "Kannst du sie hier wachen lassen?" fragte Julius.
"Sie bleiben, solange du in der Nähe bist", sagte die goldene Nashornkuh. Dann flog sie durch einen haushohen Torbogen ohne verschließbare Torflügel. "Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren", grummelte Julius. Dann riss er sich zusammen. Heute würde er nicht sterben und auch nicht zum sabbernden, schreienden und tobsüchtigen Irren verkrüppelt, nicht heute!
Eiseskälte herrschte hier vor. Ashtardarmiria flog in einen Schacht hinein. Da sah Julius es. Und er war froh, seine Kopfblase noch in Kraft zu haben. Denn auf dem Grund des Schachtes lagen aufgetürmte Körper, die Körper von toten Menschen. Julius fühlte, wie ihn der Brechreiz zu übermannen drohte. Doch er zwang sich, den Ekel zu verdrängen. Die in verschiedenen Stadien der Verwesung befindlichen Leichname mochten zum Himmel stinken. Die Kopfblase schützte ihn davor. Doch seine Kleidung durfte er danach wohl in die Mülltonne werfen. Mülltonne. Das war das Stichwort. Dieser Schacht hier war eine einzige große Mülldeponie. Dann sah er knapp über dem Schachtboden mehrere Öffnungen in der Wand. Aus den Öffnungen sickerte schwarzer, teerartiger Brei heraus und landete auf den aufgehäuften Leichen früherer Bewohner Garumitans. Julius dachte erst, dass das ölige Zeug die Toten zersetzen sollte. Doch was weitaus schlimmeres passierte. Als das Zeug aus den Wandöffnungen sich über zwei Leichen verteilt hatte strömte aus diesen dunkler Dunst aus, schwebte aufwärts und ballte sich dabei zusammen. Dann entstanden klare Formen, die Formen von menschlichen Wesen. Julius erschauerte, als er sah, wie innerhalb einer Minute menschengroße, keineswegs embryonale oder fötale Geschöpfe entstanden, die durch eine Art Zündimpuls zusammenzuckten und dann eigenständig weiter nach oben schwebten. Zwei gerade aus Verwesung und unheimlichem Stoff geborene Dementoren suchten sich ihren Weg in die Freiheit!
Die beiden soeben entstandenen Ungeheuer kamen nur auf zehn Meter an Ashtardarmiria heran. Da wurden sie von den Patroni abgewehrt. Die Jungdementoren schrien laut, nicht wie Babys, sondern wie Schweine kurz vor der Schlachtung. Das Geschrei verursachte eine Verstärkung des Flüssigkeitsaustritts. Julius sah, wie die beiden gerade ausgebrüteten Jungdementoren auf den Schachtgrund zurückgetrieben wurden, wo gerade weitere Geschwister von ihnen entstanden.
"Die Quelle von Leben und Tod, mutiger Krieger, die Essenz des Werdens und Vergehens, ergründet und scheinbar gebändigt von meinen Zeitgenossen."
"Das ist ja echt der Horror", brachte Julius hervor. Dann sah er, dass von oben neue erwachsene Dementoren ankamen. Sofort wurde es stockdunkel. Julius konzentrierte sich auf das Lied des inneren Friedens. In seinem Kopf summte es laut, gleichzeitig hörte er die Worte "Sei mir verbunden" und das Lachen einer Frau mit flammenroten Haaren. Er kämpfte gegen das alles an. Da jagten weitere Patroni aus Ashtardarmirias Leib heraus. Julius befahl, wieder nach oben zu steigen. Da sah er, wie sich weiter oben im Schacht neue Öffnungen auftaten und die schwarze Substanz ihnen entgegenregnete. Julius brauchte Ashtardarmirias Warnung nicht, dass er mit diesem Teufelszeug nicht in Berührung kommen durfte. Wenn es wirklich die Essenz aus Leben und Tod zugleich war, dann würde es ihn töten, wo es aus verwesenden Leichen neue Dementoren erbrütete. Julius dachte an die vier Zauber aus dem alten Reich. Sollte er sie hier anwenden? Nein! Besser war es, diese mächtigen Zauber an der erwähnten Quelle selbst anzuwenden. Er tat was anderes. Er zauberte den Amniosphaera-Schutz. Seine Goldblütenhonigphiole erwärmte sich spürbar, als er den Zauber ausrief. Gerade noch soeben, bevor eine wahre Flut des grauenvollen Breis aus demSchacht niederging, hatte er die rosarote Schutzblase um sich und Ashtardarmiria vollendet. Es zischte und spotzte, als die dicken, zähen Tropfen auf die magische Sphäre trafen. Julius fühlte jeden Treffer wie einen Nadelstich in der Haut. Wie mächtig war das Zeug, dass er es dann noch fühlte, wo es von ihm abgewehrt wurde?
Du wolltest alles sehen? So zeige ich dir auch die Quelle des Schreckens und der tödlichen Torheit meiner Mitbewohner!" schnaubte die geflügelte Nashornkuh und flog durch den schwarzen Regen nach oben. Endlich waren sie durch den Schacht. Von unten drangen neue Jungdementoren nach oben vor. Oben warteten ihre erwachsenen Geschwister oder Elternteile. Doch die noch freigesetzten Patroni wehrten sie sicher ab. Dann flogen sie zu einer weiteren sperrangelweit offenen Tür. Da sah Julius die Quelle und hoffte, nicht den Verstand zu verlieren.
Es war wie ein gewaltiges, rundes Schwimmbecken, mindestens dreißig Meter im Durchmesser. Die Goldblütenhonigphiole erhitzte sich fast zur Unerträglichkeit, und das Armband zitterte eiskalt wie gefroren an Julius' Handgelenk. Die Schutzblase färbte sich dunkler. In dem Schwimmbeckenartigen Behälter schwappte und blubberte eine schwarze, ölige Masse, aus der hier und da wie schleim überzogene Arme, Beine und Köpfe heraustraten. Julius sah die Köpfe von lebenden Menschen, keinen Dementoren. Er hörte sie trotz Kopfblase und Amniosphaera-Zauber schreien und stöhnen, als erlitten sie ungeheure Schmerzen. So war es wohl auch, dachte Julius. Dann fragte er sich, ob diese Menschen noch ihre eigenen Seelen besaßen. Er musste das wissen. Er würde diesen Horror niemals überwinden können, wenn er das nicht eindeutig klärte, wusste er. So fragte er seine goldene Begleiterin.
"Das sind die auserwählten, Julius, sie leben und leiden in den letzten Minuten ihres Daseins für die Quelle des Werdens und Vergehens. Sind sie tot, werden sie im Schacht der neuen Brut abgelegt. Ihre inneren Daseinsformen werden zu neuer Essenz, ohne in die erhabene Nachwelt überzutreten. Sie lösen sich bereits in ihren angestammten Körpern auf."
"Danke, jetzt weiß ich, was ich besser nicht hätte wissen sollen", stöhnte Julius. Wieder einmal hatte er hinter eine verbotene Tür gesehen. Würde er diesen Anblick je wieder aus seinem Wachbewusstsein kriegen? Würde er jemals wieder gute Träume haben. Im Grunde, so stellte er gerade mit großer Verbitterung fest, erlebte er gerade etwas, dass jeder Dementor ihm jederzeit ins Bewusstsein rufen konnte. Was für eine Ironie, dachte Julius. Dann fühlte er den Drang, einfach vom Rücken dieses goldenen Biestes herunterzuspringen und kopfüber in die höllische Suppe einzutauchen, sich darin zu ertränken, um diesen ganzen Ekel und das Grauen loszuwerden. Er wollte sich gerade von Ashtardarmiria herunterschwingen, als ihr letzter Patronus ihrem Hinterleib entfuhr und genau vor Julius in die Tiefe fiel. Das silberne Licht blendete Julius. Es widerte ihn an, dass dieses silberne Teil, das wie eine schlanke Nixe aussah, gerade zwischenihm und der Höllensuppe in der Luft hing. Er wollte es schon verwünschen, als ihm klar wurde, dass er gerade nicht mehr Herr seiner Sinne war. Der Nixen-Patronus blockierte die Sicht auf die brodelnde, blubbernde Essenz aus Leben und Tod. Damit blockierte sie jedoch auch deren Einfluss auf ihn. ER hatte es wieder versäumt, das Lied des inneren Friedens zu verwenden. Doch konnte er das überhaupt noch. Seine Schutzblase erbebte und wurde immer dunkler. Irgendwas sog ihr Kraft ab und damit auch ihm. Noch hielt seine Goldblütenphiole dagegen. Doch sie kühlte sich immer mehr ab. Er erinnerte sich an die Lehrstunden bei Madrashtarggayan. Wenn er sich sein Herz vorstellte, konnte er den Takt richtig wählen, hatte ihm der als ewiges Baby existierende Altmeister verraten. So nahm er sein wild pochendes Herz als Taktgeber. Die Übung mit dem Lied half ihm, es auch so schnell zu denken. Dann fühlte er sich unbegreiflich frei. Doch andererseits war da die grauenvolle Einsicht, dass er fast dem zähflüssigen Monstrum da unten zum Opfer gefallen wäre. Als er sich wieder richtig auf Ashtardarmirias Rücken setzte sagte sie:
"Geht es dir noch gut, mutiger Krieger?"
"Wieder gut, ja, Ashtardarmiria. Dein letzter Patronus hat mich von der größten Dummheit meines Lebens abgehalten."
"Dann sollten wir jetzt zum Tor hinfliegen, damit du wieder hinausgehen kannst", schlug die goldene Nashornkuh vor.
"Warte bitte noch! Ich möchte noch drei Sachen versuchen", sagte er. Er bedauerte, keinen Incantivacuumkristall oder Anthelias Dunkelfeuer-Molotowcocktail dabei zu haben. Doch vielleicht konnte er die dunkle Höllensuppe da unten in was nützliches umformen.
Er zielte auf die aus ihrem Becken entgegenwabernde Masse und rief: "Katashari!", wobei er sich vorstellte, dass das zäflüssige Ungeheuer ihn direkt angriff und zurückgestoßen wurde. Ein silberweißer Lichtstrahl entfuhr dem Zauberstab. Doch er war nicht so breit und hell wie üblich, wenn Julius diesen Zauber aufrief. Der Strahl schlug nach unten und traf auf die Blasen werfende Oberfläche ... und wurde wie ein Lichtstrahl von einem Spiegel in die Dunkelheit zurückgeworfen. Gleichzeitig erzitterte Julius' Zauberstab. Dann fühlte er, wie ihm weitere Kraft abgesogen wurde. Dieses Ungetüm da unten hatte den Todesbannzauber einfach abgelenkt.
"Diesen und drei andere Zauber haben die Lichtfolger damals auch versucht, als die Quelle noch wesentlich kleiner war, mutiger Krieger. Er gelingt nicht, weil Leben und Tod zugleich in dieser Daseinsform wirken. Auch ein Übelwender ging nicht, weil die Quelle aus mehr als zwanzig verbundenen Kriegern der Kraft mitgeformt wurde", wusste Ashtardarmiria. Julius wollte gerade ansetzen, den Fluchumkehrer zu wirken, als das Brodeln und blubbern der schwarzen Masse stärker wurde. Die in ihr schwimmenden Menschen schrien noch lauter. "Schnell, zurück zum Tor!" wiederholte die goldene Nashornkuh ihren Vorschlag mit unüberhörbarer Dringlichkeit. Julius war einverstanden. Wenn er hier nichts mehr ausrichten konnte, musste er zusehen, in die Außenwelt zurückzukehren, damit er über dieses Grauen berichten konnte.
Allerdings war die Essenz des Lebens und Todes nicht damit einverstanden, dass ein so sicheres Opfer verschwinden wollte. Unvermittelt quoll die schwarze Substanz in dem Becken weiter auf und überdeckte die noch darin gepeinigten Menschen. Dann entfaltete sie ein besonders grauenvolles Eigenleben. Sie schnellte meterlange Fangarme wie Peitschenschnüre aus und traf dabei die nun noch dunkelrote Schutzblase. Diese flackerte. Julius schrie auf, als habe er einen heftigen Stromschlag erhalten. Wieder klatschte eine armdicke Ausstülpung der unheilvollen Essenz gegen die Schutzblase. Wieder meinte Julius, von mehreren hundert Volt Strom durchrast zu werden. Der nächste Schlag würde ihn sicher töten, dachte er. Ashtardarmiria wusste das sicher auch. Sie beschleunigte unvermittelt. Ein weiterer Auswuchs der zur bösartigen Kreatur veränderten Essenz streifte die Schutzblase noch. Julius fühlte den damit verbundenen Stoß nicht mehr so stark. Doch die Schutzblase zerfiel. Er fühlte, wie ihm schwindelig wurde. Erste rote Ringe rotierten vor seinen Augen. Gleich würde es schwarz und dann war es vorbei, dachte er noch.
"Es besteht kein Zweifel, dass der alte Wächter erwacht ist", stellte Yantulian fest, als er die feinen Schwingungen fremder Kraft genauer überprüft hatte. "Der Todesschrei der Dementoren muss ihn aus seinem Ruhezustand gerufen haben."
"Dann sollten wir endlich Kontakt mit ihm aufnehmen, Yantulian. Womöglich kann er uns Einlass nach Garumitan verschaffen", sagte Dardaria.
"Ja, wo wir endlich wissen, wo er sich verborgen hat", erwiderte Yantulian. Denn er wusste wie seine Gefährtin, dass die Stadt der vilfältigen Schöpfungskraft nicht von jedem so einfach betreten werden durfte. Wer dort hineingehen wollte musste aus einer der Königsfamilien stammen, Großmeister einer der oberen Kräfte sein oder von den Räten der schaffenden Künste als würdiger Mitbewohner auserwählt worden sein. Immerhin war die Stadt der schöpferischen Kräfte genauso gut gegen natürliche und gewaltsame Zerstörungskräfte abgeschirmt wie Khalakatan.
"Hoffentlich lassen Sie uns dort ein. Sicher können wir die Bewohner fragenwie wir gegen die Kristallvampire kämpfen können."
"Ja, zumal unsere Vorväter ja zum Teil von dort kamen", erwiderte Dardaria.
"O Mann, immer wenn was interessantes passiert bin ich nicht verfügbar", grummelte Brandon Rivers alias Ilangardian. Miridaria funkelte ihn erst verärgert an, musste dann aber lächeln. "Vielleicht hast du das interessanteste und spannenste deines Lebens mit mir auf den Weg gebracht", gedankensprach sie zu ihm.
"Garumitan, was soll das für eine Stadt sein?" fragte er, ohne auf Miridarias Bemerkung einzugehen. Er erfuhr, dass es die Stadt im alten Reich war, wo die schöpferischsten Magier und größten Denker und Planer ihrer Zeit zu Hause waren. Es war also eine einzige Lern-, Forschungs- und Entwicklungsstadt. Die Kinder von Königsfamilien mussten dort fünf Sonnen lang lernen, bevor sie das Recht erhielten, den Titel ihrer Eltern zu erben.
"Also eine Elite-Uni wie Harvard, Yale oder Princeton", vermutete Brandon.
"Hmm, kann sein", sagte Faidaria, die die Besprechung leitete. "Jedenfalls wohnten und wohnen da viele sehr begabte Männer und Frauen und ihre Familien. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass sie wegen der vielen tausend Sonnen Abgeschiedenheit durch Inzucht verkümmert oder anderweitig ausgestorben sind." Brandon konnte nicht anders, als Faidaria verhalten anzugrinsen. Sie lächelte jedoch warmherzig.
"Wer soll für uns sprechen, wo du als älteste verfügt hast, dass alle Frauen zunächst einmal an Nachwuchs denken sollen?" fragte Guryan die Älteste von ihnen.
"Nun, da du dich am besten mit den dunklen Wesen unserer Zeit auskennst wirst du um Einlass bitten, um näheres über die Möglichkeiten zu erfahren, die der Unlichtkristall unseren Gegnern bietet. Reise zusammen mit Ilangardian, weil er Vermittler zwischen den jetztzeitigen und uns ist und zudem durch seine früheren Leben viel über alle Bedrohungen erfahren hat, die noch in der Welt sind", sagte Faidaria.
"Dann müssen wir nur noch den Wächter aufsuchen und hoffen, dass der uns nicht zerbröselt", sagte Brandon, der innerlich jedoch gespannt war, einem weiteren Überlebenden aus dem alten Reich zu begegnen.
Mit hilfe seines Rechners verglich er die vom Sonnenturm durchgegebenen Koordinaten mit den üblichen Koordinaten und ermittelte einen Ort zehn Kilometer außerhalb der Stadt Baalbek im Libanon. "Oha, die arabische Welt, wo ich kein Wort außer Salemaleikum und Allah hu akbar" kann", grummelte Brandon.
"Abgesehen davon, dass du mit Guryan eh bis zum Wächter in der Rüstung bleibst, in der dich keiner außer uns sehen kann haben wir doch noch die Allversteherohrringe", sagte Patricia Straton und hängte Brandon den winzigen Ohrring ans linke Ohr.
"Na, ob wir die beiden, die unsere Lebenssaat unbedingt im Leib haben wollten tatsächlich mit unserem Nachwuchs gesegnet haben?" wollte Guryan von Brandon wissen. Er klang dabei jedoch eher verbittert als erfreut.
"Die hätten dich sicher nicht losgeschickt, wenn Nomidaria nicht damit rechnet, dass du wiederkommst. Und meine Holde Gisirdaria und Faidaria gehen sicher auch davon aus, dass wir den Ausflug überleben. Wenn wir uns dem Wächter richtig vorstellen erkennt er zumindest, dass wir aus seinem Volk stammen", hoffte Brandon.
Mit der durch die reichliche Sonne über Ashtaraiondroi wieder voll aufgeladenen Ashtarlohinia flogen sie in Richtung Baalbek. Argos hatte Brandon noch verraten, dass es in dieser Gegend zu einem anhaltenden Aufstand gekommen war. Offenbar versuchte die Hisbolla-Miliz, die angespannte Lage in der arabischen Welt nach dem elften September zu nutzen. Doch es konnte auch an dem wiedererwachten Wächter von Garumitan liegen, der dort die drei von der Sonne bescheinbaren Zeittore bewachte. Das fand Brandon sowieso spannend. Die Stadt war in eine der Gegenwart vorauseilende Zeitblase eingeschlossen worden. Somit war sie unangreifbar, wie immer das ging. Zeitzauber und Zeitreisen waren für Brandon schon was unheimliches, wenn er an alles dachte, was bei Zeitreisen so alles passieren konnte. Am Ende wurde er von dem Wächter noch weit in die Vergangenheit zurückgeschleudert und musste seine eigene Ahnenlinie begründen, um überhaupt geboren zu werden. Oder er wurde soweit in die Zukunft gebeamt, dass er seine eigene Uururrenkelin heiraten konnte.
Der Flug nach Baalbek verlief störungsfrei. Es gab keine Turbulenzen, und weil der Windsegler durch seine magische Tarnung gegen Radarstrahlen abgeschirmt war wurden sie von keiner Luftüberwachung behelligt.
"Oha, jede Menge Kriegsgerät um die Stelle herum. Sollen wir da wirklich unsere Rüstungen ablegen?" fragte Brandon.
"Du hast recht. Es wäre närrisch, unverhüllt und ungeschützt dort hinzugehen. Dann bleibt nur zu hoffen, dass der Wächter uns auch so erkennt, weil ihm die Kräfte von Sonne und Mond verliehen wurden."
"Uiui, zehn ausglühende Panzer, hundert Stahlklumpen, die mal Artilleriegeschütze gewesen sein können und mehrere Dutzend Krater im Boden", seufzte Brandon, als er das Gebiet in der Nähe des Zielpunktes vergrößert darstellte. Er dachte daran, dass die Ashtarlohinia sofort ihren silbernen Schutzschild aufbauen würde, wenn jemand da unten auf sie zielen und schießen mochte. So landete er in einem Abstand von einem Kilometer zur nächsten georteten Militäreinheit. Den Rest der Strecke überwanden die beiden auf dem kurzen Weg und hofften, dass die von ihnen getragenen Rüstungen sie wirklich für alle Nichtsonnenkinder unsichtbar machte.
Madame Nathalie Grandchapeau hörte sich an, was Mademoiselle Ventvit ihr erzählte. Sie hatte um dieses Treffen gebeten, nachdem sie gehört hatte, dass Julius Latierre bis zum Ende seiner Anwartschaft Innendienst verrichten sollte.
"Ach, dann haben Sie ihm seinen ganzen Jahresurlaub gegeben, damit er sich überlegen kann, ob er das auch wirklich machen will?" fragte die im Juni Mutter werdende Ministergattin und Leiterin des Büros für die friedliche Koexistenz von Menschen mit und ohne Magie.
"Solange dauert die ihm zugestandene Bedenkzeit. Die wird er wohl ausnutzen", sagte Mademoiselle Ventvit.
"Und dann sicher sagen, dass er unter diesen Bedingungen nicht weiterarbeiten möchte, zumindest nicht für das Ministerium, oder was", schnaubte Nathalie.
"Ich wusste nicht, dass Sie das so erregt, Nathalie. Hätte ich doch besser nichts erwähnt."
"Meine liebe Ornelle, erstens erregt mich im Moment vieles oder bringt mich zum lachen oder weinen oder macht, dass ich mein Mittagessen wieder ausspeien muss. Zweitens hätte ich so oder so erfahren, dass Ihr begabter junger Amtsanwärter gerade von meinem eifrigen Kollegen Vendredi zu Stubenarrest bis zum Ende seiner Anwartschaft verurteilt wurde. Wo ich, wie sie wissen, sehr daran interessiert bin, seinen Werdegang zu verfolgen, wenn er schon nicht in meiner Behörde anfangen wollte, hätte ich Ihnen das sicher sehr übel genommen, mich nicht davon in Kenntnis zu setzen."
"Was wollen Sie damit andeuten, Nathalie?" Fragte Ornelle.
"Nun, dass es durchaus genug Alternativen für den Jungen gibt. ... Autsch! Für Julius Latierre, nicht für dich", knurrte Nathalie und klopfte sich gerade noch sanft genug auf den Bauch, dass der in ihr wachsende Fötus nicht zu leiden hatte.
"Ich erinnere mich, das Rundschreiben wegen der Mutterschaftsvertretung", entsann sich Ornelle Ventvit. Nathalie nickte.
"Gut, meine Vertretung übernimmt meine Tochter, Madame Belle Grandchapeau. Das ist geklärt. Allerdings werden dadurch zwei Stellen vakant, die genausowichtig sind. Das wissen Sie ja auch. Ich wollte Sie daher unter Einhaltung kollegialer Höflichkeit fragen, inwiweit es für Ihre Behörde zweckmäßiger ist, einen mit seiner Tätigkeit hadernden Anwärter zu beschäftigen, statt ihn und seine Begabungen und Kenntnisse mit sinnvolleren Tätigkeiten zu betrauen?"
"War mir doch sofort klar, dass Sie darauf ausgehen, Nathalie", grinste Ornelle. "Aber Sie vergessen leider dabei drei Dinge: Das erste ist, dass Julius Latierre zum direkten Vermittler zwischen Meglamora und uns eingeteilt wurde. Punkt zwei ist, dass die Veelas unter Führung von Madame Léto ihn als ihren auserwählten Fürsprecher bestimmt haben, was er ja nur in meiner Abteilung korrekt durchführen kann. Drittens hat er sich ausschließlich in den Behörden der Abteilung für magische Geschöpfe beworben, von der kleinen Episode mit Monsieur Lesfeux mal abgesehen. Wenn er bei Ihnen arbeiten wollte, hätte er bei Ihnen doch weit offene Schlossportale eingerannt, oder nicht?"
"Ich verstehe, dass er nicht in die Lage geraten wollte, in die ich seine Mitschülerin Mademoiselle Hellersdorf zwangsläufig hineingeraten ließ. Andererseits kennt er sich nun einmal sehr gut in beiden Welten aus, Lesfeux hin oder her. Zeugnisse alleine sind keine Qualifikationsgrundlage. Außerdem hat der Fall Blériot ja überdeutlich aufgezeigt, wie eng die Aufgaben Ihrer Behörde und meiner Behörde verknüpft sein können. Was die in Frankreich lebende Vollriesin angeht gilt das gleiche, wie der Vorfall zeigt, weswegen wir ja in letzter Konsequenz zusammensitzen. Es kann nicht sein, dass da ein wertvolles Talent und große Motivation schlichtweg in eine Abstellkammer verbannt werden soll." Ornelle räusperte sich unüberhörbar.
"Die Abstellkammer, werte Kollegin, ist zufällig mein langjähriges Dienst- und Sprechzimmer, und ich fühle mich dort genauso wohl wie mein Kollege Delacour. Wenn Sie also an Ihrem Vorhaben festhalten möchten, mir Monsieur Latierre auch nur für die Zeit ihrer Mutterschaftspause abzuwerben, sollten wir das klären, wer da welche Kompetenzen hat und wie seine klar umrissenen und nicht delegierbaren Aufgaben fortgeführt werden können oder müssen."
Nathalie Grandchapeau nickte. Reichte es nicht, dass sie unter Gefühlsschwankungen litt. Dann musste sie es sich nicht auch mit Ornelle Ventvit verscherzen. So sagte sie: "Gut, besprechen wir das also in der gebotenen Ruhe."
Es wurden immer mehr rote Ringe, die vor Julius Augen tanzten. Er konnte sich schon nicht mehr auf irgendwelche Gedanken an das Lied des inneren Friedens besinnen. Kalter Flugwind pfiff ihm um die Ohren. Warum er noch nicht von Ashtardarmirias Rücken gefallen war konnte er sich nicht erklären. Er konnte nur eine innere Stimme hören: "Komm zu mir. Du gehörst mir!" Die Stimme wurde lauter und eindringlicher. Dabei klang sie nicht nach einer einzelnen Stimme, sondern nach einem Chor von mindestens zehn Stimmen beiderlei Geschlechts. Julius versuchte, sie zu überhören. Weitere rote Kreise wirbelten vor seinen Augen. Die ersten dunklen Schatten schoben sich in sein Blickfeld. Gleich war es vorbei, dachte er. Er würde ohnmächtig werden und dann einfach von seinem immer weiter beschleunigenden Reittier abstürzen. Obwohl, das war nur ein Roboter, ein fliegender Roboter. "Lass mich runter, Ashtardarmiria. Ich kann sonst nicht weiter auf dir bleiben!" presste Julius hervor. Doch Ashtardarmiria preschte weiter durch die Luft. Hinter ihm wurde es immer dunkler. Die Dementoren folgten seinen Gedanken. Zwar waren sie nicht so schnell wie das fliegende Nashorn, doch sie waren beharrlich. Sie wollten ihr Opfer. Oder wollten sie nur Futter für ihre zähflüssige Königin heranschaffen? Wobei er da nicht sicher sein konnte, ob das Teufelszeug in der Kuppel ein eindeutiges Geschlecht hatte.
"Sie bekommen dich, wenn du auf mir bleibst oder ich dich absetze", sagte die goldene Nashornkuh. Ihre Stimme klang nun nicht mehr so klar und rein, sondern tiefer und leieriger, wie bei einem batteriegetriebenen Schallplattenspieler oder Casettenrekorder, dachte Julius. Was für Vergleiche er im Angesicht des Schreckens stellen konnte, dem sie beide gerade zu entkommen versuchten. Wieder erklang eine geschlechtslose Gedankenstimme: "Komm zu mir! Du gehörst mir." Julius wusste, dass dies die unheimliche Brutkreatur war, der er um Haaresbreite entwischt war. War er ihr entwischt, oder hatte Ashtardarmiria das unvermeidbare Ende nur um einige Minuten hinausgezögert?
"Ich kann dich nicht mehr zu-u-u-um T-o-o-ouor bruiuiuingen", leierte die Stimme der goldenen Nashornkuh. Ihre Flügelschläge wurden langsamer, ihr Flug wurde schlingernd. Julius wies sie an, sofort zu landen. Doch sie gehorchte nicht. Wieder meinte er, gleich in Ohnmacht zu fallen. Da jagte ein Wärmeschauer durch seine Beine, sein Hinterteil den Rücken hinauf und durch alle Fasern seines Körpers. Diese Kraft lud ihn regelrecht auf. Die rotierenden roten Ringe verschwanden, die schwarzen Schatten lösten sich schlagartig in Nichts auf. Offenbar übertrug ihm die goldene Nashornkuh frische Lebensenergie, woher sie die auch immer bezog. Julius erkannte, dass er sich besser gegen die näherkommenden Dementoren abschirmen sollte. Er dachte das Lied des inneren Friedens und ignorierte dabei das wütende Schnauben der unheimlichen Stimme in seinem Kopf. Dann hatte er es wieder geschafft, das Lied zu vollenden und fühlte sich im Kopf frei. "Daaa uuuuuunnnnnntööööööööönnnnnnn!" brummte Ashtardarmirias Stimme immer tiefer und langgezogener. Sie fiel förmlich dem Boden entgegen. Julius sah, dass sie keinen Flügelschlag mehr tat. Es waren wohl noch zweihundert Meter. Wenn er bei ihr blieb war es das wirklich für ihn. Doch konnte er bei den gerade von hinten aufrückenden Dementoren den Freiflug wagen. Er musste. Und er fühlte auch genug Kraft. "Danke für alles, Ashtardarmiria. Deine Erschafferin war eine sehr kluge und vorausplanende Frau", sagte er noch einmal, bevor er von ihrem Rücken glitt. Jetzt erst sah er, dass ihn bis dahin haardünne aber unzerreißbare Schlaufen gehalten hatten, die sich um seine Beine und um seinen Bauch gelegt hatten und nun schlaff herunterhingen.
Julius stieß sich von dem mit ihm stürzenden und nun völlig unbeweglichen Körper weg. Die kurze Gefühlswallung, eine fremdartige aber verlässliche Freundin in ihren Tod stürzen zu lassen verdrängte er. Sie wollte, dass er überlebte. Sie hatte ihre ganzen Kraftreserven aufgebraucht, um ihn zu retten. Das durfte er nicht aufs Spiel setzen, in dem er selbst in den Tod stürzte. So wendete er die Freiflugformel an, um sich abzubremsen und dann zwischen zwei Häusern zu landen. Auf dem Weg nach unten hörte er den mit langem, umgekehrtem Nachhall zu ihm hochdringenden Knall eines auf den Boden aufschlagenden Metallkörpers und ein Bersten und Krachen. Er wagte nicht, zur Quelle dieses endgültig klingenden Geräusches zu sehen. Er wusste ja leider, was es gewesen war.
"Als Julius endlich auf dem Boden stand fühlte er erste Tränen in die Augen steigen. Jemand hatte sich für ihn geopfert, wieder einmal. Obwohl Ashtardarmiria kein lebendes Wesen im biologischen Sinn gewesen war, hatte sie mehr Lebendigkeit ausgestrahlt als mancher lebende Mensch, dem Julius in seinem noch jungen Leben begegnet war. Sie hatte ihm geholfen und dafür mit ihrer Existenz bezahlt. Sowas hatte er schon einmal erlebt und gehofft, sowas nie wieder erleben zu müssen. Und auch wenn die, die sich für ihn als erste aufgeopfert hatte nicht wirklich aus der Welt und aus seinem Leben verschwunden war, so hatte er es trotz allen danach empfundenen Freuden nie wirklich verwunden, dass er Schuld daran hatte. Ja, und weil er so gnadenlos neugierig oder trotzig gewesen war, gab es Ashtardarmiria nicht mehr, die ihre Seele in dieses goldene Flügeltier eingespeichert hatte.
"Mutiger Krieger?" hörte er eine Frauenstimme von rechts. Er wirbelte in die Richtung und sah eine vier Meter große Gestalt aus goldenem Metall, gehüllt in ein blutrotes Gewand. Julius stutzte. Das hinderte ihn daran, die goldene Dienerin, die halb so groß wie der Wächter von Garumitan war, mit dem Deterrestris-Zauber abzuwehren. Sie hatte ihn "Mutiger Krieger" genannt, wie Ashtardarmiria. Von wegen mutig, das war vor dem Ausflug hier hin. Krieger? Wo hatte er denn heldenhaft gekämpft? Da strömten Erinnerungen in seinen Kopf, Erinnerungen an frühere Abenteuer, die Galerie des Grauens in Hogwarts, die gegen das hier ein harmloses Bilderbuch gewesen war, Hallitti und ihre Schwestern. Vielleicht hätte er Ilithulas Angebot doch besser annehmen sollen. Dann sah er die Himmelsburg, die Schlangenkrieger, die große Schlange in Norwegen und die grün leuchtende Pentaia. Seit wann wirkte die Nähe von Dementoren so, das überstandene Schrecken, die irgendwie zum guten gewendet wurden, in die Bewusstseine ihrer Opfer einströmten? Da war die goldene Dienerin bei ihm. Er wollte gerade versuchen, sie mit dem Schwerkraftumkehrungszauber zu erwischen, als sie ihn mit ihren Händen zu fassen bekam und vom Boden riss. "Bitte nicht wehren, ich bin beauftragt, dich aus Garumitan zu bringen", sagte die goldene Dienerin. Julius' Gedanken an Gegenwehr verflogen unvermittelt. Er ließ sich gefallen, wie die goldene Dienerin ihn an sich zog. Dann sah er, wie ihre Bauchdecke aufklaffte. Dahinter war ein gerade anderthalb meter tiefer und ebenso hoher Hohlraum. Er wusste sofort, was das zu bedeuten hatte und empfand überhaupt keinen Arg. Ehe er noch recht mitbekam, wie es ihn zurechtrückte, hatte ihn das goldene Riesenweib in ihre Bauchhöhle geschoben. Mit leisem metallischen Klong verschloss sie sich wieder. Julius dachte keinen Moment an einen Ausbruchsversuch. Er fühlte sich im Gegenteil nun vollkommen sicher. Dann fühlte er, wie die goldene mit ihm an Bord losrannte, immer schneller. Dann geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Er fühlte sich plötzlich wieder frei, als sei er nicht mehr in diesem Riesenroboter eingelagert worden. Er rannte, wobei er weit ausgreifende Schritte tat. Doch die Stadthäuser waren irgendwie kleiner geworden, die Straßen schmaler. Er rannte, ohne zu keuchen. Ja er lief, als wenn er nur einen lockeren Trab einhalten müsse. Doch er jagte schneller als ein Formel-I-Wagen durch die Straßen. Was hinter ihm war bekam er nicht mit. Doch er hörte sie, die rasselnden, saugenden Atemzüge der Dementoren, unheimlich laut und gierig. Noch hielt das Lied des inneren Friedens vor. Vorsorglich verstärkte er es wieder.
"Diesen Schutz bitte aufrecht erhalten. Abstand zum Tor noch fünfhundert Schritte", hörte er sich mit der Stimme der künstlichen Frau sagen. Er wollte sich umdrehen. Doch er konnte es nicht. Er lief weiter. Oder war es nicht er, der lief? Jetzt konnte er eine Gruppe junger Dementoren sehen, die sich auf dem großen Platz versammelt hatte. Da fühlte er, wie er sich abstieß und mit einem gewaltigen Satz über die versammelten Dementorennachkommen hinwegsprang. "Jetzt bitte inneres Selbst für den Wächter freigeben! Wir berichtn gemeinsam", sprach die goldene Halbriesin so, als sage er es selbst. Er zögerte keinen Augenblick. Er hob die Wirkung des Liedes des inneren Friedens auf. Sofort fühlte er die in ihn eindringende Trübsal. Doch zugleich fühlte er auch, wie sich etwas mit ihm verband, das stark aber gutartig war, kein lebendes Wesen, sondern eine Ansammlung von freundlich klingenden Tönen, die mit seinen Gedanken eine harmonische Abstimmung fanden. Dann hörte er sich und die Roboterfrau gleichzeitig denken: "Ausweg rot! Ausweg rot! Sofortige Auskunft an Wächter Garumitan."
Die jungen dementoren rückten an. Vier jagten auf Julius zu. Der wischte kurz mit seinen Armen herum und hieb zwei von ihnen wie lästige Fliegen davon. Jetzt sah er auch, dass er goldene Hände hatte, die in blutroten Ärmeln verschwanden. Also hatte er sich nicht geirrt. Die goldene hatte ihn mit sich vereint, war mit ihm zu einem vorübergehenden kybernetischen Organismus verschmolzen.
Die Erde erbebte. Als vor ihnen zwei Torsäulen aufschossen und den Rundbogen vollendeten konnte Julius durch das Tor die zerschmolzenen Panzerwracks sehen. Dann fühlte er, wie seine Erlebnisse der letzten Zeit wie ein schnell zurückspulender Videofilm vor seinem inneren Auge abliefen und hörte eine Stimme, die zu schnell sprach, als dass er sie verstehen konnte. Dann lief seine vollautomatische Transporteinheit los, durch das Tor hindurch. Wieder meinte Julius, etwas drehe sich in ihm dreimal herum. Dann waren sie wieder auf der anderen Seite. Doch die Sonne war fast schon wieder untergegangen.
"Den Ort verlassen. Setze Letzte Reinheit in Kraft!" dröhnte die Stimme des goldenen Wächters, jedoch nur im Geist von Julius. "Verstanden", hörte sich Julius im Duett mit der Robotereinheit antworten. Währenddessen liefen sie vom Torbogen fort. Dabei konnte Julius zwei weißgoldene Schemen sehen, die wie wabernde Gestalten von Menschen aussahen. Doch seine Transporteinheit ging nicht darauf ein, anzuhalten, um das näher zu besehen. Sie lief noch einige hundert Meter, dann bremste sie, um im nächsten augenblick in einer orangeroten Flammenwolke zu verschwinden.
Der Wächter war ein Roboter, ein riesiger, goldener Roboter. Diese Feststellung überwältigte Brandon fast, als er hinter einem immer noch glühenden Panzerwrack das acht Meter große Geschöpf aus goldenem Metall hervortreten sah. Dann sah er noch was. Etwa hundert Meter vor ihm, schnellten zwei bläulich flimmernde Säulen senkrecht nach oben. In vier Metern Höhe bogen sie sich aufeinander zu und schlossen einen weiten Torbogen. Dann sah Brandon zwischen den Säulen ein weiteres goldenes Geschöpf hervortreten, eine knapp vier Meter große Frau im wehenden, blutroten Umhang, der vorne offen war und zeigte, dass dem Schöpfer jedes Detail einer lebenden Frau wichtig gewesen war. Die Goldene lief im irrwitzigen Tempo vom Tor weg und zwischen den aufgefahrenen, noch nicht zerstrahlten oder verbrannten Fahrzeugen hindurch. Dann bremste sie ihren Lauf, um im nächsten Moment in einer orangeroten Glutwolke zu verschwinden wie explodiert. Doch keine Trümmer oder sonstige Überreste flogen aus der Glutwolke heraus. Diese sank blitzartig wieder zusammen. Kein ausgeglühter Rest der goldenen Roboterlady war zu sehen.
Der Wächter warf sich herum. Seine risigen, jadegrünen Augen richteten sich auf das Tor, durch das gerade drei vier Meter große Abscheulichkeiten hervorbrechen wollten. Sie waren nackt, abgesehen von einer schwarzen, blasenwerfenden Schleimschicht. Ihre augenlosen Gesichter besaßen gewaltige Münder, und um sie lag ein nachtschwarzer Dunsthauch. Gerade wollten sie durch das Tor hinaus, als aus den Augen des Wächters zwei armdicke Strahlen aus silbernem Licht brachen und die beiden Geschöpfe im Lauf trafen und zurück durch das Tor warfen. Dann hob der Wächter seine rechte Hand und ballte sie zur Faust. Das Tor klaffte oben auf, und die Säulen schnellten blitzartig in den Boden zurück, als gerade noch eine Schreckensgestalt versuchte, doch noch hinauszukommen. Das gelang ihr jedoch nicht mehr. Sie flimmerte und verschwand. Dann wandte sich der Wächter um und blickte auf die immer noch unbeweglich dastehenden Fahrzeuge. Er überstrich sie mit einer Bewegung seiner linken Hand. Dann stampfte er auf seinen breiten, völlig nackten Füßen davon.
Brandon und Guryan waren sich einig. Sie apparierten unmittelbar in den Laufweg des Wächters. Dieser verhielt seinen Schritt. Er blickte hinunter. Offenbar konnte er die beiden trotz der Rüstung erkennen. Guryan rief ihm nach oben einige Worte aus dem alten Reich zu: "Wächter der schöpferischen Stadt, wir grüßen dich und erbitten demütig Einlass zu unseren Brüdern und Schwestern!"
"Wer seid ihr", donnergrollte der Wächter mit einer unangenehm blechern klingenden Stimme. Guryan nannte sich und seine Eltern. Das veranlasste den Wächter, sich schnell noch einmal umzudrehen und noch einmal eine Handbewegung über die Militärmaschinen zu vollführen. Dann sagte er: "Ihr seid zu spät, Sonnenkinder. Die großmächtige Stadt, die zu bewachen ich erschaffen wurde, wurde von einer unausrottbaren Plage befallen, die von denen, die darin wohnten selbst erschaffen wurde. Ich habe Geschöpfe dieser Plage schon einmal in die Freiheit entlassen, weil ich in ihnen noch Bewohner der Stadt erkannte, als Träger des mächtigen Wissens vor sechstausend Sonnen den Weg zu mir fanden und mich aus meiner Ruhe weckten. Diesmal wollte und durfte ich den Geschöpfen dieser Plage keinen Weg mehr erlauben, in die Welt zu treten, wo ich jetzt weiß, dass sie dort große Schrecken verbreitet haben und die erhabene Kraft noch immer lebendig ist. Die Stadt ist nicht mehr von Euresgleichen bewohnt, nur noch von den Abkömmlingen jener Züchtung, die diese einst gewagt haben, um eine neue, mächtigere Kriegerrasse zu züchten, die Körper, Licht und Seelen lähmen können."
"Und jetzt hast du das Tor der Zeiten wieder geschlossen", fragte Guryan.
"Ja, und diesmal für alle Zeiten. Denn in weniger als einem Zehnteltag wird Garumitan im Mitternachtsfeuer vergehen, so gebietet es mein letzter Auftrag. Die Ausgeburten der Plage dürfen nicht überleben."
"Mitternachtsfeuer?" fragte Brandon Guryan. Dieser verzog das Gesicht und sagte, dass es dasselbe dunkle Feuer sei, gegen das sie hatten ankämpfen müssen, als sie gegen die beinahe wiedergekehrte Hallitti hatten kämpfen müssen.
"Es ist das einzige, was diese Brut noch tilgen kann und das einzige, was ich meinen Schöpfern noch an Dienst leisten kann, bevor ich mich zur Ruhe lege und auf den Tag warte, an dem ich selbst in die Welt gehen muss, um das Vermächtnis der Schöpfer zu verteidigen, so wie ich es bisher tat."
"Welches Vermächtnis?" fragte Guryan.
"Das Vermächtnis der neun Könige. Doch mehr dürfen nur die wissen, die wie der Bote Darxandrias im Namen eines der Könige zu mir kommen. Ihr gehört da nicht zu, ihr seid nur Knechte und Mägde der großen Meister. Und jetzt geht, oder ich befördere euch trotz eurer Panzerung in die Welt der Dahingehenden."
"Halte ein, Wächter!" schnarrte Guryan verbittert. "Mein Begleiter hat recht gesprochen. Wenn du die Stadt zerstörst wird auch alles um sie herum zerstört sein. Lasse nur das Tor geschlossen und hilf uns gegen unsere Feinde."
"Euer Dienst ist nicht der meine. Ich bin euch nicht unterworfen, da nur die Träger der Königlichen Huld mir Befehle geben dürfen. Und Garumitan wird vernichtet. Die Plage muss getilgt werden."
"Wir sind Abkömmlinge deiner Schöpfer, Träger der Kraft. Also bist du uns unterworfen", versuchte es Guryan. Doch Brandon bedeutete ihm, dass es wohl keinen Sinn hatte, den Wächter umstimmen zu wollen.
"Geht oder vergeht!" donnerte der Wächter und starrte sie beide an.
"Wie willst du uns töten, wo wir gegen Feuer und alle anderen Grundgewalten geschützt sind?" ffragte Guryan verbittert. Brandon fühlte, dass ihm die Bemerkung, dass er und seine Angehörigen nur Knechte und Mägde waren, doch heftiger getroffen hatte. Brandon hatte ja immer schon vermutet, dass die Sonnenkinder nicht als bessere Rasse, sondern besseres Dienstpersonal erschaffen worden waren. Sie waren Soldaten, nichts besseres und nichts schlechteres. Warum fand sich Guryan nicht einfach damit ab?
"Sieh her, kleiner Kriegsknecht!" dröhnte die Stimme des Wächters. Er deutete auf einen der noch stehenden Panzer. Aus dem linken Auge drang ein bläulich flimmernder Strahl, durchsetzt mit goldenen Schlieren. Der Strahl traf den Panzer und hüllte ihn ein. Das Kriegsfahrzeug begann im selben blau-goldenen Flimmerlicht zu leuchten. "Die Macht der Gestirne über die Zeit ist mir gegeben", dröhnte die Stimme des Wächters. Dabei leuchtete und flirrte der Panzer weiter. Jemand stieß von innen die Luke auf und streckte seine Arme nach draußen, ein Soldat, der dem Panzer entsteigen wollte. Doch an ihm vollzog sich eine grauenvolle Verwandlung. Brandon sah, wie der gerade noch mitte Zwanzig Jahre alte Mann von Sekunde zu Sekunde ein Jahrzehnt älter wurde. Es begann mit Haarausfall, dann Ergrautem Haar, ersten Falten und dann einer immer stärkeren Weißfärbung von Haar und Bart. Der Panzersoldat versuchte, aus dem leuchtenden Kraftfeld herauszukommen. Doch es war wie eine massive Glaswand. Der blitzartig alternde Soldat versuchte mit den ihm mehr und mehr schwindenden Kräften, auszubrechen. Doch es gelang nicht. Hinter ihm tauchte der Kopf eines weißhaarigen Mannes auf, der versuchte, seinem Kameraden zu helfen. Die Muskeln schwanden. Die Bewegungen wurden immer zittriger. Dann brach der erste Soldat zusammen und rutschte in das Innere des Panzers zurück. Die Luke blieb offen. Brandon und Guryan konnten nicht anders als der unheimlichen Vorführung zusehen, bis das blau-goldene Flimmerlicht erlosch. Kaum geschah das, brach der Panzer leise in sich zusammen. Er bestand nur noch aus verrostetem Metall. In dem zerfallenden Rosthaufen konnten die beiden Sonnensöhne nun auch die bleichen Knochen der Mannschaft sehen, die zusehens zerfielen, bis nur noch Staub von ihnen übrig war. "Gegen die Kraft der beschleunigten Zeit kann euch auch eure Rüstung nicht schützen. Denn nur wer aus dem Metall der Ewigkeit hervorging wie ich und meine Untergebenen kann die Tausendersonnen überdauern."
"Du hast die Männer getötet", seufzte Brandon. Doch im gleichen Augenblick wurde ihm klar, wie unbedeutend das für den Wächter von Garumitan war. Denn dass er seine Gegner mal eben umbrachte hatte er ja schon mit den zerstörten Panzern und Geschützen bewiesen.
"Wie entscheidet ihr, Knechte der erhabenen Meister? Gehen oder vergehen?"
"Wodurch können wir uns dir als würdig ausweisen, Wächter?" fragte Brandon nun, der eine gewisse Ahnung hatte.
"Nur durch die Siegel der Kraft eines Königs oder einer Königin oder durch die nur ihnen bekannten Namen, mit denen sie geboren wurden. Ihr kennt sie nicht, weil ihr nur die Knechte seid und nicht die Erben."
"Komm, Guryan, der Wächter darf uns nicht helfen."
"Nein, er hat zu dienen. Er ist ein nach unserem Ebenbild erschaffener, kein Befehlshaber. Er muss gehorchen", sagte Guryan. Da umflutete ihn unvermittelt goldenes Licht. Brandon dachte erst, der Wächter habe ihn bereits mit seinem Zeitbeschleunigungsstrahl erfasst, doch es war nur die gemeinsame Macht der Sonnenkinder, die Guryan eingefangen und wie weggebeamt nach Ashtaraiondroi zurückbersetzt hatte. Das erfuhr Brandon keine Sekunde später von Miridaria.
"Gegen die Beherrschung der Zeit kann uns die Rüstung nicht schützen. zurück zur Ashtarlohinia. Bring sie uns zurück!" hörte er Miridarias Stimme im Kopf. Da richtete der Wächter die Augen auf Brandon. Dieser kapierte, dass es jetzt allerhöchste Zeit war, den schnellen Rückzug anzutreten. Er warf sich herum, wie er es von Patricia und seiner Angetrauten gelernt hatte und wechselte in einem Sekundenbruchteil in die Ashtarlohinia zurück.
"Fluchtstart und Rückkehr zur Heimatinsel!" befahl er der mentalen Steuereinheit.
"Fluchtstart eingeleitet!" hörte er die Bestätigung. Keine Sekunde Später schoss der Windsegler wie von Raketen getrieben in den Himmel und jagte mit wild wirbelnden Flügelschlägen in Richtung der Sonneninsel davon.
"Der bringt einfach so Menschenum", gedankenseufzte Brandon Rivers. Patricia Straton erwiderte:
"Was erwartest ausgerechnet du von einem nur seinen Programmen folgenden Automaten?"
"Gut, Asimows Robotergesetze waren eurem Volk damals noch unbekannt. Aber dass lebende Menschen zu schützen sind hättet ihr euren Robotern doch schon mal einprägen können", lamentierte Brandon, der hier und heute wieder einmal mitbekommen hatte, wie zerstörerisch die Macht aus alter Zeit sein konnte. Das machte ihm Angst. Denn er konnte sich gut vorstellen, wie gierig diverse Zauberer und Hexen sein mochten, wenn sie wussten, wie sie an dieses Wissen kamen. Vielleicht war es wirklich besser, wenn manches davon vernichtet wurde. Doch der Wächter würde sich nicht vernichten. Und die goldene Frau, die er gesehen hatte war nicht explodiert, sondern nur verschwunden, vielleicht mit einem Versetzungszauber anderswo hingereist.
"Das waren übrigens junge Dementoren, die ihr gesehen habt", gedankensprach Patricia. "Ich weiß aus den Aufzeichnungen meiner verstorbenen Mutter, dass so zugeschleimt junge Dementoren aussehen, die noch nicht genug Glücksgefühle oder gar die Seelen fühlender Wesen in sich aufsaugen konnten."
"Babys, Grundschüler oder Teenager?" Wollte Brandon wissen.
"Altersstufen gibt's bei denen nicht. Sie entstehen, wachsen aus und gehen auf Beute aus und das je nach Nahrungsangebot zwischen zwei Stunden und einer Woche", informierte Patricia ihn.
"Schon richtig fies, wie diese Monster ausgesehen haben. Aber ich dachte, die könnten nur mit dem aus einem Geist geschöpften Patronus zurückgeschlagen werden", stellte Brandon fest.
"Patroni können ausgelagert werden. Der das tut muss dann aber mindestens einen Tag ausruhen, bevor er solche Geisteszauber noch mal machen kann", wusste Patricia. "Das habe ich von meiner Zauberabwehrlehrerin Professor Purplecloud gelernt."
"Dann haben irgendwelche Leute diesen Patronus schon damals gekonnt, obwohl es damals noch keine Dementoren gab?" fragte Brandon.
"Der Zauber wirkt nicht nur gegen Dementoren. Schattenhafte Wesen gab es ja damals schon", bekam er zur Antwort.
"Dann steckt die Stadt jetzt voller Dementorenbälger, die gerne auf Seelenjagd gehen wollen?" fragte Brandon.
"Ja, ist wohl so", erwiderte diesmal Gisirdaria.
"Anfrage an Ashtarlohinia: war irgendwas lebendiges in dem Wächter von Garumitan zu erfassen, etwas, dass denken konnte?" fragte Brandon die Steuerung.
"Der Wächter besaß kein lebendes inneres selbst. Allerdings konnte ich eine Zusammenfügung aus dienstbarer Vorrichtung und lebendem Mann erfassen, als die kleinere Ausführung des Wächters im Reisefeuer verschwand. Allerdings bin ich nicht dafür gebaut, die inneren Stimmungen und Worte von Menschen zu erfassen, die nicht mit mir in direkter Berührung sind."
"Moment mal, ein Mann in der kleineren Ausgabe des Wächters. Da war nur diese goldene Frau. Und die ist auch im Feuer verschwunden. Häh?"
"Wieso häh, Ilangardian: Die weiblich gestalteten Metalldiener vermögen, normalgroße Menschen in höchster Lebensgefahr in sich aufzunehmen und diesen dadurch fünffache Fluchtgeschwindigkeit zu verleihen", antwortete Faidaria. "Die größere Dienerin, die ihr gesehen habt kann sicher zwanzigmal so schnell wie ein Mensch laufen." Das musste Brandon erst mal verdauen. Als es ihm gelungen war schickte er nur noch zurück: "Dann war doch noch wer in die Stadt reingekommen und musste da ganz ganz schnell weg, einer, dem der Wächter das Tor aufgemacht hat."
"Ja, und ich weiß jetzt auch, wer das war", schickte Patricia Straton zurück. "Also stimmt doch eher, dass er Zugang zu Hinterlassenschaften aus dem alten Reich hat und nicht nur von den Kindern Ashtarias unterrichtet wurde. Schade, dass wir uns ihm nicht offen zeigen dürfen, solange dazu kein Grund besteht."
"Ach, du meinst diesen Superzauberer, der mit den Teufelsweibern aneinandergeraten ist", erwiderte Brandon, dem nun endlich die Erleuchtung kam. Patricia bestätigte es.
Als er endlich nach mehreren Stunden Fluges wieder auf Ashtaraiondroi landete war Guryan wieder nicht zu fühlen und zu hören. "Sie hat ihn noch mal zu sich gebeten, und Faidaria hat es ihm befohlen, ihr nicht zu widersprechen", grinste ihn Miridaria an. Dann fragte sie, ob sie ihn auch noch einmal zu sich bitten dürfe, solange sie in der günstigen Verfassung war. Brandon überlegte kurz. Er hatte immer noch das Bild von dem im Zeitbeschleunigungsstrahl verrostenden Panzer vor seinem Geistigen Auge. Doch als Miridaria sagte, dass er dem Wächter und dieser unheilvollen Waffe nicht noch einmal über den Weg laufen würde und auch genau deshalb, weil er mitbekommen hatte, wie schnell die Zeit verwehen konnte seine eigene Zukunft gestalten sollte, nickte er und ging mit ihr mit. Vielleicht brachte ihn das Zusammensein mit ihr ja von diesen gruseligen Vorstellungen wieder ab.
Julius wunderte sich nicht schlecht, als nach der orangeroten Feuerwolke das ihm schon vertraute Tor Khalakatans über ihm war, jetzt aber nur noch halb so groß. Dann blickte sich die gerade bestehende Einheit aus goldener Dienerin und lebendem Zauberer um. Julius war keinesfalls überrascht, wie nahe Dinge vor seine Augen rückten. Kunststück, dachte er. Seine gerade mit ihm verstöpselte Trägerin hatte bestimmt genauso gute Augen wie Moody. Da sah er den grummeligen Lehrer vor sich, wie er ihn und alle anderen zurechtwies, immer wachsam zu bleiben, wobei sein blaues Kunstauge wild in seinem Kopf rotierte. Der hatte sein Leben auch für jemanden anderen geopfert, wusste Julius.
"Wie können wir nach Khalakatan kommen?" fragte Julius und hoffte auf eine Antwort.
"Weil in deinem Geist das Tor geborgen ist und es für den Weg durch das Feuer offen ist", hörte er die Stimme der goldenen Frau in seinem Geist antworten. Irgendwie meinte er jedoch, dass leise aber deutlich auch Ashtardarmirias Stimme mitschwang. Doch dieser Gedanke verflog so schnell, wie er ihm in den Sinn gekommen war.
"Besteht die Möglichkeit, dass ich hier wieder meine eigenen Beine bewegen darf?" fragte Julius.
"Erst wenn ich der Führerin der Diener der Elemente Berichtet habe. Deine Erinnerungen müssen mir helfen, alles mit der notwendigen Dringlichkeit zu vermitteln", klang die künstliche Stimme der halbriesischen Roboterfrau wieder in seinem gerade wieder für einen störungsfreien Austausch geöffneten Geist. . Dann rannte die auch schon wieder los, durch die Straßen Khalakatans, auf den gigantischen Turm des Wissens zu. "Ohne Lotsenstein kommen wir da nicht rein", unkte Julius. Doch das mussten sie auch nicht. Denn aus dem Gebäude traten zwanzig kleinere goldene Dienerinnen in blutroten Gewändern. Da verstand Julius, dass über die große Goldene und seine Erinnerungen eh alle Altmeister informiert worden waren. Madrashmironda oder Shainorammaya mochte jetzt kichern, weil Julius ihren wahren Namen kannte. Vielleicht erschauerte sie auch genau wie er, als nun noch einmal alle Bilder des Schreckens und Stimmungsunterschiede von Julius im Schnelldurchlauf vorüberflogen.
"So ist Garumitan verloren", sagte jene goldene Dienerin, die Julius nach seinem innigen Stelldichein mit Agolars Mutter wieder zum Turm hinausgeführt hatte.
"Ja, die Stadt der Schöpfungen ist zum Pfuhl der Plage und der Vernichtung geworden. Übermittle alle damit zusammenhängenden Ereignisse." Julius fürchtete schon, dass jetzt eine ellenlange Bild- und Tonabfolge durch seinen Kopf fluten würde. Doch die größere Roboterfrau legte der kleineren einfach nur die Hand auf den Kopf. Julius hörte ein lautes, zehn Sekunden anhaltendes Zischen und sah einen grellen, bunten Lichtvorhang. Dann war es auch schon vorbei. "Wissen erhalten und weitergeleitet", erwiderte die kleinere Roboterfrau. "Julius Latierre darf nun wieder freigegeben werden."
"Ja, ich gebe ihn frei, damit er und seine Gefährtin weiter im Auftrag unseres großen Erbes handeln können", hörte Julius die Stimme der Goldenen so, als spräche er damit, empfand die Worte aber auch so, als höre er die Gedankenstimme Ashtardarmirias in sich. Dann fühlte er, wie es in ihm prickelte und pulsierte. Unvermittelt vibrierte der von ihm gerade wie sein eigener Körper empfundene Leib der künstlichen Halbriesin. Vor seinen oder besser ihren Augen entstanden Bilder, in seinen oder besser ihren Ohren klangen Geräusche, Stimmen, Wörter und Melodien. Er sah sich selbst mit einem kleinen Mädchen aus dem Leib ihrer Mutter hinausdrängen, verfolgte mit, wie aus dem Neugeborenen eine junge, leicht untersetzt gestaltete Frau mit blassgoldener Haut und schwarzblauem Haar wurde. Er erkannte ihr Gesicht, weil er ihren Bruder, der wenige Jahre nach ihr geboren worden war, in einer Traumkonstruktion Temmies kennengelernt hatte. Das war Ashtardarmiria. Er bekam mit, wie sie sich in den weißen Taufflammen, von denen ihm Millie erzählt hatte, zur Feuergeweihten brennen ließ und erlebte im Zeitraffertempo ihre weitere Ausbildung mit, ohne dabei jedoch was aufzuschnappen, was er selbst verwenden konnte. Überhaupt vollzog sich das ganze im Schnelldurchgang ablaufende Leben Ashtardarmirias so, dass er nur wenige klare Wörter verstand, ihren Namen, den ihrer Eltern, ihres Bruders und ihrer insgesamt drei Gefährten, von denen sie zusammen acht Kinder bekam. Doch ihre wahre Zuneigung gehörte ihrem draufgängerischen und verspielten Bruder. Sie baute jenes goldene Nashorn und erlernte wohl was, wodurch sie sich wie ein flimmernder Geist aus ihrem Körper lösen konnte. Dann erlebte er aber auch mit, wie sie einen jungen Zauberer, der in mitternachtsblauen Gewändern steckte, erst im kurzen Duell niederrang und dann ohne jede Gnade in einem goldenen Feuer verbrannte. Das versetzte Julius erst einen leichten Stich. Sie hatte den jungen, noch nicht voll ausgebildeten Zauberer einfach getötet. Als er dann noch miterlebte, wie sie in einem Ritual unter Zuhilfenahme ihres Blutes und ihres pyramidenförmigen Zauberkraftausrichtungskristalls das goldene Nashorn zum glühen brachte und er für einige Sekunden ihr rundliches Gesicht zwischen dessen Augen auftauchen sah wusste er, dass sie einen von ihr abgespaltenen Teil ihrer eigenen Seele auf das künstliche Rhinozeros übertragen hatte. Dann bekam er noch mit, wie sie, steinalt mit weißen Haaren, ihr Geschöpf und ihren Bruder noch einmal zu sich hintreten ließ. Sie hielt sich an einem Fuß des künstlichen Nashorns fest und hauchte ihr leibliches Leben aus. Da sprang die Ansicht um. Julius sah nun alles eingeschrumpft, Kuniworonian, die tote Ashtardarmiria und die Einrichtung ihres Sterbezimmers. Dann zog die Rückschau noch schneller an Tempo an. Julius hörte nur noch ein Säuseln und Schwirren, sah nur noch einen bunten Lichtvorhang wie gerade eben, wo die goldene Dienerin ihr Wissen auf Worakamirida übertragen hatte. Am Ende sah er sich selbst wie eingeschrumpft, wie er von dem goldenen Nashorn aufgefangen wurde. Ab da lief der innere Lebensfilm nun mit nur noch zehnfacher Geschwindigkeit ab. Noch einmal durchlebte Julius das Grauen an der Essenz von Leben und Tod, sowie die Flucht aus Garumitan. Dann blitzte es weiß auf. Stille trat ein.
"So, damit du nicht für immer mit mir in ihr verweilen musst bleibst du besser wieder für dich, bis ich dich freisetzen kann", hörte er Ashtardarmirias Stimme leicht metallisch klingend um sich herum. Er tastete um sich und fühlte warmes Metall. Dann fühlte er, wie es um ihn zu schwanken und zu ruckeln begann. Er kannte das schon. Bevor ihn die goldene Dienerin auf ihre Wahrnehmungen eingestimmt hatte hatte sich das so angefühlt, als sie losgelaufen war. Julius klopfte gegen die verschlossene Luke.
"Geduld, Julius, ich muss dich nur zum Tor tragen. So geht das nun einmal am besten", hörte er Ashtardarmirias Stimme erneut um sich herum. Er verzichtete darauf, etwas zu sagen. Zumindest hatte er noch die Kopfblase, die ihm frische Luft verschaffte.
Als die für ihn ruckelige Reise zum Tor von Khalakatan endlich beendet war klappte die Bauchdecke der goldenen Dienerin weit auf, und die goldene Halbriesin hob ihren ungeduldigen Gast heraus. Dann stellte sie ihn wieder auf seine eigenen Füße. "Du kannst deine Frischluftkugel wieder auflösen, mutiger Krieger", sagte die goldene Dienerin mit Ashtardarmirias Stimme und streichelte für ihre Größe unerwartet zärtlich mit der rechten Hand über seinen Rücken.
Julius nahm seinen Zauberstab und hob den Kopfblasenzauber wieder auf. Er schnüffelte argwöhnisch. Doch er konnte weder Fäulnis noch Verwesung an sich riechen. "Ich habe dich gründlichst gereinigt, während ich dich in meiner Obhut hatte, Julius", sagte die goldene Dienerin. Julius sah zu ihrem Gesicht hinauf. Die vorher silbrigen Kunstaugen hatten sich apfelgrün gefärbt, jenes Grün, dass Kuniworonian und seine Schwester von ihrem Vater geerbt hatten. Julius überlegte, was er noch sagen sollte. Dann wusste er es:
"Warum hast du den jungen Zauberer umgebracht? Nur weil der die blaue Kleidung eines Mitternachtsfolgers trug musste er nicht gleich sterben."
"Du hast es gesehen, während ich mit Lunashtarneria eins wurde?" fragte die goldene Dienerin keineswegs betroffen oder verdrossen klingend. Julius nickte wild. "Nun, so jung er auch war, er war darauf aus, ganz Garumitan mit einer Vorrichtung zu bedrohen, die den Willenjedes dort lebenden Menschen unterworfen hätte. Er hat dafür hunderte von neugeborenen Kindern getötet, um aus ihrem Tod den Lichtschluckenden Kristall entstehen zu lassen. Ich konnte ihn gerade noch aufhalten, bevor er an diesen Kristall herankam, der ihm mehr Macht der Mitternacht verliehen hätte. Du weißt, dass in Garumitan sehr viele überragende Erfinder gewohnt haben. Er war einer, der den Weg zur Herrschaft über alle denkenden Wesen gefunden hatte und das Zepter der Nacht mit dem Kristall schmieden wollte. Seine Mutter hatte ihn mit einem Schutz gegen männliche Gewalt versehen. So blieb mir allein, ihn aufzuhalten. Ich habe ihn getötet, um solche wie ihn aufhalten zu können. Leider ist es mir nicht gelungen, seinen Großneffen Iaxathan früh genug zu finden, um auch ihn von seinen Taten abzuhalten. Zumindest aber erfuhr dieser nie, dass das Zepter der Nacht bereits so gut wie fertig war. Du hast sicher auch mitverfolgt, wie ich den durch die Tötung losgelösten Teil meines inneren Selbst auf jenes geflügelte Dienstwesen übertrug, das am Ende meines Lebens auch den verbliebenen Teil meines inneren Selbst in sich aufnahm. Im Tode bereute ich meine Taten und empfand großen Schmerz. Doch in der Form der goldenen Nashornkuh konnte ich weiter über meine Nachfahren wachen, leider ohne allen gegen die Krieger der Endzeit zu helfen. Doch nun, wo der Wächter wiedererwachte und ich dir helfen konnte, aus Garumitan zu entkommen und du mir helfen konntest, mit dieser Dienerin eins zu werden, kann und werde ich dir und deinen Weggefährten beistehen, so gut ich es in dieser Gestalt vermag. Ich weiß aus deinen Erinnerungen, dass Iaxathans Saat immer noch aufgehen kann. Ich hätte auch in deinem Leib verbleiben oder durch den Tanz des Lebens in den Leib deiner Anvertrauten übertreten oder zum nächsten eurer Kinder werden können. Doch ich entschied mich, lieber in dieser beständigen Form zu bleiben, nicht mit all der Macht betraut, die ich als Ashtardarmiria erworben habe, aber doch hilfreich und ausdauernd. Lebe dein Leben und schütze alle die, die deinen Schutz erbitten, mutiger Krieger!"
Julius wollte gerade noch was sagen, als die goldene Dienerin ihr rotes Gewand vor dem nackten Bauch und Unterleib verschloss, sich um 180 Grad drehte und dann mit irrwitzig anmutender Geschwindigkeit davonspurtete. Er rief ihr noch nach, dass er ihr für seine Rettung dankte. Sie antwortete jedoch nicht mehr.
Julius stand einige Minuten unter dem Tor. Wie konnte er von hier fort? Er hatte den Lotsenstein nicht mitgenommen. Da explodierte keine zehn Meter neben ihm ein orangeroter Feuerball. Aus diesem trat seine Frau Mildrid heraus. Er konnte nicht anders als sie bewundernd und begehrend anzusehen. Sie trug Kailishaias Kleid, das wie zusammengenähte orange-goldene Flammenzungen aussah und ihren von der zweiten Mutterschaft wohlgerundeten Körper so sehr betonte, als habe sie es genau für diese Figur zurechtschneidern lassen. Es fiel seidigweich über ihre Beine bis fast zum Boden. Als sie merkte, wie er sie ansah lächelte sie ihn an.
"Kailishaia hat mir damals verraten, dass ich mit dem Kleid unter diesem Tor ankommen kann, weil ich ja bei den Altmeistern war und sie mich in die Gruppe der Feuerhexen aus dem alten Reich eingeschworen hat. Allerdings dürfte ich das nur, wenn ich von dir oder einem andren den Altmeistern bekanntgemachten gerufen würde."
"Du hättest doch den Lotsenstein nehmen können", sagte Julius. Doch Millie schüttelte den Kopf.
"Nein, den wollte ich dafür nicht nehmen, weil er wohl auf dich geprägt ist, sowie das Kleid auf mich eingestimmt ist, Monju. Aber jetzt bringe ich dich nach Hause, bevor Tante Trice meint, sie dürfe Chrysie für immer bei sich behalten."
"Ich habe versucht, dich zu rufen. Aber ohne die Herzanhänger ging das nicht. Wieso musste ich meinen auch zu Hause lassen?" grummelte Julius.
"Weil Florymont dir das geraten hat, wegen der Antisonde, Monju. Aber du hast mich doch gerufen, über Temmie. Also komm her und lass dich von mir nach Hause tragen."
"Dann wärest du heute schon das dritte weiblich geformte Wesen, das mich irgendwo hinträgt", scherzte Julius und fügte schnell hinzu: "Aber mit Abstand das einzige, von dem ich sehr gerne umarmt und weggetragen werden möchte." Millie grinste darüber.
Julius und sie gingen aufeinander zu. Sie umarmten und küssten sich. Dann umschlang Millie ihren Mann noch inniger. Dabei schaffte sie es noch, ihren Zauberstab nach außen zu richten. Dann rief sie: "Vahayanin!" Aus ihrem Kleid schossen orangerote Flammen heraus, durchdrangen Julius, ohne ihm zu schaden und hüllten sie beide in einen lodernden Glutball ein. Für einige Sekunden empfand Julius vollkommene Schwerelosigkeit. Die Reise mittels der Feuer von Sonne und Erde hatte begonnen.
Durch die sonst für viele Ortsversetzungszauber undurchlässige Glocke über Millemerveilles drangen die beiden Feuerreisenden und landeten direkt vor dem Apfelhaus am Farbensee. Kaum angekommen durchfuhr Julius ein heißer Schreck. Denn ihm war gerade aufgegangen, dass jeder, der auf diese Art reisen konnte, sowohl nach Khalakatan als auch nach Millemerveilles hineinkonnte. Millie merkte natürlich sofort, dass ihr Mann unvermittelt verängstigt war und fragte ihn nach dem Grund.
"Mir ist nur gerade mit der Wucht so eines orangeroten Feuerballs klargeworden, dass jemand, der oder besser die so mal eben durch alle Absperrungen feuerreisen kann zu uns oder zu den Altmeistern hinfauchen kann. Mehr besser im Haus."
"Sie kann auch mit ihrem selbsterhitzenden Käsemesser nur unter das Tor, Monju", hauchte Millie ihm zu. "Glaube mir das, dass die nicht mal eben so ohne Lotsenstein zu den Altmeistern hingelassen wird. Und nach Millemerveilles kommt sie auch mit ihrer Heißen Klinge nicht rein, ohne vom Abwehrdom ihrer eigenen Tante abgewiesen zu werden. Und selbst dann käme die da nicht rein", sagte sie und deutete auf das große, runde Haus, das ihr, ihrem Mann und allen bisherigen und hoffentlich noch kommenden Kindern Heim und Zuflucht war. Sie hatte verstanden, was Julius so plötzlich erschreckt hatte. Er nickte beruhigt und folgte ihr.
"Wo sind die Kleinen?" fragte Julius.
"Auch bei Oma Line. Ich habe ihr gesagt, dass ich mich bereithalten möchte, falls du mal wieder von den wildesten Drachen oder zu schönen Mädchen vernascht zu werden drohst. Das hat sie sofort eingesehen. Ich muss wohl auch in Kauf nehmen, dass Chrysie von ihr oder Tante Trice gestillt wird, wenn sie quängelt. Aber sei es."
"Drachen? Schön wär's gewesen, wenn es nur Drachen gewesen wären", erwiderte Julius darauf. Dann deutete er auf die von außen unsichtbare Tür. "Besser, wir bereden das drinnen."
Julius erzählte seiner Frau in der Wohnküche im dritten Stockwerk, dass er den Ursprung der Dementoren gesehen hatte und erwähnte, das er sich wünschte, das eigentlich nicht gesehen zu haben.
"Dementoren in Garumitan. Okay, Julius, lager es aus! Ob ich mir das antue, so geknickt wie du das erzählst, weiß ich noch nicht. Aber auf jeden Fall bin ich froh, dass du wieder bei uns bist. Dann können wir ja jetzt unseren Urlaub in den Staaten und Australien durchgehen." Julius sah sie erst verdutzt an. Doch dann begriff er, dass Millie ihm wieder Freude am Leben geben wollte, wo sie wusste, dass er heute mal wieder der Gevatterin Tod ganz knapp unter der Sense hinweggeschlüpft war.
Während sie von dem Curry aßen, dass Millie für ihren Mann zurechtgekochuspokust hatte, musste Julius daran denken, wie die Dementoren die letzten Menschen Garumitans eingesperrt gehalten und deren Glückszustände abgesaugt hatten. Wenn er sich vorstellte, wie sorglos und auch skrupellos Menschen mit Tieren umsprangen musste er an Brittany Brocklehurst denken. Er sagte zu Millie:
"Das hat mich schon irgendwie angerührt, wie wir Menschen Tiere als Nahrungsquelle halten und auch in Massen züchten, um billiges Fleisch und billige Milch zu kriegen. Ich werde wohl kein Veganer wie Britt und ihr Vater. Aber umsichtiger, woher das Fleisch und die Milch und die Eier kommen, die ich esse, sollte ich schon sein."
"Hat in gewisser Weise schon was für sich, darüber nachzudenken, wie viele Tiererzeugnisse wir so in der Woche oder im Jahr verputzen oder wegtrinken", murmelte Millie. Doch dann sagte sie: "Auch wenn Britt mit ihrer Art zu Leben ihr Gewissen zu beruhigen meint, Monju, gibt es doch Sachen, die wir eben brauchen, um zu leben, nicht nur um zu überleben. Aber du hast sicher recht, dass wir behutsamer mit den Tieren umspringen müssen, die uns unfreiwillig ihr Fleisch überlassen. Was die Milch angeht haben wir zwei ja wen, die uns freiwillig was davon abgibt. Aber ich kann dich beruhigen, dass die Hühner, die für unser Abendessen herhalten mussten, genug Freilauf und Lebensfreude haben durften. Anders als die armen Hühner, die die Muggel in viel zu kleinen Käfigen halten, nur weil sie so genug Hühner zum Eierlegen zusammenpferchen können."
"Es gibt ja Leute, die schwören auf Insekten als andere Nahrungsform", erwähnte Julius. Seine Frau verzog kurz das Gesicht und grummelte, dass er sowas nicht sagen sollte, wenn sie gerade aß. Dann sagte er noch: "Was aber genauso problematisch wäre. Dann müssten für einen Menschen zwanzig was auch immer getötet werden, während bei sparsamem Essen eine Kuh zwanzig Menschen im gleichen Zeitraum satthalten kann, natürlich ohne das wirklich zu wollen."
"Tja, was Mel ihrer guten Freundin und unserer angeheirateten Cousine bei der Hochzeit von Belle-Maman Martha gesagt hat gilt auch noch, Monju: Nur weil wir Tiere vor dem Schlachten schreien und wimmern hören können heißt das nicht, dass Pflanzen keine Gefühle haben, nur weil wir davon nichts mitbekommen."
"Insofern leider nichts wirklich aussichtsreiches. Lebende Wesen leben vom Tod anderer Lebewesen. Wie erwähnt, vegan wollte ich jetzt auch nicht wirklich werden. Aber wo das Fleisch für mein Essen herkommt sollte ich besser schon wissen."
"Da kannst du beruhigt sein, Monju. Ich auch", erwiderte Millie.
Nach dem Abendessen lagerte Julius die ganzen grausamen Erlebnisse in das Denkarium aus, und zwar so, dass er sie nur daraus wieder in seinen Kopf zurückholen konnte. Jetzt verstand er, wozu so ein Denkarium eigentlich da war. Interessante Zeitreisen in anderer Leute Leben gut und schön. Doch der wahre Zweck dieser Erfindung war es doch, seine schlimmsten Erinnerungen auszulagern, um sie nur dann, wenn genug Zeit verstrichen war oder für Leute, die das unbedingt wissen mussten, wieder ansehen zu können. Bevor er das tat fragte er sich, was aus dem Wächter von Garumitan wurde. Er hoffte nur, dass niemand mehr den Weg nach Garumitan finden würde. Doch was hatte Ashtardarmiria über ihn und das Goldmädchen befohlen? Die stadt sollte verbrannt werden. Er erschauerte, wenn er sich vorstellte, dass dort, wo die Stadt gelegen hatte, vielleicht ein kilometergroßer Krater aus dem Nichts heraus entstehen würde. Doch ändern konnte er es jetzt nicht mehr. Er hoffte nur, dass sein neuer Ausflug keine weiteren unschuldigen Menschenleben kosten würde. Er dachte noch einmal an Garumitan, die hoffnungsvolle schöpferische Stadt, bevor er seine Erinnerungen vollständig übertrug. Das war ein warnendes Beispiel für unbedachten Schaffensdrang oder mal wieder ein Paradebeispiel für den Spruch: "Gut gemeint und gut getan können sich sehr widersprechen." Er hoffte nur, dass Shacklebolt mit seiner vollmundigen Pressemitteilung rechtbehielt. Für ihn, Julius Latierre, war der Bedarf an Begegnungen mit diesen Ungeheuern für sein ganzes Leben mehr als gedeckt.
"Ihr habt ihn und diese körperlose, die in ihn eingefahren ist entwischen lassen", brüllte die wie zwanzig Stimmen auf einmal klingende Gedankenstimme der Quelle des Lebens und Todes ihre Sprösslinge an. "Er war Siegelträger. Ich wollte seine innere Daseinsform in mich aufnehmen, um mehr über die Jetztzeitler zu wissen, ihr kleinen Schleimwürmer."
"Er konnte sein inneres Selbst stumm machen", wandte einer der unheimlichen ein, die nach der fehlgeschlagenen Verfolgung wieder zu ihrer Brutstätte zurückgekehrt waren.
"Gerade das wollte ich wissen, wieso er das konnte, ihr Fliegenschatten. Wozu habe ich euch ausgebrütet?"
"Weil es deine Natur ist", wagte ein anderer der Unheimlichen eine dreiste Antwort.
"Und eure Natur ist es, den letzten Krieg zu führen. Doch ihr könnt ja nicht mal mit einem einzelnen Menschen auf einem Belebten Metalltier fertig werden. Jetzt wird der Wächter alle Tore fest verschlossen halten und keinen von uns mehr hinaus lassen."
"Er muss die Tore wieder öffnen. Die Überlebenden des alten Reiches wollen Garumitan wiederhaben", rief ein weiterer der furchtbaren Sprösslinge.
"Er wird die Tore wieder versperrt haben", gedankenschnaubte die Quelle von Leben und Tod. Da hörten sie aus der Ferne die Schmerzenslaute gepeinigter Artgenossen. Die Quelle von Leben und Tod erzitterte. Menschenkopfgroße Blasen brachen laut krachend aus ihrer zähflüssigen Oberfläche. Das halbflüssige Geschöpf, in dem Körper und Sselen von zwanzig Erzmagiern aufgegangen waren, fühlte den um sich greifenden Tod seiner Schlüpflinge. Irgendwo in der Stadt war eine unvorstellbare Kraft erwacht, die mit der Kraft getränktes Leben auffraß. Dann hörten sie aus anderen Richtungen weitere Schreie, die nur wenige Sekunden anhielten.
"Er hat etwas freigesetzt, was uns alle töten soll!" rief die mit vielen Stimmen wie eine sprechende Quelle von Leben und Tod. Dann wurden die Schreie der sterbenden Artgenossen lauter und häufiger. Sie klangen nun aus allen Richtungen. Auch fühlten sie, dass etwas sich an der von ihnen ausgehenden Kraft, die Licht und Wärme lähmte labte. Etwas, das stärker war als sie alle.
Das Miternachtsfeuer!" rief aus einer großen Entfernung einer der übermächtigen Krieger des letzten Krieges. "Das Mitternachtsfeuer von Iaikotayannan. Irgendwer hat es gewagt und geschafft, das Mitternachtsfeuer .... Aaaaaaaaaaaaah!!!" Mehr kam nicht.
"Sucht in mir Schutz!" befahl die Quelle mit aller Kraft. "Ich werde euch vor dem Mitternachtsfeuer schützen."
Der Aufforderung folgten über hundert in der Nähe weilende Krieger. Doch die anderen kamen nicht mehr rechtzeitig zu ihrer Brutstätte. Das auf die Träger und Gegenstände der Kraft verheerend wirkende und sich daran unbändig fortpflanzende Feuer, das Dunkelheit und Eiseskälte verströmte, wuchs innerhalb eines Tausendsteltages zu einem unlöschbaren Brand an, weil in der Luft, den Straßen, den Gebäuden und allem die Kraft wirkte. Die Quelle fühlte, wie sie immer träger wurde. Die in sie hineintauchenden Sprösslinge wurden ihr immer schwerer. Doch sie konnte deren Kraft bündeln und eine Barriere aus verstofflichter Dunkelheit um sich und ihre Brut errichten. Sie vernahm jedoch, wie die Glücksgeber in ihren Wohngefäßen unter dem Feuer litten. Sie schrien auf und verstummten sofort, ohne richtig zu begreifen, was ihnen widerfahren war. Dann zog sich um die Brutstätte ein immer enger werdender Ring der lichtlosen Flammen zusammen. Als sie die Barriere aus verstofflichter Dunkelheit berührten, schien es erst so, als hielte sie den Flammen stand. Doch dann, mit einem Mal, barst die Barriere unter den unheilvollen Kräften und wurde selbst zu Mitternachtsfeuer. Die Quelle des Lebens und Todes erkannte in den letzten wenigen Zehntausendsteltagen ihres Daseins, dass gegen dieses Mittel auch sie nichts hatte ausrichten können. Dann fraßen die Flammen sie und die in ihr verborgen geglaubten Sprösslinge schneller auf, als ein Mensch für einen Atemzug benötigte. Mit einem letzten, nur von empfindlichen Geistern wahrnehmbaren Schrei, hauchte die unheilvolle, halbflüssige Existenzform ihren eigenen Geist aus. Dann verpuffte ihre ganze Stofflichkeit in einer bis zum wabernden Himmel emporjagenden Feuersäule.
Über zwei Zehnteltage toste und wütete das dunkle Feuer. Weil die Tore aus der Stadt versperrt waren entkam ihm nichts und niemand. Jenes graublaue Wabern über der Stadt wurde zu einer erst blutroten und dann tiefschwarzen Decke, aus der silberne und grüne Blitze in die lodernden Flammen schlugen. Dann hatten sie die Säulen der Zeittore erreicht und fraßen auch diese in sich hinein. Da barst der künstliche Himmel mit einem lauten Knall und einem grellen Blitz, der jedoch von den schlagartig aufschießenden Flammen geschluckt wurde. Ein schwaches, nur im Umkreis von fünf Kilometern spürbares Erdbeben erschütterte für wenige menschliche Atemzüge die Fläche, auf der einst Garumitan gestanden hatte. Risse klafften im Boden. Staub wurde aufgewirbelt. Doch die dunklen Flammen waren in dem Moment erstickt, als sie die Kuppel der vorauseilenden Zeit zum Einsturz gebracht hatten.
Die Soldaten, die erst jetzt wieder zu sich kamen glaubten an einen Bombenangriff, vielleicht aus Israel. Als sie ihre zerstörten Panzer betrachteten wussten sie nicht, mit welch einer Waffe sowas zerstört werden konnte. Auch die Risse im Boden deuteten sie als Folge dieses heftigen Angriffes.
"Ein Panzer ist total verrostet, als hätte der über zweihundert Jahre hier gelegen", meldete ein junger Gefreiter dem ranghöchsten Offizier der Armeeeinheit. Der besah sich den Haufen aus Rost. "Lasst uns abrücken. Ich weiß nicht, wer oder was uns hier so zugerichtet hat. Aber das war nicht von dieser Welt."
"Um Allahs willen", erwiderte einer der anderen Soldaten und fing sofort zu beten an. Seine Kameraden, vom Gefreiten bis zum Major, stimmten in das Gebet mit ein. Erst dann fanden sie Zeit und Gelegenheit, ihrem Hauptquartier Bericht zu erstatten. Dabei erfuhren sie, dass sie ganze drei Tage lang verschwunden waren. Jedes Suchflugzeug und jeder Hubschrauber hatte versucht, sie zu finden.
Weil es zwischen den libanesischen Zauberern und Muggeln keine Kontakte gab, erfuhr die restliche arabische Zaubererwelt erst, dass vielleicht etwas magisches vorgefallen war, als der palästinensische Zaubereiminister von seinen jüdischen Agenten beim Mossad davon unterrichtet wurde, dass in der Nähe von Baalbek etwas höchst merkwürdiges geschehen sein musste. Die darauf folgenden Nachforschungen blieben jedoch ohne Ergebnis. Denn an dem Ort, wo die Soldaten mit einem übermächtigen Gegner aneinandergeraten waren, war kein Funke Magie zu ermessen.
Der Wächter vollzog die ihm anbefohlene letzte Handlung. Er sendete die Worte seiner Herren und Erschaffer durch das Zeittor, ohne es für stoffliche Wesen und Dinge öffnen zu müssen. Dann versperrte er auch den nur für ihn durchdringbaren Verbindungsweg nach Garumitan. Er überflutete die noch lebenden Soldaten mit einer Kraft, die sie alles vergessen machte, was sie hier erlebt hatten. Dann blickte er in die sinkende Sonne und entfesselte um sich einen orangeroten Flammenball, der anderthalbmal so groß wie er selbst war. Einen Lidschlag später fiel die Feuerkugel wieder in sich zusammen. Der Wächter war verschwunden. Auf dem Boden war jedoch kein Brandfleck, keine Glutspur zu finden.
Als der Wächter weit fort von seinem Wartepunkt entfernt aus einem ähnlichen Feuerball heraus erschien grub er sich sofort in den Boden ein, als wäre er ein Taucher, der mal eben unter die Wasseroberfläche dringen wollte. Er grub sich tiefer und tiefer in den Boden hinein, bis sein eingewirkter Sinn für den Lauf der Gestirne warnte, dass er nicht zu tief vordringen durfte. Dann erstarrte er. Hier unten, weit ab von seiner letzten Ruhestatt, wollte er die Berichte seiner fünf Untergebenen erwarten. Denn auch wenn der Träger von Darxandrias Siegel ihm gesagt hatte, dass Menschen mit und ohne die Kraft friedlich miteinander auszukommen hatten, um kein weiteres Unheil heraufzubeschwören, galt für ihn die ihm in sein tiefstes Inneres eingeprägte Ordnung, dass die Begüterten die Unbegüterten zu beherrschen hatten. Wenn es sein Auftrag war, diese Ordnung wiederherzustellen, dann würde er es tun, ohne jede Rücksicht auf die Menschen, die bei dieser Aufgabe sterben mussten. Er stellte Berechnungen an, ob es sinnvoll war, die von den großen Meistern der Kraft erzeugten Sonnenkinder in diesen Kampf hineinzuführen. Doch einer von denen war ein in der Jetztzeit geborener und durch ein verbindendes Zusammenwirken in die Reihen der Sonnenkinder eingegliederter Jüngling. Wie viele von diesen Menschen gab es in der Jetztzeit? Er stellte fest, dass er viel zu lange geruht hatte. Das durfte nicht noch einmal geschehen.
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