Die Welt war in Aufruhr. In der magielosen Welt übten die USA blutige Vergeltung für die Terroranschläge vom 11. September 2001. In der Magischen Welt bangen alle Verantwortlichen darum, dass entweder der sich als Erbe Voldemorts verstehende Dunkelmagier Vengor oder die Vampire einer nach neuer Herrschaft strebenden Macht die Welt verheeren. Auf der geheimen Insel Ashtaraiondroi wohnen die letzten noch lebenden Sonnenkinder und versuchen, im gewährten Frieden neue Kinder zu bekommen. Da kommt die vollmundige Ankündigung des britischen Zaubereiministers, dass ein großes Übel restlos ausgelöscht sei sehr gut bei seinen Zuhörern an. Doch das Übel wurde nicht vollends vernichtet. Es war nur zur Untätigkeit gezwungen.
""Jawoll!" freute sich Brandon Rivers, als ihm bestätigt wurde, dass er ordentlich angemeldet war. Die von einer gewissen Louisette Richelieu aus Monaco heimlich geklonten CD-ROMs hatten tatsächlich ein heimliches, mit bisherigen Mitteln der Internetsuche unaufspürbares Netzwerk enthüllt, in dass er sich sozusagen als Trittbrettfahrer einwählen konnte. Er hatte die Registrierung einer gewissen Nathalie Grandchapeau bekommen, die er nun nutzte. Weil er nicht wusste, wielange er so unerkennbar werkeln konnte rief er erst einmal alle gespeicherten Daten aus den Datenservern des Netzes ab und speicherte sie auf seinen gegen die Sonnenkinderaura abgeschirmten Festplatten. Das war eine ganze Menge, vor allem auch wegen der Bilder. Die Texte verschob er in einen reinen Textordner, um sie später, wenn der Akku wieder voll genug war, ausdrucken zu lassen. Die Liste aller registrierten Nutzer und ihrer Rangstellung in den eingebundenen Zaubereibehörden druckte er jedoch sofort aus. Als sein Rechner schon einen kritisch niedrigen Batteriestand meldete sicherte er die neuen Zugangsdaten und wählte den heimlichen Rückzug, so dass von seiner Sitzung kein Protokoll erzeugt wurde. Dann musste er den Rechner herunterfahren und an den inseleigenen Solarstromgenerator anschließen. Zudem war es in Frankreich auch bald wieder Tag.
"Dieses Wissenssammelding lässt dich vergessen, wann du Hunger hast", begrüßte seine kleine, kugelrunde Gefährtin ihn, als er in das mit ihr und der kleinen Familie von Patricia und Hesperos Straton geteilte Blockhaus zurückkehrte.
"Tut mir leid, meine Sonnenprinzessin, aber das musste ich jetzt durchziehen. Diese Martha Merryweather hat ganz ausgefuchste Sicherheitsmodule programmiert und jeden Nutzer mit dreifachauthentifikation gekennzeichnet. Dass ich das Passwort dieser Nathalie Grandchapeau gekriegt habe liegt wohl daran, dass sie so dösig war, es sich aufzuschreiben. Hat vielleicht was damit zu tun, was Patricia gesagt hat."
"Weil sie in einem für euch schon mittleren Alter noch ein Kind erwartet? Das meinst du ganz sicher nicht ehrlich", knurrte die kupferhaarige, roséäugige Frau, die wesentlich jünger aussah als sie war. Brandon machte eine abbittende Geste. Im Moment konnte jedes Wort, dass die Fähigkeiten einer Schwangeren in Frage stellte heftige Auswirkungen haben, wusste Brandon, der von seinen Mitbewohnern auch Ilangardian genannt wurde.
Patricia kam noch zu ihm hin. "Habe zwar schon einmal gegessen, aber für drei auf einmal war nicht mehr genug Platz in meinem Magen. Lege ich also jetzt nach." Brandon sah die Frau mit den dunkelbraunen Haaren und den tiefgrünen Augen, die im hellen Licht einen leichten Graustich besaßen. Ihr hatte er es zu verdanken, jetzt auf dieser Insel zu sein, bereits eine kleine Tochter zu haben und demnächst noch einen Sohn dazuzukriegen, ihr und ihrer Mutter, die auch noch Pandora geheißen hatte.
"Es ist schon klug, nicht zu oft in dieses Arkanet einzudringen", sagte Patricia, die von den Sonnenkindern Gwendartammaya, die erhabene Tochter, genannt wurde. "Wir dürfen es nicht zu weit treiben. Martha Merryweather geborene Holder, verwitwete Andrews, adoptierte Eauvive ist in ihrem Fach sehr gut ausgebildet."
"Das habe ich auch über andere Ecken rausbekommen", sagte Brandon. "Da muss ich echt aufpassen, dass die uns nicht doch draufkommt. Aber wenn die Zaubereiministerien ein eigenes Verbundentz betreiben wäre es blöd, uns da nicht einzuklinken."
"Das finden wir alle hier und auch Lady Anthelia. Sonst hätte sie bestimmt nicht zugelassen, dass ich an diese Geheimprogramme drankomme." Brandon nickte. Er horchte hinaus, wo die Gedankenquellen seiner Mitbewohner und Verwandten leise wisperten. Er hörte jedoch auch die feinen, einfachen Regungen von seiner Gefährtin Dawn, sowie aus dem Leib Patricias, wo gleich zwei Kinder von seinem Schwager heranwuchsen. Auch hatte ihm Faidaria auf geistigem Weg mitgeteilt, dass ihrer beider Anstrengung sich wohl gelohnt hatte und sie sein Kind trug. Shaiyana, eine gerade siebzig Jahre alte Sonnentochter, die hoch und schlank gewachsen war, war sich auch sicher, dass sie mindestens ein Kind von ihm erwartete. Überhaupt waren fast alle hier lebenden Sonnentöchter guter Hoffnung, dank Faidarias Erlass, dass zur Vermehrung der Sonnenkinder ein Mann mit vier Frauen zeugen sollte. Er dachte daran, dass Faidaria ihm leise in den Kopf gesendet hatte, dass sie sich vorstellen könne, dass er nach der Geburt seines Sohnes ganz zu ihr umziehen konnte, um nach der Geburt des ersten gemeinsamen Kindes auch ein zweites hinzubekommen.
Im Moment war es ruhig auf der Insel der Sonnenkinder, beinahe schon wieder langweilig. Da Brandon nur zwei Stunden am Tag ins Internet gehen durfte hatte er nicht viel mehr zu tun als mit seiner kleinen Tochter Laura zu spielen, seinen Körper zu trainieren und sich von seiner Gefährtin oder Patricia neue, von ihm ausführbare Zauber beibringen zu lassen. Es reizte ihn auch, in den Sonnenturm zurückzukehren, um dessen weiteren Geheimnisse zu erforschen. Auch würde er gerne wieder in die weite Welt hinausziehen. Die folienartigen, den ganzen Körper umschließenden Rüstungen, machten die Sonnenkinder schließlich für andere unsichtbar. Doch Faidaria, die Frau, die nach außen die gestrenge Matriarchin und hinter verschlossenen Türen eine wilde Liebhaberin war, hatte verordnet, dass die Sonnensöhne erst dann wieder in die Welt der gewöhnlichen Menschen zurückkehren sollten, wenn dort etwas anlag, wo ihre Hilfe gebraucht wurde. Immerhin hatten ihn die fünf Nächte mit Shaiyana davor bewahrt, sich totzulangweilen, und mit dem Zugang zum Arkanet stand ihm wohl was neues zu erforschen bevor.
Wovon weder er noch seine Gefährtin und seine Schwägerin Patricia etwas wussten war, dass sie schon seit Jahren beobachtet wurden. Jemand unsichtbares, körperloses, unfähig, sich mitzuteilen, weilte ständig in der Nähe der Trägerin von Intis Beistand. Sie bekam alle nicht durch Geistesverhüllungszauber verborgenen Gedanken derer mit, die mit der Trägerin von Intis Beistand sprachen oder Gedanken austauschten.
Sie wusste, dass es nur noch wenige Wochen dauern würde, bis sie überwechseln musste. Nur wenn Patricia schlief verfiel auch die Körperlose in eine Art Traumzustand, der die verstreichende Zeit zu einem Nichts zusammenschmolz. Doch wenn Patricia wach war wachte auch sie. Manchmal zeigte sich ihr und nur ihr ihre geisterhafte Bündnispartnerin, deretwegen sie seit nun bald sechs Jahren in dieser Form bestand.
Wieder hatte die Körperlose den Eindruck, die Dinge und Lebewesen in ihrer Umgebung seien ein wenig größer geworden. Auch konnte sie nun nicht einmal mehr zwanzig Schritte von Patricia fort, ohne wie an einem Hindernis anzustoßen wie eine Fliege unter einer Käseglocke. Und diese nur für sie geltende Bewegungseinschrenkung wurde mit jedem Tag größer. Bald würde sie nur noch fünf Schritte von Patricia fort können. Bald würde sie nur noch einen Schritt von ihr wegschweben können. Tja, und dann würde der unausweichliche Tag kommen, wo sie in Patricias Körper hineingezogen und dort mit einem der zwei ungeborenen Mädchen vereint werden würde.
"Hast du schon klar, wie deine zwei Töchter heißen, Patricia?" wollte Brandon von der Hexe wissen, die ihn schlußendlich zu den Sonnenkindern geführt hatte.
"Wo ich jetzt ziemlich sicher weiß, dass da zwei kleine Mädchen in mir stecken, werde ich einer von denen wohl den Namen meiner Mutter geben. Es ist schade, dass sie so früh sterben musste", sagte Patricia.
"Pandora, die allbeschenkte, die überragend schöne wie kluge Frau mit der verhängnisvollen Büchse", sinnierte Brandon.
"An die haben meine Großeltern mütterlicherseits wohl nicht gedacht, sondern an Pandora Stella Merryweather, die vor dreihundert Jahren zusammen mit fünf anderen Hexen das Hexeninstitut von Salem gegründet hat, als Trotz gegen die damals so unerträglich wütende Hexenphobie. Da war meine Mutter ja nach Thorntails auch ein paar Jahre, um dunkle Vermächtnisse und Geistererscheinungsformen zu studieren."
"Merryweather?" fragte Brandon und wusste nicht, dass jemand anderes ihn ebenfalls hörte und wenn sie Lippen zum Lächeln gehabt hätte wohl sehr warmherzig gelächelt hätte.
"Ja, du hast richtig gehört. Pandora Merryweather ist eine Vorfahrin von mir, sowie von allen gerade lebenden Merryweathers inklusive der drei ungeborenen Kinder von Martha Merryweather. Deshalb amüsiert mich das auch irgendwie, dass die Mutter des Jungen, der Zugang zu dem alten Wissen erhalten hat, in meine weitere Verwandtschaft eingeheiratet hat. Sofern werden die zwei in meinem jetzt endlich satten, prallen Bauch Cousinen zwanzigsten Grades von ihm."
"Scharf", erwiderte Brandon darauf nur und lauschte. Er hörte leises Wispern von Patricia und seiner Gefährtin her. Patricias ungeborene Töchter waren gerade wach und sandten telepathisch Echos ihrer Sinneseindrücke. So konnte Brandon auch Patricias Herz schlagen hören, ebenso wie das seiner Gefährtin Dawn alias Gisirdaria, als er in die Sinneswelt seines ungeborenen Sohnes hineinlauschte. Je weiter sie sich entwickeln würden, desto mehr Eindrücke würden sie sammeln und eigene Empfindungen haben. Das war schon irgendwie erhaben und beängstigend zugleich, dachte Brandon. Denn sich vorzustellen, auf einen immer engeren Raum ohne Licht beschränkt zu sein war schon irgendwie beklemmend. Da er das gerade ohne geistige Verhüllung dachte bekamen Patricia und Dawn das auch mit und grinsten mädchenhaft.
"Unser Sohn fühlt sich ganz wohl bei mir, und Gwendartammayas Töchter sind auch sehr froh da, wo sie gerade sind", gedankensprach Dawn Rivers zu ihrem Angetrauten. Patricia fügte dem auf die gleiche Weise hinzu:
"Na ja, im Moment fühlen sie sich sicher etwas eingezwengt, weil da direkt über ihren Köpfen dieses gluckernde, grummelnde Etwas auf sie niederdrückt. Aber ansonsten könnte ich mir für die zwei im Moment keine bessere Unterbringung vorstellen, und du dir auch nicht, Brandon."
"Öhm, besser als in Anthelia oder einer von diesen Abgrundsschlampen eingebunkert zu sein", erwiderte Brandon. Patricia hatte ihn mal wieder erwischt. Denn eigentlich hätte er gerne alles bis zum Beitritt zu den Sonnenkindern erlebte vergessen, hätte bei denen noch mal neu angefangen, ganz unbedarft und unbeschwert. Doch er lebte weiter, hatte nichts vergessen, was er als Ben Calder oder Cecil Wellington erlebt hatte. So würde es auch bleiben, wenn er nicht bei einer Außenaktion doch noch draufgehen würde, was ihm absolut fernlag.
"Du hast nicht erzählt, wie die zweite heißen soll, Patricia", sagte Brandon mit körperlicher Stimme.
"Das entscheide ich kurz vor der Niederkunft. Die erste heißt dann Pandora, die zweite kriegt auch einen Namen mit P am Anfang."
"Pia, Pancratia, Peggy oder Phoebe", grinste Brandon.
"Garantiert nicht Phoebe, meine zweite Tochter nach so einer dekadenten Goldschleuderin zu nennen. Nein, ich kriege das hin, bevor die beiden raus an die Luft wollen und ..." Sie musste den Mund schließen, um nicht laut aufzustoßen. "Wie ihr euren Sohn nennen wollt wisst ihr schon?" fragte sie noch.
"Euphemius oder Eugen oder Elmo", sagte Brandon und erhielt ein zustimmendes Nicken seiner Angetrauten. "Diese vielen Vornamenslexika im Internet sind echt eine Menge wert", fügte er dann noch hinzu.
"Ja, und weil Faidaria das Kind, dass sie von dir bekommt entweder Mirakatian oder Mirglahinia nennen will und unsere Laura den Sonnenkindernamen Ashtarglahinia bekommen hat muss ich dem kleinen noch einen passenden Namen geben, wenn er drei Monate auf der Welt ist, wie es unsere Tradition ist." Brandon nickte Dawn zu. Dass Faidaria das Kind, dass er mit ihr auf den Weg gebracht hatte Mirakatian, der lebend voranschreitende oder das voranschreitende Leben oder Mirglahinia, die im Leben lachende oder das lachende Leben nennen wollte sagte viel darüber aus, was sie für das Kind empfand. Denn darin würden sich ihre Abstammung und seine Herkunft von den Menschen der Gegenwart vereinen.
"Dann hoffe ich, dass mein Weg der der neuen Pandora sein wird", dachte die körperlose Beobachterin und drehte sich mit Hilfe eines entsprechenden Gedankens einmal im Kreis. Doch ihre nur für sie sicht- und vernehmbare Bündnispartnerin hielt sich verborgen.
"Wissen die im französischen Zaubereiministerium jetzt, wo diese Euphrosyne Lundi geborene Blériot abgeblieben ist?" wollte Patricia von Brandon wissen. Dieser schüttelte den Kopf. "Die ist immer noch unauffindbar. In Nathalie Grandchapeaus Tagesbericht steht, dass davon auszugehen ist, dass sie erst einmal auf Familiengründung ausgehen mag, wenn sie schon keine Spielerfrau im Rampenlicht sein darf", erwiderte Brandon.
"Ich tippe bei der Natur der Veelas eher darauf, dass sie sich auf eine gemeine Vergeltungsaktion vorbereitet, um die abzustrafen, die ihr diesen Traum vom Ruhm an der Seite eines starken Mannes verdorben haben", bemerkte Patricia dazu.
"Ja, und dann lässt die sich ein oder zwei Jahre Zeit und schlägt dann zu. Peng! Wie sagen die Klingonen? "Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird."", brachte Brandon eine weitere Bemerkung an. Dawn und Patricia nickten nur.
"Diese Veelas interessieren mich", sagte Dawn dann, während sie für sich und den kleinen Euphemius, Eugen oder Elmo noch etwas nahrhaftes zuführte. "Könnte es sein, dass sie eine Nebenlinie oder eine Nachfolgerasse der unseren sind, weil die so lange leben und so gut mit Feuer umgehen können?"
"Ganz abwegig ist das nicht, Gisirdaria", meinte Patricia, Dawns Sonnentochternamen benutzend. "Aber die können auch gut mit Wasser und Luft. Und warum die so eine überragende Anziehungskraft auf Männer ausüben können wird auch noch heftig diskutiert. Sollte Faidaria mir mal erlauben, mit Julius Latierre Kontakt aufzunehmen könnte ich über ihn ein geheimes Treffen mit dieser französischen Veela Léto erbitten. Von der Ablehnung der Abgrundstöchter und Vampire her sollten wir eigentlich gut miteinander auskommen können."
"Du kennst Faidarias Meinung zu den Angehörigen deiner Rasse, Gwendartammaya. Kein Kontakt mehr zu anderen außer dann, wenn es nicht anders möglich ist, wie bei dieser Hallitti." Patricia wusste das. Doch Brandon dachte schon daran, ob er Faidarias Anweisung nicht anders auslegen konnte. Er brauchte ja nur was im Arkanet zu deponieren, was nur diesem Burschen was sagte. Aber bis dahin war wohl noch Zeit, dachte er.
Eigentlich sollten Yantulian und seine Gefährtin Dardaria die Zeiten verschlafen, bis sie wieder gebraucht wurden oder andere aus ihrem Volk die Wache im Sonnenturm übernehmen wollten. Doch seitdem Dardaria fühlte, dass sie mit Kind war durften sie nicht mehr schlafen, um das werdende Leben nicht zu gefährden und damit Dardaria immer jemanden lebendigen in der Nähe hatte, wenn sie Schwierigkeiten hatte.
Um sich nicht zu langweilen erforschten die beiden den sechzig Manneslängen aufragenden Turm, der im Bedarfsfall auch an einem anderen Ort versetzt werden konnte. Im Moment stand er in einer Einöde, die Mojave genannt wurde. Hier behelligte sie niemand.
Yantulian hatte vor zwei Tagen eine Halle mit Wissensrollen gefunden, silbernen Hohlkörpern, in die ihre Eltern damals einen Teil ihrer Erinnerungen eingebettet hatten. Seitdem langweilte er sich nicht mehr. Denn hier konnte er jede Menge Geschichten und Berichte aus der vergessenen Zeit in sein Gedächtnis aufnehmen.
"Yantulian, verbringst du wieder Zeit in diesem Raum des Wissens?" drang Dardarias Geistesstimme mitten in einen Bericht über die Schöpfung der goldenen Drachen hinein. Yantulian löste den gegen die Stirn gedrückten Wissenszylinder und steckte ihn behutsam in den Haltering an einem der vielen Gestelle zurück. "Ich erforsche unsere Geschichte und unser Können, meine Angetraute und Mutter meines ersten Kindes. Komm doch zu mir und erlebe die Geschichte unserer Ahnen nach!"
"Vielleicht später, wenn unser Kind mein inneres Nest verlassen hat, Gefährte und Erzeuger meines ersten Kindes. Aber im Moment habe ich eher was, dass dich auch interessieren sollte. Erinnerst du dich, dass unsere Eltern uns gesagt haben, dass von uns nichts verlorengehen wird?"
"Weil die gedacht haben, dass wir sehr leicht mit den Nachtkindern fertig werden können", gedankengrummelte Yantulian.
"So, dann komm mal zu mir, vier Abschnitte weiter oben in Mittagssonnenrichtung!"
"Ich eile, meine hoffnungsvolle Anvertraute", schickte Yantulian seiner Gefährtin zu. Dann verließ er die Halle des Wissens und stieg aus dem weitläufigen Stumpf des kegelförmigen Bauwerks vier Stockwerke nach oben. Er wählte den genau in Mittagssonnenrichtung liegenden von zwölf Gängen und folgte diesem bis zu einer silbernen Tür. Die kannte er doch schon. Als er mit Dardaria den Worakashtaril zum ersten Mal durchsucht hatte war er schon bei dieser Tür gewesen. Doch einen halben Schritt davor hatte bisher eine unsichtbare Mauer gestanden. Diesmal konnte er an die Tür heran und sie berühren. Auf der Tür erschien in sonnengelber Schrift:
Sei willkommen, bewahrer deines Volkes und Siehe den Raum der vorausschauenden Gnade. Denn eines Tages wirst auch du dich hier zur Ruhe betten und auf deine Wiederkehr warten.
Yantulian drehte den weißen Türknauf. Die Tür glitt leise zur Seite. Er betrat eine gewaltige Halle ohne äußere Lichteinlässe. Nur von ganz weit oben glomm ein warmer, goldener Lichtschein. Außerdem, das sah er sofort, gab es noch andere Lichtquellen, die alle in einem warmen, Sonnenaufgangsrotgoldenen Ton strahlten.
Als er die große, sechsseitige Halle betrat, stellte er fest, dass die vielen Lichtquellen kopfgroße Kugeln waren, die aus einem selbstleuchtenden, flüchtigen Stoff bestanden, keine Festkörper, sondern wie große, glühende Luftblasen. Die Kugeln ruhten in durchsichtigen Schalen, die wiederum mit unsichtbaren Verbindungsstücken an den Wänden festgemacht waren. Dann war da noch dieser leise, nur in seinem Kopf klingende Vielklang, als wenn hunderte von Sängerinnen und Sängern diesen Verbund aus in seinem Geist schwebenden Tönen sangen. Diese in ihn hineinklingenden Stimmen stimmten ihn unvermittelt ruhig aber gleichzeitig hellwach und offen für alle sinnlichen Eindrücke und Kenntnisse. Deshalb nahm er wohl gleich auf, dass die Kugeln nicht alle mit derselben Leuchtstärke glühten. Die meisten von ihnen glommen wie die ersten zaghaft über den Himmelsrand tastenden Sonnenstrahlen. Doch einige glühten orangerot, wie eine Sonne, die bereits mehr als eine Handbreit über den Himmelsrand gestiegen war und bald nur noch in ihrer herrlichen weißgelben Pracht erstrahlen würde. Mit seinem angeborenen Talent, Dinge schneller als für einen Atemzug benötigt zusammenzuzählen überflog er die Anzahl der Kugelreihen rund um die Halle und von ganz unten bis knapp unter der schwindelerregend hohen Decke und kam zu dem Ergebnis, dass es zwölf mal zwölf mal zwölf mal zwölf Kugeln waren. Welchem Zweck dienten diese wohl?
Dann sah er seine Frau, die in einer durchsichtigen, eiförmigen Schale saß und knapp zwei Manneslängen über dem glatten Boden schwebte. Sie sah ihren Gefährten und winkte ihm zu. Er lief los und erschrak ein wenig, weil die Echos seiner Schritte den sanften Vielklang in seinem Kopf störten. Doch gleich wurde dieses nur in seinem Kopf klingende Tongefüge ein wenig lauter und beruhigte seine Stimmung wieder. Doch nun etwas leiser voranschreitend näherte er sich der immer noch schwebenden Schale. Jetzt erkannte er, dass sie Platz für vier sitzende oder acht stehende Leute seiner Größe bot. Außerdem senkte die Schale sich. Als er sie erreichte setzte sie gerade mit einem leisen Klingen auf.
Dardaria winkte ihm. Sie gab keinen mit Ohren hörbaren Ton von sich. Offenbar wollte auch sie die Erhabenheit dieses Raumes nicht stören. Sie deutete auf den eine halbe Manneslänge hohen Rand der Schale und zu sich hin. Er verstand auch so, dass er zu ihr in jene schwebende Halbschale steigen sollte.
Als er sich über den Rand der Schale zog fühlte er, dass das Material handwarm war. Dann stand er neben seiner Gefährtin, die dann auf eine der sechs Wände deutete. Wie auf einen wortlosen Befehl hin hob die eiförmige Schale ab und glitt ganz geräuschlos nach oben und auf die bezeichnete Wand zu. "Du musst es selbst sehen und begreifen, Yantulian", hörte er die Geistesstimme seiner Frau in sich flüstern. Er wollte schon den Mund aufmachen, um mit hörbarer Stimme zu antworten, da schwoll der Vielklang zu einem schmerzhaften Brausen an. Er verzichtete auf das körperliche Sprechen und dachte schnell: "Darf man hier kein hörbares Wort von sich geben?"
"Offenbar nicht, um ihre Ruhe nicht zu stören", gedankenantwortete Dardaria. Dann waren sie nur noch zwei Schrittlängen von einer Reihe von Kugeln entfernt, die nur schwach glommen, bis auf zwei. Yantulian beugte sich ein wenig vor und erkannte, dass die Schalen, in denen die leuchtenden Blasen lagen mit den Laut- und Wortzeichen der Sprache seiner Vorfahren beschrieben waren. Da wo die Kugeln richtig hell glühten leuchteten auch die Schriftzeichen. Er las und staunte:
Kirafaian
von Dafonian und Miryana in gemeinsamer Liebe gezeugt am Tag 3 des zweiten Blühzeitmondes im Sonnenkreis 4520 nach Betreten Altaxarrois
Geboren von Miryana am Tag 5 des zweiten Kaltzeitmondes im Sonnenkreis 4520 nach Betreten Altaxarrois
Verschlief über 10000 Sonnen
Wiedererweckung am Tag 12 des dritten Heißzeitmondes im Sonnenkreis 14520 nach betreten von Altaxarroi
dem Körper enthoben am Tag 14 des dritten Blühzeitmondes 14521
hier in tiefer ruhe wartend auf ein neues sein mit neuem Namen
"Der ist mit seiner Gefährtin bei einer dieser Selbstzersprengungstode eines Nachtkindes getötet worden", gedankensprach Yantulian. Dann sah er in die Leuchtkugel hinein. Jetzt konnte er wie hinter glühendem Glas einen zusammenkauernden, durchsichtigen Körper erkennen, dessen Gesicht ihm zu vertraut war. Ja, das war Kirafaian. So wie er da in dieser Leuchtblase ruhte sah er aus wie der friedlich schlummernde Geist eines nie geborenen Kindes, nur dass sein Gesicht und seine Gliedmaßen bereits von einem ausgewachsenen Menschen stammten. Direkt daneben erkannte er in einer weiteren leuchtenden Blase die zur erwachsenen Frau erblühte Gefährtin Kirafaianns und las ihren Namen und alle sie betreffenden Lebensabschnittsangaben im Rand der Schale, in der ihr feinstoffliches Abbild schwebte. Dann betrachtete er weitere Blasen in Schalen. Bei den nicht so stark leuchtenden standen die Namen der damit verbundenen, jedoch wurden sie noch als "in atmendem Körper wirkend" bezeichnet. Er Verstand.
"Ich muss mir mehr von diesen Kugeln ansehen", dachte er seiner Gefährtin zu. Diese nickte und deutete anderswohin. Die fliegende Schale gehorchte wohl ihrem Willen und trug sie und Yantulian an den bezeichneten Ort. Dort konnte er zwei um mehrere Handvoll Blasen voneinander getrennte Leuchtblasen sehen, die mit ihrem und seinem Namen beschrieben waren. Bei Dardaria stand sogar noch: "Im zweiten Monde hoffnungsvoller Erwartung ihres ersten Kindes von Yantulian". Dann deutete sie auf die Blase rechts daneben. Sie glomm nur sehr schwach und war genau wie die mit ihrem und Yantulians Namen gekennzeichnete Leuchtblase völlig leer. Die Schale, in der sie ruhte war auch noch völlig blank und unbeschrieben. Genauso war es mit den Schalen und schwach glimmenden Leuchtblasen daneben und darüber. Yantulian las noch seinen Namen und dass er mit Dardaria das erste Kind gezeugt hatte und wann genau. Das war ihm unheimlich. Die Erbauer des Sonnenturms hatten diese Leuchtblasen offenbar so beschaffen, dass sie alles wichtige aus dem Leben eines damit verbundenen erfassen und einschreiben konnten. Mit einem gewissen Schaudern auf der Haut blickte er in die Tiefe der noch leeren Leuchtblase. Konnte es wirklich sein, dass er eines Tages, wenn sein Körper starb, dort irgendwie hineingelangen und erstarren würde?
"Sollen wir das den anderen Mitteilen?" fragte Yantulian seine Gefährtin.
"Nein, noch nicht. Erst wenn alle unsere Brüder und Schwestern, Mutterschwestern und Schwesterkinder eigenes Leben gezeugt haben werden oder wenn eine zu große Gefahr über uns kommt, die unseren Fortbestand bedroht. Solange dürfen wir es nicht erzählen. Ich bin auch nur hier hereingelassen worden, weil ich gerade unser Kind trage. Nur deshalb darf ich die gläserne Lebensschale bewegen."
"Ich möchte gerne was mit dir versuchen und das ganz ehrlich. Weißt du schon, ob du einen Jungen oder ein Mädchen in dir trägst?" wollte Yantulian wissen.
"Nein, das weiß ich noch nicht. Wieso?" gedankenfragte Dardaria. Ihr Gefährte erklärte es ihr. Sie lächelte. "Gut, ich bin bereit, diesen Versuch mit dir zu machen, wenn ich es weiß. Aber wir beide müssen es dann auch ehrlich so wollen, sonst gelingt der Versuch wohl nicht."
"Verstehe ich", erwiderte Yantulian. Dann deutete er auf einige hell leuchtende Kugeln und bat seine Gefährtin mit ihm dort hinzugleiten. Die gläserne Lebensschale trug sie sanft und lautlos an den bezeichneten Ort. Er konnte nun lesen, dass auch die beiden Jetztzeitmenschen Gwendartammaya und Ilangardian bereits eine zugeteilte Leuchtblase besaßen. Die hell leuchtenden Blasen gehörten alle denen, die beim Krieg mit Nocturnia verstorben waren, Männern und Frauen. Sie suchten alle leuchtenden Blasen ab. Doch Darfaian, der sich für die Menschen der Welt geopfert hatte, war hier nicht verewigt worden. Dardaria wiegte den Kopf. Dann versuchte sie was. Sie dachte wem auch immer zu: "Zeige mir Darfaians Bewahrungsgefäß!" Die gläserne Lebensschale drehte sich behutsam zu drei Vierteln um die eigene Hochachse und glitt dann ganz gemütlich zu einem Regal mit weiteren schwach glimmenden Schalen. Dann erkannte Yantulian eine Kugel aus schwarzem Stoff, der diesmal nicht flüchtig wie Luft war, sondern fest wie Eis. Darunter standen Darfaians Lebensabschnitte, bishin zum Satz, dass er seinem Körper entrissen worden war. Darunter stand, dass er in tiefer Nacht gefangen sei und schlafen müsse, bis die Nacht besiegt sei. Damit hatte Yantulian gesehen, was er sehen wollte. Darfaian war nicht in einer der Leuchtblasen zur Aufbewahrung gebettet worden. Er hatte sich selbst in der Vernichtungsglut der Nocturniavampire verbrannt. Doch diese Schrift da sagte, dass er in tiefer Nacht gefangen sei. Damit konnte er nichts anfangen.
"Wir müssen zurück, bevor wir noch Dinge zu fragen wagen, die wir noch nicht wissen dürfen", gedankenwisperte Dardaria. Yantulian fragte sie nicht erst, woher sie das alles wusste.
Als sie die Halle der vorausschauenden Gnade wieder verlassen hatten schloss sich die Tür hinter ihnen beiden. Yantulian wollte noch einmal versuchen, sie zu öffnen. Doch nun prallte er wieder gegen jenes unsichtbare Hindernis, das bis zu diesem Tag den Weg zur Tür versperrt hatte.
"Das also haben unsere Erzeuger damit gemeint, dass von uns nichts verloren geht. Aber Darfaian ist verloren."
"Nein, ist er nicht. Jene Kräfte, die diese Halle hüten und verwalten wissen, wo er ist, aber dass er eben nicht zu ihnen in die Halle gelangen und dort ruhen kann."
"Woher wusstest du das alles."
"Weil sie mich gerufen haben, über dein und mein Kind, ein neu aufkeimendes Selbst, das noch keinen Namen trägt, aber schon ein Gefäß für seine außerkörperliche Ruhezeit hat. Deshalb konnte ich auch die Lebensschale lenken und dir das erklären."
"Und dieses schöne, sanfte Tongefüge?" fragte Yantulian.
"Sind die Stimmen derer, die die Halle hüten und über deine und meine Leuchtblase mit uns verbunden sind, aber nur mir, weil ich gerade ein neues Selbst in meinem Leib hüte mehr erzählen konnten."
"Vielleicht können uns die in der Welt verbliebenen Ichs unserer Erzeuger die Fragen beantworten oder die Halle des gesammelten Wissens."
"Nichts. Du bist jetzt bei mir und wirst mit mir jetzt in den Raum der Reinigung gehen. Du warst zwölf Zehnteltage in der Halle des Wissens und hast dort nur von dem gebackenen Getreide gelebt, dass du aus der unerschöpflichen Speisekammer mitgenommen hast. Erst werden wir zwei baden. Dann wirst du mit mir ausreichend essen und trinken. Und dann werden wir in einem der Räume der schönen Klänge die alten Zeiten hochleben lassen, wo wir in Klangkunst ausgebildet wurden."
"Gut, wie du meinst, meine Gefährtin", grummelte Yantulian, der doch lieber zu gerne nachgeforscht hätte, was es über diese Halle der vorausschauenden Gnade gab, wenn überhaupt.
Brandon Rivers hatte gerade den Benutzernamen von Nathalie Grandchapeau in das Eingabefeld für den Arkanetzugang eingegeben, als der Rechner mit flammenroten Buchstaben verkündete: "Konto ungültig, unerlaubter Zugriffsversuch an Knotenpunkt 2023" Ein kurzes, wie eine uralte elektrische Glocke erinnerndes Signal erklang aus den Lautsprechern. Dann schloss sich das Fenster für Arkanet, und ein grüner Schriftzug erschien: "Alarmabbruch von Zugriffsversuch wegen einsetzender Rückverfolgungsanfrage. Scheinspurgenerator erfolgreich. Abbruch erfolgreich"
"Ui ui, ui, hätte mir das Arkanet doch fast den ganzen Tag versaut", zischte Brandon Rivers. Nur das von seinem Vater klammheimlich abgestaubte Scheinspurhinterlassungsprogramm und der in Millisekunden erfolgende Notausstieg, den er gerne auch als gefahrenempfindlichen Schleudersitz bezeichnete, hatten ihn vor Entdeckung bewahrt. Jetzt würden die Arkanetschutzroutinen lediglich einen von wohl vielen Portabtastungsversuchen verzeichnen, also nichts, was auf einen bereits geknackten Zugang hindeutete.
"Wann warst du das letzte mal drin, Brandon?" wollte Patricia wissen. Brandon erwähnte den 20. April.
"Vielleicht haben Sie doch was gemerkt. "Gut, ich treffe Louisette in zwölf Stunden. Dann kläre ich das, ob jemand Lunte gerochen hat", schnaubte Patricia.
"Soll ich das diesmal nicht klären, weil ich ..., setzte Brandon an."
"Hallo, auch wenn die zwei kleinen Ps da drinnen täglich ein bißchen größer und schwerer werden kann ich trotzdem noch mit der Gesamthilfe aller lebenden Sonnenkinder verreisen. Außerdem bist du nicht der Vater von den kleinen. Kümmer dich lieber um deine eigene Tochter! Die langweilt sich mehr als du." Brandon nickte abbittend und ging zu seiner Gefährtin und Laura, die gerade mit den anderen in den beiden letzten Jahren dazugekommenen Kindern im Palmengarten tobte.
Zu gerne hätte die körperlose Beobachterin ihm dabei zugesehen. Doch sie kam keine zwanzig Schritte Patricias mehr von ihr weg. So blieb sie in Patricias Nähe und würde sie auch begleiten, wenn sie mit Hilfe der Sonnenkinder eine besondere Art des Langstreckenapparierens ausführte, um bei Louisette Richelieu anzukommen.
Sie hatte es vor drei Monaten noch für widerwärtig und völlig unhinnehmbar gehalten. Und jetzt lag sie schon die Dritte Nacht mit ihr zusammen und keuchte, weil die andere es meisterlich verstanden hatte, genau die Stellen an ihr zu kitzeln und zu erregen, die ihr die höchste Lust verschafften.
"Ua, wenn meine Maman das wüsste würde sie mir einen Praeservirgines-Zauber anhängen", keuchte Louisette Richelieu.
"Der ist unzureichend. Abgesehen kann ich den locker wegzaubern", säuselte Louisettes Beilagergenossin und küsste sie leidenschaftlich.
"Eigentlich wollte ich gerne von dir wissen, ob ihr schon was neues von diesem Vengor gehört habt", wisperte Louisette zwischen heftigen Atemzügen.
"Wir arbeiten dran. Mütterchen Ginstermoor ist ziemlich ungehalten, dass einer ihrer besten Schwarzlurchschwanzjäger von diesem grünmaskierten Bastard abserviert wurde. Abgesehen davon macht dem Langen die Frage zu schaffen, ob es noch anderswo diese Massenhinrichtungsfabriken gibt, wie sie in der Tschechei ausgehoben wurde. Und bei euch? Ich hörte von der unverhofft in Dreifachhoffnung versetzten Martha Merryweather, dass eure hochmodernen Computer mit einem Schlag erledigt wurden. Da braucht meine werte Ex-Mitschwester Patricia Straton doch für ihren Zögling und vielleicht auch Lustknaben neue Zugangsdaten, nicht wahr."
"Öhm, stimmt, könnte sein. Aber dann hätten die sich längst gemeldet. Die ganze Sache ist ja schon vor fünf Tagen passiert", erwiderte Louisette und erzählte, was die allermeisten Ministeriumsmitarbeiter mitbekommen hatten und was dazu verlautbart war.
"Achso, und Grandchapeau glaubt nur an einen üblen Streich dieser Viertelveela?" fragte Louisettes Gespielin. "Ich glaube zwar nicht, dass eine derart gekränkte Veela-Nachfahrin es nur bei einem billigen Streich belässt. Aber der Minister wird schon wissen, was er über seine Frau und seine Tochter an die Presse rausgeben darf. Aber für den Fall, dass die doch noch wegen neuer Zugangsdaten bei dir angekrochen kommen, Lou, ich habe sie in weiser Voraussicht mitgebracht. Der Muggelbursche kann die locker in die Gesamtinstallation einpflegen. Der muss nur die Ports und Zugangsadressen, sowie Benutzerkontoverschlüsselung und Passwort in den bisherigen Tabellen ersetzen. Ich gebe dir den Umschlag nach dem Frühstück, wann auch immer das ist. Morgen habe ich den ganzen Tag frei, genau wie du!"
"Ich nicht ganz. Patricia wollte gegen fünf Uhr nachmittags mitteleuropäischer Sommerzeit zu mir hin, weil wir noch was auszutauschen haben. Wenn sie dann klagt, dass der junge Computerzauberer nicht mehr in dieses Arkanet reinkommt kriegt sie deinen Umschlag. Wenn nicht bewahre ich den solange in meinem Privattresor auf." Ihre Gespielin tastete sich vor, worauf Louisette antwortete: "Nein, da auf keinen Fall, sonst ... Ui, wie machst du ... machst du das?"
"Langes Training, mein kleiner Feuerkessel. Lass mich dich noch mal richtig zum glühen bringen!" säuselte die andere und fuhr mit dem fort, was sie angefangen hatte.
Sichtlich geschlaucht von der Nacht und am Ende doch froh, dass sie noch vor zwölf Uhr aus dem Bett gefunden hatten und ihre Besucherin und Liebesmeisterin um zwei schon wieder abgereist war hatte Louisette genug Zeit, ihre Wohnung wieder auf Vordermann zu bringen. Hoffentlich ging das nicht bei den anderen Schwestern rum, dass sie seit zwei Monaten eine Beischlafbeziehung mit einer anderen Mitschwester führte, aus der am Ende noch eine echte Paarbeziehung werden mochte.
Patricia Straton klingelte tatsächlich um fünf Uhr nachmittags bei Louisette. Diese empfing ihre ehemalige Mitschwester in einem hochgeschlossenen, bis zu den Waden reichendem Kleid aus silbergrauem Stoff. "Ui, musst du heute noch mal wegen was amtlichen weg?" fragte Patricia. Dann schnüffelte sie wie ein Hund, der gerade eine interessante Witterung in die Nase bekommen hat. "Das ist aber nicht dein Parfüm und meins auch nicht. Hagar Moronis Fiore di Fuoco für die leidenschaftliche Hexe."
"'ne Probe. Du kennst ja keine Werbegeschenke mehr, seitdem du zur Insulanerin konvertiert bist", tat Louisette den Hauch des fremden Duftstoffes ab. Patricia sah sie an. Da erst kapierte Louisette, dass sie besser okklumentieren sollte. Doch dafür war es schon zu spät, weil Patricia auch jene worthaften Geistesregungen erfassen konnte, die im Umkreis von hundert Metern freigesetzt wurden. Sie lächelte.
"Weißt du, Louisette, mich betrifft es nicht mehr, mit wem du was anstellst, da du mir nicht gefährlich werden kannst. Ich hoffe, Lady Anthelia sieht das ähnlich. Oder hat sie dich sogar beauftragt, dich mit ihr einzulassen?" fragte Patricia. Louisette schnaubte wie ein in die Enge getriebenes Raubtier. "Das soll wohl ein Nein sein", vermutete Patricia. Dann sagte sie: "Aber wo du schon so gute Beziehungen in andere Muggelkontaktbüros hast könntest du uns und damit auch der Spinnenschwesternschaft einen Gefallen tun und herauszufinden versuchen, ob wir die Zugangsdaten von einem da am Computer arbeitenden ..." Louisette grinste nun und deutete auf den Tisch. "War uns klar, dass ihr auf kurz oder lang angekrochen kommt, weil ihr mit dem Zugang von Nathalie Grandchapeau nichts mehr anfangen könnt", sagte sie überlegen. "Deshalb hat sie dir diesen Umschlag hiergelassen. Ich habe ihn so gelassen wie er ist, weil ich mit den ganzen Computersachen ja nichts anfangen kann, im Gegensatz zu meiner Nichte, die das von ihrer Schulkameradin in den Ferien gezeigt bekommt."
"Soso, ich soll den Brief so mitnehmen, wie er da liegt?" fragte Patricia. Louisette nickte.
Als wenn ihr der Zauberstab in die Hand appariert wäre hielt Patricia ihn plötzlich einsatzbereit auf Louisette gerichtet. Diese kam wegen der Schrecksekunde nicht mehr dazu, ihren eigenen zu zücken. "Imperio!" murmelte Patricia. Louisette wollte jetzt erst ihren Zauberstab freiziehen, als ihr eine unbändige Flutwelle aus Sorglosigkeit und Glückseligkeit alle Gedanken und allen Argwohn aus dem Bewusstsein fegte. Gleich darauf dröhnte Patricias Stimme in ihrem Kopf: "Nimm den Brief aus dem Umschlag!" Louisette dachte nicht einmal an Widerstand. Sie griff nach dem Briefumschlag und öffnete ihn. Nichts passierte. Dann zog sie den Brief heraus. Patricia sah genau hin und lauschte auch mit ihren Geistessinnen. Doch sie vernahm nichts. Als Louisette den Brief in der Hand hielt vollführte Patricia einige Zauberstabbewegungen. Für einen winzigen Sekundenbruchteil glomm eine smaragdfarbene Aura um Louisette auf. "Okay, du kannst ihn wieder hinlegen", schickte Patricia der von ihr gebannten unter die Schädeldecke. Louisette legte den Brief auf den Tisch. Patricia näherte sich ihm. Sie spürte nichts. Auch das Sonnenmedaillon blieb so wie es war. Also strahlte der Brief keinerlei ihr entgegenwirkende Magie aus. "Obleviate", dachte Patricia noch und korrigierte Louisettes Erinnerungen dahin, dass sie, Patricia Straton, den Briefumschlag geöffnet und den Brief herausgezogen habe. Dann nahm sie den Brief und den Umschlag und steckte beides fort, nachdem sie sich mit einem Blick überzeugt hatte, dass darauf tatsächlich Zugangsdaten standen.
"Was ist denn mit euren Computern passiert, dass wir neue Zugangsdaten brauchen?" wollte die Besucherin wissen. Louisette berichtete es ihr. Dann gab sie ihr auch noch mehrere Zaubererweltzeitungen und das wichtigste, einen viereckigen Spiegel in einer Schatulle. Der Spiegel war mit magischen Runen und Symbolen verziert und trug auf der Rückseite ein eingraviertes Einhorn.
"Weiß Lady Anthelia, dass du mir diesen Spiegel machen wolltest?"
"Sie hat es ausdrücklich empfohlen, Patricia", knurrte Louisette, der die Ertapptheit noch zu schaffen machte.
"Dann grüß sie bitte von mir und meinen Verwandten. Wenn wieder was mit den Vampiren oder den Abgrundstöchtern ist helfen wir wieder aus."
"Sagt ein wandelnder Babybauchladen", grummelte Louisette.
"Nur keinen Neid, weil deine Art der Lustbefriedigung keine neuen Kinder hinbekommt."
"Okay, die Pflicht, die ich von der höchsten Schwester aufgetragen bekam gebietet mir, dich höflich zu verabschieden, Ex-Schwester Patricia. Ich danke dir für deinen Besuch. Aber ich möchte dich nicht zu lange aufhalten, wo du sicher noch einiges vorzubereiten hast, um das Baby sicher zur Welt zu bringen."
"Ja, einiges, zum Beispiel zwei Wiegen bauen lassen, ohne dass wer mitkriegt, von wem die bezahlt und für wen die hergestellt werden. Noch einen schönen Abend, Louisette!"
"Ab jetzt nur noch über die Spigel", grummelte Louisette. Als Patricia die Hintertür von außen zugezogen hatte und in einer goldenen Lichtspirale verschwand atmete Louisette auf. Patricia würde sie nicht verraten. Aber wenn sie mit ihrer neuen Geliebten oder besser Liebesmeisterin weiter schöne Nächte verbringen wollte sollte sie danach doch auch den Flur mit Luftaustauschzaubern behandeln. Denn wer bei den Spinnenschwestern das Parfüm Fiore di Fuoco benutzte war ja in der ganzen Schwesternschaft bekannt. Dann dachte sie daran, dass sie in vier Tagen gleich zehn angehende Apparatorinnen prüfen sollte, darunter Patricia Latierre. Deren Zwillingsnichten würden dann in den Ferien ihre Prüfung ablegen. . Gespannt war sie auf das Abschneiden von Pia Graminis. Immerhin hatte die einen Zedernholzzauberstab mit dem Kern aus dem Schweif einer beim Abschneiden mit einer Tochter trächtigen Einhornstute, ähnlich wie Laurentine Hellersdorf. Das war sicher für Anthelia interessant, ob Pia nicht der uralten Verbundenheit ihrer Familie mit der Sardonias gedachte und irgendwann in die Schwesternschaft eintreten würde.
"Uurgs!" quäkte das himmelblaue Anhängsel des Cogisongürtels, den die hochschwangere Lady Tamara um den vorgewölbten Bauch gebunden trug. "Mir ist sauelend. Mann! hätte deine überfürsorgliche Hebamme nicht noch drei Wochen warten können, Mann!"
"Nein, hätte sie nicht", grummelte die blondhaarige Hexe, die vor Lady Tamara kniete. "Sei froh, dass du noch genug Platz hast, Jurischa."
"Aber jetzt hänge ich voll mit dem Kopf nach unten. Nachher kübel ich Lady Tamara durch Unterzeug und Rock, bevor ich einen einzigen Atemzug getan habe", quäkte das Cogison, das seit einem Tag auf eine geschlechtsbestimmte Stimmnachbildung eingestellt war, wie es seit der zweiten Generation bei allen Cogisons möglich war.
"Wenn du Lady Tamara entbunden bist darfst du gerne quängeln und plärren und sonst noch deinen Unmut äußern. Du bist nicht das erste Kind, dass einen Monat vor der Geburt in die ordentliche Beckenentlage gedreht wurde und seiner Mutter nicht vor dem Blasensprung die Kleidung versaut hat. Also sei brav und ruhig, wie es sich für ein unschuldiges Kind gehört, dass noch im warmen Mutterschoß wohnt!"
"Ist für dich aber schon was ganz neues, einen bereits geistig ausgereiften Menschen vor und nach einer Wiedergeburt zu betreuen, nicht wahr?" flüsterte Lady Tamara erheitert grinsend.
"Stimmt. Schon was total anderes, wenngleich ich mir bei manchen Müttern nicht sicher war, ob da nicht ein Iterapartio-Kind zum Vorschein kommen sollte. Gut, ohne Cogison bekämen wir wohl von dem jungen Herren unter Eurem Herzen auch nichts mit, wenn er nicht gerade herumturnt."
"Ich will es aber mitbekommen. Der ganze Versuch zielt darauf ab, zu ergründen, wie schnell ein vollkommen bei Verstand und Erinnerungen bleibender Wieergeborener seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten reaktivieren kann", wisperte Lady Tamara. Mit ihrer Hebamme Sylvia Haselwurz konnte sie nicht so gut mentiloquieren wie mit den meisten anderen im geheimen Zufluchtsort und Befehlsstand der ganz geheimen Gesellschaft der goldenen Waage, die seit der Ära der dunklen Hexenkönigin Sardonia existierte und sich um Ausgleich in der magischen Welt bemühte, ohne politische oder akademische Autorität einfordern zu wollen.
"Heh, seid ihr zwei hübschen eingeschlafen?" fragte die Cogisonstimme jetzt auf Russisch, wo die hier gebräuchliche Sprache entweder Englisch, Französisch oder Spanisch war, wenn nicht sogar Latein.
"Ich überlege nur gerade, was ich noch essen darf, ohne dass du es mir durch meine Unterkleidung wieder erbrichst", scherzte Lady Tamara.
"Haha, Lustig. Hoffentlich kriege ich von Eurem Humor genug ab, dass ich den nach eurer Niederkunft auch in mir habe, Lady Tamara."
"Wenn nicht über die Nabelschnur dann über die Muttermilch", trieb Lady Tamara den Scherz weiter.
"Ihr lebt richtig auf, seitdem ihr euch um ihn kümmert", meinte Sylvia Haselwurz. Dann sagte sie: "Gut, er liegt jetzt in der richtigen Lage und kommt da nur noch durch die Geburt selbst wieder raus. Wenn Beschwerden auftreten sollten bitte kurz über die bekannte Nachrichtenlinie! Ansonsten habe ich mir für die Zeit zwischen dem 23. Mai und dem 7. Juni freigenommen. Bis dann!" Den Gruß rief sie laut genug, dass Juri ihn trotz seiner warmen Umhüllung verstehen konnte.
"Hoffentlich bald genug. Vorher war's gemütlicher."
"Jetzt ist Ruhe! Ich mach das Cogison jetzt ab und ess was. Versuch noch ein wenig zu schlafen. Dann geht die Zeit auch schneller um", sagte Lady Tamara. Das Cogison schwieg dazu. So nickte sie und band es los. Schon mit sichtlicher Auslenkung schritt sie aus ihrem Schlafzimmer heraus in die Küche.
"Geht doch. Der Simulatorversuch hat doch das richtige Ergebnis vorhergesagt", sagte Brandon, als er Patricia vorführte, dass er nun über den Zugang eines oder einer Al Steinbeißer auf den deutschsprachigen Knoten des Arkanets zugreifen konnte. Mehrere Tage hatte er einen nicht mit dem Internet verbundenen Test durchgeführt, um die neuen Daten auf mögliche Fallen oder Fehler zu prüfen. Jetzt hatte er sich erfolgreich ins Arkanet zurückgemeldet und gleich ein paar Rundmails mitlesen können, die Al Steinbeißer noch nicht gelöscht hatte. Darin ging es um den Totalausfall der französischen Ministeriialcomputer und dass Julius Latierre damit beauftragt war, den Finanzjongleur aus Paris ein paar neue Rechner und Netzwerkkomponenten aus dem Hemd zu leiern, was noch dauern mochte. Aber da er, so die Mails, mit Belle Grandchapeau zusammen vorstellig geworden war könnte es klappen, so Julius Latierre. Er hatte auf Englisch geschrieben, weil das eine Sprache war, die die meisten Ministeriumszauberer und -hexen irgendwie erlernt hatten.
"Dieser Al Steinbeißer, woher kennt deine ehemalige Oberschwester den?" wollte Brandon wissen.
"Weil Al eine Albertine ist und zu ihrer Schwesternschaft gehört", erwiderte Patricia. "Mehr musst du nicht wissen, sofern du nicht vorhast, sie zu heiraten. Aber so wie ich das mitbekommen habe hat Faidaria schon Nachfolgeanspruch bei Gisirdaria angemeldet."
"Hast du richtig gehört, Patricia", erwiderte Brandon. Einerseits war Faidaria eine heiße Hexe, die hinter verschlossenen Türen eine wahre Liebesgöttin war. Aber nach außen kehrte sie die große Matriarchin und Königin der Sonnenkinder heraus. Sicher, es mit einer Königin zu treiben war was erhabenes, und dass diese Königin einen kleinen Prinzen von ihm erwartete auch. Aber sie deshalb Tag und nacht um sich haben. Er hoffte, dass dieser Kelch doch an ihm vorübergehen würde. Und er war sehr darauf bedacht, diesen Gedanken sorgfältig hinter dem Geistesschildzauber zu verbergen, den er von den Sonnenkindern erlernt hatte.
"Außer dem Streich, bei dem die französischen Rechner alle getoastet wurden ist von dieser Euphrosyne nichts neues in Umlauf. Hmm, ein Jeff Bristol aus New York hat noch eine allgemeine Nachricht geschickt, dass diese Kristallvampire durch die Schreie neugeborener Kinder geschwächt werden und sogar davon getötet werden können. Das sei seinem Arbeitgeber, dem LI und der Heilerzunft schon seit Februar bekannt, er habe jetzt aber die Genehmigung, dass in das Arkanet zu schicken, weil zu befürchten steht, dass die neue Vampirbande nicht mehr lange ruhig in ihrem Versteck bleibt. Ich denke mal, das war auf jeden Fall ganz wichtig für uns."
"Nur dass Vampirjäger selten mit neugeborenen Kindern umherreisen", erwiderte Patricia. Brandon nickte zustimmend und druckte die Nachricht dieses Jeff Bristol aus.
Das alles wurde von ihr beobachtet und mitgehört. Die entkörperte Daseinsform jener, die bald in einer von Patricias Töchtern neuen Halt finden sollte bewunderte den ehemaligen Kundschafter Anthelias, dass dieser sich so leicht und tatendurstig in seine neue Rolle eingefunden hatte. Ja, sie hätte das sicher auch gerne erlebt, dass Patricia und er ein Paar geworden wären. Dann wäre sie vielleicht schon seine Tochter geworden. Ob er dann immer noch so unerschütterlich geblieben wäre? Das würde sie nun nicht mehr erleben, erkannte sie wehmütig. Womöglich würde sie sogar vergessen, wer sie selbst mal war, wenn ihr Ich sich auf zwei Kinder zugleich aufteilen sollte und sie deshalb eine ganz von bereits erlebten Dingen unbeschwerte Kindheit erleben mochte.
"Kingsley Shacklebolt freute sich nicht so sehr auf den Abend in Hogsmeade wie noch im Jahr davor. Das Auftauchen dieses selbsternannten Erben Riddles bereitete ihm Kopf- und Bauchschmerzen. Hinzu kam, dass dieser selbsternannte Nachfolger Riddles seinen jüngeren Bruder Matthew auf dem Gewissen hatte und dass der Verbrecher Zugriff auf eine machtvolle Substanz bekommen hatte, von der er, Shacklebolt, vorher noch nie etwas gehört hatte.
Richtig wütend war er an diesem Morgen, weil ein noch junger Journalist namens Fredo Gillers im Tagespropheten geschrieben hatte, dass alles hübsch friedlich aussehe, seitdem vor vier Jahren die Schreckensherrschaft dessen, der nicht genannt werden durfte, beendet wurde. Er fragte jedoch sehr dreist, ob das Zaubereiministerium da nicht der gesamten Zauberergemeinschaft etwas vorgaukele, angefangen von der restlosen Unterwerfung aufsässiger Werwölfe über die Beseitigung im Land marodierender Vampire bishin zu der vollmundigen Behauptung des Ministers selbst, die Dementoren, lange Zeit Wächter des Zaubereigefängnisses Askaban und im dunklen Jahr die Geißel der Zaubererwelt, seien restlos vernichtet worden. Dieser Jungspund hatte doch wahrhaftig behauptet, dass Shacklebolt nie im Leben wissen konnte, dass alle Dementoren da zusammengepfercht worden waren, wo er meinte, sie alle auf einem Haufen zu haben. Außerdem wisse er, also Schacklebolt, genausowenig wie der Rest der Zaubererwelt, wann und wo die Dementoren eigentlich entstanden seien, ob sie wie Tiere aus eiern schlüpfen oder von weiblichen Exemplaren geboren würden. Daher stimme er dem französischen Kollegen Latierre zu, dass die Behauptung vom 11. März sehr gewagt gewesen sei.
Der Minister war dementsprechend schlecht gelaunt, als sein Untersekretär Shane Blackberry an die Bürotür klopfte.
"Was ist?!" brummte Shacklebolt.
"Herr Minister, Professor McGonagall hat gerade kontaktgefeuert und mitgeteilt, dass alle Angehörigen der bei der Schlacht von Hogwarts gefallenen heute abend im Eberkopf dabei sein werden."
"Schön, ich komme auf jeden Fall auch", sagte der Minister barsch.
"Gut, gebe ich so weiter, Sir. Hmm, dieser Gillers, der diesen Kommentar geschrieben hat, hat behauptet, Sie würden um des nach außen vorgespielten Friedens wegen verschweigen, dass Ihr eigener Bruder Matthew verschwunden sei und munkelt, er könne die Seiten gewechselt haben oder in Ihrem Auftrag versucht haben, eine Bande schwarzmagischer Verschwörer zu unterwandern. Ich weiß nicht, wo er das her hat und möchte in dieser Angelegenheit auch keinen schlafenden Drachen kitzeln. Sein Redakteur hat mir nur eine Eule geschickt, dass er dazu gerne näheres wissen möchte, bevor er mit derartigen Behauptungen rauskäme."
"Der junge Mann möchte wohl alle Wichtel der Welt aufs Dach jagen", schnaubte Shacklebolt. Erst unkt er herum, es sei längst nicht alles so friedlich in Großbritannien, und jetzt will er mir durch die Hintertür noch den Tod meines Bruders anlasten oder gar damit herauskommen, ich habe ihn in den Tod geschickt. Ich werde dem Redakteur des Tagespropheten schreiben, dass mein Bruder auf der Flucht vor böswilligen Zauberern ist, weil er eben mein Bruder ist. Wo er sich aufhalte wisse nur ich und das durch Fidelius-Zauber, wesshalb mir niemand das Geheimnis entreißen kann. Noch was?"
"Ja, Herr Minister. Madam Stillwater ist wohl auch ein Opfer dieser VM-Banditen geworden. Sie kann sich nicht mal erinnern, wo sie mit wem zusammengekommen ist, um jetzt zwei Kinder in Aussicht zu haben. Sie erwähnte in dem Zusammenhang eine Aufforderung dieser Banditen, die sie vor sieben Monaten erhalten habe. Sie bittet nur darum, dass wir ihr einen Job weit fort von hier geben, damit es nicht alle Welt erfährt."
"Bei uns auch?! Schon schlimm genug, dass diese Bande in den Staaten und auf dem europäischen Kontinent so viel angestellt hat. Ich spreche mit Madam Stillwater. Irgendwas werde ich für sie finden", erwiderte der Minister.
Als Blackberry sich wieder zurückgezogen hatte schrieb Shacklebolt den angekündigten Brief an die Zeitung. Er war gerade damit fertig, als es wieder klopfte. Diesmal war es die schlanke, strohblonde Assistentin von Tim Abrahams, Pina Watermelon.
"Sie haben mich drum gebeten, Ihnen zu berichten, wie es in Paris weitergeht, nachdem dort dieser Zauber dieser Euphrosyne Lundi freigesetzt wurde. Ich habe gerade eine Eule zurückbekommen, von Mr. Latierre, der mit dem Finanz- und Handelsleiter ringt, ob eine neue Computerausstattung angeschafft werden soll. Bei der Gelegenheit hat er noch seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass Sie recht haben und es wirklich keine Dementoren mehr gibt."
"Falls Ihr Vorgesetzter Ihnen die Zeit dafür lässt schreiben Sie ihm bitte zurück, dass sein ehemaliger Klassenkamerad wohl glaubt, dass noch ein paar von den Biestern leben könnten, aber das eben nur eine Behauptung sei! - Öhm, ach ja, alles gute zum Geburtstag, Ms. Watermelon!"
"Danke, Herr Minister", sagte Pina. Dann zog sie sich wieder zurück.
Kaum war Pina aus dem Büro klapperte es im direkten Postschacht, durch den nur die von Blackberry entgegengenommenen und auf Flüche und Gifte geprüften Eulenbriefe zu ihm gelangten. Er nahm den Brief aus dem Schacht und besah sich den Umschlag. Die Adresse war mit Druckbuchstaben erstellt worden. Als er den Umschlag öffnete fand er eine Pergamentseite vor, die ebenfalls mit Druckbuchstaben beschriftet war.
Sehr geehrter Mr. Shacklebolt,
auch wenn Sie durch die Ausübung Ihres Amtes eine Menge Zeit und Energie für die Ordnung und Bewahrung der Zaubererwelt aufwenden müssen, kommen wir nicht darum herum, Sie um eine weitere, ebenso energieaufwendige Tätigkeit zu ersuchen.
Wie wir zu unserem großen Bedauern und mit einer großen Anteilnahme erfuhren, weilt Ihr Bruder Matthew nicht mehr unter den lebenden Magiern. Woher wir das wissen behalten wir für uns. Was sich jedoch daraus ergibt müssen wir Ihnen darlegen, auch wenn Sie uns für einen Haufen dem Wahnsinn aufgesessener Banditen halten.
Unsere Ermittlungen in den großen Verzeichnissen der zaubererfamilien ergaben, dass Sie nach dem tragischen Verlust Ihres Bruders der letzte Träger des Shacklebolt-Erbes sind. Da Ihr Beruf sehr große Gefahren birgt, vielleicht größer als jene, die Ihnen als Auroren begegnet sind, und Sie zudem nie verheiratet waren fordern wir Sie auf, binnen eines halben Jahres Ihre Blutlinie zu verlängern, um das wertvolle Erbe nicht mit Ihnen verlöschen zu lassen. Vom Tag dieser Niederschrift an bis zum ersten Dezember bleibt Ihnen Zeit, sich das wo, wie und mit wem frei und ohne äußere Einwirkungen auszusuchen. Kommen Sie unserer Forderung nicht im fraglichen Zeitraum nach, so werden wir geeignete Maßnahmen ergreifen, die Verlängerung Ihrer Blutlinie sicherzustellen, auch wenn dies die durchaus wichtigen Aufgaben Ihres Amtes beeinträchtigen würde.
Gerade heute, wo in Ihrer Heimat die Befreiung von einem Schreckensregime gefeiert wird, müssen wir daran erinnern, wie viele ehrbare Hexen und Zauberer bei jener Schlacht ihr Leben ließen und wie viele altehrwürdige Familien dabei ausgelöscht oder größtenteils dahingerafft wurden. Sie sind nicht der erste, dem wir daher diese Forderung zukommen ließen und werden auch nicht der letzte sein.
Erfüllen Sie die Pflicht Ihrer fleischlichen Existenz, Mr. Shacklebolt! Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen und vor allem Erfolg bei diesem sehr wichtigen Unternehmen und verbleiben bis dahin
Mit freundlichen Grüßen
der hohe Rat der societas Vita MagicaP.S. Vergessen Sie die Rückverfolgung dieses Briefes. Auf ihm liegt ein Spurenlöschzauber und ein Selbstvernichtungszauber
Als Schacklebolt die letzte Zeile las zerfiel der Brief schlagartig zu feinstem Staub und rieselte ihm wortwörtlich zwischen den Fingern hindurch. Mit einem lauten Schlag hieb der Zaubereiminister auf den Tisch. Was er da gelesen hatte war nichts anderes als eine offene Drohung gegen ihn und auch eine offene Kriegserklärung gegen die britische Zaubererwelt. Vita Magica erdreistete sich allen Ernstes, ihn aufzufordern, Kinder zu zeugen und das am besten noch bis zum ersten Dezember. Dann fiel ihm ein, dass Madam Stillwater wohl irgendwie zwei Kinder empfangen hatte, ohne sich daran zu erinnern. Eusebia Stillwater war auch die letzte lebende Vertreterin einer alten Zaubererfamilie. Ihr Bruder und dessen Söhne waren bei der Schlacht von Hogwarts gefallen, als sie ihren dort lernenden Verwandten helfen wollten. Und jetzt hatte sie wegen irgendso einer Bande von Hexen und Zauberern, die sich als Schöpfer neuen Lebens aufspielten Zwillinge im Leib. Ein wenig erschauerte der Zauberer, der doch schon so vieles schauerliche erlebt und vor allem überlebt hatte. Wenn diese Gangster es mit dieser Drohung ernst meinten würden sie nach dem ersten Dezember versuchen, seiner habhaft zu werden und ihn wie einen Zuchthahn durch ihren ganz privaten Zuchtstall treiben. Sicher musste er jetzt zusehen, dieser Bande zuvorzukommen und sie dingfest zu machen, damit das so nicht weiterging. Denn ihm fiel nicht im Traum ein, sich eine Hexe zu suchen und sie zu bitten, seinen Nachwuchs zu gebären.
Als er Blackberry aufsuchte, um ihn zur Rede zu stellen leugnete er doch tatsächlich, diesen Brief in Händen gehalten zu haben. "Wie soll der denn sonst zu mir gelangt sein? Ich habe keinen Anschluss an die Eulerei", blaffte der Minister.
"Sir, bedauere, aber den haben Sie wohl doch. Jemand könnte eine Verzweigung zwischen der Eulerei, mir und Ihrem Büro eingerichtet haben. Ich gehe dem unverzüglich nach."
Keine Minute später wussten sie, dass jemand heimlich einen Direktweg zum Minister errichtet hatte. Natürlich befahl er umgehend, dieses Sicherheitsleck zu schließen.
Wie heftig ihn der dreiste Brief beeindruckt hatte bekam er dann abends bei der Feier in Hogsmeade mit. Denn jede Frau, ja sogar die jungen Mädchen, die teilnahmen, sah er kurz so an, als müsse er sich fragen, ob sie seine Kinder bekommen sollte. Als er Professor McGonagall merkwürdig abschätzend ansah fragte sie ihn natürlich, was er habe.
"Ich bin wohl auf meine alten Tage etwas paranoid geworden, Minerva. Habe mir einige Sekunden vorgestellt, ob Sie eine Vielsaft-Trank-Kopie sind oder doch die echte."
"Und was bestärkt Sie in der Hoffnung, es bei mir mit dem einzig existenzberechtigten Original zu tun zu haben?" fauchte Professor McGonagall. Shacklebolt behauptete, es läge an ihrem Akzent. Den könne niemand so schnell imitieren. Das stimmte die Schulleiterin von Hogwarts etwas freundlicher.
Der Helikopter berührte mit seinen Landekufen beinahe schon die Berge der zwei Meter hohen Wogen, die ein auffrischender Wind über den Ozean trieb. Die Maschine flog ohne Licht und ohne Radarüberwachung. Dem Piloten selbst und seinen vier Passagieren ging es darum, nicht entdeckt zu werden. Denn über ihren Aufenthaltsort durfte niemand an Land etwas wissen.
"Wie weit sind wir noch von der Paradiso entfernt?" fragte ein dunkelhaariger Mann im italienischen Maßanzug den Piloten über die Kopfhörer-Mikrofon-Kombi, die er trug, um über das Arbeitsgeräusch der Turbine hinweg verstanden zu werden.
"Der Laserhandschlag ist vollzogen, Mr. Bergamo. Das ist so gut wie ein Leitstrahl. Ich setze noch den Anflugimpuls ab, dann können wir wohl in zehn Minuten landen", sagte der Pilot, ein ehemaliger Flieger der US-Armee.
Der Dunkelhaarige dachte daran, was für eine Geniale Idee sein Geschäftspartner aus Nassau hatte, dass die Paradiso di Mare nur dann mit aktivem Radar unterwegs war, wenn sie durch ein vielbefahrenes Gebiet musste. Ansonsten vertrauten sie auf die Lidar-Technik, einem Netzwerk aus Lasern, die im Umkreis von drei Seemeilen alles im 360-Grad-Winkel und bis zu einer Höhe von fünfhundert Metern erfassen konnten. Wer auf dieses Schiff wollte, an dem der dunkelhaarige Mann, der sich vom Piloten und demnächst von verschiedenen anderen als Mr. oder Signore Bergamo ansprechen ließ, ein Zehntel besaß und entsprechend mitverdiente, musste mit einem der jede Woche fliegenden Zubringerhelikopter dort landen und konnte nur auf diese Weise wieder von Bord gehen.
Eine Minute später konnte Bergamo auf der das Mondlicht widerspiegelnden See einen dunklen Umriss erkennen. Er griff hinter sich und zog das mitgebrachte Nachtsichtgerät vor die mit unauffälligen braunen Kontaktlinsen besetzten Augen und holte sich das für Normalsicht nur dunkle Etwas besser heran.
Es war schon ein Riesenschnapp gewesen, als das von dem, der sich jetzt Giovanni Bergamo nannte mitfinanzierte Vergnügungskonsortium vor zehn Jahren zwei ausgediente Öltanker erwerben konnte und nach einer mehrere Millionen teuren Generalüberholung und Umbauphase zu einem mehr als zweihundert Meter langen Catamaran mit vier hausgroßen Maschinen umgebaut hatte. An Stelle der Öltanks waren luxuriöse Hotelsuiten mit Flachbildschirmen als Fensterimitate, acht verschiedene Restaurants, fünf Spielbanken und mehrere dezente Clubs für besondere Anliegen untergebracht worden. Tausend Seeleute hielten das Schiff am schwimmen. Zweitausend Stewards, Musiker, Tänzer, Barleute und Prostituierte sorgten für jede mit Geld bezahlbare Vergnüglichkeit. Das Riesenschiff mit den zwei Rümpfen war mit wasserblauer Farbe angestrichen und wurde jede Woche von Tauchern auf Muschelbesatz und unerwünschte Dinge überprüft. Am Tag durften die Gäste auf die weitläufigen Sonnendecks, die in textilarme und textilfreie Bereiche unterteilt waren. Wer wolte und ein stilles Fleckchen fand, konnte dort auch mit einem Partner oder einer Partnerin seiner oder ihrer Wahl Sex haben, ungestört von den Besatzungsmitgliedern, die nur in dem für sie reservierten Bereichum den schwimmenden Sündenpfuhl herum sein durften. Auf den Sonnendecks durften sich Seeleute nur dann kurz aufhalten, wenn diese völlig leer waren, beispielsweise um die beiden Olympiaschwimmbecken mit Seewasserfüllung zu reinigen oder die am Außenrand aufgestellten echten Palmen zu pflegen, um diese nicht unter der Wirkung des Seewassers verkümmern zu lassen. Da, wo eine hundert mal fünfzig mal fünfzig Meter große Verbindung zwischen den beiden Rümpfen verbaut war, lag ein Park ohne natürliche Lichtzufuhr, aber mit genügend alle Tageslichtwellen aussendenden Scheinwerfern, in dessen Mitte ein Teich verbaut war, dem vier zwei Meter breite Kunstflüsse entsprangen, die sich durch den Park schlängelten und außerhalb ins Wasseraufbereitungssystem des Schiffes zurückkehrten. Der Park war eine Miniaturausgabe des mythischen Gartens Eden, wo die beiden ersten Menschen unbeschwert von der Erkenntnis was gut und böse war gelebt hatten. Bergamo, der streng katholisch erzogen worden war, die meisten Werte dieser Erziehung jedoch im Laufe seines mehr als fünfzig Sommer zählenden Lebens vergessen hatte, dachte daran, dass in den Minigarten Eden die Sünder jederzeit hineingehen konnten. Da standen keine Engel mit Flammenschwertern. Man konnte höchstens Teufelsweiber und willige Engel antreffen, die einem die geheimsten Wünsche erfüllen konnten.
Der Hubschrauber sank mit auf Flüstermodus umgestelltem Motor über dem runden Landedeck aus Beton herunter. Nur nachts, wenn das Sonnendeck für die meisten Passagiere unattraktiv wurde, durften dort Zubringer landen.
"Willkommen im Paradies der Sünder", verkündete der Pilot mit unüberhörbarem Sarkasmus, als die von ihm geflogene Maschine sicher auf ihren Landekufen stand. Sogleich wurde die große Seitentür geöffnet, und fünf stämmige Stewards halfen den vier neuen Gästen aus der Maschine. zwei weitere Männer vom Servicepersonal wuchteten die Koffer auf die Ladefläche eines Elektrokarrens. Die vier Passagiere stiegen in einen anderen Elektrowagen ein. Denn nur damit oder mit den unter Deck arbeitenden Laufbändern und Expressaufzügen waren die kilometerlangen Gänge zu bewältigen, wenn man schnell an sein Ziel wollte.
Die zwei Minuten dauernde Fahrt endete vor einer schweren, mit Mahagonibrettern verschalten Tür, die mit einem besonderen Schlüssel geöffnet werden musste. Diesen bekam Bergamo in die Hand gedrückt. Einer seiner Begleiter fragte, ob dieses Luxushotel noch nichts von Schlüsselkarten gehört habe.
"Unsere Titanschlüssel mit eingeprägten Laserkodes sind besser als diese Schlüsselkarten, Sir. Vergleichbar mit DVDs im Hosentaschenformat. Nur der richtige Code entsperrt den Schließzylinder, dass der Schlüssel im Schloss gedreht werden kann. Sie bekommen auch gleich Ihre Schlüssel, Gentlemen", sagte der Steward, der New Yorker Englisch sprach.
Die Suite erfüllte Bergamos Ansprüche voll und ganz. Leediglich dass statt echter Panoramafenster in die Wand verbaute Hochauflösungsplasmamonitore eine gewisse Außenansicht nachbildeten störte ihn ein wenig. Etwas mulmig war ihm der Anblick des zwei mal zwei Meter großen Bettes. Das schrie förmlich nach hemmungsloser Verlustierung. Er wusste auch, dass er seiner in Sicherheit gebrachten Frau nicht die vor dem Altar gelobte Treue halten konnte, wenn er hier nicht auffallen wollte.
Die Mitarbeiter Bergamos, die er als besonders verdiente Manager seiner New Yorker Firma avisiert hatte, bekamen ebenfalls Suiten, jedoch nur halb so groß, also statt der sieben Zimmer nur drei und ein Badezimmer. Im Grunde gab es hier auf dem Schiff nur für die Mannschaftsmitglieder Kabinen. Alle Passagiere bewohnten Suiten. Da diese auch noch schalldicht verbaut waren bekam auch niemand mit, was sich dort abspielte. Auch das sonst allgegenwärtige Arbeitsgeräusch der vier Motoren war hier nicht zu hören. Nur das leise Säuseln der Klimaanlage war zu hören.
Der Deckenfluter ist je nach Wunsch auf verschiedene Helligkeits- und Farbstufen regelbar und kann dem natürlichen Tag- und Nachtrhythmus unterworfen werden", erklärte der Steward die Beleuchtungsanlage.
Als Bergamo endlich mit seinen Begleitern alleine in der Suite war baute er ein kleines Gerät auf, dass wie ein Kofferradio aussah, in Wirklichkeit aber ein Breitbandstörsender gegen mögliche Abhörvorrichtungen war.
"So, Ragazzi", begann er in sizilianisch gefärbtem Italienisch zu sprechen. "Wenn keiner von euch der Schweinehund war, der dem weißen Lotos gepfiffen hat, dass es mich noch gibt, haben wir jetzt zwei Monate Urlaub von der anständigen Welt. Der Dienstplan liegt euch vor. Zwei von euch haben immer frei, einer bleibt zumindest in den für alle anderen zugänglichen Räumen in der Nähe. Wer frei hat kann sich Mädchen nehmen und mit denen herummachen. Aber Drogen werden keine angerührt, damit das klar ist! Das gilt auch für harten Alk. Also gegen den einen oder anderen Schluck Wein ist nichts einzuwenden, solange ihr bei Dienstantritt wieder nüchtern genug seid. Aber von dem anderen Zeug lasst ihr die Finger. Ist das angekommen?"
"Ja, Capo", erwiderte einer der drei Männer, Giorgio Moretti, der wie sein Dienstherr ein neues Gesicht und eine neue Identität erhalten hatte.
Okay, hier wird es gleich zehn, und wir müssen ja nicht gleich heute das Bordprogramm genießen", sagte der Mann, der sich Bergamo nannte.
Ein melodisches Flöten und Harfengeklimper erfüllte den Raum, und in einer der aus echtem Granit gebauten Wände schob sich eine Verblendung zur Seite. Dahinter war die Bordsprechanlage. Bergamo ging heran und drückte die Annahmetaste.
"Herzlich willkommen auf der Paradiso di Mare, der schwimmenden Insel der Lüste und Sinnenfreuden", hauchte eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher. "Falls Sie wünschen laden wir Sie ein, im Club Sonnenaufgang einen Begrüßungscocktail mit uns zu trinken."
"Mit wem spreche ich bitte?" fragte Bergamo. Die Stimme sagte, dass ihr Name Laura sei, wobei sie den Namen Englisch mit Kalifornienakzent aussprach. Bergamo verzog nur das Gesicht und erwähnte mit schnurrender Stimme, dass er sehr gerne den berühmten Club besuchen würde, aber seine Anreise so lange gedauert habe und er jetzt lieber einige wertvolle Stunden Schlaf haben wollte.
"Natürlich, sehr gerne, Giovanni", säuselte Laura. Dann wurde die Verbindung getrennt.
"Toni, Carlo, wenn ihr auch von dieser Dame eingeladen werdet geht ihr hin, um den Club genauer anzusehen und vor allem, ob da auch Chinamädchen verkehren. Giorgio, du bleibst in deiner Suite und lässt den Radiowecker auf der angegebenen Frequenz an!" instruierte Bergamo seine Männer.
Der Mann, der sich Bergamo nannte genoss eine Stunde lang den Luxus der für zwei oder drei Personen ausreichenden muschelförmigen Marmorbadewanne. Er kam sich vor wie ein altrömischer Konsul in seinem ganz privaten Badehaus. Nur dass die Sklaven und Sklavinnen fehlten, die ihn bedienten. So konnte es weitergehen. Er hoffte nur, dass die zwei Monate in dieser sündigen Oase auf See reichen würden, um die undichte Stelle zu finden, die ihm vor einem Monat fast das Leben gekostet hätte. Zumindest wusste der Verräter nicht, wie Bergamo aussah.
"Und ich überlebe euch alle, ihr Reisfresser", knurrte er an die Adresse seiner früheren Geschäftsleute und jetzigen Todfeinde.
Julius Latierre war gewarnt worden, dass die Verhandlungen mit Midas Colbert, dem Schatzmeister des Zaubereiministeriums, hart und langwierig sein mochten. Doch er war entschlossen, dem Goldbewahrer schnell und deutlich klar zu machen, dass das Zaubereiministerium ganz dringend eine neue funktionsfähige Computeranlage mit Internetanschluss brauchte. Außerdem hatte er Belle Grandchapeau an seiner seite, die sicher noch was dazu beitragen würde, dass die bisher so erfolgreiche Arbeit mit dem Arkanet und im Namen der Magiegeheimhaltung im Internet weitergehen konnte.
Julius war schon zweimal nach Euphrosynes verbotenem Segen in Colberts Büro vorstellig geworden. Statt überbordenden Reichtum hatte Colbert hier schlichte Büromöbel aufstellen lassen. Das einzige, was einen gewissen Preis überstieg war der große, blütenweiße Schreibtisch mit den sechs Schubladen rechts und links.
Midas Colbert saß auf einem hohen Holzstuhl, das breite Hinterteil auf einem blauen Kissen ruhend und blickte die beiden Antragssteller sehr streng an, als sie eintraten. Er trug einen graublauen Umhang mit spitzen Stehkragen und eine veilchenblaue Krawatte, die fast bis zum Bauch herabhing. Belle trug heute ein hochgeschlossenes, himmelblaues Kleid, während Julius Latierre einen dunkelblauen Samtumhang trug.
Zwanzig Sekunden blickten sich die drei schweigend an. Erst dann deutete Colbert auf zwei freie Holzstühle ohne Polsterung. Belle griff kockett in eine Außentasche ihres Kleides und fischte zwei streichholzschachtelgroße weiße Kissen heraus, von denen sie Julius eines abgab. Dieser nickte und wartete, bis Belle ihr Kissen auf die Sitzfläche gelegt hatte. Sofort blies sich das Kissen auf, bis es die Sitzfläche vollständig ausfüllte. Belle nahm Platz. Julius folgte ihrem Beispiel. Als auch das ihm gereichte Sitzkissen sich der Sitzfläche angepasst hatte setzte er sich. Colbert grummelte etwas unverständliches. Dann ergriff er richtig das Wort.
"Sie haben meine Aufforderung befolgt, Monsieur Latierre?" wandte er sich an Julius. Dieser nickte und deutete auf seinen Seeschlangenhaut-Aktenkoffer. "Ich habe die Liste der bisher verwendeten Komponenten gegengeprüft und mir über diverse Quellen aus dem Internet und durch Besuche bei Pariser und Marseillaiserr Fachhändlern einen umfangreichen Überblick über die möglichen Ausgaben verschafft. Da seit der Anschaffung der ersten Computeranlage mehrere Jahre vergingen können wir gleich mit besseren und schnelleren Rechnern und Massenspeichern mit mindestens dem zehnfachen Speichervermögen zu einem nicht wesentlich höheren Einkaufspreis wie damals kalkulieren. Hinzu kommen die Netzwerkkomponenten, wie Glasfaser- und Kupferkabel, Switches, also Verteilungselementen zwischen angeschlossenen Computern und Druckern, der Server zur Verwaltung aller angeschlossenen Geräte und Verbindung zum Router, also dem Fernverständigungsgerät, das die Verbindung zum Internet herstellt und aufrechterhält. Von der Preisspanne her können wir zwischen drei und sechs Rechner mit Bildschirmen und Lautsprechern anschaffen, sofern Sie bereit sind, die dafür nötige Investition freizugeben, Monsieur Colbert. Doch bevor Sie die nüchternen Zahlen überprüfen, möchte ich, sofern Sie mir das gestatten, noch einmal ausführen, warum das Büro für die friedliche Koexistenz der Menschen mit und ohne magische Kräfte eine rein technische Informationsverarbeitung und -übertragungseinrichtung für notwendig erachtet", holte Julius aus und präsentierte unter anderem mit Hilfe der von ihm erfundenen Laterna Magica die Vorzüge und auch Gefahren des Internets, denen sich die auf ihre Geheimhaltung bedachte Zaubererwelt stellen müsse. Er führte dem Minister die von ihm in mühevoller Malarbeit erstellten Erläuterungsanimationen vor, zu denen seine magisch konservierte Stimme die Schritte und Auswirkungen erklärte. Zum Schluss projizierte die Zauberlaterne einen zwei Meter durchmessenden Erdball über Colberts Schreibtisch. Die blau-weiße Weltkugel drehte sich und zeigte in grünen, gelben und roten Linien und Flächen, wie groß der Internetanteil in den verschiedenen Ländern war. Belle Grandchapeau musste sich sichtlich beherrschen, ihren Mund geschlossen zu halten, um nicht undamenhaft maulaffenmäßig dreinzuschauen. Als Julius seine Vorführung mit den Worten beendete, dass sich der Anteil am Internet jährlich mehr als verdoppelte und auch in den armen Ländern Afrikas, Südamerikas und Asiens immer mehr Menschen dieses neue Massenmedium und seine Vielfalt zu nutzen schätzten, sauste ein rot-blauer Funke von dort los, wo auf dem Globus Paris lag, breitete sich innerhalb einer halben Sekunde zu einem rot-blauen Kreis aus, der dann innerhalb von nur zwei weiteren Sekunden die komplette Erdsimulation überdeckte und dabei immer heller und heller wurde. "Diese Lichterscheinung stellt eine brisante Information über die Zaubererwelt dar, wie es die Errichtung Lykotopias bedeutet hätte oder die Erscheinung der neuen Vampire. Über das Internet kann diese Information sich explosionsartig über die ganze Welt ausbreiten. Wenn wir da nicht mithören und rechtzeitig intervenieren gerät die Geheimhaltung auf kurz oder lang zum Fiasco", erläuterte er. Dann führte er vor, wie ein entsprechend vorbereitetes Zaubereiministerium eine solche Information im Keim ersticken konnte, in dem sie gezielt verfremdet und zur Lächerlichkeit abgewertet wurde. Sie verbreitete sich dann zwar auch noch über die Erde, bedeckte sie aber dann nur noch zwei Sekunden lang, bevor sie in viele bunte Einzelfunken zerfiel. "Deshalb brauchen wir auch in der magischen Welt eine hervorragend ausgestattete und von gut geschultem Personal bediente Internetüberwachung. Da Madame Merryweather noch auf der Gehaltsliste des französischen Zaubereiministeriums steht wäre es eine erhebliche Goldverschwendung, wenn ihre mühevolle Arbeit wegen des Vorfalls mit Euphrosynes so genanntem Segen nicht mehr fortgeführt würde. Ich bitte Sie mit allem Respekt, diese Ausgaben gegen den finanziellen und gesellschaftlichen Schaden abzuwägen, den die unerwünschte und unkontrollierte Enthüllung der magischen Welt anrichten würde. So, und da ich von Mathematik und Informationsverarbeitung etwas mehr verstehe als von Buchhaltung und Budgetlisten übergebe ich Ihnen und Ihrem Mitarbeiterstab die von mir ermittelten und übersichtlich angeordneten Kostenvoranschläge. Madame Merryweather, Madame Grandchapeau und ich sind bereit, die entsprechenden Geräte und Komponenten zu beschaffen, anzuschließen und betriebsfertig einzurichten, falls die Beschaffung dieser Ausrüstung Ihre Zustimmung findet. Ich bedanke mich für Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit." Mit diesen Worten ließ Julius die Projektion der Erdkugel wieder verschwinden.
Colbert saß steif auf seinem Stuhl und stierte ihn an. Dann sah er Belle an, die im Moment als Vertreterin ihrer Vorgesetzten und nicht als seine Schwiegertochter hier war. Sie sagte:
"Ich möchte mich zunächst bei Monsieur Latierre für seine höchst anschauliche und einprägsame Präsentation bedanken, nimmt sie mir doch eine Menge Zeit von den Schultern, Ihnen in vielen Worten die bisherigen Fortschritte auch meiner Arbeit mit den erwähnten Gerätschaften zu erläutern. Einen schriftlichen Bericht haben Sie ja schon erhalten. Ich stimme Monsieur Latierre und Madame Grandchapeau vollkommen zu, dass der leidige Zwischenfall mit Madame Lundis Angriff uns nicht in der Entwicklung zurückwerfen darf. Ich erschrak selbst, als ich erfuhr, wie schnell sich das Internet im allgemeinen und immer leistungsfähigere portable Informationsübertragungsgeräte im besonderen verbreiten. Da müssen wir unbedingt mithalten. Monsieur Latierre hat durch die Simulation einer für uns schädlichen Informationsexplosion überdeutlich gezeigt, dass wir unsere altbewährte Ordnung nur dann durch dieses neue Jahrhundert oder gar Jahrtausend bewahren können, wenn wir willens und fähig sind, die rasante Entwicklung der magielosen Menschheit nachzuvollziehen und uns ihr in gewissen, durchaus auszudiskutierenden Grenzen anpassen. Die von unserer guten Arbeit abhängigen Hexen und Zauberer haben ein Anrecht darauf, nicht von Magielosen behelligt zu werden, die sie wegen ihrer Zauberkräfte entweder hofieren oder hassen. Darum bitte ich Sie auch im Namen Ihrer Kinder und Kindeskinder, die Aufwendungen für die nötige Ausrüstung zu genehmigen, damit wir diese schnellstmöglich zur Verfügung haben. Jede Minute der Untätigkeit und Unfähigkeit kann die Geheimhaltung der Magie oder den Umgang zwischen den Menschen mit und ohne Magie in Frankreich empfindlich stören oder gar irreparabel beschädigen. Mehr muss und mehr möchte ich dazu nicht vorbringen."
Der Schatzmeister, sattsam bekannt für seine knauserigkeit was große Summen anging, war doch sichtlich erbleicht. Offenbar hatte er bisher nicht geglaubt, dass die Muggelwelt der Zaubererwelt derartig schnell und gründlich überlegen sein konnte. Was nutzten Vergissmichs, wenn die von ihnen umzuändernde Information bereits über alle Weltmeere und Erdteile raste? Wem nützte eine Geheimhaltung, die durch einen einzigen mitgefilmten und ins Internet geladenen Zwischenfall ausgehebelt werden konnte?
Julius und Belle ließen Monsieur Colbert eine Minute lang nachdenken. Sie waren sich sicher, den Goldhüter überzeugt zu haben. Dann sagte dieser: "Ich lasse Ihre Zahlen und Anforderungen gegenprüfen und mit dem Rest des eingeplanten Haushaltes vergleichen. Sie dürfen nicht vergessen, dass Sie nicht die einzige Abteilung des Ministeriums sind, die Gold und Silber benötigt. Zur Länge der Prüfung werde ich mich jetzt nicht auf irgendwelche Mutmaßungen einlassen. Ich werde mich auch nicht unter Druck setzen lassen, damit dies klar ist. Die von mir letzthin zu treffende Entscheidung soll schließlich unumstößlich und unbestreitbar sein. Bis dahin sorgen Sie dafür, dass auch mit den althergebrachten Mitteln eine weiterhin friedliche Koexistenz zwischen den Magielosen und der Zaubererwelt gewährleistet bleibt! Ich danke Ihnen für Ihre umfassende Darlegung. Doch nun muss ich Sie bitten, mich zu verlassen, da ich noch weitere Termine wahrzunehmen habe."
Belle und Julius pflückten die bezauberten Kissen von den Stühlen. Die Kissen schrumpften sofort wieder auf Taschengröße zusammen. Danach verließen sie das Büro.
"Er tut so, als müssten wir auf die Anlage verzichten, wird uns wohl auch noch vorrechnen, worauf wir alle zu verzichten haben, wenn die Ausrüstung beschafft wird. Aber glauben Sie mir, Monsieur Latierre, dass der Minister und meine hauptamtliche und Ihre zwischenzeitliche Vorgesetzte ihn schon darauf bringen werden, diese Ausrüstung zu genehmigen."
"Falls wir ihn nicht gerade drauf gebracht haben, den Unsinn mit der Halblingssteuer neu aufzuwärmen, dass alle Halbzwerge, -veelas und -kobolde Wohnraumberechtigungssteuer entrichten müssen", unkte Julius.
"Ich denke, diese Idee dürfte nicht noch einmal erwogen werden", sagte Belle und musste lächeln.
Petty Officer erster Klasse John Delorca starrte auf die Tür zum Kühlraum, in dem üblicherweise tiefgefrorene Lebensmittel verwahrt wurden. Doch seit drei Tagen lagerte darin eine bald fünf Meter große Kugel aus tiefschwarzem Eis. Nur weil die Stephord schon über die Hälfte ihrer geplanten Einsatzzeit unterwegs war konnte diese Eiskugel überhaupt in dem Raum abgelegt werden. Der Captain hatte aus dem Fund und der Lagerung gleich ein Geheimnis gemacht. Keiner der Besatzung durfte drüber reden oder es gar an Freunde und Verwandte weitermelden. Und wenn Delorca so da vor der hermetisch verriegelten Tür stand ahnte er auch, dass mit diesem Eisball irgendwas nicht stimmen konnte. Warum das schwarze Ding dann überhaupt an Bord geholt wurde und warum es jetzt im Kühlraum steckte verstand der junge Marineunteroffizier nicht und musste es auch nicht verstehen. Er war Navy-Angehöriger und damit drauf eingeschworen, Sachen als anbefohlen hinzunehmen und nicht nach Sinn oder Richtigkeit zu fragen. Doch etwas war noch, außer der Größe dieses Eisballs, in dem locker zwei Menschen hätten eingeschlossen werden können: Immer wenn er so wie jetzt in die Nähe kam dachte er an alles, was er eigentlich aus seinem Kopf verdrängt hatte, den frühen Tod seines Vaters und dass sein Großvater nicht gerade zartfühlend mit ihm umgesprungen war, Prügeleien mit ihm um mehr als einen Kopf überragenden Jungen bishin zu der ihn erschütternden Mitteilung seiner Freundin, dass sie nichts mehr von ihm wissen wollte und deshalb auch das von ihm getragene Kind abgetrieben hatte. Warum gingen ihm diese verdammten Erinnerungen durch den Kopf, wenn er hier vor dem Kühlraum stand, um dieses unheimliche Kugelding da drinnen zu bewachen?
Captain Ian Flanigan fühlte sich eigentlich sehr wohl auf seinem Schiff. Als Urenkel Irischer Einwanderer wusste er, wie anstrengend es war, sich gegen alle Anfeindungen und Vorurteile hochzuarbeiten. Dass er dabei nie die Menschlichkeit vergessen hatte wurde ihm von seiner jetzigen Mannschaft immer gerne zurückgemeldet. Üblicherweise genoss er es, auf der Kommandobrücke der Stephord zu stehen und sich auch mal abseits der vorgeschriebenen Verständigung mit dem Rudergänger, einem Halbmexikaner aus San Bernardino, über nichtmilitärisches Zeug zu unterhalten. Doch in den letzten Tagen fühlte er sich nicht mehr so heimelig und überlegen wie bisher. Irgendwie, so schien es, hatte ihn und viele andere Besatzungsmitglieder eine leichte Schwermut befallen. Diese äußerte sich darin, dass die Mannschaftsmitglieder nur noch dienstlich miteinander sprachen und die dienstfreien Besatzungsmitglieder nicht wie sonst im bordeigenen Videoraum mit ihren Lieblingsmannschaften im Baseball, Basketball und Football mitfieberten, sondern häufiger in ihren Quartieren saßen.
"Ensign Ramires, Kurs ändern auf zwei null neun!" befahl Flanigan. Der Rudergänger bestätigte mit "Aye aye, Sir" und bewegte den einem Joystick nicht unähnlichen Steuerhebel.
"Ausguck an Brücke! Unbekanntes Objekt im Wasser zwanzig Grad Steuerbord voraus!" klang die Stimme des diensthabenden Beobachters über den Lautsprecher der Kommandobrücke. Der Kommandant betätigte den Knopf für den Rückruf: "Ausguck von Brücke! Aussehen und Bewegungsart des Objektes!"
"Sir, das Objekt weißt eine sehr hohe Ähnlichkeit mit Fundstück Oscar eins auf. Ich ergänze, Objekt entspricht Fundstück Oscar eins in allen Einzelheiten. Keine eigenständige Fortbewegung!"
"Otro globo maledito!" zischte Ramires, der die Meldung mitgehört hatte.
"Bordsprache, Ensign Ramires", mahnte der Captain den Rudergänger. Doch innerlich musste er dem Untergebenen zustimmen. Wenn das gemeldete Objekt wirklich genauso aussah wie das unter der Bezeichnung Oscar 1 registrierte Objekt, dann hatten sie noch so eine verfluchte Eiskugel gefunden.
"Brücke an Radar! Ausguck meldet treibendes Objekt von gleicher Beschaffenheit wie Oscar eins zwanzig Grad steuerbord voraus. Können Sie einen Kontakt in dieser Richtung bestätigen?" erkundigte sich der Kapitän über Bordsprechanlage beim Radaroffizier vom Dienst. eine eher mädchenhaft klingende Frauenstimme antwortete:
"Hier Petty Officer Kowalsky. Kein Radarkontakt in angegebener Richtung, Sir! Nur die Kontakte Romeo zwei eins acht bis zwei zwei neun ohne auffällige Bewegungsänderungen."
"Berty, Sie haben wohl leider recht. Noch so eine verwünschte Kugel", grummelte der Kapitän, als die Sprechverbindung zum Radarkontrollraum beendet war. "Dann haben wir eben zwei von der Sorrte", seufzte er. "Kurs wie angegeben beibehalten. Ich schicke Commander Gragson zu Ihnen hoch."
"Verstanden, Sir", bestätigte der Rudergänger. Flanigan rief den gerade dienstfreien ersten Offizier auf die Brücke, um dann selbst in den Funkraum zu gehen, um über die hochverschlüsselte Satellitenverbindung dem Kommando der Atlantikflotte zu melden, dass womöglich noch so eine schwarze Eiskugel gefunden worden war. Gragson indes kommandierte die nötigen Manöver zum Ausbringen eines Beibootes, mit dem das im Wasser treibende Objekt aufgefischt und übergeholt werden sollte.
"Schicken Sie ein mit tagesaktueller Bildverschlüsselung zu uns, Captain Flanigan!" befahl Admiral Cunningham über die Satellitenverbindung. Vermerken Sie den Fund und den ihm vorausgegangenen als streng geheim! Werde den Marineminister informieren. Die bisherigen Befehle bleiben in Kraft!"
"Aye, Sir. Vermerke Funstück als streng geheim und erwarte Treffen mit USS Constitution um achtzehnhundert Zulu", bestätigte Flanigan und tauschte die üblichen kurzen Abschiedsfloskeln mit dem Admiral aus, unter dem er damals als junger Lieutenant seine erste große Fahrt erlebt hatte.
"Sir, die Hammerhead hat über ULW-Verbindung bestätigt, dass sie am neu vereinbarten Wartepunkt eingetroffen ist und vorerst getaucht bleibt", meldete der Funker vom Dienst. Dann fragte er ganz außerdienstlich, ob es stimmte, dass noch so eine schwarze Eiskugel gesichtet worden war. Der Captain verwies ihn auf die höchste Geheimhaltungsstufe und hielt den Funker dazu an, keine weiteren Fragen zu stellen und auch keine wie auch immer gearteten Gerüchte zu verbreiten oder weiterzureichen. Dann kehrte er auf die Brücke zurück, um dort zu erfahren, dass das Beiboot die zweite Kugel erfolgreich aufgefischt hatte.
"Mir will nicht in den Sinn, wieso wir diesen Riesenball nicht auf dem Schirm haben. Eis kann doch mit Radar angemessen werden", meinte Commander Gragson, ein junger Offizier, der sichtlich erleichtert war, nicht auf einem Schiff im direkten Kriegseinsatz Dienst zu tun.
"Deshalb wurde die Sache unter der höchsten Geheimhaltungsstufe eingeordnet, Commander. Wir dürfen nicht einmal selbst mit der Constitution kommunizieren, wurde mir befohlen", sagte Flanigan. Vor dem Fund der ersten Kugel hatte er seinen Ausführungsoffizier regelmäßig beim Vornamen genannt. Doch seitdem die Eiskugel an Bord war waren eben alle außermilitärischen Gepflogenheiten zurückgestellt. Und jetzt kam noch so ein schwarzer Riesenglobus an Bord, der wohl genauso hohl war wie der erste. Da sie nicht den Befehl hatten, das Eis aufzutauen, konnten sie hier eben nur mit Handecholoten hantieren.
"Was ist, wenn diese Eisbälle gefährliche Stoffe beinhalten?" fragte Gragson. "Am Ende haben uns bin Ladens Leute noch irgendwelche Killerviren serviert."
"Genau deshalb bleiben die Dinger unangetastet, bis sie von der Constitution übernommen wurden. Die haben da bessere Untersuchungsmethoden und bessere Abschottungsmöglichkeiten als wir. Wir können uns aber im Zweifelsfall unter ABC-Verschlusszustand begeben", erwähnte der Kapitän der Maxwell Stephord.
"Radar an Brücke, Romeo drei zwei neun hat geschwindigkeit auf voll voraus erhöht und direkten Abfangkurs auf uns gesetzt", meldete Radaroffizierin Kowalsky. Keine Sekunde später rief der diensthabende Funker über die zweite Bordsprechleitung auf der Brücke an und teilte mit, dass die Constitution ihre Warteposition verlassen habe und eine neue Rendezvouszeit durchgegeben hatte. Flanigan gab den Befehl, die neue Uhrzeit zu bestätigen und wies Ramires an, die Fahrt von halb voraus auf voll voraus zu erhöhen, um den neuen Termin einhalten zu können. Früher war es nötig gewesen, den Maschinenraum über die geänderte Geschwindigkeit zu informieren. Dank der modernen Elektronik konnte ein Steuermann nicht nur Kurs, sondern auch Fahrtstufe mit einem leichten Hebeldruck verändern.
Kurs und Geschwindigkeit wie anbefohlen, Sir", meldete Ramires, als die zwei PS-starken Dieselmotoren der Stephord mit erhöhter Lautstärke und Tonhöhe orgelten. Doch der Captain sah nur seine Mannschaft, wie sie den neuen Fund an Bord hievten und gleich in einen leeren Tiefkühlcontainer umluden. Über die Rundrufanlage gab er deshalb noch den Befehl an alle aus, über den Fund kein Wort zu verlieren und informierte über die geänderte Uhrzeit, wann sie mit der Constitution zusammentreffen würden.
Vor der Kühlraumtür hörte Petty Officer Delorca die Durchsage des Kapitäns und seufzte. Es war noch so eine Kugel aufgefischt worden. Jetzt konnte wohl nicht mehr von einem Zufall gesprochen werden. Irgendwer hatte diese Dinger ins Meer geworfen oder die Dinger waren aus bisher unerforschten Tiefen nach oben gestiegen. Wie auch immer, Delorca gefiel das ganz und gar nicht.
John Delorca hörte das Surren des kraftvollen großen Gabelstaplers, mit dem bis zu zehn Tonnen Last auf einmal bugsiert werden konnten. Er wandte sich um und sah Master Chief Radcliff, einen Mann wie einen Kleiderschrank, der den Stapler so behutsam wie nötig manövrierte, um den auf den zwei breiten Gabeln ruhenden Kühlcontainer mit der geborgenen Kugel nicht herunterfallen zu lassen. "Tür freimachen!" bellte Radcliff einen kurzen Befehl an Delorca. Dieser Wich zur Seite. Leise Zischend und klackend entriegelte sich die Tür. Dann fuhr sie von einer starken Hydraulik getrieben zur Seite. Schlagartig strömte eiskalte Luft aus der Kühlhalle und ließ den nur in gewöhnlicher Uniform steckenden Petty Officer zittern. Der Gabelstapler verzögerte behutsam, blieb jedoch nicht stehen. Als die Tür weit genug aufgefahren war brummte das Verladefahrzeug passgenau hindurch und steuerte den Platz neben der ersten schwarzen Eiskugel an. Delorca musste in dieser Situation an den Autounfall denken, bei dem sein Vater gestorben war, als er gerade erst sechs Jahre alt war. Er hatte diesen Unfall aus zwanzig Metern Ferne mit angesehen, weil sein Vater ihn da gerade von der Vorschule abholen wollte. So meinte er einen Moment, Radcliff würde gleich mit über hundert Sachen gegen die mehr als sechs Meter hohe Stahlwand krachen. Doch der Master Chief brachte die ihm zugeteilte Ladung sicher ans Ziel und schaffte es, sie ganz behutsam von der abgesenkten Stapelgabel heruntergleiten zu lassen. Das Gefühl, dass gleich noch was passieren würde verstärkte sich in Delorca. Es wurde förmlich greifbar. Doch Radcliff schaffte es, den Stapler in der fast leeren Kühlhalle zu wenden und ohne anzustoßen durch die Tür hinauszufahren. Hinter dem Verladefahrzeug zischte es, und die Tür fuhr wieder zu. Die Verriegelung rastete wieder ein. Der kalte Luftstrom versiegte. Delorca wollte Radcliff noch etwas fragen. Doch dieser beschleunigte den Stapler und schaffte es ganz knapp, damit um die nächste Biegung zu steuern. Das Surren des Motors klang unheilvoll nachhallend durch die Gänge im Bauch der Maxwell Stephord. Delorca hatte in diesem Moment den Eindruck, dass sein ganzes bisheriges Leben ein einziger Fehlschlag gewesen war, ja dass er ja nur deshalb zur Navy gegangen war, weil er ja für nichts anderes gut genug gewesen war. Delorca dachte nicht daran, dass er die Einlagerung des zweiten Fundstückes bestätigen musste, wie es sich für einen Lagerverwaltter gehörte. Erst als die Bordsprechanlage knackte und die Stimme von Lieutenant Dover, dem Vertreter des Zahlmeisters, nach dem diensthabenden Türsteher fragte fand Delorca in das Hier und Jetzt zurück und machte die vorschriftsmäßige Meldung.
"Soolche Nachlässigkeiten wollen wir nicht zur Gewohnheit werden lassen, Petty Officer Delorca", blaffte die blechern verzerrte Stimme von Lieutenant Dover aus dem Lautsprecher zurück. "Schon schlimm genug, dass Radcliff nicht die Verlegung gemeldet hat. Weitermachen!" Dann knackte es wieder im Lautsprecher, und Delorca war wieder allein mit sich und seinen dumpfen Gefühlen, für die er keine Erklärung fand.
Der Kommandant der Maxwell Stephord schrak laut schreiend aus einem schlimmen Traum auf. Er war vor einer gewaltigen Lohe geflohen, die wie der Atem der Hölle selbst aus der erst rotglühenden und dann schlagartig aus dem Rahmen gesprengten Maschinenraumtür entfahren war. Zwei seiner Kameraden waren dem flammenden Verderben in der ersten Sekunde zum Opfer gefallen. Trotz der Feuerschutzausrüstung waren sie von den Flammen verschlungen und wohl in ihrer gnadenlosen Glut einen qualvollen Erstickungstod gestorben. Flanigan selbst hatte fast den Niedergang erreicht, der ihn auf das rettende Deck führte, als die Feuerwalze durch den ihr vorauswehenden Rauch und den plötzlichen Nachschub an Frischluft mit lautem Getöse durchzündete und mit einem Sprung zwanzig Schritte überwand. Ian Flanigan hatte noch gemeint, die verzehrende Hitze im Rücken zu spüren, als er sich in seiner Koje wiederfand. Sein Herz hämmerte. Sein Atem ging schnell und schnaubend wie eine mit Höchstgeschwindigkeit bergan fahrende Dampflokomotive. Er brauchte mehrere Sekunden, um sich zu beruhigen. Der Albtraum war vorbei. Leider war es einer von der Sorte, die auf wirklich erlebte Katastrophen und Ängste zurückgingen.
Flanigan hatte als junger Petty Officer an Bord der Korvette Norwich gedient, als das Feuer im Maschinenraum ausgebrochen war. Weil ein Mann noch aus dem Maschinenraum flüchten wollte und dabei das Schott geöffnet hatte war es dem Feuer möglich geworden, sich explosionsartig auszubreiten. Mehrere Durchzündungen und die Zufuhr aus Sauerstoffleitungen hatten den Brand zum Inferno gemacht. Beim Versuch, das Feuer zu bekämpfen waren zehn Mann gestorben, darunter Flanigans Kabinenkamerad Luke Middleton. Die Norwich musste evakuiert werden, weil das Feuer durch die unzureichend abgeschotteten Lüftungswege in andere Abteilungen vorgedrungen war, erst Rauch dort ausgetreten war und dieser sich dann bei Berührung mit den Flammen schlagartig entzündet hatte. Das alles war schon zehn Jahre Her. Doch die Angst vor dem Feuer, ja vor einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe, hielt den Kapitän weiter gefangen. Es war ihm unmöglich, die geträumte Szene aus dem Kopf zu verdrängen. Doch er musste schlafen. Er musste fit sein, wenn die Constitution die beiden schwarzen Eiskugeln übernehmen sollte.
Als er merkte, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war, stemmte er sich aus seiner Koje und begab sich in die Nasszelle, um sich einsatztauglich zu machen.
Offenbar fühlte nicht nur Flanigan sowas wie Unbehagen wegen einer über ihnen schwebenden Katastrophe. Auf dem Weg zur Brücke begegnete er vier Besatzungsmitgliedern mit übernächtigten Gesichtern, die irgendwie trübselig dreinschauten und nur halbherzig salutierten. Flanigan, der an Bord als sehr umgänglicher und nur in ernsten Fällen autoritär auftretender Kommandant galt, fühlte sich jetzt irgendwie missachtet und herrschte den vierten Matrosen, der nur schwerfällig grüßte an, dass er gefälligst ordentlich zu salutieren habe. Der Mann, ein Petty Officer zweiter Klasse, stierte den Kapitän verstört an und nickte schwerfällig. "Was ist mit Ihnen los?" schnaubte Flanigan den Petty Officer an.
"Sir, weiß ich nicht, Sir", erwiderte der andere mit unüberhörbarer Schwermut in der Stimme.
"Dann finden Sie das heraus!" befahl der Kapitän der Stephord und ließ den zurechtgewisenen Matrosen stehen.
"Sir, Doc McFurson meldet zwanzig Patienten, die unter Schlafstörungen und wiederkehrenden Albträumen leiden", begrüßte Commander Gragson den Kommandanten des Zerstörers.
"Wiederkehrende Albträume?" fragte Flanigan und unterdrückte den Drang zum Gähnen.
"Ja, Sir. Alle die sich beim Doc gemeldet haben erwähnten mindestens vier oder fünf schwere Träume, die sie am Durchschlafen gehindert hätten. Öhm, warum sind Sie jetzt eigentlich schon auf der Brücke, Sir?"
"Kann ich nicht erklären", grummelte der Kapitän. "Ich löse Sie gleich ab, Commander. Ich möchte Sie heute Nachmittag voll einsatztauglich auf der Brücke haben, wenn wir diese schwarzen Kugeln an die Constitution übergeben."
"Aye, Sir", bestätigte Gragson. Dann sprach Flanigan die für das Protokoll nötige Ablöseformel und sah, wie der Commander die Jakobsleiter von der Brücke hinabstieg. Rudergänger vom Dienst Martinson nickte dem Kapitän zu, dass er auf dessen Befehle wartete.
"Krankenrevier an Brücke. Commander Gragson, melde sieben weitere Zugänge. Gleiche Symptome", klang Doc McFursons SStimme aus dem Lautsprecher der Sprechanlage.
"Hier Captain Flanigan. Habe um null dreihundertzweiundvierzig Bordzeit die Brücke übernommen, Doc. Erwarte einen vollständigen Bericht, wenn erste Ergebnisse vorliegen!"
"Aye, Sir", bestätigte der Bordarzt. Dann sagte er noch: "Nach den bisherigen Aussagen haben alle bei mir vorstellig gewordenen von traumatischen Erlebnissen gesprochen, die sie entweder längst verarbeitet oder so gut wie aus der Erinnerung verdrängt haben. Zu den Patienten gehören auch zwei Krankenschwestern. Ein schriftlicher Bericht geht Ihnen zu, wenn die Anamnese aller Patienten vollständig ist."
"Möglichst gestern, Doc", blaffte der Kapitän. Er fragte sich, was an Bord los war. Denn auch er hatte ja einen schweren Traum gehabt, aber nur einen. So fragte er den Rudergänger, wann er Freiwache habe.
"Ab null sechshundert Bordzeit, Sir", antwortete Martinson.
"Dann hoffe ich, dass wir bis dahin wissen, was los ist", grummelte Flanigan.
Als Gragsons Vertreter Lieutenant Commander Michaels die Brücke betrat und sich zum Dienst meldete sah Flanigan ihm an, dass auch er nicht wirklich geschlafen hatte. Deshalb befahl der Captain ihm, sich bei McFurson im Krankenrevier zu melden und befahl einem anderen Lieutenant auf die Brücke.
Um punkt sechs Uhr morgens Bordzeit sollte an und für sich die Ruderwache wechseln. Doch als die Ablösung fast von der Leiter fiel und bleich wie ein Vampir auf die Brücke wankte herrschte ihn der Kapitän an, was los sei und erfuhr, dass der Rudergänger trotz aller Bemühungen nicht hatte schlafen können und andauernd von etwas geträumt hatte, was ihm ziemlich heftig zugesetzt habe. Das, so der Matrose im Rang eines Petty Officers dritter Klasse, dürfe ihn aber nicht von seiner Pflicht abhalten.
"Da draußen fahren andere Schiffe herum, und wir kreuzen gerade in einem Gebiet, in dem wir mit Treibgut rechnen müssen", knurrte der Kapitän. "Da will ich keinen unausgeschlafenen Rudergänger auf der Brücke haben. Melden Sie sich krank und lassen Sie sich untersuchen. Kommt heraus, dass Sie aus eigenem Verschulden keinen Schlaf bekommen haben machen Sie sich auf eine Disziplinarmaßnahme gefasst", blaffte der Captain. Der übernächtigte Rudergänger nickte bleischwer und verließ die Brücke, wobei er fast wieder von der Jakobsleiter abrutschte.
"Sie können gehen, Martinson. Ich übernehme das Ruder, bis ein einsatzfähiger Ersatz auf der Brücke ist", grummelte der Kommandant der Stephord. Martinson nickte und übergab die Ruderkontrolle an den Kommandanten.
Flanigan schaltete den Autopiloten auf Kurs- und Geschwindigkeitsbeibehaltung und befahl der Radarstation, jeden auf dem Kurs georteten Kontakt sofort zu melden.
"Außer der Constitution befindet sich kein weiteres Fahrzeug auf unserem Kurs, Sir", erwiderte der diensthabende Radaroffizier.
Dann kam Doc McFursons Anruf. Der Arzt hatte zehn weitere Patienten aufgenommen. Das waren zwei Drittel der dienstfreien Besatzung. "Negativ auf Drogen, Sir. Eine Auswertung der genommenen Blutproben läuft noch. Die Auswertung der Aussagen zeigt, dass die ersten zwanzig Patienten und der von Ihnen zu mir befohlene Rudergänger ausschließlich von Erlebnissen geträumt haben, die in ihrer Kindheit oder Jugend stattfanden. Die anderen Patienten haben von Ereignissen geträumt, die sie als Erwachsene durchlitten haben. Auch solche, die keine nennenswert traumatischen Erlebnisse zu berichten hatten haben geträumt, von immer enger werdenden Räumen und von gleißendem Licht, in das sie geraten sind. Ich vermute, dass dies aus der Tiefe des Unterbewusstseins aufgestiegene Erinnerungen an die eigene Geburt betraf. Tja, und eine meiner Krankenschwestern äußerte etwas, weshalb ich demnächst mit einem Kollegen von der psychologisch-psychiatrischen Betreuung sprechen muss. Mehr zu erzählen verbietet die Schweigepflicht."
"Ich brauche für das Treffen mit der Constitution eine einsatzfähige Mindestbesatzung von dreißig Leuten, davon einen ausgeschlafenen Rudergänger", knurrte der Kapitän.
"Dann muss ich stimulanzien verabreichen, Sir. Dafür benötige ich Ihre schriftliche Anweisung für die Akten, da wir nicht im Kriegszustand sind."
"Zum einen sind wir alle seit dem elften September im Kriegszustand, Doc. Zum zweiten ... Aber lassen wir das! Sie bekommen meinen schriftlichen Befehl, den Leuten die nötigen Pillen oder Spritzen zu verabreichen, sobald das Rendezvous mit der Constitution ansteht."
"Öhm, Sir, darf ich im Zusammenhang mit den Krankmeldungen noch eine Vermutung äußern, die nicht ins Protokoll kommt?" fragte der Arzt. "Genehmigt", grummelte Flanigan. "Die Häufigkeit und Stärke der albtraumartigen Schlafstörungen sind umgekehrtproportional zum Abstand von den beiden Kühlhallen für die Bordvorräte. Je näher die Patienten daran untergebracht sind, desto heftiger und häufiger wurden sie von Albträumen belastet. Ich möchte hier keinen Klabautermann aufscheuchen, Sir, aber irgendwie sieht das für mich so aus, als wenn etwas in den Lagerräumen diese Schlafstörungen ausgelöst hat, Oscar eins und zwei. Da ich dafür jedoch keine Beweise erbringen kann bitte ich darum, dies ausschließlich als ungestützte Mutmaßung zu sehen und diese nicht im Protokoll oder Logbuch zu verzeichnen."
"Sie sind ja lustig, Doc", grummelte der Kapitän. Doch so ganz abwegig empfand er das nicht. Was wussten sie denn von den beiden Eiskugeln, außer, dass sie aus Eis waren und für Wassereis ungewöhnlich dunkel waren, als sei in dem Eis Ruß oder Kohlenstaub verbacken. Außerdem fühlte er selbst eine unerklärliche Trübsal, die nicht klar zugeordnet werden konnte. Ja, und weil er mit seiner Kajüte am weitesten von den Lagerräumen entfernt untergebracht war hatte er wohl nur diesen einen heftigen Albtraum erlebt, über den er dem Arzt besser erst einmal nichts erzählte. Doch dann fragte der Knochenflicker und Pillenverabreicher der Stephord: "Bei der Gelegenheit, Captain, hatten Sie zumindest einen ungestörten Schlaf?"
"Ich bin Einsatzfähig genug. Das dürfte Ihnen als Antwort reichen", erwiderte der Kapitän, wohl wissend, dass er dem Arzt damit verriet, dass er wohl keinen ungestörten Schlaf bekommen hatte. Außerdem war es ja schon im Logbuch festgeschrieben, dass er drei Stunden vor der eigentlichen Zeit auf die Brücke gekommen war.
"Aye, Sir", bestätigte der Arzt die erhaltene Antwort. Der Captain wies den Doktor noch an, bis zu einer ausdrücklichen Genehmigung durch ihn selbst keinen Bericht an einen Kollegen zu versenden, für den Fall, dass die ungewöhnlichen Schlafstörungen tatsächlich mit den beiden schwarzen Eiskugeln zu tun haben sollten. Dann trennte er die Verbindung zur Krankenstation wieder. Dass er damit eine wertvolle Chance vertat, noch rechtzeitig auf eine unheilvolle Bedrohung zu reagieren konnte er nicht ahnen.
Neun Stunden später. Der Captain hatte sich vorsorglich mit einer halben Kanne starken Kaffees und einer reichhaltigen Mittagsmahlzeit wach genug bekommen, um das Treffen mit der Constitution zu überstehen. Er kannte das halbgeheime Forschungsschiff der US Navy noch nicht und wusste nur, dass es eine Art schwimmendes Hochsicherheitslaboratorium war. Als er dann vom Ausguck erfuhr, dass ein altmodisch wirkender, mit Rostflecken verunzierter Tanker unter panamesischer Flagge direkt voraus ausgemacht wurde wunderte er sich nicht schlecht. Er enterte persönlich zum Ausguck auf und warf einen Blick durch das um zwei Achsen drehbare Fernglas. Da sah er das riesige Schiff selbst.
"Als wenn das Schiff jeden Moment auseinanderfällt", bemerkte der Kapitän. Dann sah er auf dem Schiff einen Scheinwerfer aufleuchten, der gegen das Tageslicht anstrahlte. Das Licht wurde geschwenkt und dann wieder gelöscht. Dann blinkte es in mal kürzeren und wieder längeren Abständen auf. Der Kapitän erkannte den Blinkcode sofort als einen in der Navy gebräuchlichen Lichtsignalcode und entzifferte die Signale als: "Hier ist die Constitution. Registrierung US Navy S010289. Erbitten Erlaubnis zum Beilegen! Funkstille bleibt gültig. Gez. Cpt. Edward Gibson"
Der Kapitän der Stephord befahl, den lichtstärksten Suchscheinwerfer auszurichten und folgende Antwort zu blinken: "Constitution, hier die Stephord. Erlaubnis zum Beilegen erteilt. Näheres per Direktgespräch. Bitte um Treffen bei Ihnen oder mir. Gez. Cpt. Flanigan
"Wie in "Jagd auf Roter Oktober, Sir", grinste der Ausguck, als der Lichtsignalaustausch beendet war.
"Ja, nur, dass wir hier keine Pingsignale verschicken", knurrte Flanigan, bevor ihm klar wurde, dass der Mann im Ausguck nur die Stimmung auflockern wollte. "Halten Sie weiter Sichtkontakt! Ich bin auf der Brücke", sagte er noch und stieg wieder auf das Verdeck hinunter.
"Auf dem Radarschirm war der Kontakt gerade mal so groß wie ein Schnellboot", meinte Gragson, der die Brückenwache innehatte. "Ich habe mir das Ortungsbild mal hochschicken lassen."
"Tarnbeschichtung, wohl auch was ganz geheimes", meinte der Captain. Dann erhielt er die Bestätigung, dass Gibson und drei seiner Leute übersetzen wollten. Er stimmte zu.
Als die beiden Schiffe miteinander vertäut waren wechselten vier Mitglieder der anderen Besatzung herüber. Flanigan bekam große Augen, weil die vier in gelben ABC-Schutzanzügen steckten, als sei bei ihm an Bord eine tödliche Seuche ausgebrochen oder eine tödliche Dosis Strahlung ausgetreten. Der größte der gegen die Umwelt abgeschirmten Gäste war Edward Gibson, der Kapitän. Seine Begleiter waren allesamt Inhaber von Doktorgraden in höheren Offiziersrängen. Als unerwartet, wenn auch nicht besonders ungewöhnlich, empfand Flanigan es, dass mit Major Miriam Howard eine Angehörige des Marine-Korps zu den Besuchern gehörte.
"Wir möchten die Fundstücke sehen und untersuchen. Anschließend sollen unsere Spürroboter Luft- und Wasserproben nehmen, um auf bakterielle oder radioaktive Belastungen zu prüfen", sprach die Marine-Majorin. Durch den geschlossenen Schutzhelm und die Geräusche ihres Atemgerätes klang sie fast wie eine Schwester von Darth Vader, dachte Flanigan einen winzigen Moment lang. . Gibson, der schrankhohe und -breite Kapitän, für den sie wohl einen maßgeschneiderten Schutzanzug hatten anfertigen müssen, ergänzte die Anordnung der Majorin noch dahin, dass er sagte: "Wir wissen zwar, dass Sie ABK-Schutzmaßnahmen anwenden können. Aber diese Funde liegen außerhalb bisher bekannter Ereignisse und Formen. Daher habe ich den Major mitgebracht, weil sie als Angehörige des medizinischen Stabes des Marine-Korps die nötigen Befugnisse hat, die Stephord unter Quarantäne zu stellen. Notfalls müssen wir Ihr Schiff in Schlepp nehmen und zu unserer Forschungsbasis bringen."
"Das entscheidet die Admiralität in Norfolk", warf der Kommandant der Stephord ein. Er dachte daran, dass die gedrückte Stimmung und die Schlafstörungen vielleicht doch von einer Virus- oder Bakterieninfektion herrühren konnten. Doch er wollte hier und jetzt nichts darüber äußern.
Die vier von der Constitution ließen sich die Kühlhalle zeigen und untersuchten mit kleinen Geräten, von denen der Kapitän der Stephord bisher noch nichts wusste, die beiden schwarzen Kugeln, wohl auf Radioaktivität und toxische Substanzen. Gleichzeitig durchsuchten fünfrädrige Robotfahrzeuge mit eingebauten Detektoren jeden Winkel des Schiffes, saugten zischend Umgebungsluft ein oder erhielten von einem der vier Besucher Trink- und Abwasserproben. Flanigan und der Bordarzt mussten sich darauf eine Tirade der Medizinerin vom Marinekorps anhören, dass sie seit der Übernahme des ersten Fundstückes keine Aufbewahrung des verbrauchten Wassers gepflegt hatten. Immerhin hätten sie dadurch ja das Meer mit gefährlichen Stoffen verunreinigen können. Darauf erwiderte der Bordarzt gereizt: "Da wir nicht wissen, wie lange diese Eisgloben im Meer trieben hätte das absolut keine Rolle mehr gespielt, weil diese Gebilde dann schon längst das Meer verunreinigt hatten, als wir sie fanden." Das Argument wollte die Majorin nicht gelten lassen und entgegnete:
"Ja, nur dass die Konzentration suspekter Substanzen oder Mikroorganismen in Ihrem Abwasser wesentlich größer und damit leichter zu bestimmen wäre als in der ozeanischen Verdünnung, zumal wir nicht ausschließen dürfen, dass die Substanzen erst mit menschlichen Stoffwechselvorgängen interagieren um ihre toxizität oder Virulenz zu entfalten."
"Ich bin nur ein kleiner Lieutenant Commander, Ma'am. Wenn Sie meinen, dass wir uns falsch verhalten haben muss ich das anerkennen", seufzte der Bordarzt. Flanigan nickte ihm beipflichtend zu.
Nach fünf Stunden intensiver Untersuchung stand fest, dass es keine verdächtigen Moleküle und auch keine Strahlenquellen an Bord gab. Daher wurden die Eiskugeln unverzüglich von zehn kräftigen Männern der Constitution übergeholt und wohl gleich in eines der geheimen Labore tief im Bauch des getarnten Schiffes verfrachtet. Flanigan sah zu, wie die Männer und Frauen in Gelb auf ihr Schiff zurückkehrten. Als letzter winkte ihm der über zwei Meter große Gibson zu und legte zum Gruß die Hand an den Helm. Dann enterte auch er sein eigenes Schiff und gab Befehl zum Losmachen. Als die armdicken Trossen gelöst und eingeholt waren quirlten die vier übergroßen Schrauben der Constitution bereits das achterliche Wasser zu einer immer helleren Schaumspur. Die kraftvollen Wasserstrahlruder des Riesenschiffes bugsierten dieses behutsam aus der Nähe der Stephord, die erst wartete, bis der geheime Forschungskreuzer mindestens hundert Meter zwischen sich und dem Zerstörer gebracht hatte. Dann gab auch Flanigan Befehl zum Abdrehen und Kurswechsel. Die Atlantikflotte hatte grünes Licht gegeben, das Treffen mit der Hammerhead, einem U-Boot der Seawolf-Klasse, wahrzunehmen. Weshalb das seit Monaten geplante Manöver so lange verzögert worden war durfte die Besatzung der Hammerhead jedoch nicht erfahren. Die Stephord hatte halt noch etwas zu tun gehabt.
Als der angebliche Tanker mehr als eine halbe Seemeile entfernt war traf sich Flanigan mit seinen Senioroffizieren in der Offiziersmesse, die zugleich ein abhörsicherer Konferenzraum war. Flanigan merkte es selbst und sah es den anderen an, dass ein bisher nicht klar zu bestimmender Druck von ihnen allen gewichen war. Deshalb sagte er gleich zur Eröffnung:
"Meine Herren, was immer diese Kugeln bedeuten mögen, irgendwie empfinde ich gerade eine große Erleichterung, sie losgeworden zu sein. Ich weiß nicht wieso, aber es ist so."
"Das deckt sich mit meiner eigenen Empfindung", erwiderte Doktor McFurson darauf. Gragson bestätigte, dass auch er bis vor einer halben Stunde einer ihm unverständlichen Trübsal und Beklommenheit ausgesetzt gewesen sei. Da mit der Admiralität vereinbart worden war, alle Aufzeichnungen über den Fund an die Mannschaft der Constitution auszuhändigen und keine weiteren Angaben über diese Fundstücke zu machen schwor der Kapitän seine Offiziere darauf ein, die Angelegenheit als glimpflichen Ausgang für die Besatzung zu sehen und deshalb kein weiteres Aufheben zu machen. Dass die Kugeln gefunden und verwahrt worden waren galt als strengstes Geheimnis. Wie recht Flanigan damit hatte, dass es für die Stephord noch einmal glimpflich ausgegangen war, wusste er nicht. Doch sollte er es bald erfahren.
Sie wussten, dass es verboten war. Doch gerade das hatte ihre Beziehung in den letzten drei Jahren so schön spannend und prickelnd gehalten. Immer wieder neue Verstecke zu finden, wo sie die über Wochen angestaute Lust freisetzen konnten, das gefiel ihr und ihm. Auch wenn sie vom gleichen Rang waren, auch wenn sie eine Offizierin der Marines und er ein mit allen Meerwassern gewaschener Navy-Offizier war, so galt doch das schiffsweite Fraternisierungsverbot. Kein Besatzungsangehöriger durfte mit einem anderen Mannschaftsmitglied etwas geschlechtliches anfangen, ohne drastische Disziplinarmaßnahmen befürchten zu müssen. Warum sie ausgerechnet in dieser Nacht noch einmal ihre über nun schon drei Wochen niedergehaltene Leidenschaft ausleben wollten lag daran, dass sie beide Mitglieder eines Projektteams waren, das wegen ursprünglich aus sieben Leuten bestand und wegen eines weiteren Untersuchungsobjektes auf vierzehn Mitglieder erweitert wurde.
Ihre Begierde füreinander überlagerte jedes Gewissen, jede Furcht und jede Vernunft. Als ihm dann noch die Schlüsselkarte für den ABC-Sicherheitslagerabschnitt zugeteilt worden war, um die gemachten Funde dort unterzubringen, hatte sie sofort in der zwischen ihnen allein gepflegten Zeichensprache zugestimmt, es in der Nähe zu treiben. Dort, wo sonst kein Besatzungsmitglied sich aufhielt, waren zwar Überwachungskameras montiert, doch sie hatte bei einer Prüfung der Evakuierungsprotokolle herausgefunden, dass die automatische Software der automatischen Überwachung eine unbeabsichtigte Hintertür bot, die sie eine Minute, bevor sie den gesicherten Bereich betraten, über ihr ans Bordnetz angeschlossenes Assistennzgerät geöffnet und alle Aktivitäten der Überwachungssoftware in den Bereitschaftsmodus versetzt hatte. Jetzt waren sie da, wo sie hinwollten.
Er holte die in einem Bedarfsladen für Marineangehörige erworbene Luftmatratze heraus, die im luftleeren Zustand gerade einmal halb so groß wie eine Seite Schreibmaschinenpapier war. Er schloss die CO2-Patrone an das Ventil und öffnete die Patrone. Laut zischend flutete reines Kohlendioxyd die Matratze, die sich zunächst ziehharmonikaartig auseinanderfaltete und dann zu einer zwei Meter breiten und einen Meter breiten Unterlage aus graublauem Elastikkunststoff anschwoll. Als sie prall und faltenlos aufgeblasen war schloss er die Patrone wieder. Die verbotene Tat konnte mal wieder vollbracht werden.
Doch diesmal dauerte es länger, bis beide die höchste Wonne ihrer gemeinsamen Wollust erreichten. Es war, als wenn irgendwas oder irgendwer ihnen jede Lust absog, bevor sie ihre Körper auflodern lassen konnte. Doch irgendwann war es doch soweit. Leidenschaftlich genug, um es zu genießen und doch darauf bedacht, nicht das ganze Schiff zu beschallen erlebte sie endlich den Gipfel der Wonne, diesmal zusammen mit ihm. Sie umklammerte ihn und hielt ihn an sich gedrückt. Sie kannte es eigentlich so, dass sie eine volle Minute brauchte, um wieder auf Normalzustand herunterzukühlen. Doch diesmal dauerte dieser Vorgang nicht so lange. Es war ihr sogar so, als seien nur drei Sekunden vergangen. Das verwunderte sie. Er hingegen hing erschöpft mit ihr zusammen, stierte abgekämpft über sie hinweg in die Dunkelheit des fensterlosen Raumes, der keine zwanzig Meter von der hermetisch versiegelten Aufbewahrungskammer lag, in dem die beiden schwarzen Eiskugeln lagen. Sie merkte, dass irgendwas mit ihr nicht stimmte. Plötzliche Beklemmung, das Gefühl, ertappt worden zu sein oder von etwas unüberwindlichem bedroht zu werden bliesen die letzten Flammen ihrer verbotenen Leidenschaft aus. Er war offenbar schon wesentlich heftiger in jenen Sog aus Trübsal und Ertapptheit geraten. Denn er wimmerte, als habe er gerade eben nicht mit seiner Geliebten geschlafen, sondern den Befehl zu seiner Hinrichtung erhalten.
"Verdammt, Jim, was ist mit dir. Plötzliche Moralattacke oder was?" zischte sie ihrem Geliebten zuund versuchte, ihn noch einmal zu umarmen. Doch irgendwie fühlte sie gerade, dass das sie nicht glücklich machen würde. Ja, es war ihr, als hätte sie gerade eine höchst bestürzende Nachricht erhalten. Sie ließ von ihrem heimlichen Liebhaber ab und blickte sich um. Was ihr und ihm da zusetzte war nicht normal. Das kam nicht von innen her. Drei Jahre waren sie zusammen. Jedesmal, wenn sie es taten hatten sie es nicht bei einer Runde belassen und danach auch nie solche Trübsal empfunden. Um sie herum war nur die Dunkelheit. Doch genau diese machte ihr gerade Angst, und diese Angst wurde immer stärker. Sie konnte trotz der angepassten Augen nicht mehr erkennen, wo sie war, konnte ihren Liebhaber nur wahrnehmen, weil er und sie noch auf dieser Luftmatratze lagen. Dann wurde es auf einmal eiskalt um sie herum, als seien sie mal eben in das Nordpolarmeer gefallen. Beide zitterten. Die Angst und die Kälte setzten ihnen beiden so heftig zu, dass sie einige Sekunden lang nicht reagieren konnten. Das laute Pochen aus der Ferne schrieben beide ihren eigenen Herzschlägen zu. Dann wurde es wieder still. Schlagartig verschwand die Eiseskälte wieder, und die vollständige Finsternis gab wieder mehr schattenhafte Umrisse der Umgebung frei. Auch das leise Orgeln der vier Motoren, die mehr als zweihundert Meter weit hinter ihnen liefen, klang nun wieder so allgegenwärtig, so bekannt und vertraut zu ihnen. Auch die Angst und die Ausweglosigkeit, die sie eben noch umklammert hatte, verebbte. Zurück blieb das Gefühl, etwas unheimliches erlebt zu haben. Doch dann sagte er zu ihr:
"Mimi, ich glaube, die haben hier gerade irgendwas eingesprüht, um die Luft schadstofffrei zu blasen. Am besten machen wir, dass wir hier wegkommen, bevor die unseren eigenen CO2-Ausstoß noch registrieren können."
Sie stimmte zu. Um keine Gasalarmvorrichtung zu kitzeln schleppten sie die noch aufgepumpte Luftmatratze behutsam durch die beiden schweren Schotte zum Aufgang fünfzig Meter vom Bug entfernt und bugsierten sie in Richtung Abluftschacht. Erst dort ließ er die Luft aus der Matratze und faltete sie dabei Stück für Stück weiter zusammen. Seine Geliebte half ihm dabei.
"Kennst du was, das einem die größte Lust vergellen kann, wenn man voll dabei ist?" fragte sie ihn.
"Wenn du mich so fragst, Infraschall. Ich hätte das Schiff doch mal besser studieren sollen. Dann wäre uns dieser Gruseleffekt mit der Eisdusche und dem Angstmachergefühl wohl entgangen."
"Dann gehen wir besser dahin, wo wir hingehören. In drei Stunden sollen wir ja die beiden schwarzen Kugeln untersuchen."
"Meinst du, das hätte auch von denen kommen können?" wollte er wissen.
"Du bist lustig. Die liegen unter drei Tonnen Trockeneis in einer zweifach hermetisch gesicherten Kammer. Da kommt nicht mal das kleinste Virus raus, und strahlen tun die Dinger auch nicht. Habe ich schließlich selbst ausgemessen."
"Und wenn es die Eier einer Eisdämonin sind, die die Jungs und Mädchen von der Stephord da aus dem Meer gefischt haben", scherzte Jim, der offenbar wieder Herr seiner Lässigkeit geworden war.
"Dann sollte ich bei der Untersuchung auf Infrarotdurchlässigkeit besser nicht zu heiß aufdrehen, damit wir die nicht ausbrüten", trieb sie den Scherz weiter.
Drei Stunden Später betrat der von diesen verbotenen Dingen nichts ahnende Bordarzt Keith Mulligan das Büro seiner Arbeitsstätte. Dort begrüßten ihn sein Stellvertreter Lieutenant Francesco Donatello und die leitende Krankenschwester Lieutenant Commander Senta Pontetresa.
"Irgendwelche Vorkommnisse?" fragte Mulligan, der der nicht gerade hochgewachsenen Krankenpflegerin gerade bis zur Unterkante ihres Brustkorbs reichte.
"Fünf Matrosen haben einen heftigen Schüttelfrostanfall verspürt und den Notruf gedrückt", sagte Donatello. Mulligan ließ sich die Krankenberichte zeigen. Da sie auf diesem Schiff einige hochansteckende Erreger mitführten war jede gemeldete Unpässlichkeit mit äußerster Sorgfalt zu prüfen. Deshalb waren den fünfen gleich Blutproben und Urinprobn entnommen worden, die noch untersucht wurden. Als der Chefarzt las, dass sie alle in der Nähe von Laborsektor sieben, Abschnitt Blau für die Backbordseite Mittschiffs einquartiert waren stutzte er kurz. In der Nähe der Quartiere, allerdings zehn Decks weiter unten und durch ein System aus Hochsicherheitsschleusen abgeschnitten lagerten die beiden Fundstücke, die Major Howard gestern an Bord gebracht hatte.
"Gut, wenn die Proben negativ auf alles sind, was irgendwie verdächtig ist schicken wir die fünf wieder auf Wache. Ansonsten fängt gleich die große Untersuchung unserer neuesten Errungenschaften an. Öhm, bleibt es dabei, den Versuchsreihen von hier aus zuzusehen?" wollte Mulligan wissen. Donatello wollte gerade was sagen, als unvermittelt das Alarmsignal losschnarrte. Orangerote Lämpchen blinkten über den Zugangstüren.
"Alarmstufe vier. Hat jemand neben den Pott gestrullt und dabei den Sensor für organische Verunreinigung gekitzelt?" fragte Donatello. Mulligan stierte ihn von unten her mit seinen tiefbraunen Augen an. Seine ziegelrote Igelfrisur stellte sich auf wie zur Abwehr von anfliegenden Insekten.
"Als Arzt sollten Sie derartige Spötteleien besser unterlassen, Lieutenant. Und auf diesem Schiff kann jedes Molekül zum Killer werden, wenn es nicht richtig verpackt wurde!" rief Mulligan über das enervierende Schnarren der in Zwei-Sekunden-Abstand dröhnenden Alarmanlage.
"Achtung: Sicherheitsalarm Stufe Orange. Alle dienstfreien Mannschaftsmitglieder begeben sich in die Quartiere oder suchen die nächstgelegenen Schutzräume auf. Sicherheitsalarm Stufe Orange! Alle dienstfreien Mannschaftsmitglieder in die Quartiere oder nächstgelegenen Schutzräume. Dies ist keine Übung!"
"Dann sind wir doch richtig", sagte Donatello, als die Alarmtröte nach sechzig Sekunden schwieg und nur noch die orangen Lampen über den Türen blinkten. Mulligan ging nicht darauf ein. Er eilte zu der kleinen Trittleiter, die er sich hatte beschaffen lassen, um an die Mikrofone der Sprechanlage zu kommen und rief den Sicherheitsleiter. Er legitimierte den Anruf mit seiner Obliegenheit der biomedizinischen Sicherheitsüberwachung. Im Falle eines außer Kontrolle geratenden B-Kampfstoffes konnte er sogar die Befehlsgewalt des Kapitäns außer Kraft setzen und bis zur Beendigung des Krisenfalls die Kommandogewalt ausüben.
"Commander, Öhm, Doc Mulligan, die beiden Eismurmeln sind weg", hörte Mulligan Sicherheitschef Lieutenant Commander Crane sagen und schlug sich vor den Kopf.
"Wie ist das passiert?" fragte er.
"Wird gerade untersucht, Doc. Sicher ist nur, dass die beiden ABC-Stapler, die die Kugeln zur Untersuchung in die Testkammern Foxtrott und Golf bringen wollten zwar das Trockeneis in den Lagerräumen gefunden haben, aber unter dem Trockeneis nichts mehr war. Hinzu kommt noch, dass irgendwas oder irgendwer die automatische Bewegungsmeldung und Videoverfolgung im Bereich von Sektor sieben Blau für drei Stunden im Leerlauf hat laufen lassen. Sir, ich fürchte, wir haben Spione und Saboteure an Bord. Näheres kriegen Sie von meinen Leuten oder dem Skipper persönlich. Am besten bleiben Sie in ihrem Vorstadtkrankenhaus, bis die orangen Lämpchen wieder ausgehen. Ist ja schließlich ein ausgewiesener Schutzraum."
"Genau wie das Kino, die Vorderschiffmesse und die Achterschiffmesse und natürlich der Club Stars and Stripes", zählte Mulligan die weiteren frei ansteuerbaren Schutzräume auf. Dann wurde er wieder ernst: "Commander Crane, wenn die Kugeln entwendet wurden kriegen Sie sicher eine Menge Ärger."
"Den wälze ich ab. Die Kiste mit der auf Leerlauf geschalteten Überwachung kann nur auf Clarksons Mist gewachsen sein. Der ist schließlich unser Sysadmin hier."
"Ich bitte um sofortige Benachrichtigung, wenn sich in der Sache etwas ergibt, egal was", bestand Mulligan darauf, dass er über diese Sache alles wissen wollte. Dann hörte er bereits eine Neuigkeit, die ihn auch direkt was anging:
"Doc, wo Sie schon in der Leitung sind, wir haben hier gerade einen Toten gefunden, Lieutenant Benjamin Straker. Irgendwer hat ihm wortwörtlich den Hals umgedreht. Ich schicke ein C-Team mit dem Toten zu Ihnen. Soll er durch die Schleuse?"
"War er in der Nähe eines Hochsicherheitslabors?" wollte der Doktor wissen.
"Negativ, der hat seinen Wachdienst versehen. Checke gerade die Kameras. Hups, totale Schwärze, öhm, und die Tempanzeige spinnt wohl. Die zeigt für den betreffenden Bereich glatte minus vierzig Grad Celsius. Okay, der K-Trupp ist unterwegs, Doc."
"Wenn noch mal so was vorfällt müssen wir vielleicht "Pandoras Büchse" ausrufen", sagte der Arzt.
"Oha, das wäre zu heftig", sagte Crane.
"Beten Sie zu Ihrem Gott, dass wir das nicht machen müssen", sagte Mulligan.
"Wenn wir von Gott reden könnenSie ja gleich vom Teufel reden, wo der wohl sowieso nicht mehr weit ist."
"Berufsrisiko", knurrte Mulligan. Dann trennte er die Verbindung wieder.
Sie hatten lange und beinahe unaufweckbar tief geschlafen. Eingefroren in Eis, dass ihre eigene Kraft aus dem umgebenden Wasser geformt hatte, mussten sie wohl lange Zeit umhergetrieben sein. Doch dann hatten sie die Wellen aus menschlichen Gefühlen erreicht, ganz behutsam berührt,und sie hatten die Träume der Menschen eingeatmet und sie als böse Träume wieder ausgeatmet. Dann waren Wellen der größten Lust, die Körper und Seele empfinden kann zu ihnen vorgedrungen, hatten sie durchströmt und aus dem tiefen Schlaf geweckt. Die um sie gebildeten Eisschalen waren schlagartig in Millionen Stücke zerborsten. Weil Sie Kälte nicht wahrnehmen konnten hatten sie die sie umschließenden Brocken aus einem wasserlosen Eis mühelos bei Seite räumen können, zumal das fremde Eis schlagartig zu reiner Luft wurde, als sie es lange genug mit ihren Händen und Armen bewegten. Doch sie waren eingesperrt, gefangen. Sie waren in einem ohne Magie getränkten Raum eingesperrt. Denn dieser Raum war luftdicht verschlossen. Sie konnten ihn nicht verlassen, weil sie selbst in ihrer nebelhaften Reiseform nicht hinausfanden. Immerhin drang keine Sonnenstrahlung zu ihnen durch, die ihre Kraft schwächte.
"Es ist ein schwimmendes Haus der Menschen, Schiff sagen sie dazu. Warten wir, bis einer von Ihnen die verfluchte Tür aufmacht und greifen Ihn uns", schickte der eine dem anderen zu.
"Habe Hunger! Will Lebensatem. Liebeskraft lecker, aber zu wenig", schickte der zweite zurück.
"Müssen warten", schickte der erste zurück, sich fragend, wessen Seelen der andere zu seinen Lebzeiten verschlungen hatte, dass er so sprachunfähig war.
Das Warten lohnte sich. Als eine große Metallmasse durch die Tür fuhr, in der ein Mensch eingeschlossen war, stürzten die beiden sich für den Menschen unsichtbar auf das Metallding. Doch auch das war luftdicht verschlossen und bot überhaupt keinen Durchlass. Aber Sie konnten sich an dem Etwas festhalten, das den Rest von dem wasserlosen Eis bei Seite schaffte und dann einfach stehenblieb. Doch die Tür war noch offen. Sie flüchteten schnell wie fliehende Schatten, gerade noch rechtzeitig, bevor die Tür knallend zufiel und eine weitere Tür ihnen den Weg versperren konnte. Sie fühlten die Menschen, ihre Gefühle, Stimmungen, Bedürfnisse. Sie konnten nicht erfassen, was sie dachten. Nur wer direkt mit ihnen sprach und dabei zu ihnen dachte konnte von ihnen verstanden werden.
"Hunger!" brüllte jener, der keine ausgeprägten Sprachkenntnisse hatte, als vor ihnen ein erwachsener Mann auftauchte. Das war kein Zauberer. Denn er konnte sie nicht sehen. Doch weil der Hungrige seinen Hauch von Licht- und Wärmelosigkeit ausbreitete fühlte der Mensch zumindest die Kälte und die Angst, nie wieder Freude zu empfinden. Der Zweite stürzte sich auf den Mann. Der Erste, der selbst Hunger litt, wurde gnadenlos zur Seite gestoßen, als der zweite sich über den Fremden hermachte. Der erste fühlte förmlich, wie die Schwingungen des Lebensatems aus dem anderen herausgesogen wurden. Er erinnerte sich daran, was er vor mehreren Dutzend Dunkelzeiten herausgefunden hatte. Wer den Körper dessen tötete, dessen Lebensatem er in sich eingesaugt hatte, dessen ganzes Wissen und Können ging auf ihn über, solange er lebte. Wohl auch deshalb hielt sich der erste für klüger und besser gebildet als der zweite. So teilte er ihm mit: "Drehe seinen Kopf ganz herum, dass auch sein Körper nicht mehr atmet. Dann kannnst und weißt du alles, was er gewusst hat!"
"Ach ja?" fragte der Zweite verächtlich. Dann packte er den völlig handlungsunfähig gewordenen Mann und drehte ihm den Kopf zweimal herum, dass alle Nackenknochen brachen. Da schüttelte sich der zweite. Der erste fühlte, wie neue Gedanken in dem Artgenossen aufkamen. Dann hörte er den anderen in seinem Geist laut auflachen.
"Danke schön für diesen genialen Vorschlag, Hundertzwanzig. Ich weiß jetzt was, das du nicht weißt. Also bin ich jetzt der Führer."
"So, was weißt du denn? Wie das Schiff heißt, wo es herkommt und wo es hinfährt?"
"Ganz genau, und dass die uns in den verfluchten Eiskugeln hier eingelagert haben, um zu untersuchen, was mit den Kugeln los ist. Aber die Kugeln sind jetzt weg, wir sind frei. Oh, die suchen nach den Kugeln, also uns. Das wird eine herrliche Jagd."
"Was hat der Mann für eine Aufgabe gehabt, dessen Lebensatem du in dich hineingefressen hast?" wollte der erste wissen, der seinen Vorschlag von eben bereute.
"Er ist ein Krieger gewesen, so wie wir Krieger sind. Er sollte die Gänge hier bewachen, dass nichts fremdes hier durchgeht. Also war der auch ein Wächter, wie wir lange Zeit Wächter gewesen sind."
"Gut, wie können wir seine Kampfgenossen herlocken. Ich will auch einen haben."
"So, du willst. Ich habe eine bessere Idee. Wir holen uns die zwei, die uns wachgerammelt haben und saugen deren Lebensatem in uns auf. Dann können wir endlich wieder mehr von uns werden."
"Das können wir auch, wenn wir genug andere Seelen in uns aufsaugen", erwiderte der erste. Doch der zweite war offenbar besessen von der Vorstellung, endlich Nachwuchs zu erbrüten, nachdem sie lange Zeit auf dieser Insel dahinschmachten mussten. So gewährte der Erste ihm die Bitte, einen der beiden zu finden, der sie beide wachgemacht hatte. Er selbst jagte los und fand sein erstes Opfer nach langer Zeit, in Gestalt einer jungen Radaroffizierin namens Dana Maywood. Sie konnte sich nicht gegen ihn wehren, weil er sie mit der Erinnerung an eine üble Vergewaltigung vor sieben Jahren regelrecht an den Rand des Wahnsinns trieb. Dann saugte er ihre Seele in sich auf. Sie wehrte sich gegen seinen Hunger und verging doch in ihm. Dann erkannte er, dass er ebenfalls mehr über das Schiff wissen musste, damit der bisher so einfältige Artgenosse sich nicht zu lange an seiner Macht erfreuen konnte. So packte er die andere, drückte ihr die Atemluft ab und wartete, bis ihr Körper starb. Er schleuderte sie einfach über Bord, ohne dass die anderen was davon mitbekamen. Dabei fühlte er, wie ihr Wissen in ihm erwachte. Doch auch ihre Gelüste, Ängste und Träume wachten in ihm auf. Er konnte sich nicht sofort dagegen wehren, wie all das seine Gedanken durchdrang. So hing er einige Zeit untätig in der Luft herum. Doch dann entschloss er sich, weitere Seelen zu erbeuten, sofern die Leute nicht schon alle in fest verschlossenen Räumen steckten. Dann fühlte er eine der Quellen, die ihn und den Artgenossen geweckt hatten. Er jagte los, genau auf die starke Persönlichkeit zu. Er wusste durch die Essenz der Radartechnikerin, dass es eine Frau im Offiziersrang war. Als er die Frau antraf erkannte er, dass sie in einer luftdichten Rüstung aus fließendem Stoff steckte, einen verdammt harten Helm auf dem Kopf. Doch er musste ihr seinen Mund auf ihren drücken, damit er ihren Lebensatem einsaugen konnte. Durch die einverleibten Kenntnisse Dana Maywoods wusste er, dass diese Rüstung gegen unsichtbare Strahlen, Keime und Gifte gemacht war. Die Andere kämpfte erst gegen ihn, obwohl sie ihn nicht sah. Doch seine Kraft rang ihren Widerstand nieder. Von ihren größten Ängsten gequält hing sie in seinen Armen fest. Dann riss er ihr einfach die Schutzmembran vom Körper und hebelte den Helm mit ganzer Kraft von ihrem Kopf. Dabei hätte er sie fast getötet. Doch er musste ihren Lebensatem einsaugen, bevor ihr Körper starb, weil der sonst einfach in eine andere, für ihn ungreifbare Zustandsform überging.
Keith Mulligan hatte sich mit dem Kapitän der Constitution selbst verbinden lassen, um auf dem laufenden zu bleiben, was die Suche nach den Saboteuren anging. Dabei erfuhr Mulligan auch, dass eine Radartechnikerin im Rang eines Lieutenant Junior Grade vermisst wurde. Da sie nicht Dienstfrei hatte war sie in der Nähe des Hauptradarleitstandes gewesen, wohl um zur Toilette zu gehen. Doch keiner der nächstgelegenen Toilettenräume war besetzt. Das bekamen die weiblichen Mitglieder der Sicherheitsmannschaft heraus, als sie auf Cranes Befehl hin die Bedürfnisräume im betreffenden Sektor absuchten. Dann erfuhr Mulligan es quasi aus erster Hand, dass sie es mit einem unheimlichen Gegner zu tun hatten.
Er sprach gerade mit Major Howard, die wie er zur Biokampfstoffabwehrtruppe gehörte und eigentlich die beiden Kugeln auf bioaktive Inhalte untersuchen sollte. Sie sprach mit ihm über Helmfunk. Denn sie hatte sich einen ABC-Schutzanzug mit Helmkamera angelegt, um weiter außerhalb der Schutzräume nach den beiden Kugeln zu suchen.
"Bin jetzt am Rand von sieben Blau, keine verdächtige Person gesichtet", sagte sie. "Wenn ich wen sehe, den ich nicht kenne verpasse ich ihm eine Kugel in jedes Knie, damit wir ihn noch verhören können."
"Und wenn der Unbekannte Schutzkleidung trägt?" fragte Mulligan. Doch er bekam keine Antwort mehr auf die Frage. Denn unvermittelt füllte totale Dunkelheit das Fernsehbild aus, dass die Helmkamera an ihn, Crane und den Captain übertrug.
"Melde schlagartige Totalverdunkelung und Temperatursturz um fünfzig, nein sechzig Grad. Schutzkleidung für derartige Temperatur nicht vollständig isoliert. Fühle Nähe eines Angreifers. Aber ich ..." Der Rest war rauschendes Schweigen. Die Funkverbindung war mit einem Schlag ausgefallen.
"Vollalarm! Überfall auf Major Howard. Gegner verwendet verdunkelnde und endotherm wirksame Kampfmittel!" hörte Mulligan Crane durchsagen.
"Wie geht sowas? Verdunkelungsmittel gut und schön, aber einen derart drastischen Temperatursturz herbeiführen?" wollte Donatello wissen, der bei Mulligan geblieben war, obwohl er ja Freiwache hatte.
"Es gibt Vereisungsmittel, die können sowas. Aber die brauchen Platz. Vielleicht hat wer auch immer flüssigen Stickstoff freigesetzt", vermutete Mulligan. Doch in seinem Kopf hämmerte eine andere, wahnwitzigere Idee: Magie, böse Geister, Dämonen. Doch er wagte es nicht, diesen Gedanken auszusprechen.
"Vollalarm! Überfall auf Major Howard, zuletzt gesichtet bei Sieben Blau Unterabschnitt Echo! Unbekannter Gegner setzt lichtschluckende und Wärmeschluckende Kampfmittel ein.
"Achtung, hier Kommandant an alle", klang nun Gibsons Stimme aus sämtlichen Lautsprechern an Bord der Constitution. "Hiermit rufe ich den Fall "Pandoras Büchse" aus. Wiederhole: Hiermit rufe ich den Fall "Pandoras Büchse" aus. Unbekannte Gegner mit unbekannten Waffen an Bord der Constitution. Alle Besatzungsmitglieder in ABC-sichere Räume! Dienstfreies Personal die nächsten Schutzräume aufsuchen. Schutzraumoffiziere bei Vollständigkeit der zugeteilten Mannschaftsmitglieder Schutzräume ABC-versiegeln. Bei vermissten Mannschaftsmitgliedern Meldung an Kampftruppe Kammerjäger auf Kanal Blau drei!"
"Francesco, ich überantworte Ihnen das Krankenrevier. Da ich im Fall "Pandoras Büchse" bei den beweglichen Abwehreinheiten Notarzt sein muss holen Sie alle uns zugeteilten Leute zusammen und schließen sich und sie gut ein. Warten Sie nicht auf mich! Das ist ein Befehl!"
"Aye, Sir. Gute Jagd und Hals- und Beinbruch", wünschte Donatello dem ihm gerade zum Oberbauch ragenden Vorgesetzten.
"Hier Lieutenant Doktor Francesco Donatello an Sicherheit. Übernehme laut Anweisung von Doc Mulligan Einquartierung der Schutzsuchenden", sprach Donatello in das Mikrofon, während Mulligan den seiner Größe angepassten Schutzanzug anlegte, wobei er sich auf einen mehr als einen Tag dauernden Einsatz einrichtete, wozu er die supersaugfähige Astronautenwindel zwischen seine Beine klemmte. Damit würde er zwar nicht mehr so wieselflink laufen können wie sonst, aber als Bordmeister im 100-Meter-Sprint war er hoffentlich auch dem unbekannten Gegner gewachsen. Er musste nur sicherstellen, dass er nicht durch Kugeln oder Klingen zu Schaden kam und sein Helm extragut verschlossen war. Denn erwischten sie ihn und bekamen seinen Anzug auf, war die Kammerjägertruppe ohne medizinische Versorgung.
Wie ein weißer Ritter in futuristischer Rüstung - Donatello hatte auch das Bild eines imperialen Sturmtrupplers aus der Sage um den Krieg der Sterne im Kopf - zog Mulligan los, um den unbekannten Gegner zu jagen, wobei niemand wusste, wer wirklich Jäger und wer Gejagter war.
Sie hatten Major Howard gefunden. Irgendwer hatte ihr mit Brachialgewalt den Anzug zerrissen, nicht mit Klingen oder anderen scharfen Gegenständen, sondern mit bloßen Händen oder einer flachen Zange. Sowas ähnliches musste auch ihren Helm aufgehebelt haben.
Doc Mulligan hatte die letzten Stunden dauernd mit einem Fünfertrupp bewaffneter und in schweren ABC-Schutzanzügen, die schon eher Raumanzügen mit Carbonfaserpanzerplatten glichen, auf der Suche nach den Eindringlingen verbracht. Jetzt hatten sie zumindest Gewissheit, was die Majorin anging. Eine der Marines im Rang eines Private erster Klasse deutete auf den zusammengekrümmten Körper im zerrissenen Anzug, deren Kopf brutal verdreht worden war. "Die hat sicher noch gegen den Feind gekämpft", sagte er. Dann prüfte er zum wiederholten Mal seine Waffen, das Sturmgewehr, die zwei Armeepistolen und mehrere Betäubungs- und Blendgranaten, sowie ein langes, zweischneidiges Messer in einer Rückenscheide. "Semper fi, Major Howard. Wir kriegen die Mistkerle", gelobte er der Toten.
"Leute, der Smutje hat sich beschwert, dass irgendwer die Kühlung von Vorratsraum sieben sabotiert hat und beide Türen ganz weit aufgemacht hat. Trupp vier ist in der Gegend. Wenn das einer von denen ist gnade dem Gott", funkte einer der Truppführer, der als Verbindungsoffizier zwischen OPZ und den Einsatztruppen arbeitete.
"Tolle Taktik. Die wollen unsere Vorräte verderben, um uns auszuhungern", grummelte Mulligan. Doch dann hatte er wieder den Eindruck, irgendwer lauere auf ihn, beobachte ihn, schätze ihn und die anderen ein. Das Gefühl hatte er schon dreimal an diesem Tag verspürt, seitdem er mit den anderen unterwegs war.
"Hier Trupp vier gleich an Kühlraum sieben", funkte ein Corporal der Marines, der zur Kammerjägertruppe gehörte. "Jemand hat sämtliche Vorräte rausgeholt, womöglich über Bord geworfen. Moment, gehe noch mal rein, um zu sehen, ob noch was zu retten ist."
"Trupp vier, äußerste Vorsicht. Wir haben seit zwei Minuten keinen Kontakt mehr mit Trupp drei", kam eine Antwort vom Verbindungsoffizier zurück.
"Wir sind alle geladen und gespannt. Wer uns kitzelt fährt zur Hölle", tönte der Corporal.
"Es wäre vielleicht günstiger, die Hölle nicht zu heftig zu erwähnen", meinte Mulligan zu seinen Begleitern vom Trupp eins. "Nachher schicken die uns dahin."
"Heute abend kriegen wir die noch. Trupp fünf steht vor Vorratslager drei und Trupp drei sollte eigentlich Vorratslager Zwei bewachen", knurrte der Private, der Major Howard die Vergeltung ihres Todes versprochen hatte.
"Ja, aber Sie vergessen dabei, dass die Fremden sich bisher dem Zugriff entzogen haben. Immer dann, wenn wir eine Störungszone erreichten, war da niemand. Die spielen mit uns Katz und Maus, wobei wir keine Ahnung haben, wer die Katze ist", erwiderte Mulligan und fühlte wie auf Stichwort dieses Lauern. Er blickte sich suchend um, verwünschte einmal mehr seine geringe Körpergröße. Andererseits hatte er wesentlich empfindlichere Augen und Ohren, wie mehrere Tests ergeben hatten. Wohl deshalb meinte er, knapp zwanzig Meter entfernt einen grauen Schatten zu sehen, etwas, dass ganz unbewegt über einem Punkt schwebte. Als er es sah verstärkte sich das Gefühl, von einem Feind beobachtet zu werden. Er deutete auf die Stelle, wo der für ihn fremde Schatten in der Luft hing. Sofort rissen zwei Marines ihre Sturmgewehre mit Explosivgeschossen hoch und zielten in die Richtung. "Häh, was soll da sein?" wollte einer der beiden wissen. Mulligan deutete noch einmal auf die Stelle. "Ich sehe da grauen Qualm. Ist da vielleicht ein Schwelbrand?" fragte er.
"'tschuldigung, Sir, aber ich seh keinen Rauch und habe das Zielgerät auf Restlichtangleichung. Moment, geh auf Infrarot."
Mulligan sah angespannt in die Richtung, in der der graue Dunstschleier über dem Deck hing. Ein Windstoß kam auf. Eigentlich hätte jeder Nebel oder Rauch davon verblasen werden müssen. Doch der graue, formlose Schemen blieb wo er war. Dann hörte Mulligan den Marine Ffluchen: "Hölle und Verdammnis!" Es klickte, und dann fegte eine Dreiersalve Sprenggeschosse über das Deck in die Richtung, in die Mulligan gezeigt hatte. Der graue Dunst ruckte an. Da schlugen die Geschosse hinein und schwirrten durch ihn hindurch wie eben durch Rauch. Ungebremst sausten sie über das Deck und über die Reling hinweg und würden wohl mehrere hundert Meter weiter fort ins Meer fallen.
"Das gibt's nicht. Da ist ein komplettes Wärmeloch, sieht im IR-Bild fast wie ein aufrechter Schatten aus, ziemlich groß", erwähnte der Marine, der geschossen hatte.
Plötzlich überfiel sie alle totale Dunkelheit und Kälte. Gleichzeitig fühlte Mulligan, wie etwas in seinen Kopf eindrang und hörte ferne Schreie, dumpf und von lautem Pochen überlagert. Er fühlte sich auf einmal in einem sehr engen Raum und wie jemand gegen die nachgiebige Wand schlug, die ihn umschloss. "Du Schlampe wirst dieses Zwergenbalg nicht kriegen. Ich schlag es dir aus dem Wanst!" brüllte eine sehr wütende Männerstimme, die für Mulligan so klang, als wäre sie hinter einer dicken Wand. Darüber wummerte es laut und heftig. Er fühlte, dass er keine Luft bekam und fühlte noch einen Schlag an den Kopf, bevor etwas ihn herumschleuderte und er voll gegen etwas weiches über dem Kopf stieß. "Du bringst weder mich noch das Kind um, du englischer Saufbold!" hörte er eine ebenfalls sehr wütende, überlaute Frauenstimme ebenfalls ganz dumpf, aber so, als wäre sie in seiner Nähe, um ihn herum. Er fühlte die Angst und die Hilflosigkeit, nichts tun zu können. Wieder wurde er herumgeschleudert. Dann beggehrte was in ihm auf, dass er sich nicht umbringen lassen wollte. Er wollte nicht sterben. Es war wie ein elektrischer Schlag, der ihm durch den Kopf, im Brustkorb Verstärkt in alle Fasern seines Körpers fuhr. Doch so plötzlich wie der Spuk um und mit ihm entstanden war, war er wieder vorbei. Was blieb war jedoch die Dunkelheit. War es ihm eben noch kalt gewesen fühlte er jetzt eine wohlige Wärme in sich, eine Wärme, die von seinem Bauch in seinen Brustkorb strömte und von seinem Herzen aus in alle Glieder gepumpt wurde. Dann sah er den Feind.
Fünf Meter vor ihm schwebte eine überlebensgroße Abscheulichkeit. Das leicht verschwommen aber irgendwie greifbar erscheinende Ungetüm maß an die vier Meter, trug einen langen, dunklen Umhang mit Kapuze. Saugend und rasselnd atmend glitt das Scheusal auf Mulligan zu. Er hörte die Marines um sich herum. Sie wimmerten und klapperten mit den Zähnen, als frören sie bitterlich. Doch Mulligan fühlte keine Kälte. Und trotz der ihn umschließenden Finsternis sah er den unheimlichen Widersacher genau, der auf ihn zukam. Er fühlte keine Angst mehr, kein Unbehagen, keine Hilflosigkeit. Es war, als sei in ihm etwas erwacht, dass mit allen Mitteln Widerstand leistete, ihn von innen her beschützte wie eine Seelenfestung.
Der Feind drehte den Kopf zu einem der Marines hin. Mulligan sah, dass die Soldaten nur fünf Meter von ihm entfernt am Boden lagen und bibberten. Er konnte trotz der Dunkelheit scharf genug sehen, um zu erkennen, wie der unheimliche Gegner sich langsam niederbeugte und die aufgequollenen Hände, die wie die einer Wasserleiche aussahen, ausstreckte, um den ihm nächsten Soldaten zu packen. Mulligan sprang vor.
"In Nomine dei omnipotenti, imperatoris mundi!" rief Mulligan laut. Das irritierte den anderen. Er riss die Hände vor und wandte sich um. Mulligan blickte an ihm hinauf. Hektisch tastete das Unwesen um sich. Offenbar konnte es in seiner eigenen Dunkelheit nicht sehen, wo der Störenfried war. Mulligan tanzte die nach ihm suchenden Handgriffe locker aus. Dann kam ihm die Idee, sich eine der Waffen zu verschaffen. Er wich vor dem immer noch wie ein hektisch nach einem rettenden strohhhalm langender bei totaler Dunkelheit zurück und tauchte blitzartig nach unten. Jetzt empfand er seine geringe Größe als entscheidenden Vorteil. Denn innerhalb einer Zehntelsekunde war er mit den Händen auf Höhe eines am Boden liegenden Marines und riss ihm das Sturmgewehr von den Schultern. Auch wenn die Waffe für ihn zu groß erschien, er konnte damit umgehen. Das hatte seinen Ausbilder bei der Navy mit größtem Erstaunen erfüllt, dass er einen schon so groß wie er selbst beschaffenen Schießprügel genauso handhaben konnte wie ein normalgroß gewachsener Mann. Er prüfte mit einem Blick die Schusseinstellung. Die Waffe stand auf Dauerfeuer. Er stellte sich breitbeinig hin, um einen sicheren Stand zu haben, riss den Lauf in die richtige Richtung und drückte ab. Es klickte nur. Die Waffe versagte. Das Klicken weckte die Aufmerksamkeit des Gegners. Er wirbelte herum, dass sein moderiger Umhang nur so flog und glitt blitzartig auf Mulligan zu. Dieser sprang zur Seite weg, gerade als eine der klammen Hände nach ihm fassen wollte. Der Griff ging ins Leere.
Mulligan prüfte noch einmal die Waffe. Sie war geladen und entsichert. Er versuchte es noch mal, als das Scheusal sich auf den Marine stürzte, von dem er sich die Waffe ausgeborgt hatte. Wieder gab sie nur einen Klicklaut von sich. Also blockierte die Macht, die dieses Wesen verbreitete die Feuerwaffe. Mulligan sah, wie das Ungeheuer den am Boden liegenden Marine packte, hochriss und dann den Kopf zurückwarf. Die Kapuze flog zurück. Mulligan erstarrte, als er sah, was darunter verborgen gewesen war. Es war ein einziges großes Maul, das gierig auf das Visier des geschlossenen Schutzhelms niederfuhr und sich daran festsaugte. Mulligan vermutete, dass das Monstrum seinem Opfer die Lebenskraft aussaugen wollte. Alle Beteuerungen, die Wesen aus der Anderswelt gäbe es nicht, waren nun restlos vergessen. Mulligan wusste, dass der Dämon - eine andere Bezeichnung konnte nicht möglich sein - dem Marine alles Leben aussaugen würde, wenn dieser grauenvolle Schlund durch das geschlossene Visier dringen konnte. Doch das gelang wohl nicht.
Keith Mulligan Sprang zu dem nächsten Marine, entriss ihm das lange Messer und stürmte auf das Monster zu, das gerade innehielt, weil es offenbar nicht weiterkam. Der Bordarzt der Constitution stieß zu und durchdrang den Umhang. Doch er war zu klein, um eine empfindliche Körperstelle zu treffen. Dennoch glitt die Klinge in eine feste, nicht zu nachgiebige Substanz ein. Der Angreifer fühlte das sicher. Er wirbelte herum und brach dabei die Messerklinge ab, weil Mulligan mit beiden Händen und aller Kraft den Griff festhielt. Wieder tauchte eine klamme Hand nach ihm und traf ihn diesmal am Kopf. Doch wie von einem Stromschlag getroffen zuckte die Hand zurück. Ein urwelthafter Laut erklang aus dem abscheulichen Maul des Ungetüms. Dann wandte es sich blitzartig ab und jagte schneller als ein Sprintläufer davon. Mulligan, der in dem Moment, wo ihn die klamme Hand berührt hatte, einen Hitzestoß aus Bauch- und Brustraum durch alle Glieder verspürt hatte, fühlte instinktiv, dass das Wesen vor ihm floh, weil es seine Berührung nicht vertragen konnte. Trotz des getragenen Schutzanzuges hatte dieser Unhold ihn nicht berühren können. Wie würde es dann sein, wenn er ihn mit freien Händen zu fassen bekam?
Der Arzt, der in dem Moment sicher war, tatsächlich ein besonderer Mensch zu sein, rannte hinter dem fliehenden Geschöpf her, rief ihm zu, es zu kriegen. Da wurde das Ungeheuer zu einem grauen Schleier und beschleunigte so sehr, dass es innerhalb einer Sekunde mehr als zweihundert Meter überwand. Schlagartig war das Dämmerlicht des Abends und die Lichter an Deck wieder zu sehen. Mulligan musste kurz die Augen schließen, um nicht von dem plötzlichen Licht geblendet zu werden. Dann erkannte er, dass ihm das Ungetüm entwischt war. Das war ein Sieg, aber auch eine Niederlage. Denn zweierlei wusste er jetzt: Sie hatten es wahrhaftig mit Geschöpfen unvorstellbarer Herkunft zu tun. Zum anderen waren die für andere Leute unsichtbar, solange diese keine Infrarotoptik zum Sehen benutzten.
Mulligan starrte dem wie ein kurz vorbeihuschender Schemen über das Schiff jagenden Dunstgeschöpf nach. Dann sah er, dass es bei seiner Umwandlung die abgebrochene Klinge losgeworden war.
"Jetzt sind die Fronten geklärt, Dämon!" knurrte Mulligan. Denn er wusste, dass das andere Geschöpf nun wusste, dass es mindestens einen gefährlichen Gegner an Bord hatte. Mulligan war nicht naiv genug zu glauben, dass das ein Grund zum Jubeln war. Im Gegenteil. Dieses Ungeheuer würde nun alles daransetzen, diesen Gegner aus dem Weg zu räumen. Mulligan wusste auch, dass dieses Scheusal nicht das einzige dieser Art war, es gab mindestens zwei davon. Der Alarmfall "Pandoras Büchse" hatte seinen Namen mehr als verdient. Dann fiel Mulligan noch etwas ein, was seine Triumpfstimmung weiter dämpfte. Wie um alles in der Welt sollte er das seinen Kameraden und Vorgesetzten erklären?
"Mann, ihr Schlafmützen! Wenn ihr bald nicht antwortet komme ich persönlich vorbei und verpass euch 'ne Ladung Backpfeifen!" polterte die Stimme des Verbindungsoffiziers aus allen Funkgeräten in den Helmen von Einsatztruppe eins. Mulligan meldete sich sofort: "Hier Mulligan. Hatten gerade Berührung mit dem Feind. Es handelt sich um ein Individuum, das sich im Schutz eines Verdunklungsmittels und einer Kältewaffe an uns zu schaffen machen wollte. Dabei muss es auch Sauerstoffbindende Mittel verwendet haben, weil unsere Feuerwaffen versagten. Wir konnten es mit den Messern in die Flucht schlagen, leider nicht mehr. Höchste Alarmstufe. Der Gegner verfügt über Mittel, die ihn jedem normalbewaffneten überlegen machen, wenn er nicht früh genug gesehen wird."
"Beschreiben Sie den Gegner, doc!" befahl der Lieutenant von den Marines. Mulligan erwähnte ein für ihn überlebensgroßes Geschöpf in einem Umhang. Er behauptete, dass es sich wohl mit Hilfe von Spiegeltricks optisch unsichtbar machen könne, sein Kältemittel jedoch einen Kälteschatten im Infrarotsichtbereich werfe, woran es zu erkennen sei. Gegen den Sauerstoffentzug, der die Feuerwaffen blockiere helfe zumindest der ABC-Schutz.
"Klingt sehr nach einem Alien aus einem Science-Fiction-Roman, Lieutenant Commander Mulligan", erwiderte Captain Gibson.
"Für mich Nachfahren gläubiger Iren war dieser Feind wie ein Dämon aus der Hölle, der Angst und Schrecken verbreitet und nach Seelen giert", erwiderte Mulligan und kam damit der von ihm als wahr empfundenen Beschreibung so nahe er konnte, ohne seine Glaubwürdigkeit restlos zu verspielen.
"Was ist mit Haynes, Grossman, Nader, Dinoso und Lambert?" wollte der Verbindungsoffizier wissen.
"Ohnmächtig. Näheres wird eine Untersuchung klären müssen. Außerdem haben wir noch Major Howards Leiche."
"Gut, schaffen Sie diese in den ABC-sicheren Untersuchungsraum. Nur Fernautopsie, Doc, nicht mit eigenen Händen anfassen!" befahl der Captain.
"Die anderen kommen gerade zu sich. Moment ... Oha!" Mulligan sprang schnell zu Private Dinoso, der sich soeben heftig in den geschlossenen Helm übergab. Unverzüglich hantierte Mulligan am HelmVerschluss, drehte den bereits reichlich vollen Helm vom Kopf des erwachten Marines und drehte ihn so, dass die nächste Ladung halbverdauten Essens ungefährlich für ihn ausgeworfen wurde. "Richtig abhusten, damit keine Rückstände in den Atemwegen bleiben, Private!" ordnete der Arzt an, als der Marine alles von sich gegeben hatte, was sein Magen nicht verdauen wollte.
"Mierda de Puta!" schimpfte Dinoso und hustete laut und heftig.
"Der verträgt nix, der Latino", spottete ein anderer Marine, der gerade auf die Beine kam. Doch der Tonlage nach klang er so, als müsse er seine eigene Niederlage überspielen.
"Eh, Sie habenmir den Helm abgenommen. Wenn ich jetzt was gefährliches eingeatmet habe", knurrte Dinoso und hieb nach Mulligan, der jedoch blitzartig auswich.
"Wäre es Ihnen lieber gewesen, an ihrem eigenen Erbrochenen zu ersticken, Private?" fragte Mulligan eiskalt.
"Was war das gerade eben. Mann, das hat mich komplett fertig gemacht."
"Rat mal wen noch", grummelte Private Nader, der Mulligan zur Hand ging.
"Gut, ab mit ihm und Major Howard durch Zugangsschleuse drei in den Hochsicherheitsbereich des Krankenreviers!" befahl der Arzt. "Major Howards Leichnam kommt in Untersuchungsraum zwei.".
"K-Trupp zum Sektor zwei Grün, Abschnitt Delta!" gab Corporal Haynes die genauen Koordinaten durch, wo das Leichentransportteam, allgemein Kadavertruppe oder K-Truppe, die tote Majorin abholen konnte.
Mulligan argwöhnte, dass das dämonische Wesen bei völliger Dunkelheit wieder zuschlagen würde. Womöglich lud es sich in der Nacht mit neuer Energie auf. Vielleicht war die Sonne aber auch sein natürlicher Feind, wie bei einem Vampir aus dem Horrorfilm. Jedenfalls sollten sie nicht länger auf Deck herumlaufen.
"Empfehle für die Nacht alle Besatzungsmitglieder in ABC-sicheren Schutzräumen, auch die Kammerjäger", sagte Mulligan.
"Damit wer auch immer gemütlich auf dem Schiff herumlaufen und alles mögliche anstellen kann? Nichts da!" erwiderte Gibson. Mulligan wagte nicht, den Kommandanten zu kritisieren. Doch er ahnte, dass dadurch bald weitere Tote zu vermelden sein würden. Tatsächlich dauerte es keine Minute, bis ein anderer Marine über Funk meldete:
"Sir, habe gerade alle Mitglieder von Trupp vier ohne Helme angetroffen. Helme wurden nicht gewaltsam, sondern gemäß vorgesehener Handhabung entfernt. Corporal Lindsey Russell ist tot, Genickbruch durch verdrehten Kopf. Alle anderen wirken wie im Wachkoma. Keine äußerlichen Verletzungen!"
"Was? Dann war das wohl noch einer dieser Gegner. Die Tote in den Untersuchungsraum, die lebenden in die Isolierstation wie Private Dinoso", ordnete Mulligan an, der als Arzt gewisse Befehle erteilen konnte, solange der Captain sie nicht widerrief.
"Mulligan, was ist mit meinen Leuten passiert, verdammt noch mal?!" brüllte ihm die Stimme von Major Winston in die Ohren, dem Chef der bewaffneten Schutztruppe der Constitution.
"Wird die Untersuchung zeigen, Sir", erwiderte Mulligan schlagfertig. Dabei wusste er, dass er wohl keine Spuren finden würde, die ergaben, was mit den Leuten passiert war.
Da der Captain die Jagd nicht abgeblasen hatte patrouillierten die so genannten Kammerjäger weiter. Mulligan durfte zumindest die Zeit in einem vollständig gesicherten Raum zubringen, weil er die Toten obduzieren und die lebenden einer genauen Untersuchung unterziehen sollte. Um genug Ruhe dafür zu haben klinkte er sich aus dem Sprechfunk der Kammerjägertruppe aus.
Als dann zwei weitere wie im Koma oder Schockzustand gefangene Marines eingeliefert wurden hatte er bereits die Hälfte der angesetzten Fernobduktion von Major Howard durchgeführt. Dank der Raumfahrt durfte auch das auf Erden wandelnde Militär auf Roboter und Ferndiagnosegeräte zugreifen, die es ohne die Flüge zum Mond, das Space-Shuttlle und die ISS wohl nicht gegeben hätte.
"Ich will wissen, wie die das hinkriegen, Mulligan. Anstand an Howards Körper herumzuschnippeln klären Sie das zuerst", blaffte Major Winston, ein Bilderbuchmarine, wohl auch Golfkriegserfahren, vielleicht sogar schon einige Wochen in Afghanistan mit dabei gewesen. Mulligan beschwichtigte den Major, dass er die Anweisung hatte, erst die Toten zu untersuchen, weil herauszukriegen war, warum sie sterben mussten."
"Die haben sich gegen was oder wen auch immer gewehrt, verdammt noch eins", polterte Winston. Seine Stirnader pulsierte verdächtig stark.
"Mit Verlaub, das haben Ihre anderen Untergebenen sicher auch", sagte Mulligan.
"Jetzt kommen Sie mir bloß nicht renitent, Sie Zwerg!" schimpfte Winston.
"Vertikal herausgefordert, Major. Bitte beachten Sie die politische Korrektheit", entgegnete Mulligan kalt. Was wusste dieser Holzkopf denn schon, mit wem sie alle es zu tun hatten?
"Sie sind nicht der einzige Arzt hier. Ich habe in meinem Team auch einen. Wenn Sie weiter frech werden lasse ich Sie von Gibson auf Ihr Quartier suspendieren, damit das klar ist."
"Major Winston, ich habe die unmissverständliche Order des Captains, vordringlich die Todesfälle zu untersuchen und vor allem, warum diese Leute sterben mussten zu klären. Näheres geht Ihnen mit meinem Autopsiebericht zu. Und jetzt lassen Sie mich gütigst meine Arbeit machen!" Mulligan starrte den Major von unten her an, bohrte seinen Blick in die Augen des Majors. Dieser erkannte, dass sich Mulligan nicht einschüchtern lassen würde und schnaubte: "Vorgestern habe ich den Bericht auf dem Tisch, damit das klar ist. Und wenn Sie ihre Spielzeugroboter lange genug in meinen Marines haben herumstochern lassen kriegen Sie raus, was meinen anderen Leuten verpasst wurde, dass sie so wie Zombies aussehen."
"Solange die hier sind sind sie gut aufgehoben. Das hat also Zeit", sagte Mulligan. Winston zog sich zur Schleuse zurück. Denn nur im Schutzanzug durfte man in den allgemeinen Bereichen herumlaufen. Die restlichen Besatzungsmitglieder hatten sich alle in den Schutzräumen versammelt, worunter auch das Kino, die Mannschaftsmessen und ein Tanzclub fielen, wo die Mannschaft zu modernen Schlagern die triste Bordroutine für einige Stunden vergessen konnte.
Als Mulligan Howards Körper mit Hilfe der Ferndiagnoseautomaten endoskopisch und endomikroskopisch durchforscht hatte pfiff er zwischen den Zähnen hindurch. Howards Unterleib wies überdeutliche spuren einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs auf. Ebenso war ihre Haut an Brustkorb und Bauch mit Knutschflecken übersät. Proben ergaben, dass sie und ihr Partner ein Kondom verwendet hatten. Die zweite tote Marine-Angehörige hatte zwar schon mal geschlechtlich verkehrt, das aber wohl weit vor Dienstantritt hier an Bord. Der Knüller war, dass auch Commander Benson, dessen Leiche ebenfalls untersucht wurde, die Spuren jenes Präservativs am Geschlecht trug, mit dem Howard in Berührung gekommen war.
"Gut, dass ihr zwei tot seid, sonst würde der große euch glatt noch den Haien zum Fraß vorwerfen", flüsterte Mulligan. Dann diktierte er die restlichen Informationen auf Band. Sollte er es dem Captain mitteilen, was Benson und Howard in den letzten Stunden vor ihrem Tod noch getrieben hatten? Dann fiel ihm siedendheiß ein, dass das womöglich der Auslöser für die Dämonen gewesen war, eine Art Weckimpuls. Also musste er herauskriegen, wo das unerlaubte Schäferstündchen stattgefunden hatte. Bei dem Gedanken fiel ihm ein, dass jemand die Überwachungsanlage für den Bereich sieben für Stunden auf Bereitschaftsmodus geschaltet hatte. Damit war das wann und das wo also auch geklärt, dachte Mulligan verbittert.
"Captain, die Toten sind durch gezielten Genickbruch umgekommen. Die Tat wurde mit bloßen Händen verübt und von jemandem mit überragender Körperkraft und sehr großen Händen. Habe an den Würge und Bruchstellen Spuren von Meerwasser sichergestellt", meldete Mulligan und informierte den Captain auch darüber, was Howard und Benson in den letzten Stunden vor ihrem Tod verbotenes getrieben hatten.
"Ich fahre sofort in die Hölle und hole diese beiden Schmutzfinken da wieder raus, um sie dann wieder dorthin zurückzuschicken", knurrte Gibson. "Das darf Winston nicht wissen, Doc. Der legt seinen Amazonen dann Keuschheitsgürtel an."
"Aye aye, Sir", bestätigte Mulligan. "Öhm, übrigens wurden noch vier scheinbar entseelte Marines gefunden. Ein anderer hat berichtet, dass er den von Ihnen gemeldeten Infrarotkälteschatten gesehen und drauf geschossen hat. Die Geschosse sind aber nicht drin hängengeblieben, sondern durchgegangen. Soll ich jetzt noch an Gespenster glauben oder was?"
"Was ist mit dem Marine, der geschossen hat?" fragte Mulligan.
"Der ist noch mit seinen Leuten unterwegs."
"Mehr nicht?" fragte Mulligan.
"Der Kälteschatten hat sich nach dem Beschuss aufgelöst und war nicht mehr zu finden. Keine Fußabdrücke oder andere Spuren, nicht mal im Infrarotmodus."
"Die sollen bloß aufpassen, dass die nicht von dieser Verdunkelungswaffe überrascht werden", sagte Mulligan und dachte in dem Moment, dass das eh keinen Sinn hatte.
"Noch drei mit diesen Schocksymptomen. Langsam wird diese Phantomjagd teuer", knurrte Winston, als er mit drei weiteren Marines drei apathisch wirkende Kameraden einlieferte.
"Waren das nicht fünf?" fragte Mulligan.
"Stimmt, zwei fehlen von der Truppe", knurrte Winston. Dann schleuste er sich mit seinen Leuten wieder aus.
Seine Erbrüter hatten ihn gewarnt. Wenn er zwei Seelen desselben Geschlechtes in sich einverleibte und die dazu gehörenden Körper innerhalb einer Erddrehung tötete, um deren Wissen zu erbeuten, würde er denken und fühlen wie ein geschlechtliches Wesen. Deshalb war er jetzt eine Sie, Danamiriam. Noch dazu konnte sie nur noch den Lebensatem von Menschenfrauen zu sich nehmen. Dasselbe Los trug ihr Artgenosse, der früher nur einen nur in ihrer Geistessprache aussprechbaren Namen getragen hatte und sich nun als männliches Wesen namens Jimbert empfand. Er konnte ab da nur noch männliche Menschenseelen in sich einverleiben. Doch mit der geschlechtlichen Bestimmung war auch der bereits verspürte Fortpflanzungstrieb stärker geworden. Dafür benötigten sie jedoch zerfallende Überreste von Lebewesen, das was die Menschen Garten- oder Küchenabfall oder kurz Müll nannten. Als sie noch frei herumschweben durften hatten sie ihre Nachkommen auf großen Bergen aus solchen verrottenden Stoffen erbrütet. Hier an Bord des schiffes mussten sie erst Müll herstellen. Das war einfach gegangen, in dem sie das wissen der einverleibten Menschenseelen genutzt hatten, um Fisch, Meeresfrüchte, Fleisch und Gemüse aus einem Kühlraum zu stehlen. Doch dann war Danamiriam noch eine bessere Idee gekommen. um neue Artgenossen schneller erbrüten zu können brauchten sie verwesende Menschenleichen. Leider hatten sich die meisten nach den ersten Taten der zwei Aufgewachten in luftdichte Kerker zurückgezogen. Zwar wussten Danamiriam und Jimbert nun, wie die Kerkertüren zu öffnen waren, konnten aber nichts damit anfangen, weil die Tastenfelder für ihre Hände zu klein waren.
Was Jimbert jedoch am schlimmsten empfunden hatte war ein Erdfeuerkleinling oder ein Abkömmling von sowas. Es mochte ein gewaltiger Zufall sein. Doch hier auf dem Schiff lief ein solcher Kleinlingsbalg herum, dass Jimbert hatte sehen können und das sich wohl mit dem ihm eingeprägten Schutz seiner Vorfahren gegen ihn gewehrt hatte, ja ihm den Stoß des unlöschbaren Erdfeuers durch die Hand gejagt hatte, trotzdem er diesen Schutzhelm auf dem Kopf hatte. Wenn der Kleinlingsbrütige herausbekam oder schon wusste, dass er Danamiriam oder Jimbert töten konnte, wenn er sich mit bloßen Händen an ihm festhielt und sein eigenes Leben gab, um das andere Leben zu tilgen ...
"Schaffen wir erst neue Abkömmlinge", beschloss Danamiriam und dachte an einen anschwellenden Bauch und schwere Brüste, etwas, dass ihr Körper eigentlich nicht haben konnte. Außerdem wurden die Abkömmlinge über verrottendem Abfall durch langsam ausgeatmete Restbestandteile aus Glück oder Seelen zusammengefügt und nicht in einem Mutterbauch herumgetragen und aus diesem rausgequetscht. Doch Danamiriam fand es schade, diesen Fortpflanzungsvorgang nicht erleben zu können, zumal sie jetzt auch die Gelüste einer geschlechtsreifen Menschenfrau empfinden konnte. Ebenso ging es Jimbert. Dann aber gingen sie daran, Leichen und Müll zu einem Haufen der Verrottung und Verwesung zusammenzuschichten.
Sie verbargen sich weit genug von den Schutzräumen und verschlossen die Türen mit Handrädern. Dann stimmten sie sich aufeinander ein. Genug Seelen hatten sie schon in sich aufgenommen. Über hundert Atemzüge dauerte es, bis aus der ausgehauchten Essenz genug über dem verrottenden Material schwebte, dass es zu einem eigenständigen Abkömmling erwachte, erst winzig, doch durch den Vorgang der Verwesung regelrecht großgefüttert. In einem Tag mochte das erste von vielen Neuerbrüteten groß genug sein, um selbstständig auf Beute auszugehen.
"Wir verstecken uns für mehrere Tage, bis wir genug Abkömmlinge haben. Dann holen wir uns die restlichen Menschen", stöhnte Danamiriam, als sie fühlte, wie ihr Nachkomme die ersten Lebensempfindungen verspürte. "Radar und Funk sind bereits von mir zerstört. Die können keine Hilfe mehr rufen", führte sie fort. "Und das beste ist, die werden es erst merken, wenn sie von Hand prüfen, ob ihre Geräte noch funktionieren, weil ich die Wiedergabegeräte auf Gefechtssimulation und Tonwiedergabe umgestellt habe."
"Du bist doch klüger geblieben als ich, verflucht. Die zwei Menschenweibchen, die in dir aufgegangen sind waren doch besser mit allem vertraut als die zwei Menschenmännchen, die ich mir einverleibt habe", grummelte Jimbert. Dem konnte Danamiriam nicht widersprechen. So beschlossen sie, erst das Wachstum ihres ersten Nachkommen abzuwarten und dann noch einen zu erbrüten. Wenn dann neue Lebenskraft nötig war würden sie wieder auf Jagd gehen. Bestenfalls würden sie die Menschen aushungern, bis sie freiwillig zu ihnen hinauskamen. Doch auch so konnten sie ihnen weiterhin Glücksgefühle absaugen, um neue Artgenossen zu erbrüten. Wenn sie mehr als zwei waren würden sie auch mit dem Erdfeuerkleinlingsnachkommen fertig werden.
Mulligan träumte, er sei ein Baby, das gerade gestillt wurde. Doch die ihm da ihre Milch gab war nicht seine liebe Mum Tara, sondern seine Urgroßmutter Eartha. Doch sie gab ihm auch gute Milch, die ihn von innen wärmte und sang dabei ganz leise ein Lied, das er nicht verstand. Es war zumindest nicht die Sprache, die seine Mum mit ihm sprach. Dann war seine Mum reingekommen und hatte mit Uroma Eartha geschimpft, weil die ihm Milch gab und nicht seine Mum. Da hatte Eartha gesagt:
"Wenn du willst, dass dein Sohn, den du dir von einem englischen Vollmenschen ohne eigene Zauberkraft hast aufladen lassen den ganzen Schutz vor den bösen Wesen unserer Welt hat muss ich ihm von mir trinken lassen und das Lied des unlöschbaren Feuers in ihn reinsingen. Wesen der Dunkelheit gibt's zu viele, als das ich mir angucke, wie dein Sohn von denen einfach so fertig gemacht wird. Außerdem hast du da auch dran gelegen und dich sattgetrunken, als du gerade erst eine Woche auf der Welt warst, meine liebe Enkeltochter. Aber du hast zu viel Menschenblut in dir, und kennst das Lied des unlöschbaren Feuers nicht. Also muss ich ihn mindestens einmal richtig sattkriegen, dass er für sein hoffentlich ganz langes Leben geschützt ist."
"Du bist widerlich, Großmutter Eartha. Du bist ..." schimpfte seine Mum, während er immer noch nicht ganz satt war und weiter die Milch seiner Urgroßmutter in sich hineinsaugte. Er hörte, wie seine Mum keuchte und ganz schnell Luft holte und wieder rausließ. Dann lachte Uroma Eartha. "Merkst du's. Du bist von meinem Fleisch und Blut und hast als Säugling meine Milch bekommen. Du kannst mich nicht verdammen oder hassen. Sei froh, dass ich dich gegen diese Unholde da draußen abgehärtet habe, diese Nachtschatten, grüne Waldfrauen, die unsere und die Kinder der Menschen fangen und fressen oder gegen diese Glückstrinker und Seelensauger, die so ein Zauberstabschwinger als Dementoren bezeichnet hat, weil sie Menschen umnachten können. Gegen das alles mache ich den Kleinen Keith hier jetzt immun. Wenn er aus jeder meiner Brüste ein Zehntel seines Blutes Milch in sich hineingetrunken hat kann keines dieser Wesen ihm was tun, sobald er einem davon direkt begegnet. Sie werden ihn noch nicht mal wahrnehmen. Die Zauberstabschwinger haben zwar einen tollen Lichterzauber erfunden, um sich gegen dieses Viehzeug zu wehren. Aber das ist nichts im Vergleich zur Milch einer Erdfeuertochter und dem Lied des unlöschbaren Erdfeuers. So, links ist er jetzt fertig. Wenn du deinem Sohn nicht zusehen kannst, wie er sich an mir stark und widerstandskräftig trinkt geh bitte wieder in dein Zimmer und trauere deiner Freiheit nach, die du mit diesem englischen Zauberkraftlosen verspielt hast!"
"Ich kann ihn dir nicht wegnehmen", jammerte Keiths Mum. "Verdammt, ich komme nicht an dich ran."
"Weil er und ich gerade im Schutz des unlöschbaren Feuers sind und du innerlich weißt, dass er von mir nur gutes kriegt. Also raus oder hinsetzen und abwarten!"
"Deine Gruselgeschichten, verdammtes altes Weib!" heulte Keiths Mum.
"Och, mit zweihundert Jahren bin ich doch noch jung genug", hörte Keith sseine Uroma lachen, während er ganz ohne darüber nachzudenken an die zweite Brust ging. Seine Mum ging wieder raus. So hörte er nur noch Uroma Earthas Lied, das ihm wie ihre Milch so gut tat.
"Was man so für Träume hat", grummelte Keith, als er sich in seiner eigenen Koje wiederfand. Doch dann überlegte er. Es stimmte, dass etwas in ihm ihn vor diesem Dämon geschützt hatte, ihn sogar unerkennbar und ebenso unberührbar gemacht hatte. Aber dass seine Uroma ihn mal gestillt haben sollte ... Andererseits hatte er sich auch unter dem Einfluss dieses Monsters daran erinnert, wie sein Vater seiner Mutter in den Bauch schlagen oder treten wollte, um ihn umzubringen. Wieso kam er auf solche komischen Sachen?
Anders als sein Traum verlief der restliche Tag ohne weitere außergewöhnliche Vorkommnisse. Doch genau das drückte auf die Stimmung der in Schutzräumen zusammengepferchten Mannschaft. Immerhin hatte Gibson gleich nach Ausruf des Falls "Pandoras Büchse" das Programm für die automatische Auffrischung des Logbuchs eingeschaltet. Alle zehn Minuten wurde ein hochverschlüsseltes Datenpaket per Laserrichtsender zu einem geheimen Fernverständigungssatelliten der Navy hinaufgeschickt. Die Verbindung war nicht abzuhören und lief solange, bis ein ranghöherer Offizier als Gibson die Gefahrenlage durch Codeeingabe für beendet erklärte. Davon wussten nur er und sein erster Offizier etwas, sonst keiner, nicht mal das Funkpersonal.
Den Leuten hier war es egal, wo das Schiff gerade war. Viele von ihnen waren auch nicht nüchtern genug, um das überhaupt begreifen zu wollen. Der Mann, der sich Giovanni Bergamo nannte hörte die Laute der Lust um sich herum im Park. Die zwanzig Kunstsonnen über ihnen waren auf ein rotes Dämmerlicht heruntergeregelt worden. Bergamo war nur deshalb in diesen Park der Sünden gekommen, weil er seinen Leibwächter Giorgio suchte, der in zehn Minuten seinen Dienst antreten sollte.
Auf den kunstvoll angelegten Echtrasenflächen, die auf einem zwanzig Zentimeter dickem Substrat von frischer Erde wuchsen, konnte jeder barrfuß entlang laufen. Denn innerhalb der Rasenstücke waren Heizleitungen verbaut
Giovanni Bergamo, wie er sich hier nannte, dankte den plastischen Chirurgen und Kosmetikern, dass seine Haut straffer war als für sein Alter üblich. Hier konnte er für 30 Jahre durchgehen, ob im Anzug oder jetzt völlig textilfrei. Er lächelte die prüfend auf ihn blickenden Frauen an, die alle gut aussahen, wohl auch dank geschickter Hände und prallgefüllter Bankkonten. Eine kaffeebraun getönte Dame mit schwarzen Locken bis zu den Schultern fing seinen Blick ein und deutete diesen als Einladung.
"Hallo, großer, starker Mann. Warum so alleine in diesem herrlichen Garten, in dem alles so herrlich ist?" fragte die andere auf Englisch mit spanischem Akzent.
"Ich genieße die Ruhe im Auge des Sturms der Leidenschaft", erwiderte Bergamo ein wenig angenervt. Die Frau war keine Hure, die er mit einem schnellen Wink davonschicken konnte. Die war eine gutbetuchte Mitreisende, die wohl auch die 100.000 Dollar pro Woche hatte aufbringen können, um jetzt hier zu sein.
"Ja, der Sturm tobt und ich fühle, dass ich mich bald in ihm treiben lassen werde", hauchte die andere und kam näher. Jetzt erkannte er auch, mit wem er es zu tun hatte. Die dunkelgrünen Augen, die schlanke Nase und die Lachfalten an Kinn und Wange kannte er. Das war die legendäre Reina Coca, la Leona Limanesa, Doña Margarita Isabel de Piedra Roja, Witwe eines Drogenbarons aus Lima, der vor zehn Jahren zu weit expandieren wollte und deshalb in den ewigen Ruhestand versetzt worden war. Doch er hatte selbst bis zu seiner Heimat Sizilien gehört, dass dessen Frau, die vier stramme und auch intelligente Söhne geboren hatte, die eigentliche Hauptgeschäftsführerin gewesen war und nach dem Tod das Unternehmen auf mehrere auch legale Füße gestellt hatte. In den Familien der ehrenwerten Gesellschaft wurde gerne herumgereicht, dass sie den Tod von ihrem Mann eingefädelt hatte, weil der es nicht mehr brachte und sie trotz ihrer Vorlieben und Unternehmungen noch einen winzigen Funken katholischen Anstandes in sich trug. . Sie war eine Legende, ebenso wie Donna Gina in seiner Heimat, eine Art Maria Theresia, die ihre Söhne zielsicher mit den Töchtern, Schwestern oder Tanten der größten Konkurrenten verkuppelt hatte und so zur Matriarchin eines florirenden Unternehmens geworden war. Ja, er kannte sie. Aber sie erkannte ihn nicht, wo sein Gesicht und seine Stimme chirurgisch verändert worden waren, wie auch seine Fingerabdrücke.
"Nun, der Sturm könnte uns davonwehen", sagte er, nicht so sicher, ob er die südamerikanische Kokainkönigin jetzt offen zurückweisen durfte oder sie anderswie von ihrem Vorhaben abbringen konnte. Denn er sah mit dem Blick des erfahrenen Mannes, dass sie schon sehr heftig erregt war. Sie suchte einOpfer für ihre sattsam bekannten Begierden. Und sie kam immer noch auf ihn zu.
"Wenn wir zwei uns halten, junger starker Römer, fliegen wir nicht weg, sondern reiten auf dem Sturmwind durch dieses Paradies", säuselte Doña Margarita de Piedra Roja.
"Nun, vielleicht sollte ich besser erst nachsehen, wo es Regenmäntel gibt, wenn es wirklich wild wird", sagte er.
"Du kannst den Regen nicht aufhalten, wenn du den Donner schon hörst, starker römischer Held", hauchte sie, nun nur noch anderthalb Armlängen entfernt. Wenn er sich jetzt zurückzog würde er nicht nur einen Akt der Feigheit begehen, sondern diese schwarzhaarige peruanische Löwin da erst recht zur Jagd auf ihn reizen. Andererseits fühlte er, dass er ihren auf explosive Weiblichkeit hochgetrimmten Körper nicht so gleichgültig empfand. Ja, und sie konnte das wohl auch sehen. Da deutete sie auf eine Statue der Göttin Aphrodite, die in eindeutig begieriger Pose auf einem Stein lag. "Die Göttin der Liebe hat immer was für ihre gläubigen Verehrer vorrätig", sagte die Peruanerin und legte ihre rechte Hand auf das rechte Knie der Göttinnenstatue. Bergamo wurde aufgefordert, seine Hand auf das linke Knie zu legen. Als er dies tat spuckte die Göttin aus ihrem halb geöffneten Mund mehrere der wichtigen Dinge aus, die sie beide jetzt brauchten. Bergamo hatte sich entschieden. Sollte dieses Weibsbild eben seinen Spaß mit ihm haben.
Eine Minute später waren sie auch schon in einem der aufgestellten Kreise aus bunten Büschen verschwunden.
Giorgio Moretti, der ohne Uhr und ohne sonstige Dinge aus der Zivilisation unterwegs war, geleitete die Dame, die ihm vorhin noch drei schöne Stunden beschert hatte zum Zentralteich, der auch als Reinigungsbecken gedacht war. Dabei hörte er die Stimme seines Arbeitgebers und die einer Frau in steigender lustvoller Erregung. Giorgio fiel ein Stein vom Herzen, als er die dunkelhaarige Frau in den Teich hüpfen sah. Er konnte sich nun dezent zurückziehen. "Wen die Löwin einmal einverleibt, den spuckt sie erst wieder aus, wenn er sie dreifach satt bekommen hat", grinste die Gespielin des Leibwächters, als er zu ihr in den flachen Teich stieg und sich im von unten aufsteigenden Wasser für die vier Miniflüsse wusch.
"Du kennst sie, Esmeralda?" fragte er die Frau, die ihren Namen wohl von ihren smaragdgrünen Augen hatte.
"Ich war mal Humankapital bei ihrem dritten Sohn, als der ins Filmgeschäft einstieg", flüsterte Esmeralda. Welche Geräusche sie beim Lieben macht kenne ich dadurch, dass ich sie mal mit einem seiner Schwiegerneffen in der Bibliothek ertappt habe. Hatte ich eine Angst, dass sie mich deshalb fertigmacht. Aber die hat nachher nur gemeint, dass ich hoffentlich genug gelernt habe, um ihrem Sohn die Langeweile vertreiben zu können."
"Gut, dann werde ich mich jetzt zurückziehen und die Nacht schlafen."
"Wolltest du mir nicht deine Suite vorstellen, Chérie?"
"Übermorgen habe ich Zeit dafür", sagte Giorgio.
Gita, wie sie sich ihm vor ihrem Vergnügen vorgestellt hatte, war wirklich sehr hungrig, und er fürchtete schon, sie nicht satt genug zu bekommen. Er vermerkte in seinem Kopf, dass er bei seinem nächsten Seitensprung besser die kleine blaue Wunderpille einwerfen sollte. Doch auch so konnte er diesem inoffiziellen Zusammentreffen zweier mächtiger Leute aus der Unterwelt genug Freude und Befriedigung abgewinnen und dankte seinen Trainern, die ihn immer wieder auf hohes Niveau gequält hatten.
Nach dem dritten Bodentanz jedoch war er doch zu sehr ausgelaugt. Er ließ es zu, dass die Doña sich an ihn kuschelte und ihn in einer halben Umarmung hielt.
"Ein deutscher Sänger hat mal gesungen, dass mit sechsundsechzig Jahren das Leben anfängt", hauchte sie. "Wohl wahr."
"Österreicher", keuchte Bergamo. "Der Sänger kommt aus Österreich."
"Stimmt, das gehört ja nicht mehr zu Deutschland. Was bin ich doch für ein dummes, kleines Ding", kicherte Gita. Doch das kaufte ihr ihr zufällig ausgewählter Geliebter nicht ab. Vielmehr fing er jetzt an zu glauben, dass sie ihn sich gezielt ausgesucht hatte. Mit ihren Beziehungen hatte sie sicher Zugang zur Passagierliste. Den hatte er leider nicht, weil er eben nicht unter seiner wahren Identität an Bord war. Vielleicht sollte er nun, wo er vierzehn Tage auf diesem Schiff zugebracht hatte und dabei schon einmal sein Ehegelübde vergessen hatte sein Incognito dem Kapitän gegenüber lüften. Doch noch war das zu riskant, fand der ausgezehrte Spontanliebhaber der Doña Margarita de Piedra Roja.
Sie kam gerade noch zehn Schritte Patricias von ihr weg. Außerdem hatte sich alles langsam aber sichtbar vergrößert. Sie musste jetzt schon zu den Gesichtern der anderen hinaufsehen, wie ein kleines Kind. Auch wenn sie im Moment weder Augen, Ohren noch andere Sinnesorgane besaß war alles um sie herum überdeutlich laut und groß. Sogar ihre für alle anderen unsichtbare Bündnispartnerin erschien größer als sie.
"Es wird wohl nicht mehr einen Viertelmond dauern, bis du in ihre Obhut überwechselst", gedankensprach Chuqui, die von einer rotgoldenen Aura umflossene Frau, die eindeutig von den amerikanischen Ureinwohnern abstammte. "Wehre dich nicht dagegen, damit du dein Leben, wie es auch verlaufen wird, nicht als ständigen Seelenschmerz empfindest!"
"Du hast gut reden", erwiderte die Körperlose, die über die Wandlung ihrer Stimme beklommen war. Denn sie klang so, wie sie als dreijährige geklungen hatte. "Ich weiß noch alles, was ich damals erlebt habe. Will ich haben, dass ich das alles vergesse oder will ich es mein Gedächtnis behalten? Ich weiß nicht, was besser für mich ist, Chuqui Ruarua."
"Das kann ich dir auch nicht sagen. Sicher ist nur, dass du von deiner eigenen Tochter wiedergeboren werden wirst. So wie es jetzt ist wirst du wohl davor und danach nicht mehr wissen, wer du warst und wohl nur dann, wenn deine Schwester entsprechend mit dir mitgewachsen ist ergründen können, wer du mal warst, aber eben nur wie du in dem betreffenden Alter warst, mehr nicht."
"Ich hätte mich nicht auf diesen Pakt einlassen sollen", gedankengrummelte die Körperlose.
"Das hättest du besser denken sollen, als du die in ihrem eigenen Schlafgefäß gefangene Seele dieser alle Götter verleumdenden Zauberkraftbenutzerin freigesetzt und in einen neuen Körper gepflanzt hast. Andererseits hättest du dann Intis Beistand nicht von dieser Daianira erhalten können, die selbst den Weg der zweiten Geburt wandeln musste und dann selbst einer Tochter das Leben gab, die bereits einen ausgereiften Geist in sich trägt."
"Gut, ich werde mich nicht wehren, wenn es nicht mehr geht. Vielleicht sollte ich jetzt schon hinübergehen", erwiderte die Körperlose.
"Nein, warte noch. Wenn deine Zeit kommt, werden dein körperloses Ich und das Fleisch und Blut im Schoß deiner Tochter vereint werden."
Die Körperlose dachte kurz daran, wie sie am achten August 1974 mit Hilfe von Eileithyia Greensporn Patricia zur Welt gebracht hatte. Zwei Stunden und vierundzwanzig Minuten hatte sie dafür gebraucht. Patricia hatte es damals sehr eilig gehabt. Die körperlose Pandora Straton fragte sich, ob sie selbst länger brauchen würde, und ob sie davon etwas bewusst mitbekommen und im frei abrufbaren Gedächtnis behalten würde.
Ihre Grübelei über die vor ihr liegende Zukunft wurde von Brandon Rivers unterbrochen, der Patricia bat, sich mit ihm einen Bericht aus dem australischen Zaubereiministerium durchzulesen, der im Arkanet verbreitet wurde. Darin teilte der für Muggelkontakte zuständige Zauberer Marlon Sandhearst mit, dass seit nun schon mehr als einem Monat keine Spur mehr von G. L. Bluecastle gefunden wurde. Dies, so der Verfasser des Berichts, sei dem australischen Zaubereiministerium sehr peinlich und sei gleichermaßen besorgniserregend. Sandhearst schrieb dies ins Arkanet, weil zum einen die Nachrichtenverbreitung darin weltweit ungleich schneller als mit Eulen ginge und zudem auch gleich dutzende von Kopien des Berichtes entstünden. Die amerikanische Kollegin Nancy Gordon hatte darauf eine Antwort formuliert, dass die Beziehungen zwischen den beiden Ländern ernsthaft bedroht sei, wenn nicht bald geklärt würde, wo Bluecastle sei.
"Der Bericht hier ist deshalb für uns interessant, weil Bluecastle der einzige aus einer sehr wichtigen Familie in den Staaten ist, der noch keine eigene Familie hingekriegt hat, Patricia. Das deckt sich auch mit einem Kurzbericht des Verbindungstypen für Menschen mit und ohne Magie, der in Mexiko Stadt am Rechner sitzt. Dem fehlen gleich drei Zauberer, von denen einer der über viele Generationen abstammende Nachfahre einer aztekischen Tempeldienerin und eines Soldaten von Hernán Cortez sein soll."
"Und das beunruhigt die Leute erst jetzt?" wunderte sich Patricia.
"Womöglich wollten die das bisher gerne alleine klären, was da passiert ist. Andere haben da noch nichts drüber geschrieben", erwiderte Brandon.
"Dann sind es vielleicht die, die Anthelia getötet hat, als sie Vengors Mordfabrik in Brasilien ausgehoben hat. Kein Wunder, dass die Zaubereiministerien da nicht so einen Wirbel drum veranstalten möchten", bemerkte Patricia dazu. "Aber dieser Bluecastle - ein ziemlich rüpelhafter und verfressener Angeber übrigens - ist wenige Tage vor seinemVerschwinden noch beim Verlassen eines Schiffes gesehen worden. Das schreibt Sandhearst ja hier auch."
Dann war er auf jeden Fall nicht in Brasilien", vermutete Brandon. Patricia nickte.
Das Meer brodelte. Dampfblasen quollen heraus. Tief unten rumorte der Meeresboden. Dann schossen glühendheiße Fontänen von laut fauchenden und spotzenden Dampfwolken umhüllt aus dem Wasser, bildeten Säulen aus flüssigem Feuer, die an die 100 Meter über die in Aufruhr geratene Meeresoberfläche ragten. Selten gab es dieses Schauspiel zu sehen, und ein Schiff in der Nähe hätte womöglich Schaden davongetragen, so wild tobte die Vereinigung aus dem Feuer der Erde und den Fluten des Atlantiks. Das Wasser erhitzte sich innerhalb von Minuten um die auffahrenden Feuerfontänen.
Nun flogen auch glühende Brocken aus der Tiefe, stiegen zischend in den Himmel und stürzten wie lodernde Riesentropfen zurück ins Meer. Wo sie einschlugen zischte es und wallte Dampf auf. Die Lavafontänen wurden indes breiter. Brodelnd, gluckernd und gurgelnd kochte das Wasser direkt in der Nähe der fauchenden Feuersäulen.
Mitten in diesem Aufruhr aus Feuer und Wasser trieben drei Kugeln aus pechschwarzem Eis. Sie trieben schon seit mehr als zwei Monden auf dem Meer, unauftaubar vom tropischen Meer, doch nicht unauftaubar von den Gewalten aus dem Erdinneren. Mehr und mehr schmolzen die Kugeln aus Eis in der siedenden See dahin. Ein kleinerer Lavabrocken traf die den Säulen nächste Kugel. Mit lautem Klirren zerbarst sie. Eine Dampffontäne warf die sich verflüchtigenden Überreste hoch. Es schien so, als steige eine dunkle Rauchwolke auf. Doch aus der dunklen Wolke entstand innerhalb von Sekunden eine annähernd menschenförmige Erscheinung, größer als der größte Mensch auf Erden. Sie schwebte über dem tosenden und brodelnden Wasser. Da riss die zweite Eiskugel auf und zerfiel in Dutzend Teile. Auch in ihr war jenes dunkle Etwas verborgen gewesen, das nun vom Schmerz des kochenden Wassers aufgeschreckt gleich zehn seiner Längen in den Nachthimmel emporschnellte, bevor es sich offenbar besann, dass es wach und frei war. Kugel Nummer drei geriet in eine von den Feuersäulen wegdrängende Woge aus halbkochendem Wasser und löste sich innerhalb einer Sekunde in Nichts auf. Was in ihr verborgen war trieb einige Sekunden auf dem Wasser, bis es ebenfalls von jäher Erkenntnis, wieder frei und wach zu sein nach oben schnellte, raus aus dem gerade zu heißen Element, dem es seine bisherige Untätigkeit verdankt hatte.
Mehrere Atemzüge lang schwebten die freigesetzten Erscheinungen über dem erwachten Unterseevulkan. Dann stießen sie für Menschenohren tierhafte Freudenschreie aus. Sie waren wieder wach!!
Als die unbändige Glückseligkeit über diese Erkenntnis langsam abebbte erkannten die drei Befreiten, dass sie gerade noch über dem Meer trieben. Aber sie fühlten auch die ihnen bekömmliche Dunkelheit der Nacht, genauso wie die Nähe des unlöschbaren Feuers aus dem Leib der Erde. Sie mussten hier weg. Denn wo das Wasser sie einfrieren und erstarren lassen konnte, vermochte unlöschbares, im geschmolzenen Gestein wirkendes Feuer, ihnen die Körper zu zerschmelzen. Wurden sie zu Todesrauch konnten sie Artgenossen damit vergiftenund ebenso in Rauch aufgehen lassen. Das hatten sie jedoch schon miterlebt und beschlossen, diesen Weg nicht zu gehen. Einer der drei Wiedererwachten rief seine fühlbaren Artgenossen im Geiste und trieb sie an, mit ihm nach Land zu suchen. Zu wittern war keines, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis die ihnen verhasste Sonne wieder aufging und sie in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkte.
"Suchen wir das Land", dachte der zweite den beiden anderen zu.
Mit einer Geschwindigkeit, die selbst der Sturmwind schwer erreichen konnte, jagten sie weit genug über dem Wasser dahin durch die Nachtluft, weg von dem unterseeischen Vulkan, der sie aus dem Schlaf geweckt hatte. Sie wussten nicht, wo sie genau waren. Ihr Standortsinn musste erst wieder erwachen. So geschah es, dass sie statt nach Westen in Sonnenaufgangsrichtung dahinjagten, weil sie wohl dachten, noch in der Nähe der Insel zu sein, auf der sie gefangen gewesen waren. Sie wussten nicht, wie viel Zeit vergangen war. Deshalb vergaben sie die Chance, unbemerkt in Brasilien einzudringen, wo sie sicher genug Nahrung gefunden hätten. Dann fühlten sie alle drei etwas, dass für sie war wie eine Herde Antilopen für ein Rudel hungriger Löwen: In nordwestlicher Richtung gab es eine Quelle aus Glück und Liebeslust, die so stark war, dass es unmöglich nur einige waren, die es erlebten. Sie erkannten die Spender dieser begehrten Gefühle: Menschen. Ja, sie waren in der Nähe von Menschen.
Ohne sich abzusprechen änderten sie zeitgleich den Kurs und jagten schnell wie der Sturmwind über die überwiegend ruhige See dahin, vom Strom der unbändigen Lust und Glückseligkeit wie von einem Magneten angezogen.
Sie fühlten, dass bald der Morgen graute. Bald würde die Sonne aufgehen. Doch sie waren ihrem Ziel nun so nahe, dass sie es vor lauter ihnen entgegenflutender Glücksgefühle fast nicht mehr klar ausmachen konnten. Erst als sie darüber hinweggerast waren merkten sie, dass sie nun langsamer machen mussten.
Wie niederstoßende Greifvögel jagten sie nun wieder der Wasseroberfläche zu, zielten nun genau auf den Herd überschwenglicher Hemmungslosigkeit. Dann landeten sie auf Metall. Sie waren am Ziel.
"Das ist ein Schiff und es fährt mit Brummkraft", knurrte der erste der drei Wiedererwachten. Der zweite, durch den ihn weckenden Lavabrocken um einen halben Meter geschrumpft zischte im Geiste zurück: "Ja, aber auf diesem Schiff feiern und lieben die Menschen."
Das dritte wiedererwachte Wesen gestand den anderen beiden: "Ich werde von diesem ganzen Glück aufgebläht. Ich muss bald Sprösslingsrauch ausstoßen. Wir müssen vergangenes und zergehendes Leben finden, um unsere Sprösslinge darauf keimen zu lassen."
"Ich fühle auch schon den Druck, einen Sprössling zu erzeugen", gestand der erste Wiedererwachte. Der zweite freute sich nur, weil die ihm zufließende Flut aus Glücksgefühlen seine verlorene Körpermasse wiederherstellte. "Ich kann zergehende Lebensmasse riechen. Aber sie ist tief unter uns. Wir müssen durch eine Falltür durch nach unten und dann in die Richtung, in der das Schiff fährt."
"Geschwister, sollten wir nicht erst erkunden, wie groß unser neues Zuhause ist?" fragte der Erste.
"Nein, wir müssenmehr werden. Wir müssen mehr werden und dann dahin, wo wir hergekommen sind. Wenn wir die ersten Sprösslinge haben können wir dieses Schiff zwingen, uns nach Hause zu fahren."
"Ja, aber wenn die da unten merken, dass wir da sind werden sie aufhören, glücklich zu sein", bemerkte das erste Wesen.
"So dann. Schaffen wir uns Sprösslinge und holen uns das Schiff, ohne die Glücklichen zu stören, bis wir da sind, wo wir hinreisen müssen", zischte das dritte Wesen, in dessen ganzem Körper es aufquoll und wie Blasen den Umhang aufwarf, den die Gestalt trug.
Sie konnten keine der Luken öffnen, weil die fest verriegelt waren. Was sie jedoch fanden war ein Schacht, aus dem heiße Luft in die Nacht entwich, die Abluftanlage. Durch Wände gehen wie Gespenster konnten sie nicht. Aber wenn es eine Ritze gab, die nur einen Finger breit war, dann konnten sie hindurch. Sie zerflossen dafür beinahe zu halbflüssigem Stoff, der aussah wie Pech und Öl. Derartig verwandelt glitten sie durch den vergitterten Abluftauslass und drangen unhörbar und für gewöhnliche Menschen unsichtbar in den Leib des Schiffes ein, wo sie sich einrichten wollten.
Als sie endlich das fanden, was sie suchten, eine große Sammlung verrottender Reste von Tieren und Pflanzen, die von Menschen zur Nahrungsaufnahme benutzt wurden, vergaben sie keine weitere Zeit mehr. Sie flogen aufeinander zu, umtanzten sich wie zwei Monde einen Planeten und stießen keuchend und röchelnd schwarzen, rauchartigen Dunst aus ihren Körpern, der sich mit den Ausdünstungen der verrottenden Abfälle vermischte, zusammenklumpte und eine erst erbsengroße Kugel und dann einen schleimigen Ball formten, der immer größer wurde, bis er sich zu einem eiförmigen Etwas von einem Viertel Größe der drei im Zeugungsrausch tanzenden ausgebildet hatte. Da bliesen die drei zeitgleich unsichtbare Kraft in das über dem Abfall dümpelnde Etwas. Es zuckte zusammen. Dabei schossen Armstummel und Beinstummel heraus, zogen sich zu erst schleimigen, zerbrechlichen Gliedmaßen auseinander. Als letztes spross der kleine, zerfurchte Kugelkopf aus dem gerade entstehenden Sprössling. Dann begann er, sich eigenständig zu bewegen. Er riss den noch lippenlosen Mund weit auf, sog Luft und Glücksgefühle in sich ein und stieß einen nur in den Gedanken der drei Erzeuger hallenden Schrei aus wie ein menschlicher Säugling. Doch wo die ersten Schreie erst hoch und schrill klangen glitten sie in der Tonhöhe langsam nach unten, wurden zu rauhen, fordernden Lauten. Doch Nahrung gab es hier im Überfluss.
"Der erste Spross ist in der Welt", jubelte der erste Wiedererwachte. "Kommt, Geschwister aus dem erhabenen Sein der lebenden und toten Königin, zeugen wir den zweiten Spross."
Wie beim ersten so erschufen sie auch den Zweiten Abkömmling aus ausgeschwitzter Glücksenergie und verrottendem Abfall. Auch der zweite Sprössling gelangte durch den Überfluss an Nahrung schnell ins Leben und schrie seine ersten Laute hinaus in die Welt, ohne von jemandem gehört zu werden, der nicht von seiner Art war.
Sprössling Nummer eins wuchs derweil zusehens weiter, indem er die in ihn eingesaugte Menge Glück in Körperstoff verwandelte. "Ihr dürftt nicht zu schnell wachsen, sonst könnte es euch zerreißen", warnte der erste der drei Eltern. Doch die Sprösslinge beachteten die Warnung nicht. Warum auch? Sie waren frei und lebten. Keiner auf diesem Schiff würde mitbekommen, dass sie jetzt auch mitfuhren, bis sie genug von sich waren, dass sie den Hauch der Schwermut und Trübsal verbreiten konnten. Doch bei der Geschwindigkeit, mit der ihre ersten zwei Sprösslinge wuchsen mochten sie dieses Ziel schon in wenigen Tagen erreichen. Wichtig war nur, dass die sprudelnde Quelle von Glück und Wolllust nicht zu früh versiegte.
Noch war er bei oder besser in ihr. Würde er heute wieder zur Welt kommen? Das vertrackte an diesem Experiment war, dass er immer wieder längere Schlafzeiten durchgemacht hatte, trotz des ganzen Körperlärms um ihn herum. Juri dachte daran, wie das alles angefangen hatte, wie er nach dem Fall Bokanowskis herausgefunden hatte, dass dieser noch ein schlummerndes Erbe versteckt hatte, das irgendwann enthüllt werden mochte. Arcadi hatte ihn, den ehemaligen Jäger schwarzer Magier, dazu verdonnern wollen, nur noch Akten im Archiv zu sortieren. Denn Arcadi ging davon aus, dass das Erbe des Selbstvervielfältigers und Monsterbrüters nur dann nicht enthüllt werden konnte, wenn es völlig vergessen wurde.
Da er nicht im Archiv festhängen wollte war er in die Staaten geflohen, wo sich seine ehemalige Verwandlungslehrerin Tamara Pawlowa seit dreißig Jahren aufhielt, weil sie gegen den Willenihrer Familie einen Halbmuggelstämmigen geheiratet hatte. Er musste unbedingt mit wem drüber reden, was er wusste und dafür sorgen, dass Bokanowskis Erbe nicht zur Entfaltung kam. Doch Arcadi hatte ihn auf eine Liste gesuchter Verbrecher gesetzt, um ihn wieder einzufangen.
Als er seine ehemalige Lehrmeisterin gefunden hatte und ihr berichtet hatte, was er wusste hatte sie ihm einen Vorschlag gemacht, den er nicht ablehnen konnte. Sie hatte ihn in eine ganz geheime Gesellschaft von Hexen und Zauberern einschwören lassen, die Gesellschaft der goldenen Waage. Weil Arcadi es irgendwie mit Cartridge hinbekommen hatte, dass ein auf ihn geprägter russischer Suchzauber an den Grenzen der Staaten nach ihm suchte hatte er fast zwei Jahre in der geheimen Festung der Gesellschaft zugebracht, weil dort kein Suchzauber hinreichte.
Als Experte für magische Unfälle und Flüche hatte er an einer Diskussion teilgenommen, inwieweit erwachsene Hexen oder Zauberer sich mit Hilfe des Infanticorpore-Fluches, der auf einen schwarzen Spiegel geschleudert wurde, zu Ungeborenen zurückverwandln konnten, ohne ihre bisherigen Erfahrungen zu vergessen. Er hatte dann gemeint, dass das nur ein Experiment zeigen konnte, wenn schon das Gerücht umging, Anthelia habe deshalb monatelang nichts unternehmen können, weil sie bei einem Hexenduell zu einer ungeborenen Tochter Daianiras geworden sein sollte. Doch da dieses nur eine Behauptung aus der Liga gegen dunkle Künste war, wisse das eben niemand mit Sicherheit, außer eben Anthelia und Daianira, die im April 1998 verstorben war, als sie gegen diese Entomanthropenkönigin gekämpft hatte. . Anthelia konnte man nicht fragen, auch wenn die Gelegenheit, sie aus dem Verkehr zu ziehen verlockend war. Doch durch die Fusion mit der Hexe, die auch eine Riesenspinne sein konnte, war sie vielleicht noch zu wichtig für die Zaubererwelt. So blieb eben nur das Experiment. Juri hatte vollmundig erklärt, dass er sich darauf einlassen würde, wenn er eine Hexe fände, die ihm dafür ihren Bauch zur Verfügung stellen würde. Tamara Warren hatte ihn angelächelt und auf ihren von gutem Essen und altersbedingter Trägheit gerundeten Leib gezeigt. "Wenn du da gut reinpasst und es hinkriegst, mir beim Auszug nicht zu sehr weh zu tun kannst du heute noch zu mir rein, Jurischa."
Tja, und jetzt war er wirklich und wahrhaftig sechs Monate in Lady Tamaras innigster Obhut herangewachsen, dachte immer wieder wehmütig an sein früheres Leben und ärgerte sich, weil er nicht alles mitbekommen konnte. Zumindest hatten sie ihn über das Dexter-Cogison an vielen Beratungen teilnehmen lassen.
Er hörte seine Trägerin stöhnen. Ja, es ging los, es wurde enger um ihn. Jetzt ging es los! Jetzt noch die Toortur im Geburtskanal überstehen, eine Runde allen Frust der letzten Monate von seiner Seele schreien, zwei Wochen an Tamara Warrens sicher gut gerundeten Brüsten trinken und dann wieder ein erwachsener Mann sein, wieder frei handlungsfähig und ... Arg, nur wenn er diese Tortur ohne Gedächtnisverlust überstand. Jetzt wurde ihm klar, warum Anthelia es unbedingt verhindern wollte, das durchzumachen.
Vier Stunden vergingen. Dann war es endlich vorbei, oder besser, das war der Anfang. Er schrie laut und kräftig, auch damit diese Sylvia, die er jetzt erst richtig zu hören bekam, ihm nicht auf den nassen Hintern hauen konnte. Es war kalt, es war hell und auch laut. Sein Kopf tat weh, doch er freute sich. Er hatte es geschafft und wusste noch, wer er war.
"Komm, bevor du dir deine kleine Lunge aus dem Hals schreist! Nimm erst mal einen kräftigen Schluck auf dein Leben, kleiner Juri Warren", hörte er Lady Tamara. Ihre Stimme klang von außen richtig schön. Klar, sie war ja auch jünger geworden, als er sich zu ihr in den Schoß hineingeflucht hatte. Oh ja, und sie war drall und prall und ... lecker. Er nahm es hin, dass es kein Wodka war. Aber wenn er davon genug intus hatte würde er bald wieder groß und stark sein. "Genieße es, deine wiedergeschenkte Kindheit, kleiner Juri. Ich bin froh, dass du jetzt bei uns bist", hörte er sie leise sagen. Er freute sich auch, wieder frei atmen zu können. Er wusste jetzt, dass das ging, was er getan hatte. Noch mal musste er das also nicht durchstehen. Warum legten sie ihm nicht das Cogison um? Klar, weil das für einen Umstandsbauch gemacht worden war und nicht für einen Babyhals. Er sog und schluckte, erst gierig, dann gelassen und genussvoll. Er lag auf ihrem warmen Bauch, in dem er vor Stunden, die er nicht hatte mitzählen können, noch eingeschlossen gewesen war. Jetzt war er wieder auf der Welt, und Bokanowskis Erbschaft konnte gesucht und aus der Welt geschafft werden, was immer es war. Noch zwei Wochen, Ende Juni würde er mit einigen der anderen Gesellschaftsmitglieder aufbrechen, um nach der Hinterlassenschaft des Lebensverächters zu suchen. Doch erst mal durfte Lady Tamara ihn ein paar Wochen bemuttern. Er würde das genießen und sich dann, wenn sie ihn mit dem Wiederalterungszauber zum Erwachsenen Mann werden ließ, erkenntlich zeigen.
Die Stimmung wurde immer gedrückter. Hinzu kam, dass auf die im Satelliten gespeicherten Funksprüche, die von der Navy abgerufen werden konnten, noch keine Verstärkung aufgetaucht war. Allerdings hatten sich auch die Feinde gut verborgen. Man wusste, wo sie waren. Doch es war unmöglich, an sie heranzukommen. Denn sie hatten jene merkwürdige Licht und Wärme schluckende Sphäre um den Bereich gelegt. Dabei war auch herausgekommen, dass dieses Mittel Funkwellen absorbierte, ähnlich wie elektrisch aufgeladene Luft oder meterdicke Stahlplatten. Nach dem zehnten Trupp der Kammerjägerbrigade hatte Gibson das Patt akzeptiert. Die Feinde hatten sich eingebunkert. Die Besatzung hatte sich eingebunkert. Keine Seite konnte so an die anderen heran. Doch wie lange würde das so bleiben?
"Doc, gegen den Bunkerkoller müssen wir was machen. Außerdem hat Lieutenant Fender bisher immer die gleichen Nachrichten gekriegt: "Constitution, bleiben Sie auf See, keinen Hafen anlaufen. Ich habe ihn angewiesen, die Anlage noch mal durchzuchecken, weil mir die ständigen Wiederholungen verdächtig sind."
"War da nicht sowas wie eine Computersimulation, eine Art psychologischer Test, um zu prüfen, wie eine Besatzung im Krisenfall abschneidet?" fragte Mulligan.
"Genau das soll Fender klären, ob da wer unseren Funk von Echt auf Simulation umgestellt hat. Geht leider nur vor Ort."
"Die verschwundene Radartechnikerin kannte sich doch auch mit unserem Funk aus, richtig?" erkundigte sich Mulligan.
"Soweit mir bekannt ist ja", grummelte Gibson. "Was wollen Sie damit sagen?" hakte er nach.
"Dass sie vielleicht und dies auch unfreiwillig verraten hat, wo und wie man unseren Funk umstellen kann, um uns vorzugaukeln, er sei noch intakt", sprach Mulligan eine Vermutung aus. Einige Sekunden Schweigen folgten.
"Dann können unsere Feinde an unseren Sende- und Empfangsanlagen herumspielen. Ich trete Fender in seinen plattgesessenen Arsch, wenn der nicht mitbekommen hat, wie wer an unseren Funk- und Radaranlagen herumgepfuscht hat", schimpfte Gibson.
"Apropos Radar: Was zeigt das an?"
"Die Schiffe, die wir schon vor zwei Tagen drauf hatten und ein paar Neuzugänge, die aber klar durch Echomuster und ID-Transponder identifiziert sind. Wieso, glauben Sie ... Stimmt, könnte leider auch sein. Ich veranlasse einen kompletten Neustart aller Funk- und Radarsysteme, bevor Fender wieder da ist."
Mulligan suchte seinen Posten auf. Die Nachfrage nach oral einnehmbaren Beruhigungsmitteln war gestiegen. Seine sieben untergeordneten Kollegen hatte er in die größten Schutzräume abkommandiert. Psychologe Fraser betreute die Gruppe um die Nuklearwissenschaftler, weil bei denen ein aktenkundiger Klaustrophobiker untergebracht war. Aber so wie Mulligan das sah würden sie in den nächsten Tagen alle Platzangst und Bunkerkoller haben. Deshalb, so wusste er, war es ja so schwierig, Menschen zum Mars fliegen zu lassen, weil die zu lange von allem und jedem isoliert leben mussten. Die Leute einschläfern, in eine Art Scheintod zu versetzen war schon eine geniale Idee, leider aber nicht so einfach anzuwenden.
"Doc, im Club Stars and Stripes hat sich wer mit Strom das Licht ausgeblasen. Wohin mit dem Toten?" hörte er die Stimme eines jungen Marines, der wohl aus dem Tanzclub, der auch ein ABC-Schutzbunker war, anrief.
"Suizid? Der Tote kommt zu mir in den gesicherten Raum. Ich muss das exakt bestimmen und vermerken. Wer war das überhaupt, Marine?"
"So'n junger Seaman Anwärter aus der Küchengruppe, Wilson, Theodor Wilson. Hat wahrscheinlich gedacht, die Navy sei ein Touristenunternehmen. Da hätte der mal die Grundausbildung der Marines erleben sollen."
"Okay, Corporal Taggert: Erstens haben Sie jeden Menschen an Bord mit demselben Respekt zu betrachten, den Sie für sich selbst beanspruchen. Das gilt auch für tote Kameraden. Zum zweiten hätte der Junge übermorgen den zweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Ein bißchen zu jung um sich selbst zu töten. Drittens wird in den Werbefilmen der Navy all zu leichtfertig die Meinung suggeriert, wir seien ein Touristenunternehmen oder ein großer Abenteuerspielplatz. Und die Village People haben in den siebzigern noch ein Lied drüber gemacht, wie toll die Navy ist. Und über die Marines verliere ich besser keine Worte, siehe unter erstens."
"Okay, Doc, der Junge hat seinen Rasierer entkabelt und sich mit den losen Kabelenden den elektrischen Kick richtung Himmelreich verpasst, wenn die den da überhaupt reinlassen."
"Sie begleiten den jungen Seemannsanwärter bitte zu mir hin. Und dann schreiben Sie einen netten Brief an dessen Verwandten, den wir dann rausschicken, wenn wir nicht mehr die totale Geheimstufe einhalten müssen. Ist das angekommen?"
"Ja, ist es. Aye aye, Sir", schnaubte der junge Corporal.
Die erwartete Hiobsbotschaft traf um zehn Uhr morgens Bordzeit ein. Jemand hatte die komplette Funkanlage unbrauchbar gemacht und nur die Simulatoren funktionsfähig gelassen. Das gleiche galt für die Radaranlage. Zudem war Fender verschwunden. Nicht mal eine Leiche war von ihm gefunden worden. Was nur dem Kapitän und seinem ersten Offizier die heftigsten Bauchschmerzen bereitete war der Umstand, dass jemand alle Stromleitungen zu dem Laseremitter unterbrochen hatte, der alle zehn Minuten das Logbuch zum Spezialsatelliten hinaufschoss, wo es bis zu einem gezielten Abruf von der Admiralität auf Festplatte gespeichert wurde.
Was dem Steueroffizier noch Sorgen machte war ein immer dichter werdender Nebel, der die klare Sicht eintrübte. Dadurch konnten sie weder sehen, wo sie hinfuhren, noch was an Deck passierte. Dann erhielten die Führungsoffiziere noch eine weitere Schreckensmeldung:
Der Einsatzraum der Kammerjägertruppe, die nur noch aus zwanzig Mann bestand, war von allen Verbindungen getrennt worden. Hatten sich die Feinde bisher nur im Achterschiffbereich an einem großen Vorratslager festgesetzt, gingen sie nun wieder auf Jagd. Der Captain verordnete über die ausgefallene Kammerjägerzentrale höchste Geheimhaltungsstufe. Mulligan dachte mit steigendem Unbehagen daran, dass die Fremden, die er für sich als Dämonen hinnahm, ihre Bunkertaktik aufgegeben hatten. Womöglich brauchten sie neue Nahrung, neue Leben. Doch was ihm mehr zusetzte war die Vermutung, dass die Unheimlichen sich bei guter Ernährungslage auch vermehren konnten wie Blattläuse in einemGewächshaus voller Blumen oder Bakterien auf einer nährstoffreichen Kultur. Dann, so war er sich völlig sicher, würde es nicht mehr lange dauern, bis die Unheimlichen wie die Heuschrecken über das gesamte Schiff herfielen und selbst die hermetisch verschlossenen Schutzräume ihren bösen Einfluss nicht abhalten würden.
"So, wir schicken jetzt wen hin, der das regelt", hörte Mulligan Gibson. "Winston, zu mir, da brauche ich Sie für!"
"Major Winston, Captain Gibson. So viel Zeit muss sein", erwiderte Winston über Funk.
Keith Mulligan fragte sich, wen außer den hypertrainierten Mariens sie noch hatten, der oder die es mit diesen Monstern aufnehmen konnte.
Eine Viertelstunde später rief der Captain direkt bei Mulligan an und zitierte ihn durch die Schleusentunnel in die OPZ. Dort erfuhr er, dass sie zwei bewaffnete Drohnen vom Typ Predator an Bord hatten, um gegebenenfalls feindliche Angreifer abzuwehren, wenn die spärlichen Bordgeschütze alleine nicht ausreichten. Doch beide Drohnen waren kurz nach dem Start in ein Funkloch geraten und nicht mehr daraus aufgetaucht. Auch den Auftrag, das von Besatzungsmitgliedern freigehaltene Vorratsdeck mit Raketen zu zerstören, hatten sie nicht erfüllt.
"Jetzt wollen wir es wissen, Doc Mulligan. Was wissen Sie über diese Gegner? Und bloß keine Behauptungen, die wissenschaftliche Seriosität vermitteln sollen!" stieß Gibson aus. Auch Winston sah den Arzt von oben her an. Der straffte sich und holte Luft.
"Meine Herren, ich befürchte, wir haben es mit überirdischen Gegnern zu tun. Alles, was ich bisher erwähnte ist lediglich eine halbwegs wissenschaftlich nachvollziehbare Möglichkeit gewesen. Aber als ich dieses Wesen zum ersten mal traf war es nur für mich zu sehen, für sonst niemanden ohne Infrarotgerät. Dann diese Macht, trübe Stimmungen und Ängste zu erzeugen. Gut, dafür gibt es auch Chemikalien. Die wären aber nicht durch die Schutzhelme gedrungen", sagte er. Die beiden hörten ihm zu. So sprach er weiter und erwähnte, dass alles, was er bisher mitbekommen hatte darauf hindeutete, dass diese Wesen von ihren Opfern Wissen erbeuten konnten, ja womöglich deren gesamten Geistesinhalte in sich aufnehmen konnten. Daher wussten die wohl über die Schwachstellen an Bord bescheid. Die Vorfälle der letzten Stunden deuteten darauf hin, dass sie nun anfingen, die Besatzung geistig zu brechen. Für all dass gab es keinen handfesten Beweis. Doch die Hinweise deuteten zu heftig in diese eine Richtung. Von seinem Traum sprach er nicht.
"Dann sollten meine Leute geweihte Silberkugeln in ihre Waffen laden und sich mit Weihwasser absprühen, wie?" fragte Winston.
"Wenn diese Wesen älter als Judentum und Christentum sind taugen solche Waffen wohl nichts", erwiderte Mulligan.
"Besteht eine Möglichkeit, mit diesen Wesen zu verhandeln?" fragte Gibsons erster Offizier.
"Mit Dämonen?" lachte Gibson. Dann sagte er: "Dann habe ich noch eine Frage: Wieso konnten Sie diesen Biestern entkommen, wo alle anderen, die denen in die Quere kommen entweder zu Zombies oder Leichen mit verdrehten Hälsen wurden oder ganz verschwinden?"
"Weiß ich nicht. Vielleicht bin ich eine Art Mutant und deshalb ungenießbar für diese Kreaturen, so wie es tiere gibt, die gegen bestimmte Viren immun sind, alle anderen damit anstecken oder gegen Schlangengift immun sind. Ich weiß das nicht!" beteuerte Mulligan.
"Tolle Begründung!" grummelte Winston. Dann fiel ihm ein, dass Mulligan in allen Tests überragende Fähigkeiten gezeigt hatte. So sagte er: "Gut, dann ziehen Sie sich einen Anzug an und steigen Sie in den ABC-Lader! Fahren sie da hin, wo die Predatordrohnen verloren gingen und überprüfen Sie vor Ort! Verlassen Sie den Verlader nicht.
"Aye aye, Sir", bestätigte Mulligan.
Zehn Minuten später stieg er durch eine ausfahrbare Schleuse in einen der gegen ABC-Angriffe abgeschirmten Verlader, eben wie einen, mit dem die verfluchtenEiskugeln zu ihren Lagerräumen gefahren worden waren. Das erste, was ihm auffiel, als er aus dem doppelt und dreifach gesicherten Hangar herausfuhr war das stark eingetrübte Tageslicht. Die Sonne war hinter einer grauen Glocke nur als käsebleiche Scheibe zu erkennen. Das zweite was er sah waren drei kleinkindgroße Geschöpfe, die mit dunklem Schleim besudelt waren. Unverzüglich zog er eine Luftprobe, um mögliche Ausdünstungen von denen zu erwischen. Da er nicht wusste, wie hart im Nehmen diese Wesen waren umfuhr er sie besser erst mal. Sollte er den Befehl erhalten, sie zu töten ... Als Arzt widerstrebte es ihm, menschliches Leben zu töten. Als Soldat hatte er die Pflicht dazu, wenn es ihm befohlen wurde oder er unmittelbar angegriffen wurde. Jedenfalls bestätigten die kleinen Geschöpfe seine Befürchtungen. Die Dämonen brüteten Nachkommen aus. Dann geriet er in totale Finsternis. Schlagartig fiel die ganze elektrische Versorgung aus. Vor sich sah er huschende Schatten, die sich um den Eingang zu einem Vorratsdepot aufhielten. Es waren acht von den großen Wesen, die er schon kannte und insgesamt fünfzehn von den kleinen, die jedoch auch schon eine Art Dunstaura verströmten. Wohlige Wärme flutete durch Mulligans Körper. Offenbar reagierte das ihm eingeflößte Immunsystem auf diese Fremdwesen. Doch was half es? Er saß in diesem Verlader fest, wo dessen gesamte Energie und Steuerelektronik gerade versagt hatte. Jetzt wusste er auch, was mit den Drohnen passiert war und auch, was mit dem ganzen Schiff passieren würde, wenn diese Bestien sich weiterhin vermehrten und zu neuen Monstern auswuchsen. Womöglich lag es nur daran, dass die Constitution zu groß war, um sie so schnell lahmzulegen. Doch diese Biester hatten Zeit und konnten sich Nahrung holen wann sie wollten. Die Menschen an Bord hatten nur begrenzte Vorräte. Wenn denen einfiel, sie aushungern zu lassen ... Nein, das würden sie nicht. Denn wenn sie von menschlicher Seelenenergie lebten brauchten sie lebende und fühlende Menschen, so wie Menschen sich Hühner zum Eierlegen und Kühe zum Milchgeben hielten.
"Und ihr kriegt mich doch nicht", grummelte Mulligan. Denn ihm war gerade eingefallen, dass diese Wesen ihn nicht wahrgenommen hatten, als er ihnen das erste mal begegnet war. Da tasteten sich welche an der Wand des Verladers entlang. Mulligan verwünschte sein Zögern, nicht sofort ausgestiegen zu sein. Wenn die die Luke fanden und sich draufsetzten saß er wie die Maus in der Falle. Dann musste er grinsen. Wenn er sich recht erinnerte konnten ihn diese Scheusale nicht körperlich berühren, selbst dann nicht, wenn zwischen ihnen und ihm ein Schutzanzug war.
"Okay, Dementoren, lasst uns tanzen!" knurrte er. Dann betätigte er drei Schalthebel, die rein Mechanisch waren und hievvte damit die Notluke auf. Er sprang fast aus dem Sitzen heraus in die Luke und zog sich hoch. Dann sprang er auf den Verlader. Da kam ihm schon eine der großen Kreaturen entgegen. Nicht gezielt, sondern wohl nur, um den Ausstieg zu blockieren. Er holte mit der linken Hand aus und versetzte dem Monster einen Karateschlag dahin, wo bei normalen Menschen der Bauch war. Ein urwelthafter Schrei und ein Stoß, als jage ihm jemand ein glühendes Eisen durch die Hand waren die Reaktion. Das Monster flog förmlich zurück. Er sprang ab. Wie seine Hand aussah konnte er bei der verbreiteten Dunkelheit nicht erkennen. Doch er wusste, dass er dieses Manöver nicht zu häufig wiederholen durfte. Er rannte los, voll in eine der wohl gerade jungen Kreaturen hinein. Als er sie rammte kreischte sie los, dass ihm fast hören und Sehen verging. Wieder meinte er, ein glühendes Eisen gegen die Hand bekommen zu haben. Doch auf das kleine Ungeheuer wirkte die Berührung wohl heftiger. Denn es zerlief regelrecht und sonderte dabei einen öligen Qualm ab. Mulligan war froh, seinen Schutzanzug zu tragen. Er rannte weiter, schaffte es aus der Dunkelheit heraus. Hinter sich hörte er eines der großen Wesen rasselnd atmen. Er warf sich herum und schenkte dem Monster links und rechts ein. Die Schmerzen, die er dabei empfand ignorierte er mit der Selbstbeherrschung eines Karatemeisters. Dann spurtete er wieder los, raus aus der totalen Verdunkelung zur nächsten Dekontaminationsschleuse. Er musste das sicher auf ihm abgelagerte Zeug loswerden. Zumindest hatten die anderen Bestien die Verfolgung aufgegeben. Sie nahmen ihn wirklich nicht wahr, wohl weil sein Geist, ihre Nahrungsquelle, von irgendwas überdeckt war.
Als er nach zwanzig Minuten aus der Dekontamination kam und Meldung in der OPZ machte musste er erst einmal eine Schimpftirade des Captains über sich ergehen lassen. Dann meldete er, dass die fremden Wesen sich vermehrten.
"Ja, und dann belagern die demnächst die Schutzräume, Captain. Das eingetrübte Tageslicht spricht dafür, dass sie schon weite Teile des Schiffes unter ihrem Einfluss haben. Schlage vor, sämtliche Besatzungsmitglieder in künstliches Koma zu versenken und einen Notsender zu bauen, um Hilfe anzufordern. Möglicherweise gibt es bei der Navy Spezialisten für solche Übergriffe, von denen wir Normalmatrosen bis heute nichts mitbekommen haben."
"Wenn stimmt, was sie sagen, Mulligan, dann dürfen diese Monster auf gar keinen Fall an Land. Bestätigen Sie, dass diese Wesen sich fortpflanzen?"
"Ja, ich bestätige eine erkennbare Fortpflanzung dieser Wesen", seufzte Mulligan.
"Gut, dann sehen Sie zu, in einen der Schutzräume zu kommen und machen Sie da, was Sie vorgeschlagen haben. Jagen Sie alles an Betäubungs- und Beruhigungsmitteln in die Leute rein, was Ihre Hexenküche hergibt. ."
"Verstanden, Captain. Aber was machen wir danach, wenn wir jetzt alle unter Quarantäne stehen?"
"Was wohl", knurrte Gibson. Unser Schiff ist für einen solchen Fall ausgelegt. Immerhin sind wir ein schwimmendes Hochsicherheitslaboratorium für chemische und biologische Forschungen."
"Verstehe, Captain. Dann sehe ich zu, die Besatzung soweit es geht in künstlichen Schlaf zu versetzen. Viel Erfolg Ihnen!"
"Ihnen auch, Doc Mulligan!" erwiderte der Captain.
Mulligan wusste nicht, wie genau das gehen sollte. Doch er hatte immer schon damit gerechnet, dass das Schiff einen sehr starken und wohl auch hitzeträchtigen Selbstvernichtungsmechanismus besitzen musste. Wenn ein Fall wie der eintrat musste es eben von Grund auf vernichtet werden. Einfach versenken brachte bei einem kontaminierten Schiff nichts ein außer den Erreger gleichmäßig im Meer zu verteilen. Ja, da war es besser, wenn die Besatzung schlief.
Captain Gibson fröstelte. Das durfte eigentlich nicht sein, wo er innerhalb der komplett versiegelten und klimatisierten Operationszentrale saß. Auch störte ihn die zunehmende Dunkelheit von draußen, die irgendwie nebelhaft in diesen Raum hineinwirkte. Noch liefen die vier Motoren. Noch hielt das Schiff den Kurs. Doch das GPS war vor zwei Minuten komplett ausgefallen, so dass das Schiff nur noch nach Magnet- und Kreiselkompass navigieren konnte.
"Major, Wenn der Kleine da unten seine Pillen und Spritzen verteilt hat müssen wir beide wohl in die Kammer", flüsterte der hünenhafte Dennis Gibson. Major Edgar Winston, Veteran des Golfkriegs und erst vor drei Monaten aus Afghanistan zurückgekehrt, starrte den Kommandanten der Constitution an.
"Code Purgatorium?" fragte Winston verbittert. Gibson nickte.
"Sir, Club Stars and Stripes meldet ausfall der Wasserversorgung", wandte sich ein Ensign aus dem technischen Stab an den Captain. Dieser ließ sich auf einem Plasmabildschirm die für die Bordinfrastruktur wichtigen Systeme und Leitungswege darstellen. In der Tanzbar, die seit einigen Stunden als Schutzbunker diente blinkten violette Striche da, wo eigentlich gleichmäßige blaue Linien die Wasserversorgung nachbildeten. Die weißen Linien stellten Stromleitungen dar, die hellblauen das in sich geschlossene Belüftungssystem.
"Ausfall prüfen!" befahl der Captain. Der Techniker tippte einen Befehlscode in eine winzige Tastatur ein. Keine zehn Sekunden später hatte er die Antwort: "Blockade der hermetisch abgesicherten Tanks, nach der Temperaturablesung durch Vereisung."
"Vereisung? Wie soll denn das bitte gehen, wo die Tanks hinter meterdicken, wärmeisolierenden Wänden stehen?" knurrte Winston, der die Überprüfung mitbeobachtet hatte.
"Aus demselben Grund, warum wir es hier in der OPZ immer kälter haben", vermutete der Techniker und deutete auf das digitale Thermometer über dem Zentralkontrollstand, an dem der diensthabende Steuermann Kurs und Geschwindigkeit des Schiffes überwachte. Das Thermometer zeigte eine Raumtemperatur von nur noch 8,232 ° Celsiusan. Und gerade sank der Wert um drei Hundertstelgrad weiter.
"Das ist unmöglich", blaffte Winston und sah auf die Wände. "Wir können hier drinnen von glühender Lava eingeschlossen oder im dicksten Polareis eingebacken werden, ohne dass wir davon was merken. Wieso kommt unsere Temperaturregelung nicht dagegen an?"
"Sie arbeitet mit Höchstwerten, Sir", vermeldete der Techniker und zeigte dem Major die entsprechende Darstellung. Die immer wieder neu aufbereitete Luft, die in einem geschlossenen Kreislauf ein- und ausgepumpt wurde, erhielt durch Wärmetauscher eine voreingestellte Temperatur. Doch die Heizelemente der Anlage liefen bereits mit voller Leistung, ebenso die Umwälzpumpen.
"Wollen Sie mir damit sagen, dass ohne unsere Luftumwälzung hier schon alles gefroren wäre?" fragte Winston. Der Ensign nickte wild.
"Den Leuten im Club haben Sie das Wasser abgedreht und uns wollen sie einfrieren", grummelte der diensthabende Radarüberwacher, der wegen der sabotierten Anlage nichts mehr zu tun hatte.
"Wie kann Kälte durch wärmeisolierende Wände dringen?" fragte Gibson.
"In dem die Raumwärme einfach von einer rein energetischen Kraftquelle neutralisiert wird", sagte der Techniker.
"Wollen Sie mir jetzt noch mit Magie kommen, Ensign Kent?" schnaubte Winston.
"Magie, Exotechnologie, irgendwas, das wir nicht können und wohl auch nicht kapieren, wenn uns das wer erklären könnte", meinte der Ensign. "Ich lese eben nur ab, dass wir ein Wärmeleck haben, das keinen physikalischen Ursprung hat." Der Captain musste nach erneutem Blick zum Thermometer zustimmen.
Keith Mulligan fühlte eine gewisse Hitze im Körper, vor allem im Kopf. Unter normalen Umständen hätte er an einen überheizten Tunnel gedacht oder daran, Fieber zu haben. Doch er vermutete die unheilvolle Kraft, die von den fremddartigen und menschenfeindlichen Geschöpfen ausstrahlte. Selbst in den gegen alles mögliche isolierten Tunneln wirkte ihr Einfluss. Genau deshalb war Mulligan darauf erpicht, diesen Geschöpfen den Tag zu versauen, und wenn er dafür selbst draufgehen musste.
Mit Betäubungsmitteln eine noch zweihundert Mann Mitglieder zählende Mannschaft zu narkotisieren, die noch dazu auf acht gründlich verschlossene Schutzräume verteilt war, würde zu lange dauern. Außerdem gab der Medikamentenvorrat der Constitution nicht die nötige Menge her. Also musste Mulligan es anders anstellen.
Wieselflink eilte der Bordarzt durch die für ihn mühelos begehbaren Verbindungstunnel. Alle zwanzig Meter Weg musste er eine kleine Schleuse passieren. Das war mit dem ihm zugeteilten Codearmband kein Problem. Er hatte den Codegeber sogar so eingerichtet, dass das übliche Sicherheitsprotokoll der Schleusen für zehn Sekunden ignoriert wurde. So brauchte er gerade zwei Minuten, um in die Krankenstation zu gelangen.
Als er durch die senkrechte Einstiegsschleuse zum Behandlungsraum Nummer eins aufenterte empfingen ihn klirrend kalte Luft und Eis an Wänden, Boden und Decke. Doch wesentlich schlimmer empfand Mulligan den auf ihn zustürzenden Dr. Donatello. Der zweite Arzt wirkte wie im Rausch, als er den rechten Arm hochriss. Mulligan sah das bedrohliche Aufblitzen in der rechten Hand des Untergebenen. Donatello griff ihn mit einem Skalpell an.
Gibson und Winston hatten sehr wohl zur Kenntnis genommen, was Mulligan erzählt hatte. Außerdem spürten sie ja selbst die immer stärkere Last auf ihren Seelen. Diese Ungeheuer machten was, dass jeden immer schwermütiger und hoffnungsloser machte. Dann noch dieser Temperaturabfall. Deshalb scheute sich der Kapitän nicht, zu eigentlich verbotenen Mitteln zu greifen. Er gab an die Besatzung der OPZ Pillen aus, die für zwei Stunden Gefühle wie Angst und Verzweiflung unterdrückten und ihren Anwender in eine Art Überlegenheitsstimmung versetzten.
"Gehen wir, Major Winston", flüsterte Gibson dem ranghöchsten Marine zu. Dieser nickte.
"Wo wollen Sie denn hin?" wollte der erste Offizier wissen.
"Die letzten Möglichkeiten überprüfen, die wir haben", erwiderte Gibson und fügte nach wenigen Sekunden hinzu: "Keine Angst, wir kommen wieder."
Unter dem Einfluss des Mittels, dass die Pharmakologen der Navy Antiphobin nannten, verließen Gibson und Winston die OPZ durch eine nur von Ihnen mit Codeschlüsseln zu öffnende Schleuse, während der erste Offizier und die zehn für die Schiffskontrolle benötigten Besatzungsmitglieder so dreinschauten, als stünden sie unmittelbar vor der Eroberung eines feindlichen Schiffes.
Trotz der Schutzanzüge fühlten der ranghöchste Navy-Offizier und der ranghöchste Marine von der Constitution die immer stärker werdende Kälte. Von der bisher erlittenen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung war jedoch nichts zu fühlen. Die Droge unterdrückte alle diese Gefühle auslösenden Prozesse im Gehirn.
Tiefer und Tiefer ging es in den Bauch der Constitution hinunter. Zumindest ließ die Kälte nach. Also konnten die Fremden ihre unheimliche Kraft noch nicht bis ganz nach unten ausdehnen.
Endlich standen sie vor der letzten, schweren Panzertüre. Diese mussten auch beide mit ihren Codeschlüsseln entriegeln. Zwanzig Sekunden dauerte es, bis die Tür weit genug geöffnet war, dass beide an die mit Selbstschussfvorrichtungen gespickte Sicherheitsschranke traten, die die letzte Hürde bot. Hier mussten Gibson und Winston ihre Schutzhelme öffnen, um eine Minute lang in die Aufnahmegeräte von Netzhautabtastern zu blicken. Die Geräte maßen dabei nicht nur die für jeden Menschen einmalige Struktur der Netzhäute, sondern auch, ob die Augen der Männer noch durchblutet wurden. Damit wurde ausgeschlossen, dass jemand brutal die Augen der Zugangsberechtigten entfernte, um sich damit Zutritt zu erschleichen. Endlich war die leidige wie unumgängliche Überprüfung beendet. Die beiden Männer betraten das, was Gibson "Die Kammer" genannt hatte.
Mulligan tanzte den Angriff mit dem Skalpell aus, parierte einen Hieb und brachte selbst einen gelungenen Karateschlag an. Donatello sank stöhnend zu Boden und blieb liegen. Mulligan fackelte keine Sekunde lang und setzte ihm eine KO-Injektion von Hand. Dann betätigte er die Überschreibschaltung und wählte jeden Schutzraum einzeln aus. Er programmierte eine Luftsauerstoffsättigung von gerade vier Prozent für die nächsten drei Minuten. Dann wollte er den Sauerstoffgehalt auf gerade zehn Prozent, also die hälfte der für menschen zum aktiven Leben nötigen Menge hochfahren. Nur die OPZ wollte er unbehelligt lassen. Vielleicht konnten sie den Dämonen doch noch Herr werden, wenn sie ihnen ihre Kraftquelle, menschliche Lebenskraft, vorenthalten konnten. Er hatte in einer aus den 1970ern stammenden Science-Fiction-Serie mal gesehen, dass die Besatzung einer Mondstation so feindliche Außerirdische geschwächt hatte, die von elektrizität und Strahlung lebten. Vielleicht ging das mit diesen Monstern aus einer anderen Welt auch.
Eine Minute später hatte sich auch der letzte Schutzraum auf die neue Sauerstoffversorgung eingependelt. Für die Leute da würde es zu spät sein, in Schutzanzüge zu steigen.
Als er sicher war, dass sämtliche Schutzräume auf die vorübergehende Sauerstoffunterversorgung gestellt waren rief er in der OPZ an und erfuhr, dass sowohl der Kapitän als auch Major Winston überfällig waren. Da nach den letzten massiven Verlusten kein frei an Deck herumlaufendes Mannschaftsmitglied unterwegs war und keiner wusste, wohin genau Gibson und Winston gewollt hatten argwöhnte Mulligan, dass die beiden entweder beim Versuch, was auch immer auszulösen gestorben waren oder an Ort und Stelle bleiben wollten, bis es sie und wohl jeden hier an Bord, Freund wie Feind, ins Jenseits blasen würde. Mulligan erschauerte einen Moment. Er hatte damals gelobt, sein Land zu verteidigen und dabei auch das eigene Leben zu riskieren. Doch einfach so, ohne Vorwarnung in die Luft zu fliegen, vielleicht sogar in einem atomaren Feuerball verdampft zu werden, hatte er doch keine Lust. Sicher würde er damit seine Heimat endgültig von diesen Monstern befreien. Doch waren das wirklich die einzigen? Am Ende trieben noch weitere dieser eiskalten Dämonenkokons im Meer herum, ja konnten diese Ungeheuer irgendwo in den Tropen von selbst auftauen und dann auf ahnungslose Leute losgehen. Nein, wenn er wirklich einer von ganz wenigen war, die gegen dieses Ungezifer immun waren, dann musste er weiterleben, um sein Land weiterhin verteidigen zu können. Er musste von Bord und ganz schnell ganz weit weg, ohne dass seine Leute und die dämonischen Invasoren das mitbekamen. Sollte er es riskieren, zu den Booten zu gelangen? Nein, die waren für die Unheimlichen sicher frei zugänglich. Am Ende schleppte er noch einen der Dämonensprösslinge mit sich, der wie ein eingekapseltes Bakterium wartete, auf ergiebigen Nährboden zu gelangen. Nein, er musste einen Weg nehmen, der von den Fremden nicht genutzt werden konnte. Dann fiel es ihm ein, was er machen musste.
"Die Testelektronik zeigt Störungen in den Peripherien. Gut, dass wir die Anlage nicht von der OPZ aus bedient haben", stellte Gibson fest. Es gab nämlich drei möglichkeiten, die Geheimvorrichtung mit Codenamen "Fegefeuer" auszulösen: Von der Brücke aus, von der OPZ aus und von dieser Kammer tief unten im Schiff aus. Die beiden ersten Möglichkeiten waren bereits unbrauchbar.
Die Schaltung war größtenteils mechanisch. Zwei Löcher für besondere Schlüssel waren an einem Pult mit drei Hebeln angebracht. Gibson und Winston hatten die nötigen Schlüssel bereits vor Anlegen ihrer Schutzanzüge bereitgemacht, ohne dass die restliche Mannschaft der OPZ das mitbekommen hatte. Gibson zählte fünf Sekunden herunter. Dann stießen beide Offiziere ihre Schlüssel in die vorgesehenen Schlösser. Zwei grüne Lampen glommen auf. Gibson bediente zwei der vier Hebel, die in je fünf verschiedene Stellungen bewegt werden konnten. Winston bewegte die beiden weiteren Hebel in zwei ihm als richtig mitgeteilte Stellungen. Als er Vollzug gemeldet hatte lauschte er. Irgendwo im Schiff polterte und schabte es metallisch.
"Captain, ich fürchte, der Feind gibt sich nicht mehr mit Belagerung zufrieden", sagte Winston.
"Er hat sicher gemerkt, dass wir uns seinem Einfluss entzogen haben. Womöglich hat der Kleine auch schon die restliche Mannschaft ins Land der Träume befördert, wie auch immer das so schnell gehen kann."
Das metallische Poltern wurde lauter. Es klang wie gewaltige Schmiedehämmer, die auf metergroße Ambosse einschlugen. Dann meinte Gibson, seinen Ohren nicht mehr trauen zu dürfen. Es klirrte und schepperte so laut, als wäre gerade ein großer Stapel Porzellanschüsseln aus großer höhe auf harten Beton gefallen und zerschellt. Der Kommandant kannte nichts an Bord außer dem Geschirr in der Kombüse, dass diesen Lärm machen konnte.
Kaum war das laute Klirren und Scheppern verhallt fühlten Gibson und Winston ein Absinken der Umgebungstemperatur. Winston blickte auf die beiden grünen Lichter auf dem Schaltpult und sagte total abgebrüht: "Captain, es wird Zeit. Sie dringen ins Schiffsinnere vor."
"Ja, Sie haben recht, Major", stimmte Gibson dieser Einschätzung zu. Dann drückte er einen Knopf. Es rasselte kurz im Schaltpult. Zwei Gelbe Lampen und ein rotes Zählwerk leuchteten auf. Das Zählwerk vorderte, in zehn Sekunden beide Schlüssel in Stellung eins zu drehen oder abzuziehen, um den Vorgang abzubrechen. Doch Gibson und Winston dachten nicht daran, besonders nun, wo es spürbar kälter und kälter wurde.
Zeitgleich drehten sie die Schlüssel nach rechts, als die Countdownuhr auf 0 stand. Danach mussten sie die Hebel noch einmal umstellen, bevor sie durch drücken des Knopfes eine zweite Zählung auslösten. Nach weiteren zehn Sekunden drehten sie die Schlüssel gleichzeitig zweimal linksherum. nun klackerte es, und eine rein mechanische Uhr lief an, die mit jedem Tick und Tack eine verstrichene Sekunde bezeichnete. Jetzt hatten die beiden Männer gerade noch zwanzig Minuten Zeit, um mehr als einen Kilometer vom Schiff entfernt oder mehr als zweihundert Meter unter dem Kiel zu sein. Dann würde die Schaltung "Fegefeuer" in Kraft treten. Dann würde nichts geringeres als eine Atombombe von der fünffachen Sprengkraft jener von Hiroshima zünden und alles im Umkreis von zwei Kilometern vernichten. Zudem würde die ultrahohe Temperatur im Explosionszentrum alle erdenklichen Keime und Viren restlos verdampfen. Der Sprengsatz besaß noch einen Funksender und Laseremitter, der fünf Sekunden vor der Zündung einen elektronischen Todesschrei aussenden würde. Gibson war froh, weit genug von jeder menschlichen Ansiedlung zu sein. Eine solch drastische Lösung war natürlich niemandem im Kongress der vereinigten Staaten bekannt.
Wieder klirrte es so, als wenn eine große Menge Porzellan zerschlagen worden wäre. Schlagartig fiel die Temperatur um mindestens zehn weitere Grad ab. Gibson und Winston sahen sich an.
"Wie auch immer, sie brechen sich ihren Weg durch die Decks."
"Sie wenden Tiefsttemperaturen an, um durchzubrechen, Sir. Sie kühlen die zu durchbrechende Stelle so stark ab, dass sie spröde wird. Dann brauchen sie sie nur mit genügend Wucht mit einem harten Gegenstand zu treffen und ..." Wie zur Bestätigung klirrte und schepperte es erneut, wieder etwas lauter. Dann rauschte es auf einmal von irgendwo, und die beiden Männer fühlten, wie das Schiff sich zur Seite neigte. Irgendwo war ein Leck entstanden, durch das Wasser eindrang.
"Noch fünfzehn Minuten bis zur Himmelfahrt", meinte Winston. Er deutete auf die fest verschlossene Schleusentür. Als zur Härte gegen sich selbst erzogener Marine unterdrückte er die Kältewallungen. Gibson nickte ihm zu, während er sah, wie ihrer beider Atem zu feinem Dunst wurde.
Mulligan sah das Licht in der Krankenstation immer trüber werden, als wenn schwarzer Rauch es nach und nach verhüllte. Er wusste genau, was das hieß. Er musste nicht erst das bedrohliche Schaben und Klopfen an den drei frei zugänglichen, aber gerade vollständig verriegelten Türen hören um zu wissen, dass die Feinde nun mit ihrer Geduld am Ende waren.
Mulligan nahm einen Akkuschrauber, der zur Notfallausstattung gehörte und löste damit innerhalb einer halben Minute alle Schrauben des Einstiegs in das System aus Belüftungsröhren. Er schloss seinen Schutzhelm und schlüpfte mit ausgestreckten Armen voran in den gerade 75 Zentimeter durchmessenden Zugangsschacht. Nur er konnte sich darin bewegen, ohne sich zu verkeilen.
Wie ein Säugling auf Amphetaminen krabbelte er wieselflink durch die Röhren, wobei er sich nach unten orientierte. Als er jedoch hörte, wie wenige Meter neben ihm mit großem Gepolter und Klirren etwas zerbrach und er schlagartig in Finsternis getaucht wurde begriff er, dass die Dämonen oder Dementoren, wie seine Uroma Eartha sie im seinem Traum genannt hatte, näher an ihn herangekommen waren. Er konnte sogar schon ihr saugendes und rasselndes Atmen hören. Dann kam ihm ein Einfall, der ihn fast vor überlegener Freude aufschreien ließ. Diese Biester würden sich gleich wundern.
Mulligan tastete sich in der Dunkelheit weiter durch die Rohre, bis er einen weiteren Ausstieg fand, der zur mit der freien Atmosphäre verbundenen Belüftungsanlage gehörte. Die andern Röhren brauchte er gar nicht erst auszuprobieren, weil dort zu viele Filtersegmente eingefügt waren. Wieder polterte und klirrte es. Mulligan setzte den Schraubenzieher an. Dieser lief an, wenn auch nur noch mit halber Kraft. Womöglich hatte der Akku nicht mehr genug Strom. Jedenfalls schaffte er es, den Ausstieg zu öffnen und in die dahinter gelegene Halle zu springen. Hier standen die gewaltigen Wasseraufbereiter der vorderen Steuerbordsektion. Zu diesen gehörten mehrere hundert Kubikmeter fassende Tanks. Doch Mulligan kannte den Kniff, mit dem im Falle einer Frischwasserknappheit auch Seewasser in die Anlage eingelassen werden konnte, das dann gereinigt und aufbereitet wurde. Wer den Flutungsmechanismus nicht früh genug stoppte konnte damit aber die ganze Halle unter Wasser setzen.
Mulligan entwickelte nun eine sehr große Eile, um alle hier geltenden Vorschriften zu mißachten, von der Unversehrtheit der Tanks bis zur Notversorgung mit Seewasser. Zunächst schaltete er die Wasserverteiler so, dass die Anlage die vierfache Menge als zulässig umwälzte. Dann schaltete er die Seewasserzufuhr ein, wobei er einen Überschreibungscode benutzte, um die Menge von Hand zu wählen. Er wählte die zwanzigfache Menge des maximal zulässigen Wertes. Der Steuercomputer fragte deshalb noch einmal nach dem Autorisierungscode und erhielt diesen. Keine zehn Sekunden danach öffneten sich die Zufuhrventile in den Zisternen für die Meerwasseraufnahme. Laut rauschend flutete Atlantikwasser in die Auffangbehälter. Doch diese nahmen gerade so viel auf, wie in die Frischwassertanks passte. Weil die Anlage jedoch auf einen wesentlich höheren Wert eingestellt war stieg der Druck in den Zisternen an. Mulligan wusste, dass sie nicht für mehr als vier Bar Wasserdruck geeignet waren. So eilte er in den Belüftungsschacht zurück. Er hörte gerade noch, wie die Alarmanlage der Frischwasserumwälzung ansprang. Doch wenn hier keiner mehr arbeitete, um die Überbeanspruchung zurückzufahren ...
Mulligan hörte das saugende Atmen der Unheimlichen, die gerade in die Wasseraufbereitungsanlage eindrangen. Er beeilte sich, weiterzukriechen. Da ertönten mehrere laute Detonationen und metallisches Hämmern und Poltern. Gleichzeitig klang es von weiter hinter Mulligan wie das Tosen der Niagarafälle. Die See drang nun ungefiltert ins Schiff ein. Gewusst wie, dachte er.
Erst war es ein plötzlicher Schub von Hoffnung und Lebensmut gewesen, der die Belagerer um die OPZ traf. Woraus konnten die denn jetzt noch Hoffnung ziehen? Dann war da der sich rasant abschwächende Strom der eingebunkerten Besatzung. Danamiriam fühlte es wie einen Gegensog, der ihr eigene Kraft zu rauben drohte. Dann begriff sie. Die Besatzungsmitglieder waren zeitgleich bewusstlos geworden, nicht nur in einem, sondern in allen Schutzräumen.
"Wir müssen die Bande fangen und zwingen, uns zu dienen. Die wollen uns aushungern oder das Schiff zerstören", schickte Danamiriam an ihren Gefährten und an die gemeinsamen Sprösslinge. So setzten sie an, sich den Zugang zu den versiegelten Räumen zu erkämpfen.
Jetzt erst, wo es genug von ihnen gab, konnten sie eine Methode verwenden, die aus den Geschichten ihrer Urerzeuger überliefert worden war. Sie konnten ihre Wärme schluckende Ausstrahlung so bündeln, dass nicht ihre Umgebung davon betroffen war, sondern etwas direkt vor ihnen liegendes. Dann fiel Danamiriam noch ein, was Miriam Howard erfahren hatte. Sie erschrak. Doch dann stand ihr Entschluss fest.
"Jimbert, du und ich müssen ganz tief ins Schiff rein, um zu verhindern, dass da jemand eine Sonnenfeuerbombe zündet. Los. Vier von uns begleiten uns. Die anderen versuchen in die Schutzräume zu kommen!"
Mit ihrer auf die Deckplatten und Schotten gebündelten Kältekraft senkten sie die Temperaturen innerhalb von Sekunden um mehr als zweihundert Grad ab. Dann rammten sie die betroffenen Stellen mit schweren Metallträgern, die sie im Ersatzteilmagazin aufgelesen hatten. Klirrend zersprangen die tiefgefrorenen Metallplatten oder -türen. Warum hatten sie das nicht gleich so gemacht, als sie genug waren? Diese Frage beschäftigte Jimbert, der mit zwei seiner bereits ausgewachsenen Sprösslinge die Hindernisse aus dem Weg räumte.
Tiefer und tiefer ging es ins Schiff. Da hörte Danamiriam fünf ihrer anderen Artgenossen laut aufschreien: "Hilfe, Wasser!" Dieser Aufschrei brach nach nur zwei Atemzügen ab. Danamiriam trieb ihre Begleiter deshalb zu mehr Eile an. "Die fluten die unteren Räume. Dieser Erdfeuerkleinling hat erkannt, dass Wasser das einzige wirkliche Hindernis für unser Vordringen ist. Aber ich gebe nicht auf."
Danamiriam kannte den Weg zu einem Raum, in dem eine besondere Schaltanlage untergebracht war. Ihre Furcht, nicht rechtzeitig dort einzutreffen, um den Kapitän oder wen immer davon abzuhalten, die Vernichtungsbombe zu zünden, verlieh ihr noch mehr Kraft und Schnelligkeit. Weitere Artgenossen klagten, dass sie wegen immer mehr Wasser nicht vorankamen. Dann erreichten Danamiriam, Jimbert und ihre Begleiter die letzte Tür vor dem Ziel.
Gibson hörte das Hämmern gegen die Tür und sah, wie sich blitzartig eine Eisschicht darauf bildete. "Die sind schneller hier angekommen, als ich gehofft habe", sagte Gibson zu Winston. Dieser deutete auf die Uhr. "Noch dreizehn Minuten. Wir dürfen denen nicht lebend in die Hände Fallen, Captain. Sonst halten die glatt noch die Zündung auf", sagte Winston. Gibson nickte. Auch auf den Fall war er vorbereitet. Und er hatte sich auch schon entschlossen, lieber den Tod zu finden als sein Wissen in die Hände der Unheimlichen fallen zu lassen. Er zog aus seinem Anzug eine Pistole hervor und entsicherte sie. "Da sind zwei Kugeln drin. Wenn Sie eine haben wollen nehme ich die zweite."
""Ich bin selbst vorbereitet", sagte Winston und förderte ebenfalls eine Armeepistole aus seinem Schutzanzug. Die Helme waren ja noch zurückgeklappt.
"Bevor sie die Waffen blockieren", zischte Gibson, der sah, wie das Eis auf der Tür immer dichter und dicker wurde. Er setzte den Lauf der Waffe an die rechte Schläfe. Winston tat es ihm gleich. "Wir sehen uns auf der anderen Seite wieder", sagte Winston und drückte ab. Gibson hörte den lauten Knall noch, bevor er selbst den Abzug betätigte.
Endlich war die dicke Tür soweit abgekühlt, dass sie so zerbrechlich wie Porzellan war. Mit vereinten Kräften zerschlugen Danamiriam und Jimbert sie, wobei die benutzten Stahlträger selbst jedoch zersprangen. Da fühlten die beiden Wiedererwachten die Wellen des plötzlichen Todes zweier Männer und wie ihnen schneller als ein Gedanke die Seelen entwichen. Jimbert ließ ein wütendes Gebrüll ertönen.
"Wir müssen alles da drinnen einfrieren, damit es nicht weiterläuft", trieb Danamiriam ihre Begleiter an. Sie dachte nur daran, dass die Zündschaltung in dieser Kammer die Bombe steuerte. Wo diese war wusste sie nicht. So wirkten sie ihre Vereisungskraft auf alles ein, was sie mit ihren Händen ertasten konnten. Doch damit bewirkten sie genau das Gegenteil von dem, was sie wollten.
Mulligan hatte beschlossen, nun nicht mehr in den Röhren herumzukriechen. Durch die von ihm ausgelöste Flutung der Decks über ihm hatte er wie er, wie er hoffte, eine wirksame Barriere gegen die Eindringlinge geschaffen. Wenn sie zu ihm wollten mussten sie von achtern her zu ihm vordringen.
Da er davon ausging, nicht mehr viel Zeit zu haben eilte er mehrere Niedergänge hinab bis zu einem Raum, in dem ein 2-Mann-Tauchboot untergebracht war. Damit wollte die Constitution geheime Forschungen an unterseeischen Vulkanen machen, um die dort trotz Wasserdruck und hohen Temperaturen bestehenden Lebensräume zu erkunden. Dieses Boot sollte nun Mulligans Rettungsboot werden.
Er enterte das kugelförmige Unterwasserfahrzeug, nachdem er die Flutung der Kammer in Gang gesetzt hatte. Das Wasser schoss keine zwanzig Sekunden, nachdem er durch die Luke in das druckdichte Cockpit des Tauchbootes gestiegen war herein. Gleichzeitig begann sich das Außenschott der Schleusenkammer zu öffnen.
Mulligan vergeudete keine Zeit mit einem Systemcheck. Die Batterien waren hoffentlich noch voll genug, zumal das Boot bisher nur einmal im mittelatlantischen Rücken zum Einsatz gekommen war. Er startete die beiden schwenkbaren Elektromotoren und wartete, bis das Boot frei schwamm. Dann war auch die Außentür weit genug offen. Mit Notfallbeschleunigung trieb Mulligan das Boot in die See hinaus und stellte Antrieb und Höhensteuerung so, dass er im 45-Grad-Winkel nach unten vorstieß. Er hoffte, dass die Constitution nicht gerade nur die berühmte Handbreit Wasser unter dem Kiel hatte. Er musste mindestens hundert oder zweihundert Meter nach unten schaffen, was auch immer für eine Höllenmaschine das Schiff vernichten sollte. Er schaltete den Aktivsonar ein, um eine Tiefenlotung zu erhalten. Aufatmend stellte er fest, dass er noch mehr als dreihundert Meter Wassertiefe unter sich hatte. Das Boot konnte maximal 1000 Meter tief tauchen. Also war er auf der sicheren Seite.
Mit der nur in Notfällen maximalen Höchstgeschwindigkeit von 40 Stundenkilometern stieß das Tauchboot tiefer und tiefer ins Meer vor. Durch den Neigungswinkel legte es genauso viele Meter nach vorne wie nach unten zurück. Um alle Energie für das Schnelltauchmanöver zur Verfügung zu haben ließ Mulligan die Scheinwerfer ausgeschaltet. Wenn er mit der Geschwindigkeit gegen einen arglos schwimmenden Fisch prallte und dabei ein Leck abbekam, so wusste der Arzt, würde er wohl keine Sekunde zu leiden haben. Außerdem wusste er, dass Fische durch künstliches Licht eher angelockt als vertrieben wurden. So bangte er eine ganze Minute lang, während sein kugelförmiges, mit Steuerflossen an den Seiten ausgestattetes Rettungsboot die Marke von 250 Metern Tiefe durchbrach, dass er nicht zu spät geflüchtet war. Zumindest fühlte er keine Hitzewallungen mehr. Hier unten konnten ihm die Unheimlichen nichts antun.
Als das Boot bei 300 Metern Wassertiefe ankam pendelte Mulligan es schnell aus, um nicht auf dem Meeresgrund aufzuschlagen. Die Geschwindigkeit behielt er jedoch bei. Er hatte gerade einen Viertelkilometer mehr zurückgelegt, als etwas mit Urgewalt gegen das Boot schlug und es regelrecht davonschleuderte.
im Schwerpunkt der Constitution lag die Bombe. Ihre Steuersoftware hatte gerade die letzte Bereitschaltung vorgenommen und überwachte die elektronischen Zeit- und Statusimpulse aus der Direktschaltstation. Als die Impulse mit einem mal abrissen prüfte die Programmierung, welche Fälle dies bewirken konnten. Mit 92 % Wahrscheinlichkeit lag eine versuchte Sabotage an der Direktschaltung vor, zumal die anderen Schaltstellen schon länger nicht mehr ansprechbar waren. Im Sabotagefall bei bereits eingeleitetem Zündcountdown war nur noch eine Auswahlmöglichkeit vorgesehen. Das System verkürzte die verbleibende Zeit auf genau zehn Sekunden und schaltete den Funksender und den auf einen Satelliten im erdnahen Orbit zielenden Laser ein, um die bevorstehende Zündung zu verkünden. Doch der Laser fand kein Ziel, weil hierfür die Funkimpulse der Empfangsstation fehlten. So meldete nur der Funksender weiter, was geschah. Dann hatte die gnadenlos herunterzählende Steuerung null Sekunden übrig. Die letzte Programmfunktion trat in kraft.
Der Druck war so groß, dass Mulligan schon meinte, gleich in den für ihn mehr als ausreichend großen Pilotensitz eingepresst zu werden. Der Druckkörper des Bootes knisterte und knackte bedrohlich. Die Motoren wimmerten gegen die sie bestürmenden Wassermassen an. Mulligan musste beide Hände am Steuerhebel halten, um die unwillkürlichen Drehungen und Saltoversuche des Bootes zu vereiteln. Wenn der druck nicht bald nachließ würde die kugelförmige Hülle des Bootes brechen und er dann innerhalb eines Lidschlages zu Muß zerquetscht. Dann ebbte der Druck so plötzlich ab, wie er entstanden war. Doch Mulligan war sich sicher, dass es damit noch nicht vorbei war. Er steuerte schnell einige Meter weiter nach oben, um genug Spielraum zu haben. Da kam er auch schon, der Gegensog. Jetzt wurde Mulligan beinahe gegen die Schaltkonsole geschleudert. Doch mit seiner ganzen Beinkraft und mit angespannten Oberarmmuskeln gegen die Steuerkonsole drückend hielt er den nun in die andere Richtung drängenden Druck aus. Dann war auch der erschöpft, und das Boot dümpelte in aufgewühltem, aber beherrschbarem Wasser.
Mulligan pfiff durch die Zähne. Eine Minute später hätte er nicht losfahren dürfen. Er stellte die Motoren auf moderate Fahrstufe zurück und schaltete die Scheinwerfer ein. Er beschloss, mindestens noch bis zur Hälfte der verfügbaren Zeit auf Tiefe zu bleiben und dabei weiter von der Stelle wegzukommen, an der die Constitution vorhin noch gewesen war. Mehr als dreihundert Meter über ihm mochte gerade ein höllischheißer Glutball auf dem Wasser schweben und dieses regelrecht zerkochen. Wie würden seine Vorgesetzten darauf reagieren, was mit dem Schiff passiert war? Wie würden sie ihn behandeln, wenn er es schaffte, in die Staaten zurückzukehren?
Über ihm türmten sich große Felsen. Er hustete wild, dem Ersticken nahe. Das weckte den Mann auf, der sich Giovanni Bergamo nannte. Sein Herz hämmerte wie ein Dampfhammer gegen seinen Brustkorb. Sein Kopf dröhnte unter jedem Schlag. Der incognito reisende Passagier fühlte den schweißnassen Schlafanzug auf der Haut und die ebenso von seinem Schweiß getränkte Decke wie eine auf seinen Leib drückende Riesenhand auf sich lasten. Er versuchte, sich aufzusetzen. Erst warf ihn ein Schwindelanfall in die Waagerechte zurück. Dann schaffte er es, sich in dem großen , der Erholung und der wilden Leidenschaft gewidmeten Bett aufzusetzen. Damit wurde er den Albtraum endgültig los.
Seine Nasenflügel fingen immer noch den Hauch der Mischung aus teurem pariser Parfum und Körperlotion auf, mit dem die andere Seite des Bettes behaftet war. Er hätte sich nicht darauf einlassen sollen, Doña Margarita Isabel de Piedra Roja in seine Suite einzuladen. Doch irgendwie hatte diese überreiche, mannstolle Lebedame jenseits der fünfzig es verstanden, seinen männlichen Stolz zu kitzeln und hatte es so rüberkommen lassen, dass sie ihn wohl bei ihrem Treffen im sündigen Paradiespark restlos erschöpft hatte. Da hatte er wohl irgendwie nicht mehr seinem klaren Verstand gehorcht und es ihr in jeder Hinsicht zeigen müssen, auch wenn er dabei klammheimlich einen Drogenmix aus Ausdauerverstärker, Potenzmittel und Glücklichmacher zu sich genommen hatte. Tja, einen Tag und eine Nacht war das jetzt her. Nicht nur dass er sein Ehegelübde schon wieder nicht befolgt hatte hatte der Mann, der sich Giovanni Bergamo nannte auch gegen seine eigene Gesundheit und seine Auffassung von Drogen gesündigt. Doch er hatte in seinem Leben schon so viele Dinge getan oder befohlen, von denen viele jedes für sich einen Platz in der Hölle rechtfertigten. Und sicher hielt die peruanische Liebeslöwin sich auch mit irgendwelchen nicht ganz so legalen Mitteln in Schwung, wenn sie es mal wieder nötig hatte. Doch dass die Drogen, die er geschluckt hatte, beim Abklingen Albträume brachten hatte ihm keiner gesagt. Das würde er wohl noch klären müssen, bevor er diesen Höllencocktail noch einmal schluckte.
Der Traum hatte von seinem wohl schlimmsten Erlebnis gehandelt. Damals, er war gerade erst sieben Jahre alt, hatte er mit zwei Freunden gewettet, in den Höhlen in den Bergen Catanias den Schatz eines sizilianischen Seeräubers zu finden, der da vor 200 Jahren versteckt worden sein sollte. Die andern hatten ihm nicht zugetraut, in den tiefen Schacht runterzuklettern, der in die weiten Höhlen führte. Er hatte es ihnen bewiesen, wie gut er das konnte. Allerdings hatte dann die Erde gebebt, und große Felstrümmer hatten den Eingang vom Schacht versperrt. Zu seinem Glück floss in der Höhle ein kleiner Bach, und die miteinander verzweigten Kammern und Gänge waren groß genug gewesen, dass er genug Luft bekommen konnte. Dennoch hatte er in den drei Tagen, die er da unten festgesteckt hatte, alle Ängste der Welt durchlitten. Mit einem exklusiven Psychotherapeuten, den sein Großvater bezahlt hatte, war es nach seiner Errettung gelungen, das Höhlentrauma weitgehend zu überwinden. Jahre hatte er nicht mehr an dieses Erlebnis denken müssen. Warum es jetzt hier an Bord eines Vergnügungskreuzers wieder hochgekocht war konnte nur an den Drogen liegen, die er geschluckt hatte.
Mochte es auch an dem Traum oder dem Entzug liegen oder nicht: Giovanni Bergamo fühlte sich irgendwie unwohl. Das war nicht körperlich, sondern eher psychisch. Er meinte, wieder irgendwo eingesperrt zu sein, in eine immer ausweglosere Lage zu geraten, ohne auf Hilfe hoffen zu können. Irgendwie konnte er sich nicht auf den neuen Tag freuen, der außerhalb seiner Luxussuite anbrach.
Entsprechend mies gelaunt begrüßte er seine drei Leibwächter um sechs Uhr morgens, um ihnen die Anweisungen für den Tag zu geben. Denn er bestimmte, was er tat und wo sie zu sein hatten. Heute wollte er mal wieder tanzen gehen und in einem der Kasinos einige tausend Dollar riskieren und dann abends noch in den Jazz- und Erotikclub Bourbon-Straße gehen. Er teilte Carlo und Toni als die für den Clubbesuch zuständigen Begleiter ein, weil er bei Giorgio den Verdacht hatte, dass der die erlaubten Sachen sehr großzügig auslegte und einige im Club durchaus auch nach nächtlicher Begleitung suchten. Er sah seinen Gefolgsmännern an, dass sie auch irgendwie gereizt dreinschauten, als hätten sie sich über etwas geärgert oder rechneten mit einem Angriff. Deshalb fragte er Toni, der am unentspanntesten aussah: "Hattest du eine schlechte Nacht? Bist du mit einer Elfe ins Bett gestiegen und am Morgen neben einer runzligen Hexe aufgewacht?"
"Wieso fragst du sowas, Capo? Du weißt genau, dass ich mir aus den ganzen Huren und liebestollen Weibern nichts mache, anders als andere hier im Raum. Konnte nur nicht gescheit schlafen, was mich ankotzt", erwiderte Toni höchst verdrossen, gerade so noch an der zulässigen Lautstärkeobergrenze.
"Nur kein Neid, weil ich den besseren Schlag bei den ganzen Mietzen habe, Toni", erwiderte Giorgio darauf, der sich offenbar gut angesprochen fühlte. Der Capo sah Toni warnend an, weil er sich den von Toni hingeworfenen Schuh genausogut anziehen konnte, was die liebestollen Weiber anging.
"Ich sag, was ich sehe, Giorgio. Und mir Neid zu unterstellen ist total schwachsinnig." Giorgio lachte. Carlo, der sich bisher zurückgehalten hatte musste dann noch loswerden, dass er nur dann mit einer von den ganzen Frauen was anfing, wenn er wusste, dass er einen Tag frei hatte, den er dann auch brauchte, um sich erholen zu können.
"Schluss jetzt!" blaffte Bergamo. "Ihr tut nur das, was ich sage, klar?! Wenn ihr nicht genug Schlaf kriegt, weil ihr meint, eure von mir erlaubten Sachen überreizen zu müssen klären wir das ganz gerne in Einzelgesprächen, wer was wann darf und wie oft. Verdammt, ich brauche jeden von euch bei klarem Verstand und so ausgeruht wie's geht. Wenn ihr das auf diesem dekadenten Kahn nicht hinkriegt schicke ich euch mit dem nächsten Transferheli nach New York zurück. Aber dann ist erst mal Schluss mit dem süßen Leben hier und vor allem auch mit dem Zaster, den ihr von mir für eure Arbeit kriegt. Kriegt das in eure Hirne rein und hört auf, euch noch gegenseitig anzupieksen. Ihr seid ein Team. So und jetzt gehen wir frühstücken."
Die Leibwächter gehorchten eher widerwillig als untergeben, erkannte Bergamo an ihren verdrossenen Mienen. Am Ende musste er noch aufpassen, von keinem von denen hinterrücks umgebracht zu werden. Sowas war in der ehrenwerten Gesellschaft durchaus schon mal passiert, wenn ein Leibwächter auf das Angebot eines Konkurrenten oder gar Erzfeindes einging, wenn auch nicht gerade klug, weil der Wächter keine Woche später selbst ins Gras beißen musste. Doch hier auf dem Schiff, wo niemand außer den dreien wusste, wer Giovanni Bergamo in Wirklichkeit war, konnten die sich sicher fühlen, keine Vendetta fürchten zu müssen. Denn außer ihnen und Bergamo wusste ja keiner, wo er gerade steckte, und offiziell war er schon lange tot. Diese Gewissheit, den dreien ausgeliefert zu sein, verstärkte dieses an seiner Seele nagende Gefühl der Ausweglosigkeit und bevorstehenden Gefahr.
Merkwürdigerweise ließen die beklemmenden Gedanken nach, als er mit den dreien weiter ins Schiffsinnere fuhr, um zehn Decks höher im Café zur goldenen Morgendämmerung ein reichhaltiges Frühstück einzunnehmen. Auch die gereizte Stimmung der strategisch um ihn verteilt sitzenden Bewacher ließ nach. Es war so, als wenn nichts passiert wäre. Er vergaß sogar den Albtraum, der ihn aus dem Schlaf gerissen hatte.
Um diese frühe Stunde war im Café nicht viel los. Die allermeisten Passagiere schliefen mindestens bis neun Uhr, wenn nicht noch länger oder ließen sich das Frühstück in die Suiten bringen, um nicht jedem Mitreisenden auf die Nase zu binden, wie heftig sie die letzte Nacht ausgelaugt hatte. Von Doña Margarita wusste er dank seines Dossiers über sie, dass sie morgens nie vor halb neun aus den Federn fand. Wenn sie sich einen Liebhaber geangelt hatte konnte es sogar zehn Uhr werden.
Nach dem Frühstück ging Bergamo in das türkische Bad, um seine Lebensgeister gänzlich auszugleichen. Hierzu musste er in den Achtersektor des Backbordrumpfes überwechseln. Als er sich der Badeanstalt näherte beschlich ihn wieder jene merkwürdige Stimmung, in eine ausweglose Lage zu geraten. Je näher ihn das breite Laufband an die milchgläserne Eingangstür zur luxuriösen Badeanstalt trug, desto mehr bedrängte ihn die Vorstellung, nie wieder glücklich zu werden. Irgendwie verstand er das nicht. Er war schon zehn Mal im türkischen Bad hier an Bord gewesen. Aber diese Trübsal und zunehmende Verzweiflung hatte er bisher nicht empfunden. Dann, wie ausgeschaltet, waren diese beklemmenden Empfindungen weg. Er fühlte sich beinahe wieder frei und unbeschwert. Doch die Erinnerung an die letzte Minute wirkte nach und ließ ihn nicht völlig aufatmen. Irgendwas war ihm passiert, was er nicht hören oder sehen konnte und ihm doch zugesetzt hatte. War das immer noch der Entzug von den Glücklichmachern, die er eingeworfen hatte, um es der Doña aus Lima zu besorgen? Wohl möglich, wenn das Gehirn erst einmal wieder seinen eigenen Normalzustand erreichen musste und deshalb erst mal übersteuerte, um den unnatürlichen Eingriff abzuschütteln. Ja, das musste es sein, dachte Bergamo, bevor er das Bad betrat.
Er war noch sehr jung, gerade drei Tage alt und doch schon ganz ausgewachsen. Begierig nahm der Sprössling der drei Wiedererwachten die wohltuenden Glücksgefühle und Liebeswonnen in sich auf. Er fühlte auch, dass er wohl bald selbst mit einem oder zwei weiteren Artgenossen Nachkommen ausbrüten konnte. Doch noch galt es, erst einmal die Umgebung zu erkunden.
Gegen den klaren Befehl seiner Erzeuger, nicht zu weit zu den Glücklichen hinzugehen, damit die bloß nicht mitbekamen, dass ihnen jemand ihre schönsten Erlebnisse und Gefühle absaugte, war er vor eine Tür getreten, hinter der wohl Menschen in Räumen mit flüssigem Wasser und Dampf entspannten. Wie diese schwächlichen Wesen das gutfinden konnten, andauernd in Wasser hineinzusteigen oder sich davon umfließen zu lassen verstand er nicht und musste er auch nicht verstehen. Ihm war nur wichtig, dass da gerade drei Menschen ankamen, von der Ausstrahlung und den Stimmen her männlich, die wohl in diese Wasserräume wollten. Er sog gierig die in der Luft mitgetragenen Gefühle der drei Männer in sich ein, fühlte, dass einer von denen ein sehr willensstarker Mann war. Er vertraute darauf, dass ihn kein Mensch ohne die besondere Kraft sehen konnte, und wie er seine Ausstrahlung von Dunkelheit und Kälte kleinhielt hatte er rasch gelernt, um auch unbemerkbar zu bleiben. Als er einen langen, genussvollen Atemzug tat fühlte er, wie die erregenden Erlebnisse der drei Männer in ihn einströmten und ihn selbst bestärkten. Doch einer seiner Erzeuger hatte das wohl aus der Entfernung mitbekommen und rief in Gedanken:
"Verschwinde da und komm zurück!" Der Befehl traf ihn so heftig, dass er ihn unverzüglich ausführte. Schneller als eine springende Katze entfernte er sich von den drei Männern, deren Lebensfreude und Liebeserlebnisse er all zu gerne weiter in sich aufgesogen hätte.
Wieder dort, wo er sein durfte bekam er von seinen drei Erzeugern noch einen Tadel, dass die sich vergnügenden nicht angerührt werden durften, solange sie nicht genug waren, um das Schiff als ganzes unter ihre Herrschaft zu zwingen.
Die merkwürdigen Empfindungen vom Morgen blieben den restlichen Tag über aus. Bergamo machte das, was er am morgen seinen Leibwächtern gesagt hatte. Im Kasino Viva Las Vegas schaffte er es, 1000 Dollar mehr zu gewinnen als zu verspielen. Im Tanzclub für ältere Semester verbrachte er drei entspannende Stunden mit verschiedenen vornehmen Damen, die wohl ab und an ihre dunklen Gelüste an anderen Orten dieses schiffes auslebten, aber zwischendurch auch doch die feinen Damen herauskehren wollten. Am Abend wohnte er im Jazzclub Bourbon-Straße dem Auftritt von fünf verschiedenrassigen Tänzerinnen bei. Bei den Asiatinnen, die zu traditionellen Klängen ihrer Heimat mal mehr und mal weniger verhüllt tanzten argwöhnte er, dass da wohl die eine oder andere Lohnabhängige des weißen Lotos oder der Yakusa dabei war. Gut, dass keiner außer den Leibwächtern wusste, wer er war.
Als Bergamo nach dem langen, entspannenden und vergnüglichen Tag in seine Suite zurückkehrte überkam ihn schon wieder jenes Gefühl der Beklemmung, irgendwie in einer ausweglosen Lage zu sein. Doch er sah, roch und hörte nichts, was ihm diesen Zustand erklären konnte. Mit mulmigem Gefühl öffnete er die Suite, darauf gefasst, dass jemand darin auf ihn lauern würde. "Toni, Carlo, reingehen und alles prüfen!" zischte er verdrossen.
Die beiden Leibwächter wunderten sich. Denn seitdem sie die Suite einmal nach der Ankunft komplett überprüft hatten waren sie nicht noch einmal dazu aufgefordert worden, sie zu prüfen. Doch sie schienen ebenfalls etwas zu fühlen, was ihren Argwohn erregte, konnte Bergamo ihnen ansehen. Deshalb befolgten sie die Anweisung auch ohne zu fragen, wieso.
Eine halbe Stunde später kamen sie wieder aus der Suite. "Wir haben alles gecheckt und nichts anderes gefunden als das, was da sein soll. Wir haben sogar Tonaufnahmen von der Klimaanlage und dem Kühlschrank für die Minibar gemacht, um zu klären, ob jemand da drinnen eine Infraschallanlage installiert hat oder es aus anderen Gründen tiefe Töne geben könnte", meldete Toni. Carlo erwähnte dann noch, dass mit sowas schon mal wer bedröhnt worden war, um ihn in eine total verängstigte Stimmung zu treiben oder ihm heftige Kopfschmerzen zu bereiten. Bergamo begriff, dass diese durchaus mit ihm angestellt worden sein mochte. Doch die Wächter hatten eben kein solches gemeines Foltergerät gefunden und auch sonst nichts aufgezeichnet, dass eine physikalische Ursache für seine und ihre schlechte Stimmung sein konnte. "Ihr habt den Gasschnüffler mitgenommen hoffe ich doch sehr. Messt mal durch, ob irgendein nicht erlaubtes Zeug in der Luft ist!" befahl Bergamo. Die Wächter befolgten diese Anweisung und zogen mit einem als Fön getarnten Gasprüfgerät mehrere Proben und analysierten sie vor Ort. Sie waren zwar alle keine Chemieexperten. Doch das Gerät war für Laien gemacht worden und schlug bei eindeutig gefährlichen Gaskonzentrationen schon Alarm oder verriet, ob verdächtige Fremdstoffe in der Luft waren. Das Ergebnis war negativ. Außer den üblichen Ausdünstungen der Holzschutzmittel und Imprägnierlösungen für die Teppiche konnte kein Gas angemessen werden, das womöglich die Gefühlslage eines Menschen verändern konnte. Dennoch wurde Bergamo diese beklemmenden Gedanken nicht los, in eine Falle zu geraten, wenn er länger blieb oder bereits in einer Falle zu stecken, aus der er nicht mehr herauskam.
Als sie wieder weiter ins Schiff vordrangen, um zu prüfen, ob diese befremdliche Stimmung in ihnen selbst entstand oder von außen zugefügt wurde, ließen die belastenden Empfindungen tatsächlich nach.
"Wie auchimmer das geht, jemand will uns offenbar runtermachen und uns von unseren Suiten fernhalten", knurrte Bergamo. Dann dachte er daran, dass seine Suite nur durch die Schalldichten Wände und die Versorgungsleitungen von einer Mannschaftskabine der Schiffsbesatzung getrennt war. Schließlich kannte er als einer von nur dreißig Menschen den kompletten Bauplan der Paradiso di Mare. "Ihr konntet keine Infraschallwellen auffangen, die in die Suite reingeschickt werden?" fragte er seine Beschützer, als sie trotz der wieder eintretenden Trübsal in seine Suite zurückgekehrt waren.
"Keinen Ton, Capo. Und die Wände schlucken den Schall komplett. Ich konnte mit dem Echolot nicht mal messen, wie dick die Wand hier ist und wo die Wasserleitungen verlaufen. Das ging nur mit dem Metalldetektor", berichtete Carlo.
"Dann weiß ich nicht was da los ist. Könnte aber sein, das das hinter der Wand steckt, also bei den Seeleuten, die den Kahn über Wasser halten", sagte Bergamo und begründete seine Vermutung. Die drei Wächter nickten. Damit stellte sich die Frage, ob die Seeleute gezielt gegen ihn vorgingen oder auch andere Gäste entsprechend berieselten, womit auch immer. Sicher war eben nur, dass die Stimmung sich änderte, je weiter sie in die Mitte des Schiffs vordrangen.
"Öhm, vielleicht solltest du eine andere Suite fordern, Capo, eine die näher am Paradiespark liegt", schlug Giorgio vor und konnte ein verwegenes Grinsen nicht ganz unterdrücken.
"Dann hätte ich alle meine feinen Sachen zu Hause lassen können", knurrte Bergamo. Denn in der direkten Umgebung des Parkes im Schiffsmittelpunkt wohnten jene, die ihren Urlaub größtenteils nackt verbringen wollten und den Freikörperbereich um den Park deshalb auch als Wohnbereich gebucht hatten. Aber er musste auch nicht ganz in die Nähe des Parkes. Es reichte schon, zwei Decks tiefer zwanzig Meter vom Außenbereich des Schiffes entfernt eine Suite zu nehmen, erkannte Bergamo nach Studium der aktuellen Passagierliste, zu der er nur deshalb Zugang hatte, weil er eben die geheimen Zugangsdaten hatte, die ihm gewisse Administratorrechte einräumten, ohne zu protokollieren, wer wann die Daten abgerufen hatte.
Noch in derselben Nacht veranlasste er den Umzug. Leider konnten seine drei Leibwächter nicht so locker mit ihm umziehen, weil das sonst aufgefallen wäre. Als Begründung für seinen Umzug nannte Bergamo einen Defekt in der Druckluftfederung des Bettes. Dass dieser wirklich vorhanden war hatte Toni, der sich auf mechanische Sachen verstehende Wächter, mit drei schnellen Handgriffen erledigt.
In der anderen Suite, deren Bewohner vor vier Wochen abgereist war, empfand er nicht diese Stimmungstrübung wie in seiner bisherigen. Mit schnellen Handgriffen hatte er diese Suite zu seiner Urlaubsunterkunft gemacht. Alle an ihn gehenden Anrufe wurden nun auf die Bordsprechanlage in dieser Suite umgeleitet. Ein paar Mausklicks des betreffenden Technikers hatten dafür gereicht. Damit war für Bergamo die Sache erst einmal erledigt. Doch wenn er wieder an Land war würde er nachforschen lassen, was da an Bord gespielt wurde, auch wenn er jetzt schon wusste, dass das alles andere als ein Spiel war.
"Captain Flanigan, Dringlichkeitsanruf vom Kommando Atlantikflotte", weckte die Stimme des diensthabenden Funkers den Kommandanten der Stephord aus einem tiefen Schlaf. Er eilte daraufhin in die Funkbude und schloss sich im schalldichten Raum für Geheimgespräche ein. Nachdem er sich mit Stimmerkennung und Fingerabdrücken als Kommandant zu erkennen gegeben hatte erfuhr er von Viceadmiral Clayton Sutton, dass vor wenigen Stunden etwa sechshundert Seemeilen entfernt die Constitution wohl durch die ultimate Seuchenabwehrmaßnahme "Fegefeuer" vernichtet worden sei, nachdem sie tage lang weder zu orten noch anzufunken gewesen war.
"Ich habe mich daher entschlossen, den fliegenden Notar zu kontaktieren, Captain Flanigan. Sofern dieser etwas aufgenommen hat, dass Ihren Einsatz erforderlich macht fahren Sie das Gebiet unter Einhaltung aller Strahlenschutzmaßnahmen an!"
"Strahlenschutzmaßnahmen, Sir? Sie meinen, das Schiff ist durch eine Kernexplosion zerstört worden?" erschrak der Kapitän der Stephord. Es war gerade fünf Tage her, dass sie mit der Hammerhead ein Abbergemanöver bei schwerwiegendem Reaktorversagen ausgeführt hatten. Dabei war es Flanigan wieder klar geworden, wie viel Angst er vor atomgetriebenen Schiffen oder Kraftwerken hatte.
"Näheres entnehmen Sie dem hochverschlüsselten Memorandum, dass über die Kanäle Grün drei, Braun neunzehn und Violett zweiundzwanzig eintrifft. Verschlüsselungskombinationen sind Silberglocke und blaue Ziehharmonika. Nur für Ihre und Ihres XOs Augen und wohl auch für den leitenden medizinischen Offizier."
"Verstanden, Sir", erwiderte Flanigan und notierte sich die Sendedaten. Dann beendete Sutton das hochverschlüsselte Gespräch.
Zwei Stunden später erhielt er den Einsatzbefehl, den Ort anzusteuern, an dem die Constitution zerstört worden war. Er erfuhr dabei auch, dass sie zu diesem Zweck eine 100-Kilotonnen-Bombe mit möglichst geringem Ausfallsmaterial mitgeführt hatte. Flanigan fragte sich, was einem Schiff zustoßen konnte, um eine derart drastische Maßnahme zu rechtfertigen. Denn wer der fliegende Notar war und was dieser noch von dem Schiff mitbekommen haben sollte hatte Sutton verschwiegen.
Tim Westerley, der dritte Ingenieur, schrak erneut aus einem Albtraum auf, in dem er einmal mehr etwas durchlebt hatte, was ihm wirklich schon einmal passiert war. Er sah sich um, ob nicht doch noch irgendwo ein Feuer brannte. Doch außer der ihn umgebenden Dunkelheit war nichts zu sehen. Er hörte das leise atmen von Ben Stoner, dem Klempner der Paradiso, mit dem er sich eine Kabine teilte. Da der größte Teil des Schiffes den sich dumm und dämlich vergnügenden Passagieren vorbehalten war mussten die Besatzungsmitglieder in Mannschaftskajüten für mit fünf Dreistockbetten oder Zweierkabinen mit getrennten Betten schlafen, je nach Dienstrang. Da Westerley eben nur der dritte Ingenieur war musste er sich die Kabine mit dem Wasserleitungsbändiger und Heizungsdompteur teilen, der mit seinen zwanzig Berufskollegen alle mit Gas und Wasser zu tun habenden Einrichtungen in Betrieb hielt. Der Typ hatte einen gesunden Schlaf, wenn er nicht gerade davon sprach, dass er irgendwann auch zu den Millionären gehörte, die "die ganzen Nutten" da unten hintereinander flachlegten. Westerley empfand nur Mitleid mit diesen Leuten, die offenbar zu viel Geld und zu viel Zeit hatten und nicht wussten, was sie damit anfangen sollten. Jetzt im Moment fühlte er sich jedoch sehr unwohl. Irgendwie meinte er, dass er heute noch sterben würde. Auf jeden Fall dachte er, dass er nie wieder Freude am Leben haben würde.
Um seine wohl durch den Albtraum entstandene Trübsal loszuwerden schlüpfte er so leise er konnte in seine Freizeitkleidung, um ein paar Runden über das nachts verwaiste Sonnendeck zu joggen. Das hatte ihm schon über manche frustrierende Situation hinweggeholfen.
Als er an die Frische Luft kam fiel ihm gleich dieser merkwürdige Dunst auf, der die Sicht auf gerade dreißig Meter verringerte. Er hatte doch den Wetterbericht mitgehört, den der Funker im Stil eines lockerflockigen Radiomoderators über die für die Besatzung gedachten Kanäle des Bordradios mitgeteilt hatte. Von Nebel war da keine Rede gewesen. Irgendwie verstärkte dieser Dunst seine schlechte Stimmung. Ja, er fühlte sich von dem Nebel regelrecht bedroht, wieso auch immer. Er war Seefahrer und hatte als solcher schon mit allen Wettern auf allenWeltmeeren zu tun bekommen. Warum machte ihn dieser Dunst so fertig?
Er lief los und versuchte, durch Dauerlauf seinen Körper in Schwung und seinen Geist ins Gleichgewicht zurückzukriegen. Doch es war, als renne er immer gegen eine nicht sichtbare Wand. Er fühlte sich regelrecht belauert, als wenn gleich ein gefährliches Wesen aus dem Dunst herausspringen und ihn angreifen wolle. Dann glaubte er, jemand stehe unmittelbar neben ihm. Doch er konnte niemanden sehen oder hören. Das einzige was er fühlte war eine gewisse Kälte von rechts. Er lief sofort weiter, weg von dem, was es auch immer war.
Als er den Bug des Backbordrumpfes erreichte bremste er ab und riss die Augen weit auf. Da wo das Meer tief unter ihm seine Wellen schlug war kein Nebel zu sehen. Der trübe Dunst überdeckte gerade das Schiff vom Bug bis zum Heck. Sowas war kein natürliches Wetterereignis. Westerley beschloss, seinen Kabinengenossen zu wecken und ihm diesen Nebel zu zeigen. Am Ende war das was, das in seinen Zuständigkeitsbereich fiel. Doch vielleicht war es auch ein Leck in der Klimaanlage. Immerhin gab es im Schiff Treibhausartige Hallen, Dampfbäder und Großküchen. Wenn da ein Leck war ging auch ihn das was an. Dann musste er vielleicht runter in den Sündenpfuhl, um das Leck zu finden und abzudichten. Er wollte gerade loslaufen, als ihn schlagartig totale Dunkelheit und Eiseskälte umschlossen. Er verpasste die entscheidende Sekunde, davonzulaufen. Da wurde er von zwei für ihn unsichtbaren Riesenhänden gepackt und in die Höhe gerissen.
Eine halbe Stunde später beging der dritte Offizier Finn Brooks das Sonnendeck, um sicherzustellen, dass keine Unregelmäßigkeiten darauf waren. Bevor die Passagiere es betreten durften, um den Sonnenaufgang genießen zu können, musste alles geprüft und gereinigt sein.
Auch Brooks wunderte sich über den Nebel und empfand eine sehr beklemmende Gefühle, als sei er gerade in einen Hinterhalt geraten und müsse jeden Moment mit einem Angriff rechnen. Er stutzte. Solch einen Nebel kannte er nicht. Das wollte für den bereits fünfzig Sommer zählenden Seemann schon was heißen. Er löste eines der an eine stabile stange angeketteten Elektromotorräder und fuhr darauf los, einmal längs über das Steuerborddeck, vorbei an den haushohen Palmen in ihren meterbreiten Betontöpfen. Manchmal wurde hier auf Deck auch tonnenweise Sand aufgeschüttet, um die Illusion eines Strandes zu erzeugen, wusste Brooks, während er durch den seine Stimmung benebelnden Dunst einmal bis zum Bug und zum Achterdeck fuhr. Dann wechselte er über eine der zwanzig breiten Verbindungsstücke auf den Backbordrumpf hinüber und fuhr auch dort die Strecke von Bug bis Heck mehrmals ab. Der Dunst vereitelte es, den Morgenritt, wie er es nannte, nur einmal pro Schiffsrumpf durchführen zu müssen. Als er bei der dritten Strecke am Bug ankam fand er einen am Boden liegenden Mann in Freizeitkleidung, allerdings keinen der Passagiere, sondern ein Besatzungsmitglied. Die offen am Kragen des Jogginganzuges pflichtgemäß zu tragende Identifikationsplakette wies den auf dem Boden liegenden als Ingenieur Tim Westerley aus. Doch der reagierte nicht auf Brooks Anrufe, auch nicht auf zwei kräftige Ohrfeigen. Er atmete flach und schnell. Seine Augen waren offen und blickten ins leere. Brooks fischte nach seinem kleinen Funkgerät. Er wollte den für die Crew zuständigen Arzt anrufen, als er plötzlich in undurchdringliche Finsternis und Kälte eingeschlossen war. Er versuchte noch, um Hilfe zu funken. Doch das nützte ihm nichts mehr. Zwei klamme, riesenhafte Hände packten ihn bei den Hüften und rissen ihn vom Boden hoch.
Dieter Steinhauer, der erste Ingenieur, war schon mit Dornfelder, dem Kapitän, auf diversen Luxusschiffen gefahren und bildete mit ihm ein unschlagbares Duo. Als Steinhauer bei Brooks anrufen wollte, um zu fragen, ob die Sonnendeckpatrouille schon erledigt war, bekam er keine Antwort. Zu der merkwürdig düsteren Stimmung, die ihn schon seit zwei Tagen immer wieder heimsuchte und jetzt auch wieder seine Gedanken eintrübte kam jetzt noch die Beunruhigung, dass einer seiner Kollegen sich nicht vorschriftsmäßig meldete. Er konnte im Moment nicht aus dem Maschinenleitstand heraus, in dem er die vier Megamotoren der Paradiso wie von einer eigenen Kommandobrücke aus überwachen und steuern konnte. Er beschloss, Dornfelder selbst anzurufen. Der Kapitän war noch auf der Brücke, wusste er. Doch die Brücke meldete sich nicht. Er prüfte schnell, ob die Bordsprechanlage intakt war und fragte seinen Mitarbeiter in der Computerzentrale, ob die Kommunikationssysteme arbeiteten. Als er erfuhr, dass alles so lief wie es sollte stieg seine innere Unruhe weiter an. Dass Brooks und Dornnfelder sich nicht meldeten war mehr als alarmierend. Er wünschte sich ein Personenortungssystem, das ihm sagen konnte, wo jemand gerade zu finden war. Doch sowas gab es im Moment nur in Science-Fiction-Geschichten wie der Star-Trek-Saga.
"Humphrey, sofort zu mir in den Leitstand!" befahl Steinhauer seinem Stellvertreter. Humphrey bestätigte den Befehl und traf nur drei Minuten später ein. Bei der Größe des Schiffes war das schnell.
"Die Brücke meldet sich nicht", sagte Steinhauer. Sein Stellvertreter Barney Humphrey, ein Hüne von zwei Metern zehn, blickte aus seiner erhöhten Warte auf den vorgesetzten Offizier herunter und erwiderte:
"Hängt vielleicht an der Komanlage, Sir."
"Ist schon geklärt. Das Komsystem funktioniert. Wie zur Bestätigung knackte es im Lautsprecher, und auf der Informationsleiste oberhalb der Tastatur stand groß und grün "Kommandobrücke".
Eckart Dornfelder blickte von der Brücke aus in den diesigen Dunstschleier, der sich seit einigen Minuten über dem Schiff ausgebreitet hatte, und zwar nicht vom Meer aus. Er fragte sich, wie dieser Nebel entstehen konnte. Um besser sehen zu können schaltete er die Infrarotkameras ein, die nur er oder der Sicherheitschef bedienen konnte. Dabei entdeckte er etwas höchst befremdliches. Auf dem Deck wuselten tiefschwarze Schemen herum, tiefschwarz, weil sie jede Infrarotstrahlung schluckten. Die Schatten waren trotz der hohen Auflösung der Kamerabilder undeutliche Gebilde. Außerdem wirkten sie riesenhaft, mindestens drei Meter groß. Einige glitten behutsam an Deck entlang. Andere flitzten wie dahinjagende Schlechtwetterwolken im Wind quer über die beiden Rümpfe. Andere hingen in der Nähe der Luken zu den tieferen Regionen des Schiffes.
"Mat, sehen Sie sich das bitte an!" befahl Dornfelder seinem ersten Offizier. Dieser wandte sich von seinen Überwachungsmonitoren für den Status des Schiffes und die aktuellen Wetterdaten ab und blickte auf den großen Bildschirm der Infrarotüberwachung. Als auch er sahh, was sein Kommandant schon gesehen hatte, schüttelte er den Kopf.
"Wandernde Kältequellen? Captain, darf ich die IR-Scheinwerfer zuschalten, um künstliche Wärmestrahlung zu schaffen?"
"Erlaubnis erteilt", sagte Dornfelder. Mat Simmons, der erste Offizier des schwimmenden Sündenpfuhls Paradiso di Mare, gab einen Code für die Batterie Infrarotscheinwerfer an. Die Statuten für den Betrieb des Schiffes untersagten jede mit den Augen wahrnehmbare Lichtquelle. Vor allem nachts sollte das Schiff nicht gesehen werden, um die Diskretion der superreichen Fahrgäste zu gewährleisten. Das widersprach zwar den internationalen Vorschriften zur Befeuerung von Schiffen, war jedoch bisher nicht aufgeflogen. Und mit einem Jahresgehalt von einer Million Dollar fragten die Führungsoffiziere auch nicht nach den Vorschriften.
Die reine Wärmestrahlung aussendenden Scheinwerfer bestrichen jeden Fleck des Sonnendecks auf beiden Rümpfen. Das Ergebnis war eindeutig und erschreckend. Wo die Strahlung auf das Deck traf wurde sie reflektiert und von der Kamera erfasst. Jetzt schien das Deck strahlend weiß zu sein. Doch die tiefschwarzen Schemen, die darauf herumglitten, wischten und hockten blieben schwarz. Sie schluckten jeden Funken Infrarotlicht, auch als Simmons einen der schwenkbaren Scheinwerfer direkt auf einen solchen Schemen ausrichtete. Der bekam jetzt dieselbe Energie ab wie ein Mensch von der Sonne an einem Sommermittag. Was immer das Etwas war, es schluckte das ganze Infrarotlicht. Nur der weiß dargestellte Hintergrund erlaubte, es als menschenähnliches Wesen zu erkennen, dessen Konturen jedoch in regelmäßigen Abständen verschwammen und wieder scharf wurden.
"Sowas kann es nicht geben", knurrte Dornfelder. Da rief Simmons: "Das Etwas hat die Wärmestrahlung bemerkt, es kommt ... auf uns zu!" Kaum hatte er die Warnung ausgerufen, drang erst ein Dunstschleier durch das geöffnete Seitenfenster der Brücke. Keine Sekunde später verschwand alles Licht und alle Wärme. Dornfelder fühlte noch, wie etwas ihn brutal vom Boden riss. Er hörte noch wie aus weiter Ferne seinen ersten Offizier schreien: "Sir, das ist nicht von dieser Welt!" Dann meinte Dornfelder, wieder von dieser Bande aus Fünfzehnjähhrigen auf dem schulweg überfallen zu werden, die ihm alles bis auf die Unterhose auszogen und ihm dann noch zwei Blaue Augen schlugen, bevor sie laut johlend abzogen.
"Wir haben gerade viel zu tun, Mr. Steinhauer", klang die Stimme des Kapitäns aus dem Lautsprecher der Bordsprechanlage. Doch sie klang schleppend und gefühllos. Steinhauer sah seinen Stellvertreter an und deutete auf die Sprechanlage.
"Captain, Sie haben auf drei Anrufe von mir nicht geantwortet. Da bestand Anlass zur Sorge", sagte der leitende Ingenieur. Die Stimme aus dem Lautsprecher antwortete wieder sehr schleppend und ohne gefühlsmäßige Betonung: "Wir mussten einem Frachter ausweichen, der in den Lidar-Bereich geraten ist. Da hatten wir alle Hände voll zu tun. Was wollen Sie?"
"Eckart, was ist mit dir los. Du klingst wie ein Schlafwandler", antwortete Steinhauer. Ihm war alles andere als wohl bei der Sache.
"Mir geht es gut, Mr. Steinhauer. Was wollen Sie?" kam die Antwort aus dem Lautsprecher.
"Ich wollte Ihnen eigentlich nur mitteilen, dass der dritte Offizier Brooks sich nicht von seiner Begehung des Sonnendecks gemeldet hat. Solange ich keine Bestätigung von ihm habe, dass unser Techniktrupp nicht benötigt wird und wir das Deck auf beiden Rümpfen freigeben können, kann ich die Zugänge für die Passagiere nicht freischalten und die Trennwand für die Besatzung hochfahren. Aber Sie klingen sehr merkwürdig, Sir", knurrte Steinhauer. Das gefiel ihm absolut nicht. Dornfelder und er duzten sich, auch wenn andere Offiziere dabei waren. Nur bei niedrigen Mannschaftsgraden sprachen sie förmlich und unter Bekundung ihres gegenseitigen Respekts miteinander. Nach vier endlos erscheinenden Sekunden kam die Antwort:
"Wenn Sie finden, dass mir was fehlt, schicken Sie Doc Dumont zu uns auf die Brücke oder kommenSie selbst her!" sprach der Kapitän einen Vorschlag aus. Steinhauer nickte seinem Stellvertreter zu. Dieser schüttelte den Kopf und führte den linken Zeigefinger zur rechten Hand, die dann blitzartig den Zeigefinger umschloss und daran zerrte. Steinhauer verstand und nickte erneut.
"Wenn Sie sagen, dass es Ihnen gut geht, Captain, dann möchte ich Sie nicht weiter behelligen. Ruhige Wache, Sir!"
"Das Sonnendeck bleibt gesperrt. Brooks hat uns angefunkt und gesagt, dass die Palmen alle krank sind. Schalten Sie das Sonnendeck nicht frei und schicken Sie das Personal für die Bordbegrünung los, um die Palmen zu stabilisieren!" Steinhauer fragte nicht erst, warum Brooks ihm das nicht selbst mitgeteilt hatte. Er bestätigte den Befehlund trennte die Verbindung.
"Irgendwer oder irgendwas hat den Captain heftig erwischt, womit auch immer", grummelte Humphrey. "So wie der klingt doch kein nüchterner Mensch. Am Ende haben von unseren Gästen welche die Brücke geentert,um das Schiff in ihre Gewalt zu bringen."
"Sie meinen, jemand wie diese Al-Qaida-Terroristen?" fragte Steinhauer.
"Wir kutschieren gerade mehrere Milliarden Dollar Privatvermögen und Zugang zu vielleicht wichtigen Schaltstellen über das Meer", sagte Humphrey. "Zumindest sollten wir das Sonnendeck absperren und den Maschinenleitstand gut verriegeln, bevor die, die den Captain erwischt haben drauf kommen, dass sie uns besser gleich auch kassieren kommen."
"Verdammt, könnte stimmen", knurrte Steinhauer und ging zur Tür hin, um den Leitstand fest zu verschließen. Er wollte gerade stillen Alarm für seine Abteilung auslösen, als ein Nebelschleier durch den Belüftungsschlitz eindrang. Dass Steinhauer ihn überhaupt bemerkte lag daran, dass er gerade nach oben sah, um zu prüfen, wo sie besser noch Absicherungen einrichten konnten. Doch dafür war es bereits zu spät. Diese jähe Erkenntnis kam den beiden Ingenieuren, als totale Finsternis und klirrende Kälte sie überfielen.
"Du hattest recht, Dreihundertzwei", frohlockte einer der drei aus der Eisgefangenschaft erweckten. "Wir müssen nicht das ganze innere Selbst von einem Menschen einsaugen und ihn töten. Es reicht, ihm nur den Teil zu entreißen, der seine ganzen Lebensfreuden trägt. Dann muss er tun, was wir wollen."
"Das habe ich dir doch schon gesagt, als wir darüber sprachen, wie wir dieses Schiff in unsere Gewalt bekommen", erwiderte Zweihundertneun, der zweite der drei Wiedererwachten. Das geschlechtslose Wesen hatte sich soeben die halbe Seele des erstenOffiziers einverleibt und hielt damit nun eine direkte Verbindung zu deren ursprünglichem Körper. Wenn die verbliebene Restexistenz nicht unter unbändigen Qualen und Ängsten leiden wollte, so musste sie tun, was ihr Überwinder befahl. So konnten sie die Überfallenen zu gehorsamen Dienern machen. Der Nachteil war nur, dass sie eben nicht mehr frei denken und auch nicht mehr gefühlsbetont sprechen konnten. Das dies sofort auffiel erfuhren sie in dem Moment, wo der von ihnen beherrschte Dornfelder mit dem Maschinenüberwacher sprach. Doch dieser sollte ebenfalls in die Macht der Wiedererwachten gezwungen werden. Denn nun waren sie genug, genug, um das ganze große Schiff dorthin zu bringen, wohin sie es haben wollten. Doch wie bisher galt, dass die sich vergnügenden Reisenden nicht zu früh erfahren durften, dass jemand anderes ihre schwimmende Insel der Lüste beherrschte.
Flanigan hatte einem inneren Gefühl folgend nicht sofort weitergemeldet, dass sein Schiff ein treibendes Tauchboot gefunden und daraus einen kleinwüchsigen Mann geborgen hatte, der sich mit Name, Rang und Dienstnummer als Bordarzt der Constitution zu erkennen gab. Als er dann noch von Keith Mulligan bei einem Vier-Augen-Gespräch erfuhr, was dieser erlebt hatte dachte er einen Moment lang an eine sehr gut ausgedachte Geschichte. Doch zwei Umstände ließen ihn zweifeln. Zum einen war da die Welle aus Trübsal und wiederkehrenden Albtträumen, die die Besatzung nach dem Auffinden der zweiten Eiskugel erfahren hatte. Zum anderen war da die Geheimnistuerei seiner obersten Vorgesetzten. Er wusste, dass er sich einer schweren Befehlsverweigerung, ja sogar einer Form von Verrat schuldig machte, wenn er nicht schnellstmöglich Meldung erstattete. Doch er dachte auch daran, dass seine Besatzung und er als unliebsame Mitwisser eines ganz großen Geheimnisses keine Bewegungsfreiheit mehr haben würden. Er musste sogar davon ausgehen, dass er seine Angehörigen nie wieder sehen würde. Denn ihm schwante, dass die Existenz echter Dämonenwesen oder gar echter Magie genau das war, was unter den Begriff X-Akte unter strengstem Verschluss gehalten wurde. Zeugen, die absichtlich oder unabsichtlich davon berichteten, waren sicher höchst unerwünscht. So entschloss sich Flanigan dazu, Mulligans Rettung nicht weiterzumelden. Seiner Besatzung verkündete er, dass sich der gerettete Offizier als Angehöriger des Marinegeheimdienstes in hohem Rang zu erkennen gegeben habe und ihm seine Mission erklärt habe, aber er diese nicht verraten dürfe. Mulligan erhielt ein Quartier weit ab von der restlichen Mannschaft. Wenn die Stephord zum nächsten Hafen beordert wurde, wollte er sich still und heimlich absetzen, um unbemerkt Kontakt mit seiner angeblichen Dienststelle aufnehmen zu können.
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